Titel: Club der Ananas-Freunde Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Romantik Ereignis: Valentinstag 14.02.2021 Erstellt: 12.02.2021 Disclaimer: - "Der Ententanz" wurde von Werner Thomas komponiert. - Hush Puppies ist eine eingetragene Marke. --<--@ --<--@ --<--@ --<--@ --<--@ --<--@ --<--@ --<--@ --<--@ --<--@ --<--@ --<--@ --<--@ --<--@ Club der Ananas-Freunde Es ging auf 22 Uhr zu und Andreas spürte eine lähmende Erschöpfung. Sonntag, Valentinstag. Vor einem Jahr noch lediglich eine kurze Öffnung für Spätentschlossene, hauptsächlich die Damenwelt doch noch zu beglücken. Wenn man sich dem "amerikanischen Konsumterror zu zweifelhaften Traditionen" nicht grundsätzlich widersetzte. Diese Tradition hatte eine ganz schlichte Ursprungsgeschichte aufzuweisen, bevor ein geschmeidiger Überbau eine simple Geste von Erinnerung und Anerkennung kommerzialisierte. Andreas stellte sich den vom Kalender stets Überraschten. Im dritten Jahr seines eigenen, kleinen aber feinen Pflanzen-Hains keine zu große Herausforderung. Doch dann überschlugen sich Ereignisse und Unwägbarkeiten, gegen die er seit dem März des letzten Jahres tapfer ankämpfte. Verordnete Geschäftsschließungen, Schwierigkeiten bei der Nachorder von Blumenzwiebeln, Konkurrenz durch große Online-Versender... Ganz zu schweigen vom Umbau der Ladenkasse (nach der Bonpflicht nun auch die elektronische Registriernummer...) und ausuferndem Rechnungswesen. Die kleine Werbeseite im Internet von jetzt auf gleich erweitern, immer wieder neue Bilder und Informationen einstellen. Andreas hatte sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen jede weitere Hiobsbotschaft gestemmt, selbst kleine Ableger gezogen, fein dekoriert und um "Adoption" geworben, für das Home-Office und Home-Schooling das Ziehen von gesunden Keimsprossen angeregt, für entsprechendes Material gesorgt, Blumenzwiebeln (die, die ihn tatsächlich erreichten) eingetopft und umsorgt, um die Tristesse zu vertreiben, quer durch die Stadt per Fahrrad ausgeliefert, Sträuße, Gestecke, Kränze angepriesen, wenn man selbst nicht das Haus verlassen konnte oder durfte. Tropfen auf den heißen Stein. Wenn Festivitäten wegfielen, keine Hotels oder Konferenzsäle zu schmücken waren, man sich nicht wie gewohnt treffen durfte, brach ihm schlichtweg die Geschäftsgrundlage ein. Sparsam mit Strom (für die Pflanzenleuchten) und Energie war er von Anfang an gewesen, immerhin steckte sein gesamtes Erspartes in seinem "Pflanzen-Hain"! Sicherheiten für Kredite konnte er nicht bieten. Zudem konnte er gar nicht so viel Fläche besetzen, um selbst mehrjährige Pflanzen aus Stecklingen oder Samen vorzuziehen, die er dann veräußerte. Immer in Konkurrenz mit den Supermärkten, die noch Pflanzen erhielten und geöffnet blieben. Warum sich auch der Mühe unterziehen und einen Umweg machen, gar noch per Rechnung zahlen?! Ohne angeschlossenen Weihnachtsbaumverkauf dauerte die zweite Geschäftsschließung bereits über zwei Monate. Wichtige Monate, Herbstdekoration, Totengedenken, Advent, Weihnachten, Neujahr, Fasching/Fastnacht, Valentinstag... Keine Spontankäufe möglich, die die festen Termine noch ergänzten. In den letzten Tagen hatte er alles gegeben, unermüdlich Sträuße und Gestecke zusammengestellt, kleine "Freunde" abgelichtet, Frühlingsgrüße, "Bastelsets" für "Garden-Guerillas", damit auch jede Möglichkeit genutzt, ein wenig Umsatz zu erwirtschaften. Hinsichtlich staatlicher Unterstützung oder Überbrückung (zinslose Darlehen) erlaubte Andreas sich keine Illusionen. Wenn man den Antragsmarathon halbwegs bei Verstand hinter sich gebracht hatte, bedeutete das nicht, dass zeitnah mit einer Berücksichtigung zu rechnen war. An diesem Sonntag nun, dem Tag der Verliebten und des Floristik-Handels, schmerzten ihn alle Glieder. Um fünf Uhr aufgestanden lag ein Langstreckenlauf mit Fahrradeinsatz ohne nennenswerte Pausen hinter ihm. Jede erstellte Rechnung rödelte nun zähe in seine Buchhaltung, um hoffentlich sehr schnell ein Echo auf seinem Geschäftskonto zu finden. Andreas beäugte blinzelnd den Fortschritt des Programms, rieb sich über das Gesicht, löste das Zopfband im Nacken und fächerte seine dunkelblonden Strähnen auf, rubbelte Schädeldecke und Schläfen. Während er mit Fingerkamm wieder für freie Sicht sorgte (wenigstens den Friseurbesuch ersparte er sich seit der Ausbildung!), drang ein höfliches Klopfen an der Eingangstür zu ihm durch. Überrascht kam Andreas auf die Beine, schlängelte sich durch den etwas größeren Pfad seines Pflanzen-Hains. So spät rechnete er nicht mit Gesellschaft. --<--@ Eine besondere Affinität zu "Grünzeug" war in der Familie nicht ausgeprägt. Wenn man sich mit Klimatechnik und Anlagenbau befasste, mochte man ordentliche Bauteile und funktionierende Systeme. Wildwuchs, Mutationen, Natur, das machte zusätzliche Arbeit und passte in keine DIN-Vorgaben! Ihm blieben Schulfächer und der Schulgarten, sein besonderes Interesse zu entdecken. Ein Schüler-Praktikum. Andreas gefiel es, aus Samen, Zwiebeln, Knollen, Stecklingen neue Pflanzen zu ziehen. Und warum sollte er nicht nach der zehnten Klasse eine Berufsoberschule besuchen, um Zierpflanzengärtner zu werden? Ja, schon richtig, auf ihn wartete weder ein elterlicher Betrieb noch eine Ermunterung, aber wagen musste er den Start ins Leben ohnehin! Leider half es gar nicht, dass in einem 500-Einwohnenden-Kaff ER als Quoten-Schwuler "entdeckt" wurde. Ein Gerücht, eine Vermutung, eine Interpretation seines Äußeren, seiner Interessen... Tatsächlich verspürte Andreas keinen zügellosen Zwang, sich auf Personen des anderen Geschlechts (es gab hier nur ZWEI!) zu konzentrieren. Unsicher, noch im Wachstum, eher zurückhaltend im Wesen trafen ihn "Diagnose" und Reaktion darauf vollkommen unvorbereitet, denn für die Altersgenossen, die er kannte, hatte er sich bis dato auch nie in eindeutig sexueller Weise interessiert. Nun, mit dem Etikett des "Absonderlichen" versehen, erleichterte ihm die Isolation die "Flucht" aus der kleinen, gar nicht heilen Welt. Glücklicherweise halfen Lehrende und Ausbildende, ein kleines Zimmer zu finden und sich auch ohne "erblichen" grünen Daumen an seine Lehre zu wagen. Der Umgang mit Pflanzen tröstete Andreas über die Unzulänglichkeiten mancher Zeitgenossen hinweg. Da nahm es sich gar nicht mehr als SO entsetzlich aus, eine kurze, heimliche, unbeholfene Affäre mit einem Bäcker-Gesellen zu unterhalten. Allerdings, das konnte Andreas nicht abstreifen, war er nun mal ein "Land-Ei", gar nicht so beschlagen in den exotischen Welten, in denen sich andere Homosexuelle seines Alters bewegten. Die Vorschläge des Bäcker-Gesellen, der Pornos als "Anleitung" und Referenzmaterial anführte, schreckten ihn ab. Er wollte nicht in Szene-Kneipen, Clubs oder Diskotheken gehen. Zu viele Menschen, zu grelle Beleuchtung, zu laute Musik, unzählige "Fallgruben", in die man stürzen konnte, weil man mit der Etikette gar nicht vertraut war. Außerdem gab seine Barschaft derartige Exzesse gar nicht her. Sparsam und fleißig hatte er auf den eigenen, kleinen Laden hingearbeitet. Nicht, dass ihm die zwei Betriebe nicht gefallen hätten, nein, man blieb sich immer noch verbunden! Doch Andreas wollte herausfinden, wie souverän er auf eigenen Beinen stehen konnte, endlich anwenden, was er gelernt und sich beigebracht hatte, Wochenend- und Abendkurse bei der Innung und der Volkshochschule eingeschlossen. Das kleine Ladengeschäft in einer beruhigten Nebenstraße sagte ihm sofort zu. Keine direkte Konkurrenz in der Nähe, dafür weitere spezialisierte Inhabendengeschäfte. Breite Bürgersteige, um auch mal ein Schaufenster zu betrachten. Eine überschaubare Nachbarschaft, die für ungewöhnliche Ideen vielleicht auch begeistert werden konnte. Fensterbretter und Balkons mit Blumentöpfen oder -kästen. Baumscheiben und Pflanzkästen als Abtrennung zur Fahrbahn, einzelne Hängeampeln mit Pflanzen an Straßenschildern oder über Hauseingängen. Andreas hatte es gewagt, sich bei den anderen Gewerbetreibenden vorgestellt, auf eine gute Zusammenarbeit hingewirkt. Nach zwei Jahren verfügte er über ein halbes Dutzend freundliche Bekannte, mit denen man mal am Sonntagabend simultan den Liebesfilm "kommentieren" konnte. Er war angekommen und das winzige Appartement im Dachgeschoss eines Vorkriegsbaus gerade mal zehn Fuß-Minuten entfernt. Mitte November im dritten Jahr sah es so aus, als würde er das alles verlieren, selbst mit gegenseitiger Hilfe und Unterstützung, Solidarität der Nachbarschaft. "Reden Sie eben mal mit Ihrem Vermieter." Andreas, der lediglich mit der Hausverwaltung Kontakt hatte, kroch zu Kreuze und bat um eine Vermittlung mit der Eigentumsgesellschaft. Eine Stundung der Monatsmieten war seine letzte Hoffnung. --<--@ "Guten Abend." Andreas blinzelte, verzichtete jedoch auf die medizinische Maske, die er in die hintere Hosentasche seiner Arbeitshosen geschoben hatte. "...ich habe nicht..." Stammelte er, stützte sich im Türbogen ab. Verflixt, zu schnell aufgestanden! "Wenn es dir genehm ist, möchte ich dich gern entführen. Nicht weit, keine Sorge." Abschlagen konnte er diese Einladung nicht, auch wenn er sich kaum noch aufrecht zu halten vermochte. "...ich...schließe gerade das Programm ab und komme." "Vielen Dank. Ich warte besser hier, nicht wahr?" Eingedenk des Trampelpfads in der gedämpften Beleuchtung eindeutig die klügere Entscheidung. Andreas nickte, machte kehrt und schlängelte sich zurück in den winzigen Verschlag, der der Büroarbeit gewidmet war. Angestrengt konzentrierte er sich darauf, das Buchhaltungsprogramm korrekt abzuschließen, dann den betagten Computer herunterzufahren. Seine Jacke überstreifend stopfte er Streugut seines Arbeitsplatzes in den Rucksack. An der Tür löschte er die letzten Lichter, schloss ab und zog das alte Scherengitter herunter. Mit einem Fahrradschloss verband er die untersten Rippen mit dem alten, eisernen Stiefelabstreifer im Mauerwerk, der häufig nur noch Hundeleinen hütete. "Ich habe nicht mit dir gerechnet." Bekannte Andreas und atmete an der eisig-kalten Nachtluft durch. "Es war zweifelsohne ein sehr fordernder Tag für dich. Deshalb erlaube ich mir, noch ein wenig deiner Zeit und Aufmerksamkeit zu beanspruchen." Ein leichtes Lächeln in den Mundwinkeln begleitete diese höfliche Erklärung. Auch wenn es ungewöhnlich anmutete, keineswegs in die Zeit der sozialen Distanzierung passte: Andreas hängte sich in eine angebotene Armbeuge ein, weil sie einander so vertraut waren, wie die Ausnahmen es zuließen. --<--@ Selbstverständlich hatte Andreas seinen Mietvertrag studiert: Leopold Löwenstein Eigentumsgesellschaft. Er hatte im Netz gesucht, was er herausfinden konnte, sich überlegt, welche Strategie ihm dienlich sein konnte, über das Fehlen jedweder Sicherheit nicht sofort als hoffnungsloser Fall gekündigt zu werden. Es gab eine Webseite mit Kontaktdaten. Und mehr nicht. Keine Auftritte in Sozialen Medien, in Karriere-Netzwerken: nichts. Man hatte vielleicht keine Werbung nötig. Dank Ankündigung durch die Hausverwaltung reagierte die Eigentumsgesellschaft prompt, schlug eine Besprechung IM Laden vor, selbstredend unter Beachtung aller Hygieneauflagen. Andreas sagte zu, erleichtert und verwirrt zugleich. Zugegeben, mit seinen gesamten Geschäftsunterlagen, Bankauszügen und Steuerbelegen wollte er nicht in ein womöglich hochpreisiges, vornehmes Büro einfallen. Andererseits erstaunte es ihn, wie direkt, pragmatisch und ungezwungen auf seine bange Anfrage reagiert