Titel: Eine klasse Idee Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Romantik Ereignis: Halloween 2010 Erstellt: 13.09.2010 Disclaimer: alles Meins. >(o_o)< >(o_o)< >(o_o)< >(o_o)< >(o_o)< >(o_o)< >(o_o)< >(o_o)< >(o_o)< >(o_o)< >(o_o)< >(o_o)< >(o_o)< >(o_o)< Eine klasse Idee Teil 1 - Was kann schon schiefgehen? "Ist doch klasse, oder?" Maik musste nicht um Beifall heischen, nein, er erzeugte ihn selbst durch sein überbordendes Selbstbewusstsein, unseliger Weise gepaart mit unbegründetem und hemmungslosem Optimismus. Sharif blies geräuschvoll durch die Zahnlücke zwischen seinen Vorderzähnen, warf einen schnellen Blick von Maiks ungetrübtem Strahlen zu Quirins nachdenklicher Miene. Noch bevor der überhaupt eine Silbe verlauten lassen konnte, tönten beide unisono und erstaunlich harmonisch. "Ob das so eine gute Idee ist?!" Quirin grimassierte zurückhaltend und zuckte mit den Schultern. Ihm war mehr als bewusst, auch ohne die lautstarke Erinnerung seiner Freunde, dass er in reflexartiger Gewohnheit diese rhetorische Frage aufzuwerfen pflegte, während er noch über die möglichen Konsequenzen nachdachte. Andere Leute ähmten und alsoten, er konnte zumindest von sich sagen, dass er einen vollständigen Satz auf Autopilot absonderte, der zu jeder Situation passte. "Na, komm schon!" Maiks Handfläche landete massiv auf Quirins Schulterblatt. "Was kann schon schiefgehen?!" »Genau darüber mache ich mir ja Gedanken!« Quirins Verstand antwortete bissig, der Maik für einen leicht debilen Hansdampf-in-allen-Gassen hielt, ein dusseliger Draufgänger, der zu allem Überfluss noch beschämend sportlich und nach landläufiger Meinung ausgesprochen attraktiv war. Mit naiv-Abenteuer suchendem Charme gelang es ihm auch regelmäßig, sich irgendwie aus den Bredouillen herauszureden, in die er ab und an geriet, wenn Quirin nicht vorher reüssierte, ihre Aktionen in sicheres Fahrwasser zu geleiten. Sharif grinste breit, denn er konnte erkennen, dass Quirin nicht so schnell gewichtige Bedenken in den Sinn kamen. Damit war quasi entschieden, dass sie bei Maiks neuestem Vorhaben mitwirken würden. Quirin seufzte. "Hoffentlich geht das gut!" Er kannte Maik ("M-A-I-K, nicht Michael oder Mike!". Seine Mutter wollte GANZ sichergehen, und das Standesamt war Einiges gewöhnt) seit der Grundschule. Schon damals hatte der den Kopf voll "Flausen", gutartigem Blödsinn, der einer harmlosen Abenteuerlust entsprach. Maik meinte es nie böse. Seine Vorhaben schienen ihm im Moment ihres Entstehens IMMER eine gute Idee zu sein. Dummerweise mangelte es ihm ebenso regelmäßig an einer gewissen Voraussicht, die unerfreuliche Entwicklungen zumindest in Erwägung zog. Weil Maik dieses Defizit durchaus anerkannte, gehörte es zu Quirins Obliegenheiten in ihrem Trio, den "Bedenkenträger" zu spielen. Ein ganz natürlicher Aggregatzustand, wie Maik stets betonte, da Quirins "Hirn" unentwegt arbeitete. Sharif, der Dritte in ihrem Bunde, glänzte durch Bauernschläue, einen blitzartigen Antritt bei eiligen Abgängen und einen gerissenen Charme, der sich gut mit Maiks Ausstrahlung ergänzte. "Das wird lustig, jede Wette!" Ungeniert rammte er Quirin einen Ellenbogen in die Seite, wohl ein Denkanstoß, bloß zu tief angesetzt. Quirin seufzte erneut, nickte aber wortlos. Tatsächlich SAH es so aus, als hätte Maik zur Abwechslung mal etwas in die Wege geleitet, ohne dass am Horizont eine Katastrophe dräute. >(o_o)< "Woher hast du bloß die ganzen Schminksachen?" Mit krauser Stirn zog Sharif vor dem Spiegel im Badezimmer Grimassen, um sich selbst die schwarze Farbe aufzutragen. Maik feixte. "Tja, Connections sag ich nur!" Er hatte bereits sein Kostüm angelegt, einen violetten Satin-Anzug zu einem bis zum Bauchansatz offenen, schwarzen Rüschenhemd, kombiniert mit weißen Turnschuhen und einer Gel-Tolle, die Beton zerbröseln konnte. Eine klobige Brille hing in dem sehr tiefen Ausschnitt, der die sportlich-wohlgeformte Brustpartie enthüllte. Maik hätte durchaus als attraktiver Elvis-Imitator durchgehen können, wären da nicht die grün-bräunlichen Schatten in seinem Gesicht gewesen. Diese entsprachen nicht nur Zweck und Anlass, nämlich zu Halloween als Disco-Zombie der 70-er aufzutreten, sondern veränderten überraschend wirkungsvoll Maiks Gesichtszüge. Das war auch notwendig, denn sie waren im Begriff, sich auf eine geschlossene Kostümparty einzuschleichen. Maiks "bombensicherer" Plan bestand darin, sich entsprechend der Einladung, die an die geschlossene Schulgemeinschaft gegangen war, aufwändig zu kostümieren und mittels quasi echter Einladungen die Veranstaltung zu infiltrieren. Hintergrund für dieses Abenteuer war nicht nur das beabsichtigte Amüsement an einem Freitagabend in einer fremden Schule, sondern ein Wunderwesen namens Letitia. Besagte Person, ein 14-jähriges Mädchen, besuchte das Käthe Kollwitz-Gymnasium und sollte Maiks letzte, will sagen temporär besehen jüngste, Eroberung werden. Was könnte also romantischer sein, als seinem Traum-Typen auf einem Kostümfest zu begegnen? Quirin schluckte jeglichen Kommentar, den sein bissiger Verstand ihm eingab, tapfer hinunter. Maik liebte es, verliebt zu sein und man konnte ihm nicht absprechen, dass er sich wirklich bemühte. Das Manko bestand darin, dass sein Interesse ebenso schnell aufflammte wie abkühlte. Wahrscheinlich konnte der sich in einem halben Jahr gar nicht mehr an Letitia erinnern, womöglich aber an das Abenteuer auf dem geschlossenen Schulball des Gymnasiums. »Irgendwas WIRD in die Hose gehen!