Titel: Chise Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Parallelwelt Ereignis: Weihnachten 2024 Erstellt: 22.12.2024 Disclaimer: # Keine Panik! Stammt aus „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams # Jane Austen (und Fans aka Jane-Iten) war eine sehr bekannte Autorin des Regency (Prinz-Regentschaft) # Ruby Gloom ist eine Zeichentrickserie von Nelvana TV # Dame Edna Everage war eine Kunstfigur des australischen Komikers Barry Humphries Hinweis: ~ Chise und Vidale treffen in „Vidale“ zum ersten Mal aufeinander ~ Detorix und Artemis spielen in "Zonenrandzombie" und "Friede, Freude, Eierkuchen" mit. ~ Thekla Anuphobis, einem Friedensgericht vorstehend, dreht in "Zonenrandzombie" ihre Zigarillos. *+--+* *+--+* *+--+* *+--+* *+--+* *+--+* *+--+* *+--+* *+--+* *+--+* *+--+* Chise Ich klopfte behutsam am Rahmen, bevor ich durch den Vorhang schlüpfte und in das große Erdgeschoss des Backsteinhäuschens auf den Bruchlinien zwischen den Welten eintrat. „Guten Abend“, schnurrte ich in meinem schönsten Vibrato, zwinkerte Artemis zu. Der hatte sich im Schaukelstuhl förmlich zusammengefaltet und schnüffelte. »Aha«, dachte ich. Das Erfinder-Einhorn war ein sehr verlässlicher Seismograph für atmosphärische Spannungen. „Guten Abend“, knurrte Detorix, Szenarize, winkte mich mit grimmig-strengem Blick heran, stellte auf den großen Tisch Teetassen, pfiff sich ein Pfefferminz-Bonbon in eine Backe. »Au Backe«, spiegelte ich in Gedanken. Ein schneller Abgang stand nicht zu erwarten. Eher ein längerer Vortrag. Höflich lächelnd deponierte ich meine „Ausgehuniform“, Homburger und Staubmantel, schlüpfte aus der Jacke und lockerte mein Schaltuch. Detorix schenkte Tee aus, während er dem schniefenden, sichtlich bekümmerten Artemis ein weiteres Stofftaschentuch reichte. Ich nutzte die Gelegenheit, die Garderobenbestückung zu inspizieren. Bowler und Seebärenkurzmantel, Kapuzenmantel und Einhorn-Überzieher. Parka, Pudelmütze und unförmiger Strickschal, Vidales Menschen-Bekleidung, fehlten. Unser gestrandeter Fremdwelten-Freund hatte also trotz was auch immer für einem Malheur Ausgang zur Brache bekommen. Mich traf ein mahnender Blick, also platzierte ich mich artig und signalisierte mit nicht nur metaphorisch gespitzten Ohren Aufnahmebereitschaft. „Dir ist nicht zufällig eine ‚mobile Sphäre‘ in der Brache aufgefallen?“ Detorix‘ Frage blieb rein rhetorischer Natur. Ich zuckte beiläufig mit den Schultern. Sicher, da war dieses Wurfzelt gewesen, offenkundig kein übliches Inventar auf dem Gelände mit dem Air einer Mondlandschaft, das die Beschreibung „Giftmülldeponie“ noch euphemistisch wirken ließ. Ich hatte mich nicht darum gekümmert. Es war ganz gemütlich, während des nasskalten Dezemberwetters dort unterzuschlüpfen und sich mit Vidale zu unterhalten. „Ich nehme an, es ist auch DIR nicht in den Sinn gekommen, dass trotz unserer Daimonen-Wespen, des Zauns und des Warnschilds IRGENDWER auf ungewöhnliche Aktivitäten aufmerksam werden wird?“ Auch diese giftige Ansage erwartete von mir keine Antwort. Detorix seufzte geplagt, akkompagniert von einem merklichen Schniefen des Erfinder-Einhorns. „Möglicherweise ist DIR entgangen, dass wir nicht unsichtbar sind. Einige von uns gehen nur bei sehr günstigen Bedingungen als ‚menschlich‘ durch. Der ganze Rest nicht.“ Ich verkniff mir eine launige Bemerkung. Es zahlte sich niemals aus, Szenarize zu verärgern. Detorix galt als der Beste. Meine sämtlichen Ersparnisse lagerten in einem Schraubdeckelglas hoch auf einem Regal über den geothermischen Herd/Backofen, um für Vidale ein Szenario zu erwerben. „Ich habe mich genötigt gesehen, zu drastischen Maßnahmen zu greifen“, knurrte Detorix, legte eine Plastikhülle frei. Prompt umklammerte Artemis den eigenen Kopf, um so viel von Mund und Ohren zu bedecken wie möglich. Ich warf einen artigen Blick auf den flachen Quader. „Oha!“ *+--+* Die Regenschwaden in der nasskalten Witterung am Frühabend waren so dicht, dass ich meine Sonnenbrille auf die Krempe des Homburgers schob. Die Menschen, die mit Schirmen und gesenkten Köpfen durch die Dunkelheit hasteten, würden sich kaum um meine violetten Mandelaugen kümmern. Vielleicht hielten sie es sogar für ein besonderes Accessoire? Immerhin gab es an allen möglichen Körperpartien diese Leuchtmittel, die blinkten, glitzerten, funkelten. Während ich gemächlich flanierte, Vidales Spur folgte, dachte ich über Detorix‘ Vortrag nach. Zugegeben, vielleicht hätte ich Vidale die ‚mobile Sphäre‘ ausreden sollen. Man konnte nicht erwarten, dass jemand, der in einer „Sphäre“ lebte, offenkundig ohne dass andere Lebewesen körperlich anwesend waren, die Konzepte von Besitz und Eigentum so leicht begriff. Oder gar lernen musste. In dieser uns sehr merkwürdig anmutenden Fremdwelt wachte ein „System“ über Vidale, korrigierte Fehler und hegte schon bloße Unannehmlichkeiten durch diverse Sicherheitsvorkehrungen ein. Detorix HÄTTE Vidale das Strafgesetzbuch (der Menschen) auswendig lernen lassen können. Eine Option, die er nicht nur selbst erwähnt, sondern mit ironischem Schnauben abgelehnt hatte. Vidale verfügte über eine beeindruckende Auffassungsgabe, lernte rasant, verstand mindestens zwei menschliche Sprachen und hatte sich selbst innerhalb kürzester Zeit Daimonisch beigebracht. Was mangelte, war das „Begreifen“. Unsere Welt und die der Menschen wiesen nicht so viele Überschneidungen mit seinen Erfahrungen, mit seinem Erleben auf. Wie wir vermuten mussten, weil Vidales Hinweise UNS Rätsel aufgaben, trotz ungeheuer kunstfertiger Zeichnungen. Detorix brummte irgendwas von Sci-Fi bei Sphären, Schlafkapseln, Avataren des Systems und Gedankenkommunikation mit anderen Lebewesen von Vidales Schlag. Möglicherweise interpretierten wir das auch falsch, weil WIR nur unsere zwei Welten kannten? Vidale beging Fehler nicht aus Unachtsamkeit oder gar mit Absicht. Ihm fehlten die Zusammenhänge, die Einordnung in eine physische Welt. Darin ähnelte er, fand nicht nur ich, durchaus den Ex-Engeln, die sich in der Daimonen-Welt einfanden. Detorix hatte sogar KOK-Offize zum Besuch gebeten, die sich mit der Betreuung von Ex-Engeln befassten. Daher stammte auch der (in meinen violetten Augen) grässliche Strickpullover aus Yak-Wolle mit der Aufschrift „Keine Panik.“ Etwas übertrieben, fand ich. Bei Ex-Engeln geriet niemand in Panik. Die Möglichkeit, dass Vidale per Anhalter durch Galaxien reisen würde, erschien mir etwas leichtfertig. Wir hatten nicht mal die Möglichkeit, ihn aus der Menschenwelt in irgendeine andere zu befördern. Wobei die Menschenwelt seiner Gesundheit auch nicht gerade zuträglich war. Weshalb er täglich zur Brache laufen durfte, um dort die Mattigkeit und Kopfschmerzen zu lindern. *+--+* Die Brache befand sich nach einer Garagenfront hinter einem übermannshohen Bauzaun aus Brettern mit einer Eisentür. [Exterritoriales Gelände. Betreten für Unbefugte verboten.] Ich tippte an den kleinen Behälter an meinem Gürtel, woraufhin sich freundliche Daimonen-Käfer aufmachten, das Vorhängeschloss zu öffnen. Die Daimonen-Wespen, die Detorix als „Sicherheitsvorkehrung“ mit ihren Nestern angesiedelt hatte, ließen mich in Ruhe. Nachdem ich über die hohe Schwelle gestiegen war, ließ ich die schwere Tür wieder einrasten. Auf einer Picknickdecke neben einem aufgespannten Regenschirm kauerte eine magere Gestalt. Wollmütze, Strickschal und Parka, aus dessen Ärmeln der grässliche Strickpullover hervorsah. Vermutlich schützte der Regenschirm die Umhängetasche mit dem Plüsch-Kronk und dem Proviant. Ein Glasstab mit daimonischen Leuchtkäfern warf ein bisschen Licht in die grässlich fade Umgebung. Das konnte ich selbstverständlich mühelos toppen! Geschmeidig spazierte ich heran, verbeugte mich artig vor Vidale und lupfte den Homburger. „Einen schönen guten Abend“, schnurrte ich in meinem volltönensten Bass. „Guten Abend, Chise“, antwortete Vidale mir, das spitze Gesicht sehr blass, mit dunklen Augen unter zarten Augenbrauen. Selbstherrlich zupfte ich an der Pudelmütze, um unter den wirren schwarzen Locken seine kalte Stirn zu küssen. Die berühmte „Windstoß-Frisur“ wahrer „Korinther“ als „Jane-ite“ konnte er in dieser Aufmachung natürlich nicht pflegen! „Ich bin sehr ignorant gewesen“, wisperte Vidale bekümmert. Seine Mimik erweiterte sich mit jedem Tag, vor allem in Gesellschaft des Erfinder-Einhorns. Nicht, dass wir an der Bandbreite von Emotionen zweifelten. Allerdings schien es auch überflüssig, eine visuelle Ausdrucksform von Gefühlen zu pflegen, wenn man sich (laut Vidale) in Gedanken austauschte! „Tatsächlich?“, kommentierte ich, ließ mich vor ihm auf der Picknickdecke nieder. Sein „ich bin sehr ignorant gewesen“ klang für mich verdächtig nach „ich war sehr~sehr~sehr ungezogen.“ Er seufzte leise und faltete sich noch kompakter zusammen, ohnehin nur ein mageres Bündel aus dünnen Gliedern. „Wie ich sehe, ist das Wurfzelt verschwunden“, nahm ich einen leichteren Anfang auf sehr holprigem Gelände. Vidale hob die schmalen Hände, umklammerte zwei meiner rostbraunen Dreadlocks. „Das war sehr unbedacht von mir“, wisperte er mit exakt dem beschämten Ausdruck, den Artemis gelegentlich zur Schau stellte, „ich habe nicht berücksichtigt, dass Dinge hier...dass sie nicht frei verfügbar sind.“ Klar, in seiner „Sphäre“ gehörte alles ihm. „Ich bedaure meine Ignoranz sehr“, murmelte er beklommen. „Ach, nicht so schlimm“, antwortete ich, lupfte sein spitzes Kinn ungeniert, zwinkerte ihm zu, was sein bleiches Gesicht in ein kleidsameres Violett tauchte, „wird bestimmt niemand so schnell vermisst haben. Bei den Stürmen in der letzten Zeit fliegt immer mal was herum und verirrt sich.“ Vidale zog die zarten Augenbrauen grübelnd zusammen. „Stürme? Ah, starke Luftbewegung? Ich verstehe. Das ist eine gute Erklärung.“ Ich unterdrückte standhaft ein Grinsen. Ausflüchte oder Ausreden waren auf Vidales Curriculum offenbar noch nicht vorgesehen. „Allerdings war ich nicht nur wegen der ‚mobilen Sphäre‘ sehr ignorant“, ließ er mich wissen, zupfte an meinen Dreadlocks. Auf seinem Gesicht spiegelte sich das Entsetzen, das ich auch bei Artemis gesehen hatte. Ich hingegen kämpfte gegen ein höchst amüsiertes Prusten ob der Ursache an. „Vielleicht“, ich räusperte mich, „möchtest du es mir erzählen?“ Die Pudelmütze senkte sich, die mageren Schultern zogen sich förmlich bis zu den Ohren. Ich hob die Hände, streichelte behutsam über die sehr glatte Haut von Vidales Wangen. „War es so fürchterlich?“, gab ich eine Steilvorlage. Vidale hob den Kopf, sah mich an. Anders als das Erfinder-Einhorn, dessen Panik geradezu mitleiderregend war, wirkte Vidale gedankenvoll-bedauernd. „Ich habe die Fakten gründlich inspiziert“, erklärte er mir, mein Grimassieren ob der Wortwahl ignorierend, „und ich befürchte, dass ich...dass ich nicht fähig bin, den Sachverhalt zu begreifen, auch wenn ich ihn verstanden habe.“ Spontan entwich mir ein Seufzer. Meine Reaktion missverstehend nickte Vidale. „Ganz richtig, ich hätte mich mehr mit den Details befassen sollen. Mein Report ist diesbezüglich zu recht schlecht ausgefallen.