Titel: Bonds Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original + Fan Fiction FSK: ab 16 Kategorie: Spannung Ereignis: Advent 2010 Erstellt: 30.11.2010 Disclaimer: * Meet me halfway gehört den Black Eyed Peas * Steh' auf, wenn Du am Boden bist gehört den Toten Hosen * The Power of Love gehören Frankie goes to Hollywood * Wild Adapter gehört Kazuya Minekura * Wish gehört Clamp, siehe Informationen unter "W" zu "Wish" ~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x !Herausforderung für den Adventskalender 2010! =>Die Konditionen: + nicht mehr als fünf Stichworte + ein Fandom (ich behalte mir Nachfragen vor, wenn es mir nicht bekannt ist) + ein Lied/Songtext oder Bild (bitte mit Link, damit ich nachlesen/-hören oder anschauen kann + bitte im Betreff Name/Nick und das Stichwort "Adventskalender" nicht vergessen, sonst schlägt der Spam-Guard zu + Einsendeschluss ist Sonntag, der 26.09.2010 =>Und hier die Herausforderungen in der Reihenfolge ihres Eingangs: ~ Koryu: * "Steh' auf, wenn Du am Boden bist" von den Toten Hosen * Fandom: "Wish" von Clamp, Pairing: Koryu/Ryuki * Durian (Beliebte Stinkfrucht aus Thailand) ~ Speidy: * "Meet me halfway" von Black Eyed Peas * Fandom: "Wild Adapter" von Kazuya Minekura * Russisches Konfekt, seltene Bücher, Seifenblasen, Malzbier, Kätzchenschlüsselanhänger ~ Vegeta: * Krippenspiel, Elch, Kokosmakronen, Gastauftritt von Lemmie und Chai aus "Schatzsuche", Käptens neue Familie (aus "Käpten kapert") * "The power of love" von Frankie goes to Hollywood Hinweis zu "Wild Adapter": im Original spielt die Handlung der bisher 6 Bände im Yokohama der Jahre 1995/1996. Ich habe mir die Freiheit genommen, die Ereignisse in die Zukunft zu verlegen. In der deutschen Übersetzung werden durchgängig die Nachnamen benutzt, also habe ich mich daran orientiert. Vielen Dank an die Herausforderer Koryu, Speidy und Vegeta! ~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x*~~~~~~x Bonds Tag 01 Ryuki, der gegenwärtige Feuer-Engel, und damit einer der vier Hauptengel, landete elegant-energisch, klappte seine Flügel ordentlich ein und marschierte auf dem saftig-grünen Rasen hin zur Quelle. An diesem Ort, genau zwischen Himmel und Hölle, herrschte ein ewiger Waffenstillstand zwischen Engeln und Dämonen. Es war quasi der "Hotspot" für den unangestrengten Austausch miteinander. In unmittelbarer Sichtweite kauerte zusammengesunken eine zarte Gestalt mit enormem Schopf, in extravagante Kombinationen aus Schwarz, Violett und Lila gewandet, mit silbernen Schnallen und Ketten sowie Verschnürungen und Einsätzen aus schwarzem Lackleder verziert. »Ha, Koryu!« Sein eingeschworener Erzfeind! Zielstrebig hielt Ryuki auf den Dämon, seines Zeichens Cousin von Satans Sohn Kokuyo zu, die Wangen bereits entlarvend in Vorfreude auf ein heftiges Gefecht gerötet. Koryu verkörperte all das, was er an Dämonen besonders verabscheute: aufgeblasene Arroganz, abstoßende Eitelkeit, unverschämte Sprache durchsetzt mit unflätigen Beschimpfungen! Dazu ein eklatanter Mangel an Disziplin und grundsätzlich die ungenierte Bereitschaft, all- und jederzeit gegen die guten Sitten, Moral und Anstand zu verstoßen! Ryuki fletschte die Zähne zu einem angriffslustigen Grinsen. Er LIEBTE es, Koryu zu HASSEN! "He, du Dämon, welche widerwärtigen Verfehlungen hast du dir jetzt schon wieder zu schulden kommen lassen?" Eröffnete er das Gefecht mit einer Einführungsfloskel. Da es ihm als Engel streng untersagt war, zu fluchen oder Schimpfworte zu benutzen, musste er sich in diesem Aspekt eine gewisse Lahmarschigkeit, wie Koryu boshaft zu sagen pflegte, zurechnen lassen. Der Dämon, den tiefschwarzen, wild frisierten Schopf auf die angezogenen Knie abgelegt, reagierte nicht. Ryuki runzelte die Stirn, wobei sich eine wohl bekannte, feuriges Ungemach andeutende Furche zwischen den Augenbrauen eingravierte. "He!" Er stupste Koryu mit einer Sandalenspitze an. "Zu all deinen Makeln gesellt sich jetzt wohl auch Taubheit im Alter, wie?" Provozierte er unerschrocken im neuen Anlauf. Dass Koryu etwas älter als er war, reichte gewöhnlich, um zumindest eine gehässige Antwort hervorzulocken. Doch trotz dieser Anspielungen hob sich das Haupt nicht von den Knien, blieben die Beine eng umschlungen. "Hmmmm." Knurrte Ryuki verwirrt und überdachte ratlos seine Taktik. Er hatte doch eigentlich alles richtig gemacht, oder? Misstrauisch umrundete er die kauernde Gestalt, erwartete, dass sie jeden Moment aufsprang und "ätschbätsch, blöder Federmatz!" brüllte. Es geschah jedoch gar nichts. Die Hände in die schlanken Hüften gestemmt beugte Ryuki sich vor, studierte den Dämon eingehend. Das WAR Koryu, eindeutig! "... aber es könnte ein fieser Trick sein." Überlegte er halblaut. Möglicherweise hatte Koryu, dieser miese Trickser und Taschenspieler, ihm ja eine Puppe untergejubelt?! Oder irgendetwas anderes, was die Menschen zu produzieren schienen?! Und IHN nicht die BOHNE interessierte! Menschen, pah! Erneut stieß er, dieses Mal etwas energischer, mit der Sandalenspitze gegen die aparte Kehrseite des hockenden Dämons. "He, aufwachen, du verschlafener Ausbund von Sündhaftigkeit!" Forderte er forsch. "...hau ab." Knurrte es kaum hörbar unter dem wüsten Schopf hervor. "Was?! WAS?!" Ryuki explodierte heftig. "Das ist hier NEUTRALES Gebiet, klar?! Ich kann hier so oft und so lange bleiben, wie ich will!!" Nicht die kreativste Eröffnung, die er Koryu zugestand, aber immerhin ein Anfang. Bloß, es tat sich nichts weiter. Kein Widerspruch, kein hämischer Kommentar, keine Attacke. Ryukis Stirnrunzeln vertiefte sich. Er HASSTE es, wenn sich jemand nicht an die Spielregeln hielt! Und vor allem Koryu, dieser-dieser-dieser DÄMON! "Ich werde NICHT weggehen, hörst du?!" Brüllte er besonders röhrend. "Von einem Dämon lasse ich mir gar nichts sagen!!" Die Fäuste schwingend, in athletischer Angriffspose, trotz seiner eher sehnigen Gestalt, wartete Ryuki mit flammendem Blick und feuereifrig roten Backen auf die Widerrede. Als sie immer noch nicht kam, fühlte er sich brüskiert und gelackmeiert, was seiner üblen Laune nur noch Auftrieb verschaffte. "Verschwinde DU doch, du Dämon!" Fauchte er betont aggressiv, tippte erneut mit der Sandalenspitze gegen das aparte Hinterteil. Nun MUSSTE der blöde Koryu aber endlich reagieren! "...lass mich in Ruhe." Zischte der jedoch bloß abfällig, unterzog sich nicht einmal der Mühe, den Kopf von den Knien zu heben. »DAS ist NICHT FAIR!« Fand Ryuki, nun stinksauer und hochroten Kopfes. Er MÜHTE sich hier ab, um Koryu Steilvorlagen zu liefern, damit sie ihr gewohntes Geplänkel aufnehmen konnten, und was tat dieser faule Dämon?! Gar NICHTS! Ließ ihn hier dusselig und albern herumstehen! "Jetzt REICHT'S mir aber!" Zündete Ryuki wie eine Rakete, ging in die Hocke und packte eine Schulter, zerrte den Dämon herum. "Lass mich IN RUHE!" Unerwartet heftig stieß Koryu ihn weg, sodass Ryuki unversehens einen Purzelbaum schlug, an Tempo gewann, sich nicht mehr abfangen konnte und prompt in die Quelle plumpste. Das Ufer war zwar niedrig, sodass kaum die Gefahr bestand, sich ernsthaft zu verletzen oder gar zu ertrinken, doch Ryukis Würde war nun vollends dahin. Triefend nass hockte er mit ausgestreckten Beinen völlig perplex im Wasser. Koryu wich seinem verblüfften Blick aus, kauerte sich wieder zusammen, umschlang die Beine in den kniehohen Lederstiefeln und versteckte sein Gesicht auf den Knien. Nun fiel ihm durch eine ruckartige Bewegung auch noch die schwere Kapuze seines Mantels über das Haupt, was ihn vollends vor jedem Betrachter verbarg! "Na, da soll mich doch...!" Eilig verschluckte Ryuki den Rest dieser Verwünschung und kam mühsam auf die Beine. Anklagend lupfte er die tropfenden Säume seines Übergewandes, stapfte dann zornig und mit jedem quatschenden Schritt seiner Sandalen geladener zu Koryu. "Du spinnst wohl!" Klagte er ihn an, schüttelte sich heftig, um Koryu an seinem unerwarteten Rendezvous mit dem Quellwasser zu beteiligen. "Was fällt dir ein, mich in die Quelle zu schubsen?!" Als Reaktion schlang Koryu die Arme nun um sein gekrümmtes Haupt, offenkundig mit der Absicht, sich die Ohren zuzuhalten. "Na warte, DU!" Röhrte Ryuki, nun ernsthaft durcheinander und deshalb umso zorniger. Kochend vor Wut, ja, dampfend, besah man sich die Gewänder, stürzte er sich auf Koryu. Der war bestrebt, den aufbrausenden Engel abzuschütteln, also rollten sie und rangen miteinander, mal vor, mal zurück, über den nun nicht mehr ganz so frischen Rasen. Die heftige Kabbelei endete schließlich damit, dass Koryu unerwartet eine Hand befreien konnte und Ryuki mit geballter Faust in den Bauch schlug. Ächzend vor Schmerz klappte der zusammen und krümmte sich, verbrühende Tränen in den Augen, während Koryu sich aufrappelte und in die Senkrechte kam. "Das bist du selbst schuld." Wisperte der schwarzhaarige Dämon tonlos, die schwarzen Augen leer und beschlagen. "Lass mich gefälligst in Ruhe." Damit machte er ansatzlos kehrt, marschierte steifbeinig davon, breitete die ledernen Schwingen aus und verschwand vor Ryukis fassungslos-schmerzerfülltem Blick in der Unterwelt. ~~~~~~x* Hisui, der ehemalige Windengel, der unter einer Trauerweide saß und seinem Liebsten, Satans Sohn Kokuyo, durch die schwarzen Haare streichelte, merkte auf, lauschte. Kokuyo, bequem ausgestreckt und den Kopf im Schoß seines geliebten Engels geborgen, verzog demonstrativ die attraktiv-finstere Miene. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht IRGENDWER in ihr irdisches Refugium platzte, um zu stören! Über ihm zwinkerte Hisui lächelnd, küsste seine Zeigefingerspitze und legte sie wie ein Siegel auf Kokuyos ärgerlich geschürzte Lippen. Der seufzte bloß und schickte sich drein. Wenn ein Dämon, ja, sogar der Sohn des Herrn der Unterwelt, sich ernsthaft verliebte, war er Wachs in den Händen seines Geliebten. Wer wäre wohl nicht liebend gern Wachs in Hisuis eleganten Händen?! »Keiner außer mir!« Drohte Kokuyo selbst in Gedanken höllisch knurrend. Er duldete keine Rivalen, auch wenn er sicher war, dass Hisui seine Liebe erwiderte. Der bloße Gedanke, es könnte jemand... trieb ihn zur Raserei. Nur wenige Augenblicke später platzte Ryuki herein, die Flügel noch derangiert, der Schopf gewohnt wirr, die Augen flammend. "Hisui! Hisui, ich muss... oh." Brach er mit einer Grimasse ab. Zwischen ihm und Kokuyo wurde keine Liebe verloren. "Der lästige Glüh-Engel." Kommentierte Kokuyo spöttisch Ryukis gewohnt aufbrausend-aufgelöstes Erscheinen. "Wo brennt's denn dieses Mal?" Ergänzte er süffisant und machte keinen Hehl aus seiner Vermutung, dass Ryuki der wohl untalentierteste Feuer-Engel war, den er je erlebt hatte. "Ich bin hier, um mit Hisui zu sprechen, nicht mit dir!" Fauchte Ryuki aufgebracht. Er würde Kokuyo NIEMALS, NIE, NIE, NIE verzeihen, dass der Hisui überzeugt hatte, ihm aus dem Himmel zu folgen! Und schmutzige... Dinge zu tun! "Frieden, ihr beiden." Gebot Hisui mit einem sanften Lachen, sichtlich amüsiert. Er hob eine elegante Hand, bot sie Ryuki an, damit der sie nehmen und sich neben ihm niederlassen konnte. Mit der anderen kniff er Kokuyo sanft in die Nasenspitze. Keinen Streit! Kokuyo grummelte Unverständliches, drehte sich demonstrativ von Ryuki weg, legte beide Arme um Hisuis schlanke Hüften, die malträtierte Nasenspitze an dessen flachen Bauch reibend. »Ha!« Ryuki starrte an den Hinterkopf von Satans Sohn und verspürte den wahrhaft unengelhaften Drang, Kokuyo an den Ohren aus Hisuis Schoß zu reißen, ihm dort hinzutreten, wo nach seiner Auffassung alle Dämonen ihr Gehirn hatten. "Was ist denn geschehen?" Hisui unterdrückte sein Amüsement über die beiden Streithähne, die so eifersüchtig um seine Gunst buhlten, hob Ryukis Kinn mit einer Fingerspitze sanft an. "Wie kann ich dir helfen?" Wie Sahneeis in der Sonne schmolz Ryukis Zorn auf Kokuyo dahin, als er in Hisuis fröhlich-ruhiges Lächeln strahlte. Nachsichtig den störenden Dämon ignorierend schilderte er eifrig seinen Besuch bei der Quelle und Koryus seltsame Reaktion. "Denkst du, er ist vielleicht krank?" Holte er sich besorgt Rat bei Hisui ein. "Das klingt wirklich nicht, als wäre Koryu ganz er selbst gewesen." Pflichtete ihm Hisui gelassen bei. "Also ist er krank?!" Ryuki ballte die Fäuste. "Können Dämonen krank werden?" "Quatsch!" Ließ sich Kokuyo, von Hisuis sehr bequemen Schoß gedämpft, vernehmen. "Was heißt hier Quatsch?!" Ryuki sprang wie ein Schachtelteufelchen auf die Beine, loderte sengende Blicke der Vernichtung auf den Dämon, der sich gemächlich auf den Rücken rollte. Und auf Hisuis Schoß herumfläzte wie auf einem ordinären Kopfkissen! Betont langsam langte Kokuyo über sich, fing Hisuis Hand ein, um einen Kuss auf die Innenfläche zu brennen. "Quatsch bedeutet, dass du falsch gewickelt bist, Hitzkopf." "Ach ja?! ACH JA?!" Ryuki schwebte nun, die Flügel ausgebreitet, fauchend und sengend. "Was stimmt denn nicht mit ihm, hä?! Und benutz Hisui gefälligst nicht wie dein Lotterbett, du Flegel!!" "MÖÖÖP!" Kommentierte Kokuyo gefährlich grinsend diesen Fauxpas eines Schimpfwortes, bleckte sein Raubtiergebiss auf. "DAS ist aber ein unfeines Wort für einen Engel." Und RÄKELTE sich demonstrativ auf Hisuis Schoß. "Du WIDERLICHER, PERVERSER....!" Bevor Ryuki endgültig gegen sein Kurzschlusstemperament verlieren konnte, hob Hisui die Hand in einer befehlsgewohnten Geste. Der Wind, obwohl längst nicht mehr sein Aufgabengebiet, schnurrte liebevoll und bremste wie eine Wand den heruntersausenden Ryuki. "Schatz?" Hisui zupfte an einem spitzen Ohr. "Bitte verrate MIR doch, was Koryu fehlt, ja?" Die angenehme, wohltuende Stimme, die sanften Worte... Kokuyo erkannte trotz des zärtlichen Lächelns in dem unirdisch schönen Gesicht, dass er besser daran tat, Hisuis Aufforderung Folge zu leisten. Hisui war gewöhnlich sehr langmütig und gelassen, doch wenn er ernsthaft verstimmt war, wich er Kokuyo mit solchem Geschick aus, dass den Sohn des Fürsten der Unterwelt ein wahrhaftig höllischer Katzenjammer packte! "Er hat was Falsches gegessen." Murmelte Kokuyo nun nachgiebig, unterließ es tunlichst, Ryuki anzusehen. Wenn der lästige Blöd-Engel nämlich nur einen HAUCH von Triumph zeigte, dann würde er...! Aber so was von...!! "Gegessen?" Ryuki landete mit einem leichten Plumps. "Was denn Falsches gegessen?!" Er war verwirrt genug, um tatsächlich zu vergessen, dass er sich furchtbar aufregen und herumtoben sollte. "Das musst du ihn schon selbst fragen." Grummelte Kokuyo und drehte sich wieder zu Hisui. Das Auskunftsbüro der Hölle hatte hiermit geschlossen. BASTA! Ryuki warf Hisui einen hilflosen Blick zu. "Aber wenn's ihm nicht gut geht, muss sich doch jemand um ihn kümmern!" Er erinnerte sich nur ungern an die Folgen, die sein unfreiwilliger Konsum von Menschennahrung nach sich gezogen hatte. {siehe "Himmelsfeuer und Höllenfeuer" ^,^} "Hrmpf!" Knurrte Kokuyo, der ganz bestimmt nicht wegen eines lästigen Cousins in die Unterwelt wandern wollte. "Vielleicht kann Ransho ja helfen!" Ryuki ignorierte Kokuyo, bereits seinen davon eilenden Gedanken auf der Spur. "Ich muss gleich los und ihn fragen!!" Damit winkte er Hisui, bereits Schwung holend, noch eifrig zu, bevor er kehrtmachte und nach Ransho, dem Erd-Engel, suchte. ~~~~~~x* Ransho seufzte stumm. Toki, der Wasser-Engel, verdrehte die Mandelaugen, verzog aber keine Miene. "I-iich be-bekomm das hin! Ehr-ehrlich!" Stotterte Kasui, der neue Wind-Engel, beschwichtigend. Danach sah es aber nun wirklich nicht aus. Um seine besonderen Kräfte zu schulen, hatten sich die beiden anderen Haupt-Engel einige Übungen ausgedacht. Diese sollten auch dazu beitragen, Kasuis Selbstvertrauen zu stärken. Leider zeigten sich momentan nur Rückschläge. Neben einer mehrfach geklebten Blumenvase lagen in Pfützen traurige Überreste von Gräsern und Blumen. »EIN simples Arrangement.« Seufzte Ransho innerlich. »Komm schon, so schwer ist das doch gar nicht!« Zumindest hatte nie jemand davon gehört, dass Hisui sich mit diesen Angelegenheiten schwer tat. Was allerdings auch daran liegen konnte, dass Hisui der älteste Haupt-Engel war. Mit pausbackigem Gesicht, kugelrunden Augen, die nun vor Konzentration zusammengekniffen wurden, und einem unüberhörbaren Sprachfehler, zusätzlich noch von einem Lispeln begleitet, konnte der "arme" Wind-Engel Kasui, wie ihn alle mittlerweile nannten, wirklich nicht darauf hoffen, mit Hisuis Legende zu konkurrieren. Erstaunlicherweise jedoch umgab den neuen Wind-Engel ein schier unerschütterlicher Schild von hemmungslosem und derzeit auch völlig unbegründetem Optimismus. Mit anderen Worten: Kasui WUSSTE nicht, dass er scheiterte. Die Zungenspitze in einem Mundwinkel eingeklemmt fixierte er das traurige Arrangement, bemühte sich um einen ZARTEN Windhauch, der eine Komposition zusammenstellen sollte, behutsam einzelne Gräser und Blumen anheben, in die Vase einführen, dort elegant und stilsicher arrangieren. Die jähe Böe schmetterte erneut die Vase um und zerzauste die ohnehin schon arg gerupften Blütenkelche, deren Blätter nun führerlos in den Pfützen trieben. Toki drehte erneut die Augen in den Hinterkopf, ein sehr unerfreulicher Anblick. "Ransho! RANSHO!" Ryukis Trompetenruf, üblicherweise der Auftakt zu Chaos und Krawall, störte in diesem kummervollen Moment niemanden. Ohne Rücksicht auf die fragile Spannungslage platzte Ryuki herein, wedelte hastig die Feuer aus, die von seinem Flügelschlag erzeugt worden waren und schnappte sich Ranshos Hand. "Ich brauche deine Hilfe, Ransho! Was kann man gegen Bauchweh tun?!" Der Erd-Engel lupfte eine bewegliche Augenbraue, warf sich den schweren Zopf auf den Rücken und musterte seinen sehnigen, sehr viel jüngeren Kollegen prüfend. "Wer ist denn GENAU krank, Ryuki?" Erkundigte er sich ahnungsvoll. Toki wechselte unterdessen zu Kasui hinüber, der nicht einmal notiert hatte, dass ihm wortwörtlich der Kittel brannte. Mit einer simplen Bewegung aus dem Handgelenk löschte er den entflammten Wind-Engel, der ihm einen zerstreuten Blick zuwarf, vollmondig lächelte und die Trümmer der Vase auflas. "Sch-sch-schon wieder ka-kaputt!" Kklagte er ratlos. »Vollgummi.« Dachte Toki ohne Mienenspiel. »DAS hätten wir nehmen sollen.« Er sah vor sich die unrühmliche Aufgabe, seinen neuen Kollegen von Kleber, Scherben und allerlei anderem zu befreien, was sich unterwegs hingebungsvoll an ihn zu heften pflegte. Darin hatte er leidlich Erfahrung. In der Zwischenzeit war es Ransho gelungen, Ryuki sachdienliche Hinweise zum Fragenkomplex: wer-was-wo-wie-wann zu entlocken. "Ein Dämon hat Bauchweh? Weil er was Falsches gegessen hat?" Kritisch zog er die Augenbrauen zusammen. "Wer hat dir gesagt, dass das die Ursache ist?" Ryuki plapperte emsig heraus, dass er zuerst natürlich Hisui um Hilfe gebeten hatte, fügte grimmig an, dass der widerliche, aufdringliche Flegel von einem Höllenfürstensohn sich zur Sache eingelassen hatte. "So, so, so." Murmelte Ransho, sein Blick ging gedankenvoll in Richtung der "Brücke", dem Neutralitätsgebiet zwischen Himmel und Hölle. Er maßte sich nicht an, Hisui zu verstehen oder die fatale Zuneigung zu analysieren, die ausgerechnet diese beiden so unterschiedlichen Lebewesen dazu verleitet hatte, eine so folgenschwere Entscheidung zu treffen. Alle Privilegien aufzugeben, um in einem winzigen Niemandsreich zu leben. "Der faule Schwefelfresser will sich nicht um ihn kümmern!" Ryuki zerrte an Ranshos Ärmel, um dessen Aufmerksamkeit wieder auf sich zu zentrieren. "DAS ist mir vielleicht eine liederliche Bande! Obwohl sie verwandt sind!" Empörte er sich hitzig. "Tja." Ransho löste behutsam, aber nachdrücklich Ryukis Finger von seiner Bekleidung, da er Brandlöcher, auch aus Versehen!, nicht schätzte. "Selbst wenn ich ein Gegenmittel wüsste, wie willst du es deinem Dämon geben, wenn er in der Unterwelt ist?" Sofort brüllte in Ryukis Gehirn das Zentrum auf, das Reizworte analysierte und seinen inneren Vulkan befeuerte, um IMMER und JEDERZEIT auf 180° sein zu können. "Das ist nicht MEIN Dämon!" Stellte er deshalb auf Autopilot lauthals richtig. "Ich WILL überhaupt keinen Dämon haben!!!" Ransho, dem die Ohren klingelten, sah sich zu einer etwas schärferen Replik genötigt. "Fein, wie du meinst. Das ändert allerdings nichts an der Sachlage. Du kannst nichts tun. Punkt." "Oh, kann ich nicht?! KANN ICH NICHT?!" Völlig die faktische Richtigkeit von Ranshos Feststellung verkennend reagierte Ryuki aufgebracht bloß auf die Unterstellung, ihm sei etwas per se unmöglich. "Und OB ich kann! Das werden wir ja sehen! Ha!! HA, sag ich nur!!" Wutschnaubend sprang er hoch, schlug wild mit den feurigen Flügeln und preschte von hinnen. "Liebe Güte, was für ein Hitzkopf!" Brummte Ransho ein wenig unbehaglich. Wenn Ryuki sich in dieser Stimmung befand, musste man annehmen, dass sie bald die Folgen zu beseitigen hätten. Toki zupfte seinen Kollegen am schweren Zopf. "Äh....Fr-fr-freunde?" Quiekte Kasui hoffnungsfroh, aber hilflos. Dieses Mal hatte er sich Hände, Gewand, Scherben UND diverse angesengte Federn verklebt. ~~~~~~x* Tag 02 Ryuki war nicht GEWILLT, einfach aufzustecken. DAS war für blutige Anfänger ohne Pep! Er durchquerte also das neutrale Gebiet, flitzte über die Brücke und wagte sich bis zu ihrem äußersten Rand. Dort postierte er sich, formte mit den Händen eine Flüstertüte und brüllte hinüber in die Unterwelt. "Koryuuuuu! KOOOORYUUUUUUUUUUUUU!!! Komm sofort da raus!! KOOOORYUUUUUUU!!" Was auch immer man über Ryuki, den Feuer-Engel, sagen mochte: IHM ging ganz sicher nicht schnell die Puste aus! Er spektakelte so lange lautstark und unbeeindruckt herum, bis tatsächlich nach einer kurzen Weile eine schwarze Gestalt erschien. "Halt die Klappe, du doofer Federsack!" Fauchte Koryu übellaunig, warf giftige Blicke hinter sich über die Schulter. "Halt doch selbst die Klappe!" Empörte sich Ryuki wütend. "Außerdem bist DU ja wohl schuld!!" "Ich?! Tickst du noch ganz richtig, du Spatzenhirn?!" Koryu fegte heran und verpasste Ryuki mit einer ledernen Schwinge einen Nackenstüber. "He, was fällt dir ein?!" Ryuki federte hoch in die Luft und nahm die Verfolgung auf. DAS hatte man also davon! Da sorgte man sich um diesen undankbaren, eingebildeten, hinterhältigen, GANZ MIESEN Höllenflattermann, und dann....!! Mit ausgestreckten Armen versuchten sie, einander zu watschen. In der Luft. Über der Brücke. Es erinnerte entfernt an eine Slapstick-Einlage der drei Stooges. Die glücklose Luftlochschlägerei endete damit, dass sich Ryukis Ärmelband in einer der zahlreichen Schnallen von Koryus exklusivem Kostüm verfing. Es ratschte. "Oh, Mist!" Entfuhr es Ryuki, der Handarbeiten hasste. "Jetzt sieh dir an, was du gemacht hast!" "Ich?! Du spielst doch hier Mückenfangen ohne Talent!" Knurrte Koryu. "Nun halt schon still, sonst krieg ich das nie raus!!" Die Köpfe, einer silbergrau, der andere schwarz, zueinander gebeugt, versuchten sie gemeinsam, die unerfreuliche Verbrüderung der Kostüme zu lösen. Als dieses Unterfangen endlich gelungen war, beäugte Ryuki stirnrunzelnd seinen lädierten Ärmel. "Schöne Bescherung!" Fauchte er anklagend. "Wie soll ich das denn flicken?!" "Pah!" Schnaubte Koryu verächtlich. "Du kannst aber auch gar nichts, was?! Komm schon her, blöder Engel!" "Ich bin KEIN blöder Engel!" Ryuki zog an einer langen Haarsträhne. "Und es ist alles DEINE Schuld! Warum hab ich mir auch Sorgen gemacht?!" "Autsch!! Das tut weh, du Federsack! Und überhaupt, DU hast mich getreten!" "Ach was!" Ryuki winkte verächtlich ab. "Allerhöchstens mit der Fußspitze hab ich dich berührt! Du hättest ja auch deine große Klappe aufmachen können!" "Und warum?! Hä?!" Koryus schwarze Haare standen elektrisiert ab. "Warum sollte ich ausgerechnet mit DIR reden?! Du kapierst doch nie was!!" "Gar nicht WAHR!" Protestierte Ryuki, durchaus getroffen. Unglückseliger Weise hörte er diesen Vorwurf zu OFT, um nicht in Selbstzweifel zu geraten. HEIMLICHE Selbstzweifel. "Überhaupt, ICH wollte bloß helfen!" Verteidigte er sich giftig. "Dein doofer Cousin hat GAR NICHTS getan!" "Kokuyo?" Koryus abstehende Mähne frisierte sich selbst wieder in eine wild-romantische Kreation. "Was hat Kokuyo damit zu tun?!" Selbst für Ryukis Federhirn war das eine seltsame Wendung! "Ha!" Triumphierte der, über die Verwirrung, die er bei seinem Gegenüber ausgelöst hatte, hocherfreut. "Ich hab ihm alles erzählt! Er wollte NICHT losgehen, obwohl du krank warst, weil du was Falsches gegessen hast!" "Krank?" Koryu wiederholte die Worte ungläubig. "Was Falsches gegessen?!" Alarmiert blickte er in das rotwangig leuchtende Gesicht, vergaß den eingerissenen Ärmel und Ryukis enervierendes Talent, ihm SCHWER auf den Keks zu gehen. "Hat er dir das gesagt? Dass ich was Falsches gegessen habe?!" "GENAU!!" Ryuki verschränkte siegessicher die Arme vor der schmächtigen Brustpartie. "Das kommt davon, wenn man ein Seelenfresser ist! Von wegen 'ich weiß gar nichts'!" Kostete er seine vermeintliche Oberhand bis zur Neige aus. "Pfff!" Schnaubte Koryu und wandte sich ab. "Sicher, DU weißt Bescheid." Er landete und klappte die ledernen Schwingen ein, offenkundig bestrebt, wieder in die Unterwelt zurückzukehren. "Du hast Menschennahrung gegessen, nicht wahr?" Ryuki klebte ihm im Nacken. "Warst du etwa auf einem Rummel?" Die Sehnsucht in seiner Stimme hätte sogar Steine erweicht. Koryu blieb stehen, wandte sich aber nicht um. "Nein." Antwortete er schließlich leise. "Nein, ich war nicht auf einem Rummel." Ryuki, taub und blind für diese untypisch zurückhaltende Reaktion, setzte sich energisch vor Koryu, immer noch schwebend, hielt ihm den Ärmel vors Gesicht. "Hier, bring das in Ordnung! Es war DEINE Schnalle!" "Tsk!" Schimpfte Koryu, packte Ryuki grob am Handgelenk, zerrte ihn vom Eingang zur Unterwelt weg zurück zur Brücke. Dort erhob er sich ausreichend, um auf dem Geländer Platz zu nehmen, produzierte tatsächlich aus einer verborgenen Tasche ein winziges Nähetui. "Sitz still!" Fauchte er Ryuki an, der neben ihm auf dem Geländer hockte. "Aber mir ist langweilig!" Quengelte Ryuki unruhig. "Wieso dauert das so lange?" "Weil du herumzappelst!" Knurrte Koryu ärgerlich. "Sei kein Jammerlappen!" "Bin ich gar nicht!!" Begehrte Ryuki auf. "Ich JAMMERE NIE!!" "Ha!" Schnaubte Koryu spöttisch. Weil Ryuki weiterhin neben ihm herumrutschte, piekte er ihn kurzerhand mit einer Nadel. "Autsch!" Zeterte der Feuer-Engel empört. "Das tut weh!" "Dann zieh eben das Hemd aus!" Versetzte Koryu ungerührt. "Wer nicht stillhalten kann, muss sich auch nicht wundern!" "Blödmann!" Bescheinigte Ryuki ihm ungehalten, streifte sich aber das Hemd über den wirren Schopf. "Schreihals!" Konterte Koryu, grapschte nach dem Gewand und nahm sein Flickwerk wieder auf. Als modisch herausragend gebildeter Dämon, der zur Haute Volee gehörte, musste man sein Handwerk von der Basis, sprich von der Naht aus verstehen. Aber was wusste so ein nerdiger Engel schon von Mode?! Die liefen ja immer in denselben, formlosen Kitteln herum! Und dazu Leggins! Und Sandalen!! ÄRGHKKKS! "Mach schnell!" Ryuki paradierte nervös auf der Brücke. "Hör auf zu quengeln!" Beschied Koryu ihm ohne aufzublicken. "Erzähl mir nicht, dir ist kalt! Toller Feuer-Engel, wirklich!" Ätzte er spöttisch. "Mir ist NICHT kalt!!" Explodierte Ryuki zutiefst beleidigt. "Ich will aber nicht so gesehen werden!" "Pah!" Grummelte der Dämon verächtlich. "Warum sollte ausgerechnet DICH einer ansehen?! Vor allem, wenn ICH hier bin!" "Du?! Du bist bloß ein Dämon!!" Fing Ryuki sofort Feuer. "Für DICH interessiert sich ja nicht mal dein oller Cousin!!" Schon, als die Worte über seine Zunge rollten wie eine Lawine zu Tal, WUSSTE Ryuki, dass er einen Schlag unterhalb der Gürtellinie gelandet hatte. Das bestätigte sich noch, als Koryu die Nadel halb über dem Stoff schweben ließ, jedoch weder aufsah, noch ihm antwortete. Ryuki räusperte sich, landete auf dem Boden. "Das war nicht so gemeint." Beendete er seinen Satz steif. Zögerlich berührte er ein spitzes Knie. Koryu verknotete stumm den Faden, den er abgebissen hatte, verstaute sein Nähetui. Dann schleuderte er urplötzlich mit Verve das zusammengerollte Gewand über die Brücke ins Wasser. "HEE!!" Protestierte Ryuki verblüfft. Mit blitzenden Augen funkelte Koryu Ryuki an. "Für einen ach so guten Engel bist du ein widerliches, hinterhältiges Miststück!" "Fahr doch zur Hölle!!" Brüllte Ryuki zurück, dem zunächst alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war, um nun mit flammendem Zorn zurückzukehren. "Genau da gehe ich hin!" Zischte Koryu mit bösartiger Grimasse. "Und ich will dich nicht mehr sehen, klar?! Du dämlicher Engel bist mir zu blöd!!" "Und du bist MIR zu blöd! Eingebildeter Idiot!! Seelenfresser!" Außer sich vor Wut brüllte Ryuki ihm nach, vergaß das ertränkte Gewand. "Hoffentlich verdirbst du dir gleich wieder den Magen!!" ~~~~~~x* "Ich denke, das genügt jetzt!" Toki legte Ryuki unnachgiebig eine Hand auf die Schulter und drückte fest. Seit einiger Zeit tobten wilde Sonnenstürme, die Vulkane spuckten Lava und Feuerfontänen, im Inneren der Erde brodelte es und kochte, trieb die Erdplatten schneller voran. Im geologischen Zeitbegriff. "Ich mach nur meine Arbeit!" Knurrte Ryuki, aber Tokis strenger Blick dämpfte seine Wut erheblich und sorgte gleichzeitig dafür, dass er sich ein wenig lächerlich vorkam. So, als würde er einen Koller austoben. Was SELBSTREDEND nicht der Fall war!! "Du solltest Hisui besuchen." Ordnete Toki an, in der Hoffnung, dass der ehemalige Wind-Engel Ryuki zur Vernunft bringen konnte. Bevor der HERR entschied, einen Strafboten zu Ryuki zu senden. ~~~~~~x* Hisui lauschte geduldig, als Ryuki das letzte Gefecht, nun, Gespräch mit Koryu rekapitulierte, sich dazu genötigt sah einzugestehen, ein ganz klein bisschen, quasi auf Quantenniveau, auch an der unerfreulichen Entwicklung Anteil zu haben. "Seitdem hast du ihn nicht mehr gesehen?" Erkundigte sich der früher Wind-Engel, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Ryuki, zerzaust, rotwangig und auf gewohnt hoher Betriebstemperatur, schüttelte wild den Kopf. "Überhaupt nicht!! Dabei habe ich an der Quelle gewartet! Er hätte sich jederzeit bei mir entschuldigen können!!" Ihn empörte seine ungewohnte Ausdauer und Bereitschaft zum Friedensschluss selbst, die so ungehörig ignoriert worden war! Tauchte der unverschämte Dämon einfach nicht auf!! "Ich werde aber NICHT schon wieder in die Unterwelt brüllen." Lehnte Ryuki kategorisch ab, noch BEVOR sich Hisui auf diesen Vorschlag auch nur andeutungsweise verlegen konnte. Eine haltlose Annahme, denn Hisui lag nichts ferner, als den HERRN oder Satan auf Ryukis ständige Kabbelei mit Koryu aufmerksam zu machen. "Vielleicht braucht Koryu einfach ein wenig Abstand von eurer Freundschaft." Versetzte er sanft, sich SEHR der Sprengkraft dieser Aussage bewusst. "FREUNDE?! WIR?!" Detonierte Ryuki wie erwartet, sprang auf die Füße, wedelte so wild mit den Armen, dass es keiner Flügel bedurfte, um abzuheben. "GANZ BESTIMMT NICHT!! Der ist ein DÄMON!!!" "Oh, richtig." Schnurrte Hisui trügerisch mild. "Und der HIMMEL verhüte, dass wir uns mit Dämonen einlassen." "GENAU!!" Trompetete Ryuki, stutzte, als sich sein Gehirn spät einschaltete, warf Hisui einen verwirrten Blick zu und ergänzte laut. "Äh...?" Hisuis liebreizendes Lächeln enthüllte keinen einzigen Gedanken hinter den schönen Engelaugen. Aus dem Konzept gebracht kratzte sich Ryuki verlegen den Schopf im Nacken und murmelte. "Nun ja, wir sind NATÜRLICH keine Freunde. Trotzdem ist es ABSOLUT UNGEHÖRIG von ihm, dass er mir einfach aus dem Weg geht!! Obwohl ich ja GLEICH gesagt habe, dass es nicht so gemeint war!!" In der sicheren Gewissheit, definitiv ungerecht behandelt worden zu sein, fühlte Ryuki sich einigermaßen aufgehoben. Gelegentlich nämlich schien der Dialog mit Hisui aus ihm unvertrauten und unterschwelligen Botschaften zu bestehen, die im Gegensatz zu dem standen, was laut ausgesprochen wurde. Konzentriert nagte Ryuki an einen Daumen, bemerkte einen Schattenwurf und verfinsterte schlagartig seine Miene. "Ich nehme an, dass der hier anwesende Dämon nicht willens ist, nach Koryu in der Unterwelt zu sehen?" Richtete er betont hochmütig das Wort an Hisui. "Verdammt richtig!" Fauchte Kokuyo aus dem Hausinneren und rammte demonstrativ die Schiebetür zur Veranda zu. "Ungehobelter Flegel!" Brüllte Ryuki mit geballten Fäusten. Er baute sich vor Hisui auf, zeigte mit dem Finger anklagend auf die verrammelte Schiebetür und schnaubte. "Was findest du nur an diesem kaltherzigen, gewissenlosen Kerl?! Sein Cousin könnte krank sein, und er...!!" Als habe sich der Gedanke erst nun richtig verankert, hielt Ryuki inne, blinzelte in Konzentration, bevor er sich vorbeugte, Hisuis Hände umfasste. "Und wenn ES passiert ist?! Wenn er wirklich krank ist?! Ich hab das zwar nicht so gemeint, als ich sagte, ich hoffe, er würde sich gleich wieder den Magen verderben, aber...!!!" Aufgeregt drückte er die eleganten Hände. "Der aufgeblasene Dämon ist ja wirklich nicht sonderlich helle, weißt du? Er könnte sich glatt wieder das Falsche rein gestopft haben! Ein Gierschlund ist er auch!!" Von Hisui, der in den Flammenaugen einen Vulkanausbruch erkannte und sich in das Unvermeidliche schickte, kam keine Intervention. Sie wäre ungehört verklungen. Ryuki sah vor seinem inneren Auge Koryu bereits irgendwo in einer dunklen Ecke liegen, zusammengekrümmt vor Leibschmerzen, ganz allein und lamentierend. Lernte einfach nicht aus Fehlern!! Vergessen war die Vorstellung, Koryu zeige ihm die kalte Schulter, weil er ihm so gehässig die einseitige Zuneigung zu Kokuyo unter die Nase gerieben hatte. "Man muss doch etwas unternehmen!!" Ereiferte er sich, die Flügel automatisch ausgefahren, bereits glimmend und heiße Luft fächernd. "Ich kann das doch nicht ignorieren!!" "Ryuki, bitte beruhige dich doch erst mal." Hisui, unfreiwillig auf die Beine gehoben, legte sein gesamtes Gewicht hinein, um einen Raketenstart zu unterbinden. "Hilfst du mir, Hisui?" Hocherfreut über Hisuis "Engagement", das hauptsächlich in der Sorge bestand, die Hände zu verlieren, die Ryuki so unverfroren einkassiert hatte, flatterte Ryuki noch stärker, um sich in den Himmel zu erheben. Hisui berührte gerade noch mit den Zehen den Boden. "Nun hör doch bitte mal!!" Hisui protestierte, bat den Wind um freundliche Schützenhilfe, doch noch schneller als dieser Beistand war Kokuyo. Wie ein geölter Blitz wischte er durch die Schiebetür, die lieber nach außen umfiel, als in Stücke gerissen zu werden, umschlang Hisuis Hüften und jagte einen Hagelschauer auf Ryuki. Der wurde durch den eisigen Einschlag zu einer Notlandung gezwungen und war entsprechend ungehalten. SO UNGEHALTEN, dass er mit geballten Fäusten und vor Wut brüllend auf Kokuyo losging. Für Kokuyo war der Feuer-Engel ein durchaus ernst zu nehmender Gegner, denn er verfügte nur noch über die Hälfte seiner beträchtlichen Zauberkraft. Die andere hatte er mitsamt seinem Auge seinem geliebten Engel zum Geschenk gemacht. "NEIN!!" Mit einem Aufschrei ging Hisui dazwischen, trennte zwei darob sehr erschrockene Todfeinde, da keiner der beiden den ehemaligen Wind-Engel verletzen wollte. Besitzergreifend und beschützend zugleich umschlang Kokuyo Hisuis biegsame Gestalt und fauchte. "Bist du von allen guten Geistern verlassen?! Was fällt dir ein, Hisui hier herumzuzerren?!" "Und was fällt dir ein?!" Kreischte Ryuki, durchaus noch angezählt, schrill zurück. "Hisui wollte mich begleiten, während DU ja keinen Finger gerührt hast!!" "Begleiten in die Unterwelt?!" Höhnte Kokuyo bissig. "Bist du noch zu retten?!" "Koryu ist KRANK!!" Beharrte Ryuki hitzig. "Und keiner kümmert sich um ihn!!" "Unsinn!!" Schnarrte der Sohn Satans zurück, ließ Tätowierungen aufblitzen, die er üblicherweise verbarg. "Das hast DU DIR bloß eingeredet!! Du begreifst einfach gar nichts!" "Ich MIR eingeredet?!!" Ryuki feuerte sofort eine Breitseite. "DU hast gesagt, er hat was Falsches gegessen!!" "...Kokuyo!" Mahnte Hisui leise, wandte den Kopf, dem Liebsten einen warnenden Blick zuzuwerfen, doch zu spät. "Das war bloß eine Lüge, damit du endlich Ruhe gibst!" Kokuyo umhüllte eine schwarze Aura, flackernd und zischend. SEIN Geduldsfaden war schließlich doch noch gerissen. "Ach ja?! ACH JA?!" Ryuki drehte voll auf, empört, entrüstet, entflammt. "DU lügst ja dauernd! Aber ich habe genug davon!! Ich werde selbst herausfinden, was die Wahrheit ist!!" Mit einer abrupten Geste wandte er sich ab, stürzte pfeilschnell dem Himmel entgegen. "Oh, oh!" Kommentierte Hisui leise. Ryuki konnte man ertragen, wenn der seinem Temperament mit winziger Zündschnur die Zügel schießen ließ. Aber was geschah, wenn er WIRKLICH den Dingen auf den Grund gehen wollte?! Kokuyo verstärkte seine zärtliche Umklammerung, ein wenig schuldbewusst, obwohl er es genoss, ENDLICH mit Hisui ALLEIN zu sein. "So schlimm wird es nicht werden." Tröstete er den besorgten Engel. "Immerhin ist er nicht gerade die hellste Birne im Kronleuchter." »Mag sein.« Dachte Hisui beklommen. »Aber leicht Aufgeben ist nicht seine Sache.« ~~~~~~x* Ryuki entschied sich, nachdem er einige Schwarze Raucher in der Tiefsee gekrault hatte, für eine Expedition ins Ungewisse. Üblicherweise hatte er mit der tatsächlichen Menschenwelt nichts zu schaffen. Gelegentlich hatte er den Engel Kohaku mal besucht, doch dessen naiv-kitschige Gefühlsduselei ging ihm regelmäßig so schnell auf den Geist, dass er sich stets rasch verabschiedete. Die Menschenwelt war simpel nicht SEIN Ding. Wozu auch? In der Himmelsdimension konnte man sich genauso gut um alles kümmern, was mit einer feurigen Lohe am Leben gehalten wurde. Nun allerdings schien es die logische Konsequenz darzustellen. Ein Engel konnte die Unterwelt nicht betreten. Wie aber sollte er die Wahrheit über die Dämonen und Koryus Zustand erfahren, wenn er nicht in die Unterwelt gelangen konnte? Doch nur an DEM ORT, wo sich Dämonen sonst aufhielten: bei den Menschen. In der sicheren Überzeugung, dass ihm hier nichts gefährlich werden konnte und außerdem ausgestattet mit der reichhaltigen Erfahrung eines Menschenjungen-Eintagestrips fühlte Ryuki sich für alle Abenteuer gewappnet. Unsichtbar wandelte er umher, gewöhnte sich an die ihm fremde Dimension, akklimatisierte sich soweit, dass er verstehen konnte, was er hörte, begriff, was er sah. Jetzt galt es nur noch, einen Dämon zu finden, an dessen Fersen er sich unauffällig heften konnte! ~~~~~~x* Tag 03 Ryuki, für die Menschen unsichtbar, begriff nicht, was er sah. Zumindest WOLLTE er nicht die logischen Schlüsse ziehen, die sich förmlich aufdrängten, seine vorgefasste Meinung umzingelten und bedrohlich-finster anstarrten. Der Dämon, den er sich ausgesucht hatte, war ziemlich jung (in Dämonenjahren) und bemerkte den Engel überhaupt nicht, so gering waren seine magischen Fähigkeiten. Definitiv schick herausgeputzt mischte er sich gut gelaunt unter eine Gruppe von Studierenden, ließ sich mit ihnen nieder, plauderte amüsiert. Dem stets ungeduldigen Ryuki wurde die Zeit durchaus lang, weil er auf das "große Fressen" wartete, das "Zuschlagen". Was sich nicht ereignete. Also sah er genauer hin. Noch genauer. Dazu musste er sich zwingen, denn wie stets, wenn sich ein Engel in einer ihm fremden Dimension außerhalb des Himmels oder der Brücke bewegte, passten sich automatisch seine Sinne an, schützten. Und, wie Ryuki jetzt verblüfft feststellte, verbargen Wahrnehmungen. So zum Beispiel registrierte er nun zum ersten Mal, dass Menschen von einem unsichtbaren Halo umgeben waren, einem elektrischen Feld. Einem Wärmeschild. Wenn er blinzelte, konnte er in jeder Person ein winziges "Kraftwerk" erkennen. Einen kleinen Vulkan. Oder einen Stern. Eine "Sonne", die ihre eigene Energie erzeugte und ausstrahlte. Wo aber war die verflixte Seele? Wieso futterte der dusslige Nachwuchs-Dämon nicht endlich? Vom Sonnenaufgang bis zur Abenddämmerung ließ Ryuki nicht locker, fest angeheftet an den ahnungslosen Dämon, der nichts weiter tat, als sich ständig in der Nähe von Menschen aufzuhalten. Zufrieden und wohlgenährt. »Ich versteh's nicht!« Bekannte Ryuki sich zu einem vorläufigen Fazit. War er möglicherweise blind für "Seelen"? Konnte deshalb einfach nicht beobachten, wie der Dämon die Seelen fraß? Oder aber... Vielleicht hatte der Flegel von Satanssohn wirklich "richtig" gelogen. Aßen Dämonen überhaupt Menschenseelen? Ryuki musste sich eingestehen, dass er über Menschen wenig und über Dämonen noch weniger "wusste". "Hat mich auch nie gekratzt!" Verteidigte er sich vor sich selbst. Seine Aufgabe war das Element Feuer. Punkt! Damit hätte er nun eigentlich zufrieden wieder in die himmlische Dimension zurückkehren müssen. Aber er konnte nicht. Ryuki, der Feuer-Engel, spürte einen inneren Widerstand, der sogar seinem heftigen Temperament die Schranken wies. Er WOLLTE noch nicht zurückkehren. Es genügte nicht mehr, an die eigene Aufgabe zu denken. Er MUSSTE erfahren, was es mit der Seele und den Dämonen auf sich hatte. Das beunruhigte ihn durchaus. Er war sich selbst SO nicht gewöhnt. »Aber diese Unruhe ist ja nichts Neues...« Wie trügerisch seine Gedanken sich nun von selbst weitersponnen. Jede Reflexion führte ihn tiefer in ein unbekanntes Niemandsland. Tatsächlich fühlte er sich seit Hisuis "Absturz" in die Menschenwelt unruhig. Er konnte nicht VERSTEHEN, warum Hisui seine Bestimmung aufgegeben hatte. Manchmal schien es ihm, als gebe es da etwas in seinem Kopf, das er nicht "sehen" konnte. Ein blinder Fleck, der verhinderte, dass er begriff. Und es machte ihn reizbar, nun, reizbarer als gewöhnlich, sich immer wieder geistig "umzusehen", um diesen "Schatten" endlich zu entdecken. Gewissheit darüber zu gewinnen, ob es WIRKLICH einen toten Winkel gab, oder er sich dieses bloß einbildete. »Menschen.« Dachte er. »Die Menschen sind schuld daran! Wie eine ansteckende Krankheit!« Ja, auf irgendeine Weise schien der Kontakt mit der menschlichen Welt seltsame Anwandlungen auszulösen! Ärgerlicherweise war Ryuki sich aber auch bewusst, dass es zahlreiche Engel gab, die unbeeindruckt durch die menschliche Welt wanderten und dort ihren speziellen Aufgaben nachgingen. Was war an ihnen anders? Wieso konnten sie, was ihm misslang?! Verwirrt zerzauste Ryuki sich die ohnehin wüste Mähne. Warum beschäftigte ihn dieser Unterschied ausgerechnet jetzt? Früher hätte er keinen Gedanken darauf verschwendet, welche Unterschiede es zwischen ihm und anderen Engeln gab! »Wahrscheinlich bin ich schon angesteckt!« Resümierte er mit finsterer Miene. Es genügte nicht, sich selbst als infiziert zu betrachten und es dabei bewenden zu lassen. Nein, er verlangte nach Antworten. Er BRAUCHTE sie. Und wo ließen sich Antworten am Besten finden, wenn Himmel und Hölle sich zierten? Ryuki hob das spitze Kinn energisch an, fest entschlossen. Menschen mochten zwar häufig keine Ahnung von nichts zu haben, ABER sie führten Buch darüber. Um nicht zu sagen Bücher. Bibliotheken. ~~~~~~x* Es wurde nicht besser. Ryuki, der unsichtbar wandelte, sich mit bewunderungswürdiger Disziplin aneignete, wie man mit menschlichen Gegenständen umging, fühlte sich flau. Beinahe so wie damals, als er für kurze Zeit als Mensch hatte leben müssen. Schwindelig und durcheinander. Neben ihm türmten sich Bücher, von unsichtbarer Hand aufgeschlagen, durchgeblättert, übereinander gestapelt, verstreut. In der großen Bibliothek, die er sich ausgesucht hatte, brannte lediglich die Notbeleuchtung, doch für Ryukis Engel-Augen bedeutete die Dämmerung kein Hindernis. "Das kann nicht sein." Wisperte er schließlich. Eigentlich hätte er lieber gebrüllt. So, wie Engel schreien konnten. So unglaublich laut, dass Mauern einstürzten, sich Wirbelstürme erhoben, Vulkane explodierten, meterhohe Wellenberge auftürmten. Den Zustand unbändiger Wut jedoch, der ihm immer so nahe war, hatte er ausgelassen. Einfach übersprungen. Winzig klein fühlte er sich. Stumm. Geschlagen. Ohne die Spuren seiner Anwesenheit zu beseitigen verschwand Ryuki, der Feuer-Engel, aus der Bibliothek. ~~~~~~x* In der wüsten Einöde, die nur von niedrigem, genügsamen Gras bevölkert wurde, standen sie wie seltsame Stahl-Pilze mit umgekehrten Schirmen. Ryuki hockte sich auf einen verwitterten Felsen, lauschte beiläufig auf die Geräusche, die ertönten, wenn die Himmelsteleskope justiert wurden. Über ihm prangten die Sterne, klar und zahlreich. Das Licht, das ihr Bild in seinem Kopf erzeugte, war manchmal Milliarden von Lichtjahren unterwegs. Man konnte also in eine unglaubliche Vergangenheit blicken. Und was für unterschiedliche Formen von Himmelskörpern und Ereignissen es gab! Sterne wie die Sonne, Planeten, Asteroiden, Schwarze Löcher, Rote Riesen, Weiße Zwerge, Supernovae, Kometenwanderungen, Kollisionen... Ryuki zog die Beine fest vor den Körper, umarmte sie eng. Er KONNTE nicht frieren, aber im Innersten war ihm eisig kalt. Den Blick fest auf den Himmel gerichtet wiegte er sich leicht, ohne dies zu bemerken. Alles konnte man sehen, entweder anhand des abgestrahlten Lichts oder auch aufgrund dessen völliger Abwesenheit. Sehen, wie ein Stern starb. Mit einer einzigen, spektakulären Explosion alles überstrahlte, um dann im eisigen Dunkel zu zerstäuben. ~~~~~~x* In sich gekehrt schwebte Ryuki neben der Sonne. Sie gehörte zu seinem ureigensten Aufgabengebiet, DIE Energiequelle des Feuers schlechthin. Gehorsam und eifrig hegte und pflegte er sie genauso wie den kleinsten Schlot der Erde. Feuer war so kostbar und selten in der Galaxie. Sanft löste er ein winziges Stück der Sonne. Eingefangen in einer Energieblase glühte um einen staubgroßen Kern dieser winzige "Tochterstern" fröhlich vor sich hin. "Wie kann das sein?" Flüsterte Ryuki erschüttert. Seit er denken konnte, ja, seit er existierte, kümmerte er sich um seine Sonne. Wie vorgesehen hegte und pflegte er sie, an nichts sollte es ihr fehlen. Und nun sollte sie sterben?! Unmöglich!! Zärtlich strich er über den winzigen Energieball. "Das kann doch nicht sein!" Flüsterte er. Für einen Engel gab es keinen Zeitbegriff. Es gab keine Tage, Monate oder Jahre. Wie hätte man auch Zeit als solche messen können? In der himmlischen Dimension existierten weder Tag noch Nacht. Es gab keine Jahreszeiten, keine Zyklen. Engel existierten in Unveränderlichkeit. Menschen. Menschen hatten "Zeit". Leben hatte "Zeit". Nach diesen Maßstäben würde seine Sonne in ungefähr 5 Milliarden Jahren sterben. Ganz gleich, was er auch tat. Oder unterließ. Wie lange mochte das sein? Für einen Engel? Was Ryuki zur Frage brachte, wie für ihn "Zeit" verging. Wie lange existierte er schon? Was war vorher? Und was danach? Sein Kopf schmerzte. Ein ungewohntes Gefühl, vollkommen unpassend, als Engel. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern. War er bei der Erschaffung der Sonne dabei gewesen? Wenn sie ein Alter hatte, musste es ja auch eine Zeit davor geben, oder?! Soweit er sich entsinnen konnte, hatte die Sonne schon existiert, weil sie ja zu seinen Aufgaben gehörte. Was sie nicht hätte, wenn es sie nicht schon gegeben hätte, als er... Und vorher? Gab es einen anderen Feuer-Engel vor ihm? Ryuki umklammerte den Energieball gequält. Das erste Mal, dass es einen Einschnitt in sein unveränderliches "Leben" gegeben hatte, war Hisuis Verschwinden. Engel waren. Existierten. Sie gehörten zu ihren Aufgaben, doch wenn Hisui ging, wieso existierte er noch? Wie konnte ein Engel überhaupt existieren ohne seine Aufgabe? Nichts passte zueinander. Plötzlich gab es "Leben", nicht nur "Existenz" für einen Engel. "Zeit" wurde möglich, weil es eine Existenz vor Hisuis "Absturz" und danach gab. "Aber das kann nicht sein!" Protestierte Ryuki hilflos gegen sich selbst. Wie KONNTE er nur diese Gedanken haben?! Woher kamen sie?! Ohne Ankündigung verließen ihn alle "Gewissheiten" seines Verständnisses. Woher kamen Engel? Und wohin gingen sie? Was bedeuteten ihre Aufgaben, wenn es möglich war, dass sie trotz aller Sorge daran scheitern konnten? Brauchten die Aufgaben die Engel, oder war es umgekehrt?! Ryuki starrte blind auf die Sonne, die unbeirrt Energie aus sich selbst erzeugte. Wenn er dem vertraute, was die neugierigen Menschen mit ihren seltsamen Maschinen ermittelt hatten, spielte es überhaupt keine Rolle, ob jemand die Sonne oder jede einzelne Flamme auf der Erde behütete. Die Kerne von Sonne und Erde arbeiteten ohne jede Aufsicht vor sich hin. Für den ihnen möglichen Zeitraum. Und nicht nur das. "Draußen", außerhalb dieser Galaxie, gab es unzählige andere. Mit Sternen, Planeten, Asteroiden... Wer kümmerte sich um diese Sterne? Und wieso wusste er, Ryuki, nichts davon? Ja, wieso konnte er diese Dimensionen nicht mal sehen?! Irgendwo, in einem der vielen Artikel, zwischen den unzähligen Bildern, hatte er eine Zeichnung gesehen, die sich in seinen Kopf gebrannt hatte, ein System von Schachteln, ineinander gestapelt. Das Sonnensystem mit dem Menschen darin, doch nicht etwa in der äußersten Schachtel! Nein, es gab "größere" Schachteln, die vielleicht die Gewissheit enthielten, warum und wie die Dinge waren, wie sie waren. Doch niemand konnte das mit Sicherheit sagen, weil es unmöglich war, GLEICHZEITIG in der Schachtel und außerhalb von ihr zu sein. Ryuki ließ den Energieball von einer Hand zur anderen gleiten, traurig, aber sorgsam. Vielleicht gab es keine "Aufgaben" für Engel. Vielleicht waren Dämonen nicht "das Böse". Und vielleicht war der HERR nicht außerhalb der Schachtel, sondern saß ebenfalls in einer Schachtel. Ryuki fiel in Ohnmacht. ~~~~~~x* Ransho warf Toki einen unbehaglichen Blick zu. Sie hatten ihren aufbrausenden, feurigen Kollegen gesucht, als dessen Abwesenheit (und die damit verbundene ungewohnte Ruhe) sie ausreichend irritiert hatte. Nun lag Ryuki auf der saftigen Wiese neben der Quelle, steif wie ein Brett, die Flammenaugen ins Leere gerichtet, nicht ansprechbar. Wenn der HERR bemerkte, dass einer der Haupt-Engel seine Aufgaben vernachlässigte oder sich seltsam benahm...! Nun, was auch immer dann geschah: SIE wollten es nicht herausfinden. "Wir könnten ihn zu Hisui schaffen." Schlug Toki vor. Immerhin klebte Ryuki ständig am ehemaligen Wind-Engel und konnte von diesem am Besten zur Ordnung gerufen werden, wenn er sich mal wieder in Schwierigkeiten zu bringen drohte. "Wenn man bloß wüsste..." Ransho knotete unruhig seinen schweren Zopf. Für Ryuki war es definitiv nicht gut, ständig in der Menschenwelt unterwegs zu sein, auch nicht in dem kleinen, geschützten Bereich, wo Hisui nun lebte. Doch was konnten sie jetzt noch unternehmen? Ryuki reagierte nicht auf Ansprache, offenbarte nicht den geringsten Ansatz, ihnen einen Anhaltspunkt zu liefern, warum er so seltsam verharrte! Mit einem Seufzen schickte Ransho sich drein. "Hauptsache, wir sind so schnell zurück, dass Kasui nichts mitbekommt!" Legte er fest. Vielleicht gab es doch eine Chance, alles wieder in Ordnung zu bringen. ~~~~~~x* "Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen..." Doch was auch immer Kokuyo bemerken wollte, Hisui versiegelte ihm hastig mit einer Fingerspitze den Mund. Er hatte Angst, und DAS war eine ganz neue Erfahrung für den ehemaligen Wind-Engel. Kokuyo lupfte eine ausdrucksstarke Augenbraue, schlang dann beinahe gewaltsam die Arme um den biegsamen Leib des früheren Wind-Engels. "Ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht!" Raunte er bedrohlich gegen die feindliche Welt, seine Tätowierungen pulsierten. Hisui klammerte sich an den vertrauten Leib des Dämons, schmiegte das Gesicht in eine warme Halsbeuge. "Ich habe das nicht gewollt!" Wisperte er unglücklich. Kokuyo erwiderte nichts, sondern streichelte beruhigend über den angespannten Rücken seines Liebsten. Als DÄMON wusste er, was Hisui nur vermutet hatte. Zeit. Leben. Geburt. Tod. Jugend. Alter. Veränderung und Wandel. Hisui zählte viele Jahre mehr als er, konnte mit den schönen Engel-Augen, die ihn bezauberten und verführten, unzählige Dinge mehr wahrnehmen, als er es vermochte. Aber nichts, gar nichts, konnte einen Engel darauf vorbereiten, wie es war, zu LEBEN. Alles wurde anders, wenn man nicht mehr nur existierte. Wenn man fühlte, sich freute, liebte, dann musste man auch verlieren, verletzen und trauern. Wenn man LEBTE, konnte man nicht im Himmel bleiben, in einer stillstehenden Dimension. Deshalb bedeutete LEBEN auch Veränderung. Und Veränderung brachte Erkenntnis mit sich. Kokuyo brannte einen Kuss auf den geliebten Schopf, rieb noch energischer über Hisuis Rücken. Ausgerechnet der dusselige Feuer-Engel hatte sich mit ERKENNTNIS angesteckt! ~~~~~~x* Tag 04 Ruri und Hari räkelten sich bequem auf den seidigen Laken, maunzten und miauten aufgedreht. Sie sehnten sich nach ein bisschen Spaß mit Koryu, doch der schien überhaupt keine Lust zu haben, irgendwen zu triezen! Lief stattdessen auf und nieder, lehnte es aber ab auszugehen, um sich zu amüsieren! Tatsächlich war Koryu nicht nach Zerstreuung, obwohl er sie uneingeschränkt begrüßt hätte! Bloß...!! Er ballte die Fäuste und brach sich beinahe einen kunstvoll lackierten Fingernagel ab. RYUKI. Der blöde Engel, der Federmatz, dieser leichtbirnige Trottel...!! Eigentlich hatte er wirklich VORGEHABT, ein für alle Mal diese albernen Kabbeleien mit dem blöden Flammenspeier aufzugeben. Immerhin hatte der keine Manieren, war ungeschickt und unhöflich, von seinen gefühllosen Anspielungen ganz abgesehen!! ABER...!! Hier wand und krümmte sich sein Stolz vor Scham, wollte sich am Liebsten irgendwo verkriechen. Unglaublicher-, beschämender-, unseligerweise vermisste er Ryuki. Schön, der doofe Engel HATTE nach ihm vor der Unterwelt gebrüllt, sich um ihn gesorgt, TROTZDEM.... "Das KANN nicht wahr sein!!" Schmetterte Koryu heftig Richtung Gewölbedecke. Er WOLLTE die beschwingte Nervensäge nicht vermissen!! Und er WOLLTE ganz bestimmt nicht den ersten Schritt zur Versöhnung machen!! Gut, zugegeben, er war älter und vernünftiger, hatte die besseren Manieren (vom modischen Geschmack ganz zu schweigen!), aber... Ruri und Hari warfen sich nervöse Blicke zu. Alles, was sie erkennen konnten, war ein unsichtbarer Teufel, der Koryu offenkundig invahiert hatte und ihn nun, urteilte man nach dem Mienenspiel, einer schweren Prüfung unterzog! ~~~~~~x* "Ich weiß nicht, wo er ist!" Hisui schüttelte Kokuyos Schultern, der sich beharrlich, aber sanft aus süßen Träumen gerissen fand. Er blinzelte, attackierte den ehemaligen Wind-Engel blitzartig, zog ihn auf seinen nackten Schoß und schloss die muskulösen Arme um seinen aufgelösten Liebsten. "Pscht, Hisui." Raunte er zärtlich mit schlafesrauer Stimme. "Immer der Reihe nach!" Hisui, ungewohnt zerzaust, die Bänder seines Gewandes offen, zitterte. Nicht vor Kälte, wie Kokuyo wusste. "Ryuki ist weg! Ohne Nachricht!" Erklärte sich der ehemalige Wind-Engel bange. "Nun, wenn er zurück in den Himmel gegangen ist, geht's ihm wohl besser." Bemerkte Kokuyo vernünftig "Wenn er zur Quelle gegangen ist, vermutlich auch. Du weißt, dass wir ihm nicht folgen können." "Aber wenn er dort nicht ist?" Hisui biss sich auf die Lippe, eine menschliche Geste, die er sich angeeignet hatte. "Wenn er nun...?!" Kokuyo küsste ihn sanft auf die Lippen. "Ich werde gleich nach ihm suchen, ja?" Was hätte er auch sonst offerieren sollen? Hisui lächelte zaghaft, schlang ihm dann mit plötzlicher Heftigkeit die Arme um den Hals und drückte ihn fest an sich. "Danke!" Wisperte er Kokuyo in ein spitzes Ohr. Kokuyo lächelte verlegen-gerührt, erwiderte die leidenschaftliche Umarmung mit gleicher Intensität. Für Hisui war er bereit, ALLES zu tun. ~~~~~~x* Ryuki saß auf dem vertrauten Felsbrocken und blickte von der einsamen Pampa hoch in die Sterne. Dieses Mal verschleierte sich der Himmel immer wieder mit leichter Bewölkung, doch das kümmerte ihn nicht sonderlich. Er zuckte auch nicht zusammen, als Kokuyo unerwartet aus dem Nichts neben ihn trat. "Du bereitest Hisui Sorgen!" Eröffnete Kokuyo sogleich die Kampfhandlungen. Ryuki warf ihm einen knappen Blick zu, bevor er sich wieder auf das Firmament konzentrierte. "Sterben Dämonen eigentlich, wenn sie nicht diese Menschenenergie aufnehmen?" Erkundigte er sich beiläufig. Kokuyo stand sehr still. Von dem Aufruhr in seinem Inneren ließ er sich nichts anmerken. Allerdings, das wusste er nur zu gut, spielte es auch keine Rolle mehr. Ohne ein weiteres Wort verschwand er und ließ Ryuki allein. ~~~~~~x* "Was zum...?!" Koryu starrte seinen Cousin fassungslos an. Dass dieser uneingeladen in sein Schlafzimmer platzte, war noch nie passiert! Nicht etwa, dass Koryu sich das nicht unzählige Male erträumt, erhofft oder gewünschte hätte, oh nein!! Bloß jetzt, exakt in diesem Augenblick, wusste er diese ungewohnte Situation gar nicht einzuordnen. Der Gedanke, Kokuyo zu verführen, blitzte nicht einmal für Wimpernschläge in ihm auf! "Dein federhirniger Freund steckt in großen Schwierigkeiten!" Bemerkte Kokuyo kurzangebunden. "Zieh dir was über und komm mit!" "Welcher... oh, Ryuki?! Vergiss es!" Machte sich Koryu hastig aus dem Griff seines Cousins frei. "Der hat mich beleidigt!!" Unversehens wurde er so heftig gegen eine Wand geschleudert, dass ihm sämtliche Luft ausging und er Sterne sah. Kokuyo riss ihn an den Aufschlägen seines Ledermantels in die Höhe, fauchte aggressiv. "Bei Satans Eiern, du kommst mit, oder ich reiß dich in Stücke!!" So außer sich hatte Koryu seinen mächtigen Cousin noch nie erlebt. Sämtliche Tätowierungen glühten förmlich, die humanoide Gestalt verzerrte sich, konnte kaum die dämonische Energie halten, die aus jeder Pore zu bersten schien. Koryu schlotterte vor Angst, die Zähne schlugen ihm aufeinander. Hätte Kokuyo ihn nicht unbarmherzig gepackt, wäre er in sich zusammengefallen. "MACH-HIN!" Schnarrte Kokuyo, mühsam beherrscht. Panisch schob sich Koryu von ihm weg, fingerte ungelenk einen warmen Pelzmantel aus seiner Ankleidekammer und hastete zittrig zur Tür. Was auch immer in Kokuyo gefahren war: Koryu nahm dessen Ankündigung, ihn in Stücke zu reißen, tödlich ernst. ~~~~~~x* Dick eingemummelt fror Koryu trotzdem erbärmlich, als er aus dem Nichts taumelte, von einem kräftigen Stoß befördert. Stolpernd fing er sich ab, bemerkte Ryuki in seiner Nähe. Koryu blickte sich hastig um. Wo zur Hölle war er hier denn?! Bevor er sich wappnen konnte, Ryuki wie gewohnt die Stirn zu bieten und ihm einzuheizen, hörte er dessen beunruhigend tonlose, flache Stimme. "Du frisst gar keine Seelen, nicht wahr?" »Oh, oh!