Titel: Alltags-Paradies Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Parallelwelt Ereignis: Valentinstag 2023 Erstellt: 06.02.2023 Disclaimer: alles Meins, soweit nicht anders erwähnt. Semori, Fixis, Leah Lexx und "Sugar Cane" treten zuerst in "Botschaft" auf. @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- @-x-- Alltags-Paradies Semori tauschte behutsam seine Hand mit dem kleinen, gestrickten Yak aus, pflückte dabei beiläufig einige Daunen von Kopfkissen und Bettdecke. Nach einem ersten Schrecken darüber (in Sorge, der Paradiesvogel befände sich nach der Gehirnerschütterung samt Platzwunde auch noch in der Mauser) gewöhnte er sich daran, die schillernden Federn einzusammeln und dem freundlichen Yeti in ihrem Hauptquartier auszuhändigen. Dieser dekorierte nicht etwa die von ihm servierten Getränke damit, sondern bastelte Windspiele und andere Schmuckgegenstände daraus. Die von Fixis, technische Leitung des "Weihnachtslands", modifizierte Laterne warf in Blickrichtung einen hellen Lichtstreifen an die Wand. "Ich werde bald wieder nach dir sehen, Orinocco." Versprach Semori leise, zupfte die Bettdecke über der zusammengekauerten Gestalt zurecht. Er nahm als "Geschäftsleitung" (inklusive Personalmanagement, Buchhaltung und Intermediär) sein Versprechen, "Sugar Cane" oder geboren Orinocco stets eine Hand zu reichen und für ein Aufwachen zu sorgen, sehr ernst. Letzteres war sogar schriftlich in Semoris Arbeitsvertrag enthalten, seiner kuriosen Einstellungsumstände geschuldet. Zum ersten Mal seit 25 Jahren in Erfüllung der "Pole-Position" (wie Fixis beim Ausfall der Probezeit zwinkernd gekalauert hatte) stand Semori vor einer Herausforderung, die keine Lösung offenbarte. Die verhinderte "Zuckerfee", die ausgerechnet an Heiligabend durch ein Portal unvermittelt in das geothermische Bad gestürzt war, um sich dem Weihnachtsmann anzudienen, gehörte nicht zu den üblichen Bewohnenden des "Weihnachtslands am Nordpol". Auf dieser Seite der Dimension gab es keinen magnetischen (Nord-)Pol, wohl aber Schnee, Eis, Gebirgsketten, eine Tundra und geothermische Quellen, die eine klimatisierte "Oase" frei schmolzen und Raum für eine Art Regenwald boten. Zuerst siedelten sich die Yetis an, die sich um die Yaks kümmerten. Einige von ihnen fanden Gefallen an der Shangri-La-ähnlichen Flora im Regenwald, die sich an die seltene Erscheinung der zwei Sonnen angepasst hatten. Bis zur Prägung von Vorstellungen eines "Weihnachtsmanns" in einem entsprechenden Ort durch Gedichte und vor allem Werbung war es ein sehr ruhiger Ort, der an die Geschäftsleitung keine besonderen Anforderungen stellte. Dann wurde es jedoch sehr turbulent, denn in (vergleichbar) rapider Abfolge mussten fliegende Rentiere, Wichtel, Elfen, übersüßte Plörre saufende Eisbären und stereotypisierte Pinguine einquartiert werden. Ein Paradiesvogel wie Orinocco, selbst als "Zuckerfee", gehörte nicht zur Zielgruppe, für die der Große M hier eine neue Heimat anbot. Andererseits hätte der "Ausgang", ein innerdimensionales Portal, nicht in dieser Funktion und vor allem unregistriert benutzt werden können dürfen. Man musste nicht mit Leah Lexx, der Leitung für die Sektion Einnahmebeschaffung durch juristische Auseinandersetzung in Bezug auf Rechte/Copyright-Verwertung, häufiger Austausch pflegen, um zu prognostezieren, dass es keineswegs angenehm zu diskutieren wäre, wie ein zufällig zu Besuch weilendes Wesen in der Therme ausrutschte und sich die Stirn aufschlug! Vor Paragraphenzeichen würde einem da ganz blümerant! Zudem verfügte "Sugar Cane" nicht über eine der Kälte angemessene Kleidung, vom ärztlichen Bulletin ganz zu schweigen. Eine prompte Rückführung stand somit nicht zur Debatte. Semori sah sich in der Verantwortung für alle seine Mitbewohnenden, ob sie nun sehr lange oder gerade einen Wimpernschlag ansässig waren. Allerdings hatte er es bisher noch nicht mit einem Hermaphroditen zu tun, dem man "manisch-depressiv, ohne wirksame Medikation" zuletzt in die Krankenakte notiert hatte. Inzwischen zeigte sich ihm, dass es weniger eine Diagnose als eine Beschreibung der Außenwirkung des Verhaltens auf andere war. Tatsächlich verfügten sie hier im Weihnachtsland über eine schlichte Medi-Station, doch für eine chronische Disposition, bei der niemand zu sagen vermochte, ob sie auf einer organischen, psychischen oder anderen Ursache beruhte, waren sie nicht ausgestattet. Dennoch verschwendete Semori keinen Gedanken daran, Orinocco durch das offizielle Portal zu exilieren. Wohin hätte sich der Paradiesvogel auch wenden sollen? Ausweislich den Papieren in der Handtasche befleißigte sich Orinocco wechselnder Engagements reisender Kunstschaffender, ohne feste Adresse. Nachdem zunächst die äußeren Verletzungen versorgt und die Gehirnerschütterung abgeklungen war, hatte er dank ihrer Strickkollektion aus Yak-Wolle ein Ensemble zusammengestellt und zur Kompensation des fehlenden "Weihnachtsmanns" mit Orinocco einen Abstecher raus in die Heimat der Yetis unternommen. Um die Problematik des "Weihnachtsmanns" zu erläutern: die "göttlichen" Aspekte wie Rückkehr längerer Tage und Sonnenscheindauer wurden samt ihrer originären (göttliche Wesen-)Erfindungen in eigenen Ressorts untergebracht. Die "Vorstellungen" gründeten auf die sehr schnell abebbende