Titel: American English Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original Sequel zu "Affenzirkus" FSK: ab 16 Kategorie: Parallelwelt Ereignis: Valentinstag 2013 Erstellt: 14.02.2013 Disclaimer: alle Rechte wie angegeben, der Rest ist Meins ^_~ Für Vegeta, die mehr wissen wollte und sich zum Valentinstag gewünscht hat. Lysander und Dragomir treten kennen sich aus "Herz am Spieß" und stoßen auf Wulf(stan) und Gregoire in "Ohne Dich". *_* *_* *_* *_* *_* *_* *_* *_* *_* *_* *_* *_* *_* *_* *_* *_* *_* *_* *_* American English Kapitel 1 - Ein schicksalhafter Erfolg "Es ist warm und trocken." Murmelte Ephraim Lux. Er leistete sich selbst Gesellschaft, während er Akten, elektronisch und auch ganz altmodisch analog auf Papier, sortierte, ordnete und sorgfältig verstaute. Nein, das hier war ganz sicher keine aufregende Tätigkeit, und wäre seinem Vater zu Ohren gekommen, wie sehr es ihn erleichterte, in diesem geräumigen Kellergelass die Rolle des Amateur-Archivars zu übernehmen, hätte ein sonores Grollen einen polternden Vortrag angekündigt. Ephraim jedoch, der durchaus dankbar war, einen Schienbeinbruch fern der Heimat und einen Beinahe-Weltuntergang während seines kurzen Aufenthalts in good old Germany überstanden zu haben, schätzte sich glücklich, hier unten, warm, trocken und unbeobachtet, einer ihm übertragenen Aufgabe nachgehen zu können. {siehe "Affenzirkus"} Schlimmer ging immer, so weit hatte ihn sein überseeisches Abenteuer geprägt, und, das musste man wohl eingestehen: solange Dragomir, Rudel-Führer und uneingeschränkte Autorität dieses Territoriums, nicht mit ernstem Gesicht eine Liste all der bedauerlichen Mängel und Indispositionen aufzählte, die es schlichtweg unmöglich machten, Ephraim Lux als keine überflüssige Verschwendung von natürlichen Ressourcen zu klassifizieren, fühlte er sich ganz gut. Hier unten bestand keine Notwendigkeit, sich zu klein (1,65m), zu schmächtig, zu ungeschickt und trotz einer aufwändigen Augenoperation zu blind (prägende Erinnerungen) zu fühlen. Es gab ja niemanden, mit dem man sich vergleichen musste! Viel falsch machen konnte er auch nicht. Seine scheinbar genetisch verankerte Unfähigkeit, nicht tollpatschig oder ungeschickt zu agieren, jedes kleine Alltagsmanöver in eine Katastrophe münden zu lassen, fand hier nur wenig Nahrung, quasi ein Hort der Glückseligkeit. Wenn der eigene Anspruch schon so weit heruntergeschraubt war, dass bloße Existenz genügte. Lange würde diese Idylle aber nicht anhalten, das war Ephraim durchaus bewusst. Er hatte als Amerikaner einen zeitlich befristeten Aufenthaltstitel, um sich als "Student" ein wenig nützlich zu machen. Dahinter verbarg sich die letzte Hoffnung seines leidgeprüften Vaters, einer Werwolf-Legende in Kansas, aus dem einzigen, leider völlig aus der Art UND der Sippe geschlagenen Sohn ein vollwertiges Rudelmitglied zu machen. Was, sah man sich Dragomirs exzentrische, aber sehr erfolgreiche Truppe an, nicht gänzlich zum Scheitern verurteilt war. Andererseits verhielt es sich möglicherweise tatsächlich so, dass Ephraim erneut DIE (statistisch erforderliche) Ausnahme darstellte. DARIN konnte er eine langjährige "Erfolgsgeschichte" vorweisen. Er seufzte leise und verstaute eine weitere Archivkiste, sorgfältig mit einer altertümlichen Schablone beschriftet. Einmal ein Held sein! Aber nach den Erfahrungen vor dem Jahreswechsel schien ihm dieser verzweifelte Traum eines jeden Zukurzgekommenen eher gemeingefährlich und beängstigend. Das Studium verschiedener Aktionen und Fälle bestärkte ihn noch in dieser Einschätzung. Werwolf-Einsätze, wie Dragomir sie anführte, machten ihm Angst. Da war nicht nur die sehr reale Gefahr, sich mal wieder zu verletzen, nein, es war auch die lähmende Panik, durch eigene Fehlleistung die anderen im Rudel in Mitleidenschaft zu ziehen. Man musste schnell sein, sicher, entschlossen, zupackend, zielstrebig, gefasst, abgehärtet! Diesen inneren Drang, ja, ZWANG verspüren, mit dem Rudel zu jagen, viel stärker noch als die Spätfolgen der seelischen Belastungen. Dragomir hatte es ihm selbstbeherrscht und illusionslos mitgeteilt: Rudel-Führer war kein Job auf Lebenszeit. Nicht nur die körperliche Belastung werde irgendwann zu übermächtig, auch die Psyche spiele nicht mehr mit. Der innere Drang, der WERWOLF, der nehme niemals ab, gebe nie Ruhe, selbst wenn Seele, Geist und Körper am Ende seien. Mit dem Rudel zu jagen war hart und hatte Konsequenzen. Man tat es, weil man es musste. All die Legenden waren Zuckerguss auf einem blutigen Schlachtfeld, das nie ein Ende nahm. Es hörte nie auf. Ephraim vernahm diese Seite zum ersten Mal. Natürlich erzählte man den Kindern nicht von DIESEN Aspekten. Ihm zumindest hatte niemand so sachlich und schonungslos reinen Wein eingeschenkt und deshalb war es sicher keine Schande, nicht im Rudel jagen zu wollen. Es gab ja auch andere Leistungen, die man erbringen konnte! Darin hatte Dragomir ihn bestärkt: jeder Werwolf konnte eine Aufgabe übernehmen. Alles war wichtig, damit die tatsächlichen Aktionen dann wie geschmiert liefen, eine perfekte Maschine bildeten. Schön und gut, bloß Dragomir war sehr speziell. Seinen Eltern erklären zu müssen, dass es ihm sehr konvenierte, in einem Keller Fallakten zu sortieren, DAS erforderte mehr Traute, als Ephraim sich zugestand. Möglicherweise konnte ihm ja Ranghilde helfen? *_* Ranghilde, Dragomirs Vertreterin und eine austrainierte Frau mit enormer Präsenz, rieb sich in einer fast maskulin anmutenden Geste den Nacken, bevor sie klebrige Strähnen aus dem Gesicht wischte. Zwei Stunden Crosstraining lagen hinter ihnen, die übliche Dosis, um ihre Einsatztruppe geschmeidig und konditionsstark zu halten. "Ich mach's kurz." Entschied sie, rubbelte sich grob mit einem Handtuch über das gerötete Gesicht, konzentrierte sich dann auf den sie um zwei Häupter überragenden Dragomir. "Unser Kansas-Knirps kann unmöglich im Rudel mitziehen. Ich war mit ihm beim Sportmediziner, er ist durchgecheckt." Sie rollte unbehaglich mit den Schultern. "Der Kleine hat schlichtweg nicht die Physis, ein höheres Tempo zu halten. Von unserem ganz zu schweigen." Dragomir nickte sparsam, während er sich ebenfalls Schweiß abtupfte. Seine pointierten Augenbrauen zogen sich konzentriert zusammen. Er zweifelte nicht daran, dass Ephraim im Innersten wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Die Konsequenzen mussten ihm jedoch große Angst machen. "Was nicht geht, geht nicht." Antwortete er knapp. "Danke, Hilde. Ich werde es ihm gleich nachher sagen." Denn das gehörte auch zur Aufgabe des Rudel-Führers: schlechte Nachrichten überbringen und die Verantwortung übernehmen. *_* "He." Dragomir lupfte mit der Fingerspitze Ephraims noch kindlich-rundes Kinn. "Ich rede mit deinem Vater. Du bist vollkommen in Ordnung so wie du bist, Ephraim. Du hast ja gesehen, wie viele Mitglieder das gesamte Rudel hat. Nur ein Bruchteil von uns übernimmt die operativen Aktionen und das auch nur für eine bestimmte Zeit. Alle werden gebraucht und alle können etwas beitragen. Vergiss das nicht, in Ordnung?" Ephraim nickte und kämpfte sich ein verunglückendes Lächeln aufs Gesicht. JETZT hatte er mit Brief und Siegel die Expertise zu seinem körperlichen Leistungsspektrum: man musste es wohl mit der Lupe suchen. Eine niederschmetternde Erkenntnis. Zumindest glaubte er, dass seine Eltern es so auffassen würden. Dragomir erhob sich, drückte ihm die schmale Schulter aufmunternd. "Lass den Kopf nicht hängen! Hier gibt's noch ne Menge zu erleben, auch ohne rote Schuhe!" Er zwinkerte in dieser Anspielung auf den Zauberer von Oz, verzichtete aber auf eine Gesangseinlage, obwohl kolportiert wurde, dass Dragomir jeden irischen Pub aufs Beste unterhalten konnte. "Okay." Nickte Ephraim artig und richtete sich auf, was keinen nennenswerten Unterschied bei seiner sehr übersichtlichen Körpergröße präsentierte. Wenigstens ersparte Dragomir ihm die Schmach, selbst seinem Vater alles beichten zu müssen. Der hatte ihn bereits nach der Eskapade mit dem Schienbeinbruch wie einen Fremden behandelt. Ephraim erhob sich ebenfalls aus dem Clubsessel und tappte an ein großes Fenster. Sie waren außerhalb eines alten Ortskerns in einem umgebauten "Safehouse", einem Stützpunkt der Werwölfe. Am späten Abend, fern der Lichter, wirkte jenseits des Sicherheitsglases die Welt dunkel und ruhig. Nichts konnte jedoch unzutreffender sein. Ungesehen schwärmten dort Werwölfe aus, übten sich im Anschleichen, Belauern, Bewachen, erprobten technische Hilfsmittel und verschiedene Taktiken. ER stolperte in dieser Welt herum wie ein Blinder, beinahe so wie vor seiner Augenoperation, hilflos, unsicher und außen vor. "Pscht!" Zischelte verschwörerisch eine Stimme hinter ihm, winkte ihn hinter eine exorbitante Zimmerlinde, die definitiv im Frühjahr "ausgewildert" werden musste. Ephraim folgte der Aufforderung, denn mochte er auch ziemlich blind gewesen sein, so funktionierte sein Gehör tadellos. Diese Einladung konnte nur von dem anderen "Alien" stammen, das sich in diese abgeschlossene Welt verirrt hatte. Lysander schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln, die Brille vor großen, dunkelbraunen Augen gewohnt verschmiert, der kastanienbraune Lockenschopf wüst, die schmale Gestalt in einen viel zu großen Pullover gewickelt. Tadellos saß der vermutlich bei seinem Eigentümer, Dragomir, mit einem Gardemaß von 1,92m. "Ich hab hier 'death by chocolate' und frischen Kakao." Flüsterte Lysander, präsentierte eine große Thermosflasche und zwei geheimnisvolle Schraubdosen. "Oohhh...!!" Seufzte Ephraim gequält. Eigentlich hätte er sich ja zur Selbstkasteiung ob seiner grundsätzlichen Unzulänglichkeit bei Wasser und Brot einrichten sollen, doch hier war Lysander mit diesem elysischen Genuss in Reichweite! Lysander huschte hastig voran, wusste Ephraim geködert auf seinen Fersen. In einem fensterlosen Kämmerchen, das lediglich der Verwahrung von allerlei Putzutensilien und Chemikalien diente, hockten sie sich wie Lausbuben auf zwei umgedrehte Putzeimer und teilten Lysanders Beute unter sich auf. Mit Schokobart, stöhnend vor Genuss, jubilierenden Seelen ob dieser Geschmacksorgie, ließ es sich besser dem Schicksal trotzen! Wobei Lysander, wie Ephraim befand, einen sehr guten Schnitt gemacht hatte, trotz SEINER grundsätzlichen Unzulänglichkeit, was die Natur eines Vampirs betraf! De facto WAR Lysander ein Vampir, in der Praxis jedoch schien niemand ungeeigneter für dieses Erbe zu sein und dieser Umstand verband sie zu einer vorsichtigen Brüderschaft, ergänzt von der Tatsache, dass Lysander nur 7cm mehr in zierlich-schlanker Höhe vorweisen konnte. Andererseits, Ephraim sprach das nie aus, hatte Lysander den unschlagbaren Vorteil, dass Dragomir ihn liebte, gegen alle Widerstände, jede Vernunft, Traditionen und VOR ALLEM seiner Mutter zum Trotz, die global gefürchtet war. Nichts konnte den Rudel-Führer jedoch dazu bewegen, sein hilfloses, freundliches, liebenswertes Vampirküken aufzugeben! Wenn man einen Dragomir auf seiner Seite hatte, urteilte Ephraim, dann war nicht alles verloren. Er konnte sich zwar nicht darüber beklagen, dass man ihm nicht jede Unterstützung zuteil werden ließ, doch es war eine Hilfe auf Zeit, aus der Distanz. Freundlich, aber geschäftsmäßig. Ephraim seufzte in seine Neige Kakao, veranlasste auf diese Weise Lysander, ihm einen dünnen Arm um die Schulter zu legen und ihm tröstend Mut zuzusprechen. "Das wird schon! Morgen sieht alles ganz anders aus!" Diese Aussicht jagte einen eisigen Schauer durch Ephraims gekrümmte Gestalt. *_* Dragomir deponierte Schlüssel und Papiere in dem dafür vorgesehenen Rückgabe-Einwurfkasten, stapfte dann zu einer vollkommen vermummten Gestalt zurück, die er mühelos um 20cm überragte trotz Zipfelmützenbommel in Übergröße. "Ich rufe uns ein Taxi." Verkündete er und suchte in den Schal-, Mützen- und Kapuzenbahnen nach einer Reaktion. Nicht mal eine widerspenstige Locke spitzte hervor! "Nicht nötig, wirklich! Ich kann laufen!" Versicherte Lysander eifrig, wenn auch stark gedämpft durch seine Ganzkörperverpuppung aus Witterungsgründen. "Wie du meinst." Gab sich Dragomir nach einem SEHR scharfen Blick aus den hellgrünen Augen mit ihren schwefelgelben Tupfen geschlagen, kaperte einen Ärmel und schälte so lange, bis er einen Fäustling freilegen konnte. Gewohnt selbstherrlich pflückte er das wärmende Utensil ab und stopfte es samt der entschlossen umfassten, kalten Hand in seine Parkatasche. Gemächlichen Schrittes machten sie sich von der Verleihfirma, bei der Dragomir den Transporter zurückgegeben hatte, auf zu ihrer gemeinsamen Bleibe. Für Dragomir stand, neben Lysanders verständlichem Hang zum Sparen, außer Zweifel, dass der zerbrechliche junge Vampir mit ihm zu sprechen wünschte, da konnte es noch so spät sein, die Arbeit morgen Früh auf sie warten. Er wurde nicht enttäuscht. "Was wird jetzt aus Ephraim?" Ein nervöses Hüsteln schloss sich an. "Ich meine, er kann doch nichts dafür, richtig?" Der Werwolf seufzte leise. Ihm war selbstredend nicht entgangen, dass sich die beiden jungen Männer angefreundet hatten. Obwohl Lysander überall wohlgelitten war, hätte er es doch begrüßt, wenn Ephraim die Gesellschaft der anderen Werwölfe gesucht hätte. »Dumm gelaufen!« Knurrte er innerlich. "Er wird natürlich noch eine Weile bei uns bleiben." Antwortete er seinem Liebsten laut. "Niemand muss mit 19 schon wissen, was man mit dem eigenen Leben anfangen will und welchem Rudel man sich anschließt. Dass er nicht in der Einsatztruppe mittut, ist doch nichts Besonderes! Viele andere vom Rudel sind anderweitig engagiert, übernehmen wichtige und häufig bedeutendere Aufgaben." Schöne Sonntagsrede! "Das sehe ich auch so, bloß, ist das bei seinen Eltern anders?" Lysander gab nicht auf. Er konnte sich nur allzu gut in die Lage seines amerikanischen Freundes versetzen und wollte nichts unversucht lassen, ihm zur Hilfe zu eilen. Dragomir seufzte leise. Es verhielt sich nicht so, als wollte er Lysander wesentliche Aspekte der Werwolf-Gesellschaft verschweigen, doch manche Geheimnisse, vor allem die der unangenehmen Sorte, hätte er gern unangetastet belassen, seinen sensiblen Gefährten davor bewahrt. »Mama Glucke!« Ermahnte ihn spöttisch sein inneres Korrektiv, erinnerte ihn nachdrücklich daran, nicht in eine ihm ganz natürliche Zwangsbeglückung mit Heile Welt-Utopien zu verfallen. "Weißt du, Rudel sind nicht überall gleich und auf ihre Bestimmung festgelegt." Behutsam drückte er die kalte Hand in seiner Parkatasche. "Wir leben hier in einer Demokratie mit Gewaltenteilung und kritischer Presse, deshalb ist es auch nur in Ausnahmefällen nötig, als Einsatztruppe einzuschreiten. Viel mehr leisten doch die im Rudel, die bei Hilfsorganisationen, dem THW oder bei der Recherche tätig sind! In anderen Ländern jedoch sind die Voraussetzungen schwieriger. Die Aufgaben sind andere." "Amerika ist doch aber auch eine Demokratie?" Lysander weigerte sich schlichtweg, auf dem bequemen Pfad zu schreiten, den Dragomir auslegte. Er wollte ALLES verstehen und blieb auf seine liebenswürdig-zurückhaltende Art beharrlich. "Tatsache ist, dass Werwölfe ein Rudel brauchen." Der Werwolf schickte sich drein. "Der Mythos vom einsamen Wolf ist Unsinn. Wir MÜSSEN zu einem Rudel gehören. Wir brauchen die soziale Kontrolle genauso wie die eigene Reflexion durch die anderen. Ein Rudel braucht wiederum eine Bestimmung, eine Zielsetzung für die Jagd. Manche suchen sich gesellschaftliche Probleme aus, um sich nützlich zu machen, helfen bei Katastrophen oder ganz alltäglich bei Vereinsamung, Verödung, Ausgrenzung. Es gibt eine Truppe, die sich für die Begrünung ihrer Stadt einsetzt. Und dann gibt es eben auch andere Gruppen." Dragomir drehte automatisch die Hüfte aus, um Lysander geübt abzufangen, der gewohnt gedankenversunken ob der Erläuterungen die hochstehende Gehwegplatte übersah und sich ohne sein Eingreifen ungebremst aufs Trottoir gelegt hätte. "Hoppla." Brummte er lediglich, um die Entschuldigungen zu ersticken. Er kannte seinen kleinen Blutsauger schließlich! "Also, Ephraims Leute leben auf dem Land." Setzte er fort. "Dort ist die Rudel-Zugehörigkeit wohl so etwas wie ein Jagdclub. Wer nicht im Jagdrudel angefangen hat, zählt nicht zu den bedeutenden Persönlichkeiten der Gegend." "Oh, wie unfair!" Entrüstete sich die wandelnde Winterbekleidungssäule und stoppte abrupt. "Ephraim hat so viel zu bieten! Allein schon, wie schnell er so gut Deutsch gelernt hat! Er ist immer freundlich und sehr fleißig!" "Und er liebt Hausputzarbeiten, wie mir Frau Hardenheim versichert." Schnaubte Dragomir pointiert. "Oh ja, Melitta!" Hatte ihm seine Mutter in unversöhnlicher Süffisanz mitgeteilt. "Die wird den kleinen Ami bestimmt nicht so schnell weglassen, jetzt, wo ihr Hubert von Dingsda in die Ewigen Jagdgründe eingegangen ist!" Dragomir wusste, dass seine werte Mutter und Melitta Hardenheim ein jahrzehntealter Zwist in trauter Feindschaft verband. Während seine Mutter die "lächerlichen Fußhupen" verabscheute, die Melitta Hardenheim ("immer mit Stammbaum, selbstverständlich!") zu ihren Begleitern erkor, bis sie in den Hundehimmel verschieden, so konnte sie doch nicht leugnen, dass ihre Erzfeindin eine perfekte Hausdame war ("Hausfrau?! Niemals!"). Da machte ihr niemand so leicht etwas vor! Zur Verblüffung aller zeigte Ephraim keine Aversionen, diese hohe Kunst zu lernen: hier nahm sich jemand die Zeit, ihm den "Weiberkram" zu vermitteln, wusste einen artigen, schweigenden und aufmerksamen jungen Mann ("recht niedlich, aber er ist ja noch ein halbes Kind, das wird schon!") zu schätzen. "Das findest du überall, Lysander." Dragomir zupfte sanft an der gekaperten Hand, damit sie ihren Weg fortsetzen konnten. "Alle streben an, zu einer besonderen Gruppe zu gehören. Elitenbildung ist überall vorhanden. Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder es gut haben, in einer Gruppe sind, die sie beschützt und fördert." Lysander stolperte eine Weile stumm neben ihm her, dann murmelte er kaum hörbar, aber traurig. "Es ist wie in diesen Filmen. Wenn man kein Footballspieler oder Cheerleader ist, gehört man nicht dazu." Diesen deprimierenden Aussichten setzte Dragomir energisch ein Kontra entgegen. "Das ist nicht zementiert! Die Welt, die Gesellschaft ändert sich, wenn man bei sich selbst anfängt! Aufgeben und sich drein schicken, das ist keine Lösung!" Der Vampir legte den Kopf in den Nacken, um trotz Bekleidungsschichten und verschmierten Brillengläsern hoch in die hellgrünen Augen zu blicken, die unter schwarzen Brauen agitiert funkelten. Wenn man Dragomir war, konnte man vermutlich die Welt auf den Kopf stellen und sie würde sich auch noch dafür bedanken. War man jedoch ein kleiner, schmächtiger Typ, dann... "He!" Dragomir tippte mit der freien Hand auf eine nur zu vermutende Nasenspitze. "Niemand hat gesagt, dass es einfach ist, aber mit Grips, Finesse, den richtigen Kameraden und einem Quäntchen Glück kann man Berge versetzen. Notwendig ist nur, den ersten Schritt zu wagen." Das, schwang unsichtbar in seinen Worten mit, erwartete er von Ephraim: sich selbst zu ergründen und dann den eigenen Pfad beschreiten! *_* Was tun? Ephraim sortierte die elektronische Ablage gewissenhaft und grübelte gleichzeitig darüber, wie es mit ihm weitergehen sollte. Bisher hatten seine Eltern ihn nicht aufgefordert, zurück nach Kansas zu kommen. Wenn er dort einträfe, würde er wohl das College besuchen. Seinem Vater hatte die Ausrichtung "Betriebs- und Volkswirtschaft" zugesagt, denn immerhin führte er zusätzlich zur lukrativen Verpachtung ihrer Felder noch eine gutgehende Werkstatt für Arbeits- und Zugmaschinen aller Art. Jedoch... Ephraim konnte nicht leugnen, dass ihm das geniale Gespür seines Vaters für die Motoren und Maschinen im Allgemeinen abging. Er assistierte bereitwillig und lauschte aufmerksam allen Ausführungen, aber... Er hatte gleich drei Anläufe benötigt, um überhaupt die Führerscheinprüfung zu bestehen. Keine sonderlich guten Voraussetzungen für diese Art von Karriere. Gegen das Studieren selbst hatte Ephraim keine Einwände, doch wie sollte es weitergehen? Welche Richtung sollte er einschlagen, wo Arbeit finden? Er seufzte und nippte am Kakao, den seine Gastwirtin, Frau Hardenheim, ihm mitgegeben hatte. Sie behandelte ihn häufig wie ein possierliches Haustier, aber Ephraim war nicht dazu erzogen worden, Damen gegenüber unverschämt und aufsässig zu sein oder darauf zu bestehen, als erwachsener Mann wahrgenommen zu werden. "Wenn ich wegginge?" Überlegte er laut und drehte sich im Bürostuhl einmal um die eigene Achse. Dann könnte er nicht nur einen Arbeitsplatz finden, sondern auch der leidigen Rudelfrage entwischen. Vielleicht gab es ja doch irgendwo ein Rudel, das ihn aufzunehmen bereit war! "Ja, und Einhörner scheißen Regenbögen!" Verspottete er sich selbst bitter. Wenn es seinem Vater nicht gelungen war, ihn "unterzubringen" für ein "Werwolf-Praktikum", dann durfte man wohl wirklich nichts erwarten. Ephraim seufzte erneut, weil er der Lösung seines Dilemmas noch keinen Schritt nähergekommen war und konzentrierte sich auf die Bilder, die der Monitor ihm präsentierte. Sie waren von einem Mobiltelefon aufgenommen worden, nicht absichtlich, wie die Auswahl vermuten ließ, konnten aber im Zusammenhang mit einem hochgenommenen Rauschgift-Kurier von Bedeutung sein. Wenn man sie bloß einordnen und identifizieren würde! Der Notiz, die diese offene Akte begleitete, war zu entnehmen, dass die zuständige Sonderermittlungsgruppe es für den Moment aufgegeben hatte, diese Hinweise weitergehend zu untersuchen: zu viel Arbeit, zu wenig Personal und noch weniger Zeit. Also befasste sich die "Recherche"-Truppe des Rudels mit derlei Informationen. Hier war man jedoch auch bisher noch nicht weitergekommen. Ephraim verschob die unscharfen Bilder artig in den Archivordner, beäugte pflichtbewusst die wenigen Aufnahmen, die brauchbar waren, zumindest scharf fokussiert, wenn auch sonst kaum zu identifizieren. Als er gerade routiniert die Archivierung starten wollte, stutzte er. Es war lediglich ein Gefühl, eine vage Unruhe. Erneut sah er sich das letzte Bild an, schwarze Schatten, eine Art braune Bretter und ein seltsames Objekt, wie ein verbogener Kleiderhaken, rostig und unförmig korrodiert. "Moment mal." Murmelte Ephraim, kniff die Augen zusammen und grübelte. Er KANNTE dieses seltsame Ding! Er hatte es schon einmal gesehen, zumindest glaubte er das, doch wenn er sich irrte, dann wäre er wohl endgültig jenseits aller Achtung. Ephraim wühlte unsicher durch seinen roten Schopf, der nach einem Friseur verlangte und stellte sich die alles entscheidende Frage: Mann oder Maus? *_* "Ich hatte recht!" Ephraim gönnte sich ein triumphierendes Zusammenballen der Fäuste in seiner Jackentasche. Wahrscheinlich hätte er auch in lautstarken Jubel ausbrechen können, ohne dass irgendwer Notiz davon genommen hätte, denn im Moment befand er sich ganz allein auf weiter Flur. Auch sonst tat sich nichts in der Einöde, was wohl damit zusammenhing, dass man recht selten unter der Woche während der Winterschulferien, schneefrei, aber eisig kalt, am frühen Nachmittag hier Leute auf Spaziergang antraf. Ephraim jedoch hatte sich der einsamen Bushaltestelle in einer Schneise erinnert, der alten Scheune ihr gegenüber, dunkelbraunes Holz, Schindeldach. Alles verrammelt und versperrt, mutmaßlich ungenutzt. Eben unter dem Dachfirst befand sich der von Witterung korrodierte Haken. Er fiel anderen vermutlich gar nicht auf, die hier die Wanderwege beschritten und Distanz zum Asphaltband suchten. Als sie kurz nach Weihnachten hier durch den Wald gestapft waren, Dragomir voran, Lysander artig an seinem Händchen und Ephraim hinterher, sich an einer sehr blassen Sonne und der klaren Luft erfreuten, war es aus unerfindlichen Gründen einem Schottersteinchen gelungen, sich in Ephraims Moonboots zu verirren. Ohnehin noch durch den Schienbeinbruch gehandicapt hatte er hoppelnd bis zur Bushaltestelle durchgehalten, um dort im Wartehäuschen den Stein des Anstoßes zu expedieren. Seiner üblichen Tapsigkeit geschuldet war er dabei von der morschen Holzbank geplumpst und hatte sich Parterre auf dem Podex wiedergefunden. Aus dieser Position das Bild vom verdrehten Haken unter einem Scheunendach registriert! Nun ging er detektivisch vor. Man musste annehmen, dass die Bilder vom Mobiltelefon nicht absichtlich geschossen worden waren, sondern möglicherweise aufgrund einer Fehlfunktion entstanden. Wenn einem das Handy hier hinfiel... Ephraim sah sich gehorsam um, bevor er die verwaiste Straße überquerte. Mit Verkehr oder dem Bus war zu dieser Uhrzeit nicht zu rechnen. Gab es irgendwas Besonderes an dieser Scheune? Langsam umrundete er sie, blickte vom Boden bis in die Baumkronen, suchte nach Hinweisen. Was konnte die Person mit dem Mobiltelefon hier getan haben, so weitab vom Schuss? Ein Wanderweg führte auf dieser Seite nicht vorbei und... nanu! Ephraim ging in die Hocke, um besser sehen zu können. Die Scheune stand auf einem festen Fundament, hier und da lösten sich Kiesel und Brocken. Obwohl man eigentlich nur eine Bretterfront sah, konnte er auf den Kieseln Scharrspuren erkennen, als wäre etwas Schweres über sie gezogen worden. "Hm!" Brummte er laut und erhob sich. Möglicherweise befand sich hier doch so etwas wie ein getarnter Eingang! Wenn man jetzt Glück hatte.... Zumindest eine schicksalhafte Fügung stellte sich ein, denn als Ephraim gerade konzentriert mit den Handflächen die Bretter abtastete, schossen zwei dünne Drähte gezielt auf seinen Kopf zu und berührten seine Wangen. Einen höllischen Tanz elektrischer Spannung später brach er bewusstlos zusammen. *_* "Er kommt nie zu spät!" Verkündete Melitta Hardenheim und warf Ranghilde einen steinernen Blick zu. Unvorstellbar, dass der kleine Amerikaner auch nur ERWÄGEN würde, sie zu versetzen! Ranghilde seufzte. Nach einem langen Arbeitstag wollte sie wirklich nicht den ersten unbeaufsichtigten "Gehversuchen" eines Teenagers fern der elterlichen Zucht Einhalt gebieten. SIE jedenfalls hätte sich an Ephraims Stelle garantiert die Freiheit genommen, abends länger wegzubleiben, um sich zu amüsieren. "Was ist mit dem Telefon?" Hakte sie nun die Liste bei Vermisstenmeldungen im Rudel ab. "Er nimmt nicht ab!" Melitta tippte nun mit einem vornehm bekleideten Füßchen auf den strapazierten Boden des Stehcafés bei einem großen Lebensmittelmarkt. "Hat er gesagt, wo er hin wollte?" Ranghilde aktivierte den kleinen, leistungsstarken Rechner, der sie als Angehörige der Einsatztruppe ständig begleitete. "Spazierengehen. Auf dem Wanderweg bei der Kuppe." Melitta ergänzte weitere Informationen, während Ranghilde sich eine Karte einblenden ließ. Die Witterung für einen Waldspaziergang war durchaus gut. Die Einsatzmeldungen der Polizei und der Zentrale für Rettungsdienste verzeichnete keinen Alarm in der gesamten Umgebung. Von den Verkehrsbetrieben wurde auch keine Störung gemeldet. »Aber wir reden hier über unseren kleinen Tollpatsch aus Amerika!« Ranghilde runzelte die Stirn. Wenn er gestürzt war, konnte es sein, dass er irgendwo hilflos lag, sich nicht selbst helfen konnte. Zu dieser Jahreszeit musste das Aufkommen barmherziger Samariter in der Gegend ziemlich gering sein. "In Ordnung." Entschied sie. "Ich werde hoch fahren und der Strecke folgen. Bitte geben Sie mir unbedingt Bescheid, wenn Ephraim sich melden sollte." "Selbstverständlich!" Melitta nippte mit säuerlicher Miene an ihrem Kaffee aus dem Pappbecher. "Ich bin aber sicher, dass ihm etwas zugestoßen ist! Das habe ich in den Knochen!" Kein Ansatzpunkt für eine Diskussion oder offene Zweifel, entschied Ranghilde, die sich unangenehm an Prophezeiungen aus Innereien, dem Vogelflug und Blumenlotto erinnert fühlte. Sie nickte deshalb bloß knapp, warf sich ihre mächtige Handtasche über die Schulter und marschierte mit ausgreifenden Schritten zu ihrem alten Golf. Wenige Minuten später holten sie vier andere eilig zusammengetrommelte Mitglieder der Einsatztruppe in einem Geländewagen am Treffpunkt ab. *_* "Ja, der GPS-Tracker hat angeschlagen." Ranghilde flüsterte unwillkürlich in ihr Mobiltelefon, während sie mit finsterem Blick in die Dunkelheit starrte. Zwei Werwölfe waren die Strecke abgegangen, sie hatte mit zwei weiteren Begleitern im Waldstück gesucht. Ephraims Mobiltelefon war vollkommen zertrümmert. Jemand musste es zertreten und dann weggeschleudert haben. Da es sich jedoch um ein Gerät aus ihrem eigenen Bestand handelte, war es mit einem Positionsmelder ausgerüstet, der unabhängig funktionierte und so robust war, dass er auch größere Attacken überstand. Es gab keinen Zweifel: Ephraim war etwas zugestoßen. "Die Scheune ist leer, der Boden überall gefroren, sodass wir keine Spuren finden. Sie müssen ihn zur Straße getragen haben. Aber warum und wo sie dann hingefahren sind...?!" Ranghilde verstummte frustriert. Mit Stablampen und grellen Leuchtpegeln grasten sie den möglichen Weg der Entführung ab, doch die Chancen waren ungünstig verteilt. Dragomir, den sie auf einer Geschäftsreise alarmiert hatte, knurrte grollend, Ephraim habe wahrscheinlich bei seiner Ablagearbeit etwas entdeckt und weil er richtig getippt hatte, musste jemand auch IHN entdeckt haben, weshalb er sich in großer Gefahr befand. "Polizei?" Ranghilde hielt sich knapp, sie kannten schließlich ihre Taktiken. Was konnte man sagen, ohne sich selbst in eine unerfreuliche Lage zu manövrieren? "Wartet dort noch etwas. Ich schicke Unterstützung." Entschied Dragomir ebenso bündig. Die Polizei auf den Plan zu rufen erschien ihm wohl noch etwas verfrüht. "In Ordnung." Ranghilde beendete das Telefonat und blickte in die Runde ihres Rudels. Es sah wirklich nicht gut aus, und das wussten sie. *_* Die Werwölfe hielten Abstand und warteten angespannt auf die Ergebnisse der Erkundung. Sie wurden nicht enttäuscht. "Hmm, verbrannte Haut, ich würde auf einen Taser tippen. Zwei Männer, Kettenraucher, aber trotzdem fit. Beherrschte Typen, haben keine einzige Kippe angezündet. Riecht mir nach Schmuggelware, böses Kraut. Keine Blutspuren, keine Schleifspuren. Vermutlich sind sie nicht von der Straße gekommen, sondern vom anderen Parkplatz über den Trampelpfad. Haben ihn nicht erwartet. Ziemlich kaltblütig. Der Wagen ist ein Diesel, gepflegt, wahrscheinlich Garagenunterbringung." Viele, nicht besonders erbauliche Informationen, doch wohin sollten sie sich jetzt wenden? Ranghilde nickte deshalb in die Finsternis. "Danke. Eine heiße Spur haben wir wohl nicht." Ein amüsiertes Lachen antwortete ihr. "Oh, besser! Wenn ihr das Fenster heruntergekurbelt lasst, finde ich euch die Ganoven! Sie stinken nämlich infernalisch nach Drogenküche!" *_* Ephraim ging es gar nicht gut. Sein Körper, jeder einzelne Nervenstrang, schrie in Agonie, sein Gehirn lief Amok, konnte diese zerfetzten Fehlinformationen nicht verarbeiten, wurde überrannt von Nachrichten sämtlicher Rezeptoren. Die Hölle hatte ihn verschlungen. *_* Ranghilde beriet sich leise mit der Leiterin des Sondereinsatzkommandos, das man eilig ausgesandt hatte. Die Aussicht darauf, ein verborgenes Drogenlabor auszuheben, dazu noch die Entführung eines Jugendlichen mit amerikanischem Pass, das erforderte eine schnelle und zugleich absolut fehlerfreie Aktion. Der Hundeführer der Drogenstaffel hatte bestätigt, dass sein vierbeiniger Kollege positiv auf Drogen anschlug. Das Haus selbst, ein etwas vernachlässigter Bungalow aus den Achtzigern, wirkte abweisend. Sämtliche Rollläden waren heruntergelassen, ein Einblick ohne Röntgen schwer möglich. Wortlos leitete Ranghilde die Baupläne weiter, die aus dem Kreisarchiv "beschafft" worden waren. Wenn alles glatt ablief, würde es bestimmt Gelegenheit geben, die ein oder andere Vorgehensweise aus Polizeiberichten herauszulassen. Man konnte sich immer noch auf einen anonymen Tipp der besorgten Nachbarschaft verständigen. Die Mitglieder des SEK näherten sich vorsichtig dem Haus. Die Alarmanlage wurde deaktiviert, dann stürmte man gleichzeitig Vorder- und Hintereingang, besetzte die Garage und zerlegte in beeindruckender Mühelosigkeit Türzargen, um sich Zutritt zu verschaffen. Die Werwölfe warteten wie brave Zivilisten in sicherer Entfernung. Die Ausbeute erschien jedoch zunächst mager: Blankogeldkarten, geringe Mengen an Rauschgift, sehr viele Mobiltelefone und unversteuerte Zigaretten. Kein Ephraim. Kein Drogenlabor. *_* Er hörte etwas durch den dumpfen Schmerz in seinem Kopf, aber mit verklebten Augen und ebenso geknebeltem Mund, die Glieder samt und sonders pulsierend vor Pein, eine schier endlose Folter, konnte Ephraim nicht um Erlösung betteln. *_* "Und jetzt zum Hauptgewinn!" Verkündete die "Geheimwaffe" putzmunter, pflückte mit den durchscheinenden Handschuhen zielsicher drei Folianten aus einem vollgestopften, muffig riechenden Regal, betrachtete kurz die dahinter verborgene Code-Tafel und tippte souverän eine Ziffernfolge ein. Kein Treffer. Der zweite Versuch glückte jedoch, man hörte kaum ein Geräusch, als sich ein Teil der Bücherwand nach hinten und zur Seite schob. In die schmale Wandkammer hatte man rücksichtslos eine menschliche Gestalt gepresst, eingekeilt wie Sperrmüll. *_* "Hi, sweetie, howyerdoin?" Gurrte eine samtige Stimme verführerisch. Ohne den Klebestreifen, der seine Augenbrauen und Wimpern mitgerissen hatte, blinzelte Ephraim hoch in das Gesicht eines Engels. Oval, leicht gebräunt, von schwarzen Augen dominiert, die auf Hochglanz poliert funkelten, während eine Korona dunkelbrauner Haare nach vorne über die Schultern glitten. Die Erscheinung identifizierte Ephraim mit letzter Kraft als Engel, Himmelsboten und lächelte verzerrt ob der Verbrennungen in seinem Gesicht. Folglich musste er wohl im Himmel sein, obwohl, dieser Himmel war schon merkwürdig, denn... »...she speaks American English...