Titel: Angels Geschichte, Buch 2: Feuertaufe Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: http://www.livejournal.com/users/kimerascall/ Original FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Ereignis: Valentinstag 2001 Erstellt: 13.02.2001 Disclaimer: Es werden mehrere Songs zitiert, die ihren Textern gehören. Anmerkungen: Dies ist die Fortsetzung zu "Giftiges Efeu", das man zum besseren Verständnis gelesen haben sollte. Widersprüche sind beabsichtigt, da diese Geschichte aus einer anderen Perspektive erzählt wird. ~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?* Music has always been the saving grace. ~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?* Angels Geschichte, Buch 2: Feuertaufe Kapitel 1 Er hat das vergrößerte Photo aufgehängt. Wenn ich vor dem Bett stehe, kann ich es genau betrachten. Und ich lasse mich immer wieder davon faszinieren. Es ist nicht so gut wie die Zeichnung, die er von mir gemacht hat. Seine Zeichnung würde ich niemals so offen aufhängen. Sie liegt in einer verstärkten Mappe neben meinem Bett. Wenn ich sie aufhängen sollte, würde ich es wohl wie Dorian Gray machen, auf dem Dachboden. Aber nicht, weil sie so hässlich ist. Nein, weil sie die Wahrheit enthüllt. Die Wahrheit, die mir Angst macht. Und dennoch schlage ich die Mappe mindestens einmal am Tag auf. Und sehe mir in die Augen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor mein Gesicht wirklich wahrgenommen zu haben. Wenn ich mich im Spiegel sah, konnte ich natürlich das Gesicht als mein eigenes ausmachen, aber es war mir gleichgültig, ließ mich kalt. Schon, als ich damals seine flüchtige Skizze erblickte, traf es mich wie ein Faustschlag. Ich erkannte mich selbst. Keine Pose, keine Maske, kein Versteckspiel. Völlig schutzlos den Blicken ausgeliefert. Kein hübsches Gesicht, keine blanke Larve, bereit, Wünsche und Gedanken zu projizieren, Leinwand für fremde Blicke. Mein Gesicht. Meine Augen. Ich erinnere mich, wie immer posiert zu haben, aber dennoch hat er etwas Anderes gezeichnet. Das, was er sieht. Da sind Linien, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Hier ein Strich, da ein Schatten. Nur Kleinigkeiten, minimale Zeichen, aber sie verändern alles. Der Junge dort, ich!, sieht ein wenig müde aus. Eine Müdigkeit, die in der Seele entspringt. Schmerz in den Augen. Und trotzdem... ist da ein Funke. Ein Funke Hoffnung. Vielleicht liegt es an den schmalen Lippen, kaum wahrnehmbar ein Lächeln hauchend. Die grünen Augen, die noch nicht trübe sind. Das bin ich. Schwankend zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Wut und Resignation. Dagegen wirkt das Photo wie ein Traum. Ich kann noch seinen warmen Atem spüren, der über meine nackte Haut streicht. Seine Wangenknochen, die auf meiner Brust aufliegen, meinem Herzschlag lauschen. Eine Umarmung, so zerbrechlich wie chinesisches Porzellan, leicht wie ein Spinnweb. Und in diesem Augenblick war ich glücklich. Nicht bloß zufrieden. Glücklich. Bis in die letzte Faser meines Daseins. Geborgen in Armen aus Vogelknochen, fragil, dünn. Schöpfte Hoffnung und Atem aus diesem schmalen Körper, der wärmend auf meiner Brust lag. Alle Masken waren gefallen, ich hatte mich selbst vergessen. Und sie hatte diesen Augenblick für alle Zeit festgehalten, auf Film gebannt. Ob er es aufgehängt hat, damit ich nicht vergesse, wie sich Glück anfühlt? Damit ich weiß, dass der Schmutz mich noch nicht völlig aufgefressen hat? Ich klammere mich an den Funken, der in den gezeichneten Augen brennt. ~~?* Angel kramte noch immer unruhig vor sich hin. Die kleine Lampe neben seinem Bett beleuchtete warm seine Aktivitäten. Frank setzte sich auf. Angels Unrast ließ ihn nicht einschlafen. "Angel, willst du nicht langsam Schluss machen? Ich bin wirklich müde..." "Ich kann nicht!" Angels heiserer Schrei wirkte in der Stille der Nacht überdimensioniert, unpassend. Schwarz und unheilvoll wie der heisere Ruf des Raben, dessen ausgebreitete Schwingen die Sonne verdeckten. Frank kämmte sich ein paar wirre Strähnen aus dem Gesicht, stand dann auf und wanderte zu Angel hinüber. Dieser kehrte ihm den Rücken zu, zusammengekauert. Frank legte behutsam eine flache Hand auf Angels Rücken. "Was ist denn so wichtig, dass du es jetzt noch erledigen musst?" Angels Rücken bebte unter seiner Berührung. Vorsichtig beugte sich Frank vor, um an Angels Rücken vorbeizuspähen. "Ein Mathe-Buch?" Angel schleuderte das Buch heftig weg. Dann rieb er sich energisch über die Augen, die bereits rot entzündet waren von der Überanstrengung. "Geht dir ein Problem im Kopf herum?" Angels bitteres Auflachen endete abgehackt in einem heiseren Krächzen. "Vielleicht solltest du darüber schlafen..." "Nein!! Ich will nicht schlafen!!" Frank zuckte zusammen, rückte ein bisschen von Angel ab, der das Gesicht in den Händen verborgen hatte. Dann strich er sanft weißblonde Strähnen hinter ein Ohr. "Warum willst du nicht schlafen, Angel? Hast du Angst vor Albträumen?" "Ha!" Ein ersticktes Lachen voller Bitterkeit und Furcht. "Erzähl es mir, bitte." "Du findest das bestimmt zum Totlachen!" Anklagende Worte, ein hilfloses Flehen versteckend. Frank lehnte sich sanft an Angel an. "Ich werde nicht lachen über etwas, das dich so quält." Angel ließ langsam die Hände von den Augen sinken, verknotete sie unbehaglich auf seinem Schoß. "Ich... ich habe Angst einzuschlafen." Nach einer Pause, in der Angel heftig Atem einsog. "Ich... habe Angst, dass ich nicht mehr aufwache." Dann kicherte er hysterisch. "Albern, was?!" Frank legte eine Hand samtweich unter Angels Kinn und drehte seinen Kopf mit sanfter Gewalt zu sich herum. "Überhaupt nicht albern." Dann studierte er Angels Gesicht aufmerksam. Seine Augen glitten ruhig über die entzündeten Augen, die rissigen Lippen, die Schatten unter den Augen und den Wangenknochen. "Du hast Angst vor dem Tod." Angel befreite sich aus Franks Griff, senkte den Kopf und schlang die Arme bannend wie einen Schutzschild um sich. "Jeder hat Angst vor dem Tod." Der Allgemeinplatz schaffte Distanz, spröde Abfuhr. Ihre Blicke kreisten unabhängig voneinander in dem Leuchtkegel auf dem Fußboden, Zuflucht vor der alles tilgenden Schwärze. Einen Wimpernschlag später straffte Entschlossenheit Franks zierliche Gestalt. Er rutschte von Angels Bett, kniete sich vor ihn auf den Boden. "Weißt du, was? Ich werde die ganze Nacht aufpassen, dass dein Herz nicht aufhört zu schlagen und dass du atmest. Und dann wirst du morgen Früh ganz sicher aufwachen." Angel biss sich auf die Lippen, warf Frank ein zögerndes Lächeln zu, schwankend zwischen Dankbarkeit und Scham. "Aber... aber dann kannst du nicht schlafen." Frank erwiderte das Lächeln liebevoll. "Ich komme schon mal eine Nacht ohne Schlaf aus. Und das nächste Mal bist du dann an der Reihe." Ohne eine Aufforderung abzuwarten, glitt er katzengleich vom Boden in Angels Bett. Gehemmt ließ sich Angel neben ihn sinken, wandte ihm den Kopf zu. "Gut, lass den Kopf so, dann spüre ich deinen Atem. Und ich lege meine Hand auf dein Herz, so!" Aufmunternde Worte, energische Aktion, der fahle Lichtkegel schien unsichtbar die Barrieren überwunden zu haben und nun die Distanz zwischen den beiden Körpern mit einem Gespinst aus warmen Strahlen zu verbinden. "Und jetzt kannst du das Licht löschen." Es kostete Angel große Überwindung, den Raum in absolute Dunkelheit versinken zu lassen. "Frankie?" "Ja, Angel?" "Es ist...wenn ich die Augen schließe... kannst du dir vorstellen, überhaupt nicht mehr zu existieren? Gar nichts mehr da? Kein Bewusstsein, kein Gefühl, einfach... nichts?" Franks Hand auf Angels Brust bewegte sich in kleinen Kreisen. "Vor so einer Vorstellung... habe ich auch Angst. Ich glaube, mein Gehirn weigert sich einfach, so weit zu denken." Grimmig-liebevoller Humor gegen das Unfassbare und die Schrecken der Nacht, einziger Panzer der Seele. "Hast du... jemals auch solche Angst gehabt?" Die kreisenden Bewegungen erstarben, dann wurden sie wieder langsam aufgenommen. "Ja." "Und was... hast du getan?" "Ich habe mich wach gehalten. Mir eingeredet, dass wenn es soweit ist, ich es ohnehin nicht verhindern könnte. Dass es nur einen kurzen Augenblick dauert. Dass man vermutlich gar keine Zeit hat, es zu begreifen, wenn es passiert." Angels Herz schlug schneller unter Franks Hand. "Und dann bin ich eingeschlafen. Vor Erschöpfung. Aber am nächsten Morgen beschloss ich, meine Zeit besser mit Leben auszufüllen, statt Angst vor dem Tod zu haben." Eine Ermahnung, sich von den Abgründen fernzuhalten, der Phantasie Zügel anzulegen. Nach einer kurzen Pause fügte Frank dann hinzu, "aber du musst keine Angst haben, dass ich heute Nacht einnicke. Ich halte mein Versprechen." Dann kicherte er leise. "Sind ja auch nur noch fünf Stunden bis zum Wecken." Angel robbte nah an Frank heran, küsste ihn scheu auf den Mund. "Frankie, ich habe dich furchtbar lieb." Frank lachte leise, nachsichtig. "Ich weiß, Angel. Und nun schlaf ein bisschen." ~~?* Angel erwachte mit verklebten Augen. Er konnte kaum die Überreste des Schlafes abreiben. "Warte!" Eine Hand schob seine Handrücken von seinen Augen, dann wischte ein feuchtes Tuch über die Lider. Angel blinzelte heftig. "Frankie?" Frank lächelte ihm müde entgegen, seine Augen gerötet, das Gesicht spitz vor Erschöpfung. "Du hast es geschafft." Angel drehte den Kopf und betrachtete das fahle Morgenlicht, das durch die Dachluke eindrang. Schließlich wandte er sich wieder Frank zu. "Danke." Frank zwinkerte und unterdrückte ein Gähnen. "Jetzt brauch ich Koffein und Zucker!" "Zucker kannst du auch jetzt schon haben!" Angel beugte sich vor und küsste Frank sanft auf den Mund. "Mehr?" Frank legte die Hände wie Blütenblätter um Angels Gesicht. "Viel mehr." Und Angel kam der Aufforderung zärtlich nach. ~~?* Wenn ich ihn ansehe, ist es jedes Mal wieder ein kleiner Schock. Für einen Sekundenbruchteil setzt mein Herzschlag aus. Nur eine winzige Unregelmäßigkeit. Aber die Welt verändert in dieser Winzigkeit ihre Konturen. Als ob ich die Dimensionen wechsle. Alles wird klarer, schärfer. Jedes Detail brennt sich in mein Gedächtnis. Diese wirren Strähnen, die ein Eigenleben zu führen scheinen. Ungebändigt laden sie ein, sie zu streicheln, sie zu verwuscheln. Die schmale Gestalt, zerbrechlich schlank in den übergroßen Kleidern. Blasse Haut, Gelenke, die in ihrer Zartheit zu einer Puppe passen. Und dennoch strahlt er Würde aus. Das spitze Gesicht mit diesen großen, braunen Augen. Zuerst wirken sie unbedeutend, ein wenig staubig. Und dann sieht er mich an. Das Braun wird lebendig, glüht von Innen heraus, strahlt Wärme ab. Keine lodernde, verzehrende Flamme, für einen Augenblick in Licht explodierend, nein, eher ein Stück Kohle, warmes, stetes Glimmen. Wärme, keine Hitze. Wärme, die direkt in mein Herz fließt, meinen Atem stocken lässt. Ein Blick voller Stille, offen, vertrauend. Ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Ich könnte versinken in diesen Augen. Die Zeit bleibt stehen, meine Wahrnehmung trübt sich, ich fliege dieser Wärme entgegen, schutzlos, ohne Gegenwehr. Als ich ihn das erste Mal sah, zum ersten Mal wirklich ansah, erschreckten mich seine Augen bis ins Mark. Er sah mich an. Direkt. Als ob er meine Gedanken lesen könnte, unmittelbar in mein Herz sehen. Niemals zuvor hatte mich jemand so angesehen. Niemals zuvor waren meine Masken so rasch zerbrochen. Er ist einfach durch alle Barrieren geschritten, die ich aufgebaut hatte. Als seien sie gar nicht vorhanden. Ich floh. Ich hasste ihn. Weil ich Angst hatte. Angst davor, dass er mich erkannte. Erkannte, wer ich wirklich war. Aber er zwang sich mir nicht auf. Verriet nicht, was er wusste. Nur der Schmerz in seinem Blick, wenn ich ihn quälte, enthüllte meine eigene Pein. Diese Stille, die die Zeit einfror. Hätte er getobt, geschrien, ich hätte es ertragen können. Aber er blieb ruhig, nur seine Augen sprachen. Manchmal, wenn ich ihn ansehe, fürchte ich mich noch immer vor der Stärke, die in seinem Blick liegt. Dann ziehe ich ihn in eine Umarmung, damit ich ihn nicht ansehen muss. Klammere mich an diese winzige Gestalt, will mich in ihm verkriechen. Flehe seinen Schutz herbei, als könnte er mich erlösen. Eigentlich sollte ich ihn beschützen, so zerbrechlich, wie er ist. Aber tatsächlich ist es genau umgekehrt. Ich fliehe vor den Albträumen in seine Arme, lege den Kopf auf sein Herz, um mich in den Schlaf zu wiegen. Ich glaubte, stark zu sein. Immerhin lebte ich noch. Aber durch ihn habe ich wirkliche Stärke erst kennengelernt. Es ist seine selbstlose Tapferkeit, die mir den Atem verschlägt. Den Kampf mit meinen Dämonen aufzunehmen. Woher nimmt er das Vertrauen in mich? Dass ich ihn nicht enttäuschen werde? Mich nicht einfach aufgebe? Es ist beängstigend, wie viel Vertrauen er in mich setzt. ~~?* Sie lagen nebeneinander und blickten an die Decke, wo Schatten spielten. "Erzähl mir etwas von deiner Mutter." Angel drehte sich auf die Seite und legte den Kopf auf einen angewinkelten Arm, damit er Frank ansehen konnte. Er meinte, in der Dunkelheit ein sanftes Lächeln auf Franks Zügen ausmachen zu können, während dieser weiter zur Decke sah. Das Schweigen lastete so lange, dass Angel glaubte, Frank sei eingeschlafen. Dann begann dieser, mit leiser Stimme zu erzählen. "Ich liebe meine Mama. Wir waren nicht einen einzigen Tag voneinander getrennt. Sie war der erste Mensch, den ich morgens sah und der letzte am Abend. Als ich geboren wurde, war sie erst siebzehn. Und sie hatte bereits die Hölle barfuß durchquert." Das Schweigen, das folgte, ließ die letzten Worte umso schwerer wiegen. "Trotz aller Widrigkeiten wollte sie für mich da sein wie eine richtige Mutter. Wenn ich die Augen schließe, kann ich sie sehen, wie sie eine falsche Perlenkette trägt und ein Kostüm, sorgfältig geschminkt, um mit mir zu einem Elternabend in der Schule zu gehen. Aber meistens war es wie bei einem Kind, das in eine Rolle schlüpft, ein amüsantes, leichtfertiges Spiel. Und sie liebte diese Phantasien. Einmal fanden wir alte Ballettschuhe auf einem Flohmarkt, und sie wollte sie unbedingt haben. Zu Hause wickelte sie sich eine Schürze um und tanzte vor mir auf den Zehenspitzen, ausgedachte Figuren. Vielleicht hätte es für einen anderen schäbig ausgesehen, billig, aber vor meinen Augen verwandelte sie sich in einen bunten Schmetterling, der im Sonnenlicht wirbelte. Sie hatte einen Zauber, der mich gefangennahm, mich alles vergessen ließ." In der träumerischen Pause hingen sie ihren Gedanken nach. Angel versuchte, die zarte Frau auf dem abgegriffenen Polaroid mit Franks Erzählungen in Einklang zu bringen. "Ich weiß nicht, ob du jemals jemanden so geliebt hast, dass du nur diesen Menschen auf der ganzen Welt gebraucht hast, aber bei mir war das genau der Fall. Sie war", ein bestimmtes Räuspern, "und ist ein Teil von mir, ich kann in meinen Gedanken ihre Stimme hören, Antworten, die sie an meiner Stelle geben würde." Frank rieb sich mit den Handrücken über die Augen. "Vielleicht sollte ich dir etwas anderes über sie erzählen... Sie liebte das Lied 'Somewhere over the rainbow', aus diesem Musikfilm 'Der Zauberer von Oz'. Sie erzählte mir, dass sie fest daran glaubte, dass irgendwo ein Platz auf der Welt sei, hinter dem Regenbogen, wo es ein verwunschenes Land gäbe, ein Paradies, in dem Träume wahr würden. Dann sang sie mir das Lied vor, mit einem entrückten Lächeln auf den Lippen. Und ich konnte in ihren Augen das Mädchen sehen, das sie sein wollte, das hinter dem Regenbogen tanzte. Diese Hoffnung leuchtete in ihr wie ein wärmendes Licht. Das mag sich kitschig und trivial anhören, aber ich begriff später, dass sie mir den Schlüssel zu ihrer Seele anvertraut hatte. Und ich war dankbar. Wenn ich einen harten Tag hinter mir hatte und zu zweifeln begann, warum ich das alles auf mich nahm, dann brauchte ich nur die Augen zu schließen und sie singen zu hören und dann wusste ich, warum ich das alles und mehr ertragen konnte. Für dieses glückliche Lächeln in ihrem Gesicht. Ich habe Dinge getan, die ich verabscheute, die mir meinen Anblick im Spiegel nahezu unerträglich machten, aber ich kannte das Ziel. Ich glaubte felsenfest an dieses Zauberland und heute tue ich das immer noch, denn ich wünsche mir, dass sie jetzt dort tanzt." Angel tastete unter der Decke nach Franks Hand, verflocht seine Finger mit Franks. "Da sind so viele Dinge, die du dir nicht vorstellen kannst. Lügengeschichten, kleine Diebstähle, Urkundenfälschung... ich tat alles, damit wir nicht getrennt werden konnten. Ich schluckte Demütigungen und Vorurteile. Ich arbeitete bis zur Erschöpfung, führte den gesamten Haushalt. Aber das ging irgendwie niemals richtig unter die Haut, es perlte von mir ab wie Wasser." Ein winziges Lächeln ließ Franks Mundwinkel zucken. "Zumindest redete ich mir das so lange ein, bis ich es selbst glaubte. Furchtbar dagegen waren diese Stimmungsschwankungen, die sie hatte. Im einen Moment liebevoll, zärtlich, verspielt, im Nächsten aggressiv, lamentierend, gefährlich. Ich musste sie einmal einen ganzen Tag im Badezimmer einsperren, weil sie einen Anfall hatte." Angel rutschte unbehaglich herum. Diese gleichmütige Ruhe in Franks Stimme war verstörender als jedes Lamento. "Manchmal war es wie mit einem kleinen Kind, das man nicht aus den Augen lassen darf. Ich schraubte die Griffe von den Fenstern, versteckte Messer und Scheren, schloss Spülmittel ein, drehte die Sicherungen heraus. Und dann hockte ich mich in irgendeine Ecke und hielt mir die Ohren zu, um ihr Geschrei nicht hören zu müssen." Angel strich vorsichtig mit den Daumen über Franks Handrücken, den Blick auf Franks Profil gebannt. Dieser hielt unverändert den Blick an die Zimmerdecke gerichtet, die großen Augen weit geöffnet. "Ich hasste diesen süßlichen Geruch von Hasch, der mich manchmal nach der Schule empfing. Dann war sie gelegentlich desorientiert, kicherte hemmungslos und vergaß das, was man ihr gesagt hatte. Oft glaubte ich, es nicht mehr ertragen zu können, wünschte mir, weglaufen zu können und das alles hinter mir zu lassen. Und dann setzte sie sich neben mich, legte ihre dünnen Arme um mich und summte mir leise ins Ohr von ihrem Traumland." Frank drehte den Kopf zu Angel und verzog die weichen Lippen zu einem schmerzlich-nachsichtigen Lächeln. "Wie konnte ich sie da je verlassen?" Dann wandte er den Blick wieder zur Decke, als konnte er dort die Bilder aus seinem Gedächtnis durcheinander wirbeln sehen. "Der Gedanke, einen Morgen aufzuwachen, ohne sie zu sehen, schien mir damals unvorstellbar, das absolute Grauen. Aber jetzt stehe ich trotzdem jeden Morgen auf. Weil sie immer noch bei mir ist. Darum gebe ich mich nicht auf." Kein Trotz, nur eine felsenfeste Entschlossenheit, in ihrer Vehemenz unumstößlich. "Wir hatten so viele Pläne und Ideen. Ich werde sie verfolgen, und sie wird an meiner Seite sein. Und so werden sich unsere Wünsche erfüllen. Nur manchmal, da...", Frank schluckte schwer, räusperte sich, "...da fehlt mir ihre Umarmung." Angel strich zögernd über eine kalte Wange. Frank drehte sich zu ihm um, überwand den Abstand zwischen ihnen und kuschelte sich eng an Angel. Dann summte er leise das Lied vom Land hinter dem Regenbogen. ~~?* Angel lag warm in der tröstlichen Umarmung, lauschte auf den Herzschlag an seiner Brust. Dieses leichte Beben, wenn Frank Atem schöpfte, in ruhigem Schlaf. »Ach Frankie! Wir sind ganz schön verkorkst, was?! Du lebst einen fremden Traum, weil du keinen eigenen hast. Und fürchtest dich vor dieser Erkenntnis so sehr, dass du sie einfach aus deinem Bewusstsein löschst. Und ich?! Ich trage meine Maske des überlegenen Playboys, der immer alles unter Kontrolle hat, lässig, souverän. Aber es ist bloß eine schlechte Parodie, so glaubwürdig und realistisch wie ein James Bond-Film. Ich habe die ganze Zeit Angst. Angst, einen Schlussstrich zu ziehen. Angst vor dem, was ich wirklich bin. Angst, wie weit ich gehen könnte. Ich frage mich, ob ich überlebensfähig bin, oder einfach nur nicht mitgekriegt habe, dass meine Zeit schon um ist?! Ich möchte so gern jemandem nahe sein, aber wenn ich es dann tatsächlich schaffe, stoße ich ihn von mir. Ich will meinen Körper bestrafen, aber gleichzeitig hasse ich mich dafür. Immerhin ist es ja nicht so, dass ein Ersatz-Chassis in der Garage steht! Oh Mann, jetzt rede ich schon wieder so, als wäre mein Körper und mein Geist eine separate Formation, die man nach Belieben zusammenfügen kann! Der große Xavier St. Yves dreht langsam durch, welch ein Vergnügen! Na ja, immerhin habe ich es über vier Jahre ausgehalten, gar nicht schlecht. Und dann kommt so ein kleiner, schmächtiger Kerl mit stillen Augen, und meine Panzerung bekommt Risse. Ich bin wohl nicht so hart gewesen, wie ich gedacht hatte. Zu lügen ist meine zweite Natur geworden, aber nun fällt es mir immer schwerer. Du lässt nicht zu, dass ich mich länger vor mir selbst verstecke. Und gezwungenermaßen sehe ich mich selbst. Nicht Dr. Mabuse in seinem Spinnennetz, wahnsinniges Genie mit Womanizer-Appeal, der seine Opfer wie Marionetten tanzen lässt. Nur noch ein Junge, der sich vor jeder Entscheidung fürchtet. Der immer nur auf der Flucht ist. Überhaupt, Womanizer! Wenn sie alle wüssten...! All die blöden Stories, all diese albernen Show-Einlagen! Da war nur Monika. Nur einmal. Und ich bezweifle stark, dass sich ein Playboy so hilflos aufgeführt hätte wie ich. Ob sie es schon damals gewusst hat? Ich glaube, dass sie weiß, was mit mir nicht stimmt. Aber sie spricht es nicht an. Wir reden nicht darüber. Vielleicht haben meine Lügen deshalb so gut funktioniert. Weil alle weggesehen haben. Weil man nur das sieht, was man sehen will. Ich wollte es ja auch nicht sehen. Aber jetzt... Jetzt kann ich nicht zurück. Die Wahrheit hat sich wie ein Virus in meine Gedanken eingeschleust, und ich kann nicht mehr in den Stand der Unschuld zurückkehren. Ach Frankie! Wie soll es bloß weitergehen?