Titel: Angels Geschichte, Buch 4: Verwandte Seelen Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Erstellt: 12.04.2001 Disclaimer: Es werden mehrere Songs zitiert, die ihren Textern gehören. Anmerkungen: Dies ist die Fortsetzung zu "Giftiges Efeu", "Feuertaufe" und "Tanz am Abgrund", die man zum besseren Verständnis gelesen haben sollte. ~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?*~~?* Angels Geschichte, Buch 4: Verwandte Seelen Kapitel 1 Angel rieb sich über die Augen und stöhnte unterdrückt. Er saß noch immer am Tisch mit seinen Kameraden, Monika warf ihm noch immer besorgte Blicke zu und noch immer feierten sie seinen Geburtstag.... Er erhob sich schwankend und zwang ein entschuldigendes Lächeln in sein gezeichnetes Gesicht. "Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich gern wieder nach oben gehen, ich fühle mich nicht so besonders..." Sofort wurde es still im dem verwaisten Speisesaal. Die überdrehte, fast schrille Munterkeit der Gespräche verschwand spurlos. Beschämte und hilflose Blicke trafen Angel, undeutliches Gemurmel antwortete ihm. "Ich bringe dich nach oben, Liebchen!" Monika erhob sich nun auch, strich unbewusst Knitterfalten aus ihrem Kostüm, dann lächelte sie Angel sanft zu und griff seine Hand. "Vielen Dank für eure Gastfreundschaft, Jungs, Horst! Und nun noch einen schönen Abend!" Sie zog Angel langsam hinter sich her, schwere Schritte in einem endlos erscheinenden Treppenaufgang. "Angel...", ihre Stimme klang entfernt, zögerlich, "da ist etwas...", sie blieb auf dem nächsten Absatz stehen und stellte sich direkt vor Angel, suchte in seinen Augen. Angel selbst war zu müde, um sich hinter Floskeln oder Masken zu verbergen. Er gab sich ihrem Blick preis, zeigte seinen stumpfen Schmerz, die Resignation, die ihn in den letzten Minuten befallen hatte. »Meine Seele ist müde. Ich möchte nur noch schlafen, ohne Träume, ohne Gedanken an ein Erwachen.« Monika presste die Lippen zusammen, noch immer in ein giftiges Rot getaucht. »Ja«, antwortete sie stumm, »ich verstehe. Lass dich nicht täuschen von meiner Maske.« Dennoch straffte sie sich, kniff die Augen zusammen und atmete tief durch. "Die Polizei hat Franks Sachen freigegeben. Seinen Rucksack." Angel reagierte nicht. "Der Rucksack ist hier. Und da Frank ja keine Familie hat..." Monika biss sich auf die Lippen, ihre Kehle war nun zugeschnürt von Tränen, die ihre Augen überwältigten. Sie musste sich abwenden und mehrfach durchatmen, um wieder die Gewalt über ihre Stimme zu erlangen. "Horst will ihn dir geben. Ich hole ihn, warte bitte hier!" Ohne Angel noch einmal anzusehen, flog sie die Stufen hinab, die sie so schwerfällig erklommen hatten, floh vor dem Schmerz. Angel lehnte sich gegen eine Wand und rutschte langsam an ihr hinab. Er wollte nicht mehr denken, nicht mehr reagieren müssen. Und keine Gefühle mehr haben müssen. Seine ganze Kraft hatte ihn verlassen. Er bezweifelte, dass er jemals wieder diesen Treppenabsatz verlassen konnte. Aber das war auch nicht wichtig. Nichts war mehr wichtig. ~~?* Monika rannte über den Hof zum Nachbargebäude, mit voller Kraft und weit ausholenden Schritten. Sie wollte davonlaufen, sich nur auf die protestierenden Muskeln konzentrieren, nur noch Körper sein. Beiläufig registrierte sie das knirschende Geräusch von reißendem Stoff, aber das war unerheblich. »Nur weg, alle Banden, alle Fesseln abstreifen!!!« Atemlos erreichte sie das Lehrerzimmer, die Tür war unverschlossen. Auf dem großen Tisch lag vereinsamt ein alter, abgenutzter Rucksack. Man konnte an den helleren Flecken in der Textilstruktur erkennen, dass er gereinigt worden war. Sie grub die Fingernägel tief in den Stoff. »Natürlich...« Dann presste sie den Rucksack mit beiden Armen fest vor die Brust und schluchzte leise, wiegte sich hin und her, monoton summend. Als könnte sie das Kind trösten, dessen Blutspuren man abgewischt hatte. ~~?* Angel starrte ins Leere, wartete auf den Schlaf. Er war so erschöpft, dass dieser eigentlich leichtes Spiel haben sollte. Aber er konnte nicht die notwendige Ruhe erreichen, weil in seinem Kopf das Bestreben, an nichts zu denken, unermüdlich seine Runden zog. Nicht einmal, wenn er die Augen schloss, verschwand diese verzweifelte Konzentration aus seinem gemarterten Geist. Endlich fiel ein Schatten über ihn. Monika war zurückgekehrt, den Rucksack an sich gedrückt wie einen kostbaren Schatz. Sie sahen einander für einen ewigen Augenblick an. Monika streckte die Arme aus und gab den Rucksack widerstrebend weiter. Angel nahm den vertrauten Gegenstand an sich, so oft gesehen, so oft angefasst, weg geschoben, unter das Bett gefeuert... »Hätte ich gewusst, dass du das Letzte bist, was mir von Frankie bleibt, hätte ich dich sehr viel besser behandelt!« Angel zog die Reißverschlüsse langsam auf. Taschentücher. Portemonnaie. Hustenbonbons. Ein Lehrbuch zur Algebra. Ein prall gefülltes Mäppchen mit Farbstiften. Ein Skizzenblock. Ein zusammengerolltes Stück Papier. Angel warf einen fragenden Blick zu Monika hinauf, die einige Stufen unter ihm stand und ihm mit beklommenem Gesicht zusah. Eine irrationale Furcht erfüllte ihn, die Kordel, die das schon leicht ramponiert wirkende Dokument umschloss, zu lösen. Dann aber siegte seine Neugier über seine Furcht. Behutsam und in Zeitlupe entrollte er das Pergament. "Oh mein...!" Monika schlug eine Hand vor den Mund, während die andere das Treppengeländer umklammerte, um nicht zu stürzen. Angel nahm das Bild in sich auf, Millimeter für Millimeter. Registrierte die Striche voller Eleganz und Schwung, die Verbindung Kohle-Papier, die sorgfältigen Schatten, die technische Vollendung. Sein Geist weigerte sich, das Bild als eine Gesamtheit zu betrachten, schützte ihn instinktiv. »Nur ein Bild«, suggerierte er, »nur Kohle auf Papier, nur Striche...« Ein endloses Mantra. Angel rollte das Pergament zusammen und packte es wieder behutsam in den Rucksack. Mühsam kämpfte er sich wieder in die Senkrechte. "Ich muss jetzt schlafen", flüsterte er mit zerbrochenem Lächeln, dann stieg er langsam die Stufen hinauf. Monika folgte ihm mit den Augen, aber sie konnte ihn nicht begleiten. Dieser Anblick war zu aufwühlend gewesen. Als Herr Karlsson nach einer Viertelstunde die anderen Jungs in ihre Zimmer scheuchte, stand sie noch immer auf der Treppe und umarmte sich selbst zitternd. ~~?* Angel betrat sein Zimmer und schlüpfte im Gehen aus seinen Sachen. Achtlos verstreute er sie bis zu seinem Bett, rollte sich unter die Decke, den Rucksack wie einen Talisman umklammernd. Die Dunkelheit brach herein, doch zum ersten Mal seit einer Ewigkeit unternahm er nichts dagegen. Der helllichte Tag hatte mehr Schrecken und Schmerz verursacht, als es je die Drohungen der Dunkelheit getan hatten. ~~?* Er träumte. Rannte in einer undurchdringlichen Dunkelheit endlos dahin. Kein Fluchtpunkt. Plötzlich, am Horizont, ein schwaches Funkeln! Sein Herzschlag beschleunigte sich, Hoffnung ließ seinen Pulsschlag dröhnen. Er steigerte das Tempo, die Augen fest auf das langsam wachsende Licht gerichtet. Freudige Erwartung durchströmte seinen Geist. Er kniff die Augen zusammen, versuchte, dem Schemen eine Gestalt, ein Gesicht zu geben. Wer? Wer bist du? Ein unerwarteter Schauer von Angst erfüllte ihn. Nein!! Warte!! Er wurde schneller und schneller, wie ein Pfeil raste er dahin. Die Gestalt wurde konkreter, bekam eine menschliche Form. Ich... Ich kenne dich!! Schneller!! Das Licht, das die Gestalt umgab, vertrieb die Dunkelheit, blendete ihn fast. Er blinzelte, wagte aber nicht, die Augen abzuwenden, aus Furcht, er werde wieder in der endlosen Finsternis zurückgelassen. Frankie? Frankie!!! Glückseligkeit überschwemmte ihn wie ein Tsunami, er ließ sich mitreißen. Frankie!!! Die Gestalt hob einen Arm und winkte ihm zu. Er rannte nun so schnell, dass seine Gliedmaßen sich auflösten, sein Körper sich verlor. Bitte!!! Die Gestalt legte den Kopf schief, stemmte die Arme in die Hüften, als wollte sie amüsierte Ungeduld signalisieren. Warte!! Schneller und schneller kam er näher, dann stockte sein Herz. Sie hatte kein Gesicht! Eine blanke Maske ohne Mimik. Ein Trugbild!! Nein!!! Gequält schrie er, aber sein Körper war verloren, er war ein Pfeil ohne Ziel, ohne Umkehr. Und so flog er ungebremst in das Zentrum des gleißenden, kalten Lichts. ~~?* Drückende Hitze weckte Angel langsam aus betäubtem Schlaf. Sein Kopf dröhnte, seine Augen, an die blanke Decke gerichtet, waren entzündet. Er starrte ins Leere und zwang sich zu einer Bestandsaufnahme. Es war nicht möglich, länger hier zu bleiben. Morgen würden sie unwiederbringlich dieses Haus verlassen. »Eigentlich sollte ich auch helfen, alles herzurichten. Stattdessen liege ich hier herum und bemitleide mich selbst! Frankie hätte mir schon längst in den Hintern getreten... Ach, Frankie!!« Er schüttelte den Kopf wild, vertrieb die schmerzhaften Erinnerungen in die hinterste Ecke seines Bewusstseins und erhob sich dann. "Igitt!" Angewidert sah er sich um. Überall Wäschestücke, die längst in die Waschmaschine gehörten, dazu noch immer sein gesamtes Reisegepäck mit der Schmutzwäsche!! Und das Bettzeug war nun schon zum wiederholten Mal durchgeschwitzt worden, seinen eigenen Aufzug wollte er gar nicht mehr ins Kalkül ziehen. »Oh ja, seht euch das Fotomodell doch an, klebrig, stinkend und hässlich!!« Er schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte, knurrte heiser. Es war zehn Uhr morgens, und er würde, zur Hölle noch mal, sich nicht mehr so gehen lassen!! Angel kramte ein sauberes Handtuch aus einer Kiste. Das musste als Feigenblatt reichen! Er schnappte sich seinen Kulturbeutel, grub die Fingernägel fest in den Stoff. Dann schritt er mit betont festem Auftreten über den Flur zu den Duschen. Er nahm vage Stimmen wahr, die anderen waren offensichtlich schon fleißig, aber hier oben war kein Mensch. Er zog ein sauberes Badetuch aus dem Regal, ließ das Feigenblatt achtlos fallen. Um sich dann wieder zu bücken und es sorgfältig aufzuhängen. Frankie hätte keine Schlamperei geduldet! Er drehte die Brause auf und schlüpfte tief durchatmend darunter. Den Kopf in den Nacken gelegt streckte er die Hände nach der Quelle des lauwarmen Nasses aus, schloss die Augen. Es tat so gut, endlich wieder sauber zu werden, allen Schmutz abzuspülen! Ein fast ekstatisches Gefühl durchschauerte ihn, er musste ein schrilles Lachen unterdrücken. Dann drehte er ordentlich den Hahn zu, um sein Duschgel zu suchen. Bei der Betrachtung der verschiedenen Tuben zögerte er, führte eine an die Nase und sog den Geruch tief ein. Ja, Frankie hatte diese in Frankreich mit ihm gekauft. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich genau daran erinnern, wie sie nach einem Spaziergang an den Klippen entlang eine Dusche gemeinsam genossen hatten. Wie er die Finger sanft über den zarten Körper mit den Vogelknochen gleiten ließ, die wirren Strähnen shampoonierte. Er war damals sehr überrascht und dankbar gewesen, dass Frank ihm diese Freiheit gestattet hatte. Dieses Gefühl hatte aus diesem simplen Akt der Reinigung eine ehrfurchtsvolle Andacht gemacht. »Mir kam in keinem Augenblick der Gedanke, die Initiative zu ergreifen, oder mehr zu fordern, als er mir zugestand.« Angel öffnete die Augen wieder und nahm die Tube mit zur Dusche. »Wenn ich deinen Geruch auf meinem Körper trage, werde ich mich nicht so verlassen fühlen!« ~~?* Er kehrte aus der Dusche zurück, zerrte die Bettwäsche herunter und ließ sich auf die nackte Matratze sinken. Prüfend ruhten seine Augen auf dem Rucksack, der mit ihm das Bett geteilt hatte. Dann glitten seine Finger über den Stoff, nahmen die Unebenheiten, die Farbnuancen, die waffelförmige Struktur auf. Schließlich zog er die Reißverschlüsse herunter. Und breitete langsam den Inhalt des Rucksacks um sich herum aus. Die Taschentücher, die Frank immer mit sich herumgetragen hatte, weil es einfach ein Zeichen der Ordnung war. Das Portemonnaie, alt, sorgsam geflickt an den abgenutzten Ecken, das wirklich nur Geld enthielt und sonst nichts. Hustenbonbons, weil er von der Hitze immer einen trockenen Hals bekam. Ein Lehrbuch zur Algebra. Angel blinzelte Tränen weg, das war typisch Frankie, niemals aufzugeben. Das prall gefüllte Mäppchen mit den Farbstiften, ständiger Begleiter. Und der Skizzenblock. Angel blätterte ihn vorsichtig auf und fand Skizzen und Abrisse zu Gebäuden, Räumen und ganz versteckt, ein Bild, das sie beide zeigte. Er kannte es nicht, Frank musste es gezeichnet haben, als er gearbeitet hatte. Sie saßen gegen ein riesiges Kissen gelehnt, er selbst hatte die Beine aufgestützt und beide Arme um Frank geschlungen, ein Buch in den Händen. Frank hatte den Kopf auf Angels Schulter gelegt, die rechte Schulter fest an Angels Brust gedrückt, die Beine angewinkelt. »Als ob er meinen Schutz sucht«, dachte Angel überrascht. Franks Augen schienen wie seine eigenen auf den Seiten des Buches zu kleben, aber während sein Gesicht ein übermütiges Lächeln zierte, war Franks Gesicht verzagt. »Was für ein Buch hast du uns lesen lassen?«, fragte sich Angel irritiert. »Und warum verkriechst du dich bei mir? Es war doch immer umgekehrt, ich habe deinen Schutz gesucht, mich in deine Arme geflüchtet. Hast du etwas geahnt?« Erschüttert klappte er den Skizzenblock zu und griff nach dem zusammengerollten Stück Papier. Tief durchatmend wickelte er es langsam auf. Dieses Mal wollte er es als Gesamtheit betrachten, stark genug sein. Franks Gesicht lächelte ihm entgegen, voller Zuversicht und Lebensfreude. Als hätte ein starker Wind die glimmende Kohle in seiner Seele zu einem Feuer entfacht. Hauchzart fuhr Angel die Linien nach, streichelte das spitze Gesicht, das ihm so glücklich entgegenblickte. Er kämpfte nicht gegen die lautlosen Tränen an, die seine Wangen benetzten. »Du hast es also geschafft, nicht wahr, Frankie?! Hast dich selbst gefunden. Wie sehr wünschte ich, bei dir gewesen zu sein!« Ein verlorenes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. »Aber ich habe schon immer gewusst, was für ein wundervoller Mensch du bist!« Vorsichtig rollte er das Papier wieder zusammen, verstaute es sorgfältig mit den anderen Habseligkeiten in dem ramponierten Rucksack. »Frankie, ich werde mir an dir ein Beispiel nehmen!! Du hattest Vertrauen, dann will ich auch vertrauen!« ~~?* Angel zerrte aus einer gepackten Kiste ein paar Wäschestücke, die man gut zum Kistenschleppen und Saubermachen tragen konnte. Die lange Jeans war schon abgeschabt, das Top hatte schon mehr Löcher als Stoff, aber insgesamt entsprach es genau seinem Gemütszustand. Ausgelutscht, aber noch nicht abgeschrieben. Er kämmte die nassen Haare in einen Zopf zusammen, sammelte die Schmutzwäsche ein und startete die Treppen hinunter zur Waschküche. Unterwegs traf er auch endlich auf Mitschüler, die Kisten und Gepäck schleppten und ihn erfreut begrüßten. Die Erleichterung in ihren Gesichtern löste ein schlechtes Gewissen bei Angel aus. Er musste sich eingestehen, dass er nicht der Einzige war, der unter Franks Tod litt, aber er hatte sich davon überwältigen lassen. Während er die Wäschetrommel befüllte, dachte er darüber nach, wie Frank den Tod seiner Mutter verarbeitet hatte. Still, voller Zuversicht, stark gegen die Verzweiflung. »Wie hast du das bloß geschafft?« Angel wischte sich ärgerlich über die Augen, »nein, genug geheult!!« Er würde sich eben mit Arbeit auf Trab halten, dann brauchte er keine Gedanken in Schach zu halten. Einfache, körperliche Arbeit, die ihn erschöpfte. Also ließ er die Maschinen ihre Arbeit tun und suchte seine Mitschüler, die bereits eifrig Kisten und Gepäck sammelten, damit die Stufe unter ihnen auch schon in die Zimmer nachrücken konnte. Sie würden noch eine letzte Nacht hier verbringen, dann am nächsten Morgen würde ein Möbelwagen ihre Sachen hinüber transportieren. Er reihte sich einfach ein, ließ sich anweisen, schleppte, zerrte und rückte vor und zurück. Vereinzelt flogen Scherzworte hin und her, aber die drückende Sommerhitze und die Anstrengung beraubte sie ihrer Sprache. Endlich wurde die Mittagspause eingelegt, und man sammelte sich im Speisesaal, um mit einem stark reduzierten Küchenteam die Mahlzeit einzunehmen, Spaghetti und Salat. Zum Nachtisch riesige, eisgekühlte Stücke Wassermelone, um die Lebensgeister wieder zu wecken. Angel merkte, dass er heißhungrig über die Speisen herfiel, als hätte er seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen. Für einen Moment empfand er Scham, so zuzulangen, obwohl er gerade seinen besten Freund verloren hatte, aber dann vertrieb er grimmig diesen Gedanken aus seinem Kopf. »Ich bin ausgelaugt, ich habe ein Recht darauf, etwas zu essen!! Das beeinträchtigt meine Trauer überhaupt nicht.« Nach und nach machten sie sich wieder an die Arbeit, nun mit wesentlich weniger Elan. Angel erinnerte sich daran, dass seine Wäsche nun fertig sein musste. Er verabschiedete sich kurz in den Waschkeller, um den Trockner zu bestücken und den Rest zusammenzufalten. Er schleppte seine Wäsche nach oben und ärgerte sich über die glühende Hitze in dem Raum. Seufzend verstaute er alles und floh dann aus seinem Zimmer, das Schatten von Erinnerungen nach ihm warf. Als er die Treppen herabstieg, um seine Kameraden wieder zu unterstützen, kam ihm jemand entgegen. Ein großer, junger Mann mit eisblauen Augen, einem rundem Gesicht und breiten Schultern. Angel stutzte. Er kannte dieses Gesicht. In diesem Moment flackerte auch in den eisblauen Augen Erkennen auf, eine schwielige Hand strich fahrig durch kurzgeschnittenes, sandfarbenes Haar. "Entschuldigung?" Die Stimme war sanft und ungewöhnlich hell, sie schien unpassend bei diesem Hünen. Angel erstarrte, als Szenen aus der Erinnerung vor seinen Augen aufblitzten. »Eine schwere Tür, eine breite Brust in dunklem Tuch, kräftige Arme, diese sanfte Stimme... eine Parkbank...« "Bist du Angel?" Die Frage schien nur rhetorisch gemeint, der hilflose Unterton fürchtete eine Bestätigung, hoffte auf einen Irrtum. Angel brachte nichts hervor als ein abgehacktes Nicken. "Ich bin Urs." Eine schwielige Hand streckte sich Angel zögerlich entgegen. Er blinzelte erneut verwirrt, griff dann vorsichtig zu. "Wir.. wir sind uns auf dem Friedhof begegnet, aber vielleicht erinnerst du dich nicht mehr?" Angel schüttelte den Kopf, nickte dann sofort wieder und ballte eine Faust, versuchte verärgert, die Beklemmung abzustreifen, die ihn erfasst hatte. "Ich erinnere mich. Hast du nach mir gesucht?" Urs wrang nun nervös die großen Hände, wich Angels Blick aus. "Ja...ich... wollte...", die helle Stimme brach ab, nun ballte Urs die gewaltigen Fäuste. "Können wir uns vielleicht irgendwo unterhalten, wo nicht so viel los ist?" Angel nickte, "sicher, gehen wir in den Speisesaal, da sind wir für heute fertig." Er ging voran und leitete Urs die Treppen hinunter, wies ihn an einen der Tische. Urs ließ sich vorsichtig nieder und starrte auf die Maserung des Tisches. Dann hob er den Kopf an und fixierte Angel, der schon beunruhigt auf die Eröffnung wartete. "Du fragst dich sicher, was ich will, richtig?", er fuhr sich wieder durch die Haare, "aber das ist nicht so...einfach." Angel runzelte die Stirn, bemühte sich Geduld aufzubringen. "Ich war auf der Beerdigung von... Frank. Wir haben uns dort ja getroffen, auch wenn ich nicht wusste, wer du warst. Ich bin danach zu seiner WG, weil ich Franks Familie und Freunde finden wollte." Angels Augenbrauen kräuselten sich, während seine Katzenaugen sich verengten. "Warum suchst du Frankies Familie?" "Ich... ich...", wieder wurden die Fäuste geballt. Anstrengung zeichnete das offene, runde Gesicht, die Kiefer waren so gespannt, dass die Sehnen sich deutlich hervorhoben. Dann wurden die eisblauen Augen dunkel. "Ich habe in dem Auto gesessen, das ihn erfasst hat." ~~?* Angel erstarrte. Eine eisige Gänsehaut jagte seinen Rücken herab. Tödliche Kälte ergriff sein waidwundes Herz und trieb ihre Klauen tief hinein. Er war unfähig, ein Wort hervorzubringen. Nicht mal einen Laut der Qual. Urs fuhr fort, nun den Blick auf den Tisch gebannt. "Mein Vater hat den Wagen gefahren. Wir wollten zum Grillen. Als wir die Straße entlang fuhren, war da plötzlich dieses blendende Licht. Und dann ein dumpfer Schlag." Angel vergaß zu atmen. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, aber seine Ohren speicherten kristallklar jedes Wort überdeutlich. "Wir haben nichts gesehen, wirklich nicht!!" Urs Stimme, noch eben ein panisches Falsett, sackte wieder zu einem leisen Tenor. "Es war wie in einem Film, den man nicht anhalten kann, über den man keine Kontrolle hat." Nun sprach er zu sich selbst, vergaß Angel völlig. "Ich weiß, dass ich mich abschnallte und ausstieg. Und dass da jemand neben dem Bürgersteig lag. Da waren auch Leute, aber irgendwie... waren sie nicht real. Ich habe mich neben ihn gekniet." Urs nahm die Hände hoch, starrte versunken auf seine geöffneten Handflächen. "Ich habe ihn berührt, aber er bewegte sich nicht. Da war auch Blut, aber nicht sehr viel. Nur sein Kopf... der war verdreht." Das runde Gesicht wurde von Panik fahl-weiß gefärbt, die großen Hände zitterten. "Ich wusste, dass er tot war. Genickbruch. Aber ich... wollte sein Gesicht sehen. Also hab ich die Haare beiseite gestrichen." Die eisblauen Augen waren von der Erinnerung an ein bodenloses Entsetzen geweitet. Nun schüttelten Attacken den gewaltigen Körper. Aber Angel bekam das nicht mehr mit. Er war längst in seine eigene Hölle abgedriftet, presste die Hände auf die Ohren und wiegte sich langsam vor und zurück. Sein Wimmern steigerte sich zu einem monotonen Singsang des Grams. In der Küche wurde man auf sie aufmerksam. Eine Frau stürzte herbei und versuchte, Angel aus seiner Trance zu reißen. "Jungchen, komm wieder zu dir!!" Angels grüne Augen waren völlig blank, reflektierten kein Licht mehr. Von dem Geschrei alarmiert stürzte auch Herr Karlsson heran. "Was geht hier vor?!" Die Frau hatte inzwischen einfach die Arme um Angel geschlungen und wiegte ihn sanft, murmelte Trostworte. Herr Karlsson erfasste auch Urs' Zustand, nahe an einem hysterischen Anfall. Er ohrfeigte ihn heftig, was wieder Farbe in das runde Gesicht brachte. "Was tun Sie hier?! Wer sind Sie?!" Urs stammelte unzusammenhängende Satzfetzen, wandte sich dann zur Tür und hetzte hinaus. Herr Karlsson verzichtete auf die Verfolgung. Die Höllenhunde, die diesem Jungen im Nacken saßen, würden ihn uneinholbar machen. Er musterte Angel hilflos, eilte dann in das Arztzimmer und suchte Beruhigungsmittel. Wenn nichts mehr half, würde er Monika alarmieren müssen. ~~?* Angel taumelte von bleischwerem Schlaf zu betäubten Wachzuständen. In einem Moment meinte er, vertraute Gestalten zu sehen, Stimmen zu hören, aber wenn er dann nach einigen Augenblicken wieder hochschreckte, war er allein. Als er erneut aus den Fängen eines Albtraums flüchtete, spürte er eine Hand sanft über seine feuchte Wange gleiten. Zögerlich schlug er die Augen auf, fürchtete, wieder nur ein Trugbild vor sich zu haben. Er fand sich einem dunklen Augenpaar gegenüber, wild zerzauste Locken hingen in ein müdes Gesicht, während kühle Finger erneut über seine Haut wandelten. "Hallo, mein Schätzchen", hauchte Monika und blinzelte aufmunternd, aber an ihrem gespannten Mund konnte Angel erkennen, dass es sie anstrengte, die Fassade aufrecht zu erhalten. "Monika", wisperte er heiser und rückte noch näher an sie heran. Monika schlang die Arme liebevoll um seine Schultern, drehte sich auf den Rücken und zog seinen Kopf auf ihre Brust. "Ich bin hier, Liebchen, sei unbesorgt", nun strichen die Finger hauchzart durch seine verschwitzten Haare. Angel lauschte begierig auf die Herzschläge, grub die Finger in zarte Schultern. Sie war wirklich da, kein Traum!! Vor Erleichterung begann er wieder zu weinen. "Schsch, mein Herz, nicht weinen! Es waren nur Träume, nichts weiter!" Für eine Weile schwiegen sie beide. Angel versuchte, sich zu beruhigen, während Monikas Hände Kreise über seinen Rücken zogen. "Angel, was ist da gestern passiert?" Angel sog scharf Luft ein und kniff die Augen zusammen. Er wünschte sich, dass sein Kopf leer wäre, befreit von allen Erinnerungen. »Aber dann würde ich auch Frankie verlieren!« Von diesem Gedanken entsetzt klammerte er sich fester an Monika und riss die Augen auf. Sie spürte die Veränderung in seiner Haltung sofort, den rasenden Herzschlag. "Liebchen, wenn du nicht darüber reden kannst, dann lassen wir es, ja? Bitte, gräm dich nicht so furchtbar, du brichst mir das Herz...", ein ersticktes Schluchzen folgte. Angel machte sich aus ihrem Griff los, stemmte die Arme fest in die Matratze und setzte sich auf. Monika hatte den Kopf abgewandt, damit er ihre Tränen nicht sehen konnte, die trotz aller Anstrengung aus den dunklen Augen hervorquollen. Angel drehte sanft ihren Kopf zu sich, beugte sich herunter und küsste die salzigen Spuren weg. "Bitte, Monika, wein nicht mehr, ich werde mich auch zusammenreißen." Gegen ihren Willen musste sie erstickt kichern. "Was sind wir für ein Paar, so furchtbar entschlossen, vor einander tapfer zu sein!" Angel grinste schief und sah sich dann um. Sonnenlicht tränkte den Raum, ein Sammelsurium an Umzugsgütern... und Monika in einem leichten Trainingsanzug in seinem Bett. "Hat Karlsson dich geholt?" Monika kämpfte sich neben ihm hoch und zwirbelte Locken aus dem Gesicht. "Sie haben sich alle Sorgen gemacht, nachdem du trotz des Beruhigungsmittels so unruhig warst. Vielleicht wollte er mir auch einen Gefallen tun", schloss sie nachdenklich. Angel zog eine Augenbraue hoch. Monika lächelte leicht, wischte ihm weißblonde Strähnen aus dem Gesicht. "Ich glaube, er hat erkannt, dass wir zwei einander brauchen, um mit unserem Leben fertig zu werden." Angel lehnte sich an ihre Handfläche und seufzte leise. "Wie hast du es geschafft, als er den Schlaganfall hatte?" Monikas Gesicht wurde für einen Augenblick hart, dann entspannte sie sich wieder. "Henning ist nicht tot, Angel, zumindest noch nicht. Wenn ich ihn sehen will, kann ich das tun. Auch wenn er nicht mehr reagiert." Ihre Hand zitterte leicht. "Ich war damals am Ende, habe ständig mit meiner Maman telefoniert, die mich immer wieder aufgebaut hat mit ihrer Gelassenheit... Schwierig waren die Nächte.... wenn man so allein im Dunkeln liegt... und dann kamst du." Ein Lächeln huschte über ihre Miene. "Ich war so froh, dass du mich nicht abgewiesen hast. Alle 'Freunde' wichen vor mir zurück, als sei der Schmerz und die Trauer ansteckend, sie waren genervt... Du warst der einzige Mensch, der mich in die Arme genommen hat, einfach festgehalten..." Ihre Stimme verlor sich in Erinnerungen. Angel zog sie sanft in seine Arme und kuschelte sich an sie. "Wir haben noch etwas mehr gemacht", erinnerte er mit einem wackligen Kichern. "Mhhh", murmelte Monika und vergrub das Gesicht in Angels Halsbeuge. "Ich bin froh, dass du gekommen bist, Moni", Angel seufzte geplagt, "ich bin wohl doch noch nicht stark genug, um alleine bleiben zu können." Monika pustete spielerisch in seinen Nacken. "Sieh mich an, ich habe es bis heute nicht geschafft." Sie lachten beide leise, die Anspannung löste sich. Angel wiegte Monika leicht und blinzelte in das Sonnenlicht. "Gestern... da war ein Junge da... Urs... sein Vater hat den Wagen gefahren, der Frankie erwischt hat..." Er spürte, wie Monika in seinen Armen erstarrte. "Ich weiß nicht genau, warum er gekommen ist... er fing an, von dem Unfall zu erzählen, wie Frankie...", Angel würgte leicht, fing sich aber wieder, "ich konnte nicht mehr zuhören... ich kann mich gar nicht mehr erinnern, was danach passiert ist..." "Was könnte er wollen?" Angel nahm die sanfte Wiegebewegung wieder auf, summte unbewusst vor sich hin. "Angel?" "Ich weiß nicht... als wir auf der Beerdigung waren... da bin ich mit ihm zusammengestoßen. Er hat mich getröstet." Sein monotones Summen hing schwerelos in der stickigen Luft. "Denkst du, er will dir etwas... Böses?" Angel stockte, grübelte verwirrt. "Nein... nein, das glaube ich nicht. Er sah ziemlich... fertig aus." Monika hauchte einen Kuss auf seine Wange und löste sich dann aus der Umarmung. "Schätzchen, ich brauche was zu trinken, mein Kopf zerspringt sonst." Angel grinste schwächlich, zerstrubbelte die wilden Locken. "Ich könnte auch etwas zu trinken gebrauchen, eine Dusche, ein Frühstück...", führte er halb scherzend aus. Monika drehte ihm eine lange Nase und versuchte vergeblich, mit würdevollem Gesichtsausdruck ihre Mähne zu glätten. "Nun, Ladys first, Schatz! Du wirst Wache stehen, während ich mich in eurem Waschraum wieder in eine menschliche Form bringe." Angel salutierte spöttisch, ein Funken seines früheren Charmes blitzte auf. Sie wanderten Hand in Hand den Flur hinab, trennten sich mit einem ermunternden Küsschen. Angel lächelte versonnen in sich hinein, als er im Flur an der kühlen Wand lehnte. »Ich bin sicher einer der wenigen Menschen, der sie ungeschminkt und verletzlich kennt. Verrückt, wie aus einem Unglück etwas so Gutes erwachsen kann... ob auch dein Tod einen Hoffnungsschimmer für mich beinhaltet, Frankie?« ~~?* Monika rieb sich sorgfältig mit dem Handtuch ab, schlüpfte wieder in den leichten Trainingsanzug. Im Spiegel sah ihr eine Frau entgegen, die ihre Jahre gut zu verbergen verstanden hatte, aber sie selbst konnte genau die Linien und Narben erkennen, die das Leben in ihre Haut geschlagen hatte. »Ich werde bloß älter, aber kein bisschen weiser«, dachte sie ein wenig enttäuscht. »Vielleicht ist das aber auch das Geheimnis, damit wir uns entgegen aller Erfahrungen immer wieder in das Getümmel stürzen?« Energisch kämmte sie die Locken in Spangen. »Genug Selbstmitleid!! Da draußen leidet ein Kind unter dem Verlust seiner ersten Liebe, und du kannst ihm dabei helfen, wieder zurück in das Getümmel zu finden!« Sie streckte sich selbst die Zunge raus. »Macht kaputt, was euch kaputt macht!!« Sie hatte Lust, um den Block zu rennen. ~~?* Angel fuhr erschrocken herum, als die Tür mit Schwung aufgerissen wurde und gegen die Wand knallte. Monika nickte ihm grimmig zu, in ihren Augen brannte ein verzehrendes Feuer. "Na los, Schätzchen, ab unter die Dusche und dann plündern wir die Küche!!" Angels Grinsen verunglückte auf halbem Weg, als er energisch in den Duschraum geschoben wurde. "Und trödle nicht, ich könnte eine Familienpackung Steaks verschlingen!!" Angel flüchtete unter die Dusche. ~~?* Zehn Minuten später sprangen sie übermütig die Stufen hinab, Hand in Hand, einer den anderen hinter sich herziehend. Der Speisesaal war noch belebt, sie hatten die Ausläufer des üblichen Frühstücks erwischt, aber während der Ferien nahm man es ohnehin nicht so wichtig mit den Zeiten. Angel sammelte Kaffee, Brötchen, Croissants und jede Menge Belag ein, türmte ungeniert auf die Teller, was in seine Reichweite kam. Und dann machten sie sich ausgelassen wie kleine Kinder über die Beute her. Mancher Zaungast konnte ein verschmitztes Grinsen bei dieser Schlacht nicht unterdrücken. Insbesondere Herr Karlsson strich sich bestätigt durch den Bart. Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht. ~~?* "So, Liebchen, ich werde nach dir sehen, wenn ihr in eurem neuen Domizil seid, ich muss heute noch ein bisschen was arbeiten!" Angel küsste Monika liebevoll auf die Lippen und umarmte sie herzlich. "Ich freue mich darauf!" Monika warf ihm einen Kuss zu, dann schritt sie zügig aus, um nach ein paar Metern in einen leichten Trab zu fallen. Angel schmunzelte und schloss sich den anderen an, die bereits den gemieteten Umzugswagen mit Kisten voll packten, dazu Gepäck und jede Menge sperriger Kleinkram. Am Mittag würde der Speisesaal wieder frei sein und die oberste Stufe nur noch eine Erinnerung. Angel stieg zu seinem Zimmer hinauf. Er war der Einzige, dessen Gepäck noch oben stand. Seine Mitschüler hatten aus Rücksicht um ihn herumgearbeitet und -geplant. Nun beförderte er schwitzend mit Unterstützung seine Habseligkeiten die fünf Geschosse hinab und wunderte sich darüber, dass sich in so wenigen Jahren so viele Dinge ansammeln konnten. Auf seinem Rücken trug er Franks Rucksack, den er auf gar keinen Fall bei den anderen Sachen lassen wollte. Endlich war der Umzugswagen fertig beladen. Auch nach dem dritten Kontrollgang war nichts mehr aufgetaucht, das unbedingt noch mit musste. Der Wagen startete zu ihrem neuen Domizil, und viele der Schüler machten sich auf den Weg, um zu Fuß zu folgen und das Ausladen zu übernehmen. Angel drehte noch eine Abschiedsrunde. Besonders Rosalie galt es, auf Wiedersehen zu sagen. Noch einmal ließ er seine erste Freundin durch seine Kleider gleiten, küsste traurig den kleinen Kopf. "Mach's gut, Süße!" Dann ging er langsam über den Hof, schloss die Augen und sog Eindrücke und Gerüche tief in sich ein. "Hallo!" Eine helle Stimme ließ ihn erschrocken herumfahren. »Urs?!« Angel wich einen Schritt zurück, aber Urs machte keine Anstalten, sich ihm zu nähern. Lediglich in seinem Gesicht zuckte ein Nerv bei dieser Reaktion. "Du musst keine Angst haben, ich tue dir nichts. Ich möchte nur...reden. Bitte!" Angel musterte ihn prüfend. Seine flehentliche Bitte schien aufrichtig gemeint zu sein. "Worüber?" Urs wischte sich fahrig über die Stirn, seine Augen wanderten unruhig über die Umgebung. Dann stabilisierte er seinen Blick, konzentrierte sich ganz auf Angels grüne Augen. "Über Frank." Angel erschauerte, die vertrauliche Benennung versetzte ihm einen Stich. Hatte dieser Kerl ein Recht, Frank zu erwähnen wie einen Freund?! "Können wir uns vielleicht setzen? Mir ist ein bisschen schlecht von der Hitze." In der Tat war das runde Gesicht rot-fleckig, unter den Augen befanden sich weiße Streifen. "Da drüben ist eine Bank unter dem Baum", Angel wies die Richtung. Es war ihr Baum, ihre Bank gewesen. Er wollte stark sein, was auch immer dieser Urs ihm erzählen würde. Sie ließen sich vorsichtig nieder, einen Sicherheitsabstand wahrend. Urs begann wieder das vertraute Kneten und Wringen seiner großen Hände. "Gestern... das tut mir leid. Ich wollte dir nicht so einen Schock versetzen", um Vergebung bittend suchte er Angels Blick. "Ich kannte die Einzelheiten nicht...", Angel zuckte mit den Achseln, eine schwache Geste der Akzeptanz. Urs starrte eilig wieder auf das Pflaster. "Verstehe." Das Schweigen zwischen ihnen wurde erdrückend. Schließlich erhob sich Angel. Urs wachte wie aus einer Trance aus und griff hastig nach Angels Handgelenk. "Bitte geh nicht!" Seine Stimme überschlug sich panisch und Angel erschrak vor der Angst in seinen Augen. "Lass mich los!!" Als habe er sich verbrannt, riss Urs seine Hand zurück. "Entschuldigung! Es tut mir leid!" Er sackte in sich zusammen, grub die Finger in das sandfarbene Haar und fluchte leise. Angel wollte eigentlich gehen. Es schien das Vernünftigste zu sein, aber er verspürte ein eigentümliches Mitgefühl mit diesem Jungen. "Warum sagst du mir nicht, warum du mich sprechen wolltest?" Urs hob langsam den Kopf an, offensichtlich überrascht, dass Angel nicht das Weite gesucht hatte. Dann ließ er den Kopf wieder sinken. "Es ist wegen seinem Gesicht." Angels Knie begannen zu zittern. Er schleppte sich eilig zur Bank zurück. "Was ist mit Franks Gesicht?", hakte er scharf nach. "Ich hab mich doch neben ihn gekniet und seine Haare weggestrichen..." Urs brach wieder ab. "Und weiter?!" Urs wrang die Hände. Seine eisblauen Augen erfassten Angel plötzlich glasklar. "Er hat gelächelt", hauchte er schrill. "Gelächelt", echote Angel tonlos. Urs sprang auf und begann, hektisch auf und ab zu gehen. "Ich kann sein Gesicht einfach nicht vergessen!!! Es ist in meinen Kopf eingebrannt!!" Er stoppte vor Angel und ballte die Fäuste. "Es macht mich verrückt!! Ich kann an nichts Anderes mehr denken!!" Angel schlang die Arme um sich und begann wieder, sich leicht zu wiegen. "Wieso hat er so gelächelt?!! Warum?!!" Urs rannte wieder vor der Bank hin und her, im vergeblichen Versuch, durch körperliche Erschöpfung die Erinnerung zu vertreiben. Angel verfolgte abwesend seine Anstrengungen, dann klärte sich langsam sein Blick wieder. Er nahm den Rucksack von den Schultern und zog vorsichtig die Rolle hervor. Enthüllte Franks Selbstporträt. "Hat er so ausgesehen?" Urs erstarrte, als sein Blick das Bild erfasste. Angel lächelte müde. "Nach dem Datum muss er es gezeichnet haben, bevor...", er würgte an den Worten, "der Unfall geschah. Ich glaube, er wollte es mir zum Geburtstag schenken." Urs trat zögernd näher, hob eine Hand. Die Finger strichen flüchtig, aber sanft über das Papier. "Es... es sieht so lebendig aus", wisperte er ergriffen. Angel unterdrückte ein Schluchzen. "Frankie kann... konnte wunderbar zeichnen." Für einen Wimpernschlag trafen sich ihre Blicke, offen und ohne Barrieren. Dann sah Urs weg, ließ sich wieder neben Angel fallen. "Meine Familie ist total fertig. Mein Vater kann nicht mehr arbeiten. Wir schleichen nur noch umeinander." Er strich kräftig mit den schwieligen Händen über seine Oberschenkel, immer wieder. "Es war ein Unfall." Angel sah noch immer versunken in Franks Augen, in denen die Flamme hell loderte. "Ich weiß", flüsterte er. "Ich... ich begreif es nicht, aber... ich möchte... ich muss unbedingt wissen, was...für ein Mensch er war. Kannst du das verstehen?" Angel rollte langsam das Bild zusammen. "Denkst du, dass du dann alles vergessen kannst?! Oder es eine Erleichterung ist, wenn er dir vielleicht nicht gefällt?!" Angels bittere Worte trafen wie vergiftete Pfeile. Urs torkelte hoch und brachte Abstand zwischen sie. "Ich.. ich werde das bestimmt nicht vergessen!!" "Gut!", zischte Angel und versuchte, die Reißverschlüsse des Rucksacks zu schließen, aber dieser entglitt seinen zitternden Händen. Er ließ ihn fahren und schlug die Hände vor das Gesicht, von Schluchzern gepeinigt. Urs zögerte einen Augenblick, dann reagierte er so instinktiv wie auf dem Friedhof. Er schlang die kräftigen Arme um Angel und wiegte ihn sanft, weinte mit ihm. Und Angel klammerte sich an ihn wie ein Ertrinkender. ~~?* Kapitel 2 Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hatten und erschöpft nebeneinander auf die Bank sanken. Angel fand als Erster die Sprache wieder. "Es tut mir leid, was ich gesagt habe... Urs." Urs warf ihm einen verständnisvollen Blick zu. "Das ist schon okay... ich verstehe deinen Schmerz." Angel warf einige Strähnen aus seinem Gesicht. "Das ist keine Entschuldigung dafür, vorsätzlich andere zu quälen! Wenn Frankie ... wenn er hier wäre, hätte er mir eine Standpauke gehalten." Er schenkte Urs ein wackeliges Lächeln. "Soll ich dir etwas über Frankie erzählen?" Urs nickte stumm, in seinen Augen glomm Dankbarkeit über diese großzügige Offerte. Angel lehnte sich gegen die Borke und sah in die Baumkrone, wo Sonnenstrahlen zwischen den Blättern hindurchspitzten. "Er ist im letzten Herbst zu uns gekommen, nachdem seine Mutter an einer Überdosis gestorben ist. Das Sozialamt hatte ihn hier abgestellt." Angel strich sich ein paar lästige Strähnen aus dem Gesicht. "Anfangs mochte ich ihn gar nicht, einfach, weil sie ihn mir ins Zimmer gesetzt hatten. Ich habe ihn wie den letzten Dreck behandelt." Er angelte den Rucksack heran und umarmte ihn Trost suchend. "Ich war so ein Kotzbrocken... wenn ich gewusst hätte, dass wir nur so wenig Zeit miteinander haben würden...", er räusperte sich angestrengt. "Na ja, er hat mich nicht aufgegeben. Und er ist in die Hölle gegangen, um mich rauszuholen." Angel warf einen prüfenden Blick in Urs' Gesicht, um ihm auch ohne lange Erklärungen begreiflich zu machen, dass diese Beschreibung nicht nur so dahingesagt war. Urs nickte unwillkürlich. "Er ist mein Freund geworden, obwohl ich das wirklich nicht verdient hatte." Angel umarmte den Rucksack fester. "Und ich liebe ihn." Urs sah bestürzt zu, wie Tränen über Angels Gesicht liefen, während dieser sich bemühte, ein trauriges Lächeln aufrecht zu erhalten. "Es tut mir leid. So leid!", würgte Urs heiser und unglücklich hervor. Angel wischte sich unwirsch über die Wangen, verstärkte sein zerknittertes Grinsen. "Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände, nicht wahr? Schicksal." Aus einem Reflex heraus zog Urs Angel kurz an sich. "Verzeih mir, Angel!" Angel kicherte erstickt und klopfte Urs leicht auf den breiten Rücken. "Langsam, du erdrückst mich!" Hastig ließ Urs locker, und Angel zwinkerte ihm aufmunternd zu. Er stand auf und hängte sich den Rucksack um. "Was ist, hast du Lust, meine neue Schule zu sehen?" Angel streckte Urs die Hand hin und zog ihn hoch. Überrascht betrachtete er Urs' schwielige Hand. "Was machst du eigentlich?", fragte er mit einem Kopfnicken. Urs grinste verlegen. "Ich bin bei meinem Onkel in der Lehre, wir haben eine Schreinerei, ein Familienunternehmen." Angel trabte neben ihm her. "Erzähl mir ein bisschen was darüber, ja?" Urs lächelte scheu und begann. ~~?* Die neue Schule am anderen Ende des Parks bestand aus einem modernen Gebäude mit mehreren Geschossen. Daneben befand sich ein Mehrzweckfeld für sportliche Aktivitäten. Wenn man das Gebäude betrat, so stieß man gleich auf eine Sporthalle. In der Empfangshalle wiesen Treppen in den Keller und in die oberen Geschosse. Im ersten Stock befand sich der Speisesaal neben einer großen Bibliothek mit den unterschiedlichsten Medien. In den folgenden Geschossen waren Unterrichts- und Mehrzweckräume untergebracht, darüber folgten dann kleine Zwei-Personen-Appartements. Als Angel und Urs eintrafen, waren Angels Mitschüler eifrig damit beschäftigt, Gepäck und Kisten aus dem Laster auszuladen und in die beiden Aufzüge zu verbringen. "Wow", murmelte Urs überrascht, "das ist ja ein richtiger Palast!" Angel legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick schweifen. "Mein Zuhause für die nächsten drei Jahre", stellte er mit gemischten Gefühlen fest. Urs stieß ihn schüchtern an. "Kann ich beim Einziehen helfen?" Angel grinste ihn breit an. "Klar!!" Gemeinsam strebten sie dem Zentrum der Aktivitäten zu. ~~?