« Dachte Koryu alarmiert. »DAS ist nicht gut. GAR NICHT GUT.« Da ihm Schweigen die beste Alternative erschien, gab er vor, die Bemerkung nicht gehört zu haben, stolzierte, übertrieben angewidert von der öden Gegend, abschätzig zum Feuer-Engel hinüber. "Wusstest du, dass die Sonne in fünf Milliarden Jahren explodieren wird?" Erkundigte sich Ryuki im gleichen Gesprächston, rhetorisch fragend. "Ahummm." Murmelte Koryu verunsichert. Ihm gefiel die Wendung, die diese Begegnung nahm, überhaupt nicht! "Weißt du, wer der Feuer-Engel vor mir war?" Nun richteten sich Ryukis Flammenaugen auf ihn. Koryu zog unwillkürlich die Oberlippe ein, leckte sie nervös, räusperte sich. Wieso hatte Kokuyo ihn hier allein gelassen?! Ausgerechnet jetzt?! Als Ryuki unerwartet flink von seinem Sitzplatz sprang und auf ihn zuhielt, wich Koryu ängstlich einige Schritte zurück. Der Feuer-Engel hielt vor ihm inne, produzierte mit ausgestreckter Hand eine seltsame Kugel, unter deren durchsichtiger Oberfläche eine winzige Sonne zu glühen und zu lodern schien. Sie warf Schatten auf Ryukis Gesicht, die den Engel sehr viel älter wirken ließen. "Ein Stück meiner Sonne." Flüsterte er melancholisch. "Was glaubst du, wie lange es leben wird?" Am liebsten hätte Koryu auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre geflohen. Ihm GRAUSTE. Etwas war mit Ryuki, dem hitzköpfigen, naiven, trotteligen Engel geschehen, und jetzt machte er ihm Angst. "Was war das?" Ryuki rückte unerbittlich näher heran, die winzige Sonne auf der offenen Hand wie eine Laterne ausgestreckt. "Was hat dich damals so verändert?" Die erste Frage, auf die er eine Antwort zu erwarten schien. Koryu versuchte es mit einem beschwichtigenden Ablenkungsmanöver. "He, jetzt geht's mir doch blendend, also vergessen wir das. Wie wär's mit 'nem Besuch in einem großen Vergnügungspark, hm?! Ich WETTE, da warst du noch nicht..." Ryuki stand nun direkt vor ihm, blickte ihn unverwandt an. Koryu schwieg, blinzelte, fühlte sich unbehaglich vor diesen lodernden Augen, die keinerlei Wut oder Erregung auszustrahlen schienen. DAMIT hätte er umgehen können, aber diese unergründliche Ruhe machte ihm Angst. "Ich habe mich um dich gesorgt." Bemerkte Ryuki schließlich. Er musste nicht betonen, dass er der Einzige gewesen war. Koryu war sich dessen nur zu bewusst. "Lass uns das Thema wechseln, in Ordnung?" Versuchte er es noch mal. Ryukis Miene erwiderte, dass er nicht vom Haken gelassen würde. Immer noch glühte die Sonne zwischen ihnen, strahlte jedoch keine Wärme ab. Aufseufzend schickte sich der Dämon schließlich drein, wickelte sich noch enger in seinen Pelzmantel. "Also gut!" Schnaubte er, nahm umständlich auf einem Felsbrocken Platz. "Na ja, da war dieser merkwürdige Typ...." ~~~~~~x* Koryu und Ryuki saßen nebeneinander und beobachteten, wie die Sterne verblassten. Oder vielmehr, wie die Dämmerung hereinbrach und es langsam zu hell wurde, um das Licht der Sterne zu erkennen. "Ich glaube nicht, dass ich es ertragen kann, die Sonne explodieren zu sehen." Bemerkte Ryuki in ihr Schweigen hinein. Koryu warf dem Feuer-Engel einen verstörten Seitenblick zu und biss sich fest auf die Lippe. Klang der naiv-aufbrausende Engel wirklich gequält? Unglücklich? Er konnte sich nicht erinnern, Ryuki jemals so ruhig und in sich gekehrt erlebt zu haben. So gedankenvoll und abgeklärt. Unbehaglich fragte er sich, ob er an dieser Veränderung die Schuld trug. Ob seine Neckereien und Boshaftigkeiten dafür gesorgt hatten, dass Ryuki plötzlich Neugierde entwickelte. Engel waren nicht neugierig, das wusste doch jeder! Sie waren zufrieden und glaubten sich allwissend und... Mutmaßlich war das, was "JEDER WUSSTE" nicht haltbar und KEINE gute Entscheidungsgrundlage. Ryukis Äußerungen nach hatte der sich die Erkundungen der Menschen zu eigen gemacht, stellte sich nun Fragen, die Koryu NICHT HÖREN wollte. Ob es den HERRN wirklich gab. Oder den Höllenfürsten. Waren sie Feinde? Oder Partner? Brauchten die Menschen sie überhaupt? Oder redeten sie sich ein, dass die Menschen sie brauchten? Wenn Dämonen menschliche Energie "aßen", brauchten Dämonen Menschen nicht eher als umgekehrt? Wenn die Welt, das Universum, einfach alles existierte, ohne dass es der Engel oder Dämonen bedurfte, was war dann ihre Aufgabe? Oder gab es überhaupt keine Aufgaben und es waren nichts weiter als Rechtfertigungsversuche für die eigene Existenz? Schließlich wurde es ihm zu bunt. Koryu sprang auf, stemmte die geballten Fäuste in die Hüften und baute sich vor Ryuki auf. "Ich habe KEINE Ahnung, verdammt!" Funkelte er wütend auf den Feuer-Engel herunter. "Aber weißt du, es spielt auch GAR KEINE ROLLE! Es ist, wie es ist, ob wir nun wissen, warum und weshalb oder wie genau, hat darauf gar keinen Einfluss!!" Einmal in Rage legte er sogleich nach. "Und überhaupt, was SOLL diese ganze Grübelei?! Die ändert gar nichts! Na schön, Menschen strahlen Energie ab, ganz gleich, ob wir Dämonen sie nun futtern oder nicht! Menschen können ja auch nicht ganz allein existieren, also ist es völlig in Ordnung, wenn wir sie brauchen! Menschen brauchen schließlich auch Pflanzen und Tiere und sonst was noch!!" Ryuki sah zu ihm auf, immer noch ruhig, von Koryus Ausbruch nicht im Mindesten angeregt. "Und Engel? Was brauchen Engel? Oder wer braucht sie?" Koryu stockte, stampfte dann wütend mit einem Fuß auf. "Verflixt noch mal, Ryuki, ihr seid einfach DA! Es MUSS nicht immer etwas gebraucht werden, um da zu sein!" Diese Antwort sorgte für einige Momente des Grübelns. Langsam blinzelte die Sonne über den Horizont, läutete einen neuen Tag in dieser Gegend ein. Koryu setzte sich wieder, erleichtert, dass diese metaphysische Klippe umschifft schien. Von seiner Warte aus ähnelten Dämonen eher den Menschen, vielleicht, weil sie ebenfalls eine begrenzte Lebensspanne vor sich hatten. Man suchte sich eine Aufgabe, wenn den Grundbedürfnissen des Überlebens, der Weiterexistenz, Genüge getan war. Shopping zum Beispiel war nett! Das Leben als erklärter Fashion Victim eine ständige amüsante, aufregende Jagd nach dem neuesten Chic! Sich amüsieren, lachen, Schabernack treiben, DAS erfüllte das Leben doch!! Engel, nun ja, Engel hatten doch zumeist überhaupt keine Ahnung! Die waren steif, total fixiert auf ihre "Aufgabe" und TOTAL LANGWEILIG! Wie eine Art Maschine, genau! Dachten nicht nach, wollten nicht raus aus ihrem Schaltkreis! Koryu warf einen Seitenblick auf Ryuki. Zugegeben, in Anbetracht dieses Engels passte die Theorie keineswegs. "Du HAST doch eine Aufgabe!" Platzte er heraus. Ryuki wandte den Kopf, erwiderte seinen Blick müde. "Stimmt." Antwortete er mit einem elenden Lächeln. "Aber eigentlich werde ich gar nicht gebraucht. Was geschehen soll, geschieht. Auch ohne mich." "Aber es könnte schiefgehen! Wenn du nicht hinguckst!" Bemühte sich Koryu mit wachsender Verzweiflung, Ryuki aus diesem verstörenden Zustand der Melancholie zu reißen. Der lächelte nur auf herzzerreißende Weise traurig und schüttelte nachsichtig den Kopf. So, als begreife er Koryus Bemühung, ihn mit einer Notlüge über die Realität hinwegzutrösten. Der detonierte nun selbst, weil er sich keinen Rat mehr wusste, erfüllt von Unbehagen und Sorge, eingeschüchtert durch das Verhalten seines Cousins. Außer sich zerrte er Ryuki hoch, brüllte ihm speichelsprühend ins Gesicht. "Du MUSST damit aufhören, kapierst du das nicht?! DU bist der Feuer-Engel, also, verdammt noch mal, MACH deinen Job!! Hör endlich auf, mit deinem Spatzenhirn allen möglichen Unsinn durchzugrübeln!" Besagter Engel blickte ihm unverwandt in das verzerrte Gesicht. Ohne Wutanfall, Geschrei, Aggression, Zweikampf, Schienbeintreten. "Was passiert sonst?" Flüsterte er Koryu schließlich emotionslos zu. "Sag mir, was geschehen wird." Hastig, als habe er sich verbrannt, ließ der Dämon Ryuki los, stemmte die geballten Fäuste in die Taschen des Pelzmantels und stotterte. "Kei-keine Ahnung, wa-was du meinst!" Dass er es nicht wagen konnte, Ryuki in die Augen zu sehen, unfähig zu einer überzeugenden Lüge war, bereitete Koryu Magengrimmen. Der Feuer-Engel ließ sich wieder nieder, wandte endlich seinen sezierenden Blick von Koryu ab und beobachtete den langsamen Aufstieg der Sonne. "Seltsam ist, dass ich mich nur an einige kleine Inseln erinnern kann. Aus Lava geschaffen. Wer aber hat die Vulkane gemacht? Und wer die Erde mit ihrem glühenden Kern? Wo sind die Feuer-Engel, die vor mir da waren?" Bemerkte er beiläufig. Koryu zog die Schultern hoch, kämpfte gegen überwältigende Übelkeit an. "Hör auf!" Würgte er mühsam. "Ryuki, hör auf damit!" Ohne ihn anzusehen antwortete der Feuer-Engel leise. "Ich glaube nicht, dass ich dazu noch fähig bin. Es gibt keinen Weg mehr zurück." "Oh DOCH!" Protestierte Koryu grimmig. "Ich könnte dir mal so richtig deinen Dummschädel eindrücken!! Amnesie für Heimwerker!!" Den Kopf leicht auf eine Seite geneigt wandte sich Ryuki tatsächlich ihm zu. "Würde das wirklich funktionieren? HABE ich überhaupt ein Gehirn? Könnte ich dabei auch sterben?" Koryu wollte eine Antwort schmettern, wusste aber keine, schnappte ersatzweise empört nach Luft, wedelte mit den Armen. Es war UNFAIR, dass dieser dämliche Federmatz ihm STÄNDIG seine Ahnungslosigkeit unter die niedliche Nase rieb!! Wenn hier einer BESSER Bescheid wusste, dann ja wohl er!! Ryuki registrierte Koryus Erregungszustand kaum, sprach weiter vor sich hin, rollte seine Gedanken aus. "Es ist schon seltsam, ich HABE durchaus Gefühle. Feuer begeistert mich, ich war wirklich Feuer und Flamme." Lächelte er traurig über das Wortspiel. "Und Hisui LIEBT den Wind. Aber warum genügt es nicht, nur Elemente zu berühren? Warum verlangt es uns nach einer Leidenschaft, die eines Körpers bedarf? Wieso WILL ich etwas anfassen können, auf Widerstand stoßen? Wozu benötige ich selbst einen Körper, wenn der eigentlich nicht notwendig ist? Wenn allein meine Gedanken, mein Wille genügt, um meine Aufgabe zu erfüllen?" Obwohl die Fragen nicht an ihn gerichtet waren, fauchte Koryu ärgerlich. "Warum textest du MICH damit zu?! Ich bin bloß ein blöder, schmutziger, geiler Dämon! Was weiß ich schon von ENGELN?!" Die Flammenaugen studierten ihn einen langen Moment eindringlich, dann verzog sich Ryukis Mund zu einem erschöpften Lächeln. "Na ja." Schmunzelte er schief. "DU hast Übung darin zu leben. Du WEISST, warum man Körper benötigt. Gliedmaßen, Augen, Ohren, Mund, Nase, Haut... warum es so wichtig ist, etwas berühren zu können." "Aber-aber!!" Koryu wrang nervös seine eleganten Hände. "DU musst das nicht wissen! Du bist ein Engel! Engel brauchen das alles nicht! Es ist bloß Deko! Sieht netter aus!" Sein hilfloses Grinsen zerbröckelte unter Ryukis mitleidigem Blick. Impulsiv reduzierte der Dämon den Abstand zwischen ihnen, legte dem sitzenden Engel die Hände auf die schmalen Schultern. "Mach das nicht!" Raunte er drängend. "Geh zurück und vergiss das alles hier! Du wirst sonst gewaltigen Ärger bekommen." Ryuki wartete einen langen Moment, studierte die tiefschwarzen Dämonenaugen, die sonst so aufreizend kaleidoskopieren konnten. Sanft löste er anschließend Koryus Hände von seinen Schultern, erhob sich gemächlich. "Ich werde mich an den Tag mit dir auf dem Rummel erinnern." Wisperte er sanft. "Vielleicht denkst du manchmal an mich." "Was?! Heee....!" Doch Koryus erschrockener Aufschrei verhallte ungehört, denn ohne Ankündigung war Ryuki verschwunden. Von einem Blinzeln zum anderen. "...verdammt!" Murmelte Koryu schließlich, entdeckte dann den kleinen "Sonnenball", dort platziert, wo Ryuki gesessen hatte. Sehr vorsichtig streckte er den Arm aus, näherte sich tollkühn mit einer Fingerspitze, doch spürte er keine Hitze. Also pflückte er die durchscheinende Kugel und barg sie in seinen Händen. "...verdammt, verdammt, verdammt!" Murmelte der Dämon und zog schniefend die Nase hoch, während ihm Tränen über die kalten Wangen perlten. ~~~~~~x* Tag 05 Ryuki hatte es gerade zur Quelle geschafft, ungewohnt antriebslos, aber innerlich entspannt wie eine spiegelflache See. Er wusste, dass es auf einige seiner Fragen keine abschließende Antwort gab. Und er wusste auch, dass es eine Straße ohne Wiederkehr war, die er beschritten hatte. Diese Gewissheiten wollte er nicht aufgeben, selbst wenn es möglich gewesen wäre. »Für Engel gibt's keinen Pensionsplan!« Lächelte er matt über seine eigenen Schlussfolgerungen. Ransho und Toki, die gerade Kasui abzulenken versuchten, um Ryukis Verschwinden zu decken, erbleichten sichtlich, als sich direkt vor Ryuki ein Bote des HERRN materialisierte. Ryuki berührte die Botschaft, erlangte Kenntnis, während sie zerstäubte. »Was wird mit dir geschehen, HERR?« Richtete er seine Gedanken auf den Absender. »Wenn die Menschen verschwinden? Braucht diese Galaxie dich dann noch?« Er erhielt keine Antwort, rechnete aber auch nicht damit. Wie die Zeichnung mit den Schachteln ihm verdeutlicht hatte: IN einer Schachtel konnte man nie erfahren, was AUSSERHALB von ihr geschah. Gefasst wandte er sich seinen Gefährten zu, den Haupt-Engeln, mit denen er so lange (wie lange überhaupt?) die Elemente behütet hatte. Ransho zitterte, Toki umklammerte dessen Ärmel, weiß wie ein Laken. Kasui, der nicht begriff, was geschah, tippelte nervös von einer Sandale auf die andere. Ryuki lächelte aufmunternd, um zu signalisieren, dass er keinen Groll hegte. "Tja." Krächzte er mit belegter Stimme. "Das war's dann wohl." Vor den entsetzten Augen der anderen Engel färbten sich seine reinweißen Schwingen erst staubgrau, bevor sie nacheinander zerfielen. ~~~~~~x* Koryu war sich bewusst, dass er eigentlich von einem schwefligen Blitz jeden Moment in ein rauchendes Häufchen Asche verwandelt werden sollte. Allerdings kümmerte es ihn nicht. Nun, zumindest nicht so sehr, um innezuhalten, seinem Impuls nicht nachzugeben. Vor seinen Augen lösten sich Ryukis Schwingen auf, zischten kleine Lohen auf, als die Ansätze selbst aus der Engelsgestalt gebrannt wurden. Engel empfanden angeblich keinen Schmerz, aber die weit aufgerissenen Flammenaugen, der tonlose Schrei: Koryu konnte es nicht ertragen, Ryuki so zu sehen! Er stürzte auf ihn zu, schlang die Arme eng um den "sterbenden" Engel, rollte sich geschickt mit ihm ab und floh. ~~~~~~x* "Hilfe! Ich brauche Hilfe!!" Brüllte Koryu, ächzte unter seiner Last, als er sich auf das flache Haus zuschleppte. Mit flatternden Gewändern eilte Hisui ihm über die Veranda entgegen, schlug entsetzt die Hände vor den Mund, als Koryu enthüllte, wen er da in seinem abgestreiften Pelzmantel eingehüllt transportierte. Kokuyo schob Hisui sanft beiseite, unterstützte seinen Cousin, der sich NICHT den verbannten Engel abnehmen ließ. Gemeinsam betteten sie Ryuki auf eine eilig ausgerollte Matratze, kauerten sich um ihn, ratlos, wie sie vorgehen sollten. Ryukis helle Engelsgestalt wirkte versteinert, im Augenblick des Verweises erstarrt. "Tu was!" Verlangte Koryu heiser, schluckte heftig und wischte sich mit einem Ärmel über die Augen. "Tu doch was!" Hisui wrang hilflos die Hände, suchte nach Worten, über alle Maßen schockiert. Um sie herum verdunkelte sich rasch der Himmel, Blitze zuckten, pechschwarze Wolken donnerten heftig ineinander, ihr Grollen rollte ohrenbetäubend über den niedrigen Himmel. Reflexartig schlang Kokuyo die Arme um Hisui. Wenn es SO ernst wurde, war er sogar bereit, es mit seinem Vater aufzunehmen! Koryu ignorierte die Großwetterlage. Unglücklich streichelte er über die marmornen Wangen, empörte sich mit steigendem Groll darüber, welches harte Los Ryuki getroffen hatte. Dass ihn seine Intervention das Leben kosten konnte, vielleicht sogar eine schlimmere Strafe als der Tod drohte, kümmerte ihn nicht. Außer sich vor Zorn und Trauer, viel zu aufgewühlt, um an sich selbst zu denken, sprang er auf die Beine und drohte mit der Faust gegen die Wolkentürme. "Das ist NICHT DEINE Entscheidung, hörst du?! Auch wenn du ihn geschaffen hat, Ryuki LEBT von allein!! Er GEHÖRT dir nicht mehr!! Gib ihn FREI!!" Ein Blitz krachte vor seine Füße, doch Koryu wich mit aufwirbelnden Gewändern keinen Millimeter. "Du bist NICHT sein Herr!" Brüllte er. "Du hast nicht zu bestimmen, was aus ihm wird!" Hinter sich hörte er trotz des Getöses Hisui aufkeuchen. Wie konnte irgendwer wagen, solche Worte auszusprechen?! Koryu funkelte tollkühn bis zur Selbstaufgabe in den finsteren Himmel, sich nicht einmal sicher, WEM genau er seine Anklage und Verteidigung entgegen schmetterte. "Wenn du doch alles weißt, jeden Gedanken kennst, dann KANNST du jetzt nicht überrascht sein! Wenn es eine Bestimmung gibt, war es unvermeidlich! Und wenn es keine Bestimmung gibt, dann ist er, dann sind WIR darin frei, unsere Wahl zu treffen!" Der Blitz, der dieses Mal abgefeuert wurde, zischte über Koryus Kopf hinweg, dampfte eine weiße Strähne in seinen elektrisiert aufwehenden, schwarzen Schopf. Koryu wankte und wich nicht. All das, was Ryuki kontempliert hatte, was ihm selbst so belanglos für sein eigenes Leben erschien, formte seine Rüstung, seinen verbalen Schild. Natürlich hatte er keine Chance. Wenn die Ankläger gleichzeitig auch oberste Richter waren. ~~~~~~x* Äußerst behutsam zupfte Kokuyo eine dünne Decke über Hisuis bloße Schultern. Sein liebster, einziger, unvergleichlicher Engel benötigte eine Ruhepause, und er war entschlossen, mit allen Mitteln dafür zu sorgen. Lautlos bewegte er sich über den Holzboden, schob vorsichtig die Tür hinter sich zu. Er durchquerte den bescheidenen Nachbarraum, ließ sich mit untergeschlagenen Beinen neben seinem Cousin nieder. "Erstaunlich!" Grummelte er widerwillig, als Koryu die Augen aufschlug. "Hast mehr Mumm und Rückgrat bewiesen, als ich mir vorgestellt habe." Koryu zog eine erschöpfte Grimasse. "Ist ja nicht so, als hättest du dich jemals über Gebühr für mich interessiert." Schoss er trotzdem scharf zurück. Kokuyo grinste, zupfte neckend an der schlohweißen Strähne. "Touchee! Hast doch wohl nichts anderes von mir erwartet, oder?" Übertrieben seufzend schnaubte Koryu. Selbstverständlich HATTE er, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit und den offenkundigen Hinweisen, etwas anderes erwar-, nein, er-hofft. Er-sehnt. Dass es nicht sein konnte, nicht sein WÜRDE, war ihm jedoch auch schmerzhaft bewusst gewesen. Und jetzt? Jetzt... "Wie geht's Ryuki?" Erkundigte er sich matt, rollte sich mühsam auf eine Seite, um den Ellenbogen in die dünne Matratze zu stemmen und sich ächzend aufzusetzen. Kokuyo zögerte, zuckte schließlich widerwillig mit den Schultern. "Besser, du siehst es dir selbst an." Entschied er grummelnd. Sich entsetzlich schwach und elend fühlend gelang es Koryu doch, auf die Beine zu kommen. Eine Hand entlang der Wand stützend schleppte er sich mit tappenden Trippelschritten in das nächste, durch mobile Wände abgetrennte Zimmer. Er konnte in dem abgedunkelten Raum lediglich die Silhouette einer Person auf einer Matratze ausmachen, jedoch keine Einzelheiten. Ungelenk sackte er in die Hocke, kniete sich neben das Lager und blinzelte geblendet, als Kokuyo unaufgefordert Sichtblenden beiseite schob. "...." Krächzte Koryu tonlos, starrte ungläubig auf das stille, reglose Gesicht. Es MUSSTE Ryuki sein, doch wie verändert er war! Nachdem er sich kollernd geräuspert hatte, richtete er seine Worte an den Cousin, der abwartend gegen eine Säule lehnte. "Was ist passiert?" "Tja!" Kokuyo schlug lässig ein Bein über das andere, die Arme vor der muskulösen Brust verschränkt. "Während du dein Bestes gegeben hast, um als Barbecue zu enden, hat dein dusseliger Freund seine Engel-Attribute verloren. Vermuten wir zumindest." Ergänzte er leicht verlegen. Zögerlich streckte Koryu eine Hand aus, ließ sie über dem fremd-vertrauten Gesicht kreisen, bevor er sehr sanft mit den Fingerspitzen über die Haut strich. Erschrocken ob der ungewohnt hohen Temperatur zog er seine Hand zurück, als habe er sich verbrannt. "Fieber!" Stellte er heiser fest. "Kokuyo, er hat Fieber!" "Ich weiß." Kokuyo schlug nun das andere Bein über, wirkte aber längst nicht so entspannt, wie er zu wirken beabsichtigte. "Und er wacht nicht auf. Wir können wohl nur abwarten." DAS war allerdings keine Option, die Koryu zusagte. Angestrengt studierte er die reglose Gestalt. Er wusste, dass die Flügel verschwunden waren, förmlich herausgebrannt. Auch die Beschaffenheit des gesamten Körpers hatte sich unübersehbar verändert. "Also ist er kein Engel mehr." Murmelte er halblaut vor sich hin, hochkonzentriert. Aber ein Mensch war Ryuki auch nicht. Er atmete nicht, schwitzte nicht. Und, Koryu beugte sich tief genug, um mit spitzen Ohren zu lauschen, nein, es gab auch keinen Herzschlag. Behutsam wischte er über rostbraune, dicke, wirre Strähnen. Kein Engel, kein Mensch und zweifellos auch kein Dämon. Wie sollte er dann helfen?! "Kannst ihn ja wachküssen!" Bemerkte Kokuyo halb spöttisch, halb hilflos. Was Koryu aufzeigte, dass er seinen letzten Gedanken wohl laut ausgesprochen haben musste. »Warum nicht?« Meldete sich sein lang vermisster Optimismus zurück. »Schaden kann's nicht! Und, ganz ehrlich, diese kirschroten Lippen... MJJJJAAAAAMMMMM!« Tatsächlich wirkte das meist wutverzerrte, trotzig-kindliche, engelhaft bleiche Gesicht nun mit dem neuen, angenehmen Sahnetoffee-Teint und den leicht geschürzten Lippen sehr erotisch. Einladend. Da Koryu sich zeitlebens nicht als Kostverächter betrachtet hatte und außerdem hoffte, Ryuki aufwecken zu können, um ihn ordentlich für den um Haaresbreite überlebten Richtspruch auszuzanken, gab er seinem Impuls nach. Auf beide Hände aufgestützt neigte er sich tief genug, die verlockenden Lippen zu küssen. Zuerst sanft, zärtlich, dann leidenschaftlicher, wagemutiger. Er wollte ein Echo erzeugen, herbeirufen, erschallen lassen! Diesen verrückten, sturen, hitzköpfigen Prinzen aufwecken!! Doch Ryuki rührte sich nicht, nicht einen Muskel! Beinahe glaubte Koryu, im Augenwinkel ein Zucken zu registrieren... hatte er es sich eingebildet? Er küsste Ryuki so lange, bis er glaubte, von dessen hoher Körpertemperatur verbrühten seine Lippen. Dann gab er auf. Für den Moment. ~~~~~~x* Hisui hielt bleich und ausgezehrt neben dem ehemaligen Engel Wache, erbat sich vom Wind schmeichelnde Kühlung. Nichts half. Ryuki, nur in ein dünnes Laken gehüllt, schien bei lebendigem Leib (welcher Beschaffenheit auch immer) innerlich zu verbrennen. "Was tun? Was tun?" Koryu paradierte in Reichweite auf und nieder, nicht schnell oder agil, da er sich noch flau fühlte und längst nicht seine Kraft zurückerlangt hatte. Küssen hatte nicht geholfen, zumindest nicht in ausreichendem Maße. Flüssigkeit einflößen scheiterte, da Ryuki keinen Schluckreflex zeigte. Kalte Umschläge dampften bloß. "Er stirbt." Wisperte der frühere Wind-Engel gequält. Nichts schien dies verhindern zu können. "Du bist auch nicht gestorben!" Fauchte Koryu aufgeladen, ballte die Fäuste. Er KONNTE jetzt nicht aufgeben. Ryuki hatte sich eine Gardinenpredigt verdient, und TEUFEL NOCHMAL, die würde er ihm halten! Da, im größten Zorn, verzweifelt und ratlos, meldete sich endlich der Gedankenblitz, auf den er die ganze Zeit unbewusst gehofft hatte. Genau! Hisui war ja auch nicht gestorben... Ohne zu zögern strich sich Koryu mit der linken Hand über sein linkes Auge, kniete sich neben Ryukis Lager und legte diesem die Hand auf die Stirn. "Als Zeichen meiner ewigen Zuneigung übereigne ich dir zum Beweis meiner Gefühle mein linkes Auge und die Hälfte meiner Zauberkraft!" Sprach er die uralte Formel so flüssig wie einen beiläufigen Gruß aus. Tatsächlich aber riskierte er, schon wieder!, sein Leben. Kokuyo, der aus Liebe denselben Weg beschritten hatte, verfügte über unendlich mehr Kraft als er und konnte sich deshalb auch weiterhin verteidigen. Er selbst jedoch reduzierte sich auf Klein-Dämon-Niveau. "Ryuki!" Flüsterte er drängend. "Jetzt wach endlich auf, verflixt! Du hast lange genug faul herumgelegen!" Als er sich, ein wenig schwindlig, aufrichtete, bemerkte er, wie ihn ein noch verschleiertes Paar bernsteinfarbener Augen betrachtete. "...he.." Zu seiner Verlegenheit musste Koryu schniefen, während er ein schiefes Grinsen präsentierte. "Du bist ja doch nicht tot." Ryuki blinzelte langsam, einen Ausdruck der Verwirrung auf dem eingefallenen Gesicht, dann senkten sich seine Lider wieder. "Also so was!!" Empörte sich Koryu und kniff dem Ex-Engel in die Nasenspitze. "Aufwachen, aber fix!!" Was Ryuki SELBSTREDEND nicht tat, sondern sich simpel auf die Seite rollte, ein unverständliches Brummeln absondernd. Hisui aber lachte hinter vorgehaltener Hand, während Tränen glitzernd wie geschliffene Diamanten über seine Wangen perlten. "Schau nur!" Lächelte er aufgelöst vor Erleichterung Koryu zu. "Seine Temperatur geht runter!" Der Dämon blickte zum Mobile auf, das durch Ryukis unglaubliches Fieber munter gekreiselt hatte. Nun stand es still. Kein Auftrieb mehr. "Der Kerl treibt mich noch in den Wahnsinn!" Schnaubte Koryu matt, von den Strapazen eingeholt, die er entschlossen verdrängt hatte. Weil er sich gerechtfertigt sah, seine Qualen zu kompensieren, schlug er die dünne Decke zurück und rollte sich neben Ryuki ein. Wenn DER glaubte, er werde sich wegen ihm verrückt machen, dann hatte er sich aber getäuscht!! ~~~~~~x* Ryuki fühlte sich komisch. Irgendwie beengt. Eingezwängt. Und SCHWER!! Nur mit äußerster Mühe gelang es ihm, sich aufzusetzen. Neben ihm ruhte, leise schnarchend, Koryu mit zerzaustem Schopf. Verwirrt hob der ehemalige Engel seine Hände, betrachtete sie eingehend, durchaus verblüfft. Sie waren definitiv anders. Dunkler. Und voller winziger Fehler! "Hmm." Stellte Ryuki heiser fest. Mit einiger Anstrengung entledigte er sich des einfachen Lakens, erhob sich nackt und tappte schwankend wie ein Säugling bei den ersten Gehversuchen Richtung Schiebetür. "Komisch." Konstatierte er erneut. Seine Sicht kam ihm merkwürdig vor, ganz zu schweigen von dem, was er von sich selbst entdeckte! Er erreichte ohne nennenswerte Kollisionen Hisuis Standspiegel, eine rare Antiquität, betrachtete sich eingehend, zupfte an den rostbraunen Strähnen, die gewohnt widerborstig abstanden, starrte sich selbst tief in die Pupillen. Kein Engel mehr. Auch kein Mensch. Er hob die schweren Ponysträhnen an und inspizierte eine seltsame, mandelförmige Narbe genau über seinen Augenbrauen. Sah beinahe wie ein Katzenauge aus. "...oh..." Dämmerte Ryuki endlich eine Ahnung. Er zuckte aufgeschreckt zusammen, als hinter ihm die Schiebetür heftig beiseitegestoßen wurde und Koryu erbost heranstürmte. "Was fällt dir denn ein?! Du kannst doch nicht hier nackt herumrennen!" Fauchte er Ryuki an, selbst in weniger als einen Hauch exklusives Negligee gehüllt. Tadelnd stieß er mit dem Zeigefinger auf Ryuki herunter. "Und ÜBERHAUPT! Hast du eine Ahnung davon, was du angestellt hast, hä?! Was sollte der ganze Quatsch?!" Schutzlos dieser zornigen Tirade ausgesetzt begriff Ryuki plötzlich, warum er sich so schwer und eingeengt fühlte: sein Körper! Jetzt war er mehr als eine Hülle! Ohne auf Koryus Ausführungen zu achten streckte er die Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen dessen Wangen. "...was tust du denn da?!" Koryu wich hastig zurück, so verblüfft, dass er den Faden seines hitzigen Vortrags verlor. Ryuki rückte simpel nach, kämmte durch Koryus prächtige Mähne, zwirbelte Strähnen um die Finger, sichtlich verzückt. "He! HE!" Dem Dämon wurde diese Darbietung mit Mondkalbstarren zu unheimlich, weshalb er die forschen Finger einfing und festhielt. "Mal halblang, ich bin kein Spielzeug!" Schimpfte er. "Sieh mal." Wisperte Ryuki, noch immer hingerissen, zielte mit dem spitzen Kinn auf seinen eigenen Körper. "Ich bin auch eine kleine Sonne!" In der Tat strahlte er nun ein eigenes, bescheidenes Energiefeld aus. "Toll!" Knurrte Koryu kurzangebunden. "Kannst du jetzt BITTE wieder normal werden, ja?! Aufbrausend, übellaunig, rechthaberisch und zänkisch?" Provozierte er großspurig. Ryuki las ihm zwar jede Silbe von den Lippen ab, hörte jedoch nicht im Mindesten zu. Nein, ihn faszinierte dieser verlockende, herausfordernde Mund! Er leckte sich über die Lippen, als sei es ihm möglich, sie zu befeuchten. "He, Ryuki!!" Rief Koryu ihn zur Ordnung, dem der glasig-verliebte Blick nicht gefiel, vor allem, weil ER sich Ryukis unbekleideter Gestalt durchaus bewusst war! Zugegeben, ihr mangelte es wie allen Engeln an geschlechtlichen Attributen, aber DAS hinderte keinen Dämon! Der ehemalige Engel kreiste mit SEINEN Gedanken jedoch um diesen Quell der Verführung, der sich nun ärgerlich verzog. Da er diese Entwicklung jammerschade fand, schnellte er vor, um zu kosten. "HmrPPFF!" Kommentierte Koryu, der überfallartig verstummen musste, mit dem Ausfallschritt gegen eine mobile Wand donnerte und sich zum Stillhalten gezwungen sah! Allerdings konnte man nicht länger als einige erschrockene Wimpernschläge von einem Zwang reden, denn rasch spürte er, dass Engelszungen nicht nur unschlagbare Beredsamkeit nachgesagt werden konnte. Ryuki küsste ihn leidenschaftlich, hingebungsvoll, neugierig und ausgehungert. Unwillkürlich gab Koryu dessen Hände frei, legte die eigenen um das sanft erglühende Gesicht, damit ihm dieser Leckerbissen auf keinen Fall entwischen konnte! Wären ihre Kräfte nicht sehr knapp bemessen gewesen, so hätten sie wohl eine wahre Ewigkeit von dieser verlockenden Frucht genascht, doch unerfreulich rasch knickten weiche Knie ein. Einander ungelenk abstützend fanden sie sich dementsprechend auf den Knien wieder, blinzelnd, errötet und Koryu außer Atem. "Unfair!" Beklagte er sich schnaufend, denn ER hatte immerhin einen funktionstüchtigen Körper zu versorgen! Mit Lungen, Herz, Nieren und so weiter! Ryuki lächelte, erst zögerlich, dann breit grinsend. Ein Hochgefühl erfüllte ihn, schien sogar die neuen körperlichen Grenzen zu überwinden! "JuuuHHUUUUUUUUUUUUU!!" Stieß er ungeübt, aber mit Begeisterung aus, reckte die dünnen Arme hoch. "Ja, toll." Grummelte Koryu und versuchte, sich das Klingeln aus den spitzen Ohren zu schütteln. "Denkst du nicht, dass ein kleines Dankeschön angebracht wäre?!" "Und wofür?" Erkundigte sich der ehemalige Feuer-Engel artig. "WOFÜR?! WOFÜR!!!" Brüllte Koryu, warf empört die Hände hoch. "Ist das zu glauben?! Was denkst du wohl, du dämlicher Post-Federmatz?!" Er reckte die eleganten Hände, zählte an schlanken Fingern wütend auf. "Dafür, dass ich deinen klapprigen Hintern hierher geschleppt habe; dass ich dich verteidigt UND auf deine doofe Sonnenkugel aufgepasst habe! Ich hab dir die Hälfte meine Magie abgetreten und, schlimmer noch!, einen Teil meiner Klamotten! Deinetwegen bin ich aus der Hölle verdammt! Und GUCK dir meine Haare an! Schlohweiß!! Alles nur DEINE Schuld!" "Warum hast du das denn gemacht?" Nur ein amüsiertes Glitzern in den Bernsteinaugen verriet, dass Ryuki auf ein Ziel hinsteuerte. Koryu, dem durchaus bewusst war, dass er sich hatte ausmanövrieren lassen, kam wacklig auf die Beine, raffte das sündhaft teure Negligee und reckte hochmütig das Kinn. "Temporäre geistige Umnachtung!" Mit dieser vernichtenden Replik wäre er gerne davongerauscht. Was sich jedoch nicht bewerkstelligen ließ, wenn sich ein ehemaliger Engel an die Knöchel hängte. "Hilf mir auch hoch, ja?" Verlangte Ryuki ungeniert. "Nichts da!" Von einem Fuß auf den anderen hüpfend bemühte sich der Dämon, diesen undankbaren Gesellen abzuschütteln, der an ihm wie eine Klette klebte. Koryus Schimpfen, Ryukis Lachen, das Gestampfe und Gepolter: Kokuyo preschte herein, um die beiden Streithähne zu trennen, wie gewöhnlich. Allerdings sah das nun wirklich nicht nach einem tatsächlichen Streit aus! "Hört auf damit, verdammt!" Verlangte er, packte je einen am Nacken wie einen Welpen. "Neckt und liebt euch gefälligst leiser!" "Lieben?! Den DA?!" Brauste Koryu auf, die Mähne elektrisiert wie die Stacheln eines Igels. "Wo ist Hisui?!" Trompetete Ryuki auf der anderen Seite. "Hisui! HISUIIIII!" Kokuyo, dem es nicht gefiel, nun IN der wüsten Keilerei zu stecken, von dem stereophonen Gequäke ganz abgesehen, begrüßte Hisuis Eintreten mit einem erleichterten Blick. Ryuki zumindest wurde er nun fix los. Die beiden ehemaligen Engel umarmten sich fest, lachten und schnieften zugleich. Koryu stellte ebenfalls die halbherzigen Kampfhandlungen gegen den Cousin ein, glättete sein metaphorisches Gefieder und das zerrupfte Negligee. Schön, Kokuyo hatte zwar großzügig seine Habseligkeiten aus der Unterwelt abgeholt, aber NUN mussten sie wohl länger halten, wenn er verbannt war! Und Menschen hatten häufig einen geradezu entsetzlich faden Geschmack!! "Halt uns den Feuerkopf gefälligst vom Hals!" Zischte Kokuyo ihm finster zu. "Wieso ich?!" Knurrte Koryu aufgebracht. "ICH bin verbannt und magisch total ausgelutscht!" "DU hast ihn angeschleppt." Kokuyo beutelte seinen Cousin unbarmherzig. "Also ist das DEINER! Und keine Diskussion!" "PAH!" Schnaubte Koryu eingeschnappt, machte sich los und verließ beleidigt das Zimmer. ~~~~~~x* "Ganz schön unfair!" Beschwerte sich Koryu und warf einen kritischen Seitenblick auf Ryuki. Lachte der etwa?! Kokuyo hatte ihn und Ryuki "an die Luft gesetzt". Er wollte endlich HOCHWERTIGE Qualitätszeit mit Hisui verbringen! "Du schaust von der falschen Seite drauf." Bemerkte Ryuki gut gelaunt und baumelte mit den nackten Beinen. "Ach ja?!" Explodierte Koryu. "WESSEN Garderobe wird hier geplündert, hä?! Wer steckt hier fest, mit kaum Energie?! Ich hatte eine KARRIERE, ist dir das klar?!" "Du kannst doch meine Energie haben." Bot Ryuki ihm an. Er jedenfalls fühlte sich großartig. Vor allem, WEIL er fühlte! "Na, herzlichen Dank!" Fauchte Koryu und marschierte auf und nieder. "ICH bin an hochwertige Kost gewöhnt! Abwechslungsreich!" "So wie damals, als dir schlecht wurde? Von diesem mutierten Ding?" Ryuki blinzelte fröhlich, was seiner Frage BEINAHE die sarkastische Schärfe nahm. Beinahe. Koryu blieb stehen, funkelte auf den Ex-Engel herunter. "Ich KANN mir nicht helfen, aber vorher warst du mir lieber, als du noch eine trübe Tasse mit Federn im Kreuz warst!" Zischte er. Ryuki sah hoch, stellte das Beinebaumeln ein. Sein Gesichtsausdruck protokollierte unmissverständlich: DAS ist nicht nett! Verflixterweise empfand Koryu seine Bemerkung genauso. "Also gut!" Murmelte er brüsk. "Möglicherweise könnte ich mich auch arrangieren. Hab ja keine Wahl." "Zu zweien ist besser als allein!" Zwitscherte Ryuki herausfordernd und grinste. "Ha!" Schnaubte der Dämon, ließ sich aber neben dem früheren Engel nieder. In demonstrativem Abstand. Lange konnte er dort aber nicht simpel sitzen, denn der sezierend-starre Blick, der auf ihn geheftet war, jagte ihm ganze Ameisenheere durch den Körper. "WAS?!" Fauchte er aufgebracht. Ryuki legte den Kopf leicht schief. "Glaubst du, wenn wir uns zusammentun, dass die Zauberkraft dann ausreicht?" Koryu verdrehte die Augen, denn Hellseher gehörte nicht zu seiner Berufsbezeichnung. "Und WOFÜR genau?!" Leierte er enerviert. Ungeniert robbte der ehemalige Engel podexial neben ihn, strahlend vor heimlicher Freude, krümmte einen Zeigefinger. "Was denn JETZT noch?!" Beklagte sich Koryu, verdrehte ausdrucksstark die Augen. Dennoch lehnte er sich hinüber. Ryuki strich mit einer Hand sanft Strähnen beiseite und raunte in ein spitzes Ohr. "Ich möchte gern mit dir in einen Vergnügungspark." "ICH?! Mit DIR?! In einen VERGNÜGUNGSPARK?!" Schrillte der Dämon entsetzt, stellte jede alternde Diva in den Schatten. "Kommt nicht in Frage!" "Doch-doch-doch!" Beharrte Ryuki unerschrocken und bestürmte Koryu mit federleichten Kuss-Attacken. Der wedelte mit den Händen energisch, was Ryuki grinsend erwiderte, ebenfalls eifrig mitwatschte. "He! Mir brechen noch die Nägel ab!" Beklagte Koryu sich, stellte die Kampfhandlungen ein und wurde erneut mit Küssen beschauert! "Jetz.. reichds...abää!" Nuschelte er schließlich ungeduldig, fürchtete schon, sich das Genick auszuleiern in vergeblichen Ausweichversuchen. "Stopp, du AMATEUR!!" Das war zugegeben eine übertriebene Disqualifizierung, für Koryu jedoch der Auftakt, den Spieß umzudrehen. Oder vielmehr den Ex-Engel. WENN hier einer mit allen Finessen knutschte, dann ja wohl ER!! Da konnte man es auch verknusen, dass der frühere Feuerkopf eigentlich, so quasi, vielmehr beinahe VERFLUCHT geübt wurde! Himmel und Hölle befanden sich eben doch auf der guten, alten Erde. {Fortsetzung in "Eine vernünftige Liebe"} ~~~~~~x* Tag 06 "Brrr!" Drang es undeutlich irgendwo aus textilen Untiefen, als sich die quasi vakuumverpackte Gestalt tropfend und unförmig durch die Tür zwängte, eine 180°-Drehung hinlegte und selbige hinter sich schloss. Artig darauf achtend, die ausgelegten Gazetten nicht zu verlassen, führte sie anschließend einen Schlangenbeschwörungstanz auf, um sich aus den Tragegurten eines Rucksacks zu winden, der entfernt an Himalaya-Expeditionen erinnerte. Nachdem dies unfallfrei geglückt war und der gewaltige Trumm leicht in sich zusammensackend an einem Bein der humanoiden Mumie lehnte, begannen klamme, von der beißenden Kälte rot gefärbte Finger, verschiedene Kordeln, Bändel, Knoten und andere Verstrickungen zu lösen. Geduldig wurde zunächst eine untere Gesichtshälfte freigelegt, dann klappte die gewaltige Kapuze auf den Rücken. Unter der Maskierung entpuppte sich die Raupe zwar nicht als Schmetterling (obwohl gewisse Personen dies enthusiastisch befürworteten, aber selbstredend nicht objektiv genannt werden konnten), jedoch als einen jungen Mann, der gerade noch dem Gefrierbrand entronnen war. Während nun Richtung Knöchel die Selbstentfesselung fortschritt, lauschte Clemens Bergmann, von allen nur Lemmie genannt, aufmerksam in die winzige Wohnung, deren einzigen Zugang er gerade besonders effektiv blockierte. Es blieb still, und in der Luft hing eine Ahnung von melancholischer Verlassenheit. "Hmmm!" Stellte Lemmie elaboriert fest, hielt sich damit jedoch nicht auf. Als der frisch gebackene Bauingenieur für Wasserwirtschaft endlich aus den wadenhohen Schnürboots geklettert war, räumte er auf dicken Socken seinen nassen Kokon in das winzige Badezimmer zum Abtropfen. Erst seit zwei Monaten arbeitete er beim städtischen Eigenbetrieb, dem auch der Hochwasserschutz oblag und hatte noch immer Mühe, sich an die Dreiviertelstunde Fahrtzeit plus Kurzmarsch zu gewöhnen. Alles war noch brandneu und seine Dankbarkeit, sofort eine Stelle in Köln gefunden zu haben, überstieg jede Unannehmlichkeit. Grob wuschelte er durch seine dunkelbraunen Haare, polierte die Brillengläser an einem Zipfel seines Flanellhemds und rieb sich über die graugrünen Augen. Obwohl es mehr als überflüssig war, eine kleine Zweizimmerdachwohnung zu inspizieren, wanderte Lemmie umher, spähte in die Küche. Von dem Mann, der ihm gleich zweimal das Herz und je einmal Heim und Herd angetragen hatte, keine Spur. "Hmmm!" Brummte Lemmie erneut. Normalerweise schaffte Chai es, vor ihm anzukommen und wartete bereits mit einer schönen Tasse Tee auf ihn, stilecht mit ostfriesischer Teerose als Dekor, Kluntje auf dem Grund und einem Sahnewölkchen im Rund! Für Lemmie war das bereits nahe am Paradies. Wenn er sich dann auf die alte Bettcouch niederließ, Chai an seiner Seite, die dunkelbraunen Augen unter den fransig frisierten, schwarzen Strähnen vor Vergnügen funkelnd, fühlte er sich einfach himmlisch. Hatte sein geliebter Freund und Reisegefährte durch die Wirrungen des Lebens vielleicht einen späten Auftrag? Chai arbeitete als Elektroniker in einem kleinen Betrieb und hatte als Jüngster des Öfteren Notdienst. Manchmal konnte es einfach später werden, vor allem bei Altbauten, die immer für eine Überraschung gut waren. Sein Blick fiel auf einige zerknitterte Blätter, die halb unter die kleine Obstschale gerutscht waren. Eine Furche kerbte seine Stirn. Lemmie klaubte die dünnen Durchschläge auf und studierte sie, auch wenn sie an seinen Freund adressiert waren. Gelegenheitssünden wie Neugierde trieben IHM nun wirklich nicht den Schweiß auf die Stirn! "....oha." Murmelte er schließlich bedächtig. Dann ging Lemmie in die winzige Küche, um eine Thermoskanne aufzuwärmen, während der Tee zog, und um nach zwei passenden Bechern zu fahnden. ~~~~~~x* Dass er mit seiner Vermutung richtig lag, bestätigte die kleine Laterne, deren blässliches Kerzenlicht durch eine verkratzte Kunststoffscheibe der efeuumschlungenen Remise drang. Lemmie drängte sich durch die witterungsbedingt verzogene Holztür und gewöhnte seine Augen an das Dämmerlicht im Inneren. Dort, auf einer verwitterten Plastikbank, die irgendwer entsorgt hatte, kauerte sein bester Freund Chai, eine nackte Hand trotz der eisigen Temperaturen auf die metallene Flanke seines VW-Golfs gelegt. »Wie eine Totenwache!« Schoss es Lemmie unwillkürlich durch den Kopf. Obwohl er für sein rücksichtsvolles, zurückhaltendes Gebaren bekannt war, tat er sich selbst gnadenlos Gewalt an, indem er sich wortlos neben Chai auf die brüchige Plastikbank zwängte. Anschließend klemmte er sich erst einen Becher zwischen die Knie, kämpfte kurz mit dem angesaugten Druckverschluss der Thermoskanne, bis diese die Fahne streckte. Er schenkte ein und reichte den Becher mit einem kleinen Ellbogenstoß an Chai weiter. Der griff auf Autopilot zu, das Gesicht hinter den stufigen Strähnen verborgen, von Schatten verhüllt. Scheinbar ungerührt versorgte sich Lemmie selbst auf diese rustikale Methode mit Tee, stellte die Thermoskanne neben sich und wühlte, sich dabei ungebührlich herumwindend und -wendend, noch eine kleine Tüte Kokosmakronen aus seiner Parkatasche. Nachdem er mehrere unkommentierte Püffe verteilt hatte, klemmte er einen Tütenzipfel unmanierlich zwischen die Zähne und zerrte mit der freien Hand an der widerborstigen Tüte. Nur durch einiges Geschick verhinderte er, sich selbst mit Tee zu taufen. Üblicherweise hätte diese Abfolge von Aktionen bereits die augenbrauenhebende Sorge seines Freundes ausgelöst, weil Lemmie sich so konsequent gegen die eigene Natur verhielt, doch Chai verschwand in sich selbst, nippte bloß an seinem Tee. Brüsk setzte Lemmie ihm die zerrissene Tüte auf den Schoß, grunzte animalisch als Kurzform von "bitte sehr, mein Lieber, bedien dich doch und lass es dir munden!" Teilnahmslos pickte sich Chai einige Makroneninnereien heraus und mümmelte mechanisch. Lemmie schlürfte seinen Tee, knusperte krümelnd Kokosmakronen und wartete geduldig. Keinem anderen gegenüber hätte er sich je so verhalten, so grob und stoffelig. Aber Chai Watcharananan, der attraktive Mann an seiner Seite, neigte entschieden dazu, zu VIEL Rücksicht auf ihn zu nehmen, sich selbst aus Liebe hintanzustellen. Er war mit Abstand einer der großmütigsten, geduldigsten und sanftesten Menschen, die Lemmie bisher begegnet waren, weshalb nun, seine Logik drängte ihn energisch!, alternative Verhaltensweisen angezeigt waren, um Chai dazu zu bringen, sich wie jeder andere auch zu verhalten. "...du hast den Kostenvoranschlag gesehen?" Ein wenig undeutlich und nasal drang Chais Stimme, belegt und rau, zu ihm vor. "Hat deinen Freund schwer erwischt." Kommentierte Lemmie sanft, wandte den Kopf leicht, um Chais Profil zu studieren, ohne direkt zu starren. "Ha!" Krächzte Chai, schniefte. "Wahrscheinlich bleibt nur noch die alte Chassis, wenn's nach denen ginge!" Er holte Luft, schluckte würgend. Lemmie presste die Lippen mitfühlend aufeinander, zwang sich, weiter stur wie ein ostfriesischer Bauer geradeaus zu starren. "Hat mir gesagt..." Chai räusperte sich. "Hat mir gesagt, wenn ich CLEVER gewesen wäre, hätte ich die Abwrackprämie kassiert!" Ein seltsamer Laut entkam seiner Kehle, und Lemmie konnte die verzweifelte Anspannung neben sich förmlich spüren, als Chai um seine Beherrschung rang. "Tja, jetzt heißt's wohl 'Goodbye!'" Seine freie Hand ballte sich zur Faust, schlug leicht gegen die Verkleidung. "Was soll's, ist ja bloß ein Auto..." Seine Stimme brach. Sein gesamter Leib zitterte so heftig, dass Lemmie Mühe hatte, aus den verkrampften Fingern die Thermotasse zu bergen. Chai schlug die Hände vors Gesicht, begann, von einem tierischen Wehlaut eingeleitet, hemmungslos zu schluchzen. Es schüttelte ihn förmlich durch, eine elende, verzweifelte, zornige Klage. Lemmie gelang es mit einigem Nachdruck, Chai in seine Arme zu ziehen, Hände und Gesicht an seiner Schulter zu bergen. Die untröstliche Qual zerriss ihm das Herz, schnürte ihm selbst die Kehle zu, hieß ihn um Fassung ringen. Nein, hier ging es nicht um ein Auto. Der Golf war viel mehr als das. Sie teilten sich das Geburtsjahr, und der Golf war Chais erstes Auto, ein Reisebegleiter, eine Zuflucht. Ein vertrautes "Gesicht" in der Fremde. Der Arbeitskollege, der jeden Tag mit ihm verbrachte, und oft auch eine "Knutschkugel", wie Lemmie scherzhaft zu necken pflegte. Der Golf war Freund und Familienmitglied. Lemmie wiegte Chai sanft, wartete darauf, dass sich die Verzweiflung erschöpfte, das Schluchzen in ein resigniertes Schniefen abebbte. Er streichelte sanft durch Chais Haare, seidig und doch schwer, glatt und fest wie Drahtseil. "Weißt du, die Lage ist zwar ernst, aber nicht hoffnungslos." Raunte er zärtlich. "Nicht hoffnungslos?!" Chai entzog sich seiner Umarmung, funkelte ihn an, das Gesicht verschwollen, die Augen gerötet. »Er muss schon vorher geweint haben!« Schloss Lemmie, dessen Liebe diese verheerten Gesichtszüge keineswegs Abbruch taten. Vielmehr erfüllte ihn dieser Beweis der Offenheit mit Stolz und Hingabe. "Hast du nicht gesehen, wie viel das kosten soll?! So viel Geld habe ich niemals!" Beklagte sich Chai mit brüchiger Stimme, würgte erneut an einem Kloß in seinem Hals. Sanft trocknete Lemmie mit den Daumen einzelne Tränenspuren in Chais aufgelöstem Gesicht. "Aber in Kürze haben wir es zusammen." Chai starrte ihn an. Seine Pupillen weiteten sich, als er Lemmies Andeutung dechiffriert hatte. Hastig sprang er auf, taumelte und prallte ungeschickt gegen den Golf. "Das ist nicht dein Ernst! Ausgeschlossen, hörst du?! Wir haben für Neuseeland gespart!" Schimpfte er heiser los. Womit er vollkommen recht hatte. Lemmies geliebte ältere Schwester Fine (bürgerlich Josefine) lebte mit ihrem Mann Tam und Söhnchen Henri in Neuseeland. Seit ihrer Abreise vor drei Jahren hatte Lemmie sie nur noch über Internetaufnahmen gesehen. Zum letzten Weihnachtsfest war sie mit ihrer kleinen Familie angereist, damit man sich endlich leibhaftig kennenlernen konnte, doch Lemmie hatte sich unvermutet in einem Albtraum wiedergefunden, der die gesamte Welt auf den Kopf stellte. {Siehe dazu "Schatzsuche" ^,^} Also wollte er nun umgekehrt seine Fine in Neuseeland besuchen, umso mehr, als er auch seine kleine Nichte Keonie in Augenschein nehmen konnte. Sie war, durch einen leichten Auffahrunfall etwas überstürzt und früher als erwartet "geschlüpft" und komplettierte die Familienplanung seiner Schwester. Klare Sache, dass Chai ihn begleiten würde, denn so, wie sich Fine unverblümt und kompromisslos für Tam entschieden hatte, so hatte er seinen Freund gewählt. Man WUSSTE einfach, dass es passte! Basta! Fine! "Das KANNST du nicht machen!" Ereiferte sich Chai gerade verzweifelt, wedelte mit den Armen vor Lemmie herum, der mit jeder schrilleren Beteuerung, wie lächerlich, unlogisch und geradezu bekloppt sein Vorschlag war, eine große Ruhe in sich verspürte. Bevor Chai sich in Hysterie steigern konnte, fing er flink dessen Hände ein, barg sie warm und lächelte gelassen hoch in das vor Aufregung und Unglück gerötete Gesicht seines Freundes. "Chai, es ist KEIN Opfer und darüber hinaus vollkommen logisch. Der Golf gehört zur Familie, er ist ein Freund. Freunde lassen wir nicht im Stich." Erklärte er sanft. "Aber was ist mit Fine?!" Griff Chai zur stärksten Waffe in seinem Arsenal. Er wagte nicht einmal daran zu DENKEN, dass Lemmie wirklich... nein, nein, nein! So egoistisch und unvernünftig und gierig und verachtenswert wollte er nicht sein! Lemmie schmunzelte hoch. "Ehrlich, Chai, denkst du wirklich, Fine würde es auch nur einen Augenblick gutheißen, dass wir einen Freund aufgeben, nur um sie zu sehen?" Er war sich bewusst, dass Chai noch immer eine gewisse Unsicherheit verspürte, was Fine betraf, denn ganz unbestritten war sie bis vor einem Jahr die wichtigste Person in Lemmies Leben gewesen, sein Leitstern, sein Anker in der turbulenten Welt. Jemand, der emotional so genügsam war wie Lemmie, der geduldig ausharrte in der Gewissheit, es ginge seiner Schwester gut und damit zufrieden war, konnte wohl kaum leicht gewonnen werden! Langsam erhob Lemmie sich, gab die Verbindung ihrer Hände nicht auf. Er wusste, dass er noch Einiges zu beweisen hatte, um Chai diese Sorge zu nehmen. Über ein erfolgreiches Gelingen dieses Unterfangens hegte er jedoch keine Zweifel, weil er Chai liebte. Auf seine eigene, wahrscheinlich ein wenig unbeholfene und gelegentlich etwas zu asketische Art und Weise. Er hatte sich Chai vollkommen anvertraut, in allen Belangen, sich darauf eingelassen, Schwächen, Ängste und absolute Unerfahrenheit zu offenbaren. Chai hatte ihn nie enttäuscht, nie die Situation ausgenutzt. Oder ihm heimgezahlt, dass er vor nun sieben Jahren dessen erstes Liebesgeständnis so hilf- und verständnislos zurückgewiesen hatte. Mit einem leichten Ruck brachte er Chai aus der Balance und fing ihn in seinen Armen auf, durch den gepolsterten Parka im Vorteil. "Keonie wird mir so schnell nicht weglaufen oder krabbeln." Korrigierte er sich lächelnd. "Nun ja, zumindest nicht allzu weit. Und wir können immer noch sparen." "Aber das geht nicht!" Chai rang sichtlich mit sich. "Du kannst nicht meinetwegen deine Familie..." "Aufgemerkt!" Schnarrte Lemmie unerwartet barsch, was Chai erschreckt zusammenzucken ließ. Lemmie beugte sich vor, raunte sanft auf die verführerisch-vertrauten Lippen, funkelte in die dunkelbraunen, leicht beschlagenen Augen. "Du bist jetzt meine Familie. Der Golf ist jetzt auch mein Freund. Also gib endlich nach!" Drängte er Chai schmunzelnd. "Sonst muss ich dir ein Ohr abkauen, bis du's tust!" Um diese schreckliche Drohung wahr zu machen, deren Bedeutung eigentlich darauf hinauslief, Chai in Grund und Boden zu quatschen, knabberte er an einem Ohrläppchen, das nicht rasch genug aus der Gefahrenzone entkommen war. Chai ließ ihn knabbern, schlang die Arme eng um Lemmies Nacken und schmiegte die glühende Wange an seine. "...danke." Wisperte er rau von mühsam gebändigten Emotionen. "Da nicht für." Antwortete Lemmie ihm höflich, küsste ein köstliches Fleckchen direkt unter dem Ohrläppchen, wo die Haut besonders zart und weich war. Anschließend lockerte er ihre engen Bande ein wenig, um Chai zuzulächeln. "Lass den Patienten jetzt in Ruhe schlafen und komm mit mir hoch. Eine gute Tasse Tee wäre jetzt doch gerade richtig, nicht wahr?" Chais Mundwinkel zuckten, dann prustete er leise los. Genau, wie Lemmie es sich erhofft hatte. ~~~~~~x* "Wer sagt's denn!" Schnaufte Lemmie übertrieben laut und ließ sich gemütlich tiefer in die Couch sinken. Neben ihm schmunzelte Chai und nutzte die günstige Gelegenheit, sich unter einen Arm zu schmuggeln, um sich an Lemmies Seite zu schmiegen. Gemeinsam hatten sie nicht nur den beinahe vernichtenden Kostenvoranschlag auf einen hervorstehenden Nagel gespießt, sondern auch mittels Haushaltsbuch eine "Durststrecke" ausgeklügelt, bis der getreue Golf erneut aus der Remise zu einem "Onkel Doktor" gebracht werden konnte. Nun musste Chai sich auch wieder an das leidige U-Bahnfahren gewöhnen, um anschließend mit der ältesten "Firmengurke" seine Aufträge zu erledigen, doch dazu gab es momentan keine Alternative. Andererseits war nun ein Horizont abgesteckt, und Lemmie hatte es sich nicht nehmen lassen, nach anderen Werkstätten im Internet Ausschau zu halten. Vielleicht konnte man sich über die zahlreichen Liebhaber-Vereine der alten VW-Golf-Serien ja auch Tipps holen? ER jedenfalls war entschlossen, diese kaltschnäuzigen, herzlosen und unfreundlichen Figuren NICHT mit einem Auftrag zu beehren, der Chai so in Kummer gestürzt hatte! Er nippte entschlossen mit durchaus grimmiger Miene an seinem Tee. Chai, der verstohlen das Mienenspiel seines besten Freundes beobachtete, befeuchtete zögerlich seine Lippen und murmelte beschämt. "Tut mir leid, dass ich so ein sentimentaler Jammerlappen bin." Denn er genierte sich doch ein wenig, vor Lemmie wie ein Kleinkind geheult zu haben. "Mir nicht!" Verkündete der energisch, wandte ihm Kopf und Aufmerksamkeit zu. "Nein, ganz und gar nicht!" Ein verschmitztes Grinsen erhellte sein Gesicht zu genau DER Anziehungskraft, die Chais Knie regelmäßig in Pudding verwandelte. Lemmie neigte sich ihm zu, raunte vertraulich. "Es ist einer deiner BESONDERS liebenswerten Eigenschaften! Wo wäre ich sonst heute, hm?" Chais Wangen färbten sich blitzartig rot. Hitze glühte nicht nur in seinem Kopf. Das ließ offenkundig jeden zusammenhängenden Gedanken, von geistreichen Repliken ganz zu schweigen!, verdampfen und hängte automatisch seinen Unterkiefer aus, der wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappte. Der gelungene Coup, nämlich Chai ordentlich in Verlegenheit zu bringen, zauberte ein wirklich FEISTES Grinsen auf Lemmies Gesicht. »Und jedes Wort ist wahr!« Gratulierte er sich selbst gerade triumphierend, als Chai seine Sprachlosigkeit überwand. Mit blitzartigem Tempo schnappte er sich Lemmies Wangen, zupfte sie heftig auseinander und erstickte den empörten Protestschrei in einem ebenso ungestümen wie leidenschaftlichen Kuss. Lemmie ging zu Boden, vielmehr kippte er vom Schwung umgekegelt auf die Couchpolster. Gegenwehr war angesagt! Weshalb er ungeniert, sich vollkommen durch diesen Überfall gerechtfertigt sah!, die Hände geschickt unter die Wollpullover- und Hemdschichten schmuggelte, auf Chais warmer, nackter Haut beschwörende Spuren zeichnete. Erstaunlicherweise sorgte diese Aktion nicht dafür, dass Chai sich zurückzog oder aufgab. Nein, die heimtückische Attacke auf Lemmies Sauerstoffzugang Nr. 2 wurde NOCH vehementer fortgesetzt, bis ihnen beiden das Herz so sehr in der Brust trommelte, dass sie schwindlig eine Pause einlegen mussten. Ganz zu schweigen von der plötzlich DEFINITIV erhöhten Kleidergröße im Bereich der Lenden, der leider durch die gegenwärtigen Beinkleider NICHT entsprochen wurde. Graugrüne, leicht beschlagene Augen funkelten in dunkelbraune, die von einem heftigen Fieber erfasst tiefschwarz glühten. »Lass uns das hier im Schlafzimmer ausfechten!« Morste Lemmie mit schweren Lidern. »Bevor ich nicht mehr gehen kann.« Chai bleckte zwei Reihen perfekte weiße Zähne auf. »Häng man tau!« Das hinderte sie allerdings nicht daran, sich auf dem kurzen Weg bis zum Schlafzimmer in Handgemenge, Kleinsthändel und Nähteprüfungsattacken zu verwickeln. ~~~~~~x* Chai rollte sich auf Lemmies nackten Körper, die Knie und Ellenbogen leicht aufgestützt, um seinem Freund nicht mit seinem Gewicht die Luft aus dem Leib zu treiben. Der atmete noch immer heftig, die Lider flatternd, die Lippen leicht geschwollen von den unzähligen Küssen, die sie ausgetauscht hatten. Ein Ohr auf Lemmies Brustkorb, um dessen Herzschlag zu lauschen, streichelte Chai sanft über die von einem dezenten Kondenswasserfilm bedeckte Haut. Sollte er wirklich aufstehen, um ihre verstreuten Kleider aufzulesen und die leichten Kollateralschäden zu beheben, die ihre Tour d'Amour verursacht hatte? "Mjjjjammmmm!" Schnurrte es unter ihm behaglich. Unwillkürlich grinste Chai in sich hinein. Eine Hand lag besitzergreifend auf seiner Pobacke, glühte sie förmlich durch und korrespondierte mit einem gerade noch simmernden Hitzeherd in seinen Lenden. Er liebte und genoss es sehr, wenn Lemmies Hände über seinen gesamten Leib wanderten. Es fühlte sich so herrlich an! Wie ein rolliger Kater antwortete er schnurrend auf Lemmies Kommentar zur Lage der Nation. Dessen freie Hand rollte die Finger ein, bevor sie mit den Knöchelkuppen sanft über Chais Schläfe und die Wangenknochen darunter streichelte, unsichtbaren Koteletten folgte. Mit jeder Wiederholung verstärkte sich Chais Empfinden der Liebe, die ihm entgegengebracht wurde. Er fragte sich manchmal, wie es diesem eher scheuen, bemüht unauffälligen Typen gelang, ihn ansatzlos umzuhauen, unangekündigt ein Feuerwerk in seinem Bauch abzufeuern. Mit einem schiefen Grinsen direkt sein Herz aufzuspießen und sich einzuverleiben. Chai hob den Kopf, lächelte in die graugrünen Augen, die ein wenig kurzsichtig blinzelten. Er rutschte und robbte mit betontem Hautkontakt höher, um in ein geneigtes Ohr zu flüstern. "Ich liebe dich, Lemmie." Die Arme, die zunächst sanft, locker seinen Leib gestützt hatten, härteten sich zu stählernen Banden aus, während Lemmie kurz den Kopf anhob und ihm ebenso verstohlen antwortete. "Und ich liebe dich, Chai." Wie immer ein wenig verlegen ob des romantischen Kitsches, der einfach nicht ihrer vielfältigen, starken Gefühle für einander GERECHT wurde, kuschelten sie unter Vermeidung von Blickkontakt miteinander, drehten und bogen sich, bis sie beide komfortabel ruhten und sich dabei so nahe kamen, dass möglichst jedes verfügbare Fleckchen Haut ein Pendant beschmiegen konnte. Lemmie ließ Chais schwere, glatte Strähnen unaufhörlich durch seine Finger gleiten, wenn er nicht abwechslungsweise dessen erstaunlich zarten Nacken massierte. Ihm wurde jedes Mal ein wenig schwummerig bei dem Gedanken, er könnte Chai in einem Paralleluniversum einfach verpasst haben. Wie trostlos und einsam wäre er dann jetzt! »Und ich würde es vielleicht nicht mal wissen!