Titel: Butterbrottütenpost Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Romantik Ereignis: Adventskalender 2014 Erstellt: 20.11.2014 Disclaimer: alles Meins! Hinweis: Abweichungen von realen Gegebenheiten sind der Handlung geschuldet. A, 01.12. "Adventskalender" [Ist eigentlich was, um die Blagen ruhigzustellen, klare Sache, aber so als ne Art Ü-Ei, bloß korrekt, ohne Schoko und Plastikmüll, mit Überraschung, bisschen, zumindest. Die Kekse hab ich selbst gebacken, voll vegan, kannst sie also essen, oder als Briefbeschwerer oder Türstopper verwenden. Die Tüte ist von meiner Mutter geklaut, ich kauf nix bei dem Ausbeuterbetrieb, keine Angst! Eigentlich wären Glückskekse abgefahren gewesen, aber da hätte ich den Schrieb nicht reinfrickeln können. Papier ist gefaltet nämlich mächtig, aber schätze, das weißt Du schon. Okay, mehr demnächst.] Die Papptüte eines Billigmodeimperiums namens Pxxxxx war offenbar mit Straßenmalkreide verschönert worden: Kugeln, Tannenbäume, Strohsterne und Schneemänner, angesichts der nasskalten Herbststimmung recht optimistisch. Aedh Rouwan faltete die bunte Mitteilung, handgeschrieben in Druckbuchstaben, von einem dieser bunten Notizwürfel abgerissen, langsam zusammen. Der runde Keks, der Größe nach zu urteilen, mit einem Wasserglas ausgestochen, schmeckte überraschend gut, nicht zu weich, zu süß oder zu trocken. Um jedes der Butterbrottütchen war mit einer Paketkordel ein Schleifchen geknotet, an dem das Datum und ein Buchstabe auf einem kleinen Pappschnipsel befestigt worden war. Die Papptüte selbst hatte er am Morgen auf dem Fußabstreifer vor ihrem winzigen Reihenhaus aus den 30ern gefunden. Er musste über den Adressaten keine Zweifel hegen: Sayeed. B, 02.12. "Biege" [Stammthema, fällt mir spontan ein, zumindest, was die Typen betrifft. Keine Ahnung, ob Du das auch kennst, ich bin jedenfalls nich so einer. Klare Kante, klare Ansage, das schon, aber heimlich Kurve kratzen, no way! Also, ich mach nich die Biege. Stell Dich mal besser darauf ein.] Es las sich beinahe wie eine Drohung und wirkte ein wenig naiv, oder, positiver formuliert, optimistisch und ohne einschlägige Erfahrung. Andererseits zählte Sayeed nicht zu denen, die jemals die kuschelige Heimeligkeit einer intakten Familie genossen hatten, ganz im Gegenteil, doch auf Gerüchte wollte Aedh Rouwan lieber nichts geben, davon hatte er die Schnauze gestrichen voll! Wenn es ums "Ausbiegen" ging, konnte er auch Erfahrungen vorzeigen, keine schönen. Manchmal schien es jedoch die beste von zahlreichen miesen Alternativen zu sein, wie sein Dadaidh, der nach zwei fürchterlichen Jahren kontinuierlicher Streitigkeiten und verbalen Kleinkriegs einfach bei einem Frachter angeheuert hatte, weg war. Da konnte seine Mutter auch in Ruhe ihr altes Leben in der Nähe von Glasgow auflösen, sämtliche Wurzeln ausreißen, die sie dort geschlagen hatten. Aedh Rouwan kaute bedächtig den beiliegenden Keks, glättete die einfache Butterbrottüte. In gewisser Weise hatte er danach auch die Biege gemacht, nicht allein, selbstredend, aber abgehauen war er schon. Wenigstens aber, das konnte er jetzt stolz feststellen, hatte er sich in eine neue Richtung begeben. C, 03.12. "Couscous" [Gut, gibt sicher bessere Worte mit C, aber gerade ist das mein Top-Hit. Kann ich im großen Sack um die Ecke einkaufen, schmeckt kalt und warm, als Salat oder Eintopf oder in der Pfanne, kostet auch nicht viel. Kannte ich vorher gar nicht, hab immer Nudeln genommen. Kannst mir bestimmt noch Einiges beibringen. Mist, jetzt hab ich Kohldampf!] Aedh Rouwan konnte ein Grinsen nicht ganz unterdrücken. Sayeed wirkte eigentlich immer so, als hätte er ständig Hunger, schlaksig bis auf die breiten Schultern, fast 1,90m groß, mit langen Armen und Beinen, großen Händen und Füßen, das Gesicht kantig-eckig, beinahe hager, schlicht der Typ, durch den Döner, Burger und das andere Handfutter einfach durchfielen, nichts permanent auf die Rippen brachten. Aedh Rouwan seufzte leise. Bei ihm war das eine Weile GANZ anders gewesen. Selbst wenn man aus nachvollziehbaren Gründen nichts auf den blöden BMI gab, der Zusammenhänge fingierte, die gar nicht vorlagen, konnte man bei 1,60m und fast 90kg davon ausgehen, dass etwas aus dem Ruder lief. Ausgenommen, man war Leistungsturner auf Spitzenniveau, natürlich. Ursächlich waren Stress, Angst, Verkriechen und konstantes Vertilgen unzähliger Chipstüteninhalte. Salz und Essig, schmeckten wie Kummer und Trostpflaster zugleich, legten sich aber als Fettpolster wie Schwimmringe um alles. Vom asthmatischen Kleinkind, das von Dadaidh und Mama umhätschelt wurde, vorzeitig geboren, winzig klein in großen Händen, zu einem 14-jährigen Pummelkloß, der die Nähte seiner Schuluniform strapazierte und nun aus ganz anderen Gründen kurzatmig war. »Wenn sie mich jetzt sehen könnten!« Dachte Aedh Rouwan an seine früheren Klassenkameraden, die ihn immer mal wieder gehänselt hatten. Er hätte auch Kontra geben können, andere Jungs waren auch nicht gerade leichtfüßig unterwegs, doch seine Masse als Waffe einsetzen, das hatte er nie vermocht. Überhaupt, Anerkennung bei seinen Mitschülern, das interessierte ihn gar nicht, weil die Streitereien, die Angst vor der Zukunft und seine Hilflosigkeit ihn viel zu sehr in Beschlag genommen hatten. In seiner kleinen, einsamen Welt war dafür schlichtweg kein Platz mehr. D, 04.12. "Drecks-Marokk" [Bekomm ich immer mal wieder zu hören. Komische Sache, das, echt wahr! Klar, die Familie von meinem Erzeuger kam da mal her, aber der Typ ist Franzose! Das Einzige, was er mir hinterlassen hat, ist seine Optik. Also ist es echt komisch, wenn mich da Figuren anquatschen, Arabisch oder sonst wie, oder so Koran-Fuzzis! Ich versteh kein Wort, hab keinen Plan, UND will ich auch nicht! Schätze, ich bin für die auch zu kompliziert, so ne APARTE Kombination kennen die gar nich. Kommt dann gut, wenn man im gepflegten Hochdeutsch antwortet, dass sie einem mal peripher am Dessous vorbeigehen können. Also, ich seh zwar verdächtig nach nem Marokk aus, bin aber keiner, und wie man Seife benutzt, ist mir auch bekannt. Capice?] Es sprach schon für die Lächerlichkeit der Situation, dass Aedh Rouwan erst dechiffrieren musste, worum sich der Begriff dieses Adventskalendertages drehte. Mit dem Alltagsdeutsch und der so genannten Jugendsprache kam er hin und wieder nicht zurecht, aber das nahm ja nicht Wunder, wenn man in Schottland aufgewachsen war! Seine Mutter hatte mit ihm zwar konsequent Deutsch gesprochen, aber im Alltag gab es Englisch, Schottisch und das Schottisch-Gälisch, das sein Dadaidh benutzte, wenn er etwas über den Durst getrunken hatte. Nun, eher 'drunk as a skunk' war. Tatsächlich wirkte Sayeed eher wie ein Ami, Basketballstar oder dieser Afro-'Samourai', den Aedh Rouwan nur von Aufklebern kannte: lange, dünne Beine, schlabberiges Shirt unter einer abgeschabten Bomberjacke und seine Krause zu einem beeindruckenden Afro frisiert. Da reichte es beinahe zu den 2m von Sohle bis zur Haarkorona! Dass irgendwelche Leute etwas hinter Sayeed herriefen, schien Aedh Rouwan erstaunlich, denn bei diesem imponierenden Erscheinungsbild musste man schon sehr selbstgewiss sein, um das Risiko einzugehen, sich ein paar (verdiente) Maulschellen einzufangen. Also, Sayeed ging zwar in eine der beiden Französisch-Bilingualklassen, aber seine Muttersprache war das wohl nicht, oder? E, 05.12. "Essen" [Könnte ich ständig. Hab mir vorher auch nie richtig Gedanken darum gemacht. Kochen konnte ich gar nicht, hab's von Zuhause auch nicht gelernt. Meine Mutter kann's