* Gerade als sie endlich die letzten Kisten in die Räume transportiert hatten, brach draußen ein heftiges Sommergewitter los. Angel kippte in seinem neuen Domizil die Fenster, um die frische Regenluft hineinzulassen, ohne dass gleich der Raum unter Wasser gesetzt wurde. Er sah sich um. Zwei Betten jeweils an einer Wand, dazwischen zwei Schreibtische, einander gegenüberstehend, mit dem Blick auf den Park. Über den Betten waren bis an die Decke offene Regale angebracht, jeden Zentimeter ausnutzend. Gegenüber dem Fenster flankierten zwei Kleiderschränke die Tür zu dem kleinen Badezimmer mit Toilette und Dusche. »Welch ein Luxus«, dachte Angel amüsiert. Keine Gemeinschaftsduschen mehr, aber das bedeutete auch, wie das Regal im Bad demonstrierte, dass man selbst für die Reinigung verantwortlich war. Hier musste man auch das Bettzeug und die Handtücher selbst waschen. Dafür konnte man uneingeschränkt eigene Sachen verwenden. Angel grinste, als ihm seine heimlichen Gelüste nach Satin-Bettwäsche in den Sinn kamen. Nur das leibliche Wohl wurde noch zentral gelenkt, was Angel sehr bequem fand, auch wenn er selbst gern kochte. Wenn da nicht die Arbeit hinterher wäre...! "Nett hier", riss ihn Urs aus seinen Betrachtungen. Er hatte die ganze Zeit den Türrahmen ausgefüllt und unbeholfen darauf gewartet, dass Angel ihn hereinbat. "Oh, entschuldige!! Komm doch rein!!" Angel lotste ihn an seinen aufgestapelten Habseligkeiten vorbei. "Welches Bett würdest du nehmen?", fragte er im Plauderton, während er in einem Koffer kramte. Urs konzentrierte sich auf die beiden Betten. Er ließ sich probeweise auf beiden nieder, testete die Federung der Matratzen. "Also, da ich nicht so ordentlich bin, würde ich das hintere nehmen", verkündete er seine Entscheidung. Angel nickte und schob eine Kiste mit dem Fuß neben das hintere Bett. "Ja, ich denke, ich werde es genauso machen, danke!" Urs' Gesicht zeigte rote Flecken, als Angel ihm zuzwinkerte. "Wir können gleich runter gehen, es gibt sicher etwas zu essen! Aber wenn es dir nichts ausmacht, rufe ich kurz meine Freundin an. Sie wollte, dass ich mich melde, wenn ich heil angekommen bin!" Urs gestikulierte ausholend, dass er vor die Tür gehen werde, aber Angel zupfte ihn am T-Shirt, um ihn zum Bleiben zu bewegen. "Du musst nicht gehen, ich werde keine Anzüglichkeiten von mir geben!" Angel grinste breit, als Urs erneut rot anlief, aber dankbar lächelte. Wenn man die Umstände vergaß, so war dieser tapsige Riese wirklich ein sehr netter Kerl... und dieses Teddybär-Gesicht zum Knuddeln. Angel schüttelte den Kopf über seinen eigenen Übermut und klingelte Monika an. "Monika?" "Ja, genau! Alles in Ordnung, kein Problem!" "Nein, im Augenblick tobt sich das Gewitter hier aus, da wirst du klitschnass!" "Sicher, morgen ist okay! Ich bringe dir auch deine Kamera mit, ja?" "Du willst mich doch nicht etwa ausstopfen, oder?!" "Wünsch ich dir auch!" "Ich habe dich sehr gern, Moni." "Bis morgen!" Angel unterbrach die Verbindung und packte das Handy in seinen Schreibtisch. Nun würde es nicht mehr ein Schattendasein fristen. In der Oberstufe waren solche Extravaganzen erlaubt, genauso wie eigene Fernseher und Computer. Er scheuchte Urs hinaus und schloss hinter sich ab. ~~?* Der Speisesaal bot einen großen Kontrast zu dem gewohnten. Er hatte zwei große Fensterfronten, war in viele kleine Tische zu vier Personen gegliedert und zeigte keine Unterscheidung mehr zu den Lehrkräften. Insgesamt wirkte die Kunststoff-Chrom-Kombination sehr luftig und heiter, charakterlich an eine der mondänen Bars in den Wolkenkratzern erinnernd. Angel dirigierte Urs zu einem freien Tisch, schnappte sich dann zwei Tabletts und kreiste um die gläserne Theke, sammelte hier und da Schalen und Becher ein. Dann bugsierte er seine Last jonglierend durch die Tischgruppen, mit einem stolzen Funkeln in den Augen. Urs spendete gehorsam Applaus, dass Angel es unfallfrei bis an ihren Tisch geschafft hatte. "Ich hoffe, du magst wenigstens ein paar Sachen, die ich erbeutet habe", pflaumte er Urs launig an. Irgendwie fühlte er sich aufgedreht von den Ereignissen der letzten zwei Tage und der körperlichen Erschöpfung. Sie verspeisten gerade einen gemischten Salat, als ein Gong ertönte. Überrascht ließen sie das Besteck sinken, als Herr Karlsson sich auch schon erhob und mit beiden ausgestreckten Armen um Ruhe bat. Er räusperte sich mehrfach, begann dann. "Männer, nun ist auch für uns der Abschied gekommen. Ich danke euch für die gemeinsamen Jahre und Erlebnisse, die wir miteinander geteilt haben. Und nun übergebe ich euch an meine werten Kolleginnen und Kollegen. Macht mir keine Schande!" Ein rauschender Applaus, unterstützt von heftigem Trampeln quittierte seine Rede. Ein hochgewachsener Junge imitierte Herrn Karlssons Geste, allerdings wirkte er wie Moses, der das rote Meer teilte: die Gliedmaßen waren noch zu lang und ungelenk für den schmächtigen Torso. "Herr Karlsson, wir möchten uns ebenfalls dafür bedanken, dass Sie es als unser Stufenlehrer so lange mit uns ausgehalten haben. Sie sind ein Lehrer, den man sich als Schüler erträumt und darüber hinaus ein Vorbild für uns, die wir erst noch 'richtige' Männer werden wollen." Mit einer gebieterischen Geste winkte er zwei Mitschüler heran, die auf einem umgedrehten Tablett einen Orden und einen Phantasie-Helm ehrfurchtsvoll übergaben. "Hiermit verleihe ich Ihnen den undotierten Orden des vorbildlichsten Lehrers der Eingangsstufe von 1995." Mit verblüffendem Geschick befestigte er den bunt-schillernden Orden an Herrn Karlssons Brust, ließ sich dann den Helm anreichen. Er war offensichtlich in seiner früheren Existenz ein Sicherheitshelm für den Bau gewesen, doch eine schwarze Lackierung, eine feuerrote Bürste mit einem langen, grünen Schweif und goldene Sterne an den Seiten verliehen ihm ein verwegenes Aussehen. Herr Karlsson senkte belustigt den Kopf, als ihm die außergewöhnliche Kopfbedeckung auf das Haupt gesetzt wurde. "Und für einen echten Rudelführer muss es auch eine entsprechendes Kennzeichen der Würde geben: den Helm des unerschrockenen Verfechters der Allgemeinbildung in der Wüste der Ignoranten!" Applaus und Jubelrufe brandeten auf, während Herr Karlsson verlegen Tränchen aus seinen Augen wischte und wiederholt seinen Bart zerrupfte. "Vielen Dank, Männer!!" Angel und Urs wechselten belustigte Blicke. "Meine Schule war nicht halb so cool wie deine", seufzte Urs bedauernd. Angel durchzuckten Erinnerungen an andere Tage. "Das erscheint dir jetzt nur so, aber glaub mir, hier ist auch nicht alles Gold, was glänzt." Urs warf Angel einen nachdenklichen Blick zu, hakte aber nicht nach. "Ich denke, ich sollte jetzt mal langsam verschwinden", er erhob sich behutsam, als fürchtete er, Angel mit dem Aufbruch zu verletzen. Angel kam auch in die Höhe, sammelte ihre Tabletts ein. "Ich bringe dich noch zur Tür", antwortete er. ~~?* Urs zögerte an der großen Tür, wo noch viele Schüler durcheinander wuselten, drehte sich nach Angel um. "Ich will nicht aufdringlich sein..." Angel unterbrach ihn. "Ich würde mich freuen, wenn du mich mal besuchen kommen würdest. Ich kann wirklich einen Freund brauchen." Urs errötete. "Denkst du..?" Angel lächelte traurig. "Schicksal", flüsterte er. Urs nickte beklommen, dann umarmte er Angel federleicht. "Ich werde wiederkommen, Angel." Damit verließ er rasch das Schulgelände, aber Angel meinte zu sehen, dass er sich viel aufrechter hielt als noch am Vormittag. »Na, Frankie, denkst du, ich habe das Richtige getan?« ~~?* Angel nahm aus Gewohnheit die Treppen, als ihm ein Mitschüler entgegenkam. "Hey, Angel, hast du schon den Anschlag am Schwarzen Brett gesehen?" Angel schüttelte müde den Kopf. Alle Energie schien mit Urs' Abgang verpufft zu sein. "Wir behalten ja alle unsere Zimmernachbarn, aber du...", der Junge stockte verlegen. Angel warf ihm einen inquisitorischen Blick zu. "Willst du damit sagen, dass ich einen Mitbewohner kriege?" Der Junge nickte hastig, beschämt durch seinen Fauxpas. Angel ließ ihn stehen und hastete nach oben. Er hatte eigentlich gehofft, für eine Weile zumindest, allein bleiben zu dürfen, um langsam wieder zu sich selbst zu finden. Aber das sollte wohl nicht sein! Er blieb abrupt vor dem Aushang stehen. Da befand sich der Speiseplan, der Unterrichtsplan für die nächste Woche und... der Belegungsplan, die Orientierung für das Einrichten der Appartements. Neben seinem Namen tauchte tatsächlich ein weiterer auf, mit Kugelschreiber ergänzt. Matthias Fermont. ~~?* Angel stolperte gedankenverloren zu seinem Zimmer und prallte gegen die Tür. Er rieb sich die Stirn und schüttelte leicht verärgert den Kopf. Natürlich, hier mussten die Räume verschlossen werden im Gegensatz zu seiner alten 'Heimat'. Nachdem er den Schlüssel hervor gezogen hatte, sperrte er die Tür auf und sog tief die frische Regenluft ein. Er trat ans Fenster und sah hinaus. Durch den Park hatte er das Gefühl, nicht etwa in einer Großstadt zu leben, sondern in einem Baumhaus zu residieren. Angel seufzte erschöpft und beschloss, die erste Nacht in seinem neuen Zuhause in Angriff zu nehmen. Er öffnete eine Umzugskiste und zog Bettzeug hervor. Nachdem er das Bett frisch bezogen hatte, beschloss er, sich eine letzte Frivolität zu gestatten, weil er so tapfer den Tag überstanden hatte: er ging ohne die Zähne zu putzen splitternackt ins Bett. »Ich hab das Nachtlicht gar nicht eingeschaltet«, dachte er, dann überfiel ihn tiefer Schlaf. ~~?* Der nächste Morgen brach mit gedämpften Geräuschen geschäftiger Bewegung heran. Angel blinzelte in den sonnendurchfluteten Raum und lauschte für einige Augenblicke müßig dem Treiben. Offensichtlich waren einige Kameraden schon wieder eifrig mit Auspacken beschäftigt. Schließlich streckte er sich ächzend und spürte vernachlässigte Muskeln. »Ich sollte wohl auch auspacken. Zumindest, bis ich zu Monika abschwirre«, grübelte er seufzend. Er rollte sich aus dem Bett, suchte eine Tasche mit sauberer Kleidung und trollte sich in das Badezimmer. Eine lauwarme Dusche weckte seine Lebensgeister, dann wickelte er sich in ein Netztop und abgeschnittene Jeans. »Es ist Sonntag, und da werde ich tragen, was ich will!!«, rechtfertigte er sich vor sich selbst trotzig. Der Wecker, lieblos in eine Kiste verpackt, lärmte gedämpft, was Angel signalisierte, dass es noch eine Viertelstunde bis zum Frühstück war. Also nutzte er die Zeit, um die offenen Regale zu füllen mit Büchern, der kleinen Anlage, seinem Discman und allerlei anderen Dingen. Dann zog er Franks Rucksack heran, nahm das Porträt heraus. "Ich werde es einrahmen, damit es nicht kaputtgeht, Frankie", verkündete er laut. Er legte einen Finger an die Lippen und führte diesen dann auf Franks gezeichneten Mund. "Und über das Bett kommt wieder unser Poster! Monika macht mir sicher noch einen Abzug. Dann werde ich nie allein schlafen." Selbstzufrieden platzierte er Porträt und Rucksack auf der Bettdecke wie in ein kleines Nest. "Und ab heute werde ich richtig frühstücken, Kleiner, damit du dir keine Sorgen um mich machen musst!" ~~?* Angel folgte dem aufgeregten Stimmengewirr in den ersten Stock, wurde an einen Tisch gewinkt. Nun war der Speisesaal ziemlich stark frequentiert, auch die anderen beiden Stufen hatten sich eingefunden. Angel spürte neugierige Blicke auf sich ruhen, als er sich zwischen den Tischen hindurch schlängelte. "Morgen!", begrüßte er seine Mitschüler freundlich. Ein aufgekratztes Grummeln wurde ihm entgegnet aus vollgestopften Mündern. Angel griente und beschloss, eine Runde um die Glastheke zu drehen, wo eifrig Brötchen und Toast nachgelegt wurden. Er stapelte Toast und kleine Döschen mit Marmelade und anderen Brotaufstrichen ein, dazu einen Becher dampfenden Kaffee und als Reminiszenz an Franks Ermahnungen, einen Orangensaft. Dann kehrte er zurück und machte sich über sein Frühstück her. "Was denkst du, wer dieser neue Typ ist?", Angel wurde wissbegierig mit einem Ellenbogen touchiert. Angel mümmelte gerade an einem Honigtoast, was ihm die Antwort ersparte. Er zuckte nur mit den Schultern. Seine Gegenüber grienten breit und tauchten verschwörerisch auf den Tisch herunter. "Du bist schon aufgefallen, Angel!" Angel zog eine Augenbraue hoch und ließ die grünen Katzenaugen aufblitzen. "Ist mir egal", entgegnete er gleichgültig, "im Augenblick hab ich genug mit mir selbst zu tun." Betroffene Blicke trafen sich, verlegenes Räuspern folgte. "Ja... natürlich..." Angel bemerkte die Beschämung seiner Mitschüler und lächelte aufmunternd. "Legt doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage, ich bin nicht aus Glas!" Betont geschäftig sammelte er Geschirr auf sein Tablett und zwinkerte ihnen zu. "Muss noch meine Klause auf Vordermann bringen, dann hab ich ein Date!!" Mit einem Hüftschwenken zog er Richtung Geschirrwagen, hinterließ ein erleichtertes Grinsen in den Gesichtern seiner Mitschüler. ~~?* Er benutzte wie gewohnt die Treppen, rannte sich erneut die Stirn an der Tür und kramte fluchend die Schlüssel hervor. Erleichtert seufzend lehnte er sich innen an das Türblatt und strich sich Strähnen aus dem Gesicht. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis er tatsächlich wieder so unbekümmert und lässig reagieren konnte, wie er das vorgegeben hatte. Nun aber galt es, in der verbliebenen Zeit bis zu seinem Aufbruch zu Monika die restlichen Gepäckstücke zu verstauen. Er legte eine CD der Chemical Brothers ein und ließ sich von den trommelnden Beats antreiben. Zuerst wurden die Kleider in den Schrank verteilt, dann der Schreibtisch bestückt und zuletzt der übrige Krimskrams verteilt. Angel wischte sich über die Stirn und sah sich zufrieden nickend um. "Ja, so sieht es doch gar nicht schlecht aus, nicht?" Er machte rasch noch das Bett, dann betrachtete er nachdenklich den abgewetzten Rucksack. "Du bekommst einen Ehrenplatz neben meinem Kopfkissen", verkündete er schließlich laut. Angel huschte in das Badezimmer, um erneut Hitze und Schweiß abzuspülen und sich umzuziehen. Ein lange, dünne Stoffhose in einer Creme-Farbe, dazu die passende Weste. »Eincremen nicht vergessen«, ermahnte er sich angesichts der brütenden Hitze. Er beschloss, seine langen Haare offen herunterhängen zu lassen, damit ein verirrtes, laues Lüftchen mit ihnen spielen konnte. Eine elegante Sonnenbrille auf die Nase geschoben warf er sich eine Kusshand im Spiegel zu. »Gar nicht übel angesichts der letzten Tage«, befand er und verstaute die Kamera und das Ringbuch seiner Ferienerlebnisse in seinem eigenen Rucksack. "Bis später", hauchte er dem versteckten Bild zu und schloss die Tür hinter sich. ~~?* Als er das Schulgelände verließ, ertönte eine leise Fanfare. Angel fuhr erschrocken herum, erkannte dann aber Monikas Cabrio. "Angel, hier!", sie winkte wild und schob die große Sonnenbrille in das hochgesteckte Haar. Angel grinste über ihren Elan und legte einen kleinen Zwischenspurt ein. Sie begrüßten sich mit einem herzlichen Kuss, dann glitt Angel schwungvoll an ihre Seite. "Das ist aber nett, dass du mich abholst! Hast du gedacht, ich finde den Weg nicht?", spöttelte Angel verschmitzt. Monika drohte spielerisch mit dem Finger, während sie rasant in den Verkehr einfädelte. "Pass bloß auf, du Frechdachs, sonst leg ich dich übers Knie!" Angel antwortete mit einem beeindruckten Keuchen, aber hinter den dunklen Gläsern schlugen Funken aus seinen grünen Katzenaugen. "Wir werden heute auch noch einen Besuch machen", verkündete Monika mit einem entschlossenen Zug um den Mund, der keine Diskussion zuließ. Angel zwirbelte neugierig eine Strähne um einen Finger. "Wohin geht's denn?" "Zu meiner Maman!" Angel grinste und lehnte sich bequem zurück. "Ich muss hoffentlich nicht mit ihr Kartenspielen, oder?!" Monika zog eine Schnute. "Dann musst du dir sicher unerträglich peinliche Episoden aus meiner Kindheit anhören", drohte sie finster. Angel kicherte spitzbübisch. "Wehe!!", knurrte Monika gar nicht ladylike und ließ eine kleine Faust auf Angels Oberschenkel sausen. "Schon gut, schon gut", prustete Angel amüsiert, "ich werde meine Schummeltricks mit ihren messen!" Monika schnurrte zufrieden, "das ist mein Schatz!" Angel beugte sich hinüber und küsste sanft ihre Wange. "Und das ist meine liebste Freundin", wisperte er warm. ~~?* Sie erreichten Monikas Villa und flohen vor der drückenden Hitze in das abgedunkelte Atelier mit den vielen Pflanzen. Angel übergab die Kamera und bedankte sich überschwänglich. Immerhin war es ein sehr teures Gerät für Profis gewesen. Monika nutzte die Situation, um Angel seine Dankbarkeit in der Küche vergelten zu lassen. Währenddessen wollte sie einen Abzug des Bildes anfertigen, "Dreaming Angels". Angel bereitete inzwischen beschwingt einen Salat zu, summte stillvergnügt vor sich hin. Es war fast wie früher... er sah aus dem Fenster in die sommerliche Hitze, die den Asphalt zum Glühen brachte und seufzte. »Ach Frankie, ich wünschte, du wärst hier!« Ein aufmunternder Klaps auf den Hintern riss ihn aus seiner Melancholie. "Na, gibt's endlich was zu essen?!" Monika tippelte hinter ihm ungeduldig von einem nackten Fuß auf den anderen und warf begehrliche Blicke auf die Schüssel. "He!!" Angel drängelte sie spielerisch weg und verschränkte streng die Arme vor der Brust. "Erst Hände waschen und Tisch decken, dann darfst du noch mal fragen!", verkündete er unbarmherzig. Monika zog eine filmreife Grimasse der Enttäuschung, die jede Vierjährige in atemlose Bewunderung versetzt hätte, schlich dann mit hängenden Schultern raus. Angel grinste, »was für eine Frau!« Rasch schmeckte er die Salatsoße ab, suchte Besteck und Geschirr zusammen. »Nun noch rasch Toastbrot und Eistee«, schon balancierte er das voll geladene Tablett in das Atelier. Monika hatte den gleichen Gedanken verfolgt: das Sofa hatte eine Decke opfern müssen, die nun über dem Boden ausgebreitet auf das improvisierte Picknick wartete. Ihre Blicke trafen sich, lösten auf beiden Gesichtern ein vertrauliches Schmunzeln aus. Dann tafelten sie ausgelassen. ~~?* "Nimm dein Album mit. Du kannst uns beide mit Geschichten unterhalten", schlug Monika vor, als Angel sich aus dem Auto schälte. Angel zog eine schiefe Grimasse. "Du willst wohl, dass sie gleich den richtigen Eindruck von meinen Talenten hat, wie?", erkundigte er sich schmollend. "Sei nicht so empfindlich, Liebchen", trällerte Monika beschwingt und zog Angel an der Hand hinter sich her. Das Altenheim war geschickt in ein reines Wohngebiet eingefügt worden, es war eindeutig für eine gehobene Schicht gedacht. Angel ließ sich von Monika dirigieren. Nach einigen Abzweigungen durch lichte Flure erreichten sie einen großzügig gehaltenen Aufenthaltsraum, der mit Kübelpflanzen und Sitzecken an die Lobby eines großen Hotels erinnerte. "Maman!" Monika winkte aufgeregt und steuerte auf eine weißhaarige Frau zu, die auf einem Beistelltischen Kartentricks probte. "Monique, hier ist keine Rennbahn!", eine fein geschwungene Augenbraue wölbte sich hoch, während das runzelige Gesicht ein nachsichtiges Lächeln enthüllte. Angel folgte Monika rasch, die sich von diesem Einwurf nicht beirren ließ und ihre Mutter sanft auf beide Wangen küsste. "Hoffentlich ist das ein kussechter", eine elegante Hand mit gesprenkelter Haut wies auf Monikas Lippen. "Ein bisschen Farbe hat noch niemandem geschadet", konterte Monika beschwingt und plumpste auf das Sofa. "Maman, das ist Angel!" Angel reichte artig die Hand über das Beistelltischen, studierte das an eine Rosine gemahnende Gesicht der alten Dame ebenso intensiv wie sie seines. "Ach ja, das Fotomodell..." Angel grinste und warf sich in Pose. Die alte Dame lächelte geziert und schlug eine Hand vor den Mund. "Hast Glück, dass ich sitze, Kerlchen, sonst würde ich nachschauen, ob das alles echt ist", zwinkerte sie anzüglich. Zu seiner Verlegenheit wurde Angel rot und senkte hastig den Blick. Monika lachte laut auf und tadelte. "Maman, du bringst Angel in Verlegenheit! Was soll er bloß von dir denken?!" Die alte Dame strich sich durch die weißen Locken. "Dass ich immer noch...-wie heißt das?.. ein verdammt steiler Zahn?- bin!" Angel erstickte fast an einem Huster, während Monika sich den Magen halten musste. "Komm schon, Engelchen, setz dich zu mir!" Besitzergreifend wurde Angel an der Weste gezupft und in den Sessel neben dem Sofa dirigiert. "Du kannst mich Meemee nennen, mon petit, und nun will ich dein Tattoo sehen!" Angel schnappte nach Luft. Von dieser Frau konnte man in Sachen Zielstrebigkeit noch Einiges lernen. Rasch knöpfte er die Weste auf und schlug den Stoff beiseite. "Hübsch...", murmelte Meemee und strich sanft mit den Fingerspitzen über seine Haut. "Hat sicher scheußlich weh getan", schloss sie und tätschelte liebevoll Angels Wange. Der errötete wieder und murmelte vor sich hin. "So, Maman, jetzt wird dir Angel ein bisschen was über seine Ferien erzählen. Er hat ein Album mit Bildern gebastelt." Monika schlug Angels Album auf und nickte ihm lächelnd zu. Angel verbannte die für einen Moment aufflatternde Beklemmung, dann aber ermahnte er sich selbst. »Frankie, wenn du in der Nähe bist, schau ihnen über die Schulter, ja?« ~~?* Angel lehnte sich erschöpft in den Sitz zurück und sehnte sich nach dem warmen Fahrtwind, der ihn umschmeicheln sollte. "Müde?", Monikas Hand streifte sanft seine Stirn. "Es war ein bisschen viel...", bekannte Angel und schloss die Augen. "Weißt du, ich musste immer wieder an Frankie denken... wegen der Bilder." Monika biss sich auf die Lippen, ihre Augen trübten sich. "Es war rücksichtslos von mir..." "Nein, nein!!", wehrte Angel erschrocken ab und setzte sich auf. "Es war schön, sich wieder an die Ferien zu erinnern, den Spaß, die Freiheit. Auf diese Weise kann ich meine Erlebnisse teilen." Sie schwiegen beide schwermütig. "Ich werde dich direkt zu deiner Schule bringen, Schätzchen." Angel nickte stumm und döste leicht vor sich hin. Als sie das Schulgelände erreichten, musste Monika ihn wachrütteln, so fest war er eingeschlummert. "Liebchen, wir sind da." Angel rieb sich die Augen und blinzelte verwirrt. "Oh.. ja. Danke, Moni!" Er küsste sie sanft auf den Mund und umarmte sie zärtlich. "Es war ein schöner Tag. Danke", flüsterte er heiser. "Danke, dass du in mit mir geteilt hast, Liebchen", antwortete sie leise und schmiegte sich an ihn. Sie verharrten stumm in dieser intimen Umarmung, bis Monika Angel sanft von sich schob. "Es ist schon spät, Angel. Sieh zu, dass du ins Bett kommst. Immerhin ist morgen dein erster Schultag!" Angel kicherte übermüdet und zerwuschelte ihr die Haare, floh dann rasch außer Reichweite. "Bis bald, Moni!" "Bis bald, mein Herz", dann senkte sie die Sonnenbrille wie eine Schutzmaske vor die Augen. Angel sah ihr nach, bis sie sich im Verkehr verlor. Er fühlte sich plötzlich einsam und bleischwer. ~~?* Angel stieg schwerfällig die Stufen hoch und steuerte sein Zimmer an. Sein Rucksack schleifte hinter ihm über den Boden. Als er in den Flur einbog, hörte er aufgeregte Stimmen. Eine Frau in einem ausgeleierten Twinset plauderte laut auf einen der Lehrer ein, während hinter ihr ein Mann mit dem Habitus eines Wanderpredigers bestätigend nickte und zu jedem zweiten Wort ein zustimmendes Grunzen abgab. Angel konnte sich trotz seiner Müdigkeit ein Grinsen nicht verkneifen. Diese Gestalten waren wohl aus einem Satireblatt entsprungen?! Er näherte sich dem Trio und stellte fest, dass sie tatsächlich den Zugang zu seinem Zimmer blockierten. Die Frau sprach noch immer, ohne auch nur ein einziges Mal Atem zu schöpfen, eine schrille Dauerberieselung. Die Augen des Lehrers leuchteten auf, als er Angel bemerkte. Er unterbrach den Monolog mit einer ausschweifenden Geste. "Ach, und hier haben wir auch Matthias' Mitbewohner, Xavier St.Yves!! Xavier, Herr und Frau Fermont und Matthias." Angel zuckte zusammen. Er war es nicht mehr gewohnt, bei seinem Vornamen genannt werden. Die beiden grotesken Gestalten wandten sich zu Angel herum, der sich um eine aufrechte Haltung bemühte und artig die Hand reichte. "Oh, was für ein netter Junge!!", das schrille Flöten schmerzte in Angels Ohren, während er in fiebrige, dunkle Augen blickte. "Nett, Sie kennenzulernen", murmelte Angel erschöpft, dann riss der Mann seine Hand an sich, schweißig und besitzergreifend. "Du wirst dich sicher gut mit unserem Liebling vertragen!", dröhnte er und enthüllte ein blendendes Gebiss. Angel wich dem aggressiven Blick aus und spähte zum Türrahmen, um seinen neuen Mitbewohner in Augenschein zu nehmen. Der hatte sich verborgen vor den Blicken, völlig unbeteiligt am Geschehen. "Hallo!", lächelte Angel und bewunderte die aparte Erscheinung des anderen. Ein eisiger Blick aus graublauen Augen streifte ihn, dann war er auch schon wieder vergessen. Angel zögerte, dann schob er sich entnervt durch die kleine Gruppe und schloss die Tür auf. "Entschuldigung, aber für mich ist es jetzt Zeit", bemerkte er reserviert. "Oh ja, natürlich. Matthias, dann müssen wir uns wohl verabschieden! Aber ich helfe dir noch einräumen! Dann geht auch alles morgen Früh schneller..." "Nein." Matthias Stimme war dumpf und heiser, aber bestimmt. Er kehrte seinen Eltern den Rücken zu und schob eine Reisetasche und einen Koffer in das Zimmer, um dann demonstrativ die Tür zu schließen. Nach einem Augenblick Stille begann das schrille Plappern erneut. Angel starrte Matthias ungläubig an. Hatte er tatsächlich die eigenen Eltern ausgesperrt? Aber Matthias ignorierte ihn so konsequent wie zuvor, räumte den Koffer ungeöffnet unter das Bett und die Tasche in den Schrank. Angel sank auf sein Bett, hängte den Rucksack an die Lehne seines Stuhls und ächzte unter der unbequemen Bewegung. "Willst du nicht auspacken?" Matthias drehte sich herum und sah aus dem Fenster, als habe er Angel überhaupt nicht gehört. Angel runzelte die Stirn und erwog, seine Frage zu wiederholen, als Matthias heiser sprach. "Wann ist Frühstück?" "Um sieben Uhr im Speisesaal", entgegnete Angel bemüht freundlich. Matthias ließ den Rollladen hinunter und entnahm aus der Reisetasche einen gebügelten Pyjama in Mitternachtsschwarz. Um sich wortlos im Bad einzuschließen. Angel starrte fassungslos auf die Tür und massierte sich die Schläfen. Na, das fing ja gut an!! Er sackte auf die Matratze und starrte an die nackte Decke. Was Frankie wohl in ihm gesehen hätte? Diese graublauen Augen waren wirklich unheimlich... eine Farbe wie Stahltüren und genauso massiv verschlossen. Die Nase beschrieb eine sanfte Kurve, dann folgte ein weicher Mund über einem energischen Kinn. Die hohen Wangenknochen und die geraden, feinen Augenbrauen schienen mit der warmen Hautfarbe ein Erbe der Mutter zu sein, während die schwarzen, glatten Haare, nur auf wenige Millimeter gestutzt, zusammen mit der sehnigen Gestalt dem Vater zuzuschreiben waren. Insgesamt ein faszinierendes Gesicht, ein steter Wandel zwischen hart und weich, kantig und rund. Auch seine geschmeidigen, eleganten Bewegungen weckten Angels Interesse. Die Tür öffnete sich wieder mit genau abgezirkeltem Schwung, dann schritt Matthias zu seinem Bett hinüber, eine sphärische Symphonie in dunklen Tönen. Er wandte sich wieder seiner Tasche im Schrank zu, zog Bettzeug heraus und hatte mit einigen geschickten Handgriffen seine Schlafstatt gerichtet. Um sich dann wortlos in die Decke zu rollen und Angel den Rücken zuzukehren. Angel schüttelte den Kopf und betrat das Bad, ließ die Tür absichtlich angelehnt. Er wusch sich flüchtig, registrierte beiläufig, dass Matthias auch seinen Kulturbeutel nicht ausgeleert hatte. Lediglich das feuchte Handtuch hing ordentlich an einem Haken. »Als ob er sich auf einen Kurzaufenthalt vorbereitet«, dachte Angel verwirrt. Er betrat wieder ihr Zimmer, um sich auszuziehen und in einen Pyjama zu schlüpfen. Wie gewohnt steckte er die Nachtleuchte in die Steckerleiste neben seinem Bett und löschte dann die Deckenbeleuchtung. Als er sich auf die Matratze setzte, spürte er Matthias inquisitorischen Blick auf sich konzentriert. Ein Gefühl, als brenne jemand ihm mit einer Lupe ein Loch in die Haut. Matthias sagte kein Wort. Das Gesicht war unbewegt, aber Wellen der Missbilligung schwangen zu Angel herüber, die das Nachtlicht verbaten. Angel hielt dem Blick stand, rollte sich in seine eigene Decke. "Gute Nacht!", wünschte er betont reserviert, aber er erhielt keine Antwort. Trotz Decke und Sommerwärme war die Temperatur im Raum um einige Grade gefallen und Angel zog fröstelnd die Schultern zusammen. Seine Hand krallte sich in den Stoff von Franks Rucksack, dann fiel er in wirre Träume. ~~?* Kapitel 3 Matthias erwachte wie immer sehr früh. Er benötigte nie einen Wecker. Er warf einen Blick zu seinem Zimmergenossen. »Schläft«, resümierte er, die tiefen Atemzüge abwartend. Rasch und lautlos bewegte er sich durch den Raum, zog geräuschlos Wäsche aus seiner Tasche und verschwand im Bad. Er beanspruchte kein Licht, um sich zu waschen und umzuziehen. Der mitternachtsschwarze Pyjama verschwand wieder in der Tasche, während er Unterwäsche und einen einfachen Kampfanzug überstreifte. Verwaschenes Schwarz, einfache Schnitte, eine dicke Kordel als Gürtel. Wie immer fuhren seine sehnigen Finger die verstärkten Nähte entlang, kontrollierend. Zufrieden fletschte er die blendend weißen Zähne, dann streifte sein Blick die schlafende Gestalt. Weißblonde Strähnen breiteten sich wie eine Korona aus Licht auf dem Kopfkissen aus, verdeckten das Gesicht fast völlig. Matthias kniff die Augen zusammen. »Nein«, befahl er sich energisch. Dann huschte er leise und barfuß aus dem Zimmer, den Schlüssel an der Kordel um seine Taille befestigend. Er nahm den Weg die Treppen hinab. Durch die großen Fenster fiel müdes, dunstiges Sonnenlicht hinein. Auf Höhe des Speisesaals hörte er das geschäftige Treiben des Küchenpersonals, aber im Treppenhaus war er allein. Er verließ das Gebäude und wechselte zu dem kleinen Stück Wiese gegenüber, kurzer Ausläufer des Parks. Matthias atmete tief durch, bis in die Fußspitzen, wiederholte dies so lange, bis er völlig von der taugetränkten Sommerluft erfüllt war. Er schloss die Augen, ein genaues Bild seiner Umgebung vor sich, fokussierte seine Wahrnehmung auf seine anderen Sinne, tastete sein Umfeld ab. Dann wechselte er in sein Inneres, verbannte alle Gedanken, müßigen Empfindungen aus seinem Geist. Die Übungen waren eine automatische Abfolge, Rhythmus in Zeitlupe führte zu der Versenkung, die er anstrebte. Er spürte die Energie, spielte mit ihr, dann ging er zu den Kraftübungen über. Und steigerte das Tempo. Nach jedem Durchlauf der Reihe begann er von Neuem, wurde immer schneller, beachtete aber die Präzision der Ausführungen. Jede Bewegung wurde bis zum letzten Ausläufer des Körpers durchgezogen, konzentriert bis zu Fingerspitze oder Zehennagel. Er genoss die Geschwindigkeit, seine Agilität und die sehnige Kraft seines Körpers, die vollkommene Kontrolle. ~~?* Angel schreckte hoch, als das nachdrückliche Summen seines Weckers ihn aus dem Schlaf riss. Er rieb sich die Augen und schauderte unter den Ausläufern eines Albtraumes, an den er sich nicht mehr zu erinnern vermochte. Als sein Blick auf das benachbarte Bett fiel, stellte er verblüfft fest, dass es bereits mit militärischer Akkuratesse zurecht gemacht worden war. "Matthias?!" Angels Stimme hallte hohl wider, aber auch sein Gefühl bestätigte die Vermutung, dass er allein in ihrem Zimmer war. Er räkelte sich leicht verstimmt und beschloss, aufzustehen und sich eine Dusche zu gönnen. Im Bad berührte er probeweise Matthias' Handtuch, um einen leichten Stich von Nässe zu ertasten. Er zuckte mit den Schultern. Vielleicht ein Frühaufsteher, oder er war aufgeregt vor seinem ersten Schultag?! Aber das schien nach dem gestrigen Auftritt eher unwahrscheinlich. Angel glitt unter die Brause und summte in den Wasserstrahl "La mer", umarmte sich tröstend. ~~?* Angel strich müßig an seinem Hemd herum, als er die Treppe hinabstieg. So vertieft in die eingebildeten Knitter übersah er Matthias, der sich wie ein dunkler Schemen nach oben bewegte und dann vor ihm stoppte. Angel zuckte erschrocken zurück und wurde von einem arktischen Blick in einem maskenhaften Gesicht durchbohrt. Er brachte außer einem entsetzten Keuchen keinen Ton hervor, als Matthias demonstrativ einen weiten Bogen um ihn schlug und leichtfüßig nach oben verschwand. Angel umklammerte das Treppengeländer und sah ihm nach, während sein Herzschlag sich zu beruhigen suchte. Dann stolperte er die letzten Stufen zum Speisesaal hinunter, tauchte erleichtert in das aufgeregte Geplauder und Stimmengewirr seiner Mitschüler ein. Rasch sammelte er Kaffee und Toast auf seinem Tablett, fügte noch Honig hinzu. Als er den lichtdurchfluteten Saal durchquerte auf der Suche nach einem freien Tisch unter seinen Klassenkameraden, versperrte plötzlich ein kräftiges Bein seinen Weg. Das Bein gehörte zu einem riesenhaften Kerl mit der Statur eines Ringers, darüber thronte ein quadratischer Schädel mit einem schmierigen Grinsen, gekrönt von einer gegelten Tolle. "Hey!" Die Stimme hatte den Klang eines Nebelhorns: nasal, durchdringend und leicht verzögert. Angel zog eine Grimasse und machte Anstalten, das Hindernis zu übersteigen, als der Hüne sich aufrichtete und listige Schweinsaugen ihn musterten. "Du bist doch der, den sie Angel nennen, oder?! Der kleine Arschwärmer!" Angel erstarrte und spürte, wie seine Gesichtszüge einfroren. In dem breiten Gesicht erschien ein triumphierendes Grinsen. "Was hast du gesagt?", flüsterte Angel tonlos. Ein feistes Lachen brach aus dem Hünen heraus. "Dass du ein warmer Bruder bist, ein Homo!! Einer, der's nur über die kalte Küche mag!" Angel biss die Zähne zusammen und atmete durch. Er setzte sein arrogantestes Lächeln auf und erkundigte sich abschätzig, "wie bist du zu dieser Einsicht gelangt, angesichts deines beschränkten Intellekts?" Der Hüne zog die Stirn kraus, das listige Funkeln färbte sich dunkel. "Du kleiner Schwulibert, versuch bloß nicht, dich mit mir anzulegen, klar?!" Angel warf mit einer gezierten Geste ein paar Strähnen über die Schulter und flötete lasziv, "oh, und ich dachte, du wolltest mir einen Antrag machen!" Der Riese entfaltete sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit, fast zwei Zentner Lebendgewicht auf 1,90 m verteilt. "Verarsch niemals den Terminator!", dröhnte es aus einem breiten Brustkorb, während im Hintergrund anfeuernde Rufe aufbrandeten. Angel zwang sich zur Ruhe. Er verzog keine Miene, sondern hielt das zuckersüße, überlegene Lächeln aufrecht. In diesem Moment ertönte ein scharfer Befehl. "Robert, Sie setzen sich! Sofort!" Der Angesprochene warf Angel einen hasserfüllten Blick zu, der noch eine Fortsetzung versprach, dann faltete sich Robert sehr langsam wieder zusammen. Angel setzte seinen Weg zu einem Tisch fort, aber als er in die Nähe seiner eigenen Mitschüler kam, senkten sich die Blicke oder wichen ihm aus. Angel knurrte unterdrückt und wählte einen freien Tisch. Während er kochend heißen Kaffee in seine Kehle schüttete, dachte er verärgert und auch verstört darüber nach, was sich ereignet haben konnte, dass dieser Kotzbrocken Bescheid wusste. Und dass seine Mitschüler, die ihn doch all die Jahre bewundert hatten, sich nun von ihm abwandten. Gedanken über den Wahrheitsgehalt von Roberts Behauptung schob er beiseite. Ein Schatten fiel auf sein Tablett. Matthias nahm ihm gegenüber Platz. Sein Tablett war spartanisch: trockener Toast und heißes Wasser. Angel lächelte ihn vorsichtig an und wünschte einen guten Morgen. Matthias Blick streifte ihn kurz, dann nickte er abgehackt und zog aus seiner Hose einen wiederverwendbaren Teebeutel, den er in die Tasse senkte. Ein würziges Aroma stieg auf, als das heiße Wasser den Beutel bedeckte. Angel schnupperte interessiert und formulierte sogleich seine Frage. "Was für ein Tee ist das? Riecht gut!" "Sencha. Grüner Tee." Angel warf einen aufmunternden Blick hoch, doch Matthias versank in der Betrachtung seines Tellers. »Na toll, heute Morgen bin ich ein abgelehnter, ausgestoßener Homosexueller und ein Möbelstück!« In Angel brandete Zorn auf über die ungerechte Behandlung. Und ein Schatten von Furcht. ~~?* Der erste Schultag verlief so chaotisch wie jeder erste Schultag: man suchte Räume, Schüler, Lehrer, Material, einen guten Platz und vermisste die Muße der Ferien. Angel fand sich zu seiner aufkeimenden Sorge allein am Fenster wieder. Niemand wollte sich zu ihm setzen. »Ich verstehe das nicht!!« Außer ihm saß nur noch Matthias einzeln und dieser sogar direkt vor dem Lehrertisch. Angel ballte die Faust und wünschte sich, er hätte Franks Mut-Stein mitgenommen. Er wollte endlich wissen, was hier lief! Also wartete er ungeduldig und mit wachsendem Groll die nächste Pause ab. Als der Lehrer sich verabschiedete und den Raum verließ, stand er auf und bannte seine Mitschüler mit flammenden Blicken. "Okay, mir reicht's jetzt!! Den ganzen Morgen behandelt ihr mich wie einen Aussätzigen, obwohl wir uns seit Jahren kennen!!! Ich will wissen, was das soll!!" Ungemütliches Schweigen breitete sich aus, während sich Augenpaare auf die Tischplatten konzentrierten. Angel ließ die Faust kraftvoll auf seinen Tisch sausen. "Verdammt, redet endlich!!" Als dieser Appell nicht fruchtete, zerrte er einen seiner ältesten Freunde an den Aufschlägen vom Stuhl. "Wir sind Freunde, sag's mir!! SAG MIR, WAS LOS IST!!!" "Jemand... jemand hat das von dir und Frank erzählt." Angel war so perplex, dass sein Mitschüler aus seinem Griff entglitt. "Was... was soll das heißen, 'das von mir und Frank'?" Er fühlte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich, während sich in seinem ganzen Körper ein Taubheitsgefühl ausbreitete. Plötzlich fuhr jemand auf. "Dass du immer mit ihm zusammen warst!" Weitere Stimmen lösten sich. "Dass ihr euch geküsst habt!" "Wie du aus der Kirche abgehauen bist!" Angel torkelte vor dem Getöse zurück, griff Halt suchend nach der Rückenlehne seines Stuhls. Der Junge, den er als Freund bezeichnet hatte, versetzte ihm den letzten Schlag. "Und dass du dem Kapitän der Paul Ehrlich schöne Augen gemacht hast. Wenn das nicht typisch schwul ist, was soll es sonst sein?!" Angel hörte wieder das Summen in seinem Kopf, versuchte es abzuschütteln, so heftig, dass seine Nackenwirbel knackten, während sich seine Finger in das Holz des Stuhls bohrten. "Das ist nicht wahr!! Ist nicht wahr!! Das ist eine Lüge!!" Das stete, seine Gedanken usurpierende Pochen in seinen Schläfen stachelte seinen Widerstand an. "Ich habe Frankie geliebt!! Hört ihr?!! Wie könnt ihr das in den Dreck ziehen?!" Während sich sein Geschrei in hysterische Höhen schraubte, erhob sich Matthias geschmeidig, holte ansatzlos aus und ohrfeigte Angel heftig. "Seid still. Blödsinniges Geplärr." Seine heisere Stimme durchschnitt die verblüffte Stille, dann setzte er sich wieder, um weiter in einem Lehrbuch zu lesen, seine Umgebung völlig ausblendend. Angel keuchte laut, seine Hand zuckte hoch, um die malträtierte Wange zu kühlen. Er spürte Tränen in seine Augen wellen und schluckte heftig. Nein, diese Blöße würde er sich nicht geben, nicht hier und nicht vor ihnen!! In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und eine ältere Frau schritt forsch hinein, einen Stapel Unterlagen auf den Lehrertisch feuernd. "Guten Morgen! Wir beginnen mit einem Test!" Ungemütliches, drückendes Schweigen kehrte ein, während sich erhitzte Gemüter über Papier senkten. ~~?* Angel floh aus dem Klassenzimmer und flüchtete in ihr Zimmer. Er hatte den Drang, sich zu übergeben, aber außer Galle brachte er nichts hervor. Seine Kehle brannte von unterdrückten Tränen und einem Schmerz, der seinen ganzen Körper folterte. Er kroch in die Dusche, zog die Beine an und begann, trocken zu schluchzen. "Frankie... Frankie... bitte....hilf mir..." ~~?* Matthias inspizierte das Angebot mit angehobenen Augenbrauen. Er entschied sich für eine Suppe und bat dann höflich um eine Schüssel Reis. Irritierte Blicke trafen sein unbewegtes Gesicht, aber der Wunsch wurde ihm erfüllt. Geschickt bewegte er sich durch das Durcheinander im Speisesaal, suchte einen freien Tisch, der sich möglichst weit weg vom Zentrum der Aufregung befand. Der Lärm zerrte an seinen Nerven. Nun, der Katzentisch am Fenster, den er am Morgen mit Angel geteilt hatte, war noch unbesetzt. Er nahm Platz und begann zu essen. Aber er blieb trotz seines Bemühens nicht gänzlich unbemerkt. ~~?* Angels Körper schmerzte nun auch wegen der unbequemen Haltung. Außerdem protestierte sein Magen gegen den Nahrungsentzug. Schließlich kämpfte sich Angel in die Höhe und wankte zu seinem Bett, zog eine Packung Schokoriegel aus seinem Rucksack. Hungrig stopfte er sie in sich hinein und wischte sich über die Augen. »Wer braucht die anderen schon?! Feiglinge!!« Und wenn er nun schwul wäre? Was für ein Problem!! Als ob er sich wahllos auf alles in Hosen stürzen würde!! Er zog die Knie an und umarmte sie eng. »Es ist Liebe. So einfach und so kompliziert.« ~~?* Matthias brachte sein Tablett zurück und beschloss, bis zum Beginn der Nachmittagsstunden in ihr Zimmer zurückzukehren. Vielleicht konnte er dort unbelästigt ein wenig lesen. Als er den Schlüssel in das Schloss steckte, bemerkte er, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Er trat ein und sah Angel auf seinem Bett sitzen. Kopfhörer schoben die weißblonden Strähnen aus dem bleichen Gesicht, während er konzentriert Figuren auf einem Schachbrett inspizierte. Nun, das sah zumindest nach einer ruhigen Beschäftigung aus. Matthias drückte die Tür ins Schloss und wählte ein Buch aus dem Stapel auf seinem Schreibtisch, Ergebnis der Bücherausgabe am Morgen. Dann hockte er sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden und begann zu lesen. Angel warf einen kurzen Blick zu Matthias hinüber, lupfte eine Augenbraue über die ungewöhnliche Platzwahl und ermahnte sich, ihn zu ignorieren. Seltsamerweise verspürte er wegen der Ohrfeige keinen Groll, nur Verwunderung. In seiner Hosentasche drückte der Mut-Stein gegen die schmalen Hüftknochen. ~~?