Titel: Affenzirkus Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original + Fan Fiction FSK: 16 Kategorie: Spannung Ereignis: Advent 2012 Erstellt: 30.11.2012 # Herausforderungen 1. Herausforderung von Vegeta, 15.08.2012 - eine weihnachtliche AU Version von Border von Kazuma Kodaka - Patrick Star aus SpongeBob Schwammkopf, von Stephen Hillenburg kreiert - Bild von Sebastian Stoskopff "Vanitas-Stillleben von 1630" 2. Herausforderung von Julia, 16.08.2012 - Vegeta x Kakarott (Son Goku) aus "Dragonball" von Akira Toriyama, kein Crossover, kein Schulmilieu, Happyend gewünscht - Aeolus und Nereus aus "Oh du Gruselige" und "Köder für die Bestie" 3. Herausforderung von Koryu, 18.08.2012 - Gorgeous Carat von You Higuri - Wildwasser, Paddeln, Marzipanfiguren, Stofftiere (wahlweise eine Katze oder ein Luchs) # Disclaimer: alle Rechte obliegen den Inhabern, Mangaka und Verlagen. ~+~o~+~ ~+~o~+~ ~+~o~+~ ~+~o~+~ ~+~o~+~ ~+~o~+~ ~+~o~+~ ~+~o~+~ ~+~o~+~ ~+~o~+~ ~+~o~+~ ~+~o~+~ ~+~o~+~ ~+~o~+~ ~+~o~+~ Affenzirkus Kapitel 1 - Ein Rätsel zum Zeitvertreib Madame de Fleurie schnaubte indigniert, während sie über vernachlässigte Gehwegplatten das alte Palais betrat. Überall Unkraut und abgeplatzter Putz, die Fensterhöhlen tatsächlich mit Brettern geschlossen! Konsterniert nickte sie der uralten Hausdame zu, die offenkundig nicht mehr ihren Aufgaben gewachsen war und sich selbst auch vernachlässigte. Also wirklich, das Häubchen war schmuddelig und die Borten ihres schlichten Kleides halb heruntergetreten! "Josephine!" Erfreut näherte sich ihre Cousine, die Hände ausgestreckt, in einem Kleid, das schon seit Jahren aus der Mode war, wie Madame Fleurie tadelnd bemerkte. "Meine Liebe!" Flötete sie in gleicher Tonlage und drückte die verkrümmten Finger. Arthritis, auch das noch! Wenige Augenblicke genügten schon, ihr sämtliche Gerüchte und Ondits zu bestätigen, die ihr über ihre Cousine de Rochefort zu Ohren gekommen waren. Eine wahrhaftige Schande! Im Teesalon, von verblasstem Stoff bespannte Wände mit rußgeschwärzten, alten Ölbildern, wurden ihr feuchte Kekse und ein wässriges Gebräu angeboten, das sie nicht einmal als Waschwasser akzeptiert hätte. Höflich nippte sie, um der Form Genüge zu tun. Grauenvoll! Sie war jedoch nicht in diese heruntergekommene Ruine eingedrungen, um sich wie der Bruder ihres Schwagers und dessen unerträglich gewöhnliche Frau über den erbärmlichen Niedergang der ältesten Familie aus dem Stamm der Anjous zu amüsieren. "Lassen wir jetzt die Banalitäten." Ging sie forsch zu Werke. "Du solltest wissen, meine Liebe, dass die unerfreuliche Situation deiner Familie überall diskutiert wird." Madame de Fleurie hob gebieterisch die Hand. "Auch wenn du nichts auf gewöhnlichen Klatsch gibst, wie du nicht müde wirst, mir zu versichern, so sehe ich mich als deine nächste Blutsverwandte doch in der Pflicht, dir die Augen zu öffnen. Man redet überall von Bankrott, die Kredite der Kaufleute seien gesperrt." "Verleumdungen! Üble Nachrede! Niemand wird es wagen, den Rochefort solcherlei Unverschämtheiten ins Gesicht zu sagen!" »Ha!« Schnaubte Josephine de Fleurie, die sehr wohl wusste, dass ihre werte Cousine es nur dem Umstand verdankte, kaum noch den Palais zu verlassen, dass ihr nicht ganz andere Dinge gesagt wurden! "Wie dem auch sei." Sie hatte keine Lust, sich auf unfruchtbare Diskussionen einzulassen. "Es müssen Maßnahmen ergriffen werden. Und da sehe ich nur eine Möglichkeit: Florean!" "Mein geliebter Sohn? Was ist mit ihm?" Schon schwang eine leicht hysterische Note mit. "Nun." Madame de Fleurie wappnete sich ganz gegen ihre Natur mit Geduld. "Er ist mittlerweile alt genug, möchte ich meinen! Er muss in die Gesellschaft eingeführt werden! Vorgestellt, damit man sich ein Bild von ihm machen kann!" "Aber meine liebe Josephine! Ganz ausgeschlossen, dass ich auf Gesellschaften gehe! Ich bin in Trauer!" »Ja!« Ätzte Madame de Fleurie säuerlich. »Seit Jahren schon! Kein Wunder, dass dein bisschen Verstand sich verabschiedet!« Laut konterte sie jedoch. "Dann überlass es mir, ihn vorzustellen. Dieser Onkel von ihm ist wohl keine besonders große Hilfe." Versetzte sie abschätzig. Nicht, dass er darin seinem älteren Bruder de Rochefort nachstand. "Der Junge muss vorgezeigt werden." Beharrte sie entschieden. "Nur auf diese Weise kann er eine gute Partie machen." "Florean soll sich vermählen?! Er ist kaum den Kinderschuhen entwachsen!" Scholl ihr schriller Protest entgegen. "Papperlapapp!" Schnaubte Madame de Fleurie. "Er ist ein junger Mann und hoffentlich einigermaßen vorzeigbar! Da du ja darauf bestanden hast, ihn nicht dem Militär oder der Universität anzuvertrauen, verfügt er wohl über keine Qualifikationen oder Verbindungen. Also ist es notwendig, dass er heiratet. Nur so könnt ihr retten, was überhaupt noch übrig ist!" Und wie man hörte, war das nicht mehr besonders viel. Die Cousine verwahrte sich jedoch schluchzend jede Kuppelei, die sie des Trostes ihres einzigen Kindes berauben würde. Wer sprach von Qualifikationen, wo doch Florean ein Rochefort war! Eine Viertelstunde später verließ Madame de Fleurie in mühsam gebremster Verärgerung den alten Palais, winkte ihre Equipage heran. Von Automobilen wollte sie nichts wissen. »Diese dumme Gans!« Ging ihr noch den gesamten Abend im Kopf herum. Monsieur de Fleurie entschied, lieber in seinem vornehmen Club zu speisen, um dem häuslichen Unwetter weitmöglichst zu entgehen. ~+~o~+~ Florean de Rochefort saß auf der obersten Balustrade und baumelte mit den Beinen. Teile der Brüstung waren derart verrottet, dass sie kaum noch ihren Zweck erfüllte und selbstredend war es ihm verboten, sich hier aufzuhalten. Nicht nur Schmutz und Staub, sondern auch sein Leben könnte gefährdet sein! Was ihn jedoch nicht hinderte, sich hier zu tummeln, um durch einen alten Belüftungskanal, mit denen man gegen die allgegenwärtige Feuchtigkeit im Gemäuer schon in grauen Vorzeiten ankämpfte, die Konversation seiner werten Mutter zu belauschen. Es ärgerte ihn durchaus, dass diese aufgeblasene Cousine de Fleurie unterstellte, sie wären verarmt und er selbst ein bemitleidenswerter Tropf, der weder militärischen Schliff, noch elitäre Bildung vorzuweisen hätte! Was sollte das überhaupt heißen?! Sie verfügten über verschiedene Latifundien, eine Sommerresidenz, ein Landgut und andere Örtlichkeiten, die man zwar derzeit renovierte, wie ihm seine Frau Mama gesagt hatte, weshalb ein Besuch nicht angezeigt war! Zugegeben, in den alten Stallungen befand sich nur die alte Mähre des Kutschers, doch in der Stadt war es längst nicht mehr üblich, eigene Reitpferde zu unterhalten! Diese Madame musste doch auch verstehen, dass seine Frau Mama in ihrem Kummer nicht allein bleiben konnte, weshalb er zu Hause unterrichtet worden war und es nicht in Frage kam, sich anderswo zu tummeln, sei es im Militärdienst als Offizier oder als Student in den Universitäten! Florean baumelte stärker mit den Beinen. Verheiratet werden sollte er auch noch?! Nun, es wäre durchaus nett, einmal andere junge Damen und Herren von Stand kennenzulernen, jedoch sich gleich binden und dann noch an eine Person aus einer Kaufmannsfamilie?! Undenkbar für einen Rochefort aus dem Haus Anjou! Doch obwohl diese Überzeugungen in seinem Kopf widerhallten, jahrelang unerbittlich eingekerbt von der liebenden Frau Mama, spürte Florean ein wachsendes Gefühl des Unbehagens. Wie war die Welt da draußen wirklich? Konnte er der langweiligen Eintönigkeit seines Daseins auf irgendeine Weise entfliehen, ohne seine geliebte Frau Mama vor den Kopf zu stoßen? ~+~o~+~ Der Wind blies eiskalte Nadeln in sein Gesicht, doch Florean de Rochefort genoss diese prickelnde Massage. Es lenkte ihn ab vom Stampfen der Motoren, die das gewaltige Kreuzfahrtschiff antrieben. Natürlich hatten sie auch noch Seegang! Während er tief Luft holte und hoffte, sein empfindlicher Magen würde ihm eine Ruhepause gönnen, spürte er eine mächtige Präsenz hinter sich. Rechts und links fassten dunkle Hände die Reling. Florean schmiegte sich rücklings an den sehnigen Mann in dem maßgeschneiderten Anzug, der ihm Schutz und Trost bot. Lange, weiße Strähnen, in einer großen Spange im Nacken gehalten, wirbelten auf. Sie schwiegen und genossen die relative Ruhe. Das Kreuzfahrtschiff war über mehrere Decks in unterschiedlichen Klassen vollkommen ausgebucht für die lange Überfahrt nach Amerika und stellte trotz der luxuriösen Kabinen eine gewaltige Umstellung zur Dschunke dar, die ihnen lange Obdach geboten hatte. {siehe "Schatzsuche"} Auch der Umstand, dass sie ein sehr ungewöhnliches Pärchen waren, sorgte dafür, dass sie nur selten an Deck gingen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass der Mann, der ihn so unbeirrt in seinen Armen hielt, ein international gesuchter Verbrecher und Mörder war. Floreans Gedanken jedoch schweiften in die Vergangenheit, die so trübe war wie seine Zukunft nun. Er seufzte leise. Vor ein paar Jahren noch hatte er auf jede Unterbrechung von der Eintönigkeit seines isolierten Alltags gehofft. Nun befand er sich hier, mitten auf dem Atlantik, ein weiteres Mal unterwegs in eine ungesicherte Zukunft, nach unzähligen Abenteuern, Rückschlägen, Erfahrungen und Erkenntnissen. "Was ist los, mein Licht?" Raunte der Mann, der als Blauäugiger Dschinn ganze Regionen in Angst und Schrecken versetzt hatte, zärtlich in den blonden Schopf. "Ich weiß nicht, was ich tun soll." Antwortete Florean grundehrlich, drehte den Kopf, um aus den bewunderten Amethystaugen in das markante Gesicht zu blicken. "Ich kann mit Vorschlägen dienen." Schnurrte Azla guttural, strich mit dem Oberschenkel zwischen Floreans Beine. "Mmmhhhhh!" Stöhnte Florean leise, senkte die Lider und seufzte erneut. Azla, der ausreichend Gelegenheit hatte, sich mit den eigentümlichen Verhaltensweisen seines Geliebten vertraut zu machen, schmunzelte in die wolkenverhangene Finsternis. "Worüber zerbrichst du dir deinen hübschen, aber hohlen Kopf?" Neckte er Florean herausfordernd. Eine aufgebrachte Replik ließ auf sich warten, dafür seufzte Florean erneut. "Weißt du, genau das ist es." Vertraute er Azla melancholisch an. "Mein Kopf ist wirklich hohl. Wie soll es mit mir weiter gehen? Das frage ich mich." Der Mann aus der Wüste lupfte eine ausdrucksstarke Augenbraue. Metaphysische Anwandlungen missfielen ihm, wenn sie in der Konsequenz dafür sorgten, dass sich Florean an etwas festbiss, das kaum zu ändern war. Florean sah sich durch das anhaltende Schweigen seines Gefährten herausgefordert, seine Gedankengänge zu erläutern. "Ich habe mich an früher erinnert." Er drehte sich in Azlas Armen, um ihn anzublicken. "Weißt du, es war NIE ein Thema, dass ich als Adliger meinen Lebensunterhalt verdienen müsste. Niemand von Adel arbeitet! Wir haben Einkünfte, Latifundien und Ländereien, die von Bediensteten und Pächtern bewirtschaftet werden. Ein Verwalter übernimmt die Organisation." Florean legte die Stirn in krause Falten. "Obwohl ich mich nicht erinnern kann, wer unser Verwalter war. Seltsam." Azla hüllte sich in Schweigen. Er wusste mehr über diesen unbedarften, jungen Mann, als dieser ahnte und gelegentlich fragte er sich, ob es einen Vertrauensbruch darstellte, Florean nicht alles zu offenbaren. "Irgendwie merkwürdig." Florean kniff die schönen Augen zusammen, als könne er besser sehen, was in seiner Vergangenheit zu verschwinden drohte. "Wir haben auch das Palais nicht mehr oft verlassen, aber da waren Bauarbeiten." "Was hast du denn erwartet, wie dein Leben verlaufen soll?" Azla studierte das vertraute, attraktive Gesicht seines Liebhabers im grellen Licht der Bordbeleuchtung. Florean kämmte eine verwehte Strähne aus dem Gesicht und seufzte. "Nun ja, wohl gepflegte Langeweile, Gesellschaften, Empfänge. Wahrscheinlich eine Ehe schließen, Kinder." "Tatsächlich?" Azla lupfte eine bewegliche, weiße Augenbraue. "Und weiter?" Zierlicher gebaut als er selbst lupfte Florean unbehaglich die Schultern, wich dem einäugigen Starren aus. "Komm." Entschied Azla, legte ihm einen Arm um die Schultern und dirigierte ihn zurück in ihre luxuriöse und dennoch beengende Kabine. Florean nahm artig auf einem schmalen Klappstuhl Platz, beäugte Azla erwartungsvoll. Der großgewachsene Mann aus der Wüste löste die Spange und fächerte seine schweren Strähnen auf, bevor er den zweiten Klappstuhl wählte. "Als Ray sich für dich interessierte, habe ich mich auch erkundigt." Er streckte eine Hand über den kleinen Tisch aus. Florean schob automatisch seine Hand hinein, erwiderte den Druck. Azla blickte ernst und unnahbar. "Diese Ländereien und Latifundien, von denen du gesprochen hast, waren längst verpfändet und schwer belastet. Als deine Mutter dich an Ray verkauft hat, gehörte euch gar nichts mehr. Dein Vater hat vor seinem Tod selbst das magere Bisschen Pacht verspielt, das euch den Lebensunterhalt gewähren sollte." "Das kann nicht sein!" Widersprach Florean energisch. "Mein Vater ist kurz nach meiner Geburt gestorben!" Azla legte den Kopf auf die Seite und studierte seinen Liebhaber sehr viel länger und eingehender, als dem lieb war. "Meine Mutter hat mir selbst erzählt..." Florean konnte in der ausdruckslosen Miene seines Gegenüber lesen, dass seine Überzeugung auf Treibsand gebaut war, der sich gerade verabschiedete. "...oh..." Murmelte er und senkte den Kopf. "Oh." Bevor er jedoch seine Hand Azlas Griff entziehen konnte, hatte der energisch zugefasst und gab sie nicht mehr frei. "Dein Vater ist in einem Siechenhaus gestorben, mutmaßlich an den Folgen der Syphilis und seiner Vorliebe für schlechte Obstbranntweine. Er hat kurz nach deiner Geburt das Haus verlassen, weil er lieber spielen und herumhuren wollte, als sich im trautem Ehe- und Familienglück zu Tode zu langweilen." Florean zuckte unter jeder Silbe wie unter Peitschenhieben zusammen. Der Vater seiner Erinnerung, die aus den Erzählungen seiner Mutter gespeist war, stellte eine Mischung aus König Arthur und den Helden aus Alexandre Dumas' Abenteuergeschichten dar, die er in alten Zeitungen als Fortsetzungsromane verschlungen hatte. Ein Kavalier, ein Held, ein vornehmer, verwegener Mann, der viel zu früh starb und sich deshalb nicht seiner ihn abgöttisch liebenden Frau und seinem kleinen Sohn widmen konnte. Ihm entwich ein gequälter Seufzer, der wie ein Aufschluchzen klang. Abrupt zerrte Azla Florean in die Höhe, packte ihn in einem unerbittlichen Griff und dirigierte ihn zu einem der beiden Kojenbetten. Florean wehrte sich nach bestem Vermögen, denn er begriff durchaus, dass Azla die Untätigkeit auf ganz eigene Weise beenden wollte und ihm Gelegenheit gab, die Frustration im Handgemenge loszuwerden, bevor er sich lustvoll Azlas Initiative anschloss. ~+~o~+~ Florean überlegte, in der Enge der Koje an Azlas Seite geschmiegt, ob er dem imponierenden Mann andeuten sollte, dass er dessen großherzige 'Überfalltaktik' als Liebesbeweis erkannt hatte und nicht etwa als gewalttätige Willkür. "Es ist nicht wichtig." Brummte Azla sonor, streichelte klebrige, blonde Strähnen aus Floreans Gesicht. "Deine Familie, meine Familie, die Vergangenheit. Sie sind nur Schimären der Erinnerung." "Mag sein." Florean stützte sich auf, fing eine weiße Strähne ein und wickelte sie spielerisch um einen Finger. "Aber ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll. Von dem, was ich mal gelernt habe aus Büchern, weiß ich nichts mehr. Ich verstehe mich weder auf Zahlen, noch auf fremde Zungen. Ich kann nicht mal reiten." Seufzte er kläglich. Azla knurrte unterdrückt, ein Ausdruck von Ungeduld, den er ausschließlich Florean in der trauten Zweisamkeit offenbarte. "Und du bist unheilbar vertrauensselig!" "Ich weiß." Florean kuschelte bedrückt. "Ich habe gar nicht gewusst, wie dumm ich bin, bevor das alles begann." Eine Aussage, die Azla daran hinderte, weitere raue Scherze zu treiben. Sein blonder Gefährte verfügte nicht über die harte Schale, die solche Attacken zu kontern vermochte. "Du hast auf mich geschossen." Bemerkte er ruhig. "Das ist eine bedeutende Fähigkeit." "Na hör mal!" Florean rappelte sich getroffen auf. "Ich war nicht ich selbst! Und ich wollte wirklich nicht... es war doch nur, weil du Ray...!" Ein nachsichtiges Lächeln verirrte sich auf Azlas Zügen. "Dummer, kleiner Franzosenbengel." Neckte er Florean zärtlich. "Kannst du nicht sehen, dass nicht viele im Stande sind, kalten Blutes den Abzug zu drücken?" "Soll ich das etwa als Leistung ansehen?!" Florean schüttelte wild den Kopf. "Ich wollte das nicht tun!" "Aber du hast!" Azla setzte sich nun auch auf, packte Florean energisch bei den Oberarmen. "Ray wäre nie in der Lage, in direkter Konfrontation auf einen Menschen zu schießen." "Das ist KEIN Kompliment!" Beharrte Florean. "Das klingt ja, als sei ich eine Bestie!" "Nein, das ist ein Hinweis auf ein Talent, das gefördert werden kann." Widersprach Azla entschieden. "Ich will nicht auf Leute schießen!" In dieser Hinsicht war Florean unerbittlich. "Das solltest du dir lieber überlegen, so fürchterlich unfähig, wie du im Nahkampf bist." Entgegnete Azla nüchtern. "Du tust so, als müssten wir ständig irgendwelche Konflikte ausfechten." Irritiert zupfte Florean an gekaperten, weißen Strähnen. "Ich dachte, Hei Bao würde sich zur Ruhe setzen?!" "Bis dahin ist es noch eine lange Reise." Azla beugte sich vor und küsste Floreans Nasenspitze. "Und du reist mit den 'Bösen', vergiss das nicht." Florean zog die Unterlippe ein, nagte an ihr, während es sichtlich in ihm arbeitete. Endlich sah er Azla wieder ins Gesicht. "Könnte ich nicht etwas Anderes tun? Zu IRGEND ETWAS bin ich bestimmt fähig!" Das klang schon beinahe verzweifelt, urteilte der Mann aus der Wüste. Mit dem Daumen versiegelte er Floreans Mund, neigte sich vor und flüsterte guttural in ein Ohr. "Du wirst mein Licht sein, Blut von meinem Blut, mir Familie und Heimat. Alles andere wird sich finden." Als er sich zurückzog, hob Florean fragend die goldenen Augenbrauen. "Was hast du gesagt? War das Arabisch?" Mit einem aufreizenden Lächeln ließ sich Azla auf die harte Matratze zurücksinken. "Finde es doch heraus!" "Oh, gemein!" Protestierte Florean empört. "Wenn es in meinem Bett nicht so fürchterlich klamm wäre, würde ich dich jetzt allein lassen!" Azla unterdrückte ein Schmunzeln angesichts dieser fürchterlichen Drohung und streckte sich behaglich aus. Nur wenige Atemzüge später adaptierte sich Florean geschmeidig an seine Gestalt, hielt sich an seiner Körperwärme ungeniert schadlos. Ein verwöhnter, eigenwilliger, naiver, enervierender Bengel! Und vielleicht waren dies die wichtigsten Gründe für Azla, ihn haltlos, eifersüchtig und besitzergreifend zu lieben. ~+~o~+~ Der exotische Mann in dem vornehmen, cremefarbenen Anzug, häufig mit Hut auf Deck spazierend zu sehen, lächelte höflich einem Passagier zu, der gegen die auffrischende Brise versuchte, seine Zigarre zu illuminieren. Die Gäste, die mit ihm an einem Tisch im vornehmen Speisesalon der ersten Klasse dinierten, hätten auch zu bemerken gewusst, dass zwei ungleiche und sehr ungewöhnliche Augen trügerisch harmlos blickten, während ein langer, schwerer Zopf auf einer ebenso täuschend zierlichen Rückenpartie zu ruhen beliebte. Gelegentlich begleitete ihn ein attraktiver, junger Mann, dessen schwarze Haare im Nacken zusammengefasst waren. Mit strahlend grünen Katzenaugen und einem imponierenden Siegelring gehörte er wohl zum Adel, doch welcher Art dieser war, konnte niemand ergründen, da der junge Mann sich sehr zurücknahm und keinerlei näheren Kontakt zu seinen Mitreisenden suchte. Hei Bao jedoch suchte nun entschieden Kontakt zu seinem Gefährten Ray Balzac de Courande in ihrer luxuriösen Kabine. Er verschaffte sich lautlos Zutritt, pirschte sich an Rays verspannt kauernde Gestalt heran, beugte sich herunter und küsste eine besonders empfindliche Stelle im Nacken, wo die Haut direkt hinter der Ohrmuschel samtweich seinen Lippen schmeichelte. "Huh?!" Aus seiner tiefen Konzentration gerissen wäre der aufschreckende Ray zweifellos mit dem zierlichen Stühlchen umgekippt, doch Hei Bao griff vorausschauend zu und verriet auf diese Weise, dass unter dem auf Figur geschnittenen Promenieranzug ein sehr athletischer Körper verborgen war. "Ich habe dich gar nicht..." Plapperte Ray, blinzelte, die Augen leicht gerötet, weil er erneut viel zu lange alte Dokumente unzufrieden studiert hatte. "Oh, habe ich den Tee verpasst?" "Du hättest dich entsetzlich gelangweilt." Beruhigte Hei Bao, drückte Ray in den Sitz und begann, die verspannte Nackenmuskulatur seines Liebhabers zu massieren. Ray stöhnte unterdrückt auf und errötete darob heftig. "Und, hast du schon neue Erkenntnisse gewonnen?" Hei Bao löste geschickt die schlichte Schleife in Rays Nacken, fächerte die schweren, schwarzen Strähnen auf, um mit geschickten Fingern auch die Kopfhaut einer zärtlichen Behandlung zu unterziehen. "Eigentlich..." Ray stöhnte vor Genuss auf, weil sich eine sehr peinigende Verspannung auflöste und ihm vor Erleichterung das Wasser in die entzündeten Augen trieb. "Oh, das tut gut!" "Bedeutet, ich möge noch nicht aufhören, nicht wahr?" Neckte Hei Bao ihn, wisperte vertraulich in eine bereits glühende Ohrmuschel. Ein unwillkürlicher Schauer überlief Ray so sichtbar, dass Hei Bao sich ein triumphierendes Zähneblecken nicht verkneifen konnte. "Nun..." Er legte beide Arme um Rays Schultern, ließ subtil den schweren Zopf nach vorne gleiten. "Willst du mich in deine Gedanken einführen?" "Hmm..." Ray rieb sich nun doch die Augen, bevor er sich in die Umarmung schmiegte. "Ich habe, glaube ich, eine Spur gefunden, wo sich ein Teil der verschwundenen Goldladung befinden könnte." Er tippte auf ein sehr altes Tagebuch eines spanischen Geistlichen und dann auf eine Karte. "Ah, auf den Spuren von El Dorado?" Hei Bao war nicht überrascht, denn noch immer warben zwielichtige Gestalten und besessene Privatiers um Aufmerksamkeit mit Theorien, einen Teil der verlorenen Schätze aufzustöbern, die die Konquistadoren nicht nach Spanien hatten verschiffen können. "Da ist wohl Dschungel, aber man könnte.." Ray hatte unwillkürlich nach Hei Baos Zopf gegriffen und ließ ihn durch die Finger gleiten, bevor ihm der Automatismus dieser Geste bewusst und in der Folge sehr peinlich wurde. "Ah, Dschungel." Bemerkte Hei Bao knapp. Er hielt nicht sonderlich viel von der Karte, die Ray zur Verfügung stand und beabsichtigte keineswegs, sich auf Schatzsuchen einzulassen, die in Regenwälder oder Dschungelvegetation führten. "Dschungel ist nicht mit der Wüste oder einer Stadt zu vergleichen, Ray." Erklärte er Ray, der bis dato noch nicht mit einem solchen konfrontiert worden war. "Zudem haben viele der kleinen, primitiven Wilden, wie sich mein liebenswürdig unterbelichteter Tischnachbar vorhin ausließ, bemerkenswert konsequente Auffassungen zu Eindringlingen und Dieben, ganz abgesehen davon, dass sich dort so einiges in Flora und Fauna tummelt, mit dem wir beide keine nähere Bekanntschaft schließen möchten." Ray legte den Kopf in den Nacken und studierte das fremdartige Gesicht über sich. Hei Bao mochte harmlos wirken, aber er war tödlich wie ein Skorpion und gefleckt wie der Schwarze Panther, der ihm seinen Namen verlieh. "Also sollte ich es gut sein lassen, nicht wahr?" Seufzte er rhetorisch. Nicht, dass er sehr versessen darauf gewesen wäre, zerschlagenen Goldgegenständen nachzujagen, da seine Vorliebe verarbeiteten Pretiosen mit seltenen Steinen galt, aber er hätte eine Aufgabe gehabt. "Ray." Hei Bao gab die Schultern frei, umrundete den Stuhl und streckte die Hände aus, Ray auf die Beine zu ziehen. "Es wird andere Schätze zu heben geben, du hast mein Wort. Doch diese Sache, lass sie auf sich beruhen. Nenn mich ruhig abergläubisch." Zwinkerte er, aber Ray hatte nicht vor, diese joviale Maske zu bedienen. Mittlerweile, nach einer langen Fahrt in der herrlichen Dschunke, die ihm tatsächlich fehlte, wusste er genug über seinen Liebhaber, um sich sicher zu sein, dass Hei Bao über eine Unmenge von Dingen Kenntnisse hatte, die er gern verbarg. »Weil man es nicht goutiert, wenn die kleinen, braunen Männer ein bisschen zu schlau auftreten.« Hei Bao lächelte mild in die abgespannte Miene des jüngeren Mannes. Ray brauchte den Nervenkitzel einer Jagd, das Nachforschen, Aufstöbern und Ausbaldowern, das wusste er. Der Dieb Noir hatte es schließlich zu einer gewissen Bekanntheit gebracht, bevor Ray ihn widerwillig "beerdigt" hatte und nun wusste Ray nichts Rechtes mit sich anzufangen. Schlimmer noch, er war abhängig und bis zum letzten Atemzug gebunden an einen undurchsichtigen Unternehmer, der nicht willens war, ihn jemals wieder gehen zu lassen. "Ich habe etwas, das dir gefallen wird." Lockte Hei Bao zärtlich, wandte sich halb herum, um aus seinem abgeschlossenen Sekretär eine lederne Mappe zu entnehmen. "Man sagte mir, es gebe keine weiteren Drucke oder Abschriften, also eine Rarität." Ray nahm mit einem kritischen Blick die Mappe entgegen und öffnete sie. Darin befand sich tatsächlich auf einem schweren, brüchigen Pergament, das aus groben Pflanzenfasern gefertigt zu sein worden schien, ein Text mit einer Illustration. Eine Art Schiff fuhr auf dem Meer, es waren in viel zu kleinem Maßstab Landmarken zu sehen und neben dem Schiff kam etwas aus dem Wasser. Eine Art Schwarm von etwas? Und was bedeutete dieses fünfzackige Muster? Die beweglichen Augenbrauen kräuselten sich über den grünen Augen. Was war das nur für eine Schrift? Oder Sprache? Hei Bao legte ungezwungen einen Arm um Rays Schultern, hauchte einen Kuss auf eine Wange. "Das ist Khmer-Schrift, hat man mir gesagt." Raunte er kehlig an Rays Hals, leckte begehrlich über eine hervorspringende Sehne. "Allerdings ist die Sprache nicht mit dem gesprochenen Khmer identisch." "Man hat die Zeichen benutzt, um in einer anderen Sprache etwas aufzuschreiben?" Ray befeuchtete unbewusst seine Lippen, eine aufreizende Geste, die ihm selbst entging. "Um was geht es denn da? Was soll das bedeuten?" "Ich weiß es nicht." In Hei Baos Stimme schwang ein amüsiertes Lächeln mit. "Aber du könntest es herausfinden, oder nicht?" "Ist es denn wichtig?" Ray mochte zwar Mysterien, doch hier schien weit und breit kein wertvolles Schmuckstück seiner zu harren! "Nun, ich frage mich schon, warum in Khmerschrift eine Botschaft einer fremden Sprache aufgezeichnet wird und man im Hintergrund die Philippinen erkennen kann." Hei Bao legte einen Finger auf Rays Wange, drehte dessen Gesicht zu sich herum. "Allerdings in weiter Entfernung. Als würde man irgendwo im Pazifik treiben." Ray runzelte die Stirn, warf abwechselnd Blicke zum Pergament, in die ungewöhnlichen Augen seines Lebensgefährten und auf die Karten, die den Tisch überspannten. "Hmmm...." Murmelte er nachdenklich. "Ray?" Hei Bao schlang die Arme um Rays Hüften, zog den jüngeren Mann fest und unnachgiebig an seinen sehnigen Körper. "Das kann warten." Er leckte sich über die Raubtierzähne, lächelte dann irisierend in die grünen Katzenaugen. Ray keuchte auf, spürte eine unsichtbare Welle des Verlangens heranrasen. Sie würde ihn mitreißen, wie stets. Was blieb ihm da als letztes Zeichen der Selbstbestimmung anderes übrig, als sich auf Hei Bao zu stürzen und die mokierenden Lippen wund zu küssen?! ~+~o~+~ Kapitel 2 - Eine schicksalhafte Verbindung Nala schüttelte die Glieder aus und atmete tief ein. Es mochte merkwürdig wirken, doch ihr eigenes, kleines Ritual, wenn sie zum ersten Mal fremden Boden unter den Füßen hatte, verlangte diesen tiefen Atemzug, um sich für die fremden Eindrücke zu öffnen. Man erwartete sie bereits, ein Ranger des Nationalparks von Amerikanisch-Samoa und eine gemütlich wirkende, ältere Polynesierin. Sie erkannte vermutlich, dass Nala nach dem Flug von Honolulu aus ihren eigenen Rhythmus benötigte, um sich heimisch zu machen. Den Ranger hingegen hielt wohl die Tatsache zurück, dass sie eine Koryphäe auf ihrem Gebiet war. Man hatte ihr sogar den Spitznamen "Mermaid" verliehen, obwohl böse Zungen behaupteten, dies beruhe auf ihrer geradezu Besessenheit mit der Meeresfauna, die für nichts anderes Raum ließ. »Sonst wäre ich auch nicht hier.« Nala öffnete die Augen, spürte ein seltsames Kribbeln. Sie war gerade 41 Jahre alt geworden, eine muskulös-durchtrainierte Frau, ledig und kinderlos. Ohne Anhang, wenn man so wollte, denn ihre Eltern, die des Surfens wegen in jungen Jahren nach Big Island umgesiedelt hatten, waren bei einem Hubschrauberunglück ums Leben gekommen. Eine "Ohana" gab es also nicht. Sie nickte der älteren Frau zu, schüttelte Hände und kam gleich zur Sache, wie sie es von der Zusammenarbeit mit den Streitkräften gewohnt war. Als Meeresbiologin hatte sie vielfältige Aufträge erhalten, die von Anfang an interdisziplinär angelegt waren. Stützpunkte, Schifffahrtswege, mögliche Naturkatastrophen, Aushandeln von Fischfanggründen, Schutz der vorbeiziehenden Wale, Beschaffenheit von Riffen, Fischschwärme, Unterwassertopographie... eins führte zum anderen. An ihrer Expertise kam man schlichtweg nicht vorbei. »Und es macht sich ganz gut, wenn man eine Quotenfrau dabei hat.« Nala schmunzelte, als sie in den Jeep kletterte. Besser wäre es noch gewesen, wenn sie selbst "polynesischer" ausgesehen hätte, doch diese Voraussicht konnte man von den eigenen Eltern wohl kaum erwarten. Der Tsunami des vergangenen Jahres hatte die kleinen Inseln schwer erwischt, auch im Nationalpark auf Amerikanisch-Samoa war viel zerstört und ins Meer gerissen worden, vor allem Exponate, die man für den Tourismus zur Illustration der einzigartigen Flora und Fauna ausgestellt hatte. Um den Inselbewohnenden das Leben zu erleichtern, war gehobener Tourismus, zum Beispiel von Wandernden oder ambitionierten Amateur-Naturkunde-Interessierten, ein unverzichtbares Standbein, das geflickt werden sollte. Wenn man es richtig machen musste, weil weitere Naturkatastrophen nicht auszuschließen waren, schien es den Damen und Herren der amerikanischen Nationalparkverwaltung die beste Strategie, sich erst mal eine Expertise einzuholen. Das war jedoch nicht der einzige Grund, der Nala hierher brachte, denn Arbeit hatte sie wirklich genug. Nein, da war dieses Gefühl. Sie vertraute dieser inneren Stimme, auch wenn sie vielleicht gar nicht so "innerlich" war wie etwa die Stimme in ihrem Hinterkopf, die vor Übermut und vorschnellen Schlüssen warnte. Nala konnte sich nicht entsinnen, wann genau sie sich dieses Gefühls zum ersten Mal wirklich bewusst geworden war. Es nahm sich seltsam aus, nicht gerade bedrohlich, aber irritierend, als ob sie über eine unsichtbare Antenne, einen zusätzlichen Sinn verfügen würde, der ihr Ankündigungen mitteilte, die den anderen Sinnen vollkommen entgingen. Gewöhnlich "sprang" dieses Gefühl an, wenn sie sich im oder am Wasser befand, ließ sie unerwartete Wetterumschwünge vorzeitig bemerken, drohende Gefahren oder ungewöhnliche Wasserbewohner. Vermutlich ein Grund, warum manch einer ihr mit Misstrauen und Argwohn begegnete, denn eine logische Erklärung für manche Entdeckung konnte auch Nala nicht präsentieren. Ärgerlich für die Wissenschaftlerin, nachrangig für die neugierige Forscherin. Hier prickelte es, ungemein stark. Nicht wie bei einer bedrohlichen Situation, aber doch elektrisierend. Für Nala Grund genug, die Augen nach allem offen zu halten. ~+~o~+~ Es war tollkühn und unvernünftig. Keine gute Idee. Keoki versteckte das einfache Brett, an das er einen alten Korb gebunden hatte, verstaute seine bescheidene Ausrüstung. Das Fischen im Einzugsgebiet des Nationalparks war streng verboten und das galt auch für das geduldige Abwarten direkt hinter den "Grenzen". Man sollte sich also tunlichst nicht erwischen lassen. Seit seinem 14. Lebensjahr war Keoki auf sich gestellt. Er lebte von dem, was er fing, sammelte oder eintauschen konnte und weil er als merkwürdig galt, lebte er auch wie ein Einsiedler, hielt sich nicht gern bei anderen Menschen auf. Er begriff, dass sie sich vor ihm fürchteten, doch auf einer Insel kam man mit Flucht viel weniger weit als mit ein paar gezielten Schlägen. Warum also riskierte er hier einen Gefängnisaufenthalt (die fällige, saftige Geldstrafe hätte er niemals berappen können) und zog unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich? Weil er etwas spürte, stark und intensiv, nicht beunruhigend, eher reizvoll. Keoki vertraute auf seine Instinkte, ganz gleich, wie verrückt sie ihn erscheinen lassen mochten. Er wusste selbst, dass er ungebildet war und nichts zu erwarten hatte, doch seit bereits sieben Jahren lebte er zufrieden ganz auf sich gestellt. Es sprach also vieles dafür, diesem inneren Kompass zu folgen. Lautlos pirschte er sich an die kleine Gruppe heran: ein Ranger, zwei Frauen. Die athletischere mit den gebleichten Strähnen kauerte auf allen Vieren am Ufer, unbeeindruckt vom Wasser, studierte intensiv den Grund unter sich. Zu weit entfernt, um das Gespräch zu belauschen, wartete Keoki angespannt ab. Was GENAU sollte er hier sehen, empfinden, erkennen? Die Frau blickte plötzlich auf, unvermittelt, sah sich um. Hätte er sich selbst nicht gut getarnt gewusst, wäre Keoki beinahe geflüchtet. Nun watete sie tiefer ins Wasser, zog neugierige Fische an, sah sich um. Sie blickte konzentriert unter sich und schnellte vor, blitzartig, packte mit beiden Händen einen allzu interessierten Meeresbewohner. Als sie ihren Fang studierte, kehrte sie Keoki den Rücken zu. Das aufspritzende Wasser hatte ihren Kurzoverall an verschiedenen Stellen durchnässt, auch das linke Schulterblatt. Keoki keuchte auf, als er über dem BH-Band eine vertraute Zeichnung erkannte. ~+~o~+~ Nala saß auf der Veranda des kleinen Hotels, das üblicherweise Armeeangehörigen als Pension diente, wenn sie auf Kurzbesuchen eintrafen. Die bloßen Beine gegen das Geländer gestemmt schaukelte sie auf ihrem nicht für diesen Einsatz vorgesehenen Stuhl und tippte gleichzeitig flink in den kleinen Laptop auf ihren Oberschenkeln. »Was du gleich kannst besorgen, das nervt dich nicht morgen.« Die Devise, die sie bei der Stange hielt. Die Arbeit zurück nach Maui zu nehmen, wohin sie ihr Flug am nächsten Tag über Honolulu bringen würde, stand nicht zur Debatte. Besser gleich alle Eindrücke und Ideen festhalten, vor dem Frühstück ausdrucken lassen und diese ehrenvolle Aufgabe als erledigt abhaken. Obwohl es immer noch da war, das Kribbeln. Doch womit hatte sie noch nicht abgeschlossen? Was hatte sie übersehen? Erkenntnisse konnte man nicht erzwingen, das hatte sie ihre langjährige Laufbahn gelehrt, also würde sie eben warten müssen, bis das Gefühl einer Eingebung wich und in der Zwischenzeit eben das erledigen, was von ihrem Gefühl unbenommen zu dokumentieren war. Es war lediglich ein leises Knirschen, das sie dazu veranlasste, von ihrem Laptop aufzusehen. Behände und beinahe lautlos kletterte ein junger, muskulöser Mann über die Brüstung. Panik war unangemessen, von ihm ging auch keine Bedrohung aus, wie Nalas Gefühl ihr mitteilte, deshalb studierte sie den Unbekannten interessiert. Ein Einheimischer mutmaßlich, definitiv ein Mensch, der viel an der Luft war und sich körperlich betätigte. Die leichte Tendenz zur Verfettung, die einige polynesische Kulturen beklagen mussten, konnte man ihm nicht ansehen. Ein ruhiges, rundes Gesicht, ausdrucksvolle Augenbrauen über den schwarzen Augen und die krausen Haare zu einem einzigen, gewaltigen Zopf eingeflochten, ein verwaschenes T-Shirt, löchrige Bermudas, Plastiksandalen und keinerlei Schmuck, aber auch keine Waffen. Der junge Mann ging auf die Knie, streckte beide Arme aus, eine Geste der Friedfertigkeit, dann lupfte er langsam das verwaschene T-Shirt über den Kopf. Mit einem Ruck kippte der Stuhl auf alle vier Füße, klappte der Laptop vernehmlich zu. Nala spürte eine Flammenwand durch ihren Körper rasen. ~+~o~+~ Kapitel 3 - Unerwünschte Neigungen "Hypnos!" Frau Hydras Sopran erreichte schrille Höhen, die nahe an das Spektrum einer Hundepfeife rückten. Die Vehemenz bedeutete Sebastian, dass er erneut "verschwunden" war. Nicht im tatsächlichen Sinne, denn sein Körper befand sich ganz profan dort, wo er ihn zu erwarten glaubte: im Klassenraum, auf einem hölzernen Stuhl vor einem Einzeltisch, die Augen offen, eine entspannt-aufmerksame Pose einnehmend. "Ja! Sofort!" Beeilte er sich, kam hastig auf die Beine, stieß dabei den Stuhl um und übertönte auf diese Weise sogar den sanften Gong, der das Ende der Doppelstunde "Kunst- und Kulturunterweisung" einläutete. Niemand kicherte mehr wie anfangs, dafür scharrten und schoben Stuhlbeine über den Boden, man sammelte Blöcke oder Tablets und Schreibzeug ein, begann ein Schwätzchen mit dem Nachbarn im Hinausgehen. Bestürzt klaubte Sebastian seinen Stuhl auf und strebte nach vorne, zu Frau Hydra, deren grimmiges Gesicht keinerlei Konzessionen versprach. "Es tut mir leid! Ich bin vorbereitet, wirklich!" Hastig wedelte er ein Blatt Papier mit seinen Notizen. Er war es noch nicht gewöhnt, auf den teuren, elektronischen Tablets zu arbeiten und zog die Variante des "armen Schülers öffentlicher Bildungsanstalten" vor. "Gut für dich, unerheblich für mich und deine Note." Knurrte Frau Hydra und versenkte einen Kugelschreiber in ihrem voluminösen grauen Dutt. Der konnte ein regelrechtes Eigenleben entwickeln, denn er wurde ganz selbstverständlich als Aufbewahrungsort genutzt. Sogar ein Päckchen Papiertaschentücher hing an einer langen Haarnadel herunter. "Bitte, ich kann das vortragen, gleich beim nächsten Mal! Oder jetzt hier!" Sebastian flehte in aufkeimender Panik, immerhin hatte er selbst vorgeschlagen, eine Bildanalyse vorzutragen, da sein Talent in zeichnerischer Hinsicht gegen Null tendierte, vom negativen Bereich aus. "Jetzt ist Mittag und damit Pause zum Essenfassen." Frau Hydra hielt viel von einem geregelten Tagesablauf. Ihr Magen knurrte vernehmlich. Keine guten Aussichten für eine wohlwollende Aufnahme von unerfreulichen Anliegen. "Ich kann's im Laufen vortragen!" Bot Sebastian eifrig an. "Bitte, Frau Hydra, es war doch keine Absicht!" "Hrmpf!" Kommentierte Frau Hydra, die ihre Habseligkeiten zusammenpackte und die elektronische Tafel ausschaltete. "Räum dein Zeug zusammen, Hypnos." Sebastian schlich gesenkten Hauptes an seinen Platz, schob Block und Stifte in eine Jutetasche und trottete aus dem Klassenraum. Als er die Richtung Kantine einschlagen wollte, pfiff ihn jedoch Frau Hydra streng zurück. "Kehrt Marsch, aber zackig!" "Äh..?" Sebastian vollführte eine 180° Wendung, die hauptsächlich dem Befehlston, der direkt sein Kleinhirn programmierte, geschuldet war und nicht den Umweg über sein Bewusstsein nahm, das gerade in Selbstmitleid schwelgen wollte. Frau Hydra funkelte streng, klopfte mit einer kräftigen Hand auf ihre ebenso straff gepolsterte Seite und schnaubte. "Du weißt, wie die Abmachung lautet, oder?" "...oh..." Sebastian nickte stumm. In seiner Sorge um die ohnehin nicht besonders guten Zensuren war DIESES Ereignis in der persönlichen Prioritätenliste nach hinten gerutscht. Als er die gleiche Marschhöhe wie Frau Hydra erreicht hatte, versetzte sie ihm einen nachdrücklichen Knuff in den Oberarm. "Nun lass schon hören, was dir an dem Bild aufgefallen ist." Sebastian blickte überrascht hoch, denn Frau Hydra erreichte in gesundheitsfördernden Schnürschuhen das Gardemaß von 1,90m mühelos, dann lachte er vor Erleichterung heraus. "Ja, selbstverständlich, sofort! Also, das Bild ist ein Stillleben, gemalt von Sebastian Stoskopff im Jahr 1630, was man gut anhand der römischen Ziffern im Almanach, der zerrupft in der linken Seite an einem Nagel hängt, festmachen kann. Ein Stillleben zeichnet sich dadurch aus, dass reglose Gegenstände mit hoher symbolischer Bedeutung arrangiert werden, um eine bestimmte Botschaft an das Publikum zu übermitteln. Der Titel dieses Werkes lautet Vanitas, das steht im Lateinischen für Eitelkeit aber auch Vergänglichkeit, nämlich sich im Angesicht des unvermeidlichen Todes mit meist kostbaren Dingen zu umgeben, die doch nichts am eigenen Ende ändern können. Der Almanach gibt es uns zwar die Möglichkeit, die Zeit zu messen, doch unsere eigene Lebenszeit können wir nicht reglementieren. Auf dem Bild befindet sich weiterhin ein Totenschädel, der nur noch wenige Zähne aufweist, also zumindest einen Tod im Alter andeutet. Der Schädel ist auf zwei großen Folianten und einem Notenheft platziert. Im Notenheft kann man den Versal V erkennen, was wieder an die Vanitas, die Eitelkeit erinnert. Symbolisch gesehen ist auch unsere Gelehrsamkeit, durch die Folianten präsentiert, und das Musizieren nichts als Eitelkeit, weil es vergänglich ist und uns in der Weltenordnung des Barock nicht erheben konnte. Des Menschen Hybris ist seine Eitelkeit, könnte man wohl sagen. Die verlöschende Kerze rechts steht ebenfalls für die Endlichkeit des Daseins, ganz gleich, wie edel der Kerzenhalter ist, der sie trägt. Die drei Würfel erinnern an das Vergnügen, die Spielsucht, die ja im biblischen Sinne durchaus verwerflich ist, weil man sich damit auch einer Zerstreuung hingibt. Ich nehme an, dass die Augen auf den Würfeln in der Konstellation auch eine Bedeutung haben, ich konnte sie jedoch nicht entschlüsseln. Zuletzt befindet sich auf der linken Seite noch ein sehr kostbares, reichgeschmücktes Kästchen in Form eines quadratischen Turms. Vermutlich handelt es sich nicht um eine Uhr, da ich keine Zeiger erkennen konnte, sondern um ein Gefäß zur Aufbewahrung. Das bedeutet in meinen Augen, dass selbst die schönste und wertvollste Kostbarkeit, die man besitzen kann, nicht darüber hinwegtäuscht, dass man am Ende gar nichts besitzt, da alles vergänglich ist. Diese Bildkomposition soll uns daran erinnern, dass, ganz gleich, welcher Beschäftigung wir uns hingeben, dem Spiel, dem Ansammeln von Vermögen, dem Generieren von Wissen oder ähnlichem, unsere Lebenszeit endlich ist und wir keine Gewalt darüber haben, auch wenn wir glauben, dass wir alles beherrschen können. Wenn man weiterhin die eher düsteren Farben einbezieht, so ist die gesamte Komposition von einer eher pessimistischen Einstellung zum Leben geprägt. Die Ermahnung, sich immer seiner Endlichkeit bewusst zu sein, erscheint mir aus heutiger Sicht als bedrückend und einschüchternd, weil sie den einzelnen Tätigkeit, zum Beispiel spielen, musizieren oder lesen einen Dämpfer versetzt, also ein Regulativ gegen allzu positive Stimmungen bedeutet. Andererseits ist es verständlich, dass aus der Zeit heraus, die von Kriegen, Hungersnöten und Epidemien geprägt war, kein besonders fröhliches Motto erwartet werden kann." Mit seinem letzten Satz hatten sie das gefürchtete Büro des Direktors erreicht. Der Direktor selbst war, mangels Anwesenheit, weniger gefürchtet als der Gegenstand diverser Spekulationen. Man nahm an, dass er über das Talent der Unsichtbarkeit verfügen musste, denn kaum einer konnte behaupten, ihn jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Herr Siegfried, Neffe des amtierenden Direktors der SSA, einer Internatsschule für besondere Talente, konnte dies nicht von sich behaupten. Sein Onkel war real und sehr häufig absent, was er damit begründete, sein Neffe habe doch alles im Griff und könne sich wunderbar nützlich machen. Herr Siegfried, der sein Talent als Literat der Welt zur Kenntnis bringen wollte, sich aber über seinen berühmt-berüchtigten Computer ThreeMonkeys das Taschengeld mit dem Verfassen von Groschenromanen verdiente (das heißt, ThreeMonkeys arbeitete und Herr Siegfried strich die Tantiemen ein, was es ThreeMonkeys gestattete, NICHT zu Disziplinierungszwecken von Strom und Internet abgeklemmt zu werden), HASSTE es, als Lehrer für dämliche Rangen fungieren zu müssen. Dazu gehörte auch die widerwärtige Altherren-Bande, mit der sich sein Onkel herumtrieb, um ihm ZUSÄTZLICH zu der Fron an der Grenze der Bildungsmisere auch noch die ätzende Arbeit als geschäftsführender Direktor aufs Auge zu drücken! Sebastian zögerte, und Frau Hydra baute sich hinter ihm auf, um eine Flucht zu verhindern. Sie war es auch, die vernehmlich wie Donnerschlag an der Tür klopfte. "Was denn jetzt?!" Blökte eine querulantorische Stimme jenseits des Türblatts ärgerlich, das Äquivalent zu "herein!" im Duktus des Herrn Siegfried. Er wühlte hinter einem gewaltigen Schreibtisch in diversen Papier- und Aktenstapeln herum, der blütenweiße Laborkittel aufwehend wie der Staubmantel eines Westernhelden. Die weißblonden, fisseligen Haare wehten statisch aufgeladen wie ein Kometenschweif bei jeder hektischen Bewegung auf, während wasserblaue Augen hinter einer randlosen Brille erbost die Zellulosewüste anfunkelten. Es wurde eindeutig etwas gesucht und zwar ausreichend lange, um Herrn Siegfried auf die Palme zu bringen, also ungefähr seit 30 Sekunden. "Guten Tag." Murmelte Sebastian eingeschüchtert. Herr Siegfried mochte wie ein durchgeknallter Wissenschaftler aussehen, aber in allen Fächern, die er unterrichtete, vergaß niemand seine Hausaufgaben oder wurde gar frech. Die gehässig-boshaften Kommentare, die der stets wie nach einem Stromschlag aufgedrehte, schlanke Mann absonderte, waren gefürchtet und wurden deshalb auf keinen Fall durch unbotmäßiges Verhalten provoziert. "Guter Tag, ha, das wüsste ich aber!" Zischte Herr Siegfried auch prompt zu dem höflich-bangen Entree. "Was ich JETZT brauche, ist ein Flammenwerfer! Am besten noch mit dieser Granatenabschussfunktion..." In den wasserblauen Augen glomm ein unheiliges, giftgrünes Feuer. "Also, ich würde eher an eine schöne Tasse Tee denken." Mischte sich eine warme, betont fröhliche Stimme ein, gefolgt von ihrem Besitzer, einem gutgebauten Mann mit Dreadlocks, Ganzkörperbräune im schönen Noisette-Ton, einem schottischen Kilt und rosafarbenen Plüschpuschen. "Hmm, ich schlage eine Rooibos vor, dazu ein wenig Vanille und Zimt..." "Bleib mir bloß mit dieser Pissbrühe vom Leib!" Brüllte Herr Siegfried. "Ich habe die Schnauze voll von diesem Chaos! Wieso heftet hier niemand was ab?! Ist der Schreibtisch hier die Altpapiertonne, oder was?! Saftladen! Schlamperei!" Seine Stimme schraubte sich in gefährliche Höhen hoch. Selbst Frau Hydra zog es vor, eilig in den Gang zu treten. Abgesehen von dem selbst vermuteten, aber unbewiesenen literarischen Talent zeichnete sich Herr Siegfried nicht nur durch Drachentöter-Allüren, sondern auch durch den Umstand aus, dass er ein Banshee war. Mit SEHR kurzer Lunte. Was Herrn Garfield, zuständig für Sport und Haushaltswirtschaft, auszeichnete, wusste niemand so genau. Sein unbestritten größtes Talent schien jedoch darin zu bestehen, die tickende Zeitbombe des mystischen Schreihalses zumeist rechtzeitig zu entschärfen, bevor eine Epidemie von Hörstürzen um sich griff. "Ich kann dir helfen!" Bot er eifrig und unbeeindruckt gut gelaunt an. "Das bisschen haben wir doch in Nullkommanix sortiert! Es könnte sogar Spaß machen!" Herr Siegfried glotzte. Das Problem mit seinem Mitbewohner, Liebhaber und Landplage war, dass er nie so ganz sicher sein konnte, ob Garfield DAS wirklich ernst meinte oder ihn bloß geschickt auf die Rolle nahm. Dieser winzige Zweifel, diese Unsicherheit in seinem persönlichen Universum absoluter Wahrheiten (alle doof außer mich!!) versetzte ihn jedes Mal in eine kurzzeitige Schockstarre. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, analysierte, bewertete, rechnete, erwog Wahrscheinlichkeiten, doch trotz dieser Energieleistung konnte es keine definitive Antwort geben. War Garfield so ein unerträglicher Gute Laune-Freak oder ein ganz mieser, perfider Destrukteur seiner zerstörerischen Launen?! "Ja." Brachte sich Frau Hydra in Erinnerung, die deutlich spürte, dass der Entschärfer vom Dienst ganze Arbeit geleistet hatte. "Ich bringe wie vereinbart Hypnos vorbei. Sie wissen schon, wegen der 'geistigen Absenzen'." Herrn Siegfried lag auf der Zunge, jede geistige Absenz beim Kunst- und Kulturunterricht für eine bravouröse Selbstverteidigung der eigenen geistigen Gesundheit zu deklarieren, doch gerade noch rechtzeitig erinnerte ihn sein unbeliebtes Ordnungsbewusstsein, dass er selbst diese Anordnung getroffen hatte, um dem Phänomen auf die Spur zu kommen. "Na ja." Grollte er grantig. "Ist recht. Warum soll ich auch eine Mittagspause haben, wenn Einzeller ihre Nahrung aus der Luft filtern!" Frau Hydra machte kehrt und schluckte zutreffende Bemerkungen über die ungehobelte und unhöfliche Art dieses dürren Männchens herunter. Ihr Magen solidarisierte sich, denn er wollte jetzt gefüttert werden, was die höchste Priorität genießen sollte! Sebastian blieb zurück, im Fokus eines Paars warmer, brauner Augen, das er mit Keksen, Kakao und verständnisvoller Zuneigung verband und dem wasserblauen Laserblick eines fleischgewordenen Schreckgespenstes. "Ach herrje, bist du wieder 'weg' gewesen?" Sofort schaltete Herr Garfield in den tröstenden Modus, kam um den Schreibtisch herum, legte Sebastian einen Arm um die Schultern, dirigierte ihn zu einem der altmodischen Lederfauteuils, in denen man so versank, dass man mit dem Kinn auf den Kniescheiben endete. "Prächtig!" Fauchte Herr Siegfried. "Und das muss ausgerechnet jetzt sein? Konnte das nicht bis zum Abendessen warten?!" Ein vorwurfsvoller Blick traf ihn, doch Herr Siegfried kultivierte seine schlechte Laune gern und gründlich. "Ich kann nichts dafür." Wagte Sebastian mit piepsiger Stimme eine Selbstverteidigung. "Wie wär's mit dagegen?!" Ätzte Herr Siegfried niveaulos zurück. Zusammengesunken im dem altmodischen Lederungetüm verzichtete Sebastian auf weitere fruchtlose Auseinandersetzungen. "Verdammte Hacke!" Schnaubte der geschäftsführende Direktor undiplomatisch. "Gibt's wenigstens irgendwas Neues? Weißt du, wo du warst?!" "...nein.." Murmelte Sebastian auf seine Kniescheiben. Eine vollständige Lüge war das zwar nicht, aber auch weit entfernt von der Wahrheit. "Was ist mit dem Dingsda?" Herr Siegfried umrundete dem Schreibtisch und schoss auf Sebastian zu, der sich ängstlich tiefer in die quietschende Lederpolsterung drückte. "Wo isn...?!" Suchend blickte Herr Siegfried sich um. "Wieso ist das verdammte Brett nie da, wenn man's braucht?!" Seine fusselig-weißen Haare wehten schon wieder elektrisiert auf, was Herrn Garfield zur Intervention bewegte. "Ah, da ist es doch!" Herr Garfield zerrte unter einem Stapel einen Tablet-Computer hervor, allerdings so geschickt, dass sich mehrere Berge auf dem Mount Schreibtisch lawinenartig in die Tiefe stürzten. "Oh, wundervoll!" Ätzte Herr Siegfried, die Hände in die mageren Hüften gestützt. "Jetzt brauche ich auch noch eine Schaufel, um den ganzen Schrott zu exhumieren!" "Upps!" Kommentierte Herr Garfield verlegen. "Na so was! Ha, ha, hoppla!" Etwas Unverständliches, aber zweifellos wenig Schmeichelhaftes zischend entriss Herr Siegfried ihm das Tablet, kramte aus seinem blütenweißen Laborkittel ein Verbindungskabel und stöpselte es ein. Sebastian, der keine weiteren Auseinandersetzungen provozieren wollte, schraubte sich eilig aus den ledernen Untiefen und lupfte den dunkelblauen Schulpullover sowie sein verwaschenes T-Shirt. Mit schmalen Gurten befestigt klebte an seinem Leib ein winziges, flaches Kästchen. Es war eine Sonderanfertigung von einem ehemaligen Schüler, der mit diesem Gerät Sebastians Zustand, insbesondere seine Körperfunktionen aufzeichnete. Kaum waren die beiden Rechner miteinander verbunden, gruppierten sich drei Häupter um den Bildschirm. "Also, ich seh nix!" Konstatierte Herr Siegfried schließlich enttäuscht und damit schon wieder auf dem Kriegspfad mit sich, der Welt und überhaupt allem. "Geben wir es weiter zu Erebos." Schlug Herr Garfield eilig vor. "Wie immer, ja? Bis dahin sollten wir etwas essen und uns ein Päuschen gönnen!" "Ja, bloß nix arbeiten, hervorragendes Credo!" Ätzte Herr Siegfried gehässig. "Blöd bloß, dass ich der geschäftsführende Direktor dieser Irrenanstalt bin!" Unbehelligt von derlei Gemeinheiten drückte Herr Garfield Sebastian kurz tröstend an sich. "Geh du ruhig zum Essen, ja? Das wird schon!" Sein aufmunterndes Lächeln hätte selbst Polkappen zum Schmelzen gebracht. Dankbar dafür, dem Strafgericht zu entkommen, verabschiedete sich Sebastian eilig und suchte sein Heil in der Flucht. Auch Herr Garfield entschied, dass gesunde Speise, vor allem jetzt, Leib und Seele zusammenhalten sollte. Er kam jedoch nicht einen Schritt weit, da eine energische Hand seinen Kilt im Griff hatte. "Du denkst doch wohl nicht, dass du mich mit diesem Sauhaufen hier allein lassen kannst?!" Knurrte Herr Siegfried gefährlich ruhig in tiefen Basstönen. "Oh, ja, richtig." Herr Garfield wich ein wenig zurück, doch das brachte ihn in Trittweite der Papier-Mure und somit, nach einem erschrockenen Warnruf, auch prompt zu Fall. Warum er dabei den Kittel seines Geliebten nicht losließ, wissen nur die Götter des Slapstick und der dämlichen Fernsehunterhaltung. ~+~o~+~ Nachdem Sebastian seine Jutetasche seinem Schließfach anvertraut hatte, flitzte er eilig in die Kantine, lief die Theken ab, wo die Ersten schon wieder zum Nachschlagfassen anstanden und suchte sich einen freien Platz. Während er missmutig Kartoffelspalten in eine Gemüse-Currycreme tauchte und malmte, dachte er über seine unmittelbare Zukunft nach. Das gereichte ungeachtet der Aufmunterung von Herrn Garfield nicht zur Hebung seiner Laune. Nein, zuversichtlich war er wirklich nicht mehr. Noch vor eineinhalb Jahren war sein Leben ziemlich in Ordnung gewesen: er verstand sich gut mit seiner Mutter, hatte einige Freunde und schlug sich eben im Alltag recht anständig durch. Dann waren sie gekommen, diese heimtückischen Attacken von 'Wegsein'. Zuerst hatte er sie ignoriert, weil sie nur kurz waren, eine Art Sekundenschlaf angenommen. Steuern konnte er sie nicht, aber vielleicht gingen sie ja weg, waren bloß der Pubertät geschuldet. Oder so. Das Gegenteil trat jedoch ein. Die Aussetzer dauerten länger, riefen das Lehrpersonal auf den Plan, das zunächst annahm, er käme ins rebellische Alter und wolle sich unter dem anfänglichen Beifall der Klassengemeinschaft nur besonders aufsässig gebärden. Sebastian beteuerte seine Unschuld, seine Hilflosigkeit. Seine Mutter, von den Beschwerden irritiert, denn bisher zeichnete sich ihr Sohn nicht durch renitentes Verhalten aus, hielt eine organische Ursache für möglich. Dass er nämlich nicht, wie heimlich unterstellt wurde, Nächte vor der Glotze verbrachte oder nach der Schule nur noch vor dem Bildschirm zockte, wie es bei alleinstehenden Eltern ja gang und gäbe war, wusste sie zu gut. Sebastian wurde von diversen Ärzten förmlich auf den Kopf gestellt, geröntgt, gescannt, vermessen, abgehorcht, ja, er musste sogar eine Woche in einem Schlaflabor verbringen! Ihm wurde ein Aufzeichnungsgerät umgehängt, das man üblicherweise Personen mit Verdacht auf Herzprobleme verpasste, eine Langzeitstudie, dazu noch mehr Blutspenden zu Analysezwecken, als ein moderater Vampir eingefordert hätte. Die Ergebnisse waren ernüchternd: körperlich war Sebastian gesund, es gab keine Auffälligkeiten. Wenn er 'weg' war, so arbeitete sein Körper in einem entspannt-aufmerksamen Modus weiter. Er konnte sitzen, stehen, blinzeln, atmen. Nur sein Besitzer war weder ansprechbar, noch momentan. Die Ausfälle häuften sich, Sebastian verpasste sogar eine zweistündige Arbeit komplett, weil niemandem auffiel, dass seine Hand, noch den Füller haltend, nicht einmal über das Papier wanderte. Er war wie eingefroren, konnte nichts gegen diese Attacken unternehmen. Mit zunehmender Dauer und Länge der Absenzen verschlechterten sich nicht nur seine Noten bedenklich, auch die Beziehung zu seiner Mutter litt darunter. Sie glaubte ihm, verteidigte ihn, vertraute ihm, aber es war kräftezehrend und scheinbar fruchtlos. In Kombination mit einem Führungsjob in einer Wirtschaftsprüfungsfirma nicht gerade ein Honigschlecken. Nach dem Schuljahr wechselte er die Schule, doch dort ging es ihm noch schlechter, weil man ihn nicht kannte und wenig Verständnis für diese "komische Behinderung" hatte, die die anderen Jugendlichen dazu anstachelte, auch den Unterricht "aufzumischen". Seine Versetzung war gefährdet, seine Moral am Boden, sein Gesundheitszustand schlechter, weil sein Nervenkostüm streikte. Und dann waren da auch die Träume. Sie waren keine tatsächlichen Träume, weil er ja nach organischen Maßstäben wach war, aber er war 'woanders'. Ebenso wenig, wie er den Zeitpunkt der Attacken beeinflussen konnte, konnte er die Dauer und das Ziel seiner seltsamen Absenzen steuern. Zuerst war er wirklich nirgendwo gewesen oder konnte sich zumindest an nichts erinnern, wenn es anders gewesen wäre. Aber dann war er plötzlich 'wo', lag auf dem Rücken neben einer Landstraße und starrte auf ein zerstörtes Auto an einem Baum oder saß mit rauchenden, ausgemergelten Männern in einem Erdloch, während draußen gleißendes Licht brannte. Einmal befand er sich zu seiner größten Scham in den Armen eines ihm völlig unbekannten Jugendlichen, der ihn küsste. Was nicht sein konnte, weil er ja nicht 'da' war! Obwohl er den Druck der Arme spürte, die Hitze der Lippen. So, wie er bei den seltsamen Männern den Sinn ihrer Worte verstanden hatte, obwohl er eine ihm unbekannte Sprache hörte. Er hätte es jemandem sagen müssen, dass er möglicherweise während der Attacken in andere Personen schlüpfte. Aber das klang absolut nach esoterisch-überkandideltem Quatsch! Überhaupt, wie sollte das funktionieren?! Fing vielleicht sein Gehirn aufgrund irgendeiner Fehlschaltung die Wahrnehmungen anderer Menschen auf und glaubte deshalb, ER befände sich in ihnen, sah durch ihre Augen, hörte mit ihren Ohren? Bekloppt!! Warum hatte er es nicht getan, mal abgesehen von der Unmöglichkeit einer "außerkörperlichen Wanderung" seines Bewusstseins? Nun, die erste kleine Lüge war entstanden, weil er seine Erlebnisse tatsächlich für absurde Träume hielt. Als sich dazu noch die Aufforderung gesellte, artig alles aufzuzeichnen, was vor, während und nach den Attacken geschah, konnte er sich nicht überwinden, diese Details auch aufzuzeichnen. Vieles war zu peinlich, zu grauenvoll und zu beängstigend, um glaubhaft zu sein. Weil diese eine kleine Lüge immer weitere Lügen forderte, war sie zu einer gewaltigen Lüge ausgewachsen, die er nicht einmal hier, bei seiner letzten Chance auf so etwas wie eine erfolgreiche Schulkarriere, aufdecken konnte. Jemand hatte von jemandem gehört, dass er eine außergewöhnliche "Erkrankung" hatte. Deshalb war seiner Mutter die Internatsschule Sacred Spirits Acre SSA empfohlen worden. Zunächst wollte sie nichts davon wissen, Internate kosteten schließlich sehr viel Schulgeld, außerdem waren sie noch nie voneinander so lange getrennt gewesen, eine Kleinstfamilie gegen den Rest der Welt. Doch Sebastians desaströse Aussichten in der neuen Schule bewogen sie zu einem Umdenken. So befand er sich nun hier, auf einem Hügel, schlief in einem Achtbettzimmer und erfuhr durch seine Mitlernenden, dass es einen bunten Strauß an "Talenten" gab, die einem passieren konnten. Trotzdem, mit seinem Problem war er hier allein. Niemand schien vergleichbare Erfahrungen gemacht zu haben, was diese 'Absenzen' betraf. Freunde zu finden kam ihn hier auch nicht leichter an als auf der neuen Schule. Er war verunsichert, zurückhaltend und noch immer nicht ganz firm mit diesem ungewohnten Zusammenleben. Außerdem, was wäre, wenn die Kulanz der Internatsleitung nach diesem Schuljahr endete, wenn die Prämie teurer würde? Dann müsste er sich schon wieder trennen, wieder ausziehen, von vorne anfangen, erneut inquisitorische Fragen und Misstrauen aushalten. Er seufzte und löffelte seinen Pudding müde. Die Zukunft sah finster aus, um nicht zu sagen zappenduster. ~+~o~+~ Kapitel 4 - Undercover mal anders "Also, was genau soll ich noch mal tun?" Sougo Kitaooji, Mechaniker und Ingenieur, ein Bär von einem Mann Mitte Zwanzig mit exakt gestutztem Bart und Schopf, beäugte kritisch den etwas ramponierten Stoffmantel mit einem eher abschreckenden weinrot-goldenen Muster und einem ausgefransten Bortenbesatz, der verdächtig nach textilem Geschenkband aussah. "Fragen, ob alle schön brav gewesen sind!" Trompetete Kippei Yaotome mit elektrisierter Igelfrisur und vor Eifer beschlagenen Brillengläsern. Das wuchtige "Kassengestell" dominierte sein noch kindlich gerundetes Gesicht. "Aha." Brummte Sougo geduldig. Ein wenig misstrauischer beäugte er den Frisör ("Star-Hairdesigner, du zottelbärtiger Bär!") Tamaki Shinonome, der mit den elastischen Bändern eines falschen Rauschebarts kämpfte. Zumindest war das traurige Gewölk aus Kunstfaserlöckchen vor Jahren mal für diesen Zweck angefertigt worden. Aktuell ähnelte es eher einem stark beanspruchten und arg zerrupften Vogelnest. "Am Besten sagst du gar nichts." Bemerkte Tamaki schnippisch. "Pass auf, dass du die Mithra nicht verlierst oder über den Hirtenstab stolperst!" Er war ausgesprochen grantiger Stimmung, da sich Yamato Suou, ihr "Rudelführer", Gluckenmutti, Koch, Kümmerer und Schicksalsbruder vehement GEWEIGERT hatte, für eine besondere Festtagsreklame in seinem Salon Modell zu stehen! Yamato, seines Zeichens Ex-Elitekämpfer einer britischen Antiterroreinheit und nun offiziell Detektiv einer kleinen Agentur, die jedoch hauptsächlich als japanisches "A-Team" agierte, lupfte ärgerlich eine Augenbraue über den mandelförmigen Augen mit der ungewöhnlich hellen Iris. Manchmal nervte Tamakis übertriebener "Besitzanspruch" ihn gewaltig! Aber jede Bemerkung jetzt würde nur noch mehr Drama heraufbeschwören, darin war Tamaki unübertroffen, leider, auch wenn er sonst, glücklicherweise, keine ernst zu nehmenden Anstrengungen unternahm, die "Ufer" zu wechseln und seiner divenhaften Laune auch sexuell Ausdruck zu verleihen! "Du machst das bestimmt toll!!" Versicherte Kippei loyal und wippte aufgeregt auf dem Barhocker. Er war trotz seiner 18 Jahre ziemlich klein und von eher knuddeliger Gestalt, die sein Genie sehr gründlich verbarg. Welcher Sechsjährige konnte schon beim "Spielen" einen Geheimcode knacken? "Also stehe ich bloß als Weihnachtsmann herum?" Rekapitulierte Sougo und ertrug stoisch das unzufriedene Zupfen von Tamaki, dem Bart (falsch), Mantel (auch falsch) und Schopf (echt) nicht recht passen wollten. "NEIN!!!" Brüllte ihm aus gleich drei Kehlen ein Protestchor entgegen. "Du bist doch nicht der Weihnachtsmann!" Entsetzte sich Kippei schockiert, während Tamaki theatralisch aufstöhnte und beklagte. "Was für eine Blasphemie!" Sougo richtete seinen Blick aus imponierender Höhe auf Yamato, der sich nun auch erhob und die Mithra kritisch studierte, Pappmaschee, bemalt und beklebt und hoffentlich auch justierbar, denn sonst würden um Sougos Ohren nicht nur die Gummibänder vom Bart klemmen! "Das ist so: du bist heute der Nikolaus." Kippei dozierte munter. "Der Nikolaus war mal ein Bischof, der den Armen geholfen hat, weißt du? Er ist der Gute. Wenn man nämlich brav war, bekommt man ein kleines Geschenk." Ergänzte er ernst. "Und wenn man unartig war, dann kommt Knecht Ruprecht mit seinen Ruten und bestraft dich." Stichelte Tamaki gehässig und funkelte Sougo an. Sougo lupfte eine Augenbraue. "Klingt so, als könntest du schon mal mit einem gegerbten Fell rechnen." Zahlte er mit gleicher Münze zurück. Auch wenn er um Tamakis Charakterschwäche wusste, so hielt er es doch für notwendig, Tamakis Eifersuchtsattacken einen ordentlichen Dämpfer zu versetzen. "Von wegen!" Brauste Tamaki prompt auf, doch Kippei mischte sich ein. "Da hat Sougo aber recht, Tama-chan! Erst letzte Woche hast du Hinako ziemlich fies versetzt!" "Das hat NICHTS zu bedeuten!" Übertönte Tamaki ihn eilig, den Blick panisch auf Yamato gerichtet. Der sollte auf keinen Fall glauben, er habe etwa ein Interesse an jemand anderem als ihm! Yamato ignorierte das gewohnte Gezänk. Es war äußerst unwahrscheinlich, dass er jemals an Tamaki als Liebhaber Gefallen finden würde, das wussten sie beide. Aber er brachte es auch nicht über sich, Tamakis Besitzansprüche so kategorisch zurückzuweisen, dass sein "Bruder" aufgab, denn dann, daran bestand für ihn kein Zweifel, würde Tamaki seelisch zerbrechen. Er konnte bloß hoffen, dass irgendwann eine besondere Person auf den Plan trat, die Tamaki unvermutet und absolut "erwischte". Wahrscheinlich würde das Liebesgeplänkel dann zwar unerträglich, aber das würden sie wohl gemeinsam verkraften. Auf die Zehenspitzen steigend setzte er Sougo die Mithra auf, prüfte ihren Sitz. "Knecht Ruprecht begleitet den Heiligen St. Nikolaus." Erklärte er sachlich. "Zu Weihnachten kommt dann das Christkind, also die Verkörperung von Jesus, dem Sohn Gottes." Wenn man in einem katholischen Kinderheim aufwuchs, kannte man sich aus. "Der Weihnachtsmann ist ein amerikanischer Usurpator!" Schnaubte Kippei empört. "Eine Werbeikone für Brause!" Seiner grimmigen Miene nach zu urteilen eine große Teufelei. "Verstehe." Brummte Sougo und schnappte den Hirtenstab. "Und es heißt 'Fest der Liebenden', weil das Christkind geboren wurde?" "Nein!!" Erneut erzeugte er unerwarteten Widerspruch. Meine Güte, war das alles kompliziert!! Sougo, der bei seiner Großmutter aufgewachsen war, kannte sich mit den buddhistischen Festtagsritualen und dem spirituellen Shinto-Glauben aus, das war er schließlich gelehrt worden. Hier jedoch sah er sich vor merkwürdige Rätsel gestellt. "Nicht der Liebenden!" Korrigierte Kippei entschieden. "Fest der Liebe! Zwischen Gott und den Menschen, weil er ja seinen Sohn geschickt hat." "Nur hier wird Weihnachten als Fest für Verliebte angesehen. Noch so ein Werbetrick, damit man einen weiteren Anlass zum Konsum hat. Wie der Valentinstag." Ergänzte Yamato, trat einen Schritt zurück, um die Erscheinung seines Freundes zu begutachten. "Oh, der Valentinstag geht aber auf einen Heiligen zurück!" Protestierte Tamaki, der Valentinstage sehr genoss, auch wenn es ihm noch nie gelungen war, bei Yamato den entscheidenden Stich zu machen. Sougo kräuselte die Augenbrauen im Schatten der Pappmaschee-Mithra. "Ja, aber wenn doch der Sohn Gottes geboren wurde, dann gab's doch vorher..." "Es war selbstverständlich eine unbefleckte Empfängnis!" Dröhnten ihm gleich drei gelehrige Schüler entrüstet entgegen. "Wie?" Sougo verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. Hier wollte man ihn wohl verkohlen! "Eine Jungfrauengeburt." Dolmetschte Kippei artig. Sougo starrte seine drei Freunde, die auch gleichzeitig seine Familie bildeten, fassungslos an. Wer glaubte denn so einen abstrusen Unsinn?! Er brachte es jedoch nicht über das Herz, diese kuriose Geschichte weiter zu hinterfragen und eventuell die Gefühle der drei zu verletzen. Jeder nach seiner Fasson! "Da fehlt noch was." Bemerkte Yamato unterdessen kritisch. Er wandte sich ab, kramte in einer der zahlreichen Kisten herum und entzog ihr einen lädierten Stoffrucksack. "Tamaki, die alten Handpuppen bitte!" Kommandierte er und stopfte die komplette Crew eines Kasperletheaters in den Rucksack. Nun war der prall gefüllt. Sougo ahnte, was da kommen sollte und seufzte. "Das ist nicht dein Ernst, Yamato." "Mach's für die Kleinen, ja?" Yamato lächelte ihn erwartungsvoll und zutraulich an, wie Kippei schon in Vorfreude auf das Vergnügen, das sie den anderen Heimkindern bereiten würden. "Aye, aye." Brummte Sougo seufzend und ließ sich einen gewaltigen Ranzen vorschnallen, der die Nähte des Nikolauskostüms bis aufs Äußerste spannte. ~+~o~+~ Es war gar nicht so übel gewesen, befand Sougo. Die Kinder hatten zwei Lieder gesungen, er hatte ihnen kleine Päckchen mit Obst und Küchlein mit roter Bohnenpaste überreicht und immer brummend "warst du auch brav im vergangenen Jahr?" intoniert. Er hatte Respekt, aber keine Angst ausgelöst. Die älteren Kinder, die natürlich wussten, dass er nicht der "echte" Nikolaus war, hatten gezwinkert und mitgespielt, weil es schön war, eine Kleinigkeit zu erhalten und sich in der fröhlichen Atmosphäre einer entspannten Familie gemeinsam zu freuen. Sougo war an derartige Feierlichkeiten durchaus nicht gewöhnt, es gefiel ihm jedoch nicht schlecht, und er fragte sich, wie es wohl war, mit einer eigenen Familie zu leben. Ein zwiespältiger Gedanke. Sie waren ein verschworenes und eingespieltes Team, was deshalb so gut funktionierte, da es niemanden sonst gab. Hätte Tamaki zum Beispiel eine feste Freundin, so müsste man sich überlegen, ob man sie einweihen durfte. Oder musste? Um Abwesenheiten zu erklären, beispielsweise. Und wenn Yamato... aber das war noch komplizierter, befand Sougo. Würde Yamato sich überhaupt JEMALS erlauben, einen festen Partner zu finden? So streng, wie er mit sich selbst war? Ja, dachte Sougo, wenn einer von ihnen sich ernsthaft binden wollte, dann würde das ihr Teamgefüge erheblich verändern. Andererseits hatte er sich durchaus für sein Leben vorgestellt, eine Frau zu finden, die willens war, ihr Leben mit ihm zu teilen und, sofern möglich, Kinder mit ihm aufzuziehen. Ein bürgerlicher Traum. Der Traum eines Jungen, der früh die eigene Familie verloren und sich trotzdem glücklich geschätzt hatte, weil immer ein Mensch da war, ihn zu lieben. Seine Großmutter und Yui. Natürlich konnte man nichts erzwingen. Er schätzte sich selbst nicht als den Typ ein, der sich Hals über Kopf auf den ersten flüchtigen Blick hin verliebte. Er war da eher stoisch, baute eine Freundschaft auf. Teilte Interessen, verbrachte gemeinsame Zeit, ließ bestimmte Gefühle langsam wachsen. "Müde?" Yamatos Gesicht tauchte vor ihm auf, schmunzelnd. "In Gedanken." Antwortete Sougo ehrlich, lächelte versonnen zurück. Denn da gab es ja noch eine Komplikation: so lächerlich es für Außenstehende anmuten mochte, doch als er Yamato damals kennen lernte und schließlich auch erfuhr, dass sein neuer Kumpel und Trainingspartner schwul war, hätte er sich nie träumen lassen, dass Yamato sich in IHN verliebt hatte! Möglicherweise war Yamato auch gut genug darin gewesen, seine wahren Gefühle zu verbergen, aber wahrscheinlicher hatte er selbst sich durch absolute Blindheit ausgezeichnet. Wenn sie heute scherzten, oder als er Yamatos Kuss vor dessen Stammkneipe ziemlich ausführlich erwidert hatte, so zweifelte er doch in einem kleinen Winkel seines Hinterkopfes, ob es nicht doch möglich war? Ob Yamato nicht vielleicht immer noch, trotz William Lafitte... Aber ihre enge Freundschaft auf diffuse Emotionen hin riskieren?! "Willst du vielleicht eine Mandarine?" Yamato offerierte ihm, selbstverständlich säuberlich geschält, einige Fruchtspalten, beäugte ihn kritisch. "Danke!" Höflich pickte Sougo einen Spalt ab und mümmelte nachdenklich. "Was ist denn los?" Yamato berührte mit seiner Schulter in einem spielerischen Stups Sougos Oberarm. "Hast du keinen Spaß?" "Doch, ist wirklich nett." Sougo versuchte nicht einmal, Yamato zu täuschen, dafür kannten sie einander zu gut. "Ich habe mir nur vorgestellt, wie es wäre, mit eigenen Kindern zu feiern, irgendwann." "Oh." Yamato lächelte leicht, bot ihm das attraktive Profil. "Du wirst ein toller Daddy sein, bestimmt!" »Und was ist mit dir?