wurde. Beklommen und nervös, sich der Klappstuhl-Tresen-Landschaft ein wenig genierend, wartete Andreas auf die Gesandtschaft. Pünktlich klopfte man draußen an die Tür. Das Herz vor Nervosität bis zum Hals schlagend eilte Andreas nach vorne, um aufzuschließen. "Guten Abend. Mein Name ist Leopold Löwenstein. Darf ich Ihnen meine Visitenkarte übereignen?" --<--@ Man konnte sich Leopold Löwenstein nicht in ausgeleierten Jogginghosen und einem schäbigen T-Shirt vorstellen. Ein mittelgroßer Mann mit durchschnittlicher Statur, der sich gerade hielt und sparsam gestikulierte, den man sich gar nicht anders als im dreiteiligen Anzug mit Trenchcoat oder halblangem Mantel vorstellen konnte. Etwas ungewohnt vielleicht die polierte Glatze und der Oberlippenbart, der quasi eine Spiegelung der Augenbrauen darstellte. Hinter einer schlichten Brille mit dünnem Metallrahmen in Altgold blickten braune Augen aufmerksam. Ein gepflegte, vornehme, aber zurückhaltende Erscheinung. Andreas studierte seinen Gegenüber, der höflich den Hut beim Betreten abnahm, verblüfft. Das drohende Fanal, das in seinen Albträumen herumgespukt hatte, sah SO jedenfalls nicht aus. "Bitte, wollen Sie mir Hut und Mantel geben?" Hastig erinnerte er sich an seine Gastgeberpflichten, nahm beides entgegen, von einer höflichen Verneigung begleitet. "Sehr aufmerksam, vielen Dank." Rasch den einzigen Kleiderbügel besetzend flaggte Andreas an einem der zahlreichen Haken. "Entschuldigung, es ist ein wenig... rustikal..." Wies er verlegen auf die beiden Klappstühle hin. "Der Abstand müsste jedoch... und ich habe den Ventilator hier..." Sonst hieß es wohl Verhandeln mit Maske! Was der Gesprächsqualität nicht gerade zuträglich war. "Ah, die Folie!" Damit ließ Andreas auch einen durchsichtigen Vorhang aus Plastikfolie herab, den er nutzte, wenn Kundschaft sich dem Tresen und der Ladenkasse näherte. An zwei Stahlhaken und einem gespannten Draht befestigt genügte es der Trennung, ohne allzu hinderlich zu sein. Nach Ladenschluss schob er die Folie wie einen Duschvorhang zusammen und rollte ihn auch noch ein, um besser fegen und wischen zu können. "Sehr umsichtig. Eine originelle Lösung." Leopold Löwenstein klang ruhig und gelassen, fast in sich ruhend. Daran sollte man sich ein Beispiel nehmen! Tapfer befleißigte sich Andreas deshalb, seine Situation und sein Anliegen zu vermitteln. --<--@ Die eisige Luft verdrängte Andreas' Erschöpfung für einige Minuten, während seine Schritte von Leopold gelenkt wurden. Zu seiner Verblüffung dirigierte dieser ihn in eine Stichstraße, die vor Jahren als Neubaugebiet ausgewiesen worden war. Extravagante, großzügige Appartements in einer kleinen, parkähnlichen Grünanlage, umgeben von mannshohen, massiven Zäunen, mit Empfangsdienst, Schwimmbad, Sauna, Tiefgarage. Ausgesprochen mondän. In die Jahrzehnte gekommen war der Komplex grundsaniert worden, immer noch eine recht teure Wohnadresse. Leopold bemühte einen Transponder, um durch die lautlos aufschwingenden Tore Einlass zu finden. Auf dem großzügigen Gelände, das entlang ihres Fußmarsches wohl durch Bewegungsmelder illuminiert wurde, konnte man vier unterschiedliche Zugänge erkennen. Ihr Weg trug sie zu Gebäude B, über eine kleine Brücke. Auch hier erlaubte der Transponder den Zugang, auf der Video-gestützten Klingelanlage keine Namen, sondern nur Wohnungsnummern. Andreas fragte sich, wie man hier wohl Post erhielt, doch die gläsernen Türen teilten sich geschmeidig, sodass er gehalten war, an Leopolds Seite einzutreten. Dieser hätte ihm auch antworten können, dass alle Post zentral beim Empfangsdienst im Gebäude A eintraf und dann wie Pakete oder Blumensträuße weitergeleitet wurde, in ein diskret verborgenes Schließfach ausreichender Größe neben jedem Wohnungseingang. Leopold steuerte nicht den Aufzug an, sondern eine halbe Treppe. Man glaubte sich beinahe in einem Hotel, denn der Boden war mit Pfirsichfarben-gemustertem Marmor gefliest und in großen Vasen fanden sich immergrüne Zimmerpflanzen. Die Beleuchtung wirkte dezent, sanft, schmeichelnd. Leopold öffnete eine Wohnungstür, dem Stichflur folgend. Hinter ihr fand sich ein Appartement mit offener Wohnküche und Galerie in das höhere Stockwerk. Andreas zögerte auf der Türschwelle, denn die Wohnung, sehr sauber und blank wirkend, war offenkundig nicht bewohnt. "Wenn du die offene Treppe nimmst, befindet sich das Badezimmer gleich hinter der ersten Tür." Soufflierte Leopold sanft, schälte Andreas bereits aus der Jacke, ohne selbst schon abgelegt zu haben. "...ich verstehe nicht..." Leopold lächelte ungezwungen. "Ich nahm mir die Freiheit, dir ein erquickendes Bad einzulassen." Langsam senkte sich Andreas' Unterkiefer dem Erdmittelpunkt entgegen, was sein Entführer großmütig übersah und ihre Garderobe einem ausrollbaren Wandschrank anvertraute, der sich lautlos wieder ins Mauerwerk zurückzog. "Wenn du möchtest, können wir anschließend eine Kleinigkeit zu uns nehmen." Was Leopold mit einer schlichten Geste Richtung Küchenblock mit Küchentisch und Sitzbänken begleitete. Dort war gedeckt worden, Sitzkissen auf die Bänke deponiert. Andreas entrang sich unwillkürlich ein überfordertes Ächzen. Leopold blickte ihn aufmerksam an, geduldig auf eine Aktion wartend. "...danke. Dann...gehe ich mal nach oben..." Brachte Andreas endlich über die Lippen, schlüpfte jedoch rasch aus den Turnschuhen, denn er wollte unnötige Spuren von Straßendreck vermeiden. Eilig die offene Treppe hinaufsteigend, sich bewusst, dass man sie von unten einsehen konnte, wählte er hastig die erste Tür. Staunte auch hier, bevor er rasch die Tür hinter sich schloss und kurz in die Hocke ging, schnaufend. Spiegelflächen, Mosaikbänder, zwei Waschbecken in einen Waschtisch eingelassen, halbhoch abgetrennt eine freistehende Wanne, beheizbar, mit wechselnder Beleuchtung, Sprudelfunktion, gegenüber eine bodengleiche, geräumige Dusche. Es duftete dezent nach Vanille. Zwei flauschige Badehandtücher erwarteten ihn, dazu neue, offenbar gewaschene Unterwäsche in einer schlichten Papierbanderole gefasst, nicht zu vergessen warme Socken! Andreas rieb sich energisch über das Gesicht, doch kein Trugbild entschwand wie eine Fata Morgana. Dieses Luxus-Ambiente wartete tatsächlich auf ihn! "...ich verstehe es nicht..." --<--@ Andreas fragte sich beklommen, ob er die Geduld seines Vermieters wohl überbeansprucht hatte. Dieser Leopold Löwenstein hörte ihm aufmerksam zu, betrachtete auch höflich die vorgelegten Unterlagen und Belege. "Wenn es Ihnen möglich ist? Ich verstehe natürlich, dass Sie auch Verpflichtungen haben, die eingehalten werden müssen!" Kämpfte Andreas mit sinkendem Mut um einen Strohhalm. Leopold Löwenstein setzte sich aufrechter und die Füße nun beide auf. "Ich bin bereit, die Miete zu stunden. Unter einer Bedingung." Unerwartet schnörkellos und geradlinig unterbrach er Andreas' mühevolles Ringen um Worte. "...wirklich? Oh, vielen Dank, recht vielen Dank! Welche Bedingung...?" Strahlte Andreas erleichtert, richtete sich auf, hoffnungsfroh. Ging es vielleicht um Geschäftsanteile? Einen schriftlich verfassten Aufschub? "Sie sind alleinstehend, nicht wahr?" Überrumpelt nickte Andreas, bevor er einen Zusammenhang herstellen konnte. Gute Güte, wenn er jetzt eine Lebensversicherung mit seinem Vermieter als Begünstigtem...! "Einmal die Woche sexuelle Interaktionen. Das ist die Kondition." Leopold Löwenstein erhob sich gelassen. "Selbstverständlich eine sittenwidrige, anstößige Offerte, ganz recht. Und Sie werden Bedenkzeit benötigen, ohne Zweifel. Meine Visitenkarte haben Sie. Ich erwarte Ihre Antwort, wenn Sie zu einer Entschließung gekommen sind." Damit brachte er seinen Mantel und den Hut an sich, verbeugte sich leicht. "Einen guten Abend und danke für Ihre Zeit." --<--@ Personenstandsrechtlich WAR Andreas alleinstehend. Seine Fassungslosigkeit gründete nicht nur in der völlig unvermuteten Aufforderung zum Beischlaf als Kompensation für die Mietstundung. Zugegeben, so was passierte lediglich in Filmen, vermutlich, mit attraktiven Darstellenden! Sondern dem unbehaglichen Schrecken darüber, dass-dass Leopold Löwenstein mehr wusste und deshalb argwöhnte, sein Mieter sei moralisch nicht sonderlich stringent gefestigt, gewissen Freizügigkeiten zugetan. Denn da gab es ja dieses kleine Geheimnis.Christian. Vor eineinhalb Jahren mit einem Dreikäsehoch an der Hand in den Laden getreten, einen großen Strauß für die Schwiegermutter und einen kleinen für die "Mami". Andreas hatte beraten, flink das Gewünschte gebunden, sich angeregt unterhalten, Banalitäten eigentlich, vorsichtige Neckereien. Ganz sicher wollte er nicht mit einem attraktiven, großgewachsenen, selbstsicheren Ehemann und Papa flirten! Auch wenn sich eine kleine Tagträumerei anschloss... Christian jedoch ließ nicht locker. Man konnte sich gut unterhalten, Freundschaft schließen, sich näher kommen. Ungeübt und ein wenig abgeschreckt von den Bäcker-Gesellen-Erfahrungen war Andreas der Versuchung und Verzauberung erlegen. Immer ein bisschen mehr, nicht nur kurze Gespräche oder Telefonate, die Vertrautheit herstellten, eine unterschwellige Intimität. Bis sie tatsächlich in seine kleine Wohnung gingen. Andere trieben zwei Stunden Sport alle zwei Wochen, gingen auf ein Bier oder einen Kaffee mit Kumpels aus... Andreas redete sich zu, dass er niemandem etwas wegnahm. Es bestand keine Absicht, diesen "Austausch" allzu ernst zu nehmen. Und auch in der besten Ehe oder Familie benötigte man kleine Auszeiten für sich selbst, richtig? SOOO unmoralisch fühlte er sich deshalb nicht. Oder wollte es sich zutreffender nicht eingestehen. Die Kontakteinschränkungen der Pandemie hatten ihrer Beziehung einen heftigen Dämpfer versetzt. Vorsicht ging auch vor, keine Frage! Trotzdem blieb es ein Geheimnis, das Andreas für sich behalten musste, konnte nicht frei in der "Liebesfilm-Diskussionsrunde" vom Leder ziehen. Nun fragte er sich, ob man ihre Affäre entdeckt hatte. Nicht einfach vermutete, dass sich zwei Freunde für zwei Stunden in einer Wohnung moralisch einwandfrei beschäftigten. Denn das würde erklären, warum...! Eine ganz und gar nicht sorgenfreie Nacht schloss sich an. Dennoch, wenn alle Argumente für und wider aufgefahren waren, blieb eine dürre Erkenntnis übrig. Für seinen Laden musste der Strohhalm ergriffen werden! --<--@ Ein wenig linkisch entkleidete Andreas sich, bändigte den eigenen Schopf hoch genug, um nicht gleich die dicken Strähnen zu taufen, studierte die eigene Wäsche: verschwitzt und auch schmutzig, von den Fahrradtouren, dem Regen, Straßendreck... Seufzend faltete er alles rasch in kompakte Pakete und achtete darauf, die Bodenfliesen nicht auch zu besudeln. Dann... "...uuuUUUHHHH!" Stöhnte Andreas genüsslich auf. Zuerst fast zu heiß, dann aber herrlich wohltemperiert und seidig-weich, dazu nach Vanille und Zitrusnoten duftend, ohne aufdringlich zu sein... SO ein Bad in einer zusätzlich noch freistehenden Badewanne hatte er noch nie genommen! Da konnte man schon ächzend versinken, mit allen Gliedmaßen den freien Platz nutzen, die Augen schließen... Das eingebaute Farbenspiel entging Andreas' bewusster Aufmerksamkeit, nicht jedoch der dumpfe Gong. Er rollte die Lider hoch und wurde auf einem Spiegelpaneel gebeten, doch nach zwanzig Minuten dem Bad zu entsteigen. "...super-Sci-Fi-Hightech..." Murmelte Andreas, griff nach den Holmen, um sich behutsam aufzurichten. Er wollte gar nicht wissen, was so ein Luxus kostete oder an Energie