auch nicht, ist ja auch uncool, mittags zu Mutti was Warmes essen gehen. Haben wir nach der Grundschule auch nicht mehr gemacht, wär bei mir auch keiner daheim gewesen, da fand ich Dein Referat echt aufklärend. Immer sagen, dass es einem egal ist, dass andere es ja auch machen, dass es Wichtigeres gibt, typisches Mode-Thema und so, das ist zu billig. Also, ich habe beschlossen, ich zieh das jetzt auch durch, wie du, na ja, später zumindest, wenn ich wieder raus bin.] Essen war zu Hause, als es noch ein "Zuhause" gab, immer ein Thema gewesen, weil Dadaidh gern kochte, wenn er da war. Als er dann immer länger wegblieb, von Job zu Job tingelte, hatte Aedh Rouwan neben der Schulspeisung den gefährlichen Trost der Chipstüte entdeckt. Süßigkeiten waren rar, aber Chips zählten quasi zu den Grundnahrungsmitteln. Ohne Kondition, unsportlich und übergewichtig waren sie bei den Großeltern eingetrudelt, Ruhrpott-Kleinstadt. Nicht nur die Sprachbarrieren hatten ihm zugesetzt, nein, hier war der Spott seiner neuen Mitlernenden noch härter zu ertragen als "daheim". Es dauerte, bis alles geklärt war, Umzug, Unterschlüpfen bei den Großeltern, kein Job, bloß ein paar Koffer und Kisten, hausen wie Flüchtlinge nach der Trennung. Keine Chipstüten mehr, kein Taschengeld, stattdessen Mittagessen in der Schule, Hartz IV-Kondition, durchgeschleppt von den Großeltern. Papierkrieg, wenig Ansprüche und ständig Stress, da hatte er schon ein wenig an Gewicht verloren, musste außerdem zur Schule laufen, das half auch, die Ohren auf Durchzug stellen, die blöden Sprüche ignorieren. Er war der Einzige ohne Handy, ohne Fahrrad, ohne auffällige Kopfhörer, ohne Computer, zu arm, um ausgenommen zu werden, aber wenigstens noch für ein paar Schubsereien nützlich. Die Zukunft erschien ihm so entsetzlich trostlos wie die gesamte Kleinstadt. Außerdem gab es hier auch Krach, vier Leute in einer kleinen Wohnung, die Großeltern, die seinen Dadaidh nie gemocht hatten, kein Geld, unterschwellige Vorwürfe. Aedh Rouwan war überglücklich gewesen, diesem Horror für die Dauer der Sommerferien zu entfliehen. Sein Dadaidh hatte ihm Urlaub versprochen, weit weg, auf einer Insel an der Küste, nur sie beide. Tatsächlich kam genug Geld zusammen, dass Aedh Rouwan mit Billigflieger und Überlandbussen anreisen konnte. In der Sommersaison gab es Jobs in den Küchen, weil der Tourismus Geld einbrachte, die Besucherzahlen vervielfachte. Das bedeutete für Aedh Rouwan aber auch, dass er den Großteil eines Tages allein auf sich gestellt war, bei einem Freund seines Dadaidh wohnte, nun ja, auf einer Matratze im Schlafsack nächtigte und eben half, Zäune reparieren, nach den Schafen sehen, Seetang einholen, eine Sorte, die man als Gemüse oder Eintopfeinlage nutzen konnte, die wichtigen Trockenmauern ausbesserte. Viel Arbeit, lange Wege bei sehr wechselhaftem Wetter, kaum Gesellschaft, dafür nur ein Buch, das ein anderer Logiergast wohl vergessen hatte: 'Eating animals'. Zum Ende der Sommerferien hatte er sich verändert, entschieden, dass es genug war. Aedh Rouwan wollte einen kleinen Beitrag dazu leisten, selbstbestimmt zu leben, sich nicht mehr elend zu verkriechen und darauf zu hoffen, dass ihn ein Wunder aus der Misere befreien würde. F, 06.12. "Fuckbuddies" [Also, falls Deine Mutter das sieht, pardon! Deutsche Umschreibung war mir aber zu affig, passt auch nicht zum Datum, Nikolaustag, aber das hier ist ja auch kein religiöses Kalenderprojekt. Gut, also, Fuckbuddies. Sind wir nicht, tue ich auch nicht, meine Erfahrungen damit sind scheiße. Was ich mit Dir zusammen tun will, ist genau das, was wir schon getan haben. Ich will damit auch nicht aufhören. Du hast bestimmt ne Menge fieser Sachen zu hören bekommen, aber was wahr ist, das erzähle ich Dir. Entscheiden musst Du, logisch, aber Werbung für mich machen werde ich schon, weil's total bescheuert wäre aufzugeben.] Eigentlich hatte Aedh Rouwan gar nichts über Sayeed gehört, weil zwischen den Bilingualklassen ein Konkurrenzkampf herrschte. Die Englisch/Amerikanisch-Klassen sahen auf die "ollen Franzacken" herab, während die die "Ami-Proleten" verachteten, da sie sich kulturell überlegen wähnten. Als Neuling in der Klasse, vom Kulturschock Ruhrpott schon ausreichend gebrandmarkt und nach einem Urlaub in seiner verlorenen Sprachheimat kämpfte Aedh Rouwan mit so vielen Problemen gleichzeitig, dass er für diese lächerliche Rivalität schlichtweg keinen Freiraum hatte. Sie waren in einen anderen Ballungsraum gezogen, keine vornehme Gegend für das winzige Mietreihenhäuschen, aber hier gab es endlich eine Arbeitsstelle für seine Mutter und keine ständigen Querelen mehr. Zum ersten Mal in seinem Leben fand er auch gleich Freunde, zumindest Interessierte, hauptsächlich Mädchen. Mit seinen 16 Jahren war er älter als die anderen, musste quasi ein Jahr wiederholen, doch das schien ihm hier nicht mehr so aussichtslos zu sein. Außerdem, trotz seiner mit nun 1,70m nicht gerade hochgewachsenen Gestalt, der Kleidung aus zweiter Hand, mit klapprigem Fahrrad, aber immer noch ohne Mobiltelefon oder Computer, schien er Anklang zu finden: immer wieder wuschelten ihm seine neuen Klassenkameradinnen durch die rotblonden Locken, hängten sich bei ihm ein oder verlangten, er möge ihnen etwas auf dem kuriosen Schottisch-Gälisch sagen. Diese Akzeptanz, oder eher, wie Aedh Rouwan verspätet erkannte, die Adoption als Maskottchen, sorgte dafür, dass sich seine Klassenkameraden auch mit seiner Anwesenheit arrangierten. Niemand wollte schließlich von den Mädchen ausgegrenzt werden. Die waren sich zwar auch nicht immer einig, aber Aedh Rouwan galt als "niedlich", nicht gerade ein Kompliment, doch für jemanden, der davon recht wenige im Leben erhalten hatte, durchaus eine schöne Auszeichnung. Außerdem erklärte man ihn für "echt hübsch". Die Ernährungsumstellung und die (zwangsweise) tägliche Bewegung hatten seine ehemaligen "Kummerschutzreifen" in Luft aufgelöst, er war nun sehnig-schmal gebaut, eher Dauer- als Kurzstreckenläufer. Plötzlich beliebt, ein seltsames Gefühl. Aedh Rouwan traute dieser Entwicklung nicht ganz, aber er begrüßte sie durchaus, wagte es, sich Hilfe zu erbitten, wenn er in den deutschen Unterrichtsfächern etwas nicht verstand, fand sogar Gefallen an den wenigen Sportstunden, weil sich hier gänzlich unerwartet seine Ausdauer bewährte. Zwar wurde er wegen seines geringen Gewichts nicht ernst genommen, was die eher "kampfbetonten" Sportarten wie Fuß- oder Basketball betraf, aber beim Zirkeltraining schnitt er gar nicht so übel ab. Einige der Jungs mochten ihn aber trotzdem nicht, weil er nicht geleugnet hatte, sich vegan zu ernähren, was ihnen demonstrativ missfiel. Das taten nur aufgepumpte Angeber, die es nicht drauf hatten! Dabei verurteilte Aedh Rouwan niemanden wegen der Ernährung, er rannte auch nicht missionierend herum oder zog Fratzen des Abscheus, wenn vor ihm EIGENS ein Schnitzelbrötchen vollmundig gekaut wurde. Nein, es reizte ihn nicht, nicht mal Chips lockten ihn noch mit ihrem verlogenen Trostversprechen. Kartoffeln, ja, gern, aber selbst zubereitet und gewürzt, außerdem ganz sicher kein Fruststopfen mehr! Recht machen konnte man es ohnehin nicht allen, besonders denen nicht, die einem die pure Existenz absprachen. Von Sayeed hatte er nichts gewusst, nicht mal im Moment größter Bedrängnis. Auch jetzt war sich Aedh Rouwan gar nicht so sicher, was er von Sayeed wusste, aber mit dessen Intentionen war er einverstanden. Weil ES ihm gefallen hatte. G, 07.12. "Garage" [Das muss ich wohl nicht erklären, oder? Ich denke