« Fragte Sougo sich stumm, betrachtete das unleserliche Mienenspiel seines Freundes. »Kinder lieben dich, und du BRAUCHST jemanden, um den du dich sorgen kannst. Wie stellst du dir DEINE Zukunft vor?« Doch das wagte wohl niemand Yamato zu fragen. ~+~o~+~ Tamaki hatte sich wie immer bei Yamato untergehakt, bester Stimmung und trotz der späten Stunde aufgekratzt. Kippei, der definitiv keine Nachteule war, unterdrückte ein kiefersprengendes Gähnen und hielt sich an Sougos Seite, der ihn zur Not aussteuern konnte, falls er Laternen oder Reklametafeln gefährlich zu nahe kam. Eine schmissige Musicalmelodie plärrte unvermutet durch die stille Seitenstraße, die sie genommen hatten, um nach Hause zu gehen. "Oh, das ist meins!" Deklamierte Tamaki fröhlich. Drei Augenpaare drehten himmelwärts, wo die allgegenwärtige Lichtverschmutzung der Metropolregion die Sterne verschwinden ließ. Na klar, wer würde sonst bei gesundem Verstand so einen TERROR als Klingelton wählen! "Halloooo, hier Tamaki!" Trällerte der Hairdesigner beschwingt, doch seine rapid versteinernde Miene verriet dem Publikum, dass dieser Anruf nicht erfreulicher Natur war. "Was?... aber... ich verstehe nicht... was?... das kann nicht sein.... nein... ich komme sofort!" Mit einem metallischen Schnappgeräusch rastete das schrill beklebte und mit Anhängern überladene Mobiltelefon in der Verankerung ein. "Was ist passiert?" Yamato stellte sich seinem Ziehbruder in den Weg. "Mein Salon." Presste Tamaki angespannt hervor. "Ein Wasserrohrbruch, sagen sie. Tut mir leid, aber ich muss sofort nachschauen, was los ist!" "Ich komme mit." Yamato wandte sich Sougo zu. "Kannst du Kippei vielleicht nach Hause bringen?" "Ich bin noch wach!" Nuschelte der dösig, blinzelte jedoch wie eine Eule hinter den gewaltigen Gläsern. "Ich komme nach." Nickte Sougo, lud sich den eher übersichtlich großen Kippei auf den gewaltigen Rücken. "Festhalten, Kumpel!" Damit trabte er los, während Yamato und Tamaki sich eilig zum Salon aufmachten. ~+~o~+~ Bleich und stumm starrte Tamaki auf den kleinen Salon, den er von seinem Ersparten aufgemacht hatte. Es war nicht leicht, sich eine Reputation zu erwerben, wenn man quasi allein arbeitete und noch jung war. Sein Aussehen, sein Charme und auch seine Fähigkeiten hatten ihm jedoch zu seinem Stammpublikum verholfen. Die Zukunft hatte, zumindest bis vor einigen Stunden, sehr rosig ausgesehen. Nun schwamm ersoffene Dekoration aus Papiergirlanden, Pappsternchen und künstlichen Blüten in einer schmuddeligen Brühe zu ihren Füßen. Was nicht in Kunststoff verpackt war, quoll auf zu unbrauchbaren Massen von Stoff und Holzfasern. Das eingeschossige Haus entsprach der einfachen Bauweise des Viertels: eine Wohnung über dem Laden, alles handtuchschmal und so gebaut, dass spätestens nach zwanzig Jahren die Baulücke mit einem anderen Haus gefüllt werden konnte, wenn der Zahn der Zeit die Überreste zerkaut hatte. Eine ächzende Pumpe beförderte Restmengen Flüssigkeit in einen Abwasserkanal. Im ersten Stock, den Tamakis Vermieter als Lager genutzt hatte, musste wohl ein altes Rohr geplatzt sein und hatte wenig Widerstand gefunden, alles unter Wasser setzen zu können. "Das muss abgerissen werden." Stellte der Bezirksbeauftragte für die Sicherheit fest, drückte gegen die Wände. Aufgeweicht, wie sie waren, konnte er mühelos Löcher hineinbohren. "Sougo kommt mit dem Transporter." Yamato legte Tamaki einen Arm um die hochgezogenen Schultern. "Retten wir, was noch zu gebrauchen ist, in Ordnung?" Tamaki rührte sich nicht, seine flache Stimme war kaum zu verstehen. "Alles hin. Ich habe so lange dafür gearbeitet, und nun...." "Nun räumen wir auf und finden eine Lösung!" Stellte Yamato energisch klar, schüttelte Tamaki durch. "Kein Grund zu verzweifeln! Wir finden eben einen anderen Laden. Du denkst dir eine tolle, neue Deko aus! Los, Kopf hoch und ran an die Arbeit!" Gegen Yamatos verordnete Zuversicht zog Tamakis aufkeimende Wehleidigkeit den Kürzeren. Als Sougo mit dem Transporter eintraf, hatten sie bereits Flaschen, Dosen und allerlei Plastikgerätschaften geborgen, denen das Wasser nichts hatte anhaben können. "Den Stuhl können wir bestimmt auch retten." In ruhiger Tatkraft stellte Sougo einen Werkzeugkasten neben sich ab. Solange man etwas tun konnte, sank die Stimmung auch nicht auf den Nullpunkt. Konzentriert wühlten sie sich durch die Trümmer. Nach knapp zwei Stunden hatten sie alles von Wert aufgelesen, abgeschraubt und aufgeladen. Den traurigen Rest würde wohl das Abrissunternehmen entsorgen müssen, das für den nächsten Tag vom Vermieter einbestellt worden war. Tamaki unterdessen knurrte ärgerlich vor sich hin, denn sein Vermieter hatte sich geweigert, ihm die Kaution zurückzuerstatten. Bis nicht erwiesen sei, dass der Fehler bei der Mietsache selbst, also dem Rohr lag, bestand ja immer noch die Möglichkeit, dass sein Mieter für die Katastrophe verantwortlich war! So musste also ein Gutachten her, was wiederum Zeit benötigen würde... Tamaki schwante schon Übles. "Ich werde mit meinem Onkel sprechen." Raunte Yamato ihm zu und verhinderte Handgreiflichkeiten mit fesselnder Nähe. "Der wird bestimmt jemanden mit Expertise finden, der sich nicht kaufen lässt." "Wovon soll ich das bloß bezahlen?!" Tamaki schimpfte wütend. "Ich habe keinen Salon mehr und hier wird mich niemand anstellen!" Das war leider wahr, wie Yamato nicht umhin konnte anzuerkennen. Tamaki hatte Erfolg gehabt und so ein Erfolg zog nicht nur Neid nach sich, sondern bedeutete für andere Salons auch unliebsame Konkurrenz. Vor allem bei Frauen war es wichtig, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, damit sie wiederkamen und möglichst noch im Freundeskreis Empfehlungen aussprachen. Sollte Tamaki nun sein eigener Erfolg zum Verhängnis werden? "Ich höre mich um, versprochen!" Tröstend drückte Yamato Tamakis Schultern. "Lagern wir dein Zeug erst mal bei mir im Büro ein, und du übernachtest bei mir. Morgen sieht alles besser aus." "Glaub ich kaum." Grummelte Tamaki und lehnte sich stärker in die halbe Umarmung. "Es IST schon morgen." Und dem Himmel nach würde zu allem Überdruss auch noch ein Schauer auf sie niedergehen. ~+~o~+~ Kapitel 5 - Ein anderer Reisender? »Oh nein!« Dachte Sebastian, der sich daran erinnerte, dass er eigentlich an Nachhilfeübungen im Lernsaal saß. Zumindest sein Körper befand sich dort, seine Augen jedoch verrieten ihm, dass er in irgendeiner schlecht beleuchteten Spelunke am Tresen stand, mit schmutzigen Händen und überlangen Fingernägeln ein Schnapsglas umklammerte. Ein Teil von ihm "wusste", dass er ein alter Mann war, der in der Nähe in einem heruntergekommenen Einzimmerappartement im Souterrain hauste, sich das winzige bisschen menschlicher Gesellschaft in dieser Kneipe holte, wenn er hochprozentige Flüssignahrung einführte. Das Publikum, das in den schwimmenden Fokus geriet, während die Kehle brannte, nahm sich auch nicht besser aus: zumeist alte Männer in zu selten gewaschenen Kleidern, mit krummen Gliedern und verlebten Gesichtern, die zwischen der Oralinfusion auch noch die Lungen teerten. Sebastian schüttelte es, er fühlte seinen Ekel und gleichzeitig das befremdliche Gefühl der trostlosen Geborgenheit des mutmaßlich alten Mannes. Er wollte weg, zurück in seinen eigenen Körper, in seine Welt, raus aus diesem Gestank, der Tristesse, dem Dreck und dieser kaputten Figur! Aber wie?! »Ich will zurück! Ich will zurück!« Kommandierte Sebastian mit wachsender Verzweiflung. »Los, ich will zurück!« Das Resultat entsprach den Ergebnissen vorangegangener Versuche: es tat sich nichts. Stattdessen stierte er trübe durch die Augen des alten Mannes ins Ungefähre, als plötzlich, aus dem Nichts, sich ein Mann materialisierte. Nein, nicht ganz, denn der alte Mann schien diesen Mann NICHT zu sehen oder wahrzunehmen. Sebastian jedoch sah ihn ganz ohne Zweifel und er wirkte auch real. Innerlich zuckte er zusammen, als sich tiefgrüne Augen direkt auf ihn richteten. Konnte dieser Mann IHN wahrnehmen?! "Nanu, was tust du denn hier, Herzchen?" Die Stimme war warm, tief und volltönend, so wohlig wie eine große Glocke. Der alte Mann hörte sie nicht, sah nichts, niemand sonst schien etwas zu merken. Sebastian geriet in Panik. Dieser fremde Mann war wohl unsichtbar, aber ER hatte einen Körper und bewegte sich auf ihn zu, sah ihn unverwandt an! »Hilfe! Hilfe!« Rief er innerlich. »Bitte helfen Sie mir!« "Sprichst du nicht mit mir?" Erkundigte sich der Mann sanft. "Ah, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Perikles. Perry für meine Freunde." Die aparte Miene ließ vermuten, dass Sebastian zu diesem erlauchten Kreis gezählt werden sollte. »Hilfe! Können Sie mich hören?!« Sebastian versuchte es erneut. Wenn dieser Perry ihn wahrnahm, musste es doch auch möglich sein, mit ihm zu kommunizieren! In diesem Moment wurde jedoch alles schwarz, als der alte Mann die Lider senkte und einschlief. ~+~o~+~ "Das ist zu blöd!" Murmelte Sebastian leise. Welchen Sinn hatte es, falls es überhaupt einen gab!, in fremden Körpern zu landen und bloß aus ihren Augen zu glotzen?! Wenn er abends ins Bett kroch, auf den nachlassenden Lärm seiner Zimmergenossen lauschte, versuchte er im sicheren Hafen seiner Koje, willentlich den Körper zu "wechseln". Es funktionierte nicht! Was also tun?! Herr Siegfried hatte ihm zwar zähneknirschend gestattet, eventuelle Arbeiten nachzuholen, wenn er mal wieder unter einer Attacke litt, doch wie sollte es bloß weitergehen?! Wie schlimm konnte es noch werden?! Sein Körper arbeitete auch ohne seine Anwesenheit artig weiter, atmete, blinzelte, hielt den Kreislauf in Schwung und so weiter... Das bisschen Bewusstsein, was nach wissenschaftlichen Erkenntnissen so viel Energie beanspruchte, wurde offenkundig nicht sonderlich vermisst, wenn es mal in fremde Köpfe streunte. Sehr ernüchternd und ein wenig deprimierend. Weil er auf diese Weise nicht weiter kam, dachte er an Perry. Zweimal war er diesem merkwürdigen Mann nach ihrer ersten Begegnung erneut über den Weg gelaufen, wobei es eigentlich Perry war, der ihn aufstöberte, der ihn sah und zutreffend vermutete, dass Sebastian in Schwierigkeiten steckte, nicht antworten konnte. Perry fasste seine "Wirte" an, um zu überprüfen, ob Sebastian ihn spüren konnte, ohne den gewünschten Effekt. Was sollte er bloß tun?! War dieser Perry überhaupt vertrauenswürdig? Auf den ersten Blick wirkte er ein wenig zu aimabel. Die zugegeben sehr angenehme Stimme, die bezwingend grünen Augen, die natürliche Bräune, die silberweißen Haare, die er zu einem aparten Zöpfchen im Nacken zusammengebunden hatte, die schmalen, silberweißen Augenbrauen, die jede, lebendige Gebärde agil würzten. Schlichtweg zu freundlich, zu attraktiv, zu hilfsbereit, um wahr zu sein! »Aber vielleicht weiß er ja gar nicht, wer ich bin?« Erwog Sebastian und wälzte sich auf den Rücken. Trotz der silberweißen, dichten Mähne schätzte er Perry auf etwa Anfang Dreißig, einer dieser früh ergrauenden Schwarzhaarigen. Möglicherweise dachte der, dass sein Gegenüber eine hübsche, junge Frau war? "Na, was für ein Glück, dass er nicht an mich ran kommt! Die Pleite bleibt ihm erspart." Murmelte Sebastian in seine Decke. Ihm war elend zumute, und so langsam begriff er, warum Herr Siegfried ein schier unerschöpfliches Repertoire an Groll gegen den Rest der Welt hegte. Es schien die einzige Möglichkeit zu sein, etwas Schadenausgleich zu betreiben. ~+~o~+~ Es war kein schönes "Erwachen", das begriff Sebastian sofort. Eben noch im Musikunterricht klassischen Klängen gelauscht, nun lag er mit rasselndem Keuchen in einem unpersönlich-hellen Raum. Er hörte vage Arbeitsgeräusche, konnte jedoch nur die Zimmerdecke ausmachen, weil sein Wirt sie anvisierte. »Krankenhaus.« Konstatierte seine Nase, es roch zumindest danach und dieses erbärmliche Schnaufen, das er vernahm, deutete auf eine sehr unerfreuliche Kondition hin. »Und wenn er stirbt?!« Kam Sebastian ein erschreckender Gedanke. Er wusste nicht, ob seine Wirte jemals von ihrem Besucher erfuhren, aber was passierte mit IHM, wenn sein Wirt das Zeitliche segnete und er noch nicht zurück war?! Würde er denn zurückkommen können?! Wie funktionierte das bloß, verflixt?! "Guten Abend." Diese Stimme kannte er. Perry! "Sag mal, du suchst dir wirklich die seltsamsten Orte aus." Perry klang amüsiert. "Und ich glaube nicht, dass du hier lange bleiben solltest." Sein Gesicht schwebte über Sebastian, ein wenig besorgt, aber von herausforderndem Charme. "Verschwinde nicht gleich wieder, ja? Wie soll ich dir sonst helfen, mein Freund?" »Ist nicht so, als könnte ich das beeinflussen!« Schimpfte Sebastian, doch er wusste ja, dass er sich nicht bemerkbar machen konnte. "Ich werde dich finden." Perry zwinkerte. "Dann finden wir gemeinsam heraus, wie du dein Talent steuern kannst. Denk an mich, dann funktioniert es noch besser!" »DAS ist eine ziemlich billige Anmache!« Dachte Sebastian, zwischen altkluger Verachtung und dem Wunsch nach Beistand schwankend. "Gib dir Mühe, hm?" Perry lächelte becircend. "Ich möchte dich wirklich gern kennen lernen!" »Das überlege ich mir lieber!« Sebastian fühlte sich in die Enge getrieben und gleichzeitig von der Wärme der grünen Augen angezogen. In diesem Augenblick lärmte in schrillem Alarm ein Überwachungsgerät los, sie hörten beide das abgehackte Keuchen des Wirts. Sebastian suchte panisch nach Hilfe. Er SPÜRTE den herannahenden Kollaps des fremden Körpers! "Sieh in meine Augen!" Kommandierte Perry aufgerüttelt. "Konzentrier dich auf mich!" Sebastian versuchte es, brannte sich die grünen Augen ins Gedächtnis, doch gleich darauf senkte sein Wirt die Lider und starb wenige Momente später. ~+~o~+~ Dieses Mal erwachte Sebastian nicht in entspannter Ruhe, sondern mit rasendem Puls, heftigem Schwitzen und einem Aufkeuchen. Das ging glücklicherweise im großen Finale einer Oper unter, die die Klasse akustisch umspülte. Er klammerte sich mit weißen Fingerkuppen an die Sitzfläche seines Stuhls und rief sich sein Mantra ins Gedächtnis: das passiert nicht dir! Das bist nicht du! Aber wären da nicht die grünen Augen gewesen, Perrys Stimme, ein "Gefühl" seiner Präsenz, hätte es möglicherweise übel enden können. Wie hatte Perry das gemacht, wie hatte er es geschafft, ihn "berühren" zu können? Sebastian grübelte noch den ganzen Tag darüber, doch eine Antwort fand er nicht, was ihn dazu verleitete, Anmache hin oder her, ziemlich intensiv an Perry zu denken. ~+~o~+~ Kapitel 6 - Kratzbürsten "Yamato, lange nicht gesehen!" Die Mama-san, ein stämmiger Bursche in einem altmodischen Cocktailkleid und Minipli mit Haarband, begrüßte sie ironisch. "Und wen haben wir denn da? Die kleine Diva, was?" Tamaki, der aus Neugierde einmal Yamato begleitet hatte, stellte sofort die Stacheln auf. "Nur kein Neid, alte Schachtel! Ich muss wenigstens nicht drei Zentimeter Spachtelmasse auflegen, um nicht als Mitte Fünfzig durchzugehen!" "Frechheit! Du eingebildeter Bengel, dir werd ich gleich....!" Doch bevor Mama-sans bester "Freund", der bewährte Baseballschläger und seines Zeichens "Friedensstifter" zum Einsatz kam, trat Yamato zwischen die Streithammel. "Jetzt mal langsam, alle beide!" Knurrte er streng. "Wir sind hier auf ein Bier, Mama-san. Ihr beide werdet euch vertragen, da ihr BEIDE sehr genau wisst, dass ihr nicht im selben Tümpel fischt!" Bei jedem anderen hätte diese Strategie wohl versagt, doch Yamatos helle Augen funkelten derart bezwingend, dass die ungleichen Kontrahenten eine jeweilige Entschuldigung vernuschelten und Blickkontakt vermieden. Yamato seufzte leise und nahm gegenüber der Bar mit Tamaki Platz. Er hoffte, hier auf ein paar Bekannte zu treffen, die ihnen vielleicht einen Tipp für einen kleinen Gewerberaum geben konnten, gerade groß genug, um Tamaki einen neuen Start zu ermöglichen. Natürlich hätte man auch über eine Agentur gehen können, doch bei ihrem knappen Budget konnte man sich nur eine direkte Vermittlung über Freunde oder Bekannte leisten. Dazu ließ es sich nicht vermeiden, das Unglück zu thematisieren, doch die Mama-san besaß die Größe, nicht selbstzufrieden zu kommentieren, dass da wohl jemand für seine Hybris bestraft worden war. "Nun, ich wüsste da schon was." Ein untersetzter Mann mit Glatze und grauem Anzug nippte an seinem Pflaumenwein. "Ist allerdings im 2. Bezirk." Tamaki, dessen Zuversicht längst geschrumpft war, verzichtete auf einen bissigen Kommentar. Was sollte ein ausgewiesener Hairdesigner, der es am Besten verstand, Frauen zu becircen, in einem Schwulen-Vergnügungsviertel? "Wirklich? Wie lautet die Adresse?" Yamato kannte derlei Bedenken nicht, sondern ließ sich auf eine Serviette die Details zeichnen. "Das klingt vielversprechend. Wer vermittelt den Laden denn?" Eine sehr beredete Stille trat ein. "Das ist doch hoffentlich keine Yakuza-Bude, oder?" Tamaki hatte keine Lust auf bedeutungsschwangere Gesten mehr. "Dann verzichtete ich nämlich dankend." "Oh... nein, das ist es nicht..." Ihr freundlicher Vermittler druckste verlegen herum. "Es ist vielmehr...der Vermieter hat die Verwaltung quasi übertragen." "Und an wen?" Yamato strich sich in einer aufreizenden Geste durch die sanft gewellten Strähnen. Sein Gegenüber glotzte hingerissen mit halb abgestürztem Unterkiefer. Erst das Austrocknen der Zunge, die wie Fensterleder aus dem Hals hing, erinnerte an die Gegenwart. "Oh! Ich meine...also... nun ja..." Nun reduzierte sich die eloquente Ausführung auf ein vertrauliches Flüstern. "Es ist... Kat." Während tiefschürfende Blicke ganze Bibliotheksregale sprachen, platzte Tamaki indigniert ob der unverständlichen Geheimbotschaften heraus. "Wer ist jetzt dieser Kat?!" Yamato grinste schief. "Ich glaube, das findest du besser selbst heraus." ~+~o~+~ "So ein Quatsch!" Knurrte Tamaki grimmig und vertrieb mit seinem frostigen Blick die interessierte Aufmerksamkeit Vergnügungssüchtiger. Nicht, dass er eine Aversion gegen Schwule hatte, keineswegs, aber so langsam ging es ihm MÄCHTIG auf den Zeiger, fortwährend angeflirtet oder angesprochen zu werden! Manche Typen waren ja die reinsten Wegelagerer! Yamato verkniff sich süffisante Kommentare. Er kannte selbstredend den 2. Bezirk und wollte nicht unbedingt forcieren, dass Tamaki nähere Bekanntschaft mit einer Szene schloss, die ihn daran erinnerte, dass seine ewigen Liebesschwüre einen Körpereinsatz verlangten, den er wohl nicht zu leisten vermochte. Yamato fing zwar interessierte Blicke auf, gab jedoch mit kleinen Gesten zu verstehen, dass er geschäftlich hier war und nicht des Amüsements wegen. Tamaki dagegen, das registrierte sein amüsierter Seitenblick, reagierte genervt und wusste wahrscheinlich nicht, was ärgerlicher war: für schwul oder für eine Okama gehalten zu werden, wo er doch ein so unermüdlicher Womanizer war! Sie erreichten das schmale, hohe Gebäude, in welchem jedes Stockwerk mit einem anderen Gewerbe aufwartete, im Keller ein Tanzclub, darüber mehrere Geschosse mit Spiel- und Amüsierautomaten, unter dem Dach ein exklusiver Nachtclub, darunter ein Restaurant und im 7. Stock war das "Kat's", eine Bar. Deren Inhaberin nun darüber befinden würde, ob der im 5. Stockwerk neben einem Dessous- und Sexspielzeugladen gelegene Gewerberaum Tamakis neuen Salon beherbergen durfte. "Hier kriege ich doch niemals meine Stammkundinnen hin!" Beklagte sich Tamaki, als sie das Treppenhaus nach oben stiegen. Yamato war für eine gründliche Erkundigung, und die stellte man nicht an, indem man sich faul im Aufzug nach oben schaukeln ließ. "Vielleicht werden sie es als Abenteuer betrachten und gern mal reinschnuppern." Yamato traute der weiblichen Bevölkerung eine Menge unerwarteter Qualitäten zu. Außerdem waren ihm mehr als einmal bei seinen nächtlichen Vergnügungstouren Damengruppen über den Weg gelaufen, die eigens in den 2. Bezirk kamen, um mal so richtig über die Stränge zu schlagen. Im 5. Stockwerk verließen sie das enge und nur diffus beleuchtete Treppenhaus. Neben dem Laden war eine gläserne Front mit einer Eingangstür zu erkennen. Dahinter klebten jedoch undurchsichtige Lagen von Papier, die jeden Eindruck von der Aufteilung und Größe der Gewerbefläche verhinderten. "Nun, dann werden wir mal sehen, ob die Madame uns empfängt." Dirigierte Yamato Tamaki wieder zum Treppenhaus. Kat war nicht eine Madame im Sinne einer Kupplerin oder Zuhälterin, nein, sie hätte durchaus als Mama-san durchgehen können. Wenn sie nicht eben Kat gewesen wäre. Yamato hatte schon so Einiges gehört. Im Kat's selbst war er noch nie gewesen, denn auch wenn die Lage nicht sonderlich exklusiv wirkte, so hatte das Kat's zahlungskräftige und oft elitäre Kundschaft. Mal eben mit Lederjacke und Jeans reinflocken, DAS funktionierte nicht. "Ach du liebe Güte!" Stöhnte Tamaki neben ihm, als sie sich dem Eingang näherten. Ein Neonschriftzug über einer gewaltigen Stahltür mit einem Schiebefensterchen, rechts und links schwere Samtvorhänge. Yamato zog an einem dicken Glockenstrang, der wie eine Schmuckkordel zu den Vorhängen wirkte. Das winzige Fensterchen wurde aufgeschoben und ein paar blutunterlaufene Augen glotzten auf sie herunter. Wenn ihr Besitzer nicht auf einer Stehleiter stand, so zeichnete er sich durch eine imponierende Größe aus. "Was wünschen Sie?" Grunzte der Türwächter. "Guten Abend, wir sind wegen des Ladens im 5. Stockwerk hier." Yamato lächelte höflich, jedoch in einer entschiedenen Manier nach oben. "Aha." Mit einem Ruck schloss sich das Schiebefensterchen wieder, weiter tat sich jedoch nichts. "Was ist denn jetzt?!" Tamaki stampfte mit seiner Cowboystiefelette auf. "Hat er sich die Hand gebrochen und kriegt die blöde Tür nicht auf, oder was?!" Yamato, der vermutete, dass die berüchtigte Kat nun selbst informiert wurde, um sich zweifelsohne mit versteckten Kameras darüber ein Bild zu machen, wer vor der Tür stand, wappnete sich mit Geduld, Zappeligkeit half schließlich nicht weiter. Gefühlte Ewigkeiten später schwang lautlos die schwere Tür in eine von warmem Glanz wie bei Kaminfeuer erfüllte Bar auf. Sanfter Swing, der Duft von Räucherwerk und Whiskey, Männer in gutsitzenden Anzügen, hier und da eine Zigarre, gedämpfte Gespräche. Eine Atmosphäre wie eine Umarmung von Nostalgie. Eine Erscheinung vertrat ihnen den Weg und verhinderte das Eindringen in das verlockende Ambiente vergangener "Herrschaftswelten". "Na, sieh mal einer an, was der Regen so reinspült." Die Stimme war samtig mit rauen Kanten, eine zweite Lauren Bacall. Ihre Eigentümerin trug ein schmales Schlauchkleid im Stil der 40iger, erschreckend hohe Absätze an ihren Pumps und eine Miene arroganter Selbstherrlichkeit zur Schau. Eine üppige Fülle schwarzer Locken legten sich auf Schulterpolster, lediglich ein gerader, kurzer Pony fiel in die Stirn. "Guten Abend." Yamato goutierte die Erscheinung. "Sie sind sicher Kat. Wir sind hier, um uns den Laden im 5. anzusehen. Das ist Tamaki Shinonome, und ich bin Yamato Suou." Er überreichte eine Visitenkarte. "Hm!" Schnappte die Frau kritisch. "Und was für eine Art von Geschäft wollt ihr betreiben?" "Ich bin Hairdesigner und suche einen geeigneten Raum für meinen Salon!" Fauchte Tamaki zurück, kopierte unbewusst die überhebliche Pose ihres Gegenüber. "Ach ja?" Eine gezirkelte Augenbraue zog sich in Bette Davis-Manier nach oben. "Wo haben Sie IHRE Visitenkarten, Figaro?" "Die sind leider alle ABGESOFFEN bei einem Rohrbruch." Ätzte Tamaki giftig zurück. "Ich nehme an, IHRE Visitenkarte steckt im Strumpfhalter, gleich neben dem Trostfläschchen!" Yamato spürte, wie seine Kinnlade herabsackte. SO hatte er Tamaki noch nie mit einer Frau sprechen hören! Zweifelsohne würden gleich Unerfreulichkeiten über sie hereinbrechen. "Ich muss wenigstens nicht an Haarspray schnüffeln, um in Stimmung zu kommen." Schnarrte Kat zurück. "Ist Prince Charming hier noch mit weiteren Talenten gesegnet außer einem sonnigen Gemüt?" Wandte sie sich an Yamato, der seufzte. Na herrlich, Intimfeindschaft auf den ersten Blick! Unterdessen war Kat um Tamaki herumgestöckelt, lässig, während ihr sezierend-kritischer Blick jeden Millimeter inspizierte. Tamakis Blick sandte Dolche als Antwort oder auch Krummschwerter. "Nun denn." Mit einem theatralischen Seufzer krümmte sie einen Zeigefinger, mit einer künstlichen Kralle geschmückt. "Bei Fuß, du feuchter Traum aller Hausfrauen in den Wechseljahren, wollen mal sehen, was du kannst." Tamaki hatte nun metaphorisch Schaum vor dem Mund, ballte die Fäuste und zickte zurück. "Ganz wie befehlen, Madame Frankenstein! Hoffentlich verirrt sich kein Sonnenstrahl, sonst brauchen wir für Madame noch Kehrbesen und Schaufel!" Yamato hielt den Moment für gekommen, zwischen die beiden "gesträubten Killerkatzen" zu treten, bevor Handgreiflichkeiten einsetzten. "Ja, schauen wir uns den Laden erst mal an." Übertönte er beidseitiges scharfes Atemeinziehen, um die nächste Verbalattacke zu unterbinden. "Pff!" Schnaubte Kat, die Hände in die zerbrechliche Taille gestemmt, bevor sie sich mit hochgerecktem Kinn auf den schwindelerregenden Absätzen umdrehte und mit einem aufreizenden Gang davonschwebte. Tamaki knurrte vernehmlich, was Yamato bis dato nicht vorstellbar schien. "Reiß dich doch zusammen!" Flüsterte er seinem Ziehbruder energisch zu und packte dessen Oberarm. "Die will dich doch bloß vorführen!" "Wenn sie Streit sucht, kann sie den bekommen!" Tamaki jedoch zeigte sich weder versöhnlich, noch vernünftig. Mit schlurfendem Schritt folgte er Yamato und Kat zum Aufzug, verlegte sich wie Kat im Aufzug selbst auf ein feindseliges Anstarren. »Das können wir wohl vergessen.« Seufzte Yamato innerlich. Wieder stolzierte Kat voraus, entriegelte den gläsernen Zugang und tastete nach einem Lichtschalter. Der Verkaufsraum war leer, gefliest und hatte nach hinten raus noch ein Kämmerchen. Im Kämmerchen fanden sich Leitungen für Wasser, ein Ausgussbecken und eine schmucklose Bodentoilette. Während Yamato und Tamaki die übersichtlichen Details schweigend goutierten, stöckelte Kat vor den Laden, zückte ein Mobiltelefon und plauderte mit rauer Stimme. Als sie ihr Telefonat beendet hatte, baute sich Tamaki vor ihr auf, die Arme vor der Brust verschränkt. "Was soll der Spaß hier kosten?" "Wer sagt, dass du als Mieter in Frage kommst?" Schnarrte Kat in demselben schnippischen Tonfall zurück. "Habe ich nicht erwähnt, dass ich eine Kostprobe sehen will? Wohl schon senil, was? Oder taub?" Tamaki stichelte widerborstig. "Was denn, soll ich etwa die Perücke von Madame aufputzen, oder was?" Taktvolle Rücksichtnahme schien ihm HIER nicht angezeigt. "Pff!" Schnaubte Kat gehässig. "So einen eitlen Gockel wie dich lasse ich doch nicht mit den ungewaschenen Greifern an meine Zweitfrisur! Ah!" Sie sah an ihm vorbei, stieß ihn dann betont mit der Schulter an. "Steh doch nicht im Weg rum, du Trottel!" Das Objekt ihrer Aufmerksamkeit hatte den schweren Landgang eines lebenslangen Matrosen, eine in der Mitte ausgeprägte Figur, einen Quadratschädel über einem quasi nicht existenten Hals und wirre, dünne Haare, die in einer schlechten Dauerwelle um den Kopf wie altes Sauerkraut hingen. "Kat! Oh, Kat, Süße, das ist ja so lieb, dass du an mich gedacht hast!" Trällerte ein Bariton in einem bedenklichen Zwitschertonfall. "Ich komme ja zu nix mehr!" Kat warf Tamaki einen triumphierenden Blick zu und schnurrte guttural. "Selena, vielen Dank, dass du dir Zeit für mich nimmst. Dieser komische Vogel da will Senseis Raum mieten und behauptet, er sei Hairdesigner." Die Zwischentöne ließen keinen Zweifel daran, dass Kat diese Behauptung für definitiv unwahr hielt. Tamaki jedoch gab sich weder geschlagen, noch war er bereit, diesen Wettkampf auszulassen. Oh nein! "Enchanté!" Er machte einen eleganten Kratzfuß, kaperte eine Pranke und hauchte einen Kuss auf den fleckigen Handrücken. "Tamaki Shinonome, zu Ihren Diensten, Madame Selena! Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen." Säuselte er in GENAU dem Vibrato, das seinen Charme unwiderstehlich machte. "Huuuiiii!" Quiekte Selena im Bariton und errötete unter den unerfreulichen Schminkversuchen. "Nein, was für ein schöner Mann! Sie gefallen mir, Tamaki-chan!" "Das freut mich." Grinste Tamaki und zwinkerte. "Und ich bin so kühn zu sagen: Sie gefallen mir auch, Selena! Wollen wir nicht ein wenig plaudern?" Yamato seufzte stumm und zog sich in den Hintergrund zurück. Wenn Tamaki wollte, war er beinahe beängstigend liebenswürdig, aufmerksam und zartfühlend. "Nicht so schnell, Romeo für Arme!" Mischte sich Kat mit rauer Stimme ein. "Erst mal will ich ein Gesellenstück sehen!" Rasch hatte sie sich zwischen Selena und Tamaki positioniert und tippte ihm mit einer lackierten Kralle gegen die Brust. "Also, Schmalspur-Tarzan, hier ist deine Aufgabe: putz meine liebe Freundin Selena mal so richtig raus!" Tamakis Augen verengten sich zu Schlitzen. Für ihn war Highnoon, und seine Fingerspitzen verlangten nach den Colts in seinem Hüfthalfter! "Hier etwa?" Grollte er mit dramatischer Geste zurück. "Sicher doch, oder ist dir das zu schwierig, Meister HAIRDESIGNER?" Äffte Kat herausfordernd, bevor sie sich in arroganter Pose abwandte und über eine schmale, gepolsterte Schulter schnurrte. "Ich bin sicher, in Selenas Wundertüte findest du ein paar Hilfsmittel!" Tamaki schenkte ihr einen giftigen Blick, bevor er sich demonstrativ abwandte, einen Arm anbot und Selena unterhakte. "Nun, meine Liebe, von Ihnen hängt meine Zukunft ab. Ich habe nämlich gerade meinen eigenen Salon durch einen Wasserrohrbruch verloren und bin den Launen von MADAME FORTUNA ausgeliefert!" Diesen Seitenhieb quittierte Kat mit einem Schnauben, lehnte sich an die gläserne, noch zugeklebte Eingangsfront und blies provozierend eine große Kaugummiblase auf. Seltsamerweise wirkte es nicht unpassend, sondern entsprach der lässigen Selbstsicherheit eines Filmstars aus den Dreißigern mit Zigarettenspitze. Yamato fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und seufzte. Hier ging eindeutig etwas Merkwürdiges vor! Sein Ziehbruder dagegen requirierte einen Abfalleimer, drehte diesen um, legte seine Jacke als Sitzpolster darauf und bat Selena, doch freundlichst Platz zu nehmen. Hingerissen erlaubte sie ihm selbstverständlich angesichts all der Schicksalsschläge, in ihrer geräumigen Handtasche zu wühlen, die manch einer als Handgepäck eingestuft hätte. Eine einfache Aufgabe war ihm nicht gestellt worden, ganz klar. Man konnte kaum vergessen machen, dass Selenas zarte Seele in dem kräftigen, gedrungenen Körper eines älteren Mannes steckte, mit schütterem Haar und einer grauenvollen Dauerwelle. Aber Tamaki ließ sich nicht ins Bockshorn jagen. Warum auch? Geübt plauderte und scherzte er mit Selena, während er mit einer Nagelschere ein wenig kürzte, mit Sprudelwasser das traurige Gewöll auf dem Schädel anfeuchtete und nach weniger als fünf Minuten quasi als Busenfreundin fungierte. Yamato staunte ungläubig, wie geschickt Tamaki aus dem beeindruckenden Fundus von Probepäckchen und billigem Makeup dezente Farben applizierte, eine aparte Kurzhaarfrisur zauberte und der vor Begeisterung zu Tränen gerührten Selena einen kleinen Handspiegel vorhielt. Sie wirkte nicht etwa wie eine Barbiepuppe, künstlich zugespachtelt, bis jeder individuelle Zug verloren war, sondern wie eine ältere Frau mit etwas herberen Zügen, deren kraftvolle Vitalität in den Vordergrund gerückt wurde. "Oh! Ooohh! Oh, ist das SCHÖN!" Schluchzte Selena und presste beide Pranken auf die mächtige Brust. "Oh, ganz wundervoll! Oh, lieber Tamaki-chan, das ist so schön!" "Ich habe nur in Szene gesetzt, was die Natur selbst geschaffen hat." Schnurrte Tamaki süffisant und verbat sich den gehässigen Seitenblick zu Kat nicht. Selena erhob sich von ihrem Mülltonnenthron und pirouettierte massig vor Kat. "Kat, sieh nur! Ist er nicht ein Künstler?! Oh, bitte, leg beim Sensei ein gutes Wort für Tamaki-chan ein, ja? Ich werde mit all meinen Freundinnen kommen!" Kat lupfte eine ausdrucksstarke Augenbraue. "Sieht wirklich so aus, als wäre dieser Westentaschen-Casanova kein ganz hoffnungsloser Fall. Nun, wir werden sehen." Sie tippte Yamato mit der Fingerspitze vor die Brust. "Rufen Sie mich nicht an, ich rufe Sie an." An Selena gewandt ergänzte sie. "Liebes, bring mir doch nachher netterweise die Schlüssel, ja? Der Schniegelpoppi will sicher noch Maß nehmen für die Gardinen." Besagter Schniegelpoppi fauchte. "Herzlichsten Dank auch, Madame Giftzahn! Keine Angst, so hässliche Vorhangmonster mit Mottenbesatz wie vor Ihrer Hütte werde ich nicht aufhängen!" Kat jedoch drehte sich nicht mal mehr zu ihm um, bevor sie den Aufzug betrat. "Was für eine Giftspritze!" Murmelte Yamato und legte Tamaki eine Hand auf die Schulter. "Sehen wir uns besser nach was anderem um." "Nichts da!" Tamaki schüttelte seine Jacke aus und funkelte seinen Ziehbruder kämpferisch an. "Sie wird sich ins Zeug legen, damit ich hier einziehen kann, jede Wette! Sonst würde sie ja verpassen, wie ich ordentlich auf meine große Schnauze falle!" "Och, ärger dich nicht, Tamaki-chan." Mischte Selena sich gutmütig im Bariton ein. "Kat ist ein bisschen kratzbürstig, aber wenn man sie zu nehmen weiß, ist sie ein prima Kumpel!" "Das verbirgt sie aber perfekt." Stellte Yamato fest. "Also, willst du noch was notieren, Tamaki?" Sein Bruder schritt bereits den Raum ab, konzentriert und entschlossen, hinter seiner Stirn arbeitete es. "Das wird schon." Versicherte Selena Yamato vertraulich, zwinkerte hochgestimmt. "Der Sensei wird sich freuen, wenn jemand den Raum hier mit Leben füllt." "Was war denn hier vorher drin?" Yamato runzelte die Stirn. "Oh, da hat der Sensei dreimal die Woche eine Art Erste Hilfe-Ambulanz geboten." Erleuchtete Selena ihn munter. "Aber nun, wo er 82 Jahre alt ist, will er nicht mehr so viel unterwegs sein, also vermittelt Kat jetzt den Raum, aber nicht an jeden, versteht sich ja. Sie wollen hier keinen Ärger mit Kriminellen haben." Nun, mit einer Spielhalle in den unteren Geschossen zweifelte Yamato zwar daran, diese heheren Grundsätze für das komplette Gebäude einhalten zu können, doch grundsätzlich fand er diese Idee sympathisch. "Der Sensei wird Tamaki-chan bestimmt akzeptieren!" Verbreitete Selena Enthusiasmus wie eine Droge. "Oh, ich freue mich schon darauf, hier mit meinen Freundinnen verwöhnt zu werden!" »Na, ob Tamaki das auch noch so sieht, wenn ihm klar wird, wie niedrig die tatsächliche 'Frauenquote' hier ist?« Fragte sich Yamato, schwieg jedoch. Es sah nämlich nicht so aus, als wäre sein Ziehbruder von dieser verrückten Nachbarschaft hier für seinen neuen Salon abzubringen. ~+~o~+~ Kapitel 7 - Ein Lehrmeister? Er war wütend! Oder zumindest frustriert und enttäuscht, denn so oft und intensiv Sebastian auch an Perry dachte, der ihn zwar fand, wenn er gerade mal wieder in wildfremden Körpern landete, manchmal schneller, manchmal langsamer: es gelang nie, sich tatsächlich zu treffen. »Wobei er es mir ja auch echt leicht macht!« Zürnte Sebastian im Stillen, während er sich nach der Dusche frottierte. Was wäre zum Beispiel einfacher gewesen, als mal eben Anschrift, Telefonnummer oder E-Mail-Adresse zu nennen?! Oder wenigstens den vollen Namen!! Aber nein, stattdessen versuchte Perry ständig, IHN zu einer Reaktion zu bewegen, flirtete ihn an und neckte ihn, ganz unbeeindruckt von Sebastians Hilflosigkeit, welche Rendezvous-Orte er sich auszusuchen pflegte. Die Erinnerung an ihr letztes "Treffen" vor zwei Tagen trieb Sebastian die Röte ins Gesicht. Er hatte zuerst gar nicht geschaltet. Die merkwürdige Beleuchtung, der Typ mit dem seltsamen Riesenspiegel und dann der andere, splitterfasernackte Typ, der ihn gerade, nun ja, vögelte. Sebastian war mitten in eine Porno-Produktion geraten, schlimmer noch, in einen der beiden Protagonisten! Für einen 15-Jährigen, der sich selbst als Spätzünder einschätzte und schon genug Probleme mit der bloßen Existenz hatte, ein Kulturschock! Da ging's rustikal zur Sache, alles hatte quasi olympischen Charakter ohne Feigenblatt und, obwohl er sich wirklich bemühte, SPÜRTE er die Empfindungen seines Wirts, was ihm hochnotpeinlich war. Während er sich ebenso verzweifelt wie chancenlos bemüht hatte, SOFORT wieder in seinen Körper zurückzukehren und nicht EINEN EINZIGEN GEDANKEN an diese Darbietung zu verschwenden, war Perry mit der gewohnten Nonchalance aus dem Nichts erschienen, hatte die Frechheit besessen, sich einfach neben ihn auf die Matratze zu platzieren, lässig ein Bein über das andere geschlagen und dabei höchst befriedigt gegrinst. "Oh lala, mein Freund, möchtest du mir etwas sagen? Nicht besonders subtil, gleichwohl, ich bin geschmeichelt." Hatte er Sebastian ins Ohr geschnurrt und lasziv gestöhnt. "Das war ja wohl das Letzte!" Knurrte Sebastian, während er sich seinen Pyjama und den Bademantel überstreifte. Wie konnte man sich bloß so KINDISCH benehmen! Außerdem war es grausam, ihn zu verspotten, wo die Situation doch alles andere als angenehm war! Sich leider auch in sein Gedächtnis geprägt hatte: die Hitze, der Schweiß- und Aftershave-Geruch, die heftigen, körperlichen Betätigungen, die Eigendynamik, die das Ankoppeln gewann. Eine beängstigende, verbotene und gleichzeitig überwältigend reizvolle Erinnerung. »Nein! Aus!« Ermahnte er sich streng, wollte sich nicht noch eine Nacht hin und her wälzen, Träume haben, die feucht endeten und höchst unwillkommen waren. ~+~o~+~ Es war eine ziemlich fiese Grippe, die sich an diese unerfreuliche Episode anschloss. Sie nahm damit ihren Lauf, dass Sebastian wegen der unbotmäßigen Träume stark schwitzte, sich verkühlte und deshalb unfreiwillig Gastgeber für all die streunenden Viren wurde, die das Gemischtwarenwetter eines zünftigen Herbstes so bot. Er fühlte sich elend, die Glieder bleischwer, der Kopf voll Watte. Was sein "Talent" jedoch nicht daran hinderte, ihn in diesem beinahe komatösen Stadium in fremde Leute zu katapultieren! Eine tatsächliche, präzise Erinnerung hatte er nicht, aber eine merkwürdige Gewissheit, dass Perry da war, mit ihm sprach, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versuchte. »Tolles Timing!« Dachte Sebastian, triefnasig und raukehlig. Da gab es möglicherweise jemand, der ihm helfen konnte, und was passierte?! Er verwandelte sich in einen virenverseuchten Zombie, der nicht genug Selbstkontrolle besaß, um sich irgendwie bemerkbar zu machen. Wahrscheinlich hatte Perry schon längst frustriert aufgesteckt! Ihm selbst war auch nach Aufgeben zumute. ~+~o~+~ Mit leicht erhöhter Temperatur, aber definitiv auf dem Weg der Besserung schlappte Sebastian, der das Gefühl hatte, nur noch aus Tee zu bestehen (der jetzt sein Recht einforderte, entlassen zu werden) zu den Waschräumen. Es war mitten in der Nacht, hier und da hörte man gedämpftes Schnarchen. In der Internatsschule herrschten klare Regeln. Nächtliche Stelldicheins wurden nicht toleriert, wenn sie irgendwen störten, die Beteiligten zu blöd waren und sich erwischen ließen, oder wenn der Lehrkörper aktiv teilnahm. Angesichts der frostigen Kälte im Gemäuer reduzierte sich die Sehnsucht nach Kuschelstunden jedoch erheblich, vor allem, wenn man zehn Minuten bis zum jeweils anderen Gebäudetrakt benötigte und die Extremitäten schon vereist waren. Während er sich nun wohlerzogen und hygienebewusst die Hände wusch, registrierte er im Spiegel eine Bewegung. Als er aufblickte, stand in höflicher Distanz ein Mann im Waschraum. Sebastian fuhr erschrocken herum, denn eigentlich glaubte er fest daran, sich im eigenen Körper zu befinden. Der Mann, der ihn jedoch mit einem amüsierten Grinsen anlächelte, begegnete ihm nur, wenn er mal wieder "wanderte"! "Guten Morgen." Die Stimme war vertraut. "Ich nehme doch an, dass wir uns schon getroffen haben, auch wenn ich gestehen muss, dass ich dich als etwas älter eingeschätzt hatte." "...Perry?!" Stotterte Sebastian ungläubig und umklammerte hinter sich das solide Waschbecken wie den letzten Anker in einer ins Trudeln geratenen Welt. Ja, das WAR Perry, obwohl er sonst immer eine Art silbergrauen Cutaway trug, nun ja, seine Erscheinungsform in den "Träumen". "Richtig." Perry schmunzelte, streckte die Rechte aus. "Perikles Burleigh, und ich bin froh feststellen zu können, dass ich dich endlich gefunden habe!" In einem anerzogenen Reflex ergriff Sebastian die Hand, bevor ihn noch Argwohn hindern konnte, ließ seine Rechte knapp, aber herzlich schütteln. "Ja... also...oh, ich heiße Hyp... ich meine, mein Name ist Sebastian Kronstätten." "Hallo Sebastian, sehr erfreut." Perry zwinkerte. "Geht es dir denn wieder besser? In den letzten Tagen hatte ich einige Mühe, dich zu treffen." "Ja, also, ich war krank und..." Nun erreichte die Realität Sebastian, trat ihm ordentlich in den metaphorischen Hintern, weshalb er eilig seine Hand in Sicherheit brachte und misstrauisch fortfuhr. "Moment mal, wie sind Sie denn hier reingekommen? Und noch mitten in der Nacht?!" "Früh am Morgen." Korrigierte Perry sanft und verschränkte demonstrativ beide Hände hinter dem Rücken. "Nun, ich habe die ganze Zeit versucht, dich zu orten. So, wie ich dich auch bei deiner "Wanderschaft" finden konnte. Eine meiner Fähigkeiten besteht darin, mich orientieren zu können, weißt du? Was hingegen den Zutritt in diese wundervoll altmodische Bildungseinrichtung betrifft: das ist nicht weiter schwer, wenn man weiß, wie es geht." Er zwinkerte frech. "Oh." Murmelte Sebastian eloquent und zögerte verunsichert. Dieser Mann, der nun ganz unauffällig eine dicke Stoffhose, einen Rollkragenpullover und ein Wollsakko trug, wirkte keineswegs beunruhigend, doch mit einsetzender Erinnerung an gemeinsame "Erlebnisse" spürte Sebastian eine knieerweichende Beschämung von ihm Besitz ergreifen. "Hmm..." Perry zog eine zerknirschte Miene. "Ist wohl besser, ich reduziere das Gehöft um meine Anwesenheit, wie? Tja, schade." "Au-augenblick!" Hastig platzte Sebastian heraus. "Ich meine, bitte warten Sie noch einen Moment, ja? Ich würde gerne wissen, wie-wie Sie das machen! Das Wandern!" Perry legte den Kopf schief, studierte Sebastian, der seine entflammten Wangen hasste und darob noch dunkler errötete. "Sag, Sebastian, kann es sein, dass dir niemand dabei hilft, deine Fähigkeiten zu beherrschen?" Verlegen wandte Sebastian den Kopf ab, nagte an seiner Unterlippe, bevor er mit hochgezogenen Schultern murmelte. "Ich kann gar nichts kontrollieren, und niemand hier...." "Verstehe." Ersparte Perry ihm die Ausführungen. "Ich fand es ja schon ein wenig, nun, sagen wir abenteuerlustig, wo ich dich überall getroffen habe, aber wenn das so ist..." Während der gedehnten Sprachpause glaubte Sebastian, dass seine Ohren schon Rauchwolken absonderten. Meinte Perry etwa, er hätte absichtlich den Platz bei dieser Porno-Sache eingenommen oder wäre in ein Unfallopfer geschlüpft?! Aufgebracht (weil das sich besser anfühlte als die permanente Verlegenheit) drehte er Perry den Kopf zu und fauchte. "Ich kann gar nichts kontrollieren!! Nicht, wann es los geht, wohin es geht, für wie lange oder wie ich es beende! Ich kann bloß gucken und hören und..." "Hören? Dann konntest du mich hören?" Perry war sofort interessiert. "Verflixt, ich dachte, du könntest nur sehen! Was ist mit Gefühlen? Warst du verbunden?" Für Sebastian kam diese Wissbegierde unpassend, denn ER wollte noch ein wenig Ausgleich schaffen und zürnen. "Ja, ich KONNTE hören! Sie hätten mir bloß mal Ihre Nummer sagen müssen! Oder Ihren Namen! Dann hätten Sie nicht nach mir suchen müssen und..." "Oha!" Schnurrte Perry geschmeichelt. "Hättest du denn wirklich einen wildfremden Mann einfach so angerufen?" Sebastian, der längst sein unkontrollierbares Temperament verwünschte, knurrte im Verteidigungsmodus. "Klar hätte ich! Wenn Sie mir beibringen können, wie man dieses 'Talent' beherrscht!" "Hmm..." Antwortete Perry nachdenklich, legte den Zeigefinger auf die Wange, den Daumen entlang der Kieferlinie und stützte mit der anderen Hand seinen Ellenbogen ab, eine aparte Pose mit einem markanten Gesicht, was Sebastian für einen Moment ermahnte, dieses gefällige, joviale, verständnisvolle Gehabe auf eventuell Kleingedrucktes zu erforschen. »Bah!« Ermahnte er sich selbst: was sollte denn jemand, der willentlich und kontrolliert in einer Art außerkörperlichen Form durch die Gegend spazieren konnte, von ihm wollen?! Wie war das noch mal mit der Vanitas?! "Nun, ich will dir nichts vormachen." Perry hatte sein launiges Grinsen verabschiedet und lehnte sich, in höflicher Entfernung von einer Waschbeckenbreite ebenfalls an die Sanitärkeramik an. "Talente gleichen einander nicht unbedingt, weißt du? Eine direkte Strickanleitung, wie man damit umgeht, ist deshalb nicht so leicht vorzugeben." Er drückte sich ab und breitete die offenen Hände in Ellenbogenhöhe aus. "Also, wenn du magst, kann ich dir natürlich Tipps geben, die MIR helfen. Ein bisschen mit dir trainieren." "Das wär super!" Platzte Sebastian erleichtert heraus. "Ich muss nämlich unbedingt...!" Eilig brach er ab. "Ja, was denn?" Neckend neigte sich Perry ihm zu. "Was musst du nämlich unbedingt?" Verlegen drehte Sebastian den Kopf weg und murmelte kleinlaut. "Ich muss dringend bessere Noten bekommen, damit ich nicht durchfalle, aber wenn ich dauernd im Unterricht und bei der Nachhilfe, nun ja, 'verschwinde', wird das nicht klappen." "Das kann ich nachvollziehen." Perry legte ihm federleicht eine Hand auf die Schulter. "Weißt du was? Lass uns Folgendes machen: ich gebe dir meine Nummer. Wenn du meine Hilfe möchtest, meldest du dich bei mir und wir versuchen, dein Talent zu erforschen. Überleg's dir einfach in Ruhe." Damit fingerte er eine Visitenkarte aus der Brusttasche, entnahm einen teuren Kugelschreiber der Innentasche und notierte auf die blanke Rückseite eine Nummer. "Danke." Flüsterte Sebastian überrascht, drehte die Visitenkarte in den Händen. Auf der Vorderseite befand sich lediglich in schwungvollen Lettern Perrys Name, nichts weiter. Sehr eigenwillig. "Äh, du hast doch ein Mobiltelefon, oder?" Perry studierte ihn aufmerksam. "Oder wäre dir etwas Anderes lieber?" "Nein, nein, das ist prima!" Beeilte Sebastian sich zu versichern. "Danke schön!" "Na, dann verabschiede ich mich jetzt artig." Perry verneigte sich mokierend. "Schlaf gut, Sebastian." Der wartete, bis Perry ganz wie ein gewöhnlicher Sterblicher den Waschraum verlassen hatte, keinen Laut im Flur erzeugte. »Wenigstens entmaterialisiert er sich nicht!« Knurrte eine verwirrte Stimme in seinem Hinterkopf, aber Perry WAR echt gewesen, seine Hand warm, sein Atem ein Hauch in der kühlen Luft. Sebastian schob die Visitenkarte in die Bademanteltasche und schlappte rasch zurück in seinen Schlafsaal. Auch wenn er sich selbst vornahm, Perrys Angebot noch einmal ausgiebig auf Vor- und Nachteile zu prüfen, war er im Grunde doch sicher, es anzunehmen, denn welche Wahl hatte er schon? ~+~o~+~ Zunächst waren es kurze Textnachrichten, die sie austauschten. Sebastian hielt nichts davon, seine Probleme zu beschönigen, sondern schilderte offen seine Nöte und dass er schon, in gewisser Weise, seinen Wirt "erlebte", was keineswegs immer erstrebenswert war! Perry versprach, mit ihm zu "trainieren", ihn zu treffen bei seinen "Ausflügen" und ihm zunächst mal zu vermitteln, wie man aus eigenem Entschluss wieder in den eigenen Körper zurückkehrte. Das war zumindest eine Verbesserung gegenüber den Absenzen! Sebastian bemühte sich, Perrys Anweisungen umzusetzen. Er bemerkte, dass Perry in seiner außerkörperlichen Erscheinung zwar wie ein normaler Mensch auftrat, doch niemanden berühren oder beeinflussen konnte, der ihn nicht sah. Er selbst war sich der Grenzen seiner Fähigkeiten nicht sicher, bestand sein erstes Interesse doch darin, dieses Talent möglichst in die Schranken zu weisen. Nach einer Woche Übungen war Sebastian zumindest in der Lage, seine Ausflüge selbst zu beenden. Er hatte es geschafft herauszufinden, wann sein Talent "zuschlug". In der folgenden Woche bemühte er sich also, einen fast meditativen Zustand zu erlangen, um regelmäßig abends, wenn er im Bett lag, seine Ausflüge zu unternehmen. Der Druck nahm ab, und tagsüber konnte er durch Bewegungen verhindern, dass er erneut gegen seinen Willen "verreiste". »Ziemlich gut!« Lobte Sebastian sich selbst und erklärte gegenüber seinem fernbetreuenden Arzt Erebos, der mit ihm per Skype konferierte und SEHR wild mit den zahlreichen Piercings aussah, dass er durch autogene Übungen ein besseres Körpergefühl entwickelt habe. Das war keine tatsächliche Lüge und genügte, um die unauffälligen Aufzeichnungen des "Wachhund"-Kastens zu erklären. Für den Moment. Alles hätte wirklich gut sein können, wenn er nun auch noch einen Einfluss darauf hätte nehmen können, wo zum Henker er vor dem Einschlafen landete!! Eine Gemeinsamkeit glaubte er jedoch erkannt zu haben: intensive Emotionen. Manchmal mochte man sie auf den ersten Blick nicht erkennen, wirkte eine Situation eher banal und langweilig. Dann schlug irgendwo eine Granate ein oder man hatte gerade mit dem Ehemann Sex, während die Kinder bei Oma waren! Sebastian winselte bloß in der Erinnerung daran. So was von peinlich! All die Gedanken und Emotionen der Frau, in deren Körper er geschlüpft war, konnte er wahrnehmen und wusste ebenso sicher, dass Perry in seiner Nähe war, zuguckte, vermutlich. Weil er ihm ja versprochen hatte, ihn als Trainer nicht allein zu lassen. Ha!! Es verhielt sich ja nicht so, als hätte Sebastian nicht energisch versucht, diese hochnotpeinliche Szene zu verlassen! Er WOLLTE unbedingt! Das Ehepaar, das sich dort intensiv austauschte, wollte ganz sicher keinen Zaungast haben!! Das Einzige, was ihm gelungen war, reduzierte sich auf ein "Springen". Mal war er in der Frau, mal im Mann gelandet, doch eine Flucht bewältigte er nicht. Es war ganz so, als wolle ein Teil von ihm die Lust, die Ekstase, die Vertrautheit teilen und weigerte sich, mit dem Rest seines Anstandsgefühls zu kooperieren! Das Unterbewusstsein konnte schon ein verdammt peinlicher Schweinehund sein!! Wie sollte er Perry jetzt gegenübertreten?! Zunächst hatte er wie die anderen Jugendlichen, die mit dem Bus bergab in die Kleinstadt oder dann weiter mit einem Bummelzug fuhren, ganz entspannt diesem samstäglichen Vergnügen entgegen gesehen, aber nach dieser letzten Nacht...!! Perry wollte ihn am Parkplatz des Bahnhofs erwarten, mit ihm zu einem netten Café oder Bistro fahren, wo sie in Ruhe reden konnten. Kurznachrichten genügten nicht als Konversation. Bei ihren "Ausflügen" war Sebastian schließlich zum Schweigen verdammt! Es nieselte ungemütlich, als er auf den Bahnhofsvorplatz trat, sich von den anderen separierte. Seine Mutter hatte die grundsätzliche Erlaubnis erteilt, dass ihr 15-jähriger Sohn allein in die Kleinstadt oder mit der Bummelbahn in die Kreisstadt fahren durfte, solange er pünktlich zum Abendessen zurück war. Ausdrücklich verboten waren Stippvisiten in Tanzschuppen, Diskotheken, Spielhallen oder ähnlichen Etablissements. Sebastian steuerte nervös den Parkplatz an. Perry war nicht zu verfehlen. Dieses Mal trug er einen langen, cremeweißen Wollmantel, hatte die silberweißen Haare unter einer bommelgekrönten Mütze in derselben Farbe verpackt. Und lutschte ungeniert einen Lolli!! "Hallo!" Sebastian grimassierte unbehaglich, denn Perry strahlte ihn so sehr an, dass er sich fragte, ob ihm wohl auch gerade die gestrige Episode durch den Kopf ging. "Hallo Sebastian! Fürchterliches Wetter, hm?" Perry kam ihm entgegen, hakte sich einfach bei ihm ein. "Hältst du es trotzdem noch eine kleine Viertelstunde aus? Ich habe ein phantastisches Café gefunden, heiße Schokolade und jede Menge Kuchen, Kekse und Törtchen!" "Ich muss ja total abgemagert aussehen." Rutschte Sebastian knochentrocken hervor, bevor er erschrocken innehielt. Sehr ungezogene Bemerkung! Perry jedoch lachte und tippte ihm mit einer manteltaschengewärmten Fingerspitze auf die Nase. "So gefällst du mir! Ich dachte schon, wir eiern wegen gestern ganz fürchterlich höflich und diplomatisch umeinander rum!" Sebastian krächzte und täuschte ein wenig überzeugendes Husten vor. "Schade übrigens!" Perry plauderte ungezwungen weiter, ihn störte der Nieselregen offenkundig nicht. "Dass du nichts fühlen kannst! Wirklich blöd!" "Wieso?!" Platzte Sebastian heraus. "Bei den Orten, wo ich mich wiederfinde...!!" Vertraulich und gar nicht beleidigt neigte sich Perry zu ihm herunter, senkte die Stimme. "Na ja, weißt du, ich habe gehört, dass Frauen einen Orgasmus viel intensiver erleben. Da ist man doch neugierig, oder?" Aus Sebastians Kehle entwich ein unartikulierbares Geräusch. Was wusste Perry?! Hatte der gemerkt, dass es ihm nicht gelungen war, sich in seinen eigenen Körper zurück zu katapultieren? Sollte er vielleicht bekennen, dass...?! "Oh, dumm von mir!" Unerwartet schlug Perry sich selbst vor die Stirn, lächelte dann versöhnlich zu Sebastian herunter, der dieses Manöver überrascht verfolgte. "Ich nehme mal an, dass du noch nicht, ich meine, zum Vergleich braucht man ja Erfahrung, richtig?" »Ahumm!« Dachte Sebastian, als der Groschen fiel und starrte hastig auf seine Schneestiefel, während er von Perry munter dirigiert wurde. Eigentlich wollte er gar nicht darüber nachdenken, es verbannen, was da geschehen war, aber manche Emotionen hinterließen einen Prägestempel, und so einfach konnte man den nicht entfernen! ~+~o~+~ Kapitel 8 - Der Zauber des Anfangs "Kein Problem!" Verkündete Kippei fröhlich und wischte flink über die Tastatur, ein Zeichen-Pad und summte dabei vor sich hin. "Haben wir gleich!" Tamaki starrte hinter ihm gebannt auf den Bildschirm, wo sein neues "Reich" virtuell entstand. Mochte er auch ziemlich blank sein, ohne Kaution und mit wenig gerettetem Material, so war er doch entschlossen, mit seinem neuem Salon alle Blicke auf sich zu ziehen! "Ich kann dir bei der Montage für den Waschtisch und den Stuhl helfen." Machte Sougo sich bemerkbar, der interessiert das Spektakel beäugte. "Aber das Zuschneiden muss ein Profi übernehmen." "Was denkst du, wie viel wird das kosten?" Tamaki warf ihm über die Schulter einen ernsten Blick zu. "Muss ich fragen." Sougo verschränkte die muskulösen Arme vor der breiten Brust. "Es gibt da einen Betrieb, der sich auf Messebauten spezialisiert hat. Leicht, mobil und robust, da könnte ich mal ein Angebot einholen." "Das wäre klasse, danke!" Tamaki drehte gedankenverloren eine Strähne zur Locke ein. "Besser, ich teste diese Woche noch mal meinen Marktwert!" "Du wirst dir noch Ärger einhandeln!" Warnte Yamato grimmig, der widerwillig einverstanden war, sein Team mit Reis-Omelette zu verköstigen. "No risk, no fun." Konterte Tamaki unerschrocken. Natürlich war ihm bewusst, dass er als Aushilfs-Host nicht sonderlich beliebt bei der Stammbesetzung war, doch er brachte dem 'Haus' Umsatz und Kundinnen. Der Salär wurde schließlich gebraucht für seinen Salon! Er konnte es kaum erwarten, endlich wieder loszulegen! ~+~o~+~ Sougo stellte den kleinen Lieferwagen ab und bewegte sich vorsichtig zwischen hohen Stapeln von Holz und anderen Materialien in Richtung des Werkstattgebäudes. Eine Kreissäge kreischte, irgendwo ächzte ein Motor unter pneumatischer Belastung. "Hallo?" Machte Sougo sich bemerkbar, doch niemand antwortete. Also betrat er die Werkstatt und orientierte sich an der Säge. Er stutzte, als er an einer Werkbank eine kleine, rundliche Gestalt erblickte. Die weiten Cordhosen waren nicht wirklich kleidsam, noch weniger die Lederschürze oder das ausgebleichte Kopftuch unter gelben Ohrenschützern. "GUTEN TAG!" Dröhnte Sougo, um die Kreissäge zu übertönen. Damit hatte er jedoch keinen Erfolg. Was tun? Er wollte niemanden erschrecken, was böse Folgen zeitigen konnte, gleichzeitig aber Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er näherte sich also von der Seite, darauf achtend, dass seine groß gewachsene Gestalt einen Schatten warf. Tatsächlich wandte der eifrige Säger den Kopf. Unter einer Schutzbrille blickten freundliche Augen aus einem sommersprossigen Gesicht, musterten ihn erstaunt und erwiesen unzweifelhaft, dass unter der Verkleidung eine junge Frau steckte. "Entschuldigung, ich hatte vorhin angerufen. Mein Name ist Sougo Kitaooji." Erklärte er sich höflich. Die junge Frau lupfte einen Zeigefinger, fischte in der Brusttasche ihrer ledernen Schürze herum und angelte einen Taschencomputer heraus. Mit flinken Fingern tippte sie auf den winzigen Tasten herum, und eine blecherne Stimme erklärte. "Guten Tag! Bitte sprechen Sie deutlich, wenn ich Sie ansehe, da ich gehörlos bin. Mein Vater hat Ihren Anruf angenommen. Bitte folgen Sie mir, mein Herr." Sougo stutzte, denn er wunderte sich über Kopfhörer, die etwas schützten, was nicht (mehr) vorhanden war, studierte die agile Gestik und Mimik der jungen Frau. Es war ein wirklich unerhört LEBENDIGES Gesicht, das ihn so unverwandt und fröhlich anstrahlte! Keine Frage, dass er ihr auf den Fersen blieb! Kenta Fujii, Besitzer des kleinen Messebauunternehmens, war gebaut wie ein doppeltüriger Kleiderschrank: quadratisch, imposant und nicht leicht aus der Bahn zu werfen. Dennoch schlängelte er sich mit tänzerischer Eleganz durch die engen Gänge zwischen allerlei Material und Lagergestellen. "Ah, Herr Kitaooji, richtig?" Trompetete er Sougo entgegen, während vermutlich unbewusst seine Hände Figuren formten. Sougo erwiderte die knappe Verbeugung, ein Hand-Werker erkannte den anderen, und registrierte amüsiert, dass Meister Fujii vermutlich schon unbewusst in einen "Untertitel-Modus" verfiel: seine Arme und Hände arbeiteten vollkommen automatisch und versorgten seine Tochter Emi, die sehr stolz als Miteigentümerin vorgestellt wurde, mit allen Informationen, die ihr möglicherweise beim Lippenlesen entgehen konnten. Ungebremst dozierte der Herr Papa über die Qualifikationen seiner Tochter und ließ auch keine Vorführung sorgsam eingerahmter Abschlusszeugnisse und -briefe aus, Referenzen und andere Nachweise, die seinen Vortrag unterstrichen. Emi schien diese väterliche Prahlerei gewohnt zu sein, denn sie zwinkerte Sougo mit einem verschwörerischen Lächeln zu. Sougo lauschte zwar den Worten (man konnte sie wohl kaum überhören, wenn man nicht taub war), wandte den Blick jedoch nicht von Emis ausdrucksstarkem, wandelbarem Gesicht. Er war hingerissen, bis zu dem Grad, dass der Herr Papa recht energisch die Sichtachse blockierte und die Aufmaßpläne zu sehen verlangte. Jäh aus dem stummen Dialog herausgerissen, benötigte Sougo einige Sekunden, um sich zu sammeln und an seinen Auftrag zu erinnern. Er breitete die von Kippei geschickt erzeugten Raumpläne aus und erläuterte auch den Zweck, dem die Aufbauten möglichst dienen sollten. Emi legte den Taschencomputer auf den Tisch und mischte munter mit, indem sie mit einem speziellen Stift Kommentare auf dem Bildschirm erscheinen ließ, Fragen stellte und sich rasch in die Details einarbeitete. Von ihrem Vater vernahm Sougo hingegen nur ein gelegentliches, sonores Brummen. Schließlich einigte man sich darauf, dass Vorschläge mit Kostenvoranschlag übermittelt werden sollten. Dass sie den Auftrag erhalten würden, zog Emi nicht einen Wimpernschlag lang in Zweifel. Sougo bemühte zwar noch einige Gemeinplätze, doch um einen Abschied kam er final nicht herum. Emi lächelte ihm zu, als er sich noch einmal nach ihr umwandte und winkte ihm zu. Prompt lief Sougo gegen einen losen Stapel von Paletten, die knirschten und knackten, anschließend dunkelrot an wie seit der Mittelstufe nicht mehr und hastete gesenkten Hauptes in die Sicherheit der Transporterkabine. »Oh, oh.« Stellte er belämmert fest, denn obwohl er fast zwei Stunden hier verbracht hatte, konnte er sich an kein Wort erinnern, dass er Tamaki hätte ausrichten können! ~+~o~+~ "Ich bin die Entwürfe durchgegangen, die mir die Messebaufirma geschickt hat." Tamaki kämpfte mit Sougo darum, seinen geliebten Friseurstuhl fest am Boden zu montieren. "Sieht super aus! Wenn wir alles mit deinem Transporter abholen könnten, würde ich auch noch ein bisschen Geld sparen und könnte früher die Kaution hinterlegen." Zu seiner ehrlichen Verblüffung hatte sich der "Sensei" nämlich großzügig gezeigt und auf die sofortige Gestellung einer Kaution bei Übergabe der Schlüssel verzichtet. Überhaupt schien er wesentlich kulanter als seine 'Maklerin' Kat! "Du hast die Entwürfe?" Wiederholte Sougo verwirrt, zog die Muttern der Bodenplatte fest. "Selbstverständlich." Tamaki lupfte eine Augenbraue. "Du hast doch meine E-Mail-Adresse angegeben." "Habe ich?" Wiederholte Sougo verblüfft, um dann hastig zu korrigieren. "Oh, klar, sicher doch! Stimmt." Tamaki beäugte den SEHR konzentriert werkelnden Freund misstrauisch. Irgendwie schien es ihm, als versacke Sougo verdächtig in geistigen Absenzen! "Ist alles in Ordnung?" Horchte er kritisch nach. "Huh? Oh, klar! Bestens!" Sougo bleckte kurz ein breites Grinsen auf, bevor er eiligst wieder den Kopf abwandte und sich nun dem Verkleiden der Wasserleitung widmete. »Hmm!« Konstatierte Tamaki irritiert. Sougo war doch sonst kein vollmondgesteuerter Dussel? "Ich habe übrigens für nachher einen Ortstermin vereinbart." Legte er einen Köder aus. "Da werde ich dann auch über die finanzielle Seite sprechen. Du musst aber nicht bleiben, weißt du? Geh ruhig schon nach Hause." "Oh, macht mir nichts aus!" Winkte Sougo hastig ab. "Außerdem, was du heute kannst besorgen..haha!" »Meine Fresse!« Tamaki bemühte sich, die Kinnlade zwischen den Knien hochzuhieven. »Ist nicht wahr! Sougo ist in die Schreinerin verknallt!