verschlang! Vorsichtig entstieg er der freistehenden Wanne, unschlüssig, ob er gleich das feine Seifenwasser ablassen sollte. So, wie sich seine Haut anfühlte, selbst die berufsbedingten Schwielen und verhornten Partien, war er auch noch pflegend verwöhnt worden. Andererseits wäre es sehr unhöflich gewesen, Leopold zu lange warten zu lassen, sodass er rasch, ein wenig verlegen, auf dem weichen, saugstarken Vorleger einen ungeschickten Ein-Bein-Wechsel-Tanz aufführte, um Unterwäsche und Socken überzustreifen. Bequem, sauber, passend...ein rechter Kontrast zum Rest seiner Bekleidung. Aber die musste drüber, denn nur in Leibwäsche... Andreas stutzte, eilte zum Doppelwaschbecken und kämmte sich mit nassen Handflächen durch die gelösten Strähnen. Ob Leopold beabsichtigte...? Man hätte ja einen Blick... Verstohlen studierte Andreas seine Umgebung. Manchmal gab es das, zumindest im Fernsehen, eine Verbindung zwischen Badezimmer und Schlafzimmer. Oder Ankleidezimmer, wenn man so etwas hatte, nicht bloß einen alten Streugut-Kasten vom Flohmarkt als Kleidungsdepot. Auf weichen, geschmeidigen Sockenspitzen huschte er zwischen Wanne und Dusche zur Wand... Tatsächlich befand sich dort, diskret als Muschel getarnt, ein kleiner Drehgriff! Passgenau, abgedichtet wie ein Außenfenster, schwang die Tür lautlos in einen begehbaren Kleiderschrank, leer, allerdings ohne jede Ahnung von Muff und Mottenkugeln. Automatisch leuchtete diskret hier und dort eine LED auf. Eine Schiebetür ließ sich ebenso lautlos bewegen... Andreas spitzte neugierig durch den Spalt. Ein großer Raum, die Rollläden herabgelassen, ohne Möbel. Schnell zog sich Andreas wieder zurück und schlüpfte im Badezimmer in seine wenig repräsentable Oberbekleidung. Zumindest schien Leopold nicht beabsichtigt zu haben, hier mit ihm intim zu werden! Was, nun, was er nicht hätte ablehnen können, richtig. Kurz entschlossen ließ Andreas das Wasser ablaufen, flaggte die benutzten Handtücher. Möglichst wenig Spuren hinterlassen! Denn es sah verflixt danach aus, als hätte Leopold dies alles unternommen, ihm etwas Gutes zu tun. Was die Situation nicht weniger verwirrend als zuvor gestaltete. --<--@ Ist die Not groß... Kennt sie auch kein Gebot, ja, ja, Andreas kannte das Sprichwort. Dennoch entschied er, den "Spielraum" auszuloten. Wie sollte das bewerkstelligt werden und wo sowie wann? Dazu fehlten ihm ja die Details, nicht wahr? Tapfer wählte er also, die Visitenkarte vor sich wie ein Fanal abgelegt, die Rufnummer an. Nein, er störe ganz und gar nicht, man könne frei sprechen. Andreas atmete tief durch... Und legte los. Prinzipiell...grundsätzlich...sei er bereit...wenn es eine Stundungszusage gäbe....schriftlich... Nur...um sich den...technischen Spezifikationen zu widmen... Leopold Löwenstein räusperte sich höflich in eine gestammelte Sequenz hinein. Selbstverständlich werde die Stundung schriftlich und rechtsverbindlich erfolgen. Bei den "technischen Spezifikationen" erhoffe er sich Vorgaben und Gastrecht in Andreas' Bleibe. Was Andreas für einige Augenblicke außer Gefecht setzte. Zugegeben, in der gegenwärtigen Situation konnte man sich nur privat treffen, auch bevorzugte er die eigenen vier Wände. Da fühlte man sich nicht so ausgeliefert wie in fremden Gefilden. Aber...sollte nicht der Erpressende Forderungen stellen?! Ausgefallene Vorlieben, die sonst auf freiwilliger Basis nicht zu erlangen waren?! Den Blick auf einen kugelrunden Kaktus fest gerichtet entschied Andreas, konkret zu werden. "Also, ich möchte weder Anal- noch Oralsex. Sado-Maso, Fesseln oder andere schmerzhafte Angelegenheiten lehne ich auch ab." Trotz der tapferen Ansage raste der Pulsschlag in seinen Ohren, deshalb hörte er die Antwort nur gedämpft. Sie kam jedoch prompt. "Einverstanden. Würde Ihnen ein bestimmter Tag in der Woche nach Ladenschluss zusagen?" --<--@ Als Andreas die offene Treppe hinunterstieg, erhob sich Leopold höflich von einer Sitzbank. "Das war...einfach phantastisch!" Andreas gab sich einen Ruck. "Vielen Dank, ich fühle mich richtig erholt. Ich hoffe, es war in Ordnung, dass ich das Wasser abgelassen habe?" Leopold lud mit einer leichten Geste ein, am Tisch Platz zu nehmen. "Vielen Dank für das Ablassen. Da es schon recht fortgeschritten am Abend ist, habe ich auf Alkoholika verzichtet. Darf ich dir gekühlten Kräutertee anbieten?" Verlegen ließ Andreas sich nieder, der es nicht gewöhnt war, so bedient zu werden. "Ja, danke, sehr gern. Oh...das ist ja...alles so appetitlich!" Kleine Schüsselchen waren mit Antipasti, Gemüsestreifen oder kleinen, frittierten Bällchen angerichtet. Dazu gab es körnerreiches Brot, aber auch lauwarmen Couscous mit Gewürzen. "Leider sind mir deine Vorlieben nicht bekannt, deshalb habe ich mich auf ein schlichtes Angebot beschränkt." Erläuterte Leopold ruhig. Offenkundig, wie Andreas registrierte, nur pflanzenbasierte Speisen, die unkritische Grundlage. Zumindest, wenn keine anderen Intoleranzen oder Allergien vorlagen. "Das ist...ein richtiges Schlaraffenland! Danke schön!" Bemühte sich Andreas, mit Euphorie zu reagieren, den Umstand verwünschend, dass ihm schon der Mund wässrig wurde! "Bitte, greif nach Herzenslust zu." Eröffnete Leopold mit einer minimalen Verbeugung das Büfett. Nach Erkundigung über den Inhalt der Schüsselchen, kommentierten Häppchen und genüsslichem Schmausen sah sich Andreas gestärkt, seine Neugierde zu befriedigen. "Darf ich fragen...wem gehört denn diese Wohnung?" Leopold, der sich auch an den Speisen gütlich getan hatte, tupfte sich dezent die Mundwinkel mit einer Stoffserviette. "Nun, sie befindet sich in meinem Eigentum. Der Einzug der nächsten Mietparteien verzögert sich durch die Einschränkungen. So kam mir der Gedanke, ein kleines Picknick abzuhalten." Andreas schluckte hastig seine Neige gekühlten Kräutertee herunter. "Also...diese... Wohnung gehört dir... aber du wohnst nicht hier?" Hinter der Brille lupften sich die den Schnurrbart spiegelnden Augenbrauen amüsiert. "Das ist richtig. Es ist zweifellos eine schöne Wohnung in einem besonderen Ambiente." Etwas nervös zögerte Andreas, sich in ein Fettnäpfchen-Areal zu begeben, doch sein Interesse überwog schlichtweg der Scham vor einem Fauxpas. "Heißt das...du wohnst in einer noch...schöneren Wohnung? Oder einem eigenen Haus?" Verlegen angelte er sich gleich darauf ein frittiertes Getreidebällchen, mümmelte mit dezent gepolsterter Backe. Leopold erhob sich kurz mit einem entschuldigenden Blick, barg dann aus einer recht altmodisch wirkenden Kühltasche aus abgeschabtem Kunststoff eine kleine Glasschüssel. "Verzeihung, das Dessert...es sollte nicht zu lange stehen." Andreas schnupperte hingerissen...war das Schokolade? Mousse au chocolat? Oder Haselnuss? Eine Ahnung von Vanille und frisch geröstetem Kaffee? "Ich habe eine Konditorei bemüht, die kleine Köstlichkeiten kreiert. Es sind weder Kuhmilch-Produkte, noch Hühnereier oder Nüsse enthalten." Sein besorgter Blick streifte Andreas aufmerksam. "Es duftet umwerfend! Nein, ich habe keine Allergien, aber danke für deine Fürsorge!" Reagierte Andreas, sprang ebenfalls auf, um Platz zu schaffen für das Wunderwerk. Beinahe zu schade, es mit einem Löffel aufzuteilen! "...mmmhhhhmmmm!" Kommentierte er ungebremst, denn die späte Stunde und die Anstrengungen forderten ihren Tribut, angefangen bei strikter, distanzierter Höflichkeit. Leopold löffelte ebenfalls mit einem seligen Lächeln. Als nichts mehr übrig war, nahm er jedoch den Faden ihrer Unterhaltung auf. "Entschuldigung, dass ich deine Frage vernachlässigt habe." Die braunen Augen zwinkerten leicht. "Ich logiere in einer Wohnung, die mir sehr zusagt. Sie befindet sich in einem Mehrparteien-Wohnhaus." Andreas sackten die Schultern ein wenig tiefer vor Erleichterung. "Oh, aha...ich dachte schon... es ist ja sicher sehr teuer, hier zu wohnen, richtig?" Und dann hätte er sich noch eingeschüchterter gefühlt. Ein prüfender Blick traf ihn. "Nun, ich möchte dich nicht langweilen mit Banalitäten..." Blinzelnd ob einsetzender Müdigkeit konnte Andreas ein schiefes Grinsen nicht unterdrücken. Allzu oft in seinem Leben hatten ihn andere schon als nicht sonderlich klug, weltgewandt, begriffsstutzig und eher schlichten Verhältnissen entstammend abqualifiziert. Leopold hingegen nahm er ab, dass dessen erste Sorge galt, ihn zu langweilen, ein Gesprächsthema nicht zu vertiefen, um seine Langmut nicht zu strapazieren. Deshalb schüttelte Andreas auch den Kopf. "Ich bin ziemlich neugierig... Na ja, ich weiß ja nicht viel von dir..." Etwas verlegen zupfte er am Klettverschluss einer Tasche seiner Arbeitshosen. "Deshalb...wenn ich von dir mehr erfahren kann, dann möchte ich das auch." Vielleicht erschloss sich ihm auch dann, warum Leopold ihm diese Valentinstag-Überraschung bereitet hatte. --<--@ Andreas erhielt postwendend eine zu unterzeichnende, gegenseitige Vereinbarung in zweifacher Ausfertigung, Stundung bis zum Ende des zweiten Quartals 2021, dann Vereinbarung über eventuelle Ratenzahlungen. Keine Verzinsung der offenen, gestundeten Forderungen. Viel mehr als er sich je zu erhoffen gewagt hätte, dennoch empfand Andreas eine fürchterliche Nervosität am ersten Mittwoch ihrer ungeschriebenen Vereinbarung. Er hatte seine kleine Wohnung geputzt, überprüft, ob sie vorzeigbar war, genug Hilfsmittel bereit lagen... Leopold erschien wie besprochen an der Ladentür, klopfte diskret. Ein mittelgroßer, klassisch-zurückhaltend gekleideter Mann mit Hut, Mantel und verlangter Maskierung. Andreas konnte nicht mal das Alter zuverlässig einschätzen. Tapfer wies er den Weg, wusste nicht, was er sagen sollte... Leopold forcierte kein Gespräch, mit Maske ohnehin keine gut verständliche Angelegenheit, bedankte sich höflich beim Eintreten in die winzige Wohnung. Andreas erschnupperte nach dem Ablegen von Hut, Mantel und Maske einen Duft, wie Kölnisch Wasser, nur die moderne, mit Zitrusnoten versehene Variante! In Verlegenheit führte Andreas kurz durch sein kleines Reich. Viel zu präsentieren gab es nicht, aber wenigstens brachte er die Bitte über die Lippen, sich noch rasch frischmachen zu dürfen. Denn direkt nach Ladenschluss fehlte die Zeit... Leopold nickte höflich, ließ sich wie eingeladen auf dem schlichten Bett nieder, lediglich bereits die Anzugjacke abgestreift. »Surreal!« Dachte Andreas, sich mit einem Waschlappen bearbeitend. »Total unwirklich!