Titel: Dein ist mein ganzes Herz Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Phantastik Ereignis: Weihnachten 2004 Erstellt: 19.12.2004 Disclaimer: - "Dein ist mein ganzes Herz" wurde von L. Herzer und F. Löhner-Beda verfasst. Die Musik schrieb Franz Lehar für seine Operette "Land des Lächelns". - "The christmas carol" stammt von Charles Dickens. Anmerkung: eine etwas andere Weihnachtsgeschichte. ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ ~@~ Dein ist mein ganzes Herz Kapitel 1 - Große Erwartungen Canol packte seine Hände unter die Achseln der schweren Lederjacke und zog eine Grimasse. »Arschkalt!« Letterte es auf seiner Stirn, doch er hütete sich, diese verräterische Befindlichkeit laut auszusprechen. »Wenigstens zieht es in der Garageneinfahrt nicht!« Konstatierte er mit betont arrogantem Blick, der sich einen Wettstreit mit dem seiner Freunde lieferte. Augenblicklich waren sie zu viert, ein Quartett, das man im Auge behielt, während man die Straßenseite wechselte. Um sich die Zeit zu vertreiben, die ihnen mehr als überreichlich zur Verfügung stand, "befragten" sie Passierende, vorzugsweise männlich, ohne Begleitung und durch diffuse Vermutungen ihrerseits "unverdient besser dran". Anzeichen gab es genug, lauschte man Canols bestem Freund Tarik, zum Beispiel die Labels bekannter Designer oder Modeketten, aber auch des modernen Menschen bestes Stück, das Mobiltelefon. Eine Handbewegung ließ sie aufmerken, es nahte also "Kundschaft". In geübter Präzision umkreisten sie ihr Opfer, drängten es in die Einfahrt hinein, schüchterten durch bloße physische Präsenz derartig ein, dass Widerstand nur äußerst selten geleistet wurde. Der trotz Daunenjacke schmächtige Schüler, die Brille von der Aufregung beschlagen, blinzelte nervös, ballte die Hände in den Ärmelenden hektisch. "Immer mit der Ruhe, Kumpel!" Grinste Canol, der turnusgemäß und routiniert den Anführer seines Teams mimte. "Wir wollen dich nur was fragen, okay? Also bleib doch ganz locker und entspann' dich." Feixte er in das mit rötlichen Flecken gezeichnete Gesicht. "Fragen?!" Quiekte der Schüler ungläubig, mit einem Unterton von Misstrauen, dass seine erste Einschätzung der Lage nicht zutreffend sein sollte. "Klar." Grinste Canol, streckte dann die Hand aus. "Wir müssen dringend mal telefonieren. Du kannst uns doch sicher mal eben dein Handy leihen, oder?" Bevor sich ungerechtfertigter Widerstand positionieren konnte, hatten zwei der Vier dem Opfer bereits die Taschen geleert und sichteten die Ergebnisse. "Ah!" Strahlte Canol jovial. "Bengt heißt du also. Was ist das denn für ein komischer Name?! Klingt so nach Ikea." Canol zog eine jeden Morgen sorgfältig gezupfte Augenbraue zwecks Nicholsonschen Effekts in die Höhe. Sein Gegenüber, eingekeilt zwischen zwei "Buchstützen", die seine Ellenbogen umklammerten, verbarrikadierte den Kopf zwischen den verspannten Schultern. Canol zitierte die Adresse, die er dem Schülerausweis entnahm, hauptsächlich aufgrund der psychologischen Bedeutung: wir wissen, wo wir dich finden können, wenn du Ärger machst. "Oh Mann, sieh dir das Ding an!" Tarik klappte das Mobiltelefon auf, studierte das Display. "Musst ja ne Menge Kohle haben, was?!" Ungeniert bediente man sich an den aufgespürten Kaugummis, stopfte den gesamten Rest mit herausgehoben leutseliger Stimmung wieder in Jacken- und Hosentaschen. "So, dann wollen wir doch mal unseren Anruf tätigen." Forderte Canol auf, ließ einen Schlagring um seinen Zeigefinger kreisen, der sich in bester Westernmanier dort aus dem Nichts materialisiert hatte. "So was, danke, Kumpel, du hast echt ein Herz für deine Mitmenschen!" Verspottete er ihr Opfer, die Zähne bleckend, während er eine lange Nummer eintippte. Wahlweise standen ihnen mehrere Porno-Hotlines zu Gebot, mit deren Unterstützung in kurzer Zeit Kontoguthaben geleert werden konnten oder zumindest erheblich belastet. "Hey!" Canol tastete sich selbst theatralisch ab, kramte in seinen Taschen. "Jetzt habe ich doch keine 20 Cent bei mir!" "Sag mal, Bengt?" Er beugte sich vor, atmete demonstrativ kondensierende Wolken in das Gesicht des Schülers. "Das macht dir doch nichts aus, oder? Oder?!" Wer wagte schon, entouriert und ohne Aussicht auf Unterstützung durch zufällig Vorbeikommende zu widersprechen? Der Schüler presste die Lippen zusammen, schüttelte hastig den Kopf und erhielt sein sorgsam abgewischtes Mobiltelefon zurück. "Tja, danke, Mann. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder!" Entließ Canol ihn mit einem Grinsen, schlug dabei mit der rechten Faust in die linke Handfläche. Ihr Opfer gab Fersengeld. Die Vier blickten einander an und brachen dann in Gelächter aus. Sie waren nicht so dumm, andere abzurippen und sich dann von den Bullen einkassieren zu lassen! "Gehen wir zu meinem Onkel." Schlug Tarik vor. "Uns aufwärmen." Einmütig mit ausgestellten Schultern und breitem Seemannsgang zwecks Imponiergehabe machten sie sich auf den Weg. In dem einfach eingerichteten, nicht sonderlich beleuchteten Café wurden sie gelitten, solange sie sich ruhig verhielten und ihre Getränke bezahlten. Junge Männer, die keiner Arbeit nachgingen, sah man auch dort nicht gern. Canol steckte sich eine beschlagnahmte Zigarette an und inhalierte tief. Natürlich würde es mal wieder Ärger geben, wenn er nach Hause kam. Und morgen dann die längere Schicht, noch mehr Obstkisten stemmen, einräumen, ausräumen, kassieren, putzen, fegen! Canol hasste seinen Job. Beim eigenen Vater in einem Lebensmittelmarkt zu arbeiten war erniedrigend, befand er, wenn auch nicht allzu laut. Klar, Abbas, seinen älteren Bruder, den störte das gar nicht! Er hatte natürlich gleich den zweiten Laden als Geschäftsführer von ihrem Vater übertragen bekommen, trug jeden Tag einen Anzug und schwang große Reden über Expansion, Kundenstruktur und Sortimentskonzentration. Abgesehen davon, dass Abbas eben seine Zeit damit verschwendet hatte, nach der Ausbildung zum Fachverkäufer auch noch Weiterbildungsangebote wahrzunehmen, um sich weiterzuqualifizieren, ließ er Canol nach eigenem Empfinden IMMER schlecht aussehen. Und dann noch diese Verlobte... eine Studierte! Canol hätte am Liebsten verachtungsvoll ausgespuckt, erinnerte sich aber rechtzeitig daran, wo er sich befand. »Abbas' Leben ist hoffentlich zum Kotzen!« Wünschte er übellaunig, leerte sein Teeglas. Es gab Besseres im Leben, er selbst hatte Besseres VERDIENT! Mit Freunden unterwegs sein, Spaß haben, über die Stränge schlagen, was unter dem Kapitel "Scheiße bauen" subsumiert wurde, das war doch das Salz in der Suppe! So aber musste er ackern wie ein Gaul, mit einer Schürze (!) herumlaufen und bekam dafür noch wenig Geld, um das er seinen Alten bitten musste. Ein wenig ausgleichende Gerechtigkeit tat da ja wohl Not! Hier und da mal ein Scheinchen, mal ein paar Eintrittskarten für das Kino erbitten, Taxigeld, man musste ja schließlich über die Runden kommen! Und überhaupt, Robin Hood hatte ja auch von den Reichen genommen und es den Armen gegeben, was als heldenhaft verehrt wurde! Also, warum sollte er nicht irgendwelchen Pickelgesichtern in Hilfinger-Klamotten, die von Mami und Papi das Geld förmlich in den Arsch geblasen bekamen, Erleichterung verschaffen und die Beute an Benachteiligte verteilen?! Arm dran war er ja wohl, das konnte keiner bestreiten!! "Mach's gut, Alter!" Verabschiedeten sich seine Freunde, als Canol den Heimweg antrat. »Noch so eine Sache!« Stellte er erbost über die Ungerechtigkeit der Welt fest. »Andere fahren aufgemotzte Kisten und ich muss mir die Füße ablatschen!« Wie ein Raubtier behielt er mit kreiselndem Blick seine Umgebung im Auge, die mit Frost überzuckerten Straßen, Autos und Laternen, die wenigen dürren Bäume, die Kondenswolken ausblasenden Passierenden mit ihrer vielschichtigen Vermummung. »Die Porno-Hotlines werden langsam eintönig.« Konstatierte er unzufrieden. »Immer das Gleiche, und ohne Bild. Vielleicht sollten wir uns darauf verlegen, besonders blöde Klingeltöne oder Logos runterzuladen, bis das Guthabenkonto erschöpft ist?!« Eine befriedigende Antwort fand er nicht, da sein Vater ihm mit kaltem Blick einen Reisigbesen aushändigte, mit dem er gefälligst das Trottoir zu fegen hatte, damit kein Schmutz das idyllische Bild der dort gelagerten Verkaufsstände trübte. Canol erwog für einen Augenblick, darauf zu bestehen, dass er seine Schürze umbinden durfte, um sich nicht einzustäuben. Immerhin trug er eine makellos weiße Levis, verzichtete angesichts der eisigen Stimmung aber darauf. »Wie ein beschissener Straßenkehrer!« Murrte er stumm. »Verdammt, wir leben in der zweiten Generation hier! Ich bin Deutscher, warum muss ich die Drecksarbeit machen?!« Außerdem störte das bisschen Staub ja wohl keinen, guckte doch keiner unter die Stände drunter! "Du gehst jetzt SOFORT zu deiner Mutter!" Herrschte ihn sein Vater leise auf Türkisch an, mit einer Geste, die Canol nur zu gut kannte. Zwar war er nie wie andere mit dem Gürtel oder Kleiderbügeln geprügelt worden, aber ein Faustschlag in den Nacken prägte sich ein. Canol machte aufgebracht, ohne dies ausleben zu dürfen, auf dem Absatz kehrt, stürmte hinaus, um die kleine Haustür aufzustoßen und die schmale Stiege bis zur Wohnung, die über dem Geschäft lag, zu erklimmen. »Was habe ich denn gemacht?! Was zum Teufel ist sein Problem?! Jeder nimmt sich mal einen Tag frei! Immer lässt er alles an mir aus!« Canol grunzte seiner Mutter einen Gruß zu, die wie gewohnt mit einer Häkelarbeit verwachsen schien. »Überall diese blöden Spießerdeckchen!« Brodelte es in Canol, doch er verzichtete großmütig darauf, seine Wut auf die eigene Mutter zu projizieren, hielt auf sein Zimmer zu. In diesem Augenblick trat Elif hinaus, genau ein Jahr älter und widerlicher Weise nicht nur seine Schwester, sondern Abiturientin, die auch noch studieren wollte! »Eine verwöhnte Prinzessin!« Funkte Canol Neid mit jedem Blick, musterte Elif, die vor dem Spiegel ihren knappen Mini herunterzupfte, die Lippen nachzog und sich die Haare kämmte. "Wo willst du in diesem Aufzug hin?!" Blaffte Canol. "Schon wieder ausgehen?!" Elif zog eine Augenbraue hoch, mit beneidenswertem Ausdruck. "Das geht dich gar nichts an, Brüderchen." "Gerade weil ich dein Bruder bin, geht es mich ALLES an! Und diese Klamotten, hast du kein Schamgefühl?!" Canol ballte die Fäuste, baute sich drohend auf. Nun hatte er ihre Aufmerksamkeit vollständig auf sich fixiert. Die Hände in die Hüften gestützt glitt ihr sezierender Blick nun an Canol auf und nieder, bevor sie dicht an ihn herantrat. "Was ist los mit DIR, hm?! Bist du auf den Kopf gefallen, oder was?! Versuch bloß nicht, deine dämlichen Macker-Attitüden an mir auszulassen, sonst stecke ich Vater, was du in deiner so genannten Freizeit so treibst, alles klar?" Hüftschwenkend ließ Elif Canol stehen, nahm bei ihrer Mutter in der Küche Platz, um sich einen süßen Tee ausschenken zu lassen, den sie so liebte. Canol stürmte in sein Zimmer und schlug die Tür fest ins Schloss. Da hörte sich ja alles auf! Sie machte ihn zum Gespött seiner Freunde und wagte es auch noch, ihm zu drohen?! Dummerweise stellte Elif ein veritables Problem dar, das nicht mit einer geschwisterlichen Erpressung gelöst werden konnte. Beste Zensuren, pünktliche Rückkehr von Unternehmungen, höfliche, fröhliche Freundinnen, das war alles nur sein liberaler Vater Schuld! Der unternahm einfach nichts! Wenn sie wenigstens heimlich einen Freund hätte oder Rauchen würde, was ihr Vater absolut verabscheute! Aber noch war ihm kein geeignetes Instrument untergekommen, das ihm die Oberhand sicherte. Canol schleuderte seine Jacke achtlos auf den Boden, warf sich rücklings auf sein Bett und starrte finsteren Gemüts an die Zimmerdecke. Das war einfach nicht fair!! Er hatte schließlich auch die Realschule abgeschlossen, zwar nicht annähernd so gut wie Abbas, aber... und er arbeitete ja wohl auch hart! Das konnte keiner bestreiten wollen! Trotzdem wurde er von seiner eigenen Familie nicht mit Respekt behandelt, sondern wie ein Fremder nur geduldet! Gemaßregelt! Er angelte mit einer Hand seinen Disc-Man heran, stöpselte sich Eminems Stakkato-Rap in die Ohren, eine mit der unaufrichtigen Absicht, sie zurückzugebende CD, die er von einem ihrer Opfer geliehen hatte. Die ganze Welt hatte etwas gegen ihn, so viel stand doch schon mal fest! Obwohl er sehr gut aussah (blaue Augen, kräftige, schwarze Haare mit exklusivem Schnitt wie Tarkan), sich mit Stil kleidete und geradezu prädestiniert war, sofort mit Ruhm und Reichtum umzugehen, wurde er unterdrückt und eingeschränkt! Von seiner Familie, von der Gesellschaft und den Umständen! Dagegen musste er irgendwas unternehmen! Leider ließ die Lösung ungeachtet der intensiven Gedanken zu diesem Thema auf sich warten. »Ich könnte mir einen Job suchen...« Allerdings müsste er dann zum Arbeitsamt gehen. »Oder eine andere Ausbildung...