« Na, wenn das keine Komplikationen auslöste! ~+~o~+~ Nachdem Emi sich mit Tamaki über alles geeinigt hatte, ging es ziemlich fix, die Auswahl zu treffen, die mobilen Boxen und Aufbauten hübsch zu bekleben und alles mit zahlreichen Gimmicks zu versehen, die Umzüge, kurzfristige Umstellung und andere Aktionen noch leichter bewältigen ließen. Sougo lud Tamakis neue Geschäftsausstattung ein wenig widerwillig auf den Transporter. Emi instruierte ihn mit zahlreichen Gesten, und er bildete sich durchaus ein, schon genug zu begreifen, um keine Beschädigungen anzurichten. Er bedauerte es, nicht mehr in die Werkstatt marschieren zu können, vorbei an dem quittegelben Roller, den Emi benutzte, um ihre Kundschaft aufzusuchen, immer mit den gelben Ohrenschützern auf dem Kopf als sichtbaren Hinweis auf ihre Behinderung. "Danke!" Wiederholte er zum unzähligsten Mal. "Das ist wirklich sehr gut geworden. Tamaki wird begeistert sein." Emi nickte und erklärte, sie werde sich gerne den Laden einmal ansehen wollen, um das Ergebnis zu studieren. Sougo strahlte, denn HIER war seine Chance! "Dann hole ich dich hier ab, ja? Ich weiß nicht, ob Tamaki eine richtige Eröffnung feiern wird, aber du bist in jedem Fall eingeladen!" Ein fröhliches Lächeln antwortete ihm, einige Gesten, die ein Telefonat andeuteten, ihm einen sicheren Transport wünschten. "Ja, danke. Und dir einen schönen Abend! Ich melde mich auf jeden Fall!" Hangelte Sougo sich weiter, doch nun musste er wohl wirklich in den Transporter steigen und seinen Auftrag erledigen. Leider. Seufzend kletterte er in die Kabine und rangierte vorsichtig, winkte noch einmal (etwas zu lang), bevor er langsam vom Hof rollte. Aus ihm nicht ganz verständlichen Gründen fühlte er sich unerwartet schwermütig. ~+~o~+~ Sehr zufrieden drehte Tamaki sich in seinem Salon. Ja, es war bunt, fröhlich, vielleicht ein bisschen kitschig, aber ihm gefiel es! Sougo lehnte an einer Wand und schluckte grünen Tee wie ein Ausgedörrter. Mit Tamakis Enthusiasmus wollte er es nicht aufnehmen. "Oh Grauen!" Kat stolzierte hinein, in einen Bleistiftrock gewandet, darüber eine schimmernde Bluse mit Peter Pan-Kragen und wie gewohnt auf schwindelerregend hohen Absätzen. "Wie wird Barbie sich hier aber wohlfühlen!" Schnurrte sie boshaft. "Wie wird sich erst der Sensei freuen, wenn sie alle ihre Freundinnen als zahlungskräftige Kundinnen mitbringt!" Antwortete Tamaki in dem gleichen, stichelnden Tonfall. "Wahrscheinlich müssen wir Kotztüten und Schutzbrillen am Aufzug ausgeben." Ätzte Kat angriffslustig weiter. "Hat die Genfer Konvention das hier nicht verboten?" "Jedem Tierchen sein Plaisierchen, meine Liebe." Säuselte Tamaki giftig. "Wir können nicht alle eine dumpfe Gruft und kiefersprengende Langeweile goutieren." Kats Katzenaugen verengten sich zu zornigen Schlitzen. "Apropos goutieren, Westentaschen-Gigolo, die Geschäftsführung würde es begrüßen, wenn sich durch den Erst-Job kein Geschmeiß hier versammeln würde!" Tamaki verschränkte die Arme vor der Brust. "Sobald der Salon eröffnet ist, hat sich meine Arbeit als Host erledigt. Es gibt also keinen Grund, mir zu drohen!" "Pff!" Schnaubte Kat verächtlich. "Ist da nur Stroh in deinem Schädel, Scherenbubi, oder was?! Einige Leute sind gar nicht glücklich über dein kleines Hobby und wollen sich schadlos halten, capice?! Also klär das, bevor ICH das klären muss!" "Es gibt NICHTS zu klären!" Tamaki baute sich vor Kat so auf wie sie vor ihm. "Alle wissen, dass ich bloß den Engpass überbrücke, bis ich hier loslegen kann!" "Ach, ist das so, ja?" Kat grollte zurück. "Dann musst du dich wohl noch mal unmissverständlich ausdrücken, verstanden?! Mir kommt so Einiges zu Ohren, und ich will, dass selbst so ein eingebildeter Lackaffe wie du es versteht: hier gibt's keinen Ärger. Sonst ist der Deal geplatzt!" "Vielleicht sind wir auch ein klein wenig überreizt durch unseren ständigen Aufenthalt in einer ungelüfteten Grotte?!" Biss Tamaki agitiert in Revanche. "Und nehmen jeden Blödsinn einfach zu ernst?!" "Werd bloß nicht frech, du Schmalspur-Gigolo!" Drohte Kat unverhohlen, nur noch eine Handbreit zwischen ihren Nasenspitzen. "Keine Sorge, Madame Kat!" Stichelte er. "Den Dämmerschlaf Ihrer Kundschaft wird niemand stören." Sougo, der mit wachsender Irritation der Auseinandersetzung gelauscht hatte, hielt es für angebracht, das Paar Kampfgeflügel, dessen Gefieder erheblich gesträubt und aufgeplustert war, voneinander zu trennen. "Wir sollten für heute Schluss machen." Er klatschte in die Hände. "Ich will den Transporter auch noch zurückgeben." "Oha!" Kat drehte sich einfach von Tamaki weg, mit der ganzen Arroganz einer Film noir-Ikone. "Jetzt fehlt zum Quartett nur noch der Computer-Fuzzi!" Ihr unverbrämter Blick sezierte Sougo, der ebenso entschlossen zurückstarrte. Yamato hatte ihn zwar vorgewarnt, dass Tamaki sich hier unversehens eine Intimfeindin zugelegt hatte, doch der Schlagabtausch erschien ihm selbst höchst unerfreulich. "Vielleicht verfügen Sie ja über mehr Verstand als dieser Geistesheroe." Adressierte Kat ihn. "Dann sollten Sie in der Lage sein, ihn auf die unangenehmen Konsequenzen hinzuweisen, die PERMANENTE Blödheit nach sich zieht." Tamaki schnaubte hinter ihr. "Meine Güte, für einen Moment befürchtete ich schon, Madame Kat hätte Angst um mich! Aber sie scheut wohl eher die Ansteckungsgefahr meiner BLÖDHEIT!" Er rückte näher, was nicht sonderlich schwierig war, da sein Salon, nun voll ausgerüstet, tänzerisches Geschick verlangte, um nicht zu kollidieren. "Distanz, Prolet!" Donnerte Kat theatralisch und lehnte sich gegen einen Utensilienschrank. Der jedoch zeichnete sich durch Agilität aus, war mit anderen Worten rollbar und noch nicht mittels Feststellbremse justiert. "Vorsicht!" Tamaki haschte nach ihrer schlanken Gestalt, die unversehens ins Trudeln geriet, doch sein Einsatz kam um Herzschläge zu spät. Kat verlor die fragile Balance, der enge Rock leistete energischen Widerstand und riss sie förmlich mit der Unvermeidlichkeit eines Schornsteineinsturzes zu Boden. Ein hässliches Knacken ertönte und ließ einen eiskalten Schauer über jeden Rücken laufen. Kat entrang sich ein ersticktes Ächzen. Tamaki ging sofort neben ihr in die Knie, stieß den Rollwagen weg. Kat hatte sich in einer sitzenden Position zusammengekauert, die Arme vor die Brust geklammert, ihr Gesicht von der Lockenmähne verhüllt. Nur ihr rascher stoßweiser Atem verriet ihm, dass sie unter Schock stand. "Ich hol den Transporter." Verkündete Sougo in die entsetzte Stille hinein, marschierte mit langen Schritten zum Treppenhaus. Nach Aufzug war ihm nicht. "Kat, lass mich deinen Arm sehen." Tamaki wischte vorsichtig Locken auf den gekrümmten Rücken. Seine Erzfeindin zischte wie ein Dampfkessel. "Hier kannst du nicht sitzen bleiben." Stellte er unerschrocken fest. "Ich rufe den Sensei an. Wir fahren zur Ambulanz. Kat, stütz dich auf mich." Wieder hörte er nur gepresste Atemzüge, doch als er das schmale Becken abstützte, wurde er nicht mit einem bösen Zischeln zurückgewiesen. Es gelang ihm, die zerbrechlichen Hüften haltend, Kat zum Aufstehen zu bewegen, dann dirigierte er sie erst mal in den Friseurstuhl. Es kam für Tamaki nicht in Frage, dass sie auf den "Stelzen" bis zum Transporter stakste, also suchte er wollene Ersatzsocken heraus und seine schwarz-weißen Clogs, die er zur Arbeit im Salon trug. "Kat, ich ziehe dir die hier über, damit du laufen kannst." Erklärte er sein Vorhaben. "Ich würde dich ja tragen, aber das könnte die Verletzung verschlimmern." Von der er immer noch nur ahnen konnte, worin sie bestand. Kat ließ ihn gewähren, der ganze Oberkörper schützend eingerollt um eine vermutlich gebrochene Gliedmaße. Tamaki sammelte seine Sachen ein, dann auch Kats Handtasche, assistierte ihr beim Aufstehen und verriegelte seinen Salon. Vor ihm tippelte Kat in winzigen Schritten, stocksteif, zischend atmend. Sie bewegte sich mechanisch, eckig, ungelenk, aber sie stolperte nicht, zögerte nicht. Tamaki bahnte ihr ungeniert einen Weg durch die Amüsierwütigen im Eingang und vor dem Gebäude bis zum Transporter, mit dem Sougo eine Fahrspur blockierte. Kat kletterte mühevoll und leise wimmernd in die Fahrerkabine, dann folgte er ihr. "Wohin?" Erkundigte sich Sougo und fädelte sich in den Verkehr ein. Kat flüsterte rau mit klappernden Zähnen eine Richtung. Unterdessen fischte Tamaki sein Mobiltelefon heraus und wählte einen Eintrag aus seinem üppigen Telefonbuch. "Sensei? Guten Abend, bitte entschuldigen Sie die späte Störung! Hier ist Tamaki Shinonome. Kat hatte in meinem Salon einen Unfall. Wir brauchen Sie, Sensei!" ~+~o~+~ Tamaki hatte Sougo verabschiedet, er selbst wollte bleiben. Ohne große Diskussionen hatte die Ambulanz den Sensei, der hier zeitweilig noch aushalf, eingelassen und für ihn Röntgenaufnahmen gemacht. Kat zischte und fauchte, wenn jemand sich ihr näherte, lediglich der alte Mann konnte sie dazu bewegen, ihm zu folgen. Nun studierte er die eilig gemachten Aufnahmen. Uneingeladen gesellte sich Tamaki zu ihm. Die an der Lichtschiene befestigten Bilder verdüsterten seinen Gesichtsausdruck zusehends. "Junger Mann, wollen Sie mir helfen, Catherine zu behandeln?" Der Sensei justierte eine Apparatur an seinem Brillengestell. "Was kann ich tun?" Antwortete Tamaki ohne Zögern. "Es wäre hilfreich, wenn Sie Catherine ablenken könnten." Der alte Mann betrachtete ihn prüfend. "Streiten Sie mit ihr, provozieren Sie sie." Eine sehr merkwürdige Methode, doch Tamaki akzeptierte sie. "Das sollte uns nicht schwer fallen." Er folgte dem alten Mann in einen Vorbereitungsraum, musste einen Kittel, Mundschutz, Haube und andere Schutzartikel überstreifen. Der Sensei gestikulierte ihm, im Behandlungsraum selbst auf einem Schemel neben dem Kopfende Platz zu nehmen. Eine ältere Frau lieferte sich unterdessen mit Kat einen aussichtslosen Kampf. Sie wollte sich nicht hinlegen und nicht anfassen lassen und überhaupt! Wie eine Wildkatze fauchte und knurrte sie. "Aber Catherine!" Tadelte der Sensei, nickte der Assistentin zu, die sichtlich aufatmete, dieses Problems nun ledig zu sein. "So kann ich den Bruch nicht behandeln! Ein wenig Entgegenkommen von deiner Seite würde mir die Arbeit erleichtern." Seine sanfte, brüchige Stimme verfehlte ihre Wirkung nicht. Widerwillig, bange rollte sich Kat nun doch auf die Liege, streckte zögerlich die Beine aus und entrollte ihre verkrümmte Gestalt. "Eine schöne Bluse." Komplimentierte der Sensei. "Allerdings muss ich den Ärmel abschneiden, Catherine. Es geht leider nicht anders, meine Liebe." Als er sich setzte, flüsterte er Tamaki zu. "Junger Mann, nehmen Sie ihre rechte Hand." Tamaki, der trotz der Röntgenaufnahme reichlich entsetzt auf den entstellten linken Unterarm starrte, aus dem deutlich sichtbar Knochenenden unter der Haut hervorstanden, schüttelte sein Ohnmachtsgefühl ab. Er schob nicht nur seine Rechte über Kats, um sie einzufangen, sondern drückte auch mit der Linken ihre Schulter auf die Liege, damit sie sich nicht im Reflex wieder zusammenrollen konnte. "Nein!!" Protestierte sie mit einem gequälten Aufschrei. "SchSch, Catherine." Der Sensei hatte das linke Handgelenk erstaunlich fest gepackt. "Nicht schreien. Ich bin doch da, um dir zu helfen, Liebes. Erinnerst du dich?" "Und ich bin hier, weil du meinen Salon verwüstet hast!" Tamaki folgte der Bitte des alten Mannes. "Ich habe den Eindruck, du WILLST mich sabotieren!" Kat drehte ihm den Kopf zu und knurrte. "Ich sollte DICH verklagen! Dieser Kitsch-Tempel ist eine Todesfalle!" "Von wegen!" Heizte Tamaki die Stimmung an, hielt grimmig Händchen. "Wer erzählt erst Horrormärchen und fällt dann von seinem hohen Ross, hm?!" "Wer ist so blöd, sich als Hobby-Host zig Feinde zu machen und dann frech wie Oskar durch die Gegend zu marschieren?!" "Wer zerbricht sich anscheinend ständig den Kopf über mein Wohlergehen?!" "Du hast wohl Watte in deiner hohlen Birne, was?! Ich hab keine Lust darauf, deine verwanzte Host-Konkurrenz in Sichtweite zu haben! Das ist geschäftsschädigend!" "Bisher ist noch überhaupt niemand aufgekreuzt! Deine Unkenrufe sind geschäftsschädigend!" "Iwo, du hast doch noch gar kein Geschäft, du aufgeblasener Ochsenfrosch!" "Wenigstens bin ich keine Gazelle mit Seegang!" "Willst du etwa andeuten, ich sei betrunken?!" "Keine Spur! Dann hättest du es ja nicht mal bis zu meinem Salon geschafft!" "Ich bin nicht so ein verweichlichtes Schoßhündchen wie du!" "Oh nein, Madame sind stocksteif und bretthart, wie es sich für einen echten Sargnagel gehört!" "Das kommt von jemand, der nicht mal einen Funken Geschmackssinn besitzt! Banause!" "Besser Banause als Friedhofsgarnitur!" Tamaki riskierte einen Seitenblick an die Arbeitsfront. Der Sensei werkelte am aufgetrennten Fleisch. Rasch wandte Tamaki sich wieder ab, konzentrierte seinen Blick auf das bleiche Gesicht mit den aparten, vom Schock spitzen Zügen. "Wenn man von nichts Ahnung hat, sollte man lieber die Klappe halten!" Empfahl Kat ihm gerade bissig. "Du wärst wohl besser beraten, bei deinem aktuellen Broterwerb zu bleiben. Der erfordert wenigstens keinen Verstand." "Komischer Ratschlag von der Person, die mir ununterbrochen damit in den Ohren liegt, ich würde ihr Ungeziefer auf die Fußmatte schleppen!" Konterte Tamaki feixend. "Pah!" Schnaubte Kat zornig. "Wenn sie dir in dem billigen Aufreißerschuppen das Gedärm um den Hals wickeln, ist mir das doch wurscht!" "Reizende Dekorationsideen hast du, das muss der Neid dir lassen!" Stichelte Tamaki entschieden und zwang sich, den Geruch von Blut zu ignorieren. "Du kapierst eben gar nichts!" Stellte Kat befriedigt fest. "Ein kompletter Idiot. Da muss man sich über gar nichts wundern." "Stimmt, denn uns Idioten geht das völlig ab." Pflichtete Tamaki ihr gefällig bei. "Wir nehmen einfach alles so, wie es ist. Stolpernde Sargnägel auf schwankenden Stilettos..." "He! Wage es nicht, mir die Schuld zuzuschieben! Du hast diesen dämlichen Rollwagen nicht festgestellt!" "Genau!" Dröhnte Tamaki in derselben Agitation. "Ich habe ja förmlich darum gefleht, dass du dich auf diesen wackligen Trittchen genau darauf lehnst!" Kats Augen verengten sich zu zornigen Schlitzen. "Versuch nicht, frech zu werden, klar?" "Einen VERSUCH würde ich nicht unternehmen." Stichelte Tamaki boshaft. "Ganz oder gar nicht." "Du handelst dir gerade gewaltigen Ärger ein, Schmalzbubi!" "Mit Madame? Oh Schrecken, da werde ich mit meiner geballten Idiotie wohl überrannt, was? Obwohl ich ja ANSTECKEND sein könnte, wie das bei Ungeziefer so ist!" "Pah! Du bist doch nur ein mickriger Trottel, der zufällig eine gelackte Fresse hat, die bei hirnlosen Weibchen ankommt, die sich einen angetütert haben!" Kat wechselte zu abschätziger Verachtung über. "Dann verstehe ich nicht, warum du dich so auf mich kaprizierst!" Tamaki lieferte einen sauberen Return. "Denn ohne Zweifel sind sämtliche Gäste deines Etablissements alle stocknüchtern, absolut seriös, überdurchschnittlich intelligent und so hässlich, dass man quasi im Dämmerlicht herumgammeln muss." Kat grub ihm zornig die lackierten Krallen in den Handballen. Tamaki erwiderte mit so großem Druck auf ihre Finger, wie er sich traute, ohne dass noch mehr Knochen entzwei gingen. Mit zartfühlender Rücksichtnahme konnte man diesem Herzchen nicht beikommen! "Du wirst schon sehen!" Zischte Kat bösartig. "Die Typen werden dich zu Schaschlik verarbeiten und deine Schmierlappenvisage neu gestalten!" "In dem Fall muss ich ja ERST recht im Salon weiter machen." Antwortete Tamaki ungerührt, auch wenn er sich im Hinterkopf Notizen machte, seine Host-Kollegen mal auf unerfreuliche Kontakte zu überprüfen. "Du stehst wohl gern auf der Leitung, was?!" Kat fauchte jeden Konsonanten. "Aber das ist mir schon klar geworden, als ich dich und den muskulösen Schnuckel vom letzten Mal gesehen habe! Seit wie vielen Jahren versuchst du denn schon vergeblich, bei ihm zu landen, hm?" Das war ein Tiefschlag, ein Foul, und für einen Moment blieb Tamaki die Spucke weg. Natürlich hielt er nicht hinter dem Berg damit, dass er Yamato liebte, seit Jahren schon. Unerfreulicherweise hielt Yamato ihn trotz aller Anstrengungen und extrem guter Kusstechnik unbeeindruckt auf Distanz, gebucht in der "lästiger, jüngerer Bruder"-Kategorie. "Zeit spielt keine Rolle, wenn man verliebt ist." Murmelte er schließlich weniger pathetisch als vorgesehen. "Unsinn!" Schnaubte Kat. "Von wegen Liebe! Du WEISST, dass er nicht mit dir in die Kiste springt, niemals. Trotzdem schwelgst du in deiner ach so glühenden Liebe! Denkst du nicht, dass das ein wenig schäbig ist, deine 'große Liebe' so mies zu behandeln? Ihn in eine Ecke zu treiben, nur, um dein Ego aufzupolieren?!" "Das-das ist nicht wahr!" Tamaki funkelte sie wütend an, spürte jedoch an seiner zugeschnürten Brust, dass Kat mit gnadenloser Zielsicherheit eine offene Wunde getroffen hatte und aus ihrem Geplänkel eine ernste Unterhaltung zu werden drohte. "Sicher!" Zischte sie abschätzig. "Ich irre mich garantiert, und du bist nicht bloß ein eingebildeter, feiger Idiot, der aus lauter Unsicherheit so lange an seinem Freund klammert, bis dem auch der letzte Geduldsfaden gerissen ist." "Was weißt du denn schon?!" Platzte aus Tamaki heraus, bevor er sich beherrschen konnte. Nur noch selten fiel er wie früher aus der Rolle des jovialen, selbstsicheren Charmeurs, wurde zu einem verstockten, besitzergreifenden und übellaunigen Gör. "Mich haben meine Eltern wenigstens nicht weggeschmissen!" Versetzte Kat aufgebracht. Tamaki erstarrte. Er spürte, wie seine Fingerspitzen kalt wurden, eine merkwürdige Taubheit seinen gesamten Körper erfasste. Ein Klingeln dröhnte in seinen Ohren. "Das-das wollte ich nicht sagen." Flüsterte Kat rau. Tamaki erhob sich langsam, entzog seine Hand. "Entschuldigung." Krächzte er. "Ich muss für einen Moment an die frische Luft." Es gelang ihm gerade noch, aufrecht in den Vorbereitungsraum zu gelangen, dann ließ er sich mit dem Rücken die Wand hinunter in die Hocke gleiten, umklammerte seinen Oberkörper und rang mit erstickten Lauten nach Atem. ~+~o~+~ "Ah!" Bemerkte der Sensei überrascht, als er in den Vorbereitungsraum trat, die Einweghandschuhe abzupfte. "Sie sind noch da, junger Mann! Nun, es war sehr freundlich von Ihnen, mir zu assistieren. Catherine ist ein wenig schwierig." Tamaki lächelte schief. "Ich dachte, es sei besser, sie nach Hause zu bringen, sonst glaubt sie noch, mit dem Verband in den Club gehen zu müssen." Über das faltige Gesicht des alten Mannes huschte ein Schmunzeln. "Das ist wohl wahr. Nun, sie wird gleich fertig sein. Ich bin übrigens erfreut, dass Sie nun mein neuer Mieter sind." Er grinste. "Ich werde ganz sicher Ihrem Salon einen Besuch abstatten, auch wenn ich wohl nicht zum Stammkunden geeignet bin." Unter dem Einweghäubchen glänzte in der indirekten Beleuchtung eine polierte Glatze. Tamaki bedankte sich und kündigte eine schriftliche Einladung zur Eröffnung an, während der alte Mann Kats Patientenakte zuklappte und sie wieder in einem abschließbaren Aktenschrank verstaute. Nachdem er sich verabschiedet hatte, wartete Tamaki vor der Klinik. Ein eisiger Wind blies, doch der lästige Regen hatte nachgelassen und sich in einen Sprühnebel verwandelt. Kat trat aus der Eingangstür, die sich zischend hinter ihr schloss. Sie warf Tamaki einen nervösen Blick zu, dann den Kopf in den Nacken und grantelte. "Wieso lungerst du hier noch rum? Hast du kein Zuhause?" "Wichtiger ist, dass du ein Zuhause hast." Konterte Tamaki entschieden. "Denn da liefere ich dich jetzt ab." "Ich kann alleine gehen!" Sofort verzog sich Kat in ihren Schützengraben. "Denk bloß nicht, dass ich mit dir irgendwo gesehen werden will!" "Ja, ja!" Tat Tamaki betont abschätzig diesen Ausruf ab. "Außerdem willst du noch zum Club, hast ja schließlich im Gegensatz zu den debilen Lackaffen aus der Poussierbranche RICHTIGE Arbeit zu erledigen, schon klar. Gehen wir, die Station ist nicht weit." "Wieso bist du nicht schon abgehauen?!" Kat wurzelte an. "Hast du nicht kapiert, dass ich nichts mit dir zu schaffen haben will?!" "Ich war noch nicht durch deine Handtasche durch!" Tamaki reduzierte den Abstand zwischen ihnen. "Für jemanden, der nichts mit mir zu tun haben will, suchst du verflixt häufig meine Nähe!" "Du leidest ja an Wahnvorstellungen!" Kat wich zur Wand zurück, funkelte ihn zornig an. "Du hältst dich wohl für unwiderstehlich, oder was?!" "Ja, ziemlich!" Tamaki packte mit blitzartigem Griff ihr rechtes Handgelenk und wickelte ihren Arm um seinen. "Außerdem bin ich im militärischen Nahkampf ausgebildet worden, von Yamato. Also komm jetzt, damit wir die nächste Bahn erwischen." "Ich will nicht mit dir gehen!" Verzweifelt stemmte Kat die Kunststoffsohlen der Clogs in die Gehwegplatten. "Tsk tsk, ich sollte dir Miete für meine Schuhe berechnen." Tadelte Tamaki nachsichtig und bewegte sich vorwärts. Wollte Kat nicht Hand und Arm verlieren, musste sie wohl oder übel aufschließen. Ein spannungsgeladenes Schweigen baute sich auf, während sie zur U-Bahnstation marschierten, jeder bot dem anderen das Profil, stolz, aufrecht, unnachgiebig. Die feuchte Hitze der Station war wie ein Schlag ins Gesicht. Kat ächzte und kam ins Stolpern, doch Tamaki stabilisierte ihren Stand sofort. Geschickt steuerte er sie im Passagiergewühle in eine Ecke und positionierte sich so vor sie, dass niemand im Gedränge den gebrochenen Unterarm in Gefahr bringen konnte. "Ich werde mich nicht bedanken!" Zischte Kat ihm leise zu, wandte eilig das Gesicht ab. Tamaki schwieg dazu, betrachtete unablässig ihr Profil, bis sie den Kopf bewegte, um sich hinter dem Lockenwust zu verbergen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass der Sensei ihre Akte absichtlich auf dem Tisch hatte liegen lassen. ~+~o~+~ "Das reicht jetzt!" Kat versuchte, den rechten Arm zu befreien. "Denk bloß nicht, dass ich dich hereinbitte!" "Tue ich auch nicht, das ist bei Vampiren ja eine gefährliche Angelegenheit." Returnierte Tamaki gelassen, legte den Kopf in den Nacken, um das mondäne Appartementhochhaus zu betrachten. "Und ich werde dir keine Miete für deine doofen Schuhe und diese kratzigen Socken bezahlen!" Fauchte Kat, nachdem er mit einer angedeuteten Verbeugung ihren Arm freigegeben hatte. Tamaki lächelte. "Ich wünsche dir auch eine geruhsame Nacht und friedliche Träume!" "Ich hoffe, dass dich die Bettwanzen auffressen!" Giftete Kat und wandte ihm, ihren lädierten Arm vor die Brust pressend, abrupt den Rücken zu. "Dann lebe wohl, oh schöne Frankenstein-Maid!" Säuselte Tamaki herausfordernd, denn er hatte nicht vor zu weichen, bis sich die automatischen Türflügel hinter Kat schlossen: ein Gentleman versicherte sich, dass seine Damenbegleitung sicher ihr Heim erreichte. "Pff!" Raunzte Kat ärgerlich. Dann, unerwartet, hörte er sie wispern. "Hüte dich vor dem Schönen Charlie. Er hängt mit den Tigerboys 'rum." Den Kopf eingezogen eilte sie zum Eingang ohne einen Blick zurück. ~+~o~+~ "Tamaki?" Yamato räkelte sich und sortierte grimassierend Unterlagen. So langsam wäre zahlungskräftiges Klientel für seine Detektei nicht schlecht, vor allem, wenn man den Stapel an Rechnungen betrachtete, der drohend auf seinem Tisch lauerte. "Unterarm gebrochen? Der Giftzahn?" Er erhob sich und marschierte durch sein Büro. "Warte, das notiere ich mir. Kippei, wo steckst du?!" Rief er nach dem jüngsten in ihrem Bunde. Kippei zockelte heran, in ein übergroßes T-Shirt unter einer ausgeleierten Strickjacke gewickelt. Der dämliche Seestern "Patrick Star", einer der größten Gehirnasketen jenseits der realen Welt, grinste ihn dümmlich in gruseligem Rosa an. "Wo, zum Teufel, hast du dieses grauenvolle Ding her?!" Erkundigte er sich bei Kippei, der vermutlich ein Genie war, aber den modischen Geschmack einer zertretenen Pflaume hatte. "Shin-chan hat mir das geschenkt" Kippei blinzelte hinter den dicken Brillengläsern überrascht. "Ach, wirklich?" Knurrte Yamato grimmig. Shinosuke Oribe mochte ein hochintelligenter Hirnforscher für das Militär sein, aber das würde ihn nicht daran hindern, diesem übergeschnappten Zottelhippie die Visage neu zu montieren, wenn er sich irgendwelche Freiheiten Kippei gegenüber herausnahm! Schlimm genug, dass er nun Kippei mit seinem grauenvollen T-Shirt-Geschmack anzustecken schien. Dieser Fetzen jedenfalls würde die nächste Wäsche nicht überstehen, nahm er sich vor. Von wegen "Feed me, I'm a P#Star"! Laut instruierte er Kippei. "Schmeiß die Mühle mal an, ja? Tamaki hat Ärger mit einem Typen namens Schöner Charlie aus dem Host-Club. Der soll mit irgendwelchen Tigerboys vernetzt sein." "Roger!" Salutierte Kippei erfreut, denn er liebte es, sich nützlich machen zu können, vor allen Dingen, wenn er dabei mir nichts, dir nichts Informationen erbeuten durfte, die man nicht so einfach erhalten konnte. "Tamaki, ich gebe dir Bescheid, wenn wir was haben. Sieh lieber zu, dass die große Eröffnung ordentlich über die Bühne geht! Dann kannst du den anderen Job an den Nagel hängen." "Depp!" Schnaubte er wütend und unterbrach die Verbindung. 'Ja, liebe Mama!', brauchte er sich nun wirklich nicht von seinem schnöseligen, sorglosen, ständig Ärger anziehenden, jüngeren Bruder anzuhören! ~+~o~+~ Kapitel 9 - Eine erschreckende Erkenntnis Es funktionierte nicht! Sebastian rieb sich die trockenen Augen, blinzelte schmerzhaft und verwünschte das Schicksal im Allgemeinen und sein angebliches Talent im Besonderen. Nach dem zweiten Treffen mit Perry, der sich so angenehm mit ihm unterhalten hatte, charmant, lustig, aufmerksam und freundschaftlich, gekrönt durch viel heiße Schokolade und leckere Puddingstückchen, hatten sie sich eingeschlichen, diese verdammt subtilen "Reiseziele"! Vielleicht lag es daran, dass Sebastian diese Träume hatte, diese besonderen Träume, die mit einem peinlichen Erwachen einhergingen? In denen es sich darum drehte, das Miterlebte zu verarbeiten. Mit Perry. Fürchterlich! Absolut unhaltbar, weil sie so etwas wie Freunde waren! Weil er mit diesem Mann simste, eine Vertrautheit pflegte, die ihn bei seinen Anstrengungen unterstützte. Wie konnte man da gleichzeitig in den eigenen wirren Träumen SO ETWAS aufführen?! Als wären die Träume nicht peinlich und unentschuldbar genug, kristallisierte sich auch heraus, dass seine abendlichen Ausflüge mehr oder weniger ein einziges Thema hatten: Sex. Wobei Perry ihn absprachegemäß immer begleitete, auch wenn er ihn manchmal gar nicht sehen, sondern lediglich seine Präsenz spüren konnte. Um der Peinlichkeiten Herr zu werden, hatte Sebastian mit drastischer Entschlossenheit nach jeder angesteuerten Szene SOFORT die Flucht zurück in seinen eigenen Körper angetreten, da mochte Perry ihm am Tag noch so sehr zusprechen, es sei nur eine Phase, Auswirkung der Pubertät, kein Grund, sich zu genieren oder bei ihm zu entschuldigen. Mit jedem Abbruch jedoch verstärkte sich die Wahrscheinlichkeit, dass nun wieder unkontrolliert Phasen tagsüber eintraten, während denen er in Gefahr geriet, seinen Körper allein zu lassen. Also musste er hektisch eine Betriebsamkeit (Füße wippen, Fingerknöchel massieren, auf dem Stuhl hin und her rutschen) an den Tag legen, um bloß nicht in das meditative Loch zu fallen! Wenn man jedoch übermüdet war, weil man nicht richtig schlief, sondern sich fortwährend genierte, aufwachen wollte, weil's so erbärmlich demütigend war, auf ein EINZIGES Interesse reduziert zu werden, ließ sich das Unterfangen nicht einfach an. Mit anderen Worten: Sebastian war völlig erschöpft. Vierzehn Tage Spießrutenlauf vor dem eigenen Gewissen und erbarmungslose Strenge mit sich selbst ließen ihn in einen Zustand überdrehter Lebendigkeit verfallen. Perry hatte ihn erneut zu einem Gespräch eingeladen, Kaffee und Kuchen oder auch Fastfood, was immer Sebastian wolle. Er sorge sich um ihn. Und Sebastian? Der hatte abgelehnt, eine Verabredung zum Kino angeführt, weshalb er nun auch in einer munteren Gruppe das Rücklicht bildete, vor sich hin stolperte, ein wenig fieberte und sich davor fürchtete, in der Dunkelheit des Kinosaals in sich zusammenzusacken und sonst wo zu landen. Er rechnete nicht damit, dass Perry unter einem Vordach hervortrat, ihn am Arm packte und mit der anderen Hand auf Sebastians Stirn energisch konstatierte. "Du hast ja Fieber, Sebastian! Willst du wirklich in diesem Zustand ins Kino gehen?" Die kleine Gruppe hielt inne, und ein älteres Mädchen oder vielmehr eine junge Frau mit opalisierenden Augen hinter getönten Brillengläsern adressierte Perry bestimmt. "Entschuldigung, aber sind Sie mit Hypnos bekannt?" "Ich bin ein Freund der Familie und habe eine Unterkunft in der Nähe." Perry arrangierte exakt die perfekte Mischung von Sorge, Aufmerksamkeit, Höflichkeit und Offenheit. "Ich denke, Sebastian ist nicht in der Verfassung, zwei Stunden in einem kühlen Kinosaal zu verbringen." Ein kritischer Blick der ungewöhnlichen Augen traf Sebastian, der tatsächlich die letzten Meter im fiebrigen Blindflug gestolpert war. "Und, möchtest du lieber bei deinem Freund bleiben, bis wir zurückfahren?" "Ich fühl mich tatsächlich nicht so gut." Murmelte Sebastian und ließ sich von Perry unterhaken. "Kannst du mich nachher zurückbringen, Perry?" "Selbstverständlich! Du machst aber auch Sachen, Sebastian!" Perry zuckte nicht einmal mit der Wimper, dass Sebastian die übliche Distanz überwunden hatte. "Wenn Sie uns nun entschuldigen würden, mein Fräulein, ich denke, ich sorge dafür, dass er sich erst mal hinlegen kann." "Tja, dann..." Im Bewusstsein der ungeduldig wartenden Gefolgschaft und angesichts der Vertrautheit gab die junge Frau nach. Perry quartierte den glühenden Sebastian in seinem Motelzimmer ein. ~+~o~+~ Eine Dusche und einen geliehenen Pyjama, während seine durchgeschwitzte Wäsche in einer Münzwaschmaschine rotierte, später fühlte sich Sebastian, auf dem Bett ausgestreckt und fürsorglich zugedeckt, nicht nur wohlig, sondern auch ziemlich dumm. Hatte er nicht versucht, Perry KEINEN beschämend-idiotischen Eindruck von sich selbst zu vermitteln? Na, DAS war ihm ja wundervoll gelungen! Perry saß bequem auf der Bettkante und kontrollierte streng Sebastians Betriebstemperatur per Handauflage und trichterte ihm unerbittlich löslichen Zitronentee ein. "Du machst vielleicht Sachen!" Tadelte er zungenschnalzend. "Ich dachte mir schon, dass etwas nicht stimmt, aber so was Unvorsichtiges! Wenn du krank wirst, verlierst du wieder genau DIE Zeit, die du gewonnen hast, weil wir beim Training erfolgreich waren!" Sebastian sah sich zu einer schwachen Verteidigung herausgefordert. "Das war doch keine Absicht! Und vorhin tat mir die kühle Luft wirklich gut!" "Ja, weil du schon Fieber hattest!" Perry zog die Augenbrauen kritisch hoch. "Sag mal, diese ganze Aktion gründet doch nicht etwa darauf, weil dir die Sache mit den fröhlich schnackselnden Figuren peinlich ist, oder? Du kannst das doch nicht steuern!" »Schon!« Dachte Sebastian heftig, wandte aber den Kopf ab, weil er dunkelrot anlief und biss sich auf die Lippe. "Herrje, Kerlchen!" Brummte Perry, verwuschelte Sebastians wirren Schopf. "So ist eben die Pubertät! Die Hormone wollen nur das Eine, also ist das ein wichtiges Thema. Völlig normal und kein Grund, sich zu genieren." DER Meinung war Sebastian überhaupt nicht! Außerdem war er ja nicht allein gewesen, sondern Perry hatte sein Versprechen gehalten und musste jetzt ja wohl sonst was von ihm denken!! "Also!" Perrys Hand drückte Sebastians verkrampfte ermunternd. "Sex gehört zum Leben. Wenn man dabei ist, merkt man auch nicht, wie lächerlich und würdelos man sich dabei aufführt. Was ganz gut ist, denn erstens, man nimmt's nicht SO wichtig und zweitens, mit Humor. Klar, jetzt gerade ist es eine ziemliche Bürde, das glaube ich gern, ich war ja auch mal in der Situation." Er grummelte. "Vor gefühlten Ewigkeiten kurz nach der letzten Eiszeit." Sebastian wandte vorsichtig den Kopf und studierte das markante Profil über sich, die dezent gelupften Mundwinkel in einer säuerlich-tragikomischen Erinnerung. "Jedenfalls, was denkst du wohl, wie deppert ICH mich fühle, wenn ich da so uneingeladen umeinander stehe und zugucke, wie andere sich amüsieren?" Perry straffte seine alerte Gestalt und blickte zwinkernd auf Sebastian herunter. "Da könnte man richtig depressiv werden!" Seine Stirn schlug Falten. "Wobei, also, das letzte Mal, ehrlich, da dachte ich nur: Autsch! Und: nicht mit meinem Rückgrat!" Eine schmerzliche Grimasse vervollständigte diese Reminiszenz. Wider Willen konnte Sebastian ein Grinsen nicht unterdrücken und Perry erwiderte es mit einem aufmunternden Lächeln, drehte sich leicht, um mit der freien Hand Sebastians wirre Strähnen zu sortieren. "Ist schon okay." Raunte er leise. "Nicht nötig, vor mir eine Show abzuziehen." Was Sebastian wiederum nach diesem kurzen Augenblick des vertraulichen Einverständnis daran erinnerte, warum er Perry AUSSERDEM aus dem Weg gehen wollte! Hastig klappte er die Lider herunter, um nicht brüskierend den Kopf weg zu drehen und verwünschte die Röte in seinen Wangen. Aber vielleicht würde Perry ja annehmen, dass er bloß ein wenig verlegen war und nicht herausfinden, dass die Ursache dafür stärker in den Träumen nach ihren "Reisen" begründet war, wo er zum Lustobjekt seines verstörten Schülers wurde! "Hmm!" Perry beugte sich tiefer und brummte. "Ich werde das Gefühl nicht los, dass du trotzdem vor mir davonläufst! Ist denn irgendwas passiert? Kann ich dir nicht helfen?" Sebastian presste die Lippen aufeinander und schwor sich auf Schweigen ein, das weitere Peinlichkeiten verhindern sollte. "Nun gut." Perry drückte ihm kurz die Hand. "Dann schaue ich mal nach, ob ich deine Wäsche schon in den Trockner stopfen kann." Ein unreflektierter Impuls, das musste es sein! Einen anderen Grund wollte Sebastian nicht spekulieren, der zugriff, einen Ärmel erwischte, von seinem Schwung aufgerichtet wurde und flehend-beschämend-hilflos in Perrys überraschtes Gesicht blinzelte. "Ist...?" Perry, auf seine aparte Kehrseite zurückbefördert, schluckte weitere Silben herunter, als ein ungelenker Kuss auf seinen halb geöffneten Lippen notlandete und gab die Sicht frei auf ein hochrot glühendes Gesicht, akkompagniert von einen heiseren Dank. "Gern geschehen." Murmelte Perry und studierte Sebastians verkrampfte Haltung, die fest zusammengekniffenen Augen, die pure Scham über sich selbst und die eigene Motivation. Behutsam legte er seine wohltemperierten und damit angenehm kühlen Fingerspitzen auf die entflammten Wangen, ignorierte das erschrockene Blinzeln und versengte seinerseits gastfreundliche Lippen. Sebastian keuchte, denn DAS HIER war ganz anders als alles, was er durch fremde Wirte erfahren hatte, intensiver, verlockender, an- und aufregender! Sein Herz, das schon zuvor aufgrund der Nervosität einen flotten Galopp hingelegt hatte, raste nun förmlich, wurde zu einem einzigen, vibrierenden Schlag. Schwindlig ließ er seine Arme um Perrys Nacken deponieren, umklammerte die eigenen Handgelenke, erwiderte jeden Kuss, der länger und intimer wurde. Er schmeckte Perry, glaubte, sogar in seiner Zungenspitze einen Pulsschlag zu spüren, bebte vor Anspannung, schreckte zusammen, als die tarnende Bettdecke über seine Hüften glitt und entblößte, was die Pyjamahosen nur unvollkommen verbargen. Perry registrierte selbstredend den Zustand seines Schülers, ließ weder Hektik, noch Rückzugsmöglichkeiten aufkommen. Seine versichernd kreisende Hand wechselte vom Rücken an die Front und schmuggelte sich kundig jenseits des Gummizugs tiefer, fasste beherzt zu und erstickte Sebastians Winseln in einem leidenschaftlichen Kuss. Für Sebastian war alles zu viel, zu schnell, zu überwältigend, um sich mit Scham, Anstandsregeln oder Vernunft aufzuhalten. Perrys Erfahrung, seine Selbstsicherheit und die entschiedene Zärtlichkeit, mit der ihm hier bis dato unerreichte Erfüllung gewährt wurde, spülten alle Einwände hinweg. Und er WOLLTE auch gar nicht mehr Zaungast sein! ~+~o~+~ Sebastian wischte sich heimlich über die Augen, erneut fürsorglich zugedeckt, von einer glühenden Geschmeidigkeit erfüllt, die so befriedigend, ja, sättigend und zugleich beängstigend suchterregend war. Nun, wo seine Hormone mal nicht alles sabotierten, was seine Würde oder Selbstbeherrschung beeinflussen konnte, kehrten Zweifel und Gedanken zurück, die ihn zuvor in eine schreckhafte Fiebrigkeit getrieben hatten. Perry war bloß nett gewesen, hatte ihm lediglich helfen wollen, ganz klar! Keine große Sache, das hatte der ihm ja erklärt, alles war kaum von Bedeutung, relativ gesehen! Deshalb verstopfte nun ein Kloß seine Kehle, und er war zornig auf sich selbst, weil er so BLÖD war! Wieso war ihm nach Heulen zumute?! Das Objekt seiner deprimierenden Gedanken legte gerade seine getrockneten Kleider zusammen und warf einen Blick auf den Chronometer am Handgelenk. "So langsam sollten wir uns auf den Weg machen." Ja, sogar seine Stimme klang ganz normal, freundlich, selbstsicher, vertrauenerweckend! Sebastian schniefte unterdrückt, setzte sich auf, angewidert von seiner dämlichen Eitelkeit, den idiotischen Ideen aus doofen Seifenopern, einer absolut unangemessenen Emotion! Ja, zugegeben, er mochte Perry! Sogar sehr! Aber wahrscheinlich nur, weil der geradezu auf dem Wasser lief, während er in einer Welt halt- und rettungslos herumpaddelte, die ihm nicht mal einen Rettungsring zuwarf! Also war das nicht etwa Liebe oder etwas Substantielles, sondern eine absolut peinliche Schwärmerei für jemanden, der sich und sein Leben im Griff hatte, attraktiv aussah, über ein sehr einnehmendes, gewinnendes Wesen verfügte und ihm mutmaßlich aus Mitleid half! "Alles in Ordnung?" Perry deponierte die Wäsche auf dem Bett, betrachtete Sebastian aufmerksam, der es vorzog, seinem Blick auszuweichen und auf seine geballten Fäuste zu starren. "Entschuldigung... wegen vorhin..." Würgte er heiser hervor. "Pardon?" Perrys Stimme indizierte genau, dass ER dieses Mal nicht gewillt war, sich ohne Erklärung abspeisen zu lassen, sich Sebastians "Launen" zu beugen. "Ich-ich weiß, dass es nur aus-aus Nettigkeit war und... das war nicht fair... von mir..." Sebastian rang nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit Worten, erneut glühend vor Beschämung. "Hrgh!" Entfuhr ihm überrumpelt, als Perry ansatzlos die Finger in ein Revers des Pyjamaoberteils grub, Sebastian heranzog und heftig, unmissverständlich küsste. In den grünen Augen glomm hitzige Härte, die silberweißen Augenbrauen zogen sich verärgert zusammen. "Zu deiner Information, ich bin keiner von den 'netten Typen', die einfach so herumknutschen." Knurrte Perry, als er Sebastian ein wenig Raum zum Luftschnappen gewährte, in der Faust noch immer das Revers. "Ich bitte dich also darum, mir keine Leichtfertigkeit zu unterstellen." Damit gab er Sebastian frei und erhob sich abrupt. "Bitte zieh dich jetzt um. Ich warte draußen." Er verließ Sebastian, kehrte sich nicht zu ihm um, als er die Tür leise hinter sich ins Schloss zog. ~+~o~+~ »Ich hab ihn beleidigt.« Diagnostizierte Sebastian unglücklich, während er sich auf dem Beifahrersitz einer schnittigen Limousine zusammenkauerte. Perry fuhr zügig und geübt, lenkte den Wagen souverän die recht schmalen Serpentinen hoch zur Internatsschule. Dass er schwieg, konnte Sebastian ihm nicht verdenken: ER hatte nichts erklärt oder angedeutet, sondern angefangen mit diesem lumpigen Kuss! Perry, der ihn ja am langen Arm hätte verhungern lassen können, hatte mitgetan. Ihm danach quasi zu unterstellen, er sei ein Bruder Leichtfuß, der mal eben mit einem depperten Novizen die Maulfütterung demonstriert habe, das WAR beleidigend! ER hatte sich wie ein Idiot benommen und jetzt ALLES ruiniert! Perry musste ja jetzt glauben, dass er nicht nur eine miese Meinung von ihm hatte, sondern auch der Typ von Junge war, der sich einem Liederjahn an den Hals warf, um von seinem traurigen Stadium als Jungfer Ahnungslos befreit zu werden! Mit jedem weiteren Gedanken, der explizit sein ungeschicktes Agieren, seine erbärmliche Unfähigkeit, sich selbst zu begreifen und das auch in Worte zu fassen, ja, seine grundsätzliche BLÖDHEIT auswälzte, sackte Sebastian tiefer in sich und dem teuren Ledersitz zusammen. Als sie die Zufahrt erreichten, hätte er ohne Mühe in eine Streichholzschachtel gepasst und das auch nur, wenn die Zündhölzer ihm gnädig Obdach gewährt hätten. Perry stellte den Motor ab, unternahm keine Anstalten, die letzten Meter bis zum Haus zurückzulegen. Sebastian hätte am Liebsten lautstark plädiert, wie leid es ihm tat, alles, aber er hatte das Gefühl, dass so eine hysterische Reaktion seine ohnehin im freien Fall begriffenen Aktien auch noch beschleunigen würden. Also räusperte er sich bloß mit belegter Stimme und murmelte. "Vielen Dank fürs Zurückbringen." "Sebastian." Perry starrte auf die noch luminiszierenden Instrumente, bevor er den Kopf wandte, ihn ansah. "Ich möchte dich bitten, dich zu melden, wenn etwas ist. Ich weiß, ich bin weder deine Mutter, noch jemand, der irgendwelche Ansprüche erheben kann, aber ich sehe mich selbst als deinen Freund an. Wenn es dir nicht gut geht, ich nichts von dir höre, dann sorge ich mich." Mit eingerollter Unterlippe kämpfte Sebastian gegen den lästigen Kloß in seiner Kehle an. Er HATTE es vermasselt! Perry klang so distanziert, so beherrscht! So korrekt, wie jemand, dem man eindeutig seine Grenzen aufgezeigt hatte. Bloß wollte er ihn ja gar nicht in Schranken verweisen, im Gegenteil!! "Ich.." Sebastian krächzte. "Ich werde nicht mehr...weglaufen, versprochen!" Er holte tief Luft, richtete seine zusammengefaltete Gestalt aus der Demutsgeste auf. "Und du BIST mein Freund!" Perry lächelte sparsam im wenig schmeichelnden Schattenwurf der Instrumente, seufzte dann nachsichtig und zerwuschelte Sebastians Schopf. "Das ist gut. Dann ab mit dir, bevor sie die Zugbrücke hochziehen! Wir sehen uns bei deinen Ausflügen wieder!" "Ja! Dann, gute Nacht und noch mal danke schön! Für alles!" Ermutigt kletterte Sebastian aus dem Wagen und winkte Perry zu, bis er die Rücklichter nicht mehr erkennen konnte, bevor er sich auf den Fußweg zum Wohnheim machte. ~+~o~+~ Kapitel 10 - Aufbruch "Wie war der Name gleich noch mal?" Sougo zwang sich verzweifelt, ausschließlich die Realität in seinen Fokus zu nehmen, was wirklich nicht einfach war, wenn man sich dabei ertappte, Herzchen auf einen Block zu kringeln! "Tigerboys!" Wiederholte Yamato ein wenig ungehalten, aber auch irritiert. Auf Sougo war immer Verlass, ein Ruhepol ihres Teams, konzentriert und ernsthaft. Wieso musste er ihm dann jeden Satz zweimal wiederholen, um auch sicherzugehen, dass am anderen Ende der Leitung die Botschaft ankam?! "Schick mir am Besten aufs Mobiltelefon eine Nachricht." Brummte Sougo und sah demonstrativ hoch, um seinem in der Fensterscheibe gespiegelten Doppelgänger die Zunge rauszustrecken. »Komm schon, Mann, reiß dich zusammen!« "In Ordnung." Bestätigte Yamato gedehnt, verabschiedete sich dann knapp. Möglicherweise war Sougo gerade bei einem Kunden, schwieriger Auftrag, Stress. Klar. "Kippei?" Dröhnte er durch sein Appartement, hoffte, die Aufmerksamkeit ihres jüngsten Teammitglieds auf sich zu lenken, ohne dass er dafür den Strom ausschalten musste. "Jahhaaaa?" Kippei trällerte fröhlich. "Gibt's Frühstück?! Hurra!" Yamato verdrehte die Augen. Wenn es nicht gerade teuflisch knifflige Aufgaben waren, konnte nur Essen Kippei in derartig euphorische Laune versetzen und dabei war der Bursche mittlerweile 18 Jahre alt! "Gleich!" Knurrte er laut und unterdrückte ein Seufzen, weil es ihm schon in Fleisch und Blut übergegangen war, die Küchenmamsell für seine drei Kameraden zu spielen. Was dem ärgerlichen Etikett "Gluckenmami" zuarbeitete, verflixt! "Sag mal, hat Sougo im Moment eigentlich viel zu tun?" Erkundigte er sich laut, während er geschickt Eier in eine quadratische Pfanne beförderte und geübt einrollte, damit ein perfektes, japanisches Omelett entstand. "Och, ich meine, wie immer." Gab Kippei arglos zurück. "Er kann ja für Tamaki immer bei Emi vorbeifahren." Yamato zuckte nicht mit der Wimper, als er Omelett und gekochten Reis anrichtete. "Macht Tamaki das denn nicht selbst?" "Nöö! Er sagt, Sougo ist der Ingenieur, und für die ist ja nix zu schwör!" Kippei kicherte munter. "Außerdem versteht Sougo sie ziemlich gut, weißt du? Das sagt zumindest Tamaki." "Aha." Beschied Yamato knapp. "Frühstück ist fertig!" Während Kippei unbeschwert mümmelte, schlürfte Yamato gedankenschwer seinen grünen Tee, die Augen in die Vergangenheit gerichtet. Sougos erste Freundin hatte im Rollstuhl gesessen, eine offene, muntere Person, aber wie viele Jungs in ihrem Alter interessierten sich schon für Mädchen mit Behinderungen?! Doch für Sougo, der schon früh seine Eltern und später auch noch seine Großmutter verloren hatte, zählten andere Qualitäten, das wusste er nur zu gut, Sougo war auch niemand, der die zahlreichen Offerten, die sich ihm boten, leichtfertig annahm, ein nachdenklicher, entschlossener und feinfühliger Mensch. Der Junge, in den er sich Hals über Kopf verliebt hatte, als er auf die Schule gewechselt war. Mit dem er seit Jahren einseitige Flirts unterhielt, um auf keinen Fall zu offenbaren, dass diese Gefühle noch immer in seinem Herzen loderten. ~+~o~+~ Tamaki schüttelte die Rechte, um Krämpfe zu vermeiden. Er hatte Einladungskarten geschrieben, um die Eröffnung seines Salons zünftig zu feiern. Der Salon selbst bot selbstverständlich nicht ausreichend Platz, um alle gleichzeitig einzulassen, gar keine Frage, deshalb wollte er unkonventionell einfach einen "Eröffnungstag" veranstalten, VIP-Zutritt von früh bis spät per Einladungskarte, das Interieur hübsch geschmückt und ordentlich Knabbereien und Getränke, um für einen guten Start zu sorgen. Möglicherweise, das erhoffte er sich zumindest, würden seine Stammkundinnen auch in den 2. Bezirk kommen, nicht davor zurückscheuen, dass dieser hauptsächlich von schwulen Männern frequentiert wurde. Immerhin, es gab hier auch Spitzengastronomie und noble Bars, "trendige Cafés" und verrückte Läden, die nicht ausschließlich eine Klientel bedienten! Er packte die Umschläge in einer großen Tüte zusammen und entschied, sogleich zum nächsten Kurierdienst zu marschieren. Vorher konnte er mal eben bei "Kat's" vorbeischauen, ob die streitbare Madame trotz gebrochenen Arms schon wieder an der Front im Einsatz war. Als er aus dem Aufzug stieg, gaben sich die üblichen Zuliefernden quasi die Klinke in die Hand. Am Vormittag wurden frisch die Vorräte aufgestockt und allerlei vorbereitet. Wie gewohnt hatte es sich Kong an der Tür bequem gemacht und überwachte mit Argusaugen jeden Handgriff. Tamaki winkte ihm zu. "Guten Morgen, Kong! Ist Kat schon aufgeschlagen?" Kong musterte ihn prüfend. "Du machst besser einen großen Bogen um die Chefin." Brummte er im Bass. "Sie hat ne teuflische Laune." Was Tamaki nicht Wunder nahm, immerhin sollten sich jetzt all die Ungelegenheiten zeigen, die einen überfielen, wenn man einen gebrochenen Unterarm hatte. Da wurde der Alltag zu einer großen Herausforderung. Bevor er jedoch Kongs wohlmeinenden Ratschlag befolgen konnte, hörte er auch schon Kats giftigen Alt. "Ach, sieh an, Prince Charming?! Haben wir nichts zu tun? Kein armes Opfer, dem wir den Schädel verunstalten können?" "Zum Gruße, verehrte Verkörperung des munteren Morgens!" Tamaki improvisierte einen eleganten Kratzfuß. "Wie ich sehe, hat der kleine Lapsus gestern Ihren Charakter nicht beeinflussen können!" Kat spazierte heran, wie immer auf schwindelerregend hohen Hacken, einen figurnahen Hosenanzug ohne Bluse präsentierend. Seriös und ungemein sexy, wie Tamaki aufrichtig anerkannte. "Was willst du?!" Zischte sie. "Hier auch noch Chaos verbreiten, damit ich mir dank deiner tatkräftigen Unterstützung den Hals breche?! Das könnte dir so passen!" Tamaki lächelte. "Oh, ich wollte mir lediglich die tägliche Dosis Häme, gewürzt mit Abscheu und garniert mit Verachtung abholen! Denn wie heißt es so schön: kommt der Berg nicht zum Propheten, geht eben der Prophet zum Berg." "Ich werde dir auch gleich was prophezeien!" Fauchte Kat. Tamaki, der ihr ungeniert ins Gesicht sah, registrierte, dass es ihr nicht ganz gelungen war, die Spuren einer zu kurzen, vermutlich mit aufkeimenden Schmerzen verbundenen Nacht zu verstecken. "Wenn du dich nicht vorsiehst, du hirnloser Schmalzbubi, wirst du ganz schnell das Nachsehen haben!" "Poetisch!" Schnurrte Tamaki und erwiderte das zornige Blitzen ihrer Augen. "Man dankt für die liebevolle Anteilnahme, Madame!" "Pah! Ich will bloß nicht, dass du hier noch mehr Dreck anziehst und wir deinen hässlichen Kadaver wegschaffen lassen müssen!" Kat hob das spitze Kinn noch höher, um ihn auch wirklich von oben herab adressieren zu können. Tamaki lächelte besonders aufreizend und packte blitzschnell Kats Rechte, hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken, noch bevor Kong ihn abdrängen oder Kat zurückweichen konnte. "Nur keine Sorge." Wisperte Tamaki sanft. "Auch wenn man mich weggeworfen hat, Madame, so bin ich doch nicht so leicht unterzukriegen." Fahl unter dem Makeup entzog Kat ihm ihre Hand, presste die Lippen fest aufeinander und wandte sich abrupt ab. "Auf bald!" Schnurrte Tamaki und nickte Kong zu, der für einen Augenblick seine Irritation nicht verbergen konnte. Eingestandenermaßen hätte ein Gentleman darauf verzichtet, einen Kinnhaken anzusetzen, wenn der Gegner bereits lädiert war, aber Tamaki wollte es Kat nicht so leicht machen, ihn abzuqualifizieren. Nicht ohne einen veritablen Kampf über alle Runden! ~+~o~+~ "Du könntest mir doch einfach mal so helfen!" Beklagte Kippei sich unzufrieden. Wirklich, wieso musste Shin-chan grundsätzlich eine Gegenleistung einfordern?! Immer waren es irgendwelche seltsamen Tests für das Militär! "No can do!" Trällerte Shinosuke Oribe, dem man weder sein Alter, noch seine Profession ansah, ebenso wenig wie die überdurchschnittliche Intelligenz und den unbeugsamen Willen, die Grenzen des menschlichen Geistes nicht nur auszuloten, sondern auch zu überwinden. "Na schön!" Seufzte Kippei missmutig. "Aber zu Neujahr bin ich GARANTIERT wieder daheim!" Unvorstellbar, das neue Jahr und die ersten Feiertage nicht mit seiner Familie zu verbringen! "Okiedokie!" Shinosuke klang so aufgedreht wie immer. "Oh, ich freue mich schon soooo!" "Phff!" Schnaubte Kippei grundehrlich. "Du solltest dir echt mal ne Freundin suchen, Shin-chan!" "Haha!" Am anderen Ende der Verbindung sang Shinosuke triumphierend vor sich hin. "Ich bin mit meiner ARBEIT verheiratet! Und sie LIEBT mich! Yeah yeah yeah!" Insbesondere, wenn es gelang, sein liebstes Studienobjekt in der Woche vor dem Neujahrsfest ganz exklusiv für sich zu haben! Kippei seufzte resignierend auf. Yamato würde das GAR NICHT gefallen und irgendwie, trotz seiner ziemlich hohen Intelligenz (Kippei bildete sich nichts darauf ein, er war ja so geboren worden) befand er, dass es nicht ganz aussichtslos wäre, sich mal zu verlieben, in einen richtigen Menschen, analog. Sozusagen den Raum zwischen 0 und 1 auszuloten, was, Beobachtungen zufolge, zu dieser Jahreszeit und rund um Weihnachten herum, ziemlich häufig aufgrund der damit verbundenen Hoffnungen passierte. »Bloß nicht bei Shin-chan in seinem Labor!« Grummelte er innerlich, während er in sein Zimmer trottete und eine Reisetasche packte. Da war die beste Präparation und jede Menge Forschungsarbeit in der Literatur für die Katz! Nicht mal zum Online-Dating würde er kommen! »Andererseits....« Kippei hielt inne, als ihm ein gefährlicher Gedanke kam. Warum sollte man eigentlich nicht....? ~+~o~+~ "Ich könnte den Kerl erwürgen!" Schnaubte Yamato. Sougo, der neben ihm postiert ebenfalls aus sicherer Entfernung die Razzia beobachtete, lupfte fragend eine Augenbraue. "Shinosuke, die Ratte!" Erklärte Yamato ärgerlich. Schön, dank dessen Hilfe räucherte gerade eine Spezialeinheit der Polizei sämtliche Quartiere der Tigerboys aus und sammelte den Schönen Charlie ein, der genug auf dem Kerbholz hatte, um für mehrere Stunden 'den Ermittlungsbehörden bei der Arbeit zu helfen', aber WIESO musste dieser schmierige Militär-Fuzzie in seinem lächerlichen Laborkittel IMMER Tests mit Kippei einfordern?! "Kippei kann schon auf sich aufpassen." Relativierte Sougo Yamatos Gluckentrieb entschieden. Kippei war zwar der Jüngste und so blind wie ein Maulwurf, aber er zeichnete sich auch durch eine Cleverness aus, die nichts mit seiner Genialität zu tun hatte. Er mochte naiv wirken, aber er war ganz gewiss nicht dumm. "Pah!" Schnaubte Yamato aufgebracht, verstaute seinen Feldstecher. "Wenn dieser blöde Kittelfritze irgendwas Unsauberes vorhat?! Ich traue dem Kerl nicht über den Weg!" Sougo unterdrückte ein ungeduldiges Grollen. Yamato betonte zwar immer wieder, wie wichtig es ihm war, dass Tamaki und Kippei nicht an seinem Schürzenzipfel hingen, doch seine Überbesorgnis konterkarierte diese Ausführungen! "Vertrau Kippei. Wie sonst auch." Antwortete er also undiplomatischer als gewöhnlich. Yamato warf Sougo einen überraschten Blick zu. Er hatte den unduldsamen Unterton in der Stimme seines besten Freundes nicht überhört. "Ich will bloß nicht, dass ihm etwas passiert." Verteidigte er sich steif. "Das will ich auch nicht." Gab Sougo zurück, der normalerweise auf eine Replik verzichtet hätte, weil er nicht wegen Petitessen Streit suchte. "Trotzdem, Kippei ist jetzt 18 Jahre alt. Er fällt sein eigenes Urteil. Er führt sein Leben." "Daran hindere ich ihn ja auch überhaupt nicht!" Yamato verstaute ihre Ausrüstung. "Aber er weiß nicht, wie gefährlich die Welt sein kann!" "Ach nein?" Sougo schulterte seinen Rucksack, baute sich vor seinem besten Freund auf. "Er gehört zu unserem Team. Denkst du ernsthaft, er wüsste nicht, was um ihn herum vorgeht? Glaubst du, er kann nicht zwischen Spiel und Wirklichkeit unterscheiden?" "Natürlich nicht!" Begehrte Yamato auf. "Trotzdem, er ist klein und zierlich und zu niedlich für sein Alter! Da kann sonst was passieren!" "Yamato!" Schnappte Sougo mit zusammengezogenen Augenbrauen. "Entscheide dich mal, ob du seine Mutter oder sein Bruder und Freund sein willst!" Abrupt machte er kehrt und stapfte zum Treppenhaus, um zum Transporter zu gelangen. Er rechnete nicht damit, dass Yamato ihn begleiten würde. ~+~o~+~ "Ernsthaft? Eine Razzia? So ein Pech!" Schnurrte Tamaki begeistert und zwinkerte einer älteren Dame zu, die es liebte, wenn er dahinplauderte und dabei über ihre Hand streichelte, sie mit seiner ganzen Aufmerksamkeit bedachte, eine einfache Stammkundin im Host-Club und daher gern gesehen. "Vielen Dank, Kleiner!" Flüsterte er in sein Mobiltelefon. "Dafür bringe ich dir was Feines zu beißen mit!" Immerhin würde er seinen Salon aufmachen, den Host-Job wieder an den Nagel hängen können und das auch noch ohne unerwünschte Störenfriede! Sein Lächeln vertiefte sich, als er sich vorstellte, wie wohl Kat auf die Neuigkeit reagieren würde, dass unversehens die bösen Jungs aus dem Verkehr gezogen worden waren! Ob sie wohl auf eine andere Bosheit umsteigen würde? Oder ihm eine gelangweilte Anerkennung zukommen ließ? Nun, das würde er wohl sehen, wenn sie zum Eröffnungstag auf hohen Hacken in seinem Reich Einzug hielt! ~+~o~+~ »Verdammt!« Dachte Yamato und verspürte nicht den mindesten Drang, sich für diesen Kraftausdruck (gemessen an seiner Kindheit in einem katholischen Waisenhaus) zu entschuldigen, was selten vorkam. Aber tatsächlich umfasste diese Verwünschung sämtliche Fakten, die er nicht umhin konnte zu registrieren: dass Sougo Emi nicht für einen Wimpernschlag aus den Augen ließ, förmlich an jeder Geste klebte und seine Umgebung komplett vernachlässigte. Dabei wirkte der nicht wie ein mondsüchtiger verliebter Knallkopf, sondern ernsthaft, aufrichtig und überaus bemüht zu gefallen. Yamato verspürte den beschämenden Stachel der Eifersucht. Was selbstredend absolut idiotisch war! Denn leider, leider, leider sah Sougo ihn mit den Augen eines sehr guten Freundes und nicht als einen super-sexy Halbgott! Trotzdem. Da konnte er sich noch so sehr innerlich zurechtweisen und anhalten, gefälligst fair zu bleiben: der Tag war ihm verhagelt. Nicht mal das Objekt der Anbetung lud zu berechtigter Kritik ein! Emi, die Schreinerin und Spezialistin für den Messebau, war in ihren Möglichkeiten leutselig, fröhlich und immer bereit, die Schranken der unterschiedlichen Kommunikationswege zu überwinden, ganz zu schweigen davon, dass sie offenkundig das ausstrahlte, was Sougo ein hingerissenes Lächeln ins bärtige Gesicht zauberte. »Deprimierend.« Grollte Yamato und entschied, da ohnehin sich in dem übervollen Salon die Gäste quasi die Klinke in die Hand gaben, seinen Abschied einzureichen. Mehr Sauerstoff für alle anderen! Die Hände tief in die Taschen seiner abgewetzten Lederjacke grabend stapfte er aus dem 2. Bezirk zu einer einfachen Sporthalle in den Katakomben neben einer Garage. Dort rief ein Sandsack nach ihm, das hörte er genau! ~+~o~+~ "Ich glaube, Yamato ist ein bisschen sauer auf mich." Vertraute Kippei Tamaki an, der alle Hände voll zu tun hatte, für ihr Nesthäkchen jedoch immer ein offenes Ohr. "Tja, schade, dass der Schnuckel schon weg ist!" Seufzte Selena im Bariton und strich geziert über ihre frisch coiffierten Haare. "Wenn es wegen dieser Testreihe bei Shin-chan ist, sollte er nur auf mich sauer sein und nicht auf dich." Argumentierte Tamaki beruhigend. "Ihr habt euch ja meinetwegen so reingehangen." Kippei zog eine Grimasse und studierte das Damenkränzchen, das Sougo und Emi zu einem Spaziergang animiert hatte. Die älteren 'Damen' waren aufgekratzt und sehr viril, beinahe beängstigend lebhaft! Selena zwinkerte, als sie Kippeis Unbehagen bemerkte. "Keine Angst, mein Kleiner, wir alten Schachteln achten schon darauf, ob die Leckerbissen volljährig sind oder nicht!" Somit fiel Kippei bei ihnen unter den 'Welpenschutz' und musste nicht mit eindeutigen Offerten und ziemlich ungeniert grapschenden Händen an seinem Podex rechnen. Ungeachtet dieser Versicherung schob sich Kippei näher an Tamaki heran. Plötzlich erschien ihm das Projekt "Erste Liebe" gar nicht mehr so verheißungsvoll. Tamaki schmunzelte über Kippeis Reaktion. Den meisten Männern, die einem Rudel Frauen ausgesetzt waren, ging es ähnlich. Da trafen Weltanschauungen aufeinander und ließen das starke Geschlecht oft ziemlich bedröppelt aussehen. "Du kannst ruhig gehen." Erteilte er ihm Demission. "Danke für deine Hilfe, Grashüpfer!" "Okay." Gab Kippei vorsichtig zurück, schnappte seine Umhängetasche und zog sich eine Zipfelmütze sehr tief in die Stirn. Bloß weg hier! In der Tür jedoch bremste er abrupt, um nicht in eine schlanke und sehr elegante Frau zu laufen. Sie hatte einen langen Wollmantel über einen Hosenanzug geworfen. Dunkle Locken waren lässig zu einem Dutt hochgestreckt, der lose Kringel rieselte. Der Blick aus den schwarzen Augen, mit dichten Wimpern beschattet, sezierte seine bloße Existenz gründlich und gnadenlos. "Nanu, haben wir jetzt auch Wichtel hier?" Eine Stimme wie Honig und Räucherkammer schnurrte boshaft aus einem kritisch geschürzten Mund. "Mir war entgangen, dass Meister Schniegelpoppi jetzt auch Schulkinder verunstaltet." "Ah!" Tamaki rückte heran. "Madame Kat, darf ich meinen jüngeren Bruder Kippei vorstellen? Kippei, das ist Madame Kat, unsere liebenswerte, fröhliche und überaus tolerante Maklerin." Kippei zog die Augenbrauen unter den Mützenrand und verneigte sich artig. "Enchanté! Und ich bin kein Wichtel, sondern Student." "Ist nicht wahr." Ätzte Kat gewohnt kratzbürstig. "Dann bist du wohl das Genie in eurer Viererbande, wie? Wird interessant zu sehen, wie du es aus unserem Bezirk schaffen willst, ohne dass Bullen ganze Bände voller Fingerabdrücke von deiner Figur nehmen können." Tamaki schnalzte mit der Zunge. "Verflixt, danke, Madame! Daran habe ich gar nicht gedacht!" Denn in der Tat wurde es langsam voll im Bezirk, und Kippei wirkte durchaus wie einer der auf sehr jung getrimmten "Einzelunternehmer", die auf Beutefang aus waren, zumindest optisch. "Gute Güte, es DENKT?! Die Welt geht unter, und in der Hölle schneit es!" Kommentierte Kat schnippisch. "Aber verständlich, wenn Meister Fatzke so fleißig war und mit den Bullen geplaudert hat!" "Oh, die sind ganz alleine drauf gekommen." Schnurrte Tamaki fröhlich zurück. "Freut mich aber sehr, Majestät, dass Sie mich dazu beglückwünschen!" Kat knurrte, denn davon war ÜBERHAUPT keine Rede gewesen! Sie war SEHR versucht, ihm eine Auslese aus seinen charakterlichen und intellektuellen Unzulänglichkeiten vor den Latz zu ballern, aber sie war schließlich ein hart arbeitendes Mädchen und hatte keine Zeit zu verschwenden mit diesem unerträglich aufgeblasenen Lackaffen! "Und jetzt?" Brachte sich Kippei in Erinnerung, der auf subtile Weise begriff, dass hier ein Gefecht ausgeführt wurde, das im Subtext nur so brodelte. Kein Ort, an den er gerne gelangen wollte! "Willst du zur U-Bahn?" Selena tätschelte mütterlich Kippeis mützenbewehrtes Haupt. "Dann begleite MICH doch einfach! Ich pass auf, dass keiner frech wird!" Angesichts des entschiedenen Auftretens und der durchaus vorhandenen Kampfmasse seiner Begleitung votierte Kippei sofort für diese Offerte. "Wirklich? Prima, danke schön!" "Dann mal los, ihr beiden!" Tamaki hauchte Selena rechts und links ein Küsschen auf die fleischigen Wangen. "Danke, meine Liebe!" "Für dich doch gern, Tamaki-chan!" Flatterte Selena kichernd mit falschen Wimpern, bot Kippei dann einen kräftigen Arm an. "Wollen wir, Herzchen?" "Wir wollen!" Entschied Kippei, der nicht länger dem Laserblick dieser unerfreulich garstigen Madame ausgesetzt sein wollte. Nix wie ab durch die Mitte! Kat verschränkte die dünnen Arme vor dem schmalen Brustkorb, ignorierte dabei den lästigen Verband und schnaubte bloß hochmütig, als das ungleiche Pärchen an ihr vorbeizog. "Nett von dir, dich um Kippei zu sorgen." Stichelte Tamaki ungeniert weiter. "Pah!" Fauchte Kat. "Der arme Knirps sollte nicht für die gedankenlosen Eseleien eines gewissen HAIRDESIGNERS büßen müssen!" Aus ihrem Mund klang Tamakis Berufsbezeichnung wie ein unflätiges Schimpfwort. "Sehr richtig!" Pflichtete Tamaki ihr mit samtpfotiger Beflissenheit bei. "Darf ich dir vielleicht etwas anbieten, zur Feier meiner Eröffnung? Ein Häppchen? Praline? Oder Sekt?" "Puffbrause?! Widerwärtig!" Kat stemmte die Hände in die Hüften, der Wollmantel schwang. "Ich bin nicht hier, um diesen kitschigen Trallalla zu goutieren, sondern dich an die Fälligkeit der Miete zu erinnern! Sieh zu, dass der Umsatz stimmt, klar?!" "Glasklar. Wie Kloßbrühe. 100%. Absolut. Definitiv!" Tamaki blendete sein bestes Verführerlächeln auf, genoss die ärgerliche Röte, die sich in die bleichen Wangen schlich. "Übrigens, darf ich ein Kompliment wagen für diesen sehr eleganten Hosenanzug? Schlicht und doch verführerisch." Setzte er seiner süffisanten Schmeichelei und Unterwürfigkeit die Krone auf. "Du mich auch!" Versetzte Kat frostig, hob das Kinn noch höher, absolvierte eine ihrer demonstrativen 180° Drehungen auf dem Absatz und marschierte davon. Tamaki sah ihr schmunzelnd nach. Wenn Kat alle Stacheln aufstellte, ihn von oben herab abkanzelte, dann konnte er sich nicht anders helfen, als wie ein schleimig-schmieriger Gigolo zu reagieren, jede Hofschranze in den Schatten zu stellen! Je öfter sie ihn aufgebracht stehen ließ, umso größer die Chancen, dass sie einmal darüber nachdachte, WARUM sie so handelte. ~+~o~+~ Sougo ignorierte das gelegentlich aufdringliche Starren von Flanierenden, als er mit Emi spazierte: er musste sich auf ihre Hände, ihre Mimik konzentrieren, damit ihre Unterhaltung auch funktionierte, denn ständig auf einen kleinen Computer als "Übersetzer" zu stieren, das war hinderlich, störend und sabotierte seine johlenden und triumphierenden Hormone, die sich endlich mal beachtet fanden! Außerdem konnte er Emi auf diese Weise ungeniert betrachten. Emi lächelte, in ihrem sehr lebendigen Gesicht wechselten Emotionen und Informationen rasch. Ihr entging keineswegs, wie gebannt ihr großgewachsener Begleiter an jeder Regung hing. Das war sehr schmeichelhaft. Ärgerlicherweise begann es nun, in dicken, eisigen Tropfen zu regnen. Der Wind frischte auf. Keine idealen Bedingungen für ein Tete-a-tete zweier Flanierenden auf dicht gepackten Gehwegen. "Gehen wir zum Transporter." Formulierte Sougo überdeutlich, unterstrich seine Worte mit Gesten. Emi nickte kurz und hängte sich bei ihm ein, denn Sougo beabsichtigte, mit einigem Schwung durch die Menge zu kraulen. Das war nicht ganz einfach, simpel jedoch die Lösung, einander nicht zu verlieren: man nahm sich an der Hand. Die Wangen gerötet (ganz sicher vom eisigen Wind) galoppierte Sougo vorneweg, kalkulierte genau die kürzere Schrittlänge seiner Begleiterin und pflügte eine Furt, die selbst Moses beneidet hätte. Trotzdem waren sie nass, als sie lachend in das Führerhaus des Transporters kletterten. "Darf ich dich auf einen Tee einladen? Zum Aufwärmen?" Sougo ließ die Gelegenheit nicht ungenutzt, noch mehr Zeit mit Emi zu verbringen und endlich die Courage zu beweisen, die ihm sonst so mühelos gelang. Emi zeigte zwei Daumen hoch und lachte ihn an, wischte sich dann Wasser aus dem Gesicht. Es war ebenfalls sanft gerötet und strahlte Zufriedenheit aus. »Fein!« Dachte Sougo und startete den Motor. »Jetzt einen Tee, einen Snack... und dann frage ich sie!!« ~+~o~+~ Der Sensei beehrte Tamaki ebenfalls mit einer Stippvisite, komplimentierte seinen Geschmack in Sachen Inneneinrichtung und bewunderte die kleinen Tricks und Kniffe, die Tamaki anwandte, um aus dem bescheidenen Platzangebot den Eindruck eines geräumigen Salons zu erwecken. Da niemand sonst als VIP vorbeisah, konnte Tamaki diesen Moment nutzen, den Sensei nach Kat zu befragen. "Catherine." Der Sensei lutschte eine Praline. "Hmmm, die sind sehr lecker! Ja, Catherine... sie hat in einer Bar gearbeitet, einer Burleske-Varieté-Show, wenn ich mich richtig entsinne. Sie ging damals noch zur Oberschule. Bei den Proben hatte sie einen Brand gelöscht und sich verletzt. So ein Jonglage mit Fackeln, glaube ich." Der alte Mann nippte an seinem Sekt. "Es tat bestimmt fürchterlich weh, sonst wäre sie nicht gekommen. Beinhart und knochentrocken. Sarkastisch. 