« Sollte er denn nun so blank und bloß...? Aber einen Bademantel besaß er nicht und sich schamhaft ein Handtuch um die Hüften wickeln, obwohl er sich nur abgeledert hatte... Trotzig wählte er den Geburtstagsanzug. "Oh, ich bitte um Verzeihung. Ich werde sogleich ablegen. Sie müssen ja frieren...?" Leopold erhob sich, gab den Weg frei, ihm ins Gesicht sehend. Während Andreas tatsächlich unter die Decke schlüpfte, einen Enten-Parka im Anmarsch befürchtend, wunderte er sich. Dieser seltsame, höfliche, adrette Mann sah ihm in die Augen, studierte keineswegs die entblößte Gestalt. Hatte der wirklich...ein sexuelles Interesse? Wenn nicht... würde das noch sehr...anstrengend werden! Unterdessen hatte Leopold sich entkleidet und seine Habseligkeiten ordentlich deponiert. "Darf ich...?" Andreas hob die Bettdecke an, seinen Partner-in-Koitus studierend. "Ähem...ich will nicht unhöflich sein, aber... was genau hast..haben Sie sich vorgestellt?" Leopold, der neben ihm saß, die Beine ausstreckte, betrachtete ihn konzentriert. "Ich habe keine Einwände, auf privater Ebene eine vertrauliche Ansprache zu pflegen." Ließ er Andreas wissen. Der sortierte diese Offerte, errötete schließlich, weil Leopold ihn für stoffelig-begriffsstutzig halten musste. "Oh, vertrauliche Ansprache...Duzen?" "In der Tat." Ein gelassenes Lächeln, ein aufmerksamer Blick, noch immer mit Brille. "Das ist kein Problem. Allerdings...ich weiß nicht...ich meine, was möchtest du machen?" Für einen langen Moment schien Leopold in sich gekehrt nachzudenken, dann richtete er seine braunen Augen wieder auf Andreas. "Soweit ich unterrichtet bin, ist Hautkontakt üblich. Ich würde gern, dein Einverständnis vorausgesetzt, deine Haut berühren." --<--@ "Nun, diese Wohnung hier ist wegen all der Möglichkeiten, der Dienstleistungen und des Geländes wirklich für einen größeren Geldbeutel gedacht." Leopold gestikulierte sparsam. "Sie ist mir als Erbe der vormaligen Eigentümer zugefallen. Glücklicherweise verfügte ich über ausreichend Mittel, die Erbschaftssteuer zu begleichen und die Umlage zu finanzieren." Andreas nickte langsam. Ja, genau, als Eigentümer musste man ja in der Eigentümergemeinschaft all die Kosten bestreiten und noch das eine oder andere vorfinanzieren. "Dann verwaltest du nicht nur fremde Liegenschaften, sondern auch deine eigenen?" Mit einem dankbaren Nicken nahm Andreas aus einer Thermosflasche Malzkaffee an. Leopold lächelte, lupfte seine Tasse. "Ich bin über die Jahre hineingewachsen und habe schließlich diese Profession ergriffen." Das Kinn in eine Hand stützend studierte Andreas Leopold fragend. Wie wuchs man denn in die Verwaltung von Liegenschaften hinein?! Versonnen stapelte Leopold geleerte Schüsselchen und Schälchen. "Vielleicht wäre es nicht so gekommen, hätte es den Club der Ananas-Freunde nicht gegeben." --<--@ Andreas konnte nicht behaupten, große Erfahrungen mit intimem Austausch zu haben. Bei Christian sprangen Sympathie, dessen Charme, Anziehungskräfte und sexuelle Bedürfnisse großzügig in die Bresche. Dessen Vorgänger zeichnete sich durch eine grob gestrickte Herangehensweise aus. Leopold hingegen tat genau das, was er angekündigt hatte: seine Hände strichen behutsam über Andreas' Haut. Mal mit den Flächen, mal mit dem Handrücken, mal nur die Fingerkuppen. Von Scheitel bis zu den Fußsohlen. Keine Massage, wohlgemerkt, schlicht Kontakt. Andreas war von dieser Entwicklung viel zu verblüfft, um etwa beleidigt oder konsterniert zu sein, denn dieser entblößte, ruhige Mann in seinem Bett erforschte ihn konzentriert, wertschätzend, wohlwollend, erwartete nichts weiter, als diese Berührung zuzulassen. Eine "Sportstunde" (oder vielmehr zwei) wie bei Christian stand hier nicht zu antizipieren! Trotzdem reagierte Andreas' Körper an neuralgischen Stellen auf diese manuelle Expedition! Sodass es durchaus einem Notstand abzuhelfen galt, angeschmiegt, um Balance ringend, mit einem Mann, der höflich assistieren wollte. Was Andreas herausforderte, die Geste zeitgleich zu erwidern! Sodass man letztendlich doch körperlich erleichtert, sich nacheinander im Bad erfrischend, voneinander schied. Pünktlich jede Woche, ob Feiertage oder Jahreswechsel, erschien Leopold, berührte ihn, streichelnd, aufmerksam. Wurde nicht übergriffig. War das denn tatsächlich Begehren, Leidenschaft, Inbrunst? Andreas nahm die Verwirrung hin, denn immerhin nötigte ihn ihre heimliche Vereinbarungen, waren sie keine Freunde... Sonst hätte er längst gefragt, warum Leopold ihn nicht mal küsste. Oder sich einfach damit zufriedengab, ihn zu berühren. Überhaupt, warum hatte der sich jemanden wie ihn ausgesucht? Sexappeal konnte Andreas bei sich ja nicht entdecken, also, war es NUR die Sehnsucht nach Nähe in sozialdistanzierten Zeiten?! »Der Mann ist mir ein Rätsel!« Grummelte Andreas in Gedanken, erschrocken darüber, dass er die rein "geschäftliche" Beziehung verändern wollte, mehr werden für diesen höflichen, adretten Mann als ein nicht besonders einladendes Kuscheltier! --<--@ "Club der Ananas-Freunde?" Damit konnte Andreas gar nichts anfangen, auch wenn ihm selbstredend Pflanze und Frucht bekannt waren. Leopold sortierte Geschirr und Reste weg, ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. "Das ist eine sehr alte Geschichte. Möchtest du sie tatsächlich hören?" Andreas nickte entschieden, die Mattigkeit verwünschend, die ihn bedrängte. "Nun, frische Ananas für jeden gibt es noch gar nicht so lange. Zunächst kannte man ja nur die gezuckerten Dosen-Varianten, ganz gewagt zu verwenden beim Toast-Hawaii." Die braunen Augen studierten Andreas aufmerksam, ob er sich einen Begriff machen konnte. Der grübelte. "Oh, war das nicht so ein Mode-Gericht während der Wirtschaftswunderzeit?" Leopold ließ sich auf der Sitzbank nieder. "In der Tat. Wenn man damals eine frische Ananas bekommen wollte, musste man im Großhandel mit Frachtflügen tätig sein. Ganz schön kostspielig dazu. Deshalb wurde eine Ananas auch nicht schnöde verzehrt und ihre Reste entsorgt." Ein spitzbübisches Lächeln spielte um die Mundwinkel unter dem Oberlippenbart. "Gewitzte junge Burschen sicherten sich den Blätterstrunk, um sich selbst eine Ananas zu ziehen. Nicht so einfach, wenn man sich mit exotischen Pflanzen nicht auskennt. Wem es gelang, der fühlte sich durchaus einer kleinen Experten-Gruppe zugehörig." Leopold schmunzelte. "Aus der Freundschaft und dem Austausch um die Ananas wurde ein 'Club der Ananas-Freunde'. Acht Jungs mit diesem ungewöhnlichen Hobby. Sie blieben einander verbunden, auch wenn sie ganz unterschiedliche Berufe ergriffen. Einer von ihnen ist mein Mentor, Hein." Andreas war sich nicht sicher, wie er "Mentor" einordnen sollte. "Dann gehörst du auch zum Club der Ananas-Freunde?" Wich er lieber aus. Auf Leopolds Miene zeigte sich eine Mischung aus Melancholie und Wehmut. "Tatsächlich bin ich ehrenhalber aufgenommen worden. Es gelang mir jedoch auch, eine Ananas aus einem Blattstrunk zu ziehen, sodass ich die Aufnahmekriterien erfüllt hätte." Er hob den Kopf, um Andreas ein stilles Lächeln zu schenken. "Allerdings wird es den Club der Ananas-Freunde bald nicht mehr geben. Nur ein Mitglied, Hein, ist noch übrig, und er befindet sich, seinem eigenen Urteil nach, auf dem nicht mehr allzu langen Rückweg in der Zeit." Eine Frage erübrigte sich, Andreas' Gesichtsausdruck genügte, dies zu erläutern. "Hein ist der Auffassung, dass man im Alter in der eigenen Zeit zurückreist. Bis zum Ursprung, nach und nach loslässt, was man im Leben gelernt und erreicht hat." Leopold wirkte ruhig, wenn auch traurig. "Ich bin nicht sicher, ob sich seine Einschätzung mit Einsteins Erkenntnissen deckt. Allerdings müssen wir wohl alle unseren Pfad finden, vermute ich." Vielleicht hätte man schweigen, das Thema wechseln sollen...Andreas verabschiedete höfliche Distanz. Nun bot sich schließlich die Gelegenheit, mehr über Leopold in Erfahrung zu bringen! "Wie bist du denn in den Club gekommen?" Immerhin schienen diese acht Jugendfreunde wohl einen erheblichen Altersabstand zu ihnen zu haben. Geschmeidig kam Leopold auf die Beine. "Das kann ich dir gern erzählen, doch es ist schon recht fortgeschritten in der Zeit. Erlaubst du mir, dich nach Hause zu begleiten?" Betont energisch stemmte Andreas sich hoch, die schleichende Erschöpfung verdrängend. "Gern! Wollen wir vorher noch mehr aufräumen?" Leopold verneigte sich leicht. "Danke sehr. Nein, ich werde morgen..., ich korrigiere, heute alles aufräumen und herrichten. Einstweilen mag es genug sein für den Valentinstag." Sich stumm zur Ordnung rufend folgte Andreas Leopold zum rollbaren Wandschrank, verpuppte sich artig, den Rucksack aufladend. Hoffentlich weckte ihn die eisig-kalte Luft draußen! Gemächlichen Schritts verließen sie, dezent illuminiert, das parkähnliche Gelände, fiel das Zauntor hinter ihnen lautlos ins Schloss. Dann nahm Leopold seine Erzählung wieder auf. "Es gab da mehrere Zufälle, die ineinander griffen, um mich mit dem 'Club der Ananas-Freunde' bekannt zu machen." Er stellte leicht den Arm aus, damit Andreas sich einhaken konnte, den die Kälte nicht ausreichend aufweckte. Zumindest sein Körper schien nach dem Luxus von Bad und Speisen schon die Ruhezeit vorverlegen zu wollen! "Ich muss ein wenig in der Geschichte zurückgehen, fürchte ich. Meine Mutter verstarb noch vor meinem dritten Lebensjahr an einer sehr aggressiven Variante des Blutkrebses. Offenbar eine erbliche Vorbelastung, da ihre eigene Mutter auch mit Anfang Vierzig starb." Während Andreas ein Ächzen unterdrückte und kaum einen Seitenblick wagte, wirkte Leopold gelassen. Oder nur gefasst? "Mein Vater hat sich von diesem Schicksalsschlag nicht erholt. Es traf ihn so sehr, dass er sich in Arbeit flüchtete, Aufträge um Aufträge akquirierte. Er war in der Logistik- und Transportbranche tätig, sollte ich ergänzen. Gleichwohl sorgte er sich auf seine Art um mich, trotz seines Grams. Seine eigenen Eltern waren zu betagt, sich um meine Erziehung zu kümmern und Geschwister hatte er keine. Allerdings gab es Großtante Agnes, die einen Kurzwarenladen betrieb und nie geheiratet hatte. Sie sagte zu, mich bei sich aufzunehmen, wir würden uns eben miteinander arrangieren." In Leopolds Stimme lag ein leises Lachen. "Großtante Agnes lebte seit ihrer Lehre allein und verstand nach eigenem Bekunden nichts von Kindern, umso mehr vom Einzelhandel, von Kurzwaren, Wollqualitäten, Stoffen und Tuchen. Wenn man das Strickmuster verstand, dann konnte einen nichts im Leben schrecken, erklärte sie." Andreas tappte neben Leopold her, müde und doch aufmerksam. "Sie war eine unkonventionelle Person. Deshalb wies sie auch Hein nicht die Tür, als der in den Laden kam und fragte, ob man nicht für einen Abend im Monat den Stammtisch abhalten könne, weil ihr herrlicher Arbeitstisch genau geeignet schien, um acht wackere Ananas-Freunde zu versammeln." Nun hatten sie Andreas' Adresse erreicht, doch der kramte nur nach seinem Schlüssel, verabschiedete Leopold nicht. "Ein Stammtisch in einem Laden abhalten? Ist das denn erlaubt?" Mit der Frage lud er Leopold geradezu ein, ihm hoch zu seiner kleinen Wohnung im Dachgeschoss zu folgen, was dieser tat. "Ein wichtiger Einwand! Allerdings spricht nichts gegen ein privates Treffen mit einer Auslagenerstattung an die Gastgeberin! Großtante Agnes stellte auch Regeln auf, die den acht Herren zusagten. Gereicht wurde nach Ostfriesen-Sitte Tee und mal Gebäck oder ein Toast. Wenn es zu eisig wurde, ausnahmsweise Pharisäer oder ein Schuss Kümmelschnaps. Dann durfte aber niemand selbst am Steuer den Heimweg antreten." Andreas nahm Leopold Hut und Mantel ab, gestikulierte zu seinem schlichten Bett. "Übernachte hier, ja? Es ist schon spät und ich möchte auch den Rest noch hören." Kurzerhand streifte er sich selbst bis auf die neue Leibwäsche alle Kleider ab und schlüpfte unter die Bettdecke. Leopold tat es ihm nach. "Großtante Agnes stellte mich auch vor, denn ich verbrachte jede freie Minute bei ihr im Laden. Obwohl er bis unter die Zimmerdecke angefüllt war mit Fächern, Schubladen und Schachteln, wirkte er gemütlich und heimelig auf mich. So lernte ich die Ananas-Freunde kennen. Hein arbeitete schon damals für eine Privatbank, die das Vermögen und Werte ihrer Kunden verwaltete. Deshalb schien es meinem Vater, der sporadisch zu Besuch kam, naheliegend, ihn um Rat zu fragen. Aktien und Wertpapieren vertraute er nicht, aber Immobilien konnten eine sichere Anlage zu sein. So kam es, dass mein Vater immer wieder Wohnungen erwarb." Andreas, der gegen das Einschlafen ankämpfte, tastete nach Leopolds