Titel: Brüder Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Erstellt: 31.12.2000 Disclaimer: der Song "Taste of Taboo" stammt von den Krupps. ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ ~db~ Brüder >Taste of Taboo< [Die Krupps] a wish so sinful a sin so tasteful a taste so painful a pain so wishful a mind confused a cry in the dark a soul seeking shelter in another torn heart words of discourage -struggling for hope a touch of protection - from a promising hand between two worlds - caught in decisions visions of freedom - remain as illusions invisible ties - a spider's kiss perfection of lies - drawn towards the abyss the look of temptation - the fear of sensation imploding desire - feeding the fire we're banned we're branded forever we're stranded that's what it does to you - the taste of taboo upside down it turns you - the taste of taboo a need so joyful a joy so shameful a shame so lustful the lust so needful forbidden desires - craving for more unknown pleasures - willing to sin for the lack of perfection - so weak the will the needed injection - the ultimate thrill the burning flesh - the sensitive skin the destroying fire - comes from within dangerous games - playing russian roulette with your life at stake - how far can you get united in hell - paying the price living for sins - dying for vice we're banned we're branded forever we're stranded that's what it does to you - the taste of taboo upside down it turns you - the taste of taboo ~db~ Kapitel 1 - Neuigkeiten "Ich habe gehört, dein Vater heiratet wieder?" Julian starrte seinen Freund Roy finster an, blies wütend die blaugefärbte Strähne aus der Stirn. "Woher weißt du das?" "Die Schule ist ein Dorf", grinste Roy gelassen, drehte dabei den Volleyball spielerisch auf der Fingerspitze. "Also?" "Es stimmt, mein Alter will wieder heiraten", gab Julian verärgert zu, schnappte sich den Volleyball und warf ihn mit aller Kraft gegen die Hallenwand. Er bewegte sich nur leicht, um ihn wieder zu fangen und das Spiel zu wiederholen. Roy beobachtete seinen besten Freund besorgt. Trotz seiner Anmut und seinen kontrollierten Bewegungen war Julian die Anspannung anzusehen. "Wo liegt das Problem? Musst du die Neue Mutter nennen, oder was?" Wieder feuerte Julian den Ball gegen die Wand, blinzelte starr an der blauen Strähne vorbei. "He, Julian, rede mit mir! Meine Eltern sind geschieden, ich habe jetzt die doppelte Ausgabe mit Stiefeltern, ich kenne mich mit Eltern-Stress aus." Roy knuffte Julian einladend in die Seite. Der fing den Ball und atmete tief durch. "Ich kenne die Neue nicht, also weiß ich gar nicht, was das wird." "Was denn, du hast sie noch nicht kennengelernt?! Wieso nicht?" Julian wich dem überraschten Blick seines Freundes aus und ließ nun seinerseits den Ball auf der Fingerspitze kreisen. "Julian?!" Roy grapschte den Ball und feuerte ihn schwungvoll in eine Ecke. "Was ist los mit dir?" Julian bog die Arme weit hinter den Rücken und ließ die Schultern kreisen, als erwarte er einen Ringkampf. Dann seufzte er vernehmlich. "Mein Alter hat sie auf einer Geschäftsreise kennengelernt in Spanien. Sie war auch mal hier, aber da hatten wir ein Turnier, und ich wollte nicht wegen ihr absagen." "Und weiter?" "Was weiter?" "Mann, du bist doch sonst nicht so schwerfällig, wo liegt das Problem? Du kennst sie ja nicht, hat dir dein Alter einen Vortrag gehalten, oder was?" Julian zuckte mit den Schultern, aber seine Gleichgültigkeit war zu schlecht gespielt, um glaubhaft zu sein. "Ich muss sie nicht Mutter nennen, wenn du das meinst. Es ist nur... ich meine, sie ist eine Spanierin, dreizehn Jahre jünger als mein Alter und... sie bringt ihren Sohn mit!" "Ach du Scheiße, du bekommst einen kleinen Bruder?" "Schlimmer. Ich meine, mein Vater, der steife Holzbock und eine temperamentvolle Spanierin und dann noch ein Bruder, der ein paar Monate älter ist als ich!! Das kann doch nichts werden!!" "Er ist älter als du? Da hat sie aber früh angefangen." "Nicht nur das, der Kerl muss ein ziemliches Wunderkind sein. Er geht auf die internationale Schule in Madrid, spricht mehrere Sprachen fließend und ist auch sonst wohl so eine Art Überflieger, wenn mein Alter mir keinen Bären aufgebunden hat." "Oh Mann, das klingt wirklich hart. Werden die denn bei euch einziehen?" "Sicher, wir haben ja genug Platz in unserer Hütte." "He, lass den Kopf nicht hängen! Vielleicht ist der Typ ganz okay, hm?!" Julian zuckte mit den Achseln, eigentlich war ihm das alles egal. Sein Vater hatte wie üblich seinen Standpunkt klargemacht: er habe jahrelang (»vier Jahre, Vater!«) auf eine neue Beziehung verzichtet, um seine Jugend nicht zu gefährden (»Au Mann, aus welchem Psycho-Ratgeber hat er den Scheiß bloß?«). Er wolle Maria heiraten und nichts werde ihn daran hindern. Außerdem würde sie mit ihrem Sohn hier einziehen, da gäbe es gar keine Diskussion. Und er werde dem Jungen (»Vater, er hat doch sicher auch einen Namen, oder?«) beim Eingewöhnen helfen. »Was du vergessen hast, Vater, ist, dass wenn ich nicht spure, ich rausfliege... wahrscheinlich soll ich mir auch gleich noch einen Job suchen und ganz aus deinem Leben verschwinden.« Roy bemerkte Julians geistige Abwesenheit und zog ihn sanft am Ärmel hinter sich her in die Umkleidekabine. "Los, Mann, ab unter die Dusche, du riechst schon wie ein Iltis!!" "Ach ja? Na, du kannst das ja beurteilen, Mr. Skunk!!" Lachend zog sich Julian das verschwitzte T-Shirt über den Kopf und schleuderte es zu Roy. Der warf es prompt wieder zurück und beide lachten, die Spannung löste sich. Dann schlüpften sie rasch aus den Trainings-Klamotten und verschwanden in der Gemeinschaftsdusche. "Hoffentlich haben sie noch ein bisschen warmes Wasser übriggelassen", murmelte Roy und teste mit ausgestrecktem Arm die Temperatur des Wasserstrahls. "Heute ist ein guter Tag zum Sterben", alberte Julian und stieß Roy unter den Wasserstrahl, der empört quiekte. Wegen der Misshandlung und des kalten Wassers. Julian lachte und drehte den benachbarten Duschhahn auf. Kaltes Wasser war jetzt genau richtig. Die Kälte würde seinen Körper gefühllos machen und die Gedanken, die unermüdlich durch seinen Kopf jagten, einfrieren. Er legte den Kopf in den Nacken und ließ das Wasser über seinen muskulösen Körper laufen. Eine Hand berührte ihn am Arm, Roy gab ihm sein Duschgel. Julian nickte dankbar und seifte sich ein. »Ich werde wohl immer eine volle Flasche Duschgel mit mir rumtragen«, dachte er amüsiert. Er hatte sein Duschgel ständig in der Sporttasche liegen, was ihm natürlich unter der Dusche einfiel. Roy machte es nichts aus zu teilen. Er fand die Schusseligkeit seines Freundes irgendwie drollig. Julian wirkte dann nicht so perfektionistisch und kalt, mehr wie ein ganz normaler Mensch. »Er kann ja nichts dafür, dass sein Alter ihn drillt und er wie ein Muster-Kadett aussieht.« Tatsächlich hätte Julian in jedem Werbefilm für die Armee ein hervorragendes Modell abgegeben. Er war von seinem Vater ständig gedrillt worden mit Konditionstraining und Ausdauersportarten. Eine Zeit lang hatte er sogar die Marathonstrecke trainieren müssen, bis der Schularzt Alarm geschlagen hatte. Die einseitige Sportlerkost, die die Profi-Läufer zu sich nahmen, konnte selbst bei einem so robusten Jungen wie Julian bleibende Gesundheitsschäden durch Mangelernährung auslösen. Jetzt absolvierte er nur noch kurze Läufe und spielte natürlich Volleyball. Als Kapitän war er ein gefürchteter Gegner, seine Aufschläge glichen Kanonenschüssen und sein Block war kaum zu überwinden. Aber nicht nur die athletische, körperliche Verfassung zeichnete ihn aus, auch sein Äußeres war modellhaft. Blonde Haare in einem Kurzhaarschnitt, dunkelblaue Augen und ein markantes Profil. Aber ganz perfekt war dieses Bild nicht, denn da waren die langen, schwarzen Wimpern, das sanfte Lächeln, das er manchmal enthüllte und natürlich die blaue Haarsträhne, die sich an die linke Wange schmiegte. Roy wunderte sich noch immer darüber, wie Julian das hatte durchsetzen können gegenüber seinem Vater. Aber Julian wäre nicht Kapitän geworden, wenn er nicht eine gehörige Portion Hartnäckigkeit und Entschlossenheit gehabt hätte. ~db~ Mittlerweile war der Schaum abgespült. Sie schüttelten sich wie junge Hunde und frottierten sich mit den Handtüchern ab. "Wie gut, dass Latein ausfällt. Noch eine Stunde Cäsar hätte ich jetzt nicht verkraftet. Wieso braucht der so lange, um die Gallier zu besiegen?" "Es gab damals noch keinen Kaffee, das ist das Problem." "Hä?" Julian starrte Roy verständnislos an. Der grinste und ließ sich mit der Erklärung Zeit, während er nasse Sport-Klamotten in die Tasche und frische Klamotten raus sortierte. "Ist doch ganz einfach. Wenn Cäsar Kaffee mitgebracht hätte, dann hätte er die Gallier das miteinander ausdiskutieren lassen, und zwar nächtelang. Und während die noch diskutieren, wäre er ungehindert bis zum Ärmelkanal gekommen." "Wieso sollten die denn mit Kaffee nächtelang diskutieren?" "Mann, weil es Franzosen sind!! Hast du noch nie Filme der Nouvelle Vague gesehen? Die sind alle bloß am Kaffeetrinken, Labern und Rauchen." "Du bist wirklich ein Spinner, weißt du das?" "Oh Julian, ich liebe dich auch!" Roy warf Julian eine Kusshand zu, der ihm die Zunge rausstreckte. Dann lachten sie beide. Julian kannte Roy seit seiner Kindheit. Sie hatten sich immer gut verstanden und einander über die Härten des Lebens hinweggeholfen: der Scheidung von Roys Eltern samt den neuen Stiefeltern und dem Tod von Julians Mutter durch eine Medikamentenvergiftung. Sie scherzten noch ein wenig, dann trennten sie sich am Schultor. ~db~ Julian trottete nach Hause. Er hatte es nicht besonders eilig. Ihre Zugehfrau hatte sicher aufgeräumt und schon eingekauft. Er musste sich nur noch etwas zu essen machen. Ob sein Vater heute nach Hause kommen würde, wusste er nicht. Er brauchte nicht lange. Sie wohnten in einem vornehmen Viertel in einer großen Villa. Sein Vater, der Power-Manager, hatte sie von frisch promovierten Architekten umbauen lassen. Dabei hatte er natürlich jede Menge Geld gespart, denn die Architekten hatten eine Art Gesellenstück abliefern müssen. Sie hatten dem Vorkriegshaus einen hellen Anstrich verpasst, Mauern eingerissen und große Fenster eingesetzt, die alten Bodenfliesen durch Terrakotta-Boden ersetzt. Jetzt wirkte alles leicht mexikanisch durch die Erdtöne und die weißen Wände. »Sie haben bloß nicht bedacht, dass es hier nicht ständig warm ist, das Licht nicht wie im Süden und dass mein Alter auf schwarzes Leder und Chrom steht«, dachte Julian. Und so wirkte es außen wie ein Modellhaus für den Süden und die Möbel wie ein Yuppie-Büro. Insgesamt machte das Haus einen unbewohnten Eindruck. »Als ob es keine Seele hat«, hatte Julian gedacht, als sein Vater die Möbel hereintragen ließ. »Da war ich erst Vier, und trotzdem habe ich dieses Haus schon verabscheut.« Er kramte die Schlüssel aus einer Hosentasche seiner Jeans und öffnete die Tür. In der Eingangshalle lagen auf dem Mahagoni-Tisch vor der imitierten Ming-Vase mit dem Kunstblumenstrauß ordentlich die Briefe und Wurfsendungen des heutigen Tages. Auf einem anderen Stapel persönliche Notizen und eingegangene Faxe. Julian ließ seine Sporttasche auf den Fliesenboden plumpsen und sah die Post durch. Nur Rechnungen an seinen Alten, die übliche Reklame. Dann blätterte er müßig durch die Faxe. Ein Fax an seinen Vater erregte seine Aufmerksamkeit. Es war handgeschrieben mit einer schwungvollen, bewegten Handschrift und verziert mit vielen Herzen und Blumen. Mühsam entzifferte er den Inhalt, der Text war Spanisch. [Mein liebster Schatz, wir kommen am Samstagnachmittag mit der Lufthansa-Maschine an. Unsere restlichen Sachen geben wir am Freitag der Spedition mit. Sie müssten euch am Montagnachmittag erreichen. Kannst du uns abholen? Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Ich umarme dich und küsse dich überall. Maria] Julian wurde beim letzten Satz rot. Wer schrieb denn so was in ein Fax, das doch so öffentlich war wie eine Postkarte?! Also kamen sie am Samstag. Und am Montag ihre Sachen?! »Meine Galgenfrist läuft ab. Wahrscheinlich landet das Flugzeug um zwölf Uhr Mittags«, dachte Julian mit grimmigem Humor. Dann schnappte er sich das Fax, sammelte seine Tasche auf und ging in das Arbeitszimmer seines Vaters. Er tippte die Codewahl für das Bürofax seines Vaters und legte das Fax ein. »Mal sehen, wie der Alte reagiert, wenn ihm seine Sekretärin das Fax überreicht«, grinste er humorlos in sich hinein. »Ich hoffe, sie versteht Spanisch.« Er verließ das Arbeitszimmer und ging in sein eigenes Zimmer im zweiten Stock. Er warf die Tasche unter den Schreibtisch und sah sich in seinem Zimmer um. Es wirkte genauso unbewohnt wie das restliche Haus. Sein Vater hatte keine Unordnung geduldet, also mussten alle Spielsachen immer in den Schränken verstaut sein, der Schreibtisch immer aufgeräumt, das Bett immer gemacht. Da Julian sowieso mehr mit Training beschäftigt war, hatte er nicht besonders viel Spielzeug besessen. Er hatte schnell gelernt, dass es einfacher war, erst gar nichts aus den Schränken herauszunehmen, als ständig rein und raus zu räumen. Julian zog seine Tasche wieder unter dem Tisch hervor und sortierte die verschwitzten Sportsachen heraus, sammelte alles ein und ging in den Keller in die Waschküche. Er befüllte die Waschmaschine, nahm die notwendigen Einstellungen vor und warf die Maschine an. »Fünfzig Minuten«, registrierte er beiläufig und schlenderte wieder in sein Zimmer zurück. Obwohl er das Haus nicht mochte, saß er gern in der kleinen Turmnische in seinem Zimmer. Er konnte von der breiten Fensterbank aus den anliegenden Garten beobachten, den Baumwipfel der Platane auf der Grundstücksgrenze und die Dächer der Nachbarhäuser. Wenn er dann die Beine anwinkelte und sich auf den Rücken legte, konnte er an der Dachtraufe vorbei die Wolken am Himmel beobachten. Und das tat er auch jetzt, schnappte sich ein Kissen vom Bett und machte es sich auf dem Fensterbrett bequem. Er ließ seine Gedanken fliegen, dachte an früher: das Ausdauertraining, seine Mutter, freundlich, aber nur ein Schatten in seinem Leben, von der Realität und den Ansprüchen seines Vaters überfordert. Die Wut seines Vaters nach ihrem Tod und seine Methoden, die Trauer zu überwinden, indem er ihn ständig beschäftigte, damit er nicht so ein "realitätsferner Träumer" wie seine Mutter wurde. Julian konnte nicht sagen, ob er seine Mutter vermisste. Er hatte einfach nie die Zeit gehabt, ihr nahe zu sein. Er hatte sich lange schlecht deswegen gefühlt. Sollte man nicht unglücklich sein, wenn man seine Mutter verlor? Er war traurig gewesen, aber es war eine fremde Trauer geblieben, mehr eine Pflicht als ein echtes Gefühl. In den Augen der anderen hatte er damit sein Image als arroganter Eisblock bestätigt, nur Roy hatte er sich anvertraut. Und Roy hatte ihn verstanden, der kannte ja schließlich seinen Vater. Julian fragte sich damals oft, ob er seiner Mutter hätte helfen können, aber Roy hatte den Kopf geschüttelt: nur wer gerettet werden will, kann gerettet werden. "Und wer rettet mich?", flüsterte Julian in die Stille des Raumes. Er schloss die Augen und konzentrierte sich nur auf seine Atmung. Langsam verloren sich alle Gedanken und Julian versank in meditativer Stille. ~db~ Er schreckte hoch, als er Geräusche in der Halle vernahm. Sein Vater kam also doch nach Hause. Julian rollte sich von der Fensterbank und machte ein paar Dehnübungen. Dann ging er hinunter in die Halle. "Hallo Sohn! Zieh dich rasch um, wir gehen essen." Julians Vater drehte ihm den Rücken zu und wanderte in sein Arbeitszimmer, ohne sich umzublicken. Julian schüttelte kurz den Kopf, dann fiel ihm die Waschmaschine ein. Er hetzte die Stufen in den Waschkeller hinab und lud die feuchte Wäsche in den Trockner. Anschließend eilte er wieder in sein Zimmer, riss den Kleiderschrank auf. »Schnell das Sakko aus der Schutzhülle, die passende Stoffhose vom Bügel, verdammt, wo war die Krawatte?« Er zog aus der Schublade ein sorgfältig gebügeltes, weißes Hemd und kramte ein paar dunkle Socken aus der Schublade darunter. Rasch schlüpfte er in die formelle Kleidung und faltete dann sorgfältig seine Schulklamotten zusammen. Vor dem Spiegel band er sich geschickt die Krawatte, aber er brauchte nicht einmal einen Blick in den Spiegel zu werfen. Er konnte sich eine Krawatte blind binden. Julian warf einen prüfenden Blick auf sein Spiegelbild. Die kurzen, blonden Haare konnten kaum aus der Reihe tanzen. Die blaue Strähne schmiegte sich in weichen Wellen an seine linke Wange. Er sah eigentlich ganz adrett aus. "Julian, komm endlich", hörte er die mahnende Stimme seines Vaters. "Ich höre und gehorche", grummelte er wütend und trabte nach unten. Sein Vater hatte sich nicht umgezogen, aber der dunkle, dreiteilige Anzug saß noch immer faltenlos wie frisch aus dem Kleiderschrank. Er spürte den inspizierenden Blick seines Vaters über seinen Körper gleiten. "Wir fahren ins Enzos, ich habe Einiges mit dir zu besprechen." Während Julian seinem Vater zum Mercedes folgte, dolmetschte er dessen letzten Satz: sein Vater würde reden und Anweisungen geben, er selbst würde das Publikum bilden, das den Anweisungen anschließend blind gehorchte. Nun, Enzos bedeutete immerhin herrliche Lasagne und vielleicht Tiramisu zum Nachtisch. Sein Vater fuhr wie üblich diszipliniert und exakt am Tempolimit. Julian lehnte den Kopf an das Fenster und beobachtete die vorbeiziehenden Autos und Häuser. Sie sprachen kein Wort, aber das taten sie eigentlich nie im Auto. Bei Enzos sprang ihnen der Parkwächter sogleich entgegen, lächelte zuvorkommend und nahm den Schlüssel in Empfang. Julian folgte seinem Vater. Sie mussten noch an der Bar warten, bis ihr Tisch frei wurde. Julian fragte sich längst nicht mehr, wie sein Vater es schaffte, in einem solchen Nobelrestaurant kurzfristig einen Tisch zu bekommen. Sein Vater bestellte ein Glas Weißwein, ohne die Weinkarte zu studieren. Er zwinkerte dem Barmann zu, er müsse schließlich noch fahren. Julian bekam wie üblich ein Glas Mineralwasser. Sein Vater missbilligte Alkoholgenuss bei Jugendlichen und Sportlern. Julian machte das nicht viel aus, er hatte bei Roy schon Erfahrungen mit Alkohol gesammelt und festgestellt, dass der Verzicht darauf ihn nicht belastete. Sie schwiegen sich weiter an, und Julian betrachtete müßig die Leute um ihn herum. Alle waren vornehm zurechtgemacht und trugen den Odeur der Wichtigkeit an sich. »Ob ich genauso wirke?«, fragte er sich und betrachte sein Ebenbild im Spiegel hinter der Bar. Aber er sah nur einen Jungen, der fast als Modell für eine Elite-Universität durchging. Wenn da nicht die blaue Haarsträhne gewesen wäre. Er lächelte seinen Doppelgänger leicht zu, da stieß ihn sein Vater an, "na los, unser Tisch wartet." Julian erhob sich, folgte seinem Vater und dem Kellner durch den großen Saal. Sie bekamen einen Platz am Fenster und die Speisekarten vorgelegt. Dann rasselte der Kellner natürlich noch die Empfehlungen des Küchenchefs herunter. Die Weinkarte hatte er bereits wieder an sich genommen, Julians Vater zog sie ohnehin nicht zu Rate. "Nun, ich nehme Ravioli Napoli, mein Sohn nimmt die Spinatnudeln mit Pinienkernen", orderte sein Vater. Julian versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sein Vater behandelte ihn immer noch wie ein Kind. Er durfte nicht mal entscheiden, was er essen wollte. Allerdings war ihm das Essen nicht wichtig genug, um einen Eklat zu riskieren. Mit grimmiger Erwartung beugte er sich über den Tisch. Der Abend war ja schließlich noch jung. Sein Vater nahm noch einen Schluck von seinem Weißwein, räusperte sich kurz und begann den angekündigten Vortrag. "Mein Sohn, Maria und ihr Junge werden am Samstagmittag mit dem Flugzeug eintreffen. Ich habe mir freigenommen, damit wir sie gemeinsam begrüßen können. Du wirst dich selbstverständlich um den Jungen kümmern. Bis dahin wirst du mit Frau Gruner die Gästezimmer herrichten. Am Montagnachmittag werden dann die restlichen Sachen von einer Spedition angeliefert. Du wirst Maria nach Kräften unterstützen." "Vater, ich habe am Montagnachmittag Unterricht." "Und wenn schon! Ich schreibe dir eine Entschuldigung. Ich lasse dir auch Geld da für die Speditionsleute. Behalte die im Auge, klar? Man kann nie wissen, was die alles in die Finger nehmen. Ich verlasse mich darauf, dass du alles ordentlich herrichtest, Sohn." "Ja, Vater, sicher." Julian hoffte, dass sein Vater den Sarkasmus nicht zu sehr heraushörte, aber der war so selbstzufrieden, dass er den Blick von seinem Sohn bereits abgewandt hatte und durch das Restaurant schweifen ließ. Dann hob er das Glas und deutete ein Nicken zu einem Nachbartisch an, zeigte dabei ein haifischartiges Grinsen. "Der Bauunternehmer Löwe mit Familie. Grüße gefälligst." Julian nickte widerwillig in die Richtung des Nachbartisches. Dann kam endlich das Essen und erlöste ihn von seiner Langeweile. Die Spinatnudeln waren nicht schlecht, aber Julian hatte keinen besonderen Appetit mehr. Er dachte daran, was er alles zu erledigen hatte, und darauf hatte er nicht die geringste Lust. Sein Vater ließ die Teller abräumen, -selbstverständlich hatte er seinen Teller nicht geleert (»nur Schweine fressen ihren Teller leer, Junge«)- und zündete sich einen Zigarillo an. Julian hasste den Geruch. Der Kellner materialisierte sich neben ihnen und bot noch Nachtisch an. Julians Vater wehrte mit einer Handbewegung ab, "wir müssen schließlich an unsere schlanke Linie denken", versuchte er zu scherzen. Julian verdrehte die Augen. Merkte der nicht, wie peinlich er wirkte? Der Kellner ließ ein kurzes, zähnestarrendes Lächeln sehen und verschwand. Julians Vater leerte sein Weinglas und gab Zeichen zum Zahlen. Sie verließen das Restaurant, wie sie gekommen waren: Julian ein paar Schritte hinter seinem Vater. Die Fahrt nach Hause verlief genauso schweigend wie die Hinfahrt. Julian wünschte seinem Vater eine gute Nacht in der Eingangshalle und verschwand in seinem Zimmer. Flüchtig erinnerte er sich an die Wäsche im Wäschetrockner, verschob das Leeren aber auf den nächsten Morgen. Er kramte kurz in seiner Schultasche. Da warteten noch ein paar Hausaufgaben. Julian ließ sich wieder in die Fensternische fallen, zog die Knie an und balancierte einen Block auf den Oberschenkeln. Er arbeitete rasch die Aufgaben ab. Das Lernen fiel ihm nicht besonders schwer, aber er hatte auch keinen besonderen Ehrgeiz. »Ich tue das, was man mir sagt«, dachte er voller Selbstverachtung. Er verstaute alles in der Schultasche und schlüpfte in ein altes T-Shirt und Boxershorts. Anschließend betrachtete er voller Befriedigung die Falten und Knitter in der Ausgehuniform: eine schale Rache für die Missachtung, die ihm sein Vater entgegenbrachte. Er löschte das Licht und rollte sich in seinem Bett zusammen. »Wer rettet mich?« ~db~ Der Freitag verlief wie im Rausch. Zusammen mit Frau Gruner, der Zugehfrau, wurden die Betten in den Gästezimmern gelüftet, das ganze Haus geputzt, das Gästebad mit allem Notwendigen bestückt, die Speisekammer aufgefüllt. Kurzum, sie fegten beide durch die alte Villa wie Taifune. Julian entlohnte Frau Gruner großzügig für die Extra-Arbeit, wie sein Vater ihm aufgetragen hatte. Dann ging er in sein Zimmer hoch. Morgen würde er den zweiten Stock nicht mehr für sich allein haben. Im Nachbarzimmer würde sein neuer Bruder wohnen. Und sie würden sich das Bad auf der Etage teilen. Er hockte sich in die Fensternische und beobachtete das Wiegen der Blätter der großen Platane im Wind. »Ich weiß nicht mal, wie er heißt«, sinnierte er. »Wie er wohl aussieht? Vielleicht so ein bebrillter Weißkäse, Supergenie.« Julian lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Er spürte die Anstrengung des Tages am ganzen Leib. Er schloss die Augen und schlummerte sanft ein. ~db~ Warme Sonnenstrahlen weckten Julian am nächsten Morgen. Er hatte tatsächlich zusammengekrümmt in der Fensternische geschlafen mit dem Ergebnis, dass ihm nun wirklich alle Knochen wehtaten. »Verdammt, schon zehn Uhr!« Julian hetzte ins Bad. Eine heiße Dusche sollte die Verspannungen lösen. Tatsächlich half das Wasser, die schmerzenden Muskeln zu massieren. Mit feuchten Haaren eilte Julian in sein Zimmer, suchte Unterwäsche, Jeans, Socken und ein Polo-Shirt. Förmlich genug für ein Empfangskomitee. Er wanderte ins Erdgeschoss. Ob sein Vater da war? Aber nein, der hätte ihn schon längst aus dem Bett getrieben. Im Faxgerät steckte eine kurze Nachricht: [Sohn, treffen uns auf dem Flughafen, Flughalle A.] Julian sah auf die Uhr. Er hatte noch ein bisschen Zeit. Da knurrte sein Magen vernehmlich. »Fütterung der Raubtiere!« Kurz entschlossen schlenderte Julian in die Küche. Im Kühlschrank nur Gesundes, frisches Gemüse und Obst, Joghurt, Säfte. Julian stand der Sinn jedoch nach etwas Festerem. Er öffnete die Tür zur Speisekammer und ließ den Blick die Regale entlangwandern. Das war auch nicht berauschend. Warum nicht unterwegs essen? Kurzentschlossen schnappte sich Julian Geldbörse und Sonnenbrille und verließ das Haus. Auf dem Weg zur nächsten U-Bahn-Station lag ein asiatisches Restaurant. Nun, mehr ein Schnellimbiss: große Portionen, keine Wartezeiten und alles frisch zubereitet. Julian lenkte seinen Schritt dorthin. Die alte Frau hinter der Theke nickte ihm freundlich zu und entblößte eine Menge Zahnlücken. Julian lächelte unwillkürlich zurück. "Sie möchte Frühstück?" Julian nickte, "ja, bitte." "Okay, gibt Suppe mit Nudel und rohe Ei, gut für Kraft, dann Frühlingsrolle und dazu Reis. Gut?" Julian nickte, "das ist klasse." Die Alte lachte hell wie ein Schulmädchen, "so große Junge brauch viel Kraft." Julian lachte mit. Das stimmte wohl, der Tag würde noch anstrengend genug werden. Während er an grünem Tee nippte, kochend heiß serviert, beobachtete er die anderen Gäste. Eine bunte Mischung, aber trotz der Enge im Imbiss wirkten alle ruhig und entspannt, sogar heiter. Dann erschien eine große Schüssel vor ihm, in deren Mitte wie ein Mond ein rohes Eigelb schwamm, dazu auf einem schmalen Tellerchen die Frühlingsrollen und in einer anderem Schüssel der Klebereis. Julian schaufelte alles heißhungrig in sich hinein, nur unterbrochen von kurzen Schlucken heißen Tees. Nach getaner Arbeit seufzte er erleichtert. Das tat gut! Er wandte sich der Theke zu und bezahlte. Die Alte beugte leicht den Kopf zum Abschied, "habe schöne Tag noch, blonde Junge!" "Ich wünsche Ihnen auch noch einen schönen Tag", erwiderte Julian höflich. Er trat in die Sonne hinaus und schlenderte zur U-Bahn-Station. Die Dunkelheit des unterirdischen Bahnhofs wirkte seltsam bedrückend nach der Wärme der Sonne. Julian wartete den richtigen Zug ab und ließ sich auf einen freien Platz sinken. Glücklicherweise ein Fensterplatz, sodass er durch die Aussicht abgelenkt wurde. Nach einer dreiviertel Stunde Fahrt erreichte er den Bahnhof am Flughafen. Er war schon mehrfach dort gewesen, sodass er keine Schwierigkeiten hatte, das Ankunftsgate zu finden. Sein Vater war nicht zu sehen, aber damit hatte Julian auch nicht gerechnet. Er verfolgte die Ankunftszeiten der Flüge auf der großen Tafel. Der Flug aus Madrid wurde schließlich als gelandet gemeldet. Allerdings blieb das Gate weiterhin verschlossen. Die Abfertigung dauerte wohl etwas länger. "Julian!" Julian fuhr herum. Sein Vater schob sich energisch durch die anderen Wartenden hindurch, balancierte dabei links seinen Trenchcoat, rechts ein übergroßes Blumenbukett. "Sie sind noch nicht rausgekommen", beruhigte Julian seinen Vater. Der nickte kurz und drängte sich vor ihn. In diesem Moment öffnete sich das Gate, und langsam strömten die Fluggäste in die Halle. "Heinz!" Eine lebhafte Frauenstimme klang durch die Halle. Julian war einen Moment verblüfft. Er hatte noch nie jemanden den Vornamen seines Vaters benutzen hören. Nicht mal seine Mutter. Er blickte seinem Vater über die Schulter und sah eine zierliche Frau mit kohlrabenschwarzen Locken auf sie zustürmen. Ohne auf Blumen, Trenchcoat oder die Leute zu achten, warf sie sich seinem Vater um den Hals und küsste ihn innig auf den Mund. "Maria, die Leute!" "Ich hab dich so vermisst!" In der warmen, dunklen Stimme schwang ein leichter Akzent mit. Sein Vater hatte nie erwähnt, dass die neue Frau Deutsch sprach! Julian stand zögernd hinter seinem Vater, als sich die Frau schon von seinem Vater löste und zu ihm hochlächelte. "Du bist Julian, richtig? Ich bin Maria, ich freue mich, dich endlich kennenzulernen." Statt eines Händedrucks wurde Julian an beiden Handgelenken nach unten gezogen und bekam rechts und links auf die Wange einen Kuss gedrückt. Keinen Schickimicki-Luft-Kuss, sondern einen richtigen, warmen Kuss! Er atmete einen frischen Blumenduft ein, der von der schwarzen Mähne ausging und spürte, wie ihm die Röte in die Wangen schoss. "Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen", stotterte er heiser. "Nicht doch so förmlich, wir werden doch jetzt eine Familie sein." Damit strich Maria Julian sanft mit der flachen Hand über die Wange und warf ihm ein munteres Lächeln zu. Dann fuhr sie abrupt herum, "aye, wo hab ich nur meine Manieren?! Heinz, Julian, das ist mein Sohn Romeo." Julian starrte den Jungen an, der geduldig im Hintergrund gewartet hatte. Der war etwas kleiner als er selbst, von zierlicher Gestalt und hatte die gleichen schwarzen Locken wie seine Mutter, allerdings in einem Zopf gebändigt. »Hohe Wangenknochen, eine warme braune Haut und schwarzes Hemd und Hose: der typische Latin Lover«, schoss es Julian durch den Kopf. Doch halt! Da war die Brille mit den runden Gläsern. Der Mund mit einem leicht ironischen Lächeln. Ebenso die scharf geschwungenen Augenbrauen über den schwarzen Augen, die verrieten, dass ihr Besitzer vielleicht doch nicht so einfach einzuordnen war. "Hallo, freut mich, euch kennenzulernen, ich bin Romeo." Julian zuckte zusammen, als er die Hand des Jungen schüttelte. Das konnte ja heiter werden, Julian und Romeo. Romeo musste Julians Gedanken gelesen haben, denn er grinste spöttisch, "eine Kombination mit literarischem Vorbild, was?" "Ach, hör schon auf, Schätzchen! Das sind bloß alte Geschichten, wir werden nur Happyends haben", kommandierte seine Mutter augenzwinkernd. Julian und Romeo sammelten in schweigendem Einverständnis das Gepäck auf, dann folgten sie ihren Elternteilen vor die Halle zum Taxistand. Maria hatte sich bei Julians Vater eingehängt und plauderte unbeschwert drauflos. »Was findet sie bloß an ihm?«, dachte Julian ein wenig hilflos. »Das wird nicht gutgehen. Schade eigentlich, sie wirkt so nett.« Sie beluden das Taxi, und wie selbstverständlich lotste Julians Vater ihn auf den Beifahrersitz. Julian fühlte sich auf einmal furchtbar müde. Im Rückspiegel konnte er die anderen beobachten: Maria, die mit seinem Vater plauderte, während sie sanft einen Arm um ihren Sohn gelegt hatte. »Sie stehen sich wohl ziemlich nah«, dachte Julian und fühlte Traurigkeit in sich aufsteigen. »Aber mein Vater liebt nur sie. Der Junge ist ihm sicher egal.« Romeo blickte in den Spiegel und ihm direkt in die Augen. Julian hielt kurz seinem Blick stand, dann wandte er den Kopf ab und blickte aus dem Fenster. Sie erreichten die alte Villa, und Maria stieß Laute der Begeisterung aus, was für ein schönes Haus das sei. Sein Vater zog Maria bereits zum Eingang, also lud Julian alles Gepäck aus dem Taxi. Romeo wollte ihm helfen, aber Julian schüttelte nachdrücklich den Kopf. "Geh mit meinem Vater mit, er führt dich herum." Dann wandte er Romeo den Rücken zu und bezahlte den Taxifahrer. Er trug alle Taschen in die Eingangshalle, sortierte danach aus dem Gedächtnis das Gepäck: die erste Fuhre in das Gästezimmer im ersten Stock. Nun Marias Zimmer. Er ging die Treppen wieder hinunter, dabei hörte er ihre Stimmen undeutlich. »Vielleicht sind sie auf der Terrasse«, überlegte er kurz, schnappte sich dann Romeos Gepäck und schleppte es in den zweiten Stock. Als er gerade wieder in das Treppenhaus treten wollte, hörte er seinen Vater rufen. "Julian, wo steckst du denn? Wir brauchen eine Vase für die Blumen." Seufzend eilte Julian nach unten und produzierte die gewünschte Vase. "Julian, du bist so nett! Und schon das Gepäck verstaut, vielen Dank!" Maria zog Julian in eine warme Umarmung, die er stocksteif über sich ergehen ließ. Das musste doch nicht sein! Aber Maria lächelte ihm bloß warm ins Gesicht, als habe sie sein Verhalten gar nicht bemerkt. "Julian, zeig Romeo sein Zimmer und das Bad. Er will sich sicher frischmachen!" Julian nickte knapp, machte dann eine Geste in Romeos Richtung, ihm zu folgen. Schweigend stiegen sie die Treppen hoch in den zweiten Stock, wo Julian auf die Zimmertür wies. "Das ist dein Zimmer. Das Gepäck steht neben dem Bett. Hinter der Tür ist das Bad, das wir uns teilen. Auf der anderen Seite ist mein Zimmer. Wenn du etwas brauchst, sag es mir einfach." "Danke, du bist sehr freundlich." Julian sah Romeo einen Moment scharf an. Hatte der das ironisch gemeint? Aber Romeos Gesicht blieb ausdruckslos, und Julian zuckte nur die Achseln. "Also dann." "Also dann." Julian verschwand in seinem Zimmer und verkroch sich in die Fensternische. Romeo sah ihm kurz nach, betrat dann sein neues Reich. Julian rollte sich wie gewohnt zusammen, zog die Beine fest unter das Kinn und schlang beide Arme fest darum. Von seinem Fensterplatz aus konnte er Maria und seinen Vater auf der Terrasse stehen sehen. Sie schienen sich lebhaft zu unterhalten. Plötzlich zog Maria seinen Vater zu sich herunter und küsste ihn leidenschaftlich. Julian spürte wieder diese Röte in seine Wangen steigen. Das gab es doch gar nicht, sein Vater zeigte Gefühle?! Er wandte heftig den Kopf in eine andere Richtung, entschied sich aber, gleich die Augen zu schließen. Wahrscheinlich würde sein Vater ein Essen auswärts vorschlagen. Das würde schon nervig genug werden! Er hörte den anderen (»Romeo!!«) im Bad Wasser aufdrehen. Tja, nun würde er sich wohl den ganzen Tag zusammenreißen müssen, keine Tagträumereien mehr. Dann klopfte es höflich an der Zwischentür. "Ja?" Romeo öffnete die Tür behutsam und blickte ihn an, "ist es okay, wenn ich eine Dusche nehme?" Julian seufzte still, "sicher, fühl dich wie zu Hause", antwortete er gedankenlos. Als beide stutzen, bemerkte Julian, dass er wegen seiner unbedachten Formulierung rot wurde. Er wich Romeos Blick aus und schwieg verbissen. Jede weitere Äußerung wäre nur noch peinlicher geworden. "Okay, danke!" Behutsam schloss sich die Tür wieder, und gleich darauf erklang das sanfte Rauschen von Wasser. »Oh Mann, was bin ich für ein Idiot! Fühl' dich wie Zuhause, verdammt!! DAS ist jetzt sein Zuhause!!« "Julian!" Julian sprang auf. Was konnte sein Vater jetzt wieder wollen? "Wo bleibst du?" "Ich komme." Julian traf seinen Vater im ersten Stock. Im Hintergrund hörte er Maria laut singen. Offensichtlich war sie glänzender Laune. "Wo ist Romeo?", fragte sein Vater ohne Einleitung. "Oben, er duscht gerade. Was ist los?" "Wenn er fertig ist, zeig ihm das Viertel und den Weg in seine neue Schule. Wenn ihr gegen Acht zurück seid, können wir noch gemütlich essen gehen." Julian nickte kurz. Im Klartext bedeutete das, dass sein Vater mit Maria allein zu sein wünschte und sie aus dem Haus haben wollte. Julian machte auf dem Absatz kehrt und stieg wieder die Stufen hinauf. Er betrat sein Zimmer und lauschte auf Geräusche aus dem Bad. Das Wasser lief nicht mehr. Vielleicht war Romeo schon fertig? Er klopfte an die Tür. »Mann, ist das albern! Wir umschleichen einander wie Raubkatzen...« "Romeo, kann ich reinkommen?" Verdammt, der Name kam ihm kaum unfallfrei über die Lippen! "Sicher, komm rein." Julian öffnete die Tür und sah Romeo nur mit dem Badehandtuch um die schlanke Taille gewickelt vor dem Spiegel stehen. Der drehte nun den Kopf und sah ihn abwartend an. Julian zögerte kurz, dann spannte er sich. "Mein Vater hat vorgeschlagen, dass ich dich gleich ein bisschen im Viertel herumführe und dir den Weg zu deiner neuen Schule zeige. Er will mit uns nach Acht essen gehen." Romeo zog spöttisch eine Augenbraue hoch, nickte aber nur. Dann beugte er seinen Kopf und schüttelte die nassen Locken über der Duschwanne aus. Julian beobachtete das Manöver ratlos. "Brauchst du vielleicht einen Föhn?" Romeo lachte ebenso herzlich wie seine Mutter und blinzelte zwischen Lockensträhnen hervor zu Julian hoch. "Das wäre schlecht für meine Haare, und ich würde wie eine alte Hexe aussehen!" Julian zuckte die Achseln, »dann eben nicht.« Er drehte Romeo den Rücken zu und verließ das Bad. "Ich warte in der Halle auf dich!" Dann nahm er zwei Stufen auf einmal und stürzte die Treppen hinunter. Ihm war nach Davonlaufen zumute. Der Kerl vermittelte ihm ein Gefühl von natürlicher Souveränität, das er hasste. Wie der schon gelacht hatte! So selbstsicher und spöttisch! Julian kam sich vor wie ein Tollpatsch. »Dieser blöde, kleine Spanier mit seinem Lockenputz!« Er ließ sich auf der untersten Stufe nieder. Wahrscheinlich brauchte der jetzt noch Stunden, bis er seine Locken geölt hatte, sich mit After Shave eingenebelt hatte und sämtliche goldenen Macho-Ketten umgehängt! ~db~ Kapitel 2 - Frontlinien Julian war so versunken, dass er Romeo erst bemerkte, als der sanft eine schmale Hand auf seine Schulter legte. Er schreckte hoch und wich automatisch zurück. Romeo zog bei dieser Reaktion die Augenbrauen zusammen, blieb aber ruhig stehen. "Wollen wir gehen?" Julian schämte sich für sein heftiges Zurückweichen und nickte ruckartig. Er ging voran zur Tür und wartete nicht ab, ob Romeo ihm folgte. ~db~ Julian wählte zunächst den Weg durch ihre eigene Wohnstraße, dann durch einen kleinen Park und schließlich an einer langen Straße entlang, die durch das angrenzende Industrieviertel verlief. Sie gingen schweigend nebeneinander her. Julian warf Romeo aus dem Augenwinkel Blicke zu. Die Haare lockten sich ungebändigt um dessen feingeschnittenes Gesicht. Der Wind wirbelte sie durcheinander, und Romeo kämmte dann geduldig wieder einige Strähnen hinter das Ohr. Er trug wieder ein schwarzes T-Shirt und schwarze Hosen, dazu passende Slipper. »Er sieht aus wie ein Gigolo, nur nicht so ölig«, dachte Julian. Und um gerecht zu sein, da war keine betäubende Duftwolke von After Shave oder protziger Schmuck, lediglich ein kleines, silbernes Kreuz um den Hals. »Wir geben wahrscheinlich ein ganz schön seltsames Paar ab. Er ist schick wie ein Eintänzer und ich mit meinen Jeans und hellem Polohemd wirke wie der genaue Gegensatz.« Sie folgten der langen Straße vorbei an den vielen Firmenzufahrten. Der warme Sommerwind strich um ihre Glieder. "Deine Schule ist dahinten", wies Julian auf ein flaches, modernes Gebäude mit rotem Dach. Romeo blieb stehen und betrachtete das Gebäude mit gerunzelter Stirn. "Können wir bis vor die Tür gehen?" Julian zuckte gleichgültig mit den Achseln,"warum nicht." Sie folgten der kurzen Abzweigung hinunter zum Schulgebäude. Ein Schild am Tor wies das Gebäude als internationale Schule aus. Der Komplex war verlassen. Samstags war Schulende bereits gegen ein Uhr. Romeo legte die Hände auf das Schultor und spähte neugierig zur Fensterfront hoch. "Ziemlich klein", kommentierte er schließlich. Julian zuckte wieder mit den Achseln. "Wohin jetzt?" Romeo wandte ihm den Kopf zu. Seine Haare wehten wild um sein Gesicht, und er lächelte erwartungsvoll. "Ich weiß nicht. Vielleicht durch unser Viertel", zögerte Julian, "allerdings sind das meistens nur Villen und Wohnstraßen." "Ich würde gern deine Schule sehen. Ist sie weit weg?" Julian sah Romeo scharf in die Augen. Warum wollte der denn seine Schule sehen? Er konnte aber keine Spur von Hintergedanken in Romeos Gesicht lesen, daher stimmte er zu. Sie konnten genauso gut zu seiner Schule gehen. Sie nahmen den Weg durch das Industriegebiet zurück und bogen bei dem kleinen Park in die entgegengesetzte Richtung ab. Eine kleine Wohnstraße weiter stand Julians Schule. Ein Vorkriegsbau, in dessen großem Schulhof nun containerartige Baracken die Raumnot für die Oberstufe verringerten. "Wie viele Schüler gibt es denn hier?" "Oh, die Schule ist ziemlich klein. Ich schätze, wir sind etwa 800 insgesamt. Die Oberstufenklassen haben ihren Unterricht in den Containern dort, außer natürlich dem Fachunterricht wie Chemie oder Physik." "Es sieht nett aus, so viele Bäume im Hof. Sicher kennt hier jeder jeden?" Julian seufzte leidgeprüft, "oh ja!" "Was machst du so in der Schule?" "Du meinst, welche Kurse? Ich habe Englisch und Mathe als Leistungskurse, dann noch Französisch und Latein, hm, und Chemie. Und na ja, den Rest, den man belegen muss." Julian wollte das ganz lässig rüberbringen, aber dann erinnerte er sich daran, dass Romeo ja so ein Genie sein sollte, mit Sprachbegabung und so weiter. »Wahrscheinlich findet er das armselig...