« Schauderte ihn. »Nicht wissen, wie es ist...!« Einem anderen Menschen auf diese intime Weise vertraut zu sein. Eine Nähe zu spüren, die tiefer ging als Haut und Knochen, die größer war als gemeinsame Interessen und Sympathie. »Mein kleines Wunder der Metaphysik.« Schmunzelte er, drehte den Kopf leicht, um Chais Stirn zu küssen. "Hmmm?" Murmelte der schläfrig. Die Aufregung des Tages forderte nun ihren Tribut. "Alles okay." Summte Lemmie sonor, um Chai einschlafen zu lassen. Später, wenn der erhöhte Teekonsum ihn noch mal in das kleine Gelass trieb, war immer noch genug Zeit, um schnell aufzuräumen und den Wecker für den morgigen Arbeitstag zu stellen. Lemmie lächelte noch mit gesenkten Lidern vor sich hin, als die ersten Schäfchen sich gruppierten, um über die Weidezäune zu springen. ~~~~~~x* Tag 07 "Geh mal eben raus." Nuschelte er, klappte sich die Kapuze über den wirren Schopf, registrierte wie gewöhnlich nicht, dass die billige Füllung seiner abgeschabten Daunenjacke an verschiedenen Stellen aus dem aufgeplatzten Polyester quoll. Er wirkte beinahe wie ein flügge werdendes Küken, noch Spuren von Flaum, jedoch bereits mit Flügeln ausgestattet. In Gewohnheit schraubte er sich die Sonnenbrille, eine lächerlich schlechte Kopie der legendären Ray Ban-Fliegervariante auf die Nase und klemmte sich das ausgefranste Dreieckstuch darunter ein. Es stank, über der Stadt lag wie immer ein widerlicher Dunst, ein Gemisch der chemischen Abgase, die sich entsprechend niederschlugen, dazu der Schmutz zahlreicher Gefährte und endlich die Nässe, die der Perlfluss anzog. Für einen Jungen aus der Provinz wie ihn stellte Shenzhen trotzdem eine Art "Paradies" dar. Oder zumindest den entscheidenden Brückenstein. In der Nähe kauerten andere "Kollegen", rauchten so gierig, als hinge ihr Leben davon ab, quasi uniform in billigen Trainingsanzügen und Schlappen unter ebenso schlechten Winterjacken. Eigentlich sollte das Klima hier subtropisch und angenehm sein, nahm man die saisonalen Taifune aus, doch die stete Dunstglocke angefüllt mit allerlei chemischen "Zaubermitteln" sorgte nicht nur für prächtige Sonnenuntergänge, die auch das benachbarte Hongkong in blutroten Schein tauchten, sondern auch für eine stationäre Veränderung des Wetters. Vielleicht war es auch nur die allgegenwärtige, klamme Nässe, die sie frieren ließ. Oder der Mangel an frischer Luft, Tageslicht und ordentlicher Ernährung. Er sonderte sich einige Schritte ab, bog um eine Ecke, als wolle er sich ein wenig die Füße vertreten. Tatsächlich absolvierte er einige Kniebeugen, schlackerte mit den schlaksigen Gliedern, um dann flink den kleinen Laptop unter seiner Jacke hervorzuziehen. Der Empfang war hier gut, das kabellose Netzwerk schlecht abgesichert, was ihm eine Einladung bedeutete. Unwillkürlich leuchtete sein flächiges, kreisrundes Gesicht auf, als er in seinem elektronischen Briefkasten eine neue Mitteilung fand. Sogleich rückten die Anstrengungen, die erzwungene Schlaflosigkeit, der stets nagende Hunger in den Hintergrund. Für einen Augenblick fühlte er tropische Wärme, Herzlichkeit und Freundschaft wie ein wärmendes Lagerfeuer und eine herzhafte Mahlzeit zugleich. Eilig tippte er seine Antwort ein, jagte sie durch das unendliche Netz, auf verschlungenen Pfaden, die unmöglich zu verfolgen waren. Gerade rechtzeitig ließ er seinen kleinen Computer wieder nah am Körper verschwinden, als sie schon nach ihm riefen. "He, Lord Leica, beweg deinen knochigen Arsch gefälligst wieder rein!" ~~~~~~x* "Komm schon, Filmstar!" Eine massive Pranke landete wuchtig auf seiner Schulter, die unter der langen Spannung bereits schmerzte. Er richtete sich auf, setzte die Kopfhörer ab, die ihn von seiner Umgebung abschirmten und gleichzeitig Dialoge abspielten. Hinter ihm ragte sein "Manager" auf, der Kleine Büffel. Wie immer klebte eine selbst gedrehte Zigarette an der fleischigen Unterlippe. Der Rauch ging eine unerfreuliche Verbindung mit dem billigen Rasierwasser ein, das den Kleinen Büffel wie ein unsichtbares Abwehrfeld umgab. »Wenn sich hier jemand für einen Star hält, dann ja wohl...« Aber er behielt diesen verräterischen Gedanken für sich, blickte wie gewohnt dümmlich-arglos in die Gegend. "Nudelsuppe, Filmstar?" Grunzte der Kleine Büffel, drehte sich nicht zu ihm um, als sie eilig in der Dämmerung durch die Neubauschluchten marschierten. Niemand nannte ihn hier "Filmstar" außer dem Kleinen Büffel. Dieser Umstand begründete sich darin, dass niemand von den anderen seinen Geburtsnamen kannte. Registriert war er als Ti Lung Tong-Gu, Ti Lung wie der bekannte Martial-Arts-Schauspieler aus ihrer Heimatprovinz und Tong-Gu, "Pilz für den Winter", da er genau zur Erntezeit geboren worden war, rund und proper. Doch dieser Namen lag wie eine abgestreifte Hülle, ein fremdes Leben, hinter ihm. In diesem "anderen" Leben hatte er Eltern, Nachbarskinder und Schulkameraden. Manche riefen ihn "Vollmondgesicht", weil inmitten der perfekten Rundung eine gerade, zierliche Nase mit kleinen, runden Flügeln saß und an Kinderkritzeleien erinnerte. Seine Eltern arbeiteten beide in verschiedenen Fabriken, früh gealtert, von Strapazen und Krankheiten gezeichnet. Das war nicht weiter bemerkenswert in ihrer Umgebung. Dann, als er gerade acht Jahre alt war, wurde seine Mutter erneut schwanger. Obwohl eine hohe Strafe drohte, erlebte er sie zum ersten Mal glücklich und strahlend, denn sie hoffte auf eine kleine Tochter. Jeden Tag verabschiedete sie ihn nun mit der Aufforderung, ein guter Mensch zu sein. Er strengte sich an, diesem Anspruch gerecht zu werden. Im Nachhinein betrachtet hätte sie wohl besser ihre Worte auch an seinen Vater gerichtet. Der wollte kein zweites Kind, das sie ihre Ersparnisse kosten würde, und dazu noch ein Mädchen! Prügel und Drohungen halfen nicht, die Schwangere entwischte einfach zu einer entfernten Cousine, die sich über die kostenlose Unterstützung im Haushalt freute. Kurz vor der Entbindung kehrte seine Mutter zurück, kugelrund, aber guter Dinge. Sie rechnete nicht damit, dass ihr Mann sie einsperren würde. Während Ti Lung Tong-Gu seine Zeit in der kleinen Bezirksschule absaß und sich bemühte, nicht die strafende Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich zu ziehen, brachte seine Mutter die kleine Schwester auf die Welt. "Tot." Wie sein Vater beharrte, der die Leiche gleich mit Benzin übergoss, anzündete und verscharrte. "Gesund." Schluchzte seine Mutter, bevor sie für immer verstummte. Die Strafe fiel sehr viel geringer als befürchtet aus, und seine Mutter verwandelte sich in eine lebende Tote. Sobald sie wieder laufen konnte, suchte sie nach ihrer Tochter, summte Kinderlieder vor sich hin, vernachlässigte sich selbst vollkommen. Um sich weitere Peinlichkeiten zu ersparen, sperrte der Vater sie schließlich ein. Daraufhin entdeckte die Mutter das Unkrautvertilgungsmittel, vorausschauend deponiert. Knapp zwei Jahre später heiratete der Vater erneut, und die neue Frau verabscheute den Stiefsohn. Er müsse weg, damit ihr eigenes Kind gut aufwachsen könnte, koste zu viel Geld im Unterhalt, sei faul und widerspenstig. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der "Filmstar" bereits der kleinen Bande angeschlossen, die dem Kleinen Büffel folgte. Zu Hause musste er jeden Moment mit einer Attacke der verhassten Stiefmutter rechnen. Eines Tages folgte er dem Kleinen Büffel in den Spielsalon, den dessen Cousin, Großer Büffel, betrieb. Dort wurden nicht nur Wetten geschoben, sondern auch Computerspiele angeboten, bei denen man für echtes Geld virtuelle Güter erwerben konnte. Um sich einen Spaß zu machen, ließ einer der älteren "Brüder" den kleinen "Vollmond" spielen. Das war noch nicht der Moment der Erleuchtung, aber die Initiation. Sein Talent sorgte dafür, dass der Kleine Büffel ihn nicht mehr wie ein lästiges Insekt betrachtete, sondern mit ihm ihre kleine Provinzstadt verließ, um den kleinen "Filmstar" dort unterzubringen, wo die großen Geschäfte gemacht wurden. Mit zehn Jahren erreichte er also Shenzhen, wo die Zukunft sich "ereignete". Nach drei Monaten als "Spieler" für diverse Online-Spiele erzielten sie bereits ein verblüffend hohes Einkommen, gemessen an ihren Erwartungen. Kleiner Büffel verwaltete selbstverständlich als "Manager" ihre Einkünfte, davon amüsiert, wie ahnungslos der "Filmstar" war. Er irrte sich darin, denn sein "Goldesel" hatte Blut geleckt, eine Welt entdeckt, die unendlich und frei war, weg von der quälenden Realität. Unauffällig saugte der "Filmstar" alle Tricks und Kniffe auf, die um ihn herum zum Einsatz kamen. Ein Blick genügte. Nach fünf Monaten wechselte er das Tätigkeitsgebiet. Es genügte in dieser Welt nicht, ein guter Mensch zu sein, nein, er wollte MEHR. Er hatte seinen moralischen Kompass. Es gab ein Glaubensbekenntnis, das ihn entflammte, ihn darin bestärkte, sich selbst nicht als Versager, als Sonderling und Ausgestoßener zu betrachten. Sie nannten es "The Conscience of a Hacker", 1986 verfasst von Loyd Blankenship. Er hatte ein Vorbild, an dessen Namen er sich anlehnen konnte. Lord Nikon, einer der Hacker mit eidetischem Gedächtnis aus dem Film "Hackers", von Ian Softley 1995 in den USA gedreht. Er hatte eine Bestimmung. Aus Ti Lung Tong-Gu wurde Lord Leica, der Hacker. Ein Held. ~~~~~~x* Kann man jemanden Freund nennen, den man niemals gesehen hat? Dessen Stimme ungehört ist? Suriyawong nahm den einfachen Beutel auf und erhob sich, schob den Stuhl an den Computertisch heran. Für einige Baht konnte man eine bestimmte Zeitspanne lang das Internet in der öffentlichen Bibliothek benutzen. Er kam jeden Tag hierher, seit er umgezogen war. Natürlich lernte er auch, wie er es versprochen hatte, wälzte zahlreiche, zum Teil sehr seltene Bücher. Wie sein geliebter Großvater, bei dem er aufgewachsen war, verstand Suriyawong, der ihm seit jeher den Haushalt geführt hatte, sehr viel von der traditionellen thailändischen Volksmedizin. Allerdings galt sein besonderes Interesse den zahlreichen Pflanzen, weniger der direkten Behandlung von Patienten. Am Liebsten hätte er in einer großen "Apotheke" gearbeitet, wo entsprechend den Verschreibungen der Ärzte die Medizinpäckchen zusammengestellt wurden. Oder gar geforscht! Allerdings kostete ein Studium sehr viel Geld. Für eine Ausbildung in einer der großen "Apotheken" musste man einen Fürsprecher haben und sich auch auf chinesische Volksmedizin verstehen. Suriyawong hatte keine Mühe, Englisch zu lernen, denn er hatte mit dem Großvater in Pattaya gelebt, wo es von ausländischen Reisenden nur so wimmelte. Außerdem gab es Radioprogramme und Liedtexte, neuerdings sogar Schulfernsehen mit Fremdsprachen, sodass er sich ohne Schwierigkeiten verständigen konnte. Chinesische Schriftzeichen jedoch konnte er nicht lesen. Was lag also näher, als die unerschöpflichen Möglichkeiten der neuen Technik, des Internets, zu nutzen? Warum nicht eine kleine Anzeige aufgeben? [Suche englischsprachigen E-Mail-Partner zum Lernen von chinesischen Schriftzeichen, Schwerpunkt Medizin und Heilpflanzenkunde. Biete Einführung in Makruk (thailändisches Schachspiel), fungiere auch als Spielpartner.] Zunächst hatte sein Angebot wohl keinen Reiz auf das Publikum des großen, englischsprachigen sozialen Netzwerks ausgeübt, in dem er sich registriert hatte. Aber dann hatte sich "Mushroom" gemeldet. Mush, wie Suriyawong seinen neuen Bekannten nannte, bestand auf einem etwas komplizierten Weg, eine E-Mail-Adresse zu registrieren, erwies sich im Übrigen aber als amüsanter "Briefpartner". Und nicht nur das. Nach einem behutsamen, tastenden Anfang, vom Austausch der üblichen Höflichkeiten diktiert, dirigierte Mush ihn durch den fremdartigen Dschungel aus Bits und Bytes. Suriyawong argwöhnte nichts Besonderes hinter den Ratschlägen oder Bitten, die Mush an ihn richtete. Ja, er begriff nicht einmal, warum virtuelle Umwege gemacht werden mussten, kryptische "Adressen" eingegeben, um den Kontakt aufrechtzuerhalten. Er vertraute Mush einfach. Mittlerweile, nach einem Jahr regem Austausch, kannten sie einander wirklich gut! Glaubte Suriyawong zumindest, der keinen Grund sah, sich zu verstellen oder zu lügen. Von Mush wusste er, dass der fern von seiner Familie lebte und vor kurzem 15 Jahre alt geworden war. Er beherrschte das Englische sehr gut und kannte sich mit all den seltsamen Computerdingen aus, die Suriyawong ratlos akzeptierte. Und, wie sich herausgestellt hatte, war er in Makruk unschlagbar. Aber längst ging es nicht mehr um Spielpartien oder einzelne Schriftzeichen, nein, Suriyawong berichtete seinem Freund Mush auch aus seinem Leben, alltägliche Dinge, lustige Begebenheiten, Erfolge und Niederlagen. Er fühlte sich verbunden mit diesem bekannt-unbekannten Menschen, der "zuhörte", gelegentlich kesse Kommentare zurückgab, ihn aufmunterte, wenn er an den Herausforderungen der fremden Schriftzeichen zu scheitern glaubte. Außerdem war Mush der Teil "Heimat", den er hatte mitnehmen können, abgesehen von seinen Kleidern und anderen Kleinigkeiten. »Es wird besser werden!« Ermahnte er sich selbst, wickelte ein dünnes Tuch um seinen Kopf, damit der leichte, handgeflochtene Sonnenhut mit breiter Krempe besser saß. Wenn er erst mal für die Ausbildung in der Apotheke zugelassen war, hätte er bestimmt jeden Tag so viel Arbeit und würde so viele neue Dinge lernen, dass kein Raum für Selbstzweifel oder Heimweh blieb! ~~~~~~x* "Wir sollten mal was unternehmen." Mush aka Lord Leica, ehemals Ti Lung Tong-Gu, blinzelte und wischte sich überlange, struppige Strähnen aus den schmal geschlitzten Augen, die Wimpern von Ablagerungen in der schmutzigen Atmosphäre verklebt. "Wir" meinte natürlich nicht den Kleinen Büffel, sondern ihn selbst. "Wir könnten uns nach oben bemerkbar machen." Breitete der Kleine Büffel seine nicht besonders regen Gedanken aus. Mush jedoch hütete sich streng davor, seinen "Manager" jemals merken zu lassen, dass er ihn durchschaute und ihm mental weit überlegen war. Hatte nicht der Premierminister von Großbritannien, Churchill, gesagt, man möge nicht über die Dummheit seiner Feinde lachen, da sie einem selbst zu Vorteilen verhelfen könnte? Irgendwo hatte er den Satz "gesehen", musste ihn bloß "ablesen". Da Kleiner Büffel von ihm niemals eine Antwort abwartete, sondern sich bemüßigt sah, alles kleinteilig zu erklären, sozusagen in verdaulichen Dosen, schlürfte Mush folgsam die ölige Nudelsuppe. "Industrien haben Netzwerke. Und Geheimnisse." Raunte Kleiner Büffel ihm zu, zog dann demonstrativ an seiner Zigarette. Glaubte er, dass die Anführer sich so konspirativ gaben? Mush ignorierte artig diese bedeutungsschwangere Darstellung, glotzte betont dümmlich drein. Wie überall gehörten sie zu einer Triadengruppe. Neben dem Geschäft mit dem Online-Spielen arbeitete Mush nun auch im Bereich "Penetration". Meistens ging es darum, Interna auszuspähen und ein hohes Schweigegeld zu erpressen. Gelegentlich bezahlte auch ein Mitglied, das unter dem "Schutz" der Triade stand, sehr viel Geld, um die Konkurrenz anzugreifen und zu sabotieren. Natürlich gab es auch noch "Fußtruppen", doch Mushs Fähigkeiten sorgten dafür, dass sie in einer "Branche" beschäftigt wurden, die nicht mit plumper, physischer Gewalt arbeitete. Die Anspielungen, die Kleiner Büffel an seinen offenkundig blöden aber talentierten "Schützling" zu bringen suchte, bedeutete eine nicht ungefährliche Ausweitung ihrer Aufgaben. Üblicherweise legten die Sektionsführer auf Geheiß der Bosse fest, wo in virtuellen Landschaften nach harter Währung geschürft werden sollte. Eigeninitiative konnte bei Erfolg zu einer Beförderung führen und bei Misserfolg zum kurzen Prozess, falls die Gefahr bestand, dass ihre Unternehmungen aufgedeckt wurden oder eine konkurrierende Triade durch Nachlässigkeit ihr eigenes Netzwerk invahierte. Kleiner Büffel hatte, wie die meisten der anderen auch, keine Ahnung davon, dass Mush sich so ziemlich "überall" herumgetrieben hatte. Seine Neugierde kannte keine Grenzen, seine Geschicklichkeit mittlerweile auch nur noch wenige. All die Informationsströme folgten einem grundsätzlichen Bauplan. Wenn man erst mal begriffen hatte, wie alles zusammenhing, die Maschinensprachen beherrschte UND verstand, was ihre Erfindenden beabsichtigt hatten, dann war es nichts weiter als das Ablesen einer komplizierten Straßenkarte in 3D plus einem Satz "Nachschlüssel". Für Mush kein Problem. Was er "sah", behielt er im Kopf und dort war anscheinend Platz für eine Bibliothek mit unendlich vielen Seiten. Er hatte in den vergangenen Jahren viel gelernt, Sprachen, Verhaltensweisen, Fakten und Mechanismen, hatte Filme gesehen, Lieder gehört, Bilder betrachtet. Bald, das hatte er sich vorgenommen, würde er mehr sein als ein kleiner Hacker. Er würde ein Held sein, ein Mann, der ohne Rücksicht auf Profit, Habgier oder gesellschaftlich-politische Oppression das Richtige tat. Doch mit knapp 15 Jahren fühlte er sich noch nicht ganz reif für "den großen Schritt", deshalb ließ er es auch weiterhin ungerührt zu, dass Kleiner Büffel die gesamten Einnahmen einsteckte und "verwaltete". ~~~~~~x* Tag 08 Suriyawong stellte das Fahrrad ordentlich ab und betrat das kleine Haus, in dem sein Gastgeber lebte und arbeitete. Sein Großvater bezahlte seinem alten Bekannten, einem chinesisch-stämmigen Arzt, ein monatliches "Ausbildungsgeld", damit sein Enkel hier schlafen, essen und lernen konnte. Dafür musste Suriyawong im Haushalt helfen, was ihm jedoch nicht sonderlich viel ausmachte. Das war er von Kindheit an gewöhnt. Eigentlich hätte er auch bei seinen Eltern um Obdach nachfragen können, immerhin wohnten sie mit seinen beiden jüngeren Geschwistern in der Hauptstadt, doch... Ohne ein Wort darüber zu verlieren war diese Option verabschiedet worden. Mit im Haushalt seines Gastgebers lebten die strenge Ehefrau, die ihn keines Blickes würdigte, sowie eine Hausangestellte, die sich vor ihren Arbeitgebern fürchtete und einen einfältigen Eindruck auf Suriyawong machte. Täglich kam nicht nur Klientel, sondern auch die Kinder des Arztes, andere Verwandte und zahlreiche gutsituierte Freunde. Einen Augenblick der Ruhe und Selbstbesinnung konnte man hier wohl nur des Nachts finden. Wenn der Verkehr nicht übermäßig laut in das Bewusstsein drang. Eigentlich, wenn man darüber nachdachte, wollte er nicht hier sein, doch Suriyawong zwang sich zur Konzentration auf die Möglichkeiten, die ihm blieben. Half das nicht, huschte er zu den zahlreichen Pflanzen, die im Haus verteilt wuchsen. Es tröstete ihn, vertrauter Duft, fröhliche Farben, guter Geschmack. Und Mushs elektronische Briefe. Also ging es ihm doch gut! Deshalb senkte er unterwürfig den glänzenden Schopf und neigte das Haupt, als er an der Dame des Hauses vorbei huschte, um seinen zahlreichen Pflichten nachzukommen. Üblicherweise hätte er sie mit dem Wai begrüßen müssen, doch das hätte ja bedeutet, dass sie seine Existenz anerkannte, was sie sich ausdrücklich verbeten hatte. ~~~~~~x* Wenn er etwas fand (und Lord Leica SUCHTE niemals nur), spielte es für ihn zunächst keine besondere Rolle, was man wohl damit anfangen könne. Er war einfach neugierig, wissbegierig. Erst in dem Moment, in dem etwas mit dem "Fund" geschehen sollte, verwandelte sich der passionierte Hacker in einen kriminellen Helfershelfer. Mush wäre gern sofort ein Held geworden, doch im Augenblick verlangte sein Lebenswille nach Obdach, Nahrung, Wärme und einem ständigen Zugang zum Internet. Er war simpel nicht in der Position, aus eigenem Urteil zu entscheiden, was unangetastet blieb und welche Informationen genutzt werden mussten. Während er wie gewohnt (wenn er nicht viel zu kurz schlief, hastig etwas herunterschlang oder eine Katzenwäsche absolvierte) virtuelle Beutestücke erlangte, Spielprogramme durch Hintertüren betrat und die Chancen veränderte, arbeitete er sich gleichzeitig durch ein besonderes Netzwerk, spähte in jeden Winkel, flink und so geschickt, dass er keine Spuren hinterließ. Oder sie vielmehr entsprechend klinisch-rein "wegputzte". Der Kopfhörer spülte Musik in seine Ohren, nicht zu Unterhaltungszwecken. Mit einer Abspielliste lernte Lord Leica anhand der Liedtexte die Aussprache der Worte, die er "sah". Die anderen machten sich regelmäßig über ihn lustig, den kleinen Trottel, der Englisch wie der große Filmstar Jackie Chan lernen wollte! Was hatte der gleich noch mal gehört? Die Beach Boys?! Für Lord Leica waren Schriftzeichen einfach. Wenn er sie "sah", konnte er blitzschnell, quasi automatisch eine "Übersetzung" abrufen. Wozu gab es schließlich Wörterbücher?! Das bedeutete allerdings nicht, dass man sich auch unterhalten konnte, eine Sprache "sprechen". Englisch war wichtig, auch wenn der aufgeblasene, rachsüchtige und missgünstige Lehrer seiner Kinderzeit stets darauf beharrt hatte, dass bald die ganze Welt Mandarin sprechen würde. »Und das hier, in Kanton?« Grummelte ein energisch unterdrückter Widerspruchsgeist in Ti Lung Tong-Gu. Andererseits sprachen die Maschinen, die unsichtbaren Informationsströme, die IHM die Welt bedeuteten, eine eigene, auf dem Englischen basierende Sprache. Wenn man wirklich genau war, dann musste man sogar sagen, dass die Welt eigentlich nur "arabische Ziffern" sprach, nämlich 0 und 1. Mush lernte nicht nur emsig immer mehr englische Vokabeln, Schimpfwörter und Metaphern, sondern auch Spanisch. Wenn man das einigermaßen verstand, kam man zweifelsohne in Amerika gut zurande, ob nun im Norden oder Süden des Kontinents. Man musste ja bloß aufschreiben, was man nicht aussprechen konnte. Wie man hier Schriftzeichen auf die Handfläche malte, wenn die Verständigung aufgrund unterschiedlicher Dialekte scheiterte. »Und Französisch für Afrika.« Dachte Mush. Sein nächstes Etappenziel. Lange brauchte man bestimmt nicht dafür, immerhin war es ja auch eine Sprache, die einfache Schriftzeichen und übersichtliche Regeln befolgte! Von grundsätzlichem Optimismus angefeuert, ein Held und Weltenbürger zu werden, spazierten seine Finger ganz automatisch durch das fremd-vertraute Netzwerk. Kleine Programme erledigten inzwischen die Arbeit, die andere neben ihm, zusammengesunken über ihren klapprigen Stühlen, mühsam per Hand vornahmen. Lord Leica spionierte, während Mush sich für eine heldenhafte Zukunft ausrüstete. Beide merkten auf, als sich ein Hindernis virtuell erdreistete, der Neugierde Zügel anzulegen. Verstohlen blickte Mush sich um, ob irgendjemand Lord Leica besondere Aufmerksamkeit schenkte. Hastig überprüfte er, ob sein unerlaubtes Eindringen in einen erstaunlich stark geschützten Informationsbereich des internen Netzwerks registriert worden war. »Hmmm.« Dachte Lord Leica agitiert, der Herausforderungen liebte. Irgendjemand hatte Geheimnisse. Er setzte seine virtuellen Nachschlüssel an. ~~~~~~x* Wenn Lord Leica aufgefordert wurde, sich in fremde Systeme zu hacken, orientierte er sich erst mal als "unsichtbarer" Besucher, bevor er zuschlug. Dabei hielt er sich nicht damit auf, die Beutestücke zu lesen, sondern kopierte oder entfernte, je nach Anforderung, einfach alles. Es musste stets schnell gehen, immer schneller als jeder Alarm oder jede Hand, die physische Stecker abziehen und Kabel trennen konnte. Manchmal hinterließ er auf Anweisung ein hässliches Geschenk, einen Virus, einen Wurm, einen "Käfer". Lord Leica fischte. Andere werteten aus. Die Ergebnisse wurden zu "klingender Münze", respektive zerknitterten Scheinen, die der Kleine Büffel eilig einsteckte. Dieses Mal, quasi aus eigenem Antrieb auf Fischzug, nahm er sich die Zeit, das zu betrachten, was er erbeutet hatte. Aufnahmen, Notizen, Anweisungen, direkt aus dem "Giftschrank" einer konkurrierenden Triade. Lord Leica schob sich die Kopfhörer in den Nacken und sah sich nach seinem "Manager" um. Der Kleine Büffel grinste kettenrauchend, positionierte sich hinter ihm und starrte auf den großen Bildschirm, wo wer weiß was ablief. "Ist das gut?" Erkundigte er sich schließlich halb angewidert, halb verwirrt. In seiner Rolle als gefälliger Trottel mit Inselbegabung zuckte Mush mit den Schultern und murmelte. "Habn's heftig abgesichert." Er spürte, wie sich der stämmige Mann hinter ihm aufrichtete. "Ich sag Bescheid." Immerhin war ER der Boss ihres Teams! Mush lockerte unauffällig die verspannten Schultern und wartete auf die Rückmeldung des Sektionchefs. ~~~~~~x* Mit gesenktem Kopf lauschte Suriyawong demütig den Anweisungen, die endlos auf ihn einzuprasseln schienen, als sei er ein kleines Kind, das zum ersten Mal allein zu Hause gelassen würde. Aber mit zwanzig Jahren verstand sich Suriyawong durchaus darauf, ein Haus zu hüten, ohne dass sich Katastrophen, von furchtbaren Fällen höherer Gewalt abgesehen, ereigneten. Er spürte die verächtlichen Blicke der Hausherrin, die ihm auf der Haut brannten wie Säure. Einige Tage wollten seine Gastgeber bei Verwandten im Norden verbringen. Die Hausangestellte hatte darum ersucht, zu ihrer Familie reisen zu dürfen. Ausgeschlossen, dass der angehende Lehrling den Meister begleitete! Deshalb sollte Suriyawong allein zurückbleiben, unter dem generellen Verdacht der Spitzbüberei, Brandstiftung, Leichtsinnigkeit, Völlerei und Prahlsucht. Zumindest erwartete das die Hausherrin. Einen halben Monat nun lebte Suriyawong bereits in der Familie des Arztes und schon kam es ihm wie eine Ewigkeit in der Verdammnis vor. Aufbegehren, Protestieren, das wusste er, würde ihm nicht helfen, nur schaden. Auch wenn er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen: ein Teil des Haushalts wollte ihn nicht hier haben. Wie in den quälenden sechs Jahren an der öffentlichen Grundschule reagierte er mit demütigem Schweigen und Unterordnung. Zwar hatte er in den drei weiteren Pflichtschuljahren und folgenden vier bis zum Abschluss an einem privaten Institut erfahren, dass man eine andere Auffassung auch vertreten konnte, es kam jedoch EXPLIZIT auf Ort und Zeit an. Hier, als Bittsteller, wenn auch durch Zahlung von Kostgeld, konnte er sich kaum erlauben, auf seine Unbescholtenheit hinzuweisen. Geduldig verabschiedete er also seine Gastgeber, ausgerüstet mit zahlreichen Zusatzaufgaben, die ihn vom Müßiggang abhalten sollten. Falls es so etwas jemals in seinem Leben gegeben hatte. Trotzdem atmete Suriyawong erleichtert durch, wischte hüpfend auf blanken Sohlen durch das einstöckige Haus und streichelte über Blüten- und Pflanzenblätter auf seinem Weg. Für ein paar Tage könnte er sich fühlen wie ein König über das eigene Reich! ~~~~~~x* Sie hatten den Kleinen Büffel in das Büro bestellt. Anschließend war der, noch immer üppig errötet vor Eifer, förmlich zu seinem "Schützling" geschwebt, um ihn dazu anzuhalten, schnellstmöglich nach mehr Informationen zu suchen. Eine große Sache! Und die Konkurrenz tappte nur im Dunkeln! Mush nickte wortlos. Er war selbst neugierig genug, herausfinden zu wollen, was hinter diesem kuriosen Decknamen steckte. »Wild Adapter«. ~~~~~~x* Mush lächelte, als er die beinahe euphorische Mitteilung seines thailändischen Freundes las. Er hatte sich schon ein wenig gesorgt nach diesem plötzlichen Umzug und den bemüht tapferen Bemerkungen dazu. In seiner Vorstellung war Suriyawong ein guter Mensch, der sich anstrengte, sein Leben zu leben und sich außerdem noch gut mit dem Großvater verstand. Wahrscheinlich war er schlank, nicht sonderlich groß, mit geschickten Fingern, trug häufig leichte Stoffhosen und schlichte Hemden, dazu einen Umhängebeutel für die Heilpflanzen, die er einsammelte. Er schien Pflanzen wirklich gern zu haben, fragte Mush dazu Löcher in den Bauch, wenn er auf eine Übersetzung hoffte. Für Mush waren Pflanzen essbar. Oder auch nicht. In der ausufernden Betonwüste, in der er lebte, garnierten sie aus Plastik Läden und mobile Stände oder wucherten als Unkraut auf Brachland. Was ihn nicht daran hinderte, Suriyawongs Enthusiasmus zu genießen. Er tippte in Windeseile seine Antwort und deutete an, auf ein interessantes Geheimnis gestoßen zu sein, dann jagte er über verschlungene, nicht zu verfolgende Pfade die Antwort in den virtuellen Äther. Es regnete mal wieder, als Mush ihre schäbige Unterkunft verließ, den kleinen Computer sicher unter seiner aufplatzenden Daunenjacke verborgen. Durch das Gewühl, den ewig verstopften Verkehrsfluss und den ständigen Lärm drängte er sich mit hochgezogenen Schultern. Die gesamte Stadt schien wie ein Geschwür ständig zu expandieren, wurde immer eiliger und hektischer. Weil jeder wusste, dass man hier Geld machen konnte, vielleicht sogar sein Glück, kamen auch unzählige Menschen aus anderen Provinzen, dazu noch die Wanderarbeit und die vollkommen verarmte Bauernschaft. Ob das GELD für sie alle reichte? Jeder sein Fitzelchen Glück ergatterte? Mush bezweifelte es. Manchmal, wenn er sehr übermüdet, ausgedörrt und halb im Delirium vor dem Bildschirm hing, fragte er sich auch, wie lange seine "Glückssträhne" noch anhalten mochte. Im Augenblick zumindest sah es ganz vielversprechend aus. Wie jeder, der für eine Triade arbeitete oder ihr angehörte, bewegte sich Mush wachsamer, vorsichtiger, als er sich seinem Arbeitsplatz näherte. Gelegentlich wurden Hacker-Talente auch "abgeworben" oder entführt, sobald man sie identifiziert hatte. Wie man hörte, aber kaum zu beweisen war, da beide Flüsse alles ins Meer spülten, endeten solche "Seitenwechsel" stets tödlich. Vielleicht, weil es endlich aufhörte, von oben sauer zu nieseln und er die Kapuze auf den Nacken warf, bemerkte Mush den gelangweilten Eckensteher rasch genug. Sofort entschied er, nicht direkt in die Straße einzubiegen, sondern sich vom Fluss der Ambulierenden mittragen zu lassen. Es gab schließlich andere Schleichwege. Für einen der komplizierteren entschied er sich. Durch verwinkelte Baulücken, ein Geschäft und zwei Hintertüren gelangte er in eine Tiefgarage, die eine Verbindung zur Gasse hatte, in der sich der Hintereingang seines Arbeitsplatzes befand. Mush wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Die dämmrigen Glühbirnen waren zerschlagen worden, Splitter knirschten leise unter den dünnen Sohlen seiner ausgetretenen Turnschuhe. »Nicht gut.« Kommentierte sein Überlebenswillen bange, aber er konnte jetzt nicht kehrtmachen, denn sonst würde er nicht wissen, vor wem er wie weit zu fliehen hätte, richtig? Folglich musste Mush sich anschleichen, in die vereinsamte Gasse blinzeln, die ebenfalls charakteristisch im Dunkeln lag. Was auch immer geschehen war, es HATTE sich bereits ereignet. Ein einfacher Transporter mit großer Ladefläche wartete, ungekennzeichnet und abgenutzt, wie all die anderen Vehikel, die Lasten von Baustellen oder Feldern transportierten. Mush presste eine Hand auf seinen Mund, um jede unwillkürliche Äußerung zu ersticken. Zuerst sahen sie aus wie Müllsäcke, doch dann, als für einen Moment eine Zigarette illuminiert wurde, erkannte er mit zusammengekniffenen Augen, dass die "Müllsäcke", die man über den Boden schleifte, Arme hatten. Stumm, mit flachen Atemzügen verfolgte er, wie die Leichen angehoben und auf die Ladefläche geworfen wurden, achtlos in Planen eingehüllt und danach abgedeckt. Er zweifelte nicht daran, dass niemand davongekommen war, der sich zum Zeitpunkt der Attacke im Gebäude aufgehalten hatte. Wie war es diesen Angreifern aber gelungen, die Wachposten zu überrumpeln?! Und wer waren SIE überhaupt? »Und warum ausgerechnet jetzt?« Addierte sein Verstand eine weitere kritische Frage, doch Mush zog schnell seine Schlüsse, wie er es immer tat. Diese ungewohnt heftige Attacke, die nicht dem Vorgehen der Triaden untereinander entsprach, war Resultat seiner "Forschungsaktivitäten". Sie war in Anbetracht der Kürze der Zeit perfekt organisiert und musste blitzschnell erledigt worden sein. Zumindest hatte sich noch niemand vom Hauptquartier hier eingefunden, um nach dem Rechten zu sehen. »Was jetzt?« Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, ignorierte die beißende Kälte, die ihn innerlich gefühllos machte. Erstens, er musste herausfinden, was sein letzter Fischzug in Sachen »Wild Adapter« erbeutet hatte. Auch wenn es nicht erlaubt war, hatte er selbstverständlich seine Funde doppelt abgesichert, sozusagen "privat" gespeichert, wenn auch aus Erschöpfung am Vormittag nicht mehr durchgesehen. »Nein!« Warnte ihn sein Überlebenswille autoritär. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit!« »Richtig.« Mush kauerte in der Dunkelheit und wartete eine ganze Weile, bis sich auch wirklich nichts mehr in der Nähe bewegte, selbst die Nachzügler abgezogen waren. Zuerst musste er sich selbst in Sicherheit bringen. Zurück zu seinem Quartier konnte er wohl kaum, denn wer HIER zugeschlagen hatte, würde auch keine Probleme haben, die restlichen Hacker aufzustöbern. »Geld!« Lieferte sein Überlebenswillen das Stichwort. Mush schloss für einen Moment die Augen und sandte ein stummes Gebet aus. Er zweifelte nicht daran, dass Kleiner Büffel tot war. Der hätte es sich niemals entgehen lassen, seinen Triumph vor Ort auszukosten. Lautlos machte er kehrt, hielt sich in Schatten und Nischen, bis er die geschäftigen Straßen erreichte. Kleiner Büffel hatte ihr Einkommen nicht verprasst, wie man hätte annehmen können, sondern durchaus einen großen Anteil ganz ordentlich auf ein Konto eingezahlt. Ohne sein Wissen hatte Mush sich selbst ein anderes Konto eingerichtet, in einem der berüchtigten Steuerparadiese der Inselstaaten in der Südsee. Für ihn war es nicht schwer gewesen, die Zugangsdaten zu Kleiner Büffels Bankkonto in Erfahrung zu bringen. Er loggte sich entsprechend rasch ein, nachdem er über mehrere Server seinen Zugang zum Internet verschleiert hatte, räumte das Guthaben ab, transferierte es erst auf ein ausgespähtes Bankkonto einer Speditionsfirma in Macao, bevor er es von dort auf sein eigenes Konto überwies. Wenige Minuten später stopfte er die Scheine vor einem Automaten in seine Jacke, die Schultern weit ausgestellt, sodass niemand ihn belauern konnte. Ein Plan reifte, während er sich rasch zum Hafen bewegte. ~~~~~~x* Tag 09 Mush war noch nie in Hongkong gewesen, deshalb musste er sich nach der flotten Fahrt mit der Jet-Fähre, die einen Teil seiner leichter erreichbaren Barschaft gekostet hatte, dazu zwingen, nicht zu neugierig alles anzustarren. Nun denn, hatte er vorher einfach nicht die Zeit, JETZT hatte er sie auch nicht! Sein Weg führte ihn weg von den Hochglanzfassaden in die verwinkelten Gassen und Gässchen mit hühnerverschlaggroßen, aufeinander gestapelten Geschäften und Läden. Rasch waren die Haare geschnitten, eine intellektuell wirkende Nickelbrille erstanden und ein einfacher Anzug gekauft, dann begab er sich zu einem kleinen Studio, um passende Photos herzustellen. Über ein Schließfach in einem entsprechenden Geschäft wickelte er die akribisch in Windeseile vorbereitete Aktion »Flucht« ab. Es war nicht so schwer, wie man annehmen mochte, zumindest nicht für jemanden, der elektronische Ströme wie Fährten "lesen" konnte. Die digitale Aktenführung assistierte ihm dabei artig. Ein vermeintlich gestohlener Pass, eine gefälschte Diebstahlsanzeige, in der Meldedatenbank ein ausgetauschtes Bild, zurückdatierte Einträge, Eilbedürftigkeit und verschwiegene "Boten". Mehr als einmal hatte er das vorher für die Triade erledigt. Nun benutzte er die Kennung einer konkurrierenden Triade, entlohnte die Hilfsdienste über ein Schwarzkonto einer anderen Triade und konnte, nach einem kräftigen Frühstück, in ein neues Leben blicken. Student James Hung, Bürger der Sonderverwaltungszone Hongkong, wartete artig mit seinem druckfrischen Reisepass (und einer Kopie der gefälschten Diebstahlsanzeige) auf dem Hongkonger internationalen Flughafen (Ticket finanziert von einer Investmentgesellschaft auf den Kapverden), das Flugzeug nach Bangkok, Thailand, betreten zu dürfen. ~~~~~~x* Suriyawong schrubbte gerade die Steinfliesen des Badezimmers, als er das dezente Türglöckchen hörte. »Verflixt!« Wischte er sich nasse Strähnen aus dem Gesicht. »Können die denn nicht lesen?!« In der Tat prangte eine sorgsam kalligraphierte Nachricht, wetterbeständig eingeschweißt, am Portal und wies jeden Betrachter darauf hin, dass Suriyawongs Lehrmeister in spe sich derzeit nicht in der Praxis befand. Trotzdem gab es einige Unentwegte, die sich von Suriyawong ungläubig diesen Umstand noch mal persönlich erläutern ließen. Ganz schön unverschämt, einfach zu verreisen! Suriyawong erduldete die kritischen Maßregelungen, die ihm gegenüber vollkommen ungeniert ausgesprochen werden konnten, weil er ja keine Möglichkeit hatte, sich gegen Vorwürfe und Beleidigungen zu verwahren, mit unterwürfiger Zurückhaltung. Auch wenn er manchmal wirklich gern einen Eimer Seifenwasser über den Nörgelnden und Stänkernden ausgeleert hätte! Schicksalsergeben eilte er also auf bloßen Füßen zur Tür, da das Glöckchen sich zum dritten Mal lärmend überschlagen hatte. Er öffnete eilig, gerade noch nasse Strähnen hinter die Ohren wischend und entbot den üblichen Gruß. "Äh..." Sein Gegenüber, in einen billigen Anzug gekleidet, mit angelaufener Nickelbrille und einer lächerlich schäbigen Aktentasche, zögerte, um dann erneut anzusetzen. "Guten Tag, junges Fräulein!" Suriyawong, der nicht mit einer englischen Anrede gerechnet hatte und geistig umschaltete, erstarrte, blickte panisch an sich herunter. "Der Doktor ist nicht da, verreist!" Presste er hastig hervor und versuchte, die Tür zu schließen. Hoffentlich hatte niemand ihn SO gesehen!! Der Fremde, der ein bisschen arg jung für einen Geschäftsmann wirkte, blockierte jedoch ebenso flink dieses Unterfangen. "Verzeihen Sie bitte, mein Fräulein, aber ich suche nicht den Arzt, sondern seinen Schüler! Suriyawong." Dann stotterte er beim Nachnamen. Sein Gegenüber schnappte verblüfft Luft, bevor er sich besann und haspelte. "Nicht hier! Falsches Haus! Bitte, gehen Sie jetzt!" "Falsches Haus?!" Platzte der junge Mann mit dem Vollmondgesicht heraus. "Wie kann denn das sein?!" Er hatte dem Fahrer ein Trinkgeld in Dollar gegeben und DER hatte ihm versichert, er kenne die Adresse! Außerdem stand dort auch in lateinischen Buchstaben der Name des Arztes! Er kämpfte also gegen die Anstrengungen des Mädchens an, die Tür zu schließen. "Bitte, mein Fräulein!" Vielleicht verstand sie sein Englisch nicht?. "Bitte, ich bin Suriyawongs Freund! Bitte melden Sie ihm doch, dass Mush hier ist, ja?" »Sonst lagere ich vor dem Portal!« Signalisierte sein entschlossener Gesichtsausdruck. "Mush?!" Beinahe hätte Mush sich platt auf die Eingangsfliesen gelegt, so abrupt verlor sich der Widerstand gegen sein Eindringen. Er konnte sich gerade noch abfangen. "Du bist Mush?!" Wiederholte das Mädchen fassungslos. Mush richtete sich auf und hatte plötzlich das starke Gefühl, dass hier nicht nur von EINER Seite Erklärungen notwendig wurden. ~~~~~~x* Suriyawong schenkte Tee aus und reichte Mush ein kleines Schälchen mit frischem Obst. Der, nach mehr als vier Stunden Flug und einer aufregenden Fahrt durch die Hauptstadt sehr hungrig, nickte dankbar und pickte eifrig. Sein Gastgeber nagte unschlüssig an der Unterlippe, beobachtete ihn unter halb gesenkten Lidern, hoffte inständig, dass niemand in der neugierigen Nachbarschaft ihre Slapstick-Einlage am Portal beobachtet hatte. Unruhig rang er die schlanken Hände, noch gerötet durch die fatale Reinigungsaktion. "Bist du wirklich Mush?" Erkundigte er sich schließlich erneut. Mush, der gerade den Tee verkostete und ihn für besonders lecker befand, lächelte und zitierte mühelos Suriyawongs letzte E-Mail an ihn. "Ich dachte nur, dass du ein Junge bist, weißt du?" Ergänzte er, verlegen errötend "Ich BIN ein Junge!" Begehrte Suriyawong auf, der mit Zwanzig schon als Mann gelten konnte und ballte verräterisch die Fäuste. Als ihm bewusst wurde, dass sein gesamter Ärger sich über den fremden Freund entlud, senkte er eilig das Haupt und bat tonlos um Entschuldigung. Er hatte allerdings auch seinen Gast in erhebliche Verlegenheit gestürzt, denn Mush wusste zwar, was er GESEHEN hatte, wollte jedoch auf keinen Fall den Freund beleidigen! Deshalb sprudelte er ebenso eilig die Bitte um Nachsicht und Vergebung heraus. Dann schwiegen sie beide, lange, recht ungemütlich, bedrückt. Keiner von beiden hatte sich SO eine Begegnung vorgestellt. Suriyawong biss sich auf die Lippen, bis sie schmerzten, kämpfte mit Tränen der Wut und Enttäuschung. Warum nur, warum musste ausgerechnet HEUTE alles so schiefgehen?! Als Mush sich erhob, mutmaßlich das Haus zu verlassen, ihm den Rücken auf Nimmerwiedersehen oder -schreiben zu kehren, schnellte er deshalb vor und umklammerte ein zierliches Handgelenk mit aller Kraft. "Nicht gehen!" Stieß er hervor. Es GAB ja eine Erklärung, er musste jetzt nur Mut beweisen! ~~~~~~x* Mush spürte, wie ihm die Kinnlade herabsackte. Mit gesenktem Kopf zog Suriyawong gerade Unterhose und Bermudas hoch, knöpfte dann das mittlerweile staubtrockene Hemd wieder zu. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Deutlich spürte er jetzt, dass seine Isolation ihn nicht darauf vorbereitet hatte, mit anderen Menschen in prekären Situationen zu kommunizieren! Was tun? Was sagen?! Er war sich nur sicher, dass er ihre Freundschaft nicht aufkündigen wollte und dass es ihm gar nicht gefiel, wie unglücklich Suriyawongs Haltung wirkte. Hastig, jeden Gedanken an eine mögliche Blamage oder Zurückweisung ignorierend, streckte er die Hand aus und lud hoffnungsvoll ein. "Freunde?" Suriyawong blinzelte durch die langen Strähnen, die ihr Exil hinter seinen Ohren längst wieder aufgegeben hatten, nahm dann sehr vorsichtig die dargebotene Hand. "Freunde." Bestätigte er mit einem schüchternen Lächeln. Erleichtert blendete Mush sein Vollmondgrinsen auf, eine freche Grimasse zur Erheiterung seines Gegenüber. Sie verfehlte auch hier ihre Wirkung nicht: Suriyawong kicherte hinter vorgehaltener Hand. Dann kämmte er die widerspenstigen Strähnen zurück und legte den Kopf ein wenig schief, betrachtete Mush neugierig. "Sag mal, warum bist du eigentlich hier?" ~~~~~~x* Unerschrocken war Mush seinem Gastgeber nach draußen gefolgt, bereit, den Beweis für seine knappe Erklärung anzutreten, doch Suriyawong setzte andere Prioritäten. Zuerst benötigte Mush etwas Passendes zum Anziehen, luftige Bekleidung, ordentliche Sandalen, einen Sonnenhut, eine Sonnenbrille, dazu noch Kleinigkeiten der sanitären Hygiene. Die Aktivitäten konnte er geschickt mit den eigenen Besorgungen für den Haushalt kombinieren, denn im Gegensatz zum Haus des Großvaters konnte man sich hier nicht aus dem eigenen Garten versorgen. Mush gefielen die bunten Märkte für Obst und Gemüse, begeistert schnupperte er und bemühte sich, dem eifrigen Suriyawong die chinesischen Schriftzeichen ins Notizbuch zu kritzeln. Obwohl sie immer mal wieder auf Hände und Füße oder das jeweilige Wörterbuch zurückgreifen mussten, funktionierte die Verständigung gut. Die Vertrautheit ihrer elektronischen Kommunikation stellte sich gemächlich ein. Nachdem sie an einer der unzähligen Garküchen abseits der Touristenpfade eine sättigende Kleinigkeit verspeist hatten, dirigierte Suriyawong Mush zurück zum Haus. Er wusste nicht, dass sein fröhlicher Begleiter längst einen "Orientierungsplan" gespeichert hatte, den er lediglich "ablesen" musste. Suriyawong ließ sich neben Mush auf der Veranda nieder. "JETZT kannst du mir erzählen, in welcher Klemme du steckst." Mush klappte seinen zuverlässigen elektronischen Begleiter auf. "Das wird dir nicht gefallen." Murmelte er, von Skrupeln geplagt. Natürlich gefiel es IHM, eine zweite Meinung zur Ausbeute seiner Suche zu hören, andererseits drehte sich Suriyawong vermutlich der Magen um. "Na los!" Suriyawong grinste spitzbübisch und stieß ihm einen spitzen Ellenbogen in die Seite. "Ich hab dir Meins gezeigt, jetzt zeig mir Deins!" Neckte er, attraktiv errötend, seinen Freund. ~~~~~~x* In der Nachbarschaft wurden Laternen angezündet oder Lampen illuminiert. Die Abenddämmerung sorgte zwar nicht für Ruhe, doch alles schien etwas gedämpfter, verlangsamter seinen Gang zu gehen. Mushs Computer hing zwecks Aufladung des Akkus an einer Steckdose, der harmlos aussehende Bote einer überaus unerfreulichen Nachricht. Suriyawong kauerte auf der hölzernen Veranda, die Beine eng vor den schlanken Körper gezogen und dachte augenscheinlich angestrengt nach, den Blick der schokoladenbraunen Augen ins Leere gerichtet, das Gesicht angespannt wirkte er nun älter. Mush warf verstohlene Seitenblicke auf den Freund. Er hatte das, was er verstanden hatte, mühsam erklärt, mehr als einmal gezwungen, die beiden Wörterbücher (Englisch-Kantonesisch bzw. Englisch-Thai) zurate zu ziehen. Nun fragte er sich durchaus bange, ob Suriyawong IHN verabschieden würde, nachdem er uneingeladen mit derart schockierenden Informationen aufgetaucht war. "Das kann nicht sein!" Stellte Suriyawong plötzlich heftig fest und schreckte Mush damit auf. Erstaunt blickte er in die schönen, dicht bewimperten Augen des jungen Mannes neben sich, doch Suriyawong machte seinem Herzen bereits Luft. "Das GEHT einfach nicht! Nicht möglich!" Gestikulierte er unterstützend, eine grimmige Miene präsentierend. "Das MUSS eine Falschmeldung sein!" Mush klappte den Mund auf (immerhin wusste ER wohl mehr über falsche und echte Meldungen als Internet-Novize Suriyawong), doch der erhob sich, zupfte beiläufig vertrocknete Blüten und Blätter der Kübelpflanzen in seiner Nähe ab. "Du hast gesagt, sie sind eingeschrumpft! Und die inneren Organe sind geplatzt!" Wiederholte er die mühsam ermittelten Übersetzungen. Mush klappte den Mund wieder zu, in der untrüglichen Gewissheit, diesen Sturm besser widerstandslos auszuhalten. "Wie soll das gehen, hm?!" Suriyawong wieselte durch die Bepflanzungseinheiten. "Ganz plötzlich verdampft die gesamte Feuchtigkeit der Haut, weshalb diese Person einschrumpft, aber nicht die inneren Organe?! Gibt's nicht!" "Mumifizierung?" Wagte Mush einen bescheidenen Beitrag. "Das braucht viel mehr Zeit! Und eine Einbalsamierung." Suriyawong wischte energisch fliehende Strähnen hinter die Ohren. "Du hast gesagt, es ging ganz schnell." »Na ja, ich habe bloß übersetzt, was im Polizeibericht stand.« Relativierte Mush innerlich. Suriyawong zählte nun an den Fingern ab. "Es geht auch nicht, dass plötzlich die Haare so lang werden! Und die Fingernägel! Das würde nämlich bedeuten, dass die Zellen rasant altern! Aber dann müsste auch der gesamte Körper sehr schnell altern!" Er blieb vor Mush stehen, der aufmerksam lauschte. "Außerdem, was hat das mit Drogen zu tun? Ich verstehe nicht, welchen Sinn es hat, die Konsumierenden gleich umzubringen und dazu dann noch so zu entstellen." Mush nickte beifällig. Er hielt das auch für einen kritischen Punkt. "Das kann alles nicht sein." Resümierte Suriyawong entschieden. "Es MUSS ein Irrtum sein." Als er ins Haus ging, folgte Mush ihm bedächtig. Er sah sich nun vor der Entscheidung, Suriyawong in dem Glauben zu lassen, es handle sich um eine Ente. Oder mit dem Rest der Wahrheit herauszurücken. Er räusperte sich und bewegte seinen älteren Gastgeber damit, sich ihm zuzuwenden. "Ich denke, ich sollte dir noch etwas erzählen. Über meinen Boss und die anderen." ~~~~~~x* "Entschuldigung." Murmelte Suriyawong gepresst, entbot Mush den Gruß, den er als Wai kennengelernt hatte. "Ich habe vorschnell gesprochen und... es tut mir sehr leid, dass du deine Freunde verloren hast." Schüchtern streckte Mush die Hand aus, berührte ein spitzes Knie. "Du konntest es ja nicht wissen." Bemühte er sich um Schadensbegrenzung, denn Suriyawong wirkte so getroffen und beschämt, dass ER sich noch beklommener fühlte. "Ich habe bisher auch nur an mich gedacht." Bekannte er verlegen. "Ich habe wohl wirklich einen gemeinen Charakter." "Das denke ich nicht!" Widersprach Suriyawong ihm energisch. "Bestimmt hätte dein Freund es verstanden! Du wärst vielleicht auch getötet worden, wenn du Zeit verloren hättest!" Mush lächelte schief. "Schon möglich, dennoch..." Dennoch fühlte er sich unbehaglich mit sich selbst, einer Person, die so kaltschnäuzig erst mal kalkulierte und dann erst einen Gedanken daran verschwendete, welches Unglück sich ereignet hatte. Eine schlanke, schön geformte Hand legte sich behutsam auf seinen Unterarm. "Morgen!, da bringe ich dich zu einem Tempel! Dort kannst du Gebete für deinen Freund sprechen." Bot Suriyawong sich nachdrücklich an, offenkundig sehr entschlossen, seine abrupten Worte auszugleichen. Ihm gegenüber zauberte Mush ein dankbares Lächeln auf sein Vollmondgesicht. "Das wäre sehr nett." Antwortete er artig und fügte in Gedanken an. »Bitte lade mich auch ein, hier zu übernachten, ja?« Statt einer Einladung zog Suriyawong aus einem alten, windschiefen Schrank, der allerdings hübsch gearbeitet war, zwei dünne Matratzen, Decken und Hängematten. Strahlend ging Mush ihm zur Hand, die luftige Unterkunft zu befestigen und darüber ein großzügig dimensioniertes Moskitonetz zu drapieren. Für einen Moment verspürte er wieder das Hochgefühl eines außerordentlichen Abenteuers. Suriyawong reichte ihm ein Blatt, das er zu kauen hatte, während er sich mit einem feuchten Lappen über Gesicht und Glieder wischte. Katzenwäschefrisch mit naturgereinigtem Gebiss zu Bett, eine neue Erfahrung. Nachdem er unfallfrei seine Schlafstätte erklommen hatte und matt auf das kleine Windlicht blinzelte, das Suriyawong zu ihren Füßen aufgestellt hatte, hörte er dessen Stimme leise flüstern. "Ich werde noch mal nachdenken." "Danke." Raunte Mush zurück. Nun fiel ihm das Einschlafen nicht mehr schwer, denn er fühlte sich beglückt, nicht ganz allein gegen unbekannte Feinde zu stehen. ~~~~~~x* Tag 10 Suriyawong rollte in müheloser Geschicklichkeit und jahrelanger Übung aus seiner Hängematte, ohne sich im Moskitonetz zu verheddern oder andere Turbulenzen auszulösen. Beiläufig verscheuchte er einige neugierige Echsen und andere Kerbtiere, die sich immer wieder im Haus einnisteten. Er pumpte Wasser, füllte es in die Kanne und rubbelte sich mit einem groben Lappen gründlich ab, bevor er luftgetrocknet in frische Kleider stieg. DIESES Mal zwang er sich mit unbewusst grimmiger Miene, NICHT aus Bequemlichkeit und Übermut die notwendige Bandage wegzulassen, die straff gespannt seine kleinen Brüste verbarg. In der Küche sortierte er die vorhandenen Reste und stellte zum Frühstück Reisbrei mit frischem Obst und in wenig Öl geschwenkten Bambusmaden, delikat mariniert, zusammen. Das Leben in Bangkok war wirklich entsetzlich teuer! Zuhause konnten sie sich wenigstens aus dem Garten bedienen, mussten nur den Reis, das Öl, Zucker und Reiswein kaufen. »Aber nun bin ich hier!« Ermahnte er sich streng, um nicht etwa in Heimweh zu verfallen. Er hatte seinem Freund Mush versprochen, über diese seltsame Sache mit den Drogen nachzudenken, mit gruseligen Figuren, die an schlechte Horrorfilme erinnerten. Suriyawong strich sich mit dem Handrücken Strähnen hinter die Ohren und nagte gedankenverloren an seiner Oberlippe. Er erinnerte sich vage an eine Bemerkung seines Großvaters, doch ob diese weiterhelfen konnte, entzog sich momentan der abschließenden Beurteilung. Die Frühstücksschüsselchen abgedeckt, um ungebetene Gäste zu entmutigen, griff er sich einen Besen, um energisch auch die letzten Übernachtungsgäste zu vertreiben. Dann schlug er das Moskitonetz vorausschauend zurück, um Mush aus tiefem Schlaf in die Realität zu befördern. ~~~~~~x* Suriyawong leitete Mush, der wie immer seine gesamte, sehr bescheidene Habe bei sich trug, in eine der zahlreichen, öffentlichen Bibliotheken. Zu seiner Verblüffung konnte sein junger Gast mit Büchern nicht sonderlich viel anfangen, betastete sie neugierig und erklärte schließlich leise, dass abgesehen von seinem Wörterbuch lediglich Gazetten oder Magazine kurzzeitig in seinen Besitz kämen und diese hauptsächlich zum Ausstopfen, Unterlegen oder für sanitäre Zwecke. Mush verschwieg seinem Gastgeber wohlweislich, dass er das Wörterbuch aus sentimentalen Gründen mit sich trug. Er hatte jede Seite bereits "gespeichert" und konnte sie mühelos "ablesen". Suriyawong dagegen zehrte vom Bücherwissen. Er konnte sich zwar durch das Internet hangeln, fand es aber nicht sonderlich zweckmäßig, wenn der Strom ausfiel. Ein Buch konnte man bei Öllicht oder im Kerzenschein lesen, ein Computer dagegen... Solche Überlegungen wurden jedoch nicht ausgetauscht, denn Suriyawong wollte sich zunächst darauf verlegen, seine erste, spontane Beurteilung der »Wild Adapter«-Geschichte zu untermauern. Also schlug er Lehrbücher zur Anatomie auf, übersetzte durch drei Sprachen, warum es einfach nicht funktionierte, plötzlich in Fell und Krallen zu stehen. Oder ebenso rasch quasi zu "verdunsten", ohne dass der Rest des Körpers "mitspielte". Der nächste Verweis führte sie zur ersten Anwendung von Anabolika, doch die üblichen Nebenwirkungen liefen gerade NICHT auf eine "Verwilderung" der männlichen Opfer hinaus. Mush klebte förmlich an den Bildern, konzentriert und ernst. Er hatte Suriyawong noch nicht offenbart, dass seine besonderen Fähigkeiten nicht nur im Hacken bestanden, sondern ein eidetisches Gedächtnis einschlossen. Vielleicht konnte er inhaltlich noch nicht verstehen, was Lord Leica "abknipste", aber die Bilder in seinem Kopf würden sich bestimmt auf die eine oder andere Art als nützlich erweisen. Artig folgte Mush Suriyawong, der zögernd ein weiteres Regal ansteuerte, bevor er ein dünnes Bändchen herauszupfte. "Japan." Raunte er Mush vertraulich zu, um die anderen Lesenden und Lerngruppen nicht zu stören. "Alle Japaner." Das ließ zumindest auf einen Herkunftsort des »Wild Adapter« schließen, keine Frage, pflichtete Mush ihm bei, trotzdem... »Oh!« Rundete sein Mund in Anlehnung an sein Vollmondgesicht die unerfreuliche Lektüre ab. Nach einem eher sporadisch zu nennenden Schulbesuch, der früh endete, wusste er nicht viel über die Weltkriege. Vertraut waren ihm selbstredend die Ressentiments gegen Japan, doch da er bisher noch niemandem aus Japan persönlich begegnet war und die technischen Errungenschaften bewunderte, die aus Japan stammten, hatte er sich diese Antipathie nicht zu Eigen gemacht. »Einheit 731.« Übersetzte er zögerlich. »Menschenversuche, chemische und biologische Waffen... bei lebendigem Leib seziert...« Abbildungen oder Photographien gab es glücklicherweise nicht, doch der kurze Absatz genügte, ihn Suriyawongs Unbehagen teilen zu lassen. Konnte es vielleicht eine Verbindung zu alten Verbrechen und neuen Opfern geben? Suriyawong schlug neben ihm ein weiteres Buch auf, Symptome und Krankheitsverlauf verschiedener Seuchen. Mush konnte auf den ersten Blick keine Übereinstimmung feststellen. Es gab keine Pusteln, kein übermäßiges Ausscheiden von irgendwas. Überhaupt, wie hatten sich die Opfer angesteckt? Hatten sie wirklich ihren grauenvollen Tod als Droge eingenommen? "Du hast recht." Stimmte er Suriyawong zu, als sie wieder in die klebrig-feuchte Hitze des Mittags traten. Eigentlich herrschte gerade die "kühle" Saison vor, doch er mochte das gar nicht glauben. Nun, wenigstens seine Daunenjacke vermisste er hier nicht! "Ich begreife nicht, welchen Sinn das haben soll." Murmelte Suriyawong, der Mush geübt durch das Gewusel dirigierte. So gelang es auch, die übliche Mischung von Koberern auf der Suche nach "Farangs" abzuwimmeln, auch wenn Mush sich nicht zu auffällig als Fremder zu erkennen gab. "Ich auch nicht." Gab der zu und blickte sehnsüchtig auf eine der zahlreichen Kleinküchen unter freiem Himmel. Er hatte zwar genug Bargeld, doch hätte er gern seinen Gastgeber vorgeschickt, den man vermutlich nicht mit überteuerten Preisen leimen würde. Suriyawong schmunzelte, als er Mushs Blickrichtung erkannte. "Die sind süß!" Warnte er seinen Freund vor und grinste breit, als der ihn werbend anstrahlte. "Also fein." Sofort trat Suriyawong in Verhandlungen über die Kanom Bueang, gefüllte Pfannkuchen. Die verzehrte man im Übrigen frisch und noch heiß, damit sie ihre Knusprigkeit nicht verloren. Mush kaute neben ihm mit prallen Backen, gestikulierte seine Begeisterung über den Geschmack und ließ sich zufrieden nach Chinatown führen. Eine besondere religiöse Prägung hatte Mush nicht erfahren, doch er hegte die vage Vorstellung, dem Gedenken seines Freundes wie beim Qingming-Fest Rechnung zu tragen. Das fand zwar üblicherweise Anfang April statt, doch galt es, keine Zeit zu verschwenden. Neben den gewöhnlichen Verbrauchsartikeln wie Räucherstäbchen und Opferschalen boten auch einige Geschäfte Totengaben aus Papier an. Dieses Mal sprach Mush für sich selbst, handelte und feilschte in seiner Muttersprache Kantonesisch. Mit einem der unvermeidlichen Plastikbeutel ausgerüstet folgte er dem geduldigen Suriyawong zum angesprochenen buddhistischen Tempel. Hier durfte er unter Aufsicht der freundlichen Mönche seines Freundes gedenken. Er entzündete die Räucherstäbchen, steckte die Bündel falscher Geldscheine, die große Papiervilla, das Motorrad aus Karton und den schnittigen Flitzer an und brannte auch die schematische Darstellung einer glücklichen Familie ab. Im stillen Gedenken richtete er seine Bitten und Gebete jedoch nicht an eine Gottheit, sondern an den ermordeten Kleinen Büffel. Der hatte sich ihm gegenüber, von kleineren Kabbeleien abgesehen, immer fürsorglich und freundschaftlich verhalten. Ein junger, untersetzter Mann, der ganz konservativ von einer Familie, einem eigenen Haus und einem guten Leben geträumt hatte. »Ich kann dir nicht mehr helfen.