« "American English" by Andrew Gold and Graham Gouldman (WAX 1987) here comes my one and only talking like a starlet on a hollywood screen she whispers something to me I hear the words but I don't know what she means oh she speaks american english oh don't always understand though she speaks american english got the language of love at her command love travels transatlantic I'm hot and bothered by her figure of speech can't follow her semantics but when her body moves it's clear to me chorus we don't need words to express what is real we've got each other that says everything that we feel there's too much damn confusion with all this talking going round and round we'll reach our own conclusion we'll make connection on the common ground chorus she speaks american english she speaks the language of love she speaks american english *_* "Ist es schon besser?" Mitfühlend streichelte Ranghilde den roten Schopf. Das Gesicht darunter war noch immer käsig-weiß, die Augen tief beschattet, von den Brandwunden auf den Wangen ganz zu schweigen. Ephraim versuchte tapfer zu lächeln, gab diese Unternehmung jedoch rasch auf. Das Schmerzmittel dämpfte die Pein zwar auf ein erträgliches Maß, seine Erinnerung mahnte ihn jedoch unbarmherzig, dass er ziemlich gebeutelt worden war. An seinem Arm hing eine Infusion, um Unterzuckerung und Dehydrierung auszugleichen. Er sollte eigentlich schlafen, wie ihm ein müder Halbgott in Weiß verordnet hatte, doch nach einigen Stunden in einer Quetschfolter, ohne ausreichend Sauerstoffversorgung, durstig und von den immensen Folgen des heftigen Stromschlags gezeichnet, erschien Ephraim Schlaf und damit verbunden mögliche Erinnerungsfetzen an sein Martyrium wenig verlockend. Er konzentrierte sich lieber auf den Engel, den er im blendenden Lichtschein kurz erblickt hatte. Die Details entglitten ihm zwar immer wieder, wenn er sich auf sie zu fokussieren suchte, doch das Gesamtbild beeindruckte ihn weiter grandios. Ranghilde hingegen, die ihn besorgt musterte, fragte sich, wann Frau Hardenheim eintraf, um sie abzulösen. Der Werwolf-Part ihres Alltags kollidierte nämlich mit ihrem Arbeitsleben. Sie hätte wirklich GERN geduscht und sich selbst warm in ihr Bett gekuschelt. Wie gerufen spazierte Melitta Hardenheim hinein, graziös und damenhaft, warf einen ergrimmenden Blick auf den verpflasterten Ephraim und schnaubte in vornehmer Empörung. "Mein lieber Junge, wer hat dich so zugerichtet?!" Ephraim blinzelte, zum ersten Mal erfreut, dass die tiradenhaften Monologe seiner Pensionswirtin ihn noch eine ganze Weile am Einschlafen hindern würden. *_* "Das ist alles ein wenig kompliziert." Brummte Dragomir, schlüpfte in seinen schwarzen Wollmantel, kontrollierte streng, dass Lysander sich anständig verpuppte, um nicht die wenigen Schritte zwischen Auto und Haus bzw. Salon zu frieren. "Könntest du es mir nicht doch erklären?" Bat der Vampir sanftmütig, ließ sich brav mit einem aufgeplusterten Schal einwickeln. Dragomir seufzte vernehmlich, was er sich selbst nur in Lysanders Gesellschaft gestattete. "Jinx gehört nicht richtig zum Rudel. Es ist eher eine freischaffende Tätigkeit, verstehst du?" Er legte zärtlich einen Arm um Lysanders schmale Schultern, dirigierte die thermogedämmte Gestalt ins Treppenhaus und verschloss hinter ihnen die Wohnungseingangstür. "Deshalb musste ich eine Art Aufwandsentschädigung zusagen." Dragomir seufzte erneut und lotste Lysander zu seinem Auto, öffnete ihm zuvorkommend die Beifahrertür. Er ging sogar in die Hocke, um Lysander wie ein Kind anzuschnallen. Der um zehn Jahre jüngere Vampir schmunzelte und ließ sich brav umsorgen. Er vermutete zu recht, dass Dragomir gar nicht mehr bewusst war, man könne sein Verhalten als selbstherrlich missverstehen. Nach Jahren der Einsamkeit und Vereinzelung genoss Lysander Dragomirs Aufmerksamkeit jedoch ungeniert und wusste sich damit weniger egoistisch als konziliant. Es irritierte den Werwolf an seiner Seite nämlich erheblich, wenn er Einsprüche gegen das Verwöhnen erhob. Ihn zu verhätscheln war Dragomis Ausdruck von Zuneigung und gleichsam ein Seelenbalsam für den Rudel-Führer, der sich umso besser fühlte, wenn seine Fürsorge geschätzt und mit Liebe erwidert wurde. "Ich bin wirklich neugierig!" Bekannte Lysander fröhlich, dämpfte seine Begeisterung jedoch rasch. "Vielleicht kann ich in der nächsten Zeit die Ausgaben ein wenig bescheiden, dann..." "Süßer!" Knurrte Dragomir grollend, während er flüssig in den Verkehr einfädelte. "Ich bin mir ABSOLUT sicher, dass ich es mir leisten kann, drei Wellness-Behandlungen zu finanzieren!" Lysander zog den Kopf ein. "Ich möchte nur nicht, dass..." Die rote Ampel gab Dragomir Gelegenheit, Lysander gründlich den Mund jenseits der hinderlichen Schalwickel zu versiegeln. Als er wieder anfuhr, herrschte einträchtig-verliebtes Schweigen. *_* "Ah, da seid ihr ja!" Dragomir verschloss den Wagen, fasste nach einem Ärmel und pulte unter den Stoffschichten eine schlanke Hand frei, die in einem Fäustling steckte. "Ephraim! Geht's dir besser?" Lysander winkte mit der freien Hand, marschierte voran, um Ephraim zu treffen, der mit Ranghilde auf dem alten Busbahnhofparkplatz eingetroffen war. Ein wenig steif kam Ephraim ihnen entgegen, lächelte zögerlich in die großen, dunkelbraunen Augen hinter den verschmierten Brillengläsern. Mehr konnte man ohnehin kaum erkennen unter all den wärmenden Schichten Material. "Tja, dann wollen wir mal!" Brummte Dragomir und ging voran, quer über den Platz. Den Wartehäuschen gegenüber befand sich ein alter Bahnhofsbau, in Provinzgröße, mit bescheidenen Arkaden, gelbe Backsteine, weiß gekalkte Streben und Fensterbänke und ein gewaltiges, golden beleuchtetes Firmenschild: "Be Beautiful-Saloon". "Hübsch!" Bemerkte Ranghilde amüsiert. Sie fragte sich, was ihr für die "Luxus-Behandlung", die sie als Gegenleistung für die Hilfe bei der Rettungsmission bezahlen musste, geboten wurde. Sonnig gelbe Stores sperrten die Winterdunkelheit aus, Blumen und Schmetterlinge tanzten auf den beschlagenen Scheiben. Man konnte Grünpflanzen erahnen. "Nur Mut!" Grollte Dragomir leise und stieß die schwere Doppeltür auf, die Griffholme elegant wie Pflanzenranken geschwungen. "Halloooo! Immer reinspaziert, ihr Lieben!" Trällerte eine muntere Stimme, während im Hintergrund gedämpft Hillbilly-Musik schnarrte. "Oooh!" Staunte Lysander und wurde von Dragomir gerade noch gehindert, durch die beschlagenen Brillengläser temporär erblindet in einen großen Kleiderständer zu laufen. Tatsächlich war der Saloon kunterbunt und gemütlich zugleich. Linker Hand befanden sich drei Friseurstühle vor einer Spiegelwand, jeder mit einer anderen Farbe bezogen. Warmes Licht strahlte aus schlichten Lampen im Jugendstil-Dekor. Wände und Decke waren in warmen Farben gestrichen. Die Konsolen und Schränkchen hatte man in Honigtönen lasiert. Bunt bemalte Übertöpfe beherbergten zahlreiche Grünpflanzen, die strategisch hübsch verteilt worden waren. Rechter Hand hingegen betrat man einen großen Raum, den man zum ersten Stock geöffnet hatte. Eine Gliederung ergab sich durch rollende Kleiderständer, mit Vorhängen versehene Stangen, Standspiegel, Kaffeehausstühle und Bistrotische. Hier fand sich Bekleidung aller Art, dazu Accessoires und eine gewaltige Fotowand, auf der die schönsten Verwandlungen abgelichtet worden waren. Davor präsidierten ein großer Arbeitstisch, eine sehr robust wirkende Nähmaschine und ein Klavierhocker. Auf der Seite stand ein mannshoher Apothekerschrank, in dem sich offenkundig allerlei Krimskrams und Zubehör befand, urteilte man nach den Bändern und Litzen, die herausspitzten. Eine blonde, sehr schlanke Frau in Jeans und einer offenherzigen Bluse winkte ihnen munter zu. Sie stapfte mit ihren Cowboystiefeln auf den gepflasterten Boden im Rhythmus der Musik und befreite eine mutmaßlich weibliche Person unter einem fröhlich-bunten Laken von einer Gesichtsmaske. "Da seid ihr ja schon!" Die muntere Stimme, immer noch trällernd, materialisierte sich aus einem Vorhangseparee, warf einen schweren, schwarzen Zopf auf den Rücken und rieb schlanke Hände. "Also, vier Luxusbehandlungen hatten wir vereinbart?" Ephraim wurzelte auf der Stelle an. Die Haare, das ovale Gesicht, die Stimme, dieser Akzent, der weite Poncho über knackig engen Hosen. Das war sein Engel! »Sie-sie ist real!« Stotterte sein Verstand ungläubig. Er hatte es sich nicht eingebildet! Wie vom Donner gerührt bestaunte er die zierlich-sehnige Person, die ihnen geschäftstüchtig entgegenkam, strahlend lächelte und sofort Lysanders wirre Locken kraulte. "Hi, ich bin Jinx! Du bist ja ein schnuckliger Vampir!" Hörte Ephraim betäubt, während sein Herz zu rasen begann und ihm überall der Schweiß ausbrach. In seinen Schläfen pochte es, vor seinen Augen tanzten schwarze Funken. Lysander lachte fröhlich, während Dragomir entschieden die freche Hand vom Haupt seines Liebsten pflückte und knurrte. "Mach so weiter, und du stehst unter MEINER Beobachtung!" Der Engel kicherte amüsiert, drückte Ranghilde ungeniert einen warmen Kuss auf die Wange und kommandierte. "Ihr beiden Lieben könnt es euch schon mal gemütlich machen, ja?" Damit wurden die beiden freien Friseurstühle vergeben. Dragomir zögerte, denn ER wollte Lysander ausreichend für diese "Luxusbehandlung" freilegen, doch konnte er wohl kaum ihren amerikanischen Gast hier allein herumstehen lassen. "Ah, Ephraim, du erinnerst dich vielleicht nicht.." Bevor er jedoch seinen Satz beenden konnte, fiel ihm der Engel ins Wort, baute sich direkt vor Ephraim auf, der registrierte, dass er um wenige Zentimeter überragt wurde. "Oh, aber ich erinnere mich ganz genau! Du bist doch Lucky! Hi, freut mich, ich bin Jinx!" Damit wurde Ephraims klamme Rechte okkupiert, kräftig geschüttelt und ehe er sich versah, rechts und links auf die lädierten Wangen gebusselt. "Ich liebe dich!" Rutschte es Ephraim schockiert heraus, mit brüchiger Stimme, einer Ohnmacht nahe. "Echt? Wie süß!" Jinx zwinkerte, dann leuchteten seine Augen auf, und er warf einen kurzen Seitenblick auf Dragomir, der nicht nur perplex, sondern auch verlegen wirkte. "Ah, da hast du wohl was vergessen, wie?" Schmunzelte Jinx und rammte sich Ephraims Hand zwischen die Beine. "Ich bin übrigens ein Kerl, weißt du?" *_* Kapitel 2 - Be beautiful! "Ich weiß ja auch nicht!" Beklagte sich Dragomir entnervt, während er tapfer eine biologisch korrekte Gesichtsmaske ertrug. Wieso ereignete sich so was ständig?! "Also, ich finde es super-süß!" Schwärmte Jinx ungeniert, der den feuchten Lappen um Ephraims geschwollenen Knöchel wechselte. "Das ist mir wirklich noch nie passiert!" "Ha!" Grummelte Dragomir leise. Er wünschte sich, das auch behaupten zu können! "Echt süß von dir!" Jinx beugte sich über Ephraim, der ein kühlendes Tuch über dem Gesicht trug und dankbar dafür war, niemanden sehen zu müssen. "Vor mir ist noch nie jemand mit einem Liebesgeständnis in die Knie gegangen! Absolut romantisch! Ist mir wirklich eine Ehre, Lucky!" "Er heißt Ephraim!" Korrigierte Dragomir, der vermutete, dass sein amerikanischer Gast sich in ein tiefes Loch am anderen Ende der Welt wünschte. "Ephraim Lux." "Sag ich ja, Lucky!" Jinx wirbelte schwungvoll um sie herum, präparierte Salben und Cremes, polierte Fingernägel, zupfte Härchen und sprudelte über vor Leben. "Er ist ein echtes Glucks... nein, Glückskind!" Sein Akzent brachte ihn selbst zum Lachen. "Er hat die bösen Jungs entdeckt, er hat ein Abenteuer erlebt und ist jetzt ein Held! Außerdem habe ich noch nie jemanden so formvollendet in Ohnmacht sinken sehen! Phantastisch! Der Knöchel ist bloß ein bisschen verstaucht. You're simply lucky, Lucky!" Ephraim winselte beschämt, als ein frecher Kuss auf seiner Stirn landete. Irgendwo lachte bestimmt das Schicksal lauthals auf seine Kosten! Dann stimmte Jinx im Heldentenor auch noch "I should be so lucky" an... *_* In my imagination There is no complication I dream about you all the time In my mind, a celebration The sweetest of sensation Thinking you could be mine In my imagination There is no hesitation We walk together hand in hand I'm dreaming You fell in love with me Like I'm in love with you But dreaming's all I do If only they'd come true I should be so lucky lucky, lucky, lucky I should be so lucky in love I should be so lucky Lucky, lucky, lucky I should be so lucky in love It's a crazy situation You always keep me waiting Because it's only make believe And I would come a-running To give you all my loving If one day you would notice me My heart is close to breaking And I can't go on faking The fantasy that you'll be mine I'm dreaming That you're in love with me Like I'm in love with you But dreaming's all I do If only they'd come true I should be so lucky lucky, lucky, lucky I should be so lucky in love I should be so lucky Lucky, lucky, lucky I should be so lucky in love "I should be so lucky" by Stock Aitken Waterman (Kylie Minogue 1987) *_* "Jinx macht das alles selbst?" Lysander bestaunte die zahlreichen Kleidungsstücke fasziniert. Sie waren gebraucht hier abgegeben worden, manchmal im Tausch gegen etwas aus Jinx' Auswahl, der wahre Träume schuf und sein Geschäftsmotto lebte: "be beautiful". Doreen, seine blonde Geschäftspartnerin und die Friseuse im "Saloon", grinste. "Er ist genial, was? Er gibt auch Kurse, und wir organisieren Events, so nach dem Motto 'entdecke dich selbst'. Außerdem macht er die ganze Kosmetik, die wir benutzen. Alles organisch, wird frisch hergestellt, ganz wie früher." "Das ist sehr beeindruckend!" Bekannte Lysander aufrichtig, der frisch frisiert, eingecremt und verwöhnt ganz anders wirkte. Wie ein bildschöner, zarter Naturgeist. Sah man von seiner üblichen Archivar-Uniform ab, übergroße Strickjacken und stark abgeschabte Cordhosen. "Magst du dich mal umschauen, hm?" Doreen lächelte über den attraktiven jungen Mann, denn sie wusste, wie eifersüchtig da ein gewisser Dragomir herüberlauschte. "Ich muss langsam los!" Ranghilde, die sich aufgekratzt hatte ablichten lassen, mit eleganter Hochsteckfrisur und einem frisch erworbenen Etuikleid, seufzte bedauernd. "Ich komme bestimmt wieder." "Das höre ich gern!" Lachte Doreen, umarmte Ranghilde luftig. "Dann komm gut heim, ja? Wenn dir die Tagescreme ausgeht, ruf einfach an. Liz ist öfter in deiner Nähe unterwegs." Ranghilde nickte, lächelte unbeschwert wie schon lange nicht mehr und schwebte förmlich hinaus zu ihrem Wagen. Den lädierten Ephraim würde Dragomir in seiner Pension abliefern. Doreen befreite Dragomir geschickt von seiner Maske, richtete den Stuhl auf, um mit flinken Fingern, Schere und Rasiermesser seinem eleganten Schurkenbart und den dichten Haaren den perfekten Schliff zu geben. Kaum hatte sie den Kittel beiseite gezogen, erhob Dragomir sich bereits, lächelte ihr knapp mit einem Dank zu und suchte nach Lysander, der nicht mehr zwischen den Kleidern aufgetaucht war. "Ich mach Lucky die Haare, ja?" Sie nickte Jinx zu, der einen Country-Song mitsummte. "Du kannst die Salbe anrühren." "Oh yeah, sugar!" Schnurrte Jinx wie aufgezogen, zupfte dem mitgenommenen Ephraim das Tuch vom Gesicht und bugsierte ihn in eine weniger horizontale Lage. "Bin gleich wieder bei dir, Lucky!" Schon hatte Ephraim einen weiteren Schmatzer auf der Stirn! Jinx spazierte zu seiner "Schatzhöhle" hinüber, hochgestimmt und erwartungsvoll. Wenn Doreen ihm diesen Wink gab, bedeutete es üblicherweise, dass er eine seiner Kreationen verkaufen konnte. Tatsächlich betrat er eine erbauliche Szene: Lysander hatte einen weinroten Strickmantel erblickt, den Jinx in herausragender Weise modelliert hatte, um das eher biedere Ausgangsstück mit Finesse und Eleganz zu versehen. Der schlanke junge Mann mit den kastanienbraunen Locken und der hellen Haut wirkte wie ein Gemälde in dem Mantel, atemberaubend schön und verliebt in das gute Stück, gleichzeitig jedoch erschrocken bei dem Gedanken, so viel Geld auf sich zu verwenden. Jinx konnte sich der Ahnung nicht entziehen, dass der kleine Vampir eher seine Garderobe aus der unanbringlichen Restmenge der Altkleidersammlung bestritt. "Der Mantel ist wie für dich geschaffen!" Raunte er sanft und schob sich in die Blickachse von Dragomir, der stumm seinen Geliebten betrachtet hatte. "Er ist wirklich prächtig!" Murmelte Lysander hin und her gerissen. "Allerdings für den Alltag viel zu schade..." "Hier ist meine Karte!" Dragomir schob Jinx knapp seine Kreditkarte in die Hand und ihn selbst Richtung Kasse. "Oh, meinst du wirklich? Ich..." Mehr konnte Jinx nicht vernehmen, der sich vergnügt hinweg verfügte. Es stimmte also tatsächlich, dass der gefürchtete Dragomir einen kleinen Vampir über alles liebte. *_* "Er hat einen etwas verdrehten Sinn für Humor." Brach Dragomir das matte Schweigen im Auto. Lysander, der sich auf die Rückbank gesetzt hatte, damit Ephraim mit seinem verstauchten Knöchel leichter aussteigen konnte, schlummerte bereits nackenhörnchenbewehrt und selig ob des Erwerbs seines wunderschönen, neuen Mantels. Ephraim hockte geduckt und noch kleiner als gewöhnlich auf dem Beifahrersitz, war, wenig verwunderlich, sehr durch den Wind. Der Engel war keiner. Auch keine "sie". Auch wenn es amerikanisches Englisch gewesen war, wenn auch mit einem extrem ungewöhnlichen Akzent, zumindest für einen Jungen aus Kansas. "Jinx ist speziell." Gab Dragomir unumwunden zu. "Aber er verfügt über eine unglaubliche Spürnase. Das ist auch bei uns Werwölfen äußerst selten. Deshalb hat er auch mit seiner hausgemachten Bio-Öko-Kosmetik so viel Erfolg." Er seufzte. "Darum kann er uns vier Luxusbehandlungen als Gegenleistung aus den Rippen leiern." "Entschuldigung." Murmelte Ephraim hilflos. Dass er mehr Kosten verursachte als jeder andere "Gast"-Werwolf, war ihm nur zu deutlich bewusst. "So meinte ich das nicht, Ephraim!" Stellte Dragomir klar. "Man muss es diesem verdrehten Burschen ja auch lassen: er macht seine Sache gut." "Wieso gehört er dann nicht zum Rudel?" Ephraim richtete sich auf. Alles war surreal und er selbst vollkommen durcheinander. Dragomir zögerte mit einer Antwort. Schließlich erklärte er leise. "Er pflegt einen etwas freizügigen Lebensstil, der in Gruppen, die auf Regeln und Disziplin bauen müssen, nicht konveniert. Das führt zu viel Unruhe und Streit." Ephraim verstand nicht, was EXAKT Dragomir andeutete. Er würde jedoch gründlich nachdenken müssen, das spürte er. Vorausgesetzt, irgendwann funktionierte sein Kopf wieder richtig! *_* Ein richtiger Mann steckte Schmerzen weg und ging STETS seiner Arbeit nach. Faules Herumlungern durch Malässen, die man sich selbstverschuldet zugezogen hatte, entschuldigten GAR NICHTS. Eine Grundregel im Hause Lux. Aber Ephraim konnte nach eigenem Empfinden nicht mal vom Bett bis zur Zimmertür denken, so sehr schmerzte sein Kopf. An seinen Knöchel verschwendete er kein Mitgefühl. Ihm bereitete es schon ausreichend Probleme, oben und unten zu sortieren, wenn er sich mühsam auf den Ellenbogen in eine annähernd sitzende Haltung schob. »Das ist irre.« Stellte er in einem dumpfen Betäubungszustand fest, strengte sich vergeblich an, eine gewisse Ordnung in die Erinnerungsblitze in seinem Kopf zu bringen. Da war der Nicht-Engel und dann seine Hand um die Kronjuwelen eines anderen Mannes! Das Aufwachen mit Blick an eine fremde Zimmerdecke. Der pochende Knöchel. Küsse. Er hatte ein Liebesgeständnis abgelegt, daran erinnerte er sich. Aber wieso?! Und Liebe?! Er hatte hin und wieder mal hoffnungslos unerreichbare Mädchen angeschwärmt, aber Liebe?! Das war doch verrückt! »Die Drogenküche!« Mühsam rückten graue Zellen zusammen, um IRGENDWIE Licht ins Dunkel seines benebelten Verstands zu bringen. Genau! Wahrscheinlich hatte er irgendwelche Dämpfe eingeatmet! Deshalb...! Jinx. Ephraim versuchte sich zu erinnern, presste stöhnend die Fäuste gegen die Schläfen, um dem unerträglichen Migräneanfall Kontra zu bieten. »Wie-wie sieht er aus? Also, die Haare..., nein, die Augen...« Eine eisige Welle von Panik spülte durch seine Glieder, in seinem Magen ballte sich Übelkeit zu einer hinterhältigen Attacke zusammen. Er hatte ihn doch gesehen! Aus der Nähe, richtig? Wieso-wieso konnte er sich nicht mehr erinnern, wie dieser Jinx aussah?! Wieso füllten sich seine Ohren mit Watte, wenn er versuchte, den Klang der Stimme, ihren Akzent, den Rhythmus zu rekapitulieren?! »Das-das ist doch irre!!« Ephraim stöhnte laut auf und brachte Frau Hardenheim auf den Plan, die schon nachdenklich die Zeitzwiebel um ihren Hals konsultiert hatte. Sie besorgte nicht nur eine Schüssel für das Erbrechen, sondern entschuldigte Ephraim auch bei seinen Gastgeber-Werwölfen. Der arme Junge hatte wirklich verflixtes Pech! *_* Vollgepumpt mit allem, was Frau Hardenheims heimischer Apothekenschrank zu bieten hatte und das möglicherweise Linderung versprach, versackte Ephraim förmlich in einem komatösen Tiefschlaf. Der währte bis zum nächsten Morgen und entließ ihn so unvermutet wie eine Schlafpille: von gefühlt einem Moment auf den anderen war er glasklar wach und sein Schädel nicht mehr Behausung für einen schlammigen Matsch nach einem dreitägigen Heavy Metal-Konzert seiner grauen Zellen. "Komisch." Murmelte Ephraim, ein deutscher Begriff, der in dieser Gegend noch eine ganz andere Bedeutung hatte, nämlich der Auftakt für ein gründliches Sinnieren über ein perplexes Problem. Wieso war er jetzt quasi keimfrei im seinem Kopf, konnte sich aber an Jinx' Erscheinungsbild absolut nicht erinnern?! Noch mal ging er den Besuch im Be Beautiful-Saloon durch. Doreen, die Kleider und Einrichtungsgegenstände, die Fotowand, die Dose mit der Brandsalbe, die schon auf ihn gewartet hatte, aber kein Jinx. Er hatte einem Phantom sein Liebesgeständnis gemacht, so, als hätte er einen unkontrollierten Tic entwickelt. Ohne Veranlassung oder Kontrolle, wie ein liebenswerter Tourette-Anfall! War das alles den Drogen geschuldet? Hatte er sich überhaupt damit kontaminiert? "Der Reihe nach!" Ermahnte er sich und hievte seinen erschöpften Körper in eine sitzende Position, stopfte sich das willfährige Kissen ins Kreuz. "Außergewöhnliche Situationen schaffen entsprechende Gefühle. Aber meine Rettung verdanke ich ja nicht nur..." Wieso ließ sein Unterbewusstsein ihn dann so etwas sagen?! Ausgenommen der etwas zynische Verdacht, er liebe es, sich selbst lächerlich zu machen und müsse eine bestimmte Quote an wöchentlichen Selbstdemütigungen erfüllen. "Das ist doch verrückt!" Rief er sich energisch zur Ordnung, schlug zur Betonung mit dem Fäusten auf die von der aufgeplusterten Bettdecke gepufferten Oberschenkel. Wahrscheinlich hatte er einfach unter den Spätfolgen seiner Entführung gelitten, deshalb Unsinn geredet und sich selbst in fürchterliche Verlegenheit manövriert! Nun galt es eben, ein ganzer Mann zu sein, sich endlich ordentlich zu bedanken und für seinen Ausfall zu entschuldigen. Genau! Es könne überhaupt nicht sein, dass er sich nicht an Jinx' Erscheinungsbild erinnere, das musste so eine Psycho-Blockade wegen des Schocks sein! Geprägt von der unumstößlichen Souveränität der Eltern Lux sah ihr einziger Sprössling keine Alternative, als sich todesmutig erneut in die chaotische Welt zu wagen und John Wayne zu kopieren. *_* Liz, die niemand hier Elisabeta rief, seit Jinx sie "umgetauft" hatte, packte ohne größere Anstrengung ihre mobile Massagebank zusammen, deponierte ihre erledigten Besuchstermine unter einer großen Schneekugel auf Jinx' Arbeitstisch. Er übernahm den lästigen Papierkram für sie, während sie im Austausch die "Be Beautiful"-Produkte zwischen ihren Besuchsterminen auslieferte. "Ich gäh jätz." Verkündete sie mit ihrem schweren Akzent und rollte die mächtigen Schultern. Wer sie ansah, imaginierte unwillkürlich Walküren, gepanzerte, große Frauen, breitschultrig, kräftig, zupackend und fest entschlossen. Tatsächlich reichte Liz mühelos an die 1,90m-Marke heran und zeichnete sich durch einen erdnahen, muskulösen Körperbau aus. Ihre Vorfahren hatten auf dem Land gearbeitet, wie sie betonte, waren "Salz von Erde!" Eine so dünne Person wie Doreen etwa erschien ihr bedauerlich zerbrechlich und ohne das notwendige Format. Doreen hingegen begegnete Liz mit Amüsement und ihrem schlimmsten sächsischen Dialekt, um ein klein wenig zu sticheln. Das gehörte einfach zu dem Geplänkel, das zwei so gegensätzliche Menschen pflegten, um miteinander auszukommen. Verbindendes Element war natürlich Jinx, der schlicht behauptete, sie seien ja beide auf demselben Pfad unterwegs, nämlich "go west!" Er als Amerikaner sei das Epitom des Westens, also seien sie bei ihm und dem Saloon goldrichtig und angekommen! Nun, Doreen hegte tatsächlich den Wunsch, nach Amerika auszuwandern und wollte bloß einen Zwischenstopp einlegen, doch dann hatte Jinx perfiderweise diesen "Betriebsausflug" vorgeschlagen, wo sie zu Dritt zu einem Country-Abend im Kreishaus gegangen waren mit Cowboyhüten, einer Live-Band, uramerikanischen Spezialitäten vom Buffet und einem Line-Dance. Da hatte sich ihr Dschingis vorgestellt, der ihr erklärte, sie sei die Wiedergeburt von Jody Banks aus der Serie "Ein Colt für alle Fälle" und er der größte Fan. Dschingis, der bürgerlich den Vornamen Kemal trug, aber von niemandem so gerufen wurde, hatte sich neben seiner Western-/Cowboy-Begeisterung eine gefragte Klimatechnik-Firma aufgebaut und schwärmte mit seinen sieben Mitarbeitern häufig im gesamten Kreis aus. Mit treuherzigem Blick und einem Schwung auf der Tanzfläche, der seinesgleichen suchte, hatte er Doreen schnell überzeugt, dass Amerika nicht nur geografisch, sondern auch ideell verortet werden konnte. Zum Beispiel hier, wenn er sie auf seiner schweren Harley Davidson Touring-Maschine (Version "Ultra Classic") abholte und dann gemächlich über die Landstraßen rollte, um dann für sie aus den Stauräumen ein perfektes Picknick zu zaubern. Liz hatte keinen Verlobten, nicht mal einen Verehrer, fand aber auch das männliche Angebot im Kreis unzureichend für ihre Ansprüche. Jemand, der sich von ihrer physischen Präsenz schon eingeschüchtert fühlte, kam für sie nicht in Frage. Außerdem musste ein künftiger "Lebensfreund" Geist und "Charaktär" aufweisen. Äußerlichkeiten hingegen tat sie großmütig ab, schließlich waren ja alle unter der Haut gleich! Eine Vorstellung, die Jinx sehr gefiel, der sich dessen ungeachtet jedoch mit Haut und Haaren seinem "be beautiful"-Projekt verschrieb. Jede/r/s sollte sich schön finden, sich selbst lieben. Dazu boten sie doch die perfekten Möglichkeiten! "Ah!" Bemerkte Liz, die ihre Habseligkeiten zusammensammelte. "Da gäht Kunde über Parkplatz." Doreen merkte auf. "Also ich habe so früh keinen Termin! Kommt er hierher?" "Nä." Brummte Liz knapp. "Jätzt, er liegt auf Nase. Ich sage ja, Eisplattä unter Schnä!". Jinx ließ seine Arbeit am Tisch im Stich, schlüpfte in Kunstlederstiefel, die allen für Mantel- und Degenfilm-Ausstattung Zuständigen Freudentränen in die Augen getrieben hätte und wickelte sich in einen Kurzmantel aus Teddyfell, wagte sich dann ins Freie. Liz trottete bodenständig hintendrein, bereit, ihre Tagestour zu starten. "Hi, Lucky!" Jinx ging neben Ephraim in die Hocke, der sich SO sein Entree ganz sicher nicht vorgestellt hatte. Seine bloßen Handflächen bluteten, weil er selbstverständlich nach dem Fahrscheinziehen im Bus die Handschuhe ausgelassen und so ungeschützt in den Rollsplitt gegriffen hatte, als er seinen Sturz abfangen wollte. "Kannst du aufstehen?" "Ja... guten Morgen... ich wollte..." Ephraim schnüffelte. Auch das noch! Immer, wenn er von draußen nach drinnen und umgekehrt wechselte bei dieser Witterung, lief ihm die Nase! "Ist das Lucky?" Eine gewaltige Frau blickte kritisch auf ihn herunter. "Du hast Eisplattä getroffen. Wir sind hiär im Wäg, bessär aufstähn." Damit stellte sie ihre mobile Massagebank ab, schlang einen Arm um Ephraims schmächtigen Oberkörper unter den Achseln hindurch und hievte ihn mühelos in einen wackligen Stand. "Ich bin Liz, abär du gibst mir jätzt bessär nicht Hand. Jinx, bis nachher!" Sie nickte knapp, raffte ihre Habseligkeiten und stapfte unbeeindruckt von den tückischen Eisfallen zu einem Renault Kangoo mit Werbeaufklebern auf den Türen und der Motorhaube. "Da~danke." Murmelte Ephraim hilflos. »Na toll!« Schnaubte sein Über-Ich gereizt. »So stellst du dir also vor, wie ein richtiger Mann seine Angelegenheiten regelt?! BE-EINDRUCKEND!« Es kam jedoch noch schlimmer, denn Jinx presste ihm einfach ein Papiertaschentuch auf die Nasenflügel und kommandierte. "Schnäuze dich, ja?" Die Demütigungen nahmen kein Ende. *_* Ephraim saß auf einem Bistrostuhl, sorgsam mit einem selbst genähten Kissen gepolstert, schlürfte verdünnten Zitronensaft durch einen Strohhalm und hielt die Handflächen brav aufrecht, damit Jinx ihm mit einem bunten Textilband die mehrfach gefalteten Papierküchentücher auf die frisch desinfizierten Handflächen binden konnte. Seine Moonboots tropften am Eingang artig Schneematsch in eine mit Katzenstreu ausgelegte Flachwanne, während er mit einem Paar dicker Wollsocken in holländischen Holzpantinen unruhig tippelte. "Bin gleich fertig!" Missverstand Jinx die Nervosität, legte die Bandrolle beiseite, fasste Ephraims Kinn. Der spuckte vor Schreck den Strohhalm aus. Jinx drehte Ephraims Kopf behutsam nach rechts und links, inspizierte die verheilenden Brandwunden. "Klappt doch prima!" Lobte er. "Mit der Salbe drauf wirst du so niedlich wie vorher sein! Keine Narben, die Haut weich wie ein Babypopo! You're simply lucky, Lucky!" Ephraims Augenbrauen kräuselten sich in Verzweiflung. Er WUSSTE durchaus, dass er keine männlich-markante Erscheinung war, doch dieses Ausmaß an Komplimenten GENAU der falschen Sorte deprimierte ihn umso mehr! "Yar cuuuute!" Schnurrte Jinx in diesem seltsamen Idiom, das jedem Jungen aus Kansas wie eine Fremdsprache vorkommen musste. Sein skeptisch-unglücklicher Gesichtsausdruck stiftete Jinx an, seine optimistische Prognose noch zu unterstreichen, indem er auf Ephraim herablächelte und ihm einen Kuss auf die Stirn schnalzte, der preiswürdig war. Ephraim konnte nicht entsetzter gucken, als er es schon tat. Jinx lachte fröhlich und ließ seine Finger durch die roten Strähnen gleiten, kraulte Ephraims Schopf, der für eine effektive Gegenwehr aufgrund der bandagierten Handflächen nicht gerüstet war. "Geht's dir besser? Hast du heute auch frei, um dich zu erholen?" Jinx zwinkerte, wechselte dann zu seinem Arbeitstisch herüber, um rasch das Abstecken von Stoffstücken, die er dort ausgebreitet hatte, fertigzustellen. Nun war es an Ephraim, ENDLICH seinen vorbereiteten Text aufzusagen, zumindest lautete so der Plan. "Ich wollte mich bedanken! Vielen Dank für die Rettung! Und natürlich die Salbe!" Begann er mutig, räusperte sich. "Was ich da gestern, ich meine, VOR-gestern gesagt habe..." "Oh, das war so süß!" Jinx strahlte ihn an. "Ich war so beeindruckt! Bin ich immer noch! Ich werde schon mal für eine Frau gehalten, ja, aber ein Liebesgeständnis und dann auf die Knie fallen, wow!! Sehr romantisch!" DAS sah Ephraim selbstredend anders. Er war ja umgekippt (wenn auch zugegeben wie eine Ziehharmonika), weil seine Finger plötzlich und vollkommen unerwartet Kontakt mit männlichen Primär-Sexualorganen hatten! Jinx schien die Reihenfolge jedoch unverständlicherweise nicht zu berücksichtigen. "Du bist wirklich ein lustiger Vogel! Sag, magst du heute hier bleiben? Wir können ein bisschen reden, uns kennen lernen!" Ephraim staunte Jinx ungläubig an. Dieser Mann verhielt sich nicht im Geringsten so, wie er das angenommen hatte! Torpedierte seine komplette Strategie! Jetzt erwartete er noch eine Entscheidung, wo Ephraim sich gerade im Begriff befand, ernsthaft seinen Kopf auf Folgeschäden vom Aufenthalt in der Drogenküche untersuchen zu lassen?! "Okay?" Jinx legte den Kopf schief, zwinkerte. "Ich verspreche dir auch, dass es nur Zitronensaft gibt, wenn du dich noch mal erschreckst. Wir haben hier nämlich Kaffee, Tee, heiße Schokolade und Apfelsaft! Oder Milch mit Honig! Na, überredet??" »Der hält mich für ein Kleinkind.