* Die Nachmittagsstunden verliefen in der gleichen, angespannten Atmosphäre wie die letzte Stunde vor dem Mittagessen. Angel beschränkte sich auf den Unterricht, fokussierte seine ganze Aufmerksamkeit auf den Lehrer. »Nur nicht die Nerven verlieren«, sagte er sich wieder und wieder, »es wird sich eine Lösung finden.« Und musste darüber lächeln, denn es klang genau so, wie Frankie die Sache angegangen wäre. Nachdem endlich der erste Tag Geschichte war, sammelte er seine Sachen ein und überlegte, ob er es sich in der Bibliothek gemütlich machen oder lieber einen Spaziergang in der Sommersonne absolvieren sollte. An Lernen in einem der Mehrzweckräume wagte er nicht zu denken. Angesichts der Wärme entschied er sich für den Spaziergang, wechselte rasch seine Kleider, bewaffnete sich mit seiner Sonnenbrille und verließ unbeachtet das Gebäude. Automatisch lenkten ihn seine Füße in den Park und dann weiter zu seiner alten Schule. Mit einem Anflug von Melancholie beobachtete er das Treiben in den Räumen, das Stimmengewirr. Fühlte das Verlangen, seine Hand auf die Borke des Baumes zu legen, unter dem er mit Frankie so oft gesessen hatte. Und doch viel zu selten. Seufzend wandte er sich ab und begann schwermütig, seine Schritte auf den Heimweg zu lenken. Seine Finger spielten mit dem Mut-Stein in der Hosentasche, während er durch die Baumschatten des Parks schlenderte. »Nun denk mal logisch, Angel, es muss möglich sein, ihre Freundschaft zurückzugewinnen!« »Auch wenn du deine wahren Gefühle verleugnen musst?!« »Aber nein, meine Gefühle haben doch nichts mit der Behauptung zu tun, ich sei schwul!« »Und wie willst du sie überzeugen?! Eine Freundin anschaffen?!« Angel knurrte sich selbst an und knirschte mit den Zähnen. Woher wusste dieser Kotzbrocken eigentlich von ihm? Und von Jürgen? Und wieso störte es seine Mitschüler erst jetzt, dass er so eng mit Frankie befreundet gewesen war? Hatten sich nicht einige von ihnen gewünscht, sein bester Freund sein zu dürfen?! »Strategisch denken«, ermahnte er sich entschlossen, »isoliere sie und finde heraus, hinter welchem Busch der Tiger lauert.« ~~?* Angel stieg energisch die Stufen hoch und betrat den Flur seiner Stufe. Er würde einfach die Zimmer abklappern und jeden Anwesenden einzeln und persönlich konfrontieren. Angriff war noch immer die beste Verteidigung! ~~?* Eine geschlagene Stunde später summte ihm der Kopf, aber eine große Last war von seiner Seele genommen. Er ballte die Fäuste und kniff die grünen Katzenaugen zusammen. »Nun werde ich meinem Feind auch ein Gesicht geben!!« ~~?* Matthias blickte nicht auf, als er Angel eintreten hörte. Er erkannte den weißblonden Jungen an seinen grazilen Schritten, eine Mischung aus Selbstsicherheit und gezähmter Wildheit. Verstohlen beobachtete er Angels Bewegungen im Zimmer, die leicht genervte Geste, mit der jener sich die Strähnen aus den Augen wischte, die konzentrierte Miene in dem attraktiven Gesicht. Er wartete auf eine Erklärung und wurde nicht enttäuscht. "Weißt du zufällig, wo ich einen Typ namens Ronnie finde? Er müsste in der nächsten Stufe sein...und wenn ich ihn zu fassen kriege, in einen Schuhkarton passen!!" Matthias starrte weiter betont auf seine Lektüre, was Angel schließlich zu einem verärgerten "ein einfaches Nein hätte genügt!" veranlasste. Als er sich anschickte, den Raum zu verlassen, raunte Matthias heiser und ohne aufzublicken. "Du solltest vorsichtig sein. Wer aus dem Hinterhalt zuschlägt, hat sicher eine Rückversicherung." Angel erstarrte in der Tür, schloss sie dann wieder langsam. "Du meinst den Terminator, oder?" Matthias blätterte geräuschvoll um. "Danke." Angel trat auf den Flur und machte sich auf, dem Feind in die Augen zu sehen. ~~?* Er vermutete die nächste Stufe in den Arbeitsräumen. Glücklicherweise waren die Türen zum Flur geöffnet. »Nun muss ich nur noch den Fleischklops suchen und ...« "Hey, du hast dich wohl verirrt?!" »Schon gefunden!« Angel fuhr herum, als der Terminator mit einem Gefolge auftauchte. Seine Vasallen fächerten sich auf und blockierten den Flur in voller Breite. Angel musterte sie prüfend, suchte jemanden, der aus dem Hinterhalt über Gerüchte zuschlug. Ein Junge erweckte seine Aufmerksamkeit, war er doch kleiner und unscheinbar, wich aber Angels Blick als Einziger aus. "Du bist Ronnie, oder?" Angel steuerte direkt auf den farblosen Burschen zu, ignorierte die anderen drei und auch den Terminator völlig. "Wie kommst du dazu, solchen Quatsch über mich zu verbreiten?!! Du kennst mich doch gar nicht!!" Ronnie wich zurück, zischte kurz etwas und der Terminator packte Angel am Arm. "Hey, spiel dich hier nicht so auf, du schwuler Drecksack!!" Angel wrang sich aus der Umklammerung und feuerte flammende Blicke auf den Hünen ab. "Halt dich da raus, ich spreche mit Ronnie, nicht mit dir!" Der Terminator lachte bösartig, grub dann seine fleischige Hand in Angels Haare und bog ihm den Kopf in den Nacken. Angel riss die Arme hoch im vergeblichen Versuch, seine Haare frei zu bekommen oder die grobe Hand zu lösen. Als dies nicht fruchtete, rammte er eine Faust in die Fleischmenge unter dem Brustkorb. "Lass mich los!!" "Niemand beleidigt meine Freunde!! Und schon gar nicht so ein warmer Bruder wie du!!" Damit schleuderte er Angel gegen die Wand. Angel keuchte, als der Aufprall die Luft aus seinem Brustkorb trieb und suchte Halt an der Mauer. Aber schon wurde er wieder an den Haaren zurückgezerrt und eine zweite Pranke legte sich um seine Kehle. Angel ruderte hilflos in der Luft herum, bekam den Terminator aber nicht zu fassen, der sich nun einen Spaß daraus machte, Angel im Kreis herum zu drehen und ihm die Luft abzudrücken. "Kehr niemals 'nem Schwulen den Rücken zu, hat mein Alter immer gesagt!" Pflichtschuldiges Gelächter kommentierte seine Bemerkung. "Hey, was...?!" Plötzlich stoppte die Drehbewegung, und Angel war frei, sackte keuchend auf den Boden. Undeutlich nahm er ein paar schwarze Hosenbeine und nackte Füße wahr, die sich vor ihn stellten. "Was willst du kleines Arschloch?!" "Ruhe." Verblüffte Stille folgt auf die heisere Antwort. Dann grollte der Terminator drohend, "ich mach dich kalt, du bescheuertes Schlitzauge!!" Nur einen Sekundenbruchteil später zischte faulige Luft über Angel hinweg, dann torkelte der Terminator gegen die Wand. Angel kämpfte sich hastig in die Senkrechte zurück, als der Schemen sich erneut bewegte und eine Attacke auf seinen Rücken abwehrte. Dann ging Matthias gemächlich den Flur hinab, ohne Eile und ohne auf Angel zu warten. Angel nutzte die Ratlosigkeit seiner Gegner und packte Ronnie beim Hemd. "Hör auf, Unsinn über mich zu verbreiten, klar?!" Das fahle Gesicht mit den eng stehenden Augen und der hohen Stirn wurde noch farbloser, aber wie auch beim Terminator war keine Unterstützung durch seine Kumpane zu erwarten. Nur die hellblauen Augen verdunkelten sich hasserfüllt. Angel erwiderte diesen Blick mit einem eisigen Funkeln, das lebenslange Feindschaft versprach. Dann folgte er Matthias. ~~?* Als Angel ihr Zimmer erreichte, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass es verschlossen war, also Matthias nicht hierher zurückgekehrt. »Wo könnte er sein? Und barfuß?« Angel durchstreifte die Geschosse, sogar die Bibliothek, aber er konnte Matthias nicht aufspüren. Schließlich kehrte er zu ihrem Zimmer zurück, um das sanfte Summen seines Handys zu vernehmen. "Hallo?" "Moni!! Schön, dass du anrufst!!" "Nein... nein, nicht so besonders." Angel ließ sich auf sein Bett sinken und beobachtete den Sonnenuntergang durch das Fenster. "Ach, weißt du... es ist...", er brach ab, um sich über die Augen zu wischen. "Nein, entschuldige... es geht schon wieder..." "... ja... nein, da ist so ein Typ, der hat rumerzählt, ich sei schwul und würde andere Jungs anmachen..." "... sie wollten nicht mehr neben mir sitzen... so ein Ekel hat mich dann gewürgt und an den Haaren gezogen..." "Nein, Moni, ich bin okay, wirklich!! Mein neuer Mitbewohner hat mir geholfen." "Ich wünschte, Frankie wäre hier!! Ich fühl mich so allein...nein, entschuldige. Ich bin einfach nur fertig..." "Wirklich?!! Gut, ich nehme dich beim Wort!!" "Ja!! Moni? Ich hab dich sehr lieb!" Angel kappte die Verbindung und schloss die Augen, ein wehmütiges Lächeln auf den Lippen. Er beschloss, das Abendessen ausfallen zu lassen und stattdessen einfach nur vor sich hin zu träumen, von Musik und Erinnerungen umgeben. ~~?* Matthias betrat geräuschlos den Raum und warf einen kurzen Blick auf die schlafende Gestalt. »Gut«, dachte er und zog sich eilig um. Dann löschte er das Licht und hüllte den Raum in vollkommene Dunkelheit. Er machte es sich auf seinem Bett bequem und lächelte in die Finsternis. ~~?* Angel erwachte mit dröhnendem Schädel und verklebten Augen. Für einen Moment wallte haltlose Panik in ihm hoch, als er bemerkte, dass seine Augen geöffnet waren und dennoch kein Licht sie erreichte. Dann erinnerte er sich daran, dass er wohl eingeschlafen sein musste und die Rollläden heruntergelassen waren. Ächzend setzte er sich auf und tastete nach seinem Nachtlicht, um herauszufinden, wie spät es war. Als er sich aufrichtete und die langen Strähnen aus dem Gesicht wischte, bemerkte er, dass Matthias' Bett verlassen war. »Nanu, wo ist der denn um die Uhrzeit schon hin?!« Angel schlüpfte aus den zerknitterten Klamotten des Vortags und gönnte sich eine erfrischende Dusche, bevor er die Uniform für den heutigen Schultag anlegte. Da er hellwach war, beschloss er, herauszufinden, wo sich sein Mitbewohner um diese Zeit herumtrieb. Er verließ das Zimmer und bewegte sich unauffällig den Flur hinunter. Unterdrückte Geräusche zeigten an, dass auch andere um diese Zeit nicht mehr ruhten, aber niemand kam ihm entgegen. Als er den Speisesaal erreichte, war er ein wenig enttäuscht. Dann aber fiel sein Blick aus dem Panoramafenster auf die Wiese dem Gebäude gegenüber, wo sich eine einsame Gestalt in Zeitlupe bewegte. Angel huschte hastig die letzten Stufen zum Erdgeschoss hinunter, um dann den Weg zur Wiese hinabzuschlendern. Matthias nahm ihn nicht zur Kenntnis, was Angel dazu anstachelte, es sich auf einem Absperrgeländer bequem zu machen und demonstrativ Matthias' Übungen zuzusehen. Doch dieser verzog keine Miene, sondern steigerte das Tempo, ohne jedoch die Präzision seiner Bewegungen zu vernachlässigen. »Tai Chi, Schattenboxen«, entschied Angel nach einigen Augenblicken. »Ich dachte immer, das sei Gymnastik für Rentner.« Nach drei weiteren Durchgängen beendete Matthias sein Pensum, entspannte sich und schritt dann wieder ohne Hast in das Gebäude zurück. Er sah Angel kein einziges Mal an. ~~?* "Komischer Vogel", murmelte Angel verstimmt über so viel Konsequenz und folgte der schwarzgekleideten Gestalt. »Bruce Lee, oder was?!« Er verließ den Windschatten und machte es sich mit den Frühaufstehern im Speisesaal gemütlich. Als einige seiner Klassenkameraden müde Platz nahmen, begrüßte er sie freundlich. Verlegenes Murmeln, aber auch Erleichterung. Nach und nach trafen auch die beiden oberen Stufen ein, zuletzt natürlich der Terminator mit Entourage. Angel schluckte den letzten Rest Kaffee herunter und sah Matthias hinter dieser Gruppe hineinschlüpfen. Nun trug er auch die Schuluniform und sogar Schuhe. »Er wirkt gleich ganz anders«, dachte Angel und verspürte einen Anflug von Enttäuschung, hatte doch den disziplinierten Kämpfer ein Hauch von Abenteuer-Romantik umweht. Grußlos nahm Matthias Platz, um das schon bekannte Ritual mit dem Teebeutel zu vollziehen und dann an einer Scheibe Toast zu nagen. Angel erhob sich. Eine Unterhaltung mit diesem Stockfisch schien ja nicht wahrscheinlich. Er bewegte sich geschickt Richtung Ausgang. "Hey!" Angel fuhr herum, hielt aber in der Vorwärtsbewegung nicht inne, sodass er sich unvermittelt von einem warmen Körper gebremst sah, der in den Saal strebte. Der unvermutete Zusammenstoß brachte Angel aus dem Gleichgewicht. Er fiel rücklings auf den Hintern. "Das wäre aber doch nicht nötig gewesen! Eine Verbeugung ist durchaus Referenz genug", flötete eine helle Stimme geziert, um dann in warmes und sehr viel dunkleres Lachen auszubrechen. "Gitano!!" Während Angel indigniert Strähnen aus seinem Gesicht blies und nach oben funkelte, brandete hinter ihm eine Welle der Begeisterung auf. Eine überraschend schmale Hand wurde ihm entgegengestreckt, die er automatisch ergriff. Um mit fast raketenartiger Beschleunigung hochgerissen zu werden. Ein Junge stand ihm gegenüber, von gleicher Größe und Statur, mit haselnussbraunen, wilden Locken und leicht gebräunter Haut. Das Gesicht unter den Locken war das lebendigste, das Angel jemals erblickt hatte. Ein sinnlicher Mund über einem eckigen Kinn, Grübchen mit einer Andeutung von Spott, darüber eine Himmelfahrtsnase, gekrönt von bernsteinfarbenen Augen. "Alles noch dran, ja?!" Unversehens fand sich Angel in eine Pantomime verwickelt, als Gitano ihn ungeschickt abklopft, herumdrehte, an ihm herumstrich, das Gesicht in einer Grimasse hilfsbereiter Konzentration verzerrt. "Hey!" Angel schob allzu neugierige Hände von seinem Hemd zurück, hatte doch dieser verrückte Charlie Chaplin-Klon versucht, sämtliche Knöpfe zu öffnen. Die Bernsteinaugen wurden kugelrund, ebenso der Mund, übertriebenes Erstaunen signalisierend, dann zog Gitano aus Angels Hemd einen roten Schlüpfer, eindeutig ein weibliches Modell. Dröhnendes Gelächter quittierte den Trick, während der Terminator grölte, man habe wohl eine Transe entdeckt!! Angel spürte zu seinem größten Ärger beschämende Röte in seine Wangen steigen. Heftig stieß er Gitano von sich. Der schien die Geste jedoch vorausgeahnt zu haben, denn er umklammerte Angels Handgelenke und versuchte seinerseits, sich von ihm zu lösen, eine weitere Parodie auf Angels Ärger. Angel fauchte überfordert und entnervt, als Gitano sich unerwartet auf die Zehenspitzen stellte und ihn feucht und lautstark auf die Nase küsste. Angels Entsetzensschrei ging im allgemeinen Tohuwabohu unter. Da er nun frei gekommen war, nutzte er die Gelegenheit zu einer eiligen Flucht aus dem Speisesaal. Das Gelächter der anderen höhnte ihm hinterher. ~~?* Angel verbrachte den Tag in sich gekehrt und verschlossen, nur auf den Unterricht bemüht. Ein Kloß saß fest in seinem Hals, Anflüge von Migräne versandten pochende Schmerzausläufer bis zu seinem verspannten Nacken. Er wusste, dass er die Ruhe zu bewahren hatte, wenn er nicht alles noch schlimmer machen wollte, aber er fürchtete sich vor der Entdeckung, dass er die notwendige Energie nicht besaß. Inzwischen tauschten seine Mitschüler begierig die Neuigkeiten und Informationen über Gitano aus. Dass er eigentlich Hans hieß und eine Stufe über ihnen, obwohl er gerade mal 17 war. Ein guter Schüler, wenn man sein Interesse fesseln konnte, sonst ein unermüdlicher Quell des Ärgernisses und der Ablenkung für Lehrer und Schüler. Und dazu immer voller Energie und gut gelaunt. Kurzum, die untere Stufe hatte ihren Helden gefunden. Angel verfolgte die Aufregung grollend. Er war sich bewusst, falsch reagiert zu haben, wollte das aber auf gar keinen Fall eingestehen. Er schwor sich, nicht aufzugeben, auf keinen Fall. Sonst könnte er Frankie nicht mehr in die Augen blicken. ~~?* Angel und Matthias trafen an diesem Tag, ohne dass sie auch nur ein Wort wechselten, eine stille Übereinkunft. Sie würden einander in Ruhe lassen, jeder sich nur um sich selbst kümmern. ~~?* Die erste Sportstunde nahte, die natürlich dazu diente, die Mannschaften, die das Internat nach außen repräsentierten, durch die Neuankömmlinge wieder aufzustocken. Angel machte sich Hoffnungen, in die Volleyball-Auswahl zu kommen. Immerhin war er der beste Spieler in der Mittelstufe gewesen. Die Auswahltests bestanden darin, dass sich die bestehende Mannschaft aufstellte und die Aspiranten in ein Spiel verwickelte, um die Qualitäten der Bewerber zu testen. Frohgemut nahm Angel inmitten seiner Mitschüler Aufstellung, erwartete gespannt die Ballwechsel. Doch nach einigem Geplänkel wurden die Schüsse schärfer. Es entwickelte sich ein regelrechtes Bombardement, das nur ein Ziel hatte: ihn! Angel wehrte sich in seiner Haut, so gut er konnte. Auch seine Mitschüler versuchten halbherzig, die Attacken abzufangen, aber sie waren ebenso überrascht und verwirrt von dieser unvermuteten und auch unverhohlenen Aggression wie Angel selbst. Schließlich schritt die Sportlehrerin, eine durchtrainierte Frau in den Vierzigern, mit einem energischen Pfiff ein. "Was geht hier vor?!" Finstere Blicke wurden über das Netz geschleudert, dann drehte der Kapitän des bestehenden Teams den Ball geschickt auf der Fingerspitze und antwortete leichthin, "die anderen sind okay, aber der Blonde da, den wollen wir nicht!" Angel erstarrte, als sich alle Augen auf ihn richteten. "So?! Mir scheint aber, er ist sehr versiert und..." "Frau Marian, wir wollen ihn nicht. Er passt nicht in das Mannschaftsgefüge!" Angel öffnete den Mund, aber er brachte keinen Ton des Protest hervor. "Wie habe ich das zu verstehen?!" Der verärgerte Tonfall deutete hinreichend an, dass Frau Marian es nicht schätzte, wenn man sie unterbrach. "Wir sind hier Männer und keine...", ein abwertendes Winken mit der Hand, "Modells! Die anderen sind willkommen... aber er nicht!!" Angel drehte sich auf dem Absatz herum und ging langsam an den Spielfeldrand, um sich dort auf die Bank zu setzen. "Hey, du da!! Matthias! Spring für unser Modell ein!" Matthias erhob sich geschmeidig vom Boden und nahm Angels Platz ein, wie immer das Gesicht eine undurchdringliche Maske. Nun allerdings nahm das Testspiel eine seltsame Wendung, denn Matthias fing sämtliche Bälle ab, die über das Netz kamen. Er bewegte sich wie ein Blitz. Und retournierte sie alle zu einem sehr verblüfften und dann sehr wütenden Mannschaftskapitän. "Was machst du Idiot denn?!! Kennst du die Regeln nicht, oder was?!" Matthias schien nicht einmal besonders außer Atem. Sein Pokerface zeigte keine Spur der Anstrengung. Er ließ den Ball einfach auf den Boden fallen und verließ das Feld. "Was soll das werden?! Rede, verdammt!!" Die heisere Stimme, unbenutzt, schwebte durch die angespannte Atmosphäre wie ein eisiger Hauch. "Einer Mannschaft voller Feiglinge anzugehören, ist Zeitverschwendung." Für einige Augenblicke herrschte atemlose Stille, ein Vakuum angehaltener Atemzüge. Dann brach ein wütender Tumult aus, Protestgeschrei, Empörung, Drohgebärden. Was Matthias nur eine einzige Reaktion entlockte: die graublauen Augen verdunkelten sich gefährlich, während die Lippen noch schmaler wurden. Angel konnte den Blick nicht von seinem seltsamen Mitbewohner abwenden, schien dieser doch nicht besorgt, sondern eher indigniert über den Aufruhr, den er ausgelöst hatte. Angesichts dieser Eröffnung fassten auch Angels Mitschüler den Mut, sich gegen eine Aufnahme in der Mannschaft zu entscheiden. Was sie nicht ahnten, war, dass diese Haltung zu einer Polarisation führte, die sie nicht mehr vergessen würden. ~~?* Angel strahlte seine Mitschüler erleichtert an, drehte sich dann zu Matthias um, der maßgeblich an diesem Sieg beteiligt war. Aber der war verschwunden, hatte sich einfach aufgelöst. ~~?* Angel wartete ungeduldig am Schultor, strich sich die Strähnen aus dem Gesicht, die eine heiße Brise immer wieder in seine Augen wehte. Endlich erblickte er das herbeigesehnte Cabrio. Noch bevor Monika den Motor abgestellt hatte, riss er die Tür auf und umarmte sie stürmisch, drückte sich fest in ihre Arme. "Angel!! Liebchen!!" Monika streichelte über die seidenweichen Haare und versuchte, sich ihr Erschrecken über Angels ungewohnten Gefühlsausbruch nicht anmerken zu lassen. "Geht es dir gut, Herzchen?" Angel drückte einen warmen Kuss auf ihre Stirn und schloss die Augen. "Jetzt? Ja!" Monika ließ sanft den Handrücken über Angels Wange gleiten. "Ich mache mir Sorgen um dich, mein Herz! Ist es so schlimm hier?" Angel rutschte auf den Beifahrersitz zurück und schob die Sonnenbrille auf den Kopf. "Lass uns verschwinden, bitte, ja?" Monika tätschelte sanft seinen nackten Oberschenkel und startete den Motor wieder. "Stell die Musik an, Liebchen, genießen wir die Fahrt!" Angel lächelte und erfüllte Monikas Wunsch. Gershwins "An American in Paris" drehte beschwingt seine Runden in ihren Ohren. ~~?* Angel schenkte Eistee aus und sackte neben Monika auf die Couch. Er versank in der Betrachtung des großformatigen Photos, das auf einer Staffelei stand. "Es wird länger halten als das Poster", sinnierte Monika leise. Sie hatte nie gefragt, was aus dem ersten Abzug geworden war. Und Angel wollte das auch nicht erklären. Sie erhob sich steif und entschuldigte sich mit einem gequälten Lächeln für das Ächzen, das ihr entwichen war. "Ich habe auch die Rahmen für die anderen Bilder." "Die anderen Bilder? Aber ich hatte doch nur..." Monika verschwand aus dem Atelier. Angel hörte ihre Schritte auf der Freitreppe in das obere Geschoss. Er erhob sich ebenfalls und trat nahe an das eingefasste Bild heran. Seine Fingerspitzen glitten hauchzart über die schlafenden Gestalten, sicher hinter einer kratzfesten Beschichtung. "Frankie...", flüsterte er heiser. Er schrak erst aus seiner Melancholie hoch, als Monika sanft beide Arme um seine Taille schlang und sich an seinen Rücken schmiegte. "Ach, Liebes..." Angel presste eine flache Hand auf den Mund, aber das hinderte die Tränen nicht, sich über seine Wangen zu ergießen. Er warf den Kopf in den Nacken und versuchte blinzelnd, die Fassung zu wahren, aber Monika glitt um ihn herum und zog ihn sanft an sich, seinen Kopf auf ihre Schulter. "Lass es raus, Schätzchen, schluck nichts runter!" Und Angel schluchzte haltlos in das teure Leinenkostüm, umklammerte seine ältere Freundin wie den letzten Rettungsanker in einem Meer aus Verzweiflung. ~~?* Angel sank zufrieden auf seine Fersen zurück und betrachtete die Wand über seinem Bett. Die träumenden Engel waren flankiert von Frankies Selbstporträt und dem Bild, das er von Angel gezeichnet hatte, als sie in der Waschküche herumgealbert hatten. Er strich sich genießerisch über den Bauch und dachte an das leckere Essen, das Monika ihm spendiert hatte. Alles in allem war der Tag gar nicht so übel gewesen. "Schritt für Schritt, Frankie...", versprach er dem Bild und hauchte einen Kuss auf das Glas. Dann entkleidete er sich völlig, duschte mit Franks Duschgel und schlüpfte nackt in die Satinlaken, fest entschlossen, von einer ewigen Liebe zu träumen. ~~?* Matthias öffnete geräuschlos die Tür und huschte in das Zimmer, einen frustrierten Blick auf das Nachtlicht werfend. Dann hielt er mitten in der Bewegung inne, um die frisch geschmückte Wand über Angels Bett in Augenschein zu nehmen. Sein Blick ruhte lange auf Franks Selbstporträt, dann betrachtete er Angels entspanntes Gesicht, die Decke weggeschoben. Er legte den Kopf schief und ballte die Fäuste kurz. Dann wechselte er die Kleidung, um ebenfalls ins Bett zu sinken. ~~?* Nach der zögerlichen Parteinahme für Angel erkannte die untere Stufe rasch, dass man ihnen ihre Treue übel nahm. Sehr oft war der Medienraum einfach ausgebucht, wenn sie einen Film sehen wollten, die Sporthalle besetzt, die Bücherei blockiert. Diese subversive Bedrohung wurde noch durch die gezielte Einschüchterung einzelner verstärkt. Angel fühlte sich in die Pflicht genommen, diesen Konflikt zu entschärfen. Er wollte nicht, dass seine Freunde für ihre aufrechte Haltung büßen mussten. Außerdem wollte er eine Eskalation verhindern. Er entschloss sich, den Kopf der Verschwörung auszumachen und diesen direkt in ein Gespräch zu ziehen. Allerdings schien dieses Unterfangen schwieriger als angenommen, denn die vage Ablehnung der beiden höheren Stufen war nicht konkret greifbar. Keine Attacke war zielgerichtet genug, um direkt auf Angel gemünzt zu sein. Angel zögerte, einen seiner Mitschüler ins Vertrauen zu ziehen. Er war sich ihrer anhaltenden Loyalität nicht so sicher, wie er vorgab, vermutete er doch eher eine Trotzreaktion als ehrliche Überzeugung. Aber er musste sich aussprechen und daher rief er Urs an und bat um ein Treffen. Urs wartete mit einem halben Lächeln vor dem Schulgebäude auf ihn, eine unverbrüchliche Treue, die Angel rührte. "Hey, wie geht's?!" Urs nickte schüchtern, wrang wie gewohnt die großen Hände, während die eisblauen Augen blinzelten. "So la la. Macht's dir was aus, wenn wir hier verschwinden? Ich hab's nicht so mit Schule." Angel lachte laut und versetzte Urs einen Stoß in die Rippen. "Deswegen verstehen wir uns wohl so gut, was?!" Urs grinste breit, sein Teddybärengesicht erstrahlte. "Hast du Lust, mit zu mir zu kommen? Wir könnten Tischtennis spielen!" Angel nickte übertrieben eifrig und hauchte ihm einen koketten Kuss zu. "Mein Retter aus der Schulhölle, ich folge dir überall hin!" Urs blinzelte heftig, während Röte in sein Gesicht stieg. Dann legte er eine Pranke auf Angels Kopf und verwuschelte die weißblonden Strähnen liebevoll. "Du bist echt ein verrückter Typ", in der hellen Stimme schwang Bewunderung. Angel nahm eine arrogante Pose ein und wedelte geringschätzig mit der Hand. "Aber natürlich, mein Bester!", näselte er. Während sie albernd aus der Sicht des Schulgebäudes entschwanden, folgten ihnen mehrere Augenpaare. ~~?* Angel nuckelte an einem zerbrechlichen Plastikhalm und saugte eisgekühlte Cola aus einem hohen Glas, gelegentlich das Kondenswasser auf sein Gesicht abstreifend. Urs saß neben ihm mit hochrotem Kopf, hielt die altgediente Hollywood-Schaukel in sanfter Schwingung. "Du bist verdammt fix", lobte Angel seinen Gegner und verzeichnete die sich vertiefende Röte in Urs' Gesicht befriedigt. "Ich hab oft mit meinem Vater gespielt... vorher...", seine Stimme verlor sich in der Hitze. Angel richtete sich auf und stellte das Glas auf einen wackligen Campingtisch. "Wie geht es ihm denn?" Urs nahm wieder das Kneten seiner Hände auf, während er unbewusst stärker die Füße in den Boden stemmte und die Schaukel beschleunigte. "Er ist jetzt in einer Therapie. Meine Mama hat ihn dazu gebracht." Urs warf Angel einen scheuen Blick zu, ob dieser Anzeichen von Spott oder Herablassung zeigte, aber er fand nur Mitgefühl und Interesse. Hastig richtete Urs den Blick wieder auf das ausgedörrte Gras und fuhr fort. "Meine Mama kommt aus Ikea-Land... na ja.. das sagt mein Vater immer. Sie ist Schwedin und sehr selbstbewusst. Sie sagt, was getan wird." Angel lächelte über den unverhohlenen Stolz in der hellen Stimme dieses großen Teddybären. "Weißt du, manchmal ist alles ganz normal... so wie immer. Wir arbeiten in der Werkstatt, unterhalten uns... und dann erstarrt er plötzlich und rührt sich nicht mehr." Urs richtete sich auf, sein Blick war in die Ferne gelenkt. "Er nimmt gar nichts mehr wahr, ist einfach... weg!!" Verlegen sah er wieder unter sich, die Hände schneller massierend. "Das ist ziemlich übel. Man kann nicht helfen, muss abwarten, bis er wieder da ist." Nach einer Pause ergänzte er verloren. "Und er spricht nicht. Was auch immer in ihm vorgeht, er redet nicht darüber. Das macht uns langsam kaputt." Angel schlang mitfühlend einen Arm um die breiten Schultern und drückte Urs sanft an sich. "Das tut mir leid, Urs." Für einen Augenblick verharrte Urs in dem aufrichtenden Trost, dann löste er sich verlegen. "Ich sollte mich schämen, ausgerechnet dir solche Dinge zuzumuten." "Aber nein!!" Angel glitt aus der Schaukel und ging vor Urs in die Hocke. "Ich bin froh, dass ich mit dir reden kann!! Dass sich jemand für Frankie interessiert, mir zuhört, wenn ich endlos über ihn spreche!! Denn das ist wichtig für mich!" Urs wischte sich unsicher über den Nacken und starrte auf seinen Schoß. Angel ergriff energisch die großen Hände und hielt sie fest. "Ich habe seit Frankies Tod kaum noch Freunde. Du bist der Einzige, auf den ich vertrauen kann." Urs hob überrascht den Kopf, suchte in Angels Gesicht nach Spott, dann lächelte er überwältigt. "Ich habe auch nicht viele Freunde", bekannte er schüchtern, was Angel ein Augenzwinkern entlockte. Dann beschloss er, Urs von seinem gegenwärtigen Problem zu erzählen. Und Urs hörte geduldig zu, unterbrach ihn kein einziges Mal, während er in stiller Konzentration die Schaukel in Bewegung hielt. ~~?* Angel steckte die Hände in die Hosentaschen der abgeschnittenen Jeans und kickte vergnügt einen Kiesel vor sich hin. Vielleicht machte Urs einen langsamen Eindruck auf den oberflächlichen Betrachter, aber das täuschte nur über seine ruhige Intelligenz hinweg. Angel fand, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, sich Urs anzuvertrauen. Es hatte geholfen, Klarheit in die verworrene Situation zu bringen. ~~?* Er schlenderte unbehelligt in sein einsames Zimmer zurück. Angel schnappte sich sein Reiseschachspiel und stellte die Figuren auf. Der König war sicherlich Ronnie, obwohl Angel nicht ganz verstand, was ihm diese unversöhnliche Feindschaft eingebracht hatte. Aber niemand sonst schlug hinter einer Phalanx von Kämpfern zu. Robert, der Terminator allen guten Geschmacks und Intelligenz?! Nun, ein Turm, das schien passend. Bauern waren all die Mitläufer wie der Kapitän der Volleyball-Mannschaft...aber wer waren Springer und Dame?! Angel kaute gedankenverloren auf einer langen Strähne herum, die Dame musste der Schlüssel sein! Er suchte seine Mannschaft zusammen und stellte sie auf. »Ich bin der König, sicher... Bauern sind meine Mitschüler... aber Turm, Springer oder Dame?!« Sich über die Augen wischend schob er die Figuren vom Brett. »Frankie ist meine Dame... gewesen.« ~~?* Kapitel 4 Angel stocherte gedankenverloren in seinem Fruchtsalat herum, ignorierte das ebenso abweisende Verhalten von Matthias. Während er noch darüber nachdachte, ob Schachzüge tatsächlich seine Taktik in dieser Situation abbilden konnten, ertönte lautes Gelächter. Gitano hatte den Speisesaal betreten, nun, zumindest bewegte er sich hinein, allerdings auf den Händen. Die Bernsteinaugen funkelten mutwillig, während er sich mit der Anmut eines geborenen Akrobaten den Weg durch die Menge bahnte. Um vor Angels Tisch inne zu halten. Angel schreckte aus seinen Betrachtungen hoch und bemerkte Gitano. Der ließ sich langsam und schlangenmenschengleich in eine hohe Brücke hinab, um dann mit einer Stoffrose in der Hand vor Angel Honneurs zu machen. Angels Katzenaugen verdunkelten sich vor Wut. Diese Geste sollte ihn doch nur zur einer unbedachten Handlung provozieren. Andererseits war ihm nur zu bewusst, dass seine Mitschüler diesen aufdringlichen Clown vorbehaltlos verehrten. Er entschloss sich, die Scharade mitzuspielen und nahm mit einer gezierten Handbewegung die Rose entgegen, versteckte das Gesicht hinter einem imaginären Fächer und flötete geziert. "Oh, was für eine reizende Begrüßung, mein Held!" Gitanos Augen funkelten frech, als er sich unaufgefordert einen Stuhl heranzog, um sich rittlings darauf zu setzen. "Ein so liebliches Geschöpf könnt ich niemals seiner selbst überlassen!", verkündete er mit ausschweifender Pose. Angel klimperte mit den Wimpern, "Ihr werdet mir Gesellschaft leisten, mein treuer Freund?" Gitano grinste breit, verbeugte sich artig und begann unversehens, mit Äpfeln zu jonglieren. Atemlose Stille war dieser spontanen Aufführung gefolgt, nun aber ertönte begeistertes Klatschen und Lachen, als ein Löffel, ein Joghurtbecher und ein Döschen Frischkäse sich in den Reigen einfügten. Angel lächelte befreit und fing einen Apfel im Flug ab, um die Zähne in ihn zu versenken. Augenblicklich beendete Gitano seine Jonglage, um es Angel gleichzutun, nun ein lebendiges Spiegelbild darstellend. Und Angel fand Gefallen an diesem Spiel. Er strich sich die Haare, bleckte die Zähne, verdrehte die Augen und warf sich einen offenherzigen Kuss zu, während sein Spiegelpartner mit nur einem winzigen Hauch an Verzögerung die Gesten erwiderte. Matthias, der völlig ungerührt weiter gegessen hatte, erhob sich geschmeidig und schob seinen Stuhl an den Tisch, nachdrücklich den Zauber zerreißend, der sich zwischen Angel und Gitano gesponnen hatte. Wortlos bewegte er sich durch die Tische aus dem Speisesaal hinaus, als Einziger nicht von Gitano in den Bann geschlagen. Gitano folgte ihm überrascht mit dem Blick, dann aber wandte er sich wieder Angel zu, langte unvermutet über den Tisch und ließ seine Finger durch Angels offenes Haar gleiten. "Eine echte Blondine?" Angel entzog seine Haare Gitanos Zugriff und warf sie über die Schultern auf den Rücken. "Willst du nachschauen?", zischte er mit zusammengekniffenen Augen, einen Augenblick selbst unsicher, ob er einen frivolen Scherz machen wollte oder sich für eine eingebildete Beleidigung rächen. Gitano legte den Kopf schief und drehte eine Locke spielerisch zwischen den Fingern. "Vielleicht will ich das tatsächlich", flüsterte er leise, die Bernsteinaugen funkelten undurchschaubar. Angel spürte, wie Röte in seine Wangen schoss. Der Gedanke, dass Gitano es ernst meinen könnte, versetzte ihn in ungewollte Erregung. "Blödmann!", fauchte er eisig, stieß sich abrupt vom Tisch ab und verließ mit großen Schritten den Speisesaal. ~~?* Als er den Flur seiner Stufe erreichte, überraschte ihn die Verlassenheit und für einen Moment zögerte er. Verärgert über die eigene Verunsicherung ballte er die Fäuste und stapfte über den Teppich zu ihrem Zimmer. An der Tür klebte ein Zettel. "Das ist deine letzte Chance." ~~?* Angel blätterte müßig in seinen Unterlagen, während er einer halbherzigen Diskussion über die Ablehnung Mephistos in Goethes Faust lauschte. Er sehnte eine Dusche herbei, denn die Hitze, die noch immer herrschte, klebte Hemd und Hose unangenehm an seinen Körper. "Das ist doch dämliches Blabla!!" Angel fuhr ebenso erschrocken wie der Rest der Anwesenden zusammen, als Matthias' raue Stimme voller mühsam gebändigtem Zorn die Debatte unterbrach. »Der kann tatsächlich sprechen?!« ~~?* Wie sie alle glotzen!! Wie soll man dieses stundenlange, völlig belanglose Geschwätz bloß aushalten?! Haben die sich eigentlich schon mal zugehört?! Redundant, unüberlegt und banal!!! "Matthias, vielleicht können Sie uns Ihre Einschätzung geben?" Wie dieser blasierte Kerl schon formuliert! Hält der mich für beschränkt? Glaubt er etwa, das sei subtil? Idiot. "Mephisto ist die einzige wahrhaftige Figur in dem gesamten Stück. Er ist das Zentrum, was ganz offensichtlich ist, wenn man sich die Mühe macht, den Text auch zu lesen." "Nun, wir haben den Text gelesen und..." "Dann haben Sie ihn wohl nicht verstanden, denn sonst würden Sie sich kaum dieser völlig misslungenen Textinterpretation anschließen, die Sie hier zitieren." Jetzt fällt er gleich um. "... wie ist denn nun Ihr Standpunkt, Matthias?" Oh, man bemüht sich um Sachlichkeit, das perfekte pädagogische Vorbild. Nun, spielen wir mal mit. "Mephisto ist die einzige Berechtigung zur Existenz der Figur Gottes. Ohne ihn wäre Gott sinnlos. Man könnte ihn für einen gewissenlosen und gelangweilten Spieler halten, der mit ein paar Figuren seine Zeit vertreiben will." Na? Kein Entsetzen bei der religiösen Front? "Mephisto ist der einzige Sympathieträger in dem gesamten Stück, das ist ja wohl klar. Er ist dort, um eine Aufgabe zu erfüllen, nämlich, diese Menschen auf die Probe zu stellen, stellt das dar, was man wohl Gewissen nennen könnte." "Sie denken nicht, dass Faust die Hauptperson ist, unter anderem auch, weil das Stück seinen Namen trägt?" Jetzt versuchen wir es mit Ironie, wie nett. "Faust ist nichts weiter als ein kleiner Feigling. Der wechselt seine Meinung so schnell, dass man sich eine Erkältung holen könnte. Man nennt so was auch gemeinhin einen Wendehals. Insgesamt kommt er noch viel zu gut weg, was man durchaus auch als Zeitkritik auffassen kann." Der Teil stand wohl nicht in seinem schlauen Buch. "Aber Mephisto verführt ihn doch..." Oh nein, bitte nicht den Käse!!! "Das ist Unsinn. Mephisto spricht aus, was Faust selbst als Option ins Auge fasst, aber er trifft doch keine Entscheidung für ihn!!! Mephisto zeigt diesem feigen Kriecher sogar die Konsequenzen seiner Handlungen auf und dennoch entscheidet nur Faust. Oder wollen Sie etwa die kleinkindliche Vorstellung vertreten, der arme Sünder sei für seine Taten nicht verantwortlich, weil es ihm ein böser Geist eingegeben habe?! Das ist tiefstes Mittelalter und pure Heuchelei!!" Nun, wie wirst du dich da rauswinden? Phhh, nimm dir doch Faust als Vorbild. "Nun, das ist ja eine sehr interessante... Perspektive..." "Die Botschaft ist doch eindeutig: handle und trage die Konsequenzen. Oder sei ein Faust." Haben wir nicht vielleicht doch irgendwo eine eigene Meinung? Oh, so ein Glück, da rettet uns das Blinklicht vor der Anstrengung, mal einen eigenen Gedanken verfolgen zu müssen. Zeitverschwendung. ~~?* Angel beobachtete mit einer Mischung aus Faszination und Unbehagen, wie Matthias völlig ungerührt seine Sachen einpackte. Es war nicht nur das erste Mal, dass dieser etwas im Unterricht gesagt hatte, nein, er hatte auch noch ihren Deutschlehrer mit einer Eiskälte abgebügelt, dass es Angel noch immer schauderte. »So ein arroganter Pinsel!!« Und dann dieses Feuer in den graublauen Augen, während seine Stimme rau und unbenutzt diese höhnischen Bemerkungen hervorbrachte! Selbst Goethes Mephisto war ein freundlicherer Geselle gewesen. Und den hatten sie schon 'das Böse' genannt! ~~?* Als Angel mit einem Tablett bewaffnet um die Theken kreiste, fand er sich plötzlich eingekeilt zwischen dem Terminator und einem anderen Schrank. Er biss sich auf die Lippen und wartete auf die erste Attacke. Wahrscheinlich ein Tackling, damit ihm sein Essen vom Tablett fiel oder irgendeine andere grobmotorische Gemeinheit. Plötzlich schob sich jemand direkt hinter ihn, streichelte für einen Sekundenbruchteil Angels Taille. "He, mein Engel, teilst du dein Tablett mit mir?" Angel breitete die Ellenbogen aus, um Gitano zurückzudrängen. "Hast du kein eigenes? Oder einen eigenen Tisch?" Gitano überhörte die spitze Bemerkung einfach, packte eine Kanne Eistee auf Angels Tablett und angelte einen Becher aus dem Regal. "Du willst doch nicht wirklich ganz allein bei dem Stockfisch sitzen, oder?" Er griff in die Luft und zauberte eine Stoffblume hervor, die er Angel hinter das Ohr steckte. "Verdammt, nimm sie weg, oder...!!" Gitano grinste über das ganze Gesicht. In den Bernsteinaugen tanzten helle Lichter. "Du wirst doch nicht das Tablett fallen lassen, nicht wahr?" Angel knirschte mit den Zähnen und unterdrückte den Drang, das Tablett wie ein Fallbeil zu schwingen. Gitano schlängelte sich bereits mit der mühelosen Gewandtheit eines Akrobaten durch die Masse, sondierte einen freien Tisch und besetzte die Stühle. Angesichts des vorherrschenden Andrangs sah sich Angel gezwungen, tatsächlich bei Gitano Platz zu nehmen, bevor er sich einen Platz bei den oberen Stufen suchen musste. Gitano begann sofort, das Tablett zu entleeren, verteilte mit kunstfertigem Manierismus Geschirr und Besteck. "Warum sitzt du nicht bei deiner Stufe?", grollte Angel und ertränkte seine Verärgerung in Eistee. "Ich sitze, wo ich will." Gitano griente und spießte mit der Begeisterung eines Großwildjägers Pommes Frites auf seine Gabel, um sich dann den Mund voll zu stopfen. "Und wenn ich nicht will, dass du bei mir sitzt?" Angel fühlte sich von einer seltsamen Reizbarkeit getrieben. Eigentlich fürchtete er sich vor der intensiveren Bekanntschaft mit diesem exaltierten Jungen. Gitano bespritzte verstreute Pommes in Ketchup, warf dann einen gespielt enttäuschten Blick in Angels Katzenaugen. "Du würdest mir doch nicht weh tun wollen, oder? Oh, bitte, sag nicht solche Grausamkeiten, stoß mich nicht zurück!" Angel musste die Augen abwenden. "Du bist überzeugender, wenn du die Klappe hältst!", knurrte er. Für einige Minuten beschäftigen sie sich still mit den Resten ihrer Mahlzeit. "Was willst du eigentlich von mir?" Angel fixierte die Bernsteinaugen, signalisierte, dass er eine aufrichtige Antwort erwartete. Gitano drehte sein leeres Glas in den schmalen Händen. "Im Augenblick würde ich gern ein Stückchen Eis in dein Hemd gleiten lassen", raunte er verschwörerisch über den Tisch. Angels Augenbrauen zogen sich stürmisch zusammen. Da erkannte er den Ernst in Gitanos Augen. Mit abgewandtem Gesicht stürzte Angel aus dem Speisesaal und floh in die Bibliothek. ~~?* Ich hasse es!!! HASSE ES!! Diesen Lärm!!! Verschwindet!! Aus meinem Kopf ~~?* Angel atmete tief durch und sackte auf einem Stuhl zusammen. Dieser Gitano war entweder ein unglaublich geschickter Schauspieler. »Oder aber... Daran will ich nicht denken!!! Und gleich noch Unterricht... Ich wünschte, ich wäre am Meer...« ~~?* Matthias schlängelte sich gerade noch vor Unterrichtsbeginn in die Klasse, die Augen so blank, dass sie das Licht absorbierten. Angel betrachtete ihn verstohlen, bemerkte die Anspannung, die den ganzen Körper leicht vibrieren ließ und fragte sich, ob Matthias beim Mittagessen gewesen war. »Gesehen habe ich ihn nicht...« Man vertiefte sich in die Lektüre von Shakespeares Romeo and Juliet. Nur das leichte Rascheln von Papier beim Umblättern bewegte die brütende Hitze. Angel wischte sich über den Nacken und verwünschte die Tatsache, dass er sich keinen Zopf gebunden hatte. Dann blinzelte er zu Matthias hinüber, der als Einziger nicht umblätterte, sondern nur auf eine aufgeschlagene Seite starrte. »Ob ihm nicht gut ist? Sein Gesicht ist so starr...« Angel beugte sich unbemerkt zu Matthias hinüber und berührte leicht dessen Arm. Zuerst erfolgte überhaupt keine Reaktion, dann wandte Matthias sehr langsam den Kopf und sah Angel an. Der wich zurück und biss die Zähne zusammen. Was auch immer für ein Film vor Matthias' Augen ablief: es verwandelte ihn in einen Zombie... eine seelenlose Hülle ohne Empfindungen. "Matthias, sind Sie schon fertig?" Angel atmete erleichtert auf, als der unheimliche Bannstrahl von seinem Gesicht wanderte und die Lehrerin traf. Der Effekt war offenkundig vergleichbar, denn sie erbleichte und fasste sich unbewusst auf das Herz. Dann senkte Matthias wieder den Kopf... und blätterte genau eine Seite um. ~~?