Hand, schob seine eigene hinein. "Kurz nach meinem zwölften Lebensjahr verstarb mein Vater an einem Herzinfarkt. Die Ananas-Freunde kümmerten sich im Anschluss noch stärker um mich. In dieser unsicheren Zeit der Pubertät sollte ich keine Zukunftsängste haben müssen. Zudem, wem es gelungen ist, eine Ananas zu ziehen, der kann auf sich selbst bauen." Leopold lächelte hörbar. "Deshalb haben sie mich alle unter ihre Fittiche genommen. Mein Vater hatte mir ja veritable Werte hinterlassen, ich musste mich der Verantwortung stellen. Mit ihrer Unterstützung und Ermutigung gelang es mir. Allerdings habe ich so erst recht spät begriffen, dass ich nur unter Erwachsenen aufgewachsen bin. Es bereitet mir eingestanden noch heute Mühe, mit Gleichaltrigen oder Jüngeren eine persönlichere Beziehung aufzubauen." Was für Andreas eine ganze Menge an Fragen beantwortete. "Tja, kurz vor meinem 17. Lebensjahr ist Großtante Agnes eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Glücklicherweise sprang Hein als mein Vormund in die Bresche, bis ich auf eigenen Füßen stehen konnte, mir darüber klar werden, welchem Pfad ich folge." Er atmete tief durch. "So ist es dazu gekommen, dass ich mich mit der Liegenschaftsverwaltung befasse." Andreas drückte behutsam seine Hand. "Danke. Danke, dass du mir so viel anvertraut hast. Und natürlich für diese Valentinstag-Überraschung. Ich habe noch nie den Valentinstag selbst gefeiert...ich meine, nicht beruflich..." Er brach ab, weil seine Zunge sich kaum noch sortieren ließ. "Es war mir eine große Freude. Ich danke dir für deine Gesellschaft und die Gastfreundschaft in deinem Heim." Antwortete Leopold leise, so höflich und gesetzt wie immer. Seine Worte blieben die letzten, die Andreas' Verstand erreichten, bevor final alle Veto-Kräfte den Zapfenstreich durchsetzten. --<--@ Andreas verabschiedete die "Flunder" schon beim zweiten Treffen. Nur wie ein toter Plattfisch herumliegen, das konnte er schlichtweg nicht aushalten. Warum auch?! Ihre Vereinbarung verpflichtete ihn zwar nicht zu aktivem Handeln, schloss dies jedoch nicht aus. Wenn Leopold ihn berührte, sorgsam, konzentriert, dann kam Andreas sich recht stoffelig vor, dies bloß hinzunehmen. Nicht mal im Streichelzoo ging es so einseitig zu! Deshalb erwiderte er die Gesten, spiegelte Leopolds Annäherung. Andreas vermochte nicht einzuschätzen, ob Leopold intime Kontakte nicht gewöhnt war oder sehr lange entbehrt hatte. Er erfuhr keine Zurückweisung, lediglich ein freundliches, reserviertes Lächeln, wie er auch noch nie einen Gefühlsausbruch von Leopold erlebt hatte. Alles an ihm wirkte gemessen, wohlmoduliert, ausbalanciert. Zudem konnte er keine Leidenschaft erwarten, bei einem so seltsamen Verhältnis... Wirklich merkwürdig... Andreas verleugnete vor sich selbst nicht, dass er sich über Leopold ausnehmend viele Gedanken machte. Eine psychische Ausnahmesituation schloss er für sich selbst jedoch aus. Himmel, Leopold bedrängte ihn ja nicht mal! Keine Attacke, immer ein gemäßigtes Tempo der Annäherung, aufmerksames Interesse. Kein Zweifel, hätte er mal Unwohlsein geäußert, wäre Leopold verständnisvoll temporär von der Vereinbarung zurückgetreten! Sodass Andreas sich nicht ausgeliefert oder unterlegen fühlte. Hin und wieder jedoch grummelig, weil er sich einfach auf diesen rätselhaften Mann keinen Reim machen konnte! Ein so merkwürdiger Geselle war ihm jedenfalls noch nie untergekommen. --<--@ Als Andreas erwachte, die Lider mühsam entwirrend, fand er sich allein, orientierte sich für lange Augenblicke an der Schräge der Zimmerdecke in seiner kleinen Dachgeschosswohnung. Genau, Montag, nach dem Valentinstag, üblicherweise der freie Tag der Arbeitswoche. Unseliger Weise wiesen seine Wochen Pandemie-bedingt nur "freie" Tage seit November aus! Gemächlich trudelte die Erinnerung an den gestrigen Abend ein. Ein phantastisches Sprudel-Schaumbad in einer Super-Luxus-Sci-Fi-Hightech-Wanne! Neue Unterwäsche und flauschige Socken! Danach ein Mehr-Gänge-Menü der Sonderklasse, dekadent delikat! Andreas rollte sich auf die leere Seite und studierte den Platz. Die Decke war sorgsam gefaltet und geglättet worden, das Kopfkissen aufgeschüttelt und von Falten befreit. Als gäbe es keine Spuren... Er stemmt sich auf den Ellenbogen und angelte einen gefalteten Zettel heran, der auf der alten Holzstiege wartete. Nun musste doch die LED-Glühbirne in der offenen Fassung an der Zimmerdecke ihre Leuchtkraft spenden. [Lieber Andreas, ich bin genötigt, gegen die Etikette zu verstoßen und abschiedslos zu gehen. Mich hat die Nachricht über das Ableben von Hein erreicht. Die letzten Ehrenpflichten verlangen daher meinen persönlichen Einsatz. Ich bitte Dich um Nachsicht und bedanke mich für Deine Gastfreundschaft und Gesellschaft. In aufrichtiger Verbundenheit, Leopold] --<--@ Andreas befand sich, natürlich!, in seinem geliebten Pflanzen-Hain. Während er spärliche Online-Anfragen beantwortete, seine Schützlinge begutachtete, Rechnungen ausstellte, dachte er nach. Kondolieren wäre angezeigt, nur wie?! Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er keine privaten Kontaktmöglichkeiten mit Leopold bemühen konnte. Die Visitenkarte repräsentierte das Unternehmen. Dort anrufen, wenn man nicht wusste, wer abnahm: nicht so gelungen. Wo wohnte Leopold? Hatte der auch eine private Mobiltelefonnummer? Oder E-Mail-Adresse, zur Not? Andreas, durch Funklöcher in seiner Jugend nicht allzu abhängig vom Smartphone, fragte sich, wie Leopold eigentlich...? Andererseits... Die Hände in die Hüften gestemmt beäugte er seine grünen Freunde. Wenn man jetzt mal überschlug, wie alt dieser Ananas-Freundeskreis gewesen sein musste... Großväter-Generation, mutmaßlich. Die Jugendfreunde waren, verständlich. Doch warum sollte der 'Club der Ananas-Freunde' schnöde aussterben?! Man konnte doch neue Mitglieder finden, junge Leute! An der Ananas-Zucht als Einstiegskriterium scheiterte es bestimmt nicht! Grimmig wienerte Andreas sorgsam große Blätter der immergrünen Zimmerpflanzen. Allerdings hatte Leopold angedeutet, quasi nur unter Erwachsenen seine Jugend verbracht zu haben, im Laden der Großtante. Hatte er nicht gelernt, wie man Freundschaften schloss? Schön, seine Ausdrucksweise schreckte ein wenig ab, so gesetzt und etwas altmodisch... Was dachte der sich eigentlich, wie es weitergehen sollte? Der Letzte macht das Licht aus und die Tür zu?! Die Konsequenz dieses Ausspruchs des Volksmundes veranlasste Andreas, sich abrupt auf seinem Klappstuhl zu parken. Himmel, war das wirklich Leopolds Horizont?! Ein abwickelnder Testamentsvollstrecker des Freundesclubs? Andreas pickte eine Sukkulente mit flusig behaarten Blättern auf, liebkoste diese versonnen. Leider konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Leopold so denken mochte. Immerhin hatte der seit frühester Kindheit vertraute Personen verabschieden müssen. Möglicherweise durch die Verluste keinen Vorstoß unternommen, sich auf neue, enge Bindungen einzulassen. Spekulation, richtig! "Und du bist nicht in der Position, dir etwas herauszunehmen!" Ermahnte er sich im Selbstgespräch. Zwei eigene Beziehungen in aktuell 28 Lebensjahren, die nicht gerade Tageslicht-tauglich waren, da sollte man besser das eigene Urteil für sich behalten! "Ich warte erst mal den Mittwoch ab." Entschied Andreas für sich selbst. Leopold hatte ihn noch nie versetzt. Dann konnte man immer noch ein Gespräch führen und aufklären, wie dieses seltsame Verhältnis eigentlich weitergehen sollte. --<--@ "Hallo? Spreche ich mit Andreas Stuber vom Pflanzen-Hain?" Andreas erkannte die Stimme der Anruferin nicht, gestand aber höflich ein, der Gesuchte zu sein. "Oh, prima! Ich rufe für Leopold Löwenstein Liegenschaftsverwaltung an. Herr Löwenstein bedauert, den Termin absagen zu müssen." Pardon?! Der Mann, der wie ein Uhrwerk pünktlich jede Woche vor seiner Ladentür gestanden hatte?! "Ah...hat er einen Grund genannt?" Hakte Andreas grollend nach. Die Anruferin zögerte. "Na ja, ich verrate ja kein Geheimnis. Wegen eines Todesfalls im engen Umfeld hat er gerade viel um die Ohren, wissen Sie? Und dann all die Beschränkungen, der Papierkram... Ich kann mir eine Notiz machen, dass er sich bei Ihnen für einen neuen Termin melden soll, okay?" Andreas nahm die Offerte an, denn ihm schwante, dass die Dame ihn für einen Klienten hielt. "Ja, danke, ich hab's notiert und leite es weiter. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Nachmittag!" Man musste Gegengleiches erwidern, der Höflichkeit geschuldet. Andreas seufzte und rieb sich erst über die Hosen, dann ohne Erdkrumen über das Gesicht. Er kam sich ausgeschlossen und unzulänglich vor. Man hätte wenigstens das Beileid aussprechen, Hilfe anbieten müssen, selbst wenn er sich nicht nützlich vorkam. Aber eine Umarmung, ein offenes Ohr, das hätte er geboten. Nun fühlte er sich wie ein Fremder, ein bloßer Geschäftspartner, was ihm erheblich missfiel. Dabei hatte er gar keine Ansprüche geltend zu machen! "Trotzdem!" Knurrte Andreas und zwirbelte sich forsch seinen Zopf im Nacken strenger zusammen. Vielleicht waren sie noch keine Freunde, aber das konnten sie noch werden, oder nicht?! Und wenn eine selbst gezogene Ananas die Bedingung wurde, verspürte er Zuversicht, diese Hürde zu nehmen. Es ging ihm einfach gegen den Strich, dass Leopold den Rest seines Lebens bloß noch "abwickelte"! Also, möglicherweise. Mal als These in den Raum geworfen. Andreas warf dem kugelrunden Kaktus einen entschlossenen Blick zu. "Wir können auch anders! Indem wir den Spieß umdrehen." --<--@ Ein mittelgroßes Geschäftshaus, diskret, unauffällig, die Fassade verklinkert. Hinter der gläsernen Doppeltür, die pneumatisch den Weg freigab, sah man sich einem breiten Tresen gegenüber, aufgestockt um Plexiglasscheiben, die man mit floralen Jugendstil-Motiven an den Kanten beklebt hatte. An der Wand eine schlichte, altmodische Stecktafel mit den Nutzenden des Gebäudes pro Etage. Andreas vermutete rechts und links neben dem Eingang Wartebereiche, die üblicherweise möbliert waren. Hinter dem Tresen wirkten die Doppelschreibtische verwaist, die Schränke verschlossen. Allerdings lud ein betagt wirkendes Klingelbrett zur Selbstbedienung ein. Hatte hier die Anruferin gesessen? Ohne Zögern betätigte Andreas den Rufknopf, wartete die Entwicklung ab. Anstelle der Aufzugkabine näherten sich jedoch eilige Schritte über das Treppenhaus, wie er vernehmen konnte. Leopold zupfte am letzten Absatz die Maske zurecht, dezent derangiert. "Hallo, Leopold. Überraschung." Nicht gerade die originellste Ouvertüre, aber Andreas verspürte schon Erleichterung, Leopold nicht verpasst zu haben. Der zögerte nur einen kurzen Augenblick, nahm dann die letzten Stufen in Angriff und durchquerte das Foyer. "Ich bitte um Verzeihung, dass ich mich nicht gemeldet habe." Andreas nickte bloß knapp und schlang Leopold einfach die Arme um den Nacken. "Es tut mir leid, dass dein Mentor gestorben ist. Und dass ich nicht weiß, wie ich dich privat erreichen kann." Leopold schien perplex in dieser Umarmung zu verharren. "Immerhin bin ich deine Kontaktperson, nicht wahr?" Nur ein minimales Zusammenzucken. Man beherrschte sich mustergültig. Andreas entschied, keinen Schritt von seinem Plan abzuweichen. Deshalb löste er sich brav und lächelte betont hinter der Maske, damit man es auch in den Augen sehen konnte. "Vielleicht sollten wir uns woanders unterhalten?" Sehr subtil. Leopold nickte gemessen, wich zurück, sparsam