« ~~?* Ich hasse seine Murmelaugen. Klein, kalt, völlig leblos. Und diese Haltung. Korrekt. Steif. Aber so ehrenhaft. Oh ja, er ist so fehlerlos, so perfekt! Ich möchte dich im Dreck liegen sehen. Dir die Maske des Anstands vom Gesicht reißen, damit jeder sehen kann, wie du wirklich bist. Abstoßend, ekelerregend, verdorben, faulig. Und feige. Du willst es. Du brauchst es. Meinen Körper. Aber ich werde dich zappeln lassen. Bis du Fehler machst. So sind die Regeln in unserem Spiel. ~~?* Angel starrte mit zusammengekniffenen Augen an die Tafel, malte dann gelangweilt Strichmännchen auf seinen Block. Sein Blick glitt in die Nachbarbank zu Frank hinüber, der mit geröteten Wangen konzentriert an die Tafel sah. Die Hand, die den Einwegkugelschreiber führte, zitterte kaum merklich. Eine wirre Strähne hatte sich in die Stirn verirrt, gab ihm das Aussehen eines zerzausten Teddybären mit dem schmalen Gesicht und den großen, braunen Augen. Angel lächelte mitleidig. Franks mathematisches Begriffsvermögen litt unter von Schöllers Unterrichtsmethoden gewaltig. An den zusammengepressten Lippen konnte Angel auch noch eine andere Emotion ablesen. »Er mag ihn nicht. Meinetwegen.« Angel wandte den Kopf ab, eine scheinbar gelassene Bewegung. Die übliche Maske glitt über sein Gesicht, die weißblonden Haarsträhnen verbargen seine Augen. »Ich will ihn nicht runterziehen in den Dreck, in dem ich lebe. Vielleicht... sollte ich ihn gehen lassen...« "Bayer, an die Tafel!" Frank zuckte zusammen, schleuderte hastig den Kugelschreiber auf das Pult und stolperte nach vorne. Angel verfolgte gebannt seinen Auftritt. Die Hosen schlotterten um die dünnen Beine, das Sakko war mindestens eine Nummer zu groß. »Wie ein Kind in den Kleidern seiner Eltern. Ich möchte dich beschützen.« "Das ist schon wieder falsch, Bayer! Wollen Sie uns vorführen, wie unterbelichtet Gesamtschüler sind, oder ist das nur Ausdruck Ihres persönlichen Unvermögens?!" Frank schluckte, wankte ferngesteuert auf seinen Platz zurück, die Wangen vor Scham glühend. »Scheißkerl! Dafür wirst du bezahlen!« Angels Lippen wurden schmale Striche. Und er begann seine Attacke. Noch bevor Herr von Schöller die nächste Frage zu Ende formuliert hatte, schoss Angels Arm in die Höhe. Und das setzte sich bei jeder weiteren Frage, jeder Aufgabe fort. Wurde er nicht gleich aufgerufen, schnippte er mit den Fingern, stand sogar auf. Natürlich wurde dieser Machtkampf von allen anderen auch registriert. Niemand meldete sich mehr freiwillig. Herr von Schöller reagierte mit zunehmend schwierigeren Aufgaben, aber Angel ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, er hatte den Feind im Visier. Und in jeder Antwort schwang Verachtung mit. Schließlich brach Herr von Schöller ab, krakelte Hausaufgaben an die Tafel. Die Glocke brachte Erlösung, die Atmosphäre war explosiv. Frank zerrte Angel am Ärmel die Treppen hinunter zum Wohngebäude hin. "Angel, was soll das?! Du hast das doch hoffentlich nicht wegen mir angezettelt, oder?!" »Seine Besorgnis tut so gut.« "Ach was, mir war einfach danach. Und jetzt mach keine Staatsaffäre daraus, Frankie! Vergiss es einfach!" Angel kniff Frank spielerisch in eine Wange, huschte dann vorneweg. »Er hat schon wieder diesen Blick. So still. Als ob er meine Gedanken lesen könnte. Ich will ihn nicht ansehen, wenn er mich so anschaut.« ~~?* Closer by Nine Inch Nails, 1994 (Trent Reznor) You let me violate you You let me desecrate you You let me penetrate you You let me complicate you Help me, I broke apart my insides Help me, I've got no soul to sell Help me, the only thing, that works for me Help me get away from myself I wanna fuck you like an animal I wanna feel you from the inside I wanna fuck you like an animal My whole existence is flawed You get me closer to God You can have my isolation You can have the hate that it brings You can have my absence of faith You can have my everything Help me, you tear down my reason Help me, it's your sex I can smell Help me, you make me perfect Help me become somebody else I wanna fuck you like an animal I wanna feel you from the inside I wanna fuck you like an animal My whole existence is flawed You get me closer to God Through every forest Above the trees Within my stomach Scraped off my knees I drink the honey inside your hive You are the reason I stay alive ~~?* Laute Musik dröhnte aus den kleinen Boxen, während Angel den Refrain mit einem wilden Grinsen mitbrüllte. Frank zuckte zusammen und schloss hastig die Zimmertür hinter sich. "Angel, bitte fang nichts mehr mit von Schöller an, bitte!" Angel zog den Discman heran, entwirrte die Kabel. "Angel, hör doch!" »Verdammter Kabelsalat! Wieso zittern meine Finger?!« Frank setzte sich zu ihm auf das Bett, legte seine schmalen Hände auf Angels. "Bitte, Angel!" "Verdammt, Kleiner, ich pass schon auf mich auf, okay?! Außerdem, wer sagt, dass ich das Arschloch noch mal ranlasse?!" »Sieh mich nicht so an!!« "Angel..." "Kleiner, mir reicht deine Glucken-Tour!! Wolltest du nicht in die Bibliothek, lernen?!" Frank sah Angel noch einen Augenblick schweigend an, dann beugte er sich vor und küsste ihn hauchzart auf die Wange. "Ich bringe noch ein Buch für heute Nacht mit." Er sammelte ein paar Schulsachen auf und verließ leise das Zimmer. »Oh verdammt!!« Mit bebenden Fingern stöpselte Angel die Kabel in den Discman, setzte die Kopfhörer auf und ließ sich auf den Rücken sinken. Musik dröhnte bis zur Schmerzgrenze in seinen Ohren, verdrängte alle anderen Wahrnehmungen. »Warum hört es nicht auf?!« ~~?* Frank betrat leise das Zimmer, nahm in der Dämmerung nur das rote Licht des Discman wahr, der aus Angels Hand auf die Matratze geglitten war. Angel schlief, aber seine Stirn war gerunzelt, als sähe er etwas Hässliches. Er hatte die Knie unter das Kinn gezogen, sich wie ein Fötus zusammengerollt. Frank huschte auf Zehenspitzen zu seinem Schreibtisch, legte lautlos die Bücher ab. Dann setzte er sich behutsam neben Angel auf die Matratze, strich Falten aus dem verdrehten Laken. Angel stöhnte leise, wachte dann langsam auf. "He", begrüßte Frank ihn sanft, strich weißblonde Strähnen aus dem fahlen Gesicht. Angel drehte sich auf den Rücken, betrachtete Frank blinzelnd im Zwielicht. "Bist du nicht sauer auf mich?" Frank schmunzelte nachsichtig wie bei einem trotzigen Kind. "Nein." Angel griff nach Franks Hand, spielte mit dessen Fingern, küsste schließlich sanft die Handfläche. "Ich bin froh, dass du bei mir bist." Frank entzog verlegen seine Hand, schenkte Angel aber ein warmes Lächeln. "Komm, lass uns runter zum Abendessen gehen. Ich habe auch ein Buch gefunden, was ich mit dir angucken möchte." Dabei strahlten seine Augen Begeisterung über den unerwarteten Fund aus. Angel rollte sich murmelnd aus dem Bett, schlüpfte aus Jogginghose und T-Shirt in die Schuluniform. Frank fuhr sich mit der Hand durch die wirren Strähnen, wartete geduldig an der Zimmertür. Angel folgte ihm, drückte aber mit der flachen Hand die Tür wieder zu, als Frank diese öffnen wollte. Er ließ eine Hand unter Franks Kinn gleiten, streichelte seinen Hals. "Schlaf heute in meinem Bett", raunte er heiser. Frank schmiegte sich kurz in die warme Handfläche, nickte dann. Angel schien tiefer zu atmen, dann öffnete er selbst die Tür und zog Frank am Handgelenk hinter sich her. ~~?* "Und sieh dir das mal an! Gigantisch, was?" Frank fuhr elektrisiert mit dem Finger über die Hochglanzaufnahme einer Kathedrale, die braunen Augen glänzten. Seine Begeisterung verpuffte, als sie kein Echo fand. "Angel?" "Hm?" Franks Blick war nun ganz auf Angel fokussiert, der neben ihm lag und rhythmisch mit den Füßen auf die Matratze trommelte. "Ist etwas nicht in Ordnung?" Angel legte sich auf die Seite, den Kopf auf einen Arm gestützt. "Was soll denn nicht in Ordnung sein?" Seine Stimme war lasziv, die Augen träumerisch halb geschlossen. Frank setzte sich auf. "Angel, rede mit mir!" Angels freier Arm glitt müßig, scheinbar ziellos über Franks Oberschenkel. "Vielleicht ist mir nicht nach reden. Vielleicht will ich lieber... etwas tun." Frank erstarrte. Dann pflückte er Angels Hand von seinem Bein und platzierte sie betont auf die Matratze. Angel schoss hoch. "Was soll das, verdammt?!" Frank klappte den Bildband zusammen, zog ihn vor die Brust und erhob sich. "Hey!!" Frank ordnete die Sachen auf seinem Schreibtisch, den Bildband akkurat in den Bücherstapel einfügend. Angel fegte ungestüm zum Schreibtisch, packte Frank bei einer Schulter und schleuderte ihn zu sich herum. "Ich hab dich was gefragt!! Also?!" Aber Frank sah ihn nur an, schweigend, unbewegt. "Sei nicht so eine Mimose, du tust ja so, als wollte ich dir an die Wäsche gehen!!" "Angel, sag mir, was mit dir los ist." Angel fauchte wütend, die grünen Augen versprühten Blitze. "Mit mir?! Was ist mit dir los?! Ach, zur Hölle!" Angel kehrte auf dem Absatz um und schlug die Tür heftig hinter sich zu. ~~?* »Warum?! Warum mach ich das?!« Ich will nicht mit ihm streiten, wieso passiert das immer wieder?! Er ist so still. Ich hasse es, wenn er so still wird und mich so ansieht!! Ich würde ihm doch nie etwas antun!! Ich bin doch nicht... Oder...? NEIN!!« ~~?* Frank folgte Angel über den Flur zu den Waschräumen. Dieser stand neben einem anderen Jungen und putzte sich die Zähne. Langsam färbte sich der Schaum rot. Frank trat hinter ihn, zog ihm sanft die Zahnbürste vom Mund. Er suchte Angels Blick im Spiegel, aber dieser wich ihm aus. Angel machte Frank am Waschbecken Platz, wartete aber nicht wie gewöhnlich auf ihn. "Frank?" "Ja, bitte?" "Habt ihr, du und Angel, Streit? Er ist so... abgedreht in letzter Zeit." Frank wischte eine Haarsträhne aus der Stirn. "Nein, wir haben keinen Streit. Vielleicht vermisst er den Frühling." ~~?* »Er weiß es. Ich bin sicher, dass er es weiß. Was soll ich bloß tun? Verdammt, warum ist er so aufmerksam?! Ich will nicht, dass er es mitbekommt! Wenn er es erfährt, dann... Verdammte Scheiße!!« ~~?* Angel rollte sich in seinem Bett zusammen und wartete auf Frank. Er betrachtete den winzigen Lichtkegel, den das Nachtlicht zu seinen Füßen in den Raum warf. »Ob er doch noch in mein Bett kommt?« In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Frank kehrte aus dem Waschraum zurück. Angel setzte sich auf, brachte aber keinen Ton heraus. Frank setzte sich neben ihn auf die Bettkante. Schulter an Schulter starrten sie auf den Fußboden. "Möchtest du noch immer, dass ich bei dir schlafe?" Angel drehte den Kopf, um Franks Profil betrachten zu können. Dann presste er seine Lippen an Franks Halsbeuge, umklammerte die schmale Gestalt. Frank lachte leise, neckend. "Ich nehme mal an, dass das ein Ja sein soll?!" Er drehte sich vorsichtig in Angels Umarmung und streifte mit seiner Angels Nase. Für einen Herzschlag lang verschmolzen ihre Atemzüge. "Rutsch ein wenig." Gehorsam rückte Angel an die Wand und wartete, bis Frank es sich in seinem Bett gemütlich gemacht hatte. Dann schmiegte er sich an Franks Rücken an, einen Arm über dessen Taille gelegt. "Frankie?" "Hm?" "Pass auf mich auf, bitte." Frank zog Angels Arm enger um sich. "Ich verspreche es." Dann schloss er die Augen und lauschte darauf, dass sich Angels Atemzüge beruhigten. ~~?* Kapitel 2 "Achtung, Block! Block!" Frank keuchte vor Anstrengung, seine Unterarme brannten. "Los, Wechsel!" Ein Stoß schob ihn auf die nächste Position, er stützte die Hände auf die Knie und wartete erschöpft den Angriff ab. Dann war Angel an der Reihe. Sein Aufschlag flog fast an die Begrenzung, aber mit voller Wucht. Niemand konnte ihn retournieren. "Punkt. Nächster Aufschlag!" "Verdammt, was ist los mit euch?! Ihr werdet doch wohl einen lausigen Aufschlag von mir übers Netz bringen?!" Angels Stimme vibrierte vor Zorn. Seine Kameraden zogen den Kopf ein, besonders die auf der anderen Seite hinter dem Netz. Dieser Aufschlag kam tief und traf einen Spieler direkt vor die Brust beim Sinkflug. "Xavier, das reicht jetzt! Entweder du hältst dich ein bisschen zurück, oder ich hole dich aus dem Spiel!" Angel senkte die Augenlider kurz, dann glomm wieder ein Funken in den grünen Katzenaugen auf. Der nächste Aufschlag kam wuchtig, tief und war auf den Körper gezielt. Nur ein beherzter Sprung brachte den Gegenspieler aus der Gefahrenzone. "Das reicht!! Xavier, raus, und sofort unter die Dusche!!" Angel stolzierte hocherhobenen Hauptes aus der Sporthalle. ~~?* »Wieso zum Teufel spielen die so schlecht?!! Verdammte Scheiße!! Können nicht einen meiner Aufschläge zurückschlagen!! Flaschen!! Penner!! Schwächlinge!!« Angel schlug mit den Fäusten gegen die Kacheln in der Gemeinschaftsdusche. Immer wieder. ~~?* "Du bist in der Dusche ausgerutscht?" Frank betrachtete zweifelnd Angel dick bandagierte Knöchel. Angel tigerte unruhig im Zimmer auf und ab. "Na und?! Halb so wild!" Frank blickte zu ihm hoch. "Möchtest du vielleicht eine Weile allein sein?" "Nein, warum?!" Frank senkte den Blick auf seine Füße. "Wir könnten auch in der Sporthalle noch ein paar Runden drehen. Herr Müller gibt uns sicher die Schlüssel." Angel stoppte seinen Marsch, sein scharfer Blick teilte die Luft. "Okay." ~~?* Frank sackte keuchend in die Knie, Schweiß durchtränkte sein Sport-Trikot. Vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte, aber er wollte sie nicht schließen, um Angel nicht aus dem Blick zu verlieren. Und Angel rannte immer noch. Wie ein Uhrwerk, schweißnass, aber unermüdlich. Und wenn er ins Stolpern kam, dann raffte er sich wieder auf und rannte weiter. ~~?* »Alles tut weh. Weiterlaufen! Nicht stehen bleiben!! Weiter! Keine Pause! Bis mein Körper sich mir ergibt.« ~~?* Frank stellte sich mit ausgebreiteten Armen in Angels Weg. "Das reicht jetzt!" Angel torkelte ihm entgegen, die Lippe aufgebissen, Blut sickerte über die weiße Haut. Die grünen Augen hatten einen roten Stich, blaue Augenringe warfen finstere Schatten. Angels Muskeln zitterten bereits sichtbar. Aber er hielt ungebremst auf Frank zu. ~~?* Der Aufprall war heftig, aber Frank rollte sich instinktiv zusammen, sodass er nicht mit dem Hinterkopf aufschlug. Angel lag quer über ihm, stoßweise nach Atem ringend, ein quälendes Röcheln. Frank schloss die Arme um Angels Taille, drehte sich mit ihm und rappelte sich dann hoch. Er zog Angels Kopf auf seinen Schoß, strich ihm Strähnen aus dem Gesicht. "Warum musst du dich so quälen, Angel? Gibt es keinen anderen Weg?" Sein Flüstern ging in Angels Keuchen unter. ~~?* Frank warf Seitenblicke zu Angel hinüber, der mit finsterer Miene auf seine Hände starrte. Schließlich hielt er die angespannte Stimmung nicht mehr aus. "Angel, bitte tu das nicht." Angels Kopf schnellte hoch. "Und was soll ich nicht tun?!" In seinem Ton schwang die alte Aggressivität mit, die dankbar jede Provokation zum Anlass nahm, sich zu profilieren. "Die Kruste von den Wunden abzureißen. Es entzündet sich bloß wieder. Und du behältst Narben zurück." "Und wenn schon!! Seit wann bist du Medizinmann, Kleiner?!" Demonstrativ riss Angel mit den Zähnen den Schorf von einer Wunde an den Fingerknöcheln. Blut quoll hervor. Frank würgte leicht, wandte den Kopf ab. "Angel, bitte..." "Du ekelst dich davor, nicht?!" Angel rollte sich von seinem Bett, tänzelte herüber. "Hier, schau mal!" Er hielt Frank eine malträtierte Faust unter die Nase. Frank drehte den Kopf weg, aber Angels Griff in seinen Nacken zwang ihn zu einer Konfrontation mit den Wunden. "Mjamm, lecker, nicht?!" Eine Träne tropfte auf Angels Handrücken. Wie verbrüht ließ er Frank los, kehrte ihm den Rücken zu. "Hör schon auf mit der Heulerei! Du benimmst dich wie ein Kleinkind!" "Angel, was ist mit dir los?" "Pff, mit mir los?! Ich bin's nicht, der hier heult!" "Vielleicht wäre das besser." Angel fuhr auf dem Absatz herum, ballte die Fäuste. "Was hast du gesagt?!" Frank wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, erwiderte dann den flammenden Blick ruhig. "Du hast mich schon verstanden." Angel fauchte zornig. "Und warum sollte ich wohl heulen?! Das bringt doch überhaupt nichts!" "Dann rede mit mir! Ich will dir helfen, Angel!" Angel kehrte Frank wieder den Rücken zu, ließ sich auf sein Bett fallen und starrte an die Decke. "Ach ja?! Und worin sollte wohl deine Hilfe bestehen?" Frank grub die Finger in die Matratze, wippte auf der Bettkante. "Ich könnte dein Rückhalt sein. Wenn du endlich deinem Problem ins Auge siehst." Angel stieß ein bitteres Lachen aus. "Meinem Problem ins Auge sehen?! Oh, entschuldige, aber sie stehen mehr darauf, es mir von hinten zu besorgen. Vielleicht sollte ich das nächste Mal einen Taschenspiegel mitnehmen." "Angel!!" "Was?!!" Frank war aufgesprungen, seine Hände zitterten. "Ich dachte, wir sind Freunde!! Aber du spielst mir noch immer nur etwas vor!!" Angel richtete sich auf. "Du spinnst doch völlig! Leidest du schon unter Verfolgungswahn, oder was?!" "Ich wollte dir helfen!! Aber du betrügst dich ständig nur selbst!! Wieso kannst du nicht wenigstens mit mir ehrlich sein?!" "Ich bin ehrlich!! Und was heißt, ich betrüge mich?! Ich weiß genau, was los ist!! Also red nicht solchen Scheiß!" "Du redest Scheiß!! Alle deine Phrasen, 'wehr dich', 'kämpfe für dich', all dieses Zeug ist doch bloß heiße Luft!!" "Ich kämpfe für mich!! Mit allem, was ich habe!!" Angel stand nun bebend vor Frank, starrte auf ihn herunter, die Fäuste ebenso geballt. "Nein!! Das tust du nicht, kein bisschen!! Und darum will ich dir ja helfen, aber du gibst mir keine Chance!!" "Du mir helfen?! du Mickerling?! Was willst du denn machen, hm?! Mit mir tauschen?!" Frank wurde fahl vor Wut, die großen Augen schwarz. "Ich brauch deine Hilfe nicht, klar?! So eine Hilfe wie bei deiner Mutter, richtig?!! Was, sagtest du noch, ist mit ihr passiert?!" Frank stieß einen hohlen Schmerzlaut aus, dann floh er aus ihrem Zimmer. Angel ließ den Kopf sinken, dann hieb er mit der Faust auf die Schreibtischplatte. Er trottete kraftlos zu seinem Bett hinüber, kramte den Discman hervor. Dann löschte er alle Lichter. ~~?* The final option ( Dörper ) 1995 Die Krupps 4:11 I've been with the incrowd Been on the outside too I've seen lives many faces Seen the high and the low I've been on the crossroad Between heaven or hell Don't need no direction Don't need no one to tell If that's the final option I'm gonna choose it Don't point the gun If you don't wanna use it This is - the final option - choose I challenge the devil For another game Winning or losing It is all the same If that's the final option I'm gonna choose it Don't point the gun If you don't wanna use it This is - the final option - choose I challenge the devil For another game Where every bullet Is having my name If that's the final option I'm gonna choose it Don't point the gun If you don't wanna use it This is - the final option - choose ~~?* Angel stellte sich schlafend, als Frank zum Frühstück ging, kam vorsätzlich zu spät. Um nicht in seiner Nähe sitzen zu müssen. Er schüttete den Kaffee kochend heiß hinunter, verbrühte sich die Zunge. Er begrüßte den Schmerz, die einsetzende Gefühllosigkeit. »Nur noch ein paar Stunden.« ~~?* Er sandte die Signale aus, entsprechend ihren Regeln. Schürte das Feuer, bis es ihn verzehrte. ~~?* Er weiß, was ich vorhabe. Ich kann es in seinem Gesicht lesen. Ob er mich aufhalten wird? Wir haben seit gestern nichts mehr zueinander gesagt. Er wird mir niemals verzeihen, dass ich ihn so enttäusche. Aber ich habe ihn ja gewarnt. Ich bin schmutzig, verdorben, böse. Ich komme nicht dagegen an. Langsam ist mir alles egal. Irgendwie scheint die Zeit anders abzulaufen. Es kommt mir vor, als bewegten wir uns auf den Showdown zu, zwölf Uhr mittags. Oder Armageddon, letzter Kampf zwischen Gut und Böse. Nur, wer von uns nimmt welche Position ein? Aber ich bin bereit. Wie immer. Alles zu riskieren. ~~?* Angel lächelte leer, kaute Kaugummi, malte Strichmännchen in sein Heft. Sein Hemd war nachlässig geknöpft, die obersten beiden Knopflöcher ausgelassen. Er zerraufte seine Haare, senkte die Lider auf Halbmast. »Nur noch eine Gnadenfrist.« Herr von Schöller bereitete die letzte Attacke vor. Er zitierte Frank an die Tafel. Um dort ein Exempel zu statuieren. Angel folgte der Demonstration mit blanker Miene, mahlte weiter auf seinem Kaugummi. Herr von Schöller hatte leichtes Spiel. Niemand hätte diese Aufgaben bewältigen können, vor allem aber nicht unter diesem gehässigen Blick. Und Frank versagte kläglich unter den mitfühlenden Augen seiner Kameraden. Das Urteil: am Nachmittag nacharbeiten unter Aufsicht. Wie alle anderen Schulversager. Stipendium ade!! Herr von Schöller kostete den schalen Triumph aus. Sein meckerndes Lachen beendete das Spiel. ~~?