* Angel beschloss, Matthias für den Rest des Tages zu vermeiden. Er betrat ihr Zimmer mit der Vorsicht eines Menschen, der sich in einem ungekennzeichneten Minenfeld bewegte, aber Matthias war nicht da. »Der wird doch nicht auch in die Bibliothek...? Egal!!« Angel sammelte seine Unterlagen zusammen, warf einen langen Blick in Franks Gesicht und lächelte schief. "Du fehlst mir, Kleiner..." ~~?* "Belegen Sie die Zielrichtung von Bismarcks Außenpolitik anhand ..." Angel schreckte aus seiner Konzentration hoch, als etwas Kaltes seinen Rücken hinunter glitt. Hektisch sprang er auf, den Stuhl nach hinten schleudernd, versenkte eine Hand in den Nacken. Gitano schmunzelte und fing geschickt den Sturz des Stuhls ab, damit kein Geräusch ihn verriet. Angel funkelte erbost und stellte die Suche nach dem kalten Etwas ein. "Du blöder Hund!", zischte er unterdrückt und ballte die Fäuste. Gitano schob den Stuhl ordentlich zurück, drehte sich dann blitzschnell und legte seine Hände um Angels Fäuste. Angel erwartete eigentlich ein Kraftmessen, aber Gitano übte keinerlei körperlichen Druck auf ihn aus. Er sah Angel einfach nur an. Angel machte sich verwirrt und verunsichert los, brachte hastig den Tisch zwischen sie. Irgendjemand musste sie doch sehen, Bücherregale hin oder her?! Gitano grinste wild und glitt mit einem leichten Sprung seitlich auf den Tisch, um auf der Platte die kurze Strecke zu gleiten und dann wieder vor Angel zum Stehen zu kommen. Angel wich verstört gegen das Regal zurück. Gitanos Bewegungen hatten etwas so Leichtfüßiges an sich, dass er meinte, dieser bewege sich schneller als ein normaler Mensch. Gitano lächelte nun vorsichtig, als wollte er Angel wie ein wildes Tier an sich gewöhnen. Seine Hände streiften wieder hauchzart über Angels blanke Arme, hinterließen eine Gänsehaut, die wie ein Flächenbrand Angels ganzen Körper in Besitz nahm. »Bitte. Es muss doch jemand ihn sehen! Ihn aufhalten. Bitte!« Gitano näherte sich langsam Angels Gesicht. Die Bernsteinaugen schienen den Horizont in Angels Wahrnehmung zu bilden, in ihrem Zentrum ein schwarzer Abgrund, um den bunte Flecken tanzten. Mit einem heftigen Ruck drehte Angel den Kopf weg und bekämpfte die hypnotische Starre, die ihn befallen hatte. Warmer Atem streifte seine rechte Schulter, vorwitzige Locken kitzelten seine Wange. "Warum hast du Angst vor mir?" Ein Raunen, die Silben lasziv gedehnt, erfüllt von unterschwelligen Vibrationen, die mehr versprachen als die blanken Worte. Angel spürte die Wirkung in seinem Magen: ein nervöses Kribbeln, das Hitzestrahlung in seinen Körper schickte, seine Wangen einfärbte. »Oh Gott, er versucht doch nicht etwa, mich zu verführen?« Angel presste die Lippen fest aufeinander und beschwor den einzigen Gedanken, der seine Panik in Schach zu halten versprach. »Sieh ihn nicht an, sieh ihn nicht an, sieh ihn nicht an,... nein, dreh nicht den Kopf, sieh nicht in seine Augen, nein, NEIN!!« Sanft und glühend heiß legten sich Gitanos Lippen auf seine, vorsichtig und in Ketten gelegt. Angel schloss die Augen und erwiderte hilflos den kaum wahrnehmbaren Druck, eine eindeutige Frage. Dann teilten sich seine Lippen und er überließ sich Gitanos Hunger. ~~?* Angel grub die Fingernägel schmerzhaft in das verstärkte Lochblech eines Regalbodens. Gitanos Körperwärme war überwältigend, obwohl der ihn nicht einmal berührte. Lediglich sein rechter Handrücken streichelte sanft über Angels glühende Wangenknochen, während er heiser in Angels linkes Ohr raunte, seinen Atem in Angels verschwitzten Nacken blies. "Du schmeckst wie Honig, ein bisschen süß, ein bisschen herb... und sehr wild", ein dunkles Lachen ließ Angel zusammenzucken. Dann löste sich Gitano behutsam von ihm, warf ihm einen Handkuss zu und verschwand im Gang. Angel verharrte zitternd noch eine kreislaufschwächende Minute, dann sackte er mit letzter Kraft auf einen Stuhl, ließ den Kopf auf seine Arme sinken und keuchte unglücklich. ~~?* Angel kauerte auf seinem Bett, hielt Franks Rucksack fest umklammert und wagte nicht, den Blick an die Wand zu heben. "Ich weiß... weiß auch nicht... es hat nichts zu bedeuten, wirklich... ich kann einfach nicht... ach, verdammt!" Er vergrub das Gesicht in dem lädierten Stoff und schluchzte leise. Scham und Hilflosigkeit schnürten ihm langsam die Kehle ab, während sein Körper mit Schmerzen auf die ungelenke Haltung reagierte. »Aber es soll auch weh tun, ich habe echt Prügel verdient!! Ich hab dir versprochen, nie mehr so etwas wie Jürgen, und nun...ich bin nichts weiter als ein Stricher!!« In diesem Moment wurde die Zimmertür geöffnet, eine abgezirkelte Bewegung, die nur Matthias in ihrer Vollendung beherrschte. Angel drehte hastig den Kopf weg und versuchte, sich die Tränen aus den Augen zu wischen, dann aber setzte sich sein Trotz durch. »Der kümmert sich sowieso um niemanden, warum sollte ich mir wegen seiner Reaktion Gedanken machen?!« Matthias ließ die Rollläden herunter, obwohl noch helllichter Tag war, ignorierte Angels irritierte Blicke. "Was... was soll das denn? Mach wenigstens das Licht an!" "Warum?! Brauchst du Licht, um deinem toten Freund hinterher zu heulen?!" Angel blieb der Atem im Hals stecken. Er hustete krampfhaft, während seine Ohren diese aggressive Bemerkung an sein ermüdetes Gehirn weiterleiteten. "Frank geht dich überhaupt nichts an, klar?!! Und überhaupt, wie willst du meine Gefühle beurteilen können?! Du kennst doch...!" "Oh, bitte kein Pathos! Davon hatte ich schon genug, vielen Dank! Und dieses Drama 'Angel und Frankie' habe ich mir zur Genüge anhören müssen!! Die Leute reden einfach zu viel, wenn sie sonst nichts zu tun haben und sie scheren sich nicht darum, wer ihnen zuhören muss!!" Angel ballte die Fäuste und schleuderte den Rucksack neben sich. "Niemand hat dich gefragt, klar?! Du redest doch sonst nicht, warum ätzt du heute alle an?! Ist Vollmond, oder wie?!" Matthias ballte nun ebenfalls die Fäuste, entspannte sie dann aber wieder. "Warum hältst du nicht einfach deine Klappe?" Angel knurrte laut, seine Katzenaugen versprühten grünes Gift. "Warum sollte ich?! Ich rede so lange und so viel, wie es mir passt!! Wenn du das nicht verträgst, such dir ein anderes Zimmer!" Matthias fuhr zu ihm herum, eine Bewegung wie ein Pfeil, ungebremst und tödlich. Die Stahlaugen verdüsterten sich, dann breitete sich ein höhnischer Zug um seinen Mund aus, verwandelte die aparte Maske seines Gesichts in eine Fratze der Bosheit. "So, du willst reden? Dann reden wir!! Den ganzen Tag wird geredet ohne Sinn und Verstand, warum nicht auch jetzt?! Reden wir über deine abstoßende Affenliebe zu einem Häufchen Asche." Angel erstarrte, spürte, wie Eis sein Blut einfror, seinen Herzschlag verlangsamte. Er brachte kein Wort hervor. Was Matthias nicht daran hinderte, seine Meinung auszuführen. "Oje, war der Schock zu viel? Hast du gedacht, man müsste dich wie ein rohes Ei behandeln, weil du die Hauptperson in dieser kitschigen Tragödie bist, oder wie?! Aber natürlich, wir haben uns tatsächlich für etwas Besonderes gehalten, richtig? So edelmütig und tapfer, treu der einzigen Liebe... so was von ekelhaft!!" Angel schnappte nach Luft. Punkte tanzten vor seinen Augen, aber er konnte nur Matthias maliziöses Lächeln wahrnehmen, der mit Begeisterung das Messer immer tiefer in die Wunde bohrte. Er fuhr im Plauderton fort. "Was mich frappiert, ist das menschliche Talent, sich etwas vorzumachen... du plärrst durch die ganze Klasse, ach wie sehr du diesen Knaben geliebt hast, aber schwul bist du natürlich nicht! Alles nur platonisch, oder wie?! Und dann diese rührenden Versuche, seine Gegenwart zu beschwören! Den Rucksack wie einen Fetisch im Bett, überall die Bilder... und dann natürlich noch das Duschgel! Denkst du, das wäre mir entgangen?! Jedes Mal, wenn du mit Trauermiene durch die Gegend schleichst, badest du danach förmlich in diesem Zeug. Wirklich sehr einfallsreich! Oder ist das eine Hommage an Rosamunde Pilcher?!" Angel hatte es endlich geschafft, ein paar zittrige Schritte auf Matthias zuzugehen, der im Lotussitz auf seinem Schreibtisch thronte und ihn nicht aus den Augen ließ, ein drohender Schatten im bleichen Lichtkegel von Angels Nachtlampe. "Na komm, verprügle mich! Oder willst du mich bloß beschimpfen?! Anspucken?! Nein?! Aber das gehört zu einer Schmierenkomödie dazu, frag doch diesen Clown! Oder bewegen wir uns hier in einem griechischen Schaustück? Erstarrte Trauer in Leidensmiene, schwarze Kleidung, ein Klagechor? Was soll es sein?!" Angel umklammerte unsicher die Tischplatte, sah in die beschatteten Augen und suchte nach einem Ansatz, der wieder Worte und Gefühle in seinen erfrierenden Körper bringen konnte. "Doch nicht etwa ein mitleidheischender Hundeblick?! Da schätzt du mich aber falsch ein, mein Lieber! Und du bist so schweigsam, wolltest du nicht reden? War da nicht etwas? Nun, vielleicht brauchst du einfach nur ein Stichwort... wie wäre es mit Selbsttäuschung?" Matthias verschränkte die Arme vor der Brust. Konzentration grub Linien in sein Gesicht. "Definieren wir zunächst den Begriff. Täuschung ist das Verschleiern oder Verbergen von Tatsachen oder Zuständen. 'Selbst' ist ein rückbezüglicher Hinweis auf den Sprecher oder Initiator. Kombination dieser Begriffe ist also die Verschleierung von Tatsachen vor sich selbst. Dass zu einer Täuschung in gewissem Maße eine bewusste Absicht gehört, muss ich wohl nicht erwähnen, nicht wahr? Willst du wissen, worin deine Selbsttäuschung besteht?" Angel schüttelte unter Zwang heftig den Kopf. Er wollte nicht zuhören, aber das Gift sickerte in sein Herz, verseuchte seine Seele. "Nun, ich werde es trotzdem ausführen. Du glaubst, dass du ewig deinen kleinen Freund lieben wirst, führst rührende Gespräche, pflegst die Erinnerung an seine kleinen Eigenheiten... alles nur fauler Zauber!! Denn er ist tot! Nicht mehr als ein Häufchen Asche unter dem Rasen. Und er wird nicht wieder kommen. Nie mehr." Matthias' Blick klärte sich. Er belauerte Angels fahl-weißes Gesicht auf jedes verräterische Zucken. "Aber vielleicht bist du ja einer dieser Leute, die sich an die Vorstellung klammeren, dass da irgendwo ein Paradies wartet... eine alberne Idee, aber weit verbreitet." Angel entfuhr ein ersticktes Röcheln, während seine Beine unter ihm nachgaben und er kraftlos auf den Boden sackte. Matthias beugte sich vor, damit er den Blickkontakt mit Angel aufrecht erhalten konnte. "Wenn wir es streng wissenschaftlich betrachten, -und als aufgeklärter Mensch sollte man sich zumindest einmal damit versuchen-, dann bestehen wir nur aus einer Zusammenballung von Zellen und Molekülen. Die sich natürlich nach unserem Tod auflösen, beziehungsweise in einen anderen Zustand übergehen. Wenn unser Gehirn sich nur aus Zellen und elektronischen Strömen zusammensetzt, dann ist alles mit dem Tod zu Ende. Gespeicherte Informationen und alle Erinnerungen sind verloren. Ich frage mich, woran du dich klammerst...", seine spöttischen Worte verloren sich in Angels gequältem Wimmern. Angel presste die Hände auf die Ohren und wiegte sich geschockt hin und her. Matthias glitt vom Schreibtisch herunter und verließ lautlos das Zimmer. ~~?* Angel kroch über den Boden auf allen Vieren langsam zu seinem Bett und zog heftig an der Bettdecke, hängte sich mit aller Kraft an den Stoff. Er prallte hart auf den Fußboden, wickelte sich in die Decke und rollte sich fötal zusammen. "Frankie.. Frankie...?" Aber seine Stimme war zittrig und unsicher. ~~?* Matthias bewegte sich aufgezogen wie ein Automat die Treppen hinunter, suchte die Einsamkeit des Gymnastiksaals. Er schleuderte die Schuhe in eine Ecke, rollte die Socken zu einem engen Ball zusammen und feuerte diesen an die Wand. Dann nahm er Aufstellung, ungeachtet seiner Uniform. Er schloss die Augen und begann, sich verzweifelt auf die ruhige Atmung konzentrierend. »Es war eine vorsätzliche Grausamkeit.« »Sei still!!« »Er ist anders als du.« »Ein verträumter Heuchler!« »Nein, er lebt seine Gefühle.« »Er führt eine Show vor, nichts weiter!« »Du neidest ihm seine Empfindungen.« »Nein!!« Matthias beschleunigte die Abfolge, die ihm schon in Fleisch und Blut übergegangen war. »Geht aus meinem Kopf!! Ihr macht mich wahnsinnig!!« Er schlug den unsichtbaren Gegner heftig, aber kontrolliert, kämpfte gegen die Schatten. Immer schneller zerschnitt er ihre imaginären Umrisse in der Luft, setzte all seine Kraft ein. Aber die Schatten verschwanden nicht. In seinen Augenwinkeln sah er sie noch immer lauern. ~~?* Matthias schleppte sich entgegen seiner sonstigen beherrschten Anmut die Treppen hoch. Es war schon spät, nur noch eine spärliche Beleuchtung wies den Weg, aber er hätte ihn auch im Dunkeln gefunden. Behutsam öffnete er die Tür zu ihrem Zimmer, gleichgültig gegenüber einer möglichen Reaktion Angels. Für einen Moment verharrte er regungslos in der Türöffnung, betrachtete die zusammengekrümmte Gestalt auf dem nackten Boden, Schutz suchend um die Nachtleuchte gewunden. Dann schloss er leise die Tür und näherte sich Angel. Ging in die Hocke, schob die Arme vorsichtig unter Kopf und Kniekehlen und bugsierte Angel auf dessen Bett. Um dann die eigene Decke um die ausgekühlte Gestalt zu wickeln, als würden zwei Decken die notwendige Wärme spenden. Für einen Moment zögerte er an der Nachtleuchte, ignorierte sie aber und schritt gebeugt zu seinem eigenen Bett. Rollte sich mit dem Rücken zu Angel zusammen und schloss die Augen fest. ~~?* Als Angel erwachte, verspürte er eine Verkrampfung, die seinen ganzen Körper in eisenhartem Griff hielt, schmerzend und heimtückisch. Er rieb sich über die tränenverklebten Augen und kämmte wirre Strähnen heraus. Unwillig schob er die Decke weg, um überrascht einen zweiten Zipfel in seiner Hand zu finden. "Aber...?!" Angel warf einen hastigen Blick in das Nachbarbett, aber es war wie um diese Zeit üblich bereits verlassen. Er zog die Knie eng an den Leib und umarmte sie schützend. "Mir ist so kalt, Frankie. So furchtbar kalt..." ~~?* with you by Linkin Park I woke up in a dream today to the cold of the static and put my cold feet on the floor forgot all about yesterday remembering I'm pretending to be where I'm not anymore a little taste of hypocrisy and I'm left in the wake of the mistake slow to react even though you're so close to me you're still so distant and I can't bring you back it's true the way I feel was promised by your face the sound of your voice painted on my memories even if you're not with me I'm with you you now I see keeping everything inside you now I see even when I close my eyes I hit you and you hit me back we fall to the floor the rest of the day stands still fine line between this and that when things go wrong I pretend the past isn't real now I'm trapped in this memory and I'm left in the wake of the mistake slow to react even though you're close to me you're still so distant and I can't bring you back no no matter how far we've come I can't wait to see tomorrow with you ~~?* Missmutig und deprimiert schleppte Angel sich als einer der Letzten zum Frühstück. Er ließ seine Haare ungebändigt in das Gesicht hängen, als könnten sie wie ein Schutzschild die Welt aussperren. Für einen Augenblick schauderte ihm bei dem Gedanken, mit Matthias an einem Tisch sitzen zu müssen, aber dann presste er trotzig die Lippen aufeinander, bis sein Kieferknochen knirschte. »Der kann mich mal kreuzweise. Und wenn er nur ein falsches Wort sagt, dann wird er bereuen, jemals mit dem Atmen angefangen zu haben!!!« Aber der Tisch war unbesetzt, sodass er unbehelligt seinen Kaffee schlürfen konnte und an einem halben Brötchen herumnagen. Fast bedauerte er Matthias' Abwesenheit, spürte er doch nur zu gut, wie sich der Frust in seinem Magen anballte und auf einen Gelegenheit wartete loszuschlagen. "Angel?" Angel zog eine Augenbraue hoch, machte aber keine Anstalten, dem Sprecher die Höflichkeit zu erweisen, den Haarvorhang aus den Augen zu lupfen. "Hm?" "Hast du... warst du heute schon am Schwarzen Brett?" Die Stimme seines Klassenkameraden klang ein wenig gehetzt und unsicher. Angel setzte sich alarmiert auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht. "Warum?! Was ist am Schwarzen Brett?!!", forschte er scharf nach. "Tja, ich denke... du solltest es besser selbst sehen." Angel verdrehte die Augen, diese alberne Schamhaftigkeit reizte seine Nerven. Abrupt stieß er den Stuhl nach hinten und bahnte sich grob einen Weg zwischen den Tischen hindurch. Trotz seiner versteckten Wut auf die Welt im Allgemeinen und Matthias im Besonderen bemerkte er die Blicke, die seinem Abgang folgten. Die eindeutige Mehrzahl war voller Häme und Befriedigung. Angel ballte die Fäuste und kniff die Katzenaugen zusammen. »Wenn ihr mich in die Ecke treibt, werdet ihr es bereuen!!!« ~~?* Die Stufen hinauf zum Flur seiner Stufe verließ ihn die trotzige Wut und schleichend nahmen Besorgnis und Unsicherheit ihren Platz ein. Er fürchtete sich vor der neuen Attacke, erinnerte er sich an den wackligen Rückhalt seiner Kameraden, der ihn nur noch knapp davor bewahrte, ein Ausgestoßener in der Schulgemeinschaft zu werden. Von bösen Vorahnungen getrieben schritt er eilig über den Flur und inspizierte das Schwarze Brett. Jede freie Fläche war mit Photos bedeckt. Aufnahmen, die Monika von ihm für Zeitschriften gemacht hatte. Auf den meisten war er nur unwesentlich bekleidet oder nackt, ohne natürlich alles zu enthüllen. Darüber hatte jemand ein Polaroid geklebt und mit rotem Edding umrahmt, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Es zeigte ihn, wie er gerade Monika küsste. Angels Adern transportierten winzige Eiskristalle, die seinen Körper langsam lähmten, während er mit erschreckender Klarheit jedes Detail dieser Collage in sich aufnahm. Natürlich durfte auch ein Flugblatt mit einer Erläuterung nicht fehlen. [Das ist einer unserer Mitschüler. Er zieht sich für schmuddelige Magazine aus und hat ein Verhältnis mit einer Frau, die seine Mutter sein könnte. Wollt ihr euch tatsächlich für jemandem mit einem so zweifelhaften Ruf einsetzen? Soll man von euch dasselbe denken wie von ihm?] Angel presste eine Hand flach auf seine Magengrube. Der schmerzhafte Knoten sandte Impulse durch seinen ganzen Körper, verursachte ein leichtes Schwindelgefühl. »Das war Ronnies Werk.« Und erneut so geschickt, dass man unmöglich einen Beweis dafür anführen konnte. »Er vergiftet die Atmosphäre, ohne dass ich mich wehren kann. Egal was ich sage, es wird nur wie ein kläglicher Entschuldigungsversuch aussehen. Dieser verdammte Bastard!!!« Angel schluckte heftig die aufsteigende Panik und die Tränen herunter, zwang sich, gelassen zu seinem Zimmer zu gehen, gleichgültig, ob der Flur nun menschenleer war, oder nicht. »Ich werde mich nicht gehen lassen!! So leicht wird er nicht gewinnen!!« Angel schloss die Tür hinter sich, dann kroch er wieder auf sein Bett und wickelte sich in beide Decken ein, um blicklos aus dem Fenster zu starren. ~~?* Angel verbrachte den Morgen wie in einen Kokon aus Glas eingesponnen. Er konnte dem Unterricht folgen, aber dieser wirkte so exotisch und fremd auf ihn, dass er in einem Zustand ermüdeter Verwirrung verharrte. »Wie kann es einfach so weiterlaufen, wenn ich die Welt nur durch ein Kaleidoskop von Spiegelsplittern wahrnehme?« In diesem Moment nutzte die Schulsekretärin die letzte kurze Pause vor dem Mittagessen, um Angel darüber zu informieren, dass er sich beim Direktor zu melden habe. Noch vor dem Essen. Angel nickte knapp und ballte die Fäuste unter dem Tisch. Ein kurzer Blick streifte Matthias, der so regungslos und mit maskenhafter Miene wie üblich dem Unterricht gefolgt war. »Wenn es schon mal beschissen läuft, dann aber richtig«, dachte Angel zähneknirschend und rief sich die Arroganz des 'alten' Angel ins Gedächtnis. »Ihr wollt eine Show, dann kriegt ihr auch eine!!!« ~~?* Während alle anderen zum Essen fassen verschwanden, meldete sich Angel im Sekretariat. Mit einer gelangweilten Miene und einer scheinbar unbekümmerten Gelassenheit nahm er Platz, wie man ihn angewiesen hatte. Dann folgte ein Telefonat, nach dessen Beendigung die Sekretärin Angel einen prüfenden Blick zuwarf, dann aber doch den Raum verließ. Angels Blick schweifte müßig über die Karteischränke, während er in Gedanken fiebrig Antworten auf mögliche Fragen entwarf. Seine Augen ruhten auf dem Posteingangskorb, direkt neben dem Besuchertisch abgestellt. Dann realisierte er, was ihn unbewusst gefesselt hatte. Der Brief, den Umschlag angetackert, erwähnte Matthias' Namen! Angel zögerte, dann zog er den Brief an sich. Um ihn rasch in der hinteren Hosentasche verschwinden zu lassen, als die Sekretärin wieder das Zimmer betrat. Angel schenkte ihr ein höfliches Lächeln. Dann ließ eine statische Entladung sie wissen, dass Angel nun in die Machtzentrale der Schule eintreten durfte. ~~?* Kapitel 5 Angel schlenderte gedankenverloren zu seinem Zimmer. Es war nicht die befürchtete Großinquisition geworden, da der Direktor Monika erkannt und sich bei Karlsson in der Mittelstufe eine Einschätzung der Situation erbeten hatte. Zu Angels großer Erleichterung hatte Karlsson offensichtlich Lobeshymnen auf ihn gesungen, sodass die unausgesprochenen Vorwürfe sich dezent aufgelöst hatten. Natürlich war aber die Frage nach dem Absender dieser Hetzkampagne aufgeworfen worden. Angel hatte sich herausgewunden, indem er sich überrascht und verletzt gestellt hatte. Und der Direktor hatte dies als einfache Möglichkeit wahrgenommen, sich aus der Affäre auszuklinken. »Dann hätte er sich ja intensiv mit seinen Schülern beschäftigen müssen!!« Angel war von ungerechter Aggression erfüllt. Auch wenn er sich das ungern eingestand, hätte er sich doch gewünscht, dass jemand für ihn Partei ergriff und ihn vor dieser Treibjagd schützte. »Das kommt davon, dass ich mich so an Frankies Schutz gewöhnt habe!!!« Angel haderte noch mit sich selbst, als er direkt in eine Person hinein lief, die die Treppen hinunterstrebte. "Angel!" Gitano umfasste Angels Ellenbogen, als gelte es, einen halsbrecherischen Sturz in der letzten Minute zu verhindern. Angel schrak zusammen, wünschte Gitano an das andere Ende der Welt. Gitano stellte schließlich auch eines der Probleme dar, die Angel vor sich her schob. Gitano schien Angels Abwehr nicht zu bemerken. Er strich unbekümmert einige Strähnen aus Angels Augen und lächelte becircend. "Du warst gar nicht beim Essen! Eigentlich wollte ich mir mit dir eine Pizza teilen... und dich um einen Gefallen bitten!!" Angel öffnete den Mund, um eine Ausrede hervorzubringen, aber Gitano flatterte mit den Wimpern, schüttelte Angels Hände in der Parodie eines aufgeregten Mädchens. "Bitte, bitte!! Du bist meine letzte Hoffnung!!" Angel seufzte resignierend. Vielleicht war es eine einfache Sache, die sich schnell abhaken ließ. Außerdem hatte Gitano noch keinen Hinweis auf ihre letzte Begegnung gegeben, er wirkte so übersprudelnd wie harmlos. "Worum geht es denn?" Gitano strahlte noch einige Watt stärker. Seine Bernsteinaugen glühten in einem feurigen Goldton. "Komm, ich erklär's dir!!" Ohne Widerspruch zu akzeptieren, zog er Angel am Handgelenk hinter sich die Treppen herab, so rasch, dass Angel sich nur noch auf die Vermeidung eines Sturzes konzentrieren konnte. Ihr Lauf endete erst im Gymnastikraum. Dort absolvierte Matthias wieder einen endlosen Kampf gegen unsichtbare Gegner, ignorierte die atemlosen Störenfriede vollkommen. Nach einem Durchlauf schloss er die Augen und steigerte das Tempo. Angel machte Anstalten, den Saal zu verlassen, aber Gitano grinste wild und schüttelte die Lockenmähne. "Nein, nein, bleib hier! Der ist so abgehoben, der bemerkt uns doch gar nicht." Mit diesen Worten schleuderte er Hemd, Schuhe und Strümpfe von sich, öffnete den obersten Knopf seiner Hose, verschaffte sich Bewegungsfreiheit. Angel sah ihm perplex zu. Für einen Moment fürchtete er einen misslungenen Striptease-Versuch. "Was... was soll das werden?!" Gitano dehnte imponierende Sehnen und Muskeln. Seine Haut war unter der leichten Bräune mit Sommersprossen gesprenkelt. "Ich will ein paar neue Tricks ausprobieren und brauche einen Partner. Zieh dich aus!" Angel runzelte die Stirn, schlüpfte dann aus Schuhen und Strümpfen. Gitano grinste spöttisch, als Angel lediglich ein paar Knöpfe seines Hemds öffnete, aber keine Anstalten zu weiteren Konzessionen machte. "Okay, kennst du Gene Kellys Auftritte in 'An American in Paris'? Genau so einen lässigen Typen will ich rüberbringen und zwar, wie er flirtet, Schlittschuh läuft, steppt... und so weiter!" Gitanos Augen glänzten vor Enthusiasmus. Angel wischte sich leicht genervt Strähnen aus den Augen, stemmte einen Arm auf die Hüfte. "Und was soll ich tun? Zugucken?" Gitano schnappte sich Angels Hand, hauchte einen Kuss auf den Handrücken und drehte eine Runde aus wirbelnden Schritten um Angel, ohne seine Augen ein einziges Mal freizugeben. "Du wirst mein Zentrum sein... sozusagen meine Muse!" Angel wollte verärgert protestieren, als Gitano auch schon davonwischte, die Hände auf dem Rücken verschränkt, mit einem Gleitschritt, als befände er sich tatsächlich auf Eis. Er kreuzte unbekümmert Matthias Kampfarena, was diesen zu einem blitzartigen Ausweichmanöver veranlasste. Dann kehrte Gitano zurück, das Gesicht eine heitere Maske aus Unbekümmertheit. Um bei Angels Anblick zu erstarren, einen unbeholfenen Stolperer einzubauen, sich verlegen einen imaginären Hut in den Nacken zu schieben und dann einen großen Kreis um Angel zu ziehen. Der beschriebene Kreis wurde immer enger. Gitano wechselte rasch die Richtung, scheinbar schüchtern immer wieder auf seine Fußspitzen blinzelnd. Angel drehte sich im Kreis, versuchte, ihm zu folgen, ließ sich von der Vorstellung einfangen. Er fühlte sich tatsächlich wie das Objekt des Interesses, nicht wie ein Fixpunkt bei einer Trainingseinheit. Und Gitano war so überzeugend, dass Angel erst wieder in die Realität zurückkehrte, als dieser ihn mit beiden Armen umschlang und in einer übertriebenen Pose an der Hüfte mit einem Ausfallschritt nach hinten sinken ließ. Angel schreckte hoch und umklammerte instinktiv Gitanos Oberarme. Der lachte lauthals, was ganz sicher nicht zu seiner Performance gehörte, wirbelte Angel um sich herum, um ihn dann wieder sicher auf die Füße zu stellen. "Deinem Gesicht nach zu urteilen, muss ich ziemlich gut sein! Okay, jetzt werde ich ein bisschen steppen, natürlich ohne Ton!" Und wieder folgte eine Tour de force, die in einer Michael Flatley-Parodie endete. Angel fand sich gegen seinen Willen breit grinsend immer wieder in wilde Drehungen einbezogen, ließ sich von den zähnefletschenden Posen anstecken und agierte mit Feuereifer. Schließlich unterbrach ein lautstarkes Knurren seines Magens eine Kopie der Balkonszene aus Romeo und Julia, wobei Angel sich in der Rolle der Julia diesen unromantischen Kontrapunkt leistete. Gitano lachte so begeistert, dass die Bernsteinaugen Tränchen sprühten. "Ich hatte glatt vergessen, dass du nichts zu Mittag hattest! Schluss für heute, komm, lass uns erst mal ein bisschen Abkühlung suchen!" Wie selbstverständlich glitt seine Hand in Angels, dann angelte er geschickt ihre Sachen vom Boden und führte Angel in den Umkleideraum. Matthias hatten beide völlig vergessen. ~~?* Angel klatschte sich wieder Wasser in das Gesicht, kühlte die glühenden Wangen. Plötzlich schoben sich fremde Hände unter sein Hemd, streichelten sanft über seine erhitzte Haut. "Hey!" Angel wollte sich eilig aus der intimen Umarmung drehen, die Ellenbogen bereits angriffsbereit ausgefahren. "Warum versteckst du das Tattoo vor mir?" Gitanos leicht spöttische Stimme summte vibrierend in Angels Ohr. Gitanos Hände öffneten geschickt die letzten Knöpfe, schoben Angels Hemd herunter, während sein Blick im Spiegel Angels nackten Oberkörper aufsaugte. "Wirklich schön", raunte er heiser in Angels Haare. Seine Finger zeichneten die Umrisse des Efeublattes nach. Angel zitterte leicht, hielt den Atem an und betete um Selbstbeherrschung. Er wollte nicht auf Gitano reagieren, wollte sich nicht auf so beschämend einfache Weise einfangen lassen. Gitanos Arme umschlangen nun seinen Oberkörper vollständig. Seine Lippen wanderten Angels Nacken entlang, markierten ihren Weg mit Küssen und leichten Bissen. Angels Lungen protestierten gegen seinen Versuch, das Atmen einzustellen. Er schnappte laut nach Luft, was einem Seufzer gleichkam. Gitano kicherte leise. Die Schwingungen seines Brustkorbes übertrugen sich direkt auf Angels Rücken, wanderten durch seinen Körper und verbrannten seine Nervenbahnen. Angel schloss die Augen, versuchte, das Gefühl nackter Haut an seinem Rücken zu verbannen, den Geruch, den Gitano verströmte, eine Mischung aus Sandelholz und Salz. Gitanos rechte Hand streichelte Kreise über Angels Magen, was ein Feuerwerk nach dem anderen explodieren ließ, während seine Linke Angels Kopf sanft, aber unnachgiebig zu seinen Lippen dirigierte. Angels Atem schlug sich auf seiner erhitzten Haut nieder, dann küsste er ihn hungrig, saugte Angels Zunge in seinen Mund. Angel wand sich langsam herum in der intimen Umarmung, ohne seine Lippen von diesem berauschenden Mund zu lösen, legte die Arme um Gitanos Nacken und ließ sich sanft auf den Rand des Waschbeckens heben. Wasser tränkte den Stoff seiner Hose, aber es verdampfte bei der Berührung seiner Haut. Gitano schob sich zwischen Angels Beine, benetzte dessen Gesicht mit heißen Küssen, während seine Hände durch Angels Haare streichelten und den Rücken bis zum Po hinabfuhren. Angel grub die Finger in die wirre Lockenmähne und stöhnte vor Verlangen leise auf. Gitanos sanftes Lachen schreckte ihn auf, sein Herzschlag setzte aus. Dann entglitt er eilig Gitanos Umarmung, drängte diesen zurück und knöpfte mit fliegenden Fingern sein Hemd zu. "He, mein Engel, was ist denn los?!" Gitano versuchte, Angels Blick in den Spiegel zu zwingen, wenn dieser ihm schon den Rücken zukehrte, aber Angel hielt den Kopf konstant gesenkt. "Entschuldige", würgte er hervor, um dann mit schnellem Schritt die Umkleide zu verlassen. Als er die Halle durchquerte, rannte er schon, um schließlich durch das Haus zu hetzen, als seien alle Dämonen der Hölle hinter ihm her. ~~?* Angel lehnte sich keuchend gegen das Türblatt, biss sich auf die Lippen, bis er den metallischen Geschmack von Blut aufnahm. Seine verschleierten Augen fingen Franks Porträt auf, was Scham und diffuse Schuldgefühle in ihm aufsteigen ließ. Schleppend wankte er zu seinem Bett hinüber, dann gaben seine Knie nach und er sackte auf den Boden, vergrub das Gesicht in der Matratze, die Arme über den Kopf geschlagen. Er wartete auf Tränen, die Erleichterung bringen sollten, aber seine Augen gehorchten ihm nicht. ~~?* Matthias ließ Wasser über seinen Kopf laufen und atmete tief durch. Sein ganzer Körper glühte, aber er fühlte sich seltsam erleichtert. Er war so erschöpft, dass die Stimmen ihn verlassen hatten. In seinem Kopf herrschte eine ungewohnte Ruhe. Endlich würde er Schlaf finden. Matthias eilte im fiebrigem Taumel die Stufen hoch, platzte in ihr Zimmer, schlug die Tür hinter sich zu und fiel wie ein Stein in sein Bett. Angel beobachtete diesen Auftritt völlig perplex, genauso wie den totenähnlichen Zustand, in den Matthias verfallen war. "Wow... das ist ja erschreckend..." Angel beäugte unsicher die zusammengebrochene Gestalt, dann zog er die geliehene Decke von seinem Bett und breitete sie über Matthias aus. Was ihn an den entwendeten Brief in seiner Hosentasche erinnerte. Er zog sich in sein eigenes Bett zurück, besänftigte seinen aufgewühlten Magen und seine in Mitleidenschaft gezogenen Nerven mit mehreren Riegeln Schokolade, während er den Brief entfaltete. Der Briefkopf lautete auf die Privatpraxis eines Psychologen, anhand der Titel auf vielen Gebieten versiert. »Und bei dem Papier sicher auch nicht ganz billig«, mutmaßte Angel und strich über das schwere Pergament. Der Brief war an Matthias' Eltern gerichtet. Ein eiliger Blick auf den Umschlag bestätigte, dass diese ihn wohl an die Schule weitergeleitet hatten. Angel zog die Beine an und konzentrierte sich auf den Text. Erfreulicherweise verlor sich der Gutachter nicht in fachspezifischen Verklausulierungen, sondern kam direkt zur Sache. Offenkundig hatte seine Aufgabe in einer kritischen Beurteilung von Matthias' Entwicklung bestanden. [Matthias ist sehr intelligent. Er hat die bemerkenswerte Gabe, bereits nach dem ersten Kontakt mit neuem Wissen dieses im Gedächtnis zu behalten und auch anzuwenden. Eine Förderung in gymnasialer Ebene ist anzuraten, um seinen Intellekt auch weiterhin auf diesem Niveau zu halten. Allerdings ergeben sich im zwischenmenschlichen Bereich nicht zu unterschätzende Defizite. Matthias kapselt sich bewusst von Gleichaltrigen ab. Auch zeigt er keinerlei Bereitschaft, die Untersuchung aktiv zu unterstützen. Er benutzt seine Fähigkeiten in der Mehrzahl der Begegnungen mit anderen Personen, um diese Menschen verbal vorzuführen und vor den Kopf zu stoßen, häufig in sehr verletzender Art und Weise. Seine latente Neigung zu körperlicher Aggression gegenüber seiner Umwelt wird von langen Phasen verstockter Schweigsamkeit negativ verstärkt. Angesichts der geschilderten Vorkommnisse sollte Matthias in eine übersichtliche Schulgemeinschaft eingefügt werden, wo er unter direkter Führung seinen Intellekt trainieren kann. Dieser Versuch stellt allerdings, wie ich Ihnen nicht verheimlichen möchte, die positive Zukunftsentwicklung dar. Sollte Matthias erneut in diesem Rahmen gewalttätig werden, ist eine zeitweise Unterbringung in der Jugendpsychiatrie das einzige probate Mittel, was noch zur Verfügung steht. Da Matthias sich nicht in die Untersuchung einbringt, können wir über die Ursachen seiner aggressiven Störung nur spekulieren.] Angel überflog den Rest des Schreibens, das nicht mehr Erhellendes enthielt. »Nächste Station Psychiatrie?« Nachdenklich warf er einen Blick auf die reglose Gestalt, bemerkte, dass sich die Schatten im Zimmer so lang zogen, dass sie der Dämmerung die Hand reichen konnten. »Oh Mann, das ist wirklich klasse! Ich bin mit einem mutmaßlichen Psychopathen in einem Zimmer, ein liebestoller Clown verfolgt mich, der Rest der Schüler hält mich bestenfalls für einen schwulen Spinner, und das drei Wochen nach...« Angels Blick wanderte unsicher zu Franks Gesicht. Matthias' Worte gingen ihm durch den Kopf. Es war nicht fair, dass Frank sterben musste, gerade als sie sich endlich auf eine gemeinsame Zukunft einigen konnten! »Und ihn dann nie wieder zu sehen...« Angel wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus den Augen, während ein Kloß in seinem Hals das Atemholen in ein schmerzerfülltes Schluchzen verwandelte. »Es kann nicht wahr sein!! Es darf nicht wahr sein!! Ich kann dich immer noch fühlen! Du wirst immer mein Freund sein, das haben wir uns versprochen!! Ich habe dein Wort, Frankie!! Verlass mich nicht!!« Angel zog die Knie unter das Kinn und umarmte seine Beine, bis sein Rückgrat knackte. Er wollte sich in sich selbst verkriechen, fliehen vor den Zweifeln, die ihn plagten. Die sich, einmal in Existenz gerufen, nie wieder vertreiben ließen, vor denen es kein Entkommen gab. »Werde ich in zwei Jahren vergessen haben, wie deine Lippen schmecken? Werde ich unsere Liebe nicht festhalten können? Ist sie nicht für ein Leben gemacht?« ~~?* Matthias erwachte erfrischt zu gewohnt früher Stunde. Die Sonne kämpfte sich gerade langsam an den Himmel, den rosige Streifen zierten. Er erhob sich geschmeidig, warf einen Blick zu Angel herüber, stutzte, um dann den Abstand mit ein paar fließenden Schritten zu überwinden. Angel hatte sich zusammengerollt, Strähnen klebten dunkel in seinem fahlen Gesicht, das selbst im Schlaf noch Schmerz zeigte. Auf dem Boden neben dem Bett lagen die Verpackungen der Schokoriegel und der Brief. Missbilligend über diese Unordnung und Nachlässigkeit sammelte Matthias alles auf, entschlossen, die Abfälle der Mülltonne zuzuführen und den Brief auf Angels Schreibtisch zu legen. Ein kurzer Blick genügte. Das Blut stockte in seinem Körper, Kälte vertrieb die wohlige Wärme der Erholung, die er noch Sekundenbruchteile zuvor verspürt hatte. »Sie... sie wollen mich in die Psychiatrie stecken!« Grimmig ballte er die freie Hand zu einer Faust, ließ diese die Luft zischend durchschneiden. »Das würde euch wohl so passen!! Gebt ihr auf?! Aber das war ja schon immer die beste Antwort, nicht wahr?! Sperr es weg!« Er legte den Brief auf den Boden, verstreute wieder den Abfall darum herum. Dann schlüpfte er in seinen alten Kampfanzug und verließ lautlos das Zimmer. ~~?* Angel kroch mühsam aus seinem Bett, registrierte beiläufig die Unordnung, schleppte sich unter die Dusche und ließ das Wasser auf seinen verspannten Körper prasseln, gleichgültig gegenüber der Tatsache, dass er noch angekleidet war. Er fühlte sich unter dem lauwarmen Strahl wie in einem sanften Sommerregen, melancholisch und besänftigend. Endlich streifte er unbeholfen seine Kleider ab und genoss dankbar die angenehme Nässe auf seiner Haut. »Ein neuer Tag in der Hölle meines täglichen Lebens... Nein!!!« Energisch schüttelte er Wasserperlen von seinem Körper, frottierte grob Leben in die erstarrten Muskeln. »Ich werde mich nicht zu einem Waschlappen degenerieren lassen!!« Er fletschte seinem Spiegelbild die Zähne zu. "Ja, verdammt, ich liebe Frankie, und er ist tot. Aber ich lebe!! Und ich werde mich nicht runterziehen lassen!!! Denn jetzt muss mein Leben für uns beide reichen. Wenn ich ihn vielleicht nicht direkt wiedersehen werde, so werde ich doch immer einen Teil von ihm bei mir haben! Egal, was dieser Psychopath oder andere behaupten! Es ist mein Leben!!" Nachdem er sich den Frust mit Inbrunst von der Seele gebrüllt hatte, fühlte er sich seltsam befreit. Auch wenn es beängstigend war, so würde er nun wieder seine eigenen Entscheidungen treffen, ungeachtet der Meinungen anderer. Mit einem eisigen Lächeln kämmte er die weißblonden Strähnen zu einem lockeren Zopf. "Es ist erst vorbei, wenn die fette Lady singt!" ~~?* Der Tag verlief in einer seltsamen Anspannung, die Luft mit Elektrizität aufgeladen. Diese schlug in lärmende Geschäftigkeit um, die aber kaum messbare Resultate erbrachte. Matthias hatte gegen Mittag mühsam das Verlangen unterdrückt, eine weitere erschöpfende Trainingseinheit einzulegen, um wenigstens eine Mahlzeit an diesem Tag zu sich zu nehmen, aber nun sehnte er sich nach Schweigen. Ein stetes Summen erfüllte seinen Kopf. Die schrille Aufregung seiner Mitschüler über Nichtigkeiten, die überdrehte Heiterkeit raubte ihm den letzten Nerv. Es war besser, eine Weile aus dieser Welt zu verschwinden. ~~?* Papercut by Linkin Park why does it feel like night today? something in here's not right today why am I so uptight today? paranoia's all I got left I don't know what stressed me first or how the pressure was fed but I know just what it feels like to have a voice in the back of my head it's like a face that I hold inside a face that awakes when I close my eyes a face watches every time I lie a face that laughs every time I fall (and watches everything) so I know that when it's time to sink or swim that the face inside is hearing me right underneath my skin it's like I'm paranoid lookin' over my back it's like a whirlwind inside my head it's like I can't stop what I'm hearing within it's like the face inside is right beneath my skin I know I've got a face in me points out all my mistakes to me you've got a face on the inside too and your paranoia's probably worse I don't know what set me of first but I know what I can't stand everybody acts like the fact of the matter is I can't add up to what you can but everybody has a face that they hold inside a face that awakes when they close their eyes a face watches every time they lie a face that laughs every time they fall (and watches everything) so you know that when it's time to sink or swim that the face inside is watching you too right inside your skin the sun goes down I feel the light betray me ~~?