« Schnaubte Quirins "Hirn", während er selbst die bleiche Schminke mit geschickten, schwarzen Schatten kontrastierte, um möglichst leichenfahl und ausgedörrt zu wirken. Sharif pfiff durch seine Zahnlücke und zog sich zufrieden vom Spiegel zurück. Er kopierte die Filmfigur Rambo, also Tarnfleckhose, Muscle-Top und rote Binde um die Stirn. Es fehlten bloß 30 Kilo Muskelmasse, um aus einem schlaksigen 16-Jährigen einen Einzelkämpfer mit dem Kreuz eines doppeltürigen Kleiderschranks zu machen. Quirin selbst improvisierte, da er seit Jahren nicht mehr zu Fasching verkleidet auftrat und sich nicht unbedingt allzu sehr aus der Deckung wagen wollte. Vieles hing schließlich davon ab, dass sie glaubwürdig und nicht zu auffällig wirkten, um kein Misstrauen zu erwecken. Folglich entschied er sich für eine Schwarzweiß-Komposition, angefangen von der auswaschbaren Tönung seiner mausbraunen, kurzen Haare über ein weißes Sweatshirt, schwarze Hosen und weiße Turnschuhe. Die Brille wurde in die Gürteltasche verbannt, um ihn nicht zu verraten. Dadurch musste er sich allerdings angestrengt konzentrieren, wenn sie erst mal das Schulgelände erreicht hatten, denn seine Kurzsichtigkeit wog schwer. "Das wird ne Granate!" Verkündete Maik aufgekratzt, hämmerte seine Rechte in die offene Linke. Er genoss ihr Abenteuer jetzt schon und schien völlig vergessen zu haben, dass er auf romantischen Freiersfüßen zu schweben hatte. Quirin kniff die Augen zusammen, um seinen Blick zu fokussieren und tastete verstohlen nach der eingeschweißten Eintrittskarte. Er konnte nur hoffen, dass Maik zur Abwechslung mal NICHT eine wesentliche Kleinigkeit übersehen hatte. >(o_o)< Es nieselte leicht, doch die Luft, herbstlich klar und entsprechend duftend, glich diesen Umstand mühelos aus. Das Schultor war hell erleuchtet und mit Luftballons geschmückt. Dahinter warteten bereits Jugendliche aus der Oberstufe und Eltern, die sich engagierten, um für die jüngere Schulgemeinschaft ein fröhlich-gruseliges Fest zu veranstalten. An dieser kritischen Stelle entschied sich auch, ob Maiks "quasi echte Eintrittskarten" der Belastungsprobe standhielten. Wie immer marschierte Maik voran, Sharif folgte ihm zuversichtlich, während Quirin die Nachhut bildete, nervös um sich blickend, aufmerksam auf jede verdächtige Bemerkung lauschend. Innerlich verwünschte er den Umstand, seine Brille verbergen zu müssen, denn in der Dämmerung fiel ihm das Sehen besonders schwer, auch ohne Handikap. Maik zückte die eingeschweißte Eintrittskarte, blendete sein strahlendes Gebiss auf und bewies ausnahmsweise die Geistesgegenwart, nicht locker loszuplaudern. Das hätte sie durchaus entlarven können, da sicherlich einige Mitwirkende neugierig waren, die Identität der verschiedenen Kostümierten zu erraten. Zu Quirins ehrlicher Verblüffung wurden sie simpel durchgelassen, niemand beanstandete die Eintrittskarten, die laut Maiks verschwiemelter Erklärung aufgrund eines marginalen Druckfehlers ausgesondert worden waren. Doch eine geschickt geschmierte dritte Hand hatte sie vor dem Schredder bewahrt! Sie sahen sich als Trio einen Augenblick in der Nähe der Eingangstüren der gewaltigen Sporthalle um, nahmen das bunte Treiben in sich auf. Offiziell war das Fest für die Mittelstufe gedacht, weshalb sich auch mehr Erwachsene, mutmaßlich Eltern, aufhielten, als Lehrkörper realistischerweise vertreten sein konnten. Aber auch einige ältere Jugendliche schienen sich nicht zu "alt" zu sein, um mitzutun, selbst wenn es weder Alkohol gab, noch eine späte Sperrstunde. "YEAH!" Deklamierte Maik gewohnt extrovertiert und wühlte sich abschiedslos durch das Gewimmel. Offenkundig hatte er die derzeit Angebetete ausgemacht und wäre nur durch göttliche Intervention/höhere Gewalt aufzuhalten gewesen. Sharif rammte Quirin den Ellenbogen in die Seite, grunzte amüsiert und erklärte, er wolle mal die betont eklig gefärbten Fruchtbowlen testen. "Aha." Kommentierte Quirin den ebenfalls geschmeidigen Abgang, musste sich seinem gehässigen "Hirn" stellen, das ihn unbarmherzig anherrschte, was ER denn nun zu unternehmen gedenke?! "Tja!" Murmelte er sehr dynamisch, entschieden und selbstbewusst. Tatsächlich hatte er nicht die geringste Vorstellung, was er hier mit sich anfangen sollte. Maik würde, aller Erfahrung nach, seine Beute "schlagen", auf die Tanzfläche verschleppen und "erlegen". Spätestens, wenn der seinen Charme aufpolierte, wäre er von einer Traube an interessierten Mädchen umringt, die sich gern mit ihm amüsieren wollten. Was Sharif betraf, würde der sich zweifellos zuerst mal die notwendige Energie verschaffen, indem er "tankte", seinen ewig hungrigen Magen füllte. Anschließend testete er seine Chancen bei den etwas schüchternen oder demonstrativ individuellen Mädchen. Vielleicht waren sie Mauerblümchen oder Zicken, Außenseiterinnen oder