« Er blickte mit gefalteten Händen in den klaren Himmel. »Aber ich werde versuchen, deine Familie zu informieren. Auch deinen Tod kann ich nicht rächen, ich will aber alles unternehmen, damit es keine weiteren Opfer gibt. Du warst mir ein guter Freund und Kamerad, hast mir meine Familie ersetzt und ein Auge zugedrückt, als ich unbedingt den Computer kaufen wollte. Ich danke dir für alles und ich wünsche, dass du in einem anderen Leben glücklich und zufrieden leben kannst.« Suriyawong, der sich höflich im Hintergrund hielt, richtete ebenfalls ein Gebet an himmlische Mächte, den Verstorbenen und auch ihnen beizustehen. Es sah nämlich nicht danach aus, als würde Mush sich von den zahlreichen Ungereimtheiten abschrecken lassen. Gemeinsam schlenderten sie zurück, als Mush plötzlich bemerkte, er habe noch eine Kleinigkeit zu erledigen. Ob Suriyawong ohne ihn vorgehen wolle? Der junge Thai wischte hartnäckige Strähnen hinter die Ohren und hakte nach, ob Mush sich auch wirklich in der Lage fühle, den Rückweg allein zu finden. "Klar doch!" Mush blendete seinen Vollmond auf und grinste breit. Suriyawong lachte und verabschiedete sich beschwingt. Immerhin, was konnte Mush hier schon groß passieren? Der hielt sich nicht lange auf, sondern folgte dem leisen Piepen, das seinem Computer in Abständen entwich. Freies Netz hieß freier Zugang! Er suchte sich einen Winkel neben einem Abfallhaufen, der zwar unangenehm stank, dafür aber keine Neugierigen anlockte. In der Hocke kauernd, auf einem dünnen Oberschenkel seinen Computer balancierend, hackte er sich mit Blitzgeschwindigkeit in seine wahre "Heimat". Er hatte einen Teil seiner Barschaft in Dollar und Baht gewechselt, doch wäre es wirklich nützlich, eine Kreditkarte zu haben. Ärgerlicherweise wurden die ja an eine Anschrift geschickt und über die verfügte er momentan nicht. Wenn er ein falsches Bankkonto eröffnete, wäre die Karte zwar verfügbar, aber wie sollte er sie abfangen? Mush nagte an einem Daumen. Wahrscheinlich gab es hier auch Postfachdienste, dafür wäre zweifelsohne Suriyawongs Hilfe vonnöten. Sollte er ihn aber noch tiefer in die Sache hineinziehen? Wie sollte es überhaupt weitergehen? Wenn er den Mördern und seinen Häschern ihr Handwerk legen wollte, musste er flexibel sein, tiefer eintauchen in die Hintergründe. Möglicherweise benötigte er Expertise. Andererseits, wenn die japanische Polizei schon keine vernünftige Erklärung für den Zustand der Leichen hatte, wer würde sonst helfen? Mushs Finger huschten in Windeseile über die flachen Tasten. Er informierte sich über seine Perspektiven, sondierte mögliche Reisepläne und Aufenthaltsorte, ließ kleine Spähprogramme Meldung machen, wenn irgendjemand sich für den Studenten James Hung interessierte. »So weit, so gut!« Konstatierte er, doch es gab kein Vertun: lange konnte er nicht bei Suriyawong bleiben, denn dessen widerwilliger Lehrmeister würde fremden Besuchern wohl kaum Obdach bieten. Schließlich klappte er seinen treuen elektronischen Weggefährten zu und verstaute ihn sicher in der kleinen Umhängetasche, die er stets über der Brust gekreuzt trug. Ein Diebstahl wäre sein Untergang, auch wenn der Dieb mit dem Computer ohne Mushs Passwort und Kniffe nichts anfangen würde können. Auf dem Rückweg kam er wieder an den allgegenwärtigen Marktständen und kleinen Karren vorbei, wo es allerlei zu entdecken und zu kaufen gab. Er entschied, dass es höchste Zeit war, seinem Gastgeber ein Geschenk zu überreichen, also wählte er neben frischen Mangos auch eine lustig geformte Durian aus. Entgegen jeder Befürchtung stank sie nicht, sondern war, wie ihm die Verkäuferin mit Händen und Füßen zu erklären versuchte, geradewegs geerntet worden. Der leere Plastikbeutel, der dem Transport der Trauergaben gedient hatte, schluckte also die stachelige Durian, ein weiterer nahm die Mangos auf. Rückenschonend auf beiden Seiten gleich belastet, übermütig mit den Beuteln schwingend folgte er mühelos dem "Straßenplan" vor seinem inneren Auge. Er hoffte sehr, dass Suriyawong sich über seine Präsente freuen würde. ~~~~~~x* Suriyawong betrat das Haus, klopfte sich den allgegenwärtigen Staub der Großstadt ab, entschied, gleich mit einem Glas Tee mit Limette und Kokosmilchschuss gegen das Knirschen zwischen den Zähnen vorzugehen. In Gedanken war er noch halb bei dem ungelösten Rätsel des »Wild Adapter«, halb bei der Prüfung der noch zu erledigenden Hausarbeiten, deshalb fuhr er verblüfft um, als es am Portal klopfte. "Mush?" Rasch machte er kehrt, um die Tür zu öffnen. So schnell hatte er den verrückten Chinesen noch nicht erwartet. Doch der Schatten, der nun den Türrahmen füllte, war größer und breiter. "Hallo Süße!" Grollte an einer Zigarette vorbei eine Stimme, die bei Suriyawong kalten Zorn und Ekel hervorrief. "...Prasom." Zischte er und unternahm, genauso wie sein älterer Gegenüber, keinerlei Anstalten, die Hände zum traditionellen Gruß aneinander zu legen. Stattdessen umschloss er den Türknauf verkrampft und antwortete. "Bedaure, aber der Doktor gestattet keine Besucher." Prasom, gebaut wie ein Preisringer, durch schwere Tragearbeiten muskulös und unseligerweise auch in der Nationalsportart, die unzureichend mit Kickboxen zusammengefasst wurde, sehr bewandert, stemmte seine Schultern in den Türrahmen. Er grinste humorlos und entblößte verfärbte Zähne, die darauf hinwiesen, dass er der Betelnuss nicht abgeneigt war, wenn er nicht rauchte. "Wie gut, dass das Doktorchen gerade nicht da ist!" Nuschelte er finster. "Du kannst trotzdem nicht reinkommen!" Versetzte Suriyawong grob. "Also geh bitte wieder." "Ich kann nicht reinkommen?" Beinahe schnurrte der ältere Mann, doch seine Stimme ließ jedes Amüsement vermissen. "Obwohl ich ganz schön herumgekommen bin, um dich aufzustöbern?" Ansatzlos stieß er mit einer flachen Hand Suriyawong so heftig vor die Brust, dass der zurückgeschleudert wurde, die Balance verlor und taumelnd-stolpernd nach Halt suchte. Prasom folgte ihm, schnickte seinen Zigarettenstummel achtlos weg und polterte los. "Was denkst du dir eigentlich, hä?! Wir hatten Pläne, hast du das vergessen?" Vorgewarnt wirbelte Suriyawong zur Seite, konnte aber nicht verhindern, dass die Ohrfeige seine Schulter prellte. Er wusste, dass er in einem Kampf keine Chance gegen Prasom hatte. Der galt nicht umsonst in der Nachbarschaft als gefürchteter Schläger von geringer Intelligenz, aber großer Verschlagenheit. Es blieb nur die Flucht. "Kaum zu glauben!" Knurrte Prasom gerade. "Dass ich sogar in den Norden gefahren bin, um nach dir in dem Kloster zu suchen." Suriyawong ballte die Fäuste, suchte nach einem Ausweg, während er gleichzeitig unverwandt in die schwarzen Augen seines Gegenüber starrte. »Bloß keine Richtung andeuten!« Hatte ihn der Großvater immer wieder gewarnt. An Blickrichtung und Schulterbewegung könne der geschulte Boxer seinen nächsten Schritt voraussehen. "Man stelle sich vor: du warst gar nicht da!" Schnappte Prasom, trieb Suriyawong vor sich her in das größte Zimmer. Wie hätte er auch vor Ort sein können? Tatsächlich war die Ausrede für Suriyawongs rasche Abreise nicht unglaubwürdig gewesen. Fast jeder Thai verbrachte ungefähr eine Saison als Jugendlicher in einem Kloster, auch wenn die wenigsten im späteren Leben Mönche wurden. Suriyawong hatte "seine" Zeit im Kloster bereits mit zwölf Jahren auf Anordnung seiner Eltern verbracht. Sie hatten wohl ein Wunder erhofft, aus dem missgestalteten Sohn doch noch einen normalen zu machen. Sein Großvater hatte alles arrangiert, direkt in der Nachbarschaft, damit er zur Stelle war, sollte wider Erwarten seinem Enkel ein Leid geschehen. Die Mönche, vor allem der Abt, hatten Suriyawong nach seinem Empfinden genauso wie alle anderen behandelt, und er mochte die Erfahrung ihrer Gemeinschaft nicht missen. Zum Abschluss jedoch hatte der Abt den Großvater beiseite genommen und ihm nahe gelegt, keine Zukunft für Suriyawong in einem Kloster vorzusehen. Er WAR etwas Besonderes, und in ihrer Gemeinschaft deshalb stets eine Auffälligkeit, umso mehr, als er kaum eine Chance hatte, sein Ich, das alle registrierten, zu überwinden. Die Option, die Prasom allerdings selbstherrlich für den Nachbarjungen bestimmt hatte, nachdem der endlich seine Schulkarriere beendete und es nicht gelungen war, genug Mittel für ein Studium zusammen zu bringen, kam für Suriyawong erst recht nicht in Frage. "Was ein Glück, dass der alte Mann seinem Schätzchen immer ein bisschen Geld schickt. Ich musste nur noch die richtigen Leute fragen." Prasom grinste bösartig. Suriyawong hatte ihn noch nie gemocht, auch wenn er klug genug war, sich das niemals anmerken zu lassen. Zuerst war er für Prasom auch nicht interessant. Der gab sich nach außen jovial und umgänglich, konnte aber unangekündigt zuschlagen und ohne Gefühlsregung losprügeln. Wenn jemand seiner Auffassung widersprach oder nicht tat, was er wollte, hagelte es solche Prügel, dass es an ein Wunder grenzte, dass niemand totgeschlagen worden war. Prasom ließ seine Fingerknöchel hörbar knacken, bevor er Fäuste wie Schmiedehämmer bildete. "Kaum bin ich hier, da quatscht mich doch die hässliche Kuh von gegenüber voll, dass hier neuerdings ein Chinamann herumhängt. Kaum ist der Arzt weg, lässt du deinen Stecher rein, du blöde Schlampe!" Durch Schrecken schnell versuchte Suriyawong, an Prasom vorbeizuwischen. Der erwischte jedoch einen Arm, packte Suriyawong und schleuderte ihn mit voller Wucht aus kurzer Distanz gegen eine Wand. Betäubt sackte Suriyawong zu Boden, wo ihn ein wuchtiger Tritt in die Magengrube von seiner letzten Mahlzeit befreite. Spuckend und würgend, die Augen tränenblind vor Schmerz und aufsteigender Galle, kauerte er auf allen Vieren, spürte jeden Knochen in seinem malträtierten Leib singen. "Du SCHAFFST für mich an, klar?!" Prasom grub die Finger in Suriyawongs Haare, riss ihm den Kopf in den Nacken. "Glaubst du Miststück, du kannst mich bescheißen?!" Bis zu diesem Tag war es Suriyawong immer gelungen, Prasom auszuweichen. Dann, vor kurzer Zeit, hatte der ihm aufgelauert, seinen "Geschäftsplan" gewohnt knapp vorgestellt und erwartet, dass Suriyawong selbstverständlich hocherfreut Gehorsam bewies. Die Wange von einem Schlag verschwollen hatte Suriyawong seinen Großvater schluchzend um Hilfe gebeten, so schnell wie möglich unterzutauchen, bevor Prasom ihn noch mal ohne Zeugen erwischte. Mit dem Mut der Verzweiflung wehrte er sich nun, kratzte, biss, trat um sich, was Prasom jedoch bloß amüsierte. Erneut schleuderte er Suriyawong zu Boden, rammte ein Knie in dessen Bauch und zerriss ihm die Kleider. Suriyawong schrie und schluchzte, während Blut aus seiner Nase seinen Rachen verklebte. Er wusste, wenn auch nicht aus eigener Erfahrung, was Prasom vorhatte, aber eher wollte er sterben, als sich von diesem Ungeheuer brutal schänden zu lassen! ~~~~~~x* Tag 11 Zuerst war es nur die angelehnte Tür des Portals, die Mush irritierte. Wachsam schlich er lautlos hinein, doch dieser Mühe hätte er sich gar nicht unterziehen müssen, da aus dem großen Zimmer vor der Veranda Schreie drangen. Er ging in die Hocke, deponierte die Tüte mit den Mangos, hob seine Umhängetasche über den Kopf, dann wog er die Tüte mit der Durian in seiner Hand. Die Stacheln sahen unangenehm aus, die Frucht in ihrer Schale wog schwer genug und wirkte robust. Mush pirschte sich an, die Situation zu überblicken, denn es würde nicht helfen, kopflos hineinzustürzen und nicht zu wissen, wie viele Personen wo agierten. Ihm wurde kalt, als er den halbnackten, blutenden Suriyawong unter einem größeren, grob wirkenden Mann sah, auf verlorenem Posten im Kampf um seine Unversehrtheit. Ohne sich dessen bewusst zu sein richtete er sich mit versteinerter Miene auf. Eine eisige Flamme unbändigen, kontrollierten Hasses loderte in seinem Inneren, formte seine Aktionen. Ohne zu zögern, genau kalkuliert, durchquerte er den Raum, schwang die Durian an ihrem Stiel und traf den Fremden auf den Hinterkopf. Der ächzte, doch Mush hielt sich damit nicht auf. Unbarmherzig und gründlich prügelte er so lange auf den Mann ein, bis der reglos auf der Seite lag, keinen Mucks mehr von sich gab. Die mittlerweile arg angegriffene Frucht deponierte er außerhalb der Reichweite auf der Veranda, wo sie vermutlich in Kürze vielbeinige Abnehmer finden würde. Suriyawong hatte sich auf zitternde Arme in eine kauernde Haltung gestützt, wischte nun unter Schock immer wieder über sein Gesicht, was dazu gereichte, das trocknende Blut gleichmäßig zu verteilen. Er zuckte heftig zusammen, als Mush vor ihm in die Hocke ging, eine offene Handfläche ausstreckte. "Suri." Raunte er sanft. "Suri, ich bin's, Mush. Wir sollten gehen, bevor der Typ wieder hochkommt!" Drängte er behutsam. Erst, als sich eine kalte, zitternde Hand bange in seine ausgestreckte schob, registrierte er, dass er vor Anspannung die Luft angehalten hatte. Mit einem lauten Seufzer atmete er aus, half Suriyawong auf die klapprigen Beine. Zuerst musste das Blut abgewaschen werden, so viel stand fest. Folglich dirigierte er den offenkundig unter Schock stehenden Suriyawong in das Badezimmer, tupfte mit einem feuchten Lappen vorsichtig das anschwellende Gesicht ab. "Alle Zähne noch drin?" Erkundigte er sich leise. "Kannst du die Zunge bewegen?" Suriyawong blinzelte verständnislos, kopierte jedoch anschließend die Grimassen, die Mush ihm vorführte. Abgesehen von Blutergüssen, Kratzern und Schwellungen schien Suriyawong noch einmal davon gekommen zu sein. Er ließ den jungen Thai im Badezimmer sitzen, fegte eilends in dessen Schlafverschlag, zerrte eine dünne, lange Hose, frische Unterwäsche und ein langärmliges, weites Hemd heraus. Als er es Suriyawong brachte, gelang es diesem sogar, sich den Umständen entsprechend rasch umzukleiden. Das Ungeheuer rührte sich noch immer nicht, aber Mush wollte es ihm auch nicht zu leicht machen, also zog er eine der schweren Holzbänke heran, stellte sie auf den niedergeschlagenen Mann, mit ungerührtem, kühl kalkulierenden Verstand. »Vielleicht stimmt mit meinen Gefühlen wirklich etwas nicht.« Ging ihm durch den Kopf, aber daran konnte er nichts ändern. Eine Sonnenbrille und ein breitkrempiger Hut vollendeten Suriyawongs Veränderung. Er wirkte verloren und kindlich in den Kleidern, obwohl sie ihm gehörten. Ihre kaschierende Weite erschien Mush zwar wenig schmückend, jedoch umso praktischer. "Gibt es etwas, an dem du hängst?" Hakte er bei Suriyawong nach, der fassungslos auf die Bank starrte, die Prasom beim Aufrappeln einige Schwierigkeiten bereiten mochte. Stumm gestikulierte er nach einem buntbestickten Stoffbeutel. Mush hängte ihn über den eigenen, den er in der Eingangshalle aufgelesen hatte, nahm die Tüte mit den Mangos und streckte die freie Hand nach Suriyawong aus. Eigentlich ein Unding, einen Mann an die Hand zu nehmen, hier jedoch siegte eine unterschwellige Automatik als "großer Bruder": die "Jüngeren, Kleineren" wurden zu ihrem Schutz an der kurzen Leine geführt. Ebenso gedankenlos griff Suriyawong zu. Er fühlte sich elend, alles tat weh, Angst, Scham und Selbstekel wechselten sich ab. Warum war er nicht stärker?! Warum sprach ihm einer wie Prasom ein eigenes Urteilsrecht über sein Geschick ab? »Warum-warum bin ich SO?!« Um nicht dem Drang nachzugeben, laut seine Anklage in die Welt zu schleudern, biss er sich auf die Lippen, bis die ohnehin angeschlagene Unterlippe erneut zu bluten begann. Wütend wischte er mit dem freien Handrücken darüber. Die brüske Geste alarmierte Mush, der bisher wachsam ihren Weg gelenkt hatte, möglichst rasch unter Menschen und dann eilig abtauchen! Er hielt inne, lupfte den Plastikbeutel mit den Mangos und blickte auffordernd-besorgt in die verspiegelten Gläser der Sonnenbrille. Suriyawong schniefte unterdrückt und fischte eine Mango heraus. So konnte er sie natürlich nicht essen, ganz abgesehen davon, dass es ein klein wenig fad für seine trainierten und "geschärften" Geschmackssinne war. "Ich brauche ein Messer." Gab er Mush einen Tipp und blickte bezeichnend auf seinen Beutel. Widerwillig wurde daraufhin seine andere Hand freigelassen, und er kramte in dem vertrauten, leicht abgewetzten Beutel. Sein kleines, sehr scharfes Messer, immer im Einsatz für Blüten, Blätter und Kräuter, ruhte wie gewohnt neben dem schmalen Lederbeutel, in den er üblicherweise die Ausbeute seiner Streifzüge aufzubewahren pflegte, bis er sie beim Großvater verarbeitete. Der Beutel war leer und wirkte traurig, so schlapp und ungenutzt. Suriyawong schnitt geschickt entlang einer imaginären Bruchkante durch die ledrige Haut der Mango, wischte die Messerklinge sorgsam ab und verstaute sein Werkzeug wieder. Er reichte Mush eine Mangohälfte und okkupierte auch folgsam die freie Hand, da Mush entschieden hatte, die restlichen Mangos im Plastikbeutel an einen Karabiner seiner Umhängetasche zu befestigen. Hand in Hand, das süßliche Fruchtfleisch ausnagend, schlängelten sie sich durch die Menschenströme. Irgendwann wechselte die Führung, Suriyawong, gut getarnt, aber mit hässlich pochenden Kopfschmerzen, ging voran. Im größten öffentlichen Park wählte er ein freies Fleckchen auf dem Rasen aus, ließ sich dort nieder und ächzte leise. Mush zerteilte methodisch weitere Mangos, die er Suriyawong reichte, wimmelte mit entschiedenen Worten einige der unermüdlichen Fliegenden Händler ab, bis niemand sein Glück mehr versuchen wollte. "Ist er das gewesen?" Erkundigte er sich leise. Viel hatte ihm der junge Thai nicht geschrieben, aber angedeutet, dass ein gewalttätiger Nachbar ihn unter Druck setze, etwas zu tun, was er nicht wolle. Suriyawong antwortete ihm nicht, sondern senkte den Kopf, sodass von seinem Gesicht nichts mehr zu sehen war. Sonnenhut, Sonnenbrille und Haare hinderten ohnehin einen direkten Blick. Mush erhob sich beiläufig und marschierte zu einem Händler mit gekühlten Getränken. Er hoffte, dass man sich davon keine Magenverstimmung zuzog, aber wenigstens würde sein jüngster Erwerb in anderer Hinsicht nützlich sein. Als er zu ihrem Picknickplatz zurückkehrte, wischte sich Suriyawong gerade verstohlen im Gesicht herum. Mush reichte ihm die Flasche und erläuterte. "Zum Kühlen. Fürs Gesicht." Während um sie herum das Leben sich tummelte, legte Suriyawong die Flasche an die Schwellung und kämpfte das hartnäckige Aufschluchzen herunter, das immer wieder seine Kehle hinaufstieg. Neben ihm schwieg Mush gedankenverloren vor sich hin. Zumindest wirkte es auf den unbeteiligten Betrachter so. Tatsächlich summten seine Gedanken bienenfleißig umeinander, entwarfen verschiedene Strategien, wie mit dieser Situation zu verfahren war. Würde das Ungeheuer verschwunden sein, wenn sie zurückkehrten? Reichte die heutige Lektion? Oder wäre ein erneuter Anschlag zu befürchten? Wohin konnte Suriyawong gehen, wenn er hier nicht sicher war? Und wohin sollte er selbst gehen, um dem Geheimnis des »Wild Adapter« auf die Spur zu kommen? Eine verzwickte Angelegenheit, fürwahr! Suriyawong öffnete schließlich die nun angewärmte Flasche, nahm tapfer einen Schluck, hustete, weil die Flüssigkeit wie Säure an den von den eigenen Zähnen aufgerissenen Mundschleimhäuten brannte. Mush entzog ihm die Flasche, bevor er sie in Hustenkrämpfen fallen ließ und presste die freie Hand auf Suriyawongs, der sich den Mund zuhielt. Erstaunlicherweise half diese Berührung, erneut einen Anflug von Hysterie zurückzuschlagen. Aufmunternd lächelte er in die schokoladenbraunen Augen, das linke bereits von einer hässlichen Verfärbung eingekreist. "Wir schaffen das schon, Suri!" ~~~~~~x* Es dauerte eine ganze Weile, bis Suriyawong bemerkte, dass Mush ihn mühelos an der Hand durch das Gedränge zurückführte. Ohne Zögern oder eine einzige Nachfrage. Er runzelte die schmerzende Stirn, die Haut spannte über der merklichen Schwellung und verabschiedete sich aus seinem eigenen Elend. "Mush, woher weißt du, wie wir gehen müssen?" Erkundigte er sich zwischen Misstrauen und Hilflosigkeit schwankend. Mush schwieg sich aus, und Suriyawong kontemplierte die Wahrscheinlichkeiten dafür, dass er a) nicht gehört oder b) aufgrund der Sprachbarrieren nicht verstanden worden war. Oder c), dass Mush ihm nicht antworten wollte. Da streifte ihn ein rascher Blick über die Schulter, bevor sich sein Freund wieder darauf konzentrierte, ihnen eine Bahn zu schaffen. Schließlich, als sie für einen Moment stehen bleiben mussten, raunte er Suriyawong zu. "Mein anderes spezielles Talent." Das trug nicht gerade zur Aufklärung bei, vertröstete Suriyawong jedoch auf einen geeigneteren Moment, sich Gewissheit zu verschaffen. Tatsächlich funktionierte Mushs "Stadtplan" so gut wie gewohnt, da sein Orientierungssinn ihn ebenfalls nicht im Stich ließ. Trotzdem bewegte er sich nun vorsichtiger, aufmerksamer. Wenn dieser Kerl wieder hochgekommen war, konnte es ja gut möglich sein, dass er unbelehrbar ein weiteres Mal versuchte, ihnen aufzulauern. Mush war sich nur zu sehr bewusst, dass er hier ein Fremder war, der einen verprügelten Thai hinter sich herzog. DAS konnte man durchaus falsch interpretieren, wenn man aufgestachelt wurde. »Wenn dies ein Spiel wäre...« Aber Mush wusste im selben Moment, dass solche Gedankenspiele ihm nicht halfen. Er war nicht der Typ, sich in den Rollenspielen zu verlieren, die er zum Lebensunterhalt ausgenutzt hatte. Sein Abstraktionsvermögen suchte sich offenkundig andere Bahnen. In der Wirklichkeit, JETZT, galt es, herauszufinden, ob sie beide noch im Haus des abwesenden Arztes sicher waren. Dann musste er behutsam aus Suriyawong herauskitzeln, wo DER anschließend leben konnte, ohne erneut heimgesucht zu werden. Möglicherweise... Er strauchelte beinahe, so abrupt blieb Suriyawong stehen. Der zog ihn nun in den Schatten eines kunstvollen Stapels an Obstkisten, alten Kunststofftrögen und anderem Strandgut. Angestrengt lauschte Suriyawong, doch er hörte nichts. Oder vielmehr nicht das, was er in der Kakophonie der Metropole zu hören gelernt hatte. Er entzog Mush seine Hand, schob sich vor diesen, wieselte von der Hauptstraße weg in winzige, gerade schulterbreite Passagen, die mit der Bezeichnung "Gasse" noch schmeichelhaft umschrieben wurden. Es stank nach Unrat und ungeklärten Abwässern. Mush folgte seinem älteren Freund alarmiert. Sie waren etwa zwanzig Schritte gegangen, hatten sich vorgetastet und durchgeschoben, als Suriyawong vor einem Drahtkäfig in die Hocke ging. Dieser gehörte zu einem lädierten Betonbau mit mehreren Geschossen. Hier und da brannte Licht, man hörte Gesprächsfetzen oder Musik, Geschirr klapperte, jemand lachte. Mush blinzelte, gewöhnte sich an das seltsame Zwielicht der Dämmerung. Hier war der Gestank von Fäkalien und Blut kaum zu ertragen. Eine Wolke von Fliegen schwirrte summend und surrend herum. Der Hund, im Leben wahrlich keine Schönheit, war mit gebleckten Lefzen gestorben. Brust und Leib waren geborsten, Gedärme quollen hervor und lockten das Geschmeiß an. Suriyawong presste trotz der Schmerzen die Lippen so fest aufeinander, dass sie nur noch Striche bildeten. Er hatte diesen aggressiven, halb verrückten Kläffer wirklich verabscheut und immer gefürchtet, man könnte mal vergessen, den Zwinger abzuschließen. Als Wachhund jedoch leistete die Terror-Töle ganze Arbeit: niemand konnte im Umkreis dieser Straßen laufen, ohne dass lautstarkes Gebell ertönte. Oft genug SAH der Hund nicht mal, wo jemand ging, aber er schlug treffsicher an. Irgendjemand hatte ihn umgebracht. In seinem Zwinger. Mush rappelte sich hoch, zog Suriyawong mit sich, eine nunmehr eiskalte Hand umklammernd. »Das ist nicht gut!« Stellte sein Verstand kühl fest. Ausgeschlossen, dass der widerliche Vergewaltiger und Schläger den Hund abschlachtete, um ihnen auflauern zu können. Aber jemand anderes würde so planmäßig vorgehen. »Wir stecken in der Klemme.« ~~~~~~x* Das Vernünftigste wäre gewesen, auf dem Absatz kehrt zu machen und sich schnellstmöglich in Luft aufzulösen. Suriyawong hegte andere Vorstellungen. Er wusste nicht, WIE man den Hund getötet hatte, aber es sah nicht nach Prasoms Vorgehensweise aus. Der war nicht zimperlich, bevorzugte aber die direkte Auseinandersetzung und arbeitete meistens mit blanker Klinge. Theoretisch konnte diese Attacke also nicht mit ihm und den Ereignissen der letzten Stunden in Zusammenhang stehen. Praktisch schien ein Zufall dieser Art eher unwahrscheinlich. Suriyawong machte sich eilig von Mush los und schlängelte sich geübt, den störenden Hut auf den Rücken gestreift, durch den Hindernisparcours zum Haus. Wo sollte er denn sonst auch hin?! Der Gedanke an die Konsequenzen ließ sich nicht länger vertreiben, ausblenden oder ignorieren. Zum Großvater zurück? Oder bei den Eltern um Asyl bitten? Gegen Prasom war das mutmaßlich keine Alternative. So blieb das Haus des Arztes und dessen Anwesenheit seine einzige Zuflucht, zumindest, wenn dieser endlich von seiner Reise zurückkehrte. Wachsam sah Suriyawong sich um, hielt immer wieder inne, um zu lauschen. Er erinnerte sich daran, was Mush über die Angreifer erzählt hatte und er rief sich in Erinnerung, was ihm sein Großvater zugeflüstert hatte, über die Soldaten, die Paramilitärs, die Verfolgungen. Auch wenn er zierlich, ja, zerbrechlich wirkte: seine sehnige Gestalt war körperliche Anstrengungen und Kletterpartien durchaus gewöhnt. Er verstand sich auf die harte Frauenarbeit ebenso wie auf das Ernten und Kokospalmenerklimmen. Suriyawong zog sich an einem Verschlag hoch, kletterte in einen Baum und hangelte sich auf diese Weise an Wäschestangen, rostigen Abflussrohren und über Vordächer bis auf einen Außenbalkon, von dem aus er getarnt durch Wäsche auf das Haus des Arztes blicken konnte. Er erkannte Schatten, schwarz gekleidete Männer (wodurch sie stärker in der Graudämmerung auffielen, als ihnen bewusst sein konnte), die sich im näheren Umkreis des Hauses bewegten. Diese etwas entspannte Haltung ließ ihn vermuten, dass die Aufregung bereits vorbei war. Doch welche Aufregung genau? Er strengte sich an, jedes Detail zu identifizieren. Sie mussten bewaffnet sein, paradierten aber nicht stolz wie Hähne damit herum, so, wie er das von den Soldaten auf den Straßen kannte. Plötzlich kam Bewegung in die Szene. Zwei Männer zerrten eine unförmige Last hinter sich her auf die Veranda. Dann verteilte ein anderer eine Flüssigkeit auf dem Etwas. Erst als der Brandbeschleuniger die Flammen fauchend verteilte, konnte Suriyawong erkennen, dass die Silhouette etwas Vertrautes an sich hatte. Eine Gestalt. Ein menschlicher Umriss, der nun rauchend und stinkend lichterloh brannte, die Veranda ankokelte. Suriyawong presste die Hände fest auf den Mund, wagte kaum zu atmen. Wie gebannt fixierten seine Augen den Scheiterhaufen, konnten sich einfach nicht losreißen. Die einzige Person, die sich im Haus aufgehalten hatte, war Prasom gewesen. ~~~~~~x* Tag 12 Mush lauschte, unterdrückte den aufdringlichen Brechreiz angesichts des Odeurs, der ihn umgab, und wartete. Es hätte keinen Sinn, in diesem Labyrinth von Abwasserkanälen, Müllbergen, Hinterhöfen und Sackgassen nach Suriyawong zu suchen, vor allem nicht in der Dunkelheit. Trotzdem hätte er den Freund am Liebsten in der nächsten Sekunde gefunden, um sicher zu sein. Sicher, dass sie Suriyawong nicht erwischt und er sich nicht geirrt hatte. ~~~~~~x* Insgesamt fünf Maskierte waren noch in der näheren Umgebung des Hauses postiert. Nicht ganz so heimlich, sondern sichtbar genug, dass niemand in der Nachbarschaft, die sich möglicherweise über das Feuerspektakel im Garten alterieren könnte, eine Beschwerde zu äußern wagte. Suriyawong konnte ihnen geschmeidig entkommen, aber er fühlte sich starr und steif, betäubt und innerlich ausgehöhlt bis auf die äußere Schale. In seinem Kopf kreisten Feststellungen und Mutmaßungen wie verrückte Schmeißfliegen wild umeinander. Das musste Prasom gewesen sein. War er bereits tot, als sie ihn verbrannten? Hatten sie ihn erwischt, als er bewusstlos war? Warum hatten sie das getan? Wer waren diese Leute überhaupt? Könnte Prasom noch leben, wenn sie ihn nicht dort liegen gelassen hätten? Als umgäbe ihn ein Schild der Unsichtbarkeit, marschierte Suriyawong unter Schock stehend einfach davon, wie ein Schlafwandler, unbeirrt, unbeeindruckt. Er zuckte nicht mal zusammen, als Mush ihn am Arm packte und hastig neben einen Verschlag zog. Er hörte seinen Namen nicht, der ihm bange-energisch ins Ohr geflüstert wurde. »Das KANN nicht wahr sein!« Wiederholte sein Kopf entschieden. »Das kann nicht wahr sein!« Und so lange er diesem Mantra lauschte, blieb es die Wahrheit. ~~~~~~x* Mush, der einen Schockzustand erkannte, wenn er ihn sah, musste nicht nachfragen, um sich ausmalen zu können, was geschehen war. Suriyawongs Gesicht, geschwollen und verfärbt, war versteinert, seine Kleidung schmutzig, der Sonnenhut irgendwo in Verlust geraten. »Wie kann das sein?!« Fauchte eine Stimme ärgerlich in seinem Kopf. Ja, WIE konnten sie ihm gefolgt sein? Zunächst jedoch mussten sie hier verschwinden. Danach blieb noch genug Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Hoffte er. Ein guter Zeitpunkt, unsichtbar zu werden. ~~~~~~x* Er hatte bereits mit diesem Gedanken gespielt, als er im Park gesessen und über Alternativen nachgedacht hatte. Vielleicht, weil er vermutete, dass Suriyawong keine Zuflucht mehr blieb, er dementsprechend selbst auf der Flucht war. Es WAR eine Chance. »Aber wie...?! Später!« Verordnete Mush sich, während er ein TukTuk heranwinkte, stinkend, laut, aber mit Platz für zwei. Er schlang den Arm demonstrativ um Suriyawongs schmale, entblößte Taille. Ihr Fahrer schnatterte irgendwas, aber Mush ersparte sich die Mühe, nachzufragen. Der Mann würde sie zweifellos zu einem entsprechenden Etablissement bringen. ~~~~~~x* Sie erstiegen die wacklige Holztreppe in den zweiten Stock, wurden von der Betreiberin zu ihrem Zimmer geführt. Es war laut, lebhaft und stank aufdringlich nach Parfüm. Alle Schönheiten der Nacht schienen sich hier zu versammeln, wie Schmetterlinge auf einem Kadaver. Mush hielt Suriyawong fest an seine Seite gedrückt, aber er wusste nicht, ob er mehr Beschützer oder Beistandsucher war. Diese Welt war ihm fremd, und er fühlte sich deplatziert, wusste jedoch, dass man ihm weder sein Alter, noch seine Unerfahrenheit oder Angst ansehen durfte. Er hatte für die Nacht in diesem Stundenhotel bezahlt und hoffte, genug Zeit zu haben, um sich einen Schlachtplan zu überlegen. Außerdem brauchte Suriyawong dringend eine Auszeit. Das zeigte sich, als sie die knarrende Schwelle übertreten hatten, die Kakerlaken eilig aus dem Lichtschein huschten und Suriyawong in eine Nische taumelte, um sich dort ächzend in einen alten Eimer zu übergeben. Braunes Wasser sickerte spärlich aus einem alten Rohr, das man mittels Plastikkorken verschloss, aber zum Gesichtabwischen musste es reichen. Mush half seinem Freund auf die Beine und studierte das Lager, das wohl als Bett dienen sollte. Er war wirklich nicht empfindlich, aber hier ekelte es ihn. Energisch kippte er die widerliche Matratze samt der fleckigen Laken herunter und inspizierte das Gestell, mutmaßlich unbequem, aber wenigstens einigermaßen sauber. "Suri." Er ging vor dem jungen Thai in die Hocke, hielt dessen kalte Hände umfasst. "Suri, ich gehe kurz raus und kaufe etwas zu essen und zu trinken, ja? Du darfst niemanden reinlassen, verstehst du?" Sein eindringlicher Appell fruchtete soweit, dass Suriyawong hinter ihm her zur Tür schlurfte und dort mit dem Aborteimer auf mögliche Eindringlinge lauerte. Mush hoppelte die knackende und ächzende Treppe wieder hinunter, ignorierte die Rufe und Bemerkungen, die er ohnehin nicht verstand. Er kaufte bei den unzähligen Straßenhändlern Wasser mit verschweißtem Verschluss sowie frisch frittierte Bällchen mit Reis, dann erklomm er wieder die quietschende Stiege und rief als Erkennungszeichen das Ergebnis ihrer letzten Makruk-Partie durchs dünne Türblatt. So konnte er sich ungefährdet Zutritt verschaffen. Suriyawong schleppte sich matt zum leeren Bettgestell, ließ sich nieder und sackte zur Seite, die Knie eng vor den Leib gezogen. Nachdem er seine jüngsten Einkäufe kakerlakensicher abgestellt hatte, schleppte und zerrte Mush die widerliche Matratze vor die Tür. Das war zwar kein großes Hindernis, hielt aber auf. Dann erst legte er Suriyawongs bunte und seine eigene Umhängetasche ab. Er entnahm seinem Beutel platt gefaltete oder eingerollte Kleidungsstücke, hob Suriyawongs Oberkörper leicht an, damit der wenigstens ein kleines Polster bekam. "Glaubst du, dass du etwas essen kannst?" Erkundigte er sich leise. Suriyawongs schokoladenbraune Augen blickten ins Leere. »Na ja, vielleicht ist es noch zu früh.« Steckte Mush diese Niederlage weg, dann klappte er seinen kleinen Computer auf. Bevor er etwas unternahm, musste er wissen, wo er sich verraten hatte, sonst nützte ihm der beste Plan nichts. Möglicherweise war der Abstecher nach Chinatown schon ein Fehler gewesen, aber zuerst galt es einmal auszuloten, wie sie herausgefunden hatten, dass er nach Thailand geflohen war. »James Hung.« Dachte er. »Sie müssen meine Tarn-Identität entdeckt haben.« Sonst wären sie ihm ja nicht hierher gefolgt. Das bedeutete leider auch, dass sie ein Bild von ihm hatten. »Nicht gut.« Stellte Mush grimmig fest. Es bedeutete, dass sie wussten, dass er noch lebte und dass sie wussten, wie Hacker arbeiteten, was sie tun würden, wenn sie in der Klemme steckten. »Was würde ich tun?« Fragte er sich entschlossen. Klar, gegen einen Hacker ebenfalls einen Hacker einsetzen. Also war James Hung aufgeflogen und im Folgenden nicht schwierig, dessen Spur zu verfolgen. Hätte Prasom sich nicht eingemischt und sie dazu verleitet, fluchtartig das Haus zu verlassen, wären sie vermutlich nun beide tot. Erneut durchflutete ihn ein Gefühl von eisiger Kälte, von unbeirrbarer Entschlossenheit, sein Gehirn eine perfekt kalkulierende Maschine, ohne von emotionalem Bodennebel behindert zu werden. Für den Moment hatte er ihnen ein Schnippchen geschlagen, denn er lebte ja noch. Mush warf einen Blick auf Suriyawong, der immer noch zitternd zusammengerollt neben ihm lag. Unter dem mit Seitenscheitel übergekämmten, schwarzen Haar versteckten sich seine Wunden. Das weite Hemd war direkt unter den kleinen Brüsten verknotet worden und die Hosenbeine hatte er bis an den Schritt abgerissen. Die künstliche Blüte an der Spange hatte seinen Freund in ein zierliches Mädchen verwandelt. So gesehen konnten sie als Pärchen durchgehen und sich zunächst der Aufmerksamkeit entziehen. Für den Moment. Aber bleiben konnten sie nicht, also suchte er nach ungeschützten Telefonverbindungen. Hier telefonierte ja jeder mobil, da sollte sich ja was finden lassen. Einfach war es nicht, mühsam, Bröckchen für Bröckchen, wenn man es sich vorstellen wollte, zerteilte Informationspakete, die unsichtbar über fremde "Leitungen" wanderten, um sich im virtuellen Netz zu einem Schwarm zu gruppieren. Dann würde er herausfinden, wie gut der Hacker auf der anderen Seite war. ~~~~~~x* Eine Stunde später klappte Mush seinen Computer zu und verstaute ihn sorgfältig. Mehr konnte er jetzt nicht erreichen und es galt außerdem, sparsam mit dem Akku zu verfahren. Er inspizierte die mittlerweile abgekühlten Speisen und entschied, dass er es wagen konnte. Energie tanken war wichtig, denn es lag ein langer, harter Tag vor ihnen. Neben ihm knirschte das alte Bettgestell, da Suriyawong nicht mehr ruhig lag, sondern sich wie manisch hin und her drehte, am ganzen Leib heftig zitterte. Als er mit klappernden Zähnen halb erstickt irgendwelche Silben hervorzustoßen begann, sah Mush sich genötigt, etwas zu unternehmen. "Suri!" Flüsterte er beschwörend. "Beruhig dich bitte! Ich bin hier, wir sind in Sicherheit!" Suriyawong sah durch ihn hindurch, das Gebrabbel steigerte sich hysterisch in Ton und Geschwindigkeit, auch seine Rotation potenzierte sich. Mangels Alternativen zerrte Mush ihn in eine sitzende Position und umklammerte ihn mit aller Kraft, um die hektischen, fiebrigen Zuckungen zu bezwingen. Die Hand in den zarten Nacken gelegt dämpfte er Suriyawongs unverständlichen Wortschwall in seiner Halsbeuge, wisperte beruhigend auf ihn ein. Mit plötzlicher Energie machte Suriyawong sich los, schlang ihm die Arme um den Nacken und verkroch sich förmlich in seiner Gestalt. Schluchzend, verängstigt, wie ein kleines Kind hockte er auf Mushs Schoß, so heftig bebend, dass ihm erneut die lädierten Knochen klingelten. Der junge Chinese war von der Vehemenz dieser Verzweiflung überrumpelt und wusste sich nicht anders zu helfen, als mit gegengleicher Kraft seinen Freund festzuhalten. So lange, wie es eben dauerte. ~~~~~~x* Zum ersten Mal wurde sich Mush der Tatsache wirklich BEWUSST, dass Suriyawong zu einem Teil einen weiblichen Körper hatte. Er spürte die kleinen Brüste durch den dünnen Stoff ihrer Hemden, die Hitze ihrer Berührung, und errötete heftig. Es erleichterte ihn sehr, dass Suriyawong in seinem Unglück zu gefangen war, um diese unpassende Verlegenheit zu bemerken. »Das ist dein Freund!« Ermahnte er sich selbst heftig. Man dachte nicht über den Körper seiner Freunde nach! Nicht mal bei einem so ungewöhnlichen Körper wie Suriyawongs! Niemand kann schließlich etwas dafür, wie er/sie/es geboren worden ist!! Mush, der bis zum Abwinken das "Vollmondgesicht" in den Ohren hatte, rief sich streng zur Ordnung. Wichtig waren nur die inneren Werte! Als Suriyawong die Kraft ausging, hing er schlaff und schwer in Mushs Armen. Der polsterte sich einen bescheidenen Posten aus und entschied, dass er nun dösen könne, auch mit Suriyawongs Kopf im Schoß, ganz ohne lächerliche Verlegenheit. ~~~~~~x* Unbehelligt schlüpften sie am frühen Morgen aus dem Stundenhotel. Suriyawong hatte seine bunte Tasche übernommen und hakte sich bei Mush unter. Der wiederholte den Versuch, seinem Freund etwas Nahrung aufzunötigen, nicht mehr, da der junge Thai ihm knapp signalisiert hatte, sein Magen sei noch nicht in der rechten Verfassung. Mush nutzte die Gunst der frühen Stunde. Wie der eingebildete Chauvi, der er vorgab zu sein, kaufte er zwei bunte Kleidchen für seine "Süße", dazu ein Strickjäckchen und knappe Unterwäsche, zusätzlich ein bisschen Lack für Fingernägel und Zehen, Makeup im Set und hochhackige Sandaletten statt der einfachen Stoffschuhe, die Suriyawong gerade trug. Klaglos ließ der diese Farce über sich ergehen, nahm eine grellbunte Plastiktasche mit seinen neuen Kleidern an sich. Auf der Damentoilette der Filiale einer Schnellimbisskette zog er sich um, während Mush ein Frühstück für sie bestellte. Als er zu seinem jüngeren Freund zurückkehrte, der wachsam um sich blickte, spürte er das Interesse von Gaffern. Suriyawong schluckte und bemühte sich trotz seiner Schmerzen um einen stolzen, aufrechten Gang. Mush erhob sich leicht, als er zu ihrem Tisch kam, streckte ihm die Hand entgegen und hielt Suriyawongs fest. "Du siehst wunderschön aus." Komplimentierte er mit einem erstaunlich schüchternen Lächeln. Suriyawong antwortete ihm leise. "Alle starren mich an! Ich fühle mich, als wäre ich nackt!" »Und außerdem bin ich ein Mann! Also guckt nicht so!!« Doch dieser stumme, resignierende Protest in seinem Inneren verhallte wie stets ungehört und ungeachtet. Für einen Mann würde man ihn in diesem körperbetonten Kleid sicher nicht halten. Ihm gegenüber drückte Mush aufmunternd seine Hand. "Sie suchen nicht nach einem Mädchen." Erklärte er bemüht. Für einen langen Moment brodelte die Übelkeit wieder hoch, und Suriyawong musste sich die freie Hand fest auf den Mund pressen, um sie zu besiegen. Wenn dieser Albtraum nur ein Ende hätte!! ~~~~~~x* Mush atmete auf, als er erneut seine Umgebung genau betrachtete. Die Leute auf dem Trottoir, die ihnen Aufmerksamkeit schenkten, richteten ihre Blicke allein auf Suriyawong und blendeten ihn, den "Vollmond", total aus. Für den Moment musste ihm dies als Tarnung genügen. Er ließ mit Suriyawongs Vermittlung Porträtfotos anfertigen, gab diese in einem Copy-Shop zum Einscannen, verschickte sie aber nicht auf die Mobiltelefone von Freunden, wie die aufdringliche Werbung empfahl, sondern nutzte die simple, ungeschützte Verbindung, um mit seinem Computer eine kleine, elektronische Nische im Netz anzusteuern. Dann begab er sich mit Suriyawong im Schlepptau hinter die öffentliche Bibliothek. "Was nun?" Matt und nur leidlich durch das Frühstück erfrischt, lehnte Suriyawong an seiner Seite. "Überleg mal, wo wir ein wenig außerhalb ein Nachtquartier als Ehepaar auf Hochzeitsreise finden können." Erteilte Mush ihm einen Auftrag, während seine Finger über die Tasten tanzten. Sein Aufgabenspektrum nahm sich ungleich gewaltiger aus. Zuerst ließ er überall elektronische Bomben hochgehen, wo er seine Widersacher vermutete. Dann suchte er sich die beiden Identitäten, die er für sich und Suriyawong "ausleihen" wollte, erklärte deren Pässe für ungültig aufgrund von Diebstahl und fügte in die Datenbank ihre Photos ein. Er fälschte einen Eilauftrag für Ersatzpässe und fingierte auch die Zusendung einer Kreditkarte, das Konto prallgefüllt mit geschickt umgeleiteten Schwarzkontenerträgen. Alle Unterlagen sollten zu einem Hotel geliefert werden, bei dem er über ein gekapertes Firmenkonto ein Doppelzimmer für die Nacht gebucht hatte. Er überließ es einem Computer, Reisedaten zu vermelden, die nichts mit der Realität zu tun hatten, um ihre Existenz zu "beweisen" und ihre Geschichte zu stützen. Anschließend, Suriyawong döste an seiner Schulter, entschied Mush kühl, dass es an der Zeit war, seinen Gegnern wirklich Angst zu machen. Sie wollten das »Wild Adapter«? Dann würde er es der ganzen Welt bekannt machen. Stückchen für Stückchen. ~~~~~~x* Tag 13 Bentley und "Dawnie" Doungporn Wong hatten wirklich Pech gehabt, darüber waren sich alle einig. Da waren sie frisch vermählt auf Hochzeitsreise gerade eingetroffen und irgendwer hatte ihr Gepäck gestohlen! Nicht nur das! Die Verbrecher hatten die arme "Dawnie" umgestoßen, sodass sie sich Verletzungen zugezogen hatte und kaum wagte, die große Schmetterlingssonnenbrille abzunehmen! Während "Bentley" Wong tapfer den geknickten Jung-Ehemann spielte und wortreich auf Englisch erläuterte, was ihnen zugestoßen war, reichte man ihnen schon den Umschlag, den ein Bote gebracht hatte. Darin befanden sich die Ersatzreisepässe und eine neue Kreditkarte, ein kurzes Schreiben des Mitgefühls des Chinesischen Konsulats und eine Rechnung für die Dienstleistung. Suriyawong blieb still und in sich gekehrt, denn niemand sollte mit der Nase darauf gestoßen werden, dass er weder Kantonesisch noch Mandarin sprach, was für eine in Hongkong ansässige Bürgerin doch sehr seltsam anmutete. Stattdessen rieb er den nackten Ringfinger, um betont Trauer zu demonstrieren, da dummerweise auch die Eheringe im Gepäck verstaut worden waren. Innerlich vollkommen erschöpft konnte er doch nicht umhin, seinen waghalsigen Freund zu bewundern. Der spielte seine Rolle mit solcher Selbstsicherheit, dass Suriyawong beinahe GLAUBTE, sie seien wirklich ein Ehepaar aus Hongkong auf Hochzeitsreise. "Jetzt kannst du dich richtig ausruhen." Raunte Mush ihm zu, als sie endlich die kleine Suite mit Wohnzimmer, Schlafzimmer und Bad für sich allein hatten. Suriyawong hätte sich auch wirklich gern in einem sauberen Bett ausgestreckt, doch sein Magen rebellierte erneut. Ein heftiges Zittern durchlief ihn. Er hetzte ungelenk auf den ungewohnt hohen Absätzen zur Toilette und spuckte schon wieder aus, was er vor einiger Zeit konsumiert hatte. Mush folgte ihm besorgt. War das noch normal, angesichts der Umstände? Oder hatte Suriyawong sich vielleicht doch bei der Prügelei mit dem widerlichen Ex-Nachbarn innere Verletzungen zugezogen? Damit kannte er sich nicht aus und fühlte sich deshalb auf noch dünnerem Eis. Suriyawong kauerte vor der Toilette, das Gesicht schweißnass, die Haare verklebt. Mühsam zwang er den Brechreiz, ihn in Ruhe zu lassen, atmete zischend durch zusammengebissene Zähne. Mit einem angefeuchteten Waschlappen betupfte Mush ihm sanft das verfärbte Gesicht, schenkte dem lästigen Makeup, das die schillerndsten Hämatome verbarg, keine Aufmerksamkeit. "Wir gehen zu einem Arzt." Bestimmte er, doch Suriyawong widersprach ihm heftig. "Auf keinen Fall! Dann ist das alles umsonst!" Er zupfte an seinem Kleid. "Aber du bist krank." Mush gab sich nicht so leicht geschlagen. "Vielleicht hat der Kerl dich doch schlimmer verletzt!" "Das ist es nicht!" Suriyawong legte erschöpft den Kopf in den Nacken, blinzelte. "Mir wird nur schlecht, wenn ich", er musste den Satz nicht vollenden, da Mush ohnehin begriff. "Was haben sie gemacht?" Erkundigte er sich sachlich. Möglicherweise linderte es den Schock, wenn er den jungen Thai dazu brachte, alles in Worte zu fassen. Suriyawong bemühte sich auch, öffnete den Mund, gestikulierte hilflos, nahm einen neuen Anlauf, aber die Worte wollten sich nicht finden. Chaos herrschte in seinem Kopf, in seinen Augen wellten Tränen auf. "Sag's in deiner Sprache." Für Mush bedeutete es keinen Unterschied, ob er verstand oder nicht. Er ließ sich neben Suriyawong nieder, hob diesen wie ein Kind auf seinen Schoß und umarmte ihn. Sein geplagter Freund klappte die dünnen Beine an, leidlich gehindert durch das enge Kleid, gab dem Schluchzen nach und raunte Unverständliches in ein geneigtes Ohr. Mush lauschte dem Klang der Qual, streichelte über die vorstehenden Wirbel von Suriyawongs Rückgrat, schmiegte eine Wange gegen die verletzte des Thai. Er wusste, dass er alles in Ordnung bringen musste. Mit etwas Zeit konnte es ihm auch gelingen. Wenn er herausfand, was das »Wild Adapter« wirklich war. ~~~~~~x* Eigentlich hätte Mush lieber im Wohnzimmer über seiner Strategie gebrütet, doch Suriyawong, der unruhig schlief und immer wieder schweißnass aus Albträumen aufschreckte, benötigte seine Gegenwart wie einen Abwehrzauber. Man hatte ihm frischen Tee ins Zimmer gebracht und, wie Suriyawong ihm verlegen erklärt hatte, darüber spekuliert, wie lange Dawnie schon schwanger sein mochte. Einen langen Moment später begriff Mush die Bedeutung und blinzelte heftig. Nun ja, zumindest eine plausible Erklärung für Suriyawongs schockbedingtes Verhalten und keine Gastro-Kritik! Sanft strich er nun über die seidig-glatten Haare, murmelte ab und an beruhigende Laute, wenn er spürte, dass Suriyawong nervös wurde. Am nächsten Morgen würde er erst mehr Bargeld in der Landeswährung besorgen und dann mit Suriyawong ein Quartier etwas außerhalb von Bangkok beziehen. Die Zeit müsste genügen, alles vorzubereiten und als ganz normales Ehepaar zu agieren. Nachdenklich studierte er das gestohlene Material. Die erste "Bombe" hatte er bereits detonieren lassen. Welches Informationsschnipsel konnte er als nächstes freigeben? ~~~~~~x* Die kleine Pension ein wenig außerhalb von Bangkok war auf Individualreisende eingerichtet. Niemand zweifelte keinen Moment an, dass Mush und Suriyawong tatsächlich das Ehepaar Wong aus Hongkong war. Ihr Zimmer war klein, aber mit Moskitonetz ausgestattet, angenehm kühl. Der Blick ging auf einen blühenden Garten hinaus, und niemand nahm daran Anstoß, dass sich das "junge Glück" eine gemeinsame Ruhepause gönnte. Suriyawong lag auf der weniger versehrten Körperseite und blinzelte Mush müde an. Um nicht so oft erbrechen zu müssen, hatte er nur noch stark verdünnte Fruchtsäfte und Tee getrunken, weshalb er sich nun sehr matt und kraftlos fühlte. Mush lag ihm gegenüber, streichelte behutsam über die abschwellende Wange und das seidige Haar. "Ich bringe das in Ordnung." Raunte er Suriyawong sanft zu. Der kämpfte gegen die unwiderstehliche Müdigkeit und wisperte. "Was ist mit meinem Großvater? Werden sie nach ihm suchen?" Da Mush vermutete, dass ihre unbekannten Gegner im Moment stärker damit befasst waren, Ermittlungen der japanischen Polizei und des Geheimdienstes abzuwehren, schüttelte er negierend den Kopf. Ein alter Heiler, der das letzte Mal vor einem Monat seinen Enkel gesehen hatte, wäre für sie nicht interessant genug, um zu riskieren, dass ihnen alles andere um die Ohren flog, was es, nach Mushs Auffassung, trotzdem würde, wenn er etwas mitzureden hatte. "Ich habe nicht gewollt, dass so etwas passiert." Entschuldigte er sich ernst. Suriyawong lächelte schief. "Aber wenn du nicht gekommen wärst, hätte Prasom..." Mush zog eine Grimasse. Wenn er ehrlich war: Prasom richtig zu verdreschen würde er wohl nie bereuen. Er erschrak, als Suriyawong Tränen über das Gesicht liefen, auf die dünne Matratze tropften. "Es ist nichts." Bemühte der sich, hastig seine Augen zu trocknen. "Ein bisschen Kopfweh vielleicht." Mush verspürte eine beinahe erstickende Beklommenheit. Wenn er sich mit Suriyawong verglich, konnte man nun wirklich nicht behaupten, dass seine Gefühlswelt mal den Eisschrank aufgab! Wie um den Beweis anzutreten, dass er doch nicht so "kalt" war, rückte er näher an Suriyawong heran, legte behutsam einen Arm um dessen gekrümmte Schultern. Sofort schmiegte sich der junge Thai an ihn, suchte bei ihm Zuflucht. Zwischen den leisen Schluchzern konnte er heraushören, dass Suriyawong nicht ein noch aus wusste, was er nun tun sollte. "Wir bleiben zusammen." Bot Mush ihm an. "Ich habe schon einen Plan. Hab keine Angst, Suri!" Es dauerte jedoch noch eine ganze Weile, bis sie beide in einen erschöpften Halbschlaf fielen. ~~~~~~x* Als Mush aus dem Nachmittagsschläfchen erwachte, wusste er, wie das »Wild Adapter« in Umlauf gekommen war. Er glaubte auch zu verstehen, wie man die Männer getötet hatte. Endlich ergaben die meisten Informationen, die er erbeutet hatte, einen gewissen Sinn. Er hütete sich jedoch davor, Suriyawong einzuweihen, sondern genoss den ruhigen Abend bei leichter Küche, spielte die Turteltaube und entspannte sich dabei. »Bröckchen für Bröckchen!