* Angel verließ den Speisesaal nach dem Mittagessen wortlos. Er schenkte Frank keinen Blick, der ihm mit brennenden Augen nachsah. Stetig stieg er die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf. In seinem Kopf herrschte Leere, nur ein Lied dröhnte endlos hinter den undurchdringlichen Augen. Bannzauber, rettendes Schutzschild. Und dann wartete er. ~~?* Er ist gegangen. Endlich. Ich bin schmutzig. Vollkommen, durch und durch. Wie Pech klebt es an mir, erstickt mich. Es ist so armselig. Seine blöden Sprüche, sein Aftershave. Hat sich hübsch für mich gemacht. Er stinkt. Nach Fäulnis. Abstoßend, wenn er die Kontrolle verliert. Jedes Karnickel hat beim Rammeln mehr Würde. Ich bin so müde. Ich weiß nicht, ob ich gewonnen habe. ~~?* Rise up (1997 Die Krupps 3:39, Engler ) rise up- hysteria you have to ask yourself are you ready for this is the faith in yourself or in somebody else rise up- hysteria can you rush faster than the juice in the vein can you stop a bullet when the gun is at your head why don't you ask me -I will tell you why don't you follow me - I will show you would you steal my money just to crack your pain would you pull the trigger even though you're dead all that you dreamed is over - forget the love you sold her rise up- hysteria you disgrace me and you abuse me why don't you leave me - I can't help you because I'm tired, nothing left I feel old, nothing left I want out - had enough I want out- had enough rise up- hysteria you have to ask yourself are you ready for this is the faith in yourself or somebody else you have to ask yourself are you ready for this is the faith in yourself or in somebody else rise up- hysteria ~~?* Ich kenne das Lied auswendig. Ich höre es in voller Lautstärke, lasse es alle anderen Geräusche übertönen. Mein Herz pocht im Gleichtakt. Mein Körper vibriert in diesen Schlägen, Blitze zucken über meine Nervenbahnen. Ich schließe die Augen und forme lautlos die Silben. Jeder Schrei ist mein Schrei. Den Schrei, den ich um jeden Preis der Welt ausstoßen wollte. Und der nicht kam. Ich steigere mich hinein in diese wirbelnden Trommelschläge. Will um mich schlagen. Habe Sehnsucht nach blinder Zerstörungswut. Ich will ihn zerstören. Während die Melodie in meinem Kopf kreischt, sich hysterisch überschlägt, male ich mir aus, was ich mit ihm tue. Es ist immer der gleiche Ablauf. Ein Steinboden, eisig kalt. Ein Himmel ohne Gestirne, ewig finster. Ein blutrotes Wetterleuchten zuckt über den gepeinigten Himmel. Der Horizont ist endlos. Vier Eisenringe sind in den Steinboden getrieben, auf den quadratischen Fliesen klebt Blut. Mein Blut. Schatten führen ihn zwischen sich, die Augen unter einer Kapuze verborgen, gefesselt, ein wimmerndes Bündel Angstschweiß und Panik, das auf Gnade hofft. Aber ich werde nicht gnädig sein. Ich will mich an seinen Qualen berauschen. Rache üben für meine verlorene Seele. Sie binden ihn fest, flach auf den Boden, Arme und Füße so fest mit Stricken auseinander gezurrt, dass sie die Fesseln mit Blut tränken. Dann nehme ich mir einen dieser handlichen Gartenrechen. Ich lasse die Finger über die Stahlzinken gleiten, weide mich an seinem Entsetzen. Ich warte so lange, bis er begreift, was ich tun werde. Dann lächle ich. Und ich ziehe ihm die Kleider vom Leib, zerfetze seine leichenfahle Haut. Reiße dieses faulige Fleisch auseinander in klaffende Abgründe. Dann treibe ich riesige Nägel durch seine Unterarme. Schlag für Schlag. Langsam, genüsslich. Ich lausche seinen heiseren Schreien wie einem Wiegenlied. Wie lange man wohl braucht, bis man Gelenke von Gliedern trennt? Ich lasse mir mein Spielzeug reichen, eine Motorsäge, eingehüllt von Dieselgestank und Öl. Rostige Zähne, schon abgenutzt. Aber dieses grollende Geräusch, die Vibrationen an meinen Händen! Ich jage die alten Haifischzähne in seine Knochen, empfange den Splitterregen aus weißen Knochen, blutigem Fleisch und Hanf. Er sprenkelt mein Gesicht wie Sommersprossen. Hmmm, meine Zunge fährt über meine Lippen. Ich genieße den Gestank des angesengten Fleisches, wate durch schwarzes Blut, das das Wetterleuchten widerspiegelt. Und schließlich werde ich mit einer Handsichel seinen Torso aufschlitzen. Von der Kehle hinunter bis zum Bauch. Wie man Fische ausnimmt. Ich werde in seinen Eingeweiden wühlen, die bläulichen Därme an die Oberfläche ziehen, sein Innerstes zu oberst kehren. Und dann stoße ich meine Arme bis zu den Ellenbogen in seinen stinkenden Kadaver und reiße ihm sein schwarzes Herz heraus. Ob es wohl noch schlägt? Wahrscheinlich ist es von Pech überzogen, sodass ich es gut abfackeln kann. Dann bade ich in seinem verseuchten Blut, dickflüssig, klebrig, nachtschwarz. Und ich lache. Ich werfe den Kopf in den Nacken und lache in diesen sternenlosen Himmel hinein. Bis meine Stimme sich überschlägt. Hysterisches Kreischen. Erschöpfung lässt mich in die Finsternis meiner Albträume sinken, wieder wehrlos der Vergangenheit ausgeliefert. ~~?* Angel schreckte aus seinem Halbschlaf hoch, als Frank die Tür hinter sich schloss. Sie tauschten einen kurzen Blick aus, dann drehte Angel den Kopf weg. Frank trat an Angels Schreibtisch, zog die Zigaretten hervor, zündete eine an. Dann schob er sie Angel zwischen die Lippen. Angel setzte sich langsam auf. Frank hängte sein Sakko sorgfältig auf die Rückenlehne seines Stuhls. "Wenn du so weitermachen möchtest, dann sag es mir jetzt. Denn dann bitte ich um ein anderes Zimmer. Oder ich gehe in ein Heim." "Und du hast gesagt, du wolltest mir helfen! Haust einfach ab!" Frank fuhr herum, in seinen Augen blitzten Tränen. "Einfach?! Einfach?!! Du denkst, das ist einfach?!" Angel balancierte die Zigarette auf den aufgebissenen Lippen, wollte mit verachtenden Worten strafen. "Abhauen ist immer einfach." Frank keuchte, kämpfte um Beherrschung. "Du... du hast überhaupt keine Ahnung, wovon du sprichst!! Hast du eigentlich eine Vorstellung, wie das ist, wenn man mit einem Junkie zusammenlebt?! Wie man um jedes bisschen Selbstachtung betteln muss?! Wie viel Enttäuschungen man einstecken muss?! Wie hart es ist, bei der Selbstzerstörung von Menschen zuzusehen, an denen man hängt?!" Seine Stimme hatte sich zu einem Zischen gewandelt, Stahl schwang vibrierend unter dem Schmerz. Angel zuckte zusammen. Seine lässige Geste wirkte falsch und aufgesetzt. "Ich kann nichts dafür, dass deine Mutter..." "Ich rede von dir!!! Nicht von meiner Mutter!!" Angel würgte, hustete, die Zigarette landete auf dem Fußboden. Frank sammelte sie auf, feuerte sie aus der Dachluke. "Ich... ich bin kein Junkie!" Frank packte Angel an den Schultern, stieß ihn wieder flach auf die Matratze, seine Miene entschlossen und ruhig. "Du bist ein Junkie. Du brauchst diesen Kick, diesen Thrill. Das Spiel mit von Schöller dreht sich doch darum, oder nicht? Und du hältst es ohne nicht aus. Ein Spiel mit den eigenen Grenzen." Angel starrte fassungslos in die braunen Augen. "Ich kann dir helfen. Ich will dir helfen. Aber ohne dich geht das nicht. Wenn du also lieber so weitermachen möchtest, dann sag es mir jetzt." "Damit du abhauen kannst!" Angel zischte, aber es klang nur noch ängstlich, gequält, eine Form wahrend, an die sie beide nicht mehr glaubten. Frank blieb still sitzen, sein Gesicht unbewegt. "Ja. Ich kann nicht noch einmal durch die Hölle gehen und dann alles verlieren. Das geht über meine Kräfte." Furchtsam-trotzig fixierte Angel die Wand, nervöses Blinzeln aus den Augenwinkeln. "Ha, und du willst mir helfen?! Wenn's dir jetzt schon zu viel ist?!" Frank packte ihn an den Schultern, presste seine Antwort zwischen den Zähnen hervor. "Du hast keine Vorstellung davon, wie hart es ist. Und dieses Mal weiß ich, was mich erwartet. Ich kenne jeden Schlag, der mich treffen wird. Ich kenne die Schmerzen. Und das macht es nur noch härter. Du solltest das eigentlich wissen, oder wird es bei jedem Mal leichter, erträglicher?!" Angel schüttelte Frank wutentbrannt ab. "Es ist jedes Mal die Hölle!!" "Warum hörst du dann nicht auf? Gefällt es dir?!" "Nein!! Niemals!!" Frank ließ Angels Blick nicht los. "Warum hörst du dann nicht auf?" Angel drehte gepeinigt den Kopf weg. "Hör auf, mich so einen Scheiß zu fragen!" "Warum hörst DU nicht auf?!" Angel keuchte, trieb die Zähne in die Lippen. Sein Körper spannte sich bis zur Unerträglichkeit, dann gab er auf. "Ich kann nicht." Angels Schluchzen begann mit einem erstickten Schrei, dann folgte ein heftiger Weinkrampf. Hilfe suchend klammerte er sich an Frank, grub die Finger in das Hemd. Frank blickte langsam auf den zuckenden, blonden Schopf an seiner Brust. Behutsam legte er die Arme auf Angels nackten Rücken. "Ich weiß. Ich weiß. Ich bin hier." ~?* Angel saß auf der Bank im Schulhof trotz des regnerischen Wetters. Er hatte sich zurückgelehnt, die Hände auf das klamme Holz aufgestützt und betrachtete den Himmel. Dunkel Wolken drängten sich dort über einen anthrazitfarbenen Himmel, in der Luft noch der Geruch nach nassem Asphalt. Angel atmete tief durch, ließ den eisigen Wind seine Haare verwirbeln. Ebenso wie am Himmel herrschte in seinem Kopf ein wildes Chaos. Er spürte die Spannung in seinem Körper, wie eine Feder, die nur auf den auslösenden Moment wartete. »Er hat recht. Ich bin süchtig nach diesem Thrill.« Angel schloss die Augen und streckte das Gesicht dem Regen entgegen. Die Tropfen perlten wie Tränen über sein Gesicht. ~~?* Frank sah auf, als Angel klatschnass ihr Zimmer betrat, eine feuchte Spur auf dem Boden hinterlassend. Dann sprang er auf. "Ich hole dir ein Handtuch." Angel wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht, folgte seinem Verschwinden melancholisch. Nur Augenblicke später stand Frank wieder vor ihm, reichte ihm ein Handtuch. Angel griff geistesabwesend danach, ließ dann den Arm wieder sinken und starrte apathisch auf seine Füße. Er konnte vage Franks abwartenden Blick wahrnehmen, aber er hatte nicht die Kraft, einen weiteren Gedanken zu verfolgen. Das Eis in seinem Kopf verhinderte es. Frank betrachtete Angels nasse Gestalt, die vom eisigen Regen rot gepeitschten Wangen und Hände. Behutsam nahm er das Handtuch aus den gefühllosen Fingern, frottierte dann Angels Kopf. Mit der Geduld eines Engels entkleidete er Angel danach, der seinen Anweisungen wie eine Gliederpuppe folgte. Frank trocknete den nackten Jungen vor sich ab, steckte ihn in einen Schlafanzug und schob ihn unter die Bettdecke. Die nassen Kleider stapelte er auf einen feuchten Haufen. Vorsichtig strich er Angel über die Stirn. "Du musst immer an die Grenze gehen, nicht? Wir sprechen miteinander, wenn du dich ausgeschlafen hast." Er küsste Angel sanft auf die kalte Stirn, zog dann die Decke fürsorglich bis unter dessen Kinn. Mit dem Berg nasser Wäsche machte er sich auf zum Waschkeller. ~~?* Ich fühle mich, als sei ich den Marathon gelaufen. Total erschöpft. Aber mir ist herrlich warm. Obwohl ich geschlafen habe, verlässt mich dieses taube Gefühl nicht. So träge. Ich habe keine Lust, keinen Drang, mich zu bewegen. Es ist so still. Ich kann das Blut in meinen Ohren rauschen hören. Aber wenn ich die Augen schließe, ist es mit dieser Ruhe vorbei. Da zucken wilde Blitze, bilden ein riesiges, verschlungenes Knäuel. Und ich weiß, was das bedeutet. Es hält nicht lange vor, die Ablenkung durch körperliche Erschöpfung. Meine Sehnen spannen sich schon wieder. Bald werden die ersten nervösen Vorboten durch meinen Körper jagen, neue Feuer entzünden. Mich fragen, wann das Spiel wieder beginnt. Ich bin ein beschissener Thrill-Junkie! ~~?* Frank lächelte Herrn Karlsson beschwichtigend zu. "Aber nein, er hat nur eine leichte Erkältung, ganz sicher. Ich bringe ihm etwas zu essen hoch, und dann ist er wieder in Ordnung." Herr Karlsson zog eine buschige Augenbraue hoch. "Hoffe doch, dass solche Unpässlichkeiten nicht zur Gewohnheit werden." Frank schenkte ihm sein entwaffnendes Lächeln. "Ich bin sicher, dass er in Zukunft besser auf sich achten wird." Der Rektor klatsche unvermittelt in die breiten Hände. "Nun gut, Bayer, dann mal los." Frank entwich erleichtert ins Treppenhaus. In ihrem Zimmer stellte er das Tablett mit den Speisen ab, die er für Angel mitgenommen hatte. "Angel?" Angel starrte an die Zimmerdecke. "Ich habe hier etwas vom Abendessen. Pfannkuchen mit Apfelkompott. Wenn du es gleich isst, dann ist es noch warm." "Ich habe keinen Hunger." Frank zog die Augenbrauen zusammen. "Und ob du Hunger hast. Der Appetit kommt beim Essen." Angel fuhr hoch, die Katzenaugen funkelten in stürmischem Grün. "Woher willst du wissen, ob ich Hunger habe?! Ich will nichts essen, basta!" Frank ließ sich auf seinem Bett nieder, sah Angel direkt an. "Du suchst Streit." Eine Feststellung, ruhig, unbeeindruckt. Angel knurrte vernehmlich. "Was dir wohl nie passieren würde?!" Frank verschränkte die Hände ineinander auf seinem Schoß. "Ich mag keinen Streit." "Oh ja, richtig, du bist ja ein richtig mustergültiger Mensch. Zurückhaltend, immer freundlich, hilfsbereit. Der Traum jeder Schwiegermutter!" Angels Stimme troff vor Sarkasmus und Gift. "Denkst du das wirklich?" Franks unheimliche Ruhe ließ Angels Wutausbrüche kindisch wirken. Angel sprang wütend auf, die Decke schleuderte unbeachtet gegen die Wand. "Was sollte ich denn sonst denken?!" "Vielleicht solltest du mal genauer hinsehen." Angel überwand rasch den Abstand zwischen ihnen, baute sich direkt vor Frank auf, die Hände demonstrativ in die Hüften gestemmt. "Und?!" Frank legte den Kopf in den Nacken und begegnete dem flammenden Blick gelassen. "Setz du deine Masken ab, und ich setze meine Masken ab. Sei ehrlich zu mir." Angel schnaubte wütend, drehte abrupt den Kopf weg. "Du weißt längst alles über mich!" Frank legte den Kopf schief. "Warum kannst du nicht aufhören, dich zu quälen?" Die ausbreitende Stille wog schwer. "Was... was redest du denn da... ich quäle mich nicht!!" Frank schüttelte leicht den Kopf. "Und du belügst dich selbst." Angel fuhr wütend herum, in seinem Gesicht kämpften Wut und Angst vor Entdeckung miteinander. "Sei still!! Halt die Klappe!!" Er funkelte Frank zornbebend an. "Angel, wem willst du vertrauen, wenn nicht mir?" Angel erstarrte, als hätte er einen Schlag abbekommen, dann packte er Frank bei den Oberarmen und schüttelte ihn heftig. "Mir reicht's!! Mir reicht deine ganze verdammte Selbstlosigkeit! Du bist ja so gut, dass ich kotzen könnte!!" Franks Zähne schlugen laut aufeinander, als Angel völlig enthemmt seine Kräfte einsetzte. Schließlich stöhnte er vor Schmerz laut auf. Angel stockte in seiner Raserei, ließ sofort von Frank ab, der wie abgehackt auf die Seite sackte und die Finger in die Matratze krallte. "Scheiße!" Er kniete vor Franks Bett nieder, streichelte erschrocken über Franks Wange. "Kleiner, es tut mir leid! Bitte, sag was!" Frank keuchte benommen. "Sei ehrlich zu mir, Angel." Angel sackte auf die Fersen zurück. Frank streckte eine Hand nach ihm aus. Zögernd ergriff Angel sie. "Ich bin nicht selbstlos, Angel." Angel zog eine Grimasse. "Wer's glaubt." Frank richtete sich auf, die Augenbrauen verärgert zusammengezogen. "Langsam reicht mir es auch!! Denkst du vielleicht, es macht mir Spaß, immer so vernünftig zu sein?! Denkst du, ich höre die ganzen blöden Sprüche nicht? 'Der Freak, so erwachsen, regt sich nie auf'?! Ich hab manchmal so die Schnauze voll davon, immer stark sein zu müssen!!" Erschöpft von diesem Wutausbruch senkte Frank den Kopf und stützte die Hände schwer auf die Matratze, während er versuchte, seinen Atem wieder zu beruhigen. Angel zog beschämt den Kopf zwischen die Schultern. "Ich..." "Du hast keine Ahnung!!" Erschrocken wich er zurück. Frank rollte sich auf die Seite und seufzte leise. "Aber ist ja auch kein Wunder, wo du immer so mit dir selbst beschäftigt bist." Angel erhob sich, um dann auf Franks Bett Platz zu nehmen. Zögernd streichelte er über Franks Nacken. "Das...tut mir leid. Denkst du... wir können von vorne anfangen?" Zu seiner Überraschung hörte er Frank glucksen. "Noch mal Rosalie in der Hose und Ratte im Pappgewand?! Nein, Angel, das muss echt nicht sein!" Angel verpasste Frank einen milden Klaps. "So war das nicht gemeint, du Klugscheißer!" Frank wandte sich zu ihm um. Nun war er wieder ernst, die dunklen Augen glühten. "Ich wiederhole mein Angebot: ich helfe dir, von dem ganzen Mist loszukommen. Dafür müssen wir aber beide ehrlich miteinander sein." Angel erwiderte den beschwörenden Blick tapfer. "Und was hast du davon?" Frank lächelte traurig. "Das sage ich dir, wenn du mein Angebot annimmst." Er streckte Angel die Hand hin. Dieser griff nach einem Augenblick zu. Sie lächelten einander unsicher an. "Und ... und jetzt?" "Jetzt?" Frank rieb sich über die Augen. "Du machst das Licht aus, kommst zu mir ins Bett und wir reden miteinander." Angel knipste das Licht aus und huschte unbehaglich durch die Dunkelheit zu Frank unter die Decke. "Ich mag's nicht so finster." Frank nahm unter der Decke seine Hand. "Ich weiß. Aber du kannst dich nicht ewig vor der Dunkelheit fürchten." Angel widersprach. "Nicht die Dunkelheit macht mir Angst, es ist... das, was geschehen ist." "Und was du weiter zulässt." Angel knurrte leise, ausweichend, beschämt. "Das ist was ganz anderes." "Wieso? Erklär mir den Unterschied!" Angel zappelte unruhig herum. "Jetzt bestimme ich, wie es läuft! Ich lass sie drum betteln und..." "Das ist Quark, Angel." Angel fuhr neben Frank in die Höhe. "Warum ist es dir so wichtig, sie zu demütigen? Und dann auf diese Weise?" Angel wollte losbrüllen, hielt dann aber inne. Puzzelte zusammenhangslos eine Rechtfertigung zusammen. "Ich... ich habe Macht! Verstehst du, sie..." Frank zog ihn am Rückenteil seines Schlafanzugoberteils wieder auf die Matratze. "Angel, hast du es jemals gewollt?" Angel drehte ihm heftig den Rücken zu, die Bettfedern ächzten. "Was denkst du denn?! Natürlich nicht!!" "Warum lässt du dich dann vergewaltigen?" Angel zuckte heftig, schrumpfte in sich zusammen. "Und hör mit diesem Macht-Mist auf, das überzeugt niemanden mehr. Sag mir einfach, was dir durch den Kopf geht." Angel grub die Finger in die Decke. "Das... das ergibt keinen Sinn. Und außerdem...will ich nicht, dass jemand..." "...diese Seite von dir kennt? Angel, deine Wahrheit gegen meine Wahrheit." Angel rollte sich zusammen, Knie unter das Kinn. Dann flüsterte er stockend in die Finsternis. "Ich... werde nach einer Weile immer unruhig. Ich weiß nicht genau, aber... es ist wie ein Spiel. Man gibt Zeichen. Ich reize sie, bis sie es nicht mehr aushalten. Ich glaube, ich brauche diesen Thrill. Diese Spannung, wann sie nachgeben." Angel drehte sich wieder zu Frank herum, entfaltete sich zögernd. "Manchmal... manchmal hasse ich meinen Körper so sehr, dass ich mir am Liebsten die Haut abziehen würde! Ich meine, wenn ich hässlich wäre, würde mir so was doch nicht passieren, oder?! Und dann will ich diesen Körper bestrafen." Angel lachte leise, aber es klang eher wie ein Aufschluchzen. "Irre, nicht?! Ich rede von meinem Körper, als wäre er irgendein fremdes Ding. Aber manchmal komme ich mir wirklich wie zwei getrennte Teile vor." Angel rückte näher an Frank heran. "Beide Teile sind verseucht. Vergiftet. Eklig." Frank schlang die Arme um Angel, suchte sein Gesicht in der Dunkelheit. "Du bist nicht eklig, hörst du?! Du redest dir das bloß ein!" Angel schnaubte leise ungläubig. Frank nahm die Hände hoch und legte sie fest um Angels Gesicht. "Hör mal, denkst du, ich steh auf eklige Sachen?! Bestimmt nicht!! Also, wenn ich dich mag, kannst du gar nicht eklig sein!!" Angel kicherte verblüfft über Franks scheinbar kindliche Logik, die mit solcher Eindringlichkeit Eingang in seine Seele finden sollte. Er küsste Frank sanft auf den Mund. "Du bist süß." Frank lachte unterdrückt, neckend. "Das ist der Apfelkompott, den du nicht essen wolltest." Aber dann schwang seine Stimme um, wurde ernst. "Du musst dich selbst akzeptieren lernen, Angel. Gib dir eine Chance." Angel grunzte skeptisch. "Du klingst wie einer dieser Selbsthilfe-Ratgeber, Frankie!" Frank umfasste Angels Hände. "Zieh das nicht ins Lächerliche, Angel. Denk mal einen Augenblick darüber nach." Angel lehnte die Stirn an Franks. "Warum nimmst du das alles auf dich, Frankie?" Frank stupste Angel mit seiner Nase an. "Jetzt kommt meine Wahrheit, oh weia." Er räusperte sich. "Ich bin kein Schwiegermutter-Liebling, oder so. Es ist so, dass ich dich sehr gern hab." Frank stockte. "Ich... ich habe außer dir niemanden." Angel hauchte einen Kuss auf die vorwitzige Nasenspitze. "Du kannst neue Freunde finden." Frank seufzte leise, ein wenig tadelnd. "Wie viele Freunde habe ich denn hier gefunden?!" Angel murmelte etwas Beschämtes. "Weißt du, Angel, ich war immer nur mit meiner Mama zusammen. Ich hatte niemals irgendwelche Freunde. Ich glaube, ich kann mich immer nur auf eine Person konzentrieren. Und dann... dann bemuttere ich sie." Frank kroch noch näher an Angel heran und vergrub sein Gesicht in Angels Halsbeuge. "Außerdem... was sollte ich ganz allein anfangen?! Nur für mich?!" Angel erwiderte Franks intime Umarmung liebevoll. "War ganz schön gemein von mir, immer alles auf dich abzuladen. Entschuldige, Frankie." Angel küsste Frank erneut auf die Lippen, spielerisch. "Was tun wir jetzt?" Frank fixierte Angels Blick trotz der Dunkelheit. "Du wirst mit mir spielen." Angel brummte verwirrt, aber Frank hielt ihm den Mund zu. "Es ist mein Ernst. Du denkst, du brauchst diesen Nervenkitzel, also wirst du ihn auch bekommen. WIR werden das Spiel miteinander spielen!" "Sorry, Frankie, aber ich kapier's immer noch nicht..." "Ich erklär dir die Regeln: wir stellen einander abwechselnd Aufgaben. Diese Aufgaben müssen persönliche Herausforderungen sein, etwas, wozu man Mut braucht, um es zu tun. Natürlich ist körperliche Gefahr ausgeschlossen." "Und wenn man es nicht packt?" Frank zischte eisig in die Dunkelheit. "Dann verlieren wir beide, im Gegensatz zu deinem Spiel. Da verlierst immer nur du." Angel schnappte hörbar nach Luft. "Eine Niederlage bedeutet nämlich, dass beide sich gegenseitig falsch eingeschätzt haben." Frank fuhr sachlich und ungerührt von Angels Reaktion fort. "Nun, was ist?! Bist du dabei?! Hast du den Mut, mir zu vertrauen?!" "Klar! Ich bin dabei!!" Angel ergriff in der Dunkelheit energisch Franks Hand, um sie fest zu drücken. "Also gut", Franks Stimme war wieder ein sanftes Schnurren, "dann ist es abgemacht. Du stellst die erste Aufgabe." Angel zögerte, grübelte. "Mal sehen, persönliche Überwindung?!" Dann lachte er leise. "Frankie, was hältst du vom Schwimmen?" Frank sog heftig Luft ein, versteifte sich merklich. "Ich... bin bereit, mit dir schwimmen zu lernen." Angel beugte sich über ihn und küsste ihn sanft, entschuldigend. "Diesmal lass ich dich nicht aus den Augen, versprochen! Ich bin sicher, dass du es packst, Frankie!" Frank schlang die Arme um Angels Nacken und bettete dessen Gesicht auf seine Brust. "Ich vertraue dir, Angel." Das Spiel begann. ~~?