jedenfalls oft dran. Und wenn es ein Verb sein darf, "gern haben". Dass du mich gern hast, das vergesse ich nie, garantiert! Ich hab zwar überhaupt nicht nachgedacht, in dem Moment, aber es ist stark, dass es uns beiden gleich geht. Unabhängig von der Garage :-)] Eine nicht zu verbergende Röte überzog Aedh Rouwans Wangen, wenn er an den kleinen Seitenraum dachte, wo die Geräte und Ballkörbe untergebracht waren, wegen des Rollladens von allen nur "Garage" getauft. Sayeed hatte ihn dort hingezerrt, beinahe im Spurt, unerbittlich, übermächtig. Die kühle Front einer der hochgestellten Turnmatten im Rücken hatte er dort gehockt, und...! Ihm wurde heiß und kalt, Schauer rieselten durch seine Sehnen, prickelten in allen Nervensträngen. Die Hosen heruntergezogen, gerade so weit, dass Sayeed ihm die Beine auseinanderdrücken konnte, in der rechten Pranke seine beiden (!) Handgelenke gepackt, hatten sie es getan. Seine Verstörung und die magenumkehrende Panik waren in einen Rausch verwandelt worden, choreographiert von Sayeeds linker, da dominanter Hand, groß, heiß, ein wenig rau, die wusste, was sie tat. Er hätte sich wehren können, vielleicht, doch dieser Gedanke des Widerstands war nicht ein einziges Mal aufgeblitzt. Warum nicht? Aus Erleichterung, Kleinmut? Oder weil Sayeed, den er nicht mal zehn Minuten kannte, ihn so ausgehungert bestaunt hatte? H, 08.12. "Hass" [Hab ich manchmal, hält aber nicht lange vor, was gut ist, finde ich. Allerdings in den paar Minuten sollte mir Rachid, der Scheißer, nicht in die Quere kommen. Ist eigentlich ein erbärmlicher Wicht. Sind sie alle. Ich sag mir: sie haben's nicht gepackt. Ich steh noch immer, ich bin immer noch ich. Trotzdem habe ich immer mal wieder meine fünf Minuten. Wird vermutlich besser, wenn man älter wird, relativiert sich, sagt man ja. Mal sehen. Schlauer anstellen sollte ich mich aber zukünftig, das ist wahr.] Aedh Rouwan wusste, dass Sayeed mit Rachid zweimal aneinander geraten war. Das erste Mal hatte ihm jedoch schon gereicht. Wenn er sich nur daran erinnerte, lief es ihm kalt den Rücken herunter, seine Muskeln verspannten sich ganzkörperlich. Auch damals war er einfach erstarrt, hatte neben sich gestanden, nicht glauben können, dass dies real war. Überhaupt konnte er immer noch nicht begreifen, wieso dieser Rachid geglaubt hatte, er wäre mit Maryam in irgendeiner Form intim gewesen! Schön, sie hatte etwas aufdringlich an ihm geklebt, aber die meisten anderen Mädchen gingen ja auch mal (nicht eindeutig) auf Tuchfühlung, behandelten ihn eben wie ein Kuscheltier! Wollte sie mehr von ihm? Hatte sie sich etwa in ihn verliebt? Aedh Rouwan konnte sich die Eskalation einfach nicht erklären. Sie hatte nichts gesagt, ihm war keine Andeutung bewusst, trotzdem hatte dieser Rachid behauptet, er hätte mit Maryam die Betten zerwühlt. Um ihm eine Lektion zu erteilen, rückte er gleich mit einem halben Dutzend "Brüder" an. Hatte sie so etwas behauptet? Warum? Er war einfach überrumpelt gewesen, noch schneller umzingelt und verängstigt. Das gefiel ihnen, wie Raubtiere, die die Angst ihres Opfers witterten und sich mit der Jagd noch ein wenig amüsieren wollten, weil sie ohnehin als Sieger hervorgingen. Sayeed hatte ihn rausgehauen, im wahrsten Sinne des Wortes. Der rauschte einfach mit seinem Rad auf dem Gehweg heran, bremste nicht mal, sodass die Typen auseinander spritzen mussten, um nicht getroffen zu werden, legte dann im Stakkato-Stil los, über die blöde Schlampe und ihre dämlichen Lügen, die Idioten, die ihr etwas glaubten oder nur so taten, um sich zu prügeln, nichts Schmeichelhaftes jedenfalls. Wenn Rachid Zweifel hätte, solle er mal auf ihre rechte Arschbacke gucken, da gebe es drei Leberflecke wie ein gleichschenkliges Dreieck! Was auf eine gewisse intime Nähe der Bekanntschaft hindeutete, wie Aedh Rouwan befand, doch in der Situation hatte er gar nichts mehr verstanden. Auch nicht, dass trotzdem eine wüste Keilerei entstand, weil es gar nicht um die vermeintliche Liäson ging. Ohne Zweifel wäre er untergegangen, doch Sayeed drückte ihn einfach gegen einen bulligen SUV, baute sich vor ihm auf und benutzte sein Fahrrad wie eine mobile Schutzwand, während er so lange mit dem rechten Fuß gegen die Tür trat, bis die Alarmanlage losplärrte. Irgendjemand musste jedoch schon vorher eine Streife alarmiert haben. Die Klügeren gaben Fersengeld, aber Rachid kam nicht mehr weg, weil Sayeed ihn festhielt. Glücklicherweise mussten sie nicht auf die Wache mitkommen, sondern nach der Aufnahme der Personalien gab es eine Verwarnung. Außerdem wurde das "Fallobst", herrenlose Schlagringe und ein Schraubenschlüssel, einkassiert. Man hätte es damit belassen können. Stattdessen wurden Vergeltungspläne geschmiedet, und dann gab es die zweite Konfrontation, weshalb jetzt Jugendarrest abgesessen werden musste. I, 09.12. "Idioten" [Ich glaube, Du hast das damals nicht richtig kapiert, deshalb Klartext: die Idioten haben Dir aufgelauert, weil Du sexy aussiehst. Du könntest als Modell durchgehen, wenn Du ein bisschen größer wärst, und weil sie eben totale Schwachmaten sind, waren sie neidisch. Solche Idioten gibt's viel zu oft. Anstatt den eigenen Charakter polieren sie lieber anderen die Fresse. Aber gut für mich, denn so habe ich meine Chance nutzen können! Brainy, oder?!] »Kuriose Wortschöpfung!« Kommentierte Aedh Rouwan und mümmelte den Keks. Attraktiv oder anziehend hatte er sich ganz sicher nicht gefühlt, eher eingeschüchtert und beinahe panisch. Wie man sich eben fühlt, wenn nach der Mittagspause vier Mann aus der Oberstufe auftauchen, einem im Klo auflauern und mit markigen Sprüchen ankündigen, was sie einem gleich zugedenken wollen. Aedh Rouwan war mit Gemeinheiten vertraut, die sich auf sein altes Kummerkloß-Ich konzentrierten. Dass man auch als rundum erneuerter, durchaus beliebter Umweltbewahrer zur Zielscheibe wurde, das hatte er nicht erwartet und vor körperlichen Attacken Angst. Die ihn lähmte, einfach erstarren ließ. Plötzlich war da dieser Afro hinter der Phalanx triumphierend feixender Fratzen erschienen, dann die schlaksige Gestalt, ein eckig-hageres Gesicht, gewaltige Fäuste. Aedh Rouwan kniff die Augen fest zu, riss hilflos die Arme vors Gesicht, hörte den ihm unverständlichen Slang, den die "Franzacken" unter sich pflegten, den Signalton zur Nachmittagsschicht, spürte die Schraubzwingengriffe um seine dünnen Handgelenke, wurde aus seiner zusammengekrümmten Haltung fast auf die Zehenspitzen torpediert. Seine Sicht verschleierte sich. Er fühlte sich entsetzlich elend, bekam kaum Luft, als wäre das quälende Asthma seiner Kinderzeit zurückgekehrt. Unter tiefschwarzen Brauen ebenso dunkle Augen, die ihn kritisch musterten. "Sag mal, wie heißt'n du eigentlich?" Eine dunkle, sonore Stimme, nicht aggressiv, aber energisch. Kein Wort hatte er herausgebracht, obwohl sich seine Lippen teilten. Der Riese kauerte über ihm wie das sprichwörtliche Fanal, drückte die gekaperten Handgelenke gegen die abgeschabten Fliesen. Und küsste ihn einfach auf den Mund. J, 10.12. "Jugendpsychiatrie" [Tja, das ist jetzt für nen knappen Monat meine Heimat. Hätte schlimmer kommen können, obwohl's blöd ist, zwei Wochenenden Jugendarrest gegen einen Monat Jugendpsychiatrie, aber der Scheißer hat ja auch was gelernt, wenn auch mit voller Hose. Wird Zeit, dass ich auch was kapiere. Es gibt Sachen, da komme ich nicht allein mit klar. Gut ist, dass ich in den Winterferien den Schulkram nachholen kann. Hat mir schon Stress bereitet, so viel zu verpassen, aber es ist okay so. Ich pack das. Ich hau