Aliens: Sharif hatte das Talent, sich mit ihnen zu unterhalten, selbst wenn man pausenlos stritt. Er verlockte einfach dazu, ein Gefecht auszutragen. Quirin fand sich schließlich in der Rolle des Beobachters. Er gruppierte sich dekorativ irgendwo an die Seite, neben eine Säule, schlenderte umher, unterhielt sich kurz mit Klassenkameraden, die weder cool waren, noch tanzen konnten/wollten, versuchte, die gespielten Musiktitel zu erkennen und vertrieb die Langeweile mit "Sozialstudien". In anderen Worten: bloß gucken. Hier jedoch entfiel ein großer Teil seiner üblichen Rolle, denn erstens kannte er niemanden an dieser Schule, zweitens gab es keine Säulen und drittens sah er schlecht, weshalb er streng darauf achtete, nicht ZU lange auf denselben Fleck zu starren. Also konnte er sich auch nicht die Zeit mit Beobachtungen vertreiben. »Du könntest ja auch das alte Holzbein zum Tanz schwingen!« Provozierte ihn hämisch sein "Hirn". Zum Glotzen ging man schließlich in den Zoo! »Vergiss es!« Fauchte Quirin sich selbst zu und verhinderte gerade noch eine Kollision mit einer Meerjungfrau, die einen angehefteten Fischschwanz energisch herumschwenkte. Da er für sein Alter nicht gerade groß war und optisch definitiv unter dem Etikett "graue Maus" eingeordnet wurde, neigte er ohnehin grundsätzlich zur Zurückhaltung. Die Vorstellung, sich einfach auf die Tanzfläche, VOR DEN AUGEN ANDERER LEUTE, aufzubauen und arhythmisch von einem Fuß auf den anderen zu treten, möglicherweise noch kombiniert mit schlangenhaften Bewegungen, die vermuten ließen, er habe eine Elritze in der Unterhose, die epileptische Zuckungen auslöse, DAS war wirklich HORROR für ihn! Deshalb kam Tanzen nicht in Frage. Mit wem auch?! Eigentlich, auch wenn er sich das lieber nicht zu offen eingestand, fühlte Quirin sich in der Rolle des "Kumpels" sehr viel besser und auch bequemer aufgehoben als beispielsweise als Aufreißer oder Anbaggerer. Dass er für die meisten Mädchen, die er kannte, in amouröser Hinsicht nicht "existierte", sorgte wenigstens dafür, dass sie sich recht normal mit ihm unterhielten, wenn sie ihn denn zur Kenntnis nahmen. Um nicht zu sehr aufzufallen, schlenderte Quirin am Rand des quirligen Treibens herum. Die meisten Kostümierten, die nicht gerade tanzten, waren in Grüppchen organisiert, schließlich kannten sie sich ja. Er, als Solitär unterwegs, konnte einen misstrauischen Beobachter durchaus alarmieren. »Was tun wir jetzt hier?! Die Sohlen abnutzen, die Beine in den Bauch stehen?!« Nörgelte sein unterbeschäftigtes "Hirn". »Wir amüsieren uns!« Zischte Quirin sich selbst durch zusammengebissene Zähne zu, auch wenn er keine Vorstellung hatte, wie er dieses hehere Ziel erreichen konnte. Er steuerte die ungefähre Richtung des selbstredend alkoholfreien Ausschanks an, um wenigstens den Anschein von dynamischer Entschlossenheit zu demonstrieren. In seinem Hinterkopf schnaubte es verächtlich, doch Quirin überhörte geflissentlich sein überstrenges Gewissen. Er kam jedoch nicht weit, da eine Hand sich auf seine Schulter legte, mit einem Griff, der NOCH freundschaftlich war, aber durchblicken ließ, dass sich diese Zurückhaltung jederzeit ändern konnte. Quirin wandte sich herum, von einer Sekunde zur anderen in eiskalten Notschweiß gehüllt, zwang eine Grimasse auf sein Gesicht. "Ja?" Kiekste er und wischte sich die klammen Handflächen an der Hose ab. Vor ihm stand, von einem Dreispitz gekrönt, ganz in Schwarz gekleidet eine Art neo-barocker Aristokrat. Unter dem Dreispitz verbarg ein im Nacken geknotetes Tuch die Haare vollständig. Ein Umhang ließ den Gehrock nur vage ahnen. Darunter befand sich eine enge Hose, die unterhalb der Knie mit Bändern fixiert war (als habe man sich der altmodischen Kniehosen erinnert) und mündete in knöchelhohen Cowboystiefeln. Lediglich ein unerträglich pinkfarbenes Stoffband um den Oberarm, das kurz aufblitzte, als der mit einer Halbmaske getarnte Held den Umhang zurückstrich, verriet Quirin, dass er vor einem Ordner stand. "Das ist eine geschlossene Veranstaltung der Schule." Erklärte ihm freundlich eine tiefe, angenehme Stimme. Da ihr Eigentümer Quirin jedoch um einen Kopf überragte, fühlte der sich keineswegs beruhigt. "Ich habe eine Eintrittskarte!" Verkündete er eilig, fischte nervös in seinem Gürtelbeutel herum. Die Hand auf seiner Schulter umfasste nun unnachgiebig seinen Oberarm. "Wir sollten uns besser ohne Publikum unterhalten." Ordnete der maskierte Rächer entschieden an. Quirin biss sich auf die Lippen, verhinderte gerade noch, dass sein Kopf verräterisch und Hilfe suchend durch wilde Bewegungen die Freunde verriet. »Und was jetzt?!« Beklagte sich wütend sein "Hirn". »Hab ich's nicht gesagt?!« »Halt die Klappe und lass mich nachdenken!« Fauchte Quirin innerlich zurück. Dass er ertappt worden war, reduzierte zumindest seine angespannte Nervosität, die ihn den ganzen Abend geplagt hatte. JETZT ging es darum, sich irgendwie aus der Sache herauszuwinden, ohne die anderen in Schwierigkeiten zu bringen. >(o_o)< "Das ist ein Missverständnis!" Hörte Quirin sich selbst sagen. »Oh, toll!« Plärrte sein "Hirn" ätzend. »Wie viele schlechte Filme hast du dir reingezogen?!