* Kapitel 3 Frank stand zögernd auf den nassen Stufen in das Schwimmbecken. Dann ging ein entschlossener Ruck durch seine schmächtige Gestalt. Langsam stieg er die Stufen hinab, wanderte so weit in das Wasser hinein, wie er konnte, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Angel folgte ihm aufmerksam, ein Schwimmbrett unter den Arm geklemmt. Um diese Uhrzeit war normalerweise viel Betrieb, aber der stürmische Frühlingsregen hielt wohl viele in der gemütlichen Stube daheim. Sie hatten die Becken fast für sich allein. Nur einige Rentner drehten die täglichen Runden, diszipliniert, gleichförmig. Angel stellte sich vor Frank, lächelte ihm aufmunternd zu. "Okay, hier haben wir auch das Brett. Zuerst hältst du dich einfach daran fest und strampelst mit den Beinen. Dabei musst du darauf achten, möglichst flach im Wasser zu liegen." Er schleuderte das Brett vor sich ins Wasser, umfasste es mit beiden Händen und stieß sich schwungvoll vom Boden ab. Er drehte eine Runde, gab dann das Brett frei. "Und jetzt du!" Frank biss sich auf die Lippen, Falten der Konzentration bildeten sich auf seiner Stirn. Das Brett war gerade ein paar Zentimeter außerhalb seiner Reichweite. Wenn er es fassen wollte, musste er den sicheren Boden verlassen. "Komm!" Angel breitete einladend die Arme aus. Frank atmete tief durch. Er warf Angel einen scharfen Blick zu. Dann sprang er. ~~?* Ich kann sehen, dass er Angst hat. Sie flackert in seinen Augen, lässt seine Hände zittern. Bitte vertrau mir!! Ich möchte es am Liebsten herausschreien, aber das würde alles kaputt machen. Ich weiß, er wird den letzten Schritt wagen, alle Hoffnung in mich setzen. Er bewegt sich nach seinem eigenen Rhythmus, in seiner ganz eigenen Zeit. Und jetzt ist er gespannt wie eine Feder. Für einen Augenblick ist er da, dieser Blick voller Stille. Und wie immer hält er die Zeit an. Ich kann fühlen, wie die Sekunden zähflüssig werden. Seine Ruhe breitet sich aus wie eine Wellenbewegung, sie erfasst nach und nach alles in seiner Umgebung. Jetzt steht er ganz still, gelassen. Und ich spüre meinen Herzschlag sich verlangsamen, versinke in einer Trance. Dieses Gefühl. So friedlich und voller Zuversicht. Ich vertraue dir. ~~?* Frank stieß sich schwungvoll ab, beide Hände umfassten sicher das Kunststoffbrett. Dann begann er, mit den Beinen Wasser zu treten. "Streck dich!!" Angel paddelte neben ihm her, geschmeidig wie ein Delphin. Frank versuchte, sich noch länger zu machen, die Anstrengung ließ die Muskeln schmerzen. Nach vier Runden hingen seine Beine lahm im Wasser. "Schon müde?" Angel war in zwei Zügen bei ihm, schob einen Arm unter Franks Arme und zog ihn vertraulich an sich. "Machen wir eine Pause!" Angel ließ sich auf den Rücken gleiten, einen Arm noch immer um Franks Brust gelegt. Mit Leichtigkeit zog er sie mit einem Armschwung und kräftigen Beinstößen an den Beckenrand. Frank betrachtete versonnen die Decke, während er so ohne eigene Anstrengung durch das Wasser glitt. Angel stoppte und hängte Frank wie ein Klammeräffchen an die Überlaufrinne am Beckenrand. "Na, wie gefällt es dir bis jetzt?" Erwartungsvoll strich er sich lange Strähnen aus dem Gesicht. Frank lächelte verlegen. "Nett, aber so ermüdend. Ich mache wohl irgendetwas falsch." Angel tauchte kurz neben ihm ab. Seine Finger huschten wie Spinnenbeine eilig über Franks Körper, als er sich langsam an dessen Leib wieder an die Oberfläche tastete. Frank keuchte, lief rosig an. Angel grinste, schüttelte sich wild. Die nassen Strähnen flogen durch die Luft, versprühten Tropfen. "Du bist zu verkrampft, das ist es. Du strengst dich zu sehr an, es richtig zu machen. Du kannst ruhig etwas lockerer sein, ich bin immer bei dir." Damit rückte er intim nahe an Frank heran, die Nasenspitzen nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt. "Nächster Versuch?" Frank nickte eilig, blinzelte Wasser aus den Augen. Er folgte Angel, entschlossen, eine ebensolche Grazie zu erreichen, mit den kleinen Wellen zu schwimmen. ~~?* "Angel?!" Ein kurzer Japser, Frank paddelte wild auf der Stelle. "Kleiner?" Angel war direkt vor ihm, tauchte unerwartet aus dem Wasser hoch. Die grünen Augen hatten einen leicht roten Schimmer vom Chlorwasser. "Ich... ich bin müde." Angel antwortete mit einem Schmunzeln. "Huckepack?" Franks fragender Gesichtsausdruck sprach Bände. Angel griff einfach eine Hand und zog Frank geschickt an sich heran, kehrte ihm den Rücken zu. "Leg die Arme um meinen Hals. Mal sehen, ob ich uns beide bis zum Rand schleppen kann?!" Und schon bewegte er sich ruhig auf den Überlauf zu, gleichmäßig wie ein Uhrwerk. Er genoss die Wärme, die Franks Körper an seinem Rücken ausstrahlte. Aber es war nicht nur eine körperliche Wärme, die ihm Auftrieb gab, auch das Vertrauen, das Frank in ihn setzte. Sie erreichten den Überlauf und klammerten sich fest. Angel suchte Franks Blick, der sich über die Augen rieb. "Tut es weh?" Frank ließ eilig die Hand sinken, grinste verlegen. "Es brennt. Ich weiß, Reiben macht es noch schlimmer, aber..." Er zuckte leicht mit den Schultern. Angel lächelte und ließ den Überlauf los, schlang die Arme um Franks Hals. "So, jetzt trägst du die ganze Verantwortung." Frank umklammerte den Überlauf fester. "Was hast du vor, Angel?" Angel fuhr sich langsam mit der Zunge über die Lippen. Seine Augen waren fest auf Franks bläulich schimmernde Lippen gerichtet. "Mund-zu-Mund-Wiederbelebung üben", flüsterte er heiser. ~~?* "Die sahen wirklich sauer aus." Franks besorgter Blick förderte auf Angels Gesicht ein Schmunzeln zutage. "Das war blanker Neid. Denk nicht mehr dran." Beschwingt zog er Frank am Ärmel hinter sich her zu einem Kiosk. "Halt mal einen Moment." Frank rieb sich verstohlen die Augen, während er auch noch Angels Sporttasche über der Schulter balancierte. "Nicht!! Du siehst schon aus wie ein Karnickel!" Ertappt fiel Franks Hand herunter. "Hier! Schnabel auf!" Angel stopfte ihm ohne viel Federlesens etwas Grünes in den Mund. Sofort sonderte die gummiartige Masse einen durchdringend säuerlichen Geschmack ab. "Krokodilszungen! Gut, hm?" Angel entlastete Frank von seiner Tasche, was diesem wieder eine aufrechte Haltung bescherte. "Heißen die Dinger nicht 'Saure Gurken'?" Angel zerrte mit einer Grimasse am anderen Ende des Gummis, der aus seinem Mundwinkel baumelte. "Mir egal! Wir haben die Dinger immer Krokodilszungen genannt." Eindringlich malmte er auf der Krokodilszunge herum. "Ist gut gegen den Chlorgeschmack." Frank nickte zustimmend, er hatte den Mund voll. "Bäh!" Angel streckte ihm die Zunge raus, grün gefärbt. "Cool, was? Passt zu meinen Augen!" Stolz wie ein Gockel ließ er die Zunge kreisen, verdrehte die grünen Katzenaugen. Frank kicherte und streckte ihm ebenfalls übermütig die Zunge entgegen. Angel lachte laut und nahm Franks Hand. "Wir müssen uns ein bisschen beeilen, sonst verpassen wir die Sperrstunde!" Zügig schritt er aus, Frank an der Hand. Frank rückte näher heran, suchte Angels Blick. Angel hatte ein kampflustiges Lächeln aufgesetzt, das niemand für freundlich halten konnte. "Ich weiß. Sie glotzen. Sollen sie doch. Vergiss sie!" Frank kaute auf den traurigen Resten einer Krokodilszunge herum. "Ich bin abschätzige Blicke gewöhnt, Angel. Eigentlich wollte ich dir nur Danke sagen." Angel wandte überrascht den Kopf herum. Frank zwinkerte verschmitzt, bremste Angels Schritt. Dann legte er geschwind eine Hand in Angels Nacken und stellte sich auf die Zehenspitzen. Der Rest Krokodilszunge wechselte den Besitzer. Angel blinzelte überrascht, ließ sich nun von Frank ziehen. "Du bist wirklich nicht zu durchschauen, Frankie." Frank lachte leise, amüsiert. "Und ich dachte, du liebst Herausforderungen?!" Angel knurrte und jagte Frank die letzten Meter im Laufschritt zum Schultor. ~~?* Frank klappte sorgsam seinen Block zu, glättete die Ecken des Papiers. Dann drehte er sich zu Angel herum, der bäuchlings auf seinem Bett lag und mit den nackten Füßen rhythmisch auf die Matratze klopfte. Lautlos sang er den Text mit. Frank schmunzelte, dann glühten seine Augen abgründig. Er erhob sich und schlich sich an Angel heran. Mit einer eleganten Rolle setzte er über ihn hinweg und erschreckte ihn. "Frankie!! Verdammt, ich könnte nen Herzkasper kriegen!" Angel schleuderte die Kopfhörer samt Discman neben das Bett und begann, Frank mit spitzen Fingern zu attackieren. "Man schleicht sich nicht an Leute heran, die abgelenkt sind!!" Frank wand sich kichernd unter ihm, versuchte vergeblich, die flinken Finger abzuwehren. "Ich habe deine Aufgabe." Angel stellte augenblicklich das Kitzeln ein. Er strich sich Haare hinter die Ohren. "Lass hören!" Frank musterte Angel prüfend. "Nächste Woche ist Valentinstag, Angel." Angel senkte den Blick, fuhr alle Barrieren hoch. "Ach ja." "Jemand erwartet sicher von dir ein Geschenk, nicht?" Angel erhob sich vom Bett und wanderte unruhig im Zimmer auf und ab. "Wie kommst du darauf?" Frank stützte den Kopf auf eine Hand, selbstsicher. "Es sind schon zwei Wochen seit dem letzten Mal her." Angel erstarrte, die grünen Augen trübten sich. "Meine Aufgabe für dich lautet: kein Spiel mit ihm. Kein Zeichen, gar nichts. Sei gleichgültig." Angel bog nervös seine Finger hin und her, nahm seine unruhige Wanderung durch das Zimmer wieder auf. "Das... das ist gar nicht so einfach. Was soll ich machen, wenn er direkt wird?" Frank blies gelassen ein paar verirrte Strähnen aus der Stirn. "Ist er jemals direkt geworden?! Kann ich mir nicht vorstellen. Ohne deine Initiative wird er sich nicht trauen." Angel wandte sich wieder Frank zu, wollte Stärke demonstrieren. "Also gut, ich versuch's." "Tsktsk, Angel! Tun oder nicht tun. Versuchen gibt es nicht, sagt Yoda!" Angel zog eine Grimasse, sackte neben Frank auf sein Bett. "Irgendwelche Vorschläge, wie ich mich ablenken soll?" Frank zog sich an Angels Schultern in die Höhe, stand auf und nahm ein Buch aus seinem Bücherstapel. "Hier. Schach!" Angels Augenbraue wanderte nach oben. "Was soll ich damit?" Frank drückte ihm das Buch in die Hände. "Lies es! Für einen Mathe-Freak wie dich sind die Aufgaben sicher eine Herausforderung!" Angel beäugte das Inhaltsverzeichnis zweifelnd, legte das Buch aber nicht achtlos auf die Seite. Frank rollte sich wieder hinter ihn in das Bett. "Vertrau mir, Angel. Du schaffst das locker!" ~~?* Die nächsten Tage bemerkten die Anderen ein ungewohntes Verhalten bei Angel. In jeder freien Minute wälzte er ein Buch und baute ein Reisespiel mit Schachfiguren vor sich auf. Er tauchte so in diese Welt aus Taktiken ab, dass er die üblichen Scherze vergaß, seine Hausaufgaben nur im Eilverfahren abwickelte und ansonsten selbst bei den Mahlzeiten abgelenkt war. Frank freute sich diebisch. Da würde jemand aber eine unangenehme Überraschung erleben. ~~?* Angel lag bäuchlings auf seinem Bett, mit konzentrierter Miene über sein Schachspiel gebeugt. Frank lächelte, setzte sich vorsichtig neben ihn. Sanft blies er auf den gespannten Nacken. "Na, wie gefällt dir das Buch?" "Hmm? Hast du was zu mir gesagt?" Frank grinste und umklammerte spielerisch mit beiden Händen Angels Hals. "Nie hörst du mir zu!! Ich hätte mir einen Hund anschaffen sollen!!" Angel stimmte freimütig in sein Lachen ein und schob die Figuren beiseite. "Okay, was hast du gefragt?" Frank zeichnete provozierend mit dem Finger Figuren auf Angels T-Shirt. "Das Buch scheint es dir angetan zu haben?!" Angel grinste verschämt, fing Franks Hand ein. "Irgendwie... macht es süchtig." Frank hob den Blick und funkelte Angel an. "Heute ist Valentinstag, Angel." Angel blinzelte verständnislos, dann verlor sein Gesicht alle Farbe. "Oh Scheiße!" Frank grinste genüsslich. "So würde ich das nicht ausdrücken, aber es trifft den Kern schon ziemlich gut. Du hast bestanden." Angel sackte geschlagen auf den Rücken und starrte an die Zimmerdecke. "Ich... ich hab das total vergessen." "Dachte ich mir. Darum habe ich auch eine Belohnung für dich." Angel warf ihm einen überraschten Blick zu. "Einen Orden!" "Einen Orden?!" Frank griente, wanderte zu seinem Schreibtisch herüber und schnappte sich ein Mäppchen mit Stiften. "Ich male dir einen Orden auf die Brust! Für Verdienste an den Mitmenschen!" Angel setzte sich völlig verwirrt auf. "Wie?!" Frank schob ihm sanft das T-Shirt über den Kopf. "Hinlegen!" Dann grinste er verschmitzt. "Ich hab schon vermutet, dass du es gar nicht bemerkt hast. Aber von Schöller war durch deine Geistesabwesenheit so perplex, dass er mehrfach vergessen hat, uns Hausaufgaben aufzugeben!" Ein verblüfftes Grinsen verwandelte Angels Gesicht. "Du bist wirklich ganz schön gerissen, Frankie! Ich bin froh, dass du auf meiner Seite stehst!" Frank lächelte zufrieden und malte mit der freien Hand die Umrisse des Ordens auf Angels Haut, direkt neben das Efeublatt. "Ich habe das Schachbuch vor ein paar Jahren verschlungen. Man lernt eine Menge, nicht wahr?" Angel nickte stumm, beobachtete Franks konzentrierte Miene. "Leih mir nachher mal deine Stifte, ja?" Frank warf Angel einen fragenden Blick zu. Angel malte mit dem Finger ein Herzchen auf Franks Brust. "Dann verleihe ich dir nämlich auch einen Orden. Für den liebsten Freund, den man sich wünschen kann!" Franks Wangen färbten sich rosig, während er sich eilig über den unvollendeten Orden beugte. Angel schmunzelte über seine Verlegenheit, dann schloss er die Augen. Und fühlte eine innere Ruhe wie schon lange nicht mehr. ~~?* Angel beobachtete Frank aus den Augenwinkeln, während dieser nur mit einem Handtuch bekleidet in der Dusche nach seinen Kleidern griff. "Was siehst du dir an?" Er warf Angel einen vorwurfsvollen Blick zu. Angel schmunzelte, fuhr sich mit einem Kamm durch die nassen Haare. "Mir ist gerade eingefallen, was deine nächste Prüfung sein wird." Frank rubbelte sich mit dem Handtuch ab, sah Angel erwartungsvoll an. "So?" Angel grinste breit, schlüpfte dann in seine Kleider. "Später." ~~?* "Also?" Frank ließ sich neben Angel auf das Bett plumpsen. Angel legte eine Hand unter Franks Kinn und drehte es prüfend hin und her. "Weißt du eigentlich, wie niedlich du aussiehst?" Frank löste sich aus Angels Griff. "Du plapperst Unsinn, Angel", während er rot anlief. Angel ließ sich unbeeindruckt gegen die Wand sinken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Ich habe eine Aufgabe für dich. An Fasching." Frank wandte Angel den Kopf zu. "Ja?" Angel grinste vergnügt. "Wir spielen eine kleine Scharade." Frank kämmte sich Strähnen aus der Stirn, versuchte, aus Angels Miene einen Hinweis zu lesen. "Du wirst dich als Mädchen verkleiden. Den Jungs erzählen wir, ich hätte meine neue Freundin eingeschmuggelt. Die Lehrer lassen wir glauben, dass wir unsere Klassenkameraden hinter das Licht führen wollen, um damit einen Preis zu gewinnen, beste Maske oder so." Frank lief erneut rot an, ertappt und verärgert darüber. "Ich will kein Mädchen sein!!" Angel griente. "Ich weiß. Und darum ist es eine Herausforderung für dich." Frank starrte wütend auf seine Knie. "Nur, weil ich klein und schmächtig bin, oder?! Nur deswegen! Ich seh absolut nicht wie ein Mädchen aus!!" Angel beugte sich vor und strich sanft durch die wirren, braunen Haare. "Willst du aufgeben?" Frank entzog sich heftig seiner Hand, sprang auf. "Natürlich nicht! So schwer ist es auch nicht, sich an Fasching als Mädchen zu verkleiden!" Angel zwinkerte ihm honigsüß zu. "Aber denk daran, die Anderen dürfen nicht merken, wer du wirklich bist!" Frank machte eine wegwerfende Handbewegung. "Wir sind doch Spezialisten im Vortäuschen, nicht?!" Angels Grinsen löste sich unter dem bitteren Blick auf. "He, wenn du die Aufgabe unfair findest, dann..." "Nein! Du hast ganz recht, Angel! Es ist eine Herausforderung. Und ich werde mich ihr stellen." Frank funkelte Angel an. "Dafür wirst du die Gerüchte ausstreuen. Aus deinem Mund klingen sie glaubhafter." Angel nickte langsam, klopfte dann behutsam neben sich auf die Matratze. "Setz dich wieder, Frankie, bitte. Und dann lass uns überlegen, wo wir die passenden Utensilien herbekommen." ~~?* "Angel, ich weiß nicht..." Frank hob den Saum des Kleides an, stakste unbeholfen wie ein Storch im Salat zu Angels Bett hinüber. Angel unterdrückte ein Grinsen und setzte ein inquisitorische Miene auf. "Willst du etwa aufgeben?" Franks Gesicht wandelte sich von Hilflosigkeit zu felsenfester Entschlossenheit. "Nein, kein Gedanke!" "Gut, dann setz dich hin, ich bin gleich fertig!" Angel fuhr sich mit dem Kohlestift die Augenbrauen nach, dann folgte ein Schönheitsmal unter dem rechten Auge. »Perfekt! Die weißblonden Haare in einer Schleife zurückgebunden, der vornehme, weiße Anzug, das Rüschenhemd aus der Kleiderkammer des Second Hand Ladens, dazu ein Stoffschal von Monika als Schärpe: ein Phantasie-Gigolo erster Güte. Casanova, geh in Deckung!« Angel warf sich im Spiegel einen Handkuss zu. Dann stand er geziert auf und trippelte zu Frank hinüber, der noch immer unruhig an seinem Kleid herumfingerte. "Okay, meine Schöne, lass dich mal ansehen!" Frank stand auf, die dünnen Espandrillas quietschten leise. Angel drehte Frank einmal im Kreis. Dann lupfte er kurz den bodenlangen Saum des Kleides. "Strumpfhose sitzt gut, aber..." "Ich werde die Boxershorts nicht ausziehen!" Frank stapfte bestimmt auf den Boden, die Hanfsohle knirschte. Angel hob entwaffnend die Hände. "Gemach, gemach. Mir fehlen nur ein paar weibliche Kurven in deiner Erscheinung!" Er zog das Taillenband fest, legte dann prüfend eine Hand an das Kinn und betrachtete Frank mit zusammengekniffenen Augen. "Hier, zieh die Weste von mir über! Wenn wir sie locker lassen, sieht es so aus, als wäre tatsächlich obenrum ein bisschen Füllmasse vorhanden!" Frank verdrehte die Augen. Angel ignorierte den stummen Protest, schnappte sich einen Kamm und zwirbelte Franks wilde Strähnen aus der Stirn. Dann band er sie mit einem Tuch zurück, knotete eine prächtige Rosette im Nacken. "So, sehr chic! Und nun noch Kriegsbemalung!" Rouge bestäubte die Wangen, warmes Orange die Augenlider, die Lippen glänzten in herbstlichem Rot. Angel betrachtete sein Werk selbstzufrieden. "Ich werde deine Ehre wohl mit meinem Leben verteidigen müssen, meine Herzensallerliebste!" Frank streckte ihm ganz undamenhaft die Zunge entgegen. ~~?