nicht ab, darauf kannst Du Dich verlassen.] Viel gesprochen hatten sie vorher eigentlich nicht, das konnte Aedh Rouwan nicht von der Hand weisen, trotzdem schien Sayeed eine Menge über ihn zu wissen, vermutlich, weil der sich umgehört hatte oder genau hinschaute. Getrieben, das umschrieb ihre Interaktion wohl am Besten. Meistens stolperte er hinter Sayeed her, hätte eigentlich Beschwerde führen müssen und blieb stumm, die Kiefer wie verdrahtet, zumindest, was Konversation betraf. Die wenigen bunten Zettel dieses unkonventionellen Kalenders füllten schon mehr Themen, als sie jemals in Angriff genommen hatten. Vielleicht war es aber auch nicht so wichtig für den Anfang. Aedh Rouwan gestand sich ein, dass er mit Sayeeds Tempo nie Schritt halten konnte. Immer fand er sich überrumpelt, ausgekontert, mitgerissen und fortgespült, keineswegs mit hinterhältigen oder bösen Absichten. Sayeed wusste wohl genau, was er wollte, mit wem und wie. "Ich hätte nie gedacht..." Aedh Rouwan zerkaute sehr langsam den Keks. Nie hätte er vermutet, was sich in Windeseile durch perfide Rachsucht wie ein Lauffeuer verbreitet hatte: dass der riesige Schlaks mit dem imposanten Afro als hübscher, zierlicher Grundschüler missbraucht worden war. K, 11.12. "Küsse" [Fand ich früher eklig, Geschlabber, und so. Hab's auch vermieden bei den Tussis (waren nur 3, ehrlich!), die mit mir rumgemacht haben. Komische Sache. Da seh ich Dich im Scheißhaus, total verschreckt von den Vollpfosten, und denk nur: den möcht ich küssen, unbedingt, also, wie jag ich die Penner weg? Daran hat sich nix geändert, das geb ich zu. Ich will Dich eigentlich ständig küssen, auch wenn's gerade absolut unpassend ist. Könnte was Chemisches sein, so ne Art positive Droge, oder? Ich mag's jedenfalls, Dich, und Dich küssen, definitiv. Und alternativlos, haha!] In Aedh Rouwans Mundwinkeln zuckte es halb amüsiert, halb verlegen, obwohl er in seinem eigenen winzigen Zimmer auf dem Bett hockte und niemand ihn beobachten konnte. In jeder Situation hatte er von dem ihm Unbekannten Prügel befürchtet, nicht, dass der sein ganzes Gesicht mit Küssen betupfen würde. Als er dann, vor Erleichterung und nachlassender Anspannung, zu japsen begonnen hatte, konzentrierten sich Sayeeds Küsse auf seinen Mund. Knutschen passte nicht ganz, wie Aedh Rouwan fand, aus dem Vergleich mit anderen Beobachtungen zumindest. Es fühlte sich weder angestrengt, noch sportlich-dynamisch an, eher tröstend, neugierig, ein bisschen neckend, das auch. Lehrreich sowieso, für jemanden, der bis dato noch nie SO geküsst worden war. Flau im Magen, weich in den Knien, betäubt vom Pulsgehämmer, so war er hinter Sayeed in die "Garage" gestolpert, um während der Küsse noch in anderer Hinsicht seinen Horizont zu erweitern, überrascht von der Hitze des knochigen Riesen vor ihm, von der Kunstfertigkeit der großen Hand mit den langen Fingern, frappiert von der dunklen Stimme, die schließlich eindeutig verblüfft feststellte: "ich mag dich!" L, 12.12. "Liebe" [Ist scheiße, absolut, versaut alles, täuscht, trickst, verdünnisiert sich dann, wenn die Kacke richtig am Dampfen ist, unzuverlässig und überschätzt. Ich jedenfalls halt mich nicht mit Liebe auf. PUNKT. Auf was ich stehe, was viel wichtiger ist: Freundschaft. Jemanden mögen. Zusammenhalten. Loyalität. Aufrichtig sein. Liebe verpisst sich ziemlich rasch, aber richtige Freunde, die bleiben, die akzeptieren, wie man ist, die gucken hinter die Verpackung. Also, ich liebe Dich nicht. Ich mag Dich. Ich schiel nicht auf Dein sexy Aussehen, sondern auf Dich. Du hast so ne Menge toller Eigenschaften, dass ich wahrscheinlich ein Telefonbuch vollkriegen würde. Wichtig ist: egal, in welcher Verpackung Du rumläufst, ich will immer Dein Freund sein. Ich werd Dich immer mögen und darauf kannst Du Dich verlassen.] Liebe war ein Phantom oder vielleicht eher noch ein Ideal, eine utopische Vision, fand Aedh Rouwan. Wie vermutlich eine Menge anderer Kinder auch hatte er immer angenommen, dass es eine große Liebe gab, die seinen Dadaidh und seine Mama für ewig verbinden würde, eine Garantie lebenslang, unverwüstlich, unzerstörbar. Die Realität war anders, selbstverständlich. Was sollte es dann aber sein, dass Menschen zusammenhielt? Gesellschaftlicher Druck bis zu Repressalien, wirtschaftliche Notwendigkeit, finanzielle Zwänge? Gemeinsame Interessen, die sich im Laufe des Lebens wandeln konnten? Sich die Fingerspitzen ableckend, um die letzten Keksspuren zu tilgen, kam Aedh Rouwan nicht umhin, sich zu fragen, ob Sayeed nicht goldrichtig lag. Wenn man sich "richtig" kannte, vor allem die Seiten, die einem an sich selbst gar nicht gefielen, und TROTZDEM befreundet blieb, sich aufeinander verlassen konnte, dann war das doch viel besser als "Liebe", oder? Sayeed jedenfalls mochte ihn und er hatte ihm ja auch selbst gesagt, dass er ihn gern hatte. »Also!« Aedh Rouwan raufte sich die rotblonden Locken und schnaubte frustriert. Eigentlich sah SEINE Zukunftsvorstellung so aus, dass er den Schulabschluss schaffte und etwas lernte, möglichst mit praktischen Anteilen. Die Version "mein Auto, mein Haus, mein Hund, meine Frau, meine Kinder, meine Yacht, mein Portfolio", die sagte ihm gar nichts. Das war doch bloß Reklame und nicht das echte Leben! Wenn man da aber jemanden (oder vielleicht auch mehrere gute Freunde) hatte, Aufmunterung, Unterstützung, Trost und Gesellschaft bekam, das gefiel ihm viel besser. Möglicherweise konnte er mit Sayeed sogar mal mehr Zeit verbringen, nur zu zweit, ohne Hektik, ohne Druck, richtig "slow and smooth". Das wäre toll. M, 13.12. "Mutter" [Jetzt geht's ans Eingemachte, aber ich will nicht, dass Du von dem ganzen Scheiß einen falschen Eindruck bekommst. Also, meine Mutter: sie ist nicht gerade clever und ziemlich stur, was manchmal gut und beschissen ist. Ich hab's ihr zwar häufig erklärt, aber sie glaubt immer noch dran, dass da draußen ein unbeweibter Prinz herumeiert, der nur für sie geboren wurde. Die anderen Typen waren eben Pech bis jetzt. Tja. Einer davon war so richtig scheiße. Gut ist ihre Sturheit (die hab ich geerbt), weil sie mich nie abgeschoben hat. Hätte sie ja können. Wäre bestimmt auch einfacher gewesen ohne so ne kleine Pestbeule am Hals. Ich weiß nicht, ob ich das durchgehalten hätte. Nicht jede Mutter ist so, deshalb, was da gelaufen ist, damals, das war nicht ihre Schuld. Der Wichser war echt kreativ mit seiner Manipulation, geschickt und kaltblütig. Ich hab's ja selbst nicht geschnallt, eine Weile zumindest, glaube ich. Andererseits hab ich viel vergessen oder kann mich nicht erinnern. Könnte sein, dass sich das ändert, während Du hier liest. Jedenfalls, ich mag meine Mutter. Wäre schön, wenn Du das auch könntest, trotz der Kippen.] Aedh Rouwan wusste kaum etwas über Sayeeds Familienverhältnisse, nur, dass seine Mutter häufig rauchte, weil dessen Bomberjacke so sehr nach Nikotin gestunken hatte, dass ihm übel wurde. Sayeed schüttelte sie ab, pellte sich aus Shirt und Jeans, trotz der klammen Kälte in der "Garage" und zog ihn wieder an sich. Keine Diskussion, kein blöder Spruch über das "asthmatische Weichei", nicht mal eine Grimasse. Das war wohl typisch für ihn: Nebensächlichkeiten lohnten keinen Streit. Für Aedh Rouwan nach den Querelen bei den Großeltern und dem Kleinkrieg seiner Eltern eine ganz neue Erfahrung. Sturheit bei Müttern, das kannte er auch. Für seine Mama hatte es nicht mal den Hauch des Zweifels gegeben, bei wem er nach der Trennung bleiben würde. Ihm war zum Streiten zu elend gewesen (und, beschämender Weise, traute er