* Angel verbrachte den Tag in eisiger Stille und Zurückgezogenheit. Er wollte nicht sprechen, er wollte nicht vorgeben, dass alles in Ordnung war. Es gab eine Menge Dinge, über die er nachzudenken hatte und er verspürte nicht die geringste Lust, eine Fassade zu pflegen nur um des lieben Friedens Willen. Methodisch sammelte er seine Unterlagen ein, um dann unversehens einen Schatten auf seinem Tisch zu entdecken. Gitano lehnte lächelnd an seinem Tisch, die eigenen Bücher nur nachlässig unter den Arm geklemmt. "Hi, Angel, hast du ein wenig Zeit für mich?" Angel zog die Augenbrauen hoch, einen skeptischen Blick in das aufreizende Lächeln versenkend. "Ich habe noch Einiges zu tun." Betont geschäftsmäßig nickte er Gitano zu, um an ihm vorbeizurauschen. Aber Gitano folgte ihm unverdrossen, sich seinem steifen Schritt anpassend. "Na gut, ich helfe dir bei deinem Zeug, dann geht's doppelt so schnell, und du hast Zeit für mich." Angels Lippen wurden schmal, während er seine Schritte beschleunigte. "Gitano, heute bin ich wirklich keine unterhaltsame Gesellschaft." Gitano drehte sich im Lauf und versperrte Angel den Weg. "Gib mir wenigstens fünf Minuten, Angel, ja?!" Angel verdrehte die Augen in gelangweilter Arroganz. "Wenn es sein muss..." Gitano ging nicht auf diese Spitze ein, sondern ließ seine Bücher auf die nächste Fensterbank fallen und entzog auch Angel seinen Stapel. "Okay, los geht's!" Er zauberte mit undurchdringlicher Miene Blumen und Bänder aus Angels Ohren, seinem Hemd und seiner Hosentasche. "Das ist nicht gerade innovativ", nörgelte Angel übellaunig. Gitano grinste und strich über Angels Hände, schob sie sanft auf dessen Rücken, woraufhin ein metallisches Geräusch ertönte. "Was?!" Angel zuckte irritiert zusammen. Das klang, als sei ein Verschluss eingerastet?! Aber seine Handgelenke rührten sich nicht mehr hinter seinem Rücken. "Was hast du gemacht?!" Gitano grinste breit über das ganze Gesicht, lehnte sich dann nahe an Angel. Die Bernsteinaugen funkelten vor Begeisterung. "Ein Trick, um dir die Handschellen anzulegen. Deswegen stehen wir hier beim Heizkörper." Angel zerrte hektisch an den Metallreifen um seine Handgelenke. Sie schnürten nicht ein, aber er konnte ihnen auch nicht entschlüpfen. "Mach mich los!!" Gitano lehnte seine Stirn vertraulich an Angels. "Wenn du mich küsst." "Ich schreie!!" Gitano lachte amüsiert. Es klang wie das Schnurren einer zufriedenen Katze, die mit den verbliebenen Federn ihrer Beute spielte. "Möchtest du wirklich, dass einer deiner Freunde dich so sieht? Hm?" "Und deine Freunde?!", giftete Angel zurück, die Katzenaugen sprühten Blitze. "Ich kann tun, was ich will", gurrte Gitano in Angels Ohr und hauchte einen Kuss in die schlanke Kurve unter Angels Ohrläppchen. Angel schloss die Augen und überdachte seine Situation. "Wenn... wenn ich dich küsse, machst du mich los?" "Versprochen!", raunte Gitano in Angels Halskuhle. Seine Zunge liebkoste Angels weiche Haut. Angel ballte die Fäuste in den Handschellen, dann suchte er Gitanos Lippen. Er spürte das erwartungsvolle Verlangen, einen ungeschminkten Hunger, als er seine Zunge langsam in Gitanos Mund wandern ließ, zunächst widerwillig, dann neugierig. Gitanos Arme schlangen sich verzehrend um seinen Körper, während er Angels zögerlichen Kuss mit feuriger Leidenschaft erwiderte. Angel hörte sich zu seinem eigenen Entsetzen leise Laute der Lust hervorbringen, die Gitano noch mehr erregten, da sein Herzschlag an Angels Brust einem Trommelwirbel glich. Schließlich wandte Angel ruckartig und verbittert den Kopf ab, schüttelte Gitano mit den Schultern von sich. "Machst du mich nun los, oder was?!", zischte er mit auf den Boden gesenktem Blick, die Lippen nur noch dünne Striche. Gitano ließ seine Zunge der Länge nach über Angels Wange gleiten, lachte dann guttural. "Wie du möchtest, mein Honigbär!" Angel fauchte etwas Unflätiges, rieb sich verärgert über die Spuren, die die Eisenringe in seiner Haut hinterlassen hatten. "Mach das ja nie wieder, klar?!" Gitano verschränkte die Hände auf dem Rücken, wippte von den Hacken auf die Zehenspitzen und bot das Bild der verfolgten Unschuld. "Hat's dir denn nicht gefallen?", flötete er mit schüchternem Augenaufschlag, um sich dann demonstrativ lüstern über die Lippen zu fahren. "Idiot!", knurrte Angel, schnappte seine Bücher und stakste steif den Flur hinab. Gitanos amüsiertes Lachen perlte noch lange in seinen Ohren. ~~?* Angel flüchtete in sein Zimmer, schleuderte die Bücher auf den Schreibtisch und plumpste frustriert auf sein Bett. "Ich versteh einfach gar nichts mehr!!", schnaubte er laut und blies widerspenstige Strähnen aus seinem Gesicht. Aber die nervöse Anspannung, die ihn den ganzen Tag erfüllt hatte, ließ ihm auch hier keine Ruhe. Er musste ein Ventil für diese überbordende Energie finden! Er wechselte rasch seine Kleidung, schlüpfte in Shorts und ein T-Shirt, suchte ein paar Turnschuhe aus dem Schrank, band sich die weißblonden, langen Haare zu einem Zopf zusammen und verließ das Zimmer. Ein Blick aus der Fensterfront des Treppenhauses zeigte ihm, dass das Wetter sich nicht gegen sein Trainingsprogramm stellte. Der Himmel war bedeckt, aber das angekündigte, spätsommerliche Gewitter schien sich auf der Reise aufgehalten zu haben. Angel joggte durch den Park und weil der erste Umlauf ihn nicht genügend erschöpft hatte, drehte er noch eine weitere Runde. Atemlos und durchgeschüttelt von den unebenen Wegen kehrte er schließlich zurück, um sich eine Dusche zu gönnen. Mit feuchten Haaren und in einem übergroßen Hemd zu Hot Pants sortierte er dann in einem verstreuten Rest Elan seine Schmutzwäsche aus, schulterte die Plastiktüte und klemmte sich sein Schachbuch zwischen die Zähne. »Wenn die Maschine fertig ist, kommt auch schon die Zeit für das Abendessen«, stellte er mit der Befriedigung eines Menschen fest, der sein Tagewerk mit nützlichen Dingen gefüllt hatte. Vor sich hin summend stemmte er sich gegen die schwere Brandschutztür, erinnerte sich daran, dass der Schalter aus unerfindlichen Gründen außen angebracht war, knipste das Licht an und schob den Sack in den unübersichtlichen Raum. Die Waschküche war ein später separierter Teil des Kellers, geschnitten in einer L-Form, völlig fensterlos und abgesehen von den aufgereihten Maschinen und einer enormen Wäschespinne schmucklos. Angel bog gerade in den Hals des Ls ein, als das Licht erlosch. Für einen Augenblick lähmte ihn die Überraschung, dann fuhr er herum und rannte zur Tür. In diesem Augenblick wurde etwas über den nackten Beton geschoben. Die Klinke ließ sich nicht mehr herunterdrücken. "Hey!! Macht sofort auf!!" Angel warf sich mit aller Kraft gegen die Tür, rüttelte hilflos an der Klinke, aber außer einem protestierenden Scharnier bewegte sich gar nichts. Und sein energisches Trommeln an der dick verkleideten Tür drang auch nicht besonders weit. Außer Atem stand Angel in der absoluten Finsternis, ballte die Hände und versuchte, seine Panik zu bändigen. "Feige Scheißkerle!!", machte er seiner aufsteigenden Beklemmung Luft. Zögerlich tastete er sich zu einer Wand, stolperte an ihr entlang, bis er seinen Wäschesack fand. Diesen hinter sich her ziehend bog er in den Raum ein, wo die Maschinen Spalier standen. Auch hier war es stockdunkel. Und wenn er sich richtig erinnerte, gab es keinen Ausgang. Eine Ahnung in der Atmosphäre ließ einen eiskalten Schauer über seinen Rücken laufen. "Ist... ist da jemand?" Hastig drehte sich Angel wie ein Derwisch, wünschte sich, die Dunkelheit durchdringen zu können. Wenn er es schaffte, eine Maschine anzuwerfen, würden zumindest ihre kleinen Leuchtdioden die Dunkelheit entzaubern. Zittrig streckte er eine Hand aus, um sich an die Bedienelemente heran zu tasten, als sich eine Hand um sein Handgelenk schloss. ~~?* Angel stieß einen schrillen Entsetzensschrei aus, wich hastig zurück und kam über seinem Wäschesack zu Fall. Die Finsternis um ihn herum war noch immer konturenlos, aber sein fliehender Verstand gab ihm ein, wegzukriechen, nur weg!! Endlich stoppte ihn eine Mauer, gegen die er sich angstvoll kauerte, die Augen bis zur Schmerzgrenze aufgerissen, um den leisesten Hinweis auf eine Bewegung aufzufangen. »Ich kann nichts sehen, überhaupt nichts sehen!!«, raste hysterisch seine Courage durch die labyrinthischen Gänge seines Verstandes, ließ ihn handlungsunfähig und hilflos zurück. Ein Wärmeschauer verbrannte sein Knie, dann legte sich eine Hand flach auf seine nackte Hand. Angel schlug panisch und unkontrolliert um sich, stieß ein markerschütterndes Wimmern aus. "Hör auf!" Die Hand presste sich fest auf seinen Mund, während eine zweite seine Linke abfing. Angel erstarrte. Die Hände lösten sich wieder von ihm. "Geh nicht weg!!" Hastig warf sich Angel nach vorne, haschte in der Finsternis nach der tröstlichen Körperwärme. "Bitte!! Lass mich hier nicht allein!", sein angstvolles Flehen schwebte grell in der Luft, während er auf allen Vieren über den Beton kroch. "Matthias! Bitte!! Ich habe Angst!" Eine Hand erlöste ihn nach einer schieren Ewigkeit, zog ihn an eine Maschine. "Bleib hier." Angel verlor den Kontakt wieder, biss sich heftig auf die Lippen, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Er sah noch immer nichts. "Wo... wo bist du denn?" Stille. "Matthias?" Ein schleifendes Geräusch hinter ihm ließ Angels Herzschlag aussetzen. Ein schriller Schrei entfloh seiner Kehle. "Sei still!" Rascheln, Rumpeln, das Klicken von mechanischen Vorrichtungen, dann leuchteten die Anzeigen einer Maschine neben Angel. Matthias hatte seine Wäsche eingefüllt! "Buntwäsche, flüssig, halber Hut", folgte eine knappe Erläuterung mit heiserer Stimme. "Danke!", flüsterte Angel, von Erleichterung ermattet. "Wo bist du? Ich kann absolut nichts sehen!" Angel streckte wieder suchend die Hände aus, wartete auf die Einladung. Eine Hand umklammerte wieder grob sein Handgelenk, dann wurde er zu einer Maschine dirigiert. "Setz dich!" Angel tastete vorsichtig die Maschine ab, schwang sich dann unbeholfen hoch und wäre ohne Matthias' raschen Griff gestürzt. "Du verlässt dich viel zu sehr auf deine Augen!", rügte dieser missbilligend, um Angel sofort wieder loszulassen. "Ich mag keine Dunkelheit!", grollte Angel zurück, kroch aber näher an den Platz heran, auf dem er Matthias vermutete. "Es gibt keinen zweiten Ausgang, oder?" "Nein." "Wir sind hier eingesperrt!!!" "Der Hausmeister kontrolliert den Raum nach dem Abendessen." Angel wedelte wild mit den Armen in der Dunkelheit, "wie kannst du da nur so ruhig bleiben?!" "Und warum regst du dich so auf?", schwebte die Gegenfrage körperlos zwischen ihnen. Angel rieb sich die aufgeschürften Knie und knurrte, "ich hasse die Dunkelheit und ich habe keine Lust, hier so lange eingesperrt zu sein!" "Ich liebe die Dunkelheit. Sie ist so frei, ohne feste Formen, unendlich. Und außerdem, was sollte dir hier schon passieren?! Wenn die nicht so blöd gewesen wären, mich zu übersehen, wärst du allein hier und völlig sicher." Angel schauderte bei dieser Vorstellung. Er schlang fest die Arme um sich. "Die Dunkelheit ist niemals sicher, glaub mir." Für eine Weile schwiegen sie vor sich hin, dann unterbrach Angel die Ruhe. "Kannst... kannst du mir... deine Hand geben?" "Warum?!", folgte die misstrauische Replik. "Es macht mich nervös, hier zu sein...", Angel lachte unsicher, "ich fühle mich, als würde ich den Kontakt zu meinem Körper verlieren. Gespenstisch...", seine Stimme verlor sich ängstlich in der Dunkelheit. "Du hast wohl Angst, mal still zu sein und nur mit dir allein, was?" Matthias' Stimme triefte vor Häme. "Was dir ja wohl nichts ausmacht! Du bist ja so von dir selbst eingenommen!", giftete Angel zurück. "Ich?! Wer rennt denn hier rum wie ein Starlet, Mr. Coverboy?!" "Was hat das damit zu tun?! Kannst du nicht zwischen Show und Wirklichkeit unterscheiden?!" "Kannst du nicht endlich die Klappe halten?!! Ständig dieses sinnlose Geplapper!" Matthias' Stimme zeigte erste Anzeichen einer genervten Erregung. Angel fauchte scharf, "und du teilst uns natürlich nur absolute Geistesblitze mit, richtig?! Bei so einem überlegenen Intellekt sind wir anderen nur Bodensatz der Evolution!" Matthias antwortete ihm nicht. Schweigen legte sich schwer in den Raum. Angel umklammerte seine Beine wieder und schmollte verärgert vor sich hin. »Dieser Typ ist echt ein Ekel!! Na gut, er hat mir mal geholfen, aber im nächsten Moment ohrfeigt er mich oder schnauzt mich an, oder... sagt Dinge, die ich lieber niemals gehört hätte... blöder Sack!! Starlet! Der spinnt doch total! Möchte wissen, warum er so gern in der Dunkelheit sitzt. Ist bestimmt ziemlich oft hier. Ich kann nicht glauben, dass meine Augen so schlecht sind. Er kennt sich hier einfach nur so gut aus, weil er sich schon eingewöhnt hat. Die reinste Kellerassel, brrr!!« Ein weiterer Schauder jagte Angels Rücken hinab. Außerdem fror er leicht. "Warum hast du mir gegen den Terminator geholfen, wenn du mich nicht ausstehen kannst?" Angel lauschte gespannt in die Dunkelheit, versuchte, Regungen aufzunehmen, die nicht ausgesprochen wurden. Matthias formulierte seine Antwort wohl im Geist sehr sorgfältig, Angel konnte eine merkwürdige Spannung in der Atmosphäre wahrnehmen. "Es ist feige, sich auf einen körperlich Unterlegenen zu stürzen. Außerdem war es eine sorgfältig kalkulierte Gemeinheit aus einer Laune heraus, und ich kann Disziplinlosigkeit nicht ausstehen." Angel lächelte in die Finsternis. "Und da hast du deine Abneigung gegen mich überwunden, um ihm eine Lektion zu erteilen?" Ein Schnauben ertönte, das Angel verriet, dass Matthias doch über so etwas wie Humor verfügte. "Wenn das ein feinsinniger Versuch sein soll, aus mir herauszukitzeln, dass ich dich doch ausstehen kann, dann vergiss es gleich wieder!" Angel stichelte nun gut gelaunt weiter. Solange das Gespräch andauerte, hielt es die lauernde Dunkelheit in Schach. "Den Versuch, oder dass du mich magst?" "Phhh, es wäre im Augenblick wohl ein Exklusivrecht, dich zu mögen, oder?!" Angel sog scharf Luft ein, dieser Hieb ging eindeutig unter die Gürtellinie. "Ich denke, dass mich eine ganze Menge Leute mögen." "Vielleicht sind diese Leute aber auch bloß unkritisch und wahllos in ihrer Zuneigung!", ätzte Matthias weiter, fand offensichtlich Gefallen an diesem persönlichen Schlagabtausch. "Während vor deinen Augen wohl niemand Gnade findet, oder?!", zischte Angel ernsthaft verstimmt zurück. "Ich brauche niemanden!" "Ha!! Und ob!" Angel hörte an den raschelnden Geräuschen von Stoff, dass Matthias seine Maschine verlassen hatte. "Ich brauche niemanden, klar?!" "Sicher!", provozierte Angel weiter, "wenn das wahr ist, warum bist du dann noch hier und nicht in Sibirien oder sonst wo, wo du dich nicht mit uns Minderbemittelten herumschlagen musst?!" "Halt die Klappe!" Angel lachte bösartig. "Auf einmal?! Du weißt doch, wie das mit uns minderwertigen Schwätzern ist: wir können einfach die Stille nicht ertragen! Also, ist es nicht Feigheit, sich zu beschweren und trotzdem mitten unter uns zu leben?!" "Ich bin nicht feige!!" Angel spürte Körperwärme vor seiner Maschine, Matthias musste direkt davor stehen. Er grinste zähnefletschend in die Dunkelheit. "Dann ist es wohl Inkonsequenz, oder bist du gar nicht so anders als wir?!" "Sei endlich still!! Halt den Mund!!" In Matthias' selten benutzter Stimme schwangen deutlich bedrohliche Untertöne, als halte er sich nur noch mühsam in Zaum. Angel ließ die Beine von der Maschine baumeln. "Ich denke gar nicht dran!! Bla bla bla!!" "Ich warne dich!!" Angel kicherte boshaft. "Uuuuhhh, jetzt habe ich aber Angst!! Was willst du machen, mich mit Verachtung strafen?! Ich sitze schon in der Finsternis mit dir, schlimmer kann es doch nicht..." Seine Worte erstickten in einem Gurgeln, als sich Matthias' Hände um seinen Hals schlossen und zudrückten. Angel versuchte krampfhaft, Matthias' Würgegriff zu sprengen, aber seine Kräfte waren dieser unheimlichen Wut nicht gewachsen. "Sei still!! Sei endlich still!!" Matthias ließ nicht locker, presste Angels Beine gegen die Maschine und wich den hilflos rudernden Armen aus. Schließlich streiften Angels Hände sein Gesicht, hinterließen flammende Spuren, um dann leblos herunterzufallen. Als Matthias seine verkrampften Hände löste, sackte Angel auf der Maschine zusammen. Und rührte sich nicht mehr. ~~?* Wieso kannst du nicht ruhig sein?! Wieso stellst du solche Fragen?! Ich bin nicht feige!! Ich brauche niemanden!! Keinen Menschen!! Ich weiß, wer ich bin!! Wieso...? ~~?* Kapitel 6 Matthias zitterte am ganzen Körper, unkontrollierte Spasmen erschütterten seinen verspannten Leib. Er stieß ein gequältes Stöhnen aus, dann suchte seine Hand fiebrig nach Angels Herzschlag. Und spürte einen unsicheren Rhythmus unter dem dünnen Stoff des Hemds. Aber keine Atemzüge. Panisch wanderten seine Hände über den reglosen Körper, fanden das Gesicht. Er überstreckte den Hals, umklammerte Angels Kinn und hielt ihm die Nase zu. Dann blies er entschlossen seinen Atem in den stummen Mund. Er wartete vier Herzschläge ab, um erneut Angels leblosem Leib Atem einzuhauchen. Vor seinem Auge geisterte das Bild eines totenbleichen Angel mit bläulich verfärbten Lippen und schwarzen Malen in dem schneeweißen Hals. »Bitte!!« Und wieder spendete er seinen Atem, mit einem stummen Stoßgebet an einen Gott, an den er nicht glaubte. »Bitte...« Nervös befeuchtete er seine Lippen, strich ein paar Strähnen aus Angels Gesicht und beugte sich wieder zu ihm herunter. »Atme! Bitte! Seine Lippen sind so kalt...« Matthias' Augen wurden tellergroß in der Dunkelheit, als ein sanfter Druck seine Lippen elektrisierte. Er keuchte überwältigt, als Angel sich schon zusammenkrümmte und von würgenden Hustenattacken geschüttelt wurde. Matthias tauchte rasch ab. Nach seiner Erinnerung musste sich genau vor ihm ein altmodisches Waschbecken befinden. Er ließ Wasser in seine gewölbte Hand laufen, huschte zu Angel zurück und presste seine Hand auf dessen Lippen. "Schluck!" Er musste Angel fest am Genick packen, um gegen die Erschütterungen der Hustenanfälle anzukämpfen. "Ich hole mehr Wasser!", murmelte er erleichtert und wollte Angel wieder loslassen, aber dieser umklammerte ihn panisch. "Nicht... nicht... weg... weg gehen..." Matthias zögerte verlegen, dann schob er seine Arme unter Angels und zog ihn vorsichtig an sich. In seine Erleichterung mischte sich auch Resignation. [>Sollte Matthias erneut in diesem Rahmen gewalttätig werden, ist eine zeitweise Unterbringung in der Jugendpsychiatrie das einzige probate Mittel, was noch zur Verfügung steht.] ~~?* Angel grub die Fingernägel tief in die warme Haut, lehnte sich in die Umarmung und schmiegte seine Wange an Matthias Hals. Noch immer reizte jeder Atemzug seine Kehle, rasselte sein Brustkorb schmerzhaft. "Unnhhh", wimmerte er heiser, sehnte sich nach Linderung. "Ich hole Wasser!" Matthias' Stimme klang noch rauer als üblich. Er machte Anstalten, Angel von sich zu schieben, bestrebt, Wiedergutmachung zu leisten. »Und wahrscheinlich will er meiner Berührung entfliehen«, ging es Angel durch den Kopf. »Aber so einfach werde ich es dir nicht machen!!« Er röchelte asthmatisch, zuckte unkontrolliert, was Matthias veranlasste, Angel fester um die Schultern zu fassen. Angel ließ seinen Kopf in den Nacken fallen, rang mitleiderregend nach Luft, wickelte seine Arme um Matthias' Nacken. Als er spürte, wie Matthias zusammenzuckte, musste er ein Grinsen unterdrücken. Jetzt war der Groschen wohl gefallen?! Wie würde Matthias sich entscheiden? Die Spannung half Angel, ohne weiteres das Atmen einzustellen und sich ganz schwer in Matthias' Arme hängen zu lassen. Einen Wimpernschlag später legte sich Matthias' Mund auf seinen, energisch wurde Atem in seine Kehle gepresst. Angel schloss die Augen und genoss die warme Luft, die sich in seinem Körper verteilte, die brennenden Lippen, die wild entschlossen gegen seinen vermeintlichen Tod ankämpften. »Und ich hätte wirklich sterben können«, hauchte eine unsichere Stimme in seinem Kopf. »Aber ich lebe noch«, antwortete eine andere trotzig. »Wie er wohl reagiert, wenn ich ihn küsse«, träumte eine weitere sanft. »Ob er bitter schmeckt wie sein Weltschmerz oder süß wie die steife Unschuld, die ihn umgibt? Würzig wie seine exotische Ausstrahlung oder salzig wie unterdrückte Tränen?« ~~?* Matthias übte sanften Druck bis in die Fingerspitzen aus, um Angel sicher in seinen Armen zu halten. Wie ungewohnt es war, dieses warme Gewicht am Körper zu spüren. Es war lange her, dass ihn ein anderer Mensch berührt hatte und eine Ewigkeit, seit er selbst aus eigenem Entschluss einen anderen angefasst hatte. Angels weiche Lippen sandten seltsame Blitze und Punkte in die Dunkelheit vor seine aufgerissenen Augen, eine aufwühlende Erfahrung. Plötzlich durchzuckten ihn Zweifel. Was wäre, wenn die Gerüchte wahr wären? Wenn Angel tatsächlich....? Und wenn diese Berührung...? Wäre er selbst dann..?! »Unsinn!! Ich habe immer nach meinen eigenen Regeln gelebt, warum sollte ich mich darum sorgen, was andere Kleingeister empört?!« Energisch presste er einen besonders tiefen Atemzug in Angels Kehle. In just diesem Moment traf Angel eine Entscheidung, schloss seinen Mund vorsichtig und übte einen leichten, scheuen Druck auf Matthias' Lippen aus. Matthias' Lippen waren seinen gefolgt. Instinktiv, ohne die Stimmen zu Rate zu ziehen, die jede Bewegung in seinem Kopf kommentierten. Nun waren sie alle verstummt. ~~?* Angel schlug die Augen auf, obwohl es in der Dunkelheit keinen Unterschied machte. Matthias hatte ihn nicht hysterisch von sich gestoßen, ihn gebissen oder... die Initiative ergriffen. Stumm half er Angel in eine sitzende Position, zog sich dann zurück, ließ nur eine Hand auf Angels liegen. Angel zögerte, das Wort zu ergreifen. Er wusste nicht, was er sagen sollte oder konnte. Denn er war sich seiner Gefühle gegenüber dieser Situation und auch Matthias nicht sicher. Sie verharrten still, ohne sich zu rühren. Allein der gleichmäßige, unisono erfolgende Atemzug, der die abgestandene Luft bewegte, übertönte das Rauschen des eigenen Blutes in ihren Ohren. Angel empfand diese Ruhe nicht als bedrohlich oder ängstigend, im Gegenteil, sie schien etwas Kontemplatives an sich zu haben. »Vielleicht ist das der Grund, warum er so oft hier ist, warum er mich beinahe erwürgt hätte... weil er diese Stille braucht. Ist das der Antrieb, der ihn so ekelhaft und ungesellig werden lässt? Kann er nur in der Einsamkeit er selbst sein? Wer... wer bist du?« ~~?* Matthias lauschte in das Schweigen hinein. Ein fremdes Schweigen, denn er teilte es. Die Waschmaschine hatte längst ihren Lauf beendet, aber niemand machte Anstalten, sie zu leeren. Üblicherweise vergaß er sich selbst in der Finsternis, löste sich aus der Enge seines Körpers, wurde eine konturenlose Form im endlosen Raum. Aber durch diese Hand, die unter seiner eigenen lag, konnte er sich nicht völlig entfliehen. Er war verbunden. »Mit dem Jungen, der mich küsste. Zum ersten Mal geküsst.« Es schien ihm unglaublich, beinahe phantastisch, dass ein anderes Wesen den Wunsch verspüren konnte, ihn auf so eine intime, persönliche Weise berühren zu wollen. »Dabei war ich im Begriff, ihn umzubringen. Wie kann er mich da küssen?! Müsste er nicht hassen, um sich schlagen? Was bin ich für dich? Was siehst du in mir, das stark genug ist, einen versuchten Totschlag zu verzeihen? Ich weiß... ich bin sicher, dass ich nicht liebenswert bin.« Matthias suchte in der Dunkelheit die hypnotisierenden Katzenaugen. »Äußerliche Schönheit lässt mich kalt. Begabung lässt mich kalt, fanatische Überzeugung ebenso. Übertriebener Gemeinsinn, Frömmigkeit ekeln mich an. Das Einzige, was mich berühren kann, ist ein ebenso finsterer, eisiger Intellekt. Aber du... Du bist nicht so. Warum... Warum habe ich mich bei dir vergessen? Meine Kälte, meine Disziplin, meine arrogante Verachtung? Du gehst mir unter die Haut.« ~~?* by myself by Linkin Park what do I do to ignore them behind me? do I follow my instincts blindly? do I hide my pride from these bad dreams and give in to sad thoughts that are maddening? do I sit here and try to stand it? or do I try to catch them red-handed? do I trust some and get fooled by phoniness or do I trust nobody and live in loneliness? because I can't hold on when I'm stretched so thin I make the right moves but I'm lost within I put on my daily facade but then I just end up getting hurt again by myself (myself) I ask why, but in my mind I find I can't rely on myself I can't hold on (to what I want when I'm stretched so thin) it's all too much to take in I can't hold on (to anything watching everything spin) with thoughts of failure sinking in if I turn my back I'm defenseless and to go blindly seems senseless if I hide my pride and let it all go on then they'll take from me till everything is gone if I let them go I'll be outdone but if I try to catch them I'll be outrun if I'm killed by the questions like a cancer then I'll be buried in the silence of the answer (by myself) how do you think I've lost so much I'm so afraid I'm out of touch how do you expect I will know what to do when all I know is what you tell me to don't you know I can't tell you how to make it go no matter what I do, how hard I try I can't seem to convince myself why I'm stuck on the outside ~~?* Tatsächlich erfüllte sich Matthias' Prognose: der Hausmeister bemerkte bei seinem Kontrollgang den Stuhl unter der Klinke der Feuertür, schüttelte resigniert den Kopf und entließ sie in die Freiheit. Es interessierte ihn nicht, was diese beiden in der Dunkelheit getan hatten oder warum man sie eingesperrt hatte. Über den Zustand des Mitgefühls war er längst hinaus. In schweigender Übereinkunft trug Matthias die Tüte mit der Wäsche, während Angel sein übergroßes Hemd am Kragen zusammenhielt, um die verräterischen Spuren zu verdecken. Es war schon still im Haus. Das Abendessen lange vorbei und so begegnete ihnen auch niemand mehr im Treppenhaus. Als Angel in seinen Hot Pants nach den Schlüssel kramte, ein nicht ganz einfaches Unterfangen, schnüffelte Matthias neben ihm misstrauisch. Ohne ein Wort zu verlieren, stellte er die Plastiktüte ab und schob Angel von der Tür weg, nahm ihm den Schlüssel aus der Hand. Angel warf ihm einen alarmierten Blick zu, schien das Schloss doch unversehrt, die Tür unberührt. Matthias drehte vorsichtig den Schlüssel im Schloss, so leichtgängig wie immer. Dann versetzte er der Tür einen Stoß. Sie öffnete sich in ihr Zimmer hinein. Der Fußboden war mit einer schmierigen Schicht überzogen, die einen üblen Gestank absonderte. Angel ging in die Hocke, um sie in Augenschein zu nehmen, als Matthias ihn energisch am Arm packte und zurückzog. Auf Angels indignierten Blick reagierte er gar nicht, stieg über die Flecken hinweg und öffnete eilig die Fenster. "Was ist das?!", forschte Angel mit hochgezogenen Augenbrauen bei Matthias nach. "Vermutlich Schwefelsäure und Sahne. Sie haben es in eine Tüte gepackt, die Öffnung unter der Tür durch geschoben und dann drauf getreten. Raketenabschuss." Eine lakonische Handbewegung kommentierte den Ablauf. Angel betrachtete angewidert den Fußboden. "Wie hast du das so schnell erkannt?" Matthias verstreute Toilettenpapier auf dem schmierigen Belag, das sich rasch vollsaugte, wiederholte dies so oft, bis der Boden wieder fleckenfrei schien. Die Überreste beförderte er mit eine Schere zangengleich in eine Plastiktüte, die er zusammenrollte und dann aus dem Fenster hing, eine Schnur um ein Heizungsrohr schlingend. "Ich werf es morgen Früh weg." Angel beäugte misstrauisch und eingehend den Fußboden, aber er konnte keine Rückstände erkennen. "Du hast mir noch nicht geantwortet", erinnerte er beiläufig. Auf Matthias' Stirn zeichneten sich Falten des Unwillens ab, dann gab er sich einen Ruck. "Stinkt wie faule Eier." Angel rieb sich gedankenverlorenen den wunden Hals. "Ich habe noch nie faule Eier gerochen." Aber Matthias hatte sein Mitteilungsbedürfnis für diesen Tag wohl erschöpft, denn er verschwand wortlos in ihrem Badezimmer. Angel seufzte und plumpste auf sein Bett. Eigentlich sollte er nun die Wäsche bügeln, zusammenlegen und wegräumen, aber er fühlte sich völlig erschlagen. Er blinzelte Franks Porträt müde zu, ließ die Finger langsam über seinen Hals gleiten hinunter in den Ausschnitt seines Hemds. Knöpfte es langsam auf und schloss die Augen. ~~?* Matthias räkelte sich verstohlen, dann verließ er das Badezimmer, seinen Pyjama glatt streichend. Im Zwielicht sah er Angel ausgestreckt auf seinem Bett liegen, den Kopf auf die Seite gelegt, die weißblonden Haare auf dem Kissen aufgefächert. Er verharrte regungslos und beobachtete, wie sich Angels nackter Brustkorb langsam hob und senkte, die schlanke Hand auf dem nackten Bauch zerbrechlich zart wirkte. »Dornröschen«, lächelte er im Schutz der Einsamkeit, packte dann lautlos die Plastiktüte aus und sortierte rasch die Wäschestücke. »Aber bügeln tue ich nicht!!« Angel stöhnte leise im Halbschlaf, was Matthias dazu veranlasste, das Nachtlicht anzuknipsen und seine geliebte Finsternis zu vertreiben. »Ob er sich wirklich vor der Dunkelheit fürchtet? Oder war das alles Show?« Matthias sah Angel an, versuchte, seinen schlafenden Leib mit Röntgenaugen zu durchdringen. »Was willst du von mir? Sollte ich dir trauen? Ist das vielleicht nur ein Spiel? Wem soll ich glauben? Soll ich glauben?« ~~?* Angel erwachte mit einem so rauen Gefühl in seiner Kehle, dass er meinte, ersticken zu müssen. Noch im Halbschlaf kam er torkelnd auf die Beine, schleuderte eine Decke ab, die er ganz sicher nicht um sich gewickelt hatte und schwankte hastig in das Badezimmer. In seinem Kopf geisterten noch immer albtraumhafte Bilder und gespenstische Eindrücke herum, die ihn zu erdrosseln suchten. Eilig füllte er ein Glas mit Leitungswasser und stürzte es hinunter. Das verbesserte seine Lage nur unwesentlich, das Schlucken schmerzte heftig. Ungeduldig wischte er sich den Schlaf aus den Augen und warf seinem Spiegelbild einen finsteren Blick zu. Der in ein erschrockenes Stöhnen überging. Auf seinem Hals zeichneten sich deutlich blau-schwarz Matthias' Finger ab. Besonders die Daumen, die sich über seinem Kehlkopf gekreuzt hatten, waren nicht zu übersehen. Kein Wunder, dass er sich so schrecklich fühlte!! Plötzlich nahm er eine Bewegung hinter sich wahr, drehte gedankenlos den Kopf und zuckte zusammen. Matthias stand im Türrahmen, seine maskenhafte Miene eingefroren. Nur die Stahlaugen schimmerten unheimlich. Er schob sich an Angel vorbei, suchte in seinem Kulturbeutel und beförderte eine Tube mit klarem Gel ans Licht. Dann bedeutete er Angel schweigend, sich auf den Toilettendeckel zu setzen und den Kopf leicht in den Nacken zu legen. Matthias verteilte das Gel auf seinen Fingerspitzen, visierte Angel funkelnd an, eine unmissverständliche Warnung. Angel befleißigte sich des geforderten Ernstes. So früh am Morgen war ihm auch nicht nach frivolen Scherzen zumute. Matthias' Finger tanzten leicht über seine Haut, dann, als hätten sie Mut gefasst, verstärkte sich der Druck der Berührung zu einer sanften Massage. Angel unterdrückte ein gutturales Stöhnen. Matthias erwies sich als unerwartet einfühlsam, es schmerzte nicht stärker, als es ohnehin tat. Matthias wusch sich die Finger ab, dann sah er Angel auffordernd an. Angel griente halbherzig, trollte sich wieder in ihr Zimmer. Ein Blick auf die Uhr erschütterte ihn erneut. Eigentlich konnte er sich nun noch einmal umdrehen und einschlummern, aber seine Kehle war so ausgedörrt, dass an erholsamen Schlaf nicht mehr zu denken war. Plötzlich breitete sich ein breites Grinsen über seinem gezeichneten Gesicht aus. Rasch stieg er aus der Wäsche des Vortags, warf sich einen Bademantel über. »Na, komm du erst mal aus dem Bad!!« ~~?* Matthias sprang geübt die Stufen hinunter, elastisch wie ein Gummiball. Seine Gedanken jedoch schweiften zu einem ganz anderen Ort ab. Was hatten der Bademantel und das mutwillige Grinsen zu bedeuten gehabt?! Eine vage Unruhe wirbelte seinen Magen auf. »Er wird mich sicher melden. Wie praktisch, dass ich nicht ausgepackt habe! Ob sie mich wirklich in die Psychiatrie stecken?« ~~?* Angel streifte ein Sweatshirt in Smaragdgrün über, hüllte seine Beine in eine schwarze Jogginghose und kramte einfache Turnschuhe heraus. Sein Grinsen hatte nun etwas entschieden Diabolisches an sich. »Wenn ich deinetwegen nicht schlafen kann, sorge ich dafür, dass du heute Morgen auch keinen Lenz schieben kannst!!« ~~?* Matthias vertiefte sich in den ersten Durchlauf, sehr langsame Bewegungsabfolgen, um die Körperkontrolle und seinen Atem zu beherrschen. Als Angel hereinschwebte, traute er für einen Wimpernschlag seinen Augen nicht. Aber Angel lächelte ihm feixend zu und nahm auf dem Boden Platz, studierte Matthias' Übungen genau. »Ich seh dich gar nicht!!« Und zur Bekräftigung schloss Matthias die Augen fest und strebte danach, diese Dimension zu verlassen. ~~?* Auch wenn sich Matthias in Zeitlupe bewegte, so erkannte Angel recht schnell, dass diese Übungen nur dem Anschein nach simpel waren. Er stellte sich in Sicherheitsabstand hinter Matthias und versuchte, seinem dämonischen Tanz zu folgen. Erstaunt bemerkte Angel, dass ihn die Konzentration auf seinen Körper und Matthias zur Ruhe brachte, seine Schmerzen ausblendete. Während er noch eine Schrittfolge mit gesenktem Blick prüfte, streifte ein Luftzug seine offenen Haare. Ruckartig warf er den Kopf hoch, was sich mit einem lauten Knacken und einem Schmerzensschrei rächte. Matthias stand direkt vor ihm, den Kopf leicht geneigt, als studiere er ein seltenes Insekt. Angel rieb sich verlegenen Blicks den Nacken. Im Verlauf der letzten Minuten hatte sich seine Frechheit verabschiedet. Matthias schob seine Hände um Angels Hals, was dieser völlig perplex ohne Gegenwehr geschehen ließ. Angels Herzschlag setzte aus, als er zu atmen vergaß, unsicher, was ihm nun drohte. Aber Matthias' Augen brannten warm, während seine sehnigen Hände Angels Hals mit einer Gluthitze umschmeichelten. »Er... er will mir helfen!!«, stotterte Angels Verstand ungläubig. »Fürchtet er sich denn nicht mehr, mich zu berühren?!« Matthias zog seine Hände zurück und nahm wieder die Grundstellung ein. Er nickte Angel kaum merklich zu, begann dann eine erneute Abfolge. Und Angel hielt wacker mit, auch wenn ihn die Leichtigkeit und Präzision, mit der sich Matthias bewegte, einschüchterte. »Er ist der physischste Mensch, den ich je kennengelernt habe! Wie der äußere Eindruck täuschen kann.« Schließlich sackte Angel erschöpft in die Knie und sandte ein entschuldigendes Lächeln zu Matthias. Dessen Mundwinkel zuckten in einem scheuen Grinsen, dann streifte er das Oberteil seines Kampfanzugs ab, enthüllte sehnige Muskelpartien und glatte, warme Haut. In seine graublauen Augen trat ein Ausdruck tiefen Ernstes, dann begann er einen rasanten Durchlauf, lieferte sich einen tödlichen Kampf mit unsichtbaren Gegnern. Seine Hände wurden zu Stahlklingen, schnell wie Blitze, mit höchster Präzision und dabei bis in die Fingerspitzen mit Kraft durchdrungen. Angel verfolgte gebannt die mörderische Anmut, mit der Matthias sich in diesen Wirbel hineinsteigerte, beschleunigend und getrieben von einer unsichtbaren Macht. »Welcher Teufel sitzt in deinem Nacken?« ~~?* Gemeinsam traten sie den Rückweg zu ihrem Zimmer an, ohne ein Wort gewechselt zu haben. Angel lächelte versonnen vor sich hin, legte einen Frühstart hin, um als Erster in den Genuss einer erfrischenden Dusche zu kommen. Mit nassen Haaren und einem um die schmalen Hüften geschlungenen Handtuch tänzelte er dann schmunzelnd in ihr Zimmer. Matthias hatte sich auf seinen Schreibtisch im Lotussitz niedergelassen und studierte bewegungslos Angels Schachbuch. Kaum merklich bildete sich eine steile Falte zwischen seinen schwarzen, fein gestrichenen Augenbrauen, indizierte die Konzentration, die ihr Besitzer anwandte, um dem Inhalt zu folgen. Angel kicherte hinter vorgehaltener Hand, was ihm einen flammenden Blick einbrachte. "Das Bad ist frei. Denkst du, ich sollte sie flechten?" Matthias kniff die Augen zusammen, als Angel seine nassen Haare wild herum schleuderte. Dann zuckte er mit den Achseln, sammelte seine Uniform ein, entschlossen, seine Dusche nun zu nehmen. "Du könntest mir wohl nicht helfen?" Angels Katzenaugen funkelten, aber seine Miene blieb undurchdringlich. Er wollte nicht Matthias' Misstrauen hervorrufen. Matthias musterte ihn schweigend, drehte ihn dann grob um, kämmte mit den bloßen Fingern durch Angels weißblonde Haare, zwirbelte sie am Nacken zusammen, um dann geschickt einzelne Strähnen miteinander zu verflechten. "Gummi!" Angel ruderte übertrieben eifrig nach seinem Schreibtisch, worauf Matthias seinem Vorwärtsdrang leicht nachgab. Angel fischte den Gummi aus der Unordnung auf seinem Tisch und reichte ihn hinter sich. Matthias murmelte heiser "fertig", dann verschwand er hinter der Badezimmertür, noch bevor Angel seinen Dank aussprechen konnte. Angel grinste, strich sich vorsichtig über den kurzen Zopf, der so exakt und akkurat geflochten war, wie er erwartet hatte. Dann kleidete er sich für den Tag an. ~~?* Angel vertiefte sich gerade schwermütig in Betrachtungen von Plinius, wälzte den Stowasser, um den lateinischen Texten wenigstens ein Mindestmaß an Verständnis zu erweisen. »Ich hasse Latein!!« Es klopfte an seiner Tür. "Ja?" Urs streckte schüchtern den Kopf um die Ecke. "Hi!" "Hi! Komm doch rein!!" Angel sprang auf, erfreut, die mühsame Lektüre auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschieben zu können. Urs schob seine kräftige Gestalt in den Raum, ließ sich dann von Angel auf sein Bett manövrieren. "Hey, das ist toll, dass du kommst!! Hast mich vor Plinius gerettet!!" In Urs' eisblauen Augen blinzelte Verwirrung, unsicher fuhr er sich durch die sandfarbenen Haare. Angel grinste und stieß Urs spielerisch in die Seite. "So ein oller Römer, aber frag mich bloß nicht, was der Knabe wollte, ich versteh nämlich kein Wort!" Dann kicherte er ausgelassen, um in einem Hustenanfall zu enden. "Ist dir nicht gut?" Urs helle Stimme drückte unverhohlene Besorgnis aus, während er sanft auf Angels Rücken klopfte. Angel wischte sich Tränen aus den Augen und schüttelte den Kopf. "Halsweh?" Urs' Kinn wies auf das grüne Halstuch, das Angels Hals traulich umschlang. Mit der stillen Aufmerksamkeit, die Angel bereits kennengelernt hatte, stand er auf und füllte im Badezimmer ein Glas mit Wasser. Angel nahm es dankbar entgegen, schluckte langsam. "Besser?" "Ja, danke!", krächzte Angel mit belegter Stimme, verzog das Gesicht angesichts des harschen Klangs. "Was ist passiert?" Angel warf Urs einen beeindruckten Blick zu. Das Teddybärengesicht täuschte zu leicht darüber hinweg, dass ein aufmerksamer und mitfühlender Geist in diesem gewaltigen Körper hauste. Langsam entknotete er das Halstuch und ließ es heruntersinken. In Urs' Gesicht zeichneten sich Erschrecken und Schmerz ab, die eisblauen Augen beschlugen. "Wer...?!" Angel verband seinen Hals wieder, strich sich über seinen Zopf. "Das ist eine lange Geschichte und ich glaube, ich kenne viele Teile davon selbst noch nicht." Dann hellte sich seine Miene wieder auf und er zwinkerte Urs zu. "Was hältst du von einem kleinen Spaziergang, wo das Wetter heute so gut ist?!" Urs' Augenbrauen beschrieben einen Bogen, als er erst Angel ansah und dann aus dem Fenster, wo sich Wolken über den trostlosen Himmel jagten. Ein nachsichtiges Lächeln verlieh ihm das Aussehen eines zufriedenen Grizzlys. "Es ist dein Fell, das nass werden wird!" Angel griente breit und zog Urs mit beiden Händen auf die Füße. Nur Minuten später promenierten sie durch den Park, sogen tief die frische Luft ein, die von würzigem Herbst kündete. "War es dieser Terminator, von dem du erzählt hast?" "Nein. Es war mein Mitbewohner Matthias." Urs warf Angel einen nachdenklichen Blick zu. "Du verstehst es wohl wirklich, dir Freunde zu machen, was?", wagte er einen Scherz. Angel grinste, so hatte er das Ganze noch nicht betrachtet. "Was wirst du jetzt tun?" "Du meinst, wegen Matthias?" Angel grübelte einen Moment, konzentrierte seinen Blick auf den Weg. "Ich denke, ich will seine Freundschaft gewinnen", verkündete er seinen Entschluss. Urs blieb stehen und betrachtete Angel irritiert. "Nun ja, ich kann verstehen, dass es ungefährlicher ist, jemanden mit so einem Händedruck als Freund zu haben, aber...", brach er ab, als er Angels wildes Grinsen bemerkte. "Was... was ist?" Angel lachte vergnügt, "ich habe bis jetzt nicht gewusst, was für einen schwarzen Humor du hast!! Ich könnte dich knuddeln dafür, dass du mich so zum Lachen bringst!!" Urs grinste verschämt zurück und breitete die muskulösen Arme einladend aus. Und Angel sprang mit Anlauf hoch und umarmte seinen großen Freund fest. "Danke, das hat mir echt gefehlt!!", kicherte er in Urs' Ohr und ließ sich kräftig streicheln. "Gern geschehen!", piepste Urs zurück, die eisblauen Augen glitzerten übermütig. Dann setzte er Angel wieder artig auf den Boden ab. "Erzähl mir doch ein bisschen darüber, was seit unserem letzten Treffen geschehen ist!" Angel verschränkte die Hände auf dem Rücken und flanierte langsam weiter. "Seit dem letzten Mal? Inzwischen ist so eine Art verdeckter Krieg ausgebrochen." Urs' erschrockene Miene forderte ihn zu weiteren Erläuterungen auf. "Ich denke, es ist noch immer Ronnie, der dahintersteckt, auch wenn ich nicht weiß, warum oder es beweisen kann. Es ist nur so ein Gefühl." Nachdenklich schob er die Hände in die Hosentaschen, während seine Katzenaugen in die Ferne schweiften. "Es fing mit der Volleyball-Mannschaft an, dann hingen Bilder, die Monika von mir gemacht hatte, am Schwarzen Brett. Meine Klassenkameraden halten zu mir, aber wer weiß, wie lange noch? Sie werden eingeschüchtert, ausgeschlossen und das alles nur wegen mir! Das kommt ganz offen rüber, wenn sie sich von mir abwenden, hört der ganze Spuk sofort auf." Er warf Urs einen bitteren Blick zu. "Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wie soll ich ihnen ihre Treue vergelten? Soll ich mich opfern? Soll ich mich hinter ihnen verstecken? Es wäre einfacher, wenn es ein offener Schlagabtausch wäre." Frustriert kickte er einen Kiesel zwischen die Bäume. "Gestern haben sie mich erst im Wäschekeller mit Matthias eingesperrt, dann haben sie eine schmierige Stinkbombe in unser Zimmer gespritzt." Urs' verwirrter Blick verlangte mehr Details zum besseren Verständnis. Also erklärte Angel die vermutete Bauweise der Stinkbombe. Seine Laune sank auf einen Tiefpunkt. "Und die Sache mit Matthias? Gehört er zu ihnen?" Angel rieb sich nachdenklich über das Halstuch. "Nein. Nein, ich glaube nicht. Immerhin hat er mir gegen den Terminator geholfen. Ich denke, Matthias gehört nirgendwo hin, und das ist genau das, was er will." "Wieso hat er...?!" Angel zog eine schmerzliche Grimasse. "Normalerweise ist er stumm wie ein Fisch und etwa so lebendig wie ein Stein. Aber manchmal... als es mir mal nicht so gut ging, da hatten wir einen heftigen Streit. Ich war danach total am Boden!" Ein schrilles Kichern spiegelte Angels Erinnerung wider, aber er gewann sofort die Kontrolle über sich. "Seitdem bin ich ihm aus dem Weg gegangen. Und gestern in dem Keller... es war stockfinster und ich hatte Angst. Und er hockte auch da, genauso angespannt, ein Wort ergab das nächste... Um ehrlich zu sein, ich wollte ihn zum Ausrasten bringen, um mich abzureagieren. Dass er so wütend wurde...", Angel verstummte versonnen. "Er hätte dich umbringen können!!" Urs' helle Stimme vibrierte vor Empörung und Schreck. Angels Mund zeigte ein schiefes Grinsen. "Ja, das hätte er beinahe. Aber du wirst nicht glauben, was passiert ist!" Urs bremste an einer Parkbank, sackte auf den wettergeprüften Kunststoff und winkte Angel scheu zu sich heran, während seine eisblauen Augen gespannt auf die Fortsetzung warteten. Angel ließ sich Zeit, machte es sich erst posierend bequem, ein sardonisches Lächeln auf seinem attraktiven Gesicht. "Willst du's wissen?", reizte er Urs, der heftig und ungeduldig nickte. Angel fletschte die Zähne. "Er hat mir eine Mund-zu-Mund-Beatmung verpasst! Ausgerechnet Matthias, der sich immer von allen fernhält!" In Angels Augen tanzten teuflische Funken, während er die Arme hinter dem Nacken kreuzte. "Und ich habe ihn geküsst." Urs' Kinnlade fiel herunter, während seine Augen beinahe aus dem Kopf sprangen. Angel grinste breit, der erhoffte Effekt war wunschgemäß eingetreten. "Angel!" In Urs' Stimme lagen sowohl Tadel wie auch atemlose Bewunderung. Er schüttelte nachsichtig den Kopf, schwieg dann vor sich hin. "Magst du ihn denn?", durchbrach er die einträchtige innere Einkehr. Angel blinzelte und kehrte eilig in die Realität zurück. "Meinst du, weil ich ihn geküsst habe?" Urs' Blick forschte in den grünen Katzenaugen. "Ich bin nicht sicher... ich kenne ihn eigentlich gar nicht...", Angel verstummte verwirrt. "Aber...aber ich denke, dass wir uns gut verstehen könnten." »Denn ich habe den Eindruck, er ist genauso verkorkst wie ich«, fügte er in Gedanken hinzu. "Was willst du wegen Ronnie unternehmen?", wechselte Urs rasch das Thema. Angel seufzte leise. "Wenn ich das wüsste! Er hat sich allein mit den Bildern so viel Mühe gegeben, dass ich überzeugt bin, er will Blut sehen. Dass ich zum Direktor musste, hat ihm nicht gereicht, sonst hätte er ja aufgehört." "Wie bist du da raus gekommen? Und... und was für Bilder sind das eigentlich?" Angel legte beruhigend eine Hand auf Urs' Hände, die sich wieder unablässig kneteten. "Erinnerst du dich an das Bild über meinem Bett? Mit Frankie und mir? Monika macht diese Bilder. Und von mir gibt es eine ganze Menge, für Magazine und so weiter. Ronnie hat die rausgepickt, auf denen ich mehr oder weniger unbekleidet bin... oder in verführerischen Posen." Angel zwinkerte Urs anzüglich zu und sonnte sich in der aufsteigenden Röte in dessen unschuldig wirkendem Gesicht. "Der Direx rief gleich bei meiner alten Schule an, um die Hintergründe zu erfahren, etwa, ob Monika meine Geliebte sei und so was. Glücklicherweise war Karlsson an der Strippe, der hat mich rausgepaukt!" Angel wurde ernst, sein Gesicht versteinerte sichtbar. "Beinahe wäre sie auch noch in diese Scheiße reingezogen worden. Dann hätte ich diesem Drecksack aber den Hals umgedreht, Beweise hin oder her!!" Grimmig ballte er die Fäuste und presste die Lippen fest aufeinander. "Ich bin nochmal mit einem blauen Auge davongekommen. Aber jetzt stehe ich natürlich auf der schwarzen Liste des Direx. Verdammt, wenn ich nur wüsste...!!" Mit Beherrschung wischte er die nutzlosen Spekulationen, die sich in seinem Kopf überschlugen, beiseite. "Lass uns über was anderes sprechen! Wie geht es deiner Familie?" Urs strahlte, entknotete seine Finger. "Mein Vater ist auf dem Weg der Besserung, wie der Therapeut sagt. Na ja und mein Onkel hat mir vorgeschlagen, dass er mir den Führerschein finanziert, damit ich richtig ins Geschäft einsteigen kann. 