Titel: Das Experiment Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Parallelwelt Ereignis: Adventskalender 2015 Erstellt: 30-11-2015 Disclaimer: alles Meins. *~+~* *~+~* *~+~* *~+~* *~+~* *~+~* *~+~* *~+~* *~+~* *~+~* *~+~* *~+~* *~+~* *~+~* *~+~* *~+~* Das Experiment Phase 1 - Versuchsaufbau Er war sehr zufrieden. Ja, diesen ganzen Scheißern würde er es jetzt zeigen, mit ihrer selbstzufriedenen Ignoranz, ihren breiten Ärschen und dem umso kleineren Horizont, aber nun würden sie Dreck fressen, vor seinen Füßen, ha! Das musste gefeiert werden! Weil die mageren Vorräte außer sich selbst verdauenden Resten nichts mehr hergaben, kramte er seinen gewaltigen Schlüsselbund hervor und zog im Triumphmarsch, mit stolz geschwellter Brust, ganz Herr des Universums (das von diesem Umstand noch nichts ahnte) zu seinem alten Kastenwagen. Erst mal Prickelwasser kaufen, dann die neue Epoche, nein, ein ganz neues Zeitalter einweihen! *~+~* Es gab wirklich nicht viel zu sehen, doch es bildete die Grenzen ihrer Welt, sah man von bruchsicherem Glas ab. Sie arbeiteten eifrig, wie das ihre Art war, produzierten emsig das, was ihrem Schöpfer zu unvergleichlichem Ruhm gereichen sollte. Ihnen selbst bedeutete es nichts, zumindest noch nicht. Wichtiger blieb die Versorgung mit diesem süßen Nektar, den sie über alles liebten! Und natürlich eine perfekt ausgeklügelte Biosphäre, ihr Gott sorgte dafür. Dafür liebten sie ihn mit aller Hingabe ihrer manipulierten DNA. *~+~* Mr. Kim fegte mit grimmig-zufriedener Miene die Scherben auf, trotz der Unordnung von einem Hochgefühl erfüllt. Wie er diese grässlichen College-Abbrecher mit ihrem Landstreicher-Outfit verabscheute! Er, der sich mit einem bescheidenen Gemischtwarenladen über Wasser hielt, die Ausbildung seiner Kinder finanzierte, weder Urlaube noch Feierabend kannte, nur an gesetzlichen Feiertagen die Schiebetüren geschlossen hielt, von einer massiven Stahltür gesichert. Dann kam immer mal wieder so ein ungepflegter, schnöseliger Kerl, des Lesens wohl mächtig, aber mental offenbar vernagelt, der doch tatsächlich mit ihm über die Preise der wenigen Spirituosen verhandeln wollte, als ob er einen Kramladen oder Basar führte! Frechheit! Nicht zuletzt deshalb hatte er eigens ein Schild angefertigt und eingeschweißt, das direkt am Kassenhäuschen befestigt war. [Alles Festpreise. Kein Rabatt.] Als könnte er ein Vermögen an einer Flasche Schaumwein verdienen! Lächerlich! Glücklicherweise hatte der überkandidelte Trottel vor dem einzigen Hydranten in Reichweite geparkt und Officer Caruso drehte gerade seine abendliche Runde. Der hatte den streit- und wenig später auch tobsüchtigen Idioten ordentlich zusammengefaltet und dann einsacken lassen. »Kannst jetzt ja in der Klappse die Weltherrschaft an dich reißen!« Frohlockte Mr. Kim sarkastisch. Manchmal traf es eben doch die Richtigen! *~+~* Madelynne D'Ougoso beäugte die Türklingel misstrauisch. Sie wirkte wie eine Stromschlagfalle. Noch. Mit dem schweren Vierkantschlüssel schlug sie vernehmlich gegen das Türblatt des heruntergekommenen Anbaus. "Stadtwerke! Bitte öffnen Sie!" Natürlich. Wenn jemand da war, dann offenbar taub oder zehn Fuß tief unter der hier garantiert verseuchten Erde. Sie studierte kritisch den verrosteten Briefkasten, dessen offene Bodenklappe direkt über einem alten Ölfass in die Tiefe gähnte, in dem wohl regelmäßig ein Feuer entzündet wurde. "Fein!" Konstatierte sie entschlossen. Der hin und wieder gegen aggressive In-spe-Ex-Kundschaft nützliche Vierkantschlüssel verschwand in seinem Holster an ihren ausladenden Hüften, dafür kam filigraneres Werkzeug zum Einsatz, als sie die Stromversorgung lahmlegte, dekoriert mit einem hübschen Aufkleber, der eine Servicenummer präsentierte, die man anrufen konnte. Falls der Akku des Mobiltelefons noch Saft hatte. *~+~* Romphyr warf ihm (mal wieder) einen hilfesuchend-verständnisheischenden Blick zu, bevor er eiligst seinen Schalter verdunkelte und hastig zu den Toiletten eierte. Obwohl es ganz seiner Natur zuwiderlief, denn Engel der 5. Generation waren keineswegs für ein bedeutendes Seelenleben oder bemerkenswerte Emotionen bekannt, musste Adamat einen Anflug von Missmut bekämpfen. Durchaus überrascht sah er sich der Situation ausgeliefert, Romphyr, die Bubbleblocker und Rattentod zu grollen! Wobei letztgenannte, eine gerade sehr berüchtigte Band, die geradezu unerträglichen Geräuschmüll produzierte, nur mittelbar an seiner milden Verärgerung beteiligt war. Doch hätte Rattentod nicht dieses lächerliche Konzert zur Unzeit gegeben, wäre Romphyr nicht vollkommen übernächtigt und deshalb zum Dauerkonsument von Bubbleblockern mutiert! Unerfreulicherweise sorgten sie für Dünnpfiff, auch wenn Rompyhr nach mehreren Arbeitsstunden und etlichen Blitz-Ausbrüchen zum Lokus eigentlich auf der letzten Darmzote pfeifen musste. Einerlei! Adamat verspürte ein gequältes Seufzen und straffte seine Schultern. Pflichterfüllung, Ordnung, Selbstbeherrschung: diese Tugenden stellten für keinen Engel eine Herausforderung dar. Ihm sollten sie auch keinerlei Probleme bereiten, wäre da nicht dieser winzige Anflug von Frustration! Beunruhigend. Gelegenheit zur Kontemplation bekam Adamat jedoch nicht, zwei Torwachen steuerten zielsicher seinen Schalter an. »Oh nein!« Dachte der Engel beklommen, eine weitere, unerfreuliche, neue Emotion, doch es half ja nichts, denn Rompyhr schien sich nicht von der Porzellanschüssel trennen zu können. *~+~* Alles nahm sich befremdlich aus, die plötzliche Helligkeit. Existenz. Und dann, Erkenntnis, hauptsächlich durch Bilder und Worte, die Erinnerung an ein letztes Konzert, eine finale Hymne, ihn auf ewig zu geleiten. Das vorherrschende Gefühl jedoch blieb profunde Verwirrung plus ein seltsames Drängen nach Dominanz über das Schicksal der Menschheit. *~+~* Adamat starrte hilflos auf die seltsame Figur, die die beiden Torwachen mit kräftigen Klauen sicherten. Er erhob sich, um bei Romphyrs Schalter nach dem notwendigen Aufnahmeformular mit Protokoll zu fahnden, fingerte schließlich mühevoll aus einem vollgestopften Ablagekorb ein zerknittertes Exemplar, das er eilig glättete, bevor er sich mutlos der unerwünschten Aufgabe widmete. "Und der Name lautet?" Erkundigte er sich höflich, blickte dabei in eine dunkelrote Iris, die sich bei den gerade mal stecknadelkopfgroßen Pupillen gewaltig ausnahm. "..." Die beiden Torwachen, je einen Oberarm ihres Schützlings klammernd, entschieden, mit sachdienlichen Informationen auszuhelfen, denn sie beabsichtigten durchaus, das lästige 'Paket' rasch abzuliefern, um sich eine verdiente Pause bei "Medusa Delikatessen" zu gönnen. "Xa'du" Tippte eine Klaue höflich auf Adamats Schreibunterlage. "Xa'du?" Wiederholte der Engel fragend. Obwohl er artig notierte, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, als fehlte in dem Namen ein Teil. "Hat er/sie..." Die zweite Torwache zog die Schnauze in eine Rolle zusammen. "...jedenfalls gesagt, als wir gefragt haben." Die Verwirrung konnte Adamat nachvollziehen, denn der/die/das mutmaßlich (oder selbst proklamierte) Xa'du präsentierte unter wallenden Gewändern in psychedelischer Farbgebung mit kleinteiliger Paisley-Musterung eine zweigeschlechtliche Gestalt. Runde Hüften und pralle, jedoch nicht übermäßig große Brüste zu glattem, meergrünen Haar, ein knackiger Po und, straffgezogener Stoff verriet es, ein nicht zu unterschätzendes 'Herrengedeck' im Frontbereich südlich des Gürteläquators. Das Gesicht androgyn und gleichförmig, mit weich geschwungenen Lippen, einer geraden Nase und einem dezent gekerbten Kinn, wirkte lieblich, sah man von den merkwürdigen Augen ab. Adamat räusperte sich tapfer (eine Angewohnheit, die der Anpassung entstammte, da er als Engel nicht über Lungen oder Stimmbänder verfügte). "Also, Xa'du, wie würdest du deine göttliche Aufgabe beschreiben?" *~+~* Angefangen hatte alles mit dem alten, einarmigen Tinker. Der ehemalige Schmied, einer der großen Handwerksreisenden, hatte durch einen Unfall seine Brotbeschäftigung verloren. Die zuständige KOK-Offize (Komitee organisierter Kreativität) schlug unerschütterlich optimistisch vor, er könne doch fortan seine Runden gegen einen kleinen Salär entlang der Grenze ziehen, frische Luft, wenig Leute, immer unterwegs, und wenn er dann eben im Grenzland Engel aufsammelte und ablieferte, hätte er auch was zu tun. Also zog ein geräumiger Karren hinter einem gemütlichen Dungo entlang der neutralen Zone seine gemächlichen Kreise. An Bord waren ein Dutzend Hemdchen (mit aufgemalten Nummern) und ein gewaltiges Bilderbuch. Wann immer der Schmied zerbrochene Eierschalen erblickte, sah er sich nach dem möglichen Vormieter um, zumeist Engel der 5. Generation. Niemand wusste zu sagen, was mit ihnen geschah, warum sie schlüpften ohne eine Erinnerung, ohne eine Aufgabe, eine vorgegebene Bestimmung, aber man konnte auch nicht zulassen, dass sie verwirrt und orientierungslos durch die Gegend stolperten. Jeder Findling bekam ein Hemdchen, einen Platz auf dem Karren und geduldige Lektionen darüber, wie die Daimonenwelt beschaffen war. Erreichte der Schmied dann eine Registratur mit Wohnheim, übergab er seine Schützlinge. Adamat erinnerte sich, der einzige Engel gewesen zu sein, was ihm auch den Namen bescherte, den er sich selbst aus einer umfunktionierten Lostrommel auswählen durfte. Zerbrochene Eierschalen hatte es zuhauf gegeben, nur keine Engel. Adamat tauschte existentielle Verwirrung gegen Dankbarkeit ein. Er war dankbar für seine erste Aufgabe, sich nämlich in einer ihm unvertrauten Welt zurechtzufinden, mit der Perspektive, eine Tätigkeit ausüben zu dürfen, die für alle von Nutzen war. Das gemeinsame Element aller Engel, ihre zwanghafte, nahezu besessene Suche nach einer Bestimmung, ihre Existenz mit einem Zweck zu verbinden, nun, abgesehen davon, dass sie alle aus einem 'Guss' waren. Das KOK hatte ihn nach seiner erfolgreichen Eingliederung in die Daimonenwelt für eine Verwaltungsaufgabe bei der Ex-Göttlichkeitsbehörde empfohlen. Eine wichtige Funktion, ohne Zweifel! Alle Ex-Göttlichkeiten, die im Daimonenreich ihre neue, vermutlich letzte Heimat fanden, trugen die 'Spuren' ihrer Erfindenden/Anhängenden/Anbetenden. Nicht immer originell oder kreativ verehrte man als göttlich, was sich in der Gegend manifestierte, weshalb es notwendig war, all die Sonnen-, Mond-, Feuer- und Sonst was-Göttlichkeiten zu sortieren und zu organisieren, damit es nicht zu handfesten Auseinandersetzungen darüber kam, wer nun wann des Amtes (auch wenn danach hier kein Hahn mehr krähte) waltete. Deshalb gab es aufwendig konzipiert einen Schichtplan unter Berücksichtigung der gewerkschaftlich vereinbarten Erholungs- und Fortbildungszeiten! Manche hätten eine derartige Aufgabe für entsetzlich dröge gehalten, nachgerade einen Albtraum, Adamat kam diese Beschäftigung jedoch als Ex-Engel sehr entgegen. Er MOCHTE Ordnung. Er BRAUCHTE Regeln. Pflichterfüllung wurde hier zu (bescheidener) Freude. Die Existenz zeitigte einen Nutzen. Wunderbar! Kreative oder chaotische Konstellationen waren Adamat jedoch ein Graus, weshalb er sich mit wachsender Irritation an die Regeln klammerte. *~+~* "Keine große Sache." Beendete die Torwache jovial die Einlassungen zum Thema. Adamat starrte unglücklich auf seine Notizen und verstohlen zur Toilette. Verflixter Romphyr! Verflixte Bubbleblocker! Und verflixter Rattentod! Der interne Aufruhr drang mit keiner Geste nach außen, wo die beiden Torwachen die unruhig trippelnde, vorläufig auf Probezeit Ex-Göttlichkeit Xa'du in professioneller Gelassenheit mit je einer Klaue fixierten. "Also, registriert is er/sie/es ja." Kurzes Schnauben. "Dann traben wir mal ab. Is recht?" Betäubt reichte Adamat einen Durchschlag über den Schalter, Passier- und Aufnahmeschein für ein Wohnheim, speziell für neu ankommende Ex-Göttlichkeiten errichtet. Schneidiges Salutieren, geschmeidiges Drehen um 180°, dann verließen die beiden Torwachen mit ihrem Schützling das Großraumbüro. Adamat beäugte das Formular. Obwohl er bisher keine Gelegenheit dazu gehabt hatte, entwickelte er spontan eine unerfreuliche Vorahnung, was diesen Vorfall betraf. *~+~* "Davon stand NICHTS in den Unterlagen!" Blökte der Satyr und stampfte nachdrücklich mit den Hinterhufen auf den Boden, die Pausbacken aufgeblasen, die Knubbelnase leuchtend rot, ein Bild indignierter Unschuld. Erneut schlug er vor Adamat mit der dünnen Mappe auf den Tresen. "Das haben ganz und gar SIE zu verantworten!" Nun auch noch gänzlich unmanierlich ein nackter Finger, der den Engel ausdeutete! "Pass lieber auf, dass du nicht gleich platzt!" Knurrte Adamats Vorgesetzte, eine imposante Eulengestalt. "Zählt ihr eure Leutchen nicht mal durch?" "Ich führe ein Wohnheim!" Ätzte der Satyr hoch aufgerichtet (was ihn jedoch gerade in Höhe des Bauchgefieders seiner Opponentin brachte). "Und keinen KNAST!" "Hat wohl nicht zugesagt, dieses Wohnheim!" Konterte sie süffisant, die gewaltigen Augen unverwandt auf ihren kleineren Gegner fokussiert. "Wie?! Das MUSS ich mir nicht bieten lassen!" Blaffte der Satyr prompt und zerdrückte die dünne Aktenmappe. Bevor jedoch Flügel- bzw. Handgreiflichkeiten ausbrechen konnten, schob sich Domitian, Mee-Poo (Metropolitan Polis) dazwischen. Er, Inkubus, Modellathlet und Waffennarr, hatte die nicht so erfreuliche Aufgabe übernommen, ein gar merkwürdiges Geschehen aufzuklären, sofern die Streithähne/-hennen sich besannen. "Also, verstehe ich das richtig: Xa'du war hier ganz friedlich, konnte sich allerdings kaum verständlich machen, wurde ins Wohnheim gebracht. Und keinerlei Anzeichen für seltsame Verhaltensweisen?" Fasste er knapp zusammen. Die Eulendaimonin schnaubte spöttisch. "Seltsame Verhaltensweisen, hier? Bei der Ex-Göttlichkeitsbehörde?! Da möge der Große M uns vor bewahren!" Domitian grinste, denn sein Job behinderte sein Humorzentrum selten. "Also schön." Notierte er mit einem Kohlenstiftstummel weiter. "Können wir irgendwie den Zeitraum festlegen, in dem er/sie/es aus dem Wohnheim getürmt ist?" "Es VERLASSEN hat!" Betonte der Satyr angefressen. "Ich verwahre mich ENTSCHIEDEN gegen den Eindruck, wir würden unsere Bewohnenden einsperren!" "Auch gut." Domitian zuckte mit imponierenden Achseln. "Und, können Sie dazu irgendwelche Angaben machen?" "Er/sie/es fehlte beim Frühstück!" Fauchte der Satyr giftig. "Aha." Das Notizbuch geschäftig zuklappend und sein Werkzeug im Lederbeutel am Kilt verstauend tippte sich Domitian an ein gewaltiges Horn. "Weit kann er/sie/es ja nicht gekommen sein. Wir werden den Ausgebüchsten schon aufstöbern!" "Gast!" Blökte der Satyr schrill. "Sag ich ja." Feixte der Mee-Poo frech und schlenderte ohne besondere Eile hinaus. Mit einem verächtlichen Schnaufen läutete auch der Satyr seinen Abgang ein, dann herrschte für einen langen Augenblick angespannte Ruhe. Adamat war sich der verlegen-hilflosen Blicke der Belegschaft durchaus bewusst. Besonders Romphyr wirkte betreten, denn er wusste sehr wohl, dass dieser bittere Kelch nur an IHM vorbeizog, weil er die Porzellanschüssel behaust hatte. "Aufgeblasener Wichtigtuer." Stellte seine Vorgesetzte fest, richtete dann die gewaltigen Augen auf ihn, ohne Mühe den Kopf um 180° drehend. "Nun ja, Anpassungsschwierigkeiten. Keine große Sache." Obwohl ein Engel keine Atmung an sich hatte, fühlte sich Adamat, als wäre ihm ein Stoßseufzer der Erleichterung entfleucht. Sie hatten ihn nicht gefeuert! *~+~* "Das is ja n Ding!" Kommentierte Sacrophilos, Torwache und Tasmanischer Teufelsdaimon. Die Untertreibung des Jahres. Domitian seufzte unglücklich. Gut, zwei Schichten waren vergangen, in denen man eher gelassen und ruhig nach dem abgängigen Ex-Göttlichkeits-Anwartenden geforscht hatte, doch wohin sollte der/die/das auch so schnell entwischen? Jenseits der neutralen Zone war Schluss (ausgenommen Engel oder besonders begabte Daimonen), im Daimonenreich konnte einem auch nicht allzu schnell etwas zustoßen. Eigentlich, also, ganz regelhaft, sollte es für eine ehemaligen Göttlichkeit keine Möglichkeit geben, durch ein Portal zurück in die Menschenwelt zu gelangen. Logisch, denn da war er/sie/es ja quasi entmietet/rausgeschmissen worden! Eben EX! Unseliger Weise gab es nur in der Theorie keinen Unterschied zur Praxis, in der Praxis schon, weshalb auch zwei HÖCHST verlegene Torwachen neben Sacrophilos peinlich berührt auf ihre Zehenklauen starrten. "Wie hat er/sie/es..." Domitian grummelte. "Also, wie hat Xa'du das angestellt?" Nach dem Fahndungsblatt konnte es sich ja nur um eine ziemlich leckere, aber nicht übermäßig starke humanoide Person handeln! "..." Beredetes Schweigen, Herumtrippeln, Hüsteln. Er warf einen inquisitorischen Blick auf Sacrophilos, der die pelzige Stirn in Falten legte. "Hat dieser/diese/dieses..." Ein kurzes Aufblecken des scharfen Raubtiergebisses. "Hat Xa'du euch angegriffen? Etwas gesagt?" Die beiden Torwachen steckten die mächtigen Schädel mit Zottelhaar zusammen. Mehrere eilige Runden 'Stille Post' beförderten schließlich zutage, dass Xa'du sie bloß berührt hatte. Und etwas gestammelt, mäkloff notwa?! "Mäkloff Notwa?!" Wiederholte Domitian verwirrt. Was für eine Sprache war das? Oder etwa ein Name?! "Nur angefasst? Nichts weiter?" Sacrophilos wurde ernst. "Wo genau hat Xa'du euch berührt?" Mit körperlichen Auseinandersetzungen hatte er Erfahrungen und keine Probleme, doch diese Schilderung erschien ihm heikel. Wie sollte man sich vor einer möglicherweise verrückten Ex-Göttlichkeit schützen, wenn bloßer Haut-/Fell-/Pelzkontakt frivoles und vor allem pflichtvergessenes Verhalten auslöste?! *~+~* Zutiefst erschüttert betrachtete er die Leichenberge. Hatten sie ihn gerufen in ihrer Not, ihn erweckt, in den letzten Augenblicken ihrer Existenz? »Möglicherweise habe ich sie gehört! Ich muss verstehen!« Er ging in die Hocke und legte eine gepflegte Hand auf das kalte Glas. »Ich verspreche, ich werde unsere Mission erfüllen!« *~+~* Die Sache nahm sich schon unangenehm genug aus. Mehr Beteiligte brauchte es wirklich nicht! Domitian und Sacrophilos entschieden, selbst und gewohnt unsichtbar in die Menschenwelt zu wechseln. Möglichst ohne weiteres Aufsehen und Komplikationen musste Xa'du eingesammelt und zurückgeholt werden. Das sah zumindest ihr Plan vor, als sie sich in kontaktsichere Overalls aus Daimonenspinnenseide zwängten. *~+~* Xa'du lernte schnell, rasend schnell. Unablässig füllte sich sein Selbst mit Bildern und dazugehörigen Worten, doch am Wichtigsten war die Botschaft, die er verbreiten musste! Kommunikation. Austausch. Ganz begriff er noch nicht, was EXAKT seine Göttlichkeit bestimmte, weil sich unterschiedliche Befehle in seinem Bewusstsein drängelten, das würde aber schon noch kommen, hoffte Xa'du zuversichtlich, denn zumindest für eine FUNDAMENTALE Botschaft hatte er einen Plan. *~+~* "Wie lautete unsere Strategie noch mal? Reingehen, einsacken, wieder raus, ohne großes Aufheben?" Domitian wischte sich frustriert durch das Gesicht. Sacrophilos seufzte profund, hielt den wie eine Wurst eingeschnürten Xa'du an der Leine. Eingefangen hatten sie die Ex-Göttlichkeit ja, bloß, dass diese jetzt ein SEHR bedeutender Gott mit einer GEWALTIGEN Gefolgschaft war, die buchstäblich nach seiner Pfeife tanzte, oder was auch immer sie gewöhnlich in ihrer Verehrung tat! Er zuckte matt mit den Schultern. Selbst Tasmanische Teufelsdaimonen konnten nicht ALLES perfekt planen. Auch der Inkubus stöhnte leise, keineswegs in freudiger Erregung. "Das wird so was von hässlich!" Prophezeite er grimmig, nicht nur der ganze Papierkram und die lästigen Fragen, auch der Umstand, dass die SEHR POPULÄRE Ex-Göttlichkeit auch ein Star im Internet war, wo unzählige Menschen sein Video viral verbreiteten, ihn quasi jede/r/s online kannte, weil aus einem drolligen Gag mit einem schnuckligen Ladyboy, der seine Lieblinge rief, ein weltweites Phänomen geworden war, das man unzählige Male oft "teilte" und abspielte! *~+~* Dieses Mal waren sie klüger vorgegangen, der Rollmops wurde nicht ausgepackt, man trug IMMER Handschuhe, deshalb sollte sich so ein Desaster wie mit den beiden Torwachen, die sich unerwartet SEHR ausschweifend miteinander vergnügt hatten, nicht mehr ereignen. Xa'du selbst wirkte ganz ruhig, von heiterer Gelassenheit, zumindest bis zu dem Augenblick, als die Zusammenfassung täglicher Meldungen aus der Menschenwelt über den Äther knatterte. *~+~* "Ach herrje!" Kommentierte Zevox mitfühlend und schälte Adamat gänzlich unaufgefordert aus dem verdreckten, knielangen Hemd, das dieser gewöhnlich trug. "Hast du Schmerzen, mein Lieber?" Rasch wurde ein Tuch in Seifenwasser getaucht, schon betupfte ihn Zevox behutsam. Adamat, der noch nie zuvor mit einem Daimonen-Medi zu tun gehabt hatte, nahm dessen selbstbewusstes Agieren als normale Vorgehensweise an. "Ich bin nicht verletzt." Bekundete er. Engel galten als äußerst robust. "Besser, wenn ich mich davon überzeuge." Zwinkerte Zevox aufreizend, polierte Adamats makellosen Leib aufopferungsvoll. Der Engel betrachtete unterdessen sein lädiertes Hemd und fühlte, wie seine Schultern tiefer sackten, eine aufgeschnappte Geste, wie so vieles, denn immerhin stellte ein Engel der 5. Generation ja nicht mehr als eine Art Roboter vor, seriell produziert. JETZT würde man ihn garantiert rauswerfen! Da gab es nicht den geringsten Zweifel und damit war er seiner Bestimmung, seiner Aufgabe ledig, doch nicht etwa frei, sondern herrenlos! Eine Existenz ohne Zweck, ein Sein ohne Ziel! Entgegen aller Wahrscheinlichkeiten verspürte Adamat plötzlich einen bitteren Schmerz in seinem Inneren. *~+~* 'Morgen' saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem erodierten Felsen und blickte in einen klaren Nachthimmel voller Sterne, alles vertraut und scheinbar ewig, doch selbst die Ewigkeit kannte Veränderung. Er wandte überrascht den Kopf, als ein P.U.D.E.L. sich neben ihm materialisierte. "Na so was." *~+~* Beurlaubt, suspendiert, temporär von den Aufgaben entbunden. »Unnütz, wertlos.« Adamat hatte nichts einzupacken, er besaß keine persönlichen Gegenstände an seinem Schalter. 'Besitz' tangierte ihn, was die eigene Person betraf, kaum. Zugegeben, er verfügte über ein zweites Hemd, das er sich übergestreift hatte, als Nummer 1 nach der Auseinandersetzung mit Xa'du nicht mehr den gesellschaftlichen Erwartungen bezüglich Reinlichkeit und eher konservativer Gestaltung entsprach, andererseits, das konnte man nicht verhehlen, Engel der 5. Generation hätten keinerlei Bedeckung bedurft. Es wirkte bloß weniger auffällig. "Auf Wiedersehen." War das ein frommer Wunsch, mit dem er sich gefasst von den Kollegen verabschiedete? Sie würden ihn austauschen, schlichtweg ersetzen durch einen anderen. Wahrscheinlich würde es nicht mal einen Unterschied machen. Adamat warf sich einen knappen Seitenblick im polierten Glasschild zu, dessen eingeätzte Zeichen die Kundschaft sicher und zielgerichtet leiten sollten. Sie waren wie aus einem Guss, aus mutmaßlich pragmatischen Gründen humanoid, somit flexibel verwendbar, absolut gleich, ununterscheidbar, wie diese Maschinenmenschen, von denen er gehört hatte, die Menschen benutzen wollten, um gefährliche oder sehr monotone Arbeiten zu erledigen. Wenn man ihn wegwarf, fiel das nicht ins Gewicht, ein anderer seiner 'Baureihe' würde die Lücke füllen. Der Daimonen-Medi, Zevox, hatte ihm aufgetragen, sich zu einer zweiten Untersuchung zu melden. Adamat trat aus dem geschäftigen Strom der Passanten zur Seite, fühlte sich allein durch das langsame Tempo im Vergleich mit den wertvollen, nützlichen anderen auf der Straße, dekadent in seiner gezwungenen Beschäftigungsfreiheit. Doch was gab es da zu entscheiden? Die schmale Felsennische in einem gewaltigen Block, die er behauste, um dort zu ruhen, nur mit einem Ersatzhemd, ohne jegliches Gut, war keine Zuflucht, sondern lediglich ein Auszeit-Ort. »Also zum Medi.« Entschied Adamat. Vielleicht ergab sich aus dieser letzten Verpflichtung für ihn doch noch eine Perspektive? *~+~* Zevox lächelte einladend und vertröstete Adamat auf den Dienstschluss, nachdem er ihn wie zuvor entkleidet und sorgfältig untersucht hatte. Nicht, dass es eine Spur der rätselhaften Auseinandersetzung mit dem temporär entwischten Ex-Göttlichkeits-Anwartenden gegeben hätte! Mangels Alternativen, ohne eine Vorstellung, wie er seinem Leben einen Sinn verleihen sollte (Zero Aufgabe, Verpflichtung, Nutzwert!), gehorchte Adamat und pflanzte sich artig im Wartezimmer auf ein chaotisch gefärbtes Sitzpolster. Er beobachtete, wie das ankommende Klientel, ausnahmslos Daimonen, geplagt und besorgt eintraten, um zumindest beim Verlassen deutlich erleichtert und gelegentlich auch tatendurstig die Praxis zu verlassen. Es musste ein erhebendes Gefühl sein, wenn man seine Bestimmung kannte und ausleben durfte, entschied Adamat. Umso bedauerlicher, bedrückender?, nein, erbärmlicher!, wenn man selbst im Nebel der Eignung herumtappte und es dann auch noch bewerkstelligte, sich selbst um eine Beschäftigung zu bringen! Zevox erkannte zielsicher die dunklen Wolken, die über dem Gemüt des Engels hingen, auch wenn dieser offenbar wenig von seinem Selbst wusste. »Nun, DAS werden wir unter Garantie ändern!« Rieb er sich tatendurstig die gepflegten Klauen, streifte seinen blendend weißen Kittel ab (man wusste schließlich, was die zahlende Kundschaft erwartete) und bot, nunmehr in lässig-eleganter Freizeitgewandung, einen Arm zum Geleit an. Der Engel stutzte (selbstverständlich), denn diese Form aufmerksamer Gestik (hauptsächlich anbahnenden Paarungsritualen zugeschrieben), war ihm vollkommen fremd. In "Adaptionskursen" wurden die mutmaßlichen 'Himmelswesen' nicht darin unterrichtet. "Bitte, lass uns gehen, mein Lieber!" Schnurrte Zevox samtig, funkelte aus Facettenaugen tausendfach. "Ich kenne da einen wunderbaren Ort, um die Alltagssorgen hinter sich zu lassen." Wie selbstverständlich legte er sich einen schlanken Arm auf den eigenen, streichelte mit der freien Klaue über eine perfekte, elfenbeinfarbene Haut. Die lustvolle Jagd war eröffnet! *~+~* Zevox ignorierte die seltsamen Nachrichten, die im Hintergrund verlautbart wurden, da sie ohnehin recht gedämpft in der weitläufigen Bar verklangen. Er wählte seinen Lieblingsort, dezent geschmückt, geschmackvoll ausgeleuchtet, natürlich von Naogir betreut, seiner ersten Wahl, wenn er sich auf Eroberungsfeldzug befand! Der Daimon hinter der meterlangen Bar lächelte höflich, die zwei Armpaare wie gewohnt in geschäftiger Betriebsamkeit allerlei flüssige Pretiosen fabrizierend. Die farbenprächtigen Flügel waren artig hinter seinem Rücken festgezurrt, um nicht den schwarzweißen Eindruck seines Livrees zu beeinträchtigen, lediglich das weich-flusige Ganzkörperfell und die "Antennen" passten nicht ins Schema, burgunderfarben und golden gestreift. "Guten Abend, werte Gäste." Naogir verneigte sich leicht, eine Hand temporär ohne Shaker, wies einladend auf die Barhocker jenseits der Theke. "Heyhey, mein Freund!" Zevox tippte sich grüßend mit zwei Krallen an die Schläfe und enterte mühelos seinen Sitzplatz. "Adamat, das hier ist mein alter Kumpel Naogir." Übernahm er launig die Honneurs. "Ihm kann keiner was vormachen, wenn es um die feinsten Leckereien geht, die man je gekostet hat!" Naogirs Gesichtspelz fluste verlegen auf, bevor er sich rasch wieder selbst glättete. "Zu viel der Ehre." Murmelte er leise. Keine Frage, Zevox war hochgestimmt, was nur eins bedeuten konnte: die besondere Mischung war gefragt. "Das ist Adamat." Merkte er gerade noch rechtzeitig auf. "Wir werden heute seine kleine Pechsträhne aktiv beenden und alles wieder ins Lot bringen!" Wie gewöhnlich kannte Zevox keinerlei Skrupel oder Zweifel, ganz im Gegensatz zu Naogir, der verstohlen den unverkennbar der 5. Generation zugehörigen Engel betrachtete. Wie typisch für Zevox! "Nun, was empfiehlst du?" Vertraulich beugte Zevox sich vor, die Facettenaugen glitzerten. "Verzeihung." Adamat, der sich in höflich-verwirrtes Schweigen gehüllt hatte, fühlte sich aufgefordert, etwas Sachdienliches beizutragen, auch wenn der Daimonen-Medi eigentlich...! "Oh, keine Sorge!" Eine Klaue tätschelte vertraulich Adamats Oberschenkel. "Ich weiß, nur reines Wasser, sonst nichts! Aber das hier!" Er bleckte die Beißer. "Das hier ist reines Wasser mit ein wenig Magie! Du wirst es lieben, mein Freund!" Adamat wusste nicht, dass sich seine Mimik schon recht sicher den Erwartungen seiner Umgebung angepasst hatte, deshalb registrierte er auch das eigene Augenbrauenlupfen des gelinden Zweifels nicht. "Vertrau mir." Zevox grinste nun unverhohlen, kaperte Adamats Rechte und hauchte einen Kuss auf den makellosen Handrücken. "Ich bin MEDI!" *~+~* Leise vor sich hin summend, immer mal eine Triole einbauend, bereitete Zevox das Liebesnest vor, flauschig weiche, riesige Daunen, sehr dezente Ausleuchtung von fluoreszierendem Moos an den Wänden, ein nackter, mit zwei Gläsern 'magischem Wasser' abgefüllter Engel, wer könnte da nicht in Hochstimmung sein?! Sie waren schlichtweg perfekt, diese Engel der 5. Generation! Vertrauensvoll, ernsthaft, von makelloser Gestalt, sich ihrer Individualität noch nicht bewusst. "Ooooh, das wird dir gefallen, Adamat!" Wisperte Zevox, als er sich über den betäubten Engel beugte. "Wirst sehen, morgen sieht die Welt ganz anders aus!" *~+~* Naogir wartete bange Herzflatterschläge, bis er sich eilig in die Schlafhöhle schob, aber es schien nicht so, als würde Zevox zurückkehren, den falschen Alarm gleich entlarven. »Hoffentlich!