« Diagnostizierte Ephraim perplex. Er sollte jetzt beleidigt sein, indigniert aufstehen und diesen Raum verlassen. Vermutlich würde er in den Holzschuhen auf die Nase fallen, irgendwas dabei umreißen und sich komplett zum Idioten machen (mal wieder), aber diese "normale" Situation sollte ihn doch nicht schrecken, nicht wahr? Stattdessen nickte Ephraim ratlos, murmelnd. "Ein warmer Apfelsaft wäre jetzt fein." *_* Kapitel 3 - Neue Horizonte? Ganz gegen seine Erwartungen verging die Zeit im Be Beautiful-Saloon wie im Flug. Jinx erkundigte sich beiläufig nach seiner Familie, seiner Heimat, seinen Plänen für die Zukunft und was er gern tun wolle, nun, da er zum ersten Mal im Ausland UND von seinen Eltern getrennt war. Ephraim verlor seine Verlegenheit, denn Jinx nahm offenkundig ihren Altersunterschied von sieben Jahren zum Anlass, ihn wie einen niedlichen jüngeren Bruder zu behandeln. Das war ungewohnt, zumindest für jemanden, der als Einzelkind aufgewachsen war und, um peinliche Verzärtlung zu vermeiden, von seinen Eltern eher strikt behandelt wurde. Von Jinx wiederum lernte er eine Menge über das Entstehen des Saloons, wie man nähte, Maß nahm, Vorzeichnungen anfertigte, wie man Kräuterseifen formte, Salben anrührte und worauf man bei Masken achten musste, wie Körperöle parfümiert wurden. Wie man Schönheit erkennt und seine Ideen lebt. Dabei wirbelte Jinx durch seinen Saloon, arbeitete hier, nähte dort, dekorierte dahinten, goss Tee auf, brachte Doreen zum Lachen, improvisierte mit Ephraim einen Tanz... Ein aufgezogener Kreisel hätte nicht mehr Bewegung haben können! Stets anmutig und von graziöser Eleganz. Kein Wunder, befand Ephraim, dass man Jinx durchaus für eine Frau halten konnte, weil die geschmeidige Leichtigkeit seiner Körpersprache üblicherweise nicht bei Männern anzutreffen war. Wenn er wie gebannt sich kaum losreißen konnte von dieser quecksilbrigen Gestalt, so verlor er sich auch in der ovalen Schönheit des Gesichts, bemerkte die dichten und langen, schwarzen Wimpern, die Augenbrauen, nicht sanft gewölbt, sondern provozierend-keck ein wenig spitz zulaufend, die hinreißende Linie des Schlüsselbeins, die sanfte Rundung der Ohrmuschel, wenn die beinahe hüftlangen, schwarzen Haare aus dem Weg rangiert wurden. Wie flink die Finger einen schweren Zopf webten und nonchalant mit einem Essstäbchen am Hinterkopf eingerollt hochsteckten, das fröhliche Lachen des angenehmen Tenors, der ungewohnte Akzent, der verführte, ohne dies zu beabsichtigen. Jinx war schlichtweg phantastisch. Während sie so munter plauderten, die Kundinnen versorgten, gute Laune erzeugten, Schönheit freilegten, überfielen Ephraim doch immer wieder seltsame Augenblicke erstickender Panik, in denen er glaubte, Jinx komplett zu vergessen, die Erinnerung zu verlieren. Als könne sich diese Person aus dem Gedächtnis tilgen! Was selbstredend verrückt war, denn Jinx stand direkt vor ihm, konnte ungeniert betrachtet werden, warum also?! Die Drogen schieden aus, denn bei Doreen befielen ihn diese seltsamen Anwandlungen überhaupt nicht. »Was ist bloß mit mir los?!« Verunsichert verlegte sich Ephraim darauf, nur noch zu beobachten. Hätte er vielleicht nicht mehr herkommen sollen? Lächerlich und überflüssig, diese Hysterie, immerhin war er ja nur ein auf Zeit geduldeter Gast! Also würde er ohnehin vergessen... Schon wieder rollte sich Übelkeit in seinem Magen zusammen, raste sein Herz, sammelte sich Schweiß auf seinen lädierten Handflächen. Jinx machte es ihm aber auch wirklich nicht leicht! Der bestand unbeeindruckt darauf, dass Ephraim ein Glückskind sei! Eben lucky! Führte dann demonstrativ aus, dass andere sich zum Beispiel die Hüfte gebrochen hätten, wenn sie auf dieser tückischen Eisplatte ausgeglitten wären! Oder ernsthaft verletzt waren, wenn sie von gemeingefährlichen Drogenköchen in eine winzig kleine Wandnische hinter einem Schrank eingepfercht wurden! Aber nicht Lucky, oh nein! Der ging immer erfolgreich und beinahe unverletzt hervor! Gelegentlich fragte sich Ephraim ernsthaft, ob die Rede von jemand anderem war, denn sein Empfinden stellte die Ereignisse gänzlich anders dar. Doch welche Sichtweise war die richtige, Jinx' Glückskind-Theorie oder seine eigene Einschätzung, sich fortwährend von einer Alltagskatastrophe in die nächste zu manövrieren, eine demütigende Peinlichkeit nach der anderen zu erleben?! Obwohl ihn Freundlichkeit, Offenheit und menschliche Wärme umgaben, fühlte er sich doch wie ein Außerirdischer in dieser Runde der Glücksfinder. »Habe ich deshalb vielleicht...?« In einem akuten Anfall geistiger Umnachtung herausgeplappert, dass er Jinx liebe? Was sollte das aber für eine Liebe sein, bei der man nicht wusste, was als nächstes passierte, man keinen festen Grund unter den Füßen hatte?! Sich mit jemandem konfrontiert sah, der die Wirklichkeit vollkommen diametral zum eigenen Empfinden einordnete?! Als die letzte Kundin den Saloon verlassen hatte und Dschingis fürsorglich eingetroffen war, Doreen sicher nach Hause zu geleiten, ungefährdet von Schnee und Eis, konnte Ephraim sich keinen Reim auf nichts mehr machen. Jinx ließ es sich nicht nehmen, mit ihm auf den Bus zu warten, ihm nachzuwinken, bevor er seinen kleinen Ford Ka enterte. Viel Aufmerksamkeit erregte er dabei nicht, die spärlichen Passagiere waren den seltsamen Amerikaner in seiner bizarren Schönheit offenbar gewöhnt. Erst hier, außer Sichtweite, konnte Ephraim sich wieder erinnern, dass er nur in diesem Land war, um endlich zu einem Rudel zu gehören, eine Aufgabe finden musste, die ihm einen Status verlieh, damit er als Mann sein Studium in Angriff nehmen konnte. Nichts davon passte jedoch zu der turbulent-fröhlichen Welt des Saloons mit seinem obersten Impressario! »Wenn das nicht die Auswirkungen von Drogen sind, dann habe ich ein ernsthaftes Problem mit meinem Oberstübchen.« Stellte Ephraim beklommen fest, als er sich pünktlich bei Frau Hardenheim zurückmeldete, *_* Dragomir hielt nichts von Vorwürfen. Sie änderten nichts am Geschehen und sorgten auch nicht für ein gutes Arbeitsklima. Natürlich hätte Ephraim seine Vermutung weitergeben sollen. Man hätte die verdächtige Scheune gemeinsam inspizieren können. Und so weiter. Doch andererseits verstand er nur zu gut, warum der kleine Amerikaner mit seiner vagen Idee nicht hausieren gegangen war. Es ging nicht um persönlichen Ruhm oder ein Triumphieren über die anderen in der Recherche, nein, hier wollte sich ein Kind nicht erneut die Hand an der Herdplatte verbrennen. Sehr bedauerlich, dass genau die Vorsicht in spektakulärer Weise für eine beeindruckende Feuersbrunst gesorgt hatte! Ephraim saß ihm nun gegenüber, leidlich wiederhergestellt, wrang nervös unterhalb der Tischplatte die verschränkten Finger. "Du hast ein gutes Bildgedächtnis." Lobte Dragomir behutsam. "Du bist wirklich gründlich bei der Recherche. Ich weiß, das ist keine Arbeit, die besonders heldenhaft wirkt, doch tatsächlich hilft eine besonders gründliche Vorbereitung uns allen sehr. Ich denke, dass deine Konzentrationsfähigkeit und Geduld einen wichtigen Beitrag für ein Rudel darstellen. Gibt es denn dafür ein Einsatzgebiet bei euch Zuhause?" Ephraim senkte den Blick und grübelte, an seiner Unterlippe nagend. Zwar existierte das Bild des Haudrauf-Cowboys nur als Klischee, doch wenn man überpusselig nach Details suchte und penibel wirtschaftete, geriet man leicht in den abschätzigen Ruf, einer dieser bebrillten Erbsenzähler zu sein, die vom wahren Leben nicht die geringste Ahnung hatten, ohne Navigationsgerät nicht mal ihre eigenen Unterhosen fanden. Leise bekannte er schließlich. "Ich weiß nicht, in welchem Rahmen diese Qualitäten für alle nützlich wären." "Nun, das muss auch nicht auf Anhieb feststehen, aber wenn du keine Einwände hast, dann würde ich dich gern von unserem Expertise-Team weitergehend schulen lassen. Diese Tipps und Tricks können bestimmt auch in anderen Bereichen ganz nützlich sein." Dragomir klopfte ihm leicht auf eine herabgesackte Schulter. Es bestand auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Ephraim sich nicht weitere Verletzungen zuzog. Der jüngere Werwolf nickte artig und bedankte sich, diese Gelegenheit zu erhalten. Welche Wahl hatte er auch schon? So konnte er wenigstens die Zeit sinnvoll füllen, bis ihm hoffentlich doch noch einfiel, welche Richtung er seinem Leben geben wollte! *_* Zwei Tage lang konzentrierte sich Ephraim eifrig auf die Inhalte und Anwendungen, die ihm präsentiert wurden. Er spürte durchaus, dass eine genaue, konzentrierte Arbeit ihm entgegenkam, er eine ausreichend hohe Frustrationstoleranz besaß. Bloß, wenn er sich nicht wirklich an eine Aufgabe fesselte, rumorte die Unruhe in seinem Geist und kollerte gleich auch noch in seinem Bauch weiter! Diese Angelegenheit mit Jinx bereitete ihm ernsthaftes Kopfzerbrechen. Wieso wurde sein Bildgedächtnis einfach blank, wenn es um ihn ging?! Wenn Drogen ausschieden, musste man sich doch fragen, ob er nicht eine MACKE entwickelte! Schauerlicher Gedanke, denn nichts wurde in seinem familiären Umkreis so schnell stigmatisiert wie psychische oder mentale Probleme. Ein nicht aufgeräumtes Oberstübchen sorgte schneller für Isolation als jede ansteckende Geschlechtskrankheit, wie böse Zungen kolportierten. »Ich werde jetzt nicht anfangen, bekloppt und/oder hysterisch zu werden!« Schwor sich Ephraim und massierte kreisend seine Schläfen. Es gab eine Lösung zu jedem Problem, richtig?! Wenn er sich Jinx einfach nicht ins Hirn packen konnte, würde er ihn eben ablichten und das Foto als Gedächtnisstütze einsetzen! Außerdem, ein Vorwand musste schließlich her, konnte er ja auch darum bitten, seine "Schönheit" ans Licht zu bringen, nicht wahr? Vielleicht erkannte ja das Profi-Team in ihm etwas, das er schlichtweg übersehen hatte, als er sich als langweilig, unfähig, farblos und uninteressant selbst abkanzelte? *_* Ephraim marschierte, dieses Mal sehr viel vorsichtiger, über den Busbahnhofplatz hinüber zum Saloon. Es war spät geworden, der einsetzende Schneefall hatte den Verkehr behindert. Die offiziellen Geschäftszeiten waren überschritten, doch es brannte noch Licht, auch wenn das verschnörkelte Schild in den Eingangsflügeln verkündete, dass man bedauerlicherweise geschlossen hatte. »Hmm!« In seinem nervösen Vorwärtsdrang gehindert, denn Ephraim fühlte sich wirklich ein wenig "bekloppt", was sein launisches Gedächtnis betraf, zögerte er, forsch die Griffholme zu packen, zu erproben, ob tatsächlich niemand mehr im Saloon arbeitete. Seiner geliehenen Courage ledig verlegte er sich auf die übliche Taktik: unauffällig die Lage sondieren. Weshalb er einen Rundgang um das Gebäude erwog, zumindest soweit die winterlichen Verhältnisse es zuließen, ohne in ein Himmelfahrtskommando auszuarten. Er wandte sich nach links, blinzelte durch die Scheibe, den Lichtfingern folgend und wurzelte fassungslos an. In der Tat herrschte im Saloon noch Betrieb, jedoch von einer Sorte, die er dort nicht vermutet hatte. Unverkennbar, einige schwarze Strähnen aus einem langen Zopf gelöst, die Hosen sämtlich auf Halbmast und sehr energiegeladen bewegte sich Jinx zwischen bestrumpften Beinen in knöchelhohen Stiefelchen. Lange, künstliche Fingernägel in einem Aubergine-Farbton bohrten sich in seine Oberarme. Eine Andeutung von Geräuschen ließ keinen Zweifel daran, dass hier Horizontalgymnastik in einem der Friseurstühle ausgeübt wurde. Reflexartig presste Ephraim den Handschuh auf den Mund und ermahnte sich hochnotpeinlich berührt, SOFORT wegzusehen, sich abzuwenden und eiligst das Weite zu suchen! Seine Füße rührten sich aber nicht, seine Augen schlossen sich nicht artig. Sein Körper rebellierte einfach, konnte sich nicht abwenden von diesem dynamischen Rhythmus, dem schwingenden Zopf, dem aufreizenden Muskel- und Sehnenspiel einer knackigen Kehrseite! »Geh jetzt! Auf der Stelle! Los doch!« Plärrte sein eingetrichterter Anstand hysterisch. Ephraim muckste sich nicht und verfolgte, wie der Höhepunkt erreicht und die Bewegungen reduziert worden, bis eine postkoitale Ruhe eintrat. Er selbst fühlte sich weniger ernüchtert oder gar abgestoßen, sondern enttäuscht, kleinmütig, ausgestoßen. Also war Jinx wie die anderen, selbst wenn er nicht zum Rudel gehörte, ein ganz normaler, gutaussehender Typ, der Sex hatte und perfekt mit seinem Leben zurechtkam. Die Aufmerksamkeit, die er ihm gewidmet hatte, musste wohl lediglich eine alltägliche Höflichkeit sein, ohne tiefere Bedeutung. Klar, eine "Supernase" rettete öfter mal arme Trottel, die einfach gar nichts auf die Reihe bekamen und sich ständig in irgendwelche Schlamassel manövrierten! »Na, willkommen zurück im Abseits!« Stellte ihn sein kritisches Über-Ich in den Senkel. »Wirst du jetzt endlich zur Pension fahren?! Oder willst du hier auch noch zu all den anderen Ausfällen als Spanner erwischt werden?!« »Klar!« Dachte Ephraim säuerlich. »Dann bekommt auch jeder gleich noch mit, dass ich noch nie was laufen hatte.« Die ganze Ungerechtigkeit seiner Gesamtsituation stachelte nun seinen Trotz auf. Sogar eine absolute Null wie er selbst hatte ein Recht darauf, sein Glück zu versuchen, war nicht per se disqualifiziert für richtige Beziehungen, Sex, Anerkennung, einen guten Job und nicht-virtuelle Freunde! Warum war er denn hierher gekommen, hm?! Doch um die Spezialisierten mal auf die Probe zu stellen, ob sie SEINE Schönheit ausgraben konnten! Na also! Ephraim ballte die Fäuste in den Handschuhen, ignorierte das schmerzhafte Prickeln der noch nicht gänzlich verheilten Schürfwunden in den Handtellern und stapfte grimmig zum Eingang zurück. Er fixierte die Flügel mit finsterem Blick, zog dann das neue Leih-Mobiltelefon des Rudels aus der Tasche, ließ es aufschnappen, zerrte sich mit den Zähnen den Handschuh herunter und tippte die eingespeiste Nummer des Saloons an. So, wollen doch mal sehen!! Es bimmelte auch jenseits der Tür, gedämpfte Geräusche, dann meldete sich Jinx gewohnt launig. Ephraim antwortete wohlerzogen. "Guten Abend, ich bitte um Entschuldigung für die späte Störung! Ich dachte nur, weil ich gerade in der Gegend bin, ob nicht die Möglichkeit besteht, meiner Schönheit ein wenig auf die Sprünge zu helfen?" Jinx lachte. "Ich bin noch da, komm ruhig vorbei! Wir werden bestimmt fündig!" Mit einem Dank beendete Ephraim das Gespräch grimmig und funkelte Vergeltung für die Ungerechtigkeit der Welt aus den hellblauen Augen. Seine roten Haare knisterten unter der Mütze. Na, warte, Welt! Ich habe noch nicht fertig!! *_* Ephraim zählte bis Zehn, stampfte dann betont trampelig auf und invahierte den Saloon, in Begleitung von Schneematsch und eisigem Zug. "Guten Abend." Wünschte er wohlerzogen und betrachtete die Frau, mit der Jinx vor wenigen Augenblicken noch intim gewesen war. Sie zupfte an einem merkwürdigen Sackkleid herum, das nach Designer schrie, justierte eine Frisur, die selbst Atombombenabwürfe überstanden hätte und schenkte ihm das gestraffte Lächeln eines menschlichen Piranhas. Obwohl sie wohl beträchtlichen Aufwand betrieb, die Illusion zu erzeugen, sie sei gerade Anfang Zwanzig, schätzte sein gnadenloser Blick für die Details sie auf Anfang Fünfzig. Jinx nickte ihm zu, lächelnd. "Hi, Ephraim! Das ging ja fix!" »Wenn du wüsstest!« Grollte der jüngere Werwolf innerlich. Unterdessen wickelte Jinx die Frau in einen Pelzmantel. "Komm gut heim, Irene." »Airiiin! Pah!« Schnaubte Ephraim, der von Frau Hardenheim über die Generation der Irene-Renate-Ursula aufgeklärt worden war. Beinahe so entlarvend wie Kevin-Mandy-Yannick! "So spät noch Kundschaft?" Gurrte sie mit einer Stimme, die nach Nikotin und Hochprozentigem klang. "Pass bloß auf, dass du dich nicht übernimmst, Darling." Dabei grapschte sie mit der gesamten Hühnerklaue und ihren grässlichen Plastiknägeln Jinx' rechte Pobacke wie beim Pferdehandel! Ephraims hellblaue Augen laserten Todesblitze. Wenn es nicht mit unerfreulichen Umständen verbunden wäre (wie z. B. einer Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung) hätte er zu gern gesehen, wie sich dieses Botox-gebügelte Fischweib ihren dürren Hals auf dem Parkplatz brach! Diese Option stand leider nicht zu Gebote, und ihre liederliche Anspielung verfing bei ihm gar nicht! Keine Chance! Jinx dagegen hielt ihr artig die Tür auf und blieb bei. "Bis dann, Süße!" Nonchalant wandte er sich Ephraim zu, der jetzt ausreichend geladen war, der Welt die blanke Kehrseite (und sei sie noch so kümmerlich) zu zeigen! Von dieser aufgemotzten Zicke auch noch unter diese Nase gerieben zu bekommen, dass ER wohl bei Jinx nicht landen konnte, DAS brachte das Fass zum überlaufen! "Ich mache uns einen Kakao, ja? Dann können wir plaudern." Jinx zwinkerte aufmunternd, begab sich dann an seine Aufgabe. »Toll!« Fauchte Ephraim innerlich mit knirschenden Zähnen. »Nimm mich bloß nicht ernst, ja?! Möglicherweise stand ich ja neben mir, als ich quasi, nun, meine Liebe deklariert habe, aber alles einfach zu ignorieren, das ist auch nicht ERWACHSEN!« Grollend schälte er sich aus seiner Winterverpackung und schnappte sich ein passendes Paar Holzpantinen. Er marschierte zum Arbeitstisch hinüber, wo noch einige Muster auf Stoffstücken ihrer Zukunft als neuer Körperschmeichler entgegensahen. Jinx kam mit zwei bauchigen Bechern, eingehüllt von einem anregenden Aroma, Schokolade und Zimt. "Auf die Schönheit!" Klickte er behutsam seinen Becher an Ephraims, der widerwillig nickte, nachdem er sich schon steif bedankt hatte. Beide ächzten unterdrückt, als sich die sehr dickflüssige Mischung ihren Weg die Kehle hinunter bahnte. PHANTASTISCH! "Ich schätze, dass dir auch niemand gesagt hat, dass ich ziemlich kontaktfreudig bin." Jinx griff den Faden auf, in dem er seinen Becher abstellte und Stoffstücke übereinander stapelte, um Platz zu schaffen. Ephraim ersparte sich eine Antwort und stierte seinen Kakao nieder. "Also,ich kann riechen, wenn jemand gerade Lust auf Sex hat und Lust auf mich. Wenn's mir dann genauso geht, gehe ich auf Avancen ein. Das kommt, die Beteiligten mal ausgenommen, bei einigen Leuten nicht gut an." Jinx positionierte sich neben ihn, an den soliden Tisch gelehnt, touchierte beiläufig eine Schulter. Ephraim riskierte einen Seitenblick. Erneut staunte er darüber, wie schön der Werwolf neben ihm war, auf eine aparte, durchaus harmonische Weise, ohne ausgeprägt maskuline Züge zu offenbaren. Jinx drehte ebenfalls den Kopf, lächelte freimütig. "Ich werde mich nicht rechtfertigen, denn ich sehe nichts Falsches darin, wenn ich mich mit Gleichgesinnten ein bisschen amüsiere, den Kreislauf in Schwung bringe und ein paar Kalorien verbrenne. Warum soll man sich etwas versagen, was guttut?" Ephraim konnte bei diesem Thema nicht mitreden, hoffte jedoch, sein Schweigen würde nicht allzu offenkundig seine Außenseiterrolle verraten. Er schreckte überrumpelt auf, als Jinx sich seinem Ohr zuneigte und wisperte. "Es ist okay, es noch nicht getan zu haben, Lucky. Richtiger Augenblick, richtige Person, darauf kommt's an." "Oder mehrere." Rutschte Ephraim ungewollt heraus, während er dunkelrot anlief. Jinx jedoch lachte heraus. "Das ist aber ehrgeizig! Du bist wirklich was Besonderes!" War das Sarkasmus? Hohn? Nein, Jinx' munterer Tenor klang so freundlich und liebenswert wie gewohnt. So, als könne es wirklich möglich sein, dass Ephraim die kühnsten feuchten Träume zur Realität machte! »Reiß dich zusammen!« Ermahnte ihn sein Stolz kriegerisch. »Wir sind nicht hier, um uns zu verbrüdern!« "Ich wollte eigentlich mein Erscheinungsbild aufpolieren." Lenkte er folglich distanziert und hochgestochen ab. "Okay!" Jinx verzierte sich selbst mit einem Kakaoschnurrbart. "Was hast du dir denn vorgestellt, Lucky?" "Eine Kreuzung aus Albert Einstein, Arnold Schwarzenegger und etwas Wolverine wäre ganz nett." Murmelte Ephraim halblaut. Was sollte er sich schon vorstellen, wenn er sich so häufig im Spiegel begegnete?! Das raubte doch jegliche Illusion! Jinx' gutem Gehör entging diese zynische Antwort nicht. Er legte grinsend den Arm um Ephraims schmale Schulter. "Ich meine, wir können da noch viel mehr rausholen, Lucky." Der jüngere Werwolf lupfte eine rote Augenbraue zweifelnd und nippte an seinem Kakao. »Klar, ich weiß jetzt schon, wie das ausgeht: Woody Allen, ohne Brille. Na super!« *_* Es lief NICHT so, wie von Ephraim vermutet, denn Jinx gehörte nicht zu den "Vorher-Nachher"-Stylisten, die etwas zusammenhobelten und schminkten, bis "Konfektionsware" entstand. Wer schön sein wollte, musste nicht unbedingt leiden, aber tief in sich gehen, sich selbst erkennen, keinem fremden Ideal nachhecheln, sondern schonungslos ehrlich die eigene Persönlichkeit ausloten. Wer es bequem mochte, Sport hasste, dem war weder mit engen Club-Klamotten noch dreiteiligen Anzügen gedient. Wer großen Wert auf Umgangsformen, ein gediegenes Erscheinungsbild legte, konnte nicht im Rap-Hiphop-Gangsta-Stil reüssieren. Bevor es also an Farbtafeln, Schnittformen, Stoffqualitäten und Kombinationsmöglichkeiten mit der bereits vorhandenen Garderobe ging, musste im Zwiegespräch die Wahrheit auf den Tisch. Ephraim hatte sich eine bedauernde Absage vorgestellt, zynisch über die Vorstellung einer Fee mit Zauberstab gelächelt, die ihn in einen ansprechenden jungen Mann verwandeln konnte. Nicht damit, dass er Jinx Rede und Antwort stand, was seine persönlichen Präferenzen, Gewohnheiten und Ansprüche betraf! Da Jinx aber mit Feuereifer und sanfter Dominanz seine Aufgabe verfolgte, kein Auskneifen zuließ, musste Ephraim mithalten. Bald vergaß er seine Empörung über "Aiiriin", Jinx' Promiskuität und die eigene "Bildgedächtnis-Macke", sprudelte hervor, was niemand zuvor hatte jemals von ihm wissen wollen. Neben ihm notierte sich Jinx Stichworte, gestikulierte lebhaft, wischte lose Strähnen hinter die Ohren, lächelte und pflegte eine so angeregte Unterhaltung, dass Ephraim darüber glatt die Zeit vergaß. Als Jinx seinen Notizblock zuklappte mit der Zusicherung, er werde ihm einen Vorschlag unterbreiten, entsetzte sich Ephraim beim Blick auf die Uhr. "Schon so spät?!" "Oh, keine Angst, ich fahr dich heim, Lucky." Jinx wuschelte ihm durch die roten Haare. "Liegt quasi auf dem Weg. Ruf deine Gastgeberin doch einfach an, dass du schon unterwegs bist." Mangels Alternativen musste Ephraim sich auf das gutmütige Angebot einlassen, auch wenn es nun wirklich nicht dazu beitrug, Jinx zu vermitteln, wie enttäuscht er von dessen Verhalten war. Aber Schmollen und Trotzen würden auch nicht dafür sorgen, dass Jinx ihn ernst nahm, entschied Ephraim. Immerhin wollte Jinx ihm ja beim Herausschälen seiner Schönheit helfen! Also vernünftig bleiben! Die betont souveräne Maske, die er sich aufsetzte, um Jinx ein wenig in die Schranken ob dessen freizügigem Verhalten zu weisen, bröckelte jedoch rasch, als er sich in dem kleinen Ford Ka festklammerte, während Jinx gut gelaunt und noch sehr munter gegen die ausbrechenden Reifen kurbelte und verkündete, das bisschen Schnee sei doch für seinen tapferen Schlickrutscher kein Problem! *_* Waren es die Fährnisse nach einer mehr als halsbrecherischen Heimfahrt oder die Spätfolgen der unvermittelten Zeugenschaft im ungenierten Beischlaf auf einem Friseurgestühl? Ephraim jedenfalls verbrachte keineswegs eine erholsame Nacht, sondern durchlebte wirre Träume, die ihn beim Hochschrecken am Morgen vollkommen in das Bettzeug verstrickt zurückließen und mit feuchten Hosen. Die pubertären Klippen der Peinlichkeit hatte Ephraim mit wohlwollender Blindheit seiner Mutter umschifft, die ihm Gelegenheit gab, selbst seine Wäsche zu waschen und ihm auf diese Weise unangenehme Konfrontationen ersparte. Hier hingegen musste mit Takt operiert werden, um das letzte bisschen Würde angesichts seiner bisherigen Ausfälle zu wahren! Nach einer eiligen Dusche, ordentlich gekleidet, eine Tüte prall mit allem apportierend, das bestimmt eine Wäsche begrüßt hatte, wagte er sich mit dem Gesuch an Frau Hardenheim heran, die Waschmaschine und anschließend den Trockner in Beschlag nehmen zu dürfen. Seine Gastwirtin hatte nicht die geringsten Einwände und lobte seine haushälterischen Fähigkeiten! Nicht jeder Angehörige des männlichen Geschlechts, betonte sie, halte es für einen simplen Akt der Höflichkeit, die Wäsche häufiger zu wechseln und sie auch mal zu reinigen, bevor sie von allein stand und eine olfaktorische Fanfare bildete, um ganze Völker in die Flucht zu treiben! Ephraim nickte artig, wurde erneut ausführlich in die korrekte Bedienung der beiden Gerätschaften eingewiesen und durfte endlich erleichtert durchatmen. Feuchte Träume, feuchte Hosen, ha! Das alles verdankte er nur dieser fürchterlichen Botox-Schreckschraube und Jinx' allzu selbstloser Vergnügungspolitik! »Du hättest ja auch weggucken können!« Hielt ihm unerbittlich das innere Korrektiv vor. »Das hier ist bloß ausgleichende Gerechtigkeit!« "Pah!" Schnaubte Ephraim leise. Während er sich wirklich nicht mehr an die Details seiner Träume erinnern konnte, sprangen ihm jedoch Nahaufnahmen der letzten Nacht wie Blitzlichtgewitter im Kopf herum. Beschämend, dass er sich von diesem Murks so beeindrucken ließ! Entschlossen konzentrierte er sich auf seinen Plan, diesem ganzen Dilemma ein Ende zu bereiten. Er würde unauffällig das Foto schießen, sich für seine "Schönheit" ein Konzept entwerfen lassen und DANN ABER, aber so was von einem Neustart hinlegen! Schön, er war nicht in der Einsatztruppe, ABER er konnte trotzdem nützlich sein, auf eigenen Beinen stehen, etwas hermachen, jemand sein! Dann würde sich auch ein Rudel finden, das zu ihm passte! Diese farbenprächtigen Zukunftspläne zerbröselten jedoch beim ersten scharfen Blick aus den hellblauen Augen. Das Foto würde kein Problem darstellen, aber das Konzept... Wenn Jinx ihn wirklich ernst nahm, was er ja so unbedingt anstrebte, dann, dann würde er ja auch eine professionelle Dienstleistung in Anspruch nehmen und die gab es ja nicht für lau! "...oh!" Murmelte Ephraim und ging vor der eifrig rotierenden Waschtrommel in die Hocke, hielt sich an ihrem Gehäuse fest. Selbstverständlich hatten ihn seine Eltern mit etwas Bargeld versorgt, damit er sich bei seinen Gastgebern bedanken konnte, kleine Besorgungen tätigte, allerdings hatten sie wohl alle nicht erwartet, wie teuer das Leben hier war! Zugegeben, er musste selten etwas bezahlen, wurde stets eingeladen, das Kostgeld war im Voraus entrichtet worden, man behandelte ihn wie einen Verwandten, doch... Wenn er sich vorstellte, wer den Be Beautiful-Saloon konsultierte, wie viel Zeit Jinx möglicherweise in ihn investierte, ein konkretes Programm erarbeitete: oh Backe! »Na, das hast du ja wieder mal toll hingekriegt!« Ätzte sein Über-Ich, während Ephraims ohnehin schmale Schultern noch tiefer sackten. »Ganz prima! Du wolltest ja, dass er dich ernst nimmt! Fein, jetzt hast du ihm einen ernsthaften Auftrag erteilt und keine Ahnung, was das wohl kosten wird!« Das traf leider nur zu sehr den Nagel auf den Kopf. "Dann rede ich eben mit ihm!" Knurrte Ephraim mit seinen neu entdeckten Quäntchen Trotz. Das Schicksal hatte ihn genug herumgeschubst, ab sofort würde er zurückschubsen! *_* "Lucky! Gut, dass du kommst!" Begrüßte Jinx ihn euphorisch, als sich Ephraim, Schneematsch tropfend, zur Holzpantinen-Fronten schleppte. "Wirklich?" Merkte der jüngere Werwolf nervös auf, denn eigentlich sah die Szenerie nicht danach aus, als verlangte sie nach seiner Anwesenheit. Doreen sprang zwischen zwei Friseurstühlen hin und her, während im dritten offenkundig Ruhe herrschte, die Kundin eingewickelt und maskenbewehrt döste. Jinx hatte sich einen weißen Kittel übergeworfen, ein Kopftuch bändigte die langen, schwarzen Strähnen. Er wirkte mit der hochgeschobenen Schutzbrille wie ein etwas dubioser Wissenschaftler auf der Suche nach dem Stein der Weisen. "Ich könnte hier eine helfende Hand brauchen!" Jinx wies auf seinen Arbeitsbereich, wo auf einer mobilen Platte etwas köchelte, sich Töpfchen, Tiegel, Döschen und kleine Terrinen drängten. "Wenn ich nicht fertig bin, bis Liz eintrifft, gibt sie mir Saures!" Ephraim lupfte eine Augenbraue zweifelnd, denn er konnte sich wirklich nicht vorstellen, dass Liz Jinx auch nur ein Haar krümmte. Seinem entwaffnenden Charme würde selbst sie erliegen, das wusste doch jeder! "Also, eigentlich wollte ich nicht lange stören." Begann er zögerlich, denn vor so viel Publikum wollte er nicht die heikle Frage des pekuniären Dilemmas anschneiden. Jinx nahm auf sein Feingefühl keine Rücksicht, schob ihn ungeniert an, fischte einen kunterbunten Hausfrauenkittel von einem Haken und staffierte Ephraim damit aus. "Kannst du hier bitte umrühren, damit die Masse beweglich bleibt, ja? Ich muss mal eben nach dem Honig schauen!" Schon schwirrte Jinx bienenfleißig ab, probierte hier, mischte dort, kontrollierte Temperatur oder Konsistenz, füllte ab, schraubte zu, kratzte zwischenzeitlich die Maske von Opfer Nummer 3 und trällerte dabei sogar noch ein Lied aus dem unvermeidlich laufenden Radio mit. "Hrmpf!" Murmelte Ephraim, dessen mühsam ausgefeilte Monologe sich in Luft auflösten, weil er der Chance ledig war, sie anzubringen. Während er selbst nun brav (verflixt!) auf die Töpfe und Tiegel in seiner Reichweite achtete, rührte, schnupperte, nach beiläufig erteilten Anweisungen agierte, nutzte er wenigstens die Chance, die Kamera in Schnappschussnähe zu deponieren. Heimlich und verstohlen da und dort den Auslöser betätigt: Punkt 1 auf seiner Liste war abgehakt. Zu Punkt 2 würde er aber wohl erst gelangen, wenn Liz' Ladung fertig war und sich nicht die Kundschaft die Flügeltürenholme in die Hände gaben! *_* "Was hast du dir vorgestellt?" Doreen blickte Jinx über die Schulter auf seinen Notizblock, nuckelte an einem Strohhalm Eiskaffee mit sehr viel Schokoladeneis. Ephraim zupfte unruhig an seinem Sweatshirt. Er hätte es vorgezogen, mit Jinx allein zu sein, um sich noch mal über die "Schönheitsmission" auszutauschen, doch Dschingis hatte noch nicht geruht zu erscheinen, weshalb Doreen munter mitmischte. Jinx lief noch immer auf Hochtouren, wischte Strähnen hinter die Ohren und erläuterte mit lebhafter Gestik seine Visionen der verborgenen Schönheit. "Erst mal wollte ich noch Maße nehmen, damit ich mich nicht verschätze!" Kündigte er an. "Mir schwebt nämlich eine ausführliche Empfehlung vor, du weißt schon, für jede Gelegenheit das richtige Konzept, Job, Freizeit, Ausgehen, Sport, Familienfeiern, Ehrungen..." Ephraim stolperte automatisch zurück, als Jinx sich ihm mit dem Maßband näherte. "Keine Angst!" Zwinkerte der und küsste Ephraim überfallartig flink auf die Wange. "Ich sage sie nicht laut an." »Pah!« Dechiffrierte Ephraim mit einigen Sekunden Verspätung. »So eitel bin ich ja auch nicht!