“ Ich begriff, dass er mit „Report“ Detorix‘ Kritik meinte. In Vidales Welt wurde er wohl regelmäßig „geprüft“, ob er das „Protokoll“ einhielt, in diesen „Reports“. „Wenn ich mich recht entsinne, hat Miss Austen sich über die delikaten Details nicht ausgelassen“, baute ich ihm ein zierliches Brückchen auf die Seite von Optimismus. Vidale war ein glühender Fan, kannte alle bekannten Werke auswendig, im Original, in deutscher und daimonischer Übersetzung. Alles, was in der Leihbücherei in den beiden Regalen erreichbar gewesen war (samt Bilderbüchern aus den Lesekübeln), hatte er studiert. Wir konnten uns ausgiebig über das Regency und die nachfolgende viktorianische Epoche unterhalten. Allerdings...allerdings fehlte Vidale schlichtweg die physische Erfahrung. Er hatte seine Bekleidung für die Veranstaltung an Halloween (Abendveranstaltung in einem geschlossenen Raum) anhand der Zeichnungen und Stiche aus der kurzen Zeitspanne der Prinz-Regentenschaft gestaltet. Hätte „das System“, das seinen Körper täglich pflegte (Nägel und Haare kürzte), eine andere Länge seiner schwarzen Locken zugelassen, wäre er durchaus auch in einem zarten Kleid mit hoher Taille aus Musselin samt Schultertuch, langen Handschuhen und zarten Schühchen in Erscheinung getreten. Bloß ließ die Länge seiner Haare eine notwendige Steckfrisur mit griechisch-römischen Vorbildern nicht zu. Deshalb kein feines Kleid. Nicht ein Mal kam ihm in den Sinn, dass primäre und sekundäre Geschlechtsorgane (vielmehr ihr Vorhandensein) eine ausschlaggebende Rolle spielten. Bei Menschen zumindest. „Du konntest das nicht wissen“, tröstete ich beharrlich. Vidale seufzte erneut. „Ich glaube, ich bin sehr unzulänglich in meiner Erscheinung. Selbst wenn es mir gelingen sollte, die Vielfalt dieser Welt zu würdigen, so scheine ich doch keinen Platz darin finden zu können.“ Die bekümmerte Ruhe, mit der er diese Einschätzung formulierte, vertrieb mein Amüsement gründlich. Unaufgefordert fädelte ich meine Hände unter Vidales Achseln, hob ihn mir auf die gekreuzten Beine, legte die Arme um seine knochigen Schultern. „Bitte verliere nicht die Zuversicht, Vidale. Wir finden einen Weg. Das alles ist ein Abenteuer, erinnerst du dich?“, strengte ich mich an, ihn aufzumuntern. Vidale lächelte zögerlich. „Ja, ein Abenteuer, in der Tat. Leider bin ich nicht so ‚gerissen-schlitzohrig‘ wie notwendig.“ In mir kochte kurz eine gallige Erwiderung hoch, aber ich vertrieb sie rasch. „Gerissen-schlitzohrig“ hörte sich verdächtig nach einem Zitat von Thekla Anuphobis an. Sie stand einem Friedensgericht vor und war mit meiner Vielzahl von Arresten vertraut. Vermutlich hatte Detorix ihre Worte wiederholt, um Vidale eine Standpauke in Sachen Wurfzelt zu halten und anschließend allgemein zu werden. „Wir lassen uns was einfallen“, versicherte ich. Dafür haftete mir ja dieses zweifelhafte Prädikat an. „Auf den Zeichnungen zeigten sie keine Zähne“, bemerkte Vidale gerade abgelenkt, grübelnd. Seine kleinen Zähne liefen spitz zu. Mich störte das gar nicht. In seinem schicken Auftritt als junger Gentleman der Gentry an Halloween war das bestimmt auch nicht negativ aufgenommen worden. Immerhin hatte er nicht die Geschmacklosigkeit besessen, sich als Zombie auszugeben, um eine lächerliche Filmparodie darzubieten. (Nichts, was Detorix jemals vorspielen würde, da sein Erfinder-Einhorn ziemlich schreckhaft war!) „Du kannst sie hypnotisieren, wenn sie dir an die Wäsche wollen“, wies ich auf eine sehr hilfreiche Eigenschaft hin. Wobei eher der Part „unter die Wäsche“ zum Problem wurde, weil Vidale keinerlei Geschlechts- oder Verdauungsorgane in menschlicher Prägung vorzuweisen hatte. Sein Griff um meine Dreadlocks verkrampfte sich kurz. „Weißt du, Detorix hält es für möglich, dass meine Hypnose nicht anhält. Und nicht bei jedem Menschen wirkt“, ließ er mich bedrückt wissen. Ich grummelte inwendig. Zugegeben, ich hatte mit allzu aufdringlichen Menschen keine Probleme. Na ja, respektive danach ständig Arrest, also ein Aufenthaltsverbot. Solange ich bei „Selbstverteidigung“ blieb. Energisch pflückte ich Vidale von meinem Schoß, erhob mich und bot ihm die Hände, damit er meinem Beispiel folgen konnte. „Ich denke, wir haben uns etwas Erheiterung verdient“, stellte ich kategorisch fest, sammelte rasch Vidales Habseligkeiten auf, nahm seine Umhängetasche an mich. Es musste schon mit dem Teufel (und ich meine nicht dem Großen M!) zugehen, wenn es mir nicht gelingen sollte, Detorix‘ Aufklärungsunterricht samt Porno-Vorführung aus Vidales Gedanken zu vertreiben! *+--+* Ich versuchte, jeden Abend rechtzeitig in die Menschenwelt über die Bruchlinie beim Backsteinhäuschen überzutreten, um Vidale zur Brache zu begleiten, mit ihm durch die grässliche Witterung der Dezemberabende zu streifen. Tagsüber konnte ich mich auf „meiner Seite“ in der Daimonen-Welt gemütlicher Wärme erfreuen, während ich „Spuren“ suchte, kartierte, mich nützlich machte, um mir ein Auskommen zu verdienen. Unsere Nachforschungen bezüglich einer „Tür“ zurück in Vidales Welt waren erfolglos geblieben. Detorix, Artemis und einige Medis bemühten sich darum, Vidale mit der Menschenwelt vertraut zu machen und seine Physis zu erkunden. Sollte man versuchen, die Brache mit Giftmüll-Altlast zu erwerben, damit er sich dort niederlassen konnte? Woher kam die Mattigkeit, die Vidale befiel? Für seine Ernährung war ich verantwortlich, nachdem ich durch meinen „Spürsinn“ ermittelt hatte, was er vertragen konnte. Wobei wir immer noch nicht wussten, wie er säuerlichen Quark, Mixed Pickels, grünen Tee mit Balsamico-Essig und Naturjoghurt verstoffwechselte. Am Nikolaustag trat ich wie gewohnt ein, Staubmantel, Jacke und Homburger apportierend. Im Backsteinhäuschen herrschten sehr angenehme Temperaturen dank der Geothermie der Daimonen-Welt. Das Erdgeschoss, eigentlich der Mittelpunkt des Geschehens, war zu meiner Überraschung verlassen. An der Garderobe hingen alle Mäntel und der Parka. Unter der Treppe im Obergeschoss war Vidales Nachtlager verschwunden. Ich hörte im Obergeschoss Stimmen, ließ Staubmantel, Jacke und Homburger auf dem großen Tisch und stieg hoch. Hier oben befanden sich das Badezimmer, das Schlafzimmer und Detorix‘ Büro. Das Backsteinhäuschen wies nicht gerade beeindruckende Dimensionen auf. Ich fand alle drei plus einen Medi im Schlafzimmer. Der Katzen-Daimon zuckte mit Schnurrhaaren, beäugte mich prüfend. Langsam wurde es ZU voll in dem kleinen Raum. Artemis schniefte unaufhörlich, Detorix kraulte dem Erfinder-Einhorn die weiße Mähne und auf dem Bett lag Vidale, lediglich mit einem Unterhemd und Shorts bekleidet. Ich schnappte nach Luft. Vidale glühte förmlich, auch wenn man seiner bleichen, mageren Gestalt nichts davon ansah. Um ihn herum hatten Detorix und Artemis alles aufgeboten, was an Kühlmaterial verfügbar war. „Ein Virus vielleicht“, bemerkte der Katzen-Daimon mit gesträubtem Fell unter dem schlichten Kittel. Detorix wandte sich mir zu, ganz ungewohnt aufgewühlt. Er dampfte förmlich vor Pfefferminz-Aroma. „Chise, kannst du etwas feststellen? Können wir ein Medikament verabreichen?“ Mich überkam ein leichter Schwindel, kombiniert mit einem Anflug Panik. Ich spürte das Fieber natürlich, die gesamte Atmosphäre, doch keinen Hinweis, keine Anmutung, die bei mir eine Eingebung auslösten. „Ich nehme ihn zur Brache mit“, verkündete ich, „das hat bisher Wirkung gezeigt.“ Obwohl ich mir nicht sicher war, auch dieses Mal Linderung zu finden. *+--+* Glücklicherweise regnete es nicht, doch das wäre mir auch gleich gewesen. Artemis‘ Umhang der „Unsichtbarkeit“ war weder wasser- noch feuerfest, wie sich in der Vergangenheit recht spektakulär herausgestellt hatte. Bisher konnte das Erfinder-Einhorn bei den Neuauflagen keine Verbesserung herstellen. Vidale wog auf meinen Armen nichts. Unter dem Umhang strahlte er in Shorts und dem Unterhemd eine unheimliche, fast versengende Hitze aus. Ich war schon dankbar dafür, dass eine Hand einen meiner rostbraunen Dreadlocks umklammerte. „Gleich sind wir da“, versprach ich ihm, „dann wird es besser.“ Vidale blinzelte, lächelte matt. Er schien keine Schmerzen zu leiden, wirkte desorientiert und erschöpft. Nachdem das Vorhängeschloss von meinen Käfern geöffnet worden war, trat ich einfach die Tür nach innen. Auf der Brache ließ ich mich mit gekreuzten Beinen mühelos nieder, Vidale in meinen Armen. „Willst du einen Schluck Wasser?“, erkundigte ich mich, stützte Vidale an mir ab, während ich aus meinem Staubmantel und der Jacke schlüpfte, sie mir nur lose über die Schultern hängte. Der Temperaturunterschied zwischen meiner Brust, wo Vidale heizte, und meinem Rücken mit Dezemberkälte war beträchtlich. Vidale nickte mühsam. Ich setzte aus der Umhängetasche die Wasserflasche an seine Lippen. Eine Dampfwolke zischte hoch. „Das ist neu“, brummte ich, um meine Bestürzung zu überspielen. Vidale lächelte. „Ah, Chise. Wie schön“, registrierte er mich. In seiner Hand knisterte mein Dreadlock versengt. „Ich glaube, du hast Fieber“, stellte ich eine waghalsige Theorie auf, „was tust du in deiner Welt, wenn du krank bist?“ Seine bleiche Stirn kräuselte sich in der bekannten Verwirrung. „Krank?“, wiederholte er leise, „ich werde nicht krank.“ „Du hast sehr hohe Temperatur“, wies ich auf das Offensichtliche hin, ignorierte den Geruch verschmorten Keratins. Auf einen Dreadlock kam es nicht an! Die zarten Augenbrauen zogen sich zusammen. „Das System verhindert Fehler“, erläuterte er, „ein unerwünschter Zustand wird durch ordnungsgemäße Wartung ausgeschlossen.“ „Aber was tust du, wenn du nicht in diese...diese Pflegeeinheit reinkommst? Wenn die Wartung nicht erfolgen kann...wegen eines technischen Defekts?!“, hakte ich angestrengt nach. Vidale blinzelte träge. „Ein solcher Sachverhalt ist im Protokoll nicht verzeichnet“, ließ er mich unaufgeregt wissen. Ich atmete tief durch. „Was tust du, wenn dir zu heiß ist?“, versuchte ich es wider böse Vorahnungen erneut. Vidale musste nicht mal überlegen. „In der Sphäre sind alle Temperaturen optimal auf den Organismus ausgerichtet. Das System ist geeicht. Unausgewogenheiten werden sofort austariert“, deklamierte er sachlich. Um mir Bedenkzeit zu verschaffen, griff ich nach dem Mobiltelefon, das Detorix mir aufgenötigt hatte. „Wir sind hier. Das Fieber ist unverändert heftig“, teilte ich Detorix mit, warf einen Blick in Vidales große, schwarze Augen, „und wir wissen nicht, wie wir...das ändern können.“ Abgesehen von einsetzendem Regen, der Dampfwolken entwickelte, als er mit Vidales Körper in Kontakt kam. „Und die Tinktur?“, erkundigte sich Detorix. „Augenblick!“, ich fischte in der Umhängetasche nach der Phiole, entkorkte sie. Der Katzen-Daimon hatte das stärkste Fiebermittel gemischt, das in der Daimonen-Welt bekannt war. Üblicherweise fühlte man sich wie ein Eiszapfen nach Einnahme. Ich stützte Vidale ab und träufelte ihm etwas auf die Lippen. Sekunden später wandte er den Kopf ruckartig und spuckte aus, rang nach Luft. „Das...hat nicht funktioniert“, berichtete ich Detorix, der vermutlich anhand der Geräusche schon das Ergebnis detektiert hatte. „Und jetzt?