Titel: Angels Geschichte, Buch 1: Giftiges Efeu Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: http://www.livejournal.com/users/kimerascall/ Original FSK: ab 16 Kategorie: Drama Erstellt: 21.01.2001 ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* ~~?* Angels Geschichte, Buch 1: Giftiges Efeu Kapitel 1 Frank hockte auf dem Plastikstuhl und starrte auf den schmucklosen Altar. Auf dem Boden daneben stand ein einfaches Blumenarrangement, das Pult war leer. Er saß kerzengerade, eine Hand auf dem Griff des schäbigen Koffers neben sich, die andere hinderte einen einfachen Schulrucksack am Umfallen. Er drehte sich nicht um, als der Mann der städtischen Pietät neben ihn trat. "Komm, Junge, es ist vorüber. Wenn die Urne bestattet wird, rufen wir dich an. Du kannst mir deine Nummer im Büro geben." Frank erhob sich steif, schulterte den Rucksack und hob den Koffer, dann folgte er langsam dem vorauseilenden Mann. Im Büro verschwand der Mann hinter einem großen Schreibtisch, kramte einen Zettel hervor. "Wie lautet deine Telefonnummer?" Frank überlegte kurz, dann nannte er die Nummer. "Das ist das Sekretariat dieser Privatschule, nicht wahr?" Frank nickte stumm. "Nun gut, wir melden uns dann. Mach's gut, Junge." Frank nickte wieder stumm und verließ hochaufgerichtet das Büro. Er folgte dem Weg durch den alten Teil des Friedhofs zum Ausgang. Am Tor blieb er kurz stehen und betrachtete die Tafel mit den Trauerterminen. »Ein ganzes Leben, und nun nur noch ein bisschen Asche und fünfzehn Minuten Trauer.« Eine bleierne Müdigkeit überkam ihn, aber er schluckte ein paar Mal und marschierte zur nächsten Bushaltestelle. Er stellte fest, dass der nächste Bus erst in einer Viertelstunde kam, also hockte er sich auf einen der Schalensitze im Wartehäuschen. Frank beobachtete den vorbeirauschenden Verkehr und versank in Gedanken. ~~?* Vor drei Tagen war er von der Schule nach Hause gekommen. Er hatte leise die Wohnungstür aufgeschlossen und die Einkaufstüte auf den wackeligen Resopaltisch in der Küche gestellt. Zunächst verstaute er die Lebensmittel im Kühlschrank, dann erst hing er seine Jacke im Flur an den Haken und den Rucksack mit seinen Schulsachen ordentlich darunter. Das Wohnzimmer betretend hatte er sich über die zugezogenen Vorhänge gewundert. Eigentlich waren es nur alte, dünne Läufer vom Flohmarkt, aber sie erfüllten ihren Zweck. Als er sich umdrehte, hatte er sie gesehen. Seine Mutter lag auf dem verschlissenen Sofa, ein ihm unbekannter Mann war zwischen das Sofa und die Teekiste gerutscht, die als Wohnzimmertisch diente. "Mama?" Seine Stimme hatte hohl geklungen. Langsam war er auf das Sofa zugegangen. Er wusste, dass sie tot war. Ihre Augen waren blicklos auf die Decke gerichtet, aus dem Mund sah ihre Zungenspitze hervor. Was er erblickte, war nur eine Puppe, die seiner Mutter ähnelte, aber das konnte kein Mensch sein, so steif, so leer. Er hatte sich neben sie auf das Sofa gesetzt und seine Hand auf ihre gelegt. Ihre Hand war kalt, die Haut fühlte sich fremd an. Er hatte sie genau betrachtet, das Band um den Oberarm, die bläulich schimmernde Einstichstelle, die wirren, blondierten Haarsträhnen, das geblümte Hauskleid. Dann hatte er den Mann studiert. Ein ungepflegter Vollbart machte es unmöglich, sein Gesicht einzuordnen. Fettige Haare zu einem schmuddeligen Zopf zusammengebunden. Selbst aus der Entfernung konnte Frank den Schweißgeruch riechen. Die gebrochenen Augen wirkten genauso fremd wie die seiner Mutter. Auf dem Boden lagen ein Feuerzeug und ein billiger Metalllöffel. Die Spritze war zwischen die Polster gerutscht, nur der Griff ragte heraus. "Du hattest es doch geschafft, Mama. Wir hatten es geschafft. Was ist bloß passiert?" Er war aufgestanden und hatte seine Jacke übergezogen. Dann holte er Geld aus der schmalen Börse in der Küche und verließ die Wohnung. Er war bis zum nächsten Münzfernsprecher gelaufen, der drei Blocks weiter stand. Glücklicherweise hatte Vandalismus diesen verschont. Frank hatte die Notrufnummer gewählt und der Frau am anderen Ende ruhig erklärt, was geschehen war. Der nächste Anruf galt ihrer Sozialarbeiterin, wo er auf dem Tonband die Nachricht hinterließ, dass seine Mutter verstorben war. Langsam hatte er den Rückweg zur Wohnung bewältigt und sich dort auf das Sofa gesetzt, die Hand auf die kalte Hand seiner Mutter gelegt und gewartet. Ein Krankenwagen war vorgefahren, eine Streife gleichzeitig eingetroffen. Er öffnete die Tür und führte die Beamten in die Wohnung. Im Hintergrund wartete er, während der Arzt seine Mutter und den Fremden untersuchte. Die Polizisten hatten inzwischen ein paar Photos geschossen, die Spritze und den Löffel sichergestellt und ließen sich dann vom Arzt die Totenscheine ausfertigen. Frank machte die erforderlichen Angaben zu seiner Mutter. Bei dem Mann musste ein verdreckter Personalausweis aus der Hosentasche reichen. Der Arzt verließ die Wohnung, die Beamten befragten Frank und nahmen seine Aussage auf. Sie holten per Funk einen Leichenwagen, und Frank sah seine Mutter zum letzten Mal, in einen schwarzen Plastiksack gehüllt. Dann war sie fort. Die Polizisten erklärten, sich noch mal melden zu wollen und folgten den Leichenträgern. Frank hatte die Tür geschlossen und sich in die Küche gesetzt. Dort hatte er die Nacht verbracht, auf den wackeligen Stuhl gekauert. Er hatte in die Stille gelauscht und auf die Trauer gewartet. Sollte nicht der Schock bald abklingen? Aber da war nichts gewesen. Er hatte keinen Schmerz verspürt, keine Tränen, nichts. Schließlich hatte er seine Schulsachen geholt und seine Hausaufgaben erledigt. Da war bereits der Morgen hereingedämmert. Er hatte sich Frühstück gemacht, allerdings wie üblich zwei Tassen Kaffee aufgebrüht. Als er seinen Fehler bemerkte, stellte er die Kaffeetasse an ihren üblichen Platz auf den Küchentisch, setzte sich ihr gegenüber und verfolgte, wie der aufsteigende Dampf sich im Raum verlor. Ein lautes Türenknallen hatte ihn aus seiner Betrachtung gerissen. Er würde sich beeilen müssen! Frank hatte eine Katzenwäsche hinter sich gebracht, das Hemd gewechselt und war zur Tür gestürzt. Als er seine Jacke überstreifte, hatte er sich umgedreht und auf die Wohnzimmertür gestarrt. "Mach's gut, Mama." ~~?* Die Schule war wie in einem Traum an ihm vorübergezogen. Er musste wohl automatisch reagiert haben, denn niemand bemerkte seine Geistesabwesenheit. Nach der letzten Stunde machte er sich auf den Weg zur Sozialstation. Geduldig wartete er auf einen Termin und nutzte die Zeit für Hausaufgaben. Seine Sozialarbeiterin war auf den Flur gestürzt, dann abrupt stehen geblieben. "Es tut mir ja so leid. Wie konnte das passieren?" Frank hatte seine Schulsachen eingesammelt und war ihr stumm gefolgt. Er konnte sich diese Frage auch nicht beantworten. Er spürte, dass seine Ruhe die Frau nervös machte. Sie hatte verlegen begonnen, von der Beerdigung zu sprechen, den Kosten, der Wohnung, seiner Zukunft. Frank hatte gleichgültig zugehört. Die Beerdigung würde in einem Urnenbegräbnis bestehen auf dem Feld der Namenlosen. Eine Trauerfeier dauerte fünfzehn Minuten, für den Kranz gebe es fünfzig Mark. Frank hatte genickt, die Einzelheiten mit der Pietät würde er regeln. Die Wohnung könne er noch eine Weile bewohnen. Weil er aber minderjährig sei, müsse er eigentlich in ein Heim oder eine Wohngruppe. Da sei aber im Augenblick kein Platz frei. Außerdem müsse er ja noch regelmäßig zur Schule gehen. Sie habe bereits eine Idee. Wenn die realisiert werden könne, werde sie ihm die Einzelheiten nennen. Frank hatte eine Vollmacht entgegengenommen, dazu das Kranzgeld. Er hatte sich höflich verabschiedet und war danach zur Pietät gefahren. Natürlich hatte man ihn warten lassen, aber das kümmerte ihn nicht. Dann hatte er die Einzelheiten besprochen und nach einem Organisten gefragt. Statt des Kranzes wollte er, dass bei der Trauerfeier, deren einziger Besucher er sein würde, das Lieblingslied seiner Mutter gespielt werde. Der Organist hatte zunächst gezögert, aber fünfzig Mark für fünfzehn Minuten schienen ihn zu überzeugen. Frank war nach Hause gefahren und zu Tode erschöpft ins Bett gefallen. Das Wohnzimmer hatte er nicht betreten. ~~?* Der nächste Tag verlief ähnlich. In der Schule bewegte er sich wie ein Automat. Danach ging es wieder zur Sozialstation. Dieses Mal musste er nicht lange warten. Die Sozialarbeiterin strahlte, sie hatte ihm einen Platz in einem Internat in der Stadt besorgt. Es sei zwar eine Privatschule, die Schüler seien sehr wohlhabend, aber es sei ja nicht für lange. Wenn ein Platz in einer Wohngruppe frei würde, könne er die Schule wieder verlassen. Er müsse sich allerdings gleich am übernächsten Tag in der Schule melden. Frank hatte erklärt, dass an diesem Tag die Trauerfeier stattfinde. Die Frau hatte betreten gewirkt und versprochen, seine Anmeldung auf den Nachmittag zu verschieben. Und da sei noch etwas. Sie habe ihn bereits von seiner Schule abgemeldet und einen Tag Schulbefreiung erwirkt. Er müsse nämlich morgen die Wohnung räumen. Frank hatte das gleichgültig akzeptiert. Er hatte nichts anderes erwartet. Die Wohnung zu verlassen, machte ihm nichts aus. Jetzt war sie nur noch eine leere Hülle, seelenlos. Er hatte in der Nacht seine Habseligkeiten gepackt. Sie passten in den verschlissenen Koffer und seine Schultasche. Dann hatte er auf den Morgen gewartet. An Schlaf war nicht zu denken gewesen. ~~?* Gleich nach dem Frühstück brachte er die geliehenen Bücher in die Bibliothek zurück. Er hatte das Gefühl, dass er in der nächsten Zeit nicht dazu kommen könnte. Gegen Mittag waren Möbelpacker gekommen, die ihre alten Möbel auf einen Lastwagen packten. "Alles nur Müll", bemerkte einer, und Frank fühlte einen leichten Stich. Natürlich waren die Möbel und die Einrichtung gebraucht und vom Flohmarkt, sie hatten eine lange Zeit vom Sozialamt gelebt. Als er sich in der Wohnung umsah, war sie kahl und nichtssagend. Die Sozialarbeiterin stritt sich mit den Packern, wo Frank denn heute Nacht schlafen solle, sie könnten doch nicht alles mitnehmen. Frank hatte abgewinkt, das sei schon in Ordnung. Die Sozialarbeiterin zögerte, aber Frank lud sie zum Abendessen ein. Die Küchengeräte blieben ja, also konnte er noch etwas zu essen machen. Er hatte sich Mühe gegeben und so viele Lebensmittel aus dem Kühlschrank verwandt wie möglich. Den Rest würde man wohl wegschmeißen müssen. Es war ein opulentes Mahl geworden, aber Frank hatte es nicht genossen. Die Sozialarbeiterin hockte ihm gegenüber auf der verschlissenen Picknickdecke und kaute verlegen. Sie hatten kaum etwas gesprochen. Schließlich versprach sie, ihn morgen vor der Privatschule zu erwarten, dann ging sie eilig. Frank hatte die Plastikteller abgespült und dann in den blauen Müllsack geworfen, ebenso das Küchenhandtuch. Er lehnte sich gegen den Kühlschrank, die Picknickdecke um sich gewickelt. Das Brummen hatte ihn seltsam getröstet, und er war eingeschlafen. ~~?* Am Morgen hatte er die Wohnung verlassen, ohne sich umzudrehen. Die Haustürschlüssel warf er in den Briefkasten der Wohnungsgesellschaft und machte sich dann zum Friedhof auf. Er hatte geduldig auf die Trauerfeier seiner Mutter gewartet, nahm Platz genommen und lauschte der Orgel. »Somewhere over the Rainbow.« »Ich hoffe, Mama, dass du jetzt über dem Regenbogen bist...« ~~?* Der Bus hielt quietschend vor Frank, und er raffte rasch seine Sachen zusammen und stieg ein. Er lehnte den Kopf an das Fenster und griff in seine Jackentasche. Dort lag sein größter Schatz. Vorsichtig zog er das fleckige Polaroidbild hervor. Seine Mutter lachte in die Kamera, beide Arme um ihn geschlungen. Er war zehn Jahre alt gewesen, und sie waren zur Feier in den Zoo gegangen. Bei herrlichem Wetter hatten sie viel Spaß gehabt. So wollte er seine Mutter in Erinnerung haben, nicht die kalte Puppe, die auf dem Sofa gelegen hatte. »Wir hatten es doch fast geschafft, Mama. Was ist schiefgegangen?« ~~?* Frank erinnerte sich an die Gespräche mit seiner Mutter. Sie war bei seiner Geburt siebzehn gewesen und ganz allein. Sie hatte in einem Heim gelebt und war ausgerissen. Auf der Straße nahm sie Drogen und prostituierte sich zur Finanzierung. Sie war bereits auf Heroin, als sie bemerkte, dass sie schwanger war. Sie hatte sich ein Kind gewünscht. "Frank, du bist ein Wunschkind, vergiss das nie!", hatte sogar das Heroinspritzen gelassen. Der Entzug sei furchtbar gewesen, aber sie habe ein gesundes Kind haben wollen. Etwa drei Jahre lang lebten sie in einer Wohngruppe, dann bekamen sie eine Einzelwohnung. Männer waren gekommen und gegangen, kurze Affären. Sie hatte als Verkäuferin gearbeitet. Frank war stolz auf sie gewesen. Er hatte früh lernen müssen, wie wichtig Geld war, besonders, wenn man keines hatte. Und seine Mutter hatte soviel Energie, diesen Mangel auszugleichen. Sie suchten Flohmärkte ab und sparten, um die Wohnung einzurichten und zu dekorieren. Kleidung trug er aus zweiter Hand, nur seine Schuhe waren immer neu gewesen, da seine Mutter nämlich gelesen hatte, dass die Füße ein Spiegelbild des Körpers seien und darum gepflegt werden müssten. Kurz nach seinem elften Geburtstag hatte sich dann alles verändert. Seine Mutter war arbeitslos geworden, und sie hatte keine Stelle mehr antreten können. Dann fand sie neue Freunde, und bald lagen bunte Pillen auf dem Küchentisch, und der süßliche Geruch von Marihuana empfing Frank nach der Schule. Er hatte versucht, diesen Umstand zu verschleiern, indem er Zigaretten verbrannte, wenn die Sozialarbeiter sie besuchten. Seine Mutter war immer verwirrter geworden. Aus Angst vor einer Trennung lernte Frank, wie er ihre Unterschrift fälschte. Er hob daraufhin die Sozialhilfe ab, verwaltete ihren Etat, strengte sich in der Schule an und hielt zu Hause alles in Ordnung. Wenn man nicht auffiel, würde diese schlechte Phase vorübergehen ohne Schwierigkeiten! Frank lernte mit Hilfe der vielen Bücher aus der Leihbibliothek Kochen, gesunde Ernährung mit wenig Geld. Auf diese Weise versuchte er, die Wirkung der Drogen zu bekämpfen. Er hatte seiner Mutter keine Vorwürfe gemacht, sie war schließlich noch jung und ihr Leben nicht einfach, aber als er eine Spritze gefunden hatte, war er explodiert. Sie stritten sehr heftig, und seine Mutter schlug ihm schließlich vor Wut ins Gesicht. Er erinnerte sich an diesen Moment genau. Wie im Film hatte er die Faust auf sich zurasen sehen, aber er war unfähig gewesen, ihr auszuweichen. Er war von der Wucht gegen die Wand geschleudert worden, Blut war gespritzt. Seine Mutter war kreidebleich geworden, hatte sich auf ihn gestürzt und ihn weinend in die Arme genommen. Am nächsten Morgen waren die Pillen verschwunden, und langsam hatte sie sich wieder an einen geregelten Tagesablauf gewöhnt. Dann war in dem kleinen Lebensmittelgeschäft eine Aushilfe gesucht worden, und seine Mutter hatte die Zusage bekommen. Sie hatten es doch fast geschafft. Wieso hatte sie Heroin gespritzt mit diesem Fremden? ~~?* Es war der Goldene Schuss, hatten die Polizisten gesagt. Wollte sie sterben? »Mama, was ist passiert? Ist es meine Schuld? Warum lässt du mich allein?« ~~?* Der Bus hielt ruckartig, und Frank schreckte hoch. Die Endstation war erreicht. Hastig raffte er seinen Koffer und schulterte den Rucksack. Die neue Schule lag nur ein paar Meter von der Haltestelle entfernt. Mehrere, alte Gebäude, die hervorragend saniert worden waren, machten einen soliden Eindruck. Den ganzen Komplex umgaben schmiedeeiserne Gitter. Frank marschierte zum Tor. Er war pünktlich, die Sozialarbeiterin jedoch nirgends zu sehen. Er betätigte die Klingel und meldete sich höflich über die Gegensprechanlage. Geräuschlos öffnete sich das Tor, und Frank trat in den Hof. Langsam durchquerte er den kopfsteingepflasterten Eingangsbereich und betrat das Hauptgebäude. [Anmeldung und Sekretariat, erster Stock], lautete das Hinweisschild an der Eingangstür. Frank stieg durch das gewundene Treppenhaus in den ersten Stock. Das gesamte Gebäude erinnerte ihn an die vornehmen, englischen Internate, die er in einem Bildband gesehen hatte. Imposant und einschüchternd. Er klopfte höflich an der Tür mit dem Schild [Anmeldung] und wartete auf die Aufforderung, eintreten zu dürfen. "Ja, bitte?" "Guten Tag. Mein Name ist Frank Bayer. Ich bin ein neuer Schüler." Die ältliche Dame hinter dem Schreibtisch verzog das Gesicht. "Ach, der Junge vom Sozialamt, was?!" Frank nickte ruhig. Er ließ sich ungerührt mustern, diese Behandlung war er gewöhnt. "Meine Güte, die haben Ideen...", murmelte die Frau verärgert. "Nun gut, da es sich wohl nicht ändern lässt. Ich stelle dich deinem Tutor vor. Das ist ein betreuender Lehrer." Frank nickte und folgte ihr mit leichtem Abstand. Sie stiegen ein Stockwerk höher und betraten einen großen Raum, in dem sich mehrere Personen aufhielten. "Herr Karlsson, der Junge vom Sozialamt." Ein großer, eckig wirkender Mann mit rotem Vollbart schoss auf Frank zu, packte seine Hand wie einen Pumpschwengel und schüttelte sie heftig. "Hallo, Karlsson meine Name. Frank Bayer, richtig? Mein Beileid übrigens." Frank nickte höflich und erklärte, er freue sich, die Bekanntschaft von Herrn Karlsson zu machen. "Oh, höflich? Sehr erfrischend. Gut, zeige jetzt mal die neue Unterkunft." Damit verschwand er mit ausholenden Schritten im Flur, und Frank musste sich beeilen, um ihn nicht zu verlieren. Während sie die Treppen hinabstiegen und wieder den Hof betraten, erklärte Karlsson Frank das Gelände, in dem schon bekannten Telegrammstil. Frank hörte aufmerksam zu. Es gab zwei Schulgebäude, eine Sporthalle und dann das Wohngebäude selbst mit Aufenthaltsräumen und der Küche. "Kommst in ein Zweibettzimmer. Mitschüler heißt Xavier St. Yves. Ist im gleichen Alter. Werdet euch sicher verstehen." Im Wohngebäude ging es lebhaft zu, ständig liefen Jungen die Treppen auf und ab. Sobald sie Frank sahen, blieben sie stehen und musterten ihn neugierig. Frank hielt den Blick starr auf Herrn Karlssons Rücken gerichtet und folgte ihm in das oberste Stockwerk. Herr Karlsson fegte schwungvoll den schmalen Korridor hinab und klopfte an die letzte Zimmertür, riss diese gleichzeitig auf. "Ah, Xavier, neuer Mitschüler ist da. Macht euch bekannt. Nimm ihn mit in die Kurse, muss leider weg." Bevor Frank noch etwas sagen konnte, war Herr Karlsson bereits den Korridor zurückgelaufen und verschwunden. Ratlos stand er in der Türöffnung. Das Zimmer befand sich unter der Dachschräge, eine große Luke erhellte den Raum. Zwei Betten standen unter der Schräge an jeder Wand, getrennt von zwei sich gegenüberstehenden Schreibtischen. An der Stirnseite rund um die Zimmertür warteten Schränke und Regale bis unter die Decke. An einem Schreibtisch saß ein großer, schlanker Junge in einer Schuluniform. Der Kopf war über ein Buch gebeugt, die schulterlangen, weißblonden Haare verdeckten das Gesicht völlig. Frank räusperte sich. "Hallo. Ich heiße Frank Bayer." Langsam wurde der weißblonde Kopf angehoben und zu ihm gedreht. Flaschengrüne Augen unter schwarzen Brauen funkelten ihn an, der Blick war eindeutig ablehnend. Die schmalen Lippen waren zu einem abschätzigen Grinsen verzogen. "Ach was, der Typ vom Sozialamt. Freak Bayer, hm?" "Nein, Frank!" "Ha!", mit einer aufreizenden Geste schob Xavier blonde Strähnen hinter das Ohr, "ich weiß schon, was du bist, Freak! Stimmt es, dass deine Junkie-Mutter vor ein paar Tagen abgekratzt ist?" Frank starrte in das hämische Grinsen. Er hörte die Worte, aber sie prallten von ihm ab. Er sah den Jungen aufmerksam an. »Warum ist er so feindselig?« Xavier zog wütend die Augen zusammen. "Was ist? Kannst du nicht mal sprechen, Freak?!" Frank drehte den Kopf zur linken Zimmerecke. "Ist das mein Bett?" Ohne die Antwort abzuwarten, ging er die paar Schritte und stellte den Koffer langsam davor ab. Dann zog er den Rucksack von den Schultern. Eine Hand packte seine Schulter und riss ihn heftig herum. "Jetzt hör mal zu, du Freak! Ich will dich hier nicht haben, aber leider kann ich das im Augenblick nicht ändern. Wenn du hier Läuse einschleppst, dann brech ich dir das Genick, klar? Also bleib weg von mir und meinen Sachen!!" Frank starrte in die grünen Augen, die ihn angeekelt ansahen und blieb völlig ruhig. Xavier zog ruckartig seine Hand zurück und wischte sie demonstrativ an seiner Hose ab. "In zehn Minuten beginnt der Unterricht, also wasch dich, du Schmutzfink!" Damit verschwand der Blonde aus dem Zimmer. »Xavier? Ein ungewöhnlicher Name.« Frank setzte sich auf das Bett, die Matratze schien neu zu sein, sehr stabil. Dann stand er auf und öffnete den Kleiderschrank auf der linken Seite. Natürlich war er bereits besetzt. Probeweise öffnete Frank auch den rechten Kleiderschrank, auch hier befand sich Bekleidung in allen Farben, dazu noch allerlei andere Dinge. »Nun gut«, dachte er ruhig, »mein Zeug kann auch im Koffer bleiben, ich habe sowieso nicht viel.« Außerdem würde er ja vielleicht gar nicht lange hier bleiben. Er schob den Koffer unter das Bett, stellte seinen Rucksack neben das Fußende und sah an sich herunter. Eigentlich noch ganz passabel, er brauchte sich nicht umzuziehen. Frank öffnete die Tür und trat auf den Flur. Hände waschen, aber wo waren die Waschräume? Er erinnerte sich an Steigleitungen an der Hauswand und an die Telegramm-Erläuterung von Herrn Karlsson. Demnach konnten sich die Waschräume nur neben dem Treppenhaus befinden. Also ging er den Flur hinab, es war totenstill auf der Etage. Tatsächlich, an einer Tür hing ein Piktogramm mit Dusche, Waschbecken und Toilette darauf. Frank öffnete die Tür. Rechts wies eine Tür den Zugang zu Waschbecken und Toiletten, links ging es zu den Duschen. Frank ging durch die rechte Tür und betrat den Waschraum. An der Wand waren Waschbecken angebracht, darüber Spiegel, auf der anderen Seite waren Toilettenkabinen und Urinale. Auch hier befand niemand. Frank wusch sich die Hände und suchte nach seinem Handtuch. An jedem Waschbecken hatte man Haken mit Zimmernummern angebracht, die Bewohner nach A und B getrennt. Seine Zimmernummer, die dreizehn, befand sich beim letzten Waschbecken in der Reihe, das Handtuch am Haken A noch feucht. »Also ist Xavier schon hier gewesen«, schloss Frank. Er verließ den Waschraum und ging zurück zu seinem Zimmer. Aus dem Rucksack holte er einen Block und einen Kuli, stieg dann die Treppen hinunter und trat vor das Wohngebäude. ~~?* Zwei Schulgebäude, doch wo fand sein Unterricht statt? Er blickte an beiden Gebäuden hoch. Aus einem Fenster sah ein großer Junge. »Da sollte ich es mal versuchen«, dachte Frank, »er sieht so alt wie ich aus.« Er betrat das Haus und stieg die Treppen hoch. Hier herrschte Getöse, Schüler riefen durcheinander und jagten durch die Flure. Im höchsten Stockwerk standen ein paar Jungen auf dem Flur, zwischen ihnen auch Xavier. Als Frank den Flur betrat, verstummten die Gespräche, und alle drehten sich zu ihm um. Frank blickte starr gerade aus, welches war sein Klassenzimmer? Er wurde von der Stimme Herrn Karlssons erlöst. "Ah, Frank, haben sich schon eingefunden, was? Gut, mir nach, alle Mann, wollen mal loslegen!" Forsch schritt Herr Karlsson in seinem eiligen Stil an Frank vorbei und preschte in das Klassenzimmer. Frank blieb stehen, bis alle anderen vor ihm eingetreten waren. Er zog die Tür hinter sich zu und überflog die Reihen, wo war ein freier Platz? "Okay, Männer, das hier ist Frank Bayer, neuer Mitschüler. Erwarte, dass alle ihm beim Eingewöhnen helfen. So, da hinten ist Platz, am Fenster." Frank nahm wie angewiesen Platz. Was für ein Unterschied zu seiner alten Klasse! Der Tisch war unversehrt, kein Kaugummi, keine Aufkleber, keine Gravuren in der Lasur. Der Stuhl war aus Holz, aber ebenso gepflegt wie der Tisch. Und dann die Aussicht! Aus dem Fenster konnte man auf den Hof und in das Wohngebäude sehen, über den Dächern war der freie Himmel. Frank legte Block und Kuli auf den Tisch. "Gut, Männer. Nun mal zur Geschichte der Französischen Revolution..." Frank verfolgte den Unterricht gespannt, man las abwechselnd Originalquellen vor und diskutierte dann darüber. Dabei waren die anderen Jungen ruhig und konzentriert, anders als in seiner Schule. Sicher, waren sie auch nur achtzehn Jungen! In seiner alten Klasse waren sie fast doppelt so viele Schüler gewesen. »Es ist wie in diesen Romanen über englische Elite-Universitäten«, dachte Frank fasziniert. Nach der Geschichtsstunde folgte Mathematik. Der Lehrer, von Schöller, war steif und wirkte trotz seiner vielleicht vierzig Jahre wie aus einem alten, preußischen Geschichtsbuch entsprungen. Dreiteiliger, grauer Anzug, Seitenscheitel, sogar eine Taschenuhr an einer Kette. Überrascht bemerkte Frank, dass Xavier ziemlich gut in Mathe zu sein schien, er diskutierte mit dem Lehrer und wusste jede Antwort. Dabei benahm er sich für Franks Empfinden ein bisschen seltsam, strich sich aufreizend durch die Haare und lächelte verführerisch. Doch niemand außer ihm schien das wahrzunehmen. »Selbst seine Stimme ist anders, dunkel und lasziv. Was soll das?« ~~?* Nach dieser Stunde war Unterrichtsschluss, alles strömte hinunter und über den Hof ins Wohngebäude. Frank folgte der Flutwelle. Offensichtlich gab es nun etwas zu essen, denn über den Hof zog ein verlockender Geruch nach Kaffee und Gebäck. Frank stieg hinter seinen neuen Mitschülern nach oben und wartete geduldig im Waschraum, bis Xavier seine Hände gewaschen hatte. Der starrte ihn im Spiegel angewidert an. Frank wusch sich die Hände und folgte als letzter der Schülergruppe. Die anderen unterhielten sich munter, Xavier unter ihnen. "Hey, Angel, heute Abend musst du mir dieses Mathe-Zeug erklären, ich habe überhaupt nichts kapiert." Frank hörte Xavier antworten, "klar, mein Bester, dafür leihst du mir dein Vokabelheft." "Hast wieder Latein geschwänzt, was?" "Wer braucht das Zeug schon? Ist doch nur was für Angeber, die Phrasen dreschen wollen." Wieder war das Xaviers Stimme, amüsiert und ironisch. ~~?