« Ob Doreen nun hörte, was die Stunde geschlagen hatte, oder nicht, das war ihm doch schnurz! Schlimmer nahm es sich nämlich aus, dass Jinx ihm auf die Pelle rückte, Maß nahm, und zwar gründlich, notierte, um ihn herum griff, Säume lupfte, Umfänge hautnah auslotete. Unruhig trippelte Ephraim auf der Stelle, hasste die verräterische Röte der Nervosität in seinen Wangen, jedes unwillkürliche Zusammenzucken, wenn die eleganten Finger ihn berührten. Jinx kam ihm einfach zu nahe, da wusste man ja gar nicht, wo man hingucken sollte! Überhaupt, wieso roch der Kerl so verflixt lecker nach Apfelstrudel mit Zimt?! Kurz vor einer Nervenkrise stehend taumelte Ephraim schließlich dankbar zu einem Barhocker, als endlich Dschingis erschien und eine neue Dynamik in die kleine Gruppe brachte. Er scherzte ein wenig mit Jinx, während Doreen rasch ihre Siebensachen zusammensuchte, dann verließen die beiden den Saloon, schon in Vorfreude auf einen verdienten, gemütlichen Feierabend. Jinx kannte weder Gnade noch eine Pause, er machte weiter. "Also, ich habe mir so meine Gedanken gemacht, und jetzt zeige ich dir einfach meine Vorschläge, ja? Sind natürlich Skizzen, auf dem Computer...!" "Ähem!" Räusperte sich Ephraim vernehmlich, der mit geballten Fäusten sein Nervenkostüm zur Räson gebracht hatte. "Wir haben noch nicht über die Bezahlung gesprochen." Tapfer reckte er das Kinn, um souverän und selbstsicher aufzutreten. Jinx neigte den Kopf leicht, lächelte hintergründig. "Du hast wohl Angst, ich könnte dich ausnehmen, hm?" Schnurrte er amüsiert. "Das, das stimmt nicht!" Sofort in die Defensive gedrängt, verteidigte sich Ephraim stotternd. "Ich begleiche, also selbstverständlich, wenn ich etwas bestelle, ich mache keine Schulden!" "Schon gut!" Lachte Jinx und verstrubbelte dem verunsicherten Ephraim die roten Haare. "Du bist schließlich als Gast hier, also werden wir uns arrangieren. Ich mache das Konzept, und wenn du hier etwas findest, das du gern anziehen möchtest, zahlst du mir einfach den Kaufpreis. In Ordnung?" Zögernd studierte Ephraim die fröhlich funkelnden, dunklen Augen, nagte unbewusst an seiner Unterlippe. Das Preisgefüge hatte er schon studiert. Er stellte sich eigentlich nicht schlecht bei diesem Vorschlag, und wenn er nichts fand, dann, oje, das ging natürlich nicht! Jinx beugte sich zu ihm und drückte ihm frech die schmalen Schultern. "Vertrau mir, ja, Lucky? Ich hab nämlich einen sehr guten Riecher!" Ephraim blinzelte geschlagen und nickte schließlich resignierend mit einem hilflosen Lächeln. Wenn er jetzt wenigstens noch auf Woody Allen-Niveau käme, hätte er wohl unverschämtes Glück gehabt! *_* Erst mal war da natürlich die "Ausgrabung" seiner Schönheit, die vorangetrieben werden musste. Jinx benutzte dazu umgewandelte Programme, die man eigentlich gestrickt hatte, um Teenagern auf Spielkonsolen die Zeit als "Designer" zu vertreiben. Mit den Maßen gefüttert sortierte Jinx flink-fingrig Kleidungsstücke, zeigte Vor- und Nachteile auf, stellte ein Dossier zusammen, dass Ephraim sogar im fortgeschrittenen Alter ("ich bin wohl der Typ Spitzbauch, dürre Beine und Trichterbrust") gute Dienste leisten konnte. Dabei prallte jede Form von selbst-verächtlicher Geringschätzung seines Schönheitseleven vollkommen von ihm ab. Ephraim fühlte sich machtlos. Jinx MUSSTE doch auch sehen, dass er nichts darstellte! Wieso, verflixt noch eins, war dieser Gute Laune-Junkie einfach nicht davon zu überzeugen?! Jinx teilte diese Selbsteinschätzung gar nicht. Für ihn, wie er munter betonte, WAR Ephraim selbstverständlich schön. Hier und da konnte man diese Schönheit ein wenig stärker betonen, Akzente und Schlaglichter setzen, was er sich zur Aufgabe gemacht hatte. Doch dieser aussichtslose Kampf stellte lediglich einen Umstand dar, der Ephraim immer enger mit Jinx verband. Wenn er mit seiner Beschäftigung im Archiv fertig war, lenkte er seine Schritte beinahe automatisch zur Busstation, um den Saloon aufzusuchen. Was hätte er auch sonst tun können? Lysander, der einzige engere Vertraute, arbeitete Vollzeit, und andere Werwölfe in seinem Alter verbrachten den Rest ihrer Schul- oder Semesterferien unter sich. Er gehörte nicht dazu. Jinx hingegen "adoptierte" ihn quasi. Wenn er schon im Saloon erschien, konnte er sich auch nützlich machen, richtig? Diese "Kommandostruktur" war Ephraim von Zuhause gewöhnt, also half er aus. Dann konnte Jinx einfach nicht davon ablassen, ihn spontan zu busseln, zu umarmen, sich auf seine Schulter zu stützen, ihm durch die roten Haare zu wuscheln! Ephraim hingegen konnte nicht von sich behaupten, Körperkontakt gewöhnt zu sein. Jinx' Gebaren stürzte ihn deshalb in Verwirrung. Es handelte sich nicht um eindeutig sexuelle Gesten, nein, vielmehr wirkte es wie die fröhliche Zuneigung eines älteren Bruders zum jüngeren Lieblingsbruder. Jedoch, da schwebte etwas in der Atmosphäre, das diese vorgebliche Idylle konterkarierte. Sollte er Jinx möglicherweise besser abwehren? Dessen Zuneigungsbekundungen waren nicht unangenehm, trotzdem machten sie ihn nervös, doch Ephraim wollte sich nicht (schon wieder) zum Esel machen, indem er etwas ansprach, um dann darauf hingewiesen zu werden, dass ihn seine Wahrnehmung (mal wieder) getrogen hatte. Würde Jinx' Verhalten nämlich als typisch europäisch-liberal gelten, wäre seine Verunsicherung nur die Manifestation puritanischen Spießertums, und, da musste man sich keine Illusionen machen, die panische Aversion einer männlichen Jungfrau vor allem, was diesen Umstand publik machte. Schließlich beließ es Ephraim bei einem gelegentlichen Grummeln, wenn Jinx ihn gar zu sehr drückte und beknuddelte wie ein übergroßes Stofftier. »Sehr souverän!« Ätzte seine innere Stimme vernichtend. »Du hast ja wohl wirklich kein Pfund Mumm in den Knochen!« »Ich kann Jinx, dem ich so viel zu verdanken habe, ja wohl nicht einfach vor den Kopf stoßen mit kleinlichen Vorhaltungen!« Verteidigte er sich halbherzig vor sich selbst. Trotzdem. Sein Agieren war keine Lösung, für keines seiner zahlreichen Probleme, wie es weitergehen sollte, was er unternehmen konnte, wie sein Leben verlaufen sollte und wie er sich Jinx gegenüber positionieren wollte. *_* Kapitel 4 - French! Lysander hatte Ephraim eingeladen, bei ihm eine "Pyjama"-Party zu feiern. Gut, sie würden nur zu zweit sein, aber lustig würde es ganz bestimmt werden! Ephraim vermutete nicht zu unrecht, dass Lysander sich ein wenig einsam fühlte, weil Dragomir erneut auf Geschäftsreise war und deshalb Ablenkung wünschte. Er sagte also zu und verbrachte den Samstagmorgen im Nahkampf in einem Supermarkt, der zwar bei weitem nicht an amerikanische Malls heranreichte, aber sehr bevölkert war. Lysander akkompagnierte den bockigen Wagen, mit dem sich Ephraim einen aufreibenden Kampf durch die schmalen Gänge lieferte. Sie hatten gemeinschaftlich beschlossen, eine selbstgemachte Pizza zu fabrizieren, die dann bei vergnüglichem Betrachten eines Films genossen werden sollte. Nachdem sie mühsam ihre Beute erlegt und den Obolus entrichtet hatten, schlug Lysander vor, dass dieses erfolgreiche Unternehmen mit einem Mittagsschmaus gekrönt werden müsse, weshalb er den Vietnamesen um die Ecke empfahl. Sie tafelten vergnügt und tauschten dabei, wie es international üblich ist, Horrorgeschichten über missglückte Mahlzeiten und ihre unerfreulichen Konsequenzen aus. Das verbrüderte im erlittenen Leid. Ephraim half am Nachmittag, etwas aufzuräumen und die Vorbereitungen für den Teig zu treffen. Der sollte ja ein wenig ruhen und brauchte dafür Zeit. Lysanders und Dragomirs Heimstatt gefiel ihm. Die Küche war geräumig und so eingerichtet, dass man mühelos glauben konnte, hier würde tatsächlich gekocht (und nicht nur Tiefkühlmahlzeiten in die Mikrowelle bugsiert). Lysander gestand ihm grinsend, dass er in dieser Hinsicht ein hoffnungsloser Fall sei und sich auf Dragomir verließ, der als Chef de cuisine Kochlöffel und Tranchiermesser schwang. Ephraim sympathisierte mit Lysander, denn zu Hause war die gewaltige Küche die Domäne seiner Mutter, die keinerlei Anmutung von Chaos goutierte. Dazu wurden sie ja auch in der Schule mit Mahlzeiten versorgt, sodass sich seine Fähigkeiten bisher auf das unfallfreie Befestigen von Marshmallows auf Zweige am Lagerfeuer beschränkt hatte. Aber mit einer Gastwirtin wie Frau Hardenheim lernte man schnell, dass ein Mann sich gefälligst selbst versorgen können musste. So bereitete es ihm auch keine größeren Probleme, den Hefeteig nach Rezept zu walken, während Lysander eifrig, wenn auch etwas ungelenk Gemüse putzte und in Einzelteile zerlegte. Der junge Werwolf nutzte auch die Gelegenheit zum vertraulichen Gespräch, denn er wollte gern erfahren, wie Lysander und Dragomir, nun ja, einander gefunden hatten, immerhin waren sie ja sehr unterschiedlich, wenn auch beide Männer, und so... Lysander schmunzelte über die gestotterten Rechtfertigungsversuche und überlegte, wie er die nicht unbedingt romantische Auftaktphase seiner Liebesbeziehung geschickt umschreiben konnte. "Weißt du, in dem Moment, als ich begriffen habe, dass ich Dragomir liebe, da hatte ich gar keinen Gedanken dafür übrig, dass wir beide Männer sind." Begann er bedächtig. "Diese eher, nun ja, technischen Einzelheiten, die haben sich später ergeben." "Ja, also, ich meine, woher wusstest du es? Dass es Liebe ist, meine ich." Ephraim räusperte sich sehr verlegen und drehte ein Geschirrhandtuch in der manuellen Mangel, bis die Fäden ächzten. Der zierliche Vampir seufzte mit einem zärtlichen Lächeln. "Mir war so warm, so unglaublich warm. Hier und hier." Er legte die eleganten Hände auf den schmalen Brustkorb und seinen Bauch. "Ich habe gar nicht gewusst, wie kalt mein Herz und meine Seele geworden sind, bevor Dragomir kam." Über diesen Satz musste Ephraim länger grübeln. Üblicherweise war doch die Rede von Schmetterlingen, Blitzschlägen oder anderen eher gewalttätigen Einflüssen, richtig? Wie passte diese Beschreibung da ins Gefüge? "Hattest du denn keine Angst? Immerhin ist Dragomir ja ein Werwolf." Ephraim näherte sich dem Phänomen von einer anderen Seite, wollte es umkreisen, bis er es umzingelt und zur Offenbarung gezwungen hatte. "Schon." Gab Lysander zu, der ganz sicher nicht verbreiten wollte, wie GENAU ihre Begegnung verlaufen war. "Aber schlimmer war der Gedanke, dass er mich wieder allein lässt mit der fürchterlichen Kälte." Ihn schauderte es sichtbar, und für Wimpernschläge wirkte sein Gesicht spitz und ausgezehrt. "Er hat einfach mitgespielt?" Ephraim gelang es nicht, den Zweifel aus seiner Stimme zu tilgen. "Oh nein!" Lysander richtete sich auf, lächelte amüsiert. "Du kennst ihn doch! Er macht sich immer Gedanken und wägt ab, was das Richtige ist." "Er ist trotzdem geblieben?" Der Werwolf zog die Stirn in Falten. "Wieso?" Im gleichen Moment errötete er heftig. "Oh, ich meine, natürlich, er liebt dich, ja! Bloß...!" Sein Stottern rührte Lysander, der sich allzu oft in derselben Situation befunden hatte: verwirrt, verunsichert und doch wissbegierig, ängstlich darauf bedacht, den Gegenüber nicht zu verletzen. "Ich habe ihn angefleht, mich nicht allein zu lassen." Antwortete er sanft, aber entschieden. "Ich wusste, dass er sich kümmert. Das habe ich schamlos ausgenutzt." Ephraims Kinnlade sackte ein wenig herunter. Er schloss er sie hastig, senkte den Blick und grübelte sichtlich. Er traute Lysander weder Heimtücke noch Egoismus zu. Dragomir galt nicht umsonst als herausragender und CLEVERER Anführer. Bei allem Gluckendrang würde selbst der einen Schlussstrich ziehen, wenn er sich je ausgebeutet fühlte. "Ich glaube nicht, dass Dragomir sich ausnutzen lässt." Gab er bedächtig seine Schlussfolgerungen bekannt. "Er ist geblieben, weil er es wollte." "Ja." Nickte Lysander aufmunternd. "So sind wir zusammengekommen. Weil jeder dem anderen etwas Wertvolles, Besonderes geben kann, etwas, das man sich selbst nicht verordnen kann." "Verstehe!" Nickte Ephraim entschieden. Das klang konsequent und logisch, damit konnte er durchaus etwas anfangen, nämlich als Beurteilungskriterium, was ihn und Jinx betraf. *_* "Oh, ich hab dich so vermisst, Lucky!" Jinx flog förmlich heran und umarmte Ephraim eng, schmiegte das Gesicht in dessen Halsbeuge, wobei er sich leicht einrollen musste und seufzte steinerweichend laut. "Ich leide unter Entzug, wenn du nicht jeden Tag vorbeischaust!" Doreen, die gerade ihre Gerätschaften säuberte, lachte fröhlich auf. "Unleidlich wirst du auch, Jinx!" "Oh ja!" Bekräftigte der Werwolf mit einem zerknirschten Grinsen, gab Ephraim gerade genug frei, um ihm eingehend ins Gesicht zu sehen, die Hände um Ephraims Wangen gebogen. "Ich wollte dir unbedingt meine Ideen präsentieren und konnte nicht und wurde ganz kribbelig!" Seine Stiefel steppten ein Stakkato in den Boden, um den unerfreulichen Gemütszustand anschaulich zu demonstrieren. "Entschuldige." Murmelte Ephraim verlegen, wurde erneut gedrückt und geherzt, als hätte man sich Jahrzehnte nicht gesehen. "Wie schön, dass du jetzt hier bist, Lucky!" Raunte Jinx ihm ins Ohr und küsste ihn warm auf die Wange, zwinkerte. An der Hand genommen konnte Ephraim gar nicht anders, als Jinx zu folgen, um nun unerbittlich eifrig in die genialen Dimensionen der Schönheitsmission eingetaucht zu werden. Offenkundig, das wurde ihm während des lebhaften Vortrags, von Computersimulationen unterstrichen, bewusst, war es Jinx eine Herzensangelegenheit, ja, sogar ein Bedürfnis, ihm deutlich zu machen, dass er schön sei. »Relativ gesehen.« Ätzte seine innere Stimme vernichtend. Weniger die zahlreichen Empfehlungen fesselten ihn als das Mienenspiel, die Gestik des anderen Werwolfs, der sich engagierte, Begeisterungsfähigkeit demonstrierte, vor Eifer und Hingabe strahlte und ihm, beiläufig, fast schon unbewusst, immer wieder über die Haut streichelte, ihn berührte. Das nahm sich keineswegs unangenehm aus, doch Ephraim konnte sich nicht länger hinter "kulturellen Unterschieden" verstecken. Nein, Jinx brachte ihm große Zuneigung entgegen. Der behandelte ihn anders als alle anderen, denen er begegnete, also wollte er selbst auch nicht auskneifen, sondern sich Gewissheit verschaffen! Nachdem Doreen mit Dschingis in den Feierabend verschwunden war, assistierte er Jinx bei den letzten Präparationen für einige Kosmetika und berichtete über die "Pyjama"-Party, die ihm sehr viel Spaß bereitet hatte. Jinx hörte ihm aufmerksam zu, während er fleißig arbeitete und seufzte dann laut auf. "Oh, ich möchte auch mit dir eine Pyjama-Party machen! Leider ist mein Fernseher vor zwei Monaten zum ewigen Testbild gegangen, also gibt's keine Filme bei mir! Das ist echt tragisch!" Dabei warf er sich Ephraim an den Hals und umklammerte ihn schniefend, drückte ihn an sich. Ephraim wiederum berührte zögerlich den sich auflösenden Zopf, die straffe Rückenpartie, klopfte behutsam wie bei einem Kleinkind, um Jinx zu beruhigen. "Ach, du bist so süß, Lucky!" Schnurrte der hingerissen und strahlte Ephraim ins Gesicht. "Ich bin nicht süß..!" Ephraims Protest verstummte, als Jinx ihn auf den Mund küsste, warm, sanft, gemächlich. Dann studierten tiefdunkle Augen ihre hellblauen Pendants. Ephraim straffte sich kurz und krächzte nervös. "Sag mal, bist du in mich verliebt?" Im selben Moment schoss ihm feurige Röte in die Wangen, und er blickte beschämt unter sich. "Ich weiß nicht." Bekannte Jinx offen, lehnte seine Stirn an Ephraims. "Ich verliebe mich eigentlich nicht. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, aber du fühlst dich an wie ein tiefes, sonores Katzenschnurren, verstehst du? Wenn man sie streichelt und sie vollkommen glücklich sind. SO fühle ich mich bei dir, und das ist schön." Ephraims Kinnlade hakte sich aus und hing vermutlich in den Kniekehlen, zumindest gewann er diesen Eindruck. Er war ein Katzenschnurren?! *_* "Er ist wirklich sehr merkwürdig." Murmelte Ephraim vor sich hin, während er ordentlich Archivschuber verstaute und die schweren Schränke auseinander und wieder zusammen kurbelte. Natürlich gab es auf dem Land viele "Freigänger", doch diese Katzen neigten nicht unbedingt dazu, allzu große menschliche Nähe zu suchen. Sie kamen in die Scheunen und Werkhallen, um sich unterzustellen, ansonsten stromerten sie aber frank und frei herum, ganz Herren und Damen ihrer selbst. Gnade ihren sieben Leben, wenn seine Mutter jemals eine Katze im Haus erwischt hätte! Von Haustieren hielt sie gar nichts, weil erstens jeder wusste, dass die Dreckarbeit dann an Muttern hängen blieb und zweitens Tiere keine Menschen waren und deshalb ihr eigenes Leben führen sollten. Katzen?! Im Haushalt von Werwölfen?! Undenkbar! Ephraim lehnte sich schwer über den Aktenwagen und grübelte konzentriert. Jinx war so anders! Der verhielt sich nicht so, wie man es von einem Werwolf erwartete! Was ihn auf den Gedanken brachte, dass er im Grunde nichts von diesem seltsamen Energiebündel wusste. Da waren natürlich die etwas freimütige Einstellung zu körperlichen Interaktionen, aber auch der ungewöhnliche Akzent, zumindest für seine Kansas-Ohren, doch wie war Jinx aufgewachsen? Hatte er Familie? Er gehörte jetzt keinem Rudel an, auch wenn Dragomir seine schützende Hand über ihn hielt. War das jemals anders gewesen? "Wen könnte ich fragen?" Ephraim zog die Stirn kraus. Jinx würde ihm bestimmt bereitwillig Auskunft geben, so geradeheraus, wie der üblicherweise war. Andererseits schämte sich Ephraim, derart ungebührliche Neugierde zu offenbaren. Das gehörte sich einfach nicht, man steckte nicht die Nase in anderer Leute Angelegenheiten! Diese Lektion hatte sich zeitlebens tief in sein Bewusstsein eingraviert und schon die Vorstellung, ihr zuwiderzuhandeln, ließ ihn nervös zusammenzucken. Eine Möglichkeit gab es ja... "Nein!" Rief sich Ephraim selbst zur Ordnung. In den elektronischen Archiven herumstöbern, um Jinx auszuspionieren, das TAT man einfach nicht! Er seufzte ob der Tugendhaftigkeit seiner Erziehung, die ihm krumme Touren regelmäßig vermasselte. Also würde er wohl doch wagen müssen, sich als Katzenschnurren getarnt an Jinx' Biographie heranzupirschen! *_* "Lucky!" Trällerte Jinx aufgedreht, hielt auf ihn zu, die Kittelschöße wirbelten nur so auf. "Oh, endlich bist du da! Ich muss dir unbedingt was zeigen!" Ephraim schnappte nach Luft, vorausschauend, denn schon wurde er gedrückt, angeschmust und durchgeflauscht, bis er selbst unterhalb der Gürtellinie ein hochtouriges Schnurren spürte und tiefrot energisch Distanz schaffte. Jinx nahm diese abrupte Separation nicht übel, sondern strahlte glücklich. "Es wird dir gefallen, oh ja! Komm!" Ohne Rücksicht auf die Umgebung, die amüsierten Blicke der Kundinnen und Doreens Feixen zog er Ephraim hinter sich her, schubste ihn liebevoll hinter ein Vorhang bewehrtes Separee. "Warte, ja? Ich bin sofort wieder bei dir!" "Äh." Antwortete Ephraim ausschweifend und lehnte sich perplex an die Säule, überrumpelt von dieser Entwicklung und ein wenig konsterniert ob der aufgefangenen Emotionen ihres Publikums. Deren Mienen zufolge, da war Ephraim überzeugt, hielten sie ihn für eine Art Schoßhündchen des umtriebigen Schönheitsmeisters, fanden die "Kunststücke", zu denen Jinx ihn nötigte, erfrischend bis saukomisch. »Ist es aber nicht! Und bin ich nicht!« Schnaubte seine ohnehin ständig lädierte Würde gekränkt. Wieso konnte Jinx nicht mal ein wenig Zurückhaltung an den Tag legen?! Wieso machte er keinen Hehl aus seiner verrückten Zuneigung?! Diese kritischen Fragen hätte er Jinx stellen können, doch als der Vorhang zur Seite gezupft wurde, um den Dreh- und Angelpunkt dieser schwierigen Situation durchzulassen, war Jinx für seriöse Themen nicht ansprechbar. Er lachte Ephraim an, hielt gleichzeitig auf einem Kleiderbügel einen Anzug vor ihn und verkündete sofort atemlos. "Oh, ich wusste es! Ich hab's gerochen! Oh, du wirst umwerfend darin aussehen!" "Hä?" Entfuhr es Ephraim bedrängt, der keinen Raum zum Ausweichen mehr hatte. "Bitte, probier ihn gleich an, ja?! Oh, bitte, ich MUSS einfach sofort sehen, wie er dir steht!" Jinx' Wörterbuch enthielt den Begriff Zurückhaltung offenkundig nicht. Als sich anbahnte, dass er höchstselbst tatkräftig nachhelfen wollte, Ephraim aus seiner Bekleidung zu schälen, entschied dieser, lieber rasch den Wünschen dieses hyperaktiven Verrückten nachzukommen, bevor er noch vor versammelter Mannschaft entblättert wurde! In Socken und Unterwäsche schlüpfte er unter Jinx' aufgedrehten Gesten in einen Cordanzug mit einer ungewöhnlichen Farbgebung. Das Rotbraun konvenierte jedoch perfekt mit seinem roten Schopf und ließ ihn nicht bleich wie eine Wasserleiche erscheinen. Durchaus verblüfft studierte Ephraim sein Erscheinungsbild in einem bodentiefen Spiegel, während Jinx mit Stolz hinter ihm stand, die eleganten Hände auf die schmalen Hüften gestützt. "Ich hab's ja gewusst! Oh, du siehst einfach hinreißend aus! Die werden dich mit Kusshand nehmen, Lucky!" Schon hing er um Ephraims Hals, knuddelte ihn, hopste auf der Stelle, bis Ephraim selbst mittat, weil er so eng geführt wurde, dass es keine Alternative gab. Atemlos, lachend, aufgedreht spulte schließlich, während sie Luft schnappten, sein Verstand ihren Dialog erneut ab und stutzte hartnäckig. In der Folge zog Ephraim die Stirn kraus und hakte nach. "Äh, Moment, wer wird mich denn nehmen? Bei was?" Nun war es an Jinx, ihn erstaunt anzublicken. "Oh, willst du dich denn nicht bald für eine Arbeit bewerben? Ich dachte, deshalb seist du hier?" Ephraim starrte den älteren Werwolf an und spürte, wie seine Gesichtszüge gemächlich, aber unaufhaltsam entgleisten. Konnte das wahr sein? War er nicht nur hierher geschickt worden, um ein echter Werwolf zu werden, sondern auch, bei Nichtgelingen, weit genug weg, um seiner Familie in Kansas keine Schande zu bereiten? "Arbeitest du denn nicht deshalb mit den Akten und beim Recherche-Team?" Jinx streckte eine Hand aus und kämmte sanft wirre Strähnen aus Ephraims Gesicht. "Nein, das ist doch nur..." Ephraim brach ab. Konnte Jinx recht haben? Hatte der nicht ein besonderes "Näschen" für Situationen? "Oh." Brachte Ephraim schließlich hervor, senkte den Blick und zog unbewusst die Schultern hoch. Sofort wurde er eng umarmt, tröstend gewiegt, seine Wange mit Küssen verziert, in seine Ohrmuschel leise gesummt. "Hier ist es auch schön, weißt du?" Jinx startete eine Charme-Offensive, merklich zurückgenommen und mit sanfter Betonung. "Man kann eine Ausbildung mit Abschluss absolvieren. An den freien Tagen kannst du durch Europa reisen. Es gibt hier so viel zu entdecken und zu erfahren, Lucky. Das ist eine tolle Chance, bestimmt." "Ja." Japste Ephraim knapp und würgte an einem Kloß in seinem Hals, blinzelte heftig. "Zu dumm, dass ich nicht kapiere, was alle anderen ohne Erläuterungen begreifen." "Bleib hier, ja?" Ein weiterer Kuss wärmte seine Wange. "Ich bin hier! Doreen, Dschingis, Liz und auch Lysander! Denkst du nicht, dass es wunderbar wäre, mit uns noch mehr Zeit zu verbringen? Hm?" "Aber das passiert nur, weil ich ein Versager bin!" Rutschte es Ephraim verbittert heraus. Das war kein schöner Zukunftstraum, sondern das Ende der Fahnenstange. Jetzt gab es keine Ausflüchte mehr. Die Umarmung wurde nun schmerzhaft. Jinx drückte ihn so sehr an sich, grub die Fingerspitzen in Ephraims Fleisch, dass er unwillkürlich wimmerte. "Du bist kein Versager, du bist ein Held. Du hast die Bösen erwischt. Du hilfst den Menschen um dich herum. Du hast ein gutes Herz und Mut!" Jinx zischte die Silben streng, klang fast bedrohlich. "Du lässt mich das Schnurren fühlen, von oben bis unten. Willst du behaupten, das alles ist nichts wert?" So formuliert konnte Ephraim nicht mehr tun, als in sich zusammenschrumpfen und standhaft die Quetschung zu ertragen. "Aber was soll ich denn jetzt tun?" Piepste er kleinlaut und schnüffelte verlegen. SO hatte er sich seine unmittelbare Zukunft ja nun wirklich nicht vorgestellt! "Oh, da helfen wir dir natürlich!" Jinx gab ihm ein wenig Raum, lächelte ihn aufmunternd an und platzierte einen Schmatz auf Ephraims Stirn. "Du wirst sehen, das läuft wie am Schnürchen! Schließlich hast du hier jede Menge Glück gehabt, richtig? Hier ist genau der Ort, damit deine wahre Natur als Glückskind zum Vorschein kommt!" Ephraim lupfte hilflos die Augenbrauen, doch nicht einmal mit dieser Geste des Zweifels konnte er Jinx' euphorische Zuversicht und Überzeugung erschüttern. *_* Kaum waren sie allein, Ephraim wieder im Räuberzivil, um deprimierend wenig Barschaft erleichtert, die vermuten ließ, dass Jinx ihn ARG schonte, rutschte der schon auf einem Einsitzerschemel direkt neben Ephraim, schlang sicherheitshalber die Arme um dessen Mitte und schmiegte ihre Wangen aneinander. "Das wird prima, Lucky! Das rieche ich!" Verkündete er munter, ignorierte die einsetzende Melancholie seines Quasi-Siamesischen Zwillings ungehemmt. "Aber ich weiß gar nicht...!" Ephraim seufzte und wurde noch ein Quäntchen enger beschmiegt. Wie funktionierte das alles? Brauchte man nicht zig Dokumente? Was war mit seinem Aufenthaltsstatus? Und Geld?! "Oh, ich kenne mich da aus, und Dragomir hilft bestimmt auch!" Jinx war durch gar nichts zu erschüttern, wie es den Anschein hatte. "Das lässt sich alles lösen! Ich wette, wenn wir ihn fragen, hat er auch sofort jemanden, der dich gern ausbilden will!" "Ach ja?" Grollte Ephraim schmollend, da ihn dieser Optimismus in Verbindung mit seiner Person sehr irritierte. "Was soll ich für eine Ausbildung machen?" "Oh, da gibt's bestimmt jede Menge Möglichkeiten!" Euphorisch rieb Jinx ihre Wangen aneinander. "Du bist geduldig, methodisch, konzentriert, aufmerksam, außerdem noch ein wahres Glückskind, du kannst sehr viel machen! Es wäre ja auch nur der Anfang!" Versicherte er mit dem Brustton der Überzeugung. "Nur der Anfang?" Echote Ephraim hilflos. Konnte es etwa noch schlimmer kommen? "Klar!" Jinx wandte den Kopf, um Ephraims Nasenspitze zu beflirten. "Man kann jede Menge Fertigkeiten erlangen! Schau dir doch meine Zertifikate an! Immer, wenn mich was interessiert hat, habe ich nach einem Seminar gesucht, mitgemacht und einen Abschluss hingelegt!" Das konnte man kaum von der Hand weisen. Jinx schien tatsächlich multitalentiert, er konnte jede Menge, auch wenn das Potpourri sich durchaus farbenprächtig ausnahm. Da waren Bestätigungen zu einem Basiskochkurs vegetarische Küche, die gleich neben einer Anfängersprachprüfung Spanisch, dem erfolgreichen Absolvieren einer mehrstaffeligen Handarbeitsakademie hingen. Darüber befand sich ein von der IHK bestätigter Abschluss als Hygienefachkraft neben einem erreichten Kursziel eines Druckmassage-Kurses. Nicht zu vergessen die zahlreichen Empfehlungen, die unmittelbar mit Jinx' besonderem olfaktorischen Talent zusammenhingen. Ephraim zweifelte jedoch entschieden daran, sich selbst mit einer derart schillernden Universalbildung schmücken zu können. Es haperte ja schon daran, sich für einen Weg zu entscheiden, der ihm eine Zukunft offerierte! "He!" Jinx küsste ihn mal wieder auf die zerfurchte Stirn. "Hab Vertrauen, ja? Das wird schon, garantiert!" Seine dunklen Augen funkelten auffordernd. Ephraim sah sich mangels Alternativen (ach ja? Du kannst dich bloß nicht entscheiden, wie immer! Ha!) genötigt, minimal zu nicken und hastig nach unten zu blicken. Wenn er doch auch nur ein wenig Selbstvertrauen hätte! Doch das gewann man bekanntlich nur, wenn man auf eigene Leistungsfähigkeit baute. SEINE Leistungen beschränkten sich regelmäßig darauf, zu scheitern oder eine Katastrophe auszulösen! "Ich habe gehört, dass man sich beim Arbeitsamt beraten lassen kann." Jinx spulte schon eifrig Pläne ab. "So eine Art Eignungstest, glaube ich." Der Blick suchte im Ungefähren geradeaus eine Erinnerung. Ephraim konzentrierte sich noch auf Jinx' Profil und zweifelte nicht daran, dass sich die Leute überschlagen hatten, ihm zu helfen: er strahlte etwas Besonderes aus, ganz abgesehen von der nicht zu verfehlenden Attraktivität, auch wenn er für einen Werwolf recht eigentümlich war. "Oh, ich hab's! Wir können...!" Jinx drehte agitiert den Kopf, registrierte die auf Null geschrumpfte Distanz, verschluckte die restlichen Silben seines Vorschlags und fokussierte sein Bestreben darauf, Ephraims hängende Mundwinkel durch einen nachdrücklichen Kuss anzuheben. Da Ephraim gerade seine fundamentalen Zweifel am Gelingen seiner Zukunft fernab der Heimat äußern wollte, trafen sich hier zwei kommunikationsfreudige Lippenpaare. Jinx unternahm etwas, dass er sich konsequent bis dato verkniffen hatte: er verführte Ephraim nach Strich und Faden, Lehrbuch und Praxis. Es gab nicht länger nur French Fries und French Dressing in Ephraims Erfahrungsschatz. *_* Kapitel 5 - Neue Heimat Er hatte durchaus während der Schulzeit davon gehört, von den Rezeptoren, von den chemischen Verbindungen, der Informationsweiterleitung durch Strom in den Nervenbahnen. Niemand hatte ihm jedoch auch nur angedeutet, was passierte, wenn man von einem erfahrenen Profi einen Zungenkuss nach dem anderen bekam! Dass es überall prickelte und blitzte, man richtig besoffen wurde von diesem Hormonrausch, wie im Zuckerdelirium Sternchen sah und wie ein Junkie nicht aufhören konnte, immer mehr wollte. Zusammenhängende Gedanken oder die üblicherweise vorhandene Fähigkeit zum Kombinieren etwaiger Konsequenzen verabschiedeten sich temporär. Die selbst-verächtliche innere Stimme nahm eine Auszeit und jedwede noch vorhandenen Moral-Konditionierungen aus der Kindheit wurden gnadenlos überstimmt. Die Bremse zog Ephraim erst, als der heftige Druck gegen den Reißverschluss bewehrten Hosenschlitz seiner Jeans ein unerbittliches Unwohlsein funkte. Reflexartig stemmte er sich von Jinx weg und plumpste sofort, mangels Sitzgelegenheit, eine Etage tiefer auf den Boden. Das verlängerte Rückgrat brüllte ohne Verzögerung auf und übertönte alle anderen Befindlichkeiten diktatorisch. "Oh, du bist ja ungnädig mit dir selbst!" Zwinkerte Jinx zu ihm herunter. "So streng!" Sein unbeirrter Blick verriet dem dunkelrot gefärbten Ephraim, dass die subäquatoriale Begeisterung dem älteren Werwolf nicht entgangen war. "Ich-ich sollte gehen. Jetzt!" Stotterte Ephraim, der Jinx nicht mehr ins Gesicht sehen konnte vor Scham, rappelte sich auf. Warum passierte ihm immer so etwas?! Der König der Hampelmänner und Trottel, DAS war eine Auszeichnung, die er sich an seine Wand hängen konnte! Jinx streckte ihm beide Hände hin. "Bitte, sei nicht böse, ja? Geh nicht, Lucky, hm?" In seinem Mienenspiel wechselten sich die Versöhnlichkeit und das fröhliche Lächeln ab, das selbst aus dieser Slapstick-Nummer noch etwas Positives gewinnen konnte. Ephraim zögerte, doch die so flehentlich dargebotenen Hände konnte er nicht ignorieren. Folglich ergriff er sie vorsichtig, wagte tollkühn, er sah wahrscheinlich immer noch aus wie ein Hummer im Kochtopf!, einen Blick in die dunklen Augen, die so schmelzend werben konnten. "Sei mir nicht böse, ja?" Jinx zog ihre verbundenen Hände an seine Brust. "Ich hab dich einfach so gern! Es ist immer so schön mit dir." Wie konnte er solche Offenbarungen nur so unerschrocken aussprechen?! Prompt lief Ephraim in Stellvertreter-Beschämung dunkelrot an, stotterte Unverständliches und knurrte schließlich, die Augen fest auf den Boden gerichtet. "Ja, ich weiß schon, das Katzenschnurren." "Genau!" Jinx lachte auf, wirbelte den überrumpelten Ephraim im Kreis herum und strahlte ihn an. "Ich habe eine hervorragende Idee, Lucky! Wir gönnen uns jetzt ein paar sündhaft leckere Pralinen, schwelgen so richtig und ich fahre dich dann heim, ja? Bitte? Hmm??" Seufzend und gegen einen leichten Schwindel ankämpfend gab Ephraim nach und signalisierte Konsens. "Prima! Oh, du bist einfach klasse! Echt Zucker!" Deklamierte Jinx aufgekratzt, gelöste Strähnen wehten durch die Luft. Ein mal mehr sah sich Ephraim durch den Saloon befördert, auf der Jagd nach der süßen Ekstase. *_* Es war wahrscheinlich die Schokolade. Bestimmt sogar! Denn unter normalen Umständen, also ohne Zucker-Schock und von exklusiven Aromen verführt hätte Ephraim wohl Protest dagegen eingelegt, dass es sich Jinx auf seinem doch eher übersichtlich gestalteten Schoß bequem machte, aber nun, in elysischen Höhen des Genusses, kümmerte er sich keinen Deut mehr um Anstand, Würde oder Ansehen! »Wobei DAS bei dir ohnehin keine Rolle spielt!« Ätzte seine innere Stimme ketzerisch. Er ignorierte sie souverän. Jinx hatte einen Arm um Ephraims Schultern gelegt, mutmaßlich um sich auszubalancieren (Ha! Ja, rede dir das nur ein!