gestikulierend die Treppe ins Ziel nehmen. "Natürlich, gehen wir doch in mein Büro. Der Empfangs- und Bürodienst ist um diese Zeit nicht mehr besetzt. Und ich möchte ungern den Fahrstuhl bemühen, auch wenn sich die Anfälligkeit in letzter Zeit reduziert hat." Unwillkürlich schüttelte Andreas sich. "Brr! Na, ich möchte auch nicht irgendwo feststecken." Er stapfte hinter Leopold hinauf, zweite Stockwerke über dem Halbparterre, Milchglastüren mit altmodisch gestalteten Schildtafeln daneben. Jedes Stockwerk teilte sich in der Mitte, gegenüber dem Aufzugsschacht, die Besuchenden-Toiletten. In seiner Vorstellung hatte Andreas ein altmodisches Büro erwartet, dunkle Möbel, endlose Reihen Folianten, gediegene Atmosphäre. Nicht hier. Drei Räume plus geteilte Toilette und Teeküche, die Wände cremeweiß verputzt, moderner Korkbelag auf dem Boden, schlichte Deckenlampen im Industrie-Design. Ein Raum diente wohl der Besprechung, ovaler Tisch mit Stapelstühlen und losen Kissen. In Leopolds Büro fanden sich zwei Schwinger ohne Lehnen als Besuchsstühle vor einem Tisch mit Rollcontainer. Statt Bürodrehstuhl nur eine Art flexibler Hocker, vor dem Schrank noch zusammengeklappt ein Stehpult, das an eine umgewidmete Leiter erinnerte, ein Fenster, mit Lamellenvorhang, gegenüber an der Wand ein altmodisches Kanapee, darüber ein expressionistisch wirkendes Bild. Alles recht schlicht, gemischt aus modern und antik wirkenden Einzelstücken, aufgeräumt und klar. "Wenn es dir nichts ausmacht..." Zögerte Leopold, wandte sich zu Andreas herum, der vor den Besuchsstühlen stehengeblieben war. Leopold zupfte die Maskenbügel von den Ohren ab, justierte seine Brille. "Ich würde gern für ein Gespräch einen privateren Rahmen vorziehen. Wenn dich das nicht stört...?" Andreas, der ebenfalls die Maske abnahm, schüttelte prompt den Kopf. "Nein, fände ich sogar prima. Wohin wollen wir gehen?" Denn ihm war keineswegs entgangen, dass Leopold ihn nicht an der offenen Garderobe eingeladen hatte abzulegen. Etwas nervös wirkend bemühte Leopold ein schüchternes Lächeln. "Ich wohne gleich um die Ecke. Allerdings eher bescheiden." Was Andreas ein Grinsen entlockte. "Dann freue ich mich auf meinen ersten Besuch in der Höhle des Löwen!" Zudem wollte er die Dimensionen von "bescheiden" gern erkunden. Immerhin hatte sich Leopold über seine eigene Dachwohnung und die eher sparsame Gestaltung nicht beklagt. --<--@ Tatsächlich benötigten sie durch Verbindungsgässchen und öffentliche Durchgänge von Höfen nur fünf Minuten. In der Straße boten altmodische "Stadtgehöfte" ihre Front, eigentümliche, meist dreistöckige Häuser mit Giebel- und Satteldächern, bei denen neben den halbhohen Stufeneingängen ein Doppeltor die Einfahrt in den Hof ermöglichte, früher Kutsche oder Fuhrwagen. Über dieses Tor zogen sich dann Stockwerk zwei und drei plus Dach. So hatte man versucht, immer schmaler werdende Grundstücke zu nutzen. Andreas folgte Leopold durch die überbaute Einfahrt in den Hinterhof. Anstelle von Scheunen, Katen oder Ähnlichem saß hier, die Tiefe ausnutzend, ein dreistöckiges Wohngebäude, perfekt eingepasst, in Leichtbauweise, wie man häufig Flachbauten aufstockte, um den Flächenverbrauch nicht zu erhöhen. Hier hatte man drei wie Seecontainer dimensionierte Etagen aufeinander gesetzt und Revisions-/Technik-Schächte angebaut. Eine offene Treppe erlaubte den Zutritt zu jeder Etage. "Es ist ein Projektbau." Erläuterte Leopold, der seltsam deplatziert wirkte in seiner so distinguiert-altmodischen Bekleidung. "Gedacht für jüngere Menschen, ohne eigenes Fahrzeug. Hier war nämlich nicht genügend Raum für einen Außenaufzug." Andreas stapfte hinter ihm her, neugierig in die kleinen Fenster spähend. Es brannte Licht, der Eindruck war trotz des schlichten Container-Erscheinungsbildes freundlich und einladend, Pflanzen, nicht nur im Hof in Töpfen, sondern auch hier, angebunden oder eingehängt, wo der Platz es zuließ. Leopold, der ganz oben wohnte, wo man mit wenigen, aufgeständerten Sonnenkollektoren Energie erntete, schloss auf. Die Fußmatte innen, die Tür öffnete sich nach außen (Fluchttür eben). Der Quader war aufgeteilt, eine Seite die Küchenzeile, gegenüber Tisch-Stuhl-Kombination, linke Hand am Kopfende auf einem kleinen Podest ein Schlafsofa, dazu unter der Zimmerdecke am Flaschenzug ein gespanntes Trapez-Segel, das offenbar das Bettzeug beherbergte, weshalb man sich tagsüber bequem im "Wohnzimmer" niederlassen konnte. Eine Wandnische präsentierte eine ausziehbare Aufhängestange, unter dem Podest rollende Schubladen, rechter Hand, abgetrennt durch Schiebetüren, die Nasszelle mit Toilette. Andreas fühlte sich beinahe an eine Schiffskajüte erinnert. Leopold nahm ihm, etwas überrascht vom Gewicht, Rucksack und die Jacke ab. Hinter der Tür konnte man an einer Knaufleiste Garderobe aufhängen. "Darf ich...?" Er durfte, und sofort sockte Andreas neugierig durch den bescheidenen Raum, spähte hinter die Schiebetüren, beäugte all den versteckten Stauraum, die Haken und Ösen, mit denen man multifunktionale Möbel rangieren konnte. "Das ist ja genial." Stellte er schließlich sehr anerkennend fest. "Gehört es dir?" Leopold schmunzelte, zwei klappbare Stapelhocker mit runden Sitzkissen bestückend und den Tisch aufstützend. "Nein, man kann in diesem Projekt nur zur Miete wohnen." Sich hinter der Tür über seinen Rucksack kauernd kommentierte Andreas amüsiert. "Du verwaltest und besitzt Liegenschaften und wohnst fremd zur Miete?" Schon absurd. "Nun ja, es sagt mir zu." Bekannte Leopold mit einem leichten Schulterzucken, sich der Ironie durchaus bewusst. Andreas erhob sich, einen Teil seiner Beute im Zugriff. "Kannst du vielleicht Wasser aufsetzen? Ich habe zwar nur Beuteltee, aber das sollte auch funktionieren." Unerschrocken erwiderte er Leopolds dezent verwirrten Blick. "Um mal Klartext zu reden: Ostfriesentee, Klüntjes, Hafersahne. Ich hab auch kleine Teekuchen gebacken, die essbar sind. Und ich will endlich offen mit dir reden." Er drückte die Schultern durch. "Das Vermächtnis abwickeln, dann Licht aus und Tür zu, das ist nicht!" --<--@ Geschirr oder Besteck gab es nur wenig, doch die zwei altmodischen Tässchen wirkten so, als hätte man jahrzehntelang Tee aus ihnen getrunken. Erbstücke vermutlich. Andreas hatte die Ostfriesen-Teezeremonie recherchiert, war jedoch froh, dass Leopold wie selbstverständlich das Zepter übernahm, in sich gekehrt nach der Ankündigung. Möglicherweise aber auch resigniert und erschöpft. "Wie viele Gewerbeeinheiten gehören eigentlich zu deinem Besitz?" Erkundigte er sich entschlossen, nippte an dem zuerst ein wenig bitter schmeckenden Tee. Leopold blickte ihn kurz an, dann wieder in seine Teetasse. "...eine." Antwortete er leise. "Der Laden, nicht wahr? Großtante Agnes' Wollladen, in dem sich jetzt mein Pflanzen-Hain befindet." Das eine hatte Andreas vermutet, das andere von einer alten Frau aus der Nachbarschaft erfragt, die bei ihm jedes Jahr besondere Tulpenzwiebel orderte. "Was ist aus dem Stammtisch geworden, als der Laden gekündigt wurde?" Nach dem Tod der Inhaberin. Leopold zögerte kurz, studierte den kleinen Teekuchen, den Andreas mit der Mikrowelle fabriziert hatte. "Eine Weile haben sie sich reihum getroffen. Dann auf einer Kegelbahn, die bewirtschaftet wurde." Sie, nicht "wir". Natürlich nicht. Andreas setzte nach. "Und deine Ananas-Pflanze?" Nun lächelte Leopold tatsächlich wehmütig. "Ich habe sie damals einer Nachbarin geschenkt, die auch Orchideen pflegte. In die Pension durfte man keine Pflanzen mitbringen." Nein, vermutlich nicht. Ein möbliertes Zimmerchen für den Schüler, den nur die Vormundschaft von "Onkel Hein" vor der völligen Verwaisung schützte. Andreas seufzte betont auf. "Man kann den Kuchen durchaus essen, weißt du?" Neckte er Leopold entschieden. Ertappt teilte der sich rasch ein Stückchen ab und kaute artig. Abwartend nippte Andreas an seiner Teetasse, deren Inhalt immer süßer und sahniger schmeckte, konzentrierte sich auf den rätselhaften Mann ihm gegenüber, im dreiteiligen Anzug in einem gemieteten Container, der für junge Leute gedacht war. "Warum hast du mir dieses Angebot gemacht, Leopold?" Andreas beobachtete dessen Mienenspiel. Was sich kaum verriet, lediglich ein minimal wahrnehmbares Runzeln in den Mundwinkeln. "Warst du nicht überzeugt, dass du als Sachwalter dein Schicksal gefunden hast?" Leopolds Hände lagen unter dem Tisch flach auf auf seinen Oberschenkeln. Den Kopf halb gesenkt schien er in sich selbst versunken. Andreas ballte die eigenen Fäuste, angespannt und mühsam seine Ungeduld in Schach haltend. "Das nahm ich an." Bekannte Leopold leise, melancholisch lächelnd, hob den Blick leicht. Den Blick auffangend grummelte Andreas grimmig. "Und was hat dich dann bewogen, mir trotzdem diesen Antrag zu machen?" Leopold blinzelte, schlug die Augen nieder, atmete durch. "Dein Laden erinnerte mich an früher. Voll bis unter die Decke und doch gemütlich. Ich glaube..." Er räusperte sich leise, presste die Fingerkuppen in seine Oberschenkel, was Andreas die angespannten Oberarmmuskeln enthüllten. "Ich glaube, ich wollte es versuchen, einmal wenigstens, ob es mir möglich ist, einen Anfang zu wagen. Einem anderen Menschen nahe zu sein." Andreas spürte seinen eigenen hastigen Pulsschlag, atmete selbst erleichtert durch, die Verspannung abschüttelnd. Ein seltsamer Mann, der offenbar nur Abschiede kannte, sich darin eingerichtet hatte, der Letzte, der Zurückbleibende zu sein. Andreas erhob sich leicht, streckte die Rechte aus, lupfte Leopolds Kinn und küsste ihn dann ungefragt auf die Lippen, erwiderte den perplexen Blick entschieden. "Ich mag ja auch kein Experte sein..." Deklarierte Andreas, ließ den Stapelhocker samt Sitzkissen im Stich und zog Leopold ebenfalls auf die Beine. "Aber ich gebe auch nicht leicht auf, wenn mir etwas wichtig ist." Selbst wenn das bedeutete, Leopold beizubringen, wie man "richtig" küsste, keine bloßen Tupfer auf den geschlossenen Mund! Nach kurzem Zögern gab der sich geschlagen, fest umschlungen und entschlossen belagert. Als sie beide kurzatmig schwankten, studierte Andreas prüfend die so aufmerksamen Augen hinter den Brillengläsern. Ein feuchter Film beschlug sie. Spontan zog er Leopold heran. "Das ist in Ordnung, Leo. Traurig sein und wütend und anlehnungsbedürftig, das ist okay. Darum bin ich doch hier, bei dir." Man musste nicht stets alles weglächeln, höflich und distanziert bleiben, Anstand wahren um jeden Preis, sich zusammenreißen müssen, alles alleine bewältigen, niemand behelligen. Leopold schluchzte leise, rang um Fassung. "Ist gut, lass den Kummer raus." Riet Andreas leise, tröstend. Er hatte sich auch oft mutlos, traurig und wütend gefühlt, weil sein "Outing" ihn isoliert hatte. Doch so allein, wie er sich in diesen Momenten glaubte, stand er gar nicht da, wie er sich selbst vor Augen hielt. Zugegeben, die letzte Zeit WAR schwierig gewesen, mit seiner verheimlichten Liebschaft. Aber man konnte noch telefonieren mit der Sonntags-Liebesfilm-Gemeinschaft, mit Bekannten, sich mit Nachbarn über die hygienische Distanz unterhalten. Und dann war ja Leopold in sein Leben getreten, der nicht mal Erwartungen hegte, auf Verlust geprägt war. "Verzeihung..." Murmelte der gerade, löste sich von ihm und angelte abgewandt ein Stofftaschentuch aus der Weste heraus, sich die Augen zu trocknen. Von sehr viel älteren Menschen aufgezogen und geformt. Nach eigenem Bekunden nicht gut darin, bei Gleichaltrigen Anschluss zu