Überzeugung, es gäbe tatsächlich einen Weihnachtsmann, was man nur sehr kleine Menschenwesen für eine durchaus überschaubare Zeitspanne glauben machen konnte. Deshalb gab es ja die aufblasbaren Puppen in den Schlitten unter den Zeppelinen, aber das behielt sich Semori für einen späteren Zeitpunkt vor. Orinocco war, wie er selbst vor 25 Jahren, nicht mit so viel Schnee in jeglicher Form vertraut. Im Gegensatz zu ihm selbst konnte der Paradiesvogel jedoch mühelos pfeifen, flöten, trillern, tirilieren. Als die Yetis (mutmaßlich grinsend, was man ihnen kaum ansah) Orinocco mühelos auf dem Buckel zurückbrachten, hatte der Hermaphrodit sich erschöpft vor Begeisterung, schneller Auffassungsgabe, Schneeballschlachten und Yak-Kuscheln. Letztgenanntes roch man unmissverständlich, doch Semori pellte Orinocco einfach aus den in ihrem wohltemperierten Hauptquartier überflüssigen Bekleidungsschichten, lüftete diese aus und bugsierte den Paradiesvogel in ihr Sitzbad. Die Yetis mochten Orinocco (das konnte man sogar an den Blüten im Getränk erkennen), die Yaks liebten das pfeifende, tanzende Vögelchen und selbst die aufsässigsten Pinguine (die man am echten Nordpol nun wirklich nicht antraf), verehrten die ehemalige "Zuckerfee". Glücklicherweise zeigte dieser erste Ausflug keine der Symptome, die Semori in der Krankenakte entdeckt hatte. "Ist vielleicht so eine Art Kurzschluss oder Wackelkontakt." Optionierte Fixis, als sie beim morgendlichen Gedankenaustausch saßen. "Ich meine, wir sind ja ständig mit unserer Umwelt verbunden, ganz automatisch. Wenn das jetzt aber mal nicht hinhaut, ich meine, Menschen! Die sind ja komplett abgekabelt! Deshalb benehmen die sich ja so, hoppla, ihr wisst schon!" Zur Betonung rollte er über dem gewaltigen Schnauzbart nicht nur mit den Augen, sondern ließ auch noch den ausgestreckten Zeigefinger an der Schläfe rotieren. Klarer Fall, Menschen verfügten serienmäßig nicht über alle Schrauben, Muttern und sonstiges! "Möglich." Leah Lexx näherte sich schon der Neige ihres Henkelbechers mit Kaffee und kam auf Betriebstemperatur. "Bloß ist der Piepmatz, ich meine Orinocco, ja keine Maschine. Wenn es ein Wackelkontakt ist, wie soll man das beheben?" Wobei sie demonstrativ auf die Krankenakte tippte, die alle diesbezüglichen Anstrengungen säuberlich dokumentierte. Fixis schnaubte in seinen Met, denn biologische Wesen gehörten ja wohl definitiv NICHT in sein Ressort! Semori kaute langsam an einem Stück Kokosnussfleisch. Orinocco war wie alle Hermaphroditen in einer Gruppe aufgewachsen, um in den unterschiedlichsten Künsten unterwiesen zu werden, damit sich ab dem 14. Lebensjahr Patronate einstellten, vereinbarte Verträge mit Sponsoren. Im Alter von acht Jahren war das erste Mal ohne Zweifel erkennbar, dass dieses Kind anders war, weil es sich beim euphorischen Tanzen das linke Bein brach, einfach nicht damit aufhören konnte! Zur Verletzung kam ein psychischer Schock über den Kontrollverlust hinzu, kombiniert mit der Erfahrung, den anderen Kindern Angst gemacht zu haben. Anschließend fiel Orinocco in eine bodenlose Schwärze, vegetierte apathisch vor sich hin, darauf hoffend, dass irgendwann doch wieder die Selbstkontrolle übernahm, man sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf ziehen könne. Obwohl Orinocco weiterhin ausgebildet wurde, konnte die eingeschränkte Perspektive nicht ignoriert werden. Zahlreiche Versuche waren dokumentiert, mentales Training, verschiedene Ernährungsumstellungen, Meditation, temporäre Isolation. Nur vor der Gabe starker Sedative schreckte man zurück. Denn wie sollte Orinocco sich sonst selbst wiederfinden? Für Semori der Orientierungspunkt seiner Strategie: es musste gelingen, dass Orinocco die Selbstkontrolle zurückgewann, was Einflussmöglichkeiten von außen erheblich einschränkte. Hoffnung schöpfte er daraus, dass über all die Jahre (Orinocco war in seinem Alter) immer wieder ein auflösender Moment in Erscheinung trat, um gemeingefährliche Euphorie und tieftraurige, nihilistische Depression zu beenden. Ihm musste nur einfallen, wie er Hilfestellung anbieten konnte! @-x-- "Morgen." Murmelte Leah Lexx und lupfte ihren Henkelbecher mit Kaffee, nachdem sie die obligatorische Blüte abgefischt hatte. Fixis, der neben ihr eifrig Rentier-Gulasch schaufelte, äugte auf die Ausbeute an schillernden Daunen, die Semori in die aufgestellte Schale platzierte. "Guten Morgen." Wünschte er in die überschaubare Runde und nickte dankbar dem aufwartenden Yeti zu, dessen Gebaren er eine gewisse Enttäuschung zu entnehmen glaubte. Ohne die Pfeife, die ihm um den Hals hing, konnte er sich dessen aber kaum vergewissern, da Flötentöne ihm einfach nicht gegeben waren! "Der Piepmatz immer noch außer Gefecht?" Fixis kannte als gedrungener Wichtel kein überflüssiges Genieren bei schwierigen Themen. Zudem hätte man mit Dummheit geschlagen sein müssen, um zu übersehen, wie sehr die ansteckende Fröhlichkeit des Paradiesvogels ihnen trotz der kurzen Verweildauer abging. "Ich werde Orinocco noch ein Frühstück bringen." Semori straffte seine Haltung und setzte sich aufrecht. Er konnte sich nicht gehen lassen, trug ja die Verantwortung für alle und alles im Weihnachtsland. "Halb so wild, diese Rentier-Sache!" Grollte Fixis und warf einen kritischen Seitenblick auf Leah