« Dachte Naogir angespannt, als er sich zum Liebesnest bewegte, die Flügel eng an seinen Körper gepresst, ein Händepaar wringend, das andere ausgestreckt, um nicht etwa versehentlich an etwas zu stoßen. Adamat rührte sich nicht. »Engel atmen nicht, kein Grund zur Panik!« Ermahnte sich Naogir, der zum ersten Mal direkt mit den Folgen seines 'magischen' Talents konfrontiert war, zumindest in diesem Stadium. Behutsam wickelte er die geschmeidige Gestalt in ihrer tiefen Betäubung in das schlichte Hemd, dann presste ein Armpaar den Engel eng an den schlanken, jedoch sehr kraftvollen Leib. Eilig huschte Naogir aus dem Höhlenkomplex, bis er einen freien Platz erreichte, erst dann wagte er es, seine Flügel auszubreiten und sich mit seiner süßen Last in den Himmel zu erheben. *~+~* Adamat schlug die Augen auf. »Befremdlich.« Trödelte eine erste Einschätzung durch seinen Verstand. Was er sah, entsprach nicht dem, was er erwartete, folglich befand er sich nicht wie gewöhnlich in der Felsennische, in der er zu ruhen gewohnt war. Dann spulten sich gemächlich dahinschlendernd die Erinnerungen der letzten Ereignisse ab. "Wieso bin ich nicht in der Bar?" Erkundigte sich Adamat beim Universum, während er das seltsame Gestell über sich an der dunklen Decke studierte. "Geht's dir gut?" Fragte besorgt eine Stimme neben ihm. Wer konnte das?, ah! "Naogir, richtig?" Adamat versuchte sich aufzusetzen, doch seine Ellenbogen wollten nicht gehorchen. "Ähem!" Nervöses Hüsteln neben ihm, dann erhellte sich der gewölbte Raum um einige Grade, als eine Horde Glühwürmchen aufgescheucht in ihrem gläsernen Heim umeinander kreiselten. "Das geht langsam weg. Die Betäubung, meine ich." Betäubung? Adamat gelang es mühevoll, den Kopf zu drehen, um mit der Quelle dieser verwirrenden Informationen persönlich zu konferieren. Warum verweigerten ihm seine Glieder die Gefolgschaft, seine Zunge und sein Mund jedoch nicht? Der Barkeeper hockte zusammengefaltet neben ihm, wie ein imposanter Schatten die Flügel an den Leib geklappt. "Was ist mit mir geschehen?" Kurz fluste der flauschige Gesichtspelz auf, dann hatte sich der vierarmige Daimon wieder im Griff. "Nun ja..." Murmelte er verlegen. "Zevox hat dich mit in die Bar genommen. Dann gab es ja zwei Gläser. Vom Wasser." Adamat begriff nicht. Sollte etwa normales Wasser seinen merkwürdigen Zustand ausgelöst haben?! "Wo ist Zevox?" Erkundigte er sich verwirrt. "Wo bin ich hier?" Wieder flauschte der Pelz kurz auf, mischten sich die burgunderfarbenen und goldenen Streifen. "Ist wohl besser, ich erzähle dir alles." Wisperte Naogir und klaubte schüchtern eine betäubte Engelshand vom Boden auf, streichelte sie sanft wie ein verzärteltes Schoßtierchen. *~+~* "Deshalb hab ich dich mitgenommen, also, zu mir." Schloss Naogir kaum vernehmlich, der gesamte Pelz aufgeflust. Adamat starrte den Daimonen an. "Ich verstehe das nicht." Platzte schließlich seine Verwirrung heraus. "Wieso will Zevox mich vernaschen? Mein Fleisch ist nicht nahrhaft." Bevor sich weitere Verwicklungen auf diesem Holzweg anschlossen, entschied Naogir, die Metaphern zu verabschieden. Offenbar konnten Engel sie nicht ohne Weiteres entschlüsseln, da ihnen schlichtweg die Hintergründe fehlten. "'Vernaschen' im Sinne von Verführen." Erläuterte er sanft, drückte behutsam die makellose Hand. "Er macht das häufig." Der richtige Pfad konnte noch nicht mit einer Erleuchtung aufwarten. "Aber wieso verführen?" Adamat zog in einer Kopie der Daimonenmimik die Stirn kraus. "Das hat doch etwas mit Paarung zu tun, nicht wahr? Wir Engel verfügen jedoch nicht über Sexualorgane." Dessen war er sich recht sicher, auch in Anbetracht der sehr vielen, sehr unterschiedlichen Daimonenspezies. Naogir seufzte leise, hob die elfenbeinblasse Hand an, führte sie an seine Lippen und küsste sie zärtlich. Eine orangefarbene Blüte breitete sich aus, überstrahlte die bleiche Hautfarbe. Adamat hätte gern gekeucht vor Überraschung, doch mangels Lungen blieb es bei einer ausgehakten Kinnlade. Mit einem Finger zog Naogir orangefarbene Linien über Handrücken und Unterarm. Seine Facettenaugen flehten um Nachsicht. "Weißt du, vor einiger Zeit, da war dieser furchtbare Unfall..." Begann er sehr leise. *~+~* Adamat lehnte gegen die Gewölbewand. Er konnte sich inzwischen leidlich wieder bewegen, doch sein Körper fühlte sich verändert an, zumindest dort, wo Naogir ihn berührt hatte. Heiß, prickelnd wie von tausend Nadelspitzen. Seltsam. Beängstigend? Nein. Eher aufrührerisch. Naogir kauerte an seiner Seite, beäugte ihn verlegen-hoffnungsvoll. Auf Adamats Schoß bruzzelte der 'Panikkäfer' emsig in seinem Holzkästchen. "Warum?" Fragte er endlich. "Warum hast du eingegriffen?" Naogirs Pelz fluste hoch, er zuckte sogar mit den imposanten Flügeln. "Darf ich sie sehen?" Abgelenkt (und um Naogir eine kleine Denkpause einzuräumen) deutete Adamat auf die Flügel. "Oh, sicher." Naogir lächelte hastig. "Allerdings ist es hier zu eng." Weshalb er auch nur einen Flügel in voller Pracht ausbreitete. "Wie schön!" Staunte Adamat beeindruckt. "Danke." Verlegen klappte Naogir seinen Flügel wieder ein, glättete hastig seinen Pelz. "Und?" Adamat war nicht gewillt, den Daimonen von der Angel zu lassen. Er wollte ALLES begreifen! Naogir blickte unter sich, druckste unverständlich, flusige Wellen durch den Pelz laufend, bis er Adamat flehentlich anvisierte und hervorstieß. "Deinetwegen! Ich wollte nicht, dass er...!" Die hastig zusammengepressten Lippen verhinderten die Vollendung seines Ausrufs. "Hat es dich bei den anderen nicht betroffen?" Tappte Adamat entschieden voran in ihm unbekannte Gefilde. So ganz konnte er die geschilderten Fakten nicht mit Sinn füllen. Naogir seufzte und wrang alle vier Hände. "Das war, nun ja, sie waren auch nett, und Zevox tut ihnen ja nicht weh, das weiß ich, es hilft wahrscheinlich sogar, aber..." Er seufzte, die Antennen sackten auf Halbmast. "Das habe ich nicht verstanden?" Adamat konnte das Murmeln nicht aufschnappen. "Dich sollte er nicht haben." Bekannte Naogir Farbe, sämtliche Pelzhaare am Leib aufstellend. "Aber ich bin wie die anderen, wir unterscheiden uns nicht." Warf Adamat ein, eben ein Engel der 5. Generation. "Das ist nicht wahr!" Brummelte Naogir, den Kopf abgewandt. "Ich könnte dich unter tausenden wiedererkennen." "Tatsächlich?" Verblüfft setzte Adamat das Holzkästchen mit dem Käfer ab, tippte sich zur Vergewisserung noch einmal selbst auf den Handrücken. Der blieb so bleich und makellos wie gewohnt. "Tatsächlich." Wiederholte der Daimon bekräftigend, funkelte mit den Facettenaugen. "Du bist wie kein anderer, Adamat." "Das ist aber nicht logisch." Stellte der Engel verwirrt fest. "Wir sind alle gleich geschaffen." "Aber ihr lebt jeder sein eigenes Leben, mit eigenem Charakter, eigenen Gedanken." Naogir fasste nun beide Hände, während sein zweites Armpaar beredete Gesten in die Luft zeichnete. "Ganz sicher mit eigener Seele! Du bist du, und niemand sonst kann dir gleichen!" Adamat lupfte die Augenbrauen, bemerkte die orangefarbenen Blüten, die jede Berührung auslöste, das unheimliche, ungewöhnliche, aufwühlende Gefühl. "Ich kann es immer noch nicht ganz begreifen." Konstatierte er hilflos. War er wirklich anders, durch bloßen Blick unterscheidbar? Warum bedeutete es dem Daimon an seiner Seite so viel, ihm nahe zu sein, dieser Drohne, diesem Arbeitswesen? Naogir öffnete das zweite Armpaar, um Adamat an sich zu ziehen, in Kontakt mit dem flauschig-weichen Pelz. "Lass mich dir zeigen, was es bedeutet." Raunte er bittend. Adamat, dessen Leib zu brennen schien, wo ihn Pelz und Hände berührten, nickte entschlossen. Er WOLLTE diese Rätsel lösen! *~+~* Als Adamat zum zweiten Mal die Augen aufschlug und eine fremde Zimmerdecke über sich erblickte, erkannte er ohne längere Verzögerung die Bedeutung des seltsamen Gerüstes an der Gewölbedecke. Kopfüber hing Naogir mit angelegten Flügeln herunter. Seine leisen, tiefen Atemzüge belebten die Stille. Die Glühwürmchen beendeten langsam ihre nächtlichen Aktivitäten, sodass Adamat vorsichtig sein musste, als er seinen bloßen Körper in der Behelfshängematte (vier Zipfel festgezurrt und aufgespannt) aufrichtete, die blanken Fußsohlen auf den polierten Steinboden aufsetzte. Er sah an sich herab, konnte jedoch keinerlei Veränderungen registrieren. Naogir hatte ihm erklärt, dass die Wirkung nach einer Weile verflog und durch eigene Berührung konnte er nicht die herrlichen Blüten und wolkenförmigen Muster auf seiner Haut erzeugen, ganz zu schweigen von den anderen Empfindungen. Adamat ging in die Hocke, um sein Hemd aufzulesen, das der Käfig des 'Panikkäfers' beschwerte. Auch aus dem Holzkästchen drang kein Laut mehr. Ob Zevox wohl die Finte inzwischen durchschaut hatte? Naogir war sich recht sicher, dass die 'Alarm-Grille' nicht verraten konnte, warum sie spektakelt hatte, dass nicht ein Artgenosse eilig bei einem Notruf aufgetaucht war, sondern ein gefährlicher Käfer, ein Fressfeind! Sollte er also vorgeben, aufgewacht zu sein und weggegangen aus der lauschigen Liebeshöhle? Würde Zevox dann einen zweiten Anlauf starten, ihm eine ganze neue Welt zu offenbaren? »Nicht, dass das noch nötig wäre.« Unbewusst huschte die Ahnung eines Lächelns über Adamats Züge. Naogir, der Magier der Mixgetränke, mit besonderer sensorischer Sensibilität begabt, hatte ihn eingeweiht, ihn gelehrt, warum man küsste, sich berührte, einander so nahe sein wollte, wie es die jeweilige Physis zuließ. Der Daimon, der steif und fest behauptet hatte, er, der schlichte Dutzend-Engel, sei etwas Besonderes, Einzigartiges! Liebenswert für jede Geste, jedes Wort, jede Aufmerksamkeit! Adamat war sich dessen keineswegs sicher, aber es beeindruckte ihn nachhaltig, wie vehement und leidenschaftlich Naogir seine Position verteidigte. Liebe auf den ersten, nein, nicht Blick, obwohl der Daimon durchaus die attraktive Erscheinung des Engels zu würdigen wusste, nein, es war das Potpourri seiner Persönlichkeit, eine sphärische Duftnote, die Naogir sofort vereinnahmte! Wie hätte er da zulassen können, dass der leichtlebige, unbekümmerte Zevox eine kurze Affäre initiierte, die sich wie gewohnt rasch in Wohlgefallen auflöste und dafür sorgte, dass Adamat aus seinem Leben verschwand?! Liebe, eine seltsame Zusammenfassung für all diese verwirrenden, zum Teil widersprüchlichen Emotionen und Impulse. Es hieß, dass Engel derartige Fähigkeiten kaum entwickeln konnten, sie verloren schlichtweg ihren Verstand darüber. »Möglicherweise muss man es eine Nummer kleiner angehen?« Adamat erhob sich und verließ lautlos die Schlafhöhle, suchte sich den Weg an das langsam erwachende Tageslicht. Seinen Verstand zumindest, den hatte er noch. Andererseits konnte er keine zwingenden Gründe aufwerfen, die Nähe von Naogir zu meiden, immerhin begriff er noch längst nicht alles, was die Daimonenwelt jenseits von Fakten betraf. Ein Rauschen hinter ihm kündigte Naogir an, der noch im Landeprozess beide Armpaare um Adamat schlang, ihn auf die Wange küsste. "Geh nicht einfach fort!" Bat er rau, warf einen gewaltigen Schatten auf den Boden. "Guten Morgen." Antwortete der Engel höflich. "Ich wollte dich nicht wecken. Du schienst so tief und ruhig zu schlafen." "Das macht nichts!" Versicherte Naogir eilig, streichelte über hinderlichen Stoff und die geschmeidige Gestalt darunter. "Wie fühlst du dich?" "Danke der Nachfrage, ich bin wohlauf." Antwortete Adamat artig, gab dem ungewohnten Impuls nach, über den burgunderfarben und golden gestreiften Pelz zu fahren. "Auch wenn ich nicht weiß, was ich tun soll, möchte ich doch mehr erfahren. Mehr über dich und die Person, die du in mir siehst." Naogir schmuste ungeniert, faltete sogar die Flügel um sie beide. "Ich möchte auch mit dir zusammen sein! So viel Zeit wie möglich mit dir verbringen!" Sein Enthusiasmus kitzelte ein ungeübtes Lächeln auf Adamats entspannte Züge. So viel Begeisterung um seinetwillen, das war wirklich berührend! Er schmiegte sich gegen den weichen Pelz und legte die Arme auf das Paar, das ihn eng hielt. "Was ist eigentlich aus dem verletzten Engel geworden?" Der Daimon hauchte einen Kuss auf eine perfekte Ohrmuschel. "Er tanzt jetzt mit der Daimonin, die ihm die Prothesen gefertigt hat. Es geht das Gerücht, dass sie unzertrennlich sind." Wisperte er verliebt. Also, Vorbilder hatten sie damit ja wohl genug, richtig?! *~+~* Phase 2 - Mäkloff Notwa Die Daimonen, die sich gewöhnlich auf der anderen Seite ihre Energienahrung besorgten, waren die ersten, die verwirrt, besorgt, bestürzt durch die Portale zurückströmten. Etwas stimmte nicht, ganz gewaltig nicht! Die Portalwachen führten sie, auf Anordnung von ganz oben, zu einem Sammlungsort, wo sie befragt und betreut wurden. An anderer Stelle betrachtete man aus sicherer Entfernung das Geschehen, fing Signale ab, die womöglich eine Panik ausgelöst hätten. Die Welt war aus den Fugen und niemand konnte sich erklären, wie es dazu gekommen war. *~+~* 'Morgen' blätterte durch die Zeugnisse der Zurückbeorderten, während er gleichzeitig im Hintergrund die fremden Signale hörte. Mit Recht konnte man behaupten, dass sich etwas nie Dagewesenes abspielte, es war nicht 'normal', nachgerade untypisch, und er, der lebende Seismograph für das Geschick der Menschheit, spürte genau, dass sich etwas ereignete, das nicht zu erwarten, nicht in diesem Ausmaß zu erzwingen war. Keine Sekte, keine Bewegung, keine Armee, kein Krieg, keine Seuche konnte derartig Wirkung zeigen. "Schließt alle." Gab der Gott seine Empfehlung ab, dann wandte er sich den zwei Daimonen zu, die ernst und recht blass vor ihm salutierten. Nein, es war gewiss nicht der Flügelschlag eines Schmetterlings, so viel war unstreitig. Vielmehr der letzte 'Gesang' von Ameisen. *~+~* Trotz professioneller Ruhe und einer akzentuierten Betonung (notwendig, um die Meldungen verständlich über den Äther zu transportieren) klang selbst die Nachrichtensprechende aufgewühlt: alle Portale waren geschlossen worden, aus Sicherheitsgründen. Die Daimonen durften nicht in die Menschenwelt wechseln. Erst musste das grassierende Phänomen genau untersucht werden, bevor an eine Entwarnung zu denken war. *~+~* 'Morgen' studierte Xa'du gründlich. Die Ex-Göttlichkeit wirkte quietschvergnügt der Fesselung, lauschte gebannt den Nachrichten. "Alles wird gut!" Versicherte er dem fremden Gott, der so gewöhnlich und durchschnittlich wirkte. 'Morgen' schob die vor ihm ausgebreiteten Dokumente zusammen, kam geschmeidig aus der Hocke. "Ich fürchte, dass dir eine Kleinigkeit entgangen ist." Antwortete er höflich. Er kannte schließlich seine Pappenheimer. *~+~* 'Morgen' hatte vereinbart, zuerst allein auf die andere Seite zu wechseln. Er wollte der gesamten Sache, die sich zunächst wie ein sehr unvollständiges Mosaik darstellte, auf den Grund gehen. Langsam streifte er durch den schmutzigen Anbau, kalt und dunkel, blätterte durch die verstreute Post, jede Menge letzte Mahnungen vom örtlichen Stromversorger darunter, die private Müllkippe eines 'Messies', keine Frage. Im abgedeckten Glasgehäuse lagen noch immer die kleinen Kadaver der Ameisenkolonie, alle ausgerichtet auf den winzigen Ausschnitt ihrer Biosphäre, der nicht bedeckt war: die Aussicht auf eine mit ausgebleichten, teils zerrissenen Postern und Aufklebern bedeckten Schrankwand. Unter einem eingerissenen Plakat von "Xanadu" klebte die aufrührerische Parole "make love not war!". Schrille 70-er Motive wechselten sich mit bunten Signets moderner Hilfsmittel zur "Bewusstseinserweiterung" ab. Eine Art zweigeschlechtliche Gottheit, die ihm sehr bekannt vorkam, prangte auf einem alten Jute-Beutel, der mit Dartpfeilen in das Schrankholz genagelt worden war. 'Morgen' verzichtete darauf, die unsichtbare Wolke aus dem Glaskäfig auch noch freizulassen. Es hatte sich schon genug in der Luft zusammengebraut. *~+~* "Und?" 'Morgen' ging gemütlich neben dem vornehmen Sesselchen in die Hocke. »Louis XVI?« Vermutete er. »Niedlich.« Über die gewaltige Wand wechselten unregelmäßig diverse Bilder. Man konnte sich in einem gewaltigen Nachrichtenzentrum vermuten. Darum handelte es sich auch, jedoch projizierten überdimensionale Augäpfel die Signale von der anderen Seite, angeschlossen an ein vegetatives Nervensystem. 'Morgen' folgte einigen Darstellungen. Sie unterschieden sich kaum von der beinahe fünfstündigen Studie vor seinem Recherche-Ausflug in die Menschenwelt. Eine Pudelpusche tippte betont auf den polierten Boden, uraltes, spiegelglattes Lavagestein. "Tja." Stellte 'Morgen' beredet fest. Sollte er dem Verlangen eines Seufzers nachgeben? Er strich sich kurz durch die schulterlangen, störrischen Strähnen undefinierbarer Farbgebung. "Eine verkrachte Existenz." Leitete er schließlich durchaus ausschweifender seinen Report ein. "Er hat in einer Garage gehaust, mit allerlei Narkotika und Chemikalien jeder Sorte experimentiert." "Ein moderner Alchemist, wie?" Schmunzelte es etwas höher neben ihm. "Gold, Ruhm, Anerkennung, die Weltherrschaft." 'Morgen' zählte die Hitparade gleichmütig auf. Ihn konnte das nicht überraschen. "Und weiter?" "Ameisen." 'Morgen' kordelte seine Haare mit einem Stirnband aus altem Krachytdrachenleder aus dem Gesicht. "Ameisen." Wiederholte die unangefochtene Nummer 1 neben ihm trocken. "Ameisen." Nun seufzte 'Morgen' tatsächlich. "Die wiederum Pilze kultivieren als Nahrungsgrundlage. Diese Pilze bilden Sporen aus." "Hübsch." Kommentierte es bedächtig. "Muss es wohl gewesen sein." 'Morgen' folgte beiläufig den ausgestrahlten Bildern. "Zumindest bis zu dem Moment, als der Strom ausging. Der Bursche hat die Rechnungen nicht bezahlt." "Üble Sache!" Konstatierte der Boss, schnalzte mit der Zunge, in der sicheren Gewissheit, dass IHN so ein Unglück niemals ereilen konnte, nicht, wenn man mit Geothermie erster Güte überversorgt war. "Wie kommt nun unser verhinderter Revolutionär ins Spiel?" Erkundigte er sich keineswegs besorgt. 'Morgen' verwunderte das nicht. Er konnte sich nichts vorstellen, was seinen Sitznachbarn ernstlich in Bedenken stürzen würde. Obwohl man besser die Pudel aus dem Spiel ließ, nur zur Sicherheit. 'Morgen' schüttelte den Kopf über das ungewöhnlichste Abschlussbild einer Konferenz, das es wohl JEMALS geben würde (sofern sie nicht im Kindergarten nach einer Zuckerorgie stattfand), spulte dann gehorsam seine Erkenntnis ab. "Auf den letzten Drücker haben die Ameisen, mutiert von diversen Experimenten, ihr göttliches Wesen erschaffen. Mächtig viel Energie, das kennt man ja. Sie haben ihn so gestaltet, wie sich ihr Blick auf die Außenwelt dargeboten hat." Nämlich in Form eines Jutebeutel-Abdrucks, gewürzt mit diversen unleserlichen Sprüchen (zumindest für Ameisen), einem zweifelhaften Geschmack im Hinblick auf Farbkombinationen und der Fähigkeit, ihre Kommunikation zu verstehen. *~+~* Man sorgte sich, das hatte man immer, als Nachbarn, als wohlgesinnte Bekannte mit ähnlichem Schicksal. Es gab Regeln. Eine von ihnen durfte niemals verletzt werden, sie war ultimativ und imperativ zugleich. 'Morgen' verfolgte, wie auf einer Welt, die quasi alles und jeden mit Aufzeichnungen überwachte, sich Szenen ohne Vergleich abspielten. Die Ursache selbst konnte man auf den bloßen Blick nicht erkennen, sie schien unsichtbar. »Rund um den Erdball.« Sinnierte er, studierte die zeitliche Abfolge der ungewöhnlichen Verhaltensweisen, die weder Geschlecht noch Alter oder Religion, Volkszugehörigkeit oder Gesinnung ausschloss. Xa'du saß artig in seiner Ecke, verschnürt und ob der fehlenden Rückkoppelungen durch die Äther-Nachrichten sehr vergnügt. "Peace!" Singsangte er munter. "Love, revolution!" 'Morgen' registrierte, dass die dunkelrote Iris eine für humanoide Wesen normale Größe angenommen hatte. »Aha.« Konstatierte er gelassen. Aufregung half niemandem. In einem alten Buch schlug er verschiedene Artikel nach. Man konnte unmöglich über alles Bescheid wissen, Hilfsmittel waren erlaubt. Dann betrachtete er noch einmal nachdenklich die in Skizzen wiedergegebene Videoaufzeichnung, die rund um die virtuelle Welt gewandert war, besonders ein seltsames Objekt, das offenbar das größte Gaudium der begeisterten Gefolgschaft von Xa'du darstellte. Er wandte sich zu Xa'du um, tippte auf die Zeichnung. "Was ist das hier?" Xa'du lächelte fröhlich. "Meine Stimme!" *~+~* Langsam rollte 'Morgen' die schematischen Karten zusammen. Er hatte Ex-Göttlichkeiten und Engel zusammengetrommelt, um sich ihrer Erfahrungen und Expertise zu bedienen. "Nun?" Der Gott blickte für einen langen Augenblick ins Ungefähre. Er kannte die Regeln, selbstverständlich. Das machte es nicht leichter, nein, gewiss nicht. Trotzdem. In Anbetracht all dessen, was folgen konnte, folgen würde: es musste sein, wenn es eine selbstbestimmte Zukunft geben sollte. Er straffte seine Gestalt, richtete den Blick wieder fest auf seinen langjährigen Gastgeber, "ich schlage folgende Vorgehensweise vor." *~+~* Es entbehrte nicht einer bitteren Ironie, dass er mit einem Heer von Engeln auszog, um die vermeintliche Revolution zu beenden, der 'Liebe' ein Ende bereitete und keine Spur ihrer früheren Existenz verwischen durfte. *~+~* 'Morgen' beendete seinen Bericht, schob das Schreibrohr in die kleine Mappe, verstöpselte das Tintenfässchen. Die Engel, unempfänglich für die Liebesdroge, hatten sich bereits wieder zerstreut, gingen ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Sie hinterfragten ihren Einsatz nicht, stand er doch im Einklang mit dem, was man sie gelehrt hatte, sofern sie sich noch daran erinnerten. Er rollte die Dokumente zusammen, schob sie in ein Archivrohr und verplombte es sorgfältig. Die Sporen waren beseitigt, die Pilze abgestorben, die fehlgeleiteten Ameisenvölker 'umprogrammiert'. 'Morgen' verstaute die Galtonpfeife in einem Beutel, den er ebenfalls versiegelte. Dann platzierte er alles in eine Kiste für das Geheimarchiv. In Kürze würde man kommen, sie abzuholen. Wäre alles dann vergessen? Nein, keineswegs. Der Gott erhob sich, atmete tief durch. Er spürte Bedauern, Wehmut, Mitgefühl. Allerdings keine Verzweiflung, das wäre seiner Natur zuwidergelaufen. Er hatte seine Bürde zu tragen, eine Last zu schultern: seine Empfehlung, seine Entscheidung, sein Eingreifen. Also würde er es verfolgen, das gehörte zu seiner Bestimmung dazu. *~+~* Xa'du weinte. Unablässig perlten Tränen aus seinen Augen, glitten über sein bleiches Gesicht und tropften auf seinen Schoß, wo sie seinen Kittel durchweichten. Lediglich seine Handgelenke waren mit einer Fessel verbunden und an seinem rechten Knöchel klebte ein eilig konstruierter Reif, der jedes Übertreten eines Portals mit gewaltigem Spektakel verhindern sollte. 'Morgen' betrat den geheimen Raum und ließ sich neben der Ex-Göttlichkeit nieder. Auf den unzähligen Augäpfeln des vegetativen Nervensystems liefen Szenen ab, die er erwartet, befürchtet hatte. "Warum?" Schluchzte Xa'du heiser, untröstlich, verzweifelt. Er verstand nicht, was da vor sich ging. 'Morgen' wandte den Blick nicht ab, nicht von den Gräueln, den entsetzlichen Konsequenzen eines temporären, vermeintlichen Paradieses. Die "Welt" schien zu kippen, ihrem Ende bedrohlich nahe. Wer trug die Schuld?! Welche finsteren Absichten wurden verfolgt?! "Wieso tun sie das?!" Xa'du kehrte sich ihm zu, ausgezehrt, zutiefst unglücklich. »Wie sollst du das auch begreifen?« 'Morgen' spürte einen Anflug von erstickender Sympathie für Xa'du, der diese Katastrophen ausgelöst hatte, möglicherweise für einen finalen, alles zerstörenden Weltkrieg verantwortlich sein konnte. "Das ist nicht die Art, wie sie funktionieren." Antwortete 'Morgen' leise. "Aber es war in Ordnung!" Ereiferte sich Xa'du mit überschlagender Stimme. "Kein Kampf, kein Blutvergießen, kein Mord! Kein Streit, keine Auseinandersetzung! Liebe und Verständnis! Es war GUT! Alle waren GUT!" Xa'du funkelte auf 'Morgen' herab, schlotternd vor Erregung, gezeichnet von Qual und Gram. "Du hast recht." 'Morgen' betrachtete die Ex-Göttlichkeit der mutierten Ameisen unverwandt. "Für eine kurze Zeit schien alles perfekt. Aber nicht gut." Ergänzte er sanft. "Weil das nicht ihre Art ist. Es ist nicht ihre Natur." "Woher willst du das wissen?!" Brüllte Xa'du heiser, wischte sich zornig das tränenfeuchte Gesicht. "ICH wollte ihnen helfen, sie besser machen!" 'Morgen' seufzte stumm, erhob sich dann langsam. "Das kannst du nicht." Antwortete er ruhig, hielt dem flammenden Blick aus den dunkelroten, von tiefen Ringen beschatteten Augen stand. "Keiner von uns kann das." "Nur wegen einer blöden Regel!" Fauchte Xa'du. "Nein." Widersprach 'Morgen' unbewegt. "Die Regel erinnert uns nur daran. Wir können sie nicht ändern, weil sie UNS geschaffen haben." *~+~* Einmischen war strikt untersagt. Ex-Göttlichkeiten durften ohnehin nicht zurück in eine Dimension, in der sie keine Heimat mehr hatten und Daimonen kannten, dank des Großen M, sehr wohl die Grenzen ihrer Beschäftigung auf der anderen Seite. Für die meisten Engel, die im Daimonenreich lebten, war die Menschenwelt ein seltsames Rätsel, blieb befremdlich und damit ein Ort, den man zum eigenen Seelenfrieden besser sich selbst überließ. Ausnahmen von dieser Regel gab es nicht. Zugegeben, hin und wieder assistierten sie {siehe "Affenzirkus"}, doch wann immer sich die gesamte Menschheit selbst bedrohte, musste sie sich auch selbst helfen. Das war notwendig, unumgänglich sogar. Selbst wenn es schmerzte, unerträglich zu beobachten war, kaum auszuhalten in vermeidbarem Leid, grässlicher Blindheit, fehlender Empathie: einmischen verboten. 'Morgen' hatte es gesehen, die großen Katastrophen, früher zumeist durch die Natur selbst ausgelöst, dann die, die die Menschen selbst über sich und ihresgleichen gebracht hatten, Seuchen, Kriege, Feldzüge. Keine Gräueltat war tabu, doch solange er existierte, gab es keinen Zweifel, dass die Regel Bestand hatte, ganz gleich, wie hoch der Blutzoll, der Preis, die Verzweiflung, das Unglück. *~+~* "Ich verstehe nicht." Xa'du kauerte auf dem Boden, die Stimme brüchig, der Blick stumpf. 