- Klappe!) und lauschte aufmerksam dessen schonungsloser Bilanz seines Statuses als Werwolf. "Ich bin nicht so groß wie meine Eltern, weißt du?" Ephraim seufzte. "Aber da der Großvater meiner Mutter auch kein Riese war, ist das noch akzeptabel gewesen. Es bestand ja lange Zeit auch die Hoffnung, ich sei in dieser Hinsicht ein Spätzünder." Ephraim grimassierte bitter. "Ich bin ohnehin nie vorne dran, also war das verständlich. Na, und dann hat man in der Grundschule festgestellt, dass ich sehr schlecht sehe. Eine Operation wurde jedoch verschoben, weil sich das Auge im Wachstum noch verändert. Deshalb hieß es immer: nur weil er nicht so gut sieht, kann er nicht richtig mithalten. Er verliert eben Zeit mit dem Identifizieren." Jinx lutschte eine Praline und streichelte durch Ephraims rotes Haare, sanft und zärtlich. "Ich bin dann operiert worden, und, Überraschung!" Ephraim lächelte verzerrt, wich Jinx' dunklen Augen aus. "Eine spontane Leistungsverbesserung setzte nicht ein. Ich war noch genauso tollpatschig wie immer." Ohne sich dessen bewusst zu sein wickelte er eine entkommene Strähne von Jinx' Haaren um seine Finger, ein unbehagliches Ablenkungsspiel, die Selbstverachtung in Schach zu halten. "Mein Vater hat eine große Werkstatt. Ich wollte ihm immer helfen, war sehr stolz auf ihn. Er hat mich auch helfen lassen. Aber irgendwie bin ich einfach zu ungeschickt." Er seufzte profund. "Mir fehlt es an Kraft, ich habe Koordinationsprobleme und vor lauter Angst, etwas kaputt zu machen, werde ich fürchterlich nervös und vermurkse es dann natürlich richtig." "Das verstehe ich." Jinx legte ihm auch den zweiten Arm um die Schultern. "Am Anfang hatte ich eine absolute Blockade beim Stoffzuschneiden. Wenn ich es nun vermassle, dann ist alles hin, das habe ich mir eingeredet und Stoff ist ja nicht billig!" Ephraim fand das nicht wirklich vergleichbar, denn in seinen Augen war ER in seinem gesamten Leben ein Vermurkser vor dem Herrn, während Jinx ja nun bewies, dass der über unzählige Talente verfügte. "Da habe ich mir vor Augen geführt, was schlimmstenfalls passieren kann." Jinx beugte sich vor, um Ephraims hellblauen Blick auf sich zu bündeln. "Die reinsten Horrorfilme: jede nur mögliche Katastrophe, im Detail, in Farbe! Dann musste ich selbst darüber lachen und es war anschließend gar nicht mehr so schlimm." Er grinste spitzbübisch. "Fehler machen, Schwächen haben, das ist doch vollkommen in Ordnung! Hauptsache ist, man lernt ein bisschen mehr über sich und kann es beim nächsten Mal besser machen." Nun knurrte der jüngere Werwolf grimmig. "Verzeihung, dass ich das sage, aber manchmal klingst du wie ein Glückskeks-Spruchweisheiten-Rezitator!" Jinx blinzelte, dechiffrierte die Botschaft und brach in lautes Gelächter aus, schüttelte dabei Ephraim gleich mit durch, der Mühe hatte, ihre Balance auf dem Stuhl zu wahren. "Oh, du bist einfach wundervoll! Lucky, ich liebe dich!" Trällerte Jinx begeistert, umhalste Ephraim erneut. "Jetzt sag mir noch, dass ich ein grauslicher Selbsthypnotiseur in Sachen positivem Denken bin!" "'Äh, ja. Bist du!" Ephraim fühlte sich angesteckt, erwiderte die warme Umarmung fest, denn die Botschaft war angekommen: Jinx hatte es auch nicht leicht. Seine Methode bestand jedoch darin, sich nicht selbst herabzusetzen, runterzuputzen und zu einer lästigen Verschwendung von Lebensenergie zu degradieren, sondern in Aufmunterung und tröstlichem Humor bei Niederlagen die Hürden erneut anzugehen. "Ich mag dich!" Verkündete Jinx gerade und legte seine Stirn an Ephraims, leitete einen Eskimokuss-Reigen ein. "Du bist grandios, Lucky." "Nein." Widersprach Ephraim leise, registrierte erneut die dichten, langen Wimpern. "DU bist grandios, Jinx. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde." Jinx schmunzelte, funkelte Ephraim an. "Ich bin hier, Lucky, und machen können wir alles, was uns gefällt." Ein perfekter Auftakt, dem Jungen aus Kansas noch einige sehr einprägsame Lektionen über orale Zuneigungsbekundungen zukommen zu lassen. *_* Ephraim erwachte und sein Blick fiel automatisch auf die Zimmertür, wo nun ein neuer Gast hing, auf einem mit buntem Stoff bezogenen Kleiderbügel: sein erster maßgeschneiderter Anzug. Zugegeben, er hatte schon Anzüge getragen, selten, ganz richtig, zuletzt beim Abschlussball, doch das war eine ganz andere Angelegenheit gewesen. Sie passten nie auf seine eher kurze Gestalt, hingen wie Kartoffelsäcke unkleidsam herunter, wirkten grundsätzlich, als habe man mit 95°C-Waschgang den aus der Mode gekommenen Anzug eines Gorillas eingeschrumpft. Er setzte sich auf, stopfte das widerspenstige Kissen in seinen Rücken und nahm die Mappe von Nachtisch. Ja, eine gesamte Mappe, gefüllt mit Aufnahmen, Skizzen, Texten, griffest als Fotobuch laminiert, dazu noch praktische Hilfsartikel wie eine Farbpalette und eine Kurzfassung der notwendigen Änderungen, um ein Kleidungsstück zu SEINEM Kleidungsstück zu machen. Jinx gab sich wirklich alle Mühe, und Ephraim konnte erkennen, wie professionell und leidenschaftlich sein ungewöhnlicher Freund die Mission "Schönheit" verfolgte. Jinx riet ihm zu dreiteiligen Anzügen, Hemden ohne Button-Down-Kragen, dafür jedoch recht altmodisch mit Manschettenknöpfen, gerade geschnittene Hosen, feste Stoffe, Tweed-Varianten, sportliche Sakkos und für den Sommer T-Shirts unter taillierten Westen. "Du hast Klasse, Lucky. Schlichte Eleganz, klassische Schnitte, exakte Anpassungen auf deine Maße. Du kannst bügeln, eine Krawatte binden, Hemden ordentlich aufhängen, das ist sehr von Vorteil. Du bist einfach der Typ britischer Gentleman, und das passt hervorragend zu deinem Charakter, weißt du? Nobel, zurückhaltend, aufmerksam, das geht alles Hand in Hand. Ich bin überzeugt, dass diese Variationen dir gute Dienste leisten werden!" Jinx hatte ganz ruhig gesprochen, konzentriert, sachlich, seinen Esprit zähmend, selbstsicher und überzeugt. Jetzt, da Ephraim sich noch einmal das Album betrachtete (und seufzte eingedenk des Honorars, das Jinx üblicherweise verlangte, was ihm von Doreen zugeflüstert worden war), konnte er umso deutlich erkennen, dass Jinx unzweifelhaft den richtigen Riecher vorweisen konnte. Mit so einem Anzug würde er sich ganz anders fühlen als in der unerfreulichen "Uniform" seiner Jugend: schlabbrige Jeans, überdimensionierte T-Shirts, Sweatshirts mit Kapuze, grauenvolle Muster oder Aufschriften, möglichst in Marineblau, was ihn wie eine Wasserleiche aussehen ließ. Alles zu groß, natürlich, weshalb er selbst zu kurz und gedrungen wirkte, wie ein formloser Hefekloß. Ephraim schlug das Album zu und betrachtete den Anzug, Epitom aller Aufmerksamkeiten, die Jinx ihm angedeihen ließ. Nun, am Morgen, erschien ihm seine sprunghafte Panik vom Vortag beschämend und lächerlich. Gut, sein Vater war über die Berichte seiner Kette von Missgeschicken nicht erfreut gewesen. Ausgesprochen hatte jedoch niemand, dass er es wie frühere Kriegshelden halten sollte: mit dem Schild siegreich zurückkehren oder auf dem Schild, tot. Andererseits, was erwartete ihn Zuhause, in Kansas? Die Einsatztruppe hier hatte sich alle Mühe gegeben, ihn zu trainieren. Das Resultat war jedoch eindeutig: körperlich war er nicht in der Lage mitzuhalten. Für seine andere Arbeit gab's in Kansas kaum Verwendung. Man arbeitete dort nicht als "Aufklärungseinheit", um den Staat zu unterstützen, vieles regelte die Werwolf-Gemeinde unter sich. Der Staat hatte sich da nicht einzumischen, es hieß ja nicht umsonst "the land of the free"! Wenn er zurückkehrte, würde er lebenslang unter dem Protektorat seiner Eltern leben müssen. Nur ihr Einfluss würde ihm eine gewisse Berechtigung in der Gemeinde gestatten. Also sollte er unter diesen Umständen aufs College gehen, um dort zu studieren und die Werkstatt seines Vaters zu übernehmen, wo alle klar erkennen konnten, dass dessen unvergleichliches Talent ihm vollkommen abging?! "Wenn ich bleibe?" Jinx hatte ihm vorgeschlagen, eine Ausbildung zu machen. Einen amerikanischen Schulabschluss hatte er ja! Seine Deutschkenntnisse waren recht ordentlich. Wenn er nun eine eher verwaltende Tätigkeit lernte, mit einem Abschluss, könnte er sich hier behaupten, eine Existenzberechtigung vorweisen. Doch wie sollte er das finanzieren? Würden seine Eltern ihm vielleicht eine Unterstützung zukommen lassen? Wo sollte er wohnen? Welche Art von Aufenthaltsberechtigung benötigte er? Was würde das alles kosten? Vor allem aber würde er es aushalten, die nächsten Jahre fernab von seiner Familie in der Fremde zu sein? Auf das Wohlwollen seiner neuen Freunde angewiesen zu bleiben? Mutig in der Ferne oder ein Verlierer daheim? Ephraims Magen knurrte vernehmlich: wenn schon irgendwas entscheiden, dann bitte nur nach ordentlicher Energiezufuhr! *_* Dragomir studierte den jungen Werwolf, der sich so eng an Lysander angeschlossen hatte. Er konnte durchaus verstehen, dass Ephraim in Kansas keine glorreiche Existenz erwartete, aber mit 19 Jahren eine Menge Brücken hinter sich abbrechen und alles auf die Karte "verrücktes Rudel in Deutschland" setzen? Lysander jedenfalls sprach Ephraim begeistert Mut zu, gelobte Unterstützung und strahlte erfreut. Er hielt offenkundig die Idee für sehr gelungen. "Also gut." Dragomir schippte Lysander noch ein weiteres schmales Tortenstückchen auf den Teller. "Ich denke, ich kenne jemanden, der vielleicht einen Assistenten in seiner Kanzlei gebrauchen könnte. Er ist ein wenig unkonventionell, aber das sollte dich ja nicht schrecken." Seine scharfen Zähne bleckten auf. Ephraim nickte scheu, lächelte erschreckend dankbar. Dieses Mal gestattete Dragomir sich einen vernehmlichen Seufzer. "Na, das kriegen wir schon hin, Ephraim." Tätschelte er den roten Schopf. "Wie Jinx uns ja unermüdlich versichert, bist du ein ausgesprochenes Glückskind. Was kann da schon schiefgehen?" Sein Sarkasmus versickerte, denn Lysander schüttelte die wilde Lockenmähne und blinzelte hinter den grundsätzlich verschmierten Brillengläsern hervor. "Genau! Das wird toll! Ich jedenfalls freue mich sehr, dass du bleibst! Wo du schon so viele Freunde hier gefunden hast, werden sich deine Eltern bestimmt keine Sorgen machen!" »Jaaaa...« Ephraim und Dragomir tauschten schweigend einen verschwörerischen Blick. Lysander war seit einiger Zeit Vollwaise und von seinen Eltern sehr geliebt worden. Er hatte keine Ahnung, wie schwer das Management "normaler" Eltern war! *_* "Lucky! Da bist du ja!" Jinx strahlte ihn an, wandte sich rasch zu seiner betagten Kundin herum, legte ihre Hand an seine Wange und schnurrte. "Bitte entschuldige mich, Liebes, ja?" Sein zweifelsohne herzerweichend-charmantes Lächeln kannte keine Gegenmittel. Nachsichtig wurde er demessiert und sprintete auf Ephraim zu, der bereits in die Holzpantinen schlüpfte. Eingedenk der Überschwänglichkeit, die Jinx zu eigen war, erwartete er auch die bärige Umarmung, das bis zum Schwindelanfall im Kreisherumgewirbeltwerden und den euphorischen Jubelchor. "Du hast es geschafft, stimmt's?! Oh, ich wusste es!! Du wirst garantiert ein wundervoller Rechtsanwaltsfachangestellter! Ich bin so stolz auf dich!" Ephraim blinzelte überwältigt, denn tatsächlich bestand seine Leistung bisher darin, seinen Arbeitgeber in spe, Henry Ruthercombe, davon überzeugt zu haben, dass er kein Totalausfall war und wenigstens einen Praktikumsvertrag anstandslos unterzeichnen konnte. "Du musst mir alles erzählen!" Jinx hielt seine Hand, zog ihn durch den Saloon, wo die verschmitzten Gesichter der Anwesenden Ephraim verrieten, dass er auch vor seinem Erscheinen Thema gewesen war, mutmaßlich der emotionalen Beteiligung des älteren Werwolfs geschuldet. "Oh, ich will alles wissen! Wie ist er denn so, dieser Ruthercombe? War er streng? Wann fängst du an?" Ein Fragen-Bombardement erschütterte Ephraim, der unerbittlich an seiner Hand in den Rund neugieriger Lauscher gezogen wurde. "Ach herrje!" Jinx drückte ihm einen Kuss auf die Wange. "Du hast bestimmt Hunger und Durst, oder? Wenn mir so etwas Aufregendes passieren würde, hätte ich nichts runtergebracht und danach Hunger wie ein Wolf!" "Aaaarrrroouuuhhhhhhhh!" Intonierte Doreen grinsend. "Jinx, lass Lucky doch erst mal Luft holen!" "Genau! Absolut richtig!" Ein weiterer Kuss landete auf Ephraims Wange, dann drückte Jinx ihn auf einen Hocker und wirbelte herum, für den Darbenden erquickende Labsal zu beschaffen. Im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit zu stehen stellte nicht gerade ein erstrebenswertes Ziel für Ephraim dar. Auf Jinx war jedoch Verlass, der trotz seines Beutezugs durch die Vorratskammer des Saloons Frage über Frage anbrachte. Jede Antwort von Ephraim gab den Anwesenden Gelegenheit, sich einzubringen, weshalb sich in kürzester Zeit eine lebhafte Unterhaltung entwickelte. Ephraim fühlte sich so wohl, dass er all die anderen Baustellen in seinem Leben genüsslich verdrängen konnte. *_* "Ich hoffe, ich bin der Aufgabe gewachsen." Murmelte Ephraim, lehnte sich ein wenig stärker an Jinx an, der mehr Energie als die Sonne verpulvern konnte, immer noch putzmunter und rege war. "Ganz bestimmt!" Versicherte der ältere Werwolf inbrünstig. "Du denkst methodisch, du bist ordentlich, du kannst mit der Software umgehen, du bist höflich und sprichst schon sehr gut Deutsch! Was soll da schiefgehen?" "Na ja." Ephraim blinzelte müde von der Agitation. "Hauptsächlich habe ich das Praktikum vor der Ausbildung Dragomir zu verdanken. Er hat seinen Bekannten erst überredet. Natürlich hat dein Anzug mich im besten Licht gezeigt. Danke dafür, Jinx!" Beeilte er sich flott zu ergänzen. "He, er gehört dir!" Lachte Jinx. "Du hast ihn schließlich gekauft, weißt du noch? Dragomir hat allenfalls den Pfad aufgezeigt, gelaufen bist du ganz alleine! Vergiss das nicht!" "Gelaufen, also.." Ephraim seufzte, knetete seine Finger. "Ich weiß aber noch nicht, wie es weitergehen soll. Ich muss ja irgendwo bleiben, aber dafür braucht man Geld. Das Praktikum wird nicht entlohnt, ich bekomme nur eine Aufwandsentschädigung." Er holte tief Luft. "Außerdem, ich glaube nicht, dass meine Eltern so lange Geld aufwenden wollten. Wenn ich zu Hause aufs College ginge, würden sie mir nur die Gebühren und noch Bücher bezahlen, für Kost und Logis würde ja nichts anfallen." "Verstehe." Jinx rubbelte ihm mit der Linken aufmunternd den Oberarm, schmiegte sich eng an Ephraims Seite an. "Sag mal, warum ziehst du nicht bei mir ein? Wenn du mich begleitest, könntest du es dir anschauen und bei mir übernachten, dann liefere ich dich morgen pünktlich bei der Kanzlei ab. Wie wär's?" Ephraim drehte ungläubig den Kopf und starrte Jinx aus großen, hellblauen Augen an. Der zwinkerte verschmitzt. "Ich mag dich, und ich bin ein ganz Netter. Ist doch einen Versuch wert, oder?" "Bist du sicher?" Rutschte ihm heraus, bevor er heftig errötete. "Ich meine, natürlich weißt du, was du tust, es ist nur: ich möchte dich nicht ausnutzen. Weil du eben ein Netter bist!" Mit jeder Silbe wurde Ephraims Stimme leiser. Er hatte zu viel gesagt, das spürte er deutlich. Jinx würde sich bestimmt nicht wie er selbst in eine Situation manövrieren, in der man aus Gutmütigkeit aushilft und dann nicht die Reißleine ziehen konnte, weil es unerträglich war, sich als "Böser" zu erkennen. Jinx schmunzelte. "Ich tu das, weil ich es möchte. Wenn du bei mir einziehst, sehe ich dich jeden Tag. Purer Egoismus also!" Das konnte Ephraim nicht unkommentiert stehen lassen. "Was tust du, wenn du mich nicht mehr sehen willst? Oder ich ganz unerträglich unfähig im Zusammenleben bin?" Der ältere Werwolf drückte Ephraims Schulter energisch in seine Richtung, küsste ihn auf den Mund und raunte zärtlich. "Du bist mein Katzenschnurren, Lucky. Einfach perfekt." Weitere Proteste erstickten mangels Sauerstoffzufuhr. *_* Jinx' Appartement befand sich in einem kubusförmigen Mehrparteienhaus, das Ende der 70er mit seinen Betonvorhängen als moderner Chic gegolten hatte. Doch nun herrschte schmuddelig graue Tristesse, was den Grundeindruck, eines nach allen Seiten mit versetzten, offenen Schubladen bestückten Schrankbunkers nur verstärkte. Ein wenig nervös folgte Ephraim Jinx, der seinen unverwüstlichen Ford Ka geschickt in eine knappe Lücke gezwängt hatte. Solch einen Baustil kannte er nur aus alten Filmen, schien ihm und es passte so gar nicht zu Jinx' üblichem Umfeld, dem Be Beautiful-Saloon. Das Treppenhaus war erstaunlich breit gestaltet, die Stufen nicht mehr original, sondern mit einem hellen Stein ersetzt. Die Wände wirkten wie weiß gekalkt, sehr puristisch, verdrängten so die Besorgnis, man begebe sich in einen Luftschutzbunker. Jinx' Wohnung befand sich im zweiten Stock des kuriosen Schubladen-Wabenbaus, ein Einzimmer-Appartement, keine Küche, nur eine Durchreiche von der Kochnische zum vorgelagerten Bartresen. Den Wohnraum teilte ein offenes Regal, rechter Hand wartete ein Klappsofa auf Besuch, der nicht auf den Sitzkissen oder den bunt beklebten Kartons Platz nehmen wollte. Linker Hand, auf der anderen Seite des offenen Regals, residierte ein breites Bett. Dahinter schloss sich die seltsame "Schublade" an, ein weitgehend nutzloser Balkonvorsprung, der lediglich der winterlichen Kühlung zweier Bierkästen Raum geboten hätte. Die Wand entlang sah man eine abenteuerliche Konstruktion aus zwei großen, alten Leitern, an denen man Bretter, Besenstiele und Taschen befestigt hatte, um einen farbenprächtigen Stauraum für Bekleidung, Accessoires, Schuhe, Hüte, Bücher, Spiegel, Nippes und anderes Strandgut des Lebens zu generieren. "... wow..." Murmelte Ephraim beeindruckt. Er konnte durchaus erkennen, dass hier wie im Saloon aus Zweiter Hand-Artikeln ein Meublement geschaffen worden war. Dennoch wirkte der Gesamteindruck wie ein Beitrag zu künstlerisch angehauchten "Lifestyle"-Magazinen. "Na, meinst du, du könntest es hier aushalten?" Jinx zwinkerte ihm zu, während er in eine alte Wäschetruhe, die man mit bunten Wäscheleinen geflickt hatte, wo die Rattanstäbe gebrochen waren, Bettzeug exhumierte. "Allerdings sind wir ja tagsüber meist unterwegs, deshalb wirst du bei mir auch kaum Grünzeug finden. Ach ja, ich zeige dir gerade noch die Küche und das Bad. Danach testen wir, ob das Bettsofa dir bequem genug ist, ja?" Umtriebig wie gewohnt leitete Jinx Ephraim in das winzige Gelass, das als Badezimmer fungierte. Ein winziges Fenster, mehr eine Art Schießscharte, war der einzige Kontakt zur Außenwelt. Es gab eine Toilette, im rechten Winkel dazu ein Waschbecken und gegenüber, längs der Schiebetür, eine altmodische Sitzbadewanne. Ein Duschvorhang lümmelte über ihre hohe Kachelkante und brachte ein wenig Farbe in das sterile Weiß dieser Sanitäranstalt. Eins stand schon fest: etwas großzügiger dimensionierte Mitmenschen konnten hier nicht ihre Heimat finden oder mussten auf Schlangenmenschen umschulen. "Ist ziemlich spartanisch, aber man gewöhnt sich dran." Jinx stupste Ephraim sanft einen Ellenbogen in die Seite, grinste spitzbübisch. Ephraim errötete, weil ihn wieder mal sein Gesicht verraten hatte. Anschließend wurde er mit den Möglichkeiten der Kochnische bekannt gemacht. Es gab einen Untertischkühlschrank, eine Mikrowellen-/Back-Kombination und ein winziges Spülbecken, dazu zwei hintereinander angeordnete Induktionskochplatten (man hatte sich vor einiger Zeit endgültig von der Gasbefeuerung in der Küche verabschiedet) und eine sehr übersichtliche, bunt gemischte Variation an Küchenutensilien. "Wir haben eine Münzwaschmaschine im Keller, aber meistens benutze ich unsere Dicke Bertha im Saloon." Erläuterte Jinx lächelnd. Die Industriewaschmaschine mochte zwar schon einige Jahre auf der gewaltigen Trommel haben, aber sie erwies sich als hart im Nehmen und konnte sogar noch repariert werden, wenn es doch mal zwickte und zwackte. Ephraim wurde auf einen der Barhocker platziert. Jinx führte ihm grinsend vor, wie man das Bettsofa ausklappte, verteilte geschickt das Bettzeug und klopfte auffordernd neben sich. Artig sockte der jüngere Werwolf heran und ließ sich vorsichtig nieder. Hart gepolstert, doch das gefiel ihm gar nicht so schlecht. Er war wirklich kein "Kuhlenschläfer". "Tja, und das ist mein Fernseher." Sie saßen gerade in der Blickachse. "Der leider den Geist aufgegeben hat, sonst hätte ich mit dir auch eine Pyjama-Party veranstaltet!" Jinx seufzte profund. "Das tut mir leid." Murmelte Ephraim mitfühlend. Zu Hause wäre der Teufel los gewesen, wenn der gewaltige Apparat das Zeitliche gesegnet hätte. Seine Eltern pflegten zwar nicht allzu viel anzusehen, aber ein großer, moderner Fernseher gehörte einfach in einen anständigen Haushalt! Ohne wäre es ja so, wie ohne Gardinen vor den Fenstern zu leben, ein unglaublicher Verstoß gegen die guten Sitten! "Und?" Jinx' Arm schlang sich in gewohnter Selbstverständlichkeit um Ephraims schmale Schultern, seine dunklen Augen funkelten, seine Nasenspitze flirtete ungeniert. "Glaubst du, du könntest es mit mir aushalten?" "..uh..." Murmelte Ephraim, presste ertappt die Hand vor den Mund, damit ihm nicht weitere, verräterische Laute entschlüpften. Jinx feixte bereits teuflisch amüsiert. "Du hast wirklich eine sehr schöne Wohnung!" Kämpfte Ephraim mit ungekannten Herausforderungen. "Ich frage mich bloß, ob ich...? Ich meine, ich habe bisher immer nur mit meinen Eltern gelebt, in einem großen Haus, mit eigenem Zimmer und Bad und so." JETZT musste er puterrot sein vor Scham. Wenn er eins gelernt hatte in seinem bisherigen Aufenthalt in Deutschland, dann die Beachtung des ungeschriebenen Verbots, über vermeintlich oder tatsächlich luxuriöse Lebensumstände beiläufig zu sprechen. Nur Prahlende und unmanierliche Proleten protzten herum, zeigten keinerlei Rücksicht auf die möglicherweise nicht ganz so komfortable Lebenssituation ihres Gegenüber! "Dann könnte meine bescheidene Hütte hier für dich ein weiteres Abenteuer werden, nämlich der Praxistest, wie WG-tauglich du bist!" Jinx kam ihm verbal versöhnlich entgegen. Ephraim zweifelte jedoch nicht daran, dass der Werwolf mit dem genial kalibrierten Riecher seine Gedankengänge längst erraten hatte. Betreten senkte er den Blick auf seine Hände, verschränkte die Finger nervös. "Ich hoffe es. Ich möchte nicht unsere Freundschaft riskieren." "Das wirst du nicht." Jinx drückte ihm nicht nur die Schultern, sondern reckte sich auch ein wenig, um ihn auf die Stirn zu küssen. "Eine richtige Freundschaft hält es auch aus, wenn man nicht zusammenwohnen kann. Ist doch keine große Sache, Lucky!" Ephraim nickte angespannt, denn ihn erschreckte selbst, welche Bestürzung ihn erschüttert hatte bei der bloßen Vorstellung, er würde sich mit Jinx entzweien. Der schien diese Gedanken jedoch nicht zu hegen, sondern federte elastisch vom Bettsofa hoch. "Magst du noch einen Tee vorm Schlafengehen? Wir können auch noch ein kleines Spiel machen! Irgendwo müsste eine Schachtel mit Reisespielen sein!" Brav assistierte Ephraim bei der Suche und ließ sich aufmerksam die Halma-Regeln erklären, bevor sie, in Schlafanzüge und Decken gewickelt, mit je einer Tasse Tee bewaffnet, auf Jinx' breitem Bett ihr kleines Turnier eröffneten. *_* "Henry?" Dragomir klemmte sich das Mobiltelefon zwischen Wange und Schulter, während er rasch Hemden bügelte und getrocknete Wäsche faltete, bevor er sie wegsortierte. Es gab doch hoffentlich keine Komplikationen mit dem kleinen Amerikaner? "Drago, alter Haudegen!" Henrys volltönende Stimme konnte ganze Säle mühelos durchdringen und er klang grundsätzlich jovial und einladend. "Sag mir bitte nicht, dass Ephraim ungeeignet ist für den Job!" So langsam wünschte sich der Rudel-Führer diese Baustelle als erledigt betrachten zu können. "Der Kleine? Ha, der ist goldrichtig, der Junge! Konzentriert, kann zuhören, denkt mit, ist ordentlich und er beherrscht dieses dämliche Computer-Terminverwaltungsdingsda, an dem schon Generationen meiner Zuarbeiter gescheitert sind!" Dragomir atmete erleichtert auf. Er zweifelte nicht daran, dass Ephraim über eine Menge positiver Qualitäten verfügte. Andererseits hatte er mehr als einmal die gewisse Tollpatschigkeit des jungen Amerikaners erlebt. Das konnte manchen Eindruck nachhaltig vermiesen! "He, willst du wissen, was er heute gemacht hat?" Henry lachte schon kehlig. "Er hat unseren Kaffee-VOLL-AUTOMATEN fachmännisch zerdeppert!" »Jaa~aaa, das klang nach einem typischen Ephraim-Unfall.« Seufzte Dragomir. "Genialer Coup, sag ich dir!" Henry dröhnte begeistert. "Meine bessere Hälfte hat mir das verdammte Dings mit diesen blöden Filtertaschen geschenkt! Der Kaffee schmeckte saumäßig, dann die ganze Fummelei, aber ich konnte das Ding ja nicht einfach entsorgen! Da wäre aber der 3. Weltkrieg an der Heimatfront ausgebrochen!" Henry lachte noch immer. "Der Bursche hat's geschafft! Das blöde Mistding ist förmlich detoniert! Hab ihn dann in den Supermarkt um die Ecke geschickt, Pulver, Filtertüten und einen von diesen Plastiktrichtern kaufen. ENDLICH wieder anständigen Kaffee! Der Junge hat ein goldenes Händchen, keine Frage!" Dragomir starrte auf seine halb zusammengelegte Wäsche und rekapitulierte eilig diesen Vortrag und das von Henry gezogene Fazit. Das war der zweite, einigermaßen vernünftige Mensch (zumindest bis eben), der ihm erzählte, dass Ephraim, DER Katastrophen-Ephraim, über eine besondere Gabe verfügte, die Lage zu verbessern! Zugegeben, Jinx' Urteil konnte man als durchaus grenzwertig abtun, aber Henry?! "Du bist ihm nicht gram? Wegen des Schadens?" Hakte der Rudel-Führer sicherheitshalber nach. Die Welt nahm wirklich verrückte Züge an! "Gram? Ach, Schmarrn! Jetzt haben wir endlich mehr Platz, es lärmt nichts mehr herum, die dämlichen Kaffeewindeln kommen weg! Ich bin glücklich! Es gibt wieder anständigen Kaffee, guter Mann! Ich weiß ja, dass man behauptet, in den Adern von Juristen fließt Wein, aber der Volksmund hat keine Ahnung! In der Praxis leben wir von Koffein, Zucker und Milch!" "So, so." Brummte Dragomir nachdenklich. Wenn Henry keinen Dachschaden hatte, verfügte Ephraim offenkundig über ein seltenes Talent, seine Missgeschicke mit Charme oder Chuzpe in vorteilhafte Veränderungen zu verwandeln. Musste eine Art unbewusste Hypnose sein! "Aber deshalb stör ich dich nicht daheim." Henry schmunzelte noch immer hörbar und bester Laune. "Ich dachte mir, du könntest mit den Papieren was organisieren. Der Kleine will mit seinen Eltern sprechen, damit sie ihm das Abschlusszeugnis rüber schicken, aber ich habe den Eindruck, das würde besser laufen, wenn du als vertrauensvoller Gastgeber auch noch mitmischst." "Verstehe" Bekundete Dragomir, die markanten Augenbrauen zusammengezogen. Also hatte Ephraim noch nichts von seinen Zukunftsplänen berichtet und sein Zögern signalisierte Dragomir, dass diese Front Unwettergefahr bieten konnte. "Ich kümmere mich darum." Versprach er seinem Freund. "Danke, dass du ihm eine Chance gibst." "Nichts zu danken!" Dröhnte Henry amüsiert. "Der Kleine hat definitiv Potential. Ich habe nen Blick dafür. Willst du noch was wissen? Roger, der alte Schmoll-Engländer, hat sich schon bei der Kammer beschwert! Vermutet, dass ich einen Ausbeutervertrag mit dem kleinen Ami abgeschlossen habe! Ist das nicht köstlich?! Das wird ein Spaß!" Dragomir hörte mächtige Handflächen aneinander reiben. Die Fehde zwischen Roger, dem stets beleidigten Engländer, und Henry, dem standfesten Waliser, tobte schon seit Jahren, mit stichelnder Höflichkeit, verkappten Beleidigungen und pointierten Diskussionen vor dem bestens unterhaltenen Publikum der anderen Mitglieder der Anwaltskammer. "Hört sich fast so an, als hätte ich DIR einen Gefallen erwiesen." Schmunzelte Dragomir. "Wozu hat man schließlich Freunde?" Konterte Henry gewitzt und beschallte Dragomir mit seinem imposanten Gelächter. »Läuft doch eigentlich ganz gut, oder?« *_* Kapitel 6 - WG mit Jinx Ephraim hatte zwar am Vorabend schon gepackt, doch nun kontrollierte er erneut, ob er auch wirklich nichts vergessen hatte. Jinx, der ihn natürlich mit dem kleinen Schlickrutscher abholte, saß mit Frau Hardenheim in der Küche und plauderte munter auf sie ein. Dass etwas im Argen war, konnte ihr wohl kaum entgehen. Vermutlich hätte sie ihm auch ihre Schulter und Lebenserfahrung angeboten, doch Ephraim hatte sich selbst dazu verpflichtet, seine Zukunft auf eigenen Beinen in Angriff zu nehmen. Der erste Schritt bestand nun darin, nach einer Woche Praktikum, das recht positiv (abgesehen von der spektakulären Sprengung des Kaffeeautomaten) verlief, sich mit Jinx in einer Wohngemeinschaft zusammenzutun. Er dachte auch schon über weitere Schritte nach, denn die monetäre Situation bereitete ihm durchaus noch Sorgen. Mr. Ruthercombe zahlte ihm Auslagen und versorgte ihn mit Mittagessen und Getränken, was als sehr generös einzustufen war, doch bis Anfang April, wenn das Ausbildungsjahr offiziell begann und damit auch sein Ausbildungsvertrag, waren noch drei Monate zu bestreiten. Warum also nicht Zeitungen austragen oder irgendwo am Wochenende einspringen? Er schulterte sein Gepäck, atmete tief durch und widmete sich dem Abschied von Frau Hardenheim. *_* "Was hältst du von Frühstück?" Jinx kurbelte in seinem Ford Ka geübt, auch wenn Schneeregen die Straße schmierig einölte. Er zwinkerte zu Ephraim hinüber. "Ich meine nicht im Allgemeinen, sondern speziell jetzt, Lucky?" Ephraim nickte. Ein bisschen mulmig war ihm schon, da schien es eine schöne Aussicht, die Magengrube mit etwas anderem als Nervosität zu beschäftigen. "Ich wollte auch in den Call-Shop gehen." Merkte er an und entkrampfte bewusst seine verschränkten Finger. "Ah, nach Hause telefonieren, E.T.?" Jinx schmunzelte, eindeutig, um ihn aufzuheitern. Nun lächelte Ephraim auch, ein wenig ausgewaschen. "Ich sollte meinen Eltern Bescheid geben, dass ich länger hier zu bleiben gedenke." Murmelte er unruhig. "Okay! Dann teilen wir uns auf, ja? Ich mache rasch ein paar Besorgungen, du telefonierst, und wir treffen uns in der Bäckerei, einverstanden?" Jinx nutzte eine Rotphase, um Ephraim liebevoll auf die Wange zu küssen. "Ja. Guter Plan." Ephraim nickte entschieden, ermahnte sich streng, jetzt nicht in Kleinmut zu verfallen. Immerhin hatte er sich ja sogar einen Spickzettel mit Stichworten geschrieben, um das gefürchtete Telefonat erfolgreich zu bewältigen! *_* "Ach du Sch... liebe Güte!" Verbesserte sich Jinx artig, drückte ungeniert Ephraims schlaffe Hand. Der stand fassungslos vor der Ladentür, die man mit Sicherheitsband abgesperrt hatte. Ein handgeschriebener Zettel, der mit Paketband aufgeklebt worden war, informierte die interessierte Kundenschaft, dass der Call-Shop bis auf Weiteres geschlossen war aufgrund eines kaum zu übersehenden Wasserschadens. Es roch regelrecht nach Morast. Ephraim würgte bereits. "Tja!" Ein älterer Mann parkte gemütlich seinen Rollator neben Jinx, lupfte eine sehr schwere Brille. "Fräulein, da haben Sie heute schlechte Karten. Fängt mit nem Schwelbrand an, und dann ruinieren die Sprinkleranlagen mehr, als das bisschen Feuer je geschafft hätte." Jinx bewahrte wie gewohnt seine gutmütige Fassung, obschon der alte Mann wohl von seinen offenen Haaren, die unter einer großen Wollmütze frei auf die Hüften flossen, in die Irre geführt wurde. "Das ist wirklich sehr schade. Da überlegen wir uns etwas anderes, was, Lucky? Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Samstag, mein Herr!" "Desgleichen, mein Fräulein!" Eine verkrümmte Hand tippte an die abgewetzte Schirmmütze, während ihr Besitzer sich vor dem ruinierten Geschäft auf seinem fahrbaren Begleiter gemütlich einrichtete, um einen Zigarillo zu entzünden. Jinx dirigierte Ephraim sanft weg, der wie aufgezogen neben ihm her stakste. "Lass uns erst mal frühstücken, ja? Oder brunchen." Jinx plauderte fröhlich. "Das ist doch kein Beinbruch, Ephraim! Im Saloon gucke ich mal, ob wir vielleicht eine andere Möglichkeit finden, deine Eltern zu kontaktieren." Ephraim nickte matt und tappte brav neben dem älteren Werwolf her. So viel zu seinen sorgfältig ausgewalzten, strategischen Plänen! *_* Ephraim entschied sich schließlich für eine ausführliche E-Mail, in der er seine beruflichen Pläne schilderte, artig darum bat, ihm per Luftpost benötigte Nachweise und seinen alten Laptop als Arbeitswerkzeug zu senden. Außerdem begründete er ausschweifend das Ausbleiben eines Anrufs. Er schlug, wie Jinx es ihm angeboten hatte, ein Zeitfenster vor, das es trotz Zeitverschiebung beiden Seiten ermöglichte, über Internettelefonie persönlich zu kommunizieren. Da sein Vater die Losung ausgegeben hatte, das elektronische Postfach nicht öfter zu konsultieren als den Briefkasten vor dem Tor ihres Anwesens, konnte eine Antwort auf sich warten lassen. Wenn Ephraim sich nicht sehr irrte, dann würden seine Eltern auch durchaus an seiner Entscheidung zu knabbern haben. Hier jedoch, das stand für ihn fest, konnte er sich aus eigenen Kräften einen Platz in der Gesellschaft erobern, während er zu Hause nach dem gegenwärtigen Stand die Fußnote einer Mitleidsgeste war. Das stellte für ihn keine reizvolle Perspektive dar! Im Saloon ging es unterdessen geschäftig zu. All die Berufstätigen, die unter der Werkwoche keine Gelegenheit hatten, ihre Schönheit zu betonen, rückten nun in Akkordtempo ein, ließen sich frisieren, massieren, mit Naturkosmetik ausrüsten, holten auf Maß geschneiderte Bekleidung ab oder streiften durch die angebotenen Figurschmeichler auf der Suche nach einem neuen Lieblingsstück. Ephraim, der immer wieder aufsprang und aushalf, wenn man nach ihm rief (seinen bürgerlichen Namen hatte man schon vergessen, er war schlichtweg für alle "Lucky"), setzte sich zwischen den Einsätzen in ein Eckchen, betrachtete erst Jinx, der mit wirbelndem Zopf aufdrehte und außergewöhnlich gut gelaunt schien, bevor er seine Nase in ein altes Handarbeitsheft steckte, von denen so einige in Jinx' Fundus als Referenz ihr Dasein fristeten. »Hmm!