Lexx, ob Widerspruch kommen würde. Immerhin war sie ein langbeiniger Elf, wenn auch von der "anderen" Sorte. Der Sorte, die sich phantasievoll ausstaffierte und mit großer Begeisterung wie Genugtuung Tantiemen oder Schadenersatz einkassierte, was es ihm als Wichtel ermöglichte, all die feinen Geräte, Apparate und Maschinen zu konstruieren, die sie benötigten, um Rentiere in Geschirren an Schlitten unter Zeppelinen vorbei an menschlichen Überwachungsinstrumenten pünktlich einmal im Jahr in die Lüfte zu bringen! Die "anderen" Elfen hatten sich für ein Dasein als Betreuende der schwindelfreien, (nicht von selbst) fliegenden Rentiere entschieden. Nachdem Orinocco die "Rechtsabteilung" und die gewaltige Bastelhöhle der Wichtel besucht hatte, ging es zum Spielplatz für die zahnlosen Eisbären. Eigentlich einzelgängerisch und Robben-jagend war diese Variante mühsam von der Sucht nach einem völlig übersüßten, braunen Getränk entwöhnt, mit Gebissen (Karies!) versorgt und zur Geselligkeit mit einem Freizeit-Parcours von den Yetis ausgestattet worden. Eisstockschießen, Wippen, Rutschen, Schaukeln, Iglus, alles, was eine amüsierfreudige, aber von schlichtem Gemüt geprägte Menschen-Erfindung von "Eisbären" goutierte. All die Besuche und Erlebnisse hatten keinen Kontrollverlust bei Orinocco ausgelöst, so viel stand fest. Die Demonstration der "fliegenden Schlitten" plus Rentiere lockte bewunderndes Erstaunen hervor, die Rentiere selbst ließen sich kraulen. Als Semori wie üblich zu seinen Arbeiten (Buchhaltung, Anmeldung eines nicht offiziellen Ausgangs, Organisation) aufbrach, vermutete er, dass Orinocco sich wie zuvor anfreunden und gut unterhalten werde. Danach, eigentlich ließ es sich gar nicht so genau sagen, entwickelte eine Idee ein Momentum und die jüngeren der Elfen luden Orinocco zu Rentier-Schlittenrennen ein. Keine schweren Weihnachtsmann-Schlitten mit zig Deko-Aufbauten und der aufblasbaren Puppe plus Harpune für den vermeintlichen Kamineinsatz, nein, es handelte sich um simple Leichtbau-Schlitten ohne Kufen, flach, mit Schlaufen für die Füße, eine Art "Schlitten-Ski" über den Schnee mit Rentier-Antrieb. Es war eine Gaudi, ein gewaltiger Spaß, ein großes Hallo, bis die Älteren einschritten und aufgebracht darauf hinwiesen, dass die rennenden Rentiere viel mehr verputzen würden, was das Gleichgewicht von Flora und Fauna in der Tundra gefährdete! Semori, eilig herbeordert, sagte zu, sich im Fall des Falles (nämlich einer drohenden Überweidung, übermäßigen Rentier-Vermehrung, Hungersnot im Anschluss) um Kompensation zu bemühen und eine Lösung zu finden. Im Hauptquartier tröstete er Orinocco damit, dass a) niemand Angst gehabt habe, b) offenkundig Schlittenrennen durchaus vorkamen, sonst hätte man die Dinger ja nicht, und c) bis jetzt ja kein Schaden entstanden sei. Vielleicht war er nicht überzeugend genug gewesen? Oder kam seine Intervention schon zu spät? Seit drei Tagen nun lag Orinocco im großen Bett (Gästekammern gab es nicht und er hatte ja als "Anker" in die Welt seine Hand zugesagt) und versank in eine Untiefe von Kummer, Selbstvorwürfen, Angst vor der Angst und dem Verlust der Selbstkontrolle ohne Wiederkehr sowie einer profunden Apathie. Gemeinsam mit dem Yeti, der die Theke versorgte und sich um den kleinen Regenwald kümmerte, war er wieder und wieder die vergangenen Indikationen durchgegangen. Ja, sie hatten ihre Wirksamkeit verloren, doch konnte sich nicht versteckt ein Hinweis verbergen? "Für heute steht nichts besonderes an. Danke, Fixis, dass alle Portale und Pforten jetzt mit einem Alarmsystem versehen sind. So kann uns niemand erfrieren." Obwohl nicht allzu rasch mit einem erneuten Besuch eines Ex-Engels in Sachen Buchprüfung zu rechnen war. Er nickte aufmerksam zu Fixis, erhob sich, um die für besondere Anlässe reservierte Banane samt eines Obstsafts einzusammeln. Leah Lexx und Fixis tauschten einen Blick, während er zu seinem Schlafzimmer zurückkehrte. "Ich hätte ja gewettet..." "Eigentlich sollte längst..." Bezeichnend seufzten sie unisono, wenn auch in sehr unterschiedlichen Stimmlagen. Offenkundig härteten 25 Jahre im Geschäft so sehr ab, dass ihr Boss nicht mal in Ansätzen für Romantik empfänglich war! @-x-- Semori ahnte nichts von der Enttäuschung, die er seinen verantwortlichen Mitarbeitenden bereitete. Er schälte Orinocco mit wachsender Übung aus der Decke, lehnte den Paradiesvogel an sich und ließ den verdünnten Obstsaft mit kleinsten Schlückchen verkosten. Die Banane musste zerdrückt und per Teelöffel angedient werden, damit Orinocco sie überhaupt als Ladung löschte. Die kaleidoskopierenden Augen blickten ins Leere, es wirkte beinahe, als balanciere man eine Marionette mit gerissenen Fäden aus. "Die Yetis, die Yaks und die Pinguine vermissen dich. Alle wünschen dir gute Besserung." Bemühte Semori sich mit gedämpfter, ruhiger Stimme um eine aufheiternde Note. In seinem Blitzkurs für das "Team-Management" hatte er gelernt, wertschätzend und optimistisch zu formulieren, von Vorwürfen, Vorhaltungen oder gar Genörgel meilenweiten Abstand zu nehmen. Allerdings konnte er sich niemanden vorstellen, der dieses Häufchen Elend auch noch zurechtgewiesen oder getadelt hätte. "Ruh dich noch ein wenig aus und erhol dich, ja? Ich werde immer nach dir sehen." Versprach er besänftigend, half Orinocco in die Waagerechte, registrierte das klägliche Zusammenrollen und offerierte wie gewohnt seine Hand. »Seltsam, wie schnell man sich daran gewöhnt! Allerdings ist Orinocco ja auch sehr anspruchslos.