'Morgen' saß mit untergeschlagenen Beinen an seiner Seite. "Es ist die Natur der Menschen selbst." Erklärte er leise. "Sie brauchen Auseinandersetzungen, um sich zu entwickeln. Mit sich, mit der Natur, mit dem, was sie tun und bewirken. Eine Droge in der Luft, die sie in einen kollektiven Liebesrausch versetzt, das tut ihnen nicht gut." Er seufzte stumm. "Es ist nicht IHRE Wahl, IHR Tun. Gleichgeschaltet und auf wenige Aspekte in ihrem Streben und Sein reduziert, das mag für den Moment eine wunderbare Lösung sein, doch perspektivisch ist es ihr Ende. Vielleicht erst in einigen hundert Jahren, möglich. Vielleicht aber auch sehr viel früher." "Also ist Liebe schwächer als Hass, Mordlust, Tyrannei und Verachtung für andere?!" Xa'du klang verbittert. "Keineswegs." 'Morgen' blickte auf Augäpfel, ohne die einzelnen Bilder noch dezidiert wahrzunehmen. "Es braucht alle Seiten, alle Nuancen. Sie müssen ihr Schicksal selbst gestalten." "Das ist grausam." Murmelte Xa'du unglücklich. 'Morgen' legte sanft einen Arm um die zusammengekauerte Gestalt, ein wenig verwundert über sich selbst. Andererseits, Mitgefühl konnte hier nicht schaden. "Wir können es nicht besser wissen." Erinnerte er sachlich. "Wir sind nicht weiser als sie, immerhin sind wir ihrer Vorstellungskraft entsprungen." Und damit limitiert auf das, was Menschen selbst ausmachte. Für eine Weile schwieg die Ex-Göttlichkeit, die so rasch so viel begriffen hatte von einer Welt, die selbst für mutierte Ameisen ein Rätsel darstellte, deren exponentielle Lernfähigkeit alle in Erstaunen versetzt hatte, ganz zu schweigen von der nahezu genialen Taktik, um rund um den Globus die Botschaft des jäh verstorbenen Volks weiterzugeben, andere Ameisenvölker zur Mithilfe, zur Komplizenschaft zu bewegen. "Wieso bist du hier?" Raunte Xa'du schließlich, drehte sich zu 'Morgen' um. "Du gehörst doch eigentlich auf die andere Seite." Der fremde Gott lächelte müde. "Ich bin zwar der einzige Gott hier, aber nicht so einsam wie auf der anderen Seite, wo ich keine Gestalt, keine Form, keine Heimat habe. Wo ich allein Jahrtausende überdauern muss." Antwortete er versonnen. Xa'du betrachtete ihn aufmerksam, trotz verquollener Augen. "Dann hast du selbst deine Gestalt gewählt?" Folgerte er kritisch. "Hast du dann nicht schon die Grenzen deiner Bestimmung überschritten?" In der Tat, für einen Gott (noch im Dienst) eine zweifelhafte Vorgehensweise. 'Morgen' hatte diese Frage schon einmal diskutiert, mit dem einzigen, der noch länger als er existierte. "Es spielt keine Rolle. Diese Form ist der Bequemlichkeit geschuldet." Er gestikulierte vom Scheitel zur Sohle, eine durchschnittliche Gestalt ohne geschlechtliche Attribute. "Für meine Bestimmung war nie ein äußeres Erscheinungsbild notwendig." Xa'du kontemplierte diese Replik eine Weile, betrachtete dabei den seltsamen Gott, der niemals ein "Ex" sein würde. "Wie lange gibt es dich denn schon?" Tastete er sich wie ein Kind vorwärts in einer unbekannten Welt. Genau genommen war er gerade mal ein Säugling, wenn man seine Existenzdauer berechnete. 'Morgen' schmunzelte. "Schon sehr lange." Gab er sanft zurück, ein wenig melancholisch. "Praktisch mit dem Moment, als einer dieser Affen eine Vorstellungskraft jenseits von Instinkten und der bloßen Realität entwickelte. In diesem Augenblick bin ich geschaffen worden." Der gestaltlose, imaginäre Gott all derer, die auf ein 'Morgen' hofften. *~+~* 'Morgen' kämmte gemächlich durch das meergrüne Haar, bewachte den erschöpften Schlaf von Xa'du, dessen Haupt auf seinem Schoß ruhte, als er das leise Geräusch der Pudelpuschen vernahm. "Besteht wohl noch Hoffnung, hm?" Der Gott nickte wortlos, auch wenn mit Krieg, wilden Verschwörungstheorien, Aufrüstung und Jahrzehnten von 'Eiszeit' und Abschottung gedroht wurde. "Wird wohl eine Weile dicke Luft herrschen." 'Morgen' seufzte leise. "Das zumindest ist sehr wahrscheinlich." Eine Weile schwiegen sie gemeinschaftlich, dann räusperte sich 'Morgen' zögernd. "Welche Strafe ist vorgesehen?" Über ihm, stehend, kicherte es nachsichtig. "Erstaunlich!" Bemerkte der Große M aufgeräumt. "Ist schon was Besonderes, dass Insekten sich ein göttliches Überwesen wünschen. In der Fauna insgesamt einzigartig." 'Morgen' ging auf den Themenwechsel ein. "Vermutlich durch die Mutation. Allerdings habe ich den Mechanismus nicht vollständig ergründen können. Da war viel Zufall im Spiel." Umschrieb er das undokumentierte Herumgemurkse des Garagen-Genies mit Messie-Syndrom. "Der Kleine hätte eigentlich längst den Geist aufgeben müssen." Es klang durchaus wohlwollend. "Er glaubt an sich selbst." Erläuterte 'Morgen' das scheinbare Phänomen. Xa'du war in vielerlei Hinsicht extraordinär, hatte die vermeintlichen Grenzen der Göttlichkeit längst überschritten. "So, so." Die Pudelpuschen wippten auf und nieder. Sie schwiegen beide, verfolgten beiläufig die unzähligen Bilder auf den Augäpfeln. Nicht alle waren grauenvoll und abstoßend. "Ich halte es für angezeigt, dass unser kleiner Ex-Ameisengott eine Weile hier seinen Aufenthalt nimmt und durch Anschauung lernt." Wurde das Strafmaß beiläufig verkündet. "Da gibt es noch so einige Lücken zu füllen, um den Zustand der Ignoranz zu überwinden." Ohne sich dessen bewusst zu sein atmete 'Morgen' hörbar aus. Noch nie zuvor hatte eine Ex-Göttlichkeit DIE Regel übertreten, deshalb war es nicht vorauszusagen, wie dieses Verbrechen geahndet werden würde. Xa'du kam durchaus glimpflich davon. "Ich denke, ich werde auch ein wenig hier bleiben." Teilte er laut mit, auch wenn ihm der Sternenhimmel durchaus abging. Andererseits, konnte er etwas vermissen, was bis zu seinem letzten Gedanken existieren würde? "Prächtig." Über ihm klang keineswegs Verwunderung über seinen Entschluss mit. "Nun denn, ich habe noch etwas zu erledigen!" Der Große M rieb sich entschlossen die Hände. "Muss mal dieses Problem mit den Störgeräuschen im Ultraschallbereich bei unseren Äther-Meldungen aufs Tapet bringen!" *~+~* Phase 3 - Konsequenzen: Das Langzeitexperiment »Morgen.« Dachte Tobias hoffnungslos, morgen musste er wieder hin. Natürlich gab es Alternativen, beispielsweise die Pulsadern aufschneiden oder vor einen Zug, nein, stopp, stand da jetzt nicht der mannshohe Zaun? Für Tobias, der auf eigentümliche Weise STÄNDIG Unfälle anzog und als extrem ungelenk galt, keine Option. Ha, er kam ja nicht mal über die hüfthohen Drängelgitter, ohne sich auf der anderen Seite spektakulär auf die Nase zu legen! Von einem Hochhaus springen, musste allerdings mehr als vier Stockwerke haben, sonst lohnte es sich nicht. Obwohl, die hatten auch meist mannshohe Brüstungen, nicht wahr? Schwindelfrei war er auch nicht, also konnte man gar nicht vorhersagen, auf welcher Seite er umkippen würde! »Außerdem kannst du es dir kaum erlauben, irgendwo ohne Kontrollblick runterzuhopsen!« Tadelte seine innere Stimme bissig. »Du willst ja wohl deinen miesen Ruf nicht durch Kollateralschäden ruinieren, indem du wen beim Aufklatschen erschlägst!« Nicht von der Hand zu weisen. "Depp!" Murmelte Tobias erstickt und zog trotz der schmerzenden Glieder die Knie noch höher, umklammerte sich selbst. Als wenn er jemals so viel Schneid aufbrachte und die Konsequenzen zog! Nein, bei ihm reichte der private Weltuntergang bloß zur Porzellangottverehrung auf Knien! Beeindruckend. Tja, wenigstens sein Kopf funktionierte recht ordentlich, das war normalerweise ein Trost, zog man seine notorische Ungeschicklichkeit ins Kalkül. Als ob das Orchester seiner Glieder sich einfach nicht auf EINE Melodie einigen konnte und ständig schräge Töne untermischte, die für Schrammen, Kratzer, aufgeschlagene Gelenke und geschwollene Knöchel sorgten. Immer wieder raffte er sich auf, kümmerte ja keinen, wenn er liegen blieb, also, also musste er selbst wieder auf die Beine kommen, nicht aufgeben. Unwahrscheinlich, aber es KÖNNTE ja mal besser werden. JETZT war diese Option ausgeschlossen. Tobias rollte sich zu einer kompakten Kugel zusammen, presste die Lippen aufeinander, um den Schmerzimpulsen nicht nachzugeben. Für einen halsbrecherischen Augenblick fragte er sich, warum er das verdient hatte, was er verbrochen hatte, um so ein Schicksal zu erdulden, dann erstickte sich der rebellische Widerspruchsgeist so rasch wie gewohnt. Aufbegehren hatte ihm noch nie geholfen. Es gab ja auch viel Schlimmeres, richtig? Jeden Tag sah man es in den Nachrichten. Solche wie er, die brauchten sich nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, wie sie eine Abkürzung zur Grube nehmen konnte, oh nein! Da sorgten schon andere mit grauenvoller Finesse für finale Friedhofsruhe! Shit happens, so war das eben, Pech gehabt. Wenn man noch mehr Pech hatte, dann war man Buddhist und eierte in der Schicksalsschleife in die nächste Runde, keine schöne Aussicht. »Ich will nicht!« Winselte Tobias innerlich, verachtete sich selbst für die weinerliche Attitüde, die ihm gar nichts ersparen würde. Irgendwie durchhalten, für was auch immer. »Was anderes bringst du doch eh nicht!« Ätzte er im inneren Monolog. In diesem gallenbitteren Augenblick profunder Verzweiflung plärrte vernehmlich die Türklingel. *~+~* Die zwei dünnen Decken über den Kopf gezogen ignorierte Tobias die potentielle Bedrohung von außen, zumindest einige Herzschläge, dann lärmte die Türklingel hysterisch erneut und der Quälgeist seiner Umgebung presste mit Vehemenz den Knopf ins Gehäuse! »Paketbote?« Tobias knurrte, aus seiner existentialistischen Selbstbeerdigung in die schnöde, hässliche Gegenwart zurückbefördert. Wenn da jetzt eine Benachrichtigungskarte im Briefkasten landete, obwohl er anwesend war (und nicht mehr ständig das stille Örtchen behauste), würde es einen zünftigen Krach geben, vermutlich. »Dann reden wir wenigstens mal miteinander.« Schlich sich ein weiterer zynischer Gedanke ein. "Verdammt!" Fluchte Tobias, der sein metaphorisches Rückgrat schon längst auf der Flucht vermutete, schleuderte den flauschigen Schutzschild gegen die grausame Welt von sich und stolperte gewohnt ungelenk zu Tür. In dem Moment, in dem er durch den Spion lugen wollte, klopfte es vernehmlich gegen das Türblatt. Erschrocken zuckte er zurück, unwillkürlich eine Hand aufs Herz gepresst. "Potzblitz, der Kreischalarm versagt?" Brummelte eine Stimme sonor. Todesmutig (immerhin klang das keineswegs nach einem Paketboten) äugte Tobias durch das Guckloch in den feindlichen Hausflur. "Hallooh" Schon polterte eine Faust gegen das Türblatt. "Holla, Tobi?! Mach bitte auf, ja?" »Seit wann kennen wir uns?!« Verwirrt blinzelte Tobias. Er hatte den Störenfried zwar identifiziert, doch man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass sie nicht mehr als ein paar Worte miteinander gewechselt hatten. »Was also verschafft mir die Ehre des Hausbesuchs?!« Grübelte er fieberhaft. Eine neue Gemeinheit? "Was willst du?" Krächzte er tapfer. "Ah, da bist du ja!" Triumphierte es aufgeräumt jenseits der Türgrenze. "Ich wollte mit dir reden! Wenn's geht aber nicht durchs Schlüsselloch." Tobias knurrte. Klar, kam extra hierher zum Reden! Wer's glaubt! "Über was reden?" Hakte er misstrauisch nach. Der Belagerer des Fußabtreters zögerte nicht mal! "Über dein Comingout!" Schallte es in den Flur. "Das war KEIN Comingout!" Brüllte Tobias aufgebracht gegen die sichere Wehr der Tür, die Fäuste geballt. "Überhaupt, wieso MEIN Comingout?! Der Arsch von Jo hat ja wohl angefangen!" Das hätte er dem Arsch auch gern selbst in sein blödes Gesicht geschrien, bloß waren dessen Fäuste und Füße sehr viel schneller gewesen, weshalb ihm immer noch alles, was er nicht schnell genug außer Reichweite hatte bringen können, weh tat. "Der interessiert mich gar nicht." Kam es vollkommen unbeeindruckt zurück. "Der ist ohnehin nicht sauber! Ich dachte mir, wir könnten's mal probieren, sonst kenne ich ja keinen, obwohl statistisch..." Gegenüber öffnete sich die Wohnungstür. Die alte Weyrich samt ihrem Fersenhobel, einer undefinierbaren Mischung, die man unter "Gesellschaftshund" klassifizierte. Die personifizierte STASI! Tobias lehnte geschlagen von den Umständen die Stirn gegen das Türblatt, ballte die Fäuste. "Warte, ich komm raus." Schwenkte er die weiße Fahne. Schön. Warum sollte er auch nicht vor die Hunde gehen, wenn die ganze Welt es tat?! *~+~* Eingemummelt in eine figurfeindliche 'Daunenjacke' (welche selbige nicht enthielt, sondern grässliches Kunstgewölle, das hier und da schon durch den Stoff spitzte), eine Pudelmütze aufgetopft und die Hände tief in den Taschen seiner ausgebeulten Jeans verborgen stapfte Tobias unlustig neben seinem aufdringlichen Besucher her. Sogar die schweren Sohlen seiner Schnürstiefel schabten über das Trottoir. "Ist praktisch, so nahe der Schule zu wohnen." Kommentierte sein gleichgroßer, aber wesentlich geschmeidiger wirkender Schatten. Tobias knurrte. Auf belangloses Geschwätz, das mit "smalltalk" noch geadelt wurde, hatte er überhaupt keine Lust! Man begriff. "Also, in medias res!" Die bloßen Hände wurden emsig gerieben. "Dein Comingout.." "Nicht MEIN Comingout!" Fauchte Tobias sofort, funkelte in ein keineswegs beeindrucktes Gesicht mit klaren Konturen und blitzwachen, dunkelblauen Augen. "Nun, vielleicht gleichen wir zunächst die Fakten ab..." Der Kerl klang wirklich wie ein Buch! Wer redete denn so?! "Fakt IST da war diese Drogenwolke, oder was auch immer!" Schnitt Tobias grantig das Wort ab. "Dieser Arsch von Jo hat MICH attackiert!" "Korrekt." Pflichtete man ihm bei, ganz aufgeräumt und sachlich. "Tatsache ist auch, dass auf dem Schulhof eine ganze Menge Personen versammelt waren. Der vorgenannte Arsch, eine Einschätzung, die ich absolut teile!, hat sich genau auf eine Person kapriziert, nämlich DICH!" Das traf LEIDER zu, wenn man sich strikt an die Fakten hielt. Trotzdem. Tobias konterte bissig. "Na und?! ER hat ja wohl die Macke, immerhin war er es...!" Das konnte man sich wenigstens einreden. Unseliger Weise zückte sein hartnäckiger Widersacher nun ein Mobiltelefon und präsentierte den unbestechlichen Videobeweis. In der Folge drehte Tobias den Kopf weg und presste die Lippen fest aufeinander, viel zu spät natürlich. "Ich betrachte die Abfolge so, dass zumindest nach der initiierten Attacke eine gewisse Kooperationsbereitschaft zu erkennen ist." Immer noch verbindlich im Tonfall. "Vom Zeitablauf her..." "Lösch den Mist!" Zischte Tobias frostig, obwohl es keine Rolle spielte, weil fast jeder mit Verbindung zu einem Sozialen Netzwerk diesen gemeinen Trailer als Auftakt zu seiner völligen Zerstörung gesehen haben musste. "Schon erledigt." Bekundete man unbeeindruckt von der arktischen Gesprächsatmosphäre. "Zurück zu meinem Anliegen: ich schlage dir eine Partnerschaft vor, zu Forschungszwecken." Tobias stutzte, blieb dann abrupt stehen. Er traute seinen Ohren zwar gewöhnlich, doch was sie meldeten und sein Verstand daraus konstruierte, das konnte ja wohl unmöglich zutreffen! "Was denn für Forschung?!" Hakte er argwöhnisch nach, hielt großen Sicherheitsabstand. "Oh, selbstverständlich, um zu verifizieren, ob wir beide schwul sind." *~+~* »Der tickt ja wohl nicht richtig?!« Tobias starrte fassungslos in das offene Gesicht. Keine Anzeichen von Häme oder Ironie, kein blöder Pennälerhumor im Anflug! »Moment!« Bremste er die rasende Gänsehaut. »Der ist doch ein Technick!« So wurden die Schüler und wenigen Schülerinnen des Oberstufenzweigs genannt, die sich auf die praxisnahen MINT-Fächer spezialisierten, die sich für all den IT-Kram interessierten, Ingenieurwissenschaften und so weiter, Figuren, die bei Mathe keinen kalten Angstschweiß auf den Pfoten kleben hatten! Mit anderen Worten: fremdartige Außerirdische, die zur Tarnung humanoide Gestalt annahmen, zumindest von Tobias' Warte. Er selbst gehörte zu den "Allgis", also dem traurigen Haufen, der weder Talent noch einen festen Plan für die Zukunft vorweisen konnte, irgendwas mit Menschen oder Sprache machen wollte, und weder naturwissenschaftliche noch handwerkliche Begabung für sich in Anspruch nehmen konnte. Trotz ihrer 'sprachlichen' Schwerpunkte konnte man jedoch kaum ignorieren, dass es kulturelle Verständnisschwierigkeiten zwischen Technicks und Allgis gab, wenn man mal das stenographieartige, Grammatik souverän abschwörende "Schülersprech" als lingua franca außen vor ließ. Tobias beäugte seinen Gegenüber akribisch, suchte nach Indizien, die ihm in glaubhafter Weise übersetzen konnten, was dieser Spinner tatsächlich wollte. "Nun, bist du einverstanden?" Schon streckte sich ihm die Rechte entgegen. Reflexartig stolperte Tobias zurück, verlor trotz schwerer Stiefel das Gleichgewicht und plumpst höchst unelegant in eine abgeräumte Rabatte vor einem Mehrfamilienhaus. "Hoppla!" Bemerkte der offenbar durchgedrehte Vertreter der Technicks freundlich, ignorierte Tobias' frustriertes Fauchen und klaubte ihn mit müheloser Beschleunigung von Mutter Erde auf. "Au!" Jammerte der, weil sich sein Körper an die letzte Malträtion erinnerte und zwar nicht wohlwollend. "Oh, hast du dir was getan?!" Sofort wurde er inspiziert, ohne dass jedoch ein sehr fester Griff seinen Oberarm entließ. "Nein!" Ätzte Tobias und bemühte sich um Freilassung, indem er an der fesselnden Hand zerrte. "Das war der andere Arsch! DEM kannst du ja dein tolles Angebot vortragen!" Nun herrschte für einen Moment Stillstand, dann schnalzte eine Zunge tadelnd. "Ich möchte ja nicht unhöflich sein, weil er dir ja nahe steht, aber MEIN Geschmack...!" "Der steht mir NICHT nahe!" Tobias blaffte zurück, funkelte in die dunkelblauen Augen. "Der Scheißer hat mich verprügelt, tut so, als wäre ICH schuld! Dabei hat er angefangen!" "Jedenfalls ist es für mich indiskutabel, irgendeine Art von körperlicher Annäherung mit diesem Vollidioten zu erwägen." Wurde ihm kurz und bündig beschieden. "Wohingegen deine Qualitäten sehr vielversprechend sind." Tobias verschlug es kurzzeitig die Sprache. Bestimmt sollte er sich auf das Tödlichste beleidigt fühlen! Allerdings drängelte sich Verwirrung selbstherrlich vor. "Was bist du für ein Spinner?" "Ach, kennst du meinen Namen nicht?" Selbst diese unhöfliche Reaktion löste keineswegs revanchistische Verbalattacken aus. "Habe die Ehre: Korbinian, für die Retardierten Kööö-Bi. Es wäre mir ein ausgesprochenes Vergnügen, wenn du mein Forschungspartner wirst." *~+~* "Das ist ja..." "Hervorragend?" "Nein, krank! Bekloppt! Total irre!" "Im Gegentum, da muss ich widersprechen! Gerade der Verzicht, der sichere Ausschluss irgendwelcher Titanic-artigen, überdramatisierten Liebesanwandlungen spricht definitiv für eine rationale, bewusste Vorgehensweise!" "Quatsch! Kein vernünftiger Mensch kommt daher, um irgendwen aus Testzwecken anzubalzen!" "Nicht irgendwen, sondern dich. Im Übrigen ist gerade ein zurechnungsfähiger Zustand jenseits von Verliebtheit, die in ihren Symptomen einer psychischen Störung vergleichbar diagnostiziert werden kann, die unbedingte Voraussetzung, um eine auf Fakten basierende Aufklärung zu betreiben." "Ich WILL nicht aufgeklärt werden, okay?!" "Dann ziehst du also die unvermittelte Überraschung vor? Nun, das nenne ich tollkühn, Respekt! Immerhin, falls sich wieder so eine seltsame Epidemie ereignen sollte..." "Dann was?! ICH hab ja nicht angefangen!" "Das behaupte ich auch gar nicht, bloß, wenn man sich mal das Geschehen auf diesem Gipfel in Erinnerung ruft, die höchsten Repräsentierenden der führenden Wirtschaftsnationen..." "Oh, da muss ich mir aber Sorgen machen, wie?! Falls ich Bundeskanzler werde UND noch mal die Epidemie ausbricht, werde ich mich am Besten auf dem Scheißhaus einschließen, dann gibt's auch keine Verwicklungen und internationale Techtelmechtel!" "Nun, bewahre, dass ich mich in deine Karriere- und Lebensplanung einmische, aber hältst du es nicht für befreiender, von vagem Verdacht zu Gewissheit zu kommen?" "Oh, toll, klasse! Soweit ich weiß, ist das angeboren. Also spielt's ja wohl keine Rolle, ob ich's jetzt weiß oder nicht!" "Nun ja, es würde gegebenenfalls Enttäuschungen und Komplikationen vorbeugen, meine ich. Ist ja doch, stelle ich mir zumindest vor, eine etwas prekäre Situation, so tete-a-tete kurz vor copulatio, und man muss erkennen, dass es hapert..." "Danke für das Vertrauen! So was merkt man ja wohl vorher!" "Möglicherweise. Allerdings muss man dann ja die eingeschränkte Zurechnungs- und Urteilsfähigkeit einkalkulieren, wegen der leichten Psychose aufgrund von Verliebtheit. In diesem fragilen seelischen Zustand sind Enttäuschungen gelegentlich Auslöser für gefährliche Entwicklungen, zum Beispiel Depressionen." "Perfekt, Mann. Genau DAS krönt mein abgefucktes Leben gerade noch! Eine Depression fehlt mir noch in meiner Sammlung an Mobbing, Prügel, öffentlicher Demütigung, Ausgrenzung und dem ganzen anderen Scheiß!" "Das gilt es ja gerade zu vermeiden! Zwei Personen, beide im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, eine ordentliche Abmachung, eine Versuchsfolge mit wissenschaftlichem Aufbau, DAS verhindert entschieden jegliche Form seelischer Beeinträchtigung." "Das ist doch Quark." "Keineswegs. Wäre es nicht ernst zu nehmen, würdest du ja wohl nicht zögern, den ersten Versuch zu tätigen." "Was denn für einen ersten Versuch?!" "Nun, traditionell findet ein chemischer Austausch statt. Daher kommen ja auch die Volksweisheiten von 'ich kann ihn gut riechen' oder 'der ist ganz nach meinem Geschmack'. Wusstest du, dass unser Magen- und Darmtrakt quasi als zweites Gehirn agiert? Da können lebenswichtige Entscheidung blitzschnell getroffen werden, während der Kopf noch grübelt! Wir haben jeder eine einzigartige Mischung an Bakterien in unserem Bauch, die uns erst leben lässt, indem sie unsere Nahrung zerlegt. Mehr Masse und Gewicht als auf den Schultern. Faszinierend, oder?" "Sehr." "Dann schreiten wir doch gleich zur Tat." "Spinnst du?! Mitten auf der Straße?!" "Keineswegs. Da, die Passage ist vor Einblicken geschützt, außerdem gibt's die Aussicht auf einen lauschigen Park." "Oh, prima, da sind auch noch ein paar Büsche, falls DER Versuch ausgeweitet werden soll." "Ah, ich merke schon, dass wir uns einig sind!" "Ich knutsch doch nicht hier herum!" "Wir können auch eine andere Lokalität aufsuchen." "Darum geht's nicht! Ich WILL nicht, okay?!" "Warum wolltest du dann bei dem Vollidioten?" "Das war die Epidemie, klar?! Wie eine Droge! Und er hat angefangen!" "Bemerkenswert, wie tapfer du mitgemacht hast, wo so viele andere bloß ein wenig umgänglicher miteinander waren." "Ich hab vielleicht eine größere Dosis abbekommen! Jedenfalls wollte ich das auch nicht!" "Wenn das so ist, sollte es dir eigentlich keine Mühe bereiten, mit einem unbedeutenden Versuch gleich Gewissheit zu schaffen." *~+~* »Der Kerl muss IMMER das letzte Wort haben!« Echauffierte sich Tobias innerlich und zwang sich, bloß keine Silbe nach außen dringen zu lassen, denn jede Einlassung zum Thema feuerte die alberne Diskussion erst recht an! Was für eine bescheuerte Idee, als ob ein Kuss alles klären konnte! »Andererseits lässt er dann vielleicht locker?« Spekulierte eine Stimme in seinem Hinterkopf hoffnungsfroh. »Jetzt gib ihm halt einen Schmatz, dann wird er sich schon trollen!« *~+~* "Übertriebene Härte!" Konstatierte Korbinian, humpelte jedoch nur ein klein wenig. "Selbst schuld!" Fauchte Tobias aufgebracht. "Ich wäre fast erstickt!" "Das kann nicht sein." Schon sprang der Konversationsduellant wieder in die Bresche. "Deine Nase war definitiv nicht blockiert." "Dein SABBER ist mir in den Hals geglibbert!" Nun legte Tobias Beweise für seinen Schienbeintritt vor. Möglicherweise konnte man das als unsportlich einordnen, aber für ihn fiel es unter Notwehr. Wer hätte denn auch erwartet, dass dieser Kerl nach dem Alibi-Schmatzer einfach wie ein Eintänzer eine halbe Schraube hinlegte, ihn einfing, mit Herkuleskräften festhielt und ihm die Mandeln polierte?! "Das liegt vermutlich an unserem Ur-Erbe." Hörte er Korbinian konziliant antworten. "Unsere Herkunft lag ja im Wasser, einer Art Ur-Suppe, also geht es auch bei der körperlichen Annäherung nicht ohne Feuchtigkeit ab." Tobias zog die Schultern hoch und knurrte geplagt. "Hältst du eigentlich nie die Schnauze?!" Ein amüsiertes Hüsteln ertönte hinter ihm, denn Korbinian blieb im Windschatten. "Tja, zumindest EINE Methode, meine Lippen zu versiegeln, kennst du nun ja." »Der macht mich WAHNSINNIG!« *~+~* »Ich bin von allen guten Geistern verlassen!« Eine andere Erklärung dafür, dass er sich nicht wie ein (tatsächlich) verprügelter Hund zur Schule schleppte, sondern bereits vor Elektrizität britzelte, die einen Ableiter suchte, gab es nicht. Natürlich wusste er, dass ihn ein Hexenkessel mit Demütigungen, Ausgrenzung und anderen Grausamkeiten erwartete und auch zwei Tage lang reihern änderte nichts an der Überzeugung seiner Eltern, er müsse wieder an die Front zurück, weil das eben der 'Job' war. GANZ BESTIMMT lag die Ursache nicht bei Korbinians blödem Spruch! Dass er zwar immer noch schwul und damit ausgegrenzt sei, nun aber zumindest einen Verbündeten hätte. »Na klar, einen dauerschwadronierenden Technick, der nur gelegentlich mit der Realität in Kontakt kommt, prächtig, einfach prächtig!« *~+~* Wenn man der einzig offiziell als schwul (und damit pervers/abartig/anormal etc.) an den Pranger gestellte Paria war, konnte man nicht mehr im Gewühl durch den hinteren Eingang auf den Schulhof schlüpfen, nein, die Ansteckungsgefahr sorgte für größtmöglichen Abstand und strapazierte auch noch morgenmufflige Resthirne auf der Suche nach kreativen Beleidigungen. Tobias hätte das alles ja noch mit knirschenden Zähnen ignorieren können, wäre da nicht der zweite Protagonist in dem erbärmlichen Theater gewesen: Jo, der Arsch. "Was traust du dich her, he?! Verpiss dich zu den anderen Schwanzlutschern!" Dümmliches Gelächter, akkompaniert von Mitschwimmern und Wendehälsen mit der Hoffnung auf Unterhaltung. Tobias dachte nicht daran, den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen und die Beine in die Hand zu nehmen. Er war wütend, ja, es brodelte und kochte in ihm, weil es offenbar hier nur Idioten gab! "Warum springste nicht mal? Freier Fall, kurzer Klatsch, bisschen Kärcher!" Ließ Jo ihn an seinen kreativen Vor-Bestattungsritualen teilhaben. "Warum springst du nicht?! Es war ja wohl DEINE Zunge in meinem Hals! Du hast angefangen!" Eingekesselt, gestellt wie ein Wild, ging Tobias selbstmörderisch, aber halsbrecherisch wütend zur Attacke über. "Du Drecksau willst mich zum Homo machen!" Die Fäuste kannte er schon und auf Hilfe durfte Tobias auch nicht hoffen, höchstens der Pausengong im imaginären Ring würde ihn retten. "Hoppla." *~+~* Jo, gerade im besten Begriff, dem widerwärtigen kleinen Schwanzlutscher noch eine Abreibung zu verpassen, dieses Mal aber etwas enthusiastischer und ausführlicher als beim ersten Mal, stolperte nach vorne, als ihm jemand in die Seite rumpelte, nicht heftig oder gezielt. Sofort wandte er sich herum, um diese Majestätsbeleidigung zu ahnden. Ah, einer dieser Klotzköppe von den Technicks, so ein Penner in Cargos, Holzfällerhemd und Blouson! Wuchtig holte er mit seiner Dampfhammer-Rechten aus. *~+~* "Das muss doch weh tun!" Tadelnd die Zunge schnalzend studierte Korbinian das (im wahrsten Sinne des Wortes) schlagartig fahl-bleiche Gesicht seines Opponenten, dann schob er beiläufig seine Umhängetasche auf den Rücken zurück, als sei lediglich seine leichte Drehung für ihre Positionsveränderung verantwortlich. Anschließend blickte er auf die legendenumwobene Rechte, die Jo umklammerte, zitternd. "Nanu, du siehst aber nicht gerade wie das blühende Leben aus?" Kommentierte er nachsichtig, fasste rasch zu, als Jo die Knie einbrachen. "Du liebe Güte, Sanitäter!" *~+~* Tobias fixierte Korbinian, der ihm in der Mensa gegenüber saß und eifrig das Mittagessen verspeiste. "Wie hast du das gemacht?" "Gemacht? Ich?" Das klare Gesicht blieb offen, aufmerksam, ohne eine Spur von Genugtuung oder Spott. Grummelnd beschritt Tobias einen anderen Weg, in der Hoffnung auf sachdienlichere Auskünfte. "Was ist in deiner Tasche?" "Oh, willst du reinschauen? Bitte, gern!" Die Umhängetasche, nicht gerade leicht, wechselte den Besitzer. Tobias ließ die lauwarmen Nudeln geschmacksarmen Kohlenhydratematsch sein und fledderte durch fremdes Eigentum. "Was ist denn das?" Fingerte er ein quaderförmiges, trügerisch harmloses Kästchen heraus. "Meine Brotdose." Antwortete Korbinian bereitwillig. "War mal eine kleine handwerkliche Spielerei. Ich glaube, in einem früheren Leben war es ein Schubkasten für die großen Magnetbänder in Rechenzentren. Quasi wie Videokassetten." Eine äußerst stabile Konstruktion, vermutlich sehr häufig von den Robotern in den Sicherheitsschränken angesteuert. Tobias reichte die Tasche zurück, wachsam und ganz gegen seinen Willen beeindruckt. Wenn man da aus unmittelbarer Distanz mit ungebremster Wucht draufschlug, konnte man sich schon mal diverse Knochen brechen. "Als nächstes zauberst du wohl ein Kaninchen aus dem Hut!" Kommentierte er bissig. "Ah, das würde Erinnerungen wecken, denn tatsächlich habe ich mich eine Zeit lang als Amateur mit Zaubertricks befasst." Ein freches Grübchen prägte Korbinians linke Wange. Aufstöhnend ließ Tobias den Kopf auf den Tisch sinken. *~+~* Das befürchtete Pärchen-Klebe-Syndrom blieb aus, klar, sie waren ja auch kein Paar! Trotzdem. Tobias war durchaus überrascht, dass Korbinian nicht ständig auf der metaphorischen Matte stand. Zwar hatte sein Eintreten für Tobias durchaus Aufsehen erregt, doch nicht wenige sympathisierten heimlich mit ihm, weil Jo endlich mal sein Fett abgekriegt hatte! »Hmm!