“, flüsterte ich, tupfte mit der freien Hand Vidales Gesicht sauber. Das Stofftaschentuch roch prompt, als würde es glimmen. Detorix blieb still. Ich unterbrach die Verbindung. „Man kann keine Sterne sehen“, stellte Vidale fest, den der Regen nicht zu stören schien. „Nein, es ist bewölkt“, ich atmete tief durch, lehnte Vidale an meine Brust. „Mir hat das Schaukeln sehr gefallen“, vertraute er mir mit einem sanften Lächeln an, zupfte an meinem versengten Dreadlock, „das hat so viel Spaß gemacht! Alles hier ist ein Abenteuer!“ Ich rang mit einem Aufschluchzen, zwang mich zu einem Grinsen. „Ich wusste, dass es dir gefallen würde!“, behauptete ich angestrengt. Spielplätze gab es in seiner Welt schließlich auch nicht. Behutsam umfasste ich Vidale mit beiden Armen, umschlang ihn trotz der immensen Hitze. „Möchtest du, dass ich dir von der anderen Seite erzähle? Von den zwei Sonnen, den Sternen und den Höhlen?“ Vidale lächelte mich gelassen an. „Das würde mir sehr gefallen. Ich wünschte, ich könnte deine Sphäre einmal leibhaftig besuchen“, antwortete er. Nicht, dass das möglich gewesen wäre. Das hatten alle Medis bestätigt. Ich platzierte einen Kuss auf seiner Stirn, verbrühte mir beinahe die Lippen. Dann erzählte ich ihm von der Daimonen-Welt und meinen Abenteuern, während die violetten Lichter um uns immer wieder verschwammen. *+--+* „Das ist ja eine schöne Bescherung!“ Ich zuckte zusammen ob des grimmigen Kommentars, blinzelte meine verklebte Sicht frei. Auf der Seite unter meinem losen Staubmantel liegend sah ich vage Morgenstimmung in unerfreulicher Kälte, und… „Vidale!“, rappelte ich mich auf in eine sitzende Haltung, registrierte die zerbrochene Glaslampe nur beiläufig, während ich Vidale in meinen Armen ausrichtete. Über mir schnaubte Detorix, doch ich konnte seine fundamentale Erleichterung spüren. Vidale blinzelte mich an, zitterte leicht. „Chise, Detorix, guten Morgen“, wisperte er heiser, wollte die nackten Arme und Beine einklappen. „Oh! Ich bin blau!“ *+--+* Auf Vidales verblüfften Ausruf hin konnte ich nicht anders als laut herauszulachen. Vermutlich Anspannung und sich auflösende Verzweiflung. Detorix über uns schnalzte mit der Zunge. „So viel zu geschmeidiger Anpassung an die Menschenwelt! Ein zu groß geratener Schlumpf! Na, die Idee können wir begraben!“, grantelte er ungehalten, warf ein Pfefferminz-Bonbon ein. Ich wunderte mich, dass er überhaupt noch welche zur Nervennahrung übrig hatte. Hinter mir plumpste eine große Tüte auf die Mondlandschaft der Brache. „Ihr seht besser zu, dass ihr Land gewinnt. Ich werde einen Medi auftreiben. Schon wieder!“, grollte Detorix und stapfte zur Tür, ermahnte mich über die Schulter, „und KEINE Experimente mit Make-Up oder Sprühfarbe, verstanden?!“ Das tat ich zwar nicht, vermutete aber, es handle sich eher an eine dem Erfinder-Einhorn zu übermittelnde Warnung. „Tsktsktsk!“, hörte ich ihn knurren, als er die Zerstörung kommentierte, die ich mit einem Fußtritt verursacht hatte. Ich wandte mich rasch herum, um Vidale meinen Staubmantel umzulegen. Seine kleinen, spitz zulaufenden Zähne klapperten vernehmlich. „Das ist wirklich seltsam“, bemerkte Vidale, hustete anschließend. Rasch reichte ich die Wasserflasche aus der Umhängetasche an, half ihm, einen Schluck zu nehmen. „Aber du bist nicht mehr krank!“, stellte ich erfreut fest, erhob mich und zog ihn auf die nackten Füße. „Ich bin blau“, wiederholte Vidale zu meinem Amüsement, nahm aus der Thermosflasche etwas grünen Tee mit Balsamico...und spuckte heftig aus. Sofort stützte ich ihn ab, schnupperte und betrachtete ihn prüfend. „Weißt du, ‚blau sein‘ bedeutet im übertragenen Sinne, dass man betrunken ist“, klärte ich ihn auf, während ich meinen Staubmantel von seinen mageren Schultern streifte, meine Hände rasch über seine Haut gleiten ließ. »HMMM!«, diagnostizierte ich, wickelte ihn eng in die Decke, die Detorix mitgebracht hatte, bevor ich meine Hände abwischte und selbst in Jacke und Staubmantel schlüpfte. „Ich glaube, wir haben zumindest ein Rätsel gelöst“, stellte ich fest, bevor ich mir die vollgestopfte Umhängetasche schnappte und Vidale auf meine Arme nahm. „Haben wir?“, erkundigte Vidale sich verwirrt, betrachtete erschrocken meinen versengten Dreadlock. „Darüber reden wir, wenn wir geduscht haben.“ *+--+* Samstagmorgens war nicht übertrieben viel los und ich ausgesprochen flott. Selbst wenn es irgendwem merkwürdig vorgekommen wäre, dass ich eine große Decke apportierte, aus der lediglich ein Lockenschopf an einem Ende herausragte, wäre es kaum möglich gewesen, mich anzuhalten. Als ich das Backsteinhäuschen erreichte, öffnete sich die Tür in den kleinen Innenhof von allein. Der Strauchdaimon raschelte aufmunternd, als ich mich bedankte und ins Gebäude stürmte, an Artemis vorbei, der jubelte, heulte, schniefte und lachte. *+--+* „Das ist ein gewisser Rückschlag, oder?“ Vidale studierte uns in der Dusche, während ich paritätisch daimonisches Seifenkraut verteilte. Das sollte ihm zumindest nicht schaden, hoffte ich. Sein Blick nahm nicht nur meinen Teint (altes Elfenbein) in den Fokus, sondern auch den gesamten Rest. Den mit der geschlechtlichen Vermehrungsoption-Rest. „Es ist ein sehr schöner Blauton“, lenkte ich ab, tupfte mit einer violetten Kralle behutsam auf seine Nasenspitze, „ein elegantes Mittelblau, dezent gedämpft. Ganz sicher keine Schlumpf-Farbe! Detorix war zu voreilig.“ Vidales große, schwarze Augen leuchteten auf. „Tatsächlich? Gibt es andere mit dieser Hautfarbe hier?“, schöpfte er Hoffnung. So viel zu meiner ‚gerissenen Schlitzohrigkeit‘! „Das wohl eher nicht“, räumte ich ein, „außerdem sind Schlümpfe auch nicht echt.“ Soweit mir bekannt war, handelte es sich um fiktive Wichtel eines Künstlers namens Peyo. Ich verkniff mir besser auch Anspielungen auf die Filmreihe „Avatar“. Das hätte Vidale vollkommen in Verwirrung gestürzt. Kein Wunder, wie sollte unser Fremdwelt-Gestrandeter auch Fiktion und menschliche Realität voneinander unterscheiden können?! Nicht mal Daimonen kamen mit DEM Horror klar! „Oh“, murmelte Vidale ernüchtert, senkte das Lockenhaupt. Im nassen Zustand verabschiedete sich die vornehme „Windstoß-Frisur“ vollkommen. „Andererseits macht es keinen großen Unterschied“, stellte er bekümmert fest, den Blick auf meinen Torso gerichtet. Bei jedem anderen Wesen hätte ich eine Herausforderung zu diesem oder jenem vermutet, doch bei Vidale fiel das aus. Selbst nach Detorix‘ edukativer Porno-Vorführung. Selbstherrlich lenkte ich mit einem gekrümmten Finger unter seinem spitzen Kinn seine Aufmerksamkeit auf mein Gesicht. „Es gibt noch jede Menge interessanter Gemeinsamkeiten zu entdecken, mein Freund“, beschied ich ihm großspurig. Angefangen damit, ihn auf die Lippen zu küssen. *+--+* Nachdem ich mich und Vidale frisch gewaschen in saubere Daimonen-Welt-Klamotten eingehüllt hatte, kehrten wir in das Erdgeschoss zurück. Das sonst so kontaktscheue Erfinder-Einhorn stürzte auf Vidale zu und umarmte ihn innig, schniefte vor Erleichterung. Also, ich fand diese Kombination aus Kreisch-Pink zu Mittelblau gewöhnungsbedürftiger als unser geschmackvolles Duo! Da konnte Artemis noch so sehr wie ein Sexgott-Pin-up-Adonis ausgestattet sein! Vidale lachte mit Artemis wohlerzogen mit und ließ sich dann, wieder aus der Umarmung entlassen, am großen Tisch platzieren und befragen. Typisch Erfinder-Einhorn! Mir war nach Frühstück, deshalb inspizierte ich das Angebot. Detorix‘ aufgewühlter Gemütszustand versprach regelmäßig in Eintöpfe, Aufläufe und Backwaren aller Art auszuarten (glücklicherweise nicht mit Pfefferminz-Geschmack). „Oh, genau, ihr habt sicher Hunger!“, deklamierte das Erfinder-Einhorn, legte sogar den Notizblock beiseite. Ich wandte mich zu Vidale um, hielt ihm ein Pain au chocolat vor die hübsche Nase. Üblicherweise hätte er verlegen den Kopf geschüttelt. Nun schnupperte er mit geweiteten Augen, nickte hastig. Ich fing einen pinkfarbenen, seelenvollen Blick auf, zwinkerte violett. „Richtig, mein Freund, lass uns herausfinden, was dir jetzt mundet.“ *+--+* Den Katzen-Daimon-Medi hatte es nicht gestört, einen ermüdeten Vidale kurz zu begutachten. Sein Zustand wurde als erfreulich diagnostiziert, wenn auch leider nicht Daimonen-Welt-tauglich. Als ich mich verabschiedete, hatte Artemis Vidale gerade ins Schlafzimmer dirigiert, damit er dort ein Nickerchen einlegen konnte. Kein Wunder, er musste sich wie eine Boa constrictor fühlen, die ein ganzes Warzenschwein verdrückt hatte! Sechs Croissants, drei Pain au chocolat, vier Zimtschnecken, zwei Rosinenbrötchen, drei große Tassen Kakao und zwei Toastbrotscheiben mit Erdnussmus-Blaubeer-Marmelade! „Das ist verblüffend!“, stellte Artemis fest, der eifrig notierte, mich gelegentlich anstrahlte, grübelte und wild im Schaukelstuhl wippte. „Stimmt“, nickte ich nachsichtig. Was Vidale gar nicht mehr mochte, waren sauer oder salzig eingelegtes Gemüse, Naturjoghurt und grüner Tee (ohne Balsamico). „Die Haut, nicht wahr? Ich habe etwas Abrieb von der Decke genommen“, Artemis musste bald seekrank werden, so vehement krängte der Schaukelstuhl, „kurios! Andererseits, in der menschlichen Fauna…!“ Ich blendete den Vortrag aus, nippte an meinem Kakao. »Tja«, dachte ich. Offenbar war es Vidales merkwürdigem Stoffwechsel gelungen, sich erneut an die Menschenwelt anzupassen. Was sehr gut war, da ich keine „Spur“ mehr auf der Brache gesehen hatte. Gefürchtet hatte, er würde aus seinem erschöpften Fieberschlaf nicht mehr aufwachen. *+--+* Die Euphorie hielt nicht lange vor. Dafür blieb Vidales Teint in der, wie ich fand, sehr aparten Kolorierung. „Ja, schön, bloß hinderlich!“, knurrte Detorix, fixierte mich grimmig, als ich mich am Abend einfand. Vidale schlief noch immer friedlich im Obergeschoss, wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben nicht zusammengefaltet in einer piependen, blinkenden „Kapsel“. Artemis schniefte leicht, wurde prompt gekrault, um sein Gemüt zu beruhigen. „Wir können ihn SO nicht bei Menschens einschmuggeln“, stellte der Szenarize kategorisch fest, „nicht mal als gestörter Ganz-Körper-Tätowierter!“ Ich lupfte eine Augenbraue, während ich meinen Staubmantel faltete. Dankenswerter Weise hatte Artemis während meiner Rückkehr in die Daimonen-Welt unsere Bekleidung thermisch gereinigt. „Auf unsere Seite kann er nicht kommen“, bemerkte ich beiläufig. „Vielleicht könnte er sich gewöhnen?“, schlug Artemis leise vor, „möglicherweise kann sich sein Organismus noch mal adaptieren?“ Detorix schnaubte, tätschelte jedoch ausgleichend den weißen Schopf des Erfinder-Einhorns. „Mal unter uns: letzte Nacht war schlicht Glück. Es gab nie eine Verbindung von seiner Welt mit unserer. Diese Anomalie zur Menschenwelt war ebenfalls Zufall. Ich möchte nicht ausprobieren, was passiert, wenn jemand, der schon in der Menschenwelt Anlaufschwierigkeiten hat, ein Tor durchschreitet. Du weißt doch, was mit Menschen passiert. Üblicherweise.“ Richtig. Bis auf wenige, sehr spezielle Ausnahmen kamen Menschen nicht auf unsere Seite, in unsere Welt. Zumindest nicht lebendig. Sofort brachen sich die salzigen Fluten beim mitfühlenden Erfinder-Einhorn, was erst nach drei getränkten Stofftaschentüchern eingedämmt war. „Guten Abend“, mischte sich Vidales Stimme schüchtern in die ungemütliche Stille. Er kämpfte sich in den ungeliebten Sneakern die Treppe herunter. Ich sprang auf, streckte ihm eine Hand entgegen und küsste seine auf den Handrücken, zwinkerte ihm zu. „Guten Abend, mein Lieber. Wie geht es dir?