« Dachte er entschlossen. ~~~~~~x* Suriyawongs heisere Stimme schreckte Mush auf. Er setzte sich in der Dämmerung ihres kleinen Zimmers auf und schüttelte den Freund behutsam aber nachdrücklich an den Schultern. Mit einem erstickten Angstschrei fuhr der auch hoch, desorientiert und panisch. "Ist ja gut, alles in Ordnung." Murmelte Mush beruhigend in seiner Muttersprache, hielt Suriyawong in seinen Armen und wiegte ihn wie ein Kind. Als der junge Thai begriff, dass er wirklich in Sicherheit war, schluchzte er vor Erleichterung. "Alles in Ordnung." Wiederholte Mush beschwörend und verwünschte die lästige Röte in seinem Gesicht. Durch das dünne Nachthemdchen spürte er genau, wie sein Freund darunter beschaffen war. Was nicht sein konnte, sein durfte! Sie waren Freunde, SPIELTEN nur das Ehepaar! Seine Verlegenheit schien nun auch Suriyawong zu spüren, denn er löste die klammernde Umarmung, rückte ein wenig ab und murmelte etwas, das Mush nicht verstehen konnte. "Okay." Raunte er und wischte behutsam feuchte Strähnen hinter Suriyawongs Ohr. Der erschauerte sichtbar. Damit war nun wohl alles besiegelt, und es blieb ihnen beiden nichts mehr, als sich verlegen-hastig voneinander zurückzuziehen, was Suriyawong nicht tat. Er spürte die geschickten Finger, die so sanft über seine Ohrmuschel gestrichen hatten und sehnte sich nach einer tröstlichen Wärme, die ihm Sicherheit und Schutz versprach. Er wollte jemanden haben, der ihn in den Arm nahm, ihm durch die Haare fuhr, ihm die Angst vor der Zukunft, die sich als Schwarzes Loch erwiesen hatte, nahm. Mush konnte einfach nicht loslassen, die Arme zurückziehen. Er mochte es zu sehr, Suriyawongs sehnig-schmalen Körper zu umschlingen, bei sich zu verbergen. Statt eines geordneten Rückzugs schnellten sie zeitgleich vor, kamen sich ins Gehege und Mush ging zu Boden, vielmehr rücklings auf die Matratze. Suriyawong, vom Schwung mitgerissen, landete auf ihm, zögerte einen winzigen Augenblick, bevor er sehr vorsichtig die schmalen Lippen touchierte. Da keine Vergeltungstat folgte, die Arme um seinen fragilen Körper jedoch fest geschlungen wurden, senkte Suriyawong erneut tollkühn den leicht geneigten Kopf und wagte einen weiteren, längeren Kuss. Ungeübt, schüchtern und etwas ungelenk erprobten sie diese neue Kunstfertigkeit, ließen die Zungenspitzen einander umkreisen, zogen sich wechselseitig leicht verunsichert zurück, um festzustellen, dass der Widerpart unerschrocken die Verfolgung aufnahm. Mush schob ein Bein zwischen Suriyawongs und initiierte eine leichte Rolle, stützte sich aber ab, als er ihre Position umkehrte. Er hatte keine praktische Erfahrung damit, wie es nun weiterging, befand aber, dass zumindest das T-Shirt, das er über der Unterhose trug, störend war, so, wie Suriyawong daran zupfte. Was lag näher, als sich davon zu befreien? Suriyawong unter ihm zögerte, leckte sich nervös über die Oberlippe. Dann setzte er sich ebenfalls auf und wickelte sich das Hemdchen über den Kopf. Ausreichend die Balance hergestellt schmiegte sich Mush wieder an die duftende, zarte Haut seines Freundes. Er hörte den eiligen Herzschlag und spürte die große Wärme, die Suriyawong verschwenderisch verströmte. Auch sah er nun deutlich die Spuren der Prügel, die den schönen, jungen Mann zeichneten. Ein Kuss auf jede Wunde würde zwar keine Heilung mit sich bringen, doch Streicheleinheiten für die Seele bewirken, hoffte Mush, der sich auf Expedition begab, das Unglück, das Suriyawong getroffen hatte, mit Zärtlichkeiten ein wenig auszugleichen. Der atmete bald schwerer unter ihm, konnte trotz wohligen Windens nicht entwischen, suchte sich immer wieder andere Körperpartien, um dort Halt zu finden. Mush ließ sich auch nicht von den kehligen Lauten beirren, die er seinem Freund entlockte. Er war verzaubert und erregt zugleich, wollte immer noch mehr berühren und liebkosen. Längst hatte er den Impuls der Kompensation für die Misshandlungen verabschiedet, konzentrierte sich jetzt auf das Zusammenspiel ihrer Erregung, auf die Erforschung von actio und reactio. Besonders die zierlichen Brüste hatten es ihm angetan, er konnte nicht oft genug kosten, lecken, schmecken und ganz vorsichtig bis zur Spitze zwischen seine Lippen saugen. Suriyawong verstärkte sein Zappeln und Winden. In seinem Unterleib zog und zischte es, prickelte und brodelte. Es kam ihm so vor, als wären die Brustwarzen selbst direkt mit zwei hochempfindlichen "Leitungen" in seinem Bauch verbunden, wo sie nun wie unter elektrischen Schlägen seine Hüften zucken und springen ließen. Er ächzte und versuchte, sich zu drehen, unter Mush hervorzuschieben, denn er spürte deutlich dessen Erektion zwischen seinen Beinen. Selbst wenn es Mush war, er empfand lähmende Angst und Ekel vor dem, was von einem wie ihm ganz selbstverständlich erwartet wurde. Mush dagegen war diesen Intentionen vollkommen abhold. Er registrierte zwar die stramme Erektion, beließ es jedoch dabei, die Unterhose so weit hinab zu dirigieren, dass ihm nicht das Blut abgeschnitten wurde. Als es Suriyawong nun gelang, sich auf die Seite wegzudrehen, glitt er mit einer Hand über dessen flachen Bauch tiefer, landete unweigerlich dort, wo sich ihm bei ihrer ersten Begegnung etwas Faszinierendes geboten hatte. Er hätte es vermutlich bei einer flüchtigen Berührung belassen, wenn er dem jungen Thai nicht ein derart gänsehauterzeugendes, lustvolles Stöhnen entlockt hätte. Also schlang er den anderen Arm entschlossen um Suriyawongs Mitte, kreiste über dessen Bauch, als der sich reflexartig zusammenrollen wollte, während er mit der anderen Hand behutsam aber unerbittlich über die Schamlippen streichelte und den winzigen Penis mit Zeigefinger und Daumen massierte. Suriyawong zuckte unkontrolliert, warf den Kopf in den Nacken, rang ächzend nach Luft. Seine verkümmerten Geschlechtsorgane sollten ihm eigentlich keine Dienste leisten, nicht mal die der "Selbstversorgung", doch Mush bewies ihm gerade mit kindlicher Begeisterung das Gegenteil. Vergessen war nun die Erektion, die an seinem Rückgrat rieb. Er wusste nicht, ob es für ihn überhaupt möglich war, Ekstase zu empfinden, doch er war außerstande, Mush seine mangelnde Disposition verständlich zu machen. Mush dagegen erinnerte sich an eine Blume, eine Calla. Der kurze Augenblick, den Suriyawong ihm gewährt hatte, um zu beweisen, dass er doch, zumindest hälftig, ein Mann war, genügte ihm, diese besondere Beschaffenheit nicht als Makel, sondern etwas Einzigartiges einzuordnen. Der schmale, zierliche Penis war der Blütenstand, darum die Schamlippen wie ein Blütenkelch. Wenn er sich richtig entsann, entwickelte sich der ungeborene Mensch erst vom weiblichen Wesen zum männlichen durch bestimmte Hormone. Suriyawongs Entwicklung war stehengeblieben und hatte ihn offenkundig mit den Merkmalen beider Geschlechter rudimentär versorgt. Er hätte auch ungeniert seine Liebkosungen fortgesetzt, wenn Suriyawong nicht in aufgelöster Verzweiflung nach hinten gegriffen und dessen Erektion fest umschlossen hätte. Dem jungen Chinesen entfuhr ein kehliger Laut, dann besprengte er Suriyawongs Rückseite mit seinem Samen. ~~~~~~x* Mush fühlte sich tatsächlich benommen, blickte verschwommen auf Suriyawongs glänzenden Schopf vor sich. Sein kühl kalkulierender Verstand schien vaporisiert und er selbst unfähig, sich zu einer Aktion aufzuraffen. Suriyawong gelang es, sich auf alle Viere zu stemmen, was er dazu benutzte, sich auf Mush zu stürzen und in dessen Arme zu schmiegen. Auf den Rücken gerollt streichelte der fahrig über die seidigen Haare und die knochige Wirbelsäule. Der junge Thai schniefte leise, vielleicht war auch nur die Nase verstopft. Es währte jedoch nicht lange, dann dösten sie beide noch einmal ein, so bloß, erhitzt, gezeichnet und verunsichert, wie sie waren. ~~~~~~x* Tag 14 Hand in Hand schlenderten sie, immerhin als verliebtes Ehepaar verreist, entlang der zahllosen Stände, kleinen Geschäfte und mobilen Garküchen. Mush war durchaus mit sich zufrieden, denn nicht nur internationale Gazetten verkündeten von den »Wild Adapter«-Toten und spekulierten auf eine neue Variante terroristischer Gewalt, sondern auch Tageszeitungen auf Thai. DAS sollte für das erste Feuer sorgen. Mit ein paar Nebelwerfern würde er für ihre sichere und unbeobachtete Ausreise sorgen. Bloß musste er Suriyawong vorher noch beichten, was er dieses Mal ausgeheckt (oder eher ausgehackt) hatte. ~~~~~~x* "Das wird nicht funktionieren." Bemerkte Suriyawong blass, rückte von Mush ab. Der klappte seinen Computer zu und wandte sich zu seinem Freund herum. "Die Papiere sind echt, auch die Eintragungen im Computer. Es wird klappen." Beschwor er Suriyawong, der nun aufsprang und im Zimmer auf und nieder lief, fünf Schritte vor, kehrt fünf Schritte und von vorn. "Das heißt, ich kann nicht mehr zurück, oder?" Er steigerte sich in Aufregung, bereits Tränen in den Augen, hielt sich dann den Magen. "Du hast doch gesagt, es wäre alles in Ordnung!" Klagte er Mush aufgelöst an. Der wappnete sich mit Geduld und beobachtete besorgt die elegante Hand auf dem flachen Bauch. Wenn Suriyawong sich zu sehr aufregte, wusste er schon, was unweigerlich als nächstes käme. "Ich brauche den Zugang zum Netz." Erklärte er behutsam. "Bis jetzt habe ich sie bloß beschäftigt. Aber wenn wir hier bleiben, werden sie uns erwischen, weil SIE nun wissen, dass ICH viel mehr weiß, als sie angenommen haben." Er zweifelte nicht, dass Suriyawong dies durchaus begriff, aber die Angst, die diesen erfasst hatte, konnte er fast körperlich greifen. "Nicht mal, wenn wir uns jetzt trennen würden, wärst du sicher." Erläuterte er sanft. "Denn wo solltest du hingehen? Warum sollten sie dir glauben, dass du gar nichts weißt?" Suriyawong paradierte weiter, verunsichert, ratlos. Mush ließ ihn gewähren, vielleicht lief er ja so der Übelkeit davon. Mit hängendem Kopf sackte Suriyawong schließlich neben ihn auf das Bett, ein Bild des resignierenden Jammers. Einen Arm um die gekrümmten Schultern geschlungen erkundigte sich Mush sehr leise. "Wovor hast du denn Angst, Suri? Ich bin doch bei dir." Eine Antwort erhielt er nicht, aber der junge Thai kletterte wie zuvor auf seinen Schoß, legte ihm die dünnen Arme um den Nacken und klammerte sich schmerzvoll eng an ihn. Er erwiderte die Umarmung und streichelte über die verspannte Rückenpartie. "Hab keine Angst." Flüsterte er beschwörend. "Ich lasse dich nicht allein." ~~~~~~x* Zum Frühstück brachte Suriyawong kaum etwas herunter, trank nur Tee. Er hatte Angst. Angst, seine Heimat zu verlassen und in ein großes, schwarzes Nichts zu fliegen, das ihn verschlucken würde. Wie der Abgrund, der ihn in Albträumen verschlang. Seine Hand war schweißnass, als sie mit dem Bus zum internationalen Flughafen fuhren. Er fühlte sich wie ein Verurteilter auf dem Weg zum Schafott. Das Baumwollkleid unter der Strickjacke schien plötzlich zu eng und unbequem, die Sonnenbrille drückte auf seinen Nasenrücken und er hatte das Gefühl, ständig zu müssen. Mush, mit sorgsam gestutztem Haar, das ihn wie einen braven Absolventen einer Hochschule wirken ließ, hob ihre verschlungenen Hände und hauchte einen Kuss auf Suriyawongs Handrücken. Natürlich, sie spielten noch die Wongs! Wie er Dawnie jetzt hasste, mit ihrem Kleid, ihren Sandaletten und all dem Krimskrams! Mushs Augen blickten ihn ernst an, gemischt mit Besorgnis. Suriyawong seufzte lautlos und lehnte sich an Mushs Schulter an. Es blieb ihm keine Wahl, er MUSSTE dem jüngeren Chinesen vertrauen. ~~~~~~x* "Vielleicht gegen die Übelkeit?" Mush hielt seine Hand, blickte ihn so besorgt an, zugleich so forschend, dass Suriyawong jeden Widerstand als fruchtlos aufgab. Eigentlich war es ihm zuwider, sich eine Medizin zu verabreichen, die er nicht selbst hergestellt hatte, irgendwelche Pillen, Dragees oder Flüssigkeiten zu schlucken. Bloß, dafür hatten sie weder Zeit noch die Gelegenheit. Suriyawong gab sich geschlagen. Er erhob auch keinen Einspruch, als Mush ein leichtes Beruhigungsmittel mit seinen restlichen Baht erstand. Nach der Einnahme fühlte er sich mangels fester Grundlage im Magen bald schläfrig und benommen. Glücklicherweise konnten sie rasch die Passagierkontrollen durchlaufen, wurden abgefertigt und durften in den A330 der AirBerlin einsteigen. Für Mush war es der zweite Flug, für Suriyawong jedoch der erste, und der Chinese war sich nicht sicher, wie gut sein schwer angeschlagener Freund diese Anstrengung verkraften würde. Umso erleichterter war er, als Suriyawong noch vor dem Start schwer an seiner Seite lehnte, der schmerzhafte Klammergriff der eleganten Hand langsam nachließ. Er winkte einem Flugbegleiter zu und bekam ein kleines Kissen sowie eine Decke gereicht, die er selbst ungeachtet des recht hinderlichen Sicherheitsgurtes um Suriyawong drapierte. Der verschlief die folgenden fünf Stunden so tief und reglos, dass Mush ihn beinahe beneidete. Er selbst ging im Geiste erneut die notwendigen Maßnahmen durch und fragte sich, wie schnell seine zweite Attacke Wirkung zeigen würde. Nach dem Lancieren der Horror-Meldung über elf deformierte Mutantenleichen in Japan folgte nun der zweite "Schlag", nämlich eine Teilanalyse der Blutproben. Die deutete darauf hin, dass tatsächlich massiv in kurzer Zeit die Zellinformationen verändert worden waren. Wer konnte das tun? Wer konnte Zellinformationen so manipulieren, dass sie mit den veränderten Informationen lebten, sich teilten und so die Beschaffenheit eines Menschen revolutionierten?! Was konnte man damit bewirken? Bei welchen Krankheiten Heilung bringen? Wenn man diese Aspekte nur geschickt lancierte, dort, wo das Interesse, die Verzweiflung, das Misstrauen am Größten war, dann waren es nicht bloß elf Junkies, die verdient hatten, was ihnen passiert war. Natürlich stellte sich die Frage, wer in dieser Richtung forschte. Das Militär? Der Geheimdienst? Oder eine dieser obskuren Sekten? Eine Privatinitiative? In jedem Fall richtete sich die Aufmerksamkeit auf das »Wild Adapter«. Es würde ihren noch unbekannten Gegnern nicht mehr so leicht fallen, sie einfach aus dem Verkehr zu ziehen, hoffte Mush optimistisch. Außerdem hatte er ja auch noch den ganzen Rest. Möglicherweise verstand er noch nicht alles, aber das bedeutete ja nur, dass man die richtigen Leute aktivieren musste. Suriyawong regte sich neben ihm, umklammerte Mushs Hand und entspannte sich nach nervösem Blinzeln erst, als der ihm sanft zuraunte. "Alles in Ordnung." Er räusperte sich heiser. "Wie lange sind wir noch unterwegs?" "Etwa sechs Stunden noch. Du kannst übrigens aufstehen, wenn du magst." Offerierte er. Ein Nonstop-Flug war schließlich für den ganzen Körper anstrengend. Er half Suriyawong beim Abschnallen, dann rappelte sich der junge Thai mühsam auf und hoppelte neben ihm im Gang auf und nieder, entfernte sich aber nicht von ihren Sitzplätzen. Mush lächelte ihm aufmunternd zu. Suriyawongs Angst rührte ihn an, ließ ihn sich älter und erfahrener als den Freund empfinden. Seine innere Stimme verwarnte ihn jedoch streng, denn es konnte durchaus sein, dass er mal wieder sein "kaltes Gemüt" bewies. Nachdem Suriyawong sich tapfer zwecks Erfrischung bis zur Toilette gewagt hatte, nahm er wieder Platz neben Mush, schnallte sich an und kuschelte sich in die Decke ein. Mit diesem Sichtschutz kaperte er Mushs Hand, wie einen Anker in einer fremden Welt. "Warst du schon mal da?" Er versuchte nicht mal, den fremdländischen Namen auszusprechen. "Nein." Mush ruckelte ein wenig, bis er sich direkt Suriyawong zuwenden konnte. "Ich bin aber neugierig. Wir werden dort erst mal sicher sein." Außerdem war ein Land faszinierend, das bereits vor dreißig Jahren erlaubt hatte, dass sich Berufene wie er selbst mit einer eigenen Ethik zusammenschlossen, um das Richtige zu tun, wenn sie auf ihren virtuellen Reisen auf Probleme stießen. Wenn alle Stricke rissen, konnte er um Hilfe bitten, hoffte Mush zuversichtlich. In Suriyawongs schokoladenbraunen Augen stand trotzdem Sorge. "Tut mir leid." Raunte Mush kaum hörbar. Er hatte seinem Freund ja erklärt, warum sie so weit fliehen mussten. Aber es war nicht so einfach, ein Land zu finden, für das man kein Visum beantragen musste, wie er selbst bei seiner Flucht nach Thailand ermittelt hatte. Ausnahmen galten noch immer für Bürger der Sonderverwaltungszone Hongkong. In einem Land, das eine große Flächenabdeckung der modernsten Kommunikationstechnologien hatte, konnte er noch leichter agieren. Der Thai lächelte nun hilflos. Mush hob Suriyawongs Hand unter der Decke hervor und zeichnete nacheinander Schriftzeichen hinein, erklärte die stilisierten Bilder. Bald spürte er, wie sein Freund sich schwerer an ihn lehnte, die Hand, die auf seiner eigenen ruhte, sich entspannte. Suriyawong war erneut eingeschlafen. Vorsichtig stopfte Mush die Decke um den Thai fest, löschte das Platzlicht über sich. Es war tatsächlich schon spät, sie flogen jedoch "gegen die Uhr" und er wusste nicht, ob er selbst schlafen konnte. Vielleicht ein wenig dösen, während sich in seinem Kopf weitere Mosaikteilchen arrangierten, um ein Bild anzudeuten. ~~~~~~x* Nach der inneren Uhr gegen Mitternacht, tatsächlich aber pünktlich um 18:40 Uhr Ortszeit landete das Flugzeug auf dem Flughafen Düsseldorf. Mush hatte kaum noch Gefühl in seiner linken Hand, die Suriyawong so fest umklammerte, dass die Knöchel spitz hervorstanden. "Wwwwiessso isst sss sssso ddnnnkll?" Klapperte der Thai mit den Zähnen. Seine Augen, das linke von einem nicht ganz perfekt abgedeckten Veilchen umrahmt, schienen sein gesamtes Gesicht einzunehmen. Und in ihnen stand nackte Panik. "Winterzeit." Mush unterdrückte standhaft sein Bibbern. "Sieh mal, wie schön es geschmückt ist." Die zahlreichen Lichter, die Kakophonie, die künstlichen Tannenbäume, Weihnachtsmänner und andere Dekorationen: auf ihn wirkte der Flughafen durchaus einladend, vor allem, weil sie komplikationsfrei abgefertigt wurden und niemand eine Bemerkung über die viel zu dünn gekleideten Reisenden absonderte. Für Suriyawong jedoch hatte sich ein Albtraum in die Realität verwandelt. Jenseits der Glasfronten trommelte unablässig eisiger Regen, der Himmel war so finster, dass man ihn nicht von der Erde unterscheiden konnte. Um ihn herum sprachen die Menschen in harten, abgehackten, für ihn bedrohlichen Silben. Mush dachte praktisch und entschied, zunächst einmal passende Kleidung einzukaufen. Wozu hatte er schließlich die Kreditkarte beschafft? Den am ganzen Leib zitternden Suriyawong mühsam hinter sich herziehend, der steif vor Kälte keine großen Schritte zu tun vermochte, wählte er das erste Ladengeschäft aus, das nach Mode für beide Geschlechter im jugendlichen Alter aussah. Dort grinste man verstohlen über die beiden Paradiesvögel in ihren dünnen Sommerkleidern, was Mush nicht störte, der im Handel-Modus war. Er hatte sich informiert, dass in diesem Land nicht gefeilscht wurde und der Preis auf der Ware keine überambitionierte Ausgangslage für Verhandlungen, fand aber "tax-free" schon gleich als erstes Gesprächsthema, um sich vertraut zu machen. Eine junge Frau begleitete sie, plauderte belanglose Komplimente zu Mushs Geschmack, der ohne viel Federlesen für seine "süße Dawnie" einen gefütterten Stadionparka mit Kapuze, eine passende Hose und zwei leichte Fleece-Pullover mit hübschem Muster auswählte. Dazu ganz ungeniert warme Unterwäsche, lange Wollstrümpfe, Schal, Fäustlinge und eine Mütze. "Dawnie" konnte mühsam dazu überredet werden, seine Hand loszulassen und in der Umkleidekabine anzuprobieren, was ihr Göttergatte ausgewählt hatte. Mit zusammengebissenen Zähnen, das Klappern zu übertönen, aber auch, weil Suriyawong am Liebsten geheult hätte vor Schwäche, Übernächtigung und Angst, rang er mit den fremden Kleidungsstücken, die ihm ungewohnt ausgestopft und schwer vorkamen. Aber er hatte auch noch nie derart bis ins Mark gefroren. Als er hinaustrat, sich in einem Spiegel betrachten musste, wie es für eine Frau selbstverständlich war, erkannte er sich kaum wieder, eingemummelt, bleich und völlig verschreckt. Mush jedoch war zufrieden. Er fand, dass Pink, Ozeanblau und Wollweiß perfekt kombiniert die Schönheit seines Freundes zum Leuchten brachten. Um ihn herum herrschten so viele gedeckte Farben, dass es deprimierend wirkte. Er bat mit rasch steigender Souveränität darum, die Etiketten abzusäbeln, damit Suriyawong sich nicht zweimal an- und ausziehen musste. Mush reichte die Kreditkarte weiter und suchte für sich selbst eine vergleichsweise Ausstattung. In Feuerwehrrot, Kobaltblau und Amazonasgrün. Begeistert den Bommel seiner kurzen Mütze schnickend fasste er Suriyawongs Fäustling und verabschiedete sich in Hochstimmung. Die Kreditkarte funktionierte offenkundig, ihm wurde wohlig warm und es dauerte auch nur wenige weitere Minuten, für den Freund und sich mollige Schneestiefel zu erstehen. Was konnte ihm da noch Wind und Wetter an diesem Abend anhaben? Ebenso zuversichtlich studierte er die allgegenwärtigen Uhren. Einige Minuten hatten sie noch, um dem Automaten für den Regionalexpress Fahrkarten abzuschmeicheln. Mush, der beiläufig Bargeld an einem der Geldautomaten abgehoben hatte, knitterte die Geldscheine artig in den Einzugsschlitz und flipperte ohne größere Mühe die Tickets. Dank Internet und seinen speziellen Fähigkeiten konnte er zwar nicht aussprechen, wo er hin wollte, aber das Schriftbild erkennen. Sich mit Piktogrammen durchhangeln, das beherrschte er mühelos. Es erstaunte ihn, dass der Zug, der vom Flughafenbahnhof aus fuhr, als pünktlich angezeigt wurde. Er war einen großzügigeren Zeitrahmen gewöhnt und trieb Suriyawong nun zur Eile an. Die Waggons waren gut gefüllt. Suriyawong umklammerte ihn nun trotz Beutel und Tüte mit seinen zu leichten Kleidungsstücken mit beiden Armen, als stelle sein Arm den Pfosten der Welt dar. "Alles okay." Raunte er immer wieder leise, aber das spitze, bleiche Gesicht des Thai, der sich mit Schal und Mütze bis zur Nasenspitze maskiert hatte, wirkte noch immer elend und verängstigt. »Ich hab alles im Griff.« Versicherte sich Mush. Vierzig Minuten Fahrt, fünfte Station aussteigen, Station Köln/Messe Deutz. Er konnte es nicht aussprechen, aber das Bild der Buchstabengruppen leuchtete ihm unverkennbar vor dem inneren Auge. Als sie dann ausstiegen, zog er Suriyawong ein wenig zur Seite, ließ die Pendelnden an ihnen vorbeihasten. "Keine Angst." Appellierte er an dessen Durchhaltevermögen. "Gleich sind wir da!" Jetzt musste er nur noch den Weg finden. Zu Mushs Erleichterung gab es in der Bahnstation erleuchtete Schaukästen, in denen allerlei Pläne und Anschläge aushingen. Dazu gesellte sich auch hilfreich eine Umgebungskarte. Er pellte mit den Zähnen seine freie Hand aus dem Fäustling und brabbelte gedämpft. "Wr snd hr, d's ds Htl!" Nun, Hotel stimmte nicht ganz, aber für ihre Zwecke würde es genügen! Suriyawongs schokoladenbraune Augen blickten leer und glasig, sodass angezweifelt werden konnte, ob er überhaupt wahrgenommen hatte, welche Route ihm ausgedeutet worden war. Mush entschied, dass es die große Müdigkeit und die fehlende Nahrung sein mussten, die Suriyawong so mitnahmen. Zügig marschierte er also voran, Suriyawong mit sanfter Gewalt hinter sich herziehend. Um sie herum funkelte auf dem nassen Asphalt die Straßenbeleuchtung. Hinter den Fenstern glitzerten Lichterketten, Weihnachtssterne und andere Dekorationsartikel, verliehen dem Abend mit Dauerregen, eisigen Böen und Finsternis eine seltsame Atmosphäre der Verlassenheit inmitten von emsiger Bewegung. »Wir haben's fast geschafft!« Ermahnte Mush sich, nicht dem Gefühl der Kleinmütigkeit nachzugeben. Außerdem war er ja auch für Suriyawong verantwortlich, dem es gar nicht gut ging! Entlang des Wegs lockte ihn die Fensterscheibe einer Bäckerei. Es roch appetitlich, und sein Magen meldete Ansprüche an. Suriyawong, der artig stehen geblieben war, schüttelte panisch den Kopf. Obwohl das Licht tröstlich warm wirkte, fürchtete er sich vor diesen bellenden, groben Menschen, traute dem Angebot nicht. "Wir sollten aber etwas essen." Mushs Hunger überholte seine Nervosität spielend von rechts. "Lass uns mal schauen, was sie haben!" Der Thai stemmte die Absätze seiner neuen Schneestiefel gegen die Gehwegplatten. "Suri." Mush streichelte mit dem Fäustling über eine hinter Schal, Mütze und Kapuze vermutete Wange. "Es kann uns gar nichts passieren. Hab keine Angst, ja?" Er hob den linken Arm einladend an, damit Suriyawong sich dort einhaken konnte, was dieser, widerwillig und bange, schließlich mit hängendem Kopf tat. Gemeinsam betraten sie das Geschäft einer Filialkette. Da Mush zu recht vermutete, er könne Suriyawong überhaupt keine Äußerung entlocken, was dieser wohl zu kosten wünsche, tippte er selbstbewusst auf die Scheiben der Vitrinen, deutete per Fingerzahl an, wie viel er wollte und bestellte auch noch zwei große Becher Kaffee mit viel Zucker. Münzen und Scheine wechselten die Besitzer. Aufgewärmt und zufrieden zog Mush seinen Freund wieder in die nasse Dunkelheit. Es gelang ihm, Suriyawong wenigstens zu einem Schluck des gesüßten Kaffees zu überreden, doch vom Gebäck wollte er keinen Bissen. "Na, das können wir auch noch in unserem Zimmer nachholen." Vertagte Mush ebenso gut- wie wehmütig die weitere Nahrungsaufnahme. "Ist nicht mehr weit." Vor das zielsichere Erreichen ihrer Pension hatte die Stadtentwicklung allerdings das Phänomen der Hinterhöfe und Hofdurchgänge gesetzt. Zu Mushs Erleichterung, der verwirrt Hausnummer und Hausfront mit seinem geistigen Plan verglich und DEFINITIV etwas vermisste, schob sich ein Bewohner durch ein größeres Tor und gab eine flackernd beleuchtete Reklameschrift frei, die mit einem Pfeil auf die Pension im Hinterhaus verwies. "Gefunden!" Strahlte Mush Suriyawong überdeutlich an, denn trotz der Polsterung hatte er das Gefühl, dessen Finger in seinen Armknochen zu spüren. Durch das Tor und unter dem Haus zur Straßenfront hindurch betraten sie einen kleinen Innenhof mit einem trotzig in den Himmel ragenden Baum, der von einer Mülltonnenbrigade umzingelt wurde. Eine armselige Funzel verhinderte Kollisionen, leuchtete aber nicht bemerkenswert den Hinterhauseingang aus. Mush war Zwielicht gewöhnt, blinzelte und entdeckte eine blankpolierte Klingel, die er mit durchgedrücktem Rückgrat in die Mauer presste. Big Ben überschlug sich scheppernd, eine Stimme grollte grummelnd. Suriyawongs Griff wurde nun so fest, dass Mush Taubheit in seinem linken Arm registrierte. Die Tür explodierte nach innen, von einem heftigen Ruck befördert. Auf der Schwelle präsidierte eine kugelrunde Person in mehreren Bekleidungsschichten mit fünffarbig gesträhnter Igelfrisur und einer grellbunten Lesebrille auf der knolligen Nasenspitze. Mush verstand nicht, was die Frau sagte, entbot aber einen höflichen Gruß und wurde mit einem breiten Grinsen belohnt, bevor sich Mrs. Gärlich als die Pensionswirtin entpuppte. Man musste sich wohl erst auf die unterschiedlichen Interpretationen der englischen Sprache des Gegenüber einhören, doch zumindest war die Pensionwirtin auf ihre Ankunft vorbereitet. Sie ließ sich Pässe und Kreditkarte vorlegen und drehte ein Gästebuch herum, damit dort eingetragen werden konnte, wer das im zweiten Stockwerk befindliche Schlaf- und Wohnzimmer mit Duschbad beanspruchte. Mit ungelenker Hand krakelte Mush ihre vorgeblichen Namen langsam, übernahm den altmodischen Bartschlüssel und kletterte, Suriyawong hinter sich herziehend, im Gefolge ihrer mächtigen Pensionswirtin die schmalen Stiegen hinauf. Frühstück gab's zwischen sechs und neun Uhr, geraucht wurde auf dem Hof oder gar nicht, benutzte Handtücher, die gewechselt werden sollten, mussten in ein Körbchen vor der Tür deponiert werden und täglich geputzt wurde zwischen Elf und Eins. Mush nickte übertrieben, auch wenn er kaum die Hälfte der Instruktionen entschlüsseln konnte, weil Mrs. Gärlich ein Englisch sprach, das ihm unvertraut war, hielt sich damit aber nicht länger auf. Erstmal waren sie sicher und ihre Unterkunft war auch nicht schlecht, oh nein! Ein gemütliches, großes Bett in einer Nische, abgetrennt durch einen Vorhang, ein herrlich altmodisches Sofa mit Lesesessel, im aufgearbeiteten Schrank nicht nur Platz für Kleider, sondern auch ein flacher Fernseher, die gesamte Stube angenehm temperiert. Suriyawong inspizierte sogleich das angegliederte, kleine Badezimmer, indem er vor der Toilettenschlüssel einknickte und sich jämmerlich würgend übergab. ~~~~~~x* Nachdem Mush Suriyawong den Mund abgewischt hatte, ließ er sich geduldig umklammern und streichelte über die gepolsterte Parka-Oberfläche. Er hoffte, dass es bloß die Erleichterung war, die bei Suriyawong zugeschlagen hatte. Schließlich löste er sich, zog den Freund auf die Beine und dirigierte ihn in die Wohnstube. Wie ein Mannequin entblätterte er Suriyawong bis auf Pullover und lange Hose, räumte die Oberbekleidung in den Schrank und erlöste sich auch selbst von der aufheizenden Schicht. "Tut mir leid." Wisperte Suriyawong unglücklich, die Fäuste geballt. "Tut mir leid..." Besorgt schob Mush ihn zum Sofa, baute Kaffee und Gebäcktüten auf den zierlichen Beistelltisch vor ihnen auf und wandte sich dem Freund zu. "Was ist denn los, Suri?" Erkundigte er sich ratlos. Aber Suriyawong wusste nicht, wie er sein Gefühl der bedrohlichen, erstickenden Ausweglosigkeit in dieser finsteren, kalten Hölle in Worte fassen sollte. "Ich glaube, wir sind beide müde. Eigentlich ist es für uns schon tiefe Nacht." Suchte Mush nach einer Erklärung, streichelte beschwichtigend über die geballten Fäuste. "Meinst du, du könntest etwas essen?" Für den Freund zerpflückte er ein widerwilliges ausgewähltes Backwerk, das unter dem Etikett Kaiserbrötchen in einem geflochtenen Korb geruht hatte, dann langte Mush ordentlich zu. Er WAR hungrig und die fremdartigen Nahrungsmittel schmeckten gar nicht mal schlecht. Außerdem wärmte der süße Kaffee gut von innen! Nach einer hastigen Katzenwäsche schlüpften sie in der warmen Unterwäsche unter die luftig ausgepolsterten Bettdecken, schmiegten sich aneinander. Suriyawong weinte lautlos in seine Halsbeuge, zutiefst erschöpft und ängstlich. Mush hielt seinen Freund im Arm, streichelte die verkrümmten, knochigen Schultern und fragte sich zum ersten Mal, ob er sich als Held nicht disqualifiziert hatte. ~~~~~~x* Tag 15 Der Morgen war dunkel. Und nass. Suriyawong starrte aus dem Fenster, vorbei an plüschigen Gardinen, falschen Tannenzweigen und aufgesprühten Schneeflocken auf einen tristen Hinterhof mit einem kahlen Baum. Er presste die Rechte auf seinen eingesunkenen Bauch, kämpfte gegen die Übelkeit an. Grauenvoll. Die Hölle. Gab es hier denn niemals Tageslicht? Wo war die Sonne?! Er wandte sich um, zur Nische, wo Mush tief und selig schlummerte. Nun fühlte er neben der verhassten Panik auch noch Beschämung in sich aufsteigen. Der Junge dort war fünf Jahre jünger als er und zeigte so viel mehr Entschlossenheit! Jammerte und heulte nicht herum, kotzte sich die Seele aus dem Leib! Suriyawong rang mit seinem Elend. Er wollte nach Hause, zu seinem Großvater, den grünen Pflanzen, dem Licht und der Wärme! Aber da waren ja auch die Maskierten, die angezündete, verkrümmte Gestalt auf der Veranda, der bestialisch getötete Wachhund... »Warum?! WARUM?!« Wütend über die Ungerechtigkeit des Schicksals, die so plötzlich über sein geruhsames Leben eingebrochen war, hieb er mit aller Kraft auf die Matratze. Über sich selbst erschrocken stolperte er einen Schritt zurück, doch Mush blinzelte bereits schläfrig und wandte sich, nach kurzer Tast-Inspektion zu ihm um. "Oh, schon wach? Müssen wir schon aufstehen?" Der Chinese rieb sich kindlich mit den Fäusten die Augen. "Nein-nein, noch früh!" Stotterte Suriyawong, senkte den Kopf. Er spürte Mushs wachsamen Blick auf sich ruhen. "Komm zu mir, ja, Suri?" Einladend streckte Mush ihm eine Hand entgegen. Das war eine sehr viel bessere Option, als hier zu stehen und in die unerbittliche Unwirtlichkeit vor dem Fenster zu blicken, entschied Suriyawong. Er kletterte wieder in das Bett, über Mush hinweg, der ihn in seine Arme zog und behutsam über seinen Rücken streichelte, einzelne Strähnen durchkämmte. "Ich bring das in Ordnung." Versprach er leise. "Ehrenwort, Suri. Ich mach das wieder gut." Suriyawong schloss die entzündeten Augen und hoffte intensiv, dass Mush seine Worte auch wahrmachen konnte. ~~~~~~x* Frau Gärlich mochte Gäste, die auf Empfehlung kamen und sie hatte Verständnis für die Opfer von Langstreckenflügen, deshalb hielt sie auch keine Vorträge, als das junge Pärchen aus Übersee kurz vor neun Uhr die Stiege hinunterkletterte, einander an der Hand haltend, zögerlich dem Duft nachschnupperten, der Frühstück verhieß. Die kleine Asiatin mit der Blumenspange sah nicht wohl aus, das merkte ihr geschultes Auge sofort. "Jetlag." Konstatierte sie streng, verordnete mit noch strikterem Blick Tee mit ordentlich Honig und perfekt geröstetem Toast. Der junge Mann dagegen hatte trotz Vollmondgesicht ein gewitztes Blitzen in den schwarzen Knopfaugen, vermutlich müde, aber mit männlich gesundem Appetit ausgestattet. Sie machte ihn mit einem Spiegelei, Bacon, Käse, Essiggurken und dickflüssigem Honig bekannt. Asiaten mochten zwar keinen Käse, weil der von verschimmelter Kuhmilch stammte, wie sie wusste, der kleine Vollmond hier aber steckte unerschrocken und prallbackig kauend ordentlich was weg! Tatsächlich schmeckte es Mush, auch wenn es sehr exotisch war und er manches Nahrungsmittel lediglich aus Spielfilmen kannte. Allerdings war er kein heikler Esser. Das konnte man sich in seiner Lage ohnehin nicht leisten. Er warf einen kontrollierenden Blick auf Suriyawong, der mit beiden Händen die schwere Teetasse stemmte. Der junge Thai wirkte ruhig, spielte artig die scheue Ehefrau, aber Mush machte sich nichts vor: Suriyawong ging es nicht gut. Sie mochten hier zwar in relativer Sicherheit sein, aber es konnte kein Dauerzustand werden, das begriff er nun. Während ihm das Abenteuer gefiel, schien sein Freund völlig entwurzelt und zutiefst unglücklich an seiner Seite umherzuirren. »Na ja, DU hast ja auch nicht jahrelang friedlich bei deinem netten Opa gelebt!« Hielt sich Mush streng vor. Er beugte sich über den Tisch und wisperte. "Ich bring das in Ordnung, versprochen." Suriyawong blinzelte, rang sich dann ein mattes Lächeln ab. Er vertraute Mush, aber er zweifelte auch. Suriyawong wusste von Helden nur, dass sie zahlreiche Namenlose getötet hatten und selbst tot waren. ~~~~~~x* Nach dem üppigen Frühstück und der nachdrücklichen Erinnerung, wann das Zimmer gereinigt wurde, überredete Mush Suriyawong ihm hinaus in die feindliche Hölle zu folgen. Mrs. Gärlich hatte großzügigerweise einen Stadtplan ausgeliehen, sodass Mush nicht erst zur Bahnstation laufen musste, um sich zu orientieren. Ziel seiner Suche war ein warmer, trockener Ort mit einem offenen Netz. Sie mussten ein Stück laufen, bis sie ein Café fanden, das das von Mrs. Gärlich skizzierte Signet trug. Freier Netzzugang! Mush bemerkte gar nicht, dass sein Gesicht wie ein Weihnachtsbaum aufleuchtete. Eifrig bugsierte er den resigniert neben ihm tappenden Suriyawong in das gastliche Haus, bestellte eilig Tee und Gebäck, schälte sich aus seinem Parka und klappte den geliebten Computer auf. Suriyawong blickte sich geduckt um, zuckte unter jedem Blick weg und bemühte sich angestrengt, die gebellten Laute der anderen Gäste zu überhören. Draußen war es immer noch unfreundlich, nur weniger dunkel als am Abend und am Morgen. Der Regen goss übellaunig vor sich hin, also blickte er in seine Teetasse, umklammerte seine kalten Hände und wünschte sich verzweifelt nach Hause. Doch nicht einmal, wenn er die pinkfarbenen Schneestiefel an den Hacken dreimal aneinander geschlagen hätte, wäre dieser Wunschtraum wahr geworden. Für Mush war er, dessen konzentriert-geistesabwesender Miene nach zu urteilen, abgemeldet. Wie mutmaßlich der Rest der Welt, sofern nicht angenehm digitalisiert. In der Tat hatte Mush seine Umgebung vollkommen ausgeblendet. Seine Finger huschten über die Tasten, folgten den Anweisungen der unzähligen "Bau- und Verkehrspläne" in seinem Kopf. Erst hatte er eine Horrorshow für Japan geliefert, dann eine Dr. Frankenstein-Version für die übrige Menschheit und jetzt wollte er die Ratten aus den Löchern treiben. Dafür allerdings musste er alles beim ersten Anlauf richtig machen. Die Triaden-Clans waren nicht untätig geblieben, das registrierte er sofort. Auch sie hatten Hacker, und auch sie hatten nun Angst. Wie beim Goldrausch wollte jeder zuerst das sagenhafte »Wild Adapter« erbeuten, doch eigentlich hatten sie nicht die geringste Vorstellung, was sich wirklich dahinter verbarg. Auch Mush konnte nur Mutmaßungen anstellen, aber dank Suriyawongs Unterstützung und der aus verschiedenen Quellen erbeuteten Informationen gelang ihm der Überblick. Wem aber konnte man trauen? Mush aktivierte seine kleinen, elektronischen Helfer zeitgleich, sich in sämtliche ihm bekannte Triaden-Netzwerke einzuschleichen. Natürlich wickelte man bestimmte Geschäfte nur persönlich und in bar ab, doch irgendwann musste das Geld "sauber" werden und irgendwer führte darüber Buch, verwaltete die Konten. Vor allem aber wurde telefoniert, Mitteilungen verschickt. Mit schönen, schicken, brandneuen, vollgestopften Mobiltelefonen. Nach Mushs Auffassung spiegelte das System die Gedanken seines Erfinders wider, in welchen Hierarchieebenen agiert wurde, wer welche Zugriffsrechte hatte, wie sorgsam Abläufe geregelt waren, ein "Fahrplan" der Organisation, der sich als "virtueller Netzplan" verdoppelte. Kannte man die Struktur, schlich man sich durch eine Hintertür ein, belauschte man Telefonverbindungen, konnte man sich ein Duplikat vorstellen. Lord Leica war ein Meister solcher Vorstellungskraft. So rasch und konsequent, wie es ihm möglich war, leitete er gehackte Schwarzkontengelder um, verteilte sie auf Konten kleiner Inselstaaten, die keine großen Fragen stellten, dann säumte er seinen Pfad mit Minen und Granaten. Sie mussten nicht mehr tun, als Chaos anrichten, kaskadenartig immer mehr Geräte befallen, das Betriebssystem manipulieren und ihre Besitzer in den Wahnsinn treiben. Im Prinzip setzte er damit sein Konterfei auf den Spitzenplatz der Todesliste jeder Triade. Andererseits würden nun die Mittel knapp, die "Soldaten" zu bezahlen. Außerdem: wer hatte wirklich die Attacke geleitet? Da sich alle gegenseitig bespitzelten und behakten, konnten es auch die anderen gewesen sein, denn keiner würde zugeben, ausgespäht und bestohlen worden zu sein. Man konnte noch mehr tun, zum Beispiel Firmenbeteiligungen, Grundstücke und Immobilienbesitz veröffentlichen. Dort, wo es vor allem die Staatsmacht nicht übersehen konnte, ohne Begehrlichkeiten zu entwickeln. Lord Leica ritt seine Attacke gründlich. Das Programmieren lehrte, Nachlässigkeiten NICHT zu begehen, wollte man, dass etwas auch funktionierte. Was genau er mit dem verteilten Reichtum anfangen wollte, wusste er nicht, es spielte jedoch auch keine große Rolle. Nicht für einen Helden. Die eigene Kriegskasse zu füllen war nur dann nützlich, wenn die anderen keine größere Kriegskasse hatten, nicht wahr? Von den Triaden nun zu den übrigen Beteiligten. Yakuza. Durch die Protokolle und Informationen, die er sich bei den Triaden erschlichen hatte, konnte er nachvollziehen, wie diese Organisationen aufgebaut waren. Aus ihren Reihen stammten die Opfer in der Hauptsache, deshalb hielten manche es für einen Drogenkrieg. »Fast richtig.« Lord Leica wusste, dass die Yakuza nicht nach Mush suchen lassen würde. Sie wussten nämlich nicht, dass ER der Joker im Spiel war. Allerdings mussten sie ebenfalls ausgeschaltet werden. Schwierig. Während seine kleinen Helfer meldeten, dass "James Hung" ausradiert worden war, keine Spur mehr von ihm existierte, zumindest nicht in elektronischer Reichweite, nippte Mush nachdenklich an seinem kalten Tee. Ihm kam anhand der gestohlenen Polizeiberichte eine Idee. Zwar verstand er kein Japanisch, die gemeinsam genutzten Schriftzeichen (wenn auch in Varianten) erklärten ihm genug. Da zeichnete sich eine Lösung ab... Jetzt musste er sich noch der Erfinder des »Wild Adapter« entledigen. Dafür genügte jedoch keine Öffentlichkeitskampagne oder eine Cyber-Attacke. Sie waren zu clever, um es ihm leicht zu machen. Sie waren beinahe autark. Es gab keine Polizei, an die er sich wenden konnte. Lord Leica musste zu drastischen Mitteln greifen, um sich Unterstützung zu holen. Er musste einen Killer ausfindig machen. ~~~~~~x* "Suri." Mush drückte behutsam den Fäustling in seiner Hand. "Lass uns schauen, ob es nicht irgendwo etwas gibt, was du auch essen magst." Der junge Thai lief neben ihm, vollkommen eingemummelt, stumm und mit schleppendem Schritt. Mush hatte Hunger, fühlte sich selbst auf der Überholspur und wollte seine Euphorie gern mit seinem Freund teilen. Bloß-bloß Suriyawong schien auf einen fremden Planeten ausgewandert zu sein und jeglichen Empfang zu verweigern. "Na gut." Gab sich Mush konziliant. "Gehen wir erst mal zurück, ja? Wir können's uns ja immer noch überlegen." Suriyawong antwortete nicht, trottete aber brav neben ihm her, verbunden mit der Nabelschnur ihrer Hände. ~~~~~~x* Tag 16 "Ja, klar können wir das machen, rock'n'roll und roger!" Chai salutierte am Mobiltelefon. Lemmie wandte den Kopf zur Seite, um sein Feixen zu verbergen. Man wusste doch immer, wenn Onkel Mok anrief, was die Stunde geschlagen hatte. Elvis lebt! Chais üblicherweise muntere Miene verzog sich zu einer gequälten Grimasse. "Na, Apollo, was für ein Problem haben wir denn?" Neckte ihn Lemmie zärtlich und zog selbstbewusst den Freund auf Couch und Schoß. "Das wird dir nicht gefallen." Prophezeite Chai düster. "Tatsächlich?" Lemmies Augen, die Lider bereits auf Halbmast, konzentrierten sich auf seine Lippen, mutmaßlich aber nicht, um jede Silbe gierig abzulesen. »Die Botschaft kann auch warten!« Entschied Chai entflammt, denn sein zurückhaltend-genügsamer Freund schenkte ihm viel zu selten (für seine Libido) diesen Superman-Laser-Blick, der das Feuer in seinen Lenden anfachte. Er schlang die Arme um Lemmies Nacken und verabschiedete einstweilen das Verlangen nach Sauerstoff oder mehr als einer funktionierenden Gehirnzelle. Die ließen sich das eine ganze Weile gefallen, bevor sie sich mit seinen Lungen verbündeten und energisch protestierend auf ihr Existenzrecht beharrten. Seufzend gab Chai nach, haschte mit der Zungenspitze nach den von Eifer geröteten, frisch polierten Lippen seines Liebsten. Lemmie lächelte beseelt und offenkundig mehr als bereit, ihre Unterhaltung auf andere Gefilde zu verlegen, frei von irdischen Bedürfnissen. Oder lästigen, textilen Hüllen. Chai seufzte lauter, nicht vom Grund seines Herzens, sondern aus der Magengrube direkt über dem "kleinen Chai". "Onkel Mok hätte gern, dass wir ihm einen Gefallen tun." Grummelte er zerknirscht. "Aha." Lemmie schien nicht sonderlich interessiert, knabberte an einem elegant-zierlich ausgelegten Ohrläppchen, das so herrlich warm glühte. "Einen aktuellen Gefallen." Präzisierte Chai und keuchte, als eine Hand sich unter seinen dicken Pullover schob. "Quasi akut?" Nun lachte Lemmie doch leise an seinem Ohr, hauchte einen Kuss auf die Wange. "Dann schieß los." Nachsichtig-liebevoll funkelte er Chai an, der ein wenig beleidigt war, dass Onkel Mok offenkundig genug Einfluss bei Lemmie hatte, um ihn von SICH abzulenken! "Wir könnten es schnell hinter uns bringen." Soufflierte Lemmie ihm, nun DEUTLICH amüsiert. Er hatte keinen Grund zur Eifersucht und genoss Chais kindlich-energisches Besitzstreben durchaus. Er WOLLTE Chai gehören, ein bis dato befremdlicher Gedanke. "Bist du nicht ein KLEIN WENIG enttäuscht?" Hakte der gerade pinselig nach. "Nein." Grinste Lemmie entspannt. "Ich weiß ja, wo wir danach landen werden." "Ach ja?" Chai stippte einen spitzen Finger in Lemmies Seite. "Da sind wir unserer Sache ABER SEHR SICHER, wie?" Lemmie bemühte sich um ein feierlich-seriöses Gesicht. "Eine gute Tasse Tee lehnt niemand ab." Die Couch ächzte und stöhnte, als Chai sich auf ihn warf und begleitet von wüstem Schnauben eine heftige Kitzelattacke einleitete. ~~~~~~x* "Weckt Erinnerungen." Stellte Lemmie fest, die Hände tief in den Parkataschen. Es nieselte, glücklicherweise, sodass er die Kapuze ohne Dusche zurücklegen und an der Häuserfront nach oben schauen konnte. Hinter dieser Häuserfront hatte das Haus gestanden, in dem er vor einem Jahr DAS Abenteuer seines Lebens eingeleitet hatte. {Siehe "Schatzsuche"} Chai stippte ihm sanft den Ellenbogen in die Seite. "Komm, lass uns weitergehen. Da vorne ist es, und je schneller wir's hinter uns haben...!" Er konnte sich sehr viel Besseres vorstellen, als mal eben einen Höflichkeitsbesuch bei einem Fremden abzustatten, der geschäftlich mit Onkel Mok verbunden war! BESONDERS die Vorstellung trieb ihn zur Eile an. Lemmie riss sich los, wollte nicht auch noch Frau Blöcher, die Nachbarin, aufschrecken. DANN kämen sie nämlich nie mehr hier weg, und SO WEIT reichte seine nostalgische Melancholie nun doch nicht. Unweit eines Delikatessengeschäfts führte ihr Weg durch den Hinterhof in eine Pension. Dort war, wie Onkel Mok es Chai mitgeteilt hatte, ein Geschäftsfreund abgestiegen oder zumindest der Neffe eines Geschäftsfreundes. Doch von Flensburg nach Köln war es weiter, als innerhalb von Köln mal eben auf einen Sprung vorbeizuschauen und Grüße auszurichten, weshalb Chai nun als artiger Neffe diese Aufgabe übernahm, auch wenn es ihm GAR NICHT in den Kram passte. Vor ihnen baute sich nach energischem Klingeln ein weiblicher Zerberus auf. Sobald Chai jedoch das Anliegen vorgebracht hatte, sein schönstes Lächeln frisch aufpoliert, stampfte der kugelrunde "General Blitzkrieg" vor ihnen die Stiege hoch und belehrte sie energisch, dass es der kleinen Mrs. Wong wohl nicht besonders gut gehe. Man möge Rücksicht beweisen. »Kein Problem!« Grummelte Chai innerlich trotz Zahnpastareklame. »Wir beweisen gleich Etikette in Höchstgeschwindigkeit!« Irrte er sich, oder kicherte Lemmie hinter ihm, als könne er seine Gedanken lesen?! ~~~~~~x* Dass etwas an dieser filmreifen Szene nicht stimmte, bemerkte Lemmie gleich. Mr. Wong war aufgesprungen, als nach kurzen Klopfen und einem bärbeißigen Warnruf die Pensionswirtin sie in das Zimmer geführt hatte. Mrs. Wong presste eine elegante Hand vor den Mund, die andere hielt den Magen in Schach. Chai, der vor ihm eingetreten war, verharrte wie angenagelt, schnurrte aber mit unerbittlicher Strenge Silbenfolgen ab, die Lemmie nicht verstehen konnte. Mr. Wong blickte hastig zu seiner Gemahlin, die wiederum wacklig auf die Beine kam und ihrerseits mit heiserer Stimme Chai antwortete. Es KLANG nicht gerade freundlich. Lemmie schaltete fix, wandte sich der irritierten Pensionswirtin zu und lächelte aufmunternd. "Hört sich nicht so an, aber sie freuen sich sehr. Danke schön für Ihre Hilfe. Wir möchten Sie aber nicht weiter aufhalten." Reizende Abfuhr, und da er auch noch die Sicht auf das Drama verdeckte, dampfte "General Blitzkrieg" schnaubend und grummelnd wieder die Treppen hinab. Die Gelegenheit für Lemmie, hastig die Tür hinter sich zu schließen und herauszufinden, was eigentlich vor sich ging. Chai und Mrs. Wong lieferten sich ein heftiges Wortgefecht, untermalt mit raumgreifenden Gesten. "Äh..." Lemmie hoffte, Chais Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, denn er wollte nicht, dass hier Kampfhandlungen ausbrachen. Ihm gegenüber stand Mr. Wong alert wie auf dem Sprung, warf ihm zu seiner Verblüffung einen ebenso hilflos-verständnisfreien Blick zu, fasste seine Frau am Arm, sie zu beschwichtigen. DAS löste allerdings eine weitere schrille Tirade aus. Mrs. Wong brach in hysterisch-ersticktes Schluchzen aus, riss sich aus dem ratlosen Griff ihres überrumpelten Ehemannes und stolperte ungelenk zum Badezimmer. Was sie dort tat, war universell verständlich. Mr. Wong schenkte ihnen einen panischen Blick, folgte ihr dann eilig. "Chai..." Lemmie verzichtete angesichts der lehrreichen Episode darauf, Chais Ärmel zu zupfen, flüsterte aus dem Mundwinkel. "Was hast du zu ihr gesagt?!" "Ihr?! HA!" Schnaubte Chai mit einem ungewohnt grimmigen Gesicht. "Ich fresse nen Besen ohne Ketchup, wenn dass der Neffe und seine Frau sind!" Fauchte er. "Die haben sich hier unter falschem Namen eingeschlichen!" Empörte er sich. Lemmie verstand nur Bahnhof, Koffer weg und Zug abgefahren. "Warum? Was für einen Sinn hat das denn?" Bemühte er sich um einen konzilianten Ton, denn er wollte nicht andeuten, dass Chai die Situation möglicherweise falsch interpretierte. "Was weiß ich denn?!" Warf sein Freund ärgerlich die Hände hoch, doch seine Wut richtete sich nicht gegen Lemmie. "Im Übrigen ist Mrs. Wong ziemlich dubios. Wahrscheinlich ein Ladyboy!" "Äh... Übersetzung, bitte?" Lemmie schnappte tollkühn eine Hand, schmuggelte seine Finger zwischen Chais und verschränkte sie. Er wusste, dass eine zärtliche Geste seinen Freund in der Regel rasch besänftigte. Chai war kein cholerischer Typ und eigentlich auch sehr geduldig. Was definitiv ein großes Glück für ihn war. "Ladyboys werden als Männer geboren, fühlen sich meist als Frauen, lassen sich operieren und kleiden sich auch wie Frauen." Erklärte Chai nach einem tiefen Atemzug. "Allerdings werden sie häufig nur im Nachtgewerbe akzeptiert." Ergänzte er. "So etwas wie Transsexuelle?" Fischte Lemmie in ihm unbekannten Gewässern. Chai zuckte mit den Schultern. "Wer kann das schon sagen? Ist vielleicht für jeden verschieden." Wieder ärgerlich fügte er an. "Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass der Neffe eines Hongkonger Geschäftsmannes einen Ladyboy heiratet!" "Und was hat sie... er zu dir gesagt?" Lemmie tastete sich weiter vor. "Irgendwas von einer Verwechslung." Chai runzelte die Stirn. "Dann hat er mir lautstark erklärt, er wäre auch nicht gern hier, wo es ständig kalt, nass und dunkel sei und alle wie Hunde redeten. Oder so." Zuckte er mit den Schultern. "Und jetzt?" Lemmie richtete seinen Blick auf das Badezimmer, wo die Geräuschkulisse sich wieder beruhigt hatte. Kein Würgen, kein Schluchzen mehr. "Ich hab ihm mit der Polizei gedroht." Murmelte Chai, ein wenig verlegen. "Was soll ich Onkel Mok denn sonst sagen?!" "Verstehe." Mit dem Daumen streichelte Lemmie über Chais Handrücken, der sich offenkundig nicht sonderlich wohl in seiner Haut fühlte. Mr. Wong kam zurück, Mrs. Wong um Taille gefasst, den anderen Arm gestützt. Er schob sie (oder ihn?) zum Bett in der Nische, half ihr/ihm, sich hinzulegen, wo sich Mrs. Wong fötal zusammenrollte, ihnen den Rücken zukehrte. Einen langen Augenblick starrte Mr. Wong auf seine Gattin, wie eingefroren, bevor er leise den trennenden Vorhang zuzog. Dann fokussierte er seine Aufmerksamkeit auf Chai und Lemmie. Chai löste seine Hand aus Lemmies und verschränkte die Arme vor der Brust, funkelte den ziemlich jungen Mann finster an. Der gestikulierte, sie mögen doch Platz nehmen. Lemmie folgte der Einladung, um die Situation zu entspannen. Widerwillig schloss sich Chai ihm an, konzentrierte sich auf einen zornigen Blick, der keineswegs zu seinem gewohnten Repertoire gehörte. "Können wir uns auf Englisch unterhalten?" Erkundigte sich Mr. Wong in der vorgeschlagenen Sprache. Chai schnaubte. "Also, Mr. Wong, Sie verstehen kein Wort Thai? Das ist ja nett!" Mr. Wong beugte sich vor, die Hände beschwichtigend erhoben. "Bitte, lassen Sie mich erklären, ja? Wir, nein, ICH wollte niemandem Ärger bereiten." "Ach ja?!" Chai mauerte. "Das klären wir vielleicht bei der Polizei! Da können Sie dann auch berichten, wieso Sie sich hier mit Ihrem Kumpel unter falschem Namen eingeschlichen haben." Lemmie spürte den flehenden Blick auf sich gerichtet, dann sackte Mr. Wong ein wenig in sich zusammen. "Bitte keine Polizei, bitte! Ich brauchte nur eine Unterkunft und eine Referenz, verstehen Sie? Ich wollte wirklich niemandem schaden!" Plädierte er mit wachsender Verzweiflung. "Wie haben Sie es denn geschafft, sich hier auszuweisen?" Lemmie mischte sich mit ruhiger Stimme ein. Mr. Wong presste die Lippen aufeinander, dachte nach. "Gehen wir!" Chai erhob sich, legte eine Hand auf Lemmies Schulter, spielte den Erbosten. "Lass das die Polizei aufklären." "Nein, bitte, warten Sie!" Mr. Wong sprang auf, flehte. "Bitte, ich erkläre alles, nur geben Sie mir noch ein wenig Zeit! Mein Freund ist krank, ich kann ihn doch nicht so durch die Stadt schleppen! Bitte!" "Also was?!" Chai schnaubte. "Raus mit der Sprache! Wer sind Sie, und was geht hier vor?!" Das Vollmondgesicht des Mr. Wong verzog sich zu einer schmerzlichen Grimasse. "Das ist ein wenig schwierig zu erklären." Er wandte sich Lemmie zu, der noch Platz behielt. "Also, Suri hat gar nichts mit der Sache zu tun." Bekannte er leise. "ICH stecke in Schwierigkeiten, bin zu ihm gekommen und dann mussten wir blitzartig aus Bangkok verschwinden." "Warum?" Chai bellte in bester Bad Cop-Manier. Der junge Mann verknotete die schlanken Finger ineinander und atmete tief durch. "Ich bin ein Hacker." "Oh, toll!" Ätzte Chai verächtlich. "Und jetzt werden Sie mir erzählen, dass Sie rein zufällig etwas entdeckt haben, was die ganze Welt aus den Angeln hebt und deshalb auf der Flucht sind, weil man Sie umbringen will!" Mr. Wong starrte ihn mit offenem Mund an. In komischer Verzweiflung ächzte Chai. "Oh Scheiße, nicht schon wieder!" ~~~~~~x* "Und, was denkst du?" Chai hakte sich bei Lemmie unter. Es regnete Katzen und Hunde, dazu blies ein ekliger Wind mit Frostbeulengefahr. Gemeinsam ließ sich der Witterung besser trotzen. "Tja!" Lemmie dirigierte Chai zum S-Bahn-Eingang. "Ich denke, dass dieser Mush wirklich um Suri besorgt ist. Und dass Suri tatsächlich krank ist." "Mag ja sein, aber, Himmel, der Rest der Story, das KANN doch nicht sein!" Chai grummelte. Im Gegensatz zu seiner Wortwahl stand allerdings der ratlos-flehende Unterton seiner Stimme. Lemmie lächelte versonnen. "Du meinst, der Blitz schlägt nicht zweimal in denselben Baum ein?" "Na ja!" Schnaufte Chai seufzend. "Allerdings heißt es ja auch, der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen." "Wobei es den Teufel vielleicht gar nicht gibt." Neckte Lemmie ihn sanft. "Aber unabhängig davon, ob die Sache stimmt, was willst du unternehmen?" Mit einer Antwort ließ Chai sich Zeit, denn ihr Zug fuhr ein. Da es schon einigermaßen spät war, fanden sie sogar zwei Sitzplätze nebeneinander. "Tja..." Mit einem Schulterzucken signalisierte er Gleichmut. "Solange sie die Zeche nicht prellen..." "Und wenn Onkel Mok anruft?" Lemmie stippte mit amüsierter Hartnäckigkeit in der Wunde. Ihn traf ein grimmiger Seitenblick. "Dann sage ich, es war eine Verwechslung." "Hmm, plausibel." Schmunzelte Lemmie neckend. "Wong ist ja ein geläufiger Name in Hongkong, nehme ich an." "Pass auf, Naseweis!" Chai bemühte sich angestrengt um eine Friedhofsmiene. "Sonst gibt's nix unter unserem kleinen Plastikbäumchen!" Lemmie quittierte diese Drohung mit angemessen zerknirschter Miene, senkte bescheiden das Haupt in Demut. Chai stützte den Ellenbogen auf den Fensterrahmen und konzentrierte sich auf die Finsternis jenseits der Scheibe. Gut getarnt durch dick gepolsterte Kleidungsschichten konnte er seine freie Hand in Lemmies Jackentasche schmuggeln, wo sie nachsichtig in Empfang genommen wurde. Lemmie drückte behutsam die schlanken Finger. Im Gegensatz zu seinen grimmigen Ankündigungen war Chai einfach ein NETTER Bursche. Wer sonst hätte einem von Triaden, Yakuza und anderen Finstermännern international gejagten Hacker seine Telefonnummer auf einem Zettel in die Hand gedrückt? ~~~~~~x* Tag 17 Mush streichelte behutsam über die verschwitzten Haare und grübelte angestrengt. Gerade erst war es ihm gelungen, Suriyawong so weit zu beruhigen, dass der nach einem Albtraum wieder mit eintrocknenden Tränen in unruhigen Schlaf fiel. So konnte es nicht weiter gehen. Zwar war die unerwartete und gefährliche Klippe mit ihren beiden Besuchern noch einmal umschifft worden, doch der Boden wurde definitiv zu heiß. Und das wegen einer blöden Referenz! Er zupfte die Bettdecke über Suriyawongs verkrümmter Schulter zurecht. Leider hatte die Pension eine Referenz verlangt und da er ja schon die elektronische Korrespondenz von Mr. Wong gehackt hatte, war es ein Kinderspiel, sie sich zu besorgen. Nun, es war eben ein wenig unvorsichtig, Smartphones, Taschencomputer und all die anderen elektronischen Spielzeuge über das Internet zu synchronisieren. Bequem, aber auch vertrauensselig. Wer hätte auch gedacht, dass der Garant, der so sicher in Flensburg saß, ausgerechnet einen Neffen vorbeischickte?! »Aber solche Pannen können dir immer wieder passieren!« Ermahnte ihn seine innere Stimme energisch. Gerade jetzt durfte er sich keine Fehler mehr erlauben. Suriyawong wimmerte im Halbschlaf leise, und automatisch streckte Mush seinen Arm aus, schob seine Hand in Reichweite. Sie wurde von einer fiebrig-feuchten Hand umklammert. So konnte es nicht weiter gehen. Mit der freien Hand rieb er sich die Augen. Jede Wiederholung dieser Feststellung verstärkte das Gefühl der Ohnmacht, lange Jahre verdrängt, in den Schrank mit all den hässlichen Erinnerungen eingesperrt, die er hinter sich gelassen hatte, als er dem Kleinen Büffel gefolgt war. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ein Held sein zu wollen. Möglicherweise hatte er sich ein wenig übernommen. Mush betrachtete im Licht einer einsamen Leuchte Suriyawongs zusammengeballte Gestalt an seiner Seite. Er rutschte ein wenig herum, machte es sich ein bisschen bequemer in der halb sitzenden, halb liegenden Stellung, streichelte mit der freien Hand über die seidigen, leicht fettigen Strähnen. Er glaubte, dass Suriyawong fieberte. "Ich bringe das in Ordnung." Flüsterte er kaum hörbar. "Ich mache es wieder gut, Suri." Dann begann Lord Leica einen Feldzug auszuarbeiten, der in seinem Tod enden sollte. ~~~~~~x* Er tat es nicht gern, doch die zeitlich abgestimmte Verabredung ließ Mush keine Wahl: er musste Suriyawong allein lassen. Energisch wrang er das feuchte Tuch aus, platzierte es auf der glänzenden Stirn des fiebernden Thai. Suriyawong wachte nicht mal auf. Sein Körper glühte vor Fieber, unter den Augen vertieften sich merklich bläuliche Schatten. "Ich bin gleich wieder da." Versprach er leise, krakelte ungelenk eine Nachricht auf eine Papierserviette, deponierte sie auf das freie Kopfkissen. Dann streifte er sich die Schutzschichten gegen die unwirtliche Witterung über und verließ leise ihre Unterkunft. ~~~~~~x* "Du gehst spielen, Kubo-chan?" Makoto Kubota balancierte die Zigarette in den anderen Mundwinkel, blinzelte durch das Regentropfenmuster seiner Brillengläser. "Ein wenig." Antwortete er mit seiner sanften, aber sonoren Stimme. Er hätte als Student durchgehen können, schlank, großgewachsen, salopp-durchschnittlich gekleidet mit Parka, Rollkragenpullover, Jeans und knöchelhohen Arbeitsstiefeln. Wenn man nicht gerade in seine Augen sah. "Na schön." Sein wuseliger Begleiter, einen Kopf kürzer, seufzte schicksalsergeben, wischte sich durch die mit Wasser beperlten Strähnen eines widerborstigen Schopfes. Minoru Tokitou liebte Konsolenspiele, konnte sich aber für Mahjongg oder Pachinko nicht begeistern. Darum ging es aber in den Spielhöllen. Er wusste jedoch, dass Kubo-chan ihren derzeitigen Lebensunterhalt damit verdiente, also war es an ihm, ein wenig Langeweile auszuhalten, außerdem darauf zu achten, dass niemand sie belauerte. Umso wichtiger, da sie gerade die Jugendorganisation der Izumo-Kai erledigt hatten. Notgedrungen. Kubo-chan sprach zwar nicht darüber, aber Tokitou vermutete, dass dieser undurchsichtige Sanada irgendeine Sauerei ausgeheckt hatte, die ihnen NICHT gefallen würde. Unwillkürlich ballte er seine Rechte, entspannte sie aber sofort, um nicht das Innenfutter seiner Anoraktasche aufzureißen. Manchmal reichte der Lederhandschuh nicht als Schutz oder letzte Barriere. Als er aufblickte, spürte er Kubo-chans Augen auf sich gerichtet. Reflexartig feixte er, um das vage Gefühl der Beunruhigung zu vertreiben. In Kubo-chans zigarettenfreiem Mundwinkel kräuselte sich ein winziges Lächeln. Etwas zu sagen war unnötig. Sie gingen denselben Weg aus eigenem Entschluss. Wo auch immer er sie hinführte. ~~~~~~x* »Simpel.« Dachte Makoto Kubota. Wenn man einmal das Prinzip erkannt hatte, KANNTE man sie alle. Nicht, dass er sich sonderlich für sie interessiert hätte. Eigentlich waren sie ihm gleichgültig. Manchmal mochte er sie auch nicht besonders. Wenn sie ihn dazu nötigten, sie zur Kenntnis zu nehmen, aber, das hatte er festgestellt, er WAR entgegen allen jahrelangen Erfahrungen nicht unsichtbar. Ein Etikett hatte sich in seine Existenz eingebrannt, das Parameter seiner Entscheidungsfreiheit beschränkte. Üblicherweise machte er seine eigenen Regeln. Sie waren nicht besser oder schlechter als die der anderen. Und Regeln musste es geben, wenn gespielt wurde. Auch, damit man gegen sie verstoßen konnte. Jeder hielt ihn für einen Spieler. Einen Profi. Sie dachten in Kategorien von Siegern und Verlierern. Makoto Kubota war kein Spieler. Er war ein "Spurenleser". Und er lebte noch. ~~~~~~x* Ein wenig verwundert folgte Tokitou seinem geheimnisvollen Freund durch die Spielhalle über einen Hinterausgang, durch eine Küche in das Nachbarhaus, einen Keller und dann drei Stockwerke hoch in ein schummriges Loch. Zumindest roch es so in dem Halbdunkel, das lediglich durch Bildschirme diffus erhellt wurde. Er verzog das Gesicht und rückte näher an Kubo-chan heran. Auf den Bildschirmen, vor denen zusammengesackte Individuen schlaff hingen, fanden Varianten menschlicher Fleischbeschau statt. "Igitt!" Zischte er Kubo-chan zu, wandte angewidert den Kopf ab, als er die eindeutigen Handbewegungen eines Mannes unterhalb der Platte identifizierte, auf der das Terminal hockte. Im bläulich-fahlen Zwielicht huschte ein Lächeln über Kubo-chans Gesicht. Er entdeckte eine Wandnische, zog einen zweiten klapprigen Hocker heran. Tokitou lag es auf der Zunge nachzuhaken, was zum Henker Kubo-chan hier tat?! Der klopfte gerade Asche in einen alten Plastikbecher, den ein Vorgänger stehen gelassen hatte. Dann zückte er sein Mobiltelefon mit dem zerkratzten Display und wartete geduldig. Ein Symbol signalisierte eine eintreffende Nachricht. Ohne sichtbare Gefühlsregung studierte er sie, löschte sie dann und deaktivierte das Mobiltelefon. Tokitou lupfte eine kritische Augenbraue, wischte durch die feuchten Strähnen. Soweit ihm bekannt war, nahm Kubo-chan nur Nachrichten von seinem Onkel, Kommissar Keiichiro Kasai, oder von Kou, dem chinesischen Quacksalber, entgegen. Irgendetwas Merkwürdiges ging hier vor! ~~~~~~x* Makoto Kubota interessierte sich nicht sonderlich für Computer. Das war jedoch nicht gleichbedeutend mit Ignoranz. Er kannte sich für seine Notwendigkeiten gut genug aus. Mühelos fand er den versteckten Chatroom, öffnete eine private "Kammer" und wartete dort auf den Dunklen Lord. Einige Momente später gesellte sich dieser zu ihm. Kubota lehnte sich zurück. »Kommen lassen.« Dachte er. Neben ihm rückte Tokitou näher heran, das Mienenspiel Ausdruck von kritischer Verwirrung. "Ich kann das nicht lesen. Was steht dort?" Erkundigte er sich mit gedämpfter Stimme. "Er schlägt eine Zusammenarbeit vor." Übersetzte Kubota bereitwillig. "Er will, dass wir ihm helfen? Warum?" Raunte Tokitou ihm zu. "Eine gute Frage." Zwinkerte der und tippte sie ein. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich die Zeichen auf dem Bildschirm materialisierten. Kubota lehnte sich näher an Tokitou und raunte ihm die Übersetzung ins Ohr, die Zigarette lässig zwischen die Finger geklemmt. Tokitou drehte sich auf seinem Hocker, um dem Freund ins Gesicht sehen zu können. "Sagt er die Wahrheit?" Lächelnd tippte Kubota die Frage ein. Dann antwortete er sanft. "Er behauptet, dass er das tut." "Hmmm." Konzentriert grübelte Tokitou nach. "Das ist sehr gefährlich, oder?" Graste er gründlich die Konditionen ab. "Ist es." Bestätigte Kubota ihm gelassen. "Warum sollten wir es dann tun?" Für Tokitou waren die einfachen Fragen immer die wichtigsten. Kubota tippte sie lächelnd ein. In seinen Augen war Tokitou ein ehrlicher, direkter Mensch, der sich nicht hinter Masken und verschleierten Absichten versteckte. Seine Fragen waren stets die richtigen. Gespannt wippte der nun auf seinem klapprigen Hocker, beugte sich vor. Ohne dass ein Wort gewechselt werden musste, würde die Antwort des Dunklen Lords darüber entscheiden, ob sie helfen würden. Oder nicht. "Und?" Tokitou blickte Kubota ungeduldig an, wartete auf die Übersetzung. Dessen Miene blieb unergründlich, die Brillengläser spiegelten ärgerlicherweise den Bildschirm. Er zog an seiner Zigarette, ließ den Rauch in zerfasernden Spiralen zur Decke steigen. Schließlich drückte er sie aus und versenkte sie in dem vergessenen Plastikbecher. Dann beugte er sich zu seinem Freund und raunte ihm die Übersetzung des Appells ins Ohr. ~~~~~~x* Tag 18 Als Suriyawong erwachte, orientierungslos unter der schweren Decke um sich tastete, schien sich sein Albtraum zu erfüllen. Er war allein. Mühsam ächzend grub er sich mit schmerzenden Gliedern aus, rieb sich die verklebten, trockenen Augen und blinzelte heftig. Krächzend rief er nach Mush, doch es kam keine Antwort. Dann erst fand er die zerdrückte Serviette neben sich, entzifferte mühsam die Botschaft. Ein heftiger Husten rüttelte ihn durch, scheuerte seine wunde Kehle wie Schmirgelpapier auf. Im zweiten Anlauf gelang es Suriyawong, seine Knie durchzudrücken, sich hochzustemmen. Schwankend und unsicher bahnte er sich einen Weg in das Badezimmer. Er gurgelte mit Leitungswasser, dann vermischt mit Zahnpasta. »Wenn ich zu Hause wäre, dann...