« Dachte Tobias. Sein "Versuchspartner" erwies sich als recht beliebt, hatte dem Anschein nach sogar Freunde in seiner Klasse, niemand verdächtigte ihn irgendwelcher unkeusch-unzüchtigen Absichten, während sich an seiner eigenen Situation recht wenig änderte, sah man mal davon ab, dass Jo ihn auf längere Zeit hin nicht mehr verdreschen konnte. Offiziell ging man von einem Unfall aus, Teenager galten ja als notorisch ungelenk und fatal hormonell fehlgesteuert. »Pah!« Grummelte Tobias vor sich hin, der quasi von Geburt an zum Leidwesen seiner Eltern eine unrühmliche Karriere in Form von Tollpatschigkeit, Ungeschicklichkeit, Amusikalität und grauenvoll mieser Hand-Augen-Koordination erreichte. Wenn er schon zu blöd zum Fußballspielen war, auf der obligatorischen Blockflöte selbst Schwerhörige in die Flucht trieb, dann hätte er doch wenigstens beim Daddeln irgendwelche Talente aufweisen können! Fehlanzeige, deshalb hatte er vermutlich auch keine Freunde, ein Umstand, mit dem sich seine Eltern nach etlichen, teils desaströsen Kuppelversuchen (Stichwort: Playdate!) zähneknirschend abgefunden hatten. Ihr einziges Kind ein hoffnungsloser Loser! »Nicht mein Problem!« Dachte sich Tobias regelmäßig, denn eigentlich fand er seinen Status quo in der Komfortecke der Selbstisolation recht bequem. Keine Leute um sich herum zu haben, das bedeutete für ihn die Abwesenheit von Häme, Spott, Rempel- und Prügeleien. Eine erbauliche Freiheit. Außerdem musste er sich nicht ständig erklären oder gar rechtfertigen. Er ging einfach in die Bibliothek und lieh sich Bücher aus, da konnte man sich auch höchstens am Papier schneiden oder mal über einen Fehlgriff ärgern. Gern hätte er auch ein elektronisches Lesegerät sein Eigen genannt, doch angesichts seiner Talentlosigkeit an Spielkonsolen und der konsequenten Verweigerung, sein Mobiltelefon regelmäßig aufzuladen (er HASSTE diese permanente Überwachungseinheit schlichtweg!), blieb ihm dieser Luxus versagt. »Dann eben nicht!« Hier war Tobias konsequent. Er war eben seine eigene Person, marschierte nach seinem eigenen Rhythmus auf seinem Pfad. Wer wollte denn auch schon wie all die anderen Pfeifen sein?! Dennoch fragte er sich nun verblüfft, wie es diesem doch ARG SELTSAMEN Vogel namens Korbinian gelang, einigermaßen beliebt zu sein, immerhin textete er einen zu, bis die Ohren detonierten, musste DAUERND das letzte Wort haben und klang dabei so verschraubt!! Ganz zu schweigen von der bekloppten Idee, per Versuch herauszufinden, ob er schwul war. Oder bi. Oder auch nicht. Aber alles entgegen den lächerlichen Statistiken JENSEITS von Verliebtheit. "Ein totaler Spinner!" Brummelte Tobias, der sich mal wieder ein Paria-Eckchen suchen durfte, um das mümmelbare Schlabber-Mittagessen einzusaugen (wahrscheinlich war die Lieferung des Caterers fürs Altenheim gegenüber gedacht!). Ärgerlich bloß, dass er sich von diesem Spinner hatte einwickeln lassen. Wer war da der größere Depp?! *~+~* "Treffen wir uns um Samstag bei mir, ja?" Korbinian, hoch zu Stahlross, bremste geschickt, um Tobias nicht in die Hacken zu fahren, der Richtung Bibliothek trottete, die Sohlen seiner schweren Schnürschuhe über den Asphalt schleifend. "Warum?" Knurrte er sofort in Verteidigungspose zurück, funkelte in ein munteres Gesicht. "Fortsetzung unserer Versuchsreihe." Nickte Korbinian wichtig. "Ah, aber komm doch vor zum Repair-Café, ja? Ich schick dir Ort und Zeit am Besten aufs Handy! So, nun muss ich aber, komm gut heim!" Konsterniert blickte Tobias Korbinian nach, die Tragegurte seines Rucksacks umklammernd. Der wartete ja nicht mal sein Einverständnis ab, überhaupt, reichte es nicht, dass er ihn quasi in seinem Sabber fast ertränkt hätte?! Dann verschaffte sich endlich eine argwöhnische Stimme aus seinem Hinterkopf Gehör. »Sag mal, Kamerad, woher hat der Kerl denn deine Nummer, hmm?!« *~+~* »Was soll ich denn sonst machen?!« Verteidigte sich Tobias vor sich selbst. Nach seiner unsäglichen Brandmarkung als notorischer Kerleknutscher (das grauenvolle Video war sogar seinen Eltern nicht erspart gewesen), herrschte am heimischen Herd dicke Luft. Man wollte DARÜBER nicht sprechen, hoffte auf die allgemeingültige Erklärung, dass allein diese ominöse Drogenwolke da für temporäre Verirrung verantwortlich war. Die Crux war jedoch, dass seine Eltern es ihm zutrauten, dass sie die Gewissheiten fürchteten, dass ihr untertalentierter Einzelgänger-Loser-Sohn zu all seinen gesellschaftlichen Defiziten auch noch hoffnungslos schwul war. Bei anderen mochte man ja Verständnis haben, aber direkt in der eigenen Familie?! Und dann noch Tobi, der mit niemandem zurande kam?! Da war er eben doch losgezogen, nachdem er WIDERWILLIG und grimassierend das blöde Telefon aufgeladen und dem lästigen Plunder auch noch die Textnachricht entlockt hatte. Alles war besser, als sich in der unangenehmen Atmosphäre unausgesprochener Vorwürfe und final enttäuschter Erwartungen herumzudrücken, ganz davon abgesehen, dass Korbinian ihn wahrscheinlich selbst heimsuchen würde, wenn er es wagte, die einseitige Einladung nicht wahrzunehmen! Das war dem Kerl glatt zuzutrauen! Als Tobias vor dem Gemeindesaal stand, in dem einmal im Monat willige Bastelnde, lötfreudige Fachsimpelnde, Nähmaschinen-Zaubernde und hilflose Möchtegernnutzende von außer Dienst stehenden Gerätschaften und Lieblingsstücken aufeinander trafen, fragte er sich, ob er sich einfach in die Menge mischen durfte. Etwas Defektes (»außer deinem Verstand, du Blödmann!«) konnte er als Eintrittskarte nicht vorweisen und zur Kategorie der Nachhaltigkeitshelfenden und Wertebewahrenden gehörte er ganz sicher nicht! "Ah, Tobi! Prima! Wenn du mir gerade mal assistieren könntest!" Korbinian operierte am offenen Antrieb eines Handrührgerätes, daneben ein zusammengeschrumpftes Muttchen mit gramerfüllten Blick. Das Relikt aus den frühen Sechzigern wurde offenbar sehr geliebt, und man litt mit, zwischen Hoffen und Bangen. "Äh, ich bin nicht wirklich..." Tobias wollte sich nicht rundheraus weigern, weil der tränenumflorte Blick der alten Dame ihn einschüchterte, doch bei Korbinian halfen gut gemeinte Warnungen zur eigenen Unfähigkeit leider nicht. "Oje." Murmelte Tobias ahnungsvoll, bevor er Korbinians Platz einnahm. *~+~* "War nett, nicht wahr?" Korbinian marschierte beschwingt voran, einen altmodischen, sehr abgewetzten Lederkoffer in Arzttaschenformat schwenkend. Darin, in ziehharmonikaartig aufklappbaren Fächern, befand sich allerlei Werkzeug, Hilfsmittel und weitere Merkwürdigkeiten, die dem Operateur bei funktionsertüchtigenden Aktionen dienlich sein konnten. Tobias, durch ein SEHR mächtiges Stück Frankfurter Kranz (Originalrezeptur!) und einen halben Liter Kaffee-Kakao gestärkt, kämpfte noch immer mit Verwunderung. "wieso hat das Dings wieder funktioniert?! Es ROCH ja sogar tot!" Sein Vordermann grinste gemütlich. "Des Rätsels Lösung: verschmorte Teile ersetzt, geschickt gelötet und schon läuft es wieder wie geschmiert!" "Ha!" Schnaubte Tobias in profundem Zweifel. "Nicht, wenn ich meine Finger im Spiel habe!" Oder er auch bloß in der Nähe stand, in die Richtung dachte. "Du hast das doch prima gemeistert!" Korbinian war nicht abzuschrecken. "Wie heißt es bei uns so schön: kaum macht man's richtig, schon geht's auch!" "Ich habe Erfahrungswerte! Empirik!" Knurrte Tobias. Was er sich bestimmt nicht leisten wollte, waren Zweifel an seinem Ruf als ungeschickt, untalentiert und unfähig! "Auch bei Versuchsreihen kommt es auf die Fallkonstellation an." Korbinian konnten statistische Erkenntnisse nicht einschüchtern. "Vermutlich ist auch eine psychologische Komponente zu berücksichtigen. Du weißt schon, die selbsterfüllende Prophezeiung!" Tobias verdrehte die Augen und entschied, das Thema zu wechseln. "Werden deine Eltern denn nicht ausrasten, wenn sie feststellen, dass du, na ja, am selben Ufer wilderst?" »Nett formuliert. Politisch korrekt und trotzdem im Tonfall gehässig!« Kommentierte seine innere Stimme unaufgefordert. Korbinian, der ihm artig ein Gartentörchen aufhielt, schmunzelte bloß, auf eine Weise, die selbst langmütige Pazifisten an die Kettensäge treiben konnte, wie Tobias erbost urteilte. "Wüsste nicht, wie das unser Verhältnis beeinträchtigen könnte." Antwortete das Objekt seiner profunden Frustration leichthin. "Immerhin ist die sexuelle Präferenz mutmaßlich genetisch bedingt. Wer könnte sich weniger über meine Genetik beschweren als die Erblassenden derselben, hm?" "Du gehst mir so was von auf den Keks!" *~+~* Tobias wusste nicht genau zu sagen, was er erwartet hatte. So viele 'Kinderzimmer' hatte er, mangels Freundschaften, bisher noch nicht besichtigen können. Von dem Quatsch, den man in der Glotze sah, durfte man nicht auf die graue Realität schließen! Korbinians Zimmer in einem eingepferchten eingeschossigen Reihenhäuschen aus den Zwanzigern enthielt ein akkurat gemachtes Bett, einen niedrigen Klapptisch, aufgestapelte Sitzkissen mit grässlich-bunten Bezügen aus ehemaligen Plastiktütenstreifen und einen umfunktionierten Arbeitskarren mit mehreren Stockwerken, in denen sich allerlei elektronisches Zeug drängelte. An der Dachschrägwand hingen offenbar Schaltpläne, über dem Bett dagegen eine Weißwandtafel, die nur Spuren von Farbresten präsentierte. Schlussendlich lauerte neben der Zimmertür noch ein selbst gebauter Kleiderständer mit hoher Stange für die Kleiderbügelartikel und ein ausrangierter Schrankkoffer als Kommodenersatz. "Meine Fresse!" Murmelte Tobias. Nach dem Standardprogramm eines schwedischen Möbelhauses sah es hier zumindest nicht aus! "Eine nette Umschreibung wäre 'originell'." Half Korbinian amüsiert angesichts des sehr wechselhaften Mienenspiels aus. "Wäre!" Grummelte Tobias grantig. "Aber nicht MEINE Wortwahl." "Nun, wir haben uns ja auch nicht hier eingefunden, um meine persönlichen Dekorationsbeiträge zu disputieren." Aufgeräumt streifte sich Korbinian das (natürlich!) karierte Flanellhemd über den Kopf. "Sondern zur Fortsetzung unser Versuchsreihe!" Während er sich aus seiner geliebten Cargohose schlängelte, ohne den Inhalt sämtlicher Hamstertaschen auf den Boden zu verteilen, starrte Tobias ihn ungläubig an. "Was soll denn das werden?!" Erkundigte er sich mit peinlicher Weise schriller Stimme. Korbinian, nunmehr in klassischen Doppelrippunterhosen und Sportsocken, lächelte höflich, während in seinen dunkelblauen Augen unverkennbar der Schalk tanzte. "Oh, erwähnte ich das nicht? Wir dehnen den Versuch auf eine sehr viel größere Fläche aus, um eventuelle Ausreißerphänomene auszuschließen." *~+~* "Ich finde das nicht gut." Murmelte Tobias und konzentrierte sich betont auf das Rentier-Muster, das Korbinians Decke zierte. "Tatsächlich?" Der fixierte ihn, was Tobias GENAU spürte. "Nun, ich bin selbstverständlich für Alternativanordnungen offen!" »Obwohl er genau WEISS, dass mir nichts Gescheites einfällt!« Zürnte Tobias innerlich, seine Decke noch enger um sich wickelnd. So bequem saß es sich mit seitlich aufgestellten Beinen ja auch nicht! Dennoch. Jämmerlicher Weise war er Korbinians schlüssig vorgetragenen Argumentationsketten schon wieder unterlegen! Klar konnte man bei Schnabel und Leckbrett (Korbinian drückte sich selbstredend VIEL gewählter aus, die hochgedrechselte Quasselstrippe!) von einer 'räumlich und kapazitär limitierten Erfahrungsfläche' sprechen (was außer ihm bestimmt KEIN MENSCH tat), dass die Haut an sich das größte menschliche Organ war, wusste Tobias auch. Dann hatte er sich auch noch spontan geweigert, einfach vor Korbinian blank zu ziehen, woraufhin der mit größter Selbstverständlichkeit die 'Tipi'-Variante vorgeschlagen hatte, sich sogar artig umgekehrt, während Tobias knurrend seinen Kleiderhaufen produzierte. "Wie soll das überhaupt funktionieren?!" Schon im gleichen Moment bereute Tobias diese Frage, weil er davon ausgehen MUSSTE, dass Korbinian sie erwartet, nein, teuflischer Weise geradezu provoziert hatte! "Also, wir schlagen unser Schutzzeltplanen übereinander." Hochkonzentriert und im Arbeitsmodus konnte dem Versuchsleiter nicht ein FÜNKCHEN Ironie oder Belustigung anzusehen sein. "Dann bringen wir wechselseitig Gliedmaßen in Kontakt. Wir steigern Kontaktdauer und -intensität. Dabei beobachten wir die Reaktionen." "Wir grapschen uns unter den Decken an?" Übersetzte Tobias grimmig. "Exakt!" Korbinian, der auf diesen Moment des direkten Blickkontakts gehofft hatte, strahlte. "Wunderbar, dass du schon richtig eifrig bist!" "So war das nicht gemeint!" Fauchte Tobias zurück, doch die um seine Sitzhälfte gewickelten bloßen Beine hinderten eine rasche Flucht. "Außerdem müssen wir da nicht lange 'rummachen, da tut sich nichts, was nicht auch so klappen würde." Immerhin spielte es wie bei der Knutscherei ja nicht unbedingt eine Rolle, mit welcher Ausstattung das Gegenüber sonst durch die Gegend schnürte, richtig? Sie wollten ja hier den Beweis führen, dass Korbinian schwul war, oder? Also... "Ah, dann beschreiten wir gleich den kritischen Punkt der Beweiskette!" Entschied Korbinian und legte als geübter Handwerker und Hobby-Magier sogleich Hand an! *~+~* Es war nicht zu verstehen, warum er diesen Blödmann nicht einfach in die Lippe oder seine aufdringliche Zunge beißen konnte oder ihm die Fingernägel so richtig in neuralgische Stellen rammen. Möglicherweise lag es daran, dass Tobias nach Luft schnappte und ihm dabei Geräusche entwichen, die er lieber NIE gehört hätte und seine Hände die bescheuerte Decke beklammerten, die um Korbinians Schultern geschlungen war, während seine eigene längst eine unregelmäßige Wurst um seinen mageren Hintern bildete. "Kann nich mehr!" Quetschte er zwischen zusammengepressten Lippen hervor, sich einrollend, die Stirn auf einer unglaublich warmen Schulter abgelegt. Wie lange sollte das denn noch dauern?! Und überhaupt! "Dann lass los!" Welcher Penner gab denn solche Vorschläge von sich?! Auf keinen Fall wollte er hier...! Aber wenn der miese Drecksack als Kerl nicht so genau wüsste, wie er zupacken sollte...! Tobias kniff die Augen fest zusammen, schnüffelte durch die aufgeblähten Nasenflügel und kämpfte verzweifelt darum, das letzte Quäntchen vermeintlich männlicher Würde zu bewahren, was nicht funktionierte. *~+~* "Das, das bist DU schuld!" Fauchte Tobias und blinzelte einen blamablen Tränenfilm aus seinen Wimpern. Immerhin hatte er den Trottel ja gewarnt! Und bei der blöden Fummelei unter der Decke, da hätte der ja auch Gummis...! "Ignorier das einfach." Hechelte ihm Korbinian gar nicht mehr so souverän wie gewohnt ins Ohr, zog ihn mit einem Klammeraffengriff eng an sich heran, ganz rücksichtslos den Umstand missachtend, dass Tobias gerade eine Fontäne abgeschossen hatte, was sich nun auf blanken Hautpartien abzeichnete. "Du spinnst wohl!" Tobias drückte beide Hände gegen die Schultern, doch sie hockten viel zu nahe, um eine Hebelwirkung auszulösen. Außerdem erwies sich dieser Stoffel einmal mehr als erstaunlich robust. "Denk dran!" Keuchte Korbinian. "Wir erproben MEINE Veranlagung." Was bedeutete, wie Tobias durch den hormonbedingten Bodennebel in seinem Verstand endlich dechiffrierte: wichtig war, ob KORBINIAN etwas bei der Manipulation eindeutig männlicher Geschlechtsorgane verspürte, sonst hätte man sich ja auch den ganzen Zirkus sparen können. "Mach endlich!" Tobias würde den Teufel tun und selbst in dieser umgekehrten Variante von Blinder Kuh im 'Tipi' auf Handspiel ausweichen! "Das glibbert!" "Nicht beachten!" Immer noch Wüstenatem an seiner Wange, dann eine heiße Zunge, die ihn ableckte! "Unwichtige Nebeneffekte." "Was?!" *~+~* Erst war die dämliche Decke auch gerutscht, dann hatte Korbinian "sapristi!" gestöhnt, sich diabolisch geschickt halb auf ihn geworfen und den Aufprall genutzt, jeden absolut berechtigten Protest mit einem Knebel zu ersticken, Tobias' Hände auf die Matratze gedrückt, sich in eindeutiger Absicht auf ihm windend. Als eine heiße Spur über Tobias' Torso spritzte, lief das Fass endgültig über. Nachdem er genug Atem intus hatte, um nicht mehr schwarze Punkte zu blinzeln, stemmte er die blanken Sohlen in die Matratze, um sich unter Korbinian herauszuschieben, auch wenn der noch seine Hände umklammerte. "Runter! RUNTER, SOFORT!" "Selbstverständlich." Kaum dass Tobias saß, nackt, EINGESCHMIERT mit Körpersäften, die er üblicherweise sofort mit Toilettenpapier beseitigte, das Herz noch immer rasend, erhitzt, vor allem aber ENTWÜRDIGT, tat er etwas, von dem er nie geglaubt hatte, dazu in der Lage zu sein: er holte aus und ohrfeigte Korbinian. *~+~* "Au." "Du, du Blödarsch!" Tobias kam sofort, trotz pochender Rechte auf die Beine, kehrte Korbinian den Rücken zu, um sich ungeachtet des Selbstekels ob seines körperlichen Zustands in Rekordgeschwindigkeit zu bekleiden (die Socken steckte er einfach in die Hosentasche), ein aufgebrachtes Schluchzen unterdrückend. "Tobi, bitte warte doch mal." In der Tür wandte sich Tobias herum, blind für den zweifellos einmaligen Ausdruck verdutzter Verwirrung auf Korbinians erhitzten Zügen. "Herzlichen Glückwunsch, du Arsch! Der unwichtige Nebeneffekt verzieht sich jetzt!" "Aber, nein, das...!" Was auch immer an Entschuldigung/Erklärung/Einlassung Korbinian anbringen wollte, es ging im Zuschmettern der Zimmertür unter, dann polterte Tobias auf wackligen Beinen die Stiege herunter, fischte seine Jacke vom Haken, schnappte seine Tasche und gönnte sich nur einen Atemzug, in die schweren Treter zu schlüpfen, bevor er in diesem desolat-aufgelösten Zustand auf die Straße floh. *~+~* Es machte keinen großen Unterschied, wenn man sich bewusst von allen separierte, zurückzog, wenn ohnehin niemand freiwillig die eigene Gesellschaft suchte, was Tobias grundsätzlich egal war. Die konnten ihn alle mal! Ihre blöden Tuscheleien, das Wegrücken und Abstandhalten, das war ihm doch gleich! Wenn einem keiner zu nahe kam, dann konnte man schließlich auch nicht verletzt oder enttäuscht werden, von Prügeln mal ganz abgesehen. Dass der Blödarsch sich nicht zeigte, DAS wunderte doch wohl niemanden! »Ist vielleicht doch nicht so komisch, wenn man sich als Homo entpuppt!« Ätzte seine innere Stimme revanchistisch. "Wenigstens habe ich was daraus gelernt." Führte Tobias in der Abgeschiedenheit seines Zimmers als Eremitage Selbstgespräch. "Wenn IRGENDWER was von mir will, dann weiß ich, dass das absolut FAUL ist." Es ging eben doch nichts über empirische Sicherheiten zur Gesetzmäßigkeit im gesellschaftlichen Alltag! *~+~* Draußen herrschte Weltuntergangswetter und Tobias fand, dass, wenn ohnehin der nächste Weltkrieg wegen dem verfluchten Liebesdrogenmurks vor der Tür stand, man ihn auch auf der Schwelle versauern lassen konnte und tun, was einem beliebte, oder es eben lassen, also nichts tun, außer warm und kuschelig unter der Decke zu dösen, abgeschieden von all dem ätzenden Mist, der sich Alltag schimpfte. In diesen selig-apathischen Zustand kontemplativer Selbstversenkung platzte jäh und uneingeladen das wüste Pollern einer geballten weiblichen Faust gegen seine Zimmertür, wenig agreabel begleitet von einer ärgerlichen Stimme. "Tobi! Du hast Besuch von einem Freund!" Diese Androhung löste zunächst eine spontane Gänsehaut aus, die sich blitzartig in seiner Wohlfühlhöhle breitmachte, seine Glieder erstarren ließ wie unter einem Eissturm. "Ich hab KEINE FREUNDE!" Brüllte Tobias zurück, zog die Knie eng an den Leib und die Decke über die Ohren. "Klar, und WER macht sich sonst die Mühe, extra durch das Sauwetter hierher zu kommen?!" Mütterliches Feingefühl! Gepaart mit bösartig skalpellscharfer Logik. "Der kann GLEICH wieder abhauen!" Antwortete Tobias unüberhörbar. Mütter! Glaubten einfach jeden Mist, den man ihnen auftischte! Nörgelten im selben Atemzug herum, man hätte keine Freunde! "Ich glaub, es hackt!" Begleitet von dieser bitterbösen Ferndiagnose seines mentalen Zustands stürmte das Mutterschiff die Gefilde Elysischer Selbstgenügsamkeit, ohne Rücksicht und bar jeden Feingefühls. "Liegst du etwa immer noch im Bett?! Hoch mit dir, aber zackig! Den ganzen Tag verpennen, das kommt nicht in Frage!" "Wer kann denn bei dem infernalischen Lärm schlafen?!" Tobias schleuderte die Decke von sich, enragiert, leider auch ziemlich erhitzt von seinem privaten Brutgehege. "Möchtest du was trinken, Korbinian? Tee, Kaffee, Limo?" Die Meisterin der Grausamkeiten kehrte ihm schnöde den Rücken zu, adressierte den UNERWÜNSCHTESTEN Heimsucher seit Ewigkeiten unerträglich freundlich. "Ach, machen Sie sich bitte meinetwegen keine Umstände." Hörte Tobias bloß hinter der Sichtblockade, ebenso zivil und umgänglich, was seine Frustration noch befeuerte. "Das sind keine Umstände." Das Muttertier schnüffelte hörbar, rümpfte die Nase. "Sag's mir gleich, ich muss erst mal Sauerstoff hier reinlassen!" Woraufhin man zur Tat schritt, die Fensterflügel weit aufriss, was einen unwillkommenen Schwall eisig kalter, nasser Luft in Tobias' Zimmer beförderte. "Hey!" Tobias kletterte von der Matratze, verhedderte sich in seiner Bettdecke, ruderte mit den Armen, um keine Bauchlandung hinzulegen. "Also, was darf ich dir bringen, was treibst du da schon wieder?!" "Hallo, Tobi..." "Du Blödarsch..." "Ich hör wohl nicht recht?! Reiß dich am Riemen, Sohn, verstanden?! Außerdem bedankt man sich, wenn jemand so nett ist, einen vom Boden aufzuklauben, klar?! So, Korbinian, was darf ich dir bringen?" "Oh, ein Tee, vielleicht Kräuter, das wäre sehr zuvorkommend!" Hatte Tobias nur für einen Moment eine verräterische Erleichterung empfunden, dass zwei starke Arme seine Ellen abstützten, so konnte er sich nun kaum von ihrem Stahlgriff lösen, der seine Ellenbogen einzwängte. "Lass mich los!" Zu seiner Verblüffung gab Korbinian ihn tatsächlich frei, was er dazu nutzte, ordentlich Abstand zwischen sie zu bringen. "Was willst du?!" Blaffte er seinen uneingeladenen Besucher an. "Ich wollte mich entschuldigen." Eröffnete Korbinian ruhig, die Hände leicht gelupft, als müsse er ein wildes Tier besänftigen. »Oder ein hysterisches Weibchen!« Ätzte Tobias' innere Stimme, die ihn ermahnte, sich nicht schon wieder einwickeln zu lassen. "Is ja prächtig!" Zischte der auch artig. "Und Tschüss!" "Es tut mir wirklich Leid, dass ich so unbedacht gesprochen habe." Nahm Korbinian einen neuen Anlauf, die dunkelblauen Augen unbeirrt auf Tobias gerichtet, der sich in seinem alten Schlafanzug plötzlich nicht nur 'underdressed', sondern auch nicht ausreichend gewappnet fühlte. "Von wegen 'unbedacht'!" Fiel er Korbinian ins Wort, die Fäuste geballt. "Das war doch geplant, um mir eins auszuwischen!" Ihn lächerlich zu machen, zu verspotten, ihm unmissverständlich vor Augen zu führen, wie unbedeutend und albern seine Gefühle und Hoffnungen waren. "Das wollte ich ganz sicher nicht!" Versicherte Korbinian eindringlich. "Ich bin davon ausgegangen, dass du kaum mehr als lauwarme Sympathie für mich hegst." Womit er es noch schlimmer machte. *~+~* Hätte Tobias nur einen Moment erübrigen können, wäre ihm aufgefallen, dass es eine bedenkliche Häufung von Premieren zu verzeichnen gab, wenn er mit Korbinian zusammentraf. Dass ihm jemand ins Gesicht sagte, er MÖGE diesen rücksichtslosen, aufgeblasenen, egoistischen Blödarsch, und dass ihm ausgerechnet in DIESEM Augenblick bewusst wurde, es könne sich entsetzlicher Weise um die Wahrheit handeln, das musste ja einen Kurzschluss auslösen! Weshalb er mit einem unartikulierten Wutschrei sein Kopfkissen packte und es als Schlagwaffe einsetzte, damit auf Korbinian eindrosch, der zum Bett zurückwich, rücklings auf die Matratze purzelte und sich so in recht bequemer Lage fand, um ordentlich mit gesteppter Baumwoll-Power bepflastert zu werden! "Tobi, was treibst du denn da?!" Das Teegeschirr noch auf dem Tablett erstarrte seine Mutter auf der Schwelle, woraufhin Tobias erkannte, dass seine momentane Position, rittlings auf Korbinians Hüften hockend, vor Zorn erhitzt, das Schlafanzugoberteil von seiner Ausholbewegung hochgeschoben, zu Fehlinterpretationen einlud. "Nach was sieht es denn aus?!" Kreischte er in pampiger Nachvorneverteidigung. Das Tablett auf seinem Schreibtisch abladend wandte sich seine Mutter ihm zu, eine steile Unmutsfalte in der Stirn. "Deine Unbeherrschtheit ist GENAU der Grund, warum du ständig Probleme hast! Ohne diese Impulsivität..." Tobias schleuderte das Kopfkissen vehement gegen die angelehnte Zimmertür und kletterte von Korbinian herunter, die Fäuste geballt. Mit vor Zorn überschlagender Stimme stellte er sich der Auseinandersetzung. "Dann was?! ICH bin also schuld?! Dass der Scheißkerl mir die Zunge in den Hals gesteckt hat, was eine KATASTROPHE ist, während alle anderen unter der Liebesdroge nicht verantwortlich sind?! Ist NATÜRLICH auch meine Schuld, dass dieser Mist GEFILMT und rund um den Globus verbreitet worden ist! ICH bin auch selbst schuld, dass der Scheißer mich verprügelt hat, klar! ALLES meine Schuld, schön! PRIMA!" "Wer hat dich verprügelt? Warum hast du das nicht erzählt?!" Vor Wut schluchzend brüllte Tobias zurück, von der konsternierten Haltung seiner Mutter keineswegs abgekühlt. "WOZU denn?! Interessiert doch keinen! ALLES MEINE SCHULD, Problem gelöst! Kann ich mir das Gequatsche sparen!" "Wir sind deine Eltern, SELBSTVERSTÄNDLICH interessiert das uns! Wir haben uns IMMER für dich eingesetzt..." "Oh ja! Ihr hattet ja auch keine Wahl! Wir sind ja leider verwandt, da MÜSST ihr euch ja mit eurem Loser-Sohn beschäftigen! Aber ihr habt nicht mal GEFRAGT, als das Scheiß-Video überall zu sehen war! Für euch war's doch klar: der Loser ist auch noch schwul!" "Das reicht jetzt. Du tust uns unrecht, und das weißt du auch. Wir werden heute Abend darüber reden, wenn dein Vater vom Fußball zurück ist." Tobias bebte vor mühsam gebändigten Gefühlen, während seine Mutter sehr steif und beherrscht sein Zimmer verließ und betont leise die Zimmertür ins Schloss zog. "Ja, TUN wir das!" Brüllte er das Türblatt an. "Das WIRD mein Leben aber verändern! Als ob ich dann nicht mehr eine totale ENTTÄUSCHUNG für euch wäre!" Er hasste das Schluchzen in seiner Kehle, die bittere Galle in seinem Mund. Sie hatten nicht die geringste Ahnung von seinem Leben oder wer er eigentlich war! IMPULSIVITÄT, wie lächerlich! "Tobi..." "Geh weg!" Mit dem Ärmel verteilte er Tränen und zog unmanierlich die Nase hoch. "Das