« Die kontemplative Zukunftsplanung brach jäh ab, ebenso wie Eminems Vortrag. Canol blinzelte und setzte sich auf. "Hi." Signalisierte ein Typ, der es sich auf seinem Bett bequem gemacht hatte und gerade Canols Schnürsenkel miteinander verknotete. "EY?! Wer bist du Wichser und wie bist du hier reingekommen?!" Canol besann sich gerade noch rechtzeitig, nicht auf die Beine zu springen und eine Bruchlandung hinzulegen. "Yo, peace!" Deutete sein ungebetener Besucher mit dem Victory-Zeichen an, klopfte cremefarbene Cargos ab, zog den Reißverschluss einer gleichfarbigen Daunenweste auf Halbmast und wischte den langen Zipfel einer Zackenmütze auf den Rücken. "Wir sind die Geister der Weihnacht." Stellte er sich vor. "Du kannst mich G. nennen." "Ist mir scheißegal, wer du bist, verpiss dich, aber sofort, sonst polier ich dir die Fresse!" Drohte Canol und streifte seine Sneaker ab, um sich Bewegungsfreiheit zu verschaffen. "Immer locker bleiben!" Kopierte G. Canols lässigen Tonfall spottend. "Nun werd nicht gleich hysterisch, Alter." Canols Faust sauste auf das weiche, seltsam androgyne Gesicht seines unerwünschten Besuchers zu, doch dieser fing sie mit einem zuckersüßen Lächeln gekonnt ab, um Canols Faust dann wie schmutziges Papier wegzuschnicken. "Hör mal, ich halte keine Händchen, alles klar? Also, kommen wir zum Geschäft." Erklärte G. aufgeräumt, räusperte sich und wechselte in die aufgeregte Tonart einer Lotto-Fee. "Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gewonnen!" Flötete er schrill. "Sie sind als einer von tausend Glücklichen pro Tag erwählt worden, die speziellen Dienstleistungen der Geister der Weihnacht zu erfahren!" Mit einem Schnauben unterbrach Canol den zirpenden Werbegesang. "Was soll der Scheiß, du Arsch?! Ich will nichts gewinnen, und nun mach nen Abgang!" Endlich lag der Schlagring vertrauensvoll in seiner Hand. "Bei der Vergabe von Manieren hast du wohl kein Glück gehabt, wie?!" Tadelte G. vollkommen unbeeindruckt. "Aber das tut nichts zur Sache, weil du ausgewählt wurdest." "Da scheiß ich drauf!" Brüllte Canol und erhob sich drohend, bereit, den aufdringlichen Usurpator seines Zimmers auf Briefmarkengröße zusammenzufalten. G. schnalzte tadelnd mit der Zunge, rutschte elegant von der Bettkante herunter und fegte Canol mit einem geübten Fußtritt von den Beinen. "So." Sich bequem auf Canols Hüften niederlassend und dessen für Augenblicke benommene Paralyse ausnutzend, um sorgsam auch noch die Handgelenke mit einem Kabelbinder zu verschnüren, lächelte G. boshaft. "Nun lausche mal aufmerksam, was ich dir zu sagen habe, verstanden?" Ein Zeigefinger stippte hart gegen Canols Brustbein. "Also, du bist Teilnehmer unseres besonderen Programms. Die Geister der Weihnacht..." "Wieso Geister? Du bist doch allein!" Fauchte Canol beckmesserisch, zu wütend, um sich von der seltsamen Situation beeindrucken zu lassen. G. verdrehte ungeduldig die Augen. "Okay, wir waren mal drei, aber du weißt ja, wie das ist, Stellenabbau und Mutterschutz, also mach ich den Job alleine. Gut, wo war ich..?" "Moment mal, du Spinner!" Mit einem triumphierenden Lächeln hob Canol seinen Kopf vom Boden, funkelte hoch. "Ich bin kein Christ, klar?! Falsche Konfession, also zieh Leine!" Ein wenig christliches Zähneblecken verzerrte die Züge seines Besuchers zu einer besonders boshaften Grimasse. "Was soll ich sagen, Schatz?" Flötete er. "Wir arbeiten international, interkonfessionell und ohne Vorurteile!" Lächelte er wie raffinierter Zucker, um Canol einen weiteren lehrreichen Stoß zu verpassen. "Aber jetzt sei still, damit ich weitermachen kann!" "Dann bist du so eine Art Engel?!" Canol strapazierte die Geduld seines ungewollten Besuchers absichtlich, nun, da sich zeigte, dass er diesen damit loswerden konnte. "So eine Art." Knurrte G. mit zusammengezogenen Augen, die ein Duell ankündigten. "Wieso trägst du dann kein Nachthemd? Machen Engel ja wohl!" Canol arbeitete sich durch seine persönliche Beweisaufnahme mit der Genugtuung eines Mannes, der auf einer Eisscholle Richtung Äquator treibt und die Sonne ignoriert. »Bis jetzt ist doch alles gut gegangen.« "In dem Nachthemd sind keine Taschen für meinen Organizer." Zwitscherte G. am Rande eines Ausbruchs von Unfreundlichkeiten, kniff Canol dann kräftig in die Nase. "Und nun halt endlich deine Schnauze, sonst pflastere ich sie dir zu!" Canol versuchte sich nun darin, durch energisches Zappeln sowie Umsichschlagen und -treten seinen Aggressor loszuwerden, doch der vermeintliche Engel hatte offenkundig bereits Büffelherden zugeritten und war darüber hinaus seefest. Außer Atem und schweißbeperlt blieb Canol nichts weiter, als seine temporäre Niederlage einzugestehen und auf eine bessere Gelegenheit zu lauern. "Endlich gibst du Ruhe, aber das passt ja zu dir. Ein aufgeblasener Wichtigtuer, der andere Leute drangsaliert und seine eigene Inkompetenz mit aggressivem Verhalten zu überspielen versucht!" Ätzte G. unfreundlich, um dann wieder zum Wesentlichen zu kommen. "Also, du ausgewählt blablabla, Frist bis Heiligabend blablabla, Charakterverbesserung, sonst Ex, Punkt." Canols Augen war sein Unverständnis deutlich abzulesen, doch in diesem Augenblick ertönte ein merkwürdiges Tröten. Mit einem Stoßseufzer fingerte G. einen handlichen Organizer aus einer seiner Cargo-Taschen, konsultierte die Anzeige mit Stirnrunzeln. "Mist, ich bin spät dran!" "Was ist das denn für ein beschissener Klingelton?!" Mokierte sich Canol und verdrängte die verkürzten Androhungen des Geistes der Weihnacht. "Posaune von Jericho, allerdings ist ein Apostel draufgelatscht. Seitdem klingt sie ein wenig kakophonisch." Zuckte G. mit den Schultern, fixierte dann einen inquisitorischen Blick auf Canol, schob ansatzlos eine kalte Handfläche unter dessen Hemd und T-Shirt, was Canol zu einem empörten Schnaufen veranlasste. "Spürst du was?" Erkundigte sich G. ernsthaft. "Du perverser Wichser, was...?!" Weiter kam Canol nicht, denn er registrierte etwas Beunruhigendes. Sein Herzschlag fehlte. Einige Wimpernschläge später verabschiedete sich die Farbe aus seinem Gesicht, Canol wurde aschfahl. "Was soll dieser Scheiß?! Nimm deinen Wichsgriffel da weg!" Blökte er, doch die Verunsicherung trübte seine Stimme zu einem heiseren Krächzen. "Ah!" Strahlte der Engel diabolisch. "Endlich genieße ich deine volle Aufmerksamkeit. Nun, mein Knackarsch!" Canol erschauerte, und der Engel blitzte spitze Eckzähne auf, amüsierte sich offenkundig königlich. "DAS ist der Deal: du hast bis Heiligabend Zeit, dein Herz zurückzugewinnen. Vermasselst du es, wird 'näher zu Gott' für dich eine ganz neue Bedeutung bekommen. Klar so weit?" Canol blinzelte unkontrolliert, während ein kleines hysterisches Spitting-Image in seinem Inneren hektisch auf und nieder rannte, die Arme hochriss und in höchsten Tönen unartikuliert kreischte. »Das kann nicht wahr sein!!!« "Na dann!" Mit einem Fingerschnippen löste sich der Kabelbinder um Canols Handgelenke, während sich G. erhob, den Organizer verstaute und ein besonders dreckiges Grinsen entsandte, das Canols Zittern goutierte. "Schöne Bescherung!" ~@~ "Das ist doch BULLSHIT!" Zischte Canol sein Spiegelbild an, während er in unterdrückter Hysterie nach seinem Herzschlag fahndete. Wenn sein Herz fehlen sollte, so, wie das der verfluchte Geist behauptet hatte, dann müsste er logischerweise schon tot sein, weil "ohne Herz nie mehr Schmerz". Oder was anderes. "Aber ich atme und lebe noch." Konstatierte Canol mit einer profunden Erleichterung, während er den eigenen Brustkorb abtastete. "Puls habe ich auch!" Es hatte zwar einiger Anstrengungen bedurft, aber zumindest in dieser Hinsicht verfügte er nach intensiver Suche über eine unumstößliche Sicherheit. Doch so sehr sich Canol mit verlegen geröteten Wangen abtastete, in sich hineinlauschte: einen Herzschlag fand er nicht. »Vielleicht bin ich ja nun ein Untoter. Vampir, oder so? Die laufen doch auch herum.« Erwog Canol seine Möglichkeiten, steckte sich eine weitere Zigarette an. Aber einen besonderen Blutdurst konnte er an sich nicht feststellen, eher Ekel bei der Vorstellung, an anderer Leute Hälse zu hängen. "Außerdem ist das doch bloß Hollywood-Scheiß!" Baute er sich selbst auf, mit mehr Nachdruck, als seiner tatsächlichen Überzeugung entsprach. "Irgendwas ist an der ganzen Sache faul." Sortierte Canol seine Gedanken, inhalierte tief. "Ich werde zum Arzt gehen und der wird mir sagen, dass ich absolut gesund bin und in verdammt guter Form. Und all dieser Blödsinn hier, den werde ich einfach vergessen! Ex und hopp, keinen Stress mehr!" Mit diesem förmlichen Entschluss rollte er sich herum, aktivierte seine Spielekonsole und ließ sich als weltberühmter Rallye-Fahrer hochleben. ~@~ "Warum willst du zum Arzt? Bist du krank?" Canols Vater stellte bereits die erste Blockade des Schlachtplans auf. "Das kostet Geld, das du bezahlen wirst. Außerdem müssen die Regale aufgefüllt werden. Du bist gestern nicht da gewesen, da hättest du zum Arzt gehen können. Heute ist dafür keine Zeit!" Murrend gab Canol vorerst nach, denn er wollte sich keine Blöße geben und irgendeine Erkrankung erfinden, die sein Vater ohnehin in Zweifel gezogen hätte. Einmal zu oft hatte Canol in der Vergangenheit diese Karte ausgespielt, um sich um unerfreuliche Schulstunden zu drücken. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich die verhasste Schürze umzuschnallen, zu wischen und zu kehren, dann zu etikettieren, einzuräumen, nachzubestellen, und zwar alles per Hand, da sein Vater die Anschaffung elektronischer Geräte glattweg ablehnte. Canol verabscheute seine Arbeit, weil sie stumm und geistlos vor sich hinplätscherte, er gezwungen war, freundlich und servil zu reagieren. Dass ihm sein Vater mehrfach versucht hatte, den Unterschied zwischen servil und zuvorkommend zu verdeutlichen, verdrängte er geschwind. Da kamen sie wieder, die anderen Jungs, die ihn mit ihren Augen verspotteten, weil er nicht lässig und souverän einkaufte, sondern auf die andere Seite, zu den Handlangern gehörte! Gefolgt von den Rentnern und Müttern mit ihren ungezogenen Gören, die alles durcheinander brachten, quengelten und brüllten! Doch an diesem Tag ignorierte er all die gewohnten Ärgernisse, allerdings nicht aus freien Stücken. So merkwürdig es anmutete, der eigene Herzschlag, ein Uhrwerk der Befindlichkeit, der Antrieb der eigenen Welt, schwieg. Dieses Schweigen übertönte das gesamte Getöse um Canol herum. Etwas Substantielles fehlte und diese Leere schlug sich massiv auf sein Gemüt nieder. Doch mit wem sollte er darüber sprechen?! Wortlos arbeitete Canol vor sich hin, verwarf den Gedanken an einen Arztbesuch widerwillig. Wenn es keinen Herzschlag mehr gab, war man mehr oder weniger tot. Da er selbst aber noch lebte, würde ihm auch kein Arzt helfen können. Mit anderen Worten: er würde sich der Lächerlichkeit preisgeben. Aber leben ohne Herzschlag, wie lange ginge das gut?! »Ich muss wohl oder übel tun, was dieser verdammte Geist oder Engel oder Teufel gefordert hat: mein Herz zurückgewinnen!« Die Frage stellte sich nun, wie sollte er das anstellen? Wo beginnen? Ein Blick auf den Kalender verriet ihm, dass seine Zeit nur noch knapp bemessen war. ~@~ Canol mochte die öffentliche Bibliothek nicht besonders. Weniger noch, wenn sie in einer Viertelstunde schloss, und eine Matrone mit Eisblick Löcher in seinen Hinterkopf bohrte, damit er sich beeilte. So schnell es ihm möglich war, blätterte Canol durch die Sammlung von Weihnachtsgeschichten, auf der Suche nach den "Geistern der Weihnacht". »Charles Dickens.« Formten seine trockenen Lippen Silben, bevor er eilig begann, die Absätze querzulesen. Offenkundig waren die Geister irgendwelche Engel oder Visionen oder sonst was, die einem alten Geizkragen und Kotzbrocken heimleuchteten, damit er ein pflegeleichter Bürger wurde. Oder so ähnlich. Kurze Zeit später schloss sich hinter Canol die Pforte mit einem befriedigten Knacken, während er die Schultern hochzog und die Hände tief in die Taschen schob. »Soll ich jetzt einen verdammten Wohltäter spielen, oder was?!« Fauchte es giftig in seinem Kopf. »Wo ich doch geradezu in Knete schwimme! Oder mich hinsetzen und 'Seid nett zu einander' plärren?!« Im Übrigen, so befand Canol auf dem demütigenden Fußmarsch nach Hause, hatte er gar keine Ähnlichkeit mit diesem Scrooge. Ein Geizkragen war er wirklich nicht, Weihnachten feierten sie auch, wenigstens so ähnlich, schließlich hatte man sich ja angepasst und ein Feiertag mehr schadete ja auch nichts. "Guten Abend, beweisen Sie Herz!" Unvermittelt manifestierte sich vor Canol eine Spendendose, von einem bunten Strickhandschuh gehalten. Eine betont von Fröhlichkeit und gutem Willen beseelte Frau lächelte ihn unerschrocken an, schwenkte die Dose, die klirrend lärmte. "Ich hab kein Herz!" Fauchte Canol ungehalten zurück, drängte sich vorbei und stapfte mit hochgezogenen Schultern weiter. Könnte der verfluchte Geist sein Herz irgendwo versteckt haben? Aber wie würde man das eigene Herz wiederfinden? "Wo würde ich mein Herz verstecken, wenn ich ein beschissener Engel wäre?!" Fragte sich Canol gedankenverloren und leckte sich über die frostbezuckerten Lippen. Ein boshafter, diabolischer, rachsüchtiger Ex-Nachthemdträger?! ~@~ Poesie in Grau, Grundstimmung auf Depressiv-Moll, eine dichte Wolkendecke drückte sich auf die Gemüter. Freitag, noch ein Arbeitstag, nach einer unruhigen Nacht ohne erholsamen Schlaf. Canol vermied spiegelnde Flächen, denn die verheerende Wirkung der Augenringe beeinträchtigte sein so gepflegtes Erscheinungsbild dermaßen, dass es ihm den Appetit verschlug. Mit einem Seitenblick auf seinen Vater erwog Canol die Chancen, am Abend um die Häuser ziehen zu dürfen. Das heißt, nicht noch endlos an der Abrechnung zu sitzen, nachdem er aufgeräumt, gewischt, den Müll sortiert und die elektrischen Anlagen der Kühleinheiten überprüft hatte. [Einkaufen freitags bis 22.00 Uhr] Wie sollte er da noch genug Energie aufbringen, um bis spät in den Morgen auszugehen und sich zu amüsieren?! Nicht, dass sein magerer Salär für große Sprünge gereicht hätte. Seitdem sein Vater sich geweigert hatte, ihm noch einmal einen Mobiltelefon-Vertrag zu unterschreiben, konnte er auch auf diesem Gebiet nur Fehlschläge verzeichnen. »Ein altes, vollkommen unspektakuläres, gebrauchtes Handy!« Die Schmach nach den gewaltigen Telefonkostenschulden hatte Canol veranlasst, das Ding in einer Schublade in seinem Zimmer versauern zu lassen. Lieber ohne, als mit so einem Dinosaurier gesehen werden!! Während Canol noch diesen wenig erbaulichen Erinnerungen nachhing, flackerte die Neonleuchte über seinem Kopf asthmatisch, um dann mit einem Knall ihre Arbeit endgültig einzustellen. "Die Sicherungen!" Rief sein Vater, und Canol seufzte. »Prima, nun sitze ich bestimmt noch die halbe Nacht hier!« ~@~ Tatsächlich auch den gesamten Samstagmorgen, weil es einiger Arbeiten bedurfte, den Schaden zu beheben, durchgebrannte Leuchten und Birnchen aus Lichterketten auszutauschen und Ordnung zu schaffen. Endlich, die blasse, unlustige Sonne verkroch sich schon wieder in ihr bleigraues Wolkenbett, war Canol am frühen Nachmittag entlassen, doch seine Freunde zu treffen stand ihm nicht mehr der Sinn. Er fühlte sich unruhig, mit jedem verstreichenden Augenblick, in dem die Leere in seinem Körper an Boden gewann, der fehlende Herzschlag auf sein Gemüt drückte. Mit finsterem, abweisenden Gesichtsausdruck ließ er sich einfach durch die Straßen treiben, drängte sich durch Menschenmengen, die vom Einkauf strömten. Konnte es wirklich wahr sein, dass er bereits in einer Woche tot war?! Wenn er nicht sein Herz fand?! Der verdammte Engel hätte sich doch auch mal präziser ausdrücken können! Und überhaupt, was war das denn für ein Gewinn?! Grollend und heimatlos schob sich Canol durch Ansammlungen, ignorierte frohsinnstiftende Chöre, konzentrierte sich auf den Straßenbelag unter seinen Halbstiefeln. »Man müsste sich beschweren können!