« Dachte er, während er darauf wartete, dass der Hermaphrodit in Schlaf fiel. Dass man sich ein Bett teilte, einander beim Schlafen Gesellschaft leistete. Als Eidechsen-Daimon mit Schuppen-Problematik war er von jeher Distanz gewöhnt, auch an die unsichtbare Grenze zu den anderen im "Weihnachtsland", denn er gehörte nicht zu den hier typischerweise angesiedelten Wesen. Das hatte ihn jedoch nie bekümmert, weil er stets darauf ausgerichtet war, sich durch Stellung und Disposition auf einem Einzelposten zu befinden. »Was natürlich nicht heißt, dass man nicht aus vielen Einzelposten einen verbindenden Laufsteg bauen kann.« @-x-- Diszipliniert widmete sich Semori in seinem Büro seinen Aufgaben, schob die Aufzeichnung eines neuen der zahllosen, recht seichten Filmchen über Romanzen zur Weihnachtszeit beiseite, um auf den eiligen Entwurf für die Ausstattung der Schlitten des jüngsten Heiligabends zu starren. Ein Silberstreif am Horizont, eine Hoffnung, man müsste für Orinocco eine Entsprechung finden! Bloß was? Semori, dessen größte Sorge eine potentielle Drohung der Unterbringung von Erdmännchen gewesen war und der die für Anfang Februar 2023 angesetzten, kombinierten Konsumgüter- und Weihnachtsmessen schon unbehaglich im Kalender markiert hatte, weitere menschliche Geschmacksentgleisungen zu antizipieren, erhob sich und paradierte in seinem bescheidenen Büro auf und nieder, sich dabei den Hornkamm reibend. Für alles gab es eine Lösung! Einen Schlitten ohne Rentiere unter einen Zeppelin zu starten, auf dieser Seite, keine besondere Idee, aber welches Äquivalent konnte man bieten? @-x-- Als Fixis mit einem neuen, spektakulären Entwurf (und einer epischen Liste an erforderlichem Zubehör zur Bestellung) in Semoris Büro eintrat, fand er es verwaist. Desgleichen auch das Schlafzimmer. "Wo ist er denn hin? Es ist doch nichts passiert, oder?" Erkundigte sich der gedrungene Wichtel mit einem Anflug von Nervosität beim Yeti hinter der Theke. Der gab ein paar Pfeiftöne von sich, die Fixis erst mal transkribieren musste. "Ach du Großer M!" Bekundete er unbehaglich und trollte sich entschieden in die ihm nicht sonderlich behagende Sektion der Paragraphenreitenden, um Leah Lexx auszufragen, ob etwa in dem jüngsten Filmchen, das sie per Posteingangskorb weitergereicht hatte, irgendwelches dubioses Menschenzeug vorkam, das ihren Boss verwirrt hatte! @-x-- Semori stapfte auf den Schneeschuhen entschlossen voran, im Schein der Leuchte an seiner dicken Mütze seinen Pfad wählend, während er den Leichtbau-Schlitten zog. Dort, gut eingepackt, kauerte Orinocco. Die Bedingungen schienen ihm ideal, eisig-kalt, aber klar, kaum Luftbewegung und direkte Sicht auf die Gestirne, die ihn leiten würden. Bis er nahe genug war. "Da!" Entwischte ihm erleichtert trotz des Frosts. Über der Schneedecke des Hochplateaus zwischen den Bergen tanzten winzige Lichter im Prismen-Spektrum. Semori beschleunigte, um näher an das Spektakel zu gelangen, entledigte sich der Riemen für den Schlitten und kauerte sich neben Orinocco. "Sieh nur! Ist das nicht wunderschön?" Ja, magnetische Pole auf der anderen Seite der Dimensionspforten mochten "Polarlichter" aufbieten, doch hier gab es auch herrliche Erscheinungen zu beobachten, die die Finsternis durchbrachen, einen magischen Hoffnungsschimmer offerierten! Den Schal tiefer schiebend, die Augen hinter der Schneebrille gut geschützt, warf Semori einen erwartungsvollen Blick auf den Paradiesvogel, für den er diese Anstrengung unternommen hatte. Zum erstem Mal gewann er den Eindruck, dass die kaleidoskopierenden Augen sich fokussierten, dem schwungvollen, farbenprächtigen Leuchten, das Figuren an den dunklen Horizont zeichnete, folgten. Winzige Insekten, die ihre Energie verausgabten, einen Reigen tanzten, sich in die richtige Stimmung versetzten, um intim zu werden. Gut, DAS würde man wohl nicht zu Gesicht bekommen, denn für diesen Part gingen die "Lichter" dann aus, aber die Vorfreude zumindest bot ein stilles, aber beeindruckendes Schauspiel, nicht wahr? Die Schneekristalle glitzerten widerspiegelnd die Farben, ein fast psychedelischer Eindruck trat auf. Semori lächelte und legte einen Arm um Orinocco. Solche Momente mussten doch einfach verzaubern und die drückende Verzweiflung vertreiben! @-x-- "Ich habe keine Ahnung! Der Film kann es nicht sein. Hast du vielleicht irgendeine neue Konstruktionszeichnung eingereicht?" Leah Lexx wies jede Andeutung, der von ihr jüngst rezensierte Film (bezüglich Rechte-Wahrung und Entlohnung akribisch durchleuchtet) könne bei Semori eine fragwürdige Idee ausgelöst haben, von sich. Du Großer M, seit einem Vierteljahrhundert pflügten sie zahllose dieser Machwerke durch, da konnte man nur abhärten und mit einem geschulten Blick die wichtigen Parts herausfiltern! Weshalb ja auch jede Hoffnung bezüglich einer Romanze...! Fixis wehrte sich, indem er seine Liste (eher eine lange Schriftrolle) samt Reißbrettzeichnung präsentierte, die Semori ja noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte! Im Übrigen befand er sein Kerbholz