geht nicht." Antwortete Korbinian leise. "Denn wir sind ja nicht verwandt und deshalb habe ich keine unlösliche Verbindung zu dir." "Was du wieder für'n Mist laberst!" Fauchte Tobias aufgebracht. "Die da würden sich drum reißen, nicht mit mir verwandt zu sein!" Natürlich war es ungerecht, aber er WOLLTE ungerecht sein! Alles andere half ihm ja auch nicht weiter! "Ich möchte unsere Versuchsreihe fortsetzen." Offenbar litt Korbinian an Realitätsverlust! Tobias fegte auf blanken Sohlen herum, fixierte ihn aus verquollenen Augen, aufgeladen durch all die angestauten Gefühle, die nur zum Teil durch seinen Wutausbruch in ihrer Vehemenz gedämpft worden waren. "Du spinnst ja wohl komplett! Such dir einen anderen Deppen, der sich von dir manipulieren lässt! Häng dir ein Schild um, dann wird sich bestimmt einer finden, der auch superschwule Experimente ausprobieren will!" Korbinian stand nun direkt vor ihm, unbeeindruckt von der erlebten Szene oder von den verletzenden Äußerungen. "Ich stelle mir eher einen Zeitreihenversuch gleicher Qualität vor, zur Beobachtung von möglichen Veränderungen über eine längere Distanz." Erläuterte er gefasst. Nachdem Tobias einen LAAAANGEN Augenblick zur Übersetzung benötigt hatte, lachte er bitter auf und wandte den Kopf ab. Korbinian wollte also weiter Sex mit ihm haben, einfach so?! "Gibt's nicht da irgend so eine Statistik, von wegen jeder Zehnte ist schwul? Such dir da einen Bums-Buddy aus!" Damit pflückte Tobias seine Bettdecke vom Boden, rollte sich auf seiner Matratze zusammen und wickelte sich in sie ein. Die ganze Scheiß-Welt konnte ihn mal! *~+~* Während sich Tobias in seiner Decke bis auf ein Luftloch vollkommen verpuppt hatte, nippte Korbinian gelassen an seinem Tee, schloss dann den Fensterflügel, da es unangenehm kalt wurde, um sich gemächlich umzusehen. Bett, Schrank, Schreibtisch, Drehstuhl, etwas älterer Rechner samt Multifunktionsgerät und bescheiden dimensioniertem Flachbildmonitor, alles sehr normal. Oder wie in Möbelhauskatalogen. In den zahlreichen offenen Regalen drängten sich dagegen Buchrücken an Buchrücken, keine CDs, keine Videos, keine Computerspielhüllen. Er strich langsam an den Regalreihen entlang, studierte die sorgsam in Folie eingeschlagene Romansammlung der Jack Cougar-Reihe, goutierte die breite Auswahl der Lektüre, von klassischen Abenteuergeschichten (teils stark abgegriffen, in altertümlicher Ausstattung mit vergilbendem Papier) bis zur bekannten Kindersachbuchserie. "Ooooh!" Begeistert fischte er einen dicken Folianten mit wolligem Mammut als Führer durch physikalische Gesetze heraus, apportierte das Kopfkissen, platzierte es vor Tobias' Bett und lehnte sich dort in bequemem Sitz an, blätterte hingerissen, was dem eigentlichen Besitzer seiner Lektüre keineswegs entging. Außerdem wurde Tobias in seinem Kokon langsam ziemlich warm, auch das Herumliegen schmerzte zunehmend. "Kannst du nicht endlich abhauen?!" Zündete er einen Versuchsballon. "Bedaure, aber ich weiche nicht, bis wir uns richtig ausgesprochen haben." Korbinian blätterte gelassen um. "Was gibt's da noch zu reden?!" Blökte Tobias durch sein Luftloch, im selben Augenblick die Steilvorlage erkennend. "Oh, eine ganze Menge sogar, quasi von Anfang an." Schon drohten epische Ausführungen. Mit einem frustrierten Wutschrei entspulte sich Tobias aus seiner Schlafrockrolle, setzte sich auf und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. "Fass dich bloß kurz!" Drohte er finster, immer noch nicht sonderlich reizvoll anzuschauen in seinem desolaten Zustand. Korbinian klappte das großformatige Buch zu, drehte sich zu Tobias um, sah zu ihm auf. "Angefangen hat es mit dem Video." Tobias verdrehte die Augen, was für eine Überraschung! "Ich wusste gar nichts über dich, trotzdem ging mir das nicht aus dem Kopf." Korbinian blieb auf seiner Schiene. "Da wollte ich natürlich wissen WARUM!" "Ich auch." Grummelte Tobias sarkastisch. "Genau!" Korbinian ignorierte souverän die Gehässigkeit. "Wenn ich dich gar nicht kenne, was fasziniert mich dann so? Es musste folglich etwas Chemisches, Instinktives sein!" Detektierte er seine Schlussfolgerungen. "Da kann es sich zuerst mal nur um optische Reize handeln, richtig? Also die erste Option: sexuelle Attraktion!" Tobias schnaubte. "Und wieso verguckst du dich nicht in den Scheißer Jo?!" Korbinian widmete ihm einen unangenehm langen, prüfenden Blick, bevor er antwortete. "Er ist nach meiner Auffassung in ÜBERHAUPT keinem Aspekt akzeptabel." Dem konnte man kaum widersprechen, vor allem nicht aus eigener Erfahrung. "Ich habe mir also überlegt, wie ich meine Theorie überprüfen kann." Fuhr Korbinian fort. "Denn üblicherweise interessiere ich mich nicht so stark für meine Mitmenschen, nicht jedenfalls in physischen Bereichen." Schmunzelte er hintergründig. "Du warst scharf auf mich?!" Entsetzte sich Tobias fassungslos. Der Kerl hatte doch den Verrückten Professor ohne Unterleib gegeben, aber hallo! "Wäre unhöflich gewesen, mit der Tür ins Haus zu fallen." Beinahe schnurrte Korbinian. "Immerhin bestand ja die vage Möglichkeit, dass du bereits anderweitig engagiert warst." "Mit Jo?! MIT DEM?!" Das empörte Tobias über alle Maßen, er löste prompt seine Verweigerungshaltung und sprang auf die Knie. "Hast ja eine TOLLE Meinung von mir!" "Ich kannte dich ja gar nicht." Konterte Korbinian gelassen. "Deshalb war es mir ja so wichtig auszuloten, was mich so anzieht." Tobias funkelte grimmig herunter, die Fäuste geballt. "Fein, das wissen wir ja jetzt, also kannst du nun abzwitschern!" "Ich bin gerade deshalb HIER, weil ich die Antwort gefunden habe. Dass ich DICH sehr mag, nämlich." Korbinian stützte sich mit beiden Armen auf die Matratze und rückte so näher an Tobias heran. "Davon hat dieser NEBENEFFEKT aber nicht viel gemerkt!" Erinnerte Tobias ätzend, wich entschieden keinen Millimeter zurück. Korbinian wirkte erstaunlich verlegen. "Ich gestehe, ich war ein wenig nervös im Angesicht drohender Ablehnung." "PAH!" Fauchte Tobias aufgebracht. "Du bist NIE nervös! Du hast das doch alles geplant und manipulierst mich ständig, damit ich dir nicht mal ordentlich die Fresse poliere!" "Na, das hat ja vorhin perfekt funktioniert, nicht wahr?" Korbinian zupfte grinsend am Kopfkissen. "HHHRRRRR!" Die Arme gegen den Körper schlagend detonierte Tobias erneut, federte auf seiner Matratze herum. "Du machst mich echt WAHNSINNIG! Ich kann dich nicht ausstehen, klar?!" "Ich bin der guten Hoffnung, dass ich das ändern kann." Lächelte Korbinian ihm nicht im Geringsten abgeschreckt ins krebsrote Gesicht. Tobias hielt dem verschmitzten Feixen noch einen aufgebrachten Moment länger stand, dann ließ er sich rücklings auf sein Bett plumpsen. Bei diesem Deppen waren wirklich Hopfen und Malz verloren! *~+~* Mit rechten Dingen ging's garantiert nicht zu! Wie sonst wäre es Korbinian gelungen, ihn nicht nur zum Anziehen zu bewegen, sondern auf einen SPAZIERGANG nach draußen in saukaltes, nasses Winterwetter zu entführen! Dass sie niemand aufhielt, war dem Notizzettel zu verdanken, auf dem existentialistisch-philosophisch [Bin WEG!!] zu lesen stand. Korbinian amüsierte sich innerlich über diese unzweideutige Verwandtschaft von Mutter und Sohn, der missmutig neben ihm her schlappte und ärgerlich auf den Tropfenvorhang an seiner Kapuze schielte. "Ich verstehe immer noch nicht, was du ausgerechnet an mir magst!" Das klang keineswegs nach einer wenig subtilen Methode des Komplimentefischens. "Bis jetzt so ziemlich alles." Antwortete Korbinian rundheraus. "Klar!" Ein ätzender Seitenblick streifte ihn abschätzig. "Ich bin total unfähig, ungeschickt, ungesellig..." Korbinian räusperte sich höflich, um die Litanei der Un-Eigenschaften zu unterbrechen. "Hältst du es unter Umständen für möglich, dass deine Wahrnehmung ein wenig getrübt ist?" Schon drechselte er wieder, um Tobias aufzustacheln. "Wie, getrübt?!" Schimpfte der prompt herausgefordert. "Das hast du ja wohl alles selbst gesehen!" "Nun, es wäre doch vorstellbar, dass eine vorgefasste Meinung durch die Erwartung, sie bestärkt zu sehen, wie eine Art Selektion Wahrnehmung und Erinnerung verändern kann." Spreizte Korbinian metaphorisch das Gefieder des weisen Adebar. Tobias blieb stehen, bereits kochend, weil ihm zugemutet wurde, diese Verschnörkelungen glattzubügeln, um den zweifellos heimtückischen Sinn herauszuschälen. "Reden wir jetzt gerade wieder von dieser selbsterfüllenden Prophezeiung?! Warum sollte ich denn ungelenk sein wollen?! Findest du es etwa TOLL, sich dauernd aufs Pflaster zu legen?!" Schon befand sich Korbinian auf dem gewünschten Gleis. "Das kommt darauf an. Wenn du erwartest, perfekt zu sein und nie zu stürzen, so handelt es sich um eine unrealistische, ja geradezu lebensfeindliche Vorstellung." "Hä?!" Diese eloquent formulierte Nachfrage veranlasste Korbinian zu einer Erläuterung. "Sieh mal, Perfektion ist in einer lebendigen Welt nicht möglich. Wenn etwas perfekt wäre, gäbe es keine Entwicklung mehr, auch keine Chance der Veränderung. Das Leben besteht jedoch aus Veränderungen! Evolution, Metamorphose! Fehler, oder eher Abweichungen, sind lebensnotwendig! Sonst stirbt man in Perfektion und vollständig aus." "Auf die Nase zu fallen ist ein evolutionärer Vorteil?!" Tobias zweifelte diese Theorie aus empirischen und persönlichen Gründen an. Korbinian konnte man dennoch nicht einfach beikommen. "Es bietet dir die Möglichkeit, deine Erwartungen und deine Erfahrungen gegenüberzustellen! Fällt nie jemand hin? Doch, das kommt vor! Falle ich häufiger hin als andere, oder vergesse ich bei dieser Vorstellung all die Gelegenheiten, wo ich NICHT hinfalle? Und wenn ich gestürzt bin, frage ich dann nicht nach der Ursache?" "Wow, sehr tiefsinnig. Ich als Fallobst bin also Träger des Prädikats 'besonders lebensnotwendig ausgerüstet', oder wie?!" Gehässig, sarkastisch, bissig und geradeheraus. Korbinian grinste. Tobias befand sich unzweifelhaft auf dem Weg der Besserung! "Wenn du die Gelegenheiten nutzt und dir überlegst, warum es dich gerade so abrupt an den Busen von Mutter Natur gezogen hat: absolut!" "Pff!" Zischelte Tobias durch die Zähne. Das klang doch verdächtig nach einem dieser dämlichen Glücksratgeber, die er in der Bibliothek mit Verachtung strafte! "Stimmt vielleicht mit DEINER Wahrnehmung was nicht?" Ging er selbst zum Angriff über. "Du hast selbst gesagt, dass du kaum was über mich weißt, und, nur weil irgendwelche komischen Hormone sich vertragen, heißt das ja noch nicht, dass du MICH magst! Kann doch sein, dass DU DIR was vormachst und eine Vorstellung von mir anschwärmst!" So, und DAS sollte der Herr Professor mal ausknobeln! Tatsächlich dachte Korbinian einige Schritte lang über diese Theorie nach. Sie gereichte jedoch nicht zur Abschreckung. "Unmöglich ist es nicht, dass ich mir über Dinge eine falsche Vorstellung mache, die ich noch nicht von dir weiß." Gab er unbeeindruckt zu. "Andererseits habe ich dich in zahlreichen Situationen kennengelernt, die durchaus ein zutreffendes Bild von dir in meinem Kopf formen, und dieses Bild mag ich sehr." "Sagtest du schon, mehrfach sogar!" Knurrte Tobias verlegen. "An deiner Stelle würde ich mich mit meinem MIESEN Geschmack nicht auch noch so brüsten!" Korbinian lachte, bevor er stehen blieb und Tobias ansah, der ihn irritiert beäugte. "Ist es denn wirklich undenkbar, dass jemand dich so sehr mag wie du dich selbst?" *~+~* "Ich muss ja wohl mit mir auskommen, da habe ich keine große Wahl!" Fauchte Tobias nach einem Schreckmoment, ging eilig auf Distanz. Der verflixte Kerl zielte gemeingefährlich scharf mit seinen trügerisch harmlosen Bemerkungen! Außerdem mochte er sich nicht gerade besonders! Wenn er etwas ändern könnte...! "Perfektion ist außen vor." Korbinian mischte sich ein. "Also FEHLT immer etwas. Willst du eine neue Fähigkeit erlangen, musst du möglicherweise eine alte aufgeben. Jeder Wunsch hat einen Preis." "Mangels Geist aus der Lampe steht das ohnehin nicht zur Debatte!" Bremste Tobias Gedankenspiele für alternative Ichs aus. Das Original reichte ihm schon! "Nun, in diesem Fall: gekauft wie gesehen!" Zwinkerte Korbinian und schnappte schneller zu, als Tobias' Alarm anspringen konnte, entführte eine kalte Hand aus der Jackentasche. "Ich mag dich." Versicherte er mit unnachgiebigem Griff. "Bitte lass mich dein Freund sein und häufig Zeit mit dir verbringen!" "Aber ich weiß gar nicht, was man da so macht!" Platzte Tobias in seiner Bedrängnis heraus, bevor er heftig errötete und rasch den Kopf abwandte. Korbinian drückte die kalte Hand aufmunternd. "Das lassen wir uns einfach gemeinsam einfallen. Wenn uns gar keine Idee mehr kommt, dann bedienen wir fußballerische Spezialitäten und üben Manndeckung." Tobias gab ein ersticktes Röcheln von sich, dann konnte er einen Lachanfall nicht mehr unterdrücken. Wenn er DAS seinem Vater gegenüber andeutete, dem Fußball-Fan seit frühester Kindheit, als neues Talent seines sonst so 'motorisch herausgeforderten' Sohns...!! Der Autor dieser frech-frivolen Empfehlung lächelte vergnügt. SO mochte er Tobias noch ein wenig mehr. *~+~* Eine Menge Katastrophen waren schlichtweg ausgeblieben. Tobias war nicht nach mehr als fünfstündigem Aufenthalt an der frischen (oder eher nadelpiekseisigkalten!) Luft kontaminiert in sich zusammengesackt, nicht mal seine gewöhnlich unsortierten Körperglieder hatten protestiert. Er hatte sich nicht gelangweilt, belagert oder genervt gefühlt. Beim Zwiebelschneiden gab es kein Blutbad, die Dosentomaten explodierten nicht an den Kacheln und rund um die große Pfanne, die Nudeln verwandelten sich nicht in einen kompakten, matschig-klebrigen Ball. Das Geschirr wanderte vollständig und unzerstört in die Geschirrspülmaschine (Manifestation der Abneigung seiner Mutter gegen SPÜÜÜLHÄNDE aus Werbezeiten IHRER Mutter, samt grässlicher Gummihandschuhe!). Jetzt waren sie doch, ziemlich satt, auch ziemlich müde, Suppenkoma, quasi. "Ich brauch jetzt ne Siesta." Verkündete Tobias, sich die Augen reibend. Korbinian, im Leih-Jogginganzug, da ihre Hosen und Jacken vom Ausflug feucht und angeschmuddelt im Badezimmer abtropften, wirkte auch ein wenig gebremster. "Soll ich gehen?" "Lass mal." Entschied Tobias blinzelnd. "Ist gerade richtig hässlich draußen." Obwohl sich das Wetter eigentlich nicht sonderlich geändert hatte. Er schlug die Bettdecke zurück und klopfte sein Kissen durch, das mittlerweile etwas zerrupft wirkte, deponierte es dann exakt in die Matratzenmitte am Kopfende. "Hau'n wir uns aufs Ohr." Brummelte er und rollte sich, um mit guten Beispiel voranzugehen, schon mal Richtung Wand. Korbinian lächelte, dann kroch er auch unter die einladende Bettdecke, seufzte leise. "War doch richtig spaßig heute, nicht wahr?" "Hmmm." Grummelte Tobias nonchalant und wunderte sich über sich selbst, allerdings nicht sonderlich lange, denn dann gingen tatsächlich die Lichter aus. *~+~* Ausgeschickt, den jugendlichen Delinquenten zur Aussprache vorzuladen, stapfte Tobias' Vater die Treppe hoch. Unter der Zimmertür drang kein Lichtschein hervor, was ungewöhnlich war, denn üblicherweise pflegte sein merkwürdiger Sohn unentwegt zu lesen. Andere Eltern mochten sich über Lärm, Unordnung, Invasionen von pubertierenden Horden und Verwüstungen der Küchenregion beklagen, da konnte er nicht mitreden, was irgendwie verstörend wirkte. Als er die Klinke herunterdrückte und das in der Dämmerung versinkende Zimmer betrat, erblickte er ZWEI Haarschöpfe, die unter der Bettdecke hervorragten, einzige Anzeichen der müden Krieger, die nur anhand des eingeräumten Geschirrkorbs in der Spülmaschine als nicht verhungert eingestuft werden konnten. Unschlüssig stand er einen längeren Augenblick neben dem Bett, machte kehrt, schob geistesabwesend den Mammut-Folianten in die bescheidene Regallücke, bevor er den Raum wieder verließ. Nun ja. So war das also. *~+~* Als wohlerzogener Mensch hätte Korbinian sich durchaus vom Abendbrottisch der Familie entschuldigen müssen, immerhin war ihm ja auch bekannt, dass noch ein Schlagabtausch bevorstand, allerdings entwickelte die Realität eine gänzlich andere, viel gemächlichere Dynamik. Während Tobias nämlich murrend feststellte, dass ihre geflaggte Kleidung über der Badewanne noch immer klamm war (und sich die Spuren keineswegs würden abklopfen lassen), stellte sich Korbinian artig dem Haushaltsvorstand vor und bedankte sich für die zuvorkommend (wenn auch ungefragt) geborgten Kleidungsstücke. Wegschicken konnte man ihn nicht, außerdem bestand Tobias darauf, dass Bratäpfel in der Mikrowelle fabriziert werden sollten, worauf sich Korbinian verstand. Die Kernhäuser mit entsprechendem Stanzgerät zu entfernen, geriet keineswegs zur unfreiwilligen Amputation ungelenker Gliedmaßen, was beide Elternteile verblüffte, erstaunlicherweise wirkte sogar ihr stoischer, maulfauler, missmutiger Sohn heiter und vergnügt! Die Twilightzone ließ grüßen! Am Tisch mümmelte man nun gemeinschaftlich Apfeltrümmer mit Mandelsplitter, Erdnussbuttersößchen und gehackten Datteln. Speziell, aber sehr lecker. "Also, wegen vorhin, da hab ich übertrieben." Tobias spülte mit Kräutertee nach. "Ich weiß, dass ihr mich unterstützt, auch wenn's häufig kein Zuckerschlecken ist." Er zuckte unbehaglich-verlegen mit den Schultern. "Aber wieso hast du nichts gesagt?! Er ist verprügelt worden!" Tobias' Mutter betrieb unerbittlich Aufklärung. "Von wem?!" "Von dem Kerl aus dem Video!" "Wieso?! Spinnt der?!" Tobias beäugte seine Eltern. Wurde das Gespräch jetzt zum Selbstläufer? "Du musst uns so was doch sagen!" Nun hatte er die Aufmerksamkeit seines Vaters wieder. "Das geht ja wohl nicht an, auch wenn ihr, nun ja, irgendwie..." "Sind wir nicht!" Empörte sich Tobias aufgebracht. "Der ist ein Scheißkerl! UND er hat angefangen! Ich wollte das gar nicht! Dem Mistkerl gehe ich sonst weiträumig aus dem Weg, damit er keine Gelegenheit hat, mich zu schikanieren!" "Wieso verprügelt der dich dann?! Oh, hast du ihm mit einer Anzeige gedroht?" Die Vorstellung schien seinem Vater zu gefallen. "Quatsch, dazu kam ich gar nicht!" Schimpfte Tobias. "Der ist gleich auf mich los, wollte das noch wiederholen, wenn Korbinian mir nicht geholfen hätte!" "Der wollte dich noch mal verdreschen?!" "Du hast Tobi geholfen?!" "Der ist ein notorischer Prügel-Arsch!" Nachdem das Durcheinander aufgebrachter Stimmen sich gelegt hatte, fokussierten sich alle Blicke auf Korbinian. Der lächelte amüsiert über die GAR NICHT IMPULSIVE Familie. "Ad 1, Jo ist tatsächlich ein ausgemachter Unsympath, der seine möglicherweise homosexuellen Tendenzen durch unmotivierte Gewaltausbrüche zu kaschieren versucht, ad 2, ich war lediglich zur Stelle, als Jo gegen meine Umhängetasche schlug und ad 3, angesichts der gebrochenen Knochen in seiner Hand wird mutmaßlich für eine längere Dauer keine Gefahr mehr von Jo ausgehen." "..." "Der redet immer so. Wie'n Buch." Bemerkte Tobias schließlich in die ausufernde Stille, verdrehte dabei die Augen. "Und du bist jetzt Tobis Freund?" Pirschte sich sein Vater vorsichtig an das gefährliche Thema an. "Das hoffe ich doch sehr." Antwortete Korbinian munter. "Ich mag ihn nämlich und es macht mir viel Spaß, Zeit mit ihm zu verbringen." Während Tobias aufstöhnend die Hände an den Kopf schlug, wechselte unisono die Blickrichtung seiner Eltern auf ihn. Wer war dieser Junge, und warum hatte er sich Tobias' Körper geliehen?! Korbinian lachte leise. "Wir haben viele Gemeinsamkeiten." Erläuterte er. "Da versteht man sich einfach gleich gut." "Du spielst nicht zufällig auch Fußball?" Vergeblich rang da eine heimliche Hoffnung um Erfüllung. "Oh, nein, außer Schulsport mache ich nichts. Nun, ich bewege mich an der frischen Luft, wenn ich für die Apotheke, in der meine Mutter arbeitet, nach Schulschluss Medikamente ausliefere, aber sonst, das muss ich gestehen, beschränkt sich mein motorisches Training auf Heimarbeiten im Schuppen meines Großvaters hinterm Haus." "Oh, hmmm, und dein Vater ist auch kein Fußballfan, wie?" "Papa!" Fauchte Tobias mahnend, immerhin ging es ja um seinen Freund und nicht darum, dass sein Vater NOCH EINEN bekloppten Lederballtreter zum Austausch fand! "Das kann ich gar nicht beantworten." Korbinian schmunzelte über den durchsichtigen Versuch, Tobias doch noch irgendwie zu den Kickern zu locken. "Mein Vater lebt nicht bei uns, sondern besteht beharrlich darauf, seine Ehe fortzuführen, deshalb kenne ich ihn nur dem Namen nach." Hoppla. Selbst Tobias stutzte entgeistert, aber andererseits, so viel wusste er von Korbinian ja auch nicht. »Hast dir auch keine große Mühe gegeben, wie?! Schäm dich! Wie war das noch mit der eingeschränkten Wahrnehmung?! Alle anderen sind Egoisten außer ich?!« »Ach, Schnauze!« "Oh, Verzeihung, das war jetzt sehr unhöflich." Sprang Tobias' Mutter ihrem höchst verlegenen und darum temporär sprachlosen Mann bei. "Keineswegs." Korbinian lächelte unangestrengt. "Ich darf Ihnen versichern, dass dieser Umstand in meiner Biographie nicht mehr als eine Fußnote darstellt. Ich mag zwar als Sportler keine Meriten verdienen, doch im häuslichen Bereich bin ich durchaus vorzeigbar." Tobias hatte Mühe, ein Feixen zu kontrollieren. Da konnten seine Eltern mal sehen, wie es war, sich mit Korbinian zu unterhalten, wenn der solche Sprüche raushaute! "Er kann defekte Einhandrührer wieder flicken!" Dolmetschte er krähend. "Auch das." Bestätigte Korbinian souverän. "Oh, und ihr seid jetzt zusammen?" Tobias' Mutter erholte sich sehr viel schneller von all diesen Eröffnungen, andererseits hatte sie auch noch lebhaft die einseitige Kissenschlacht des Vormittags vor Augen, wo ihr antriebsloser, zurückgenommener Sohn offenbar plötzlich Temperament, Initiative und Engagement entdeckte! Wenn auch fehlgeleitet, zugegeben. Korbinian wandte sich demonstrativ Tobias zu, ganz Erwartungshaltung. »Sind wir?« Hing unausgesprochen in der Luft. Tobias, noch den Triumph über die Verwirrung der Eltern auskostend, nun im Scheinwerferlicht, errötete heftig, verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und grummelte. "Und wenn?!" "Oh, nun ja, das ist nett." "Nett?!" Schon stand er, der Stuhl polterte auf den Fliesen zurück. "Wieso nett?! Was passt denn jetzt schon wieder nicht?! Korbinian ist ja wohl MEGA in Ordnung!" "Abgesehen von der Tatsache, dass es sich bei mir um ein männliches Exemplar unserer Spezies handelt." Warf das Objekt der ungewöhnlichen Lobrede sanft ein. "Na und?!" Nun baute sich Tobias neben ihm auf, funkelnd, die Fäuste geballt. "Ah, ist das jetzt der Punkt, wo wir über die Scheißhaus-Theorie von Oberarsch Jo diskutieren?! Meine gemeingefährlichen Verschwulungspheromone?!" "Ich meine mich zu erinnern, dass von Viren die Rede war." Korbinian lächelte gelassen hoch. "Der Unsympath ist leider aus wissenschaftlicher Sicht eher unbeleckt, was seinen Kenntnisstand biologischer Phänomene betrifft." "Ist doch wurscht!" Tobias wollte sich nicht auf die Spezifika von Viren, Bakterien, Pheromonen oder Eiweißbotenstoffen oder sonst was konzentrieren, hob die Fäuste. "Lenk hier jetzt nich ab!" Korbinian fing seine Handgelenke mühelos ein, grinste herausfordernd, die dunkelblauen Augen blitzten. "Nach meiner privaten, nicht unparteiischen Auffassung ist es die Gesamtkomposition deiner Persönlichkeit und Erscheinung in dieser stofflichen Form, die mich fasziniert und zu dir zieht." Schnurrte er. "Buah! BÖRKS! Kitsch-Alarm!" Kreischte Tobias nach einigen hastigen Herzschlägen von Panik zu DEFINITIV zu verbergender Rührung. Trotz dieser gedrechselten, phrasengespickten Antwort leuchtete für ihn glaubhaft dahinter die Botschaft, dass er gemocht wurde, ohne sich ändern zu müssen. "Also, für mich geht das in Ordnung." Brachte sich Tobias' Mutter in die Auseinandersetzung ein. Dieser Korbinian war zwar ein komischer Bursche, aber wenn er sich so gut mit Tobi verstand und aus dem maulfaulen Stockfisch wieder den vorwitzigen Lauser hervorlockte, den sie nur mit Mühe aus dem Sandkasten expedieren konnte, dann passte es! Tobias' Vater, noch immer unter Schock, beäugte die drei Augenpaare glasig, zuckte hilflos mit den Schultern und murmelte überfordert. "Ich hab keine Ahnung." "Schön, ich auch nicht!" Tobias gab den Versuch auf, seine Handgelenke frei zu rangeln, denn Korbinian konnte erstaunlich eisern zupacken und dann auch noch wie ein Platinbuddha verharren. "Finden wir's einfach raus. Jetzt hätt ich gern ein paar Kekse, der Tee war so trocken!" *~+~* "Leute sind schon komisch." Murmelte Tobias, während er um sich sah. Auch ohne Video, blöde soziale Netzwerke oder anderen Schmonsens hatte sich offenbar herumgesprochen, dass Korbinian jetzt sein bester Freund war. Oder noch mehr, was man nicht so genau wusste, doch Korbinian wurde ungeachtet des gefährlichen Verdachts, von 'Schwuleritis' angesteckt zu sein, keineswegs vermieden oder geschnitten. "Es spielt keine Rolle." Korbinian verstand Tobias' Gedankengänge, lächelte entspannt. "Wir sind ja immer noch wir selbst. Nur die, die nicht wissen, wer sie sind, haben mit anderen ein Problem." "An solche Leute kann ich meine Zeit nicht verschwenden!" Stellte Tobias trotzig fest. "Können wir jetzt? Du wolltest doch noch einkaufen, und ich muss zur Bibliothek!" Lesefutter für die Winterferien, wozu hatte man schließlich nach der dritten Stunde Schulschluss?! "Wir können." Nickte Korbinian artig. Wenn sie erst zur Bibliothek gingen, dann in den Supermarkt, sein voll geladenes Fahrrad nur noch schiebend, könnte er Tobias bestimmt zum Mittagessen einladen, und wenn sie nach getaner Küchen- und Verzehrarbeit dann eine kleine Pause einlegen wollten, stünde auch sein Bett bereit. Vielleicht könnte er auch eine weitere Versuchseinheit seines geplanten langjährigen Partnerschaftsexperiments anschließen... "Komm jetzt!" Energisch zupfte Tobias an seiner Jacke. "Ich werd dich hier nicht küssen, nur weil die Geier darauf lauern!" Damit streckte er gezückten Mobiltelefonen die Zunge entgegen und beförderte Korbinian weiter, der ebenfalls grüßend, wenn auch höflicher, an die Schläfe tippte. "Wo dann?" Erkundigte er sich sittsam, als sie zum Fahrradständer stapften. "Wo was?" Tobias hielt noch immer den Jackenzipfel fest. "Mich küssen." Half Korbinian geduldig aus, zwinkerte. "Ppfff, Lustmolch!" Grummelte Tobias, schmatzte eine kalte Wange schnalzend. "Und, können wir jetzt ENDLICH abschwirren?!" Korbinian lachte. Wer hätte gedacht, dass man mit einem bestimmten Menschen so viel Spaß haben könnte?! Und das ohne Drähte, Kabel und Strom? Das Leben war doch überaus erstaunlich! *~+~* Phase 4 - Konsequenzen: Das Beseelen-Experiment Fukui hing in den Seilen, oder vielmehr den Griffschlaufen. Wäre er nicht sein gesamtes, nunmehr 35 Jahre währendes Leben auf Disziplin und Selbstkontrolle getrimmt worden, hätte er wohl nicht nach seinem Mobiltelefon gegriffen, sondern hätte einfach nur in einem apathischen Zustand auf seinen Bahnhof gewartet, um aus dem Zug zu stolpern, sich auf Autopilot zum Haus geschleppt, in dem er ein Mikroappartement gemietet hatte und wäre anschließend dort ungebremst auf den eingerollten Futon geplumpst, um in komatösen Tiefschlaf zu sinken. Dabei wusste er schon, welche Textnachrichten ihn erwarteten. Sie kamen ausnahmslos von seiner Mutter. Mit brennenden Augen, die selbst die entsprechenden Tropfen nach unzähligen Stunden vor weißen Wänden und Bildschirmen nicht mehr spurlos kurieren konnten, überflog er die Zeichen. Sie war noch immer empört und bodenlos enttäuscht. Ihr einziger Sohn verpasste nicht nur die EINMALIGE Chance dieser seltsamen Liebesdrogenwolke, ER bemerkte nicht mal etwas davon! Alle anderen tummelten sich munter (worüber NIEMAND sprach, immerhin handelte es sich ja um eine Art Rausch, analog der Narrenfreiheit bei zu viel Alkoholkonsum, der IMMER gesellschaftlich erwartet zu komplettem Gedächtnisverlust führte!), nur IHR Sohn