« Romeo blickte derweil suchend um sich herum, drehte sich sogar im Kreis. "Suchst du was?" "Habt ihr keine Sporthalle oder einen Sportplatz hier?" "Oh doch, sicher! Komm mit." Julian führte Romeo um das Schulgebäude herum. In gleicher Höhe stand dort eine einfache Halle mit großen Glasfenstern unterm Dach und Holzwänden. Daneben zog sich eine einfache Aschenbahn um eine Sprunggrube. "Ist nicht so alt wie das Gebäude, entspricht aber den alten Vorlagen", erklärte Julian. "Was für Sport macht ihr denn hier?" "Also, so ein bisschen Leichtathletik, Gymnastik, Ballspiele, Badminton. Im Sommer gehen wir auch in den Park, durch den wir gekommen sind. Da spielen wir auch manchmal." Julian ging um das Gebäude herum. An der Rückseite befanden sich die Container, die als Umkleide und Duschkabine dienten. "Man muss aus der Halle durchs Freie, um sich umzuziehen?" Romeo zog überrascht die Augenbrauen hoch. "Und? Ist doch bloß ein paar Meter." "Ich dachte nur an den Hallenboden. Wenn man da mit Hallenschuhen..." "Der ist so zerschrammt, da macht das gar nichts. Aber er hat den Vorteil, dass man ihn mit Wasser abspritzen kann." Romeo wirkte verwirrt. Das schien ihm wohl ziemlich ungewöhnlich. "Was für einen Sport machst du?" "Ich bin Kapitän der Volleyball-Mannschaft. Ansonsten jogge ich gelegentlich." "Wirklich?" Da war es wieder, dieses ironische Hochziehen der Augenbraue, dieses leichte Zucken im Mundwinkel! Machte der Kerl sich etwa über ihn lustig? Aber Romeo hatte ihm schon den Rücken zugekehrt und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. "Weißt du, wo man hier in der Stadt tanzen kann?" Julian war perplex, "tanzen? Du meinst eine Disco oder einen Club?" Romeo lachte amüsiert, ein dunkles, warmes Lachen, das in seinem ganzen Körper zu vibrieren schien. "Aber nein, ich meine einen Tanzklub. Gesellschaftstänze?" "Tanzklub? Willst du tanzen lernen?" Romeo schmunzelte diesmal vergnügt, lachte aber nicht. "Ich kann bereits das eine oder andere. Ich möchte einfach trainieren können." "Du trainierst tanzen?" Julian verstand gar nichts mehr. Von was redete der Kerl? Und warum grinste er ihn so an?! "Ich mache keinen einfachen Walzer, sondern Flamenco und auch ein paar lateinamerikanische Tänze. Dafür muss man sehr hart trainieren." "Tut mir leid,aber darunter kann ich mir gar nichts vorstellen." »Großer Gott, ein tanzender Gigolo! Womit habe ich das verdient?!« "Hast du vielleicht Joaquin Cortes gesehen? Er hat Vorstellungen in Deutschland gegeben. Er tanzt eine Art des Flamenco." "Der langhaarige, ölige Typ, der da halbnackt auf der Bühne herumgetrampelt ist? So was machst du?" Romeo wurde ernst. "Man trampelt nicht einfach auf dem Boden herum, das ist hartes Training. Jede Bewegung muss sitzen. Man muss mit dem ganzen Körper Gefühle ausdrücken, seine Seele in den Tanz legen. Das ist sehr schwer." Julian zuckte die Achseln. "Wenn du meinst. Ich kenne zwar keinen Klub, aber wir können ja zu Hause im Branchenbuch nachsehen." Er wandte sich dem Rückweg zu. Seine Armbanduhr zeigte Zehn vor Acht an. Mittlerweile sollte die Wiedersehensfreude wohl ausreichend gefeiert worden sein! Diesmal schlenderte Romeo ein paar Schritte hinter ihm her, aber Julian hatte keine Lust, auf ihn zu warten. Schlag Acht standen sie wieder in der Eingangshalle. Romeo hatte die letzten Meter genutzt, ihn wieder einzuholen. "Vater, wir sind wieder zurück!" Eine Antwort kam aus der Küche, Marias Stimme. "Jungs, kommt in die Küche, ich mache etwas zum Essen." Julian zog verblüfft die Augenbrauen hoch. Sie kochte? In ihrer Küche? "Mama, wir waschen uns nur die Hände, dann helfen wir dir." Romeo antwortete gut gelaunt, packte dann Julians Arm und zog ihn einfach hinter sich die Stufen hoch. Julian war zuerst viel zu überrascht, dann löste er mit einem Ruck seinen Arm aus Romeos entschlossenem Griff. Der wandte sich zu ihm um, "entschuldige. Ich wollte dir nicht zu nahe treten." Selbst ein Idiot hätte den Spott aus seiner Stimme heraushören können! "Ich kann alleine gehen, klar?!", knurrte Julian und funkelte Romeo finster an, aber das war nur eine armselige Replik. »Ich fange an, den Kerl wirklich zu verabscheuen! Wie er immer den Erwachsenen rauskehrt, echt widerlich!« Sie trennten sich im Flur. ~db~ Julian schloss seine Zimmertür etwas lauter hinter sich als nötig gewesen wäre. Er atmete tief durch. »Der kriegt mich nicht klein! Er will mich bloß provozieren mit seinem überlegenen Gehabe!« Er hörte das Wasser im Bad laufen und wartete darauf, dass Romeos Zimmertür ging. Er hatte keine Lust, ihm schon wieder im Bad zu begegnen. Julian starrte auf den sich im Wind wiegenden Baumwipfel im Garten und wünschte sich leicht zu sein wie eine Feder, die vom Wind fortgetragen wird, schwerelos und frei. Die Verbindungstür zum Bad öffnete sich. Romeo steckte den Kopf in sein Zimmer. "Ich beiße nicht, weißt du? Du kannst ruhig reinkommen." Damit kehrte er Julian wieder den Rücken zu, ließ die Tür aber einladend offen. Julian starrte kurz auf seinen Rücken, dann streckte er ihm die Zunge heraus. »Blöder Angeber!!« Er stakste verärgert ins Bad und wusch sich die Hände. Romeo lehnte auf der Duschwanne und sah ihm dabei zu. »Wenn er mich jetzt dumm angrinst, hau ich ihm eine rein«, dachte Julian aufgebracht. Aber Romeo wirkte jetzt ein bisschen geistesabwesend. Er sah Julian zwar an, aber sein Blick war nach innen gekehrt. Julian baute sich direkt vor ihm auf, "also?" Romeo blickte zu ihm hoch, die wilden Locken in den Nacken geworfen. Er lächelte Julian sanft an. Diesmal lag kein Spott in seinem Blick. "Okay." Gemeinsam verließen sie das Bad durch Julians Zimmer und stiegen die Stufen hinab. In der Küche roch es einladend nach Kräutern und gebackenem Brot. "Mama, was gibt es denn Feines?" Romeo stellte sich neben seine Mutter und küsste sie sanft auf die Wange. Maria strahlte zu ihm hoch. "Ich habe Enchilladas gemacht mit roten Bohnen und Paprika und Zwiebeln. Dazu noch ein bisschen Blattsalat." "Hm, du bist die Beste, Mama!!" "Mein kleiner Schatz, deckst du bitte den Tisch?!" "Aber klar, Mama." Julian folgte der Unterhaltung mit einer Mischung aus Neid und Sehnsucht. Wie warmherzig die beiden miteinander umgingen! Wie sie einander ansahen, so ruhig und so fröhlich gleichzeitig! Man konnte förmlich spüren, wie die Wärme zwischen ihnen den Raum erfüllte. Er wandte ihnen den Rücken zu und begann leise, Geschirr aus den Schränken zu räumen. "Ach, Julian, es ist so lieb, dass du hilfst!" Julian erwiderte das strahlende Lächeln halbherzig. Er fühlte sich wie das fünfte Rad am Wagen. »Das sagt sie jetzt bloß aus Höflichkeit. Ist doch selbstverständlich, dass ich den Tisch decke. Mach ich sonst ja auch.« ~db~ Romeo nahm die Teller, die er auf der Anrichte abgestellt hatte und trug sie nach draußen auf die Terrasse. Julian folgte ihm mit Gläsern, Besteck und Servietten. Sein Vater saß unter dem großen Sonnensegel und studierte die Zeitung. Er brummte bloß kurz, als sie den Tisch zu decken begannen. "Julian, hol die Sitzkissen aus der Garage." Julian machte kehrt und ging zur Garage. Er unterdrückte mühsam das Kichern in seinem Hals. Sein Vater trug tatsächlich einen Jogginganzug und hatte am Hals einen Knutschfleck! Wenn das seine tollen Kunden mal sehen könnten! Er schnappte die Kissen und ging zurück in den Garten, seine unförmige Last fest an sich gepresst. Den Weg konnte er nur vermuten, da er keine Chance hatte, an den Kissen vorbeizuspähen. Als er eine Bewegung an seiner linken Seite wahrnahm, war es auch schon zu spät. Romeo hatte seiner Mutter die Pfanne mit den Bohnen abgenommen und war über die Schwelle von der Terrasse in den Garten gestiegen, als er seitlich mit Julian kollidierte. Die heiße Pfanne mit Inhalt wurde kurz gegen seinen Bauch gedrückt. Romeo stieß einen Schmerzlaut aus, ließ vor Schreck die Pfanne fallen. Julian war ebenso erschrocken, ihm entglitten die Sitzkissen. Romeo sackte in die Knie und presste beide Arme auf seinen Bauch. Das T-Shirt quiemte. "Romeo, mein Liebling, was ist passiert?" Maria stürzte auf die Terrasse und umarmte ihren stöhnenden Sohn. Julians Vater kam ebenfalls herbeigerannt, sein Gesicht bereits bedenklich gerötet. Julian selbst starrte immer noch auf Romeos zusammengekrümmte Gestalt und die Pfanne zu seinen Füßen. "Was hast du gemacht, du Idiot?!" Ein heftiger Faustschlag traf ihn ins Gesicht und ließ ihn ein paar Schritte zurücktaumeln. Für einen Augenblick tanzten Sterne vor seinen Augen. "Spiel jetzt bloß nicht die Heulsuse! Hol ein nasses Handtuch, aber plötzlich!!" Julian torkelte über die Terrasse ins Haus und hielt in der Küche ein Handtuch unter den Wasserhahn. Seine rechte Gesichtshälfte wurde langsam taub, seine Hände zitterten. »Beruhig dich, es war nicht deine Schuld, es war ein Unfall«, redete er sich ein, aber ein Schluchzen stieg in seiner Kehle hoch und schnürte ihm die Luft ab. Er rannte wieder nach draußen, wo Maria Romeo immer noch im Arm hielt, ihn sanft schaukelte und spanische Koseworte murmelte. Sein Vater stand hinter ihnen, das Gesicht hart wie Stein. Er streckte Julian fordernd die Hand entgegen, der rasch das Handtuch überreichte. Sein Vater ging neben Maria in die Knie und schob sie sanft beiseite. "Nimm die Arme weg, Junge, wir müssen die Wunde kühlen." Auf Romeos Bauch war eine dicke, rote Strieme zu sehen, die Haut verbrüht. Julian schluckte schwer. Er hatte doch keine Absicht gehabt, jemanden zu verletzen! "Julian." Die Stimme seines Vaters war kalt und ausdruckslos, so wie früher, wenn er nicht Bestzeiten gebracht hatte. "Du gehst auf dein Zimmer. Vor morgen Abend will ich dich nicht mehr sehen." ~db~ Julian senkte den Kopf und ging betäubt ins Haus zurück. Er wollte am Liebsten schreien, aber seine Stimme war verschwunden, die Worte blieben in seinem Hals stecken. Langsam stieg er die Treppe hinauf, schloss die Zimmertür hinter sich. Betrat das Badezimmer und sah in den Spiegel. Sein Vater hatte eine klare Handschrift: die gesamte rechte Gesichtshälfte war bereits angeschwollen und verfärbte sich. Julian füllte ein Glas mit Wasser und schluckte es vorsichtig. Er schmeckte kein Blut, ein gutes Zeichen. Dann ging er wieder in sein Zimmer, schloss die Badezimmertür hinter sich. Da man die Fensternische vom Garten sehen konnte, blieb ihm sein Lieblings-Zufluchtsort also verwehrt. Er schlüpfte aus seinen Klamotten in ein altes T-Shirt und Boxershorts. Rollte sich in seinem Bett zusammen. »Es war doch keine Absicht!« Julian spürte das Schluchzen seine Kehle hinaufsteigen und presste sich beide Hände vor den Mund, um keinen Laut entweichen zu lassen. Tränen rannen ihm über die Wangen, aber er rollte sich nur fester in seine Decke. ~db~ Romeo stieg langsam die Treppe hoch. Nach dem ersten Schreck hatte er sich rasch wieder erholt. Eine Brandsalbe hatte die Schmerzen gelindert. Nur das T-Shirt war nicht mehr zu retten. Er hatte seine Mutter beruhigen müssen, die sich ebenfalls furchtbar erschrocken hatte, aber als er ihr eine gute Nacht gewünscht hatte, hatte sie schon wieder gelächelt. Das Abendessen hatte sie ja auch gerettet. Julians Vater dagegen hatte steif gewirkt und wütend, als ob der Unfall ihn persönlich beleidigt hatte. Und Julian? Romeo fuhr es beim Gedanken an Julian kalt den Rücken herunter. Natürlich war es ein Unfall gewesen, Julian hatte ihn einfach nicht sehen können mit den unförmigen Kissen. »Und sein entsetztes Gesicht hat Bände gesprochen. Wahrscheinlich hatte er mehr Angst als ich«, dachte Romeo. »Und was tut sein Vater? Schlägt ihn fast k.o. und verpasst ihm Stubenarrest, ohne dass er was zu essen bekommen hat.« Zögernd blieb Romeo vor Julians Zimmertür stehen. Sollte er klopfen? »Besser, ich versuche es über das Bad«, änderte Romeo seine Meinung. Er betrat das Bad durch sein Zimmer und blickte auf die Ritze unter der Tür. »Kein Licht.« Er hatte vom Garten aus ein paar Mal nach oben gespäht, aber in Julians Fensternische war keine Bewegung zu erkennen gewesen. Vorsichtig öffnete er die Tür und lauschte auf eine Reaktion. Er hörte nur leise Atemzüge und sein eigenes Blut im Ohr rauschen, so still war es. Langsam trat er in das Halbdunkel des Zimmers und wandte sich Julians Bett zu. Mit angewinkelten Beinen lag der dort in seine Decke gehüllt, das Zimmer wie immer makellos. Langsam beugte sich Romeo über Julians Bett. Im Schein des Halbmondes konnte er den riesigen, blauen Fleck auf Julians rechter Gesichtshälfte erkennen, die Schwellung und auch die Tränenspuren auf den Wangen. Romeo fühlte eine heftige Welle von Mitgefühl und Zorn in sich aufsteigen. »Warum hat er nicht widersprochen? Natürlich war es ein Unfall!!« Und warum hatte sein Vater so unbarmherzig zugeschlagen? Sie waren doch eine Familie. »Und er hat bestimmt nicht unter Schock gehandelt«, dachte Romeo grimmig. Er bekam starke Zweifel, ob er den neuen Mann seiner Mutter mögen konnte. Behutsam streckte er die Hand aus und strich federleicht die blaue Strähne aus Julians Gesicht. "Wir reden morgen miteinander", hauchte er leise in Julians Richtung. Dann verließ er geräuschlos Julians Zimmer, ließ aber die Tür zum Bad angelehnt. ~db~ Julian erwachte, als Sonnenstrahlen sein Gesicht blendeten. Sein Kopf schmerzte grauenhaft. In seinem Mund war ein scheußlicher Geschmack. Als hätte er alte Tennissocken gekaut. Vorsichtig fuhr er mit der Zungenspitze über die rechte Seite seines Gaumens. »Autsch, verdammt, das schmerzt ja höllisch!« Er rieb sich die verklebten Augen und streifte die Bettdecke ab. Sein Körper schmerzte ebenfalls. Er hatte zusammengekauert geschlafen, die Spannung hatte sich nicht gelöst, und jetzt protestierte jeder Muskel gegen die unbarmherzige Misshandlung. "Los, du bist doch kein verweichlichter Weichkäse", ermahnte sich Julian eingedenk des Lieblingsspruchs einer seiner früheren Trainer. Er schwang mit zusammengebissenen Zähnen die Beine über die Bettkante und stand langsam auf. Dann torkelte er ins Badezimmer, musste sich aber gleich auf dem Waschbecken abstützen. Julian traute sich nicht, in den Spiegel zu sehen. »Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß.« Er schmeckte Blut und stellte resigniert fest, dass er sich auf die Lippe gebissen hatte. "Wie gut, dass ich Hausarrest habe. Bei meinem Aussehen würde man mich wahrscheinlich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses gleich aus dem Verkehr ziehen." Julian griff automatisch nach einem Handtuch und zog die mobile Duschwand zurück. Er stieg umständlich in die Duschwanne und merkte dann, dass er noch T-Shirt und Boxershorts trug. »Das ist mal wieder einer von meinen lichteren Momenten«, dachte er selbstironisch. Aber eine warme Dusche würde die Muskeln lockern, und vielleicht wäre sein Kopf auch dann klarer. Er schlüpfte rasch aus den Klamotten, warf sie vor die Dusche und schloss die Duschwand. »Nun bloß noch das Wasser aufdrehen...« Julian stellte sich unter den warmen Wasserstrahl, verzichtete aber darauf, den Kopf in den Nacken zu werfen. Der Schmerz in seiner rechten Gesichtshälfte war zu einem dumpfen Pochen geworden. Kein Grund, schlafende Hunde zu wecken! Automatisch seifte er sich rasch ein und spülte dann den Schaum ab. Gerade als er die warme Dusche verlassen wollte, öffnete sich die Tür zu Romeos Zimmer. Romeo stand auch schon im Bad. Im Gegensatz zu Julian war er hellwach und musterte neugierig und ungeniert Julians nackte Gestalt. Der war vor Überraschung stocksteif stehen geblieben. Das Handtuch hing noch auf der Stange an der Wand. Ein würdeloses, hektisches Angeln hätte es in seinen Besitz gebracht, aber Julian war trotz seiner Müdigkeit unangenehm berührt von Romeos Blick, der langsam über seinen Körper wanderte. Er spürte, wie ihm wieder mal die Röte ins Gesicht schoss. »Wieso starrt er mich so an? Ist irgendetwas mit mir nicht in Ordnung?!« Romeo lächelte plötzlich zufrieden, so, als habe sich eine von ihm gehegte Erwartung bei Julians Anblick bestätigt. Dann griff er rasch nach dem Handtuch und grinste Julian an. "Darf ich dir das Handtuch überreichen?" Julian fühlte unbändigen Zorn in sich aufsteigen: der Kerl demütigte ihn und machte sich über ihn lustig? "Gib es her!", zischte er heftig und riss das Handtuch aus Romeos Hand. Der lächelte breit, als habe er Julians Gefühle gar nicht bemerkt. "Wir haben schon gefrühstückt, ich kann dir aber gern was hochbringen." Julian hatte sich das Handtuch um die Hüften gewickelt und Romeo den Rücken zugekehrt. Er bückte sich und hob seine Wäsche auf. "Vielen Dank, aber ich will nichts essen", antwortete er steif. Romeo runzelte die Stirn, "du hast seit gestern nichts mehr gegessen. Du musst etwas essen!" Julian wandte sich Romeo zu und verengte die blauen Augen zu Schlitzen. "Wie geht es deiner Brandwunde?" Romeo bemerkte den Themenwechsel und Julians seltsamen Blick, kalt und bösartig. "Ich bin okay", antwortete Romeo leichthin, aber in seiner Stimme schwang Vorsicht mit, als erwarte er von Julian eine heftige Reaktion. Der aber starrte nur betont auf Romeos Bauch. "Ich weiß, dass es ein Unfall war. Dein Vater hat überreagiert." "Ach ja? Woher willst du wissen, dass er es nicht richtig eingeschätzt hat? Er kennt mich sehr viel länger als du!!" Julian kehrte dem verblüfften Romeo wieder den Rücken zu und zog betont energisch die Badezimmertür hinter sich zu. "Was zum...?!" Romeo blinzelte und betrachtete die Tür. Meinte Julian das ernst? Wollte der ihn nur provozieren? Gab er ihm die Schuld am Eklat mit seinem Vater? Oder was es Rache für die Badezimmer-Szene eben, um ihn zu verunsichern? "Vielleicht hätte ich ihn nicht so ansehen sollen? Er ist ja wirklich empfindlich...", räsonierte Romeo selbstkritisch. Er erinnerte sich nur zu gut an Julians Reaktion auf seine Berührung gestern und an seine demonstrative Abkehr in der Küche, als er mit seiner Mutter herumgealbert hatte. "Ist wahrscheinlich so steif wie sein Vater. Kalt und arrogant, bloß keine Gefühle zeigen! Möchte wirklich mal wissen, was Mama an dem findet!" ~db~ Romeo verließ das Bad und auch sein Zimmer. Er hatte keine Lust auszupacken. Morgen kam schließlich die Spedition mit ihren restlichen Habseligkeiten, dann konnte man alles gleich richtig machen. Er wanderte in die Küche, um nach seiner Mutter zu sehen. Die Küche war in ihrer kleinen Wohnung immer das Herz gewesen, der Treffpunkt zum Reden, Lachen, Essen und sogar zum Fernsehen. Diese Küche hier hatte in ihrer Sterilität eher wie eine Attrappe gewirkt, aber Küche war Küche. Sie war jedoch leer, also betrat er die Terrasse. Seine Mutter hatte bereits den Garten inspiziert und arbeitete nun an den Rosenstöcken. Julian Vater saß in seinem Stuhl und studierte irgendwelche Unterlagen. Zwischendurch warf er immer wieder Blicke auf Maria. "Wie ein Geier", Romeo fühlte Ekel in sich aufsteigen. Die unverhohlene Gier in den Augen des älteren Mannes stieß ihn ab. "Hallo mein Sonnenschein. Langweilst du dich?" "Nein, Mama, ich bin bloß unentschlossen, was ich an einem so schönen Tag unternehmen soll." "Warum siehst du dir nicht die Altstadt an?" Der Vorschlag von Julians Vater klang zwar gutgemeint und vordergründig freundlich, doch Romeo erkannte den Unterton genau. »Er will mit meiner Mutter allein sein, ich soll verschwinden.« "Frag doch Julian, er geht sicher gern mit dir mit." "Mama, Julian hat Stubenarrest", provozierte Romeo mit Unschuldsmiene. "Ach, Liebster, drück ein Auge zu, es war doch ein Missgeschick", schmeichelte Maria. "Nun gut, wenn du das möchtest." »Pah, das passt dir doch gerade in den Kram, noch einer weniger«, dachte Romeo und musterte Julians Vater voller Abscheu. »Ich kann ihn nicht leiden! Hoffentlich kann man es mir nicht zu sehr ansehen.« "Ich werde es ihm sagen", nickte Romeo höflich und ging wieder ins Haus. Er schnappte sich in der Küche ein Croissant und stieg wieder in den zweiten Stock. Dann klopfte er an Julians Zimmertür. "Dein Vater hat deinen Stubenarrest aufgehoben, wenn du mit mir in die Stadt gehst", informierte er Julian durch das Türbrett. Da er keine Reaktion hörte, drückte Romeo vorsichtig die Klinke herunter und betrat Julians Zimmer. Der hockte in seiner Fensternische, auf dem Kopf Kopfhörer, die zu einer kleinen Stereo-Anlage im Schrank führten. Er hatte die Augen geschlossen und offensichtlich Romeo überhaupt nicht gehört. Romeo besah sich Julians rechte Gesichtshälfte. Bei Tageslicht wirkte sie noch verheerender. Die Schwellung schien zurückgegangen zu sein, dafür schillerte der riesige Bluterguss in allen Farbschattierungen. »Wenn wir so rausgehen, werden wir bestimmt Aufsehen erregen. Aber ich will raus hier!« Romeo trat entschlossen auf Julian zu und hielt ihm das Croissant unter die Nase. Julian erschnupperte den ungewohnten Duft und öffnete die Augen. »Oh Mann, will der Kerl mir wirklich das Leben zur Hölle machen?« Julian drehte abweisend den Kopf zum Fenster. Das musste selbst dem aufdringlichen Spanier klarmachen, dass er keine Lust auf eine Unterhaltung hatte! Abrupt verstummte die Musik in seinem Kopfhörer. Julian riss den Kopf herum ungeachtet des Schmerzes in seiner lädierten Gesichtshälfte. Dann zog er wütend die Hörer vom Kopf. "Was bildest du dir ein? Schalt sofort wieder die Musik ein!!" Julian bemerkte beiläufig, dass er aufgesprungen war und beide Fäuste geballt hatte. »Oh Mann, ich habe wirklich Lust, ihn zu verprügeln!« Romeo blieb ruhig, das Croissant immer noch in der Hand. Er sah Julian ernst an. "Dein Vater hat deinen Stubenarrest aufgehoben, damit wir in die Stadt gehen können." "Ich will aber nicht in die Stadt gehen!!" "Er möchte, dass du mir die Altstadt zeigst." "Und wenn ich keine Lust habe, dein Babysitter zu sein?" Julian spuckte die letzte Frage voller Abscheu und Wut fast aus. Romeo fühlte angesichts Julians angespannter Haltung eine unheimliche Ruhe in sich. »Ich wette, er würde mich jetzt gern verprügeln und mir wehtun«, dachte er müßig, während er den kampfbereiten Julian mit halb gesenkten Augenlidern ansah. »Für einen so kalten, unnahbaren Typen hat er wirklich viel Temperament.« "Ich glaube nicht, dass dein Vater..." "Julian, Romeo, was macht ihr denn so lange? Wolltet ihr nicht in die Stadt gehen?" Die Stimme von Julians Vater unterbrach Romeo. Beide wandten unwillkürlich den Kopf zur Tür, als stünde Julians Vater im Flur und würde nicht vom Erdgeschoss durch das ganze Haus rufen. "Wir ziehen uns bloß um", antwortete Romeo und sah dabei Julian eindringlich an, der wie ein wilder Stier vor ihm stand, die Schultern zum Kampf bereit gesenkt, die Fäuste geballt. "Komm schon, der Tag ist zu schön, um drinnen zu hocken. Allerdings müssen wir was wegen deines Gesichts unternehmen." "Mein Gesicht bleibt, wie es ist, klar?!!" Julian zwang sich, die Fäuste zu öffnen und atmete tief durch, um die Anspannung zu lockern. Er würde nicht in die Stadt gehen. Aber das Haus verlassen zu können, erschien ihm doch verlockend. Sich seinem Kleiderschrank zuwendend ignorierte er Romeo. Ihm war nach körperlicher Ablenkung. »Mal sehen, Turnschuhe, eine leichte Hose und ein T-Shirt.« Mit ein bisschen Glück käme er ungesehen zur Tür, dann könnte er auf dem Sportplatz joggen und Ballübungen machen. Er könnte seine Aufschlag-Technik verfeinern, danach vielleicht ein paar der alten Spezialübungen absolvieren. Er zog sich rasch um und versuchte zu ignorieren, dass sich Romeo es ungefragt auf seinem Bett gemütlich gemacht hatte und ihm beim Anziehen zusah. Julian kramte in seinem Schulrucksack und fischte einen Schlüsselbund heraus, den er gleich in seiner Hosentasche versenkte. Er wickelte dann das Kabel zu den Kopfhörern auf und verstaute alles ordentlich. Romeo erhob sich vom Bett und reichte Julian das Croissant. "Ich hab gesagt, ich will es nicht", schnappte Julian und schlug Romeos Hand weg. "Wie du meinst", antwortete Romeo gelassen und biss selbst in die locker leichte Backware. Sie stiegen hintereinander die Stufen herab. Julian öffnete die Eingangstür und wartete ungeduldig auf Romeo, der hinter ihm hergeschlendert war. "Wir sind weg", verkündete Julian und zog die Tür hinter sich zu. Schweigend gingen sie die Einfahrt entlang. "Zur Altstadt musst du da lang. Viel Vergnügen!" Julian kehrte Romeo den Rücken zu und lief Richtung Schulsportplatz. "Warte mal, was machst du?" "Ich werde ein bisschen Sport machen." "Du willst nicht mit mir kommen?" "Nein danke!!!" "Also ... dann... bis später." ~db~ Romeo sah Julian nach. Er hatte so was schon erwartet. Aber er würde sich nicht den Launen dieses komischen Burschen unterordnen! Er war schließlich immer sehr selbständig gewesen, da konnte er sich auch allein die Altstadt ansehen. Er folgte einfach der Straße zur nächsten U-Bahn-Haltestelle und wartete auf einen Zug, der ihn ins Zentrum brachte. ~db~ Julian joggte zum Sportplatz. Er fühlte sich nicht gerade überragend, Romeo einfach so stehen zu lassen, aber der Kerl war ja wohl in der Lage, sich allein zurechtzufinden, oder nicht?! Er war froh, dass ihm niemand begegnete. Obwohl er sich keinen Blick in den Spiegel gegönnt hatte, konnte er sich aber vorstellen, dass sein Anblick nicht gerade vertrauenerweckend war. Am Sportplatz angekommen schloss er den Geräteraum auf und holte sich einen Volleyball heraus. Es war praktisch, der Kapitän zu sein. So kam man an den Schlüssel heran. Julian absolvierte ein paar Läufe um die Aschenbahn, Sprints und längere Strecken abwechselnd. Dann fühlte er sich warm genug, um mit Dehnübungen weiterzumachen. »Vielleicht auch ein paar der etwas spezielleren Übungen?« 'Ein Mann muss sich immer verteidigen können', hatte einer seiner Trainer erklärt und dann hatte er Julian auf Betreiben seines Vaters gedrillt wie einen Söldner. Nahkampf-Training. Julian hatte es gehasst. Es gab keine Regeln, alles war erlaubt und er hatte eine Menge Prügel einstecken müssen. »Weil es hier auch so viele Feinde gibt«, dachte Julian erbost. Er hatte damals kämpfen gelernt und wie man sofort die Schwächen des Gegners entlarvt und sie zu seinem Vorteil verwendet. Schließlich war er gut genug geworden, um seinem Trainer den Unterarm zu brechen. Das hatte dem Training schnell ein Ende gesetzt. Vor allem aber Julians völlige Gleichgültigkeit gegenüber seinem Trainer. »Aber ist es nicht das gewesen, was ihr gewollt habt?« Erst Stunden später hatte er (Stubenarrest auch hier) angefangen zu zittern und war vor sich selbst erschrocken. Er hatte sich von seinen Gefühlen verleiten lassen und die Kontrolle über sich verloren. Auch wenn er seine Tat danach verabscheut hatte, so hatte er dennoch einige der Übungen beibehalten. Sie halfen ihm beim Konzentrationstraining für Volleyball. ~db~ Romeo verfolgte gespannt die sich abwechselnden Ansichten der Stadtviertel, durch die er zum Stadtzentrum fuhr. Obwohl er in einer U-Bahn saß, fuhr sie doch weite Strecken oberirdisch und vermittelte ihm somit einen Eindruck seiner neuen Heimat. »Eigentlich ganz hübsch hier, alte Arbeitersiedlungen neben Villen, Neubauten und sogar Hochhäuser mit futuristischem Design. Alt und neu, modern und klassisch, eine gute Mischung«, fand Romeo. In der Innenstadt verließ er den Zug und schlenderte durch die Altstadt. Restauriertes Fachwerk, Brunnen und kleine Plätze, kleine Kneipen, Touristenläden, Stände mit Sehenswürdigkeiten. Und dazwischen ragten unterschiedliche Kirchtürme aus dem Gewimmel der kleineren Häuser. »Wie gut das hier alles hergerichtet ist«, bewunderte er die beschaulichen Szenen, »die Menschen scheinen ihre Heimatstadt wirklich zu mögen.« Nachdem er fast zwei Stunden lang langsam durch Gassen und über Plätze gebummelt war, meldete sein Magen, dass nun eine Pause mit Nachschub-Versorgung unbedingt angebracht sei. Er entdeckte in einem Hinterhof ein Gartenlokal und ließ sich an einem Tisch nieder. Eine Kellnerin steuerte auch gleich auf ihn zu und überreichte ihm die Karte. Romeo lächelte sie freundlich an und bestellte ein Wasser. Ein kurzes Nicken, schon war die Dame verschwunden. »Hm, hier spricht man wohl nicht so einfach mit Gästen«, dachte Romeo, «daran werde ich mich noch gewöhnen müssen.« Dann studierte er die Speisekarte. Gutbürgerliche Küche, das war gar nicht so einfach. Obwohl er doch gut Deutsch sprach, verwirrten ihn die Bezeichnungen einiger Gerichte erheblich. »Schweinshaxn? Kasseler?« Er seufzte leise. Vielleicht doch besser etwas, was er halbwegs einordnen konnte. Für Experimente blieb ja noch genug Zeit. »Bratwurst mit Sauerkraut und Brot?« Das klang gar nicht übel. Als die Kellnerin mit dem Wasser auftauchte, bestellte er gleich. Wieder das kurze Nicken und weg war sie. »Schade, sie sieht so aus, als könnte sie eine nette Unterhaltung brauchen«, dachte Romeo und sah ihr nach. Dann legte er den Kopf in den Nacken und blinzelte in die mächtige Baumkrone hoch, unter der er saß. »Eine Linde«, entschied er. Einzelne Sonnenstrahlen brachen zwischen den Blättern durch, wenn der warme Sommerwind den Baum streichelte. Romeo schloss kurz die Augen. Man hörte nur noch das Raunen der Blätter im Wind, er spürte die liebkosende Berührung des Windes und die Wärme der Sonne. Herrlich! Dann setzte er sich wieder aufrecht und öffnete die Augen. Er bemerkte, wie einige der Gäste ihn kurz musterten, sich dann aber wieder auf ihre Tischnachbarn oder das Essen konzentrieren. Es wurde kaum gesprochen. »Sehr ungewöhnlich«, fand Romeo. Essen schien in diesem Land eine ernsthafte Angelegenheit zu sein, der man sich mit voller Konzentration widmen musste. Natürlich war die Stille angenehm, aber irgendwie wirkten die Leute ein bisschen zu steif für Romeo. »Wie Julians Vater«, ging es ihm durch den Kopf, »Lebensfreude gehört wohl nicht zu den Dingen, die man offen zeigt. Sehr merkwürdig.« Er hatte das immer für ein Klischee gehalten. »Aber die Menschen sind ja Gott sei Dank verschieden. Das lässt mich hoffen«, munterte er sich selbst auf. Die eilige Kellnerin materialisierte sich wieder, lud einen Teller vor ihm ab, murmelte kaum hörbar, "Guten Appetit" und verschwand, bevor Romeo sich bedanken konnte. Nun zuckte er bloß noch mit den Achseln und machte sich über sein erstes deutsches Essen her. »Schmeckt gar nicht so übel«, befand er, »gewöhnungsbedürftig, aber nicht schlecht. Was wohl Julian jetzt gerade macht? Wahrscheinlich rennt er über den Sportplatz oder drischt Bälle durch die Gegend! Braucht man für Volleyball nicht eine Mannschaft?« Romeo fragte sich, wie jemand wie Julian, der so einzelgängerisch und grob wirkte, Mannschaftskapitän werden konnte. »Vielleicht verhält er sich ja nur mir gegenüber so? Hat er etwa Angst, ich steche ihn bei seinem Vater aus? Sein Vater... ich kann ihn einfach nicht ausstehen! Der ist so unecht, versteckt seine Gefühle ständig. Ob Julian wohl viele Freunde hat?« Romeo hoffte darauf, einige von ihnen kennenlernen zu können. Seine neue Schule erschien ihm etwas klein, und wie in allen internationalen Schulen wechselten die Schüler häufig. Es gab kaum Gelegenheit, eine ernsthafte Freundschaft aufzubauen und sie auch über die Distanz zu pflegen. Er war in der Lage, gut mit allen auszukommen und schnell Anschluss zu finden, aber einen guten Freund zu haben, das wäre noch viel besser! »Na, jetzt habe ich ja einen Bruder. Einen Bruder, der mich nicht ausstehen kann... ob er wohl eine Freundin hat? Sein Zimmer ist völlig leer, keine Photos, keine Poster, kein Anzeichen...« Seufzend lehnte Romeo sich zurück. Jetzt war er satt. Sofort erschien auch wieder die Kellnerin, um zu kassieren. Er bedankte sich und verabschiedete sich freundlich, aber die Kellnerin wirkte eher verdutzt als erfreut. ~db~ Kapitel 3 - Eine neue Heimat »Nun, wohin als nächstes? Ich könnte nach einem Tanz-Klub suchen, es gibt doch sicher auch Spanier in dieser Stadt! Vielleicht gibt es sogar spanische Vereine?« Aber wie sollte er das herausfinden? War da nicht vorhin eine Touristen-Information gewesen? Romeo schlenderte auf den Rathaus-Platz. An der Stirnseite stand eine Tafel mit einem Stadtplan. Daneben befand sich eine futuristische Säule mit einer Touchscreen. Er studierte die Anweisungen und Piktogramme. Offensichtlich konnte man mit Eingabe eines Suchbegriffs eine kleine Datenbank der Stadt-Information durchstöbern. Er überlegte kurz und versuchte dann sein Glück. Das Ergebnis erschien nur Augenblicke später wieder auf dem Bildschirm: ein spanischer Verein zur Pflege der spanischen Kultur. Die Adresse vor sich hin murmelnd studierte Romeo den Stadtplan. »Einfach die Planquadrate abzählen und bingo!, da ist es ja!« Nur ein paar Straßen entfernt sollte sich der Verein befinden. »Nun, es ist einen Versuch wert«, entschloss sich Romeo und marschierte los. ~db~ Julian ließ sich erschöpft auf den harten Boden sinken. In der von der Sonne aufgeheizten Sporthalle hatte er sich selbst bis an den Rand der Erschöpfung getrieben. Seine rechte Gesichtshälfte pochte wieder schmerzhaft, doch er ignorierte den Schmerz. Nun lag er auf dem Rücken und schnappte nach Luft, während Sterne vor seinen Augen tanzten. »Konzentriere dich auf deine Atmung, atme langsam und tief«, ermahnte er sich selbst. Er beruhigte seinen Atem allein durch seinen Willen, dann verbannte er alle Gedanken aus seinem Kopf. »Atme tief, dann erscheint der Energie-Ball...« Er hatte lange gebraucht, um diese Energie-Technik zu lernen, aber je besser er sich konzentrierte, umso schneller konnte er den Energie-Ball vor seinen geschlossenen Augen sehen. Leuchtend orange, leicht vibrierend. »Meine Energie... Verteile dich in meinem Körper!« Julian stellte sich vor, wie Energie-Stränge aus dem Kraft-Ball durch seinen Körper wanderten, entlang der Nervenbahnen. Er spürte im ganzen Körper die kribbelnde Wärme. Sein Körper schien sich wieder mit frischer Energie aufzuladen. »Ich bin frei...« Julian genoss dieses Gefühl, vor Leben und Kraft zu vibrieren. Er wusste, dass er jetzt mit geschlossenen Augen lächelte. Dann verabschiedete er sich langsam von seinem Energie-Ball, ließ ihn verblassen und bereitete sich darauf vor, wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren. Er öffnete vorsichtig die Augen und schloss sie gleich wieder: das Licht erschien grell. Dann blinzelte er, um sich wieder an die Außenverhältnisse seines Körpers zu gewöhnen. Gemächlich setzte er sich auf. Er fühlte sich in einem seltsamen Körperzustand, voller Energie und gleichzeitig sehr erschöpft. Als habe er sich bis über alle Grenzen verausgabt. Ekstase und gleichzeitig völliger Friede? Eigentlich unmöglich, aber es fühlte sich genauso an. Angeblich basierten viele asiatische Sportarten auf dieser Grundlage der Konzentration auf das eigene Chi, was er sich der Vereinfachung halber als Energie übersetzt hatte. »Uff, und was nun?« Sein Magen gab prompt Antwort. Das Knurren hätte ein Rudel ausgehungerter Wölfe verscheucht. Wenn er aber jetzt nach Hause ginge (nach einer fälligen Dusche), dann würde offenbar, dass er Romeo allein gelassen hatte. Julian stand auf. »Erstmal unter die Dusche, dann kann man sich immer noch den Kopf zerbrechen.« ~db~ Romeo bog in die Straße ein, in der sich das Vereinshaus befinden sollte und wurde von lateinamerikanischen Rhythmen empfangen. Neugierig beschleunigte er seinen Schritt. Auf dem kleinen Parkplatz vor dem Vereinshaus standen ein paar Bänke und Stühle unter bunten Sonnenschirmen, alles durcheinander gewürfelt. Eine Stereo-Anlage spielte die Musik, während einige Leute tanzten, nicht nur Jugendliche, sondern auch Ältere, so bunt gemischt wie die Ausstattung. Der Tanzstil schien dabei lediglich vom Takt der Musik abzuhängen, alles andere lief völlig frei. Romeo stellte sich zu einigen Zuschauern und sog den Rhythmus in sich auf. "Na Junge, willst du tanzen?" Eine ziemlich stattliche Dame baute sich direkt vor Romeo auf, das imposante Dekolletee kampflustig vorgereckt. Romeo lächelte und nickte, "es wäre mir eine Ehre und ein Vergnügen." Eine Verbeugung wie Don Juan und rasch griff er die beringte Hand seiner kräftigen Partnerin. Die hatte sich bereits von der Überraschung erholt und setzte eine konzentrierte Miene auf. "Nun gut, mein Hübscher, dann wollen wir mal sehen, ob du Manns genug für mich bist!" Romeo grinste befreit. Ein richtiger Tanz war wie ein Wettkampf zwischen den beiden Partnern, aber es gab keinen Sieg zu erringen, sondern seinen Gefühlen den besten Ausdruck zu geben. Sie umkreisten einander mit abgemessenen Tanzschritten, dann übernahm die Frau die Initiative, klatschte in die Hände und stampfte einen einfachen Rhythmus auf den Betonboden. Sie wich zurück und nickte Romeo zu. Der nahm die Herausforderung an, wiederholte ihre Schritte und legte dann zu, diesmal eine komplexe Figur. Die Frau lächelte anerkennend, nun, das würde wohl spannend werden. Die anderen hatten die Tanzfläche geräumt und die Musik abgedreht. Sie feuerten die Kontrahenten durch rhythmisches Klatschen an. Beide waren hochkonzentriert. Während Romeo mit gesenktem Kopf seinen Angriff führte, warf seine Partnerin den Kopf in den Nacken und reckte das Doppelkinn. Romeo vergaß die Zuschauer. Er spürte den Rhythmus in seinem Körper, das Pflaster erwachte unter seinen Füßen zum Leben, sein Blick ließ die dunklen Augen der Frau nicht mehr frei. Schließlich brach sie die Spannung zwischen ihnen. Die Luft war aufgeladen mit den Emotionen, die ihr Tanz enthüllt hatte. Sie überwand einfach den Abstand, der zwischen ihnen lag und zog Romeo an ihren mächtigen Busen. "He, Kleiner, du bist wirklich ein Mann!! So ein süßes Kerlchen dazu, ich könnte dich glatt vernaschen!" Die Zuschauer applaudierten und scherzten, Rosi solle den armen Jungen mal wieder Luft holen lassen. Romeo strich sich über das zerknitterte Hemd und lächelte in die Runde. Dann stellte er sich vor und erklärte ganz ungezwungen seine Absicht, den Flamenco trainieren zu wollen. Rosi, seine Partnerin, warf sich in die gewaltige Brust und erklärte, für einen wie ihn sei in ihrem Verein immer Platz und Flamenco könne er hier auch trainieren, "allerdings nur, wenn du mir immer einen Tanz versprichst!" Romeo lachte, diese Ehre werde er ihr auf alle Fälle erweisen. Und schon wurde er in ihre Mitte gezogen, vorgestellt und mit einem erfrischenden Eistee versorgt. Man drehte die Musik wieder auf, und ein vorwitziges Mädchen forderte ihn für den nächsten Tanz auf, wenn er denn auch Salsa tanzen könne. Wer konnte da widerstehen? ~db~ Julian hatte sich abgetrocknet und hockte nun im Schatten eines Baumes auf dem Schulhof. Er hatte natürlich auch keine Klamotten zum Wechseln mitnehmen können und ließ sich nun vom Wind trocknen, nur mit seiner Jeans bekleidet. Frische Sachen wären natürlich besser gewesen, aber er hätte wohl kaum mit einer Tasche das Haus verlassen können, ohne dass sein Vater Verdacht geschöpft hätte. Sein Magen knurrte wieder vernehmlich. "Ich höre dich nicht", antwortete er laut. »Ich hätte doch das Croissant von dem kleinen Angeber nehmen sollen, aber was soll's.« Er stand auf, schnappte sich sein T-Shirt und ging an der Schule vorbei in den kleinen Park. Der war menschenleer, allein die Nachbarn führten gelegentlich ihre Hunde dort aus. Im Sommer fanden auch manchmal nächtliche Trinkgelage von Jugendlichen statt. Er suchte sich einen großen Baum, ließ sein T-Shirt fallen und legte sich darauf. Es war angenehm kühl unter dem dichten Blattwerk. Man hörte keinen Rasenmäher oder Autos, nur das gelegentliche Brummeln einer Biene auf Nektarsuche oder einen Vogel. Julian schloss die Augen und schlief ein. ~db~ Romeo machte sich langsam auf zur U-Bahn-Station. Er hatte getanzt, gelacht und war mit Eistee und Gebäck verwöhnt worden. Man hatte ihn aufgenommen wie ein Familienmitglied und er hatte die Aufmerksamkeit genossen. Aber nach zwei Stunden hatte sich sein Gewissen gemeldet. Selbst so ein Kraftprotz wie Julian konnte nicht so lange trainieren. Und ohne ihn konnte er nicht nach Hause kommen. »Ob er wohl überhaupt was gegessen hat? Eigentlich sollte es mir egal sein, er ist ja genauso alt wie ich.« Aber dennoch machte Romeo sich Sorgen. Also hatte er sich freundlich verabschiedet, mit dem Versprechen bald wiederzukommen. Er stieg in die Bahn ein und lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Es hatte Spaß gemacht, aber jetzt war er doch ein bisschen müde. Vorsichtig balancierte er die Tüte auf dem Schoß, die ihm eine der älteren Frauen in die Hand gedrückt hatte. Ein paar Enchilladas fürs Abendessen, damit der arme Junge nicht verhungere, er sei ja so dünn. »Stimmt gar nicht«, dachte Romeo selbstkritisch, »ich bin einfach nur sehnig, da setzt eben keine Muskelmasse an. Ganz im Gegensatz zu Julian«, sinnierte er dann. Romeo erinnerte sich an Julian in der Dusche und heute Morgen beim Umziehen. Der war gebaut wie ein Modell-Athlet. Kein Bodybuilder, aber er hatte Muskeln, breite Schultern, einen flachen Bauch und schmale Hüften. »Er wäre sicher was für Rosi«, dachte Romeo und unterdrückte ein Kichern. Allein die Vorstellung, wie Rosi den großen Julian zu sich herunterziehen und an ihren Busen drücken würde, war zu komisch. »Er würde wahrscheinlich zur Salzsäule erstarren und tot umfallen!« Romeo bemerkte, dass seine Station gekommen war und verließ hastig den Zug. Er stieg wieder hoch ins Tageslicht des Spätnachmittags und schlenderte in Richtung der Schule. »Ob er wohl noch dort ist?