« Erwog Canol. »Bei einem Vorgesetzten, oder so!« Auf jeden Fall, so war er sich sicher, wollte er seinen Tod nicht einfach so hinnehmen. Da konnte ja jeder kommen mit irgendeinem Tick und Leute bedrohen! Überhaupt, wieso suchte dieser dämliche Geist nicht Terroristen oder Mörder heim?! Richtig böse, abartige Typen, die den Tod verdienen? Das war also so UNFAIR!! Mit gerechtem Groll erfüllt angesichts der Ungerechtigkeit der Welt und seiner persönlichen Situation im Besonderen besann sich Canol, endlich den Heimweg anzutreten. Weil er über die eigene Lage so erbost war, gönnte er sich ein Bus-Ticket, kletterte in den mit Dunst vollkommen ausgekleideten Bus hinein, quetschte sich zwischen die bepackten, schwitzenden Menschen, die entweder hyperaktiv lautstark schwatzten oder ermattet ins Leere starrten. Mit jeder Kurve, bei jedem Halt und neuerlichem Anfahren purzelten, kippten oder rutschten die Beförderten ineinander. Canols ausgebreitete Ellenbogen und die gefütterte Jacke nutzten recht wenig. Die Lage gereichte aber dazu, seine ohnehin bodennahe Stimmung souterrain herabzubefördern. Wieso zahlte man so viel Geld für eine einfache Fahrt, die in jedem Schweinetransporter gemütlicher gewesen wäre?! Gab es denn keine Richtlinien dafür, wie viele vollbepackte, menschliche Lastesel man in einen verdammten Bus quetschen durfte?! Die Luft wärmte sich von entströmendem Atem auf, mischte sich mit Schweiß, dem Dunst von Glühwein, Bratfett und karamellisiertem Zucker, apart abgerundet durch aufdringliche Parfüm- oder Rasierwasserschwaden. Ungeachtet des veritablen Gestanks knurrte Canols Magen mit wachsendem Nachdruck, er wollte gefüttert werden und ignorierte starrsinnig die blamable Situation, die er mit seiner lautstarken Beschwerde auslöste. Die Schultern hochziehend suchte Canol einen Fleck, auf den er seinen stahlblauen Blick konzentrieren konnte, um sich mit dem Air eines Mannes zu tarnen, dem es NIEMALS geschehen konnte, dass sich sein Magen ihm widersetzte. Um sich abzulenken beschäftigte sich Canol verzweifelt mit der kritischen Frage, wo ein widerlicher B-Engel wohl sein Herz verstecken würde, um ihn auf dem Kriechgang zu einem besseren Menschen zu machen. »Wobei ich hier mal festhalten will, dass ich bereits ein guter Mensch bin!« Schnaubte Canol in seinem Inneren der Form halber. »Außerdem sollte sich das Bodenpersonal unterschiedlicher, religiöser Überzeugungen nicht einfach verbünden!« Der Bus rollte von der nächsten Haltestelle an, umkurvte blockierende Blumenkübel, die den Verkehr beruhigend zu einem langsamen Slalom zwangen. Statt einer weiteren Garnitur fremder Ellenbogen, Absätze und Taschen schleuderte eine ganze Person gegen Canol, der aus dem Gleichgewicht gebracht, die Arme Halt suchend um das menschliche Frachtgut legte, weil sich nur so sichernde Haltestangen erreichen ließen. Puschelige Bommeln wischten durch Canols Gesicht, als sich der mützenbewehrte Kopf eilig herumwand, um eine Entschuldigung zu formulieren. Hellblaue Augen trafen seine eigenen, blinzelten... Hätte sich Canol noch im Besitz seines Herzens befunden, wäre es stehengeblieben. So aber begann es, rasch zu schlagen. In der Brust seines Gegenüber. ~@~ Kapitel 2 - Missetaten "Ach du Scheiße, der Schafhirte!" Rutschte Canol heraus, bevor er sich unter Kontrolle hatte. "Der anatolische Bauer!" Zischte es ebenso unfreundlich zurück, bevor sich der Fremde herumzudrehen versuchte, was angesichts der Enge scheiterte. Canol erinnerte sich an dieses Gesicht. Bei ihrer ersten Begegnung war es von sonnenblondierten, wilden Locken umgeben gewesen, die sommersprossig-gebräunter Haut einen aparten Rahmen gegeben hatten und an heiße Sommer erinnerten. In jedem Fall hatte ihr Besitzer, einen halben Kopf kleiner als Canol, in einem hautengen T-Shirt provozierend gut ausgesehen, als er, mit einer Sonnenbrille und einer Umhängetasche bewaffnet, als ginge es zum Strand, durch ihre Straße gelaufen war.Ein herausgeputzter Angeber, dem die Mädchen hinterher sahen, was einen Denkzettel geradezu heraufbeschwor. Wenn Canol sich richtig entsann, handelte es sich um einen Studenten und, noch schlimmer!, einen Griechen! Der sie unbeeindruckt angestarrt hatte, dann die Augenbrauen zusammengezogen und ziemlich unverschämt versuchte, einfach an ihnen vorbeizugehen! Um ihm eine Lektion zu erteilen, hatten sie ihn ein wenig hin und her geschubst, dann befand einer von Tariks Cousins, dass ein stinkender Schafhirte einer beeindruckenderen Strafe bedurfte. Jener war es gewesen, der dem Studenten einen Hieb in die Nieren verpasst hatte, tückisch und offenkundig damit begründet, dass er selbst im Vergleich mit ihrem Opfer nur ein dürrer Zahnstocher war. Der Student fiel auf die Knie, krümmte sich zusammen, wurde von Tariks Cousin an den Haaren hochgerissen, bevor dieser ihm auf die Schläfe schlug. Da seine Faust von klobigen, scharfkantigen Ringen nur so starrte, platzte Blut aus einer klaffenden Wunde. Tarik zerrte seinen Cousin eilig weg, aber die anderen gaben auch Fersengeld, nachdem sie ihr Opfer zwischen Mülltonnen gestoßen hatten. »Verdammt!« Murmelte es ungläubig in Canols Innerem. »Das kann nicht wahr sein. Ich muss mich irren!« Aber da war ein Herzschlag, so laut und beruhigend vertraut, dass es nur sein eigener sein konnte. »Ausgerechnet bei diesem...!!!« Canol riss die Hände von der Haltestange, wurde prompt haltlos herumgeworfen, als eine weitere Slalom-Tour begann. Die Gegenbewegung folgte auf dem Fuße. Nun flog Canol in sein ehemaliges Opfer hinein, das ebenso instinktiv zugriff, um die Kollision abzufangen. Wieder standen sie sich intim gegenüber. Dieses Mal blitzten die hellblauen Augen ablehnend, der breite Mund mit den weich geformten Lippen zog eine angeekelte Fratze. Canol konterte unbewusst mit gleicher Münze, immerhin hatte der blöde Schafhirte ihn gerade einen anatolischen Bauern geschimpft! »Das sieht dem dämlichen Geist ähnlich, sucht sich irgendeinen Typ aus, den wir mal in die Mangel genommen haben! Er hätte ja auch ein hübsches Mädchen nehmen können, die hätte mich sicher sofort zu einem besseren Menschen bekehrt! Wobei wir wieder mal festhalten, dass ich bereits ein ziemlich guter Mensch BIN!« Das Gesicht abwendend starrte Canol auf den Kunstpelz einer älteren Frau, leckte sich unbewusst über die Lippen, während er seine Gedanken sortierte. Der Geist verlangte doch nicht etwa von ihm, dass er diesem dämlichen Schafhirten Abbitte leistete?! Wenn, dann müsste das ja wohl Tariks unbeherrschter Cousin machen!! Sein unwillkommener Nachbar formte provozierend Kaugummiblasen vor Canols Gesicht, ließ sie mit lautem Schmatzen zerplatzen und käute wieder. Canols Fäuste ballten sich selbsttätig, während er mit zusammengebissenen Zähnen rückwärts zählte. »Was also tun?!« Schwirrte es orientierungslos in seinem Kopf umher. »Wenn der verdammte Geist mich nicht verarscht hat, muss ich bis Freitag mein Herz von diesem Kotzbrocken zurückholen!« »Zurückgewinnen!« Säuselte ein liebliches Stimmchen hilfsbereit, was Canol herumschnellen ließ, in der Enge jedoch Empörung auslöste. Zusätzlich stieß ihn auch herausfordernd ein Ellenbogen in die kurzen Rippen. "Ich will aussteigen!" Fauchte der Schafhirte frostig. Das reichte! Canol stieg ebenfalls an der nächsten Station aus, ohnehin im Strom der Lemminge eingekreist, die unaufhaltsam die zwei Stufen hinabeilten, atmete die eisige Nachtluft tief ein und rang um Selbstbeherrschung. Ein ungleicher Kampf über eine Runde mit Knockout. Auf lautlosen Sohlen holte er den mutmaßlichen Wärter seines Herzens ein, packte eine Schulter, wirbelte diesen herum und schleuderte ihn hart gegen den gläsernen Windfang eines Hauseingangs. Für Wimpernschläge konnte er Angst und Hilflosigkeit in den hellblauen Augen lesen, die unter der neongrellen Eingangsbeleuchtung flackerten, dann blockierte er schon jeden Schrei mit hartem Griff um den Kiefer. "Hör zu, es tut mir leid, was da passiert ist, okay?! Der Typ gehörte nicht zu uns und ist durchgeknallt, Hitzeschaden, was weiß ich. Alles klar?!" Canol zog sich eine Handbreit zurück, noch immer wachsam, die ihn abwehrenden Hände mit seiner freien Hand in Schach haltend. Eine halbe Minute gegenseitigen Fixierens verstrich. Mit einer frustrierten Geste riss Canol die Arme hoch, trat zurück, schnaubend. »Was soll das?! Ich HABE mich entschuldigt, wieso funktioniert das nicht?! Was zum Teufel will dieser verfluchte Geist denn noch?!« Doch es gab keinen Zweifel: seine Brust blieb leer und stumm, während in Reichweite sein Herz munter vor sich hinklopfte. "Bist du besoffen, oder was?!" Erkundigte sich sein Gegenüber kratzbürstig, fasste den Rucksack an den Trägern, um ihn wie eine Waffe schwingen zu können. "Nein, bei den Pfadfindern, jeden Tag eine gute Tat!" Blökte Canol giftig zurück, schob die Fäuste tief in seine Jackentaschen, zog die Schultern fröstelnd hoch. »Einfach klasse, nun muss ich noch ein ganzes Stück nach Hause latschen in dieser Scheiß-Kälte, und alles nur, weil bald Weihnachten ist und sich irgendein durchgeknallter Ex-Nachthemdträger als Rächer der Enterbten aufspielt!« Der Rucksack traf ihn am Rücken, nicht wirklich massiv, aber doch mit einem Nachdruck, den er nicht ignorieren konnte. "Was soll das?!" Indigniert fegte Canol herum, fing den dritten Schwinger ab und hielt den Rucksack fest, was seinen Gegenüber ruckartig nach vorne beförderte. "Ich hab mich ja wohl entschuldigt!" Knurrte Canol verärgert einen halben Kopf tiefer in frostig-blaue Augen, packte eine Schulter, was ihm nun wiederholt Tritte gegen die Schienbeine einbrachte. "Lass mich los, du blöder Fatzke!!" Der griechische Schafhirte wehrte sich vehement und nach besten Kräften, was den anatolischen Bauern noch stärker aufbrachte. Betont hart drückte Canol die Fingerspitzen in die Muskeln, drehte sich um die eigene Achse, damit er den lästigen Parasiten los wurde. Er kreiselte ganze zwei Umdrehungen, dann stolperte sein anhänglicher Angreifer und schlug, von Canol ohne Reue befördert, der Länge nach hin. Canol ließ den Rucksack, der im Melee einen Teil seines Inhalts ausgewürgt hatte, auf den Studenten fallen. "Ich HABE mich entschuldigt!" Wiederholte er enerviert. "Aber das hier hast du dir selbst zuzuschreiben!" Da konnte so ein blöder Weihnachtsgeist ihm mal im Dunkeln begegnen! Er wandte sich um, die Hände bereits in der Jackentasche vergraben, hielt aber nach zwei Schritten inne, riskierte einen Schulterblick. Der Student rappelte sich auf, sammelte mit gesenktem Kopf seine Habseligkeiten ein, zog kindlich-schniefend die Nase hoch, wischte dann mit dem Handrücken nach. Mit rollenden Augen kehrte Canol um, ging in die Hocke, um ebenfalls havariertes Gut aufzulesen und mit der ausgestreckten Hand an den Eigentümer zu überreichen. Schnaubend wurde es ihm entrissen mit der trotzigen Replik. "Das kann ich selbst, danke auch!!" Canol hob die Hände, schüttelte dann den Kopf, schluckte eine bissige Antwort herunter. »Was tue ich eigentlich hier?! Die Entschuldigung hat ja wohl nicht funktioniert! Und dann klaube ich den Kram von diesem blöden Kerl auf, der mich auch noch getreten hat?! Bin ich denn blöd, oder was?!« Ohne Abschiedsworte stand er auf, stopfte die Hände in die Taschen und stakste verärgert von dannen. »Und so verbringe ich also einen Samstagabend! Echt genial!« Er wusste nicht, dass der Sonntag noch eine Schippe drauflegen würde. ~@~ Vierter Advent, noch sechs Tage Gnadenfrist. Gewöhnlich kroch Canol nicht vor zehn Uhr aus den Untiefen seines Bettes hervor, doch an diesem Sonntag scheuchte ihn seine Mutter panisch kurz nach Acht hoch, in Begleitung einer Streifenwagenbesatzung. Schlaftrunken kratzte sich Canol ungeniert, richtete die Jogginghose und lauschte mit verquollenen Augen der freundlich-bestimmten Ansprache der Herren im grünen Frack. Sein Vater zeigte deutlich weniger Geduld mit Canols eingeschränkter Auffassungsgabe, rammte ihm die geballte Faust in den Nacken, bevor er eigenhändig aus den Wäschespuren, die den gesamten Boden zierten, Canols Hose und Jacke herausfingerte, alles kräftig schüttelte und umkehrte. Canol rieb sich die Augen, begriff langsam, dass ohne Zweifel etwas Unangenehmes vor sich ging. Zu Boden flatterte ein geschweißtes Plastikkärtchen. "Sie heißen wohl nicht Evangelistos Mikis?" Erkundigte sich einer der beiden Beamten gelassen, reichte Canol, der einfach nicht wach werden konnte, die Plastikkarte. "Studenten-Ausweis." Buchstabierte Canol halblaut, begriffsstutzig. "Der gehört mir nicht..." "Bewahren Sie diesen Ausweis für jemanden auf?" Folgte die nächste Frage, ließ Canol noch ratloser zurück. "Aufbewahren?" Echote er überfordert, dann regnete es auch schon Faustschläge auf seine Schultern. Sein Vater war derartig aufgebracht, dass er nicht einmal fähig war, sich in seiner Muttersprache zu äußern. Andererseits wäre der Inhalt sicherlich nicht schmeichelhaft gewesen. Canol riss nun schützend die Arme hoch, beteuerte, dass er keine Ahnung habe, wie der Ausweis... "Moment mal!" Hastig tauchte er hinter den Beamten ab, die sich bemühten, Canols Vater von weiteren Strafaktionen abzuhalten. "Ich bin gestern mit einem Typen zusammengestoßen und seine Sachen sind aus dem Rucksack geflogen! Ich habe ihm aufsammeln geholfen, da habe ich den Ausweis vielleicht versehentlich eingesteckt!" Sprudelte Canol eilig hervor. "Das klären wir dann mal auf dem Revier, wo es schön ruhig ist." Beschied ihm einer der Beamten freundlich. "Bitte ziehen Sie sich etwas an." ~@~ Canols Magen knurrte zu seiner Beschämung lautstark und übellaunig vor sich hin. »Sonntagmittag, und ich sitze auf einem Polizeirevier!« Dröhnte es miesepetrig in seinem Kopf. »Das ist einfach nicht fair!« Natürlich hatte er betont, dass es nur eine Unabsichtlichkeit gewesen war! Selbstredend konnte er mit einem Studenten-Ausweis doch gar nichts anfangen! Außerdem sah er dem Photo ja wohl überhaupt nicht ähnlich!! Nein, er hatte keine Ahnung, dass man viele Vergünstigungen mit einem Studenten-Ausweis in Anspruch nehmen konnte! Trübsinnig auf den polierten Linoleumboden starrend fragte sich Canol müßig, ob der rachsüchtige Weihnachtsgeist nicht auch seine diebischen Finger in dieser Geschichte hatte. »Er wird mich umbringen.