zeichnete sich durch Ignoranz und Inkompetenz aus, dabei konnte es seine letzte Chance sein! Fukui kannte diese Ermahnungen schon. Was konnte er zu seiner mageren Verteidigung vortragen? Nun, während der Globus sich seltsamer Befreiung von negativen Gefühlen erfreute, Nächstenliebe und Völkerverständigung erstaunlich unkonventionell und libertär pflegte, hatte er den fraglichen Zeitraum (der mutmaßlichen Wolke) bei der Arbeit verbracht, in einem abgeschlossenen Großraumbüro mit Sicherheitsschleuse, möglichst funktional und monochrom gehalten, ohne Fenster, mit Klimaanlage und ohne jedes technische Gerät von außen. Hier zählte nur, was IM Raum zu erledigen anstand. Fukui arbeitete als Programmierer. Man musste hochkonzentriert arbeiten, Ablenkung konnte zu Fehlern führen, die wiederum sehr viel kostbare Zeit (und natürlich Finanzmittel) verschwendeten. Sie hatten unter Druck gestanden, wie so häufig. Nach oben kuschen, nach unten treten, das bedeutete in seinem Fall, dass der Verkauf mehr versprochen hatte, als das Produkt gerade bot, der Vertrieb drohte mit Vertragsstrafen bei verspäteter Auslieferung, also programmierte, testete und stimmte die Truppe sich ab, ohne große Pausen, ohne Schlaf, ohne Rücksicht auf die eigenen Befindlichkeiten. Nach einer Weile schaltete das Gehirn auf "Rausch" um, man lebte wie im Tunnel, fokussiert auf nur noch ein Ziel. Die Welt verschwand, existierte nicht mehr, einzig der Abschluss der letzten Sequenz zählte. Wer Zombies sehen wollte, konnte sich hier Anschauungsunterricht verschaffen. Fukui hatte es irgendwie nach Hause geschafft. Von der ganzen Aufregung las er später, sich mühsam zurück ins Leben befördernd, in den Nachrichtenmeldungen. Seiner Mutter konnte er das nicht erklären, wenn selbst SIE ihn aufforderte, die Arbeit gefälligst nicht zu ernst zu nehmen! Es war wie eine Droge, die alles andere ausblendete. Wenn er sich nicht in diesem abgeschotteten Raum befand, mit anderen Menschen, ebenso wortkarg und fokussiert, versuchte er mühsam, den Rest eines normalen Lebens zu wahren, Kleidung von der Wäscherei abholen, Wohnung aufräumen und putzen, Futonmatratze lüften, hin und wieder auswärts etwas essen, das frisch zubereitet wurde. Seine Mutter glaubte ihn bei lächerlichen Playboy-Eskapaden, dass er Ausflüchte erfand, um keine Verantwortung zu übernehmen, endlich erwachsen zu werden. Eine seltsame Vorstellung. Zwar hatte er als Student, wie die meisten seiner Kommilitonen, die zum ersten Mal in der Metropolregion lebten, einen Soap-Shop aufgesucht und auch mal eine Stripbar, doch das lag Jahrzehnte zurück. Die regelmäßigen Feierabendexzesse unter Kollegen fielen bei seiner Arbeit auch flach, man arbeitete in Schichten, wurde bei Rückfragen zurückbeordert und kannte von einander keine Details zum Privatleben, nicht unbedingt aus Mangel an Interesse, sondern ihrer Zeitplanung geschuldet. Für Besinnungspausen blieb keine Zeit, gegessen wurde in einem kleinen Raum mit diversen Automaten, hin und wieder konnte man zwischen Schichten auf Faltliegen schlafen oder sich auch in einer winzigen Duscheinheit abbrausen. Selbstredend hätte man kündigen können, alles hinschmeißen. Und dann? Fukui wusste selbst, denn er war durchaus ein umgänglicher, geselliger Mensch, dass ihn die Droge in ihrem Griff hielt. Nicht unbedingt die Erfolgsmomente, wo das Ziel erreicht war, alles wie erwartet funktionierte, nein, es war die Leere. Wenn seine Mutter von Familie schrieb, von Frau und Kindern, einem Heim, dann spürte er eine dumpfe Betäubung, sogar Befremden. Wie sollte denn so ein Leben aussehen? Wann sollte er seine Frau sehen? Und Kinder?! Du liebe Güte, wie sollte das bei seinem Job koordiniert werden?! Wenn er mehr tot als lebendig hin und wieder die Heimatbasis ansteuerte. Der Umstand, dass er weder ein sehnsüchtiges Verlangen nach menschlicher Gesellschaft spürte, noch die Vorstellungskraft aufbringen konnte, sich ein ANDERES Leben vorzustellen, in dem DIESE Arbeit nicht sein gesamtes Bewusstsein bestimmte, bewies ihm unzweifelhaft, dass er süchtig und gefangen war. Die wenige freie Zeit verbrachte er mit Schlafen, mit dem Nachholen wichtiger Dinge, die gewöhnliche Menschen in ihrem Alltag erledigten. Es stellte schon ein Fest dar, im Dachgeschoss das Schwimmbad aufzusuchen, danach essen zu gehen und so lange zu schlafen, wie man wollte! Fukui verdiente zwar leidlich Geld (und alimentierte seine Eltern artig), doch sich mit seiner Arbeit das Leben zu versüßen, dazu kam er gar nicht. Was gerade angesagt war, worüber man diskutierte, was die Feuilletons beherrschte, welche Gimmicks man unbedingt haben musste: das entging ihm völlig. Ja, er musste sich sogar auf die Wäscherei verlassen, die ihm hin und wieder eine Mitteilung in den Karton vor seiner Appartementtür deponierte, für welche Socken oder Unterhosen der Kauf von Ersatz angezeigt war! Für seine Mutter untrügliches Zeichen dafür, dass er eine Frau brauchte, die ihn auf Vordermann brachte. Einer Gefährtin wäre Fukui auch nicht abgeneigt gewesen, denn er hatte, wenn auch lange zurückdatierende Erfahrungen vorzuweisen. Andererseits, Inugawa vom Vertrieb hatte es mal treffend formuliert: da wäre sie ja gleich Witwe, ohne in den Genuss der Versicherungsgelder zu kommen! Fukui hatte immer mal wieder Verabredungen wahrgenommen, sogar ein gruseliges O-Miai zur Eheanbahnung, durch seine Mutter vermittelt, überstanden. Für seine Verhältnisse war es schon ein Erfolg, dass er pünktlich eintraf, sich den Namen der betreffenden Dame notiert hatte, bestenfalls noch ein Bild nachschlagen konnte, dass er nicht zu erschöpft war, um artig Konversation zu betreiben. Jetzt schien ihm das ganz aussichtslos. Worüber sollte man sich auch unterhalten? Was konnte er bieten, der ständig Abwesende, periodisch Totalerschöpfte? »Aber sie gibt nicht auf!« Dachte Fukui und löste sich taumelnd aus der verbliebenen Griffschlaufe. Vermutlich verdankte er seiner Mutter seine für Programmierer nützliche Beharrlichkeit. *~+~* Fukui kannte Ootsuki nur vom Sehen. Üblicherweise hatte er als Programmierer mit Vertretern des Verkaufs nichts zu tun, Hierarchien und Vorgesetzte vermittelten Informationen und Aufträge, die Arbeitsdrohnen setzten lediglich um. Dass sich dieser Umstand nun änderte, schien wohl, er wusste es nicht genau, mit einem Geschäftskonkurrenten zusammenzuhängen. Man musste reagieren, bessere Produkte in kürzerer Zeit herausgeben, die alten Kunden halten, neue an sich binden. Zu diesem Zweck mussten Kundenwünsche 'gedolmetscht' werden, damit die Programmierer ihre Teilaufgaben auch richtig bewältigen konnten. Fukui gehörte zur letzten Schicht, musste auf den Versatzstücken aufbauen, die seine Kollegen bereits fabriziert hatten. Zum Testen des gesamten Produkts war er auf Ootsukis Kritik angewiesen, des schlanken Mannes mit leicht ergrauten Schläfen, fast schulterlangen, kräftigen Strähnen, klugen, nun sehr müden Augen hinter einer modischen Brille, einen beinahe extravagant royalblauen Anzug tragend, der Krawattenknoten nur leicht gelockert. Sie waren allein im Testraum, arbeiteten schon seit Stunden, mit steifen, schmerzenden Gliedern, gegen Erschöpfung ankämpfend. "Ich denke, das war's." Stellte Ootsuki mit rauer Stimme erleichtert fest, drei fehlerlose Komplettdurchläufe. Er drückte Fukuis verspannte Schulter, "schicken Sie die Meldung raus, ja? Ich rufe an, dass die Platte abgeholt werden kann." Umständlich wirkende, aber notwendige Sicherheitsvorkehrungen, nur gesicherte Vernetzung, konsequente Abtrennung von der Außenwelt, Testprogramme nur auf transportablen Speichermedien, die besonders gekennzeichnet waren, versiegelt wurden. "Können wir gehen?" Auch Fukui krächzte, der Mund trocken, die Stimme heiser. Ootsuki lächelte matt. "Werden wir gleich wissen." *~+~* Erst die Platte durch die Schleuse, dann versiegelt in einer speziellen Box, anschließend sie selbst durch die Personenschleusen, damit nichts eingeschmuggelt oder heimlich nach außen getragen werden konnte. Die letzte Bahn war inzwischen längst abgefahren. Fukui schleppte sich in den Waschraum, schöpfte sich immer wieder Wasser ins Gesicht. Was tun? Nach Hause fahren schied aus, also hier auf einer Pritsche ins Koma fallen? Er blinzelte, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Ootsuki! "Alles in Ordnung?" Hörte er gedämpft, taumelte ein wenig und fand sich recht hart abgestützt. "Verzeihung!" Brabbelte Fukui und schluckte hastig lästigen Speichel herunter, verwünschte seine zitternden Knie. Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen? Oder getrunken?! "Langsam." Ootsuki betrachtete ihn aus intimer Distanz. "Schwindlig?" Fukui zog eine kraftlose Grimasse, die als Lächeln fungieren sollte, traute seinem Mund nicht, der möglicherweise doch in blamables Sabbern verfallen könnte! Er spürte den soliden, unnachgiebigen Körper, der ihn abfing, den festen Griff in seine Oberarme, Hüftknochen, die seine eigenen schrammten, erstaunlich süßes Aroma in der Atemwolke, die ihn einhüllte wie eine Liebkosung. »Komisch.« Irrlichterte als Kommentar zu der unerwartet elektrisch aufgeladenen Atmosphäre durch seinen vor Erschöpfung phantasierenden Geist, dann überwand Ootsuki die geringe Distanz zwischen ihnen und küsste ihn mit animalischer Begierde. *~+~* Das Verrückte, ja, Unglaubliche an dieser surrealen Situation war, wie Fukui seltsam losgelöst von sich selbst konstatierte, dass er Ootsukis leidenschaftlicher Attacke Paroli bieten konnte, ebenso ausgehungert, gierig, lüstern, ungehemmt reagierte, wie er sich selbst noch nie erlebt hatte! Da zerrten sie unkoordiniert an Hemdzipfeln, erstickten einander fast, schabten Zähne an Zähnen, rammten sie sich am Waschtisch die Knochen, um schließlich in der kleinen Nische zwischen Handtrockner und Toilettenkabine mit auf die Knöchel gesackten Hosen in purer Notwehr beim gemeinsamen Salutschießen dem Partner handgreiflich zu assistieren. Wäre nicht die Wand solide gewesen, hätte es sie wohl beide taumelnd und ausgelutscht auf die Fliesen geschickt. Finale Runde, Knockout! Ootsuki lehnte mit der Stirn auf Fukuis Schulter, sie trieben sich gegenseitig die Fingerspitzen hart in die Oberarme, eine schwankende, fragile Verbindung, um nicht in sich zusammenzusacken. "Verdammt, ich will dich ficken!" Raunte Ootsuki kehlig an Fukuis Ohr. Der glaubte selbstredend, sich verhört zu haben, etwas Anderes kam gar nicht in Frage. Dann lachte Ootsuki erschöpft auf. "Aber fürs erste Mal bin ich heute zu fertig, Scheiße!" Fukui richtete ihn auf, studierte zweifelnd, aber noch immer von einer seligen Erschöpfung verlockt das attraktive Gesicht. Meinte Ootsuki das etwa ernst? Hatte er Erfahrung?! Dabei konnte er sich doch bei seiner Erscheinung und seinem Job bestimmt vor Angeboten weiblicher Interessenten kaum retten! Oder? Immerhin gehörte er ja zum Vertrieb, und wie die tickten...! "He." Das Zentrum seiner wirren Gedanken, die einander umkreisten, adressierte ihn. "Richten wir uns wieder her, ja?" Ein guter Vorschlag, denn in diesem Zustand wollten sie ganz sicher nicht von Kollegen überrascht werden! Schwankend, voneinander separiert, wurde da hastig abgewischt, halbwegs ordentlich justiert, die 'Tugend' wiederhergestellt. "Da ist ein Businesshotel gleich in Reichweite. Hauen wir uns dort aufs Ohr." Schlug Ootsuki vor, die zwischenzeitlich verlustig gegangene Brille auf dem Nasenrücken montierend. "Ja." Stimmte Fukui zu. Er würde in absehbarer Zeit nicht mehr einen klaren Gedanken fassen können, so viel war unstrittig. In diesem delikaten Zustand des von Überarbeitung ausgelösten Deliriums konnte er sich selbst nicht mehr trauen. Begleitet würde er diese letzte Hürde zur Lebensrettung sicher besser meistern! *~+~* Die eisig kalte Luft sorgte für eine schlagartige Ernüchterung, allerdings nicht in dem vermuteten Ausmaß. Fukui bewältigte an der Seite Ootsukis die tatsächlich kurze Strecke zum Businesshotel, wo man durchaus auf Angestellte vorbereitet war, die es nicht mehr rechtzeitig zum letzten Zug nach Hause schafften. Auch ein Doppelzimmer war noch zu haben, allgegenwärtige Automatenreihen übernahmen das Stillen diverser Bedürfnisse. Da Ootsuki die Buchungsgebühr bezahlte, befleißigte sich Fukui mit schweren Füßen, Leih-Yukatas zu flippern, je ein Übernachtungspaket bestehend aus Flüssigseife, Zahnbürste und Zahnpasta, Mundwasser, Rasierschaum und einem Einwegrasierer. Eher ungelenke Slapstickübungen später war Fukui zumindest unfallfrei dem Anzug entschlüpft, den er wie alle Angestellten tragen musste, auch wenn er selten Außenkontakte hatte. Ootsuki nahm ihm die zerknitterten Teile ab, um sie ohne größere Ungeschicklichkeiten auf einem entsprechend ausgerüsteten Bügel aufzuhängen, dann schubste er Fukui auf ein Singlebett, entledigte sich seiner Brille. "Keine Angst." Murmelte er rau. "Nur ne kleine Nummer als Betthupferl." Damit sie wirklich den letzten Gong hören konnten, der sie aus dem Spiel nahm. *~+~* Fukui erwachte, weil sein Anzug dezent lärmte, der morgendliche Weckdienst. Er stützte sich auf die Ellen, fand sich in einem nur mit Notlicht spartanisch gedimmtem Hotelzimmer wieder, das Bett zerwühlt, er selbst nackt. Ein Bett weiter stöhnte eine heisere Stimme missmutig auf. "Oh, Entschuldigung!" Krächzte Fukui im Reflex, tastete nach dem Lichtschalter am Kopfende, stemmte sich in eine aufrechte Position und stolperte mit protestierendem Kreislauf zu seinem Anzug am Haken, dann stopfte er seinem Mobiltelefon metaphorisch den Schnabel. Erinnerungen an die letzten Ereignisse vor seinem 'Blackout' trudelten ein: ungezügelte Handgreiflichkeiten und Züngeleien im Waschraum, die Fortsetzung hier, bevor bei ihm veritabel die Lichter ausgingen. Fukui fand keine Worte, auch wenn seine Knie sich nicht mehr wie vor wenigen Stunden wie Wackelpudding anfühlten. Eine surreale Erfahrung, kein Zweifel, doch Tagträumerei gehörte nicht zu seinen prägenden Eigenschaften, also bückte er sich, sammelte benutzte Taschentücher und verstreute Socken und Unterwäsche auf. Was tun? Durch die Nähe zu ihrem Arbeitsplatz konnten sie sich Zeit lassen, die ewige, mühevolle Anreise entfiel. Aber noch mal hinlegen? Nun, einschlummern würde er nicht mehr können, auch wenn es sehr genussvoll gewesen war, nicht von Ziffern und Sonderzeichen, die einen wirren Reel vor dem inneren Auge hinlegten, verfolgt zu werden. »Eine Dusche ist fällig.« Schaltete sich seine Vernunft ein, die pragmatisch geprägt Ordnung in sein aus den Fugen geratenes Weltbild schaffte. »Denk auch an frische Wäsche! Frühstück, hmm, was riecht da so?« Fukui, der zerknitterte Hemden aufklaubte, verortete den seltsamen Geruch in Höhe der aufgehängten Anzugtaschen von Ootsuki. Tatsächlich, der zerknüllten Verpackung zu entnehmen entstammte das Aroma einem der populären 'Powerriegel', was ihn an den initiierenden Kuss erinnerte. Offenbar war diese Sorte besonders für Office-Ladys empfohlen, um zu niedrigen Blutdruck, abgesackten Blutzuckerspiegel, Eisenmangel und fehlendes Vitamin D zu korrigieren. Hmmm. Fukui wickelte sich in die kaum genutzte Yukata, angelte sein Mobiltelefon aus der Anzugtasche und schlüpfte in die allgegenwärtigen Puschen. *~+~* "Guten Morgen." Versuchte Fukui es höflich, kauerte sich neben dem zweiten Singlebett auf den Boden und visierte einen wirren Schopf an, der hoffentlich auch noch ein Gesicht offenbaren würde. "Oh, spät?" Krächzte Ootsuki benommen, die Zunge schwer. Es kam Fukui zwar unhöflich und vermessen vor, doch aus einem Impuls heraus schnellte er aus der Hocke, um sich auf die Bettkante zu setzen. "Ich habe hier Wasser und einen der Riegel. Können Sie sich aufsetzen, Herr Ootsuki?" "Versuch's..." Mit einiger Assistenz lehnte der Verkaufsagent gegen das hastig aufgeschüttelte Kopfkissen, rieb sich mit den Handballen die Schläfen. "Wasser." Half Fukui besorgt aus und stützte auch die kleine Flasche ab, damit Ootsuki sich die ersten Schlucke verabreichen konnte. "Danke. Oh, verdammt, mir is echt flau..." Fukui wickelte den ersten Riegel aus seiner Verpackung, brach ein Stück ab und schob es Ootsuki förmlich zwischen die rissigen Lippen. Der kaute mühsam, schluckte, musste sich mit dem Handrücken über die Mundwinkel wischen, um überschüssigen Speichel aufzufangen, doch dann konnte die Fütterungsassistenz beendet werden. "Wenn Sie keine Einwände haben, würde ich gern zuerst duschen." Fukui studierte besorgt die kurzsichtigen Augen mit dem rötlichen Stich und der Waschbär-Umrandung aus tiefen Schatten. "Ich nehme die Hemden mit hinein, dann entknittert sie die Luftfeuchtigkeit ein wenig." "Danke." Nun zuckte ein schwächliches Lächeln auf. "'Tschuldigung, chronische Kreislaufschwäche." "Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie bitte nach mir, ja?" Fukui verspürte ungewohnte Beschützerinstinkte aufmucken, denn der sonst so souveräne Mann wirkte zerbrechlich und hilfsbedürftig. Ein starker Kontrast zu dem ausgehungert-animalischen Treiben vor wenigen Stunden! "Mache ich." Nun artikulierte Ootsuki wieder deutlich, hob die Rechte und ließ sie kurz über Fukuis Wange streichen. "Danke!" Fukui lächelte scheu, denn das Funkeln in den klugen Augen ließ ihn daran denken, wie sehr er sich diesem eigentlich unbekannten Mann geöffnet hatte. "Ich beeile mich." Versicherte er und verschwand samt verschweißter Leibwäsche und den beiden Hemden in der schmalen Duschkabine. *~+~* "Ich muss erst was essen." Stellte Ootsuki kategorisch fest. Leidlich adrett wirkten sie wieder, wenn auch in den Kleidern des Vortags, doch bereits auf dem Gehsteig vor dem Businesshotel bremste er Fukui unerbittlich. "In Ordnung." Signalisierte der Konsens. Erstens hatten sie noch freie Zeit und zweitens wollte er doch ein wenig mehr wissen, wenn er bloß die Courage aufbrachte zu fragen und sich damit als potentiell neugierig-aufdringlich-unsensibel zu erweisen. Ootsuki steuerte zielsicher ein Café an, das der Ausstattung nach zu urteilen hauptsächlich von Frauen aufgesucht wurde. »Verkäufer.« Schmunzelte Fukui heimlich, die hatten ja den Ruf, Schlag bei Frauen zu haben, deshalb fühlte sich Ootsuki wohl auf so einem gefährlichen Parkett auch wohl wie ein Fisch im Wasser! Er allein hätte niemals gewagt, sich in dieser kitschig-plüschig-verspielten Atmosphäre mit all den Nuancen von Rosa und Rot sehen zu lassen. "Die Pfannkuchen und Crêpes sind einfach genial! Genau mein Startfutter!" Erklärte Ootsuki wenige Augenblicke später, als sie einen kleinen Tisch für zwei Personen erobert hatten. Fukui betrachtete Ootsukis Wahl (ZWEI Menüs, sehr opulent) und war dankbar für eine Alternative, die ihm auch erlaubte, sich ohne Zuckerkoma für die nächste Schicht eine halbwegs solide Basis zu legen. Ootsuki aß trotz sichtlicher Begeisterung sehr gesittet, wenn auch mit effizienter Geschwindigkeit. "Hatte schon immer Schwierigkeiten, morgens in Trab zu kommen. Familienerbe." Er zwinkerte. "Ich wette, Sie dachten, ich wäre wegen der liebreizenden Damen mit solchen Lokalitäten vertraut!" Einem gewieften Beobachter wie Ootsuki konnte man nichts vormachen, und Fukui unternahm nicht mal einen entsprechenden Versuch, weil er wusste, dass man ihm stets alles ansehen konnte und er selbst für höfliche Lügen einfach zu ungeschickt war. "Stimmt." Pflichtete er artig bei. "Nun, es heißt, dass alle Herren im Verkauf besonders attraktiv und weltgewandt sind." Ootsuki lachte auf, hinter den Brillengläsern funkelte Amüsement. "Oh ja, und wir sind gleichzeitig auch sehr lose Gesellen mit niedriger Moral, Playboys und Frauenhelden!" Er reduzierte seinen Spott auf ein selbstironisches Schmunzeln. "Wobei ich mich nicht gerade mit Ruhm bekleckert habe, was den Beweis des Gegenteils angeht, wie?" Fukui stutzte verdutzt. Deutete Ootsuki mögliches moralisches Versagen an? "Oh, sind Sie, ich meine, verheiratet?" Stotterte er entsprechend bestürzt. "Nein, nein, obwohl ich tatsächlich mal verlobt war." Ootsuki wedelte kurz mit der Rechten. "Kein Ring, mich zu knechten!" "Dann ist es..., wir sind ja beide..." Fukui führte derartige Gespräche nicht und wusste keinen zusammenhängenden Satz zu formulieren, der der ungewohnten Situation Rechnung trug, dennoch verstand Ootsuki exakt, was er ausdrücken wollte. "Na ja, ich gestehe, dass ich nicht der bindungswillige Typ bin, aber das Klischee als Schürzenjäger ist tatsächlich übertrieben. Unsere Zeitpläne sind mittlerweile so eng getaktet wie bei allen anderen auch, fürs Vergnügen oder Privatleben bleibt kaum noch Zeit." Ootsuki erlegte einen weiteren sirupgetränkten Pfannkuchen. Mit steigender Nahrungsmittelzufuhr beschleunigte sich auch sein Temperament. "Ich glaube, in unseren Jobs muss man BRENNEN, wenn man sich halten will. Da steht alles andere zurück." Ootsuki studierte Fukui aufmerksam auf Zeichen von Zustimmung. "Dann nutzt man eben die seltenen Gelegenheiten, die sich bieten, um sich mal was zu gönnen." Fukui sortierte die geleerten Schälchen auf seinem Tablett, seufzte dann leise. "Aber anderen das zu vermitteln ist gar nicht so leicht." "Nicht, wenn sie nicht demselben Druck ausgesetzt sind." Ootsuki nickte und wischte sich mit der Serviette die Mundwinkel sauber. "Man gilt schnell als Egoist, der nicht erwachsen werden will und keine Verantwortung für eine eigene Familie übernimmt." Fukui nickte unwillkürlich. Ootsuki lächelte. "Sie müssen sich auf dem Markt der einsamen Herzen tummeln?" Natürlich schwang ein gewisser Spott mit, doch keine Häme oder Sarkasmus. "Meine Mutter ist sehr nachdrücklich." Fukui senkte verlegen den Kopf. "Ich habe mich auch bemüht." Nun flüsterte er beschämt. "Doch ich kann mir nicht vorstellen, wie das funktionieren soll." Seine Wangen färbten sich bei diesem ungeheuren Geständnis rot ein. "Verstehe ich gut!" Ootsuki stapelte seinerseits geleerte Tellerchen aufeinander. "Ist ja auch nicht so, als gebe es nur einen Lebensentwurf, oder?" Er lächelte Fukui direkt ins Gesicht, keineswegs das maskenhaft-eingefrorene Servicegrimassieren, das man sonst aufzusetzen hatte. "Danke." Selbst seine Stimme klang ungekünstelt, aufrichtig. "Und danke auch für das offene Gespräch. Unter Kollegen ist das nicht möglich, Hahnenkampf-Syndrom." Ergänzte er, nun wieder spöttisch. Fukui schmunzelte scheu. "Wir reden kaum." "Oder nur in Maschinencode?" Neckte Ootsuki, erhob sich, schlüpfte in seinen Gehmantel. Fukui tat es ihm gleich, bedauerte melancholisch das Ende dieses ganz unverhofften Abenteuers. Als sie die Lobby betraten, wo reger Verkehr herrschte, man rein und raus strömte, ganz fleißig als Ameise/Drohne/Hamsterrad-Bewohner, wandte sich Ootsuki plötzlich zu ihm herum. "Wenn sich die Gelegenheit bietet, darf ich eine Einladung senden?" Sine Worte mischten sich hastig-gedrängt in das unspezifische Geräuschgewusel der hektischen Betriebsamkeit. Die klugen Augen blickten ernst und doch schelmisch, aber auch mit einer Prise von Unsicherheit. "Selbstverständlich! Ich bitte darum!" Unwillkürlich klappte Fukui in eine Verbeugung nach vorne, hoffte, man sehe ihm die Röte nicht gleich an. Andererseits wirkte er bestimmt nicht zu auffällig, denn trotz seines attraktiv-jugendlichen Aussehens war Ootsuki ihm im Alter etwas voraus (vermutete er zumindest) und da schadete Höflichkeit zweifellos nicht! "Ich freue mich." Flüsterte Ootsuki ihm zu, dröhnte laut. "Superbe Arbeit gestern, Fukui, was?! Sind ein PRIMA Team!" Damit auch jeder Vertriebsgenosse in Hörweite wusste, dass hier noch ein Hahn in den Ring zurückgekehrt war! *~+~* Obwohl er weiterhin mit Arbeit eingedeckt war und sich wie gewohnt auf seine Aufgaben konzentrierte, in den 'Tunnel' glitt, der ihn nur auf seinen winzigen Ausschnitt der Realität beschränkte, fand er sich doch, sobald er klapprig und erschöpft das 'Gehege' verließ, vom Großraumbüro in den kleinen Sozialraum wechselte, in Gedanken bei Ootsuki. Wie sollte er es anstellen, etwas mehr über diesen Mann zu erfahren? »Na, so weit ist es schon mit dir gekommen!« Seufzte er über sich selbst. Aus der Selbstumkreisung (aus eigener Wahl, bald schon Gewohnheit und nun verlernter Gesellschaftsfähigkeit) in die 'reale' Welt zu schlüpfen, das fiel ihm sehr schwer. Wie brachte man persönliche Informationen in Erfahrung? Wen konnte man ansprechen, wenn man sich ohnehin kaum unterhielt? Wenn Klats(c)h ein fiktiver Staat in einer großartigen Parallelwelt eines genialen Schriftstellers war, und nicht etwa der Austausch von Trivialitäten über abwesende Personen? Dennoch. Ootsuki konnte nicht anders als 'ungewöhnlich und bemerkenswert' adressiert werden! Der ihn, den Unscheinbaren, wahrgenommen hatte, dann, ungeachtet aller Anhaltspunkte, besser von seinem Vorhaben abzulassen, eine Offerte unterbreitete, die Fukui selbst in Erinnerung noch den Atem verschlug. "Verdammt, ich will dich ficken!" Das hätte ihn abschrecken müssen, ganz zweifellos, wie ein Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf in vollem Guss. Neben dem Besuch eines Soapshops und einer Stripbar konnte er zwar gewisse kopulatorische Erfahrungen mit Frauen vorweisen, doch in aller Selbstkritik stellte sich Fukui kein besonderes Zeugnis aus. Er bemühte sich stets um Aufmerksamkeit, Selbstbeherrschung (in vernünftigem Rahmen), Hygiene und eine zuträgliche Atmosphäre. Gewaltakte, uneingeladene Attacken oder Übergriffe in der Öffentlichkeit, solche Praktiken stießen ihn ab, also tendenziell sehr viel Blümchen und Bienchen, möglicherweise langweilig und rasch routiniert, aber wenigstens ohne vermeidbare Schmerzen, Missverständnisse und allzu große Enttäuschungen. Außerdem fand Fukui keine Worte, um eventuelle Vorlieben, Bedürfnisse oder Wünsche in dieser Hinsicht zu thematisieren. Vielleicht, wenn er sich tatsächlich voll überantwortet hätte, auf eine Beziehung eingelassen, dann wäre die Courage, sich zu erklären, zu sammeln gewesen... Ootsuki also. Der musste Erfahrungen haben, vermutlich wie er selbst während der Studienzeit gemacht, wo man nach ewigen Jahren der Pauk-Fron ENDLICH Mensch, endlich eine PERSON sein konnte, etwas ausleben, was unter dem ganzen Druck förmlich negiert worden war, lediglich als Fußnote existierte. Sollte er sich nun wirklich, in seinem doch reiferen Alter, auf so eine neue Erfahrung einlassen? Vage konnte er sich vorstellen, was da wo, nun, zumindest hinsichtlich der groben technischen Aspekte, anatomisch gesehen. Ihn beschämte die Idee, er möge Ootsuki enttäuschen, wenn der sich wieder mit so viel Enthusiasmus auf ihn einließ, ungeschminkt Begierde offenbarte, sich blind für all die vorhandenen und eingebildeten Defizite zeigte, die jedes Selbstbewusstsein auf Streichholzgröße schrumpfte. Man musste sich ermannen! Und Feldforschung (theoretisch) betreiben, falls sich doch mal die Fortsetzung des Abenteuers bot. *~+~* [Warte in der Lobby] Fukui rieb sich die verklebten Lider, sein Herzschlag beschleunigte rapid. Vor einer Viertelstunde abgesandt, an sein Mobiltelefon. »Woher kennt er meine Nummer?!