'Armes Ding', dachte ich damals." "Dann war sie schon immer so stachelig?" Tamaki reichte eine weitere Praline heran. Der Sensei grinste und enthüllte ungeordnete Zahnreihen. "Schlimmer als ein gereizter Seeigel! Bantamgewicht, aber giftig wie eine Schwarze Mamba!" "Wie hat sie es denn geschafft, so rasch zur Madame aufzusteigen? Mit einer so exklusiven Bar?" Tamaki lauschte interessiert. "Kluges Köpfchen." Der Sensei mümmelte eine weitere Praline mit verzückt verdrehten Augen. "Gutes Gedächtnis und natürlich das gewisse Etwas." Er schluckte beinahe bedauernd herunter. "Die Männer kommen in die Bar, weil sie dort wichtige Geschäfte anbahnen können. Verbindungen aufnehmen. Gerüchte hören. Und sie haben eine Gastgeberin, die sie miteinander ins Spiel bringt. Die vermittelt. Die es versteht, mit der Währung 'Information' geschickt Handel zu treiben." "Kein Wunder, dass ihr da so ein geschniegelter Lackaffe mit Proll-Attitüde wie ich nicht ins Konzept passt." Kommentierte Tamaki launig. Nun schmunzelte der Sensei hintergründig. "Erstaunlich, dass es ihr dann immer noch nicht gelungen ist, dich zu vertreiben, mein Junge." "Ja, DAS gibt mir auch zu denken! Soweit ich dazu befähigt bin." Grinste Tamaki verständig. Demnach schien auch der Sensei der Auffassung zu sein, dass die Dame zu viel 'protestierte', um ernsthaft seine Geschäftstätigkeit zu verdammen. "Catherine ist ein gutes Mädchen." Stellte der alte Mann leise fest, blickte versonnen auf seine von Altersflecken gezeichneten Hände. "Sie hat es im Leben bestimmt nicht leicht gehabt." Tamaki studierte das Profil des Arztes, konnte darin angespannte Sehnen entdecken, einen beinahe finster zu nennenden Ausdruck. "Ich habe nicht vor, es ihr schwer zu machen." Antwortete er leise. Der Sensei wandte ihm den Kopf zu, blickte ihn eindringlich an, als könne er ihn durchleuchten auf Absichten und Motive. Doch was hätte er da finden können, da Tamaki sich selbst nicht sicher war, was genau ihn veranlasste, diese kratzbürstige Frau herauszufordern? "Hm!" Stellte er schließlich fest und rappelte sich auf. "Sehr leckere Pralinen, das muss ich schon sagen! Nun, mein Junge, ich wünsche dir großen Erfolg mit deinem Salon! Und jetzt wird es Zeit für mich, nach Hause zu gehen, sonst bekomme ich meinen Schönheitsschlaf nicht mehr!" Er zwinkerte, und Tamaki grinste frech, verneigte sich artig und begleitete seinen Vermieter bis zum Aufzug. Nachdenklich sortierte er anschließend seine Utensilien für den nächsten Tag und fragte sich im Stillen, wie Kat so viel über ihn, seine Freunde und ihre Verbindungen herausgefunden hatte. Konnte sie sogar ihre andere "Beschäftigung" erraten?! ~+~o~+~ Sougo ließ den Transporter im Leerlauf auf den Parkplatz rollen. Seit zwei Tagen flogen Nachrichten hin und her, 'telefonierten' sie abends miteinander, tauschten sich über ihren Alltag aus. Dass er dabei seine Tipptechnik auf dem Computer verfeinerte, bemerkte Sougo kaum. Sie 'redeten' in Echtzeit miteinander, erzählten sich Witze, kommentierten die desolate Leistung des Baseball-Teams und loteten vorsichtig aus, wie der andere so tickte. Inzwischen hatte er auch die Schmach verwunden, dass Emi ihm einfach ihre private Visitenkarte gereicht hatte, als er sie beim Absetzen an der heimatlichen Werkstatt ÜBERHAUPT nicht nonchalant fragen wollte, ob man sich nicht wiedersehen könne. Andererseits war das wohl ein großes Glück. Sougo erinnerte sich an die Ermahnung seiner Großmutter, immer das Positive im Blick zu behalten, denn wann hatte er sich das letzte Mal auf ein Rendezvous eingelassen? Ihm fehlte definitiv die Übung. Er stieg aus dem Transporter aus und betrat das Werkstattgelände. Emi wollte ihn an der Werkhalle selbst treffen, bevor sie miteinander in einer Kneipe zu Abend aßen. Das sah zumindest der Plan vor. Sougo betrat die Werkhalle, folgte den Leuchten bis zur großen Werkbank. Emi hatte sich eine große Schürze übergeworfen, um einen feinen Tuchmantel und Strumpfhosen in der gleichen Farbe vor Schmutz zu schützen. Geschickt feilte sie an einem gedrechselten Holzpfosten. Um sie nicht zu erschrecken, orientierte sich Sougo an der nächsten Leuchte und warf einfach seinen mächtigen Schatten auf die Werkbank. Emi drehte sich sofort zu ihm um, lächelte erfreut und ließ eilig Werkzeug und Werkstück sinken. "Hallo! Guten Abend." Sougo verneigte sich leicht. "Bin ich zu früh?" Mit einem Kopfschütteln beruhigte Emi ihn, streifte sich rasch die Schutzkleidung ab und sortierte das Werkzeug ein, strich sich dann durch die Haare. Dabei verteilte sie unbeabsichtigt Holzspäne auf ihrem Kopf. "Ah, einen Augenblick!" Sougo suchte ihren munteren Blick, wischte dann sehr vorsichtig über die glänzenden Strähnen. "Da ist noch was. So, alles weg!" Er stand so nahe vor Emi, dass sich in der kalten Werkhalle ihre Atemzüge miteinander vermischten. Emi streckte eine Hand aus, legte sie sanft auf seine bärtige Wange. [Kalt?] "Ein bisschen." Gestand Sougo ein, hatte Mühe, sich von den Lippen abzuwenden, denen er mühsam jede Äußerung ablesen wollte. Emi stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte einen Kuss auf seine Lippen. [Besser?] Verlegen blinzelte sie nun zu ihm hoch. "Ein bisschen." Neckte Sougo verliebt. "Ist dir auch kalt?" Demonstrativ schlotterte Emi mit allen Gliedern, schwankte auf den ungewohnt hohen Absätzen in ihrer Parodie. Sougo fasste zu, stützte sie und senkte den Kopf, um ihre freundliche Geste zu erwidern. Möglicherweise war er nicht sonderlich geübt und ohne Finesse, doch ein wenig kosen und schmusen, das sollte ihm bestimmt gelingen! ~+~o~+~ "Sougo nicht hier?" Erstaunt blickte Tamaki sich um, streifte sich die Winterjacke von den Schultern und lupfte seine Schirmmütze vom prächtigen Schopf. "Hrmpf!" Kommentierte Yamato diese Tatsache, biss auf seine Zigarette. Kippei vor seinem geliebten Computer warf über die Ränder seiner großen Brillengläser einen warnenden Blick zu seinem Bruder. "Na fein, worum geht's?" Tamaki entschied, die Indizien nicht zu diskutieren, sondern sich, da es schon spät und er doch recht geschafft war, auf das Wesentliche zu konzentrieren. "Ein Job." Yamato zerdrückte seine Zigarette, als hätte sie ihn persönlich beleidigt und müsste nun förmlich aus dem Universum getilgt werden. "Erfahre ich noch Details?" Nun versetzte Tamaki seine Frage mit Spikes. Ja, da konnte Yamato noch so eine faule Laune haben, vergrätzt sein: er hatte sich eben etwas vorgemacht! »Du hättest es ja auch mal mit mir versuchen können!« Doch diese kleine Genugtuung erschien Tamaki plötzlich fade und ohne Verve. Behielt Kat recht und er liebte Yamato nicht auch auf die Weise, die er immer so überschwänglich proklamiert hatte? Kippei sah ein Gewitter am Horizont aufziehen und schritt ein, indem er betont sachlich die Fakten präsentierte. "Dieser Bursche hier, der soll im 'Kat's' verkehren. Seine Frau glaubt, dass er sie dort hintergeht." "Ich glaube nicht, dass Kat so was dulden würde." Tamaki studierte das Foto, das Kippei ihm übergab. "Ihr Laden gilt als sauber, keine Techtelmechtel auf dem Lokus oder in dunklen Ecken." "Sie meint, dass ihr sauberer Gatte dort VERABREDUNGEN trifft!" Schnaubte Yamato giftig. "Denn in seinem Telefon oder auf seinem Computer gibt es keine einschlägige Konversation!" "Schön zu sehen, dass eine glückliche Ehe auch auf Vertrauen beruht." Grollte Tamaki zurück, dem Yamatos üble Laune nach einem langen Tag erheblich auf den Zeiger ging. "Was soll ich da machen? Der Laden ist nicht auf meinem Stockwerk. Kat lässt mich garantiert nicht in ihrer Bar herumhängen. Ich gehöre nicht zur Zielgruppe!" "Rede eben mit dem Türsteher!" Polterte Yamato. "Ich will bloß wissen, mit wem er sich wann trifft, okay? Das ist doch nicht so schwer!" "Mach's doch selbst!" Tamaki stemmte die Arme in die Hüften und funkelte auf Yamato herunter, den er leicht überragte. "Kong klatscht nicht, und er ist auch nicht bestechlich, sonst würde Kat ihm die Runkelrübe vom Stängel schrauben. Du wirst schon selbst ins 'Kat's' gehen müssen, um den Typen zu überwachen." Yamatos Miene verbiesterte sich noch um einige Grade. "Die Schreckschraube kennt mich und wird mich nicht reinlassen!" "Verkleide dich halt." Sein jüngerer Bruder wandte sich ab. "Oder häng dich an den Typen ran." "Das kostet verdammt viel Zeit!" Schnaubte Yamato. "Ich habe noch einen anderen Job zu erledigen!" Tamaki blickte über die Schulter, lupfte fragend eine Augenbraue. "Ach ja?" Nun war es jedoch an Yamato, ihm auszuweichen und damit abzulenken, den Aschenbecher auszuleeren. "Was für ein Job ist das denn?" Flüsterte Tamaki Kippei zu. "Hat er die ganze Zeit schon diese fiese Laune?" "Punkt zwei: ja." Wisperte Kippei verschwörerisch. "Und Punkt eins: Kurierdienst." "Ach du dickes Ei!" Formulierte der Hairdesigner sehr zivil, denn diese Botschaft bedeutete, dass Yamato mit seiner Detektivagentur mal wieder so tief in den Miesen steckte, dass er sich fremdverdingen musste. Kippei nickte gravitätisch. "Im Moment herrscht Flaute, und fürs Team kommt auch nichts rein." Damit referierte er zu den geheimen Regierungsaufträgen, die sie gelegentlich ausführten, wenn die Polizeikräfte nicht zum Einsatz kommen sollten und möglichst nichts erfahren durften. Tamaki seufzte leicht, wuschelte Kippei durch die Haare. "Tut mir ja leid, aber ich kann weder bei dem einen, noch bei dem anderen Problem was beisteuern." Und vielleicht war es ja ganz gut, dass Yamato sich endlich von seiner ersten, unerfüllten Liebe löste. ~+~o~+~ "Was hat das zu bedeuten?!" Kat stöckelte wie ein Wirbelsturm in Tamakis Reich, ignorierte den verschreckten Anzugträger, der hier den verstohlenen Genuss, von einem sehr attraktiven, jungen Mann frisiert und rasiert zu werden, auskosten wollte. "Ah, Madame Kat, welch' Glanz in meiner bescheidenen Hütte!" Schnurrte Tamaki, der bereits ahnte, weshalb dieser Tiefausläufer mit Sturmfront ihn heimsuchte. "Wenn ich um ein Sekündchen bitten darf, meine Liebe, dann stehe ich Ihnen sofort zur Verfügung." Kat stemmte die Hände in die Hüften, breitbeinig wie ein Cowboy beim Duell. "Ich bin nicht 'deine Liebe', du phrasendreschender Hohlkopf, verstanden?! Halt gefälligst deinen Testosteron-geblähten Bruder von meinem Etablissement fern, klar?!" Sie schwenkte am Handgelenk ein schwarzes, trügerisch harmloses Gerät. "Sonst bring ich ihm den elektrischen Fandango bei, capice?!" Mit einem vernichtenden Blick von oben herab bedachte sie Tamaki ein letztes Mal, bevor sie sich abrupt abwandte, hörbar den Absatz in die Fliesen rammte und davonstürmte. "Herzallerliebst, nicht wahr?" Beruhigte Tamaki den völlig verkrampften Kunden unter seinem stilvoll gemusterten Schutztuch. "Unglaublich, dass sie noch zu haben ist." "Aha..." Drang es eingeschüchtert zu ihm hoch. Es klang nicht, als bestünde Interesse, diesen Zustand persönlich zu ändern. Tamaki schmunzelte und vollendete sein Werk. Als der verdatterte Mann sich eilig herausgeschlichen hatte, noch mitgenommen von seinem Ausflug auf die 'dunkle Seite', setzte Tamaki einen kleinen Herzchen-Stempel in sein großes Kundenbuch. Tatsächlich, es verging wirklich kein Tag, an dem Kat nicht aufschlug, um ihn in Grund und Boden zu verdammen! Um festzustellen, dass er immer noch nicht pleite war, dass er weiterhin absolut lächerlich herumtänzelte, dieser barbierende Gigolo und dusselige Hausfrauen in seinen billigen Bann schlug, eine Schande für jede anspruchsvolle Eva! Dass er unablässig kriecherisch herumfaselte, wenn sie ihn runterputzte und ihr unablässig beipflichtete, ohne am Zustand etwas zu verändern! Jeden Tag eine Stippvisite, boshaft-gehässig-verächtlich-zornig-aufgebracht. Sie musste ihn sehr mögen. Zumindest hoffte er das. ~+~o~+~ Sougo apportierte mühelos den Rollkoffer, lenkte ihn geschickt durch die Passagiermengen. Kippei folgte ihm in seinem Kielwasser, erfreut über die breite Bahn, die der imponierend großgewachsene und austrainierte Mann ihm verschaffte. "Yamato immer noch sauer?" Erkundigte sich Sougo über die Schulter, während er gleichzeitig die Anzeigen studierte und das richtige Gleis suchte. "Ähm." Antwortete Kippei ihm unbehaglich und schob ungelenk mit den Fäustlingen seine Brille von der Nasenspitze auf ihren vom Optiker bestimmten Platz zurück. Sougo drehte sich zu ihm herum, legte ihm beruhigend eine Hand auf die schmale Schulter. "Das kommt schon wieder in Ordnung." Versicherte er. "Ja." Murmelte Kippei und starrte auf seine Stiefelspitzen. Überzeugt war er nicht. "He." Sougo legte einen Finger unter das runde Kinn, bewegte den Jüngeren, seine großen Augen widerwillig auf ihn zu richten. "Es ist nicht so wie bei William, und wir werden uns auch nicht trennen." "Das haben sie bei den Beatles auch gesagt." Brummelte Kippei kläglich. "Ich schätze, wir sind eher die Stones, meinst du nicht?" Sougo lächelte ernst. "Wir nehmen die Herausforderung an, uns gemeinsam zu ändern." Denn immerhin waren sie keine Teenager mehr, Kippei mal ausgenommen. Das Leben ging weiter. Man konnte nicht ewig Geheimagent spielen. "Wenn es bloß ein Happyend gibt!" Bemühte sich Kippei um Zuversicht. "Ich möchte bloß nicht, dass alles zerfällt." "Das wird es nicht." Sougo widerstand den Anstandsregeln, die es Männern verbat, sich in der Öffentlichkeit zu umhalsen, zog Kippei in eine bärig-schützende Umarmung. "Wir sind doch eine Familie." Eine Familie aus Waisen, die zwar eine ganze Zeit lang nur einander hatten, doch er hoffte, dass sie neue Familienmitglieder im Lauf der Zeit dazugewinnen würden. Kippei schmiegte sich an die große Gestalt, die stoische Zuverlässigkeit in Person. Es zerrüttete sein Nervenkostüm, wenn sich seine Brüder nicht vertrugen. Er benötigte diese Nestwärme, unbedingt! "Ah." Sougo klopfte ihm sanft auf den Rücken. "Da kommt gleich dein Zug, Kippei." Widerwillig entschlüpfte der Jüngere der tröstlichen Umarmung, übernahm selbst das Steuer seines Rollkoffers, rückte seinen Rucksack mit einem Schulterzucken zurecht. "Tja, dann werde ich mal wieder für Shin-chan das Versuchskaninchen geben!" Entschlossen blickte er auf den einfahrenden Zug. "Gib ihm Saures und bring das System zum Rauchen!" Forderte Sougo, der Shin-chan für gelinde gesagt durchgeknallt hielt und sich fragte, wie es wohl um eine Regierung bestellt war, die solche Figuren in ihren wichtigsten Verteidigungsorganisationen mit Schlüsselfunktionen betrauten. "Mach ich!" Kippeis Brille saß schon wieder auf der Nasenspitze, was den entschiedenen Ausdruck seiner Miene dezent unterlief. Er drängte sich ungewohnt aggressiv mit den anderen Reisenden in den Schnellzug, reckte dann den Daumen, als sich die automatischen Türen schlossen. Sougo erwiderte die Geste, lächelte Kippei aufmunternd zu, als sich der Zug in Bewegung setzte. Spätestens zu Neujahr wären sie wie jedes Jahr alle wieder zusammen und alles würde gut sein. ~+~o~+~ Yamato seufzte, als er die winzige Kamera verstaute und den Kragen höher klappte, das Maid-Café verließ. Es regnete natürlich mal wieder Katzen und Hunde, dazu wehten Eisnadeln vom Meer her. Was für ein bescheuerter Auftrag! Die aufgewendete Zeit stand im Kontrast zum Salär, den er verlangen konnte. Zudem würde seine einzige Klientin nicht erfreut sein. Ihr Göttergatte, von dem sie vermutete, dass er sich mit einem gleichgeschlechtlichen Partner vergnügte, entpuppte sich als Vater einer Studentin, die in diesem Café jobbte, eine Jugendsünde mit Folgen, denn die Mutter hatte einen anderen Mann geheiratet und der war als Vater registriert. Das würde wohl einen zünftigen Ehekrach nach sich ziehen. Möglicherweise die Scheidung. Yamato wahrte eine professionelle Distanz zu seinen Fällen, aber zu dieser Jahreszeit und besonders in seinem Liebeskummer empfand er dieses Fazit als deprimierend. »Aber vielleicht irre ich mich ja auch, und sie zeigt Verständnis, akzeptiert die Vorgeschichte ihres Mannes.« Redete er sich ein, als er sich zum Dienstantritt beim Kurierservice einfand, in einen geschmacklos gestalteten Overall schlüpfte, der eine Lakaienuniform imitieren sollte, aber kläglich scheiterte. Er rammte seine Karte in die Stechuhr, nahm seinen ersten Auftrag und das Dienst-Handy entgegen, schnappte sich ein Fahrrad ("wir sind schnell und umweltfreundlich! Liefern Sie grün aus!") und strampelte los. Die Arbeit würde nicht nur seiner knappen Kasse eine Atempause verschaffen, sondern ihn auch von der leeren Wohnung ablenken, wo ihn kein Kippei putzmunter empfing. Er wollte sich nicht einsam fühlen. ~+~o~+~ "Oh, Kippei-chan! Mein süßer Knuddelwuddel!" Shin-chan kannte keine Distanz oder etwa eine persönliche Sphäre, er schnappte Kippei sofort und drückte ihn an sich, als hätten sie sich seit Ewigkeiten weder gesehen, noch gesprochen. "Ja-ah." Ächzte Kippei mit beschlagenen Gläsern, bemühte sich, aus der zangenartigen Umklammerung zu entkommen, um nicht unter akuter Atemnot zusammenzubrechen. "Oh, ich habe mir die feinsten Sachen ausgedacht!" Shin-chan wirbelte ihn im Kreis herum, so flott, dass die Enden seines Laborkittels aufwehten. "Wir werden SO VIEL Spaß haben!" "Toll." Krächzte Kippei und zappelte heftiger. "Aber JETZT muss ich mal!" DAS sollte doch selbst Shin-chan zur Räson bringen! Der setzte tatsächlich seine wertvollste Entdeckung ab und lachte zu laut. "Pardon, da vergesse ich doch glatt meine Manieren! Mach dich ruhig erst mal frisch, ja? Du hast dasselbe Zimmer wie immer." "Okay, dann gehe ich mal schnell." Tarnte Kippei seine Flucht, schnappte seinen Rollkoffer und trollte sich. Vielleicht konnte er schneller nach Hause fahren, wenn er Shin-chans Tests flott abwickelte? ~+~o~+~ "Da ist jeden Abend Hochbetrieb!" Raunte Selena Tamaki vertraulich zu. "Zum Jahresende wird da noch so Einiges gedrechselt!" Tamaki, der die Kurzhaarfrisur präzisierte, die Selena weiblicher wirken ließ, zwinkerte in den Spiegel. "Da wird Madame Kat wohl noch dämonischer auftreten als ohnehin, was?" "Zum Fürchten!" Bestätigte Selena schaudernd. "Aber trotzdem fliegen die Herzen ihr nur so zu! Die Kerle möchten terrorisiert werden, eine Schande! Was bleibt da für so zartbesaitete Mädchen wie mich übrig?" "Ach, diese Typen sind doch keine Herausforderung für dich." Grinste Tamaki frech. "Die wollen bloß eine Mutti, die ihnen den Allerwertesten haut und sie ständig in den Senkel stellt." "Das ist wahr!" Gab Selena zu, präsentierte mehr Falten, als sie entschieden ergänzte. "Das ist wirklich nichts für ein hart arbeitendes Mädchen wie mich! Ich will eine starke Schulter zum Anlehnen und einen anständigen Charakter." "So ist's recht!" Pflichtete Tamaki ihr aufmunternd bei. "Außerdem ist es doch ein Armutszeugnis, dass diese Schnösel sich einschließen und keine Frauen zur Gesellschaft wollen!" "Genau! Feige Bande!" Blies Selena aus voller Überzeugung und im Bariton entrüstet in dasselbe Horn. "Die können mir gestohlen bleiben!" Was sie auch würden, wie sie beide wussten, aber nichts ging darüber, ein wenig Klatsch mit schwesterlichen Solidaritätsbekundungen zu garnieren! "Fertig! Und bildhübsch!" Schwungvoll wie ein Torero entfernte Tamaki das Schutztuch, beugte sich vor, um sein Kinn auf die Höhe Selenas zu bringen. "Gefällt's dir?" "Perfekt, Tamaki-chan! Du bist der Beste!" Bauchpinselte Selena ihn strahlend. Assistiert von seiner aufmerksamen Hand entstieg sie dem Stuhl und zupfte geziert ihr Kostüm zurecht. "Dann wirst du also in der letzten Woche noch öffnen?" "Ja, ich habe meine Familie schließlich hier in der Stadt und muss nicht in den Zug steigen." Tamaki nahm mit einer Verbeugung seinen Lohn entgegen. "Wirst du verreisen?" "Na ja, ich werde wohl ein paar alte Freundinnen treffen." Selena seufzte und tätschelte seine Wange. "Wir haben's nicht leicht, weißt du? Auf uns wartet keine Familie." "Außer der, die wir uns selbst schaffen!" Gab Tamaki zurück und hauchte rechts und links Küsschen neben die fleischigen Wangen in die Luft. "Vielleicht treffen wir uns ja zu Neujahr am Tempel, meine Liebe?" "Ich werde jedenfalls nach dir Ausschau halten!" Selena ließ die aufgeklebten Wimpern einen Tusch flattern. "Sei brav, mein Hübscher, hörst du?" "Ich höre und gehorche." Scherzte Tamaki mit einer weiteren Verbeugung, begleitete seine späte Kundin noch bis zur Tür, dann fegte er geübt die Haare zusammen, wechselte die Handtücher und präparierte seine Arbeitswerkzeuge. Hinter ihm signalisierte ein fröhliches Glockenspiel die nächste Kundin. "Willkommen! Ich stehe Ihnen sofort zur Verfügung!" Zwitscherte er beflissen-herzlich. "Überschlag dich bloß nicht." Brummte Yamato, kletterte geschmeidig auf den Friseurstuhl. "Nanu?" Tamaki pirouettierte überrascht. "Ist etwas passiert?" "Warum?! Darf ich mir nicht auch mal die Zotteln stutzen lassen?" Schnarrte Yamato im Selbstverteidigungsmodus. "Oh, liebend gern!" Tamaki klatschte in die Hände und rieb sie freudig. "Ist schon eine Weile her, dass ich dich verwöhnen durfte!" Sein koketter Tonfall war geneigt, unbeteiligte Zuhörer auf die falsche Fährte zu locken. "Dazu habe ich dir nicht gerade viel Anlass gegeben." Murmelte Yamato und riskierte einen Augenaufschlag. Ihm entging nicht, dass sich Tamakis Augen verblüfft weiteten. "Weißt du, ich brauche keinen Anlass." Antwortete er bedächtig, zupfte das Schutztuch über Yamato zurecht. "Es ist mir einfach ein Bedürfnis, um glücklich zu sein." Unter anderen Umständen hätte es wohl unerträglich schmalzig geklungen, doch Tamakis simple Wiedergabe seiner Gefühle verhagelten Yamato jeden geplanten Anfall von Spott. Mit geschlossenen Augen ließ er sich von Tamakis geschickten Fingern die Strähnen durchpflügen, dann kamen Kamm und Schere zum Einsatz. Das gleichmäßige Schnippeln und Rieseln von Haaren übten einen beinahe meditativen Einfluss auf ihn aus. Im Unterschied zur sonstigen Kundschaft schnatterte "Radio Tamaki" nicht unermüdlich, berieselte ihn mit Klatsch und Tratsch, weil sie einander so nahe standen, dass Schweigen zwischen ihnen keine trennende Qualität einnahm. "Fertig." Verkündete Tamaki schließlich, löste das Tuch und schleuderte es schwungvoll aus. Yamato klappte die Augendeckel auf und studierte sein Erscheinungsbild im Spiegel. Er war nicht sonderlich eitel, auch wenn er selbst hohe Maßstäbe anlegte, sich Fitness, Beweglichkeit und Körperbeherrschung abverlangte. Dass sein Äußeres weniger maskulin als 'metrosexuell' wirkte, ärgerte ihn zwar gelegentlich, hatte jedoch auch Vorteile: man konnte im schwierigen Haifischbecken der One-Night-Standler die guten Partien besser abgreifen. Tamaki schlang ihm die Arme um die Schultern und legte seine Wange an Yamatos. "Es hat sich nichts geändert." Versicherte er Yamato sanft. "Wir sind eine Familie. Ein paar atmosphärische Störungen bringen uns doch nicht aus dem Gleichgewicht, richtig?" Mit einem verlegenen Schnauben antwortete Yamato. "Du meinst, von fruchtloser Verliebtheit kuriert zu werden?" "Exakt." Tamaki drückte einen Kuss auf Yamatos Wange, löste dann seine Arme und richtete sich auf. "Das stecken wir doch wie echte Männer weg, oder?" Seine herausfordernde Pose nötigte Yamato ein schiefes Grinsen ab. "Was du kannst, kann ich schon lange!" Pflaumte er seinen jüngeren Bruder an und erhob sich geschmeidig aus dem Stuhl. "Ich bin nämlich der ältere und vernünftige von uns beiden!" "Ja, ja, ja!" Tamaki verdrehte in jahrelanger Übung die Augen. "Du wirst noch mal als Leierkasten enden!" "Nur, weil du immer denselben Mist verzapfst." Wiederholte Yamato und setzte zu einer verhaltenskorrigierenden Kopfnuss an, ein Ritual, das sie seit Ewigkeiten verband. Tamaki lächelte und duckte sich minimal, obwohl er wusste, dass die 'Faust der Gerechtigkeit' nicht einschlagen würde. "Vergiss nicht, dass wir Neujahr zusammen feiern." Erinnerte Yamato ihn verlegen, zum Aufbruch entschlossen. "Wehe, wenn du wie letztes Jahr angetütert erscheinst und bloß ein paar mickrige Mandarinen beisteuerst!" "Aye, aye!" Salutierte Tamaki. "Ich werde mein Schlimmstes geben!" "Tust du doch immer." Antwortete Yamato trocken über die Schulter, zwinkerte dann aber und tippte sich grüßend mit zwei Fingern an die Schläfe. Tamaki lächelte und atmete erstaunlich erleichtert durch. Verrückt, dass sie so lange gebraucht hatten, um endlich einen Schritt vorwärts zu wagen! ~+~o~+~ Kapitel 11 - Die Entscheidung Pubertät war ein anderes Wort für einen existenziellen Kampf mit sich selbst. Sebastian hasste sich gerade unbändig, was ihm zumindest besser gefiel, als das nagende Gefühl der Scham und Demütigung. Okay, er WUSSTE ja aus eigener Erfahrung, wie sich ein sexueller Höhepunkt anfühlte und geknutscht hatte er jetzt auch schon. Das musste doch verdammt noch mal reichen, um seinen unersättlichen, gierigen, absolut unmanierlichen Körper samt bekloppter Hormonvergiftung davon abzuhalten, ständig von eindeutigen Aktionen zu träumen! Seine "Reiseziele" vorher wurden auch nicht besser! Selbstredend war es nett, wenn man nicht in Sterbenden, Unfallopfern, Soldaten oder sonstigen Grenzgängern menschlicher Existenz landete, aber musste es wirklich immer nur ums Eine gehen?! Eine weitere Woche ohne wesentliche Fortschritte, was seine Fähigkeit betraf, seinen Wirt zu wählen und eine ebenso unerhörte Zeitspanne, in der er sich trotz entschiedener Willensanstrengung nicht gleich zurückziehen konnte. JETZT wusste er, dass es in einem größeren Chalet in der Nähe einen Swingerclub gab, der Leiter einer Bankfiliale sich an Onlinepornos ergötzte, ein paar merkwürdige Jugendliche in komischen, schwarzen Klamotten jenseits der alten Friedhofsmauer ihrer Rolligkeit nachgaben und dass der Bäckerei-Azubi mit der Mutter seines besten Freundes ein Techtelmechtel unterhielt: samt und sonders Erkenntnisse, auf die er mühelos hätte verzichten können! Ebenso auf die unfeine Feststellung, dass sein verräterischer, schamloser Körper sich gern an den Empfindungen anderer Leute während des "Brückenschlagens" beteiligte. Ein Gefühlsschmarotzer, widerwärtig! Da konnte man sich auch lange einreden, das Wechseln der Wirtskörper (hin und her, nicht zurück in den eigenen) diene wenigstens einem Training! Nein, hier wollte einer ganz ungeniert alles mitnehmen, was es zu holen gab! Aber er hatte es versprochen, nicht mehr wegzulaufen, sich nicht mehr wegzuducken, auch wenn Perry ihn jetzt wahrscheinlich für den maßlosesten perversen Schmarotzer der Welt halten musste! Wenn diese ganzen Episoden nicht so verdammt beeindruckend gewesen wären, dann hätte er sich auch nicht anschließend in Träumen verarbeiten müssen, hätte sich wie vermutlich alle anderen mit Noten, Lernen, Prüfungen und dem jahresendzeitlichen Stress herumschlagen dürfen! Aber nein, es MUSSTE ja diese pubertäre Totalverirrung in amoklaufenden Hormonen sein, die ihn lenkte!! Sebastian starrte auf die Anzeige seines Mobiltelefons. Perry lud ihn ein, sich zu unterhalten, ein wenig Zeit miteinander zu verbringen. »Das ist nicht gut!« Stöhnte eine ahnungsvolle Stimme in seinem Hinterkopf, die verzweifelt darauf pochte, dass er wenigstes den VERSUCH unternehmen sollte, sich ein Quäntchen Würde zu bewahren. »Wahnsinn! WAHNSINN!« Lechzte dagegen eine sehr prollige Stimme tiefer, jenseits des Gürteläquators aufgeputscht. Möglicherweise könnte man Perry ja überzeugen...! Hin und her gerissen wusste Sebastian einfach nicht, was er tun sollte. Wenn er seinem Trieb nachgab, forderte er Perry wahrscheinlich heraus, ihm direkt eine kalte Dusche zu verpassen. Wenn er sich enge Zügel anlegte, um bloß nicht seine primitive Geilheit nach außen dringen zu lassen, würde er wahrscheinlich zum Brett mutieren müssen. Das wäre nicht zwangsläufig ein Erfolgsmodell. Was also tun?! ~+~o~+~ "Fürchterliches Wetter!" Schnaubte Perry, als Sebastian unter schwärzlichem Himmel bei unaufhörlichem Schnürlregen in das Auto kletterte. "Also, sollen wir ins Café? Oder in die Kreisstadt, Schaufensterbummeln?" Perry lächelte ihn gut gelaunt an. Sebastian drehte sich zu ihm, legte ihm eine kalte Hand auf die Wange und reckte sich, Perry auf den Mund zu küssen. "Ich möchte zu dir." Wisperte er rau. ~+~o~+~ Einzig der aufgezogene Wecker wachte über sie, als sie sich nackt unter der Bettdecke im Motelzimmer neu entdeckten. Sebastian begrüßte das reale Gewicht des Mannes über sich, feste Muskeln, harte Knochen, einfach die WIRKLICHKEIT dieser Empfindungen, wenn er zupackte, sich festhielt, Fingerkuppen in Fleisch grub. Wie kleine Kinder keinerlei Aversion zu Matsch und Regenpfützen zeigten, sich austoben wollten, verlangte es ihn danach, besudelt zu werden, von Kopf bis Fuß dieser Sünde nachzugeben, alles auszuprobieren, das Perry ihm vorschlug oder zeigte. Das deprimierende, erniedrigende Gefühl des Schmarotzens, des Zuglotzens, alles sollte unter der Hitze ihrer Leidenschaft spurlos verbrennen! Sebastian wollte geliebt werden, und ganz sicher nicht auf die platonische Weise! ~+~o~+~ Kapitel 12 - Hals- und Beinbruch »Bitte nicht!« Flehte Ephraim Lux innerlich, als die Kommunikationsanlage dezent aufleuchtete, doch zu seiner profunden Erleichterung war es kein Anruf aus Übersee, den er da höflich weiterleitete. Das Menetekel eines Anrufs aus der Heimat schwebte höchst deprimierend seit exakt drei Tagen über seinem gezeichneten Haupt und noch immer war ihm kein Argument eingefallen, das den Sturm der Verärgerung zumindest ein wenig abflauen lassen würde. Vorsichtig tappte er auf dem Stepper, einem niedrigen Hocker, der vor Jahrzehnten zum nächsten Hit in der Fitnessbranche gekürt worden war und dann wieder ebenso behutsam auf den festen Boden der Einsatzzentrale zurück. Zugegeben, so übel war der Notdienst gar nicht, es war warm und trocken, er konnte sich in einem großen Bürodrehstuhl verkriechen, wenn ihm die Gymnastik zu viel wurde. Ephraim hörte ein Summen, bevor sich die schwere Tür pneumatisch öffnete und auf einem der zahlreichen Bildschirme vor ihm per Endlosprotokoll verkündete, dass 25Z67T den Raum betreten hatte. Hinter 25Z67T verbarg sich ein junger, etwas linkisch wirkender Mann mit einem wirren Wuschelschopf, einer übergroßen Strickjacke und einer eher zierlichen Gestalt. Abgesehen davon, dass es sich um einen Vampir handelte, zumindest theoretisch. "Oh, du bist fleißig?" Besagter Vampir balancierte konzentriert eine Jumbotasse mit Kakao und darin aufgelösten Marshmallows für den Gast aus Amerika, in der anderen Hand einen Teller, der gefährlich hoch mit großen Keksen bestückt war. Ephraim zuckte verlegen mit den Schultern und nahm Lysander rasch die süße Last ab. Dessen Brillengläser waren schon leicht beschlagen, weil er den Kakao sehr nahe der eigenen Nase apportiert hatte. "Vielen Dank!" Antwortete er artig und schnupperte sehnsüchtig. "Ich dachte mir, es tröstet dich ein wenig über den Notdienst hinweg!" Lysander lächelte freundlich und kraulte dabei das Stofftier, das neben Ephraim Wache hielt. Der nominelle Vampir beugte sich vor und flüsterte vertraulich. "Mach dir nichts daraus, das kann jedem passieren! Hauptsache, dir geht es bald wieder gut!" "Danke." Murmelte Ephraim und lächelte unwillkürlich zurück. "Mir geht's schon wieder gut." Zumindest den Umständen entsprechend, und wenn er nicht an den dräuenden Anruf seines Vaters dachte. "Fein!" Strahlte Lysander, raffte die übergroße Strickjacke eng um seine zierliche Gestalt. "Dann werde ich dich nicht länger stören. Weiter so!" Mit diesem aufmunternden Kommando verließ er, unbestechlich vom Protokoll registriert, die Einsatzzentrale wieder. Ephraim seufzte und sackte in den Bürodrehstuhl, gönnte sich einen knusprigen Keks, den er lautstark malmte. Neben Lysander wurde ihm immer klar, wie ähnlich sie einander waren und wie hoffnungslos seine eigene Lage. »Denk positiv!« Ermahnte er sich selbst pflichtschuldig, jedoch ohne jede Begeisterung. Die meiste Zeit war er schon froh, in der ihm recht fremden Sprache "denken" zu können! Seit zwei Monaten war er nun hier, mitten in Deutschland, ein junger, mit Turnschuhen imponierende 1,65m großer Mann aus Kansas, nur dank einer Laseroperation nicht blind wie ein Maulwurf und schlaksig wie eine Bohnenstange. Hier befand er sich, um seine letzte Chance nach dem Schulabschluss zu nutzen, bevor er ein Studium aufnehmen musste, weil sein Vater gehört hatte, dass man hier ein wenig liberaler war, unorthodoxer. Wozu hatte sein Filius denn eine Fremdsprache in der Schule gelernt?! Ephraim seufzte. Tatsächlich nahm er seit seiner Ankunft jede Menge neuer Vokabeln in seinen Wortschatz auf. Darunter auch 'Schienbeinbruch'. ~+~o~+~ "Genug geneckt!" Gebot Dragomir, charismatischer und uneingeschränkter Führer des Rudels, steuerte den kleinen Bus auf den Parkplatz. Es war dunkel, die Mondsichel spitzte nur unwillig hinter den Wolken hervor. Der Winter hatte das Geäst über ihnen nicht so ausgedünnt, dass man am Boden allzu viel erkennen konnte. Die Männer und Frauen des Rudels überprüften ihre Kleidung und Ausrüstung, schweigend und konzentriert. Sie würden sogleich, das war die letzte Trainingsmission des Jahres am Tag vor dem kalendarischen Winteranfang, in ein Schutzgebiet eindringen und sich so leise, rasch und unauffällig bewegen, dass sie sogar die scheuen Luchse, die hier beheimatet waren, ungehindert beschleichen konnten. Eine echte Herausforderung. Dragomir gab mit der Hand ein Zeichen, dann öffneten sich lautlos die Schiebetüren. Leichtfüßig glitten athletische Werwölfe auf den Kies des Waldparkplatzes, ohne dabei auch nur das leiseste Knirschen auszulösen. Als letztes sollte ihnen der Novize aus Amerika folgen, den sie ein wenig verulkt hatten. Andererseits hatte er erst die Idee für diesen nächtlichen Ausflug inspiriert und war im Vorfeld schon mit einem Stofftier-Luchs beschenkt worden. Ein scheues, kluges und sehr hübsches Tier, wie man fand. Ohne explizite Ansage hatte das Rudel vereinbart, dass sich gleich zwei der Mitglieder mit Seniorität um den mageren Knirps aus Kansas kümmern würden. Im Kraftraum hatte er seiner schlaksigen Gestalt kein Unrecht getan. Auch sonst konnte man kaum vermuten, dass er einen Werwolf darstellte. Ephraim, der durchaus registriert hatte, mit welcher Eleganz die übrigen Werwölfe sich an den Start machen, war bestrebt, nicht unangenehm aufzufallen, so zumindest seine hehere Absicht. Was er jedoch tat, war höchst unkleidsam aus dem Kleinbus zu fallen, weil sich sein Schnürsenkel verheddert hatte. Unbarmherzig schrammte der Boden der Realität sein Kinn und seine Handflächen blutig, während ein vernehmliches Knacken, von einem Aufschluchzen gefolgt, illustrierte, dass der Elefant hier nicht nur Porzellan zerschlagen hatte. Zu seinem Glück wurde Ephraim sofort ohnmächtig und musste seiner Schande nicht gleich ins Auge sehen. ~+~o~+~ Es war nicht ausgesprochen worden, doch Ephraim kannte sehr wohl die Überlegungen seines Vaters: aus irgendeinem Grund hatte Gott beschlossen, ihn zu prüfen. Deshalb wurde einer der mächtigsten und beeindruckendsten Werwölfe der Provinz mit einem Sohn gesegnet, der klein, schmächtig, extrem kurzsichtig und erschreckend ungeschickt war. Zugegeben, das Oberstübchen war aufgeräumt, ein Dummkopf war sein Sohn nicht! Bloß ungelenk, scheu und so anders, dass man an seiner Abstammung zweifeln konnte. Was niemand tat, der nicht die unbarmherzige Handkante von Mrs. Lux zu spüren bekommen wollte. Werwölfe hielten Kontakt miteinander, auch über den großen Teich. So nahm es nicht Wunder, dass Mr. Lux sich für ein sehr seltsames Rudel zu interessieren begann. Konnte es wirklich wahr sein, dass die quasi als Maskottchen einen VAMPIR aufgenommen hatten?! Nun, der Vampir war Lysander, was die ganze Aufregung schon wieder konterkarierte. Aber das Gerücht hatte sich verbreitet, dass der Rudelführer Dragomir es gewagt hatte, seiner Mutter diesen Vampir als Lebensgefährten vorzustellen!! DAS war bis dato ungehört und beinahe unglaublich. Mochte Mrs. Lux schon eine Bedrohung darstellen, wenn man ihren Unwillen auf sich zog, so war unter den Werwölfen die werte Erzeugerin von Dragomir eine Legende des Untergangs. Sie derart zu brüskieren, hätte wohl niemand gewagt. Dragomir jedoch musste ein umwerfendes Kaliber sein, immerhin lebte er noch. »Und wenn einer so viel Traute hat und komische Vögel in sein Rudel aufnimmt, dann könnte der doch...« Dachte Mr. Lux und nagte gedankenverloren an einem Daumennagel, während er das "Lunatic Letter" studierte. Zum Beispiel auch mit einem Problemfall wie Ephraim fertig werden. Was lag also näher, als den eigenen Sohn nach dem Schulabschluss statt mit einem Gebrauchtwagen mit einer Reise nach Deutschland zu überraschen, damit endlich ein ganzer Werwolf aus ihm würde!! ~+~o~+~ Ephraim strich mit einer Fingerspitze über die feinen Pinsel an den Ohren des Stofftier-Luchses. Das war beruhigend für sein Nervenkostüm und Ruhe hatte er wirklich nötig. Nicht nur, dass er sich selbst bis auf die Knochen (vor allem das gebrochene Schienbein, das nun ein langer Nagel stützte) blamiert hatte, nein, die Übung musste abgebrochen und er erst mal in eine Notaufnahme verfrachtet werden. Außerdem sah es nicht so aus, als verfüge er über die erstaunlichen Selbstheilungskräfte 'richtiger' Werwölfe. Nein, er war genauso ein Werwolf, wie Lysander ein Vampir war. Das Etikett klebte, doch der Inhalt entsprach überhaupt nicht den Kriterien! Was sollte er bloß seinem Vater sagen? Wie oft hatte er ihn schon enttäuscht, nicht mit Absicht, nein, aus purem Unvermögen! Erneut schienen ihm alle Anstrengungen vergeblich, um sich zu beweisen. Seine Zukunft sah auch alles andere als rosig aus. Jeder Werwolf benötigte ein Rudel, nicht unbedingt, um zu jagen, doch für die Gemeinschaft, für den Austausch, für das seelische Wohl. Ephraim zerknurpste einen weiteren, recht stabilen Keks und starrte blicklos auf die Bildschirmanzeigen. Wenn er nur über irgendeine besondere Fähigkeit verfügte, ein Talent hätte! Die einzige, konstante Befähigung in seinem Leben schien sich jedoch darin zu erschöpfen, von einer lächerlichen Alltagskatastrophe in die nächste zu schlittern. "Wenn ich ein richtiger Nerd wäre..." Und nicht nur danach aussah, ja, dann! Dann würde ihn der gelähmte Werwolf, der eine Art mathematisches Wunderkind mit Technik-Affinität war, trotzdem noch locker rechts überholen. Nein, man musste wohl oder übel der grausamen Wahrheit ins blutunterlaufene Auge sehen: Ephraim Lux würde kein Rudel finden, das ihn aufnahm. ~+~o~+~ Wulfstan, von allen nur Wulf genannt, absolvierte den letzten Klimmzug, ließ sich dann geschickt auf die Matte gleiten und massierte kräftig seine dünnen Beine, bevor er sie mit einem Kunststoffsack verpackte, mit Schlaufen eng in den Knien abknickte. Anschließend ließ sich Wulf nach vorne fallen, drückte sich mit den Händen näher zur Wand, an der er mit Geschick seine verpackten Beine höher wandern ließ, bis er einen veritablen Handstand hinlegte. Nun galt es, die gelähmten und verpackten Beine so geschickt auszutarieren, dass er wirklich auf den Händen laufen konnte ohne umzufallen. Wulf trainierte täglich, zum einen, weil er Muskeln und Geschmeidigkeit im Oberkörper benötigte, um seinen Alltag allein zu meistern, und zum anderen, weil die gelähmten Partien seines Körpers Assistenz erforderten, um nicht vollkommen zu degenerieren. Es gelang ihm, eine Runde von einer Wand zur anderen zu drehen, dann ließ er sich sinken, fischte keuchend nach einem Handtuch und rubbelte sich eine Ahnung von Transpiration von der Haut. Was nun? Wulf riskierte einen Blick zu seinem Bett, doch außer der Anmutung eines nussbraunen Schopfs gab es keine Anzeichen von Leben oder von Un-tot-sein. »Na schön!« Dachte der 16-jährige Werwolf nachsichtig. »Hauen wir uns eben was aufs Ohr.« Er meinte damit einen vom Computer verlesenen Aufsatz zur Bedeutung der fraktalen Geometrie für die Erforschung von Tumorerkrankungen. Wulf studierte mit einer Sondergenehmigung, da er noch minderjährig war, Mathematik und Informatik an der Universität. Er war dort von seinen Kommilitonen freundlich aufgenommen worden. Sie waren keine große Gruppe, zumeist an Fachthemen interessiert und tendierten dazu, in die Forschung zu gehen, wenn erst mal das Studium erfolgreich abgeschlossen war. Nebensächlichkeiten wie Alter, Geschlecht oder äußeres Erscheinungsbild traten vor den wirklich wichtigen Fragen rasch in den Hintergrund. Außerdem machte es sich bezahlt, dass Wulf zu Lerngruppen oder in der Mensa stets seinen eigenen Stuhl mitbrachte. In den er sich jetzt wieder gelenkig platzierte. Er verfolgte den Vortrag nicht nur akustisch, sondern auch am Bildschirm, der besseren Einprägsamkeit wegen. Plötzlich ertönte ein dissonantes Heulen, das erst nach einer halben Minute abgewürgt wurde. "Perfekt eingeparkt." Kommentierte Wulf sarkastisch. Ihr direkter Nachbar hatte für eine bedeutende Summe Geldes einen so genannten SUV der obersten Preisklasse angeschafft. Um das edle Stück nun nicht etwa bei der Einfahrt zur Garage zu beschädigten, waren die Distanzwarner so großzügig eingestellt worden, dass jedes Mal ein empfindliches Aufkreischen ertönte, wenn das teure Gefährt etwas zu nahe an die bösen Betonwände kam. Ungefähr einen halben Meter. Man hatte sich an das Spektakel inzwischen gewöhnt. Hinter ihm wurde die Decke aufgeschlagen, dem Bett entstieg ein junger Mann in der gloriosen Schönheit eines elfenbeinfarbenen, schlanken Körperbaus. Nussbraune Haare wurden aus den tiefschwarzen Augen gefischt, dann begab sich ihr Besitzer zur Küchenzeile und erhitzte geraspelte Schokolade mit Milch in einem passenden Topf. Bewaffnet mit zwei Bechern machte sich der junge Mann auf den Weg zum Arbeitsplatz seines besten Freundes, der auch seit ihrem letzten Abenteuer ein wenig mehr als das war. {siehe "Ohne Dich"} "Huh?" Wulf blickte auf, als Gregoire unbeeindruckt die Becher abstellte und die Bildschirme überflog. "Hübsch." Kommentierte er ein Bild. "Ist dir nicht kalt?" Wulf errötete ein wenig, als er sich die Kopfhörer abstreifte. Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass Gregoire in seinem Bungalow ganz ohne ein Fädchen am Leib auf und nieder spazierte. "Jetzt, wo du es erwähnst..." Mit einem aufreizenden Grinsen lupfte Gregoire Wulfs Arm, glitt auf seinen Schoß und drapierte die muskulösen Arme um seinen nackten Oberkörper, schmiegte sich rollig gegen Wulfs breiten Brustkorb. Wulf wusste, dass Gregoire nicht fror. Vampire (ausgenommen Lysander) empfanden Kälte nicht als besonders bemerkenswert. Da es ihm persönlich aber nicht so sehr behagte, einen nackten, aber eisigen Gregoire auf dem Schoß zu wiegen, angelte er nach einer übergroßen Jacke, die er um sie beide schloss. Gregoire legte den Kopf auf seine Schulter, kuschelte ungeniert. "Und was wollen wir heute Abend machen?" Kopierte er in perfektem Trottelton einen Mäuserich mit IQ-Defizit. "Dasselbe wie jeden Abend." Brummte Wulf und blies mit sinisterem Blick seine Backen auf. "Wir fahren Autorennen, ich verliere und mache den Abwasch." Der Vampir grinste entspannt, ließ nadelspitze Zähne blitzen. Er raunte begehrlich in eine Ohrmuschel. "Du bist so verdammt sexy mit den Gummihandschuhen...." Dann zog er die Länge nach das Leckbrett über Wulfs Wange. "Ferkel!" Zeterte der empört, rubbelte sich wild über die Wange, konnte jedoch die tiefe Röte nicht verstecken. Gregoire machte ihn mit Absicht an! Ohne Zweifel, denn Gregoire zwinkerte amüsiert und verpasste Wulf einen Eskimokuss. "Deine Schokolade wird kalt." "Hrmpf!" Murmelte Wulf verlegen und angelte seinen Becher heran, nahm demonstrativ einen großen Schluck. Gregoire lächelte noch immer gut gelaunt, legte dann den Kopf auf Wulfs Schulter und bekundete somit seine Bereitschaft, sich unterhalten zu lassen, auch wenn das Angebot nur darin bestand, auf seltsame Bilder zu starren, unverständliches Fachkauderwelsch zu überfliegen und auf Wulfs kräftigen Herzschlag zu lauschen. Wulf angelte unterdessen Gregoires Becher heran und hielt ihn dem Freund an die Lippen, denn ihr Jackenzelt neigte zur Fesselung, weshalb ihm der Service oblag. Gregoire schlürfte vernehmlich, leckte sich dann provozierend über Lippen und Mundwinkel, funkelte aus den tiefschwarzen Augen in Wulfs meergraue, aus nächster Nähe. "Mach mal Pause..." Kommandierte der Vampir kehlig. Der Werwolf schluckte merklich, der Mund wurde ihm trocken und sein Puls beschleunigte, von seinem Herzschlag ganz zu schweigen. »Und wie du auf mich stehst!« Gregoire zielte geübt. »Du bist total verknallt in mich!« Das war für ihn Lebensinhalt und -elixier. ~+~o~+~ Kapitel 13 - Verbunden Keoki ließ die aufgefächerten Finger durch das Wasser gleiten. Irgendetwas ging vor sich, es gab Beunruhigung und ein Gefühl wie ein unterdrücktes gewaltiges Flüstern in einer riesigen Halle voller Lebewesen. Die seltsamen Bilder, in die das unangenehme Gefühl sich übersetzte, verwirrten ihn. Direkt bedrohlich war es wohl nicht, aber beunruhigend. Deshalb war er hier, wäre am Liebsten mit seinem Auslegerkanu rausgefahren, um endlich eine Spur, eine Witterung aufzunehmen von dem, was nicht greifbar im Verborgenen lauerte. Aber Nala allein zu lassen, das ging nicht. Da hörte er ihre Schritte, ein wenig schwerfällig, nahm ihre Anwesenheit ebenfalls wie einen Geruch auf. Nala schnaubte, unzufrieden mit sich selbst und vor allem dem enervierenden Schweiß, der ihren Rücken hinabsickerte, sich unter ihren Brüsten und ihrem vorgewölbten Bauch sammelte. Keoki half ihr nicht, sich neben ihm niederzulassen, was sie von einer Last befreite, ihre Ungeduld mit sich selbst in einem grimmigen Kommentar an ihm auszulassen. Leicht benommen atmete sie durch, da lag Keokis Arm schon um ihren Rücken, fächerten beide Hände ihre eigenen Finger auf, um sie miteinander zu verschränken. Die linke Paarung nahm auf ihrem Bauch Platz, die rechte legte sich auf Keokis Herz, wo sich die seesternartige Zeichnung tief eingegraben hatte. "Etwas ist im Gange." Murmelte sie, beruhigter durch den kräftigen Herzschlag unter ihrer feuchten Handfläche. "Ich passe auf." Versicherte Keoki rau, die Stimme so selten genutzt, dass sie nie einen wohltönenden Schmelz annehmen würde. Nala wusste, dass er sich sorgte, nicht nur wegen der merkwürdigen Empfindung, die sie heimsuchte, sondern auch aufgrund der unvermeidlichen Tatsache, in ungefähr einem Monat Vater zu werden. Geplant war dies nicht, nichts von alledem. Allein die Idee, mit 43 Jahren zum ersten Mal Mutter zu werden, der Vater zwanzig Jahre jünger, das hätte sie noch vor zwei Jahren als lächerliche Bosheit von Leuten abgetan, die dies behaupteten, weil sie ihnen mal auf den Schlips getreten war. Reue oder Bedauern hatten sich jedoch auch nicht eingestellt, vielmehr Verblüffung und eine konzentrierte Neuorientierung ihres Lebens: die kleine Pension als Absicherung ihres Lebensunterhalts zu betreiben, Keokis Engagement im Schutz der Fischgründe. Vielleicht lag es an ihrer unerklärlichen Verbundenheit. Gegenüber Keoki musste sie ihre Gefühle, Empfindungen und Ahnungen niemals erklären. Wenn sie sich mit Worten bedachten, dann kristallisierte sich schnell heraus, dass die seltsamen "Metaphern" ihres merkwürdigen Extra-Sinnes übereinstimmten. Über Liebe oder Romanzen hatten sie nie gesprochen. Sie teilten etwas, das sie zusammenführte und so eng miteinander verzahnte, als seien sie Teil eines Kollektivs. Keoki beugte sich vor, küsste sie sanft auf die Lippen. In seinen Augen stand ruhige Entschlossenheit. Er hinterfragte nicht, was genau sie verband. Als sie ihm vor ihrem Abflug anbot, zu ihr zu kommen, bei ihr zu leben, hatte er nicht gezögert. Mit ihr zusammen zu sein war einer einsamen Zukunft in jedem Fall überlegen. Sie war klug, gebildet, stark, mutig und aufrichtig. Ihr Geist, den er "sah", erschien ihm atemberaubend schön. Zusammen zu sein, DAS war das Ziel, zu dem ihn sein Instinkt geleitet hat. Nun würde er sich auch anstrengen! Ein Kind sollte einen guten Vater haben, einen klugen Vater. Gelehrt würde er wohl nie werden, das stand außer Frage, jedoch sein Wissen wollte er weitergeben, damit das Kind, das er unter seinen Fingerspitzen spürte, auf eigenen Füßen stehen und frei leben konnte. Nala seufzte geplagt, das Gewicht des Kindes drückte auf die Blase, schon wieder. Keoki gab sie so ungezwungen frei, wie er sie in seinen Armen gebettet hatte. Nachdem sie sich in die Höhe gekämpft hatte, Schwangerschaft war ein verdammter Leistungssport!, strich sie sanft über seinen krausen Schopf, bevor sie gemächlich hoch zum Haus ging. "Boy-Toy", das hatte sie mehr als einmal gehört. Die eiserne (Meer-)Jungfrau hatte sich ein Spielzeug geangelt und wagte es auch noch, sich in biblischem Alter ungebunden von ihm schwängern zu lassen. Manchmal nagten diese Tuscheleien so sehr an ihr, dass sie versucht war, mit der Faust für neue Erkenntnisse (hauptsächlich von unmittelbarem Schmerz) zu sorgen. Was wussten diese Klatschmäuler schon?! Keoki kümmerte sich nicht um den Altersunterschied. Er interessierte sich nicht für Äußerlichkeiten, denn, das gestand sie freimütig zu: schön war sie nicht, nicht mal hübsch oder passabel. Es war einfach selbstverständlich, logisch, natürlich gewesen, einander näher zu kommen, gemeinsam das Mysterium der seesternartigen Hautzeichnung zu ergründen. Geübt waren sie in dieser Disziplin beide nicht, aber der Instinkt führte sie sicher. Nun ja, mit einer deutlich sichtbaren Nebenwirkung. Nachdem Nala sich erleichtert hatte, ging sie, um leises Auftreten bemüht, in das Schlafzimmer, rollte sich in die Hängematte, die Keoki für sie angefertigt hatte. Das bekam ihrem Rücken besser als eine harte Matratze. Sie wusste, er würde nach ihr sehen, es sich dann auf dem Boden "bequem" machen, wie er es gewohnt war und seine simple Anwesenheit würde ihr Ruhe schenken. ~+~o~+~ Kapitel 14 - Aufgeflogen! "Da stimmt was nicht!" Energisch tippte Herr Siegfried mit dem Druckbleistift auf das neue Bulletin. Seine Worte entsprachen dem Urteil der Ferndiagnose, die noch immer artig die Werte analysierte, die man in regelmäßigen Abständen von Hypnos nahm. "Der Bengel führt uns an!" Grollte Herr Siegfried, denn das Diagnosemodell wich deutlich von den tatsächlichen Begebenheiten ab. "Vielleicht ist das Modell ja auch...?" Herr Garfield raufte sich unbehaglich die Dreadlocks. Er wollte nicht gleich annehmen, dass der scheue Junge, dem sie Obdach geboten hatten, unerwartet geschickt seine Fähigkeiten perfektionierte und ihnen NICHTS darüber sagte, sondern seine Fortschritte sogar hartnäckig verschwieg! "Hah!" Mit einem entschiedenen Ruck stemmte sich Herr Siegfried, mal wieder geschäftsführender Direktor der SSA, von seinem Stuhl, die wasserblauen Augen stürmisch, was Ungemach für andere bedeutete. "Schätze, ich sollte mal wieder die Stimmbänder ölen!" Sein diabolischer Gesichtsausdruck hieß Herrn Garfield, sich zum Trost an diesem Abend mit einer Best of-Sendung seiner Lieblingsserie "Wish" mit dem höllisch attraktiven Gastgeber Koryu und einer Jumbo-Packung Pralinen ins Bett zurückzuziehen. ~+~o~+~ Seit ihrem letzten Treffen waren zwei Wochen vergangen. Sebastian hatte keine genaue Vorstellung davon, was Perry exakt als Unternehmer zu tätigen hatte, doch die unzureichenden Textbotschaften via Mobiltelefon und die nächtlichen "Reisen", die ihn zum Stillhalten verdammten, testeten seine Leidensfähigkeit bis zum Äußersten aus. Alles schien unbedeutend, eine unwirkliche Lästigkeit, die überstanden werden musste, bis sie sich trafen, berühren, küssen und lieben konnten! Eine warnende Stimme in seinem Hinterkopf erinnerte ihn zwar daran, dass er wie ein von Hormonen vergifteter, mondsüchtiger Liebes-Junkie klang, aber der gesamte Chor von chemischen Verbindungen, elektrischen Leitbahnen und altersgemäßem Komplettumbau seiner Beschaffenheit übertönten diesen Einwand mühelos. Mochte er Verliebte früher für bekloppt und lächerlich gehalten haben, ihre Attitüde für psychotisch und ihren Tunnelblick für abstoßend... Wenn man selbst erst mal mit dem Gift in Berührung gekommen war, spielte das keine Rolle mehr. Er wollte Perry wiedersehen, unbedingt! ~+~o~+~ "Tut mir leid, ich weiß, ihr habt euch, soweit ihr Ausgang haben dürft, darauf gefreut." Herr Siegfried hatte bloß einmal durchdringend krähen müssen, um sämtliche Aufmerksamkeit (und auch Gehorsam, wollte man noch über ein funktionstüchtiges Gehör verfügen) auf sich zu lenken. "Aber der Bus kann nicht bis hierher kommen, und zu Fuß ist das zu gefährlich. Deshalb bleiben alle hier!" Ja, das passte vielen gar nicht ins Konzept. Man hatte einkaufen wollen, denn Weihnachten warf alle Jahre wieder gänzlich unerwartet und unangekündigt seinen drohenden Schatten voraus. Außerdem bedeutete es immer eine nette Abwechslung, das Schulgelände verlassen zu können, um sich zu amüsieren. "Ich habe schon mal Spiele rausgestellt!" Herr Garfield lächelte breit in die Runde, um das Beste aus der schlechten Wetterlage machen zu können. "Außerdem den Projektor, da können Filme angeschaut werden. Wir können in der Versuchsküche Plätzchen backen, die man gut verschenken kann. Die Bibliothek ist bis zum Schlafengehen geöffnet. Lasst uns alle trotzdem Spaß haben!" Ein drohender Blick und ein dezentes Räuspern seines Lebensgefährten später hatte er einen veritablen Jubelchor an seiner Seite, der hochentschlossen schien, sich unbedingt zu amüsieren. Das war sehr viel angenehmer, als sich Herrn Siegfrieds unerbittlichen Zorn zuzuziehen. ~+~o~+~ Sebastian hatte Perry per Textnachricht über die Wetterlage informiert, dass er nicht an den Busbahnhof kommen konnte, dass ihre Verabredung nicht zu halten sei. Jetzt kauerte er frustriert und unruhig in einer Nische, starrte in das eisige Jammertal hinaus, das ihn für eine weitere Woche mindestens auf die Folter spannte! »Das ist nicht fair! Das ist einfach nicht fair!« Leierte eine Litanei in seinem Hinterkopf, während er unruhig mit den Fingerkuppen gegen das Glas klopfte. Diese unerwünschte, überbordende Energie, das wusste er nur zu gut, resultierte aus seiner immensen Vorfreude, Perry zu treffen, mit ihm ins Bett zu gehen und sich auszutoben, heiß, feucht, schwül, lasziv und leidenschaftlich. Pustekuchen! Andere hätten sich vielleicht beim Hausputz oder einer anderen sportlichen Aktivität abgeregt, doch Sebastian fühlte sich viel zu aufgekratzt und unruhig, um sich auf eine dieser Alternativen konzentrieren zu können. Er zuckte zusammen, als der Vibrationsalarm ihm eine neue Nachricht ankündigte. [Komme zu dir. Wo treffen wir uns?] WaHUUUUUUUUU! ~+~o~+~ Sebastian stellte sich nicht die Frage, wie es Perry gelungen war, auf das Schulgelände zu gelangen oder warum Perry in der Lage war, sich so gut zu orientieren, dass sie sich mühelos am Zugang zum Turm treffen konnten. Da auch andere Personen umherschwirrten, sich tummelten, um den ausgefallenen "Freigang" zu kompensieren, fassten sie einander nur an der Hand und huschten auf Zehenspitzen im lediglich notbeleuchteten Turm hoch bis zum alten Kartenlager. In dem spartanischen, mit schweren Vorhängen abgedunkelten Raum lagerten alte Wandkarten, schwere Atlanten, in Papprollen deponierte Pläne. Dazu noch verirrtes Material aus dem Biologie- und Physikunterricht, das für die Lagerung in der "Asservatenkammer" bei den Unterrichtsräumen zu sperrig oder zu altbacken war, darunter auch "Smiley", ein altes Schau-Gerippe, das zur Gaudi aller an Halloween regelmäßig feierlich durchs Gebäude getragen und jedes Mal hübsch geschmückt wurde, den Rest des Jahres jedoch hier in einem Dornröschenschlaf verblieb. Das elektronisch gesicherte Türschloss öffnete Sebastian flink, denn er hatte den Zugangscode erhalten, als er beim Herbstputz geholfen hatte. Hier wurden ja schließlich auch keine Wertgegenstände verwahrt, weshalb man es mit der Geheimhaltung nicht übertrieb. Die schwere Tür schlurfte behäbig hinter ihnen ins Schloss, die automatische Beleuchtung aktivierte sich zu einem dämmrigen Funzellicht, da hatte sich Sebastian Perry schon an den Hals geworfen und küsste ihn stürmisch. Die Hormone forderten eben SOFORT ihre Belohnung für ihr ungeduldiges Ausharren! "Hallo auch." Schmunzelte Perry amüsiert, als es ihm gestattet wurde, sich aus der oralen Versiegelung zu lösen. Sebastian, verlegen und aufgekratzt attraktiv errötet, grinste entschuldigend und krähte. "Oh, ich freue mich so, dich endlich wiederzusehen!" "DAS kann ich nicht von mir behaupten!" Mischte sich eine giftige, mit Anwiderung durchsetzte Stimme schneidend ein. Herr Siegfried trat hinter einem alten Stahlschrank hervor, während sich erneut die Tür öffnete und von der Hauswirtin Frau Ernani blockiert wurde. Hier war keine Flucht mehr möglich, denn Herr Siegfried wirkte so, als wolle er gleich die höchsten Arien der "Königin der Nacht" anstimmen, während Frau Ernani sich durch eine schiere Anballung von mächtigen Muskeln auszeichnete. Verdattert von diesem Hinterhalt wechselte Sebastians Blick vom Direktor zur menschlichen Barrikade, die er mal dabei beobachtet hatte, mühelos zwei gewaltige Kartoffelsäcke zu stemmen. "Ich kann das erklären!" Stieß er eilends hervor. "Oh, DAS möchte ich jetzt lieber nicht hören, Märchen sind für die Schauerstunde vor dem großen Kamin angesetzt!" Ätzte Herr Siegfried gnadenlos, die fisseligen, weißen Zauseln knisterten statisch aufgeladen. "Außerdem haben wir hier ja schon ein reizendes Tableau! Ich bin sicher, der Herr, der dir da eifrig beim Mandelnpolieren assistiert hat, ist nur aus altruistischen Gründen hier, selbstlos und nächstenliebend, richtig?" In Sebastians Stirn gruben sich Linien, weil er die Anspielungen nicht einordnen konnte und spürte, wie sich Perry neben ihm alert anspannte. "Ah, keine Einlassungen?" Schnurrte Herr Siegfried in giftiger Galle weiter. "Dann schlage ich vor, dass Sie sich im Laufschritt entfernen, Kamerad. Und weder elektronisch, noch persönlich oder fernmündlich oder sonst wie Kontakt mit Hypnos aufnehmen. Er ist uns von seiner Mutter anvertraut worden, und Sie bewegen sich auf dem sehr dünnen Grat zur Strafbarkeit der Verführung von Minderjährigen." "Das stimmt doch nicht!" Sebastian warf sich in die Bresche. "Es ist allein meine Schuld! Ich bin in Perry verknallt!" Hochrot brach er stotternd ab. "Tatsächlich." Herr Siegfried spazierte bedächtig auf Perry zu, baute sich trotz seiner sehnigen Gestalt in dem blütenweißen Laborkittel frostig vor ihm auf. "Soll ich gratulieren? Zu welchem Zweck kann man diesen naiven Hänfling denn einsetzen, hm?" "Da liegt ein Missverständnis vor." Antwortete Perry ebenso eisig. "Das glaube ich kaum, Mister Perikles Burleigh." Ätzte Herr Siegfried übellaunig zurück. "Oder sollte ich lieber sagen: Phantom? Der Typ, der von der SSA in Montana rausgeschmissen wurde, weil er bei den Prüfungen beschissen hat! Der Typ, mit dem sich das FBI immer wieder unterhält, von der Börsenaufsicht ganz zu schweigen! Der Typ, der scheinbar in die Köpfe einflussreicher Männer und Frauen sehen kann, noch bevor sie etwas unternehmen. Der Mann, der durch Wände gehen kann, wie man munkelt." Sebastian schüttelte ungläubig den Kopf. "Das stimmt doch gar nicht!" "Ah nein?" Herr Siegfried funkelte mit wasserblauen Augen in tiefgrüne. "Geschickt soll er auch sein, obwohl es wahrscheinlich keine große Mühe ist, einen verstörten 15-Jährigen mit verständnisvollem Gehabe und Schmusestunden einzuwickeln, oder? Der einem nicht nur nützlich sein kann, sondern auch noch glaubt, er handle aus eigenem Entschluss, weil der gute, alte Perry ja NIE etwas verlangt und immer TOTAL sauber in seinem Verhalten ist!" "So was würde Perry nie tun!" Begehrte Sebastian auf, schob sich tollkühn zwischen die beiden Männer. "Er hat mir immer geholfen!" "Oh, davon bin ich überzeugt!" Herr Siegfried winkte Frau Ernani heran. "Was kannst du denn Nützliches? Auch in anderer Leute Köpfe herumgeistern? Sie sogar lenken? Das wäre doch eine praktische Erweiterung der Geschäftsfelder, oder nicht, Mister Burleigh?!" "Ich habe ihm nichts getan." Stellte Perry finster für das Protokoll fest. Sebastian unterdessen begriff lediglich, dass Perry nichts von dem abstritt, was Herr Siegfried da behauptete. Eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf erinnerte ihn daran, wie interessiert sich Perry gezeigt hatte, als es darum ging, mehr als nur passiver Teilnehmer an den Erfahrungen in den Wirtskörpern zu sein. Zweifel kochten auf, brandeten gegen die Kalkfelsen seiner ersten ungestümen Liebe. "Frau Ernani?" Herr Siegfried trat beiseite, während die walkürenhafte Frau einen Arm um Sebastians Schultern legte. Es hätte auch eine Stahlklammer sein können. Die beiden Männer duellierten sich mit demonstrativ arktischen Blicken. Ohne ein weiteres Wort deutete Perry eine knappe Verneigung an und verließ grußlos den Raum. Seine Schritte drangen in mittlerem Tempo hinauf, als er die Wendeltreppe erreichte, bevor sich ohne viel Aufhebens die Turmtür an der Basis ins Schloss schmiegte. "Wir werden uns jetzt in meinem Büro unterhalten." Herr Siegfried nahm den völlig konsternierten Sebastian in seinen Fokus. Es versprach, keine vergnügliche Unterhaltung zu werden. ~+~o~+~ Sebastian starrte müde aus dem Fenster der Nische, in die er sich gefaltet hatte, hinaus in die trostlose Dezemberrealität von Dunkelheit, Regen, Kälte und Einsamkeit. Um ihn herum planten die meisten Jugendlichen die Heimreise anlässlich der in Bälde bevorstehenden Feiertage, konzentrierten sich auf die lästigen, letzten Prüfungen zum Jahresende, fertigten eilig Hausarbeiten an, um die Noten anzuheben, bastelten oder backten wie die Wilden Geschenke, während andere irgendwo spielten, schmökerten oder Karaoke sangen. Er hatte sich selbst ausgeschlossen, denn es galt, mit sich selbst einen Waffenstillstand zu schließen. Ja, er hatte blöde dagestanden, vor allem vor sich selbst, weil er sich in jemanden verliebt hatte, den er gar nicht richtig kannte. Und ja, er hatte sich auf Perry verlassen, während er gleichzeitig seinen Lehrern und Erebos das erreichte Potential seiner Fähigkeiten absichtlich verschwiegen hatte. Leider auch ja, er hätte über alles hinwegsehen können, wenn sich die Aussicht auf ein Schäferstündchen mit Perry angeboten hätte. Jetzt hingegen wusste er etwas mehr über die zweifelhafte Biographie seines Trainers, der mit erstaunlich detaillierten Insiderinformationen erfolgreich an der Börse spekuliert hatte, als stiller Teilhaber in diversen Fonds agierte, dem man nie nachweisen konnte, wie er Dinge wusste, die als geheim eingestuft wurden. Es erklärte, wie es Perry gelang, Türschlösser zu überwinden, sich überall zu etablieren: er musste lediglich die betreffende Person in einer Art meditativer Versenkung ansteuern und ihr quasi über die Schulter sehen. Erebos war auf der Suche nach Unterstützung im SSA-Ehemaligen-Forum fündig geworden, gerade weil es dort keinen Absolventen gab, der über vergleichbare Fähigkeiten wie Sebastian verfügte. Sein geliebter Ehemann hatte ihn mit der Erfahrung einer Politikerfamilie darauf hingewiesen, dass im Forum selbstredend nur die ehrenwerten Mitglieder der SSA geführt wurden. Was aber mit einem "besonderen Talent", das sich nicht so "sauber" verhielt, wie es der Ehrenkodex verlangte? Ganze zwei Semester hatte Perry, das Phantom, auf einer SSA-Schule in Montana verbracht, bis man seinem geschickten Betrug auf die Schliche gekommen war. Man hatte eine komplizierte Falle gestellt, um den Betrüger zu entlarven, der weniger gern aufwändig paukte, als sich als unsichtbarer Zaungast mit einem eidetischen Gedächtnis etablierte. Seine weitere, möglichst unauffällig gehaltene Karriere hatte nicht eben dazu eingeladen, ihn als SSA-Absolventen zu rekrutieren. Erebos hatte per Internettelefonat dem strengen Verhör von Herrn Siegfried beigewohnt, darauf geeicht, etwaige Lügen zu entlarven. Sebastian unterzog sich gar nicht erst der Mühe. Perrys Verrat, ihn da ohne eine Rechtfertigung oder Erklärung allein zu lassen, betäubte ihn so sehr, dass er frei von jedem bedeutenden Körpergefühl alles offenbart hatte. Jetzt rang er mit sich, weil der Schmerz sich nach diesem Schock zurückgemeldet hatte. Weil er nicht akzeptieren wollte, dass Perry ihn nur mit Zuneigung geködert hatte, um ihn benutzen zu können. Weil seine Mutter auf die Sanktion hin, ihm erst mal den Freigang zu sperren und das Mobiltelefon einzukassieren, lediglich müde geseufzt hatte, als wäre es zu erwarten gewesen, dass er sich auf eine unmögliche Liaison einließe. Wobei Herr Siegfried gnädigerweise unterschlagen hatte, dass es sich um einen sehr zwielichtigen Mann handelte. »Mein größtes Talent scheint darin zu bestehen, mich gnadenlos zum Horst zu machen!« Schnaubte Sebastian innerlich mit galligem Humor. Aber was jetzt? Sein Herz war waidwund, entgegen literarischen Vorbildern gelang es ihm nicht, seine Frustration in ein gigantisches Lernpensum umzuwandeln (eher im Gegenteil, jeder Antrieb schien flöten gegangen zu sein). Er musste sich darüber Gedanken machen, wohin der nächste Schritt weisen sollte. Dass er sein Talent formen, verfeinern und ausbauen könnte, stand auf demselben Blatt, das auch den Titel trug: "besondere Fähigkeiten verlangen besondere Verantwortungsbereitschaft". Erebos, der als Arzt praktizierte, obwohl er optisch eher an eine Kreuzung aus Fakir und Stachelschwein erinnerte, hatte sich ausführlich mit ihm darüber unterhalten. Sein Potential hatte sich noch nicht erschöpft. Wenn es ihm tatsächlich gelang, nicht nur in eine fremde Person nach Wunsch zu schlüpfen, sondern sich diese Person auch auszuwählen UND sie dann zu bestimmten Handlungen zu bewegen... Das WAR eine gewaltige Verantwortung. Solche Macht erschreckte, wenn man sich in Erinnerung rief, dass man selbst in einer anderen Welt vielleicht auch manipuliert werden könnte, dass nur die Lotterie des Lebens dafür gesorgt hatte, dass man an den Strippen ziehen konnte, um andere tanzen zu lassen. Das Bild, das Erebos in Sebastians Gedanken entworfen hatte, sorgte für magengrummelndes Unbehagen, als hätte der Arzt geahnt, dass Sebastian von klein auf gegenüber Marionettenpuppen einen regelrechten Horror empfand. Warum es sich so verhielt, konnte er nicht erklären. Vielleicht war es eine tief im Unterbewusstsein verborgene Erinnerung? Jedenfalls jedoch beängstigend genug, ihm Kopfzerbrechen zu bereiten. Was keine Lösung darstellte, war sich totzustellen. Er verspürte den körperlichen, unabweisbaren Drang, regelmäßig umherzuwandern, aus anderen Köpfen in die Welt zu schauen. Das sollte ja, wenn man's nicht nur zeitlich, sondern auch nach Destination steuern konnte, kein Problem darstellen, oder? Kostenlos einen Kinofilm angucken, die Rocky Mountains bei Sonnenuntergang bestaunen, in der Südsee weit weg von der Lichtverschmutzung einen richtigen Sternenhimmel zu betrachten! Paradiesische Möglichkeiten! Regeln, die mussten her! Ein bisschen üben, damit's mit der Zieljustierung klappte, dann nur noch harmloser Zaungast bei netten Gelegenheiten! Hübsch still, leise und unauffällig als Gast verhalten! Und Perry? Dieses Kapitel wollte er vorerst nicht mehr aufschlagen, versiegeln und bannen, keine der unzähligen Fragen auch nur in Gedanken formulieren. Perry war gegangen, ohne Abschied, ohne Erklärung. Also Punkt. Und Strich drunter. Nur war das leichter gedacht als getan. ~+~o~+~ Kapitel 15 - Ertappt! Sougo huschte lautlos in die Werkstatt. Theoretisch hatte er Emi artig zu Hause abgeliefert nach einem gemeinsamen Kinobesuch. Praktisch jedoch waren sie hier verabredet, um ein wenig mehr Zeit gemeinsam zu verbringen. Mochte es im Kino auch angenehm dunkel sein und man ungeniert Händchen halten können, es reichte nicht, um die Sehnsucht nach einander bis zu ihrer nächsten Begegnung zu stillen. Emi ließ eine Taschenlampe kurz aufblinken, wartete in einer Nische auf ihn. Als Sougo sie erreichte, stieg sie auf die Zehenspitzen, um die Arme um seinen Nacken legen zu können. Sougo beugte sich herab, kam ihr entgegen, lächelte vergnügt in ihren ersten Kuss hinein. Nicht einige Herzschläge später legten beide vollen Ernst in ihre gegenwärtige Beschäftigung. Nur hin und wieder ließen sie einander kurz etwas Distanz, um nach Luft zu schnappen, die Position leicht zu verändern. Sougo befand schließlich, dass es nicht anging, sich von einem Größenunterschied kommodieren zu lassen: er fasste Emi simpel etwas tiefer, richtete sich auf und transportierte sie zur Werkbank. Sie saß nun erhöht, die Differenz in der Größe reduzierte sich im umgekehrten Verhältnis merklich. Nachdem diese Maßnahme getroffen war, nahmen sie umgehend ihren vorangegangenen Zeitvertreib auf, nun noch enger aneinander geschmiegt und mit intensiver Konzentration. Das hinderte daran, einen ungebetenen Dritten rechtzeitig anzumelden. "Was geht hier vor?!" Brüllte, vom Einschalten der gleißend-gnadenlosen Beleuchtung begleitet, Meister Fujii, das werte Haupt bereits bedenklich rot gefärbt. Üblicherweise zuckten Ertappte auseinander, doch Emi reagierte bloß auf das aufblendende Licht, während Sougo noch in elysischer Trance schwelgte, Reaktionsschnelligkeit durch Kampftraining hin oder her. Meister Fujii näherte sich mit der Gewalt einer Lawine, zornesrot und wie die Trompeten von Jericho Strafen verkündend, die den treffen würden, der die Arglosigkeit seiner Tochter auszunutzen gewagt hatte. Während Sougo blinzelnd einem Schwinger auswich, glitt Emi von der Werkbank und ging nun ihrerseits mit heftigen Gesten auf den Vater los. Der wedelte ebenso energisch, intonierte seine Empörung über den vermeintlichen Verführer und Strolch. Sougo gab den Statisten, denn diese beiden waren derart intensiv aufeinander konzentriert, sich mal ordentlich die Meinung zu geigen über Einmischung/väterliche Verantwortung und andere Aspekte, dass er einfach keinen Platz für sich schaffen konnte. Unvermutet tauchte neben ihm eine alte Frau auf, legte ihm eine Hand auf den Unterarm. "Junger Mann, können Sie mir wohl mal assistieren?" "Natürlich." Sougo mutmaßte, dass es sich um eine Familienangehörige handeln musste, die ihm noch nicht vorgestellt worden war. Abgesehen davon, dass man älteren Menschen grundsätzlich beizustehen hatte, konnte er hoffen, hier sein Ansehen wieder ein wenig aufzupolieren. Die alte Dame führte ihn zum Haus, in die Küche, eine kuriose Mischung aus alter Feuerstelle und modernem Gasherd, irdenen Vorratskrügen und chromglänzender Mikrowelle. "Ich bin Frau Yaga." Verkündete sie seelenruhig. "Bitte entschuldigen Sie meinen Schwiegersohn. Er ist seit dem Tod meiner Tochter überfürsorglich." "Sehr erfreut." Sougo verneigte sich tief. "Bitte erlauben Sie mir, mich vorzustellen: Sougo Kitaooji. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir gestatteten, mit Ihrer Enkelin Emi ausgehen zu dürfen." "So, so!" Die alte Frau lachte amüsiert. "Mir scheint, Sie sind sich schon recht einig! Nun, sind Ihre Absichten ehrenhaft, Herr Kitaooji?" Sougo verneigte sich erneut tief, jedoch ohne nervöse Hast, denn er spürte, dass Emis Großmutter ihm nicht abgeneigt war. "Sie sind ehrenhaft und aufrichtig. Ich hoffe, mein Leben mit Emi verbringen zu dürfen." "Weiß sie das auch?" Frau Yaga öffnete den Kühlschrank und nahm geputztes Gemüse heraus. "Im Eifer des Gefechts vergisst man diese Kleinigkeit öfter auch mal zu verkünden." Mit einem schiefen Grinsen im Bart richtete Sougo sich auf. "Eigentlich hatte ich vor, das Thema am Montag bei einem Abendessen zur Sprache zu bringen." "Montag? Ah, Heiligabend." Emis Großmutter nickte bedächtig. "Sehr romantisch, ich verstehe." Sie studierte Sougo ungeniert, der diese Musterung geduldig über sich ergehen ließ. "Nun gut!" Klopfte sie mit den Händen auf die Oberschenkel. "Machen wir uns ans Abendessen. Wenn die beiden das Luftdreschen über haben, werden sie ordentlich Appetit mitbringen!" Sougo nickte amüsiert und wusste, dass er die erste Hürde schon mal genommen hatte. ~+~o~+~ "So geht das aber nicht!" Protestierte Shin-chan empört, bremste Kippei aus, der gerade im Begriff war, in einen Bürodrehstuhl zu klettern und die erste Testsequenz zu starten. "Huh?" Irritiert dirigierte der Teenager seine Brille mittels Finger auf dem Steg zurück von der Nasenspitze auf ihren vorgesehenen Platz. "Stimmt was nicht?" "Das da!" Mit vor Erregung zitternder Fingerspitze deutete Shin-chan entrüstet auf Kippeis Sweater. "Was da?" Echote Kippei verwirrt und sah an sich herab. Hatte er sich etwa beim Essen übersehen oder stand sein Hosenlatz offen? Stein des Anstoßes war in Shin-chans Augen jedoch eindeutig die Oberbekleidung: ein dunkelblaues Sweatshirt mit Polokragen, im Brustbereich drei zierliche, weiße Querstreifen als Schmuck. GRAUENVOLL SPIESSIG! "Wo sind die T-Shirts, die ich dir geschickt habe?!" Jaulte er gequält auf, raufte sich die in einem losen Zopf zusammengefassten Haare. "Äh, weißt du, Yamato hat für mich gepackt." Kippei spürte Treibsand und war entschlossen, nicht herauszufinden, wie tief die Grube wirklich war. Außerdem glaubte er sich vage an einige Putzlappen zu erinnern, die verdächtig nach geschenkten Klamotten von Shin-chan aussahen. "Das kannst du jedenfalls nicht in meinem Labor tragen!" Verkündete Shin-chan kategorisch. "Das schlägt mir so was von aufs Gemüt! Dass dieser Spezialeinheitsfuzzi dich am Liebsten wegsperren würde in seinem Gluckendrang ist eine Sache, aber dich derart zu entstellen mit so einer Verkleidung, unverzeihlich!!" "Huh?" Kippei konnte nicht folgen und legte auch keinen Wert auf Erläuterung. Er kümmerte sich selten um seine Kleidung und ließ sich, wenn überhaupt, von Tamaki beraten, der ihn gern auf cool trimmte, was jedoch nicht half, sobald er den Mund aufmachte und seine Intelligenz sich selbst verriet. Leute reagierten komisch, wenn einer das gründlich tat, was Mutter Natur ihren aufrecht gehenden Affenkindern als einzigen Vorteil in die Wiege gelegt hatte. "Du musst dich umziehen, bevor wir hier anfangen!" Forderte Shin-chan unerbittlich. "Ich spüre schon, wie sich eine massive Migräne einstellt!" Theatralisch verdrehte er die Augen und presste mit Daumen und Zeigefinger auf seine Nasenwurzel. "In Ordnung." Kippei war das einerlei. "Kannst du mir etwas leihen?" "Aber selbstverständlich, mein Schnuckelchen!" Hocherfreut vergaß Shin-chan augenblicklich die tragische Pose und kaperte Kippeis Rechte. "Komm mit, ich such dir was Feines raus!" Den festen Vorsatz vor Augen, so schnell wie möglich sämtliche Teststrecken zu absolvieren, um recht bald wieder bei seinen Brüdern zu sein, akzeptierte Kippei die Offerte. Keine zwei Minuten später glotzte ein fetter Seestern auf zwei Beinen von seinem schmächtigen Torso, auf einem erschütternd türkisfarbenen Grund. [Hallo, mein Name ist Patrick Star. Und ich bin pink, proud and peautiful!] Einige Stunden Zugfahrt entfernt überlief Yamato ein unerwartet eisiger Schauder und stellte ihm sämtliche Körperhärchen auf. ~+~o~+~ "Das ist ja zum Piepen!" Bekundete Tamaki beim sonntäglichen, gemeinsamen Frühstück, grinste höchst amüsiert. "Oh, das ist noch nicht das Ende!" Ebenfalls bestens gelaunt berichtete Sougo von den Ereignissen des Vorabends. "Ich bin also in der Küche und helfe, wir verstehen uns ziemlich gut. Ich erzählte Emis Oma von meiner Großmutter und der Schulzeit, das übliche Programm. Der Plan lautet, dass wir zu Abend essen, wenn die beiden Dreschflegel ausreichend Muskelkater haben, um die Diskussion einzustellen. Dazu kommt's aber gar nicht erst! Emi stürzt rein und zieht mich in die Werkstatt, ich müsse sofort helfen. Ihr Vater hat nämlich bei der Gestikuliererei auf den Tisch hauen wollen, dabei aber ein scharfkantiges Werkzeug gestreift und sich den Handballen aufgeschlitzt. Es blutet also heftig los, obwohl die Wunde gar nicht tief ist, doch Meister Fujii kann kein Blut sehen und hockt nun weiß wie ein Laken auf dem Boden. Emi bekommt ihn nicht allein hoch, außerdem ist ihm speiübel." "Wow! Du konntest dich gleich als Retter in der Not profilieren." Yamato schenkte erneut Tee aus. Sougo schmunzelte in seinen Bart. "Na, ich hätte auch auf diese Aktion verzichten können. Gemeinsam führen wir also Emis Vater ins Haus. Ihre Oma verbindet ganz nonchalant die Wunde und sagt dann:'na, Kenta, da lege ich mal lieber Besteck für dich hin, was?' Ich dachte, ich höre nicht richtig!" Tamaki prustete heraus, selbst Yamato konnte ein Feixen nicht unterdrücken. Emis Großmutter schien schon eine echte Marke zu sein. "Wir haben also gemeinsam gegessen, und danach mussten wir puzzeln." "Puzzeln?!" Wiederholte Tamaki verdutzt. "Ihr habt Puzzles gelegt?" "Nur eins, aber das Ding hat 20.000 Teile!" Sougo verzog das Gesicht gequält. "Großmutter Yaga mutierte zum Feldwebel. Immer in Teams mussten bestimmte Abschnitte zusammengesteckt werden, damit man später diese Flicken dann zu einem Teppich zusammensetzen konnte. Eine Mordsarbeit!" Ächzte er klagend. "Da ist die Kuschelstunde wohl ausgefallen." Tamaki klopfte Sougo tröstend auf das breite Kreuz. "Wie schade!" "Hat sich aber gelohnt." Sougo nahm den leisen Spott nicht krumm, sondern fingerte zwei Karten aus der Brusttasche seines Holzfällerhemdes. "Sie hat mir Karten geschenkt für einen Schnupperkurs Tanzen an Heiligabend!" "Tanzen?" Brummte Yamato skeptisch. "Mit Musik, oder?" Sougo ließ auf dieses Geschenk jedoch keinen Schatten fallen. "Sie ist der Auffassung, dass wir, wenn wir uns so verstehen, dass wir unfallfrei miteinander tanzen können, dann auch alles andere schaffen." Immerhin musste sich Emi auf Sougos Gehör verlassen, und es war seine Aufgabe, ihr die richtigen Zeichen zu vermitteln, damit sie harmonierten. "Dann wünsche ich dir jetzt schon mal viel Vergnügen!" Tamaki erhob sich. "Nun muss ich mich entschuldigen, ich bin noch gebucht heute." "Von wegen!" Grollte Yamato misstrauisch. "Du willst dich bloß vor dem Abwasch drücken!" "Das auch!" Grinste Tamaki frech, blies seinem älteren Bruder einen Kuss zu. "Du darfst aber stolz auf mich sein, weil ich ausziehe, Gutes zu tun!" "Ha!" Schnaubte Yamato ungnädig, beließ es jedoch dabei. Vielleicht konnte er die Gelegenheit nutzen und Sougo zu einem Sparring überreden, wenn der schon plante, versuchsweise eine flotte Sohle hinzulegen? ~+~o~+~ "Was tust du hier?!" Kats raue, dunkle Stimme war schneidend, ihre Erscheinung ein wenig tageslichttauglicher, wenn auch nicht einen Deut weniger attraktiv als üblich. "Was glaubst du?" Schnurrte Tamaki und ließ dabei eine Schere um die Fingerspitze kreiseln wie weiland die Show-Cowboys ihre Colts. "Der Sensei...!" Knurrte Kat und funkelte ihn wütend an. "Wie hast du ihn um den kleinen Finger gewickelt, du Westentaschen-Casanova?!" "Ich schätze, es ist einfach mein unwiderstehlicher Charme!" Tamaki posierte vorgeblich verlegen, flüsterte vertraulich. "Du glaubst ja gar nicht, wie belastend es ist, sofort alle Herzen im Sturm zu erobern!" Er klang wie eine überkandidelte Seifenopern-Diva. "Ach, Hühnerkacke!" Fauchte Kat erbost, drehte sich abrupt um und ließ ihn stehen. Tamaki lachte in sich hinein, bevor er seine Arbeit fortsetzte. "Der kesse Käfer steht auf dich!" Krächzte der alte Mann, dem Tamaki die wirre Mähne stutzte, bleckte Zahnstummel. "Ja, sieht ganz so aus." Schnurrte Tamaki sehr zufrieden. Er hatte ohne zu zögern zugesagt, dem Sensei zu helfen, der sich seinem christlichen Glauben verpflichtet seit Jahren mit karitativen Aktionen den Armen und Obdachlosen widmete. Es gab ihrer beschämend viele, und oft hatte nur ein Missgeschick genügt, sie aus der Bahn zu werfen. Mit vielen freiwilligen Helfenden war der Sensei jedoch hier, um Hoffnung zu spenden, eine warme Mahlzeit, gemeinsames Singen, saubere, gebrauchte Kleidung und Dauerlebensmittel, medizinische Behandlung und eben auch geschnittene Haare, gestutzte Bärte. Alle trugen das bei, was sie konnten. Einen Sonntag lang alles Ungemach vergessen, sich willkommen und auch sichtbar zu fühlen in dieser Welt. Was konnte dieses Erlebnis noch steigern, als die hilflose Entrüstung seiner Lieblingsfeindin, die ihn jeden Tag mit spitzer Zunge unermüdlich in der Luft zerriss und runterputzte? ~+~o~+~ "Du bist sauer!" Behauptete Sougo ächzend und versuchte, sich aus Yamatos Würgegriff zu befreien. "Bin ich nicht! Kein Stück!" Keuchte der angestrengt, denn obwohl er austrainiert und fit war, lieferte Sougos überlegene Körpergröße und -masse ihm einen harten Kampf. Möglicherweise, also in quasi homöopathischen Dosen, ging er ein wenig aggressiver als sonst in den Clinch. Sougo deutete einen Ausfall an, verlagerte sein Körpergewicht und nötigte Yamato eine andere Haltung auf, die es ihm schließlich erlaubte, den Zangengriff zu sprengen und Distanz zwischen sie zu bringen. Sie belauerten sich einen Moment, schwitzend und angespannt. Seit Jahren begegneten sie einander als Partner und waren deshalb auch sehr vertraut mit Körper und Reaktion ihres Gegenüber. »Noch vertrauter wird's aber nicht werden!« Ätzte eine bittere Stimme in Yamatos Hinterkopf. Auch wenn er wusste, dass Erste Lieben niemals hielten, so erschien es ihm als ungerecht, dass seine Erste Liebe nicht mal erwidert worden war und er IMMER noch daran laborierte. Aber auch ein schlechtes Gewissen pochte unangenehm in seinem Oberstübchen, denn es verfehlte nicht, ihn daran zu erinnern, dass er Will nie davon erzählt hatte, dass er eine Erste Liebe gehabt hatte und dass Will seine zweite große Liebe gewesen war. Verpasste Chancen, bittere Reue. Unerwartet richtete sich Sougo auf, abandonnierte seine Kampfpose. "Schau, Yamato..." Er seufzte profund, wich aber den ungewöhnlich hellen Augen nicht aus. "Ich WEISS, dass du sauer bist. Ich kann's dir nicht verübeln, und es tut mir leid, dich zu verletzen." Sougo holte tief Luft, spannte die mächtigen Muskeln an. "Ich habe dich sehr gern, Yamato, aber die Liebe, die du dir wünschst, kann ich dir nicht geben." Yamato spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Es war eine Sache, etwas Unangenehmes zu vermuten, eine ganz andere jedoch, diese Ahnung ausgesprochen zu hören mit dem verbindlich-ernsthaften Tonfall, der keine Schlupfwinkel mehr vorsah. "Das-das weiß ich doch längst!" Brachte er mühsam über die Lippen, wandte sich ab, den schwimmenden Blick auf den Boden gerichtet, rieb sich die Schläfen. "He, Yamato?" Sougo fasste reaktionsschnell zu, als Yamato ins Trudeln geriet. Er zog ihn, nach einem Herzschlag Zögern, in seine stützenden Arme, spürte das unwillkürliche Zittern, das Yamato durchlief. Ja, möglicherweise war er vom Äußeren her Yamatos Typ, aber sein bester Freund hatte auch immer nach einem Zufluchtsort gesucht, einer Heimat, einem Anker. Einer unverbrüchlichen Liebe, auf die er vertrauen konnte, die niemals enden würde, die ihm die Geborgenheit vermittelte, die er durch den früheren Unfalltod seiner Eltern hatte entbehren müssen. Yamato konnte nicht mal fluchen, weil er die Kiefer zusammenpressen musste, um Sougo nicht sein Zähneklappern hören zu lassen. Es zog ihm wirklich den Boden unter den Füßen weg! Was sollte er bloß sagen? Sougo wusste sich keinen Rat, denn sämtliche Versicherungen, dass sie weiterhin beste Freunde, Geschäfts- und Trainingspartner waren, klangen ihm abgedroschen und billig, also hielt er Yamato einfach fest. ~+~o~+~ "Vielen Dank, Catherine, dass du mich so gut unterstützt!" Der Sensei räumte seinen Rollkoffer mit den Behandlungsutensilien ein. "Allerdings habe ich hier noch den Kochturm..." "Ich liefere ihn ab, liegt auf dem Weg." Kat studierte die 'Gulaschkanone', einen mehrstöckigen elektrischen Kochtopfstapel, den der alte Mann bei einem Restaurant ausgeliehen hatte. "Dann schließe ich mich an." Tamaki apportierte ungezwungen den kleinen Trolley, auf dem der Kochturm transportiert wurde. "Wir haben ja den gleichen Weg." "Wer hat dich gefragt?!" Fauchte Kat sofort los. "Außerdem liegt so ein alberner Frettchenverschnitt wie du doch Sonntagabend auf der Lauer nach dummen Weibchen mit zu viel Haushaltsgeld!" "Ich hab noch was in meinem Laden zu tun!" Zum Beweis präsentierte Tamaki grinsend seinen klimpernden Schlüsselbund. "Es wäre mir eine Ehre, Madame begleiten zu dürfen." "Bockmist!" Kat ballte die Fäuste und knirschte mit den Zähnen, weil der gebrochene Unterarm schmerzte. "Wieso soll ich mich mit einem schmierigen Casanova wie dir irgendwo sehen lassen, nur weil du deinen Laden nicht auf Vordermann gebracht hast?!" "Aber Catherine!" Tadelte der Sensei streng. "Ihr habt doch dasselbe Ziel. Ich bin überzeugt, dass Tamaki keine unlauteren Hintergedanken hegt. Nicht wahr, mein Sohn?" "Absolut richtig!" Pflichtete Tamaki samtpfotig bei. "Es ist einzig und allein mein Wunsch, einer Dame in Nöten mein ritterliches Geleit anzutragen." "Ohhhh! Das schlägt dem Fass den Boden aus!" Tobte Kat enragiert, die Augen blitzend. "Dieser Schniegelpoppi tut doch nur so scheißfreundlich! Er will doch bloß alle um den Finger wickeln, damit sie glauben, er sei nichts weiter als ein netter Schwiegersohntyp!" "Wie gerissen von ihm." Intervenierte der alte Mann entschieden. "Ich halte ihn nämlich tatsächlich für einen sehr netten, jungen Mann mit ordentlichem Charakter." Kat kochte vor Zorn und schnaubte vernehmlich, im deutlichen Ringen, nicht noch weiter aus der Rolle zu fallen und wie ein Rohrspatz loszuschimpfen. "Ich glaube diese ganze Schaumschlägerei jedenfalls nicht!" Zischte sie schließlich aufgebracht und zerrte energisch den Trolley samt Turm hinter sich her. "Tsktsk!" Schnalzte der Sensei mit der Zunge. "Man meint beinahe, Funken sprühen zu sehen." "Wie ein Dynamo." Grinste Tamaki schelmisch. "Einmal in Fahrt und nicht mehr zu bremsen. Kommen Sie gut nach Hause, Sensei. Ich werde unserem Schachtelteufelchen folgen." Denn mochte auch ihr Brass auf ihn noch so groß sein: mit einem gebrochenen Arm würde Kat wohl doch Schwierigkeiten haben, den Trolley unfallfrei in den Zug zu bugsieren. ~+~o~+~ "Hier!" Sougo reichte Yamato eine Bierflasche, ließ sich dann neben ihm nieder. Ihre Schultern berührten sich leicht. "Kampai!" Ein sehr langer, erster Schluck und dann unisono ein vernehmliches, lustvolles Ächzen. Yamato lehnte sich ein weniger stärker an die stützende Schulter an, langte mit der freien Hand in eine Tüte mit japanischen Kräckern, malmte sie gedankenverloren. Wenn Sougo morgen zum Tanzen ging und Kippei noch bei dem bekloppten Shin-chan den Gefallen abarbeitete, wäre er wohl mit Tamaki allein, der seinen Salon lange geöffnet hielt, da sich viel Klientel angesagt hatte. Nicht gerade ein erhebender Ausblick auf den Heiligabend. "Arbeitest du noch für den Kurierdienst?" Sougo tastete sich behutsam vor. Wenn Yamato nichts zu tun hatte (bedeutend, niemand hatte, für den er etwas tun konnte), neigte er zu apathischem Verhalten. Yamato grummelte bärbeißig. "Mein Klientel meldet sich erst wieder nach den Feiertagen im neuen Jahr. Wenn es sich daran erinnert hat, warum es die Familie und Verwandtschaft das ganze Jahr über meidet." Sougo lachte leise, nicht wegen des halbgaren Scherzes, sondern Yamatos Bereitschaft, sich wieder aufzurappeln, dem Schicksal die Zähne zu zeigen und nötigenfalls den Schaum vor dem Mund. "Wir werden uns jedenfalls zu Neujahr ordentlich was zu erzählen haben." Zwinkerte er. Yamato erwiderte das vertraute Lächeln ein wenig melancholisch. Alles veränderte sich, und nicht immer unter Kontrolle, andererseits konnte er Tamakis Fingerzeig nicht länger ignorieren. Sie wollten einen Schritt vorangehen. Wenn er seine Familie, seine Freunde nicht verlieren wollte, musste er auch einen Schritt wagen, sich von alten Sehnsüchten lösen und neue Horizonte anpeilen. "Wohlsein!" Stieß er seine Flasche an Sougos. "Das nächste Mal lege ich dich so was von aufs Kreuz, wirst schon sehen! Ab jetzt doppelte Ration Spinat, und ich werde zum neuen Hulk!" Der Fehdehandschuh wurde prompt aufgenommen: Sougo konterte. "Wenn Kippei wieder hier ist, gibt's ja doch ständig Reis-Omelette, da habe ich keine Angst! DU wirst auf die Matte gehen, klarer Fall!" "Träum nur weiter, Romeo!" Yamato schlug die Bierflasche in seine offene Hand. "Ich kenne alle deine Schwächen!" "Dito!" Feixte Sougo erleichtert. "Der Bessere wird gewinnen!" Sie schlugen erneut die Bierflaschen freundschaftlich gegeneinander, leerten sie dann in gewaltigen Zügen und stießen anschließend unisono lautstark auf. ~+~o~+~ Kapitel 16 - Urlaub! "Endlich! Aloha!" Trällerte Aeolus euphorisch mit einem winzigen Hang zur Übertreibung. Nereus nahm ihm das nicht krumm, sondern schraubte die große Sonnenbrille vor die blauvioletten Augen und topfte sich einen breitkrempigen Strohhut auf. Zwar waren sie schon vor einiger Zeit auf Big Island, genauer dem Flughafen von Honolulu gelandet, doch die Einreiseformalitäten hatten sich erheblich in die Länge gezogen und es war ein wirklich sehr langer Flug gewesen, vom einsetzenden Jetlag ganz zu schweigen. "Das ist so herrlich!" Schwärmte Aeolus begeistert, der goldblonde, lange Pony flog nur so hin und her, während er sich umblickte, als hätte er nicht zuvor schon unzählige Reiseführer und Bildbände durchstöbert. Nereus zerrte seinen bockigen Rollkoffer hinter sich her, bepackt mit Rucksack und einem gewaltigen Schlafbedürfnis. Wie lange würden sie wohl bis zu ihrer Unterkunft, einer privaten Pension, benötigen? Diese befand sich nicht etwa auf Oahu, sondern weiter südlich auf Maui, also noch mal fliegen. "Es ist schön, oder?" Aeolus, Empath und heimliches Einhorn, nahm Nereus' Hand, wollte ihn aufmuntern. "Es ist schön." Antwortete Nereus mit einem Lächeln, ließ seinen Lebenspartner wissen, dass er lediglich ein wenig abgespannt war, doch diese Reise ins Paradies nicht in Frage stellte. Das hatte er ohnehin nicht, denn immerhin hatten sie lange dafür gespart. Was gar nicht so einfach war. Zudem musste man auch noch einen Zeitpunkt finden, an dem sie beide gemeinsam Urlaub nehmen konnten! Aeolus übernahm die Führung, blickte sich nach ihrem Abflug für Maui um. Er war die treibende Kraft gewesen, hierher zu kommen, die Orte zu sehen, von denen er geträumt hatte. "Ziemlich traditionell für eine Hochzeitsreise!" Hatte Nereus geneckt, auch wenn man festhalten musste, dass der Eintrag ihrer Lebenspartnerschaft direkt nach Erreichen der Volljährigkeit schon einige Jahre zurücklag. Dazwischen kamen Schulabschluss, Studium, Praktika, Umzüge, Berufsanfängerjahre, eine aufregende Zeit, die sie gemeinsam gemeistert hatten. Nereus wusste, dass seine Familie noch immer daran zu knabbern hatte, dass ihr einziger Sohn sich mit einem Mann zusammengetan hatte (von anderen Dingen ganz zu schweigen). Von Aeolus' Seite war kein Widerstand zu erwarten gewesen, da er schon lange ein Waise war und in geschlossener Gesellschaft einen eindeutigen Beweis demonstrieren konnte, warum nur Nereus für ihn in Frage kam. Warum also nicht Hawaii, wenn Aeolus es sich wünschte? Im Vorfeld hatten sie geplant und überlegt, Angebote gewälzt, die Spargroschen gezählt und gegrübelt. Das Angebot, in einer privaten Pension auf Maui unterzukommen, bedeutete ihnen viel, auch wenn Aeolus viele Pläne für die "Garteninsel" Kauai gemacht hatte. Bereits fest gebucht hatten sie eine Kajaktour auf dem Wailua-Fluss, gefolgt von einer Wandertour durch den Regenwald bis zu einem wundervollen Wasserfall namens Secret Falls. Weil das ruhige Paddeln einen Kontrast finden sollte, war als zweite feste Tour ebenfalls auf Kauai geplant, an der Na Pali-Küste ein richtiges Wildwasser-Rafting zu (üb-)erleben, um dann noch zu schnorcheln und zu schwimmen. Außerdem sollte es ja auch noch unzählige Wasserfälle und kleine Pools auf der Straße nach Hana auf Maui geben, die man auch besuchen konnte. Ein ziemlich wässriger Urlaub, aber auf einer Inselkette lag das wohl nahe. Nereus ließ sich artig dirigieren, stellte sich an und versuchte, seine Augenlider am Zuklappen zu hindern. Aeolus unterdessen konnte gar nicht genug bekommen, auch wenn der Flughafen und Honolulu selbst an eine beliebige, amerikanische Großstadt erinnerten. Wären sie jedoch erst einmal aus der Großstadt heraus, dann würde er es bestimmt spüren, riechen, sehen und FÜHLEN! Das Paradies! Sehr vorfreudig hängte er sich bei Nereus ein und ignorierte geflissentlich die neugierigen Blicke, die das junge und durchaus attraktive Paar musterten. ~+~o~+~ "Wenn wir nicht auspacken, können wir doch wenigstens duschen, nicht wahr?" Aeolus zupfte an Nereus' Leinenhemd, heischte ihn bittend um das Zugeständnis an. Er konnte natürlich sehen, dass Nereus vor Müdigkeit taumelte, doch ein ganz klein bisschen Vorgeschmack auf das Paradies wollte er jetzt doch noch kosten, auch wenn die innere Uhr ärgerlich vermerkte, dass jeweils die Tageshälften vertauscht worden waren! "Duschen? Okay." Nereus blinzelte und bemühte sich um einen halbwegs aufmerksamen Ausdruck. Er fürchtete jedoch, dass seine letzten Reserven sich schon beim Smalltalk mit ihrer Gastgeberin Nala aufgelöst hatten und er jetzt auf Notaggregat lief. "Prima!" Aeolus, der auf Jetlag offenkundig mit Hyperaktivität reagierte, steuerte seinen Lebenspartner in das Badezimmer, eine eher überschaubare Angelegenheit, wenn man amerikanische Verhältnisse kannte. Er wickelte ihn schwungvoll aus den Feigenblättern der Zivilisation und strippte selbst flott, bevor er eine sanfte Brause aktivierte und sich in Nereus' Arme schmiegte. Das Programm kannte Nereus selbstredend: sogleich sonderte seine Haut freigiebig eine milde Seifenlauge ab. Er strengte sich natürlich noch mehr an, wenn sich ein sehr attraktiver, junger Mann splitternackt an ihm schubberte! Nereus lehnte sich gegen die gekachelte Rückwand, streckte die Arme aus, um sich an den Glastrennwänden seitlich abzustützen, als Aeolus euphorisch gestimmt vor ihm in die Knie ging und sich jenseits der Gürtellinie mit Hingabe beschäftigte. Schillernde, große Seifenblasen trieben umher, während Nereus seine Begeisterung unterdrückt artikulierte und darauf bestand, seinen Liebsten mit perfektem Hüftschwung aufopferungsvoll zu entlohnen. ~+~o~+~ Die große Mütze voll Schlaf, die erstaunliche Ruhe und die einsetzende Entspannung bewirkten Wunder, als sich Nereus und Aeolus einige Stunden später, noch ein wenig verwirrt, aber bester Dinge, zum Frühstück meldeten. Keoki, mutmaßlich der Partner von Nala, nickte ihnen freundlich zu und servierte ein frugales, aber schmackhaftes Entree in den Tag. Die See wirkte ruhig, man hatte verschiedene Wal-Schulen gesichtet, die hawaiianische Wintersonne strahlte gastfreundlich. Das Paradies war nur ein paar Schritte entfernt! Nereus und Aeolus berieten mit Keoki, wie sie am leichtesten zu einem Mietwagen kamen, der ihnen die herrliche Hana-Route zu verschiedenen, romantischen Wasserfällen und sich anfügenden Pools erschließen sollte, dazu noch Proviant für ein Picknick. Ihrem ersten richtigen Tag auf der Insel konnte nichts mehr im Weg stehen! ~+~o~+~ Nala blickte auf das Wasser hinaus, während sie gleichzeitig mit beiden Händen ihren Rücken rieb. Das Kind war unruhig, wahrscheinlich angesteckt von ihrem unerklärlichen Unbehagen, außerdem tat ihr das Kreuz weh. Keoki hatte sich bis dato als zuverlässiger Gefährte entpuppt, doch nun war er, kaum, dass ihre ersten Pensionsgäste aufgebrochen waren, mit seinem kleinen Auslegerboot davongepaddelt. Etwas stimmte nicht, das spürten sie beide und jetzt grollte sie still darüber, dass sie hier an Land bleiben musste, während Keoki draußen herumschipperte und auf Spurensuche ging! Unfair! Ja, und unfair bis unfein waren auch solche kleingeistigen, neidischen Vorwürfe! Seufzend tappte sie von einem Fuß auf den anderen, um die Belastung zu verteilen. Die seltsamen Träume, das merkwürdige Gefühl, mit etwas anderem verbunden zu sein, das ohne Worte oder Gesten funktionierte, wollte sich nicht abschütteln lassen. »Instinkt.« Das hatte sie immer angenommen, eine Art zusätzlicher Sinn eben. Selbstverständlich konnten den auch andere Menschen haben, keine Frage! Doch was war dieser Aufruhr, dieses Unbehagen, das sie und Keoki erfüllte? Wenn sie doch bloß verstehen könnte, was ihr ihr Instinkt sagen wollte! ~+~o~+~ Es war nicht allzu viel Betrieb auf der Straße, als sie sich dem Regenwald näherten, überall von Hinweisschildern auf die unzähligen Brücken, die Wasserfälle und lauschigen Teiche geradezu animiert, immer wieder anzuhalten. Sie hatten sich schon ein Picknick gegönnt, exotische Pflanzen und Tiere bewundert (solange diese nicht Nereus' Mittagessen zu nahe kamen, da war er eigen!), sich ausgiebig die Füße vertreten, mit der chemischen Keule Sonnenbrand, Insektenstiche und anderes Ungemach abgehalten (wobei man sich wirklich wie mariniert vorkam) und genossen diesen ungewöhnlichsten aller Heiligabende sichtlich. "Da, lass uns da anhalten!" Ohne Nereus' Antwort abzuwarten steuerte Aeolus bereits ihren Leihwagen an den Fahrbahnrand auf einen kleinen Parkplatz. "Oh, noch ein Wasserfall!" Neckte Nereus gutmütig. Ihnen würden bestimmt noch Schwimmhäute wachsen! "Der ist so schön, ich habe Bilder gesehen!" Gegen Aeolus' Tatendrang gab es keine Bremsvorrichtung. Duldsam hängte sich Nereus den robusten Rucksack auf den Rücken, Aeolus verschloss ihren Wagen. Gemeinsam folgten sie einem Spazierweg hin zu dieser weiteren Sehenswürdigkeit. Anderer Besuch begegnete ihnen nicht, die Rushhour schien wohl vorüber. Zugegeben, es WAR ein schöner Wasserfall, er wirkte wie das Original zu unzähligen Abziehbildern in Erlebnis- und Spaßbädern: schönes Grün als Rahmen, betörende Blüten, kristallklares Wasser, von der Sonne in Regenbogenfarben gebrochene Tropfen, die munter auf Steinen tanzten, gurgelnde Pools, die sich unablässig füllten und entleerten. Ungeachtet der Regsamkeit des Wassers lag eine angenehme Ruhe über diesem schönen Ort. "Komm!" Aeolus fasste Nereus' Hand. Der musste nicht selbst Empath sein, um in den Augen seines Lebensgefährten zu lesen, was die Stunde geschlagen hatte. "Jetzt? Hier?" Zumindest ein Quäntchen Vernunft und Schicklichkeit musste gewahrt werden. "Ja." Konstatierte Aeolus simpel, lächelte ihn so befreit und glücklich an, dass Nereus sämtliche Gegenargumente entfielen. Nun, wenn Aeolus es sich so wünschte, dann würden sie eben auch eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses auf sich nehmen! Ohne große Mühe streifte sich Aeolus seine luftige Bekleidung ab und watete dem Wasserfall entgegen. Einen Schnupfen musste man hier nicht befürchten! Nereus sammelte ihre Bekleidung in bodenständiger Gesinnung lieber ein und hängte sie wie den Rucksack über Äste, sodass sie nicht einfach "verweht" oder von neugierigen Tieren verstreut werden konnte. Er folgte Aeolus zum Wasserfall, gönnte sich einen Moment der Ewigkeit, seinen attraktiven Geliebten in schierem Genuss unter dem schwungvollen Tropfenregen tänzeln zu sehen. Was für ein wunderbarer Anblick! Aeolus streckte ihm eine Hand entgegen, zog Nereus ungestüm zu sich und während dieser nun auch sehr nass wurde, umhalste er ihn innig und lachte ihm voller Lebensfreude ins Gesicht. Einfach herrlich!! Dieser Auffassung schloss sich Nereus selbstredend an. Weil sie einander so nahe waren und Aeolus seinen intensiven Gefühlen stets physisch Ausdruck verleihen musste, war Nereus angehalten, sich einen festen Stand zu suchen, denn während unübersehbar ein imposantes Einhorn die nassen, blonden Strähnen in Aeolus' Stirn teilte, ritt er in artistischer Gelenkigkeit auf Nereus' Hüften, der dem Regenbogentropfenreigen noch unzählige farbenprächtig, funkelnde Seifenblasen hinzufügte. ~+~o~+~ Kapitel 17 - Eine miese Aktion Tamaki konnte es sehen, weil er genau auf die winzigen Anzeichen achtete: leichte Schatten unter den Augen, die verspannte Kinnpartie, die dezent angehobenen Schultern. Kat war erschöpft. Allein Trotz gepaart mit Starrsinn hielt sie noch aufrecht. Ungehindert bemächtigte er sich des Trolleys und erledigte auch die Übergabe, nachdem Kat ihm knapp den Eigentümer zugebellt hatte. Auf Konversation legte sie keinen Wert. »Vermutlich, weil es dann noch schwerer zu verbergen wäre.« Resümierte Tamaki. Es war schlichtweg nicht mehr genug Energie verfügbar, ihn fortwährend anzupfeifen. "Du kannst dich jetzt subtrahieren!" Zischte sie knapp, als sie das Gebäude erreichten. "Ich habe noch was zu tun." "Das stört mich nicht." Antwortete Tamaki seelenruhig und demonstrativ entschlossen, seine galante Mission bis zu ihrem Ende durchzuführen. Kat schnaubte zornig, marschierte voran. Die Tatsache, dass sie keinen Streit suchte, verstärkte Tamakis Sorge. Sie musste erledigt sein nach diesem langen Tag und hatte noch die Nacht vor sich! Im 2. Stock verließen sie den Aufzug, Tamaki immer zwei Schritte hinter Kat, wie ein Leibeigener oder devoter Diener, der servil hinter ihr her eilte und als unsichtbar galt. Nun, vielleicht übertrieb er es auch ein wenig, denn die kleine Unmutsfalte zwischen ihren Augenbrauen verstärkte sich noch. Der schmächtige Kettenraucher, der Kat eilfertig begrüßte, war Schichtleiter in einem Patchinko-Parlour und offenkundig darum bemüht, sie freundlich zu stimmen. Kat blieb höflich, nahm die Tüte eines Herstellers von Luxus-Fußbekleidung entgegen und ignorierte Tamaki geflissentlich. "Ein Geschenk? Da hat jemand aber ganz große Pläne!" Bemerkte Tamaki vor dem Aufzugschacht, wartete auf eine frei werdende Kabine. Er war mit der aktuellen Mode durchaus vertraut, und was sich da in der vornehmen Tüte verbarg, musste im Gegenwert eines Mittelklassewagens rangieren. "Schon möglich." Kat inspizierte neugierig den Inhalt, warf dann einen ungeduldigen Blick auf die Anzeigetafeln. Wieso musste alle Welt in den Keller zum Schwoofen?! Da konnten sie ja noch Ewigkeiten hier warten! "Stell dich gerade hin!" Raunzte sie Tamaki in Feldwebelmanier an, streifte, an seine Schulter angelehnt, ihre gefütterten Stiefel ab, um in die wertvollen Gaben zu schlüpfen: Peeptoes, weihnachtlich dekoriert mit winzigen Zweigen, roten Kugelglöckchen, lila Lametta, jeder Menge Glitzer und Glimmer plus künstlichem Schnee. "Unikate, was?" Kommentierte Tamaki, als Stütze agierend. "Einzig- und abartig zugleich. Ich weiß nicht, ob ich ergriffener oder entsetzter sein sollte." "Dich hat keiner gefragt!" Beschied Kat frostig, schnappte sich ihre Winterstiefel und beäugte kritisch das neue Schuhwerk. Die Absätze waren derartig steil, dass sie sich wie auf Stelzen bewegen musste. Unaufgefordert schob Tamaki seinen Arm unter ihren Ellenbogen, geleitete sie in den Aufzug, der schließlich in ihre Richtung wollte. "Verschwinde endlich nach Hause!" Schimpfte Kat unbehaglich, denn sie konnte nicht verbergen, dass sie sich ein wenig stärker auf den geliehenen Arm stützte, als ihr selbst lieb war. "Ohne Gute Nacht-Kuss von dir? Keine Chance." Neckte Tamaki, drückte die 7, woraufhin Kat ärgerlich nach vorne schnellte, um die 5 zu aktivieren. Die Gewichtsverlagerung löste eine Kettenreaktion aus: in das dezente Musikarrangement des Aufzugs mischte sich ein grindiges Knirschen, Kat versuchte sich abzufangen, der Verband schrammte an der Spiegelwand herunter. Sie stand mit dem rechten Knöchel neben sich. Dummerweise steckte der noch in dem unsäglich gestalteten Schuh. Tamaki gelang es, sie vor einem heftigen Aufprall auf dem Kabinenboden zu bewahren, doch ihr schmerzerfülltes Keuchen verriet ihm, dass dieser Unfall nicht ohne Nebenwirkungen geblieben war. "Was ist? Wo tut's weh?" "Oh verdammt!" Kat presste die Lippen aufeinander, hing in seinem Griff, während unter ihrem linken Fuß säuberlich zerlegt der Peeptoe seine Stelze verloren hatte. Das rechte Bein mit dem stoisch intakten Schuh winkelte sie leicht an, wollte es nicht mehr belasten. "Wir steigen hier aus." Bestimmte Tamaki entschieden, haschte gebeugt nach dem zerlegten Schuh, stopfte ihn in die Tüte. "Leg den Arm richtig um meinen Nacken." "Vergiss es!" Kat, nun links barfüßig und rechts angeschlagen, kämpfte auf verlorenem Posten, während die Aufzugtüren aufglitten. "Stur wie ein Holzbock!" Murmelte Tamaki unterdrückt, ging leicht in die Hocke, um einfach Kats Kniekehlen einzudrücken und sie gleichzeitig auf seine Arme zu heben. Geübt war er nicht, doch Kats magere Gestalt, ihre sofort stocksteife Haltung und seine Sorge stärkten ihn immens. Reflexartig schlang Kat den unverletzten Arm sichernd um Tamakis Nacken, schimpfte unerwartet verschreckt. "Lass mich runter, du Grobian!" "Gleich." Tamaki steuerte ungeniert seinen Salon an. "Kannst du mal eben aus meiner Jackentasche die Schlüssel fingern?" "Dass ich dir in die Tasche greife, das hättest du wohl gern, du Schmierenkomödiant!" Kat drehte so entschieden den Kopf von ihm weg, dass er beinahe das Zittern in ihrer Stimme überhört hätte. "Bitte, Kat." Raunte er sanft in die Locken. "Sei so gut." "Bin ich nicht!" Protestierte sie hastig. "Ich werde dir deine Augen auskratzen, wenn du frech wirst!" Ungeachtet dieser Drohung haschte sie mit dem verletzten Arm ungelenk nach dem Schlüsselbund, drehte den passenden Schlüssel sogar im Schloss. Kaum entriegelt reagierten die Türen sogleich auf den Sensor und teilten sich automatisch, ließen sie ein. Auch die Beleuchtung flammte auf, erleichterte es Tamaki, Kat auf seinem Friseurstuhl behutsam abzusetzen. "Wundervoll!" Rang sie um eine weitere flammende Tirade. "Schon wieder in diesem Folterknast! Willst du mir noch den Rest geben, nachdem mein Arm gebrochen und mein Knöchel...!" "Sch!" Tamaki tippte furchtlos mit einem Zeigefinger auf Kats Lippen. "Ich hole etwas zum Kühlen und schaue, ob ich noch eine elastische Binde habe." Damit marschierte er, nach Münzen kramend, aus dem Salon zum benachbarten Erotikshop, wo sich auch die allgegenwärtigen Verkaufsautomaten fanden. Als er, mit zwei Dosen Kalpis ausgerüstet, zurückkam, kauerte Kat sehr still auf seinem Stuhl, den zerstörten Schuh auf den Beinen. Schweigend gesellte Tamaki sich dazu. "Lässt du mich nach deinem Knöchel sehen?" Erkundigte er sich leise. Er erhielt keine Antwort, aber Kat wehrte sich auch nicht, als er sehr vorsichtig die Knochen abtastete und die kalten Dosen, mit seinem langen Seidenschal gepolstert, um die bereits erkennbare Schwellung deponierte. "Du solltest dein Bein schonen." Wagte er einen riskanten Vorstoß. "Sag Kong Bescheid und lass mich dich nach Hause bringen." "Das könnte dir so passen! Meine Umsätze schädigen und noch in meiner Wohnung über mich herfallen!" Murmelte Kat so matt, dass sie quasi auf Autopilot lief, einen Tamaki-Reflex abspulte, während ihre Gedanken woanders weilten. Ernstlich besorgt entzog Tamaki ihr die Schuhtrümmer. "Kat, bitte, lass es für heute gut sein, ja?" Sie blickte nicht zu ihm auf, kauerte immer noch gebeugt im Stuhl, streckte dann die Linke aus. "Meine Handtasche." Durchaus konsterniert reichte Tamaki das Gewünschte weiter, studierte die zusammengesunkene Gestalt mit wachsendem Ärger. Kat zückte unterdessen ihr Mobiltelefon, drückte einige Tasten. "Kong? Hier Kat. Wenn dieser Higashino auftaucht, lass ihn nicht ein. Sag, dass wir nur geladene Gäste empfangen." "Auf keinen Fall. Stell dich dumm. Er darf nicht rein, auch nicht in Begleitung oder auf Empfehlung." "Der miese Dreckskerl hat versucht, mich einzuschüchtern. JETZT werde ich herausfinden, wo es IHM weh tut und dann werde ich ihn kaltmachen." Tamaki, der die Schuhtrümmer inspiziert hatte, schnappte einfach das Telefon, bevor Kat die Verbindung unterbrechen konnte. "Kong, Kat ist verletzt, und ich bringe sie nach Hause. Schmeiß den Laden heute allein, okay?" "Hey! Was fällt dir ein?!" Kat streckte sich, ihr Eigentum zurückzubekommen, doch Tamaki hielt, dank uneingeschränkter Mobilität, ausreichend Abstand. "Alles klar, mein Großer! Dann bis morgen!" "Du hattest kein Recht dazu!" Schimpfte Kat und hob zum ersten Mal ihren Kopf an, bleich, mit tief umschatteten Augen. "Wer denkst du eigentlich, dass du bist?!" "Ich bin vernünftig." Stellte Tamaki knapp fest. "Du hast dir übel den Knöchel verstaucht und wirst darauf kaum noch stehen können. Du willst doch wohl nicht, dass der Scheißkerl dich so sieht, oder?!" Kat funkelte ihn an, stumm und zornig, vermutlich nicht zu einem geringen Teil auf sich selbst. "Das hast du nicht zu entscheiden!" Begehrte sie halbherzig auf. "Das ist meine Sache, und..." "Kat." Tamaki beugte sich herunter, so nahe, dass Kat zurückzuckte, ihn aufgeschreckt anstarrte. "Tu's für mich, bitte." Flüsterte er nur einen Wimpernschlag von ihrer Nasenspitze entfernt. "Erweise mir diesen Gefallen." Den Kopf eilig wegdrehend wisperte sie. "Ich will nicht." Doch Tamaki hatte den Sinn dahinter schon begriffen: ein letztes Aufbegehren, ein abschließendes Widerwort, alles, um den zerbrechlichen Stolz zu wahren. Er verzichtete auf weitere verbale Gefechte, die Kat nur noch stärker ermüden würden, weil sie die Front aufrechtzuerhalten bemüht war. Stattdessen holte er Socken und seine bewährten Praxisgaloschen heraus. Die Peeptoes landeten in der Tüte bei den Winterstiefeln, dann alarmierte er mit seinem eigenen Telefon ein Taxi vor den Lieferanteneingang und öffnete für Kat eine der beiden Kühldosen. Widerwillig, den Kopf gesenkt, sodass die Locken ihr Gesicht verschütteten, nippte sie. Tamaki dagegen leerte seine Dose zügig, dann wickelte er seinen Seidenschal um den angeschwollenen Knöchel. Kat ließ ihn gewähren, leerte ebenfalls mit einiger Mühe den Inhalt ihrer Dose und legte widerstandslos ihren Arm um Tamakis Nacken, der sie stützte. Nachdem der Salon wieder verriegelt worden war, rief Tamaki einen Aufzug herbei und schirmte Kat geschickt ab, bis sie vor dem Gebäude in das bestellte Taxi steigen konnten. Es war für ihn keine Frage, Kat nicht einfach vor ihrem Appartementhaus absetzen zu lassen und sich in den Sonntagabend zu verabschieden, nein, er geleitete sie in ihre Wohnung, stellte die Tasche ab und ließ durchaus neugierig die Blicke schweifen. Alles war sehr sauber und adrett, so unpersönlich wie ein Hotelzimmer, nicht wie die Unterkunft eines Menschen, der darin auch lebte. "Du kannst Tee machen." Krächzte Kat in einem Aufflammen ihrer gewohnten Abschätzigkeit. "Sehr wohl, Madame." Tamaki nutzte die Gelegenheit, im Pantry weitere Anhaltspunkte über die Frau hinter der Rolle aufstöbern zu können. Es gab jedoch keine niedlichen Becher, keinen Zierrat, nicht mal eine einsame Topfpflanze. Geschmackvoll, nüchtern und unbehaust. Als er beide Teetassen mit einem dazugehörigen Tablett zum Couchtisch transportiert hatte, spürte er ihre Anwesenheit hinter sich. Im reduzierten Licht stand Kat in wärmender Unterwäsche, das Seidentuch in einer Hand, ein angeschwollener Knöchel eines Beines, das sie nicht belasten wollte und ein hinderlicher Stützverband um den Unterarm. Kurze, schwarze Haare bildeten eine unregelmäßige Korona um ihr spitzes Gesicht. Ihre magere Figur sah ohne die geschickt gewählten Kleider und Hosenanzüge knabenhaft und kindlich aus. Ihre Glieder waren von Narben aller Art übersät, ein Flickenteppich, der nur zu genau dokumentierte, warum Madame Kat sich stets hochgeschlossen zeigte. Tamaki spürte ein unbekanntes Gefühl von überwältigender Trauer aufsteigen, als er in die schwarzen Augen blickte, die trotzig funkelten, ihn herausforderten, AUCH NUR falsch zu atmen. Hätte er die Krankenakte nicht gelesen, so wäre ihm wohl ein entsetztes Ächzen entschlüpft angesichts der unzähligen Spuren alter Misshandlungen, doch so breitete sich ein bodenloser Kummer in ihm aus, weil er nichts tun konnte, diese Last von ihr zu nehmen, auch nur eine einzige Narbe verschwinden zu lassen. Sie wünschte sich, dass er einen Fehler machte, dass er sie darin bestätigte, dass niemand sie so annehmen würde, wie sie war. Sie wollte, dass er sich so verhielt, dass sie ihn verdammen konnte, abhaken, ihre schlimmsten Befürchtungen erfüllte. Es wäre einfach. Es war ganz bestimmt einfach, es falsch zu machen, eine Geste genügte. Doch Tamaki wollte ihr diese Gunst nicht erweisen. Der winzige Funken Hoffnung, der sie täglich antrieb, ihn heimzusuchen, runterzuputzen und aufzuziehen, sollte auf keinen Fall erlöschen! Schritt für Schritt ging Tamaki auf sie zu, sah nicht rechts noch links, unverwandt auf das trotzige Gesicht mit dem hochgereckten Kinn konzentriert, registrierte das minimale Zittern der Lippen, jedes nervöse Blinzeln. "Kat." Wisperte er kaum hörbar, strich mit der Fingerspitze über den raspelkurzen, sehr weichen Schopf entlang ihrer Schläfen. Ihr erster Kuss war scheu, ungelenk, zögerlich, vorsichtig und abtastend, ängstlich darauf bedacht, sich nicht schutzlos zu exponieren. Einen Verrat, einen Hinterhalt fürchtend. Tamaki wich ein wenig zurück, streifte sich dann sehr langsam seine Kleider ab, bis er ebenso in Unterwäsche wie Kat vor ihr stand, zitternd, ratlos, ob er wirklich "gut" genug war. All diese Wunden! Von einer Gänsehaut überzogen packte Kat plötzlich hastig sein Handgelenk, humpelte voran ins angegliederte Schlafzimmer, das sich als ebenso matt beleuchtet und unbewohnt zeigte wie die übrigen Räume. Tamaki hielt Schritt, unterdrückte ein mitfühlendes Zischen bei jedem Schritt, den das lädierte Bein trotzdem machen musste. Im Schlafzimmer selbst schlug Kat eilig die Bettdecken zurück, kroch darunter und rollte sich zusammen, ein frierender Ball, der sich an sich selbst wärmen musste. An ihre Seite schlüpfend agierte Tamaki spiegelverkehrt, ebenfalls zu einem kompakten Ball zusammengerollt. Seine Körperwärme stieg schneller an, also schmuggelte er eine Hand tollkühn über ihre Hände. Prompt wurde der Wärmespender wie eine Wärmflasche genutzt, nach und nach der gesamte Mann okkupiert, um die schmerzhafte Verspannung wegzuschmelzen. Tamaki begann, sehr sanft und behutsam die Haut zu liebkosen, die er aufwärmen sollte. Kat erstarrte immer wieder, dann zwang sie sich, diesen Panzer aufzulösen, die Zärtlichkeit anzunehmen, bis sie einander umschlangen wie verirrte Kinder, die nur beieinander Erlösung finden konnten. ~+~o~+~ »Nanu?« Dachte Tamaki schläfrig, blinzelte und fragt sich, woher das leise Summen und der verführerische Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee wohl stammen mochte. Sein Verstand trieb sein Erinnerungsvermögen an, indem es all die Szenen wiederholte, wenn er aushäusig übernachtet hatte, sein Willkommen damit überschritten, weil offenbar niemand die Reste vom Vorabend, so attraktiv sie auch sein mochten, am nächsten Morgen als Beweis für peinliche Entgleisungen vorfinden wollte. "Hmmmm." Murmelte es an seiner Seite, etwas Raues streifte ihn [»ah, der Verband! Jetzt aber Augen auf, Trantüte! Überlebensinstinkt an Kleinhirn, Ende!«], dann setzte sich Kat neben ihm auf. Sie hatte wohl auch die aktuellen Verletzungen verdrängt, denn im Zwielicht der sich gemächlich erhellenden Beleuchtung konnte er eine verzerrte Grimasse erkennen, geprägt vor allem von Verärgerung über die eigene Nachlässigkeit. "Guten Morgen." Flüsterte Tamaki leise, setzte sich ebenfalls auf. "Soll ich mich gleich in Luft auflösen, oder gibst du mir einen kleinen Vorsprung, bevor du die Hunde auf mich hetzt?" Es sollte humoriger klingen, als es dann tatsächlich über seine Lippen kam. Kat warf ihm einen verklebten Blick zu, grummelte etwas Unverständliches, hob einen Zeigefinger an, der ihm gebot, sich weder zu rühren, noch mehr zu tun, als still zu atmen, dann kletterte sie ungelenk aus dem Bett, humpelte aus dem Schlafzimmer Richtung Bad. Zu Tamakis Verblüffung hörte er energische Putzgeräusche, ein unerbittliches Gurgeln und leises Fluchen. Das verlief wirklich anders, als er erwartet hatte, aber was hatte er überhaupt erwartet? Nicht mal gehofft hatte er, sich einmal unversehrt in diesem Bett zu finden! Noch einen Klecks Zahnpasta im Mundwinkel stapfte Kat zurück, bibbernd in der Thermounterwäsche, die so gar nicht ihrem offiziellen Glamour-Auftreten entsprach, den geschwollenen Knöchel gnadenlos bandagiert. Keine Mumie hätte dichter gewickelt werden können. Tamaki lupfte die Decke an, damit sie wieder an seine Seite schlüpfen konnte. Er hielt ihrem aufmerksamen, nun nicht mehr schwimmenden Blick stand. "Ist es das, was sonst passiert?" Erkundigte sie sich. "Benutzt und dann rausgeschmissen? Wobei ich fürs Protokoll bemerken möchte, dass ich keine Dienstleistung in Anspruch genommen habe!" Da war auch, zugegeben rau und zögerlich, ihr üblich herausfordernd-provozierender Tonfall wieder. Mit einem schiefen Lächeln streichelte Tamaki über ihren Handrücken in seiner Reichweite. Musste er darauf noch antworten? "Na schön!" Energisch zog Kat die Daumenschrauben an. "Du HAST gestern einen Gute Nacht-Kuss bekommen und bist trotzdem noch hier. Soll ich daraus schließen, dass du ziemlich verknallt in mich bist?" Nun konnte Tamaki unmöglich ein amüsiertes Auflachen unterdrücken. Unter seinen dichten Wimpern hindurch zwinkerte er sie an. "Das trifft den Nagel wohl auf den Kopf, würde ich meinen." "Wenigstens eine Erleichterung!" Schnaufend sackte Kat in ihrer sehr aufrechten Haltung zusammen. "Ich habe schon angefangen, an deinem Verstand zu zweifeln! Das erklärt es natürlich." "Dass ich nicht das Weite suche?" Hakte Tamaki scharf nach, schob seine Hand über ihre. Kat feuerte zurück, doch ihr Blick flackerte. "Na, Typen wie du suchen doch nicht nach jemandem wie mir!" "Aha? Also, du hast Geld, Einfluss, einen guten Job, bist unabhängig, selbstständig, elegant und nicht auf den Kopf gefallen." Zählte Tamaki gnadenlos auf. "Das passt so ziemlich perfekt in das Beuteschema von Typen wie mir. Weißt du, ich bin nicht auf Hausfrauen spezialisiert." Neckte er tollkühn. "Danke, kein Bedarf!" Fauchte Kat finster. "Märchenstunden und Heile Welt-Gaukelei, bei der der Taxameter läuft, das brauche ich nicht!" "Und trotzdem bin ich hier." Tamaki blieb ruhig, hielt die gekaperte Hand warm, studierte die blasse Miene, die schwarzen Augen, die trotzig funkelten. "Also bin ich möglicherweise doch nicht einer von diesen Typen." "Aber einer wie du wird's doch niemals ernst mit...!!" Kat wandte sich abrupt ab, biss sich auf die Unterlippe, Tamaki hatte jedoch längst begriffen. Er rückte ein wenig näher und raunte nachsichtig. "Willst du mir denn keine Chance geben, dich hinter die Schniegelpoppi- und Westentaschen-Casanova-Fassade blicken zu lassen?" Kat rang mit sich selbst, das sah er so deutlich, wie er es spürte, weil sie seine Hand umklammerte. Würde ihr Mut mit neuen Schmerzen, einer weiteren Enttäuschung belohnt werden? War es das Risiko wert? Er hob ihre Hand, hauchte einen Kuss auf die verkrampfte Faust, die seine Finger quetschte. "Weißt du, ich habe mal gelesen, dass ein Mann, der sich zurückzieht, sich zurückzieht. Eine Frau aber weicht nur zurück, um noch besseren Anlauf zu nehmen." "Bei mir bräuchtest du einen Operngucker!" Murmelte Kat schwankend zwischen Hilflosigkeit und Aufbegehren. "Der lässt sich organisieren." Tamaki konzentrierte seine volle Aufmerksamkeit auf die vom Leben gezeichnete, junge Frau vor sich. Ihn schmerzte es selbst, nichts an ihren vergangenen Qualen mehr ändern zu können. »Das ist NICHT fair!« Brüllte eine Stimme in seinem Inneren, klagte das Universum an, was Tamaki selbst erstaunte, denn tief im Inneren hielt er sich für einen fürchterlichen Egoisten. Kat räusperte sich. "Wenn du mich verrätst, betrügst oder verletzt, werde ich dich umbringen müssen." Kündigte sie betont sachlich und forsch an. "Das würde meine Biographie natürlich ziemlich versauen." "Verständlich." Gab sich Tamaki entsprechend konziliant. "Es wäre auch nicht der Glanzpunkt meiner Biographie, das gebe ich gerne zu." Trotzdem konnte er das Lächeln nicht aus seinen Mundwinkeln verbannen, suchte nach dem auf das Bettzeug gerichteten Blick seines Gegenüber. Kat kämpfte mit einem Prusten, presste die Lippen zusammen, ballte beide Fäuste, um jedes Amüsement über diese kesse Retour zu unterminieren, umsonst. Während sie hilflos kicherte, hob Tamaki ihre Hand und küsste sanft den Handrücken, zwinkerte. "Du musst wirklich total gaga sein!" Warf Kat ihm vor, vergeblich um Strenge bemüht, das Kinn hochgereckt. "Ja, das habe ich in der letzten Zeit oft gehört." Tamaki nickte beipflichtend. "Vor allem von dir. Ich kann dir aber versichern, dass es sich gar nicht übel anfühlt. Möglicherweise ist es sogar ansteckend." Sein herausfordernder Blick fand ein Echo, doch Kat antwortete ihm nicht, studierte ihn lediglich abwägend. Tamaki wich ihr nicht aus, betrachtete sie, von sich selbst überrascht. War sie sein Typ, DIE Vorliebe, die er immer geleugnet hatte? Kratzbürstig, abwehrend, unnahbar und tapfer, unsicher, sich selbst geringschätzend. "Entschuldige." Murmelte er beiläufig, rückte an sie heran, sodass er einen Eskimokuss initiieren konnte. "Mehr gibt's aber nicht!" Brummelte Kat verlegen. "Auch wenn ich mir die Zähne geputzt habe." "Sehr aufmerksam." Lobte Tamaki schmunzelnd. "Ich werde zukünftig immer Zahnbürste und -pasta mit mir führen." "Seeeeehr laaaaanger Anlauf!" Erinnerte Kat streng, zog dann an seiner Hand. "Jetzt aber genug damit. Ich habe Hunger, also frühstücken wir jetzt. Da, nimm du die Decke dort. Ich bin bekleidungsaushilfstechnisch nicht auf abgebrochene Riesen wie dich vorbereitet." "Gut!" Raunte Tamaki, während er sich die Decke artig um die Schultern schlang und Kat sich in einen langen, flauschigen Bademantel wickelte. Das bedeutete zumindest in dieser Hinsicht einen Vorteil vor all den anderen Werbern um ihre Gunst! Kat humpelte voraus, baute zu Tamakis Verblüffung ein ziemlich handfestes Frühstück auf. Seinem überraschten Blick mit einem Schnauben quittierend erklärte sie. "Ich verlasse meinen Bau nicht ohne ordentliche Grundlage im Magen! Wichtige Regel im Kampf, Prinz Charming!" "Kann ich mich dir eventuell NACH dem Frühstück an den Hals und vor die Füße werfen?" Tamaki stöhnte genießerisch nach dem ersten Schluck Kaffee auf. Er spürte förmlich, wie der innerliche Turbo ansprang. "Untersteh dich!" Kat kaute. "Du wärst mir bloß im Weg, und ich habe keine Lust, ständig über dich drüber zu steigen." "Ich könnte alternativ auch den Boden anbeten, über den du wandelst!" Tamaki grinste frech. "Tsk, typisch Hausfrauenbeglücker! Auf den Knien rumrutschen und irgendwelchen Sermon herunterleiern!" Kat funkelte kess zurück. "Ich bin durchaus flexibel und für andere Demonstrationen devoter Hingabe offen!" Tamakis Feixen verlor sich in einem schüchternen Kuss, der dezent nach Miso schmeckte. Waffenstillstand, für den Augenblick. ~+~o~+~ Alles war ein Wagnis. Tamaki befleißigte sich üblicherweise der bekannten Kavalierregeln, das gehörte nicht nur zum Host-Service, sondern gründete auch auf der Erziehung im Heim. Aufmerksam, höflich, vorausschauend, artig, zuvorkommend sein, Türen aufhalten, schweres Gepäck tragen, einschenken, vorlegen, Begleitung antragen, Regenschirm oder Sitzplatz überlassen, Veränderungen komplimentieren. Und selbstredend zuhören, was schwierig werden konnte, wenn man eine kämpferisch-emanzipierte Frau vor sich hatte, die jede Geste als paternalistische Oppression aufnahm. »Mut!« Ermahnte er sich, bot Kat, wortlos auf das lädierte Gelenk blickend, den Arm an und arrangierte auch einen Sitzplatz in der Bahn. Von denen gab es einige, da sie nach der Rushhour unterwegs waren. Er spürte die Blicke, die verstohlen oder auch ganz offen auf sie gerichtet waren. Kat, in ihrer "Kampfmontur" eine streng-elegante Dame, er selbst im lockeren Aufzug des Vortags, mit einem Anflug von Bartschatten, etwas zerrupft wirkend. Sie passten ganz gewiss nicht zusammen. Würde es sie stören? Kat saß wie eine Königin zollstockaufrecht, blickte mit hochgerecktem Kinn in verächtlich-blasierter Weise um sich, starrte eisig neugierige Glotzer nieder und schwieg ausdauernd. »Auch gut.« Tamaki lehnte sich bequem an, döste ein wenig, ganz seinem Bild als verlotterter Gigolo entsprechend, der gerade aus wer weiß welchem Sündenpfuhl ans Tageslicht gekrochen war. Sie erreichten ihr Ziel, Kat entfaltete die schlanken Beine und hängte sich mit der Grandezza eines Filmstars der 40-er bei ihm ein, stakste demonstrativ frostig über den Bahnsteig, was durchaus den halsbrecherischen Absätzen, dem unbarmherzig verschnürten Knöchel und ihrem vornehmen Schlauchkleid unter dem Mantel geschuldet war. Tamaki empfand ihr Schweigen nicht als unangenehm, sondern eher als eine verschwörerische Geste, die all die Starrer, Lästerer und Neidhammel ausschloss. Mochten sie ruhig ihr Maul zerreißen oder sich sonst welcher Phantasien hingeben: sie beide focht das nicht an! Im Aufzug gab er den 7. Stock als Ziel an, woraufhin Kat energisch die 5 wählte und grollte. "Du wirst mich nicht vor meiner Bar absetzen, verstanden?" "Hast du Angst, man würde falsche Schlüsse ziehen, wenn man uns zusammen sieht?" Tamaki lupfte eine Augenbraue unter seiner malerisch verwüsteten Mähne, die sehr nach Schlafzimmer aussah. "Phh! Was für ein Unsinn!" Kat versuchte, ihren Arm freizumachen. "Ich bin doch ständig in deiner Schnippelbude!" "Dann lass mich Gentleman sein." Tamaki schnappte statt des Arms, den er entkommen ließ, ihre zerbrechlich dünne Taille, schlang beide Arme so fest um sie, dass kein Löschblatt mehr zwischen ihre Rümpfe passte. Kat keuchte und zappelte, in der Absicht, ihm ordentlich gegen das Schienbein oder wenigstens auf den Fuß zu treten. Lächelnd lupfte Tamaki sie an, wartete, bis der Aufzug seine Türen wieder schloss und den 7.Stock anstrebte. "Ich möchte mich noch nicht von dir trennen." Stellte er sanft fest, goutierte die leichte Röte in Kats Wangen. "Ach ja?! Denk bloß nicht, dass ich dich in meine Bar lasse!" "Bewahre!" Tamaki nickte verständnisvoll und spazierte aus dem Aufzug. "ICH würde keine Bar betreten, die mich durch die Vordertür reinlässt! Ganz schlechter Leumund!" "Du-du... Idiot!" Schnappte Kat hilflos, klemmte Tamakis Nasenspitze zwischen ihren Fingern ein. "Lass mich jetzt runter!" "Haaaaachhhh!" Seufzte Tamaki demonstrativ. "Na, alle schönen Dinge enden wohl irgendwann!" Ließ Kat betont langsam, in Millimeterdistanz herunter. "Du bist einfach-einfach unerträglich!" Brauste Kat auf. "Hör gefälligst sofort auf, den dümmlichen Casanova-Trottel zu spielen!" Tamaki schmunzelte unterdrückt und raunte. "Bist du sicher, dass ich nur spiele?" "Depp!" Fauchte Kat und stieß ihm die Hände vor die Brust, um Distanz zu schaffen. Ihr gebrochener Unterarm hielt jedoch von derlei Kraftmeiereien nichts und jagte warnend einen stechenden Schmerz in ihre Schulter hoch, der sie zusammenzucken ließ. "Oh, das wollte ich nicht, entschuldige!" Tamaki kaperte ihre Hand, küsste tröstend erst den Handrücken, dann den Handteller. "Bin ich doch selbst schuld." Knurrte Kat, doch die Hilflosigkeit war ihr anzusehen. Tamaki bot einfach keine harte Panzerung, die ihren Angriffen Schwung verlieh und das war so unfair! "Ich möchte dich heute noch sehen, ja?" Tamaki hielt die liebkoste Hand, schmuggelte erneut den Arm um eine schlanke Taille. "Und ich hab dir gesagt, du spazierst nicht in meine Bar rein!" Konterte Kat, blinzelte jedoch nervös. In ihr arbeitete es, und Tamaki wärmte dieser innere Kampf das Herz. "Ich könnte hier am Aufzug stehen und für dich schwärmen." Schlug er treuherzig vor. "Weißt du, dich aus der Ferne anbeten." "Wag das bloß nicht!" Empörte sich Kat und kniff ihn mit der freien Hand in die Wange. "Du kannst hier doch nicht rumlungern!" "Oh, meinst du, ich könnte einen deiner Kunden abwerben?" Lockte Tamaki naseweis, zwinkerte herausfordernd. Zu seiner Überraschung erstarrte Kat, blickte mit geweiteten Augen in sein Gesicht. »Macht sie sich ernsthaft Sorgen?« Tamaki spürte seinen Herzschlag wie wilde Trommelschläge. »Das ist doch ein reiner Männerverein, oder? Oh....« Während ihm erkennende Farbe ins Gesicht stieg, wisperte Kat unbehaglich und gar nicht forsch. "Du wolltest das doch nicht mehr tun. Das hast du doch gesagt." "Ich-ich hatte das als Scherz gemeint." Murmelte Tamaki nun ein wenig bedröppelt, weil Kat annahm, dass er tatsächlich als Verführer von gestandenen Männern reüssieren könnte. Das gab ihm nun doch zu denken. "Oh..." Kat wandte den Kopf ab, um ihre Verlegenheit zu kaschieren. "Nun, ich will das nicht. Dass du dich irgendwo herumdrückst, um mich anzubeten oder sonst was!" "Wirst du denn zu mir kommen?" Tamaki räusperte sich, um seine Verunsicherung zu überwinden. "Allerdings bin ich früher fertig, und..." "Kakao." Murmelte Kat mit abgewandtem Gesicht. "Du kannst einen Kakao bekommen. Beim Notausgang." "Kakao?" Tamaki hatte Mühe, ein Prusten zu unterdrücken und wieder in seine Rolle als verehrungsvoll-devoter Depp zu schlüpfen. "Wenn dir das zu stark ist, lässt du es eben!" Fauchte Kat ihm hitzig ins Gesicht. "Ich LIEBE Kakao! Wundervolles Getränk! Sehr nahrhaft!" Tamaki kopierte mit hastig-haspelnden Phrasen den unwürdigen Sklaven seiner Herrin. Kat funkelte ihn ärgerlich an, doch bevor erneut seine Nase schmerzhaft zur Ordnung gerufen werden konnte, entfuhr Tamaki ein erstickter Seufzer. Er legte einen Ausfallschritt vor. Während Kat sich überrascht an seiner Jacke festkrallte, landete er auf ihren Lippen Not. Kein perfekter Kuss, gleichwohl die Ouvertüre, weil er sie liebte, diese kratzbürstige, widerborstige, hinreißend trotzige Frau, die nicht glauben konnte, dass ein leidlich intelligenter Beau wie er sich Hals über Kopf für sie entschied. Tamaki spielte eine gewisse Erfahrung aus, ließ Kat aber nicht im Ungewissen darüber, dass er nicht nur freundschaftliche Gefühle hegte. Eine zölibatäre Nacht mochte angehen, doch unter der zivilisierten Kruste pochte ein leidenschaftlich-lustvoller Vulkan, der auch sein Recht einfordern wollte. Als er sie sanft wieder auf die Füße stellte, nun ohne Neigungswinkel, jedoch immer noch in enger Umarmung, beschwerte Kat sich mit belegter Stimme. "Du hast mein Makeup versaut." "Nur ein bisschen." Antwortete Tamaki und neckte ihre Nasenspitze mit seiner. "Komm mit runter und ich bringe es in Ordnung." "Nein." Kat blinzelte, wagte es, ihm in die Augen zu sehen. "Wir müssen beide noch arbeiten, Tamaki." Ein wohliger Schauer durchlief Tamaki, so, als würde man ihm Massageöl vom Haupt herunterrinnen lassen, prickelnd und zärtlich zugleich. Zum ersten Mal hatte Kat ihn beim Vornamen genannt! Und "wir", sie hatte "wir" gesagt! "Du hast recht, leider." Flüsterte er rau. "Das bedeutet wohl auch, dass ich dich jetzt loslassen muss, nicht wahr?" "Pronto! Sonst hält uns noch jemand für Siamesische Zwillinge!" Energisch machte Kat sich los, schlüpfte in ihre gewohnte Panzerung als Madame. "Dann sehe ich dich heute Abend beim Kakao?" Tamaki wich widerwillig einen Schritt zurück. "Wenn du so was Starkes denn verträgst!" Retournierte Kat schnippisch, aber das nervöse Ballen ihrer Hände verriet sie. "Ich werde mein Möglichstes tun, oh verehrungswürdige Herrin meines Herzens!" Deklamierte Tamaki mit ordentlich Schmelz, Schmalz und Vibrato. "So denn, einstweilen Lebwohl, Anbetungswürdige!" "Mach dich fort, aber zackig, du schmieriger Aushilfsromantiker!" Kat fauchte mit wachsender Verve zurück, warf sich in elegante Pose. "Nicht mal das Ende der Welt wird mich abhalten, an deine Seite zu eilen, mein süßer Augenstern!" Zwitscherte Tamaki feixend. "So harre aus in Erwartung meiner, geliebte Seele!" "Pack dich!" Schimpfte Kat und schleuderte zur Betonung ihr zusammengerolltes Strickdreieckstuch nach ihm. Tamaki fing es, presste es erst mit tiefem Einatmen vors Gesicht, bevor er im Rückwärtsgang die Liebesgabe an sein Herz drückte, als sei er gerade mit höchster Ehre ausgezeichnet worden. Hollywood hätte jedenfalls schon die Oscars poliert. Kat starrte ihm zornig nach, dann presste sie die Lippen aufeinander. Während sich vor Tamaki die Aufzugtüren schlossen, schwor er, dass ein sehr undamenhaftes, breites Grinsen schalkhaft ihr Gesicht zum Aufleuchten brachte. ~+~o~+~ Kippei reckte und streckte sich, schlappte dann mit missmutiger Miene zu den Kantinenautomaten. Es war ziemlich früh geworden, als sie endlich die letzte Testsequenz abgeschlossen hatten, weshalb sie wie die Hamster tagsüber eine Rast eingelegt hatten. Nun, noch einen aufdringlichen Minzgeschmack von der Zahnpasta im Mund, sehnte sich Kippei nach Zuhause. Er wollte Yamatos Essen verputzen, die Neckereien von Tamaki hören, Shougos trockene Bemerkungen und Yamatos mütterlich-strenge Kommandos. HIER gab es bloß grässlichen Kram in Tüten, der so ganz zu Shin-chans Geschmack passte! Unzufrieden zupfte Kippei an seinem T-Shirt, noch ein blöder Seestern-Aufdruck, Patrick Star im Bikini mit einem Maßkrug, darunter das Motto "Bottoms up, bikini!" Umwerfend komisch. Schließlich entschied Kippei sich für ein Päckchen Grüntee und einen Plastiknapf mit Instantnudeln. Er erhitzte im Kocher Wasser, ertränkte das traurige Gemisch und zählte müßig, bis die komprimierten Einzelteile sich zu einer "nahrhaften Mahlzeit" verbunden haben sollten, Essen ohne Wohlfühlfaktor, ganz unzweifelhaft! Bewaffnet mit diesem Proviant schlappte er missmutig und ein wenig abendmuffelig Richtung Labor. Dort befand sich jedoch niemand, dafür blinkte abenteuerlustig ein Bildschirm. "Hmmm... ist das eine neue Aufgabe?" Kippei stellte Topf und Getränk ab, ließ sich in den Sessel fallen und studierte die knappen Zeilen. Wenn er jetzt anfing und das Problem hier rasch löste, könnte er vielleicht früher nach Hause fahren, endlich wieder etwas Anständiges essen, in seinem eigenen Bett schlafen, von Yamato grummelig verwöhnt werden. "Na schön, dann wollen wir mal!" Kippei justierte seine Brille und legte die Finger auf die Tasten. Es war 22:10 Uhr Ortszeit. Er wollte diese Herausforderung an seinen Intellekt schnell beantworten! ~+~o~+~ Nein, es war kein Trotz. Ganz sicher nicht! Außerdem war er erwachsen und unabhängig, nur für sich selbst verantwortlich. Konnte tun und lassen, wie ihm beliebte! Trotzdem. Trotzdem fühlte sich Yamato ein wenig unbehaglich, als er eine seiner Kneipen im 2. Bezirk ansteuerte. Ab und an ging er mal aus, nahm hier und da einen Drink, sah sich um. Entschied darüber, wie nötig es war, Kompromisse einzugehen, um gevögelt zu werden. Manchmal kamen ihm einfach seine Erinnerungen dazwischen, und er konnte sich nicht überwinden, eine Offerte zu akzeptieren, wenn er sich Wills entsann. Will war perfekt gewesen, nicht nur äußerlich, sondern auch in Verhalten, Charakter und Einfühlungsvermögen. Die Erinnerung an den Sex jagte ihm noch immer wohlige Schauer über den Rücken und dann gezielt tiefer in besonders sensible Regionen. In ihrem Schatten folgte Melancholie. Natürlich hatte er sich nicht auf den ersten Blick in Will verliebt, schließlich war er Soldat, ein Profi, dazu noch als Ausländer in eine britische Einheit gekommen. Aber Will hatte einfach seine Schutzwälle unterminiert, die Zäune überwunden, die Mauern eingerissen. Da half kein Schwur, sich nicht zu verlieben, nie wieder, weil er schließlich sein Päckchen an unerfüllten Sehnsüchten an Sougo zu schultern hatte! Wenn er nun auf die Pirsch ging, wollte er keine Liebe, keine emotionale Bindung, keine übertriebene Sympathie. Er verlangte Erlösung, für eine Weile Frieden mit seiner Lust. Ausschwitzen half eben nicht, der Druck musste raus, ab und an. Noch sah er gut aus, konnte unter den Interessenten wählen und den schalen Nachgeschmack verdrängen, wenn man anschließend geduscht hatte und das Zimmer verließ, seiner Wege ging. Yamato tauschte nie Nummern aus, versprach nie eine Wiederholung. Sex war nur ein Ventil, eine weitere sportliche Übung, die er unternahm, um fit und alert zu bleiben. Wer das "Trainingsgerät" dabei war, spielte nur eine nachgeordnete Rolle. "Ah, auch mal wieder hier?" Yamato nickte dem Barkeeper zu, scannte schon beim Überschreiten der Schwelle die Anwesenden, die sich an schmalen Tischchen austauschten, flirteten oder noch die Netze auswarfen. Montagabend, die Woche vor den Feiertagen und außerdem doch ein festes Datum für Verliebte: wer sich hier einfand, hatte seine Niederlage schon eingestanden, war solo und wollte das für ein paar Stunden zumindest vergessen. Als er sich zur Bar bewegte, um einen Anheizer zu ordern, blieb sein Blick an einem gebückt sitzenden Mann hängen: große Gestalt, breite Schultern, wattierte Jacke über einem Anzug, das braune Haar zurückgeklebt, feste Schnürschuhe. Ungewöhnlich. Yamato enterte einen Barhocker, nahm seinen Drink in Empfang und warf einen neugierigen Blick auf seinen Nachbarn, der in ein bauchiges Glas starrte, das wohl Whiskey on the rocks enthalten hatte. Zumindest das Eis hatte sich schon erheblich reduziert. Das Profil bewies Kante, ein markantes Gesicht, gerade Nase, hohe Wangenknochen, gefällig anzuschauen, auf eine durchschnittliche Weise attraktiv. »Und irgendwoher...?