« Sinnierte Canol finster, von einer realeren Bedrohung in Beschlag genommen. »Streifenwagen vor der Tür, Bullen in der Wohnung... er wird mich umbringen.« Hinzu kam die peinliche Halbwahrheit, die er zu Protokoll gegeben hatte, was den gestrigen Schlagabtausch betraf. Nicht etwa, dass er die Auseinandersetzung geleugnet hätte, doch die Ursache für die Entschuldigung umfasste nicht das erste Aufeinandertreffen. »Was auch egal ist, weil der Typ mir kein Wort geglaubt hat!« Canol brütete dumpf vor sich hin. Eine frostige Brise ließ ihn in seinen dünnen Jogginghosen zittern, als über den Boden die Winterluft hineinzischte, im Gefolge von weiteren Personen. »Er!« Canol sprang auf, hechtete förmlich zur Theke, wo die Ursache allen Übels, der griechische Schafhirte, gerade vorsprach und seinen Ausweis entgegennahm. "Hey!" Canol fasste ihn an der Schulter. "Sag ihnen, dass ich mich entschuldigt hab! Und dein Zeug mitaufgesammelt!" "Ja, klar!" Giftete Evangelistos mit zusammengekniffenen Augen zurück. "Der hier ist dir bloß in die Tasche gerutscht, oder wie?! Du wolltest mir wohl mit deinen Schlägerfreunden auflauern!" "WAS?!" Brüllte Canol zurück. "Was soll der Scheiß?!" Als ihn schon ein Titan mit vehementem Druck auf der Schulter weg dirigierte. "Ist doch überhaupt nicht wahr, du verlogener Mistkerl!!" "Ruhe BITTE." Schaltete sich ein weiterer Beamter ein, winkte den Studenten hinter sich her, um die beiden Streithähne voneinander zu trennen. Canol ballte die Fäuste, schnaubte empört. "Ich wollte ihm helfen, und was habe ich davon?!" "Setz dich mal wieder." Wurde ihm bedeutet. "Vielleicht kannst du ja deinem Freund und Helfer auch einen Gefallen tun? Wir suchen ein paar Schläger..." Mit einem resignierten Aufstöhnen vergrub Canol den Kopf in den Händen. ~@~ Zwei Stunden später hatte das übellaunige Schicksal ein Einsehen. Canol war ein freier Mann. Ein freier, durchgefrorener, hungriger Mann ohne Geld mit einem längeren Fußmarsch nach Hause, wo ihn weiteres Ungemach erwartete. Sein Ruf war ruiniert, so viel wusste er jetzt schon. Die Aktion hatte sicherlich die gesamte Nachbarschaft wie ein Lauffeuer durchmessen. »Was soll's!« Dachte er in einem Anflug von Galgenhumor. »In einer Woche ist das egal.« Die Arme vor der Brust verschränkt, die Hände in die Achselhöhlen gestopft, stürmte er eilig in Richtung Heimat und holte, unabsichtlich und unversehens, seinen ärgsten Feind ein. ~@~ Canol zögerte und kam sich lächerlich vor. »Ich bin doch kein Stalker! Das ist eine öffentliche Straße und außerdem mein Heimweg!« Dennoch blieb er stehen, als sich der Student umdrehte, ihn entdeckte und ebenfalls innehielt. "Ach, scheiß drauf!" Ermunterte sich Canol grimmig, preschte mit dem Air eines Mannes vor, der eine Betonmauer frontal zu durchqueren versucht. Kurz bevor er in Evangelistos hineinrannte, bremste er scharf ab, funkelte in die argwöhnischen Augen des anderen. "Ich habe mich bei dir entschuldigt und dir geholfen. Und das ist der Dank dafür, dass ich so nett war! Echt klasse!" Zischte Canol bitter, musterte seinen Gegenüber kritisch, der natürlich ein besseres Bild bot, warm gekleidet, das Gesicht gebräunt und frisch, die Augen klar, wenn auch von emotionalen Gewittern verhangen. »Kein Vergleich, ich sehe aus wie ein Putzlumpen!« Baute sich Aggression in Canol auf. »Außerdem, warum muss bloß ICH nett sein?! Warum nicht er?!« "Vielleicht solltest du nicht rumrennen, Ausweise klauen und dich entschuldigen, obwohl das nur ein Vorwand ist, um Streit zu suchen!" Ätzte der Student schnippisch, erwiderte Canols Blick abschätzig. "Vorwand?! Ist ja gar nicht wahr!" Verteidigte dieser sich hitzig. "Ich habe es ehrlich gemeint!!" "Ach ja?! Warum kommst du erst jetzt damit an, hmm? Jetzt ist es doch vollkommen egal, ob es dir leid tut oder nicht!" Traf die nächste Anklage Canol. "Damals hat es dich keinen Deut geschert! Du bist wie die anderen abgehauen, nachdem dieser feige Mistkerl mich aufgeschlitzt hat! Du warst doch zu feige!! Aber jetzt hier anschnecken und Mitleid heischen wollen!! DAS kannst du VERGESSEN!" Canol schnappte nach Luft, ein Fisch auf dem Trockenen. "Ich bin feige?! Du nennst mich einen FEIGLING?!" Schon hatte er Evangelistos an den Armen gepackt. "Ich werd dir gleich die Fresse polieren, du eingebildeter Wichser!!" "So, dieses Mal versteckst du dich nicht hinter jemandem anderen, was?! Richtig mutig!" Giftete der Student unbeeindruckt, holte aus, um Canols Kniescheibe mit seiner Stiefelspitze bekannt zu machen. Der wich wendig aus, was ein Handgemenge auslöste. Es endete, als Canol mit dem Ärmel hängenblieb, diesen mit einem Ruck löste und gleichzeitig ein Ohrstecker in hohem Bogen davonspritzte. Der erschrockene Ausruf des Schmerzes und das blutige Rinnsal, das sowohl die Jacke wie auch den Rollkragenpullover darunter tränkte, ernüchterte schneller als ein Eimer eiskaltes Wasser. "Das-das habe ich nicht gewollt." Murmelte Canol, bückte sich, um den Ohrstecker aufzulesen, doch diesem mangelte das Endstück. "Sicher doch!" Der Student drückte eine Handfläche auf das verwundete Ohrläppchen, presste die Lippen aufeinander und wandte den Kopf ab, weil die Kälte Tränen in seine Augen trieb. "Hier." Canol kramte ein sauberes Papiertaschentuch hervor. "Wirklich!" Beteuerte er ernsthaft. "Das wollte ich nicht." Kleinere Raufereien ja, aber wenn Blut spritzte oder Knochen brachen, Sehnen rissen, nein, das konnte er nicht ertragen!! Wie zum Beweis schauderte ihn. Mit einer hilflos-wütenden Geste presste er das Zellstofftuch zwischen die Finger, die sich um die Krempe der Wollmütze bogen, damit die Handfläche die Wunde abdichtete. "Aber ganz egal, was ich tue oder sage, das ändert deine Meinung ja sowieso nicht!" Stellte Canol brüsk fest. "Typisch sturer Schafhirte!" "Du blöder, anatolischer Bauer hast doch angefangen!" Stänkerte der lädierte Student zurück. "Warum sollte ich annehmen, dass du dich geändert hast?! Ist dir vielleicht eine Christbaumkugel auf den Quadratschädel gedonnert und du hattest eine Erleuchtung?!" Canol starrte ihn an. »Nahe dran.« Dachte er. »Fast richtig.« Mit einem Schnauben wandte er sich ab, setzte einen Fuß vor den anderen, auf dem Weg zu einer weiteren persönlichen Schmach. »Und Friede auf Erden!« Fauchte es in seinem Kopf. ~@~ Canol starrte trübsinnig auf die einfache Wanduhr, deren Zeiger wie drohende Finger ein Fanal ankündigten. Natürlich hatte er nicht nur eine beschämende Lektion erhalten, deren schmerzende Ergebnisse sein steifer Hals bewies, zudem hieß es, die ganze Woche zu arbeiten und zwar, ohne Missfallen zu erregen. Um seiner Schande die Krone aufzusetzen, hatte Canols Vater verfügt, dass er sich persönlich vor seinen Augen bei seinem Opfer entschuldigte. Kroch die Zeit sonst im Schneckentempo zäh dahin, so schien sie an diesem Montag zu fliegen. Canol rieb sich heimlich mit der Rechten über die Brust, zuckte unter dem tauben Gefühl zusammen, das ihn beschlich. Resigniert nahm er, von einem mahnenden Schnalzen begleitet, seine Tätigkeit wieder auf. »Toll!« Beklagte er sich wehleidig. »Ich kratze nicht nur in Kürze ab, vorher muss ich mich auch noch vor aller Welt zum Idioten machen.« Es würde ihn nicht wundern, wenn sich seine Strafe bereits in der Nachbarschaft und unter seinen Freunden herumgesprochen hatte. »Vermutlich kann ich einen Fackelzug anführen, wenn wir da anrücken.« Schoss er wütend Etiketten auf unbewaffnete Konservendosen ab, doch selbst die leidliche Befriedigung durch konstruktiven Frustrationsabbau hielt nicht ewig an. Schon schloss sein Vater die Türen, ließ die Fallgitter herab, deren Scheren sich ächzend streckten. "Zieh dich an!" Ein Stoß traf Canols Schulter. Mit einem mürrischen Grunzen kam Canol der Aufforderung nach, zog unwillkürlich die Schultern hoch. Jede Pose verlor sich aber angesichts des Buketts, das er zu überreichen hatte, zusätzlich zu der Schachtel feinsten, türkischen Honigs in kandierten Würfeln, die von seiner Mutter liebevoll eingepackt in einer Plastiktüte baumelten. »Ich sehe aus, als hätte ich ein Date...« Canol schnaubte unwillig und erwog für einen Moment, seinem Vater boshaft mitzuteilen, dass sein angebliches Opfer ein blöder, griechischer Schafhirte war. Andererseits nahm er nicht zu unrecht an, dass jede weitere Aufsässigkeit eine Verschärfung seiner prekären Lage mit sich bringen würde. Also trottete er mit minimaler Begeisterung hinter seinem Vater her, den Gang nach Canossa im Büßerhemdchen. Ein glücklicher Zufall, zugegeben, Canol empfand es nicht so, ermöglichte es, dass eine ältere Dame mit einem hamstergroßen Hund das Mehrfamilienhaus verließ und die Tür nicht ins Schloss fiel, sodass sie nach einer kurzen Orientierung anhand des Klingelbretts den Aufstieg in Angriff nahmen. Mit energischem Klingeln alarmierte Canols Vater jeden Bewohner im rechten Appartement im dritten Stock, verpasste Canol einen Schlag mit der flachen Hand ins Kreuz, die Augenbrauen gewittrig zusammengezogen. "Ja, ja!" Brummte dieser schicksalsergeben, dann öffnete sich bereits die Wohnungstür einen Spalt. Der Student lugte misstrauisch auf den Hausflur, inspizierte die lärmende Belagerungsmannschaft. "Was willst du?!" Erkundigte er sich scharf. Canol verdrehte die Augen und leierte seinen Spruch herunter. "Guten Abend. Ich bin hier, um mich für alles zu entschuldigen." Doch Evangelistos unterbrach ihn sofort. "Ach ja?! Für was denn genau?!" Die Blumenstängel knitterten in Canols Hand, als er die Fäuste ballte. "Für einfach alles, okay?!" Kürzte er die Formalitäten ab, streckte ruckartig die Versöhnungsgaben hin. "Da, für dich!" Ein Schlag in den Nacken erinnerte Canol daran, dass sein Vater nicht nur direkt hinter ihm stand, sondern auch eine korrekte Entschuldigung erwartete. »Kotau und Füße küssen, oder wie?!« Canol funkelte in die hellblauen Augen, die ihn noch immer wie eine Kellerassel musterten und vermutlich nach einer Schaufel oder Vergleichbarem fahndeten. "Bei deiner letzten Entschuldigung hast du mich verprügeln wollen und beklaut!" Beschuldigte Evangelistos provozierend durch den Türspalt. Sein Vater kommentierte die Äußerung mit einem gezischten Vorwurf auf Türkisch. "Ho Ho HO!" Brummte Canol enerviert, hob die Hände hoch und trat auf die Seite. "Jetzt reicht es! Zwei gegen einen ist unfair!" Den Kopf Evangelistos zugewandt beteuerte er mit saurer Miene. "Ich entschuldige mich in aller Form, okay?!" Um sich zu seinem Vater umzukehren und auf Türkisch per Geste zu demonstrieren, dass sein vermeintliches Opfer einfach nicht kooperieren wolle!! "Hast du etwa einen Schlägertrupp dabei, oder wie?!" Der Student konnte die Begleitung in Canols Schattenwurf nicht genau ausmachen, reduzierte aber den Spalt zwischen Tür und Rahmen erheblich, offenkundig besorgt. Canol, der vor der Wut seines Vaters wich, weil der nun den Eindruck gewonnen hatte, dass sein jüngster Sohn nicht nur ein rettungsloser Idiot, sondern auch noch Mitglied einer dieser Jugendbanden war, über die man so viel Übles las, zischte nun Drohungen, die man zu deutlich in seiner Körpersprache erkennen konnte. »Ein letzter Strohhalm!« Dachte Canol panisch, pirouettierte auf dem Absatz und stellte mit fahlem Grinsen seine Stützpfeiler des Grauens einander vor. "Vater, das ist Evangelistos Mikis, Evangelistos, das ist mein Vater." Ergänzte Canol um den Familiennamen, schrumpfte ein wenig, damit sich beide Männer in Augenschein nehmen konnten. "Ich verstehe." Brach der Student zuerst das stumme Abtasten des Gegenübers. "Guten Abend. Ich nehme an, dass Sie die Antriebsfeder hinter diesem Besuch sind?" Konnte er nicht an sich halten zu konkretisieren. Canols Vater schnaubte, streckte dann förmlich die Hand aus, die der Student automatisch ergriff und schüttelte. "Mein Sohn ist ein Idiot." Wie ein Schimpfwort zischten die Silben heraus. "Auch ich entschuldige mich für sein Verhalten." Man musste kein intimer Kenner der Familie sein, um zu bemerken, dass Canol diese Episode noch lange abbüßen würde. "Bitte, kommen Sie doch herein." Ein wenig zögerlich gab Evangelistos die Tür frei, geleitete seine Einladung mit einer entsprechenden Geste. Canol registrierte das Pflaster um das Ohrläppchen trotz der sonnengebräunten, wirren Locken, an die er sich erinnerte. Verlegen trat er die Sohlen seiner Schuhe besonders gründlich auf der Schmutzfangmatte ab, bevor er in das kleine Appartement hineinging. Die Wohnung wärmte eine angenehme, von Duftkerzen aromatisierte Atmosphäre, dezenter Weihnachtsschmuck thronte auf der Garderobe, wo sie ablegten und in eine Wohnküche gebeten wurden. »Klein, aber ordentlich und sehr sauber.« Canols erster Gesamteindruck, und er wusste, dass dies nicht nur seinem Vater ebenfalls aufgefallen war, sondern weitere Minuspunkte auf sein eigenes Sündenregister addierte. Ruckartig überreichte Canol sein Versöhnungspräsent, erst die Blumen, die aufgrund der Gewalteinwirkung die Köpfe schlapp hängenließen, dann das Paket mit den Honigwürfeln. "Danke schön." Höflich nickte der Student, wies ihnen Plätze auf einem mit Decken überzogenen Sofa zu, stellte die Blumen in ein Glas mit Campari-Werbezug und erkundigte sich ruhig, trotz der seltsamen Situation. "Was möchten Sie trinken? Kaffee? Tee? Oder lieber Wasser?" "Ein Kaffee wäre sehr nett, vielen Dank." Auch Canols Vater hielt viel auf die Form, saß aufrecht und um Haltung bedacht. Canol stöhnte leise, schüttelte den Kopf. »Das ist ein Albtraum. Mein Leben ist ein einziger Albtraum!