* Im Untergeschoss befand sich der Speisesaal. Obwohl alle Schüler jetzt zum Essen kamen, herrschte doch Disziplin. Klassenweise traten die Schüler an die Essensausgabe, jeder mit einem Tablett bewaffnet. Dann ging jede Klasse an ihren Tisch mit den langen Bänken, aber niemand begann mit dem Essen, bevor nicht alle saßen. Am Kopfende des Saales residierten die Lehrer. Als endlich alle Platz genommen hatten, erhob sich Herr Karlsson und sprach ein kurzes Tischgebet. Frank nahm das Ganze überwältigt auf. Es gab Tee, Kakao und Kaffee in großen Warmhaltekannen. Man konnte sich Kuchenstücke und Kekse holen oder auch belegte Brote. Dazu ein Tischgebet? Das war alles so ungewohnt. Frank hatte sich an seinen Mitschülern orientiert, er wollte nicht auffallen. Er wählte ein Rosinenbrötchen und ein paar Butterkekse. Nun reichte man die Kannen herum. Frank bedankte sich höflich bei seinem Tischnachbarn, der ihn erst verwirrt und dann abschätzig musterte. Frank probierte den Kakao, der tatsächlich nach Milch und Schokolade schmeckte. Er biss vorsichtig in das noch warme Rosinenbrötchen. »Herrlich! Was für ein leckeres Essen!« Frank versuchte gar nicht, der Unterhaltung zu folgen, die um ihn herumschwirrte. Er genoss einfach nur den Kakao und die Kekse. Dabei dachte er über das nach, was sich bis jetzt ereignet hatte. Eigentlich war es gar nicht so schlecht gelaufen. Er hatte ein Dach über dem Kopf, es gab gute Sachen zu essen, und er hatte in den letzten Stunden wie in einem Roman gelebt. Jäh wurde er aus seiner Versunkenheit gerissen, als Herr Karlsson plötzlich hinter ihm stand. "Ach, Frank, müssen sich noch Uniform besorgen. Xavier, werden Ihren neuen Mitschüler begleiten. Ausgang morgen Nachmittag bis zum Tee." Frank sah erschrocken hoch, eine Uniform? Ihm war zwar aufgefallen, dass alle dunkelgrüne Hosen und schwarze Sakkos trugen, aber keine Embleme oder Wappen. Er hatte keine entsprechenden Kleider. Was das wohl kostete? Er verfügte nicht mehr über viel Geld. Erst im nächsten Monat würde er ein Taschengeld bei der Sozialstation abholen können. Scheu blickte er sich um. Das waren edle Stoffe und Materialien, die seine Tischnachbarn da trugen. Er begegnete Xaviers Blick, der ihn wütend anblitzte. Offensichtlich hatte der keine große Lust, ihn zu begleiten. Nach dem Essen fanden Sportkurse statt, andere Schülergruppen saßen in verschiedenen Aufenthaltsräumen und erledigten Schularbeiten. Frank schloss sich seiner Klasse an, wurde aber von einer älteren Lehrerin aufgehalten, die ihn in die Bibliothek führte und ihm Schulbücher aushändigte. Er bestaunte die neuen Schätze. Alle Bücher waren in sehr gutem Zustand, dazu noch sehr aktuell. Mit Bedauern verließ er die Bibliothek. Die ganzen Regale übten eine magische Anziehungskraft auf ihn aus. »Wenn man mich hier eine Nacht einschlösse, würde mir das überhaupt nichts ausmachen! Es wäre wie im Schlaraffenland!« Wo war nun der Studienraum seiner Klasse? Frank stieg versuchsweise zu seinem Klassenraum hoch, aber der Raum war verlassen. Im Flur begegnete er einem jüngeren Schüler. "Entschuldigung, wo finde ich den Studienraum der letzten Klasse?" Der Jüngere grinste ihn an, sie waren fast gleichgroß. "He, du bist doch der Neue, der jetzt bei Angel wohnt, richtig?" "Angel?" "Xavier. Aber alle nennen ihn nur Angel. Hat dich wohl stehen lassen, was?" Frank zuckte hilflos mit den Achseln. Der Jüngere musterte ihn kurz, schien dann aber Mitleid zu haben, denn er wies ihm den Weg, in das zweite Gebäude, im obersten Geschoss. Frank schüttelte verwundert den Kopf, »da hätte ich auch selbst drauf kommen können.« Offensichtlich orientierte sich hier alles nach der Klassenstufe. Wieder erklomm er Treppen bis unter das Dach. Die Tür des Studienzimmers stand offen, sodass er die Unterhaltung seiner Klassenkameraden auf dem Flur hören konnte. "Also, Angel, was ist das für ein Typ?" "Wen interessiert das? Der ist bloß vom Sozialamt hier abgestellt, sie werden ihn sicher bald wieder abholen. Der passt doch überhaupt nicht hier hin. Wahrscheinlich kriegt er beim Abendessen Schweißausbrüche, wenn er mit Besteck essen soll!" Gelächter ertönte. "Angel, du bist wirklich nicht zu beneiden. Wie heißt er doch gleich noch mal?" "Frank. Sieht aber eher nach Freak aus. Klamotten aus der Altkleidersammlung und die Frisur! Völlig verzottelt. Vielleicht hat er sogar Läuse!" Rufe des Abscheus hallten in den Flur. Frank zögerte nur kurz, dann betrat er ruhig den Raum. Tische waren zu Gruppen zusammengeschoben, offensichtlich versammelten sich verschiedene Lerngemeinschaften da. An der Wand standen Regale mit Büchern und Lernmaterialien. Die Gespräche verstummten, und alle Augenpaare richteten sich auf Frank. Xavier erhob sich langsam, katzengleich räkelte er sich und sah Frank dann kalt an. "Ich bin wirklich überrascht, du hast uns ja ganz allein gefunden." Frank schwieg weiter. Er spürte, dass Xavier eine Show abziehen wollte und nur auf das passende Stichwort wartete. "Tja, Männer, müssen dann wohl arbeiten", imitierte Xavier gekonnt Herrn Karlssons Tenor und erntete Grinsen, dann setzten sich die einzelnen Gruppen an ihre Tische. »Er scheint von allen geachtet zu werden, sie tun, was er sagt«, bemerkte Frank. Da niemand ihm einen Platz anbot, ging er zu der freien Tischgruppe am Fenster und ließ seinen Bücherstapel fallen. An der Wand entdeckte er den Stundenplan, hervorragend! Frank prägte sich ihn ein, schlug dann aufs Geratewohl ein Schulbuch auf und begann zu lesen. Er spürte die neugierigen und abschätzenden Blicke nicht mehr, so versunken war er in seiner Lektüre. ~~?* Eine Glocke ertönte, und in die Lerngruppen kam Bewegung. Die Bücher wurden in die Schränke geräumt, dann strömten alle ins Treppenhaus. Xavier verschwand mit ihnen, und Frank beschränkte sich darauf, der Gruppe langsam zu folgen. Wieder ging es in den Waschraum, dann runter in den Speisesaal, zum Abendessen. Frank verfolgte gespannt das Treiben um ihn herum. Zum Abendessen gab es eine klare Brühe vorweg, belegte Brote und Obst. »Unglaublich«, staunte er, »so viele frische Sachen!« Die anderen schienen jedoch das Essen nicht besonders zu mögen, sie lästerten leise, oder verzogen gelangweilt die Gesichter. Frank brachte das Abendessen in sich gekehrt hinter sich, »was für ein Luxus.« Er hoffte, dass er sich nicht zu schnell an dieses Leben gewöhnte, denn es würde schwer sein, wieder in den Alltag mit eisernem Sparen und Mangel zurückzukehren. Dann erinnerte er sich an die Schuluniform. Ob Xavier ihm wohl sagen konnte, was da erwartet wurde? Musste man die Sachen in einem speziellen Geschäft kaufen, oder reichte es, wenn die Optik entsprechend war? Frank ging in Gedanken seine wenigen Besitztümer durch. Glücklicherweise hatte er zwei nur leicht verschlissene, weiße Hemden, diese Sorge war schon mal vom Tisch. Aber ein Sakko und grüne Hosen? Er besaß zwei einfache Jeans und eine Sporthose, ein paar T-Shirts mit Werbung und zwei Pullover, dazu die Regenjacke und für den Winter eine alte Dufflecoat. »Wenn ich die Sachen täglich wasche, wird es vielleicht gehen.« Aber wie wurde hier überhaupt gewaschen? Er würde Xavier dazu fragen müssen, da führte kein Weg vorbei. ~~?* Das Abendessen wurde beendet, und Frank folgte seinen Kameraden. Nun ging es auf die Zimmer, das Licht wurde im ganzen Haus um zehn Uhr gelöscht. Xavier stieß die Tür zu ihren Zimmer auf und ließ sich auf sein Bett fallen. Frank schloss die Tür leise hinter sich und setzte sich auf sein Bett, sah dann zu Xavier hinüber. "Entschuldige, aber wie läuft das mit der Uniform eigentlich?" Xavier funkelte ihn an und schnaubte dann gelangweilt, "ganz einfach, man geht in einen Laden und kauft das Zeug." Frank ließ nicht locker, "also muss nur Farbe und Schnitt stimmen, oder?" "Du bist ja ein ganz schneller, was?" Xavier grinste spöttisch, erhob sich geschmeidig und kramte einen Discman aus einem Schrank. "Und wie läuft das mit der Wäsche?" "Freak, du nervst! Als ob du dich so oft waschen würdest!" Frank blieb ruhig, er war eher überrascht als wütend. »Ich frage mich, was er eigentlich für ein Bild von mir hat?« "Kannst du es mir nicht sagen?" Xavier fuhr herum, "also gut, Schmutzfink, im Keller sind Waschmaschinen. Bettwäsche und Handtücher gehen in eine Wäscherei, alles andere machen wir selbst nach Bedarf. Jetzt zufrieden?" Frank nickte und bedankte sich höflich. Xavier ließ sich auf das Bett fallen, kramte dann in einem kleinen Fach und holte ein winziges Handy hervor. Frank bezweifelte, dass der Besitz von Handys erlaubt war, beschränkte sich aber darauf, aus seinem Koffer ein altes T-Shirt und Boxershorts zu ziehen. Xavier telefonierte inzwischen. "Hallo? Genau, meine Schöne. Hör mal, ich kann morgen raus, wie steht's bei dir? Hm, sicher, dafür ist immer Zeit." Da war sie wieder, diese laszive, betörend dunkle Stimme, eine leicht schleppende Sprechweise. Xavier strich sich wieder langsam weißblonde Strähnen aus dem Gesicht, räkelte sich dabei wohlig und lauschte der Stimme am anderen Ende. "Ja, meine Süße, ich sehe dich dann morgen. Träum von mir!" Er beendete das Gespräch und versteckte das Handy dann wieder sorgfältig. Gähnend erhob sich dann vom Bett und zog aus einem Kleiderschrank einen Pyjama. Frank konnte den Blick von dem Kleidungsstück nicht abwenden. Was für eine schöne Farbe, ein changierendes Grün, wie chinesische Seide, mit einem eingewobenem Muster! "Was glotzt du so, hm, Freak?!" Xaviers Blick war höhnisch, er starrte auf die Boxershorts und das alte T-Shirt auf Franks Bett. Frank kehrte ihm den Rücken zu und wechselte seine Kleidung. Dabei fühlte er sich seltsam beobachtet, ein bohrender Blick in seinem Nacken. Prüfend wandte er sich schließlich herum. Xavier hockte tatsächlich noch unverändert im Schneidersitz auf seinem Bett und musterte ihn mit undurchdringlicher Miene. Frank zog Zahnbürste und Zahnpasta aus seinem Rucksack und verließ das Zimmer. ~~?* Im Waschraum tummelten sich schon andere Schüler. Sie schwiegen bei seinem Eintreten abrupt, aber als er darauf nicht reagierte, sondern einfach seine Zähne putzte, nahmen sie ihre Gespräche wieder auf. Frank schrubbte ordentlich, spuckte den Schaum in das Waschbecken. Als er sich wieder aufrichtete, konnte er im Spiegel Xavier sehen, der direkt hinter ihm stand. Ruhig trocknete er sich ab, gab dann das Waschbecken frei. Nun sah er Xavier zu, der sich ebenfalls die Zähne putzte. Der war in den Pyjama geschlüpft. Die grüne Farbe betonte seine helle Haut und die weißblonden Haare. Er hatte das Oberteil offen gelassen, man konnte eine schlanke und wohlgeformte Brustpartie erkennen, wenn er sich über das Becken beugte. Frank stutzte, was war das? Tatsächlich, Xavier hatte eine Tätowierung auf der linken Brust! Frank konnte aber nicht genau erkennen, was sie darstellte. "He, Angel, schickes Teil! Woher hast du denn das?" Xavier richtete sich auf, verzog die schmalen Lippen zu einem Lächeln und murmelte dann verschwörerisch, "ist ein Geschenk von einer Verehrerin!" Die anderen staunten, "wirklich?" Xavier lachte spöttisch, "warum sollte ich lügen?" Ausrufe der Bewunderung ertönten. Dann wandte sich Xavier kurz zu Frank um, starrte ihn schweigend an. Frank erwiderte den Blick, marschierte dann zur Tür und verließ den Waschraum. Er betrat das Zimmer und rollte sich auf dem Bett zusammen. Er schloss die Augen und versuchte, sich an den Stundenplan für den morgigen Tag zu erinnern. Ein Knall weckte ihn aus seiner Versunkenheit, Xavier hatte mit dem Fuß die Tür hinter sich zugeschlagen. Nun plumpste er auf die Matratze, kramte dann unter seinem Bett eine kleine Leuchte hervor, die er in eine nahe Steckdose steckte. Dann stand er behände auf und löschte die Deckenbeleuchtung. Das Licht der kleinen Leuchte glomm warm auf dem Boden vor Xaviers Bett. Frank drehte den Kopf und wünschte Xavier höflich eine gute Nacht. "Und ich wünsche dir hässliche Träume, Freak!" Xaviers Stimme drang höhnisch zu Frank herüber, aber er ignorierte diese Bemerkung geflissentlich. »Ich möchte wissen, warum er mich so ablehnt. Ist er ein Snob? Oder hat er ein übersteigertes Geltungsbedürfnis? Ist er gern grausam? Meint er wirklich mich, oder ist es gar nichts Persönliches?« Frank starrte an die schräge Zimmerdecke im Halbdunkel und sinnierte. Er war noch nicht müde, obwohl der Tag anstrengend gewesen war. »Hallo Mama, wenn du mich hinter deinem Regenbogen siehst, mir geht es gut. Ich bin in einer neuen Schule, in der ich auch wohne. Bitte sei nicht sauer, dass ich unsere Wohnung mit all den Sachen aufgegeben habe. In meiner Erinnerung besteht alles noch so, wie es vor einer Woche war. Ich bin ein bisschen traurig, weil ich dich nun nicht mehr umarmen kann. Aber ich liebe dich, keine Angst.« »Warum hast du das getan?« Frank wischte sich heimlich Tränen aus den Augen, aber das war keine richtige Trauer mit Weinkrämpfen oder heftigem Schluchzen. Es war nur wie früher, wenn er etwas einfach nicht verstehen konnte. »Aber ich verzweifle nicht. Niemals.« ~~?* Kapitel 2 Ungewohnte Geräusche rissen Frank aus dem Schlaf. Tapsen über den Flur, Gesprächsfetzen. Er schreckte hoch, blinzelte ein paar Mal heftig, erinnerte sich dann, dass er in seiner neuen Schule war. Energisch strich er sich die braunen Strähnen aus den Augen und sah zu Xavier hinüber. Der lag so, wie er sich am Abend hingelegt hatte: fest in die Decke eingerollt, diese bis zur Nasenspitze hochgezogen. Lediglich die weißblonden Haare ragten heraus. Leise schlüpfte Frank aus dem Bett, schnappte sich ein paar Sachen für den Waschraum und huschte lautlos aus dem Zimmer. Im Waschraum taumelte nur eine einsame Gestalt vor einem Becken hin und her, offensichtlich im verzweifelten Bemühen, die Haare mit Haargel zu einer verwegenen Tolle zu formen. Frank wünschte leise einen guten Morgen, trat dann zum eigenen Becken und begutachtete sein Spiegelbild. »Eine Haarwäsche wäre nicht schlecht.« Er kramte das Shampoo hervor, tauchte dann den Kopf unter den Wasserhahn, keuchte leise unter dem kalten Wasserstrahl. Dann maß er vorsichtig eine Fingerspitze Shampoo ab und feuchtete die Lotion an, damit er den Schaum in die Haare verteilen konnte. Er massierte energisch, tauchte dann wieder unter dem kalten Wasserstrahl ab. »Kaltes Wasser macht den Kopf frei!« Er trocknete sich behutsam die Haare ab, sah sich dabei im Spiegel zu. »Ich sehe wirklich nicht besonders gut aus, die Augenringe sind zum Fürchten! Vielleicht sollte ich mal ein bisschen in die Sonne gehen, damit es nicht auffällt.« Frank widerstand der Versuchung, sich selbst die Zunge rauszustrecken und sammelte seine Habseligkeiten wieder ein. Vorsichtig öffnete er die Zimmertür und hielt nach Xavier Ausschau. Der schien noch immer tief zu schlafen, unbeweglich wie ein Stein. Frank zuckte mit den Achseln, öffnete dann seinen Koffer und suchte sich Hemd und Hose für den Unterricht heraus. »Heute Abend werde ich die Waschküche suchen müssen. Vielleicht haben sie sogar einen Trockner hier, dann ist alles bis morgen Früh fertig.« Als er sich das Hemd zuknöpfte, vernahm er ein leises Stöhnen von Xavier. Frank drehte sich um und musterte den Jungen. Die weißblonden Haare waren völlig zerzaust, Xavier hatte eine Hand gegen die Stirn gepresst, die andere grub sich krampfhaft in die Matratze. "Alles in Ordnung?" "Fahr zur Hölle!", ein heiseres Krächzen folgte. Xavier erhob sich schwankend, griff nach seinen Waschsachen und torkelte aus dem Zimmer. ~~?* Frank stellte sich geduldig an. Er war auf das Frühstück gespannt. »Was für ein Luxus, warme Semmeln, Wurst, Käse, Honig, Marmelade, Joghurt, Müsli, Obst!« Er fühlte sich wie in einem Schlaraffenland! »Und ich muss mich bloß anstellen!! Ich muss nicht den Tisch decken, nicht spülen, nicht aufräumen, nicht darauf achten, dass auch noch ein Rest für mittags übrig ist!!« Er setzte sich auf den gleichen Platz wie gestern und wartete ruhig auf den Beginn des Frühstücks. Als einer der letzten traf auch Xavier ein. Die grünen Augen funkelten aggressiv, das attraktive Gesicht war verkniffen. »Offensichtlich kein Morgenmensch!« Frank tat sich an seinem Frühstück gütlich, beobachtete aber Xavier aus den Augenwinkeln, der lustlos an einer halben Semmel nagte, dazu Unmengen von Kaffee hinunterschüttete. Die anderen Schüler schienen wohl Xaviers Morgenstimmung zu kennen, sie unterhielten sich nur gedämpft und hielten rücksichtsvoll Abstand. Ein Gong verkündete das Ende der Mahlzeit. ~~?* Frank drehte sich der Kopf. Er hatte nie geglaubt, dass seine Französisch-Kenntnisse so bescheiden waren. »Wie soll ich das bloß alles aufholen?« Er musste mehrmals tief durchatmen, um die aufsteigende Panik zu bekämpfen. Mit dem Gedanken an das Mittagessen heiterte er sich auf. ~~?* "Bayer, St. Yves!" Herr Karlsson trompetete durch den Gang zu den Studienzimmern. Frank schreckte aus dem Lehrbuch für modernes Französisch hoch und blickte verwirrt Richtung Tür. "Na los, du Penner! Wir müssen ein paar Lumpen für Seine Hochwohlgeboren beschaffen!" Xavier warf ihm einen sauren Blick zu, die Arme vor der Brust verschränkt. Ein Fuß tippte ärgerlich auf den Boden. Hastig verstaute Frank das Buch und folgte Xavier auf den Gang, wo Herr Karlsson sie beide schon empfing. "Gut, Männer, ab in die Stadt. Ausgang endet pünktlich um Fünf! Und keine Geschichten!" Und schon verschwand er mit Sieben-Meilen-Schritten den Flur hinunter. Xavier stapfte ebenfalls den Flur hinunter, ohne Frank zu beachten. Sie verließen das Schulgebäude und wechselten zum Wohngebäude hinüber. Frank suchte seinen letzten Geldvorrat zusammen, streifte dann die Regenjacke über. Xavier schlüpfte in einen eleganten Halbmantel aus einem dunklen, leichten Stoff, der seine Haare noch mehr zum Leuchten brachte. Er starrte Frank betont an, musterte ihn von den ausgetretenen Turnschuhen bis zu den zotteligen Haarsträhnen. Dann stieß er ein abwertendes Schnalzen aus und verließ wortlos das Zimmer. Frank stieg immer ein paar Stufen hinter Xavier die Treppen herunter. Andere Schüler verabschiedeten Xavier freundlich, neckten ihn mit seiner 'Strafexpedition'. Vor dem Schultor wartete Xavier ungeduldig, bis Frank neben ihm stand. "Hör zu, du Vogelscheuche. Du wirst auf keinen Fall neben mir gehen, klar?! Wir marschieren jetzt bis zu der Ecke da vorne, und da trennen sich unsere Wege! Sei pünktlich um kurz vor Fünf hier, sonst ersäufe ich jeden deiner Flöhe einzeln!" Frank sah Xavier davonstolzieren und wie die Passanten sich nach ihm umdrehten, ihn anlächelten. Er warf einen Blick auf seine billige Armbanduhr, hetzte dann los. Zur Innenstadt war es ein ganz schönes Stück, aber er konnte sich eine Busfahrt nicht leisten, wenn er Kleidung kaufen musste. Keuchend erreichte er den Laden der Arbeiter-Wohlfahrt. Die Frau an der Kasse begrüßte ihn freundlich. Er war sehr oft mit seiner Mutter hier gewesen. "Na, Frank, wie geht es dir?" "Vielen Dank, gut. Und wie geht es Ihnen?" "Schätzchen, ich bin seit acht Monaten trocken und runter auf zwei Päckchen Kippen am Tag. Ist doch toll, oder?" "Das finde ich auch." "Okay, mein Junge, was suchst du denn?" "Ich brauche eine dunkelgrüne Hose. Und ein Sakko in Schwarz." "Du liebe Güte, ich dachte, du gehst noch zur Schule. Musst du jetzt etwa jobben?" "Nein, es ist die Schuluniform in meiner neuen Schule." "Neue Schule? Bist du etwa geflogen?" "Nein. Ich musste die alte verlassen, weil ich aus der Wohnung ausziehen musste." "Ausziehen? Und was ist mit deiner Mutter?" "Sie ist vor ein paar Tagen gestorben." "Oh, das tut mir aber leid. Was für eine Schande! Dann bist du ja jetzt ganz allein?!" "Nun ja, das Sozialamt hat mich in dieser Schule untergebracht, die gleichzeitig ein Internat ist. Und da brauche ich eine Schuluniform." "Verstehe. Nun gut, ich helfe dir beim Suchen." ~~?* Frank presste seinen nun prall gefüllten Rucksack fest an sich, während er sich eilig auf den Rückweg machte. All sein Geld war nun ausgegeben, aber er hatte sogar zwei Hosen in Dunkelgrün und ein schwarzes Sakko bekommen. Nun gut, die Hosen mussten umsäumt werden, sie waren zu groß, ebenso wie das Sakko. Aber alle Stücke waren sehr gut erhalten und kaum gebraucht, das war ein echter Glücksfall. Er erreichte leicht atemlos die verabredete Ecke vor dem Schulgelände. Suchend blickte er sich nach Xavier um, da bemerkte er einen schwarzen Sportwagen, der trotz der herbstlichen Witterung das Verdeck offen hatte. Eine attraktive Frau hatte beide Arme um Xavier geschlungen und küsste diesen inbrünstig. Lachend machte Xavier sich los, sprang elegant aus dem Wagen, lehnte sich dann aber über die Tür, um die Frau erneut auf die kirschroten Lippen zu küssen. Frank beobachtete das Ganze überrascht. Die Frau schien vermögend zu sein angesichts ihrer exquisiten Kleidung und der exklusiven Aufmachung. Außerdem war sie vermutlich doppelt so alt wie Xavier. »Sie ist bestimmt seine Freundin von gestern!« Xavier warf im Rückwärtsgehen der Frau eine Kusshand zu, drehte sich dann zu Frank herum. Schlagartig verfinsterte sich sein Gesicht, er stemmte die Hände tief in die Taschen des Mantels. "Na los, du Freak, geh voran!" ~~?* Nach dem Abendessen zog sich Frank in ihr Zimmer zurück, suchte aus seinem Koffer ein Nähset, das seiner Mutter gehört hatte. Sorgfältig untersuchte er erneut seine neuen Kleider, begann dann, an den Hosen den neuen Saum abzustecken und akkurat mit der Hand zu nähen. Er war so konzentriert, dass er Xaviers Rückkehr in ihr Zimmer nicht bemerkte. Als Frank einmal hoch sah und heftig blinzelte, da ihm bereits die Augen schmerzten wegen der Anstrengung, saß ihm Xavier auf dem eigenen Bett gegenüber. Der sah ihn an wie ein Sphinx, undurchdringlich, das Gesicht so glatt wie edelstes Porzellan. Er hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, die Füße auf der Bettdecke aufgestellt. Wie ein Playboy war das weiße Schulhemd ganz aufgeknöpft, enthüllte den schlanken Oberkörper mit dem Tattoo. "Was ist, Lumpenprinz?!" »Er sieht zwar sehr anziehend aus, aber seine Stimme ist so gehässig wie immer«, seufzte Frank still in sich hinein. Nun ja, man musste wohl immer ein paar negative Dinge akzeptieren, wenn man etwas Positives erleben wollte! Und diese Schule war das Beste, das ihm seit dem Tod seiner Mutter passiert war. Er ignorierte geübt Xaviers Bemerkung und arbeitete weiter an den Hosenbeinen. Der Geruch einer Zigarette ließ ihn wieder von seiner Arbeit aufsehen. Xavier hatte sich eine Zigarette angesteckt, die nun vernachlässigt in einem Mundwinkel hing. Provozierend starrte er aus halb gesenkten Augenlidern herüber. Frank wusste definitiv, dass Rauchen in den Zimmern nicht gestattet war, außerdem konnte er den Geruch von kaltem Zigarettenqualm nicht ausstehen, aber er ignorierte diese erneute Provokation. »Wenn ich nicht reagiere, wird es ihm sicher zu langweilig und er hört damit auf!« Zumindest hatte das bei einigen anderen Jungs früher gut funktioniert. Frank besserte vorsichtig ein paar Nähte an seinem neuen Sakko aus, als er plötzlich einen Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht bekam. Er fiel mehr aus Überraschung denn aus Schmerz auf den Rücken, da hatte sich Xavier schon mit einem bösartigen Grinsen auf seine Beine gesetzt und mit einer Hand Franks Hände auf die Matratze gedrückt. In seinem Mund glimmte immer noch die Kippe, die grünen Augen glühten vor diabolischem Vergnügen. "Sag mal, tapferes Schneiderlein, wie flickt man eigentlich Löcher von Brandflecken? Wenn zum Beispiel eine Zigarette auf diesem höchstedlen Tuch landen würde?" Frank schluckte, »warum tut er so was? Ich bin doch völlig uninteressant für dich, warum quälst du mich?« Xavier musterte Franks Gesicht eingehend, die schwarzen Augenbrauen vor Konzentration zusammengezogen. "Du glaubst wohl nicht, dass ich es tun könnte, hm?" Langsam hob er die freie Hand an die schmalen Lippen. In Zeitlupe nahm er die Kippe zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt sie dann direkt vor Franks Augen. Dann lächelte er tückisch, senkte das glimmende Ende auf das Revers des Sakkos. Frank konnte nicht sehen, was Xavier tat, aber er konnte den Geruch des verkohlenden Stoffes riechen, synthetisch und abstoßend. Es war so still in ihrem Zimmer, dass er sogar das Geräusch der verglühenden Fasern hören konnte, ein Knistern. "Ups." Frank drehte den Kopf auf die Seite, biss sich kurz auf die Lippen und atmete dann tief durch. Was sollte er auch anderes machen? Ein Schatten fiel über sein Gesicht, als Xavier sich vorbeugte. Seine weißblonden Haare schirmten Frank von der Deckenbeleuchtung ab. Xaviers Atem streifte seine Wange, seine Worte waren ein Samthauch an Franks Ohr. "Was ist, Freak? Heulst du? Oder bist du zu feige, dich zu wehren?" Frank schloss die Augen, blendete seine Umwelt einfach aus. Diesen Trick hatte er über die Jahre perfektioniert. Er zog sich einfach in sich selbst zurück, schottete sich perfekt ab. Irgendwann ließen ihn seine Peiniger dann in Ruhe, ein Stein war ja interessanter als er! Xavier würde sicher auch verschwinden, er müsste nur noch ein Weilchen warten... Ein zweiter Schlag mit der flachen Hand traf ihn im Gesicht. Diesmal hatte Xavier gut gezielt, Frank spürte Blut aus seiner Nase rinnen, auf das blütenweiße Laken tropfen. "Igitt, was für eine Sauerei! Du solltest besser auf dich aufpassen, Freak." Elegant stieg Xavier von Franks Beinen, gab die Handgelenke wieder frei. Frank blieb still liegen, ließ das Blut laufen. Irgendwann würde alles schon aufhören. ~~?* Er musste wohl eingeschlafen sein. Das Zimmer war dunkel bis auf die kleine Leuchte bei Xaviers Bett. Frank hob leicht den Kopf an. Xavier lag wie in der vergangenen Nacht wie eine Mumie eingewickelt in der Decke, nur ein paar helle Strähnen ragten heraus. Er stützte sich vorsichtig auf die Ellenbogen auf, sein Kopf schmerzte noch leicht. Dann rollte er sich auf die Knie, hockte sich hin und tastete sein Gesicht ab. Keine Schwellungen, nur eine verkrustete Spur von Blut. Die kleine Leuchte reichte nicht aus, den Schaden auf seinem Bett zu betrachten, aber Frank vermutete, dass es ohnehin nicht mehr darauf ankam. Das Blut war längst eingetrocknet. Er tastete nach dem Sakko, strich über den Stoff und fand das Brandloch. Frank konnte einen leisen Seufzer nicht unterdrücken. »Wie flicke ich das bloß?« Da er aber hellwach war, beschloss er, mit Sakko und Bettlaken in den Waschraum zu wandern und erste Schadensbehebung zu betreiben. Vorsichtig zog er das Laken ab, hoffte, dass die Matratze nicht allzu viel abbekommen hatte, schnappte sich das Sakko und verließ leise das Zimmer. ~~?