« »Maul halten!« Blökte Quirin innerlich zurück, der eigentlich schon stolz darauf war, dass er recht gelassen und nicht hysterisch wirkte. "Das glaube ich kaum." Antwortete der maskierte Rächer gleichbleibend gelassen, ohne jedoch Quirins Oberarm aus seinem forcierenden Griff freizugeben. Aus der Sporthalle ging es durch einen kleinen Anbau in die Katakomben, wo sich nach Quirins Vermutung Umkleide- und Sanitärräume befanden. "Reicht es nicht, wenn ich meine Eintrittskarte vorzeige?" Wider besseres Wissen, besonders aus einschlägigen Thrillern, nahm er einen neuen Anlauf, getreu dem Motto der Feldjäger: tarnen, täuschen und verpissen! Unerfreulicherweise zeigte sein Aufpasser keine Neigung, auf seine Konversationsversuche einzugehen, sondern schloss eine der Brandschutztüren auf und dirigierte Quirin hinein. Sofort wurde der von einer immensen Hitzewand empfangen, die ihn nach Luft schnappen ließ. Zwischen gewaltigen Rohranlagen, bauchigen Heizkesseln und Armaturen stapelten sich diverse, noch eingeschweißte Baumaterialien. "Was wird das hier?!" Nun doch mit schrillem Alarmton in der Stimme stemmte Quirin die Fersen seiner Turnschuhe in den Boden. Bevor er es sich jedoch versah, war der gemeine Griff um seinen Oberarm hinunter zu seinem Handgelenk geschnellt, wirbelte der maskierte Rächer in tänzerischer Anmut um ihn herum und verdrehte Quirin letztendlich derart den Arm, dass dieser mit einem Protestschrei nach vorne klappte. Den Daumen in eine äußerst schmerzhafte Position gebogen konnte Quirin gar nicht anders, als der Direktion Folge zu leisten, fand sich, noch durch die Zähne zischend, an einen vor sich hin bollernden Heizkessel gefesselt. Und zwar mit beiden Daumen, durch einen hundsgemeinen Kabelbinder! "Was soll das?!" Fauchte er seinen Oppressor an, blinzelte Tränen aus den Augenwinkeln und hustete heftig, da die trockene Heißluft ihm die Kehle ausdörrte. Ungerührt nahm der maskierte Rächer ihm die Gürteltasche ab und inspizierte den Inhalt. "Was haben wir denn hier? Aha, die Eintrittskarte. Hmm, ein halbes Päckchen Kaugummi, und, sehr löblich!, ein Paket Papiertaschentücher. Ein Portemonnaie, aber keine Karten, schade. Kein Identitätsnachweis, keine Quittung..." Es klang so bestürzend selbstsicher und gelassen, dass Quirin das Herz nun wirklich in die Hose rutschte. "Ah!" Die Mundwinkel des Maskierten bogen sich erfreut. "Hier haben wir auch den Hauptgewinn!" Damit schwenkte er Quirins betagtes Mobiltelefon, eine Art medialer Dinosaurier, denn man konnte mit diesem Gerät tatsächlich nur telefonieren oder Textkurznachrichten versenden. Amüsanter Schnickschnack war definitiv nicht vorgesehen. "Hey!" Protestierte Quirin. "Hände weg! Das ist eine Antiquität!" So, wie ihm der Satz, ein Scherz zwischen Sharif und ihm, herausgerutscht war, errötete Quirin heftig unter der quälend schweren Schminke. »Oh Mann!« Stöhnte sein "Hirn". »DU bist SO WAS von PEINLICH! Echt, mit dir kann man sich nicht mal erwischen lassen!« Unterhalb der Maske zuckte es verräterisch in den Mundwinkeln, ein amüsiertes Schmunzeln. Wütend biss sich Quirin auf die Lippen. "Ich danke dir für den Hinweis." Schnurrte der maskierte Rächer mit EXAKT der Dauer an Verzögerung, die jedem signalisierte, wie DÄMLICH Quirins Ausruf gewesen war. "Ich versichere dir, ich werde es pfleglich behandeln." Fügte sein Wächter sanft an. "Wieso behandeln?!" Fauchte Quirin alarmiert. "Hör mal, das gehört dir nicht, klar?!" "Völlig klar." Wieder kräuselten sich die Mundwinkel in einer Weise, die Quirin auf die Barrikaden jagte, jenseits des Selbsterhaltungstriebs. "Also gib's mir wieder!" Forderte er herrisch, funkelte hoch in die von dem Dreispitz verschatteten Augen. "Überhaupt darfst du mich hier nicht anbinden! Das ist Nötigung und Freiheitsberaubung!" Triumphierend bleckte er zuversichtlich die Beißer. Zeitgleich jaulte sein überkritisches "Hirn" auf. »Du VOLLIDIOT!« Das vertiefte Schmunzeln wich einem mokanten Grinsen. "Ist das so?" Säuselte der maskierte Rächer mild, lehnte sich vor, um die Höhendistanz zu verringern. Unwillkürlich schmiegte sich Quirin enger an die aufgeheizte Fläche in seinem Rücken. "Vielleicht sollte ich dann einfach gehen und dich hier lassen?" Sein Gegenüber schnurrte gelassen, völlig unbeeindruckt von den Vorwürfen. "Ich kann mir vorstellen, dass ein Wochenende im Heizungskeller im Dunkeln ausgesprochen lehrreich ist." Er wandte sich ab, verschränkte die Hände auf dem Rücken und paradierte elegant. "Das-das kannst du nicht machen!" Protestierte Quirin, dem längst aufgegangen war, dass er einen GEWALTIGEN taktischen Fehler begangen hatte. "HILFE! HILFEEEE!" Brüllte er auch sogleich los, wollte sich nicht mit lächerlichen Ankündigungen blamieren, wie es in zahlreichen Filmen vorkam. Der Pseudo-Aristokrat lächelte maliziös, als er sich zu ihm umwandte. "Ich möchte dir dein Vergnügen ja nicht verderben." Formulierte er artig und wohl moduliert, genau in der Tonlage, die versicherte, dass er GENAU DAS beabsichtigte. "Aber du wirst wohl kaum Gehör finden. Auch wenn selbstredend eigene empirische Erfahrungen nicht zu verachten sind." Quirin klappte abrupt den Mund zu und starrte hasserfüllt in das verborgene Gesicht. »Mieser, schweinepetriger, schmieriger, kotzbrockiger, arroganter, stieseliger Stinkstiefel!