« Aber er war am anderen Ende der Welt gelandet, in einer feindlichen Hölle, ganz allein und es bestand keine Chance, dass er jemals wieder nach Hause kommen konnte. Suriyawong umklammerte das Waschbecken, ging davor in die Hocke und kämpfte gegen die krampfartige Übelkeit an. Es gab nichts, von dem ihm schlecht werden konnte, verflixt! »Er hat versprochen, dass er zurückkommt!« Flüchtete er sich verzweifelt in eine Gewissheit, der er selbst nicht ganz traute. In seine heftigen, konzentrierten Atemzüge mischte sich ein knarrendes Geräusch. "Mush?" Krächzte Suriyawong eilig, zog sich hoch, um aus dem Badezimmer zu stolpern. Doch das Zimmer war leer. Irritiert lauschte Suriyawong auf eine Wiederholung des Knarrens. Tatsächlich, da!! Er wandte den Kopf, dem dekorierten Fenster zu, blinzelte. Gegen das Fenster drückte energisch eine blaugraue Katze mit orange glühenden Augen und es sah nicht so aus, als ließe sie sich davon abhalten. Vorsichtig näherte sich Suriyawong dem Fenster, kämpfte mit dem Riegel. Kaum hatte er das Fenster einen Spaltbreit geöffnet, drängte sich die Katze hinein, beförderte mit sichtlicher Verachtung einen aufgeplusterten Strohengel von der Fensterbank und hielt direkt auf das Bett zu. "He!" Suriyawong ließ den Engel liegen, das Fenster geöffnet und durchquerte so schnell, wie es der lästige Schwindel erlaubte, das Zimmer. Die Katze, bequem eingerollt auf Mushs Kopfkissen, beäugte ihn unbeeindruckt, senkte dann die Lider und erweckte den Eindruck, sich nicht mehr von ihrem Platz rühren zu wollen. Suriyawong sackte auf der Bettkante in sich zusammen und ächzte ratlos. Wenn er versuchte, sie zu packen und wegzuziehen, würde sie wahrscheinlich die Krallen ins Kopfkissen schlagen und ein Spektakel machen. Für so viel Aufwand fühlte er sich nicht gerüstet. Außerdem fror ihn plötzlich so heftig, dass seine Zähne hörbar aufeinander schlugen. Also kroch Suriyawong unter die gewaltige Decke, kontrollierte mit schweren Lidern, ob der feline Invasor auch die "Reviergrenze" wahrte. Nicht lange danach schlief er tief und fest. ~~~~~~x* Auf Schneestiefelspitzen betrat Mush ihre Unterkunft, registrierte überrascht die frisch-feuchte Atmosphäre im Zimmer. Der abgestürzte Strohengel wies ihn auf den offen stehenden Fensterflügel hin. Mush schloss das Fenster und wandte sich dem Bett zu. Neben Suriyawong hockte ein gewaltiger Kater, der ihn kritisch musterte. "Hallo." Murmelte Mush ertappt. Der Kater schnaubte, erhob sich dann mit lässiger Eleganz, setzte mühelos über Suriyawongs eingemummelte Gestalt hinweg und spazierte, mit hoch erhobenem Schwanz zur Tür. Dort ließ er sich mit vorwurfsvollem Blick nieder, bis Mush begriff, hinübereilte und die Tür öffnete. Ohne weiteres Aufsehen sprang der Kater die Stiege hinab, ganz so, als gehöre ihm das Haus. Die Audienz war wohl beendet. "Mush?" Suriyawongs Stimme klang belegt, als der gerade verwundert die Tür schloss. "Ich bin hier!" Eilig pellte er sich die Schutzschichten vom Leib, setzte sich auf die Bettkante und kämmte widerspenstige Strähnen aus Suriyawongs Gesicht. Der zog sich an ihm hoch, kroch ihm fast auf den Schoß und umklammerte ihn wie zuvor. "Tut mir leid, dass ich dich allein lassen musste." Mush erwiderte nicht nur die erstickende Umarmung, sondern zerrte die schwere Decke auch hoch, damit sein Freund nicht fror. "Ich bringe alles in Ordnung, versprochen." Versicherte er erneut. Suriyawong presste sich wortlos an ihn, das glühende Gesicht brannte sich in Mushs Schulterbeuge ein. "Außerdem habe ich etwas zu essen mitgebracht. Und Medizin." Verkündete er leise, wiegte die zerbrechliche Gestalt in seinen Armen. Aber das war nicht genug, und er wusste es. Suriyawong konnte nicht mehr mit ihm gehen. ~~~~~~x* "Ist es das wert?" Tokitou schob die Reste der inzwischen abgekühlten Nudeln von sich. "Hast du dich das schon mal gefragt?" Er wandte den Kopf, um Kubota anzusehen. Kubota lehnte sich zurück in der engen Betonnische, von der aus man über das Häusermeer von Yokohama blicken konnte. "Nein." Entschied er schließlich gelassen. Was für einen Sinn hätte es auch gemacht, sich diese Frage zu stellen, wenn er sich dafür entschieden hatte, sein Schicksal dieser ausgesetzten, menschlichen Katze ohne Erinnerung zu überantworten? "Na, wir könnten es auch lassen. Bis jetzt haben wir uns ja ganz gut gehalten, oder?" Tokitou zog die Nase kraus. "Stimmt, haben wir." Pflichtete Kubota ihm entspannt bei. Tokitous kritischer Blick ruhte noch einen langen, inspizierenden Moment auf Kubotas Pokerface, dann widmete er sich der betonierten Aussicht. "Die werden aber nicht locker lassen, nicht wahr? Uns ständig belästigen!" Er spannte die Krallen seiner rechten, mutierten Hand. "Ich mag es nicht, wenn man mich jagt." Nachdenklich betrachtete er die deformierte Klaue. "Es könnte Antworten geben." Murmelte er. "Auch wenn sie mir wahrscheinlich nicht gefallen werden." "Du könntest auch Fragen stellen." Überraschend beteiligte sich Kubota am Gespräch. Sein ruhiger Einwurf vertiefte das Stirnrunzeln bei Tokitou. "Ja." Stellte der geistesabwesend fest. "Ich könnte sie fragen." Aber sie wussten beide, dass die Antworten der anderen nicht die eigenen Antworten aufwiegen konnten. Tokitou lehnte sich schweigend an Kubotas Schulter, entspannte sich, indem er die vertraute Mischung inhalierte, die seinen Freund olfaktorisch charakterisierte: das Aroma seiner Zigaretten, die billige Seife und eine Ahnung von Yakisoba, gewürzt mit unverbrüchlicher Zuneigung. ER konnte sie riechen. Es musste auch nicht mehr darüber gesprochen werden, dass Kubota dem Dunklen Lord zugesagt hatte. Es gab dafür vernünftigerweise viele, unterschiedliche Argumente. Für ihn zählte jedoch nur ein Grund. Tokitou war der Mensch, der ihn interessierte. Den er besonders mochte. ~~~~~~x* Suriyawong lief neben ihm, untergehakt, wacklig auf den Beinen. Mush stützte ihn, so gut es ging, atmete die kalte Luft tief ein. Eine wässrige Sonne hinter Wolkenschleiern kämpfte sich mühsam über den Zenit, verstärkte jedoch nur das allgegenwärtige Grau. Ihm selbst kam es nicht schlimm vor, genauso, wie er die weihnachtliche Beleuchtung und das gedämpfte Potpourri von allerlei Gesängen nicht als störend empfand. Für jemanden, der die meiste Zeit vor Bildschirmen in einem abgedunkelten Loch verbrachte, umgeben von Lärm und Ausdünstungen aller Art, stellte diese Atmosphäre wirklich keine Bedrohung dar! Aber Suriyawong musste es wohl anders gehen. "Sollen wir uns für einen Moment hinsetzen?" Offerierte er leise, suchte besorgt in dem winzigen Streifen, den Mütze, Kapuze und Schal freigaben, eine Reaktion. Die schokoladenbraunen Augen des Thai wiesen einen deutlichen Rotstich aus und lagen tief in beschatteten Höhlen. Auf den Wangen blühten beunruhigend dunkle Rosen, die Haut ähnelte Pergament. "Suri?" Er blieb stehen und hinderte seinen Freund somit am Weiterstolpern. Unversehens machte der sich los und taumelte einfach weiter, wie ein aufgezogenes Blechspielzeug. Alarmiert hechtete Mush ihm nach, verringerte die Distanz und verhinderte gerade noch, dass Suriyawong über einen Fußgängerüberweg wankte, der eindeutig mit Rot beleuchtet wurde. Hastig zerrte er den Schal herunter, wischte dann den Speichel ab, der aus Suriyawongs Mundwinkeln sickerte, lenkte ihren unsicheren Krabbengang zu einer Betonwanne, in der traurige Stümpfe von ehemaliger Pflanzenpracht kündeten. "Nicht ohnmächtig werden, Suri!" Flehte er nervös, ging vor dem Freund in die Hocke, der gequält nach Luft rang, tupfte ihm über das Gesicht. Suriyawong beugte sich nach vorne, lag fast auf den knochigen Oberschenkeln trotz der gepolsterten Winterbekleidung. Mush sah sich panisch nach Hilfe um. Eine ältere Matrone mit gut verpacktem Terrier näherte sich ihm unerschrocken und sprach ihn an, was er leider nicht verstand. Hastig versuchte er auf Englisch zu erklären, dass es seiner Frau nicht gut ginge, dass sie ohnmächtig zu werden drohe. Die Matrone wickelte sich die Hundeleine um ein Handgelenk, lupfte dann ungeniert Suriyawongs Kinn, drückte ihn dann mühelos an einer Schulter in Mushs Arme, der den Freund stützte. Eine Tasche mit Klappverschluss wie eine Mausefalle wurde geöffnet. Die Matrone bedeutete Mush, eine Hand auszustrecken, in die sie aus einer Blechdose ein Stück Würfelzucker ablegte. Ein kleines Fläschchen, dekorativ in ein Stoffsäckchen verpackt, wurde aufgeschraubt und abgezählte Tropfen über den Würfelzucker geträufelt. Mush begriff die mimische Erläuterung und bugsierte die Medizin in Suriyawongs Mund, hielt ihm dann den Unterkiefer hoch, sodass Kosten und Schlucken die einzige Option wurde. Nach bangen Augenblicken verzog Suriyawong die Miene, ächzte und schüttelte sich schaudernd. Die Matrone strahlte selbstgewiss und verpackte ihre Hausmedizin wieder in die gemeingefährliche Schnapptasche. Mush bedankte sich höflich und erleichtert, auch wenn er davon ausgehen musste, dass sie einander nicht verstanden. Die Matrone äußerte mit selbstgefälligem Ausdruck eine letzte Bemerkung, ihr Fersenhobel bellte knapp, dann zogen die hilfreichen Engel in profaner Verkleidung ihres Wegs. Suriyawong, immer noch in seinem Arm lehnend, atmete wieder ruhiger. "Ich werde Mrs. Gärlich nach einem Arzt fragen." Kündigte Mush an. "Wirst du nicht." Krächzte Suriyawong und stemmte sich mühsam vom Betonkübel hoch. "Ein Arzt wird feststellen, dass Mrs. Wong keine richtige Mrs. ist." Erläuterte er mit schwerfälliger Zunge, den Blick allerdings fokussiert. "Außerdem HASSE ich Dawnie! Und ihre Kleider und Schuhe! Ich WILL keine Frau sein!" Man hätte einen hysterischen Ausbruch vermuten können, doch dazu fehlte Suriyawong schlichtweg die Kraft. Mush erhob sich nun ebenfalls, klappte den Kiefer wieder hoch, der ihm temporär zwischen die Knie gesackt war. Betreten sah er Suriyawong in das fiebrige, von Flecken verunzierte Gesicht. "Es tut mir wirklich sehr leid." Begann er beschämt. "Ich weiß." Unterbrach Suriyawong ihn müde. "Und ich will auch nicht so...!!" Ihm fiel keine entsprechende Beschreibung auf Englisch ein, sodass er einfach frustriert an sich herunterzeigte. "SO sein! Warum sagst du nicht, dass ich dich nur belaste?!" "Weil du's nicht tust." Antwortete Mush ihm ebenso spontan wie überrascht, denn er empfand Suriyawong tatsächlich NICHT als Last. Möglicherweise als seine Verantwortung, zugegeben, aber ohne ihn? "Ohne dich wäre ich nicht so weit gekommen." Leicht verlegen senkte er den Blick. Er spürte es mehr, als dass er es sah: Suriyawong glaubte ihm nicht. So sanft wie möglich schob er deshalb seinen Arm unter den des Thai und erklärte ruhig. "Bitte, gehen wir zurück, ja? Es gibt da einige Dinge, über die wir sprechen müssen." Mrs. Gärlich würde ja wohl mittlerweile die Putzorgie abgeschlossen haben! Suriyawongs Schultern sackten herab, aber er hielt brav, vielleicht auch resigniert, mit Mush Schritt, der so fehlerfrei wie stets den Rückweg fand. ~~~~~~x* "Also willst du mich loswerden." Stellte Suriyawong, frisch geduscht und in die letzte saubere Garnitur gekleidet, mit flacher Stimme fest. Unwillkürlich wickelte er sich die dicke Bettdecke fester um die Schultern. Mush saß auf der Bettkante, hielt den falschen Pass, den Ausdruck für ein Flugticket und einen Zettel mit Anweisungen in den Händen. "Ich möchte dich bestimmt nicht loswerden." Widersprach er leise, das Vollmondgesicht eingefallen und ernst. "Aber für den Moment müssen wir uns trennen." "Warum?! Ich tue doch, was du willst, also..." Suriyawong hustete, rollte sich ungelenk auf die Knie und packte mit glühenden Handflächen Mushs Handgelenke, funkelte ihn fiebrig an. "Du hast doch versprochen, es in Ordnung zu bringen!" "Das werde ich auch, Ehrenwort!" Mush studierte das Gesicht seines Freundes und schämte sich, weil es durch sein Zutun von Auszehrung, Krankheit und Angst gezeichnet war. Er holte tief Luft, fühlte sich überhaupt nicht heldenhaft, sondern unzulänglich und gänzlich ohne das richtige Vokabular. "Suri, ich lass dich nicht lange allein, und ich tu's auch nicht gern." Mush räusperte sich, suchte eindringlich Verständnis in den rotstichigen Augen. "Bloß, das, was ich vorhabe, was ich tun werde, ist sehr gefährlich. Ich will nicht, dass dir etwas passiert." "Also bin ich doch nutzlos! Eine Last!" Suriyawong triumphierte unglücklich über den Widerspruch zu den früheren Beteuerungen, gab Mushs Handgelenke frei und unterdrückte ein mattes Schnüffeln. "Bist du nicht!" Mush beugte sich hastig vor, hob das spitze Kinn an und blickte eindringlich in Suriyawongs entzündete Augen. "DU bist das Wichtigste überhaupt! Wo soll ich denn sonst hin?" Suriyawong schnaubte, wischte aber die Hand nicht weg. "Und wo soll ich hin? Ich kann nicht zu meinem Opa, und dass der Arzt mich noch mal aufnimmt, nach dem, was passiert ist..." Er schüttelte bitter den Kopf. "Deshalb bekommst du Zugang zu Geld. Ich habe ein Konto für dich eingerichtet, damit du eine Unterkunft mieten kannst. Versteck dich eine Weile, bis ich alles in Ordnung gebracht habe." Mush kämmte mit der freien Hand feuchte Strähnen hinter Suriyawongs Ohrmuscheln. "Und wenn du nicht mehr kommst?!" Der Thai gab nicht auf, denn plötzlich fröstelte ihn bei der Aussicht, in seiner Heimat ganz allein mit einem hässlichen Geheimnis unter Fremden leben zu müssen. "Ich komme bestimmt!" Versicherte Mush nachdrücklich. "Ich verspreche es dir, Suri! Deshalb bist du das Wichtigste! Damit ich ein Ziel habe!" Den Kopf gesenkt, das Kinn befreit, flüsterte Suriyawong mit belegter Stimme, beinahe kindlich-trotzig. "Ich will aber nicht allein sein!" "Du bist auch nicht allein!" Mush suchte fieberhaft nach den richtigen Worten und verwünschte seine Unfähigkeit, sich richtig auszudrücken. Wo waren die Liedtexte, die er gelernt hatte? Hätte er nur passende Lyrik zur Hand! Energisch kämpfte er sich neben Suriyawong unter die Decke, legte ihm die Arme besitzergreifend um die unglücklich gekrümmten Schultern. "Vielleicht kann ich es nicht richtig sagen." Er holte tief Luft. "Aber, weißt du, die Welt besteht eigentlich nur aus 0 und 1. Eine Null ist zwar nichts, aber ohne die Null gäbe es keine 1. Ohne die 1 wäre die Null sinnlos, verstehst du?" Suriyawong runzelte die Stirn, lehnte dann den Kopf auf Mushs Schulter. "0 und 1 sind an und aus." Bemühte sich Mush, die Basis DER Welt, SEINER Welt, zu erklären, wobei er großzügig übersah, dass es auch andere Welten gab. "Sein oder nicht sein. Sie gehören zusammen, Suri. Keiner kann ohne den anderen sein." Verlegen nagte Mush an seiner Unterlippe, bevor er ergänzte. "Genauso ist das mit uns. Ohne dich hat es keinen Sinn, all das zu tun. Ohne dich gibt es keinen Platz für mich." Für sich allein konnte man kein Held sein. Ja, für sich allein spiele es vielleicht gar keine Rolle, ob man existierte oder nicht, wenn keiner es merkte. Suriyawong rührte sich nicht. Mush schwieg hilflos, wusste nichts mehr zu ergänzen. Für jemanden, der kaum Beziehungen aufbaute, kam seine Offenbarung einer Safari in der Wildnis gleich, ohne Karte, Schutzausrüstung und Kompass. "Was bin ich?" Murmelte Suriyawong endlich. "Huh?" Auf dem falschen Fuß ertappt wandte Mush endlich den Kopf, um das Profil seines Freundes aus der direkten Nähe zu studieren. "0 oder 1?" Präzisierte der Thai seine Frage, inspizierte scheinbar eingehend seine Fingernägel. "Oh! 1! Definitiv 1!" Platzte Mush erleichtert heraus, strahlte. "Du bist eindeutig meine Nummer 1!" Suriyawong wandte sich herum, kroch auf seinen Schoß und sah ihn unverwandt an, schweigend, ernst, konzentriert. Dann reduzierte er die Distanz, wickelte die knochigen Arme eng um Mushs Nacken, schmiegte sich in eine intime, beinahe schmerzhafte Umarmung. "Du musst kommen!" Raunte er Mush ins Ohr, rau, kehlig. "Versprich mir, dass du kommst." "Ich verspreche es." Mush lächelte, streichelte über den Rücken, der jeden Knochen und Wirbel offenbarte. "Ganz bestimmt komme ich zu dir." Sein Freund antwortete ihm nicht, sprach nichts mehr, aber er ließ auch nicht locker. Mush zupfte die Decke zurecht und liebkoste behutsam den wirren Schopf. Er beklagte sich auch nicht, dass ihm nach einer Weile die Beine einschliefen. ~~~~~~x* Tag 19 Es war eigentlich ganz simpel. Wenn man alle Fakten kannte. Nichtsdestotrotz ergaben die einzelnen Puzzleteile ein hässliches Mosaik. Kubota zog an seiner Zigarette und wartete, das Mobiltelefon in der Hand. Die Schiebetür war dünn, hing schief in den Angeln, bebte unter seinem bescheidenen Gewicht. Einer wie er setzte kein Fett an. »Und wird vermutlich auch nicht alt.« Dachte Kubota ohne innere Gefühlsbeteiligung. Auf der anderen Seite kauerte Tokitou auf den Fliesen, umklammerte mit der Linken das rechte Handgelenk, die Klaue geballt, presste die Arme eng vor den Leib, wiegte sich hin und her. Die Schmerzen waren so unerträglich, dass er am Liebsten geschrien und geheult hätte. Aber das half nicht. Nichts half. Also biss er die Zähne zusammen, atmete zischend und strengte sich an, in der weißglühenden Hölle von Pein, die seinen Kopf invahierte, nicht das Bewusstsein zu verlieren, das Gespür für sich selbst. Wenn er aufgab, wenn er sich dem Schmerz überließ, konnte er wieder im Nichts aufwachen, ausradiert, leer sein. Was um jeden Preis verhindert werden musste. Er WAR jemand! Und er WOLLTE Erinnerungen haben! An die Menschen, denen er begegnet war, ja, sogar an Kou. Vor allem aber wollte er Kubo-chan nicht vergessen. NIEMALS. So lange Kubo-chan bei ihm war, in Reichweite, seine Stimme erklang, konnte er kämpfen! Um die Person, die er seit mehr als einem Jahr war. ~~~~~~x* Der Dunkle Lord arbeitete gründlich, ja, man konnte sogar sagen: akribisch. Kubota drückte seine Zigarette aus und beugte sich vor, Details einzuprägen. "Kompliziert." Fand Tokitou an seiner Seite. Die letzte, heftige Attacke hatte ihm arg zugesetzt, er war bleich und wollte noch eine Weile warten, bis er etwas zu essen wagte. Außerdem waren sie aus der Wohnung geflogen. Illegale Haustierhaltung, bloß, weil Tokitous Krallen sich im Verputz einer Wand verewigt hatten. »Was soll's.« Kubota sammelte ihre Siebensachen ein. Wenn die Nachbarschaft sich beschwerte, dauerte es nicht lang, bis Sanadas Handlanger aus der stark dezimierten Izumo-Kai ihnen auflauerten, selbst wenn sie sich dafür auf das Territorium eines anderen Yakuza-Clans begeben mussten. "Was meinst du?" Tokitou rieb sich mit der Linken die Augen. "Ist da was dran?" Kubota lehnte sich zurück, kreuzte die Arme im Nacken und überdachte die gelieferten Informationen. Natürlich konnte es eine Falle sein. Nicht bloß, um ihn zu erledigen, sich zu rächen, auch, um Tokitou zu erwischen. Andererseits waren die Beweise, die der Dunkle Lord lieferte, um sie in seinen Plan einzuweihen, plausibel. »Und wir können Antworten bekommen.« Dachte Kubota. Antworten waren wichtig, damit er Tokitou nicht verlor. ~~~~~~x* Mush öffnete so behutsam wie möglich die Tür, was nicht ganz einfach war, da ihn Tüten behinderten. Zu seiner Überraschung schlief Suriyawong aber nicht gut geschützt in der Nische, sondern faltete ihre bescheidene Wäsche im Schein des Fernsehers, der lautlos das Zimmer erhellte. "Ich-ich habe etwas zu essen mitgebracht." Murmelte Mush verlegen. Das war natürlich nicht alleiniger Zweck seines abendlichen Ausflugs gewesen. Es gab noch lose Enden, dies und das zu tun, außerdem die Zeitverschiebung... Suriyawong kämmte Strähnen hinter die Ohren, nicht mehr wie "Dawnie" frisiert. "Ich habe schon mal gepackt." Verkündete er leise. Beklommen deponierte Mush seine Einkäufe, die hauptsächlich aus Backwaren und Obst bestanden. Er hoffte, sein Freund möge wenigstens ein wenig davon verzehren. Zögerlich breitete er den Inhalt der Tüten aus und ließ sich neben dem jungen Thai nieder, warf ihm nervöse Seitenblicke zu. Er SPÜRTE, dass etwas nicht in Ordnung war, fühlte sich aber überfordert, die genaue Ursache zu ermitteln. Schließlich fasste er sich ein Herz und murmelte. "Du bist wütend auf mich, oder?" Suriyawong wandte sich nun direkt zu ihm, starrte ihn an. Man HÄTTE diese Frage auch als Vorwurf auffassen können, doch Mushs Tonfall indizierte, dass er TATSÄCHLICH im Trüben fischte, in der vagen Hoffnung, er könne die richtige Intuition bemüht haben. Er pickte sich einen Apfel und schnupperte an der glänzenden Schale. "Ich BIN wütend, auch auf dich." Antwortete er resigniert. "Aber hauptsächlich, weil ich so ängstlich und unfähig bin." Es erleichterte in der Tat, die quälenden Emotionen in Worte einzusperren und sie aufzudecken! "Ich finde nicht, dass du ängstlich oder unfähig bist!" Stellte Mush energisch heraus, pellte eine Banane aus ihrer Schale. "Na, DU heulst aber nicht herum und jammerst..." Suriyawongs Ärger brodelte nun doch hoch. Er hatte auch seinen Stolz, und DER mochte es gar nicht, vor einem fünf Jahre jüngeren KIND so schlecht abzuschneiden! "Ich vermute mal, dass mit mir was nicht stimmt." Stellte Mush heraus und schob die Hälfte seiner Banane zu Suriyawong, hoffte, sich eine Hälfte aufgeschnittenen Apfel eintauschen zu können. "Kleiner Büffel hat das auch immer gesagt." Suriyawong akzeptierte das Angebot, musterte seinen Freund aber kritisch. "Was soll denn mit dir nicht stimmen?" "Na ja." Sichtlich verlegen rutschte Mush auf seinem Platz herum, rang mit sich, dann entschied er sich für eine Offenbarung. "Weißt du, ich wollte immer ein Held sein." Die schokoladenbraunen Augen boten Unverständnis auf, während der Thai unbeeindruckt an der Banane kaute. Zwangsläufig war hier eine Ausführung zum Thema gefragt. "Also, ich wollte das Richtige tun, verstehst du?" Mush suchte nach den treffenden Worten, die seinen inneren Antrieb transportieren sollten. "Ganz ohne Rücksicht auf Essen oder einen Schlafplatz oder Geld." Dass Suriyawong noch immer nicht folgen konnte, entging ihm keineswegs. Er zerpflückte ein Brötchen in immer kleinere Krumen. "Es ist ja so: man muss immer zuerst daran denken, was passiert, wenn man etwas verändern will. Auch wenn man weiß, dass es richtig ist, muss man sich ducken, weil es unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen könnte." Mush seufzte und stopfte einige Krümel in seinen Mund, mümmelte bedächtig, den Blick in die Ferne gerichtet. "Ich wollte ein Held sein. Das Richtige tun können ohne all die Sorgen, die einen dann doch daran hindern." "Und deshalb stimmt etwas nicht mit dir?" So ganz erschloss sich Suriyawong der Zusammenhang immer noch nicht. "Na ja...." Mush grinste vollmondig. "DAS habe ich niemandem außer dir erzählt. Kleiner Büffel meinte immer, mir fehle es an gesunder Gier, nach Reichtum und Besitz, verstehst du?" Der Thai beschränkte sich darauf, eine Birne zu zerlegen. Sie duftete verlockend, und bis jetzt hatte sein empfindlicher Magen noch nicht rebelliert, was es zu nutzen galt. "Außerdem bin ich wahrscheinlich zu dumm." Mush legte alle Karten auf den Tisch. "Ich WEISS, dass ich Angst haben sollte, aber irgendwie..." Er zuckte ratlos mit den Schultern. "Du bist bestimmt nicht dumm." Widersprach Suriyawong nachdenklich. "Im Gegenteil, du bist sehr klug und musst deshalb keine Angst haben, weil du immer einen Plan hast." Mush seufzte, wirkte seltsam erwachsen. "Suri, das ist wohl nicht der Grund, warum mit mir etwas nicht stimmt." Argumentierte er sanft, jede Beleidigung meidend. "Ich vermute, mein Herz ist nicht in Ordnung." Suriyawong beäugte ihn verwirrt und keineswegs überzeugt. "Ich habe dir nichts über meine Eltern erzählt." Mush kaute eine der teuren Trauben. "Aber ich tue es besser jetzt, damit du über mich Bescheid weißt." Deshalb berichtete er seinem Freund in knappen Worten von seiner Vergangenheit und resümierte. "Das Seltsame ist: ich weiß nicht, wer von beiden recht hatte. Und es spielt für mich keine Rolle, ob mein Vater es getan hat oder nicht. Aber das sollte es, meinst du nicht? Ich SOLLTE mich fürchten." Unterdessen hatte Suriyawong das Kauen eingestellt und studierte mit grausig-ratloser Faszination den jüngeren Chinesen. "Und jetzt?" Wisperte er schließlich. "Wie denkst du jetzt darüber?" Mush schluckte einen weiteren Bissen herunter und zuckte vielsagend mit den Schultern. "Es ist mir gleichgültig, glaube ich. Ich habe nichts mehr mit ihnen zu tun." Nach einen Moment der Besinnung fügte er aufgeräumt an. "Und das ist ganz sicher seltsam, weil die Familie das Wichtigste ist, oder?" "Meine Eltern haben mich abgeschoben, weil ich kein richtiger Junge bin!" Platzte Suriyawong heraus. "Nur mein Opa mag mich und kümmert sich um mich." "DAS ist wahrscheinlich auch der Grund, warum du NICHT seltsam bist!" Triumphierend leuchtete Mushs Vollmondgesicht auf. Suriyawong überdachte den durchaus kruden Verlauf ihrer Unterhaltung, den Blick in sich gekehrt. Möglicherweise stimmte wirklich etwas mit Mush nicht. Und DAS wiederum sollte eigentlich eine üble Angelegenheit sein, oder? "Hattest du denn keine Angst, als du diese Männer in eurem Quartier beobachtet hast?" Tastete er sich unerschrocken in das unbekannte Gelände vor, das Mushs Emotionen darstellte. Mush kaute und dachte dabei konzentriert über eine Antwort nach. "Nicht besonders viel." Wog er schließlich ab. "Ich hatte ja begriffen, was sie da taten und dass ich vorsichtig sein musste." Zögerlich kraulte er sich selbst den Nacken. "Wahrscheinlich HÄTTE ich richtig Angst haben sollen, oder?" Bemerkte er sachlich. "Bloß, wenn man weiß, was man eigentlich fühlen sollte, fühlt man es ja gar nicht richtig, sondern..." Um sich verständlich zu machen, suchte er nach einem metaphorischen Vergleich. "Das ist so, als würde man das Drehbuch kennen und genau danach vorgehen. Aber dann ist es ja auch keine ECHTE Angst, sondern ein Schauspiel, weil man ja das Drehbuch befolgen muss." Ein wenig ratlos suchte er die schokoladenbraunen Augen. Seine Erklärung konnte wohl nur die allgemeine Verwirrung in drei Sprachen potenziert haben, doch Suriyawong nickte. Es KAM ihm zumindest so vor, als hätte er ein bisschen mehr davon begriffen, WIE Mush zu reagieren pflegte. "Und als Prasom mich-mich überfallen hat?" Lotete er auf dem winzigen Pfad der Erkenntnis die Dunkelheit der Ignoranz aus. "Da war ich wütend!" Antwortete Mush ihm prompt, wie aus der Pistole geschossen. "Richtig STINKSAUER. Wie konnte der Kerl so was machen?!" Seine geballten Fäuste illustrierten die aufwallende Erregung. "Auch wenn ich seltsam bin: der gehörte MINDESTENS verdroschen!" Die Unversöhnlichkeit in seinen Augen hinderte Suriyawong daran, eine Bemerkung über negative Äußerungen zu Verstorbenen zu machen. Man sollte nicht schlecht über sie sprechen, vor allem auch, weil in diesem Fall möglicherweise Prasoms gewaltsames Ableben durch ihre Intervention gefördert worden war. Mushs Mienenspiel verriet ihm jedoch, dass hier kein Bedauern zu finden war. Was der junge Chinese von Prasom wahrgenommen hatte, schien weder Milde noch Mitgefühl zu erwecken. »Er ist noch ein Kind!« Stellte Suriyawong beklommen fest. Ein Kind, das die Welt in Gute und Böse einteilte. Wirklich? Vielleicht aber auch... "Eigentlich ist mir der Typ egal." Antwortete Mush auf die nicht formulierte Frage. "Was ICH gar nicht so seltsam finde. Disqualifiziert mich das als Held?" Erkundigte er sich interessiert bei Suriyawong. Der gestikulierte Hilflosigkeit. "Ich kenne mich mit Helden wirklich nicht aus. Aber..." Er verstummte. "Ja?" Mush drängte ihm eine gepellte Mandarine auf. "Sag's mir bitte!" "Nun ja." Verzögerte Suriyawong eine Antwort, knetete nervös seine Hände. "Ich glaube, du solltest denken, dass dir alle Menschen wichtig sein müssen." "Das ist aber ziemlich unlogisch." Konstatierte Mush versonnen. "Ich kenne die doch gar nicht alle und ich kann mich ja auch nicht um alles und jeden kümmern, sonst komme ich ja zu gar nichts!" Eine nüchterne, zutreffende und überhaupt nicht heldenhaft-naive Replik. Suriyawong wusste nicht weiter und schwieg verunsichert. Konnte er sich wirklich auf Mush verlassen? Auf dieses Kind mit einer hässlichen Biographie und einem SELTSAMEN Gefühlsleben? Was mochte er überhaupt an diesem Jungen? Zugegeben, gerade Mushs unerschütterliche Rationalität hatte ihn mehrfach gerettet, außerdem freute er sich auf ihre elektronische Konversation. Bis jetzt verstanden sie sich ja wirklich gut, oder? Er zog die sehnigen Beine vor den Leib und umarmte sie, das Kinn auf die spitzen Knie gesenkt. Mush war ihm körperlich näher gekommen als jeder andere Mensch zuvor. Und er hatte es zugelassen. Es hatte sich nicht falsch angefühlt und recht häufig, das rechnete er sich selbst zu, neigte er zu spontanen Entscheidungen. Vermutlich mochte Mush ihn. Im Moment. Doch wenn er seine Meinung änderte, was dann? Würde Mush ihn auch einfach so beiseite schieben wie seine Eltern, die tote Schwester, den Kleinen Büffel? Der Gedanke ließ ihn heftig erschauern. "Suri?" Mush wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht. "He, was ist los?" Das Vollmondgesicht spiegelte die konzentrierte Sorge. Die geballte Aufmerksamkeit auf ihn fokussiert wirkte fast bedrohlich. Suriyawong verstärkte die Umklammerung seiner Beine und musterte seinerseits den Freund sezierend. "Was passiert, wenn du mich nicht mehr magst?" Formulierte er schließlich, Silbe für Silbe, die kritische Frage. Mush runzelte verwirrt die Stirn, kräuselte die dünnen Augenbrauen. "Aber... ich mag dich! Immer!" Platzte er perplex über diese unerwartete Richtung ihres Gesprächs hinaus. "Hast du deine Mutter denn nicht mehr gemocht?" Suriyawong wollte keine Gefangenen machen. Wenn sie sich morgen trennen mussten, BRAUCHTE er eine Gewissheit. Vor ihm blinzelte Mush, versuchte zu begreifen, in welche Richtung die Unterhaltung wanderte. "Na, ich mochte sie schon. Nicht so sehr wie dich." Fügte er grundehrlich an. "Schätze, sie mochte mich auch nur ein bisschen. Aber..." Er gestikulierte hilflos. "Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll! Wir waren eben einfach da, wo wir waren, verstehst du? Mögen oder nicht mögen spielte keine Rolle!" Auf einer gewissen Ebene konnte Suriyawong seinem Freund durchaus folgen. Auch er hatte schließlich Eltern und jüngere Geschwister, das ließ sich nicht leugnen. Doch seine Eltern zögerten nicht, ihn wissen zu lassen, dass sie ihn nicht akzeptieren konnten. Sie KONNTEN einen missgestaltigen Sohn einfach nicht lieben. Das machte sein Leben nicht leichter und tat sehr weh, doch er wusste wenigstens, woran er war, was er erwarten und erhoffen konnte. Und was nicht. "Gab es denn niemanden, den du wirklich gern hattest?" Suriyawong ließ nicht nach. Wenn er sich auf Mushs Gefühle verließ, wollte er sie ergründen, bevor er sich rettungslos darin verlor. Mush streckte eine Hand aus und streichelte, etwas unbeholfen, über Suriyawongs Wange, arrangierte lose Strähnen auf ihren gewohnten Verbannungsplatz hinter der Ohrmuschel. "Ich mag dich sehr." Flüsterte er, hilflos grimassierend. "DU bist die Person, die ich gern habe." Suriyawong erwiderte nichts. Nun HATTE er zwar seine Versicherung, die dunkelrote Flecken der Verlegenheit auf das Vollmondgesicht zauberte, aber sicheren Grund fühlte er keineswegs unter seinen Füßen. »WAS will ich denn noch MEHR?!« Ärgerte er sich über seine eigenen Gefühlswirrwarr, denn er mochte Mush ja auch! Warum also dieses Zögern?! Mush jedenfalls hatte er nun WIRKLICH verunsichert. Er mochte Suri sehr gern, besonders gern, mehr als jeden anderen! Und Suri mochte ihn doch auch, oder? Vielleicht hatte er es nicht richtig gemacht. Menschen waren schwieriger, hatten keine eindeutige Programmierung, das wusste ja jeder, der mal gegen Computer und gegen menschliche Spieler angetreten war! »Das liegt vermutlich daran, dass ich seltsam bin.« Urteilte Mush entschieden. »Ich habe die Regeln nicht beachtet!« Wobei er sich gar nicht mal so sicher war, WELCHE Regeln er beachten sollte. "Suri!" Entschlossen legte er die Hände auf die dünnen Unterarme des Freundes. "Kannst du mir nicht einen Tipp geben? Was ich nicht richtig gemacht habe? Wirklich, ich habe dich sehr SEHR SEEEEHHHR gern! Was muss ich da tun?" Sein ernsthaft-eifriger Gesichtsausdruck kombiniert mit dieser erschütternd aufrichtigen Offenbarung entlockte Suriyawong ein hilfloses Ächzen. Die Konzentrationsfalten in Mushs Stirn vertieften sich, aber er verspürte keinen Anflug von Furcht, sondern eine verstärkte Entschiedenheit. Er kaperte die eleganten Hände einfach und hielt sie fest. "Hör mal, es ist nicht wie mit einem Drehbuch, verstehst du? Ich MAG dich, von den Haaren bis zu den Zehen, ganz einfach so, ohne erst darüber nachzudenken! Ich hab dich lieb, überall, wie eine Haut um mich herum..." Mush hielt inne, ärgerlich, weil es scheinbar nicht die richtigen Worte gab, um das Gefühl zu beschreiben. "Ich weiß nicht, wie ich's erklären soll, verdammt!" Fluchte er. "Suri, kannst du's nicht auch so verstehen?" DAS klang wieder so hilflos-kindlich, dass Suriyawong herauslachte, schrill, angespannt, leicht schniefend. "Ich weiß auch nicht!" Murmelte der Thai, entzog Mush seine Hände, entfaltete seine Glieder und schlang die Arme um dessen Nacken. "Ich weiß auch nicht, Mush!" "Oh..." Mush umarmte seinen Freund verwirrt. "Hast du vielleicht Angst? Das brauchst du nicht, Suri! Ich bringe alles in Ordnung und komme dann zu dir." Das KLANG so EINFACH! "Und wenn nicht?" Krächzte Suriyawong und presste sich noch enger an den jungen Chinesen. "Ganz bestimmt!" Betonte Mush mit dem Brustton der Überzeugung. "Ich schaffe das! Hab keine Angst, ja?" Suriyawong seufzte/ächzte. "Das ist nicht so einfach." Murmelte Suriyawong, gegen seinen Willen schmunzelnd. "Ich passe auf, Ehrenwort!" Gelobte Mush eilig, drückte einen Kuss auf die erreichbare Wange. "Ich brauche dich doch, das weißt du ja! Ohne 1 bin ich nicht mal eine 0, sondern nichts." DAS war eine typische Mush-Liebeserklärung, poetisch-simpel und so direkt vorgebracht, dass Suriyawong an Mushs Stelle errötete. Suriyawong brachte mit Kloß im Hals kein Wort mehr heraus, revanchierte sich mit einem Kuss auf die runde Wange seines Freundes. "Ich verstehe nicht viel von dem, was man tut, wenn man jemanden sehr gern hat." Mush streichelte behutsam über den knochigen Rücken. "Bitte hilf mir dabei, ja?" "...okay." Krächzte Suriyawong und verstärkte seine Umklammerung, verkroch sich in der tröstlichen Wärme und Selbstsicherheit, die Mush verströmte. In einer anderen Welt hätte wahrscheinlich das Eine zu DEM Anderen geführt. In dieser Welt dirigierte Mush sie vorsichtig auf die Beine, einen ungelenken Tanz veranstaltend, bis sie unter die Decke kriechen konnten. Einander zugewandt hielten sie sich an den Händen, die Beine ineinander verwickelt, betrachteten sich stumm. Immer mal wieder verstärkten sie abwechselnd den Händedruck, vor Müdigkeit blinzelnd, nicht bereit, sich einfach geschlagen zu geben. Noch ein wenig mehr Zeit zusammen... ~~~~~~x* Tag 20 "Ich mach das schon." Chai schüttelte Mr. Wong alias Mush die Hand und nickte ernsthaft. Wenn er auch nicht sonderlich viel von dieser merkwürdigen »Wild Adapter«-Geschichte hielt, so spürte er doch, dass der Chinese sehr besorgt um seinen Freund war. Suriyawong stand neben ihm, dick eingemummelt und lediglich durch die Blütenspange in seinem schwarzen Haar als Mrs. Wong kenntlich. Bleich, in sich gekehrt, so aufrecht wie ein Zollstock. "Ich hab alles aufgeschrieben." Mush wandte sich an Suriyawong. "Es wird alles gutgehen, versprochen!" Der Thai nickte bloß knapp. Über ihnen ermahnte eine Frauenstimme, dass der ICE von Gleis 4 über Frankfurt Flughafen in Kürze abfahren würde. Chai warf Mush einen Blick zu und erinnerte auf Thai. "Der Zug fährt ab." Ein Zittern lief durch Suriyawong, doch dann hatte er sich wieder im Griff. Mush, der nichts verstand, lächelte aufmunternd. "Ich komme bestimmt." Versprach er erneut. Das Signal ertönte, Türen schlossen sich. Suriyawong stand weiterhin wie angenagelt auf dem Bahnsteig, blickte hoch in den Zug. Mush hob die Hand, winkte verlegen, der Zug fuhr an. Chai warf einen beunruhigten Seitenblick auf den jüngeren Thai, der stocksteif neben ihm verharrte. Er fasste hastig zu, als Suriyawong leicht schwankte, stützte ihn, bis der wieder auf eigenen Füßen stand. Erst lange, nachdem von dem ICE nichts mehr zu sehen war, konnte Chai ihn zu einem kleinen Steh-Café führen. Er bugsierte ihn auf einen der hohen Hocker, besorgte dann Kaffee mit einer Überdosis an Zuckerpäckchen. Chai ließ sich nieder, rührte den Zucker in Suriyawongs Kaffee und forderte ihn streng auf, sofort etwas zu trinken. Zu seiner Erleichterung gehorchte Suriyawong und schluckte heftig. "Geht's dir besser?" Erkundigte Chai sich aufmerksam. Suriyawong drehte den Kopf zur Seite und starrte auf die Gleise, den Trubel. Dann schüttelte er stumm den Kopf. »Na herrlich!« Grummelte Chai inwendig, denn der Plan, den er mit Mr. Wong abgestimmt hatte, sah vor, dass er Suriyawong so lange Gesellschaft leistete, bis er ihn zum Rückflug nach Bangkok um 17:20 Uhr an Bord des Flugzeugs entlassen konnte. Und jetzt war es noch nicht mal zehn Uhr! "Wie bist du überhaupt auf diesen Burschen gestoßen?" Versuchte er sich in lockerer Konversation. Es stand nämlich zu befürchten, dass Suriyawong zusammenbrach, wenn er nicht endlich einen Teil des seelischen Drucks entweichen ließ. In einem tranceähnlichen Zustand, noch immer den Blick ins Leere gerichtet, erzählte Suriyawong ihm mit kaum hörbarer Stimme von seiner elektronischen Annonce, von Makruk und fremden Schriftzeichen, von Freundschaft ohne Ablenkung durch die äußere Erscheinung. "Und er ist wirklich ein Hacker?" Chai konnte das nicht in Einklang bringen mit Mr. Wong. Wie überhaupt die gesamte Sache seltsam märchenhaft anmutete. "Er ist erst 15!" Schnaubte Suriyawong, plötzlich agitiert, wandte ihm den Kopf zu. "Und noch ein Kind! Er weiß nicht mal, wie es ist, Todesangst zu haben!" Chai griff zu, bevor Suriyawongs zittrige Hände für Bruch sorgen konnten, hielt sie fest. "Ich kann nichts tun." Wisperte Suriyawong untröstlich, starrte auf die zerkratzte Tischplatte. "Kann ihm nicht helfen. Alles ist so furchtbar, und ich kann NICHTS tun!" "Ganz ruhig!" Murmelte Chai beschwörend, denn er wollte nicht unnötig Aufmerksamkeit auf sie ziehen. Zwar konnte niemand der anderen Gäste verstehen, was sie sprachen, aber eine mutmaßlich junge Frau aufgelöst und dazu ein männlicher Begleiter, der ständig abzuwiegeln versuchte... Da mischte sich mancher "Retter" schon mal ein. "Glaubst du, dass du seine Anweisungen erfüllen kannst?" Wollte er ablenken und Suriyawong ein wenig Zuversicht einflößen. "Ja, wahrscheinlich." Suriyawong entzog ihm eine Hand und tupfte sich elegant Tränen aus den Augenwinkeln. Er wirkte nun müde und ausgezehrt, viel älter als seine gerade 20 Jahre. "Ich muss Vertrauen haben." Beschwor er sich selbst kläglich. Und schon wieder perlten Tränen aus den nunmehr rotstichigen Augen. Chai seufzte lautlos und reichte ein Taschentuch über den Tisch. "Erzähl mir doch einfach alles." Schlug er vor, nicht, weil er WIRKLICH hören wollte, was passiert war (denn Mr. Wongs Andeutungen hatten schon gereicht, ihm Übelkeit zu verursachen), aber es würde Suriyawong vielleicht von einem Teil der Last befreien. Wenn man etwas in Worte kleidete, verlor es an Gewicht, war nicht länger unfassbar, unerträglich, unbeherrschbar. ~~~~~~x* Mush erreichte mit leichter Verspätung seinen Zielpunkt, den Flughafen-Bahnhof. Nur leichtes Gepäck zur Aufbewahrung, kein Handgepäck, denn er wollte Schwierigkeiten aus dem Weg gehen. Rund drei Stunden Zeit noch, bis der gewaltige Flieger Richtung Fernost abheben würde. Mush ließ sich nach dem Einchecken und den strengen Kontrollen auf einen freien Sitz fallen und schloss die Augen. Die Müdigkeit würde wieder vergehen, aber hier und jetzt, wo es nichts zu tun gab, konnte er noch einmal jedes Detail seines Planes durchgehen. Es war eine sehr lange Liste. Pünktlich um 13:30 Uhr hob dann der gewaltigste Airbus der Flotte ab, um einen Tag später gegen 8:30 Uhr Ortszeit auf dem internationalen Flughafen Narita im Großraum Tokio zu landen. Mr. Wong, Besitzer eines SAR-Reisepasses für Hongkong, sammelte sein leichtes Gepäck ein. Mit einer Blankokartenkopie zog er an einem Automaten Bargeld in der Landeswährung, dann erstand er einige Snacks, eine große Flasche Tee und eine Atemschutzmaske. Zeit, sich einen "Spielplatz" zu suchen, bevor er herausfinden musste, wie man eine Fahrkarte nach Yokohama löste. ~~~~~~x* Als sie aufgestanden waren, hatte Chai eher unbewusst seinen Arm angeboten und Suriyawong hatte sich eingehakt. Sie waren ziellos flaniert, gleichgültig für die unerfreulich kalte Witterung. Chai wusste nichts mehr zu sagen, zumindest nichts, was nach diesen Schilderungen angemessen gewesen wäre. So, wie er sich nun ein anderes Bild von Mr. Wong machte, fiel es schwer, seinem jüngeren Begleiter Mut zuzusprechen. Tatsächlich konnte einem die ignorante Vorgehensweise des jungen Chinesen angst und bange machen. Andererseits vermutete er mangels persönlicher Erfahrung, dass Hacker irgendwie alle ein wenig seltsam waren. Nicht immer im Kontakt mit der Wirklichkeit, in der alle anderen Leute lebten. Suriyawong wanderte stumm neben ihm her, in sich gekehrt, weniger entschlossen als resigniert. Um wenigstens für das leibliche Wohl zu sorgen, führte Chai ihn in ein gemütliches thailändisches Restaurant aus, das einen guten Mittagstisch zu Vorzugspreisen anbot. Suriyawong schnupperte und holte so tief Luft, als wolle er sich kugelrund aufblasen. Chai grinste unverhohlen. "Gut, hm?" Neckte er seinen Begleiter, der ohne die Winterschutzhülle erschreckend zerbrechlich wirkte. "Ich kann nicht verstehen." Suriyawong biss sich auf die Lippe, um die Kritik, die ihm sichtlich auf der Zunge lag, herunterzuschlucken. "Was kannst du nicht verstehen? Nur keine Scheu!" Lockte Chai ihn, der genüsslich zugriff und die Geschmacksvielfalt genoss. Vielleicht war es nicht GENAU wie in Thailand, aber verflixt nahe dran! "Wie kannst du nur hier leben? Es gibt keine Sonne, es ist kalt und nass, immer dunkel!" Suriyawong schauderte sichtlich. Chai konterte mit einem herzlichen Auflachen. "He, es ist gerade Winter. Zumindest schon meteorologisch!" Für Suriyawong, das sagte ihm ein rascher Seitenblick, offenkundig ein Wort ohne Erfahrungswerte. "Du würdest es verstehen, wenn du hier zuerst den Herbst erlebt hättest" Chai lächelte nun offen. "Und dann die ersten Schneeflocken mit der Zunge auffängst. Die Wärme ist immer da, erst in den Herbstfarben, dann in den festlich geschmückten und erleuchteten Fenstern. Wenn man zusammensitzt und etwas Heißes trinkt." Suriyawong erwiderte seinen sehnsüchtigen Blick teils skeptisch, teils ratlos. "Irgendwann mal kommst du vielleicht noch mal hierher. Dann wirst du es erleben, bestimmt. Die Jahreszeiten hier sind anders, aber auf ihre Weise auch schön." Chai zwinkerte. Sein Begleiter ersparte sich eine Antwort. Im Augenblick hätte Suriyawong alles dafür gegeben, sicher und geborgen in Pattaya bei seinem Großvater sein zu können. ~~~~~~x* Die Bahnfahrt von Köln zum Flughafen Düsseldorf mit dem Regionalexpress verlief ereignislos. Chai begleitete Suriyawong bis zum Einchecken, drückte ihm dann einen einfach gefalteten Zettel in die Hand. "Das ist die Anschrift von Verwandten in Bangkok. Wenn du Hilfe brauchst, melde dich bei ihnen, ja?" Suriyawong biss sich auf die Lippen, ein untrügliches Zeichen für heftige Gemütsbewegungen. Ein besonders respektvoller Wai ersetzte die Antwort. Chai lächelte, erwiderte den Gruß und drückte spontan Suriyawongs Hände. "Nur Mut! Du bist nicht allein." Versicherte er ihm aufmunternd. Wieder rang Suriyawong mit sich, bevor er heiser mit belegter Stimme formulierte. "Bitte entschuldige, dass ich mich so schlecht benommen habe. Ich bedaure meine Unverschämtheit sehr." "Schon in Ordnung." Beruhigte Chai gutmütig. "Ich war ja auch ziemlich gemein. Das gleicht sich aus." "Danke." Wisperte Suriyawong, löste seine eleganten Hände aus ihrer Verbindung, brachte Distanz zwischen sie. "Vielen Dank. Vielen Dank." Verlegen wedelte Chai mit der Hand. "Ja, ja, schon gut! Komm jedenfalls gut an. Irgendwann würde ich gern wissen, wie die Sache ausgegangen ist." Suriyawong nickte bloß, blinzelte, wollte nicht vor Angst und Anspannung in Tränen ausbrechen. Er zwang sich zu einer besonders aufrechten Haltung, legte sich strenge Disziplin auf. Mit einem letzten Gruß verabschiedete er sich, dann kehrte er Chai den Rücken zu. »Jetzt bin ich ganz allein.« Er war sich gar nicht sicher, ob er sein Leben ohne Hilfe meistern konnte. ~~~~~~x* »Ich WILL nicht!« Dachte Felix Haasenkempp, trommelte verstohlen mit den besockten Füßen auf die Matratze, die er bäuchlings belag. Natürlich KONNTE er. Gar keine Frage. Aber er würde nicht. »Und wenn sie sich auf den Kopf stellt!« Zürnte er stumm. ALLE redeten von dem Krippenspiel. Selbstverständlich wollte er es auch sehen, immerhin war es DAS Ereignis. Wahrscheinlich würde jeder einzelne seiner Klassenkameraden da sein. Felix grollte und presste den Kätzchenschlüsselanhänger fester in seine kleinen Fäuste. Der Anhänger erinnerte ihn an Käpten. Nun gut, das Blau war vielleicht ein wenig ZU strahlend und das Orange der Katzenaugen tendenziell grünstichig, aber der Gedanke zählte! "Ich geh nicht mit!" Verkündete er der Matratze entschlossen. Es verhielt sich keineswegs so, dass er einfach schmollte. Oh nein, als Erstklässler tat man das nicht! Er hatte Gründe. Gewichtige Gründe. Wütend funkelte er die halb geöffnete Zimmertür an. Es drang mal wieder Musik hinein, begleitet von einer nicht sonderlich treffsicheren Frauenstimme, die diesen Makel mit Enthusiasmus auszugleichen versuchte. "I can't go any further than this I want you so badly, it's my biggest wish I spent my time just thinkin thinkin thinkin 'bout you every single day yes, I'm really missin' missin' you and all those things we used to used to used to do hey girl, what's up, it used to be just me and you I spent my time just thinkin' thinkin' thinkin' bout you every single day, yes I'm really missin' missin' you and all those things we used to used to used to do hey girl what's up, what's up, what's up, what's up Meet me halfway, right at the borderline that's where I'm gonna wait, for you I'll be lookin out, night'n'day took my heart to the limit, and this is where I'll stay I can't go any further than this I want you so bad it's my only wish Girl, I travel round the world and even sail the seven seas across the universe I go to other galaxies just tell me where to go, just tell me where you wanna meet I navigate myself myself to take me where you be cause girl I want, I, I, I want you right now I travel uptown (town) I travel downtown wanna to have you around (round) like every single day I love you alway..way Can you meet me halfway (I'll meet you halfway) right at the borderline that's where I'm gonna wait, for you I'll be lookin out, night n'day took my heart to the limit, and this is where I'll stay I can't go any further than this I want you so bad it's my only wish I can't go any further than this I want you so bad it's my only wish Let's walk the bridge, to the other side just you and I (just you and I) I will fly, I'll fly the skies, for you and I (for you and I) I will try, until I die, for you and I, for you and I, for for you and I, for for you and I, for for you and I, for you and I Can you meet me halfway Can you meet me halfway Can you meet me halfway Can you meet me halfway meet me halfway, right at the borderline that's where I'm gonna wait, for you I'll be lookin out, night n'day took my heart to the limit, and this is where I'll stay I can't go any further than this I want you so bad it's my only wish I can't go any further than this I want you so bad it's my only wish" ("Meet me halfway" von den Black Eyed Peas) "GRAU-EN-HAFT!" Zischte er erbost. Seine Mutter behauptete standhaft, es sei "ihr" Lied, wobei sie den Stinkstiefel Sergej meinte. Er fand das Lied nervtötend und kitschig. Vom Stinkstiefel Sergej gar nicht zu sprechen. Der war unter anderem ein Grund dafür, NICHT zum Krippenspiel zu gehen. Auch wenn dort mit Hilfe von Legofiguren die Weihnachtsgeschichte nachgestellt wurde und man auf eine große Leinwand gucken konnte wie im Kino. "Zieh dir was über, Felix!" Ermahnte ihn seine Mutter lärmend. Sie trällerte immer noch. "Pah!" Schnaubte Felix und betrommelte seine Matratze. Er würde nicht mitgehen, auf keinen Fall! "Warum trödelst du hier rum?!" Ärgerlich fegte seine Mutter herein. Silvana Radomiroff, geschiedene Haasenkempp, die sich wie ein blöder Teenie verhielt und auch "absolut unpassend ausstaffierte." DAS hatte er von jemanden gelernt, der viel besser als jeder der dämlichen Vampire war, für die seine Mutter so schwärmte. Felix hingegen liebte besondere Worte und Begriffe. "Ausstaffieren" gefiel ihm besonders, weil es so herrlich zu den unterschiedlichen, dünnen Stofffähnchen passte, mit denen sich seine Mutter neuerdings zu dekorieren pflegte. "Los doch, steh endlich auf! Sergej ist gleich hier!" Drängte sie energisch. "Nein." Verkündete Felix entschieden. "Ich gehe nicht mit." Seine Mutter funkelte wütend. "Und OB du mitgehst! Hoch mit dir!" Sie zerrte an seinem Arm. Felix wehrte sich mit verbissener Wut, indem er seinen Arm aus ihrem Griff zu befreien suchte. Er war schließlich kein Schläger oder Beißer! "Werde ich nicht!" Zischte er zwischen aufeinander reibenden Zähnen hindurch. "Ich geh nicht mit!" "Sergej kommt extra deinetwegen!" Seine Mutter zerrte noch immer, konnte aber nicht ihre ganze Kraft einsetzen, da sie sich sonst die kostspielig manikürten Fingernägel abgebrochen hätte. "Stimmt nicht!" Antwortete Felix sehr höflich, der lieber "Quatsch mit Soße!" gerufen hätte, aber sich seiner Würde sehr bewusst war. "Der kommt nur zu dir!" "Tut er nicht!" Nun fauchte seine Mutter mit zusammengekniffenen Augen wie ein Tier. "Und wenn du nicht SOFORT gehorchst, dann sage ich Opa, dass er den Baukasten gar nicht erst zu kaufen braucht!" Felix erwiderte ihren Blick mit kindlicher Verachtung. "Das ist mir gleich!" Verkündete er eine große Lüge sehr entschlossen. Er WOLLTE so gern den Baukasten bekommen, mit dem man verschiedene chemische Versuche durchführen konnte. Das war unendlich besser als die blöden Fernlenkautos und albernen Plastikspielzeuge, die der Stinkstiefel Sergej ihm aufnötigte. Bestechung, so hieß das. Felix hatte es sich eigens erklären lassen, nachdem er Herrn Robert die Lage geschildert hatte. Wenn man ungefragt Dinge bekam, damit man etwas tat, was man nicht gar nicht tun wollte. Herr Robert hatte ihm das sehr plastisch erklärt: man schleimte sich ein, ganz glibberig, um dann später sagen zu können, dass eine Hand die andere schmierte. EKELIG! Felix konnte Stinkstiefel Sergej nicht leiden. Noch bevor der sich auf ihn konzentrierte. "Spontan-Allergie." Hatte Mirko, der Zivildienstleistende im Kindergarten dann immer fachmännisch geurteilt. Man kam, sah und speite. Woher dieses leicht angepasste ("adaptiert", sagte Herr Robert und präsentierte ihm einen Stecker, um das Prinzip zu demonstrieren) Motto rührte, wusste Felix selbstverständlich. Sein Papa besaß nämlich eine komplette Sammlung der alten "Asterix und Obelix"-Alben! Darin lasen sie häufig gemeinsam und schwelgten in Kuriosita (noch ein Wort von Herrn Robert!). Schon komisch, dass die Römer gar nicht "Römisch", sondern Latein sprachen! Heute benutzte man ihre Buchstaben, obwohl die meisten Leute gar keine Römer waren (ausgenommen die männlichen Bewohner der Stadt Rom). Andererseits hatte man ja auch arabische Zahlen übernommen, was nicht als "geklaut" galt! Hatte damals eigentlich jemand nach dem Ko-Pi-Raid gefragt? Was das GENAU war, wusste Felix nicht, aber man musste höllisch aufpassen, dass man nicht, wenn man Wiki befragte, auf fiese Seiten gelockt wurde, die einem ganz viel Geld stahlen für etwas, was man gar nicht wollte. »Blöde Musik zum Beispiel!« "Na toll! Dann bleib eben hier!" Brüllte seine Mutter entnervt, denn sie kannte die entschlossen-trotzige Miene ihres Filius. Zwang würde nur dazu führen, dass Felix sich auf andere Weise so produzierte, dass sie Sergej in die Flucht schlug! "Ich merk mir das!" Zischte sie wütend, nahm unbewusst den gleichen Ausdruck wie Felix an. "Den Baukasten kannst du vergessen!" Damit knallte sie wütend die Zimmertür hinter sich zu. Auf dem Laminat trommelten ihre hohen Stiefelabsätze Stakkato, das sich entfernte. Kurz darauf hörte Felix sie flöten, mutmaßlich anlässlich der Ankunft des Stinkstiefels. »Spei!« Dachte Felix finsteren Gemüts. »Kübel, kotz, brech, würg, spuck, spei!« Danach fühlte er sich schon ein wenig besser. Die Wohnungstür rummste laut ins Schloss. Wenigstens hatte der blöde Stinkstiefel darauf verzichtet, ihm einen seiner aufdringlichen Vorträge zu halten. Felix wusste nicht genau, was der Miesling damit beabsichtigte, denn er HATTE einen Papa und wollte sich nicht vom Lebensabschnittsbegleiter seiner Mutter belehren lassen. "Ich weiß selbst, was ich tue." Verkündete er seinem Zimmer. Er war schließlich nicht blöd! Dass Eltern geschieden waren und neue "Freunde" suchten, war ihm durchaus nicht neu. Er hätte ja auch gar nichts dagegen gehabt, wenn seine Mutter einen neuen Freund fände, der nett war. Bloß: dieser Sergej war ein Stinkstiefel, tat so, als hätte er bei ihm was zu melden. »Kommt nicht in die Tüte!« Felix war von seinem Entschluss nicht abzubringen. Zum Beispiel Herr Robert, der Freund seines Papas, war ganz große Klasse! Und viel besser als jeder Vampir! Er wusste Bescheid, hatte Käpten vom Dach gerettet und besaß ein Schlaraffenland. Dazu kannte er viele "kuriose" Worte und erklärte ihm alles. Außerdem redete Herr Robert nicht mit ihm, als wäre er sein Vater. »Und er bringt ihm keine doofen Lieder bei!« Geübt füllte er seinen stabilen Rucksack. DAS war wichtig, denn Felix VERABSCHEUTE grässliches Gesinge! ~~~~~~x* Tag 21 Robert von Lauritz verabschiedete seine treue Mitarbeiterin Frau Veskovic in die kalte, vor allem aber nasse Dunkelheit des Frühabends. Die wenige Kundschaft, die nach 18 Uhr noch sein Delikatessengeschäft aufsuchte, konnte er ohne ihre Unterstützung bedienen. Während er noch altmodisch auf einem Block notierte, was aufgestockt werden sollte, Lieferzeiten kontemplierte und Mengenangaben kalkulierte, betrat ein Wichtel mit gewaltigem Rucksack sein zurückhaltend-elegantes Geschäft. Robert lupfte eine Augenbraue hinter der randlosen Brille, deponierte seine Notizen und beugte sich über den Tresen. Der Wichtel war dick verpackt, eine bebommelte Mütze mit Ohrenklappen und ein gewaltiger Schal verbargen Gesichtszüge gründlich. "Felix?" Er beugte sich weit über den Tresen, eine schlanke, hochgewachsene Gestalt mit einem üppigen Haarschopf, häufig schwarz gekleidet in Abstimmung mit seiner Haarfarbe. "Ist es nicht ein bisschen spät für eine Exkursion?" "Herr Robert!" Energisch wurden Handschuhe abgezupft und in bauchigen Anoraktaschen verstaut, bevor kleine Hände ein rundes, flächiges Gesicht freilegten. "Herr Robert, ich bin weg-gebrannt!" "Tatsächlich?" Kommentierte Herr Robert mit einem winzigen Zucken in den Mundwinkeln. "Ich glaube, du meinst durch-gebrannt." Felix lupfte die Mütze, bot einen gründlich zerrupften Schopf, dessen igelartige Strähnen sehr an seinen Vater erinnerten, zog die Stirn kraus. "Durchgebrannt? Obwohl ich doch weg bin?" "Durchgebrannt." Herr Robert kam um seinen niedrigen Tresen herum, ging vor Felix in die Hocke, damit der sich nicht so verrenken musste, um ihm ins Gesicht zu sehen. "Durchgebrannt wie der Faden bei einer Glühbirne." "Das verstehe ich nicht." Bekannte Felix ernsthaft. Herr Robert richtete sich zu seinen luftigen 1,90m auf. "Nun, ich bin sicher, dass ich dir das Prinzip demonstrieren kann. Doch zuerst möchte ich dich gern zu einem Kakao einladen. Erweist du mir die Ehre?" Felix strahlte, die Backen röteten sich. Vertrauensvoll schob er seine kleine Hand in die elegante, große. "Sehr gern, Herr Robert. Kakao ist nie verkehrt." "Das meine ich auch." Beschied Herr Robert lächelnd und führte seinen kleinen Freund in das kleine Separee. Zu seinem steten Erstaunen verstand er sich wirklich blendend mit dem Sohn seines Liebsten, obwohl Kinder ihm ein Rätsel waren. ~~~~~~x* "Glühbirnen?!" Jun Nikolaus Haasenkempp, staatlich geprüfter Steuerberater, momentan aber eher durch familiäre Umstände LEID-geprüft, warf einen alarmierten Blick auf seinen Lebensgefährten, in dessen Mundwinkeln es amüsiert zuckte. Felix beachtete diese stumme Kommunikation nicht weiter, sondern setzte seinen begeisterten Vortrag fort. "Genau! Herr Robert hat mir die Glühbirne gezeigt! Da ist ein Glühfaden drin, der brennt, wusstest du das? Und wenn's zu heiß wird, dann-SPROOOINNG!-springt er ab! Das bedeutet dann, er ist durchgebrannt, weil er ENTZWEI ist! Also aus einem Glühfaden werden zwei kaputte...nein, DEFEKTE Glühfadenteile!" Jun starrte auf das rosig leuchtende Gesicht seines Sohnes hinab. »Das Kind ist erst sechs Jahre alt!« Dachte er einmal wieder perplex. »Wieso merkt er sich solche Worte?!