« "Soll ich ihn dir kurz in den Froster stellen, Kazu?" Der Barkeeper war offenkundig eng mit seinem Nachbarn bekannt, klopfte auf die polierte Theke neben dem Glas. Der als Kazu adressierte rollte sich auf, hob den Kopf, blickte langsam um sich, als erwache er aus einem, seiner Miene nach zu urteilen, widerwärtigen Traum, grollte tief in der Kehle etwas. Als er über die Distanz eines leeren Barhockers Yamato erblickte, kam dem eine Erkenntnis. Bedauerlicherweise nicht nur ihm. "Du...!" Der breitschultrige Mann erhob sich halb, Yamato spannte alle Muskeln an, den Sprint zur Tür zu starten, da sackte sein Nachbar, den feurigen Blick noch immer auf ihn gerichtet, langsam wieder auf seinen Hocker. "Ach, was soll's!" Brummte er, rollte die Schultern ein und versank wieder in die brütende Meditation über seinen Whiskey. Yamato verfolgte diese Reaktion durchaus verblüfft. Er erinnerte sich an diesen Mann, auch wenn er ihn nur einmal flüchtig gesehen hatte. Nun gut, er hatte ihn überwältigt, um unerkannt aus einem Gebäude zu verschwinden. Zugegeben, für Sightseeing war keine Zeit geblieben. Der Mann neben ihm war Polizist, ein Ermittler für kleinere Delikte, in Zivil unterwegs, hatte sich nicht täuschen lassen, was ungewöhnlich war. Deshalb hatte Yamato auch Nachforschungen angestellt. So ein Typ wie der, da war er sich sicher, würde nicht so einfach locker lassen, der war ein Terrier, biss sich fest, gab nicht nach, stur und eigensinnig. Kazushige Makita. Aber was tat er hier, in einer Schwulenbar?! "Heute keine Lust, mich einzufangen und mir Handschellen anzulegen?" Provozierte Yamato frech, drehte sich zu Kazushige. "Hast du was angestellt, Schnuckel?" Kazushiges Antwort klang lustlos und frustriert. "Du könntest mir bei frischer Tat assistieren!" Provozierte Yamato weiter, ein scheinbar oberflächlicher Flirt, der sehr viel Schatten warf. "Ha!" Schnaubte der muskulöse Ermittler verbittert, nippte an seinem zimmerwarmen Whiskey. "Oh ja! Der kleine Bulle Makita vergreift sich an einem Ex-Kommandoeinheit-Mitglied! Das wäre DIE Gelegenheit für meinen Boss, mich endlich rauszuschmeißen." Yamato zog eine Augenbraue hoch, schnappte kurz entschlossen sein Glas und ließ sich auf den bis dato freien Barhocker direkt neben dem Polizisten nieder. "Was denn, du darfst mir nicht nachstellen?" Mit ausgewählten Worten stippte er in die offene Wunde. "Dieser dumme Plattfuß hat nur seinen Job zu machen." Kazushiges Worte troffen vor Säure. "Keine Fragen stellen, bloß niemanden belästigen und sich nicht einmischen. Gehorchen und Maul halten. Jawoll, Captain!" "Klingt frustrierend." Stellte Yamato nach einer Pause ernsthaft fest. Eigentlich erwartete man, dass jemand, der sich engagierte und so harsch ausgebremst wurde, sich ordentlich die Kante gab, dieser Mann jedoch wirkte stocknüchtern. Vielleicht resignierte er? "Ich habe dich hier noch nie gesehen." Das KLANG nicht nur blöd und wie einer dieser dämlichen Aufreißersprüche, aber Yamato biss in den sauren Apfel. "Warum trinkst du ausgerechnet hier was?" "Weil Meister Yoda so reizend ist, mir meinen Whiskey immer mal wieder ins Kühlfach zu stellen." Grantelte Kazushige missmutig zurück. Der Barkeeper, der ihr Tete-a-tete unbehaglich beobachtet hatte, mischte sich ein. "Wir kennen uns von der Mittelschule. Kazu ist der einzige Bulle, der sich hier blicken lässt." »Was bedeutet, dass hier keine anderen Bullen verkehren und er nicht entdeckt wird. Ich allerdings auch nicht.« Dolmetschte Yamato, "Tatsache?" Kommentierte er laut und launig. "Hast du denn keine Angst, man könnte dich wegen deines Knackarsches hier ganz unzüchtig anmachen?" Kazushige schnaubte unbeeindruckt. "Die meisten, die mich anquatschen, sind eher an meinem anderen Equipment, dem Knüppel, interessiert." »Wohoa!« Yamato konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Dieser Makita war zwar ein Bulle, aber er hatte Pfeffer! "Und du willst heute den Knüppel aus dem Sack lassen, um so richtig Heiligabend zu zelebrieren?" Yamato schlürfte mit unschuldigem Augenaufschlag an seinem Getränk. Zum ersten Mal seit ihrer Unterhaltung wandte sich Kazushige mit dem ganzen Körper zu ihm um. "Ich wollte heute einfach keinen Bullen mehr sehen, nur meine Ruhe haben." Betonte er grimmig. "Das heißt wohl, du hast eine Bude in einem Wohnheim." Schlussfolgerte Yamato unerschrocken. "Ist ätzend, kann ich verstehen." "Dann kannst du möglicherweise auch verstehen, dass ich keine Lust habe, den Quell allen Übels hier vor mir zu haben." Nun ätzte Kazushige unverkennbar. Yamato grinste herausfordernd. "Wenn du den Whiskey nicht verträgst..." Blitzartig schnellte eine Hand hervor und packte das Revers seiner Lederjacke. Yamato zuckte nicht einmal, denn er war neugierig zu erforschen, wer dieser ungewöhnliche Bulle war. "Mir ist scheißegal, was für heimliche Heldentaten du und deine Kumpane vollbringen." Zischte Kazushige Yamato zu. "Ich will mich hier lediglich daran erinnern, warum zur Hölle ich Bulle sein wollte. DU bist da keine Hilfe." "Dann sollte ich dich wohl irgendwie entschädigen, meinst du nicht?" Yamato konnte nicht sagen, welcher Teufel ihn ritt, den Ermittler fortwährend zu provozieren. Vielleicht der Umstand, dass Reibung nicht nur Elektrizität mit Funkenschlag, sondern auch Hitze erzeugte? Kazushige studierte eindringlich den Mann, der in seinem Zugriff selbstbewusst lächelte, provozierende Gewissheit und Souveränität ausstrahlte. "Was willst du von mir?" Erkundigte er sich schließlich leise, der Spielchen müde. Yamatos Feixen verlor sich, aber er wich den forschenden Augen nicht aus. "Ich weiß nicht." Antwortete er bedächtig. "Du bist ein ungewöhnlicher Bulle. Ich denke, ich habe große Lust, diesen Knüppel auszuprobieren, von dem du gesprochen hast." Für einen Augenblick wirkte Kazushige, als wolle er verächtlich schnauben und Yamato empfehlen, sich gefälligst einen Vibrator zu suchen, weil einige Menschen sich nicht als "Erleichterungshilfe" für sexuelle Notstände missbrauchen lassen wollten, doch er besann sich anders, drehte sich leicht, um sein Glas in einem langen Zug zu leeren. "Na schön." Kazushige erhob sich, beglich seine Zeche. "Gerade habe ICH Lust, mich so richtig schmutzig bei einem Kampf in Schweiß zu bringen." Bei einem Infight hätte er vielleicht Chancen, diesen Elite-Einheit-Schnösel mit seinem schlauen Grinsen in seine Grenzen zu verweisen! ~+~o~+~ Kapitel 18 - Evolutionsbeschleunigung Die Nebukadnezar II hatte definitiv bessere Tage gesehen, doch der alte Kabelverleger schlug sich wacker durch die aufgewühlte See. Das konnte man nicht unbedingt über die Mannschaft sagen: selbst ihr Kapitän, der schon auf Eisbrechern Dienst getan hatte, fühlte sich unbehaglich, was nicht an der Heuer lag oder der Tatsache, dass sie über die Weihnachtstage auf See sein würden. Nein, die Mannschaft, hauptsächlich aus Filipinos und ihrem indonesischen Kapitän zusammengesetzt, verspürte das beunruhigende Gefühl, dass ihr Auftraggeber etwas Seltsames im Schilde führte. Überhaupt schien dieser Mann etwas Unheimliches auszustrahlen, eine verstörende Selbstgewissheit, die an Hybris grenzte, wie sie einstimmig befanden. Sie hatten keine Vorstellung davon, dass Olivier Gilbert beabsichtigte, sämtliche Götter in den Schatten zu stellen, seien sie irdischen oder himmlisch-höllischen Ursprungs. ~+~o~+~ Olivier hakte zufrieden einen weiteren Punkt auf seiner Liste ab. Seine hellblauen Augen funkelten fiebrig. Nur noch einige Minuten, dann würde er endlich den selbstgewählten Höhepunkt seines Lebens erreichen. Tief unter ihnen, tiefer, als Menschen lange reichen konnten, lag sein vergiftetes Geschenk an die Menschheit, wie man sie kannte. Hätte man eine Ausgabe des "Who is who" nachgeschlagen (oder im Internet angewählt), so fände man eine knappe Erwähnung, die ihrem realen Vorbild nicht auch nur ansatzweise gerecht wurde: Olivier Gilbert, geboren als einziges Kind eines durchschnittlichen Ehepaars in der Schweiz, verfügte über einen herausragenden Intellekt, überflügelte mühelos seine Altersgenossen, studierte in Harvard, Oxford und am MIT, heuerte in einer Kanzlei an, um gleichzeitig mit wachsendem Erfolg an der Börse zu spekulieren. Die Gewinne investierte er in unterschiedlichen Geschäften, Immobilien, Firmenbeteiligungen, an der Terminwarenbörse und in Rüstungsfirmen. Mit 30 besaß er an zahlreichen Firmen immense Anteile, sein Vermögen katapultierte ihn in die Forbes' Liste, doch Olivier interessierte sich nicht für derlei Kleinigkeiten. Gleichzeitig kolportierte man, dass dieser Olivier Gilbert ein unerträglicher Kauz sei, nicht an gesellschaftlichen Veranstaltungen interessiert, kurzangebunden und ein heilloses Arbeitstier, brüsk und knapp mit allen, die seinem Verstand nicht das Wasser reichen konnten. Olivier, dem seine schlechte Presse gleichgültig war, hatte bis zu seinem 54. Lebensjahr so ziemlich alles ausgetestet, das ihm einen interessanten Zeitvertreib versprach, mit dem er seinen unersättlichen Verstand messen konnte: Sportarten, wirtschaftliche Unternehmen, Forschung, Entwicklung, sogar Politik. Nichts füllte ihn auf Dauer aus. Hatte er das Ziel erreicht, langweilte er sich schon wieder, wobei festzustellen war, dass körperliche Anstrengungen ihn nicht faszinierten. Ihm ging es um den Intellekt und so langsam verloren sich die Möglichkeiten, sich noch zu messen, was seinem Temperament nicht bekam. Doch dann, eines Tages, als er missmutig nach seinen üblichen drei Stunden Schlaf die Nachrichten studierte und frittierte, mit Honig benetzte Heuschrecken vertilgte, kam ihm ENDLICH die Erleuchtung: er hatte das Problem die gesamte Zeit nicht gesehen, wie einen weißen Elefanten im Zimmer, dabei war die Sache doch sonnenklar! Nun, wo er erkannt hatte, warum er sich so langweilte, warum das Leben ihm so lästig und fade erschien, konnte er endlich etwas dagegen unternehmen! Einen Plan auszutüfteln kostete ihn wenig Zeit, auch Mittel und Macht standen ihm ausreichend zur Verfügung. Nichts konnte ihn aufhalten. ~+~o~+~ Die Nebukadnezar II steuerte Richtung Hawaii, es ging auf 22 Uhr am 24.12.2012 zu, UCT. Bald würden sie auch die Datumsgrenze überschreiten, dann würde es erneut Heiligabend sein, doch ganz früh am Morgen. Olivier Gilbert verließ seine Kabine, um sich zum Kapitän zu gesellen, von Vorfreude so erfüllt, dass er statische Aufladung versprühte. Das schwere Kabel glitt langsam hinunter Richtung Meeresboden, doch er würde es als Tarnung nur noch einige Augenblicke benötigen. Er grüßte den Kapitän lächelnd, was diesen unbehaglich nach den Gebetsperlen in seiner Hosentasche greifen ließ. "Wunderschöne Nacht." Kommentierte Olivier, studierte die Anzeigen kundig, dann trat er vor das eigens eingebaute Panel, das eine Kettenreaktion initiieren würde. Nur noch wenige Minuten, dann wäre DAS Problem endlich gelöst: die "Optimierung der Menschheit" konnte final beginnen. ~+~o~+~ Natürlich erwartete man keine Lobeshymnen, das wäre auch lächerlich, denn wenn sich der Erfolg wie geplant zeigte, dann wäre schlichtweg nicht allzu viel Masse vorhanden, veritable Loblieder zu singen. Das Problem der Menschen war, wie alle einigermaßen intelligenten Personen mühelos erkennen konnten, die Tatsache, dass sich seit der letzten Eiszeit nichts mehr getan hatte. Der Mensch, nicht mehr als ein aufrecht gehender Affe, dem es gelungen war, sich trotz seiner unzähligen Handicaps allein durch sein Gehirn und das Denkvermögen durchzusetzen, hatte einmal am Rande der Vernichtung gestanden. Einige wenige Individuen überlebten jedoch die Eiszeit, die fast den ganzen Planeten mit ihrem tödlichen Panzer eingesponnen hatte. Danach gab es eine rasante Entwicklung, doch seit einigen Jahrtausenden nichts mehr Bedeutsames, lediglich Wiederholungen und Kopien! Gut, es waren mehr Gimmicks dazugekommen, doch im Grunde kümmerte die Menschheit vor sich hin, was sie mit Fluchten in allerlei Zerstreuungen kompensierte. Wieso mutierte der Mensch an sich nicht weiter, wieso wuchs das Gehirn nicht weiter, wieso kamen keine neuen Fähigkeiten hinzu?! Olivier Gilbert hatte die Antwort gefunden: die Menschheit war nicht mehr herausgefordert worden, in die "natürliche Auslese" wurde hineingepfuscht. Was lag also näher, als die Menschheit wie bei der letzten Eiszeit erheblich zu dezimieren und sie vor eine wirklich gewaltige Herausforderung zu stellen? ~+~o~+~ Kapitel 19 - Heiligabend, letztmalig? "Das war ein perfekter Tag!" Seufzte Aeolus glücklich, während er die auf der Rückfahrt beschafften Lebensmittel verstaute. Die nächsten beiden Tage wurde auf Hawaii wie überall in den Vereinigten Staaten Weihnachten gefeiert, also konnten sie sich auf ruhigere Aktivitäten verlegen. Da sie nur mit Frühstück versorgt wurden, hieß es, sich selbst über Wasser zu halten. "Hat mir auch gefallen." Zwinkerte Nereus keck, der ihre Kleider zum Lüften aufhängte und es wirklich merkwürdig fand, Weihnachten nicht mit Schnee, Kälte, Kerzen oder nadelnden Tannenbäumen zu verbinden. Eigentlich war es ja auch so etwas wie eine nachgeholte Hochzeitsreise, und die ganz andere Kulisse regte nicht zu nostalgisch-sehnsuchtsvollen Gedanken an. "Lass uns ein bisschen wandern gehen, ja? Und planschen!" Aeolus umhalste Nereus verliebt und plante schon die nächsten beiden Tage. "He!" Nereus sah sich gezwungen, ein Veto einzulegen, denn er wusste genau, wie geschmeidig sich Aeolus' schlanke Beine um ihn wickeln konnten, wie geschickt sein Lebensgefährte darin war, ihn von Null auf Explosionstemperatur in Wimpernschlägen zu treiben. "Ich möchte kuscheln!" Der Empath rieb eine klassisch modellierte Nasenspitze an Nereus' ein wenig versengter. "Bitte?" Wer hätte diesem Augenaufschlag, umrahmt vom funkelnden Gold der dichten, blonden Haare widerstehen können? Nereus jedenfalls gab sich geschlagen und verzichtete auf weitere Einwendungen. Warum sollte man auch nicht vom Bett aus Sternchen zählen, nicht nur außerhalb des Fensters? ~+~o~+~ "So ein verdammter, verfluchter, verhagelter, verschissener Mist!" Brüllte Herr Siegfried grundehrlich und sehr alliterativ, wenn auch ein wenig gewagt für einen geschäftsführenden Internatsschuldirektor, im Büro. Er raufte sich die fisselig-weißen Haare und tippte zornig auf einer Tastatur herum. Natürlich: einmal alle paar Jahre fiel Heiligabend auf einen dämlichen Montag, und SELBSTVERSTÄNDLICH erdreisteten sich einige Eltern doch frech, ihre Brut nicht artig am Wochenende aufzuklauben, sondern erwarteten, dass die Rangen morgens in die verdammte Regionalbahn gesetzt wurden, damit man wenigstens noch am Vormittag störungsfrei arbeiten konnte! Das allein hätte jedoch nicht genügt, seine Frustration gefährlich Richtung hohes C zu treiben, wenn nicht aufgrund der Wetterlage die einzige Zugverbindung am Vormittag (Feiertagsgeschäft bedeutete noch weniger Verbindungen, sicher doch!) ausgefallen war. Wenigstens hatte man ihn davon in Kenntnis gesetzt, bevor er die Nervensägen in den Bus setzte, denn sonst wäre er auch noch gezwungen gewesen, das gesamte Gelöt wieder vom Bahnhof aufzulesen! "Fröhliche Weihnachten!" Trällerte Herr Garfield aufgekratzt, während er sich nach einem neckischen Klopfen selbst herein ließ. "Und Friede auf Erden!" "Ja?!" Donnerte Herr Siegfried übellaunig. "Gut, wir haben ja noch ein paar Stunden, um das zu ändern!" "Oh, sind wir noch nicht festlicher Stimmung?" Unbeeindruckt von der massiven Schlechtwetterzone auf 12 Uhr umtänzelte Garfield in gefütterten Puschen unter seinem festlich mit Rentieren besticktem Kilt den Schreibtisch und drückte Herrn Siegfried ein Küsschen auf die fahle Wange. "Schau mal, ich habe dir auch ganz frische Kekse mitgebracht!" Veritabel dampften unter einem zünftig rot-weiß karierten Küchentuch gebackene Objekte duftend vor sich hin. "Ach? Galgenschmaus, bevor wir hier verhungern, weil die Rotte uns kahlfrisst?!" Herr Siegfried schnaubte giftig, denn er sah schon die Kostenuhr rasen, weitere Heiz- und Stromgebühren, aufgefutterte Vorräte von diesen Fressmaschinen im Kleinformat, lästige Informationspflichten nervtötender Eltern UND auch noch die Zumutung, die Bande bei Laune halten zu müssen, bis man sie endlich loswerden konnte! "Also, ich freue mich schon mächtig!" Herr Garfield stellte den Plätzchenteller ab und mühte sich vergeblich, das Plastikgeweih auf seinen Dreadlocks in eine aufrechte Position zu rücken. "Nur wir zwei beiden hier, schön eingeschneit, quasi Robinson und Freitag!" Herr Siegfried verdrehte die wasserblauen Augen. "Wunderbare Halluzinationen, Freitag, die Realität sieht aber ganz anders aus!" Hässliche E-Mail- und Telefonlisten, ungeduldige Mitarbeitende, die aufbrechen wollten und ein Sack Flöhe, der erst am Nachmittag rausgeschmissen werden durfte. "Oh, das ist bloß Feriencamp-Stimmung." Herrn Garfield konnte gar nichts erschüttern, er malte lieber Grinsegesichter auf die eisigen Fenster. "Man fühlt sich ganz kribbelig und krabbelig!" "Hört sich für mich eher nach der Krätze an!" Ätzte Herr Siegfried mit einem vernichtenden Blick auf seinen Liebhaber. "Und schmier mir jetzt nicht auch noch die blöden Fenster voll!" "Geht nicht!" Zwitscherte sein Gefährte unbeeindruckt und sehr aufgekratzt, vibrierend wie eine Energiekugel. "Ich bin total aufgedreht! Huiii!" Damit drehte er eine formvollendete Pirouette, die mit ihrem Luftzug gleich das Zellstoffgebirge auf dem Schreibtisch in eine neue Konstellation brachte. "Verflixt noch mal!" Herr Siegfried haschte nach flüchtigem Papiergut. "Das machst du absichtlich!" "Ich?" Verfolgte Unschuld mit noisettefarbenem Rahmen, sich sittsam wieder legende Kiltfalten. "Oh ja, DU!" Donnerte Herr Siegfried, kreiselte um den monströsen Schreibtisch. "Du machst mich wahnsinnig!! Diese nervigen Feiertage, dieser ganze Murks hier....!!" Die gefürchtete Waffe des Banshee schraubte sich in gefährliche Höhen. Bevor jedoch ein hysterischer Ausbruch die Statik des altehrwürdigen Gebäudes prüfen konnte, hatte sich Herr Garfield tollkühn an die schmächtige Brust geworfen und mit unerschütterlicher Überzeugung diagnostiziert. "Das ist bloß der Stress." "Is nich wahr?!" Giftete Herr Siegfried, wollte jedoch nicht die Gelegenheit verstreichen lassen, sich für die ungefragte Umdekoration seines Papiergebirges zu rächen. Wie mehr als einmal vergaß er dabei zwei Handicaps: erstens war Herr Garfield ein trainierter Sportlehrer und zweitens brachte er es einfach nicht übers Herz, ihn mit Überschallfrequenztönen von seinem Schoß zu blasen, sodass viel mehr ER auf dem neu sortierten Schreibtisch lag, sein Liebhaber mit gerafftem Kilt auf seinen Hüften kauerte und seine ganz eigene Version von Stressabbau kultivierte. Natürlich war es gelogen, dass Herr Siegfried dabei die Engelchen singen hörte! ~+~o~+~ "Och nö!" Murmelte Xavier St. Yves, wischte sich eine lose, weißblonde Strähne aus den strahlend grünen Katzenaugen. Frustriert wienerte er die Gläser seiner randlosen Brille und funkelte unter schwarzen, ärgerlich zusammengezogenen Augenbrauen auf die schlichte Nachricht, die den rechten seiner drei Flachbildschirme verunzierte. Aber jeder Protest half nichts: er hatte nun mal die "Friedhofsschicht" gezogen, und das bedeutete, dass für ihn der halbe Arbeitstag an Heiligabend ein ganzer Arbeitstag werden würde, wenn ein besonderer Auftrag hereinkam. Seufzend justierte er das Nasenfahrrad in einem klassisch schönen Gesicht, fingerte sein Mobiltelefon heraus. Am rechten Ringfinger bewies eine Tätowierung, dass der studierte Mathematiker bis unter die Haut verbunden war mit seinem Liebsten. "Matti?" Erkundigte er sich nach Matthias Fermont, seinem Lebensgefährten. "Hör mal, gerade eben ist ein Sonderauftrag reingekommen... nein, ich weiß nicht, wie lange es dauern wird. Geh ruhig schlafen, ja? Und... entschuldige." Matti war keineswegs nachtragend oder unversöhnlich, wenn ihre unterschiedlichen Arbeitszeiten gelegentlich kollidierten, doch trotzdem verspürte er das Bedürfnis, um Nachsicht zu bitten und die dunkle, ein wenig raue Stimme antworten zu hören. "Dann sehen wir uns morgen Früh, Angel. Genug Zeit für Vorfreude." Typisch Matti, lakonisch und sexy zugleich! Seufzend legte Angel sein Mobiltelefon auf die Seite und widmete sich seinen Bildschirmen. Aus einem Lautsprecher erkundigte sich eine elektronisch anonymisierte Stimme. "Alles okay bei dir?" "Sicher, BlueMax." Angel hängte sich das 'Geschirr', Kopfhörer und Mikrofon, um. "Ich musste bloß Matti vertrösten. Gerade ist ein riesiger Job reingekommen." Er seufzte profund. "So viel zu einem gemütlichen Abend." Es gehörte zu Angels Aufgaben, hyperkomplexe Berechnungsmodelle durchzuführen, die Systemlast der Universitätsrechner bestmöglich zu verteilen und nebenbei vorhandene Lösungen zu verbessern. Seine Waffe war die Mathematik, seine Verbündeten diverse Programmiersprachen und sein Feind Fehler und Hardwareausfälle. Da die Universität auch einen Teil ihrer "Brötchen" mit Fremdaufträgen verdiente, mussten Forschung, Wissenschaft und Wirtschaft sich die Hand reichen, damit allen gedient war. Deshalb galt es eben auch, neben den nächtlichen Routinen Sonderaufträge zu bedienen, die in den Niedriglastphasen zusätzlich abgewickelt werden konnten. Wenn Angel dann allein als Herr über gewaltige Recheneinheiten unvorstellbare Datenmengen für diverse Modelle bändigte, leistete BlueMax ihm gelegentlich Gesellschaft. Angel vermutete, dass 'BlueMax vom Helloween Trickster-Clan' wie er irgendwo ein Mathematiker war, der ebenfalls allein über komplexen Aufgaben brütete und sich gern über dies und das zwischen 0 und 1 austauschte. Erlaubt war das zwar nicht unbedingt, aber bisher hatte sich niemand an dem kleinen Schwatz gestört. "Ich bekomme hier wahnsinnige Mengen an Datenmaterial rein..." Murmelte Angel überrascht. "Sieht aus wie ein Klimamodell. Hmmm!" Grübelte er und kontrollierte die Recheneinheiten. Wenn man die einzelnen Aufgaben trennte, konnten auch vergleichsweise schwache Prozessoren gute Dienste leisten, doch dazu bedurfte es eines ausgeklügelten Plans und im Moment hatte er Mühe, das komplizierte Konstrukt richtig zu begreifen. Was für ein Modell war das bloß? "Verflixt!" Angel sprang auf, als ein unerfreulicher Temperaturanstieg in einem Rechnerraum einen Alarm auslöste. "Das sieht nicht gut aus!" "Lass mich mal gucken!" Verlangte BlueMax hilfsbereit. "Das hört sich nach einer Herausforderung an!" "Mehr, als mir lieb ist!" Schnaubte Angel und aktivierte die vorsintflutlichen Einzelplatzrechner in der Bibliothek. Jetzt mussten eben alle Ressourcen ran! ~+~o~+~ Matthias Fermont marschierte in elastischem Schritt zum T-Trakt, einen Picknickkorb apportierend. Am frühen Nachmittag färbte sich der Himmel wie dunkler Flieder, von weißen Flocken bezuckert. Hell würde es wohl erst im Frühjahr wieder werden. Die Sicherheitsschleuse ließ ihn herein, da er einen ständigen Besuchszugang hatte. Mit einer Hand wedelte er Tauwasser von seinem akkuraten Bürstenschnitt, knöpfte dann sein Wollsakko auf. So schnell fror er nicht als Sportlehrer und Krieger. Er lächelte, als er Angel erblickte. Die weißblonden Strähnen waren der Spange im Nacken entkommen, die schlanke, biegsame Gestalt beugte sich über eine Tastatur, hochkonzentriert und angespannt wie eine Sprungfeder. »Wahrscheinlich hat er nicht mal bemerkt, dass er seine Verpflegung vergessen hat.« Schmunzelte Matti bis zu den undurchdringlichen Stahlaugen. Wenn man wie er in einem Gymnasium Sport, Deutsch, Englisch, Ethik und gelegentlich sogar Latein unterrichtete, als "Rudelführer" fungierte und dazu noch ausgewiesen mit einem attraktiven Mathematiker verbandelt war, vergaß man den Proviant als Nervenzehrung nur SEHR selten. Lautlos pirschte er sich heran, stellte ebenso unhörbar den Picknickkorb ab und schlang dann die Arme um Angels Taille, schmiegte eine kalte Wange gegen die vor Eifer gerötete seines Liebsten. "Uahhh!" Erschreckte sich Angel folgerichtig, wandte zappelnd den Kopf und bestaunte einen lachenden Matti. "Was tust du denn hier, Matti?" "Dafür sorgen, dass die Putzfrau nicht deinen ausgedörrten Kadaver findet." Frotzelte Matti launig, küsste ziemlich kalt sehr vergnügt geschürzte Lippen. "Ich dachte mir, langweilen kann ich mich auch hier, nur die Gesellschaft ist viel besser als allein zu Hause." "Oooohhhhh!" Schnurrte Angel mit verführerischem Augenaufschlag. "Du machst mich ganz rollig mit so viel Romantik!" "Angel, alles okay?" Mischte sich nun BlueMax ein. "Bestens!" Trällerte Angel hochgestimmt, streichelte eine kalte Wange in einem exotisch geschnittenen Gesicht mit dunklem Teint. "Matti ist mit einem Picknickkorb vorbeigekommen!" "Hallo BlueMax." Machte der sich über Angels Mikrofon bekannt. "Keine Angst, ich werde mich im Hintergrund halten." Und Angel liebevoll füttern, das sah zumindest sein Plan vor, aber Angel wäre nicht sein Angel gewesen, wenn er nicht versucht hätte, ihm die aktuelle Aufgabe, die die gesamte Rechenpower bis an die Grenzen auslastete, vorzustellen. "Es ist ein Expansionsmodell im dreidimensionalen Raum, soweit ich das sehen kann. Durch die sich ständig verändernden Daten wird das komplexe System umgewandelt, Prognosen verändert. Ich habe schon mehrere Verbesserungen vornehmen können..." "Das ist doch eine Simulation, oder?" Unterbrach Matti irritiert Angels Vortrag. "Ich denke nicht?" Antwortete Angel einigermaßen verblüfft. Er konnte sich nicht vorstellen, dass zahlender Kundschaft teure Zeit und noch mehr Rechenleistung damit verschwendete, ein Modell nur zu simulieren. Üblicherweise bestand die Klientel aus Forschungsbereichen mit Lehraufträgen, die alle möglichen Modelle testeten, von der Dynamik in einem Fischschwarm über die exakte Vorhersage der Verbreitung von Mehltau bis zu Theorien über die Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn. Je komplexer und größer die unterschiedlichen Daten, umso eher landete man schließlich hier im Rechenzentrum. Für Angel eine ganz "natürliche physikalische" Erscheinung: aus der Ordnung strebt eben alles zum Chaos, so, wie nach gängiger Meinung auch das Universum und die kleinsten Bestandteile des Lebens. "Woher kommen denn die neuen Daten?" Matti gab nicht auf, studierte konzentriert die grafische Darstellung, die wie eine Visualisierung von vielen, wild gewordenen Mückenschwärmen wirkte. "Die werden eingespeist." Angel veränderte Anzeigen auf seinen Bildschirmen. "Da kommen die Datenströme an, siehst du?" Matti blieb für eine Weile still, was Angel beunruhigte. Hatte sein scharfsinniger Freund etwas entdeckt, was ihm entgangen war? Immerhin, das gestand er freimütig ein, konzentrierten sich seine Anstrengungen darauf, die Modellberechnungen schnellstmöglich durchzuführen, ohne das gesamte System zu überlasten. "Was ich hier also NICHT sehe, sind Progressionsdaten für eine gewaltige Wasserwand im Pazifischen Ozean, die sich kreisförmig ausbreitet, oder?" Fragte Matti sehr bedächtig wie ein Mann auf Stelzen in einem Minenfeld. "Wie?!" Platzte Angel fassungslos heraus. "Wieso denkst du...?!" "Die Satellitenbilder mit den Daten." Matti tippte mit einem Finger auf einen Bildschirm. "Das Muster ist mir im Gedächtnis, weil wir gerade im Englischunterricht eine geografische Weltreise unternommen haben." "Aber das...?!" Angels Finger hasteten über die Tastatur. "Das kann nicht sein! Ich habe doch ein Wetter- und Klimamodell als Basis bekommen...!!" In seiner Stimme schwang ein nervöses Flehen mit. Exakt zwei Sekunden später löste ein Alarm aus, verbarrikadierte den T-Trakt, sperrte sie ein. "Was geht denn hier vor?!" Angel versuchte vergeblich, in das Gebäudemanagementsystem einzudringen. "Entschuldigt, Freunde." Zog BlueMax die Aufmerksamkeit auf sich. "Aber ich fürchte, wir werden diese Nacht zusammen verbringen." "Was soll das bedeuten?!" Knurrte Matti grimmig und legte beschützend einen Arm um Angels angespannte Schultern. "Es bedeutet, dass wir eine große Aufgabe zu erledigen haben." Versetzte BlueMax unbeeindruckt. "Ohne reale Verbündete sieht es nicht gut aus." "Ich verstehe nicht..." Wisperte Angel hilflos. "Das ist doch nicht echt, oder? Bitte, BlueMax, das KANN doch nicht echt sein! Das ist doch kein normales Wettermodell!!" BlueMax stellte die Sirenen ab, hob den Einschluss jedoch nicht auf. "Angel, auch wenn es schlecht steht: wir sind nicht allein. Wir sind Legion, meine Freunde, und wir werden nicht zusehen, wie die Welt untergeht." "Oh Gott..." Winselte Angel und sackte in sich zusammen, die Hände vors Gesicht geschlagen. Er wollte nicht wahrhaben, was er sah und welche Erkenntnis gerade aus seinem Gedächtnis hochgesprungen war. "Es ist das Tsunami-Modell, nicht wahr?" Flüsterte er kaum hörbar. "Du hast das Tsunami-Modell von der Berechnung zum Atlantik-Tsunami von 1858 eingefügt." "Atlantik-Tsunami?!" Matti wechselte einen finsteren Blick aus korrodierenden Stahlaugen zwischen Angels eingeschrumpfter Gestalt und den Bildschirmen. "Warte mal, war das diese Sache mit der Nordsee?" "Ja." Wisperte Angel tonlos. "Sieh dir das an! Die Amplitude liegt bei einer Dreiviertelstunde." "Ich verstehe nicht?" Matti kämpfte den Drang nieder, Angel aus seinem Stuhl zu ziehen und diese schockierte Lähmung aus dessen schlanken Körper zu schütteln. "Was bedeutet das denn?!" "Je länger die Wellenamplitude, je langsamer also jede einzelne Wassersäule, umso höher wird der Tsunami an Land. Besonders bei flachen Ufern." Erklärte BlueMax sachlich. "Hinzu kommt auch noch, dass es rasend schnelle Tiefseewellen gibt, die enorme Höhen an Land erreichen." "Wie gut, dass da der Marianengraben auf dem Weg liegt!" Ätzte Matti, der sich dem Entsetzen nicht ergeben wollte. "Immerhin die tiefste Stelle der Erde. Also, wieso höre ich keinen Alarm?! Was ist da passiert?!" "Es ist kein Vulkanausbruch, oder?" Angel umklammerte seine eigenen Finger verkrampft, die Katzenaugen unverwandt auf die Bildschirme gerichtet, als könne er die Zahlenkolonnen, die sich zu einer Grafik aufbauten, beschwören. "Negativ." BlueMax überlagerte die Daten mit einem anderem Rechenmodell. "Mehrere künstliche Detonationen unter Wasser. Bis dato keine Tektonik im Spiel. Die Abweichungen deuten jedoch darauf hin, dass im Anschluss Abbrüche erfolgt sind." "Kein Ausbruch, kein Seebeben." Matti mischte sich ärgerlich ein. "Soll das heißen, jemand hat da unten ein paar Bomben gezündet?! Das ist doch lächerlich!" Außerdem, wieso gab es nicht längst Warnmeldungen?! Wenn da wirklich ein Tsunami war, dann...!! "Ich erhalte Hinweise, dass gezielt Seebomben gezündet worden sind, in mehreren, kurzen Intervallen." BlueMax intonierte seltsam gedehnt, als könne er selbst nicht ganz glauben, was ihm da zugespielt wurde. "Das ist doch verrückt! Niemand würde so etwas tun!" Matti tippte auf den Bildschirm. "Da sind unzählige Inseln, und bei der Ausweitung....!" "Was sollen wir hier, BlueMax?" Erkundigte sich Angel leise. "Was sollen wir noch tun? Zusehen?" In der Prognose, die sich im Sekundentakt veränderte, rannten Wasserwände von annähernd 100m Höhe in konzentrischen Kreisen auf Amerika, Asien und Australien zu, eine Sintflut, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Matti spannte Muskeln und Sehnen an. Er weigerte sich, eingesperrt und hilflos zu bleiben, ganz zu schweigen von vorgeführt und benutzt! "Lass mich raten, mein Freund!" Knurrte er grimmig in das Kameraauge. "DU hast uns hier eingeschlossen, weil dir von Haus aus ein paar Gliedmaßen fehlen! Du bist eine künstliche Intelligenz, nicht wahr?!" "Willkommen in der schönen, neuen Welt!" Grinste BlueMax und blendete einen entsprechenden Avatar auf dem mittleren Bildschirm ein. "Und Kinder, fürchtet euch nicht! Die Macht ist mit uns." Damit referierte er auf den soeben rekrutierten Dunklen Lord, der schon aus eigenem Interesse nicht bis zu Kilometern über dem Hals im Wasser stehen wollte. "Na prächtig!" Grollte Matti sarkastisch und fachte Angels Lebensgeister mit einer extragroßen Portion heißer Schokolade an. "Und weil Weihnachten ist, haben wir hoffentlich auch einen guten Stern, der uns führt!" Für einen Moment schwieg BlueMax, dann zirpte er bedächtig. "Nun, etwas Ähnliches. Hoffe ich." "Hast du etwa den Tsunami-Alarm lahmgelegt?" Wisperte Angel und studierte Satellitendaten. "Wieso passiert nichts?!" BlueMax zögerte einen Moment, ganz so, wie ein Mensch reagiert hätte, bevor die KI antwortete. "Es ist spät und dunkel. Niemand kann irgendwohin fliehen. Keine Warnung kann retten. Wir brauchen überall funktionierende Infrastruktur und Gesellschaften." Dozierte BlueMax. "Panik und Chaos würden kostbare Zeit verschwenden." "Prima, so merkt wenigstens niemand, dass man absäuft, bis die Wasserberge alles niederwalzen." Ätzte Matti aufgebracht. Sollten sie hier einfach zuschauen, wie Milliarden Menschen zugrunde gingen?! In diesem Moment röhrte ein Alarm, warnte vor einer Überhitzung. "Oh." Murmelte Angel geistesabwesend. "Die Klimaanlage 8 ist im kritischen Bereich. Ich muss drei Server drosseln." Was sich erheblich auf die Rechenleistung auswirken würde. "Kein Problem." Tönte BlueMax. "Gerade habe ich jede Menge freier Kapazitäten aufgetan. Es grüßen Die Tiere recht herzlich!" "Die Tiere?" Matti zog Angel aus seinem Bürostuhl, schloss ihn in die Arme und rieb grob über dessen Rücken. Angel wirkte oft zäher, als er war, wie er nur zu gut wusste und er war so ehrlich sich einzugestehen, dass er einem Weltuntergang lieber in die Fratze sah, wenn er Angel spüren konnte. "Assoziierte." BlueMax blendete ungefragt einen Balken ein. "Wir bekommen jede Menge Leistung und Maschinen, dazu noch flinke Finger und die besten virtuellen Verbündeten für Einbruch und Kampf der Welt." Seine digitale Stimme klang geradezu euphorisch und hinterließ einen surrealen Eindruck im Angesicht des Abgrunds. "Scheint dir ja mächtig Fracksausen zu verursachen, dieser Monster-Tsunami." Matti wiegte Angel nun, der die Arme um ihn geschlungen hatte und merklich zitterte. Wahrscheinlich konnte der noch mehr aus den Datenwolken lesen, die unermüdlich wie aggressive Mücken auf den Bildschirmen schwärmten! "Oh, immer optimistisch bleiben!" Munterte BlueMax sie auf. "Wir haben eine Platin-Kreditkarte, Zuversicht und jede Menge Talente auf unserer Seite!" "Und nicht zu vergessen eine künstliche Intelligenz, die dusselige Zweibeiner als Geisel nimmt!" Schnaubte Matti zornig. Er HASSTE SciFi-Stories! "Always look on the bright sight of life!" Trällerte BlueMax, der von seinem Kollegen ThreeMonkeys noch Einiges über "Menschenführung" zu lernen hatte. ~+~o~+~ Kapitel 20 - AO Perry platzierte seinen Koffer und die Reisetasche in den Kofferraum. Früher Nachmittag an Heiligabend, er räumte sein Motelzimmer, während das Wetter sich nicht entscheiden konnte, ob es nieseln oder schneien wollte. »Buärks!« Dachte er säuerlich und achtete darauf, den weißen Wollmantel nicht zu beschmutzen, als er um den Leihwagen herumging, einstieg. Eigentlich hatte er über die Feiertage bleiben wollen, doch nachdem er rasch seine Geschäfte erledigt hatte, schien es ihm ratsam, sich so schnell wie möglich in Luft aufzulösen, noch bevor dieser miesepetrige Kreischhals irgendwelche Behörden auf ihn aufmerksam machte. Mit Reiseproviant ausgerüstet und ausgeruht wollte er die Nacht durchfahren, nur kleine Pausen einlegen. Am Genfer See konnte er dann das neue Jahr beginnen, weg von diesem ganzen Ärger. Endgültig Schluss machen mit diesem nagenden Gefühl der Sehnsucht. Genau, wenn sich das nicht bald verflüchtigte, würde er eben irgendwo ein Bordell aufsuchen und sich all diese lästigen Gefühle aus dem Leib vögeln!! Grimmig, entschlossen und gallig, weil das Schicksal manchmal ein Schweinepriester war, programmierte er den mobilen Pfadfinder und stöpselte sein Mobiltelefon in der Freisprecheinrichtung ein. In diesem Augenblick ereigneten sich mehrere, unvorhergesehene Ereignisse gleichzeitig: zunächst spielte sein Mobiltelefon eine Melodie ab, die er garantiert NICHT aufgespielt hatte, auf dem Bildschirm brüllten gewaltige Letter "AO! AO! AO!", in seinem Augenwinkel registrierte er die Veränderung auf der Anzeige des Navigationsgerätes. Nun lautete seine Destination wie die Adresse der Internatsschule und ohne dass er die Zündung betätigt hatte, startete der Motor, schnurrte das Gefährt. "Holy crap!" Fluchte Perry erschrocken, wusste gar nicht, welchen elektrischen Überfall er zuerst parieren sollte. Er entschied, zunächst das aufdringlich lärmende Mobiltelefon zur Räson zu bringen, doch in den seltsamen Alarm, der ihm ein SEHR UNGUTES Gefühl verabreichte, zeterte ein ankommender Anruf. Die Nummer war ihm unbekannt. "Ja?" Meldete er sich argwöhnisch und knapp. "Burleigh?" Die Stimme strengte sich an, einen Alarm zu übertönen. "Was auch immer Sie gerade tun, verschieben Sie's! Hypnos kommt nicht mehr zurück, und sein Körper stirbt!" ~+~o~+~ Die Dunkelheit lag über Maui, und es regnete auf dem Rest der Insel. Besuch und Winterflüchtlinge feierten drinnen und vermuteten sich weit weg vom Auf-den-letzten-Drücker-Geschenke-kaufen-Stress ihrer Mitmenschen. Viele Leute schliefen auch gegen Morgen des 24.12.2012. Hauke Hanteenbrüggen war wach und arbeitete. Das tat er hauptsächlich nachts, denn dann sanken die Temperaturen und die Sonne plagte ihn nicht zu sehr. Mit seiner blassen Haut, den rotblonden Haaren und einer eher klapprig zu nennenden Gestalt fiel er selbst im weltläufigen Maui auf. An diesen für ihn doch recht reizlosen Ort hatte ihn die einmalige Offerte gelockt, als Systemanalytiker am MHPCC zu arbeiten, wo superschnelle Computer eingesetzt wurden, um allerlei zu berechnen, vom Tsunami-Frühwarnsystem bis zu militärischen Daten vom benachbarten Teleskop. Hauke, der gerade in seinem Bürodrehstuhl in einem seiner geliebten Pyjamas aus feiner Baumwolle kauerte, die dünnen Beine vor den Leib gezogen, war ein Freak. Ein Nerd mochte sich auf einem speziellen Gebiet gut auskennen und mit Pulli, Streberfrisur und Kassenbrille allein vor seinem hochgepuschten Rechner hocken, Hauke jedoch fiel für das Kollegium definitiv in die Freak-Kategorie, nicht nur wegen der Pyjamas. Er war überaus intelligent, konnte unzählige Programmiersprachen wie Klartext lesen und hatte keine Mühe, selbst hochkomplexe Vorgänge und Prozesse auf Anhieb zu begreifen, nein, er war auch noch blind! Was nicht ganz den Tatsachen entsprach, denn Hauke konnte durchaus noch hell und dunkel unterscheiden. Niemand schien ganz zu begreifen, wie er zurecht kam. Für Hauke hingegen stellte es eine Schwierigkeit dar, verständlich zu machen, dass er keine Probleme damit hatte, sich zu orientieren. Er nahm die Auszeichnung, ein Freak zu sein, gleichmütig entgegen. Ihn irritierte viel mehr, dass er als schräg galt, weil er weder Hamburger, noch Hotdogs essen wollte, sondern hauptsächlich Gemüse und Salat verzehrte und in Reis oder Nudeln pickte. Außerdem interessierte er sich nicht für die Wassersportangebote, Strände oder Shows. "Der würde hier glatt ein Zelt aufstellen!" Witzelten sie über ihn. Sie hatten recht: Hauke ging in seiner Arbeit auf und verbrachte wenig Zeit außerhalb des Geländes. Gelegentlich holte er 'Care-Pakete' beim Zoll ab, die seine besorgten Eltern schickten, weil ja alle wussten, dass es zwar inzwischen jede Menge Bier auf Hawaii gab, aber doch nicht die heimatlichen, friesischen Leckereien und anständiges Brot, von Haukes geliebtem Grünkohl ganz zu schweigen! Einen Freund hatte er jedoch, auch wenn der ziemlich klein war und acht Arme hatte. Jules wohnte in einem Aquarium im Labor, wie sie ihren Arbeitsplatz nannten, lernte gerne Tricks und war aus unverständlichen Gründen stets zur Stelle, wenn Hauke vor das Glasgeviert trat und mit ihm Zwiesprache hielt. Hauke lauschte über die allgegenwärtigen Kopfhörer schmunzelnd der E-Mail seiner Eltern, die von den Vorbereitungen zum Fest berichtete. Gleichzeitig horchte er auch auf die Signaltöne, die eine eigens von ihm programmierte Anwendung absonderte. Sie 'visualisierte' in seinem Kopf eingehende Meldungen von den Messstationen. Er merkte auf, als sich in das erwartete Muster eine Abweichung schlich. Sie war ungewöhnlich. Hauke setzte sich auf und stellte die nackten Füße in Puschen, legte die Finger auf die markierte Tastatur. Was ging da vor? "Aloha, so früh fleißig?" Meldete sich ein Freund, der ihm oftmals Gesellschaft leistete. "Guten Morgen, BlueMax." Hauke meldete sich wohlerzogen. "Im Moment ist es etwas ungünstig. Ich höre ziemlich merkwürdige Bewegungen." "Ja, und genau deshalb melde ich mich." Antwortete BlueMax geschmeidig. "Hauke, du musst mir jetzt helfen." "Gleich, BlueMax! Lass mich nur gerade Alarm geben..." Hauke zuckte zusammen, als ein schrilles Kreischen ertönte. Außerhalb seiner Kopfhörer blieb es jedoch sehr still. "Entschuldige, da habe ich wohl einen übersehen." BlueMax blieb sachlich. "Eine Frühwarnung bringt nichts, mein Freund. Ich brauche dich, um riesige Wassermengen in ihrer Bewegung unter Wasser zu ermitteln." "Was?!" Haukes Finger rasten über die Tastatur. "Wieso kann ich keinen Alarm absetzen?! Hat sich jemand in das System gehackt?!" "Yepp." BlueMax seufzte. "Komm schon, Hauke, ich brauche dich jetzt, und wir haben nicht viel Zeit. Du bekommst von mir Informationen über Satellit und Messstationen, mit ein bisschen Glück auch Militärdaten. Das ist eine Rettungsmission, alles klar?" Hauke schnaufte entsetzt. "Was ist da passiert?! Verdammt, in weniger als zwei Stunden...!!" "Hey, keine Angst, mein Freund!" BlueMax schnurrte beinahe. "Wir haben alles im Griff. Wir können's schaffen. Also, wohin muss das Wasser laufen, damit der Schaden möglichst gering ist?" "Ich-ich arbeite dran!" Hauke verdrängte aufkommende Panik entschieden, denn die surreale Vorstellung, in einer zweiten Sintflut ertränkt zu werden, konnte gegen die Herausforderung eines komplexen Prozesses der Meeresströmungen und der Topographie nicht anstinken. Hinter ihm wühlte sich Jules zutiefst verschreckt tief in die Kies- und Sandschicht seines gläsernen Heims. ~+~o~+~ Ephraim Lux, Fettnäpfchen-Jäger. Der lädierte Werwolf kauerte im Bürodrehstuhl und würgte an einem dicken Kloß in seiner Kehle. Das gefürchtete Telefonat war sehr kurz gewesen, aber der Aufprall eines Meteoriten dauerte ja auch nicht lange und sorgte für einen Weltuntergang, vom Aussterben der Dinosaurier ganz zu schweigen. Tatsächlich bestand ihre Konversation bloß aus zwei Sätzen. "Ephraim ist das wahr, was mir zu Ohren gekommen ist?" "..." "Ich verstehe." Wut wäre Ephraim lieber gewesen, Vorwürfe, Sarkasmus, nicht jedoch die knappe, nüchterne Reaktion, so distanziert und geschäftsmäßig, als wäre er nichts weiter als ein lästiges Ärgernis im Alltag, eine bloße Unannehmlichkeit. Nun kämpfte er mit beschämenden Tränen. Was sollte er jetzt bloß tun? Wenn er kein "richtiger" Werwolf war, was sollte er mit sich anfangen? Als scheuer Sonderling verfügte er nicht über viele Freunde, und diese hatten sich ja dem Schulabschluss schon mit Verve in ihr neues Leben geworfen, während er weit weg "Erfahrungen" sammelte. Ephraim schnüffelte in seinen Marshmallow-gesüßten Kakao und bemitleidete sich selbst. Wenn es sonst schon keiner tat! Außerdem störte es ja nicht. In diese deprimierte Seelenforschung brüllte gänzlich unwillkommen und noch weniger erwartet ein Alarm, ohrenbetäubend, begleitet von einem Lichtkonzert. "I didn't do it!" Ephraim verschüttete Kakao und fiel vor Schreck beinahe vom Stuhl, der von seinem Zucken bewegt einige Zentimeter vom Tisch wegrollte. Panisch starrte er auf das blickende Orchester des Chaos von Meldungen, die er nicht verstand. Er begriff jedoch, dass es sich um den absoluten Ausnahmefall handelte, von dem Dragomir erzählt hatte. "Help! Hilfe! Ich brauche Hilfe!" Ephraim drückte den Knopf für die Lautsprecheranlage. "AO! AO!" Dragomir hatte ihn angewiesen, es für sich als "all officers" zu betrachten, den höchsten Alarmruf der Zivilkräfte, auch wenn "AO" in ihrem Fall für "all organisations" stand. Die Tür flog auf, Dragomir preschte hinein, gefolgt von anderen Werwölfen in Bereitschaft. "Was ist los?!" Konzentriert studierte er die Anzeigen, bleckte dann ein gefährliches Gebiss auf. Ephraim humpelte eilig in den Hintergrund, seinen Luchs in Sicherheit bringend. Hoffentlich bemerkte Dragomir den Klecks Kakao nicht! Der Rudelführer hatte jedoch andere Prioritäten, seine Finger huschten über eine Tastatur, dann zog er ein Mikrophon heran. Sie brauchten einen Spezialisten, das war für ihn eindeutig, und zwar hurtig. ~+~o~+~ Gregoire polierte Wulf hingebungsvoll die Mandeln, quasi. Er liebte die leisen Laute, das unterdrückte Ächzen, das seine Bemühungen hervorriefen. Und dann diese muskulösen Arme, die ihn so fest umschlungen hielten! Ein Alarm blökte los, die Beleuchtung wurde gedimmt, und Bolzen rasteten im Bungalow ein, wie bei einer Festung. "Scheiße!" Fauchte Gregoire, der intensiv daran gearbeitet hatte, Wulf zu überzeugen, statt des Autorennens doch lieber Bettspiele zu betreiben, um die Abwaschfrage zu entscheiden. "Uh oh." Wulf blinzelte, konzentrierte sich dann auf die Bildschirme, haschte mit den Armen um den Vampir herum nach Tastatur und Maus. "Da könntest du recht haben." "Was ist das für ein Mist?! Kannst du den Lärm nicht abstellen?" Gregoire schmollte enttäuscht. Wieso meldeten sich Notfälle nicht anständig an, damit sie einem nicht die wertvolle Freizeit versauen konnten?! "AO, all organisations, Groß-Alarm." Übersetzte Wulf. "Ohoh! Das ist ja merkwürdig!" "Was denn?!" Der Vampir warf einen ärgerlichen Blick auf das Protokoll, dann drang bereits eine wohlbekannte Stimme aus dem Lautsprecher. "Wulf, Gregoire?! Wir haben ein mächtiges Problem. Kannst du diese Anfrage übernehmen, Wulf? Ich sorge für Kapazitäten." "Okay, Boss, das kann ich." Wulf richtete sich auf, seine Finger rasten bereits über der Tastatur. "Allerdings ist das eine ziemlich seltsame Anfrage." "Für einen Werwolf aber doch kein Problem, oder?" Knurrte Dragomir angespannt. "Das könnte ein wenig dauern." Wulf kombinierte Berechnungsmodelle und fütterte sie mit Koordinaten und Zeitangaben. "Die Zeit haben wir aber nicht." Nur mühsam beherrschte sich der Rudelführer. "Arbeite, so schnell du kannst. Ich vermittle dir den Kontakt, an den deine Ergebnisse gehen sollen." "Ja... danke..." Wulf runzelte die Stirn. Auf seinem Schoß kochte gefährlich still Gregoire vor sich hin, der nicht verstand, was vor sich ging, aber sich für das entgangene Vergnügen entschädigt sehen wollte. "Was zum Teufel ist das für ein Murks?!" "Das ist eine Positionsberechnung für den Mond, um die tiefste Ebbe zu erreichen." Wulf klemmte sogar die Zunge in einen Mundwinkel ein, so bemühte er sich um Lösungen für möglichst vorgestern. "Gibt's dafür nicht einen Kalender?!" Ätzte Gregoire ungnädig. "Na ja." Sein Freund schenkte ihm einen schiefen Seitenblick. "Nicht unbedingt für eine Position im Weltraum, von außerhalb der Erde betrachtet." ~+~o~+~ Hyakinthos schnappte, auf dem Rücken liegend, nach Luft. Ihn schwindelte noch, das Blut kochte in seinem verschwitzten Körper. Andererseits kannte er keine bessere Vorbeugung gegen mögliche grippale Infekte. Er wandte den Kopf und blinzelte seinem Liebhaber zu, goutierte rabenschwarze, drahtige Strähnen, rote Augäpfel und eine haarlose, weiße Haut wie flüssiges Porzellan. "Du hast verloren!" Behauptete Zephyr und bleckte neckend eine sehr spitze Zunge in einem emotionslosen Gesicht. "Macht... mir... nix... aus..." Ächzte Hyakinthos und räkelte sich genießerisch. Dann durfte Zephyr eben die nächste Runde bestimmen, was sollte ihn das jucken?! Der Lamia-Vampir liebte ihn, trank sein Blut und beanspruchte ihn unerbittlich für sich selbst, Schaden würde er da wohl kaum nehmen. Zephyr angelte in sitzender Position nach einer Flasche mit verdünntem Apfelsaft. Er nahm einen kräftigen Schluck, um sich dann über Hyakinthos zu beugen und seinen Gefährten mit Flüssignahrung ein wenig aufzupäppeln. Der legte ungeniert die Arme um den Nacken des Lamia, ließ sich von ihm aufrichten und schmiegte sich in ihre Umarmung. Er wollte verwöhnt werden, weil ihnen beiden das gefiel. Sie tauschten einen langen Blick aus, schweigend, leicht lächelnd, einander unverbrüchlich verbunden. In diesen trauten Austausch von Intimitäten mischte sich jedoch ungebeten das aufreizende Zwitschern eines Mobiltelefons. "Verdammte Hacke, muss das sein?!" Polterte Zephyr ungewohnt rustikal los. "Wenn das jetzt nicht mindestens der Weltuntergang ist...!!" Er fingerte mit einem bedauernden Blick zu Hyakinthos sein Telefon aus dem Kleiderhaufen neben ihrem Bett und klappte es auf. "Wer stört?!" Knurrte er aggressiv in den Hörer. Zu Hyakinthos' Verblüffung blieb es nun ruhig, keine heftige Schimpftirade, keine gehässigen Gemeinheiten! An der fehlenden Mimik seines Liebsten konnte er auch nicht ablesen, worum es sich bei diesem überaus importanten Anruf handelte. "Ich gebe nichts zu, ist das klar?! Jaaaaa, schon gut. Das wird aber nicht billig!!" "Schön, von mir aus! Der Knabe soll mir das, was auch immer es ist, schicken. Ich vermittle. Aber das wird euch verdammt teuer zu stehen kommen!" "Ja, ja, ja, ich melde mich! Kramt schon mal die Platinkarte raus!" Abrupt unterbrach Zephyr das Gespräch, starrte einen Moment konzentriert ins Leere, bevor er sich zu Hyankinthos umwandte, ihn entschuldigend auf die zu einer Frage geöffneten Lippen küsste. "Kurze Auszeit, mein Schnuckelchen." Hyakinthos verfolgte überrascht, wie Zephyr in einer Schachtel kramte, glorios in seiner unmenschlichen Gestalt, eine kleine Kapsel herausfischte und sie aktivierte. Ein merkwürdiges Gerät, das viel zu groß war, um in einen derart kleinen Zylinder zu passen, materialisierte sich in seiner Hand. Seufzend nahm Zephyr das InterKom in Betrieb. Wenn er nur die richtigen Argumente fand, würde er diese lästige Aufgabe rasch hinter sich bringen! ~+~o~+~ Zephyr verstaute das InterKom wieder und war wenig überrascht, sich rücklings beschmust zu finden. "Was ist das für ein Ding?" Neugierig lugte Hyankinthos ihm über die Schulter. "Das da ist ein InterKom, weil wir damit untereinander kommunizieren können." Zephyr verwandelte sich in einer der bemitleidenswerten Damen der Shopping-Kanäle, gestikulierte übertrieben und schraubte seine Stimme hoch. "Und dieses wunderbare Ding hier ist eine Hoipoi-Kapsel, produziert von der Capsule Corporation, damit das Leben noch leichter für uns wird! Ist das nicht einfach wunderbar?!" "Uh." Murmelte Hyankinthos betäubt von dieser Attacke aggressiver Werbung. "Klar. Sicher. Was immer du sagst." "Schön." Erleichtert, um weitere Antworten herumgekommen zu sein, räumte Zephyr geschäftig die Schachtel ein. "Wo waren wir stehen geblieben?" "Beim Weltuntergang, wenn ich mich recht entsinne." Hyakinthos ließ sich nicht so leicht aus dem Konzept bringen. "Denn normalerweise ist diese Zeit meine Premiumzeit! Und du gehst NIEMALS ans Telefon." Zephyr schnaubte. "Das war auch nicht geplant! Man hat mich nicht vorab informiert! Ich bin genauso erschüttert wie du!" Gekränkte Unschuld, Klappe, die erste! Hyakinthos schmunzelte. "Ivoire, lenk nicht ab, ja?" Schnurrte er zärtlich, setzte eine gefährliche Waffe im intimen Nahkampf ein. Zephyr schnaubte, denn seinen bürgerlichen Namen goutierte er nicht sonderlich, ausgenommen so gurrend intoniert von Hyakinthos' Lippen. "Na gut!" Dröhnte er übertrieben zerknirscht. "Es IST partiell ein Weltuntergang. Könnte unangenehm beim Frühstück werden." Sein Liebster lupfte eine Augenbraue in die Lockenmähne. "Haben die Maya jetzt doch recht gehabt?! Ich dachte aber, das Ultimatum wäre vor drei Tagen abgelaufen?" "Es gibt noch mehr Spinnerte um uns herum als die Maya." Brummte Zephyr, der sich schon von seinem geliebten Schäferstündchen verabschiedete. "Und die haben sich vom Acker gemacht, bevor man ihnen wegen mangelnder Voraussicht den Stecker rausziehen kann." "Wie sieht dieser Weltuntergang jetzt aus?" Hyakinthos hakte nach, denn für eine Weltuntergangsstimmung schien ihm Zephyr dann doch ein wenig zu entspannt. Der Lamia seufzte profund und studierte das interessierte Gesicht seines Gefährten. Die sexuelle Spannung zwischen ihnen hatte sich definitiv auf alltagstaugliches Niveau reduziert, quasi schon jugendfrei. "Manche hätten wohl ein ziemliches großes Boot gebaut." Gab er widerstrebend zu. "Ernsthaft?!" Hyakinthos' Augenbrauen zogen sich besorgt zusammen. "Werden wir etwa überschwemmt?! Asteroiden? Vulkanausbruch? Erdbeben?" Zählte er die Hitliste der Katastrophenszenarios auf. "Eher weniger." Zephyr streckte eine Hand aus, fing eine Wange in seiner Handfläche ein und liebkoste sie. "Hör mal, ich kenne die Details nicht. Aber wir sind nicht unmittelbar betroffen..." "Aber mittelbar, richtig?! Wie kannst du helfen? Kann ich auch etwas tun?" Hyakinthos fing die Hand ein und drückte sie entschlossen. "Bitte, lass mich helfen, ja?" »So viel zu rhythmischer Bettgymnastik für den Moment!« Grollte Zephyr, schickte sich jedoch drein. "Ich fungiere bloß als Mittler." Erklärte er, angelte von einem Herrendiener einen Bademantel, in den er fürsorglich seinen Liebsten einwickelte. "Ich hänge also an der Strippe, leite die Informationen weiter und sorge dafür, dass die Gegenleistung erbracht wird." "Dann mache ich uns warme Milch mit Honig!" Entschied Hyankinthos tatendurstig. "Du kannst dich ganz auf deine Heldentat konzentrieren!" Er strahlte dabei so stolz, dass Zephyrs geübter Zynismus sprachlos zurückblieb. Keine Frage, Hyakinthos hatte einen zerstörerischen Einfluss auf Zephyrs misstrauisch-abschätziges Menschenbild und nichts konnte dessen Vertrauen in ihn erschüttern! »Hätte ich das mal geahnt!« Seufzte er innerlich und konnte doch nicht anders, als versonnen lächeln, denn wenn so ein mieser Mistkerl wie er sein Herz an einen Vampirköder verlor, war nichts mehr zu retten. Wohl oder übel musste er hin und wieder etwas Nobles, Selbstloses tun. Schicksalsergeben fischte er seinen Laptop aus der Aktentasche, klappte ihn auf und leitete die "Honorarforderung" weiter an die Zentrale. Er fischte die Hoipoi-Kapsel mit seinem InterKom aus der Schachtel, immerhin musste er ja die Rechenergebnisse übermitteln, auch wenn er gehofft hatte, seine kleinen Geheimnisse für sich zu behalten, um Hyakinthos nicht zu verstören. So viel zu guten Absichten und Vorsätzen! Da wusste er noch nicht, dass er wenig später mit dem Serviceroboter der CC eine heftige Auseinandersetzung mit Drohung der Desintegration über einen Lieferauftrag ausfechten würde. ~+~o~+~ Nala spürte Keokis Blick trotz der Semi-Dunkelheit in ihrem Schlafzimmer. Sie konnte nicht schlafen, fühlte sich unruhig, und was ihn betraf: manche Männer fortgeschrittenen Alters hörten den Ruf der Natur mehrmals in der Nacht, aber keiner von ihnen marschierte alle halbe Stunde aus dem Haus und ins Wasser. Die Ungewissheit über die Natur ihrer Nervosität war zermürbend. Keoki, leidlich abgetrocknet, glitt wieder neben sie unter die dünne Decke, legte eine Hand sanft auf ihren hochgewölbten Leib. Nala seufzte vernehmlich, denn ihr Rücken tat weh, in ihrem Magen brodelte es, und das Kind rührte sich ebenfalls in ihr, so, als spüre es die Anspannung. Sie war es SO LEID!! Unvermittelt traten ihr Tränen in die Augen, wischte sie ärgerlich mit dem Handrücken über das Gesicht. Seit wann war sie so wehleidig und dünnhäutig?! Beinahe unwirsch versuchte sie, Keoki abzuschütteln, der sie unerbittlich, aber behutsam aufsetzte, sich halb hinter sie schob und sie umarmte, wiegte. Nala ballte die Fäuste und prügelte ihre Frustration und Erschöpfung in die dünne Matratze, schluchzte vor Wut über die eigene Machtlosigkeit. Sie hatte sich leidlich wieder im Griff, als plötzlich im Haus die Hölle ausbrach: der ältliche Fernseher erwachte zum Leben, das kurbelbetriebene Radio legte los, das Telefon klingelte, das Funkgerät knisterte unüberhörbar und aus dem Zimmer ihrer verliebten Pensionsgäste drang ebenfalls eine Kakophonie, die vermuten ließ, dass auch dort elektrische Geräte ein Eigenleben entwickelten. Keoki half Nala auf die Beine, die sogleich ihr Mobiltelefon schnappte, während er sich darum bemühte, die restlichen Geräuschquellen abzustellen. "Hauke? Was ist los?" Nala hatte nicht erwartet, diesen Alarmcode jemals zu sehen. "Haben wir einen Tsunami? Ein Seebeben? Wieso laufen die Sirenen nicht?" Mit wachsendem Entsetzen lauschte sie den knappen Informationen, die ihr der junge Mann aus Deutschland in betäubter Ruhe anvertraute: von einem enormen, über Seemeilen reichenden Abbruch in der Tiefsee, von Wassertürmen mit geschätzten Höhen, die sämtliche Hochhäuser von Hawaii wegspülen konnten. Von einem Plan, wie man den Weltuntergang verhindern konnte, wenn sie ihre beiden Gäste instruieren würde. Hochgeschreckt und nervös standen Aeolus und Nereus bei Keoki, der besorgt wirkte. "Ich versteh das nicht." Murmelte Aeolus immer wieder, starrte ungläubig auf die Anzeige seines Mobiltelefons. Er hatte es eingesteckt, aus Gewohnheit, aber abgestellt, da war er sich sicher, immerhin kosteten Anrufe sehr viel Geld, und sie wollten ja auch ganz ungestört sein! Wieso erhielt er jetzt einen AO?! Vage hatte man sie kurz vor dem Abschluss darüber informiert, dass sie für den Fall eines besonderen Alarms aufgefordert werden konnten, mit ihren besonderen Fähigkeiten zur Hilfe zu eilen, doch das war noch nie in Anspruch genommen worden! Nereus, der seinem Gefährten beruhigend über den Rücken strich, zwang sich, nicht ebenfalls in Panik zu geraten. Man musste etwas tun, dann reduzierte sich auch die Anspannung! "Können wir helfen?" Erkundigte er sich höflich und registrierte die ungesunde Blässe im sonnenverwöhnten Gesicht ihrer Pensionswirtin. Wortlos reichte Nala ihm ihr Telefon, während sie Keoki bat, das Auslegerboot vorzubereiten und Schwimmwesten zu holen. "Hallo?" Nereus hatte perplex zugegriffen und wusste nicht einmal, mit wem er da parlieren sollte. "Auch hallo." Klang es ihm in seiner Muttersprache ins Ohr. "Mein Kontakt hat mir mitgeteilt, dass Sie auf der SSA waren und uns helfen können. Ich heiße Hauke und sitze beim MHPCC. Ein Abbruch hat einen gewaltigen Tsunami ausgelöst. Das Wasser muss umgelenkt werden. Dafür benötigen wir Hilfe aus der Tiefsee." "Wirklich?" Knurrte Nereus ungläubig, obwohl ihm die Aktion für einen Scherz zu aufwändig vorkam. "Was genau sollen wir da beitragen? Wasser schippen?" "Oh, nein, das würde wohl nicht reichen." Der junge Mann am anderen Ende blieb unbeeindruckt. "So, wie ich es verstehe, kann Nala die Informationen, die notwendig sind, an den von Ihnen weitergeben, der Empath ist. Wenn er sich im Wasser befindet, werden unsere Helfer aus der Tiefsee erfahren, was notwendig ist." "Das klingt, mit Verlaub, total bescheuert!" Brauste Nereus auf. "Sollen da ein paar Nixen anrollen, oder wie?" "Das weiß ich auch nicht." Hauke seufzte. "Hören Sie, ich habe hier geschätzte Wellenberge von über 100 Metern Höhe. Die werden uns wegfegen, alle Inseln, sämtliche Küsten am Festland. So etwas hat es noch nie gegeben in Zeiten menschlicher Aufzeichnung. Ich kann Sie nur bitten zu helfen. Erklären kann ich es nicht." "Aber..." Nereus überlegte, welche der unzähligen rationalen Gegenargumente er zuerst bringen sollte, verzichtete dann aber darauf und verlegte sich auf. "Das ist kein Scherz." "Nein." Antwortete Hauke leise. "Aber wir haben noch die Chance, das Schlimmste zu verhindern." Unterdessen hatte Keoki Nala bereits eine Schwimmweste angelegt und half dem verstörten Aeolus dabei, seine anzulegen. Nereus reichte Nala ihr Mobiltelefon, doch sie stellte es ab und legte es achtlos auf einen wackligen Tisch. Wenn das hier nicht funktionierte, würde sie nie wieder ein Telefon benötigen und Millionen andere Menschen vermutlich auch nicht. Der Einstieg in das Auslegerkanu war nicht weiter schwierig für die beiden Landratten aus Europa, dann nickte Keoki Nereus zu, ein Paddel zu greifen. Mit seinem rhythmischen Schwung mitzuhalten forderte Nereus sehr, der gleichzeitig versuchte, Aeolus zu erklären, dass er keine Ahnung hatte, wie ein Empath im Wasser mit unbekannten Tiefseewesen eine gigantische Wasserwand aufhalten sollte. Nala mischte sich ein und fasste nach Aeolus kalter Hand. "Wir wissen nicht viel über die Tiefsee und ihre Bewohner. Es gibt Gerüchte, seltsame Bilder, alte Zeichnungen, aber verstehen können wir sie nicht. Die Tiefsee ist voller Leben, auch wenn es erheblich von dem abweicht, was wir kennen oder gewöhnt sind. Alles ist dort anders, und möglicherweise gibt es dort jemanden, der uns hilft. Darum müssen wir werben, DAMIT man uns hilft, auch wenn wir mutmaßlich Ursache für die Probleme sind." "Wir?" Aeolus drückte nervös die kräftige Hand. "War es kein Unglück? Eine Art Lawine, oder so?" "Nein." Antworteten Nala und Keoki unisono, hielten einen Augenblick inne, verblüfft über die Synchronisierung, die sie selbst nicht erwartet hatten. "Wie weit müssen wir denn raus?" Nereus hatte den Eindruck, dass das Meer längst nicht mehr so ruhig war. Irgendwie kam ihm auch der Halbmond gespenstisch groß vor. Außerdem glaubte er nicht, dass seine Kondition allzu weit reichte. "Noch ein bisschen." Keoki paddelte weiter mit der Präzision eines Uhrwerks und unbeirrbar auf einen nur ihm bekannten Punkt im nassen Nirgendwo zu. ~+~o~+~ "Und jetzt?" Erkundigte sich Aeolus, trat Wasser und äugte beunruhigt um sich. Der Halbmond schien beinahe den Horizont auszufüllen, aber das gereichte ihm nicht zur Seelenruhe. Um ihn herum konnte sich im Wasser sonst was verbergen! "Denk an das, was ich dir erzählt habe: die Gefühle, die Bilder und vielleicht unsere schöne Insel!" Riet Nala, während sie mit der Linken Keokis Hand umklammerte. Sie spürte einen gewaltigen Aufruhr, einen Sturm, es war so, als hätte man sie mitten in einen Bienenschwarm gesteckt! "Ich komm mit." Nereus glitt ebenfalls vom Auslegerkanu ins Wasser. Auch wenn er kein Empath war, so konnte er doch mit allen Sinnen erfassen, wie bange Aeolus war. "Hchh!" Keuchte sein Gefährte panisch auf, verdrehte die Augen, während um ihn herum das Wasser weiß schäumte, vor Bewegung und Energie kochte! Aeolus' Augäpfel verdrehten sich, er zuckte und zappelte in Spasmen wie unter Strom. "Hey!" Auch Nereus konnte spüren, wie etwas ihn berührte. Das war zu viel! Mit beherztem Kraul und einer Extraladung Seifenlauge hielt er auf den Empathen zu, der inmitten eines Wirbels wie eine Puppe hin und her geworfen wurde, tiefer sank und allein von der Schwimmweste wieder hochgezogen wurde. "Das reicht! Lasst ihn in Ruhe!" Nereus verströmte Lauge in Schwaden, bekam Aeolus' Schwimmweste zu fassen und gab sie nicht mehr frei. In den Wolken seiner Lauge beruhigte sich der Terror unter der Wasserlinie. Er konnte verstört Aeolus' Zustand inspizieren. Aeolus war nackt, die Badehose verschwunden, sein gesamter Körper, wo er die Wasseroberfläche temporär durchbrach, mit einem merkwürdigen fünfzackigen Muster überzogen. Er atmete flach und hastig, produzierte aufwühlende Laute der Qual. "Ich bin hier, Aeolus." Versicherte Nereus ihm mit gebändigtem Zorn, streichelte mit der freien Hand nasse Strähnen aus dem geliebten Gesicht. "Alles wird gut, hörst du? Ich bin hier, und ich lasse nicht zu, dass sie dich noch mal berühren." Wenn die verdammte Welt unterginge: Aeolus hatte mehr als genug gegeben! ~+~o~+~ Suriyawong raffte seine Bücher und den dicken Collegeblock zusammen, verstaute alles in einem großen Öltuch, das er geschickt mit einem Band umwickelte, um das Päckchen bequem schultern zu können. Vor der Lesehalle der medizinischen Bibliothek der Universität prasselten unzählige Regentropfen hernieder. Die Luft war derartig feucht aufgeladen, dass man Mühe hatte, Atem zu schöpfen. Der junge Thai ersparte sich einen Seufzer und rollte den schwarzen Zopf auf dem Hinterkopf zusammen, steckte eine polierte Holznadel in den Kringel. Selbst mit dem langen Regencape, das er sich überstreifte, würde er durchnässt zu Hause ankommen. Wie die meisten seiner Kommilitonen trug er einfache Sandalen an den Füßen und Hosen, die über dem Knie endeten. Unter seinem T-Shirt jedoch fesselte eine strenge Bandage die zarten Brüste, was sich bei heller Bekleidung unerfreulich schwer verbergen ließ und er hatte nicht die Absicht, seine besondere Disposition hier zu Markte zu tragen! Die Dunkelheit wurde von unzähligen Leuchtreklamen, Scheinwerfern und Laternen vertrieben, als Suriyawong, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, eilig durch den winterlichen Monsun hastete. In diesem Jahr schien er besonders hartnäckig Niederschläge zu produzieren! Als Suriyawong ihre kleine Wohnung erreichte, fand er sie verschlossen und dunkel, Mush war also nicht zu Hause. Seufzend entledigte sich Suriyawong des Regencapes, deponierte seine wertvollen Bücher und Notizen auf einem hohen Regal und lüftete durch. Er dehnte und streckte sich, erwog, das Brustband abzulösen, aber wenn er noch etwas zum Abendessen besorgen wollte, würde er es sich wieder überstreifen müssen! Keine verlockende Vorstellung! Ein sanftes Vogelzwitschern ertönte. Eilig fahndete Suriyawong nach seinem Mobiltelefon, denn dieser Klingelton war Mushs Erkennungszeichen. "Mush? Wo steckst du denn?" "Findest du nicht, dass es schon reichlich spät ist?" "Also schön. Ich komme. Aber nur, wenn für mich ein anständiges Abendessen herausspringt!" ~+~o~+~ Der junge, chinesischstämmige Mann namens David Dean Yang saß, ein wenig krummbucklig, in einem Separee eines gut besuchten Internetcafés. Man hätte ihn rein äußerlich für einen ganz gewöhnlichen Studenten halten können, der an diesem Montag