aktuell für leer, was Unterlassungen und kreative Auslegung von Vorschriften betraf, sodass ER nicht die Ursache für den "Ausflug" während der Arbeitszeit sein konnte! Unruhig spähten sie am Rande des Regenwalds in die eisige Landschaft. "Ich will ja nicht unken..." @-x-- Auf eine pessimistisch gestimmte Prophezeiung konnte Semori getrost verzichten, denn ihm war bereits bewusst, dass sie sich in größeren Schwierigkeiten befanden. Kaum hatte sich der "Hochzeitsreigen" vom Firmament verabschiedet, kam ein sehr unfreundlicher, schneidender Wind zwischen den Bergkuppen auf, fegte Schneeböen über das Hochplateau. "Das ist nicht ganz so prächtig." Murmelte Semori in seinen bereits vereisenden Schal, denn nun schlugen ihnen auch noch dichte Flocken auf die Kleidung und die Schneebrillen. Den Schlitten auf den Rücken geschnallt führte er Orinocco am Fäustling Richtung Hauptquartier, gegen den aufkommenden Schneesturm tapfer anstapfend. In seinen Schneeschuh-Spuren konnte der Paradiesvogel mühsam folgen, nach drei Tagen Bewegungslosigkeit auch nicht bei besten Kräften. »Wir stecken wirklich in der Klemme!« Selbst wenn er jetzt die Flöte, die um seinen Hals hing, ansetzte, würde der heulende Wind wohl jedes Pfeifen ungehört auslöschen! @-x-- Wie eine kleine, zottelige Mauer trotteten zu allem entschlossen die Yaks heran, plumpsten eng an eng, Wolle an Wolle, in den sich auftürmenden Schnee. Die Yetis selbst gesellten sich dazu, rollten sich zusammen, um eine kleine Höhle mit ihren Körpern zu bilden. In der Mitte, einander umschlingend, folgten Semori und Orinocco dem Beispiel. Zusammen den Schneesturm abzuwarten, da fühlte man sich doch gleich wieder zuversichtlich! @-x-- "Was für eine verrückte Idee!" Fixis warf einen skeptischen Blick auf die Kurzbeschreibung des Filmchens, denn so ganz traute er menschlichen Machwerken nicht über den Weg! Leah Lexx schnaubte innerlich, denn ihrer Auffassung nach hatte Semori sich beim eigenen Einfall bedient und ein Äquivalent zum "Hoffnungsstreifen" an den Schlitten gesucht. Dass dann gleich ein Schneesturm aufkam, konnte man nur als Pech betrachten. "Na, wenigstens sind sie heil. Und nach dem Bad bestimmt auch weniger olfaktorisch herausfordernd." Zu viel Yak auf zu kurzer Distanz, aber in der Not..! Während der glimpfliche Ausgang dieses unerwarteten Ausflugs die besorgten Gemüter beruhigte, teilte sich Semori mit Orinocco das Thermalbad. Im Dampf musste man sich auch nicht genieren, wenn hier und da mal eine Schuppe abplatzte, weil man sich ja gerade nur ahnen konnte. "Entschuldige bitte die Umstände, Orinocco. Auf einen Schneesturm war ich nicht vorbereitet." Bekannte Semori durchaus kleinlaut. "Ich hätte nicht gedacht, dass es so gefährlich werden kann. Aber die tanzenden Insekten waren sehr schön." Antwortete Orinocco vernehmlich, mit einem tröstenden Triller in der Stimme. Semori ächzte vor Erleichterung, denn offenbar hatte seine unvermutet waghalsige Aktion doch eine positive Wirkung gehabt! "Es ist nicht so wie in den menschlichen Entwürfen, aber trotzdem hat unsere Heimat viel zu bieten, glaubst du nicht auch?" Erkundigte er sich aufgekratzt. Orinocco tirilierte, was einem Kichern entsprach, wie Semori gelernt hatte. "Spannend und schön und abwechslungsreich und gastfreundlich!" Bestätigte der Paradiesvogel gut aufgelegt. Aufseufzend lehnte sich Semori zurück und lächelte. So fröhlich und munter wollte er Orinocco hören! @-x-- Es war spät, oder vielmehr sehr früh, obwohl das einzig von der eigenen Betrachtung abhing. Leah Lexx, die beschwingt ob eines gewaschenen Erfolgs bezüglich eingeklagter Tantiemen aufgeputscht Semoris Büro heimsuchte, ließ sich in den unbequemen Sessel plumpsen. Akribisch fächerte sie die Paragraphen-Dschungel-Dokumentation (volkstümlich Vertrag genannt) auf, damit die Buchhaltung gleich ein paar Posten öffnen und gesalzene "Kostennoten" versenden konnte. Da störte es auch nicht, sich überlang durch Zeitverschiebung (Dimensionen, Kontinente) ein ausdauerndes Gefecht mit eisernem Lächeln (wo sonst konnte man ungestraft die Zähne blecken?) geführt zu haben! Ein Duell des Geistes, bewaffnet mit Fußnoten, Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Eintragungen in Eigentumsregistern, diversem Kleingedruckten! Nichts konnte anregender sein, als den eigenen Versand gegen menschliche Gehirne auszuspielen, bis es metaphorisch zwischen den Ohren in den Oberstübchen rauchte! Leah Lexx schob die noch ungesehene letzte Weihnachts-Romanze (entsetzlich fad und kaum umsatzträchtig, was die Tantiemen betraf) ein wenig zurecht, ignorierte den aufgepinnten Steckbrief von mit Schal und Mützen ausgerüsteten Erdmännchen (gruseliger Plastik-Kitsch). Bis dato schien der Trend sich nicht zu verstetigen, aber Semori rechnete häufig (als ordentlicher "Kaufmann") mit dem Schlimmsten. »Bemerkenswert.