* Im Waschraum knipste er das Licht an und seufzte erneut. Er wischte sich das angetrocknete Blut vom Gesicht und aus den Haaren, feuchtete dann das Laken an und opferte ein wenig von seinem Duschgel, um die Flecken auszureiben. Befriedigt studierte er die Ergebnisse seiner Bemühungen: die Flecken waren zu Schatten verblasst, die die normale Reinigung bestimmt auslöschen würde. Nun zu seinem Sakko! Frank hockte sich auf die kalten Fliesen und inspizierte das Loch. »Ich werde irgendetwas darauf applizieren müssen!« Aber wie sollte er einen Flicken kaufen, er hatte doch all sein Geld ausgegeben? Wackelig kam Frank wieder auf die Beine, der Boden hatte seine Füße ganz gefühllos gemacht vor Kälte. Er löschte das Licht und schlich zurück in ihr Zimmer. Behutsam drückte er die Klinke herunter, das Sakko übergezogen, das feuchte Bettlaken zusammengefaltet auf einem Arm. Er schloss leise die Tür hinter sich, als ein entsetztes Keuchen ihn herumfahren ließ. Xavier saß senkrecht im Bett, die Decke krampfhaft umklammert, die grünen Katzenaugen weit aufgerissen, das attraktive Gesicht zur einer Fratze des Grauens verzogen. Frank wich erschrocken zurück. "Ich wollte dich nicht aufwecken, Entschuldigung!" Xavier schluckte sichtbar, rang um Fassung. Dann schleuderte er die Decke von sich und kam behände auf die Beine. Zwei Schritte später hatte er Frank am Revers gepackt und ihn quer durch das Zimmer auf das freie Bett geschleudert. "Du verdammter Drecksack! Das zahl ich dir heim!!" Frank rollte sich so klein zusammen, wie er nur konnte, als Schläge auf seinen Körper prasselten, ungezielt, aber hart. Stumm betete er sein Credo: »irgendwann hört er auf, irgendwann hört...« ~~?* Frank kam mit dröhnendem Schädel zu sich. Er fand sich auf seinem verwühlten Bett wieder, die blanke Matratze wies Blutflecken auf, das Bettlaken war zu einem Ball zusammengerollt neben den Nachttisch geplumpst, die Decke lag mit dem Kopfkissen auf der anderen Seite. Er biss die Zähne zusammen und richtete sich auf. Sein ganzer Körper summte leise vor Schmerzen. Vorsichtig strich er sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht und warf einen kurzen Blick auf Xaviers Bett. Es war ordentlich gemacht und verlassen. Zitternd kam Frank auf die Füße, das neue Sakko schlotterte völlig zerknittert an ihm herum. Hastig warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Wenn er sich beeilte, würde er es noch bis zum Unterrichtsbeginn schaffen! ~~?* Fünf Minuten später hetzte er mit den neuen Hosen, einem weißen Hemd und feuchten Haaren in das Schulgebäude. Ihn schmerzte zwar noch immer sein Körper, aber er hatte es geschafft, alle Blutergüsse zu verstecken. Schade, ein Frühstück wäre nach dem Erwachen bestimmt nicht zu verachten gewesen! ~~?* Die ersten paar Stunden ließen sich noch aushalten, aber dann wurde Frank vor Hunger flau. Er hatte große Mühe, dem Unterricht zu folgen, konnte keine klaren Antworten mehr geben. Die anderen lachten ihn aus, natürlich nicht offen, sondern hinter vorgehaltener Hand, aber das nahm er gar nicht wahr. Mit weißen Fingerknöcheln umklammerte er seinen Tisch. Der Raum verdunkelte sich bereits am Rande seines Gesichtsfeldes. "Bayer? Warum schreiben Sie nicht mit?" Frank stöhnte leise und sackte vom Stuhl in eine gnädige Ohnmacht. ~~?* "Er hat heute Morgen verschlafen und das Frühstück ausgelassen. Ich bringe ihn in unser Zimmer." Frank blinzelte, seine Lider waren bleischwer. "Nun gut, St. Yves, wenn Sie meinen. Sollte sich sein Zustand aber nicht innerhalb von fünf Minuten bessern, werden Sie die Krankenschwester informieren!" "Natürlich." Eine Hand schob sich unter Franks Arm, dann wurde er in die Höhe gestemmt. Die Hand wanderte unter seinem Arm hindurch auf die Hüfte, während sein anderer Arm um fremde Schultern gebogen wurde. "Los jetzt!" Xaviers Stimme, nur ein Zischen an seinem Ohr, drang mit Verspätung durch den Nebel in Franks Verstand. Mühsam schleppte er sich mit Xavier auf den Flur und zur Treppe, dann verließen ihn seine Kräfte wieder und er brach in die Knie. Fast wartete er auf die nächste Misshandlung, aber stattdessen schob eine schlanke Hand seinen Kopf in den Nacken und lehnte ihn an das Treppengeländer. Xaviers Gesicht tauchte dicht vor seinem eigenen auf, die grünen Augen fixierten seinen Blick. "Du kannst hier nicht schlappmachen!" Frank fühlte sich so leicht, er sehnte sich nach Schlaf, oder zumindest wieder in den Zustand der Ohnmacht zurück. Er kicherte und flüsterte Xavier zu. "Und warum nicht, Angel? Brauchst doch bloß drüber zu steigen, tritt sich fest." Xaviers Gesicht veränderte sich. Wieder erschien der rätselhafte Ausdruck, mit dem er Frank manchmal ansah. Frank schloss die Augen. Er wollte diesem hypnotischen Starren entkommen, das war doch alles so unbedeutend... ~~?* Er kam langsam wieder zu sich. »Das ist nicht mein Bett!« Erschrocken wollte Frank hochfahren, aber sein Kopf bremste seinen Schwung mit einem heftigen Schmerz. Beim zweiten Versuch, diesmal sehr behutsam, konnte sich Frank aufrichten. »Oh nein, ich liege auf Xaviers Bett!« Langsam sah er an sich herunter. Sein Hemd war aufgeknöpft und aus der Hose gezogen, die Haut schimmerte feucht. Ein feuchter Lappen auf dem Nachttisch bestätigte seine Vermutung, dass jemand ihn abgerieben hatte. »Aber wie bin ich hierher gekommen?« Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war Xavier und das Podest der Treppe im fünften Stock des Schulgebäudes gewesen. Frank starrte auf seine Uhr. Ungläubig registrierte er, dass es bereits kurz vor drei Uhr am Nachmittag war. »Aber wieso ist niemand hier? Hat sich denn keiner beschwert, wo ich bleibe?« Ein lautes Knurren erinnerte ihn an zwei ausgefallene Mahlzeiten. Mit ungelenken Fingern knöpfte er langsam sein Hemd zu. »Gleich gibt es den Nachmittagstee, ich muss etwas in den Magen bekommen, sonst fall ich wieder um!« Gerade, als er sich in seine Schuhe kämpfte, wurde die Tür leise geöffnet. Xavier bremste mitten in der Bewegung, als er Frank vornübergebeugt auf seinem Bett sitzen sah. Demonstrativ strich er sich helle Strähnen aus der Stirn. "Wenn du dahin kotzt, schlag ich dich windelweich!" Frank zuckte mit den Achseln, erwiderte nicht das, was ihm durch den Kopf schoss. Konzentriert verknotete er die Schnürsenkel, kam dann schwankend hoch. "Du schaffst es niemals bis zum Speisesaal." Xaviers Stimme war ohne Häme, lediglich eine Feststellung der Tatsachen. Frank biss sich auf die Lippen, »ich muss etwas essen und wenn der Berg nicht zum Propheten...« "Ich könnte dir etwas mitbringen." Frank beäugte Xavier ruhig. »Führt er schon wieder etwas im Schilde? Oder fühlt er sich schuldig wegen der Prügel?« "Natürlich gegen eine Gegenleistung." Xavier zwirbelte scheinbar gelangweilt eine weißblonde Strähne um den schlanken Finger, während seine Katzenaugen Frank hypnotisierten. "Und worin sollte diese Gegenleistung bestehen?" Frank hatte selbst mit dem Sprechen Probleme. Er fühlte sich schon wieder benommen. "Du könntest meine Schuhe putzen." Frank schluckte. Es widerstrebte ihm zwar, sich so Xaviers Gnade auszuliefern, aber Schuhe zu putzen war ein geringer Preis dafür, etwas zu essen gebracht zu bekommen. "Okay, ich werde deine Schuhe putzen." Xavier baute sich direkt vor ihm auf, stützte einen Arm auf die Hüfte und sah verächtlich zu ihm herunter. "Du hast wohl gar keinen Stolz, was, Freak?" "Von Stolz wird man nicht satt", murmelte Frank und ärgerte sich im gleichen Moment über sich selbst. »Jetzt hat er den Vorwand, mit mir einen Streit auszutragen, ohne dass ich dabei etwas gewinnen kann!« Aber Xavier überraschte ihn. Er legte den Kopf schief, funkelte Frank an, lächelte dann mikroskopisch und verließ das Zimmer. Frank hatte eigentlich beabsichtigt, sich in sein eigenes Bett zu schleppen, auch wenn er dort auf der nackten Matratze liegen musste in dem ganzen Chaos der vergangenen Nacht, aber er konnte sich nicht dazu aufraffen. »Was kümmert es mich eigentlich noch, ob man mich tadelt oder nicht? Es gibt niemanden mehr, den ich beschützen muss! Ich bin jetzt allein.« Stöhnend vergrub er das Gesicht in Xaviers Kopfkissen und zog die Decke über den Kopf. ~~?* Frank erwachte langsam aus bleischwerem Schlaf. "Na, Lumpenprinz, endlich wach?" Frank stützte sich schwerfällig auf die Ellenbogen. Xavier hockte am Fuß des Bettes, wie immer mit offenem Hemd und einer Zigarette zwischen den schmalen Lippen. "Los jetzt, runter von meinem Bett!" Ein Tritt in Franks Rippen folgte der Aufforderung. Frank bemühte sich, in die Senkrechte zu kommen, aber der Schwindel in seinem Kopf setzte ihm arg zu. Sein Gleichgewichtssinn suggerierte ihm, dass der Boden wie eine Nussschale in Wellenbergen wogte. Er kniff die Augen zu und keuchte. Beim zweiten Anlauf konnte er sich wenigstens auf die Seite drehen. »Wenn jetzt nur noch seine Beine irgendwie...« "Was ist, Freak?" Xaviers Stimme schnitt wie gehärteter Stahl durch Franks Bewusstsein. Langsam stemmte er sich in eine sitzende Haltung hoch. "Ich frage mich, wie es ist, eine Kippe auf deiner Haut auszudrücken", sinnierte Xavier im Plauderton. Frank bekam eine Gänsehaut. Angstvoll drehte er den Kopf zu Xavier. Der kniete bereits neben ihm, die grünen Augen blitzten arktisch. "Was denkst du, hm?" Seine Stimme war nun leise, spöttisch, mokierend. Dann zog er elegant die Kippe zwischen den Lippen hervor, warf ihr einen liebevollen Blick zu. Sein eisiger Blick hypnotisierte Frank völlig, der panisch gegen das Gefühl des Deja vu ankämpfte. »Nicht schon wieder, bitte nicht schon wieder!« Aber die einzige Reaktion, die er zustande brachte, bestand darin, die Augen zu schließen und die Zähne zusammenzubeißen. "Du solltest jetzt besser das Weite suchen, Freak! Ich kann sonst für gar nichts mehr garantieren... Herr Karlsson wäre sicher enttäuscht, wenn er herausfände, dass du heimlich rauchst und die Kippen auf deinen Armen ausdrückst. Sozialhilfeempfänger sind ja so neurotisch." Xavier kicherte leise, sein Atem streifte über Franks Schulter. Er wollte ja weglaufen, wollte diesem Ungeheuer entkommen, aber sein Körper ließ ihn schmählich im Stich, reagierte einfach nicht mehr! "Raus aus meinem Bett, du Läusekönig!!" Xavier versetzte ihm so einen heftigen Stoß, dass er förmlich von der Bettkante auf den Boden katapultiert wurde. "Ich verschwende doch keine Kippe an dich!" Xavier sprach wieder in dem üblichen höhnischen Tonfall. "Los jetzt, putz meine Schuhe, dann bekommst du was zu essen." Frank schob sich vorsichtig auf die Knie, strich sich ein paar Strähnen aus den Augen. Xavier hatte die Schuhe demonstrativ vor das Bett gestellt. Sie sahen aus, als hätte er einen Querfeldeinlauf damit absolviert. Hilflos blickte sich Frank um. Wo war Schuhputzzeug? "Hier, nimm den Lumpen!" Xavier feuerte ein verwaschenes T-Shirt vor Franks Knie. Es war das T-Shirt, das er in der vergangenen Nacht getragen hatte. Die Blutspuren darauf waren inzwischen zu einem hässlichen Braunton eingetrocknet. Frank schloss für einen Augenblick die Augen. Dann kam er schwankend in die Höhe, fischte die Schuhe vom Boden, legte sein T-Shirt über die Schulter und verließ das Zimmer. ~~?* Er musste sich an der Wand entlang zum Waschraum tasten, weil das Schwindelgefühl sporadisch wiederkehrte und seine Sicht trübte. »Endlich!« Frank hängte sein T-Shirt an seinen Haken über das Handtuch, nahm dann einen Schuh in die Hände. Vorsichtig ließ er Wasser laufen, rieb mit bloßen Fingern den Dreck ab. »Wenn ich doch nur eine Zeitung hätte, um die Schuhe zum Trocknen daraufzustellen!« Gott sei Dank waren es keine Schuhe aus Wildleder, sondern richtige Trekkingstiefel, da konnten keine Wasserflecken entstehen! Suchend sah sich Frank um. Ob hier nicht irgendwo ein Lappen war, vielleicht von der Putzfrau? Tatsächlich stand in einem schmalen Wandschrank das gesamte Arsenal der Reinigungsfirma, das einfache Schloss schnappte schon längst nicht mehr richtig ein. Frank breitete einen Lappen auf den Fliesen aus, stellte den gereinigten Schuh darauf. Dann nahm er sich Nummer zwei vor. Eine Viertelstunde später waren die Schuhe sauber und trocken gerieben. Im Waschraum trocknete der Lappen auf der Heizung, einträchtig neben Franks T-Shirt. Die Blutflecken waren hartnäckig gewesen, aber wer sah ihn schon nachts?! ~~?* "Dachte schon, du hättest sie mitgehen lassen!" Mit einem wütenden Zischen riss ihm Xavier die Schuhe aus der Hand, um sie dann achtlos in seinen Schrank zu feuern. Frank torkelte zu seinem Bett hinüber. Das Chaos ließ seinen Mut sinken. "Hier!" Xavier schleuderte ihm eine Papptüte zu, die Frank hastig auffing. Der Geruch war so abstoßend, dass sein Magen sofort rebellierte. Krampfhaft die Zähne zusammenbeißend spähte Frank vorsichtig in die Tüte. Er konnte etwas Dunkles erkennen, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Tierfell hatte. "Was... was ist das?" Frank starrte entgeistert zu Xavier hinüber, der ihn angrinste. "Nach was sieht es denn aus, hm? Müsstest doch eigentlich deine Verwandten erkennen!" Frank beäugte fassungslos die Papptüte. Er wollte das verfilzte, stinkende Ding auf keinen Fall anfassen. "Eine Ratte?!" Xavier applaudierte spöttisch. Frank schloss die Tüte behutsam, legte sie dann auf Xaviers Schreibtisch. "Ich will sie nicht." Xaviers Katzenaugen verengten sich. "Wieso nicht? Hast sie dir ehrlich verdient. Und jetzt schaff das Ungeziefer von meinem Tisch, bevor ich dir eine Abreibung verpassen muss!!" Frank setzte sich langsam auf sein Bett. Nicht nur, dass sein Magen nun alle Rücksicht vergaß, auch sein Herz schmerzte furchtbar. »Ich bin es so leid. Warum behandelt er mich so?« Xavier kam langsam wieder in die Höhe, er fauchte wie ein wildes Tier. "Du hörst wohl schwer, Abfallsammler?! Schaff das Vieh hier raus, oder...!!" Frank sah auf seine Fußspitzen, bohrte die Finger in die Matratze. "Nein." "Na schön, wie du willst." Xavier packte die Tüte mit der Ratte, öffnete die Dachluke und feuerte sie in hohem Bogen hinaus. Frank schloss die Augen, erwartete stumm die Prügel, die sicher folgen würden. "Raus." Das heisere Fauchen ließ Frank zusammenzucken. Dann wurde er heftig am Arm gepackt und mit Schwung vor die Tür befördert. ~~?* Franks Kopf pochte. Er presste eine Hand auf seinen Magen, mit der anderen tastete er sich den Flur entlang. »Ob ich es bis zum Abendessen schaffe? Wo soll ich jetzt hin?« Er schleppte sich in den Duschraum. Er wollte nicht, das ihn irgendjemand in diesem Zustand sah. Und hier würde sicher niemand vorbeischauen. Auf allen Vieren kroch er in eine abgeteilte Kabine, lehnte sich an die Kacheln. Er zog die Knie an und wickelte die Arme fest darum. »Mama, ich versteh das alles nicht. Ich will ja nicht aufgeben, aber es ist so hart! Warum tut er mir das an? Alles tut so weh, und ich bin so müde.« »Warum hast du mich allein gelassen?« ~~?* Ein Schwall eiskaltes Wasser brachte Frank wieder zu Bewusstsein. Er fand sich auf den eisigen Fliesen in der Dusche wieder, zusammengesunken wie ein Häufchen Elend. Und natürlich hatte Xavier die Dusche aufgedreht. Frank zitterte bereits, seine Zähne schlugen aufeinander. "W-wwas w-wwillst d-du?" "Mach schon! In zehn Minuten kontrolliert Karlsson die Zimmer. Danach kannst du gerne wieder hier residieren." "I-iich gehe n-nicht mit!" Xavier fuhr auf dem Absatz herum, seine Haare schwangen elegant im Luftzug. "Du wirst jetzt deinen mageren Arsch in unser Zimmer schaffen, sonst zerr ich dich an den Haaren über den Flur, klar?!!" Frank starrte hoch, regte sich nicht. Mit einem Fauchen hieb Xavier seine schlanken Finger in Franks nasse, wirre Haarsträhnen und zerrte kräftig daran. Der Schmerz trieb Frank Tränen in die Augen, aber er presste die Lippen aufeinander und umklammerte seine Ellenbogen. "Los jetzt!!" Frank widerstand, auch wenn der Schmerz sich nun in grauenerregende Höhen schraubte. "Bastard!" Xavier verpasste ihm eine heftige Ohrfeige. Frank schmeckte Blut, rollte sich noch mehr zusammen. »Du kriegst mich nicht!! Nein!!« Plötzlich war der Druck auf seine Kopfhaut weg. Xavier ging vor Frank in die Hocke, betrachtete sein Gesicht eindringlich. "Und wenn ich dir etwas zu essen hole?" Frank blinzelte Wasser und Tränen aus den Augen, begann dann leise zu lachen. "Ich meine es ernst!" Frank musste die Hände in den Leib pressen, so sehr schüttelte ihn der hysterische Lachkrampf. Außer Atem sackte er auf die rechte Seite, schloss wimmernd die Augen. Einige Augenblicke später stieg ein leckerer Duft in seine Nase. Vor ihm auf den feuchten Fliesen lag ein Stück Pastete. Frank starrte auf die Pastete, erwartete, dass sie sich als Trugbild erwies. Da schoben sich zwei kräftige Hände unter seine Achseln, dann wurde er wieder in eine sitzende Position gehoben. Xavier kniete ungeachtet der Nässe vor ihm, balancierte die Pastete auf der flachen Hand, brach mit den Fingern ein mundgerechtes Stückchen ab. "Hier!" Frank reagierte nicht. "Idiot!" Unsanft umschloss Xavier Franks Unterkiefer, drückte ihn auf. Dann schob er das Stück Pastete in Franks Mund und ließ ihn zuschnappen. Mechanisch begann Frank zu kauen. Sein Magen gab laute Knurrlaute von sich in Erwartung des Leckerbissens. Xavier fütterte ihn auf diese Weise, bis die Pastete aufgezehrt war. "Ich habe noch mehr in unserem Zimmer." Auffordernd richtete sich Xavier auf, streckte Frank die Hand hin. Fast automatisch griff Frank zu, ließ sich auf die Beine helfen. Dann stützte er sich schwer auf Xavier, weil seine Beine vor Entkräftung und Kälte gelähmt waren. Xavier schleppte Frank hastig in ihr Zimmer, ließ ihn auf sein Bett sinken. Anschließend machte er hastig Franks Bett zurecht, zerrte diesen wieder in die Höhe und packte ihn in das frisch gemachte Bett. "Keinen Mucks, klar?!" Nur Augenblicke später sah Herr Karlsson um die Ecke, wünschte eine Gute Nacht und verschwand wieder. Frank kämpfte sich unter den Decken frei. Er war klitschnass, und in diesem Zustand wollte er nicht schlafen. Xavier schälte sich ebenfalls aus seinen feuchten Kleidern, schleuderte diese auf den Boden, schlüpfte dann in den grünen Pyjama, der ihm so wunderbar stand. Frank kämpfte mit seinen Klamotten. Seine Finger wollten wegen der Kälte einfach nicht gehorchen. Wortlos streifte Xavier ihm das nasse Hemd über den Kopf, pellte ihn dann aus der klammen Hose. "Schaffst du die Unterwäsche allein?" Frank nickte zögernd, Xaviers Wärme benebelte ihn. »Mir ist so furchtbar kalt!!« Während er mit der Unterwäsche kämpfte, kramte Xavier eine Tüte hervor, die eine Semmel und einen abgepackten Pudding enthielt. "Mann, du bist so was von unfähig!!" Mit einem missbilligenden Zungenschnalzen zerrte Xavier ihm die Wäsche vom Leib. Die plötzliche Hitze der Berührungen erschöpfte Frank total. Er schwankte hin und her. "Scheiße!" Xavier fing seinen Sturz mit beiden Armen ab. Instinktiv klammerte sich Frank an Xaviers Armen fest, dann ließ er sich gegen Xaviers Brust sinken. Xavier musste gegen das zusätzliche Gewicht ankämpfen, presste Frank eng an sich, damit er sich drehen und ihn auf das Bett sinken lassen konnte. "Blödmann!" Xavier ließ Frank auf das Bett plumpsen, schob dann grob Franks Beine unter die Decke und pustete genervt ein paar verirrte Strähnen aus der Stirn. "Dann schläfst du halt nackt!" Betont platzierte er dann die Tüte mit den Nahrungsmitteln auf Franks Nachttisch. "Du bist für jeden anständigen Menschen eine verdammte Zumutung!!" Frank blinzelte erschöpft zu Xavier hinüber, dann verlor er sich in Schwärze. ~~?* Kapitel 3 "Steh auf, na los!" Ein kräftiger Knuff in den Oberarm riss Frank aus der Finsternis. Heftig blinzelnd kämpfte er gegen die Souvenirs des Sandmännchens, nahm schließlich die Handrücken zu Hilfe. Xavier beugte sich über ihn, die Augenbrauen inspizierend zusammengezogen. Frank ließ den Blick schweifen, betrachtete neugierig das Tattoo auf Xaviers Herz. Es war ein stilisiertes Blatt mit einer feinen Musterung, die Blattspitzen in einer helleren Tönung. »Es sieht richtig echt aus in diesem dunklen Grün, so lebendig!« Xavier verpasste ihm eine Kopfnuss. "Beim nächsten Mal zahlst du Besichtigungsgebühr!" Hüftschwingend wandte er sich ab, streifte einen groben Wollpullover über und schnappte sein Waschzeug. Wackelig kam Frank in die Senkrechte, dann fiel sein Blick auf den Nachttisch, wo noch immer die Reste des Vortages auf einen Abnehmer warteten. Sein Magen indes hatte ein gutes Gedächtnis und erinnerte nun lautstark daran, dass hier ungeahnte Kapazitäten frei waren. Ungeduldig angelte Frank die Tüte auf seinen Schoß, holte die Semmel hervor. Hungrig biss er hinein, die mittlerweile gummiartige Konsistenz der Backware störte ihn nicht im Mindesten. »Herrlich!!« Frank musste sich zwingen, jeden Bissen gründlich zu kauen, nicht zu schlingen. Sein Magen heulte vor Enttäuschung, als der Semmel schon der Garaus gemacht worden war: er verlangte Nachschub. Frank trieb den Fingernagel unter die Alufolie, riss die Abdeckung von dem Instant-Pudding. Für einen Moment zögerte er, dann steckte er entschlossen den Finger in die dunkle Creme. Hmmm, wie gut das roch! Und schmeckte! Genüsslich leckte er die Schokolade vom Finger, zog mit der freien Hand die Decke ein bisschen höher. Die Tür öffnete sich wieder, als Frank zwei Finger in den Mund geschoben hatte. Xavier stand im Türrahmen und lächelte ihm zu. Frank erstarrte zur Salzsäule. So hatte er Xavier noch nie gesehen. Dieses Lächeln war freundlich, keine spöttisch zuckenden Mundwinkel, keine ironisch hochgezogenen Augenbrauen, kein grausames Funkeln in den Katzenaugen. »Er... er lächelt mich an!« Der schiere Gedanke ließ Franks Atmung aussetzen. Mit einem Krächzen erinnerten ihn seine Lungen daran, dass sie von Xaviers Lächeln nichts hatten und Luft brauchten. Als Frank mit Tränen in den Augen wieder hochsah, war der Augenblick auch schon vorbei. Xavier schlüpfte gerade anmutig in seine Schuluniform. "Du solltest dir was anziehen." Der Spott tanzte in Xaviers Stimme. Frank nickte unwillkürlich, stellte eilig den säuberlich geleerten Plastikbecher auf die Seite und krabbelte unbeholfen aus seinem Bett. Hastig schnappte er sich die Sachen vom Vortag, sortierte sie aus. »Ein frisches Hemd und eine frische Hose, wo war die Unterwäsche?! Ich muss unbedingt heute die Waschmaschine benutzen, sonst habe ich morgen überhaupt nichts mehr!!« Frank brannte sich diesen Gedanken mit drei dicken roten Erinnerungsknoten ins Gedächtnis. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Xavier tatsächlich auf ihn wartete. »Ich werde aus diesem Jungen nicht schlau!« ~~?* Der Schultag verlief ereignislos. Niemand fragte Frank nach dem Zusammenbruch. Er vermutete, dass Xavier bereits Informationen rausgegeben hatte. Also konnte er sich ganz auf den Unterricht konzentrieren. »Ich habe wirklich eine ganze Menge aufzuholen!« ~~?* Zwischen Tee und Abendbrot war Selbststudium angesagt, in Lerngruppen oder allein. Frank betrat ihr Zimmer und suchte sich ein paar Notizen heraus. Er hatte vor, in der Bibliothek seine Wissenslücken aufzufüllen. Xavier trat nach ihm ein und schloss die Tür behutsam hinter sich, dann lehnte er sich an das Türblatt und musterte Frank durchdringend. "Ich brauch das Zimmer für mich allein. Komm kurz vor dem Abendessen wieder." Frank blinzelte verdutzt, zuckte dann mit den Schultern. Was Xavier hier auch treiben würde, er hatte ohnehin etwas Besseres vor. Als er sich an Xavier vorbeischlängeln wollte, packte ihn dieser beim Hemd. "Du wirst auf keinen Fall vorher kommen, klar?!!" Die heisere Drohung schüchterte Frank nicht ein. Er hatte schließlich nicht die Absicht, seine Zeit in diesem Zimmer zu vergeuden. Und Xaviers Heimlichkeiten gingen ihn auch nichts an. Er nickte knapp und machte sich von Xavier los. ~~?* Frank suchte sich eine versteckte Leseecke in der Bibliothek, bereitete sich ein Nest aus Büchern. Dann versank er in den Welten der Theorie. ~~?* "Junge, Zeit, sich die Hände vor dem Essen zu waschen!" Franks Kopf schoss ruckartig hoch, er hatte die ältliche Bibliothekarin nicht kommen gehört. "Oh, ja, danke! Ich räume nur rasch wieder die Bücher in die Regale!" Mit geröteten Wangen verstaute Frank die Folianten unter den skeptischen Blicken der Frau. Dann sammelte er seine Notizen und Schreibunterlagen ein und hastete über den Hof in das Wohngebäude. Er zögerte außer Atem vor der Zimmertür, aber es drangen keine Geräusche nach außen. Mit einem tiefen Atemzug stieß er dann die Tür auf. Xavier saß auf seinem Schreibtisch und starrte aus der Dachluke. Er hatte die Kopfhörer seines Diskman aufgesetzt, eine Zigarette balancierte auf einer kirschroten Unterlippe. Dazu trug er eine Jogginghose und ein weites Sweat-Shirt. Er reagierte auf Franks Eintreten überhaupt nicht. Erst, als Frank seine Unterlagen etwas lauter als nötig auf seinem eigenen Schreibtisch fallen ließ, zuckte Xaviers Kopf herum. Er pflückte anmutig die Zigarette von der Lippe und blies Frank den Rauch ins Gesicht. Die grünen Augen funkelten provozierend. Frank starrte zurück. Irgendwas irritierte ihn. Xavier war wieder auf Konfrontationskurs, aber in seinen Augen lag eine seltsame Müdigkeit, die Frank noch nie darin gesehen hatte. Dann fiel ihm auf, dass Xaviers weißblonde Haare feucht waren. »Hat er geduscht?!« Frank wandte den Kopf ab. Er wollte sich die Hände waschen und dann zum Essen. Schließlich wartete noch ein Berg Wäsche auf ihn. Xavier schaltete mit einem leisen Klickgeräusch den Diskman ab, schleuderte die Kopfhörer achtlos von sich. "Warte nicht auf mich, Lumpenprinz, ich komme nach!" Er warf Frank einen spöttischen Kuss zu. Frank zog die Tür hinter sich zu. ~~?* Geduldig warteten die Schüler auf die letzten Nachzügler. Es roch nach Gemüsebrühe. Frank saß zwischen jüngeren Schülern, die ihn neugierig musterten, aber ihn nicht ansprachen. »Ich möchte mal wissen, was sie eigentlich in mir sehen?!« In diesem Moment erschien auch Xavier. Er trug wieder seine Schuluniform. Die anderen Schüler rückten sofort auseinander, damit er Platz nehmen konnte, die Wangen vor Stolz gerötet, dass er sich zwischen sie setzte. Xavier grinste gravitätisch, dann warf er einen scharfen Blick zum Lehrertisch hinüber. Frank, der Xavier aus den Augenwinkeln beobachtete, meinte für einen Augenblick in Xaviers Augen etwas ganz anderes zu sehen als dieses kameradschaftliche Grinsen. Einen Blick aus ursprünglichstem, tiefsten Hass. ~~?