seinem Dadaidh auch nicht zu, sich ständig um ihn zu kümmern) und so entschied sie alles. Allerdings erinnerte er sich auch genau daran, wie sie ihn versorgt hatte, als er so klein und krank gewesen war, ständig nach Luft ringend, ängstlich, anhänglich und unwillig, allein zu bleiben. Da konnte er nicht wütend werden, aufbegehren, protestieren. Nicht, wenn er sich an ihre Engelsgeduld erinnerte, an die unverbrüchliche Zuneigung, trotz all der Schwierigkeiten. Manchmal hatte er sich natürlich selbst leid getan, als er sich in Chipstüten verkroch, fett und antriebslos wurde, weil es ihr nicht aufzufallen schien. Was vermutlich nicht stimmte und sicher nicht leicht auszuhalten war, wenn man die eigene Ehe als gescheitert betrachten musste, hin und wieder als "die Böse" verachtet wurde. Sayeed ging es wohl genauso. Einfach die Schuld zuschieben und die eigene Verantwortung ausklammern, das lief nicht. Auch wenn Aedh Rouwan sich nicht vorstellen konnte, wie sich ein Grundschulkind so viel Last selbst aufschulterte. Vielleicht war Sayeed da viel reifer als er selbst? N, 14.12. "Nacktbilder" [Ist ja vor kurzem ne dämliche Mode gewesen. Finde ich bescheuert, macht mich auch nicht sonderlich an. Erst im Kopf steigt ja die Party oder die Sauerei. Ich kann mich nicht erinnern. Wahrscheinlich hat er mit Kameras gearbeitet. Posiert habe ich jedenfalls nicht, glaube ich zumindest. In den Zeitungsartikeln blieb das vage, Jugendschutz, und so. Andererseits, wenn man clever war, konnte man es rauskriegen, wo da was mit wem gelaufen war. Schätze, der Scheißer Rachid brauchte bloß zu fragen, wo wir mal gewohnt hatten, sich umzuhören, ist ja erst ein paar Jahre her. Jedenfalls, das auf dem Bild bin ich nicht. Klar, beim Klassenfoto hat er mich richtig rausgepickt, aber das andere Bild, das ist ein anderer Junge, armes Schwein. Das ist damals scheiße gelaufen. Ich hab's abgehakt, aber es ist eben eine Sache, die ich nicht verbreitet haben wollte. Die Leute reagieren einfach komisch, ich könnte mich nicht mal ausnehmen. Du bist nicht mehr du selbst, sondern 'das Opfer', auf diesen Umstand reduziert, keine Person mehr. Das wollte ich nicht haben, also bin ich ausgetickt. Hat nicht geholfen, klar, aber ich war unheimlich wütend und er sollte mal spüren, wie das ist, wenn du keine Person mehr bist. Bescheuert. Deshalb hocke ich ja auch in der Psychiatrie. Ich denk mir, es war blöd, aber gerecht, was ich da veranstaltet habe, trotzdem könnte ich damit falsch liegen. Wenn ich mich nicht im Griff habe, irre ich mich ja auch vielleicht, was diese Sache betrifft. Werde ich wohl rausfinden. Jedenfalls bin ich echt froh, dass Du nicht in der Nähe warst, hätte Deine Freundschaft bestimmt arg belastet. Also, ich arbeite dran und ich komme wieder zurück, ganz egal, wie die Leute gucken. Ich hau nicht ab.] Aedh Rouwan hatte sich an diesem Tag verspätet. Ohne Mobiltelefon, ohne Mitgliedschaft in sozialen Netzwerken, eben noch ganz analog und "gesellschaftlich in der Teilhabe benachteiligt" wusste er von nichts. Die Lawine rollte schon längst in die Talsohle, als er die Schule erreichte. Sayeed war schon ausgetickt, obwohl die anderen zu sechst gekommen waren, um ihn zu verspotten. Drei Streifen hatten Mühe gehabt, die Kontrahenten zu trennen. Fassungslos lauschte Aedh Rouwan den brühwarmen Schilderungen, starrte ungläubig auf Bildschirmphotos der Artikel mit den Fotos, die hochgeladen (und rasch gelöscht) worden waren. Er konnte in dem verschmitzt grinsenden Erstklässler kaum den riesigen Schlaks erkennen und glauben wollte er es auch nicht, den Missbrauch vom zeitweiligen Lebensgefährten. Unzählige Aufnahmen und Videos, Spießrutenlauf der werktätigen Mutter, die nichts bemerkt haben wollte. Was die Anklage vorbrachte, war ausreichend entsetzlich, ihm den Magen umzudrehen. Schlimm genug, wenn es einem Kind geschah, aber das sollte Sayeed passiert sein?! Aedh Rouwan fühlte sich elend, weil er für einen Augenblick überlegte, Sayeed aus dem Weg zu gehen, sollte dieser am nächsten Tag in die Schule kommen. Wenn der wiederkommen durfte. Es hieß, er sei von einem Messer verletzt worden und vielleicht geisteskrank oder schizophren oder irgendwie sonst gestört. »Das kann alles nicht sein!« Entschied er damals hilflos. Sayeed benahm sich schließlich nicht wie jemand, dem so etwas angetan worden war! Zugegeben, die Initiative ging von ihm aus, aber er hatte nie Gewalt angewendet oder ihm gedroht! Hätte Sayeed ihm zugesetzt, ES hinten rein zu tun, dann, nein, das würde nicht laufen, nie! Ganz egal, wie angeblich populär und natürlich und sonst was DAS angeblich sein sollte! KEINE Chance! Aber das Thema kam nicht auf, stellte sich gar nicht. Hätte ihm das zu denken geben sollen? Konnte man jemandem ansehen, was ihm mal passiert war? Aedh Rouwan drehte den Keks in seinen Händen. Draußen regnete es zum 3. Advent. Sayeed hatte nie etwas getan, was ihm nicht gefallen hatte. Er konnte sich auch nicht erinnern, dass er mal überredet worden war. Zugegeben, Sayeed kannte sich viel besser aus, im Gegensatz zu ihm, dem erst jüngst aufgeblühten Spätzünder, trotzdem konnte man nicht anders als von gegenseitigem Einverständnis sprechen, weil "Sex" gar nicht DER Punkt war, sondern dieses aufregende, zugleich felsenfeste und erdmittelpunkttiefe Gefühl der Zuneigung. Sich ganz besonders mögen eben! O, 15.12. "Optionen" [Zwei davon hatte die Jugendrichterin, ist ja ein Modellprojekt, heute was angestellt, morgen schon verhandelt. Ich hätte also wie der Scheißer zwei Wochenenden im Arrest verbringen können oder eben die Psycho-Variante, was ja auch die Optionen für meine Zukunft beeinflusst. Klingt für mich immer wie Wertpapiere und Börse. Jedenfalls will ich mir nichts versauen. DAS ist meine Option. Würde es Dir ja auch schwer machen, mich weiter zu mögen, logisch. Also, ich nehme mich zusammen, zieh jetzt die lockeren Schrauben in meinem Oberstübchen an. Darauf kannst Du vertrauen, versprochen!] Gefährlich oder gar labil war Sayeed Aedh Rouwan nie vorgekommen, entschieden und konsequent, das in jedem Fall. Wenn einem solche üblen Sachen passierten, dann konnte man schon mal die Beherrschung verlieren. Bedroht gefühlt hatte er sich nie, nicht nach den ersten Küssen auf der Jungentoilette. Sayeed faszinierte ihn, die Selbstsicherheit, die Zuversicht. Einer, der keine Angst davor hatte, anzuecken oder sich mal zu irren, jemand, der keinen Hehl daraus machte, dass er erregt war. Aedh Rouwan hätte sich das NIEMALS getraut. Sich in den Schritt zu greifen, schief zu grinsen und zu deklarieren, dass er jetzt mit ihm unbedingt Sex haben wollte! Wenn sie dann in der "Garage" hockten, halb aufeinander, dann studierte Sayeed ihn immer wieder konzentriert, ob ihm auch gefiel, was sie gerade taten, eilig, in der Freistunde. Selbst in der Erinnerung errötete Aedh Rouwan noch heftig. Drei Mal hatten sie sich getroffen, und seine Rolle dabei war eher... bescheiden. »Aber was soll ich machen, wenn ich so aufgeregt bin?!