'Investition in die Zukunft' nennt er es!" Urs griente stolz, zur Abwechslung verharrten seine Hände still. "Dabei bin ich noch Azubi!" Angel lächelte und tätschelte Urs' mächtige Schultern gratulierend. "Hey, das ist doch toll! Du wirst es ganz bestimmt packen!" Urs' Lächeln teilte sein Gesicht in zwei Hälften, so breit strahlte er. "Ich bin schon ganz aufgeregt, ich will mich morgen anmelden bei der Fahrschule", vertraute er Angel mit glühenden Wangen an. Angel griente aufmunternd, "wird schon!" Dann erhob er sich und zog Urs hinter sich her. Langsam wurde es ihm auf der Bank doch zu kühl. "Sag mal, Urs, wolltest du eigentlich mal etwas anderes tun als Schreiner?" Urs versteckte seine Hände in den Taschen seines Blousons und lächelte still. "Du meinst, wenn ich nicht in das Familienunternehmen einsteigen müsste? Nein, ich habe nie einen anderen Beruf in Erwägung gezogen. Ich bin unter einer Werkbank aufgewachsen, habe mit Holzwolle gespielt, Schrauben sortiert... das prägt einfach zu sehr." Verschmitzt zwinkerte er Angel zu. "Und was ist mit dir? Was willst du machen?" Angel zuckte nachdenklich mit den Schultern. "Keine Ahnung. Irgendwas studieren." Urs spürte instinktiv, dass er ein heikles Thema erwischt hatte. "Was macht denn dein Vater?" Angels Gesicht verschloss sich zu einer finsteren Maske. "Er hat eine Kanzlei. Anwalt." "Und das ist wohl nicht so dein Ding, oder?", forschte Urs behutsam weiter. Angel grimassierte gequält. "Ich werde niemals das machen, was er tut! Nie!" Urs zuckte unter Angels bitteren Worten zusammen, enthielten sie doch sehr viel mehr als eine Ablehnung eines Berufsstandes. Angel bemerkte, dass er Urs völlig aus dem Konzept gebracht und verunsichert hatte. Er zwang sich zu einem entschuldigenden Grinsen, das vor Zähnen starrte. "Tschuldige. Nein, ich denke, ich werde mich vielleicht an etwas Mathematischem versuchen...keine Ahnung, vielleicht Ingenieur?" Dann warf er sich in Pose, ließ ein 100-Watt-Herzensbrecher-Lächeln aufblitzen. "Obwohl ich natürlich ein geborener Coverboy bin!!" Urs grinste breit und applaudierte eifrig. Dann stapften sie kichernd nebeneinander her, ignorierten den Nieselregen, der sie benetzte. Angel hustete. Seine Kehle war noch zu wund, um sich ungestraft so lange benutzen zu lassen. Dennoch gab es etwas, das er mit Urs besprechen wollte. "Urs, sag mal... denkst du, dass mit dem Tod alles vorbei ist? Vergessen und verloren?" Urs warf Angel einen überraschten Blick zu, aber seine eisblauen Augen versprachen, sich weder zu wundern, noch diese Frage abzuwehren. Nach einigen Minuten der stillen Überlegung antwortete er. "Ich glaube nicht, dass der Tod das Ende bedeutet. Ich denke, es geht irgendwie weiter, aber so, dass wir uns das jetzt einfach nicht vorstellen können. Und vergessen und verloren ist auch nichts." Er nahm sanft Angels Handgelenk und lenkte ihre Schritte zu einer mächtigen Eiche. "Schau mal, der Baum hier ist bestimmt über hundert Jahre alt. Und wenn man seinen Stamm ansieht, dann zeigt er mit den Jahresringen genau, was er alles erlebt hat. Und wenn er verrottet, dann geht er wieder in den Kreislauf der Natur ein. Wieder wird eine Eiche entstehen. Wie kann da etwas vergessen sein?" Angels Augen folgten den zärtlichen Linien, die Urs' Finger entlang der Maserung zog, die Borke liebkosend und in Gedanken versunken. "Man kann Geschichte spüren." Er drehte den Kopf zu Angel herum und lächelte leise. "Und Liebe. Sie vergeht nie. Das glaube ich." Angel lächelte sanft zurück, dann umarmte er Urs fest. "Danke, du großer Bär!", raunte er in Urs' Nacken. Urs lachte leise, aber die Vibrationen erfüllten seinen ganzen Körper. "Gern geschehen, du kleiner Engel!" ~~?* Angel lud Urs noch zu einer Tasse heißen Kakaos ein, da sich das Regenwetter offenkundig einzunisten beschlossen hatte. Gerade als sie das Foyer erreichten, klingelte es schüchtern aus Urs' Blouson. Entschuldigend fischte er ein Handy heraus, das viel zu winzig für seine großen Hände erschien. "Ja, bitte?" "Wie?!" "Ich komme sofort!" Angel konnte an Urs' Mienenspiel ablesen, dass der Anruf keinen erfreulichen Inhalt gehabt hatte. "Was ist passiert?", erkundigte er sich besorgt. Urs verstaute das winzige Telefon angespannt. Seine eisblauen Augen waren dunkel vor Kummer. "Mein Onkel. Er sagt, mein Vater hat gerade versucht, sich aus dem Fenster zu stürzen. Ich muss nach Hause." Angel zog Urs bestürzt an sich, umarmte ihn tröstend. "Es tut mir leid!" Urs drückte Angel kurz fest, dann schob er ihn sanft von sich. "Danke. Ich melde mich wieder bei dir, aber es kann vielleicht etwas dauern." In diesem Moment war der Teddybär aus Urs' Gesicht verschwunden. Er wirkte sehr viele Jahre älter und reifer. Angel nickte beklommen, streifte Urs' Hände sanft zum Abschied. "Pass auf dich auf, ja?!" Urs winkte leicht, schenkte Angel ein ernstes Lächeln. "Und du auf dich!" Dann verschwand er hinter einer dichten Regenwand. Schlagartig schien die Luft ihre Wärme verloren zu haben. Angel zog fröstelnd die Schultern zusammen und starrte in die Finsternis. ~~?* Kapitel 7 Angel betrat emotional erschöpft ihr Zimmer, wunderte sich nur beiläufig darüber, dass die Tür nicht verschlossen war. Dafür stach ihm gleich der Gestank von Zigaretten in die Nase, durchmischt von einem anderen Geruch, den er nicht deuten konnte. Matthias, der nahezu unbekleidet am Fenster gestanden hatte, fuhr blitzartig herum. Seine Stahlaugen spießten Angel förmlich auf. Aber Angel war zu entsetzt von dem, was er sah, um Matthias' Blick zur Kenntnis zu nehmen: auf Matthias' Unterleib, direkt über dem Slip, zeichneten sich rund um den Bauchnabel wie eine Korona Brandnarben ab. Eine besonders große Narbe war frisch eingebrannt, das Fleisch wellte sich an den Wundrändern. Angel würgte erstickend, als er nun den Geruch einzuordnen wusste, der ihn empfangen hatte. Er torkelte ein paar Schritte zurück, suchte blindlings Halt an einem Schrank. "Was... was?!! Warum...?!" Matthias' Augen verengten sich zu Schlitzen, während er demonstrativ die Kippe in einem Aschenbecher ausdrückte. Ohne Angel weitere Beachtung zu schenken, schlüpfte er in eine abgetragene Trainingshose und streifte ein altes T-Shirt über, begann dann, seine Tasche aus dem Schrank zu räumen und neben den gepackten Koffer zu stellen. Angel ließ sich schwerfällig und kraftlos auf seinem Bett nieder, fühlte sich heillos überfordert mit den Ereignissen dieses Tages. "Warum hast du das getan?" "Nicht dein Problem!", zischte Matthias zurück. "Ist es meinetwegen? Deswegen?" Angel zerrte sich das Halstuch herunter und funkelte Matthias an, stemmte sich verzweifelt gegen die ohnmächtige Resignation, die ihn überfiel. Matthias kehrte ihm den Rücken zu, verstaute Kleinkram. "Du bist ein Feigling", flüsterte Angel matt und legte einen Arm über die Augen. Er konnte fühlen, wie Matthias zusammenzuckte. Dann erkannte er an dem Windhauch, dass dieser sich umgedreht hatte und nun neben seinem Bett stand. "Ich bin nicht feige!! Ich lass mich bloß nicht deinetwegen oder wegen irgend jemandem in die Psychiatrie verfrachten!!" Angel seufzte leise. "Ich sage nichts. Und wenn du dich nicht wie ein Trottel benehmen würdest, würde auch niemand etwas bemerken." "Pfff!! Warum sollte ich dir glauben?! Du wartest doch nur darauf, mich loszuwerden!!" Angel knurrte erschöpft und legte beide Handrücken auf seine Augen. "Das ist nicht wahr. Und es ist sehr wohl feige, vor einer Auseinandersetzung wegzulaufen." Matthias packte seine Handgelenke schmerzhaft und presste sie neben seinen Kopf in das Kopfkissen. Angel begegnete seinem bedrohlichen Blick mit Gleichmut, wehrte sich nicht. Er konnte sehen, wie Matthias' Blick zwischen seinen Augen und seinem wunden Hals hin und her wechselte, dass dessen Entschlossenheit auf sehr tönernen Füßen stand. "Ach?! Du willst also, dass ich bleibe und dir noch ein paar hübsche Souvenirs verpasse, richtig? Hast du den Brief, den du geklaut hast, denn nicht aufmerksam gelesen?! Ich bin ein richtiger Psychopath!" Angel wich den frostigen Stahlaugen nicht aus, auch wenn ihn die höhnische Stimme verseuchte. "Ich denke, du solltest dich nicht wie der Einsame Rächer aufführen! Du willst so gern ein richtig böses Monster sein, aber dazu bist du einfach zu weichherzig." "Weichherzig?!" Matthias spie das Wort förmlich aus. "Genau!", bekräftigte Angel gelassen. "Du bist wohl nicht ganz bei Trost?! Offenbar hat der Sauerstoffentzug dein Gehirn geschädigt!" Angel lächelte schmelzend, während er innerlich triumphierte. "In Wirklichkeit magst du mich nämlich sehr gern, bist aber nur zu schüchtern, um es zuzugeben!" "Blödmann!", knurrte Matthias heiser und löste sich von Angel, um im Badezimmer zu verschwinden. Angel schloss die Augen und fragte sich, ob er mit seinem Schuss ins Blaue nicht wirklich einen Volltreffer gelandet hatte. Ein Gewicht auf seiner Matratze später legten sich Matthias' Finger wieder warm auf seinen Hals, um erneut Gel in die Haut zu massieren. Angel schnurrte leicht, um seine Dankbarkeit und Erleichterung auszudrücken. Für einen Wimpernschlag meinte er, ein schüchternes Lächeln über Matthias' Gesicht irrlichtern zu sehen, aber es verschwand so schnell, dass er an seiner Wahrnehmung zweifelte. "Der Vater meines Freundes hat gerade versucht, sich umzubringen." Matthias' Hände verharrten kurz, dann arbeitete er konzentriert weiter. Angel suchte in der maskenhaften Starre seiner Gesichtszüge eine Reaktion. "Ich habe heute echt die Nase voll von Hiobsbotschaften!" Matthias schwieg weiter unbeeindruckt. "Deshalb will ich nicht, dass du gehst oder dich verstümmelst!" "Sag mir nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe!!" Matthias' Griff um Angels Hals verstärkte sich sofort. Angel lächelte ihn träge mit halb gesenkten Lidern an, kämpfte gleichzeitig seine Panik nieder. »Ich weiß, er wird mir nicht noch einmal weh tun! Ich bin sicher, er wird mir nichts tun!!« Er strengte sich trotzdem an, so ruhig und wehrlos wie möglich zu erscheinen. "Warum brennst du dir Narben ein?" Matthias fauchte zähnefletschend und stand abrupt auf, um sich im Badezimmer die Hände zu waschen. Angel verschränkte die Arme unter seinem Kopf und atmete tief durch. "Wofür waren die anderen Narben?" "Halt endlich die Klappe!!" "Nur, wenn du nicht feige davon läufst! Nur Mädchen flüchten ins Badezimmer!", provozierte er weiter. Matthias schien aus dem Boden zu schießen, so schnell stand er wieder vor Angel. Die Hände zuckten. "Denk nicht, dass ich mir das gefallen lasse! Egal, was für eine Show du abziehst!" Angel war nicht bereit klein beizugeben. Dieses Mal entschied er über die Zukunft ihrer Beziehung. "Warum tust du das?" "Ich mag eben Tattoos! Auch wenn meines natürlich nicht mit deinem mithalten kann, Coverboy!!", erwiderte Matthias schnippisch. "Lügner!" "Als wenn du mir sagen würdest, warum du ein Tattoo hast!! Denn es ist ja nicht nur eine Spielerei, oder?!" Die Stahlaugen lauerten bösartig auf Angels Reaktion, der eilig sein Gesicht verschloss. Aber das genügte als Antwort schon. "Na also! Dann häng dich auch nicht in meine Angelegenheiten!" Angel rang einen Moment mit sich, dann drehte er sich auf die Seite. "Ich würde es dir erzählen, wenn du mir deine Geschichte erzählst!", bot er mutig an. "Ich hab genug von Geschichten!!" Matthias kramte weiter herum. Während Angel noch fiebrig nach einer passenden Entgegnung suchte, machte sich sein Handy bemerkbar. "Ja?" "Wie geht's ihm?!" "Das verstehe ich." "Sicher." "Melde dich bei mir, wenn ich helfen kann, ja?" "Gute Nacht." Angel starrte müde auf das Display, ohne es wirklich zu sehen. Umso heftiger fuhr er zusammen, als ein weiterer Anruf das Telefon zum Vibrieren brachte. "Ja?" "Monika?! Ich kann dich kaum verstehen!" "Flughafen?! Bitte?!" "Anwalt?" "Sicher." "Ich werde mich um Meemee kümmern, versprochen!" "Ich liebe dich auch, Moni!" Dann war die Verbindung unterbrochen. Angel schubste das Handy in das Chaos auf seinem Schreibtisch, um dann auf seinem Bett zusammenzusacken und blicklos ins Leere zu starren. Matthias funkelte ihn an, das Abendessen stand bevor. "Lass mir bitte das Licht an", flüsterte Angel leise und rollte sich zusammen. Er war zu erschöpft, um noch einen einzigen Schritt zu machen. ~~?* Als Matthias zurückkehrte, starrte Angel noch immer mit offenen Augen ins Leere. "Und du willst mich nicht verraten?", zerbrach er harsch die Stille. Angel blinzelte, dann fokussierte sich sein Blick mühsam auf Matthias. "Nein", flüsterte er rau und schmiegte sich tiefer in sein Kopfkissen. "Das wirst du sicher bereuen!", drohte Matthias grob. Angel lächelte schwach. "Du bist echt niedlich, wenn du versuchst, nett zu sein." Matthias knurrte etwas, stellte dann zwei Becher Joghurt neben Angels Bett, balancierte einen Löffel sorgfältig auf den Deckeln. "Gegen das Halsweh." Und floh aus ihrem Zimmer. Angel staunte müde über die ungeschickten Versuche, ihm etwas Gutes zu tun. »Manchmal streckt man die Hand aus und greift nicht ins Leere.« ~~?* a place for my head by Linkin Park I watch how the moon sits in the sky in the dark night shining with the light from the sun the sun doesn't give life to the moon assuming the moon's gonna owe it one it makes me think of how you act to me you do favors and then rapidly you just turn around and start asking me about things that you want back from me I'm sick of the tension sick of the hunger sick of you acting like I owe you this find another place to feed your greed while I find a place to rest I want be in another place I hate when you say you don't understand (you'll see it's not meant to be) I want to be in the energy, not with the enemy a place for my head maybe someday I'll be just like you and step on people like you do and run away the people I thought I knew I remember back then who you were you used to be calm used to be strong used to be generous but you should've known that you'd wear out your welcome now you see how quiet it is all alone I'm so sick of the tension sick of the hunger sick of you acting like I owe you this find another place to feed your greed while I find a place to rest you try to take the best of me go away ~~?* Als Matthias sich zur gewohnten Zeit erhob, warf er einen kontrollierenden Blick zu Angel hinüber. Der lag zusammengerollt auf der Seite, weißblonde Strähnen hatten sich aus dem Zopf gelöst und trieben lose über das bleiche Gesicht. »Selbst wenn es ihm schlecht geht, sieht er noch gut aus!«, bemerkte Matthias irritiert und fragte sich, ob das nicht ein Fluch war. Er wechselte eilig die Kleidung, verharrte einen Moment bei den gepackten Sachen und sah wieder zweifelnd zu Angel hinüber. Rieb sich gedankenverloren über die frische Wunde. Um dann ertappt die Fäuste zu ballen und mit der üblichen erstarrten Maske das Zimmer zu verlassen. ~~?* Eine Hand drückte behutsam die Klinke herunter. Dann schob sich ein geschmeidiger Körper lautlos in das dämmrige Zimmer. Betrachtete das Stillleben aus Nachtlicht und dahingestrecktem Jungen. Grinste über die unberührten Joghurts. Um sich dann auf leisen Sohlen heranzuschleichen und sich geschickt auf die Matratze zu knien, die Decke mit Unterarmen und Beinen festzuklemmen. Er ließ sich langsam herunter und senkte seine Lippen auf den blassen Mund. ~~?* Angel erwachte mit einem Ruck, zappelte mit aufgerissenen Augen angstvoll gegen eine erstickende Umklammerung. Erkannte dann ein freches Blitzen in Bernsteinaugen. "Morgen!" Gitano schien sich an Angels heftiger Reaktion nicht zu stören, leckte ihm mit der Zunge über die Lippen. "Hey!! Geh runter!!" "Okay!" Gitano lächelte verführerisch, rollte sich anmutig herunter, um die Decke von Angel zu ziehen und sich auf ihn zu legen. "Was...?!" "Ich hab dich vermisst..." Gitano bedeckte Angels Gesicht mit leichten Küssen, während er gleichzeitig den Zopf löste. "Offen steht dir viel besser", rügte er mit halb gesenkten Lidern. "Gitano, wirklich...!" Angel keuchte erstickt, als Gitanos Gewicht ihn herunterdrückte und sich dieser an seinem Hals herabarbeitete. "He, was ist denn das?" Gitano stutzte über den Blutergüssen, die noch immer einen scharfen Kontrast zu der hellen Haut bildeten. Angel drehte wütend den Kopf zur Seite und versuchte, Gitano von sich zu schieben. "Ich hab keine Lust auf deine Annäherungsversuche, klar?!" "Das ist aber schade", Gitano kicherte unbeeindruckt. Seine Zunge fuhr Spiralen über Angels malträtierten Hals, während seine Hände an Angels Seiten herunterwanderten und in seine Jogginghose glitten. Angel zuckte zusammen und stieß Gitano heftig weg, riss dann an seinen Haaren. "Ich meine es ernst, klar?! Runter von mir!!" Gitano knurrte enttäuscht, trollte sich aber mit einem Salto. Um dann neben Angel auf die Matratze zu sacken. "Bist wohl ein Morgenmuffel, was? Na egal!" Er angelte sich die Joghurtbecher vom Boden, zog fragend eine Augenbraue hoch. Angel machte eine abwinkende Bewegung. Wenn er je Appetit gehabt hatte, war dieser schlagartig vergangen. Gitano kippte ungeniert beide Becher hinunter, dann tänzelte er zur Tür. "Bis später, Süßer!" Angel knurrte und kicherte dann boshaft, als Gitano genau in Matthias hineinlief und gegen ihn prallte. Matthias' stählerner Blick sezierte Gitano, was dessen Abgang beschleunigte. Dann nahm Matthias Angel ins Visier, der sich abwandte und müde den Nacken rieb. "Wenn du mit jemandem hier rummachst, sag mir vorher Bescheid, klar?!" Angel rollte sich zusammen und zog wieder die Decke um sich. "Ich will nicht mit ihm rummachen. Warum hast du nicht abgeschlossen? Im Schlaf bin ich wehrlos." Matthias zögerte, seine Augenbrauen wanderten in die Höhe. "Es wird nicht mehr vorkommen", versprach er steif, aber Angel war schon wieder in leichten Schlaf gefallen. ~~?* Angel schleppte sich müde durch den Tag, wie durch eine unsichtbare Wand von den anderen getrennt. Vage war ihm bewusst, dass ihn aufmerksame Blicke trafen, aber er fühlte sich außerstande zu reagieren. Er wünschte sich nur, unsichtbar zu sein. Als verspreche ihm diese Aussicht Schutz. »Frankie... Frankie? Wieso bin ich so müde? So lebensmüde?« ~~?* Stimmen in meinem Kopf Kreischen Unaufhörlich Geht Geht weg!! »Feigling!« Nein!! »Geh weg!!« Nein!! »So sind die Regeln! Deine Regeln!« Ich... »Du willst die Regeln brechen! Seinetwegen.« Er hat nichts damit zu tun!! »Willst weglaufen.« Ihr wolltet doch, dass ich gehe!! »Zu einem Ziel. Keine Flucht nach hinten.« Es ist keine Flucht!! »Versager.« Nein!! Ich versuche zu leben wie alle anderen!! Ich will nicht fliehen!! »Du bist nicht wie die anderen.« Aber ich kann so sein!! Ich kann mich ändern! »Das glaubst du doch selbst nicht.« Ich werde wie die anderen sein. »Dann bist du nichts mehr.« Doch!! Ich bin ich!! »Nein! Du bist sie. Nichts.« Das ist nicht wahr!! Gelächter. Sich überschlagend. Grell. Voller Spott und Häme. Mitleidlos. Hört auf!! Seid still!! Ich hasse euch!! Hasse euch ~~?* Angel schreckte aus seinem Halbschlaf hoch, als Matthias die Tür heftig in das Schloss warf. In der schwarzen Jacke, glänzend und scheinbar Ölzeug, mit den nassen, schwarzen Haaren und dem feurigen Blick wirkte er wie ein verrückter Massenmörder aus Horrorstreifen. Angel kroch unwillkürlich tiefer in seine Decke, umklammerte Franks Rucksack, den er im Schlaf wie einen Talisman festgehalten hatte. Mit nervös aufgerissenen Augen verfolgte er Matthias' heftige Gesten, wie dieser sein Ölzeug in die Dusche feuerte, die nassen Turnschuhe dazu. Er glaubte beinahe, ihn mit den Zähnen knirschen zu hören. »Ich will kein Blitzableiter für seinen Zorn sein!« Angel raffte eilig einen Pullover und kam wackelig auf die Beine. "Na, auch auf der Flucht?" Matthias' Stimme ätzte bösartig. Angel schloss für einen Moment die Augen, dann drehte er sich langsam herum. Er wusste nicht, was er sagen sollte, ohne dass er Matthias' Wut auf sich ziehen würde. Aber seine Überlegungen wurden von Matthias' hasserfüllter Stimme abgeschnitten. "Na los!! Hau ab!! Dann kann ich endlich mal in Ruhe im Dunkeln sitzen!!" Angel knurrte wütend. Er war zwar benommen von dem plötzlichen Aufwachen und erschöpft, aber sein Maß an Mitgefühl und Verständnis war erschöpft. "Du wirst noch verdammt viel Ruhe haben, wenn du tot bist!! Und da ist es auch hübsch dunkel für so lichtscheue Kotzbrocken wie dich!" Matthias ballte die Fäuste, ein teuflisches Glitzern in den graublauen Augen, ein Sturm zog auf. "Wenigstens bin ich kein Angsthase, der nicht allein bleiben kann!! Der sogar mit den ekelhaftesten Scheißkerlen das Bett teilen würde!!" Angel erstarrte. Eine Schicht aus Eiskristallen setzte sich auf seiner Haut fest. »Er weiß gar nicht, wie nah er der Wahrheit ist«, versuchte er sein aufgewühltes Inneres zu beruhigen, hörte seinen Herzschlag rasen. "Du bist doch nur neidisch, weil niemand mit dir zusammen sein will", giftete er zurück. Matthias rümpfte die Nase, verzog die Lippen abschätzig. "Ich kenne auch niemanden, der meine Zeit wert wäre!", lautete seine arrogante Replik. "Deswegen bist du wohl so aggressiv, was?! Du musst die Leute verprügeln, damit dich überhaupt jemand anfasst!" Matthias fauchte unbeherrscht, packte Angel bei den Schultern und schleuderte ihn auf sein Bett. Ehe dieser zur Besinnung kam, hatte er ihn unter sich festgeklemmt, Angels Hände grob unter den Rücken geschoben und die Schultern mit einem Arm runtergedrückt. Die andere Hand legte sich eng um Angels Hals und der Daumen zielte direkt in Angels Halsschlagader. Angel keuchte und gefror in Regungslosigkeit. "Na, willst du noch irgendwelche Weisheiten von dir geben?!" Angel zauberte ein nachsichtiges Lächeln in sein Gesicht, um dann die Augen zu schließen. Er hoffte inständig, dass Matthias nicht bemerkte, dass sein Herz raste und er vor Angst Blut und Wasser schwitzte. »Er ist nicht wirklich soziopathisch... er ist nur völlig vereinsamt! Wenn ich mich irre, bleibt mir nicht viel Zeit zur Reue. Oder eine Ewigkeit.« ~~?* Matthias blickte von rasendem Zorn erfüllt auf Angel herab. Das entspannte Gesicht, die helle Haut, auf der seine Haut sich stark abzeichnete, seine Hände wie hässliche Makel wirkten. "Ich hasse dich!! Du bist ein verfluchter Erpresser!!" Angel schlug überrascht die Augen auf. Das war das Letzte, was er jetzt erwartet hatte. Noch immer saß Matthias wie ein Stein auf seinen Hüften, aber er drückte nicht mehr erstickend auf seinen Oberkörper. "Erpresser?!", stotterte Angel verwirrt. Matthias' Augen waren nur noch Schlitze, er wirkte wie ein Dämon. "Tu nicht so unschuldig!! Markierst hier das unschuldige Opfer, damit ich dir kein Haar krümme!! Dann wäre ich nämlich der üble Abschaum, für den mich alle halten!!" "Ich halte dich nicht für Abschaum!!", korrigierte Angel zornig. Er wand sich wie ein Fisch, um seine einschlafenden Arme hinter seinem Rücken hervorzuzerren. "Lüg nicht!! Du findest mich doch absolut abartig!! Ich seh es an deinen Augen!" "Ach ja?!" Angel stieß Matthias heftig vor die Brust, ohne dass dies viel Wirkung zeigte. "Weißt du, genau das ist dein Problem!! Du siehst ständig irgendwelche Dinge, die gar nicht stimmen!! Weil du gar nicht hinguckst, sondern nur eine Bestätigung für deine Vorurteile suchst!!" "Ich hab keine Vorurteile!! Das sind Tatsachen!!" "Unsinn!" Angels Augenbrauen beschrieben ein zorniges Flügelpaar über glühenden Smaragden. "Wenn du mal hinsehen würdest, würdest du erkennen, dass ich versuche, dich zu verstehen und mit dir auszukommen. Und das ist keine moralische Erpressung, sondern ein Freundschaftsangebot. Bist du schon so paranoid, dass du ehrliche Absichten nicht mehr erkennst, wenn man sie mit einem Zaunpfahl verkündet?!" Matthias funkelte Angel wortlos an. In seinen Augen tobten Stürme, während es dahinter fieberhaft arbeitete. Angel konnte förmlich sehen, wie sich mehrere Parteien bei der Beurteilung seiner Worte gegenseitig zerrissen, miteinander rangen. "Du willst meine Freundschaft?" Matthias' Stimme schwankte zwischen Unglauben und Misstrauen. Bereit, sich sofort zurückzuziehen und einen vernichtenden Schlag zu führen. "Ja", Angel hauchte besänftigend. "Warum?" "Warum?!" "Ja! Sag mir, warum!!" Angel blinzelte, wand sich zögerlich unter Matthias. "Ich... ich denke, wir sind uns ähnlich. Und wir könnten beide jemanden brauchen, dem wir vertrauen können." Er strich sich Strähnen aus den Augen. "Jemand, bei dem man auch mal einen schlechten Tag haben kann, ohne dass man gleich in Stücke gerissen wird." Matthias knackte mit den Fingerknöcheln. "Und da hast du natürlich sofort an mich gedacht! Nicht etwa an diesen Clown oder deine Klassenkameraden!" Matthias' Stimme verseuchte die Luft. "Du willst doch nur subtil andeuten, dass ich es nicht ernst meine!", zischte Angel verärgert. "Oder vielleicht einen Ersatz für 'ihn' suchst! Jemanden zum Festklammern! Ein Betthäschen." Angel erstarrte, dann stemmte er sich unerwartet kräftig in die Höhe und ohrfeigte Matthias. "Red nie wieder so von Frankie, hast du mich verstanden?! Nie wieder." Matthias' Augen schwankten zwischen Überraschung und ohnmächtiger Wut, aber er zögerte angesichts der diamantenen Härte in Angels Blick. "Du kannst von mir halten, was du willst, aber urteile nicht über meinen Freund, wenn du ihn niemals kennengelernt hast." Angel sackte wieder auf die Matratze zurück. "Ja, ich hätte wirklich gern jemanden, der mich in den Arm nimmt, wenn es mir schlecht geht, der mich zum Lachen bringt, wenn ich für ein Lächeln sterben könnte! Und ich bin auch bereit, dasselbe für diesen jemand zu geben." Er fixierte seinen Blick wieder auf Matthias' trotzige Miene. "Was würdest du für einen Freund tun?" Und registrierte verblüfft, dass sich in Matthias' Gesicht Verlegenheit mit Wut mischte. "Du hattest doch schon Freunde, oder?!", forschte Angel irritiert nach. "Sicher. Gruppenweise." Angels Augenbraue zuckte verwirrt in die Höhe. Matthias lachte heiser und verbittert. "Alle so lieb und nett. Wie eine große, glückliche Familie. Beschränkt. Geistig unbeweglich. Ich hab sie gehasst." Er lächelte bösartig über Angels ratloses Gesicht. "Ja, war mir klar, dass du das nicht verstehen würdest!! Du bist genau so wie sie, harmlos, lieb, anpassungsfähig. Wir werden uns nie verstehen." Angel kniff die Augen zusammen. Ihm reichte Matthias' gönnerhafter Ton nun wirklich. Er grub seine Fingernägel blitzartig tief in Matthias' Unterleib, wo sich die frische Brandwunde befand. "Na klar", flüsterte er lasziv, "lieb, harmlos und anpassungsfähig. Du hast vollkommen recht." Matthias wimmerte leise, als Angels Nägel sich in seinen Körper hakten. Angel richtete sich langsam auf und legte den freien Arm um Matthias' Nacken. "Und jetzt hab ich wirklich Lust, dir die Zunge abzubeißen. Ohne die bist du sicher besser dran. Kein Geschwätz mehr." Befriedigt erkannte er aufsteigende Panik in den Stahlaugen, näherte sich zynisch lächelnd Matthias' sanft geschwungenem Mund. Sich vorzustellen, dass niemand außer ihm diese Lippen berührt hatte, erschien ihm eine maßlose Verschwendung. Matthias erwachte aus seiner Starre, riss den Kopf herum und schob Angel energisch von sich. Angel lachte spöttisch und rollte sich in einer Ecke seines Bettes zusammen. "Erzähl mir doch ein bisschen was über die netten Leute!" Matthias wandte ihm den Rücken zu, begann aber zu seinem Erstaunen tatsächlich. "Meine Eltern haben sie immer angeschleppt. Lauter 'gute' Menschen. Fromm, nächstenliebend. Ekelhaft!" Matthias' Finger gruben sich in die Matratze. "Genau die Kragenweite meiner Eltern." Er holte tief Luft, dann sprudelten die Worte aus ihm heraus, als hätten sie nach jahrelanger Einkerkerung endlich wieder die Freiheit erblickt. "Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn man wie eine Art kaputtes Spielzeug behandelt wird? Matthias, die Gabe Gottes!! Und dann diese Enttäuschung, so ein Monster erhalten zu haben! Wo sie doch immer so gottgefällig und aufrecht waren! Aber Gottes Gaben werden niemals zurückgewiesen! Wir nehmen uns aller Kinder an, ohne Unterschied, lieben sie alle gleich! Und dann hätscheln sie einen nachsichtig, 'natürlich lieben wir dich so, wie du bist', tragen diese Lüge vor sich her wie eine Monstranz! Denn es ist nicht wahr!! Wie kann man lieben, wenn man sich nicht darum bemühen muss?! Wenn man überhaupt kein echtes Interesse hat?! Jeden ohne Unterschied!! Oder doch eher gar keinen!! Das ist einfach unmöglich!!" Matthias zwang sich, seine aufgeraute Stimme wieder unter Kontrolle zu bringen. "Ich habe es wirklich versucht. Ich wollte nett und brav und unkompliziert sein. Nichts, was sie sagten oder taten, in Frage stellen. Aber es ging einfach nicht!! Ich konnte es nicht, kann es nicht, es bringt mich um!!" Angel rutschte unruhig hinter ihm herum, die kaum verhohlene Qual in Matthias' Worten berührte ihn schmerzhaft. "Ich wollte sie verstehen, ihre Einstellung, ihre Überzeugung, also habe ich immer weiter gefragt. Es musste doch Gründe geben, warum sie so waren! Wenn ich es verstehen könnte, dann wäre ich sicher auch normal, oder nicht?!" Matthias drehte sich herum und rückte nahe an Angel heran. In den graublauen Augen irrlichterten Funken. "Aber ich bekam nur zu hören, dass es so sei, man es einfach glauben, fühlen müsse!! Aber wie soll ich glauben, was ich nicht verstehe?! Und wenn ich nicht so fühle, bin ich dann schlecht?! Warum?! WARUM?!" Angel zuckte erschrocken zusammen, als Matthias eine geballte Faust zwischen ihnen in die Matratze rammte. Matthias' Kopf blieb gesenkt, dennoch sprudelte er weiter bittere Worte hervor. "Warum glauben sie an einen Gott, der dieses Unglück auf der Welt zulässt?! Warum lieben sie ihre Kinder, auch wenn diese ihnen nichts als Ärger bringen? Warum lieben sie mich nicht mehr als irgendein Gör in Ecuador?! Ist Liebe eine zwangsläufige Pflicht? Oder etwas, was man aus eigenem Antrieb gewährt?! Warum ist blinder Gehorsam gesünder?! Warum bin ICH so anders?!!" Matthias schlug beide Fäuste fest an seine Schläfen, wiegte sich hektisch vor und zurück. Angel zitterte in seinem Ecke eingeschüchtert. Mitgefühl trübte seinen Blick. Matthias hob den Kopf an, in seinen Augen schwammen Tränen. "Warum lebe ich? Warum bin ich so abartig? Was ist der Sinn?" Angel blinzelte hilflos, dann gab er sich einen Ruck und umarmte Matthias. Matthias stieß ihn grob zurück und wischte sich angewidert über die Augen. "Du bist wie sie. Alles, was ihr könnt, ist ein zuckersüßes Lächeln und einen frommen Spruch bringen!" Angel knurrte aggressiv, fühlte sich ungerecht abgekanzelt. "Was erwartest DU eigentlich?! Dass einer dir alles auf einem silbernen Tablett serviert?! Schön in kleine, leicht verdauliche Häppchen geschnitten, damit du dich nicht auch noch verschluckst, oder wie?! Du bist so feige!!" "Ich bin nicht feige!! Immerhin mache ich nicht die Augen zu und klammere mich an einen Kinderglauben!!" "Ach was?! Du willst den Sinn des Lebens und alles andere erklärt bekommen, bist aber zu blind, um bis zu deiner eigenen Nasenspitze zu gucken!!" Matthias packte Angel bei den Schultern und schüttelte ihn heftig. "Ich stelle mir Fragen!! Ununterbrochen tosen sie in meinem Kopf!! Du weißt gar nicht, wie sich das anfühlt!" Angel hieb die Hände in Matthias' Ellenbeugen, um dessen harten Griff zu lockern. "Jeder stellt sich Fragen!! Das nennt man 'leben', du Blödmann!! Aber im Gegensatz zu dir halte ich mich nicht für so einen Überflieger, dass ich meine, schon alles zu wissen und über alles ein endgültiges Urteil fällen zu können!!" "Ich halte mich nicht für was Besseres, klar?!" Angel fletschte die Zähne. "Wieso glaubst du dann, mir sagen zu können, dass ich Frankie nie wiedersehen werde, dass mit dem Tod alles vorbei ist?! Wieso glaubst du, überhaupt Gefühle anderer beurteilen zu können, wenn du außer Wut und Selbsthass noch nie was empfunden hast?!" Angel keuchte. Diese Auseinandersetzung erschöpfte ihn stärker als jede körperliche Aktivität. Matthias sah ihm blicklos in die Augen. Noch immer lagen seine Hände auf Angels Schultern, aber sie übten keinen Druck mehr aus. Es schien eher, als müsse er sich an Angel festhalten. "Wenn.. wenn ich doch so kalt und abscheulich bin... warum willst du dann mein Freund sein?" Angel suchte in den trostlosen Augen, aber Matthias hatte sich tief in sich selbst verkrochen. Sogar seine heisere Stimme kam aus der Ferne. "Ich glaube, dass jeder eine zweite Chance verdient." Sanft streichelte Angel mit den Fingerspitzen über eine Wange, unter der Muskeln und Sehnen vor Anspannung zitterten. "Du bist zu streng mit dir selbst. Warum erwartest du immer von dir Höchstleistungen? Gib dir selbst eine Chance! Sei geduldig!" Matthias krächzte leise, "du klingst wie ein New-Age-Spinner." Angel lachte laut, froh, einen Weg gefunden zu haben, die erdrückende Spannung lösen zu können. "Matthias, trägst du gern Strumpfhosen?" Ein misstrauischer Blick traf Angel. "Kannst du durch Wände sehen?" Der weiche Mund wurde schmal. "Oder auf dem Wasser laufen? Nein?! Na also, dann bist du ein normaler Mensch und kein Superheld!" "Was bedeutet?", knurrte Matthias lauernd. "Dass du die Welt nicht retten kannst und dass du Fehler begehen wirst, egal, wie sehr du dich anstrengst. Das ist sozusagen systemimmanent!" Matthias schüttelte über Angels breites Grinsen den Kopf. "Du bist verrückt!" Angel posierte wild. "Dass dir das auffällt!" Matthias griente bitter. "Mich wollen sie dafür sogar in die Klappse stecken!" Angel wurde schlagartig ernst. "Der Typ irrt sich! Du musst einfach mal aus dir herausgehen, dann staut sich auch nicht soviel Mist in dir an." "Klasse!! Und dann erwürge ich dich, oder wie?!" Angel zwirbelte eine Strähne um einen Finger, »jetzt oder nie!« "Wenn du alt genug bist, erzähl ich dir von anderen Dingen, die viel mehr Spaß machen und schön ermüden!" Matthias lief dunkelrot an. "Du meinst sicher Schachspielen, richtig?!", knurrte er verlegen. Angel grinste wild und strubbelte Matthias spontan durch die schwarzen, kurzen Haare. "Lass uns Freunde sein! Wir verstehen uns doch blendend!" Angel streckte Matthias die Hand hin, lächelte aufmunternd. Matthias zögerte, dann ergriff er behutsam Angels Hand. "Wenn du es nicht ernst meinst, dann dreh ich dir wirklich den Hals um!", erklärte er finster. Angel nickte. "Das ist ein Wort." Dann gähnte er verstohlen. Matthias erhob sich langsam, verschwand dann wie immer im Badezimmer, um seine Sachen zu wechseln. Als er wieder herauskam, hockte Angel auf der Bettkante und wartete auf ihn. "Es tut mir leid, dass ich so grob war!", entschuldigte er sich mit einem Kopfnicken auf Matthias' Unterleib. Dieser sah achtlos an sich herab, machte eine wegwerfende Geste, als sei es der Mühe gar nicht wert gewesen. Angel legte den Kopf schief. "Du bist wohl der Meinung, dass ein bisschen Härte nicht schadet, was?" Angel erhob sich schwerfällig, zupfte an Matthias' Hemd. "Lass mal sehen!", verlangte er. Matthias wich automatisch zurück, bremste sich dann aber sichtbar. Und hob sein Hemd an, was nur einen kleinen Ausschnitt des vernarbten Bereichs bot. Ungeniert zog Angel den Hosenbund herunter und inspizierte die Wunden. "Ich denke, man sollte das Gel mal drauf schmieren, vielleicht hilft es!" "Untersteh dich!", fauchte Matthias und schreckte zurück. Angel grinste. "Hast du Angst, ich lasse was mitgehen? Oder raube dir die Unschuld?" Ohne eine Antwort abzuwarten, holte er die Tube aus dem Badezimmer, versetzte Matthias einen Stoß, um ihn auf die Matratze zu befördern. "Machen Sie sich frei!", kommandierte Angel mit der steifen Oberlippe einer gewaltigen Oberschwester, mitleidloses Grimmen in den Augen. Matthias zögerte verwirrt, schob dann aber tatsächlich den Stoff zurück und ließ sich von Angels sanften Fingerspitzen liebkosen. Er konnte erkennen, dass es in Angels erschöpfter Miene arbeitete. Offensichtlich schmerzte ihn der Anblick seines verwüsteten Leibs. Dann wandte Angel sich ab und brachte die Tube zurück ins Badezimmer und wusch sich die Hände. Er kroch sich die Augen reibend neben Matthias in dessen Bett. "Ob du's glaubst oder nicht, ich kann dich sehr gut verstehen", murmelte er leise und rollte sich an die Wand. Matthias setzte sich auf und starrte ungläubig auf den ungebetenen Gast in seinem Bett. "Was..?!" Aber Angels Augen waren schon zugefallen. Sanft wickelte er die Decke um Angels Schultern, lieh sich dann dessen Decke und kroch wieder in sein Bett. »Lass mich doch nicht aus meinem Bett vertreiben«, grollte er verstimmt. »Und ich schlaf auch ohne Licht!!« Angel stöhnte leise im Schlaf, räusperte sich. Verstohlen wischte Matthias weißblonde Strähnen aus dem friedlichen Gesicht. "Es tut mir leid", hauchte er zart ins Angels Ohr und rollte sich dann schmal auf der Bettkante zusammen. Ein unsicheres Lächeln nistete sich in seinen Zügen ein, während der Schlaf diesen langen Tag hinter einen undurchdringlichen Vorhang verbarg. ~~?* Kapitel 8 Matthias erwachte mit einem fremden Gefühl an seiner Seite. Sie schien leicht betäubt und gefühllos. "Was..?" Er registrierte ein Gewicht auf seiner Brust, bewegte sich vorsichtig. Im Halbdunkel des frühen Morgens erkannte er, dass Angel es sich auf seiner Brust bequem gemacht hatte und sich im Schlaf vertrauensvoll an ihn anschmiegte. Als er ihn behutsam von sich schieben wollte, seufzte Angel im Schlaf leise und Matthias erstarrte stocksteif. Es war erschreckend zu fühlen, dass Angel ihm keinerlei Misstrauen entgegenbrachte, sich rückhaltlos seinem Schutz überließ. »Ich bin es nicht wert!!«, raste überforderte Panik durch seinen Kopf und weckte die Stimmen. »Genau!! Wer sagt, dass er nicht nur eine momentane Zuflucht gesucht hat?! Bist du schon so von ihm eingewickelt, dass du ihm blind glaubst?! Willst du ausgerechnet ihn? Wo der doch so wahllos mit seinen Freunden ist?! Hat gerade erst seine ach so große Liebe verloren und schäkert schon mit dir?! Wie kannst du so einem glauben?! Seine Liebe ist doch nur ein Reflex, nichts weiter!! Du hast dich von seiner Attraktivität blenden lassen!! So eine Disziplinlosigkeit!! Hast du keinen Stolz?! Wieso brauchst du ihn?! Was kann er dir schon bieten?!« Matthias biss die Zähne aufeinander und kniff die Augen zusammen. Er musste weg!! Musste hier raus, auf der Stelle!! Diese Stimmen ersticken!! Diese Zweifel auslöschen. »Ich will!! Will doch nur!! Erbarmen!!« Er richtete sich heftig auf, schleuderte Angel auf die Seite, rollte sich über ihn hinweg und flüchtete in das Badezimmer. ~~?* Angel wurde unsanft von einem wuchtigen Stoß in seine Rippen geweckt. Er fuhr mit einem Schreckensschrei aus dem Schlaf hoch. Um Matthias wie von Furien gehetzt im Bad verschwinden zu sehen. Ein fliehender Schatten in der Dämmerung. Angel rieb sich die Augen und orientierte sich verwirrt. »Wie komme ich in sein Bett? Und warum rennt er wie ein Wahnsinniger weg? Ich habe ihn doch gar nicht... angefasst?!