* Der Speisesaal war geschmückt worden, Girlanden, Luftballons, bunte Papiertischdecken, die Lampen mit farbigen Tüchern verhängt. Statt der Esstische der Lehrerschaft hatte man auf dem erhöhten Podest an der Stirnseite des Saals eine Bütt aufgestellt, ein verkleidetes Rednerpult. Das Programm war bunt, zuerst Sketche und Reden, dann sollte die schuleigene Band die Stimmung richtig anheizen. Und natürlich würden das beste Kostüm und die beste Maske gewählt werden. Frank schlurfte, um Grazie bemüht, neben Angel her, dezent den Saum des Kleides lupfend. Er spürte die neugierigen Blicke der anderen auf sich ruhen, während Angel neben ihm mit einem herausfordernden Lächeln stolzierte. Ein kleiner Pirat fasste sich schließlich ein Herz und zupfte Frank am Ärmel. "Ähm, du bist doch Frank, oder?!" Angel griente, beugte sich vertraulich zu dem Steppke herunter. "Pscht, aber das ist nicht Frank hier, sondern meine neue Freundin. Ich hab Frank in den Kleiderschrank gesperrt, damit ich mit meiner Süßen hier feiern kann." Die Augen des Jüngeren wurden groß, verengten sich dann wieder zu Schlitzen. "Du würdest mich doch nicht anflunkern, oder?!" Angel grinste und legte die rechte Hand auf seine Brust. "Nie!" Hinter dem Rücken kreuzte er auffällig die Finger übereinander. "Das ist echt deine Freundin?!" Der Junge rückte inspizierend an Frank heran, der trotz der Schminke deutlich errötete. "Wie alt bist du denn?" Frank umklammerte Angels Hand und schob sich scheinbar schüchtern hinter dessen Rücken. Tatsächlich kniff er Angel mit einer Hand kräftig in den Hintern. Angel quietschte leise. "So was fragt man eine Lady nicht! Und jetzt schwirr ab, Kleiner!" Der Junge lugte noch einmal misstrauisch um Angel herum, was Frank zu einer ebenso hastigen Drehbewegung veranlasste. Angel lachte leise, er genoss diese Scharade sichtbar. "Angel?" Angel beugte sich erneut herunter. "Also... an der ist aber nicht viel dran." Abschätziges Expertenurteil. Angel zog gespielt arrogant eine gemalte Augenbraue hoch. "Du weißt halt nicht, worauf es ankommt, Kleiner! Masse ist nicht Klasse, aber davon versteht so ein Milchzahn wie du nichts!" Der Pirat streckte beleidigt die Zunge raus und hopste grimmig von dannen. Angel wandte sich zu Frank herum, der missmutig die Augen zusammenkniff. "Willst du aufgeben?" Heftiges Kopfschütteln brachte die kunstvolle Rosette in Franks Nacken in schwere Turbulenzen. Angel legte Franks Hand behutsam auf seinen Unterarm. "Nun, meine Herzallerliebste, suchen wir uns ein lauschiges Plätzchen!" Auch wenn die Platzwahl an diesem Abend freigestellt war, so saßen doch die Stufen zusammen, ebenso die Lehrer. Man lauschte nun den Vorträgen und Darbietungen auf der Bühne. Angel langweilte sich ein wenig, nagte an einer Brezel herum. Er hätte am Liebsten wie üblich Locken in eine Haarsträhne gewunden, aber wegen seines Kostüms ging das ja nun nicht. Um ihn von seiner Unruhe abzulenken, fasste Frank unter dem Tisch nach Angels Hand und verflocht ihre Finger miteinander. Angel verstand dies als Einladung, die so verbundenen Hände auf Franks Schoß wandern zu lassen, über dessen Oberschenkel zu streichen. Er konnte spüren, wie Frank sich anspannte, aber eine undurchdringliche Miene wahrte. Wehren konnte er sich ja nicht. Lächelnd beugte er sich zu Frank hinüber, gab vor, seiner bildhübschen Begleiterin etwas ins Ohr flüstern zu wollen, während er im Schutz der Haare Franks Hals mit der Zunge entlang fuhr. Frank drehte den Kopf leicht, um Angels Treiben vor den neugierigen Blicken der Anderen abzuschirmen. Angel lachte leise in Franks Ohr. "Na, ist der Vortrag gut?" Frank wisperte zurück, "keine Ahnung, ich kann mich nicht darauf konzentrieren." Angel blies sanft über Franks Nacken, "wie sieht es mit den anderen aus?" Frank ächzte leise, "die sind abgelenkt." "Gut." Angel bog Franks Kopf sanft mit der flachen Hand zu sich herum und testete liebevoll die Deckungsfähigkeit des Lippenstiftes. Heftiger Applaus ließ sie eilig auseinander fahren. Angel fühlte sich beobachtet und machte in der Menge den Piraten mit seinen Klassenkameraden aus, die bewundernd und staunend zu ihm hinübersahen. Er deutete eine leichte Verbeugung an. »Die glauben jetzt sicher, ich habe tatsächlich ein Mädchen eingeschleust und knutsche vor den Lehrern!« Der Gedanke amüsierte ihn und reizte ihn zugleich. "Lass uns tanzen!" Er zog Frank an der Hand auf die Füße. Franks Gesicht nahm einen mitleiderregenden Ausdruck der Verzweiflung an. Als einziges Pärchen würden sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, und er durfte sich ja nicht verraten. In Angels Augen tanzte der Mutwille einen wilden Reigen. Er lächelte so begierig und erwartungsvoll wie ein Jäger auf Beutejagd, der die Witterung aufgenommen hatte. Frank ließ sich eng an Angel heranziehen, vergrub scheu das Gesicht an Angels Brust. Angel drehte sich ausgelassen mit ihm, den Kopf in den Nacken geworfen, die Lippen leicht geöffnet, als wollte er gleich vor Vergnügen juchzen. Plötzlich aber veränderte sich seine Haltung. Er umfasste Frank fast schmerzhaft, senkte den Kopf kampfbereit. Frank suchte Angels Blick. "Angel, was ist los?!" Waren sie schon aufgeflogen? Aber Angel zog die Lippen von den Zähnen zurück, knurrte wie ein tollwütiges Tier, die Augen in Hass glühend. Frank drehte den Kopf leicht und erkannte auch schon Angels Ziel. Herr von Schöller stand wie ein Schatten am Rand der Tanzfläche, das höhnische Gesicht verurteilte das muntere Treiben. Dann ließ er, scheinbar zufällig, den Blick zu Angel schweifen. Frank erstarrte. Herr von Schöller glaubte sich wohl unbeobachtet, denn nun zeigte sein Gesicht ganz andere Empfindungen. Nackte Gier. Angel schoss einen todbringenden Blick ab. »Fehlt nur noch, dass du dir über die Lippen leckst, du perverser Drecksack! Jetzt würdest du wohl gerne hier stehen, hm?! Du würdest vorgeben, dass alles ein großer Spaß ist. Aber in deinen Augenwinkeln lauert schon das Verhängnis. Was würdest du wohl tun, wenn wir danach allein wären? Mich würgen? Oder würde es dich aufgeilen, wenn du mich wieder im Heizungskeller festbindest, jeden Augenblick Entdeckung fürchtend? Dir würde sicher wieder der Geifer über deine wulstigen Lippen glibbern. Und deine ewig klammen Finger, wie gammlige Gummihandschuhe. Du bist ein Zombie, den man vergessen hat! Und du wirst mich nicht mehr haben! Nie mehr!! Guck ruhig her! Schau's dir an! Frankie werde ich sogar küssen! Dann kannst du dir deine verseuchte Schwabbelzunge sonst wohin stecken!!« Angel bemerkte nun erst Franks bleiches Gesicht, das ihn angestrengt musterte. Besänftigend lächelte er zu ihm runter. Dann warf er einen giftsprühenden Blick zu Herrn von Schöller. »Verrecke!!« Und küsste Frank vor aller Welt inmitten des Scheinwerferlichtes auf den Mund. ~~?* Kapitel 4 Der gelungene 'Streich' war in den nächsten Tagen in aller Munde. Noch nie hatte jemand gewagt, ein Mädchen einzuschleusen, auch wenn an diesem Tag durchaus Gäste zugelassen waren. Und die Lehrer so hinter das Licht zu führen. Die tatsächlich glaubten, dass Angel und Frank ein Schauspiel abgeliefert hatten. Bis auf einen. Der den Schülern Glauben schenkte. Angel hatte also ein Mädchen?! ~~?* "Und worin besteht meine nächste Aufgabe?" Angel schleuderte sein Kopfkissen über die Schreibtische zu Frank herüber. Dieser fing er es geschickt auf, drehte es dann mit gesenktem Kopf in seinen Händen hin und her. Dann feuerte er es scharf zurück. Seine Augen glitzerten. "Wir verbringen das nächste Wochenende bei dir zu Hause." Angel keuchte entsetzt, das Kissen rutschte aus seinen Händen. "Wa-was?!! Das ist nicht dein Ernst?!" Frank lehnte sich gegen die Wand, schloss die Augen. "Mein voller Ernst. Es ist die letzte Herausforderung, die ich dir auferlegen werde." Dann visierte er Angel scharf an. "Oder willst du aufgeben?!" Angel schüttelte zögernd den Kopf. "Ich... muss aber meinem Vater Bescheid geben, Frankie. Damit uns sein Fahrer hier abholt." Frank nickte leicht. "Er... wird dann sicher auch das Wochenende zu Hause verbringen wollen." Frank rollte sich rücklings auf sein Bett und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. "Darauf wette ich, Angel, darauf wette ich", hauchte er grimmig an die Decke. ~~?* Angel rutschte unbehaglich neben Frank im Fond der Limousine hin und her. Frank saß ruhig neben ihm, genoss augenscheinlich den ungewohnten Luxus eines sehr teuren Wagens. "Ich bin noch nie in einem Mercedes gefahren, der so groß ist", informierte er Angel beiläufig. Angel umklammerte Franks Hand, presste die Lippen aufeinander. "Ach wirklich." Frank schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. "Das letzte Spiel, Angel." Angel starrte bleich aus dem Fenster, vermied seinen Blick. ~~?* "Bitte nehmen Sie mit Ihrem Gast schon mal im Esszimmer Platz, Xavier, ich trage dann gleich das Essen auf." Angel zog Frank hinter sich her, den Blick stur auf den Teppich heftend. "Mein... mein Vater?" "Er hat mich benachrichtigt, dass er sich bedauerlicherweise verspäten wird. Aber ich bin sicher, er wird Sie heute noch treffen." Frank wurde fast im Laufschritt durch den Gang gezogen. Das imposante Märchenschloss entpuppte sich als leblose Hülle, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Unter dem Efeukleid war der Verputz gerissen, der Kiesweg wies grünen Bewuchs auf. Im Haus setzte sich die Vernachlässigung fort, die Ausstattung war sicher wertvoll und antik, zeigte aber Abnutzungserscheinungen. Es sah aus wie eine Theaterkulisse, nicht wie ein Heim. Angel schob ihn ins Esszimmer, eine burgunderfarbene Tapete verkleinerte den langgestreckten Raum optisch. Ein Kristalllüster an der Decke verteilte spiegelbrechend Licht. An dem weitläufigen Tisch war für zwei Personen gedeckt, auch wenn mindestens 24 Personen Platz finden konnten. Frank ließ das Auge schweifen, betrachtete die schweren Vorhänge vor den vergitterten Fenstern, den zierlichen Geschirrschrank und die Vitrine, Schleiflackmöbel. "Setz dich." Angels einladende Armbewegung wirkte fahrig. "Wer lebt denn außer deinem Vater noch hier?" Angel rückte den zierlichen Stuhl grob zurecht, stützte den Kopf in die Hände. Die Ellenbogen hinterließen auf der schweren Tischdecke Ringe. "Meine Mutter kommt nur für irgendwelche offiziellen Ereignisse hierher. Sie lebt meistens in Monte Carlo. Mein Vater ist selten hier, er hat eine Wohnung in der Stadt bei seinem Büro. Die neue Haushälterin kenne ich gar nicht, in den letzten Ferien war es eine andere. Mein Vater wechselt gern das Personal." In Angels Stimme klang Verachtung mit. "Aber den Fahrer kenne ich noch." Er warf Frank einen spöttischen Blick zu. "Na, wie gefällt dir das Leben der Reichen und Mächtigen?! Übrigens, das Essen kommt alles aus der Dose." Frank lächelte beschwichtigend. "Es ist okay. Aber ich bin ja nicht wegen des Essens hier, nicht wahr?!" Angel schob den halb geleerten Teller zurück. "Ich glaub, mir wird schlecht." Frank lachte leise. "Das hat Zeit", bestimmte er dann ernst. In diesem Moment hörten sie Stimmen im Flur. Angel warf Frank einen panischen Blick zu, aber dieser kaute gelassen den letzten Bissen. Ein hagerer Mann mit sandfarbenem Haar trat mit energischem Schritt in das Zimmer. Die Atmosphäre kühlte augenblicklich ab, als seine eisblauen Augen Frank erfassten. Dieser erhob sich artig und streckte die Hand aus. "Ich bin Frank Bayer. Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr St. Yves. Es ist schön, das Wochenende hier verbringen zu dürfen." Sein unschuldiges Grinsen ließ auf dem strengen Gesicht des älteren Mannes ein zähnefletschenden Lächeln aufblitzen. "Ich freue mich immer, Freunde von Xavier hier begrüßen zu dürfen." Die Lüge war zu offensichtlich, um auch nur einen der Anwesenden zu täuschen. Angel wich einer Umarmung hastig aus, sackte auf seinem Stuhl zusammen. "Hallo, Vater." Er heftete den Blick auf den Teller, unter dem Tisch grub er die Finger ineinander. "Nun, hattet ihr eine angenehme Fahrt?" Angel nickte stumm. "Wie läuft es in der Schule?" Angel murmelte, "alles okay." Frank verfolgte die Unterhaltung mit gespanntem Interesse. Dann lächelte er Angels Vater freundlich an. "Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen, ich bin müde." Angel sprang so hastig auf, dass der Stuhl beinahe an die Wand schlug. "Ich helf dir, du schläfst in meinem Zimmer!" "Angel, wir haben extra das Gästezimmer hergerichtet." Angel suchte mit aufgerissenen Augen nach einer Ausrede. "So eine Mühe wollte ich Ihnen gar nicht bereiten, ich bin es gewöhnt, mit Angel zu schlafen. In einem Zimmer, meine ich." Frank lächelte noch immer, aber seine großen Augen blitzten. Angels Vater verlor das stumme Duell der Blicke. "Nun gut, wie du möchtest, Angel. Gute Nacht." Angel torkelte eilig aus dem Esszimmer, während Frank ihm mit gemächlichem Schritt folgte. ~~?* Alive (Engler) 1995 Die Krupps 7:01 Where's the hand that guided me My cry within me is let me be Crossing the endless seas of pain Fighting against torrential rain It seems pain is the experience in life I'm sorely tried by affliction in my life I have to master this impossible situation This driving force is my salvation The world is in my arms I'm alive Love is gain Pain is strife In my world I'm alive And I can't see danger anymore This driving force sets me in strife That driving force that's in my life Whatever the pain is I must survive Determination keeps me alive This extreme situation makes me realize I'm alive It makes me realize it changed my life Hope is the hand that guided me Secured by the hand that sets me free The world is in my arms I'm alive Love is gain Pain is strife In my world I'm alive And I can't see danger anymore ~~?* "Angel, lass uns schlafen gehen!" Er zieht mir die Kopfhörer von den Ohren, ein aufmunterndes Lächeln auf den Lippen. Aber seine Augen sind still, ernst. Ich habe Angst. Solche Angst, dass ich meinen Körper kaum noch spüre. Er streicht mir über das Gesicht und geht hinüber zum Feldbett. Sein Gesicht ist mir zugewandt, als wollte er sagen, dass ich sicher bin, so lange ich ihn sehen kann. Sicher unter seinem Schutz. Ich wickle mich erstickend eng in die Decke, wie eine Mumie eingerollt. Ich will das Licht nicht löschen, soll er das doch tun. Die Dunkelheit macht mir Angst. Er bewegt sich leichtfüßig zum Lichtschalter, knipst die Sonne aus. Ich reiße unwillkürlich die Augen auf, will die letzten Lichtpunkte auf meiner Netzhaut nicht verloren geben, aber die Nacht kommt rasch. Ich schließe meine Augen resigniert, aber diese Dunkelheit bietet mir längst keinen Schutz mehr. Man kann nicht fliehen vor Erinnerungen. Der Kinderglaube, wenn man selbst nichts sieht, dass man dann auch nicht entdeckt werde, hat sich bei mir früh verabschiedet. Manchmal ist diese Dunkelheit sogar noch schlimmer. Nicht mal in der Finsternis meiner eigenen Gedanken bin ich vor ihm sicher. Es gibt keinen Zufluchtsort für mich. Er findet mich überall. Ich lausche begierig auf Franks Atemzüge in der Stille. Bitte, bitte, schlaf nicht ein! Dann höre ich es. Ich kenne dieses Geräusch. Es ist in mein Gedächtnis eingebrannt wie ein Fanal. Das leise Quietschen der Holzbohlen. Dann erstirbt es. Ich kann mit geschlossenen Augen sehen, wie er sich bewegt. Schleichend, geschmeidig, katzenhaft. Sorgsam darauf achtend, kein unnötiges Geräusch zu verursachen. Wie eine Raubkatze, die ihrer Beute auflauert. Aber er ist nicht lautlos. Er will, dass ich ihn höre. Will sich an meinem Entsetzen weiden. Wenn ich begreife, dass es keine Einbildung ist. Dass er wieder da ist. Vor der Tür steht. In die Nacht atmet. Sich ausmalt, was er mit mir machen wird. Ich kann seine Atemzüge förmlich spüren. Ich beiße in mein Kissen, ziehe die Knie an das Kinn. Nein, bitte, nein!! Ein Streichen von Metall auf Metall. Mein Körper reagiert mit einem Wimmern, das ich nicht ersticken kann. Seine Hand mit dem Ehering liegt auf der Türklinke. Jetzt wird sie sich senken... In Zeitlupe.... Ich kann es nicht aushalten, nicht heute Nacht. Kann mich nicht mehr verstellen. Das Lied in meinem Kopf. Meine Barriere. Summe es mit klappernden Zähnen vor mich hin. Mein Herz rast, doch das leise Schaben der Klinke übertönt die pochenden Schläge mühelos. Bitte... "Angel, wir sollten jetzt wirklich schlafen! Gute Nacht!" Franks Stimme klingt fremd, munter, voller Sonnenlicht. Die Hand auf der Klinke erstarrt. Ich kann den Eiswind spüren, der von der Tür herüberweht. Ich kiekse, "gute Nacht." Meine Zunge ist schwer, als sei sie betäubt worden. Quietschen auf dem Flur nach einer Ewigkeit. Er... Er ist gegangen. Ich grabe die Finger in die Matratze und schluchze haltlos in mein Kopfkissen. Davongekommen. Ich verliere die Kontrolle über meinen Körper. Er zuckt wild unter der Decke, schmerzt vor Anstrengung. Ein Schatten berührt meinen Nacken, dann streicht eine Hand beruhigend über meinen Rücken. Ich möchte ihn umarmen, aber ich zittere konvulsivisch. Er zupft die Decke unter mir heraus, rollt sich neben mich. Schmiegt sich an mich, als würde ich nicht röchelnd in das Kissen heulen und hysterisch zucken. In seinen Armen endlich kann ich mich beruhigen. Meine Zuflucht. ~~?* Am Morgen sind wir allein. Die Haushälterin erklärt uns, mein Vater habe einen wichtigen Geschäftstermin. Ich will bloß noch weg aus diesem verhassten Gemäuer. Frank zwinkert mir zu. "Prüfung bestanden, Angel!" Ich packe seine Hand. "Keine Spiele mehr, Frankie. Ich will nicht mehr." Er streicht mir lässig Strähnen aus den Augen. Seine Augen glühen in diesem seltsamen Licht. "Gut." Ich stehle mir den Kuss, den ich so schwer erarbeitet habe. Der Geschmack war nie süßer. ~~?* Angel sortierte Papiere auf seinem Schreibtisch, warf der neugierigen Sonne, die durch die Dachluke blinzelte, einen freundlichen Blick zu. Eigentlich sollte er jetzt Hausaufgaben machen, aber er hatte zu seinem größten Vergnügen entdeckt, dass Frank sein Skizzenbuch auf dem Bett liegen gelassen hatte. Nun, während Frank den Termin bei seiner Sozialarbeiterin absolvierte, plante Angel, sich die neuesten Entwürfe anzusehen. In ihrer Etage war es still, eine träge, sich wohlig räkelnde Stille, wie es im Frühling zuweilen vorkam. Angel kämmte sich Strähnen hinter die Ohren und summte unbewusst vor sich hin. Ein schöner Tag, um am Leben zu sein. ~~?* Herr von Schöller stieg geschmeidig die Stufen hinauf. Die Kreppsohlen verhinderten jedes Geräusch. Das Haus lag in betäubter Stille. Seine Hand fuhr in die Hosentasche seines dreiteiligen Anzugs. Die Beule störte zwar sein ästhetisches Empfinden und verzog die Bügelfalte, aber es war erforderlich. Das alles hier war erforderlich. Es war sein Recht. ~~?* Ich lache in die Sonne, die auf dem Fensterbrett eine gleißende Spiegelfläche gefunden hat und mich blendet. Plötzlich sind da Hände. Hände, die meinen Kopf an den Haaren in den Nacken reißen. Ein Tuch erstickt meinen Schreckensschrei. Ich versuche mich zu drehen, dem Würgegriff um meinen Hals zu entkommen. Ich sehe aus den Augenwinkeln die Faust. Zu spät. ~~?* Mit geschlossenen Augen noch erkenne ich den Geruch. Penetrant süßlich, erstickend. Leichengeruch, Verwesung. Mein Gesicht liegt auf einem Laken, ich kann die grobe Textur fühlen. Mein Kopf dröhnt grauenvoll, Blitze tanzen vor der Schwärze meiner Augenlider. Ich möchte mich am Liebsten übergeben, aber der Knebel lässt es nicht zu. Dann spüre ich sie. Klamme Hände, schweißig, gummiartig. Wieso...? Ich bin nackt, sonst könnte ich sie nicht fühlen. Der Gedanke dringt mühsam an die Oberfläche meines Bewusstseins, er watet durch einen dicken, zähflüssigen Nebel. Ein Pesthauch streift meinen Nacken. Dann schwappen Wellen von Übelkeit und Panik meine Kehle hoch. Oh Gott!! Er...! Er ist da!! Ich will fliehen, blindlings, gedankenlos. Eine Drehung auf die Seite, die Beine angewinkelt. Ein Schlag trifft meine rechte Schläfe wie ein Presslufthammer. Der Schmerz ist tückisch, er wabert unentschlossen zwischen Stirn und Wangenknochen, zuckt. Ich will nicht aufgeben, ziehe die Beine an. Meine Arme lassen sich nicht an den Körper pressen, da ist ein Hindernis, was sie auf meinen Rücken bannt. Ich spanne alle Muskeln, hasse das Wasser, das aus meinen geschlossenen Augen rinnt. Es reicht nicht. Es muss ein Strick sein, ein enger Knoten, der sich jetzt noch stärker zusammenzieht. Die Hände sind wieder da. Sie graben sich in meine Haare, zerren meinen Kopf grob in den Nacken. Fauliges Fleisch drückt meinen Körper auf das Laken, ich kann die Sprungfedern der Matratze unter der Belastung quietschen hören. Ich begreife in diesem Augenblick, dass ich nicht entkommen kann. Für diesen winzigen Moment ist mein Kopf so klar, als wäre er in Eiswasser getaucht worden. Er wird sich an mir rächen. Mich vergewaltigen. Und ich bin machtlos. Dann ist der Augenblick vorbei, am ganzen Körper stellen sich mir die Haare auf. Ich winde mich verzweifelt, während mein kleines, in tausend Scherben zerbrochenes Ich im Labyrinth meiner dunklen Gedanken nach dem Lied sucht. Mein Lied!! Ich brauche es! Die einzige Chance zu überstehen, was kommt. Aber es ist fort. Hat mich verlassen. Meine Gedanken rasen hysterisch durch die leer gefegten Gedächtnisspeicher. Nur ein Stichwort würde jetzt genügen!! Vergeblich. Nur Leere. Ich kann das nicht aushalten!! Nicht so. Dann höre ich ihn lachen. Dieses meckernde Lachen, das nur aus Schadenfreude besteht. Hämisch. Niederträchtig. Die schweißfeuchten Hände auf meinem Hintern. Ein grober Griff zwischen meine Beine. Ich beiße in den Knebel, würge hustend an den Flusen. Etwas Heißes, Glitschiges an meinen Oberschenkeln. Er flüstert in mein Ohr. "Mein Baby hat seinen Spielplatz vermisst. Sag Hallo, Schatz!" ~~?* Ich heule. Lautlos. Der Knebel erstickt mich fast. Nicht genug. Mein Körper brennt vor Schmerz. Bewegt sich gegen meinen Willen. Sein Lachen hallt in meinem leeren Kopf wider, dröhnt unerträglich. Ich will nichts mehr sehen. Ich will sterben. ~~?* Ich bin nicht tot. Verdammt. Für einen Augenblick war alles dunkel. Und es war okay. In das völlige Nichts einzugehen, ist jetzt mein einziger Wunsch. Aber ich bin wieder wach. Und er ist noch da. Er keucht und flucht. Dreht mich nun auf den Rücken. Schlägt mir ins Gesicht. Aber auch wenn er mich totschlägt, ich werde die Augen nicht aufmachen. Ich werde ihn nicht ansehen. Er ist immer noch nicht fertig. Kneift mit spitzen Fingern in meine Brustwarzen. Ergötzt sich an meinem hilflosen Zappeln. Ich muss ihn nicht ansehen, um den Ausdruck zu kennen. Die dicke Zunge hängt über den wulstigen Lippen, Sabber läuft in seine Mundwinkel. Die toten Augen sind aufgerissen, um bloß keine meiner Qualen zu verpassen. Endlich hat er ihn wieder hochgekriegt. Ich hasse mich dafür, für einen Moment darüber Freude zu empfinden. Freude, weil er langsam am Ende seiner Kräfte sein muss. Weil er mich dann in Ruhe lassen wird. Damit ich fliehen kann. In die Schwärze. ~~?