« ~db~ Als Romeo den Park durchquerte, sah er Julian unter dem Baum liegen. »Schläft er, oder...?« Romeo beschleunigte seinen Schritt. Plötzlich klopfte sein Herz gewaltig. Er hielt direkt neben Julian an und ging neben ihm in die Knie. Vorsichtig legte er eine Hand auf Julians nackten Brustkorb. "Bist du okay?" Julian blinzelte. Was war das für ein Gefühl? Als sein Blick sich klärte, erkannte er Romeo, der neben ihm kniete. Romeos Gesicht wirkte ein wenig besorgt. Außerdem hatte er eine Hand auf Julians Brust gelegt. "Was soll das?" Julian wich heftig zurück und richtete sich abrupt auf. Romeo kniete noch immer und musste jetzt zu ihm hochsehen, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. "Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du dich nicht gerührt hast", antwortete er ruhig. Julian ärgerte sich über seine heftige Reaktion und bückte sich nach seinem T-Shirt. Er schleuderte es ein paar Mal durch die Luft, um die gröbsten Knitter zu glätten. Romeo stand auf und sah seinem Treiben belustigt zu. Julian gab es schließlich auf und schlüpfte in sein T-Shirt. "Was riecht denn da?" Romeo hob die Tüte in seiner Linken an. "Enchilladas für den Heimweg. Hab ich geschenkt bekommen. Wollen wir sie uns teilen?" Julian zögerte. Ihm war flau vor Hunger, andererseits wollte er sich keine Blöße geben. Romeo schien seine widerstreitenden Gefühle zu erkennen, denn er griff einfach in die Tüte und drückte Julian eine gefüllte Enchillada in die Hand. "Danke", murmelte Julian verlegen und biss vorsichtig hinein. Seine Augen wurden groß, "das schmeckt ja klasse!" Romeo lächelte und sah Julian beim Essen zu. "Warum setzen wir uns nicht auf die Bank, während wir die Beweismittel vernichten?" Ohne auf Julians Reaktion zu warten, ging er voran, machte es sich bequem und stellte die Tüte neben sich. Julian ließ sich auf die Bank fallen und kaute mit vollen Backen weiter. Er hatte nicht gewusst, wie hungrig er eigentlich war. Romeo lehnte einen Arm auf die Rückenlehne der Parkbank, dann stützte er sein Kinn auf seinen Unterarm. Er sah amüsiert zu, wie Julian die Enchilladas verputzte, genauso konzentriert wie die Leute im Gartenlokal am Mittag. »Ich wette, er hat seit gestern nichts mehr gegessen«, ging ihm durch den Kopf. "Willst du denn nicht auch was essen?", fragte Julian schüchtern. "Nein, ich bin so voll mit Eistee und Plätzchen, dass ich platzen könnte", kicherte Romeo und skizzierte übertrieben seinen Bauchumfang in die Luft. Julian musste lachen, dann schüttelte er den Kopf, "du siehst wirklich aus, als müsste man dich ein bisschen auffüttern." Romeo runzelte die Stirn, "wie meinst du das, 'auffüttern'?" "Na, dass du sehr dünn bist. Auffüttern bedeutet, man gibt genug zu essen, damit einer ein bisschen stärker und kräftiger wird." Romeo kniff die Augen zusammen, "ich bin kräftig und stark genug." "Oha, da habe ich wohl einen wunden Punkt getroffen", lächelte Julian gutmütig, "nicht sauer werden, okay?" Romeo war verblüfft. Julian schnappte nicht ein, wechselte nicht das Thema, wurde nicht aggressiv? Stattdessen blieb er locker und lächelte ihn an? »Vielleicht ist er doch ganz umgänglich.« "Wollen wir?" "Okay, gehen wir heim. Sag mal, woher hast du das Zeug denn bekommen?" "Das Zeug sind Enchilladas. Ich habe in der Stadt einen spanischen Verein gefunden. Wir haben getanzt, geredet und gegessen, es war sehr schön. Sie haben mich wirklich nett aufgenommen, tja, und mir das Essen geschenkt." "Ich wette, du hast jede Menge Mädchen kennengelernt?!" Romeo blickte Julian überrascht an. Die Frage schien locker, aber sein Ton war irgendwie... sehnsüchtig? "Ich habe alle möglichen Leute kennengelernt, auch ein paar Mädchen. Aber ich bin nicht auf der Suche nach einer Freundin gewesen, wenn es das ist, was dich interessiert." Julian wurde rot, "dein Privatleben geht mich nichts an. Ich dachte nur..." "Was? Was hast du gedacht?" "Nicht wichtig, vergiss es!" Romeo blieb stehen, "ich will es wissen, sag schon!" Julian schüttelte den Kopf, "nein, es ist albern." "Mann, wir werden eine Familie sein und zusammen wohnen, wir werden Brüder, also brauchst du dich nicht vor mir selbst zu zensieren, okay?!!" Julian blieb überrascht stehen. Er zensierte sich selbst? Nun ja, das war nicht falsch. "Also gut... ich dachte, na ja, ich dachte halt, dass du diese Tanzerei machst, weil Mädchen darauf stehen. Und so, wie du aussiehst..." "Wie ich aussehe? Was meinst du damit?" "Du weißt schon, der typische Latin Lover..." "Ich?!! Na hör mal, dafür fehlen mir ein Kilo Ketten, After Shave-Düfte und ich öle meine Haare nicht! Oder hattest du ein anderes Klischee im Kopf?" "Ich sag ja, es ist albern..." "Julian, ich tanze, um meine Gefühle auszudrücken. Ich mache das nicht, weil Mädchen auf Tanzen stehen. Übrigens stehen nicht gerade viele Mädchen auf Flamenco in diesen Breiten. Die meisten Tanzpartnerinnen, die ich hatte, sind älter als meine Mutter. Man braucht Lebenserfahrung für diesen Tanz." "Schon gut, ich weiß, es war albern..." Julian zog den Kopf ein, seine Verlegenheit wich einer trotzigen Miene. Romeo bemerkte den Stimmungswechsel und hakte das Thema ab. Er wollte ihre gute Stimmung nicht zerstören. "Willst du es dir mal anschauen? Ich meine Flamenco?" "Vielleicht", antwortete Julian ausweichend. "Okay! Und jetzt nichts wie heim!" Sie legten einen Schritt zu und standen bald vor der Haustür. Julian kramte gewohnheitsmäßig die Schlüssel hervor, aber Romeo hatte bereits die Klingel betätigt. Julian starrte ihn an. Sein Vater hasste die Türklingel! Wenn er da war, durfte nicht geklingelt werden! Sie hatten ja schließlich einen Schlüssel! Aber die Tür öffnete sich bereits, und statt Julians Vater wartete die strahlende Maria. "Hallo ihr Lieben, hattet ihr einen schönen Tag? Oh meine Güte, Julian, bist du etwa mit diesem Bluterguss in der Stadt gewesen? Komm, mein Lieber, da muss sofort Salbe drauf!" Romeo hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken, als seiner Mutter Julian entschlossen an der Hand nahm und den großen Jungen energisch hinter sich her in das Bad im ersten Stock zog. "Ich bin okay, wirklich! Bitte, Maria, das ist nicht nötig!" "Aber nein, mein lieber Junge, mir zuliebe wirst du die Salbe auftragen, bitte, ja?!" Julian seufzte. Wer könnte so einem waidwunden Blick widerstehen? "Natürlich. Aber es ist wirklich nicht schlimm." Julian stapfte ins Bad, zog die Salbe aus einer Schublade und betrachtete versonnen die Flaschen-, Tuben- und Dosenparade vor dem Spiegel. Es war lange her, dass im Bad so ein kunterbuntes Durcheinander geherrscht hatte. »Seit dem Tod meiner Mutter...« Julian verscheuchte den Gedanken und stieg in den zweiten Stock, betrat sein Zimmer und schloss die Zimmertür hinter sich. Er betrat das Bad und zögerte überrascht auf der Schwelle. Romeo stand vor dem Spiegel, sein Hemd hatte er aufgeknöpft und inspizierte die Brandwunde vom Vortag. Sie war inzwischen zu einem Streifen geröteter Haut verblasst, wie ein starker Sonnenbrand. Romeo blickte zu Julian auf. "Oh gut, du hast die Salbe da. Wärst du so nett?" Julian blieb begriffsstutzig stehen, er sollte...? "Bitte, dann muss ich mich nicht so verrenken." Julian öffnete langsam die Tube, verteilte ein bisschen durchsichtige Salbe auf seinen Fingerspitzen. Behutsam legte er die Fingerspitzen auf die verbrannte Stelle. Dabei musste er sich allerdings unbequem bücken. "Autsch!" "Entschuldige!" Kurzentschlossen ging Julian vor Romeo in die Knie und legte erneut die Fingerspitzen behutsam auf dessen Bauch. Er konnte spüren, wie Romeo atmete und sich sein Bauch bei jedem Atemzug langsam hob und senkte. Vorsichtig verteilte er die Salbe. Diesmal schien er sanft genug gewesen zu sein, denn Romeo gab keinen Laut von sich. Er blieb unter Julians Berührung vollkommen entspannt. "Okay so?", flüsterte Julian fragend. Romeo sah zu ihm runter, "perfekt. Du machst das wirklich gut." Julian lief rot an und erhob sich sofort. Warum sagte Romeo jetzt so was? "He, langsam, jetzt bin ich dran!" Romeo hielt Julian am Handgelenk fest. "Was?!" "Na, dein Gesicht! Schon vergessen? Wetten, ich mach' es genauso gut wie du?" Romeo grinste Julian anzüglich an. Der spürte wieder die unangenehme Röte hochsteigen. "Das kann ich allein. Ich brauche keine Hilfe." "Es geht auch nicht darum. Ich habe dich herausgefordert! Du kannst dich jetzt nicht mehr einfach drücken." Julian konnte an dem Blitzen in Romeos Augen erkennen, dass er sich über Julians Verlegenheit amüsierte. "Das ist eine Frage der Ehre", verkündete Romeo pathetisch, "also musst du mich nun machen lassen." Julian zögerte, "was bekommt der Sieger?" "Einen Wunsch frei. Was auch immer es ist, der andere muss es tun. Keine zeitliche Begrenzung bei der Erfüllung." Romeo wirkte jetzt ernst, das spöttische Grinsen war verschwunden. Julian zögerte. "Wenn wir uns nicht einigen können? Ich meine, es hängt doch vom subjektiven Empfinden ab? Und ich habe schon meinen Teil geleistet, ohne dass wir gewettet hatten." "Willst du eine Wiederholung?" Julian wurde verlegen, "nein, schon gut." "Wir werden beide einfach ehrlich miteinander sein. Es ist eine Frage des Vertrauens. Risiko ist immer mit dabei." Julian sah Romeo in die Augen. Beide schwiegen einen Augenblick. Dann nickte Julian. "Ich akzeptiere." Romeo lächelte wieder. Er zog Julian auf die Kante der Duschwanne. Vorsichtig drehte er Julians Kopf zur Lampe hin, strich sanft die blaue Haarsträhne aus der Stirn. Er nahm die Salbe, verteilte sie auf seinen Fingerspitzen und blickte konzentriert in Julians Gesicht. Romeo legte sanft die rechte Hand unter Julians Kinn und hielt es so in Position. Mit den Fingerspitzen der linken Hand strich er hauchzart über Julians schillernde, rechte Gesichtshälfte. Julian blickte in Romeos Gesicht, in dem sich Konzentration und Mitgefühl widerspiegelten. »Er fühlt meinen Schmerz«, dachte Julian verblüfft. »Er könnte es mir jetzt heimzahlen, indem er grob ist, aber stattdessen kann ich seine Hand kaum spüren.« "Fertig." Julian zuckte zusammen. Er war so in Romeos Betrachtung vertieft gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass der mit seiner Aufgabe schon fertig war. "Nun?" Julian seufzte, "du hast gewonnen. Ich schulde dir einen Wunsch." Romeo lächelte ihn an, "keine Angst, ich werde meinen Wunsch genau überlegen." "Was machen wir jetzt?" "Ich muss noch ein paar Hausaufgaben machen, also..." "Schon klar, ich soll mich selbst beschäftigen." "Das habe ich nicht gemeint! Aber es ist doch sicher langweilig für dich, wenn du da dabeihockst." Romeo seufzte, "ich habe keine Lust, allein in meinem kahlen Zimmer zu sitzen. Können wir nicht in dein Zimmer gehen?" Julian guckte verblüfft, "aber mein Zimmer ist genauso kahl?" "Hör mal, wie wär's, ich lege ein bisschen Musik auf, du machst deine Hausaufgaben und ich lese ein bisschen, okay?" Julian nickte. Warum nicht, klang gar nicht so übel. Er schnappte sich ein Hemd, streifte es über und machte es sich mit seinen Schulbüchern in seiner Nische bequem. Romeo inspizierte derweil Julians kleine Anlage, legte Musik auf und sich dann auf Julians Bett, ein kleines Buch in der Hand. Julian blickte irritiert zu ihm rüber, "was ist denn das für Musik?" "Oh, das ist japanische Rockmusik." "Japanische Rockmusik? Oh Mann! Und was liest du da?" Romeo stand auf und quetschte sich ohne Umstände eng neben Julian in die Nische. "Das sind japanische Comics. Sie heißen Manga." "Kannst du denn Japanisch?" Romeo lächelte verschmitzt, "ein bisschen. Ich verstehe, worum es geht." "Und die Musik?" "Passt irgendwie zu der Geschichte, die ich gerade lese." "Das ist mir zu hoch." Julian seufzte und wandte sich seinen Matheaufgaben zu. Romeo war ein wenig enttäuscht, wechselte aber mit einem Achselzucken wieder zurück auf Julians Bett. Julian grübelte derweil versonnen über seiner Deutsch-Lektüre. Schließlich ließ er den Text mit einem entnervten Seufzer sinken. Romeo sah ihn neugierig an, "kann ich helfen?" "Nein, nein, ich hab bloß keine Lust auf dieses Zeug!" "Was denn für ein Zeug?" Romeo hatte sich vom Bett erhoben und streckte neugierig die Hand nach Julians Heft aus. Julian zögerte, gab dann aber das Heft frei. Romeo zog sich wieder auf Julians Bett zurück und lehnte sich an die Wand. "Romantische Lyrik des neunzehnten Jahrhunderts?" Romeo kicherte vielsagend, er verstand nun. Was sollte Julian auch mit Liebesgedichten anfangen?! "Was ist so komisch? Das ist doch echt ätzendes Gesülze!" Romeo blickte ihn schweigend an, "was würdest du denn zu deiner Geliebten sagen?" Julian lief rot an, "du fragst dummes Zeug!" Romeo blätterte interessiert durch das schmale Heft, als Julian aufsprang und es ihm zu entreißen versuchte. Romeo wehrte sich grinsend, während Julian zunehmend verbissen nach dem Heft schnappte. "Warum regst du dich so auf? Ist doch alles harmlos!", spottete Romeo über Julians Erregung. Dann flatterte ein gefaltetes Blatt aus dem Heft. Romeo fing es geistesgegenwärtig ein. "Gib das her!!" Verzweifelt versuchte Julian an das Papier zu kommen. Das Heft war vergessen. Romeo drehte Julian den Rücken zu und entwischte geschmeidig seinem Haltegriff. "[Eine hervorragende Arbeit, Julian. Sehr gefühlvoll!]" Romeo blickte Julian überrascht an, "hat das dein Lehrer geschrieben?" Julian senkte den Kopf, "meine Lehrerin", korrigierte er leise. "Warum so verlegen? Das ist eine sehr gute Note!?" Hastig griff Julian nach dem Papier. "Das geht dich nichts an." "Es ist ein Gedicht, oder?" "Lass mich in Ruhe!!" Julian kehrte Romeo abrupt den Rücken zu, kauerte sich in die Nische und blickte starr aus dem Fenster. Romeo zögerte. Julian schienen Gefühle peinlich zu sein und diese Scham löste Aggressionen aus. "Entschuldige, aber ich verstehe das nicht. Du schreibst ein Gedicht und willst nicht, dass jemand es liest. Wieso hast du es dann geschrieben? Versteht dich deine Lehrerin denn so gut?" Julian bewegte keinen Muskel. Sein Gesicht, dem Fenster zugewandt, war wie aus Stein gemeißelt. "Weißt du, bei uns werden die besten Arbeiten immer laut vorgelesen. Ist das hier nicht so?" Keine Reaktion. Romeo seufzte vernehmlich und rollte sich wieder auf Julians Bett. »Gott, ist dieser Kerl schwierig!!« Er vertiefte sich wieder in seinen Manga und lauschte der Rockmusik im Hintergrund. Bald war er von der Geschichte so gefangen, dass er seine Umwelt völlig vergaß. Julian blickte in die Fensterscheibe und betrachtete Romeo im Spiegelbild. Als er sicher war, dass der abgelenkt war, drehte er vorsichtig den Kopf zu ihm herum. Versonnen betrachtete er Romeo. Die ungebändigten Locken verdeckten halb das Gesicht. Julian hörte der ungewohnten Musik zu, seltsam melancholisch. Das sollte Rockmusik sein? »Irgendwie ist jetzt alles anders«, dachte er. »So lebendig, so gemütlich, trotz des Streits, der noch in der Luft schwingt. Das liegt an ihm! Wie seine Mutter, so warm...« Julian warf die Schulsachen auf den Schreibtisch und stürmte förmlich aus seinem Zimmer. Im Augenwinkel sah er das erschrockene Gesicht von Romeo, den der plötzliche Knall abrupt aus seiner Lektüre riss. ~db~ Julian fegte die Stufen herab. Er achtete nicht auf die losen Schnürsenkel seiner Turnschuhe. Er riss die Tür auf und rannte den Weg zur Straße hinab, dann immer weiter, wie von Furien gehetzt. »Ich hasse ihn!! Ich hasse sie alle!!« Im rhythmischen Stampfen seiner Schuhe auf dem Asphalt hallten die Worte durch seinen Kopf, immer wieder. »Ich kann sie nicht ertragen!!« Inzwischen schmerzten seine Lungen, aber Julian ignorierte den Schmerz. Ja, er begrüßte ihn sogar. Schmerzen konnte er ertragen, das war okay. Daran war er gewöhnt. Aber diese verdammte Familienidylle, das war zu viel!! Unter einer Autobahnbrücke nahmen die schwarzen Punkte vor seinen Augen überhand und er sackte auf den Beton. Als er schließlich wieder einigermaßen regelmäßig atmen konnte, sah er sich um. »Verdammt, da bin ich aber ein ganz schönes Stück gerannt!« Der Rückweg würde lang werden. Es dämmerte auch schon, und der Weg zurück führte durch Brachland und Industrieeinöden, meist unbeleuchtet. Julian machte sich langsam auf den Heimweg. Wenn sein Alter das mitgekriegt hatte, würde es unter Garantie Ärger geben. »Verdammt, warum habe ich bloß die Kontrolle verloren?« Er warf den Kopf in den Nacken und betrachtete die Sterne, die sich langsam aus dem Dunkel des Himmels befreiten. »Eigentlich schön hier. Wenn man wenig sieht«, dachte Julian zynisch. Die Luft kühlte sich rasch ab. Julian verspürte eine leichte Gänsehaut. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und erschrak. »Die Schlüssel!!« Er hatte seine Haustürschlüssel vergessen!! »Oh nein!! Ich werde klingeln müssen! Er wird mich umbringen!« Die vage Hoffnung, dass sein Abgang unbeachtet vonstatten gegangen war, verflüchtigte sich rasch. Julian biss die Zähne zusammen. »Was soll's!« Sollte er ihm eben eine Strafe aufbrummen. »Ich stehe das durch«, ermahnte er sich selbst. ~db~ Endlich erreichte er die Industriestraße und durchquerte anschließend den Park. Die Straßenlaternen spendeten ein so helles Licht, dass er die Sterne über sich nur als blasse Punkte wahrnehmen konnte. Julian fand den Gedanken tröstlich, dass diese Sterne schon Ewigkeiten da waren. Und auch weiterhin da sein würden. Das relativierte den Ärger im eigenen Leben. Er erreichte die Zufahrt und ging langsam auf das Haus zu. Im ersten Stock brannte kein Licht mehr. »Klasse, ich muss sie aus dem Bett holen!« Im Schatten der Haustür streckte er die Hand nach der Klingel aus, als sich plötzlich die Tür öffnete. Eine schmale Hand griff nach seiner und zog ihn energisch hinein. "Pst, sie schlafen noch nicht!" Im Halbdunkel erkannte Julian Romeo, der ihm mahnend bedeutet, leise und rasch die Treppe hinaufzusteigen. Sie huschten beide lautlos in den zweiten Stock. Als Julian seine Zimmertür öffnete, gab Romeo ihm einen leichten Stoß und schob ihn rasch hinein, um sofort die Tür hinter sich zu schließen. "Was soll das?" In Julians Stimme schwang Empörung. Wieso stand der Kerl noch immer in seinem Zimmer? "Pscht, nicht so laut! Oder willst du deinen Vater aufwecken? Dann habe ich wohl umsonst unten herumgelungert." Romeo erwiderte Julians wütenden Blick mit dem gleichen Zorn. Julian beendete als erster das stumme Duell, indem er auf seinen Schreibtisch blickte. Er erstarrte. Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken herunter. Mitten auf seinen Schulsachen lag das Blatt mit seinem Gedicht, ordentlich geglättet. "Du... du hast es gelesen?!" Julian hasste sich dafür, dass seine Stimme brüchig und angstvoll klang. "Ja. Und es hat mir sehr gefallen." Romeos Antwort war einfach, aber sehr ernsthaft. In einer heftigen Geste packte Julian das Blatt und zerknüllte es mit beiden Händen. Der Papierball flog in den Papierkorb. "Was machst du denn da?" Romeo stürzte herbei, wollte den Papierball aus dem Müll fischen, aber Julian war schneller. Er packte Romeo bei den Armen, verdrehte einen auf dessen Rücken. Romeo konnte einen Schmerzlaut nicht unterdrücken. Julian schob Romeo vor sich her durch das angrenzende Bad. Im Dunkeln schubste er Romeo heftig auf das Bett. Noch ehe Romeo sich aufsetzen konnte, hatte Julian ihn heruntergedrückt und sein ganzes Gewicht auf Romeo verlagert. Auf dem Bauch liegend hatte der keine Möglichkeit, Julians schmerzvollem Zugriff zu entgehen. Julian beugte sich über Romeos Kopf und zischte leise in sein Ohr, "wenn du dich nicht von mir fernhältst, passieren das nächste Mal schlimmere Dinge, klar?" Romeo spürte, wie ihn ein Zittern überkam. Julian war nicht mehr der nette Kerl, der schüchtern Enchilladas verputzte. Diese Person hier ignorierte seinen Schmerz, wollte ihm Angst einjagen und ihn terrorisieren. »Und ich habe Angst«, erkannte er und fühlte einen Anflug von Panik. »Er meint es vielleicht ernst! Er könnte mir leicht den Arm brechen! Ich habe keine Chance!!« "Bitte, lass mich los. Du tust mir weh." "Dann merk dir das Gefühl und bleib weg von mir!" Romeo schloss die Augen, sein Körper bebte. Dann war das Gewicht weg, aber er konnte sich trotzdem nicht rühren. »Was habe ich denn getan? Er hat das Gedicht doch auch seiner Lehrerin gezeigt? Ich... ich hasse diesen Scheißkerl!!« Romeo vergrub das Gesicht in der Decke und schluchzte leise, bis die Anspannung nachließ. ~db~ Kapitel 4 - Distanz Julian hatte die Badezimmertüren sorgfältig hinter sich geschlossen. Er hatte das Licht gelöscht und hockte nun im Dunkeln auf dem Fensterbrett. Hinter dem ruhigen Spiegelbild, das ihm im Fenster entgegensah, tobte ein Wirbelsturm. »Warum! Hast! Du! Das! Getan! Ich! Hasse! Dich! Hasse! Dich!« »Nur der Starke überlebt, Weichling!« »Ich! Will! Nicht! So! Sein!« »Dann solltest du die Pillen deiner Mutter nehmen.« »Ich! Bin! Anders! Ich! bin! Stark!« »Stark? Ach was, du denkst, du bist stark? Komm her, sehen wir, wie stark du bist.« »Ich! Will! Nicht! Kämpfen!« »Ein Feigling bist du auch? Nur der Stärkere überlebt!« »Das! Ist! Nicht! Wahr!« »Ach nein? Deine Mutter ist doch tot, oder nicht?« »Aufhören! Auf-HÖREN!« »Du bist auch nicht anders! Ein schwacher Träumer, gefühlsduselig, wertlos.« »Das! Ist! Nicht! Wahr!« »Hach, du heulst ja jetzt schon.« »Hör! Auf! Hör! Sofort! Auf!« »Bring mich doch dazu.« »Ich! Bring! Dich! Um! Ich! Hasse! Dich!« »Ha, das schaffst du nicht. Du bist ein Schwächling.« »Nein! Nein!! NEIN!!« »Gib auf.« »Ich! Gebe! Nicht! Auf! Niemals! NIEMALS!!« »Leere Worte.« »Nein!!« »Du willst also stark sein? Dann gib deine Gefühle auf.« »Warum?! WARUM?!« »Die stören und schwächen nur. Überflüssig.« »Das! Stimmt! Nicht!« »Ach nein? Warum hast du dann den Jungen angegriffen? Er ist schwach und kein Gegner.« »Ich...« »Ja? Pah, du hast dich von deinen Gefühlen leiten lassen, Schwächling.« »Ich! Habe! Gewonnen!« »Gewonnen? Unsinn. Du hast Angst vor ihm.« »Das! Ist! Nicht! Wahr! Ich! Hasse! Ihn!« »Warum hast du dann einen Schwächling attackiert?« »Ich! Hasse! Ihn!« »Du hast Angst.« »Nein!! Nein!!« »Er wird dich besiegen. Dich erkennen. Deine Gefühle.« »Sei! Still! Sei Still!! Hör Auf!!« »Du hast schon verloren.« »Nein!! Nein!! NEIN!!« Julian presste beide Hände gegen den Kopf, aber die Stimmen tobten in seinem Inneren. Er konnte sie nicht ersticken. Er fühlte sich elend, sein Magen rebellierte heftig. Bittere Galle stieg ihm in den Hals, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Er würde ersticken. »Geschieht dir recht! Du hättest ihn ernsthaft verletzen können!!« »Und er hat mir gar nichts getan! Warum? Warum habe ich solche Angst vor ihm?« »Wieso kann er mir nicht egal sein?« »Warum lässt er mich nicht kalt?« Der Brechreiz ließ sich nicht mehr unterdrücken, Julian hastete ins Bad, übergab sich heftig. Er würgte verzweifelt, aber der Kloß in seinem Hals wollte sich nicht lösen. Die bittere Galle reizte seinen wunden Hals noch mehr und er konnte einfach nicht aufhören. Sein ganzer Körper zitterte heftig, »ich bekomme keine Luft mehr!« Er kniff die Augen zusammen, um die Panik zu überwinden. Julian hörte Rauschen. »Nur Einbildung, ganz bestimmt!« Eine kühle, schmale Hand legte sich in seinen Nacken. Dann wurde sein Kopf nach hinten gezogen und ein Glas Wasser an seine Lippen gedrückt. "Trink! Na los!" Julian schluckte das Wasser, schnappte keuchend nach Luft. Im Badezimmer war es noch immer dunkel, nur das Dämmerlicht aus beiden Zimmern warf Silhouetten an die Wand. Julian lehnte sich an die Wand. Er war zu schwach, um aufzustehen. Er schloss die Augen. Ausgerechnet Romeo hatte ihn so gesehen! Ihm geholfen! "Brauchst du noch Wasser?" Julian schüttelte stumm den Kopf, erinnerte sich an die Dunkelheit und murmelte, "nein." Er spürte Wärme in seiner Nähe, dann fuhr ein feuchter Lappen über sein Gesicht, wischte behutsam den Schweiß ab und kühlte. »Warum hilft er mir? Warum?« Die warme Gegenwart von Romeo verschwand kurz. Er spürte sie ganz intensiv, als Romeo sich direkt neben ihn quetschte. »Oh nein, bitte! Komm mir nicht so nah! So warm, so anziehend, so verlockend!« Romeo schien seinen inneren Kampf nicht zu spüren, denn er blieb einfach ruhig an ihn gelehnt sitzen. Sie schwiegen beide. Julian meinte, sein Herzklopfen müsste bis ans andere Ende der Welt zu hören sein. »Er spürt es, ganz bestimmt! Was ist mit mir los? Nur, weil er nett zu mir ist? Weil er so warmherzig ist? Wieso kann ich ihn nicht abwehren? Wieso kann ich nicht zulassen, dass er mir nahe ist? Verdammt, ich hasse mich!!« "Weißt du, du hast mir vorhin ziemlich Angst gemacht. Ich dachte wirklich, du würdest mir was antun. Ich weiß, es war nicht nett, das Gedicht einfach so zu lesen, aber ich habe nicht gewusst, dass dir das so viel ausmacht. Ich... ich will nicht mit dir streiten und dich so sauer machen. Ich möchte, dass wir uns gut verstehen." Julian schluckte verzweifelt, der Kloß in seinem Hals war wieder da. "Warum willst du dich mit mir vertragen? Wegen deiner Mutter?" »Warum sage ich so was? Warum bin ich so ekelhaft? Ich muss hier weg!!« Julian fühlte, wie Romeo neben ihm zusammenzuckte. "Es ist mein Wunsch, dass wir gut miteinander auskommen. Meine Mutter hat damit nichts zu tun. Bin ich denn so grauenhaft, dass du nicht mit mir Freundschaft schließen kannst?" Julian kämpfte gegen Panik an. Er musste hier weg! Weg von dieser Wärme, dieser Freundlichkeit, dieser Verlockung!! "Ich... ich kann einfach nicht!! Geh weg von mir!!" Heftig stieß er sich vom Boden ab und stürzte zur Tür. Romeo erwischte ihn am Handgelenk und bremste seine Flucht. "Du kannst nicht immer weglaufen! Rede mit mir! Erklär's mir!" Julian fuhr herum und schleuderte Romeo heftig an die Zimmerwand. Er presste Romeo mit seiner Hüfte an die Mauer, nagelte beide Handgelenke fest. Sie starrten sich im Dämmerlicht in die Augen, beide keuchten. "Ich... ich will dir nichts tun!! Aber du musst mir aus dem Weg gehen, bitte! Bitte!!" Julian hörte sein eigenes verzweifeltes Flehen, und die Stimme in seinem Hinterkopf spottete hämisch, »na, du Feigling, hab doch gesagt, du verlierst.« Julian schloss gequält die Augen, »ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr.« "Julian, wenn... wenn es dir besser geht, wenn ich nicht in deiner Nähe bin... dann werde ich Abstand halten." Julian öffnete die Augen und sah Romeo an. »Warum ist er so traurig? Ich bin ein Stück Dreck. Warum macht es ihm etwas aus, nicht mehr mit mir zusammen zu sein?« Langsam gab Julian Romeo frei, der sich vorsichtig die Handgelenke massierte und mit gesenktem Kopf Julians Zimmer verließ. Julian hörte, wie die Tür zu Romeos Zimmer ins Schloss fiel. Er schleppte sich in sein Bett, wickelte die Decke um sich und weinte in sein Kissen. ~db~ Julian wurde vom penetranten Klingeln seines Weckers aus einem grauenhaften Albtraum gerettet. Er fühlte sich entsetzlich. Sein Herz schmerzte, die verspannten Glieder protestierten gegen jede Bewegung. Er stand auf und torkelte ins Bad. Das Spiegelbild war auch nicht gerade berauschend: noch immer war seine rechte Gesichtshälfte ein Farbenspektrum. Er duschte rasch und zog seine Klamotten für die Schule an. Zögernd blickte er zu Romeos Zimmertür, wandte sich dann aber ab. Er trabte die Stufen zur Küche hinab. Fröhliche Stimmen ließen ihn ruckartig bremsen. »Romeo und Maria. Was tun?« Er biss die Zähne aufeinander und betrat die Küche. Maria sprang sofort auf und umarmte ihn gut gelaunt, was Julian steif über sich ergehen ließ. Er wich beharrlich Romeos Blicken aus. Maria schien die Spannung nicht zu spüren. Sie erzählte aufgekratzt von der Lieferung ihrer Möbel am Nachmittag und überreichte Julian die Entschuldigung seines Vaters. Dann versuchte sie ihn zu einem Frühstück zu überreden, aber Julian war der Appetit vergangen. Er schüttete lustlos eine Tasse Kaffee herunter, stand auf und packte ein paar Trockenriegel in eine Frühstücksbox. "Julian, das ist doch wohl nicht dein Essen bis heute Abend, oder?", Maria war ernsthaft erschüttert. "Ich mache dir etwas Gutes! Heute habe ich viel Zeit." "Nein, vielen Dank, ich esse das immer", lehnte Julian schroff ab. "Ich muss gleich los." "Aber geht ihr denn nicht zusammen? Romeo?" Julian und Romeo wechselten einen kurzen Blick, dann antwortete Romeo. "Mama, ich muss nicht so früh da sein." "Ach wie schade! Ich dachte, ihr könnt zusammengehen, das wäre bestimmt lustig. So ganz allein, ist doch sicher langweilig?" "Aber nein, Mama, es ist ja nicht so weit." Julian beendete die Unterhaltung, indem er wortlos die Küche verließ und nach oben ging. ~db~ Er putzte sich die Zähne, schnappte seine Schultasche und ging wieder herunter. In der Halle stieß er fast mit Romeo zusammen, der nach oben wollte. Sie führten einen unfreiwilligen Ausweichtanz auf, bewegten sich wie Spiegelbilder, bis Julian Romeo einfach beiseite schubste und zur Tür stürzte. Er verabschiedete sich nicht. ~db~ Romeo stieg langsam die Stufen hoch und machte sich in seinem Zimmer für seinen ersten Schultag an der neuen Schule fertig. Der Streit mit Julian belastete ihn stärker, als er sich eingestehen wollte. »Na los, Romeo, ein neuer Tag, neue Möglichkeiten! Vielleicht finde ich Freunde auf der Schule«, ermunterte er sich selbst. Er verabschiedete sich von seiner Mutter und machte sich auf den Schulweg. ~db~ Julian betrat den Container, der als Klassenzimmer diente. Seine rechte Gesichtshälfte zog natürlich alle Blicke auf sich, aber die meisten trauten sich nicht, ihn anzusprechen. Roy war noch nicht da, also holte Julian rasch ein paar Aufgaben nach, die er gestern nicht mehr gemacht hatte. "Na, Ärger mit deiner Freundin?" Ein Junge aus einem Nachbarkurs hatte sich vor Julian aufgebaut und musterte ihn hämisch. "Hau ab", knurrte Julian als Antwort und kniff die blauen Augen zusammen. "Hab gar nicht gewusst, dass sich so ein toller Hecht wie du von ner Braut vermöbeln lässt!" Julian stand betont langsam auf und funkelte seinen Gegenüber an. "Hau ab, so lange du noch laufen kannst", zischte er kalt. Der Typ lachte, und Julian packte ihn blitzschnell an der Kehle. Das Lachen erstarb. Dem Jungen traten die Augen aus den Höhlen, als er verzweifelt nach Luft schnappte. Sein hilfloses Rudern in der Luft erinnerte an einen gestrandeten Fisch. Auch die übrigen Geräusche verstummten. "Mann, lass los, der Idiot ist es nicht wert!", warf Roy sich zwischen sie. Julian gab nach, und der Junge sackte keuchend auf den Boden. Roy und Julian wechselten einen kurzen Blick, dann scheuchte Roy den Jungen in die Nachbarklasse. "Julian, mach halblang heute, okay?" Julian sah Roys besorgten Blick und nickte langsam. Roy kannte ihn gut genug, um seine Stimmung zu spüren, und die stand derzeit auf explosiv. Dann saßen sie die Unterrichtsstunden ab, ohne dass sich etwas Bedeutendes ereignete. Julian überreichte die Entschuldigung seines Vaters und machte sich auf den Heimweg. Als er die Zufahrt erreichte, parkte dort bereits ein großer Möbelwagen. Maria dirigierte die Packer wie ein Feldwebel. Offensichtlich machte denen das Spaß, sie grinsten einander fröhlich zu. Julian kam langsam zu ihr herüber und wurde wieder geherzt. "Julian, Schatz, ich komme hier allein klar. Geh doch rein und iss etwas mit Romeo." "Ich habe gar keinen Hunger." "Ach, Schätzchen, man kann immer ein bisschen was essen. Romeo kann dir von seinem ersten Schultag erzählen!" Hilflos trabte Julian zur Küche, wobei er Kollisionen mit den Möbelpackern vermied. Romeo hockte auf einem Stuhl und fädelte Spaghetti auf eine Gabel. Sein Blick war jedoch in die Ferne gerichtet. Julian blieb im Türrahmen stehen, als Romeo aufblickte. Er wich seinem Blick aus und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen. "Nun, wie war dein erster Schultag?", fragte er bemüht höflich. Romeo ließ die Gabel auf den Teller sinken, schob ihn dann ganz beiseite. "Interessiert dich das denn wirklich?" Julian war von der Bitterkeit in Romeos Stimme überrascht und sah irritiert hoch. Romeo starrte wieder aus dem Fenster, erzählte dann monoton. "Ich bin in einer kleinen Klasse, nur sechs Schüler. Sie kennen sich alle nicht besonders gut, sind nur wegen ihrer Eltern hier. Sie haben kein anderes Interesse, als schnell wieder hier wegzukommen." Romeo erhob sich, leerte die Reste seines Mittagessens in den Abfall und stellte den Teller in die Geschirrspülmaschine. "Ich gehe nach oben." Julian blieb schweigend sitzen. Warum war Romeo so unglücklich? Suchte der einen Freund? »Er hat sich wahrscheinlich auf einen Bruder gefreut, der ihm beim Eingewöhnen hilft. Eine neue Schule, ein fremdes Land. Und dann trifft er mich. Wie hätte ich mich gefühlt?« Julian zuckte mit den Achseln, »es wäre mir wahrscheinlich egal gewesen. Ich interessiere mich nur für mich selbst.« »Und wenn Roy nicht mehr da wäre?« Julian erschrak bei dieser Vorstellung. Roy war sein Freund, jemand, der ihn verstand, mit dem er reden konnte. »Ohne ihn... Und Romeo hat keinen Freund...« Julian stieß heftig den Stuhl zurück und verließ die Küche. »Ich kann ihm aber nicht helfen!« ~db~ Julian stieg nach oben und ging in sein Zimmer. Auf ihrem Stockwerk war es ruhig. Was Romeo wohl tat? »Das kann mir egal sein«, ermahnte Julian sich heftig. Er setzte sich an seine Hausaufgaben, aber die Konzentration fiel ihm schwer. Immer wieder schweifte sein Blick zur Tür ab. Schließlich rief Maria zum Abendessen. Im Flur stieß Julian auf Romeo. Sie sahen einander an, gingen dann wortlos die Treppe hinab zur Küche. Maria plauderte aufgekratzt, Julians Vater würde später kommen, aber sie habe schon die gesamte Einrichtung eingeräumt. Tatsächlich standen im Wohnzimmer zwei fremde, bunte Sessel. In der Küche waren neue Maschinen und viel buntes Geschirr aufgestapelt, das auf seinen neuen Platz wartete. "Romeo, Liebling, dein Fahrrad habe ich in die Garage stellen lassen, in Ordnung?" "Ja, vielen Dank, Mama." "Ach, ich freue mich so, dass alles so gut geklappt hat! Wir werden es uns gemütlich machen, nicht wahr, ihr Lieben?" Julian und Romeo nickten unisono. "Meine Güte, der erste Tag war anstrengend, nicht? Und ich rede und rede! Julian, tut dir deine Wange noch weh?" "Nein, nein, es ist alles in Ordnung", wehrte Julian hastig ab. Sie beendeten das Abendessen rasch, wobei Maria sich sehr über den Geschirrspüler freute. So eine Erleichterung! Romeo trottete hinter Julian die Treppe hoch. Im Flur nickten sie sich zu. Dann verschwand jeder hinter seiner Tür. Julian lauschte geduldig auf die Geräusche aus dem Bad. Erst nach ihrem Verstummen betrat er es und machte sich für die Nacht fertig. ~db~ Das Frühstück am nächsten Morgen lief ähnlich wie zuvor: Romeo und Maria beim fröhlichen Plaudern, Julian, der nur kurz seine Frühstücksriegel schnappte. Er verschwand eilig in der Schule, froh, der angespannten Atmosphäre zu entkommen. Unterdessen hatte Romeo sein Fahrrad einsatzbereit gemacht. Er wollte gleich nach der Schule zum Tanzen fahren. Er brauchte Bewegung, um den ganzen Frust und die Enttäuschung loszuwerden. Glücklicherweise hatte seine Mutter nichts dagegen gehabt, dass er direkt nach dem Unterricht tanzte. Sie wollte sich bei einem neuen Arbeitgeber vorstellen und wenn sie wie früher arbeiten würde, hätte er sowieso nur allein in dem großen Haus gehockt. »Und Julian...« Er verabschiedete sich rasch von den neuen Klassenkameraden und fuhr den noch ungewohnten Weg zum Verein. Dort angekommen musste er sich wieder der Damenrunde stellen, die den neuen Jungen mal ausfragen wollten. Da sie Spanisch sprachen, fühlte Romeo sich wieder an seine Heimat erinnert und das erleichterte sein Herz gewaltig. Schließlich wurde er entlassen und durfte im ersten Stock des Vereinshauses in einem kleinen Saal proben. Bald hatte er Zuschauer, die seine Bemühungen interessiert verfolgten. Als Romeo eine Pause einlegte, trat ein Mädchen etwa in seinem Alter vor und fragte, ob er nicht Lust hätte, mit ihr einen Paso Doble zu tanzen. Romeo zögerte, nickte dann aber. Ein bisschen Ablenkung konnte nicht schaden. Seine Partnerin hieß Nina, hatte ein herzförmiges Gesicht und einen eleganten Bubikopf. Sie trug zwar Jeans und ein einfaches Top, aber sie wirkte dennoch sehr mondän. Ihr Tanzstil war angenehm, Romeo konnte mühelos agieren. Sie passten gut zueinander. Schließlich wurde es Abend, und Romeo verließ den Verein leicht wehmütig. Er radelte nach Hause, wobei er bei der Tür fast mit Julian zusammenstieß, der von seinem Volleyball-Training heimkehrte. Sie nickten einander zu, dann trennten sie sich wieder vor ihren Zimmern. ~db~ Allmählich holte der Alltag die neue Familie ein. Nach drei Wochen hatte sich der Tagesablauf eingependelt. Maria hatte einen Job angenommen, sodass man sich nur noch beim Frühstück und Abendessen kurz sah. An den Wochenenden fuhr Julians Vater mit ihnen weg, um die Gegend zu erkunden, aber Marias fröhliches Wesen überstrahlte alle Spannungen. Julian und Romeo gingen sich weitmöglichst aus dem Weg und da jeder seinen Sport ausübte, war das nicht schwierig. Das Wochenende stand vor der Tür, als Romeo verkündete, er werde am nächsten Abend eine Freundin mitbringen. "Oh, wirklich? Was ist denn das für ein Mädchen?" "Sie heißt Nina und sie tanzt mit mir in dem Verein. Wir tanzen den Paso Doble am nächsten Wochenende in Verein, so eine Art Fest. Wenn ihr also kommen wollt?" "Oh, mein Schatz, ich würde ja gerne, aber Heinz hat schon Karten für die Oper. Bist du mir böse, wenn ich nicht komme?" "Aber nein, Mama, ich werde einfach danach mit dir in der Halle tanzen, okay?" "Du bist wirklich ein lieber Schatz!" Maria umarmte Romeo über den Tisch hinweg und küsste ihn auf die Wange. "Aber Julian, du kannst ja vielleicht kommen, hm?" Julian zögerte, "sicher, ich überlege es mir", brummte er dann. Der Abend verlief ereignislos, und Julian verschwand früh in seinem Zimmer. Eigentlich wollte er nicht zu diesem Fest gehen. Was sollte er auch da tun? Romeo beim Tanzen zusehen? »Harte Männer tanzen nicht«, schoss ihm ein Satz von John Wayne durch den Kopf. »Ich kann auch nicht tanzen«, sinnierte er, »aber das macht mich nicht hart, sondern beweist bloß meine Unfähigkeit, den Takt zu halten. Ob er es übelnimmt, wenn ich ablehne? Vielleicht ist er ja auch ganz froh?« ~db~ Julian mähte am nächsten Morgen den Rasen und räumte die Garage auf. Es wurde Herbst, da musste so Einiges verstaut werden. Romeo hatte sich gleich morgens in die Schule verabschiedet: Samstagsunterricht. Er würde erst am Nachmittag mit dem Mädchen auftauchen, seiner Tanzpartnerin. »Oder seiner Freundin?« Julian verbrachte den Nachmittag auf dem Sportplatz. Er wollte das gute Wetter nutzen. Als er zurückkam, saßen Romeo, Maria und ein hübsches Mädchen im Garten, unterhielten sich angeregt auf Spanisch. Julian zögerte. Sollte er sich dazugesellen? Aber er würde da bloß stören, denn er konnte kein Spanisch und würde auch sonst nichts Wesentliches zur Unterhaltung beitragen können. Maria erspähte ihn und winkte ihn eifrig heran. "So, Nina, das ist Julian. Er ist praktisch mein neuer Sohn!" Stolz hakte sich Maria bei Julian unter und lehnte sich an ihn. Julian spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. »Der neue Sohn?!« Aber Maria hatte ihn schon neben Nina platziert und plauderte weiter. Nina lächelte Julian neugierig an, der ihren Blick nur zögernd erwiderte. Dann sah er zu Romeo hinüber, der gut gelaunt auf die Scherze seiner Mutter einging und Nina zulächelte. »Sie ist wahrscheinlich seine Freundin«, dachte Julian und fühlte einen kurzen Schmerz. Dann rief er sich selbst zur Ordnung. »Verdammt, das ist doch gut!« Romeo hatte jemanden gefunden, mit dem er reden konnte, eine Freundin. Er würde nicht mehr so einsam und traurig sein. »Gönne ich ihm etwa das nicht?« Er bemühte sich, an der Unterhaltung teilzunehmen, aber er fühlte sich überflüssig. Die anderen waren so gut gelaunt und plauderten beschwingt. Maria schlug vor, im Garten zu Abend zu essen. Julian war froh, etwas beitragen zu können, ohne reden zu müssen. Er stellte Stühle auf, holte Lampions aus der Garage, deckte den Tisch und transportierte die Speisen aus der Küche. Romeo und Nina unterhielten sich in der Zwischenzeit lachend. Sie schienen so vertraut, als würden sie sich schon lange kennen. Maria sang inzwischen auf Spanisch in der Küche, ein Zeichen ihrer guten Laune, wie Julian mittlerweile erkannt hatte. Schließlich saßen sie an der Tafel und aßen. Dabei wurde laut durcheinander geredet und viel gelacht. Julian blieb still und verfolgte staunend die Unterhaltung. »So geht es also bei anderen Menschen zu«, dachte er wehmütig. »Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals so gegessen, gelacht und geredet haben.« Das Ganze strahlte eine warme, freundliche, beschwingte Stimmung aus. Eine familiäre Atmosphäre. Julian spürte, wie ihm ein Kloß in den Hals stieg. Er fühlte sich wie ein Beobachter hinter einer Glasscheibe: er konnte alles sehen und hören, aber er konnte die Wand zwischen sich und den anderen nicht überwinden. »Warum kann ich nicht so sein wie sie?