« "Hilf ihm, mach dich nützlich!" Schon traf ihn ein gezielter Tritt ans Schienbein. Canol taumelte hoch und stolperte eilig zur Küchenzeile hin. "Kann ich dir bitte helfen?" Leierte er herunter, wich den drohend verengten Augen des Studenten aus, trotzig wie ein zu unrecht gemaßregeltes Kindergartenkind. "Die Milch steht im Kühlschrank, bitte füll sie doch in das kleine Kännchen um, danke schön." Zwitscherte Evangelistos mit bösartigem Feixen. Den Grund erkannte Canol genau eine Minute später. Nachdem er zuerst den patentierten Verschluss der PET-Verpackung aufgerissen und die Kacheln besprenkelt hatte, dann weniger die Kanne selbst als die Arbeitsplatte taufte und sich selbst gehörig in die Schweinerei einbezog. "So was hätte ich ja nicht erwartet. Was machst du beruflich, sagtest du?" Flötete Evangelistos boshaft, wischte an Canol herum, der dunkelrot mit geballten Fäusten stocksteif stand und keines klaren Gedanken mehr fähig war. "Hier ist auch der Kaffee." Canol ignorierend setzte sich der Student zu dessen Vater, schenkte aus, packte mit einem Lächeln die Honigwürfel aus, besorgte Zahnstocher und plauderte vollkommen unbefangen, als kenne man sich bereits. Canols Vater sah sich nun auch bemüßigt, mit dem jungen Mann eine Unterhaltung zu führen, sprach über die Jahreszeit, erwähnte mit Stolz die beiden Lebensmittelmärkte und, natürlich!, Abbas, Canols Bruder, den visionären Unternehmer. "Mach dich endlich sauber und setz dich dann!" Zischte er Canol zu, der stumm auf den Fliesen vor dem Küchenbecken festgewurzelt schien. Ruckartig wie ein Roboter marschierte Canol hinaus, fand auf Anhieb das kleine Badezimmer, verschloss die Tür hinter sich und ließ sich auf dem Deckel der Toilettenbrille nieder, massierte sich energisch die Schläfen und konzentrierte sich darauf, das Kiefermalmen einzustellen, weil es bereits schmerzhaft wurde. »Das ist alles nicht wahr.« Suggerierte ihm eine betäubende Stimme in seiner inneren Leere. »Das ist nur ein Traum. Du wirst aufwachen und alles ist in Ordnung.« Die Handfläche auf die linke Brustseite pressend wusste Canol, dass sich die Stimme im Irrtum befand. »Ein Erwachsener würde sich die Milch abwischen, hinausgehen und mit einem souveränen Lächeln über die kleingeistige Niveaulosigkeit dieser Gemeinheiten hinweggehen.« Diente sich ihm die besänftigende Ratio an. »Sonst machst du dich doch nur lächerlich.« "Was für eine Rolle spielt das denn jetzt noch?!" Knurrte Canol verbittert zurück, schluckte an dem galligen Kloß in seiner Kehle. "Ich kassiere noch mehr Prügel, bin keinen Schritt weiter und die ganze Nachbarschaft lacht über mich! Das Weichei, das wegen einer Entschuldigung bei den Bullen landet und von seinem Vater herumkommandiert wird!" »Ein Ruf wie Donnerhall, hahaha!« Lachte eine verhasste Stimme hämisch, um von einem kakophonischen Quäken an weitere "Glückliche" erinnert zu werden. »Oh, Mist, ich muss schon wieder weg, tüdelü!« Canol erhob sich mit Flammenmeer in den Augen, die Fäuste entschlossen geballt. "Wenn ich tot umfalle, dann schwöre ich dir, du verschissener Geist, dass ich mir vom Teufel einen Spieß hole und ihn dir da reinramme, wo die Sonne nicht scheint!" ~@~ Evangelistos erhob sich, lächelte in das ausdrucksvolle Gesicht des älteren Mannes, entschuldigte sich knapp, um nach dem Junior zu sehen, der hoffentlich nicht in seinem Badezimmer randalierte. »Oder meine nicht vorhandene Porno-Sammlung klaut.« Setzte er mit Galgenhumor nach, klopfte an die verschlossene Tür. "Alles okay?" Fragte er durch das Türblatt. Der Schlüssel drehte sich, Canol stand auf der Schwelle, nasse Flecken auf seinem Sweat-Shirt, ungewöhnlich ruhig. "Danke, alles okay." Echote er mit ätzender Betonung. "Und wie geht es deinem Ohr?!" Im Reflex flog Evangelistos' Hand an das Pflaster, dann bleckte er die Zähne. »Touchee!« Quittierte er die Gemeinheit, doch Canols Schultern sackten bereits hinab. "Also, was ist, wirst du meine Entschuldigung endlich annehmen?" Brummte er unwillig, fixierte den Blick auf die eigenen Schuhspitzen. "Und für was entschuldigst du dich genau?" Hakte der Student mit verschränkten Armen nach, bewies einmal mehr seine athletische Statur. Sein Gegenüber atmete tief durch. "Ich entschuldige mich für den Angriff damals." Murmelte es ihm entgegen. "Für die Sache am Samstag und mit deinem Ohr. Tut mir leid." Evangelistos ließ nicht locker. "Kannst du mir das vielleicht auch ins Gesicht sagen und nicht deinen Turnschuhen erzählen?" Canols Kopf flog hoch, die blauen Augen flammten in Zorn auf, dann gewann die betäubend ruhige Selbstbeherrschung wieder die Oberhand. Der Student zog die Stirn in minimale Falten der Verwirrung. »Seit wann ist dieser hitzköpfige Choleriker so zurückhaltend?!« Canol räusperte sich, focht einen inneren Kampf aus, weil sein Stolz, sein Selbstbild, seine ganze Überzeugung sich hysterisch schäumend gegen diesen Akt der Erniedrigung wehrten "Ich entschuldige mich für den Angriff damals, die Sache am Samstag..." Der Student hob die Hand mit einer wischenden Bewegung. "Ist schon gut, ich habe dich schon verstanden." Versicherte er mit einem Anflug von Beschämung, obwohl es einen Part seines Inneren durchaus freute, wenigstens einen seiner Peiniger in einem persönlichen Fegefeuer brennen zu sehen. "Komm!" Berührte er Canols Arm leicht. "Gehen wir in die Küche. Du kannst sicher auch einen Kaffee gebrauchen." ~@~ Obwohl Mitternacht überschritten war, der Tag sich als eine ununterbrochene Abfolge von blamablen Situationen, Verlust der Selbstachtung und Bestrafungen gezeigt hatte, konnte Canol nicht schlafen. Aber Schlaf fehlte ihm ohnehin seit der Begegnung mit dem heimtückischen Weihnachtsgeist. Seine Brust war leer, ein Phantomschmerz wütete in der Einöde, versuchte sich wie ein waidwundes Tier aufheulend daran zu erinnern, wie es vorher gewesen war. Als noch die regelmäßige, vertraute Sicherheit der Herzschläge verkündete, dass das Leben weiterging, dass kein Schrecken, aber auch keine Freude ewig währte. In Canols Hals brannte die bitter-gallige Qual seiner einsam zu tragenden Last, besonders in der Dunkelheit seines Zimmers zu dieser Stunde. Wem hätte er sich auch anvertrauen sollen?! Wer würde ihm glauben?! Er ballte sich zu einem kompakten Paket zusammen, presste das glühende Gesicht in das Kopfkissen und trocknete seine Tränen aus. »Warum hilft mir denn keiner?!« ~@~ Kapitel 3 - Fegefeuer Dienstag, drei Tage vor dem Ende seiner Galgenfrist. Stumpfsinnig ging Canol seiner Arbeit nach, einem Geist ähnlicher als einem Menschen. Er ignorierte die Kunden aus der Nachbarschaft, die selbstredend alle die eine oder andere Version von der Sache mit der Polizei gehört und kolportiert hatten. Ob sie spotteten, sich auf seine Kosten amüsierten, seine Freunde ihn der Lächerlichkeit preisgaben, mit Schimpfworten aus der Reserve zu locken versuchten, Canol schwieg. »Was gibt es noch zu sagen?!« Wisperte es bitter und freudlos in seinem Kopf. »Spielt doch keine Rolle mehr, ob ich in meinem eigenen Viertel eine Lachnummer bin. Bald ist ja ohnehin Sendeschluss, mal sehen, ob sie auch an meinem Grab lachen!« Dieser Gedanke ließ ihn jedoch so sehr zittern, dass er sich für einen Augenblick auf einen Hocker setzen musste. Für Rachegelüste mochten solche Phantasien von reuigen Ex-Freunden ja ganz kleidsam sein, aber die drohende Umsetzung war ein ganz anderes Kaliber. "Hey." Beinahe verlegen berührte ihn eine gebräunte Hand an der Schulter. Canol schreckte hoch, noch bevor die lähmende Antriebslosigkeit ihn wieder in einen Zombie seiner selbst verwandeln konnte. »Der Student!« "Ich habe etwas mitgebracht." Nun baumelte vor Canols Nase eine Plastiktüte unbekannten Inhalts. "Aber dein Vater ist gerade beschäftigt, also übergebe ich es dir, ja? Danke für die Blumen und den Honig." Mit einem schiefen Grinsen ließ Evangelistos seine Gabe auf Canols Schoß nieder. Der blinzelte und vernahm, wie sein Gegenüber, ein Geräusch. "Jetzt kapier ich, er ist schwul geworden!" Stellte eine boshafte Stimme fest, dann marschierten mehrere Personen aus dem Laden. Canol verfolgte betäubt durch die großen Fenster, wie einige seiner Freunde, darunter auch Tarik, demonstrativ ausspuckten und mit entsprechenden Gesten bedeuteten, dass er sich selbst auf die Abschussliste gesetzt hatte. Nun auch zu einem Opfer werden würde. "Das ist alles nicht wahr." Murmelte Canol hilflos, den Kopf auf die Plastiktüte gesenkt. "Das stimmt nicht." Er schreckte erst aus seiner privaten Fassungslosigkeit hoch, als ein Papiertaschentuch sehr vorsichtig über seine Wangen rieb. Der Student hockte vor ihm, tupfte Tränen vom dem aschgrauen Gesicht. "Wir könnten das Missverständnis aufklären." Schlug er tollkühn, aber ernsthaft vor. Canol studierte die hellblauen Augen, das gebräunte Gesicht mit den munteren Sommersprossen, das Pflaster auf dem Ohrläppchen und, nun zum ersten Mal, die dünne Narbe an einer Schläfe. "Sie ändern ihre Meinung nicht mehr." Schüttelte er langsam den Kopf, jedes Wort abwägend, immerhin gab es in ihrem Kreis nichts Schlimmeres als als schwul geoutet zu werden. Ob zutreffend oder nicht spielte keine Rolle mehr. Langsam erhob sich Canol. "Danke für dein Geschenk." Kramte er mühsam ein wackliges Lächeln aus seinen betäubten Gesichtszügen. "Was genau ist es denn?" Der Student grinste aufmunternd. "Was denkst du denn, anatolischer Bauer? Natürlich eingelegter Schafskäse!" Gegen seinen Willen, allein durch die aufgestauten Emotionen überwältigt, lachte Canol schrill auf, zitterte dann so stark, dass ihm fast die Plastiktüte entglitt, sodass Evangelistos einschritt. "Ich glaube, wir sollten mal eben an die Luft gehen. Du siehst furchtbar aus." Schlug er wenig diplomatisch vor, doch Canol schien nach seiner Meinung nicht in der Stimmung, sich an kleinen Spitzen zu stoßen. Erschreckend gehorsam überreichte Canol die Gabe seinem Vater, schlüpfte nicht mal aus der verhassten Schürze, sondern streifte lediglich seine Daunenjacke über, bevor er mit Evangelistos ins Freie trat. Der Himmel war dunkel, aber sternenklar, somit eisig und still. "Ihr habt ganz schön lange geöffnet." Stellte Evangelistos fest. "Ist sicher eine anstrengende Arbeit." Canol zuckte mit den Schultern, eine abgehackte Bewegung aufgrund der Nackenschläge, die noch immer schmerzten. "Ich studiere hier an der Uni, Biologie und Physik, interdisziplinär. Im Augenblick habe ich keinen Job, dafür schon einen Praktikumsplatz." Setzte der Student an, lauerte auf eine Reaktion des neben ihm herstolpernden Mannes. "Das ist sicher cool." Brabbelte Canol, als er ferngesteuert die sich ausdehnende Gesprächspause bemerkte. "Setzen wir uns." Evangelistos fasste Canols Ellenbogen, dirigierte diesen zu der einsamen Parkbank, die ein ehemaliges Friedhofsgelände überblickte. "Was ist los mit dir? Irgendwas stimmt doch nicht." Konzentriert beugte er sich vor, um unter Canols herabgesenkten Kopf blicken zu können, dessen blaue Augen auf die eigenen zu fixieren. Ein geisterhaftes Grinsen irrlichterte über Canols Gesicht, bevor es wieder unleserlich blank wurde. »Das würde er doch nie glauben!« Verabschiedete er sich von der Versuchung, Evangelistos seine Situation zu erklären. "Bist du vielleicht krank?" Der Student ließ nicht locker. "Oder warum machst du dir Gedanken um Sachen, die im Sommer passiert sind?" Canol sah auf. »Krank? Könnte das eine Möglichkeit sein...?!« »Wenn du ihn anlügst, kannst du dir gleich schon mal eine nette Urne aussuchen.« Mischte sich der Geist kategorisch ein, zwickte Canol nachdrücklich in ein Ohr. "Ich bin nicht krank." Brummte dieser ergeben. »Klar, dass es nicht so einfach ist! Hol dich der Teufel, du blöder Quäl-Geist!« "Du musst ja nicht mit mir darüber reden." Gab sich der Student konziliant. "Aber mit irgendjemandem solltest du es." Tief die kalte Winterluft einatmend zuckte Canol mit den Schultern. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, der Student den Kopf weit in den Nacken gelegt, im Studium der Sternbilder versunken. "Hat dich schon mal jemand überfallen?" Erkundigte er sich, aber in einem so kontemplativen, rhetorischen Tonfall, dass Canol sich eine Antwort ersparte. "Als das im Sommer passiert ist, das war das zweite Mal." Canol wandte den Kopf, um das Profil seines Begleiters zu betrachten. "In der Schule ist mir das schon mal passiert, drei gegen einen." Evangelistos schien es nicht zu stören, dass Canol stumm blieb. "Die haben mich so eingeschüchtert und verprügelt, dass ich mir in die Hose gemacht habe." Nun war es die Stimme des Studenten, die leblos und hohl klang. "Danach habe ich die Schule gewechselt. Ich konnte es nicht ertragen, denselben Weg zu gehen und diese Typen vielleicht wieder zu treffen. Diese ganzen Blicke voll Mitleid und Abscheu. Wie man nur so feige und erbärmlich sein kann, dass man bei Prügeln in die Hose pinkelt." Canol zog die Beine auf die Bank, umarmte seine Knie. »Eigentlich will ich das gar nicht hören!« Summte es schrill in seinem Kopf. »Ich will nicht darüber nachdenken, was ich anderen antue. Außerdem haben die es verdient!« Aber daran glaubte er selbst schon lange nicht mehr. Zum ersten Mal gestand Canol sich ein, dass der Geist vielleicht doch keinen Fehlgriff getan hatte. »Vielleicht habe ICH es wirklich verdient.« Unterdessen setzte der Student seinen Monolog leise fort. "Als ich dann ausgerechnet euch in die Füße lief! So lange habe ich mir eingeredet, dass ich mich geändert habe, viel stärker geworden bin! Sogar einen Selbstverteidigungskurs habe ich gemacht, halte mich in Form, und dann komme ich wieder in eine solche Situation. Und kann mich vor Angst kaum bewegen." "Es tut mir leid." Unterbrach Canol heiser, suchte Evangelistos' Blick. "Wirklich, es tut mir leid." Was konnte er noch hinzufügen? Ein Idiot zu sein, ein aufgeblasener Angeber, der selbst Unbehagen verspürte, wenn er alleine einer Gruppe anderer junger Männer begegnete? Der sich glücklich schätzte, noch nie in einen Überfall geraten und ohnmächtig der willkürlichen Laune seiner Pendants ausgeliefert zu sein? Evangelistos blickte ihn an, lächelte dann scheu. "Ich glaube dir." Versicherte er verlegen, wandte sich rasch ab, zog fröstelnd die Schultern hoch. "Lass uns gehen." Beschloss Canol, der befand, dass es an ihm war, nun endlich Initiative zu zeigen, setzte die Füße wieder auf den gefrorenen Boden, erhob sich von der Bank. "Lausig kalt!" Murmelte der Student zustimmend, sprang elastisch auf und nieder, beschleunigte den eigenen Kreislauf energisch. Sie kehrten in das Geschäft zurück, in dem noch immer wenige Kunden die Aufmerksamkeit von Canols Vater in Beschlag nahmen. Canol streifte sich die Jacke ab, führte den Studenten in das Lager, wo eine gewaltige Kanne gesüßten Tees wartete. Er pumpte zwei Gläser voll, reichte eines Evangelistos, der die Hände darum legte und sich aufwärmte. "Hmmm, das tut gut!" Lächelte er aufgetaut, räusperte sich dann ein wenig verlegen. "Bitte erzähl niemandem weiter, was ich dir gesagt habe, ja?" Canol nickte. "Sicher nicht. Versprochen." Setzte er hinzu, um wenigstens einem Menschen zu beweisen, dass er nicht ein unzuverlässiger Totalausfall war. "Danke." Evangelistos grinste schräg, suchte unter diversen Ärmelbündchen seine Uhr und seufzte. "Sorry, aber ich muss jetzt gehen." Er stellte das Glas auf dem kleinen Tisch ab, rieb sich die Hände, wandte sich dann aber noch einmal zu Canol um. "Sag mal, hast du morgen Abend frei? Dann könnten wir ja zusammen auf den Weihnachtsmarkt gehen." Schlug Evangelistos vor. "Ich glaube nicht, dass..." Doch bevor Canol seinen Satz vollenden konnte, stand sein Vater auf der Schwelle. "Ah, guten Abend!" Schon ergriff Evangelistos freundlich das Wort. "Ich wollte Canol gerade bitten, mir morgen auf dem Weihnachtsmarkt Gesellschaft zu leisten. Wie jedes Jahr fehlen mir doch immer noch ein paar kleine Geschenke." Zwinkerte er verschwörerisch. Canol musterte ungläubig, wie sein Vater lächelte und mit minimalem Nicken seine Zustimmung erteilte. "Prima! Dann hole ich dich morgen gegen 18 Uhr ab, ja? Okay?" Der Student berührte Canols Ellenbogen, lächelte ihm aufmunternd zu. "Das ist in Ordnung." Bestimmte Canols Vater, versetzte diesem einen Schubs, damit er den Studenten zur Tür begleitete. "Danke." Murmelte Canol an der Tür, empfing noch einen Stoß, dieses Mal aber keinen Tadel. "Du könntest bis morgen lächeln üben." Neckte ihn der Student kess, entkam dann ins Freie, bevor Canol reagieren konnte. »Lächeln üben...