« Fluchte er innerlich, schluckte mehrfach, denn in der trockenen, aufgeheizten Luft war Speichel bald Mangelware. Die Mundwinkel kräuselten sich erneut diabolisch amüsiert, dann schob der maskierte Rächer Quirins antikes Mobiltelefon in eine tiefe Tasche seines Gehrocks. Schwungvoll lupfte er den Dreispitz, vollführte einen eleganten Kratzfuß und bemerkte lächelnd. "Nun denn, gehabt Euch wohl, mein Freund, da ich mit Hilfe Eures Eigentums, das sich in meinem Besitz befindet, Eure Kameraden aufstöbern werde." "Eingebildeter Saftarsch!" Brüllte Quirin und ignorierte seine selbst verordnete, innere Einkehr. Der maskierte Rächer, bereits in der Tür stehend, warf ihm über die Schulter einen Blick zu, die Mundwinkel zuckend vor Amüsement. "Ganz wie dir beliebt! Und warte nicht auf mich." Damit schloss er nicht nur die schwere Brandschutztür hinter sich, sondern löschte auch das Licht. Quirin blieb allein im Dunkeln zurück. >(o_o)< »Blackout!« Kommentierte sein "Hirn" übellaunig die Finsternis, die lediglich von einigen Leuchtdioden unterbrochen wurde, »GANZ GROSSE KLASSE!« "Schnauze!" Fauchte Quirin halblaut. Er musste nachdenken, und das dringend! Es war vollkommen klar, was der Schweinehund vorhatte: einfach im Nummernspeicher jeden Eintrag abklappern und gucken, ob irgendwer verräterisch zum Mobiltelefon griff! »Dumm gelaufen!« Schnarrte sein "Hirn" ungnädig. »Warum hast du das Ding auch mitgeschleppt?!« "Grmblffff!" Knurrte Quirin zischend. Es hätte ja sein können, dass sie sich irgendwo verfehlen und dann hätte eine SMS genügt, um...! »Schon klar!« Ätzte sein "Hirn" boshaft. »Praktisch, jetzt findet der Stinker Maik und Sharif in Nullkommanichts! Tolle Sache!« Quirin schwieg sich dazu aus. Und ja, danke auch!, ihm war sehr bewusst, dass man ein Mobiltelefon auch sperren konnte, bloß neigte er dazu, die dämlichen Zahlenkombinationen zu vergessen, und dann... "Was jetzt?" Fragte er sich selbst halblaut und lauschte, ob mangels Sicht vielleicht auf andere Weise eine Lösung seines aktuellen Problems herbeigeführt werden konnte, aber die Geräuschkulisse durch den Heizbetrieb übertönte alles, nicht mal die Feiernden konnte er vernehmen. Probeweise ruckelte er an dem Kabelbinder, der ihn quälend um den Heizkessel bog, doch seine gemarterten Daumen protestierten sofort jaulend auf. "Mist!" Quittierte er die perfide Fesselung und stellte weitere Experimente ein. Von allein, so musste er akzeptieren, konnte er sich nicht befreien, musste darauf warten, dass der Mistkerl zurückkam und ihn befreite. »Wobei DU ihm ja TOLLE Gründe geliefert hast, sich damit zu beeilen, du DEPP!« Giftete sein "Hirn" rücksichtslos. Das war nicht von der Hand zu weisen, aber Quirin fühlte sich trotzdem im Recht und es ärgerte ihn maßlos, wie dieser Doofsack ihm auseinander gesetzt hatte, dass er über die Details des dinglichen Rechts Bescheid wusste. "Mein Besitz, dein Eigentum... Affenarsch!" Brüllte Quirin, um sich ein wenig abzureagieren. Im Übrigen MUSSTE der besserwisserische Blödmann ihn ja irgendwann freilassen! Dann hätte er aber FIX eine Anzeige am Hals, jawohl!! Vielleicht war es unbefugtes Betreten oder so ähnlich, wenn man mit einer ausgemusterten Eintrittskarte eine geschlossene Gesellschaft besuchte, aber das rechtfertigte wohl kaum, ihn zu fesseln und einzusperren! "Nötigung! Freiheitsberaubung! Und Körperverletzung!" Fügte er an, eingedenk der schmerzenden Daumen. Ha! Wenn der Kerl zurück kam, dann...!! >(o_o)< Quirin wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit der maskierte Rächer ihn allein zurückgelassen hatte. In der ihn einschließenden Finsternis verlor sich jedes Maß. Die Zunge klebte ihm ausgedörrt am Gaumen, er hatte Mühe zu schlucken. Jeder Atemzug in der heißen, trockenen Luft wurde zur Qual, die Augen brannten, auch wenn er blinzelte oder sie schloss. Schweiß klebte seine Kleider an die Haut und in seinen Schläfen pochte infernalisch ein beinahe unerträglicher Schmerz. Einhergehend mit der Migräneattacke hatte er von Spekulationen über Ereignisse außerhalb seines Gefängnisses Abstand genommen. Vielleicht lieferten Maik und Sharif dem maskierten Rächer ein Rennen, möglicherweise machte der auch seine Drohung wahr, ihn hier einfach schmoren zu lassen. Das änderte an seiner Lage gar nichts. Würde ihn jemand vermissen, ihm zur Hilfe kommen? Tatsache war, dass seine Eltern nicht wussten, wo genau er sich aufhielt. Sie glaubten, er sei auf einer privaten Feier und übernachte anschließend bei Maik. Der wiederum hatte seinen treusorgenden Erzeugern weisgemacht, ER übernachte bei Quirin, wodurch sich elterliches Eingreifen gründlich ausschloss. Wenn Maik und Sharif entwischten,würden sie sich nach seinem Verbleib erkundigen? Möglicherweise, aber wie sollten sie das anstellen, wenn sie doch merken mussten, dass der Feind das Mobiltelefon einkassiert hatte?! Wären sie tollkühn genug, in die Schule zurückzukehren, quasi einzubrechen und dann nach ihm zu suchen? »Das träumst du wohl!