« Endlich bemerkte Nina, dass es schon spät sei und sie nach Hause müsse. Romeo stand natürlich sofort auf, er werde sie nach Hause bringen, wenn sie auf dem Gepäckträger seines Fahrrades Platz zu nehmen wünsche. Nina lachte herzlich, Romeo sei wohl der letzte, lebende Kavalier! Romeo rollte sein Fahrrad herbei, Maria brachte ein Kissen, das auf dem Gepäckträger befestigt wurde. Nina kletterte tatsächlich auf den Gepäckträger und hielt sich an Romeos Hüften fest. Der trat in die Pedale und mit viel Gelächter fuhren sie ab. Maria winkte ihnen nach. Julian räumte in der Zwischenzeit rasch den Tisch ab. "Ach, lass doch, Julian. Das hat doch bis morgen Zeit. Du hast doch heute so viel gearbeitet, bist du nicht müde?" "Maria, das geht doch ganz schnell. Außerdem ist es besser, wenn wir aufgeräumt haben, bis mein Vater wieder da ist." Maria sah Julian stirnrunzelnd an. Der wandte sich rasch ab. Er hatte keine Lust, weitere Erklärungen abzugeben. Rasch beseitigte er die Spuren ihres gemütlichen Beisammenseins. Dabei spürte er Marias prüfende Blicke in seinem Rücken, aber er ignorierte sie geflissentlich. Dann verabschiedete er sich eilig. Er wollte nach oben verschwinden in die Einsamkeit seines Zimmers. Die fröhliche Atmosphäre hatte ihn ausgelaugt, die einkehrende Stille lastete umso schwerer auf seinem Gemüt. Maria passte ihn jedoch an der Terrassentür ab und zog ihn in eine sanfte, aber energische Umarmung. "Du bist ein lieber Junge, Julian. Ich bin froh, dass wir eine Familie sind!" Julian zuckte zusammen, wehrte sich aber nicht. »Sie klingt genauso traurig wie Romeo, als wir uns gestritten haben«, ging es Julian durch den Kopf. »Haben sie Mitleid mit mir? Warum lassen sie mich nicht links liegen?« Er entwischte schließlich nach oben. In seinem Zimmer ließ er sich auf sein Bett fallen und betrachtete die Zimmerdecke. Schatten der Baumkrone wischten darüber, ein bewegtes Schattenspiel. Er schloss die Augen und lauschte auf Romeos Rückkehr. Erst als er Schritte im Nachbarzimmer hörte, schlief er beruhigt ein. ~db~ Der erste Schultag der Woche verlief so monoton wie gewöhnlich. Julian freute sich auf das Volleyball-Training am Nachmittag, stellte es doch die beste Gelegenheit dar, seine Kräfte auszutoben und sich zu verausgaben. Er trieb seine Mannschaftskameraden unermüdlich an und machte noch weiter, als die reguläre Trainingszeit längst herum war. Das verwunderte niemanden, das hatte er schon früher gemacht, als niemand zu Hause auf ihn wartete. Zum Ausklingen wollte er noch ein paar Runden auf der Aschenbahn drehen, als Roy auf ihn zugestürzt kam. "Hey, Roy, sind die Hunnen hinter dir her, oder was?" Roy blieb keuchend vor ihm stehen, er war ziemlich blass. "Roy, was ist los? Ist was passiert?!" "Dein neuer Bruder, der tanzt, ist der in der Stadt bei einem spanischen Verein?" Julian wurde nervös, "richtig, das stimmt. Was ist los?!!" "Ich habe gehört, wie sich ein paar Typen unterhalten haben. Sie wollten einen Spanier aufmischen, einen Tänzer! Er hat wohl einem Typen sein Mädchen ausgespannt." Julian wurde kalt, "wo hast du das gehört?" "Eben gerade, in der Bahn! Wann ist sein Tanztraining zu Ende?" Julian fühlte eine große Ruhe in sich aufsteigen. "Er müsste bald mit dem Fahrrad nach Hause kommen. Wie viele waren es?" "Drei Typen im Zug. Dann kommt sicher auch der Typ, dem dein Bruder das Mädchen ausgespannt hat, dazu!!" "Vier also. Sie werden ihm wahrscheinlich im Park auflauern. Dort sind sie relativ ungestört." Roy starrte ihn erschrocken an, "Julian, was hast du vor?" Julian wandte sich zur Umkleide. Roy konnte seinen raumgreifenden Schritten kaum folgen. "Julian, verdammt, wir müssen die Polizei holen!" Julian drehte sich nicht um. Er öffnete die Umkleide und streifte sich im Gehen das verschwitzte T-Shirt ab, rieb sich energisch damit ab. "Das hat keinen Sinn. Wenn du dich irrst, verbringen wir einen netten Abend auf dem Revier." "Was willst du denn machen? Die sind zu viert!!" Julian packte seine Sachen zusammen, schulterte die Sporttasche und drängte Roy zur Tür. "Ich werde meinem Bruder helfen." "Die bringen dich um!!" "Glaubst du?!" Roy starrte in Julians gelassenes Gesicht. Er wurde noch blasser. "Julian, mach keinen Scheiß! Vier sind selbst für dich eine Nummer zu groß!" "Roy, ich habe keine Zeit für Diskussionen." "Julian, bitte!!" Roy packte Julian am Arm. Julian drehte sich um und starrte Roy an. Der ließ los, als habe er sich verbrannt. "Mann, du machst mir Angst! Bitte..." "Roy, tu mir den Gefallen und warte an der Ecke. Falls alle Stricke reißen, kannst du immer noch Hilfe holen." Julian fiel in einen Trab. Er sah sich nicht um, ob Roy ihm tatsächlich folgte. Er strebte dem Park zu. Hoffentlich kam er nicht zu spät!! ~db~ Romeo hatte sich lachend von allen verabschiedet. Sie hatten hart trainiert, das Fest am Samstag sollte ein Erfolg werden. Nina machte es ihm wirklich leicht, sie lernte schnell neue Schritte und bemühte sich sehr um ihn. »Ob sie in mich verliebt ist?« Romeo schüttelte den Kopf, »nein, unwahrscheinlich, sie hat einen Freund. Allerdings ein bisschen nachlässig! Wäre sie meine Freundin, würde ich mit ihr tanzen und keinen anderen ranlassen!« Er musste über sich selbst lachen. »Eifersüchtig wie alter Tyrann!« Gut gelaunt strampelte er weiter. Am Park stieg er wie üblich ab. Er wollte nicht über den Sandweg brettern. Er atmete tief ein. In der Luft lag schon der würzige Geruch von Herbst. Langsam schob er das Fahrrad neben sich her, als plötzlich zwei Gestalten hinter einem Baum hervorkamen und ihm den Weg versperrten. Aus dem Gebüsch lösten sich zwei weitere Gestalten und blockierten den Fluchtweg nach hinten. Romeo schwieg, was wollten die wohl? Geld hatte er keins dabei, auch sonst nichts von Wert. "Hey, Scheißkerl, lass die Finger von meinem Mädchen!!" "Ich verstehe nicht, um welches Mädchen geht es denn?", fragte Romeo betont ruhig und sachlich. Man sollte ihnen bloß keinen Anlass geben, aggressiv zu werden. "Was fragst du für einen Scheiß? Nina natürlich!" Der Sprecher, ein stämmiger Kerl mit der Figur eines Jahrmarktringers trat drohend auf Romeo zu. Die anderen Kerle näherten sich ebenfalls, zogen den Ring um ihn immer enger. "Ich tanze mit ihr, das ist richtig. Das ist aber auch alles." "Alles?! Willst du mich verarschen? Du begrapschst sie doch, du Schwein!!" Der Ringer stand nun direkt vor Romeo, die Fäuste geballt. Schweißgeruch wehte Romeo ins Gesicht. "Sie ist mein Mädchen. Und jetzt werde ich dir mal ne Lektion erteilen, Mistkerl!" Romeo verfügte durch das Tanztraining über gute Reflexe. Die ersten Schwinger des Ringers gingen ins Leere. Dann stieß er ihm das Fahrrad zwischen die Beine. Mit einem raschen Ausfall zur Seite hoffte er, entfliehen zu können. Aber einer der anderen Kerle erwischte ihn am Hemd, und dann hatten sie ihn. Zwei drehten ihm die Arme auf den Rücken, einer trat ihm in die Kniekehlen, sodass seine Beine unter ihm nachgaben. Romeo biss vor dem Schmerz die Zähne zusammen. Selbst wenn er um Hilfe riefe, man würde ihn nicht hören. »Verdammt!!« Der Ringer packte ihn an den Haaren und riss seinen Kopf in den Nacken. Dann grinste er viehisch und ließ eine Faust auf Romeos Schläfe sausen. Der spürte den Schlag und sah Sterne. Eine Ohrfeige später und er blutete aus Mund und Nase. Die Schläge nahmen ihm die Orientierung, ein Nebel aus blutigen Schwaden hüllte ihn ein. Dann verlegte der Ringer sich darauf, ihm in die Rippen zu treten. Romeo spuckte Blut und traf offensichtlich. "Scheißkerl, ich bring dich um!" Der nächste Schlag explodierte in seinem Magen. Er bekam keine Luft mehr. ~db~ Kapitel 5 - Zwei Hälften der Medaille "Sofort loslassen!" Julian hatte die Gruppe erspäht. Er kam zu spät! »Verdammt!!« Die Typen drehten sich herum, ließen die gekrümmte Gestalt zwischen sich achtlos auf den Boden sacken. "Hau ab, sonst bist du der nächste!", drohte der Schläger. "Ich warne euch nur einmal", entgegnete Julian ruhig. Er sah Romeo auf dem Boden liegen, qualvoll nach Luft schnappen. Er spürte, wie in seinem Inneren eine eisige Kälte ihren Weg durch seinen Körper bahnte. Er war ruhig wie das Auge eines Hurrikans. Der Ringer versetzte Romeo einen kräftigen Tritt in die Seite, gab einem seiner Begleiter einen Wink, auf Julian zuzugehen. Der Typ grinste hämisch, schlug die Faust in die Handfläche und baute sich vor Julian auf. Ein Schwinger verfehlte Julians rechte Wange nur um Haaresbreite, da er sich nicht die Mühe machte auszuweichen. Er packte die vorbeizischende Faust, drehte sich mit und rammte dem Kerl einen Ellenbogen von hinten in die Nieren. Der Kerl kreischte auf, Julian ließ einen wuchtigen Schlag auf den Nacken folgen, und der Gegner sackte besinnungslos zu Boden. "Was hast du Arsch da gemacht?" Ein zweiter stürzte heran. Offensichtlich wollte er Julian umreißen und dann niederringen. Julian ließ sich leicht zurückfallen, um den Schwung seines Gegners zu nutzen, stemmte beide Füße in dessen Unterleib und hebelte ihn aus. Der Kerl flog so beschleunigt durch die Luft und krachte gegen einen Baum, unter dem er stöhnend zusammensank. Der Ringer und sein letzter Kumpan waren nun vorsichtiger. Der Ringer zerrte Romeo an den Haaren hoch, der kaum Gegenwehr leistete. Romeo schien ohnmächtig zu sein. "Komm näher, Arschloch, und ich schlitze den Kleinen hier auf!" Ein Springmesser tauchte unter Romeos Hals auf. Die Klinge ritzte seine Haut auf, ein dünner Blutstrom sickerte seine Brust herunter und durchnässte das Hemd. Julian blieb ruhig stehen. Wer von den beiden würde als nächster attackieren? "Los, hau ihm in die Fresse! Wenn er sich rührt, mach ich den Kleinen alle!" Solcherart ermutigt schlich der dritte auf Julian zu. Julian machte keine Anstalten, der heransausenden Faust auszuweichen. Er konzentrierte sich rasch, die Faust rammte seine Bauchmuskeln. »Kein sauberer Schlag«, konstatierte er, während sein Gegner fassungslos registrierte, dass Julian nicht einmal zuckte. Julian wich auch dem zweiten Schlag nicht aus. Er beobachtete aus den Augenwinkeln, dass der Ringer das Messer leicht sinken ließ und abgelenkt war. Das war seine Chance! Als der dritte wieder eine Attacke startete, diesmal mit Anlauf, bewegte sich Julian blitzartig. Hob einen Fuß leicht, damit der Kerl ins Stolpern geriet und verpasste dem Vorbeifliegenden einen gezielten Faustschlag in die Seite. »Der steht nicht mehr auf!« Mit Schwung wirbelte er herum und entriss dem überraschten Ringer Romeo. Das Messer zerfetzte nur Romeos Ärmel. Julian schlang einen Arm um Romeos schmale Taille und stützte ihn vorsichtig. Romeos Kopf war auf seine Brust gesackt, jetzt lehnte er den Kopf ächzend an Julians Schulter. "Scheißkerl, ich krieg euch beide!" Der Ringer war zur Attacke entschlossen. Er hatte das Messer vorgestreckt, die Schultern vorgeschoben. Julian sah ihm in die Augen, ignorierte scheinbar das Messer völlig. Der Ringer machte einen Ausfallschritt, stieß dabei mit dem Messer nach Julians Bauch in der sicheren Erwartung, dass der einarmig und mit Romeo als Ballast nicht würde ausweichen können. Julian schnellte vor, bog den Oberkörper leicht nach hinten und drehte sich auf die Seite. Mit der freien Hand hieb er auf die Messerhand des Ringers ein. Der wich überrascht zurück. Julian ließ Romeo vorsichtig zu Boden gleiten, stellte sich dann vor ihn. Der Ringer fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, wechselte dann mit dem Messer in die andere Hand. Julian starrte ihn kalt an. Der würde büßen für das, was er Romeo angetan hatte! Er erwartete den nächsten Angriff, ein hastiger Stoß mit dem Messer nach seinem Gesicht, packte die Hand am Handgelenk und ließ sie ruckartig gegen den Unterarm schnellen. Sein Angriff wurde mit einem lauten Knacken belohnt, als Knochen im Handgelenk des Ringers brachen. Der stieß ein Wutgeheul aus und schlug wild und ziellos mit dem anderen Arm nach Julian. Julian duckte sich gewandt unter den Schwingern hinweg, atmete tief ein und rammte beim Ausatmen eine Faust in den Magen seines Gegners. Der klappte wie ein gefällter Baum zusammen. "Verdammt, du hast mir die Hand gebrochen! Ich mach dich kalt!" Tatsächlich rappelte er sich keuchend wieder hoch, griff nach dem Messer. Julian wich dem nächsten Vorstoß aus, drehte sich und schlug mit dem Handrücken zu. Blut spritzte, als die Nase seines Gegners brach. Der riss die Hände vors Gesicht und kreischte. Jetzt rannte er mit ausgestrecktem Messer auf Julian zu, wie ein waidwunder Stier. Julian war nicht mal außer Atem. Er hatte diese Attacke erwartet. Er drehte sich in den Körper seines Gegners, um dem Stoß auszuweichen, schob ein Bein zwischen dessen Beine, packte die Messerhand am Handgelenk, setzte einen Schulterwurf an und kugelte seinem Gegner damit den Arm aus. Das Messer fiel auf den Boden, der Ringer heulte inzwischen. Julian schnappte sich das Messer und kniete sich auf den Oberkörper des Ringers. Er setzte die Klinge am Hals des Ringers an, der, das kalte Eisen spürend, aufhörte zu kreischen und Julian mit entsetzt aufgerissenen Augen anstarrte. Julian lächelte langsam, eiskalt und bedrohlich. "Wenn du meinen Bruder jemals wieder belästigst, dann werde ich dich töten, klar?" "Scheißkerl!" Julian zog eine Augenbraue hoch, legte eine Hand um den feisten Hals und drückte zu. Langsam, dann immer stärker. Dem Ringer traten die Augen aus dem Kopf. Er öffnete den Mund, zuckte heftig, aber Julian hielt ihn fest. Ein durchdringender Gestank von Urin zeigte Julian, dass sein Gegner die Kontrolle über sich verloren hatte. Nun färbten sich dessen Lippen langsam blau. Schließlich lockerte Julian den Griff leicht. Der Ringer japste nach Luft. Sein Gesicht war vor Grauen und Angst entstellt. Julian packte das Messer und brach es aus seinem Griff, ließ dann beide Bruchstücke achtlos sinken. "Ich hoffe, du hast begriffen, was ich dir gesagt habe. HAST du es begriffen?" Der Ringer heulte inzwischen, nickte greinend. Julian erhob sich, wischte sich dann die Finger an der Hose ab. Er kniete neben Romeo nieder. "Romeo, wir müssen nach Hause. Ich werde dein Fahrrad nehmen. Kannst du dich draufsetzen?" Romeo stöhnte leise als Antwort. Julian zögerte kurz, dann schob er das Fahrrad zu einem Baum und kettete es an. Er würde es eben morgen Früh abholen. Dann kehrte er zu Romeo zurück, der versuchte, sich mit den Händen aufzustützen. Er ging neben Romeo in die Hocke. "Leg die Arme um meinen Hals, ich werde dich tragen." Romeo schluchzte leise, "ich bin viel zu schwer." "Ach was, komm schon, ich will heim." Romeo hob langsam den Kopf, um Julian anzusehen. Blut bedeckte seine ganze untere Gesichtshälfte. An der Schläfe hatte sich eine blaue Schwellung gebildet. Julian musste tief durchatmen. Romeo so zu sehen, trieb ihm die Tränen in die Augen. Er zog Romeos Arme um seinen Hals, schob einen Arm unter Romeos Beine und stand langsam auf. Er ging den Weg zum Ausgang des Parks, ohne sich umzusehen. Er wusste, dass die Kerle lange nicht hochkommen würden. Romeo hatte den Kopf in seine Halsbeuge gelegt und weinte leise. An der Ecke wartete ein bleicher Roy. "Verdammt, Julian, soll ich einen Arzt rufen? Du hast doch keinen umgebracht, oder?" "Sie leben alle noch. Könntest du uns nach Hause begleiten? Ich kann die Tasche nicht nehmen." "Wie geht es ihm denn? Ist es sehr schlimm?" "Er wird es überleben. Ach ja, Romeo, das ist Roy. Roy, mein Bruder Romeo." Roy starrte Julian fassungslos an, "hältst du das für den richtigen Moment, Honneurs zu machen?" Julian zuckte leicht mit den Achseln. Romeo hob den Kopf an und warf Roy ein wackeliges Lächeln zu. Der erwiderte das Lächeln genauso hilflos. ~db~ Schweigend legten sie den kurzen Weg nach Hause zurück. "Roy, in meiner Tasche ist der Haustürschlüssel. Kannst du aufschließen?" "Sicher, Mann, aber warum klingelst du nicht?" "Ich will keine Panik auslösen. Bitte, Roy!" "Sicher", seufzte Roy und öffnete leise die Tür. Die Halle war bereits dunkel, im ersten Stock brannte aber Licht. "Jungs, seid ihr wieder da?" "Ja, Maria, wir gehen gleich ins Bett", antwortet Julian betont munter. "Dann gute Nacht, meine Lieben!" Roy schob die Trainingstasche unter einen Stuhl, winkte Julian zum Abschied und schloss leise die Tür hinter sich. Julian stieg vorsichtig im Dunkeln in den zweiten Stock, öffnete seine Zimmertür mit einem leichten Fußtritt, ließ Romeo dann sanft auf sein Bett gleiten. "Bleib liegen, ich bin gleich wieder da!" Geräuschlos hastete Julian wieder in die Halle, schloss die Haustür ab und packte seine verschwitzten Klamotten in die Waschmaschine. Dann eilte er wieder nach oben, schloss seine Zimmertür und machte das Licht an. Romeo stöhnte leise und zog einen Arm über die Augen. Julian setzte sich neben ihn. "Ich muss mir deine Wunden ansehen, es hilft alles nichts." Vorsichtig zog er Romeos Arm vom Gesicht und betrachtete die blauen Flecke und das Blut. Er musste wieder schwer schlucken. Romeo hatte die Augen geschlossen und keuchte leise. "Wo hat er dich noch erwischt?" Julian bemerkte, wie Romeo die Lippen zusammenpresste. "Willst du vielleicht, dass ich danach suche?" Romeo drehte den Kopf weg, gab keine Antwort. Seufzend schob Julian beide Hände unter Romeos zerrissenes Hemd, versuchte den glatten Stoff hochzuschieben. "Nein!!" Romeo schlug heftig nach Julians Händen, wimmerte vor Schmerz, schlug dann immer weiter wie von Sinnen nach Julian. "Nein! Nein! Fass mich nicht an!!" Julian zog Romeo hoch in eine feste Umarmung, sodass der nicht mehr nach ihm schlagen konnte. "Pscht, pscht, es ist vorbei, okay? Ich tue dir nichts. Bitte hör auf, ich muss deine Wunden verbinden." Immer wieder flüsterte er diese Worte in Romeos Ohr, der versuchte, sich Julian zu entwinden, heftig schluchzte und schließlich erschöpft aufgab. Julian wiegte Romeo sanft in den Armen. Der würde sich wieder beruhigen, das war nur der Schock. »Hoffentlich habe ich ihn versorgt, bevor MEIN Schock einsetzt«, dachte Julian beunruhigt. Als Romeo ruhig in seinen Armen lag, schob Julian vorsichtig eine Hand unter Romeos Kinn und hob dessen Kopf an, um ihm ins Gesicht sehen zu können. "Ich werde jetzt deine Klamotten ausziehen, okay? Ich schaue nach den Wunden und du sagst mir, wo es noch wehtut." Romeo nickte zögernd und ließ Julian gewähren. Der bettete Romeo wieder weich auf sein Bett, öffnete dann Romeos Hose, streifte sie langsam von den Beinen. Dann knöpfte er das zerrissene Hemd auf, schob es vorsichtig von Romeos Schultern. Er atmete tief durch: überall blaue Flecken, dann noch die Schnittwunde am Hals. Julian stand auf und befeuchtete im Bad ein Tuch, nahm dann die Wundsalbe. Er setzte sich neben Romeo aufs Bett und begann, behutsam das Blut abzutupfen. Dann strich er sanft die Wundsalbe über die blauen Flecken. Julian legte eine Hand auf Romeos Rippen. "Atme mal tief ein!" Romeo keuchte, tat dann aber wie geheißen. Julian schloss die Augen. Die Lungen rasselten nicht, er spürte keine ungewöhnliche Hitze. "Musst du Blut spucken?" Romeo schüttelte den Kopf. "Es schmerzt nur höllisch." Julian nickte wortlos. Er betastete vorsichtig die Beine, aber das Schlimmste waren nur Blutergüsse. Dann streichelte er sanft über Romeos Gesicht. "Ist dir schwindelig? Kannst du den Kopf drehen?" Romeo versuchte es vorsichtig. "Es ist okay. Mein Schädel brummt, aber ich kann klar sehen und mir ist auch nicht schlecht." "Also keine Gehirnerschütterung. Deine Nase ist auch noch gerade, kein Bruch." Julian drehte fast zärtlich Romeos Kopf auf die Seite und begutachtete die Schnittwunde am Hals. Sie war nicht tief, hatte aber heftig geblutet. Romeo flüsterte heiser, "du hättest sie umbringen können." Julian antwortete ruhig, "ja, das hätte ich. Sie haben Glück gehabt, dass ich mich beherrscht habe." Er spürte, wie Romeo zusammenzuckte. "Woher... woher kannst du so kämpfen? So... gnadenlos?" Julian lachte freudlos auf, "mein Vater hat mich drillen lassen. Das gehörte dazu. Ich habe gelernt, wie man jeden Gegner ausschaltet, kenne beim Menschen jeden Schwachpunkt." Romeos Augen wurden groß. Er verkrampfte sich. Julian strich leicht verirrte, schwarze Locken aus dem geschwollenen Gesicht. "Du brauchst keine Angst zu haben. Im Augenblick habe ich mich unter Kontrolle." Der Spott in Julians Stimme ließ Romeo erbleichen. Er wirkte noch verletzlicher als zuvor. Julian beugte sich langsam vor und berührte mit der Zunge das Blutrinnsal an der Schnittwunde in Romeos Halsbeuge. Federleicht ließ er seine Zunge darüber hinweggleiten, spürte, wie Romeo zusammenzuckte und die Muskeln anspannte. Sanft leckte er das Blut weg, küsste vorsichtig die Wunde. Schließlich richtete sich Julian auf und sah Romeo in das Gesicht. "Es heilt am Besten so." Romeo schluckte heftig, seine Wangen glühten. Julians Gesicht wirkte seltsam: verträumt, so gelassen und ruhig. Er setzte sich aufrecht neben Romeo. "Ich will versuchen, dir zu helfen. Aber das wird sich ein bisschen komisch anfühlen. Bleib einfach ruhig, okay?" Romeo blickte verwirrt, als Julian die Augen schloss und sich auf seinen Atem konzentrierte. Er brauchte nicht lange, und vor seinen Augen erschien der orangefarbene Energie-Ball. Julian legte die Handflächen aneinander und spürte die Energieströme durch sie hindurchgleiten. Seine Handflächen wurden langsam heiß, sie kribbelten vor Energie. Langsam löste er sie voneinander und senkte beide über Romeos Rippen. Als sie seine nackte Haut berührten, stöhnte Romeo erschrocken auf und versuchte zurückzuweichen. Er betrachtete verstört Julians konzentriertes Gesicht, die geschlossenen Augen und das sanfte Lächeln. »Was macht er mit mir? Seine Hände brennen! Was ist das für ein Gefühl? Als ob mein Körper in Flammen steht!« Zunächst war Romeo die Hitze unangenehm, das Kribbeln auf seiner Haut ängstigte ihn, dann beruhigte er sich langsam und passte sich schließlich Julians tiefer Atmung an. Tatsächlich schienen die Schmerzen nachzulassen, er fühlte sich leicht und entspannt. Julian fühlte seine Energie in Romeos Körper strömen und in dem Maße, in dem sich Romeo entspannte, kam auch Energie an ihn zurück. Schließlich war die Energie, die er wiederbekam, ähnlich stark und erfrischend, sodass er seine Hände vorsichtig von Romeos Brust löste. Der stöhnte auf, als habe man ihm damit körperlichen Schmerz zugefügt und bäumte sich unwillkürlich auf. Als wollte sein Körper der Wärmequelle folgen! Überrascht blinzelte Romeo zu Julian hoch, der ihn vollkommen ruhig beobachtete. Romeo spürte, wie er errötete. »Ich habe wirklich die Kontrolle über mich verloren!« "Ich denke, du bist einstweilen gut versorgt. Halt dich an mir fest, ich bring dich in dein Zimmer." Einladend streckte Julian den Oberkörper vor, sein Arm schob sich bereits unter Romeos Beine. Der reckte sich vorsichtig hoch und schlang die Arme um Julians Nacken. Als Julian sich aufrichtete, vergrub Romeo den Kopf in dessen Halsbeuge. Auf einmal fürchtete er sich vor der Einsamkeit in seinem Zimmer. »Ich würde so gern bei dir schlafen!« Aber er brachte die Worte nicht über die Lippen. Julian würde das sicher für Schwäche halten und ihn verachten. Sanft wurde er auf sein eigenes Bett gelegt, dann wickelte Julian vorsichtig die Bettdecke um ihn. Er wandte sich zum Lichtschalter und löschte das Licht. "Ich lasse die Türen offen. Ruf, wenn etwas ist, okay?" "Ja. Julian?" "Ja?" "Danke. Danke, dass du mir geholfen hast." Romeo konnte nur Julians Silhouette erkennen, meinte aber, dass der verlegen die Schultern einzog, als schäme er sich des Lobes. "Schon gut. Wozu hat man Freunde." Julian verschwand, und Romeo starrte nachdenklich auf den Fleck, an dem Julian noch vor Augenblicken gestanden hatte. »Freunde?« ~db~ Julian sammelte Romeos Klamotten ein. Das Hemd war nicht mehr zu retten und die Hose wirkte auch nicht mehr besonders attraktiv. Er stellte seinen Wecker vor, schlüpfte rasch ins Bad und wusch sich kurz. Schließlich wagte er den Blick in sein eigenes Spiegelbild. Da war noch immer das markante Gesicht mit der blauen Strähne, so harmlos und alltäglich. »Ich hätte sie umbringen können! Ich hatte solche Lust, diesen Scheißkerl zu erwürgen. Es wäre so einfach gewesen. Verdammt!!« Julian starrte auf seine Arme. Obwohl er sie auf das Waschbecken gestützt hatte, zitterten sie bereits heftig. »Ich habe alles unter Kontrolle, alles okay! Ich habe mich nicht vergessen, die Kerle sind nicht schwer verletzt.« Das Zittern wurde stärker und erfasste seinen ganzen Körper. Er torkelte zu seinem Bett und ließ sich darauf fallen, zog die Knie eng an und schlang die Arme um die Beine. »Wieso passiert das? Warum hört es nicht auf? Es ist doch alles okay, verdammt!!« Julian unterdrückte ein Schluchzen. Er fühlte sich völlig ausgelaugt. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Krämpfe und das Zittern aufhörten und er wieder befreiter atmen konnte. Dann stand er auf, schlüpfte in seinen Schlafanzug und löschte das Licht. »Hoffentlich hat er keine Albträume«, war Julians letzte Gedanke. ~db~ Das beharrliche Kreischen des Weckers riss Julian aus bleischwerem Schlaf. Er torkelte schlaftrunken ins Bad und klatschte sich Wasser ins Gesicht. Die Kälte machte ihn munter. »Jetzt schnell anziehen und das Fahrrad ungesehen herbeischaffen!« Julian hastete lautlos die Treppe hinab und aus der Tür. Er spurtete bis zum Park. Das Fahrrad lehnte einsam an seinem Baum. Von der Schlägerei waren keine Spuren mehr zu sehen. Julian löste die Kette, schwang sich auf das Rad und sauste wieder zurück. Er schob das Fahrrad in die Garage und wischte wieder durch die Haustür. Gerade als er die Treppe betreten wollte, guckte eine verschlafene Maria aus der Küche. "Julian, Lieber, was machst du denn so früh hier?" Julian überlegte blitzschnell, "oh, ich wollte die Waschmaschine anwerfen. Meine Sportklamotten von gestern." Maria rieb sich wie ein kleines Kind über die Augen, "du bist wirklich sehr ordentlich." Julian entkam in den Waschkeller, nahm die notwendigen Einstellungen an der Maschine vor und schaffte es danach ungesehen wieder in sein Zimmer. Auf seinem Schreibtisch lagen noch Romeos Klamotten. »Mülltonne«, entschied Julian, leerte rasch die Taschen der Hose aus: Taschentücher, ein Bonbon und ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Sollte er? Langsam öffnete Julian das Papier und staunte. Das war sein Gedicht, das Gedicht, das ihren Streit ausgelöst hatte! »Warum trägt er das mit sich herum? Sehr seltsam.« Julian faltete es wieder sorgfältig zusammen und legte es zu den anderen Fundstücken. Dann schlich er auf Zehenspitzen in Romeos Zimmer. Der hatte im Schlaf die Decke weggestrampelt, lag nun mit entblößtem Oberkörper auf dem Rücken. Die wilde Lockenmähne verdeckte das Gesicht völlig. »Schläft«, konstatierte Julian und beobachtete, wie sich Romeos Brustkorb langsam hob und senkte. »All die Blutergüsse«, dachte er mitleidig. Vorsichtig setzte er sich neben Romeo auf das Bett, strich dann behutsam ein paar Locken aus dem Gesicht. »Oje, die Beule an der Schläfe ist zwar verschwunden, aber der Bluterguss kann es mit meinem Gesicht vor einem Monat durchaus aufnehmen! Deine Mutter wird uns umbringen, wenn sie das sieht! Und MEIN Vater MICH.« Julians Miene verdüsterte sich. Sanft streichelte er Romeos heile Wange. Romeo seufzte im Schlaf auf und murmelte Julians Namen. Julian zögerte kurz, strich dann langsam durch Romeos Haare. Er betrachtete Romeos kurzen Kampf gegen den Schlaf. Endlich schlug der die Augen auf. "Julian?", seine Stimme war vor Heiserkeit kaum zu hören. "Guten Morgen, Schlafmütze", Julian lächelte aufmunternd in Romeos verschleierte Augen. "Julian!!" Heftig stürzte Romeo sich in Julians Arme. Der war völlig perplex und starrte hilflos auf den Lockenschopf, der seine Wange streifte. "He, he, es ist alles in Ordnung, ich bin hier", beruhigte er leise den zitternden Jungen in seinen Armen. Romeo keuchte leise, entspannte sich aber unter Julians streichelnden Händen auf seinem Rücken. Julian schob Romeo schließlich langsam von sich und sah ihm in das Gesicht. "Ich hole dir erst mal ein bisschen Wasser." Julian erhob sich geschmeidig, füllte im Badezimmer Wasser in einen Zahnputzbecher und befeuchtete einen Lappen. Er kehrte zu Romeo zurück, der offensichtlich Mühe hatte, wach zu bleiben. Julian schob sich hinter Romeos Rücken, um ihn zu stützen, setzte ihm dann den Becher an die Lippen. "So, runter damit." Gehorsam schluckte Romeo das Wasser. Julian stellte den Becher weg, fuhr dann vorsichtig mit dem feuchten Lappen über Romeos Gesicht, den Hals und die Brust. "Besser?" Romeo nickte stumm. "Ich sehe schlimm aus, oder?" Julian zögerte, dann nickte er widerwillig, "du kannst so nicht in die Schule gehen." Romeo ließ den Kopf hängen, "Mama wird sich erschrecken", seufzte er hilflos. "Was willst du ihr sagen?", Julian hasste die Nervosität in seiner Stimme. Romeo hob den Kopf wieder und sah ihn aus seinen dunklen Augen scharf an. "Ich hatte vor, die Wahrheit zu sagen. Warum machst du dir deswegen Sorgen?" Julian erhob sich und schlenderte zum Fenster. Er wollte Romeo nicht mehr ansehen. "Was ist los? Dir wird niemand die Schuld geben! Ohne deine Hilfe hätten die mich zu Hackfleisch verarbeitet!" Romeos Stimme war jetzt schneidend geworden. Julian lehnte sich auf das Fensterbrett und überlegte fieberhaft, was er antworten sollte. Romeo starrte auf den breiten Rücken und die athletische Gestalt vor dem Fenster. »Verdammt, er kann ohne große Anstrengung vier Schläger außer Gefecht setzen, aber jetzt bringt er kein Wort hervor! Hat er Angst vor seinem Vater? Was ist bloß mit ihm los?« Romeo schwang die Beine aus dem Bett und kam wackelig hoch. Die paar Schritte zum Fenster schmerzten höllisch. Hilfesuchend griff er nach Julians Hüften. Der fuhr erschrocken herum und fing Romeos Sturz geschickt ab. "Was treibst du denn? Bleib im Bett, Mensch!" Romeo hielt sich an Julians Unterarmen fest und keuchte wütend zurück, "verrate mir, verdammt noch mal, wovor du solche Angst hast! Warum sollte dir jemand wegen dieser Sache böse sein?" Julian wich seinem Blick aus und versuchte, ihn wieder ins Bett zu bugsieren, aber Romeo stemmte die Fersen in den Teppich und zappelte. "Rede mit mir! Wovor hast du Angst?!" Julian zuckte zusammen und riss ruckartig den Kopf hoch, "ich habe keine Angst!" "Ach nein?! Dann kann ich meiner Mama ja sagen, was passiert ist!" Sie lieferten sich ein Duell mit den Augen. Julian blickte schließlich weg. Romeo löste eine Hand von Julians Unterarm und legte sie sanft auf Julians Wange. "Was ist denn los? Kannst du es mir nicht sagen?" Julian schluckte hörbar, schloss die Augen. "Mein Vater... er wird ausrasten." "Aber warum? Du hast mir doch geholfen!" "Deine Mutter wird sich sicher aufregen." "Ja und? Sie beruhigt sich auch wieder. Sie wird mich einbalsamieren und mit meinen Lieblingsspeisen vollstopfen und am Abend lacht sie wieder. Hast du etwa Angst, sie könnte dich vor Dankbarkeit erdrücken?" Romeos spöttischer Ton verfehlte seine Wirkung nicht: Julian lächelte schief und verlegen. Romeo war durch diese Reaktion ermutigt. Dieser blonde Angsthase hatte Humor!! "Also, wenn es das nicht ist, was dann?" Julians Miene versteinerte wieder. Romeo schauderte es, »als ob ein böser Zauber aus Julian alles Leben verbannt.« "Hm?", Romeo strich sanft über Julians Wange. "Wenn mein Vater mitbekommt, dass deine Mutter sich aufregt, wird er mich dafür verantwortlich machen." "Was? Was soll das denn für ein Unsinn sein? Du bist doch nicht für meine Mutter verantwortlich." Julian löste sich aus Romeos Griff. "Du verstehst das nicht." "Dann erklär's mir! Bitte!!" Julian seufzte vernehmlich, wandte sich wieder dem Fenster zu. "Julian?" "Schon gut, wenn du es unbedingt wissen musst! Mein Vater ist total in deine Mutter verknallt. Er kann sich immer nur auf eine Person konzentrieren, alles andere zählt nicht. Deine Mutter liebt dich, also trifft sie alles, was auch dich trifft. Wenn sie sich nun aufregt oder traurig ist, dann stört das meinen Vater in seiner Idylle. Also muss ich dafür sorgen, dass ihr nichts passiert und auch niemandem, der ihr etwas bedeutet." Romeo starrte ungläubig auf Julians Rücken. "Du... du musst dafür sorgen, dass sie sich nicht aufregt?! Das ist doch krank!!" "Ich hab ja gesagt, du würdest es nicht verstehen." "Moment mal, mach es dir nicht so einfach! Warum sollte dein Vater dir Vorwürfe machen?" "Weil ich auf dich aufpassen soll. Wenn du okay bist, ist deine Mutter glücklich, ganz einfach. Erinnerst du dich an die Sache mit der Bratpfanne?" Romeo nickte beklommen. "Weißt du, warum er mich geschlagen hat? Nicht, weil er so geschockt war, sondern weil deine Mutter so unglücklich war. Mein Vater ist ein Egozentriker, alles muss nach seinem Willen laufen." "Und wenn es das nicht tut? Verprügelt er dich?" Julian lachte leise, aber es klang mehr nach einem Schluchzen. "Das ist unter seiner Würde. Das braucht er auch gar nicht. Er lässt mich einfach allein." Romeo trat vorsichtig neben Julian und betrachtete Julians Profil. Der starrte immer noch aus dem Fenster, die blauen Augen verdunkelt vor Wut. Dann drehte er den Kopf zu Romeo und lächelte schief. "Weißt du, es macht mir nicht viel aus, wenn er mich schlägt oder schreit oder mich ignoriert. Daran bin ich schon gewöhnt. Wirklich schlimm ist, dass ich ihn so sehr hasse." Romeo blickte verstört in Julians verzerrtes Lächeln. Er bemerkte die geballten Fäuste, die Knöchel zeichneten sich weiß ab. "Ich... ich habe Angst, irgendwann mal die Kontrolle zu verlieren und..." Julian warf den Kopf in den Nacken und atmete hörbar ein. Sein ganzer Körper war angespannt. Romeo streckte schüchtern die Hand nach einer geballten Faust aus und streichelte sanft den Handrücken. Julian sah ihn überrascht an, Romeos Angst berührte ihn sichtbar. Er lächelte mühsam und schluckte seinen Ärger herunter. "Keine Angst, ich habe mich im Griff." Zum Beweis öffnete er die Fäuste und lockerte die angespannten Muskeln. Romeo seufzte erleichtert. Eine Zeitbombe war gar nichts gegen den schlummernden Hass in diesem Jungen. "Ich möchte aber meiner Mama die Sache erklären. Sie wird sich schon fragen, warum wir nicht zum Frühstück kommen." "Denkst du denn, dass du heute die Schule durchstehst?" Romeo zögerte, "ich weiß nicht. Vielleicht, wenn ich mich nicht bewege?!" Julian grinste, "seit wann bewegt ihr euch in eurer Streberschule?" Romeo verzog beleidigt das Gesicht, "du bist bloß neidisch." Julian verwuschelte Romeos Locken und grinste versöhnlich, "da hast du wohl Recht." Romeo blickte ihn perplex an, »da, wieder dieser rasche Stimmungswechsel!« "Vorschlag zur Güte: du legst dich wieder ins Bett, ich hole deine Mutter und dann sehen wir weiter." Romeo nickte und schleppte sich wieder zu seinem Bett. Seufzend sackte er in sich zusammen und ließ sich von Julian fürsorglich zudecken. Der verschwand, und Romeo schloss nachdenklich die Augen. »Was für seltsame Verhältnisse hier herrschten!« An den eiligen Schritten auf der Treppe erkannte er seine Mutter. Die Zimmertür wurde aufgestoßen und seine Mutter stürzte herein. "Romeo, mein Schätzchen, was ist passiert? Oh lieber Gott, Madonna, wer hat dich so zugerichtet?" Romeo blickte in das erschrockene und sorgenvolle Gesicht seiner Mutter. Schon kullerten dicke Tränen über ihre Wangen. Zittrig strich sie über sein Gesicht, während er vergeblich versuchte, sie zu beruhigen. Dann erzählte er, was sich zugetragen hatte. Seine Mutter hatte ihn nicht einmal unterbrochen, sie war nur erbleicht und umklammerte jetzt seine Hand. "Julian hat dich gerettet?" "Ja, Mama. Aber er hat Angst, sein Vater könnte ihm Vorwürfe machen. Er soll auf mich aufpassen." "Aber er hat dich beschützt!! Warum sollte Heinz..." "Bitte, Mama! Erzähl ihm nichts! Lass uns das Ganze einfach vergessen, bitte!" Seine Mutter sah ihn prüfend an, dann nickte sie, "wenn es dein Wunsch ist." Romeo stützte sich hoch und küsste sie sanft auf die Wange, "vielen Dank, Mama. Ich habe dich sehr lieb!" "Und ich dich, mein kleiner Schatz." Sie einigten sich darauf, dass Maria die Schule verständigen würde, dass Romeo wegen Krankheit nicht kommen werde. Sie würde aber zur Arbeit gehen und Romeo konnte sich in Ruhe ausschlafen. "Wo ist Julian? Ist er schon zur Schule?" "Ja, Schatz, er wäre sonst zu spät gekommen. Ich habe ihn weggeschickt." ~db~ Romeo verschlief den Vormittag. Gegen Mittag weckte ihn sein knurrender Magen. Er schleppte sich unter die Dusche und stöhnte unter dem harten Wasserstrahl. Sein Spiegelbild sah zum Fürchten aus. Er streckte sich die Zunge raus und bedauerte die Bewegung sofort. Er ging in die Küche hinunter und überlegte, was er sich zu essen machen konnte. In diesem Moment hörte er einen Schlüssel in der Eingangstür. "Julian?" "Romeo? Wieso liegst du nicht im Bett?" "Ich habe Hunger, deswegen." Julian stürmte in die Küche, "du sollst dich doch ausruhen." "Ich kann mich nicht ausruhen, wenn mein Magen so rumort!" "Jetzt setz dich da hin, ich werde dir was machen." "Du kannst kochen? Ich dachte, du isst nur diese Riegeldinger." Julian warf Romeo einen beleidigten Blick zu, während er sich die Finger unter dem Wasserhahn wusch. "Na hör mal, für was hältst du mich? Ich habe früher für meine Mutter gekocht!" "Entschuldige, ich hab's nicht so gemeint", murmelte Romeo kleinlaut, "ich wollte dich nicht beleidigen." Julian blickte ihn überrascht an, "schon gut, kein Problem. Also, nach was steht dir der Sinn?" Romeo legte den Kopf schief, "wie wäre es mit Crêpes? Kannst du so was?" "Sicher." Julian holte Zutaten aus dem Vorratsschrank, dann ein paar Eier aus dem Kühlschrank. Die Crêpe-Pfanne kam auf den Herd, dann schnitt Julian frisches Gemüse klein und bereitete eine kräftige Tomaten-Gemüse-Soße zu, die auf die warmen Crêpes gestrichen werden sollte. Romeo beobachtete Julians konzentrierte Miene: er wirkte gelöst und in seinem Element. Die Soße verschwand in der Mikrowelle zum Erhitzen, während Julian die ersten Crêpes aus der Pfanne angelte und auf einem Teller warmhielt. Rasch deckte er den Küchentisch, füllte ein Glas mit Orangensaft und reichte es Romeo. "Aperitif, Rest kommt sofort." "Julian, isst du denn nichts?" "Ich habe keinen Hunger. Hatte vorhin meine Trockenriegel." "Wie kannst du bloß dieses Zeug essen? Sieht doch aus wie Vogelfutter." Julian zuckte mit den Achseln, "es ist Nahrung, macht keine Arbeit, also..." "Aber es schmeckt doch nicht, oder?" Julian zuckte nur mit den Achseln. Warum sollte er Aufwand nur für sich betreiben? Romeo verschränkte die Arme vor der Brust, "ich werde gar nichts essen, wenn du nicht mit mir teilst!" Julian zog die Augenbrauen zusammen, "hör schon auf! Du kippst doch vor Hunger schon vom Stuhl!" "Vergiss es! Entweder wir teilen, oder du kannst im Garten schon mal eine Grube ausheben!" Julian stellte sich drohend vor Romeo und ließ die Schultern kreisen, "ich könnte es dir auch eintrichtern!" "Das wagst du nicht!! Ich bin älter als du, du schuldest mir Respekt!" Julian guckte verblüfft in Romeos entschlossenes Gesicht, "was?" "Du kannst mich füttern, wenn ich zu alt zum Essen bin, aber vorher wirst du respektvoll sein, klar? Hat man hier keinen Respekt vor dem Alter?" Julian war völlig aus dem Konzept gebracht durch Romeos tadelnden Ton und seinen vernichtenden Blick. Der genoss Julians Hilflosigkeit und brach schließlich in Gelächter aus. "Mann, du müsstest mal dein Gesicht sehen! Es war ein Scherz!" "Schöner Scherz! Jetzt habe ich einen Crêpe anbrennen lassen!" Geschickt schob Julian die Crêpes auf einen Teller, verteilte die dampfende Soße und stellte den Teller vor Romeo auf den Tisch. Der teilte den ersten Crêpe in der Mitte und sah Julian erwartungsvoll an. Julian seufzte schließlich und besorgte sich ebenfalls Besteck. Dann verspeisten sie die ganzen Crêpes, wobei Romeo sorgfältig darauf achtete, alles genau zu teilen. Julian räumte das Geschirr in den Geschirrspüler und ließ sich neben Romeo auf einen Stuhl sinken. "Puh, ich platze gleich." "Julian, hattest du eigentlich keinen Unterricht am Nachmittag?" Julian machte eine abwertende Geste mit der Hand, "ich hab mich selbst befreit." Romeo sah ihn überrascht an, "wegen mir? Du wirst Ärger bekommen!" "Ach was! Ich habe gesagt, ich hätte mir den Magen verdorben." Romeo lehnte den Kopf leicht an Julians Schulter, "gib's zu, du hast dir Sorgen um mich gemacht!" Julian stieg eine leichte Röte ins Gesicht, "übertreib's nicht, klar!?" Romeo lächelte breit, "keine Antwort ist auch eine Antwort!" Sie schwiegen eine Weile vor sich hin. "Romeo?" "Hm?" "Wir müssen was wegen deiner Haare unternehmen." "Bitte?" "Du siehst aus wie ein Waldschrat." "Waldschrat? Was ist das denn?" "Ein Waldgeist, völlig verwahrlost und verwildert. Abstehende Haare, filziger Bart und so weiter..." "Waldschrat", murmelte Romeo sinnierend. Was für merkwürdige Ausdrücke es in dieser Sprache gab! "Ich hole einen Kamm." Julian löste sich und verschwand aus der Küche. Romeo starrte aus dem Küchenfenster. Es sah so freundlich im Garten aus, dass er beschloss, sich nach draußen in einen großen Liegestuhl zu setzen. "Romeo?" "Hier draußen." Julian nahte mit Kamm und einem Zopfgummi. Romeo schlug mit der flachen Hand auf das Kissen hinter sich. "Ich rutsche nach vorne, und du kannst dich hinten anlehnen." Julian zögerte, hockte sich dann hinter Romeo rittlings auf den Liegestuhl. Er strich vorsichtig mit den Fingern durch Romeos Locken, um sie nach hinten zu kämmen. Nun nahm er sich jede Strähne, jede Locke einzeln vor, entwirren und kämmen. "Julian?" "Hm?" "Kann ich dich etwas fragen?" "Versuch's." "Was ist mit deiner Mutter passiert?" Julian erstarrte kurz in seiner Bewegung, kämmte dann aber weiter vorsichtig Romeos Locken aus. "Sie ist vor vier Jahren gestorben. Ich bin vom Training heimgekommen, da hatten sie sie schon abgeholt." "Du durftest dich nicht mal verabschieden? Wie grausam!!" Romeo drehte sich heftig nach Julian um, der geistesgegenwärtig die Haare losließ. Julian sah Romeo offen in dessen empörtes Gesicht. "Eigentlich nicht. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll. Ich hatte niemals so eine enge Bindung zu meiner Mutter wie du zu deiner. Sie war so was wie ein verschwommener Schatten in meinem Leben. Wir haben uns eigentlich kaum gesehen." Romeos Blick war eindeutig bestürzt und mitfühlend, "das ist aber traurig." Julian sah in den Garten und dachte über Romeos Reaktion nach. "Wahrscheinlich hast du Recht. Aber ich habe mich eigentlich nur schlecht gefühlt, weil ich nicht um sie weinen konnte. Ich meine, ich habe sie nicht mal richtig vermisst!" Romeo schlang die Arme um Julian und zog ihn an sich. "Du darfst dir nicht die Schuld geben! Manchmal kann man gar nichts machen, und du warst auch noch ein Kind!" Julian genoss Romeos Körperwärme. Es war ein tröstliches Gefühl. Dann schob er Romeo leicht von sich und begann wieder, die Locken zu entwirren. "Sie ist an einer Überdosis Tabletten gestorben. Ich weiß nicht, ob es Selbstmord oder ein Unfall war. Ich wusste, dass sie von den Dingern abhängig war." "Wie furchtbar!" Romeo liefen Tränen über das Gesicht. Er war wirklich bestürzt. Julian sah ihn erschrocken an, wischte dann vorsichtig mit dem Handrücken die Tränen fort. "Bitte, nicht weinen", stotterte er hilflos. "Warum soll ich nicht um eine verlorene Seele weinen? All die verlorenen Chancen, die schönen Momente..." Julian merkte, dass seine Hände zitterten, "bitte hör auf zu weinen. Ich halte das nicht aus!" Romeo sah Julian unverwandt an. Noch immer rannen Tränen über seine Wangen. Julian spürte einen Kloß in seinem Hals. »Nicht schon wieder!« Er bemühte sich, ihn herunterzuschlucken, aber es wollte nicht gelingen. Tränen stiegen ihm in die Augen. »Verdammt!!« Mit dem Handrücken fuhr er sich energisch über die Augen, aber das half gar nicht. "Scheiße..." "Pscht, lass sie doch laufen. Das ist schon okay." Julian versuchte krampfhaft, seine Fassung zu bewahren. Dann gab er es auf. Das Schluchzen in seiner Kehle zerriss ihn fast. Romeo schlang wieder die Arme um ihn und wiegte ihn tröstend in den Armen. Julian weinte, gab seine ganze Einsamkeit und Verzweiflung preis, die Gefühle, die sich über die Jahre angesammelt hatten. Er durchnässte Romeos T-Shirt, aber das störte Romeo überhaupt nicht. Der strich unaufhörlich über den zuckenden Körper in seinen Armen. »Er wirkt so unbesiegbar und stark, lässt keinen an sich heran und jetzt weint er so verzweifelt in meinen Armen, dass es mir das Herz bricht.« Langsam ließ das Schluchzen nach. Julian entzog sich Romeos Umarmung. Er versuchte ein Lächeln, "jetzt hab ich dein Hemd völlig ruiniert." Romeo lächelte zurück, "hol mir einfach ein frisches und wir sind quitt." Julian nickte, schob dann vorsichtig das Hemd über Romeos Schopf. Er flitzte ins Haus und holte ein frisches Hemd aus Romeos Schrank. Dann ging er wieder in den Garten. "Das hier okay?" "Wenn du mir hilfst. Meine Rippen tun höllisch weh." Julian raffte das Hemd zusammen, schob es über die wilden Locken und streifte es dann behutsam Romeo über. "Darf ich dir einen Zopf flechten?" Romeo grinste, "wenn du das schaffst. Meine Zotteln sind kaum zu bändigen!" Julian hockte sich wieder hinter Romeo, schob die Locken zurecht und begann vorsichtig, einen einfachen Zopf zu flechten. Die Locken drehten sich tatsächlich in alle Richtungen, aber bald hatte Julian den Kniff heraus und kurz danach Romeo einen imposanten Zopf. "Wow, du hast es geschafft! Klasse!!" Lachend ließ sich Romeo gegen Julian sinken und rutschte herum, bis er bequem gegen Julians Brust lehnte. "Und was glaubst du, was du da tust?!" "Mich ausruhen. Hast du nicht gesagt, ich sollte mich hinlegen?" "Aber doch nicht auf mir!!" Romeo lachte leise, "bin ich dir zu schwer?" Er hörte Julian tief Luft holen, "nein, aber..." Romeo vollendete den Satz, "... was sollen die Nachbarn denken? Wir sind Brüder, schon vergessen? Außerdem bin ich invalide und dann kann kein Mensch durch diese Hecken irgendwas hier erkennen." Julian zappelte nervös unter Romeos Rücken, "also wirklich, denkst du nicht, dass..." "Nein, denke ich nicht", unterbrach Romeo bestimmt, "und jetzt will ich ein bisschen in der Sonne dösen. Entspann dich." Er drehte sich leicht, legte den Kopf schräg auf Julians Schulter und schloss die Augen. Julian seufzte leise. Es machte ihn nervös, dass Romeo ihm so nah war. Er spürte dessen Atem wie einen sanften Windhauch über seine Schulter streifen, bemerkte, dass sie im Gleichtakt atmeten. Er schloss die Augen. Wenn er sich jetzt konzentrierte... Die orangefarbene Sonne aus Energie erschien wirklich. Er genoss es, völlig loszulassen, in sich selbst zu versinken. Romeo genoss die Wärme an seinem Rücken, die Geborgenheit, die Julian ausstrahlte. »So warm wie gestern.« Er erinnerte sich an Julians Hände, die seltsame Energie, die durch seinen Körper pulsiert war, ihn in Flammen gesetzt hatte. »Ich muss ihn fragen, wie er das macht, dieses Feuer, das brennt aber nicht schmerzt.« Vorsichtig löste er sich von Julian und setzte sich auf. Julians Kopf war auf die Seite gesunken. Auf seinem Gesicht war wieder dieses sanfte Leuchten. Er wirkte entspannt und glücklich Romeo drehte sich zu Julian herum und schwang beide Beine über den Liegestuhl. »Ob ich?« Dann schmiegte er sich vorsichtig an Julians Seite, legte den Kopf auf Julians Brust, um mit geschlossenen Augen den Herzschlägen zu lauschen. Julian hob langsam die Hände und legte sie auf Romeos Rücken, den sofort eine seltsame Wärme durchströmte. Er konnte ein Keuchen nicht unterdrücken, aber Julian drehte bloß den Kopf zu ihm, ohne die Augen zu öffnen. Romeo seufzte leise, »wenn das doch nie aufhören würde, so warm, so intensiv, so sicher...« ~db~ Kapitel 6 - Turbulenzen "Jungs, seid ihr zu Hause?" Marias aufgeregte Stimme schwebte durch das Haus. Romeo fuhr hoch und unterdrückte einen Schmerzlaut. Julian unter ihm blinzelte verwirrt, als wache er aus einem tiefen Schlaf auf. Dann klärte sich sein Blick und er sah Romeo aufmerksam an, »alles okay?« Romeo nickte kurz, lächelte dann und stand auf. Julian erhob sich ebenfalls und folgte Romeo in die Küche. Maria kam bereits herbeigeschossen und umarmte Romeo vorsichtig. "Mein kleiner Schatz, wie geht es dir? Tut es noch sehr weh?" "Nein, es geht schon wieder. Ich bin okay." "Ich werde dich einreiben, ganz bestimmt!" Romeo lachte, "lass das mal Julian machen, der hat schon Übung darin." Julian lief rot an, grinste hilflos. "Also Romeo, was sind denn das für Sprüche?!" Gespielt verärgert gab Maria Romeo einen Klaps auf die Kehrseite, hängte sich dann bei Julian ein. "Nicht böse sein! Ich bin dir sehr dankbar, dass du Romeo beschützt hast!" Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Julian auf die Wange, drückte ihn dann fest an sich. Julian errötete wieder heftig und warf Romeo einen hilfesuchenden Blick zu. Der aber sandte spöttisch eine Kusshand in Julians Richtung. "Wollt ihr etwas essen, Jungs? Ich mache eine große Pizza!" "Gern, Mama. Ich lasse mich von Julian einbalsamieren, dann kommen wir runter." Romeo schob Julian aus der Küche und zog ihn die Treppe hoch. "Wieso soll ich dich einreiben? Sie hätte es bestimmt lieber gemacht?!" "Dummerchen, ich will nicht, dass sie alle blauen Flecken sieht! Außerdem musst du noch üben! Du hast die Wette verloren, schon vergessen?" "Üben? Für was denn üben? Rennen da noch mehr betrogene Typen rum?" Romeo blieb im Bad stehen und drehte sich nach Julian um. "Um eins klarzustellen: ich habe keine Liebesbeziehung zu Nina. Wir tanzen miteinander, mehr nicht!" Julian wirkte erleichtert. Er half Romeo aus dem Hemd und holte dann die Wundsalbe hervor. Vorsichtig verteilte er Salbe auf den Fingerspitzen, kniete sich dann vor Romeo nieder, um die Rippen einzureiben. "Kalt!!", Romeo zuckte zurück. Julian warf ihm einen verärgerten Blick zu, "halt still!" Dann rieb er die Salbe aber zwischen den Fingerspitzen, um sie auf Körpertemperatur aufzuwärmen. Behutsam bestrich er alle Blutergüsse. Dann stand er auf. "Dreh den Kopf ein bisschen. Okay, jetzt die Schläfe." Konzentriert betupfte Julian Romeos Gesicht. Ohne die wilde Lockenmähne wirkten die Verletzungen schockierend. "Julian?" "Hm?" "Würdest du am Samstag mitkommen? Zum Fest, mein ich?" Julian zögerte, "willst du das denn? Ich bin nicht gerade ein Party-Tiger und tanzen kann ich auch nicht." Romeo lächelte leicht, "jeder kann tanzen. Ich würde mich sehr freuen, wenn du mit mir hingehen würdest." Julian sah Romeo forschend in die Augen, "sicher?" "Sicher." "Dann werde ich mitkommen. Allerdings wirst du mir bei den Klamotten helfen müssen." Romeo grinste, "ich werde dich so einkleiden, dass du die Mädchen mit dem Besen abwehren musst!" Julians erschrockenes Gesicht brachte Romeo so zum Lachen, dass er fast vom Rand der Duschwanne gerutscht wäre. Dann folgten beide dem verlockenden Duft frischer Pizza aus der Küche. Der Abend verlief entspannt. Sie verspeisten die Pizza und redeten über alles mögliche. Schließlich mahnte Maria zum Aufbruch, es sei schon spät und sie brauche ihren Schönheitsschlaf. Julian kam das sehr gelegen, denn jeden Moment konnte auch sein Vater heimkehren und Romeos Gesicht würde eine Erklärung erforderlich machen. "Puh, ich bin viel zu müde. Kannst du mich nicht ziehen?", Romeo stolperte vor Julian die Treppe hoch. Der griff nach seiner Hand und zog Romeo hinter sich her die restlichen Treppen hoch. Einmütig zottelten sie in Julians Zimmer, der auf seinen Schreibtisch blickte. "Oh Mann, ich hab meine Hausaufgaben vergessen. Mist!" Romeo ließ sich auf Julians Bett fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. "Was musst du denn machen?" "Mathe und Englisch. Den Rest krieg ich morgen von Roy." "Er lässt dich abschreiben?" "Na ja, nein, eigentlich basteln wir das in den Pausen zusammen." Julian schob seine Tasche vom Tisch und bemerkte den Zettel und die anderen Dinge, die er aus Romeos ruinierter Hose gerettet hatte. "Romeo?" "Hm?" "Warum trägst du das Gedicht mit dir rum?" Romeo öffnete die Augen und starrte an die Zimmerdecke. "Es gefällt mir", seufzte er dann leise, "ich wollte nicht, dass es im Müll landet." "Es ist bloß verquaster Unsinn, aus anderen Gedichten zusammengeklaut. Es reimt sich nicht mal!" Romeo fuhr heftig hoch, stöhnte dann aber und biss die Zähne aufeinander. "Verdammt, warum machst du deine Arbeit so schlecht? Es ist ein wundervolles Gedicht, voller Gefühle! Wieso schämst du dich, Gefühle zu zeigen? Denkst du, dass das eine Schwäche ist, oder was?!!" Julian zuckte zusammen und bewegte sich unbehaglich vor seinem Schreibtisch hin und her. "Na, was ist??!! Oder muss ich kommen und es aus dir herauskitzeln??" Julian wandte sich erschrocken herum, "nicht, du..." Romeo hatte gut gezielt: das Kopfkissen traf Julian genau ins Gesicht. "Attacke! Genau ins Schwarze!" Julian schüttelte den Kopf, funkelte dann den erwartungsvoll grinsenden Romeo an. "Du hast Glück, dass du verletzt bist, sonst würde ich dir jetzt den Hintern versohlen!" "Ach wirklich?", Romeo grinste süßlich und klimperte mit den Wimpern. "Das traust du dich doch nicht! Komm doch her!" In gespielter Angriffslaune ließ er die Fäuste wie ein Preisboxer durch die Luft kreisen. Julian knurrte bedrohlich, "na warte!" Drohend kam er auf Romeo zu, der mittlerweile aufgestanden war und die Arme wie Dreschflegel durch die Luft sausen ließ, "du kommst gar nicht an mich heran!" Julian zwinkerte Romeo zu, bewegte sich dann blitzschnell nach vorne, packte Romeos schwingende Handgelenke und drehte sie auf seinen Rücken. Er stand so dicht vor Romeo, dass beide die Körperwärme des anderen spüren konnten. "Jetzt versuch mal, mich zu kitzeln", hauchte Julian Romeo heiser ins Gesicht. Der stand still, "du forderst mich heraus?" Julian lächelte amüsiert. Was wollte Romeo schon ohne seine Hände ausrichten? Romeo hob den Kopf leicht an. Er war einen halben Kopf kleiner als Julian. »Genau richtig«, dachte er und legte den Kopf schief, ließ sich gegen Julian sinken und fuhr mit der Zunge über dessen Halsbeuge. Julian keuchte erschrocken und wich zurück. Da er aber Romeo noch immer fest an den Händen hielt, brachte ihn dieses Manöver nicht aus Romeos Nähe. Der ließ seine Zunge ungerührt über Julians Hals wandern, biss dann sanft in die Stelle direkt über der Hauptschlagader. Julian schnappte nach Luft, verlor völlig das Gleichgewicht und riss Romeo im Fallen mit. Sie plumpsten heftig auf Julians Bett, wo Romeo sich sofort von Julian wegrollte und dann wie ein Springteufel auf dessen Oberkörper hockte, die Hände auf Julians Schultern gestützt. "Jetzt hab ich dich! Gibst du auf?" Julian sah in das verschmitzte Lächeln und blinzelte. Sie wussten beide, dass Julian sich leicht befreien konnte. "Wenn ich aufgebe, was hast du dann mit mir vor?" Romeo grübelte kurz, "hm, sagen wir, du schuldest mir einen Tanz." "Was?? Ich tanze nicht, schon gar nicht mit einem Jungen!!" Julian lief rot an. Romeo wurde ärgerlich, "du bist ein dummer Macho, weißt du das eigentlich?" Heftig stieß er sich von Julian ab und stieg vom Bett. Julian blieb regungslos liegen. Er hatte wieder alles vermasselt! Romeo lehnte sich an das Fensterbrett. "Ich kann das nicht verstehen. Zeig keine Gefühle, Männer tanzen nicht, anfassen verboten!! Warum?! Was ist bloß mit euch los?!!" Julian setzte sich auf. "Ist doch ganz einfach. Gefühle machen einen angreifbar. Harte Kerle tanzen nicht, weil man keine Angriffsfläche bieten will, und Anfassen ist nur bei Frauen akzeptabel. Na ja, oder im Sport." Romeo drehte sich zu Julian um, "das ist doch Schwachsinn! Bin ich kein Mann, weil ich Gefühle zeige? Weil ich tanze? Weil ich dich umarme?!!" Julian wich vor der offenen Wut in Romeos Gesicht zurück. "Das... das habe ich doch gar nicht gesagt." "Na, dann sag mir, was ich bin? Nach deiner Definition bin ich doch kein Mann!!" "Das ist nicht meine Definition!!" "Wessen dann? Und wenn du nicht dahinterstehst, warum machst du sie dann für dich zum Maßstab?" Julian zögerte, Romeo hatte ja Recht! Er senkte den Kopf und ließ die Schultern hängen. Romeo kam zu ihm herüber und fiel neben ihm auf das Bett. "Vielleicht... vielleicht, weil ich es einfach nicht anders gewöhnt bin. Ich habe nie etwas anderes erlebt." Sie schwiegen eine Weile, dann grinste Romeo. "Du hast schon wieder verloren!" Noch ehe Julian sich überrascht nach ihm umdrehen konnte, hatte Romeo eine Kitzel-Attacke gestartet. Julian wirkte seltsam hilflos. Er wand sich zwar wie ein Aal, war aber so empfindlich, dass er bald völlig außer Atem war. "Na, Aufgabe?" Romeo konnte Lachtränen in Julians Gesicht sehen, dessen Brustkorb sich heftig hob und senkte. Julian brachte keinen Ton mehr heraus. Endlich nickte er schwach und Romeo ließ von ihm ab. "Gut! Und du WIRST mit mir tanzen!" Triumphierend stupste er Julian in die Rippen, der aber bloß die Augen verdrehte. "Okay, Hausaufgaben. Du nimmst Mathe, ich kann Englisch übernehmen, okay?" Julian kam langsam wieder in die Senkrechte, schwankte zu seiner Schultasche und kramte die Hefte hervor. "Was muss ich da machen?" "Äh, Übersetzung der Kurzgeschichte." "Kein Problem. Allerdings wird man den Unterschied sehen. Ich kann nicht so krakeln wie du." Julian streckte Romeo die Zunge raus, "ich schreib's noch mal ab." Er hangelte sich durch die Matheaufgaben, beobachtete dann fasziniert, wie Romeo flüssig den Text schrieb, ohne ein Lexikon zurate zu ziehen. Romeo gähnte schließlich unterdrückt, und Julian war ebenfalls müde. "Okay, ab ins Bett." Romeo erhob sich zögernd, "kann ich die Türen offen lassen?" "Hm, sicher", murmelte Julian schlaftrunken. "Julian?" "Hm?" "Findest du... mich zu aufdringlich?" Julian sah ihn begriffsstutzig an, "aufdringlich?" "Ich meine, bin ich... komme ich dir zu nahe?" Julian spürte wieder, wie das Blut in seine Wangen schoss. Romeo stellte sich wieder direkt vor ihn, suchte in seinem Gesicht nach der Antwort. "Ich... es ist schon okay." "Wirklich?" "Hm." "Das ist sehr überzeugend", kicherte Romeo und Julian hob leicht beleidigt den Kopf. Romeo lächelte ihn beruhigend an, dann umarmte er Julian, der zögernd die Arme um Romeos Hüften legte. "Danke. Ich bin froh, dass ich dich als Bruder habe." Dann drückte Romeo Julian einen sanften Kuss auf die Wange und verschwand im Bad. Julian sah ihm nach. Wie in Trance fuhr seine Hand langsam hoch und berührte die Wange, die Romeo geküsst hatte. Dann schüttelte er energisch den Kopf, wechselte eilig die Sachen und rollte sich in seinem Bett zusammen. Er sah das Licht in Romeos Zimmer erlöschen und fiel rasch in tiefen Schlaf. ~db~ Ruckartig fuhr Julian hoch. »Was?« In seinem Zimmer war es noch finster, also musste es noch Nacht sein. "Romeo?" Julian stieg aus dem Bett und huschte in das Nachbarzimmer. Im Halbdunkel konnte er Romeo erkennen,der hochaufgerichtet im Bett saß, die Arme um sich geschlungen hatte und angstvoll wimmerte. Julian zog Romeo in eine Umarmung, der erwachte aus seiner Trance und wehrte sich heftig. "Nicht, ich bin's doch! Romeo, hör auf!" Romeo zitterte heftig, Julian hatte Mühe, ihn zu bändigen. Schließlich schleuderte er Romeo auf das Bett und warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn. "Bitte, hör auf! Wach auf, ich bin's doch! Bitte, Romeo!" Julian fühlte sich hilflos, in was für einem Albtraum war Romeo gefangen? "Julian?" "Romeo? Bist du endlich wach?" "Was... ist los? Du bist ganz schön schwer." Hastig rollte sich Julian von Romeo herunter. "Du hattest einen Albtraum! Dann hast du angefangen, um dich zu schlagen, ich konnte nicht anders." Romeo seufzte leise, "und ich dachte, es wäre ein Annäherungsversuch." "Was??!!" Romeo strich Julian besänftigend über den Arm, "nur ein Scherz. Ich kann mich nicht erinnern, geträumt zu haben. Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe." Julian rappelte sich hoch, "schon okay. Ich geh dann wieder." "Julian?" "Ja?" "Kann ich bei dir schlafen?" "Äh..." "Ich werde mich auch ganz klein machen." Julian blieb zögernd in der Türöffnung stehen. Er konnte Romeos Gesicht im Dunkeln nicht erkennen, aber der Ton klang bittend. "Okay, komm mit." Er streckte die Hand nach Romeo aus, der dankbar danach griff und hinter Julian hertrottete. Julian schob Romeo in sein Bett, machte es sich dann selbst auf der äußersten Bettkante bequem. "Julian, ich beiße nicht." "Aber ich vielleicht! Pass bloß auf!" Romeo kicherte leise und vergnügt, dann griff er unter der Decke nach Julians Hand. "Schlaf gut." "Du auch." ~db~ Julian blinzelte in das Morgenlicht, der Wecker stellte gerade das Lärmen ein. Langsam drehte er den Kopf, »oh Mann!« Auf seiner Brust ruhte ein schwarzer Lockenkopf mit einem völlig zerzausten Zopf. Romeo schlief eng an ihn gekuschelt, sein Atem streichelte Julians Hals. »Ich muss ihn wecken! Wenn uns jemand so sieht...« Julian hob vorsichtig die freie Hand und legte sie auf Romeos Rücken, dann stupste er ihn leicht. Romeo gab ein schlaftrunkenes Brummen von sich und murmelte etwas Unverständliches. "He, Romeo. Bitte wach auf, wir müssen aufstehen", flüsterte Julian eindringlich. Romeo blinzelte zu ihm hoch, die Augen vom Schlaf noch trübe. "Julian?" "Ja. Kannst du bitte von mir runterrollen?" "Hm." Seufzend rollte Romeo auf die Seite und schob einen Arm über die Augen. Julian setzte sich auf, "bist du okay?" "Alles tut weh", murmelte Romeo. "Ich werde dich mit der Salbe einreiben." "Hm." Julian schob Romeo aus dem Bett, zog ihn ins Bad. Er verpasste sich und Romeo eine Katzenwäsche, salbte dann die Blutergüsse und zog sich für die Schule an. Romeo ließ alles mechanisch über sich ergehen. Er war noch immer nicht wach. "Was willst du für die Schule anziehen?" "Hm?" "Mann, Romeo, werd wach! Also, was?" "Such du was aus. Ich brauche einen starken Kaffee!" Julian öffnete Romeos Kleiderschrank, fischte Hemd und Hose heraus und zog Romeo wie eine Gliederpuppe an. "So, jetzt Kaffee in der Küche, besser?" Obwohl Romeo nickte, hatte Julian dennoch Mühe, ihn unfallfrei die Treppen hinunterzuschieben und in der Küche auf einen Stuhl zu setzen. Maria begrüßte die beiden. Auch sie war noch etwas müde. Sie versprach, Romeo auf Touren zu bringen, damit Julian beruhigt in die Schule verschwinden konnte. ~db~ Julian brachte den Schultag ohne große Anstrengung hinter sich. Er freute sich schon auf das Volleyball-Training am Nachmittag. »Einfach nur spielen, nicht nachdenken, keine Komplikationen!« Er verausgabte sich und schonte auch seine Mitspieler nicht. Schließlich gab der Sportlehrer das Signal zum Ende des Trainings. Roy trottete neben Julian zur Umkleide. Sie hatten noch das Netz abgebaut und verstaut. "Was denkst du, ist die Sache zwischen deinem Bruder und den Kerlen ausgestanden?" Julian zuckte mit den Achseln, "bis jetzt hat sich keiner mehr gemeldet." "Und auf diesem Fest?" "Ich weiß nicht, Roy. Romeo hat noch nicht mit dem Mädchen gesprochen." Sie entkleideten sich und tapsten unter die Dusche. Julian hatte wie immer das Duschgel in seiner Tasche vergessen, Roy reichte schon automatisch seine Flasche weiter. "Dein Bruder heute wieder in der Schule?", fragte er durch den Wasserdunst. Julian nickte. "Ganz schön selbstbewusst, der Kleine. Er müsste doch aussehen, als hätte er gegen eine Dampframme den Kürzeren gezogen?" "Es geht. Wenn er die Haare offenlässt, verdecken sie den größten Teil." "Ich hätte mich ja ne Woche vom Unterricht befreien lassen", Roy frottierte sich die Haare. "Er hat wahrscheinlich keine Lust, alleine zu Hause herumzuhängen." "Julian?" "Hm?" "Habt ihr euch miteinander vertragen?" Julian lächelte, "ich denke schon. Ich bin froh, dass er da ist. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal eine Familie haben würde, die sich umeinander kümmert." Roy zog eine Grimasse, "du kannst jederzeit zu mir kommen. Ich hab mehr Familie, als gut ist!" Julian grinste und schlug mit dem Handtuch nach Roy, "bist schon arm dran, was!" Roy wich aus und lachte, zückte seinerseits das Handtuch, und sie lieferten sich ein Handtuch-Duell. Gemeinsam verließen sie den Schulbereich, trennten sich am Tor, wobei Roy sich demonstrativ über die Kehrseite rieb. "Mann, du hast wirklich einen fiesen Schlag!" Julian grinste und machte eine spielerische Verbeugung. "Ich stehe Ihnen jederzeit für eine Revanche zur Verfügung, Monsieur!" Roy winkte lachend ab und machte sich auf den Heimweg. ~db~ Julian legte den kurzen Weg nach Hause eilig zurück, ob Romeo tatsächlich beim Tanzen gewesen war? »Vielleicht hätte ich doch mitgehen sollen, der Typ könnte ja eine große Sippe haben voller Rachedurst?!« Er schloss die Tür auf und betrat die Eingangshalle. "Hallo, jemand zu Hause?" "Julian, ich bin oben." Julian flitzte in die Waschküche, packte seine Sportklamotten in die Waschmaschine, programmierte in Windeseile und sprintete dann in den zweiten Stock. Romeo hockte in seiner Fensternische und blickte ihn überrascht an. "Du bist ja ganz außer Atem! Was ist denn los?" Julian seufzte erleichtert. Romeo wirkte völlig in Ordnung, lediglich im Spiegelbild des Fensters konnte man die schillernde Gesichtshälfte unter den wilden Locken sehen. "Warst du tanzen?" Romeo zog die Augenbrauen hoch, "nein, warum fragst du?" "Ach, nicht so wichtig." Julian ließ sich auf sein Bett plumpsen. Romeo sah ihn an, lächelte dann plötzlich breit. "Du hast dir Sorgen gemacht, mir könnte was passieren, richtig?" "Phh!", Julian sackte rückwärts auf das Bett und kreuzte die Arme unterm Kopf. Er schloss die Augen. Die Erleichterung machte ihn ganz schwindlig. Geschmeidige Schritte näherten sich, dann legte sich Romeo neben ihn auf das Bett. Julian rutschte ein bisschen zur Seite, damit Romeo nicht von der Bettkante kugelte. "Wie war dein Tag, Schatz?", fragte Romeo scherzhaft. Julian brummte bloß. "Wirklich so gut? Tja, da kann ich nicht mithalten. Ich bin heute bloß von jedem mit funktionierenden Augen angeglotzt worden. Ich glaube, ich sollte Besichtigungsgebühr erheben, davon könnte ich eine neue Salbe kaufen!" Julian öffnete die Augen und drehte den Kopf zu Romeo hin. "So schlimm?" Romeo starrte unverwandt an die Decke, "was siehst du hier bloß? Vielleicht sollte ich die Brille aufsetzen, aber..." Julian knuffte Romeo sanft in die Seite. "Hey, ich bin verletzt. Du bist so was von gefühllos." Romeo gab ein übertriebenes Schluchzen von sich und rollte sich auf die Seite, kehrte Julian den Rücken zu. "Und du redest überhaupt nie mit mir!" Lautes Heulen drang aus der schwarzen Lockenmähne. Julian grinste, dann konnte er das Lachen nicht mehr zurückhalten. Kichernd stützte er sich auf den Ellenbogen und drehte sich zu Romeo. Vorsichtig kämmte er die langen, schwarzen Locken aus dem Gesicht. Romeo hatte ein kindliches Schmollen aufgesetzt. »Er sieht zum Anbeißen aus«, ging es Julian durch den Kopf. Er wurde wieder ernst, ließ die Hand sanft auf Romeos Hüfte gleiten. "Ich hab mir Sorgen gemacht." "Ich weiß." Romeo rollte sich auf den Rücken und sah Julian aufmerksam ins Gesicht. Julian hatte nun Schwierigkeiten, auf der Seite zu balancieren, ohne dass er sich abstützen konnte. Romeo bemerkte das natürlich und grinste anzüglich. Julian funkelte ihn an, "was ist so komisch?" "Gar nichts, ich warte nur drauf, nach welcher Seite du kippst." "Ph!!", Julian ließ sich auf den Rücken absacken. "Feigling!" "Hör bloß auf! Wenn ich auf dich falle, bist du platt wie eine Flunder!" "Dann klitzle ich dich und du bist sofort wieder runter!" "Ha! Keine Chance!" "Denkst du! Aber ich kenne alle Punkte, an denen du kitzelig bist! Kostprobe gefällig?" "Was? Nein, das ist unfair!" Julian sprang wie ein Schachtelteufelchen in die Höhe und rückte in die äußerste Ecke seines Bettes, die Beine fest angezogen. Romeo kam ebenfalls hoch, kroch dann langsam auf allen Vieren auf Julian zu. "Du kannst mir nicht entkommen!" Dabei lächelte er siegessicher und fuhr sich mit der Zunge langsam über die Lippen. "Ich frage mich, wie du wohl schmeckst?!" Dann fauchte er guttural wie eine Wildkatze. Julian war viel zu fasziniert von Romeos Darbietung, als dass er eine Flucht in Erwägung zog. Romeo hockte sich direkt vor ihn. Julian hatte die Arme um die Beine geschlungen, er war kompakt wie ein Paket. Langsam ließ Romeo seine Fingerspitzen über Julians bloße Arme gleiten, federleicht, nur eine hauchzarte Berührung. Dabei sah er Julian weiter in die Augen, der völlig gebannt auf Romeos Fingerspitzen starrte. "Na, spürst du schon was?", flüsterte Romeo. Julian blinzelte heftig, rollte sich noch mehr zusammen. Aber er konnte die Augen nicht von Romeo wenden. Der ließ seine Fingerspitzen die Arme hochgleiten, glitt dann sanft die Rippen hinab. Julian wand sich unruhig. Unter den kurzen Rippen war er besonders kitzelig. "Ich hab dich!", hauchte Romeo triumphierend, als Julian nicht länger ruhig sitzen konnte und sich auf die Seite fallen ließ, um die Beine ausstrecken zu können. Romeo nutzte sofort die Gelegenheit, Julians ungeschützten Oberkörper zu attackieren. Hilflos keuchend versuchte sich Julian herauszuwinden, aber Romeo war immer schneller. Schließlich wimmerte Julian und Tränen rannen über sein Gesicht. »Ich hab's übertrieben«, dachte Romeo erschrocken und zog die Hände zurück. Julian schnappte krampfhaft nach Luft, krallte dann die Finger in die Matratze. "Es tut mir leid, ehrlich! Bist du okay?" Romeo beugte sich erschrocken über Julian. Der öffnete die Augen, ein übermütiges blaues Blitzen, packte Romeos Arme fest und rollte sich mit ihm herum. "So, du Folterer, jetzt hab ich dich!" Romeo zappelte unter Julian, aber er wusste, dass er nicht hochkommen würde. "Das war gemein, so ein fieser Trick. Ich habe mich wirklich erschreckt!" Julian sah Romeo ernst in die Augen. "Und ich wäre fast eingegangen! Du weißt genau, wie empfindlich ich bin!" Sie starrten einander schweigend an, dann stieg Julian von Romeo herunter. Der richtete sich ebenfalls auf, schüttelte dann die langen Locken herum. "Ich brauche einen Haargummi." Romeo erhob sich und wollte zum Bad gehen, als Julian nach seiner Hand griff. "Warte. Lass sie offen, bitte." Romeo drehte sich überrascht zu Julian um, "was?" Der sah ihm ins Gesicht, die Wangen gerötet, der Blick etwas trotzig, "lass sie offen, bitte." Romeo war perplex, "warum denn?" "Weil es mir so gut gefällt, deswegen!" "Ach, und ich hab' dann die Arbeit mit den Zotteln!" "Ich kämme dir die Haare. Versprochen." Romeo legte den Kopf schief, "dir gefallen meine Haare?" Die Röte in Julians Gesicht verstärkte sich. Er schluckte krampfhaft, konnte bloß nicken. Romeo strich sich aufreizend eine Lockensträhne hinter die Ohren, seine Haare waren schulterlang. "Was krieg ich dafür?" "Hä?", Julian sah ihn verständnislos an. "Ich lasse sie offen, wenn du stillhältst." "Was?" "Halt einfach still. Ich will etwas prüfen." Julian blieb stocksteif stehen, während Romeo sich unmittelbar vor ihm aufbaute. Er fixierte seinen Blick auf Julians Hals, beugte sich leicht vor und biss vorsichtig in die empfindlich dünne Haut. Julian stöhnte erschrocken auf. "Warum tust du das?", Julian wirkte verstört. Romeo grinste, kehrte Julian den Rücken zu und warf ihm über die Schulter einen spitzbübischen Blick zu. "Du siehst zwar süß aus, schmeckst aber gar nicht so. Das ist gut, dann verderbe ich mir beim nächsten Mal nicht den Magen!" "Beim nächsten Mal?! Na warte!" Julian wollte sich auf Romeo stürzen, aber der entwischte durch die Zimmertür. Sie rannten einander die Treppen hinunter nach, umkreisten in der Küche die Sitzgruppe, wobei Julian feststellte, dass Romeo über sehr gute Reflexe verfügte und ihm immer wieder um Haaresbreite entwischte. Schließlich floh Romeo, in die Enge getrieben, auf die Terrasse und dann in den Garten, Julian immer auf seinen Fersen. Er erwischte Romeo schließlich und schlang beide Arme von hinten fest um Romeos Arme und presste sie so an dessen Körper. Dann zog er Romeo an den Hüften an sich. "Jetzt hab ich dich! Gib auf!" Romeo warf den Kopf in den Nacken, und seine offenen Locken kitzelten Julian am Hals und im Gesicht. Statt einer Antwort lehnte sich Romeo gegen Julian, den Kopf immer noch zurückgeworfen, sodass er auf Julians Schulter ruhte. Julian blickte direkt in Romeos lächelndes Gesicht. Die schwarzen Augen waren geschlossen, die langen Wimpern warfen Schatten auf die hohen Wangenknochen. Plötzlich hörte er seinen eigenen Herzschlag überlaut, sein Puls raste. Er zog Romeo noch enger an sich, schloss die Augen und senkte den Kopf. Romeos Atem wehte sanft in sein Gesicht, er atmete ihn ein, genießerisch und hungrig zugleich. »Ich bin wahnsinnig, so etwas zu tun! So gehen Brüder nicht miteinander um! Ich will... will... Nein!!« Julian stieß Romeo heftig von sich und rannte ins Haus, schnappte seine Haustürschlüssel, schlug die Haustür hinter sich zu und floh. Romeo konnte mühsam einen Sturz vermeiden. Er sah Julian wie von Furien gehetzt ins Haus sprinten, dann hörte er den Knall, als die Haustür ins Schloss fiel. Er senkte den Kopf und biss sich auf die Lippen. ~db~ Julian rannte. Seine Lungen schrien nach einer Pause, die Stimmen in seinem Ohr brüllten ebenfalls, sein Herz schmerzte und in seinem Kopf dröhnte sein Puls wie ein Vorschlaghammer. Unter der Autobahnbrücke sackte er erschöpft zusammen. Das Chaos in seinem Inneren verhinderte jeden klaren Gedanken. Er fühlte Panik in sich aufsteigen. »Ich muss wieder die Kontrolle bekommen, über mich, über die Situation.« Er versuchte die Entspannungsübungen, die er gelernt hatte, aber der Energieball wollte nicht erscheinen. »Kein Wunder, ich bin ja auch nicht entspannt, meine Konzentration ist weg... Verdammt!« Julian stand auf und wanderte langsam wieder den Weg zurück. Jetzt war er schon zum zweiten Mal hierher geflohen. Und wieder standen die Sterne am Abendhimmel, wieder war der Auslöser derselbe! »Wenn ich doch nur wüsste, was ich fühle!« Eine hämische Stimme in seinem Kopf raunte, »du weißt genau, was du fühlst!« »Aber das kann nicht sein!« »Warum denn nicht?« »Er ist mein Bruder! Außerdem ist er auch ein Junge!« »Und?« »Ich bin nicht schwul, verdammt!« »Ach was? Woher willst du das wissen? Aus deiner reichhaltigen, persönlichen Erfahrung?« »Sei still!!!« »Ha, du kannst mich nicht abwürgen! Du weißt was du fühlst!« »Aber das ist falsch!!« »Oh ja, gut erkannt! Fast schon Inzest, hm?!« »Das ist nicht komisch!!!« »Böser, böser kleiner Sünder!!« Julian knirschte laut mit den Zähnen, um die boshafte, gnadenlose Stimme in seinem Kopf zu übertönen. Romeo wollte sicher bloß nett sein! Er hatte sich das alles sicher nur eingebildet! Es war bestimmt alles harmlos! ~db~ Vor der Haustür blickte er an der Fassade empor. Es brannten keine Lichter mehr. Leise öffnete er die Tür und schlich in den zweiten Stock. Er huschte in sein Zimmer. "Julian?" Julian fuhr wie vom Teufel gerührt herum. Romeo lag in seinem Bett und rieb sich den Schlaf aus den Augen, wackelig auf einen Ellenbogen gestützt. "Was... was tust du in meinem Bett?" Romeo gähnte unterdrückt, "auf dich warten. Muss wohl eingeschlafen sein." "Du...du kannst hier nicht schlafen!" Romeo kam schwankend in die Höhe, "schon gut, ich verschwinde schon. Ich wollte nur sehen, dass du okay bist." Julian wollte Romeo an sich vorbeilassen, als der überraschend herumfuhr und Julians T-Shirt an der Brust packte. "Wegen dir sehe ich jetzt aus wie ein Waldschrat!" Dann ließ er los und kicherte übermüdet. "Ich... ich kämme dir die Haare morgen aus, versprochen", stammelte Julian hilflos. Romeo drehte sich kurz herum, "ich weiß", dann verschwand er in seinem Zimmer. Julian sackte auf seinem Bett zusammen und fiel in einen erschöpften Schlaf. ~db~ Kapitel 7 - Sturzflug "Julian. Wach auf, du kommst sonst zu spät!" Im Halbschlaf spürte Julian eine Hand auf seinem Rücken, die ihn sanft, aber bestimmt anschubste. "Du hast deinen Wecker nicht gestellt. Und in deinen Klamotten gepennt!" Ein leiser Vorwurf schwang in diesen Worten mit. Julian richtete sich mühsam auf, sein Kopf dröhnte. Romeo saß auf der Bettkante und musterte ihn besorgt. "Du siehst nicht toll aus. Bist du krank?" Julian schüttelte den Kopf und stöhnte leise. Romeo legte eine schmale Hand auf Julians Stirn. "Hm, leicht erhöht. Ist dir schlecht, oder so?" Julian schob die Hand von seiner Stirn und kam schwankend auf die Beine. Er wankte ins Bad, musste sich am Rand des Waschbeckens festhalten. »Wasser!« Er klatschte sich zwei Handvoll ins Gesicht und wagte dann einen Blick in den Spiegel. Liebe Güte, er sah aus wie ein Zombie! Augenringe bis zu den Knien und die blaue Haarsträhne klebte schlapp an seiner Wange. »Die Farbe ist bald raus«, registrierte er beiläufig. "Du solltest vielleicht duschen. Ich mach dir was zu essen, okay?" Romeo lehnte im Türrahmen und betrachtete Julian sorgenvoll. "Ja. Danke!" Julian entkleidete sich umständlich. Wenn sein Kopf doch nicht so dröhnen würde! Er stellte sich unter den Wasserstrahl, »kalt wäre gut.« Mit geschlossenen Augen lehnte er sich gegen die Wand. Das Wasser kühlte seinen Körper ab, betäubte auch das Dröhnen. "Was machst du denn!!" Romeo riss die Duschwand auf und drehte das Wasser ab. Julian murmelte etwas. "Verdammt, das ist ja eisig. Und du hast nicht mal Seife benutzt!" Romeo zerrte Julian aus der Dusche. "Gott, du bist ja völlig ausgekühlt!! Was ist denn mit dir los?" "Weiß nicht, nur müde", murmelte Julian. Romeo musterte ihn besorgt, "ich hole meine Mutter. Du bist krank!" Julian keuchte, "nein! Ich muss was anziehen! Es geht schon, bestimmt!" "Unsinn! Stell dich nicht an! Meine Mutter hat schon mehr nackte Jungs gesehen!" Julian wollte Romeo aufhalten, aber er war viel zu langsam. »Ich muss etwas anziehen«, Julian torkelte in sein Zimmer. Irgendwie schien der Raum viel enger zu sein. Vor seinen Augen flimmerte es seltsam. Er schlug eine Hand vor die Augen und stützte sich am Schreibtisch ab. Der Raum schien zu schwanken, alles drehte sich. Julian sah Romeo durch die Tür stürzen. Er rief wohl irgendwas, aber Julian hörte keinen Ton. Er streckte die Hand aus, als der Boden auf ihn zuraste. Romeo stieß einen Schrei aus und schnellte vor, fing den stürzenden Julian mit beiden Armen auf und sackte in die Knie. "Was ist mit ihm los?" Seine Mutter kniete neben ihm. Vorsichtig half sie, Julian auf den Rücken zu drehen. "Er ist bewusstlos! Mama, was machen wir jetzt?!" "Ruhe bewahren!" Maria legte die Hand auf Julians Halsschlagader: da war ein Puls, ziemlich schwach. "Wieso ist er so kalt?" "Er hat kalt geduscht", murmelte Romeo und fing an, energisch über Julians Brust zu reiben. Maria stand auf und zog die Decke von Julians Bett, dann wickelten sie ihn beide darin ein. Julian stöhnte leise und zuckte, dann öffnete er die Augen. "Julian? Julian, Lieber, kannst du mich hören?" Julian würgte, brachte aber keinen Ton heraus. Romeo, der ihn immer noch auf dem Schoß hielt, wiegte ihn sanft hin und her. Julian blickte hoch und begann wieder heftig zu zucken, bäumte sich dann auf. Romeo hatte Mühe ihn zu bremsen. "Mama, was ist mit ihm los? Ich kann ihn kaum festhalten!!" Romeo schrie vor Sorge. "Bleib ruhig, Liebling! Ich glaube, er hat einen Kreislaufzusammenbruch. Er erkennt uns nicht." "Was soll ich denn tun??!!" "Ihn festhalten. Sorg dafür, dass er atmen kann, ich rufe einen Krankenwagen." Maria hetzte aus dem Zimmer, während Romeo Julian fest umklammerte und schluchzend in den Armen wiegte. "Bitte, Julian, hör doch auf!! Sieh mich an!! Ich hab Angst, bitte hör auf damit!!" ~db~ "Keine Angst, gleich ist er wieder da! Na, wieder wach, Junge?" Ein riesiger Walross-Schnurrbart füllte Julians Gesichtsfeld fast völlig aus. Er blinzelte heftig. Hinter dem Schnurrbart kam ein freundliches Männergesicht zum Vorschein. Dunkelgraue Augen unter buschigen Brauen zwinkerten ihm fröhlich zu. Julian stöhnte leise, »was...?« Er drehte den Kopf, im Türrahmen standen Maria und Romeo. Romeo hatte trostsuchend beide Arme um seine Mutter geschlungen. Er wirkte furchtbar mitgenommen. »Warum ist er so blass? Ist etwas passiert?« Julian versuchte sich aufzurichten, »was um alles in der Welt...?« "Immer langsam, Jungchen. Bleib' erst mal liegen." Eine kräftige Hand drückte Julian wieder herunter. "Okay, ich will sehen, wie es dir geht. Weißt du, wo du bist?" Julian krächzte, "zu Hause, mein Zimmer." "Gut. Wann hast du Geburtstag?" Julian nannte das Datum. "Schön. Kannst du dich erinnern, was passiert ist?" "Ich... ich war so müde. Ich dachte, eine kalte Dusche würde helfen. Romeo war da, er wollte Maria holen. Ich bin in mein Zimmer gegangen, dann wurde alles schwarz..." Julian brach ab. "Was ist mit ihm los?" Das war Romeos Stimme, schrill vor Anspannung. "Ich denke, es ist ein Kreislaufzusammenbruch gewesen. Sein Puls ist wieder stabil. Das kommt öfter mal vor. Ihr Jungs könnt immer noch Wachstumsschübe kriegen. Außerdem, wenn man nicht genug geschlafen hat und nichts gegessen und dann unter die kalte Dusche, das kann den Körper schon mal überfordern. Ich schlage vor, gnädige Frau, Sie lassen den Jungen heute mal zu Hause bleiben und gehen zur Sicherheit mit ihm zu einem Arzt zu einem Checkup. Im Augenblick kann ich nicht mehr machen. Bleiben nur noch die Formalitäten." Der Notarzt stand auf, Maria löste sich sanft von Romeo und bedeutete dem Mann, ihr hinunter zu folgen. Julian blickte ihnen nach. Dann sah er Romeo an, der noch immer in der Tür lehnte. Schließlich stieß der sich zögernd ab und kniete sich neben Julian auf den Boden. "Du hast mir grauenvolle Angst eingejagt", würgte er hervor, senkte den Kopf und sein Gesicht verschwand unter der wirren Lockenmähne. Julian betrachtete den schwarzen Schopf schuldbewusst. »Ich wollte doch seine Haare kämmen.