finden. Andreas wartete geduldig, bis Leopold ihn wieder anzusehen wagte. "Ich mag dich." Bekannte er, die Röte in seinen Wangen verwünschend, seinen unverschämt galoppierenden Puls. "Also möchte ich mehr von dir wissen, dich nicht nur einmal pro Woche sehen können. Ich hab zwar bis jetzt keine, sagen wir, ordentliche Beziehung gehabt, aber ich werde mir Mühe geben. Ich will das versuchen. Also, was sagst du?" Auffordernd streckte er Leopold die Rechte hin, in diesen Zeiten eine geradezu verbotene, gemeingefährliche Geste. Wenn man sich nicht den Haushalt teilte oder "Kuschel-Person" war! Leopold blinzelte, noch immer das Stofftaschentuch in der Hand. Er wirkte ratlos, ein wenig verzagt, erstaunlich kindlich. Hatte ihm etwa noch nie jemand die Hand zur Freundschaft (oder mehr) geboten? "Es ist üblich, bei Zustimmung zuzugreifen und zu schütteln." Soufflierte Andreas schmunzelnd. Sehr vorsichtig ergriff Leopold daraufhin seine Hand. Scheu. "Gut, lass uns Freunde und ein bisschen mehr werden, ja?" Verkündete Andreas hochgestimmt, rüttelte ihre Verbindung energisch durch. Leopold lächelte schüchtern. "Vielen Dank. Ich werde mich anstrengen." Was Andreas veranlasste, die Distanz zu überwinden, seine Hand zu lösen und Leopold in die Arme zu ziehen. "Das wird klappen, bestimmt! Wir machen das einfach in unserem Tempo, okay?" Vor allem, wenn er Leopold langsam an Zutraulichkeit und Nähe gewöhnen musste. --<--@ Andreas' Rucksack bot neben Ostfriesentee-Beuteln, Hafersahne und Klüntjes noch andere Schätze. Immerhin hatte ihm ja das Valentinstag-Menü Anleitungen geliefert. So hatte er in Anspielung an das "Bratkartoffel"-Verhältnis eine entsprechende Packung mitgenommen. Leopolds Fürsorge um pflanzliche Lebensmittel in Erinnerung, möglichst nicht Allergie auslösend, packte er Räuchertofu dazu. Antipasti, Knäckebrot, Senf, Gewürzgürkchen, Kräutertee... Auf dem Klapptisch versammelte er das Aufgebot für eine Freundschaft. "Also, ich war mir jetzt nicht so ganz sicher..." Gestand er ein, denn so genau wusste er nicht, was Leopold mochte oder nur aus vorausschauender Rücksicht gewählt hatte. Und mit einer so ungewöhnlichen, zurückgenommenen Wohneinrichtung hatte er auch nicht gerechnet. Ob die eingeschweißten Reserve-Kartoffelscheiben da überhaupt Verwendung finden konnten? Leopold, der brav neben ihm gestanden und die Enthüllungen verfolgt hatte, lächelte. "Das ist prima, vielen Dank. Möchtest du vielleicht auf dem Sofa Platz nehmen? Dann kann ich den Wok herausholen und für das berühmte Verhältnis die Vorbereitungen treffen." So zog sich Andreas brav zum Sofa zurück und beobachtete, wie Leopold eine Schürze entfaltete, sich umband. Auf den zwei Platten der Induktionskochstelle nahm der Wok viel Platz weg, schien jedoch häufig genutzt zu werden. Kein schlichtes Modell, sondern beschichtet und nicht gusseisern, die Griffe mit Aufheizschutz. Während Leopold den Räuchertofu aus der Verpackung barg und würfelte, betrachtete Andreas vom Sofa aus die Aussicht. Unter dem kleinen Fenster, das sich nach außen öffnete, befanden sich ein bescheiden dimensionierter Bildschirm, Bücher und Schachteln. Sowie ein gerahmtes Bild. Andreas beugte sich vor, um die Details zu studieren. Man hatte die Aufnahme nachbearbeitet, in Sepia-Farben getaucht, um künstlich eine Atmosphäre von Nostalgie zu erzeugen. Acht ältere Männer saßen bzw. standen gereiht hinter einem Tisch, auf dem für eine Tee-Tafel mit Kuchen gedeckt war. Ungewohnt kastig geschnittene Anzüge, zu breite Krawatten, man blickte betont seriös, jedoch mit humorvollem Zwinkern in den Mienen. Links von ihnen stand eine alte, vierschrötige Frau, mit 50-er-Jahre-Turban und herben Zügen. Ihre Hände lagen auf den schmalen Schultern eines kleinen Jungen, formal mit Bundfaltenhose, Pullover und Hemd bekleidet. Lediglich die gebogenen Augenbrauen stellten sofort den Zusammenhang her. Und natürlich der Topf mit einer Grünpflanze, der stolz in den Händen präsentiert wurde. Leopold Löwenstein. Dasselbe vorsichtige Lächeln, die aufmerksam blickenden Augen. "Wann wurde das Bild hier aufgenommen?" Erkundigte sich Andreas, beeindruckt vom strengen Blick der alten Frau. Zweifellos Großtante Agnes. Leopold, der seine reduzierte Auswahl aus Geschirr einsetzte, blickte sich zu ihm um. "Das Foto entstand 1985." Andreas rutschte auf dem Sofa von der Kante Richtung Ende Podest. "1985?!" Bevor er sich bremsen konnte, platzte es aus ihm heraus, von Unglauben durchtränkt. "Wie alt bist du denn?!" Ein wenig verlegen lächelte Leopold entschuldigend. "Ich bin 43 Jahre alt." Für einen Moment näherte sich Andreas' Kinnlade dem Erdmittelpunkt. Beschämt jonglierte Leopold die vorgeschnittenen Kartoffelscheiben, die er zuvor abgebraust hatte. "Es ist mir bewusst, dass ich dir 15 Jahre voraus bin, rein mathematisch." Tatsächlich konnte Andreas ja nicht behaupten, Leopold diesbezüglich annäherungsweise eingeordnet zu haben. Ihn frappierte jedoch die Vorstellung, dass Leopold so lange so zurückgenommen gelebt hatte, einen Abschied nach dem anderen durchgestanden. Dass niemand energisch genug sein Leben invahiert hatte, um Leopold zu zeigen, dass der über genug Mut verfügte, mal einen Beginn zu wagen. Sein Unglaube prägte mutmaßlich seine Miene, denn Leopold wandte sich ihm zu, besorgt. Was Andreas herausforderte, nicht Anlass für den Rückzug auf den einsamen Posten des Abwicklers zu bieten. "Entschuldige, ich bin einfach erstaunt. Du bist so ein aufmerksamer und rücksichtsvoller Mensch, dass es mir schwerfällt zu glauben... Ich meine, dass niemand versucht hat, dich für sich einzunehmen." Leopold kontemplierte diese Offenbarung länger. "Ich glaube, ich bin nicht so nahbar. Es fällt mir schwer, persönliche, private Beziehungen zu pflegen." Andreas ließ das Sofa im Stich und rückte an Leopold heran. "Also, ich bin ziemlich sicher, dass du doch nahbar bist, vielleicht nicht so geübt. Darin bin ich auch kein Meister, aber gemeinsam wuppen wir das. Und jetzt würde ich doch gern bitte helfen, ja? Brav herumsitzen macht mich ganz kribbelig." Dabei fletschte er in einem bemüht werbenden Grinsen alle Zähne und kopierte einen tieftraurigen Basset-Hundeblick. Leopold wirkte irritiert, die Augenbrauen ähnelten den Schnurrbartbögen. "Ähem, das ist jetzt eine schlechte Kopie von einem bettelnden, triefäugigen Hund..." Soufflierte Andreas hilfreich, ein Kichern mannhaft unterdrückend. "Oh." Verlegen gestikulierte Leopold zum Wasserkocher. "Du könntest den Tee zubereiten, bitte. Entschuldigung, manchmal bin ich schwer von Begriff..." Andreas lachte aufmunternd. "Und ich offenbar eine lausige Hush-Puppies-Kopie! 'Niedliche Katze' wie in den ganzen Videos kann ich aber noch weniger. Wenn man mit mir im Scharade-Team war, hatte man gleich verloren." Sein Bemühen, Leopold aufzuheitern, trug Früchte, denn der schmunzelte dezent. "Meine Großtante hielt es für sehr wichtig, immer ein Original zu bleiben. Für Schauspiel oder Verkleiden oder derlei hatte sie nicht viel übrig. Ich fürchte, ich habe mich da prägend anleiten lassen." Mit den Schraubgläsern ringend nickte Andreas nachdrücklich. "Mein Vater ist da ähnlich gestrickt, alles bloß Humbug in seiner Auffassung. Erst während meiner Ausbildung habe ich gelernt, auch mal albern zu sein. Hin und wieder tut das gut, sich selbst nicht so wichtig nehmen zu müssen." Leopold arrangierte an den Wok-Wänden geschickt die Kartoffelscheiben. "Ich bin froh, dich getroffen zu haben. Das wollte ich dir schon lange sagen." Andreas beugte sich vor und küsste Leopolds zugewandte Wange sanft. "Ich bin auch froh, Leo. Allein sein war nämlich nicht geplant, aber dann habe ich mich verrannt und kam nicht mehr aus der Sackgasse heraus." Er erwiderte das schüchterne Lächeln aufmunternd. "Und jetzt bekomme ich sogar Bratkartoffeln! Wenn das kein glückliches Omen ist, dann kenne ich keins!" --<--@ Andreas entschied, nachdem sie fürstlich gespeist hatten, sein Interesse auf dieses "Wohnprojekt" zu lenken. Das löste Leopolds' Zunge merklich, wenn auch immer wieder mit konzentriertem Blick, ob er nicht doch langweilte... Was er nicht tat, ganz und gar nicht! Mit seiner ruhigen Art, dezent eingestreutem Amüsement und gut nachzuvollziehenden Erklärungen bannte er Andreas' Aufmerksamkeit. Vielleicht war es selbstverständlich, sich für alle Eigenheiten von Bauten und darin befindlicher Technik zu interessieren. Andreas verspürte dennoch Bewunderung, denn für ihn hatte es bisher den Anschein gehabt, als verwalte Leopold Immobilien, im Sinne von strategischen und finanziellen Plänen zwecks Erhalt und Mehrung von Vermögen, nicht unbedingt als Bewahrer von Bausubstanz, von energetischer Optimierung, von Heimstatt... Als wolle er die Gesprächsführung paritätisch ausbalancieren, erkundigte sich Leopold nun nach seiner Tätigkeit...oder Berufung? Sodass Andreas unversehens ins Plaudern kam. Nicht nur über seinen Weg "zurück zur Flora", sondern auch über seine Schulzeit, das "Fremd-Outing", die Isolation... Weshalb er nachvollziehen konnte, wie es sich anfühlte, irgendwo in einem möblierten Zimmer unterzukommen, die Habseligkeiten auf das Minimum reduziert, auf sich selbst gestellt. "Ich habe allerdings auch viel Unterstützung gehabt. Und Pflanzen verbinden. Selbst ein ganz kleines Sedum in einer alten Muschel. Wer ein Herz hat, spürt die Verbundenheit. So gesehen habe ich es schon leicht, mit anderen in Kontakt zu treten." Andreas schmunzelte über Leopolds ehrfürchtigen Blick. "Erinnerst du dich noch daran, warum du deine Ananas gezogen hast?" Leopold wandte den Kopf ab, nicht abweisend, sondern seine Gedanken erforschend. "Großtante Agnes wies mich auf die Verantwortung hin. Eine Pflanze sei ebenso ein Lebewesen wie ein Haustier. Man müsse sich kümmern, durchaus für eine längere Zeit, stetig und ständig. Einfach aussetzen komme schließlich nicht in Frage, bei so einer exotischen Pflanze. Eine solche Aufgabe bedeute Vorbereitung, Wissen, Kenntnisse und Geschick." Er lächelte Andreas zu, der recht verdattert wirkte. "Großtante Agnes hielt nicht viel von Launen oder Grillen, zumindest dann nicht, wenn es andere auch betraf. Nachdem ich mich akribisch vorbereitet hatte, half sie mir aber, eine gute, unbehandelte Ananas zu erstehen. Deshalb widmete ich mich meiner selbst gewählten Aufgabe mit großem Ernst." Andreas murmelte vor sich hin. "So langsam verstehe ich..." Warum ihm Leopold als ein merkwürdiger Geselle erschien! Der durchaus Antennen für unausgesprochene Gedanken pflegte. "Es ist nicht Großtante Agnes zuzuschreiben, dass ich, nun, in privatem Miteinander unbeholfen bin." Eine sanfte Kritik, die Andreas erröten ließ. Leopold studierte die eigenen Hände, die flach auf den Oberschenkeln ruhten. "Wir haben sehr offen und ungeschönt miteinander gesprochen. Über meine Möglichkeiten und die Zukunft. Dass die statistischen Wahrscheinlichkeiten sie früher mit Gevatter Tod bekannt machen würden als mich. Damit sei schlichtweg zu rechnen und deshalb die Zeit zu nutzen. Damit ich aus eigener Kraft meinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Immerhin habe sie das mit 14 Jahren auch bewältigt, weshalb es mir auch gelingen werde." Die beschämte Farbe verließ Andreas' Wangen so rapide, wie sie sich eingeschlichen hatte. Was war das für eine Kindheit und Jugend gewesen?! In der drohenden Aussicht, allein zu sein, ganz plötzlich?! "Ich habe das verstanden, weißt du? Wenn man sich vorbereitet, dann ist man nicht ausgeliefert. Großtante