« Dachte Leah Lexx und stemmte sich hoch. Dass ihr zuverlässiger Boss seit mehr als einem Vierteljahrhundert in der Pole-Position während der Arbeitszeit ein solches Unterfangen durchgeführt hatte. Ja, es war nicht zu leugnen: seit der Paradiesvogel tollpatschig durch einen Ausgang ins Thermalbecken gerutscht war, veränderte sich eine Menge. "Oh!" Hörte Leah Lexx, von einem gedämpften Triller begleitet. Nicht der Teufel (der Große M war noch nie hier in persona aufgeschlagen), sondern der Piepmatz in Rede selbst. "Ah, Orinocco. Komm ruhig rein. Kannst du nicht mehr schlafen?" Lud Leah Lexx ein, bemerkte erleichtert, dass die kaleidoskopierenden Augen klar und aufgeweckt blinzelten. "Ich wollte nicht stören!" Dabei blickte der Hermaphrodit interessiert auf den Schreibtisch und die karge Gestaltung des Büros. "Oh, ich hab Semori nur neue Verträge gebracht, werde mich dann mal lang legen." Einladend verwies Leah Lexx auf den Bürostuhl. "Mach's dir bequem, soweit das Ungetüm da es zulässt." Graziös nahm Orinocco Platz, betrachtete dann neugierig den Erdmännchen-Steckbrief. "Diese Wesen habe ich noch nicht gesehen?" In der Stimme prickelte eine fragende Triole. "Nein, ganz richtig." Leah Lexx grinste ungeniert. "Unser Boss ist nur gern auf jeden Horror vorbereitet. Du weißt ja, dass wir nicht 'echte' Tiere hier einquartieren müssen, sondern die Verkörperung imaginärer Pseudo-Tiere, die Menschen hartnäckig mit dem Weihnachtsland in Verbindung bringen. Die Erdmännchen haben sich noch nicht durchgesetzt." Andererseits, wenn die Menschheit weiterhin begeistert den Klimawandel antrieb, wäre es wohl nur eine Frage der Zeit, bis Savannen-Bewohnende auch noch zu verstauen wären. Orinocco blickte aufmerksam hoch, was Leah Lexx daran erinnerte, warum ein Vierteljahrhundert Abhärtung möglicherweise mit besonderen Maßnahmen gekontert werden musste. "Sag mal, hast du Lust, einen Film anzusehen? Eine Vorführung von Menschen, weißt du, konserviert." Sie tippte auf ein kombiniertes Abspielgerät, das nur lizenziert und mit besonderer Erlaubnis ausgegeben wurde, da der Große M sehr viel von Theatervorführungen, Schauspielen, Erzählungen und Lesungen hielt, nichts jedoch von "Dosen-Ware", die den einmaligen Zauber des Augenblicks auf profane Weise auf EINE Version reduzierte. "Wir haben das Gerät wegen der Recherche und der Prüfung der Wahrung unserer Rechte." Erläuterte Leah Lexx großspurig, bevor sie schlicht die mit einem aufgeklebtem Hinweis versehenen Bedien-Einheiten erklärte. "Abspielen, vorwärts, rückwärts, schneller oder langsamer, Pause und anhalten." Die Weihnachtsland-Elfe reichte Orinocco dazu einen kleinen Notizblock. "Ich habe nichts Bedeutendes gefunden, daher steht hier nicht viel." Dann blickte sie Orinocco prüfend an. "Du hast doch auch Erfahrung mit Film und Aufnahmen, oder?" Der Paradiesvogel strich vorsichtig über den Notizblock und glitt mit den lackierten Nägeln über den Monitor. "Nicht ganz so. Also, mein letzter Kontrakt beinhaltete Burlesque-Darbietungen vor einer Kamera, genau. Die Übertragung erfolgte direkt. Es war schon seltsam, zu spielen und zu agieren, ganz ohne Publikum. Man lebt ja von der Energie des Austausches." Der federgeschmückte Kopf sank ein wenig tiefer, denn zweifellos bot diese Dienstleistung aus der Distanz bescheidene Einnahmen ohne die Gefahr, sich emotional zu verausgaben und die Reaktionen anzulocken, die dann für unkontrollierbare Begeisterung oder erstickende Verzweiflung sorgten. Keine Untiefe, die Leah Lexx aufzurühren beabsichtigte, weshalb sie Orinocco kurz die Schulter drückte. "Na, das hier wird dich nicht herausfordern, versprochen. Wenn du magst, schau rein. Wenn du genug hast, schalt es einfach ab." Artig nickte Orinocco, die Hilfsbereitschaft ließ nichts zu wünschen übrig. Leah Lexx tippte sich grüßend an die Schläfe und stolzierte auf ihren "überlangen Stelzen" (wie Fixis hin und wieder despektierlich grummelte) triumphierend zu ihrem Quartier. Bevor sie eine großzügige Mütze Schlaf in Angriff nahm, schloss sie eine Wette mit sich ab, ob nicht doch...? @-x-- Als Semori erwachte, erschrak er nicht nur über sein ungebührliche Verschlafen, sondern auch darüber, dass in seiner Hand das gestrickte Woll-Yak residierte, das er für Orinocco als Stellvertretung angefertigt hatte. Von Orinocco war nichts zu sehen, wofür es unzählige vollkommen harmlose Begründungen gab, doch Semori saß abrupt aufrecht, blickte sich aufgeregt um und entschied nervös, sofort eine Eidechsen-Daimonen-Wäsche zu absolvieren und dann eilig bekleidet nach dem Paradiesvogel zu suchen. Hinter der Theke arrangierte der Yeti gerade seine Utensilien und sortierte die frisch gepflückten, farbenprächtigen Blüten. Semori grüßte hastig, bemerkte dann den gereckten Finger und blieb artig stehen. Zwei frisch gefüllte Becher, Blüten-geschmückt, später durfte er auf den entsprechenden Hinweis hin sein Büro ansteuern. Dort schlief Orinocco an seinem Schreibtisch, das federgeschmückte Haupt auf die gekreuzten Unterarme abgelegt. Eine freundliche Person hatte dem Hermaphroditen ein gewebtes Tuch über die Schultern gelegt. Erleichtert entwischte Semori ein Seufzer. Vorsichtig stellte er beide Becher ab und beugte sich über Orinocco und den eigenen Schreibtisch. Selbstredend registrierte er Leah Lexx' letzte Eingabe, aber auch den Notizblock. Unter den wohlbekannten Chiffren von Leah Lexx (genaue Spieldauer, Zeitpunkt des Verwendens, Paragraph, Vertrag, Sachverhalt, kalkulierte Summe) las er eine unbekannte Schrift. "[Alpaka oder Lama als Strickmuster, Giftpflanzen, Mrs. Santa Claus, sprechende Hunde]" Seine Worte weckten Orinocco, sodass Semori rasch etwas Distanz zwischen sie brachte und sich auf einen Klappstuhl bei seinem