« Angel schob die verhedderte Decke von sich und kam ächzend auf die Füße. "Matthias? Alles okay?!" Aus dem Badezimmer drangen keinerlei Geräusche, was Angel noch mehr beunruhigte. Er klopfte gegen die leichte Holztür. "Matthias?! Mach auf, bitte!" Keine Reaktion. "Hör mal, wenn du nicht gleich aufmachst, komm ich mit Gewalt rein!!" Noch immer keine Reaktion. "Okay!! Du hast es so gewollt!!" Angel legte die Hände flach auf das Türblatt unter der Klinke, »wenn er einfach ...?!« Er schlüpfte in seine Stiefel, holte Schwung und trat kraftvoll gegen das Schloss. Holzsplitter regneten, als der Bolzen durchschlug und die Tür in die kleine Nasszelle katapultierte. Matthias starrte Angel mit aufgerissenen Augen an, in seiner Faust stach ein altmodisches Rasiermesser. Und von seinen Armen tropfte in unzähligen Schnitten Blut auf die Fliesen. "Oh Scheiße!!", entfuhr es Angel, als er Matthias' irren Blick registrierte. "Sie hören nicht auf...lassen mich nicht in Ruhe...", Matthias kicherte grell. "Und du machst alles noch schlimmer!!" Mit einem erstickten Wutschrei stürzte er sich auf Angel, schwang die blutbefleckte Klinge. Angel wich angstvoll zurück, bekam mit beiden Händen Matthias' Faust zu packen. "Hör auf!! Matthias!!" Matthias presste Angel gegen die Wand, grub seine freie Hand in Angels Haare, lachte meckernd und bedrohte trotz aller Gegenwehr Angels linke Wange. "Nein!" In seiner Furcht riss Angel das Knie hoch und traf Matthias punktgenau. Der ging mit einem leisen Wimmern in die Knie, das Rasiermesser entglitt seinem Griff. "Bitte... bitte... geht weg!!...lasst mich doch...", die blutbeschmierten Hände wurden an die Schläfen geschlagen. Angel schloss die Augen und kämpfte gegen flatternde Nerven. Dann hockte er sich zu Matthias und streichelte sanft über den gekrümmten, nackten Rücken. "Wer soll weggehen? Hm?" Aber aus Matthias war nichts mehr herauszubekommen. Statt des angstvollen Wimmerns starrte er nun nur noch ins Leere, zu einer Salzsäule versteinert. Angel knurrte, »was für ein Morgen!« Und begann, Blut abzuwischen und die Wunden zu verbinden. »Alle nur oberflächlich... er wollte sich nicht umbringen... wieder so eine Disziplinierungs-Sache?!« Ratlos sah er sich um, die Fliesen waren verschmutzt, sie beide ebenfalls. "Komm hoch!!" Er zerrte Matthias auf die Füße, schob ihn dann energisch unter die Dusche. "Zuerst werde ich das Blut abwaschen, dann den Boden, dann mich und dann weiche ich unsere Klamotten ein!", erläuterte er laut seine Absichten. Er stellte sich zu Matthias in die Dusche und streifte dessen Pyjamahose herunter, schleuderte sie vor die Kabine. Dann stieg er wieder heraus und drehte die Brause vorsichtig auf lauwarm, bevor er behutsam den Wasserstrahl über Matthias' Körper gleiten ließ. Und ihn dann in ein Handtuch wickelte, ohne eine wahrnehmbare Rückmeldung von Matthias zu erhalten. Angel knurrte laut vor sich hin, wischte dann rasch den Boden mit einem Lappen ab. "So, jetzt hock dich auf dein Bett!" Matthias rührte sich nicht. "Na toll!" Angel packte ihn an den Handgelenken und zog ihn hinter sich her in ihr Zimmer, platzierte ihn auf dem Bett. Prüfte eilig die Verbände, die beide Unterarme bis zu den Ellenbogen umspannten. "Kannst von Glück reden, dass ich fast eine Erste Hilfe-Station bin!", informierte er Matthias seufzend. Er wickelte den steifen Körper in beide Decken und beschloss, sich nun eine Katzen-Dusche zu gönnen, bevor er die blutigen Wäschestücke dort einweichte. Als er erfrischt ihr Zimmer wieder betrat, war Matthias auf die Seite gesunken und hatte sein Gesicht in einem Kissen vergraben. Angel hockte sich neben ihn auf die Bettkante. Streichelte zart über die kurzen Haare. "Was ist bloß mit dir los, hm?" Matthias' Augen quollen vor Tränen über, aber ihm entwich kein Laut. Angel quetschte sich neben ihn und sah ihm unverwandt in die Augen. "Kannst du es mir nicht sagen?" Mitleidig tupfte er Tränen von den versteinerten Gesichtszügen. "Ich würde dich auch küssen", lockte er leise. In den Stahlaugen blitzte es kurz auf. »Er hört mich zumindest«, stellte Angel befriedigt fest. Sanft rieb er seine Nasenspitze an Matthias', lächelte aufmunternd. "Komm schon, hilf mir ein bisschen!", bettelte er augenzwinkernd. "Küsst du eigentlich jeden?!" Matthias' Stimme war belegt und kam aus vergessenen Tiefen, grollend, ungeschliffen und aufstachelnd. Angel grinste, ignorierte den durchsichtigen Versuch ihn zu provozieren, souverän. "Klar!! Deswegen bin ich auch so gut darin!!" Matthias drehte ihm den Rücken zu. "Ich will nicht bekommen, was jeder kriegt!", giftete er heiser. Angel lachte laut. "Du bist so leicht zu verärgern, dass es schon langweilig ist!! Aber wenn du etwas Besonderes bekommen möchtest, dann musst du auch etwas Besonderes sein. Und nicht nur ein Rebell ohne Visionen." Mit diesem ernst gemeinten Ratschlag erhob er sich und streckte sich ausgiebig. "Ich werde jetzt frühstücken. Was ist, willst du dich in Selbstmitleid wälzen, oder willst du dem Schicksal mutig ins Gesicht spucken?!" Matthias fauchte guttural, schleuderte die Decke von sich, vergaß völlig, dass er unbekleidet war. "Du bist so was von unappetitlich!! Ich spucke nicht!" Angel griente breit. "Dafür bist du gerade sehr appetitlich", triezte er Matthias. Der lief dunkelrot an und zerrte die Decke wieder hoch. "Das ist nicht komisch!", zischte er wutentbrannt. Angel zwinkerte, "doch, genau das ist es! Sei nicht so furchtbar harmlos und nett!" Matthias zuckte zusammen, als er die geschmähte Beschreibung seiner Mitmenschen auf sich selbst gemünzt fand. "Und nun hopp! In die Klamotten! Ich dreh mich auch um!" Angel wandte sich dem Fenster zu und lächelte zufrieden vor sich hin. »Ich werde schon herausfinden, wer du eigentlich bist!!« ~~?* Matthias schob sich an ihm vorbei zur Tür, rollte sorgfältig die Ärmel seines Hemds über die Verbände. Angel verkniff sich ein triumphierendes Grinsen, als Matthias artig an der Tür auf ihn wartete. »Du kannst gar nicht so ekelhaft sein, wie du gerne möchtest, dein weiches Herz schimmert trotzdem durch!« Gemeinsam betraten sie den Speisesaal, Angel stolzierte vorneweg, mit Würde ihren Tisch in Besitz nehmend. "Was willst du essen?", fragte er Matthias ruhig, als der sich grazil niedergelassen hatte. Ein verständnisloser Blick traf sein Gesicht. Angel lächelte, tätschelte unbekümmert Matthias' Schopf und wandte sich dann der Theke zu. Er sammelte auf dem Tablett Kaffee, heißes Wasser in einem Kännchen, dazu Croissants, Honig, Orangenmarmelade und zwei Hälften Grapefruit, ein seltener Luxus. Sorgfältig seine Last balancierend bahnte er sich einen Weg zurück, ignorierte die überraschten Blicke seiner Klassenkameraden. Er zwinkerte Matthias zu, der völlig aus der Fassung gebracht auf die Speisen starrte. "Sie sind noch besser, wenn man sie isst", stichelte Angel gut gelaunt, schob die kleine Kanne mit heißem Wasser herüber. Matthias senkte den Kopf, aber für einen Augenblick erhaschte Angel einen winzigen Abglanz eines breiten Grinsens auf den sonst so ausdruckslosen Zügen. Auch wenn sie nicht sprachen, verlief das Frühstück doch vollkommen entspannt. Im nachfolgenden Verlauf des Tages spürte er Matthias' Stahlaugen sehr oft auf sich ruhen, was ihn mit unerwarteter Freude erfüllte. In der letzten Stunde vor dem Mittagessen wurden sie aber von einer unangenehmen Überraschung ereilt. Frau Marian, die Sportlehrerin, erbat sich von ihrem Deutsch-Lehrer eine Viertelstunde Zeit, um eine wichtige Angelegenheit zu erörtern. Ihr Auftreten war von enttäuschter Strenge, was ein gewisses Unbehagen bei Angels Kameraden auslöste. "Ich habe hier die Teilnehmer-Listen für das stadtweite Sportfest. Obwohl über zwanzig Sportarten angeboten werden, kann ich keinen Ihrer Namen hier finden. Gibt es dafür einen Grund?!" Fassungslose Blicke schwirrten richtungslos durch den Raum. "Was... was für ein Sportfest?!" Frau Marian vermutete eine Frechheit, denn ihre Antwort fiel sarkastisch aus. "Oh, nur das Sportfest, das seit einem Monat vorbereitet wird, dessen Ankündigung seit zwei Wochen an allen Schwarzen Brettern hängt. DIESES Sportfest." Ratlose Gesichter. "Aber... an unserem Brett...?!" Angels Augenbrauen zogen sich zusammen, als er wie auch seine Mitschüler eine Vermutung anstellte. "Möglicherweise ist das Plakat versehentlich entfernt worden?!", volontierte er mit eisiger Ruhe. "Ungeachtet dessen besteht doch sicherlich noch die Möglichkeit, Teilnehmer zu melden, richtig?" Frau Marian warf ihm einen raubvogelartigen Blick zu, nickte dann abgehackt. Angel warf einen auffordernden Blick in die Runde. "Ich denke, wir können zumindest eine Volleyball-Mannschaft stellen." Sein Lächeln war so scharf wie ein Skalpell. Energisches Nicken bestätigte ihn. Dann fanden sich auch rasch noch Teilnehmer für andere Sportarten. Angel langte über den Tisch und berührte Matthias zart mit den Fingerspitzen. "Hilfst du mir?" Matthias zögerte sichtlich. Widerstrebende Gefühle tosten hinter den graublauen Augen, während sein Gesicht wie immer versteinert blieb. Schließlich meldete er sich ebenfalls mit heiserer Stimme. Angel ballte die Faust unter dem Tisch. »Ich werde all meinen Einfluss geltend machen, damit dir die Bauern ausgehen, Ronnie!!«, schwor er sich. ~~?* Das Engagement der untersten Stufe sprach sich herum wie ein Lauffeuer, was zur Folge hatte, dass die Trainingshalle natürlich besetzt war, als sie die freie Zeit nutzen wollten. Aber nun war auch der Trotz aller angestachelt worden. Mit einem kurzen Telefonat sicherten sie sich eine Übungsmöglichkeit. Der Kapitän der Paul Ehrlich-Schule hatte doch noch ein Entscheidungsspiel angeboten?! Die Zusage kam so prompt, dass sie überzeugt waren, ihrem Vorhaben sei ein glücklicher Ausgang beschert. Angel aber war von dieser Idee nicht besonders begeistert. Er wollte Jürgen nicht gegenübertreten. Immerhin war es kein großes Turnier, wo man sich aus dem Weg gehen konnte, sondern sie waren Gast in der Schule. Nein, da stand zu viel zwischen ihnen, zu viele schmerzliche Erinnerungen!! Angel ging unentschlossen in ihrem Zimmer auf und ab, unsicher, wie er seinen Entschluss rechtfertigen sollte, ohne dass es nach Feigheit vor dem Feind aussah. Matthias thronte reglos auf seinem Schreibtisch, die verbundenen Hände unter einem Sweatshirt verborgen. Seine Augen verfolgten Angels ruheloses Hin- und Herschreiten, registrierten die Anspannung, die sich hinter dessen geübt lässiger Miene verbarg. "Ich springe für dich ein." Angel bremste irritiert von dem rauen Flüstern, das seine fiebrigen Gedankengänge durchschnitt. "Unsinn! Du kannst unmöglich mit den Verbänden spielen!" Matthias' Augen verengten sich zu finsteren Schlitzen. "Sag mir nicht, was ich tun oder lassen soll!!" Angel verdrehte die Augen. "Hör zu, Django, es ist unnötig, dass du für mich den Kopf hin hältst. Es ist MEIN Problem." Matthias stieß ein abschätziges Schnauben aus. "Sei nicht so melodramatisch. Wenn ich mich recht erinnere, hast du versprochen, dich um jemanden zu kümmern. Du hast also genug zu tun!" Sie duellierten sich stumm, dann lächelte Angel die Waffen streckend. "Also gut! Ich werde heute auch deine Wunden lecken!" Matthias' Gesicht zeigte eine seltsame Kombination aus Entsetzen, verschämter Neugier und Freude. "Untersteh dich!!" Angel warf ihm einen Kuss zu und zog sich eilig um. ~~?* Nach einer dreiviertel Stunde Fahrt erreichte er das Altenheim, in dem Meemee residierte. Auf dem Weg hatte er noch rasch ein Geschenk besorgt, sozusagen eine Entschuldigung für sein unangemeldetes Erscheinen. Meemee saß, wie nicht anders zu erwarten, im Aufenthaltsraum und studierte mit gerunzelter Miene ein Kreuzworträtsel. Angel, wagemutig trotz drohender Wolken in einen cremefarbenen Anzug mit Top gekleidet, zog sofort die Aufmerksamkeit aller auf sich. Meemees spitzbübischer Gesichtsausdruck zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. Er verbeugte sich formvollendet und hauchte einen Kuss auf ihre kleine faltige Hand. "Angel, Herzchen! Rasch, setz dich zu mir und reich mir das Schiffe-versenken-Spiel!" Angel kam elegant der Aufforderung nach, legte dann auf das achtlos zusammengeklappte Kreuzworträtsel sein Geschenk. Meemee lächelte huldvoll, während in ihren Augen ein stolzes Funkeln tanzte. "Du bist wirklich ein Kavalier, und so ein hübscher!" Dann beugte sie sich verschwörerisch zu ihm vor. "Und nun musst du mit mir spielen, weil ich nicht die geringste Lust habe, dich mit diesen alten Schachteln zu teilen." Ihr grimmiges Gesicht mit dem energisch vorgereckten Kinn wies auf die neugierigen Gesichter in den anderen Sesseln und Sitzecken. Angel unterdrückte ein albernes Kichern. "Ich möchte dich auch nicht teilen, Meemee!", vertraute er ihr zwinkernd an. Meemee strich sich geschmeichelt und zufrieden durch die weißen Locken. "Angel, mon cher, sei so lieb und hole uns eine Kanne Tee, ja? Dann werde ich dein Geschenk auspacken, und wir werden ein wenig plaudern." Angel nickte, erhob sich geschmeidig und beschaffte die Getränke. Eine Tasse dampfenden Ostfriesentees mit Sahne später, -'ich muss auf meine Figur achten!'-, positionierten sie ihre Schiffe. Meemee hatte sich zuvor rasch in die Geheimnisse von Angels Geschenk einweisen lassen: bunten Würfeln mit Symbolen darauf, als Ersatz für ein Kartenspiel. Dabei hatte er sich durch das anerkennende Glitzern in ihren Augen bestätigt gefühlt, das passende Geschenk ausgewählt zu haben. Keine Blumen, keine Süßigkeiten hätten ihr so viel Freude bereiten können. "Nun, mon petit, was liegt dir auf dem Herzen?" Angel warf einen prüfenden Blick über den Tisch, während er mit einem leichten Seufzer ein kleines Boot als versenkt meldete. "Meemee... das sind so viele Dinge..." Ihre Augen huschten über ihr eigenes Tableau, dann hakte sich ein scharfer Blick in seine Katzenaugen. "Ich könnte meine unnütze Ansicht auch beisteuern...", lockte sie kokett. Angel beschwichtigte natürlich sofort, ihre Ansicht sei absolut nicht unnütz, im Gegenteil! Sie mussten beide grinsen, als Angel sich freiwillig in der ausgelegten Falle verfing. "Ich habe Ärger in der Schule." Und dann berichtete Angel von den Attacken, von seinen Vermutungen und den jüngsten Entwicklungen. Meemee lauschte aufmerksam, während sie mit unheimlicher Präzision seiner Flotte den Garaus machte. "Nun...", begann sie gedehnt, "ich denke, es ist eine sehr gute Idee, an diesem Sportfest teilzunehmen. Das wird die Bauern ablenken", sie benutzte seine Schach-Referenzen bedacht. "Den Turm kannst du leicht ausschalten, indem du deinen...Charme... ausspielst." Angel verstand und nickte mit einem unanständig breitem Grinsen. "Dann solltest du dich mit diesem Ronnie befassen. Wühle in seiner Vergangenheit! Es muss eine Verbindung zwischen euch geben! Und frage dich, wer seine Dame ist. Möglicherweise liegt dort der Schlüssel... es muss etwas Persönliches sein, das schon lange gärt!" Angel nickte versonnen, er hatte den Wald vor lauter Bäume nicht gesehen. "Ich kann mich gar nicht erinnern, dass Ronnie oder der Terminator vorher auf der Schule waren", sinnierte er laut vor sich hin. Meemee lächelte zufrieden und nahm geziert einen Schluck Tee. "Und die andere Sache?" "Andere Sache?", wiederholte Angel verwirrt. Meemee zwinkerte überlegen, beobachtete Angel aus halb gesenkten Lidern schweigend. Und Angel lief zu seiner Scham rot an und zwang seinen Blick auf den Tisch. "Ich habe noch sehr scharfe Augen, mein Schatz!" Sie reichte über den Tisch und nahm Angels Hand. "An deinem Hals sind noch Spuren einer Verletzung. Und du hältst etwas vor mir zurück." Angels Daumen streichelte langsam und sanft über die weiche, runzlige Haut ihres Handrückens. "Das stimmt", gab er leise zu, ohne den Blick zu heben. "Du versuchst doch nicht etwa, mich zu schonen, weil ich ein Mädchen bin, oder?!" In Meemees Stimme schwang gespielte Empörung mit, die ihren Zweck erfüllte, Angel zum Lächeln zu bringen. "Vielleicht." Er hob den Kopf an und suchte in den dunklen Augen nach einem Hinweis. "Ich möchte dich nicht schockieren." Meemee lachte laut und herzlich, ein Lachen, das Angel sehr stark an Monika erinnerte, denn es hatte nichts von der zurückhaltenden Vornehmheit, die beide wie einen Schutzschild trugen. "Herzchen, ich bin über Achtzig und du glaubst, du könntest mich schockieren?! Das muss ich unbedingt hören!!" In ihrem Blick tanzte so viel Neugier und Amüsement, dass Angel überhaupt nicht der Gedanke kam, beleidigt zu sein. Mit rosigem Hauch auf den Wangen erwiderte er ihr aufmunterndes Zwinkern. "Denkst du...denkst du, dass es...falsch ist, wenn man nicht nur einen Menschen liebt?" Den eigenen Worten lauschend wedelte er hektisch in der Luft herum. "Ich meine... richtig lieben... nicht so... platonisch..." Seine Stimme senkte sich zu einem beschämten Flüstern. Meemee fokussierte ihren Blick auf seine Augen. "Du willst sagen, du hast dich verliebt. Und fürchtest, damit Frank, -das war doch sein Name?-, untreu zu sein." Angel nickte beklommen, wagte aber nicht, seine Augen abzuwenden. In Meemees Augen trat ein Ausdruck tiefer Zärtlichkeit, der ihn mit Wärme erfüllte. "Mein kleiner Junge, es wäre sehr schlimm um uns bestellt, wenn wir nur einmal lieben könnten. Wenn unser Herz so klein wäre." Sie drückte seine Hand mit unerwarteter Kraft. "Mein Rat lautet: genieße es, solange du kannst. Denn es wird Zeiten geben, da wirst du diese Kraft brauchen." Angel hob behutsam ihre Hand an seinen Mund und küsste den weichen Handrücken. "Danke schön", hauchte er leise. Meemee lächelte nachsichtig, dann lehnte sie sich zurück, und Angel erkannte erste Anzeichen der Anstrengung. Also verabschiedete er sich taktvoll. Dennoch hielt Meemee ihn am Ärmel zurück, als er sie auf die Stirn geküsst hatte. "Noch ein kostenloser Rat, Liebchen: spiele niemals Schiffe versenken, wenn sich dein Spielfeld im Fenster spiegelt." Angels fassungsloser Blick entlockte ihr ein mädchenhaftes Kichern, das Angel noch begleitete, als er mit einem breiten Grinsen den Salon verließ. ~~?* Als Angel gerade wieder in der Schule eintraf, kehrten auch seine Kameraden von dem Übungsspiel zurück. Sie wirkten hochzufrieden, was auf einen Sieg hindeutete. Außerdem schien niemand daran Anstoß zu nehmen, dass er nicht dabei gewesen war. »Meemee hatte nicht so unrecht. Die Bauern sind bereits mit ihren eigenen Gefechten beschäftigt«, dachte Angel erleichtert. "Matthias, das war echt klasse!" Zu seiner völligen Verblüffung reagierte Matthias mit einem scheuen Lächeln, während er sich verstohlen über die Handgelenke rieb. "Angel, wenn er mitspielt, fegen wir die alten Schlappsäcke vom Platz!!" Angel grinste breit, so viel Elan war mehr, als er sich erhofft hatte. Er lächelte Matthias offen und dankbar an. "Dusche", kommandierte er und schob ihn sanft vor sich her. Matthias verschwand lautlos in ihrem Badezimmer, während Angel sich rasch in bequeme Klamotten warf und eine Batterie an Verbandszeug aufbaute. Matthias erschien wieder, die Ärmel seines verschlissenen Kampfanzugs krampfhaft über die Handgelenke gezogen. Angel schnalzte missbilligend mit der Zunge, schubste Matthias herausfordernd auf dessen Bett. "Na los, streck sie vor!" Matthias funkelte ihn zornig an, ein katzenhaftes Fauchen auf den Lippen. Aber Angel hatte schon einen Arm beim Ellenbogen gepackt und den Ärmel zurückgeschoben. Er verteilte in massierenden Kreisen Wundbalsam, dann wickelte er vorsichtig Gaze von Handgelenk zu Ellenbogen. Und wiederholte das Ganze mit dem anderen Arm. "So, Mumienmann, für heute war's das!" Angel blies sich Strähnen aus den Augen. "Danke", murmelte Matthias verlegen und sackte auf sein Bett, um an die Zimmerdecke zu starren. "Hat es sehr weh getan?", erkundigte sich Angel und machte es sich unaufgefordert neben ihm bequem. Matthias schloss die Augen, während ein ironisches Lächeln seine Mundwinkel kräuselte. "Nur wenn ich den Ball getroffen habe." Angel lachte leise und legte dann provozierend eine Hand flach auf Matthias' Unterleib. Der spürte trotz des Stoffes Angels Berührung wie einen Flammenstoß in seinem vernarbten Körper. "Erzähl mir, warum du das getan hast. Bitte." Matthias begann, sich auf seinen Atem zu konzentrieren, tief zu atmen, so tief, dass er Angels Hand auf seinem Körper bei jedem Atemzug bewegte. »Wie eine Sonne, so heiß!« Angel blies neckend über Matthias' Gesicht. "Schlafen gilt nicht!" Als Matthias noch immer keine Anstalten machte, seine Beweggründe preiszugeben, schob er entschlossen seine Hand unter den steifen Stoff des Hosenbundes, ließ seine Fingerspitzen über die Narben tänzeln. Er sah, wie Matthias schneller atmete und fuhr sich mit der Zunge über die plötzlich trockenen Lippen. "Ich werde dich nicht gehen lassen, bis du mir sagst, was mit dir los ist!", drohte er heiser. Und hoffte, der verqueren Logik von Matthias genug Vorschub geleistet zu haben, dass dieser angesichts solcher Aussichten ohne Gewissensbisse eine Offenbarung wagen konnte. ~~?* Es fühlt sich an wie tausend wilde Nägel aus funkelndem Stahl. Wie ein Regen aus Eissplittern, so dicht, dass aus Kälte Hitze wird. Ich wünschte... ...wird er... .. aufhören, wenn ich ... ...nicht spreche...? So lange schon ... ... möchte ich... ... berührt werden... Wenn das Versuchung ist, dann ... ... will ich verdammt sein!! ~~?* "Meine Eltern lernten sich in einem christlichen Seminar kennen. Sie waren beide bis zur Selbstaufgabe, -zumindest war das der Schein, den sie erwecken wollten-, in ihrer Gemeinde engagiert. Aber man kann nichts aufgeben, was man nicht hat, oder?! Und sie existierten als eigenständige Personen, als Persönlichkeiten, gar nicht. Ich wuchs in der sicheren Obhut unserer Gemeinde auf. So geliebt wie alle Kinder Gottes. In Wirklichkeit nur eine wahllose, unreflektierte Emotion, die mich nicht als Individuum wahrnahm, sondern nur in meiner Funktion als Mitglied und Sohn. Ja, genau in dieser Reihenfolge. Ich begriff recht schnell, dass mir das nicht reichte. Ich wollte mehr, ein Sehnen, das nicht zielgerichtet, aber umso mächtiger war. Unbedingt wollte ich ihre besondere Aufmerksamkeit, viel mehr Liebe! Zunächst beschloss ich, ja, genau, es war ein förmlicher Beschluss wie eine Kriegstaktik, viel gehorsamer, viel 'besser' als alle anderen Kinder zu sein. Ich versuchte, ihre Sprache, die Sprache der Erwachsenen zu sprechen, ihrer Vorstellungswelt zu folgen. Aber je stärker mein Bemühen mich mit ihrer Lektüre in Kontakt brachte, umso gewaltiger wurden meine Zweifel. Ich konnte nicht glauben. Ich konnte nicht begreifen. Dennoch zwang ich mich mit wachsender Verzweiflung, zu akzeptieren. Aber sie belohnten mich nicht, ich war und blieb nur ein Objekt in ihrer Welt, ein potentieller Funktionsträger. Und das machte mich wütend. Über alle Maßen, über den Verstand hinaus. Ich beschloss, sie dazu zu zwingen, mich wahrzunehmen. Indem ich nicht mehr runterschluckte, nicht mehr gehorsam war, sondern aufsässig und aggressiv. Das tat, was sie verabscheuten, verurteilten. Ich begann, alles zu hassen, sie, weil sie mich dazu trieben, Dinge zu tun, die ich nur aus Trotz und Verzweiflung ersann und ich hasste mich dafür, dass ich nicht genügte, nicht ihren Ansprüchen, nicht meinen. Ich war nicht 'gut' genug, und auch als 'Böser' fand ich keine Befriedigung. Schließlich zog ich mich von ihnen allen zurück. Wenn sie mich nicht brauchten, nur mitleidig belächelten, Entschuldigungen für meine Entgleisungen fanden, dann wollte ich sie auch nicht mehr brauchen. Aber ich konnte nicht einfach gehen. Ich wollte ein ständiges Mahnmal sein, eine offene Wunde, damit sie sich ebenso ungeliebt fühlten wie ich mich. Nur funktionierte das leider nicht. Denn sie empfanden sich nicht als abgelehnt. In ihrer Welt bin ich Mitglied der Gemeinde und ihr Sohn, in unverbrüchlicher Liebe eingebunden, möglicherweise momentan verwirrt, aber nichtsdestotrotz nicht fähig, mich ihnen zu entziehen. Sie nehmen mich nicht wahr. Sie sehen mich und sehen doch 'mich' nicht." Angel rutschte unbehaglich noch näher an Matthias heran. Der heisere Monolog in beunruhigender Gleichmütigkeit geflüstert ließ ihn frösteln. "Ich fand durch einen Zufall ein Buch über chinesische Sportarten. Unter anderem auch Übungen des Qi Gong und Tai Chi. Ich wollte nicht mehr so hilflos meinem unbändigen Hass ausgesetzt sein. Daher nahm ich mir vor, wie ein Mönch zu leben, mich nur noch auf mich selbst zu konzentrieren. Das ist natürlich ein verfälschtes Bild, aber in Selbsttäuschungen bin ich ja familiär bewandert. Aber ich schaffte es nicht, jedem Ärger aus dem Weg zu gehen. Immer wieder schlug ich mich oder verletzte auf andere Weise. In meiner Enttäuschung über meine Disziplinlosigkeit bestrafte ich mich selbst. Büßte für meine Unzulänglichkeiten. Und dann kamen die Stimmen." Matthias legte einen verbundenen Unterarm über die geschlossenen Augen. "Sie kommentieren alles, was ich tue. Boshaft. Vernichtend. Aufstachelnd. Rachsüchtig. Als ob ich gnadenlose Dämonen in meinem Kopf hätte. Als wenn mein Hass Gestalt angenommen hätte." Angel zog seine Hand von Matthias zurück. Er fühlte sich außerstande, dieser resignierten, entsetzlich einförmigen Stimme noch eine Sekunde länger zuzuhören. "Sei still! Bitte!" Angel setzte sich auf und umklammerte mit beiden Armen seinen Leib. Er kehrte Matthias den Rücken zu und presste die Kiefer fest aufeinander, um das Zittern, das seinen Körper befallen hatte, zu bändigen. Vage spürte er eine Bewegung hinter sich, aber er wandte sich nicht um. Matthias setzte sich ebenfalls auf, betrachtete die bebende Gestalt. "Tut mir leid", flüsterte er kaum hörbar. Angel stieß ein ersticktes Lachen hervor. "Wir sind uns so ähnlich, dass es beängstigend ist, weißt du das?" Matthias zögerte, dann beugte er sich vor und schob einen bandagierten Arm um Angels Taille. Lehnte sich sanft an seinen Rücken. Angel drehte sich herum und schlang beide Arme um Matthias' Nacken. "Mir ist kalt", raunte er zittrig und schmiegte sich eng an ihn. Matthias blieb stumm, aber seine Umarmung intensivierte sich beschützend. »Ich lass nicht zu, dass dir etwas geschieht. Nicht durch andere. Und auch nicht durch mich.« ~~?* Angel tappte müde zu den Casino-Automaten im Speisesaal. Sie hatten nach ihrem aufwühlenden Gespräch beide eine Pause benötigt und waren, jeder in seinem Bett, eingeschlafen. Was sie das Abendessen verpassen ließ. Angel rieb sich über die Augen. Er musste unbedingt noch mehrere Aufgaben erledigen. Mit Widerwillen lehnte er sich an den Automaten und wartete auf den Maschinen-Kaffee. "Sieh mal einer an!" Angel zuckte erschrocken zusammen. Durch das Betriebsgeräusch des Automaten hatte er niemanden kommen gehört. Eine genervte Resignation bemächtigte sich seiner, als er den Terminator vor sich sah. Angel balancierte vorsichtig den kochend heißen Becher mit Kaffee und strebte am Terminator vorbei, nicht gewillt, sich auf ein Geplänkel einzulassen. "He, Arschwärmer!" Ein heftiger Schlag aus Händen wie Klodeckeln erschütterte Angels Rücken. Mühsam verhinderte er ein Überschwappen des Kaffees. "Spinnst du?!", zischte er aufgebracht und funkelte den Terminator vernichtend an. In dessen Augen blinkten bösartige Lichter. "Mach mich bloß nicht an, du Perverser!" Angel fauchte guttural, zwang sich aber zur Zurückhaltung. Was den Terminator nicht daran hinderte, mit einem unerwarteten Schlag unter den Plastikbecher zu reagieren. Heißer Kaffee spritzte auf Angels T-Shirt, verbrühte seine Hände und bloßen Unterarme. Mit einem Schmerzensschrei entglitt der Becher seinem Griff. "Tss tss, du musst echt mal ein bisschen vorsichtiger sein, Homo!" "Du mieser Drecksack hast es ja noch nicht mal bis zum Homo erectus geschafft!", konterte Angel hitzig, rieb sich die versehrte Haut. Ein Vorwand war so gut wie der andere: der Terminator stieß Angel mit einem fast triumphierenden Grunzen vor die Brust, trat ihm dann die Beine weg. Angel knallte ungebremst in die Kaffeelache, als schon das Knie des Terminators sein Rückgrat auf den Boden nagelte. Wurstfinger gruben sich in seine Haare, rissen seinen Kopf brutal in den Nacken. "Na, wie fühlt es sich an, der letzte Dreck zu sein?!", die ölige Stimme triefte vor Häme. Angel keuchte, spuckte dann "das müsstest du doch besser wissen!" aus. Sein Kopf wurde heftig auf den Boden geschlagen. Für eine berauschende Ewigkeit tanzten Sterne vor seinen Augen. Dann wurde er an den Haaren vom Boden gerissen, rücksichtslos und ungnädig. Angel zerbiss seine bereits blutenden Lippen bei dem Vorhaben, nicht zu schreien. Verzweifelt versuchte er den Griff in seine Haare zu lösen, sandte hasserfüllte Blicke in die trüben Augen des Terminators, dessen unterentwickeltes Mienenspiel sadistische Freude ausdrückte. "Und jetzt lernt der kleine Schwanzlutscher mal ein bisschen Respekt!", kündigte er mit kindlich-boshaften Grinsen an. Angel ahnte, dass ihm eine Tracht Prügel mit Demütigungen bevorstand. Er knurrte wild und startete mit einem Kampfschrei eine verzweifelte Attacke. ~~?* Ein ersticktes Fiepen entwich dem gewaltigen Brustkorb des Terminators, als Angel ihm stahlhart zwischen die Beine griff. "Lass SOFORT meine Haare los, Arschloch", wisperte Angel heiser. Als der Terminator nicht schnell genug seiner Forderung nachkam, verstärkte er seinen Klammergriff um die Genitalien. Der Terminator verdrehte in Agonie die Augen, während er Rotz und Wasser heulte. "Und jetzt hör gut zu, Robert, denn ich sage das nur einmal: wenn du mich jemals wieder anrührst, dann schneid ich sie dir ab! Mit einem stumpfen Brieföffner. Klar?!" Angel drückte zur Verdeutlichung der Ernsthaftigkeit seiner Ankündigung erneut zu, stieß dann den Terminator angeekelt von sich. "Dein Alter hätte dir sagen sollen, dass man Schwulen auch nicht die Familienerbstücke zukehrt!" Er beugte sich hinunter zu dem wimmernden Riesen. "Die sind nämlich so besitzergreifend, dass sie gleich alles mitnehmen wollen, was man ihnen anbietet!", zischte er tonlos. Dann verließ er hocherhobenen Hauptes den Speisesaal. ~~?* Matthias studierte hochkonzentriert ein Lehrbuch, als Angel übellaunig die Tür zuschlug. Seine Kopfhaut brannte von der Misshandlung, er stank nach Kaffee und hatte sicher schon einen hässlichen Fleck auf dem Rücken! Matthias zog scharf Luft ein, als er Angels Zustand in sich aufnahm. "Der Terminator?" Angel winkte geringschätzig ab. "Kauert im Speisesaal auf dem Boden und heult. Weil ich kräftig in seine Familienplanung eingegriffen habe!" Ein gehässiges Lächeln verzerrte seine Mundwinkel, dann riss er sich knurrend das T-Shirt vom Leib. Die unbedachte Aktion reizte seinen malträtierten Rücken. Ein Fluch wich über seine aufgesprungenen Lippen. "Er hat dich verletzt." Matthias' Stimme war sonor und eisig wie ein Lufthauch aus einer Krypta. Angel zog eine Augenbraue hoch und schob vorsichtig Strähnen hinter seine Ohren, seine Kopfhaut pochte enervierend. "Kein Grund für eine Vendetta." Er wickelte einen Arm um sich, versuchte, die schmerzende Stelle auf seinem Rücken zu ertasten. "Hör auf!" Matthias legte endgültig das Buch beiseite, glitt anmutig und kraftvoll zugleich vom Schreibtisch und packte Angels Handgelenk. "Ich denke, du duschst erst, dann werde ich den Fleck einreiben. Schließlich musst du in zwei Tagen fit sein!" Angel warf einen erstaunten Blick in die graublauen Augen, aber er wurde mit Bestimmtheit abgewiesen. Seufzend verschwand er im Bad. Die Dusche kühlte ihn ab und vertrieb den aufdringlichen Geruch von Kaffee. Lässig stieg Angel in Boxershorts, ließ die langen Haare nass auf seinen Schultern ruhen. Matthias bedeutete ihm, sich flach auf das Bett zu legen. Ein Kissen sollte den Oberkörper abstützen. Angel kicherte erwartungsvoll und umarmte das Kissen fest, schnurrte wie ein liebestoller Kater. Matthias ließ sich nicht beirren. Er verteilte ein stark nach Eukalyptus riechendes Öl auf Angels Rücken und trieb dann die sehnigen Finger in die Muskeln. Immer wieder unterbrach er sich, um heftig die Handflächen aneinander zu reiben, erzeugte statische Elektrizität. Angels fröhliches Kichern ging in ein heiseres Stöhnen über, als Matthias seine Fingerkuppen entlang der Wirbelsäule führte. Er hielt lediglich in seiner konzentrierten Anstrengung inne, um sachte Angels Haare über die Schultern zu streichen. Endlich gab er Angels mittlerweile glühenden Rücken frei. Angel rappelte sich mit jammervoller Miene auf. Eigentlich war ihm nun nach einer ausgiebigen Mütze Schlaf, aber die Aufgaben mussten noch erledigt werden. Da führte kein Weg dran vorbei! "Zieh dir etwas über!", Matthias mahnende Worte wurden durch den leisen, langsamen Tonfall gemildert. Angel zog eine Grimasse, schlüpfte aber artig in einen Pullover, um dann wieder an seine unterbrochene Arbeit zurückzukehren. Und so arbeiteten sie getrennt und doch verbunden in vertrauensvollem Schweigen, bis sich der Schlaf nicht länger zurückweisen ließ. ~~?* Der Samstagsunterricht beschränkte sich auf den Vormittag, was allgemein begrüßt wurde, denn es zeichnete sich einer der verstreuten, glühend heißen Spätsommertage ab. Angel kaute ein Stück Melone zur Abkühlung und traf den Entschluss, bei Urs nachzuforschen, wie es ihm und seiner Familie ging. Als er sein Handy hervorkramte, wurde ihm bewusst, dass er nur die Nummer des Festnetzanschlusses kannte. Verärgert über die eigene Gedankenlosigkeit schimpfte er leise vor sich hin. Nun, dann musste er eben auf sein Glück hoffen! Nicht dass er etwas von Urs' Familie zu befürchten hätte. Er wollte lediglich nicht durch eine Unbedarftheit den fragilen Familienfrieden gefährden. Als sein Anruf entgegengenommen wurde, meldete sich aber nicht Urs, sondern eine Frauenstimme. Angel entschuldigte sich höflich für die Störung und bat darum, Urs sprechen zu dürfen. Die Dame bedauerte, dass Urs noch nicht von einem Auftrag zurückgekehrt sei, aber er könne doch rasch vorbeikommen?! Angel stotterte verblüfft, als die Frau in ein musikalisches, dunkles Lachen ausbrach. Ob er wohl glaube, dass sie den attraktiven Freund ihres Sohnes so schnell vergessen könne?! Angel verspürte in diesem Moment Dankbarkeit für die Gnade, dass sie sein errötendes Gesicht nicht sehen konnte. Er war an Komplimente gewöhnt, allerdings wurden sie selten so uneigennützig und freimütig vorgebracht. Höflich wollte er seinen Besuch nicht aufdrängen, keine Umstände bereiten, aber Urs' Mutter ließ keine Widerrede gelten, überging seine umständlichen Floskeln unbeeindruckt. Und so machte Angel sich daran, eine leichte Khaki-Hose überzustreifen und ein passendes weites Hemd, was ihm ein wenig den Anschein eines Dschungel-Abenteurers verlieh. Auch wenn die Hitze geradezu mörderisch war, verzichtete er darauf, seine Haare in einen Zopf zu zwingen. Seine Kopfhaut prickelte noch immer. Matthias kam ihm gerade entgegen, als er die Sonnenbrille polierend zum Ausgang strebte. "Ich gehe gerade zu Urs, falls mich jemand sucht." Matthias' Stahlaugen korodierten leicht, aber seine Miene blieb ruhig. "Der Junge, dessen Vater deinen Freund angefahren hat?" Angel zuckte zusammen. Auch wenn dies unbestreitbar neutral die Fakten waren, so hatte er doch schon lange aufgehört, Urs unter dieser Kategorie einzuordnen. "Es war ein Unfall!", betonte er spitz, "und er ist einer der Menschen, mit denen ich darüber reden kann." Für einen Sekundenbruchteil meinte er, in den Stahlaugen ein Blitzen zu sehen, aber dann verschlossen sie sich wieder uneinnehmbar. "Verstehe." Und Matthias stieg geschmeidig die Stufen herauf, ohne ein Wort des Abschieds zu verlieren. ~~?* Angel traf erhitzt, aber gut gelaunt in der Schreinerei ein, in einer Plastiktüte eine große Wassermelone schwenkend. Urs' Mutter kam ihm entgegen, raspelkurze, sandfarbene Haare über einem runden, fröhlichen Gesicht, dazu eine imponierende Figur, die den Walkyren in Wagnerschen Opern Respekt abgenötigt hätte. Sie drückte Angel kräftig die Hand, freute sich über die Melone und führte ihn dann in ein abgedunkeltes Zimmer, das herrlich kühl war. "Urs ist noch in der Werkstatt, ich hole ihn gleich mal!" Angel nutzte die Gelegenheit, sich ungestört umzusehen. Offensichtlich war dies die gute Stube der Familie: eine massive Schrankwand nahm sämtliche Flächen ein, die von Fenstern und Türen ausgenommen waren. Aber durch das helle Kiefernholz wirkte die Masse an Büchern, Gesellschaftsspielen, Video-Kassetten und CDs nicht erdrückend. In der Mitte fand sich ein überlanger Tisch, von Stühlen mit bunten Sitzkissen umzingelt. Und ein großes Sofa mit einem knallroten Bezugsstoff, der sich auch in den beiden passenden Sesseln wiederfand. »Bunt, fröhlich, licht...« Angel mochte die offene Wärme, die dieser Raum ausstrahlte. Ein Zimmer für die ganze Familie. "Gefällt es dir?" Urs war leise hereingekommen. Er schenkte Angel ein hocherfreutes Lächeln, aber sein breites Gesicht war von Anstrengung gezeichnet. Angel schoss hoch und umarmte ihn spontan, die ihm angemessen erscheinende Art und Weise, sein Mitgefühl auszudrücken. Und Urs hielt ihn sanft, aber nachdrücklich fest, als wollte er in dieser Verbindung eine Atempause einlegen, die ihm die Welt nicht gestattete. "Wie geht es dir?", erkundigte sich Angel vorsichtig, forschte in den hellblauen Augen nach schlechten Nachrichten. Urs strich sich über die Haare, dann lächelte er müde. "Viel Arbeit. Hält mich aber vom Grübeln ab." Er rieb sich die Hände, massierte die roten Schwielen. "Ich wollte mich melden, aber die letzten paar Tage bin ich abends nur noch ins Bett gefallen. Im Augenblick haben wir volle Auftragsbücher und ohne meinen Vater... da wird jeder gebraucht!" Angel lenkte seinen Blick auf den Kokos-Teppich, unsicher, ob er sich nach dem Befinden von Urs' Vater erkundigen sollte oder durfte. Urs schien seine Befangenheit zu spüren, denn er nahm ihm mit der ruhigen Freundlichkeit, die ihn auszeichnete, die unangenehme Aufgabe ab. "Mein Vater ist in einer psychiatrischen Klinik. Sie wollen ihn erst mal soweit stabilisieren, dass er keine Gefahr mehr für sich selbst darstellt. Körperlich ist er unversehrt, aber seine Seele..." Urs brach ab, rieb sich mit beiden Händen über die ganze Breite seines Gesichts. "Er packt das. Ich weiß es. Ganz bestimmt." Angel biss sich auf die Lippen und würgte trocken an dem Kloß, der in seinem Hals saß. "Wenn ich helfen kann, egal, wie...", wagte er ein Angebot. "Jungs, nehmt erst mal eine Erfrischung! Angel, eine hervorragende Idee, eine Wassermelone mitzubringen!" Urs' Mutter hatte die Melone geteilt und die einzelnen Stücke in eine immense Schüssel mit Eisklümpchen platziert. Sie reichte bunte Servietten herum und machte es sich auf dem Sofa neben Angel bequem, ein Melonenstück lutschend. "Sag mal, Angel, nimmt deine Schule auch an diesem Sportfest teil, das im Sportstadion stattfindet?", erkundigte sie sich lächelnd. Angel nickte und mümmelte seine Melone hastig herunter. "Ich wollte Urs eigentlich einladen, uns zu unterstützen." "Mama, wenn..." "Aber sicher kannst du gehen! Ich will, dass du gehst und deine Freunde anfeuerst! Keine Widerrede!" Sie tätschelte Urs den Kopf wie einem treuen Hund und verabschiedete sich gelassen von Angel, sie müsse leider zurück an die Buchführung. Urs wirkte leicht verlegen, aber Angel lächelte ihm aufmunternd zu. "Du hast Glück! So eine nette Mutter!" Urs errötete leicht, aber er verhehlte seinen Stolz nicht. Da er aber spürte, dass Eltern nicht gerade ein angenehmes Thema für Angel war, enthielt er sich eines Kommentars. "Und wie geht es dir? Noch immer Ärger?" Angel rieb sich nachdenklich über die Stirn, lutschte ein weiteres Stück Melone methodisch. "Ich denke, ich bin auf dem besten Weg dahinter zu kommen, was des Pudels Kern ist. Vielleicht ist das Sportfest eine gute Gelegenheit für einen Showdown!" Er zwinkerte Urs bezeichnend zu, aber seine Katzenaugen verloren ihren Ernst nicht. Als er Urs' bekümmerter Miene gewahr wurde, beschloss er, zur Aufheiterung von seinem letzten Besuch bei Meemee zu erzählen. Das würde die gedrückte Stimmung sicher heben! ~~?* Fröhlich schlenderte Angel die Treppen hinauf, beschwingt von dem warmen Abschied, den Urs ihm bereitet hatte. »Egal, was morgen auch passiert, er wird mich unterstützen!« Diese Gewissheit erinnerte ihn an eine weitere Aufgabe, die er zu lange vor sich hergeschoben hatte. Er musste nun endlich herausfinden, wer der weiße König war. ~~?* Matthias bewegte sich wie ein Blitz durch den kleinen Raum. Das leise Rumpeln der Maschine drang nicht durch die Konzentration, die eisern die Ausführung der Figuren dirigierte. Es war fast gut genug... aber die Präzision musste noch besser werden!! »Ich werde zeigen, was ich bin! Ich will... ... zeigen, was ich nicht auszusprechen vermag.« Vor seinen Augen erschien ein Bild, das alle Stimmen erstickte. Hoffnung und Verdammnis in einem. Ein Wagnis. Eine Chance. Er stellte sich kurz auf die nackten Zehenspitzen, atmete tief durch, um dann zum wiederholten Mal die Finsternis mit geschlossenen Augen zu attackieren. ~~?* Angel starrte auf die Zeilen, registrierte beiläufig die Bilder. Konnte das wahr sein?! Oder spielte ihm seine Phantasie einen Streich?! Sein Herz klopfte bis zum Hals, was ein leichtes Gefühl der Übelkeit hervorrief. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, was ihn zusammenzucken ließ. "Hey Süßer, du hast dich so rar gemacht!" Gitano tänzelte herein, die Tür mit einem achtlosen Fußtritt hinter sich schließend. Angel klappte hastig die Bücher zu, hoffte, dass das trübe Licht der Schreibtischlampe seine glühenden Wangen verbarg. "Gitano...", er erschrak über seinen hilflosen Tonfall. Gitano lächelte katzenhaft, streckte die Hand aus, in der sich aus der Luft ein Lutscher materialisierte. Auf seine auffordernde Geste hin schüttelte Angel den Kopf, leichter Schwindel ließ seine Nerven prickeln. Gitano hob gleichmütig die Schultern an, entblätterte den Lutscher und färbte die Haut kirschrot, als er ihn über die Lippen strich. Angel hing wie gebannt an jeder seiner Bewegungen. Er wollte sich losreißen, aber sein Verstand schien sich auf der Flucht durch seine fiebrigen Gehirnwindungen verirrt zu haben. Gitano lächelte lasziv. Seine Zunge spielte herausfordernd mit dem Kugelkopf der Süßigkeit. Angel schluckte heftig und ballte die Fäuste. »Ich kann unmöglich...!!