« Selbst sein "Hirn" hatte einiges an ätzender Schärfe eingebüßt, watete durch einen zähflüssigen Nebel an Schmerzmeldungen seines gesamten Körpers. Also konnte er auf Rettung nicht sinnvollerweise hoffen. Wie aber sollte er sich selbst, um mit Münchhausen zu argumentieren, am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen? Quirin hätte vor Frustration über die Ausweglosigkeit seiner Situation heulen können, wenn er denn einen Tropfen Flüssigkeit hätte erübrigen können. >(o_o)< Aus einem Dösen, das dem klebrigen Brei in seinem Kopf entsprach, schreckte Quirin hoch, als die Tür geöffnet und unerwartet das Licht angeschaltet wurde. Gleißend hell hieß es ihn blinzeln, was seinen Augen nicht wohltat, die sich von den zuckenden Lidern wie mit Sandpapier abgeschmirgelt anfühlten. Da ihn seine Kräfte verlassen hatten, war er auf den Boden gesackt, die Beine ausgestreckt, die Schultern nach vorne gedrückt durch die Fesselung, die seine Arme um den Heizkessel bog. "Verzeihung, es dauerte ein wenig länger." Die betont munteren Worte verloren sich, dann eilte der maskierte Rächer heran, ging vor Quirin in die Hocke, hob dessen Kinn an und inspizierte ihn eindringlich. Quirin keuchte, seine Kehle schmerzte und der kühle Luftstrom vom Gang verleitete ihn dazu, gierig nach Abkühlung zu schnappen. "... Körperverletzung..." Krächzte er suizidal seinem Peiniger zu, wollte wenigstens Rückgrat beweisen, auch wenn es das letzte Aufbäumen bedeutete. Obwohl er heftig blinzelte, konnte er den Blick nicht fokussieren und wusste deshalb nicht, wie der maskierte Rächer auf seine Anklage reagierte. Sein "Hirn" kommentierte nicht mehr, hatte sich irgendwo verkrochen. »Keine schlauen Vorschläge mehr, was?!« Hechelte er ins Leere seines gepeinigten Kopfes. Unvermittelt wurde sein Kinn losgelassen, sackte vornüber auf seine Brust. Die Ruhe währte jedoch nicht lange, dann war der maskierte Rächer zurückgekehrt, umklammerte seinen Unterkiefer und zwang ihm lauwarmes Wasser auf. Es schmeckte schal und abgestanden, ganz sicher kein Genuss, aber Quirin schluckte gierig, spürte, wie seine Lippe aufplatzte, der Flüssigkeit eine Geschmacksnuance zusetzte. Der Pappbecher verschwand, viel zu früh!, dafür forderte die dunkle Stimme ihn streng auf, die Augen geschlossen zu halten. Ohne dass Quirins Unterkiefer in die Freiheit entlassen wurde, wienerte ihm sein Oppressor förmlich über das gesamte Gesicht. Zu spät identifizierte Quirin die Ahnung von Pflegemittelgeruch. Als er die Augen aufschlug, wusste er, dass er nun enttarnt war. Ungerührt verstaute der maskierte Rächer eine Dose und rollte das letzte Papiertaschentuch, nun deutlich verfärbt, zu einem Ball zusammen, den er in eine Plastiktüte entsorgte. Für einen langen Moment musterten sie einander, Quirin weiterhin im Nachteil, da der lästige Dreispitz einen großen Schatten auf das maskierte Gesicht warf und es ihm unmöglich machte, in den Augen seines Gegenüber zu lesen. Elastisch federte dieser hoch, fischte aus der geräumigen Tasche seines Gehrocks Quirins altertümliches Mobiltelefon und verstaute es sorgsam in dessen Gürteltasche. Er lehnte sich mit verschränkten Armen lässig an eine Wand und studierte Quirin selbstsicher. Der knurrte wütend, da ihm der Kopf noch immer schmerzte, auch wenn das Wasser einen Teil seiner Qualen gedämpft hatte. "Lass mich sofort gehen, klar?!" "Du meinst, ohne dich als Übeltäter entlarvt zu haben?" Vollkommen gelassen schnurrte der Pseudo-Aristokrat beinahe. "Exakt!" Fauchte Quirin. "Dann könnte ich unter Umständen auch vergessen, dass du mich hier misshandelt und eingesperrt hast!" Diese kaum verhohlene Drohung machte allerdings auf seinen Gegenüber keinen Eindruck. "Das würde ja voraussetzen, dass du weißt, wer ich bin." Die Mundwinkel kräuselten sich belustigt. Auf Quirins Wangen formten sich zwei rote Flecken, wie immer, wenn er gleichzeitig stocksauer war und in Verlegenheit gebracht wurde. "Sicher weiß ich das! Bloß, weil du ne lausige Verkleidung trägst, bist du doch nicht inkognito!" "Aha?" Der maskierte Rächer löste sich aus seiner Pose selbstgefälliger Überlegenheit, entfaltete die Arme und ging geschmeidig in die Hocke. "Wie willst du es denn anstellen, mich zu identifizieren?" »Maul halten!« Warnte das "Hirn" verspätet, noch immer betäubt von der unerfreulichen Staubwüste, in die es verschleppt worden war, weil sein Eigentümer sich hartnäckig weigerte, auf seine Empfehlungen zu hören. Dummerweise war Quirins Mundwerk nicht eingestaubt und platzte heraus. "An der Größe und deiner Stimme natürlich, du Trottel!" Der maskierte Rächer lachte auf, als Quirin einen Atemzug später begriff, dass er sich NOCH EINEN taktischen Fehler geleistet hatte. "Tja, unter diesen Umständen wäre ich wohl schlecht beraten, wenn ich dich gehen ließe, nicht wahr?" Es schnurrte sanft über amüsiert zuckende Lippen. "Aber-aber!" Quirin hustete, zerrte wider besseres Wissen an der Fessel. "Du kannst mich ja nicht ewig hier einsperren!" Der maskierte Rächer musterte ihn so gelassen, dass Quirin unruhig auf dem unbequemen Fliesenboden herumzurutschen begann. Sein Hinweis war doch ganz vernünftig gewesen, warum also gab der fiese Vogel nicht endlich nach?! "Na schön." Aufgeräumt