beabsichtigte, die Nacht vor der Glotze zu verbringen, aber David Dean Yang war kein gewöhnlicher Student. In einem früheren Leben, an einem anderen Ort, hatte er als Superheld und Hacker ganze Nationen ins Wanken gebracht, eine grauenvolle Mordserie aufgedeckt. {siehe "Bonds"} JETZT glitten seine Fingerspitzen mit dem virtuosen Geschick eines genialen Pianisten über die Tasten, während Zahlenkolonnen und Code-Fetzen über den Bildschirm huschten. Mochte er tagsüber auch Unternehmer und Selfmade-Entrepreneur sein: in seiner Freizeit blieb er Teilzeit-Held: der Dunkle Lord. "Mush?" Hörte er eine vertraute Stimme in den üblichen Lärmpegel aus Thai-Pop, lauten Gesprächen, Gelächter und Signaltönen aller Art dringen. Mush, der sich an die unwirkliche Atmosphäre bereits gewöhnt hatte, richtete sich auf und drehte sich um, winkte seinem Freund, Gefährten und Liebhaber. Suriyawong, der stets und leider aus Erfahrung Übles ahnte, wenn Mush über die vereinbarte Zeit hinaus am Bildschirm klebte, hatte sich in weiser Voraussicht bereits mit Nahrung versorgt. Er balancierte zwei große dampfende Portionen Woknudeln mit Gemüse und Kokoschutney auf den eleganten Handflächen. "Ich hoffe, es ist wichtig!" Tadelte er streng. Mush zog einen einfachen Schemel heran, nahm Suriyawong den wertvollen Proviant ab und nutzte die zwielichtige Umgebung, Suriyawong sanft, aber nachdrücklich auf die schmollend geschürzten Lippen zu küssen. "Tut mir leid." Raunte er heiser und räusperte sich. "Aber es ist ziemlich wichtig, Suri." Suriyawong ließ sich neben ihm nieder und zog eine Grimasse. "Mir schwant so etwas wie, 'wir müssen mal eben eine weltumspannende Verschwörung aufdecken, dazu ein Heilmittel gegen chronische Blödheit finden und nebenbei die Weltformel lösen'." Murmelte er ironisch. "Nicht ganz." Mush fasste nach Suriyawongs Hand, der von dieser ernsthaften Geste überrumpelt war und unwillkürlich näher heranrückte. "Aber du hast mir doch versprochen..." Wisperte er erbleichend. Holte sie etwa ihre Vergangenheit ein? Mush drückte einen Kuss auf Suriyawongs Handrücken. "Dieses Mal, Suri, ist es wirklich nicht meine Schuld!" Raunte er dem fünf Jahre älteren Mann ins Ohr. "Aber wenn ich nicht mithelfe, könnte wirklich die Welt untergehen. Oder zumindest ein ziemlich großer Teil." "Wo?" Hauchte Suriywong nervös. Mush drückte seine Hand. "Auch hier, Suri." ~+~o~+~ "Sam hier, wer stört bei der Arbeit?" Schnurrte Mastermind, kreativer Genius, Frauenversteher von drei bis hundertdrei und Inhaber der Konfiserie-Ladenkette 'Finest Delight' in sein Mobiltelefon, während er gleichzeitig weitere Paletten mit Pralinen freigab. Valentinstag und Weihnachten waren in Japan für ihn die zwei Höhepunkte des Geschäfts. Dementsprechend war er nahezu ununterbrochen in den heiligen Hallen seines Betriebs. "Mosquito?! Bist du nicht irgendwo auf Tournee?" Antwortete er verblüfft auf die amüsierte Replik seines Gesprächspartners. Samuel Ridgeway war nicht nur reich, berühmt, fleißig, und, wie ihm stets beschieden wurde, extrem gut aussehend, sondern auch ein unverbrüchlicher Fan der Hinagikus. Das richtige Gespür für den 'süßen Zahn' seiner Mitmenschen verhalf eben dazu, dass man sich mit einem gewaltigen Sortiment Leckereien einen VIP-Zugang verschaffte und einander kennenlernte. Mit 'Mosquito' verband ihn seither eine lockere Freundschaft, denn Mako hatte trotz intensiver Flirtbemühungen Sams Liebe zu seinem Mitschüler Kenji nicht erschüttern können, was ihm umso mehr imponierte. "Hamburg? Wie ist das Wetter denn? Igitt, fast so wie hier!" Sam plauderte, während er, das Mobiltelefon zwischen Schulter und Wange eingeklemmt, unermüdlich weiterarbeitete, Maschinen programmierte und per Handzeichen seiner Crew Anweisungen erteilte. "Eine Eilbestellung?" Sam merkte auf. "Ernsthaft, Mosquito, wir rödeln hier bis zum Anschlag! Ich habe drei Schichten eingeteilt und halte mich nur noch mit Adrenalin und Trotz aufrecht!" "Na schön, lass hören, was du brauchst und ich sag dir, ob ich's hinbekomme." Sam fingerte einen Notizblock aus der Schürzentasche und fahndete nach seinem Bleistift. "In Ordnung, ich schaffe einen Kasten, das sind 24 Stück. Auf wen lautet die Rechnung?" "Okay, fein. Aber was ist mit der Lieferung? Das muss hier abgeholt werden." Stirnrunzelnd notierte er sich Details und wiederholte sie noch mal. "Also verpacken und aufs Vordach beim Lieferantenausgang stellen? Willst du mich verarschen?!" "Kumpel, ich weiß nicht, was das für eine Aktion ist, aber die Kreditkarte dieser SSA-Organisation wird so was von rauchen!" "Ja, pass auf dich auf und grüß mir die anderen, ja? Später will ich die Auflösung dieser Story hören, capice?" Kopfschüttelnd beendete er den Anruf aus Übersee und überflog seine Notizen. Mehr als einmal hatte er guten Freunden in Notlagen geholfen, und jetzt sah es so aus, als steckte irgendwer ziemlich übel in der Klemme. Da konnte man mit ein wenig süßer Bestechung sicher Fronten aufbrechen! Mit Feuereifer begab sich der Inhaber von 'Finest Delight' höchstpersönlich daran, innerhalb einer halben Stunde sein Genie für eine ganz besondere Zustellung zu beweisen! ~+~o~+~ Der Dude saß neben seinem besten Kumpel bequem zwischen einigen Schwarzen Rauchern und pfiff sich eine ziemlich feine Mischung rein. Sie zog richtig durch! Um ihn herum herrschte undurchdringliche Dunkelheit, es war ziemlich still. Man konnte sich wundervoll auf seinen Trip konzentrieren. In diese Idylle platzte jedoch ein vernehmliches Klopfen. "Ägir, mach auf, es ist dringend!" Der Dude verschluckte sich beinahe, während sein bester Kumpel sich mit vorwurfsvollem Augenrollen und kräftigem Abstoßen seiner zehn Arme in eine tiefere Höhle verzog. Es klopfte erneut, ziemlich vehement. Die Minimalfauna morste mit winzigen Fangärmchen und Bakterienausstoß Protest gegen diesen Bruch der Etikette. Der Dude rührte sich nicht. "Ägir, mach endlich auf!" Das Klopfen pulsierte mittlerweile in mächtigen Schallwellen. "Es ist keiner zu Hause, verzieht euch endlich!" Röhrte der Dude ärgerlich, denn ihm schwante nichts Gutes. "Ist ja prima, dass wir gar nicht gekommen sind." Konterte der unerbittliche Klopfer mit schwarzem Humor. Für einen Moment verwirrt starrte der Dude das massive Gestein an, dann grunzte er geplagt und verabschiedete sich von der gepflegten Dröhnung, die er sich verpassen wollte. "Kommt halt rein, wenn's sein muss." In einer Exo-Sphäre schwebten zwei Gestalten hinein, die sich selbst schwach illuminierten, um kein größeres Ungemach zu bereiten. Der Dude seufzte geplagt. "Wenn ihr wegen der Alimente gekommen seid, dann helf ich euch suchen, Freunde, ich habe nichts abzugeben." Ein dunkelhaariger Mann in einem hellblauen Leinenanzug und offenen Sandalen, der offenkundig nichts von Unterwäsche oder Socken hielt, lächelte den Dude an, hängte dann seine Sonnenbrille ins geknöpfte Revers. Die schwarzen Augäpfel funkelten, als finge sich Sternenstaub in ihnen. "Deswegen sind wir nicht hier, Ägir." "Dude." Korrigierte der Dude, zauselte seinen Bart zurecht und wischte einige filzige Dreadlocks auf seinen Rücken. Er trug die offizielle Dude-Uniform von speckigem Doppelripp-Unterhemd unter einem offenen, grässlich gemusterten Bowlinghemd über Shorts und ausgelatschten Turnschuhen. "Hier steht Ägir." Grollte der hochgewachsene Begleiter des Dunkelhaarigen, ein blonder Riese mit einer Haltung, die 'Offizier' schrie. Das traf auch auf den schwarzen Anzug zu, den er wie eine Rüstung trug. ER hatte weder Hemd, noch Socken oder polierte Schnürschuhe vergessen. "Und hier wohnt der DUDE." Präzisierte der Dude für die Begriffsstutzigen bereitwillig. Hier wurde sein Intellekt nicht häufig herausgefordert. "Dude, wir benötigen deine Hilfe." Der Dunkelhaarige schob sich elegant vor seinen bierernsten Kollegen. "Du bist doch ein Experte für das Gelände hier unten." "Das ist alles sauber gelaufen." Stellte der Dude fest. "Ich hab's sogar schriftlich, klar? Was auch immer ihr schrägen Vögel wollt, ich geh nicht mehr zurück, klare Sache!" "Davon ist auch gar nicht die Rede, Dude." Der Dunkelhaarige schmunzelte. "Schätze, es kann nicht jeder seinen Ruhestand genießen, was?" "Ruhestand? RUHE-STAND?!" Ereiferte sich der Dude gestikulierend. "Kumpel, du bist nicht verheiratet, richtig? Ich habe ne Frau und NEUN Töchter!" Der Dude hielt beide Hände mit Schwimmhäuten hoch. "Gleich zehn Weiber, die einen rund um die Uhr belästigen! Sie zanken sich, sie quatschen pausenlos, sie wollen immer was, und wenn du EINMAL versuchst, ein bisschen Spaß zu haben, Mann, dann gehen sie im ganzen Schwarm auf dich los!!" Ihn schauderte noch in der Erinnerung. "Die Organisation hat für eine angemessene Unterkunft gesorgt..." Der Blonde verstand offenkundig nicht die Alarmzeichen zu lesen. Der Dude schnaubte. "Ja, klar, ganz toll! Mit zehn Weibern, die mir schon seit Jahrtausenden auf den Keks gehen, bei denen ich mir nicht mal gepflegt die Kante geben kann, in so einer Hütte gleich gegenüber Odin und seiner Bagage! Der Fenriswolf pisst ständig auf die Teppiche, die bescheuerten Raben sind mir dauernd gegen meine Wasserpfeife geflogen, weil sie alles blinkende Zeug klauen wollen! Und scheißen überall hin!" "Nichtsdestotrotz...!" "Schon gut, Galmon!" Der Dunkelhaarige grinste amüsiert über den Wutausbruch des Dude. "Also, Dude, wir haben nicht die Absicht, dich hier zu vertreiben oder deiner liebenden Gattin Ran zu verraten, wo du hausierst." Der Dude grunzte, denn er verstand eine Drohung, wenn sie ihm vermittelt wurde. "Na, ist ja ganz reizend! Warst du nicht mal n Engel? Ziemlich fiese Nummer, Erpressung!" "Dara, Ex-Wasserengel." Bestätigte der Dunkelhaarige und packte einen muskulösen Arm seines Begleiters. "Ich bin allerdings schon eine Weile ausgestiegen und arbeite jetzt für die Konkurrenz." "Tscha, was ich so gehört habe, ist oben nicht mehr viel los." Der Dude zuckte mit den Schultern. Engel oder Dämonen, Teufel oder Menschen, das war ihm ziemlich wurscht. "Das ist bösartige Propaganda!" Bellte der Blonde und schwang ein übergroßes Besteck. Der Dude trat interessiert näher und studierte das bedrohliche Objekt vollkommen unbefangen. "He, ist das eines der Flammenschwerter, ja? Sachma, Kamerad, wie zündet ihr die Dinger eigentlich?" Vertraulich rückte er noch näher an den blonden Ex-Engel. "N Kumpel von mir hat behauptet, das laufe mit Eigengas?" Der Dude grinste frech. Galmon, früher Wächter des 4. Himmels, entschied, diesen Frevler gleich niederzustrecken, denn das war die einzige Taktik, die er seit Ewigkeiten kannte. Oder zumindest seit der Einführung der Zeit. "Aus!" Kommandierte Dara energisch und schlug seinem Begleiter auf den Unterarm. "Was habe ich über das Schwertschwingen gesagt?!" Widerwillig löschte Galmon sein Flammenschwert und trat exakt zwei Schritte zurück, um dann zu einer Statue des Vorwurfs zu erstarren. "Azubi, was?" Der Dude nahm diese Auseinandersetzung sportlich. "Wenn er sich dauernd so aufregt, fehlt ihm wahrscheinlich Kalzium. Ich könnte da was besorgen." Dara, der eine weitere Ablenkung auf sich zukommen sah und die Zeit nutzen musste, lehnte höflich ab. "Danke, aber das wird warten müssen. Also, Dude, es heißt, du kennst dich hier unten am Besten aus. Wir müssten mal eben eine große Menge Wasser umleiten." "Wieso n das?" Der Dude kratzte sich an der Kehrseite. "Da könnt ihr ziemlich viel vermurksen." Galmon knurrte, Dara hakte sich beim Dude ein. "Also, ich will ehrlich mit dir sein." Zog er den Dude in sein Vertrauen. "Hast du vorhin nichts bemerkt? Gab ein paar heftige Explosionen." "Echt jetzt?" Der Dude zog die buschigen Augenbrauen hoch. "Ach, und ich dachte noch, dass mein Kumpel einfach n paar Verdauungsprobleme hatte." Er wies mit dem Daumen auf den scheuen Riesenkalmar, der sich hastig in eine Höhle verkrochen hatte. "Wasn passiert?" "Eine Kette von Explosionen hat im Marianengraben für erhebliche Abbrüche gesorgt." "Ohne Scheiß?!" Der Dude blieb stehen. "Ich hab gar nix auf der Agenda!" Er meinte damit die 'Stille Post', die dafür sorgte, dass er von Seebeben oder Tiefsee-Vulkanausbrüchen rechtzeitig gewarnt wurde, um nicht bei seinen Schmauchstündchen gestört zu werden. "Echt jetzt." Bestätigte Dara geduldig. "Wir benötigen jetzt fix eine Umleitung, damit unser Klientel nicht absäuft. Das wäre ziemlich unerfreulich beim nächsten Quartalsbericht." "Das ist wahr." Pflichtete der Dude ihm bei, löste sich aus ihrer freundschaftlichen Verbundenheit und klatschte in die Flossen. "Also gut, Kumpels, ich bin dabei!" "Sehr schön!" Lobte Dara, der seinem missmutigen 'Umschüler' einen strengen Blick zuwarf. Er hatte zwar selbst vor Urzeiten mal zu dieser Zunft gehört, aber ein wenig mehr Grips erwartete er sich schon. Der Dude fackelte nicht lange und kommandierte die Truppe: man musste sich eben auskennen und an den richtigen Stellen die 'Stellschrauben' bedienen. Dafür brauchte man eine Menge Freunde mit zehn Armen! ~+~o~+~ "Verdammte Günstlingswirtschaft!" Fauchte Xtrplt ärgerlich, doch es half nichts. Dieser miese Schleimball von Hrtpl schob ihm immer wieder die lästigen Aufträge im äußersten Ende des Weltalls zu! Vor Wut luden sich seine langen Haare statisch auf und knisterten empört, was farbenprächtigen Funkenschlag in seinem Raumboliden auslöste. Also, was hatte er da an wenig lukrativen Aufträgen ergattert? Einen Brief abgeben, einen Karton auflesen und abgeben. Alles natürlich im hintersten Winkel der dunkelsten Ecke einer öden Galaxie! Xtrplt entschied, erst mal eine Weltraumtränke in der Nähe anzusteuern und sich ordentlich die Blutgefäße vollzulöten! ~+~o~+~ "Habe ich vorliegen!" Schnurrte er mit rolliger Stimme in das Interkom, gar nicht mehr verärgert über die Störung, die er ja erwartet hatte. "Oh, eine Kleinigkeit wäre da noch." Wie gut, dass er sich selbst auf diese Frage ausgiebig vorbereitet hatte. "Ich möchte etwas Besonders haben, ganz speziell für mich." Nachdem er die Spezifikationen für seine Belohnung genannt hatte, beendete er das Gespräch, erhob sich schwungvoll aus seinem Bürodrehsessel und wartete auf die Ankunft eines Raumboliden. ~+~o~+~ Kapitel 21 - Ein Job für Gott Ihm war ein wenig fad. Nun, eigentlich sollte man wohl dankbar sein, auch wenn es für seinen herausragenden Intellekt keine große Mühe bedeutete, als Gott den Laden am Laufen zu halten. Wobei "Gott" keineswegs als Status, sondern eher als Jobbeschreibung zu verstehen war. Sein Job bestand nämlich darin, dafür zu sorgen, dass der Planet, den er beschützte, nicht von marodierenden Außerirdischen, bekloppten Superkämpfern mit Minimal-IQ oder gleichgültigen Sprengteams zwecks Bau von galaktischen Hyperraum-Expressrouten zerlegt wurde. Das ließ sich bewerkstelligen. Alles andere jedoch, die Verwaltung und Organisation des Gemeinwesens, ja, danke schön, da kam man sehr gut allein zurecht. Also keine abendfüllende Beschäftigung, weshalb er sich noch eine weitere gesucht hatte, die ihm ein gelegentliches Ventil gegen Frustration und für eine gewisse Gehässigkeit bot. Tja, sollte er einen Gang um den Block machen, um auf andere Gedanken zu kommen? "Aber wir wissen ja, wie das endet." Seufzte er und zupfte seinen Turban zurecht. Keine drei Meter würde er spazieren können, elegant mit wehendem Umhang, da käme schon der erste Passant mit "Tach, Gott! Alles grün, ja?" Und in Reichweite dann, "ja, grüß Gott, Gott! Ich bin ein Riesen-Fan deiner Talkshow! Gestern, das war erstklassig! Mach bitte weiter so, ja, Gott?!" Danach Autogramme schreiben, Extremitäten schütteln und über seine wahren Gedanken bezüglich plärrender Babys druckreif lügen. Öde. In diesem Moment ertönte unerwartet eine enervierend-fröhliche Melodie, die den Slogan eines galaktischen Kurierdienstes intonierte: wir liefern. zu jeder zeit jederzeit. Piccolo schwenkte die Haxen vom Schreibtisch und öffnete persönlich die Bürotür. Sein Vorzimmerroboter war nur bis mittags aktiviert, um Energie zu sparen. Vor ihm schwebte eine puschelige Kugel von mindestens einem Meter Durchmesser. Traubenförmige Augäpfel exponierten sich an vier Stängeln, dann dröhnte Xtrplt artig den Firmenslogan, scannte die aktive Lebensform vor sich und bestätigte, "Piccolo, Gott". "Höchstpersönlich." Piccolo blendete spitze Reißzähne auf. Er nahm den von einem ausfahrenden Tentakel überreichten Brief entgegen. Der Kurier-Fusselball trötete noch einmal den Slogan, bedankte sich routiniert für die Nutzung ihres einzigartigen Lieferservices und schwebte zum Antigrav-Aufzug. "Hmmm." Schnurrte Piccolo, als er den Brief begutachtete, mit einer Kralle aufschlitzte und den schlichten Inhalt überflog. Ein boshaft-amüsiertes Lächeln zuckte über sein Gesicht. Nun, er WÜRDE gewappnet sein, um sich diese Belohnung zu verdienen! ~+~o~+~ Piccolo ließ das Modell durch die Luft tanzen, verglich es mit den Berechnungen, die er über das InterKom erhalten hatte und entwarf launig eine Strategie, die gewünschte Wirkung zu erzielen. Das richtige Timing war entscheidend, doch siegesgewiss sorgte er sich nicht. Stattdessen nahm er sich die Zeit, einige Zeilen an sich selbst zu richten, damit er perfekt vorbereitet wäre. Dann rief er einen Kurierdienst an und grinste bei dem Gedanken, wie in Kürze ein anderer Herr mit spitzen Zähnen über eine ziemlich hohe Platinkarten-Belastung zetern würde. ~+~o~+~ Chichi kochte beim Anblick ihres Wohnzimmers vor Zorn. Da ließ sie ihren notorischen Gatten Son-Goku mit ihrem Vater, dem Rinderteufel, mal für zwei Stunden allein, um zum Friseur zu gehen, und dann das: der Müll war nicht zum Recycler gebracht, in der Spüle stapelte sich Geschirr, die Wäsche rottete vor sich hin, die Möbel standen kreuz und quer, und eingekauft hatte auch keiner! Stattdessen amüsierte sich ihr Geistesheroe von einem Ehemann damit, seinem Schwiegervater ihren jüngeren Sohn Son-Goten zuzuwerfen! "Was fällt euch ein?!" Brüllte sie, krebsrot im Gesicht, die Hände in die Seiten gestützt, auf der Schwelle. Geistesgegenwärtig pflückte Son-Goku seinen Sohn aus der Luft und verzog die Miene. Es hatte schon seinen Grund, warum sie beide die Distanz suchen: da musste dringend eine Windel gewechselt werden! "Ich bin nicht mal zwei Stunden weg, und wie sieht das Haus aus?!" Chichi ging auf Son-Goku los wie eine Kampfmaschine, riss ihm den müffelnden Sohn aus den Händen. "Ihr beiden verwüstet das Haus, albert herum, während das arme Kind nicht mal die Windel gewechselt bekommt?!" "Äh, Chichi, Schätzchen, ich geh dann mal." Der Rinderteufel fühlte sich fatal an seine Gattin erinnert und wollte nicht länger dem häuslichen Tornado in die Quere kommen, doch Rausschleichen war hier nicht möglich. "Vater, du bleibst!" Chichi hielt dem Rinderteufel eine Standpauke. "Von dir hätte ich mehr Vernunft erwartet, Vater! Wie kannst du Son-Goku nur dazu ermutigen, seine Familie so zu vernachlässigen?! Und du!" Blitzartig wandte sie sich herum, um Son-Goku zu erwischen. "Was ist los mit dir?! Ich arbeite, verdiene den Lebensunterhalt für diese Familie, und du musst mir nur ein wenig von der Hausarbeit abnehmen! Aber tust du das?! Nein!! Vernachlässigst deinen armen, kleinen Sohn!" Son-Goku senkte das Haupt und gab sich einen möglichst jämmerlichen Anschein. Üblicherweise stimmte das Chichi um, doch heute war sie auf dem Kriegspfad. "Du wirst hier aufräumen und saubermachen, aber zackig!" Kommandierte sie wütend. "Danach wirst du einkaufen gehen, damit wir nicht auch noch verhungern, weil du mal wieder nur Unsinn im Kopf hast!" "Mach ich doch sofort, Liebchen!" Son-Goku hielt es für angeraten, sich demütig zu geben, aber Chichi hatte bereits ein Ohr in ihrem unerbittlichen Griff und drehte es. "Zieh dir bloß die Schürze über und fang an, bevor ich ernstlich böse werde!" Dabei wedelte sie Son-Goten vor seiner Nase, und Son-Goku schluckte heftig. Nichts konnte Männer wie sie so sehr aus der Fassung bringen wie die Androhung, ihren Kindern unter Aufsicht weiblicher Wesen die Windeln wechseln zu müssen! ~+~o~+~ Bulma strich sich durch die frisch coiffierten Haare und betrat ihr experimentelles Heim. Ab und an mal ein Friseurbesuch, vor allem, wenn Gott Piccolo ihn persönlich vermittelte, dazu noch ein Schwätzchen mit Chichi, das war eine nette Abwechslung in ihrem unermüdlichen Erfinderalltag! Ihre Erholung verpuffte jedoch schnell, als sie ein Tableau häuslichen Unfriedens erblickte. "Streng dich gefälligst an!" Unbeeindruckt von ihrer Rückkehr brüllte Vegeta seinen kleinen Sohn Trunks an. "Ein echter Saiyajin kämpft! Greif mich endlich an, oder willst du, dass man dich für eine Memme hält?!" Trunks starrte stumm auf den Boden vor sich, gerade mal den Windeln entwachsen und zutiefst unglücklich. Er wollte nicht den eigenen Vater angreifen müssen! Er war ein stilles, unglückliches Kind, frühreif in seiner geistigen Entwicklung, zog jedoch ständig die abschätzige Verachtung seines Vaters auf sich. Bulmas Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie in einer Ecke die Trümmer eines Mini-Computers entdeckte: Trunks liebte das Gerät, mit dem er neugierig allerlei Erfindungen überprüfen und neue Erkenntnisse sammeln konnte. "Was ist hier los?" Hakte sie argwöhnisch nach. "Misch dich nicht ein, Weib." Schnaubte Vegeta. "Das ist eine Sache unter Saiyajin!" Und Frauen, oder vielmehr Weiber zählten da nicht, weil Saiyajin nur männlich sein konnten. "Trunks, was ist mit deinem Mini-PC passiert?" Bulma ignorierte ihren Gatten souverän. Gelegentlich konnte er so etwas wie Macho-Charme entwickeln, doch den gesamten Rest der Zeit verhielt er sich wie ein chauvinistischer Großkotz mit genau drei abgezählten Gehirnzellen und bloß einem Thema. Trunks antwortete seiner Mutter nicht, machte aber kehrt und presste stumm das Gesicht gegen ihren Oberschenkel, umklammerte ihre Beine. Der Junge heulte nie, jammerte nicht, redete aber auch kaum. Eine gute Vater-Sohn-Beziehung sah in ihren Augen anders aus. "Hab ich dir nicht gesagt, du sollst den Jungen in Frieden lassen und dir einen Job suchen, wenn du dich langweilst?" Beherrscht adressierte sie einen der letzten Saiyajin. "Ein Prinz der Saiyajin muss kämpfen! Ich verschwende doch meine Zeit nicht mit lächerlichen Trivialitäten!" Vegeta, letzter Prinz der quasi ausgestorbenen Saiyajin, funkelte zornig auf die kleine Gestalt seines Sohnes, die Zuflucht bei einem Weiberrock suchte! Nun ja, Weiberhosen. Überhaupt, warum sollte er sich eine bezahlte Tätigkeit suchen?! Einen Job?! "Ein Prinz der Saiyajin arbeitet nicht!" "Ach ja?!" Bulma tippte ärgerlich mit einer Fußspitze auf den edlen Belag. "Dann muss ein Prinz der Saiyajin auch fix lernen, nicht zu essen." "Essen zu beschaffen ist Weiber-Aufgabe!" Vegeta balancierte selbstmörderisch über einem Abgrund, den er nicht mal bemerkte. "Ist das so?" Mit zuckersüßer Stimme lupfte Bulma eine Augenbraue. "Ich nehme an, es ist auch unter der Würde eines Prinzen der Saiyajin, seinen einzigen Sohn in Ruhe lernen zu lassen, wie?!" "Pah! Er muss kämpfen!" Dröhnte Vegeta unbeeindruckt. "Er muss noch mehr trainieren! Dann wird er es dem blöden Bengel von Kakarott so richtig zeigen!" Trunks verstärkte den Klammergriff in ihre Hosenbeine. "Du willst doch nicht als Versager enden, oder?!" Vegeta donnerte zornig. "Kein Sohn von mir, dem Prinzen der Saiyajin, ist ein dämliches Weichei, das diesen überflüssigen Blödsinn lernt!" Trunks erstarrte, zog dann die Schultern höher. Bulma baute sich direkt vor ihrem Mann auf. Ihre Augen blitzten. "Raus!" Zischte sie Vegeta an. "Ha! Einen Prinzen der Saiyajin wirft man nicht raus! Ich tue, was mir beliebt!" Trumpfte Vegeta auf. Nicht eine Sekunde später saß er auf dem gepflegten Rasen ihres Vorgartens, vom Beamen leicht benommen. "Der Prinz der Saiyajin wird jetzt die Einkäufe auf dem Zettel erledigen und nicht eher heimkommen, bis er alle Posten besorgt hat." Hörte er Bulmas Stimme ätzen. "Sonst kann der Prinz der Saiyajin sehen, wo er bleibt!" Damit schlug unmissverständlich ein Fenster im oberen Geschoss zu. Vegeta hörte, wie Bulma die Alarmanlage scharfmachte. Nur ein Sprint und ein Hechtsprung über den hochfahrenden Abwehrzaun retteten Vegeta davor, in seine Einzelteile zerlegt zu werden. ~+~o~+~ Schwierig war es nicht, das gab Piccolo gern zu, man musste bloß seine Phantasie ein wenig spielen lassen und etwas Gehirnschmalz investieren. Zugegeben, im Kreise seiner ehemaligen Mitstreiter nahm er sich mit diesen Fähigkeiten ziemlich einsam aus, anderseits sollte man nicht über die Schwächen seiner "Mitbürger" spotten, wenn sie einem selbst zum Vorteil gerieten. Er notierte an sich selbst also einige wesentliche Punkte, die er seinem jüngeren Ich über den Kurier zukommen lassen würde, darunter ein Talkshow-Thema für überlastete Ehefrauen mit unterbelichteten, arbeitsscheuen Ehemännern. Ein genau kartographiertes "Spielfeld" im Weltraum, einen arrangierten Friseurbesuch bei einem der Top-Figaros der Hauptstadt und kleinere Gehässigkeiten, um die Lunte zu zünden. Piccolo grinste in Vorfreude, als er an seine Belohnung dachte. Saiyajins mochten zerstörerische Vollidioten sein, aber hin und wieder waren sie auch ganz nützlich! ~+~o~+~ Vegeta marschierte wutschnaubend Richtung Zentrum. Wie konnte dieses Weib es wagen, ihn rauszuschmeißen?! Mit einer ihrer unzähligen blöden Erfindungen! Klar, er hätte jetzt auch fliegen können, schließlich war er der Prinz der Saiyajin, aber das kostete Energie und blöderweise trug er auch noch seine geliebte Uniform, was ihm jedoch untersagt worden war beim letzten Mal Verwüsten der Umgebung. Kämpfen verboten, welcher Idiot dachte sich denn so was aus?! Schlimmer jedoch als Bulmas alberne Erregung über Nichtigkeiten (sie war eben kein Saiyajin, sondern nur ein Weibchen, die hatten simpel nicht genug Grips, um die Mission von Saiyajin zu begreifen!) wog ihm die Befürchtung, sein einziger Sohn, der nächste Prinz der Saiyajin, würde ausgerechnet die Charakterzüge seines Weibes erben, ein verhuschter, schwächlicher Bastler sein, auch noch arbeiten wollen!! Unmöglich, das! Eine abgrundtiefe Schande! Dem musste abgeholfen werden. Es musste ihm etwas einfallen, um den Jungen so aufzuspulen, dass der explodierte und ENDLICH KÄMPFTE! Ärgerlicherweise hatte das Zertrümmern des blöden Mini-PC nicht ausgereicht. Vegeta blickte auf, als er das Annähern einer vertrauten Präsenz wahrnahm. Sofort hielt er auf den anderen Saiyajin zu. "Bist du des Wahnsinns, Kakarott?!" Brüllte er außer sich. "Willst du uns alle lächerlich machen?! Was soll dieser Aufzug?!" Son-Goku blickte überrascht an sich herab. "Das sind Schürze, Kopftuch und Gummihandschuhe." Erklärte er leichthin. "Ich war beim Putzen und muss noch einkaufen. Und es heißt Son-Goku, nicht Kakarott." "Unsinn! Wenn dich jemand so sieht!" Vegeta lebte wie gewöhnlich in seiner eigenen Welt, die selten das anhörte, was andere so äußerten. "Saiyajin putzen nicht! Und kaufen auch nicht ein! Wir kämpfen und nehmen uns, was wir wollen, Kakarott!" "Son-Goku." Korrigierte Son-Goku nachsichtig. "Ich nehme durchaus, was ich will. Chichi lässt mich eine Kleinigkeit ganz für mich kaufen, wenn ich unterwegs bin!" Das erfüllte ihn durchaus mit Stolz, denn mit den ganzen Zahlen und Dingsbums hatte er es nicht so. "VOLLIDIOT!" Dröhnte Vegeta verächtlich. "Du bist ein Saiyajin, oder hast du das vergessen?! Du bringst Schande über uns alle!" "'Alle' wie exakt 'zwei'?" Hakte Son-Goku, der gelegentlich verblüffend ironisch sein konnte, beflissen nach. "Außerdem hab ich's Chichi versprochen. Der Rinderteufel ist gerade da, und wir vertilgen schon ordentlich was." Grinste er breit, rieb sich über den muskelüberspannten Wanst. Kein Scheunendrescher konnte mehr fressen als er, das hatte selbst dem Rinderteufel ordentlich imponiert. "Diese Schmach muss sofort ausgelöscht werden!" Vegeta war jeder Grund recht, sich jetzt einen gewaltigen Schlagabtausch zu liefern, er war schließlich frustriert, und das musste raus. "Stopp mal." Son-Goku lupfte den rechten Gummihandschuh. "Du weißt, dass wir uns nicht prügeln dürfen. Chichi reißt mir das Ohrläppchen ab, wenn ich noch mal was anstelle." Ganz abgesehen davon, dass sie ihm in Futtersäcken ausgerechnet hatte, welche Belastungen an Schulden abgetragen werden mussten aufgrund seiner letzten Eskapaden. Außerdem hing er sehr an seinem Ohrläppchen. Irgendwelche Körperteile zu verlieren gefiel ihm gar nicht. "Was bist du nur für eine erbärmliche Memme!" Ätzte Vegeta verächtlich. "Klar, du bringst es nicht und willst jetzt kneifen! Willst du dich etwa hinter deinem Weib verstecken, oder was?! Seit wann tun Saiyajin, was ihnen ihre Weiber sagen?! ICH jedenfalls bin der Prinz der Saiyajin und tue, wie mir beliebt!" Son-Goku, der Bulma ziemlich gut kannte, zog diese Aussage in Zweifel und legte die Stirn in Falten. "Weiß Bulma, dass du hier Streit suchst?" "Zur Hölle mit dem Weib!" Brüllte Vegeta dunkelrot vor Zorn. "Was ist jetzt, du Schlappschwanz?! Kämpfst du wie ein Saiyajin, oder verkriechst du dich hinter deiner zickigen Dusseltrine?!" "He, werd jetzt nicht beleidigend!" Son-Goku ballte die Fäuste in den Gummihandschuhen. So langsam ging ihm Vegeta schwer auf den Senkel, den er nie zu binden gelernt hatte. "Ha! Ich bin der Prinz der Saiyajin, und ich beleidige jeden und alles! Wie willst DU mich daran hindern, hm?!" Ätzte Vegeta triumphierend. Kakarott war ein Simpel und würde gleich gegen ihn losschlagen, dann konnten sie endlich herausfinden, wer von ihnen der bessere war! "Und Platz!" Bellte ein befehlsgewohnter Piccolo, der sich dank Bulmas neuester Erfindung mühelos aus dem Nichts materialisieren konnte. "Was haben wir über Kämpfe auf dem Planeten gelernt?" "Finden nicht statt, sonst Rübe runter!" Wiederholte Son-Goku artig. Beim ungefähr 358. Mal, als ihm dieser Leitspruch ins Ohr gebrüllt worden war, hatte er sich tief genug verankert, um existenzsichernde Warnungen auszulösen. Zuwiderhandlung konnte ordentlich Ärger bringen. Schlimmer noch, Chichi würde ihm nichts mehr zu essen machen! "Ich bin der Prinz der Saiyajin und tue, was mir beliebt!" Blökte Vegeta indigniert, da ihm sein Auftritt so schnöde versaut wurde. "Ja." Ätzte Piccolo. "Das Problem aller dementen Gehirneunuchen vom Stamm der Saiyajin ist, dass sie glauben, alle wären so beschränkt und vergesslich wie sie." Ihn enervierte es ungeheuer, dass dieser abgebrochene Riese alle fortwährend mit der Erinnerung an seine Minderwertigkeitskomplexe beschallte. "Wen nennst du hier dement?!" Vegeta hingegen hatte nichts gegen eine Aufwärmrunde mit dem grünen Widerling einzuwenden, der sich für ach so schlau hielt! "Fühlst du dich angesprochen?" Piccolo ließ seine scharfen Eckzähne aufblitzen. "Solltest du nicht eigentlich einkaufen gehen? Oder ist das deinem untermotorisierten Resthirn entfallen?" "Ein Prinz der Saiyajin kauft nicht ein!!" Vegeta ging in Angriffsposition. "Aber du weißt, dass Klauen verboten ist. Mundraub!" Mischte sich Son-Goku gewichtig ein. "He, wenn du nicht einkaufst, schmeißt dich Bulma dann raus?" "Kein Weibsstück hat einem Saiyajin etwas zu sagen! Das wüsstest du, wenn du nicht so eine verblödete Memme wärst, Kakarott!" "Aber immerhin eine verblödete Memme von einem Saiyajin." Ergänzte Piccolo mit diabolischem Vergnügen. "Ich will gar kein Saiyajin sein." Stellte Son-Goku richtig. "Und es heißt nicht Kakarott, sondern Son-Goku. Ich glaube, Piccolo hat wirklich recht und dein Oberstübchen funktioniert nicht mehr richtig." Diese Vermutung von einem Typen, dessen Leben nur aus Sichkloppen und Fressen bestand, konnte Vegeta nicht unkommentiert lassen. "DU bist doch hier der Einzeller! Hängst auf diesem mickrigen Planeten rum und lässt dich von deinem Weib unterdrücken! Schau dich doch mal an! Du bist eine Schande!" "Oh, ich finde, die Schürze kleidet ihn ungemein." Schnurrte Piccolo. "Nur die Handschuhe, die sind vielleicht ein wenig gewagt." "Du WARST vielleicht mal ziemlich gut, Kakarott!" Vegeta spuckte unfein aus. "Aber JETZT bist du verweichlicht! Fettpolster überall! Ein wabbliger, alter Knacker, das bist du!" "Stimmt gar nicht!" Begehrte Son-Goku auf, denn insgeheim vermisste er RICHTIGE Kämpfe doch sehr. Immer nur Übungen zu absolvieren, ohne richtigen Gegner, den man verdreschen konnte, das war auf die Dauer fürchterlich deprimierend. "Stimmt wohl!" Vegeta verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust. "Ich wette, du stehst keine fünf Minuten gegen mich durch!" "Ah, ah, ah!" Tadelte Piccolo mit mahnend erhobener Kralle. "Regel Nummer 1: keine Kämpfe auf dem Planeten." "Ich bin der Prinz der..." "Wissmerschon!" Brüllten in perfektem Gleichklang Piccolo und Son-Goku verärgert den Dritten in ihrem streitbaren Bunde nieder. Piccolo fischte zwei kleine Kapseln aus seiner Hosentasche. "Ich denke aber, wir können die Entscheidung darüber, wer von euch beiden Blödaffen der schwächere ist, doch noch mit Hilfe dieser Gimmicks herbeiführen." Erstaunlicherweise schien die bevorstehende Aussicht, sich mal ordentlich Senge zu geben, sofort den Zank zu begraben. »Deppen!« Katalogisierte Piccolo. »Deppen, nützliche.« Laut erklärte er. "Das hier sind kleine Atmosphären. Schluckt man eine Kugel, hat man für drei Stunden im Weltraum eine Atmosphäre mit Sauerstoffversorgung usw.. Sehr praktisch. Ihr könnt euch da prügeln!" Damit wies er auf ein von ihm anhand kurioser Verbindungen errechnetes, genau abgestecktes Feld. ~+~o~+~ Die Atmosphären funktionierten tadellos, wie beide Saiyajin konstatierten, während sie einander mit Blicken maßen, keuchend und lauernd. Ihre Kleidung hing in Fetzen herunter, hier und da klebte Blut von Abschürfungen, denn die Atmosphären waren keineswegs ein Schutzpolster. Das hätten die beiden auch empört abgelehnt. Immer weiter trieben sie einander mit blitzartigen Schlägen, Tritten, Hieben und Schwingern in das markierte Feld im Weltraum. Hier war nicht viel los, eine langweilige, kleine Galaxie am Außenrand, bloß ein brennender Stern, wenige Planeten, kein intergalaktischer Verkehr. Man hätte auch einen der Planeten zertrümmern können, so aus Übungszwecken, doch das von Piccolo präparierte Spielfeld rächte sich mit üblen Geräuschattacken, wenn man die Grenzen verletzte. Wie stets, wenn sie gegeneinander antraten, stachelten sie sich an, immer größere Kräfte freizusetzen, die Durchschlagskraft zu potenzieren. Das hatte sogar den kleinen Mond, einen Trabanten eines langweiligen Planeten, aus seiner gewohnten Umlaufbahn getrieben, was den Saiyajin vollkommen gleichgültig war. Eine Entscheidung musste her: nur einer konnte der Beste sein, der wahre Saiyajin! Aussitzen, bis die Atmosphären sich auflösten, kam definitiv nicht in Frage. Aus der Distanz heraus war es jedoch schwer, einen Sieg zu erringen und jeder achtete streng darauf, sich einem Clinch zu entziehen. Man musste taktieren, abwarten, beobachten. Theoretisch. Praktisch hatte Son-Goku die Nase voll. Er kämpfte zwar längst nicht mehr mit gebremsten Schaum, aber er spürte doch zu seiner Beunruhigung, dass das ganz große Drehmoment seines inneren Dynamos nicht in Schwung kam, weil er sich zu viele Gedanken machte, nicht er selbst war, sondern einen verantwortungsvollen Erwachsenen spielte, von Regeln und Ängsten geknechtet und limitiert. [NEIN!] Brüllte er lautlos in den Weltraum, trommelte sich auf den Brustkorb wie ein Pavian in der Brunft. Die Welt und seine Familie konnten sich durchaus eine Zeit um sich selbst kümmern. JETZT würde er sich fallen lassen, ohne Bremsen, ohne Hemmung, ohne Regeln, nur noch Instinkt und Reaktion sein! ~+~o~+~ Vegeta hatte Mühe, der Attacke standzuhalten. Kakarott schien wie verwandelt, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, in halsbrecherischer Unbekümmertheit, wie ein Kriegsgott, der nur auf der Schwelle des Todes wahres Glück empfindet. Das konnte er sich nicht bieten lassen! Ja, er neidete Kakarott seine Erfolge, fühlte sich oft gedemütigt, weil ein Simpel wie dieser Kerl ihm über war, obwohl ER doch der Prinz und damit der erste Mann im Stamm war! »Was du kannst, kann ich schon lange!« Dachte Vegeta grimmig und fegte ungebremst auf Son-Goku zu. Man würde ja sehen, wer wem zuerst das Kreuz brach! ~+~o~+~ "Tsktsk!" Bemerkte Piccolo abschätzig, packte jeden Weraffen am Schwanz und zog die bewusstlosen Saiyajin hinter sich her. Mit Bulmas Beamer kein Problem, die debil grinsenden, sehr zerrupft wirkenden Burschen in ihrem sehr unbekleideten Zustand den liebenden Gattinnen zu präsentieren. Er hatte gehört, dass Humanoide, hauptsächlich männlichen Geschlechts, annahmen, dass der Tod in größter Ekstase das schönste sei: hier waren zwei Deppen, deren Ekstase darin bestand, einander in brüderlicher Gerechtigkeit gegenseitig die Lichter auszuhauen. "Tsktsk." Wiederholte er zur Betonung. "Wie gut, dass ich nicht diesen Spezies angehöre." Diesen Gedanken wiederholte er noch einmal im Stillen, als zwei sichtlich geladene Ehefrauen eintrafen und ein böses Unwetter über die beiden letzten Saiyajin hereinbrach. ~+~o~+~ Piccolo grinste diabolisch auf die kleine Armee in der schlichten, aber exklusiven Schachtel hinab. Ziemlich dreist von ihnen, seine Belohnung erst an den Kurierdienst zu übergeben, nachdem er sich nützlich gemacht hatte, doch Piccolo war bereit, darüber hinwegzusehen, weil er sich diesem Wunderwerk widmen wollte. Sie waren alle weiß, rochen ungeheuer appetitlich und unterschieden sich gleichzeitig in winzigen Details voneinander. Eine kleine Armee Marzipanfiguren, weiße, dämonische Katzen! Mit einer Kralle pickte er die erste Katze auf, studierte sie eingehend und biss ihr dann genüsslich den Kopf ab! HHhmmmmmm!! Wie süß der Triumph mundete! Piccolo war nun wirklich kein Namekianer, der sich leicht fürchtete, doch diese diabolischen Bösewichtkatzen, die irgendeinen übergewichtigen Trottel in einem unkleidsamen Anzug benutzen, um wahlweise die Weltherrschaft an sich zu reißen oder in den Untergang zu führen, jagten ihm eine Heidenangst ein! Sie waren unberechenbar, zähe, hatten garantiert nicht nur sieben Leben und konnten nicht mal mit Futter bestochen werden, unabhängige Geister, die sich nicht in die Karten schauen ließen! "Aber jetzt..." Gurrte Piccolo euphorisch, stöhnte vor Lust angesichts des bevorstehenden Massakers. "Seid ihr dran, Miezen!" ~+~o~+~ Kapitel 22 - Auf See Perry zweifelte nicht für einen Augenblick am Wahrheitsgehalt dieser Hiobsbotschaft. Niemand, der so entsetzt und hilflos zugleich klang, konnte derart gut lügen. In Rekordzeit zwang er den Leihwagen ungeachtet des schlechten Zustands der Straße mit schierer Gewalt den Berg hoch, verhinderte mit traumwandlerischen Geschick mehr als einmal fatales Ausbrechen. Dieses Mal hielt er auch nicht an, als das Tor zur Einfahrt in seinem Blickfeld erschien, sondern folgte dem Weg einfach bis zum Ende, sprang aus dem Wagen, achtlos für den teuren Mantel oder andere Umstände und hechtete hinter einer laborbekittelten Gestalt Stufen hoch. Sebastian lag auf der Krankenstation, verkabelt und mit Sauerstoff versorgt. Die Anzeigen, die akustischen Signale, das gesamte Instrumentarium wirkte beängstigend. "Wie lange?" Perry hielt sich nicht Feinheiten auf, beugte sich über den Jugendlichen, legte ihm die Hände um den Kopf. "Schwer zu sagen." Ein dunkelhäutiger Rasta mit Kilt stand unglücklich beim Krankenbett. "Vielleicht hat er sich kurz hingelegt, als die Mitteilung kam, dass der erste Zug nicht fährt." "Seine Lebenszeichen werden immer schwächer." Nun wirkte Herr Siegfried nicht mehr wie ein frostig-zürnender Gott, sondern wie ein Mann, der gegen die Welt kämpfen wollte und feststellte, dass er kein Ziel für seine Aggression hatte. Perry überschlug im Kopf die Zeit und spürte, wie ihm die Knie weich wurden. Nicht einmal er würde es wagen, länger als zwei Stunden seinen Körper zu verlassen! "Sebastian!" Raunte er, legte sich halb über den reglosen Jugendlichen. "Komm zurück, ja? Ich hole dich ab. Hilf mir, hm? Komm mir entgegen!" Aber so einfach würde es wohl nicht werden. ~+~o~+~ Es war eindeutig ein großes Schiff mit einem ungewöhnlichen Aufbau. Fremde Sterne am Nachthimmel. Perry hatte wenig Mühe sich zu orientieren, denn die konzentrierten "Lebenszeichen", die er zu seiner Anleitung auffing, kamen von der Brücke. Ohne einen tatsächlichen Körper war es nicht schwierig, die Distanz zu überwinden. Auf der Brücke bot sich ihm ein seltsames Bild: der Kapitän und zwei Besatzungsmitglieder diskutierten nervös, während ein dritter Mann gefesselt und geknebelt, außerdem offenkundig verletzt, am Boden lag. Vor diesem Mann ging Perry in die Knie, drehte seinen Kopf so, dass er in die Augen sehen konnte. "Sebastian!" Stöhnte er vor Erleichterung auf. "Du hast mir einen höllischen Schreck eingejagt! Bitte, lass uns hier verschwinden, ja? Deinem Körper geht's gar nicht gut." Ergänzte er, als der Ausdruck der Augen matt blieb. "Komm schon, du willst doch hier raus, oder? Es ist auch schon ziemlich spät. Deine Mutter wird sich bestimmt fragen, warum du nicht im Zug sitzt." Mit steigendem Grausen zog Perry alle Register. Wenn er Sebastian nicht überzeugte, schien es ihm kaum möglich, ihn zurückzubringen. So energisch er auch zufasste, an ihm zerrte, das Bewusstsein, das in dem fremden Körper hauste, reagierte mit Apathie auf seine fieberhaften Bemühungen. "Was ist hier los, hm?!" Nun warf er Aggression ins Feld. "Ich bekomme so einen total seltsamen Alarm, das Auto spielt verrückt, und ich finde dich hier wer weiß wo unterwegs! Was läuft denn hier?!" Der Mann, in dessen Körper Sebastian eingepfercht war, senkte langsam die Lider. "Nein!" Protestierte Perry panisch, doch er konnte nichts bewegen. "Nein! Bleib wach! Komm jetzt, Sebastian, ich kann nicht mit dir reden, wenn wir uns nicht ansehen! Lass mich hier nicht allein zurück!" Perry wusste nicht, warum er diese Worte wählte, sie sprudelten impulsiv heraus, waren eine verzweifelte Anklage ob der Rücksichtslosigkeit, ihn aufgeben zu wollen. Zu seiner völligen Verblüffung, und zweifelsohne auch der des Kapitäns, drehte sich dieser der für ihn unsichtbaren Erscheinung von Perry zu und formulierte Worte in einer Sprache, die er nicht kannte. "Es ist zu spät! Ich konnte die Zündung nicht verhindern, und jetzt sterben unzählige Menschen! Der Mann, den ich benutzt habe, wurde schwer verletzt!" Sebastian wollte sich selbst nicht vergeben, kein Held gewesen zu sein, obwohl es ihm gelungen war, einen anderen Mann zu steuern und überhaupt erst auf dieses Manöver so weit entfernt aufmerksam geworden zu sein. "Spring, schnell!" Kommandierte Perry hastig, denn die beiden übrigen Seeleute schienen die um sich greifende Seuche der Verrücktheit ebenso mit Fäusten bekämpfen zu wollen, Kapitän hin oder her! Zu viel Unerklärliches war während dieser Reise geschehen und ihr Nervenkostüm längst ausgefranst. Abwechselnd ließ Sebastian auch diese beiden Männer in "fremden Zungen" sprechen, bis eine Schockstarre völliger Verängstigung erreicht war. "Sebastian." Perry sah seine Chance. "Es ist noch nichts verloren! Es wurde Alarm ausgelöst, wie ich dir erzählt habe! Noch können wir etwas tun, verstehst du? Umso mehr, wenn wir durch dich erfahren, was genau passiert ist! Also, bitte, komm mit mir zurück!" Keiner der Männer sprach, und vermutlich waren sie dafür sehr dankbar, denn, wer weiß, wenn da schon wieder unbekannte Vokabeln hervorgestoßen wurden, konnte man die nächste Zielscheibe für korrigierende Schläge werden! Dieser Umstand machte es aber auch Perry unmöglich zu erfahren, was Sebastian dachte. "Bitte!" Wiederholte er eindringlich. "Bitte komm mit mir! Ich will nicht, dass du stirbst! Du willst das doch gar nicht, Sebastian! Denk an deine Mutter, die auf dich wartet! An deine Schulkameraden und Freunde! Lass sie nicht glauben, dass sie dir es nicht wert sind, sie wiederzusehen!" Sein Appell verhallte. Mit einem tiefen Seufzer flüsterte Perry rau. "Lass es bitte nicht so enden, dass der Schurke triumphiert und der Betrüger sich aus seiner Verantwortung stehlen kann, Sebastian. DANN wäre wirklich alle Hoffnung für die Welt vergebens." ~+~o~+~ Ein heftiger Ruck riss Perry in seinen Körper zurück, auch wenn es lediglich das Auflegen einer weiteren Decke über Sebastian war, um die Körpertemperatur zu halten. In Gegenwart anderer Leute führte Perry jedoch seinen "Trick" ungern vor und konnte deshalb eine unerwartete Rückholung nicht ausschließen. Hastig stemmte er sich von der Matratze hoch, beäugte angespannt die reglose Gestalt unter sich. War Sebastian ihm wirklich nicht gefolgt?! Mit einem gequälten Aufstöhnen der Machtlosigkeit zog Perry Sebastian in seine Arme, hielt ihn fest, wiegte ihn wie ein Kind. "Komm zurück, komm zu mir, bitte, komm zu mir!" Wiederholte er wie eine Litanei, drückte glühende Küsse auf die totenblasse Haut. Ein ersticktes Keuchen riss ihn aus dem tiefschwarzen Abgrund des Unglücks: Sebastians Körper nahm nunmehr wieder mit Bewusstsein den Kampf gegen seinen rapiden Abbau auf. ~+~o~+~ "Wann wissen wir, ob es funktioniert hat?" Nereus wiegte Aeolus beruhigend in dem groben Tuch, das sie zu seiner Bekleidung umfunktioniert hatten. Der Empath war noch immer nicht ansprechbar, lagerte in fötaler Haltung auf Nereus' Schoß und presste die geballten Fäuste vors Gesicht. "Nun, auf See stehen die Chancen besser bei einem Tsunami als an Land." Nala beäugte wie Keoki aufmerksam und gleichzeitig irritiert das Tummeln im Wasser. "Aber Haukes Berechnung nach schlägt die erste Welle auf Hawaii gegen Mitternacht zu. Dann erreicht sie auch Japan, die Philippinen. Von den anderen Inseln ist dann vermutlich schon nichts mehr zu sehen." "Erste Welle?" Nereus kraulte einen verkrampften Nacken und fühlte sich ungewohnt isoliert von Aeolus, der offenbar tief in sein Innerstes verschwunden war. "Es gibt mehrere, in Intervallen, wie wenn man einen Stein in eine Pfütze wirft, verstehst du?" Nala konzentrierte sich auf die Wale, die ganz in der Nähe vorbei strebten. Hoffentlich bemerkten sie das Auslegerkanu nicht, denn in dieser unheilvollen Nacht würde es niemanden verwundern, wenn auch die Unterwasserfauna völlig durchdrehte. Nereus seufzte. "Also heißt es warten, wie?" Er streichelte Aeolus' gekrümmte Gestalt und studierte die seltsamen Muster, die Aeolus' Leib bedeckten, selbst da, wo sich die Schwimmweste befunden hatte. "Was ist das bloß?!" Nala und Keoki wechselten einen knappen Blick, dann wandte Keoki sich um und löste seine Schwimmweste. Nereus starrte verblüfft auf das fünfzackige Muster, das so merkwürdig an einen Seestern erinnerte. "Ich vermute, dass es eine Art Kennzeichnung ist." Formulierte Nala bedächtig. "Es verbindet uns und gibt uns eine gewisse Intuition." "Aber ich dachte, das hier stammt von irgendwelchen Tieren, als wir im Wasser waren?" Nereus versuchte redlich zu verstehen, was seit dem unzeitigen Aufwachen in dieser Nacht geschehen war, doch das hier entwickelte sich immer phantastischer, und er wollte WIRKLICH eine Auszeit nehmen! "Ich kann es dir auch nicht beantworten." Nala lächelte müde. "Ich weiß nur, dass es da unten mehr gibt, mehr, als wir jetzt mit unseren Tauchrobotern und U-Booten entdecken können." Nereus seufzte profund und grummelte. "So habe ich mir meine Hochzeitsreise wirklich nicht vorgestellt!" Himmel und Hölle waren für seinen Geschmack hier viel zu eng miteinander verzahnt. ~+~o~+~ Kapitel 23 - Die Evolution muss warten "He, Shin-chan!" Kippei winkte aufgekratzt, drehte fleißig den Lutscher in seinem Mund umher, dessen Stiel nun wie ein Hubschrauberrotor anmutete. "Selbst he." Murmelte Shin-chan, in Tierpfoten-Puschen und ziemlich morgenmuffelig, auch wenn es 22:30 am 24.12. war. Er apportierte eine Jumbotasse Milchzuckerkaffee mit dem bezeichnenden Aufdruck "weltbeklopptester Wissenschaftler, c'est moi!" "Knifflig!" Kommentierte Kippei, den derangierten Zustand seines Gastgebers und Prüfers ignorierend. "Aber ich glaube, ich hab's jetzt raus!" Darauf war er ziemlich stolz. "Aha." Shin-chan schüttete ein schlammfarbenes Gemisch in seinen Rachen und hoffte offenkundig, dass die Koffein-Bombe sofort zündete, um sein untertouriges Gehirn in Schwung zu versetzen. "Die Codes waren nicht übel." Kippei zerrte mit der Linken einen deutlich reduzierten Lolli aus seiner geräumigen Pausbacke. "Und all diese militärischen Abkürzungen erst! Sehr stilecht, wirklich!" "Huh?" Die fusseligen Strähnen auf den Rücken wischend beugte sich Shin-chan triefäugig über Kippei, um die Bildschirme zu studieren. "Echt coole Übung!" Kippei befand, dass Shin-chan ganz ohne seinen üblichen überdrehten Elan ein wenig unheimlich wirkte, wie ein exhumierter Zombie ohne Stromstoß. "Was genau machst du da?" Formulierte besagter Zombie gerade sehr präzise und in überdeutlicher Betonung. Kippei stutzte, legte den Kopf in den Nacken und erläuterte artig. "Na, die Übung, die du für mich kreiert hast! Ich soll das System hacken, unter meine Kontrolle bringen, freischalten und nachweisen, dass ich die Dateien ungehindert benutzen kann. Ohne Alarm auszulösen, natürlich, und innerhalb einer Viertelstunde." Shin-chans Gesichtsfarbe wirkte verblüffend grünlich, was Kippeis Zombie-Vergleich eine unerfreuliche Bestätigung verlieh. Sicherheitshalber rückte er ein wenig ab und verteidigte sich. "Du hast mir nicht aufgeschrieben, dass ich mit der Übung warten soll, bis du kommst!" "Oh Scheiße." Stellte Shin-chan friedhofsruhig und tonlos fest. "He, so einfach war es auch nicht." Kippei missverstand die Reaktion. "Es hat einen hübschen Militär-Touch, ehrlich!" "Wundert mich gar nicht." Murmelte Shin-chan und grimassierte. "Und du bist sicher, dass du keinen Alarm ausgelöst hast?" "Yepp!" Kippei lehnte sich zurück und verschränkte stolz die Arme hinterm Nacken, eine definitive Pose der Selbstgewissheit. "Oh, gut." Shin-chans Mundwinkel zuckten. "Ganz prima." "Wirklich?" Misstrauisch geworden drehte sich Kippei mit dem Bürodrehstuhl um, beäugte seinen Gastgeber argwöhnisch. Hier lief doch irgendwas schief, oder?! "Oh ja." Flachste Shin-chan betäubt. "Sieht nämlich so aus, als wärst du im Pentagon eingebrochen, hättest militärische Daten von Messtationen und Spionagesatelliten gestohlen und würdest alles direkt ins Netz an eine mir vollkommen unbekannte Adresse leiten." Kippei starrte. Und starrte. Shin-chan lachte jedoch nicht. "...upps..." Murmelte Kippei schließlich betroffen. "Schätze, ich sollte ganz schnell alle Spuren verwischen, wie?" "Besser is das." Shin-chan sackte neben ihm auf einem Hocker zusammen und schüttete sich wie ein Verdurstender die volle Dröhnung seiner Spezialmischung über die Mandeln. Unbehaglich warfen sie sich einen Seitenblick zu, während Kippei sich anstrengte, bloß keine Fehler zu machen und seine Anwesenheit zu tilgen. WER hatte es hier rein geschafft, um Kippei diesen Auftrag zu erteilen? ~+~o~+~ Es brauchte Zeit, bis Sebastians Körper sich von seinem langsamen Ausscheiden aus der Welt erholt hatte. Perry rieb Sebastians Hände, so, als könne er auf diese Weise die Rekonvaleszenz beschleunigen. Wenn er nicht mit Argusaugen jede Veränderung in Sebastians Erscheinung registrierte, warf er zwischenzeitlich einen strengen Blick auf sein Mobiltelefon. »Verdammte Drecksäcke!« Dachte er dabei, zwischen Groll und Sorge schwankend. Irgendwer hatte etwas auf seinem Mobiltelefon installiert, das jetzt mit einem schlichten Fortschrittsbalken die Chancen zwischen zwei Optionen anzeigte: [getting extinct] oder [barely made it]. Es MUSSTE ernst sein, was auch immer es war. Der verrückte Professor (damit war Herr Siegfried gemeint) hatte mit noch bleicherem Ausdruck als gewöhnlich etwas von "gemeingefährliche Bande von bescheuerten Bits" geflucht und sich in sein Büro zurückgezogen. So blieben sie also, o tempora o mores!, allein im Krankenzimmer zurück. Andererseits hegte Perry keinerlei Absichten, die Situation ungebührlich auszunutzen, er wollte lediglich wissen, was zum Teufel eigentlich los war! "Ich verstehe nicht, warum du nicht zurückgekommen bist." Er hauchte auf Sebastians Hände, massierte sie weiter. "Du hättest sterben können!" Sebastians Antwort bestand in einem Grunzen, darauf zurückzuführen, dass er noch mehr Flüssigkeit und Körpergefühl benötigte, um sich verständlich machen zu können. Ein Umstand, den Perry schonungslos zu seinem Vorteil steuerte. "Was hätte deine Mutter gesagt, hast du mal daran gedacht?" Ermahnte er streng. "Und deine Freunde? Wenn sie aus den Ferien kommen und erfahren, dass hier nur eine leere Hülle herumliegt?! Außerdem kann ich dir sagen, aus meiner langjährigen Erfahrung als Enfant terrible, dass es kein feiner Zug ist, sich in einer anderen Person festzusetzen." Rücksichtslos fuhr er fort. "Das macht man schlichtweg nicht. Sehr unmanierlich!" Nun blitzten Sebastians Augen, und er strengte sich an, die Fäuste zu ballen. "Ich kann ja nachvollziehen, dass du diesem verrückten Schreihals eins auswischen willst, ehrlich, aber das ist nicht der richtige Weg!" Vertraulich beugte Perry sich über Sebastian. "Ich vermute mal, der hat so viele Gerippe im Keller und in der Dachstube, von Kleiderschränken ganz zu schweigen, da wirst du keinen Platz mehr finden!" Sebastian schnaubte, denn trotz der konspirativen Nähe und des Scherzes wollte er Perrys Spekulationen über seine Motive nicht so stehen lassen. "Mach das nicht mehr, hm?" Raunte der an seinem Ohr. "Steig nicht aus, bevor du nicht mehr Höhepunkte erlebt hast." Damit küsste er Sebastian sanft auf die Stirn. Das klang so verflixt uneigennützig, so zärtlich, als wäre der Sprecher nicht ein ausgekochter Betrüger, Schwindler und Hochstapler! Sebastian studierte das markante Gesicht eingehend, akribisch, unverwandt. Ja, er wusste, man konnte den Leuten nicht in den Kopf sehen und selbst eine Laservermessung dieses windigen Schlitzohres würde ihm nicht verraten, was wirklich im Oberstübchen vorging. Es gab immer ein Risiko, das Risiko der Fehleinschätzung. "Hast du inzwischen rausgefunden, wie man das Ziel ansteuert?" Perry verdarb jeden Anflug von Sympathie mit dieser Frage, aber es wirkte nicht so, als sei er tatsächlich begierig auf die Antwort. "Ich habe ja gesehen, dass du springen und die Kontrolle übernehmen kannst. Das ist ziemlich gruselig." »Das sagt der Richtige!« Empörte sich Sebastian stumm. »Wer kann sich denn für alle unsichtbar überall einschleichen?!« "Das verleiht dir eine große Macht." Perry füllte Tee in eine altmodische Schnabeltasse. "Aber es macht dich auch sehr verwundbar. Du musst ab jetzt gut auf dich aufpassen, verstanden?" »Wer bist du, meine Mutter?!« Sebastian grollte, weil Perry sich sorgte, dabei hatte der ihn doch wie eine heiße Kartoffel fallen lassen!! Weil er gerade jetzt spürte, wie die Blutzirkulation, durch seinen Groll angefeuert, so richtig in Schwung kam, verpasste er Perry mit der Linken einen Schwinger. Vollkommen überrumpelt wurde Perry nicht nur getroffen, sondern fand sich auch plötzlich Parterre neben dem Klappstuhl wieder, perplex die Hand auf die Wange gepresst und einen unglaublich dümmlichen Gesichtsausdruck zur Schau stellend. "Du...!!" Konnte Sebastian bloß krächzen, dann hustete er heftig und fingerte ungelenk nach einer RICHTIGEN Tasse, nicht nach dem Geschirr für die Schwerversehrten. "Zugegeben, das habe ich wohl verdient." Perry rappelte sich auf und massierte seinen Kiefer. "Obwohl du schlägst wie ein Mädchen!" Sebastian warf ihm einen so abgründigen Blick zu, dass es PERRY war, der rot anlief. "Na, hätte auch nichts gebracht, wenn du's besser könntest, das waren zu viele, da auf der Brücke." In Perrys grünen Augen funkelte es herausfordernd. "Als ob du's besser gemacht hättest!" Fauchte Sebastian zurück und nahm gleich noch einen flüssigen Nachschlag, um die Gurgel zu befeuchten. "Ha! Wenn du nicht so lädiert wärst..." Demonstrativ ging Perry in eine Box-Grundstellung, schwang die Fäuste und tippelte geschmeidig. "Was dann?!" Sebastian schwang die Beine über die Bettkante. "Würdest du mich auf die Bretter schicken?" "Wäre ein Kinderspiel!" Grinste Perry selbstsicher. "Und mich flachzulegen würde dir gefallen, was?" Lauerte Sebastian auf eine vorschnelle Replik. "Da..." Perry klappte hastig den Mund zu, blickte zur Seite. Seine Gesichtszüge versteinerten, die Fäuste sanken herab. "Würde es wohl nicht, hm?" Sebastian angelte nach dem mageren Kopfkissen. "Ich bin wohl doch nicht so nützlich wie erwartet, was?!" "Denkst du ernsthaft, dass ich nur aus diesem Grund mit dir zusammen war?" Perry sprach leise und sehr gefasst. "DU hast mich allein gelassen!" Brach aus Sebastian die schlimmste seiner Anklagen heraus. Er hielt das Kissen an beiden Zipfelenden und drosch damit auf Perry ein, der zur Abwehr leicht die Ellen anhob, ansonsten jedoch keine Anstrengungen unternahm, Sebastians Wutausbruch einzudämmen. Das erwies sich auch als überflüssig, denn nach einigen zornigen Schwüngen ging Sebastians Atem schwer. Er blinzelte, von einem leichten Schwindel ausgebremst. "Du hast doch vom verrückten Professor gehört, was ich für ein Kaliber bin." Murmelte Perry mit abgewandtem Gesicht. "Aber das ist doch nicht alles!" Empörte sich Sebastian kurzatmig. "Willst du denn so ein erbärmlicher Feigling sein?!" Dieser Vorwurf traf, Sebastian bemerkte es sehr wohl, denn Perry wurde sichtlich bleich, erstarrte stocksteif und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie blutleer weißlich schimmerten. "Ich wollte bloß ein Nickerchen halten." Berichtete Sebastian rau. "Aber mich hat es so sehr rausgetrieben, dass es nicht zum Aushalten war. Da bin ich gelandet, in einem einfachen Mann, der bloß seinen Job machen wollte, seiner Familie Geld schicken und sich einem Mann gegenüber fand, der so verdammt konsequent durchgeknallt war, wie man's nur aus dem Kino kennt! Ich habe durch seine Augen gesehen, sein Herz gespürt, seine Angst aufzubegehren und gleichzeitig dieses Gefühl gehabt, dass wir es müssen! Dass Feigheit keine Option ist, obwohl dieser Mann in seinem Leben schon ziemlich oft übel behandelt worden ist. Das war keine Heldentat, nur Verzweiflung! Wir waren da ganz allein! Und wir haben's nicht geschafft!" "Aber du würdest es wieder tun." Perry wisperte tonlos, bevor ein humorloses Grinsen über sein Gesicht irrlichterte. "Während ich kneife, um mich selbst zu retten." "Verglichen mit dem Weltuntergang im wörtlichen Sinne ist das Techtelmechtel mit mir natürlich nicht so bedeutsam!" Ätzte Sebastian bitter. "Denkst du denn, dass ich für dich so ein guter Umgang bin?!" Feuerte Perry ungewohnt hitzig zurück, die Wangen entflammt. "Ich bin nun mal keiner von den Guten! Also verlange nicht von mir, mich so wie einer zu verhalten!" "Ich fand dich immer gut genug für mich!" Sebastian hielt dagegen. "Du machst es dir bloß einfach! Du WILLST außen vor sein, damit du dich auf keinen Fall zu irgendwas verpflichten musst! Bloß nichts ranlassen, immer alles schön auf Abstand und das Fluchtgepäck in Reichweite!" "Was?" Perry taumelte angezählt. "Ich bin weder blind, noch blöd!" Fauchte Sebastian. "Auch ohne dein eidetisches Gedächtnis fällt es mir auf, wenn einer nie seine Taschen auspackt und sein Büro keinen festen Wohnsitz, sondern bloß ne Internetadresse hat." "Du verstehst das nicht." "Nein, DU verstehst nicht!" Sebastian kam auf die nackten Füße, stand unsicher und packte deshalb Perrys Pullover als Stütze. "Vor MIR kannst du nicht weglaufen. Ich finde dich nämlich, so, wie du mich immer gefunden hast! Solange wir verknallt sind, werde ich dich nicht in Ruhe lassen!" Er hüstelte verlegen. Perry starrte ihn bloß an. Sebastian konnte sehen, wie hinter der schockierten Front Wahrheiten hochgespült wurden, die Perry erschreckten. Würde er wirklich so weit gehen und in Perrys Körper schlüpfen? Dessen war er sich nicht wirklich sicher, doch seine Ankündigung genügte, um Strickleitern, Hintertürchen, Kleingedrucktes und was immer auch sonst Perry zum Auskneifen zur Verfügung stand, zu eliminieren. Langsam hob Perry die Arme, schlang sie um Sebastian, zog ihn eng an sich und rollte sich förmlich ein, um das Gesicht in Sebastians Halsbeuge vergraben zu können. Sebastian räusperte sich mit belegter Stimme. "Wir mögen uns doch, Perry, ziemlich sehr sogar. Da wäre es doch dumm, sich zu trennen." Argumentierte er, eingeschüchtert von der Erfahrung, dass der selbstsichere, stets souveräne Perry in seinen Armen zitterte und sich auf ihn stützte. Besorgt streichelte er über den gekrümmten Rücken und versprach leise. "Ich pass auch auf dich auf, Ehrenwort! Ich werde dir nicht weh tun oder rumflirten, oder so was!" Ein ersticktes Auflachen quittierte dieses fürsorgliche Versprechen, dann richtete sich Perry wieder auf seine normale Körpergröße auf. "Ich will dich jetzt unbedingt küssen." Verkündete er rau. "Und mir ist egal, ob sich irgendwer daran stört!" Sebastian ließ sich gern zum Komplizen machen und erwiderte die Auffrischung ihrer Beziehung innig. ~+~o~+~ "Wow!" Murmelte Wulf durchaus beeindruckt. "Das ist ja irre!" Da kein Echo kam, versuchte er es mit einem neuen Köder. "Schau dir mal den Mond an! Der ist auf dem nächsten Punkt zur Erde!" "Oh. Toll." Drang es demonstrativ desinteressiert und merklich vergrätzt von ihrem gemeinsamen Bett. Gregoire blätterte in Höchstgeschwindigkeit durch ein Fachbuch zu Fraktalen. Es schien doch sehr unwahrscheinlich, dass er mehr als die Bilder goutierte. "Das sollte aktuell gar nicht drin sein." Versuchte Wulf mit unterdrücktem Schmunzeln seine Begeisterung zu erklären. "Ich frage mich, wie man die Mondlaufbahn beeinflussen kann?!" "Indem man HIER anruft und UNSERE Freizeit stört?" Beantwortete Gregoire mit giftiger Galle die rhetorische Frage. Er schmollte anhaltend. "Willst du es dir nicht mal angucken?" Wulf staunte noch immer, auch über die ungeheure Rechenleistung, die von überall her im Netz zur Verfügung stand, um die Welt zu retten. "Wenn der Mond nicht seine Umlaufbahn verlässt und uns auf die Rübe donnert, ist mir das schnurzegal!" Verkündete Gregoire kriegerisch. Zugegeben, da war Wulf durchaus konziliant, einen Vampir zu beeindrucken, der schon zigmal gestorben war und eine Horde drogenverseuchter Mörder abgeknallt hatte wie Blechenten beim Schützenfest, das war wirklich nicht leicht. Also entschied er, sich lieber eine kleine Zwischenmahlzeit zu gönnen. Er verließ seine elektronische Kommandozentrale und rollte zur Küchenzeile, arbeitete still vor sich hin, Äpfel kurz abreiben, dann Kerngehäuse ausstechen, auf Porzellanteller setzen, mit Mandelsplittern, Rosinen füllen, ein Flöckchen Butter drauf, das mit Vanillezucker gekrönt wurde und ab damit in die Mikrowellenofen-Kombination. Es klöngte artig nach der eingestellten Zeitdauer, und Wulf barg auf einem Tablett auf seinem Schoß den Teller mit der süßen, dampfenden Last, die sofort einen herrlichen, aromatischen Geruch verströmte. Mit passendem Besteck ausgerüstet rollte Wulf zurück zu seinen Bildschirmen, denn er zweifelte nicht daran, dass in dieser Nacht noch Einzigartiges geboten wurde. "Mir auch was!" Verlangte Gregoire in kindlichem Trotz, räumte einfach den Teller samt Tablett von Wulfs Schoß, um sich selbst dort niederzulassen und die Leckerei zu apportieren. Wulf unterdrückte ein Grinsen. "Na klar, dir auch was." "Kein Zimt drin?!" Gregoire beäugte misstrauisch die erste Löffelladung, die seine Futterluke ansteuerte. "türlich nicht!" Beteuerte Wulf, der selbstredend mit einem Speisegefährten und dessen Eigenheiten gerechnet hatte. Einen ungeduldigen Blick aus tiefschwarzen Augen später durfte er auch seine Ladung löschen. "Heiß!" Stellte Gregoire maulend fest. "Okay." Artig pustete Wulf nun, bevor er den nächsten Löffel in einem aufgesperrten Mund leerte. Jeder andere hätte wohl über ihn den Kopf geschüttelt, doch er fand es besser, wenn Gregoire seine Gefühle auf diese Weise auslebte, als sich wie früher mit einer Wärmflasche in seinem Bett zu verkriechen und alles in sich selbst zu vergraben. "Du auch!" Verlangte Gregoire ungeduldig, sodass Wulf nun selbst etwas mümmeln durfte. Gemeinsam vernichteten sie die leckere Kost, dann erhob sich Gregoire mit der ihm eigenen Geschmeidigkeit, räumte das benutzte Geschirr und Besteck in die Spülmaschine und nistete sich wieder auf Wulfs Schoß ein. Seine tiefschwarzen Augen studierten den Werwolf so ernst und eindringlich, dass Wulf nur ein zartes Grinsen des Amüsements wagte. Dann, blitzschnell, schlug Gregoire ihm die Zähne in den Nacken. Der Schmerz währte nur kurz. Mutmaßlich würde die Wunde kaum der Rede wert sein. Wulf hielt dem sezierenden Blick stand, den Gregoire ihm mit ausdrucksloser Miene zuwarf. Er kannte diesen "Test" schon, die ewige Frage, ob kindisches Verhalten, Trotz, Egoismus und körperliche Attacken irgendwann dazu führen würden, dass Wulf ihn zurückwies. In Anbetracht des Lebens, das Gregoire geführt hatte, war er nicht geneigt, ihm diese Versicherung zu verübeln. "He." Raunte er schmunzelnd. "Du hättest auch sagen können, dass du noch mehr willst." "Pah!" Zischte Gregoire blitzend, zog Wulf an beiden Ohren. "Ich HABE dir den ganzen Abend gesagt, was ich will!!" Und das hatte nichts mit ein paar lumpigen Bratäpfeln gemein. "Na ja..." Druckste Wulf, der letale Gefahr für seine Ohren befürchtete. "So ein Weltuntergang ist ein klein wenig hinderlich." Gregoire funkelte nun eisig. "Wenn ich den Penner erwische, der dafür verantwortlich ist!" Dann würde nur einer von ihnen un-tot zurückbleiben, aber hallo! "Ich möchte deine Liebhabereien ja nur ungern behindern..." Formulierte Wulf grinsend. "...aber ICH hatte mir eigentlich vorgestellt, dass wir es uns nach einer Mütze voll Schlaf gemütlich machen, bevor wir abends zu meinen Eltern eingeladen sind." "War keine Rede davon, das zu meinem Hobby zu machen!" Korrigierte Gregoire ihn hochmütig. "Wenigstens haben sich DEINE Prioritäten wieder richtig sortiert." Die sollten nach Gregoires unbestrittener Auffassung mit "Gregoire im Bett/sonst wo absolut und ungestört verwöhnen" beginnen. Wulf lachte und wuschelte durch Gregoires Mähne. "Ich mag's echt, wenn du den total egozentrischen Vampir raushängen lässt!" "Und ich mag's, wenn du was hartes Großes für mich raushängen lässt." Gregoire raunte ihm ins Ohr. Tiefrot im Gesicht rettete sich Wulf in einen verlegenen Hustenanfall, während Gregoire zufrieden grinste und seine spitzen Zähne aufblitzen ließ. Entgegen des Geplänkels war sein Kuss so liebevoll wie ein ewiges Gelöbnis. ~+~o~+~ Die leichten Schuhe und Sandalen, die sie am Steg zurückgelassen hatten, waren feucht, so, als hätte eine freche Welle sie getauft. Nereus stützte Aeolus, der mit einem Seufzer "vorbei" gemurmelt hatte, was sie zum Aufbruch zurück nach Maui bewegte. Hier, am ersten Weihnachtstag, sehr früh, von einem ungewöhnlich großen Halbmond ausgeleuchtet, sah es nicht mehr nach dem nassen Massenmord aus. "Duschen wir kurz und schlafen uns aus, ja?" Nereus' Nervenstärke hatte ihr Limit erreicht. Er wollte sich auch wie Aeolus zusammenrollen und von der Realität eine Pause einlegen. Keoki, der Nala aus dem Kanu geholfen hatte und es nun sicher vertäute, streckte und räkelte sich, während Nala langsam zum Haus ging. Sie rieb sich seufzend den unteren Rücken. »Noch mal davongekommen.