« Romeo krallte plötzlich die Finger in Julians Decke. "Ich... ich hatte Angst, du stirbst, verdammt...", schluchzte er heftig, sein ganzer Körper bebte. Julian war hilflos, "tut mir leid...", stammelte er erschrocken. "Tu so was nie wieder, hörst du?!!" Romeo trommelte jetzt mit beiden Fäusten auf Julians Brustkorb. Die Decke dämpfte die Schläge. Er weinte dabei ungehemmt. Julian kämpfte sich unter der Decke frei, wand beide Arme heraus und zog den weinenden Jungen zu sich herunter. "Nicht weinen, bitte. Es tut mir leid!" Er presste Romeo fest an sich, dessen Gesicht in seiner Halsbeuge lag. "Schsch, ist doch alles wieder gut", Julian strich beruhigend über Romeos Haare und seinen Rücken. Romeo hob das tränennasse Gesicht aus Julians Halsbeuge und sah ihn an, jetzt schüttelte ihn auch noch ein Schluckauf. "He, ich bin in Ordnung, siehst du!" Julian versuchte ein schiefes Grinsen, konnte Romeo aber kein Lächeln entlocken, stattdessen liefen wieder Tränen über sein Gesicht. "Nicht doch...", murmelte Julian überfordert. In diesem Moment betrat Maria wieder das Zimmer. "Also, Julian, du bleibst heute im Haus. Ich werde einen Termin bei deinem Hausarzt absprechen. Ich sage nur im Büro Bescheid..." "Nein, Mama, ich bleibe bei Julian!" "Aber Liebling, du musst in die Schule!" "Bitte, Mama, ich könnte dort sowieso nichts zustande bringen vor lauter Sorge! Bitte!" Maria sah ihren tränenüberströmten Sohn prüfend an. "Also gut, mein Schätzchen, ich werde dich entschuldigen. Komm, gib mir einen Kuss, ich bin ganz zittrig!" Romeo erhob sich geschmeidig, zog seine Mutter in die Arme und drückte sie fest an sich. "Danke, Mama." "Nicht doch, mein Liebchen, ich weiß, wie du dich fühlst." Romeo küsste seine Mutter sanft auf die Wangen, dann tauschten beide einen langen, ernsten Blick. Julian hatte alles leicht verlegen beobachtet, aber nun hatte er das sichere Gefühl, dass ihm etwas entgangen war. Maria kniete sich neben ihn und strich ihm sanft über die Stirn. "Mein lieber Junge, bitte schone dich heute, hm?! Ich mache mir Vorwürfe, wenn du so elend aussiehst." Julian schoss erschrocken hoch, "aber ich fühl mich wieder gut! Es war keine Absicht...", stotterte er. "Natürlich nicht. Ich habe mich nur nicht genügend um dich gekümmert." "Nein, nein, ich bin allein verantwortlich, bitte..." Maria beugte sich zu Julian herunter und küsste ihn sanft auf die Stirn. "Ich werde jetzt besser auf dich achten. Ich will meinen neuen Sohn nicht verlieren!" Julian sah sie mit offenem Mund an, während Maria geschickt aufstand, Romeos Hand kurz hielt und sich dann bis zum Abend verabschiedete. Romeo kniete sich wieder neben Julian, "denkst du, du schaffst es bis zu deinem Bett?" "Klar!", Julian zappelte sich aus der Decke endgültig frei, erinnerte sich dann daran, dass er nackt war und packte hastig die Decke wieder. Romeo bemerkte sein Manöver durchaus, lächelte aber bloß. Julian ließ sich in sein Bett plumpsen und zog die Decke um sich. "Mama hat einen Termin gegen Drei ausgemacht." Romeo setzte sich auf Julians Bett, zog dann sein Hemd über den Kopf und erhob sich, um aus Hose und Strümpfen zu schlüpfen. Julian beobachtete seine anmutigen Bewegungen verwirrt. Was sollte das denn? Romeo zog einen Zipfel von Julians Bettdecke hoch und legte sich ohne Umschweife neben ihn. "Was... was machst du denn?", brachte Julian krächzend hervor. Romeo schlang beide Arme um Julian und legte den Kopf auf dessen Schulter. Die wilden Locken kitzelten Julian im Gesicht. "Ich sorge dafür, dass du im Bett bleibst. Außerdem musst du dich erst mal wieder aufwärmen", murmelte Romeo an Julians Kinn. Er schmiegte sich nah an Julian, der die Wärme von Romeos Körper wie einen Flächenbrand empfand und stocksteif da lag. Romeo streichelte sanft mit der Hand über Julians bloße Brust, malte Figuren mit den Fingern. Julian hatte Mühe, ein Keuchen zu unterdrücken. Wie sollte er sich so erholen?? "Warum entspannst du dich nicht?" "Machst du Witze??!!" Julian stieß das energischer hervor, als er geplant hatte, aber seine Stimme klang selbst in seinen Ohren panisch. Romeo hob den Kopf an und sah Julian in das Gesicht. "Willst du, dass ich gehe?" Julian öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Er sah in Romeos schwarze Augen, versank in ihren Tiefen, vergaß dessen Frage, seine Angst, alles um sich herum. Er konnte nur noch diese Augen sehen, so tiefgründig, geheimnisvoll, mal besorgt, dann wieder voller Feuer, funkelnd, lockend... "Julian?" Julian drehte den Kopf zur Seite, »wenn ich nicht aufpasse, dann...« Romeo rollte elegant über ihn hinweg auf seine andere Seite und sah ihn an. "Was ist mit dir? Bist du böse auf mich?" Julian schüttelte mechanisch den Kopf. »Spürt er nicht, was mit mir los ist?« "Ich... ich kann nicht schlafen", versuchte es Julian mit einer Halbwahrheit. Romeo spielte mit Julians blauer Haarsträhne, drehte sie langsam um einen Finger. "Hm. Weißt du, was ich mache, wenn ich nicht schlafen kann? Ich lasse Musik laufen. Sollen wir das probieren?" Julian nickte erleichtert, Romeo hatte keinen Verdacht geschöpft. Der rollte wieder über ihn hinweg und verließ voller Elan das Bett. Julian schloss die Augen und atmete tief durch. »Mensch, reiß dich zusammen! Er ist dein Bruder!!« »Aber eigentlich nicht wirklich«, dozierte eine Stimme in seinem Kopf. »ihr seid nicht blutsverwandt und rechtlich gesehen seid ihr nur Brüder, wenn ein Elternteil einen von euch adoptiert.« »Wen interessiert das? Ich will einen Bruder, eine Familie! Also sei still!!« Julian hörte Romeo in sein Zimmer kommen, die kleine Anlage bedienen, dann spürte er den warme Körper wieder an seine Seite angekuschelt, ein schon fast vertrautes Gefühl. »Warum bringt es mich dann aus der Fassung?« "Was ist das für Musik?" "Ein Soundtrack von einem japanischen Film", murmelte Romeo und rutschte unruhig herum, bis er mit Julian auf Augenhöhe lag. Sie sahen einander unverwandt an, bis Romeo leicht lächelte und die Augen schloss. Julian lauschte der ungewohnten Instrumental-Musik. Seltsame Bilder schossen ihm durch den Kopf. Er fiel in einen erholsamen Schlaf. ~db~ Julian wurde von einer seltsamen Empfindung geweckt: irgendwas kitzelte beharrlich sein Gesicht. "Was...?" "Na, endlich wach? Ich hab schon ein Schütteltrauma!" Romeo schob den Kopf zurück. Er hatte seine wilden Locken über Julians Gesicht geschwungen. "Ich glaube, beim nächsten Mal wird ein nasser Waschlappen reichen müssen." Julian rieb sich die Augen. "Wie spät ist es?" "Fast Eins." "So spät?" "Hm. Warte mal kurz!" Romeo verschwand aus dem Zimmer, Julian hörte seine Schritte auf der Treppe. Er gähnte laut und streckte sich. »Ich fühl mich gleich viel besser«, stellte er erleichtert fest. Etwas bollerte gegen seine Zimmertür, dann schwankte Romeo mit einem Tablett herein. Julian gingen fast die Augen über: da war Suppe in Schalen, ein Topf mit Nudeln und ein Sauciere mit Tomatensauce. "Achtung!", Romeo stellte das Tablett auf der Bettdecke ab. Julian starrte auf das Menü, dann zu Romeo, der ihn erwartungsvoll anlächelte. Dann kicherte Julian leicht, konnte sich nicht beruhigen und brach schließlich in lautes Gelächter aus. "Was ist los? Was ist so komisch?" Romeo stemmte die Hände in die schmalen Hüften und funkelte Julian an, der sich mittlerweile den Bauch hielt. "Du... du... mit der Schürze..." Romeo blickte an sich herab: über den Boxershorts hatte er eine Küchenschürze umgebunden. "Na hör mal, denkst du, ich will mir die Unterwäsche mit Sauce versauen?" Romeo stieg auf das Bett, sodass Julian rasch das Tablett festhalten musste, damit nichts überschwappte. "Vorsichtig!" "Ph, undankbarer Kerl. Ich schufte stundenlang in der Küche, während der Herr die Matratze abhorcht und dabei ganze Wälder abholzt..." "Ich schnarche nicht!!" "Ach ja? Wie willst du das wissen? Du pennst doch!!" Romeo stieg quer über das Bett, kniete sich vor Julian hin, der die Beine ausgestreckt hatte und schob sich genau dazwischen. Er stieß einen Stoßseufzer aus und sackte gegen Julians nackte Brust. "Ich.. ich werde mir rasch was überziehen", keuchte Julian. "Och, wegen mir musst du keine Umstände machen. Ich mag dich so, wie du bist!" Romeo drehte den Kopf nach hinten und zwinkerte Julian anzüglich zu, genoss dann die Röte, die Julians Wangen färbte. "Komm schon, lass uns erst mal was essen. Anziehen kannst du dich auch später!" Mit Romeo direkt vor sich war das Essen gar nicht so einfach. Julian musste ständig mit beiden Armen um ihn herumgreifen. "Ich kann dich auch füttern", grinste Romeo, aber Julian lehnte dankend ab. "Puh. bin ich satt", stöhnte Romeo schließlich und kuschelte sich an Julian. "Ich habe einen Bauch wie ein Walross, fühl mal", er packte Julians Hand und legte sie auf seinen Bauch. Er spürte, dass Julians Hand in seiner zitterte, als die Finger über seinen Bauch strichen. "Siehst du? Als hätte ich einen Medizinball verschluckt. Ich werde doch noch fett!" Julians Hand blieb auf seinem Bauch liegen, dann raunte Julian ihm ins Ohr, "das ist nicht wahr." "Ach, du willst bloß nett sein! Wahrscheinlich kann ich nie wieder an den Strand gehen, weil Greenpeace mich sonst für einen angespülten Wal hält!" Julian lachte leise, Romeo verspürte die Vibrationen angenehm an seinem Rücken. "Du angelst doch bloß nach Komplimenten." "Ich tue was?" "Hör schon auf! Du bist schlank, einen Bauch hast du bloß, damit der Hals nicht auf deinen Beinen sitzt", kicherte Julian. Romeo entwand sich seiner Umarmung und drehte sich nach ihm um. "Das ist überhaupt nicht wahr. Aber jemand, der so gut aussieht wie du, kann das gar nicht verstehen!" Julian blickte Romeo überrascht an. "Was soll denn das heißen?" "Du weißt doch, wie gut du aussiehst, oder? Wie anziehend, so stark und muskulös." Julian lief rot an, "aber du siehst doch genauso gut aus!" "Ach was!" Romeo ließ den Kopf hängen, "du hast doch selbst gesagt, ich müsste aufgefüttert werden." "Das war doch nur Spaß!" Ratlos musterte Julian Romeo, der versonnen auf die Bettdecke starrte. "Du... du bist wunderschön", hauchte er schließlich in Romeos Ohr. Der hob langsam den Kopf und blickte ihn ernst an. "Meinst du das ehrlich?", flüsterte er. Julian nickte. Der Kloß in seinem Hals war wieder erschienen und verhinderte jede laute Äußerung. Auf Romeos Gesicht zeichnete sich langsam ein Lächeln ab, dann strahlte er und umarmte Julian stürmisch. "Danke!" Julian erwiderte die Umarmung erleichtert, vergrub dann das Gesicht in der Wuschelmähne. »Hm, wie gut er riecht! Und so warm, so angenehm...« Langsam, widerstrebend lösten sie sich voneinander. Romeo kämmte einige Locken mit den Fingern hinter die Ohren, aber seine Bemühungen waren ziemlich erfolglos. Schließlich prustete er genervt, "ich muss die Zotteln wegbinden, sonst dreh ich durch. Sekunde!" Julian packte sein Handgelenk, "hol einen Kamm, ich werde sie auskämmen." Romeo lächelte leicht, befreite sein Handgelenk und verschwand im Bad. Mit Kamm und Haargummi bewaffnet ließ er sich wieder auf das Bett plumpsen. Julian schlug einladend die Bettdecke hoch und Romeo kroch wieder neben ihn. Schweigend machte sich Julian an die Arbeit. Er summte leise vor sich hin, ohne dass ihm das bewusst wurde. Romeo schloss die Augen und lächelte leicht, »es macht ihm tatsächlich Spaß, meine Haare zu kämmen!« Dann fasste Julian die einzelnen Locken vorsichtig zusammen und flocht Romeo einen lockeren Zopf. "He, da guckt noch was raus!" "Ich weiß. Das ist Absicht." "Was? Wieso lässt du den Zopf so locker?" Romeo drehte sich neugierig zu Julian um. Der ignorierte den fragenden Blick und musterte kritisch die kurzen Locken, die sich um Romeos Gesicht drehten. Er zupfte ein bisschen herum, nickte dann ein paar Mal nachdrücklich. "Gut!" Romeo verdrehte die Augen, um die Locken zu erkennen, gab dann auf. "Was ist daran gut? Da hängen immer noch welche in meinem Gesicht!" Julian schob eine Hand unter Romeos Kinn und antwortete ernst, "ich will nicht, dass du aussiehst wie einer dieser geölten Machotypen mit ihren zurückgekämmten Zöpfen. Du hast so schöne Locken, die sollen locker sitzen. Sie geben deinem Gesicht den perfekten Rahmen. Außerdem ist das besser für die Kopfhaut." Romeo erwiderte Julians Blick mit offenem Mund und großen Augen. "Was ist? Hast du deine Zunge verschluckt?" Julian fühlte sich unbehaglich und wurde ärgerlich. Romeo hob beschwichtigend die Hände, "nein, nein, ich bin bloß überrascht... Das erste Mal, dass ich dich so viel so ernsthaft habe sagen hören. Wow!" "Jetzt machst du dich über mich lustig!" "Nein, wirklich nicht. Bitte, werd nicht sauer!" Romeo legte beide Hände auf Julians Wangen und lehnte dann die Stirn gegen Julians. "Danke. Danke, dass du so lieb zu mir bist." Julian lief rot an. Er hatte einfach ausgesprochen, was ihm gerade in den Sinn kam. Er hatte nicht darüber nachgedacht. Normalerweise hätte er dies nie herausgelassen, verrieten seine Worte doch zu genau seine Empfindungen. »Schwächling!!«, höhnte die Stimme in seinem Kopf. Julian kniff die Augen zusammen, »nein, bin ich nicht!! Aber mit Romeo ist es so einfach, Gefühle zu zeigen, offen zu sein. Er verspottet mich nicht, lacht mich nicht aus!« Romeo zog seinen Kopf langsam zurück, wickelte dann Julians Strähne um einen Finger, leichthin und spielerisch. "Schau mal, die ganze Farbe geht schon raus." Julian schwieg und hielt den Kopf gesenkt. "Darf ich dich etwas fragen?" "Hm?" "Was bedeutet dir diese blaue Strähne? Ich meine, dein Vater wird da wohl nicht so begeistert von sein, oder?" Julian entzog sich Romeos Zugriff und ließ sich auf den Rücken sinken. Er verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte blicklos zur Decke. Romeo betrachtete ihn schweigend, dann kam ein entschlossener Zug um seinen Mund. Er legte sich einfach auf Julian drauf, legte beide Arme auf dessen Brust und stützte das Kinn darauf. "Nun?" Julian machte keine Anstalten zur Abwehr, seine Reaktion bestand lediglich darin, die blauen Augen zu schließen. »Er hat so lange Wimpern wie ein Mädchen«, staunte Romeo fasziniert. "Weißt du, das ist eigentlich gar keine tolle Geschichte, eher banal." "Erzähl's mir trotzdem." "Hmpf, also gut. Als ich klein war, hatte ich blonde Locken, na ja, ein bisschen jedenfalls. Meine Mutter hat sie so frisiert, dass ich aussah wie eines dieser Bilderbuch-Kinder, blaue Augen und goldene Locken, dazu noch ein Matrosenanzug und rote Backen... Na ja, das wurde meinem Vater dann zu viel. Er meinte, ich sehe ja aus wie ein Muttersöhnchen, ein verhätschelter, verweichlichter Bengel. Also hat er mich zum Friseur geschleppt und mir alle Haare abrasieren lassen. Ich war der einzige Junge in der Grundschule mit einer Glatze. Danach hatte ich immer Kurzhaarschnitte, die Locken waren weg." Julian öffnete die Augen und sah zur Decke. "Als meine Mutter starb, hab ich eine Strähne immer ausgelassen, damit sie wachsen konnte. Ich wollte wissen, ob die Locken tatsächlich für immer verschwunden waren. Die blaue Farbe hab ich gewählt, weil sie ja beruhigend wirken soll. Weißt du, ich dachte, wenn beim Stier das rote Tuch Wut auslöst, bremst mich vielleicht das Blau direkt vor meinen Augen. Na ja, es war auch die Farbe der Trikots meiner Mannschaft, daher hatte ich auch noch eine plausiblere Erklärung." Romeo schwieg, dann fragte er, "wie hat dein Vater reagiert?" "Zuerst hat er es gar nicht bemerkt, ich meine, die Strähne. Er war ziemlich oft weg. Als er es dann gesehen hat, wollte er sie natürlich abschneiden, aber ich habe mich gewehrt." Julian stockte kurz, räusperte sich. "Du wirst es nicht glauben, aber ich habe tatsächlich mit ihm gerungen in der Küche. Er hatte die Schere in der Hand und während der Rangelei hat er mich am Arm erwischt. Es hat ziemlich geblutet, ein großer Fleck auf dem Boden. Da hat er aufgehört." Julian lachte schmerzhaft auf, "er ist einfach aus der Küche spaziert, hat einen Koffer gepackt und war zwei Monate weg. Einfach so!" Romeo setzte sich auf und strich Julian sanft über das Gesicht. "Ich hab sogar eine Narbe, hier." Julian setzte sich auch hoch, drehte den rechten Arm nach außen. Über dem Ellenbogen war eine helle Linie zu erkennen, die sich bis zur Achselhöhle zog. "Wir haben nie wieder darüber geredet." Romeo strich sanft mit den Fingern über die Linie, dann nahm er Julians Arm in seine Hände, beugte sich herunter und verteilte sanfte Küsse auf die Narbe. Julian hatte das Gefühl, als stünden seine Nervenenden in Flammen. Er biss die Zähne zusammen. Wenn das doch nicht so schön wäre... Hastig entzog er Romeo seinen Arm und stieg aus dem Bett. "Ich brauche eine Dusche! Wir müssen ja auch bald gehen!" Eilig verschwand er im Bad. Romeo, der auf dem Bett kniete, drehte langsam den Kopf und starrte die Badezimmertür an. ~db~ Julian frottierte sich energisch, kippte dann wiederholt den Kopf auf eine Seite. "Verdammt, Wasser in den Ohren!" Romeo hatte die Zeit genutzt, wieder in seine Klamotten zu schlüpfen und Julians Bett zu machen. Er hatte die Überreste des Mittagessens in die Küche gebracht und in Julians Fensternische gewartet. Julian betrachtete die schlanke Gestalt nachdenklich. »Er ist so ruhig. Was beschäftigt ihn wohl?« Romeo ließ den Kopf gegen die Fensterscheibe sinken und seufzte. Julian stellte sich neben ihn, das Handtuch um die Hüften gewickelt. "Was ist denn los?" Romeo drehte den Kopf und sah zu ihm hoch. Er wirkte ernst, die schwarzen Augen waren traurig. "Nur Gespenster aus der Vergangenheit." Julian setzte sich neben ihn. "Kann ich... helfen?" Romeo schmunzelte sanft, griff nach Julians Hand und hielt sie locker fest. Dann seufzte er wieder und wandte den Kopf wieder zum Fenster. "Romeo? Soll... soll ich dich vielleicht allein lassen?" "Du könntest mich einfach festhalten." Julian zögerte kurz, dann legte er unbeholfen die Arme um Romeo. Der schwang die Beine von der Fensterbank, rutschte direkt neben Julian und legte den Kopf auf dessen Schulter. Julian strich behutsam über Romeos Rücken, begann dann, die Wirbelsäule mit den Fingerspitzen nachzufahren. Schließlich löste sich Romeo von Julian, stand auf und streckte sich ausgiebig. Über die Schulter rief er ihm zu, "zieh dich an, es wird langsam spät." Julian stand ebenfalls auf und öffnete den Kleiderschrank, angelte ein paar Kleidungsstücke heraus. Er drehte Romeo den Rücken zu, während er sich anzog. »Verdammt, ich kann mich in der Umkleide vor den anderen Jungs auch ausziehen, aber vor ihm...? Ist ja auch unfair, er ist angezogen und ich...« »Idiot!!«, ermahnte Julian sich dann, »hör auf zu grübeln und mach endlich!« ~db~ Sie schlenderten nebeneinander durch das ruhige Wohnviertel zur Praxis des Hausarztes. Sie mussten nicht lange warten, Julian wurde direkt aufgerufen. Er schilderte den Vorfall vom Vormittag, dann wurden allerhand Untersuchungen gemacht. Julian kannte das schon von seiner Zeit als Supersportler. "Tja, mir scheint, dein Kreislauf hat wohl nicht mehr mitgespielt. Deine Ernährung muss besser werden. Dein Vater ist doch nicht schon wieder auf so einem Trainings-Trip, oder so?" Julian schüttelte den Kopf. "Also, gesünder essen, gönne dir auch mal was. Und überanstrenge dich nicht beim Sport! Dein Kreislauf ist wie ein Motor, den darf man auch nicht übertouren! Immer eins nach dem anderen!" Julian bedankte und verabschiedete sich. Im Wartezimmer hockte ein angespannter Romeo. Julian schob ihn vor sich auf die Straße. "Was hat er gesagt? Bist du krank? Erzähl schon!", Romeos Stimme klang nervös. "Immer mit der Ruhe. Er meinte bloß, ich müsse langsamer tun und mich besser ernähren." "Das stimmt auch! Schluss mit dem Vogelfutter!" "He, heute hatte ich Hühnersuppe und danach Spaghetti! Was willst du mehr?" Romeo packte Julian am Handgelenk, blieb stehen und zwang Julian so zu einer Vollbremsung. "Ich will, dass du nicht mehr davonläufst!" Romeos Stimme war leise, aber eindringlich, sein Blick war ernst. "Bitte, lauf nicht mehr so weg!" Julian fühlte sich unbehaglich. Romeos Blick war beklemmend offen, er konnte Schmerz und Angst darin lesen, Sorge, und auch etwas anderes... Verlangen? Er konnte diesen Anblick nicht länger ertragen und senkte den Kopf. "Ich habe schon einmal jemanden verloren, ich kann das nicht wieder ertragen und ich will es auch nicht!" Romeo stieß die Worte mit einer Heftigkeit aus, als wolle er seiner Verzweiflung Luft machen. Julian schluckte und zwang sich, Romeo ins Gesicht zu sehen. Der stand immer noch da, hielt ihn an der Hand fest, aber seine aufgerissenen Augen blickten nun ins Leere. Julian konnte förmlich die Erinnerungen darin vorbeiziehen sehen. Romeos Mund zuckte, und dann blinzelte er heftig. "Tut mir leid, ich wollte kein Drama inszenieren", flüsterte er mit belegter Stimme. Julian fasste nun nach Romeos Hand, "willst du mir davon erzählen?" Er wartete die Antwort nicht ab, sondern setzte sich gemächlich in Bewegung. Romeo würde ihm folgen. Hand in Hand schlenderten sie durch die ruhigen Gassen, in Gedanken verloren. Schließlich brach Romeo leise das einträchtige Schweigen. "Mein Vater... also, als ich etwa fünf Jahre alt war, ist mein Vater gestorben. Obwohl ich noch so klein war, erinnere ich mich an jeden Augenblick. Ich war zu Hause, habe gespielt, da kommt er rein. Er war ganz blass, so steif, seltsam anzusehen. Er guckt auf mich herunter, streckt die Hand nach mir aus. Da sehe ich Blut. Überall auf seinem Bauch ist Blut, und sein Bauch ist aufgerissen, man kann die Gedärme sehen. Er ist so blass..." Romeo schluckte krampfhaft und umklammerte Julians Hand fester. "Dann fällt er neben mich hin und zuckt. Sein ganzer Körper zuckt. Ich will schreien, aber ich bekomme keinen Ton heraus. Die ganze Zeit sieht er in meine Richtung, aber er erkennt mich nicht. Der ganze Fußboden ist voller Blut. Ich packe ihn an den Schultern und schüttele wie von Sinnen, aber er sieht mich einfach nicht. Dann zuckt er nicht mehr, atmet nicht mehr. Ich bin voller Blut." Romeo wischte sich mit der freien Hand über die Augen und atmete mühsam. "Ich habe die ganze Zeit bei ihm gesessen. Meine Mutter kam nach Hause und hat uns so gefunden." Julian blieb stehen und starrte Romeo an, entsetzt und voller Mitgefühl. Seine Kehle war zugeschnürt. Was sollte er auch sagen, um den Schmerz in Romeos Stimme zu lindern? Ohne Nachzudenken zog er Romeo in eine enge Umarmung und wiegte sich leicht hin und her. Romeo fühlte sich in seinen Armen seltsam steif an, sein ganzer Körper war gespannt. Langsam ließ der emotionale Krampf nach und er lehnte sich gegen Julian, suchte die Wärme, die ihm Trost spenden konnte, die Sicherheit in den Armen, den Schutz. "Was... was war denn passiert?" Julians gekrächzte Frage holte Romeo wieder in die Wirklichkeit zurück und er schob Julian von sich, hielt ihn aber weiter an der Hand. Dieses Mal ging er voran. "Tja, mein Vater war wohl in Geschäfte verwickelt, die auch mit der ETA zu tun hatten. Du weißt, die Terroristen, die für ein unabhängiges Baskenland kämpfen. Man hat die Hintergründe nie aufgeklärt. Für mich war er immer nur mein Vater, der gerne tanzte, lachte und mich wild durch die Luft gewirbelt hat. Er war noch so jung." Romeo seufzte schmerzerfüllt. "Meine Mama ist dann mit mir nach Australien gegangen, dann nach Amerika und wieder zurück nach Europa. Wir waren praktisch auf der Flucht vor dieser Tragödie. Deshalb habe ich auch die internationale Schule besucht." Julian bemerkte, dass sich Romeo stärker auf seinen Arm stützte. Die Geschichte zu erzählen, hatte ihn wohl viel Kraft gekostet. "Wenn wir zu Hause sind, mache ich dir meinen Spezial-Milch-Shake", bot er an. Romeo lächelte ihm zu. Seine Augen waren aber noch immer traurig. »Ich bin wirklich ein Idiot«, fluchte Julian in sich hinein, »als ob ein Shake das alles aufwiegt.« "Hört sich gut an. Danke!" Romeo drückte Julians Hand und zwinkerte aufmunternd. ~db~ Sie machten es sich in der Küche bequem. Julian kramte den Mixer hervor, suchte die Zutaten zusammen und befüllte die Maschine. "Deckel", ermahnte er sich halblaut eingedenk des ersten Versuchs, der die ganze Decke getroffen hatte. Romeo hatte beide Beine auf den Stuhlsitz gezogen und sah Julian zu. Der füllte die dickliche Flüssigkeit in Becher, suchte Strohhalme hervor und stellte dann seine Kreation auf den Küchentisch. "Was ist nun da drin?" "Das ist mein Geheimnis. Probier's einfach." Romeo zog vorsichtig am Strohhalm, fuhr sich dann über die Lippen. Julian beobachtete ihn erwartungsvoll. Wie würde wohl das Urteil lauten? "Hm, sehr lecker! Wie bist du darauf gekommen?" Julian nahm nun auch einen Schluck. "Ich hab für meine Mutter gekocht. Aber ich hatte natürlich keine Ahnung. Also habe ich die Kochbücher, die hier herumstanden, gelesen. Es war natürlich auch ein Buch über Shakes und Longdrinks und Cocktails dabei. Was der Mann von Welt", seine Stimme troff vor Sarkasmus, "wissen muss. Da ich keinen Alkohol hatte, habe ich einfach mal probiert, was ich sonst hinkriege. Na ja, und das kam dabei raus." Romeo nickte bestätigend, "schmeckt wirklich gut." "Ja, der einzige Haken ist das Saubermachen vom Mixer!" Nun lachten sie beide, und die Atmosphäre schien sich gleichermaßen aufzulockern. "Julian?" "Hm?" "Du kommst doch am Samstag mit, oder?" "Ich habe es dir versprochen." "Gut. Ich will nämlich mit dir angeben." "Was?" "Rosi glaubt nicht, dass ich einen gutaussehenden, blonden Bruder habe. Also kann ich dich jetzt als Beweis vorstellen." "Sie wird aber merken, dass wir keine Brüder sind. Wir sehen uns nicht gerade ähnlich." Romeo sah Julian eindringlich an, "aber wir sind doch Brüder, oder?" Julian nickte hastig, "auf alle Fälle. Und mir ist egal, was andere denken." Romeo warf Julian eine Kusshand zu und intonierte gekonnt, "we are family, I've got all my brothers and sisters with me!" Julian musste lachen. Romeo hatte wirklich Geschick darin, eine Situation zu entspannen. In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Sie wechselten überraschte Blicke. Wer konnte das sein? Julian stand auf und ging zur Tür, öffnete. "Ja? Oh, Nina, nicht wahr?" "Hi, Julian. Ist Romeo da?" "Klar, komm doch bitte herein." Julian führte Nina in die Küche, wo Romeo gerade Tee aufsetzte. Er umarmte Nina freundschaftlich, dann gab es die Wangenküsschen. Nina sah Romeo erschrocken an. Der Bluterguss in seinem Gesicht war zwar mittlerweile quittegelb, aber dennoch zu erkennen, besonders, wenn er einen Zopf trug. "Oh mein Gott, was hat dieser Scheißkerl dir bloß angetan?!" "Ich denke, er hat dafür bezahlt", antwortete Romeo beschwichtigend. "Der Drecksack! Als ich erfahren habe, was er getan hat, habe ich sofort Schluss gemacht! Jetzt sitzt er zu Hause und jammert rum!" Julian stellte Teetassen auf den Tisch und holte Kekse. "Wie geht es ihm eigentlich?", fragte er betont beiläufig. "Oh, er hat ganz schön Prügel bezogen, die anderen auch. Aber selbst dran schuld, sag ich!" Nina musterte Julian scharf, "du hast sie fertiggemacht, oder?" Julian nickte kurz, kramte dann Servietten hervor. "Alle vier? Meine Güte, Jakob hat gesagt, sie wären von einem Psychopathen angegriffen worden! Du musst ganz schön stark sein, wirklich!" Julian wich den bewundernden Blicken aus. Er fühlte sich alles andere als gut. Romeo lenkte ab, "was denkst du, kommen viele Leute zum Fest?" "Oh ja, bestimmt. Ich habe auch schon ein Kleid gefunden, das ich tragen werde. Was wirst du anziehen?" Romeo überlegte kurz, "schwarze Hose, ein burgunderfarbenes Hemd, vielleicht eine passende Weste." "Kommst du auch mit, Julian?" "Ich... denke schon." "Toll, meine Freundinnen werden neugierig sein auf den starken, blonden Recken!" Sie lächelte ihm anzüglich zu, aber Julians Miene versteinerte sichtlich. "Es wäre mir lieber, du würdest diese Sache nicht erwähnen." Nina blickte verwundert, sah dann Romeo an, der ihr schweigend zunickte. Sie zuckte mit den Achseln, "wenn du das möchtest." Romeo schenkte den Tee aus und unterhielt sich mit Nina. "Wir könnten noch etwas üben", schlug Nina vor. "In der Halle ist doch viel Platz! Wir drehen einfach die Musik auf und legen los." Romeo blickte zu Julian hinüber, der Zustimmung signalisierte. Julian bestückte die Stereo-Anlage im Wohnzimmer, hockte sich dann auf die Treppe und sah Nina und Romeo Position beziehen. Kaum dass der Tanz begann, verwandelte sich Romeo: der Blick war konzentriert, seine Bewegungen voller Kraft und Anmut, er legte seine Gefühle in den Tanz. Sie umkreisten einander zunächst, ließen sich aber nicht aus den Augen. Es wirkte fast wie ein Kampf. Julian starrte Romeo mit offenem Mund an. Der schien so anders jetzt, voller mühsam gebändigter Wildheit. Als lege er seine Leidenschaft in Zügel, die aber nur durch seine Kontrolle und seinen Willen Wirkung zeigten. Nina wirkte ebenfalls fremd: nicht mehr ein keckes Mädchen in Jeans und Top, nun eine Frau, die genauso ihre Wildheit zähmte, voller Stolz und Selbstbewusstsein. Ihre Bewegungen waren rund, exakt abgemessen und dennoch fließend. Julian fühlte sich wie ein Spanner bei einem intimen Duell. Die Luft war förmlich aufgeladen von der Spannung zwischen diesen beiden Tänzern. Er bemerkte, dass er mehrfach die Luft anhielt, wenn beide sich umkreisten, sich berührten und wieder auseinander gingen. Obwohl der Tanz kaum länger als fünf Minuten gedauert hatte, waren beide Tänzer erschöpft, aber Julian fühlte sich ebenso mitgenommen. Romeo bot Nina an, sie mit dem Fahrrad nach Hause zu bringen, was diese aber kichernd ablehnte. Sie verabschiedete sich von Romeo und auch, zu dessen großer Verlegenheit, von Julian mit Wangenküssen. ~db~ Kapitel 8 - Widerstand "Nun, was denkst du?" Einmütig trabten Romeo und Julian nach oben zu ihren Zimmern. "Worüber?" "Unseren Tanz, du Nachteule!" "Also... sehr beeindruckend", suchte Julian nach passenden Worten. Romeo grinste, "ich liebe deine eloquente Wortwahl! Wir wollen übermorgen ein Feuer anzünden und die Emotionen zum Kochen bringen. Glaubst du, dass uns das so gelingt?" Julian nickte nachdrücklich. Oh ja, sie hatten mehr Feuer als ihm lieb war. Kaum saßen sie in Julians Zimmer, klingelte das Telefon in der Halle. "Verdammt!", Julian sprintete nach unten. "Ja? He, Roy! Nein, ich bin okay, mir war heute nur nicht so gut. Nein, ich komme morgen bestimmt. Hausaufgaben? Igitt, was denn? Nein, schon gut, sag's mir. Ja... ja..., hab ich kapiert. He, danke! Ja, ich weiß, Vokabeltest, ätzend. Ich frag ihn mal, vielleicht leiht er mir seinen Kopf", Julian kicherte gut gelaunt in den Hörer. Er alberte noch ein bisschen mit Roy herum, beendete dann das Gespräch. Wieder in seinem Zimmer musste er nun doch Hausaufgaben machen. Und ein Vokabeltest, wie eklig! Romeo musterte Julians aufgekratzte Miene ein wenig eifersüchtig. "Hast du es gut! Wenigstens sorgt sich einer um dich", murmelte er ein klein wenig eifersüchtig. Julian drehte sich überrascht nach ihm um, "stimmt, von deinen Klassenkameraden hat sich keiner gemeldet." Romeo erhob sich und machte Anstalten, in seinem Zimmer zu verschwinden. "Tja, ich hab dir ja gesagt, die wollen alle bloß wieder hier weg!" "Warte doch! Ich brauche deine Hilfe!" Julian stellte sich Romeo in den Weg und breitete die Arme aus, um ihn aufzuhalten. "Ach?", Romeo legte den Kopf schief, kniff die Augen zusammen und lächelte dann. Julian bot gerade ein sehr gutes Angriffsziel, da konnte er sich wenigstens ein bisschen schadlos halten. Ein kurzer Ausfallschritt, Julian bemerkte das Blitzen in Romeos Augen, "was...?", da hatte der auch schon losgelegt, Kitzel-Attacke! Julian quietschte hilflos, wand sich, spürte die Wand in seinem Rücken und versuchte, sich zusammenzurollen. Romeo lachte vergnügt. Es machte wirklich Spaß, Julian zu kitzeln! Der starke Kämpfer war hilflos wie ein Wickelkind, sein Körper so empfindlich. Wenn das die vier Typen gewusst hätten!! Julian lag schließlich auf dem Boden. Romeo kniete hinter ihm, betrachtete den zusammengekrümmten Jungen, der am ganzen Körper bebte. Sanft strich er über den Rücken, beugte sich dann über das rote Gesicht und flüsterte, "du kannst aufstehen, ich höre auf. Wobei brauchst du meine Hilfe?" Julian öffnete die Augen, drehte den Kopf und sah Romeo so zornig an, dass der erschrocken zurückwich. "Warum tust du das?!! Du weißt doch, dass ich mich nicht wehren kann!!" "He, das war doch nur Spaß!! Sei doch nicht gleich sauer. Wer würde denn vermuten, dass so ein großer Kämpfer wie du so empfindlich ist?!", kleidete Romeo verteidigend seine Gedanken in Worte. "Ach ja?!", Julian fuhr hoch, die Hände zu Fäusten geballt. "Vielleicht macht es dir ja auch einfach Spaß, mich hilflos und wehrlos zu sehen, damit du mit mir tun kannst, was du willst!!!" Romeo wurde blass, "das ist überhaupt nicht wahr!! Ich will dich nicht demütigen!!" "Ich will deine Hilfe nicht mehr! Verschwinde!!" "Aber Julian..." "Hau ab!! Lass mich endlich allein!!" Julian packte Romeo bei den Hemdaufschlägen und stieß ihn in das Bad, schlug dann die Tür hinter ihm zu und drehte den Schlüssel herum. Romeo hämmerte gegen die Tür. "Mach auf!! Es tut mir leid!! Bitte, lass mich wieder rein!! Julian!!" "Ich hasse dich!!" Julian sackte schluchzend neben der Tür auf den Boden und schlug die Hände vor das Gesicht. Er hatte Angst. Furchtbare Angst. »Warum macht es mir nichts aus, mich ihm auszuliefern? Wieso lasse ich mich so fallen? Ich sehne mich nach seiner Nähe, seiner Berührung! Warum kann ich ihn nicht abwehren, verdammt!! Ich verliere die Gewalt über mich!! Ich hasse ihn!!« ~db~ Romeo starrte auf die Tür, dann schlich er leise zu seinem Zimmer und auf den Flur. Julian schloss nie seine Zimmertür ab, vielleicht... Behutsam drückte er die Klinke nach unten. Die Tür war tatsächlich nicht verschlossen. Neben der Badezimmertür hockte Julian zusammengesunken und schluchzte leise in seine Arme. Romeo näherte sich ihm vorsichtig wie einem waidwunden Tier, auf jede Attacke gefasst. »Warum weint er bloß? Ich habe ihn vielleicht wirklich verletzt!« Langsam sackte er neben Julian auf den Boden, legte einen Arm um den zuckenden Körper. "Es tut mir leid, wirklich. Ich wollte dir nicht wehtun. Verzeih mir, bitte!" Romeo war es egal, dass seine Stimme flehend klang. Er fühlte sich furchtbar. Gerade als sie sich so gut verstanden hatten, hatte er alles vermasselt. Und nun hasste Julian ihn!! "Julian? Bitte!" Julian hob den Kopf an, die blauen Augen schwammen in Tränen, er sah verzweifelt und unglücklich aus. Wortlos ließ er den Kopf in Romeos Halsbeuge sinken, umklammerte ihn dann heftig. Romeo strich sanft über den gekrümmten Rücken, fühlte die Muskeln zittern, "ist ja gut! Alles ist wieder gut! Pscht, nicht mehr weinen." Endlich entspannte sich Julian. Das Zittern verschwand, und er setzte sich aufrecht. Trotzig wischte er mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Romeo schmeichelte, "sag schon, wobei kann ich dir helfen, hm?" Julian schluckte heftig, "Englisch, Vokabeltest morgen." Romeo erhob sich und streckte Julian die Hand hin, "ich lerne lieber in deinem Bett", zwinkerte er anzüglich. Prompt lief Julian rot an, ließ sich aber beim Aufstehen helfen. Dann beorderte er Romeo auf das eine Ende des Bettes, während er es sich auf der anderen Seite gemütlich machte. Romeo versuchte mit gerunzelter Stirn, aus Julians Hieroglyphen Vokabeln herauszulesen. Julian gab ihm unter der Decke mit dem nackten Fuß einen Stoß, "mach schon, ich weiß, du kannst es lesen." "He, Fouls sind nicht erlaubt!! Außerdem sind deine Füße eiskalt!" "Pah, bist du empfindlich!" "Empfindlich? Na warte!", Romeo feuerte Julians Kopfkissen nach ihm. Julian wich geschickt aus, fing das Kissen und umarmte es dann. So war es viel bequemer! "He!" "Ätsch! Wer es wegwirft, braucht es nicht mehr!" "Oh, du bist so gemein! Erst trittst du mich mit deinen Eisbeinen, und jetzt hockst du so gemütlich hier, und ich habe gar nichts zum Knuddeln!!" "Wir wollten arbeiten!", versuchte Julian abzulenken. "Warum kann ich nicht bei dir sitzen?" Romeo machte Anstalten herüberzukriechen. "Weil ich sonst das Heft sehe, Dummerchen! Und jetzt bleib wo du bist!" Romeo bleckte die Zähne und fauchte, "oder was?" Julian zögerte, "oder... oder... ich verwuschle deine Haare so sehr, dass du wie ein Waldschrat aussiehst!!" Romeo ließ sich auf die Seite fallen und jaulte, "Erbarmen, alles, nur das nicht!!" Dann kicherte er heftig. Julian schob sein Kissen beiseite und beugte sich über Romeos Kopf. Sie sahen sich schweigend in die Augen, dann grinste Romeo plötzlich und rollte sich auf den Bauch. "Ein Vorschlag: du knuddelst mich und verstößt das Kissen, und ich frage dich Vokabeln aus dem Gedächtnis ab?!" Julian ließ sich wieder zurücksinken und gab vor, den Vorschlag ernsthaft zu prüfen, legte dabei die Stirn in Dackelfalten und drehte seine Haarsträhne um den Finger. "Hm. Also, ich weiß nicht... dieses Kissen und ich sind schon lange zusammen. Das kommt so plötzlich..." Romeo grinste, Julian hatte wirklich Humor. "Ach, was soll's", schwungvoll wurde das Kissen des Bettes verwiesen und Julian schlug einladend die Bettdecke an seiner Seite hoch. Romeo krabbelte zu ihm, ließ sich dann zwischen Julians angewinkelte Beine sinken und lehnte sich seufzend an Julians Brust. "Hm, du bist so schön warm. Das tut gut!" "Wir wollten was arbeiten", mahnte Julian errötend. "Schon gut, Sklaventreiber", beschwichtigte Romeo, schloss die Augen und bombardierte Julian mit Vokabeln. Dem rauchten nach einer halben Stunde Oberstübchen und Zunge. "Das reicht!! Ich kann kaum noch reden, und mein Gehirn hat den Betrieb eingestellt." "Komisch, ist mir gar nicht aufgefallen", lästerte Romeo. Als Antwort umarmte Julian Romeo so heftig, dass der kaum noch Luft bekam. "Na, willst du noch mal frech werden, Kleiner?" "Pass bloß auf! Ich weiß wo du kitzelig bist!" Julian ließ sofort locker und wich gegen die Wand zurück. Romeo drehte sich zu ihm herum, musterte die seltsamen Empfindungen, die über Julians Gesicht huschten: Angst, Erwartung ... Lust? Er kniete sich zwischen Julians Beine, rammte dann beide Arme gegen die Wand, genau auf Julians Kopfhöhe. Der schluckte schwer und starrte Romeo mit offenem Mund an. Langsam drückte Romeo die Ellbogen nach außen, als mache er einen Liegestütz, kam Julians Gesicht immer näher. Dabei sah er ihm tief in die Augen, unverwandt und ohne zu blinzeln. Julian atmete merklich schneller, sein Atem streifte über Romeos Gesicht. Er hielt die Spannung nicht mehr aus und schloss die Augen. Romeo bewunderte die langen Wimpern, die diesem ohnehin markanten Gesicht das besondere Etwas gaben. »Wenn man dann noch diese blauen Augen sieht! Niemand mit Verstand würde glauben, dass dieser Junge ein Modell-Kämpfer ist! Dazu ist viel zu viel Gefühl in diesem Gesicht.« Er widerstand der Versuchung, Julians Lippen zu berühren, küsste stattdessen sanft Julians Nasenspitze. Der keuchte erleichtert und öffnete die Augen wieder, als Romeo sich zurückzog. "Jungs? Seid ihr oben?" Romeo drehte sich zur Tür. "Wir sind hier, Mama!!" Schon wurde die Tür aufgestoßen, und Maria stolperte in einem eleganten Kostüm herein. Sie ließ sich ohne Umstände auf Julians Bett fallen, schlüpfte aus den Pumps und rieb mit grimmiger Miene ihre Füße. "Hoch damit, Mama", kommandierte Romeo und begann, die kleinen Füße in den Nylons zu massieren. "Hach, tut das gut!! Ich kann einfach nicht in diesen Schuhen laufen! Wieso trägt hier niemand Sandalen?" "Weil das zu deinem Kostüm lächerlich aussehen würde!", Romeo lachte. "Vielleicht sollte ich Schuhe tragen wie diese englischen Damen in den Krimis. So geschnürte Dinger!" Julian musste bei dieser Vorstellung auch grinsen. Er betrachtete Mutter und Sohn. Sie waren sich so ähnlich: bei beiden sträubten sich die schwarzen Locken jedem Bändigungsversuch. Die dunklen, ausdrucksvollen Augen, das sanfte Lächeln, das sie einander spendeten. »Was auch passiert, ich will diese beiden nicht verlieren«, schwor sich Julian in diesem Moment. ~db~ Der nächste Tag verlief ruhig. Jeder ging seinem Alltagstrott nach. Julian allerdings konnte sich schon auf das Wochenende freuen, während Romeo noch den Samstagsunterricht hinter sich bringen musste. Am Nachmittag trainierte Julian, jedoch mit gebremsten Schaum. Er wollte sich nicht mehr an die Grenze der Belastbarkeit bringen. Dann wartete er im Park auf Romeos Rückkehr von seinem Tanz-Training. Er genoss die letzten Sonnenstrahlen, der Herbst färbte bereits die Blätter. "Na, träumst du vom Sommer?" Romeo stand neben ihm. Julian blinzelte zu ihm hoch, stand dann langsam auf. "Es wird Herbst", stellte er fest. "Ja, ich kann es riechen. Gehen wir heim?" "Sicher. Wie war das Training?" "Ganz gut, aber Nina hat ununterbrochen über ihr Kostüm geredet, ich habe schon ein Sausen im Ohr." Romeo verzog das Gesicht zu einer komischen Grimasse. "Ich kenne ein Mittel dagegen", murmelte Julian. "Wirklich? Ich bin für jede Hilfe dankbar!" "Sicher?" "Sicher, absolut!" Julian hielt Romeo an der Schulter fest, drehte mit der Hand dessen Kopf nach vorne, sodass er ihm das Profil zuwandte und beugte sich langsam über Romeos Schulter. Dann küsste er Romeo sanft auf das Ohr und pustete danach leicht hinein. Romeo zog hörbar Luft zwischen den Zähnen ein, seine Wangen waren gerötet. Julian hatte ihn geküsst!! Julian, ebenso rot, blinzelte zaghaft, "hat es geholfen?" Romeo nickte heftig, "oh ja, das Kostüm ist völlig aus meinen Gedanken verschwunden!" "Gut." Julian ging einfach weiter, Romeo folgte ihm lächelnd. ~db~ Samstagmorgens herrschte normalerweise Stille im Haus, aber Julian hatte erschrocken festgestellt, dass er gar nicht wusste, was er anziehen sollte. Sein Kleiderschrank gab nichts für das Fest her, so viel war sicher. Und Romeo war in der Schule. Was sollte er denn jetzt machen?! Hilflos stand Julian in Romeos Zimmer vor dem offenen Kleiderschrank und betrachtete die Auswahl. »Wenn ich bloß wüsste, was er anzieht!