« Gitano grinste plötzlich triumphierend, legte seine Arme um Angels Nacken und sah ihm direkt in die Augen. "Warum so schüchtern?" Angels Wangen glühten so stark, dass er selbst die Hitze fühlen konnte. Gitano verlor die Geduld und küsste ihn auf den Mund, verbreitete einen zuckersüßen Geschmack. Angel grub die Finger in das dünne T-Shirt, stemmte sich mit aller Gewalt gegen den Sog aus Lust, den Gitano wie einen Zauber erzeugte. Gitano schien seinen zumindest innerlichen Widerstand zu spüren, denn er intensivierte seine Verführungskünste, lockte Angels Zunge in seinen Mund, während seine Hand Angels Rücken entlang auf Wanderschaft ging. Und den wunden Punkt traf, was Angel für einen Wimpernschlag aus dem Bann weckte. "Nein!" Energisch machte er sich los und schob Gitano von sich. "He Honigbär, was ist los?!" Gitano streichelte über Angels glühende Wange, lachte leise, als sei Angels Widerstand nur eine weitere Zutat zu einem explosiven Cocktail, den man nur auf eine einzige Weise leeren konnte. Angel biss sich auf die Lippen, schloss die Augen, verdammte seinen Körper, der so unwillig auf die Forderungen seines Verstandes reagierte. Gitano nutzte Angels momentane Verunsicherung, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und auf das Bett zu schieben. Angels Protest erstickte er mit heißen, die Atemluft raubenden Küssen, während der Lutscher achtlos auf Angels Schreibtisch landete. Nun waren Gitanos Hände damit beschäftigt, Angels Kleidung zu erforschen und einen Weg unter sie zu finden. Angel versuchte fahrig, dieser Annäherung zu begegnen, aber er verlor sich in der Lust, die Gitanos Berührungen erzeugte, rauschhafte Begierde, die seinen Verstand vernebelte. Als sein Widerstand erlahmte, hörte er Gitano triumphierend kichern, ein unpassender, alarmierender Ton, aber Angel hatte vergessen, wie er sich wehren konnte. Sein Körper forderte die Erfüllung der Versprechen ein, die gegeben worden waren. In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, mit einer exakt abgezirkelten Bewegung. Eine Sekunde angespannter Stille, dann flog Gitano förmlich gegen Angels Kleiderschrank. Matthias presste einen bandagierten Unterarm gegen Gitanos Kehle, während der andere ein Handgelenk umklammerte. "Was soll das, du Spinner?!" Gitanos Stimme war nun nicht länger samtig und verführerisch, sondern harsch und schrill. "Lass Angel in Ruhe." Matthias' raue Stimme klang abgehackt, als habe er Mühe, Silben zu formen und seine Zähne auseinander zu drücken. "Was geht dich das an, du Kretin!! Hände weg!" "Nein." Matthias reagierte auf Gitanos Befreiungsversuch mit einer harten Ohrfeige. Aus Gitanos Mund sickerte Blut, während seine Augen in völliger Verblüffung erstarrten. Ein Kräftemessen begann, Akrobat gegen Kämpfer. Angel presste die Hände gegen die Schläfen. Sein Körper protestierte gegen den abrupten Entzug, während sein Gehirn in schmerzhaften Impulsen sofort wieder die Herrschaft übernahm. "Hört damit auf, alle beide!" Als seine Worte nicht fruchteten, warf er sich zwischen die Kontrahenten. Gitano wischte sich das Blut vom Kinn. Seine Augen vergifteten Matthias mit jeder verstreichenden Sekunde. "Na warte, du kleiner Mistkerl, ich werde dich melden und dann fliegst du!" Matthias knurrte unkontrolliert wie ein wildes Tier, die Stahlaugen brannten lichterloh in einem ungebändigten Feuer. "Nicht!" Angel stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor Matthias. "Bitte. Keine weitere Prügelei hier." Matthias zitterte unter der Anstrengung, seiner Aggressionen Herr zu werden. Mühsam klaubte er versprengte Worte zusammen. "Du darfst nicht...!! Er ist schlecht!!" Tiefe Atemzüge wie weite Sprünge über Eisschollen. "... alles seine Schuld!!... er.... liebt dich nicht!!" Matthias' Augen flehten um Verständnis, hassten sich ungezähmt für die Unfähigkeit, sich ausreichend zu erklären. Gitano lachte spöttisch, spitze Widerhaken in seiner Stimme. "Du bist doch nichts weiter als ein kleiner Irrer. Kann nicht mal richtig sprechen!" Angel fuhr herum und zischte Gitano aufgebracht an. "Hör auf damit, ja?! Okay, er hat sich wie die Axt im Wald aufgeführt, aber das ist kein Grund, daraus ein Drama zu machen!" "Du darfst ihm nichts glauben!!" In Matthias' Stimme überschlug sich ungefilterte Verzweiflung. "Aber dir, oder wie?! Du gehörst in die Klappse, du gemeingefährlicher Irrer!" Matthias versteinerte bei diesen Worten völlig. Als habe jemand alles Leben, jede Bewegung aus seinem Körper herausgesaugt. Angel knurrte wütend, Gitanos giftige Wortwahl musste Matthias ja erschrecken! Er streckte die Hand nach Matthias aus, aber dieser wich totenbleich vor ihm zurück. "Matthias...!" Ein zähnefletschendes Knurren war die Antwort, als Matthias sich zur Tür schob, die Stahlaugen blank. "Warte!" Matthias schüttelte langsam den Kopf, seine Augen verließen Angels keinen Wimpernschlag. "Er ist die weiße Dame", raunte er tonlos und brüchig, dann floh er. ~~?* Kapitel 9 "Scheiße!" Angel machte Anstalten, Matthias in den Flur zu folgen, als Gitano ihn von hinten umschlang und festhielt. "Lass den Spinner laufen, morgen Früh darf er ohnehin packen!" Angel rammte Gitano einen Ellenbogen in die Seite und kam frei. "Ich will nicht, dass du irgendwem von dieser Sache erzählst, klar?!" Gitano rieb sich die Seite, während seine Augenlider sich auf Halbmast senkten. "So", fragte er gedehnt und mokierend, "was bekomme ich denn für mein Schweigen?" Sein anzügliches Grinsen war nicht zu missdeuten. Angels Lippen kräuselten sich vor Abscheu, dann packte er Gitano am Arm und schob ihn Richtung Tür. "Hau bloß ab!!" Gitano machte sich los und legte seine Maske des souveränen Verführers ab. "Warum regst du dich so auf?! Bist du am Ende auf den Spinner scharf, oder was?!" Angel fauchte guttural, stieß Gitano heftig gegen Matthias' Schrank, riss dann die Zimmertür auf. "Langsam begreife ich, wer du wirklich bist!! Und du kotzt mich an! Also verzieh dich!" Gitano knurrte zurück, packte Angel am Hemdausschnitt und zwang ihm einen Kuss auf, der ihre beiden Lippen blutig fetzte. "Wir hätten ein perfektes Paar sein können, du kleiner Scheißer!! Aber du bist bloß ein dämlicher Poser!" Angel schmetterte die Tür ins Schloss. Er stürzte in ihr Badezimmer und spülte sich den Mund aus, unterdrückte den aufsteigenden Brechreiz. Ja, er hatte die Eintragungen in den Annalen gefunden. Ronnie, Gitano und der Terminator waren erst in der Oberstufe dazugestoßen. Und Gitano hatte sich im ersten Jahr mit Ronnie ein Zimmer geteilt. Sie galten als unzertrennlich, bis kurz vor Schuljahresende ein Streit dazu führte, dass Gitano nun ein Einzelzimmer bewohnte, während Ronnie zum Terminator gezogen war. Ronnie, das Gehirn, der Terminator als Muskel. Und Gitano, die weiße Dame. »Hat er Ronnie so angemacht wie mich? Und dann fallen gelassen? Ist es blindwütige Eifersucht, die Ronnies Handeln beherrscht?« Angel sackte auf Matthias' Bett zusammen und legte das Gesicht in die zittrigen Hände. »Verdammt!!!« Hastig raffte er sich auf, um nach Matthias zu suchen. Aber weder der Trainingsraum, noch der Speisesaal oder der Wäschekeller waren seine Anlaufstellen gewesen. Angel warf sich unglücklich und besorgt auf Matthias' Bett. Wo konnte sich ein Junge barfuß mitten in der Nacht verbergen?! ~~?* Angel schreckte entsetzt aus albtraumgeplagten Schlaf hoch, als jemand behutsam eine Hand auf seinen Rücken legte. Mit verklebten Augen kauerte sich Angel an die Wand, filterte mühsam Umrisse der Gestalt aus der Finsternis der frühen Morgenstunden. "Matthias?" Die Gestalt schrumpfte leicht in sich zusammen, da sprang Angel schon ungebremst hoch und zog sie in seine Arme. "Matthias!!" Angel grub die Finger tief in Matthias' ausgekühlten Rücken, sog tief den Geruch von nassem Asphalt und Nachtluft ein, der diesen umgab. "Ich bin so froh!!" Angel musste ein hysterisches Schluchzen unterdrücken. Die Erleichterung löste sich in nervösen Erschütterungen. Matthias blieb stumm, regungslos in seinen Armen. Angel schob sich schließlich ein wenig zurück, um sein Gesicht zu mustern. Die Stahlaugen wirkten mit den Augenringen riesig in der Dunkelheit, das fahle Gesicht war ausdruckslos. "Du brauchst Schlaf", beschied Angel und zerrte taufeuchte Kleidung herunter, schob Matthias dann unter die Decke, die noch von seiner Körperwärme kündete. Mit einem feuchten Lappen rieb er energisch die starre Gestalt ab. Dann schmiegte er sich eng an Matthias' Rücken und schlang die Arme um ihn, spendete seine Wärme. "Danke", krächzte Matthias plötzlich heiser. Angel stützte sich halb auf ihm auf, um sich zu ihm rüberzubeugen. "Wofür?" In den Stahlaugen zündete ein Funken. "Dass du mich ihm vorziehst." Bevor Angel noch reagieren konnte, senkte sich bleischwere Lider und Matthias entschwand in komatösem Schlaf. Angel kuschelte sich an ihn und grübelte über Matthias' letzte Feststellung. »Kann es sein, dass..?!« ~~?* Der letzte, nachdrückliche Weckton zerrte Angels Verstand in die Realität zurück. Er stöhnte leise, fluchte gedämpft über seine Vergesslichkeit. Matthias bewegte sich neben ihm unruhig, kämpfte gegen den tiefen Schlaf an. Angel strich hauchzart mit dem Handrücken über eine Wange und raunte ihm leise zu, dass es noch viel zu früh sei zum Aufstehen. Und um seine Äußerung zu bestätigen, bettete er seinen Kopf auf Matthias' Brust, schlang beide Arme um den austrainierten Oberkörper. Schon wieder in Halbschlaf fallend meinte er, ein erleichtertes Seufzen von Matthias gehört zu haben, aber das konnte wohl kaum sein? ~~?* Angel gähnte und streckte sich vorsichtig, als sich die Sonne nicht länger durch die Rollläden aussperren ließ und verstreute Flecken hindurch sandte. "Kurz nach Elf", realisierte er nach einem prüfenden Blick auf seinen verräterischen Wecker. Angel setzte sich behutsam auf und betrachtete Matthias in dem warmen Zwielicht. Die Hitze hatte sie dazu verleitet, im Schlaf die Decke, die sie sich geteilt hatten, am Fußende des Bettes zusammenzuknäulen. Und nun lag Matthias ungeschützt vor den Temperaturen nur in einer knappen Unterhose auf dem Rücken neben ihm. Die warme Hautfarbe zeichnete sich dunkel gegen die einfachen, weißen Baumwolllaken ab, das schwarze, fedrig wirkende Haar umsäumte sein im Schlaf entspanntes Gesicht. Angel beugte sich zu ihm hinunter, schnupperte für einen zeitlosen Augenblick das Aroma aus regennassem Asphalt und zitroniger Frische, das Matthias' entströmte. Dann berührte er zärtlich die weichen Lippen, ein Schmetterlingskuss, zu schnell und zu leicht. "Wir müssen aufstehen, Matti", raunte er sanft in ein Ohr. Matthias stöhnte nun wirklich leise, und Angel beobachtete fasziniert, wie sich allmählich starker Wille gegen das Schlafbedürfnis des Körpers durchsetzte. Angel lächelte warm, als Matthias' Augen endlich klar und fokussiert wurden. "Morgen, du Schlafmütze!" Matthias sah Angel unverwandt an, ein suchender Blick mit solcher Intensität, dass Angel erschauerte. "He, machst du dir Sorgen wegen Gitano?! Vergiss es, wenn sie einen nicht um Sieben aus dem Bett holen, dann ist man davongekommen!" Angel kicherte unsicher, er wusste diese unheimliche Ruhe nicht zu deuten. "Du hast ihm doch nicht gegeben, was er wollte, nicht wahr?" Matthias' Stimme war ein heiseres Krächzen, aber er bemühte sich mit eisiger Entschlossenheit um eine exakte Aussprache jeder einzelnen Silbe. Angel schluckte, der Kloß in seinem Hals meldete sich wieder, dann schüttelte er den Kopf. "Woher wusstest du es?" Matthias wandte den Kopf ab, starrte konzentriert an die Decke. Angel knurrte leise, um ihm den Hinweis zu geben, dass er eine Erklärung zu hören wünschte und dass jedes Mittel angemessen wäre. Als diese subtile Aufforderung auf Ignoranz stieß, legte Angel provozierend seine flache Hand auf Matthias' vernarbten Unterleib. Er wusste, er würde nicht mehr die Fingernägel in das verwundete Fleisch bohren, aber er konnte sich an Matthias' Reaktion auf seine Berührung erinnern. Dabei konnte doch dieses vernarbte und verhärtete Gewebe unmöglich so viele Impulse an die Nerven darunter leiten?! Matthias schloss die Augen, wehrte sich aber nicht gegen den engen Kontakt, auch nicht, als Angel sich an seine Seite schmiegte und wieder den Kopf auf seine Brust bettete. Mehr als noch die gegenseitige, sich durchdringende Körperwärme wurden sie sich der Lebendigkeit des anderen bewusst, spürten Herzschlag und Plus, sich dehnende und zusammenziehende Muskeln, Atemzüge. "Matti?", bohrte Angel beharrlich weiter, rieb seine Wange an der nackten, unbehaarten Brust. Sofort schoben sich Matthias' Finger in seine weichen Haare, durchglitten die weißblonden Strähnen, zogen sich aber nicht zusammen. Matthias verstand sich auch auf wortlose Drohungen. Angel seufzte mitleidheischend, zeichnete sanfte Kreise auf dem Narbengewebe. Er wusste nicht, dass ungeachtet ihres äußeren Erscheinungsbildes die Nervenenden sehr wohl noch sensibel waren und dass seine langsame, träumerische Liebkosung Matthias an den Rand der Selbstbeherrschung trieb. "Warum nennst du mich so?" Angel runzelte verwirrt die Stirn, als Matthias' raue Stimme unter seinem glühenden Körper vibrierte. "Es gefällt mir. Ich glaube, im Finnischen gibt es den Namen wirklich." Kein Angebot, ihm einen anderen Namen zu geben. Keine Bitte um Akzeptanz. Angel drückte seinen Nacken vermeintlich unauffällig fester in Matthias' Hand. Er war sich der Notwendigkeit bewusst, aufzustehen, sich anzukleiden, zu packen und zum Mittagessen zu erscheinen, doch sein Körper verweigerte den Gehorsam. Und sein Verstand widersprach nicht. "Er hat es mir erzählt." Angel musste sein träges Begriffsvermögen blinzelnd auf Trab bringen, um einen Zusammenhang mit dieser Eröffnung herzustellen. Aber Matthias wartete keine Ermunterung ab. Wie auch schon am Tag zuvor erklärte er leise und mit betäubender Gleichmütigkeit, als wolle er unangenehme Wahrheiten nicht aufstören. "Als bekannt wurde, dass ich mit dir ein Zimmer teilte, wurden mir allerlei Gerüchte zugetragen. Obwohl ich es vorzog, neutral zu bleiben, kam ich kaum umhin festzustellen, dass ein konzentrierter Rachefeldzug im Gange war, dessen Ziel du darstelltest. Alle Attacken wiesen eine Gemeinsamkeit auf: sie waren mit großem Geschick so angelegt, dass man den mutmaßlichen Verursacher dafür nicht zur Rechenschaft ziehen konnte. Auch wenn dieser keineswegs anonym agierte. Ich fragte mich, warum jemand seine Zeit darauf verwandte, das Klima in der Schule so zu vergiften. Und natürlich wollte ich wissen, was du getan hattest, um so eine unversöhnliche Feindschaft auf dich zu ziehen." Angel schmiegte sich unbewusst enger an Matthias, hielt gleichsam den Atem an, als sie beide auf die Enthüllung lauschten. Bevor der Sauerstoff zur Neige ging, erlöste Matthias sie. "Ich nahm mir die Jahrbücher vor. Ein Triumvirat. Aber drei sind immer eine schlechte Konstellation. Und das Einzige, was diese drei Personen verband, war die Tatsache, dass sie neu an die Schule gekommen waren. Aus den spärlichen Hinweisen wurde nur eins klar: Ronnie und Gitano waren unzertrennlich bis kurz vor Ende des letzten Schuljahres. Dann wechselte Ronnie in das Zimmer zum Terminator. Seltsamerweise schien niemand Spekulationen über die Ursache dieses Zerwürfnisses anzustellen. Sehr eigentümlich. Andererseits kaum verwunderlich, wenn man befürchten musste, dem Terminator Rede und Antwort zu stehen. Aber der Muskel reagiert nur, wenn das Gehirn ihn anleitet. Also musste Ronnie dafür gesorgt haben, dass man sich anderen Dingen zuwandte als dem Klatsch. Ich fragte mich, ob Gitanos Interesse an dir vielleicht der Grund sein könnte. Eifersucht ist ja eine starke Triebfeder. Andererseits passte das nicht besonders gut zu dem Umstand, dass er nun mit dem Terminator ein Zimmer teilte, immerhin ist dessen Einstellung zu dem Thema hinlänglich bekannt." Matthias räusperte sich. Seine Kehle war bereits trocken und ähnelte Schmirgelpapier. "Aber wenn es nun doch Liebe war? Eine einseitige Liebe, da Gitano offenkundig ein egozentrischer Blender ist. Dann fielen mir wieder die Bilder von dir ein. Um sie zu sammeln, dauerte es bestimmt eine ganze Weile, viel mehr Zeit, als ein kurzfristiger Racheakt erforderte. Was bedeutete, dass sich jemand bereits mit dir beschäftigte, bevor du überhaupt einen Fuß in diese Schule gesetzt hattest. Angesichts dieses besessenen Hasses und der erschreckenden Taktik dahinter hielt ich es für besser, ein offenes Gespräch mit Ronnie zu führen." Matthias drehte den Kopf zu Angel, aber seine Stahlaugen schweiften in der Ferne, auch wenn sie zu Schlitzen zusammengekniffen waren. "Tatsächlich fand ich Ronnie auch. Ich sagte ihm meine Vermutungen auf den Kopf zu und erklärte ihm, dass ich keinerlei weitere Attacken zulassen würde. Außerdem war ich neugierig, sein Motiv zu erfahren. Im Grunde war es ganz banal. Ronnie sichert sich seine Position im Klassengefüge allein durch seine Intelligenz. Er ist erstaunlich gewieft in der Einschätzung der Bedürfnisse anderer Menschen, er manipuliert sie mit Hingabe. Wie sonst könnte er wohl den Terminator mit bedingungslosem Gehorsam an sich binden?! Aber ein solcher Mensch kann niemals wirklich vertrauen oder Freunde haben, er fürchtet immer Verrat. Und das Schlimmste, was ihn ereilen kann, ist, sich rettungslos und vollkommen unvernünftig zu verlieben. Gitano hatte vermutlich ein einfaches Spiel, seine Zuneigung zu gewinnen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand zuvor Ronnie das Gefühl gegeben hat, geliebt zu werden. Die Gegenleistung bestand in kostenloser Nachhilfe und völliger Blindheit gegenüber Gitanos Selbstverliebheit. Aber dann passte Ronnie nicht mehr in Gitanos Glamourwelt. Irgendjemand hatte ein Photo von dir in einer Hochglanz-Broschüre gefunden. Und damit fing dann der ganze Ärger an. Ronnie begriff zunächst gar nicht, dass er abgemeldet war, er sammelte sogar eifrig Bilder von dir. Um sich dann mit der Aussicht konfrontiert zu sehen, gegen einen attraktiven, anderen Jungen ausgetauscht zu werden, der Gitanos Ambitionen besser zupass kam. Also plante er krank vor Eifersucht seine Rache an dir. Ich glaube, er hat nicht erwartet, dass Gitano sich so ungeniert an dich heranmachen würde, so siegessicher war. Und Ronnie benutzte all die anderen. Aber Gitano ließ das alles wohl kalt. So, wie Ronnie sich äußerte, lachte er ihn einfach aus. Sein letzter Streich bestand darin, dem Terminator in den Kopf zu setzen, er solle dir eine Glatze scheren, wenn du allein im Zimmer wärst. Gitano würde einen Kahlkopf bestimmt nicht lieben." Angel zuckte zusammen, entspannte sich aber unter Matthias' warmen Fingern, die seine weißblonden Strähnen entlangglitten und sanft seinen Nacken massierten. "Deswegen bin ich auch so unangemeldet in das Zimmer gestürzt. Es ist nicht so, dass ich missgünstig sein wollte." Matthias' Stimme klang verlegen, als sei es eine besonders beschämende Empfindung. Sie schwiegen beide unsicher, lauschten auf ihre verschmelzenden Atemzüge. Dann atmete Matthias tief durch und schob Angel sanft von sich, um sich aufzurichten. "Aber das ist alles jetzt vorbei. Der Krieg wird beendet, das Spiel steht auf Remis." Angel warf ihm einen verständnislosen Blick zu, kämmte sich verwirrt lose Strähnen aus dem Gesicht. "Wie?" Matthias musterte ihn eindringlich. "Ich habe eine Abmachung mit dem König getroffen. Eine Dame wird gegen die andere Dame antreten." Plötzlich verlegen rieb er sich über die Stirn und senkte den Blick auf das Bettlaken. "Das heißt, wenn du mich deine schwarze Dame sein lässt." In Matthias' Augen lag vorsichtige Hoffnung und verunsicherte Kühnheit. Angel blinzelte ungläubig, dann nickte er langsam. "Ich weiß zwar nicht, wie du Gitano bekämpfen willst, aber ich nehme an." Dann grinste er übermütig und warf die Arme um Matthias' Nacken. "Dass ich das erlebe!! Einen schwarzen Ritter, der meine Ehre verteidigt!" Matthias schnaubte verlegen und drehte den Kopf weg, aber auch sein Profil konnte das stolze Lächeln, das seine Lippen kräuselte, nicht verbergen. ~~?* Angel mahnte nun gut gelaunt zur Eile. Immerhin mussten sie noch ihre Utensilien für das Sportfest zusammensuchen und auch das Mittagessen zu sich nehmen. Die allgemeine Aufregung steckte auch sie an, aber im Gegensatz zum aufgedrehten Geplapper ihrer Kameraden gingen sie still und in ihre eigenen Gedanken versunken nebeneinander her. Noch war der Krieg nicht beendet. ~~?* Angel bestand darauf, dass Matthias nur als Ersatzmann bereitstand. Er wollte ihn schonen, auch wenn Matthias sich beharrlich weigerte, ihm weitere Einzelheiten über die Abmachung mit Ronnie zu eröffnen. Beim zweiten Spiel fand sich zu Angels Freude auch Urs unter den Zuschauern. Das Gelände war doch weitläufiger, als man vermuten konnte. Angels Mannschaft schlug sich ganz gut. Durch das K.O.-System erreichten sie das Viertelfinale, um dort auf die Mannschaft der oberen Stufen zu stoßen. Die hatten zu Angels heimlicher Erleichterung die Mannschaft der Paul Ehrlich-Schule nach einem hart umkämpften Match ausgeschaltet. Die brütende Hitze forderte ihren Tribut. Beide Mannschaften waren schon ausgelaugt. Angel ließ sich von Urs sanft den schmerzenden Rücken massieren, während er Taktik und Aufstellung besprach. Sie mussten von der ersten Minute an das Tempo bestimmen, mit aller Kraft ihren Schulkameraden den Schneid abkaufen, wenn sich ihre Erschöpfung nicht als Achillesferse erweisen sollte. Matthias warf Angel einen scharfen Blick zu, den dieser auch ohne Worte korrekt interpretierte. Matthias würde von Anfang an in diesem Match spielen. ~~?* Eine überraschend große Zahl an Zuschauern verfolgte ihren Kampf, kam es doch einer Sensation gleich, dass die Mannschaften einer Schule sich so forderten. Allein der pure Trotz sicherte Angels erschöpfter Mannschaft einen hauchdünnen Vorsprung. Nur Matthias, der frisch in das Spiel gegangen war, wenn man die Anstrengungen der letzten Nacht außer Acht ließ, schien ein unerschöpflicher Quell der Ermutigung zu sein. Dabei reichte es schon aus, wenn er die Knie leicht beugte, die Stahlaugen schärfte und entschlossen und ruhig auf den Ball lauerte. Sein Selbstvertrauen schien unerschütterlich. Und ansteckend. Ein denkbar knapper Sieg bescherte schließlich einer völlig ausgepumpten Mannschaft einen zittrigen Abgang. Die Zuschauer lobten das unerwartet reißerische Halbfinale, aber es war klar, dass das hohe Maß an Anstrengung sie den Sieg im Finale kosten würde. Angel war dies gleich. Er beendete die Fehde, indem er dem Kapitän, der ihn nicht in seiner Mannschaft hatte dulden wollen, die Hand schüttelte. Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung folgte ihnen noch bis zu den Erfrischungszelten. Urs transportierte in seinem Bestreben, nicht müßiger Zuschauer zu sein, Angels Sporttasche. "Ihr wart einfach umwerfend, ein hochklassiges Spiel!!" Angel grinste halbherzig. Seine Glieder zitterten und ihm graute vor der Anstrengung des Finales. "Ich wünschte bloß, ich wäre schon zu Hause!", jammerte er kläglich und saugte an einer Zitronenscheibe. "Ich werde dich zur Not auf dem Rücken nach Hause schaffen!", versprach Urs aufmunternd und nickte Matthias freundlich zu. Angel registrierte erleichtert, dass sich die beiden mit vorsichtigem Respekt begegneten, bemüht, Angel keinesfalls zu belasten. Nach einer viel zu kurzen Pause, zumindest nach dem Eindruck der Spieler, wurde das Finale ausgetragen. Und obwohl sich alle unter Auferbieten der letzten Reserven anstrengten, mussten sie eine Niederlage akzeptieren. Aber die Stimmung blieb weiterhin so ausgelassen wie bei einem triumphalen Sieg. Nur wenige wussten, dass der letzte Akt noch ausstand. ~~?* Matthias berührte sanft Angels Handgelenk und nickte Urs entschuldigend zu. Der erwiderte die Geste knapp und spazierte aus dem Zelt, in dem sich die Teilnehmer umkleiden oder ausruhen konnten. Matthias fand eine verlassene Ecke, abgetrennt durch Zeltbahnen. Er streifte eilig sein Volleyballdress ab und enthüllte blutgesprenkelte Verbände. Angel errötete verlegen, als ihm klar wurde, mit welchen Schmerzen Matthias wohl gespielt haben musste. Ohne einen Laut von sich zu geben oder seine Kräfte zurückzuhalten. Matthias entfaltete mit ruhiger Präzision eine nachtschwarze Hose aus seiner Sporttasche. Er schlüpfte in die Hose und signalisierte Angel, dass er den hohen Bund eng um seine Taille schnüren sollte. Dann entrollte er schwarze Stoffbahnen und streckte fordernd die verletzten Unterarme zu Angel hin. "Mach sie fest!" Angel zögerte, wickelte dann behutsam die alten Verbände ab, um ein mikroskopisches Zittern wahrzunehmen. Aber Matthias' Miene blieb steinern, und durch pure Willenskraft bezwang er das Beben. Angel blieb nichts anderes übrig, als die schwarzen Bänder in engen Lagen stramm über die Muskeln zu zurren. "Was hast du vor?", fragte er angespannt. Matthias schenkte ihm ein grimmiges Lächeln. "Jetzt werde ich der weißen Dame eine Lektion erteilen." Für einen Seufzer lang berührte er Angels Handgelenk, folgte der Linie bis zu den anmutigen Fingern. Dann schritt er barfuß und aufrecht aus dem Zelt. ~~?* Angel schob sich neben Urs zu der Tribüne, auf der die unterschiedlichsten Vorführungen stattfanden. Nun erschien, ganz in Weiß gekleidet, um seine Bräune zu betonen, Gitano. Er bot eine akrobatische Mischung aus Slapstick und Zaubertricks, untermalt von Musik. Angel erkannte einige der Nummern, hatte Gitano sie doch mit ihm 'geprobt', als sie in der Turnhalle waren. Urs stieß ihn sanft an. "Und dieser Junge ist der Knackpunkt, ja?" Angel nickte finster und auch von Urs' rascher Auffassungsgabe überrascht, hatte er doch nur Bruchteile der letzten Ereignisse an Urs weitergegeben. Gitanos feurige Darbietung fand großen Beifall, streute er doch für jeden Geschmack etwas ein und ließ seinen Charme spielen. Eigentlich war es für jeden anderen eine unmögliche Aufgabe, nach dieser Vorstellung noch Gnade in den Augen der Zuschauer zu finden. Angels Magen krampfte sich zusammen, als Matthias ruhig in die Bühnenmitte schritt. Seine Gesichtszüge waren ernst, undurchdringlich, seine ganze Haltung straff und stolz. Die mitternachtsschwarze Hose und die Bänder um seine Unterarme unterstrichen seine Erscheinung wie ein dunkler Schemen. Auf seiner nackten, bronzefarbenen Haut schimmerten ein paar verirrte Sonnenreflexe. Und er verharrte völlig regungslos, bis sich der Lärm unter den Zuschauern legte. Die Aufmerksamkeit aller auf sich fokussierend schloss er die Augen und begann eine Kata. Ohne seine Umgebung zu sehen, bewegte er sich sicher auf dem Holzboden, führte pantomimisch einen Kampf gegen unsichtbare Feinde. Plötzlich verharrte er, schien auf etwas zu lauschen, das nur er hören konnte, dann hob er den Kopf an und öffnete die Stahlaugen. Auf seinen Lippen blitzte ein hungriges Lächeln auf. Und dann wirbelte er über die Bühne, blitzschnell und mit aller Kraft, völlig losgelöst von den Elementen. Seine Hände wurden zu tödlichen Klingen, sein Körper zu einem Schilfrohr im Sturm, biegsam und geschmeidig, nicht zu fassen. Seine Darbietung endete in einem feurigen Finale, dann verneigte er sich schweigend, um gelassen von der Bühne zu gehen. Für einige Sekunden herrschte überraschtes Schweigen, dann brandete tosender Beifall auf. Und das Spiel war beendet. ~~?* Urs bahnte für Angel sanft einen Weg zum Zelt. "Und du sagst, er war die ganze Nacht draußen?", erkundigte er sich ehrfürchtig. Angel nickte und spähte unruhig durch die Menge. "Er ist ziellos durch die Gegend gelaufen, barfuß und bloß in dünnem Hemd und Hosen. Ist irgendwann dann zur Besinnung gekommen, als schon die Vögel sangen." Urs lächelte über Angels Nervosität und führte ihn zielsicher zu Matthias, der gerade ein T-Shirt überstreifte. Die schwarzen Bänder waren matt von eingetrocknetem Blut. "Du bist ein sehr leidenschaftlicher Kämpfer." Urs' helle Stimme schwang von unausgesprochenen Gedanken. Matthias starrte ihm prüfend in die eisblauen Augen, dann nickte er langsam. Und lächelte scheu. Angels Nervenkostüm ertrug keine weiteren Subtilitäten. "Mir reicht's!! Ich will bloß noch duschen und dann ins Bett!!" Mit der ausschweifenden Geste einer Stummfilmdiva warf er sich zwischen sie und legte ihnen die Arme um die Schultern. ~~?* Angel erwachte am nächsten Morgen mit schmerzenden Gliedern und fand zu seiner Überraschung Matthias regungslos auf dem Schreibtisch sitzend vor, den Blick konzentriert auf Franks Gesicht geheftet. Angel rieb sich den Schlaf aus den Augen und stöhnte laut. "Uuhhh!! Ich glaub, ich bewege mich nie wieder!" Auf Matthias' Gesicht verirrte sich ein verstohlenes Lächeln. Angel erhob sich übertrieben ächzend und lehnte sich neben Matthias an den Schreibtisch. "Was siehst du?", fragte er leise. Matthias schwieg einen Moment. Angel konnte fühlen, wie dieser sorgfältig seine Antwort abwägte. "Glück." Angel lächelte wie unter Zwang, aber seine Stimme schwankte unstet. "Ja, aber mir war es ein wenig zu kurz." Matthias drehte den Kopf, wagte aber nicht, eine Frage zu stellen. In den Stahlaugen stand ein unerklärlicher Schmerz. Angel riss sich los, um betont energisch das Bad in Beschlag zu nehmen. Er entkleidete sich achtlos, stieg unter die Dusche. Und war dankbar für den Wasserstrahl, der ihm die Tränen aus den Augen spülte. Als er aus der Dusche stieg, wartete ein Handtuch bereits auf ihn. Aber Matthias war gegangen. ~~?* Den Rest des Tages begegnete Matthias Angel seltsam reserviert und in sich gekehrt. Angel konnte sehen, dass hinter den graublauen Augen ein stiller Kampf mit Verbissenheit ausgefochten wurde. Und die erstickende Ruhe, in der sich diese Zerreißprobe abspielte, war noch erschreckender als jede laute Reaktion zuvor. Schließlich hielt Angel die Spannung nicht länger aus. Er wollte nicht bis zur Eruption warten. Er legte eine Hand auf Matthias' verbundenen Unterarm. "Sag mir, was dich beschäftigt, Matti. Bitte." Matthias hielt den Blick gesenkt, ein verwirrendes Lächeln tanzte über seine Züge. "Matti. Wer würde auf die Idee kommen, mir einen finnischen Namen zu geben..." Dann hob er den Kopf an und gestattete Angel für einen Augenblick einen Einblick in seine Seele. "Ich muss wählen zwischen der Vernunft und... einer winzigen Hoffnung." Matthias schlüpfte aus den Schuhen, ein sicheres Zeichen dafür, dass er wieder eine Trainingseinheit absolvieren wollte. Angel betrachtete versonnen die straffe Gestalt, die sich unermüdlich zur Disziplin anhielt, unerbittlich mit sich selbst. "Vertraue auf dein Herz", wisperte er heiser. Matthias erstarrte in der Tür, warf Angel dann einen Blick voller Schmerz und Verzweiflung zu. Und floh. ~~?* Angel quälte sich vertieft durch Latein-Hausaufgaben, als eine Jacke auf seine Unterlagen gelegt wurde. Er schreckte auf und blickte hoch. Matthias sah ihn an, dann wiesen seine Augen zum Fenster. Angel bemerkte den dichten, sanften Regen, wie ein Schleier aus Grau. Er zog die Augenbrauen zusammen, schob dann aber den Stuhl zurück und streifte seine Jacke über. Matthias schlüpfte in sein schwarzes Ölzeug, behielt darunter die einfachen Stoffhosen aber an. Er drehte sich nicht um, wartete aber, bis Angel hinter ihm stand, dann öffnete er die Tür und ging zügig den Flur hinab zum Treppenhaus. Angel verschloss ihr Zimmer und hastete hinter Matthias her. »Dieses Tempo!! Es sieht aus, als würde er über den Boden gleiten und trotzdem legt er eine solche Geschwindigkeit vor!!« Im Treppenhaus holte er Matthias ein, aber vielleicht hatte der auch nur gewartet. Sie traten gemeinsam vor die Tür. Der Himmel war schiefergrau, eine einzige blanke Fläche ohne Wolken, ohne Sonne. Der Regen rauschte einlullend hernieder, nur das Tropfen von Blättern und Dächern unterbrach die monotone Melodie. Angel schlug den Kragen seiner Jacke hoch und folgte Matthias in den Park, tief die feuchte Luft einatmend. Schon bald war er durchnässt, klebten die langen Haare an seinem Kopf, aber er genoss dieses Gefühl wie eine warme Dusche. Der Regen schien eine zärtliche Liebkosung zu sein für die Natur, und Angel blieb mehrfach stehen, legte den Kopf in den Nacken und hob die Hände, um mit geschlossenen Augen in den Himmel zu lächeln. Matthias wartete immer wieder geduldig, ohne ein Wort. Sie erreichten den Teil des Parks, der als Rückzugsort für die heimische Flora und Fauna angelegt worden war, wildes Gehölz und dichter Pflanzenbewuchs. Das Betreten war untersagt, wie auch ein Schild verkündete, damit die Tiere nicht gestört wurden. Matthias blieb regungslos stehen und durchdrang das Unterholz mit seinen Blicken, aber er suchte nicht nach einem Anblick, sondern nach einem Gefühl. Angel wartete auf eine Reaktion, eine Erklärung, warum Matthias hier in eine statuenhafte Starre verfiel, aber er konnte keinen Hinweis entschlüsseln. »Nun gut, ich werde eben mich selbst unterhalten!«, beschloss er und legte erneut den Kopf in den Nacken, öffnete den Mund, damit die Regentropfen seine Lippen herabrinnen konnten und sein Innerstes erkundeten. Er drehte sich langsam im Kreis und fühlte eine beglückte Selbstzufriedenheit in sich aufsteigen, eine friedvolle Ruhe mit einem leichten Augenzwinkern. Matthias versank in meditativer Stille. Das farbenprächtige Grün verlief zu einem Kaleidoskop, der Regen wurde eins mit dem Rauschen seines Pulses in seinen Ohren. Er schaltete alle Gedanken aus und atmete tief. »Leben.« Angel strich sich mit beiden Händen die weißblonden, nassen Strähnen aus dem Gesicht und lachte musikalisch über die Wärme, die ihn erfüllte. »Wenn die Luft nun noch salzig wäre...!« Als er sich umwandte, verharrte er verblüfft. Matthias' Lippen waren zu einem scheuen Lächeln gekräuselt. Das maskenhafte Gesicht wirkte auf eine überwältigende Weise lebendig und gefühlvoll. Angel schnappte sichtbar nach Luft, aber er enthielt sich aller Worte. Stattdessen erwiderte er das Lächeln sanft. Matthias grub die Hände in die Taschen und setzte sich in Bewegung. Angel schloss zu ihm auf, um in freundschaftlichem Schweigen den Nachhauseweg anzutreten. In der Empfangshalle schüttelte er seine Jacke aus und ließ die nassen Haare wirbeln. Matthias schlüpfte lediglich aus dem Ölzeug, dann drehte er in Richtung Gymnastikraum ab. Angel zog eine Augenbraue hoch, trollte sich aber zum Aufzug. Er brauchte nun eine Dusche!! Er entledigte sich seiner Kleider und schäumte sich ein, überrascht, wie warm und geschmeidig seine Muskeln von diesem Spaziergang im Regen waren. In einem warmen Jogginganzug und einem Handtuch um die Schultern stieg er die Treppen hinab. Die allgegenwärtigen Geräusche des Lehrbetriebes schienen gedämpft und fern, als er den Gymnastikraum betrat. Die hohen Glasfenster spendeten das unwirkliche Licht des endlosen Regenhimmels. Natürlich hatte Matthias keine Lampen angeschaltet. Das Ölzeug hing an einer Sprossenwand, darunter standen die Schuhe. Matthias selbst bewegte sich mit der Eleganz einer Raubkatze durch den Raum, barfüßig, nur in T-Shirt und Hose. Angel erkannte mittlerweile die Abfolge und das Tempo. »Während ich mich auf angenehme Weise ermattet fühle, absolviert er schon wieder ein Kampftraining!!« Angel hockte sich auf einen kleinen Kasten und verfolgte Matthias. Dieses Mal wurde er kein tödlicher Pfeil oder ein verzweifeltes Ungeheuer, nein, dieses Mal tanzte er nach seinem eigenen Rhythmus eine Huldigung an das Leben. Angel lächelte versonnen und wartete darauf, dass Matthias das Finale zeigte. Als der sich umwandte, zeigte sein Gesicht keine Überraschung, dass Angel bei ihm war. Er durchquerte gemächlich den Raum und blieb vor Angel stehen, um dann sanft das Handtuch von Angels Schultern zu ziehen und sich den Kopf abzutrocknen. Angel sah ihm verunsichert zu. Er fürchtete sich davor, die stille Verbindung zu zerstören, durch eine unbedachte Geste Matthias von sich abzuschrecken. Der legte das Handtuch wieder um Angels Schultern, ohne ihn mit den Fingern zu berühren. Er hinterließ lediglich eine Ahnung von Körperwärme. Dann sammelte er seine Sachen ein und schlüpfte in die Socken. Angel versuchte behutsam, Blickkontakt aufzunehmen. Matthias' Augen blieben so graublau wie immer, aber für einen winzigen Moment meinte Angel, ein helles Funkeln darin zu sehen. "Hast... hast du eine Entscheidung getroffen?" Er überwand rasch die Distanz zwischen ihnen, versuchte, den Stahlaugen eine Antwort zu entlocken. Matthias legte den Kopf leicht schief. "Ich bin anders", murmelte er heiser. "So wie ich", erwiderte Angel leise und legte die Arme um Matthias' Nacken. Matthias' Augen glühten. "Vielleicht sind wir uns zu ähnlich", gab er mit belegter Stimme warnend zu bedenken. Angels Lippen zuckten in einem amüsierten Grinsen. "Dann bleibt es wenigstens in der Familie", hauchte er und küsste Matthias scheu auf die Lippen. "Ich bin verrückt", wisperte Matthias, während sein Blick zwischen Angels Katzenaugen und seinen schimmernden Lippen hin und her huschte. "Und ich steh auf Jungs", flüsterte Angel und lehnte seine Stirn vorsichtig an Matthias'. Über Matthias' Gesicht irrlichterte ein warmes Lächeln. "Perfekt." Dann zog er Angel an sich, eine Hand fest um die anmutige Taille geschlungen, während die andere mit bestimmten Griff in Angels Nacken weißblonde Strähnen umklammerte. Angel zögerte einen Wimpernschlag, dann küsste er Matthias erneut auf die Lippen, berauschte sich an dem erregenden Duft aus Regen und Vanille, den Matthias verströmte. Wurde eng an diesen glühenden Körper gezogen und streckte die Waffen vor einem intensiven, alles offenbarenden Kuss. Ließ eine furchteinflößende Leidenschaft von sich Besitz ergreifen, seine Nerven in explodierender Begierde entflammen. Angel erzitterte unter dieser ungestümen Annäherung. Sein Herz raste zum Zerspringen, seine Finger gruben sich tief in Matthias' Schultern, um nicht den Kontakt zu dieser Welt zu verlieren. Angel stöhnte auf, als Matthias sich zurückzog, um ihnen eine überfällige Atempause zu verschaffen. Er musste sich mit weichen Knien an Matthias festklammern. Ein leichter Schwindel zauberte schwarze Flecken in seine Wahrnehmung. Matthias hielt ihn sicher. Seine Hand streichelte über Angels Wange, spielte liebevoll mit den weißblonden Strähnen. "Entschuldige, ich bin wohl ein bisschen... ausgehungert." Was ihn aber nicht daran hinderte, sanft glühende Küsse auf Angels Schläfen und dann die Wangen entlang zum Hals regnen zu lassen. Angel entwichen lustvolle Seufzer. Ungläubig verfolgte er seine eigene Reaktion auf Matthias' Liebkosungen. Er bremste Matthias' Forschungsdrang zärtlich, indem er eine schlanke Hand auf seiner Wange platzierte und ihn mit sanfter Gewalt bewegte, in seine Augen zu blicken. "Wenn du... weitermachen willst, dann sollten wir besser nach oben gehen." Matthias leckte warm über Angels bebende Lippen. "Ich habe so einen Hunger", seine Augen glühten feuersprühend, "ich kann nicht mehr aufhören, ohne zu explodieren." Angel unterdrückte mühsam ein aufgedrehtes Kichern. Er fühlte sich federleicht. "Okay, mein tapferer, schwarzer Ritter, dann folge mir!" Er focht einen winzigen Kampf aus, um Matthias' Hände von seinem Körper zu lösen, dann verflochten sich ihre Finger miteinander, als wäre es nie anders gewesen. "Ich folge dir, mein König!" Matthias legte Ernst in seine Worte, und Angel nickte. Was auch immer die Zukunft bringen würde: dieses unsichtbare Versprechen würde sie verbinden. ~~?* Kiss your past good-bye (Tyler/Hudson) Aerosmith Finders keepers losers weep Down on 42nd Street Oh, bare-foot children cryin' my,oh,my I watched you on the avenue While other men were having you I think that you should let your caged bird fly And Kiss Your Past Good-Bye Kiss Your Past Good-Bye Kiss Your Past Good-Bye, yeah Kiss Your Past Good-Bye I've been so lost I must confess I've had my share of loneliness But yeah, it's hard to keep a good man down The loves you lost were all in vain The past lives on inside your brain I don't think you need those memories hangin round Yeah Good-bye Kiss Your Past Good-Bye Kiss Your Past Good-Bye You gotta let it fly And Kiss Your Past Good-Bye (Oh, Kiss Your Past Good-Bye) And if that bird don't fly away There's just one thing I got to say It's later than a deuce of ticks Your broken heart, it needs a fix You're feedin' off a high that would not last And people they don't seem to care And sorry just don't cut it, yeah It seems to me you're gettin' nowhere fast So Kiss...Your...Past Or kiss your ass good-bye Kiss Your Past Good-Bye It's no marks if you cry Kiss Your Past Good-Bye Kiss Your Past Good-Bye Or kiss your ass good-bye Yeah ~~?* Fortsetzung in "Lichtgestalten und Schattenkrieger"! ~~?* Vielen Dank fürs Lesen! kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Teil 4 der Saga, genau einen Monat später und sofort wieder in die Mitte des Geschehens, an Angels Seite in einen neuen Lebensabschnitt und die Bewältigung seiner Trauer. Dazu kommt ein neuer Mitspieler, Matthias, dann Gitano, der Angel unverblümt den Hof macht, und Urs, der seinerseits ein Trauma zu bewältigen hat.. keine leichte Kost, doch ungeachtet der vorhergehenden Turbulenzen mit Teil 3 war ich entschlossen, diesen Part noch abzuschließen. Mit Matti erhält Angel einen Gegenpart, der vor Physis schier zu bersten scheint, zunächst keineswegs sympathisch, bis beide ihre Gemeinsamkeiten entdecken und sich gemeinsam gegen die Unbillen ihrer neuen Umgebung wehren. Inspiriert wurden viele Szenen erneut durch die zitierten Songs, die die Stimmungslage verdeutlichen sollten, zudem basieren die Abläufe vage auf einem Schachspiel, für das Angel durch Frank bereits ein Faible entwickelt hatte.