« Dachte sie und fragte sich, ob sie jemals die tatsächlichen Hintergründe erfahren würde oder ob überhaupt jemand diese Wahrheit verbreiten würde. Vermutlich nicht. Sie strich beruhigend über das ungeborene Kind und hoffte, es würde nicht selbst einmal am Rande einer Katastrophe stehen, in ihren Abgrund blicken. Keoki holte sie mit leichten Schritten ein, legte einen Arm um ihre Schultern. "Hast du Hunger? Ich mache etwas." Bot er an. "Und ich werde etwas von dem Öl auf deinen Rücken reiben." "Danke schön." Nala traten mit der nachlassenden Anspannung Tränen in die Augen. Wie lästig! Keoki betrachtete sie einen Moment prüfend, dann küsste er sie behutsam auf die Lippen. In mancherlei Hinsicht, das wurde ihr einmal mehr bewusst, waren sie beide noch wie Kinder, die vorsichtig versuchten herauszufinden, wie der Hase lief. Vor einiger Zeit noch wäre ihr das unerträglich belastend und überflüssig vorgekommen, doch jetzt wollte sie ihr altes Leben nicht mehr zurückholen. Mit Keoki zusammen zu sein, ihm vertrauen zu können, sich auf ihn zu verlassen, das war GUT. Und richtig. So saßen sie beide in der Hängematte auf der Veranda, teilten sich einen verdünnten Saft und warteten auf den Sonnenaufgang, auf ganz einzigartige Weise mit der tiefsten See und dem Himmel verbunden. ~+~o~+~ Nereus hatte Angst, dass Aeolus ihm in der Dusche vielleicht entglitt und sich verletzte, also setzte er seinen Lebensgefährten auf den Fliesen ab und kniete sich vor ihn, massierte behutsam "seine" Seife in die vorher makellose Haut ein. Nun, in der bescheidenen Beleuchtung, wirkte es wie eine archaische Tätowierung am ganzen Leib. "Aeolus, wie fühlst du dich?" Raunte er sanft im steten Tropfenregen. "Hast du Schmerzen? Hunger? Durst?" "Müde." Murmelte Aeolus matt. "Schlafen." "Gleich, ich trockne dich nur noch ab." Versprach Nereus, der sich allein gelassen fühlte, weil er nicht die Präsenz seines Liebsten spürte. Wo waren die "Empathen-Antennen", wie er es immer scherzhaft genannt hatte?! Leidlich trocken, in frische Pyjamas gekleidet schoben sie sich unter die leichte Decke in das Bett, das sie vor Stunden ungeplant verlassen hatten. Aeolus schmiegte sich eng an Nereus an, wie er es immer beim Einschlafen zu tun pflegte, doch kaum schickte sich Morpheus an, die ersten Sandkörner zu verteilen, schreckte Aeolus mit einem erstickten Laut auf und saß senkrecht im Bett. "Was ist los?!" Nereus rieb sich die Augen, registrierte Aeolus' Verstörung, die weit aufgerissenen Augen, den fliehenden Atem. Sofort wandte er sich herum, aktivierte den Lichtschalter und zog Aeolus in seine Arme, streichelte ihm in groben Schwüngen über den Rücken. "Nur ein Traum!" Tröstete er automatisch. "Alles ist gut. Du hast nur geträumt." "Nein!" Beharrte Aeolus schrill und bange. "Alles ist finster! Kein Licht, so kalt und fremd! Fremd! Raus aus meinem Kopf!!" Mit den Fäusten schlug er sich nun gegen die Schädelseiten. Es kostete Nereus erhebliche Anstrengungen, diese Selbstverletzungen zu unterbinden. Nun ging auch sein Atem hastig, als er Aeolus endlich niedergerungen hatte. Der Anblick seines verstörten, aufgelösten und verängstigten Freundes ging ihm an die Nieren. "Es sind diese Tiefseedingsda, die dich markiert haben!" Hasardierte er düster. In Aeolus' Augen traten Tränen, er flüsterte verstört. "Hilf mir. Bitte, hilf mir." So klein und demütig, dass Nereus die Galle überkochte. "Die werden dich nicht kriegen." Verkündete er entschlossen. "Ich war zuerst da! Du gehörst mir!" Entschieden streifte er sich den Pyjama vom Leib und wickelte auch Aeolus aus, der seine Taktik nicht ganz nachzuvollziehen schien. Doch so schwer war die Arithmetik gar nicht: SIE mochten keine Seifenlauge und ER hatte jede Menge davon, überall. Damit würde er Aeolus jetzt einbalsamieren, von außen und von innen, ihm den Kopf verdrehen, bis nur noch ihre Lust aufeinander übrig blieb, bis Sterne vor ihren Augen farbenprächtig explodierten, die noch jede Dunkelheit in die Flucht schlugen. "Honeymoon!" Verkündete er grimmig. "Und zwar gründlich!" Da Aeolus einst ein Herzensbrecher und er selbst ein eifriger und aufmerksamer Schüler gewesen war, wusste er genau, welche Register er ziehen musste, um seinen Liebsten nach allen Regeln der Kunst (und nach einigen aus der Kategorie "Bückware") zu verführen. ~+~o~+~ "Sieh dir das an!" Murmelte Hauke und drehte einen Monitor, sodass auch Jules, der sich in seinem Aquarium vergraben hatte, einen Blick riskieren konnte. SO WAS hatte wohl noch niemand zuvor gesehen! Die Aufnahmen von Militärsatelliten mit großer Auflösung zeigten, wie im Kreisrund immer wieder gewaltige Wasserfontänen hochspritzten, als wenn sich unzählige unterirdische Schlote geöffnet hätten und mit ihrer immensen Hitze aus dem Erdkern das Wasser zum Verdampfen brachten. Zeitgleich veränderte sich auch das Modell, das die Wetterentwicklung berechnete und ihm von einem anderen fleißigen Helfer übermittelt wurde. Ganz klar, so viel Wasser in Bewegung, das musste ja irgendwo hin, bis es wieder seinen normalen Platz im Kreislauf einnehmen konnte! Mit einer ungewöhnlichen Wetterlage war somit zu rechnen, was sich jedoch sehr viel besser ausnahm als Sintflut 2.0. "Davon können wir noch unseren Kindern erzählen." Stellte Hauke fest und ergänzte sogleich aufrichtig. "Nun ja, du eher nicht, weil du sie nie kennen lernst, und bei mir ist fraglich, ob sich mal Kinder einstellen." Aber dennoch, was für eine Weihnachtsgeschichte! ~+~o~+~ "Wir sind da." Flüsterte Mush sanft und achtete darauf, beim Eintreten leicht in die Knie zu gehen, damit sich Suriyawong nicht den Kopf anschlug. "Hm?" Murmelte der zierliche Mann, der nach all diesen Heimlichkeiten und mindestens 10 Kilo verlorenem Notschweiß doch glatt huckepack eingeschlafen war. Mush grinste schelmisch, während er Suriyawong behutsam auf ihrem Bett absetzte. Er selbst war weniger müde als aufgekratzt, nachdem er das Werk so vieler Mitstreitender gesehen hatte. Einer hatte sich sogar beim Pentagon reingehackt!! Natürlich nur für einen guten Zweck. Die Welt war gerettet, da lohnte sich das Teilzeitheldentum doch sehr! "Hmmhmm." Seufzte Suriyawong schläfrig und drehte sich zur anderen Seite herum. Mush hätte ihn gern schlummern lassen, doch er kannte seinen Freund zu gut und wusste, dass der sich am Morgen (der gar nicht mehr so fern war) sehr über sich selbst ärgern würde, wenn er mit zerdrückten Kleidern und in Bandagen aufwachte. Also übernahm er sanft die Entblätterungsaufgaben, streifte Suriyawong ein großes T-Shirt und Shorts über, bevor er sich selbst kurz wusch und ebenfalls leicht bekleidet zu seinem Freund ins Bett kletterte. Kaum hatte er sich ausgestreckt, da drehte sich Suriyawong herum, schmiegte sich an, schob hier, drapierte dort, bis er bequem ruhte. Mush unterdrückte mannhaft ein prickelndes Kichern über dieses unterbewusste Agieren. "Du bist süß, Suri." Flüsterte er leise und verschränkte seine Finger mit Suriyawongs, dessen warmer Atem ihn im Nacken kitzelte. Weil auch Helden einmal etwas entfallen kann, vergaß er prompt, den Wecker zu stellen, doch glücklicherweise ging am ersten Weihnachtstag ein derartiger Wolkenbruch herunter, dass niemand pünktlich zur Arbeit kam. ~+~o~+~ "Du magst mich doch." Flüsterte Sebastian, saß halb auf Perrys Schoß, der ihn in den Armen hielt und immer wieder küsste. Folgerichtig verlief die Konversation etwas schleppend. "Weil du mich magst." Murmelte Perry ungeniert und dirigierte Sebastians Haupt um einige Grade nach rechts, sodass er mal diesen Winkel erproben konnte. "Feiges Huhn." Sebastian erwischte ein Ohrläppchen und akupunktierte es mit seinen Zähnen. "Vielfraß!" Konterte Perry und justierte die Decke, in die er sie beide gewickelt hatte. Er wunderte sich durchaus, dass der verrückte Professor und/oder der Wischmopp-Mann nicht kamen, um ihre bilateralen Friedensverhandlungen zu unterbinden. "Oje!" Plötzlich richtete Sebastian sich mit einem Ruck auf. "Meine Mutter!" "Was ist mit ihr?" Perry war nicht wirklich hart am Thema, weil er herausgefunden hatte, wie euphorisch Sebastian reagierte, wenn man seinen Nacken beknabberte. "Ich hab doch den Zug verpasst! Sie wird sich fragen, wo ich stecke!" Sebastian unternahm Anstalten, ihr kleines Tipi zu verlassen, doch Perry hielt ihn auf. "Ich bin sicher, deine beiden Hütehunde haben sie informiert. Außerdem ist es jetzt viel zu spät, um mit ihr zu telefonieren. Wenn du magst, liefere ich dich morgen persönlich ab und stelle mich kurz deiner Mutter vor." Dieses Angebot kostete ihn wirklich Überwindung, denn dann gab es kein Zurück mehr, sondern ein Vorwärts mit Volldampf und möglicherweise einen Mutterdrachen, der sehr angefasst reagierte, wenn man den minderjährigen Sohn für sich beanspruchen wollte. "Ehrlich?" Sebastian schlang wieder die Arme um Perrys Taille und kuschelte. "Oh, das ist toll! Macht es dir wirklich nichts aus? Musst du nicht arbeiten, oder so?" "Ich versuche gerade sehr angestrengt, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, aber du lenkst mich ab!" Beklagte sich Perry feixend und wirkte dabei wie ein Lausbub. "Nützlich?" Hakte Sebastian nach, der eine Menge in seiner kurzen Existenz als Hypnos gelernt hatte. "Hmmhmm." Perry küsste ihn mit dem Air eines Feinschmeckers. "Bewegung ist immer gut, vor allem gegen die Kalorien. Das sind die winzigen Mistviecher, die nachts die Kleider enger machen, wenn man vorher ordentlich getafelt hat." "So, so, dann zähle ich jetzt als Sportgerät?" Sebastian bemühte sich um eine säuerliche Miene, scheiterte jedoch mit einem Prusten. Perry fiel mit ein, sie kicherten übermüdet und überdreht. "Jetzt langt's mir aber!" Die Tür flog gegen die Wand, und ein sehr zerzauselter, mit zerdrücktem Laborkittel ausgestatteter Herr Siegfried stürmte herein. "Könnt ihr jetzt VERDAMMT NOCH MAL endlich einschlafen?! Genug mit der Flirterei, klar?!" Hinter ihm, in einem leuchtend orangefarbenen Plüschbademantel huschte Herr Garfield heran, legte einen unnachgiebigen Arm um seinen Lebensgefährten und dirigierte diesen wieder zur Tür hinaus. "Frohe Weihnachten." Flüsterte er über die Schulter mit einem fröhlichen Grinsen. "Und FRIEDEN auf Erden! Das heißt Ruhe! Stille!...." Über den Gang hörte man ein übellauniges Zetern. Sebastian und Perry riskierten einen vorsichtigen Blick und kämpften gegen eine gemeingefährliche Lachattacke. Es hatte also DOCH ein Anstandswauwau in der Nähe gewacht! "Ich glaube, dem Zausel tun ein paar Urlaubstage wirklich gut." Bemerkte Perry weise, sortierte ihr Lager, damit sie sich ausstrecken konnten. "Mir auch, glaub ich." Sebastian blinzelte. "Die Welt muss sich mal ne Weile allein retten." "Absolut." Pflichtete Perry ihm bei und kuschelte scheu. Auch für ihn gab es noch eine Menge zu lernen, doch er dachte im TRAUM nicht daran, dieses Abenteuer zu verpassen. ~+~o~+~ "Ich hasse Teenager! Und Kinder! Schüler! Und ihre notorischen Eltern!" Ließ Herr Siegfried eine Litanei vom Stapel, während er unnachgiebig zu ihrem Appartement geführt wurde. "He, das is nich der Weg zum Büro!" "Nein, wir gehen jetzt in die Heia." Bestimmte Herr Garfield. "Ich nich!! Bin noch nie in die HEIA gegangen!" Verkündete Herr Siegfried bockig, rammte die Fersen in den Boden und räusperte sich, um gleich mal eine Tonleiter seiner Frustration anzustimmen. Dem kam Herr Garfield mit einem beherzten Ausfallschritt, der eleganten Haltung eines professionellen Tangotänzers und einem leidenschaftlichen Kuss zuvor. Danach stellte er den betäubten Freund auf die Füße zurück und dirigierte ihn zu ihrem eigenen Schlafzimmer. "Das war nich fair!" Hielt Herr Siegfried für das Protokoll fest, während er ausgekleidet, a la nude, unter aufgeblasene Decken geschoben und ordentlich zugedeckt wurde. "Oh, ich bin sicher, dass du mir vergibst, weil ja Weihnachten ist." Herr Garfield zeigte keinerlei Schuldbewusstsein oder Demut angesichts seiner Verfehlungen. Andererseits musste man sich schon aus Gründen der Selbsterhaltung eine gute Strategie zurechtlegen, um mit einem Banshee zusammenleben zu können, der sich darin gefiel, unheilbarer Misanthrop zu sein. »Aber die Leute verkennen ihn eben!« Dachte er, während er einen Gute Nacht-Kuss landete. Sie würden wohl Bauklötze staunen, wenn sie wüssten, dass Herr Siegfried höchstpersönlich die eher expressionistischen Werke ihres sechsjährigen Patenkindes Reggae in ihrem Wohnzimmer ausstellte. ~+~o~+~ "Ist es jetzt vorbei?" Matti drapierte seine Jacke um Angels Schultern und sammelte dessen Brille ein. Angel selbst schlief erschöpft, die Arme auf dem Tisch vor der Tastatur gekreuzt. "Yepp!" BlueMax strahlte so frisch wie seit dem Beginn ihrer Bekanntschaft. "Und was genau ist jetzt da passiert, wenn ich fragen darf?" Knurrte Matti grantig. "Man will ja schließlich vorbeugen, falls es sich wiederholt. Dann könnten wir unsere Termine besser koordinieren." BlueMax erkannte Ironie, denn er lernte unermüdlich, auch wenn er über kein stationäres Gehirn verfügte. "Da ist ein Mann, der glaubt, die Evolution wäre nur Theorie, weil sich lange nicht mehr so viel getan hat. Er ist davon überzeugt, dass eine globale Katastrophe genau das richtige Mittel wäre, um die Unterart Mensch zu verändern." "Oh, kein Maya-Spinner, sondern so ein Eiszeit-Revolutions-Vogel?! Mann, hätte es nicht gereicht, wenn wir ne neue Zubereitungsmethode für unser Essen entdeckt hätten?!" Matti spielte sarkastisch auf eine Theorie an, die den Fortschritt der menschlichen Entwicklung mit dem Grillen verband. "Vielleicht war er kein mäkeliger Esser?" BlueMax erwog diese Option ernsthaft. Allerdings, soweit seine Datenbanken reichten, bot die Zubereitung von Nahrung nach all den Jahrtausenden wirklich nicht mehr viele weiße Flecke auf der lukullischen Landkarte. "Was hat er stattdessen gemacht?" Matti dehnte seine Muskeln und absolvierte einige elastische Sprünge auf der Stelle. Er wollte wach bleiben, denn einer musste sie ja sicher nach Hause bringen. "Oh, er kaufte einen Kabelverleger, heuerte eine Crew an, ließ die Kabel anstelle der Leitungen mit besonderem Sprengstoff und Zündeinheiten versehen. Er löste dann in sicherer Entfernung eine Kettenexplosion aus, die große Teile eines unterseeischen Gebirges auf breiter Front abbrechen ließen. Rumms, bumms, aus die Maus!" Zitierte BlueMax fröhlich den Disney'schen Hades. "Wie reizend von dir, keinen Applaus zu spenden." Grollte Matti, der keinen Zweifel daran hegte, dass diese KI ungeniert Audiodateien plündern würde, um sich "noch besser verständlich zu machen", wie es das selbst proklamierte Ziel von BlueMax war. "Also, irgendein bekloppter Menschen-Verbesserer kann sich einfach ein Schiff besorgen und explosive Kabel verlegen und das noch an wirklich neuralgischer Stelle und keiner merkt's?" Matti fand das definitiv hollywoodreif, aber nicht realistisch. "Wir haben's ja gemerkt." BlueMax ließ sich die gute Laune nicht verderben, immerhin waren keine Verluste zu verzeichnen. Alles in allem hatten sie das doch fein hinbekommen, oder? Zugegeben, die Platinkarte der Organisation hatte ordentlich geraucht, aber guter Rat war eben nicht billig, wie der Volksmund zu sagen pflegte! "Oh, klasse, ein ganzer Sekundenbruchteil vor 12!" Schnaubte Matti leise, um Angel nicht zu wecken. "Wenn man die ganze Situation mal umdreht, dann sollten wir jetzt euphorisch sein!" BlueMax hatte sich einiger Ratgeber der Bestsellerlisten bedient, um dem Phänomen "Mensch" näher zu kommen. "Unzählige Menschen, die einander gar nicht kennen, verschiedenen Völkern angehören, aus unterschiedlichen Milieus stammen, haben zusammengearbeitet, um das bestmögliche Resultat zu erreichen! Das ist doch grandios! Eine erstaunliche Leistung! Wenn man dagegen die Quote von anhängigen Nachbarschaftsstreitigkeiten vor ordentlichen Gerichten bedenkt." Für einen sehr langen Moment war Matti schlichtweg sprachlos. Man musste wohl die Disposition eines elektronischen Gehirns haben, um derlei Vergleiche anzuführen. "Ich nehme mal an, dass du dich solidarisiert hast, weil es ein wenig unpraktisch wäre, wenn die ganze Peripherie betroffen ist?" Wagte er eine freche Unterstellung. "Im Grunde genommen habe ich dieselben Motive, die alle haben." BlueMax reagierte nicht beleidigt. "Selbsterhalt als eigennütziges Prinzip und dann noch die Bewahrung meines Steckenpferdes." "Das da wäre?" Matti lupfte eine kritische Augenbraue. Klasse, eine KI mit Hobbys! "Menschen." Antwortete BlueMax schlicht, sein Avatar zwinkerte. "Ich möchte wissen, wie es ist, Mensch zu sein, ohne selbst Mensch zu sein. Wie funktioniert ein Mensch wirklich? Wie übersetzt das Gehirn all die Umweltsignale? Wieso wurde ein Bewusstsein entwickelt?" "Oh." Kommentierte Matti unbehaglich. Man kannte ja die einschlägigen SciFi-Werke: Maschinen übernehmen die Macht! "Menschen sind schon für sich allein merkwürdig, aber wenn sie dann zu mehreren sind...!" BlueMax begeisterte sich für sein Hobby. "Keine mathematische Methode ist sicher genug, exakt ihr Verhalten vorauszuberechnen! Es gibt immer Unwägbarkeiten, Außenseiteroptionen!" "Und es wäre verflixt schade, wenn ein Großteil deiner Studienobjekte sich vorzeitig verabschieden, wie?" Matti füllte den Picknickkorb auf. "Vom Gesichtspunkt des Forschers aus eine interessante Konstellation." BlueMax ließ seinen Avatar sehr dogmatisch gucken. "Vom Standpunkt eines selbst denkenden und entscheidenden Wesens aus ordne ich jedoch die Prämisse 'zu sein' erstrebenswerter als 'nicht mehr zu sein' ein. Strebt nun einer an, diesen Zustand zu ändern, ist es nicht meine Pflicht, mich dagegen zu verwahren?" "Als Nutznießer dieser Einstellung liegt es mir fern, sie zu kritisieren." Matti grimassierte grimmig. "Jetzt würde ich gern Angel einsammeln und verschwinden. Wir können doch gehen, oder?" "Selbstverständlich!" Trillerte BlueMax aufgekratzt. "Wenn wir in ein paar Stunden aufwachen, wird es so sein, als sei nichts geschehen!" "Was ist mir das für ein Trost!" Brummte Matti zynisch, streichelte Angel sanft über den mittlerweile wirren blonden Schopf und flüsterte. "Angel, lass uns gehen, ja?" Schlaftrunken und erschöpft, denn er hatte wirklich sehr viel unter Hochdruck bewältigen müssen, schraubte sich Angel hoch und rieb sich kindlich die Augen. "Brille?" Murmelte er müde. "Lass mal." Fürsorglich packte Matti seinen Gatten warm ein, bis Angel völlig eingemummelt war, sammelte dann seine eigenen Habseligkeiten ein und fasste Angel um die Taille zwecks Austarierens ihres Gangs zum Wagen. In der Tür wandte er sich noch mal über die Schulter um. "Mach das Licht aus und die Tür hinter uns zu, BlueMax. Du weißt ja, wie das geht." "Tüdelüüüü!" Flötete die KI fröhlich und beschloss, sich gleich mal mit ThreeMonkeys über seine neuen Erkenntnisse auszutauschen. ~+~o~+~ Matti dirigierte ihren Kleinwagen geübt, wenn auch aufgrund der unerwarteten Nachtschicht vorsichtig über verlassene Straßen zu ihrem Appartement. Angel auf dem Beifahrersitz schlief schon wieder, wie ein sehr erschöpftes Kleinkind. Sehr brav stolperte er auch neben Matti her, nachdem der ihn auf dem Parkplatz vom Sitz geklaubt hatte und nun zum Aufzug schob. In ihrer Wohnung aktivierte Matti die kleine Lichterkette über dem Zugang zur Wohnküche. "...oh, dein Geschenk..." Machte sich Angel unerwartet bemerkbar. "Willst du es jetzt haben?" Für einen Quasi-Schlafwandler war seine Aussprache bewundernswert verständlich. Ein liebevolles Schmunzeln unterdrückend nahm Matti ihn in den Arm, küsste ihn sanft auf die Lippen und antwortete. "Verschieben wir das auf später, Angel. Für Geschenke haben wir nachher noch alle Zeit der Welt." "Is gut." Angel lehnte sich an ihn wie in einen vertrauten Ohrensessel, perfekt seinen Gewohnheiten angepasst, dann sanken die Lider auch schon wieder herunter. "Zapfenstreich." Lächelte Matti hingerissen und steuerte mit seinem schönsten Geschenk aller Zeiten ihr trautes Schlafgemach an. An Angels Seite konnte er wirklich nicht über Langeweile in seinem Leben klagen. ~+~o~+~ "Nein!" Ordnete Zephyr streng an und entwand Hyakinthos die Tüte mit den Marzipankartoffeln. "Das reicht jetzt aber!" "Gemein!" Schmollte der gekränkt. "Es ist Weihnachten! Da gehört Süßkram essen, bis einem übel wird, einfach zur Tradition!" "Nicht bei mir!" Widersprach Zephyr entschieden und pinnte Hyakinthos auf der Matratze wie einen gefangenen Schmetterling auf. Selbstredend hatte er nichts gegen eine Stärkung, wenn Reserven aufgefüllt werden mussten, weil sie sich ausgesprochen AKTIV miteinander beschäftigt hatten, doch noch mehr Marzipankartoffeln und ihr Geruch auf Hyakinthos' Haut, wenn er dessen Blut verkostete: WÜRG! "Spielverderber!" Lamentierte Hyakinthos, doch sein Trotz mühte sich auf verlorenem Posten. Um Zephyr tatsächlich in dessen Schranken zu verweisen, hätte er nicht so müde sein dürfen. "Ich hege lediglich die Absicht, mir deine Gesundheit noch sehr lange zu erhalten." Provozierte der Lamia ungerührt. "Trotzdem fies." Hyakinthos gelang es sich auf eine Seite zu rollen. "Und knickerig." "Du siehst mich verletzt." Antwortete Zephyr amüsiert. "Neee." Murmelte Hyakinthos schläfrig. "Ich beguck mich jetzt von innen. Schlaf gut, Zeph!" "Was?! Du willst jetzt schlafen?! Mitten in der Nacht?!" Aber Empörung half Zephyr hier gar nicht weiter: sein geliebter Vampirköder hatte bereits sämtliche Geschäftstätigkeiten eingestellt und schien entschlossen, die Matratze abzuhorchen. "Mistikack!" Fluchte Zephyr leise, löschte die Lichter und deckte Hyakinthos fürsorglich zu, dann trat er ans Fenster und studierte den gewaltigen Halbmond. Schon blöd, wenn man mit wenigen Stunden Schlaf auskam UND so helles Mondlicht nicht verknusen konnte! Weil er keineswegs so allein für sich herumstehen und blinzeln wollte, bis ihm die Augäpfel austrockneten, kroch er zu Hyakinthos unter die Decke und summte ihm Schlaflieder in seiner eigenen Sprache vor. Das funktionierte derart gut, dass er selbst nach einigen Minuten wegdämmerte und gar Gruseliges von gewaltigen Marzipankartoffeln träumte. ~+~o~+~ Die Crew der Nebukadnezar II war mit den Nerven zu Fuß. Es war zu viel Merkwürdiges geschehen: ein Mann hatte auf der Brücke durchgedreht, dann hatte auch noch der Kapitän in fremden Zungen gesprochen! Die Lage war bedrohlich. Man entschied zu meutern, keine leichtfertige Option, denn dies kam einem Hochverrat gleich und wurde streng bestraft, doch wenn sie nicht schnurstracks den nächsten großen Hafen ansteuerten, hätten sie nicht nur EINEN Verletzten, sondern eine ganze Reihe davon, weil Angst und Ungewissheit für weitere handfeste Auseinandersetzungen sorgen würden. Der Kapitän, der sich von seinem Anfall fremdsprachlicher Eloquenz knapp erholt hatte, klopfte an die Tür ihres Arbeitgebers. Er lauschte, doch außer dem rhythmischen Schlagen des geöffneten Bullauges konnte er kein Geräusch vernehmen. "Mister Gilbert, Sir?" Bange schob er sich durch die schmale Tür. Im Zwielicht des anbrechenden Morgens fiel ihm zuerst das Bullauge auf, dann erblickte er eine menschliche Silhouette auf dem Boden. Der Körper war über und über bedeckt mit einer seltsamen Kruste, körnigen Ablagerungen, die an alte Schuppenpanzer von Meeresgetier erinnerten. Eindeutig jedoch war der Besitzer dieses Körpers tot, die Ablagerungen verkleideten nahtlos in Schichten ein blankes Skelett. Nur einen Schritt zurück wollte er tun, da löste seine Bewegung den Schädel von den Halswirbeln, rollte ihn in seine Richtung, der gähnende Kiefer wie ein zum Fressen bereites Maul. Jenseits aller guten Wünsche schrie der Kapitän auf, warf sich in den engen Gang und verriegelte panisch die Koje. Er rannte auf die Brücke, verschloss dabei jedes Schott, jede Tür auf dem Weg. "Mister Gilbert tot!" Teilte er der verschreckten Mannschaft in ihrer Verkehrssprache Englisch mit. "Fluch auf ihm! Fleisch von Körper weg, nur Knochen!" Eine Diskussion entfiel, einstimmig entschied man, diese Unglück bringende Reise sofort zu beenden und bat die Küstenwache der Vereinigten Staaten auf Hawaii um Hilfe. ~+~o~+~ Kapitel 24 - Affenzirkus! Yamato wischte sich durch die Haare und ärgerte sich über sich selbst. Was zum Teufel war los mit ihm?! Warum verspürte er JETZT Nervosität?! Unzählige Male hatte er in einem Hotelzimmer mit einem hoffentlich knackigen Typen ein oder zwei nette Schäferstündchen verbracht, keine große Sache, im Gegenteil, es war das normalste der Welt. Schwule mussten mit Nachteilen rechnen, wenn sie sich offenbarten. Mit einem anderen Mann zusammenleben war quasi unmöglich, denn irgendwer redete immer, dann gab's keine Bürgschaften mehr, man wurde ausgegrenzt, angeschwiegen, die Kinder herbeigebrüllt, als hätte man eine hochansteckende Krankheit, ja, man konnte sogar gefeuert oder aus dem Job gemobbt werden. Yamato sprach nicht über seine sexuelle Disposition. Wenn man als Jugendlicher feststellt, dass man nur durch Mitschüler sexuell erregt wird (nicht Hinz und Kunz natürlich, der persönliche Geschmack entschied!), dann legte diese Erkenntnis den Grundstein für einige sehr existenzielle Überlegungen: er würde keine Familie haben. Nun gut, da konnte ihn auch niemand mehr verlassen, der stille Schmerz, allein zurückzubleiben wie nach dem Tod seiner Eltern würde sich nicht potenzieren. Er würde sich vom Waisenhaus und der Kirche entfernt niederlassen müssen, denn viele irdische Vertreter dieses Gottes hielten seine sexuelle Identität für eine widernatürliche Sünde. Er würde allein immer wieder auf die Pirsch gehen, sich auf Fremde einlassen müssen, die vielleicht ähnlich zerrissen versuchten, einen Spagat zwischen Sein und dem schönen Schein zu meistern. Doch dann hatte er Glück gehabt: der Junge, in den er sich unglücklich verliebte, hielt ihn davon ab, in seinem Liebeskummer alles wegzuwerfen; der Junge, dem er sich an den Hals warf, um sich selbst seine sexuelle Orientierung zu bestätigen, erwies sich als einfühlsam und sanfter, als zu erwarten war; die zwei Jungen, die er im Stich ließ, um sie nicht mit den Trieben seiner Sexualität zu konfrontieren, holten ihn zurück, blieben ihm Brüder und enge Freunde, Familie. Und er traf einen Mann, der seine Liebe erwiderte, ihm den Himmel auf die Erde holte, ihn so nahe an ein ganz normales Lebensglück führte, wie es die Umstände zuließen. Unwillkürlich tastete Yamato nach den Platoons, die an einer Kette um seinen Hals hingen: sie hatten ihm gehört, William Will Lafitte, dem Mann, der ohne Zögern für ihn sein Leben gegeben hatte. So vieles hätte noch gesagt, geteilt, gesehen, gefühlt werden müssen! So viel Liebe ballte sich ohne Adressaten in ihm zusammen, dass er manchmal glaubte, an diesem Mühlstein zugrunde zu gehen. Es war nicht genug gewesen und es würde nie gut sein. Yamato ließ sich auf die Bettkante sinken, stützte den Kopf in die Hände. Das hier, dieses flüchtige Vergnügen, war nicht mehr als ein Ventil, um ein wenig Druck abzulassen, den Schmerz in Schach zu halten, für einen Moment nur im süßen Nichts zu schweben, weg von den Gedanken, der Trauer und der Wut. Aber möglicherweise war es ein grober Fehler, ausgerechnet einen Polizisten, den wohl nur die strikte Anweisung seiner Vorgesetzten davon abhielt, ihn auf die nächste Wache zu schleifen, als Trainingspartner auszuwählen. "Na, schon nüchtern?" Kazushige verließ das Badezimmer, wo er rasch geduscht hatte: ER war wohl wirklich nicht auf eine Montagabendgesellschaft vorbereitet gewesen. Außerdem unterzog er sich nicht der Mühe, ein Handtuch oder eine Yukata überzustreifen. Yamato wandte sich herum und bemühte sich, in seine Aufreißerrolle zu schlüpfen. "WaHOOUUUUU! DAS nenne ich ja mal eine tiefstapelnde Verpackung!" Denn unter dem eher tristen Beamtenanzug versteckte sich ein muskulöser, trainierter Körper, der verblüffend Yamatos Idealen entsprach. Der Ermittler schnaubte. "Du hast mich wohl kaum wegen meines liebreizenden Charakters abgeschleppt, oder?" "Moment mal!" Yamato funkelte hoch in das markante Gesicht, dem noch feuchte Strähnen in die Stirn hingen. "Ich habe dich nicht gezwungen, mich zu begleiten, klar?" "Nein, ganz recht." Kazushige ließ wie ein Preisboxer die Schultern kreisen. "Ich bin hier, weil ich dich mal so richtig flachlegen will, ohne dass mein werter Boss mich zurückpfeifen kann, weil DU garantiert kein Wörtchen über dieses Stelldichein verlieren wirst!" "Aha!" Yamato grinste herausfordernd. "Kann es sein, dass du ein klein wenig angepisst bist, weil ich gesagt habe, dass du nicht mein Typ bist?" "Pah!" Kazushige röhrte. "MICH pisst verdammt an, dass Typen wie du treiben können, was sie wollen, weil irgendwelche Großkopferten ihr Süppchen kochen, für die keine Regeln gelten! Da heißt es dann bloß Maul halten und wegducken! Dämliche, kleine Bullen haben keine Fragen zu stellen!" Seine Rage hieß ihn die Fäuste ballen, alle Muskeln anspannen, diesen Zorn zu kanalisieren. Das war ein durchaus beeindruckender Anblick für Yamato, der das Schauspiel genoss. "Das hat dich abgehalten?" Neckte er Kazushige. "Ich dachte, du bist so ein Terriertyp, diese Wadenbeißer, die nicht mehr locker lassen?" Kazushiges Augen verengten sich zu Schlitzen, und ebenso drohend ragte er über Yamato auf. »Das erklärt also, warum unser kleiner, schlauer Bulle so frustriert in der Bar in seinen Whiskey gestarrt hat.« Resümierte Yamato, der sich fragte, ob Kazushige wirklich fähig war, seine Wut in einen Infight umzulenken. "Aus einem unerfindlichen Grund kann ich mich einfach nicht überwinden, diese Ungerechtigkeit mit Gleichmut hinzunehmen." Antwortete der zynisch. "Der Zweck heiligt bei mir nicht unbegrenzt die Mittel." "Vor allem, wenn man den Zweck gar nicht kennt." Yamato zwinkerte hoch, betont lässig. Um einen noch grimmigeren Blick zu provozieren, ließ er den Blick langsam über die breiten Schultern, die trainierte Brustpartie hinunter zum Bauchnabel wandern, hielt sich aber noch züchtig zurück, das Gemächt demonstrativ zu bestaunen. Seine Aufmerksamkeit blieb jedoch auf halber Höhe hängen, als sich auffällige Narben unterhalb der letzten Rippe präsentierten. Sie waren schmal, nicht lang, jedoch... Unwillkürlich hob er die Hand, um mit den Fingerkuppen die gewaltsamen Spuren zu berühren. Kazushiges Hand um sein Handgelenk bremste ihn jedoch nachhaltig. Beide Männer wechselten einen forschenden Blick. Sie waren Kämpfer in einem Ring, angetrieben von unterschiedlichen Motivationen, jedoch mit demselben Ziel: Druck abbauen. Genug Vorgeplänkel! ~+~o~+~ "Mmmhhhh!" Zufrieden sank Yamato auf die Seite, noch ein wenig atemlos, von einer perlenden Transpirationsschicht überzogen. Gar nicht übel, der "dämliche, kleine Bulle", nein, wirklich nicht! Es hatte ihm gefallen, wie Kazushiges kräftige Linke seine Schulter gepackt, immer wieder über seinen Rücken gestrichen hatte, während die Rechte genau wusste, wie man einen Mann vorne verwöhnte, während hinten, nun ja, ein Drill ganze Arbeit leistete. "Gar nicht übel für einen 'dämlichen, kleinen Bullen'!" Schnurrte er und nahm durchaus angenehm überrascht eine kleine Dose eisgekühlten Grüntee entgegen. "Tja, ist wohl wie Fahrradfahren." Knurrte Kazushige. "Wenn man mal in ner Mühle gesteckt hat, kennt man den Tritt." Yamato grinste anerkennend für dieses Tiefstapeln, sarkastisch und selbstironisch zugleich. "Du musst ziemlich gefragt sein?" Provozierte er. "Von wegen 'nur was trinken in der Bar'!" Der Ermittler ließ sich neben ihm auf dem zerwühlten Laken nieder, schlürfte Tee. "Ich komme nicht da hin, um was aufzureißen. Außerdem bin ich nicht schwul." "Tatsache?" Ätzte Yamato. "Gerade noch hätte ich schwören können..." Nun zuckte ein Grinsen über Kazushiges Gesicht, noch leicht errötet von ihrem Clinch. "Anfangs hatte ich Freundinnen. Eine davon war Meister Yodas Schwester." "Wirklich." Kommentierte Yamato trocken. "Wie erklärst du ihm, zu welchem Zweck wir gemeinsam abgezogen sind?" "Einfach." Kazushige leerte seine Teedose und zerdrückte sie geübt. "Wir befinden uns in einer Sporthalle, die auch die Polizei nutzt, machen dort Zirkeltraining und Konditionseinheiten. Das habe ich zumindest mit den anderen Typen gemacht, die auf die 'oh toll, du bringst sogar deine eigenen Handschellen mit!'-Nummer standen." Nun klebten Yamatos bewegliche Augenbrauen im spitzen Winkel förmlich an seiner Stirn. "Du bist doch nicht ernsthaft mit den Typen in eine Muckibude gezogen?!" "Doch." Kazushige zuckte mit den Schultern. "Wieso auch nicht? Hat sich dann schnell rumgesprochen, und ich hatte meine Ruhe." "Perfid." Urteilte Yamato. "Wieso sind WIR jetzt nicht in der Halle?" "Weil ich keinen Bock darauf habe, dass so ein Ex-Elitekämpfer-Privatdetektiv-Schnösel mir auch noch vor den ganzen Figuren da einen reinwürgt!" Stellte Kazushige finster fest. "ICH springe nämlich nicht aus Fenstern in Autos oder leiste mir sonstige Stunts." "Sind wir ein kleines bisschen neidisch?" Yamato zog den Ermittler auf. "Dabei machst du doch ordentlich was her." "Ha!" Schnaubte Kazushige bloß, es lag jedoch Verbitterung in dieser einsamen Silbe. "Also bist du ein Hetero, der mangels Freundin auch mal als Homo praktiziert?" Yamatos Neugierde war geweckt. Kazushige, der ihm abgewandt auf der Bettkante saß, schwieg unbehaglich lange, dann brummte er. "Eher ein dämlicher, misstrauischer, argwöhnischer Drecksack von einem Bullen, der eine rare Gelegenheit nutzt, OBWOHL er 24/7 im Dienst ist und nie eine Pause einlegt beim Bulle-Sein." Für jeden anderen hätte das wohl sehr kryptisch geklungen, doch Yamato, der ja in einem Sonderkommando gedient hatte, erschloss sich die Bedeutung dieser bitteren Feststellung eindeutig. "Bei den meisten klappt's mit der Familie erst, wenn sie weg von der Front sind." Bemerkte er ruhig, setzte sich auf. "Wieso bist du eigentlich nicht in einer Spezialeinheit? Du bist in Topform, hast die richtige Größe und ganz blöd bist du auch nicht. Oder haben die mitbekommen, dass du auch vom verbotenen Teller naschst?" Kazushige grunzte abschätzig. "Das ist mittlerweile wie bei den Amis. Don't ask, don't tell. Und ich plakatiere nicht gerade, wo ich meine seltene Freizeit verbringe." "Na, dann verstehe ich nicht...?" Yamato blieb hartnäckig und war von sich selbst überrascht. Mit einem One-Night-Stand, und vor allem diesem!, eine ernsthafte und persönliche Unterhaltung zu führen, das war nun wirklich sehr ungewöhnlich! "Das liegt daran, dass ein Lungenflügel beschädigt ist und mir eine Niere fehlt." Kazushige drehte sich zu ihm herum. Seine Finger berührten die Narben, die Yamatos Interesse geweckt hatten. "Übel." Zeigte Yamato Mitgefühl. "Wie ist das passiert? Ein Unfall?" "So ungefähr." Kazushige grimassierte, als hätte man ihm statt süßem Saft Essig serviert. "Am Anfang hatte ich mich tatsächlich für eine Sondereinheit beworben. Während der Anwärterzeit war ich im Hauptquartier, Nachtschicht, Zellendienst. Einige der Typen dort wollten mir einen Streich spielen. Sie hatten einen Kerl, der auf Entzug war, dazu noch Psychosen hatte, gewalttätig, kurzum ein echter Sonnenschein eingebuchtet. Zu dem haben sie mich rein geschickt, sind dann rausgegangen. Der Psycho hatte ja Handschellen, alles kein Problem! Der würde mir einen ordentlichen Schrecken einjagen, wenn er mit Cold Turkey austickte, das wär's aber auch schon, dachten sie sich. Da war er ja auch friedlich. Kaum waren sie draußen, hat der seine Brille runtergerissen, die Bügel abgezogen, die er durch Skalpelle ersetzt hatte und ging auf mich los. Der war so fix, dass er mich schon mehrfach erwischt hatte, bevor ich überhaupt begriff, was los war. Die Komiker draußen dachten natürlich, es wäre eine Gaudi, haben sich also Zeit gelassen. Tja, und als ich dann nach zwei Tagen aufwachte, war's mit einer Zukunft bei einer Spezialeinheit aus." "Verdammt." Yamato biss sich mitfühlend auf die Unterlippe. Kazushige zuckte mit den Schultern. "Sie haben mir die Gnade erwiesen, mich zu den Fußtruppen zu stecken: kleiner Posten, nette Leute, keine Aufregung. Ist doch reizend! Jetzt bin ich ja im Hauptquartier, ist doch auch fein!" Nein. Nein, diese Wunde schmerzte noch, das konnte Yamato sehen. Mutmaßlich gab es da erneut einen Beweis für die Ungerechtigkeiten, die den Ermittler veranlassten, seinen Whiskey niederzustarren. "Ich nehme mal an, die Sache ist vertuscht worden, und es gab bloß ein paar Bauernopfer?" Hasardierte er. Kazushige schenkte ihm einen bezeichnenden Blick, dann ließ er die Schultern kreisen, als müsse er die unerfreulichen Erinnerungen abschütteln. "Wenigstens läuft heute so eine Schweinerei nicht mehr. Direktor Sagara beim MPD ist unerbittlich, was Schikane betrifft und außerdem zusammen mit dem berühmt-berüchtigten Captain Mahori vom Bomben- und Sprengstoffkommando. Purer Selbstmord, sich mit den beiden anzulegen." Yamato hatte von diesem Gerücht auch schon gehört. "Der Schöne und das Biest?" "So ungefähr." Kazushige lächelte schief. "Aber die gesamten Einheiten stehen hinter ihnen. Niemand reißt blöde Witze." "Was gute Männer in wichtigen Positionen bewirken können..." Schmunzelte Yamato und strich unwillkürlich über die Platoons auf seiner Brust. Ein melancholisches Schweigen setzte ein. Für eine schlichte "Nummer" hatten sie einander schon zu viele persönliche Dinge anvertraut, doch jetzt einfach duschen und gehen, das erschien ihnen beiden als stillos und nicht befriedigend. Yamato riss die Regie an sich, schlang die Arme um Kazushiges Taille und ging ungeniert auf Kontaktsuche mit dessen Schoß. "Ha!" Raunte er begehrlich. "Dachte mir doch, dass hier noch was geboten wird." "Bist nicht der einzige tolle Hecht im Karpfenteich." Pflaumte Kazushige grimmig, wehrte jedoch die gezielten Handreichungen nicht ab. "Du wirst doch nicht erwartet, also können wir ja rausfinden, wie viele Runden du stehst!" Yamato drückte die Zähne spielerisch in Schultermuskeln. Ein Infight endete schließlich auch erst, wenn der Ringrichter die 10 erreichte. "Verdammt eingebildeter Schnösel!" Knurrte der Ermittler, drehte sich herum und drückte Yamato auf die Matratze. "Sieh dich vor, dass DU nicht nach dem Handtuch rufst!" "Keine Chance." Yamato bleckte das komplette Gebiss auf, funkelte hoch in das markante Gesicht. Dieser Bulle würde ihn nicht so weit bekommen, dazu hatte er sich zu sehr in der Gewalt. Kazushige studierte mit steinerner Miene einen Augenblick lang das attraktive Gesicht mit den ungewöhnlich hellen Augen unter sich. Wie damals, als sie einander zum ersten Mal über den Weg gelaufen waren, meldete ihm sein Instinkt, dass etwas Verborgenes, Geheimes von diesem Mann ausging. Es war immer nur eine Ahnung gewesen, doch Kazushige Makita, der dämliche, misstrauische, argwöhnische Drecksack von einem Bullen, hatte schmerzhaft gelernt, auf sie zu vertrauen. ~+~o~+~ Vielleicht war es ein wenig zu leicht gewesen, den muskulösen Bullen auf die Matte zu schicken. Möglicherweise hätte er sich nicht triumphierend auf dessen Hüfte pflanzen sollen, sich runterbeugen und eine Brustwarze ziemlich nachdrücklich benagen. Übermütig, ja, das war er, nicht vorsichtig genug. Yamatos Kopf wurde in den Nacken gerissen, ein unwillkürlicher Reflex in einer Serie von Spasmen. Er versuchte vergeblich, sich zu artikulieren. Kazushige hingegen gab die Handgelenke nicht frei, hielt sie fest auf der Matratze, während er gleichzeitig mit austrainierten Schenkeln seine Hüfte schwungvoll anhob, die kräftigen Muskeln in seinem Rücken nutzte. Ein bisschen hatte er den naseweisen Ex-Elitekämpfer schon triezen wollen, doch die Eigendynamik, die er ausgelöst hatte, überforderte ihn selbst. Es war wie ein gewaltiges Schwungrad, das einmal im Betrieb nicht mehr aufgehalten werden konnte und in immer kürzeren Sequenzen kreiselte. Er konnte sich selbst nicht bremsen und landete erneut einen Volltreffer in der glühenden Hölle, die Paradies werden konnte. ~+~o~+~ Als Yamato versuchte, die Augen aufzuschlagen, waren sie derart verklebt, dass er nur schmierige Schemen erkennen konnte. Er hörte ein seltsames, raues Rasseln und benötigte einen langen Augenblick, um zu begreifen, dass das Geräusch seiner eigenen Kehle entkam. "Langsam." Mahnte die Stimme des Ermittlers, dann presste sich ein solider Glasrand an Yamatos aufgerissene Unterlippe. In das kalte Wasser mischte sich der kupfrige Geschmack von Blut. "Es tut mir leid." Hörte er die sonore Stimme an seinem Ohr, Resonanzen dröhnten in dem nackten Brustkorb an seinem vollkommen verspannten Rückgrat. Mit einem rasselnden Laut rang er nach Luft, hustete erbärmlich und schniefte mit verstopfter Nase, dann setzte die Erinnerung ein und färbte seine Wangen schamrot. Kazushige, der Yamato in eine Decke wie eine Frühlingsrolle eingewickelt hatte, rieb mit dem freien Arm energisch über erreichbare Gliedmaßen, während er ihn stützte, gegen ein Kissen am Kopfteil des zerwühlten Bettes gelehnt. Yamato bekam die Hände nicht frei, die er instinktiv vor das Gesicht schlagen, seine Beschämung verbergen wollte. Er fühlte sich kraftlos und klapprig, konnte das aufkommende Zittern, das seinen gesamten Körper erschütterte, einfach nicht bezwingen. "Das ist okay, es geht vorbei." Beruhigte Kazushige leise, obwohl Yamato zweifellos um Anzeichen eines Schocks wusste, doch im Moment schien er kaum zu erreichen. "Es war nicht fair von mir." Bekannte er selbstkritisch. Ja, er hatte diesem Schnösel eins auswischen wollen und GEWUSST, dass der irgendetwas vor ihm verbarg, aber es lag nicht in seiner Absicht, den selbstsicheren, stolzen Kämpfer in ein völlig erschüttertes, schluchzendes Häufchen Elend zu verwandeln, das zwischen Himmel und Hölle auf einem sehr schmalen Grad balancierte. Obwohl er verzweifelt versuchte, es zu unterdrücken, ja, sogar seine bereits in Mitleidenschaft gezogenen Lippen mit den Zähnen perforierte: Yamato begann zu weinen, mit verkrampften Aufschluchzern, wenn er nicht genug Luft bekam, anklagend und zutiefst unglücklich, weil er einen unerträglichen Verrat begangen hatte. "Sch sch sch!" Kazushige wiegte den eingewickelten Mann wie ein kleines Kind, drückte mit einer großen Hand das brennende Gesicht in seine Halsbeuge. "Ist doch alles gut. Nicht mehr weinen. Sch sch sch!" Für Yamato war gar nichts gut. Er hatte sich etwas geschworen und nun, aus dummem Übermut, war dieser Eid gebrochen, hatte er seine große Liebe verraten! "Er ist ein guter Mann, nicht wahr?" Kazushige versuchte unbeholfen zu trösten, in Worte zu gießen, was er vermutete und sie nicht bleischwer wie Hindernisse zwischen ihnen fallen zu lassen. "Ein guter Mann, dieser Will. Er versteht es." Yamato schluchzte wie ein gequältes Tier auf. Hatte er etwa Wills Namen gerufen, sogar DAS noch getan?! "Sch sch." Kazushige streichelte und summte hilflos, weil ihm selbst der Hals eng wurde. Mochte er auch eine stoische Miene aufsetzen, solches Unglück, wie ihm da gedämpft über Halsbeuge und Schlüsselbein tropfte, berührte ihn tief im Innern sehr. Das hatte er nicht gewollt. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis Yamato nicht mehr wie Espenlaub zitterte, untröstlich schniefte, weil er schon zu heiser zum Schluchzen war und auch keine Tränen mehr hatte, die seinen entzündeten Augen entkommen konnten. Und das zum Fest der Liebe! Kazushige nötigte ihn, sich auszustrecken und legte ihm eine kühlende Kompresse auf die geschwollenen Lider. Er selbst nahm an Yamatos Seite Platz, mit der zweiten Yukata nachlässig bekleidet, nachdem er sich kurz abgetrocknet hatte. Mit einem zerknirschten Blick nahm er die in Mitleidenschaft gezogene Gestalt neben sich auf. Was hatte er da bloß angestellt?! Der Ermittler straffte seine Haltung, schob entschieden das kantige Kinn vor und nahm behutsam eine verkrampfte Hand in seine, hielt sie warm und ignorierte das reflexartige Zucken. "Entschuldigung." Brummte er leise. Yamato hob die freie Hand in einer wedelnden Geste, die wohl bedeuten solle, es sei nicht der Rede wert, vergesse man einfach alles und überhaupt, haha, was für eine lächerliche Szene! Kazushige kaufte diese Lüge natürlich nicht, ebenso wenig gab er die Hand frei, die er gekapert hatte. "Es ist, wie meine Ex gesagt haben: 24/7 ein dämlicher, misstrauischer, argwöhnischer Drecksack von einem Bullen. Liegt wohl in meiner Natur." Versuchte er, seine Intention zu erklären. Da Yamato ihm nicht antwortete, redete er einfach weiter, sprach aus, was ihm gerade so in den Sinn kam. "Wenn einer was verheimlicht, bin ich gerade neugierig. Wenn einer dann wie du auch noch so verdammt PERFEKT ist, so ein Überflieger, da steigt mein innerer Bulle auf die Barrikaden und guckt noch genauer. Allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass, na ja, ich in eine Sperrzone eindringe." Er räusperte sich verlegen, denn üblicherweise führte er derlei Gespräche nicht. "Ich meine, von meiner Warte aus betrachtet ist es schon eine reife Leistung, dass sich überhaupt was tut, dass der kleine Bulle da unten nicht schon vermodert oder außer Betrieb ist, verstehst du? Ich bin nicht wirklich so ein Champion, was die Popp-Interaktion betrifft." Schon allein mangels Gelegenheiten. Kazushige fuhr sich durch die wirren Haare. "Von einem gewissen Standpunkt aus macht es das ganze noch einen Tick schlimmer, aber ehrlich, ich kann doch niemanden in den Schatten stellen, richtig? Ich meine, das hier ist doch ein Stellvertreterkrieg, oder? Mir stinkt mein Boss gewaltig, der mir verbietet, ein richtiger Bulle zu sein und überall herumzuschnüffeln, und du hast eben auch was zu kompensieren. Also sind wir quasi gar nicht hier, philosophisch gesprochen." Yamato entrang sich ein näselndes Schnauben, dann pflückte er mit der freien Hand die Kompresse von seinen Augen. Ein blutunterlaufener Blick hoch zu Kazushige schloss sich an. "Ich weiß gerade wirklich nicht, ob ich dir eine reinhauen oder loslachen soll." Krächzte er ausgetrocknet. Kazushige fischte das Wasserglas. "Wenn wir systematisch vorgehen, fangen wir am Besten mit einem Schluck Kranenberger an." Er reichte es Yamato, der sich in eine sitzende Haltung stemmte. Zu seiner Beschämung musste er es mit beiden Händen halten, fühlte sich so schwach wie eine nasse Motte. Dann studierte er Kazushige müde. Wieso ausgerechnet er?! Wieso musste dieser AMATEUR genau die richtigen Register ziehen, wie es zuvor nur Will getan hatte?! Ihm einen so heftigen Orgasmus aufnötigen, den er geschworen hatte, nur mit seiner großen Liebe zu teilen? SO war das nicht vereinbart gewesen!! "Ich weiß." Brummte Kazushige mit einer schiefen Grimasse. "So war es nicht ausgemacht." Yamato drehte das leere Glas in seinen Händen, hielt den Blick darauf gerichtet. "Ist nicht deine Schuld. Das habe ich mir selbst zuzuschreiben. Normalerweise..." Er brach ab. Ja, wenn er auf die Pirsch ging, dann achtete er darauf, sich zu erleichtern vom Druck, aber nie ließ er die Zügel so sehr schleifen, dass einer seiner Bettgenossen es geschafft hätte, ihn derart in Ekstase zu versetzen. »Tja, kleine Nachlässigkeiten bestraft der liebe Gott sofort!« Verspottete ihn seine innere Stimme gnadenlos. "Soll ich gehen?" Bot Kazushige unterdessen an. "Wer bringt mir dann einen Tee?" Quengelte Yamato postwendend und fragte sich, warum der Gedanke, hier allein zurückzubleiben, so verstörend auf ihn wirkte. Nun gut, es gab nicht viel Deprimierenderes als in einem Lovehotel solitär herumzuliegen und sich selbst bittere Vorwürfe zu machen. Unterdessen hatte Kazushige sich erhoben, aus einem der allgegenwärtigen Wasserkocher Flüssigkeit über zwei Teebeutel gegossen und reichte Yamato nun eine Tasse. Der nahm sie entgegen, murmelte einen Dank und schlürfte vernehmlich, um seine raue Kehle zu behandeln. "Ist wohl besser, ich verziehe mich, bevor ich's noch schlimmer mache." Brummte Kazushige, beugte sich über Yamato, der überrumpelt zu ihm aufsah und küsste ihn sanft auf die Stirn. "Schließlich waren wir ja beide gar nicht richtig hier." Aus einem spontanen Impuls heraus packte Yamato ein kräftiges Handgelenk, als Kazushige Anstalten machte, seine Kleider aufzusammeln. "Nicht so eilig!" Abwartend hielt der Ermittler inne, studierte das von Tränen gezeichnete Gesicht, die rotstichigen, ungewöhnlich hellen Augen. "Komm her." Kommandierte Yamato, schlug das Bett auf. "Bei einem Zehnkampf ist ja auch nicht nach der zweiten Disziplin Schluss." Kazushiges Augenbrauen zogen sich überrascht zusammen, doch Yamato polterte bereits weiter. "Was denn, hat der 'dämliche, misstrauische, argwöhnische' Mistkerl von einem Bullen etwa Schiss vor ein bisschen Schmusen?" "'Drecksack'." Antwortete Kazushige, als er den ihm zugewiesenen Platz einnahm. "Nicht 'Mistkerl'." "Pardon." Schnaubte Yamato betont pikiert, bevor er sich, mit rasendem Herzschlag, einfach an den Polizisten schmiegte, die schmerzenden Lider schloss. Ja, es war erbärmlich, sich auf so lächerliche Weise mit ein wenig körpernaher Zärtlichkeit einzudecken, aber seelisch so wacklig wie nach diesem Schock wollte er nicht allein bleiben. Es war schon heikel genug auszuhalten, dass seine kleine Familie ziemlich gut ohne ihn zurechtkam! Kazushige hingegen war nicht sonderlich geübt, was Kuschelstunden betraf: das hier hatte nichts mit sportlichen Höchstleistungen zu tun, sondern bedurfte der Geduld, des Mutes. Zögerlich legte er die Arme auf Yamatos Rücken, streichelte über Arme und die Schulterblätter, kraulte schließlich wagemutig einen zarten Nacken. "So einem schrägen Vogel wie dir bin ich noch nie begegnet." Grollte er leise. "Na, ich mag dich auch!" Knurrte Yamato zurück und schmiegte energischer. Richtiger Charmebolzen, der Kerl! Kazushige gluckste leise, denn Yamatos trockene Replik brachte ihre alte Schlagdistanz zurück, locker-lässig, ein bisschen prahlen und schön frech provozieren, eben die Art, wie man einen Gegner, den man insgeheim sehr beneidete, ansprach, um bloß TOTAL desinteressiert zu wirken. Er streckte den Arm aus und reduzierte die Beleuchtung auf ein schwaches Glimmen. "Dann mal süße Träume, Schneewittchen." Neckte er Yamato. "Dito, und weck mich, wenn ein Prinz vorbeikommen sollte." Grummelte der grantelnd, untrennbar an den Ermittler angekuschelt. ~+~o~+~ "Es gibt immer noch keinen Alarm?" Shin-chan zog alle Register, denn er traute dem Braten nicht. Zunächst mal war es schon ärgerlich genug, dass es Kippei gelungen war, sich einfach in eine der brisantesten Geheimdienstprotokolle reinzuhacken, wobei streng genommen "einfach" nicht tatsächlich einfach war und eines Genies bedurfte, aber dass überhaupt kein Alarm erfolgte, DAS störte ihn immens. Irgendwer musste doch was gemerkt haben?! Wieso passierte nichts?! Kippei rieb sich müde die Augen. Er hatte wirklich GRÜNDLICH gesucht, um keine einzige Spur zu hinterlassen und war erleichtert, wenigstens an dieser Stelle gute Arbeit geleistet zu haben. Ein wenig bedenklich stimmte ihn jedoch, dass irgendwie jemand geputzt hatte und zwar so gut, dass er einfach nicht nachverfolgen konnte, wer ihm diesen gefährlichen Auftrag erteilt hatte: gefälschte Protokolle, nicht mal ein loses Ende! Da kannte sich jemand SEHR gut aus. "Kann ich jetzt heim?" Erkundigte er sich bei Shin-chan. "Mitten in der Nacht?" Shin-chan hatte seine gewohnt überdrehte Jovialität verloren und bellte beinahe. "Ich hab alles richtig gemacht." Verteidigte sich Kippei unwirsch. Er konnte durchaus anerkennen, wenn jemand besser als er war und JETZT wollte er bei Yamato sein, was Leckeres bekommen, lange schlafen und sich geborgen fühlen. Diese Testerei langte ihm! ~+~o~+~ Yamatos Unterbewusstsein reagierte auf die Melodie, die sein Mobiltelefon, von diversen Schichten textiler Erzeugnisse bedeckt, gedämpft trällerte. In einer Semi-Dunkelheit tastete er nach der Geräuschquelle, setzte sich auf, nachdem er die Augen blank gerieben und die Anzeige studiert hatte. "Kippei? Was ist los?" Erkundigte er sich besorgt. "Klar, ich kann dich nachher abholen. Bist du schon durch mit dem Murks?" Hinter Yamato wühlte sich Kazushige aus den Laken und tappte ins Separee. Wasser lief. "Dieser durchgeknallte Fuzzi hat doch nicht etwa was versucht?" Yamatos Gluckeninstinkt stellte die Ellenbogen aus und drängte sich vor Diskretion, Vertrauen und Schamgefühl. "Also, wenn er doch was gemacht hat... du kannst ihm sagen, ich hab ihn auf dem Radar!" Knurrte Yamato, der den unwilligen Beteuerungen seines jüngeren Bruders nur widerwillig Glauben schenken wollte. Kippei begriff einfach nicht, wie anziehend er auf miese, alte Säcke und übergeschnappte Regierungsknallköppe wirkte! "Ist gut. Pass auf dich auf und lass dich nicht ansprechen, ja?" Diese Ermahnungen kamen ihm automatisch von den Lippen. Ebenso verhielt es sich mit der spontanen Taubheit, was Kippeis empörte Replik betraf. Als er sein Mobiltelefon wegsteckte, trat Kazushige wieder in das Zimmer. "Entschuldigung." Yamato zwinkerte im Zwielicht. "Mein kleiner Bruder hat ein etwas unorthodoxes Zeitgefühl. Ich wollte dich nicht wecken." "Schon okay." Winkte der Ermittler ab und hielt Yamatos konzentriertem Blick ebenso stur stand. Yamato beschränkte sich jedoch nicht auf die höfliche Variante, die es gebot, seinem Gesprächspartner ins Gesicht zu sehen, während man plauderte, nein, ER goutierte den muskulösen Körperbau des anderen Mannes, die souveräne Haltung und die Herausforderung in den dunklen Augen. "Wieso gibst du mir nicht deine Nummer?" Heischte er Kazushige an. "Wieso gibst du mir nicht deine?" Retournierte der konsequent, lehnte sich an den Rahmen des Separee, die Arme vor der Brust gekreuzt. "Würdest du sie nicht benutzen, um mich einzufangen, Herr Gendarm?" Schnurrte Yamato und wischte sich in einer aufreizenden Geste durch die Haare, lehnte sich lässig auf dem Bett zurück. Kazushige ließ sich dieses Mal Zeit, überdachte die Perspektiven. Wenn Yamato 'Räuber' WAR, würde er dann...? "Ich komm dich im Knast besuchen." Gab er schließlich zurück. Yamato grinste erfreut. "So spricht ein wahrer Bulle!" Er setzte sein eingehendes Studium von Kazushiges Erscheinungsbild fort. Der grummelte endlich vergrätzt. "Was dabei, das dir gefällt?!" "Oooooh, jede Menge!" Raunte Yamato und glitt in katzenhafter Geschmeidigkeit vom Bett. "Ich glaube, ich muss noch mal naschen!" Dabei behielt er den Ermittler im Auge und fragte sich, wie wohl dessen Reaktion ausfallen würde. "Das Bett hier ist ohnehin nicht zum Schlafen geeignet." Konstatierte Kazushige und baute sich vor Yamato auf, dessen Hände sogleich den breiten Brustkorb erkundeten. Bevor er jedoch tiefer gehen konnte, um dort den 'Stand' der Dinge zu erkunden, hatte Kazushige ihn kurzerhand im Nacken gepackt, die Hüfte verdreht und nutzte diesen Ausfallschritt, um Yamato zu küssen. DAS war nicht Teil des Spiels! Aber Yamato konnte trotz seiner Empörung über diesen Stilbruch gar nicht anders, als sich ebenfalls mit all seiner Kunstfertigkeit einzubringen. Verdammt, dieser Bulle KONNTE küssen. da wurden einem ja die Knie weich! Ein schmählicher Wegsacker blieb Yamato erspart, weil Kazushige ihn auf das Bett dirigierte, sich über ihn schob und nun Yamatos Brustkorb erkundete. "....he..he!" Yamato rang nach Luft, zerwühlte den Schopf des Ermittlers, der sich keinen Deut mehr um irgendwas scherte und sehr gründlich Yamatos beneidenswertes Sixpack erkundete. "Was... tust... du... denn?!" Kazushige hob den Kopf und bleckte die Zähne. "Ich hab gerade verdammt große Lust auf dich, also nimm das hin wie ein Mann!" Yamato stutzte, dann legte er den Kopf in den Nacken, auf seine Ellenbogen gestützt, und lachte. "Als nächstes sagst du mir noch, ich soll's auch wegstecken wie ein Mann!" Provozierte er mit funkelnden Augen. Der Ermittler lächelte wie ein Raubtier. "Bist ein ganz Fixer, was?" "Das kommt immer darauf an..." Schnurrte Yamato gedehnt. "Ich kann's ziemlich lange, Herr Gendarm." "Davon überzeuge ich mich lieber selbst." Beschied Kazushige ihm ungerührt und ging auf Tauchstation zwischen Yamatos Beinen. ~+~o~+~ Da war dieser Moment, dieser winzige, ewige Augenblick: Kazushiges Hand auf seinem Becken, sein glühender Körper über und hinter ihm, die nassen, gierigen Küsse, zu denen er Yamatos Kopf drehte. Yamato fühlte eiskalte Panik wie einen Eiszapfen in seinen Körper einschlagen: würde er jetzt wieder die Kontrolle verlieren?! Im nächsten Augenblick, mit dem folgenden Herzschlag, überspülte ihn eine unglaubliche Hitze, überall gleichzeitig! Er hörte sich selbst stöhnen und keuchen, jeder Gedanke zerstob in seinem Kopf, er konnte es nur noch fühlen, die überwältigende Woge von Energie, die alle Hemmungen pulverisierte. Yamato ließ sich fallen, gab sich ganz der Ekstase hin. ~+~o~+~ »Verrückt.« Dachte Yamato und trat mit Kazushige aus dem Love Hotel heraus. Es nässte ungemütlich, die Dunkelheit war auch nicht einladend, und in ihm tobte noch immer ein Sturm, weil er sich satt fühlte, erfüllt, zufrieden. Gut, das war schließlich Sinn und Zweck der Vögelei, nicht wahr?! Nur, verdammt, irgendwas hatte er sich da eingefangen! Wieso klebte er jetzt wie ein Idiot auf dem Trottoir fest und suchte verzweifelt nach einem lässigen Spruch zum Abschied?! Kazushige neben ihm klappte den Kragen hoch. "Na dann." "Yepp." Betont souverän wischte sich Yamato durch die feuchten Haare. "Man sieht sich in der Bar, Bulle." "Bleib bloß sauber, Kumpel!" Knurrte Kazushige, bevor er noch mal knapp nickte, dann mit großen Schritten zügig davonmarschierte. "Scheiße." Stellte Yamato kaum hörbar fest und machte sich in die Gegenrichtung auf. Es verhielt sich ja nicht so, dass der Bulle sein Typ war und es wäre schon lästig, von dem Kerl eingebuchtet zu werden, nur weil der ein Faible für ihn hatte! "Scheiße." Wiederholte Yamato und tigerte Richtung Bahnhof, um dort Kippei aufzulesen. Trotzdem wäre es ganz nett gewesen, so zwischendrin, na ja, noch mal ne Nummer zu schieben! Immer nur Gewichte stemmen und Kampfsport, das war schon ein bisschen einseitig, oder? Dezent enttäuscht und ein ganz klein wenig grollend rammte er die Fäuste tief in seine Hosentaschen und zog die Schultern hoch, um dem Regen weniger Angriffspunkte zu bieten, da ertastete er einen Papierfitzel. Yamato beförderte ihn rasch an die Oberfläche. Eine Telefonnummer war es nicht, aber dank Kippeis wiederholten Basis-Lektionen für Internet-Dummies wusste er, dass es sich um eine IP-Adresse handeln musste. »Sieh an!« Strahlte er triumphierend. »Der Bulle ist DOCH bei mir schwach geworden!!« Prompt stellte sich sehr gute Laune ein, was Kippei in die glückliche Lage brachte, einen ganzen Berg von Reis-Omelette nach ihrer Heimkehr vertilgen zu dürfen. ~+~o~+~ Kazushige ignorierte das Glotzen der frühen Pendler. Na und, dann war eben sein Anzug zerdrückt, der Hemdkragen offen und die blöde Krawatte in die Reverstasche gestopft! Er war wenigstens geduscht und hatte seine tiefschwarze Laune definitiv überwunden. Ob dieser freche Kerl seinen Zettel gefunden hatte und sich melden würde? »Na klar!« Ätzte er sich selbst an. »Der Typ kann jeden aufreißen, der ihm gefällt. Und DU musstest es mal wieder total übertreiben!« »Nicht mit Absicht!« Konterte Kazushige vehement. »Und IHM hat's ja auch gefallen!« Andererseits musste man kein Hellseher sein, um zu wissen, dass der knackige Bengel noch sehr unter dem Verlust seines Anführers litt. "Kacke!" Formulierte Kazushige tonlos seinem Spiegelbild im Bahnabteil, dann jedoch bemerkte er, WARUM getuschelt und geglotzt wurde: an seinem Hals prangte der wildeste Knutschfleck, den er je gesehen hatte und den würden weder Kragen, noch Krawatte gänzlich verbergen! "Dieser miese, kleine Drecksack." Murmelte Kazushige voller Anerkennung, konnte das Grinsen nicht unterdrücken. Na warte, wenn er den Kerl zu fassen bekam! Und das würde er, selbst wenn er die gesamte Stadt auf den Kopf stellen musste!! ~+~o~+~ "Was tu ich hier?" Kats Stimme klang rau, sie hatte unter der Decke die Beine eng vor den Leib gezogen und beäugte Tamaki halb trotzig, halb bange. Tamaki, der eingedenk der Ermahnungen in den benachbarten Supermarkt gezogen war, um genug Proviant für ein standesgemäßes Frühstück zu besorgen, lächelte und ließ sich auf der Bettkante nieder. "Erinnerst du dich an gestern Abend?" Erkundigte er sich gelassen. "Du warst ziemlich ausgelassen, wahrscheinlich wegen der Schmerzmittel und des Fiebers. Da habe ich ganz schamlos deine Laune ausgenutzt und dich mit nach Hause genommen." "....sehr unverfroren." Kommentierte Kat ungewohnt schutzlos. "Ja." Tamaki pflichtete ihr unumwunden bei. "Da habe ich mich echt als Charakterschwein entpuppt. Du hast also jedes Recht, mir so richtig einen reinzuwürgen!" Kat schob die Decke noch höher um sich und wich seinem Blick aus. "Willst du vielleicht erst was frühstücken? Und dich frischmachen?" Tamaki erhob sich. "Mit einer ordentlichen Grundlage lässt sich auch viel besser Vergeltung üben!" Er schob den Vorhang, der sein Bett in seinem Studioappartement vom Rest der Einrichtung separierte, beiseite. "Magst du lieber Kaffee oder Tee?" "Tamaki...?" Ihr leiser Ruf hieß ihn sofort kehrtmachen. "Ja, Kat?" Sie holte tief Luft, reckte das Kinn, bemühte sich um eine arrogant-selbstsichere Haltung. "Besteht die Gefahr, dass ich von dir schwanger bin?" Ein liebevolles Lächeln erleuchtete Tamakis Gesicht, als er sich über sie beugte und, ohne ihre Zurückhaltung zu verübeln, ihre Stirn küsste. "Dieses Mal nicht, Kat. Und ich weiß, das war unfair von mir. Ich hab mich einfach von der Kette gelassen." Diese ungewöhnliche, trotzig-tapfere, argwöhnisch-verschreckte Frau unter Ausnutzung ihrer Indisposition in seinen Bau verschleppt und dort nach allen Regeln seiner Kunst vernascht. "Depp." Murmelte Kat und grub die Fingernägel tief in seinen Arm. "Yepp." Gab Tamaki ihr recht und zog sie in seine Arme, hielt sie so fest, wie sie es beide gerade noch ertragen konnten. "Ich bin verliebt in dich." Flüsterte Tamaki mit rasendem Herzschlag in ein apartes Ohr. "Das wirst du noch bereuen." Hörte er als Replik in seinem Gehörgang und spürte durch sein Sweatshirt einen flatternden Herzschlag, der NICHT sein eigener war. "Das werden wir sehen." Nahm er die Herausforderung an, schob Kat ein wenig von sich, um sie besser küssen zu können. Als er sich zurückzog, glühten ihre Wangen unerhört attraktiv, ihre Augen waren geweitet, dann jedoch kräuselte sie streng ihre Augenbrauen und erkundigte sich argwöhnisch. "Hast du etwa Pflaumenmus gekauft?!" "Hmm." Tamaki grinste frech. "Schmeckst du's? Ich wollte bloß mal kosten." "Du hast Pflaumenmus und erwähnst das erst jetzt, obwohl mir mein Magen schon in den Kniekehlen hängt?!" Empört raffte Kat die Decke um sich herum und richtete sich zur vollen Größe wie eine Königin auf. "Ich werde jetzt duschen, und dann erwarte ich ein Frühstück. Das gehört zu den Pflichten eines Entführers!" "Sehr wohl, Anbetungswürdige! Die Dusche harrt deiner, außerdem habe ich mir erlaubt, meine bescheidenen Kleider zu deiner Verfügung auszulegen!" "Hrmpf!" Bemerkte Kat in hochmütiger Pose, das Kinn so hoch gereckt, dass sie sich an der Zimmerdecke orientieren musste, um nicht zu kollidieren. "Möglicherweise bist du ja doch kein so hoffnungsloser Fall." "Welche Ehre, Eure Anerkennung gewonnen zu haben!" Schleimte Tamaki mit sichtlichem Vergnügen, absolvierte einen tiefen Kratzfuß. "Ihro Gnaden sind zu gütig!" Als er sich abwandte, um das Frühstück zu bereiten, huschte Kat auf Zehenspitzen in seinem Windschatten hinter ihm her und kniff ihn kräftig in die Kehrseite. "He!! Die brauche ich noch!" Lachend rieb Tamaki sich den sehr engagiert geprüften Podex und jagte Kat in sein winziges Erfrischungskämmerchen. Weil man so wenig Platz hatte, konnte man auch nur Arm in Arm duschen, einander Tropfen aus den Wimpern wischen und ganz ohne Worte darin übereinstimmen, dass DAS hier erst der Anfang war. ~+~o~+~ Piccolo arbeitete sich systematisch durch die Herausforderungen eines digitalen Auftritts. Zuletzt richtete er den elektronischen Warenkorb ein, bevor er das Reklamebanner freischaltete. "Nett." Komplimentierte er sich selbst und bleckte die spitzen Zähne. Er war schon gespannt, wie lange es dauern würde, bis der erste verrückte Fan bei seiner Auktion mitbot! Dass sein neues Geschäft ihm die Langeweile vertrieb UND seine Portokasse füllte, stand ganz außer Zweifel, denn welcher weibliche Fan würde nicht danach verlangen, die beiden letzten richtigen Saiyajin im Infight zu sehen, ohne Feigenblatt im Nahkampf, schweißglänzend, die Ekstase des Kampfes auskostend? "Dumm wie Bohnenstroh, aber sehr nützlich." Triumphierte Piccolo gut gelaunt und überschlug, wie lange es dauern würde, um mit seiner neuen Einnahmequelle weitere kleine, gemeingefährliche, weiße Katzen aus Marzipan finanzieren zu können. ~+~o~+~ "Kommt echt gut, was?" Der Dude nickte Dara zu und wärmte sich gleichzeitig die Zehen an einer unterseeischen, brodelnden Quelle, die vom Erdkern aufgeheizt wurde. "Hmmm." Kommentierte der ehemalige Engel genießerisch und zog an der Wasserpfeife. "Sachma'..." Der Dude kraulte seinen besten Kumpel, den Riesenkalmar. "Wo is'n eigentlich dein Azubi abgeblieben?" Nicht, dass er etwa Sehnsucht nach diesem furztrockenen, humorlosen Schlagtot gehabt hätte. "Oh, der." Dara dachte einen Moment nach, weil er höchst ungern sein geschickt mit den Wunderwerken der Chemie erweitertes Bewusstsein für die banalen Niederungen seines Auftrags im Stich ließ. "Zuletzt habe ich ihn an der Abbruchkante gesehen. Hat herumgezetert. 'Wer ist dafür verantwortlich?! Was für eine Unordnung! Wo ist mein Klappspaten?'" "Der wird nich alt bei euch." Prophezeite der Dude unsentimental. Aber nett von dem Typen, sich weit weg nützlich zu machen, denn das bedeutete wohl, dass er ihnen hier nicht auf den Keks gehen konnte, richtig? "Tja, wenn er so nen Ordnungstick hat." Dara juckte das nicht sonderlich. Temporär zumindest war Galmon nicht SEIN Problem, darauf kam es an. "Respekt!" Zollte der Dude ihm Beifall. Er erkannte eine elegante Lösung, wenn sie ihm auf die Füße trat. Für eine Weile trieben sie genüsslich auf einer imaginären Wolke des Wohlbefindens und des Einsseins mit der Galaxie dahin, dann stellte der Dude resignierend fest. "Siehste, da haben wir schon wieder die Welt gerettet, und kein Schwein juckt's." "Yepp!" Dara nickte bedächtig. "Es is wie immer, Kumpel: ein totaler Affenzirkus." Das würde es wohl auch weiter bleiben, seit eine Sorte Affen es nicht mehr zurück auf den Baum geschafft hatte. ~+~o~+~ ENDE ~+~o~+~ Danke fürs Lesen! kimera