* Frank schleppte den Wäscheberg in den Keller, kämpfte mit den schmutzigen Kleidungsstücken, während er nach dem Lichtschalter tastete. Im dem Moment, in dem er ihn fand, entglitt ihm seine Last. Frank seufzte und klaubte alles wieder vom Boden. Er lud die Wäsche, farblich getrennt, in zwei benachbarte Maschinen und studierte dann die Betriebsanleitung. Rumpelnd setzten sich die Geräte in Gang. Frank schlenderte zu dem Trockner herüber. Er hatte diese Geräte noch nie genau in Augenschein nehmen können. »Wirklich praktisch, ich wette, Mama hätte das gefallen!« Er hockte sich auf den Boden vor eine der rotierenden Maschinen und betrachtete die durcheinander wirbelnden Wäschestücke durch das Bullauge. Seine Gedanken schweiften ab. ~~?* Plötzlich erlosch das Licht. Frank schrak aus seiner Versunkenheit hoch und sah sich irritiert um. Nur noch die Leuchtanzeigen der Maschinen warfen gespenstische Lichter in die Finsternis. Er kam auf die Beine und suchte nach dem fluoreszierenden Notausgangsschild. Er meinte sich erinnern zu können, dass direkt daneben der Ausgang war. Im Treppenhaus würde sicherlich das Licht brennen. »Wenn ich direkt auf das Zeichen zugehe, dürfte ich mit nichts kollidieren!« Mit ausgestreckten Armen tastete sich Frank durch die Dunkelheit, stoppte dann abrupt. Obwohl er nichts hören konnte, hatte er das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. "Hallo?!" Vorsichtig drehte er sich im Kreis. Dann rieb er sich mit den Händen über die Oberarme, ihm war schlagartig kalt. »Ich muss doch bloß bis zur Tür gehen«, ermahnte er sich selbst. In diesem Augenblick wickelte sich etwas um seinen Knöchel, rieb an seinem Hosenbein. Frank stieß einen schrillen Angstschrei aus, verlor das Gleichgewicht und knallte heftig auf den harten Boden. Etwas schob sich in sein Hosenbein!! Frank schob sich panisch auf dem Boden zurück. Seine Zähne schlugen laut aufeinander. "Gehweggehweggehweg!!" Aber das Ding ließ nicht locker. Die Tür wurde aufgerissen, und ein gleißender Blitz zuckte durch die Finsternis. Dann hörte Frank das laute, hämische Lachen von Mitschülern. Die Deckenbeleuchtung flammte auf. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen starrte Frank auf seinen linken Knöchel, an dem sich ein fleckiges Band hochwand. "Ei--eine Schlange!!" Frank war gelähmt vor Furcht, dieses Vieh war in seiner Hose!! Hilfe suchend blickte er auf, sah einen Mitschüler ein Polaroid durch die Luft schwenken, während die anderen grienend zwischen den Maschinen lehnten. "Sie hat's gern warm, Freak! Besser, du rührst dich nicht!" Frank spürte Tränen der Machtlosigkeit in seine Augen steigen. Er konnte sich nicht überwinden, den schuppigen Körper zu packen und aus seiner Hose zu ziehen. Die anderen Schüler blickten auf ihn herunter, heißhungrig auf seine Panik, seine Hilflosigkeit. "Was ist hier los?!" Xaviers Stimme ließ sie hektisch auseinanderfahren. Rasch bildete sich eine Gasse, durch die Xavier wie ein zorniger Herrscher schritt. Er bremste vor Frank, stemmte eine Hand auf die Hüfte und legte den Kopf schief. "Was soll das denn werden?! Wer von euch Idioten will Rosalie vergiften?! Sie isst doch nur weiße Mäuse, keine Gossenratten!" Die Umstehenden lachten laut, wenn auch unbehaglich und schrill. Xavier ging vor Frank in die Hocke, betrachtete sein Hosenbein interessiert. "Na, hat sie schon von deinem räudigen Fleisch gekostet?!" Frank spürte Tränen über seine Wangen rinnen. Er hatte Mühe, Luft zu holen. Xavier warf ihm einen geheimnisvollen Blick zu. Dann drehte er sich zu den anderen um. "Okay, das reicht jetzt! Karlsson macht in einer Viertelstunde eine Kontrollrunde, da sollte jeder in seinem Bett sein! Verzieht euch!" Grinsend und tuschelnd verschwand der Mob. Xavier wandte sich wieder Frank zu. "Soll ich dich befreien?" Frank brachte nur ein zaghaftes Nicken zustande. "Wenn ich das tue, dann wirst du mir deine Latein-Hausaufgabe geben." Frank zwinkerte Tränen aus den Augen. "Okay", würgte er schließlich hervor. Xavier grinste spöttisch, schob dann eine Hand in Franks Hosenbein, mit der anderen umfasste er fest den Schwanz der vermeintlichen Schlange. Diese wand sich, wollte dem Zugriff entkommen. So konnte Xavier blitzschnell den Kiefer festhalten. Die vermeintliche Schlange wand sich nun Schutz suchend um Xaviers Unterarm. Dieser drückte einen Kuss auf das schuppige Haupt. "Meine Schöne, was für eine Aufregung, hm?! Ich bringe dich nach Hause, was meinst du?!" Ohne sich umzudrehen, verließ Xavier die Waschküche. Frank zog die Beine an und schluchzte ungehemmt in seine verschränkten Arme. ~~?* Müde stieg Frank die Treppen hoch. Er hatte die Wäsche in den Trockner gepackt. Bis zum Frühstück würde die Maschine ihre Arbeit sicher erledigt haben. Die nicht trocknergeeigneten Wäschestücke hatte er auf eine Leine gehängt. Im Haus war es bereits still, Herr Karlsson kontrollierte sicher schon die unteren Klassen. Frank betrat das Zimmer. Blicklos stolperte er zu seinem Schreibtisch, suchte seine Latein-Hausaufgaben. Xavier hockte im Pyjama auf seinem Bett, grinste Frank herausfordernd an. Dieser ließ das Blatt vor ihm fallen, torkelte zu seinem Bett zurück. »Irgendwo muss noch ein altes T-Shirt sein... und Boxershorts?!« Ungelenk schlüpfte er aus seiner Schuluniform. "Es war eine Blindschleiche." In Xaviers Stimme schwang Häme und Genugtuung mit. Frank sackte auf sein Bett, wickelte die Decke um sich. "War das deine Idee?" "Vielleicht." Frank schloss die Augen. "Xavier?" "Was ist, Freak?" Frank lächelte leicht. "Ich bin in Latein eine Niete." ~~?* Ein leises Stöhnen schreckte Frank aus seinem leichten Schlaf. Er rieb sich die Augen und setzte sich auf. "Xavier?" Jetzt hatte das Stöhnen einen dunkleren Unterton angenommen, kam aber unzweifelhaft von Xavier. »Ist er krank?!« Frank schüttelte die Decke ab und tapste im Dunkeln zu Xaviers Bett, vor dem wie immer die kleine Nachtleuchte brannte. Xavier wälzte sich unruhig im Schlaf. Im fahlen Schein der Lampe konnte Frank erkennen, dass dieser die Zähne so fest aufeinanderbiss, dass sein ganzes Gesicht von der Anstrengung verzerrt war. Vorsichtig legte er eine Hand auf Xaviers Stirn. Dieser wimmerte leise, wachte aber nicht auf. Frank ging neben dem Bett in die Hocke, betrachtete sorgenvoll das gequälte Gesicht. »Ob ich ihn aufwecken soll?« Angesichts des letzten Erlebnisses verzichtete Frank. Behutsam hob er den Arm, streichelte mit der Hand hauchzart über die verkrampften Wangenmuskeln. Langsam entspannte sich Xavier, dann kullerten Tränen über das erschöpfte Gesicht. Mitleidig liebkoste Frank Xaviers Gesicht, »kein Wunder, dass er morgens manchmal so mitgenommen aussieht! Und er schläft immer noch fest! Was muss das für ein furchtbarer Albtraum sein?!« Endlich war Xaviers Gesicht vollkommen gelöst, die Atmung tief. Frank erhob sich steif und stolperte zu seinem eigenen Bett zurück. »Ich frage mich, ob jemand dein Geheimnis kennt?!« ~~?* Der Morgen verlief wie die Tage zuvor, Xavier war unleidlich und wortkarg. Frank ignorierte ihn und konzentrierte sich darauf, ein zweites Mal die Latein-Hausaufgaben zu verfassen. Nach dem Tee dröhnte ihm aber der Kopf, es schien, als wollten die Lücken in seinem Schulwissen kein Ende finden. Zum wiederholten Mal rieb sich Frank über die Stirn, zerzauste die überlangen Haarsträhnen. Es war zum Verzweifeln!! »Ich habe zwar gesagt, dass ich nicht aufgebe, aber es ist so hart!!« Entmutigt klappte er seine Mathe-Buch zu und starrte aus dem Fenster. Um ihn herum zerstreuten sich langsam die Lerngruppen. Er hatte noch immer keinen Anschluss an seine Klassenkameraden gefunden. Seufzend stemmte er sich in die Höhe. Xavier räumte ein paar Bücher in ein Regal, drehte sich dann zu ihm um, in den Augen ein entschlossenes Funkeln. Frank wich unwillkürlich einen Schritt zurück. "Komm mit, ich hab mit dir zu reden!" Xavier packte ihn fest am Handgelenk und zerrte ihn hinter sich her. Die übrigen Schüler, die sich auf den Weg zum Wohngebäude machten, schließlich gäbe es in Kürze Abendessen, verfolgten ihren Abgang mit Verwunderung und Neugier. Frank ließ sich durch den Flur zu den naturwissenschaftlichen Räumen zerren. Es war einfacher, Xavier einfach gewähren zu lassen. Dieser stieß eine Tür auf und lockerte seinen Griff leicht, um dann Franks Ellenbogen eisern zu umklammern. Der Raum war mit hölzernen Regalen voll gestellt, in denen Gläser mit Präparaten ruhten, ein Skelett baumelte an einem Ständer. Dazwischen befanden sich eine Unzahl von seltsamen Apparaturen und Werkzeugen. Entschlossen schob Xavier Frank durch die Regale zu einem großen Tisch, auf dem ein Terrarium thronte. Abgebrochene Äste in einem feuchten Sandboden, Steine, Moos, ein Wasserbecken. Eine Leuchte tauchte die waldähnliche Szenerie in dämmrig-warmes Licht. Frank stemmte die Fersen in den Boden, bremste abrupt. "Komm schon!!" Wütend setzte Xavier seine überlegene körperliche Kraft ein, um Frank weiter zu ziehen. Frank klapperten bereits die Zähne, grausige Visionen überschlugen sich vor seinem inneren Auge. Verärgert kämmte Xavier mit der freien Hand ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. Dann öffnete er geschickt und mit Übung den Glasdeckel, ließ die Hand bis zum Ellenbogen in das Terrarium gleiten. Eine Bewegung unter der Blättern ließ Frank zusammenzucken. "Nein!! Lass mich gehen, Xavier!" "Hör auf mit dem hysterischen Geschrei!!" Frank biss die Zähne aufeinander. Sein Kiefer schmerzte unter der Beanspruchung. Die vermeintliche Schlange wand sich aus den Blättern, ihre zuckende Zunge erkundete vorsichtig Xaviers bloßen Arm. Neugierig wand sie sich nach oben Richtung Ellenbogen. Xavier zog langsam den Ellenbogen aus dem Terrarium. Frank schüttelte panisch den Kopf, unaufhörlich. "Wovor hast du Angst? Sie ist total harmlos. Los, fass sie an!" "Nein!!" Xavier umklammerte Franks Ellenbogen noch fester, streckte dann die Hand nach Frank aus. Die vermeintliche Schlange schien den Richtungswechsel zu bemerken. Sie kehrte zu Xaviers Handgelenk zurück. Frank riss die freie Hand vor das Gesicht. "He, komm schon, Frankie, Rosalie ist wirklich harmlos. Hab keine Angst." Xaviers Stimme war plötzlich sanft, leise, beruhigend. »Das ist nur ein Trick! Das ist nur ein Trick!« Frank schüttelte weiter panisch den Kopf, sein Nacken knackte bereits warnend. "Sie mag Wärme. Blindschleichen sind eigentlich Eidechsen, wusstest du das? Hier, sie will sich bloß ankuscheln. Hm?" Xaviers Stimme war lockend, aber freundlich. Frank konnte diese Veränderung kaum glauben, aber seine Neugier nahm überhand. Langsam ließ er den Arm sinken und starrte ungläubig in Xaviers Gesicht. Dieser lächelte aufmunternd, die schmalen Lippen leicht geöffnet. Dann legte er seine Hand auf Franks Unterarm. Die Eidechse züngelte interessiert an Franks Arm hoch, wechselte dann den Besitzer. Stocksteif verfolgte Frank ihre Bewegungen, hörte Xavier leise lachen. "Was denkst du bloß?! Sie ist viel kleiner, ungiftig und sie mag nur Schnecken und Regenwürmer. Du bist in keiner Gefahr." Dann fuhr er mit einem spöttischen Unterton fort. "Zumindest, was sie betrifft." Frank war abgelenkt und warf einen irritierten Blick in Xaviers Gesicht, suchte nach einer neuen Bosheit. In diesem Augenblick fand Rosalie heraus, dass Franks Haut unter dem Hemd noch wärmer war und glitt in seinen hochgekrempelten Ärmel hinein. "Uaahh!" Frank zuckte erschrocken zusammen und sah entsetzt die Schwanzspitze in seinem Hemd verschwinden. Er hatte auf das Unterhemd verzichtet, und nun glitt der raue, schuppige Körper über seine nackte Haut. Sein Herz raste, er schnappte angstvoll nach Luft. "Xavier, hilf mir!! Hol sie da raus, bitte!!" Xavier lächelte, stützte eine Hand auf die Hüfte, legte posierend einen Finger unter das Kinn und betrachtete Frank gespielt nachdenklich. "Warum genießt du es nicht?! Sie mag dich. Und es fühlt sich doch gut an, oder nicht?" Frank keuchte, Rosalie schob sich gerade um seinen Hals, aber zu schnell, als dass er einen hektischen Zugriff gewagt hätte. "Hilf mir, bitte!! Xavier!!" Xavier streckte die Hand aus und kämmte Frank ein paar Strähnen aus den Augen. "Du kannst mich Angel nennen." Frank schloss gepeinigt die Augen, Rosalie war auf dem Weg zu seinem Bauch. "Bitte! Bitte, Angel! Nimm sie weg!" "Wenn du stillhältst, Frankie." Frank nickte verkrampft, Rosalie züngelte interessiert an seinem Hosenbund herum, versuchte es nun an seinem Rücken. Er öffnete die Augen wieder und sah direkt in Xaviers grüne Katzenaugen, die ihn verwirrend tiefgründig betrachteten. "Wie heißt das Zauberwort?" "Bitte." "Bitte und weiter?" "Bitte, Angel." "Schon besser." Mit einem zufriedenen Lächeln näherte sich Xavier Franks Ohr, hauchte hinein. "Ich bin Angel, merk dir das, Frankie." Frank nickte gehorsam. »Angel. Angel.« Angels Finger knöpften geschickt das Hemd auf, als Frank entsetzt keuchte. Rosalie hatte die Geduld verloren und den schuppigen Kopf in den Hosenbund geschoben. "Angel!" Frank wimmerte panisch. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war eine schlangenförmige Eidechse in der Unterhose. "Schlaues Mädchen, hm?" Angel lachte, streifte Frank sanft das Hemd vom Oberkörper, zog die Hemdzipfel aus dem Hosenbund. "Ich sag ja, sie mag dich. Vielleicht bist du doch ein kleines, weißes Mäuschen, hm?" Angel stand direkt vor Frank, lachte leise in sein Ohr. Frank lief rot an. Die Situation verwirrte ihn völlig. "Schön stillhalten." Angels Hände glitten in Franks Hosenbund, fingen Rosalie vorsichtig ein, die sich enttäuscht um Angels Hände ringelte. Frank atmete erleichtert auf. Angel lächelte versonnen ins Leere, während Rosalie nun in sein Hemd kroch, am Kragen auftauchte und dann um das tätowierte Blatt herum Richtung Hosenbund schlüpfte. "Du weißt wohl genau, was du willst, hm?" Angel streichelte das schuppige Haupt, zerrte sein Hemd aus dem Hosenbund. Fasziniert verfolgte Frank, wie Rosalie in Angels Hose verschwand. Dieser lächelte noch immer selbstvergessen, kicherte dann leicht. "He, das kitzelt!" Frank räusperte sich. "Hast... hast du gar keine Angst, Angel?" Angel hob den Kopf an und zwinkerte Frank spöttisch zu. "Vor einer 'Schlange' in meiner Hose?" Der zweideutige Ausdruck und Angels bezeichnende Gestik ließen Frank hochrot anlaufen. Angel grinste und trat einen Schritt auf ihn zu, beugte sich vertraulich vor. In den Katzenaugen flackerte ein spitzbübisches Feuer. "Was denkst du, wenn jetzt jemand kommt und uns so sieht?! Beide ohne Hemden und in meiner Hose verdächtige Beulen!" Franks Gesichtsfarbe hatte nun etwas eindeutig Ungesundes. Schamrot stotterte er Unverständliches, drehte schließlich den Kopf weg. "Ich könnte dich küssen." Angels Stimme war leise, das dunkles Timbre verursachte Frank eine Gänsehaut. "Das würdest du nicht tun!" Angel lachte leise, legte eine Hand in Franks Nacken. "Ich habe schon ganz andere Dinge getan." Frank riss die Augen weit auf, als sich Angel zu ihm beugte, dann drehte er abrupt den Kopf zur Seite. "Ich mag solche gemeinen Scherze nicht, klar?!" Die Hand in seinem Nacken streichelte seine Haare. "Wer sagt, dass ich scherze?!" Frank ballte die Hände zu Fäusten, senkte den Kopf. »Er macht sich nur lustig! Das ist bloß einer seiner fiesen Streiche!« Ein warmer Kuss landete auf seiner Wange. Dann hörte er fassungslos Angels warmes Lachen. "Angsthase! So schlimm war es doch auch nicht." Angel löste sich leichthin von ihm, ließ die Hose auf den Boden fallen. Rosalie wand sich um seinen Oberschenkel, wurde nun sanft entfernt und mit einem Abschiedskuss wieder in ihr angestammtes Reich verfrachtet. Hastig schlüpfte Frank in sein Hemd. Angel glitt ebenfalls anmutig in seine Sachen zurück. "Na, hast du immer noch Angst?!" Frank warf einen Seitenblick auf das Terrarium, schüttelte dann zögerlich den Kopf. "Los, wir kommen zu spät zum Essen!" ~~?* Die nächsten Tage vergingen in relativer Ruhe, keine bösartigen Streiche trafen Frank. Aber er fühlte eine seltsame Unruhe, wenn er Angel aus den Augenwinkeln beobachtete. Dieser schien wie ein Druckkochtopf zu sein: man bemerkte erst die Explosion, wenn der Deckel bereits an die Decke schoss. Angel bemühte sich zwar sichtlich, seine schlechte Laune in den Griff zu bekommen, aber die dünne Schicht an Sympathie, auf die sie sich verständigt hatten, zerbröckelte immer schneller. Frank beschloss also, Angel aus dem Weg zu gehen, bis dessen innere Anspannung ein anderes Ventil gefunden hatte. Gerade saß er auf seinem Bett und überarbeitete mit gerunzelter Stirn seine Latein-Hausaufgaben, als Angel hereinplatzte. Frank hörte schon am Klang der zuschmetternden Tür, dass Sturmwarnung ausgegeben werden musste. Er hütete sich davor, den Kopf anzuheben und Angel anzusehen. »Bloß nicht provozieren«, ermahnte er sich stumm. Angel warf sich schwer auf das eigene Bett, steckte sich eine Zigarette an. Frank spürte den zusammengezogenen brennenden Blick über seinen Körper gleiten und erstarrte. Er hielt den Atem an, hoffte, der Bannstrahl würde ihn verschonen. "Was machst du denn da, Freak?" "Latein." "Hier." Ein Heft schleuderte quer durch die Luft und das Zimmer, um verwirbelt auf Franks Bett zu landen. "Kannst gleich weitermachen." Frank legte betont ruhig das eigene Heft beiseite, schlug dann Angels Heft auf. "Ich würde dir wirklich gern helfen, aber man wird den Unterschied zwischen unserer Handschrift erkennen." Frank bemühte sich um einen ruhigen, freundlichen Tonfall. Angels Augen verfinsterten sich. Er schnippte die Kippe aus dem offenen Fenster und kam drohend zu Frank herüber. Angels Schatten schien das ganze Zimmer einzunehmen, Frank wurde bleich. "Soll ich dir mal was sagen?!" Angel beugte sich vor, seine Stimme war trügerisch sanft, aber aus den Augen schossen hasserfüllte Blitze. "Du kotzt mich an mit deiner Freundlichkeit!! Ich möchte dir am Liebsten den Schädel einschlagen, wenn du mit deiner zuckersüßen Miene Nettigkeiten säuselst!! So ein liebes Lämmchen!!" Angels Stimme war nun laut, stand kurz vor dem Umkippen. Er packte Frank schmerzhaft bei den Oberarmen, schüttelte ihn heftig durch. Frank zog instinktiv die Schultern hoch, wandte das Gesicht ab. "Du bist ja so gut!! Ein richtiger Märtyrer!! So selbstlos, wie du mich erträgst!!" Angel ließ Frank heftig auf die Matratze sacken, riss ihn dann wieder hoch, wiederholte das mit aller Kraft. Frank schnappte nach Luft. Langsam verlor er das Gefühl in den Armen, sie prickelten schon betäubt. "Na gut, du Goldstück!! Ich geb dir Grund, dich wie ein Märtyrer aufzuspielen!!" Frank riss die Augen angstvoll auf, begann zum ersten Mal, sich zu wehren. "Nein!! Lass mich los, du Ekel!!" Er zappelte und zuckte wild. "Was haben wir denn da?" Angels Stimme schwang voller Genugtuung, abrupt ließ er Frank los. Frank hatte bei seinem Befreiungsmanöver seinen Rucksack umgekippt, und nun lag das Polaroid mit seiner Mutter obenauf. Angel fischte es mit spitzen Fingern heran. Frank stürzte sich mit einem Aufschrei auf ihn. "Nein, bitte!! Gib es mir zurück!!" Angel hielt das Bild mit gebleckten Zähnen aus seiner Reichweite, versetzte ihm einen Faustschlag in den Magen. Frank krümmte sich wimmernd zusammen. "Sieh mal einer an, die heißgeliebte Mami und ihr kleines Engelchen. Niedlich, wirklich! Eine richtige Familienidylle!" Frank hob den Kopf an. "Bitte, bitte, Angel, gib es mir zurück. Es ist das einzige Bild, das ich besitze." Angel drehte spielerisch eine Strähne um die Finger. "Dann ist es also viel wert, hm? Nun, was könnte ich wohl als Gegenleistung verlangen?" Frank zitterte nun. Er zweifelte nicht daran, dass Angel in seiner bösartigen Stimmung fähig war, das Bild einfach kaputt zu machen. So, wie er auch sein Sakko angekokelt hatte. Tränen stiegen in seine Augen, während Angel ihn eindringlich musterte. "Sag mir, Kleiner, wie viel ist es dir wert?" Trotzig wischte sich Frank mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Dann ging er zu Angels Schreibtisch hinüber, nahm den scharfen Brieföffner herunter. Er stellte sich direkt vor Angel, trieb dann den Brieföffner entschlossen in seinen Oberarm. Die Schnittfläche riss die Haut wie ein Rasiermesser auf, Blut quoll hervor. "Da, reicht das?! Ich geb dir mein Blut dafür!" Angels Mund klappte herunter, während er entgeistert auf die Wunde starrte. Dann kam wieder Leben in ihn. "Idiot!" Er ließ das Bild fallen, stieß Franks verwundeten Arm in die Höhe, damit weniger Blut herauslief. Frank biss die Zähne zusammen, fühlte einen Anflug von Stolz, dass er Angel aus der Fassung gebracht hatte. Dieser sah ihn nun mit diesem geheimnisvollen Ausdruck an, der Frank immer wieder eine Gänsehaut verursachte. Dann presste er die Lippen auf die Schnittwunde, leckte das Blut ab. Frank keuchte, als Angel an der Wunde zu saugen begann, schwankte. Angel schlang den freien Arm um Franks Taille, zog ihn eng an sich, ohne die Wunde freizugeben. Er starrte auf den weißblonden Schopf, der begierig das Blut ableckte, ihn fest im Arm hielt. Zittrig legte er den freien Arm um Angels Schultern, stützte sich schwer auf ihn. "Fieser Blutsauger", murmelte er schüchtern. Angel gab seinen Arm frei, zwinkerte ihm mit blutverschmierten Lippen und roten Zähnen zu. Dann schob er ihn langsam zu seinem Schrank, um Verbandszeug hervorzuziehen. Mit sicherer Hand verband Angel die Wunde, streichelte Frank durch den wirren Haarschopf. "Du kannst stolz sein, Kleiner, mich hat noch niemand so aus der Fassung gebracht." Mit einem schmalen Lächeln fügte er dann hinzu. "Und endlich hast du dich gewehrt, Frankie." Damit stand er auf und verließ das Zimmer. ~~?* Kapitel 4 "Schwimmen?!" Frank konnte seine Panik nicht ganz verbergen. "Treffen uns in zehn Minuten beim Haupteingang. Bitte mir Pünktlichkeit aus!" Frank folgte seinen Klassenkameraden wie betäubt zum Wohngebäude. Ihr aufgekratztes Plappern dröhnte lärmend in seinem Kopf, während er verzweifelt nach einer plausiblen Ausflucht suchte. Er trödelte hinter der Truppe herum, hoffte auf einen Geistesblitz. "Na los, Lumpenprinz, beeil dich ein bisschen!" Angel warf einen genervten Blick auf den Flur. Seufzend trabte Frank in ihr Zimmer. Angel stand vor seinem Kleiderschrank, eine Hand auf die Hüfte gestützt, die andere drehte Locken in eine Haarsträhne. Auf seinem Bett lag eine Sporttasche, aus der bereits ein Föhn und ein Handtuch lugten. Frank ließ sich auf sein eigenes Bett fallen und betrachtete Angels grüblerische Miene. "Warum packst du nicht?" Angel fragte bissig, ohne sich nach Frank umzuwenden. "Ich..." Frank krächzte, räusperte sich. "Ich werde nicht mitgehen." "Ach?" Angel wandte sich nun doch um, die fein geschwungenen schwarzen Augenbrauen hochgezogen, zweifelnd. "Du wirst dafür Strafarbeiten bekommen." Frank zuckte mit den Schultern, scheinbar gleichgültig. Angel lächelte plötzlich tückisch, schoss auf Frank zu. Der war überrumpelt, reagierte überhaupt nicht, als Angel ihn auf den Rücken warf und auf die Matratze presste. "Was ist, Aschenputtel?! Fühlst du dich nicht hübsch genug für uns?!" Frank drehte den Kopf weg, er schluckte schwer. »Ist mir doch egal, wie hämisch er ist! Was kümmert mich, was er denkt!« Angel rollte sich von Frank herunter, blies ein paar helle Strähnen aus dem Gesicht. "Sag nicht, du hast keine Badehose?!" Der Tonfall war wieder so genervt wie üblich, indizierte, dass Frank für seine Umgebung eine einzige Zumutung darstellte. "Komm schon!" Aufmunternd schlug Angel ihm auf die Oberschenkel. "Du kannst eine von mir haben." Kichernd bemerkte er dann, "Chlor desinfiziert ja fast alles!" "Ich will nicht!" Frank ballte die Fäuste, drehte sich zur Wand. Er konnte spüren, dass Angel überrascht herumfuhr. Der Luftzug strich über seine bloßen Unterarme. Eine gespannte Stille vereiste den Raum. "Du kannst nicht schwimmen, oder?" Angels Stimme war leise, ohne Spott. Frank zog die Knie an, presste die Fäuste vor den Mund. »Warum muss er so scharfsinnig sein? Warum lässt er mich nicht einfach links liegen?« Eine kühle Hand legte sich auf seinen Nacken, strich die Strähnen glatt. "Hey, das ist die beste Gelegenheit, Schwimmen zu lernen. Karlsson ist ein guter Lehrer." »Er hat ja gut reden, er kann schwimmen!« Frank hätte am Liebsten Angels Hand abgeschüttelt, obwohl er sich nach körperlicher Nähe sehnte. »Ich wünschte, jemand würde mich in den Arm nehmen, nur kurz! Seit Mamas Tod erfriere ich langsam...« Aber Angel ließ nicht locker. "Es ist keine Schande, etwas nicht zu können. Es aber überhaupt nicht zu versuchen, das ist eine." Die Matratze bebte, als er sich schwungvoll in die Höhe stemmte. "Warte mal, die hier ist mit Kordelzug, die müsste selbst einer verhungerten Ratte wie dir passen." Frank hörte Angel kramen. Dann landete eine flache Hand schwungvoll auf seinem Hintern, Frank quietschte erschrocken auf. "Na los, hol dein Badehandtuch!" Hatte Angel denn nicht zugehört?! "Hoch mit dir!" Angel beugte sich über Frank, packte diesen an den Handgelenken und zog ihn heftig auf die Füße. Frank versuchte, Angels Blick auszuweichen, zappelte. "Ich will nicht, hörst du?!!" "Sicher, aber es ist mir egal!! Du bist doch kein Feigling!" "Mir ist egal, ob ich ein Feigling bin, oder nicht!! Lass mich in Ruhe!!" Frank erschrak über sich selbst. Er hatte noch nie jemanden so angeschrien, voller Trotz und Aggression. Und das ausgerechnet bei Angel!! Nun half nur noch die Flucht nach vorn! Widerwillig starrte er in Angels grüne Katzenaugen, ballte die Fäuste, spürte Angels festen Griff um seine Handgelenke. Dieser ließ langsam Franks linken Arm frei, hob die Hand und strich Frank sanft über die Wange. Seine Miene war vollkommen undurchdringlich. "Versuch's, hm?! Ich lache nicht, versprochen!" Frank erschauerte unter der warmen Berührung, ließ sich von dem hypnotischen Blick einfangen. Er hatte Mühe, sich aus diesem Bannstrahl zu befreien, musste sich fast gewaltsam losreißen. "Was bekomm ich dafür?" Tatsächlich gelang es ihm, Angels neckenden Ton zu imitieren. Angel zog die Stirn kraus. Dann lehnte er sich geschmeidig vor, raunte in Franks Ohr. "Ich schenk dir ein Buch. Du darfst es selbst aussuchen." Franks Mund klappte vor Überraschung auf. Angel grinste, schloss Franks Mund mit der flachen Hand. "Du bist einverstanden?! Dann los, wir kommen noch zu spät!" ~~?