schnellte sein Wärter hoch, kramte in der hinteren Gesäßtasche unter den Gehrockschößen und produzierte ebenfalls ein Mobiltelefon, unverkennbar jüngeren Baudatums, was das große Display und die modische Lackierung verrieten. Er zückte einen schwarzen Filzstift aus den Untiefen seines Gehrocks, ging vor Quirin in die Hocke und zog dem völlig Überrumpelten das Sweatshirt unter die Achseln. "Also, was soll ich schreiben?" Erkundigte er sich dabei beiläufig. Quirin keuchte sprachlos, setzte mehr als einmal zu einem Protest an, der sich GEWASCHEN haben würde, klang jedoch unseliger Weise wie ein stotternder Zweitakter kurz vor dem Schrottplatz. "Oh, kannst du mir nicht folgen?" Eruierte der maskierte Rächer trügerisch mitfühlend. "Nun, dann werde ich dir gern auf die Sprünge helfen! Also, deine Freunde haben sich gern als Fotomodell zur Verfügung gestellt, selbstredend für ein Motiv, das sie unter GAR KEINEN UMSTÄNDEN publiziert haben möchten. Eine elegante Geste beschrieb den ausgeklügelten Plan. "Auf diese Weise haben wir uns gegenseitig versichert, dass die Ereignisse dieser Nacht ein Geheimnis bleiben und kein Nachspiel in IRGENDEINER Form haben werden." "...was?!" Krächzte Quirin fassungslos. "Was?!" Wollte der Stinkstiefel damit sagen, dass er Erpressungsfotos geschossen hatte, um sich der Vergeltung zu entziehen?! "Also, was soll ich notieren?" Geschäftig wurde der Filzstift von seiner Schutzkappe befreit. Der maskierte Rächer beugte sich über Quirins entblößten Oberkörper, eifrig das Diktat abwartend. "Ich werde niemandem etwas sagen!" Versprach Quirin widerwillig. "Oh, das glaube ich dir selbstverständlich." Plauderte sein Wärter leichthin. "Dummerweise hast du mir aber anvertraut, dass du mich identifizieren kannst. Das erschwert die Entscheidung doch sehr." "Ich vergesse das!" Fauchte Quirin wütend und hilflos zugleich. "Ich hab ein total mieses Gedächtnis, okay?!" Die behandschuhte Linke tätschelte nachsichtig seinen wirren Schopf. "Zweifellos, aber du ERINNERST dich ja an dein schlechtes Gedächtnis, und das wiederum stimmt mich doch nachdenklich." "Was WILLST du eigentlich, verdammt?!" Explodierte Quirin heiser, blinzelte heftig, weil der Feuchtigkeitsvorrat sich längst verflüchtigt hatte und seine trockenen Augen schmerzten. "Warum kannst du mich nicht einfach gehen lassen?!" Sein Gegenüber beugte sich so nahe zu Quirin, dass dessen Atem ihn streifte. Vage glaubte er, Pfefferminz zu riechen. "Wie du schon sagtest, mein Freund." Raunte der ihm zu. "Eine Rückversicherung." Quirin schluckte und knurrte müde. "Dann schreib eben was du willst, mach das blöde Bild und lass mich endlich gehen!" "Wirklich?" Der maskierte Rächer ging auf Abstand, dieses Mal ohne amüsiertes Mundwinkelzucken. "Nun, was wäre mit 'ich habe mit einem Jungen geknutscht, und es hat mir gefallen', hm?" BEINAHE hätte Quirin verächtlich aufgelacht, doch gerade noch rechtzeitig trat ihm sein "Hirn" ordentlich in den schmerzenden Hintern. »Sei jetzt bloß kein Depp! Der Kerl weiß doch nicht, dass NIEMAND diesen Quatsch glauben würde, ALSO, halt bloß die Klappe und bring's hinter dich!« Eingedenk dieses weisen Ratschlags verzog Quirin höchst gequält die Miene und bemühte sich um einen Ausdruck von verzweifelter Pein und tiefer Schmach. "So sei es denn!" Verkündete der maskierte Rächer gedehnt, gab Quirin nonverbal zu verstehen, dass dieser sich aufrecht setzen müsse, damit die "Leinwand", sprich Quirins entblößter Oberkörper, ordentlich für den Schriftsatz präpariert war. Theatralisch schwenkte er den Filzstift, setzte an, was Quirin ein Zischen entlockte.... und stutzte. "Hmmmm!" Konstatierte er nach einem Moment, beäugte die Schreibspitze kritisch, schnalzte schließlich abschätzig mit der Zunge. "Ttsktsk, muss wohl ausgetrocknet sein." Quirin konnte ein enerviertes Stöhnen ob dieser Unzulänglichkeit nicht unterdrücken. "Nun ja." Beinahe achtlos wurde der Stift in die Gehrocktasche verstaut. "Da hilft nur die Alternative." Mit dieser alles und nichts sagenden Feststellung kniete er sich zwischen Quirins schützend aufgestellte Beine, lupfte mit der Rechten dessen Kinn an und küsste ihn. >(o_o)< Teil 2 - Gegen-Attacke! Ausweichen fiel flach, denn an Quirins Hinterkopf massierte sich unerschütterlich der Heizkessel und dann war da ja auch noch die Hand, die sein Kinn partout nicht freigeben wollte! Zuerst wehrte er sich nicht, weil er schlichtweg zu verblüfft war, um diese gemeine Attacke überhaupt zu begreifen, immerhin hatte ihn noch NIE jemand aus eigenem Antrieb auf den Mund geküsst! Außerdem, wer rechnete schon damit, ausgerechnet in einem Heizungskeller kurz vor Halloween von einem Vertreter des eigenen Geschlechts auf diese Weise berückt zu werden?! Bevor Quirin hochnotpeinlich empört über diese sanfte Misshandlung die Lippen zusammenpressen, die Zähne zur unüberwindlichen Phalanx aufeinander keilen konnte, drängte sich ein unerschrockener Botschafter vor und streifte seinen Gaumen. Heftig zusammenzuckend, die schmerzenden Augen weit aufgerissen, schnappte Quirin unwillkürlich nach Luft, schmeckte fremden, mutmaßlich durch ein Bonbon aromatisierten Speichel. Und hatte, SCHON