“ Nein, er war immer noch ein Strich in der Landschaft, ganz unverändert. „Ich bin immer noch blau“, ein schelmisches Lächeln tanzte auf seinen Zügen, „und ich würde gern eine Tasse Kakao trinken.“ Detorix brummelte, teilte nicht nur Kakao aus, sondern stellte auch eine gewaltige Pizza aus dem Ofen auf den Tisch. „Zu Studienzwecken“, bellte er, denn sie war kunterbunt belegt. *+--+* Zur Feier seines Überlebens führte ich Vidale zum Schaukeln aus. Detorix hatte ihn mal zu einer Taxi-Fahrt, im Bus und in der Straßenbahn mitgenommen. Außerdem hatten wir einen elektrisch betriebenen Stehroller benutzt. Vidale blieb interessiert, höflich und erfreut, kein Pferdefuhrwerk (wie im Regency üblich) benutzen zu müssen (eine Verfilmung hatte ihn nachhaltig schockiert). Die große Schaukel allein brachte ihn zum begeisterten Jauchzen und Jubeln. Mir gefiel das sehr. Ich konnte mit jedem Ausflug erkennen, wie sich Vidales Emotionen in seiner Körpersprache ausprägten. „Das ist so herrlich!“, vertraute er mir leicht taumelnd an, als ich ihn abstützte und in die Arme nahm. Von ihm konnte ich gerade nicht viel erkennen. Zu Parka, Pudelmütze, Strickschal hatte sich eine rundum geschlossene Sonnenbrille gesellt. Damit niemand seinen hübschen mittelblauen Teint bemerken konnte. Ich lachte, weil ich trotzdem in seiner Stimme sein ausgelassenes Vergnügen hören konnte. Außerdem „spürte“ ich seine Begeisterung. „Oh, aber ich sollte nicht übermütig werden“, erinnerte er sich, hakte sich brav bei mir unter. „Weißt du, in ‚Persuasion‘ stürzt die jüngere Schwester an der Küste Treppen hinunter, weil sie sich nicht zurücknimmt.“ Ich hörte Versonnenheit in seiner Stimme. „Das kam mir wirklich merkwürdig vor. Dass kein Sicherheitsprotokoll eingriff, aber auch, dass Emotionen so mächtig sein können.“ Fast entschuldigend drückte er meinen Arm. „Das hätte ich nicht gedacht. Alles hier ist ein Abenteuer“, subsumierte er leise, „auch Unfälle, Schmerz und Kummer.“ Ich blieb stehen, wandte mich ihm zu. Wir waren beinahe gleich groß. „Das ist Leben, Vidale. Alles andere ist bloße Existenz.“ Ich schloss ein Zwinkern an, um meinen Worten den schwermütigen Ernst zu nehmen. Wie ärgerlich, dass ich nicht in seine Augen sehen konnte! „Ich bin froh“, Vidale zupfte einen Fäustling von seiner schmalen Hand, nahm den gestutzten (da versengten) Dreadlock zwischen die Finger, „ich bin sehr glücklich, dass ich noch ein wenig weiter leben und Abenteuer erfahren kann.“ Seine kühle Hand streifte sehr vorsichtig meine Wange. „Vorher hatte ich keinen Begriff von Kummer. Oder Wehmut. Das waren nur Worte. Gestern HABE ich euren Kummer gespürt. Ich war wehmütig beim Einschlafen. Im Protokoll stand nichts von all dem. Diese Erfahrungen sind wertvoll. Ich weiß, dass ich bedauern würde, sie nicht zu machen.“ In meiner „gerissenen Schlitzohrigkeit“ stand mir der Sinn nach weiteren Erfahrungen, deshalb zupfte ich den lästigen Strickschal tiefer. Ja, die kleinen Zähne liefen spitz zu, aber ich war mir sicher, dass meine Zungenspitze auch bei einem Malheur schnell wieder heilen würde! *+--+* Als wir zurückkehrten, hatte Detorix ein Feldbett für Vidale organisiert. Das passte selbstredend nicht unter den Treppenaufgang, weshalb der „Laufweg“ zwischen Sitzbank und Sitztruhe vor dem Fenster blockiert wurde. Richtig, ein Dauerzustand konnte Vidales Verbleib nicht sein. Während er nach einer großen Tasse Kakao die spitzen Beißerchen im Obergeschoss polierte und in einen Pyjama wechselte, reichte mir Artemis Decke und Kissen. „Kann ich die Lampe hierher stellen?“, erkundigte ich mich. Mir fiel beim Aussetzen des Plüsch-Kronks ein, dass ich den Glasstab mit den Daimonen-Leuchtkäfern zerbrochen hatte. Artemis nickte eifrig. „Ich werde mit Vidale morgen einfach was Hübsches basteln“, versicherte er mir euphorisch, „ich bin so froh, dass es ihm wieder gut geht!“ Dann beugte er sich vertraulich zu mir hinüber. „Wir könnten es auch mit einer Brille versuchen, in die farbige LEDs eingelassen sind.“ Hastig richtete er sich auf, als könne Detorix unvermittelt aus dem Boden wachsen. „Das ist KEINE Erfindung und weder Sprühfarbe noch Make-Up!“ *+--+* „Hattest du einen angenehmen Tag?“, erkundigte ich mich bei Vidale, der sich rasch verpuppte. „Es war sehr abwechslungsreich“, versicherte er mir, schon thermisch gedämmt durch den Strickschal. Mit Pudelmütze und der gewaltigen Sonnenbrille konnte ich seine Mimik nicht mal mehr erahnen. »Diese Brille mit LED-Licht, um seinen schönen, mittelblauen Teint zu tarnen, die sollten wir rasch besorgen«, dachte ich etwas grimmig, schälte beiläufig den Fäustling von seiner Rechten und stopfte sie mit meiner Linken in die Tasche meines Staubmantels. Ich hatte einige Aufträge zu erledigen gehabt und „Sonntage“ gab es in der Daimonen-Welt nicht unbedingt. Eher flexible Arbeitsarrangements. Auf der Menschenseite war es dunkel, garniert mit Nieselregen. Von Schnee keine Spur. Erstaunlicherweise glänzten Artemis und Detorix durch Abwesenheit. „Erzähl‘ mir bitte mehr“, erinnerte ich mich an meinen Part im Gesprächs-Ping-Pong, als wir auf den Gehsteig traten. „Gern!“, ich hörte seine Freude über mein Interesse. Prompt musste ich seine Hand aus meiner Manteltasche an die kalte Luft führen und den Handrücken küssen. „Zunächst haben wir uns handarbeitlich betätigt, Artemis und ich. Der Glasstab ist ja zerbrochen und ich wollte doch recht gern, dass die Leuchtkäfer wieder ein Zuhause haben.“ Richtig, den Glasstab hatte ich zerbrochen. Weil ich mein Unglück nicht noch beleuchten wollte? Möglicherweise. Ob Vidale ahnte, dass es kein Unfall gewesen war? In jedem Fall war er zu höflich, entsprechende Andeutungen zu äußern. „Wir erhielten Besuch“, fädelte ich den Konversationsfaden akustisch auf, „von einer Sicherheitsforschenden.“ Ich hörte Vidales Stirnrunzeln. „Ich bin nicht sicher, dass ich es richtig begriffen habe“, schickte er zu meinem besseren Verständnis voraus, „Yesokrata, so der Name, erforscht Methoden zur Beeinflussung aus Sicherheitsgründen.“ Mir kam sofort der Friedensstifter in den Sinn. Richtig, Vidale konnte Menschen auch über die Sprache beeinflussen! „Detorix warnte Yesokrata, mich nicht aufzuregen, weil ich noch unter medizinischer Beobachtung stehe.“ Er gluckste amüsiert. „Die Warnung hätte jedoch besser Artemis eingeschlossen.“ „Ah, erotische Verwicklung?“, nahm ich den breiten Pfad der Erfahrung mit dem ungeheuer attraktiven, jedoch KATEGORISCH nicht „interessierten“ Erfinder-Einhorn. Vidales gedämpftes Kichern ähnelte nun einem Prusten. „Oh, nein, sie gerieten in einen wissenschaftlichen Disput“, vertraute er mir an. „Sie haben sich gezankt?!“, erkundigte ich mich überrascht. Das klang so gar nicht nach dem weichherzigen Artemis. An meiner Seite grübelte Vidale. „Nun, als Zank oder Hader hätte ich es nicht eingestuft“, begann er vorsichtig, mal wieder unter dem Damoklesschwert der ‚Ignoranz‘, „es war eher ein leidenschaftlicher Austausch von Ansichten.“ Ich musste mich mal wieder daran erinnern, dass Vidale die Wortwahl des Regency verinnerlicht hatte. „Betraf das deine Fähigkeiten und deine Welt?“, hakte ich nach. „In der Tat!“, lobte Vidale meine Aufmerksamkeit, wandte mir sogar den Kopf zu. Ich konnte weiterhin seine Mimik nicht erkennen, was mich frustrierte. Ich vermisste sein warmherziges Lächeln. „Yesokrata wollte genau durchgehen, wie ich mit dem System kommuniziere und wie das mit dem Gedankenaustausch funktioniert. Es könnte sich nämlich auch um eine Suggestion handeln, meinte sie. Weil ich ja Fiktion und Realität nicht per se unterscheiden kann, so ohne Vergleich.“ Mir schwante, dass sich da trügerische Untiefen auftaten, vor allem, wenn Yesokrata in Artemis‘ Anwesenheit zur Beweisführung überging. Vidale setzte mich zuvorkommend ins Bild. „Es könnte ja sein, dass ich glauben gemacht wurde, per Gedanken mit anderen Personen zu kommunizieren. Dass es eine Inszenierung sei. Wobei wir alle zu keinem Schluss kamen, was genau damit bezweckt wurde, ob ich vielleicht für eine Aufgabe konditioniert würde. Immerhin sei mein Alltag recht sinnbefreit gewesen.“ Ich fragte mich, ob es für Vidale nicht beleidigend gewesen war, seine Existenz so eingestuft zu finden. „Artemis warf ein, dass es uns gar nicht möglich sei zu beurteilen, ob die Aufgaben ohne Sinn gewesen seien, weil wir die Umwelt-Variablen gar nicht kennen.“ Wackeres Einhorn! „Yesokrata konterte daraufhin, das sei gar nicht von Bedeutung. Wichtig sei vielmehr, ob ich vielleicht wie Menschen auch beeinflussbar wäre. Denen könne man zum Beispiel die Erinnerungen manipulieren, weil ihr Gedächtnis agil sei, ihre Wahrnehmung häufig eingeschränkt.“ Er drückte sehr behutsam meine Hand in der Manteltasche. „Es war für mich ein wenig verwirrend, doch final konnte ich Yesokrata nur beipflichten. Ich kann mich wirklich nicht darauf besinnen, wie lange mein Leben ‚vor dem Riss‘ angedauert hatte. Ob ich eine besondere ‚Mission‘ habe. Oder einen Veränderungsprozess wie die Alterung bei Menschen durchlaufen bin.“ Vidale seufzte, woraufhin ich spontan unseren Spaziergang unterbrach und ihn umarmte. Er schien meinen Versuch, ihn trösten zu wollen, zu verstehen. Durch den lästigen Strickschal hörte ich ihn aufmunternd flüstern. „Oh, ich bin deshalb nicht betrübt, Chise. Ich habe ausführlich darüber nachgedacht und ich kann das Fazit von Yesokrata nachvollziehen. Mir selbst kam mein Alltag ja nie seltsam vor, weil ich bis zum Riss nichts anderes kannte. Wie hätte ich einen Vergleich ziehen können?“ Ich knuddelte trotzdem noch einige Augenblicke weiter. „Yesokrata glaubt demnach, dass es Manipulationen gab. Zu denen die Verbindung zur Menschenwelt nicht gehörte und deshalb so eine heftige Reaktion erfolgte“, konkludierte ich widerwillig. „Richtig“, die Strickwaren-Mumie mit Brille nickte eifrig, „deshalb möchte sie erforschen, welche Methoden zum Einsatz kamen. Das könnte für die Daimonen in der Menschenwelt nützlich sein.“ „Statt des Friedensstifters eine strenge Ermahnung, sich zu benehmen?“, brummte ich leicht verstimmt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich Vidales Fähigkeiten, eine Straßengang zur Ordnung zu rufen, so einfach instrumentalisieren ließ. Vidale entschlüpfte der Umarmung, nahm meine Hand in die Tasche seines (tödlich langweiligen) Parkas und setzte unseren Spaziergang fort. „Sie begann zu Vergleichszwecken Methoden aus der Menschenwelt vorzustellen und Filme zu zitieren. Wie man Erinnerungen beeinflusst, welche technischen Geräte es gibt, welche Strategien.“ Mir schwante, dass das Artemis gar nicht zugesagt haben konnte. Das Erfinder-Einhorn nahm sich Vieles erst zu Herzen, bevor sofort danach die Schleusen aufgingen. Detorix‘ Stofftaschentuchvorrat passte mittlerweile in einen großen Karton. „Häufig handelt es sich um medizinische Sachverhalte, Phobien, Traumata“, Vidale wandte den Kopf, bemüht, mich zuversichtlich zu stimmen, wie ich annahm. „Ich habe so eine Ahnung, dass sie es nicht dabei beließ, oder?