« Verzweifelte Aedh Rouwan an sich selbst. Er wusste ja selbst nicht genau, was ihm gefiel! Wie hätte er Sayeed da unterstützen oder gar verführen können?! Angst davor, erwischt zu werden, das spielte auch eine erhebliche Rolle. Niemand wusste schließlich, dass sie mehr als Klassenkameraden waren, auch wenn Sayeed jede Chance nutzte, ihm Gesellschaft zu leisten. "Wenn ich nicht so langsam wäre!" Seufzte Aedh Rouwan über sich selbst. Es wurde nicht leichter, dass Sayeed ihm sein Schneckentempo nicht zum Vorwurf machte, sondern sich zweifellos anpasste. "Ich muss endlich den Mund aufmachen und mit ihm reden!" Nahm Aedh Rouwan sich vor. Sonst konnte er ja auch vor Sayeed die Hose herunterlassen! P, 16.12. "Porno" [Gibt zwar noch mehr Worte, aber ich will was klarstellen: den ein oder anderen habe ich gesehen. Abgesehen von den Praktiken irgendwie öde. Ich mache lieber selbst was (wird Dich nicht überraschen). Phantasien habe ich auch, wie jeder. Da bist Du auch dabei, logisch. Vermutlich sind die aber für andere Leute total langweilig. Keine Akrobatik, keine Dritten, keine Spielzeuge, keine komischen Klamotten oder Tiere oder sonst was. Was die andere Sache betrifft: ich weiß es nicht. Könnte sein, dass ich Hauptdarsteller war. Ich erinnere mich nicht oder will's nicht. Ist passiert, erledigt, aus. Darüber muss ich wahrscheinlich mit den Psychodocs reden. Jedenfalls gibt's bei mir keine Kamera oder Selfies oder anderen Mist. Alles gehört nur uns beiden. Ich teile nicht.] Aedh Rouwan kam sich seit den Umzügen immer wieder so vor, als hätte er sein Leben hinter dem Mond in einer Kiste verbracht. So viele Aspekte des Zeitgeists waren spurlos an ihm vorübergezogen. Schmuddelheftchen, wie seine Mama die Magazine abschätzig nannte, konnte man nicht so einfach kaufen. Ohne eigenen Computer oder gar ein internetfähiges Mobiltelefon blieb man auch relativ sicher außerhalb jeder "In-Zone" der Klassenkameraden. Als jahrelanger Außenseiter hatte Aedh Rouwan sich auch daran gewöhnt, immer wieder verblüfft in die Landschaft zu staunen, wenn ein kurzweiliges Phänomen seinen Weg streifte. Außerdem galt seine ganze Konzentration seit den Sommerferien ja seiner neuen Ernährung und der Leidenschaft fürs Kochen! Das forderte ihn viel mehr heraus (neben den Ansprüchen der Schule), als dass er noch Freizeit erübrigen konnte für Feldforschungen zum ältesten Thema der Welt. Andererseits, er kaute den mürben Keks gründlich, war er schon neugierig, was Sayeed sich so vorstellte. Langweiliger als seine eigene Vorstellung, mit Sayeed mal allein zu sein, ganz abgeschieden von den Ansprüchen der Welt, konnte es gar nicht sein. Er brauchte einfach mehr Anlauf und Sicherheit, um sich etwas zu trauen! Q, 17.12. "Quatsch" [Fällt mir als Erstes ein. Ich mag das Wort, ist schön lautmalerisch. Klamauk finde ich auch genial. Ich hab in der Unterstufe bei einem Wettbewerb mal ein Wörterbuch gewonnen. Das habe ich immer noch. Jeden Abend mindestens eine Seite. Gibt schon ne Menge toller Wörter. Von den anderen habe ich gehört, dass Dein Schottisch total süß klingt. Das würde ich mal gern hören, auch wenn ich wahrscheinlich nix kapiere. Wir brauchen einfach mehr Zeit zusammen, finde ich. Was meinst Du?] "Dass du recht hast." Antwortete Aedh Rouwan seinem kleinen Zimmer. Es wäre zum Beispiel auch nett, Sayeed zuzuhören, wenn der in dem seltsamen "Slang" sprach, der eigentlich nicht als Französisch durchging, eine Art Jugend-Cliquen-Sprache, durchsetzt mit Lehnwörtern aus dem Arabischen als Lingua franca der Eingewanderten. Dass hingegen Schottisch-Gälisch, ehemals die Sprache seines Glasgower Alltags (außerhalb der vier Wände) "süß" klang für seine Mitschülerinnen, das verblüffte Aedh Rouwan noch immer. Er fand es auch schwierig, auf Aufforderung einfach mal "irgendwas" zu sagen. In seiner Verlegenheit griff er dann auf die keltischen Balladen und Epen zurück, die er wie alle anderen auch hatte auswendig lernen müssen, stets "großes Kino", wie man hier sagte, Verrat, Fehden, Liebe, Tod und Eifersucht, das volle Programm. Sayeed würde sich vermutlich schlapp lachen, wenn er ihm in groben Schwüngen übersetzte, was er da so "süß" aufsagte! Bloß dauerte es eben immer ein wenig, bis Aedh Rouwan mit einer prominenten Position, sprich, im Fokus von anderen, warm wurde. Wenn er dann mal im Thema war, funktionierte es recht gut, doch der Einstieg... Er war eben nicht so jovial wie sein Vater, der keine Schwellenängste aufkommen ließ! Aedh Rouwan fing mit der Linken tollkühne Krümel ab, während er den Keks des Tages mümmelte. Es war schwierig, nur noch zwei Tage bis zu den Winterferien, und allmählich setzte das Tabu-Thema der Stimmung zu. Niemand wollte DARÜBER sprechen. Immerhin, Sayeed war aus den Augen, nicht aus dem Sinn, selbstredend, denn je weniger man wirklich WUSSTE, umso kreativer Phantasie und Mutmaßungen. Wie sollte man sich verhalten, wenn er zurückkam? So tun, als wäre nichts gewesen? Ihn besser meiden, weil es keinen Königsweg gab, die Angelegenheit zu behandeln? Befangen war wohl jeder. Aedh Rouwan vermochte selbst nicht zu sagen, wie er sich verhalten würde, wenn Sayeed vor ihm stand. Der hatte eindeutig recht mit seiner Einschätzung: aus einer Person wurde ein Objekt, das Opfer. "Normaler" Umgang schien fast unmöglich zu sein. R, 18.12. "Regen" [Der geht mir langsam auf den Senkel! Ob's immer noch so nass ist, wenn Du das hier liest? Jedenfalls, ich fände es besser, wenn's knackig kalt, aber trocken würde. Schnee muss nicht sein, ist eh eine Sauerei in der Stadt. Hat's da auch so oft geregnet, bei Dir in Schottland oder ist das bloß ein Klischee? Ich trau mich fast gar nicht, nach dem Männerrock und diesem Schafsgedärm-Futter zu fragen, aber wahrscheinlich tu ich's doch mal. Was Du unter der Jeans trägst, weiß ich ja schon!] Aedh Rouwan kicherte leise. Nein, einen Kilt hatte er noch nie getragen, schließlich trugen Bayern auch nicht ständig Lederhosen und Dirndl! Die Clan-Zugehörigkeiten lernte man zwar in der Schule, aber welches Tartanmuster er hätte verwenden dürfen, das wusste er auch nicht. Sein Dadaidh blieb da ein wenig unspezifisch. Eher traditionelle, der kargen Landschaft geschuldete Nationalgerichte kamen auch nicht auf den Tisch, im Alltag musste es schnell gehen. Wie die meisten Jugendlichen schätzte er Varianten von Teigfladen (belegt, gerollt, als Tasche gefüllt) und "Trockenfutter" (Nudeln oder Reis) mit Saucen. Man musste nicht mehr aus der Not heraus alles verwenden, was man mühsam dem Boden abringen oder durch Tierhaltung gewinnen konnte. Auch das Wetterklischee passte nicht. In Glasgows Umgebung gab es jede Menge Sonnentage. Gut, auch Regen, aber der gehörte einfach dazu, als Abwechslung, Kino am Himmel sozusagen. Schnee hatte er öfter erlebt, in schon bedrohlichen Ausmaßen. Das musste nun auch nicht gerade sein. Ob Sayeed jetzt wohl aus einem Fenster sah und feststellte, dass es immer noch Bindfäden nadelte? Aedh Rouwan stemmte sich von der Matratze hoch und sortierte Notizhefte zu Stapeln. Morgen war der letzte Schultag und damit früh Schulschluss. Weniger Ballast zu tragen und mehr Zeit, allein zu grübeln. S, 19.12. "Sex" [Okay, ich gebe den Hormonen die Schuld an diesem monothematischen Kalender! Verdammte Pubertät! Trotzdem, da muss ich ran, ich hab Dir die Wahrheit versprochen. Also, Sex. Sex ist wie Narben, ein paar davon haben dir andere zugefügt, einige hast du selbst verschuldet. Über die erste Sorte brauch ich nix mehr sagen, also jetzt Variante 2., Maryam und noch zwei andere, die Du nicht kennst. Verhält sich wie das Rockstar-Groupie-Ding: man hängt zusammen rum, dann kommen die Mädels, hat vor allem was mit Status zu tun. Gewehrt habe ich mich nicht, mechanisch hat's ja geklappt, war auch irgendwie nett. Klingt jetzt fies, weiß ich! Es war halt was, was man so macht. Ätzend, oder? Pflichtübung, quasi, wenn man Langeweile hatte. Mit Dir, das ist ganz anders. Wenn ich Dich anfasse und es Dir gefällt, dann will ich gar nicht damit aufhören, weil's mir gefällt, dass es Dir gefällt. Ich hab manchmal echt Mühe, auf die Bremse zu treten und nicht ständig