« Sein Sohn, den er über alles auf der Welt liebte, war ihm manchmal ein Mysterium. "Ich bin übrigens durch-gebrannt." Erläuterte Felix, während er seinen Rucksack entleerte, einen Schlafanzug auspackte. "Obwohl ich noch ganz bin." "Was?!" Jun ging neben Felix in die Hocke, ignorierte verzweifelt Robert, der nonchalant mit verschränkten Armen im Türrahmen lehnte. "Wie bitte." Korrigierte Felix vorwurfsvoll-nachsichtig. "Aber es ist keine Hitze dabei." Ergänzte er entschieden. "Obwohl ich leide. Das zählt doch auch, oder?" Nun suchte sein Blick leicht verunsichert Herrn Robert. Der nickte gravitätisch und sprang artig ein. "In der Tat. Durchbrennen ist häufig das Resultat einer hitzigen, mit Leidenschaft geführten Auseinandersetzung. Man flieht vor den Oppressionen der Gesellschaft." "Deshalb ist es auch wie bei der Glühbirne." Ergänzte Felix eifrig. "Mir ist mein Geduldsfaden durchgebrannt!" "Oh nein!" Ächzte Jun und richtete sich auf. "Du bist weggelaufen?! Was ist mit Silvana?! Weiß deine Mutter Bescheid, Felix?!" "Klar!" Schnaubte Felix abschätzig. "Ich habe ihr aufgeschrieben, dass ich weg bin. Sie wollte mich zwingen, mit dem blöden Stinkstiefel zum Krippenspiel zu gehen!" Empört blickte er zu seinem Vater auf, suchte Unterstützung und Solidarität. "Großer Gott!" Stöhnte Jun. "Sie wird durchdrehen!" "Glaub ich nicht." Ungerührt transportierte Felix seinen Schlafanzug im zugestellten Schlafzimmer seines Vaters, wo er auf einem Reisebett zu übernachten pflegte. "Sie ist mit dem Stinkstiefel beschäftigt." "Bitte nenn ihn nicht so." Intervenierte Jun hilflos. "Das ist keine Beleidigung." Stellte Felix, streiterprobt seit den ersten Tagen im progressiven Naturkindergarten, fest. "Sondern eine Beschreibung. Der stinkt. Von oben bis unten. Spei!" Jun wandte den Kopf, denn er glaubte, hinter sich ein Glucksen gehört zu haben. Robert blickte BESONDERS aufmerksam-artig. "Aber du kannst doch nicht einfach weglaufen!" Kehrte er an die eigentliche Front zurück. "Bin ich ja auch gar nicht." Felix kletterte auf das Reisebett und blickte seinen Vater ernsthaft an. "Ich habe genau nachgedacht, was ich mitnehme. Und ich habe eine Nachricht hinterlassen." "Welche denn genau?" Jun versuchte noch immer, Herr der Lage zu werden. Es sah allerdings nach einer herben Enttäuschung aus. "'Ich bin weg'." Zitierte Felix bereitwillig. "Ich kenne ja schon die ganzen Buchstaben." Das konnte sein Papa wohl kaum in Zweifel ziehen, denn er hatte ihm ein ganzes Blatt damit gefüllt. In alle verfügbaren Kästchen. Wer hätte auch annehmen können, dass es der letzte Papierbogen für eine Steuererklärung war? "Au weia." Murmelte Jun und rieb sich hektisch die Stirn. Silvana würde ihm die Hölle heißmachen. Schon wieder. "Sie hat gekreischt." Unterstrich Felix unterdessen vorwurfsvoll, weil er auf so wenig Verständnis bei seinem Papa stieß. "Deine Mutter kreischt nicht." Korrigierte Jun streng. "Eine Aussage, die ich unterstütze." Mischte sich Robert ein und nahm neben Jun Platz. "Weißt du, wenn man von Damen spricht, und alle Frauen sind Damen, wenn ein Herr von ihnen spricht!, dann sagt man: sie echauffierte sich, und ihre Stimme schraubte sich hoch." Jun ächzte. Er konnte das Zwinkern in den Augen SEHEN!! Robert AMÜSIERTE sich diebisch, daran bestand nicht der geringste Zweifel! "E-SCHO-Firn?" Wiederholte Felix aufmerksam. "Bedeutet das kreischen?" "Nicht ganz." Antwortete Robert ihm aufrichtig. "Es bedeutet, dass man sich aufregt. Siehst du, warm heißt auf Französisch 'chaud' und wenn man sich über etwas aufregt, wird einem unwillkürlich warm, nicht wahr? Deshalb sagt man echauffieren." "Stimmt." Felix nickte eifrig. "Sie hat einen roten Kopf bekommen!" Dieses Mal verzichtete Robert auf eine Empfehlung, wie ein Herr so einen Zustand angemessen beschrieb. Er zwinkerte Felix zu. "Quod est demonstrandum." Was Felix natürlich verstand, DENN er kannte ja seinen "Asterix und Obelix"! Plötzlich kicherte Felix auf. "Und deshalb heißt es auch Schreckschraube, oder?!" Da half kein noch so erbarmungswürdig-strenger Blick seines Liebsten: Robert von Lauritz lachte schallend auf. ~~~~~~x* "Das ist NICHT komisch!" Behauptete Jun energisch und funkelte hoch, die Arme vor der Brust gefaltet. In Roberts Mundwinkeln zuckte es, doch er beherrschte sich meisterhaft. "Selbstverständlich hast du recht." Antwortete er gefällig und küsste Jun auf die Stirn. Der seufzte und ließ die Arme sinken. Robert empfand Mitgefühl mit der Zwangslage seines Geliebten und legte ihm sanft den Arm um die abgesackten Schultern. "Wie denkst du über einen kleinen Seelentröster zur Stärkung?" "Meine Küche ist dein." Gab Jun nach. Felix, inzwischen im Schlafanzug und eine alte Jacke seines Vaters gehüllt, hatte Käpten dazu überreden können, ihm im Wohnzimmer Gesellschaft zu leisten. Der schöne Kater ruhte gemütlich auf Juns ehemaligem Kopfkissen und lieferte sich einen freundschaftlichen Starr-Wettkampf mit Felix. Der verlor zwar immer, machte sich aber nichts daraus. Robert lächelte, wuschelte kurz über den igeligen Schopf und widmete sich seiner selbst gewählten Aufgabe. Jun verlegte sich darauf, seine Arbeitspapiere einzusammeln, die leider stets die gesamte Dachgeschosswohnung invahierten, und sie rund um seinen leidgeprüften Computer zu stapeln. »Was tun?« Fragte er sich unbehaglich. Ohne Zweifel würde seine Ex-Frau ihm die Schuld zuweisen. Was sich in einer der in letzter Zeit immer häufiger auftretenden Szenen äußern würde. Jun HASSTE diese Auseinandersetzungen, das Geschrei, die Vorwürfe. Und die Verachtung, die Silvana ihm subtil entgegenbrachte. Ja, er WAR mit einem Mann liiert! Was aber nicht bedeutete, dass er schon vorher auf DIESE Weise an Männern Gefallen gefunden und SIE damit in der Folge getäuscht hatte, als er sich von ihr heiraten ließ! Robert war der Einzige. Und, nun ja, eben ein Mann. Aber daran ließ sich wohl kaum etwas ändern! Warum auch?! Es wäre ihr entgegengekommen, wenn man eine gleichgeschlechtliche Beziehung als schädlich für die Entwicklung eines Kindes hätte einstufen können. Da diese Option aber nicht von den Gerichten anerkannt wurde, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zähneknirschend damit abzufinden. Was nicht bedeutete, dass sie eine Gelegenheit ausließ, ihm vorzuhalten, er verstoße gegen ihre Vereinbarung, Neutralität zu wahren und nicht Differenzen über Felix auszutragen. Oder sogar VOR ihm. Der letzte große Streit lag noch gar nicht so lange zurück. Auslöser dafür war einer dieser fürchterlichen Abgabetermine. Ihm schwindelte der Kopf, überall stapelten sich Kartons mit Quittungen, lose Zettel, unzählige Klienten wollten pünktlich ihre Erklärungen einreichen, dazu noch tägliche Informationsbriefe aus dem zuständigen Finanzministerium, die die Rechtslage subtil veränderten. Die Hölle befand sich NICHT unter der Grasnarbe! Deshalb hatte er Robert gebeten, Felix ein wenig Gesellschaft zu leisten. Nicht, dass sein einzigartig kluger Sohn sich nicht selbst hätte beschäftigen können, bloß wollte Jun verhindern, dass der Forscherdrang noch mehr Chaos in seiner ohnehin heillos unordentlichen Dachwohnung anrichtete. Zu seiner Verblüffung verstand sich Felix mit "Herrn Robert" glänzend. Umgekehrt schien es sich ebenso zu verhalten. Felix war Roberts "spezieller" Freund. Weil er jede Frage seines speziellen Freundes ernst nahm, nicht mit Verweisen auf das notwendige höhere Alter oder Schullektionen in späteren Jahren abtat. Deshalb hatten sich die beiden ausgiebig der Welt der Zahlen, des Geldes und des Geldwertes gewidmet. Zugegeben, ER hatte auch nicht aufgepasst. Es schien leichter, das notwendig gewordene Haushaltsbuch an Robert zu überreichen, um dann eilig mit seinen Arbeiten fortzufahren, als genau zu ergründen, was die beiden Forscher damit vorhatten. WAS sie getan hatten, sah er erst sehr viel später. Stereophon bebrüllt von seiner Ex-Gattin. Felix hatte mit der tatkräftigen Unterstützung von "Herrn Robert" herausgefunden, warum man mit Geld als Transportmedium Werte bezifferte und dass Werte in Geld gemessen wurden, abhängig davon, wo man sich gerade befand. Das führte zu dem beliebten Motto "Zeit ist Geld". "Herr Robert" hatte ihm gezeigt, wie man ausrechnete, wie viel Geld Jun im Monat verdiente. Und dann verschwand das Geld einfach für "Werte"! Felix konnte noch nicht im Dreisatz rechnen (die erste Grundschulklasse sah das nicht unbedingt vor), aber er verstand genau die "Uhr", die sie aus Pappscheiben, einer Reißzwecke und einem alten Korken gebastelt hatten. So konnte man feststellen, wie lange der Papa für eine Tiefkühlpizza arbeiten musste. Wann er sich eine solche leisten konnte, denn manche "Werte" mussten pünktlicher als andere bestritten werden! Felix war begeistert, die Wangen rot vor Eifer. Gleichzeitig lag seine Stirn unter der stachelartigen Igelfrisur in tiefen Sorgenfalten. Wenn man das alles betrachtete, den eigenen Papa vor Augen, der ächzend und müde über Papierbergen vor dem Computer thronte, fühlte man sich gar nicht mehr so gut. Also hatte er beschlossen, dass sein Papa weniger hart arbeiten könnte, wenn er nicht so viel Geld für andere "Werte" ausgeben musste. Deshalb hatte er sich streng umgeschaut und schließlich seiner Mutter vorgeschlagen, dass sie doch mit etwas weniger Geld auch auskommen könnten. Vielleicht nicht so oft neue Sachen kaufen! Oder weniger von den teuren Packungen im Supermarkt erstehen! Silvana sträubten sich erst die perfekt coiffierten Haare, dann das Fell. Für sie war es keine Frage, dass Jun seinen eigenen Sohn angestiftet hatte, die vor Gericht ausgehandelte Unterhaltsleistungen zu hintertreiben! Schlimmer noch, dieser gelackte Schwule hatte Hilfestellung geleistet! Vermutlich das ganze Viertel hatte ihr Gebrüll als abendliche Standup-Unterhaltung genossen. Jun, der von dieser "Forschungsepisode" gar nichts ahnte, war zuerst verblüfft, dann zutiefst erzürnt gewesen. Ein Zustand, der ihm selbst befremdlich war, also hatte er gegengehalten. Das führte, vor interessiertem Publikum, dann zum Vorwurf, er überfordere Felix mit seinen Erwartungen! Wer lese diese blöden Latein-Bände denn mit einem Sechsjährigen?! Und wer guckt sich ständig lächerliche Vampir-Kitschserien mit einem Sechsjährigen an?! Wütend, mit aufgestellten Federn, zwei Kampfhähne bzw. ein Kampfhahn und eine Kampfhenne, standen sie einander gegenüber. Jun wusste auch nicht, dass sein Liebster Felix' beharrliches Nachfragen nach Vampiren genutzt hatte, um ihn mit der literarischen Quelle, dem Autoren und einigen Dokumentationen zum "Vampir-Mythos" vertraut zu machen. "Strigoi" waren Felix durchaus ein Begriff, auch die seltsame Geschichte um eine in Blut badende Adelige. Verstört hatten ihn diese "Ausflüge" in die Welt der Erwachsenen nicht, da Herr Robert immer Erklärungen anbot, die es ihm selbst ermöglichten, die merkwürdige Vorstellungswelt von Personen über 1,20m Körpergröße zu begreifen. Jun weigerte sich entschieden zu glauben, dass sein Freund einen schlechten Einfluss auf seinen Sohn hatte. Oder ihn überforderte. Allerdings hegte er insgeheim die Vermutung, dass Robert den Stinkstiefel Sergej ebenso wie Felix nicht ausstehen konnte und deshalb auf subtile Weise dessen Widerstand unterstützte. Oder woher kam dieser rot leuchtende Sicherheitsanhänger in Form eines Elchs, den Felix sichtbar schwenkte, wenn der Stinkstiefel Sergej mit seinem Mercedes vorfuhr? Es half dem gestörten Verhältnis dann auch nicht, dass er sich mit Kennermiene nach den "Elchtest"-Ergebnissen erkundigte und die silberne Herrlichkeit des aufgemotzten Fahrzeugs entschieden ignorierte. Vielleicht hätte er auch darauf verzichten können, Herrn Robert zu zitieren, der kein eigenes Fahrzeug zu "halten" pflegte. Er sehe sich in der glücklichen Lage, IMMER einen Chauffeur oder eine Chauffeuse zu haben, im Taxi, im Bus oder in der Bahn! Von diesen Sticheleien wurde Jun meist durch erboste, zornsprühende Vorwürfe seiner ehemaligen Frau unterrichtet, die ihm vorwarf, mit seinem "Stecher" über ihren VERLOBTEN herzuziehen! Vor Felix! In diesen Augenblicken fiel es Jun WIRKLICH schwer zu verstehen, wie sie es insgesamt vier Jahre lang miteinander ausgehalten hatten. Wer diese hysterische, schrill herumtobende Frau in ihren teuren, sehr modischen Kleidern war. Und nun stand wohl eine neue Runde ihres ewigen Ringkampfs zu erwarten, weil Felix "weg-gebrannt" war. Seufzend, die schmerzenden Schläfen reibend, ließ er sich auf dem Sofa in seinem Wohn-/Arbeitszimmer nieder, stützte den Kopf in die Hände. Wenn es so weiterging, würden sie wohl über kurz oder lang erneut vor Gericht stehen. Was er nicht wollte, denn insgeheim hegte er die große Angst, man würde ihm aufgrund der Beziehung zu Robert und seinen angespannten Verhältnissen den Umgang mit Felix untersagen. Ein Leben ohne Felix allerdings konnte er sich nicht vorstellen. Er liebte dieses altkluge, vorwitzige, fröhliche, neugierige, ernsthafte Wesen über alles. Nichts würde das jemals ändern, das wusste er. Felix war seine Schwäche und gleichzeitig die größte Stärke in seiner Existenz. »Wenn ich ihn nicht mehr sehen kann...« Es würgte ihm im Hals vor Entsetzen. "Darf ich gleich anrichten?" Roberts wohlmodulierte Stimme ließ Jun zusammenschrecken. "Äh... ja, ja sicher." Beeilte er sich mit belegter Stimme zu antworten. Der hochgewachsene Mann betrachtete ihn einen Augenblick, ließ sich dann in der eleganten Manier neben ihm nieder, die jede seiner Bewegungen auszeichnete. "Ich denke, dass eine Entschuldigung angebracht ist." Eröffnete er sanft. "Ich hatte wirklich nicht die Absicht, mich über dein Dilemma zu amüsieren." Jun grimassierte verlegen. "Ach, schon gut. Von einer gewissen Warte betrachtet IST es vermutlich ziemlich komisch." "Vor allem die Ausführungen zur Schreckschraube." Ergänzte Robert mit süffisantem Schmunzeln. Neben ihm seufzte sein Liebhaber profund und murmelte. "Ich frag mich bloß, was Silvana daraus machen wird." Robert erhob sich mühelos aus dem alten Sitzmöbel. "Ich frage mich, warum dieser Monsieur Stinkstiefel sich auf Felix konzentriert, wenn er doch die Dame seiner Wahl schon erobert hat." "Wie meinst du das?" Alarmiert stemmte sich Jun aus den nachgiebigen Polstern in die Senkrechte. "Nur eine Frage, die mir in den Sinn kam." Gab Robert ihm scheinbar nonchalant zurück, um sich der winzigen Küche zuzuwenden. Jun starrte ihm nach. Diesen Aspekt hatte er bisher nicht beleuchtet, sondern schlichtweg angenommen, dass Felix diesen Sergej nicht leiden konnte, deshalb die Höhepunkte dessen gescheiterter "Werbungsversuche" genüsslich schilderte. »Der wird doch nicht...!« Dachte er, mit wachsendem Zorn. Unbewusst ballte er die Fäuste. Wenn der Kerl es WAGTE, sich als Vater SEINES FELIX aufzuspielen, würde er andere Seiten aufziehen! Zum Beispiel das Finanzamt auf die undurchsichtigen Unternehmungen des "Managers" aufmerksam machen! ~~~~~~x* Felix zerlegte seinen Bratapfel schweigend und unterließ auch das übliche Beinebaumeln der Ungeduld. Zwischen Herrn Robert und seinem Papa herrschte Funkstille, so schien es ihm zumindest. Ihre Bratäpfel waren mit Malzbier glasiert worden und rochen ungewohnt, doch nur Herr Robert aß gesittet und hungrig. Sein Papa stocherte in den Apfeltrümmern herum, mit den Gedanken vollkommen abwesend. »Bei den Außerirdischen.« Konstatierte Felix, durchaus ein wenig schuldbewusst. "Soll ich dir etwas aufsagen, das ich gelernt habe?" Bot er in der belastenden Stille an. Unter dem klapprigen Tisch schob sich ein vornehm besockter Zeh ein Cordhosenbein hoch, die sanfte Variante eines Tritts vor das Schienbein. "Hu?!" Der Papa blinzelte verwirrt, grimassierte überrumpelt und nickte eifrig. "Ach, ein Gedicht? Über Weihnachten, oder so?" "Na ja." Bekannte Felix aufrichtig. "Das eigentlich nicht. Es ist mehr ein Text von einem Lied. Wenn wir Fußball spielen." Wobei sie mit betrüblicher Regelmäßigkeit verloren. Andere beschrieben den Zustand auch undiplomatisch mit "eingenordet" werden. Da Felix nicht besonders leidenschaftlich Fußball spielte, sondern lieber auf Exkursionen zu Tieren ging oder Experimente im Haushalt durchführte, ging ihm diese demoralisierende Serie nicht sehr nahe. Er setzte sich nun aber sehr aufrecht und rezitierte mühelos. "Wenn du mit dir am Ende bist und du einfach nicht weiter willst, weil du dich nur noch fragst warum und wozu und was dein Leben noch bringen soll Halt durch, auch wenn du allein bist! Halt durch, schmeiß jetzt nicht alles hin! Halt durch, und irgendwann wirst du verstehen, dass es jedem einmal so geht. Und wenn ein Sturm dich in die Knie zwingt, halt dein Gesicht einfach gegen den Wind. Egal, wie dunkel die Wolken über dir sind, sie werden irgendwann vorüberziehn. Steh auf, wenn du am Boden bist! Steh auf, auch wenn du unten liegst! Steh auf, es wird schon irgendwie weitergehn! Es ist schwer, seinen Weg nicht zu verliern, und bei den Regeln und Gesetzen hier ohne Verrat ein Leben zu führn, das man selber noch respektiert Auch wenn die Zeichen gerade alle gegen dich stehn und niemand auf dich wetten will, du brauchst hier keinem irgendeinen Beweis zu bringen, es sei denn es ist für dich selbst! Steh auf, wenn du am Boden bist! Steh auf, auch wenn du unten liegst! Steh auf, es wird schon irgendwie weitergehn! Nur keine Panik, so schlimm wird es nicht! Mehr als deinen Kopf reißt man dir nicht weg! Komm und sieh nach vorn!" ("Steh auf, wenn du am Boden bist", Die Toten Hosen) ~~~~~~x* Jun warf einen funkensprühenden Blick auf die andere Seite des Tisches, wo Robert sich hinter einer eleganten Hand vor dem Mund wegdrehte. »Ich WEISS, dass du lachst!« Übersandte er mental ärgerlich. »Ich kann deine Schultern ZUCKEN sehen!!« "Hat's dir nicht gefallen?" Erkundigte sich Felix gerade, die Stirn in Falten gelegt. "Ich könnte auch etwas anderes aufsagen." Bot er zuvorkommend an. "Danke schön." Jun wuschelte durch den Igelputz seines Sohnes. "Aber das genügt erst mal. Iss deinen Apfel auf, bevor er kalt wird." "Fein." In der trügerischen Hoffnung, die Stimmung ein wenig aufgelockert zu haben, vertilgte Felix artig die traurigen Reste auf seinem Teller. Robert hielt den Kopf gesenkt, scheinbar auf seinen Malzbierglasur-Bratapfel konzentriert, aber Jun konnte das Zucken in den Mundwinkeln dennoch wahrnehmen. »Das ist NICHT komisch!« Hätte er am Liebsten ausgerufen. Leider war er sich nur zu sehr der Tatsache bewusst, dass es komisch WAR. Manchmal konnte er wirklich nicht mit Sicherheit sagen, ob Felix diese Ideen auf erschreckend sensible Weise selbst entwickelte oder bloß ein gruselig exaktes Gespür für den Moment hatte. ~~~~~~x* Während Robert sich des benutzten Geschirrs entledigte, brachte Jun seinen Sohn ins Reisebett. Der Kater, Käpten, hatte sein Kopfkissenlager auf der Fensterbank verlassen und war zu einem kleinen Spaziergang aufgebrochen. Schicksalsergeben lehnte Jun das Fenster an. Er wollte nicht nachts aufstehen müssen, sich durch die zahlreichen Hindernisse schlängeln, um seinen uneingeladenen Mitbewohner einzulassen, der beharrlich wie eine Maschine am Fenster kratzen konnte. "Felix, sag mir doch mal, warum du nicht mitgegangen bist. Ich dachte, du wolltest das Krippenspiel unbedingt sehen." Er nahm auf dem Reisebett Platz und zupfte die Bettdecke zurecht. Sein Sohn zog die Stirn kraus und die Augenbrauen zusammen. Da er aber das besorgt-angespannte Gesicht seines Vaters über sich genau registrierte, schien es wohl unumgänglich, weitere Details zu dieser Episode offenzulegen. "Ich wollte schon." Gab er also ehrlich zu. "Aber der Stinkstiefel Sergej wollte mitgehen. Und DAS wollte ich nicht." Felix setzte sich auf, rückte näher an seinen Vater heran. "Weißt du, der redet immer, als ginge es um MICH, aber das stimmt überhaupt nicht! Er will bloß mit Mama zusammen sein! Sagt er aber nicht!" Empört verschränkte er die Arme vor der Brust. "Der ist ein ganz übler BESTECHER! Und tut so, als könnte er MIR was sagen! Ich mag ihn aber nicht! Und ich will ihn auch nicht als Vater!" "Ich bin dein Vater!" Platzte Jun erregt heraus. "Eben, sag ich ja!" Versicherte Felix ihm energisch mit rheinischem Einschlag. "Und weil ich den Stinkstiefel nicht leiden kann und er schmierig herumtäuscht, habe ich gesagt, ich geh nicht mit!" Er schnaubte aufgebracht. "Mama wollte aber und hat mich am Arm gezerrt. Sie hat gedroht, sie würde mit Opa reden, dass er mir nicht den Baukasten schenkt." Verlegen ob dieses verräterischen Ausrutschers, denn er wollte seinem Papa gar nicht von dem Baukasten vorschwärmen, weil der ja gar nicht so viel Geld hatte, um so etwas zu kaufen und weil er sich selbst versprochen hatte, sparsam zu sein, ergänzte er hastig. "Aber den brauche ich ja gar nicht! Und wie das Krippenspiel ausgeht, weiß ich ja auch längst. Also brauche ich da gar nicht hin." Jun fasste Felix wortlos unter den Achseln, entfädelte ihn aus der Decke und hob sich seinen Sohn auf den Schoß, umarmte ihn ganz eng, streichelte mit einem dicken Kloß im Hals über den flanellbedeckten Rücken. "Wirklich!" Versicherte Felix, auch ein wenig beklommen. "Ich brauche das gar nicht! Es macht mir bestimmt nichts aus, Papa!" "Ich hab dich lieb." Raunte ihm sein Papa ins Ohr, klang gequetscht. Was daran lag, dass Jun am Liebsten gesagt hätte: "es tut mir leid! Ich möchte nicht, dass so etwas passiert!" Dass sein Sohn sich Wünsche verkniff, um ihn zu schonen. Dass er nicht so viel Geld hatte, um ihm alle Wünsche zu erfüllen. Dass Felix mit gerade mal sechs Jahren so schrecklich vernünftig sein musste. Dass sich seine Eltern in so abstoßender Weise stritten. Dass er als Vater so unzulänglich agierte. "Ich hab dich auch lieb, Papa!" Verkündete Felix. "Und wenn du Herrn Robert partnern würdest, hätte ich auch gar nichts dagegen." "Partnern?" Jun zog sich ein wenig zurück, sah in das vertraut-offenherzige Gesicht seines Sohnes und klappte die Decke um, damit er nicht fror. "Na ja, heiraten kannst du ja nicht, weil Herr Robert auch ein Mann ist." Dozierte Felix wichtig. "Aber du kannst ihn partnern. Und da hätte ich gar nichts dagegen, weil ich Herrn Robert mag." Jun musste lächeln, auch wenn es ihm noch schwer fiel. "Und du hältst ihn nicht mehr für einen Vampir?" Erkundigte er sich mit neckendem Unterton. "Quatsch mit Soße!" Beteuerte Felix ihm im Brustton der Überzeugung. "Vampire gibt's gar nicht! Außerdem ist Herr Robert VIEL besser als ein Vampir!" "Na, das wird ihn aber freuen zu hören." Murmelte Jun halblaut. Mit neuem Auftrieb, da er seinen Papa schmunzeln sah, ergänzte Felix eifrig. "Es stört mich auch nicht, wenn ihr euch küsst, weißt du?" In Sekundenbruchteilen, nachdem sein Gehirn die Botschaft dechiffriert hatte, lief Jun dunkelrot an. "Wie bitte?" Ächzte er erstickt, fühlte sich, als stände sein Kopf in Flammen. Waren sie denn nicht immer sehr vorsichtig, um Felix nicht etwa zu verstören?! Der ignorierte die Aufregung seines Papas souverän. "Herr Robert hat mir das genau erklärt, deshalb macht es mir nichts aus. Er hat mir nämlich erzählt, dass man ja sagt, man hat jemanden zum Fressen gern, richtig?" Rezitierte er gewichtig. "Weil das aber Kannibalismus ist und verboten und außerdem dumm, denn einmal aufgegessen ist ja gleich weg." Konkludierte er entschieden. "Deshalb kostet man eben nur ein bisschen. Das ist ja erlaubt. Wir haben uns dann auch ein Bild angeschaut, wo auf der Zunge überall der Geschmack wohnt." Er bleckte nun hilfreich das Leckbrett, zog es aber ein, da sich das Sprechen unerfreulich erschwerte. "Da sind Knospen, wie auf einer Blumenwiese, aber mit unterschiedlichen Blumen! Die einen sind für Süßes zuständig, die anderen für Saures und so weiter! Und es gibt sogar Blumen, die sind für Japanischen Geschmack zuständig! Obwohl ich gar nichts Japanisches esse." Es prägten sich mal wieder Falten in die junge Stirn. Jun starrte ungläubig auf seinen Sohn hinab. Ihm fehlten die Worte. "Ich glaube, ich sollte Herrn Robert mal fragen, ob wir etwas Japanisches essen können." Entschied Felix. "Damit ich das richtig verstehe. Ist doch komisch, dass wir japanische Knospen auf der Zunge haben, wenn wir doch nicht alle Japaner sind, oder?" "Ich meine, dass du jetzt besser schläfst. Wir können morgen immer noch über japanische Knospen sprechen." Bemühte sich Jun, das Heft wieder in die Hand zu nehmen nach diesen schockierenden Eröffnungen. Felix ließ sich auch artig wieder verpacken und einrollen, die Decke überall wärmend festgestopft. Jun beugte sich über seinen Sohn, küsste ihn auf die Stirn, nun faltenfrei, und raunte zärtlich. "Dann schlaf gut, mein Schatz." "Schlaf auch gut, Papa." Felix platzierte einen warmen Kuss auf eine dargebotene Wange. "Und auch gute Nacht für Herrn Robert." Ergänzte er aufmerksam. "Werde ich ausrichten." Antwortete Jun, bevor das Licht löschte und die Zimmertür anlehnte. Vor ALLEM würde Herr Robert JETZT Rede und Antwort zu Kannibalismus und Ähnlichem stehen! ~~~~~~x* Robert lauschte Juns teils aufgebrachter, teils mühsam beherrschter Schilderung seines Gesprächs mit Felix. Er musste an sich halten, um nicht lauthals herauszulachen. Verflixt, wie er diesen naseweisen Schlingel mochte! "Du kannst ihm doch nicht einfach solche Sachen erzählen!" Warf Jun ihm gerade in gedämpfter Lautstärke vor. "Wenn Silvana das erfährt..." "Oh?" Schaltete sich Robert sanft ein, ein höfliches Lächeln in den dunklen Augen. "Du gehst davon aus, dass ihr VERLOBTER ein Kostverächter ist?" "Das-das WILL ich überhaupt nicht thematisieren!" Knurrte Jun irritiert. "Ich verstehe deine Erregung selbstredend." In zivilem Ton, mit höflicher Diktion, ein Bein anmutig über das andere geschlagen, wie immer vornehm gekleidet, widmete Robert ihm seine ganze Aufmerksamkeit. "Gleich morgen werde ich Felix erklären, dass es keine japanischen Knospen sind, sondern das Geschmacksempfinden mit einem japanischen Ausdruck bezeichnet wird. Wirklich, ich schreibe mir diesen Fehler zu, keine Frage! Tsktsk, meine Erklärungen ließen wohl in eklatantem Maße zu wünschen übrig!" "Robert!" Schnaubte Jun hilflos-verärgert, wedelte unbewusst mit den Armen. "Hör auf damit, so BEFLISSEN zu sein, ja?! Ich WEISS, dass es amüsant ist, aber das hilft mir gar nicht!" Robert streckte eine Hand offen aus, betrachtete ihn aufmerksam, konzentriert. "Dann sag mir, wie ich helfen kann." Er konnte sich sehr schnell von seiner üblichen mokant-süffisanten Wortwahl verabschieden, wenn es notwendig wurde. Jun nahm die Hand und seufzte mit herabsackenden Schultern. "Ich weiß es nicht." Bekannte er müde. "Ich bin nicht nur ein lausiger Ex-Ehemann, sondern auch ein schlechter Vater." "Das ist nicht wahr!" Stellte Robert mit ungewohnt scharfem Unterton fest. "Allerdings, wer bin ich, mir ein Urteil über Väter zu erlauben?" Nun klang er wieder wie Samt und Seide, leichthin und tödlich treffsicher. Erneut war Jun um Worte verlegen. Dass Robert keine Kinder, keine Neffen oder Nichten hatte, war ihm bekannt. Auch sein Bekanntenkreis wies nicht gerade viel Nachwuchs auf. Außerdem wusste er, dass Robert ohne Vater aufgewachsen war. Er hatte gemeinsam mit ihm dessen früh verwitwete Mutter besucht, eine Dame wie aus dem Bilderbuch. Distinguiert-höflich fand er sich trotz seiner magenumdrehenden Nervosität munter mit ihr plaudernd in einem stilsicher eingerichteten, kleinen Salon. Sie war nicht herzlich oder direkt, aber er fühlte sich dennoch willkommen. Wie Robert ihm lächelnd mitgeteilt hatte, wurde nicht DARÜBER gesprochen. Er war als Roberts enger Freund zu Besuch, Punktum. Nicht einmal über Roberts sexuelle Orientierung war jemals ein Wort gefallen. Dinge, die man wusste, die einfach WAREN, benötigten in den Augen seiner Mutter keine Erörterung. Wie anders war doch diese Begegnung gewesen als das kurze Zusammentreffen, als SEINE Eltern ihn besucht hatten. Perplex, verwirrt über seine "Partnerwahl" und noch immer enttäuscht/wütend darüber, wie selten sie ihren einzigen Enkel zu Gesicht bekamen. Oder dass Jun das Haus der Ex-Schwiegereltern nicht mehr betreten durfte, sondern bei Wind und Wetter auf der Straße vor dem Grundstück warten musste. "Ich weiß nicht, was ich tun soll." Bekannte er, drückte die ihm anvertraute Hand und starrte auf seine Socken. "Wir hatten uns doch darauf geeinigt, Felix gemeinsam aufzuziehen. Ohne diese Kämpfe." Robert erhob sich langsam, baute sich direkt vor Jun auf, in Reichweite, doch ohne Körperkontakt, sah man von ihren Händen ab. "Möchtest du, dass ich dir einen Rat gebe?" Raunte er auf die einladend verwüstete Mähne herab. »Oder möchtest du, dass ich dir zuhöre und beipflichte, damit es dir besser geht?« Ahnte Jun die Untertöne. Robert konnte wie Felix erschreckend vernünftig sein. "Bitte gib mir einen Rat." Entschied er und lehnte sich leicht gegen eine Schulter. "Schlag deiner Ex-Frau eine Familientherapie vor." Wisperte Robert ernst. Er hoffte, dass ein geschulte Person von außen der hysterischen Furie vor Augen führte, WARUM sie sich derart gebärdete. Jun atmete tief durch, löste seine Hand und schlang beide Arme um Roberts Nacken. Der erwiderte die Umarmung entschieden und eng. "Ich glaube, ich möchte noch ein wenig von dir kosten, bevor du gehst." Murmelte Jun an seiner Kehle. "Zu Ihren Diensten, mein Herr." Schnurrte Robert guttural. Und wieder zuckten seine Mundwinkel verräterisch. ~~~~~~x* Tag 22 Jun flitzte mit Felix am Handschuh eilig Richtung Schule. Das Anziehen dauerte ja auch länger, wenn man sich wie eine Zwiebel verschalen musste! Vor dem Eingang bot sich das übliche Bild: "Eltern-Taxis", wild parkend, querstehend, Gehupe, Gelärm, dazwischen wuselnde Briefkästen mit Beinen und Zipfelmützen. Jun schreckte herum, als er ein vertrautes, jedoch keineswegs erwartetes Kreischen hörte. Seine Ex-Frau, aufgerüscht in feinem Zwirn, offenkundig jedoch geladen, stöckelte in Höchstgeschwindigkeit auf sie zu. In einiger Entfernung glaubte er, den protzigen Mercedes des Stinkstiefels auszumachen. "Was fällt dir eigentlich ein?!" Schoss sich Silvana auf ihn ein, zerrte Felix an der freien Hand zur Seite. "Das ist bloß deine Schuld!" Und damit meinte sie unzweifelhaft Jun. "Hör mal." Versuchte er zu beschwichtigen, denn immerhin hatten sie hier jede Menge Publikum, doch Silvanas innerer Vulkan eruptierte. "Du läufst einfach so weg!" Fauchte sie Felix an, der mit trotziger Miene überhaupt nicht kritikbereit wirkte. "Dafür bekommst du Hausarrest, hast du mich verstanden?!" "Ich bin zu Papa gegangen!" Verteidigte Felix sich unerschrocken und kämpfte darum, sich loszumachen. "Du warst doch eh nicht zu Hause!" "Das spielt überhaupt keine Rolle!" Brüllte seine Mutter enragiert. "Ich hab mir die ganze Zeit Sorgen gemacht! Diese Streiche spielst du mir nur, weil DU ihn dazu angestachelt hast!" Der spitze Finger spießte Jun auf, der abwehrend die Hände hob. "Davon kann gar keine Rede...!" "Mir reicht's mit dir! Glaub bloß nicht, ich würde nicht merken, was du und dieser Homo-Lackaffe vorhabt!" "Silvana, bitte..." Jun musste an sich halten, aber nun waren sie schon von Kindern und Eltern umgeben. Außerdem glaubte er, eine Lehrerin zielstrebig auf sie zusteuern zu sehen. "Lass uns woanders reden...!" "Gar nichts werden wir! Ich ruf gleich meine Anwältin an!" Silvana haschte nach Felix, der sich ihr energisch entwunden hatte. "Und du bleibst hier!" "Nein!" Felix ging hinter seinem Vater in Deckung. "Und ich will bei Papa wohnen!" "Kommt nicht in Frage!" Silvana schoss vor, ihren Filius erneut zu packen. "Du wohnst bei mir!" "Ich komm dich besuchen!" Verhandelte Felix, der blitzschnell auswich. "Hört auf!" Jun stellte sich zwischen seine frühere Gattin und seinen Sohn, peinlich berührt durch die Szene. "Das ist nur DEINE Schuld!" Brüllte Silvana ihm hasserfüllt ins Gesicht und ließ auch gleich ihre Rechte folgen. Vollkommen überrumpelt stolperte Jun rückwärts, fasste sich reflexartig an die linke Wange. Ebenso schockiert blieb Felix neben ihm stehen, starrte zu ihm hoch. Über Juns Gesicht zuckte ein bizarres Grinsen, der Versuch, seinem Sohn den Schrecken zu nehmen. "Komm her zu mir!" Auch Silvana heulte nun unkleidsam vor Zorn, zerrte Felix an der Kapuze zu sich. Der wand sich und zerrte den Reißverschluss herunter, sodass er dem Anorak entschlüpfen und dem Zugriff seiner Mutter entwischen konnte. "Ich kann dich nicht leiden, wenn du so bist!" Schluchzte er, das runde Gesicht weiß vor Schreck, bevor er sich an Juns linkes Bein klammerte, am ganzen Leib zitternd. Jun reagierte automatisch, bückte sich und hob Felix auf seine Hüfte, schlang die Arme um ihn und redete tröstend auf ihn ein. "Nicht weinen, ist ja alles gut. Alles in Ordnung, Papa macht das schon! Nicht mehr weinen, Felix!" Silvana entrang sich ein tierischer Schrei der Wut, weil sie so bloßgestellt war. "Ich ruf---meine--Anwältin--an!" Stieß sie hervor, machte kehrt und eierte im Laufschritt auf den Mercedes zu. Fassungslos und ebenso durcheinander wiegte Jun Felix auf seinem Arm, wusste nicht, was er nun tun sollte. Das übernahm eine Lehrerin für ihn, die Felix' Anorak auflas und ihn streng ermahnte, solcherlei Szenen gefälligst zu unterlassen. Jun entschuldigte sich, bemerkte die blassen Gesichter einiger Kinder, die vorwurfsvollen der dazugehörigen Eltern. Er hatte das nicht gewollt. Nichts davon. Gern hätte er jetzt auch mal losgeheult, einfach, um sich nicht wie ein Ungeheuer vorzukommen! Doch sein Verstand und seine Erziehung verhinderten einen selbstmitleidigen Affekt, weshalb er sich auf das Naheliegende besann: Felix auf die Stiefelsohlen stellen, warm in den Anorak packen und ihm das Versprechen abnehmen, auf ihn zu vertrauen. "Ich bring das in Ordnung." Wiederholte er. "Ist gut." Murmelte Felix geknickt, schniefte unterdrückt. "Dann geh jetzt hinein, ja?" Jun tupfte einen Kuss auf die rote Nasenspitze. "Deine Freunde warten schon. Wir sehen uns dann später, Ehrenwort!" Felix nickte tapfer, strengte sich sogar zu einem winzigen Lächeln an. Es brach Jun förmlich das Herz. ~~~~~~x* Robert erkannte auf den ersten Blick, dass etwas geschehen sein musste. Ohne viel Federlesens nahm er eine rot gefrorene Hand und zog Jun hinter sich her in sein kleines Büro, nötigte ihn in den Drehstuhl und ging vor ihm in die Hocke, nun beide Hände in seinen warmen reibend. "Was ist passiert?" Erkundigte er sich ernst, registrierte die verfärbte Wange. Stockend, immer wieder um Fassung ringend, setzte Jun ihn ins Bild. "So ist das also." Kommentierte Robert beherrscht, gab Juns Hände frei und aktivierte eine kleine, aber teure Maschine, um Espresso zu produzieren. Aus einem Transportkorb wählte er eine flache Verpackung, öffnete sie und lud ihren Inhalt auf ein Tellerchen aus feinstem, durchscheinendem Porzellan. "Nimm etwas." Forderte er Jun auf, in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. In sich zusammengesunken leistete Jun der Aufforderung Folge, kaute und verzog angewidert das Gesicht. "Herrje, das ist ja grässlich SÜSS! Was ist das für ein Zeug?!" Adressierte er Robert, der eine kleine Tasse mit nachtschwarzer, flüssiger Nervennahrung vor ihm abstellte. "Russisches Konfekt." Antwortete er ruhig. "Auch nicht meine Wahl, aber ein guter Reaktionstest. Trink deinen Espresso, dann geht's dir gleich besser." "Ich bezweifle, dass es mir noch mal besser gehen wird." Murmelte Jun mit Galgenhumor, nippte aber folgsam. Aus irgendeinem Grund hatte der grässliche Konfekt ihn TATSÄCHLICH aufgerüttelt. Robert nippte ebenfalls an seiner Tasse, auf der Schreibtischkante logierend, betrachtete seinen Liebsten aufmerksam. Und forschend. "Was soll ich jetzt tun?" Flüsterte Jun, sah hinauf in die dunklen Augen. Er fühlte sich überfordert und allein, der Situation nicht mehr gewachsen. Eine elegante Hand führte angenehm warme Fingerspitzen über seine linke Wange, linderte den dezent pochenden Schmerz. Das dazugehörige Gesicht blieb rätselhaft ausdruckslos. "Ich würde zunächst meinen Vater anrufen und ihn um Unterstützung bei der Arbeit bitten." Antwortete Robert schließlich sehr gelassen, beinahe beängstigend ruhig. "Dann würde ich meinen Anwalt informieren und anschließend über Bekannte Hilfe bei den sozialen Instituten der Stadtverwaltung besorgen. Ich könnte mir nämlich vorstellen, dass es bei Schulschluss erneut zu einer Auseinandersetzung kommt." Jun schauderte. "Hilfst du mir?" Bat er mit dünner Stimme. Robert löste sich von der Schreibtischkante, beugte sich hinab und küsste Jun zärtlich auf die von der Kälte aufgerauten Lippen. "Mit allem, was mir zur Verfügung steht." Raunte er entschlossen. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem er sein Leben verändern musste. Sich auf das Wagnis einer festen Bindung einließ. ~~~~~~x* Jun verspürte leichte Übelkeit, als er sich dem Ausgang der Grundschule näherte. Er war nicht allein, auch Silvana hatte sich eingefunden, ihre Anwältin dabei, die Jun finster fixierte. »Himmel hilf!« Flehte Jun stumm, als er beim Schultor anlangte. Auf der anderen Seite ging Felix an einer Hand seiner Klassenlehrerin, daneben eine weitere Frau, die wie ein Seebär an Land schwankte, im Arm Aktenordner, auf der anderen Schulter eine gewaltige Umhängetasche. Nun fühlte er sich noch stärker in der Minderzahl, unter lauter Frauen! Von denen mindestens zwei ihm nicht gewogen waren. "Denk bloß nicht, dass ich meinen Sohn bei dir lasse, nachdem du ihn aufgehetzt hast!" Zischte Silvana ihm zu. Jun schwieg, befremdet durch diese lächerlichen Vorwürfe. War das wirklich die Frau, mit der er vier Jahre seines Lebens verbracht hatte? "Felix, komm zu mir, wir gehen nach Hause!" Drängte Silvana nun, ihre Anwältin wie eine Chinesische Mauer zwischen Jun und das Schultor platziert. "Ah, einen Moment bitte!" Mischte sich nun die vollbepackte Dame ein und stellte sich auch gleich vor: eine Mitarbeiterin des städtischen Jugendamtes, von der Schulleitung herbeigebeten, um sicherzustellen, dass hier kein Kindeswohl gefährdet wurde. "Das ist mein Sohn, und er ist bei mir am Besten aufgehoben!" Führte Silvana kämpferisch aus. "Er wohnt bei mir! Also kommt er jetzt auch mit mir in UNSER Zuhause!" "Laut Absprache vom Familiengericht übernachtet Felix heute aber turnusmäßig bei mir." Machte Jun sich bemerkbar. Felix' Klassenlehrerin warf der Dame vom Jugendamt einen bezeichnenden Blick zu. Offenkundig hatte sie die Szene vom Vormittag zu Schulbeginn ausführlich geschildert. "Denk ja nicht, dass ich Felix bei dir lasse, wo du ihn gegen mich und Sergej aufhetzen kannst!" Fauchte Silvana erbost, bevor sie sich den anderen Beteiligten zuwandte. "Er hat einen Liebhaber und nicht mal ein eigenes Zimmer für meinen Sohn! Der muss mit ihnen im Schlafzimmer übernachten!" Jun stellten sich die Haare auf, jedoch nicht aus Entsetzen. Nun wurde er zornig, auch wenn er sich zuvor so eingeschüchtert und hilflos gefühlt hatte. "Du weißt sehr gut, dass mein Lebensgefährte NIE in meiner Wohnung übernachtet. Also lass bitte diese Andeutungen." "Ha! Gleich wirst du auch noch abstreiten, dass deine winzige Kaschemme nicht ein chaotisches Dreckloch ist!" Giftete sie gallig zurück. "Alles, was du willst, ist meine Beziehung zu Sergej zu hintertreiben, indem du meinen Sohn gegen uns aufhetzt!" "Das ist nicht wahr!" Protestierte Jun entschieden. "Ach nein?! Und wie war das mit dem Unterhalt?! Der angeblich zu hoch ist?! Das hast du meinem Sohn eingeredet! Er wollte sogar weniger essen! SO benutzt du mein Kind!" Nun konnte Jun Felix kaum widersprechen: Silvana mutierte zur Schreckschraube, mit Kreischen und Keifen. "Das war ein Missverständnis, das ich dir bereits erklärt habe!" Jun knirschte mit den Zähnen. Was sollte das Ganze?! Wollte sie Felix nun für sich allein haben?! Sie musste doch wissen, dass das nicht funktionierte! "Ich möchte lieber bei Papa wohnen." Machte Felix sich mit dünner Stimme bemerkbar. Sein rundes Gesicht war recht blass, er bewahrte aber tapfer Haltung. "Du wohnst bei mir, Liebling!" Silvana kehrte Jun einfach den Rücken zu. "Ich bin deine Mama. Alle Kinder wohnen bei ihrer Mama! Und denk mal an dein schönes Zimmer und all die Spielsachen!" Der Appell fruchtete nicht, auch wenn Juns Schultern heruntersackten, denn er konnte diese Offerte nicht machen. Felix schob das runde Kinn ein wenig vor und wiederholte. "Ich möchte ab jetzt lieber bei Papa wohnen. Dich komme ich dann besuchen." Ergänzte er seine Auffassung. Jun presste die Lippen aufeinander, bis sein Kiefer knackte. Es SOLLTE nicht so sein!! Felix sollte nicht wählen müssen zwischen seinen Elternteilen!! Robert hatte ihm einen langen, ernsten Blick gewidmet und dann ruhig bemerkt. "Zumindest wird es SEINE Entscheidung sein." "Das geht nicht!" Behauptete Silvana, gespickt mit heftigem Schluchzen, während sie Jun finstere Seitenblicke zuschoss. "Das Gericht hat entschieden, und daran halten wir uns! Du gehörst doch zu mir! Du bist doch mein kleiner Liebling!" Felix wandte das Gesicht ab, die Unterlippe zitterte merklich. "... ich will nicht." Flüsterte er erstickt. "Das Gericht hat auch entschieden, dass Felix heute bei mir übernachtet." Mühte Jun sich, einen Eklat abzuwenden. "Wir sollten alles in Ruhe klären..." "Damit du dir sein Vertrauen erschleichst?!" Silvana zerrte an seinem Schal. "Du willst mir meinen Sohn wegnehmen! Nur, damit ich nicht mit Sergej zusammen bin! Du machst das nur aus Missgunst!" "Das ist einfach nicht wahr!" Jun pflückte zornig ihre Hand von seinem Schal, zum ersten Mal versucht, seine frühere Frau kräftig durchzuschütteln. Mit einem Mal begriff er, warum Robert ihm bedeutet hatte, sich über die möglichen Motive seiner Ex-Frau Gedanken zu machen: hier war kein Einvernehmen zu erzielen. Seine Existenz störte ihre Pläne mit dem Stinkstiefel! "So kommen wir nicht weiter." Meldete sich die Dame vom Jugendamt zu Wort. "Ich sehe nur eine Lösung: Sie können eine Mediation einschalten, die vermittelt, wie Felix' Wohl am Besten gedient ist. Oder Sie müssen erneut vor das Familiengericht zu einer Verhandlung über die Einzelheiten Ihres Sorgerechts." "Soll ich etwa meinen Sohn in einer Müllkippe übernachten lassen? Wo sich auch noch ein notorischer Homo herumtreibt, der wer weiß welche Ziele verfolgt?!" Silvana richtete ihre Empörung nun gegen die Vermittlerin. Ihre Anwältin zupfte nun am Ärmel, denn sie musste wohl annehmen, dass ihre Klientin sich gerade um Kopf und Kragen fauchte. "Felix übernachtet heute bei mir." Hielt Jun heiser vor Wut fest. "Meine Wohnung ist keine Müllkippe, und ich verbiete mir die Verleumdungen gegen meinen Freund." Er streckte die Hand nach Felix aus, der sich nach einem prüfenden Blick von seiner Klassenlehrerin löste, rasch zu seinem Papa wechselte und eilig die kleine Hand in der großen verschwinden ließ. "Das lass ich mir nicht bieten!" Silvana stürzte auf Jun zu, doch ihre Anwältin hinderte sie mit einem beherzten Griff in den Mantelstoff. Felix drehte den Kopf weg und schmiegte die Wange an die Cordhose seines Papas. Während die Anwältin Silvana wegzerrte und eilig auf sie einsprach, reichte die Dame vom Jugendamt Jun eine Visitenkarte. "Vereinbaren Sie besser rasch einen Termin." Empfahl sie. "Solche Szenen tun Felix nicht gut." Stumm nickte Jun, ging in die Hocke, um Felix auf seine Hüfte zu heben. Der schlang ihm die Arme um den Nacken und presste das Gesicht in seinen Schal, gab keinen Laut von sich. "Wir gehen essen." Flüsterte Jun seinem geliebten Sohn zu. "Robert geht mit uns Japanisch essen. Ist nett von ihm, oder?" Nur minimal spürte er das Nicken, eigentlich nur, weil die Bommel auf der Mütze sich bewegte. "Und Opa will morgen kommen und mir ein wenig helfen. Dann habe ich auch wieder ein bisschen mehr Zeit." Jun bemühte sich um eine leichtere Stimmung. Er konnte Felix aber keinen Kommentar entlocken. ~~~~~~x* Robert lächelte gewohnt höflich, wie stets in feinem Zwirn, mit teurem Mantel und einem eleganten Hut auf dem üppigen Schopf. "Ah, meine Begleitung fürs Mittagessen hat sich eingefunden!" Erklärte er erfreut Frau Veskovic, überließ ihr die Betreuung seines Delikatessengeschäfts. "Nun!" Zu Juns Verblüffung pflückte er Felix einfach ab, sorgte sich nicht um Schmutzstreifen auf seinem wertvollen Mantel. "Bist du bereit? Zeig mir doch mal deine Zunge, ja?" Felix zögerte nur einen Augenblick, dann rollte er artig das Leckbrett zur Inspektion aus. "Gut, die Zunge ist da, wie ist deine Form? Allzeit bereit?" Robert plauderte weiter, leichthin, sanft, mit einem Zwinkern im Augenwinkel. "Ich weiß nicht genau." Murmelte Felix und schluckte sichtlich. "Ich hatte keinen schönen Tag heute." "Das verstehe ich." Antwortete Robert ihm ernsthaft. "Vielleicht möchtest du mir ja später davon erzählen. Denkst du denn, dass du ein kleines bisschen Hunger hast?" "Ein bisschen schon." Felix schmiegte den Kopf auf den weichen Mantelkragen. "Müssen wir mit Stäbchen essen?" "Das kommt darauf an, was wir probieren." Robert lächelte. "Ich bin schon neugierig, was du dir aussuchst." "Ich auch." Murmelte Felix mit einem zögerlichen Grinsen. "Ich hab nämlich noch nie was Japanisches gegessen." "Dann kannst du Käpten ja heute eine Menge erzählen." Richtete Robert umsichtig seine Perspektive auf ein tröstliches Ereignis. Als sie das Restaurant betraten, setzte er Felix ab, bot ganz selbstverständlich eine Hand an, die ergriffen wurde. Flink führte man sie zu einem kleinen Tisch, Mäntel, Taschen und andere Accessoires wurden abgeschält, dann konnte über das Menü beraten werden. Jun formulierte lautlos über den Tisch hinweg seinen Dank. Robert lächelte, mit dem gewissen Funkeln in den Augen, das nur Jun gewidmet war. Um Felix vom Schrecken des Tages abzulenken, zückte er gleich darauf einen Ausdruck aus seiner Tasche, die Recherche zu den "Knospenwiesen" auf der Zunge abzuschließen. Felix spielte willig mit, rang anschließend tapfer mit den Essstäbchen, die sich einfach nicht wie eine kleine Pinzette verhalten wollten! Auf dem Rückweg nahmen sie Felix in die Mitte, schwangen ihn alle paar Meter durch die Luft, was ihm ein begeistertes Jauchzen entlockte. Robert verabschiedete sich vor seinem Geschäft. Die Arbeit rief und außerdem war es Zeit, dass Vater und Sohn sich allein zusammenrauften, ohne Zuschauer. Jun spürte, wie mit jeder Treppenstufe, die sie erklommen, mehr von seiner Energie und Zuversicht verpuffte. Er wollte seinen geliebten Sohn nicht mit den hässlichen Auseinandersetzungen der Erwachsenen belasten. Doch wie sah die Alternative aus?! Nachdem sie abgelegt hatten, versuchte er sich zunächst mit den erfreulichen Nachrichten des Tages. "Ich habe dir doch gesagt, dass Opa morgen kommt, oder? Glücklicherweise kann er wieder im Hinterhaus bei Frau Gärlich in der Pension übernachten. Da ist gerade was frei geworden." Ergänzte er betont launig. Felix nickte und verteilte, streng auf Ordnung achtend, seine "Arbeit" auf dem Tisch. Direkt neben den sich vorwurfsvoll türmenden Akten- und Dokumentenbergen seines Papas. Jun versagte sich weitere Anstrengungen, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Felix' konzentrierte Miene bedeutete ihm, dass dafür noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen war. Schweigend pflügten sie also durch die jeweiligen Aufgaben, bis Felix, den Kopf gesenkt, eifrig Buchstaben malend, bemerkte. "Stimmt es, dass die Japaner den ganzen Fisch auf der Welt aufessen?" "Fisch?" Jun musste sich erst sortieren, um vom Paragraphen-Dickicht den Weg zurück in die geistig normale Realität zu finden. "Oh, na ja, wohl nicht den ganzen Fisch. Aber schon ziemlich viel." Wagte er sich auf das aalglatte Parkett der internationalen Politik. "Wenn aber alle Fische aufgegessen sind, ist das doch blöd, dann hat man ja nichts mehr." Stellte Felix unumwunden fest, hob den Kopf an. "Dagegen ist nichts zu sagen." Jun nickte. "Eigentlich hätte ich dann den Fisch gar nicht essen dürfen, oder? Denn wenn man weniger Fisch isst, dann würde ja auch weniger Fisch gefangen." Schlussfolgerte Felix mit einem bedrückend schuldbewussten Gesichtsausdruck. "Es müssten eine Menge Leute dasselbe tun, über eine längere Zeit." Jun streichelte impulsiv über den Igelschopf seines Sohnes. "Damit sich etwas ändert." Felix seufzte und murmelte, unter sich blickend. "Ich wollte nichts sagen, vorhin. Das wäre ungezogen gewesen, oder?" Darauf wusste Jun keine Antwort und zuckte hilflos mit den Schultern. "Es ist ziemlich schwer, alles richtig zu machen." Stellte Felix noch leiser fest. Daraufhin drehte Jun seinen Stuhl, streckte die Arme nach seinem Sohn aus und hob ihn sich auf den Schoß. "Manchmal kann man es nicht richtig machen." Tröstete er. "Es trotzdem zu versuchen, das ist aber sehr tapfer." Felix kuschelte sich an und seufzte niedergeschlagen. "Mama ist böse auf mich, obwohl ich es bloß richtig machen wollte." "Sie ist nicht böse auf dich!" Versicherte Jun ihm erschrocken. "Auf gar keinen Fall ist sie böse auf dich! Sie hat dich sehr lieb, Schatz, egal, was auch passiert." "Schon." Murmelte Felix und rieb die Wange am Pullover. "Aber gerade ist sie wirklich anstrengend." Jun senkte den Kopf und schielte auf den vertraut-wilden Schopf. Woher kannte dieser sechsjährige Naseweis bloß solche Ausdrücke? "Sie sagt zwar immer, dass ICH anstrengend bin, aber das stimmt nicht" Lieferte Felix ihm ungefragt des Rätsels Lösung. "Zumindest nicht immer." Korrigierte er aufrichtig. Er wandte den Kopf und grub sein rundes Kinn in den Pullover, blinzelte zu Jun hoch. "Weißt du, ich dachte, wir kommen besser miteinander aus, wenn ich nicht bei ihr wohne. Wenn sie den Stinkstiefel Sergej heiratet, wohne ich lieber woanders!" "Denkst du nicht, dass sie sich einsam fühlen wird?" DAS war herausgerutscht, bevor Jun überhaupt nachgedacht hatte. Felix zog die Nase kraus. "Sie hat doch den Stinkstiefel. Und sie muss ja irgendwann auch mal arbeiten. Ich komme sie ja besuchen." Damit schien zumindest für Felix eine akzeptable Lösung gefunden zu sein. "Außerdem könntest du ja auch einsam sein!" Stellte er listig fest. "Opa und Oma sind ja weit weg, und du musst so viel arbeiten." Gegen seinen Willen musste Jun lächeln. Felix zögerte einen Augenblick, dann platzte er eilig heraus. "Ich bin auch nicht eifersüchtig! Oder ein Muttersöhnchen!" "Das habe ich auch nicht geglaubt!" Versicherte Jun ihm mit großem Nachdruck. Ihm wurde erneut der Hals eng, weil er sich dafür schämte, seinem Sohn solche schmerzhaften Erfahrungen zuzumuten. Wie anders war da doch seine Kindheit gewesen, wie sicher und glücklich! "Ich brauche auch gar kein Zimmer." Felix zupfte an seinem Pullover. "Oder das ganze Spielzeug! Hier ist es auch so schön!" "Ich könnte allerdings wirklich mal aufräumen." Jun lupfte Felix auf die Knie, der bereitwillig mitspielte und sich dann durchkitzeln ließ, wobei er sich durchaus geschickt wehrte, weshalb sie schließlich beide nach Luft japsten. "Jetzt einen Kakao!" Schlug Jun vor, erstaunt, wie leicht sein Herz war. Als hätten ihn das Kichern und Lachen aus dem Panzer von Kummer, Schuld und Angst freigesprengt. "Einverstanden!" Felix marschierte voran. "Und, Papa?" Jun blieb stehen, um nicht in seinen Sohn hineinzulaufen. "Ja?" Felix baute sich vor ihm auf. "Weißt du, du kannst Herrn Robert ruhig auch hier übernachten lassen. Ich mache schließlich auch Pyjama-Partys mit meinen Freunden. Du musst nicht verzichten, das wäre nicht fair." "Ahumm." Kommentierte Jun mit hochrotem Kopf. In Felix' Augen funkelte ein listiges Blitzen. "Wenn du Herrn Robert partnerst, können wir jeden Tag Pyjama-Party feiern!" ~~~~~~x* Robert öffnete so flink wie stets die Wohnungstür, wenn er auf Juns Besuch hoffte. Es war schon spät und eigentlich, nach einem so ereignisreichen Tag und angesichts der Anwesenheit von Felix, nicht zu erwarten gewesen, dass Jun noch einmal bei ihm vorbeischaute, aber die Hoffnung ergab sich stets zuletzt. "Alles in Ordnung?" Erkundigte er sich besorgt und verzichtete auf die gewohnt neckende Distanz, zog Jun einfach in seine Arme. Der erwiderte die zärtliche Geste entschlossen und atmete tief durch. "Für heute schon." Antwortete er, um dann zu seufzen. "Aber wer weiß, was morgen kommt." "Ich dachte, dein Vater?" Raunte Robert ihm kess ins Ohr, streichelte zur Versöhnung ob des frechen Scherzes über Juns Rücken. "Spotte nur!" Knurrte Jun gespielt. "Das bedeutet aber auch keine Pyjama-Party!" "Pardon?" Robert wich leicht zurück, um Jun einen verblüfften Blick zu widmen. Der grinste breit. "Tja, ginge es nach Felix, könnte das verhindert werden, wenn ich dich partnere!" Nun STARRTE Robert, durchaus perplex. Jun stieg auf die Zehenspitzen und küsste den halb geöffneten Mund überaus amüsiert. Außerdem packte er gewohnt kräftig die aparten Hinterbacken, was Robert ein unvollkommen unterdrücktes Stöhnen entlockte. "Gib mir eine Viertelstunde zu Demonstrationszwecken!" Raunte Jun kehlig. DIE konnte er sich bestimmt leisten, denn oben wachte sein nächtlicher Dauergast mit orange glühenden Augen aufmerksam neben Felix' Lager. ~~~~~~x* Tag 23 Kou studierte die Auszüge aufmerksam. Eine Menge Geld. Beinahe beängstigend. Er wusste, dass draußen, jenseits seines bescheidenen Geschäfts, die Hölle los war. Besser, er schloss den Laden frühzeitig und igelte sich ein. Immerhin hatte er seine Aufgabe erfüllt und alles Verlangte geliefert bzw. organisiert! Der Götterwind-Kamikaze frischte gerade erst auf. ~~~~~~x* Kommissar Keiichiro Kasai blätterte durch die knappen Rapporte, die ihm wie Flugpost auf den abgeschabten und selten zu diesem Zweck genutzten Schreibtisch flatterten. Er war schließlich nicht als Pinselschwinger, sondern als Ermittler tätig! "Teufelszeug, diese Computer!" Bemerkte er in sardonischem Amüsement. Sein junger Assistent, der vermutete, man habe ihm diesem verluderten, zynischen, alten Mann zugeteilt, um ihm einen Vorgeschmack auf die Hölle zu geben, bemerkte tapfer. "Es könnte aber auch eine terroristische Attacke auf unser Staatswesen sein." Kasai feixte und klemmte sich einen Zigarillo zwischen die verfärbten Fingerspitzen. "Tatsächlich? Ein bösartiger Mensch würde Ihnen jetzt beipflichten." Sein Assistent starrte missbilligend auf die stinkende Rolle Krebstod und murmelte. "Ich kann Ihnen nicht folgen, Kommissar." "Das macht das Grünzeug hinter Ihren Ohren." Ein jovialer Klapps auf die Schulter reduzierte seine Aversion gegen seinen Vorgesetzten keineswegs. "Hier ist ein heißer Tipp, Jungspund!" Kasai griff nach seinem schäbigen Hut. "Schauen Sie sich mal genau die betroffenen Firmen an." Damit verließ er sein Büro, die enervierende Papier-Onanie des Apparats und begab sich auf die Straße. Irgend jemand veranstaltete gerade einen gewaltigen Wirbel und etwas sagte ihm, dass er sich nun wirklich anstrengen sollte, seinen notorischen Neffen aufzuspüren, bevor die Lage außer Kontrolle geriet. ~~~~~~x* Es dämmerte der Nacht entgegen, als Kubota eine Spätausgabe erstand und scheinbar müßig durch die dünnen Seiten blätterte. Tokitou lutschte eine grell gefärbte Süßigkeit und bemühte sich angestrengt, seine Ungeduld in Zügel zu legen. Blöd, dass diese Schriftzeichen so kompliziert waren!! Endlich faltete Kubota die Zeitung ordentlich, wandte sich leicht ab, um eine Zigarette anzuzünden und gab das Signal für den Aufbruch. "Und? Hat's geklappt?" Tokitou sah zum Freund auf. Kubota wirkte wie stets unergründlich, trügerisch gleichgültig und in Lethargie versackt. "Wirbelt wohl ganz schön Staub auf." Kommentierte er und drückte im Vorbeigehen die Zeitung einem älteren Mann in die Hand, der mit gesenktem Kopf um Unsichtbarkeit bemüht war. Noch einer der unzähligen Obdachlosen, aus dem hyperschnellen Takt der Gesellschaft geworfen. "Bedeutet das, dass wir sie los sind?" Tokitou hakte nach einem Moment der Unbehaglichkeit ob des Schicksals energisch nach. "Tja." Verbreitete Kubota sich episch, zog an seiner Zigarette. Realistisch gesehen konnte diese Attacke die Yakuza und die konkurrierenden Triaden nicht erledigen. Nun flogen zwar ihre Camouflage-Geschäfte auf, die der Geldwäsche ihrer illegalen Aktivitäten dienten und offenkundig war eine Menge Geld irgendwie von Bankkonten "verdampft", aber Bargeld kam immer noch rein. Schmier- und Schutzgelder sowie Menschenhandel, Prostitution und Glücksspiel bevorzugte klingende Münze, bar auf die Kralle. Trotzdem, die Unruhe war groß. Wer wusste was von wem, wer war schuld, wer steckte dahinter und was genau wussten die anderen davon? Alle Piranhas im Becken belauerten sich gegenseitig, jeder war des anderen Feind. Und irgendwo hockte jemand gemütlich mit einer Stange Dynamit. Da konnten schon mal Köpfe rollen. »Der Dunkle Lord musste wirklich clever sein.« Resümierte Kubota. Gut zu wissen, dass sie in gewisser Weise aus demselben Antrieb handelten. "Für heute Nacht jedenfalls sind sie anderweitig beschäftigt." Ergänzte er seine Einschätzung. Wer weiß, wo ihre Prioritäten morgen lagen. ~~~~~~x* Der Trawler erwartete sie am vereinbarten Ort. Die Mannschaft bestand aus Filipinos, der Kapitän stammte von Okinawa. Die Jagd nach den stark dezimierten Fischschwärmen, die von gewaltigen "Seefabriken" rücksichtslos "geerntet" wurden, konnten sie nicht mehr aufnehmen. Was blieb einem Fischer da noch? Sie legten ab, heimlich, still und leise, nur ein weiterer, kleiner Trawler, der sein verlorenes Glück suchte. An Bord kämpften sich Tokitou und Kubota mühsam in Neoprenanzüge. Auch die Waffen und die Munition, wasserdicht verpackt, lagen bereit. Sorgsam kontrollierte Kubota die Schusswaffen. Zwei mussten reichen, dazu noch die Munition. Er zweifelte nicht daran, dass er sich an Bord Nachschub verschaffen konnte. Dann inspizierte er die kleinen Spezialanfertigungen. Sie trugen kyrillische Aufschriften. Tokitou spähte unbehaglich auf die See hinaus. Das Land, die unzähligen Lichter der Küste, waren außer Sicht. Nun, mit wenigen Positionsleuchten ausgestattet, trieben sie in einer Nussschale auf dem Ozean. "Hier." Kubota drückte ihm sein lädiertes Mobiltelefon in die Linke. "Unser Freund schickt uns eine Mitteilung, wenn es geklappt hat." Tapfer schluckend, denn Tokitou konnte dem Meer überhaupt nichts Positives abgewinnen, konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf das dunkle, zerkratzte Display. Wann ging's endlich los?! Was genau tat der Dunkle Lord eigentlich? ~~~~~~x* Der Dunkle Lord saß, umgeben von gebraucht erworbener Hardware, in einem bescheidenen Hotelzimmer für "Business-People". Die Uhrzeit und die Umgebungsdaten zeigten ihm an, dass es dunkel und auf See ruhig war. Die dezente Bewölkung würde ein Übriges tun, seiner Strategie in die Hände zu spielen. Konzentriert tanzten seine Finger über die Tastatur, führten aus, was die "Straßenkarten" in seinem Kopf gespeichert hatten. Schiffe, auch ältere Containerschiffe wie ihr Ziel, fuhren heutzutage ferngesteuert durch Satelliten und GPS über die Weltmeere. Gewaltige Computersysteme regierten, was die Mannschaftsstärke erheblich reduzierte. Zunächst war es lediglich eine Ahnung gewesen, ein Versuch, bevor man andere Optionen in Erwägung zog. Es hatte genügt, die Satellitenverbindung zu finden. Man musste nicht verstehen, WAS gesagt wurde, nur ihren Empfänger im Kommunikationsnetz aufstöbern, sich hineinschmuggeln und herausfinden, dass man einen Treffer gelandet hatte. Eine Forte des Dunklen Lords. Also hatte er die Satellitenverbindung, einen Rhythmus von vergangenen Kontaktaufnahmen, die Kommunikationsdaten des Empfängers an Land, SEINE Kontakte, die wiederum sehr aufschlussreich waren... Und damit einen guten Start. »Vielleicht haben die Computerspiele doch geholfen.