“, seufzte ich trotzdem, drückte behutsam seine Hand. „Das...war sicher keine Absicht“, versicherte Vidale mir tapfer, „leider muss ich eingestehen, dass ich bei den Beispielen häufig nicht folgen konnte. Ich glaube nicht, dass Menschen in Kokons von Maschinen vorgehalten werden, um ihre Energie zu nutzen...“ Seine Stimme verlor sich im Strickschal nachdenklich. „Andererseits habe ich wenig Erfahrung mit der Menschenwelt außerhalb der Leihbücherei. Ich denke aber schon, dass es mir aufgefallen wäre, oder?“ „Das sind bloß Filme!“, platzte ich heraus. Ich hatte eine Vermutung, was Yesokrata als Beispiel angeführt hatte. „Außerdem ist es zwar nett sich zu fragen, ob man ein Schmetterling ist oder man träumt, man sei ein Schmetterling, der sich diese Frage stellt, aber für den Alltag nicht sonderlich hilfreich!“ Meine Empörung ließ ihn innehalten. Das nutzte ich, um erneut eine Umarmung zu initiieren. „Großer M, ich WETTE, dass Detorix im Dreieck gesprungen ist, wenn sie Artemis mit noch mehr Absonderlichkeiten des menschlichen Geistes beglückt hat!“, schnaubte ich aufgebracht. Vidale kuschelte besänftigend. „Oh, sie ging, bevor Detorix von seinen Besuchen in der Menschenwelt zurückkam. Er ist mit Artemis in die Thermen gegangen, zu den Grotten.“ Ich hörte die Frage in seinen Worten, löste mich langsam, um unseren Spaziergang fortzusetzen. „In den Grotten gibt es Wassereinlagerungen mit unterschiedlicher Temperatur. Sie sind prächtig anzusehen, wenn man so im Wasser treibt. In manchen Grotten wird auch musiziert“, erklärte ich dem Fremdwelt-Gestrandeten, der bloß einen aufrechten Glaskasten als „Erfrischungseinheit“ kannte! „Oh, sind das Orte, die du aufspüren kannst?“, lenkte er mich interessiert von meiner stellvertretenden Verärgerung ab. Ich lächelte unwillkürlich. „Die meisten sind schon lange bekannt, das kann ich mir also nicht auf die Fahne schreiben. Tatsächlich könnte ich Grotten finden, das stimmt“, bestätigte ich, pflückte seine Hand aus meiner Staubmanteltasche, küsste sie leicht. „Das würde ich gern mal sehen“, bekannte Vidale sehnsüchtig, rief sich jedoch gleich zur Ordnung, „allerdings ist es bestimmt nicht gewünscht, dass man Bilder überträgt, nicht wahr? Diese Thermen dienen ja schließlich der Erholung.“ Ich dachte in diesem Augenblick bloß daran, dass ich ihm nichts außer Bildern von meiner Welt zeigen konnte. Verdammt! *+--+* Wir betraten durch die Tür die Brache, ein letzter Test. Sofort begann Vidale zu niesen, wieder und wieder. Ich reichte ihm ein Taschentuch, dirigierte ihn eilig vom Gelände, zupfte die störende Sonnenbrille von seiner Nase. Die großen, dunklen Augen tränten, er keuchte asthmatisch. „Gleich ist es besser“, zog ich ihn an mich, rieb mit einer Hand sein knochiges Rückgrat. Nun, ich konnte Detorix mit größter Sicherheit übermitteln, dass dessen aufreibende Suche nach den Eigentümern dieser Giftmüll-Deponie ein Ende hatte. Vidales kurioser Metabolismus schien sich nicht mehr mit der Gegend zu vertragen. Ich hakte ihn sanft unter und entschied, dass wir eine Schaukelrunde einlegen sollten. Das würde ihn aufheitern und ablenken. *+--+* „Ich frage mich, wie Menschen das machen“, Vidale lief artig an meiner Hand, die Sonnenbrille verschmähend, nur den Strickschal bis zur Nasenspitze gezogen, „wie erkennen sie, was erfunden und was real ist?“ „Verstöße gegen die Regeln der Physik sind ein hilfreicher Indikator“, zwinkerte ich, justierte meinen Homburger in einen kecken Winkel. „Richtig“, nickte Vidale konzentriert, „allerdings konnte ich bei Jane Austens Werken nicht erkennen, dass es Fiktion ist. Nur die Selbsterklärung der Autorin hat es indiziert.“ Ich lächelte unwillkürlich, auch wenn ich mit meinem Steampunk-Outfit eher der schillernden Erfindungsgabe mit Anleihen an das spätviktorianische Zeitalter entsprach. „Darin liegt auch ein Grund für die anhaltende Begeisterung über ihre Werke“, ich entführte mal wieder eine Hand und küsste sie, „dass sie so lebensecht Personen schildern konnte. Man erkannte die Ähnlichkeiten, konnte eine Bindung aufbauen. Gleiches kann allerdings auch passieren, wenn man Fabeln liest oder eben Filme sieht mit exotisch wirkenden Gestalten.“ Vidales Pudelmütze wippte bedächtig, als er langsam nickte. „Das kann ich nachvollziehen“, mich streifte ein zögerlicher Seitenblick, „ich frage mich jedoch, warum sprechende Tierfiguren akzeptiert werden, aber unterschiedliche Hautfarben nicht. Warum das äußere Erscheinungsbild zu Ablehnung führt.“ Ich schnaubte. „Da kann ich dir leider nicht helfen. Angeblich war es im menschlichen ‚Reptiliengehirn‘, also der ältesten Ausprägung, von überlebenswichtiger Bedeutung, auf den ersten, noch entfernten Blick Gefahren und Feinde ausmachen zu können. Das ist für mich keine Erklärung. Wahrscheinlich liegt es in der ach so ruhmreichen Agilität des Gedächtnisses und der Denkfaulheit. So kommt man auch mit dämlichsten Verschwörungserzählungen wie Echsen in Menschengestalt auf der Erdscheibe bei einigen durch.“ Ich erwartete, dass Vidale mir mit Verwirrung begegnete, doch er blickte konzentriert geradeaus durch den Nieselregen, dachte nach. „Ich glaube, Yesokrata erwähnte so etwas. Es kam mir doch sehr unlogisch vor. Warum sollten Echsen sich als Menschen tarnen, wenn diese Dinosaurier-Filme so beliebt sind?“ Mir blieb für einige Sekunden die Spucke weg, bevor ich laut herauslachte. Zugegeben, ich würde keinem Original-Dinosaurier begegnen wollen, selbst wenn die Atmosphäre sich entsprechend anpasste, aber Vidales Schlussfolgerungen amüsierten mich ungemein. Er seufzte leise, „ich fürchte, ich werde weiter ignorant bleiben, was diese Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität betrifft.“ „Oh nein!“, rief ich, blockierte den Weg und schlang ihm die Arme um die schmalen Hüften, lupfte ihn und kreiselte überschwänglich, „DU hast genau den richtigen Instinkt, mein Bester!“ Vidale keuchte überrascht, lachte aufgemuntert heraus und strahlte mich erleichtert an. Ich stellte ihn nach einigen übermütigen Umdrehungen wieder auf die Sohlen der ungeliebten Sneaker und kassierte selbstherrlich seine Hand ein. „Ich wünschte, ich könnte dich mit in meine Welt nehmen!“, rutschte mir heraus. Hier, bei den Menschen, musste er sich verbergen, konnte ihrer Wirrköpfigkeit nicht entwischen. „Ja, ich würde dich sehr gern begleiten“, Vidale drehte den Kopf, lächelte mich an. Just in diesem Moment erwies sich Detorix‘ Unkerei als unerfreulich vorausschauend. „Wenn das nicht die zwei Schwanzlutscher sind!“ *+--+* Sie waren zu fünft, hatten uns aufgelauert und umkreist. Üblicherweise hätte mich das nicht gekümmert. Jetzt durfte ich keinen Arrest riskieren. Außerdem wollte ich Vidale nicht in Gefahr bringen. Flucht war aussichtslos, Vidale konnte in den Sneakern schon unter normalen Umständen nicht allzu rasch ausschreiten. „Morlocks!“, hörte ich ihn neben mir ausrufen. Richtig, die verhinderte Straßen-Gang, die seiner „Hypnose“ zum besseren Lebenswandel nicht länger unterworfen war. „Du solltest nicht von deinen Vorlieben auf andere schließen“, knurrte ich den Wortführer an, schob mich vor Vidale. Wir brauchten eine Wand hinter uns! Der brüllte eine mir unverständliche Beleidigung und zückte ein Springmesser. Ich musste ihn im Anlauf erwischen, möglichst zwei seiner Idioten-Gefolgsleute ausschalten, bevor Vidale etwas geschah. Also packte ich den Rädelsführer, schleuderte ihn zurück zu seinen Spießgesellen. Die ganze Bande jedoch taumelte zurück, man kreischte wie von der Tarantel gestochen, bevor sie Fersengeld gaben. Nanu? *+--+* Vidale fasste nach meiner geballten Faust. Wie ein Brustharnisch bedeckten ihn Insekten, sonderten ein tieffrequentes Brummen ab, synchronisierten sich, sodass ihr plüschig wirkendes Erscheinungsbild in dunklen Farben changierte. „Wilde Daimonen-Hummeln!“ Ich starrte Vidale ungläubig an. „Das...das gibt‘s ja gar nicht!“ Ich hatte noch nie davon gehört, dass Wilde Daimonen-Hummeln sich versammelten oder gemeinsam ausschwärmten, um Vollidioten in die Flucht zu schlagen. Sie waren nicht wie Bienenvölker, die Wespen oder die meisten Ameisen. „Du wirst keinen Arrest bekommen, oder?“, erkundigte sich Vidale bange bei mir, drückte meine Hand besorgt. „Arrest? Nein, nein, bloß eine Verwarnung“, wiegelte ich beiläufig ab, studierte den lebenden Schutzschild auf Vidales Parka. Ich hatte den Anführer bloß in zwei seiner Buchstützen geschubst, das zählte kaum. „Das ist unglaublich“, wiederholte ich, „Wilde Daimonen-Hummeln sind nicht staatenbildend!“ Unter der Pudelmütze ahnte ich Vidales gekräuselte Augenbrauen. „Vielleicht ist ihnen das nicht bekannt?“, schlug er ernst vor. Hätte ich nicht das verräterische Kräuseln seiner Mundwinkel bemerkt, wäre mir sein schelmisches Schmunzeln über meine Verblüffung wohl entgangen. Prompt schnaubte ich. „Sie werden doch keinen Ärger bekommen, oder?“, Vidale beobachtete mich besorgt. „Ich wüsste nicht, wie“, antwortete ich entwaffnet. Endlich drehten sich die kleinen Rädchen in meinem Verstand wieder. „Sag mal, mein Freund, wie kommt es, dass Wilde Daimonen-Hummeln sich zusammen tun, um dir zur Hilfe zu fliegen?“ Vidale zögerte, zog mich an der Hand Richtung Heimat. Er warf mir von der Seite einen prüfenden Blick zu, bevor er antwortete. „Möglicherweise haben sie meine Sorge als Bitte um Beistand aufgefasst.“ Ich lupfte eine Augenbraue. „Willst du mir damit schonend beibringen, dass du mit Wilden Daimonen-Hummeln sprichst?“, erkundigte ich mich milde. „Nicht direkt sprechen“, der lebende Schutzschild brummte noch immer leise, bedeckte Vidales Oberkörper wie ein ungewöhnliches Wehrgehänge, „vielmehr kommunizieren wir in Gedanken.“ Der Blick aus seinen großen, dunklen Augen bat um Nachsicht. Ich grinste geschlagen, drückte seine schmale Hand sanft. „Das sollten wir Yesokrata möglichst nicht anvertrauen“, bemerkte ich zwinkernd. So viel zu unserer Vorstellung, dass Vidale sich das Kommunizieren per Gedanken womöglich nur eingebildet hatte. „Wie unterhaltet ihr euch denn?“, erkundigte ich mich, „worüber sprechen Wilde Daimonen-Hummeln so?“ „Es sind Intentionen und Impulse“, erläuterte Vidale, wirkte erleichtert, dass ich seine Fähigkeiten nicht in Abrede stellte, „es geht um Erlebnisse, Nahrungsquellen, Gelegenheiten für Amüsement, das Wetter, die Wohnsituation...“ Er beäugte mich, während ich gegen ein Prusten ankämpfte. Ein Lächeln überwand den lästigen Strickschal. „Ganz alltägliche Angelegenheiten, Chise“, er lupfte die mageren Schultern. „Wie hat das angefangen?“, ich ließ meiner Neugierde die Zügel schießen. Vidale zögerte einen Augenblick. „Ich habe auf der Brache gewartet. Im Glasstab leuchten die Käfer. Da spürte ich die Gedanken einiger Wilder Daimonen-Hummeln. Sie fragten sich, ob ich vielleicht auch ein Behältnis für Wasser, Nektar und eine kurze Pause hätte.“ Beinahe entschuldigend lupfte er den zweiten Anhänger unterhalb des Parka-Äquators. „Ich habe mit Artemis gebastelt. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, dass ich mehrere Anhänger herstelle“, wisperte Vidale, offenkundig verlegen. „Du hast ihm nicht verraten, für welchen Zweck du den Anhänger benötigst, hm?