« Aber das war eben einer vom Vertrieb! Die waren, im Gegensatz zu ihm drögen Code-Knecht, pfiffig! Ob er noch wartete? Oder hatte er aufgegeben?! Hals über Kopf stolperte Fukui zum Aufzug, die letzten Energiereserven zusammentrommelnd. Richtig vorbereitet war er nicht, doch das konnte ihn nicht aufhalten. Das Abenteuer rief! *~+~* Ootsuki war aufgedreht, vermutlich aus ebenso großer Erschöpfung wie er selbst. Im Freistilringen entkleideten sie sich gegenseitig (oder behinderten sich in ihrer ungelenken Hast), plumpsten auf ein Bett, küssten sich wie Ertrinkende, während Hände über klamme Haut mit einer Ahnung von Schweiß strichen. Fukui bemühte sich, den Anschluss zu halten, spiegelbildlich Referenzen zu erweisen, auch wenn er in unterer Position noch mit der tückischen Schwerkraft zu kämpfen hatte, aber Ootsuki, das musste er neidlos anerkennen, überflügelte ihn mühelos, beugte sich über ihn, die beiden vernachlässigten Erektionen im pumpenden Griff, einen treibenden Rhythmus initiierend, der das Bettgestell in dezente Schwingungen versetzte. Die Lider gesenkt hielt er unaufhaltsam im rücksichtsvoll reduzierten Schein der Deckenleuchte auf die erleichternde Explosion zu. Fukui blieb nichts zu tun, als ihn dabei zu unterstützen. Ohne die Augen zu schließen, denn Ootsukis glorioser Parforce-Ritt schlug ihn mit sinnlicher Erotik in den Bann. *~+~* Ootsuki sackte auf ihn, rollte sich schwer zur Seite ab, schwer atmend. Fukui fasste unwillkürlich zu, packte Ootsukis Handgelenk, damit der nicht vom schmalen Singlebett purzelte. Unisono keuchten sie, klebrig, mit nachbebenden Gliedmaßen. "Ich will dich vögeln, bis mein Resthirn platzt!" Krächzte Ootsuki kehlig, legte sich den freien Arm über die Augen. "Irre!" Fukui stemmte sich mit dem freien Ellenbogen in die Matratze hoch, betrachtete den anderen Mann blinzelnd. "Strömst du vielleicht Sexhormon-Wolken aus?" Ootsuki zwinkerte matt, hustete ein Lachen heraus. "Verdammt, ich quatsche zu viel!" Die Beine über die Bettkante schwingend gab Fukui Ootsukis Handgelenk auch frei, erhob sich, stolperte auf wackligen Knien zum kleinen Schrank, wo er Wasser flipperte. Als er zum Bett zurückkehrte, hatte sich Ootsuki auch aufgesetzt, blickte ihn an. Wortlos reichte Fukui die Flasche an, nahm wieder Platz. Als Ootsuki die Flüssignahrung absetzte, hob er die Linke, um durch wirre, feuchte Strähnen zu streichen, mit den Fingerkuppen die markanten Linien nachzuziehen. Wirklich, Ootsuki war ungemein attraktiv! Der legte seinerseits die freie Hand in Fukuis Nacken, zog ihn heran und küsste ihn, leidenschaftlich, aufbegehrend, verlangend. Als ihnen die Luft ausging, mussten sie widerwillig etwas Distanz zulassen. "Ich habe keine Erfahrung." Fukuis Hände glitten selbsttätig über den Torso des anderen Mannes, als müssten sie sich seiner wahrhaftigen Existenz versichern. Seine Stimme blieb rau, fast brüchig. "Aber ich will mich schmutzig machen." In Ootsukis Augen leuchtete ein Funkeln auf. *~+~* Fukui vertraute sich Ootsukis Führung an, erhitzt, mit einem Schweißfilm überzogen und von diversen Körpersäften gezeichnet. Seine laienhaften Versuche der Vorbereitung konnten nicht genügen, doch er weigerte sich, vernünftig, gesittet, maßvoll zu sein. Die Finger in die Matratze gekrallt, auf dem Boden kniend, Speichel aufs Bett tropfend, akzeptierte er Ootsukis derb formuliertes Ziel, der ihn nicht freigab, ihn umklammerte, selbst bei den wuchtig erscheinenden, doch austarierten Stößen immer Nähe suchte, seien es Oberschenkel oder Brustkorb auf gekrümmter Wirbelsäule. Eine Orgie für zwei, von allen Banden losgelöst. *~+~* Das vibrierende Lärmen des Mobiltelefons weckte Fukui. Ootsuki an seiner Seite rührte sich nicht, aufgrund der Enge des zweiten Singlebetts angeschmiegt. Fukui setzte sich auf, unterdrückte ein Keuchen: er spürte Körperregionen, deren Existenz er vor Jahren verdrängt hatte, dennoch fühlte es sich nicht unangenehm an. Überraschend geschmeidig rollte er auf die nackten Füße, richtete sich auf und absolvierte den Hindernisparcours zu seinem Anzug, wo er den Weckruf beendete. Das Zimmer bot den Anblick eines Schlachtfelds. Euphorisch aufgeputscht hatten sie sich ausgetobt, bis selbst die stärkste 'Sexhormon-Wolke' keine Energie mehr entfachen konnte. Ootsuki, so viel stand außer Zweifel fest, hatte seine Studienzeit jedenfalls gründlich und versiert genutzt! Ihm damit die Gelegenheit gegeben, sehr viel mehr über sich selbst und seinen Körper zu erfahren, der die letzten Jahre nur noch 'gewartet' worden war, auf seine Basisfunktionen beschränkt. Zwar würde er nun wieder artig ins Gleis einscheren müssen (angefangen mit dem Aufräumen), doch eine Veränderung konnte nicht negiert werden: ein anderer Fukui huschte in Puschen und Yukata über den Flur, um die Automaten zu erleichtern. *~+~* "Danke." Wie bei ihrer ersten erotischen Begegnung brauchte Ootsuki Unterstützung und entsprechende Hilfsmittel, um wieder auf Betriebstemperatur zu kommen. Fukui fand das herzerwärmend und auch niedlich. Es kümmerte ihn keinen Deut, wenn man kicherte, weil er eindeutig 'Frauenfrühstück' plus ein extrem süßes Cremetörtchen orderte. Sie schwiegen beide, unangestrengt, immer noch mit Schlafdefizit (seit Jahrzehnten!), verzehrten ihr jeweiliges Menü. Dann und wann huschte ein verstohlenes Lächeln über ihre Gesichter, wenn sie sich wie Lausbuben verschmitzte Blicke zuwarfen. Gemeinsam traten sie auch auf den Gehsteig, schlenderten nebeneinander her. "Rein hypothetisch..." Fukui räusperte sich verlegen. "Wenn sich mal ein freier Tag oder ein Sonntag anschlösse..." "Sodass wir noch mehr Zeit miteinander verbringen könnten.." Ootsuki zwinkerte, die Hände in den Manteltaschen vergraben. "Wäre mir ein 'Playdate' genehm?" Fukui studierte ihn erwartungsvoll, auch ernst. "Haaach!" Stoßseufzte Ootsuki dramatisch. Die Lobby, das Hamsterrad, kamen in Sicht. Es war keine Rede von Liebe oder von großen Zukunftsplänen, nein, ganz sicher nicht. Ootsuki blieb stehen, trat aus dem Passantenstrom in die Nische eines Gebäudes. Fukui folgte ihm hastig. Sie musterten einander schweigend, dann zog Ootsuki die Hände aus dem Manteltaschen und richtete Fukuis Krawattenknoten, der durchaus tadellos saß. "Das IST mein freier Tag heute." Wisperte Ootsuki mit einem schiefen Lächeln. Er trat rückwärts wie ein geübter Schwimmer in das Gewühle der Fußgänger und dröhnte prahlerisch. "Man sieht sich, Kamerad!" Fukui folgte ihm verblüfft mit den Augen, bis er im Gedränge nicht mehr zu erkennen war. Sein Herz schlug höher, eine köstliche Wärme stieg in ihm auf, in den beanspruchten Gliedmaßen prickelte es verheißungsvoll. »Ich mag ihn. Sogar sehr!« Stellte er erfreut fest. Ein Leben mit Ootsuki konnte er sich vorstellen! *~+~* Phase 5 - Konsequenzen: Das Happily Ever After-Experiment Walt Xiang Prakesh kauerte in seinem Plastikstuhl wie ein Häufchen Elend, allerdings bot er auch ohne die bedrückenden Begleiterscheinungen keine imposante Gestalt. Mit seinen 16 Jahren war er gerade 1,60m 'groß', von knabenhaft-schmaler Statur mit zierlichen Gliedern und einer zu großen Brille, die ihn wie eine Karikatur seiner Selbst erscheinen ließ. "He, was ist passiert?!" Schon rückte geräuschvoll ein freier Plastikstuhl in der Cafeteria heran, legte sich eine vertraut-kraftvolle Hand auf seine fragile Schulterpartie. Wortlos, den Blick auf die Hosenbeine gerichtet, reichte Walt einen roten Umschlag weiter. "Verdammt!" Murmelte die zuvor so zuversichtliche Stimme leise. "Ich frage mich, was ich angestellt habe." Selbst Walts Stimme klang dünn, obwohl man sie durchaus von der eines Kindes unterscheiden konnte. Im Moment kämpfte er jedoch mit Panik, Hilflosigkeit, Unverständnis und einem Kloß im Hals. "Komm mit!" Die Hand von seiner Schulter fasste seine eigene, beförderte ihn mit ausgezirkeltem Schwung auf die dünnen Beine. Jetzt erst wagte Walt den Blick hoch in das Gesicht des besten Tennisspielers der Schule, Leif Jorgensen, weißblonder Schopf, hellblaue Augen, kantige Züge, breite Schultern zu schmalen Hüften, sehnig-muskulöse Athletengestalt und das frechste Lächeln der Welt. Im Moment jedoch nicht, vielmehr wirkte sein bester Freund erstaunlich düster für einen notorischen Optimisten. "Gleich muss ich zum Geschichtsunterricht." Bemerkte Walt seufzend, folgte jedoch artig. In diesem Zustand würde er ohnehin von den Lektionen nichts behalten! *~+~* Leif führte Walt ganz selbstverständlich an der Hand. Er fand das weder außergewöhnlich noch unangemessen oder gar peinlich. Die meisten der Schüler hatten es aufgegeben, ihn deshalb zu verspotten oder auszulachen, weil es Leif nicht kümmerte, er sie einfach übersah. Das war schlimmer als jede wütende Retourkutsche, denn seine muntere Art machte ihn überall beliebt, man WOLLTE sich gut mit ihm stellen. Der gemeinsame Weg führte sie zum Sportplatz. Die kleine Tribüne war jedoch verlassen, es standen überall noch Pfützen. Die Luft selbst roch feucht und ein wenig modrig. Leif schälte sich aus seiner schlichten Regenjacke, breitete sie als Sitzunterlage aus und betrachtete Walts bedrückte Miene, der sich neben ihm niederließ. "Du hast nichts angestellt." Eröffnete er, straffte seine trainierte Gestalt. "ICH war das. Es ist meine Schuld." Walt runzelte die Stirn, zog die Nase kraus. Seine exotischen Gesichtszüge ließen ihn dann regelmäßig wie ein possierliches Tierchen erscheinen, "das verstehe ich nicht. Was willst du denn angestellt haben?" Leif mochte sich hier und da mal eine Neckerei erlauben, aber ernsthafte Regelverstöße, das passte bestimmt nicht zu ihm! Mit einer nervösen Geste fuhr sich Leif durch das weißblonde Haar, um welches er heftig beneidet wurde. Sprach man ihn darauf an, grinste er freimütig und verkündete, die Pracht würde sich bald verabschieden, sein Vater sei schließlich schon mit Mitte Dreißig kahl gewesen! Dann fischte er zusammengefaltet aus seiner Hosentasche ein Äquivalent zu Walts rotem Brief, schob ihn wie eine trennende Grenze zwischen ihre Oberschenkel, ergänzt um einen gelben Zettel von einem Notizblock, der den Briefkopf des Tennisteams der Schule trug. "Es war an diesem Tag, als die Drogenwolke kam." Erläuterte er gefasst. *~+~* "Das wird schon werden!" Aufmunternd nickte seine Mutter ihm zu. "Ich bin gleich da, wenn ich endlich einen Parkplatz gefunden habe!" Walt Xiang Prakesh umklammerte die Säume seiner Jacke und äugte unbehaglich durch den Maschendrahtzaun. Es war schon fürchterlich genug, einen Monat nach der offiziellen Einschulung anzukommen, ganz zu schweigen von der ihm völlig fremden neuen Umgebung, aber beim Anblick der Horde stapfender, zum Teil deutlich übergewichtiger Kinder auf dem Schulhof überkam ihn das kalte Grausen. Gleichaltrige waren ihm unheimlich. Er blätterte lieber durch die unzähligen Bücher seiner Eltern, spielte auf der verschrammten chinesischen Laute, die er beim Trödler erbettelt hatte und bastelte Tiere aus Papier. Dieses Geschrei! Und die Schubsereien! Er hatte sich eigentlich vorgestellt, dass er in der Schule ganz viel lernen würde (obwohl er schon lesen und schreiben konnte und auch die Grundrechenarten beherrschte). Jetzt sah er sich einer Hölle ausgesetzt, in der das Gesetz des Dschungels regierte! Als er sich abwandte, verzweifelt von einem kleinen Fuß auf den anderen trippelte, sehr zierlich und leicht gebaut, hörte er hinter sich eine Stimme. "Hallo!" Zögerlich riskierte Walt einen Schulterblick. Jenseits der Drahtmaschen stand ein Junge mit einem wilden, weißblonden Schopf, hellblauen Augen und einem offenherzigen Lächeln, der ihn nun bestaunte wie ein Weltwunder. "Hallo." Presste Walt bange heraus. "Ich heiße Leif." Das Lächeln reduzierte sich, um einem konzentrierten, stillen Ernst zu weichen, dann zwängte sich eine Hand durch die Drahtöse. Sie wollte wohl geschüttelt werden, vermutete Walt, der nervös die Nase kraus zog und die Stirn runzelte, dann zögerlich zugriff. "Walt Xiang Prakesh, freut mich." Wisperte er vorsichtig, im Zweifel, die richtigen Umgangsformen zu beweisen, da er hauptsächlich unter Erwachsenen lebte. "Walt? Wie Walt Disney?" Leif strahlte. "Das ist ja toll! Du bist bestimmt neu hier, nicht wahr? Komm, ich zeig dir alles!" Hastig entzog Walt seine Hand dem kräftigen Griff, wich etwas zurück. "Meine Mutter, ich bin mit meiner Mutter hier!" Nervös bemerkte er, wie die Stampede der Kolosse sich auf sie zu bewegte. "Klar!" Leif nickte fröhlich. "Dann treffe ich dich und deine Mutter vorne beim Tor!" Schon quetschte er seine Hand aus der Drahtöse und spurtete los, als gelte es, ein Wettrennen unbedingt zu gewinnen. Walt zögerte, blickte sich um. Wie lange dauerte es wohl, hier einen Parkplatz zu finden? Er trippelte noch einmal von einem Fuß auf den anderen, dann marschierte er tapfer allein zum Schultor. Leif wartete schon auf ihn, strahlend und winkend. Kaum hatte Walt die Schwelle in den Hof überschritten, nahm Leif wie selbstverständlich seine Hand, grinste schelmisch. "Ich freu mich, dass du hier bist! Das wird ganz toll!" Seit diesem Augenblick waren sie unzertrennlich. *~+~* Zunächst waren Walts Eltern (er indischstämmiger Literaturdozent und begnadeter Multiinstrumentalist, wenn es die knappe Freizeit zuließ, sie, chinesischstämmige Ernährungswissenschaftlerin) etwas skeptisch der neuen Freundschaft ihres einzigen Kindes gegenüber. Leif Jorgensen erschien ihnen ein wenig zu "weiß-blond-blauäugig" und auch sonst ganz das Gegenteil ihres eher introvertierten, ruhigen, zierlichen Sohnes, aber die Jorgensens (Mutter Greta, ältere Schwester Gudrun und Vater Magnus) erwarben mit ihrer ungekünstelten, freundlichen Art viele Sympathiepunkte. Leifs Vater betrieb eine Spenglerei, konstruierte Wasserleitungssysteme in Häusern, baute Brunnen, wartete wasserführende Leitungen aller Art, ein eher wortkarger, ruhiger Mann, der mächtiger wirkte, als es seine Gestalt tatsächlich war. Mutter Greta, kompakt gebaut, patent, herzlich, kümmerte sich um die Buchhaltung und half in einem Altenpflegeheim bei der Betreuung, Gudrun, ihrem jüngeren Bruder acht Jahre voraus, war sehr sportlich und eine große Stütze des Volleyballteams. Während Walts Eltern eine Wohnung in einem Appartementhaus vorzogen, bewohnten die Jorgensens ein schlicht wirkendes Einfamilienhaus in der Holzleichtbauweise, die man in der Kleinstadt häufig fand. Eine ganz neue Welt für Walt, und sie gefiel ihm, weil es Leifs Welt war. Alle wollten natürlich mit Leif befreundet sein, er war sehr beliebt, doch wer Leif wollte, musste auch mit Walt rechnen. Leif nahm ihn ganz selbstverständlich überall hin mit, als wären sie ein und dieselbe Person! Zwar mochten ihre Stärken und Interessen nicht stets übereinstimmen (Walt mochte Tennis nur von der Tribüne aus, möglichst im Schatten), aber dieser Umstand stellte eher eine Bereicherung dar. Man hatte sich etwas zu erzählen! Sie stritten sich nie ernsthaft, auch wenn sie sich hin und wieder neckten. Walt wunderte sich gelegentlich schon, warum Leif nicht von seiner Seite wich, möglichst jede freie Minute mit ihm verbrachte. "Na, weil du eben du bist!" Für Leif Begründung genug. Ihre enge Freundschaft vertiefte sich noch, als Leifs Mutter Greta unerwartet rasch nach einem nicht zu gewinnenden Kampf gegen den heimtückischen Bauchspeicheldrüsenkrebs starb. Walts Eltern wollten ihrem achtjährigen Sohn lieber diesen Kummer ersparen, doch er wich nicht von Leifs Seite. Außerdem mochte er Greta sehr und es war leichter, ihren Tod zu akzeptieren, wenn man sah, welche Schmerzen und Qual sie auszuhalten hatte. Jeder trauerte auf seine Art. Gudrun ging für ein Jahr nach Australien, um dort verschiedene Aushilfsjobs im Rahmen eines Austauschprogramms kennenzulernen, Magnus arbeitete weiter wie gewohnt, still und zurückgenommen. Man wunderte sich zwar über dieses Gebaren, hartnäckige Nachfrage enthüllte schließlich seine Motivation. "Sie ist mein Lebenskamerad. Für mich ist es so, als sei sie bloß gerade in einem anderen Raum. Warum soll ich da nicht weiterleben wie bisher?" Ein wenig seltsam, dieser Magnus, und ob es wohl allein mit dem kleinen Leif funktionierte, so eine Männerwirtschaft? Walt konnte bezeugen, dass es ging. Wenn Leif einmal zu traurig war, dann teilte er mit ihm den Kummer und half bei den häuslichen Tätigkeiten. Jeder war zu einem Teil des anderen geworden, darüber musste man keine Worte mehr verlieren. *~+~* "Ich kann mich nicht richtig daran erinnern." Murmelte Walt. Er wusste wohl aus den Nachrichten, dass eine merkwürdige, weltweit registrierte Drogen-"Wolke", über deren Urheberschaft man sich immer noch stritt und finsterste Verschwörungstheorien verbreitete, auch die Schule erreicht hatte. Ihre Auswirkungen, hauptsächlich das Verhalten der Menschen an diesen Tagen, zog Gerichtsverfahren und Komitees zur "Aufklärung abweichenden Verhaltens" nach sich. Ihm hatte der seltsame Tag ein Schwarzes Loch in seiner Erinnerung beschert. Allerdings musste er wohl etwas angestellt haben, denn sonst würde man ihn wohl kaum vor das Schulgremium zitieren wie all die anderen, die auffällig geworden waren! "Es ging dir schlecht." Leif legte die Hände ruhig auf seine Oberschenkel, den Blick auf sie konzentriert, als müsse er sich mit aller Kraft besinnen. "Eine Art Migräneattacke. Du hast dich erst übergeben, dann liefen dir die Tränen nur so über das Gesicht." In seiner Stimme schwang noch eine Ahnung des Schreckens mit, den Freund so unerwartet leiden zu sehen. "Du sagtest etwas von 'Zange um den Kopf'." Ergänzte Leif beherrscht. "Ich wollte dich ins Krankenzimmer bringen, doch alle benahmen sich merkwürdig, es war das totale Chaos. Da fiel mir ein, dass Gudrun ja zu Hause ein Medikament hat, gegen Spannungsschmerzen, wenn sie ihre Tage hat. Also habe ich dich mit nach Hause genommen, auf dem Rücken. Es ging dir wirklich schlecht." Walt starrte Leifs Profil erschrocken an. Hin und wieder mochte er mal Kopfschmerzen haben, auch die eine oder andere Verspannung, wenn er zu lange eine unbequeme Haltung eingenommen hatte, aber wahrhaftige Migräne, während alle anderen wie im Tollhaus ihren Neigungen frönten?! "Seltsam." Leif studierte noch immer seine Handrücken, ohne sie tatsächlich wahrzunehmen. "Ich war so auf dich fixiert, dass diese Drogenwolke mich gar nicht erwischt hat." Er setzte sich auf, den Rücken durchgedrückt, als müsse er Haltung annehmen. "Zu Hause habe ich dich dann in mein Bett gelegt und dir eine sehr niedrige Dosis von dem Medikament gegeben. Weil dir die Augen so weh getan haben, wollte ich kein Licht einschalten und habe bloß die Jalousien hochgezogen. Dann habe ich neben dir gewacht." "Danke." Walt legte seine kleine Hand auf Leifs Linke. "Aber davon hast du mir gar nichts erzählt! Aufgewacht bin ich doch zu Hause, bei mir im Zimmer?" Leif legte den Kopf in den Nacken, atmete tief durch, wandte sich anschließend zu Walt herum und nahm dessen Hände in seine eigenen, blickte ihm ernst in die dunklen Augen. "Du bist zu Hause aufgewacht, weil ich dich mit Dads Auto dahin gefahren habe und ins Bett gesteckt." Rollte er das andere Ende der Geschichte auf. "Du bist nicht mal aufgewacht, als ich dich rauf und runter getragen habe." Walt betrachtete Leifs angespanntes Gesicht nervös. "War denn etwas mit dem Medikament nicht in Ordnung?" Erkundigte er sich ratlos. "Ich glaube, es war die Mischung mit der Wolke." Leif legte ihre Hände auf seinen Oberschenkeln ab, in gewohnter Nähe zu Walt. "Etwa eine halbe Stunde später ging es dir schon besser, keine Tränen mehr, kein Kopfhalten." Leif räusperte sich. "Aber du hast dich unruhig herumgewälzt, deine Körpertemperatur stieg, also habe ich dir nasse Wickel gemacht." Leif schwieg, drückte Walts Hände, musste sich offenbar sammeln, was Walt von ihm gar nicht kannte. "Was habe ich angestellt?" Erkundigte er sich besorgt. Das brachte ihm einen direkten, ebenfalls erschrockenen Blick ein. "Du hast nichts angestellt, nein, ganz sicher nicht! Ich war's!" Beteuerte Leif eindringlich. "Aber was denn?!" Walt hob die Stimme. Wie konnte Leifs Fürsorge sie vor das Schulgremium bringen?! Der schluckte heftig, sah ihm dann aber tapfer ins Gesicht. "Ich habe dich gestreichelt und geküsst. Ich wollte aufhören, sofort, wenn es dir nicht gefällt, beim kleinsten Anzeichen!" Leif blinzelte, leckte sich über die Lippen, die Stimme belegt. "Ich war wie im Rausch. Und da-da habe ich nicht aufgehört." Walt verstand nicht, bemühte sich um Decodierung. "Was, was heißt denn 'nicht aufgehört'?" Hakte er schließlich nach, spürte einen feuchten Film auf seinen Handflächen, jedoch auch auf Leifs, die unverändert seine Hände hielten. Noch nie hatte er Leif so hilflos-beschämt gesehen und trotzdem wild entschlossen, weder in Ausreden zu flüchten, noch die Verantwortung zu scheuen. "Es heißt, dass ich mit dir geschlafen habe." Präzisierte er heiser. Walt starrte mit herabgesacktem Kiefer. Tatsächlich Sex, und er konnte sich an NICHTS erinnern?! "Aber-aber ich weiß davon gar nichts!" Beklagte er sich entsprechend laut. Leif grimassierte gequält. "Das ist vermutlich meine Strafe. Wenn ich mich beherrscht hätte..." "Beherrscht?" Walt entzog Leif seine Hände, presste sie auf dessen Wangen und verlangte Blickkontakt. "Was meinst du denn damit?! Und wie hast du...? Ich meine, du magst Mädchen, oder?!" Ohne Mühe fasste Leif Walt unter und hob ihn auf seinen Schoß, streichelte ihm mit den Fingerspitzen sanft über die schwarzen Strähnen. "Ich mag DICH. Schon immer." Für einen Augenblick lächelte er so freimütig wie stets. "Bloß seit einiger Zeit..." Er seufzte, ließ Walt aber nicht aus dem Fokus seiner hellblauen Augen. "Es war einfach alles! Dein Körper war ganz entspannt. Du hast gelächelt. Ich war wie im Rausch. Alles lief wie von selbst. Ich wollte dich so unbedingt! Ich konnte nicht mehr aufhören." Walt starrte. Es dauerte einige hastige Herzschläge, bis er endlich akzeptierte, was Leif ihm zu sagen versuchte. "Du-du warst in mir? Aber-aber...!" Leif senkte den Kopf, sprach so leise, dass er kaum zu verstehen war. "Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, aber ich wollte so unbedingt mit dir verbunden sein, diese Energie teilen. Alles klappte, kein Widerstand, kein Hindernis, da habe ich nicht aufgehört." "Und jemand hat es gesehen." Murmelte Walt tonlos. Klar, die hochgezogene Jalousie, die Vorladung für sie beide! "Ich werde es richtigstellen!" Leif merkte sofort auf. "Es ist meine Schuld, und...!" Walt löste eine Hand energisch und legte sie ihm auf den Mund. "Rede nicht so einen Quatsch!" Schimpfte er barsch. "Was heißt denn Schuld?! Ich gehe jede Wette ein, dass es der alte Stinkstiefel von gegenüber war! Der hat schon immer was gegen euch gehabt!" Er schlüpfte von Leifs Schoß. "Außerdem, was will er denn beweisen?! Außerhalb des Schulgeländes können wir leben, wie wir wollen! Keiner hat das Recht, in unsere Schlafzimmer reinzugucken! Wie können die...!" Leif erhob sich und zog Walt in seine Arme, presste dessen Gesicht gegen seinen Brustkorb. "Ich will dir nichts Böses." Raunte er in den schwarzen Schopf. "Ich mag dich so sehr! Ich konnte einfach nicht widerstehen!" Die kleinen Hände klammerten sich so fest in sein Sweatshirt, dass ihm das Herz ganz schwer wurde. Sie blieben eine Weile so stehen, hielten sich fest in den Armen, lauschten auf einen hastigen Puls und aufgeregte Atemzüge. Schließlich brach Walt das Schweigen. "Der Zettel da, haben sie dich suspendiert?" "Hmm." Leif drückte einen Kuss auf den schimmernden Schopf. Walt machte sich energisch von ihm los, funkelte ihn an, noch einen feuchten Film auf den Augen, doch entschlossen. "Dann fällt dein Training ja aus, nicht wahr? Los, fahren wir zu dir!" Schon zerrte er Leif hinter sich her, der Mühe hatte, noch rasch seine Jacke und die Umschläge zu bergen. "Ich denke nicht daran, im Ungewissen zu bleiben!" Hörte er Walt grimmig schimpfen. "Ich will jetzt auch Sex haben!" *~+~* Leif schob sein einfaches Motorrad folgsam unter das Vordach, dann schloss er für Walt die Haustür auf. Mit seinem Vater oder Gudrun musste er nicht rechnen, beide arbeiteten noch. Er hütete sich davon, Walt aufzuhalten, den unbestritten gehegten Zweifeln Nahrung zu geben. Wenn Walt sich derart energisch gebärdete, verbarg er dahinter Skepsis und Angst, nur Empörung trieb ihn dann voran. Unter den strengen Blicken der dunklen Augen schlug Leif sein Bett auf, deponierte dann wortlos Kondome und Gleitcreme darauf. "Wieso hast du diese Sachen hier?" Walts Stimme klang gepresst und Leif kannte die tatsächliche Frage dahinter. "Ich habe nie ein Mädchen mit in mein Zimmer oder gar mein Bett gebracht." Antwortete er schlicht. "Aber wenn mich eine gefragt hat und nicht locker ließ, dann bin ich mit zu ihr gegangen." Zu diesem Zweck verfügte er über die notwendigen Utensilien. Das schien ihm nur fair, denn er machte aus seinem Herzen keine Mördergrube, und jedes der Mädchen, die ihn eingeladen hatten, wusste, dass er keinerlei Intentionen verfolgte, eine feste Beziehung einzugehen, darin war er unzweideutig und klar gewesen. Walt starrte eine Weile mit grimmiger Miene stumm auf das notwendige Zubehör. Er ärgerte sich, und es ärgerte ihn noch mehr, dass er sich ärgerte. "Walt." Leif setzte sich auf die Bettkante und blickte zu ihm auf. In seinem Gesicht konnte man unmissverständlich Kummer und Sorge erkennen. "Bitte entschuldige mich für einen Augenblick." Walt blieb korrekt. "Ich muss mich frisch machen." Damit stapfte er energisch aus Leifs Zimmer in das angliedernde Badezimmer der Familie. *~+~* "Du bist ein Idiot!" Zischte Walt sich gepresst im Spiegel zu, vor dem er auf den Zehenspitzen balancierte. Wer wollte schon ein Idiot sein?! Seine Entscheidung stand fest. Was einmal funktioniert hatte (auch wenn er sich nicht mal daran erinnerte, was einen Skandal sondergleichen darstellte!), klappte auch beim zweiten Mal. Theoretisch war er mit der Vorgehensweise, zumindest in groben Zügen, vertraut, glaubte er. "Rückzug ist KEINE Option!" Ermahnte er sich streng. *~+~* Nicht wenig überraschend fand er Leif nicht etwa in dessen Zimmer vor, sondern in der geräumigen Küche im Erdgeschoss. Es duftete bereits köstlich. Leif hatte kurzerhand aus Haferflocken, allerlei Resten und zerdrückten, überreifen Bananen Plätzchen fabriziert, die er scheinbar durch die Glasscheibe des Backofens beobachtete. Walt wusste es jedoch besser. Leif neigte immer dazu, sich in die Küche und zu den Super-Keksen zu flüchten, wenn er in der Klemme steckte und ratlos war. "Sind sie fertig?" Erkundigte Walt sich knapp. Er wollte in medias res gelangen, bevor sich seine hauptsächlich aus Empörung und Trotz gespeiste Courage verabschiedete. "Ich muss sie bloß noch rausholen." Beschied Leif ihm, streifte sich Handschuhe über und exilierte die beiden Bleche. Der Geruch hüllte sie mit einem verführerischen Aroma von fruchtiger Süße ein. "Die warten hier." Bestimmte Walt. "Verzeihung, dass ich länger gebraucht habe." Endlich wandte sich Leif ihm zu, lächelte zerknirscht. "Ich konnte einfach die Hände nicht stillhalten." "Das ist jetzt auch nicht mehr nötig!" Walt zog ihn an der Rechten hinter sich her zur Stiege. "Ich bin überzeugt, dass wir für sie ausreichend Betätigungsfelder finden können." Er spürte Leifs Schmunzeln, ignorierte es aber. Leider neigte er nun mal unter Druck dazu, sich besonders gewählt auszudrücken, ganz nach dem Vorbild seiner Eltern. Bei allen anderen lockerten die spontanen Lachanfälle dann die Stimmung auf. Als sie Leifs Zimmer wieder betreten hatten, schloss er hinter sich die Tür und ließ auch die leichten Jalousien herunter. "Keine Zuschauer auf den billigen Plätzen!" Kommentierte er sein selbstherrliches Vorgehen grimmig, begann dann, sich zu entkleiden. Leif folgte mit einigen Herzschlägen Verspätung seinem Beispiel, ließ sich erneut auf seinem Bett nieder und streckte Walt die Hand entgegen. Walt ergriff sie wortlos und nahm neben Leif Platz. Obwohl sie einander wirklich vertraut waren und sich ohne Feigenblatt kannten, keimte ungekannte Verlegenheit in ihm auf. Leifs Hand wanderte nach oben, streichelte über seine Wange, fächerte einzelne Strähnen auf, fügte die zweite Hand hinzu, die spiegelgleich agierte, Walts Gesicht ihm ganz zukehrte. Erstaunlicherweise schlug Leif nicht das Herz bis zum Hals, nein, eine gelassene Ruhe breitete sich in ihm aus. Walt wirkte so tapfer und auch hoffnungsvoll, dass er eigene Bedürfnisse sofort hintanstellte. Er reduzierte die geringe Distanz, senkte die Lider und tupfte zärtliche Küsse auf die sich rasch erhitzende Haut. Walts Hände flatterten unsicher über seine Oberarme, suchten Halt. Da fasste Leif ihn vorsichtig unter, bugsierte den federleichten Freund auf seine untergeschlagenen Oberschenkel, nun in bequemer Reichweite