« Canol schmunzelte noch, als er ins Bett kroch und endlich einmal Schlaf fand. ~@~ "Das ist ein sehr höflicher Junge!" Stellte Canols Vater am Morgen fest. "Du solltest dir ein Beispiel nehmen. Er studiert sogar!" Canol nickte, ohne das gewohnte Augenrollen oder andere Anzeichen von Trotz. Ihn freute die Aussicht darauf, nicht bis zur Erschöpfung im Laden arbeiten zu müssen, sondern sich tatsächlich amüsieren zu dürfen. Wenn er mit seinen Freunden auf den Weihnachtsmarkt ging, wusste er schon, dass man sie mit Argwohn beobachtete, die Streifen und Zivilpolizisten sie ins Visier nahmen, weil zu befürchten stand, dass sie Ärger auslösten. Das sollte zu zweit sicher nicht der Fall sein. Pünktlich traf Evangelistos ein, grinste Canol gutgelaunt entgegen und schwenkte unternehmungslustig seinen Rucksack. "Na, wollen wir?" Canol wollte. Die Fahrt mit der U-Bahn dauerte nicht lange, die Züge mit den Wagen ächzten allerdings unter der Auslastung, weil viele andere auch auf dem Weihnachtsmarkt und in den umgebenden Geschäften nach Geschenken oder der Einstimmung in die Festzeit suchten. Aufatmend trieben sie in der Menschenmenge Richtung Platz, Evangelistos voran, der Canol zielsicher auf eine Bude steuerte, in der allerlei Heißgetränke ausgeschenkt wurden. "Was meinst du, Glühwein und eine Bratwurst?" Der Student strahlte seinen Begleiter an, bereits eingehüllt von dem appetitlichen Geruch, den der Grill verströmte. Canol seufzte. "Kein Alkohol." Bekannte er beschämt die Auflage, die sein Vater gemacht hatte, als sie allein gewesen waren. "Na gut, heiße Schokolade? Ja?" Schon wirbelte Evangelistos herum, orderte mit einem fröhlichen Gruß, was selbst den routinierten Mitarbeitern ein Lächeln entlockte. "Guuuuuut!" Stöhnte der Student gedehnt und vollkommen ungeniert, leckte sich genießerisch über die Lippen. "Ich bin total verrückt nach Schokolade. Und dazu Bratwurst! Total irre, was?" Zwinkerte er Canol zu, der methodisch seiner Portion auf die Pelle rückte. "Stimmt." Bemerkte er trocken. "Ganz schlechter Geschmack!" Streckte dann provozierend die Zunge raus, die flugs von Evangelistos mit Senf bestrichen wurde. Canol hustete ob der Schärfe, wischte sich hastig mit der Serviette das Leckbrett ab und funkelte agitiert über die schmale Runde des Bartisches hinweg. Evangelistos grinste unbeeindruckt, um dann eifrig die Strategie zu erläutern. "Zuerst mal schauen wir uns am Besten die Buden mit dem Handwerk an, okay? Weit weg von dem Kinderkram mit Karussell und den Fressbuden, da ist ohnehin so viel Betrieb, dass wir da kaum durchkommen werden. Einverstanden?" "Sicher." Canol vergrub die Hände in den Jackentaschen. "Für wen suchst du denn Geschenke?" Evangelistos zählte an den Fingern ab. "Für Carlos, Maria, Marie, Sam, David, Paulina, Sarah und Amos." "Aha." Murmelte Canol ratlos. "Wer genau sind die alle? Deine Familie? Oder andere Studenten?" "Das sind Kinder in einem Kinderhaus." Erklärte der Student, ging Canol voraus. "Ich war in den Semesterferien in Südafrika und habe mitgeholfen, das Haus aufzubauen. Wir haben mit der deutschen Botschaft eine Vereinbarung, dass sie Spenden oder Geschenke mit der Diplomatenpost weitergeben, damit alles auch dort ankommt, wo es hin soll." Canol staunte laut. "Deshalb bist du so braungebrannt!" Evangelistos wandte sich um, zog eine Augenbraue hoch. "Ich muss ja auch mal was anderes machen als Schafe hüten." Neckte er Canol grinsend. Der streckte ihm trotzig die Zunge raus. "Woher soll ein anatolischer Bauer so was auch wissen?" Nahm er sich selbst auf die Schippe. Gemeinsam betrachteten sie Holzspielzeug, Glasbläserarbeiten, vielerlei andere Dinge. "Es sollte etwas sein, womit alle Kinder ihren Spaß haben können." Bemerkte Evangelistos gerade kritisch, als sie unvermittelt in eine Gruppe junger Männer gerieten, die schon mehr getrunken hatten, als ihnen gut tat. »Tarik.« Stellte Canol resigniert fest. »Das musste ja so kommen, gerade, als es mir wieder besser ging.« Zum Austausch von Feindseligkeiten kam es gar nicht, weil sich eine Partei nicht mehr verständlich artikulieren konnte, die andere sich nicht den Abend verderben lassen wollte. "Gehen wir." Der Student fasste Canols Arm, was leider nicht ging, da sie bereits eingekreist waren und nun zwischen den Umstehenden hin und her geschubst wurden. "Hey, lasst uns in Ruhe!" Canol ballte die Fäuste, fing den Studenten ab, der bereits aus der Balance gebracht worden war. Nun zischten ihnen Unflätigkeiten entgegen, der Zirkel wurde immer enger. "Bitte holen Sie Hilfe!" Evangelistos wandte sich seiner Umgebung zu, hoffte auf Unterstützung bei Passanten und Budenbesitzern. Rücken an Rücken fingen sie Fäuste ab, wichen Tritten nach Möglichkeit aus. "Polizei, auseinander!" Wurden sie nach endlosen Minuten erlöst, spritzten ihre Angreifer davon, mehr oder weniger behände. "Alles okay?" Canol wandte sich dem Studenten zu, musterte ihn eingehend. Evangelistos nickte fahl, rieb sich verstohlen ein Schienbein. "Da hatte einer ein Messer." Flüsterte er bleich. Müde und bar jeder Begeisterung warteten sie auf die Streife, die sie auf das mobile Revier begleiteten. Canol seufzte leise. "Zweimal in einer Woche bei der Polizei. Mein Vater bringt mich um." "Wir haben überhaupt nichts getan!" Stellte Evangelistos klar. "Warum sollten wir Ärger bekommen?!" Nun war es an Canol, die Augenbrauen zu lupfen. "Soll ich dich an den Sonntag erinnern? Den ich auf dem Revier verbracht hatte, weil ich dämlicher Weise deinen Ausweis eingesteckt hatte?!" Brummte er wenig zuversichtlich. "Du bist wirklich ein Optimist!" Beschwerte sich Evangelistos, übernahm dann die Erklärungen für das Protokoll. "Und jetzt?" Erkundigte sich Canol gedrückt, der Student wirkte müde, der Abend war wohl nicht mehr zu retten. "Vielleicht versuchen wir morgen noch mal einen Anlauf?" Evangelistos rieb sich über die Stirn, justierte dann seine Wollmütze nach. "Sicher." Murmelte Canol. "Ich weiß nur nicht, ob ich morgen Abend noch mal frei bekomme." Tat er seine Einschätzung kund. Der Student wandte den Kopf. "Blöd, das habe ich vergessen. Würde es was bringen, wenn wir deinem Vater die Sache erklären?" "Ich denke nicht." Gab Canol bekannt. "Morgen ist der letzte Tag vor Heiligabend, da ist bestimmt Hochbetrieb." »Da kann ich beweisen, dass ich kein Totalausfall bin. Zumindest meinem Vater.« "Na gut." Evangelistos erstand eine Tüte gerösteter Mandeln. "Gehen wir nach Hause." Die Bahnfahrt verlief ebenso beengt wie zuvor, doch versöhnlicher, da sich beide die Mandeln teilten. "Viel Erfolg bei der Suche morgen." Wünschte Canol, drückte Evangelistos aus einem Impuls heraus die Hand. Der lächelte, ein wenig überrascht. "Ich werde mir Mühe geben. Tja, man sieht sich!" Verabschiedete er Canol an der Türschwelle, zog die Schultern gegen die aufkommende eisige Brise hoch und verschwand langsam in der Dunkelheit. An diesem Abend lag Canol noch eine Weile wach. »Morgen ist der letzte Tag.« Sein Herz war noch immer verloren, aber dieser Tag würde verstreichen, ohne dass er Gelegenheit hätte, dem Hüter seines Herzens zu begegnen. »Und an Heiligabend... wenn nicht noch ein Wunder geschieht...« Canol vergrub sich in seinem Bett und wartete zitternd darauf, dass ihn der Schlaf gnädig erlöste. ~@~ Donnerstag, der Tag vor Heiligabend. Das Teeglas ohne das mindeste Zittern balancierend studierte Canol den Zettel voller Anwürfe und Verleumdungen, Schmähungen und Hasstiraden. Er hatte in den Scheren des Sicherheitsgitters gehangen, als sein Vater an diesem Morgen das Geschäft geöffnet hatte. »Bei solchen Freunden muss ich mich vor meinen Feinden nicht hüten.« Stellte Canol mit Galgenhumor fest. Er hatte Vorwürfe erwartet, eine Standpauke, begleitet von Nackenschlägen, doch sein Vater hatte lediglich aus einer Seite einer Tageszeitung einen provisorischen Umschlag gefaltet und ihm bedeutet, die Schmähschrift nach der Lektüre dort zu deponieren. »Abbas und Elif wäre so etwas nie passiert.« Dachte Canol stumm, aber ohne die gewohnte Bitterkeit oder geschwisterlichen Neid. Nie hatte er erwartet, so schnell zu einer Zielscheibe für seine ehemaligen Freunde zu werden. "Ihnen wird die Lust schon vergehen." Eine Hand legte sich auf seine Schulter, drückte bestätigend. "Geh wieder an die Arbeit." Canol war dankbar für den emsigen Betrieb, der es ihm ersparte, über die ablaufende Zeit beständig zu sinnieren, zwischen Panik und Verzweiflung zu wechseln. Automatisch verrichtete er seine Aufgaben, stetig und in sich gekehrt. Nein, es war kein Leben ohne sein Herz mehr. Er vermisste seine Emotionen schrecklich, das beruhigende Klopfen, die Aufregung, die Freude, die Wut. Ohne Herz blieb nichts, was ihn berühren, ihm einen Wert darstellen konnte. Gleichmut hüllte ihn ein wie ein Bleimantel, schirmte ihn ab vom geschäftigen Treiben der Welt, ein Schatten, der vergessen umherwandelte, ohne Sinn oder Streben, mehr war diese Existenz nicht. »Nur wenn Evangelistos mit meinem Herzen in der Nähe ist, kann ich fühlen.« Doch damit würde es morgen Mitternacht zu Ende sein. Vollkommen erschöpft fiel Canol in dieser Nacht in traum- und bodenlosen Schlaf. ~@~ Heiligabend, Vormittag. "Ich mache dir ein Spiegelei mit Speck, ja?" Selbst seine Mutter musterte ihn besorgt, hantierte geschäftig in der Küche. "Danke schön." Antwortete Canol mechanisch, starrte auf die Tischdecke, ein Wunderwerk aus feinster Spitze, selbstgefertigt. "Hilfst du Vater heute im Laden?" Erkundigte sich Elif, die ihn verstohlen studierte, unaufgefordert eine Scheibe Toastbroat auf seinen Teller platzierte. "Ja, mache ich." Verkündete Canol lammfromm, aber tonlos. Beide Frauen wechselten besorgte Blicke. "Es ist Weihnachten, das Fest der Liebe und der Familie!" Munterte Elif ihn auf, zerwühlte mit einer Hand seine nachlässig gekämmten Haare. "Sei nicht so lustlos und fad! Lach mal, sonst erkennt man dich gar nicht wieder." Canol biss krachend in das nackte Toastbrot und nickte mechanisch. "Sicher." Eine halbe Stunde später zählte er im Lager die Bestände, bereitete die bevorstehende Inventur vor. »Hoffentlich hilft Abbas Vater.« Schoss ihm durch den Kopf. Dann setzte er sich schwerfällig auf einen Stuhl, umklammerte seine zitternden Hände fest. »Ist gar nicht so schlimm!« Tröstete er sich selbst. »Evangelistos ist ein netter Kerl, mein Herz ist gut bei ihm aufgehoben, wenn der Geist wirklich ernst macht. Außerdem stirbt jeder irgendwann mal.« Der Gedanke allerdings, am nächsten Morgen tot im Bett gefunden zu werden und den ganzen Abend davor munter und fröhlich zu sein, obwohl er befürchten musste, seine Familie nie mehr wieder zu sehen... Canol tropften die Tränen auf die Oberschenkel, während er sich mit beiden Armen fest umklammerte. "Das steh ich nicht durch!" Erstickte er sein Schluchzen, biss sich auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. »Ausgeschlossen, das kann ich nicht. Ich bin wirklich zu feige.« "Canol?" Rief sein Vater. "Geh nach oben, Mittagessen, ich achte so lange auf den Laden!" "Ich bin bald fertig, dann gehe ich!" Antwortete Canol, verzweifelt bemüht, seiner Stimme nicht seine Angst anhören zu lassen. Sich hastig über die Augen wischend stand er auf, sortierte die Unterlagen, zwang sich mit aller Gewalt, nur und ausschließlich die Inventur vorzunehmen, keinen einzigen Gedanken herumstreunen zu lassen. Er arbeitete so konzentriert, dass er gar nicht bemerkte, wie sein Vater ein abgedecktes Tablett auf dem kleinen Tisch abstellte. "Iss nun!" Ordnete er an, dirigierte Canol auf den Platz. "Ich bin mit deiner Arbeit in dieser Woche sehr zufrieden. Du hast dich verbessert." Canol lächelte fahl. Was hätte er früher nicht um ein Lob gegeben! Doch nun schmerzte es nur noch in seiner leeren Brust. Lustlos schaufelte er Gabelladungen in den Mund, kaute, schluckte und schmeckte nichts. Er beendete die Mahlzeit kurz darauf, vertiefte sich wieder in seiner Aufgabe, minimal dankbar dafür, dass sie ihn noch einige Zeit von seiner Familie oder anderen Menschen fernhielt. "Canol, dein Freund ist hier." Riss ihn sein Vater aus seiner einsamen Beschäftigung. Zögernd trat Canol in die hellerleuchtete Verkaufsfläche hinaus, blinzelte ein paar Mal, um seine Augen an die Strahlkraft zu gewöhnen. "Guten Abend und frohe Weihnachten." Wünschte Evangelistos, schüttelte Canol die beschmutzte Hand unbekümmert. "Sag mal, würdest du heute zu meinen Eltern mitkommen zum Kaffeetrinken? Ist das okay?" Erkundigte er sich eifrig bei Canols Vater, der mit einem breiten Lächeln nickte. "Na los, Junge, wasch dich und zieh dich um!" Scheuchte er Canol in die Wohnung hinauf, wisperte dann vertraulich. "Ich werde eine Flasche Wein und Gebäck zusammenpacken, damit du die Familie dieses netten, jungen Mannes besuchen kannst." Canol kam in Trance der Aufforderung nach, zog sich seine beste Hose und ein feingestrickten Rollkragenpullover unter seinem einzigen Sakko an, kämmte sich die Haare und musterte seinen Auftritt. »Für eine wandelnde Leiche gar nicht schlecht.