Agnes hielt das für eine wichtige Maxime: sein eigenes Geschick zu bestimmen. Nicht aus Bequemlichkeit nachlässig zu werden." Leopold saß so aufrecht wie am Lot ausgerichtet. "So habe ich mich wohl durchaus von den anderen Kindern unterschieden. Mitzuarbeiten war meine Versicherung, meine Selbstvergewisserung. Großtante Agnes hat mir alles gezeigt, mich teilhaben lassen, mir Verantwortung zugewiesen. Die Bücher zu führen, Rechnungen zu schreiben, Vorsteuererklärungen, Order-Kalkulation..." Er lächelte Andreas melancholisch zu. "Ich war bewandert in der Haushaltsführung, in Materialkunde und kannte das vollständige Sortiment. Sogar Schnittmuster herstellen, Handarbeiten, eine Nähmaschine bedienen, das alles habe ich gelernt. Es war Großtante Agnes' höchsteigene Art, für mich vorzusorgen, mich auf das Leben vorzubereiten." Andreas fragte sich, ob die alte Frau es nicht anders gekannt hatte. Autonomie als einzige Form des Glücks. Nicht schlichte Nähe, mal eine Umarmung, Körperkontakt. Er beugte sich vor, pflückte Leopolds Hände von dessen Oberschenkeln und hielt sie einfach fest. Ob der jemals Händchen haltend und turtelnd flaniert war? Ein Mann, der ihm den Arm zum Einhaken anbot, wie man es nur bei gebrechlichen Personen tat. "Ich glaube, du hast dich tapfer geschlagen, Leo." Andreas erhob sich und zog Leopold ebenfalls auf die Beine, hielt dessen Hände locker. "Jetzt kannst du dir etwas Extravaganz erlauben, meinst du nicht auch? Wenn die Arbeit getan ist, darf man sich vergnügen." Wandelte er den Volksmund ab. Leopold blickte ihn suchend an, auf einen Hinweis hoffend, wie ein gelehriger Schüler. "Oh, ich hab's!" Platzte Andreas heraus, einem spontanen Einfall nachgebend. "Augenblick!" Er löste seine Rechte, wandte sich ab, um an der Knopfleiste der Tür seine Jacke zu betasten. Sein Smartphone, nicht gerade ein Premiummodell und recht betagt, erwachte gnädig zum Leben. Wischen, Grummeln, Drohen...dann spielte es nicht unbedingt orchestral die gewählte Melodie ab. Andreas entzog Leopold auch die Linke und ging rechtzeitig zum nächsten Umlauf in Position. "Los, mach mit, Leo!" Verlangte er, wedelte erst mit den angewinkelten Armen, dann kam der Bürzel zum Einsatz und am Schluss klatschte er in die Hände. Der "Ententanz" ging in die nächste Runde, Gymnastik mit Garantie für lächerliche Erscheinung! Doch Leopold schloss sich an, im dreiteiligen Anzug das porträtierte Federvieh imitierend. In der Enge kreisten sie umeinander, während das Smartphone die Melodie quäkte, klatschten sich gegenseitig die Handflächen. Während Andreas wild herausprustete, entlockte er Leopold ein kugelrundes Glucksen! So ein charmantes Kichern hatte er noch nie gehört! Ausgelassen und verzaubert stiftete Andreas Leopold zu einer weiteren Runde im Kreis an. Ganz gleich, was die Nachbarschaft denken mochte! Eine Wundertüte voller Albereien hatten sie sich redlich verdient. --<--@ Leopold erhob sich vorsichtig, begünstigt durch Ortskenntnis. In weichen Wollsocken, die er zu seinem Pyjama trug, konnte er lautlos vom Podest steigen und zum anderen Ende seines Wohncontainers huschen. Viel Tee und ein wenig Malzkaffee verlangten, exiliert zu werden! Während er sich die Hände wusch, betrachtete er sein Gesicht im Spiegel, mit einem ehrfürchtigen Staunen über die Wendungen des Schicksals garniert. So viele Premieren an einem Abend...! Ausgelassener "Ententanz". Eine lange Unterhaltung mit einem Freund. Quasi eine Pyjama-Party im Anschluss, weil es draußen kalt war, schon spät und Andreas rechtschaffen müde. Zwar verspürte Leopold erneut eine gewisse Verlegenheit beim Gedanken an das Bettzeug... Aber selbst diese beschämende Klippe war gemeistert worden! Ein zweites Kissen konnte er vorweisen, und die Sommer-Bettdecke mit einer Flauschdecke in einem Bezug, das ging auch für die Nacht! Leopold konnte sich nicht erinnern, seit den Schullandheimfahrten mit einer anderen Person in einem Raum übernachtet zu haben. Geschweige denn schlafend EIN Bett geteilt! Würde man sich nicht gestört, belagert, unbehaglich, eingeschränkt fühlen? Nun, nicht mit Andreas, der so kindlich die zufallenden Lider rieb und sich in die Decke einrollte wie ein Hotdog, dabei eine Wärme verströmte, die nicht allein von der Körpertemperatur herrührte. Wohlwollen, Freundlichkeit, Nachsicht... Leopold staunte darüber, wie warm die bloße Nähe eines besonderen Menschen sein konnte. Den man sogar berühren durfte! Gerade eben hatte er sich sogar dabei ertappt, über den zerzausten Schopf streicheln zu wollen... Was sich verbot, natürlich, denn erstens wollte er Andreas nicht aufwecken und zweitens wäre vorab zu eruieren, ob derlei Freiheiten gestattet werden würden. Die Schiebetür sanft manövrierend bewegte sich Leopold aus der Nasszelle. Auf Besuch war er nicht so gut vorbereitet, weshalb er nachdachte, was er wohl für ein Frühstück zu bieten hatte. Was würde Andreas gefallen? Viel zu wenig wusste er darüber! Selbstverständlich durfte man nicht aufdringlich sein oder profan neugierig, sich nicht aufdrängen, doch...! Leopold registrierte, dass ein Verstoß gegen die Verhaltensmaßregeln ihm geradezu unverzichtbar erschien. Und dass er, wenn es sich gelegentlich einrichten ließe, durchaus gern noch einmal geküsst werden wollte. Auch wenn Großtante Agnes solche Aktionen für degoutant-unhygienisch-unvorteilhaft hielt. Nun, für Zahnpasta und Mundwasser konnte er Sorge tragen. Wenn niemand zusah, setzte es sie auch nicht in ein schlechtes Licht, und... Dieses Prickeln und Kribbeln wie ein Ameisenheer unter der Haut, das war das Risiko von Nebenwirkungen wert! Leopold ließ seine Küchenzeile im Stich, kehrte auf das kleine Podest zurück und setzte sich vorsichtig auf die Matratze, betrachtete den "Rollmops" in seinem Bett, selig schlummernd. Als er sich zu dieser sittenwidrig-strafbaren Erpressung entschloss, hatte er sich auch versprochen, die Verantwortung zu übernehmen. Das erforderte keinen Mut, lediglich Konsequenz bei eigenen Handlungen. Darin sollte er geübt sein, richtig? Außerdem vertraute Andreas ihm, zuversichtlich und aufmunternd. Freundschaften waren wie Pflanzen auch auf Pflege angewiesen, damit sie wachsen und gedeihen konnten. Wenn er nun einmal schon bei der Ananas-Pflanze reüssiert hatte...! Leopold beugte sich hinab und tupfte einen sanften Kuss auf eine wohlig-warme Wange. Er fühlte sich quicklebendig und erwartungsfroh. Sein Horizont spannte sich so weit, dass er kein Limit mehr erkennen konnte. --<--@ Andreas hatte sich auch Gedanken gemacht, je weiter der Abend fortschritt. Wenn auch nicht besonders intensiv, weil er darauf erpicht war, Leopold zum Lachen zu bringen. Dieses kugelrunde Glucksen, das hatte es ihm einfach angetan! Natürlich war es auch für ihn ungewohnt, sich in fremder Bettstatt bei einem Liebhaber am nächsten Morgen zu finden. Mit Christian schloss sich selbstredend eine derartige Konstellation aus. Und dessen Vorgänger vermochte es nicht, Andreas ausreichend Vertrauen auf "Gentleman's" Manieren einzuflößen. Nun saß er, in einem geliehenen Pyjama mit handgestrickten Wollsocken beim Frühstück. Pyjama, noch so eine Eigenheit, die Andreas gar nicht aus eigenem Erleben kannte. Sein Vater konnte diese "Affenanzüge mit Knast-Streifen" nicht leiden, also gab es unter seinem Dach nichts dergleichen. Was war denn auch verkehrt an Jogginghosen oder T-Shirts, die nicht mehr tageslichttauglich waren?! Vielleicht der merkliche Mangel an Klasse... Doch Andreas ersparte sich jede Erörterung einer gegenteiligen Auffassung. Die Meinung von "einem, der der Herde nicht nachläuft", zählte nicht. Und dann die Wollsocken... Leopold ließ ihn verlegen wissen, dass er die Fertigkeiten in seiner Kindheit von Großtante Agnes erlernt hatte. Mochten auch Anzüge nur feine, maschinell fabrizierte Herrensocken vertragen, in Zeiten von Fußkälte ließ selbst Großtante Agnes Ausnahmen gelten. Zudem lachte ihn da, rein zufällig, eine vorgefärbte Wolle an, die quasi ein Jacquard-Muster ohne verschiedene Knäuel erzeugte... Da konnte er nicht widerstehen, seine Finger- und Nadelspielfähigkeiten zu erproben! Andreas gefiel das Resultat ausnehmend gut! Zudem hatten sie gemeinsam den Klapptisch gedeckt, sich beraten, was es geben würde. Das vermittelte ihm das angenehme Gefühl, nicht bloß ein überfälliger Gast zu sein, sondern eine vertraute Person. "Ich lege dir gleich eine Zahnbürste hin." Leopold öffnete eines der verborgenen Depots, die jeden Stauraum ausfüllten. "Oh, nicht nötig!" Sprang Andreas rasch auf die Wollsocken, erntete einen aufmerksamen, dezent besorgten Blick. "Ich meine, ich falle dir damit zur Last..." Erklärte sich Andreas hastig. Den Blick prüfend auf die Pappschachtel gerichtet, die eine Bambus-Zahnbürste enthielt, kontemplierte Leopold diesen Einwurf. "Es wäre doch keine Last, wenn du erneut hier übernachtest, oder? Sondern eine vorausschauende Vorbereitung..." Er hob den Kopf, blickte Andreas fragend an. "Oh, ich vergaß! Wenn ich entsprechend eine zweite Garnitur Decken vorweisen kann." Reuig durchquerte Andreas die kurze Distanz, schlang die Arme um Leopolds Nacken und drückte ihn an sich. "Entschuldige, das war blöd von mir! Tatsächlich möchte ich gern wiederkommen und bei dir übernachten. Überhaupt..." Er zog sich ein wenig zurück, um Leopold betrachten zu können. "Ehrlich und nicht höflich gesprochen: möchte ich dir zu nahe treten, dich in Beschlag nehmen. Sexuell belästigen." Leopold blinzelte, dann erhellte ein Strahlen seine Züge und das bezaubernde Glucksen entwischte ihm. Was Andreas unwillkürlich grinsen ließ. "Was für ein Glück! Weißt du, ich war schon ein wenig ratlos, wie ich heftige Impulse beherrschen soll. Mich an die gesellschaftlichen Gepflogenheiten halten." Gestand Leopold ihm so schüchtern wie treuherzig. Nun konnte Andreas ein schallendes Lachen nicht unterdrücken. Versöhnlich lehnte er die Stirn an Leopolds, drapierte die Arme um dessen Hüften. "Lass uns lieber eigene Regeln aufstellen, ja? Einverstanden?" Was er mit einem Kuss auf Leopolds Lippen bekräftigte, noch bevor der antworten konnte. Weil er keinen Zahnpasta-Geschmack vorweisen konnte, Leopold hielt ja noch die Schachtel in der Rechten, explorierte er die Optionen, ausgiebig, mit wachsender Leidenschaft und Hingabe. Lächelte über das scheue Schmunzeln unter dem eigenwilligen Schnurrbart, als er die Entfernung etwas ausbaute, die dezent beschlagenen Brillengläser im Blick. "Ich befürworte deinen Vorschlag." Deklamierte Leopold unerwartet schelmisch, zwinkerte. Andreas feixte. "Und weißt du, was wir noch tun sollten? Gemeinsam eine Ananas ziehen! Machen wir unseren eigenen Club der Ananas-Freunde auf." Leopold nickte und küsste Andreas zärtlich auf die geschürzten Lippen. "Ich freue mich auf dieses Abenteuer. Danke schön." Unerlaubt entwischte Andreas ein hingerissener Seufzer. Sofort schoss ihm Farbe in die ohnehin eifrig geröteten Wangen. Verlegen lupfte er die Schultern. "Ich bin übrigens ziemlich verliebt in dich." Sanft streichelte Leopold ihm mit der freien Linken über die Wange. "Ich empfinde für dich genauso." Irgendwo ertönte vermutlich in just diesem Augenblick der Kitsch-Alarm. Doch Andreas konnte in den braunen Augen die schlichte Wahrhaftigkeit ihrer gegenseitigen Zuneigung erkennen. Da konnten ihm all die Regeln, lächerlicher Stolz und vernichtende Fremdwahrnehmung gestohlen bleiben! "Wie denkst du über eine kleine Extra-Kuschelrunde, Leo?" --<--@ Ende --<--@ Danke fürs Lesen! kimera