“, rasch tupfte ich ihm einen Kuss auf die Wange. „Es ist doch nicht verboten, sich mit Wilden Daimonen-Hummeln zu unterhalten, oder? Ich tue ihnen nichts zuleide!“, versicherte Vidale mir erschrocken. „Es ist nicht verboten und du hältst sie auch nicht fest“, bestätigte ich ihm, drückte seine Hand erneut aufmunternd. „Mir scheint eher, dass du zur Ehren-Wilde-Daimonen-Hummel ernannt worden bist. Verständlich, dass sie dir helfen wollten.“ Vidale lächelte zögerlich. „Mit den Leuchtkäfern kannst du nicht sprechen?“, setzte ich unterdessen meine ungezogene Erkundungstour fort. „Nein, das kann ich leider nicht“, Vidale zögerte, blieb dann stehen. Ich wandte mich ihm zu, da wir fast das Backsteinhäuschen erreicht hatten. Über sein schmales Gesicht huschten unterschiedliche Emotionen, während er mir in die Augen sah, violett ausgeleuchtet. Er straffte sich, als koste es ihn Mut, mich anzusprechen. „Allerdings kann ich deine Gedanken verstehen“, wisperte er kaum hörbar. *+--+* Ich starrte ihn fassungslos an. Vidale kaperte hastig auch meine andere Hand, hielt beide fest, während die anhängliche Wilde-Daimonen-Hummel-Schwadron lauter dröhnte. „Es sind keine Sätze, sondern Eindrücke und Emotionen. Von deinen Gefühlen habe ich gelernt, was leben und nicht nur existieren bedeutet. Deine Gedanken machen mir Mut, mich nicht einsam zu fühlen. Bitte sei nicht böse auf mich, ja?“ Meine Gedanken? Er konnte meine Gedanken auffangen? Seit wann? Alle?! Unzensiert?! Dann hatte nicht das Erfinder-Einhorn dafür gesorgt, dass sein Mienenspiel immer lebhafter wurde, sondern ich? Großer M, wusste er etwa auch, warum ich mich für ihn interessiert hatte?! „Ich...ich brauche frische Luft!“, stieß ich hervor, machte mich von Vidale los und stürmte blindlings davon. *+--+* Ich registrierte den kräftig einsetzenden Regen kaum, sondern marschierte wie aufgezogen in langen Schritten richtungslos durch die Straßen. Er konnte meine Gedanken lesen?! Von Anfang an?! Betäubt spulte ich mir vor beziehungsweise zurück, was seit unserer ersten spektakulären Begegnung passiert war. Wenn er ALLES mitbekommen hatte… „So viel zur ‚gerissenen Schlitzohrigkeit‘“, knurrte ich halblaut vor mich hin. Oh, oh. »Genau!«, pflichtete mir mein tatsächlich vorhandenes Über-Ich bei. Ich hatte allen Grund mich zu schämen. Außer Puste und tropfend nass hielt ich schließlich inne. Die Frage lautete nicht, was geschehen war, sondern was nun geschehen sollte. Wollte ich Vidale etwa aus dem Weg gehen? Ihn vermeiden? „Auf keinen Fall“, ballte ich automatisch die Fäuste, rammte mir die Krallen in die Handballen. Ich mochte ihn, gar kein Zweifel. Sogar sehr. Es spielte keine Rolle mehr, ob er ein einzigartig Fremdwelten-Gestrandeter war. Ich hatte diesen schlaksigen, blauen, klugen, warmherzigen Schelm gern, der so lebhaft über Jane Austens Werke plaudern konnte, mir staunend in die Steampunk-Welt folgte und vor Begeisterung juchzte, wenn wir schaukelten. Ich blickte an mir herunter. Nein, so konnte ich mich ganz sicher nicht sehen lassen, doch das wollte ich, unbedingt, sonst konnte ich keine Ruhe finden. *+--+* Es gehörte natürlich nicht zum feinen Ton, sich durch den Vorhang in das Backsteinhäuschen einzuschleichen. Selbst das (mit Käfer-Hilfe) geöffnete Türchen in meiner Welt vor dem Vorhang signalisierte, dass ich mich höchst uneingeladen und ungezogen verhielt. Trotzdem. Im Erdgeschoss des Backsteinhäuschens herrschte Ruhe, sah man vom leisen Brummen des Kühlschranks ab. Auf dem großen Tisch stand die Lampe mit den Leuchtkäfern, die mich registrierten und etwas lebhafter wurden. „Vidale?“, wisperte ich, schlich auf Zehenspitzen, die Sandalen in der Hand, zu seinem Feldbett. „Ich bin froh, dass du gekommen bist, Chise“, Vidale setzte sich auf, schlug die leichte Decke zurück, wandte sich zu mir herum, „es tut mir so leid...“ Weiter ließ ich ihn nicht kommen, beugte mich vor und küsste seine Stirn unter den zerwühlten schwarzen Locken. „Es tut MIR leid, dass ich mich davon gemacht habe, mein Freund. Ich habe Abbitte zu leisten.“ Vidale blinzelte, von meinen violetten Augen ausgeleuchtet, lupfte die Decke. Eine Einladung, zu ihm zu schlüpfen. Das Feldbett war für zwei Personen, die einander zugewandt auf der Seite lagen, sehr knapp bemessen, strahlte jedoch violett unter der Decke eine vertrauliche Gemütlichkeit aus. „Vielleicht war es am Anfang so, dass ich mich darauf konzentrierte, dass du in dieser Welt ein Unikat bist, aber das war nur der erste Impuls!“, sprudelte ich heraus. Vidale, der gewohnt einen meiner rostbraunen Dreadlocks gekapert hatte, tippte mir sanft mit der Fingerspitze auf die Lippen. „Das weiß ich, Chise. Durch dich habe ich verstanden, was Einsamkeit ist. Ich habe deine Wut gespürt, deinen Schmerz. Ich kenne die Ursache nicht. Deine Gedanken sind für mich nicht wie ein Buch, dessen Zeilen ich ablesen kann.“ Er lächelte mich schüchtern an, „doch ich bin sehr froh und dankbar, dich getroffen zu haben. Es hat mir gefehlt, in meinen Gedanken Anschluss an andere zu haben. Mir war nicht bewusst, wie besonders das ist, wie selbstverständlich ich es vorausgesetzt habe. Dabei hätte ich es wissen müssen, nicht wahr? Die Geschichten funktionieren ja, weil man sich verständlich machen muss, weil man eben NICHT in Gedanken miteinander vertraut ist. Weil es Missverständnisse gibt.“ Er seufzte leise, „ich nahm wirklich an, es läge nur daran, dass man aufschreiben musste, am Medium Buch. Nicht, dass es tatsächlich erforderlich ist, sich nach außen zu offenbaren. Dass man im eigenen Kopf allein ist.“ Ein klägliches Schmunzeln begleitete seine Worte. „Du bist nicht allein!“, brach es aus mir heraus. Ich rückte so nahe, dass wir Nasenspitze an Nasenspitze lagen, schlang den freien Arm um seine magere Taille. „Danke schön“, lächelte er, dippte mir hauchzart einen Kuss auf die Lippen. „Ich komme mir ein bisschen belämmert vor“, gestand ich, rieb unsere Nasenspitzen aneinander, „ich bin so gar nicht ‚gerissen-schlitzohrig‘.“ Vidale löste seine Hand von meinem Dreadlock, glitt über mein spitz zulaufendes Ohr. Ich seufzte nun selbst profund. „Vielleicht sollte ich es besser erklären. Meine dämliche Wut und meinen albernen Impuls.“ *+--+* Es ist schwierig, in der Daimonen-Welt einen tiefsitzenden Groll auszuleben. Wir sind darauf eingeschworen, miteinander auszukommen, Schwierigkeiten zu meistern, Missverständnisse auszuräumen. Wenn der Große M Ex-Göttlichkeiten oder Ex-Engeln Zuflucht anbot, rückten wir ein bisschen zusammen. „Wird schon werden!“, das Motto aller Daimonischen. Verschwörungserzählungen mit Feindbildern hätten bei uns einen schweren Stand, weil wir eher nach „leben und leben lassen“ agierten. Quasi rheinländische Daimonen-Weisheiten. Man regte sich nicht künstlich auf, blieb eher neugierig, kümmerte sich um die Freuden des Daseins. Erscheinungsbilder spielten kaum eine Rolle, höchstens als positiver Wiedererkennungswert. Doch keine Regel ohne Ausnahme. Kronks. Kronks waren riesig groß, lebten im Finsterwald und fraßen ungezogene Daimonen-Kinder. Allerdings hatte noch niemand Kronks gesehen, sie waren ein schauriges Gerücht. *+--+* Vidale blickte erst mich an, schielte dann auf den Plüsch-Kronk, der auf dem äußeren Ende des Feldbetts saß. Seine Stirn kräuselte sich in konzentriertem Nachdenken. Ich seufzte. „Richtig, warum schenkt man Plüsch-Kronks zum Trost, wenn die echten Kronks, die noch niemand gesehen hat, so bösartig sind?“, sprach ich auch ohne Gedankenlesen seine Frage aus. „Detorix sagt, er habe noch nie einen Kronk getroffen, der Daimonen-Kinder frisst“, bemerkte Vidale leise, zupfte an einem meiner Dreadlocks. „Nun, mir ist auch noch keiner begegnet, der so was tut. Weil es auch Unsinn ist. Was alle wissen“, fauchte ich, bevor ich mich beherrschen konnte. Prompt löste Vidale seine Hand, streichelte mir über die Wange. Ich wusste, dass er meinen ungezielten, brodelnden Zorn gespürt hatte. In seinen großen, dunklen Augen konnte ich Sorge und Kummer ablesen. Ich atmete tief durch. „Der Große M würde Kannibalismus gar nicht zulassen. Es ist nur dummes Geschwätz. Wenn man das erwähnt, dann winken alle ab und lachen, natürlich, nur albernes Gerede!“, schnaubte ich. „Aber es tut dir weh“, wisperte Vidale bekümmert. „Ich nehme mich bloß zu wichtig“, knurrte ich, verdrehte die Augen. Vidale antwortete nicht, sondern betrachtete mich schweigend, sorgenvoll. Ich entschied, alle Karten aufzudecken, so unangenehm mir das war. „Ich weiß nicht, WIE Kronks sind. Ich bin ja offenbar nur zur Hälfte einer. Haare, Augen, große Kraft. Ich war allerdings nie im Finsterwald oder kann meine Gestalt verändern. Und meine andere Hälfte...“ Unwillkürlich knirschte ich mit den Zähnen. „‘Gerissene Schlitzohrigkeit‘?“, zitierte Vidale kaum hörbar. „Ja“, presste ich mühsam hervor, ballte automatisch die Fäuste. „Also...es gibt Daimonen-Fuchsgeister. Sie haben Krallen, spitz zulaufende Ohren, Mandelaugen und häufig mehrere Fuchsschwänze. Magische Kreaturen. Sie gelten als trickreich, verschlagen, listig.“ Ich schnaubte, als Vidale meine Hand studierte. „Jetzt kombiniere man Daimonen-Fuchsgeister mit Kronks. Was dabei herauskommt, kann man sich ja denken!“ Nicht, dass man mir aus dem Weg ging, nein. Ich war ebenso willkommen und akzeptiert wie alle anderen in der Daimonen-Welt. Man blieb nur ein klein Bisschen reservierter. Ich könnte ja nicht nur stark, sondern auch ziemlich durchtrieben sein! „Ich mag diese Kombination sehr“, stellte Vidale leise, aber entschieden fest, „du bist freundlich und fürsorglich. Du bringst mich zum Lachen. Ich fühle mich sehr wohl, wenn wir zusammen sind. Du bist sehr attraktiv, auch ohne Fuchsschwänze. Du bist mir nicht böse, wenn ich dir versehentlich einen Dreadlock versenge. Du riechst und schmeckst sehr lecker.“ Ich spürte, wie mir, dem angeblich gerissenen, selbstsicheren, galanten Charmeur und Verführer, die Farbe in die Wangen stieg. Vidale meinte, was er sagte, ohne Übertreibung, ohne Schmeichelei. „Danke...danke schön“, stotterte ich verlegen. Er sah mich prüfend an. „Wieso bist du noch nie einem Kronk begegnet?“, erkundigte er sich vorsichtig. Richtig, zur Hälfte war ich ja einer. Vermutlich. Unwillkürlich nahm er meine Hand, als er die bitteren Turbulenzen in meinen Gefühlen spürte. Ich grimassierte, „das liegt wohl daran, dass ich nicht weiß, wer meine Eltern sind. Warum überhaupt ein Kronk und ein Fuchsgeist ein Kind gezeugt haben. Ob es ein Versehen war oder Absicht. Ich wurde einfach vor der Tür einer KOK-Offize gefunden. Da niemand kam, um mich zu holen, wuchs ich mit allen anderen Daimonen-Kindern auf.“ Ich erwiderte den tröstenden Druck seiner Hand. „Ich bin nirgendwo jemandem wie mir begegnet, halb Kronk, halb Fuchsgeist. Natürlich bin ich akzeptiert, niemand hält dieses Gerede für wahr. Aber...“ Genau. Aber es blieb eine Distanz, unsichtbar, unausgesprochen. Mein Stolz hinderte mich daran zu ergründen, warum ich mich verletzt fühlte. Oder warum ich an meiner Wut festhielt, die ich auslebte, wenn man mich in der Menschenwelt anging. „Ich habe auch keine Erinnerung an Eltern. Oder Kinder. Oder Aufwachsen“, Vidale lächelte mir aufmunternd zu, „eigentlich habe ich kaum nennenswerte Erinnerungen. Ich weiß nicht mal, warum ich diese regelmäßigen Übungen durchgeführt habe.