« Dachte Ephraim und beäugte vorsichtig das Werkzeug in Reichweite, eventuell zu interessierte Blicke, ehe er sich daran begab, seine legendäre Ungeschicklichkeit auszukontern. *_* "Oh, bitte, schenk sie mir, ja? Bitte?" Jinx ging wahlweise neben dem Außenspiegel seines Ford Ka in die Hocke, um sein Haupt zu studieren, dann sprang er wieder auf und zupfte wie ein überdrehtes Kind an Ephraims Ärmel. "Oh, bitte, ja?" Die Mütze, die Ephraim an diesem Tag während seiner Beschäftigungspausen gehäkelt hatte, passte wie angegossen. Die gewaltige Bommel, aus einem alten Kunstfell geschickt um einen verirrten Tischtennisball geklebt, entsprach der aktuellen Mode und gab dem eher traditionell wirkenden Accessoire den richtigen Pfiff. "Ähem." Räusperte sich Ephraim verlegen, der insgeheim sehr stolz darauf war, sich bei diesem ersten Handarbeitsversuch nach Anleitung herausragend geschlagen zu haben. "Jinx, das sind DEINE Wolle und DEIN Stoff, also..." Auf die Idee, das fertige Werk für sich zu beanspruchen, oder schlimmer noch, es Jinx nur als Verkaufsobjekt gegen Kaution zu überlassen, wäre er im Traum nicht gekommen. "Ich darf? Ja? Oh, phantastisch! Sie steht mir aber auch perfekt, oder?" Jinx zupfte, ging in die Hocke, drehte den Kopf mal auf die, dann die andere Seite, strahlte sich selbst an, richtete sich dann auf, um sich erneut coram publico an Ephraims Hals zu werfen. Der hatte mittlerweile akzeptiert, dass Jinx' Zuneigung grundsätzlich eine physische Komponente innewohnte. Außerdem, wenn er ehrlich war, er mochte es sehr, so deutlich und sichtbar anerkannt zu werden. Dass jemand seine Nähe suchte, das kam nun wirklich nicht oft vor! "Was möchtest du jetzt machen, hm?" Jinx küsste Ephraims Nasenspitze, dann sanft seine Lippen. "Du darfst dir alles wünschen! Wir feiern deinen Einzug, ja?" Ephraim nickte, definitiv errötet und murmelte bescheiden. "Vielleicht könnten wir zuerst ins Auto einsteigen? Meine Füße sind schon vereist." Jinx lachte noch köstlich amüsiert über den trockenen Humor seines neuen Mitbewohners, als sie schon in die Kreuzung einbogen. *_* Ein bisschen nervös war Ephraim schon, was das neue Zusammenleben betraf, nicht nur bezüglich der Frage, ob er überhaupt WG-tauglich war, sondern wie es sein würde, mit Jinx direkt und dauernd zusammen zu sein. Ob möglicherweise das "Katzenschnurren" nicht nur durch Kuscheln, Umarmen, Schmusen und Küssen, sondern auch durch andere Zuneigungsbekundungen manifestiert werden würde. Der ältere Werwolf unternahm jedoch zu seiner Erleichterung keine Anstrengungen, ihm auf eindeutig sexuelle Weise näher zu kommen. Jinx schmollte zwar, als er sich in der Woche einmal verspätete, weil sie länger an einem schwierigen Fall gearbeitet hatten, drückte und herzte ihn jedoch gleich wieder, so gutmütig und liebevoll wie gewohnt. Trotzdem spürte Ephraim, dass Jinx' dunkle Augen ihm folgten, sein Lächeln, wenn er den Blickkontakt auffing, eine andere Qualität hatte als das fröhliche Amüsement, das anderen galt. Weil er ein "Katzenschnurren" war? Oder vielmehr DAS "Katzenschnurren"? »Bilde dir bloß keine Schwachheiten ein!« Rief er sich selbst zur Ordnung. Jinx zog ihn anderen zwar erkennbar vor, aber das bedeutete schließlich nicht, dass er in ihm etwas anderes sah als einen jüngeren Bruder oder ein lebendiges Schmusetier! *_* Dragomir wusste bereits, als er die Wohnungseingangstür aufschloss, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Ohne sich seiner Jacke zu entledigen ließ er lautlos seine Reisetasche bei der Garderobe auf den Boden sinken, hielt in raschen Schritten auf Lysander zu, der stocksteif im Flur stand, das Mobilgerät ihres Festnetztelefons in einer Hand, während er mit dem anderen Arm seinen Leib umklammerte. Der ohnehin blasse junge Vampir war fahlweiß, und immer wieder durchzuckte ihn ein unkontrolliertes Beben, das den gesamten schlanken Körper erschütterte. In fließenden Bewegungen, sehr beherrscht, entführte Dragomir das Telefon aus den eiskalten Fingern, schlang den rechten Arm um seinen Liebsten und zog ihn eng an sich. Er lauschte mit unbewegter Miene der Tirade, die dort zweistimmig wenn auch nicht im Chor in sein Ohr dröhnte. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis Lysander die Arme anhob, sie um seine Taille wickelte und die Finger in seine Jacke krallte. Dragomir hatte inzwischen genug gehört. Ihn erfüllte eine steinerne Ruhe, die weit über brodelnden Zorn hinausging. "Das war's wohl jetzt, nehme ich an." Knurrte er in gutturalen Tönen. "Ich für meinen Teil habe jedenfalls genug gehört. Ihr Sohn ist volljährig und kann sein Leben gestalten, wie es ihm beliebt. Dafür haben Sie ihn doch hierher geschickt, oder?" Bevor die Verblüffung über den Wechsel des Adressaten der Tiraden am anderen Ende der Leitung in erneute Empörung umschlug, ergänzte Dragomir finster. "Jetzt wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie nicht mehr hier anrufen. Guten Tag." Sehr gefasst beendete er die Verbindung und legte das Mobilgerät in die vorgesehene Mulde. Lysander zitterte nun so heftig, dass er selbst die Turbulenzen spürte. Und er weinte. Da Dragomir sein Vampirküken gut kannte, unternahm er keine Anstrengungen, ihn zum Aufhören anzuhalten oder ihn zu tadeln. Stattdessen pflückte er die verkrampften Finger aus dem Stoff seiner Winterjacke, legte die dünnen Arme um seinen Nacken. Er ging dezent in die Knie und hob sich Lysander wie ein Kind auf die Hüften, fasste unter die schlanken Oberschenkel. Der Vampir schluchzte völlig aufgelöst an seiner Kehle, bis ein hartnäckiger Schluckauf ihn unterbrach. Dragomir konnte es ihm nicht verdenken. Lysander verfügte weder über ein dickes Fell, noch ausreichend Lebenserfahrung, um mit aufgebrachten Bullys umzugehen, die herumbrüllten und Vorwürfe ebenso wie Beleidigungen anhäuften, ihren Gegenüber durch schiere Lautstärke und physische Präsenz in die Knie zwangen. Er wiegte Lysander sanft, löste einen Arm, um mit der Hand wirre Locken aus dem Gesicht zu streichen, die großen, ungewöhnlich dunklen Augen hinter den verschmierten, nun auch noch angelaufenen Brillengläsern zu studieren. "Lass uns erst dein Gesicht abkühlen, Kleiner." Raunte er mit fürsorglichem Diktat. "Danach schlüpfe ich in etwas Bequemes und mache uns einen würzigen Schmelzkäse, ja? Mit deinen Lieblingskeksen!" Lysander schnüffelte verhalten, nickte brav und wisperte mit belegter Stimme. "Entschuldigung. Ich wollte wirklich nicht die Fassung verlieren." "Es ist in Ordnung." Dragomir stellte ihn behutsam auf die Beine und achtete genau darauf, ob die Knie ohne einzuknicken ihrer Aufgabe nachkamen. "Du hast nichts falsch gemacht, Lysander. Sie sind im Unrecht." "Aber was wird denn jetzt mit Lucky?" Lysander schluckte schon wieder heftig. "Er gibt sich doch solche Mühe, und Jinx ist wirklich nett." Schon kullerten wieder Tränen, die Lysander ungelenk mit dem Ärmel abzufangen versuchte. Für einen Vampir hatte Lysander wirklich das mitfühlendste, sanfteste, großmütigste Herz, das Dragomir je begegnet war. Ihm wurde nun selbst die Kehle eng, doch solche Emotionen verwandelten sich bei ihm rasch in kalten Zorn und Vergeltungspläne. Diesen Reflex mannhaft unterdrückend schlang er beschützend den Arm um Lysanders biegsame Gestalt, dirigierte ihn zum Badezimmer. "Ich glaube, dass Ephraim mehr Mumm in den Knochen hat, als eine Menge Leute vermuten." Wenn er auch nur eine Spur des legendären Starrsinns seiner Eltern geerbt hatte, dann fehlte nur noch ein Funken, um zur Explosion zu führen. *_* Ephraim wusste nichts von dem Anruf seiner Eltern bei Dragomir, aber sein jovialer Arbeitgeber, der jeden Tag mit ihm zu Mittag aß (Ephraim bekam großzügig Geld und den Auftrag, etwas für echte Männer in der Nähe zu beschaffen), hatte ihm angeboten, doch nach seinen Ablagearbeiten gleich im Büro die Internettelefonie zu nutzen. Es schneeregnete schließlich, und bis er sich zum Be Beautiful-Saloon durch den auffrischenden Wind gekämpft hatte, wäre ja wertvolle Zeit verloren! Der junge Werwolf nahm diese Offerte gern an, denn im Saloon wäre Telefonieren nur mit Publikum umzusetzen gewesen. Hier jedoch war er der Letzte im Büro, würde anschließend alle Lichter löschen und abschließen. Er konnte sich also ein wenig Zeit lassen und mit einem übrigen, halben Brötchen vom Mittag eine Grundlage gegen seinen nervösen Magen legen. *_* Jinx hatte sich gerade für einen Augenblick vom Eingangsflügel abgewandt, ordnete ungeduldig Kleidungsstücke auf Kleiderbügeln, die bereits perfekt präsentiert wurden. Die Kasse war abgerechnet, die Buchhaltung erledigt, die Vorbereitungen getroffen, der Terminkalender auf dem neuesten Stand und Ephraim noch nicht erschienen. Das unsägliche Schneetreiben vor der Tür hatte für einen frühen Geschäftsschluss gesorgt. Die Busse auf dem Platz kämpften schon mit widrigen Bedingungen, und Ephraim kam ja zu Fuß! Gerade, als Jinx entschied, seinem Freund entgegenzugehen, schlechtes Wetter hin oder her, stolperte ein Schneemann durch die Türflügel, drückte sie energisch zu, bevor er unnötig Kälte und Nässe herein ließ. "Lucky! Endlich!" Jinx stürzte bereits heran, Decke über den einen Arm geworfen, Handtuch über den anderen. Ephraim streifte sich die Kapuze vom Kopf. Sein Gesicht war puterrot durch die Eisnadeln, die der Wind unbarmherzig in die Haut gerammt hatte. Seine hellblauen Augen wiesen rote Einschlüsse auf, doch was Jinx tatsächlich sein Tempo reduzieren ließ, war ein grimmiger Zug um den sonst so sanft geschwungenen Mund. Ephraim war unverkennbar aufgebracht. Bevor Jinx ihn darum bitten konnte, ihm doch vom Ärgernis zu berichten, das ihn so erregte, sprudelte der jüngere Werwolf alles heraus, mit wachsender Empörung. Dass seine Eltern ihm vorgeworfen hatten, er bringe Schande über sie, sei nun sogar so tief gesunken, sich bei einem promiskuitiven Callboy einzunisten! Ihm seinen Hintern anzubieten, dem ihm seine Mutter abgewischt hatte und den sein Vater nicht zögern würde, mit einem Gürtel zu bearbeiten, sollte er ihm je wieder vor die Augen treten! Man schneide sie oder lache sie aus, weil ihr einziger Sohn ein schwuler Taugenichts sei! Ephraim ballte die Fäuste, brachte vor Wut nur noch stockend Silben über die Lippen. "Kannst du dir das vorstellen?!" Schimpfte er außer sich. "Sie glauben irgendwelchen Gerüchten und Verleumdungen! Unterstellen mir so etwas! Ganz zu schweigen davon, dass sie dich schlecht machen, ohne dir jemals begegnet zu sein!" Er holte zitternd Luft. "Wenn es nicht so ungeheuerlich wäre, würde ich ja über diesen lächerlichen Unsinn lachen! Sie wissen genau, dass ich von Sex so weit entfernt bin wie der Pluto von der Erde! Der Außenseiter ohne Chancen auf ein bisschen Anerkennung, und TROTZDEM... TROTZDEM halten sie mir so einen gemeinen Quatsch vor!" Jinx öffnete den Mund, um etwas Besänftigendes zu äußern, doch Ephraim feuerte weiter. "Ha, was glaubst du?! In der einen Minute soll ich sofort zurückkommen, in der anderen wollen sie mich nie wieder sehen!" Er schnaubte verbittert. "Ich habe nie gewusst, was meine Eltern von mir halten, aber, bei Gott, DAS haben sie mir heute sehr deutlich vor Augen geführt!" Jinx beschränkte sich nun darauf, die Decke beiseite zu legen, das Handtuch unabweisbar wie eine überfürsorgliche Mutter über Ephraims Gesicht zu rubbeln, ihm dann die roten Haare zu trocknen und ihn anschließend aus den nassen Kleidern zu pellen. In die Decke eingewickelt zitterte Ephraim nun merklich. In seinem Furor hatte er gar nicht registriert, dass er trotz seines Gewaltmarsches gefroren hatte. Nun holte ihn das Elend ein. Er senkte den Kopf, würgte einen lästigen Kloß herunter, weil er Wut für viel würdevoller als Heulerei hielt und zischte. "Es ist so unfair! Ja, UNFAIR!" Nicht einen Wimpernschlag später zog Jinx ihn in eine enge Umarmung, streichelte mit einer Hand seinen Hinterkopf, während die andere tiefer über seinen Rücken wanderte, beruhigende Kreise zog. "Das gibt sich bestimmt wieder, Lucky." "Ha! Weißt du, wie stur meine Eltern sind?!" Knurrte Ephraim und kämmte durch Jinx' lange Haare, atmete tief durch. Jinx' Körperwärme, seine Gelassenheit, die elastische Stärke seiner Haltung, all das tröstete ihn schon jetzt. "Es tut mir so leid, dass sie so schlecht von dir gesprochen haben!" Beteuerte er eindringlich, löste sich leicht, um in das attraktive Gesicht zu blicken. "Dabei hast du mir das Leben gerettet und hilfst mir immer! Einen besseren Freund kann ich gar nicht finden! Stattdessen glauben sie irgendwelchen niederträchtigen Gerüchten!" "Das macht mir nichts aus." Unterbrach Jinx ihn sanft, lächelte. "Es ist in Ordnung, wenn sie mich für den bösen Buben halten." "Das ist es nicht!" Empörte sich Ephraim nachdrücklich. "Sie irren sich! Und dir zu unterstellen, dass du...!" "Das ist okay." Raunte Jinx leise. "Weil ich es möchte, Lucky. Wenn sie dir ohnehin nicht glauben, dass wir keinen Sex haben, und dich schon dafür bestrafen, warum tun wir es nicht? Ich möchte es." Wisperte er kaum hörbar. "Ich will dich haben, Lucky." Ephraims Kinnlade sackte herab, seine Empörung verpuffte in einem luftleeren Raum der vollkommenen Verwirrung. *_* Die Rückfahrt verlief schweigend, bis Jinx ungewohnt kleinlaut murmelte. "Bist du mir böse?" Ephraim, der immer noch mit der Schockstarre ganz unerwarteter Optionen für seine Zukunft rang, blinzelte und mühte sich ab, die Botschaft zu dechiffrieren. "Böse? Wieso böse?" Antwortete er schließlich verwirrt. Auch Jinx ließ nun einige Augenblicke verstreichen, bevor er sich erklärte. "Weil ich keine Rücksicht auf deinen Stolz nehme. Wenn wir's tun, stehst du ja quasi als Lügner da, obwohl wir ja eigentlich noch nichts gemacht haben." "Oh." Kommentierte Ephraim hilflos. So ganz konnte er einfach nicht mit der Situation Schritt halten. "Also, ich bin nicht böse. Nur durcheinander." Gab er endlich zurück, schenkte Jinx einen entschuldigenden Seitenblick. "In Ordnung." Akzeptierte der ältere Werwolf die temporäre Auszeit und pilotierte sicher zu seinem Appartement. Nachdem der Wagen geparkt war, blieb Ephraim auf dem Bürgersteig stehen. "Hör mal, Jinx, ich gehe noch ein paar Schritte, um den Kopf wieder auszulüften, ja?" Ephraim suchte in den dunklen Augen nach Pardon. "Es dauert auch bestimmt nicht lange." DAS war wieder der wohlerzogene Sohn eines sehr dominanten Elternpaars. "Verstehe." Jinx lächelte verhalten. "Dann bis gleich." Ephraim nickte, stopfte die Hände in seine Jackentaschen und stapfte los, den Blick auf das Trottoir gerichtet. Was für eine absurde Situation!! Erst benahmen sich seine Eltern wie die Irren, schimpften am Telefon herum, verkannten ihn so ungeheuerlich, und dann... Dann erklärte ihm der attraktivste Mann im weiten Umkreis doch glatt, er wolle mit ihm...!! Zugegeben, Jinx zeichnete sich durch eine sehr nächstenliebende Art aus, was sexuelle Gefälligkeiten betraf, das hatte er Ephraim ja selbst offen und ehrlich erklärt, aber... Aber das schreckte seine unterdrückte, ignorierte Libido nicht davon ab, diese Offerte als die Rettung vor unerträglicher Tugendhaftigkeit und Enthaltsamkeit zu bejubeln! Das Dilemma jedoch hatte Jinx treffend erkannt: wenn er Jinx beim Wort nahm (erfahren, geduldig, atemberaubend sexy, liebevoll, nachsichtig, vertrauenerweckend...), dann würde er sich als Lügenbold herausstellen, denn er HATTE ja seinen Eltern in heller Empörung versucht (das tatsächliche Zuwortkommen bei den Tiraden erwies sich als nahezu unmöglich) zu versichern, dass ÜBERHAUPT nichts gelaufen war! Wieso auch?! Wer würde sich mit einem Bonsai abgeben, dessen natürliche Autorität und Attraktivität unter dem Nullmeridian verzeichnet wurde? In dessen Wörterbuch Selbstbewusstsein nicht existierte? Der nichts außer einer ungewöhnlichen Anziehungskraft für Schlamassel und Alltagskatastrophen vorweisen konnte?! »Wenn ich jetzt aber...?!« Der Gedanke ließ ihn fast stolpern, sein Herzschlag beschleunigte rasant. Wäre es denn "clever", Jinx' Interesse abzuweisen, bloß um als Tugendbold die nächsten Jahre in der Fremde zu fristen?! Welche Vorteile hatte denn Keuschheit, wenn ihm ohnehin niemand zutraute, so etwas wie sexuelle Bedürfnisse zu haben?! "Genau!" Knurrte Ephraim halblaut und prallte fast mit einem stationären Hindernis zusammen. Es stellte sich als ein ziemlich aufgepumpter Bursche in einer Bomberjacke vor, samt Fan-Schal und Sturmhaube. "Ey! Pass auf, Zwerg!" "Verzeihung." Ephraim wich zurück, doch das bot keine Möglichkeit, einer Konfrontation auszuweichen. Der Gehwegblockierer verfügte über eine zweiköpfige Entourage in vergleichbarer Aufmachung. "Haste ne Kippe für mich und meine Kumpels?" "Bedaure, ich rauche nicht." Antwortete Ephraim höflich, suchte nach einer Fluchtmöglichkeit. "Echt jetzt? Aber Mamis kleiner Scheißer hat bestimmt Kohle und n Handy! Los, gib's her!" Ephraim ballte die Fäuste. Dieser gesamte Tag hatte sich als ein höchstpersönlicher Tritt des Schicksals vor sein Schienbein erwiesen, und NUN hatte ER die Schnauze voll! Zweifellos kein guter Moment, um seinen Trotz zu entdecken, doch ein Mann musste ausflippen, wenn er ausflippen musste! Wenn auch sehr zivilisiert. "Ich denke gar nicht daran! Gute Nacht!" Schimpfte Ephraim energisch und machte auf dem Absatz kehrt. "Hähä.." Eine begleitende Buchstütze verschluckte die letzte Silbe hämischen Gelächters der Vorfreude auf avisierte, körperliche Gewalt, weil er wie ein Baum gefällt wurde und ebenso umkippte. "Hä?" Sein Kollege war zwei Köpfe kürzer, als seine Kniekehlen von einem Geschoss mit Morgensternqualitäten getroffen wurden. Der zweite Einschlag traf ihn zwischen die Schulterblätter und nagelte ihn flach aufs Pflaster. Jinx schleuderte eine Ledertasche an verstärkten Riemen wie ein mittelalterliches Streitgerät. Seine Miene im Schein der Straßenlaterne war bar jedes Lächelns, jeder Freundlichkeit, jedes offenen Interesses. Die gleichmäßig-schönen Züge waren zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt, die dunklen Augen funkelten frostig. Ephraim erstarrte. Nicht so der Mann hinter ihm, der ein Klappmesser aufschnappen ließ und nach Ephraim als Schutzschild gegen weitere Einschläge griff. Jinx bewegte sich sehr viel schneller, entschlossener und lautloser. Kein "ey, was soll der Scheiß?", keine überflüssigen Bewegungen, kein Geplänkel wie sein Gegenüber. So fand sich Ephraim im traumwandlerischer Sicherheit tänzerisch elegant aus der Gefahrenzone gewirbelt, dann schlug Jinx zu. Ephraim hatte schon Trainingsübungen gesehen, einige auch selbst durchlitten, doch Jinx agierte in einer eigenen Liga. Da gab es keine Regeln, kein Zögern, keine Zweifel. Er mähte den dritten Mann nieder, prügelte dann auf alle drei ein, die gar nicht mehr vom Gehweg hochkamen. Entsetzt umklammerte Ephraim Jinx' Oberkörper, presste dessen Arme an den Leib und bat eindringlich. "Das genügt, ja? Bitte, gehen wir!" Er fürchtete wirklich, dass Jinx' gnadenlose Vergeltung in Totschlag ausarten würde. Es gelang ihm, Jinx wegzuziehen, die freie Hand fest mit seiner eigenen zu umschließen, in forschem Tempo das explodierende Adrenalin ein wenig abzubauen. Jinx marschierte wortlos an seiner Seite mit, kontrolliert schloss er auch die Haustür auf, da Ephraim die Hände zu sehr zitterten, doch dann, im Hausflur, zog er ihn in seine Arme, hielt ihn so fest, dass es schmerzte. "Entschuldige!" Flüsterte er rau an Ephraims Ohr. "Ich wollte nicht, dass du mich so erlebst. Mir ist zu spät eingefallen, dass ja heute Heimspiel war und manchmal finstere Typen durch die Gegend ziehen." Ephraim streichelte durch die langen Haare und atmete tief durch. Ein wenig schockiert war er durchaus, das ließ sich nicht leugnen, weil Jinx, wenn er in dieser Stimmung war, dem Rudel-Führer Dragomir beängstigend ähnelte. *_* Kapitel 7 - Auf Wolke 7 Als Ephraim die Dusche verließ, aufgewärmt und leidlich wiederhergestellt, erwartete ihn eine Überraschung: statt des Bettsofas hießen ihn Kissen und Bettdecke auf einer Seite von Jinx' großem Bett willkommen. Dessen Besitzer empfing ihn mit einer dampfenden Tasse Kakao wie zu Friedensverhandlungen. "Bitte, ich weiß, es sieht anders aus!" Jinx lächelte unsicher, ein ungewohnter Anblick. "Ich möchte bloß bei dir sein. Du kamst ja gar nicht zum Nachdenken, klar, ich weiß, es ist nur... bleib bei mir, ja?" Ephraim nickte und ließ sich neben Jinx nieder, nahm die Tasse in beide Hände. Er seufzte genießerisch, als die süße Sünde seine Kehle herabglitt. Hach!! Das war doch gleich viel besser! Jinx band sich unterdessen seine Haare zu einem dicken Zopf zusammen und entschuldigte sich kleinlaut. "Wirklich, es tut mir sehr leid, dass ich dich so erschreckt habe, Lucky." "Mir tut's leid, dass du mich schon wieder retten musstest." Antwortete Ephraim mit einem schiefen Grinsen. "Ich habe nicht darauf geachtet, wo ich herumlaufe. Aber wenn meine Eltern dich so gesehen hätten...!" Er seufzte leise. "DAS hätte selbst meiner Mutter für einen Moment die Sprache verschlagen! Du bist phantastisch, weißt du das? Du könntest mühelos ein Rudel-Führer sein!" Jinx rutschte ein wenig näher an Ephraim heran und touchierte seine Schulter mit der eigenen. "Das glaube ich kaum. Außerdem liegt mir das nicht. Eigentlich habe ich mit dieser ganzen Werwolf-Sache nicht viel zu tun." Dieser Verlautbarung ließ Ephraim die imaginäre Reaktion seiner Eltern folgen: sein Kinn sackte herunter. Er starrte Jinx ungläubig an. Der ältere Werwolf lächelte, versonnen, aber gewohnt freundlich. "Ich bin nicht als Werwolf aufgewachsen, weißt du? Ich möchte lieber die Schönheit aufzeigen, als bösen Buben unaufhörlich hinterherzujagen. Schätze, das ist auch ein Grund für meinen schlechten Ruf in der Gemeinde." "Das ist doch aber vollkommen legitim!" Sofort sprang Ephraim in die Bresche, verteidigte eifrig. "Du bist sehr gut in dem, was du tust! Die Menschen glücklich zu machen, dafür zu sorgen, dass sie sich schön finden, das ist sehr wichtig und durchaus ein nobles Ziel! Außerdem ist ja Dragomir da, nicht wahr, der erledigt den Job doch tadellos! Ich finde, du machst es ganz richtig!!" Eine flammende Rede, die Ephraims Wangen erleuchtete, denn gegen gemeine Gerüchte musste man aufstehen und sich wehren! Jinx schmunzelte, beugte sich zu ihm herüber und küsste ihn sanft auf den Mund. "Du bist so süß, Lucky. Danke." "Das ist der Kakao. Ich hab nur die Wahrheit gesagt." Murmelte Ephraim, dessen Ohren nun auch noch rot leuchteten. Nicht schnell genug senkte er den Blick auf seine besockten Füße, denn nun fing ihn Jinx' Blick ein. Wieder war dieses besondere Lächeln da, dieser intensive Ausdruck, den er nur ihm widmete. Es musste eine komplizierte Botschaft sein, doch Ephraim fühlte sich nicht in der Lage, sie zu dechiffrieren. Er BRAUCHTE diese Auszeit einfach. Jinx brach den Bann, zwinkerte. "Darf ich mit dir kuscheln? Bis wir einschlafen?" Verhandelte er bittend. Ephraim nickte reflexartig, noch bevor sein Verstand ihn mal wieder in die Bredouille bringen konnte. Außerdem, ein bisschen Schmusen würde ihn bestimmt auf andere Gedanken bringen! *_* Jinx hielt Wort, wie Ephraim es nicht anders erwartet hatte. Zwar schmiegte sich der ältere Werwolf jeden Abend im großen Bett an ihn oder belagerte seine Brust als Kopfkissen, kuschelte und plauderte mit leiser Stimme über den Tag, doch kein einziges Mal forcierte er sein Interesse, sodass Ephraim, der sich ganz auf seine Arbeit konzentrierte, vor dem Wochenende noch keine Entscheidung bezüglich des Angebots getroffen hatte. Wäre es nach seinem Herzen gegangen (oder subäquatorial nach einer bis dato vollkommen vernachlässigten Region), hätte er freudig Jinx' großherzige Offerte angenommen. Unseligerweise funkte ihm sein besserwisserischer Verstand dazwischen. Der verlangte Garantien, malte genüsslich Katastrophenszenarien aus, quälte ihn mit Ängsten, Zweifeln und Unsicherheiten. »Also gut, es reicht!« Hielt Ephraim sich selbst vor, während er zum ersten Mal am Samstag Zeitungen austrug, einen quietschenden Handwagen hinter sich her zerrte. »Ich hab deine Quengelei endgültig satt! Wir machen jetzt eine Liste mit Fragen, die beantwortet Jinx dann, und DANACH ist Ruhe im Karton. Wenn er nicht abgeschreckt ist, wirst du dein Maul halten und MICH machen lassen!« Wobei, das hatte ihm sein beckmesserischer Verstand ja schon signalisiert, mangels Erfahrung Jinx die "Macherei" übernehmen würde müssen. Ein Meister war aber noch nie vom Himmel gefallen und WENN die ganze Sache so schwierig wäre, hätten sich die Säugetiere gleich nach den Dinosauriern von diesem Planeten verabschiedet! *_* Jinx lauschte den offenen Punkten der Liste aufmerksam, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, wippte auf der gut gepolsterten Matratze spielerisch vor und zurück. Ephraim, errötet, aber tapfer, stotterte sich durch all die schlechten Ausgänge, die sein Gehirn hatte ersinnen können. "Wow!" Murmelte der ältere Werwolf sichtlich beeindruckt. "Ich glaube, so viele Gedanken hat sich noch niemand über mich gemacht!" "Es ist nur: mein Kopf will einfach nicht ausschalten!" Verteidigte sich Ephraim puterrot. "Er quatscht mir immer dazwischen, und so kann ich mich nicht entscheiden, was ich ja will, aber.." "Verstehe schon!" Kicherte Jinx amüsiert und küsste Ephraim flink auf den Mund. "Ich habe auch nichts dagegen, deinem fürsorglichen Verstand zu antworten, immerhin will er ja nur ergründen, ob ich ehrenhafte Absichten verfolge." Er zwinkerte. Ephraims gesunde Gesichtsfarbe hätte einen Löschhydranten blass aussehen lassen. "Also, lass mal sehen! Es stimmt, für mich ist Sex nicht so eine sakrosankte Angelegenheit, sondern etwas, das ich tue, um mich wohlzufühlen. Wenn ich in der richtigen Stimmung bin, lasse ich mich auch aufreißen. Sind wir zusammen, dann bin ich aber so intensiv mit dir beschäftigt, dass mich niemand sonst interessiert. Was die technischen Aspekte betrifft, jeder fängt mal ganz von vorne an. Ein bisschen Übung, etwas Zeit, dann klappt alles. Hauptsache, wir fühlen uns gut. Ich rede mit dir darüber, aber nicht mit anderen. Ich bin gesund, benutze grundsätzlich Gummis und achte auf Hygiene. Wenn wir uns trennen sollten..." Nun geriet Jinx ins Stocken, zögerte, leckte sich unbehaglich über die Unterlippe. "Das erscheint mir im Augenblick fürchterlich. Ich weiß ehrlich nicht, wie ich dann reagieren würde." Er seufzte und schleuderte seinen Zopf auf den Rücken. "Auch wenn du mir noch nicht glauben willst, aber du bist grandios. Du bist ein besonderer Mensch. Ich mag dein Lächeln, deine Charakterstärke, deine versöhnliche Art. Du bist aufmerksam und zurückhaltend, nimmst Rücksicht und kümmerst dich nicht darum, was andere klatschen. Ich halte dich weder für schwach noch für unfähig. Klar, dir passieren Missgeschicke, wie allen anderen auch, aber du machst doch immer das Beste daraus. Du gibst nicht auf, du übernimmst Verantwortung." Jinx lächelte nun becircend. "Ich stehe total auf deine hellblauen Augen und deine roten Haare. Die sind so schön weich und seidig! Ich mag deinen Geruch, der ist einzigartig! Es ist einfach perfekt, wie wir zueinander passen, wenn wir kuscheln. Du siehst super in einem dreiteiligen Anzug aus und hast einen knackigen Po, besonders mit dem leichten Hohlkreuz darüber. Sehr sexy!" Raunte er dem beinahe besinnungslosen Ephraim zu, der nur noch im Kopf und sonst nirgends Blut sammelte. "Hmmm, ich glaube, das waren alle Fragen, oder? Habe ich was vergessen?" "....