Schreibtisch hockte. "Guten Morgen. Geht es dir gut?" Erkundigte er sich linkisch und besorgt zugleich, schob einen der Becher in Reichweite. "Guten Morgen, Semori. Mir geht es gut, danke. Entschuldigung, es ist dein Büro...!" Setzte Orinocco an, bemerkte das gewebte Tuch und faltete es sorgsam zusammen, doch Semori wedelte hastig Rechtfertigungsanläufe beiseite. "Du kannst jederzeit gern kommen, wirklich! Außerdem hat Leah wohl...? Vielen Dank für die Notizen!" Um sich nicht noch weiter unzulänglich zu fühlen, fischte Semori rasch die Blüte aus seinem Kaffee und nahm einen stärkenden Schluck. Orinocco legte beide Hände um den Becher und entließ einen melodischen Triller. "Ich fürchte, ich habe gar nichts verstanden." Ließ der Hermaphrodit Semori bekümmert wissen. "Das sind nur triviale Geschichten, um Menschen zu animieren, Geld auszugeben, das sie nicht haben, für Dinge, die sie nicht brauchen, um etwas herbei zu beschwören, was ein unerreichbares Ideal ist!" Sprudelte Semori hastig einen Standard heraus, der für die meisten Filmchen, die er im Schnelldurchlauf auf verräterische Tendenzen für potentielle "Unterbringungsfälle" hin durchkämmte, galt. Orinocco blinzelte verblüfft, zerlegte offenkundig die letzte Äußerung in verständliche Häppchen. "Oh." "Also, ein Lama oder Alpaka im Strickmuster ist bestimmt eine nette Idee für die Kollektion!" Lobte Semori entschlossen, der sich dringend ermahnte, doch bitte seine gewohnten Mediationsverfahrensweisen für eine wertschätzende, konstruktive Arbeitsatmosphäre anzuwenden. Ein Lächeln quittierte seine Anstrengungen. "Was ich nicht verstehe: all die Giftpflanzen. Und wieso Mistelzweige? Ich habe in der Bibliothek nachgeschlagen." Auf sicherem Gelände explorierte Semori das Phänomen und nickte Orinocco dabei zu, doch auch am Kaffee zu nippen. "Nun, im phänologischen Kalender für Pflanzen rund um Heiligabend gibt es nicht viele, die Beerenfrüchte tragen. Eibe und Stechginster zum Beispiel haben rote Beeren, die Mistel als schmarzotzende Aufsitzerpflanze weiße Fruchtkörper. Für Menschen sind diese Pflanzen fast in allen Teilen giftig, während Tiere sie häufig vertragen, auffressen und über den Kot weiterverbreiten, während viele andere Pflanzen noch Winterruhe halten. Es ist wohl eher die Symbolik, dass trotz Dunkelheit und Kälte etwas gedeiht." Er ahnte die nächste Frage und fuhr schlicht fort. "Für das Küssen unter Mistelzweigen gibt es mehrere mögliche Erklärungen. Allerdings wachsen Misteln hauptsächlich in Laubbäumen, deshalb war dieser Brauch nicht generell verbreitet. Menschen suchen sich zumeist irgendwelche ominösen Omen, um ihre Verhaltensweisen zu rechtfertigen. Sich untereinander zu verbändeln sollte dem gesamten Verbund helfen. Ich persönlich finde einige Bräuche durchaus nötigend bis übergriffig." Orinocco setzte den Becher ab und strich sich über die Federn, was eine Daune löste, die Semori beiläufig einfing. "Ich dachte, nun, es ginge eher um eine mentale Hingabe. Dann gibt es eine Frau Weihnachtsmann und das Christkind feiert Geburtstag, weshalb es ein Fest für Liebende ist, obwohl ich fast sicher bin, dass das doch der Valentinstag ist, während diese Empfängnis ja ohne, also quasi kontaktlos...?!" Die Verwirrung wirkte erbarmungswürdig, weshalb Semori vorsichtig seine Hand auf Orinoccos legte. "Da mischen sich ganz viele unterschiedliche Traditionen und Vorstellungen zu einem Potpourri, das nicht nur dich verwirrt. Wir hier sind nur für den Part zuständig, wo ein mutmaßlich alter Mensch mit einem Schlitten hinter fliegenden Rentieren in Kamine kriecht. Viele der anderen Erzählungen dienen den Menschen selbst dazu, sich zum Konsum zu animieren oder eine vermeintliche Garantie auf Glück und Wohlergehen zu erlangen, wenn man sich an angebliche Regeln hält." Der Paradiesvogel seufzte in einem Trillern. "Und diese Angelegenheit mit dem Ballett, dem Nussknacker, der Zuckerfee, diesen Geschenken an die Kinder, da bin ich wohl auf einer falschen Fährte gewesen." Semori erschrak merklich. Richtig, Orinocco war in diversen Künsten ausgebildet, vor allem Tanz, darstellendes Spiel! "Ich bin sehr froh, dass du hierher gekommen bist! Bitte bleib, so lange du möchtest!" Platzte er deshalb hastig heraus, verbannte auch die Albernheiten um "sprechende Hunde" aus seinem Gedächtnis, denn dieser lächerliche Versuch hatte bisher keinen Trend ausgelöst, sondern eher Tierschützende auf den Plan gerufen. "Es gab nicht mal mehr diese Zucker-Spazierstöcke am Weihnachtsbaum." Bemerkte Orinocco versonnen, was "Sugar Cane" wohl nicht für ein zukunftsträchtiges Alias empfahl. Unterdessen arbeitete Semoris Verstand fieberhaft, angefeuert von Egoismen, die er bei sich in dieser Vehemenz bisher noch nicht erlebt hatte. Brachte der Paradiesvogel nicht ordentlich Leben ins Weihnachtsland? Konnte sich mühelos mit allen verständigen? Ganz ohne Umhänge-Pfeife? Offenkundig machte Orinocco der Regenwald mit der nebelfeuchten Hitze recht wenig aus, weshalb sich der Yeti sicher über Unterstützung freuen würde! Wollte überhaupt jemand ohne das fröhliche Pfeifen, Trillern, Tirilieren der nur von geothermischen Quellen gebrochenen Dunkelheit unverdrossen trotzen? Außerdem bot Orinocco ein perfektes Model für die Strickkollektion! "Kontrakt!" Semori sprang auf, spürte, wie