* Ein letzter Stoß, und wieder das ekelhafte Grunzen. Der stinkende Kadaver rückt von mir ab. Aber es spielt nun keine Rolle mehr. Ich bin verseucht. Außen. Innen. Eine Hand packt mein Kinn in brutalem Klammergriff. Wieder streicht sein Pestatem über mein Gesicht. "Du hast dich amüsiert über mich. Diese kleine Schlampe geküsst. Mich hast du immer zurückgewiesen. Als ob dein Kuss irgendetwas Besonderes ist. Nun, das ist jetzt vorbei." Er lacht. Triumphierend. Ich schreie. Stumm. Das darf er nicht!! Nein!! Der Knebel verschwindet, fauliger Gestank hüllt mich ein. Sabber, schleimige Wärme auf meinen Lippen. Ich presse sie aufeinander. Er hält mir die Nase zu. Ich ersticke. Punkte vor meinen geschlossenen Augen. Würgen im Hals. Tränen. Dann gewinnt mein verräterischer Körper. Ich schnappe nach Luft. Pesthauch in meiner Lunge. Ein totes Stück Fleisch zwischen meinen Zähnen, sucht meinen Hals. Ich beiße. Ein Schmerzgebrüll, Wohlklang in meinen Ohren. Dann Schläge. Ein dichter Hagel. Auf meinem ganzen Körper. Helle Lichter vor meinen Augen. Endlich! Erlösung. ~~?* Schmerzen. Überall. Tückisch, lauernd, kreischend. Eine Hand. Trocken. Warm. Sanft. Sie streicht über mein Gesicht, hauchzart. Ich jaule gepeinigt, versuche mich in eine Kugel zu rollen. Fass mich nicht an!! Die Hand bleibt an meiner Seite. Eine Stimme. Ruhig, leise. Ich presse die Hände auf die Ohren, will nichts mehr hören. Nie mehr. Die Hand verwandelt sich. Rau, feucht. Wandert über meinen Körper. Drehe ich mich, sucht sie eine andere Stelle. Unermüdlich, unbeeindruckt. Mein Hals brennt. Trocken und entzündet. Ich kann nicht mehr schlucken, würgende Krämpfe erschüttern meinen Leib. Ich werde in die Höhe gestemmt. Wärme an meinem Rücken. Herzschlag. Fremd. Vertraut. Eisige Kühle an meinen fiebernden Lippen. Hart, unnachgiebig. »Trink«, raunt die Stimme sanft. Ich drehe den Kopf, stöhne. Aber sie folgt mir. Schließlich gebe ich auf. Schlucke. Sauer. Dickflüssig und brennend vor Säure. Ich will mich übergeben, diese Benzinsäure loswerden, aber mein Körper gehorcht nicht. Ich hasse ihn. Geschieht dir alles ganz recht!! Es ist nur deine Schuld. Ich hoffe, du zerfällst in tausend Scherben!! So, wie meine Seele, die in dir leben muss. ~~?* Frank ließ Angels Kopf behutsam wieder auf das Kissen sinken. Angestrengt beobachtete er die winzigen Veränderungen in dem geschwollenen Gesicht. Die leichte Entspannung in den zerbissenen Lippen, dunkel von eingetrocknetem Blut. Die Augen, die nicht mehr wild zuckten hinter den bläulichen Lidern. Er legte vorsichtig zwei Finger auf die Halsschlagader, die andere Hand flach auf den Brustkorb. Langsame Schläge. Zärtlich deckte er Angel bis unter das Kinn zu. Und seufzte in die Stille. Er hatte Erfahrung darin. Es gab Dinge, die vergaß man nie. Wie die Dosierung von Valium in Orangensaft. Wie das Verbinden von Wunden. Wie die entsetzlichen Qualen der Opfer. Auch wenn er glaubte, all diese Dinge aus der Vergangenheit vergessen zu haben. Es steckte in den Knochen. Er sah aus dem Fenster. Die Sonne war hinter grauen Wolken verschwunden, Regen peitschte gegen das Fensterglas. Es war so ein schöner Tag gewesen. ~~?* Kapitel 5 Frank rieb sich die entzündeten Augen. Es waren nur noch drei Tabletten übrig. Er drehte die Packung in der Hand und unterdrückte ein kiefersprengendes Gähnen. "Ich muss stark sein", ermahnte er sich halblaut. Ein unterdrücktes Stöhnen drang zu ihm herüber. Hastig erhob er sich und huschte zu Angels Bett hinüber. Die Morgendämmerung erfüllte das Zimmer mit Zwielicht. Frank ballte die Hände zu Fäusten, atmete tief durch. Dann beugte er sich über die erwachende Gestalt. "Angel?" ~~?* Angel tastete im Dämmerzustand um sich herum. Eine Hand fing seine irrenden Finger ein, umfasste sie sanft. Mit flatternden Lidern kämpfte er sich aus der Schwärze eines betäubten Schlafs. Die trüben Augen konnten nur Schattierungen von Grau wahrnehmen. Dann erschien in seinem Gesichtsfeld ein heller Fleck. Unwillkürlich blinzelte er, fokussierte seine Anstrengungen auf diese helle Fläche. Diese bewegte sich, formte Worte. »Einen Namen?« Angel runzelte schwerfällig die Stirn. "..gel... Angel..." Erinnerungen füllten plötzlich wie eine Springflut die Gedankenleere. Der Wirbel war beängstigend, Angel keuchte panisch. »Ich... ich bin Angel. Aber... ...was... ...ist... Angel riss die Augen weit auf. Sein entsetzter Blick floh ins Leere, während sich sein Mund zu einem stummen Schrei der Qual entstellte. Frank schlang beide Arme erstickend eng um Angel, zog dessen Gesicht an seine schmale Brust und dämpfte das grauenerfüllte Schluchzen und Heulen, das Angels Körper einen dämonischen Tanz aufführen ließ. "Ich bin hier, Angel. Ich bin hier." Er wiegte sich und Angel sanft in den Armen, summte beruhigende Töne, wiederholte die Phrase unaufhörlich. Manche Dinge vergaß man nie. ~~?* Frank rieb sich über die schmerzenden Schultern. Eine durchwachte Nacht und dann noch diese ungesunde Haltung. Aber sein Schmerz war nun bedeutungslos. Er warf einen Blick zu Angel hinüber, der sich unbeholfen darum bemühte, in sein Hemd zu steigen. "Lass mich dir helfen." Frank bog langsam Angels Arme herunter, wickelte ihn dann geschickt in das langärmlige und hochgeschlossene Hemd. Genauso umsichtig ließ er ihn in die Hose schlüpfen, band ihm die Schnürsenkel der Schuhe zu. "Denkst du, dass du das Sakko tragen kannst?" "Ich versuch's." Angels Stimme war nur ein heiseres Krächzen, sein Blick noch immer auf den Boden gesenkt. "Okay." Frank bemühte sich um einen aufmunternden Tonfall. Sanft schob er das Sakko die zitternden Arme hoch. Er bemerkte sofort, dass Angel zu hyperventilieren begann, sein Brustkorb hob sich hastig, die Augen wurden glasig. Rasch zerrte er das Sakko wieder herunter. "Ist vielleicht noch ein bisschen früh." Beruhigend streichelte er mit einem Finger über Angels glühende Wange. "Gehen wir frühstücken, hm?" Angel verharrte stocksteif, die Augen gesenkt. Frank ließ seine Finger sanft in eine Hand von Angel gleiten. "Begleite mich." Angel schüttelte vehement den Kopf, verkrampfte sich total. Frank beugte sich vor, um unter die langen, weißblonden Strähnen spähen zu können. "Warum nicht?" Sanft hingen seine Worte in der Luft. Angel schüttelte noch immer wild den Kopf, versuchte verzweifelt, Worte zu formen. Endlich brachte er ein heiseres Stammeln hervor. "Kann nicht!!" "Doch, du kannst." Nun zuckten Angels Schultern auch noch heftig. Frank legte zärtlich eine Hand unter Angels Kinn, hob es sanft an. "Angel, du kannst. Sieh mich an, bitte." Angel focht einen sichtbaren Kampf mit sich aus, endlich wich er Franks Blick nicht mehr aus. Nur einen Wimpernschlag lang gestattete er Frank einen direkten Blick in die grünen Katzenaugen, dann wandte er hastig wieder den Kopf ab. Frank schluckte, setzte dann entschlossen ein warmes Lächeln auf. "Angel, wir werden jetzt zusammen frühstücken gehen. Komm mit mir." Angel kreuzte die Arme eng vor der Brust, die Schultern so hochgezogen, dass sein Hals verschwand. Frank legte nun beide Hände flach um Angels Gesicht, ignorierte Angels heftiges Zusammenschrecken. Dann drehte er das bleiche Gesicht zu sich herum, bannte die grünen, tränenverhangenen Augen mit seinem Blick. "Angel, es ist nicht deine Schuld. Hast du mich verstanden?" Angels Wimpern ließen Tränen abperlen. Frank verstärkte sanft mit den Fingerspitzen den Druck auf die bemerkenswerten Wangenknochen. "Ich will, dass du es sagst: es ist nicht meine Schuld." Angel schluchzte leise, schlang die Arme noch erstickender um sich. "Angel! Sprich es mir nach!" Angel kämpfte gegen den Kloß in seinem Hals, die Zunge, die quer zu liegen schien. "Es.. es ist nicht... meine Schuld." Ein tonloses Flüstern. Frank schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf, ermahnte liebevoll. "Lauter. Sag es lauter." Angel räusperte sich, suchte Franks Blick. "Es ist nicht meine Schuld." "Und jetzt noch lauter!" "Es ist nicht meine Schuld!" Frank lächelte. "So laut, dass ich es nie vergesse." Angel wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Er holte tief Luft und schrie. "Es ist nicht MEINE Schuld!!" Ein zittriges Lachen folgte seinem Schrei. Frank schlang zärtlich die Arme um Angel, streichelte ihm kräftig über den Rücken. "Das war gut." Angel vergrub das Gesicht in Franks Halsbeuge, klammerte sich Halt suchend an ihn. Dann begann er wieder zu weinen, verzweifelte, atemlose Schluchzer aus tiefster Seele. Frank wiegte ihn leicht, massierte mit einer Hand den verkrampften Nacken unter den blonden Haaren. "Es ist okay, Angel. Lass es raus." Angel holte keuchend Luft, zitterte noch heftiger. "Er... er hat..." "Ja, ich weiß", Frank verstärkte seine Liebkosungen, um dem angespannten Druck in Angels Haltung begegnen zu können. "...er hat.. mir seine Zunge in den Hals gesteckt!!" Angels Stimme überschlug sich in hysterischem Geschrei. Frank presste Angels Gesicht gegen seinen Hals, wiegte ihn stärker. Angel schluchzte wilder, versuchte gleichzeitig zu sprechen. "...schmutzig... nicht... mich... berühren..." Frank kannte die Worte nur zu genau. "Du bist nicht schmutzig, Angel. Und ich werde dich immer anfassen. Ich möchte dich gar nicht mehr loslassen." Der gekrümmte Rücken in seinen Armen bebte heftig. Frank presste sich eng an Angel, hauchte sanft in sein Ohr. "Erinnerst du dich an das Zeug, das du schlucken musstest? Sauer und dickflüssig?" Angel nickte kaum merklich zwischen heftigen Schluchzern. Frank streichelte sanft weiter, lächelte an die Zimmerdecke. "Das Zeug killt alles, sogar Viren. Ich habe alles getötet, was du geschluckt hast. Du bist also klinisch rein." Frank blies spielerisch über Angels Nacken. Dieser schluckte heftig. "Wirklich?" Frank schmunzelte. "Aber ja, wenn ich es dir sage!" Nachdenkliche Pause, kurzes Zögern. "Kein Trick?" Frank hauchte einen Kuss auf eine tränenfeuchte Wange. "Vertrau mir." Angel löste sich langsam von ihm, kämmte trotzig Strähnen aus dem Gesicht und zog hörbar die Nase hoch. "kay." Frank grinste offen, angelte einen feuchten Lappen heran. "Hier! Oder soll ich es mit Spucke wegwischen?" Angels Gesicht enthüllte für einen Moment völlige Fassungslosigkeit. Dann streckte er Frank die Zunge raus und grapschte den Lappen. Verborgen hinter dem Stoff murmelte er. "Was... soll ich den anderen sagen? Ich... ich ...weiß nicht, wie ich sie ansehen soll." Frank zog ihm sanft den Lappen vom Gesicht. Seine Augen strahlten eine unheimliche Ruhe aus. "Sieh ihnen immer offen in das Gesicht. Als ob du direkt in die Sonne blicken wolltest. Gib ihnen keine Erklärung, schweige einfach." Angel wrang unsicher den Lappen zwischen den Händen. Frank legte seine Hände sanft über Angels. "Ich steh dir bei. Ich spreche, wenn du nicht mehr kannst. Vertrau auf mich." Angel schenkte ihm ein zittriges Lächeln. "Du wirst immer bei mir sein?" Frank grinste, aber seine Augen blieben ernsthaft. "Wenn ich noch zu einem Frühstück komme, dann hält mich gar nichts auf." Er zog Angel sanft, aber bestimmt zur Tür. Im Türrahmen wandte sich Angel noch einmal um. Neben seinem Bett standen Desinfektionsmittel, eine Rolle Pflaster, Lappen, zerrissene Kleider, beschmutztes Bettzeug und eine Flasche Orangensaft. Das Poster war heruntergerissen, die Fetzen platt getreten. Frank schlang liebevoll den freien Arm um Angels Taille. "Lass uns nach vorne schauen." Und Angel folgte ihm. ~~?* Während Frank sich den Magen wie ein ausgehungerter Wolf voll schlug, hielt sich Angel an einer Tasse Kaffee fest. Der Geruch ekelte ihn an, sein Magen rebellierte leicht, aber es gab nichts, was er erbrechen konnte. Er spürte die Blicke, die auf ihm ruhten, wie glühende Eisen. Aus den Augenwinkeln zwinkerte Frank ihm warm zu. Nur die staubbraunen Augen waren entschlossen. Angel lächelte wackelig. Eine kleine, warme Hand legte sich bekräftigend in seine. Mut. Wie direkt in die Sonne schauen. ~~?* Nach dem Mittagessen fühlte sich Angel erbärmlich. Er hatte es geschafft, Fragen abzuwimmeln. Erstaunlicherweise schienen die anderen zu spüren, dass etwas vorgefallen war, dass die Grundfesten ihrer Überzeugungen erschüttern würde, wenn sie die Wahrheit erfuhren. Und so schwiegen sie instinktiv, zeigten sich besonders rücksichtsvoll. Angel presste die Hand auf den flachen Bauch, die Kartoffeln lagen wie Wackersteine darin. Etwas anderes hatte er nicht heruntergebracht. Frank streifte kurz Angels Ellenbogen. "Lass uns vor Mathe noch mal rasch rüber gehen." Angels Gesicht wurde fahl-weiß. Ein erstickter Laut des Entsetzens entfuhr seinen Lippen. Frank nahm beruhigend seine Hand, zog ihn hinter sich her die Stufen herunter zum Wohngebäude. Die Stufen dort schienen immer steiler zu werden, denn Angel bewegte sich mit zunehmendem Widerwillen. Schließlich umklammerte er Franks Hand mit beiden Händen und blieb stehen. "Frankie... ich kann nicht!" Frank blieb stehen. Dann drehte er sich langsam herum, die Augenbrauen zusammengezogen. "Angel, du hast mir immer vertraut. Hör jetzt damit nicht auf. Ich bitte dich." In Franks Worten lag soviel Ernst, dass Angel zu zittern begann. Hastig senkte er den Kopf. "Ich... ich will dich nicht enttäuschen, Frankie", murmelte er erstickt. Frank streichelte liebevoll durch Angels Haare. "Du enttäuschst mich nicht, Angel. Ich bitte dich nur, noch ein wenig Vertrauen in mich zu haben." Dann lächelte er leicht. "Zumindest bis zu unserem Zimmer." Angel zögerte hilflos, dann setzte er langsam den Fuß auf die nächste Stufe. Frank beugte sich zu Angel und hauchte ein leises "Danke schön" in sein Ohr. Gemeinsam stiegen sie langsam die letzten Stufen hinauf, tauchten in den Gang zu ihrem Zimmer ein. Frank öffnete behutsam die Tür, stoppte auf der Schwelle. "Sieh mal!" Sanft zog er Angel neben sich. "Schau mal, die Sonne ist wieder da." Andächtig flüsterte er in die Stille des sonnengetränkten Raums. Angel lehnte sich eng an Frank. Dieser gab sich einen Ruck und tappte betont munter in den Raum. "Schließ die Tür einen Moment, ja?!" Angel drückte die Klinke ins Schloss. Dann wandte er sich um, ein paar Strähnen hinter das Ohr klemmend. "Was hast du vor?" Frank kramte in seinem alten Rucksack herum. "Ja!" Triumphierend und erfreut richtete er sich auf. Angel trat neugierig näher. Frank strahlte ihn an, das Gesicht von heiligem Ernst erfüllt. "Ich weiß, dass noch eine harte Zeit auf dich zukommt. Darum will ich dir ein Geschenk machen." Angel blinzelte unruhig. Frank streckte die Hand nach ihm aus, eine auffordernde Geste, die eigene Hand auf Franks Handfläche zu legen. Angel folgte seiner Bitte. Frank fing seinen Blick ein, verzauberte Angels Augen. Er legte unter verdeckter Hand etwas in Angels Handfläche, schloss dann sanft dessen Finger darum. Angel spürte Kälte, unnachgiebige Härte, eine glatte Oberfläche, die sich perfekt in seine Hand anpasste. Franks Hände wärmten seine Hand. "Dieser Kiesel ist über Jahrmillionen vom Meer geformt worden. Und trotz all dieser Zeit und der Kraft der Wellen ist er noch immer ein wundervoller Stein. Er ist stark." Frank schloss kurz die Augen, dann lächelte er Angel wieder an. "Meine Mama hat mir diesen Stein hinterlassen. Sie hat ihn von einem Urlaub am Meer mitgebracht, wo sie einmal war, als sie noch ein kleines Mädchen war. Und jetzt schenke ich ihn dir. Trag ihn in der Tasche und halte ihn fest, wenn du stark sein willst." Angel erwiderte Franks stolzes Lächeln zittrig. "Bist du sicher, dass... immerhin ist er von deiner Mutter?!" Frank nickte nachdrücklich, nun wieder ernst. "Ich möchte, dass du ihn bei dir trägst." Angel umklammerte den Stein fester. "Okay", stimmte er heiser zu. Frank strich Angel ein paar widerspenstige Strähnen aus den Augen. Dann drückte er sich sanft an Angels Brust. "Wir schaffen das. Gemeinsam." Angel umarmte Frank fester. "Wie ... soll ich ihm begegnen?" Frank strich ihm kräftig über den Rücken. "Bleib passiv. Ich werde dir beistehen." In Franks Stimme schwang der Stahl, an den Angel sich aus ihrem letzten großen Streit erinnerte. Dann schob Frank ihn energisch von sich und fuhr sich durch die wirren Strähnen. "Auf in den Kampf!" Und zog Angel hinter sich her in die Höhle des Löwen. ~~?* Ich kann seinen Gestank schon riechen, bevor er in unserem Klassenzimmer steht. Seinen gleitenden Gang, irgendwie heimtückisch. Der Stein in meiner Hand leistet Widerstand gegen meinen Hass. Ich kann den Kopf nicht anheben. Kann ihn nicht ansehen. Ich höre seine Stimme. Monotones Störgeräusch in meinem Kopf. Klingt wie der Schnee im Fernsehen nach Sendeschluss. Ich starre auf mein Heft. Die Zahlen wirbeln vor meinen Augen durcheinander. Zum ersten Mal begreife ich, wie Frank sich fühlt mit diesem Zahlenchaos. Plötzlich ist es still. Seine hämische Stimme wird verständlich. Beißt in meinen Ohren, löst eine Gänsehaut aus, die rasend schnell meinen Nacken hinab bis zur Taille wandert. Mir wird eisig kalt, ich fröstele. "Na, Xavier, wir wollen heute wohl gar nicht am Unterricht teilnehmen?! Ist uns etwa die Chuzpe abhanden gekommen? Oder haben wir unsere Zunge verschluckt?" In meinen Ohren rauscht es. Mein Herz rast. Ich kann ihn nicht ansehen. Kann Nicht So Schwach "Xavier fühlt sich sicher nicht wohl, weil hier so ein abstoßender Geruch im Raum ist." Frank! Frankies Stimme. Reißt mich aus den sich windenden schwarzen Abgründen vor meinen Augen. Eine beschwörende Stimme. Stahl. "Können Sie es denn nicht riechen? Es stinkt hier." Ich kann die Spannung fühlen, meine Haare stellen sich auf. Frankie. Mein Frankie. Nimmt den Kampf auf. Für mich. "Ich rieche überhaupt nichts!!" Von Schöller quäkt in die Stille. Und Frank antwortet leise. "Aber Sie müssen es doch riechen! Jeder hier kann es riechen!" Eine Machtprobe. Oh bitte... "Frank hat recht. Es stinkt zum Himmel." Zustimmung, wachsende Lautstärke. Unruhe. Füße, die über den Boden schaben. Tische und Stühle knirschen. Ein heftiges Klatschen lässt mich zusammenzucken. Eine flache Hand auf eine Holzplatte. "Hört sofort auf!!" Von Schöllers Stimme überschlägt sich, kippt. Aber die Unruhe hat sich selbst potenziert, eine Geräuschlawine, nicht mehr zu kontrollieren. "Das ist ein Skandal!!" Zornige Schritte preschen über den Flur. Ein Zittern ergreift von mir Besitz, schüttelt mich durch. Der Stein ist der Fokus all meiner Gedanken. Durchhalten. Ich schnappe nach Luft. Stemme mich blindlings hoch, stolpere auf den Flur. Waschraum. Meine Füße finden den Weg allein. Wasser. Eisig in meinem Gesicht. Die Kälte betäubt meinen rasenden Puls langsam, endlich klärt sich auch mein Blick. Ich habe das Gefühl, seit einer Ewigkeit nur auf den Boden zu starren. Ich hebe den Blick, schaue mir in die Augen. Linien zeichnen mein Gesicht, die ich vorher nicht wahrgenommen habe. Spuren der absoluten Demütigung. Aber in meinen Augen ist noch Licht, ein winziges, bescheidenes Irrlicht. Ich schließe die Augen, präge mir dieses Funkeln ein. Ich lebe noch. Warme Arme schlingen sich um meine Taille, Atem streift meinen Hals. "Halt mich fest, bitte." Ich drehe mich langsam, lege meine Arme um die schmale Gestalt, die sich an mich kuschelt. Vertrauen. Nähe. Kein Zögern. Deine Stärke verschlägt mir den Atem. Ich will dich nie mehr loslassen. ~~?* Herr Karlsson bremste an ihrem Tisch, als Frank Angel gerade mit Kakao versorgte. "Bayer, habe von diesem Eklat mit Kollege von Schöller gehört. Erwarte, dass das nach dem Tee geklärt wird. Werden sich im Studienzimmer bei von Schöller melden!" Frank hob den Kopf an und nickte freundlich. "Selbstverständlich, Herr Karlsson. Die Sache wird geklärt." Dieser nickte bloß abgehackt und wechselte hinüber zum Lehrertisch. Angel griff unter dem Tisch nach Franks Hand und umklammerte diese. Sein Gesicht war totenblass. "Geh nicht." Frank streichelte sanft die zitternden Finger, schenkte Angel ein schmelzendes Lächeln. "Hab keine Angst um mich. Nimm noch ein paar Kekse!" Angel nagte apathisch an einem Keks herum, sein Blick irrlichterte immer wieder zu Frank. "Soll... soll ich nicht mitgehen?!" Frank strahlte ihn an, beugte sich zu ihm hinüber. "Das ist wirklich sehr tapfer von dir, aber nicht nötig. Vertrau mir, Angel!" Frank zwinkerte ihm zu, aber seine Augen waren dunkel. ~~?