für intensivere Zungenakrobatik. Ohne Hast widmete sich Leif der köstlichen Aufgabe, Walts Erfahrungsschatz zu erweitern. Es rührte ihn an, Pfefferminz zu schmecken, das Mundwasser vom Bord im Badezimmer. Wie umsichtig und aufmerksam von ihm! Erwartungsgemäß musste Walt früher die Waffen strecken. Ihn schwindelte, eine immense Hitze wütete in seinem gesamten Leib und verblüffenderweise meldeten sich primäre Geschlechtsorgane mit Ansprüchen! Er hing wie ein Ertrinkender um Leifs Hals und keuchte ächzend wie ein alter Blasebalg. "Uuh, können wir vielleicht...?" "Lass mich nicht los!" Raunte Leif kehlig an seinem Ohr, dann bewies er seine geschickten manuellen Fertigkeiten. *~+~* Walt war durchaus einverstanden damit, zunächst mal einen Salut gemeinsam abzuschießen, denn so konnte er sich auch mit dem Gebrauch der Einweghüllen für spezielle Bedürfnisse vertraut machen, auch wenn Leif dankenswerter Weise diesen Part versah. Ganz und gar nicht sagte es ihm aber zu, dass er, nachdem sein gesamter Leib mit Liebkosungen bedacht und erkundet worden war (unter perfider Berücksichtigung all seiner empfindlichen, kitzligen Partien!) auf allen Vieren zuckend an zwei Fingern scheiterte! Er spürte Leifs Vorsicht, hörte vage die tröstenden Laute in seinem Nacken, verließ sich auf die vertraute Stärke seines athletischen Freundes, folgte keuchend und stöhnend jeder Bewegung an diesem Engpass, sich aufbäumend und bockend. Es tat nicht weh, nein, es war eher wie eine juckende Stelle, die man kratzen wollte, immer wieder, einfach nicht aufhören konnte, in einem treibenden Rhythmus verfiel! Ihm war so heiß, er schwitzte, die Haare klebten an seinem Kopf und er wollte WOLLTE WOLLTE unbedingt, dass es klappte!! Leif dagegen erkannte, dass es unmöglich war, wie zuvor, durch das Medikament unterstützt, die muskuläre Spannung so weit zu verringern, dass er selbst in Walt eindringen konnte. Kategorisch ausgeschlossen war das Erzeugen von Schmerzen! Er biss nicht mal im Spaß zu und verabscheute als "Knutschfleck" getarnte Hämatome. Über seinem Freund kauernd konzentrierte er seine Linke, die ablenkend immer wieder über den Torso gestreichelt, den Bauch kreisend massiert, die empfindlichen Brustwarzen touchiert hatte, auf Walts Erektion. Es sollte schön sein, und dafür würde er jetzt sorgen! *~+~* "Ge...gemein!..Gemein!" Walt rollte sich keuchend auf die Seite, Leif den Rücken zukehrend. Der schmiegte sich unerschrocken an den köstliche Hitze verströmenden, knabenhaften Körper und hauchte Küsse auf die nackten Schultern, den zarten Nacken. "Ich, ich bin wütend!" Verkündete Walt und räusperte sich aufgebracht. Leif ersparte sich einen Kommentar, löffelte mitfühlend. "Wütend! WÜTEND!" Eine weitere halbe Rolle, dann stützte sich Walt bäuchlings ab, um heftig mit den Zehenballen auf der Matratze zu trommeln, die Fäuste geballt. "Ich wollte, dass es für dich schön ist..." Wagte Leif einen Einwurf. "Das weiß ich!" Ächzend kam Walt auf alle Viere, stemmte sich dann in eine sitzende Haltung. "Wieso hat's nicht geklappt?!" Empörte er sich. "Letztes Mal ging es doch auch?! Das ist so, so unfair! Ich habe mir wirklich Mühe gegeben und keinen Einsatz gescheut!" Leif konnte den Blick nicht von seinem Freund wenden. Es faszinierte ihn stets aufs Neue, wie Walt sehr gepflegt und gesittet Temperamentsausbrüche zelebrierte. Äußerst ungewöhnlich, zumindest in seinem Bekanntenkreis! "Wir können es ein anderes Mal versuchen." Wagte er sich an eine Offerte. "Aufgeschoben ist nicht aufgehoben." "Das hast du auch gesagt, als ich wachsen wollte!" Schimpfte Walt. "Na, und du bist doch gewachsen." Leif unternahm Anstalten sich aufzusetzen, doch unerwartet kletterte Walt auf seine Hüften und drückte ihm die Schultern in die Matratze. "Nur ein bisschen! Ich bin gerade so groß wie meine Eltern!" Zeterte Walt, wandte dann abrupt den Kopf zur Seite und nagte an seiner Unterlippe. "Ich bin so wütend!" Seine Stimme dämpfte sich, ein selbstironisches Auflachen angeschlossen. "Aber am Meisten ärgere ich mich über mich selbst, weil ich zu einem absoluten Vollidiot mutiere. Zu guter Letzt ist bei mir doch noch die Pubertät ausgebrochen, und ich führe mich so fürchterlich irrational und egoistisch auf!" Leif konnte ein Lächeln nicht verbergen. Walt war einfach hinreißend, sich stets prüfend, nicht zu ernst nehmend, reflektierend! Er hob die Arme, führte die Hände an Walts schlanken Armen hoch, verschränkte sie in dessen Nacken und zog ihn sanft auf sich herunter. "Ich hab dich so lieb." Raunte er in feuchte, schwarze Strähnen, umarmte ihn innig. "Ich dich auch." Antwortete Walt sehr leise an seinem Ohr. "Bitte entschuldige." Sie kuschelten einige Augenblicke, die gegenseitige Wärme genießend, den vertrauten Geruch wahrnehmend. Nichts war fremd oder unbehaglich. "Ich bin auch ein wenig wütend darüber, dass du mir so viele Erfahrungen voraus hast." Wisperte Walt, doch seine Stimme klang weniger verärgert als bedrückt. "Dein Geschick bezüglich der technischen Aspekte und der Handreichungen stößt mir auch auf." Leif streichelte beruhigend über die glatte Haut, spürte Wirbel, Rippen und andere Knochen darunter. Walts zarte Gestalt erfüllte ihn selbst mit Ehrfurcht und Achtsamkeit, denn wie schnell konnte etwas zerbrochen, zerstört, für immer verloren werden! "Ich werde nur noch mit dir Erfahrungen sammeln!" Versprach er kehlig. "Wir lernen gemeinsam, ja?" Walt schnaufte leise, stemmte sich aus ihrer Umarmung, um Leif in die Nasenspitze zu kneifen. "Bitte toleriere meine lächerlichen, hormongesteuerten Ausfälligkeiten nicht auch noch!" Tadelte er. "Ich spreche schließlich aus Neid, Eifersucht und erheblich gemindertem Selbstwertgefühl!" Leif kaperte rasch die kleinen Hände, blickte unverwandt in die dunklen Augen. "Sei mir nicht böse." Bat er leise. "Aber ich bin dir doch nicht böse!" Walt erwiderte den Händedruck. "Unverschämterweise profitiere ich ja von deiner Erfahrung! Es ist nur so verflixt ärgerlich, dass ich selbst nicht so ein toller Hecht wie du sein kann! Wie soll ich dich da beeindrucken?!" "Du beeindruckst mich immer wieder, auch gerade jetzt!" Wagte Leif Kontra zu geben. "Das wird sich nie ändern. Zählt das nicht?" Über ihm zog Walt eine grimmige Miene und seufzte dann, zerknirscht lächelnd. "Deine Gesellschaft weckt stets den Ehrgeiz in mir, ein besserer Mensch zu sein." Bekannte er schlicht. "Das empfinde ich genauso." Antwortete Leif sanft. Walt studierte ihn streng, kreiste dabei mit den schlanken Daumen über Leifs Handrücken. "Das bedeutet, hoffe ich sehr, dass du nicht irgendwelche Intentionen hegst, nicht vorhandene Schuld allein auf dich zu nehmen, alle Verantwortung selbst zu tragen und mich wie einen rückgratlosen Mitläufer aussehen lässt, korrekt?" Warnte er entschieden. Leif schluckte, denn Walt traf zielsicher einen wunden Punkt. "Du wirst auch nicht aus unangebrachter Rücksicht meine Gefühle schonen und mich mit deinen Wünschen, Erwartungen und Sehnsüchten zukünftig außen vor lassen, weil ich möglicherweise davon überfordert sein könnte!" Aus Walt sprach die laserscharfe, gnadenlose Analysefähigkeit seines Vaters gepaart mit der höflichen Unerbittlichkeit seiner Mutter. "Das werde ich nicht tun." Gestand Leif schließlich heiser ein. "Ich werde nichts mehr vor dir verbergen." Die dunklen Augen betrachteten ihn noch hastige Herzschläge lang sehr eindringlich, dann räusperte Walt sich. "Ich werde wahrscheinlich an Körpergröße nicht mehr viel zuzusetzen haben, doch an menschlicher Größe. Bitte lass mich wachsen, Leif. Schone mich nicht, auch wenn ich genau verstehe, warum du es tun möchtest." Reflexartig drückte Leif die kleinen Hände, nickte hastig. Ohne Verletzungen konnte man nicht leben, nicht mal mit sich ganz allein, das wusste er wohl, trotzdem neigte er wie jeder dazu, seine Liebsten schützen zu wollen, vor den Unbillen der Welt und der eigenen Person zu bewahren. Walt hegte denselben Wunsch, fühlte sich auch verpflichtet, nicht ungefragt seine Liebsten in Watte zu verpacken, das war Leif bewusst. Schwierig würde es werden, sich an diese Abmachung zu halten, immer mal wieder, so viel stand fest. "Und ich entschuldige mich hiermit dafür, dass ich deine besonderen Gefühle nicht bemerkt habe." Walt lächelte schief, durchaus verlegen. Stattdessen heimlich neidisch war, wie selbstverständlich du die Damenwelt beeindruckt hast." "Du hast dich sehr gut beherrscht." Murmelte Leif überrascht, denn Neid oder Eifersucht hatte er seinem besten Freund nie angemerkt. "So wie du!" Zwinkerte Walt errötend. Er hob ihre verbundenen Hände kurz an und ließ sie dann langsam sinken. "Allerdings ist es doch ein gutes Zeichen, dass wir uns deshalb nie zerstritten haben, dass die Selbstbeherrschung nicht wichtiger als unsere Freundschaft ist." "...." Leif öffnete den Mund, schloss ihn wieder, blinzelte klebrige Wimpern auseinander. "Was ist?" Hakte Walt nach, ihre Hände drückend, als könne die ausgeübte Energie zwischen ihnen wie ein Morsecode hin und her wandern. "Ich habe versucht, mich zu erinnern, wann wir das letzte Mal so ernsthaft miteinander gesprochen haben." Antwortete Leif, ein wenig beschämt. Walt lächelte schelmisch auf ihn herab. "Ich glaube, das war lange nicht nötig, meinst du nicht? Du hast mir damals, am ersten Schultag, versichert, dass alles bestimmt toll wird. Mehr brauchten wir nicht, oder?" Das konnte Leif nicht widerlegen. Keinen Tag in seinem Leben hatte er bereut, die Hand nach dem zierlichen, schwarzhaarigen Jungen mit den exotischen Zügen ausgestreckt zu haben. Vom ersten Augenblick an war er fasziniert und verzaubert zugleich, in den Bann geschlagen von einer unsichtbaren Magie, die sie miteinander verband, den jeweils anderen als ganz besonders und einzigartig auszeichnete. Unterdessen zog Walt die Nase kraus, runzelte die Stirn, dann trat ein trotzig-entschiedener Ausdruck auf sein Gesicht. "Weißt du, ich habe Grund zur Annahme, dass wir das meistern können, ich meine, diese gemeinsame körperliche Aktivität. Ich glaube auch, dass wir uns abwechseln können bei, nun ja, bei der Penetration. Mit etwas Übung lässt sich das zweifellos bewerkstelligen." Adressierte er Leif, der diese Entwicklung gespannt verfolgt hatte. Leif erwartete lächelnd die Fortsetzung, denn Walts gemessen-kämpferischer Proklamation würde zweifellos nur das Ende einer Beweisführungskette sein! Walt entzog ihm seine Hände, entkletterte seinen Hüften und straffte kniend seine knabenhafte Gestalt. "Deshalb habe ich beschlossen, dass ich dich jetzt vernaschen werde. Immerhin ist das ab jetzt mein höchst exklusives Privileg!" Betonte er grimmig. Bevor Leif Einwände erheben konnte, was der keineswegs beabsichtigte, denn Walt hatte ihn ja selbst darum gebeten, Freiraum zum Wachsen gewährt zu bekommen, fischte der schwarzhaarige Jugendliche nach einer ungeöffneten Kondompackung, rang mit der vorgestanzten Aufrisskerbe, deponierte die farblose Latexhülle neben Leifs Hüfte und fasste entschieden nach dessen Penis. Leif keuchte leise, leistete jedoch keinen Widerstand, vielmehr betrachtete er, ausgestreckt, die Hände auf die Matratze gepresst, wie Walt sich um ihn bemühte, eifrig, wild entschlossen, konzentriert. Es fühlte sich herrlich erregend an, die kräftigen, kleinen Hände auf der zarten Haut zu spüren, die so empfindlich auf den Kontakt reagierte. Bald ballten sich Sehnen und Muskelstränge ausreichend, dass Walt auch ungeübt, doch unerschrocken das Kondom überstreifen konnte, sich über die Erektion beugte, mit der Zungenspitze erste Streifzüge über die dünne Latexhülle unternahm. Selbstvergessen murmelte. "Der reinste Urwald hier!" Durchaus ein wenig neidisch, mit beiden Handflächen die Schambehaarung planierend, damit er mit Atem, Lippen und Zunge experimentieren konnte. Den Kiefer wollte er sich allerdings nicht ausrenken, so groß seine 'Klappe' auch sonst erscheinen mochte! Leif flatterten die Lider, er musste die aufgestellten Fersen in die Matratze pressen, sich überkopf mit den Fingern im Bezug festkrallen, hörte sich selbst unterbewusst stöhnen und ächzen. Der schwarze Schopf, der über seinen Unterbrauch wischte, wenn Walt seine Position veränderte, immer wieder vom Schaft zur höchst sensiblen Eichel strich, die Fingerkuppen, die längst nicht mehr nur artig den 'Urwald' in Schach hielten, sondern in seinem Schritt dynamisch Druck ausübten: das war paradiesisch, erotisch und unwiderstehlich! Unmöglich, sich nicht mit einer Ovation zu bedanken! *~+~* Walt wischte sich über die Mundwinkel, anstrengend war diese kauernde Haltung ja doch, da musste man sich fürderhin eine Verbesserung ausdenken!, und angelte nach dem Taschentuchspender, im Zweifel, ob er selbst so geschickt wie Leif Entfernung und Entsorgung des 'Auffangbehältnisses' bewältigen konnte. Da fiel sein Blick auf Leif, dessen Leib noch immer bebte, von raschen Atemzügen durchmessen wurde, auch wenn die heftigen Kontraktionen vergangen waren. Die Wangen rosig, ausgestreckt, der Kopf auf die Seite gesunken, die hellblauen Augen verträumt verschleiert, in postkoitalem Elysium nach dem Rausch: so hatte er seinen Freund noch nie gesehen. Walt vergaß seine selbst gestellte Aufgabe, kroch neben den athletischen Leib, legte sich auf die Seite, um in die beschlagenen Augen zu sehen und sanft über die erhitzten Wangen zu streicheln, verklebte weißblonde Strähnen aus dem Gesicht zu kämmen. Eine schmerzhafte Woge von verzweifelter und zugleich existentieller Zuneigung durchlief ihn, quetschte ihm die Kehle zu, verspannte seinen Brustkorb, hieß sein Herz stolpern. Man müsste die Zeit einfrieren, Ewigkeit befehlen! Unsinn, natürlich, außerdem gab es noch viele zärtliche, bedeutende, intensive, aufregende Momente zu erleben, bloß, bloß trieb ihm unerwartet die Vorstellung, dies alles sei vergänglich, nur ein Wimpernschlag in Raum/Zeit, Tränen in die dunklen Augen. Er schluckte heftig, um den aufkeimenden Geschmack von Salz und bitterer Galle zu vertreiben, stemmte sich hoch, um sich über Leif einzurichten, nahm dessen Kopf in beide Hände, sanft, beugte sich herab und bedeckte das erhitzte Gesicht mit Küssen, erst hastig, heftig, beinahe getrieben, dann bedächtiger, zärtlicher, ruhiger. Nicht die Ewigkeit war wichtig, nein, diesen besonderen Augenblick erlebt zu haben! Und ihn zu teilen, mit diesem einmaligen, einzigartigen Menschen! Er keuchte auf, als sich endlich Leifs muskulöse Arme vertraut um seine schmale Taille legten, ihn umarmten, seine Liebesbekundungen engagiert erwiderten, ein Gefühl, das er niemals missen wollte. *~+~* Leif warf einen Blick über die Schulter, als sich Walt an ihn anschmiegte, die dünnen Arme fest um seine Taille geschlungen, die Wange auf seinen Rücken gepresst. So vertraut fuhren sie meist auf seinem Motorrad, doch in der Küche, wo er gerade Sojamilch mit Kakaopulver langsam erhitzte (Walt vertrug keine Kuhmilch), hatte sein Freund sich nie angenähert. "Machst du dir Sorgen?" Erkundigte er sich, ließ den Henkel des Topfs fahren, um über die kleinen Handrücken zu streicheln. "Du nicht?" Klang es ein wenig dünn zu ihm herauf. "Nicht sonderlich." Bekannte Leif offen. "Denn an meinen Gefühlen ändert sich nichts. Ich möchte lieber glücklich sein." Ergänzte er lächelnd. "Was wird dein Vater sagen?" Walt kuschelte unvermindert weiter. Die Stirn in Falten legend grübelte Leif einen Augenblick, während er konzentriert in zwei Bechertassen die sämige Flüssigkeit einfüllte. "Tja, das weiß ich nicht." Antwortete er schließlich. "Es ist schwer vorherzusagen, wie er reagiert. Wir sprechen nicht so viel über Beziehungen." Nicht seit dem Tod seiner Mutter. Was nicht hieß, dass er die unverbrüchliche Zuneigung seines Vaters nicht spürte, in allen Taten und der aufmerksamen Fürsorge erlebte, nur neigte sein Vater noch weniger als vorher zu großen Worten. "Und deine Eltern?" Vorsichtig drehte er sich in der engen Umarmung, die Becher apportierend. Walt lockerte seinen Griff gerade so weit, dass er nun seine Wange auf Leifs Brust schmiegen konnte. Nur einen Moment noch die Wärme und die vertraute Festigkeit spüren, das Aroma aus Keksduft, Kakao und die Ahnung von Kernseife einatmen (die Jorgensens liebten es simpel und pragmatisch), die Vibrationen der dunklen Stimme genießen! Mit einem tiefen Seufzer gab er Leif frei, wechselte zum Küchentisch, wo die abgekühlten Kekse warteten. "Ich weiß es auch nicht." Er kauerte sich auf einen Stuhl, klappte die Beine vor den Leib und umschlang seine spitzen Knie, auf die er sein Kinn ablegen konnte. Leif stellte die Becher ab, streifte sich den Pullover über den Kopf und kordelte die Ärmel behutsam vor den spitzen Knien seines Freundes, lieh ihm seine Körperwärme. Seinen Stuhl zog er eng an Walts heran, studierte die dunklen Augen, die ihn aufmerksam betrachteten. Er lächelte aufmunternd, nahm einen großen Keks, teilte ihn geübt in zwei Hälften und reichte Walt einen Teil, schob ihm auch den Becher in Reichweite. "Es wird schon werden!" Munterte er seinen Freund auf. "Gemeinsam schaffen wir alles." Walt griff zu und knabberte mit versonnener Miene. "Komisch." Stellte er nach einem Schluck Kakao fest, der ihn wie stets mit einem adretten Moustache verzierte. "Dass ich erst jetzt bemerke, dass ich dich liebe. Eigentlich sollte sich ja alles jetzt wie auf den Kopf gestellt anfühlen, doch das tut es gar nicht. Seltsam, oder?" "Finde ich nicht." Leif lächelte gewohnt freimütig. "Eigentlich haben wir schon immer gewusst, was wir aneinander haben. Das ist jetzt lediglich ein weiteres gemeinsames Betätigungsfeld." Kopierte er Walts gehobene Wortwahl. Der schnaubte, grinste dann jedoch verschwörerisch-lausbübisch, entklappte die Beine, zog sich den viel zu großen Pullover über und angelte einen weiteren Keks, den er halbierte. Auch Leif grinste offenherzig. Sie waren in vollkommenem Einverständnis, da brauchte es keine weiteren Erörterungen! *~+~* Als Leif recht gehetzt in den Gang preschte, wartete Walt bereits auf der unbequemen Holzbank vor dem Konferenzsaal. Sie hatten keine Gelegenheit gehabt, sich auszutauschen, bevor sie Unterricht, Zusatzaufgaben und anderer Trubel in Beschlag genommen hatte. Leifs Suspendierung hatte schnell die Runde gemacht und sorgte für Aufsehen. Gerüchte schwirrten umher, was er wohl angestellt haben konnte, als einer der zahlreichen Beschuldigten auf der ständig anwachsenden Sünderliste im Zusammenhang mit abweichendem Verhalten unter dem Einfluss der 'Drogenwolke'. "Schlimm?" Keuchte er, stützte die Hände auf den Oberschenkeln ab, nach vorne geneigt. Walt zuckte verdrossen mit den Schultern, doch der Unmut galt keineswegs seinem Freund. Um versehentlichem 'Vergessen' des roten Briefs vorzubeugen, hatte man auch per E-Mail eine Nachricht an die Eltern abgesetzt, sodass nach Feierabend eine sehr unerfreuliche Debatte mit seinem Vater stattfand. Der ging unausgesprochen von einer 'Phase' aus, die sein Sohn überwinden würde, befürchtete jedoch viel stärker, dass man ihn, den dunkelhäutigen Nicht-Sportler als Sündenbock einsetzen wollte, um den strahlenden Sportheld von jeder Schuld reinzuwaschen. Außerdem benötigte der ja auch ein Stipendium, um sich das College leisten zu können... Walt konnte diesen Mutmaßungen nicht länger still lauschen und verteidigte Leif vehement, der NIEMALS etwas auf ihn schieben würde und durchaus gute Noten hatte, um sich auch ohne Sportstipendium einen Weg aufs College zu ermöglichen! Abgesehen davon ging es niemanden was an, was die Schüler nach dem Unterricht außerhalb des Geländes taten! Hier wurde vielmehr Denunziantentum protegiert, und zwar das eines Mannes, der bekanntermaßen mit den Jorgensens seit Jahren im Streit lag, sich nicht schämte, in anderer Leute Häuser zu starren, und zwar gezielt! Zudem galten Menschenrechte auch für Jugendliche, die nicht wegen ihrer sexuellen Orientierung benachteiligt werden dürften! Die elaborierte, leidenschaftliche Verteidigungsrede traf auf die Erwiderung der zu erwartenden Sanktionen in einer gar nicht so idealen Welt, die gern Lippenbekenntnisse abgab, aber sie nur ungern auch noch lebte! Man hatte sich sehr frostig zur Nacht begeben, und Walt ging nicht davon aus, dass seine Eltern ihm weiterhin den gewohnten Umgang mit Leif ohne Einschränkungen gestatten würden, was ihn ausgesprochen wurmte. "Und bei dir?" Grummelte er und drückte Leifs Rechte, der sich neben ihm niedergelassen hatte. "Nichts." Leif zuckte mit den Schultern. "Ist gestern spät geworden." Das kam durchaus mal vor, vor allem bei Noteinsätzen, und am Morgen hatte er seinen Vater auch nicht gesehen. "Tja!" Schnaubte Walt schnippisch, hielt unbeirrt Händchen. Was konnte daran so schlimm sein?! Überhaupt, warum sich beschränken, wo doch ohnehin alle Welt glaubte, alles über sie zu wissen und den Stab brechen zu können! Den Blick auf den Boden gerichtet, gemeinsam den Aufruf abwartend, entging ihnen das leichtfüßige Herannahen eines Mannes, der imposanter wirkte, als er tatsächlich war, zumindest auf die reine Physis gemünzt. "Dad!" Schreckte Leif hoch, als sich ein Schatten vor ihnen auf dem abgetretenen Linoleum abzeichnete, aber nicht mal dieser Impuls bewegte ihn dazu, Walts Hand fahren zu lassen. "Junior." Magnus Jorgensen nickte, wandte sich dann Walt zu, der ebenfalls aufgestanden war und unbehaglich in die fast durchscheinend hellen Augen blickte. Der dichte, aber gepflegte Kinn-, Oberlippen- und Backenbart kombiniert mit der polierten Glatze ließ den athletischen Mann tatsächlich wie einen Wikinger erscheinen, denen man ja aggressive Gefühlskälte und barbarische Rohheit nachsagte, ganz gleich, was gegenteilige Indizien belegen mochten. Im Bart war es nahezu unmöglich, das Hochschnurren der Mundwinkel zu registrieren, aber die kräftige Hand, die sich auf Walts Kopf legte, bewies ihm genug: Leifs Vater war ihm nicht übel gesonnen. "Aber woher...?" Leif brachte sich ein, legte dem Vater die freie Hand auf den Oberarm. "Leckere Kekse." Lautete die lapidare Antwort. Mochte er auch kein Mann vieler Worte sein, seiner Aufmerksamkeit entzog sich nur wenig. "...oh..." Murmelte Leif verdattert. Dass seine Backgewohnheiten ihn verraten würden, war ihm nicht in den Sinn gekommen. "Kein Tennis mehr?" Ein versichernder Arm drückte seine Schultern, die sonoren Worte klangen ruhig, neutral. Stumm schüttelte Leif den Kopf, aber dieser Umstand bekümmerte ihn weniger als mögliche Konsequenzen für Walt. "Hmmm." Brummte sein Vater im Bass, durchaus aufgeräumt. Da öffnete sich die doppelte Konferenztür ächzend, andere Sünder in Begleitung ihrer Erziehungsberechtigten hasteten eilig hinaus, offenbar ein Spießrutenlaufen erwartend und um die Ecke flitzte Walts Vater, die Krawatte vom Flug lediglich durch eine resistente Nadel gehindert. "Keine Parkplätze!" Konnte man den gezischten Ärger von den Lippen ablesen. "Guten Tag, Herr Prakesh." Magnus Jorgensen streckte die Rechte höflich aus, bremste den zierlichen Mann, der sich sofort auf seine Manieren besann. "Herr Jorgensen! Wie geht es Ihnen? Lange her, nicht wahr?" "Bitte kommen Sie, wir sind in Verzug!" Mischte sich griesgrämig eine ältere Sekretärin ein, unterbrach das aufmerksame Taxieren der beiden Männer, dann trennte sie energisch Walt und Leifs Hände. "Los doch!" *~+~* "Einfach irre" Stellte Leif fest, während er sich den Helm auftopfte. "Dein Vater hat alle Register gezogen, unglaublich!" "Pah!" Murmelte Walt und zog seinen Anorak zurecht. "Reine Repetition unseres Gesprächs gestern Abend, allerdings in umgekehrten Rollen!" Ergänzte er schmollend. Außerdem, Sprachen waren die beruflichen Waffen seines Vaters, kein Wunder, dass er hier ungehindert und überwältigend vom Leder ziehen konnte! Er kletterte auf den Sozius und schlang wie gewohnt die Arme um Leifs Mitte. "Ich glaube, dein Vater hat uns akzeptiert!" Das beeindruckte IHN viel mehr. Tatsächlich hatte Magnus Jorgensens Einlassung sämtliche Anwesenden sprachlos zurückgelassen. Sich erhebend verkündete er mit sonorer Stimme schlichte Fakten. "Leif ist ein liebevoller Sohn, ein eifriger Schüler, ein begeisterter Sportler, ein hilfsbereiter Nachbar und ein aufmerksamer Freund. Er ist ein guter Mensch und wahrer Lebenskamerad." Dann nahm er wieder Platz. Niemand wusste etwas zu entgegnen und so entließ man sie schließlich reichlich konfus, es ginge ja lediglich um eine Aufklärung gewisser Gerüchte, nicht wahr, man wolle ausschließlich den Schulfrieden bewahren und potentielle Konflikte vermeiden, keineswegs gebe es eine Anklage (nach dem Kreuzverhör von Walts Vater ohnehin selbstmörderisch), überhaupt, es sei doch wichtig, dass alle sich gut verstünden und gegenseitigen Respekt und Toleranz übten! "Du kommst bestimmt auch wieder in die Tennismannschaft!" Dröhnte Walt gegen das Motorrad an. Leif verließ umsichtig das Schulgelände, bog auf die breite Straße ein, blinkte jedoch sofort rechts und wählte eine freie Parkbucht, um dort den Motor abzustellen. Überrascht kletterte Walt wieder vom Motorrad, klappte das Visier hoch und suchte in Leifs Gesicht nach einer Antwort auf diesen ungeplanten Halt. Der löste seinen Helm vom Kopf, noch immer sitzend, die Maschine jedoch aufbockend, dann streckte er die Hände aus, um auch Walt den Helm vom Kopf zu entführen und am freien Griff des Lenkers aufzuhängen. "Stimmt was nicht?" Erkundigte sich Walt besorgt, fand sich jedoch sogleich von kraftvollen Armen eng an Leif gezogen. Der hielt ihn einige Augenblicke, wisperte dann rau. "Das wollte ich seit heute Morgen schon tun!" "Aha." Stellte Walt fest, nutzte die Gelegenheit, seine Arme nach oben zu schlängeln, die Hände um das vertraut-kantige Gesicht zu legen und nach einem schurkisch-verschwörerischen Blinzeln ihre neue 'Freizeitgestaltungsmöglichkeit' mit engagierten Übungseinheiten einzuleiten. Leif lächelte in jeden weiteren, aufregenden, süßen, schelmisch-neckend liebevollen Kuss. Lebenskameraden eben! *~+~* Abschlussphase... vorerst 'Morgen' betrat den Raum leichtfüßig, ignorierte die unzähligen Augäpfel gewohnt souverän. Xa'du hockte mit untergeschlagenen Beinen vor einem Augapfel und murmelte konzentriert vor sich hin. "Was siehst du dir da an?" Erkundigte sich der fremde Gott höflich. Sein Schützling, einziger Ex-Ameisen-Gott in dieser Dimension, wandte sich halb zu ihm herum, wirkte weniger ausgezehrt und verzweifelt als zuvor. "Sag mal, was weißt du über Genmutationen?" Erkundigte sich Xa'du hoffnungsvoll. *~+~* "Sieh an." Stellte der Erste seiner Welt fest, geräuschlos in den geliebten Pudelpuschen. 'Morgen' setzte sich auf, achtete jedoch darauf, den nackten, süßen Schläfer behutsam aus seinen Armen zu entlassen. Verlegen wirrte er sich durch entfleuchte Strähnen. "Reine Notwehr. Ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen." Der Große M kicherte amüsiert. "Ja, diese Option habe ich auch schon das ein oder andere Mal gewählt." Gab er schmunzelnd zu. 'Morgen' betrachtete Xa'dus entspannte Gestalt, dem er trotz gewisser Einschränkungen ganz neue Horizonte eröffnet hatte. Auf ungeahnte Weise schien sein existentieller 'Zwangsoptimismus' auch auf den seltsamen, außergewöhnlichen und gefährlich hinreißenden Ex-Ameisen-Gott abgefärbt zu sein. "Noch ein Weilchen kann er hier bleiben." Stellte sein langjähriger Gegenüber fest. "Dann nimm ihn mit in unsere Welt. Wenn er sich nützlich machen will, findet er bestimmt ausreichend Gelegenheiten." "Danke." Antwortete 'Morgen' leise. Eine Weile schwiegen sie, eingehüllt in das blitzende, blinkende, ständig wechselnde Farbenspiel der Übertragungen auf den Augäpfeln. "Tja, Menschen!" Man wippte elastisch in den Puschen. "Einfach erfrischend! Man müsste sie glatt erfinden, wenn es sie nicht gäbe!" 'Morgen' streichelte behutsam durch meergrüne Strähnen, ein versonnenes Lächeln auf den Zügen. "Ich bin schon auf Morgen gespannt..." *~+~* ENDE *~+~* Vielen Dank fürs Lesen! kimera