* Frank kehrte den anderen in der Gruppenumkleide den Rücken zu, schlüpfte hastig in die Badehosen. Er musste die Bänder fest um die Taille ziehen, damit die Hose an ihrem Platz blieb. Dann griff er nach dem Handtuch und folgte den anderen langsam. Die Schwimmhalle war groß, aber ziemlich alt. Es handelte sich tatsächlich ein Schwimmbad, kein Spaß- oder Vergnügungsbad. Sie hatten das Becken fast für sich allein, nur ein paar ältere Leute drehten gemächlich ihre Runden. Frank sah sich suchend nach Angel um, aber dieser war nicht zu sehen. Wie alle anderen auch legte er sein Badehandtuch auf alte Steinbänke, die das Becken an der Fensterfront flankierten. Einige seiner Mitschüler tummelten sich schon im Becken, bespritzten einander oder tauchten ab, um sich zu erschrecken. Unschlüssig hielt Frank Ausschau nach Herrn Karlsson oder Angel. Er hatte auf dem Weg versucht, Herrn Karlsson anzusprechen, aber dieser war ständig von anderen Dingen in Beschlag genommen worden, so dass er schließlich sein Vorhaben aufgegeben hatte. Plötzlich war er von einem kleinen Kreis Jungs umringt. "Hey, Freak, Lust auf Wasser?!" Frank versuchte zurückzuweichen, aber sie zogen den Kreis enger um ihn, stießen ihn an, schubsten ihn leicht. Sein Blick irrte vergeblich über die Köpfe hinweg. Da war niemand zu sehen, der ihm zu Hilfe kommen konnte. Urplötzlich tat sich in der dichten Menschenmauer eine Lücke auf. Frank stolperte rücklings hin, verlor nach einem Stoß vollends das Gleichgewicht. Wild rudernd klatschte er ins Wasser. Von einem Augenblick zum Nächsten war er von Wasser umgeben, sank tiefer, während seine Lungen nach Sauerstoff schrien. Panisch schlug er mit Armen und Beinen in alle Richtungen, schluckte das brennende Chlorwasser. Durch den natürlichen Auftrieb gelangte er wieder an die Wasseroberfläche. Gurgelnd schnappte er nach Luft, sein Hals brannte, er spuckte Wasser. Durch die hektischen Zappelbewegungen verkrampften sich seine Muskeln schnell, er ging erneut unter. Nun ergriff ihn haltlose Panik, er kämpfte wild um sein Leben. Er wollte um Hilfe schreien, aber seine Lungen hatten sich bereits mit Wasser gefüllt. »Sie können mich doch nicht einfach so ertrinken lassen!!« Er klammerte sich mit dem bisschen klaren Verstand, das ihm geblieben war, an diese Hoffnung, dann ließ ein Muskelkrampf seine Beine schwer wie Blei werden. Wie ein Stein sackte er dem Boden entgegen. Ein harter Griff um seinen Brustkorb stoppte die Abwärtsbewegung, dann wurde er förmlich an die Oberfläche katapultiert. Frank spuckte Wasser, schlug um sich, voller Verzweiflung, weil seine Beine nicht zu bewegen waren. Der unnachgiebige Griff um seine Brust verstärkte sich, dann wurde er rücklings zum Beckenrand gezogen. Seine Lungen zogen sich qualvoll zusammen, immer wieder hustete er spuckend Wasser. Hände streckten sich ihm entgegen, hievten ihn auf die Fliesen. Keuchend wälzte er sich auf die Seite, hielt sich den krampfhaft zuckenden Bauch. Jemand schlang die Arme um seine Taille und zerrte ihn auf die Füße. Trotz des Muskelkrampfs konnte er Schritte machen, tapsig und unbeholfen. Die größte Last trug sein Helfer. "Frankie, nicht schlappmachen, gleich haben wir's geschafft!" »Angel?« »Angel!« Nach einem weiteren würgenden Hustenanfall umklammerte Frank die Schultern, die ihn stützten. Endlich waren die Duschen erreicht. Ein schwer atmender Angel ließ Frank auf die Fliesen sacken und plumpste selbst daneben. Mit geschlossenen Augen tastete er überkopf nach der Mischbatterie für die Brause. Ein warmer Sprühnebel hüllte sie ein. Die Wärme löste auch die Krämpfe, die Frank noch immer konvulsivisch zucken ließen. Stattdessen ereilte ihn nun der Schock. Er presste die Hände vor den Mund, aber das angstvolle Heulen war nicht zu ersticken. Seine Tränen vermischten sich mit dem Wasser der Dusche. "Schsch, Kleiner, ist doch alles wieder gut. Komm, Frankie, ich bin bei dir. Du brauchst keine Angst mehr zu haben." Frank spürte Angels Wärme, die Arme, die ihn fest an den nassen Oberkörper drückten, die Hand, die unaufhörlich durch seine Haare streichelte. Er klammerte sich fester an den einzigen Halt in seinem Jammertal, schluchzte in die weißblonden Haare. "W--wwwo warsst duuu?! Wwwo?!!" Angel wiegte ihn beruhigend, summte leise Trostlaute. "Tut mir leid, Frankie, echt! Ich hab gerade mit Karlsson gesprochen, ihm gesagt, dass du nicht schwimmen kannst, als es auch schon zu spät war." Frank stieß sich heftig von Angel ab, ihn kümmerte es nicht, dass ihm Wasser aus Augen und Nase lief. "Lügner!! Lügner!! Ihr wolltet mich absaufen lassen!!" Schluchzend drehte er sich weg. Angel packte ihn grob an den Schultern und schüttelte ihn durch. "Du spinnst wohl!! Wenn ich gewollt hätte, dass du ertrinkst, dann hätte ich dich wohl kaum aus dem Wasser gezogen, oder?!!" Frank ignorierte seine Worte, starrte auf die Fliesen, schluchzte verhalten. "Warum? Warum hasst ihr mich so? Ich hab euch doch gar nichts getan." Seine leise Stimme brach. Angel strich ihm mit den Fingerspitzen über das Gesicht. "Hey Kleiner, niemand hasst dich. Es war bloß ein dummer Streich, es tut allen leid." Frank lachte verbittert auf, drehte den Kopf auf die Seite. "Ein dummer Streich. Wie die Ratte. Wie Rosalie. Wie deine Drohungen. Sicher." Für eine ganze Weile war nur das Geräusch des fließenden Wassers zu hören, das Gluckern des Abflusses im Boden. "Was möchtest du hören? Dass ich ein Scheißkerl bin?" Frank zuckte mit den Schultern. Was würden ein paar Lippenbekenntnisse schon ändern?! Angel ließ seine Finger wie eine Spinne über Franks nackten Rücken wandern. "Ich bin böse. Und wenn ich schlecht drauf bin, geht man mir besser aus dem Weg." Frank erstarrte bei Angels seltsamer Wortwahl. Auch der viel zu ruhige Tonfall erschreckte ihn. Er drehte den Kopf, aber Angels grimmiger Blick war auf etwas gerichtet, das nur er sehen konnte. Frank fühlte sich ausgelaugt und erschlagen. Er hasste Streit, er mochte keine Auseinandersetzungen, und das war heute schon die zweite! Außerdem brannte sein Hals furchtbar, seine Lungen protestierten noch immer gegen die unangemessene Wasserzufuhr, und seine Beine zeigten die ersten Vorboten eines ausgewachsenen Muskelkaters. Er lehnte sich vertraulich an Angel, schloss die Augen. »Jag mich doch weg, schlag mich, wenn es dich stört, aber ich will einfach nur bei jemanden sitzen und mich ausruhen. Nur ein bisschen Ruhe! Eine Pause, mehr nicht!« Aber Angel legte einfach die Arme um seine Schultern und zog Franks Kopf sanft unter sein Kinn. ~~?* Versonnen betrachtete Frank die dichten Schneeflocken, die vor dem Fenster einen sanften Reigen aufführten, bevor sie sich auf dem Hof zur Ruhe legten. Dieser war schon von einer ordentlichen Schneedecke überzogen, ebenso die Dächer und Bäume, wie mit Puderzucker bestreut. Hastig richtete er wieder den Blick an die Tafel. Tagträumereien würden ihm bei Herrn von Schöller ganz sicher in Schwierigkeiten bringen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, dass auch seine Mitschüler von den Schneeflocken abgelenkt wurden. Herr von Schöller fuhr dagegen völlig unbeeindruckt mit seinem Frontalunterricht fort, wiederholte die immer gleichen unverständlichen Erklärungen zu den Formeln, die Angel mühelos an die Tafel notiert hatte. Als ob das bloße Wiederkäuen es verständlicher machen würde!! Frank verabscheute diese Anflüge von Resignation, die ihn sporadisch im Mathe-Unterricht überfielen, aber er sah, metaphorisch gesprochen, einfach kein Land mehr. Jemand summte leise 'Schneeflöckchen, Weißröckchen'. Frank horchte überrascht auf. Tatsächlich, es war keine Einbildung! Mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen summte Angel weiter, ließ Herrn von Schöller nicht aus den Augen. Dieser wagte nicht, Angel zurechtzuweisen, krakelte nun Aufgaben an die Tafel, den Rücken so steif wie ein Zollstock. Endlich erlöste sie die Klingel von der letzten Unterrichtsstunde an diesem Tag. Sofort bildeten sich kleine Grüppchen, die spontan beschlossen, die Lerngruppen auf den Weihnachtsmarkt zu verlegen. Frank hörte ihnen zu und fragte sich im Stillen, ob er sich wohl einer der Gruppen anschließen könnte, denn der Ausgang war nur möglich, wenn mindestens zwei Jungen zusammen gingen. Hoffnungsvoll sah er zu Angel hinüber, aber dieser lehnte gerade das Angebot einer Gruppe ab. "Nehmt doch Frank mit, der hat sicher Lust!" Die Gesichter, die sich zu Frank umwandten, waren nicht gerade begeistert, aber Frank ignorierte das. "Ich gehe gern mit." "Na also!" Angel rieb sich zufrieden die Hände. Für einen Augenblick meinte Frank, in Angels Augen ein seltsames Feuer zu erkennen, aber dann war der Ausdruck auch wieder verschwunden. Langsam folgte er den anderen in das Wohngebäude. Beim Gang über den schneebedeckten Hof schauerte ihm vor der Kälte. Er fragte sich, ob seine Kleidung wohl warm genug war. Angel starrte aus der Dachluke, verfolgte scheinbar versunken den Tanz der Schneeflocken. Frank schüttelte seine Dufflecoat aus, entrollte den alten Wollschal. »Wenn ich ein T-Shirt unter den Pullover ziehe, dann müsste es gehen!« "Willst du einen meiner Fleece-Pullover leihen?" Frank hob irritiert den Kopf hoch, pustete lange Strähnen aus der Stirn. "Du willst mir einen deiner Pullover leihen?!" Angel starrte weiter aus dem Fenster. "Sicher." "Das ... das ist sehr nett. Worin besteht meine Gegenleistung?" Angel malte einen Schneemann an die Scheibe. "Du kaufst für mich Marzipankartoffeln und Spekulatius." Angel löste sich endlich vom Fenster, zog eine Geldbörse aus seiner Schreibtischschublade, warf sie Frank zu. Frank fing sie geschickt auf. "Wie viel soll ich denn ausgeben, ich meine...?!" Angel zuckte gelangweilt mit den Schultern. "Von jedem ein Päckchen, es ist genug Geld drin." Frank nickte artig, knöpfte die alte Dufflecoat über dem farbenfrohen riesigen Fleece-Pullover von Angel zu. »Mollig warm! Nun noch der alte Wollschal!« "Hier!" Frank fing die dicken Handschuhe geistesgegenwärtig auf. "Aber...?" "Schon gut, die sind im Deal mit drin. Und jetzt hau ab!" Frank zögerte einen Moment, drehte sich in der Tür noch mal um. "Danke, Angel!" Aber Angel starrte wieder aus dem Fenster. ~~?* Die Gruppe zog schwatzend über den Weihnachtsmarkt. Das Ziel war die künstliche Eisbahn. Herr Karlsson hatte sich ihnen angeschlossen. Für den morgigen Nikolaus-Tag wollte er die Gebühren für die Eisbahn spenden. Frank warf einen unsicheren Blick auf die davongleitenden Kameraden. Sollte er denn wirklich die Leihgebühr für die Schlittschuhe ausgeben? Dann bliebe kein Geld mehr für die Leckereien in den Marktbuden. "Na, Bayer, keine Angst, frisch ran ans Eis!" Eher er sich versah, hatte er ein paar alte Schlittschuhe an den Füßen und stand wackelig auf der Eisfläche. Ein paar zögernde Schritte, das Gleiten sah sehr viel leichter aus, als es tatsächlich war. Plötzlich umschwirrten ihn seine Mitschüler. Düstere Erinnerungen ließen Frank stocksteif erstarren. Das fröhliche Gelächter machte ihn nervös. Energisch kämpfte er sich frei, die hakeligen Schritte brachten ihn endlich aus der Gruppe. Eine Kerbe im Eis, und Frank knallte auf den Boden. Kichernd sausten die anderen an ihm vorbei. Frank versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, aber sein rechter Knöchel explodierte in grausamem Schmerz. "Autsch!" Hastig sackte er wieder auf den Hintern. »Ich habe mir den Knöchel wohl verdreht! Aber ich muss vom Eis runter!« Hilfe suchend sah er sich um, aber er konnte seine Kameraden in dem Gewimmel nicht mehr finden. »Sind sie ohne mich gegangen?!« Auch der zweite Versuch in die Senkrechte zu kommen, endete mit einem schmerzhaften Plumps. Frank blinzelte Tränen weg. Sollte er wirklich auf den Knien an die Bande rutschen müssen? Da streckte sich ihm ein rosa Fäustling entgegen. Unter einer Pudelmütze kringelten sich rote Locken in ein pausbackiges Gesicht, vor Eifer gerötet. "Kannst du nicht aufstehen?" Frank wischte sich eilig über die Augen, schüttelte verlegen den Kopf. "Ich helf dir, stütz dich auf mich." Frank zögerte einen Augenblick, dann nahm er das Hilfsangebot an. Tatsächlich konnte er sich mit der Hilfe des fremden Mädchens auf den Beinen halten. Allerdings waren seine Beine nun durchgefroren. Er hatte zu lange auf dem Eis gesessen. Langsam führte sie ihn zur Bande. "Das ist sicher eine Verstauchung! Du solltest zu einem Arzt gehen." Frank nickte und bedankte sich zum wiederholten Mal. "Kein Problem! Ich bin auch oft gefallen, bis mein Bruder es mir beigebracht hat! Es geht besser, wenn man mit jemandem läuft!" Sie zwinkerte ihm zu und drückte ihm dann ein Bonbon in die Hand. "Hier, zum Nikolaus!" Bevor Frank sich bedanken konnte, war sie schon als farbenprächtiger Schmetterling im Wirbel der Läufer verschwunden. Frank rappelte sich mühsam hoch, versuchte, den schmerzenden Knöchel nicht zu belasten. Mit Schreck stellte er fest, dass es bereits stockdunkel war. Er hatte zu viel Zeit verloren. Humpelnd klapperte er die Buden ab, beschaffte die von Angel bestellten Süßigkeiten. Es war schwer, die leckeren Düfte zu ignorieren, wenn einem das Wasser im Munde zusammenlief! Aber das Taschengeld musste für den ganzen Monat reichen, und da waren eben keine Leckereien drin. Seufzend sog Frank die Duftmischung ein letztes Mal ein, machte sich dann auf den Heimweg. Der Weg war mühsam, seine Beine eiskalt, die Füße in den Turnschuhen durchgefroren. Wenn nur der Knöchel nicht so schmerzen würde! Der Schnee, der auf den Gehwegen lag, erleichterte sein Fortkommen auch nicht besonders, da er nass und klumpig wurde. In seinem Kopf nebelte es, seine Augen waren feucht, obwohl der Wind nicht eisig blies. Endlich kamen die erleuchteten Fenster des Internats in Sicht. Frank schleppte sich über den Hof, stemmte zittrig die schwere Tür zum Wohngebäude auf. Aus dem Untergeschoss klang das Klappern von Geschirr und Fetzen fröhlicher Unterhaltung. Oh je, das Abendessen hatte schon begonnen! Frank umklammerte den Treppenlauf, aber seine Beine verweigerten nun endgültig den Dienst. Er sackte auf der untersten Stufe zusammen. Schwer lehnte er den Kopf an die Wand und schloss die Augen. »Nur eine kurze Verschnaufpause...« ~~?* "He, was machst du da?!" Angel grüne Augen fixierten Franks unsteten Blick. "Nur... Pause ..." Frank hatte Mühe, die Worte zu formulieren, seine Zunge war schwer. Eine kühle Hand schob sich unter seine verschwitzten Haarsträhnen. "Du hast Fieber!" Wirr kramte Frank nach den Päckchen in seiner Jackentasche. "Lass das doch jetzt! Die kannst du mir auch oben geben!" Angel schob sich unter einen von Franks Armen, stemmte ihn hoch. Frank vergaß seinen lädierten Knöchel und schrie auf, als er die nächste Stufe erklimmen wollte. "Was ist?!" "Knöchel!" Frank zischte das Wort zwischen zusammengebissenen Zähnen. "Gott, du glühst, Frankie! Wieso bist du eigentlich nicht mit den anderen zurückgekommen?" Franks Augen schwammen schon wieder in Tränen. Die bohrenden Kopfschmerzen drängten sich rücksichtslos in sein Bewusstsein. "Gefallen... allein..." "Ich versteh kein Wort! Ist auch egal, du musst ins Bett!" Es dauerte quälende, endlose zehn Minuten, bis sie schwankend ihr Zimmer erreichten. "Du hast Glück, dass ich zur Toilette musste. Wenn dich ein anderer gefunden hätte, wärst du gemeldet worden!" Frank keuchte, stützte sich noch schwerer auf Angel. Dieser legte ihn sanft auf das Bett, pulte ihn aus den klammen Sachen. "Deine Beine sind ja eiskalt!" Angel zerrte an der viel zu dünnen Jeans. "Verdammt!! Dein Knöchel ist total angeschwollen!" Frank stöhnte, als Angels warme Finger vorsichtig die Schwellung betasteten. "Bist du umgeknickt? Warte, ich hab irgendwo ein Kühlgel!" Franks Augenlider flatterten. Er hörte Angels Stimme nur noch durch eine dicke Watteschicht. "Wir müssen auch Fieber messen!" Frank rollte sich auf die Seite, fischte seine Jacke, die auf dem Boden lag, heran. Seine Finger ertasteten das Bonbon, das er geschenkt bekommen hatte. "He, bleib ruhig liegen, Kleiner!" Frank schloss die Augen, Tränen liefen über sein Gesicht. »So müde...« "A--Angel?" "Hm?" Eine kühle Hand legte sich auf Franks glühende Wange. Frank legte die geschlossene Hand auf Angels. Ließ das Bonbon darauf fallen. "Zum Nikolaus." Dann wurde er ohnmächtig. ~~?* "Frankie? Kannst du mich hören?" Frank blinzelte, wollte in die Finsternis zurückkehren, aber die Stimme drängte weiter, forderte eine Antwort. "Uhhh." "Na, zumindest die Stimme ist noch da!" Neckend säuselte Angel in Franks Ohr. "Hier, du musst das trinken." Frank spürte Kälte an seinen Lippen, ein Glas. Dann rann eine klebrige Flüssigkeit in seinen Mund. "So, runter damit! Verdammt, Frankie, was machst du bloß für Sachen, hm?! Dich kann man wirklich nirgends allein hin lassen." "Tschuldige." Frank hatte Mühe, die geschwollene Zunge einigermaßen verständlich zu dirigieren. Eine kühle Hand strich über seine glühende Stirn. "Du hast dir nicht nur den Knöchel verstaucht, nein, Ihre Hochwohlgeboren musste auch gleich noch eine schwere Erkältung aufgabeln." Frank stöhnte leise, die Hitze, die in seinem Körper brannte, erschöpfte ihn bis ins Mark. "Schlaf noch ein bisschen, damit das Fieber runtergeht, okay? Ich komme alle zwei Stunden und seh nach dir." "Hmmm." "Ach ja, danke für dein Nikolaus-Geschenk!" Ein sanfter Kuss landete auf Franks erhitzter Wange, dann glitt er in Fieberträume. ~~?* »Dieses eklige Zeug!« Frank kämpfte sich mühsam in die Senkrechte. Er wickelte die Decke fest um sich und humpelte schwankend auf die Tür zu. »Das Gesöff treibt einen ja sofort zur Toilette!« Er tastete sich langsam an den Flurwänden entlang. Nach fünf Schritten musste er schon eine Pause einlegen. Seine Lungen schmerzten, sein rechter Fuß, der die ganze Belastung tragen musste, protestierte schon peinigend. Frank legte erschöpft die Wange an die Wand und spürte, dass er noch immer vor Fieber glühte. »Ich will bloß schlafen! Aber zuerst...« Endlich waren die Toiletten erreicht, der Harndrang war schon quälend. Frank hängte die Decke an einen Haken an der Tür, hopste dann bibbernd zum Urinal hinüber. »Nun einfach...« Aber da war gar nichts einfaches mehr. Trotz der ungeheuren Spannung wollte der Urin nicht fließen, der Schmerz trieb Frank Tränen in die Augen. »Warum tut es so weh?!!« Er zwang sich zur Entspannung, kniff die Augen zusammen, presste die Lippen zu farblosen Strichen. »Endlich!« Obwohl der Schmerz eher noch zunahm, öffnete Frank erleichtert die Augen und schrak entsetzt zusammen. ~~?* "He Kleiner, du hast die Medizin nicht genommen! Los, runter damit!" Frank rollte sich zusammen wie ein Embryo, die Knie unter das Kinn gezogen, die Arme an den Körper gepresst. "Frankie, komm schon!" Angels Stimme schwang voller Ungeduld. "Oder muss ich es dir eintrichtern?!" Kräftige Hände umspannten Franks Oberarme. "Nein!! Ich will nichts!!" Er wurde trotz heftiger Gegenwehr auf den Rücken gedreht. Angels Augen funkelten vor Verärgerung. "Verdammt, was soll das Theater?! Deine Lippen sind schon ganz rissig, du musst auf alle Fälle jetzt was trinken, sonst sinkt das Fieber nie!! Also, mach jetzt!!" "Nein!!" Frank strampelte verzweifelt, versuchte sich aus Angels Griff zu befreien. Der knurrte wild, gab Frank dann plötzlich frei. »Jetzt wird er gehen!« Frank atmete erleichtert auf. Da wurden seine Handgelenke hochgerissen, aneinander gepresst und ein Strick um sie geschlungen. "Was...was tust du da?!! Lass mich los!!" Angel knotete den Strick an einen Bettpfosten, murmelte zwischen zusammengebissenen Zähnen. "Es ist nur zu deinem Besten, Frankie." Dann setzte er sich rittlings auf Franks Oberschenkel, bevor dieser sich drehen konnte. Frank riss die Augen entsetzt auf, starrte ungläubig in die grünen Katzenaugen. Angel strich sich ein paar Strähnen hinter die Ohren, schnappte sich dann die Flasche. "Und du wirst jetzt trinken, klar?!" Er kniff Frank in die Nase, so dass dieser nur noch durch den Mund atmen konnte. Und dann ließ er die Flüssigkeit in Franks Mund laufen. Bevor dieser alles wieder ausspucken konnte, gab er die Nase frei. Reflexartig sog Frank durch die Nase Luft ein und schluckte im gleichen Moment würgend die Medizin. Röchelnd wand er sich unter Angel, der ihn am Kinn packte und ihm das Gesicht abwischte. "So, und jetzt wirst du schön schlafen. Bis in zwei Stunden." Damit schlenderte er aus dem Zimmer. Frank schluchzte vor Schwäche, bis ein traumloser Halbschlaf sich seiner erbarmte. ~~?* "Scheiße, was machst du bloß?!" Ungeduldige Finger zerrten an Franks Handgelenken, versuchten die aufgeschürften Gliedmaßen von den Stricken zu befreien. Frank kniff weiter die Augen zusammen, die Knie fest unter das Kinn gezogen. »Ich werde es ignorieren!« Sein Körper legte Widerspruch ein, ein Krampf ließ den schmächtigen Leib zucken. "Hey, Kleiner, was ist denn los?!" Angels Stimme war unvermutet sanft, voller Besorgnis. "Toilette." Frank würgte das Wort wie einen Fluch heraus. "Okay, ich bring dich hin." Eine Hand schob sich unter Franks Nacken, richtete ihn behutsam auf. "Komm, ein Arm über meine Schulter!" Frank ließ sich passiv wie eine Schaufensterpuppe hochziehen. Er spürte brennende Tränen über seine erhitzten Wangen laufen. Ihm graute vor dem erneuten Schmerz, so sehr, dass seine Zähne unkontrolliert aufeinander schlugen. "Du siehst ganz schön fertig aus! Bringen wir's schnell hinter dich und dann nichts wie ins Bett zurück!" Entschlossen zerrte Angel seine Last über den Flur. "Stehen oder sitzen?" Angesichts Franks Schwanken schied die erste Option in Angels Augen aus. "Hier. Hock dich!" Ungezwungen zerrte Angel Frank die Boxershorts von den Hüften, platzierte ihn auf die Klobrille. "Sag Bescheid, wenn du fertig bist." Damit zog er die Kabinentür hinter sich zu. Frank krümmte sich zusammen, Tränen tropften auf seine Knie. Er wusste, dass er dem furchtbaren Druck nicht mehr lange standhalten konnte, aber der zu erwartende Schmerz ließ sein Blut stocken. Schließlich gab er auf. Der Schmerz war höllisch, unnachgiebig, heimtückisch. Frank sackte nach vorne, schlug mit einem dumpfen Geräusch gegen die Kabinentür. ~~?* "Frankie?! Frankie, was ist los?!!" "Hey!" Angel schlug gegen die Tür, aber sie ging nicht auf. Er warf sich auf die Knie und konnte aus dieser Perspektive erkennen, dass Frank wohl gegen die Tür geknallt sein musste und diese nun mit seinem Körper blockierte. "Scheiße!" Angel stieg eilig in der Nachbarkabine auf den Wasserkasten, stemmte sich behände über die Kabinenwand. "Frankie, was...?! Großer Gott!!" Angel ließ sich hastig herab, balancierte auf der Klobrille, dann glitt er neben den zuckenden Körper. "Hey, Kleiner, halt durch, okay?! Ich schaff dich raus und dann hol ich die Schwester!" Angel zog Frank vorsichtig von der Tür weg, grapschte dann Toilettenpapier, um das Blut abzuwischen. Einen heftigen Würgreiz unterdrückend betätigte er die Spülung, und langsam verschwand das Blut aus der Toilettenschüssel. Notdürftig richtete er Franks spärliche Kleidung, hob diesen dann auf seine Arme. Frank klammerte sich an Angel und weinte nun ungehemmt vor lauter Schwäche. "Schsch, Frankie, nicht weinen! Ich hol dir Hilfe!" ~~?* "... hat wohl eine Blasenentzündung. Sehr übel, das, tut höllisch weh." Frank blinzelte, wollte die dröhnenden Stimmen aus seinem Kopf vertreiben. "... hätte ja auch was sagen können, der Bengel..." "...Sie sollten doch darauf achten... hohes Fieber..." Frank stöhnte gequält auf. Warum konnten sie nicht schweigen?! Eine Hand kühlte sanft seine Stirn. "Frankie, schlaf weiter. Alles wird wieder gut." Eine freundliche Stimme, leise, voller Besorgnis. Frank fiel wieder in die Finsternis. ~~?* "He, Kleiner, mach die Augen auf, die Sonne scheint!" Frank spürte einen Anflug von Kälte, als plötzlich seine Bettdecke verschwand. "Grmmmbl!", nuschelte er verärgert und rollte sich zusammen. "Nichts da!" Eine Hand legte sich auf seine Stirn. "Na also, normale Betriebstemperatur! Und jetzt hoch mit dir, frühstücken!" Frank versuchte, sich dem Griff zu entziehen, aber spitze Finger machten das Vorhaben zunichte. Sie fanden treffsicher kitzlige Stellen und kosteten dies gnadenlos aus. "Aufhören!" Frank japste, klappte endlich die Augenlider hoch. "He, da bist du ja wieder!" Angel kniete neben ihm auf der Matratze, die Wangen vor Vergnügen leicht gerötet. Dann lächelte er ernsthaft. "Hast mir ganz schöne Sorgen gemacht, du Glühwurm! Hohes Fieber, ein angeknackster Knöchel und eine Blasenentzündung!" Frank rieb sich seufzend über die Augen. "Tschuldige." Angel wuschelte ihm durch die Haare. "Komm jetzt, Frankie, lass uns frühstücken gehen. Kakao, Croissants, Honig,...", Angel lockte grinsend. Frank erwiderte das Lächeln schüchtern. "Du könntest mir wohl nicht beim Anziehen helfen?" Angel schleuderte die weißblonde Mähne ungläubig herum. "Na so was, jetzt stellt der kleine Kerl hier Ansprüche?!" Dann zog er Frank aber lachend in die Höhe. ~~?* Kapitel 5 Frank erholte sich rasch und genoss die neue Kameradschaft mit Angel. Auch die anderen schienen zu spüren, dass es jetzt keine Streiche mehr auf Franks Kosten geben würde, wenn man es sich nicht mit Angel verscherzen wollte. Aber dennoch hatte Frank manchmal den Eindruck, dass eine dunkle Wolke über ihnen schwebte, die sich nur zurückgezogen hatte, um ihnen eine kurze Verschnaufpause zu verschaffen. Und dann würde sie wieder erbarmungslos zuschlagen! ~~?* "Ich brauch heute das Zimmer wieder." Frank musterte Angels angespannte Miene, hörte den aggressiven Tonfall. "Okay." Unruhig strich sich Angel Haare aus der Stirn. Seine grünen Augen glühten unheimlich. »Möchte wissen, an was er denkt?!« Aber Frank zwang sich, Angel zu ignorieren. Wenn jemand so angespannt war wie Angel gerade, fehlte nur ein Funken zur Explosion. Er kramte ein paar Schulsachen zusammen und machte sich auf den Weg in die Bibliothek. Er hoffte, dass Angel sich bis zum Abendessen beruhigt haben würde. ~~?* Frank ließ seine Sachen behutsam auf den Tisch sinken, zog sich dann geräuschlos einen Stuhl heran. Er liebte die Stille der Bibliothek, den Geruch der Bücher, die Verheißung von Wissen und Abenteuer, die die endlosen Regale versprachen. »Hm, zuerst die unangenehmen Sachen... Oh nein!!