* "Setzen!" Frank kam der Aufforderung nach, nahm mit einem Blick die perfekte Ordnung in dem Studienzimmer auf. Fast steril in seiner Sauberkeit. Herr von Schöller hatte sich in seinem Bürosessel zurückgelehnt, die Hände bildeten ein Dreieck vor seinem Gesicht. Er musterte Frank lauernd, suchte den besten Angriffspunkt. Eine höhnische Falte hatte sich auf der Stirn gebildet. "Diese Sache wird ein Nachspiel für dich haben. Du wirst auf keinen Fall das Stipendium erhalten." Ein befriedigtes Grinsen huschte über Herrn von Schöllers Züge, verzerrten diese für einen Sekundenbruchteil zu einer Fratze. Dann hatte er sich wieder im Griff. Frank strich sich betont gelassen ein paar wirre Strähnen aus den Augen. "Ich denke, SIE sollten die Schule wechseln." Eine betäubende Stille breitete sich aus. Schließlich verzog sich Herrn von Schöllers Gesicht. Die Hände wurden auf die Lehnen aufgestützt. Sein Blick war finster, die fleischigen Lippen vor Ärger verzogen. "Ich habe mich wohl verhört?!" Ein Zischen, bösartig. Frank lächelte sanft. "Nein." An der Schläfe von Herrn von Schöller begann eine Ader sichtbar zu pochen. "Was soll das heißen?" Frank ließ eine Hand über die Lehne des Besucherstuhls gleiten, dann hob er den Blick wieder an. "Ich weiß Bescheid über die Sache mit Angel." Herr von Schöller schnaubte abschätzig. "Was für eine Sache?! Der Kerl ist ein notorischer Lügner. Und du bist nichts als weißer Abfall, wer würde dir schon glauben?!" Frank lächelte noch immer, wich dem finsteren Blick nicht aus. Er gestattete sich kein Blinzeln. "Nun, Sie sollten Ihre Haltung noch einmal überdenken. Ich bin überzeugt, man könnte Nachweise finden, die vor Gericht standhalten." Frank strich erneut gelassen ein paar Strähnen hinter das Ohr. "Aber so weit muss man ja gar nicht gehen. Es reicht schon das Gerücht." Herr von Schöller stützte die Hände so stark auf die Lehnen, dass die Knöchel weiß hervortraten. "Nicht wahr?" Frank lächelte entnervend. "Du kleines Stück Dreck willst mir drohen?!" Frank blinzelte, ließ den Blick müßig durch den Raum schweifen. Dann fokussierte er seinen Gegenüber wieder. "Nein. Es ist die Konsequenz, wenn Sie nicht diese Schule verlassen." Herr von Schöller krächzte spöttisch. "Niemand wird dir glauben. Und dem kleinen Stricher auch nicht." Frank lächelte, stützte dann die Ellenbogen auf die Lehnen und imitierte die Dreieckshaltung der Hände. "Ein Schüler erhält immer die besten Noten. Verbringt erstaunlich viel Zeit mit dem betreffenden Lehrer. Und dieser ist so schlampig, dass er Spuren hinterlässt." Frank lehnte sich lässig zurück. "Missbrauch von minderjährigen Schutzbefohlenen ist ein schweres Verbrechen. Und Angels Vater ist sehr einflussreich. Alter Adel. Vielleicht würde er gar keine Gerichtsverhandlung abwarten." Frank inspizierte kritisch seine Fingernägel. Dann schoss er einen harten Blick zu Herrn von Schöller hinüber. "Ich bin überzeugt, ihm reicht schon der pure Verdacht. Und er hat nur diesen einen Sohn." Herr von Schöller war fahl geworden. "Warum... warum sollte er dir glauben?" Frank schmunzelte. "Ich bin Angels Freund." Dann erhob er sich gemächlich. "Sie haben zwei Tage Zeit, um Ihr Ersuchen um Versetzung einzureichen." Er nickte Herrn von Schöller zu und schloss dann die Tür hinter sich. Befriedigt vernahm er den Knall, als ein Wurfgeschoss die Tür traf. Frank lächelte leise, als er das Haus verließ. ~~?* "Hast du schon gehört?! Von Schöller ist weg!!" Ein Klassenkamerad platzte in die Lerngruppen hinein. Angel hob den Kopf, sein Gesicht war wachsweiß. Das Gemurmel steigerte sich zu verschiedenen erregten Debatten, in denen Spekulationen ausgetauscht wurden. Angel warf einen scheuen Blick zu Frank hinüber, der mit einem feinen Lächeln auf den Lippen an seinen Hausaufgaben arbeitete. "Frankie?!" Frank zwinkerte Angel zu, aber seine Augen blieben ernst. "Reden wir später." Angel nickte verwirrt. ~~?* Das Licht war gelöscht, nur der Schein eines prallen Vollmondes tauchte den Raum in ein gespenstisches Zwielicht. "Frankie?" Angel wandte den Kopf, suchte Franks Blick, der ebenso wie er die wechselnden Schattenspiele an der Zimmerdecke verfolgte. "Wie... wie hast du das gemacht?" Ein Seufzer hing in der Luft. "Willst du das wirklich wissen?" Angel drehte sich auf die Seite, Frank zugewandt und legte schüchtern eine Hand auf die schmale Brust. "Mmmm." Frank wandte ihm für einen Augenblick den Kopf zu und in den dunklen Augen glitzerte trotz des seltsamen Lichts ein fremdes Feuer. Dann sah Frank wieder an die Decke. Aber das unheimliche Gefühl blieb. "Ich habe ihm angekündigt, dass ich seine Verbrechen publik mache. Was er dir angetan hat." Angel keuchte entsetzt, schoss hoch. "Ich gehe nicht zur Polizei!!" Frank legte einen Arm unter den Kopf und starrte weiter an die Decke. "Nun, das ist ja auch nicht erforderlich." Angel umklammerte die Bettdecke. "Was... was zum Teufel hättest du gemacht, wenn er dir das nicht abgenommen hätte?!" Frank lachte leise. Ein Lachen, das Angel das Blut gefrieren ließ. "Ich hätte das Gerücht gestreut, dass er dich bevorzugt bei den Noten. Vielleicht, dass er eine nicht standesgemäße, emotionale Nähe zu seinem Lieblingsschüler anstrebt." Angel schnappte nach Luft. "Was glaubst du, wie viele andere Schüler und auch Lehrer allein dieses Gerücht nicht für ganz unwahrscheinlich halten würden?" Frank gähnte hinter vorgehaltener Hand. "Sie wären nur zu gern bereit, das zu glauben. Immerhin ist er ein steifes Ekelpaket, hat keine Freunde, und sein Perfektionismus widert einen an. Allein das Gerücht müsste ihn eigentlich schon in die Flucht schlagen." Angel wich vor Frank zurück. "Das... das ist grausam!" Frank setzte sich langsam auf. "Ich habe dir versprochen, ich kämpfe für dich." Sie starrten einander im Zwielicht an. Endlich brach Frank die aufgestaute Spannung. "Du hast noch immer das Bild des hilflosen Schäfchens vor deinen Augen, wenn du mich ansiehst, nicht?" Er schüttelte nachsichtig den Kopf. "Angel, sieh mich mal richtig an! Ich bin klein und schwach, zumindest körperlich. Wie, glaubst du, habe ich all die Jahre überstanden, wenn ich nicht ein paar andere Kämpferqualitäten hätte?" Angel biss sich auf die Lippen, zuckte unbehaglich mit den Schultern. Frank legte eine Hand offen auf die Bettdecke, eine Einladung. "Ich bin in eine Gesamtschule gegangen, habe in einem Viertel gelebt, wo nur Sozialfälle untergebracht sind. Man muss da für jeden Fußbreit kämpfen." Angel ließ langsam eine Hand in Franks Hand gleiten. "Erzähl mir, wie... wie du kämpfst." Frank zog sanft an Angels Hand. "Wenn du wieder unter die Decke kommst! Mir wird nämlich kalt." Angel kroch wieder neben ihn und spielte unbehaglich mit Franks Fingern in seiner Hand. Frank starrte wieder sinnierend an die Decke. "Ich versuche immer, nett und umgänglich zu sein, keine Schwierigkeiten zu machen. Das ist es, was die Leute sehen wollen. Wenn man keine Probleme macht, dann lassen sie einen in Ruhe." Er rückte vertraulich näher an Angel heran. "Und ich durfte keine Probleme haben, sonst wäre ich von meiner Mama getrennt worden." Dann seufzte er leise, bedauernd. "Leider gab es aber immer wieder Probleme, die sich nicht durch Freundlichkeit lösen ließen. Meine Mama hatte leider kein glückliches Händchen bei der Auswahl ihrer Verehrer." Angel konnte spüren, wie Frank sich anspannte. Im Zwielicht kam wieder dieser eisige Blick in seine Augen. "Ich konnte ihnen natürlich keine Prügel heimzahlen oder andere...Dinge. Ich konnte immer nur Pflaster kleben und trösten. Aber das ist ja nur Schadensbegrenzung, nicht wahr?!" Er drehte sich nun zu Angel herum, suchte dessen unsicheren Blick. "Aber ich hatte einen Vorteil. Ich war klug UND ich hatte einen Bibliotheksausweis." Angel zuckte verwirrt zusammen unter dem spöttischen Lächeln, das über Franks Gesicht huschte. "Man sollte die Macht der Bücher nicht unterschätzen! So viel gute Ratschläge!" Er grinste gespenstisch. Angel schluckte schwer, räusperte sich. "Was... was hast du mit diesen Typen gemacht?" Frank kämmte sich Strähnen aus dem Gesicht. "Och, so Einiges. Aber ich habe sie vorher immer gewarnt, die Hände von meiner Mama zu lassen!" Er betonte den letzten Satz, als sei diese Fairness die Legitimation für die weiteren Aktionen gewesen. "Aber meistens waren meine Warnungen wohl zu subtil. Na ja!" Frank zuckte gleichgültig mit den Schultern, drehte sich wieder auf den Rücken. "Da war ein Typ, der hatte Spaß daran, sie zu terrorisieren. Einfach so, aus einer Laune heraus. Leider hatte er eine Allergie gegen Curry." Frank lächelte gehässig in das Zwielicht. "Und so war eines Tages sehr viel Curry in seiner Bloody Mary. Er hätte eben nicht das Glas in einem Zug ausleeren sollen." Angel zog die Beine an, versuchte, die Gänsehaut, die ihn überzog, zu ignorieren. "Was ist mit ihm passiert?" Frank kicherte leise. "Er lief an wie ein Feuermelder, schnappte nach Luft, erstickte langsam. Und ich hab ihn angelächelt und gefragt, ob ich vielleicht einen Krankenwagen holen sollte. Ich glaube, er hat begriffen, dass er sich besser einen neuen Wirkungskreis sucht." Frank zog die Decke höher. "Eine härtere Nuss war ein Schläger danach." Seine Lippen wurden dünn. "Dem habe ich Valium in seine Thermoskanne gestreut. Die Tabletten zu zerbröseln, war ganz schön anstrengend. Aber es musste sein." Frank rieb sich unter der Decke energisch über die Oberarme. "Er hat mich verprügelt. Vorher hatte er es immer nur auf meine Mama abgesehen, aber sie hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich nichts unternehme. Er könne ja nichts dafür, er habe so viel Stress." Frank fletschte die Zähne in die Finsternis. "Ich bin schon öfter verprügelt worden, aber noch nie so. Und dann dachte ich mir, warum nicht dafür sorgen, dass er da landet, wo er hingehört? Die Valium in die Thermoskanne, wo er seinen Kaffee immer mit Schnaps verdünnt hat. Eklige Kombination!" Frank wandte Angel den Kopf zu, der mit Grausen, aber gegen seinen Willen fasziniert, lauschte. "Man darf Valium nicht mit Alkohol einnehmen, das hat ziemlich hässliche Nebenwirkungen. Vor allem, wenn man damit Auto fährt. Und wenn dann natürlich noch eine Streife durch das Viertel patrouilliert..." Frank rückte an Angel heran, zog dessen Arm um sich herum. "Die Polizei hat ihn wegen seines seltsamen Fahrstils angehalten. Und dann war der Lappen weg. Für einen Fernfahrer ist das das Aus. Gutes Timing damals." Frank suchte prüfend Angels Blick. "Bist du schockiert?" Angel zuckte unbehaglich mit den Schultern. "Du... du bist ganz schön gnadenlos, Frankie." "Ja. Weil ich mit dem ersten Schlag den endgültigen Treffer landen muss, Angel. Ich habe keine zweite Chance." Angel drehte sich aus der Umarmung heraus auf den Rücken. Frank stützte neben ihm den Kopf auf eine Hand. "Jetzt findest du mich wohl nicht mehr so süß, oder?" Angel seufzte leise. "Es... es macht mir Angst, diese Dinge zu hören." Dann drehte er sich wieder zu Frank um. "Aber ich bin froh, dass du bei mir bist. Ich fühle mich sicher bei dir." Er kroch in Franks Umarmung, schloss die Augen. Frank streichelte ihm durch die Haare. "Ich will dein Freund sein, Angel. Ich will nicht mehr allein sein. Dafür tue ich alles." Angel schauderte in Franks Armen zusammen, dann suchte er Franks kalte Lippen. "Wir bleiben zusammen. Was auch passiert. Versprochen!" Frank erwiderte Angels Kuss ebenso unsicher. "Lass uns aufeinander aufpassen, okay?!" Arm in Arm schliefen sie ein, hofften auf ein leichteres Erwachen. ~~?* Kapitel 6 Angel schmollte demonstrativ, die Arme vor der Brust verkreuzt. "Und warum soll das nicht gehen?!" Frank seufzte und rieb sich über die Augen. "Angel, wir sind beide minderjährig. Das Jugendamt lässt mich niemals nach Frankreich fahren, ohne dass ein Erwachsener für mich in der Zeit die volle Verantwortung übernimmt." "Verdammt, ich will dir aber unser Haus dort zeigen!!" Angel stampfte trotzig mit dem Fuß auf. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. "Wir könnten Monika bitten, uns bis Paris zu begleiten! Wir müssen dort sowieso umsteigen!" Frank zog eine Augenbraue hoch. "Gesetzt, sie lässt sich darauf ein, fehlt immer noch die Zustimmung deines Vaters." Angel ballte die Fäuste. "Und der Ausflug ist nicht gerade billig." Angel machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ich hab genug Geld, das ist kein Problem. Außerdem gibt es dieses Eurotrain-Ticket, oder wie der Mist heißt. Wenn wir erst mal bis Le Havre gekommen sind, dann wird das Leben ohnehin sehr billig." Angel wandte sich der Dachluke zu, trommelte mit den Fingern auf dem Fensterbrett. "Ich will-will- WILL mit dir dorthin!!" Frank seufzte leise. "Es ist dir wohl sehr wichtig?" Angel fuhr herum, gestikulierte stürmisch. "Ich will dir zeigen, wo ich meine Ferien am Liebsten verbringe! Es ist wunderschön da!" Frank lächelte bei Angels Enthusiasmus. "Also gut. Wenn du Monika dazu bringst, uns bis nach Paris zu begleiten und für mich eine Erklärung zu unterschreiben, kümmere ich mich um den anderen Papierkram." Angel strahlte. "Wirklich?! Das ist klasse!!" Frank schloss einen Moment die Augen. Ein schmerzlicher Ausdruck trübte sein Gesicht. "Ich hatte gehofft, dass die Betrügereien ein Ende haben." Angels Lächeln erlosch. "Wenn es dir so schwer fällt, dann..." Frank öffnete die Augen wieder, zuckte mit den Achseln. "Ich bin sicher, es ist die Anstrengung wert." Er zwinkerte Angel aufmunternd zu. Dieser überwand den Abstand zwischen ihnen und zog Frank in eine enge Umarmung. "Danke, Frankie!" Frank schmiegte sich an ihn. "Zeig mir das Meer, Angel", wisperte er leise. ~~?* "Ist es das?" Frank prüfte den schweren Briefbogen kritisch. Angel beugte verschwörerisch den Kopf zu ihm herunter, blies leicht durch Franks Ponysträhnen. "Kriegst du das hin?" Seine Augen glänzten erwartungsvoll. Frank zog die Augenbrauen zusammen, voller Konzentration. "Schreib du den Brief. Zweimal, einmal Deutsch, einmal Französisch. Und einen an die Schule." Angel nickte eifrig und setzte sich neben ihn, um rasch ein paar Zeilen auf ein Schmierblatt zu werfen. Sie spürten beide die wissbegierigen Blicke ihrer Kameraden, ignorierten dies aber geflissentlich. Schließlich sprang Angel auf und verließ den Raum. Eine Viertelstunde später erschien er wieder, triumphierend die Briefbögen schwingend. Frank nickte ihm ernst zu. "Okay." Er zerknüllte das Schmierblatt, über das er sich die ganze Zeit konzentriert gebeugt hatte. Für einen Augenblick schloss er die Augen, atmete tief durch. Dann setzte er schwungvoll eine Unterschrift unter alle drei Schriftstücke. Angel plumpste laut neben ihm auf den Stuhl. "Wahnsinn", hauchte er ergriffen. Frank grinste verschmitzt, strich ein paar Strähnen aus der Stirn. "Einfach perfekt. Wow!!" Frank trat Angel leicht auf den Fuß, damit dieser mit seiner Begeisterung nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sie zog. Angel zuckte verlegen mit den Schultern, aber sein Gesicht wirkte keinesfalls entschuldigend. Frank lächelte, packte geschickt alle Bögen in die passenden gefütterten Kuverts. "Jetzt noch die beiden Briefe von Monika und es sollte eigentlich klappen!" Angel zauberte sie aus der Tasche seines Sakkos. "Was hältst du von einem Termin beim Direktor?" Frank lächelte breit. ~~?* "Halt mir einen Platz warm, ich komme gleich nach!" Angel nickte und verpasste Frank im Vorbeigleiten einen eiligen Kuss auf die Wange. Frank lächelte auf das blitzblanke Wählfeld des Telefons in der Halle. Er wählte eine Nummer, die er mittlerweile im Schlaf aufsagen konnte, lauschte dem elektronischen Blechknecht und sprach dann seine Botschaft auf. Es würde funktionieren! ~~?* Angel trabte beschwingt neben Frank die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf. Frank seufzte leise und leckte sich über die Lippen. "Was ist?" "Die Rosinenbrötchen waren so schnell weg." "Hattest du nicht drei?!" Angel kicherte laut. Frank lief rosig an, zog den Kopf wie eine Schildkröte ein. "Hier!" Etwas Warmes glitt in Franks Hand. Überrascht fasste er kräftig zu. "Du... du hast noch ein Brötchen gerettet?!" Angel grinste breit, strich sich geziert Haare hinter die Ohren. "Du bist nicht der Einzige mit besonderen Fähigkeiten hier!" Frank erwiderte das Grinsen halbherzig, bot Angel eine Hälfte des Brötchens an. "Nein, nein, iss mal!" Schweigend überwanden sie die letzten Stufen. "Frankie, du bist mir zu still! Hat etwas nicht geklappt?!" Angels Stimme war beunruhigt, der gespielt heitere Ton konnte dies nicht verhehlen. Frank sah scharf zu Angel hinüber, schluckte den letzten Bissen eilig herunter. "Nein, es hat alles geklappt. War ohnehin der Anrufbeantworter dran." Da sie allein auf ihrer Etage waren, schnappte Angel Franks freie Hand und stoppte dessen Vorwärtsbewegung. "Hab ich denn was Falsches gesagt?!" Frank grimassierte schmerzhaft, drehte sich dann zu Angel herum. "Drinnen", bat er. Angel ließ sich widerspruchslos in ihr Zimmer ziehen, schloss die Tür hinter ihnen. "Ich... ich musste einfach an alte Zeiten denken, das ist alles." "Alte Zeiten? Oh, wegen meiner Bemerkung über besondere Fähigkeiten?! Verdammt, Frankie, das hab ich nicht so gemeint!" Frank schüttelte Angels erschrockene Beteuerungen ab. "Das hat nichts mit dir zu tun, Angel. Ich hab mich bloß gefragt, ob es immer nötig ist, dass man die Leute hinters Licht führen muss. Wollen die das so?" Angel spielte irritiert mit Franks Fingern. "Keine Ahnung. Vielleicht ist es so einfacher auszuhalten. Wenn man sich was vormachen kann." "Und so werden solche Dinge wie mit uns erst möglich, richtig?!" Franks bitterer Ton ließ Angel ängstlich aufsehen. "Ich meine, sonst hätte jemand dafür gesorgt, dass du nicht mehr vergewaltigt wirst. Dass meine Mama nicht auf der Straße landet... Ach Scheiße, die Leuten wollen betrogen werden!!" Wütend schüttelte er seine Hand von Angel frei, ballte die kleinen Fäuste. Sein Blick ging ins Leere, aber es glomm ein unheimliches Licht in den dunklen Augen. "Aber wir werden uns auch schadlos halten! Nicht wahr?!" Angel zuckte zusammen, als Frank ihn so plötzlich wieder direkt ansprach. Er nickte hastig. Frank seufzte leise, rieb sich mit den Fäusten die Augen. "Jetzt hab ich dich erschreckt, oder? Ich sollte wohl besser schlafen gehen." Angel zog Frank rasch in eine Umarmung. "Ist schon okay, Frankie. Du hast recht, keine Frage." Dann küsste er sanft die Zornesfalten von Frankies Stirn. "Danke, dass du die Unterschriften so perfekt nachgemacht hast!" Frank hielt sich an Angel fest, atmete tief durch. "Ich habe jahrelange Übung im Fälschen. Man glaubt gar nicht, was Erziehungsberechtigte alles unterschreiben müssen." Angel spürte, dass Frank wirklich sehr erschöpft sein musste, wenn er seiner Bitterkeit so freien Lauf ließ. "Komm', Frankie, Matratze abhorchen! Ich erzähle dir auch etwas vom Meer!" Aber dazu kam Angel gar nicht mehr, weil Frank sofort einschlief. ~~?* "Es hat geklappt!!" Angel packte Frank stürmisch bei den Hüften und schleuderte ihn wild um sich herum. Frank lachte laut und genoss Angels Überschwang. Schließlich wurde Angel der Drehwurm jedoch zu viel, und er setzte Frank wieder auf die Füße. "Wir haben es." Seine Augen strahlten vor Glück. Frank lächelte und fasste nach Angels Händen. "Wir fahren ans Meer, Angel." "Ja, nur noch zwei Tage." Hand in Hand liefen sie zurück zur Schule. ~~?* "So, ihr Lieben, passt gut auf euch auf, hört ihr?!" Monika wedelte aufgeregt mit den Armen herum, übertönte das Stimmengewirr um sie herum. "Keine Sorge, Monika!" Angel küsste sie zum wiederholten Mal auf die Lippen. Sie drückte Angel fest an sich. "Und du hast meine Nummer hier in Paris, Liebchen?!" "Aber ja!" Angel klopfte auf seine Brusttasche. Monika griff mit der freien Hand nach Franks schmaler Taille. "Und du wirst gut auf mein Zuckerstück achten?" Frank lächelte und nickte. "Hauptsache, du bist in einer Woche wie versprochen wieder hier und sammelst uns ein!" Angel drohte gespielt ernst mit dem Finger. In diesem Moment unterbrach ein Zugbegleiter höflich ihre Unterhaltung. "Wir müssen los, Monika! Bis in einer Woche!" "Je t'embrasse, mon amour!" Angel wurde erneut geküsst, dann konnte er auch hinter Frank in den Zug einsteigen. Der setzte sich gleich in Bewegung, ein ruhiges Gleiten. Frank sackte erschöpft neben Angel in den Sitz. Dieser hatte ihr Gepäck in den Fächern verstaut und kramte aus seinem Rucksack eine Packung Kekse. "Hunger?" Frank schüttelte den Kopf, unterdrückte ein Gähnen. "Ich hab heute schon so viel gesehen, dass ich völlig kaputt bin." Angel grinste breit, rollte seinen Pullover zu einem handlichen Bündel zusammen. "Hier, klemm den in die Ecke und dann schlaf ein bisschen." Frank blinzelte ihm dankbar zu, legte den Kopf auf das improvisierte Kopfkissen und schloss die Augen. Angel schlüpfte aus seinem Anorak und wickelte ihn um Frank. "Schlaf gut, Frankie." ~~?* Ich kann gar nicht glauben, dass alles so gut geklappt hat! Man hat bloß unsere Personalausweise kontrolliert, aber niemand wollte die Briefe sehen! Und jetzt fahren wir ans Meer, ganz allein! Nur noch ein paar Stunden. Ich kann kaum erwarten, sein Gesicht zu sehen, wenn ich ihm das Meer zeige. Aber das wird wohl bis morgen warten müssen, so tief, wie er jetzt schon schläft. Schade eigentlich! Na ja, vielleicht ist er auf der Rückfahrt munterer. Dann kann er sehen, wie groß dieses Land ist! Wie viel Platz es gibt, wie herrlich der Frühling hier die Natur in ein Farbenmeer verwandelt! Vielleicht können wir sogar die Sommerferien zusammen hier verbringen?! Das wäre ein Traum! ~~?