« Räsonierte er beiläufig, während sein Eindringen voranschritt. Man beschaffte sich nützliche Dinge aller Art, schlich sich an, knackte mit einem Zauberwort das Schloss und tötete die Bestie. Für ihn hatte es bedeutet, über den Verbindungsmann des "Teams" einen Fischkutter zu chartern mit einer verschwiegenen Mannschaft, Waffen, Munition und gewisse "Spezialitäten" zu ordern, eine kleidsam-nützliche Ausrüstung zu bestellen und hauptsächlich eine MENGE Geld zu bewegen. So lange und ausdauernd, bis sich die Spur zerstäubte. Der Dunkle Lord kopierte die letzte Botschaft und klopfte via Satellit telefonisch an. Das sollte eigentlich als Entree ausreichen. Wobei die Gäste nicht die Erwarteten sein würden, und ihr Eintreffen auch sehr viel früher zu verzeichnen war. ~~~~~~x* Vom Trawler wurde ein kleines Motorboot ins Wasser gelassen. Kubota und Tokitou kletterten hinein zu den zwei Mann Besatzung, die sie nahe an das alte Containerschiff heranbringen würden. Der Plan sah nun vor, dass sie irgendwie an Bord kamen und sich dann systematisch vorarbeiteten. Kubota unterdrückte den Drang, nach einer Zigarette zu fahnden. Er wäre nicht von Erfolg gekrönt, da der Neoprenanzug entsprechende Taschen nicht vorsah. Tokitou, der ihm gegenüber saß, spähte angespannt zu dem massigen Schatten vor ihnen. »Bis jetzt sieht's gut aus.« Konstatierte Kubota stumm, ohne sonderlich emotionale Beteiligung. Momentan befanden sie sich schließlich noch in der Phase des Plans, wo sie von den Leistungen anderer abhängig waren. Der Dunkle Lord hatte ihm zugesichert, über die Satellitenleitung den Computer des Containerschiffs zu invahieren. Eine kurzer Leeranruf auf seinem Mobiltelefon hatte ihnen signalisiert, dass diese Mission gelungen war. Dann sollte es noch ein "geknacktes Schloss" geben. Der Motor ihres Beibootes erstarb. Um die Crew nicht vorzuwarnen, die auf dem Containerschiff Dienst schob, musste jede Lärmquelle deaktiviert werden. Ein Mann legte sich in die Riemen, der andere steuerte mit dem Ruderblatt ihren Kurs aus. Tokitou tippte Kubota mit dem großen Zeh der kuriosen Schwimmschuhe an, wies mit dem Kinn auf eine Seite des alten Containerschiffs. Und in der Tat: man hatte eine kleine Gangway seitlich heruntergelassen. Sie lag jedoch im Dunklen. Ebenso, wie der Rest des Schiffes sich in spärliche Beleuchtung hüllte. Man erwartete sie also nicht. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der leichte Wellengang und die Anstrengung des Ruderers sie längs des Schiffes brachten. Poller verhinderten, dass sie vernehmlich an den massiven Rumpf schlugen. Kubota wickelte sich die schlauchartigen Transporthüllen mit Waffen und Munition quer über den Leib, dann kletterte er die Gangway hoch. Tokitou folgte ihm, einen knappen Blick auf das sich bereits wieder entfernende Motorboot werfend. Jetzt waren sie auf sich gestellt. ~~~~~~x* Für Kubota war es nicht der erste Guerillaangriff auf einem Schiff. Er war ausreichend bewaffnet, verfügte über ein geschultes Gehör, ein schier unerschöpfliches Maß an Geduld und darüber hinaus auch über die Konstruktionspläne dieses Schiffstyps. Der Dunkle Lord hatte sie ihnen überlassen, mit Markierungen, wo sich die Gegner befinden konnten. Ein Zeitfenster von einer Dreiviertelstunde war vereinbart worden, bevor der Dunkle Lord den Schiffscomputer angreifen würde. Kubota benötigte keine Uhr, auch wenn andere häufig dieser Meinung waren und einer ihm sogar eine Taschenuhr geschenkt hatte. Es war der richtige Takt, der perfekte Rhythmus der Ereignisse, auf den es ankam. Wenn man es ausschließlich mit Maschinen zu tun hatte, würde eine Uhr wohl genügen, aber Menschen... Menschen hatten ihren eigenen Rhythmus. Ein "Spurenleser" verstand sich darauf. Gemeinsam bewegten sie sich wie Schatten lautlos über das Deck. Viel Platz war nicht verfügbar, denn die Container waren wie Bauklötzchen eng an eng gestapelt. Kubota erwartete nicht, hier auf Wachpersonal zu stoßen. Vor der Brücke fand er, was er gesucht hatte: einen Zugang zu den Container-Aufbauten unter Deck. Ein kompliziertes System an Schienen, Trägern, Stützen, Sicherheitswänden und anderen Komponenten musste installiert werden, um den modernen Sicherheitsanforderungen zu genügen. Und hier, in einem der Abteile, würden sie wohl fündig werden. Gut versteckt, getarnt und abgeschottet. Er warf in der schummrigen Notbeleuchtung, die die schmalen Durchgänge in Zwielicht tauchte, einen prüfenden Blick auf Tokitou. Dessen angespannte Haltung, das wiederholte Schnüffeln verriet ihm, dass sein Freund sich nur widerwillig tiefer in die "Innereien" des Schiffes begab. »Erinnerungen?« Spekulierte Kubota und spürte einen Stolpern in seinem Herzschlag. Gleichwohl, jetzt waren sie hier. Er übernahm die Führung, lauschte, schlich, inspizierte. Bisher... nichts. Nichts als weitere Container und Fracht. Als sie die Schiffsmitte erreicht hatten, bemerkte er eine Art Schleuse. Schwere Türen ohne Griffe, daneben ein Aufsatz mit Tastatur, offenkundig zum Eingeben eines Codes. In einer Ecke befand sich eine Kamera, auf den Eingang gerichtet, etwas nachlässig mit einer Plastiktüte eingehüllt, wohl, um der Korrosion ein Hindernis zu bieten. Bei Kubota rief diese Konstruktion den Eindruck hervor, man wolle die Crew von Nachforschungen abhalten. Keineswegs wirkte es wie eine Präventionsmaßnahme gegen ernsthafte Bedrohungen. Tokitou spähte an ihm vorbei, dann zu ihm hoch. Gelassen schob sich Kubota die Handfeuerwaffe in den Werkzeuggürtel, fischte aus einer der quer gehängten Transporthüllen ein schmales Gerät. Er richtete es aus und beobachtete die Zahlen, die auf den kleinen Display tanzten. Als sie sich nicht mehr veränderten, aktivierte er die Fernsteuerung. Die winzige, rote Lampe auf der Kamera erlosch. Ohne unmäßige Hast verstaute er das nützliche Utensil und signalisierte Tokitou mit einer Handbewegung, dass sie abwarten wollten. Irgend jemand würde zweifellos nachsehen, warum die Kamera nicht mehr arbeitete. In der Folge würde die Tür geöffnet werden, was wiederum bedeutete, dass sie sich nicht der Mühe unterziehen mussten, den Mechanismus außer Kraft zu setzen. In Kubotas Mundwinkeln zuckte ein Lächeln, als sich die schweren Türflügel auseinander schoben. Es war doch äußerst befriedigend, wenn man recht behielt! ~~~~~~x* Bis jetzt waren sie ohne große Kampfhandlungen vorangekommen, stellte Tokitou fest und drängte das überwältigende Gefühl der Übelkeit zurück. Vier Männer waren tot, aus nächster Nähe erschossen. Er WUSSTE, dass sie kein Risiko eingehen konnten. Dass alle auf diesem Schiff, die sich ihnen in den Weg stellten, nicht lebend davonkommen würden. Trotzdem. Sie hatten einen Überwachungsraum vorgefunden, einen Aufenthaltsraum, eine Sanitäreinheit und zwei Kojen. Nun harrte ihrer ein zweiter Schleusenbereich, dieses Mal grell erleuchtet und mit Panzerglas ausgestattet. Tokitou atmete gepresst. Obwohl sein Kopf sich nicht erinnerte, sein Körper KANNTE diese Sektion! Er schwitzte unter der dicken Neoprenschicht kalt und zwang sich, Ruhe zu bewahren, den hämmernden Pulsschlag in seinen Ohren zu überhören. Kubo-chan war seinetwegen hier und brauchte seine Unterstützung. Er DURFTE jetzt der gefährlichen Schwäche nicht einen Sekundenbruchteil nachgeben! Seine Rechte zuckte. Unkontrolliert. Hastig fasste er Kubotas Hand, schüttelte eilig den Kopf, signalisierte, dass sie jetzt die "anderen" Vorsichtsmaßnahmen ergreifen mussten. Kubota verzog keine Miene, fischte nonchalant die Handschuhe, die Schutzbrille und die Maske aus der Transporthülle um seinen Oberkörper. Erinnerte Tokitou sich an etwas? Oder warnte ihn sein Instinkt? Nun, wenn sie Antworten bekommen wollten, mussten sie durch diese gläserne Barriere. Dumm nur, dass ihre Fingerabdrücke wohl nicht in der Datenbank gespeichert waren. Andererseits... Kubota bemühte erneut das flache Wundergerät, richtete es auf das Türschloss aus, folgte der Leitung leicht, während sich die Zahlen schneller als jede Wahrnehmung auf dem Display veränderten. Irgendwo gab es IMMER ein Hintertürchen. Techniker und Programmierer sorgten dafür. Tatsächlich kamen die irrwischenden Zahlen auf dem Display zu einem Stillstand. Kubota drückte den Sendeknopf und beobachtete mit dezenter Befriedigung, wie sich die lästige Barriere der schweren Türen voneinander trennte. So weit, so gut. Ab hier allerdings bewegten sie sich auf unbekanntem Terrain, denn der Dunkle Lord konnte keine Pläne für etwas beschaffen, was nicht zur Ausstattung eines Containerschiffes gehörte. Tokitou schob sich vor ihn, wandelte mit schlafwandlerischer Sicherheit durch ein Labyrinth weißer Wandsektionen, Räume in Modulbauweise. Die Optik erinnerte entfernt an das Innere von Raumschiffen im Kintopp. Mit einer Geste wischte Tokitou über Sensoren, öffnete systematisch die Türen. Hinter der glänzenden Oberfläche der Gänge ergab sich jedoch ein anderes Bild. Ausgeräumte Einheiten mit vernachlässigten Restbeständen an Mobiliar, flackernde Beleuchtung, Spuren von Schmutz und Verwahrlosung. Welcher Bestimmung manche Räume gedient hatten, konnte man nur noch erahnen. Bis Tokitou eine Tür aktivierte und wie angewurzelt stehen blieb. Ein leichtes Beben durchlief seinen gesamten Körper, trotz des Neoprenanzugs nicht zu übersehen. Kubota spähte am Freund vorbei, fand einen Untersuchungsstuhl, der an Zahnarztpraxen erinnerte. Nur, dass man dort in den seltensten Fällen mit Riemen fixiert wurde. Tokitou rang nach Luft, gab leise pfeifende Geräusche von sich. Was auch immer in diesem aufgegebenen Raum geschehen war: es HATTE Spuren hinterlassen, die man nicht mit bloßem Auge sehen konnte. "Tokitou." Raunte Kubota sanft, darauf achtend, dem Freund genug Freiraum zu lassen, ihn nicht zu berühren. "Tokitou." Die Klaue zu einer krampfenden Faust geballt straffte sich Tokitou mit einem vernehmlichen Ächzen. Abrupt machte er kehrt, um ihre Expedition fortzusetzen. Eine Abzweigung später trafen sie auf zwei Männer. Für einen Augenblick überwog die Überraschung, dann stürmten die in einen weißen Overall gekleideten Männer auf sie zu. Kubota hob seine Waffe und gab gezielt zwei Schüsse ab. Der Einschlag in den Brustkorb schleuderte die beiden Angreifer zwar nach hinten, doch dann fingen sie sich taumelnd wieder, orientierten sich, während Blut aus ihrem Mund lief, bei jedem Atemzug aus der verletzten Lunge nach oben befördert wurde. "Hm." Kommentierte Kubota diese Entwicklung. Er konnte zwar keine gewaltigen Muskelberge sehen, aber etwas in der Haltung dieser Männer verriet ihm, dass sie nicht so einfach aufzuhalten waren. Möglicherweise gar nicht. Ein irres, triumphierendes Funkeln glitzerte ihm entgegen. Tokitou stieß ihn plötzlich zur Seite, als HINTER den beiden Angreifern jemand mit einer Handfeuerwaffe zu schießen begann. Kubota rollte sich elegant auf den Boden ab, feuerte dann mit ruhiger Präzision direkt in die Gesichter der beiden Angreifer. Wie stark auch immer sie sein mochten: wenn der Schädel wie eine reife Melone aufplatzte, konnte man gerechtfertigter Weise von einer definitiven und unumkehrbaren Sendepause ausgehen. Tokitou fegte seinerseits nun auf den Schützen zu, knurrend und angetrieben von wütender Angst. Darin unterschieden sie sich wirklich, reflektierte Kubota, der kurz über die Leichen tastete, um sich zu versichern, dass hier keine Munition oder Waffe abzustauben war. Während Tokitou mit aller Leidenschaft reagierte, sein Recht auf Leben verteidigte, blieb er selbst stets kalt, distanziert, unbeteiligt. Möglicherweise konnte sich das ändern. Wenn "Leben" nicht mehr länger bloß ein Zustand war, den man hinnahm. Tokitou hatte unterdessen seinen Gegner mit Ellenbogen und Knie außer Gefecht gesetzt. Die Waffe nutzte auch niemandem etwas, denn seine Klaue hatte sie zerdrückt. "Schätze, wir sind nicht willkommen." Bemerkte Kubota süffisant und vermisste seine Zigaretten. "Böse." Wisperte Tokitou neben ihm, die Augen hinter der Schutzbrille groß und verhangen. "Böse hier." Kubota warf einen alarmierten Blick auf seinen Freund mit dem wirren Schopf und dem ehrlich-leidenschaftlichen Gemüt. Dessen Stimme klang anders, verhalten, metallisch. Erneut durchlief Tokitou ein heftiges Zittern, wie ein elektrischer Funkenschlag. "Böse." Wiederholte er in flachem Tonfall. "Böse." Die Hände zu Fäusten geballt zwang er sich standzuhalten, nicht zu fliehen. "Dann lass uns ein Ende machen, Tokitou." Raunte Kubota sonor, flüsterte den Namen seines Freundes wie eine Liebkosung. Ob dieser ihn gehört hatte, seine Worte verstanden, konnte er nicht erkennen. Tokitou setzte sich in Bewegung, entschieden, angespannt, die Schultern kämpferisch nach vorn gebeugt. Jetzt schlich er nicht mehr in katzenhafter Elastizität, sondern marschierte. Die Arme ausgebreitet, sodass er mit den Fingerspitzen vor den Sensoren auf beiden Seiten der Korridore Türen aktivieren konnte. Kubota blieb nichts anderes übrig, als Folge zu leisten, auf Bewegungen in ihrem Rücken zu lauschen und inspizierende Blicke in die Räume zu werfen. Kleine Module, Einheiten wie beim Militär... Sie kamen an Zellen vorbei, zumindest vermutete er diese Bestimmung in den Räumen mit gläsernem Vorbau, einem gefliesten Podest und Bodenauslass, grell beleuchtet, ohne äußere Reize. So etwas hatte er schon mal gesehen. Zur Disziplinierung. Oder Folterung. Was manchmal ein- und dasselbe war. Eine Frau und ein Mann, beide mit weißen Kitteln wie Ärzte ausgestattet, kamen ihnen entgegen. Sie waren nicht bewaffnet, flohen jedoch nicht vor den beiden Eindringlingen, von denen einer in jeder Hand eine Waffe trug. Nein, sie wechselten einen raschen Seitenblick, grinsten. Selbstsicher, arrogant. Um auf sie loszugehen. Kubota fühlte sich erneut an Filme oder Computerspiele erinnert. Konnte jemand wirklich so hoch springen? Oder auf allen Vieren so schnell heranpreschen? Definitiv übertrafen sie alles, was sich ihm jemals in seiner aktiven Zeit bei der Yakuza entgegengestellt hatte. Allerdings gab es ein sehr demokratisches Gegenmittel: eine Kugel in den Schädel zerstob noch jedes Gehirn. Wenn man zum Zielen und Abfeuern kam. "Nicht anfassen lassen!" Schrie Tokitou ihm zu, wählte sich den Mann aus. Kubota schaltete schnell. Sie mussten ihn gar nicht entwaffnen, es genügte, wenn er sich über direkten Kontakt mit Boden oder Wänden infizierte. Er feuerte in rascher Folge zwei Kugeln ab, während Tokitou verzweifelt mit seinem Gegner rang. Kubota passte seelenruhig und konzentriert den richtigen Moment ab, als der merkwürdige Kittelträger auf Tokitou kniete, ihn zu erwürgen drohte, rammte entschlossen seinen Fuß in dessen Weichteile. DAS führte immer zu einer Reaktion, einem konditionierten Reflex. Aufjaulend gab sein Gegner Tokitou frei, krümmte sich und sein Schädel explodierte förmlich, als Kubota ihn aus nächster Nähe erschoss. "Viele Kakerlaken hier." Bemerkte er lakonisch, stieß den Leichnam weg und lud seine Waffe nach. Tokitou rappelte sich auf. "Mutiert." Krächzte er heiser. "Sie sind mutiert, aber...!" "...sehen besser aus als die Typen, die man in die Säcke geschaufelt hat." Ergänzte Kubota gelassen. Der Dunkle Lord hatte mit seiner Theorie also recht behalten. ~~~~~~x* Der Dunkle Lord behielt die Uhr im Auge, die unerbittlich zum Countdown runterzählte. Ob die Zeit wohl reichte? Ob es den beiden gelang, Aufzeichnungen zu finden? Er konnte nur hoffen, dass er richtig gelegen hatte mit seinen Vermutungen, auch wenn es eine widerliche, abstoßende und entsetzliche Theorie war. Den Schlüssel dazu hatte Suriyawong ihm geliefert, ohne es zu wissen. Und wenn es möglich war, trachtete er auch danach, es Suriyawong niemals erklären zu müssen. ~~~~~~x* Es war simpel. Wenn man alle Fakten kannte. Doch weder die Polizei noch der Geheimdienst oder das Militär konnten ALLE Fakten kennen. Nur jemand, der sich überall einschleichen konnte, SAH den Elefanten im Zimmer. Am Anfang gab es eine Vorstellung. Die Vorstellung, dass sieben Tage nicht ausreichend waren, dass eine Verbesserung erforderlich war und erreicht werden konnte. Allerdings nur für BESTIMMTE Menschen. Die, die es wert waren. Die RICHTIG waren. Über den anderen Fehlversuchen der ersten sieben Tage standen. Dem Ausschuss. Dem Gewöhnlichen. Dann fand man Möglichkeiten. Und "Fans". Und Finanziers. Eine Gelegenheit ergab sich. Aus der Gelegenheit erwuchs eine Tradition. Ein Anspruch. Ein RECHT. Suriyawong hatte es aufgezeigt. Menschenversuche. Mal, um zu testen, wie man am Effektivsten so viele wie möglich töten konnte. Hatten nicht Seuchen immer wieder ganze Landstriche leergefegt? Dumm nur, dass Seuchen so wenig ZIELGERICHTET operierten. Unpraktisch. Nun, konnte man die anderen nicht ausrotten, musste man sie übertreffen! Aufs Abstellgleis der Evolution schicken. Survival of the fittest! Das bedeutete in der Konsequenz, dass man anpassen, verbessern musste, was nicht perfekt war! NATÜRLICH nicht für alle. Nur für die Auserwählten. Welchen Sinn aber hatte es, auf eine gesteuerte Evolution zu setzen, wenn erst folgende Generationen davon profitierten?! Warum warten? Warum verzichten?! Mush hatte sich zuerst gefragt, was das für eine neue Droge namens »Wild Adapter« war. Offenkundig synthetisch produziert. Warum jedoch sollte man eine Droge produzieren, die den Kundenkreis gleich dezimierte? Welchen Profit konnte man damit erzielen? Und warum nur Yakuza-Angehörige damit versorgen? In Japan? Mush spähte die Verbindungen aus, die eine der Triaden aufgedeckt hatte. Sie führte zum Tojo-Clan, der wiederum die Yakuza beobachtete. Irgendjemand hatte eine günstige, neue Quelle ausgemacht, die Drogen produzierte, was Konkurrenz bedeutete. Yokohama. Stadt zu einem Hafen. Konnte man ein Drogenlabor in Yokohama so einfach unterbringen, ohne dass die anderen Yakuza-Clans davon erfuhren? Oder die Polizei? Mush hatte einen langen Blick auf die Puzzleteile geworfen. Ein Hafen. Drogen. Yakuza. Mutierte, völlig deformierte Opfer. Konfusion, weil niemand wusste, was genau geschah. Oder wer davon profitierte. Jemand schickte ein Team, um seine Kollegen zu töten. Und ein anderes Team, das ihn in Bangkok aufstöberte und seine E-Mail-Bekanntschaft tötete. Auf den Verdacht hin, er könne sich mitgeteilt haben, weil er die Verbindungen entdeckt, nun, zumindest zum Teil entdeckt hatte. Wie man an das »Wild Adapter« herankam. Für die Triade. DAS war allerdings lediglich ein kleiner Blick auf einen winzigen Teil des gesamten Panoptikums. Nun erklärte sich alles, wenn man Zeit und Geschick hatte, zu suchen. Ein Schiff mit einem Labor. Konnte nicht leicht aufgestöbert werden. War in internationalen Gewässern nicht einfach zu durchsuchen. Warum aber ins Drogengeschäft einsteigen? Und dann mit solchen "Nebenwirkungen"? Geld. Forschung war teuer. Warum also nicht ein Labor, das bereits vorhanden war, nutzen, um Geld zu beschaffen? Also ein Labor auf einem Schiff. Und Leichen, deren Haut geschrumpft war, die inneren Organe aufgeplatzt. Übermenschlich stark, heftig behaart. Suriyawong hatte es ihm erklärt. Ihm Bilder gezeigt. Wachstum in Zeitraffer. Stammzellen als Bestandteil der Haut. Stammzellenforschung. Aus Stammzellen konnte man alles Mögliche erzeugen. Was könnte man nicht mit einer veränderten Zelle in kurzer Zeit erreichen? Ohne Unverträglichkeiten? Zum Beispiel ein enormes Muskelwachstum... Warum dann aber die Mutation? Leichen, die so auffällig waren? Was war mit der Haut geschehen? Schrumpfhaut analog Schrumpfköpfen? In Nullkommanichts? Mush hatte kombiniert. Ein Schiff in internationalen Gewässern mit einem Labor an Bord, das Geld benötigte und Leichen mit "Hautproblemen", japanische Opfer und eine Vergangenheit, in der unter entsetzlichen Umständen Seuchen erforscht worden waren, die auch die Haut betrafen. Mutationen. Dann hatte er sich an Computerspiele erinnert. Militärs züchteten besondere Soldaten heran. Wenn die desertierten oder nicht mehr benötigt wurden, musste man sich ihrer entledigen, bevor sie zur Belastung wurden. Möglicherweise durch ein Kontaktgift, das in einer schweigsamen Leiche resultierte, den Beweis der ersten Mutation zerstörte. Für diese abenteuerliche Vermutung, die alle Puzzleteile kombinierte, hatte Mush Nachweise gesucht. Zum Beispiel ein Schiff, das regelmäßig eine bestimmte Route bereiste, sich bei Yokohama aufgehalten hatte, als man die Yakuza entdeckte. Aufzeichnungen von Verbindungen über Satellit mit den Yakuza-Clans. Monetäre Transfers. Und jemand, der lokale Triaden-Truppen engagieren konnte, die unliebsame "Spürnasen" ausschalteten. Vielleicht hatte der Fehler darin bestanden, sich am Profit der anderen Triade beteiligen zu wollen, durch Informationen eine "Partnerschaft" zu erzwingen, was viele Menschen das Leben gekostet hatte. Und noch kosten würde. Mush benötigte also jemanden, der die Yakuza aufmischen konnte. Der mit dem »Wild Adapter« in Verbindung stand. Jemand, der seine Gegner umbrachte. Makoto Kubota. ~~~~~~x* Tag 24 Tokitou stützte sich mit der Klaue an der Wand ab. Ihm war übel. Kubota zählte seine Munition durch. Beklagenswert, dass er so wenig requirieren konnte, was ihnen nützlich sein würde. Nun ja, er würde sich eben behelfen müssen. Die über-enthusiastischen Attacken auf sie hatten stark abgenommen, vor allem, weil seine eigenen Reflexe nicht hinter den "verbesserten" ihrer Gegner zurückstanden. Einige der Türschlösser waren blockiert worden. Tokitou hatte auf seine Veranlassung seinerseits von außen den Mechanismus zerstört. "Wir müssen das Archiv finden." Erinnerte Kubota leise. Tokitou nickte abgehackt. Sein Körper zuckte immer wieder unkontrolliert. Es WAREN Erinnerungen, bloß sein Gedächtnis blieb blank. Plötzlich erlosch das Licht, der Strom fiel aus und die dämmrige Notbeleuchtung setzte mit vernehmlichen Ächzen des Dieselgenerators ein. Der Dunkle Lord musste sich in den Schiffscomputer gehackt haben. Was bedeutete, dass sie sich sputen mussten. Tokitou öffnete eine Tür, als er hinter sich ein Geräusch vernahm. Kubota ging auf der anderen Seite zu Boden, rollte sich aus der Schussbahn. Auf dem Boden blieb ein dünner Schmierfleck von Blut zurück. "Sieh mal einer an!" Schnurrte eine Stimme amüsiert, körperlos, da ihr Besitzer sich wohlweislich in Deckung befand. Tokitou erstarrte. Schiere Panik lähmte seine Glieder, seinen gesamten Leib bis in die Zellstruktur hinein. Auf der anderen Seite der Türöffnung überprüfte Kubota seine Verletzung. Der Schuss hatte seinen Oberschenkel durchschlagen, glücklicherweise den Knochen und wichtige Adern aber verfehlt. Der Schmerz war höllisch. Er zwang sich, konzentriert zu denken, rational zu handeln. Mit dem Tauchmesser zersäbelte er einen der Transportschläuche, um sein Bein abzubinden. Ein notdürftiger Verband ergänzte seine Maßnahmen, denn er musste unbedingt verhindern, mit ungeschützter Haut etwas in diesem Todesschiff zu berühren. Das Neopren zumindest half, die offene Wunde auf ein kleines Maß zu begrenzen. Trotz des Geruchs seines Blutes konnte er Papier wahrnehmen. Die Atmosphäre eines Büros. Oder eines Archivs. Akten, vermutlich. Protokolle über die Versuche. Der Ort für Antworten. "Ich hatte gehofft, du hättest dich selbst aus dem Verkehr gezogen, Minoru." Säuselte die Stimme trügerisch amüsiert. Kubota warf einen besorgten Blick auf den Freund. Würde der wie damals reagieren? Tokitou stand wie ein Fels, unbeweglich, leicht schwankend. "Sie haben mir berichtet, dass es einen Jungen mit einer Klaue geben soll." Bemerkte die körperlose Stimme leichthin. "Immer noch der alte Versager, was? Nicht mal eine Infektion funktioniert bei dir." "Wenigstens kann er schwimmen." Antwortete Kubota frostig. Deshalb also. Wie passend. Der Dunkle Lord hatte es vermutet: eine hübsche, kleine Versicherung gegen Ausbüchsen, auf Wänden und Gegenständen verteilt. Tokitou musste sich befreit haben und dann mit dem Kontaktgift in Berührung gekommen sein. Er hätte wie die Yakuza enden müssen. Oder wie die anderen gescheiterten Versuchsteilnehmer, als geschrumpfte Leiche im Ozean. Fischfutter, spurlos verschwunden. "Hast einen Freund gefunden, wie? Einen kleinen Psychopathen, hm?" Die Stimme lachte, man hörte gedämpft Schritte. "Ich hätte dich gleich erwürgen sollen, aber du hattest ja einen Schutzengel, nicht wahr? So sentimental..." Es klang, als würde verächtlich ausgespuckt. "Der Trottel wollte sein erstes Versuchskind einfach nicht aufgeben, obwohl JEDER sehen konnte, dass du ein einziger Fehlschlag bist." Tokitou schwankte leicht. Verstand er, was gesagt wurde? Erinnerte er sich? "Verstehe wirklich nicht, warum er sich mit dir Mühe gegeben hat. War sowieso nur Brei in deinem Kopf, wäre keine Spritze notwendig gewesen! Woran kann sich ein Fünfjähriger schon erinnern?" Lachte die Stimme im Inneren des Raumes gehässig auf. »Der Kerl schindet Zeit.« Kubota stieß sich mühsam vom Boden ab, hechtete an der Tür vorbei und rammte Tokitou, rollte mit ihm bis zum nächsten Gang. Keinen Augenblick zu früh, denn durch die Wand schlugen Schrapnell von Maschinengewehrfeuer mit enormer Durchschlagskraft, und leider pirschte sich hinter ihnen ein Gigant an, der mit einem Hieb Kubotas Unterarm brach, als der sie im Reflex zu schützen suchte. Behindert durch Tokitou konnte er nicht mit der noch funktionstüchtigen Hand seine Waffe abfeuern, doch zumindest aus dem Freund war angesichts der Todesgefahr die seltsame Starre gewichen. Tokitou schraubte sich hoch, bohrte seine Klaue in den Bauch des Riesen. Der grunzte ärgerlich und verpasste Tokitou mühelos einen Schlag, der ihn mehrere Meter weit in den Gang beförderte. Kubota jedoch hatte freie Schussbahn und zersiebte den gewaltigen Schädel des Angreifers, rammte ihm das unverletzte Bein in den Leib, sodass die Leiche von ihm weg in den Gang kippte. Wieder schlugen Maschinengewehrsalven ein, doch er bezweifelte, dass es dem Riesen noch etwas ausmachte. So gänzlich ohne Haupt. "Minoru? Miiinoooruuuu?" Jodelte die Stimme lockend. Kubota lud mühevoll nach, presste die Lippen aufeinander und strengte sich an, den gebrochenen Unterarm zu ignorieren. Es fiel ihm eingestandenermaßen schwer. Als er sich herumrollte, um sich an der Wand entlang nach oben zu schieben, registrierte er, dass Tokitou verschwunden war. ~~~~~~x* »Ich erinnere mich nicht.« »Ich ERINNERE mich NICHT!« »Aber... ich fühle.« »Ich fühle die Erinnerung.« »Ich fühle... mich selbst.« »Auf dem Weg zum Stuhl.« »Plötzlich... frei.« »Nur eine Tür.« »Mit der Hand des Doktors.« »Entscheiden... sich entscheiden.« »Eine Hand opfern... um ich selbst zu sein.« »Ich.« Seine Klaue zuckte nun ununterbrochen. Es GAB kein Zurück. Und es gab auch keine Kur. Kein Gegenmittel. Keine Heilung. Aber es gab etwas, dass es zu verteidigen galt. ~~~~~~x* Kubota hatte sich in einem beinahe leeren Raum verschanzt. Nun, zumindest hatte er sich blutend hinter einen umgeworfenen Metallschrank geschleppt. Er erwiderte die Salve, die auf sein Versteck abgefeuert wurde, doch es war unmöglich, sich weit genug aus der Deckung zu wagen, um seinen Aggressor zu erschießen. "Ah, genug damit!" Plötzlich hörte er elastische Bewegungen und sah über sich einen sehnigen, nicht mehr ganz jungen Mann. Definitiv mutiert, denn SO bewegte sich kein normaler Mensch! Eine Hand schloss sich um seine Kehle, bevor er die den Abzug betätigen konnte, während die andere simpel den Lauf der Waffe verbog. "Und wer bist du wohl, hm? Makoto-chan? Sanadas Schätzchen?" Säuselte der Mann. Wäre Kubota ein leidenschaftlicher Charakter gewesen, hätte er ihn mit jeder Faser seines Herzens gehasst. Er blieb jedoch ungerührt, starrte in die schwarzen Augen und war sich sicher, einen Teufel darin lachen zu sehen. "Schade, eigentlich. Aus dir hätte was werden können." Der weiße Anzug war nicht einmal schmutzig, was Kubota verärgerte, der sein letztes Sekündchen geschlagen sah. Tokitou gab keinen Laut von sich, als er sich förmlich in den Mann katapultierte. Kubota kam frei und rang heftig nach Luft, während Tokitou mit seinem Gegner kämpfte. Der rammte ihm die Stirn auf den Kopf und löste sich aus dem Wettstreit der Kräfte. Dass Tokitou ihm körperlich weit unterlegen war, konnte niemand übersehen. "Du blöder Affe!" Grinste der Mann, glättete den weißen Anzug beiläufig, umklammerte dann Tokitous Klaue und zerrte ihn damit vom Boden hoch. "Das ist ALLES, was du kannst, nicht wahr? Genetischer Abfall!" Triumphierte er bösartig und zerquetschte mit seiner Hand Tokitous Klaue. Ein animalischer Schrei höchster Pein entrang sich dem zuckenden, jungen Mann. Kubota zog den schmalen Stab mühsam von seinem Bein ab, wo er im unteren Teil des Verbands als Stütze gesteckt hatte. Eigentlich sollte er einem anderen Zweck dienen, doch das war nicht mehr wichtig. Den Blick leicht verschwommen löste er die Kappe, rollte herum, zündete die Magnesiumfackel direkt zwischen den Beinen ihres Gegners, indem er sie in einen Hosenaufschlag beförderte. Sie brannte. Weiß. Gierig. Mit großer Hitze. Immerhin musste der Laborkomplex mit viel Sauerstoff versorgt werden. Der Mann, der Tokitou gequält hatte, brüllte auf und schlug nach den Flammen, die ihn verbrannten, den Stoff verschlangen, seine ach so perfekt mutierte Haut mit Brandblasen übersäten. Kubota zog sich am Schrank hoch, trat mit seinem gesunden Bein eine Leiste ab. Mit dem gesunden Arm hob er sie und prügelte auf den brennenden Mann ein. "Hättest meine Waffe nicht verbiegen sollen." Zischte er heiser, denn der bestialische Gestank setzte ihm trotz der Maske zu. Er ließ nicht ab, auch wenn sein Arm schmerzte, seine Schultern brüllten, sein Körper aufgeben wollte. Diese Typen waren zähe, und der Kerl hier würde nicht mal durch das hübsche Kontaktgift umzubringen sein, weil er sich für zu clever hielt. Also musste die graue Masse zerstört werden, die diese abartigen Ideen unterstützt hatte. Kubota hielt erst inne, als nichts mehr an einen Kopf erinnerte, während die perfektionierten Sehnen und Muskeln noch zuckten und zappelten. Blut, Gehirnmasse und Knochensplitter klebten auf seinem Neoprenanzug. Tokitou kauerte auf dem Boden, die zerquetschte Klaue vor der Brust geborgen, wiegte sich mit wimmernden Lauten vor und zurück. "Tokitou." Raunte Kubota sanft, beinahe zärtlich. "Tokitou, lass uns gehen. Es reicht. Komm, Tokitou." Vorsichtig streckte er die unversehrte Hand aus, wartete. Flüsterte immer wieder den Namen, den er ausgewählt hatte. Er atmete auf, benommen durch den Blutverlust und den Gestank, als Tokitou zu ihm aufsah. "Gehen wir, hm?" Bat er leise. "...Kubo-chan.." Tokitou suchte nach Silben, seine Stimme klang dünn und kindlich hell. "Tokitou." Antwortete Kubota liebevoll. Er bewunderte den Lebenshunger seines Freundes über alle Maßen. Mühsam rappelte Tokitou sich auf, den rechten Arm mit der Klaue wie einen gebrochenen Flügel vor der Brust bergend. Gemeinsam bewegten sie sich durch die dämmrigen Flure, unwirklich im Schein der Notbeleuchtung. Kubota betrat hinkend das Büro, vor dem sie der Mann in Weiß hatte fernhalten wollen. Stahlschränke, vermutlich mit Akten und Papier gefüllt. Aufzeichnungen von wer weiß wie vielen Jahren. "Sollen wir suchen?" Fragte er leise. Nach der Akte. Nach dem Jungen, der Tokitou gewesen war. Tokitou schüttelte langsam den Kopf. "In Ordnung." Für Kubota spielte es keine Rolle, wie Tokitou entschied. Solange es dessen Entscheidung war, konnte er sie akzeptieren. Als sie aus dem Labortrakt kletterten, sahen sie die Leichen von Mannschaftsmitgliedern, die offenkundig herbeigelaufen waren, um nach dem Angriff des Dunklen Lords auf den Schiffscomputer nach dem Rechten zu sehen. Mutierte, zusammengeschrumpelte und aufgeplatzte Kadaver. Ihr Weg führte sie zum Maschinenraum, wo Kubota, schwindelig vom Blutverlust, einen Zeitzünder anbrachte, der eine Kettenreaktion initiieren sollte. Vor allem, weil eine erste Explosion dem Schiff den fatalen Todesstoß versetzen würde. Tokitou schlang ihm den gesunden Arm um die Hüfte und stützte ihn. »Erstaunlich!« Befand Kubota, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass Tokitou Körperkontakt zulassen würde. Oder zumindest Neoprenkontakt. Sie entfernten sich von der Brücke und steuerten das obligatorische Rettungsboot an. Das Schiff würde untergehen und alles mit ihm. Ob sich noch jemand auf der Brücke befand, spielte keine Rolle mehr. Tokitou half Kubota ins Boot, kletterte selbst hinein und löste die Notwasservorrichtung. Mit einem heftigen Schlag prallten sie auf der Wasseroberfläche auf, doch durch Glück kenterte weder das Boot, noch stürzten sie ins Wasser. Die paar Prellungen mehr fielen wohl kaum ins Gewicht. Kubota ächzte unterdrückt und zwang sich, die Augen offen zu halten. Er WAR zähe, doch langsam fühlte er sich ausgelaugt. Tokitou kämpfte mit dem widerspenstigen Außenbordmotor, schimpfte und fluchte erstickt, als halte er Tränen zurück. Endlich erwachte die Maschine zum Leben. "Wohin, Kubo-chan?" Nun schluchzte er wirklich. "Nur weg vom Schiff." Dirigierte Kubota matt. Hinter ihnen detonierte die erste Explosion. Metall stöhnte. Bald würde die Belastung zu groß sein und sich die Container verschieben. "Das könnte als Signal auch ausreichen." Bemerkte Kubota ironisch, dann senkten sich seine Lider unerbittlich. ~~~~~~x* Tokitou erschrak, als er registrierte, wie sich Kubotas schlaksiger Körper entspannte. "Kubo-chan?" Wisperte er. "Kubo-chan?!" Am Liebsten hätte er die Ruderpinne losgelassen, doch dann wurde es gefährlich. Hinter ihnen krängte das Containerschiff bereits, bekam Schlagseite. Wenn es kippte und sank, wollte er nicht mit im Sog hinabgezogen werden. Tokitou blinzelte durch die lästige Schutzbrille. Wenn er nur irgendwo Lichter sah...die Küste! Mit plötzlicher Wut riss er die Schutzbrille von seinem Gesicht, schleuderte ihre Überreste ins Wasser, um dann, perplex innezuhalten. Moment mal! Zögerlich blickte er an seinem rechten Arm herunter. Wenn er weiterhin die Ruderpinne hielt... Prüfend bewegte er SEHR behutsam seine Klaue. Bog Kralle für Kralle. Ballte schließlich grimmig die Faust. Versager, hm? HA!! Mutiert war sie, seine Rechte, die er geopfert hatte, um zu entkommen, sich selbst zu bewahren. Sein Ich zu retten. Aber, verdammt noch mal, sie heilte sich tatsächlich selbst! "Von wegen Fehlschlag!" Brüllte er aus voller Kehle. Weil er nun beide Hände zur Verfügung hatte, konnte er auch in Reichweite der Ruderpinne die Bootsverkleidung absuchen, ob sich nicht doch noch irgendwo eine Notausrüstung verbarg. Vorzugsweise mit einer Signalpistole. ~~~~~~x* Sie hatten das kleine Rettungsboot in Schlepp genommen, weil der Junge ihnen zurief, er sei mit einer giftigen Flüssigkeit beschmiert. Also flog das Kleiderbündel herüber und sie beobachteten, wie sich der Junge mit einem Tauchermesser selbst den Anzug vom Leib säbelte und alles über Bord warf, die komplette Ausrüstung. Nackt und bloß stieg er eilends in seine Kleider, bevor er frische Handschuhe überstreifte und seinen Begleiter, den großen Schlaks, entpellte. »Verrückte Sache!« Dachten sie, aber für das Geld, das sie als Anzahlung erhalten hatten, waren sie mehr als bereit, merkwürdiges Verhalten zu tolerieren. ~~~~~~x* So sehr Tokitou sich auch bemühte: Kubota schreckte betäubt aus seinem Dämmerzustand hoch, als er aus dem Anzug befreit wurde. Mit der Notausrüstung des Rettungsbootes strengte Tokitou sich an, den gebrochenen Unterarm zu schienen, dann tauschte er den provisorischen Verband um die Schusswunde aus. Kubota konnte ihm kaum assistieren, sich in seine Kleider zu hüllen. "Ruf Kou an." Bat er Tokitou. "Sag, wir kommen." "Mach ich." Murmelte Tokitou und bedachte Kubota mit einem bangen Blick, bevor er das lädierte Mobiltelefon bearbeitete. Sie waren bereits nahe genug an der Küste, um Empfang zu bekommen. "Jetzt schmeiß das Ding über Bord. Hat nur Ärger eingebracht." Murmelte Kubota matt. Tokitou grinste schief und entsorgte die letzte trügerische Verbindung zu all dem Ungemach im Ozean. "Mist." Brummelte Kubota mit schwerer Zunge. "Was ist, Kubo-chan?" Tokitou verwünschte die Ruderpinne, die er bediente, um das Schlingern im Schlepptauch leicht auszugleichen. "Meine Kippen sind nass geworden." Antwortete Kubota ihm knurrend. "Ich kauf dir welche, bestimmt!" Versprach Tokitou aufgewühlt. Er fürchtete, dass es Kubota schlechter ging, als der ihn glauben machen wollte. "Gut. Weck mich, wenn das Taxi da ist." Grummelte sein großgewachsener Freund. "Hab heute irgendwie Lust auszuschlafen." Was Tokitou ihm ganz sicher nicht verdenken konnte. ~~~~~~x* "Ein paar aufregende Tage." Bemerkte Kou beiläufig, während er Kubotas Arm behandelte. "Lukrativ, möchte ich meinen." Stellte der bissig fest. Es gefiel ihm nicht, verwundet zu sein. Und er mochte nicht leiden, dass Tokitou ihm so in sich gekehrt Gesellschaft leistete. "Selbstredend. Haben Sie übrigens den Dunklen Lord...?" Kou blieb unerschütterlich höflich. "Nie von dem gehört!" Bellte Kubota ungnädig zurück. Sie waren erfolgreich gewesen, und wenn der Dunkle Lord ihre Abmachung einhielt, tilgten sich gerade sämtliche Spuren ihrer Kommunikation. Was auch besser war, denn er wollte WIRKLICH eine Tüte Schlaf AUSGIEBIG genießen! Da hörte er ganz leise Tokitous Stimme an seinem Ohr. "Danke, Kubo-chan." Makoto Kubota, der unsichtbare, uneheliche Sohn eines legendären Yakuza, Spurenleser und Überlebenskünstler, schloss die Augen. Weil eine ungekannte, wohlige Wärme sich von seinem Herzen aus in seinem gesamten Körper ausbreitete. ~~~~~~x* "Nett hier, oder?" Tokitou beobachtete von dem käfiggroßen Betonklotz, der sich als "Balkon" ausgab, die Stadt. Antennen, Dächer, Leitungen, Reklameflächen. Ein urbaner Dschungel. Unter ihnen, auf dem gegenüberliegenden Dach, tobten Kinder auf einem Dachspielplatz. Eingezäunt in einer Plastikwelt und trotzdem fröhlich, unbeschwert. "Ja." Antwortete Kubota und blies einen perfekten Kringel in den Himmel. Die Wohnung war winzig, ein Zimmer, dazu ein Bad im Wandschrank. "Was meinst du, soll ich es mal versuchen?" Tokitou wandte den Kopf und lächelte Kubota an. Ohne Erläuterungen verstand der, um was es seinem Freund ging: Schritt für Schritt in eine ihm fremde Welt zu gehen. Tokitou wollte nicht mehr den ganzen Tag in ihrem kleinen Appartement verbringen, sondern in dem Supermarkt zwei Straßen weiter aushelfen. Ein großer Sprung für einen jungen Mann, der die letzten 15 Jahre ohne Erinnerung an einem Ort verbracht hatte, wo sich niemand für Schulbildung oder Ähnliches interessierte. "Ich hab ein gutes Gedächtnis!" Betonte Tokitou. Vielleicht konnte er noch nicht viele der komplizierten Schriftzeichen lesen, aber er verbesserte sich eifrig. "Hast du." Pflichtete Kubota ihm bei und lehnte sich ebenfalls vor, streifte dabei die schmächtigen Schultern. "Morgen werde ich ein neues Curry-Rezept ausprobieren." Führte Tokitou lebhaft ihre Unterhaltung fort, grinste in den von Abgasen blutigrot gefärbten Sonnenuntergang. "Hab's in der Glotze gesehen." "Hört sich gut an." Kubota lächelte leicht. Tokitous Energie entfachte dieses seltsame Glühen in seiner unbehausten Brust. Möglicherweise verfügte er doch über so etwas wie ein Herz. Er drückte seine Zigarette aus und fahndete mit seinem gesunden Arm in seiner Parkatasche. Dann produzierte er einen schmalen Behälter, stellte ihn zwischen Tokitous überhängende Arme auf die Betonbrüstung. "Oh! Was ist das?!" Neugierig-erfreut nahm er den Gegenstand hoch und studierte die Piktogramme. Leicht schütteln. Vorsichtig den Deckel aufdrehen. "Oooooohhhhh!" Intonierte er begeistert, als sich allein durch die kalte Brise eine erste Gruppe oszillierender Seifenblasen aus dem Nichts erschuf. Kubota lächelte. Niemand konnte so strahlen wie Tokitou, wenn ihn etwas begeisterte! Der Seifenblasenschwarm trieb hinüber, wo sich auch die Kinder nach ihnen umsahen. Behutsam den Deckel mit dem eingesetzten Plastikring zwischen Daumen- und Zeigefingerklaue haltend blies Tokitou mit prallen Backen immer neue, schillernde Kugeln in den Abendhimmel. "Du auch, Kubo-chan!" Bezog er den Freund aufgekratzt in das neue Spiel ein. Kubota, eine neue Zigarette zwischen den Lippen, ließ sich nicht lumpen. Seine Seifenblasen, mit Rauch gefüllt, mischten sich unter die durchsichtigen, zerstoben, wenn sie platzten, in kleine Wölkchen. Tokitou jauchzte begeistert auf. "Klasse!!" Er strahlte seinem Freund fröhlich ins Gesicht, was Kubota mit einem nachlässigen Grinsen erwiderte. Jetzt, in diesem Augenblick, außen knackig kalt und innen wohlig warm, glaubte Makoto Kubota zum ersten Mal an eine Zukunft. Sie lag dort, wo Tokitou sich aufzuhalten wünschte. ~~~~~~x* Suriyawong atmete tief durch, als er den zweiten Stock des Mehrfamilienhauses erklommen hatte. Rasch hochgezogen aus Betonfertigteilen wirkte es nicht sonderlich heimelig, doch es erfüllte seinen Zweck. Wie jeden Morgen, wenn er von seiner Nachtschicht zurückkehrte, deponierte Suriyawong seine Tasche mit den bescheidenen Einkäufen an einem Haken, widmete sich den in unzähligen Behältern eingesetzten Pflanzen und streifte seinen Anzug ab. Er besprühte den Stoff mit Wasser und hängte ihn auf einen Bügel zum Lüften, während er sich selbst von dem Brustband befreite, ein loses Hemd und eine kurze Hose überstreifte. Wie immer fiel sein Blick auf die Postkarte. Eines Tages hatte sie im Türrahmen gesteckt. Suriyawong kannte diese Sorte noch nicht, hatte überhaupt nur selten in seinem Leben Post erhalten. Dass man Postkarten im Internet schreiben konnte, die dann ausgedruckt und versandt wurden, war ihm neu. Auf der Rückseite befand sich nicht etwa ein Bild, sondern der Text eines Liedes. FRANKIE GOES TO HOLLYWOOD, "The Power Of Love" "I'll protect you from the hooded claw Keep the vampires from your door Feels like fire I'm so in love with you Dreams are like angels They keep bad at bay-bad at bay Love is the light Scaring darkness away-yeah I'm so in love with you Purge the soul Make love your goal The power of love A force from above Cleaning my soul Flame on burn desire Love with tongues of fire Purge the soul Make love your goal I'll protect you from the hooded claw Keep the vampires from your door When the chips are down I'll be around With my undying, death-defying Love for you Envy will hurt itself Let yourself be beautiful Sparkling love, flowers And pearls and pretty girls Love is like an energy Rushin' rushin' inside of me This time we go sublime Lovers entwine-divine divine Love is danger, love is pleasure Love is pure-the only treasure I'm so in love with you Purge the soul Make love your goal The power of love A force from above Cleaning my soul The power of love A force from above A sky-scraping dove Flame on burn desire Love with tongues of fire Purge the soul Make love your goal I'll protect you from the hooded claw Keep the vampires from your door" Suriyawong lächelte versonnen und schälte sich eine Banane. Der Absender fehlte zwar, doch er kannte ihn. Dann seufzte er leise und entsorgte die Bananenschale. In der Luft lag die Ahnung von Regen, und seine Haarspitzen drehten sich auf. Die Uhrzeit des Schulbeginns war schon überschritten, also tat er gut daran, die Hängematte auszubreiten und sich auszuschlafen, bis seine nächste Schicht begann. »Drei Monate.« Dachte Suriyawong und sah sich in dem winzigen Appartement um. Abgesehen von seinen Pflanzen wirkte es kahl und bar. Als sei er nur auf einen Sprung hier abgestiegen. "Und ich will auch gar nicht bleiben." Murmelte er leise. Was er sich jeden Morgen sagte, um seine Entschlossenheit zu demonstrieren. Wenn Mush kam, wollte er bereit sein, wohin auch immer aufzubrechen. Und Mush würde kommen, das wusste er. Eine andere Möglichkeit gab es schlichtweg nicht. "Aber ein bisschen beeilen könnte er sich schon!" Murmelte Suriyawong vor sich hin. Er nahm einen Kamm, um sich durch die gestutzten, auf Ohrmuschelhöhe abgesäbelten Haare zu fahren. Regen, definitiv. Vage filterten seine Ohren die Umgebungsgeräusche. Richtig still wurde es hier niemals, aber das hätte ihm auch nicht gefallen. Er hörte die zahnlose Alte, die stets etwas Unverständliches vor sich hin sang, während sie Gemüse putzte und pulte. Sie fungierte als eine Art Wachhund, falls die hochbeinigen, dürren Hühner im Hof nicht auf dem Posten waren. Beiläufig blickte Suriyawong aus dem Fenster, was mit einem Fliegengitter und einem Holzrollladen ausgestattet war. Unten marschierte ein Backpacker über den schmutzigen Hof, scheuchte die hysterisch gackernden Hühner auf. Backpacker sah man nur noch selten, vor allem aber nicht hier. Der Rucksackaufbau bestand, soweit Suriyawong das identifizieren konnte, aus allerlei Hausrat, einer gerollten Matratze und einem abgewetzten, sackähnlichen Konstrukt. Eine ausgewaschene Baseballkappe krönte filziges, bräunlich ausgebleichtes Haar. Darunter waren ein gelbes T-Shirt und fransige Bluejeans über simplen Sandalen zu erkennen. Von den Knöcheln bis zu den Waden, von den Händen bis zu den Ellenbogen hatte ihr Eigentümer ordentlich Sonne getankt, wie es schien. Etwas war vertraut. Der Fremde hielt vor dem Treppenaufgang inne, legte den Kopf in den Nacken und sah an der Gebäudefront hoch. Die ersten, schweren Tropfen entluden sich gemächlich, dampften winzige Trichter in den schmutzigen Boden. Suriyawong riss sich vom Fenster los, stürmte zur Tür und hetzte barfuß die offenen Betonstufen hinunter. "Urgh!" Machte der Fremde, als er sich drei Stufen über dem Erdgeschoss löste und ihm an den Hals sprang. Er taumelte zwar ein wenig, umschlang Suriyawong jedoch sicher und kraftvoll mit Armen, die seit ihrer letzten Begegnung eindeutig an Muskelmasse zugelegt hatten. "Msh! MSH!" Schluchzte/jauchzte/ächzte Suriyawong in ein unter der filzigen Putzwolle vermutetes Ohr und verstärkte seine Umklammerung nur noch. Endlich! ENDLICH! "Tschuldige." Murmelte Mush lächelnd. "Bin ein bisschen spät dran." Dann suchte er nach den passenden Worten und formulierte auf Thai. "Bitte, lass mich bei dir bleiben." Seine Betonung war lausig, die Aussprache extrem gewöhnungsbedürftig, aber Suriyawong schniefte bloß und knurrte. "kay! KAY!" "Ehrlich?" Mush klang vertraut begeistert und streichelte über den fragilen Rückgrat. Es schien ihm, als sei sein Freund während ihrer Trennung noch zarter geworden. Umgekehrt nun, nachdem er sich ein wenig Distanz verschafft hatte und in das fremd-bekannte Vollmondgesicht spähte, testierte Suriyawong, dass Mush die Frechheit besessen hatte, um einen halben Kopf zu wachsen. Und Schultern wie ein Preisringer zu bekommen! Von den Kanten im Vollmondgesicht ganz zu schweigen! "He!" Bemerkte Mush interessiert. "Du hast ja deine Haare geschnitten!" "Was du wohl in letzter Zeit gar nicht getan hast, hm?" Retournierte Suriyawong mit einem kurzen Zupfen an einer filzigen Strähne. "Stimmt!" Lachte Mush und zwinkerte ihm zu. "Ich sehe aus wie ein Straßenräuber, was?" Suriyawong zappelte entschlossen und landete auf seinen baren Sohlen. "Komm!" Ordnete er mit strengem Blick an, fasste zugleich aber fest eine gekaperte Hand, um jeglichen Fluchtversuch zu verhindern. "Was jetzt nottut, sind Wasser, Seife und möglicherweise eine Machete!" Mush kicherte und ließ sich hinauf in das winzige Appartement ziehen. Ihnen war bewusst, dass sie von unzähligen Augen- und Ohrenpaaren registriert wurden, deshalb verschloss Suriyawong auch die Tür und zerrte an dem gewaltigen Gestell herum, das Mush so nonchalant auf seinem Rücken transportiert hatte. Hätte der ihm nicht assistiert, wäre er wohl mit den Habseligkeiten umgekippt. "Hast du deinen ganzen Hausstand mitgebracht?!" Erkundigte Suriyawong sich fassungslos, rieb sich über die dünnen Unterarme, um wieder das Blut in Gang zu setzen und fahndete in seinem sehr überschaubaren Besitz nach einer Schere. Mush reckte und streckte sich, absolvierte Dehnübungen. "Ich war über Land unterwegs, hab öfter im Freien übernachtet." Mit den Fingerspitzen strich er über die Haarspange, die er Suriyawong geschenkt hatte. Sie klemmte an einem Ende der Hängematte. "Wollte nicht so viele Spuren hinterlassen." Suriyawong, der gerade sein Handwerkszeug als Aushilfsfriseur parat gelegt hatte und eine alte Zeitung auffaltete, starrte Mush entsetzt an. "Ist es noch nicht vorbei?!" Krächzte er mit belegter Stimme. "Dann wäre ich noch nicht zu dir gekommen." Verkündete Mush sanft, aber ernst. Die schiere Vorstellung, er könne Suriyawong erneut in Gefahr bringen, versorgte ihn mit einem sichtbaren Entenparka. "Uff!! Erschreck mich doch nicht so!" Tadelte Suriyawong ihn finster, fühlte sich selbst verunsichert und kribbelig. Auf seltsame Weise musste er sich an DIESEN Mush erst mal gewöhnen. Vielleicht, weil der sich äußerlich so verändert hatte, in jeder Hinsicht gewachsen schien. »Frechheit!« Grummelte sein Stolz, der sich gar nicht vorstellen mochte, wie sehr ein fünf Jahre jüngerer Bursche noch zulegen konnte! Betont klopfte Suriyawong auf die einfache Matte. "Los, setz dich! Wenn wir deine Mähne gestutzt haben, erkenne ich dich vielleicht wieder!" Mush grinste sein Vollmondlächeln, ließ sich mit gekreuzten Beinen nieder und streifte auch artig das fadenscheinige T-Shirt über den Kopf. Er war immer noch sehnig, hatte das Schlaksige jedoch verloren, weil sich nun Muskeln unter der gebräunten Haut bewegten. Suriyawong entschloss sich, dies zu ignorieren und säbelte auf Knien an den wirren Filzsträngen herum. Wirklich keine leichte Aufgabe! "Du hast nur einmal Geld abgehoben." Bemerkte Mush in der, relativen, Stille. "Ich hab nicht viel gebraucht." Suriyawong klemmte sich den Kamm zwischen die Zähne. Das verhinderte eine unangenehme Befragung. Hoffte er. "Hast du eine Arbeit angenommen?" Unvermutet legte Mush den Kopf in den Nacken, um zu ihm hochzusehen. Suriyawongs Mundwinkel zuckten. "Und deine schönen Haare..." Überkopf tastete Mush nach den kurzen Strähnen. "Musstest du das tun?" Ärgerlich spuckte Suriyawong den Kamm aus und fauchte. "Was sollte ich denn machen?! Am Empfang wollten sie einen jungen Mann mit Englischkenntnissen, keinen Ladyboy! Außerdem war ich ALLEIN!!" Er biss sich auf die Lippen, bereute, dass ihm dieses letzte Geständnis entschlüpft war. Den Kopf abgewandt ergänzte er gefasst. "Es hätte Misstrauen erweckt, wenn ich hier gelebt hätte, ohne zu arbeiten. Irgendwo muss das Geld ja herkommen." Mush drehte sich mit kraftvollem Abstoßen der Fingerknöchel auf dem Hosenboden herum. "Es tut mir leid." Bekannte er bedauernd. "Ich habe zu lange gebraucht..." "Schon gut!" Schnitt Suriyawong ihm das Wort ab. "Ist jetzt nicht mehr wichtig." Der frühere Mush hätte es wohl dabei bewenden lassen, vermutete er. Der jetzige Mush fasste ihn einfach unter und hob ihn auf seine gekreuzten Beine, legte ihm die Hände mit den langen, gelenkigen Fingern ums Gesicht. "Ich wollte dich nicht so lange allein lassen." Wiederholte er ernsthaft und bekümmert. "Ich werde es nicht mehr tun, versprochen!" Suriyawong blinzelte, wich ihm aus, presste, "schon gut!", heraus. "Ich hab dich sehr vermisst." Bekannte Mush mit der ihm eigenen Seelenruhe, was das Entblößen persönlicher Befindlichkeiten betraf, streichelte ihm über die Wangen. "Nicht böse sein, Suri." Der schniefte und presste sich den Handrücken unter die Nase. Es half jedoch nicht, das Schluchzen aufzuhalten, den lastenden Druck einzudämmen, der sich nun durch die profunde Erleichterung löste. Halb wütend, halb beschämt schlang er die Arme um Mushs Nacken, schmiegte sich an ihn und forderte erstickt. "Mach das nicht wieder, klar?!" "Mach ich nicht, versprochen!" Mush erwiderte die intime Umarmung und hauchte tollkühn einen Kuss auf Suriyawongs Wange. Der schniefte, blinzelte, verwünschte das Wasser auf seinen Wangen, doch Handrücken und Unterarm genügten nicht, um als saugfähiges Handtuch zu dienen. "Suri." Murmelte Mush, küsste nasse Spuren zärtlich ab. "Nicht weinen, ja? Ich lass dich nicht mehr allein, Ehrenwort!" Woraufhin Suriyawong einen Schluckauf bekam, was Mush trotz heldenhafter Anstrengung zu einem prustenden Kichern veranlasste. "Und du bleibst wirklich?" Bemühte sich der junge Thai um Ablenkung von seinem Gefühlsausbruch. "Yepp." Mush strahlte eine dezentere Version seinen Vollmondgrinsens. "Und ich hatte gehofft, du würdest mir helfen. Weißt du, ich kann zwar Thai lesen, aber sprechen..." Wagemutig dippte er einen Kuss auf eine Nasenspitze. Auf Suriyawongs Stirn prägten sich Sorgenfalten. "Aber... was ist denn mit dem Visum? Und Papieren?" Mush stahl sich einen frechen Kuss auf die halb geöffneten Lippen, bemerkte das Gewitter in den dunklen Augen und setzte eine artige Miene auf. "David Dean Yang." Erklärte er. "Wer ist das?" Suriyawong leckte sich unauffällig über die Lippen. Hmmmm.... schmeckte Mush etwa nach Pomelo-Sirup? "Ich." Mush zwinkerte, bevor er Suriyawongs Hände von seinem Nacken pflückte und sie sanft hielt. "Allerdings war es auch der Name eines chinesisch-stämmigen Australiers in etwa meinem Alter. Er ist mit seiner Familie beim großen Tsunami umgekommen. Ich habe einen Teil seiner Biographie adaptiert." "Oh." Murmelte Suriyawong. "Deshalb bitte ich dich auch um Hilfe." Behutsam drückte Mush die eleganten Hände. "Ich kann mich hier einschleichen, aber damit mein neues Leben funktioniert, brauche ich dich." "...ist ja ein schöner Vortrag, David Dean Yang." Grummelte Suriyawong. "Es hätte auch Vorteile!" Beeilte sich Mush eifrig mit seiner Werbung um Zustimmung. "Ich finde bestimmt eine Möglichkeit, Geld zu verdienen! Und ich kann im Haushalt helfen! Ich hab unterwegs eine Menge gelernt!" "Von wem?!" Suriyawongs scharfe Frage war heraus, bevor ihm die Wangen höchst kleidsam erglühten. Mush legte den Kopf schief und schmunzelte. "Du weißt, dass du meine Nummer 1 bist, oder? Und dass es nur 0 und 1 gibt." "Hrmpf!" Kommentierte Suriyawong, schob die Unterlippe vor und bot Mush ein schmollendes Profil. Es war beinahe beängstigend, dass in Mushs Repertoire WIRKLICH NUR diese beiden Ziffern existierten. "Hab dich lieb." Versuchte der unerschrocken sein Glück, küsste eine abweisend dargebotene Wange. "Mush, also so..." Was auch immer Suriyawong verlegen-streng bemerken wollte, verlor sich in einem leidenschaftlichen Kuss. Draußen rauschte nun Regen wie ein Vorhang herunter, dämpfte die störenden Geräusche der Umgebung. Suriyawong wickelte die Arme um Mushs Nacken, kuschelte sich eng an ihn und fand heraus, worin die Speisekarte bestand, die Mush persönlich ausgewählt hatte. Mush lächelte. "Darf ich bei dir bleiben, Suri?" "Hier?" Suriyawong lehnte den Kopf auf eine der neuerdings recht breiten Schultern. "Wir können auch was anderes finden." Mush registrierte, dass es nicht besonders wohnlich wirkte. "Mit dem gestohlenen Geld?" Suriyawong blinzelte hoch zu Mush. "Ein bisschen ist noch übrig." Gestand der verschmitzt ein. "Weißt du, ich konnte nicht alles verteilen. Triaden und Yakuza haben keine Listen, was ihre Opfer betrifft." "Du-du hast es nicht behalten?" Suriyawong saß aufrecht auf seinem Schoß. "Ich wollte ein Held sein... Teilzeit..." Mush errötete. Und ein Teilzeit-Held legte ein wenig Geld beiseite, damit ein tapferer, wundervoller Mensch auch ein Studium absolvieren konnte, das seinem Talent entsprach. Suriyawong grinste. Er beugte sich vor und wisperte in Mushs Ohr in seiner Muttersprache. "Du bist unglaublich süß, Mush." Der wusste zwar nicht, was EXAKT ihm anvertraut worden war, aber er befand, die frischen Früchte, die er auf dem Weg erworben hatte, konnten noch ein wenig warten. Nicht aber die große Hängematte, die auf seinem Backpack auf ihren ersten Einsatz wartete. "Kuscheln?" Schlug er vor. Suriyawong zwirbelte eine noch nicht abgesäbelte Strähne zwischen den Fingern und antwortete. "Klingt gut... ich könnte aber... einfach einschlafen." Bekannte er verlegen. Immerhin hatte er bereits eine lange Nacht hinter sich. "Macht nichts." Mush zwinkerte, arrangierte Suriyawong schwungvoll, sodass er ihn auf die Arme nehmen und sich selbst auf die Beine stellen konnte. "Ich schlafe neben dir auch am Besten." "Mush!" Grummelte Suriyawong tadelnd. "So was sagst du aber nur, wenn wir allein sind, ja?" "Ist gut." Mush ließ Suriyawong herunter und kramte gezielt nach seiner Hängematte, positionierte sie und verteilte mit Suriyawong leichte Decken und ließ das zusammengebundene Moskitonetz frei. Ein wenig linkisch kletterten sie auf ihre schaukelnde Unterlage, arrangierten sich dann aber in kurzer Zeit bequem, zufrieden mit sich und der Welt. Mush befand, dass er das wohl glücklichste Nichts der Welt sein musste, und DAS war ein hervorragender Start in sein/ihr neues Leben! ~~~~~~x* ENDE ~~~~~~x* (~~> Wiedersehen in "Affenzirkus") Danke fürs Lesen! kimera