« Frank sprang hoch und brachte sein Arrangement in Unordnung, aber die erste Vermutung erwies sich als korrekt. Er hatte sein Lateinheft vergessen!! Frank kaute nervös auf seinem Daumen und überlegte fieberhaft. Es konnte noch nicht allzu viel Zeit vergangen sein, er könnte noch einmal in das Zimmer zurückgehen. Allerdings würde Angel ihm vermutlich eine Abreibung verpassen!! Er war nicht gerade zum Scherzen aufgelegt gewesen, und in dieser Sache hatte er geradezu mörderisch agiert! »Je länger ich zögere, umso schlechter stehen meine Chancen!« Frank eilte hinüber ins Wohngebäude. ~~?* Die letzte Stufe. Frank hielt keuchend inne, lauschte dann auf Geräusche, aber der Flur war verlassen, aus den Zimmern drang kein Laut. Hastig überquerte er den Gang, presste ein Ohr an die Tür. »Kein Laut!« Er wischte in das Zimmer, las das Heft von seinem Schreibtisch auf. "Verdammt!! Was treibst du hier?!!" »Angel!!« Schreckensbleich fuhr Frank auf dem Absatz herum, wich bis zu seinem Bett zurück. In Angels Augen glomm ein wahnsinniges Feuer, als er bedrohlich langsam auf Frank zukam. "Tut.. .tut mir leid... Lateinheft..." Frank stammelte heiser, zerknüllte Halt suchend das Heft in seinen Händen. Angel streckte die Hände nach ihm aus, da wandte er plötzlich den Kopf, lauschte auf den Flur. "Scheiße!" Jetzt zischte Angel einige Flüche, zerrte Frank am Arm zu einem der Kleiderschränke. "So, Lumpenprinz, bist wohl neugierig, was ich hier treibe, hm?! Tja, jetzt findest du's raus!" Frank wollte protestieren, wurde aber in den offenen Schrank gestoßen. Angel funkelte ihn an, kalt, unbarmherzig. "Keinen Mucks, klar?!" "Aber..." Angel ohrfeigte ihn heftig mit der flachen Hand. Sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos, die Augen brannten irre. "Halt's Maul." Frank verstummte eingeschüchtert, presste angstvoll die Hände vor den Mund, eine instinktive Reaktion. Die Schranktür wurde vor ihm zugeschlagen, es wurde finster. Dann drehte sich der Schlüssel im Schloss, und Frank war eingesperrt. Er sackte in sich zusammen, versuchte das Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Da hörte er eine Stimme. »Von Schöller? Hier?! Um diese Zeit?!« Angel würde sicher Ärger kriegen, weil er nicht lernte. Frank lauschte verwirrt. Das hörte sich aber nicht nach einem Tadel an. Er hatte Schwierigkeiten, einzelne Worte zu verstehen, die Akustik im Schrank war schlecht. Er konnte nun auch Angels Stimme hören, dunkel, lasziv, provozierend. Dann tat es einen dumpfen Schlag, Dinge stürzten zu Boden. »Was geht da vor?!!« Frank hörte ein hohes Quietschen, wie wenn schwere Möbel über Holzboden geschoben wurden. Er vernahm, wie von Schöller irgendetwas zischte, aggressiv, gierig. »Was..?!« Angel antwortete, spöttisch, ein schleppender Singsang. Dann ertönten andere Geräusche, Stöhnen, Grunzen, das Schaben von Möbeln über den Boden. Jemand keuchte, atmete stoßweise. Frank wurde bleich, presste die Hände auf die Ohren. Er kauerte sich winzig klein zusammen, schluckte verkrampft, um die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Es schien Ewigkeiten zu dauern. Endlich wurde die Tür aufgerissen, und grelles Licht drang in das finstere Verlies des Kleiderschrankes. Franks Muskeln protestierten schmerzhaft, als Angel ihn am Arm in die Höhe riss und aus dem Schrank zerrte. Das irre Glitzern aus seinen Augen war verschwunden, stattdessen glomm ein triumphierendes Glühen in den grünen Abgründen. Eine Zigarette balancierte auf der Unterlippe. Abgesehen davon trug er nur einen Bademantel, der bei jeder Bewegung offen schwang. Frank keuchte und stieß sich von Angel ab. Mit einem entsetzten Blick nahm er das Zimmer in sich auf: der verschobene Schreibtisch, die auf den Boden geschleuderten Hefte und Bücher, das zerwühlte Bett. Als Frank sich wieder Angel zuwandte, ließ dieser mit einem Grinsen benutzte Kondome vor Franks Augen schwingen. Frank würgte, rannte an Angel vorbei zur Tür und stürzte auf den Flur. ~~?* Asche bröckelte neben Frank in das Waschbecken. Angel lehnte neben ihm an der Wand, suchte seinen Blick im Spiegel. Zitternd griff Frank nach seinen Handtuch, trocknete sich die nassen Handgelenke und das bleiche Gesicht ab. Angel blies eine Rauchwolke an die Decke, seine Augen blieben aber unverändert bei Frank. Der schnappte wieder nach Luft. Angels gleichgültiger Blick verursachte ihm erneut Übelkeit. "Fertig?" Angels Stimme war gelassen, geschäftsmäßig. Ohne eine Antwort abzuwarten, packte er Frank bei einem Handgelenk und zerrte ihn in ihr Zimmer. Dann lehnte er sich an das Türblatt und warf Frank einen prüfenden Blick zu. "Was ist?! Bist du nicht neugierig?" Frank schüttelte wie unter Zwang heftig den Kopf, krallte die Finger in seine Jeans. Angel lächelte mysteriös, nahm die Kippe aus dem Mund und drückte sie auf seinem eigenen Unterarm aus. Frank erwachte mit einen Schrei aus seiner Erstarrung, schlug Angels Hand zurück. Der Gestank verbrannten Fleisches stieg ihm in die Nase. Frank würgte. Die makellose, weiße Haut war dunkel verbrannt, aber Angel lachte nur. Dann ließ er mit einer nachlässigen Bewegung den Bademantel von den Schultern gleiten. Ehe Frank den Blick abwenden konnte, enthüllte er die Spuren seines Kontakts mit von Schöller. Blaue Flecken an den Armen, zwischen den Oberschenkeln, um den anmutigen Hals. Immer noch mörderisch lächelnd drehte er sich vor Frank wie ein Modell, damit dieser die eingetrockneten Flecken aus Blut und Sperma auf seinem Hintern und seinen Oberschenkeln sehen konnte. "Was denkst du, ich sollte wohl eine Dusche nehmen, hm?" Die Stimme spielerisch, amüsiert, hell. Frank riss den Kopf zur Seite, presste erneut die Hände vor den Mund. Angel kicherte schrill, kam in langsamen Wiegeschritt auf Frank zu. "Na...?" Frank reagierte, ohne zu überlegen: er stieß Angel heftig vor die Brust und floh voller Grauen in den Flur, fegte wie ein Wirbelsturm durch das Treppenhaus. Mit Tränen in den Augen und heftigem Seitenstechen erreichte er die Bibliothek. Zitternd kauerte er sich in eine verschwiegene Nische und suchte den Trost der Einsamkeit. ~~?* "He." Eine Hand legte sich auf Franks Schulter. Dieser schrak zusammen. Er musste wohl eingedöst sein! "Komm, Abendessen." »Angel.« »Angel?!« Frank wich wie von der Tarantel gestochen zurück. Angel stütze einen Arm auf die Hüfte und musterte Frank missbilligend. "Oh meine Güte, hast du Angst, es ist ansteckend?! Ha!!" Angel warf ein paar verirrte Strähnen aus der Stirn, blickte höhnisch auf Frank hinunter. Dann näherte er sein Gesicht Franks an, so nah, dass ihr Atem sich vermischte. "Keine Sorge, das ist bloß erblich." Damit wandte er sich ab und stolzierte aus der Bibliothek. Frank schluckte hastig, eine Gänsehaut kroch über seinen Nacken. In Angels Augen hatte Hass gestanden, ursprünglicher, reiner, rachsüchtiger Hass!! ~~?* »Als ob nichts passiert ist!« Frank beobachtete Angel aus den Augenwinkeln am Abendbrottisch. Dieser scherzte ruhig, scheinbar gelöst und sorgenfrei. Aber manchmal starrte er kurz zum Lehrertisch hinüber und in diesen Sekunden verwandelte sich sein attraktives Gesicht zu Eis. ~~?* Frank folgte seinen Kameraden unschlüssig zu den Zimmern die Treppen hinauf. Er fürchtete sich vor dem Augenblick, in dem er wieder mit Angel allein sein würde. »Wie soll ich mich verhalten?!« Es war nicht zu verhehlen gewesen, dass er sich vor Angel geekelt hatte. »Er war besudelt, beschmutzt, von diesem...!!« Frank fehlten selbst in der Stille seiner Gedanken die Worte. Er konnte einfach nicht begreifen, warum dies geschah. Und warum Angel mitmachte. »Wie soll ich ihnen in die Augen sehen?!« ~~?* Frank betrat zögerlich das Zimmer und warf einen scheuen Blick auf den Schreibtisch und das Bett. Alle Spuren waren beseitigt. »Als ob nichts geschehen ist.« Er huschte zu seinem eigenen Bett, hielt den Blick auf den Fußboden gesenkt. Aber Angel ignorierte ihn völlig, rollte sich in seinem Bett zusammen wie eine Mumie. "Licht aus!" ~~?* Frank hörte Angel in dieser Nacht wieder in seinen Albträumen stöhnen, aber dieses Mal stand er nicht auf, um beruhigend über den gekrümmten Leib zu streichen. Er zog sich das Kopfkissen über die Ohren und biss die Zähne zusammen. ~~?* Die nächsten paar Tage verliefen in einer angespannten Ruhe. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Frank wusste den Grund nicht, aber Angel wurde zunehmend aggressiver, bissiger, seine spitze Zunge versprühte Gift und Zwietracht. Besonders bei von Schöller ließ er keine Gelegenheit zum Streit und zur Konfrontation aus. Frank hielt bei jeder Auseinandersetzung den Atem an. Er hatte Angst vor der Rache, die Angel treffen würde. Ihn selbst behandelte Angel knurrig, aber er spielte keine boshaften Streiche oder wurde gewalttätig. "Hau ab bis zum Abendessen." Frank zögerte auf der Schwelle. "Angel..." "Verschwinde, verdammt!!" Mit einem heiseren Wutschrei feuerte Angel ein Buch nach Frank, der hastig die Tür hinter sich zuzog. ~~?* Frank versuchte, sich auf die Französische Revolution zu konzentrieren, aber seine Gedanken schweiften ständig ab. Er ertappte sich dabei, wiederholt auf die Uhr zu starren. Zunächst ärgerte er sich über sich selbst, aber langsam gewannen Sorge und Unruhe die Oberhand. Schließlich packte er alles zusammen und verließ die Bibliothek. ~~?* Ihr Stockwerk war verlassen, der Flur lag in Totenstille. Frank legte ein Ohr an die Tür und lauschte. Da er nichts hörte, öffnete er zaghaft die Tür einen Spalt. "Angel?" Ein gequältes Stöhnen antwortete ihm. Frank schloss eilig die Tür hinter sich, ließ die Schulsachen auf seinen Schreibtisch plumpsen. Dann kniete er sich neben Angels Bett. Ein paar weißblonde Haarsträhnen ragten aus einer zerwühlten Deckenlandschaft. "Ist... ist alles in Ordnung?" Frank flüsterte, tätschelte dann unbeholfen die Strähnen. "Nein." Die Antwort kam so leise, dass er sie fast überhört hätte. "Was fehlt dir denn?" Frank zappelte unruhig neben dem Bett, beobachtete die zusammengerollte Gestalt nervös. Unerwartet drehte sich Angel zu ihm herum, schob die Decke von seinem Gesicht. Auf den bleichen Wangen glitzerten Tränen. Frank keuchte bestürzt. Er hatte Angel noch niemals weinen sehen, abgesehen von den Albträumen in der Nacht. "Wie kann ich helfen?" Angels Gesicht verzog sich zu einem zittrigen Lächeln. "Frankie, Frankie! Wie kannst du nur so lieb sein?" Der Spott enthüllte beiläufig eine fassungslose Bewunderung, den Wunsch, diese Haltung zu begreifen. Frank erwiderte das Lächeln beschämt. "Du hilfst doch auch, wenn es mir schlecht geht." Angel schloss die Augen kurz, lachte erstickt. "Aber ich behandle dich wie ein Stück Dreck!" Frank schwieg hilflos. "Hast du dir Sorgen gemacht?" Frank nickte beklommen, Ausflüchte hatten keinen Sinn. "Von Schöller?" Angel knurrte hasserfüllt. "Wo... wo tut es weh?" Frank zwang sich, die entscheidende Frage zu stellen, auch wenn er die Antwort gar nicht hören wollte. Angels prüfender Blick glitt über Franks Gesicht, der trotzig standhielt. Dann drehte er sich langsam auf den Bauch, schlug mit einer Hand die Decke beiseite. Frank keuchte. "Ich hab mich verkrampft, als das Arschloch meinen Kopf an den Haaren in den Nacken gezogen hat." Eine lapidare Erklärung, in der Tonlage des Wetterberichts. Frank grub die Finger in die Matratze. "Was... was soll ich denn tun?! Da ist Blut! So viel Blut." Seine Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander, Schüttelfrost hielt seine Glieder in eisiger Umklammerung. "Da ist Desinfektionsmittel im Schrank." Frank kam wackelig auf die Füße, holte das Fläschchen und Taschentücher. "Und... und jetzt?" "Du musst das nicht tun." Aber Frank wusste, was er zu desinfizieren hatte. Er hatte lediglich Schwierigkeiten, seine flatternden Nerven unter Kontrolle zu bekommen. "He, Frankie, wirklich..." "Wen möchtest du denn sonst fragen? Karlsson?!" Angel, der sich auf einen Ellenbogen gestützt hatte, um Frank anzusehen, hob überrascht von den bitteren Worten eine Augenbraue an. Dann biss er sich auf die Lippe. "Halt still." Frank rieb die Hände an der Jeans warm, befeuchtete dann ein Taschentuch. Zuerst rieb er die oberflächlichen Blutspuren ab, registrierte die vielen Druckstellen und Hämatome. Er konnte auch den Krampf in Angels Unterleib spüren. Und solange dieser Krampf noch die Muskeln erzittern ließ, würde jeder Versuch Angel bloß weitere Schmerzen bereiten. Frank atmete entschlossen durch, dann begann er, sanft mit den Daumen Angels Pobacken zu massieren. "Was tust du denn da?!" "Bleib ruhig! Wenn du dich nicht entspannst, kann ich dir nicht helfen!" Franks wütender Ton duldete keine Wiederworte. Nach einer Weile konnte er die Reaktion bei Angel feststellen, auf die er gewartet hatte: die erwärmten Muskeln dehnten sich gehorsam. "Okay, es wird ernst." Angel biss in sein Kopfkissen. Frank schob das tropfnasse Taschentuch langsam in die enge Körperöffnung. Er konnte Angel zucken sehen und hörte ein gedämpftes Wimmern. Mit der freien Hand streichelte er Angels Nacken, flüsterte beruhigend. "Ich weiß, es tut weh, aber gleich ist es vorbei. Halt durch, nur noch ein bisschen. Dann ist alles gut." Er musste die Prozedur noch drei weitere Male durchführen, bis keine Blutflecken mehr auftraten. Frank beugte sich langsam über Angel. "Fertig." Dann richtete er sich wieder auf und beseitigte die Überreste. "Frankie?" Frank wandte sich herum, als Angel schon splitternackt hinter ihm stand und ihn fest umarmte. Beinahe Schutz suchend klammerte er sich an Frank. Dieser zögerte nur einen Sekundenbruchteil, legte dann die Arme um den bloßen Rücken und rieb sanft über die Schultern. "Du wirst dich erkälten!" Angel bannte Franks Blick mit seinen elektrisierenden, grünen Augen. "Frank, sag ehrlich, ekelst du dich nicht vor mir? Und davor?" Franks rechtes Auge zuckte nervös, dann schüttelte er den Kopf. "Ich kann nicht verstehen, warum...du dir das antust, aber... wenn jemand Hilfe braucht, dann hilft man. Und 'das' war nicht anders, als kleinen Kindern Zäpfchen zu verabreichen." Schüchtern zwinkerte er Angel zu, der vor Überraschung die Augen aufriss. Dann brach sich die Spannung in einem überdrehten, schrillen Kichern. "Du solltest wirklich duschen und etwas anziehen, Angel, es gibt bald Abendessen." Frank ermahnte sanft. Angel löste sich von ihm, legte zärtlich eine Hand auf Franks Wange. "Frankie... danke." Frank lächelte leise. ~~?* "Frankie?" Sie lagen beide in ihren Betten, aber die Ereignisse hielten sie vom Schlafen ab. "Ja?" "Kann ich zu dir kommen?" "Äh... sicher." Angel huschte an seiner Bettleuchte vorbei zu Franks Bett hinüber. Dieser schlug ungeschickt die Bettdecke zurück und wollte sich direkt an der Wand zusammenfalten. "Nein, rutsch vor." Elegant stieg Angel über den verdutzten Frank hinweg, schmiegte sich dann eng an dessen Rücken. "Du bist schön warm!" Angel schnurrte wie eine Katze vor Wohlbehagen, während Frank den Atem anhielt. Angel versuchte doch nicht etwa...?!! "Dieses Arschloch wird dafür bezahlen." Angels Stimme, eben noch ein sanfter Hauch, war jetzt eisig und entschlossen. "Von Schöller?! Aber...!" "Scht." Angels Finger streifte Franks Lippen. "Sie bezahlen alle, diese Dreckschweine! Alle!! Ich mach sie alle fertig!! Ich lass sie vor mir kriechen und dann lach ich ihnen in ihre Visagen!!" Frank stockte der Atem vor so viel ungebändigtem Hass. Angel fuhr fort, die Stimme erfüllt mit einem schrillen, verzweifelten Triumph, hohl, wie ein Pfeifen im dunklen Wald. "Sie denken, dass sie mich haben, aber das stimmt nicht!! Ich bestimme die Regeln, ich lass sie ihre perversen Spielchen treiben und dann kriechen sie vor mir! 'Xavier, mein Liebster, verzeih mir! Wie kann ich das nur wiedergutmachen?'" Angels Stimme wich in ein bösartiges, höhnisches Falsett. "Und dann büßen sie!! Oh ja, ich lass sie bluten, sie bezahlen für den Scheiß, den sie mir antun!!" Frank schauderte. Er wollte dieser unheimlichen Schilderung nicht mehr zuhören, die Haare in seinem Nacken stellten sich bereits auf. Angel umklammerte ihn jetzt fester, vergrub das Gesicht in Franks Nacken. Ein Muskelkrampf erschütterte Angels Körper, dann lag er wieder still. "Was hältst du von Ausgang in der nächsten Woche, hm?" Frank verschlug es die Sprache, er krächzte keuchend. "Das sollte zumindest drin sein." Angel klang, als überlege er leichthin die Anschaffung einer neuen CD. "Warum?!!" Franks unterdrücktes Entsetzen brach sich mit einem Schrei Bahn. Angel streichelte mit einem Finger Franks Wange. "Willst du das wirklich hören, Frankie?" Frank wusste, dass er es nicht hören wollte, aber er musste es hören. Denn das war die einzige Möglichkeit zu begreifen, welche Dämonen Angel in ihren Klauen hatten. Angel löste sich von ihm, legte sich auf den Rücken. Zögernd folgte Frank der Bewegung, starrte wie Angel an die Decke, vermied einen Blickkontakt. "Früher wohnte ich bei meinen Eltern. Wir haben ein großes Haus, eine richtige Villa. Na ja, alter Adel eben. Es war wie in den Büchern mit den verwunschenen Zauberschlössern, mit kleinen Zinnen und Efeu und rotem Weinlaub. Aber alles falscher Zauber!! Meine Mutter war keine nette Königin, sondern eine depressive, magersüchtige Zicke. Ihr ganzer Tag drehte sich bloß um Kalorienzählen, die nächste Mahlzeit und Designerklamotten. Mein Vater war auch kein gütiger, weiser König. Er ist ein reaktionäres, eitles, feiges Arschloch!!" Angel keuchte, rang um Fassung. "Na ja, ich war in einer vornehmen Schule in der Nähe, meistens den ganzen Tag. Das war gut so, denn ich hasste mein Zuhause bereits damals. Und wenn ich dann Zuhause sein musste, war ich mir selbst überlassen. Damit konnte ich aber gut leben. Dann kam mein zwölfter Geburtstag. Ich hatte mich die ganze Woche auf die Feier in meiner Klasse gefreut. Meine Freunde würden das Klassenzimmer schmücken, es gäbe Kuchen und Spiele. Ein richtig netter Geburtstag eben. Aber vorher war noch das Wochenende bei meinen liebreizenden Eltern zu überstehen. Meine Mutter war auf irgend so einer dämlichen Kunstgala, keine Ahnung mehr, was das war. Ich war mit meinem Vater allein, das heißt, ich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen. In der letzten Zeit hatte er so merkwürdige Anwandlungen gehabt, sich viel mehr mit seinem einzigen Sohn zu beschäftigen!" Angels schriller Spott ließ Frank erschauern. "Aber man kann schlecht Nein sagen, wenn der eigene Vater anbietet, auf den Geburtstag anzustoßen. Mit Wein! Wir hockten also in seinem Arbeitszimmer, er schüttete Rotwein in sich hinein, während ich überlegte, wie ich unauffällig mein Glas leeren konnte. Plötzlich sah er mich so komisch an, dass ich beschloss, lieber zu verschwinden. Er hatte gute Reflexe, wirklich!" Angels Stimme bebte vor Verachtung. "Ich war schmal und klein, ich hatte keine Chance. Ich begriff, was er wollte, aber es war zu spät." Eine lange Pause folgte Angels letzten Worten. Frank biss sich auf die Lippen, um nicht vor Grauen zu schluchzen. "Ich dachte, ich müsste sterben. Es hat mich in Stücke gerissen, so grauenvoll war es. Und die Geräusche! Alles stank nach Wein und Schweiß und...ihm!" Angel würgte nun selbst, fing sich aber wieder. "Ich dachte, wenn ich mich ruhig verhalte, hört er auf. Und er hörte auch auf! Genau so lange, wie er brauchte, um mich in mein Zimmer zu schaffen." Frank rollte sich auf die Seite, kehrte Angel den Rücken zu. Tränen rannen über seine Wangen, während er eine Faust in den Mund stopfte, um das Schluchzen zu unterdrücken. "Unglücklicherweise starb ich nicht." Angels Stimme schwankte zwischen gezwungenem Plauderton und Entsetzen. "Ich taumelte zwischen Ohnmacht und Qual hin und her. Endlich war er zu erschöpft, um weiterzumachen." Angel kicherte plötzlich schrill. "Und jetzt kommt das Beste: er heulte los!! Heulte Rotz und Wasser, wie ein Schlosshund! Jammerte, wie das nur passieren konnte, sein liebster Schatz, sein Lämmchen, sein Sonnenschein! Erbärmlich!! Zum Kotzen!! Da kniete er vor mir auf dem Teppich, splitternackt und flehte mich an, ihm zu verzeihen! Während ich vor Schmerzen kaum Luft holen konnte und das Laken voller Blut war!" Angel schnaubte vor demonstrativer Empörung, aber unter der dünnen Schicht Selbstironie konnte man deutlich Verzweiflung und Qual hören. "Aber in diesem Moment erkannte ich etwas: ich hatte ihn in der Hand! Nicht ich war klein und schwach, sondern er!! Und ich könnte mich an ihm rächen, ihn demütigen!! Und das tat ich dann auch." Angel knurrte voller Befriedigung. Im bemühten Plauderton fuhr er dann fort. "Kannst du dir meine Tätowierung vorstellen? Hm? Also, wir heißen ja St. Yves und unser Familienwappen ist das Efeublatt, ivy auf Englisch. Und während er sich gerade an mir austobte, starrte ich auf die Zimmerdecke. Altbau, überall waren die Efeublätter aufgemalt. Also sagte ich zu dem Arsch: ich will zum Geburtstag eine Tätowierung haben, genau auf meinem Herz! Er versprach ohne zu zögern, dass ich alles bekommen würde, was ich wollte! Tja, und so war ich ein Zwölfjähriger mit einer riesigen, teuren Tätowierung auf dem Herzen. Ich hatte ein Zeichen gesetzt." Frank keuchte, schluckte Tränen herunter. "Warum... auf dem Herz?" Angel kicherte schrill. "Weißt du, es gibt eine Menge Efeu-Sorten. Die meisten sind parasitär, sie saugen ihrem Wirt das Leben aus, schmarotzern so lange, bis er tot ist. Andere sind schlicht und einfach giftig. So wie mein Herz." Frank schoss hoch, schrie. "Das ist nicht wahr!! Du bist nicht so!!" Dann schlug er einen Arm vor die Augen und schluchzte ungehemmt. Er spürte, wie Angel sich neben ihm aufsetzte. "Doch, Kleiner, ich bin so. Böse. Vergiftet. Und wenn ich schon zur Hölle gehe, dann nehme ich noch ein paar Wichser mit." Frank schluchzte so sehr, dass seine Schultern von den Zuckungen schmerzten. Er wurde sanft in Angels Arme gezogen. "Ach Frankie, wein doch nicht. Vorbei ist vorbei." Frank grub die Fingernägel in Angels Rücken. "Warum hörst DU nicht auf?!" Angel schob ihn ärgerlich von sich. "Warum sollte ich?!! Sie verdienen es nicht besser!! Sie müssen bezahlen!! Alle!!" In seinen Augen glomm feuriger Hass, Vergeltungssucht. "Aber siehst du denn nicht, dass du dich selbst umbringst?!!" "Pfff, und wenn schon!" Angel machte eine abschätzige Handbewegung. Frank ohrfeigte ihn. Sie starrten sich fassungslos an, von Franks spontaner Reaktion gleichermaßen verblüfft. "Begreifst du denn nicht...begreifst du denn nicht, dass zu leben ein Geschenk ist?!" Frank senkte den Kopf, weil ihm schon wieder Tränen vom Gesicht tropften. Er wartete auf Prügel, auf Beschimpfungen, auf Wutausbrüche. Aber Angel zog ihn einfach wieder an sich, vergrub sein Gesicht in Franks Halsbeuge. Dann fing er an zu weinen, stille Tränen, aber unaufhörlich. "Ich konnte nicht mal schreien." Angels tränenschwere Stimme war nur ein heiserer Hauch in der Dunkelheit. Frank presste Angel an sich, eine hilflose Geste, beschützend und doch viel zu spät. "Es tut mir so leid, Angel. So leid!" ~~?* Sie lagen schweigend nebeneinander, erschöpft, nur ihre Finger waren ineinander verschlungen. "Angel?" "Hm?" "Hast du... jemandem davon erzählt? Von deinem Vater?" Angel seufzte in der Dunkelheit. "Wem hätte ich es sagen sollen?! Meiner Mutter?" "Einem Lehrer? Vielleicht?" "Ach Frankie, nach dieser Nacht war einfach alles anders. Ich war nicht mehr das nette Kind, ich war ein übellauniger Kotzbrocken geworden, boshaft, grausam. Ich war auf mich allein gestellt, und ich konnte keinem Erwachsenen mehr trauen." "Hat er ... weitergemacht?" Angel wandte sich zu Frank um, sein Atem streifte Franks Wange. "Wenn ich in seiner Nähe bin." Franks Herzschlag setzte aus. "Auch..." Angel legte ihm den Zeigefinger der freien Hand auf die Lippen. "Ja." In Franks Kopf überschlugen sich die Gedanken. "Aber..." "Ich weiß, jetzt könnte ich mich wehren. Aber ich tu's nicht. Denn er gibt mir alles, was ich will. Ich wollte auf dieses Internat, und hier bin ich. Ich kriege, was ich will, Klamotten, Computer, einfach alles." Frank räusperte sich. "Aber das sind nur Dinge." Das Schweigen zwischen ihnen lastete so lange, dass Frank befürchtete, dass Angel ihm nun wirklich böse war. "Denkst du, ich weiß das nicht?" Angel hauchte unglücklich in die Nacht. "Aber verdammt, wenn schon, denn schon!! Ich bin so verdorben, dass es mir nichts mehr ausmacht!! Für meinen Körper gibt es einen hohen Preis!!" Der Versuch, selbstbewusst und spöttisch zu klingen, wirkte wie eine Farce, ein lächerliches Feigenblatt angesichts der Ereignisse. Frank wusste nicht genau, wie er sich verhalten sollte. Da waren noch so viele Fragen, aber er verließ sich nun blind auf seine Intuition. Und so zog er Angel in seinen Arm. "Lass uns schlafen, Angel." ~~?* Frank erwachte am nächsten Morgen gewohnt früh und fühlte sich seltsam ausgeruht. Angel lag noch immer neben ihm, weißblonde Strähnen hingen in das entspannte Gesicht. »Er sieht wirklich wie ein Engel aus!« Frank hoffte, dass es noch nicht zu spät war, um Angel ein sanfteres Leben zu ermöglichen. Ein Leben ohne sexuelle Ausbeutung und Machtkämpfe. »Man müsste ihm helfen, aber wie?!« Er seufzte leise und strich sich überlange Strähnen aus dem Gesicht. »Ich habe es noch nicht mal geschafft, meine Mama zu retten, wie sollte ich ihm da eine Hilfe sein?!« Er zog die Knie an und legte das Kinn auf die spitzen Kniescheiben. Angel regte sich im Schlaf, murmelte leise etwas. Frank war abgelenkt, beobachtete ihn aufmerksam. »Ob er wohl träumt?« Erstaunlicherweise hatte Angel trotz des furchtbaren Tages ganz ruhig neben ihm geschlafen, als wirke Franks bloße Gegenwart schon besänftigend. Angel blinzelte, setzte sich hoch und räkelte sich. Frank lächelte ihm schüchtern zu, noch immer zusammengefaltet. "Morgen, Angel." Angel fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, zerwuschelte dann Franks wirren Haarschopf. "He, Kleiner." "Geht es dir gut?" Angel grinste breit, schleuderte die Bettdecke von sich. "Klar, ich bin hart im Nehmen." Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, "aber noch härter beim Austeilen!" Frank erwiderte das wilde Grinsen unwillkürlich, entspannte sich leicht. Dann knurrte sein Magen vernehmlich. Angel rollte elegant von der Bettkante auf die nackten Füße. "Das ist wohl unser Stichwort!" Er tippelte über den kalten Boden zu seinem Bett hinüber, sammelte seine Waschsachen ein und legte die Schuluniform zurecht. Frank entfaltete sich ächzend, angelte seine Sachen heran. Da stand Angel schon vor ihm, streckte ihm freundlich eine Hand entgegen. "Komm!" Frank ließ sich auf die Beine helfen und zuckelte hinter Angel her. ~~?* Der Tag verlief weitgehend ruhig, Angel war entspannt und gelassen. Aber Frank war noch immer unruhig. Er fürchtete sich vor dem Aufeinandertreffen von Angel und von Schöller. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, denn er hatte zu seinem Entsetzen festgestellt, dass er von Schöller aus tiefster Seele hasste! Er hatte noch nie zuvor jemanden gehasst, hatte von sich geglaubt, dass solche Gefühle ihm vollkommen fremd wären. Frank warf einen Blick zu Angel hinüber, der in einer Lerngruppe saß und mathematische Formeln erklärte. Die anderen hingen förmlich an seinen Lippen und lauschten ihm fasziniert. Frank fühlte einen Stich von Neid in seinem Herzen und sah rasch weg. Er hätte sich gern dazugesellt, aber das traute er sich nicht. Es war ja nicht so, dass die anderen ihn nicht mochten, nachdem er seinen Exotenstatus langsam abgebaut hatte. Sie konnten bloß nichts mit ihm anfangen. Frank starrte hoffnungslos auf das eigene Heft. Angel konnte dieses Zeug so gut erklären! Es war eine Freude, ihm heimlich zu lauschen! Frank zog eine mutwillige Schnute und zog ein Schmierblatt hervor. Eigentlich müsste er wie ein braver Schüler zuerst die Hausaufgaben erledigen, aber... er wollte heute nicht brav sein! Warum auch?! Er legte den rechten Arm wie einen Schutzwall vor das verknitterte Papier und begann zu zeichnen. Zwischendurch warf er eilige Blicke auf die Lerngruppe, aber niemand nahm von ihm Notiz. Umso besser! Das Signal ertönte und löste den üblichen Aufruhr aus. Tische wurden wieder auf ihre Plätze gerückt, Bücher in die Regale sortiert Fenster geschlossen. Auch Frank sammelte hastig seine Habseligkeiten ein, als sich eine Hand auf seinen Block legte. Überrascht blickte er hoch und sah in Angels forschende Augen. "Zeig es mir!" Frank zögerte, spielte mit dem Gedanken, den Block einfach mit Gewalt unter Angels Hand hervorzuziehen. "Bitte?" Angel blinkerte übertrieben mit den langen Wimpern, sandte ein Herzensbrecherlächeln über den Tisch. Widerstrebend zog Frank die Hand weg, senkte verlegen den Kopf. Er hörte am leisen Rascheln von Papier, dass Angel in seinem Block blätterte. Dort lagen versteckt sämtliche Schmierblätter zum Glätten. "Das Bild... schenkst du es mir?" Frank lief rot an, stotterte. "Es.. es ist nur ein Schmierblatt, ich meine... eine Skizze. Es ist nicht gut." Die lastende Stille ließ ihn schließlich den Kopf anheben. Angel starrte ihn an, die Augen geweitet, die Lippen fest zusammengepresst. Frank zerrte verlegen an seinen Fingern. "Ich könnte... also, wenn du willst... vielleicht ein richtiges... ich meine...auf ordentlichem Papier...?" Angel nickte nachdrücklich, gab Franks Blick nicht einen Sekundenbruchteil frei. "Ja, auf alle Fälle. Und ich werde mir für dich eine Überraschung ausdenken." Dann verwandelte sich der Ernst in seiner Miene wieder zu einem übermütigen Grinsen. "Los, wer als Letzter im Waschraum ist, muss heute die Wäsche übernehmen!" Frank stieß ein erleichtertes Lachen aus und folgte dem weißblonden Wirbelwind ins Treppenhaus. ~~?* Frank kauerte auf dem Bett und kämpfte mit den verhassten Formeln. Ab und zu warf er einen Blick auf die Uhr, damit er nicht vergaß, die Wäsche aus der Waschmaschine in den Trockner umzuladen. Seufzend schleuderte er das Heft von seinen untergeschlagenen Beinen und rieb sich die Schläfen. "Was ist los?" Angel, der bäuchlings auf seinem eigenen Bett lag, warf einen fragenden Blick hinüber, klemmte den Füller hinter ein Ohr. Frank zuckte verlegen mit den Schultern. "Ich kapier Mathe einfach nicht." Angel zog eine Augenbraue hoch. "Dann hättest du dich doch vorhin zu uns setzen können?!" Frank drehte einen Knoten in sein T-Shirt. "Ich... ich wollte mich nicht aufdrängen." Angel drehte sich auf den Rücken und jaulte laut. "Oh, Frankie, wirklich, du bist hoffnungslos!!" "Entschuldige." "Jetzt reicht's!!" Wie ein Schachtteufelchen schoss Angel in die Höhe, die grünen Augen funkelten wütend. "Was ist, willst du mir nicht noch die Füße ablecken?! Verdammt, wieso machst du dich immer so klein?!" Frank zuckte zusammen wie unter einem Schlag. "Ich... ich bin halt so. Tut mir leid." "Ist überhaupt nicht wahr!! Es tut dir kein bisschen leid, sonst würdest du es nämlich lassen!!" Frank wurde nervös. Er fürchtete, dass Angel wieder in sein altes Verhalten zurückfallen würde. Also plapperte er zusammenhanglos vor sich hin. "Ich muss so sein, verstehst du nicht? Wenn ich Ärger mache, dann werfen sie mich raus. Und wo soll ich dann hin? Es ist so nett hier, na ja, meistens... Und früher war es auch immer so, sonst hätten sie mich vielleicht in ein Heim gesteckt, weg von meiner Mama. Wenn man nett zu allen ist und unauffällig, dann müssen sie einen doch wenigstens in Ruhe lassen, oder?!" "Oder...", Angel stand direkt vor Franks Bett, warf einen riesigen dunklen Schatten, "oder sie machen dich erst recht fertig!" Frank zog die Knie an, rollte sich zu einer Kugel zusammen. Angel ließ sich neben ihm schwer auf die Matratze plumpsen. "Frankie, Kleiner, hör mir zu! Niemand, wirklich niemand, hat das Recht, dir etwas zu tun. Und das bedeutet, dass du dich immer wehren kannst." Angels Blick verdüsterte sich. "Und ich will, verdammt noch mal, dass du dich wehrst!! Kämpfe endlich für dich!" Frank kicherte nervös. "Das heißt, ich soll dir beim nächsten Mal, wenn du mir etwas aufzwingen willst, ein Veilchen verpassen?!" Angel stimmte in sein Kichern ein, ließ sich auf den Rücken sinken. "Aus Gründen der Symmetrie müsste ich dir dann natürlich auch eins verpassen!" Frank entspannte sich wieder, löste sich aus der verkrampften Haltung. "Also gut, was verstehst du denn nicht?" Angel rückte nahe an ihn heran und beugte den Kopf über Franks Heft. ~~?* Nach einer halben Stunde tränten Frank die Augen. Er hatte sich wirklich bemüht, aber nun fühlte er sich wie ein Mann, der den Zipfel der Erkenntnis in den Händen hielt, aber die Gewissheit verspürte, dass bei der kleinsten Erschütterung alles wieder verloren war. Und von Schöller war ganz gewiss eine Erschütterung! "Ich muss runter, die Wäsche verladen." "Warte, ich komm mit!" Angel erhob sich ebenfalls, streckte die langen Glieder. "Nimm dein Zeichenzeug mit!" Frank zog fragend die Augenbrauen hoch, aber Angel summte bereits gut gelaunt vor sich hin. Im Treppenhaus war es bereits ziemlich ruhig, als sie sich zum Waschkeller aufmachten. Frank witzelte. "Du willst doch nicht wieder Rosalie in deiner Hose herumkriechen lassen, oder?" Angel zwinkerte ihm zu. "Nur, wenn das künstlerisch erforderlich ist." Gemeinsam luden sie die nasse Wäsche von einer gefräßigen Trommel in die nächste. Dann streifte Angel Sweatshirt und Jeans ab, schlüpfte aus den Socken und zuletzt auch aus der Unterwäsche. Frank lief als unwilliger Zeuge dieses Striptease feuerrot an. Aber Angel ignorierte seine Verlegenheit völlig, schnappte sich ein Betttuch aus einem Regal und wickelte sich darin ein wie in eine römische Toga. Nun, zumindest die Kurzversion. "Okay, jetzt kannst du loslegen." Frank blinzelte verwirrt mit den Augen. Angel verdrehte die eigenen. "Malen, zeichnen, Kleiner", soufflierte er vorwurfsvoll. "Oh!" Frank legte Block und Stifte beiseite. "Könntest du... könntest du dich auf die Maschine da setzen?" Angel warf ihm eine Kusshand zu und stemmte sich federleicht hoch. Frank trat zu ihm, zögerte einen Moment, dann zupfte er die Toga zurecht, veränderte Angels Sitzhaltung. Dieser kicherte, als Frank den Stoff von der Brust zog und an den Rippen herabschob. "Das kitzelt!" Frank grinste, warf Angel dann einen gespielt ernsten Blick zu. "Und jetzt musst du stillhalten!" "Jawohl, Picasso!" Frank schoss einen tadelnden Blick in die grünen Augen ab. "Pass bloß auf, sonst mal ich noch so wie er!" Angel zwinkerte, wurde dann aber ernst und posierte sehr professionell, was Frank ein wenig aus dem Konzept brachte. Er fing sich aber schnell, machte es sich seinerseits auf einer Waschmaschine bequem und begann, zu skizzieren. Beiläufig bemerkte er, wie sich Angels Blick in der Ferne verlief, die anmutige Gestalt sehr ätherisch zu wirken begann. "Hat man dich Angel genannt, oder hast du dir den Namen selbst gegeben?" Angel erwachte aus der Versunkenheit, lächelte mild. "So hat mich die Lehrerin in der Grundschule genannt. 'Mon ange', mein Engel." Nach einer kurzen Pause fügte er dann hinzu, "aber für Leute, die ich nicht ausstehen kann, bin ich Xavier." Frank wechselte nun zu den Farben, er benutzte leichte Wachsstifte. "Frierst du sehr?" "Nein, es geht." Das beständige Brummeln des Trockners verstummte in einem entschlossenen Rülpser. "Ich bin auch fertig." Frank legte seine Sachen beiseite und begann eilig, die Wäsche aus der Trommel zu ziehen und vorzusortieren. Angel schlenderte mit der Toga nachlässig heran, betrachtete die Zeichnung. Frank atmete flach, wagte nicht, Angels Blick abzufangen, konzentrierte sich ganz auf das Wäschezusammenfalten. Zittrige Arme umfingen seine Taille, dann schmiegte sich Angel eng an ihn. "Es ist wunderschön." Frank lief puterrot an, stand stocksteif. "Du bist wunderschön." Angel vergrub das Gesicht in seinem Nacken, die Toga rutschte auf Angels Füße. "Das ist bloß der äußere Schein, innen drin..." Frank wand sich aus der Umarmung. "Wenn du innen drin hässlich wärst, würde man das auch außen sehen! Und ich male das, was ich sehe. Nicht nur den äußeren Schein!" Er versuchte, wütend zu werden, um die Intimität dieser Situation zu zerstören. Angel sah ihn an, fragend, verwirrt. Dann erhellte sich sein Gesicht, ein spitzbübisches Grinsen erschien. "Soll ich dir was verraten?" Frank nickte, erleichtert, dass Angel über seine schroffe Zurechtweisung nicht verärgert war. "Komm her!" Gehorsam beugte Frank den Kopf vor. Angel legte eine Hand auf seine Wange, als wolle er ihm etwas ins Ohr säuseln. Dann aber zog er Frank in eine stürmische Umarmung, stemmte ihn in die Höhe und schleuderte ihn wild im Kreis herum. "Du bist so verdammt süß, dass man dich in Flaschen abfüllen müsste!! Ich würde Millionen machen!!" Frank keuchte, stimmte dann in das ausgelassene Gelächter ein. Schließlich war Angel so außer Atem, dass er Frank wieder auf die Beine lassen musste. Frank grinste benommen. "Zieh dir was an, ich kümmre mich um die Wäsche." "Die perfekte Hausfrau hat gesprochen." Angel kiekste albern, schlüpfte aber brav wieder in seine Kleider. Gemeinsam schafften sie die Wäsche nach oben. Dann machten sie sich fertig für die Nacht. Wie üblich erschien Herr Karlsson wie ein Schemen in der Tür, trompetete den Gute Nacht-Gruß und verschwand wieder. "Frankie?" "Ja?" "Kann ich wieder bei dir schlafen?" "Wenn es dich nicht stört, dass meine Füße eiskalt sind?" Angel huschte über den kalten Boden, kuschelte sich dann eng an Frank an. "Uuuhh, du hast ja wirklich Froschfüße!" Angel löste sich rasch, kroch an das Fußende des Bettes und begann, Franks Füße zu massieren und seinen Atem darauf zu hauchen. Frank stöhnte leicht, Angel verstand viel zu viel von dieser Massage. "Na, gefällt es dir?" Angels laszive Stimme vibrierte in Franks Ohren. "Wieso... kannst ... du ... das ...so... gut?!" Frank musste sich auf die Lippe beißen, um den nächsten wollüstigen Seufzer abzuwürgen. "Hat mir meine Freundin beigebracht." "Die ... die Frau aus dem Cabrio?" Frank kniff die Augen zusammen. "Ja, richtig. Ich kenne sie seit....mhm, zwei Jahren. Sie ist sehr lieb." Angels Stimme nahm einen warmen, sehnsüchtigen Klang an. Frank versuchte, sich von den widerstreitenden Empfindungen, die durch seinen Körper strahlten, abzulenken. "Wie hast du sie kennengelernt?" "Sie war die Frau von meinem letzten Liebhaber." Frank keuchte ungläubig, schoss hoch. "Waa...?" Angel warf ihm einen ruhigen Blick zu. "Möchtest du die Geschichte hören, oder soll ich deine Füße in Ruhe lassen und dich anderweitig auf Touren bringen?" Frank lief dunkelrot an. Angel lächelte ihm liebevoll zu. "Keine Angst, ich werde dich nicht verführen." Frank stieß erleichtert die angehaltene Luft aus. "Ich... ich würde es gern hören." "Ist aber keine schöne Geschichte", warnte Angel vorsorglich. "Also, ich kam hier an die Schule. Ich war froh, von ihm weg zu sein, zumindest für eine Weile. Ich dachte, dass ich vielleicht doch irgendwie ein normales Leben führen könnte. Dann bemerkte ich, wie der Direktor, das heißt, der Vorgänger vom jetzigen, mich ansah. Erst dachte ich natürlich, dass ich mich geirrt hätte, aber dann..." Angel strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Weißt du, sie haben so eine Art Blick, der immer gleich ist, an dem man sie erkennt. Sie schauen dich nicht offen so an, aber aus den Augenwinkeln kannst du es erkennen. Und ich kannte diesen schmierigen, lüsternen Blick nur zu gut. Tja, ich war ratlos, was ich tun sollte. Er machte keine direkten Annäherungsversuche, also konnte ich mir immer noch einreden, dass alles Einbildung war. Na ja, und dann hat mich wohl der Teufel geritten." Angel hauchte wieder auf Franks Füße. "Ich hab' ihn provoziert. Ich wollte wohl einfach wissen, ob ich recht hatte. Und schließlich hat er es nicht mehr ausgehalten. Hat mich in sein Arbeitszimmer bestellt. Da thronte er dann, Schweißperlen auf der Stirn, der fette Bauch quoll über die Hose und er versuchte, irgendwas daher zu plappern. Ich ließ ihn merken, dass ich ihn durchschaut hatte. Und dann hab ich ihn gefragt, ob ich ihm einen blasen sollte." Frank zuckte zusammen. Angel suchte im Dämmerlicht seinen Blick. "Bist du schockiert? Ich dachte eigentlich in dem Augenblick, dass es ein sehr großherziges Angebot war, der Typ war so notgeil, dass er glatt nen Herzanfall kriegen konnte." Angel zog Franks Füße wieder zu sich heran, massierte scheinbar ungerührt weiter. "Na ja, er hat natürlich nicht abgelehnt. Und so ging das eine Weile. Er wollte bloß anfassen, keinen wirklichen Sex. Kam mir ganz gelegen, wenig Arbeit und viel Ertrag. Ich handelte mir eine ganze Menge Vergünstigungen heraus. Das war der Ausgleich für die ekligen Minuten in seinem Arbeitszimmer, für sein jammerndes Selbstmitleid. Er heulte immer, dass seine furchtbare Frau ihn nicht verstünde, total frigide sei, und so weiter, und so weiter. Das langweilte mich zuerst nur, dann machte es mich sauer. Also zwang ich ihn, mich mit zu sich nach Hause zu nehmen." Angel ließ die mittlerweile glühenden Füße frei und kroch wieder zu Frank ans Kopfende, kuschelte sich behaglich seufzend an ihn. "Wo war ich? Ach ja, er musste mich also unter einem Vorwand zu sich nach Hause mitnehmen. Und da lernte ich sie kennen. Wir waren uns sofort sympathisch, was den alten Sack ganz schön in Rage brachte. Aber er konnte ja nichts tun, denn dann hätte sie sich sicher gefragt, was hinter dieser Einladung gesteckt hatte. In dieser Nacht residierte ich in einem sehr geschmackvoll eingerichteten Gästezimmer und hörte die beiden streiten. Und das gefiel mir. Am nächsten Morgen lieferte er mich brav wieder in meiner Klasse ab. Gegen Mittag machte dann das Gerücht die Runde, er sei abgekratzt. Nun, das war natürlich übertrieben, er hatte einen Schlaganfall erlitten, als er auf seinem Hometrainer herumgestrampelt hatte. Und nun war er nur noch ein Häufchen fettes Fleisch, das vor sich hindämmerte. Sie musste ihn in ein Pflegeheim geben, wo er heute noch immer ist. Dann rief sie mich an, ob wir uns mal unterhalten könnten, ihr Mann hätte so viel von mir gehalten." Angel kicherte leise. "Wir haben uns unterhalten. Es war nicht wahr, dass sie frigide war oder alt oder sonst etwas. ER war das Problem, er stand auf kleine Jungs. Ich weiß nicht, ob ich der Einzige bin, bei dem er es auch zugelassen hat, aber ich glaube, das war das Einzige, was ihn anmachte. Trotz allem war sie traurig und ich versuchte, sie zu trösten. Und dann landeten wir irgendwann in dem großen Ehebett und schliefen miteinander." Angel drehte eine Strähne zu einer Locke. "Wenn man jemanden mag, spielt das Alter gar keine Rolle. Und sie war wirklich lieb, einfach zum Dahinschmelzen! Sie hat mir nicht weh getan, oder mich zu irgendwas überredet. Es war einfach schön. Der blöde Sack hatte so eine wundervolle Frau überhaupt nicht verdient!! Er hat sie runtergezogen, weil er sich selbst nicht ausstehen konnte!" Angel schlang beide Arme um Frank. "Und seitdem sehen wir uns gelegentlich. Eigentlich sind wir jetzt eher Freunde. Manchmal wünsche ich mir auch, sie wäre meine Mutter. Dann wäre das alles niemals passiert." Angel kuschelte sich noch enger an Frank, der langsam an Atemnot litt. "Angel... bitte, ich krieg keine Luft mehr!" Angel kicherte leise und lockerte seine Umklammerung. "Tja, daran ist nur deine unmögliche Frisur Schuld! Ich verwechsle dich immer mit nem Teddy-Bären!" "Gar nicht wahr!" Frank erinnerte sich an die Stellen, an denen Angel kitzlig war und ging zum Angriff über. Nach einem wüsten Ringkampf gaben sie schließlich beide erschöpft auf. "Angel?" "Hmm?" "Wie... wie ist das mit von Schöller gekommen?" Angel seufzte, schlang die Arme um sich selbst, wandte Frank den Rücken zu. "Er hatte den gleichen Blick. Ich wollte ihn für seinen grauenhaften Unterricht bestrafen." Frank strich zögernd über Angels Rücken. "Manchmal denk ich, ich brauch es, dass mir ein Kerl so etwas antut. Damit ich nicht aus der Übung komme." Angels bittere Worte schnürten Frank die Kehle zu. Er rang nach Luft. "Das... das ist nicht wahr!! Sag so was nicht!!" Angel drehte sich wieder zu ihm herum, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. "Frankie, ich versprech dir eine ganz tolle Überraschung!" Frank schnappte nach Luft, zog Angel dann fest an sich. "Ich möchte bloß, dass es dir gut geht. Mehr brauch ich gar nicht." Aber Angel war schon in die Arme des Schlafes geglitten. ~~?* Kapitel 6 Frank warf einen misstrauischen Blick zu Angel hinüber, der schon den ganzen Abend erschreckend aufgekratzt war. Seufzend klappte er das Buch zu und wollte sich in seine Bettsachen werfen, als Angel ihn bremste. "Noch nicht umziehen!" "Aber Karlsson kommt gleich und ..." "Vertrau mir!" Verwirrt schlüpfte Frank in voller Bekleidung unter die Decke, warf fragende Blicke zu Angel hinüber. Der zwinkerte ihm verschwörerisch zu, zog die Decke bis zur Nasenspitze. Karlsson fegte wie immer über den Flur, dann wurde es langsam still im Haus. Angel warf die Decke von sich und machte die Schreibtischlampe an. "Komm, zieh dich warm an!" Frank schwang sich aus dem Bett. "Was hast du denn vor?" Angel lachte selbstzufrieden, schleuderte einen Fleece-Pullover zu Frank hinüber. "Ich hab dir doch eine Überraschung versprochen, oder?" Frank nickte verwirrt, streifte automatisch den Pullover über. "Okay, bist du warm an?" Frank sah an sich herab und nickte. "Dann los!" Lautlos huschten sie durch das Treppenhaus, bewegten sich in den Schatten. Angel zog wie ein Zauberer einen Schlüssel aus der Jackentasche, schloss die Haustür auf und verriegelte sie wieder sorgfältig hinter ihnen. Es schneite sanft in einem fort, der Himmel war dunkel verhangen, aber die Schneedecke erhellte die Nacht wie eine Zuckerstadt. Angel drehte sich im Hof, den Kopf mit der dreizackigen Mütze in den Nacken gelegt und fing mit der Zunge Schneeflocken auf. Frank lachte leise und folgte ihm dann zum Hoftor. Sie schlüpften in die Nacht hinaus. Es war sehr still, der frisch gefallene Schnee bedeckte alles, erstickte die Laute der Großstadt. "Wir sind die Ersten, die hier ihre Spuren hinterlassen!" Angel tapste übermütig durch die jungfräuliche Schneedecke. Frank schlüpfte an ihm vorbei, zupfte einen mit Schnee schwer beladenen Ast heran und ließ ihn über Angel in die Höhe schnellen. Dichte Flocken hüllten Angel in ein Schneegestöber, als der Ast sich entlud. Angel lachte vergnügt, schüttelte sich wie ein nasser Bär, um den Schnee abzuklopfen. "Na warte, du!!" Frank ergriff die Flucht, sie jagten durch eine verlassene Allee, bis Angel ihn eingeholt hatte. "Jetzt wirst du ein Schneebad nehmen!" Frank zappelte wie ein Fisch in der Umklammerung. Angel ließ ihn plötzlich los. "Wo möchtest du hingehen?" Frank zögerte. "Dahin, wo wir allein sein können." "Okay." Angel grinste vergnügt, schob den Schal von seinen Lippen, während er gleichzeitig in einer Tasche kramte. Dann bot er Frank weihnachtliche Kalorienbomben an. Dieser griff verlegen zu, schob sich eine dicke Karamelle in die kalte Backe. Angel lachte. "Jetzt siehst du aus wie ein Hamster!" Frank arrangierte es, ihm die Zunge herauszustrecken, ohne dass das Bonbon in seine Luftröhre entschwand. Angel nahm seine Hand und zog ihn die Allee entlang Richtung Wäldchen. Die Bäume waren von der Schneelast geduckt, der violette Schimmer des Himmels ließ die Landschaft wie verzaubert erscheinen. Leise rieselten die Flocken auf sie hinab. "Es ist schön hier", wisperte Frank andächtig und hauchte eine Kondenswolke in die Nacht. Sie erreichten eine kleine Lichtung, und Angel blieb stehen. "Hier ist es richtig", befand er. Frank drehte sich suchend herum. "Komm." Sanft zog ihn Angel in das Herzstück der Lichtung, wandte ihm dann das Gesicht zu. "Weißt du, was ein Schnee-Engel ist?" Frank schüttelte neugierig den Kopf. Angel lächelte rätselhaft, ließ sich dann einfach rücklings in die dichte Schneedecke fallen. Er breitete die Arme weit aus, bewegte dann die Beine. In dem Schneefeld entstand ein Umriss. "Siehst du? Engelsflügel und ein Engelsgewand." Frank lächelte über Angels Eifer, ließ sich dann vom Übermut angesteckt ihm gegenüber in den Schnee sinken. Dann sahen sie beide in den Himmel, während Schneeflocken hauchzart ihre Körper bedeckten. "Schade, dass man keine Sterne sehen kann." "Frankie, gib mir deine Hand!" Angel legte den Arm neben den Kopf. Frank, der seinen Kopf nur unweit neben ihm platziert hatte, legte die Hand in Angels. Angel drehte leicht den Kopf, um Franks Profil betrachten zu können. "Wenn da oben jetzt eine Sternschnuppe wäre, was würdest du dir wünschen?" Frank verzog die Lippen zu einem verschmitzten Lächeln. "Das würde ich dir nicht sagen, weil es sonst nicht in Erfüllung geht." Angel kniff ihn sanft in einen Finger. "Theoretisch, du Scherzkeks!" Frank blinzelte Schnee von den Wimpern. "Ich würde mir wünschen, dass ich meine Mama noch einmal sehen könnte." Hastig wischte er sich dann über die Augen, fragte betont munter. "Und du? Was würdest du dir wünschen?" "Ich würde mir wünschen, dass wir immer zusammen sind." Nun endlich drehte Frank auch das Gesicht zu Angel hin, musterte ihn schweigend. "Man könnte fast meinen, du magst mich." Angel lächelte sanft. "Und man könnte fast meinen, das beruht auf Gegenseitigkeit." Dann stemmte Angel sich in die Höhe. "Langsam wird's ein bisschen kalt." Er streckte Frank die Hand hin und zog ihn hoch. Dann machten sie sich einen Spaß daraus, sich gegenseitig den Schnee abzuklopfen. Hand in Hand folgten sie dann ihren eigenen Fußspuren zurück zum Internat. In ihrem Zimmer angekommen schlüpften sie hastig aus den nassen Klamotten und kuschelten sich aneinander in Franks Bett. "Das war eine wundervolle Überraschung, Angel. Danke!" Angel küsste Frank sanft auf die Wange. "Ohne dich hätte es nur halb so viel Spaß gemacht." Dann schliefen sie erschöpft ein. ~~?* Weihnachten nahte mit großen Schritten, und das bedeutete, dass viele Schüler die Ferien bei ihren Eltern verbringen würden. Nur noch wenige würden zurückbleiben, mit einem ebenfalls zusammengeschrumpften Häuflein Lehrkräfte. Frank sah diesem Weihnachten mit trüben Gefühlen entgegen. Es würde das erste Fest ohne seine Mutter sein. Und Angel würde die Feiertage Zuhause verbringen müssen. Angel schien jedoch keinesfalls trübsinnig zu sein. Wie alle anderen auch war er voller Erwartung und Vorfreude. Frank zog sich in sich selbst zurück, versuchte dem Getümmel zu entkommen. Am Morgen des Heiligabend würden die Letzten die Heimreise antreten über die Feiertage und Angel war unter ihnen. Mit bedrücktem Gesicht hockte Frank beim Frühstück. Die Reihen hatten sich merklich gelichtet. Angel schien seine Stimmung zu bemerken, denn kaum aus dem Speisesaal hinaus zog er ihn eilig in ihr Zimmer. "Frankie, was ist mit dir los, hm?" Frank starrte auf seine Füße. "Ich mach mir Sorgen." Angel knurrte ungeduldig. "Sorgen worüber?" Frank hob den Kopf. "Was dich Zuhause erwartet." Angels Gesicht veränderte sich, die Verärgerung wich Zärtlichkeit. "Du musst um mich keine Angst haben, Kleiner. Mir wird nichts geschehen." "Aber dein Vater..." "Wird genug anderes zu tun haben. Frankie, es sind bloß die Feiertage, dann bin ich wieder hier." Frank trat einen zittrigen Schritt auf Angel zu. "Kannst du mir dein Ehrenwort geben?!" Angel kämmte ihm Strähnen aus dem Gesicht. "Ja, das kann ich", antwortete er sanft. Von Erleichterung überwältigt umarmte ihn Frank stürmisch. Sie verhielten einen Moment ganz ruhig, dann löste sich Angel behutsam. "Ich muss langsam los, Frankie." Er angelte einen Rucksack unter dem Bett hervor, am Vorabend gepackt. Er zog Frank am Handgelenk heran und küsste ihn sanft auf die Stirn. "Frohe Weihnachten, Frankie." Frank stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Angel scheu auf die Wange. "Frohe Weihnachten, Angel, und eine schöne Zeit!" Angel grinste, schulterte sein Gepäck. "Die hab ich, wenn ich wieder hier bin." Damit verschwand er im Flur. ~~?* Frank vertrödelte den Tag in der Bibliothek, flüchtete in Abenteuergeschichten, um den tristen Gedanken zu entkommen. Aus dem Fenster konnte er die Schnüre des warmen Dauerregens erkennen, der die Zauberlandschaft ihres nächtlichen Ausflugs langsam in Matsch und Morast ertrinken ließ. Gegen Abend schlurfte er hinauf in ihr Zimmer, um sich zum Abendessen umzuziehen. Es sollte eine feierliche Angelegenheit für die Zurückgelassenen werden, daher war um eine passende Garderobe gebeten worden. Frank warf einen Blick auf sein zerwühltes Bett und beschloss seufzend, dass er es genauso gut auch jetzt richten konnte. Er schüttelte das Kissen auf, als ihm ein gefalteter bunter Zettel entgegenflatterte. Neugierig entfaltete er das Papier. [Für Frankie. Sieh in den rechten Schrank, dort liegt etwas für Dich. Frohe Weihnachten. Angel.] Frank wurde blass. Angel hatte doch nicht ein Weihnachtsgeschenk für ihn besorgt?! »Und ich hab gar nichts für ihn!!