die Erregung sich in Hitze verwandelte, ihn mal wieder ungeniert in die Bredouille abplatzender Schuppen brachte. "Du brauchst einen Kontrakt, richtig?!" Für das Weihnachtsland konnte er zweifelsohne keinen abschließen, denn zur üblichen "Bevölkerung" zählte Orinocco nicht und die künstlerischen Fähigkeiten begegneten keinem Aufgabenprofil in der Außendarstellung. An dieser Stelle aufgeben kam jedoch nicht in Frage. "Man kann doch auch persönliche Kontrakte abschließen, oder nicht? Ich kenne mich da nicht so genau aus, zugegeben, aber wenn ICH dir einen Kontrakt anbiete? Ich habe einen Arbeitsvertrag mit Unterkunft und Verpflegung! Das teile ich mit dir! Und- und wir können gern eine Probezeit vereinbaren! Außerdem, ich werde wohl nicht mehr pfeifen lernen, leider, aber ich könnte, also, wenn ich mich bemühe, könnte ich bestimmt, wenigstens auf Laien-Niveau tanzen!" In seinem Eifer hatte Semori Orinoccos Hände ergriffen und seine Offerte herausgesprudelt, ohne an den Argumenten zu feilen. Nun spürte er, wie sein Hornkamm sich vor Verlegenheit verfärbte. Orinocco erhob sich langsam, anmutig, mit der von frühester Kindheit antrainierten Geschmeidigkeit. "Ich habe lange nicht mehr mit jemandem getanzt." Ein versonnener Blick fing Semori ein, der durchaus diesen Umstand in den Verträgen im Bulletin bemerkt hatte. Eine Rücksichtnahme, um niemanden zu ängstigen, zu verletzen, wenn mal wieder... "Ich werde nicht gesund werden, Semori." Warnte Orinocco behutsam, trotz der melodischen Stimme melancholisch. Semori gab die Hände jedoch nicht frei. "Du bist du, Orinocco. Du hast es immer wieder geschafft. Weißt du: wir sind nicht nur Sternenstaub, sondern pure Energie, solange dieser Funke da ist. Mal mehr Licht, mal mehr Wärme, mal mehr Bewegung. Daran ändert sich nichts, 'Wackelkontakt' hin oder her. Ich möchte wirklich sehr gern, dass wir zusammen bleiben." Dürre Worte, verflixt! Doch Semori konnte sich selbst nicht zürnen, denn die einstudierten Phrasen aus einem Vierteljahrhundert seichter Romanzen hätten ihm hier wohl auch keinen Dienst geleistet. "Ein persönlicher Kontrakt..." "Das ist nicht verboten, oder?! Ich weiß, du hattest bisher immer Vereinbarungen mit Dienstleistenden und Institutionen, aber es wäre nur ein klitzekleines Detail!" Argumentierte Semori mit Verve. Er erntete ein amüsiertes Tirilieren. "Ein persönlicher Kontrakt ist sehr selten." Setzte Orinocco den ersten Anlauf fort, zwinkerte. "Ich hätte nie erwartet, so eine Möglichkeit zu bekommen." Nachdem Semori verdattert einige Gedenksekunden absolvierte, strahlte er selbst wie der berühmte Weihnachtsbaum bei der feierlichen Illumination. "Dann-dann können wir, ja? Ich meine, du kannst natürlich zuerst mal in Ruhe nachdenken und dir alles überlegen..." Orinocco entzog ihm die Hände und schlang ihm gleich die Arme um den Nacken. "Das ist so herrlich, vielen Dank!" Raunte es ergriffen an sein Ohr, während Semori zum zweiten Mal seit dem denkwürdigen Heiligabend die Arme um Orinocco schlang, wenn auch weniger unbekleidet und feucht. "Ich danke dir. Bitte bleib und lebe mit mir hier, Orinocco." Zum Großen M mit all den seichten Romanzen! @-x-- "Das war schon ziemlich clever." Gestand Fixis ein, während er Rentier-Gulasch verputzte und sich nach einem zünftigen Schluck Met den Schnauzbart strich. Leah Lexx balancierte triumphierend neben ihm an der Theke und gönnte sich einen Obstsaft. "Ich mag den Piepmatz. Der Boss war lange genug allein und im Arbeitsmodus." Außerdem wuchsen die Anforderungen schließlich! Wenn Semori mit Orinocco tanzte, würde es wohl keine Wiederholung des Wechsels der Pole-Position bei Eintritt in die Pension geben, was allzu engagiertes Feiern mit spontanem Existenz-Totalversagen ausgelöst hatte. Fixis grummelte unverständlich, erkannte aber die figurative Feder am Hut der Kollegin an. Nett anzusehen waren die Beiden zusammen ja auch, zugegeben. Keine kitschige Turtelei, ständiges Begrabbeln und Begrabschen, dämliche Kosenamen oder anderen Quatsch, mit dem man sich aus der Menschenwelt infizieren konnte, Motto: du siehst in den Abgrund und der Abgrund in dich! Der Yeti verließ seinen Tresen und knackte eine Banane in der Mitte durch, bevor er Orinocco und Semori je eine Hälfte reichte. Sie blickten überrascht auf, temporär abgelenkt vom Entwurf eines neuen Strickmusters. Orinocco flötete fröhlich einen Dank, aber auch Semori grinste geschmeichelt, in diesen besonderen Genuss zu kommen. Fixis schnaufte. "Na, selbst wenn sie uns mutierte Erdmännchen aufnötigen sollten, schätze, wir bekommen alles hin." Leah Lexx klopfte ihm zustimmend auf den Rücken und glitt vom Hocker. "Wahre Worte! Dann bringen wir uns mal in Schwung, denn NACH dem Spektakel ist VOR dem Spektakel!" Zudem hatte sie das Gefühl, dass da noch eine ordentliche Partie Paragraphen-Reiterei auf sie wartete, denn kombinierte Messen und Ausstellungen boten immer Chancen für Plagiate! So wurde nur der Yeti beim Tresen diskret Zeuge, wie Semori und Orinocco eine gemächliche Sohle aufs imaginäre Parkett legten, im liebevollen Einverständnis miteinander. Statt lediglich "einem Fest der Liebe" im Jahr wollten sie jeden Tag vertraut zueinander stehen und ihre Energie teilen. DAS war das wahre Geheimnis! @-x-- Ende @-x-- Danke fürs Lesen! kimera