* "Wir sind da!" Angel verpasste Frank einen leichten Stoß, als der Überlandbus schwankend zu einem Halt kam. Frank rappelte sich eilig auf und folgte Angel, der sich von dem freundlichen Busfahrer mit dem Gepäck helfen ließ. Dann standen sie im Licht einer vereinsamten Straßenlaterne in einem dunklen Dörfchen. "Okay, wir müssen von der Hauptstraße runter, da hinten den Weg rein!" Angel schulterte den Rucksack, schnappte seine Reisetasche. Frank trottete ihm schweigend hinterher. Bald gewöhnten sich ihre Augen an das Zwielicht der Dämmerung. "Warte hier einen Augenblick, okay?!" Angel ließ seine Tasche fallen und flitzte einen Plattenpfad durch einen Bauerngarten zu einer Kate hoch. Frank versuchte, Angels blonden Schopf durch das seltsame Schilfgras zu erspähen, das fast mannshoch hier wuchs. Angel tauchte bald wieder auf, einen weißhaarigen Mann mit einem imponierenden Vollbart im Schlepptau. "Frankie, das hier ist Papa Noel, er passt auf unser Haus auf!" Frank nickte und schüttelte die große, schwielige Hand verlegen. Er hatte nicht verstanden, was der Mann zu ihm gesagt hatte. Angel dagegen schien mit dem Idiom der Normandie keine Schwierigkeiten zu haben. Er plauderte lebhaft auf den älteren Mann ein. Dieser schnappte sich unaufgefordert Franks Reisetasche und schob Angel vor sich her. Am Ende des Weges, der nur dünn mit einer Schicht Kiesel ausgewiesen war, stand ein Haus, mit den regionaltypisch hellen, dicken Steinen. Ein hölzerner Gartenzaun begrenzte das Grundstück. Statt eines Gartens gab es hier nur eine wuchernde Grasfläche. "Bienvenue!", murmelte Papa Noel, kramte einen Schlüssel aus der alten Cordhose hervor, die er trug. Er öffnete die Haustür, überreichte dann Angel den Schlüssel wie einen Orden. Angel lachte und umarmte den alten Mann zu Franks Überraschung stürmisch. Der lachte mit volltönendem Bass und zerzauste Angels Haare mit seiner Pranke. Dann nickte er Frank zu, schlug ihm auf die Schulter und verschwand wieder den Weg hinunter. Frank verfolgte seinen Abgang verwirrt, rieb sich die malträtierte Schulter. "Komm rein, Frankie!" Angel schaffte ihr Gepäck rein, riss alle Fenster auf. Sofort strich der salzige Geruch des nahen Meeres durch die Räume, vertrieb den abgestandenen Staub. "Okay, wir haben hier die Küche, das ist das Bad, hier das Wohnzimmer und da zwei Schlafzimmer." Frank tapste hinter Angel her, begutachtete alles interessiert. "Wenn... wenn es dir nichts ausmacht, dann teilen wir uns ein Zimmer?! In jedem stehen zwei Betten!" Frank lächelte über Angels erwartungsvoll-unsicher angespanntes Gesicht. "So, wie der Wind hier heulend ums Haus streicht, bin ich nachts lieber nicht allein." "Toll!" Angel strahlte und machte sich sofort eifrig daran, Bettzeug aus einem massiven Holzschrank zu zerren und auszulüften. "Schau mal in der Küche nach, wie viele Konserven noch da sind, ja?!" Frank verschwand folgsam in der Küche und inspizierte die Reserven. Dann drehte er die Wasserhähne überall auf, um die Rohre zu reinigen. Gemeinsam machten sie Tee und aßen den Rest der mitgebrachten Brote. "Was denkst du, hältst du es eine Woche mit mir allein aus?!" Angel kaute vollmundig, zwinkerte Frank zu. Frank ließ den Tee im Mund kreisen. "Es wird bestimmt toll! Angel, das sind meine ersten Ferien!" Er strahlte in Angels Lächeln. Dieser griff über den Tisch nach Franks Hand, verschwörerisch. "Ich verspreche, das werden die besten ersten Ferien in deinem Leben werden! Und morgen zeige ich dir das Meer!" ~~?* Sie verbrachten den Vormittag damit, in den Nachbarort zu wandern und dort Lebensmittel einzukaufen. Dann stellten sie einen Picknickkorb zusammen und machten sich auf zur Küste. ~~?* Angel lief im Rückwärtsgang vor Frank her, schwenkte den Korb. "Okay, gleich wird's spannend!!" Frank warf den Kopf in den Nacken und blinzelte der Sonne zu, die die Luft aufwärmte. Doch der frische Wind vom Wasser her sorgte dafür, dass sein heißgeliebter Fleece-Pullover die angemessene Kleidung blieb. Angel bremste, drehte sich herum. Er stellte den Korb neben sich auf das Gras, streckte eine Hand nach Frank aus. Frank ergriff die warme Hand und folgte Angel langsam zum Ende der Grasfläche. Vor ihnen breitete sich scheinbar endlos das Meer aus, dunkelblau mit Sahnehäubchen aus Schaum. "Phantastisch", flüsterte Frank ergriffen. Angel sog neben ihm tief die salzige Brise ein. "Und jetzt komm ein paar Schritte weiter!" Hand in Hand wagten sie sich bis zum Rand der Klippe vor. "Da, weiße Felsen, siehst du?!" Frank tappte neugierig noch ein Stück vor, um die ungewöhnlichen Felsen genauer betrachten zu können. Das veranlasste Angel, hinter ihn zu treten und beide Arme fest um ihn zu schlingen. "Sei vorsichtig, Frankie! Wir können bei Ebbe über den Strand unten ganz nahe an sie heran." Frank drehte sich leicht in der Umarmung. "Wann?! Ich muss sie malen!!" Angel brach in ein herzliches Gelächter aus. "Morgen, wenn du es bis dahin aushalten kannst?! Für heute ist nämlich ein Sturm angekündigt." Frank wandte den Kopf wieder dem Meer zu und seufzte. "Ich wünschte, meine Mama könnte das hier sehen!" Angel küsste ihn tröstend auf die Wange. Frank lächelte leicht. "Weißt du, ich bin sicher, sie sieht es! Weil ich es ja gesehen habe!" Er löste sich aus Angels Umarmung und zog diesen zu ihrem Picknickkorb. ~~?* Sie vertrödelten den Nachmittag mit einem langsamen Spaziergang durch das Dorf, als sich die ersten Vorboten des Sturms ankündigten. ~~?* Angel zog Frank energisch hinter sich her, dessen Handgelenk fest umklammernd. Er beschleunigte seine Schritte so stark, dass Frank nur noch stolpernd hinterher hasten konnte. Der Himmel war schiefergrau. Die Möwen rasten im Sturzflug klagend über ihre Köpfe, wie verlorene Seelen. Angel hielt auf der Spitze einer Klippe an. Seine Augen glühten in unheiligem Feuer, der Mund war geöffnet, als wollte er die Atmosphäre mit allen Sinnen in sich aufsaugen. Der Sturm trieb die Wellen in die Klippen, meterhohe Schaumkämme rasten in wilder Wut gegen die Steinwände. Weiße Gischt schoss in die Höhe, erbrach sich über den Klippen. Die Luft vibrierte vom Tosen der Wellen, ein Geruch von Salz und Ozon betäubte die Sinne. Wetterleuchten illuminierte die finstere See, der Horizont war nicht mehr auszumachen. Der Himmel erlosch, dann flammten die Blitze wie Irrlichter auf. Der Sturmwind jaulte, heulte gefangen in den Klippen, preschte mit unverminderter Gewalt über das Land. Angel lachte, sein Gesicht leuchtete von Innen heraus. Elektrische Ladungen erfüllten die Luft, zum Greifen nah. Der Wind kühlte die Frühlingsluft arktisch aus, färbte ihre Wangen rot. Dann verstummte er plötzlich, unwirkliche Stille hinterlassend. Sie schnappten beide nach Luft, als habe die Windstille auch allen Sauerstoff aus ihren Lungen getrieben, lechzten nach dem Sturmwind. Die Lippen von Salz verkrustet, aufgerissen, eisig. Bedrohliche, turmhohe Wellen warfen sich blindlings gegen die Felsen, wollten die sichere Bastion des Landes im Sturm überrennen. Das Gewitter rückte unaufhaltsam auf die Küste zu, Blitze aussendend wie Herolde des Weltuntergangs. Regenschauer, verweht, prasselten auf die gepeinigte Erde. ~~?* Ich liebe die Stürme hier. Es ist eine existentielle Erfahrung, an der Steilküste zu stehen und die Wellenberge auf das Land zurasen zu sehen. Die Gewalt, mit der sie zerschellen. Die Schaumkronen, die im schwarzen Himmel erstrahlen. Die Wolkenberge, die so dicht und niedrig sind, dass sie das Land berühren. Wenn es keinen Horizont mehr gibt, weil Himmel und Meer eins sind. Und dann beginnt der Wind sein Spiel. Stark, unbesiegbar streicht er um uns herum. Seine Kraft ist ungeheuer. Dann verschwindet er urplötzlich. Und man ringt automatisch nach Sauerstoff, keucht hilflos, will lieber eisigen Sturm ertragen als diese Leere im Raum, die Windstille. Man glaubt zu ersticken. Und dann kommt er wieder wie ein Faustschlag ins Gesicht. Ungehemmt, mörderisch. Ich liebe diese Extreme! In diesen Momenten fühle ich mich lebendig. Wenn das Salz meine Lippen aufreißt, der Wind meinen Körper auskühlt, der Regen mich durchnässt. Ich lebe!! Und ich liebe es, zu leben. Und zu fühlen. In diesen Momenten kann ich vergessen, was ich bin. Hier zählt nur eins: die pure Existenz. ~~?* Frank zerrte Angel von der Klippe weg zurück in die Sicherheit des Hauses. Der Rückweg war glitschig, Sturzbäche von Wasser folgten ihnen. Schließlich rannten sie, gejagt von den jaulenden Horden des Sturmwindes. Die Luft brannte von Elektrizität. Nur ein Funke bis zur Explosion. Sie erreichten atemlos das Haus, mussten sich gemeinsam gegen die Tür stemmen, damit das Schloss einrastete. Klatschnass lehnten sie an der Dielenwand, nach Luft ringend. Der erste Blitz raste über das niedrige Haus hinweg. Frank schrie erschrocken auf und presste die Hände auf die Ohren. Angel fing seinen Blick auf, nur einen Sekundenbruchteil, während der Blitz die Dunkelheit zerfetzte. Er schleuderte Frank heftig an die Wand, presste die schmalen Handgelenke in das grobe Gestein. Dann senkte er die Lippen auf Franks, saugte gierig dessen Atemluft ein. Sie teilten den Geschmack von Blut und Salz. Frank wand sich heftig, aber Angels Griff war übermenschlich stark. Er ergab sich Angels Drängen, der glühenden Zunge, die ihn in Besitz nahm. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, während Angel hungrig Atemluft abschöpfte. Ein weiterer Blitz schlug ein, Funken sprühend erzitterte der Stromverteiler auf der Straße. Angels kurze Ablenkung nutzte Frank, um krampfhaft um Luft zu ringen. Angel gönnte ihm nur einen kurzen Aufschub, gerade so viel Zeit, wie er benötigte, um Frank die nasse Jacke und die Hose vom Leib zu zerren. Selbst noch in klatschnasser Montur klammerte er sich eng an Frank und küsste ihn wieder erstickend. Frank kämpfte seine Arme frei und begann, Angel die Kleider abzustreifen. Sein eigener Körper zitterte schon unter der eisigen Nässe. Angel war kaum zu bändigen, völlig ekstatisch. Mit dem nächsten Blitz, der erneut den Verteiler traf und einen ohrenbetäubenden Knall erzeugte, ließ er endlich von Frank ab, der zitternd auf den Boden sackte. Ein Blick in Angels irrlichternde Augen verriet ihm, dass Angel durch Worte längst nicht mehr zu erreichen war. Die Elektrizität in der Luft löste diesen Wahnsinn aus. Angel zog Frank auf die Beine, zerrte ihn eilig in ihr Zimmer. Dort schubste er ihn heftig auf die Matratze, drückte ihn mit seinem überlegenen Körpergewicht herunter. Frank erbebte unter Angels erneuten Attacken, er rang verzweifelt nach Luft, wand sich hilflos. Der Sturm schien Ewigkeiten zu dauern. Frank glühte inzwischen, seine Lippen waren klebrig vor Blut. Angel kauerte noch immer über ihm, die Zähne von Blut rot gefärbt, die Augen vom beißenden Wind entzündet. »Wir sind wie wilde Tiere! Und noch immer hungrig!« ~~?* Frank erwachte mit einem trockenen Hals und einem metallischen Geschmack im Mund. Er blinzelte müde, verzog dann die Lippen, was Schmerzen hervorrief. Die gespannte Haut platzte wieder auf. Im Zwielicht des Morgens wandte er den Kopf. Angel lag neben ihm, die Haare völlig zerzaust. Auf den Lippen, die ebenso rissig wie seine eigenen waren, klebten noch dunkle Überreste getrockneten Blutes. Die Augen waren von Schatten umwölkt, aber Angels Atem ging langsam und tief. Frank schmunzelte, dann erhob er sich leise, schnappte sich ein paar trockene Sachen und huschte in die Küche. ~~?* "Angel, wach auf, Frühstück ist fertig!" Angel drehte sich brummend auf die andere Seite. "Na los!" Ein Waschlappen kreiste über das schläfrige Gesicht. "Hmmm!! Wassollndas?!" Angel setzte sich schwankend auf, wischte Haare aus dem Gesicht und gähnte dann laut. Frank deckte in der Küche den schweren Tisch aus dunklem Holz. "Komm, ich hab dir extra Tee mit viel Zucker gemacht!" Angel torkelte mit einem Haufen Kleidern unter dem Arm über die Diele ins Badezimmer. "Uaahh, kalt!!" Frank kicherte leise, als er Angels Protestschrei hörte. Nur wenige Augenblicke später tauchte ein zerrupfter Angel auf, vollständig bekleidet, die Wangen vom kalten Wasser gerötet, die nassen Haare in einen Handtuch-Turban gewickelt. Entschuldigend hob er die Schultern an. "Ich vergesse immer, wie kalt das Wasser hier ist." Frank grinste und schob Angel den zuckersüßen Tee zu. "Hier, das ist schön warm und süß!" Angel lächelte ihm dankbar zu, verzog dann den Mund wegen der aufgeplatzten Lippen und schlürfte den Tee. "Aahh, das habe ich jetzt gebraucht!" Dann bestrich er hungrig eine dicke Scheibe des Bauernbrotes mit Marmelade. "Und, wollen wir heute zum Strand gehen?!" Frank nickte begeistert. "Gern!! Aber... aber was machst du, wenn ich zeichne?" Angel wedelte leichthin mit der Hand. "Ich lese, liege faul in der Sonne, sorge dafür, dass du nicht pausenlos zeichnest... mir fällt schon eine Beschäftigung ein!" Frank grinste, "da habe ich keine Zweifel!" Sie tauschten ein verschwörerisches Lächeln aus. ~~?* "Puh, Angel, ich glaub, wir müssen Labello und Sonnencreme kaufen. Meine Haut ist rau wie ein Reibeisen!" Angel lachte und sprang übermütig vor Frank auf dem Pfad hin und her. "Ich schmier dir Honig ums Mäulchen, mein Zuckerbär, das ist ein altes Hausmittel!" Frank schüttelte gespielt verärgert den Kopf, während Angel ihm eine Kusshand zuwarf. Dann drehte er sich um, um den Weg zum Haus einzuschlagen. Und blieb wie angewurzelt stehen. "Angel?!" Angel war wachsweiß, dann begann er zu zittern. "Das Auto... mein Vater..." ~~?* "Keine Angst!" Betont munter ergriff Frank Angels kalte Finger, zog ihn sanft hinter sich her. "Wie in die Sonne sehen, Angel! Du kannst das!" Angel klapperte mit den Zähnen, bremste heftig. In seinen Augen stand der blinde Fluchttrieb. Frank warf einen inspizierenden Blick in ihre Umgebung, dann zog er Angel am T-Shirt zu sich herunter und küsste ihn intensiv auf den Mund. Angels Augenlider flatterten, als Frank ihn wieder losließ. "Angel, ich bin bei dir! Vertrau auf deinen Mut!" Angels Augen flehten um Verschonung, aber Frank blieb hart. "Gehen wir. Zeit, deinen Vater zu begrüßen!" ~~?* Angels Vater saß in der Küche und blätterte in einer Zeitung. Frank trat forsch auf ihn zu. "Guten Abend, Herr St.Yves! Ich bin froh, Sie hier zu sehen! Und vielen Dank, dass ich mit Angel hier die Osterferien verbringen kann!" Er streckte die Hand aus und schüttelte die dargebotene bekräftigend. "Nun, mein Sohn, ich hatte mir gedacht, dass ich dich hier finde. Eine Überraschung, wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen!" Angel nickte bleich, ließ sich steif in eine Umarmung ziehen. Er suchte Franks Blick. Dieser lächelte weiterhin undurchdringlich, begann, den Tisch für das Abendbrot zu decken. Sie aßen in gespanntem Schweigen. "Wenn du uns einen Augenblick entschuldigst, Frank, wir müssen etwas Familiäres besprechen." Frank stand auf, nickte und warf Angel einen ruhigen Blick zu. "Natürlich. Ich gehe schon mal in unser Zimmer, Angel." ~~?* Ich möchte am Liebsten aufspringen und wegrennen. Er geht. Geht einfach. Lässt mich mit ihm allein. Und sofort liegt seine Hand auf meinem Oberschenkel. "Xavier, wieso schleppst du den Jungen hier an?!" Ich starre auf meinen Teller, würge still. "Komm her!" Mein Herz platzt vor Schlägen, in meinen Ohren dröhnt es. Er könnte es gleich hier machen. Er weiß, dass ich nicht schreie. Keinen Laut von mir gebe. Habe ich niemals getan. Ich habe Angst. Bin gelähmt. Wie immer. Was...? Der Stein? Wie...? Frankie!! Ich umklammere den Stein in meiner Hosentasche. Seine Hand auf meinem Oberschenkel wird fordernder. Ich muss es schaffen. "Xavier?!" "Nein", flüstere ich. "Was ist..." "Nein!" "Xavier, sei ruhig, wenn..." "Nein!!" Endlich kann ich den Kopf heben. "Nein!! NEIN!!" Er wird bleich vor Wut, springt auf. Ich reagiere ebenso schnell. An seiner Schläfe zuckt ein Nerv. Zum ersten Mal... erkenne ich, dass wir gleichgroß sind. Dass er graue Strähnen und Falten hat. Menschlich ist. Besiegbar. Der Stein in meiner Faust wärmt mich. "Xavier, reiß dich zusammen und hör mit diesem blöden Geschrei auf!" Er streckt die Hand nach mir aus, aber ich weiche zurück. Sein Gesicht nimmt etwas Bittendes an, unsicher, weichlich. "Lämmchen, komm wieder her, hm?!" "Nein! Nie wieder!!" Nie wieder Nie wieder Wie das klingt, wundervolles Echo in meinen Ohren. Er presst die Lippen zusammen. Ballt die Fäuste. "Du wirst jetzt wieder herkommen, Xavier, oder ...!" "Nein! Nein, nie wieder! Nie wieder, hörst du?!" "Was fällt dir ein, so mit mir zu reden?!! Ich bin dein Vater!!" Ich starre ihn an. Dann bricht das Kichern aus mir heraus. Ein hysterisches Gelächter, das ich nicht wieder meine Kehle hinunterschlucken kann. Er kocht vor Wut. "Ich werde dir deine Unverschämtheit schon austreiben! Wie denkst du darüber, dein Internat zu verlassen?! Oder eine Geldsperre?!" Er grinst diabolisch, fühlt sich stark. Ich denke an Frankie. Den Stein in der Tasche. Was würde er tun? »Du musst dir ihren Schwachpunkt vor Augen führen. Und dann zuschlagen. Wenn du ihnen dann in die Augen siehst, kannst du ihre Angst sehen. Und dann hast du es geschafft.« Ich sehe ihn an, sein triumphierendes Grinsen. "Wenn du das tust, werde ich allen erzählen, was du getan hast. Ich habe ja dann nichts mehr zu verlieren." Er wird stocksteif. Langsam bröckelt sein Grinsen ab. Seine Augen flackern wie eine defekte Deckenleuchte. "Das würdest du nicht tun! Du hast bis jetzt ja auch geschwiegen!" Ich halte mich an meinem Stein fest. "Nun werde ich nicht mehr schweigen. Ich werde es allen erzählen! Mir ist egal, was andere dann über mich denken." Er zuckt. Ich habe den wunden Punkt erwischt. Er hat Angst. Dass sein Ruf leiden könnte. "Du wirst mir überhaupt nichts streichen, Vater. Denn, wie du schon sagtest, ich bin dein Sohn." Ich drehe mich herum und verlasse den Raum. Ganz langsam, wie aufgezogen. Durch einen dunklen Tunnel kann ich gerade eben noch unsere Zimmertür erkennen. Ich poltere unbeholfen gegen das Türblatt. ~~?* Frank riss die Tür auf und fing Angel auf, der kraftlos hineinstürzte. Er zitterte am ganzen Leib. "Ich... ich hab es geschafft." Angels Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen, er verkroch sich förmlich in Franks Armen. Dieser wankte mit seiner Last zu einem der Betten, ließ sich rücklings darauf fallen. Dann streichelte er durch die weißblonden Haare, liebkoste den bebenden Rücken. "Ich bin sehr stolz auf dich, Angel! Sehr stolz!" Angel schluchzte heftig in Franks T-Shirt, die nervöse Anspannung suchte sich ihr Ventil. "Wir haben es geschafft, Angel." Und Frank schloss die Augen. ~~?* Als sie am nächsten Morgen mit zerdrückter Kleidung erwachten, strahlte die Sonne durch das Fenster herein. "Ein perfekter Tag für den Strand", befand Frank. Angel zögerte an der Tür, öffnete sie dann aber entschlossen. "Vater?!" Langsam bewegten sie sich durch das Haus. "Er ist weg. Das Auto ist auch fort." Angel atmete erleichtert durch. "Gott sei Dank!" Frank knuffte ihn sanft. "Lass uns frühstücken, Angel." ~~?* Sie saßen nebeneinander auf einer grasbewachsenen Klippe und sahen auf das Meer hinaus. Angel hielt wie immer Franks Hand. "Was werden wir tun?" Frank drückte Angels Hand liebevoll. "Einen Fuß vor den anderen setzen." Angel wandte den Kopf zu ihm herum. "Glaubst du, wir können immer zusammen bleiben?! Ich meine, so etwas wie eine lebenslange Freundschaft?" Frank blinzelte auf die Wellen hinaus. "Ich möchte ganz fest daran glauben, dass es möglich ist." Dann lächelte er Angel zu. "Willst du mein lebenslanger Freund sein?" Angels Miene schwankte zwischen Lächeln und feierlichem Ernst unentschlossen hin und her. Dann nickte er stumm, löste seine Hand aus Franks und legte sie unter dessen Kinn. "Unbedingt!" Und er küsste Frank lange. Freundschaft ein Leben lang. Und vielleicht.... irgendwann... mehr?! ~~?* Amazing 5:55 (Tyler /Supa, 1992, Aerosmith) I kept the right ones out And let the wrong ones in Had an angel of mercy to see me through all my sins There were times in my life When I was goin' insane Tryin' to walk through the pain When I lost my grip And I hit the floor Yeah, I thought I could leave but couldn't get out the door I was so sick and tired Of livin' a lie I was wishin' that I would die It's amazing With the blink of an eye you finally see the light It's amazing When the moment arrives that you know you'll be alright It's amazing And I'm saying a prayer for the desperate hearts tonight That one last shot's a permanent vacation And how high can you fly with broken wings? Life's a journey not a destination And I just can't tell what tomorrow brings You have to learn to crawl Before you learn to walk But I just couldn't listen to all that righteous talk I was out on the street Just tryin' to survive Scratchin' to stay Alive It's amazing With the blink of an eye you finally see the light It's amazing When the moment arrives that you know you'll be alright It's amazing And I'm saying a prayer for the desperate hearts tonight < ~~?* ENDE ~~?* -Fortsetzung in "Tanz am Abgrund" Vielen Dank fürs Lesen! kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Weniger als einen Monat später ließ ich den zweiten Teil auf die Leserschaft los, von diversen Songs begleitet, die die Stimmung untermalen sollten. Dieses Mal sind es Angels Augen, die die Ereignisse verfolgen, was insbesondere bei einigen Szenen herausfordernd war, um seine innere Zerrissenheit deutlich zu machen. Was den meisten augenscheinlich entging, ist Franks Wehrhaftigkeit, seine eigene Stärke und auch den unbedingten Willen, sich durchzusetzen, wenn es ihm erforderlich erschien. Frank ist kein Lämmchen und Angel ebenso unsicher wie herausfordernd. Zu ihnen gesellt sich nun Monika, der ich eine pikante Rolle zugedachte, die aber in den Kritiken wohlwollend aufgenommen wurde.