« Seufzend ließ er sich auf Romeos Bett fallen. Was sollte er bloß tun? Einkaufen war schon ätzend genug, aber alleine? Maria kam durch das Bad herein. "Ach, Julian, da bist du. Ich dachte schon, du verschmähst ein Frühstück mit mir." Sie ließ sich neben ihn fallen. "Oh, ich verstehe. Du hast nichts Passendes zum Anziehen heute Abend. Komisch, das geht mir ständig so." Sie zwinkerte Julian zu, der grinste. Er hatte sich daran gewöhnt, am Samstagmorgen mit Maria in der Küche zu frühstücken. Romeo war ja schon weg und sein Vater nur selten da. »Sie muss ganz schön einsam sein, mein Vater ist doch nie da«, dachte Julian plötzlich mitleidig. Maria schlug sich leicht auf die Schenkel. "Ich hab's! Wir frühstücken was Feines, dann gehen wir zusammen einkaufen, hm?" "Wirklich?" "Aber ja! Das wird bestimmt lustig. Und alle anderen Damen werden mich beneiden, wenn ich mit so einem hübschen Jungen am Arm durch die Stadt flaniere!" Sie stieß Julian verschwörerisch einen Ellenbogen in die Rippen, und Julian musste ihr Grinsen einfach erwidern. »Was für eine verrückte Frau! Manchmal ist sie wie ein Schulmädchen!« ~db~ Nach dem Frühstück bewaffneten sie sich mit Kreditkarten und fuhren mit der Bahn in die Stadt. Tatsächlich hakte sich Maria bei Julian unter und genoss sichtlich die neugierigen und neidvollen Blicke der Passanten. Er konnte ja auch kaum als ihr Sohn durchgehen! Maria schob Julian in ein kleines Geschäft. Die Angebote der Herren-Ausstatter hatten ihr nicht gefallen. Der Inhaber betrachtete Julian überrascht, da überfiel Maria ihn schon mit Fragen. »Sie spricht Türkisch?« Julian sah verblüfft zu, wie Maria mit ausholenden Gesten ihre Worte untermalte, und der Inhaber zustimmend nickte. "Äh, was hast du ihm erzählt?" "Ich habe gesagt, du brauchst einen Anzug für eine Feier, aber in einer blauen Farbe. Er schaut nach, er hat etwas Passendes. Wahrscheinlich muss man es nur ein bisschen ändern, hat er gesagt." "Du sprichst Türkisch." "Oh nein, nur ein paar Worte. Ich hatte einen Kurs in einer Bildungsanstalt." Julian guckte beeindruckt. Was für eine Frau! Der Inhaber erschien wieder, einen Anzug über einem Arm, einen Bügel mit einem Seidenhemd auf dem anderen. Das Seidenhemd hatte Rüschenbesatz an der Knopfleiste, schimmerte in einem warmen Blauton. "Wie Kornblume", erläuterte der Inhaber. Kundig betastete Maria den Stoff. Julian schluckte. Der Anzug war aus festem Stoff gewirkt, eine Spur dunkler als das Hemd. »So was würde hier kein Mensch tragen«, dachte er, »die Farbe ist viel zu intensiv.« "Na, Julian zieh ihn mal über, dahinten ist ein Paravent." Julian übernahm die Kleidungsstücke und verschwand hinter dem Raumteiler. Er hörte Maria mit dem Inhaber diskutieren und lachen. Rasch schlüpfte er aus seiner Jeans und dem Polohemd. Vorsichtig streifte er das Seidenhemd über. Die Rüschen erinnerten ihn unangenehm an Kleidungsstücke aus den Siebzigern. Dann stieg er in die Hose und zog die Anzugjacke über. »Oh Mann, wie ich gedacht habe.« Die Hosenbeine standen nach unten zu weit ab, die Jacke hatte viel zu breite Revers. "Maria..." "Komm raus, Schatz, lass mich mal sehen." Auf Strümpfen tapste Julian hinter dem Paravent hervor. Maria umkreiste ihn mit kritischer Miene, der Inhaber folgte ihr. Dann wurde an Julian herumgefingert, diskutiert, mit Schneiderkreide markiert und schließlich wurde Julian ohne viel Federlesens von seiner Bekleidung wieder befreit. Er huschte hinter den Paravent und zog die eigenen Sachen wieder an. "Wie geht es jetzt weiter?" "Sie ändern die Sachen jetzt. Wir gehen in der Zwischenzeit Schuhe für dich kaufen, einen passenden Gürtel und gucken mal, ob ich nicht auch etwas Schönes finde." Julian wurde untergehakt und nach draußen gezogen. Zwei Schuhgeschäfte später hatten sie ein paar Schuhe gefunden, die Maria zusagten: weiches, dunkles Leder, einfach geschnürt, mit Absatz. Julian fand das seltsam. Er war schließlich nicht gerade klein. Schuhe mit Absatz waren doch etwas für Napoleone. "Aber nein, es ist für das Tanzen besser. Die Ferse, verstehst du? Du betonst mit der Ferse den Rhythmus." Julian verstand nur Bahnhof, außerdem konnte er ja gar nicht tanzen. "Was hältst du von diesem Gürtel?" Julian seufzte. Bei dem Karnevalskostüm konnte er die Wirkung eines Gürtels nicht einschätzen. Maria beachtete seine Entschlusslosigkeit nicht und kaufte einen einfachen Gürtel mit klassischer Schnalle. "Engt nicht ein beim Tanzen, sehr wichtig." "Aha", brummte Julian mutlos. Langsam taten ihm die Füße weh und das Frühstück schien auch Ewigkeiten her zu sein. "Schauen wir mal, ob deine Sachen fertig sind." Also wieder zurück und Julian wieder in den Anzug samt Hemd. Nun sah er plötzlich ganz anders aus. Die Rüschen waren verschwunden, die breiten Revers schmal, die Hosenbeine angenehm eng. Er musterte sich in dem bodenlangen Spiegel und erkannte sich selbst nicht mehr. Maria öffnete den Hemdkragen, zupfte hier und da und lächelte dann begeistert. "Sehr schön. Wir nehmen es!" Julian schlüpfte wieder in seine Sachen, übernahm die Plastiktüten und folgte einer zufrieden lächelnden Maria. "Sag mal, ich habe jetzt Hunger. Wir lassen uns von deinem Vater zum Essen einladen, hm?" Julian schrak zusammen, "wie?" Maria schwenkte die Kreditkarte. "Was möchtest du gern essen?" Julian zögerte. Der Mann von Welt wusste natürlich für jede Situation ein passendes Restaurant, aber er... "Ich... ich weiß nicht...", murmelte er hilflos. "Ach, dann schauen wir uns mal um, hm?" wieder hakte sich Maria ein, schnappte die Tüte mit den Schuhen und zog ihn weiter. Julian zögerte, dann murmelte er, "also, ich kenne da einen guten Laden, ich meine, also, es ist mehr ein Imbiss, aber...",stotternd brach er ab. "Ja? Gut, wo ist es?" "Das ist das Problem. Er liegt bei unserer Haltestelle, und wir haben noch gar nichts für dich eingekauft..." "Ach, Schätzchen, der nächste Samstag kommt bestimmt!" Maria zwinkerte Julian zu und brach dann in warmes Gelächter aus. "Ach, wie ich Romeo beneide! Ich würde glatt mit dir zu dem Fest gehen, wenn ich heute frei wäre!" Julian errötete und Maria küsste ihn lachend auf die Wange. ~db~ Sie fuhren mit der Bahn zurück und gingen in den chinesischen Imbiss, den Julian besucht hatte, als sie aus Spanien gekommen waren. »Das ist nicht mal zwei Monate her, und schon kann ich mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen!« Die alte Dame hinter dem Tresen lächelte noch immer zahnlückig, empfahl ein Menü und lotste sie dann durch den schmalen Raum an einen Fensterplatz. Maria wirkte nicht beleidigt oder befremdet, stellte Julian erleichtert fest, im Gegenteil, die Atmosphäre in dem Imbiss schien ihr zu gefallen. Beide langten ordentlich zu, Einkaufen machte wirklich hungrig. "Nachtisch?" "Was meinst du?" "Es gibt hier Eis aus grünem Tee, das würde ich gern mal probieren." "Gut, nehmen wir das." Julian orderte und brachte das Eis mit an den Tisch. "Hm, lecker, genau richtig." Satt und erfrischt bezahlten sie, wünschten der alten Dame einen schönen Tag und zogen langsam nach Hause. Maria lehnte sich nah an Julian und summte leise vor sich hin. Julian lächelte, »wir sehen bestimmt sehr seltsam aus, wenn Vater das wüsste... Er würde vor Eifersucht platzen!!« Im Haus wurden sie bereits von Romeo erwartet. "Wo seid ihr denn gewesen? Ihr seht so glücklich und zufrieden aus?" "Ach, mein kleiner Schatz, du glaubst gar nicht, wie ekstatisch einkaufen machen kann." "Was?!!" Romeos Gesichtszüge entgleisten, und Maria und Julian schüttelten sich vor Lachen. "Oh, ihr seid gemein, alle beide!! Ich gehe!" Romeo warf einen imaginären Schal über die Schulter und stolzierte hocherhobenen Hauptes zur Terrasse. Maria lachte und schob Julian vor sich her in die Waschküche. "Pass auf, wir nehmen eine Sprühflasche mit Wasser und befeuchten die Sachen. Das reicht für das Fest heute Abend." Julian packte seine neuen Klamotten auf eine Leine und tat wie vorgeschlagen. Die Tüten deponierte er in der Küche, brachte dann Schuhe und Gürtel nach oben. Aus seinem Fenster sah er Romeo in einem Liegestuhl sitzen. Der genoss wohl die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Langsam schlenderte Julian hinunter und auf die Terrasse. Ob Romeo wirklich beleidigt war? "Wie war dein Tag, Schatz?", scherzte er. "Julian? Komm her, mir wird kalt hier." Julian ging neben Romeo in die Hocke, "warum sitzt du dann hier draußen?" Romeo sah Julian prüfend an, "ich brauchte einfach ein bisschen frische Luft." Julian sah ihn besorgt an, "geht es dir nicht gut?" Romeo lächelte versonnen, "ich glaube, ich bin nervös wegen heute Abend", murmelte er. "Ach was! Du bist phantastisch! Du kannst gar nichts falsch machen!", munterte Julian ihn auf. "Du bist ja bei mir, hm?", grinste Romeo listig. Julian zog eine Augenbraue hoch, "vergiss es gleich wieder, ich kann nicht tanzen!" Romeo sah in den Himmel und schloss die Augen. "Jeder kann tanzen, glaub' mir!" "Ich nicht", beharrte Julian stur, "ich kann nicht mal im Takt klatschen." Romeo öffnete ein Auge, "komisch, dass du dann so kämpfen kannst. Dafür braucht man auch einen bestimmten Rhythmus." Julian guckte verblüfft. Das war natürlich richtig, so hatte er das noch nie betrachtet. "Julian?" "Hm?" "Setz dich zu mir." "Wohin?" "Direkt neben mich." "Scherzkeks, da ist kein Platz." Anmutig glitt Romeo aus dem Liegestuhl, dirigierte Julian dann hinein. "Und jetzt? Siehst du, kein Platz mehr!" "Jede Menge Platz", entgegnete Romeo, rollte sich auf Julians Schoß zusammen und lehnte sich dann gegen dessen Brust. "Verdammt, was tust du? Wenn uns jemand sieht!" "Ist mir egal! Lass mich nicht fallen, okay?" Knurrend schlang Julian die Arme um Romeo, der sich eng an ihn kuschelte. "Julian, mir ist wirklich kalt. Kannst du mich nicht wärmen? So wie damals, als ich verletzt war?" Julian erstarrte. "Ich.. ich weiß nicht, ob ich das hinkriege. Man muss sich konzentrieren und..." "Und du kannst das nicht, wenn ich bei dir bin?" Julian hustete verlegen, suchte nach Worten. Romeo richtete sich auf, legte einen Finger auf Julians Lippen. "Schon gut. Es reicht schon, wenn du bei mir bist." Damit schmiegte er sich wieder an Julian an. Der strich sanft über Rücken, Arme und Hüften. Vielleicht wärmte das Romeo ja ein bisschen. Aber er war viel zu angespannt, um seine Energie zu sammeln, Romeos Nähe ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er spürte Romeos Atem über seine Brust streichen, konnte dessen Herzschläge spüren, seine Finger, die leicht auf seinem Bauch ruhten, die Vibrationen, die jeder Atemzug auslöste. Es war eine Qual, aber eine süße! »Wenn ich doch nur...« ~db~ Die Sonne war untergegangen, als Maria sie hineinrief. "Kommt, Jungs, Zeit, euch hübsch zu machen." Romeo kam hoch, Julian streckte sich, seine Glieder kribbelten. Sie gingen ins Haus, Romeo schon im zweiten Stock, während Julian seine Sachen aus der Waschküche holte. Ohne Worte verschwand jeder in seinem Zimmer. "Willst du zuerst unter die Dusche?" "Nein, geh du vor, deine Haare brauchen doch viel länger zum Trocknen." Wasser rauschte, Julian legte die neuen Sachen auf seinem Bett aus. Er kramte Geld raus für ein Taxi, dann noch für den Eintritt, Taschentuch, hm... fehlte noch was? "Du kannst!", Romeos Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen. Julian stellte sich unter die Dusche. Es roch nach Zitrone, Romeos Duschgel! Genießerisch atmete Julian den Geruch ein, griff dann nach dem eigenen Duschgel, irgendwas Arktisches. »Passt ja hervorragend«, dachte er sarkastisch, »für den Eisblock!« Vor dem Spiegel trocknete er sich ab und schielte dann nach seiner Haarsträhne. Sie wellte sich anmutig an seiner Wange, die Farbe war allerdings nur noch ein trauriger Abklatsch der alten Pracht. »Tja, ich hätte sie färben sollen, jetzt ist es zu spät.« Er schlenderte in sein Zimmer zurück, schlüpfte dann in die neuen Sachen und trat vor den Spiegel, der in seinem Kleiderschrank eingelassen war. »Gar nicht übel«, befand er. "Hilfst du mir bei den Haaren?" Romeo stand hinter ihm. Julian drehte sich langsam herum, schnappte nach Luft. Das war Romeo und doch war er das nicht! Romeo trug eine schwarze Hose mit einem hohen Bund, darüber ein Seidenhemd in der Farbe von geronnenem Blut. Die schwarzen Locken fielen offen auf seine Schultern und die Brust, das Hemd war aufgeknöpft, das silberne Kreuz ruhte auf der samtigen Haut. "Mein... mein Gott...", keuchte Julian ergriffen. Romeo lächelte ein wenig irritiert, "stimmt was nicht? Meine Hose ist doch zu, oder?" Julian nickte mechanisch mit offenem Mund, dann versuchte er sich zusammenzureißen. "Es.. es ist nur... du siehst einfach toll aus!" Romeo verbeugte sich leicht, "gracias. Aber du bist zum Anbeißen, da reiche ich nicht ran!" "Quatsch", winkte Julian heftig ab, Röte überzog seine Wangen. "Also, deine Haare?" "Ja, richtig. Ich brauche einen einfachen Zopf, also hinten mit einem Band zusammengehalten." "Gut, gib mir das Band." Julian stellte sich hinter Romeo, schloss einen Augenblick die Augen, als er den warmen Duft des Shampoos roch, atmete tief ein, und begann dann, die Locken zu einem Zopf zusammenzufassen. Eine einfache, schwarze Schleife darum, brav lockten sich die Haare darunter zwischen den Schulterblättern. "Okay", Julian zupfte ein paar Locken um Romeos Gesicht zurecht. Er bemerkte Romeos kritischen Blick, "was ist?" "Wir können so nicht gehen." "Was? Warum nicht?" "Keine Panik, ich habe schon einen Plan!" Romeo verschwand in seinem Zimmer, ließ einen ratlosen Julian zurück. "Setz dich!" "Äh, was hast du denn vor?" "Lass mich machen." Romeo kniete sich mit einem Bein neben Julian auf das Bett, flocht dann ein dünnes, dunkelblaues Band in Julians Haarsträhne. Dann zog er Julian hoch und öffnete die obersten Knöpfe von Julians Hemd, zog es leicht aus der Hose. "Also, ich weiß nicht, ist das nicht ein bisschen..." "Bisschen was? Du willst dich amüsieren, da brauchst du Bewegungsfreiheit!" Romeo tauchte wieder in seinem Zimmer ab, erschien dann mit einem dünnen Lederband. "Dreh dich mal!" Er stellte sich hinter Julian und verknotete das Band an Julians Nacken. "Was ist das?" "Für dich." "Was? Warum?" "Weil es gut aussieht. Weil du mit mir kommst." "Aber... aber...du musst mir nichts schenken!" Julian lief feuerrot an vor Verlegenheit. Er schielte nach unten, versuchte den Anhänger an dem dünnen Band zu erkennen. Romeo grinste bei diesen Bemühungen und zog Julian ins Bad vor den Spiegel. Der strich vorsichtig über den Anhänger, eine silbrige Kugel. "Sie... sie summt", murmelte er überrascht. Romeo legte das Kinn auf Julians Schulter, "toll, nicht? Das ist eine kleine Ausgabe dieser chinesischen Massagekugeln." "Ich... ich kann das nicht annehmen", hauchte Julian erschrocken. "Warum nicht? Es steht dir gut. Trag's für mich als Zeichen unserer Verbundenheit." Julian lief rot an, stammelte hilflos. Romeo grinste breit, "du bist echt süß, wenn du so verlegen bist." Genüsslich beobachtete er dann, wie die Röte auf Julians Wangen sich noch verstärkte, und rote Flecken am Hals und dem Schlüsselbein erschienen. "Okay, genug gescherzt, ich muss mich noch schminken." Julian fuhr erstaunt herum, als Romeo neben ihm in einer schmalen Tasche kramte und sich vor den Spiegel platzierte. "Du musst was?" "Schminken. Mich. Da, Kajal um die Augen, ein bisschen Puder, das verhindert Schweißperlen." Fasziniert beobachtete Julian, wie sicher Romeos Hand seine Augen mit schwarzer Farbe umrahmte. Tatsächlich betonte er seine Augen damit noch mehr. Puder wurde anschließend auf Stirn, Hals und Schläfe verteilt, ein kurzer Tupfer auf der Oberlippe bildete den Abschluss. "Hab ich ein Glück, dass ich kaum Bartwuchs habe", scherzte Romeo und zwinkerte Julian zu, "manche müssen sich zweimal am Tag rasieren, und man bemerkt trotzdem immer Schatten, da hilft auch kein Puder." Kritisch blickte er auf seine Wangen, "hm, man sieht den Fleck kaum noch." Dann drehte er sich zu Julian um. "Wenn du mich jetzt noch küsst, spar ich den Lippenstift!" "Was??!!" Julian wich durch die Tür zurück. Romeo grinste, "nur ein Scherz!" "Jungs, seid ihr fertig?" "Wir kommen gleich, Mama!" Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinab, Julian ein wenig zögerlich. Was würde sein Vater sagen? Maria hatte sich ebenfalls in Schale geworfen, die Oper wartete. "Oh, was für hübsche Jungs ich habe!! Romeo, einen Tanz will ich haben!!" "Aber gern, Mama!" Romeo verbeugte sich leicht, nahm die Hand seiner Mutter, legte die andere dann auf die schmale Taille des Abendkleids, und sie drehten los, ohne Musik, aber perfekt abgestimmt. Maria begann, fröhlich zu trällern, Romeo stimmte ein. Julian konnte nichts verstehen, vermutete aber Spanisch als Text. "Und jetzt Julian!" Heftig winkte Maria ihn heran, als sein Vater in der Halle erschien. "Du siehst wundervoll aus, meine Liebste", gab er sich galant. Dann warf er einen scharfen Blick auf Julian, der erstarrte. "Du kannst nicht tanzen." Julian fühlte eisige Kälte in sich aufsteigen. Das Lächeln seines Vaters erreichte die Augen nicht, sie blickten ihn bloß abwertend an. "Wir müssen nun los, Liebste, das Taxi wartet sicher schon." "Bis nachher dann, meine Lieben. Habt Spaß!" Maria warf ihnen Handküsse zu und hakte sich dann bei Julians Vater unter, der betont die Tür hinter ihnen schloss. ~db~ Kapitel 9 - Tanz Romeo drehte sich zu Julian um, der bleich und steif auf der Treppe stand. Er stieg zu ihm hoch und griff nach seiner Hand. "Mach dir nichts daraus, er hat keine Ahnung. Er wollte dir bloß wehtun." Julian bemühte sich, tief ein- und auszuatmen, die Anspannung zu lockern. "Komm", drängte Romeo leise, "wir müssen auch los." Sie liefen zur Bahn und bestiegen einen Zug Richtung Stadtzentrum. Es waren nur wenige Leute unterwegs, die sie überrascht musterten, aber Romeo ignorierte die Blicke und beobachtete Julian besorgt, in dem es immer noch arbeitete. Sie stiegen aus und gingen zum Vereinshaus. Musik empfing sie schon auf der Straße. Julian beglich den Eintritt, da wurde Romeo auch schon von seiner Seite gerissen und geherzt. Ein Stimmengewirr umfing sie, Romeo lachte und begrüßte zahllose Frauen allen Alters mit Wangenküssen und Scherzworten. Julian sah ihm hilflos nach. Er fühlte sich ausgeschlossen. Da drehte Romeo sich herum und griff nach seiner Hand. "Und das ist mein Bruder Julian", stolz zog er Julian hinter sich her. "Der blonde Junge hier? Julian? Komm an meine Brust, Süßer!" Julian fuhr erschrocken zurück. Rosi nahte, eine imposante Masse aus Rüschen und Stoffblumen. "Och, wie niedlich, er ist schüchtern!" Julian blickte hilfesuchend zu Romeo, der sich vor ihn stellte und Rosi mit Wangenküssen begrüßte. "Rosi, kannst du Julian bitte mit reinnehmen? Ich muss mit Nina noch proben." "Aber klar, mein Hübscher, ich werde gut auf ihn aufpassen!" Rosi zwinkerte Julian zu, hakte sich bei ihm unter und zog ihn in den großen Saal. Romeo konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken. Was für ein Paar! Und der arme Julian wusste nicht, ob er schreien oder weglaufen sollte!! Kichernd machte sich Romeo auf den Weg zu den improvisierten Umkleiden, um seine Partnerin zu suchen. ~db~ Julian wurde von Rosi an einen Tisch platziert, mit allerlei guten Dingen vom Buffet versorgt. Dabei verscheuchte sie besitzergreifend andere, neugierige Damen. Julian sah sich um. Tatsächlich waren kaum junge Leute da, die meisten schienen zu Familien zu gehören, die mit Baby und Großeltern angerückt waren. Rosi schien seine Gedanken gelesen zu haben. "Ja, nicht viele Junge hier. Die gehen lieber in die Disco, schade." Julian lächelte verlegen. "Darf ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken holen?", erinnerte er sich an seine guten Manieren. "Aber Süßer, ich bin Rosi, Duzen gehört hier zum guten Ton! Und ja, du darfst." Erleichtert erhob sich Julian und schlängelte sich zwischen Tischen und Menschen zur Bar vor. Hinter dem Tisch stand eine alte Frau, die ihn argwöhnisch musterte und dann auf Spanisch loslegte. Julian blinzelte hilflos. Er verstand kein Wort. "Lass mal gut sein, Oma, er gehört zu mir." Unbemerkt war Nina neben ihn getreten. "Hallo, Julian, du siehst ja klasse aus!" Julian errötete und lächelte Nina dann an. "Kein Vergleich mit dir. Einfach wunderschön!", bemerkte er aufrichtig. Nina wirkte wie eine typische Flamenco-Tänzerin, zumindest so stellte Julian sich eine vor. "Danke schön. Willst du was trinken?" "Ich wollte etwas für Rosi holen." "Romeo hat dich bei Rosi abgestellt? Oh Mann, die wird dich keine Minute aus den Augen lassen." Sie drehte sich im Saal um und erspähte Rosi, winkte ihr dann zu. "Siehst du? Also gut, zweimal Frucht-Bowle!" "Warte, entschuldige, da ist doch kein Alkohol drin, oder?" "Doch, warum?" "Ich darf keinen Alkohol trinken", murmelte Julian. "Oh, Sportler, hm? Okay, Oma, gib mir die Bowle, für Julian hier was von der Kinder-Bowle." Sie lächelte Julian an, der froh war, dass sie ihn nicht auslachte oder dumme Sprüche machte. Gemeinsam schlugen sie sich durch die Menge zurück zu Rosi. "Na Rosi, hast den schönsten Jungen heute abgekriegt?" Rosi bleckte die imposanten Zähne, "kannst dich auch nicht beklagen, hast ja Romeo!" Beide grinsten sich an, und Julian fühlte sich ein bisschen unbehaglich. Er kostete von der Bowle. Sie schmeckte tatsächlich nach Frucht, kein billiges Gebräu, das verwässert worden war. "Okay, es geht gleich los, ich muss weg!" Nina hauchte einen Kuss neben Julian in die Luft, "Lippenstift, sorry", sauste dann hinaus. Eine ältere Frau in festlichem Kostüm erschien in der Mitte des Saales, die zum Tanzen freigehalten wurde, und langsam verstummte das Stimmengewirr. Sie begann auf Spanisch. Julian konnte kaum folgen, vermutete aber, dass es sich um eine Begrüßung handelte. Dann machte sie auf Deutsch weiter, bedankte sich bei den Helfern, den Sponsoren und kündigte endlich die erste Gruppe an, einen Folklore-Tanz. Julian applaudierte artig. Nach einigen Gesangsdarbietungen und weiteren Tänzern folgten als letzte Nina und Romeo. Ein Mann mit einer Gitarre spielte eine Melodie, dann folgte rhythmisches Klatschen und Romeo und Nina erschienen, jeder aus einer Ecke. Obwohl Julian den Tanz schon einmal gesehen hatte, stockte ihm der Atem. In ihren Kostümen, diesem rhythmischen Klatschen und der Gitarre als melodiöser Untermalung wirkte der Tanz noch überwältigender. Julian war nicht der einzige, der die Luft anhielt und keuchte. Die erotische Spannung zwischen den beiden Tänzern zog auch viele andere Zuschauer in ihren Bann. Der letzte Schritt war längst verklungen, im ganzen Saal war es totenstill, als schließlich euphorischer Beifall ausbrach, die Leute tobten. Romeo, der zum Abschluss den Kopf gesenkt hielt, blickte lächelnd hoch, ein jungenhaftes Grinsen, nahm Nina bei der Hand, ließ sie eine kleine Pirouette drehen. Beide verbeugten sich artig. Dann stürmten viele auf den Tanzboden, um beide zu umarmen, ihnen zu gratulieren oder sie zu küssen. Julian folgte dem Treiben wie in Trance. Auch Rosi an seiner Seite war verschwunden. Um dem Chaos Herr zu werden, warf jemand die Anlage an, und die Menge teilte sich in Tänzer und Nicht-Tänzer, die zu ihren Tischen strebten. Julian bemerkte Romeo, der mit Nina einen gekonnten Salsa hinlegte. Die Luft zwischen ihnen schien zu brennen. Er fühlte einen Kloß in seinem Hals, stand schwankend auf und schlängelte sich durch die Menge nach draußen. Dort saßen im Schein vieler Lampions ebenfalls einige Gäste und unterhielten sich. Julian schob sich in den Schatten und atmete auf. Die frische Abendluft kühlte seine Stirn und die Wangen. »Ich hätte nicht mitgehen sollen«, dachte er traurig. Seine Finger verirrten sich zu dem Anhänger auf seiner Brust, der jede Bewegung leicht summend kommentierte. Er strich nachdenklich mit der Fingerspitze über die ziselierten Verzierungen. »Ich gehöre nicht hierher. Ich kann nicht tanzen, ich spreche kein Spanisch, ich kann auch keinen Smalltalk machen, ohne affig zu wirken...« Hände legten sich über seine Augen. Er spürte einen warmen Körper, der sich an seinen Rücken drängte. Warmer Atem wehte an seinen Nacken. "Rate!" "Romeo!" "Richtig!" Romeo nahm die Hände von Julians Augen und schob sich neben ihn. "Was machst du denn hier so alleine? Gefällt es dir nicht?" "Ich...ich brauchte bloß ein bisschen Abstand... äh, ich meine, frische Luft", verhaspelte sich Julian verlegen. Romeo sah ihn an. "Rosi hat schon nach dir gefragt. Sie will unbedingt mit dir tanzen. Sie hat da wohl mit Nina eine Wette laufen." "Ich tanze aber nicht!", entgegnete Julian heftig. "Nicht mal mit mir?" Julian schnaubte hilflos. "Komm mit rein, da gibt es auch Tänze ohne Körperkontakt", lockte ihn Romeo. Widerstrebend ließ sich Julian von Romeo wieder nach drinnen führen. Gerade lag ein Bossa Nova in den letzten Zügen. Eine Stimme rief etwas, da strömten fast alle auf die Tanzfläche, alt, jung, gebrechlich oder agil. Sie stellten sich in Reihen, fassten den Nachbarn an den Händen. Julian wurde von Romeo mitgezogen. Sie reihten sich ein, Julian spürte Romeos besänftigenden Händedruck. Die Schrittfolge war einfach, lediglich das Tempo wurde schneller. Es erinnerte Julian ein wenig an Sirtaki. Er spürte das Summen der Kugel auf seiner Brust, ein merkwürdig beruhigendes Geräusch. Der Tanz wurde beendet, wieder ertönte eine schwingende Melodie. Romeo wurde aufgehalten, Rosi forderte nun ihren Tanz. Nina, die grinsend hinter ihr stand, visierte Julian an, aber jemand zupfte ihn bereits am Arm. Ninas Oma stand neben ihm, sie reicht ihm gerade bis zu den Ellenbogen. Wollte sie etwa mit ihm tanzen? Da wurde er auch schon energisch an den Händen gepackt und die alte Frau zog ihn in beachtlichem Tempo über die Tanzfläche. Julian hatte den Dreh rasch raus, er lachte vor Vergnügen, wenn die alte Dame ihn herumwirbelte. Der Tanz war beendet, und Julian bedankte sich artig. Die alte Frau bleckte die Zähne und kniff ihn kräftig in den Hintern, zwinkerte ihm dabei zu. Julian lief rot an, aber Romeo zog ihn schützend an sich. "Komm, kurze Pause." Am Tisch schlüpfte Julian aus der Anzugjacke, ihm war furchtbar warm. Romeo schleppte vom Buffet Snacks an, holte dann zwei frische Becher mit Bowle. "Das ist doch die ohne Alkohol?", fragte Julian vorsichtshalber. Romeo grinste, "in deinem Becher schon." Julian zog eine Augenbraue hoch, erwiderte aber nichts. Rosi steuerte wie ein Schlachtschiff auf sie zu. "Julian, du tanzt jetzt mit mir!" Julian blickte hilflos nach Romeo, der ihm aufmunternd zulächelte und etwas auf Spanisch zu Rosi sagte. Die grinste breit, zerrte Julian hinter sich her. Der Tanz war langsam, aber Julian hatte schon Mühe, in Rosis Klammergriff Luft zu bekommen. Fest an einen riesigen Busen gedrückt kämpfte er verzweifelt gegen Platzangst an. Romeo bewegte sich mit Nina langsam an ihnen vorbei. Die hatte sich ebenfalls eng an Romeo angeschmiegt und blinzelte Julian triumphierend zu. "Tss, so ein Früchtchen!", Rosis Griff wurde noch enger. Julian wünschte, dass das Lied endlich zum Ende kam. Lange würde er diesen Machtkampf nicht mehr aushalten. Endlich konnte er sich aus dem Klammergriff befreien und entwischte sich entschuldigend zur Tür hinaus. [Herrentoilette], das Schild bot eine Zuflucht. Hastig huschte Julian in den kleinen Raum, lehnte sich an das Waschbecken. Die Tür wurde geöffnet und Romeo stand vor ihm. "Alles okay?" "Deine Freundin hätte mich fast zerquetscht. Ich gehe nicht mehr da raus! Sie liefern sich irgend so eine bescheuerte Wette!" Julian machte seiner Wut Luft. Romeo strich derweil sanft über die Kugel an Julians Halsband. "Tut mir leid, ich weiß nicht, ob ich sie beruhigen kann." Sie schwiegen beide einen Augenblick, dann fragte Romeo, "wie hat dir unser Tanz gefallen?" "Er war...atemberaubend. Überwältigend. Ich...ich habe dich kaum wiedererkannt." Romeo legte den Kopf in den Nacken, entblößte seinen Hals vor Julian. "Wirklich?" "Ja." "Man drückt seine Gefühle aus. Das sind meine Gefühle. Das bin ich." Julian verspürte einen schmerzhaften Stich in seinem Herz, Romeos Gefühle... für wen? "Ich habe dich mit Nina Salsa tanzen sehen." Romeo senkte den Kopf wieder, lächelte, "und, eifersüchtig?" "Was?!" In diesem Moment betrat ein älterer Mann den Raum, blickte beide irritiert an, nickte ihnen dann aber zu. Romeo zog Julian an der Hand mit sich aus der Toilette. "Komm, ich besänftige die beiden Damen mit Bowle, dann machen wir es uns gemütlich." Tatsächlich sprachen ihre beiden Tischdamen der Bowle ordentlich zu, Paare auf der Tanzfläche wurden weniger, man unterhielt sich eher. Romeo wurde dennoch oft um diesen oder jenen Tanz gebeten. Er folgte jeder Einladung, lachte viel. Schließlich ging es auf Mitternacht zu. Die meisten verschlug es nun auf die Straße oder das Dach, Sterne gucken oder leise reden. Julian schnappte seine Jacke, während Romeo sich wortreich verabschiedete und Küsschen verteilte. "Na, keine Lust, die Damen zu küssen?", frotzelte Romeo aufgekratzt. Julian schüttelte den Kopf, genoss die kühle Nachtluft. Er hängte sich die Jacke locker über eine Schulter, "wollen wir nach Hause laufen?" "Okay, ich bin sowieso noch wach!" Romeo tänzelte vor Julian her, summte Melodie-Fragmente. »Er ist beschwipst«, dachte Julian. Als Romeo schließlich zu wild agierte, fasste Julian mit der freien Hand nach Romeos Hand. Kaum dass sie Hand in Hand liefen, schien sich Romeo auch zu beruhigen. Er lächelte bloß warm und summte vor sich hin. ~db~ Sie erreichten das Haus. Julian kramte nach den Schlüsseln und schloss leise die Tür auf. Ob ihre Eltern schon zurück waren? "Ich wette, sie kommen heute Nacht nicht zurück", brummte Romeo finster. "Warum?", flüsterte Julian in das Halbdunkel der Halle. "Da lag ein Fax mit einer Zimmerreservierung." Julian brauchte nicht weiter zu fragen. Romeo bremste ihn plötzlich. "Halt. Bleib hier stehen, okay?" "Was hast du vor?" "Lass dich überraschen." Romeo verschwand im Wohnzimmer und ließ Julian im Halbdunkel der Halle zurück. Musik durchbrach die Stille, eine langsame Melodie. Romeo kam zurück, in der Hand einen Kerzenleuchter, die Kerzen beschienen sein Gesicht. Er stellte den Leuchter auf den Tisch in der Eingangshalle. "Du schuldest mir noch einen Tanz, erinnerst du dich?" Julian wich zurück, aber Romeo hatte schon nach seiner Hand gegriffen. "Wovor hast du Angst? Ich bin es doch." Julian blieb stehen, ließ zu, dass Romeo seine Hände ergriff und sie sich auf die schmalen Hüften legte. Dann hob er die eigenen Arme und legte sie sanft auf Julians Schultern, verschränkte sie hinter dessen Kopf. Julian hielt die Luft an, »ich kann nicht tanzen«, hämmerte es in seinem Kopf. Romeo lächelte ihn unter halb gesenkten Lidern an. Dann rückte er noch näher an Julian heran, achtete aber sorgfältig darauf, ihn nicht wirklich zu berühren. "Okay, ich führe, folge einfach meinen Schritten", hauchte er Julian ins Ohr. Es war überraschend leicht, Julian zu lenken. Der folgte Romeos Bewegungen, da seine Hände auf Romeos Hüften ruhten. Dabei hielt er den Kopf gesenkt, den Blick nach innen gekehrt. »Woran denkt er wohl?«, fragte sich Romeo müßig. Die Musik verklang, aber Julian bewegte sich weiter. Romeo flüsterte ihm zu, "der Tanz ist zu Ende. Du hast dein Versprechen erfüllt." Statt einer Antwort zog Julian Romeo fest an sich, vergrub das Gesicht an dessen Hals, beide Arme um Romeos Rücken geschlungen. Romeo legte ebenfalls die Arme um Julians Rücken, strich sanft über die Seide. Er fühlte, wie Julians linke Hand auf seinem Rückgrat tiefer wanderte, schließlich knapp über dem Hintern stoppte. Gleichzeitig schob er Romeo sanft mit der Hüfte nach hinten, tanzte so langsam mit ihm weiter. Nach einer Weile blieb er einfach stehen, Romeo immer noch fest umarmend. Langsam senkte er dann die Arme, trat einen Schritt von Romeo zurück. "Julian?" Julian hob den Kopf an, suchte Romeos Augen im Kerzenschein. "Erinnerst du dich an unseren Wettstreit? Ich habe einen Wunsch gewonnen." Romeos Stimme war heiser, er flüsterte nur noch. Julian nickte langsam. "Ich habe einen Wunsch." Romeo sah Julian an. "Küss mich." Julian zuckte zusammen, wich einen Schritt zurück. "Du... du meinst das nicht ernst, oder? Du hast getrunken." Romeo funkelte Julian an und verringerte den Abstand zwischen ihnen wieder. "Es ist mir ernst, und ich bin nüchtern genug." Julian öffnete den Mund, schluckte, seine Hände zuckten nervös. Romeo sah ihn einfach weiter an. Griff dann sanft nach Julians Händen. "Küss mich." Romeo legte den Kopf leicht zurück und schloss die Augen. Julian zitterte, beugte sich langsam vor. Sein Herz raste, in seinem Kopf herrschte gähnende Leere. Er schloss die Augen, berührte mit den Lippen sanft Romeos warmen Mund. Erschrocken fuhr er ein bisschen zurück, näherte sich dann wieder. Er öffnete leicht die Lippen, übte einen sanften Druck auf Romeos Mund aus. Elektrische Blitze wirbelten vor seinen Augen, seine Nerven standen in Flammen. "Mehr", hauchte Romeo heiser. Julian verstärkte den Griff um Romeos Hände. Wieder berührten sich ihre Lippen, aber dieses Mal streichelte Romeos Zungenspitze über Julians Lippen. Der keuchte, öffnete dann den Mund und saugte ganz vorsichtig an der vorwitzigen Zungenspitze. "Julian", flehte Romeo, stieg auf die Zehenspitzen und drehte den Kopf, um Julian einen intensiven Zungenkuss zu geben. Sie küssten sich leidenschaftlicher, auch Julian ließ alle Ängste fahren. Schließlich taumelten sie auseinander, schnappten beide nach Luft. "Ju... Julian!", Romeo warf sich in Julians Arme und schmiegte sich eng an ihn. "Wir... wir müssen damit aufhören", keuchte Julian, ließ Romeo aber nicht los. "Fang.. doch an", flüsterte Romeo an seinem Hals, und begann, Julians Hals mit der Zunge zu liebkosen. Julian stöhnte leise, "bitte, es ist nicht richtig!" "Wenn es nicht richtig ist, warum fühlt es sich dann so gut an?" Statt einer Antwort löste Julian das Band in Romeos Haaren, fächerte mit einer Hand die Locken auf und vergrub dann das Gesicht in ihnen, atmete tief den Geruch ein, der von Romeo ausging. Romeo legte eine Hand sanft auf Julians Wange, verteilte sanft Küsse auf die andere, leckte mit der Zunge über Wangenknochen und Schläfe. Julian schloss die Augen und keuchte, sein Gesicht brannte. Er zog Romeo noch enger an sich und bugsierte ihn an die Wand beim Treppenabsatz. Romeo fühlte das kalte Mauerwerk in seinem Rücken und zuckte zusammen. Julian knöpfte mit zitternden Fingern die wenigen Knöpfe von Romeos Seidenhemd auf, zerrte es aus dem hohen Hosenbund. Dann strich er heftig über die schmalen Schultern, streifte das Hemd ab. Romeo legte den Kopf in den Nacken. Er spürte Julians Finger über seine Brust gleiten, die Rippen nachzeichnen. Julians Atem wärmte für einen Augenblick seinen Hals, dann ahmte Julian seine Liebkosungen nach, fuhr mit der Zunge über den Hals, saugte sich an der Stelle über der Halsschlagader fest. Er konnte Romeos Puls an seinen Lippen spüren. Die Intensität der Empfindung berauschte ihn. Er legte beide Hände flach auf Romeos Brust, spürte nun auch noch den Herzschlag, den schnellen Atemrhythmus. Romeo stöhnte leise, presste sich seinen Händen entgegen, grub die Finger in Julians Schultern. Schließlich gab Julian Romeos Hals frei, ein dunkler Fleck blieb zurück. Julian beugte sich vorsichtig zu Romeo herunter, der ihm auf halben Weg entgegenkam, sie küssten sich hungrig. Dann bedeckte er Romeos Gesicht mit sanften Küssen, die geschlossenen Augenlider, die Wangen, das Kinn. Er schmeckte Salz und Puder, atmete tief ein, biss Romeo dann sanft in ein Ohrläppchen. Der wimmerte leise, versuchte, sich Julians Zugriff zu entziehen. Julian gab nach, fiel vor Romeo in die Knie, schob den Hosenbund herunter und küsste Romeos Bauchnabel, strich mit den Händen über die Beckenknochen, umklammerte schließlich fest Romeos Pobacken. Romeo öffnete die Augen und sah auf den blonden Schopf hinab, der ihm so süße Qual verschaffte. Er streichelte Julian durch die Haare, stützte sich auf den muskulösen Schultern ab. "Julian... mach... mach' langsam...", keuchte er, vor seinen Augen tanzten Sterne, sein ganzer Körper glühte. Halt suchend presste er die Finger in das Mauerwerk hinter sich. Julian musste es doch auch spüren? Tatsächlich schoss ein feuerroter Julian vor ihm in die Höhe, stolperte ein paar Schritte zurück und schüttelte dann den Kopf wie ein Bär, der aus einem Fluss stieg. Sie maßen sich mit Blicken, beide atemlos. Romeo lächelte keuchend, "na, ist das eine Kanone in deiner Tasche, oder freust du dich bloß, mich zu sehen?" Julian blinzelte, schlug dann die Hände vor das Gesicht, taumelte weiter von Romeo weg. Romeo stemmte sich von der Wand ab, "Vorsicht, der Tisch!", aber Julian hatte sich bereits wieder gefangen. "Es... es ist falsch!!" Julian drehte sich auf dem Absatz herum und stürzte die Treppen hoch, schlug oben die Zimmertür hinter sich zu. Romeo folgte ihm sprachlos mit den Augen, schluckte schwer und sammelte dann sein Hemd auf. Er pustete die Kerzen aus und brachte den Leuchter wieder zurück. In der Finsternis, die ihn umgab, stieg er mit schweren Schritten langsam die Treppen hoch. Vor Julians Zimmer zögerte er. Eine Gänsehaut lief ihm den Rücken hinab. Dann öffnete er seine eigene Zimmertür und schlüpfte hinein. Er durchquerte das dunkle Bad und blieb vor der Verbindungstür stehen. "Julian?", flüsterte er leise. Probeweise drückte er die Klinke hinunter, abgeschlossen. "Julian?" "Lass mich allein!!" Julians Stimme klang gepeinigt, voller Verzweiflung. Romeo seufzte, machte kehrt, zog sich aus und kroch in sein Bett. ~db~ Romeo wurde vom Geräusch des Regens gegen sein Fenster geweckt. Obwohl es bereits Vormittag war, war der Himmel dunkel, Böen wirbelten braune Blätter durch die Luft. Stöhnend setzte er sich auf, betrachtete den Kleiderhaufen vor seinem Bett. Er hatte einen pelzigen Geschmack in seinem Mund, als hätte er eine Tennissocke gekaut. Mühsam rappelte er sich hoch, torkelte ins Bad. Er klatschte sich im Halbdunkel Wasser ins Gesicht, tastete dann nach dem Lichtschalter. "Guten Morgen, Waschbär!", begrüßte er sein eigenes Gesicht. Der Kajal war verlaufen. Er fuhr mit den Fingern durch die Haare. Das fühlte sich noch schlimmer an, als es aussah. Dann drehte er den Kopf und sah den dunklen Fleck auf seinem Hals. Langsam blickte er zur Verbindungstür. »Ob ich es nochmal versuche?« Zum ersten Mal war er unsicher. Wie würde Julian es deuten, wenn er zerzaust und nur in Unterhosen in sein Zimmer schlich? »Er wird sich wahrscheinlich zu Tode erschrecken«, gab er sich selbstironisch die Antwort auf seine Frage. Er stieg entschlossen unter die Dusche. Das warme Wasser löste alle Verspannungen und er summte leise vor sich hin. Der Waschbären-Look war rasch beseitigt, die Haare zu entwirren, würde allerdings dauern. In seinem Zimmer kramte er eine Stoffhose heraus, dazu ein einfaches Hemd mit Schnüren. Dann knurrte sein Magen und erinnerte Romeo daran, dass das Frühstück ausgefallen war. Leichtfüßig hopste Romeo die Stufen herab und betrat die Küche. Jetzt einen Kaffee und vielleicht einen Toast! Er stieß die Tür zur Küche auf und erstarrte in der Bewegung. Julian, im Trainingsanzug, fuhr herum, wurde bleich und ließ die Tasse fallen, die er gerade in der Hand hatte. Heißer Kaffee verteilte sich auf dem Boden, Porzellanscherben schwammen in der dunklen Pfütze. "Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken...", Romeo eilte herbei. Julian ging in die Knie und sammelte hastig die Scherben auf. Romeo schnappte ein Tuch, wischte den Kaffee auf. Er versuchte, Julian ins Gesicht zu sehen, aber der wich ihm hartnäckig aus. "Ich muss los", murmelte Julian und ließ Romeo stehen. "He, warte doch! Wohin gehst du denn?", aber Julian war schon aus dem Haus geflüchtet. Romeo schlug eine Faust gegen die Wand, »jetzt rennt er schon wieder weg!!