Ächz..." Äußerte Ephraim geplättet. "Sag mir, wenn du dich entschieden hast, ja?" Mit funkelnden Augen erhob Jinx sich, küsste Ephraim auf die glühende Stirn und verzog sich in die Küchennische, um ein Abendessen zusammenzustellen. *_* Das Votum war eindeutig. Der einzige Mensch der Welt, der ihn SO sah und nachgewiesen keine Sehhilfe benötigte, sondern alle seine Sinne perfekt beieinander hatte, bot ihm DIE Chance seines Lebens an, akzeptierte UND mochte ihn! Ephraim wurde schwindlig, sodass er sich den Bauch halten und vornüber kippen musste, was einen erschrockenen Jinx auf den Plan rief, der ihm beruhigend über den Rücken strich und tröstete, es werde bestimmt gleich besser und er rühre sich garantiert nicht von seiner Seite weg. "Hab dich lieb!" Winselte Ephraim folglich mit zittriger Stimme, leicht gequetscht. "Hab dich auch sehr lieb." Jinx klappte ihn ohne viel Federlesens auseinander, zog ihn auf seinen Schoß und in die Arme, hielt den ob dieser Erkenntnis über den eigenen Wagemut erschrockenen jüngeren Werwolf fest und warm. Auch von ihm fiel eine nervöse Spannung ab, denn sein Riecher meldete ihm, dass Ephraim nach Glücks- und noch vielversprechenderen Hormonen zu duften begann. *_* Andere mochten an diesem Samstagabend bei Schmuddelwetter vor der Glotze sitzen und sich Fasching/Fastnacht aus der Konserve hingeben, nicht so Jinx und Ephraim. Eine dickbauchige Kerze in einer alten Laterne spendete ausreichend Licht, zwischen die Schatten zu schlüpfen, im Schutz der wohlig-warmen Decke herauszufinden, was Vergnügen und rasch auch Lust bereitete. In seinen Katastrophenszenarien hatte Ephraim sich vorgestellt, im Adamskostüm bei unbarmherziger Neonbeleuchtung in glorioser Hässlichkeit bloßgestellt zu werden, sich total zu blamieren, weil ihm jede Erfahrung abging, er nervös war, nasse Hände hatte, nicht genug Selbstkontrolle... Es gab eigentlich nichts, was nicht schiefging. In der Realität brach sich kein einziges Debakel Bahn, weil Jinx ihn sanft leitete, schmuste, kicherte, lächelte, ihn beknabberte, liebkoste, so zärtlich und geduldig war, dass Ephraim glaubte, ihm würde das Herz übergehen. Mehr als einmal schnürte sich ihm die Kehle zu. Es war angenehm. Es war schön, diesen festen, geschmeidigen, warmen Körper zu halten, ihn zu berühren, die vertraute Stimme zu hören, die neckte und lockte, die Finger in den langen Haaren zu verwickeln, einen reizvollen Geruch einzuatmen, immer wieder und wieder. Sich anzuvertrauen. Außerdem konnte niemand bestreiten, dass Jinx sich auch auf Massagen verstand, die speziellen Punkte zielgenau traf, die ihrem gemeinsamen Zweck dienlich waren. Er kannte sich aus, bei allem, was gefiel, was süchtig machte, was nach mehr verlangte. Und noch mehr. Ephraim ließ sich fallen und alles geschehen. Er fühlte sich so geliebt, verwöhnt und verwandelt wie noch nie in seinem Leben. Es war ekstatisch und pur zugleich. So wunderschön, dass ihm Tränen über das Gesicht rannen. *_* Jinx hielt Ephraim behutsam im Arm und streichelte sanft in kreisenden Bewegungen über den knochigen Rücken. "Hat es dir ein wenig gefallen, Lucky?" Erkundigte er sich leise. "Hmmm." Schnurrte/murmelte Ephraim matt, kuschelte weiter. "Schön." Schmunzelte Jinx. "Dann nehme ich an, dass eine Wiederholung gelegentlich nicht unwillkommen wäre?" "Hmmm!" Pflichtete Ephraim bei, tastete ungelenk an einem Oberarm herunter, schob seine noch immer hitzigen Finger zwischen Jinx', der ihm amüsiert entgegenkam. "Hb dch lb..." Drang es schläfrig und friedlich an sein sehr geneigtes Ohr, dann verrieten ihm die gleichmäßigen Atemzüge, dass Ephraim seiner neuen Lebenserfahrung Tribut zollte. *_* "Lucky?" Eine schmeichelnd sanfte Stimme mit einer Andeutung von Kichern lotste Ephraim zurück in die Realität, jenseits eines berauschend erholsamen Schlafes. "Hm? HM!" Erinnerungen überschlugen sich wie eine Springflut. Ephraim saß aufrecht und winselte leise. "Oje!" Murmelte Jinx mitfühlend, auf der Bettkante postiert, streichelte ihm über die nackten Oberarme. "Muskelkater?" "...uhm!" Antwortete Ephraim verlegen und blinzelte scheu in die liebevollen, dunklen Augen. "Ich massiere dich, ja? Dann frühstücken wir!" Jinx wälzte eifrig Pläne, federte schwungvoll hoch, um aus seinem Regal-Konstrukt einen handlichen Tiegel zu entführen. "Entschuldige, dass ich dich geweckt habe, aber, boah, bin ich aufgekratzt! Ich konnte keine Minute mehr länger liegen!" DAS war nun wirklich nicht zu übersehen. Jinx strahlte fröhlich, hüpfte elastisch durch das kleine Appartement und schien vor Energie nur so zu bizzeln! Ephraim rieb sich verstohlen den verlängerten Rücken, wo die untersten Wirbel quietschten. Eigentlich hätte man ja erwarten müssen, dass tiefer, also am Hinterausgang..., doch da verspürte er weder Zwicken noch Zwacken, was ziemlich vielsagend war. "Streck dich aus, ja, Lucky?" Schon hatte Jinx ihn aus der Decke gewickelt, auf den Bauch gerollt, die Arme unters Kinn geklappt, hockte rittlings auf seinen Oberschenkeln, wärmte ein zitronig duftendes Öl zwischen den Handflächen auf. Ephraim ließ das ohne Zögern geschehen. Das Verrückte war ja überhaupt, dass Jinx auf magische Weise die richtigen Knöpfe drückte! Sein Verstand nölte zwar schon wieder, wie beschämend es sei, so widerspruchslos dem Diktat eines anderen zu folgen, aber Ephraim erinnerte ihn mit einem stummen Schnalzen an ihre Abmachung: Maul halten! Unterdessen rieb und knetete Jinx seine Oberschenkel, dann die von ihm so lobpreiste knackige Kehrseite, drückte mit den Fingerknöcheln Wirbel, klopfte auf sie, verströmte eine ungeheure Hitze durch das Öl. "Uhhhhhhh!" Stöhnte Ephraim genüsslich. Wie gut das tat! "Mach ich's richtig, ja?" Jinx lachte leise an seinem Ohr, der schwere Zopf plumpste auf Ephraims Rücken und ließ ihn ebenfalls kichern. Ein bisschen überdreht fühlte er sich jetzt auch, denn NUN konnte ihm wirklich niemand mehr was! Er hatte all die gemeinen Hürden genommen, die ein Kind von einem Erwachsenen abgrenzten: DAS konnte ihm niemand mehr absprechen! Es stellte eine enorme Erleichterung dar, entlud die Bürde des Außenseiters, des Abnormen, des Ungenügenden von seinen schmalen Schultern. Dafür zeichnete sich jetzt Platzbedarf für Emotionen ganz anderer Qualität ab: Jinx' Massage zeitigte nämlich Reaktionen, die erprobten, ob ein gewisser Akku des Libidometers schon wieder aufgeladen und verfügbar war. Ephraim keuchte leise, versuchte durch zweckentfremdete Atemübungen, der rapid steigenden Erregung Herr zu werden. "Darf ich?" Raunte Jinx an seinem Ohr, über ihn gebeugt. "Lucky, darf ich? Ich hab solche Lust auf dich!" Es klang so sehnsüchtig, so zärtlich, frei von Gier, aber überschäumend von der Lust an geteilter Freude und Nähe. Ephraim konnte sich nicht vorstellen, dass jemand anderes als Jinx beinahe unschuldig klingen konnte, wenn er ihm eindeutige Offerten ins Ohr wisperte. Nichts war durchtrieben, spöttisch, ordinär oder verächtlich, sondern geprägt von Jinx' Zuneigung zu ihm, von seinem Wunsch, diese Gefühle, diese alles erfüllende Wärme mit ihm zu teilen. "Ja!" Stieß Ephraim folgerichtig hervor, stemmte sich auf Knie und Handflächen. "Oh, ja!" Es war ihm vollkommen gleichgültig, ob seine willige Bereitschaft, sich Jinx hinzugeben, als würdelos, demütigend oder charakterschwach angesehen werden konnte!! *_* Die andere Qualität ihrer Beziehung blieb selbstredend nicht mal einen Wimpernschlag lang ein Geheimnis. Zwar herrschte Fasching/Fastnacht/Karneval, was die üblichen Countrysongs am Rosenmontag durch die Live-Übertragung der Zugbeschallungen ablöste, doch selbst in der aufgelöstesten Stimmung konnten der Kundschaft des Be Beautiful-Saloons nicht entgehen, dass Jinx von beseeltem Glück erfüllt war. Immerhin hatte ihm am Tag zuvor, nach der denkwürdigen Nacht der Entscheidung, ein tapferer (wenn auch vor Verlegenheit rot leuchtender) Ephraim beim Mittagessen im winterlichen Sonnenschein ohne Stottern gefragt, ob er sein fester Freund sein, mit ihm gehen wolle. Allein seine Ernsthaftigkeit hätte schon genügt, Jinx zu Jubeltänzen zu veranlassen, denn hier war ein Mensch, der ihn kannte und dennoch für würdig befand, verbindlich und seriös um Herz und Hand anzuhalten! Deshalb trällerte Jinx auch den ganzen Tag immer wieder leicht geänderte Liedzeilen vor sich hin, während er ungewohnt friedlich durch seinen Saloon wirbelte. "But I'm Lucky's man!" *_* Happiness More or less It's just a change in me Something in my liberty Oh, my, my Happiness Coming and going I watch you look at me Watch my fever growing I know just where I am But how many corners do I have to turn? How many times do I have to learn All the love I have is in my mind? But I'm a lucky man With fire in my hands Happiness Something in my own place I'm stood here naked Smile and I feel no disgrace With who I am Happiness Coming and going I watch you look at me Watch my fever growing I know just who I am And how many corners do I have to turn? How many times do I have to learn All the love I have is in my mind? I hope you understand I hope you understand Oh yeah, You know, you know, you know, you know You know, you know, you know, you know Got a love that'll never die, no no (you know, you know) Happiness More or less It's just a change in me Something in my liberty Happiness Coming and going I watch you look at me Watch my fever growing And I know Oh, my, my Oh, my, my Oh, my, my, Oh, my, my, my, my, my I got a love that never dies I got a love that'll never die No, no Oh, oh, oh, oh, I'm a lucky man It's just a change in me Something in my liberty (don't think, don't, don't think I'm lying) It's just a change in me Something in my liberty (don't think, don't think I'm lying, I'm trying, come on now) It's just a change in me Something in my liberty Oh, my, my Oh, my, my It's just a change in me Something in my liberty Oh, my, my, my, my, my, my (yeah, yeah, yeah, yeah) Oh, my, my, my, my, my" The Verve, 2003 *_* Ephraim war ebenfalls beglückt. Endlich spürte er festen Boden unter den Füßen, sah vor sich eine Zukunft, die ihn nicht überrollte, in der er von anderen auf Bahnen geschubst wurde, sondern seinen eigenen Weg. Mal ehrlich, er hatte einen Job, eine Ausbildung in Aussicht, einen prima sonderlichen Arbeitgeber, ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, war gesund und mit Jinx zusammen! Fest! Besser konnte es doch gar nicht werden! Auch im Saloon schienen sich die Befürchtungen seines Verstands aufzulösen. Doreen vertraute ihm sofort an, dass sie alle sehr froh waren über seine Entscheidung. Jinx war wirklich ein absoluter Schnuckel, doch es tat ihm gut, jemanden wie Ephraim an seiner Seite zu haben. Außerdem, das kam von Liz, hielt Jinx unbeirrbar sein Wort: er war mit Ephraim zusammen und hatte überhaupt kein Interesse an Wohlfühl-Schnackseln mit irgendwem aus großzügiger Nächstenliebe. DAS gefiel naturgemäß nicht allen, aber die paar Knalltüten konnten Liz' Meinung nach das Weite suchen und erst in der äußeren Mongolei stehen bleiben! So zahlte sich auch Ephraims jugendliche Begeisterungsfähigkeit aus, denn er stand Jinx in dessen Lust auf tätige Nähe nicht nach. Es war ja auch nirgendwo geschrieben, dass man bloß einmal pro Woche nach Sonnenuntergang intensiven Austausch mit seinem Gefährten pflegen sollte! Ephraim wollte lernen, so viel wie möglich. Jinx war ihm selbstredend meilenweit voraus, doch das sollte ja nicht so bleiben! Er mochte es, unverbrämt gefiel ihm alles, was Jinx ihm präsentierte. Die Scham über die eigene Unvollkommenheit verflüchtigte sich einfach angesichts seines Eifers, noch mehr zu erfahren, zu erkennen und auszuprobieren. Sex mit Jinx war schlichtweg phantastisch. *_* "Ich habe was für dich." Nach einem zärtlichen Kuss zur Begrüßung drückte Ephraim Jinx scheu eine Pappschachtel in die Hand, die er mit Geschenkpapier beklebt hatte. "Ooohhh!" Jinx strahlte ihn an. "Darf ich es hinten aufmachen? Ich glaub nicht, dass ich warten kann!" "Klar!" Nickte Ephraim großzügig. Es waren nur noch zwei Kundinnen von Doreen auf den Stühlen stationiert, außerdem war Valentinstag! Der erste Valentinstag seines Lebens, an dem er NICHT ALLEIN war! Jinx drückte ihm rasch einen Kuss auf die Wange und flitzte voraus. Ephraim folgte ihm lächelnd, stolz darauf, dass dieser schöne Mann ganz allein ihm "gehörte". Sein Geschenk war nichts Mondänes, Aufsehenerregendes. Zudem fehlten ihm ja die Mittel, dennoch hoffte er, dass seine Geste Anerkennung (und Gnade) finden würde. "Ooooh, das ist ja schön!" Wisperte Jinx andächtig, ließ das handgefertigte Mobile an der ausgestreckten Hand baumeln. Gewohnt flink hatte Ephraim die metallischen Segmente eines ehemaligen Klappschirms, den er gefunden hatte, von Stoffresten befreit, in den Mittagspausen mit Seidenpapier Blüten geformt und mit unterschiedlich langen durchscheinenden Nylonfäden befestigt. Das Ensemble wirkte wie eine fröhliche Frühlingsbotschaft, filigran und doch farbenprächtig. "Kann ich es hier aufhängen, Lucky? Ich möchte es gern tagsüber sehen!" Jinx hing sich an seinen Hals, beregnete ihn mit neckenden Küssen zwischen den einzelnen Silben. "Klar! Ich weiß, es ist nur handgemacht, aber gefällt's dir ein bisschen?" Ephraim streichelte durch die schweren Strähnen, studierte Jinx sorgfältig. Zu einer funktionierenden Beziehung gehörte schließlich Aufmerksamkeit, und so ein notorischer Blindfisch wie er selbst musste da ordentlich an sich arbeiten! Befand er selbst. "Es ist wunderschön! Vielen Dank! Hab dich lieb, Lucky!" Raunte Jinx in genau dem Timbre, das bei Ephraim verstärkte Turbulenzen südlich des Äquators auslöste. "Hab dich auch lieb, Jinx!" Wisperte er verlegen zurück, strahlte jedoch aus den Blauaugen sehr verliebt. Das Leben war herrlich und würde noch viel besser werden! Seine Eltern hatten ja keine Ahnung! *_* Jinx hatte sich für den Valentinstag selbstredend auch etwas ausgedacht, dass er seinem Liebsten schenken wollte. "Es ist ein bisschen anmaßend, ich weiß!" Erklärte er verlegen. "Aber ich will nun mal damit angeben, dass wir zusammen sind! Ein bisschen kindisch darf ich doch sein, oder?" "Uh!" Murmelte Ephraim beeindruckt und studierte den Anhänger zwischen seinen Schlüsselbeinen fasziniert. Es handelte sich, wie Jinx ihm stolz erklärt hatte, um alte "Münzen" aus dem ehemaligen Freibad, gelochte Metallscheiben, die man benutzt hatte, um die Schließfächer zu aktivieren, damit man die kleinen Schlüssel abziehen konnte. Er hatte sie mit farbigem Pulver bestreut und bei einer Bekannten in einem Spezialofen gebrannt. Die glasierte Oberfläche fühlte sich perfekt glatt unter den Fingerspitzen an, während die Metalllegierung der Scheiben die Wärme der Haut annahm. Jetzt war endlich die Gelegenheit, seinem Herzenspartner dieses äußere Zeichen der Zusammengehörigkeit umzuhängen! "Normal sind es ja Ringe." Plauderte Jinx, ungewohnt nervös weiter. "Bloß ist das bei meiner Arbeit etwas hinderlich, deshalb...!" Ephraim löste sich aus dem Selbststudium, wirbelte auf dem Absatz herum, schlang die Arme um Jinx, wagte tollkühn einen Ausfallschritt und küsste den älteren Werwolf eindringlich und unter Einsatz all seiner Lehrstunden auf den Mund! "Es gefällt dir." Jinx lächelte schließlich atemlos zu ihm hoch. "Ja. Und noch etwas..." In dieser Stimmung, aufgeputscht, von Liebe und Zuversicht besoffen, war Ephraim entschlossen, auch die letzten Geister auszutreiben und "Airiiin" zu schlagen, indem er sich in IHREM Stuhl von Jinx verwöhnen ließ und darüber hinaus noch MIT IHM zusammen war! *_* Kapitel 8 - Eine bewegte Biographie »Perfekt!« Dachte Ephraim. Bald würde der Frühling anfangen. Er hatte trotz der bockigen Haltung seiner Eltern über Umwege alle Papiere für seinen Ausbildungsbeginn beschaffen können. Er durfte die technische Ausrüstung seines Arbeitgebers zum Studium nutzen und sein Beruf in spe gefiel ihm sehr. Es kam seinen Talenten, seiner Genauigkeit, seinem Detailblick sehr entgegen. Privat konnte perfekt gar nicht vollständig umschreiben, wie sich die Lage verhielt. Entgegen seinen Befürchtungen KONNTE er gut mit einem anderen Menschen zusammen leben. Nun ja, die Rede war von Jinx, der sehr gutmütig und nachsichtig auftrat, doch trotzdem! Sie waren beide recht ordentlich, was in der Enge des Appartements gar nicht anders ging. Sie lehnten Verschwendung ab, sie ergänzten sich beim Haushalt und mochten beide weder Streitereien noch demonstratives Anschweigen. Missverständnisse wurden gleich aufgeklärt. Auf intimer Ebene hätte man ihm wohl in Kansas das Etikett "mannstoll" oder "nymphoman" angeheftet. Was sollte man aber auch unterlassen, wenn's so herrlich passte?! Schnell oder sehr langsam, lasziv oder dynamisch, in unterschiedlichen Positionen: es funktionierte, fühlte sich grandios an, sorgte dafür, dass sie keuchend beieinander lagen/kauerten, sich dann blinzelnd ansahen und lächelten. Der Sex verdrängte auch keineswegs die Kuschel- und Schmusestunden, Jinx' Hang zum physischem Überschwang, wenn Ephraim abends im Saloon eintraf, um ihn von der Arbeit abzuholen. Alles war perfekt und seine Eltern konnten in ihrem moralinsauren Sud vor sich hin schmurgeln! Bloß. Bloß war Ephraim etwas aufgefallen. Nein, aufgefallen passte nicht recht, sein Instinkt, dem er in immer stärker werdendem Maße vertraute, hatte ihn angestupst, dass es einen winzig kleinen Fehler in der Idylle gab. Wie bei einem Suchbild. Eine Ahnung, ein Hauch, ein Air. Nun glaubte Ephraim auch, die richtige Spur entdeckt zu haben. "Mut!" Ermahnte er sich selbst. Lysander, mit dem er immer wieder telefonierte, hatte ihm ja selbst geraten, immer wieder von neuem über den eigenen Schatten, den lächerlichen Stolz zu springen, um nicht die Wärme zu verlieren, die seine Seele bis zum Übermaß erfüllte. *_* Eine Tatwaffe stellte der Schal dar, den Ephraim aus einem aufgeplatzten Kleidersammlungsbeutel am Straßenrand gezogen hatte. Die Musterung war sehr exzentrisch, die benutzten Farben jedoch entsprachen genau den Nuancen, die Jinx sehr gut zu Gesicht und Schopf stehen würden. Also hatte er kurzentschlossen, seine Skrupel übergehend, den Schal geschnappt, im Büro mit der Handseife liebevoll shampooniert und anschließend im Gebläse der Klimaanlage getrocknet. Jinx liebte sein neues Accessoire so innig, dass Ephraim froh war, es aus ökologisch bedenklicher Kunstfaser hergestellt zu wissen. Ephraim rang nach Luft, denn Jinx hatte ihn ausgiebig verwöhnt und streckte sich lächelnd neben ihm aus, auch ein wenig außer Atem. »Jetzt! Mut!« Feuerte Ephraim sich an, kam mühsam auf alle Viere, küsste Jinx auf die geröteten Lippen, arbeitete sich dann in streng disziplinierte Ruhe tiefer. Jinx stöhnte leise, streichelte ihm über die feuchten Haare, die Schultern, stellte die Beine auf und seufzte. "Oh, das ist so guuuuut!" Ein Kichern unterdrückend verließ sich Ephraim auf seine Erfahrung, zog alle Register. »Ich bin mir sicher!« Beschwor er sich. »Zumindest ziemlich!« Denn etwas war ihm aufgefallen, in Jinx' Lächeln, in seiner Körpersprache. Nur eine Winzigkeit. Dem galt es nun nachzugehen! Er küsste die weiche Haut der inneren Oberschenkel, drehte Jinx behutsam auf die Seite, streichelte dessen Rückenpartien, glitt in energischen Schwüngen über die Rippenbögen, bedachte den älteren Werwolf mit allen Wohltaten, die ihm zu Gebote standen. Dann angelte er das arglos abgeworfene Schaltuch vom Boden, wickelte es um Jinx' Handgelenke, der seinem Schmunzeln nach eine neckische Spielerei vermutete. Ephraim nahm seine Ministrationen erneut auf, spürte die Spannung in dem sehnigen Leib, die Erwartung, die Lust, sich ihm anzuvertrauen. Bis zu einem gewissen Grad. »Weil ich dich liebe!« Ephraim küsste eine Schulter, fischte im Windschatten dieser Zärtlichkeit nach dem Gleitmittel. »Will ich alles erfahren.« *_* Jinx merkte zu spät, dass die spürbare Erregung seines Liebhabers nicht nur auf die Vorfreude ihrer gewohnten Intimitäten zurückzuführen war. Er stöhnte verblüfft auf, als sich gleich zwei geschickte Finger in seinen Unterleib schoben, eine Stimme rau an seinem Ohr flüsterte. "Hab dich lieb, Jinx. Hab dich lieb." Um dann zu ergänzen. "Hab so sehr Lust auf dich." Jinx rang nach Atem, spürte, wie sein Körper mit der selbstauferlegten Disziplin rang. "Oh, Lucky!" Stöhnte er leise. "Tu das besser nicht!" *_* Eine ungewöhnliche Formulierung, doch Ephraim analysierte schon die Antworten, die Jinx' Körper seinen Fragen gab. Erstens hatte Jinx offenkundig Erfahrung mit Analkontakt. Zweitens schien er sich durchaus wacker zu schlagen, denn unter ihm wand sich der anmutige Leib schlangengleich, wollte gleichzeitig entwischen und noch mehr bekommen. Ephraim tropfte Schweiß von der Stirn, in seinen Schläfen pochten lautstark Adern. Er biss die Zähne knirschend zusammen und zwang sich auszuhalten, bis es gar nicht mehr anders ging. Dann, mit pfeifenden Atemzügen, drang er langsam in Jinx' Unterleib ein. *_* Klare Gedanken mussten warten. Grundsätzlich alles musste warten. Ephraim glühte vor Hitze und fühlte sich tonnenschwer vor Erschöpfung. Nicht nur Jinx' Reaktion hatte ihn vollkommen überrascht. Dessen wilde Ekstase stellte jeden Derwisch in religiöser Verzückung in den Schatten. Sich aufbäumend wie ein Wildpferd, die irrwitzigen Muskelkontraktionen, die Laute der Lust, die ihm entströmten! Ein Naturereignis! Das schlug um Längen alles, was sie bisher gemeinsam erlebt hatten. Nun, das Ziel, Jinx dazu zu bringen, sich endlich mal vollkommen gehen zu lassen, war erreicht, bloß, dass Jinx DAS nicht ausreichte. Für Ephraim unglaublich hatte der ältere Werwolf sich danach in eine aufrechte Haltung gekämpft, des Schaltuchs mühelos ledig, hatte ihn angesehen, keuchend, herausfordernd und hungrig. Was dazu führte, dass er sich langsam auf Ephraims verräterische Erektion niedergelassen hatte, seine Finger mit Ephraims verflochten. Wer hier wen zuritt, konnte man wirklich nicht sagen. Eines war jedoch sicher: Jinx hatte da ein Geheimnis zu teilen. *_* "Ich wollte das eigentlich nicht tun." Murmelte Jinx an Ephraims Brust, ließ sich die Haare mit den Fingern glätten, über die Schultern streicheln. "Hab ich dir sehr weh getan?" Krächzte Ephraim beschämt. "Weh getan?" Wiederholte Jinx verblüfft, richtete sich einen Augenblick auf, profund erstaunt. "Du hast mir doch nicht weh getan! Es ist nur..." Mit einem Seufzen rollte er sich wieder auf Ephraim ein. "Hab ich wieder was vermurkst?" Überwand Ephraim kleinlaut die angespannte Stille, denn Jinx' Worte gingen ihm erneut durch den Kopf. Was bedeutete "tu das besser nicht?" Wollte Jinx vielleicht nicht diese Position einnehmen? Existierte da eine Regel, die Ephraim übersehen hatte? Jinx kreiste mit einer Hand über seine rechte Brustpartie, sein warmer Atem kitzelte die Haut erwartungsvoll. Ephraims Verstand gebot seinem willigen Körper jedoch unerbittlich, jetzt gefälligst eine Pause einzulegen. Ausgetobt hatten sie sich ja schon, oder etwa nicht?! "Ich hab mir vorgenommen, es nicht so...!" Jinx seufzte und griff nach Ephraims Hand, hielt sie fest. "Erinnerst du dich, dass ich erwähnt habe, ich sei nicht bei Werwölfen aufgewachsen?" Flüsterte er leise. "Ja." Unwillkürlich passte sich Ephraims Stimme der konspirativen Atmosphäre an. "Also..." Jinx atmete tief durch. "Nur mein Vater ist ein richtiger Werwolf. Meine Eltern trennten sich, da war ich knapp Fünf. Meine Mutter ist eine Weile mit mir herumgezogen, dann gab's Ärger, weil ich nicht in die Schule ging. In Tennessee landeten wir auf einer Art Ranch, die "Freetown" hieß, eine Aussteigergemeinschaft. Da war ich etwa Acht. Die Regeln waren ziemlich locker, alle arbeiteten zum Wohlergehen der Gemeinschaft, Bio-Landwirtschaft, Kunsthandwerk, alles ziemlich alternativ. Alle hatten eine Stimme, auch die Kinder. Es gab dort ein Homeschooling-Programm. Da sind wir also gelandet." Jinx drückte Ephraims Hand leicht, führte sie an seine Lippen und küsste sie. "Es gab ein paar Meinungsführer, ansonsten wurde aber immer abgestimmt, diskutiert, alles sehr harmonisch. Einer hieß Josiah, ein ehemaliger Prediger. Der war wirklich beeindruckend, weißt du, er hatte eine umwerfende Ausstrahlung. Er kannte sich mit handwerklichen Dingen aus, hatte Ahnung von der Landwirtschaft und schlichtete Unstimmigkeiten so geschickt, dass alle sich als Sieger fühlten. Sehr charismatisch. Ich mochte ihn sofort, und er setzte durch, dass ich alles lernen durfte, worauf ich Lust hatte. Kinder zählten da so viel wie die Erwachsenen. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht, ich war also auch stolz darauf, dass er mich ein bisschen bevorzugte vor den anderen Kindern." Unerwartet gab Jinx Ephraims Hände frei, setzte sich auf, zog die Beine vor den Leib und umarmte sie. Da Ephraim fürchtete, es möge Jinx frieren (auch wenn der ihm anvertraut hatte, dass er nur angefangen habe, Pyjamas zu tragen, als er bei ihm einzogen sei), hievte er sich selbst ebenfalls in eine sitzende Haltung. Er schlang die großzügig bemessene Decke um sie beide. "Ich mochte Josiah. Ich mochte ihn wirklich sehr." Wisperte Jinx mit einem versonnenen Lächeln auf dem Gesicht, den Blick in die Vergangenheit gerichtet. "Vielleicht habe ich ja auch einfach eine Familie vermisst, wer weiß? Meine Mutter hat sich mit sich selbst beschäftigt, ist mit einer anderen Frau zusammengekommen, ich war also nicht mehr ihr Ein und Alles." Er zog unwillkürlich die Schultern hoch. "Ich schätze, ich war ziemlich egoistisch. Josiah nahm sich jedenfalls immer Zeit für mich, wir kuschelten und schmusten. Das war einfach herrlich, jemandem so nahe zu sein, so beschützt und verwöhnt zu werden. Dass ich ein Werwolf bin, wusste ich ja nicht. Mir fiel das gar nicht auf, weißt du, mit dem Riechen und der Körperkraft. Ich konnte ja herumstrolchen und alles machen, was mir gefiel. Da war niemand, der mir gesagt hätte: das tut man nicht, das solltest du gar nicht können, dafür solltest du dich schämen." Nachdenklich leckte er sich über die Lippen, räusperte sich verhalten. "Josiah hatte schon eine Menge Jobs gemacht. Er kannte sich auch gut mit Massagen aus. Auch mit der Sorte, über die Liz immer schimpft." Nun grinste Jinx leicht. "Tantra, oder so ähnlich. Das war damals in Mode. Er hat mich jedenfalls auch immer massiert, was mir sehr gefiel. Als ich dann etwa Elf wurde, merkte ich, dass ich anders darauf reagierte." Jinx schnaubte. "Frühreif, ja, ich weiß. Aber solche Dinge wie Selbstbefriedigung oder Sex waren kein Tabu in der Gemeinde. Ich mochte, was Josiah tat. Er war damals der wichtigste Mensch auf Erden für mich. Er hat mir alles beigebracht, und es gefiel mir." Jinx richtete sich auf, drehte den Kopf, um Ephraim direkt ins Gesicht zu sehen. "Ja, es gefiel mir. Ich mochte es, wenn er mit mir schlief. Er zwang mich nicht, er tat mir nicht weh, er überredete mich nicht. Es war schön, also wollte ich es, warum auch nicht?" Den Kopf weg drehend seufzte Jinx. "Ich mag Sex, wie du weißt. Es war auch okay, als Warren dazu kam, den ich auch sehr mochte. An manchen Tagen bin ich gar nicht erst aus dem Bett gestiegen. Es war der Hippie-Albtraum der Puritaner." Jinx lachte leise. "Nackt herumfläzen und vögeln. Für mich war das Liebe." Ephraim betrachtete Jinx' Profil, eindeutig konsterniert, nicht, weil er daran zweifelte, dass Jinx genauso empfunden hatte, aber er konnte den Männern nicht vergeben, die keine Zurückhaltung an den Tag gelegt hatten. Nicht alles, was funktionierte und gefiel, sollte man aus moralischen Gründen auch tun. »Auch wenn mich das zu einem puritanischen Kreuzzügler macht!« Grollte er stumm. "Ich war Vierzehn, als die Polizei die Gemeinde auflöste." Jinx wackelte mit den Zehen, den Blick auf sie gerichtet. "Ein absoluter Horror. Geschrei, Durcheinander, Hysterie. Wie die meisten Kinder hatte ich Angst vor der hochgerüsteten Truppe. Wir sind weggelaufen, haben um uns geschlagen, gespuckt, uns eingenässt." Jinx' Züge erstarrten. "Ich weiß nicht mehr genau, was passiert ist, aber ich glaube, mich hat ein Gummigeschoss getroffen. Ein paar Rippen waren kaputt, meine Lunge hat's erwischt, ich bin nicht mehr weit gekommen. Aufgewacht bin ich im Krankenhaus, dann haben sie mich in ein Jugendheim verfrachtet. Weil weder meine Mutter noch ich irgendwas gesagt haben, wussten sie nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Ihr haben sie das Erziehungsrecht entzogen, ich kam unter staatliche Obhut. Ein Psychiater sollte mit mir reden, um mir bei der Trauma-Bewältigung zu helfen. Damit war aber nicht der Überfall gemeint, sondern mein sexueller Missbrauch." Jinx schnaubte abschätzig. "Ich hab's nicht verstanden. All das, was mir da gesagt wurde, über die Erpressung, den ausgeübten Druck, die Schmerzen und Erniedrigungen, nichts stimmte mit meinen Gefühlen überein!" Er wandte den Kopf zu Ephraim. "So etwas war mir nicht passiert! Ich wollte weg von diesen Leuten, zurück zu Josiah und den anderen!" Für einen Moment schloss Jinx die Augen, wirkte erschöpft und abgekämpft. "Die meisten Männer und einige Frauen waren eingebuchtet worden. Große Anklagevorbereitungen, Kontaktverbote, all das. Ein Zurück gab's für mich nicht mehr, und ich war furchtbar unglücklich. Ich sollte in eine Pflegefamilie kommen, aber für ein Missbrauchsopfer finden sich nicht so viele Freiwillige. Also blieb ich im Heim und sehnte mich nach Hoffnung. Nach Wärme." Ein schiefes Grinsen zuckte über sein Gesicht. "Ich wollte wieder etwas Schönes erleben, mich schön fühlen. Also, nun ja, ich wusste, wer Interesse an mir hat und habe mir ein bisschen Nestwärme besorgt. Das gab dann den nächsten Skandal." Jinx zog die Schultern hoch. "Ich bin einfach nicht klargekommen mit dieser Welt. Therapiesitzungen, ich sollte Medikamente nehmen, all das. Aber dann kam die Familie meines Vaters. Meine Mutter musste sie wohl doch preisgegeben haben. Die waren natürlich entsetzt, was für ein grauenvoll misslungener Spross da zum Clan gehören sollte. Mein Vater bat dann einen bekannten Therapeuten um Hilfe, der auch ein Werwolf ist und mir vielleicht helfen könnte. Dr. Hendriksen wohnte damals schon hier in Deutschland. Er akzeptierte das Angebot meines Vaters, suchte eine Gastfamilie für mich und arrangierte alles. So bin ich dann hierher gekommen." Ephraim schlang ungefragt einen Arm um Jinx' Schultern. Großes Mitgefühl schnürte ihm die Kehle zu. Nur zu gut verstand er, wie Jinx sich gefühlt haben musste: nach eigenem Empfinden nichts verbrochen, immer darum bemüht, sich mit allen gut zu verstehen und plötzlich ausgestoßen, ohne Hilfe, allein, in einer nicht allzu freundlichen Umgebung. Jinx schmiegte sich an Ephraims Seite. "Henry, wie ich ihn nennen darf, war wirklich super. Er erzählte mir nichts von seelischen Grausamkeiten, Abhängigkeit und Missbrauch, sondern brachte mir die Werwolf-Seite näher. Er gab mir die Aufgabe herauszufinden, worauf meine Jagd abzielen sollte, ob ich nicht etwas anderes suche als Sex, um das Leben schön zu finden. So, wie es seine Berufung sei, den Leuten beim Finden ihrer eigenen Antworten beizustehen." Nun lächelte Jinx wieder, versöhnlich und nostalgisch zugleich. "Das hat ziemlich gut funktioniert, und ich habe ja auch mein Jagdziel gefunden. Es gab nur eine Sache, bei der ich mich beschränken wollte." Nun atmete er tief durch, spannte seine Gestalt an, wie Ephraim deutlich spürte. Jinx drehte ihm den Kopf zu, eine verlegene Röte auf den Wangen. "Ich mag Sex, und Henry hat mir das auch nicht verboten. Bloß sollte ich nicht in das alte Muster verfallen." Er holte tief Luft. "Nämlich die Kontrolle verlieren. Was mir passiert, wenn ich..." "Wenn du genommen wirst." Vollendete Ephraim begreifend. "Das wusste ich nicht! Ich wollte bloß, dass du dich gut fühlst und total gehen lässt." Entschlüpfte ihm als hastige Entschuldigung. Jinx seufzte lächelnd. "Ich hätte wissen müssen, dass ich vor einer so aufmerksamen Person wie dir das nicht verstecken kann. Du hast es also gemerkt." "Nun, ja." Verteidigte sich Ephraim verlegen. "Ich wollte einfach herausfinden, ob ich es nicht für dich auch so schön..." Dunkelrot brach er keuchend ab. Unerwartet drückte Jinx ihm die Beine herunter, kletterte auf seinen Schoß und umarmte ihn eng. "Hab dich lieb, Lucky." "Hab dich auch lieb, Jinx!" Antwortete der jüngere Werwolf leise, drückte ihn fest an sich. Für eine Weile lauschten sie nur ihren rasanten Herzschlägen, ihren verwirbelnden Atemzügen, dann seufzte Jinx leise. "Ein kleines Problem gibt es aber doch." Murmelte er verhalten. "Wenn ich... wenn du so mit mir schläfst, werde ich ziemlich wild. Und auch gierig." "Oh." Kommentierte Ephraim eingeschüchtert. "Denkst du, wir sollten das lieber lassen? Obwohl ich eigentlich glaube, dass ich schon recht fit bin." Jinx kicherte leise an Ephraims Ohr, dann steigerte sich sein Amüsement in schallendes Gelächter. Ephraim lupfte die Augenbrauen. Er spürte keinen Spott, aber so ganz war er sich der Ursache dieses Heiterkeitsausbruchs nicht gewiss. "Oh, du bist so süß, Lucky! Ich liebe dich!" Jinx küsste ihn auf jedes erreichbare Fleckchen, strahlte wie gewohnt und schmuste ihn bedürftig an. Ephraim hielt wacker mit, denn eigentlich, da schnitt er ja wirklich nicht auf, war sein Libidometer samt Akku recht zuverlässig! Wenn Jinx mehr wollte, würde sich das schon einrichten lassen! Im Augenblick jedoch wollte Jinx offenkundig nur in seinen Armen liegen, Haut an Haut, sich anschmiegen und geliebt fühlen, was Ephraim keine Mühe bereitete. Im Gegenteil, es war ihm ein ausgesprochenes Bedürfnis! *_* "Sag mal?" Jinx schlenderte am Sonntagmorgen Hand in Hand mit Ephraim nach ihrem späten Frühstück in einem Café durch eisige Winterluft bei schüchternem Sonnenschein. "Was denn?" Ephraim wandte Jinx die rote Nasenspitze zu. Er war ziemlich eingemummelt, doch irgendwie gelang es der frostigen Luft doch, ihn empfindlich zu kneifen! "Du findest mich jetzt nicht pervers nach gestern, oder?" Ungewohnt unsicher stotterte Jinx zögerlich einzelne Worte heraus. Ephraim benötigte einen Augenblick, um die Botschaft zu entschlüsseln, dann blieb er entschlossen stehen und blickte Jinx in das gerötete, attraktive Gesicht. "Ich liebe dich, Jinx. Ich bewundere dich, ich will immer mit dir zusammen und dein Freund sein." Ephraim fand, dass Verlegenheitsröte jetzt ohnehin nicht mehr auffiel. "Ich mag, was wir zusammen tun. Es ist schön. Ich finde mich schön, wenn wir zusammen sind. Sollte das pervers sein, dann-dann ist mir das vollkommen schnurz!" Noch eine flammende Rede aus dem Hause Lux, gepaart mit dem familieneigenen Starrsinn. Jinx lächelte so erleichtert, dass Ephraim, der normalerweise ihre Umwelt nicht mit übermäßigem Ausdruck von Zärtlichkeiten behelligen wollte, seine Vorsicht kurzerhand über Bord warf, ihm einen sehr intensiven, Knie erweichenden, Lungen erprobenden, Hormon explodierenden Kuss verabreichte. SO sah anständige Medizin aus! *_* Kapitel 9 - Heimsuchung Doreen warf Jinx einen Seitenblick zu und unterdrückte ein Grinsen. Jinx merkte wohl nicht mal, dass er selbstvergessen vor sich hinsummte, ein seliges Lächeln seine Züge noch verschönerte, und er gar nicht so extrovertiert wie üblich durch den Saloon fegte. "Da ist aber jemand sehr verliebt!" Neckte sie ihn. "Hu?" Jinx blickte sie an, blinzelte und schaltete auf sein gewohnt großmütiges Lächeln um. "Tut mir leid, ich habe gerade nicht zugehört?" "War nicht so wichtig." Kicherte Doreen. "Ich mache mich nur gleich auf die Socken, ja? Kommt Lucky heute nicht, um dich abzuholen?" "Doch, doch!" Ein vorfreudiges Strahlen erleuchtete Jinx' Züge. "Es wird nur ein wenig später. Ja, geh ruhig schon, ich mach den Rest noch." "Schönen Abend, Jinx!" Wünschte Doreen und fand, dass eine aufrichtige Liebe Jinx wirklich sehr gut zu Gesicht stand. "Dir auch, Doreen!" Jinx winkte geschäftig, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmete. Etwa zehn Minuten später trudelte auch Ephraim ein. Er trug den ersten dreiteiligen Anzug seines Lebens, genau auf ihn angepasst und sah trotz seiner bescheidenen Körpergröße sehr schneidig aus. "Guten Abend, mein Schatz!" Zwinkernd küsste Jinx ihn auf den Mund, ließ sich in eine hollywoodreife Umarmung ziehen und mit Ausfallschritt sehr ausführlich liebkosen. "Hallo, Jinx!" Raunte Ephraim mit hellblauen Funkelaugen. Seine roten Haare schienen winzige Flammenpartikel zu entzünden. Er stellte Jinx wieder auf die Beine und lächelte für einen langen, vertrauten Augenblick ebenso schweigend in die dunklen Augen. "Wie war dein Tag?" Erkundigte er sich schließlich sanft, denn bei Jinx war ja immer was los! In diesem Moment hörten sie ein ungewohntes Röhren auf dem Busbahnhof. Ein Motor wurde final abgewürgt, dann schlugen Türen heftig. "Nanu?" Brummte Ephraim und zog Jinx an der Hand zu den Türflügeln. Quer auf den markierten Abstellflächen stand ein großer, geschlossener Pickup, eine Ausgabe, die Jinx despektierlich als Potenzpanzer bezeichnete. Für Ephraim waren die Ausmaße zwar nichts Besonderes, aber er lernte allmählich, die Welt mit europäischen Augen und Maßstäben zu sehen. "Ob die sich verirrt haben?" Stellte Jinx eine Hypothese auf, bestaunte zwei kugelrunde Riesen, die wie für eine Alaska-Expedition eingepackt waren und unzweideutig einander die Meinung sagten. "Ich fürchte, nein." Diagnostizierte Ephraim beherrscht, drückte Jinx' Hand, der ihn alarmiert ansah. "Das da sind meine Eltern und sie wollen mich wohl doch wiedersehen." *_* "Sie wollen dich holen!" Murmelte Jinx tonlos, umklammerte mit der freien Hand Ephraims Arm. "Na, da werden sie aber Pech haben!" Stellte Ephraim ungerührt fest. Er wandte den Kopf und neckte scherzend. "Was meinst du, sollen wir durch die Hintertür ausbüchsen? Ein Leben auf der Flucht?" Jinx' fahlbleiches Gesicht ließ ihn die Stirn runzeln. "Hör mal, Jinx, ich gehe nicht mit, klar? Ich bleibe bei dir. Du musst keine Angst haben, in Ordnung?" Der verstörte Ausdruck in den schönen Zügen verlor sich nicht mal bei diesen Beteuerungen. Ephraim straffte seine übersichtliche Gestalt. "Nur Mut! Stellen wir den Feind. Ich habe keine Angst." Zu seiner eigenen Verblüffung entsprach dies durchaus den Tatsachen, auch wenn seine Eltern wohl weniger "Feinde" als unerfreulich irregeleitete Zwangsbeglückende waren, was vermutlich der Eltern-Job automatisch mit sich brachte, von der jahrelang ausgeübten, wohlmeinenden Tyrannei ganz zu schweigen. Jinx umklammerte immer noch seinen Arm, als er sie vor die Tür geleitete, in beherrschten Schritten dem streitenden Ehepaar näher kam. Die Ursache identifizierte er rasch: seine Mutter hatte am Steuer gesessen! Was grundsätzlich zum Ausbruch von bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte. Nicht umsonst hatte in der Familie Lux jeder sein eigenes Geführt (Ephraim umständehalber ausgenommen). "Mom, Dad? Was tut ihr hier?" Mischte er sich souverän in eine verbale Kanonade. "Baby! Pack sofort deine Sachen, wir fliegen heim! Und ICH fahre, weil dein Vater so kreuzdämlich war, seinen Führerschein nicht einzustecken!" Ätzte Mrs. Lux gebieterisch. "Ich wäre gar nicht hier, Mrs. Oberschlau, wenn du mich nicht genervt hättest, wir müssten unseren Sohn retten!" Bollerte Mr. Lux zurück. "Wessen glorreiche Idee war's denn, unser Baby in dieses Sodom zu schicken, hm, Mr. Besserwisser?!" Mrs. Lux machte keine Konzessionen oder Gefangene. "Ich für meinen Teil bin sehr gern hier, Mom." Ephraim drückte beruhigend Jinx' eiskalte Hand. "Ich habe nicht die Absicht, zurück nach Kansas zu fliegen." "Red keinen Unsinn!" Schnaubte seine Mutter entschieden, während sein Vater donnerte. "Du tust, was man dir sagt, Junior, sonst setzt's was!" Dann bemerkten beide Jinx. "Ja, darf ich vorstellen, mein Lebensretter, Gastgeber, Freund und Boyfriend Jinx." Ephraim lächelte Jinx aufmunternd an, der bloß steif nickte. So paralysiert hatte Ephraim den älteren Werwolf noch nicht erlebt. Er musste sich wirklich sehr davor fürchten, dass Ephraim nicht zu seinem Wort stand. "Du! Wie kannst du es wagen, unser Baby zu derartigen Perversitäten zu verführen?! Er ist doch noch ein halbes Kind!" Mrs. Lux anklagender Zeigefinger näherte sich mit Schallgeschwindigkeit Jinx' Brust, wollte dort Löcher stanzen. "Genau! Unser Sohn ist anständig erzogen worden! Er würde nie so was machen!" Dröhnte Mr. Lux. "Moment mal!" Stampfte Ephraim und trat demonstrativ vor Jinx, um Handgreiflichkeiten zu verhindern. "Das ist alles Stuss! Jinx ist mein fester Freund, ich werde bei ihm hier bleiben. Das könnt ihr akzeptieren, dann unterhalten wir uns weiter in Ruhe." Er seufzte vernehmlich. "Oder ihr macht hier eine lächerliche Szene, die zwischen Erwachsenen absolut unwürdig ist. Dann wünsche ich einen guten Heimflug." Nach einer Verblüffungsminute dröhnte der Elternchor in heller Empörung. "Du kommst mit, aber plötzlich, sonst versohl ich dir den Hintern, verstanden?!"