« Kommentierte eine Stimme boshaft in seinem Ohr, lachte perlend und verschwand. "Es ist nicht weit." Beruhigte ihn Evangelistos unaufgefordert, als Canol das Präsentpaket in einer Hand apportierend neben ihm herlief. "Hast du die Geschenke für die Kinder bekommen?" Erkundigte der sich wie aufgezogen, fror ohne seine Daunenjacke. "Hmmm, ich habe mich auf Kleinigkeiten verlegt, Murmeln, Bälle, Springseile, Kartenspiele und so was. Da können sicher alle viel Spaß mit haben." Evangelistos beugte sich vor, um Canols Urteil zu erfahren. "Hört sich gut an." Gab der zurück, mit glasigem Lächeln. Der Student bemerkte Canols merkwürdiges Verhalten, verzichtete aber zunächst auf einen Kommentar, schob es einer gewissen Nervosität zu. "Du hast dich ganz schön fein gemacht!" Komplimentierte er Canols Auftritt. "Meine Eltern werden sehr beeindruckt sein. Und mir die Ohren langziehen, weil ich da nicht mithalten kann." Scherzte er aufmunternd, versetzte Canol einen neckenden Stoß in die Rippen. Der reagierte nicht. "Du musst keine Angst haben, wir Schafhirten sind ganz normale Leute!" Legte der Student nach, beobachtete nun jede Regung genau. Canol nickte mechanisch. "Ich freue mich, deine Eltern kennenzulernen." Plapperte er wie aufgezogen. "Aha." Murmelte Evangelistos irritiert und verzichtete für den Rest des Weges auf die Konversation. Zu seinem Erstaunen zeigte sich Canol, der wohlerzogen die Geschenke und Grüße seiner Familie übermittelte, an der familiären Kaffeetafel weniger betäubt, lächelte und erzählte kleine Anekdoten aus dem Geschäft, lauschte zumeist aufmerksam der Unterhaltung. Es dunkelte bereits, als man die Tafel aufhob, denn Evangelistos' Eltern wollten rechtzeitig zum Kirchgang aufbrechen. "Ich begleite Canol nach Hause." Verabschiedete sich der Student. "Wir sehen uns dann morgen." Wenige Leute begegneten ihnen, als sie sich gemächlich auf den Heimweg machten. "Ich gehe nicht so gern in die Kirche. Bei dem ganzen Weihrauch wird mir immer übel." Bekannte Evangelistos aufgekratzt, zwinkerte Canol an, der schweigend sein Lächeln erwiderte. "Was wirst du denn heute Abend machen? Feiert ihr?" Evangelistos ließ nicht locker, hängte sich kurzerhand bei Canol ein, der sichtlich fror. "Gemeinsam essen." Antwortete der, unterdrückte ein entlarvendes Zähneklappern. "Wir machen keine Bescherung, verbringen aber die Zeit zusammen." "Freust du dich denn?" Wollte Evangelistos wissen, blies spielerisch Kondenswolken in die eisige Luft. Canol zog eine Grimasse. "Sicher." Wisperte er heiser. Den ganzen Nachmittag, während des Besuchs bei Evangelistos' Eltern, hatte er ihn beobachtet. »Meinem Herz wird es bei ihm gut gehen!« Mehr als einmal war dieser Gedanke durch seinen Kopf gehuscht. Bei einem Menschen, der so optimistisch und freundlich war, sich für Kinder auf einem anderen Kontinent einsetzte, trotz schlechter Erfahrungen einem anderen eine zweite Chance gab. Zu verständlich, warum der Weihnachtsgeist nie bei Evangelistos einen Besuch ansetzen würde. »Er ist ebenso viel oder wenig Grieche, wie ich Türke bin.« Die Komik der Situation hatte ihm ein Grinsen entlockt. »Beide mit deutschem Pass, sogar hier geboren!« Der Student blieb stehen, eine Straße von Canols Haus entfernt. "Hier." Drückte er Canol ein kleines Päckchen in die Hand. "Aber erst morgen öffnen, versprochen?" Canol starrte betäubt in das strahlende Gesicht. "Frohe Weihnachten, Canol." Wünschte Evangelistos freundlich. »Verabschiede dich.« Wisperte eine gefürchtete Stimme in Canols Ohr. Zeit, seinem Herzen Lebewohl zu sagen. ~@~ Das Päckchen fühlte sich wie Luft in seinen Fingern an, vielleicht waren diese aber auch schon von der Kälte gefühllos geworden. Canol presste die Lippen aufeinander. »Ich werde nie wissen, was du mir geschenkt hast, weil es kein Morgen mehr gibt.« Sandte er stumm aus. "Also, versprichst du es?" Evangelistos zupfte energisch an Canols Sakko-Aufschlägen. "Versprochen." Würgte dieser mühsam hervor, zwang ein Lächeln auf seine Gesichtszüge. "Frohe Weihnachten, Evangelistos." Das erste Mal, das er ihn mit seinem Namen ansprach. »Und auch das letzte Mal.« "Dann sehen wir uns. Komm gut nach Hause und grüß deine Familie, okay?" Der Student schüttelte Canols eisige Hand freundlich. "Ja." Erstickte der fast an der knappen Silbe, wollte die Hand nicht fahren lassen, die ihn seinen Herzschlag spüren ließ. "Okay, dann nichts wie heim, ist lausig kalt!" Evangelistos löste sich, pustete demonstrativ auf seine Handflächen. Canol drehte sich auf dem Absatz um, konnte aber keinen Schritt mehr tun. Er spürte, wie sein Herz sich entfernte, mit jeder verstreichenden Sekunde das dünne, unsichtbare Band ausfaserte. »Oh Gott, bitte...!« Doch all die Argumente, die er vorher abgespult hatte, die verzweifelten Aufrufe, tapfer zu sein und Haltung zu bewahren, sie waren verflogen. Hätte er noch über sein Herz verfügt, so hätte es mit Sirenengeschrei nach Hilfe gerufen. Er wusste nicht weiter, keinen einzigen Augenblick mehr, keine Richtung, kein Ziel, keine Zuflucht. ~@~ Kapitel 4 - Das Ende ist nah! "Canol, was ist mit dir?!" Unvermittelt trat Evangelistos ohne das ansteckende Lächeln in Canols unscharfes Blickfeld, bemerkte die Tränen und die panische Angst, die diesen entstellte. Instinktiv zog er Canol in seine Arme, wärmte und wiegte ihn ebenso erschrocken. "Komm mit zu mir!" Forderte er Canol auf, wartete keine Antwort ab, sondern zog diesen hinter sich her, an der kalten Hand. In Evangelistos kleiner Wohnung empfing sie verhaltene Wärme. Der Student half Canol aus den Sakko, schob ihn in seine Wohnküche, entzündete dann Lichter und Kerzen, wärmte Apfelwein auf, um zwei Gläser damit zu füllen. "Trink!" Ordnete er an, nahm selbst einen versichernden Schluck. Canol nippte folgsam, verbarg dann sein Gesicht in den kalten Händen, kauerte sich zusammen. »So wenige Stunden noch! Was soll ich nur tun?!« "Erzähl mir, was los ist!" Beantwortete Evangelistos seinen stummen Hilferuf. "Das wirst du mir nicht glauben!" Krächzte Canol verzweifelt, zitterte wieder in Gedenken an das bevorstehende Ende. Mit einem tadelnden Blick erhob sich der Student, entnahm einer Truhe eine Decke und wickelte Canol nachsichtig darin ein, rieb energisch über die weiche Textilstruktur, um zusätzlich Wärme in Canols ausgekühlten Körper zu leiten. "Erzähl es mir einfach und lass mich dann selbst urteilen, ob ich daran glaube oder nicht." Gab er einen weiteren Anstoß. Stockend berichtete Canol von seinem Kummer. ~@~ "Nur, damit ich das richtig verstehe." Evangelistos hatte Canol aus der Essecke gescheucht und auf das Sofa getrieben, wo er sitzen und gleichzeitig den flauschige Hotdog Canol-Decke massieren konnte. "Also, der Geist der Weihnacht hat dein Herz gestohlen, es mir heimlich untergeschoben und du wirst um Mitternacht sterben, wenn du bis dahin dein Herz nicht zurückgewonnen hast?!" Canol, der vornübergebeugt und warm eingemummelt neben Evangelistos kauerte, seufzte resigniert. "Ich habe gesagt, dass es verrückt klingt." "Aber real genug, um dir furchtbare Angst zu machen." Stellte der Student nachdenklich fest. Canol, der rapide seine Hemmungen verlor, wisperte leise weiter. "Ich kann es nicht einmal beweisen. Dass ich kein Herz mehr in der Brust habe, kann nur ich fühlen. Für alle anderen wird es ganz normal schlagen. Und ich bin nur ein totaler Spinner." "Darum bist du also am Samstag..." Weiter kam Evangelistos nicht, als Canol sich drehte, die Decke abschüttelte. "Das war ein Zufall!!" Beteuerte er mit überschlagender Stimme. "Und ich habe meine Entschuldigung ernst gemeint!! Ich habe das nicht einfach nur so gesagt!!" "Ich glaube dir." Evangelistos fasste Canols gestikulierende Hände beruhigend, hielt sie fest. "Ich glaube dir ja. Die Frage ist doch, was wir tun können?" Canol sackte neben ihm zusammen, zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht." Murmelte er trostlos. "Soll ich dich denn heimbringen? Oder möchtest du vielleicht...?" Der Student drapierte die Decke wieder um Canols Schultern. "Ich kann nicht nach Hause gehen." Würgte der hervor, wischte sich über die Augen. "Unmöglich!" "Dann bleib hier. Wir denken uns was aus!" Evangelistos legte den Arm um Canols Schultern, drückte ihn versichernd. "Ich helfe dir, bestimmt." Canol wandte den Kopf, lächelte unter Tränen und schämte sich ihrer keineswegs. "Danke. Vielen Dank." ~@~ Die Zeit verrann. Stumm warteten sie, zurückgezogen in Evangelistos' Schlafzimmer, verfolgten die langsamen Lichtspiele, die eine bunte, kreiselnde Leuchte an die Zimmerdecke warf, hielten sich versichernd an der Hand. Canol fühlte sich seltsam ruhig, neben Evangelistos liegend, in dieser Stille, die nur sein eigener Herzschlag erfüllte. »Wir hätten wirklich gute Freunde werden können.« Stellte er stumm fest. »Von wegen dämlicher, griechischer Schafhirte. Selbst wenn er nicht mein Herz hätte, würde ich ihn mögen. Ganz bestimmt.« Eine Bewegung erregte Canols Aufmerksamkeit. Der Geist war erschienen. Im Gegensatz zu ihrem ersten Aufeinandertreffen trug er nun eine bodenlange, weinrote Robe, stilecht in seiner Rechten eine gewaltige Sense. »Gevatter Tod, der Schnitter selbst.« Canol setzte sich auf. "Was ist?" Schlaftrunken schreckte Evangelistos auf, lehnte sich an seine Schulter. "Er ist da." "Wer? Der Geist? Wo denn?" "Er steht genau mir gegenüber." "Ich sehe ihn nicht! Was macht er denn?! Sagt er was?!" "Er hat eine Sense dabei. Er sagt, dass du meine Hand loslassen sollst. Es ist bald Mitternacht." "Nein!" ~@~ Canol zuckte zusammen, als Evangelistos kampfbereit aufsprang, die freie Faust ballte. "Ich kann dich zwar nicht sehen, Herr oder Frau Geist der Weihnacht, aber loslassen werde ich Canol auf keinen Fall!! Er hat sich geändert!! Er hat sich bei mir entschuldigt und ich habe das angenommen!! Ich werde für ihn sprechen und für ihn eintreten!! Er ist ein guter Kerl!! Bitte, gib ihm sein Herz zurück! Lass ihn nicht sterben!!" Beendete Evangelistos sein flammendes Plädoyer, wandte sich zu Canol um, der noch immer auf der Bettkante saß. "Er sagt, du musst meine Hand loslassen." Wiederholte der bleich. "Kann er mich denn nicht hören?! Ich werde dich nicht loslassen!! Du darfst nicht sterben!! Das ist nicht fair!!" Begehrte der Student energisch auf. Canol schüttelte den Kopf, schluckte schwer. "Er wird die Zeit anhalten und deine Hand aus meiner lösen, wenn du nicht gehorchst." "Das ist feige!! Lass uns darüber sprechen, Geist!! Canol hat eine zweite Chance verdient!! Er ist wirklich ein guter Mensch! Er hat Fehler gemacht, wie wir alle, aber er hat sich geändert!! Gib ihm sein Herz zurück!! Er kann dir dann beweisen, dass es die richtige Entscheidung war!" Verhandelte Evangelistos, zog alle Register, warf sich für Canol in die Bresche. Es blieb still. "Was tut er?!" Evangelistos warf einen irritierten Blick auf Canol, der totenbleich auf seinem Bett saß. "Er zählt die Zeit rückwärts bis Mitternacht." Brachte Canol stockend über die Lippen, sah dann zu Evangelistos hoch. "Lass meine Hand los." "Spinnst du?! Bestimmt nicht!!" Der Student drückte die Finger noch fester. "Bitte!" Tränen tropften über Canols Gesicht. "Das hat doch keinen Sinn. Wenigstens mein Herz wird bei dir weiterleben." Evangelistos brach neben Canol in die Knie, umarmte ihn fest. "Es MUSS einen Ausweg geben!!" Flüsterte er erstickt. "Ich will nicht, dass du stirbst!! Das ist nicht richtig." Canol weinte leise, konnte es trotz der in seinem Kopf dröhnenden Zahlen nicht über sich bringen, Evangelistos von sich zu stoßen. »Soll er doch die Zeit anhalten, ich lasse auch nicht los! Wenn ich schon sterbe, dann nicht ganz allein!« Urplötzlich schoss der Student in die Höhe, riss Canol mit sich. "Nimm mein Herz!! Gib ihm mein Herz, wenn Canol seins nicht zurückholen kann!" Forderte er ins Leere auf. "W-was?!" Canol starrte Evangelistos an. "Was redest du denn da?!" "Du hast mich doch gehört, Geist, oder nicht?!" Evangelistos umklammerte Canols Rechte. "Gib Canol mein Herz, damit er nicht stirbt. Das kannst du doch tun, nicht wahr?! Ich brauche keine zwei Herzen, also gib ihm meins. Bitte." "Das kannst du nicht tun!" Canol wollte sich lösen, doch Evangelistos ließ nicht locker, spielte seine ganze Kraft aus. "Du kannst mir nicht dein Herz geben!! Das geht nicht!" "Und warum nicht?" Brüllte der Student zurück. "Er hat mir dein Herz gegeben! Also kann ich dir mein Herz geben! Oder willst du sterben?! Hmm?! Wohl kaum!!" "Das kannst du nicht machen!" Canol schüttelte Evangelistos mit der freien Hand an der Schulter. "Man verschenkt nicht einfach so sein Herz!" "Nenn es eine Leihgabe, bis wir unsere Herzen bei Gelegenheit zurücktauschen können!" Schnaubte Evangelistos. "Oder ist mein Herz nicht gut genug?! Das Herz eines dämlichen, griechischen Schafhirten?!" "Idiot!" Fauchte Canol heiser. "Du weißt genau, dass ich das nicht meine!" "Wie viel Zeit noch?!" Unterbrach ihn Evangelistos unbeherrscht. "Sag schon!!" "MITTERNACHT." Dröhnte der diensthabende Geist der Weihnacht und schwenkte mit eleganter Grazie die gewaltige Sense. ~@~ Canol kam mit einem unterdrückten Stöhnen zu sich. An der Zimmerdecke tanzten sehr gemächlich bunte Schattenbilder. Ruckartig saß er aufrecht, die Rechte auf seine Brust gepresst. "Ich... lebe..." Kräftige Schläge schlugen aufgeregt gegen seine Handfläche. Hastig wandte er sich herum. "Evangelistos?" Ängstlich musterte er die reglose Gestalt, die neben ihm lag. »Oh nein! Ihm darf nichts passiert sein!!!