« ~db~ Julian rannte zum Sportplatz, verschnaufte dort und begann dann mit den alten Übungen. Wenn er sich genug anstrengte, würden diese Bilder aus seinem Kopf verschwinden. Und er würde so lange weitermachen, bis sein Kopf frei war, keine Gedanken mehr, nichts mehr! ~db~ Romeo frühstückte kurz, betrachtete den Dauerregen vor dem Fenster und hoffte, dass Julian bald wiederkäme. Er hörte Musik, kämmte sich dabei die Haare und band sie in einen Zopf. Am Nachmittag kam seine Mutter mit Julians Vater zurück, aber mehr als eine kurze Begrüßung war nicht drin, Julians Vater beanspruchte Maria für sich allein. Romeo fühlte sich überflüssig und verschwand wieder in seinem Zimmer. Wo blieb Julian bloß so lange? Der hatte nichts gegessen, verdammt!! Der Arzt hatte ihm doch gesagt, er sollte langsam machen! Romeo kramte eine Regenjacke hervor, stieg in Turnschuhe und verließ das Haus. Er wanderte zum Sportplatz bei Julians Schule. Der Platz war verlassen, Regenpfützen standen im Schulhof. Romeo öffnete vorsichtig die Tür zur alten Sporthalle, schob die Kapuze vom Kopf und blieb zögernd stehen. Julian wirbelte in der Mitte der Halle herum, Schweiß durchweichte sein Trikot. Sein Gesicht war eine Maske aus Konzentration, seine Bewegungen voller Kraft und Anmut. Unermüdlich kämpfte er gegen unsichtbare Gegner. »Als ob er gegen die eigenen Dämonen antritt«, dachte Romeo. Er schwankte zwischen Faszination und Beklemmung. Das war der andere Julian, der mitleidlose Kämpfer, das von seinem Vater geschaffene Kampfmonster! Zögernd bewegte sich Romeo auf Julian zu. "Julian, willst du nicht mit nach Hause kommen? Es ist schon spät." Julian fuhr herum, knurrte Romeo wie ein Tier an und kniff die Augen zusammen. Romeo blieb wie angewurzelt stehen. Julian bewegte sich auf ihn zu, bedrohlich, das Gesicht unbewegt. "Julian?", in Romeos Stimme schwang Unsicherheit mit. Dann wurde er herumgerissen, flog durch die Luft und landete schmerzhaft auf dem Rücken. Julian war sofort über ihm, presste einen Ellenbogen auf Romeos Kehle, musterte dessen angstvolles Gesicht ungerührt. "Julian!!", Romeo rang nach Luft, sein Rücken schmerzte höllisch. Je mehr er nach Luft schnappte, umso stärker schien Julian auf seinen Kehlkopf zu drücken. Vor seinen Augen flimmerten schwarze Punkte, während eine schrille Stimme in seinem Kopf schrie, »er bringt mich um! Er bringt mich um!!« Dann war der Druck plötzlich weg. Gierig saugte Romeo Luft ein. Seine Lungen brannten und Tränen traten ihm in die Augen. Er wälzte sich auf die Seite, sah sich in der Halle um. Er war allein. Julian war fort. ~db~ Nachdem das Zittern aufgehört hatte, war Romeo wieder auf die Beine gekommen und hatte die Halle verlassen. Der Regen vermischte sich mit den Tränen in seinen Augen. Ob Julian in der Umkleide war? Warum hatte er das getan? Romeo unterdrückte ein Schluchzen, sein Hals brannte. Die Umkleide war verschlossen, Julian war also wirklich weggegangen und hatte ihn verlassen. Langsam ging Romeo zurück. Sein Herz schmerzte noch schlimmer als die anderen Wunden, die Julian ihm zugefügt hatte. Er betrat leise das Haus. In der Küche hörte er Julians Vater sprechen. Da seine Mutter im Wohnzimmer sang, blieb Romeo stehen, um herauszufinden, mit wem Julians Vater wohl sprach. Er lehnte sich vorsichtig an die Tür und lauschte. "Jetzt hör mal gut zu! Was der andere Bengel treibt, ist mir egal, das ist Marias Sache, aber du bist mein Sohn, klar?! Und du wirst dich wie ein Mann benehmen, haben wir uns verstanden?! Wenn ich dich noch einmal in so einem Aufzug sehe, dann fliegst du raus! Du siehst aus wie ein verdammter Schwuler!! Und halt dich von Marias Jungen fern, der Weichling verdirbt dich bloß!! Du wirst jetzt jeden Tag trainieren, das hält dich aus Schwierigkeiten heraus!! Ich will keine Widerrede hören!! Und jetzt hau ab!!" Romeo zog sich rasch in die Halle zurück. Julian stapfte an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Seine blauen Augen waren erloschen, er bewegte sich so steif wie ein Roboter. Romeo folgte ihm langsam, unbeachtet. In seinem Kopf wirbelte das eben Gehörte durcheinander. Er wollte mit jemandem sprechen, aber seiner Mutter konnte er sich kaum anvertrauen. Julians Vater war wirklich ein doppelgesichtiger Scheißkerl!!! Und Julian? Der hatte auch zwei Gesichter, Dr. Jekyll und Mr. Hyde sozusagen. Romeo fühlte sich in diesem Moment furchtbar einsam. ~db~ Julian starrte in den Spiegel im Bad. Er hatte kurz geduscht, frische Klamotten angezogen. Er blickte in sein Gesicht und hasste es. »Ich hasse dich!!«, brüllte er seinem Spiegelbild entgegen, doch kein Ton entwich seinen Lippen. Dieses glatte, ansehnliche Gesicht wirkte so harmlos, dabei schlummerte ein Dämon hinter der Fassade. »Genau wie bei meinem Vater!! Wie der Vater, so der Sohn, richtige Monster! Ich bin so wie er, keinen Deut besser! Ich bin schlecht und bösartig! Und wer mir in die Quere kommt, den mache ich einfach fertig!« Julian dachte an Romeos angstverzerrtes Gesicht, als er ihn vor ein paar Minuten erst fast erstickt hätte. »Es wäre leichter, wenn ich kein Herz mehr hätte«, dachte er kalt. »Dann wäre das nicht passiert!« Andere Eindrücke wirbelten vor seinen Augen, Romeos Lächeln, der träumerische Ausdruck, wenn er ihn küsste... ~db~ »Hör auf!!« Julians Faust krachte gegen die Kacheln. Hinter ihm stand Romeo im Türrahmen. Er war bleich und zerzaust. Auf seinem Hals war eine dunkle Druckstelle, direkt über dem Kussmal, das Julian in der letzten Nacht hinterlassen hatte. Er starrte Julian mit aufgerissenen Augen an. Die Hände zuckten nervös an der Hosennaht entlang. "Julian?" Julian wandte den Kopf wieder seinem Spiegelbild zu. "Was?", zischte er abweisend. "Kann... kann ich mit dir reden? Nur reden?" "Ich hab dir nichts zu sagen." "Bitte, ich muss einfach mit jemandem sprechen", Romeo flehte nun. "Warum gehst du nicht zu deiner Mutter?" "Das... das geht nicht. Es geht um deinen Vater." Julian zog die Augenbrauen zusammen, "ich will nichts hören." Romeo trat einen Schritt auf ihn zu. "Bitte, Julian, wir sind doch Brüder..." "Nein, das sind wir nicht und werden wir nie sein! Und dafür solltest du dankbar sein!!!" "Bitte, Julian, hör auf!" Romeo wollte nicht weinen, aber die Tränen bahnten sich bereits ihren Weg. "Was willst du, verdammt?!! Willst du mein Bruder sein? So ein Monster sein wie ich??!! Jemand, der lächelnd einem Menschen, der ihm vertraut, die Luft abdreht??!! Willst du so sein??!!" Romeo streckte eine Hand nach Julian aus, "ich weiß, dass du nicht so sein willst." "Ha, gar nichts weißt du!! Soll ich dir was verraten? Es hat mir gefallen!! Es hat mir gefallen, dich zu quälen und dir Angst einzujagen!! Es wäre so einfach gewesen..." Romeo keuchte entsetzt, "das meinst du nicht ernst!!" "Willst du es herausfinden?!!" Romeo suchte seinen Blick im Spiegel, "ich weiß, was du für mich fühlst. Du kannst deine wahren Gefühle nicht verleugnen." "Sei still!! Halt die Klappe!! Das ist alles nur ein Fehler gewesen, ein Ausrutscher!! Es wird nie wieder vorkommen, nie mehr!!" "Dann willst du so werden wie dein Vater? Gierig, lieblos, egozentrisch?" "Ich bin wie er!!! Ich bin er!!" Julian holte aus und rammte seine Faust mit aller Kraft in den Spiegel. Romeo riss die Hände vors Gesicht, als Scherben durch die Luft sausten und der Spiegelrahmen auf das Waschbecken klirrte. "Julian!!" Julian sah ungerührt auf seine rechte Faust, die heftig blutete. Er hatte eine Schnittwunde auf der Stirn und der Wange, mehrere Splitter hatten sein T-Shirt aufgerissen. Vom Flur her hörte man Maria rufen, "Jungs, ist alles in Ordnung?" Romeo versuchte beruhigend zu klingen, "ja, Mama, ich hab nur was fallen lassen." Julian drehte Romeo den Kopf zu und lächelte eisig, "siehst du, du lügst schon für mich." "Ach, Unsinn. Komm, ich verbinde dich." Julian wich zurück, seine Augen blitzen hasserfüllt, "fass mich nicht an!" "Verdammt, Julian, das muss verbunden werden." "Ach was, das ist bloß ein Kratzer." Romeo starrte auf das Blut, das auf die Fliesen tropfte und fühlte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Er schluckte heftig. "Julian, bitte, um Himmels Willen, hab ein Herz und lass mich die Wunde verbinden." "Herz? Ich hab kein Herz. Siehst du?" Julian riss sich das T-Shirt über den Kopf, schnappte einen großen Splitter und ritzte ein Kreuz auf seine linke Brusthälfte. Sofort rann Blut die Wunde herunter. Romeo stürzte sich auf ihn, versuchte ihm die Scherbe zu entwinden, aber Julian schleuderte ihn einfach von sich. "Hau ab in dein Zimmer." Romeo kroch in sein Zimmer zurück. Hinter ihm wurde die Tür geschlossen. Er schleppte sich zu seinem Bett, riss die Decke herunter und rollte sich auf dem Fußboden zusammen. Er presste eine Hand auf seinen Mund, um sein Schluchzen zu unterdrücken. Heiße Tränen rannen über sein Gesicht, sein Körper bebte. ~db~ Julian sammelte die Scherben ein, stellte den zerstörten Rahmen säuberlich neben den Mülleimer. Mit dem T-Shirt wischte er sich das Blut ab, dann auch das Blut vom Boden. Er holte Jod aus dem Schrank. Sein Vater hatte etwas gegen die neumodischen Desinfektionsmittel gehabt: einem richtigen Mann machten solche Kratzer nichts aus. Sorgfältig bestrich er die Wunden, verließ das Bad und schloss ruhig die Tür hinter sich. Dann legte er sich auf sein Bett. Seine Hand strich langsam über Romeos Anhänger. »Wie lange noch?«, dachte er. »Wie lange, bis ich durchdrehe?« ~db~ Kapitel 10 - Mit dem Rücken zur Wand Die nächsten zwei Wochen gingen sie sich weiträumig aus dem Weg. Julian war fast nie zu Hause. Er verbrachte jeden Tag, auch die Wochenenden, auf dem Sportplatz. Dafür war sein Vater nun öfter zu Hause. Er strafte Romeo mit Nichtachtung, umso liebenswürdiger begegnete er aber Maria. Wieder einmal stand ein ungemütliches Abendessen zu dritt an. Romeo stocherte in seinem Salat. Er hatte seit einiger Zeit keinen rechten Appetit mehr. "Na, Junge, wie sehen eigentlich deine Zukunftspläne aus?" Die falsche Freundlichkeit in der Stimme von Julians Vater reizte Romeo. "Ich habe noch keine konkreten Pläne. Ich wollte eigentlich studieren." "Aber mein lieber Junge, man muss doch eine Vorstellung von seinem Leben haben." "Ach, Heinz, lass ihn doch, er ist noch so jung. Wir nehmen's, wie's kommt, nicht, Schätzchen?" "Richtig, Mama." Julians Vater sah aus, als habe er eine Kröte verschluckt, verfolgte das Thema aber nicht weiter. Romeo hörte die Haustür zugehen. Julian war zurück. "Julian, komm gegen Neun in mein Zimmer, ich habe mit dir zu reden." Julians Vater hob die Stimme nur leicht. Die Schritte in der Halle verstummten. "Ja, Vater", Julians Stimme klang völlig ausdruckslos. ~db~ Romeo lag im Dunkeln und hörte leise Musik. Er sollte eigentlich schon schlafen, aber er war immer noch wach. Eine unbestimmte Nervosität ließ ihm keine Ruhe. Da öffnete sich langsam seine Zimmertür. Julian trat ein und lehnte sich an das Türblatt. Romeo setzte sich auf, seine Kehle war plötzlich trocken. "Julian?", flüsterte er in die Finsternis. Julian löste sich von der Tür und setzte sich auf Romeos Bett. Dann hob er eine Hand. Romeo zuckte leicht zurück, als fürchte er einen Schlag und Julian hielt inne. Als Romeo aber nicht weiter zurückwich, streckte er wieder die Hand aus, legte sie sanft auf Romeos Wange. "Julian?" "Pscht, nicht reden." Das war der Julian, den Romeo kannte. Seine Stimme war sanft und warm, so wie die Hand auf seinem Gesicht. Romeo schmiegte sich gegen die Handfläche und schloss die Augen. Eine Hand fuhr sanft durch seine Locken. Dann umschmeichelte ihn Julians Atem wie eine warme Brise, bevor er einen leichten Kuss auf seinen Lippen spürte. Romeo rutschte näher an Julian heran, schlang die Arme um ihn. Julian hob Romeo an den Hüften hoch und zog ihn auf seinen Schoß. Dann begann er, Romeo mit Küssen zu bedecken, streifte Romeos T-Shirt über seinen Kopf. Romeo entzog sich Julians Liebkosungen, stemmte sich hoch und verpasste Julian einen hungrigen Zungenkuss. Er spürte Julians Hände auf seinem Hintern und umklammerte Julian noch fester. "Hör nicht auf", bettelte er. Julian streifte das eigene Hemd über den Kopf, strich dann sanft mit dem Finger über Romeos Gesicht. Er fuhr in der Dunkelheit alle Linien nach, als wolle er Romeos Gesicht auswendig lernen. Der schnappte nach Luft, schmiegte sich an Julians Brust, leckte über die frische Narbe über dem Herzen. Er wollte Julian etwas fragen, aber der verschloss seinen Mund mit einem intensiven Kuss. Dann ließ er sich auf dem Bett zurücksinken und zog Romeo mit sich. Nun erkundeten sie wechselseitig den Körper des anderen, vorsichtig, sanft, geduldig. Romeo war überrascht, wie sanft Julian war, wie liebevoll und völlig ohne Angst. »Wie weit werden wir gehen?«, fragte sich Romeo und spürte einen nervösen Knoten in seinem Bauch. Julian schien seine Befangenheit zu spüren, küsste ihn zärtlich und tauchte dann unter der Decke ab. Romeo stieß einen überraschten Laut aus, Julian nahm tatsächlich... Er fühlte sich wie in einem Fiebertaumel. Die Dunkelheit drehte sich vor seinen Augen, er bestand nur aus den anderen Sinnen, seine Nerven spielten verrückt. Immer wieder jagten Schauer seinen Rücken herunter. Julian schien seinen Körper besser zu kennen als er selbst. Aber er würde es ihm nachtun!! ~db~ Sie lagen schwer atmend nebeneinander. Romeo griff nach Julians Hand, hielt sie fest. Das war kein Traum, das war wirklich Julian neben ihm! Der stützte sich auf einen Ellenbogen und lehnte sich über Romeo. Romeo fühlte einen prüfenden Blick auf sich ruhen trotz der Dunkelheit. "Romeo?" "Ja?" "Vertraust du mir?" "Ja." "Ich möchte mit dir schlafen, jetzt, hier." Romeo atmete tief durch. "Ich... ich habe das noch nie gemacht...", flüsterte er nervös zurück. "Ich auch nicht. Aber es kann nicht so schwierig sein, oder?" Hörte Romeo da tatsächlich ein leichtes Lachen in Julians Stimme? "Ich werde sanft sein, ich verspreche es." Romeo zögerte. Eigentlich ging ihm das alles ein bisschen zu schnell. Julian erstickte seine Zweifel mit einem leidenschaftlichen Kuss. Dann liebkoste er Romeo wie zuvor, sanft, geduldig, ohne Hast. Der spürte die Spannung, die sich in ihm aufbaute, das Verlangen. »Es wird eine Erlösung sein!«, schoss es Romeo durch den Kopf. Er ließ sich fallen, vertraute sich vollkommen Julian an. Der trieb ihn nun fast in den Wahnsinn, bremste sich immer im letzten Moment ab. "Julian", schluchzte Romeo schließlich. Er würde alles tun, wenn Julian nur endlich... Julian küsste Romeo sanft, drang dann vorsichtig in ihn ein. Romeo stöhnte entsetzt auf, der Schmerz war höllisch!! Er schluchzte heftig und klammerte sich an Julian, spürte dessen ruhigen Atem über sich hinweggleiten. »Wie kann er so ruhig sein??« Wimmernd wand er sich unter Julian, der tiefer in ihn eindrang, sich dann leicht bewegte, einem langsamen Rhythmus folgte. Romeo spürte ein brennendes Feuer in seinem Unterleib, das sich rasend schnell in seinem ganzen Körper ausbreitete. »Was ist das bloß? Er verbrennt mich!!« ~db~ Julian atmete tief und langsam, bewegte sich fast in Zeitlupe. Ein Lächeln war auf seinem Gesicht, die Augen geschlossen. Seine Sonne war da, der Energieball, den er all die Wochen vermisst hatte. Er wusste, dass es gefährlich war, beim Sex diese Energie einzusetzen, aber er wollte Romeo spüren, ganz mit ihm verbunden sein, verschmelzen... ~db~ Romeo passte sich Julians Rhythmus an. Das Glühen in seinem Körper trieb ihn zur Ekstase. Er spürte keine Schmerzen mehr, langsam verlor er den Kontakt zu seinem Körper, hatte das Gefühl, als würde er schweben, nur von Wärme umhüllt. Er bemerkte nicht, dass er einen Orgasmus hatte. ~db~ Julian kam mit einem leisen Seufzen. Er glühte, seine Nervenenden vibrierten vor Energie. »Eigentlich müsste ich jetzt im Dunkeln leuchten«, dachte er träumerisch. Er sah zu Romeo hinunter, der regungslos unter ihm lag: der Kopf war auf die Seite gesunken, er atmete flach. Langsam und vorsichtig löste sich Julian von Romeo. »Hoffentlich hat es nicht zu sehr wehgetan!« Er streichelte langsam Romeos Gesicht, schob ein paar verschwitzte Locken zurück. Dann küsste er Romeo sanft auf die Lippen, »er ist ohnmächtig geworden!« Er kuschelte sich neben Romeo auf die verschwitzten Laken und zog Romeo auf sich. Leise summte die Kugel auf seiner Brust. ~db~ Romeo erwachte, als sein Wecker beharrlich summte. Suchend tastete er neben sich, aber das Bett war leer. "Julian?" Romeo erhob sich, strich sich Haare aus dem Gesicht. Himmel, sein Unterleib schmerzte immer noch leicht! Er betrachtete das völlig zerwühlte Bett, fand Blutflecken darauf. »Scheiße, wenn Mama das sieht!« Er zerrte das Laken herunter, torkelte ins Bad und feuchtete die Flecken mit Wasser an. Einen kurzen Blick in Julians Zimmer werfend, -aufgeräumt und steril wie immer-, huschte er unter die Dusche, zog sich rasch an und das Bett hastig ab. Er brachte das Bettzeug in die Waschküche und ging dann zu seiner Mutter. "Morgen, Schätzchen! Meine Güte, bist du strubbelig!!" "Morgen, Mama. Ist Julian schon weg?" "Hm. Der ist schon ganz früh los. Sicher hat er noch was für die Schule zu tun. Ist alles in Ordnung mit dir, Schatz? Du strahlst ja so?" Romeo lächelte, "wirklich? Das ist mir gar nicht bewusst." Er umarmte seine Mutter, dann frühstückten sie gemeinsam. ~db~ Der Tag zog sich scheinbar endlos in die Länge. Romeo erwartete ungeduldig das Unterrichtsende. Er wollte Julian wiedersehen. Als endlich die Glocke ertönte, raffte er hastig seine Sachen zusammen und stürzte zum Fahrradständer. "Ähm, Romeo?" Romeo fuhr herum, da stand ein Junge. "Roy?" "Äh, ja. Hallo. Also, ich hab hier was, das soll ich dir geben. Von Julian." Romeo ließ seine Schultasche auf den Boden rutschen. Wie in Trance griff er nach dem Stoffbündel, das Roy ihm zögernd hinhielt. Mit zitternden Fingern löste er den Knoten, entfaltete den Stoff. Darin lagen eine kleine Kugel, die summte und eine lange, blonde Haarsträhne mit einer Spur Blau. "Was... was hat das zu bedeuten? Wo ist Julian?!!" Romeo packte Roy heftig bei der Jacke. "Keine Ahnung!! Lass mich los, ich weiß es nicht. Ich mach mir auch Sorgen!!" Romeo ließ los, und Roy zupfte seine Jacke zurecht. "Er ist gleich nach der Schule verschwunden, hat einfach Sport geschwänzt!!" Versonnen fügte er dann hinzu, "er war so still heute, irgendwie komisch." "Wo könnte er sein??!! Du musst mir helfen, wir müssen ihn finden!!" Roy starrte in Romeos fleckiges Gesicht. "Was geht da vor? Er wird doch nicht irgendwas Dummes vorhaben? Oder?!!" Romeo kämpfte gegen das Schluchzen, das in seiner Kehle saß. Roy musterte ihn, auch er wurde langsam bleich. "So was würde er nicht tun. Nein. Das kann er nicht!" Seine Stimme klang jetzt schrill. Sie waren beide nicht überzeugt. "Ich nehme den Sportplatz bei der Schule." "Ich suche bei der Autobahnbrücke, wo wir früher gespielt haben." "Treffen wir uns in einer halben Stunde im Park." "Okay!" Sie trennten sich hastig, beklommen vor Angst und Sorge. ~db~ Eine halbe Stunde später trafen sie sich im Park. "Keine Spur. Niemand hat ihn gesehen." "Bei mir auch, Fehlanzeige!" "Wo könnte er denn sein?" "Ich weiß nicht. Wieso ist er überhaupt abgehauen? Was soll dieses Zeug in dem Tuch?" Romeo senkte den Kopf, "die Kugel habe ich ihm geschenkt." Roy musterte ihn fragend, "aber ihr habt euch doch nicht gestritten, oder?" Romeo schüttelte den Kopf. Tränen tropften auf seine Hände, mit denen er die Kugel fest umklammerte. "He! Gib nicht so leicht auf, wir finden ihn schon!" Tröstend legte Roy eine Hand auf Romeos Schulter. "Komm, setzen wir uns erst mal. Lass mal nachdenken, was könnte ihn denn sonst noch aufgeregt haben?" Romeo dachte nach, seufzte dann leise, "sein Vater wollte ihn gestern noch sprechen." "Weißt du, um was es ging?" Romeo schüttelte den Kopf, "nein, keine Ahnung. Aber danach war er so anders." "Anders?" Romeo errötete. DAS konnte er Roy unmöglich sagen. "Sag schon, war er sauer? Oder ... irgendwie kalt?" Romeo sah Roy an, "du meinst, so wie wenn er kurz davor ist, sich in ein Monster zu verwandeln?" Roy zuckte unbehaglich mit den Achseln, "na ja, manchmal ist er ein bisschen... unheimlich." "Nein, er war ganz ruhig. Überhaupt nicht wütend oder ... unheimlich." Roy seufzte, "wir müssen wohl rauskriegen, was sein Vater ihm gesagt hat. Und das bedeutet, wir müssen ihm sagen, dass Julian weg ist." Romeo stand auf. Es wurde bereits dunkel, "wenn wir die Polizei alarmieren?" Roy bewegte sich unbehaglich neben ihm, "sie werden uns kaum glauben. Wir haben nichts außer einem unguten Gefühl und einem merkwürdigen Präsent." "Aber wir müssen etwas tun!! Ich rede mit meiner Mutter!!" Romeo ließ Roy einfach stehen, schwang sich auf sein Fahrrad und raste nach Hause. ~db~ "Mama!! Mama!!" "Romeo? Was ist denn los, Liebling? Du siehst zum Fürchten aus!!" "Mama, Julian ist weg!! Hilf mir, bitte!!" Schluchzend warf sich Romeo in die Arme seiner Mutter. Die erschrak und streichelte Romeo über die wirren Locken, schob ihn dann von sich weg. "Was heißt, er ist weg? Erzähl mir alles!" Romeo weinte jetzt lauthals, "er ist nicht im Unterricht gewesen am Nachmittag. Er hat mir mein Geschenk an ihn zurückgegeben! Und seine Strähne abgeschnitten!!" "Das wurde auch Zeit!" Julians Vater tauchte aus der Küche auf. "Was soll das Spektakel hier? Er wird schon wiederkommen." Romeo ignorierte ihn völlig, "Mama, Mama, hilf mir!! Wir müssen ihn finden!!" "Jetzt hör schon auf!! Reiß dich zusammen, Bengel!" "Heinz!!" Maria legte schützend den Arm um Romeo. "Er ist verstört und hat Angst. Romeo, hast du schon nach Julian gesucht?" "Überall, Mama, Roy hat mir geholfen." "Noch so ein Versager." Maria drehte Julians Vater den Rücken zu. "Wo können wir noch suchen? Weißt du, warum Julian weggelaufen ist?" "Er ist daran Schuld!!" Schluchzend deutete Romeo auf Julians Vater. "Gestern, nach dem Gespräch mit ihm war Julian so anders!" "Romeo, keine Schuldzuweisungen bitte. Heinz, hast du etwas gesagt, was Julian missverstanden haben könnte?" Julians Vater musterte Romeo kalt, "ich wüsste nicht, was er missverstanden haben könnte. Ich rede immer Klartext." "Sag mir bitte, worüber du mit ihm gesprochen hast." "Ich habe ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass er nach den Herbstferien in ein Internat kommen wird. Eine Akademie für die zukünftige Elite in der Wirtschaft." Romeo keuchte entsetzt, "das ist in zwei Wochen." Julians Vater lächelte kalt, "exakt. Er kann sich glücklich schätzen. Das wird mich eine große Stange Geld kosten." Romeo riss sich von seiner Mutter los, "aber er will hier nicht weg!" "Du bist ja hysterisch. Reiß dich endlich zusammen!" "Warum hasst du ihn so?? Er ist dein Sohn!!" "Ich erlaube nicht, dass du in solch einem Ton mit mir sprichst! Wenn du mein Sohn wärst..." "Ja?! Was dann?! Würdest du mich auch schlagen? Mich in ein Internat abschieben?!!" Romeo wurde von der Ohrfeige förmlich gegen die Wand geschleudert. Er schmeckte Blut, Sterne tanzten vor seinen Augen. "Romeo!! Schätzchen?! Halt dich an mir fest!! Liebling, hörst du mich??!" Schmale, aber kräftige Arme verhinderten, dass er auf den Boden sackte. Er klammerte sich an seine Mutter, ihr vertrauter Geruch half ihm, wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren. "Romeo? Liebling? Komm, wir nehmen das Auto und suchen Julian, ja, Schatz?" Romeo nickte, seine Wange war taub. »Jetzt weiß ich, was Julian ausgehalten hat. Und dass er Recht hatte.« "Maria, bleib hier. Er macht sich doch bloß wichtig!" "Heinz! Wenn du noch einmal meinen Jungen anrührst, lernst du mich kennen! Niemand, NIEMAND schlägt meinen Sohn!!" Maria schnappte ihre Handtasche, griff nach den Autoschlüsseln und zog Romeo hinter sich her. ~db~ Sie waren fast zwei Stunden lang durch die Stadt gekreist, hatten nirgendwo eine Spur von Julian entdecken können. Schließlich hielt Maria vor einem Polizeirevier. Sie zog einen völlig verstörten Romeo hinter sich her. "Wir möchten eine Vermisstenanzeige aufgeben. Mein Junge ist verschwunden, möglicherweise will er sich umbringen." "Und das ist sicher?" "Sicher ist gar nichts. Er ist nicht einfach abgehauen, das steht fest. Er hat sich von meinem Sohn verabschiedet und ihm seine Geschenke zurückgegeben." "Moment mal, welcher Junge ist welcher jetzt?" "Das ist so: das hier ist mein Sohn Romeo. Ich habe vor kurzem geheiratet. Der Junge, den wir suchen, ist Julian, der Sohn meines Mannes." Der Polizei-Beamte sah argwöhnisch in Romeos Gesicht. "Und was ist mit Ihrem Sohn passiert?" "Mein Mann hat ihn geschlagen. Bitte, Sie müssen Julian finden." "Wieso ist Ihr Mann nicht hier? Sie sind mit dem Jungen überhaupt nicht verwandt." "Das weiß ich. Aber er kümmert sich nicht darum. Er glaubt nicht, dass Julian sich was antun könnte!" "Wieso glauben Sie das dann? Kennen Sie den Jungen nicht erst seit Kurzem?" "Warum wollen Sie mir nicht helfen??!! Da draußen ist irgendwo ein verzweifeltes Kind, das von seinem Vater in ein Internat abgeschoben werden soll, es ist dunkel, kalt und nass!! Helfen Sie uns!!" "Beruhigen Sie sich bitte, in diesem Ton können wir nicht weiterarbeiten." "Ich bin ganz ruhig, sehen Sie? Helfen Sie uns jetzt?" "Füllen Sie dieses Formular aus, ich gebe die Daten dann zur Fahndung aus. Haben Sie wirklich überall nachgesehen? Auch zu Hause?" "Aber ja, überall, in der Schule, im Park, überall, wo er sein könnte." "Na ja, die meisten bringen sich halt in einer vertrauten Umgebung um." Romeo stürzte auf den Flur. Er schaffte es gerade noch bis zur Besuchertoilette, dann übergab er sich heftig. Ein älterer Beamter zog ihn von den kalten Fliesen hoch. "Na, Kerlchen, n bisschen unbequem da unten. Komm mal wieder mit raus, Mutti wartet draußen." Romeo wurde unter den Achseln gepackt und auf einer Holzbank im Flur abgesetzt. Seine Mutter dankte dem Beamten, zog Romeo in eine Umarmung und wiegte ihn sanft. "Es wird alles gut, Schätzchen. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben!" Romeo umklammerte seine Mutter und schluchzte hilflos. Warum tat Julian ihm so etwas an? »Warum lässt du mich allein??« ~db~ Julian hockte auf einem alten Kahn im ehemaligen Container-Hafen. Der Kahn war zum Rosten auf die Mole gehievt worden, nur noch eine Erinnerung an andere Zeiten. Es regnete, der Wind blies eisig, aber Julian spürte die Kälte längst nicht mehr. In seinen klammen Fingern hielt er die Pillendose. Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Himmel. »Schade, keine Sterne!« Er hätte die Sterne zu gern noch einmal gesehen. »Vielleicht im Morgengrauen.« War es nicht so, dass in der Stunde zwischen dem Ende der Nacht und dem Morgengrauen, der Blauen Stunde, die Welt am wahrscheinlichsten untergehen sollte? Wenn für einen Augenblick keine Hoffnung auf einen neuen Sonnenaufgang bestand? Julian kicherte heiser. Es würde ein guter Moment zum Sterben sein. »Mama, ich bin auch nicht mehr stark genug...« ~db~ Romeo und Maria verbrachten die Nacht auf dem Polizeirevier, obwohl ihnen mehrfach versprochen wurde, sie auch zu Hause direkt bei Neuigkeiten anzurufen. Romeo war inzwischen zu betäubt, um noch auf irgendetwas zu reagieren. Ein stumpfer Kummer erfüllte ihn. Er konnte keinen Gedanken mehr fassen. Als ob sein Kopf in Watte gehüllt war. Seine Mutter ließ ihn in der Obhut eines älteren Beamten, kaufte Brötchen und Gebäck. Die Beamten waren sichtlich überrascht, schenkten ihnen Kaffee aus und bedankten sich verlegen. Romeo brachte keinen Bissen herunter. ~db~ Gegen acht Uhr in der Frühe meldete sich eine Streife. Sie hatten einen Jungen, auf den Julians Beschreibung zutraf, im Außenhafen gefunden. Stark unterkühlt und nicht mehr bei Bewusstsein. Sie hatten einen Notarzt gerufen, der den Jungen sofort ins Krankenhaus schaffen ließ. ~db~ Maria packte Romeo und raste mit ihm zum Krankenhaus. Julian lag auf der Intensivstation. "Sind Sie der Stationsleiter hier? Das ist mein Junge. Wie geht es ihm?" "Tja, sein Zustand ist nicht gut. Er hat eine schwere Lungenentzündung, dazu kommt noch eine Tablettenvergiftung. Und er spricht nicht gut auf die Antibiotika an." "Aber er kommt doch durch, oder? Oder??!!" "Wir werden alles versuchen. Die nächsten Stunden sind entscheidend." Romeo sah Julian durch die Scheibe in einem Bett liegen. Schläuche und Kabel waren an ihm befestigt, verschiedene Maschinen piepten und zeichneten Werte auf. "Kann ich zu ihm?" "Nein, tut mir leid." "Aber wir dürfen hier bleiben, oder?" "Sicher, aber bitte seien Sie leise, die Patienten brauchen alle Ruhe." Romeo lehnte sich gegen die Glasscheibe und weinte lautlos. Seine Mutter umarmte ihn von hinten und weinte in seine Locken. Julians Zustand verbesserte sich langsam im Laufe des Tages. "Das ist gut, er hat sich noch nicht aufgegeben. Ein gutes Zeichen! Aber Sie sollten sich auch eine Pause gönnen. Ruhen Sie sich beide aus, wir bleiben in Kontakt." "Gut. Vielen Dank. Romeo, du gehst nach Hause, ich übernehme die erste Wache." "Aber Mama..." "Keine Widerrede. Du löst mich morgen Früh ab. Nimm dir ein Taxi, schlaf erst mal ein bisschen." Romeo trottete zum Empfang, bestellte ein Taxi und ließ sich nach Hause bringen. Im Haus war es still. Julians Vater war offensichtlich nicht da. Romeo wankte in Julians Zimmer, stellte den Wecker und sackte auf Julians Bett zusammen. Noch bevor er das Bett berührte, schlief er erschöpft ein. Der Wecker riss Romeo aus Albträumen. Er brauchte einige Minuten, um sich zurechtzufinden. Dann schoss er aus dem Bett, hetzte unter die Dusche. Zehn Minuten später rief er ein Taxi und ließ sich zum Krankenhaus bringen. In der Intensivstation saß seine Mutter. Sie war blass, von Sorgen und durchwachten Nächten gezeichnet. Er küsste sie sanft und drückte ihr ein frisches Brötchen in die Hand. "Ich hole dir noch einen Kaffee aus dem Automaten, Mama." "Danke, mein Schätzchen." Romeo kehrte rasch zurück und setzte sich neben sie. "Wie geht es ihm?" "Der Arzt sagt, die Werte werden besser. Sie haben ihm den Magen ausgepumpt, scheußlich! Aber die Lungenentzündung ist noch gefährlich, er hat hohes Fieber. Er muss immer noch künstlich beatmet werden, um seinen Körper zu entlasten." "Aber...aber er wird doch wieder gesund?" "Ich glaube fest daran, Schätzchen!" Nach einer Viertelstunde verabschiedete sich Maria. Sie brauchte nun wirklich Schlaf. Romeo blieb sitzen, sah Julian an und wartete und betete. Zwei Stunden später erschien eine Truppe, klemmte Julian von verschiedenen Maschinen ab und bettete ihn um. "Was ist los? Wohin bringen sie ihn?" Romeo hielt eine Schwester auf. "Na, auf die Innere. Er ist jetzt stark genug. Die Intensiv wird für den nächsten Notfall freigemacht." Romeo hastete zu den Aufzügen. Die Innere Medizin! Er folgte dem kleinen Trupp hastig. Julian landete in einem größeren Zimmer, das Nachbarbett war frei. Romeo hielt den Oberarzt an, "was passiert jetzt?" "Oh, wir warten, dass er aufwacht. Das Fieber sinkt ja, er hat es geschafft." Romeo fühlte, wie der große Brocken, der ihm seit etlichen Stunden auf der Seele lag, in Stücke zersprang. Er betrat leise das Zimmer, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Julian. Er nahm Julians Hand: sie war warm. »Wie blass er ist! Und diese Schatten unter seinen Augen!« Julian hatte noch immer die Atemmaske im Gesicht, ansonsten war nur noch eine Infusionslösung mit ihm verbunden. Romeo streichelte Julians Hand sanft und hauchte Küsse auf den Handrücken. "Bitte Julian, komm zu mir zurück. Lass mich nicht allein." Romeo kämpfte gegen bleierne Müdigkeit an. Offensichtlich hatten die paar Stunden Schlaf der vergangenen Nacht nicht ausgereicht. Er strich sanft über Julians blonde Haare, küsste dann Julians Handfläche. »Wie lang seine Wimpern sind«, dachte er aufs Neue fasziniert. Da flatterten Julians Lider plötzlich. Langsam öffnete er die Augen: verschleiertes Blau. "Julian! Julian, ich bin's, Romeo." Romeo beugte sich über Julian, Erleichterung und Glück durchströmten ihn, vertrieben Erschöpfung und Angst. Julian blinzelte, dann klärte sich sein Blick. Romeo spürte, dass Julian ihn erkannte. "Es ist alles okay, wir sind in einem Krankenhaus." Romeo hatte Tränen in seinen Augen. Auch das noch! "Verdammt, Julian, du hast mir eine Todesangst eingejagt! Warum..." Schluchzend brach er ab, presste eine Hand vor den Mund. Jetzt einen Nervenzusammenbruch zu bekommen, wäre das Letzte! Außerdem konnte Julian ihm gar nicht antworten, er war ja gerade erst wieder aufgewacht. Romeos Tränen tropften auf die Bettdecke. Er begnügte sich damit, Julians Hand mit beiden Händen zu halten. Der folgte ihm aufmerksam mit den Augen, blinzelte und schloss sie dann wieder erschöpft. "Schlaf noch ein bisschen, ich bleibe bei dir, okay?" Julian schlief die nächsten 24 Stunden ohne Pause durch. Romeo ließ sich widerstrebend von seiner Mutter ablösen. Er erkannte aber selbst, dass er kurz vor einem Zusammenbruch stand. Julians Vater hatte sich auf Geschäftsreise abgemeldet, aber das kümmerte sie kaum. Romeo fragte sich im Stillen, wie es wohl mit seiner Mutter und Julians Vater weitergehen würde. Er saß wieder neben Julian und hielt seine Hand, als der aus seinem langen Schlaf erwachte. Die blauen Augenringe waren verblasst, die Wangen hatten wieder Farbe und auch die Atemmaske konnte entfernt werden. Romeo lächelte Julian an. Endlich war der wach und ansprechbar! Julian lächelte ein wenig zögerlich zurück. "Na, wie fühlst du dich?" Julian krächzte heiser, "bisschen kaputt." Romeo füllte Wasser in ein Glas und half Julian beim Trinken. "Weißt du, ich hatte furchtbare Angst um dich. Ich dachte...ich dachte, ich verliere dich... nach allem, was wir durchgestanden haben..." Romeo brach ab. Noch immer schmerzte die Erinnerung zu stark. Julian sah ihn hilflos an, drückte vorsichtig Romeos Hände. "Es... es tut mir leid." "Warum, Julian? Warum hast du nicht mit mir geredet? Vertraust du mir denn nicht?" Julian drehte den Kopf weg und schloss die Augen. "Ich war einfach müde. Einfach nur fertig. Ich wollte nicht mehr kämpfen. Ich wollte nicht mehr Schmerzen zufügen." Julian schluchzte trocken auf. "Ich dachte, ich schaffe es, so zu sein wie er, kalt, gefühllos. Die anderen sollten mir bloß als Mittel zum Zweck dienen. Ich wollte alles Gefühl in mir ersticken... Ich hab sogar versucht, dich zu ersticken... Aber ich konnte dir nichts tun, ich konnte es nicht zu Ende bringen. Also wollte ich mich selbst fertigmachen, bis an die Grenze gehen. Aber dann...als er sagte, ich müsse weg... ich war einfach müde. Ich war zu müde, mich zu wehren. Zu müde, noch eine Auseinandersetzung durchzustehen. Was hatte das auch für einen Sinn? Ich glaube, ich verstehe jetzt, wie meine Mutter sich gefühlt hat. Egal, was ich auch tue, es wird nie genug sein. Er wird mich nie als gleichwertig anerkennen." Julian seufzte leise, "ich hasse diesen Mistkerl und trotzdem will ich, dass er mich akzeptiert. Krank,was? Na ja, ich wollte einfach Schluss machen, ich hatte ja noch ein paar Tabletten von meiner Mutter." Julian drehte das Gesicht wieder zu Romeo. "Aber ich konnte nicht gehen, ohne...ohne dass du meine Gefühle für dich kennst. Ich wollte einmal im Leben etwas richtig machen, nur einmal jemanden haben, der mich gern hat, ohne etwas als Gegenleistung zu erwarten." Romeo weinte leise. Es fiel ihm schwer, Julian reden zu lassen, aber er wusste, dass Julian alles aussprechen musste, was ihn bewegte. Nur dann könnten sie einen Neuanfang wagen. "Ich dachte mir, vielleicht erinnert er sich an diese Nacht. Vergisst all die Male, wo ich gemein war, wo ich ihm wehgetan habe, ihm Angst eingejagt... ich wollte dir ein Abschiedsgeschenk machen." Julian schwieg einen Augenblick, starrte an die Zimmerdecke. "Soll ich dir was sagen? Ich dachte, es wäre einfach zu sterben. Aber das ist es nicht! Überhaupt nicht! Ich habe gefroren, mir sind die Tabletten aus den Fingern gerutscht, ich hatte furchtbare Angst und ich war ganz allein. Dann ist mir noch schlecht geworden! Ich dachte schon, ich müsste alles wieder rauskotzen... Was für ein Scheiß! Das tu ich bestimmt nie wieder!" Romeo räusperte sich, "versprichst du es?" Julian sah ihn an und nickte feierlich, "ich verspreche es." Romeo strich zögernd mit einer Hand über Julians Brust. "Ich würde gerne... ich möchte dich in den Arm nehmen." "Komm her", hauchte Julian, richtete sich auf und zog Romeo auf das Bett in seine Arme. Er vergrub das Gesicht in Romeos Haaren und hielt sich an ihm fest. "Wo... wo ist eigentlich mein Vater?", fragte er leise in die Lockenpracht hinein. Romeo wurde steif, drückte Julian fest an sich. "Auf Geschäftsreise. Es war ihm egal, was mit dir los war. Er ist einfach abgehauen! Ich hasse ihn!!" Julian strich beruhigend über Romeos Rücken. "Ich schätze, da habe ich die älteren Rechte." "Er hat mich geschlagen." Julian schob Romeo von sich, "daher stammt also der Bluterguss. Warum?" "Weil ich ihn nicht ertragen konnte!! Er will dich einfach rausschmeißen und es ist ihm egal, wie du dich fühlst! Dass du dich vielleicht umbringen könntest!!" Romeo schrie seinen Zorn und seine Verzweiflung heraus. Julian legte behutsam einen Finger auf Romeos Lippen. "Pscht! Nicht so laut, sonst fliegen wir hier auch noch raus!" Sie stutzten beide, dann brach die Spannung in einem Kichern. Romeo umarmte Julian wieder, "ich hab dich so vermisst!!" Julian schmiegte sich an Romeos Wange, "ich hab dich auch vermisst." "Romeo?" "Hm?" "Darf ich ... dich küssen?" Romeo lächelte leicht, "denkst du, dass du das noch schaffst? Du sollst dich nicht überanstrengen, hat der Arzt gesagt!" Julian zog eine beleidigte Miene, verschränkte die Arme vor der Brust. "Also hör mal, ich bin nicht invalide oder so!! Aber wenn du nicht willst..." "He, he! Das hab ich nicht gesagt! Warum schnappst du..." Julian unterbrach Romeo einfach, indem er ihn auf den Mund küsste, nachdrücklich und lange. "Ich hab's nicht vergessen, merkst du's?" "Na, für den Anfang nicht schlecht." "Was soll das denn heißen?" "Warte, Julian, wir sind hier nicht zu Hause, wenn jemand reinkommt..." "Feigling." "Du wolltest doch hier nicht rausfliegen!" "Jetzt schon. Wenn ich da an dein Bett zu Hause denke..." Lachend umklammerte Romeo Julian, der vorgab, das Bett verlassen zu wollen. Schließlich gab Julian nach und ließ sich wieder zurück auf die Kissen sinken. Romeo machte es sich vorsichtig neben ihm bequem. "Romeo?" "Hm?" "Hat es eigentlich sehr wehgetan?" Romeo schwieg einen Augenblick, "am Anfang ja. Dann hab ich es nicht mehr wirklich gespürt. Es war einfach... pff, ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll..." "Du warst ohnmächtig. Ich hab's übertrieben. Das tut mir leid." Romeo kuschelte sich an Julian. "Du brauchst dich nicht für etwas zu entschuldigen, das mir gefallen hat." "Denkst du,...dass wir schwul sind?" Romeo lachte laut auf. "Nein, das glaub ich nicht. Wir sind bloß furchtbar verliebt. Ich kann ja nichts dafür, dass du ein Kerl bist." Julian starrte an die Decke. "Ist das wahr? Dass du mich liebst?" Romeo strich ihm sanft über die Wange, "was hast du denn gedacht?" Julian lief rot an, "ich dachte nur, vielleicht...dass du Mitleid mit mir hast." "Mitleid? Ich glaube kaum, dass ich mit jemandem schlafe, weil er mir leid tut." "Na ja, ich hab dich ja genötigt..." "Julian, wenn ich nicht gewollt hätte, denkst du nicht, ich hätte mich gewehrt?" "Aber ich hätte dich ja auch ... überrumpeln können..." "Du weißt, dass du mir nichts antun kannst. Und du bist nicht der Typ, der Hilflose vergewaltigt." "Ich habe die Kerle im Park zusammengeschlagen. Ich habe dich in der Halle gewürgt..." "Aber du hast aufgehört. Und es hat dir nicht gefallen, mir wehzutun." Julian schloss die Augen, biss die Zähne aufeinander. "Nein, es hat mir wirklich nicht gefallen. Ich hab hinter der Turnhalle gekotzt wie ein Reiher." "Wirklich?" "Ja. Bin schon ein toller Typ, was?" Romeo rollte sich auf Julian und küsste ihn auf die Nasenspitze. "Lass uns nach Hause gehen, hm? Du wirst jetzt schnell gesund, und wir machen uns einen schönen Herbst. Keinen Streit mehr. Keine Flucht mehr. Keine Angst mehr." Julian sah Romeo in die Augen, "was ist mit meinem Vater?" Romeo zuckte die Achseln, "wir sind zu dritt. Wir kochen ihn weich. Und wenn das nicht hilft, suchen wir uns ein neues Zuhause. Du gehörst jetzt zu meiner Familie. Wir halten zusammen!" Julian küsste Romeo sanft auf den Mund, "ich liebe dich." Romeo lächelte, "ich weiß." ~db~ ENDE ~db~ Vielen Dank fürs Lesen! kimera ~db~ PRODUKTIONSNOTIZEN ~db~ Das erste mehrteilige Original, das ich veröffentlichte, nachdem yaoiger so unvorsichtig war, mich in ihrer Mitte aufzunehmen ^_~ Ich hörte unablässig die Krupps und besonders der Song "Taboo" inspirierte mich zu Schandtaten, die hier ihr Ergebnis fanden. Wie man durchaus bemerkte, habe ich ebenfalls ein Faible für den australischen Film "Strictly Ballroom", auch wenn Romeo sein ganz eigener Charakter ist ^_^ Julian hat Einiges mitbekommen, das mir nicht unbekannt ist, und gemeinsam ließ ich die beiden auf die Leserschaft los ^_~ Die Reaktionen waren überwältigend und haben mich bestärkt, über diverse Kritik hinwegzusehen *g*, es entsteht sogar ein Doujinshi zu meiner Erzählung, wer hätte das gedacht?! ^_^ Die beiden sind so beliebt, dass immer wieder der Ruf nach Fortsetzung kam, doch es wird diese definitiv nicht geben, sorry ^-^° Auch halte ich es für zulässig, Romeos scheinbar brisante Vergangenheit nicht weiter zu vertiefen, denn weder er, noch seine Mutter wussten über die näheren Umstände Bescheid, und das ist realistisch. Was Julians Vater betrifft... er ist kein schlechter Mensch, sonst hätte sich Maria nicht in ihn verliebt, allerdings muss er noch sehr an sich arbeiten. Ach ja...husthust... meine erste tatsächliche Lemon-Szene in einem Original... *g* irgendwie habe ich dafür kein Talent, kann es aber auch nicht lassen. Und schließlich hatten die beiden ja auch eine Belohnung verdient, no da? ^_~