| "Wie kannst du es wagen, so mit uns zu sprechen?!" "Fein, ist eure Wahl. Mom, Dad, macht's gut!" Unbeeindruckt und stoisch stur machte Ephraim auf dem Absatz kehrt. Er spürte die Hand seines Vaters, entschlossen ihn zu packen. Reflexartig wich er herum wirbelnd aus und schlug sie weg. Aus seinen hellblauen Augen feuerten grimmige Blitze. "Ich bin kein Kind mehr, Vater! Wenn du mich nicht so nehmen kannst, wie ich bin, dann zieh den Schlussstrich! Das wird mich nicht hindern, mein Leben zu führen und für mich selbst zu entscheiden." Mr. Lux funkelte ebenso zornig zurück, dann wandte er sich brüsk ab. "Rede du mit dem Bengel. Der ist vollkommen plemplem. Von MIR hat er das nicht!" "Ach ja?! Willst du damit was andeuten?!" Mrs. Lux fauchte guttural. "Baby, stehst du vielleicht unter Drogen? Diesem Designerzeug, was einen total willfähig macht?" "Mom!" Ephraim verdrehte die Augen. "Ich bin vollkommen klar. Ich habe meine Wahl getroffen, in Ordnung?" "Kommt nicht in Frage!" Eine besitzergreifende Hand packte seinen freien Arm. "Ich habe dich aufgezogen, ich lass dich doch nicht in diesem Gomorrha untergehen!" Zu schnell für Ephraims Wahrnehmung hatte Jinx seine Hand gelöst und umklammerte nun das Handgelenk seiner Mutter. Jinx war noch immer sehr bleich, das Gesicht ausdruckslos, seine Stimme rau, als er wisperte. "Er gehört mir." Sein Griff schien verblüffend kraftvoll, denn nach einem verbissenen Wettstreit war Ephraims Arm frei. Dafür jedoch holte seine Mutter aus, um Jinx zu ohrfeigen. Ephraim drehte sich rasch, pilotierte Jinx aus der Einschlagzone, der offenkundig hocherhobenen Hauptes diese Kriegserklärung akzeptieren wollte. "Das reicht jetzt, alle beide!" Schimpfte Ephraim ärgerlich. "Mom, ich halte es für besser, du gehst mit Dad in euer Hotel. Wenn wir uns alle beruhigt haben, können wir erneut miteinander sprechen." "Ach ja?! Und wo denkst du, dass du jetzt hingehst?!" Mrs. Lux reckte das mächtige Kinn. "Nach Hause." Antwortete Ephraim schlicht. "Ich hatte nämlich einen langen Tag und bin müde. Gute Nacht, Mom." Dieses Mal konnte er unbehelligt mit Jinx abziehen. *_* "Entschuldige bitte, Jinx." Ephraim drückte Jinx sanft an sich. "Das war wirklich grauenvoll. Eigentlich sind meine Eltern nicht so..." Seufzend brach er ab. "Was werden sie als Nächstes tun?" Jinx kauerte auf der Bettkante, nagte unruhig an seiner Unterlippe. "Keine Ahnung." Brummte Ephraim nachlässig. "Ich glaube, das wissen sie selbst noch nicht. Mach dir keine Sorgen, ja?" Zärtlich streichelte er Jinx lange Strähnen aus dem Gesicht, küsste ihn liebevoll. "Keine Angst, uns trennt niemand. Hör auch nicht auf den Unsinn, den sie von sich geben, in Ordnung? Hab dich lieb, Jinx!" Jinx enterte überfallartig seinen Schoß, umklammerte seinen Rücken und krächzte. "Hab dich auch lieb, Lucky! Sehr lieb!" Ephraim lächelte ermuntert und initiierte einige neckende Küsse. Jinx reichte das jedoch nicht im Geringsten, er wollte viel mehr! Was er auch bekam, Wochentag, Stress, Elternüberfall hin oder her. *_* Ephraim knöpfte das Hemd gerade zu, als Jinx sich von hinten an ihn schmiegte. "Nanu?" Lächelte Ephraim. "Immer noch Angst, ich könnte gekidnappt werden?" Sein Scherz ließ die Umklammerung schmerzhaft werden. "...hab Lust..." Raunte Jinx begehrlich an seinem Ohr, rieb unmissverständlich seinen Schritt an Ephraims Kehrseite. Der jüngere Werwolf lupfte überrascht die Augenbrauen, denn am Abend hatten sie sich doch ziemlich ausgetobt und jetzt, nach dem Frühstück, blieb eigentlich nicht viel Zeit. "Will dich!" Stieß Jinx kehlig hervor. "Lucky, will dich!" Ein Code, der ihr gegenseitiges Verständnis förderte, eine Forderung, ein heftiges Verlangen. "Nimm mich." Antwortete Ephraim leise. Niemals hätte er abgelehnt. In Rekordgeschwindigkeit wurden ihm die Kleidungsstücke vom Leib gepellt. Er lehnte die verschränkten Arme auf die Durchreiche und stöhnte leise auf, als Jinx sich bereits handgreiflich mit ihm verband. Ein Quickie im Stehen, rasch und intensiv, eine sehr kurze Zündschnur und eine heftige Detonation. Ephraim gefiel es, und es schmeichelte ihm, wenn Jinx ihn so sehr wollte, wenn er umklammert, sein Kopf gebogen, er speichelnass geküsst wurde, Jinx' verlangendes Ächzen in seinen Ohren. "...he!" Er strich mit der Hand über die Arme, die ihn noch immer umklammerten. "Du musst keine Angst haben, Jinx. Ich gehe nicht von dir weg." "Aber sie sind extra gekommen!" Stieß Jinx hervor, presste die glühende Stirn in Ephraims Nacken. "Ich will nicht, dass sie dich mitnehmen! Du gehörst mir! Du gehörst mir!" Seine Stimme klang eindeutig verzweifelt. Ephraim überzog ein eisiger Schauer. "Kann es sein?" Raunte er mit nach hinten gedrehtem Kopf. "Jinx, kann es sein, dass du sehr einsam warst?" Für einige hastige Atemzüge bleib es sehr still zwischen ihnen. Eine ungeheure Erkenntnis für Ephraim, der über sich selbst staunte. "Ich hab's nicht gewusst, bevor du kamst!" Flüsterte Jinx gequält in seinen Nacken. "Ich halt's nicht aus, wenn du gehst!" "Aber ich gehe nicht!" Energisch und ein wenig grob drehte sich Ephraim, strich mit beiden Händen feuchte Strähnen aus Jinx' Gesicht, fixierte die dunklen Augen auf sich "Jinx, ich gehe nicht von dir fort! Weißt du was?!" Er nickte eifrig. "Ich gebe dir meinen Pass! Du behältst ihn bei dir, ja? Als Pfand! Was meinst du, hm?" Widerwillig nickte der ältere Werwolf, zwang sich zu einem schiefen Lächeln. "Tut mir leid, dass ich so hysterisch bin." "Du weißt bloß noch nicht, wie stur ich sein kann!" Ephraim grinste aufmunternd. "Hab keine Angst, ja? Du hast doch immer den richtigen Riecher, du weißt, dass wir beide zusammengehören!" Jinx nickte widerwillig, ging dann vor Ephraim in die Hocke, um diesem rasch beim Wiederherstellen seiner adretten "Arbeitserscheinung" zu helfen. Er stopfte sich Ephraims Reisepass in eine kleine Umhängetasche, die er sich um den Leib band. Auf keinen Fall wollte er die Schönheit in seinem Leben verlieren! *_* Henry Ruthercombe kannte sich mit schwieriger Kundschaft und Klientel aus, auch mit Rollkommandos überbesorgter Eltern, die unangekündigt wie eine Büffelherde in seine Kanzlei stürmten, erst mal misstrauisch bis paranoid den "Ausbeuter" ihres armen Lieblings in die Zange nehmen wollten. Ihn störte das gar nicht, denn es war eine Gelegenheit, zur Hochform aufzulaufen und seine verbalen Rhetorikkünste aufzupolieren. Dass diese beiden Hochseefregatten ein ziemlich aufdringliches Amerikanisch schwadronierten, trübte seine Begeisterung zwar ein wenig, aber man konnte schließlich nicht alles haben! Es wäre gelogen zu behaupten, die Andeutungen seines Freundes Dragomir zur familiären Situation seines Auszubildenden hätten ihn nicht auf eine offene Attacke vorbereitet. Er mochte den kleinen Burschen, der so ganz anders als seine Eltern auftrat und er erkannte ein herrisches Kinn, wenn er eins sah. Der kleine Kerl hatte mehr Format, als seine äußere Erscheinung vermuten ließ. Wenn der sich an eine Sache dran setzte, dann konnte man sehr gute Arbeit erwarten. »Na, dann wollen wir mal in die erste Runde gehen!« Henry rieb sich die großen Hände erfreut, nachdem er mächtige Pranken geschüttelt hatte und ließ den imaginären Gong ertönen. *_* Doreen musterte Jinx besorgt. Erst viel zu viel Kaffee, dann Kamillentee gegen die Bauchschmerzen und eine so fahrige Gesamthaltung, dass sie ihn lieber für sich allein Kleidung sortieren und umhängen ließen. "Ich warte lieber noch, bis Lucky kommt." Machte sie sich bemerkbar. Jinx' leerer Blick benötigte einen langen Moment, bevor er sich auf sie fokussierte. "Oh, nein, geh ruhig. Er hat mir geschrieben, es würde ein bisschen dauern." Selbst Jinx' Stimme klang ausgezehrt und krank. "Ich will dich aber nicht allein lassen, wenn's dir so schlecht geht!" Doreen gab nicht einfach auf. "Ist schon besser." Behauptete Jinx, gab sich jedoch nicht mal die Mühe, ein falsches Lächeln vorzutäuschen. "Ich werde wohl auch nach Hause gehen. Bin ja für heute fertig." "Dann geh ich ein Stück mit dir." Entschied Doreen. "Bis zum Auto." Unwirsch rieb sich Jinx mit dem Unterarm über die Augen. "Wirklich, Doreen, es ist okay. Geh heim, ja?" Für Jinx' normale Verhältnisse war das eine harsche Absage, doch nach Normalität sah heute nichts aus. Doreen seufzte laut, dann legte sie sanft eine Hand auf Jinx' verspannte Schulter. "Mach dir keine Sorgen, ja? Alle können sehen, dass Lucky total verrückt nach dir ist. Er wird dich nicht hängen lassen, niemals." "Hm." Brummte Jinx bloß und starrte auf seine Füße. Trotz inzwischen dreier Paare Socken fühlten sie sich wie Tiefkühlware an. Als Doreen die Türflügel hinter sich zufallen ließ, kauerte er sich auf einen Hocker, umklammerte seine Knie und verwünschte das lästige Zittern, das ihn unkontrolliert durchschüttelte. Ihm war so sterbenselend, dass er am Liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. So hatte er sich zuletzt vor 12 Jahren gefühlt. *_* Ein wenig hüftsteif näherte sich Ephraim dem Be Beautiful-Saloon. Vielleicht war die schnelle Nummer am Morgen doch nicht ganz so gut für sein verlängertes Rückgrat gewesen, wenn er den ganzen Tag nur im Bürodrehstuhl verbrachte? Erstaunt studierte er den Saloon, konnte kein einziges Licht brennen sehen. War Jinx die Zeit zu lang geworden? Doch nein, der Schlickrutscher wartete noch an seinem gewohnten Platz. "Jinx?" Entschlossen schob sich Ephraim durch die Türflügel hinein. "Jinx?" Nur eine trübe Notfunzel glomm vor sich hin, aber er konnte die zusammengekauerte Silhouette seines Liebsten erkennen. "He, was ist denn los?!" Ohne Federlesen ließ er seine Tasche sinken, hielt in großen Schritten auf Jinx zu, der sich wie ein Päckchen zusammengeballt hatte, aber so stark zitterte, dass der Absturz vom Hocker nur noch eine Frage von Wimpernschlägen zu sein schien. "Jinx!" Stieß Ephraim folglich erschrocken aus, umschlang die bebende Gestalt und zerrte sie fast gewaltsam auseinander, indem er Jinx aufrichtete und auf die Füße zwang. "Du-du hast doch nicht gedacht, ich lasse dich hängen, oder?" Wisperte Ephraim entsetzt über den derangierten Zustand des älteren Werwolfs. Der stand eindeutig unter Schock oder erlitt einen Nervenzusammenbruch! "Jinx, rede mit mir!" Forderte er laut, hielt Jinx mit einem Arm umschlungen, während er mit der freien Hand energisch über den erstarrten Leib rieb. "Verdammt, du bist eiskalt!" Mit klappernden Zähnen und verkeiltem Kiefer konnte natürlich keine Konversation in Gang kommen! Also zerrte sich Ephraim den eigenen Mantel herunter, streifte seine Anzugjacke ab, öffnete Weste und Hemd, teilte seine Körperwärme, während er Jinx aus den eigenen Klamotten schälte, soweit dies möglich war. Er angelte ein abgenutztes Handtuch heran, dessen Frottee mit "flauschig weich" gar keine Schnittmenge mehr bildete. Rubbelnd, reibend, zwischendurch seinen Atem aufblasend sorgte Ephraim dafür, dass die elende Kälte den Rückzug antrat, sie beide zu schwitzen begannen. Er löste Jinx Zopf auf, fächerte mit den Fingern durch die langen Haare, nutzte sie als weitere Dämmschicht, hopste mit seinem Freund auf der Stelle, um den Kreislauf anzuspornen, sich richtig ins Zeug zu legen. Erst, als sie beide keuchten, rot im Gesicht, schwitzend, entließ er Jinx aus der unbarmherzigen Folter. "Was-was ist passiert, Jinx?" Ächzte er, wischte sich durch die roten Haare. "Ich weiß nicht!" Schluchzte Jinx zurück. "Du warst nicht da, und, ich weiß nicht, mir war so kalt!" "Hast du was gegessen?" Ephraim wühlte ungeniert Kleidungsstücke aus dem Verkaufsangebot aus, zog Jinx wie ein Kind an. "Vielleicht ist dein Kreislauf im Keller?" "Mir war nicht gut." Murmelte Jinx, lehnte sich schwer an ihn. "Ich will nicht so sein, aber..." Seine hilflose, resignierte Geste, das Herabfallen der mühsam aufgewärmten Schultern, der verstörte Ausdruck in seinem Gesicht: Ephraim verspürte Zorn. Zorn auf sich selbst, weil Jinx wohl einfach nicht glauben konnte, dass er ihn an die erste Stelle in seinem Leben gesetzt hatte, dass er nicht mehr der weggeschickte Knirps war, der sich am Liebsten irgendwo vor der Welt verkrochen hätte. "Jinx." Mit beiden Händen umfasste er das ebenmäßige Gesicht, fixierte die dunklen Augen auf sich. "Jinx, es ist alles in Ordnung. Ich bin hier. Ich gehe nicht weg. Wir sind zusammen." Mit aufeinander gepressten Lippen nickte der ältere Werwolf gequält, wischte sich grob über die Augen. "Was soll ich tun, hm?" Ephraim suchte in dem bleichen Gesicht. "Was möchtest du, Jinx? Wie kann ich dir beweisen, dass ich immer bei dir bleibe?" Jinx entrang sich ein ersticktes Schluchzen, woraufhin er sich selbst wütend auf die Oberschenkel schlug, den Kopf zur Decke drehte, damit die unerwünschten Tränen nicht laufen konnten. "Das ist in Ordnung." Ephraim barg Jinx' Haupt trotz geringfügigen Widerstands in seiner Halsbeuge, wiegte ihn in seinen Armen. "Ist okay, Jinx. Lass es raus, ja?" Selbst wenn Jinx es sich anders überlegt hätte: seine Psyche überstimmte ihn gnadenlos und tränkte Ephraims Schulter gründlich. Der hielt seinen Freund fest und warm, über sich selbst verdrossen, denn er hatte eindeutig die Situation und die Belastung für Jinx unterschätzt. Mochte Jinx auch sehr viel stärker sein, erfahrener und selbstsicherer, so verzweifelt und unglücklich, wie er jetzt weinte, lastete ein unerträglicher Druck auf ihm. Möglicherweise auch die Erinnerungen an das brutale Ende seiner Kindheit auf der Ranch. *_* "Das ist nicht fair!" Murmelte Jinx mit immer noch verquollenen Augen, den Blick auf seine Finger gesenkt, die eine Verpackung von Schokoladen-Erdnuss-Pralinen zupften. "Was ist nicht fair?" Ephraim balancierte Jinx auf seinem Schoß, hielt ihn in seinen Armen und legte ab und an mit Marshmallow-gesüßtem Kakao nach. Jinx zog eine Schnute und grummelte leise. "Dass du total normal bleibst, während ich hysterische Anfälle bekomme." Was ihn sehr wurmte. "Oh. Hmm." Ephraim überdachte die Symptome und diagnostizierte in freudiger Erkenntnis. "Ach, das ist absolut normal, Jinx! Du bist verliebt! Da spielt einfach alles verrückt, schlimmer als Pubertät!" Er strahlte Jinx an, der ihm einen kritischen Blick schenkte, dezent schniefte und die Praline lutschte. "Wieschoo bischdu dnn nischscho?" Hakte er mümmelnd nach. "Ach, elterliches Erbe!" Verkündete Ephraim, küsste Jinx' Nasenspitze zärtlich. "Wir sind alle extrem stur. Vor allem, wenn wir recht haben oder zumindest davon überzeugt sind. Ich liebe dich, das ist richtig, und Punkt. Keine besonders komplizierten Gedankengänge, das gebe ich zu." Ergänzte er aufrichtig. "Aber wenn du nun wählen müsstest?" Jinx reckte das Kinn auffordernd, damit Ephraim ihm fürsorglich den Kakaobecher an die Lippen setzte. "Habe ich doch." Der jüngere Werwolf schälte geschickt mit einer Hand eine weitere Praline, schob sie Jinx zwischen die Zähne. "Meine Eltern fliegen morgen wieder heim, deshalb wurde es ja später. Wir haben uns nämlich im Hotel ausgesprochen, nachdem sie ja morgens einfach in der Kanzlei aufgetaucht sind." Jinx warf ihm einen bangen Blick zu und verstärkte die Umklammerung seines Nackens. "Es war gut, dass Mr. Ruthercombe vorher mit ihnen gesprochen hat. So konnten wir endlich auf das zu sprechen kommen, was sie tatsächlich gestört hat." "Das kann ich mir denken." Wisperte Jinx tonlos. "Glaube ich, ehrlich gesagt, nicht, mein Süßmäulchen!" Grinste Ephraim selbstgewiss. "Du hast mir übrigens gar nicht erzählt, dass dein Vater und seine Leute ziemlich berühmt sind." Jinx zuckte mit den Schultern. "Das hat mit mir nichts zu tun." "Ha, und da irrst du dich!" Ephraim küsste Jinx' gefurchte Stirn neckend. "Jetzt halt dich gut fest: meine Mutter glaubt, dass du das Schwarze Schaf deiner einflussreichen, berühmten und steinreichen Familie bist! Ein notorischer Casanova und Playboy, der alles vernascht, was seinen Weg kreuzt und mich als Unschuld vom Lande zu seinem aktuellen Opfer ausgewählt hat!" "Was?!" Schnaubte Jinx, schwankend zwischen Empörung und Verblüffung. "Ein reicher Playboy? Ich?!" "Aber hallo! Was für Geschichten da kursieren, ich konnte es kaum glauben! Der Klatsch blüht umso stärker, je weniger Fakten verfügbar sind!" Ephraim amüsierte sich, feixte. "Du bist quasi der Held von schwülstig-schwärmerischen Schurkenstücken in jeder Tratschrunde!" "Aber-aber das ist doch nicht wahr!" Protestierte Jinx grimmig. "Oh, das dachte ich ja auch!" Ephraim neckte ihn frech weiter. "Immerhin würde ein Playboy nur so mit Geld um sich schmeißen und auch nicht so einen Schlickrutscher fahren!" "Genau!" Jinx mümmelte eine weitere Praline mit finsterem Blick. "Doch dann bin ich ins Grübeln gekommen, während meine Mutter die Hitparade der schlimmsten Geschichten über dich und deinen liederlich-sündigen Lebenswandel referiert hat." Ephraim nickte gewichtig. "Vielleicht ist das hier bloß deine Tarnexistenz! Du könntest heimlich ein Superheld sein, so wie Batman! Und du HAST Strumpfhosen, hab ich selbst gesehen!" "Weil ich nicht gern friere!" Warf Jinx heftig ein. "Sie sind nun mal praktisch!" "Dieser Poncho, den du zu Hause hängen hast, der könnte auch als Cape durchgehen!" Genüsslich spannte Ephraim den Bogen weiter. "Ich finde das gar nicht komisch!" Jinx schnaubte aufgebracht. "Ich bin kein Playboy! Oder Casanova! Oder sonst was!" "Oh doch!" Ephraim drückte Jinx enger an sich, küsste ihn auf die zur Widerrede geschürzten Lippen. "Du bist mein Superheld." Jinx brummte leise. "Das sagst du jetzt nur, um mich aufzuheitern." "Nein." Ephraim lachte liebevoll. "Ich meine das absolut ernst. Du haust mich aus den schlimmsten Schwierigkeiten raus, nimmst mich so, wie ich bin, bringst mir viele neue phantastische Dinge bei und lässt mich dich lieben. Wenn dich das nicht zum Superhelden macht, dann weiß ich auch nicht!" Nun musste Jinx doch lächeln. "Also schön. Aber nur für dich." "Umso besser!" Ephraim stopfte ungeniert eine weitere Praline nach. "Jetzt hast du endlich wieder gelächelt. Das hab ich sehr vermisst." Jinx lutschte und legte den Kopf auf Ephraims Schulter. Nun fühlte er sich erschöpft wie nach einem Marathon. "Hast du es ihr gesagt?" Raunte er leise an Ephraims Ohr. "Dass diese Geschichten Unsinn sind? Selbstverständlich." Der jüngere Werwolf streichelte mit einer Hand durch die langen, dunklen Haare. "Ich hab ihnen erzählt, wie hart du arbeitest, was du alles kannst, wie sehr du deinen Saloon liebst, wie gern dich hier alle haben. Und wie du mir das Leben gerettet hast. Was du alles für mich tust." Er legte den Finger unter Jinx' Kinn, dirigierte es sanft, um ihn zu küssen, dann zwinkerte er. "Allerdings gab's einen kleinen Eklat, als meine Mutter den Knutschfleck auf meinem Nacken entdeckte, als ich die Krawatte gelockert habe." Jinx schmunzelte scheu. "Na ja." Ephraim lächelte zurück. "Das ist dann auch das Kernthema gewesen. Zwei Jungs zusammen, das gehört sich nicht. Ich kann aber nicht ändern, dass wir beide Männer sind. Wenn es um 'schwul' geht, bin ich der erste Kandidat, schon rein mathematisch, aber das ist nicht der Punkt, habe ich ihnen gesagt. Wir lieben einander, schlicht und einfach." "Wobei es nie wirklich einfach ist." Jinx setzte sich mühsam auf und leckte sich verlegen über die Lippen. "Hör mal, ich wollte, also, es war nicht richtig, dass ich deine Mutter gepackt habe. Ich hab nicht nachgedacht." "Das ist schon in Ordnung!" Ephraim grinste. "Ich würde sogar sagen, dass ihr das ziemlich imponiert hat. Meine Eltern geben viel auf körperliche Stärke, du hast sie ja erlebt. Wenn ihnen einer Paroli bieten kann, sind sie erst mal baff." "Darum ging's mir aber gar nicht!" Jinx schien entschlossen, seine Schuld zu bekennen. "Ich wollte dich nicht freigeben! Ich führe mich auf wie ein Kleinkind, ich weiß!" Er schluckte schwer. "Bloß, es tut weh, wenn ich mir vorstelle, dass du nicht mehr da bist." "Jinx!" Ephraim strich mit den Fingerspitzen über Jinx' Schläfe und Wangen. "Ich bin hier. Ich gehe nicht weg, versprochen. Ehrenwort. Es ist okay, dass du mich für dich behalten willst. Geht mir ja genauso." Zweifelnd lupfte Jinx eine Augenbraue. Sein ungezügeltes Verhalten schien ihm kaum vergleichbar mit Ephraims artigem Auftreten. Der feixte frech. "Erinnerst du dich an unser Schäferstündchen in Stuhl 3?" Jinx lächelte. "Hat mir sehr gefallen." Ephraims Mundwinkel kräuselten sich lausbubenhaft. "Oh, und mir erst! Vor allem, als Airiiin am nächsten Abend vorbeikam, ich dort Beine baumelnd herumlungerte und rein zufällig einen heftigen Knutschfleck am Schlüsselbein hatte." Jinx blinzelte, dann kicherte er. "Perfid!" "Klein, aber oho!" Korrigierte Ephraim, hob Jinx' Rechte an seine Lippen und küsste den Handrücken. "Jetzt, mein Held, lass uns heimgehen, ja? Meine Eltern haben gleich drei Tüten von den Pralinen mitgebracht, die wir vernaschen können!" "Ehrlich?" Jinx' Augen funkelten trotz Schwellungen begeistert. "Ich mache dir heiße Milch mit Honig." Versprach Ephraim. "Dann halte ich dich warm, die ganze Nacht. Ist das ein Angebot?" "Wo sind meine Schlüssel?! Los, gehen wir!" Jinx schnappte sich Ephraims Hand und zog ihn zu den Türflügeln. Aufgeräumt werden konnte schließlich am nächsten Morgen auch noch, wenn sie nicht rein zufällig verschliefen. *_* "Jinx?" "Hmmm?" "Lass mich jetzt bitte los, ja? Ich muss aufstehen." Ephraim legte ein geliebtes Gesicht unter wirren Strähnen frei. Wirklich verrückt, dass sie die ganze Nacht immer eng aneinander geschmiegt geschlafen hatten! "Hrmmmrmm!" Protestierte Jinx knurrend gegen seinen Ausbruchsversuch. Sein Körper glühte wieder vor verschwenderischer Wärme. Lächelnd zupfte Ephraim an der Nasenspitze des älteren Werwolfs. "Jinx, bitte, bitte, ja?" "Schlafe noch!" Behauptete der rebellisch mit gesenkten Lidern. "Ach so." Pflichtete ihm Ephraim trügerisch versöhnlich bei und begann, sanft Nase, Wangen und Lippen zu benagen. Jinx gab schließlich auf, klappte die Lider hoch und grollte. "Das ist gemein!" "Guten Morgen, mein Held!" Ephraim lächelte verschmitzt. "Lass uns das hier heute Abend in aller Ruhe fortsetzen, ja?" "Uhh!" Missmutig stemmte Jinx sich hoch, rieb sich über das Gesicht und studierte dann die Uhrzeit. "Herrje!" Ächzte er alarmiert, denn wie Ephraim erwartet hatte: Jinx' Pflichtbewusstsein funktionierte recht zuverlässig. "Wir können auf dem Weg zum Saloon was holen!" Empfahl Ephraim, schlug die Bettdecke zurück und räkelte sich. "Aber vorher muss ich dich doch absetzen!" Jinx drehte sich rasch die langen Strähnen zu einem Knoten auf. "Uh, sehe ich so zum Fürchten aus, oder ist der Spiegel da bloß ungünstig angelaufen?" Ephraim lachte und entstieg ebenfalls ihrem Bett, schüttelte die Kissen auf. "Ab ins Bad mit dir, mein Schmuckstück!" "Spotte du nur!" Jinx' Stimme drang gedämpft aus der Nasszelle. "Aber wenn du mal in meinem Alter bist...!" Er reichte Ephraim Zahnputzbecher mit Zubehör, dazu dessen Handtuch, damit der die Mini-Spüle in der Kochnische zur Hygiene nutzen konnte. Schmunzelnd schüttelte der jüngere Werwolf den Kopf. Dieses Geplänkel pflegten sie des Öfteren, und er konnte wirklich nicht verstehen, wieso Jinx keinen Begriff von seiner Attraktivität hatte. Selbst mit Runzeln und 90 Jahren auf dem Buckel würde er noch schön sein! Nach einer eiligen Katzenwäsche zogen sie sich rasch an, sammelten Habseligkeiten ein und flitzten zu Jinx' Ford Ka. "Ich fahre mit dir!" Erinnerte Ephraim gut gelaunt. "Also nächster Stopp ist die Bäckerei." "Musst du denn nicht in die Kanzlei?" Jinx kämpfte mit einer detonierten Haarspange während einer Rotlichtphase. "Später, ja." Ephraim übernahm den Kampf, damit Jinx sich dem Pilotieren widmen konnte. "Erst muss ich meine Eltern in den Zubringer setzen. Sie fliegen doch heute ab." Jinx erstarrte für einen Augenblick, sogar die Luft hielt er an. "Verstehe." Murmelte er endlich. "Ich sag bloß Tschüss, setze sie in den richtigen Bus und dann haben wir die Invasion meiner wohlmeinenden, aber überfürsorglichen Familie überstanden." Beruhigte Ephraim aufmunternd. "Dann komm ich mit. Wenn du nichts dagegen hast." Tapfer straffte Jinx seine anmutige Gestalt. Ephraim bestaunte ihn einen Moment, dann breitete sich ein fröhliches Lächeln gemächlich auf seinem Gesicht aus. "Oh, Jinx!" Wisperte er zärtlich und küsste eine warme Wange. "Du bist mein Held!" *_* Es war kein Showdown auf der Hauptstraße, nicht nur, weil es erst kurz nach 9 Uhr am Vormittag war. Nein, Mr. und Mrs. Lux hatten offenkundig keine so erholsame, in Tiefschlaf versinkende Nacht verbracht wie die jüngeren Werwölfe. Gereizt wurden die Rollkoffer zum Bus getrieben. Man klagte über zu kleine Betten, zu dünne Decken, überhaupt war alles in diesem verwünschten Land wie bei den Liliputanern! Jinx hielt Ephraims Hand, nicht verkrampft, sondern vertraut warm und fest. Nun, obwohl sein Herz heftig klopfte, spürte er Ephraims Selbstsicherheit, eine unerschütterliche Überzeugung oder auch ein gewaltiger Starrsinn. Kein Zögern, kein Wanken, keine Bedenken. Er war hier, um seine Eltern nach Hause zu verabschieden, nicht mehr und nicht weniger. "Guten Morgen, Mom, Dad!" Ephraim winkte mit der freien Hand. "Habt ihr gut geschlafen?" "Pah!" Raunzte Mr. Lux. "Verdammt unbequem und kurz. Kann nicht verstehen, wie du es hier aushältst!" "Baby, bist du sicher, dass du warm genug an bist?" Mrs. Lux beäugte ihren Sohnemann, warf dann einen sehr prüfenden Blick auf Jinx. Der straffte seine Schultern und bemerkte höflich. "Erlauben Sie mir darauf hinzuweisen, dass die Gerüchte, die Sie über mich vielleicht gehört haben, alle nicht der Wahrheit entsprechen. Ich bin weder reich noch ein Playboy oder Casanova." "Tja, dachte mir schon, dass da was nicht stimmt!" Mrs. Lux hob die Kinnpartie. "Das ist ja wohl kein Auto für einen einflussreichen Mann!" "Das ist ja auch nur zur Tarnung!" Mischte sich Ephraim mit geheimnistuerischem Flüstern ein. "Mom, Spiderman nimmt doch auch die U-Bahn!" Seine Mutter blickte ihn irritiert an, doch es war Mr. Lux, der Jinx eine mächtige Pranke auf die Schulter legte und ihn eindringlich fixierte. "Ich versteh's zwar nicht, aber behandle meinen Jungen ja anständig und wage es nicht, ihm das Herz zu brechen, sonst brech ICH DIR das Genick, verstanden?!" Zu Ephraims Überraschung lächelte Jinx leicht, streckte die Rechte aus und schüttelte die Hand seines Vaters. "Sie können unbesorgt sein. Ich werde Lucky lieben und ehren, ihm stets zur Seite stehen und alles Übel von ihm abwenden, soweit es in meiner Macht steht." "Hrmpf!" Grummelte Mr. Lux. "Ich merke mir das, klar?" "So, wie ich es tue." Antwortete Jinx gelassen. In diesem Moment mahnte der Busfahrer zum Einsteigen, sie wollten schließlich alle pünktlich ihre Flüge erreichen! "Oh, mein Baby!" Ungewohnt heftig fand sich Ephraim an den mütterlichen Busen gedrückt, erhielt einen Knie lädierenden Schlag auf die Schulter und vernahm ein grollendes Grunzen. Dann blieb ihm nichts weiter, als dem abfahrenden Bus nachzuwinken. Jinx hielt wieder seine Hand, was gut tat, denn plötzlich verspürte Ephraim doch einen Kloß im Hals. Irgendwie erschienen ihm seine Eltern geschrumpft, nicht mehr übermächtig und unbesiegbar, sondern traurig und ratlos. Jinx registrierte das schiefe Grinsen, mit dem der jüngere Werwolf seine Beklommenheit überspielen wollte und zog ihn wortlos in eine tröstende Umarmung. So standen sie eine Weile, stützten einander und hielten sich warm in der auffrischenden Brise. Ephraim löste sich schließlich, räusperte sich und lächelte Jinx an, der ihn besorgt betrachtete. "Weißt du, ich habe jetzt riesige Lust auf ein Croissant mit Erdnuss-Schoko-Creme, dazu einen starken, gesüßten Kaffee!" Jinx lächelte befreit und hakte Ephraim unter. "Kannst du bekommen! Folge mir in den Be Beautiful-Saloon, dort ist die Welt schön, wir sind schön, das Leben ist schön!" Schnurrend setzte Ephraim sich in Bewegung und säuselte. "Mein Held, mit dir gehe ich überall hin!" "Und ich mit dir, weil du ein Glückskind bist! Los, wer zuerst an der Tür ist!" Jinx entschlüpfte ihrem Verbund und startete beschwingt. "Foul! Frühstart!" Protestierte Ephraim lachend und nahm die Verfolgung auf. Die letzten Meter vor der Tür streckte Jinx die Hand nach hinten aus, und Ephraim ergriff sie. Gemeinsam konnten sie alles erreichen. Das Leben war wirklich wunderschön! *_* ENDE *_* Vielen Dank fürs Lesen! kimera