« Behutsam fasste er mit rasendem Puls beide Oberarme, schüttelte sehr vorsichtig. "Hey, Evangelistos!" "Hmmmmm??" Stöhnte es ihm entgegen, dann flatterten Lider über hellblauen Augen, blinzelten ausdauernd, bis sie ihn fokussierten. "Sind wir tot?" Erkundigte sich der Student mit schwerer Zunge, rieb sich über das Gesicht. "Wir sind in deinem Zimmer." Antwortete Canol, zwischen einem hysterischen Kichern und erleichtertem Herumschreien schwankend. "Zählt das auch?" Evangelistos lächelte müde. "Dann würde ich wohl sagen, dass wir noch leben. Frohe Weihnachten, du anatolischer Bauer." Neckte er Canol provozierend. Canol beugte sich über Evangelistos, küsste ihn behutsam auf die Stirn unter die wirren Locken. "Frohe Weihnachten und... danke. Du hast mein Leben gerettet." Flüsterte er, schluckte an seinen Worten. "Gern geschehen! Und das meine ich auch so!" Um die Verlegenheit zu überbrücken, umarmte Evangelistos Canol eng, drückte ihn an sich und lachte. "Was für eine verrückte Nacht! Das werden wir wohl nie vergessen!" "Ich sollte besser nun nach Hause gehen." Canol richtete sich auf, lächelte verschämt auf Evangelistos herunter, der tadelnd den Kopf schüttelte. "Was soll das? Um die Uhrzeit? Komm schon, du kannst hier übernachten. Mein Bett ist groß genug für zwei." Dann kniff er kritisch die Augen zusammen. "Oder hast du etwa Angst vor mir? Der böse, griechische Meisterverführer?! Der der Tradition der Hellenen treu ist und auch Knaben nicht verschmäht? Hmmm?!" Hakte er gestreng nach. Canol lief dunkelrot an, was man ihm zweifellos ansah, wie er vermutete, denn in Evangelistos' Augen blitzte Belustigung auf. "Ich habe keine Angst vor dir!" Betonte Canol ärgerlich. "Trotzdem schlafe ich nicht einfach mit Männern in einem Bett!" "Stimmt, gibt auch andere gemütliche Plätze." Neckte Evangelistos frivol, grinste breit, als er Canols hilfloses Schnauben goutierte. "Hey, schon gut, ich mache nur Spaß! Sieh mal, das Bett ist groß, wir sind beide kaputt, was soll der Stress?! Ich gebe dir einen Schlafanzug, du hast Vortritt im Bad, dann ist doch alles okay, oder?" Canol knurrte und nickte knapp. Tatsächlich, kein Grund zur Aufregung. ~@~ Canol schrak zusammen, als ein Hahn lautstark in Reichweite herumkrähte, erkannte erst im zweiten Anlauf, dass es sich um eine elektronische Reproduktion handeln musste. "Hmmmm, verdammt, der Wecker!" Stöhnte es gequält neben ihm. Eine Hand ruderte über Canol herum, erwischte das kreischende Ungetüm und schläferte es mit gezieltem Handkantenschlag ein. "Hmmmm!" Stöhnte es zum zweiten Mal, allerdings genießerisch und triumphierend, dann schmiegte sich wieder ein Körper an Canols Seite, der nun begriff, was genau ihm die angenehme Wärme in der Nacht verschafft hatte. »Ich liege in Evangelistos Bett und er direkt neben mir...« Canols Herz blieb ruhig, sein Puls nahm jedoch ein beachtliches Tempo auf. »Wie kann das sein?!« Verstört fasste er nach seiner Brust, aber auch Evangelistos neben ihm drehte sich unruhig auf die andere Seite. »Haben wir etwa wirklich die Herzen getauscht?!« Canol saß im nächsten Moment aufrecht. "Ach du Sch....!" Unterdrückte er einen Fluch, äugte fassungslos auf den wirren Schopf sonnenblondierter Locken hinunter. »Heißt das nun, wenn ich mich freue oder traurig bin oder zornig werde, spürt er das?! Und umgekehrt?!« Die Aussichten dieser Veränderungen waren so schwindelerregend, dass Canol sich auf die Matratze zurückfallen ließ. "HmmmHmmm!!" Ächzte Evangelistos im Schlaf protestierend, zuckte unkontrolliert. »Aber wenn er mein Herz hat und ich seins...« Canol wandte den Kopf. Vielleicht war es doch ein wenig unbedacht gewesen... ~@~ Die Gunst des Augenblicks nutzend stand Canol lautlos auf, sammelte seine Bekleidung ein, die er entgegen der häuslichen Unsitte nicht einfach auf dem Boden verstreut, sondern ordentlich zusammengelegt hatte, huschte in das Badezimmer. Eine kalte Dusche sollte Wunder wirken, auch wenn er selbst recht selten davon Gebrauch machte. Doch sobald Canol unter der Dusche stand, fror ihn, also mischte er sich wohltuende Wärme, wählte einen fruchtigen Duft, schäumte sich ein und atmete schneller. »Was ist los?!« Das Herz pochte wild in seiner Brust, aber auch sein Puls reagierte auf diese Anregung, folgte dem Beispiel. Canol schloss die Augen, stellte ein Bein bequem auf, stellte die Brause auf ein warmes Rinnsal ein, wie sanfter Regen. »Was tue ich hier!? Ich bin hier nicht zu Hause!« Wiederholten sich die Gedankenfetzen in seinem Kopf, während er geübt seinen Penis bestrich. Er keuchte und presste die Lippen aufeinander, blähte die Nasenflügel. Canol kannte seinen Körper, liebte die Erleichterung, die er sich selbst verschaffen konnte. Eine Entspannung, die ihn nicht beschämte, weil er noch nie "zur echten Sache" gekommen war, zwischen "Heiligen" und "Huren" keine Auswahl hatte treffen wollen und können. »Gut... es ist gut...« Schimären tanzten vor seinen geschlossenen Augen, während er immer schneller über die Erektion strich, den empfindlichsten Punkt massierte, reizte, bis er mit einem Aufstöhnen kam. Spasmen erschütterten ihn, doch Canol genoss sie, begrüßte sie wie alte Bekannte, die Übung und Geschick belohnten. Aufatmend stieg er nach einigen Minuten auf der Dusche und schrak zusammen. Evangelistos stand neben der Toilette mit herabgelassener Hose, wischte sich über den Unterleib, Canol die blanke Kehrseite zugewandt. "Aber..." Dunkelrot stieg Scham in Canols Gesicht hoch, als Evangelistos ertappt herumzuckte, ihn ansah. Herzschläge, die sich langsam wieder beruhigten, auf einem hohen Niveau, maßen die verstreichende Zeit ab. Endlich brach der Student das Schweigen. "Sieht so aus, als hätte er wirklich unsere Herzen vertauscht." Ein verlegenes Grinsen huschte über seine Züge. Canol blinzelte, bedeckte sich dann eilig mit dem Handtuch, senkte den Kopf, suchte nach einer Entschuldigung. "Ich wusste nicht, dass du so behaart bist, Bauer." Krächzte Evangelistos provozierend. "Da muss ich dir wohl auch meinen Rasierer leihen, was?" Canol murmelte Unverständliches, kam sich plötzlich hässlich und abstoßend vor, verglichen mit der athletischen, muskulösen Gestalt seines Gegenüber, von einer warmen Hautfarbe, die nicht nur von Sonneneinstrahlung kündete. Er selbst, winterblass und nicht ausgeprägt sportlich, wirkte dagegen, als hätte er tatsächlich noch einen haarigen Anzug an. Evangelistos stand vor ihm, suchte seinen Blick. "Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen." Entschuldigte er sich unbehaglich. "Ich wollte bloß einen Scherz machen." Schulterzuckend wandte sich Canol ab, spielte Gleichgültigkeit vor. "Ich weiß selbst, dass ich behaart bin. Ist eben so." Er frottierte sich energisch, um nach seinen Kleidern zu fischen. Zu seiner Überraschung blieb Evangelistos im Badezimmer, ließ sich auf der Kante der Duschwanne nieder. "Wenn ich gewusst hätte, dass wir 'synchron' sind, hätte ich nicht..., na ja, du weißt schon! Ich meine, wenn wir getrennt sind, wird das doch sicher nicht... oder?!" Erschrocken suchte er Canols gegengleich betretenen Blick. Taumelnd sackte Canol auf dem Deckel der Toilettenbrille zusammen, hielt sich den Kopf mit beiden Händen. "Das wird doch nicht...?!" "Käme wohl auf einen Test an!" Seufzte der Student kopfschüttelnd. "Dann gib mir mal gleich deine Handy-Nummer!" Canol blinzelte. Evangelistos lachte heraus. "Nicht für ein Date, für unseren 'Test' natürlich!" Neckte er aufmunternd. "Wäre doch besser, wir finden gleich raus, welche Wirkung unser Tausch hat, meinst du nicht?" »Und was ist, wenn wir herausfinden, dass wir uns unsere Herzen geschenkt haben und eigentlich verliebt sein sollten?« Piepste es schüchtern in Canols Kopf, der sich vergeblich an die Rufnummer seines "Dinosauriers" zu erinnern versuchte. "Ist dir nicht gut?" Evangelistos löste sich von der Duschwanne, ging neben Canol in die Hocke, musterte ihn besorgt. »Das ist bloß romantischer Kitsch!!« Ermahnte den eine Stimme energisch, wurde aber unterbrochen. »Yepp, genau, aber wir wollten ja auch immer mit der gleichen Frau zusammenleben, die möglichst keine anderen Männer vorher hatte.« »Das ist doch eine Kinder-Phantasie!« Rügte die erste Stimme aufbegehrend. »Das geht doch gar nicht!« Doch Canol "wusste" es besser. Er hoffte wirklich, wider besseres Wissen, darauf. "He." Evangelistos' Linke streichelte behutsam über Canols Wange, ignorierte die stoppelige Landschaft der unteren Partie. "Sag doch was! Alles okay?" Erkundigte er sich besorgt. Canol starrte auf seine nackten Füße, wisperte leise. "Was ist, wenn wir herausfinden, dass wir wirklich das durchleben, was der andere empfindet? Was passiert, wenn du dich mit meinem Herz verliebst? Oder ich mich mit deinem? Wie soll das funktionieren?!" "Ich weiß auch nicht." Evangelistos zuckte ratlos mit den Schultern, doch Canol war noch lange nicht fertig. "Und was ist, wenn der Geist unsere Herzen getauscht hat, damit wir uns ineinander verlieben?" Setzte er kaum hörbar fort. Mit einem Plumps landete der Student vor Canol auf dem Hintern, starrte ungläubig ins Leere. Zögerlich, beinahe ängstlich trafen sich ihre Blicke, verstört und unsicher. "Wow!" Murmelte der Student mit gerunzelter Stirn. "Wow, das ist wirklich ein Hammer! Ich dachte, das sei ein Weihnachtsgeist! Ich meine, nicht etwa Cupid oder so ein windelbewehrtes Puttchen mit Pfeil und Bogen. Dann wäre ich ja in Deckung gegangen, aber...! Weihnachten?!" Lenkte er sich mit einem Scherz ab. "Komm!" Canol erhob sich, streckte Evangelistos die Hand hin. "Finden wir es jetzt heraus." "Und wie?" Der Student folgte Canol neugierig, bemühte sich, die merkwürdige Vertrautheit mit dem nackten Körper, der vor ihm schritt, abzuschütteln. "Okay!" Canol blieb im Flur stehen, wandte sich Evangelistos zu. "Wir gehen so vor: Hände auf den Rücken und keinen Körperkontakt, klar? Dann werden wir uns küssen. Wenn es uns beide nicht erregt, sind wir nicht ineinander verliebt. Dann müssen wir uns nur so weit von einander entfernen, dass wir nicht gegenseitig spüren, was der andere fühlt!" "Wenn du meinst..." Evangelistos faltete die Hände auf dem Rücken. "Wie weit wäre da wohl nötig?" "Ich weiß nicht!" Brummte Canol, fixierte sich auf seine Idee. »Wenn es sich vertraut anfühlt, ganz normal, so, als berühre man sich selbst, ist alles in Ordnung!« Beruhigte er sich selbst. "Bereit?" Erkundigte er sich und atmete noch einmal tief durch, schüttelte die Glieder aus, legte dann ebenfalls die Arme auf den Rücken. "Okay." Murmelte Evangelistos, in erheblichem Abstand, beugte sich vor und schloss die Augen, überließ Canol das Zielen. "Okay!" Echote dieser leise, visierte an, klappte die Lider herunter und berührte Evangelistos' Lippen, bevor ihn ein trügerischer Atemhauch streichen konnte. Der Schock war so gewaltig, dass sie wie vom Blitzschlag getroffen auseinander stolperten. Canol zitterte fahl, schwankte, den ungläubigen Blick auf den Studenten gerichtet. "Das kann nicht wahr sein!" Wiederholte er unablässig. Evangelistos wühlte durch seine Locken, legte den Kopf schief, studierte Canols Erschütterung. "Ich hätte wohl nach dem Kleingedruckten fragen sollen." Scherzte er leise, trat dann auf Canol zu, der nicht reagierte. "Hey!" Wisperte er, um Canols Aufmerksamkeit auf sich zu bündeln. "So ein schlechter Fang bin ich auch nicht, anatolischer Bauer!" Er fasste Canols Ellenbogen, damit dieser sich beruhigte. Er spürte Canols Hilflosigkeit, Wechselbäder aus Angst, Sorge, Scham und Verlangen. "Was spürst du in meinem Herzen, Canol?" Raunte der Student sanft. "Hast du gar nichts für mich übrig, hmm?" Evangelistos konnte verfolgen, wie Canol sich sichtlich beruhigte, sein Atem nicht mehr in hektischen Stößen davonflog. "Ich glaube, dass du mich schon magst." Antwortete Canol endlich auf Evangelistos' Frage, sehr verlegen. "Lass uns noch einen Versuch machen, um auch sicherzugehen." Schlug der Student vor. Dieses Mal zuckten sie nicht auseinander, obwohl der Effekt vergleichbar war. Evangelistos küsste behutsam die bebenden Lippen, zog mit der Zungenspitze ihren Schwung nach, bis Canol erstickt nach Luft schnappte, neue Möglichkeiten offerierte, sich als gelehriger Schüler erwies, bis sie beide trotz fester Umarmung wie Schilfrohre im Sturm der Leidenschaft schwankten. "Und wir haben uns nur geküsst!" Murmelte Evangelistos heiser, lehnte in Canols Armen. "Bereust du es?" Wisperte Canol in die Locken, vergrub das Gesicht in der wirren Pracht. Evangelistos lachte leise, Wellen der fröhlichen Begeisterung durchliefen Canols Leib. "Nein. Nein, Canol, keinen Augenblick." Er löste sich behutsam so weit, dass er in die blauen Augen des neuen Hüters seines Herzens blicken konnte. "Mit jedem Augenblick bin ich dankbarer, dass du lebst. Und soooo schlimm ist es doch auch nicht, oder?" Warb er beinahe schüchtern um Konsens. Canol legte den Kopf schief. "Das wird ein hartes Stück Arbeit, Schafhirte!" Lektionierte er Evangelistos augenzwinkernd. "Ich habe noch nie mit einem wie dir zu tun gehabt." "Dito!" Grinste Evangelistos lächelnd. "Aber da du ja was von mir hast, wird das schon klappen!" Canol lehnte die Stirn gegen die des Studenten, empfand den kleinen Größenunterschied als sehr bequem. "Frohe Weihnachten, Evangelistos." Wünschte er leise. "Und danke. Danke für alles." "Ich weiß nicht, ob ich dir das so durchgehen lassen kann!" Wisperte der Student provozierend. "Für was genau? Erklär mir das doch alles einzeln, ja? Jedes Detail, in meinem Schlafzimmer, in meinem Bett, okay?" Er hauchte Küsse auf Canols Lippen. Schmetterlinge wirbelten in wilden Wolken in Canols Magen, doch das Herz in seiner Brust klopfte selbstbewusst und ruhig, erwartungsfroh und überzeugt. Er lächelte über die sanfte Tönung von Evangelistos' Wangen, die der sicher seinem Herzen, seiner Unerfahrenheit, zu verdanken hatte. "Ich folge meinem Herzen!" Verkündete er grinsend, ließ sich vom ungeduldigen Evangelistos ins Schlafzimmer ziehen. »Den Menschen ein Wohlgefallen!« Summte der Geist der Weihnacht, warf sich sein leeres Beutelchen auf den Rücken und hoffte, Urlaub bis zum Valentinstag zu bekommen. ~@~ DEIN IST MEIN GANZES HERZ Dein ist mein ganzes Herz! Wo du nicht bist, kann ich nicht sein. So, wie die Blume welkt, wenn sie nicht küsst der Sonnenschein! Dein ist mein schönstes Lied, weil es allein aus der Liebe erblüht. Sag mir noch einmal, mein einzig Lieb, oh sag noch einmal mir: Ich hab dich lieb! Wohin ich immer gehe, ich fühle deine Nähe. Ich möchte deinen Atem trinken und betend dir zu Füßen sinken, dir, dir allein! Wie wunderbar ist dein leuchtendes Haar! Traumschön und sehnsuchtsbang ist dein strahlender Blick. Hör ich der Stimme Klang, ist es so wie Musik. Dein ist mein ganzes Herz! ~@~ ENDE ~@~ Vielen Dank fürs Lesen! kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Der Titel des Lieds aus der Operette "Land des Lächelns" ging mir eine Weile durch den Kopf und ich fragte mich, was wohl passieren könnte, wenn das Herz nicht nur metaphorisch "verschenkt" wird. Saisonal bedingt würzte ich mit der allseits bekannten Weihnachtsgeschichte von Dickens, und voila!, fertig ist das Kurzweil vor oder zu den Festtagen 2004. Dass sich pünktlich zu den EU-Beitrittsverhandlungen auch ein Grieche mit einem Türken versöhnt, mag man als politischen Fingerzeig verstehen,- man kann es aber auch lassen ^_~