die Greifer nach Dir auszustrecken! Da kommt wohl "Hab-Gier" her, was? Jedenfalls, mit Dir ist es schön und da bleibe ich dran!] Mehrfach hatte er diesen Zettel schon gelesen, und immer wieder trieb er Aedh Rouwan die Röte auf die Wangen. Sayeed formulierte das, was er selbst empfand, obwohl er als Spätzünder keine einschlägigen Erfahrungen vorweisen konnte. Er mochte tatsächlich, was Sayeed initiierte und es gefiel ihm, wie aufmerksam der riesige Schlaks ihn behandelte, das leichte Lächeln auf den schmalen Lippen, wenn der etwas entdeckt hatte, was ihm, dem leicht zu verschreckenden Schisshäschen, zusagte. Trotz der Hektik, der grenzwertigen Atmosphäre in der "Garage" und der Angst vor Entdeckung fühlte Aedh Rouwan sich bei Sayeed gut aufgehoben, akzeptiert, sogar ein wenig mutig, selbst wenn ihm das Herz aus den Ohren heraus paukte vor Aufregung. Doch was würde jetzt sein? Nachdem alle "wussten", dass Sayeed damals...! Konnte man wirklich diese "Narben" abschließend hinter sich lassen, alles wegdrängen, einsperren und den Schlüssel wegwerfen? Schwierig. Was Aedh Rouwan jedoch WUSSTE, ohne jeden Zweifel, war der Umstand, dass Sayeed ihn nie zu etwas genötigt oder gar gezwungen hatte, Überlegenheit, auch körperlich, ausspielte, Dominanz demonstrierte. Nein, Sayeed war schlichtweg lieb zu ihm, so sehr, dass ihm allein die Erinnerung die Kehle zuschnürte. T, 20.12. "Talent" [Ulkiges Thema, denkst Du bestimmt, aber das beschäftigt mich gerade auch. Ich hab keinen Fahrplan, hätte aber gern zumindest ne Richtung und da wäre ein Talent nicht übel. Kann ich bei mir bloß nicht finden. Wenn ich so überlege, was ich einigermaßen auf die Reihe bringe, dann sticht da nichts ins Auge (autsch!). Weißt Du schon, was Du nach der Schule machen willst?] Ein besonderes Talent, das konnte Aedh Rouwan nach eigener Einschätzung auch nicht aufweisen. Mit Sprachen tat er sich etwas leichter als mit den Naturwissenschaften, Kondition konnte er nun auch präsentieren, bei den neuen Medien hinkte er definitiv hinterher. Tatsächlich konnte man so viele Berufe ergreifen, dass die schiere Vielfalt einen ganz schwindlig machte! Bloß, was passte? Gut, Luft- oder Seefahrt war nicht sein Fall, aber sonst? Naher Kontakt zu Menschen, "Soziale" Berufssparten oder in den Handel? Aedh Rouwan sackte rücklings auf sein Bett und studierte die blanke Decke. Schatten tanzten im ganzen Zimmer, bei dem Nieselwetter wurde es gar nicht mehr richtig hell. Wenn er nur ein wenig mehr nach seinem Dadaidh geriet, konnte er ein Hansdampf in allen Gassen sein, handwerklich geschickt, kräftig, gut gelaunt, trinkfest, der typische Pionier, ohne übertriebene Ansprüche. Aber das traute Aedh Rouwan sich ganz und gar nicht zu. Im Freien übernachten, ständig ohne Toilette oder Dusche, Naturburschen-Romantik, davor graute ihm. Zivilisation musste sein! Also eher was mit Dach über dem Kopf? "Das schränkt die Auswahl ja gewaltig ein!" Murmelte er seufzend. Wenigstens war noch ein wenig Zeit, sich etwas zu überlegen oder zu diesen Berufsmessen zu gehen. Die meisten seiner Mitlernenden jedenfalls wollten selbstverständlich studieren, auch im Ausland, wofür machte man sonst den bilingualen Schulabschluss?! Selbst wenn man eigentlich kein Geld verfügbar hatte, konnte man sich bei herausragenden Leistungen Stipendien und Fördergelder sichern. Andererseits musste man da auch Glück haben, schließlich gab es bestimmt jede Menge andere Interessierte, oder? "Es wäre schön, nicht allein zu sein." Rutschte ihm ein Gedanke heraus. Konnte er sich wirklich all diesen Hürden stellen, nur aus eigener Kraft, so zielstrebig und selbstsicher sein, ohne nagende Zweifel und Befürchtungen? Sayeed meisterte das bestimmt! Wenn der etwas wollte, dann stand der Entschluss und die Ärmel wurden hochgekrempelt. Beneidenswert! Oder besser, vorbildlich! U, 21.12. "Urlaub" [Nervt mich ziemlich. Ich höre zwar zu, aber manchmal knirsche ich schon mit den Zähnen. Also, ich fahre nicht in den Urlaub, Ski fahren oder die Sonne putzen, wo auch immer. Dafür braucht man Geld, und wir haben keins. Dann geht's mir auf den Keks, wenn überall so getan wird, als könnten alle verreisen, Standard, ganz normal. Irgendwie haben wir immer was für die Klassenfahrten zusammengekratzt, aber wenn es bald nach Frankreich geht, dann stecke ich schön in der Klemme. Schülerjobs sind rar, sogar das Austragen von Werbezetteln, und ich seh ja für manche auch nach Drecks-Marokk aus. Hast Du auch solche Probleme? Ich weiß bloß, dass Deine Eltern getrennt sind, aber sonst... Mist, ich kenn nicht mal Deinen Geburtstag! Ich werd mir jetzt gleich ne Liste machen, was ich Dich alles fragen will!] "Deinen Geburtstag kenne ich auch noch nicht." Stellte Aedh Rouwan fest. Auch sonst wusste er wenig von den statistischen Daten in der Biographie seines Freundes. Vor anderen traute sich Aedh Rouwan nicht, so Selbstverständliches zu fragen, da gab es höchstens oberflächliches Geflachse. Wenn sie die seltene Chance hatten, allein zu sein, dann war er zu beschäftigt, um sich auf etwas anderes zu besinnen, beschämend, aber wahr. Knappe Kasse, mit diesem Zustand war Aedh Rouwan durchaus vertraut, zudem das Topthema auf der Liste der Streitpunkte seiner Eltern. Im Moment kamen sie zurecht, auch, weil seine Mama die Ansprüche stark heruntergeschraubt und ihm genau erläutert hatte, wie sie positioniert waren. Sommerferien, wie die letzten, das jedenfalls war ein seltener Luxus und nur möglich, weil er Kost und Logis durch Arbeit abgelten konnte und es sich um Bekannte seines Dadaidh handelte. Andererseits hielt Aedh Rouwan sich auch vor, dass seine Mama schon lange keinen Urlaub mehr gehabt hatte und auch jetzt erst mal ranklotzen musste, um sich zu bewähren. Im Alltag mussten damals "Weiberabende" genügen, Kneipenbesuch, etwas Gaudi, ein bisschen Aufbrezeln, Klatsch und für ein paar Stunden die tristen Zwänge der Gegebenheiten vergessen. In seiner eigenen Klasse waren die Reisen in Winterferien selbstverständlich auch Gesprächsthema. Aedh Rouwan hörte einfach zu, das lag ihm mehr. Wenn er dann im Geiste überschlug, wie lange man arbeiten musste, um...!! Neidgefühle erweckte die angeregte Diskussion dann nicht bei ihm. Außerdem konnte er sich in seiner neuen Heimat auch mal gründlich umsehen. Vielleicht lag Gutes ja auch nahe? Besser noch, wenn er einen "eingeborenen Führer" dabei hätte, Sayeed vorzugsweise! V, 22.12. "Vegan" [Kommt nicht überraschend, oder? Ich hab's mir etwas leichter vorgestellt, aber da war ich wohl zu faul. Gut, ich bleib dran, ich lese Zutatenlisten und studiere eifrig Rezepte. Hat früher ja auch geklappt, als die Leute noch nicht so viel zu beißen hatten, richtig? Ich würde gern mal mit Dir kochen, das wäre bestimmt lustig. Und lecker! Unsere Küche ist da eher nicht so geeignet, die besteht aus Mikrowelle, nem uralten Gasherd mit Bratröhre und kaum Platz zum Schnippeln. Kann ich Dich mal zu Hause besuchen? Ich würde echt gern sehen, wie Du lebst.] Aedh Rouwan kaute den Keks in der Küche, erster Tag der Winterferien, draußen Weltuntergang ohne Licht, sah sich prüfend um. Auf dem abgewetzten Ausziehtisch der Einbauküche aus den 30ern (mit neueren Geräten) stand noch das bescheidene Frühstücksgeschirr seiner Mama, die schon aufgebrochen war, um zu arbeiten. Er werkelte gern hier, durfte es ja auch, während früher die Küche tabu war, weil die Aufräumarbeiten so viel Zeit in Anspruch nahmen, vor allem, wenn sein Dadaidh kochte, den "kreatives Chaos" gar nicht störte, so lange es noch irgendeine saubere Schüssel und unbenutztes