“ Ich studierte seine feinen Gesichtszüge in dem aparten Mittelblau. „Wahrscheinlich wäre mir gar nicht bewusst, wie seltsam das ist, wenn ich nicht dieses Abenteuer erleben würde“, zwinkerte er. „Du gehst damit sehr viel souveräner um als ich“, murmelte ich. Vidale schmunzelte, „das mag daran liegen, dass du für mich seit dem ersten Augenblick etwas Besonderes bist. Auch wenn ich nichts über Kronks oder Fuchsgeister wüsste, änderte sich daran nichts. Es gefällt mir sehr, dass wir zusammen ‚leben‘ und nicht nur existieren.“ Mir schnürte sich vor Rührung die Kehle zu. „Ich möchte dich nicht in Verlegenheit stürzen“, wisperte Vidale in altertümlicher Diktion, „doch da du meine Gedanken nicht auffangen kannst, werde ich sie äußern. Ich möchte nicht wie Anne Elliot beinahe die Chance für Glück verpassen, weil Konventionen mich einschnüren.“ Ich blinzelte, sortierte eilig meine Gedanken, was auch die Rührung etwas abschüttelte. Richtig, Anne Elliot aus „Persuasion“, genau! Vidale registrierte, dass bei mir der sprichwörtliche Groschen gefallen war, zwinkerte, „es wäre wohl besser, ich würde nicht stets auf Austen-Werke verfallen, nicht wahr? Artemis war auch schon verschreckt, als ich ihm etwas von den Romanen erzählte, die in ‚Northanger-Abbey‘ erwähnt werden.“ Unwillkürlich musste ich grinsen. Schauerromane galten schon zu Zeiten von Jane Austen als recht „gothisch“, das heißt veraltet. Die oft haarsträubenden Verwicklungen und übertriebenen Szenen würden heutzutage keinen Menschen mehr schockieren, doch ein zartfühlendes Erfinder-Einhorn wäre vermutlich nicht davon begeistert. „Detorix wäre dir vermutlich sehr verbunden, wenn du Artemis vor solchen Horror-Geschichten bewahrst“, feixte ich, ließ dabei außen vor, was der arme Artemis von Erzählungen aus dem viktorianischen Zeitalter halten würde. Vidale schmunzelte, „wir haben uns noch mal zwei Folgen von Ruby Gloom angeschaut.“ Offenkundig das Antidot bei Gemütsunruhen für empfindsame Gemüter. Wir betrachteten einander eine Weile schweigend, Vidale hielt einen Dreadlock, ich meine Hand um seine. „Ich möchte mit dir zusammen sein“, wisperte ich schließlich, leckte mir unwillkürlich die Lippen, „willst du mein Lebensgefährte sein, Vidale?“ Zugegeben, nicht gerade die romantischste Variante eines Antrags. Vidale lächelte, nickte eifrig, erinnerte sich dann an seinen Vorsatz, „oh, ja bitte, sehr gern! Ich möchte sehr gern dein Lebensgefährte sein, Chise!“ Während wir einander noch anstrahlten (in meinem Fall mit blendungsgefährdendem Violett), grollte es aus dem ersten Stock. „Ich würde ja gern sagen ‚nehmt euch verflixt noch mal ein Zimmer!‘, doch da das auch in mein Ressort fällt, ein weiteres ungelöstes Problem, bitte ich mir etwas Ruhe aus. Einige von uns wollen gern schlafen, ohne vernehmliches Bettgeflüster.“ Wir hielten uns gegenseitig den Mund zu, um nicht wie ertappte Schulkinder zu kichern. „Kannst du bleiben?“, wisperte Chise schließlich, als sich das Donnergrollen in Form von Detorix hörbar ins Schlafzimmer zurückzog. „Darf ich?“, erkundigte ich mich der Form halber. Sofort rutschte Vidale näher heran, klappte sich so zusammen, dass ich auf den Rücken rotierte und sein Haupt auf meinem Brustkorb lag, eine Hand auf meinem Herz. „Das ist so schön und behaglich“, raunte er, während ich die Decke über uns zurecht zupfte, meine Hand auf seine legte, den freien Arm um seinen Rücken. Mir wurde bewusst, dass er vorher in einer Kapsel geruht hatte. Mit Geräuschkulisse. „Kannst du so besser schlafen?“, erkundigte ich mich besorgt, denn sein Haupt auf meinem Brustkorb musste etwas zu bedeuten haben. Bequem war es wahrscheinlich nicht. „Ja, vielen Dank“, antwortete Vidale leicht nuschelnd, immer höflich. Hatte er Herztöne vermisst? Was wussten wir wirklich anhand seiner Erklärungen über seine seltsame Welt? Ich hob die freie Hand und kraulte sanft durch seine schwarzen, kurzen Löckchen. »Er ist so niedlich«, dachte ich, »so liebenswert, munter und blitzgescheit. Ich bin wirklich ein Glückspilz!« Und zum ersten Mal in meinem Leben meinte ich es nicht ironisch. *+--+* „Warte kurz auf mich. Wir haben dasselbe Ziel“, grummelte Detorix, der den ganzen Morgen verstimmt war, selbst beim Frühstück einsilbig. Artemis wirkte eingeschüchtert, sortierte mit Vidale die selbstleuchtenden Steine, die ich abgeliefert hatte. „Haben wir?“, erkundigte ich mich verblüfft. „Grmbl“, knurrte Detorix, griff nach seinem Borsalino. Im Gegensatz zur Menschenwelt, wo es schneeregnete, stockdunkel war und äußerst ungemütlich, würde es in der Daimonen-Welt hinter dem Vorhang angenehm warm sein, mit einer leichten Brise. Dementsprechend waren wir auch recht leger gekleidet. „Ich bin auf dem Weg zum Friedensgericht“, bemerkte ich beiläufig, musterte den Szenarize. Er knurrte. Ich lupfte kritisch eine Augenbraue. Er schnaubte. Also wartete ich geduldig, bis die Hutschnur des Borsalino erreicht war. „Ich muss mir auch eine Verwarnung abholen“, polterte er grollend. „Hast du gerauft?!“, entwischte mir, bevor ich mich bremsen konnte. „Pah!“, fauchte Detorix ärgerlich, kramte nach einem Pfefferminz-Bonbon. „Ihr wart doch gestern bloß in der Therme...“, meine Frage trudelte aus. „Nymphen! Und dieser dreimal bescheuerte Faun!“, bellte Detorix aufgebracht. Aha? „Dazu der verblödete Heuseidl!“, schimpfte Detorix. Das Pfefferminz-Bonbon wanderte zwischen den Backen hin und her. Der „verblödete Heuseidl“ war ebenfalls Szenarize, nach Detorix‘ Auffassung hoffnungslos unterbelichtet, talentfrei und ein Schandmaul. Häufige Aufenthalte in der Menschenwelt färbten wohl ab, denn Detorix war nicht ganz so versöhnlich wie die meisten Daimonen. Der Heuseidl hätte sich wohl ein paar Maulschellen eingefangen, wäre er Detorix mal unter die flammenden Augen geraten. Unaufgefordert brach aus ihm heraus, was am gestrigen Abend für das aufgewühlte Gemüt des Erfinder-Einhorns eine aufmunternde Abwechselung sein sollte. „Wir waren in der Therme, alles prima. Dummerweise hatte dieser idiotische Tanz-Faun vorher in der Nähe einen Auftritt. Dabei müssen die dusseligen Nympen literweise Ambrosia gekippt haben.“ Er ballte die Fäuste, „jedenfalls waren sie angetütert, kamen in die Therme, als wir uns gerade wieder auf den Rückweg machen wollten.“ Klar, ich war im Bilde: Artemis, das pinkfarbene Abbild eines Sex-Gottes, umzingelt von betrunkenen Nymphen, die ziemlich amüsierfreudig waren und, nach meiner Erfahrung, häufig auch geistig nicht besonders flexibel. Ein Horror viktorianischen Ausmaßes! „Ach du Schande. Wie bist du sie losgeworden?“, erkundigte ich mich mitfühlend. „Hab gedroht, eine Anis-Bombe zu zünden“, grummelte Detorix, zog den Borsalino tiefer. Ich staunte, stutzte anschließend. „Moment mal, du trägst Anis-Bomben in der Badehose?“ Mich traf ein sehr ärgerlicher Blick, „natürlich nicht. Es war ein Bluff.“ „Hat aber gewirkt, oder?“, hakte ich nach. „Grmbl.“ Offenbar. „Und der Heuseidl hat‘s herumposaunt?“, maß ich die Untiefe des Vorfalls aus. Detorix knurrte guttural, wirkte, als wolle er gleich Höllenfeuer spucken. Ich knuffte ihn kameradschaftlich in die Seite. „Lass uns nach vorne schauen, Detorix. Da warten zum Beispiel fünf sehr dumpfbackige Menschen, die DRINGEND mit einem extra starken Friedensstifter in Kontakt kommen müssen, um ihr Gedächtnis zu erleichtern“, grinste ich. Auf Detorix‘ Miene breitete sich ein sehr unerfreuliches Lächeln aus. Ja, da gab es wohl noch einen wie mich, der hin und wieder in der Menschenwelt aus rein erzieherischen Gründen sein Mütchen kühlte! *+--+* Wir kamen beide im Friedensgericht unter Thekla Anuphobis‘ ungnädigen Augen, - davon hatte sie viele -, mit einer Verwarnung pro Nase davon. Die von „Kater“-Symptomen geplagten Nymphen wurden zu zwei Wochen Tümpel-Arrest verdonnert. Was, wenn man mit den Eigenarten von eingeplackten Naturgeistern vertraut war, durchaus eine Strafe war, weil sie sich gegenseitig schwer auf den Zeiger zu gehen pflegten. Ausgerüstet mit dem größten Friedensstifter, den Detorix unter Hinweis auf die hartnäckige Gefährlichkeit der Erinnerungen aus dem Depot leihen konnte, zogen wir gemeinsam in der Menschenwelt los. Dabei musste ich mich zu meinem Leidwesen „verkleiden“, also in profane Alltagsbekleidung schlüpfen. Obwohl mein Gespür und die Fährte der Wilden Daimonen-Hummeln hilfreich waren, benötigten wir eine Weile, bis wir alle fünf Missetäter erwischt hatten. Nach meinem Eindruck gefiel es Detorix dabei sehr, den schweren Sandsack des Friedens auf erst wenig demütige Häupter plumpsen zu lassen. Zufrieden, wenn auch nass, kehrten wir zum Backsteinhäuschen zurück. Artemis und Vidale beugten sich am großen Tisch über die Steine, die ich mitgebracht hatte. Einige leuchteten gar nicht mehr, waren offenbar in der Menschenwelt nicht für diesen Zweck zu gebrauchen. Bei den übrigen experimentierten sie mit Kombinationen, die Vidales hübschen mittelblauen Teint in eine eher „menschliche“ Nuance färben sollte. „Du wählst doch hoffentlich keine Schmetterlingsform, oder? Dame Edna ist außer Mode“, versetzte Detorix, der einen Wasserkessel füllte. Wir blickten uns verwirrt an, während ich mich aus der Menschenkleidung schälte. „Tsktsktsk! Jugendliche Popkultur-Banausen“, grummelte Detorix und kramte die Keksdose heraus. Da er Artemis‘ weiße Mähne kraulte, schien diese kulturelle Untiefe jedoch nicht gravierend zu sein. Das Erfinder-Einhorn lächelte aufgemuntert, stutzte dann. „Du meinst, es könnte versehentlich ein Plagiat werden? Zählen Plagiate als Erfindung?“, erkundigte er sich aufgeschreckt. Detorix schnaubte, reichte Artemis Tee und Vanille-Kipferl zur Beruhigung. „Erstens würde eine Kopie des Originals Vidale entstellen, zweitens sind Brillen keine neue Erfindung und drittens soll mir heute niemand dumm kommen. Ich bin gerade in Geber-Laune.“ Damit schwenkte er demonstrativ die Maxi-Ausgabe des Friedensstifters. *+--+* Ich warf mich in meine übliche Steampunk-Aufmachung und entführte Vidale zu einem Spaziergang an der garstig-frostigen Luft. „Ich bin froh, dass es nur eine Verwarnung geworden ist“, drückte Vidale meine Hand in der Tasche meines Staubmantels, „Artemis war bis zum Mittag sehr bekümmert.“ „Dann hast du ihn ja erfolgreich aufgeheitert“, zwinkerte ich, setzte meine Sonnenbrille auf den Homburger. In der ungemütlichen Dunkelheit konnte „mehr Licht!“ frei nach Johann Wolfgang von Goethe nicht schaden. Vidale bot mir sein Profil, „Artemis war besorgt, weil Detorix noch nie eine Verwarnung bekommen hat. Er rechnete sich die Verantwortung zu, was ich nicht goutieren kann. Ich denke nicht, dass Artemis kokettiert, wenn er sagt, dass er keine Annäherungsversuche mag.“ Es klang ungewohnt streng für meinen Fremdwelt-Gestrandeten. „Detorix würde auch nicht akzeptieren, dass sein Erfinder-Einhorn etwas auf sich nimmt, das ihn so sehr quält. Ich denke, er war hauptsächlich verärgert, weil sie Artemis verängstigt haben. Und dieser Heuseidl mal wieder als Klaschbase mitgemischt hat.