« Frank wurde vor Scham flau, er sackte kraftlos auf dem Bett zusammen. Er warf einen Blick zu besagtem Kleiderschrank hinüber, aber dieser enthüllte sein Geheimnis nicht. Zögernd näherte er sich ihm schließlich, drehte mit zitternden Fingern den Schlüssel herum. Die Tür schwang auf und ein großes, in festliches Geschenkpapier gehülltes Paket sprang Frank ins Auge. Er keuchte panisch. Hastig schlug er die Tür wieder zu, lehnte sich mit dem Rücken schwer dagegen. »Was für eine Schande! Ich hab überhaupt nichts für ihn!« Frank fühlte sich so elend und klein, dass er nur mühsam die Tränen unterdrücken konnte. Sein verschleierter Blick fiel auf Angels Wecker, und mit einem Satz stürzte Frank zum Speisesaal. ~~?* Entgegen aller Befürchtungen verlief der Abend ganz nett. Es gab eine Auswahl leckerer Speisen, es wurden Weihnachtslieder gesungen und am Ende die Geschenke ausgegeben, die die Eltern geschickt hatten. Frank stahl sich davon. Er wollte nicht, dass die anderen den Anflug von Neid in seinem Gesicht sahen. In ihrem Zimmer hockte er sich vor die offene Schranktür und betrachtete das Paket. Er fühlte sich nicht würdig für ein Geschenk, konnte er es doch nicht erwidern. Schließlich erhob er sich mit steifen Gliedern und hob das überraschend leichte Paket aus dem Fach. Angel hatte sicher nur nett sein wollen, da war es ein Ding der Unmöglichkeit, das Geschenk zurückzuweisen. Vorsichtig öffnete er die kunstvolle Verpackung. Darin lag der Fleece-Pullover, den Angel ihm geliehen hatte, ein paar dicke Handschuhe, eine prächtige Skimütze mit einer dicken Bommel an einem sehr langen Zipfel. Darunter dann eine gefütterte Hose, auf der eine Mischpackung mit allerlei Süßigkeiten thronte. Ein weiterer, bunter Zettel flatterte Frank entgegen. [He Kleiner, ich hoffe, Du hast Dich überwunden und mein Geschenk ausgepackt. Wie Du siehst, sind es nur Dinge. Ich hoffe, sie wärmen Dein Herz, wie Du es bei mir getan hast. Angel. P.S. Vernichte bloß diesen Zettel, sonst könnte man den Eindruck gewinnen, dass ich Dich mag.] ~~?* Wie versprochen kehrte Angel nach den Weihnachtsfeiertagen pünktlich zurück. Frank musterte ihn verstohlen, konnte aber keine körperlichen Anzeichen eines Missbrauchs entdecken. Angels scharfem Blick entging diese Prüfung natürlich nicht. "Frankie, ich bin okay." Lässig schleuderte Angel alle Kleider von sich, entblößte sich vollständig vor Frank. "Ich hab mir nur Sorgen gemacht", verteidigte sich Frank beschämt. "Schon okay"" Angel zerwuschelte Franks Zotteln. "Ähm, danke für das Weihnachtsgeschenk." Franks Gesicht zeigte nun eine tiefe Röte. "Hat's dir gefallen?" Angel zwinkerte ihm leichthin zu, während er sich wieder ankleidete. "Es war toll. Leider hab ich gar nichts..." "Doch, hast du!" Frank schwieg verwirrt, während Angel den Gürtel zuschnallte. "Ich will ein Bild mit dir." "Bitte?" Franks völlig entgeisterter Gesichtsausdruck brachte Angel zum Lachen. "Frankie, ich möchte, dass du meine Freundin kennenlernst. Und die macht dann ein Bild von uns." Frank fehlten die Worte. ~~?* "Bist du sicher, dass das in Ordnung ist?" Frank warf Angel einen bangen Blick zu. "Aber ja! Von Schöller hat den Ausgang bewilligt. Und er hat schließlich was dafür gekriegt!" Angels Augen versprühten Hass in Funken. "Da sind wir auch schon." Hastig ließ Frank Angels Hand los, der ihn den ganzen Weg in beschwingtem Schritt hinter sich her gezogen hatte. Angel drückte die Klingel und flötete in die Gegensprechanlage. "Monika?! Ich bin's, Angel." Als Antwort ertönte ein zurückhaltendes Summen. Angel warf Frank einen aufmunternden Blick zu. "Keine Angst, sie frisst dich nicht." ~~?* Frank stand in der Eingangshalle und staunte mit offenem Mund. Von außen hatte das Haus keineswegs so imponierend gewirkt, aber drinnen zogen sich helle Säulen unter ein Kuppeldach, eine große Marmortreppe führte in das obere Stockwerk. Alles war hell und licht, Grünpflanzen verbreiteten eine behagliche Atmosphäre. Dann stürmte die Frau heran, die Frank vor einer halben Ewigkeit flüchtig gesehen hatte. Sie zog Angel fest an sich und küsste ihn nachdrücklich auf den Mund. Angel lachte und wuschelte ihr durch die kunstvoll hochgesteckte Lockenmähne. Die Frau protestierte empört, aber in ihren Augen blitzte der Schalk. Angel nahm ihre Hand und wandte sich Frank zu. "Monika, das ist Frankie. Frankie, Monika, die wundervollste Frau auf der ganzen Welt." Monika versetzte Angel einen Stoß, "Schmeichler." Dann schüttelte sie Franks schüchtern ausgestreckte Hand. "Freut mich, dich kennenzulernen, Frankie. So, und nun macht euch erst mal frei!" Damit rauschte sie hüftschwingend an der Freitreppe vorbei in einen dahinter liegenden Raum. Frank blinzelte verwirrt, aber Angel schälte sich schon aus den Wintersachen, verstaute sie ordentlich in einen versteckten Wandschrank. "Na komm, Kleiner!" Hastig pellte sich Frank aus den eigenen Sachen und folgte Angel dann auf Socken an der Freitreppe vorbei. Dahinter lag ein großer, von Licht erfüllter Raum, der wie ein Wintergarten angebaut wirkte. Inmitten eines mittleren Dschungels stand eine mit blauem Stoff bespannte große Leinwand, um diese herum Spiegel, Lampen, Abschirmungen und mehrere Kamerastative. "Hier!" Monika drückte Angel eine Mappe in die Hand. Angel zog Frank am Arm auf eine vereinsamte Couch. "Das sind die Bilder aus unserer letzten Serie." "Hab schon alles verkauft, mein Engel, dein Konto wird überquellen!" Angel lachte und warf ihr eine Kusshand zu. Dann schlug er die Mappe auf. Frank betrachtete ehrfürchtig die Bilder. Angel, immer wieder Angel, in verschiedenen Posen, zu unterschiedlichen Themen. Verführerisch, lasziv, unschuldig, verloren, amüsiert... Es schien nichts zu geben, das Angel nicht darstellen konnte und das die Kamera nicht einfing. "Frankie?" Frank zuckte aus seiner sprachlosen Bewunderung hoch. "Hör mal, macht es dir was aus, wenn ich dir die Haare schneide?" Frank blinzelte verwirrt. "Nein. Nein, das wäre wirklich sehr nett, aber ich will keine Umstände..." Angel hielt ihm den Mund zu. "Monika, tu's einfach, bitte, sonst entschuldigt er sich noch bis zum Abendessen!" Frank biss Angel leicht in die Hand, knurrte beleidigt. Aber Angel küsste ihn nur sanft auf die Wange und erhob sich. "Ich hol die Sachen, okay?" "Danke, mein Schatz." Monika schob Frank mit sanfter Gewalt auf einen steilen Hocker, nahm dann wahllos ein Laken, das sie Frank um den Hals band. "Wer hat dir denn früher die Haare geschnitten? Deine Mama?" Frank nickte verlegen. "Armes Kerlchen! Angel hat mir von dir erzählt." Ein Kuss landete auf Franks Stirn. "Meine Mama ist über Achtzig und lebt in einem Seniorenstift. Und sie schummelt noch immer beim Kartenspielen!" Monika zog ein gespielt verärgertes Gesicht, was Frank zum Kichern brachte. Angel kam herein und verteilte seine Last auf der Couch. "Sie ist zum Anbeißen, was, Frankie?" Frank grinste verlegen, während Monika Angel mit dem Finger drohte. "Nichts da, anbeißen! Angel, sitz nicht faul herum, such mal in der Küche nach Essbarem." Angel salutierte spöttisch und marschierte mit wiegenden Hüften hinaus. Monika klemmte sich in der Zwischenzeit einen Kamm zwischen die Zähne, während sie mit der Linken Franks Haare zerzauste. Die Rechte ließ die Schere auf- und zuschnappen. Zwischen den Zähnen und dem Kamm hindurch murmelte sie vertraulich. "Bin eine grauenhafte Köchin, leider! Wenn Angel da ist, muss er immer die Küche übernehmen, sonst verhungern wir hier kläglich." Frank lächelte nachsichtig. Dann begann eine wilde Schneide-Orgie. ~~?* "Fertig?" Angel balancierte ein Tablett hinein. Der appetitliche Geruch von Tomaten zog mit ihm in das Studio ein. "Oh ja!" Schwungvoll löste Monika das Laken und ließ die abgetrennten Haare durch die Luft wirbeln. "Ich hol einen Besen!" Frank wollte sich nun auch nach dem langen Stillsitzen nützlich machen. "Nichts da! Nach oben und Haare waschen! Angel, Assistenz! Und wenn hier in diesem Haus einer den Besen schwingt, dann bin ich das!" Monika reckte eine beringte Faust in die Höhe. Angel deckte eilig die Speisen ab, dann zog er Frank hinter sich die Freitreppe hinauf. Das Badezimmer war so exquisit wie der Rest des Hauses. Aber Angel gönnte Frank keine Verschnaufpause. Sofort wurde sein nun viel leichteres Haupt unter den warmen Wasserstrahl geschoben. Angel massierte ihm Shampoo in die Haare, spülte dann den Schaum wieder heraus. Frank kam nicht mal zu einem Protest, als Angel ihm auch schon schwungvoll die nassen Haare abrubbelte. "So, und nun noch der Föhn!" Mit eleganten Gesten parodierte Angel einen fiktiven Friseurmeister, föhnte Franks Haare geschickt. "Und jetzt, tatatatam!!! der Spiegel!!" Frank warf erst Angel, dann seinem Spiegelbild einen Blick zu, erstarrte überrascht. Im Spiegel blickte ihn ein fremder Junge an: ein blasses Gesicht mit vor Eifer geröteten Wangen, sanft-braunen Augen und staubig-braunen Haaren. Diese hingen nun aber nicht mehr in unegalen Zotteln wirr ins Gesicht, sondern rahmten dieses ein, gesund schimmernd. Dieser Junge da sah nicht aus wie eine verhungerte Ratte, er ähnelte den Poster-Boys aus den Teenager-Postillen. Überwältigt berührte Frank mit ausgestrecktem Finger das Spiegelgesicht. "Meine Güte...", flüsterte er ergriffen. "Dass du dich jetzt aber nicht in Narziss verwandelst, klar?!" Angel lachte und zog Frank vom Spiegel weg. "Hast Glück, dass ich so selbstbewusst bin, sonst würde ich jetzt glatt sagen", Angel spreizte die Beine, hielt die Hände in Hüfthöhe, als wollte er gleich imaginäre Colts ziehen, "in dieser Stadt ist kein Platz für uns beide, Gringo!" Frank grinste und folgte dem beschwingt summenden Angel wieder in das Erdgeschoss. Monika hatte inzwischen das Haarstudio geschlossen. Sie hatte stattdessen Angels Kochversuche auf dem Boden verteilt wie bei einem Picknick. "Warst du wirklich in meiner Küche?! Wusste gar nicht, dass ich so was habe." Angel grinste und küsste sie auf die Wange. "Warte erst mal ab, bis du es probiert hast!" Sie löffelten die sahnige Tomatensoße, tunkten getoastes Brot hinein. Dann folgten Spiegeleier, die mit Käse bestreut waren, dazu gab es Pommes aus der Gefriertruhe. "Probier mal den Paprika-Salat!" Frank nahm gehorsam einen Mundvoll. "Gut", nuschelte er kauend. "Oje, wie die Zeit vergeht!" Monika scheuchte sie auf, schob mit dem Fuß die Reste des Picknicks beiseite. "Und jetzt wird gearbeitet!" Anfangs fiel es Frank schwer zu posieren, aber Angel half ihm ganz ungezwungen. Sich vor einer Fremden völlig zu entkleiden, bescherte Frank dann allerdings Panikattacken. Monika entwischte kurz, um neue Filme zu holen. "He, Frankie, keine Angst. Stell dir vor, wir wären allein." Das war nicht gerade hilfreich. "Das schönste Photo dürfen wir behalten! Und die Hälfte des Erlöses geht an dich", lockte Angel. "Wer kauft denn diese Bilder?" Angel grinste. "Frauen mit Sinn für Kunst, Magazine für Damen und Herren mit Anspruch, manchmal auch Verlage, die sich auf Poster spezialisiert haben. Na ja, und alle möglichen anderen." "Und wenn uns jemand erkennt?" Angel schob einen Finger unter Franks Kinn. "Schämst du dich, mit mir auf einem Bild zu sein?" Frank schüttelte heftig den Kopf, peinlich berührt. "Aber nein!! Es ist nur..." "Was denn?" Angel hauchte sanft. "Weißt du, wie die nächste Bilderserie heißt?" Frank blinzelte irritiert von Angels irrlichterndem Blick. "Made in Heaven." ~~?* "Hier, Post von Monika an uns!" Triumphierend schwenkte Angel einen Manila-Umschlag in der Hand. Frank lächelte erfreut, schob das Buch beiseite. Angel warf ihm einen missbilligenden Blick zu. "Heute ist Silvester, Frankie, da kannst du auch mal Pause machen!" Dann aber zog er den Umschlag auf und schüttete den Inhalt unbekümmert auf den Schreibtisch. Ein Blatt Papier, teures Bütten und ein Abzug rutschte ihnen entgegen. "Lies vor", drängte Angel Frank, der das Blatt abgefangen hatte. [Hallo, meine Süßen, anbei der beste Abzug. Bin schon wieder in Verhandlungen, bringt bestimmt einen hohen Erlös. Habe Photoserie bei eurem nächsten Besuch sicher fertig. Gruß und Kuss, Monika] Angel betrachtete den Abzug versunken. Frank musste ihm schließlich das Handgelenk umbiegen, um auch etwas zu sehen zu bekommen. Er erstarrte genauso ergriffen wie Angel. Es war das letzte Bild in der Serie gewesen, Angel lag nackt auf dem Rücken, die Augen geschlossen, das Gesicht entspannt. Die weißblonden Haare waren wie eine Korona aus strahlendem Licht um seinen Kopf auf dem hellen Laken ausgebreitet gewesen. Frank lag mit dem Gesicht auf Angels Brust, die Augen ebenso geschlossen, die Arme um Angels Leib geschlungen, so leicht, als befänden sie sich in tiefstem Schlaf. Ihre Blöße war lediglich von einem weiteren Laken bedeckt worden. Monika hatte ihnen etwas erzählt, sie abgelenkt, damit sie entspannt waren. Angels Gesicht zeigte den Anflug eines Lächelns, war Frank zugewandt. Das gesamte Bild strahlte durch die geschickt eingesetzte Beleuchtung etwas Ätherisches aus. Der Titel 'Dreaming Angels' war nur zu passend. Angel räusperte sich endlich. "Wir lassen es vergrößern. Und hängen es über mein Bett." Frank war ihm einen betäubten Blick zu. "Aber..." Angels Blick war entschlossen. "Kein Aber. Wer darüber spotten will, der kann dann die nächste Zeit durch eine Magensonde essen." Frank grinste nervös, Angels todernste Miene beunruhigte ihn. "Es gefällt mir auch sehr", besänftigte er Angel. "Lass uns jetzt nachsehen, ob wir nicht bei den Vorbereitungen für heute Abend helfen können, okay?" ~~?* An diesem speziellen Tag wurde das Abendessen nach hinten verlegt. Für die wenigen Schüler, die anwesend waren, wurden Spiele veranstaltet. Angel und Frank amüsierten sich ganz gut, aber wie alle anderen auch warteten sie auf das Feuerwerk. Herr Karlsson würde mit anderen Lehrern einige Raketen in den Himmel schießen, auserwählte Schüler durften sich unter Aufsicht beteiligen. Selbstverständlich aber würde es keinen Alkohol zum Anstoßen auf das neue Jahr geben. Die Schule hielt strikt die Vorschriften zum Jugendschutz ein. Das alte Jahr verabschiedete sich mit einer sternenklaren, aber eisigen Nacht. Angel stand wie Frank ein wenig abseits im Schatten, hatte verstohlen die Arme um Franks Schultern gelegt. "Kalt?" "Jetzt nicht mehr", murmelte Frank und kuschelte sich enger in die Umarmung. Würden sie nicht vor den Blicken der anderen verborgen in einer Nische stehen, hätte er sich das nicht getraut. Die letzte Minute des alten Jahres lief ab. "Es gibt eine Sache, für die ich dem Arschloch dankbar sein muss." Angels unvermittelte Worte verwirrten Frank. "Er hat mich nie geküsst." Frank drehte den Kopf, um Angels Miene zu studieren. Der starrte versonnen in eine andere Welt, riss sich dann aber sichtbar los und lächelte Frank an. "Weißt du, warum das wichtig ist?" Frank schüttelte ratlos den Kopf. In diesem Augenblick schossen die ersten Raketen in den Himmel, den Sternen entgegen, während die Kirchenglocken der ganzen Stadt in dröhnendes Geläut ausbrachen. "Damit ich das jetzt tun kann." Angel drehte Frank leicht herum, dann küsste er ihn intensiv auf die kalten Lippen. Frank erwiderte den sanften Druck schüchtern, schloss die Augen und genoss die Wärme, die seine Lippen auftaute. Als Angel sich sanft von ihm löste, kuschelte er sich enger in die warme Umarmung. "Ein gutes, neues Jahr, Angel", murmelte er in die weißblonde Mähne. "Gutes Neues, Frankie", flüsterte Angel zurück. Dann legten sie die Köpfe in die Nacken und verfolgten das Spektakel am Himmel. ~~?* Das neue Jahr war erst ein paar Tage alt, als Frank plötzlich aus dem Unterricht gerufen wurde. Im Büro von Herrn Karlsson saß seine Sozialarbeiterin, freudestrahlend. "Frank, wir haben einen Betreuungsplatz für dich!" Frank wurde bleich, fiel wie ein Stein auf den bereitstehenden Stuhl. "Wieso?", krächzte er heiser. "Er ist gerade frei geworden. Und dann kannst du auch wieder zurück in deine alte Schule. In der Gesamtschule warst du doch sicher besser aufgehoben als hier!" Der vertrauliche Ton ekelte Frank an. "Meine Dame, ich denke nicht, dass sich Bayer in dieser Schule fehl am Platz gefühlt hat. Im Gegenteil, seine Leistungen in einigen Fächern sind sehr vielversprechend." Herr Karlsson zupfte an seinem Bart herum, ein Anzeichen dafür, dass er verstimmt war. Die Sozialarbeiterin wirkte leicht beleidigt. "Wie dem auch sei, er kann jetzt in eine betreute Wohngruppe ziehen. Es ist ja wohl selbstverständlich, dass der Staat nicht länger als nötig die immensen Ausgaben für diese Unterbringung finanziert." Frank hatte das Gefühl, dass er ins Bodenlose stürzte. Herr Karlsson schoss zurück. "Meine Dame, gestatten Sie mir die Frage, wieso so plötzlich ein Platz frei geworden ist? Das ist doch merkwürdig, oder nicht?!" "Natürlich nicht!" "Was ist denn nun die Ursache?!" Die Frau wand sich unbehaglich auf ihrem Stuhl. "Ein plötzlicher Todesfall." "Ach was? Ein Unfall? Oder Selbstmord?" Herr Karlsson war definitiv nicht bester Laune. "Das kann man nicht so genau... immerhin... was tut das zur Sache?!" "Nun, ich bin verpflichtet, mich um das Wohlergehen meiner Schüler zu sorgen, also möchte ich auch entsprechende Informationen erhalten!" "Dieser Junge ist in der Obhut des Jugend- und Sozialamtes der Stadt!! Wir kümmern uns um sein Wohlergehen!" Der Streit eskalierte weiter, aber für Frank bildete er nur ein akustisches Störgeräusch in seiner Verzweiflung. Er hatte sich vor diesem Moment gefürchtet. Und jetzt war es soweit. Er musste die Schule verlassen. Und Angel. ~~?* "Was war los?!" Angel stürmte in ihr Zimmer, sackte neben Franks Bett auf die Knie. Frank drehte sich mit dem Gesicht der Wand zu. Er wollte nicht, dass Angel ihn völlig in Tränen aufgelöst sah. "Der verflixte Müller wollte uns einfach nicht früher raus lassen! He, Kleiner, ich hab mir Sorgen gemacht?!" Frank kniff die Augen zu. Er spürte, wie die Matratze unter Angels Gewicht heruntersackte. Eine warme Hand legte sich in seinen Nacken, massierte sanft den verspannten Hals. "Frankie? Frankie, sag mir, was los ist, bitte!" Frank drehte sich schließlich auf den Rücken, wich Angels Blick aus. "Ich muss nächste Woche die Schule verlassen." Angel erbleichte bei Franks tonlosen Worten. "Aber... aber das Schuljahr ist doch gar nicht zu Ende!", stammelte er dann hilflos. "Das ist völlig egal!!" Frank schoss in die Höhe, funkelte Angel zornig an, während Tränen über seine Wangen rollten. "Irgend so ein Typ ist plötzlich gestorben, und so haben sie Platz in dieser Wohngruppe!" Angels Augen zuckten nervös. "Gestorben? Wie? An was?!" Frank grub die Finger in Angels Oberarme. "Was spielt das für eine Rolle?! Ich muss gehen, weil es hier zu teuer ist!" Angel machte sich geistesabwesend von Frank los und stand auf. "Es geht also nur um Geld?" Frank schlang die Arme um den Oberkörper und wiegte sich schluchzend hin und her. Angel setzte sich wieder neben ihn, nahm ihn fest in die Arme. "Nicht verzweifeln, wir finden einen Weg! Komm, Frankie, ganz ruhig." Aber Frank weinte ungehemmt weiter. Angel begann, ihm sanft die Tränen vom Gesicht zu wischen und ihn beruhigend in den Armen zu wiegen. Sein Blick aber war entschlossen, die grünen Augen kryptisch in die Ferne gerichtet. "Ich verspreche dir, Frankie, ich finde einen Weg!" ~~?* Beim Abendessen wurde Frank schlecht, er musste sich immer wieder übergeben. Überhaupt war die Stimmung gedrückt, wie immer, wenn einer die Schule verließ. Herr Karlsson schaffte Frank höchstpersönlich ins Bett, maß dann Fieber. Frank wehrte sich nicht gegen die Medikamente, die ihm verabreicht wurden. Er wollte nur noch der Wirklichkeit entfliehen. ~~?* Erst am Sonntagmorgen kam Frank langsam wieder zu Bewusstsein, die Phasen von Fieberschlaf waren abgeklungen. Er war allein. »Angel?!« Frank kleidete sich an und schleppte sich zum Frühstück. Dort fragte er einen Klassenkameraden nach Angel. "Angel? Oh, der musste wegen einer Familiensache ganz plötzlich nach Hause." Frank schüttelte verwirrt den Kopf und hoffte, dass Angel wenigstens rechtzeitig wieder da sein würde, damit er sich von ihm verabschieden konnte. ~~?* Frank hatte seine Habseligkeiten zusammengepackt, war dann in die Bibliothek geflüchtet, um den mitleidigen Blicken zu entgehen. Er verabschiedete sich still von den Bücherregalen, die noch so viele unentdeckte Schätze bereithielten. Sein Herz schmerzte unerträglich, und es fiel ihm immer schwerer, sich zusammenzureißen. »Ach Mama, ich möchte nicht von hier weg! Es ist wie die Vertreibung aus dem Paradies!« Er setzte sich vor einen farbenprächtigen Atlanten und schlug wahllos eine Seite auf. "He, Frank, Angel ist wieder da!" Frank schoss erschrocken in die Höhe, was den anderen Jungen ebenfalls zu einem Satz nach hinten veranlasste. Frank schob eilig den Atlanten in das Regal und rannte mit klopfendem Herzen über den Flur. ~~?* Frank hastete die Treppen hoch und hätte um ein Haar Herrn Karlsson über den Haufen gerannt. "Bayer, mal langsam! Kann Ihre Freude ja verstehen, aber trotzdem Maß halten! Haben Glück, dass St. Yves so ein spendabler Geselle ist!" Frank konnte die Worte nicht verarbeiten, er starrte Herrn Karlsson völlig entgeistert an. Dieser schlug mit einer Pranke auf Franks Rücken. "Ganz formidable Familie! Freue mich außerordentlich, auch weiterhin das Vergnügen zu haben, Sie zu unterrichten, Bayer!" Herr Karlsson stampfte wie eine Lokomotive die Treppen hinab, ließ einen verstörten Frank zurück. ~~?* "Angel?!" Atemlos stieß Frank die Tür zu ihrem Zimmer auf und stürmte hinein. Angel kehrte ihm den Rücken zu, starrte aus der Dachluke. Frank schloss behutsam die Tür hinter sich, rang um Selbstbeherrschung. "Angel, ist es wahr, was Karlsson sagt? Dass deine Familie mein Schulgeld bezahlt?" Angel rührte sich nicht. Frank schluckte mehrmals. Dann überwand er die Distanz zwischen ihnen. "Was hast du getan, Angel?!" Er packte Angel bei den Schultern und drehte ihn gewaltsam zu sich um. Angels Gesicht war eine schneeweiße Maske, nur die grünen Augen schimmerten lebendig. Frank würgte trocken, knöpfte dann Angels Hemd auf, was dieser ohne eine Regung über sich ergehen ließ. "Nein..." Franks entsetzter Blick fing das ein, was er befürchtet hatte: Druckstellen, blaue Flecke. "Wie... wie konntest du nur?!" Er stieß Angel heftig vor die Brust. "Warum tust du mir das an?! Was denkst du, was ich jetzt tun soll, hm?!" Er verwünschte das Schluchzen in seiner Kehle, das Tränen in seine Augen trieb. Angel senkte den Kopf, flüsterte rau. "Bleib bei mir. Bitte." Frank kehrte ihm unwirsch den Rücken zu, kämpfte gegen die aufkommende Hysterie an. "Wie stellst du dir das vor?! Das kann ich nie wieder gutmachen, nie wieder!" Angel erwachte aus seiner Apathie. "Das verlangt niemand, klar?! Ich hab es für mich getan, nicht für dich!!" Frank fuhr überrascht herum. In Angels Augen standen nun ebenfalls Tränen. "Was denkst du, verdammt?! Dass ich dir einen Gefallen tun wollte?! Seh ich vielleicht aus wie der Weihnachtsmann?!" Frank schwieg verwirrt. "Ich hab's aus purem Eigennutz getan!!" "Aber...?" Angel stürzte vor, zog Frank in eine enge Umarmung. "Ich will nicht, dass du gehst. Wir sind so ein gutes Team." Angel vergrub das Gesicht in Franks Haaren. "Und... und ich hab dich furchtbar gern, Frankie." Frank streichelte den zuckenden Rücken, murmelte beruhigende Worte. "Ich hab dich auch lieb, Angel. Bitte wein nicht mehr!" Angel schob ihn leicht zurück und sah ihn ernst an, das Gesicht tränenfeucht. "Frankie, ich weiß nicht, ob ich jemals jemanden lieben kann." Angel schluckte schwer, sammelte sich dann sichtbar. "Aber was ich für dich empfinde, kommt Liebe verdammt nah." Frank war zu verdutzt, um Verlegenheit zu empfinden. Stattdessen streichelte er bekümmert Angels Wangen. "Es tut mir weh, dass du wegen mir so leiden musst." Frank seufzte aus tiefster Seele. "Wie soll es denn jetzt weitergehen?" Angel blinzelte Tränen aus den Augen. "Du könntest mich trösten." Frank nickte heftig, zog Angel eng an sich. Angel raunte in sein Ohr. "Und du könntest das Stipendium fürs nächste Jahr gewinnen." Frank keuchte, gab murmelnd sein Einverständnis. Angel wurde kühn. "Und du könntest mich küssen." Was Frank auch tat. Ausgiebig. Dann setzen sie sich auf die Schreibtische und verfolgten durch die Dachluke den Sonnenuntergang, eng umschlungen. "Wenn wir zusammen sind, dann können wir alles schaffen, Frankie!" Frank küsste Angel sanft auf die Wange. "Dann sollten wir uns auch nie mehr trennen." ~~?* Fortsetzung in "Feuertaufe"! ~~?* Vielen Dank fürs Lesen! kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Der erste Teil der Serie entstand kurz nach "Brüder" und lief durch Franks Augen ab, der ein Ekelpaket in einen Chara verwandelte, der sich bis heute extremer Beliebtheit erfreute. Die Thematik an sich war keine leichte Kost, und Angels schillernder, mehrfach gebrochener Charakter wird erst im Laufe der Handlung deutlich, dennoch wollte ich mit Franks heillosem Optimismus Humor und Zuversicht einbringen. Die Reaktionen auf den ersten Teil der Serie (die als solche nicht angekündigt war eingedenk des Lonely Hearts-Erlebnisses) waren freundlich, doch auch von herber Kritik geprägt. Zunächst wies man mich daraufhin, dass Efeu per Duden männlich ist, es somit "giftiger Efeu" zu sein habe, was mich mit Hinweis auf künstlerische Freiheit und den verbalen Sprachgebrauch in meiner Umgebung eher unbeeindruckt ließ ^_~ Persönlich getroffen hat mich aber die Vermutung, ich habe mich an "Ki no kaze no uta", einem Klassiker des Yaoi-Genres, vergriffen, der mir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bekannt war. Da ich die gesamte Geschichte vor Augen hatte, konnte ich bis auf den Ort keinerlei Parallelen entdecken, insbesondere nicht, was die beiden Akteure betraf, und ich nahm diese Plagiatsunterstellung zum Anlass, eine weitere Veröffentlichung hinauszuschieben, bis ich dezidiert sicher war, dass sie haltlos und unzutreffend blieb.