Besteck gab. Ihm selbst machte es Spaß, zu schälen und zu schnippeln, auszuprobieren und stillvergnügt die Zeit zu vergessen, wenn er sich etwas zubereitete. Dann brauchte er weder Fernseher, noch Computer, keine Ablenkung, nicht mal das alte Küchenradio. Kosten, schnuppern, vor sich hin summen, so konnte Glück auch aussehen! Mit Sayeed wäre es bestimmt weniger kontemplativ als laut und lustig, oder? Möglicherweise nahm sich Sayeed ja auch zurück, wenn sie allein waren und nicht gerade eindeutig miteinander beschäftigt. Es wäre schon schön, wenn Sayeed zu Besuch käme und in seinem Zimmer gab es ja nichts zu sehen oder zu tun, also konnte die Küche Tummelplatz sein. Aber, langweilte es ihn vielleicht, wenn er dauernd von Gemüse und Hülsenfrüchten und Getreide hören musste, statt einfach eine Pizza in den Ofen zu hauen und sich zu amüsieren? Was taten andere eigentlich in ihrer Freizeit? Aedh Rouwan seufzte und hauchte Kreise auf die kalte Fensterscheibe. Er hatte sich in Bücher zurückgezogen, die kosteten keinen Strom, waren handlich, gratis und verliehen selbst dem Kummerkloß Flügel. Es war gar nicht so einfach, stellte er fest, sich "normal" zu verhalten! W, 23.12. "Winterferien" [Na, meine habe ich mir ja gründlich vermasselt. Könnte aber auch gut sein, die Psycho-Geschichte und ich hab ja auch Glück, dass ich die Prüfungen in der letzten Woche nachholen darf. Also, positiv bleiben, richtig? Weißt Du schon, was Du machen willst? Ich hab von den anderen gehört, dass Du ein Bücherwurm bist. Blöd, dass die Leihbücherei die ersten beiden Wochen dicht hat, oder? Aber Du hast bestimmt einen Vorrat angelegt! Ehrlich, wenn's irgendwie geht, will ich Dich treffen und reden, ohne Störung. Hoffentlich klappt's.] Der letzte Satz las sich ein wenig unsicher, fand Aedh Rouwan und glättete den vorletzten Notizzettel, bevor er ihn sorgsam mit einer Nadel aufspießte und auf den noch losen Faden zog. Also fürchtete Sayeed auch, dass durch die Enthüllungen und die letzten Ereignisse ihr Verhältnis leiden konnte? Treffen wollte er ihn unbedingt, auch wenn das mit dem Verabreden nicht so leicht war, mangels Mobiltelefon und Computer zu Hause. Vielleicht könnten sie dann alles machen, was sie sich so vorgenommen hatten? Reden, kochen, kuscheln... Aedh Rouwan errötete leicht, seufzte dann und zupfte die ausgeleierte Strickjacke zurecht. Er bezweifelte, dass seine Mama erbaut darüber sein würde, wenn er ihr Sayeed als "boyfriend" vorstellte. Das war nicht gerade eine Nachricht, die zur Beruhigung der Gesamtlage beitrug. Trotzdem. Er hatte noch nie einen richtig engen, guten Freund gehabt. Man musste ja nicht gleich erwähnen, dass sie auch etwas weiter gingen, oder?! Aber sich immer nur mit sich selbst zu beschäftigen, indem er lernte, las, durch den trüben Wintertag marschierte, einkaufte, das stellte ja nun auch keine Auszeichnung dar! Allein verkrochen hatte er sich schließlich die letzten Jahre genug. Jetzt wollte er nicht mehr einsam sein Selbstmitleid pflegen! "Genau!" Trieb Aedh Rouwan sich an. Zuerst wollte er mal mindestens eine halbe Stunde Asphalt treten, um sich den Kopf durchpusten zu lassen! XYZ, 24.12. "Zukunft" [Tja, the future is now, richtig? Heute soll ich zumindest auschecken und bin vielleicht schon ein wenig schlauer. Eigentlich plane ich nicht weit voraus. Ich will mir selbst treu bleiben, das habe ich mir vorgenommen. Mal gucken, was so kommt. Karriere sieht anders aus, klar, aber es sind ja meine Schuhe, in denen ich laufe. Wie stellst Du Dir Deine Zukunft vor? Du bist schlau und belesen, ich wette, Du kannst alles Mögliche machen! Für die ganz nahe Zukunft jedenfalls, da will ich Dich sehen. Ich glaube, ich werde Dich sehr vermisst haben.] Es regnete, natürlich. In der Ferne schlug eine Kirchturmuhr gedämpft die Mittagsstunde an. Aedh Rouwan klappte die Krempe seines Regenhutes etwas höher, um sich zu orientieren. Unter einer Traufe stand eine Frau, rauchend, mittelgroß, schmal, blondierte Strähnen, gesteppter Mantel über Leggings und Turnschuhen. Ihr Blick war auf das Rolltor gerichtet. Als er sich zögerlich näherte, drehte sie sich zu ihm herum. Aedh Rouwan erkannte die schmalen Lippen wieder, ebenso die Nasenflügel. "Ah, du bist Sayeeds Freund, oder?" Sie suchte nach seinem Namen. "Aedh Rouwan, guten Tag. Freut mich, Sie kennenzulernen." Sagte er sein Sprüchlein auf und streckte höflich die Rechte entgegen. Kalte Finger, eine sehnige Hand, ein kurzer Druck. "Say hat mir schon ne Menge über dich erzählt." Ihre Stimme klang rau, nach zu vielen Zigaretten. Die aktuelle wurde ausgedrückt und zertreten. "Du kannst den Kippengeruch auch nicht ausstehen, hm?" Unwillkürlich errötete Aedh Rouwan, wischte nervös rotblonde Locken zurück unter die Krempe. "Es ist wegen meines Asthmas." Murmelte er verlegen, denn ein guter Einstieg schien diese Entwicklung nicht zu sein. "Nee, hast schon recht, ich sollte es lassen." Ein Lächeln huschte über die schmalen Lippen. "Hab immer mal wieder aufgehört, aber dann..." Sie zuckte mit den Achseln. Nach Aedh Rouwans scheuen Seitenblicken wirkte sie älter, als sie sein musste. Einfach schien sie es in ihrem Leben nicht gehabt zu haben. "Hätte nicht gedacht, dass einer seiner Freunde heute kommt." Bemerkte sie leise. "Wir haben uns fast einen Monat lang nicht mehr gesehen." Antwortete Aedh Rouwan hilflos. Es schien ohnehin etwas unglücklich, am letzten Arbeitstag vor den Feiertagen die Entlassung vorzunehmen. Damit verkürzte sich jedoch Sayeeds Aufenthalt und korrespondierte mit der ausgedünnten Besetzung der Kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtung. Für eine Weile tropfte es nun eintönig, ein ratloses Schweigen breitete sich aus. "Hab noch nie erlebt, dass er was gebacken hat." In dieser Feststellung schwang alles mit, was Aedh Rouwan befürchtet hatte. Sayeeds Mutter hielt ihn nicht für einen gewöhnlichen Freund, ganz und gar nicht. Er wusste nicht, wie er antworten sollte, verkrampfte seine Fäuste in den Taschen des alten Regenmantels. Zu seiner Erleichterung leuchtete eine Laterne auf dem Rolltor auf, selbiges setzte sich langsam auf der Schiene in Bewegung. Ein großgewachsener, breitschultriger Mann mit Regenschirm begleitete Sayeed zur Ausfahrt, schüttelte ihm die Hand. Was gesprochen wurde, konnte man nicht verstehen, doch beide wirkten entspannt, schienen zu scherzen. Sayeed, ein Tuch wie ein Pirat um Stirn und über die Ohren gewickelt, der Afro glänzend beperlt, warf sich eine abgeschabte Sporttasche über die Schulter, blickte artig nach rechts und links, bevor er mit langen Schritten die Straße überquerte, seine Mutter sanft in den freien Arm nahm, die sich in seiner Bomberjacke vergrub, wie ein verlorenes Kind. "Alles gut, Mama." Raunte er sanft und rieb mit der großen Linken die gekrümmten Schultern. "Die Sache ist durch." Aedh Rouwan wurzelte unbeweglich. Er wollte etwas sagen, aber ihm fehlten die Worte. "He." Sayeed zwinkerte ihm zu. "Hast du meine Mutter schon kennengelernt?" Schwer schluckend konnte Aedh Rouwan bloß nicken, biss sich auf die Lippen, weil Sayeed lächelte, als sei nichts geschehen, als nehme er ihm nicht übel, wie stoffelig er hier stand, sich nicht rührte, nichts sagte! Ihm streckte sich die große Linke einladend entgegen. "Wenn du ein bisschen Zeit hast, bevor du heim musst, willst du nicht mitkommen?" Es war doch gut, dass es regnete, denn so konnte Aedh Rouwan die Spuren auf seinen Wangen erklären. Und seine Rechte in der ausgeleierten Tasche der Bomberjacke. Vielen Dank fürs Lesen und frohe Feiertage! kimera