“ „Man sollte sich nicht einmischen“, Vidale zog die Augenbrauen zusammen, einen strengen Zug um die Mundwinkel, „sie mögen einander sehr, gehören einfach zusammen. Es ist äußerst ungezogen, sich aus reiner Vergnügungssucht aufzudrängen!“ Ich rang mit einem Prusten ob der flammenden Ermahnung, die zweifelsohne die Nymphen nicht sonderlich beeindruckt hätte. „Oh, denkst du, dass ich zu nachtragend bin?“, erkundigte sich Vidale in diesem Moment besorgt bei mir. Verflixt, hatte er mein Amüsement in Gedanken aufgefangen?! „Nein, ich verstehe dein Bedürfnis, Freunde zu verteidigen, absolut. Ich glaube allerdings, dass Artemis sich durchaus verteidigen kann, wenn es ernst wird oder Detorix Ungemach droht. Immerhin hat er einen Serienmörder vertrieben, um Detorix zu helfen.“ Vidale stolperte vor Überraschung in den ungeliebten Sneakern, staunte mich perplex an. „Ein nettes, fröhliches Erfinder-Einhorn, stimmt“, lächelte ich in seine Verblüffung, „allerdings auch eine Person, die als Malabsorbo in der Menschenwelt gearbeitet hat. An Kamerad Heuseidls Stelle würde ich hoffen, Artemis nie über den Weg zu laufen, denn dann bekäme er das Donnerwetter seines Lebens zu hören.“ Eine Weile stapfte Vidale neben mir schweigend her, verdaute diese Enthüllungen. Er blickte auf, als ich den Spielplatz mit den Schaukeln ansteuerte, wandte sich mir zu und strahlte. Gleich darauf hatten wir eine größere Schaukel okkupiert, Vidale auf meinem Schoß. Kein Wettfliegen, weil er die Ergebnisse der vormittäglichen Back-Stunde mitgebracht hatte, Brownies mit Verzierung. Einem recht muffelig dreinblickenden, pummeligen Einhorn als Fondant-Oblate. „Sie waren runtergesetzt, hat Detorix Artemis gesagt“, wiederholte Vidale, der es übernahm, uns paritätisch mit Krumen zu versorgen, „im Preis reduziert.“ Seine Stirn kräuselte sich, weil er bemüht war, sich Ausdrucksweisen und Gepflogenheiten der Menschenwelt einzuprägen. Ich grinste mit vollen Backen. Klar, warum hätte Detorix auch sonst solches Back-Dekor kaufen sollen?! Er bezog den Großteil der Nahrungsmittel aus der Daimonen-Welt. Dort kannte man solche kitschigen und enorm zuckerhaltigen Verzierungen allerdings nicht. Ich holte etwas mehr Schwung, als wir beide sehr reinlich (und ohne Servietten) unser Dessert verputzt hatten. Vidale schlang die Arme um mich und lächelte vergnügt. „Ich küsse dich auch gerne“, ließ er mich wissen, zwinkerte, weil ich ertappt errötete. Nun, verflixt noch eins, warum sollte ich meinen schelmischen Lebensgefährten auch nicht küssen wollen?! Diese Gedanken durfte er herzlich gern lesen! *+--+* Ich war mir darüber im Klaren, dass selbst eine Brille mit Leuchtsteinen nicht genügen würde, um Vidale in die Menschenwelt einzugliedern. Jetzt, aufgrund der Witterung nahezu unkenntlich vermummt, mochte es angehen, doch für eine „sichtbare“ Existenz genügte es nicht. Irgendwann, das stand auch fest, würde die Gastfreundschaft im Backsteinhäuschen auch nicht mehr ausreichen. Es musste eine Lösung her! Darüber konnte ich allerdings erst grübeln, wenn ich mich zwischen meinen üblichen Aufträgen in der Daimonen-Welt befand. Mit Vidale zusammen neigte ich nämlich dazu, bloß um uns zwei zu kreisen! Während ich missbilligend meine mal wieder tropfnassen Kleider aufhing, kam mir ein bestechender Gedanke. *+--+* „Wir gehen jetzt raus?“, erkundigte sich Vidale überrascht. Vierter Advent und eher Aprilwetter, gerade eine trockene, windige Phase mit tatsächlich Sonnenschein. Erwartungsgemäß würden viele Leute an diesem Sonntagvormittag auf den Beinen oder Rädern sein, das kurze Glück genießen. „Das tun wir“, nickte ich, reichte ihm die lästige Sonnenbrille. Die Experimente mit den Leuchtsteinen hatten bisher nur zu einem grünlich wirkenden Teint bei Tageslicht geführt. Das stellte keine vertrauenerweckende Verbesserung dar. Vidale nahm seine Tasche mit, Proviant, Glasstab für Leuchtkäfer, Anhänger für Wilde Daimonen-Hummeln auf Gesellschaftskurs und den Plüsch-Kronk. Abenteuern begegnete er mit Vorbereitung, aus Erfahrung klug. Ich lächelte über seinen entschlossenen Ausdruck, sich mit mir sehen zu lassen. „Mir müssen etwas länger laufen“, gab ich die schlechte Nachricht weiter. Vidale neigte tapfer das Pudelbemützte Haupt. Mit diesen Sneakern würde er wohl nie warm werden. Ich registrierte das übliche Gros scheeler Blicke, weil ich selbstredend in meinem gewohnten Ornat paradierte. Ganz zu schweigen von Vidales Hand in der großen Tasche meines Staubmantels. Wir folgten einer an diesem Sonntag wenig genutzten Straße mit Schlagloch-Piste, die üblicherweise vom Schwerlastverkehr genutzt wurde. Ab dem späten Nachmittag vermutlich wieder. „Das hier zählt zum Industriegebiet“, erläuterte ich Vidale. Wir sahen quaderförmige Häuser hinter hohen Zäunen, breite Zufahrten und ganze Schilderbäume. „Augenblick“, bat ich ihn schließlich, drückte einen Kuss auf seinen Handrücken und pirschte mich auf einen engen Seitenpfad um einen etwas betagten Quader an. Ich zückte die Zwille aus meiner anderen Tasche, wählte die Schleimkugel und feuerte auf die Kamera der Videoüberwachung. Es müsste hoffentlich wie ein gewaltiger Vogelschiss wirken. Ich holte Vidale ab, der artig hinter mir auf dem schmalen Pfad stapfte. Die Daimonen-Käfer, die ich entliehen hatte, machten mit dem elektronischen Türschloss kurzen Prozess. Es knackte rheumatisch, dann konnte ich die Tür nach außen ziehen. Sie ächzte ungepflegt. „Wo sind wir hier?“, Vidale blickte sich um. „Das war die Loge des Pfortendiensts. Der Durchgang geht zum Pausenraum mit Küchenzeile. Dahinter gibt es eine Toilette“, lotste ich Vidale durch die kahlen Räumlichkeiten. Alle Elektronik war entfernt worden, auch die Einbauten und das Mobiliar. Lediglich die Wandschränke und Anschlüsse zeugten von der vergangenen Nutzung. „Die Leute gehen jetzt auf der anderen Seite rein, alles elektronisch. Deshalb wurde dieser Part hier auch nicht mehr gemietet“, erklärte ich den Kahlschlag. Vidale sah sich um, wandte sich nach einer gemächlichen Runde durch die spärlichen Räumlichkeiten mir zu. „Was tun wir hier?“, erkundigte er sich höflich. Allerdings zuckten seine Mundwinkel, weil ich meine freudige Aufgekratztheit nicht verbergen konnte. „Ich hatte einen Einfall“, sprudelte ich also hervor, schlang ihm unaufgefordert die Arme um die Taille und wagte einen höchst skandalösen Walzer. Vidale kicherte, hielt sich an mir fest und ließ sich kreiselnd führen. „Ich dachte mir“, trällerte ich schwungvoll, „wie lästig es doch ist, dass man sich für einen Abstecher in die Menschenwelt immer Bekleidung und Accessoires zurecht legen muss! Wie wäre es, wenn man an einem Tor auf der Menschenseite ein Depot zur Verfügung stellen würde? Mit den Neuigkeiten und Hinweisen, vielleicht sogar mit Erfrischungen?“ Vidale studierte mich verblüfft, „so etwas wie ein Kostümverleih?“ „Genau! Mit Regen- oder Sonnenschirmen, Mützen, Hüten, Sonnenbrillen, Regencapes, alles zur Tarnung!“, schmückte ich meine Idee aus. „Woher bekommen wir all diese Dinge? Dürfen wir diesen Raum hier nutzen?“, Vidale erinnerte sich offensichtlich an die Strafpredigt zum Wurfzelt. „Daran arbeite ich noch“, gab ich optimistisch zu, „es gibt durchaus eine Nachfrage bei den organisierten Aufenthalten. Wir könnten eine Kooperation eingehen.“ Ich bremste den Walzer mit einer letzten Umdrehung, wandte mich der Fensterfront zu, die das spärliche Wintersonnenlicht durch Staubschichten filterte, „das Tor befindet sich genau an der Hecke dort. Ungesehen bis hierher, fesch gewandet raus und rein ins pralle Menschenleben!“ Das klang etwas marktschreierisch, zugegeben. „Warum wird das Tor nicht genutzt?“, Vidale hielt sich an meiner Hand fest, wirkte hin und her gerissen zwischen meiner Euphorie und praktischen Bedenken. „Keine Nachfrage, hier ist ja bisher nichts los. Was wir ändern können“, beschwor ich eine produktive Zukunft. So weit war es gar nicht, es gab eine Buslinie und wir konnten uns Tretroller organisieren. Der Große M zog ganze Unternehmen in der Menschenwelt durch, also, wie schwierig konnte ein kleines Tourismusbüro mit Kostümverleih der Daimonen-Welt hier schon umzusetzen sein?! Ich kaperte Vidales andere Hand, baute mich vor ihm auf. „Du könntest hier arbeiten. Wir könnten uns hier einrichten, klein, aber fein. Es ist auch nicht zu weit weg vom Backsteinhäuschen. Über das Tor könnten Artemis und Detorix uns leicht besuchen. Wie gefällt dir die Idee?“ Das Näschen kraus nagte Vidale an seiner Unterlippe, studierte um mich herum die kahlen Räumlichkeiten. „Ich glaube schon, dass ich mich nützlich machen könnte...“, antwortete er mir bedächtig, während ich in den großen, dunklen Augen einen grüblerischen Ausdruck erkannte. „Wunderbar! Willst du ein paar Skizzen machen, während ich ein Picknick improvisiere?“, strahlte ich ihn selbstbewusst an. *+--+* Auf dem Heimweg entkamen wir knapp einem überraschenden Schneeschauer, flüchteten in das Backsteinhäuschen. Dort drinnen war es dank daimonischer Geothermie sehr warm, sodass wir uns rasch entpuppten. Keine Frage, ein Kostümverleih wäre wirklich praktisch! Detorix verteilte auf dem großen Tisch gerade Bratäpfel auf Porridge. Er baute sich vor mir auf, die Rechte ausgestreckt. „Ich hätte gern UMGEHEND die Zwille und die Käfer. BEVOR ich dem Friedensgericht erklären muss, wieso ich die Alarmanlage eines Nebengebäudes stillgelegt habe“, knurrte er grimmig. Ich seufzte über meine mangelnde „gerissene Schlitzohrigkeit“, überreichte die ungefragt entliehenen Objekte. „Woher wusstest du Bescheid?“, erkundigte ich mich, während Vidale einen erschrockenen Blick auf uns warf. Da ICH jedoch Artemis aus den Augenwinkeln beobachtete, der unverkennbar heiter wirkte, fürchtete ich keine Gardinenpredigt. Detorix schnaubte. „Du hältst mich wohl für einen Amateur, hm? Tsktsktsk!“, tadelte er, „als Heimlichtuer bist du nicht sonderlich begabt.“ Vidale nahm meine Hand, „Entschuldigung. Chise hat sich darum gesorgt, was aus mir werden soll. Mir selbst ist leider nichts eingefallen.“ Der Szenarize verdrehte die Augen und stemmte die Hände in die kräftigen Hüften. „Ist ja nicht so, als würde es in MEINE Kernkompetenz fallen, in dieser verrückten Welt alle möglichen Leute unterzubringen! Ich muss einen Mangel an Vertrauen in meine Fähigkeiten beklagen!“, grollte er streng. Neben mir wirkte Vidale eingeschüchtert, doch ich konnte nicht anders und lachte laut heraus. „Du fürchtest Turtelei ja wirklich! Dabei sind wir noch gar nicht beim schmalzigen Teil angekommen“, neckte ich ihn herausfordernd. Detorix warf mir einen grimmigen Blick zu. „Die Darbietung möchte ich mir ersparen. Jetzt setzt euch hin und esst, bevor es kalt wird. Danach feilen wir an den Details.“ Folgsam ließen wir uns nieder, während Detorix noch den Kakao erwärmte. „Ich möchte wissen, wie er herausgefunden hat, wo wir waren“, wisperte ich Vidale zu, der artig auf seinen Löffel blies. „Ein Tracker im Parka“, flüsterte Artemis vertraulich, zwinkerte, „Detorix passt auf alle seine Schützlinge auf.“ Dabei strahlte er stolz in pinkfarbener Perfektion. Ich tauschte mit Vidale einen verschwörerischen Blick, während wir unter dem Tisch Händchen hielten. Gemeinsam würden wir zwei Unikate schon unseren Weg finden! *+--+* Ende *+--+* Danke fürs Lesen! kimera