WIEDER!, seine Chance auf eine erfolgreiche Taktik gründlich vermasselt! Nun pochte es nicht nur Migräne-gemein in seinem Schädel, nein, nun raste auch sein Puls! Mit jedem, mehr oder weniger zufälligen Kontakt mit der fremden Zungenspitze explodierten winzige, elektrische Ausläufer in seinem Kopf, führten sensible Nerven einen Veitstanz auf ob des Novums dieser Erfahrung. Ja, das war sein erster Kuss, ausgesprochen beschämend, aber schließlich musste man wählerisch sein, konnte sich ja nicht jedem dahergelaufenen Schnabel überantworten! Irgendwie, immerhin konnte er sich ja nicht wehren, war ja gefesselt und VOLLKOMMEN hilflos seinem Peiniger ausgeliefert!, ließ Quirin sich treiben. Ein Kuss, nein, eine Folge verschlungener Küsse!, war wirklich seltsam, feucht, intim, erregend, animalisch, unbeholfen, komisch, vor allem von Gegensätzen geprägt. Unterdessen schwieg sein unermüdliches "Hirn" einfach, mutmaßlich vor Scham über die eigene Schamlosigkeit sprachlos. >(o_o)< Betäubt wie er war, den rasenden Puls wie Trommelwirbel in seinen Ohren, die Lippen gerötet und noch feucht von Speichel regte sich Quirin nicht mal, als der maskierte Rächer, nun ohne verlustig gegangenen Dreispitz, noch immer zwischen seinen Beinen kniend, das Gewicht auf die Fersen verlagerte, die Oberlippe von den Zähnen polieren ließ und gleichzeitig in empörend ruhiger Manier mit dem modischen Mobiltelefon losknipste! Nun, wenn es einen auslösenden Moment gab, ging der zwar in der allgemeinen Geräuschkulisse unter und hätte ohne Zweifel auch die Kakophonie in Quirins Kopf nicht übertönen können, doch der fühlte sich nun auf unerwünschte Weise prominent. Halb zusammengesunken, unschicklich oberhalb der Gürtellinie entblößt und deutlich von dem gezeichnet, was gerade geschehen war und Opfer eines gewissenlosen Paparazzo! Da fiel es ihm leicht, den Kopf auf die Brust sinken zu lassen, jeden Blickkontakt zu vermeiden. Unbeeindruckt erhob sich sein erbarmungsloser Verführer, umrundete geschmeidig den Heizkessel und löste den Kabelbinder. Es dauerte einige Herzschläge, bis Quirin ausreichend Gefühl in seine Arme geschüttelt hatte, um sich wieder bewegen zu können. Hastig zerrte er sein Sweatshirt herunter und bemühte sich schwankend, wieder in die Senkrechte zu kommen. Durch die unbequeme Haltung allerdings hatte die Durchblutung den Schlendrian eingelegt, weshalb er taumelte. Nur ein stützend ausgestreckter Arm ausgerechnet des Verursachers seines Ungemachs rettete ihn vor einem peinlichen und schmerzhaften Aufprall auf dem Fliesenboden. Außerstande, irgendetwas zu sagen, von seinem allgegenwärtigen, großmäuligen, besserwisserischen "Hirn" im Stich gelassen raffte Quirin eilends seine Gürteltasche und stürzte blindlings hinaus. >(o_o)< Es nieselte, unfreundliche Böen frischten auf. In Quirins Kopf probte ein Orchester Unfähiger den Marsch auf Armageddon. Er konnte nicht sagen, wie er aus den Katakomben in die festliche Sporthalle und dann vom Schulgelände gelangt war oder wie er es auf den vernachlässigten Bolzplatz geschafft hatte. »Blackout.« Wiederholte das "Hirn", klang aber unerwartet kleinlaut und ratlos. »Was jetzt?« Quirin ließ sich schwer auf einen alten Baumstamm sinken, der als Sitzgelegenheit diente. Zu behaupten, er wäre vollkommen durcheinander, traf nicht im Entferntesten den Strudel von Emotionen und Gedankenfetzen in seinem Kopf. Gefühlschaos, Anarchie der Ratio. Was war da passiert? Und was sollte es bedeuten?! Als der Nieselregen sich in dickbäuchige Tropfen verwandelte, flüchtete Quirin automatisch nach Hause. Er verschwendete keinen Gedanken an seine beiden Freunde oder die Lüge, die er seinen Eltern aufgetischt hatte. Durchnässt und verwirrt stürmte er in die dunkle Küche, zerrte eine Flasche stilles Mineralwasser mit Limonenzusatz aus dem Kühlschrank, schluckte so gierig, dass ihm Rinnsale über das Kinn liefen und sein Sweatshirt als Schwamm missbrauchten. Anschließend taumelte er, wie in einem Fiebertraum neben sich stehend, die Treppe hoch, zerrte sich die nassen Kleider vom Leib und floh in die Dusche. Die seltsame Hitze in seinem Inneren hielt vor, sodass er schließlich, sauber, trocken und noch immer in desolatem geistigen Zustand in sein Bett kroch, um in den Schlaf zu flüchten. >(o_o)< Das Erwachen war kein schönes. Wie hätte es auch sein können, wenn die eigene Mutter wutschnaubend und unempfindlich gegen die intime Privatsphäre ihres pubertierenden Sohnes ins Zimmer platzte, seine achtlos abgeworfenen Kleider apportierend, um ihm lautstark einen Vortrag über seine Schlamperei, Gedanken- und Rücksichtslosigkeit zu halten. Quirin hielt sich den Kopf, einer Flucht ledig, da ihm die dämpfende Decke bereits weggerissen worden war und gab ein winselndes Klagen von sich. Das machte keinen Eindruck, denn nach der unerbittlichen Auffassung seiner Eltern hatte man sich die unangenehmen Folgeerscheinungen von Exzessen selbst zuzuschreiben und konnte kaum erwarten, Mitleid damit zu heischen. Nicht, dass Quirin auf Mitleid aus gewesen wäre! Ihm hätte es vollauf genügt, noch ein wenig länger in totaler Schwärze sicher zu schlafen, dann langsam aufzutauchen und sich nach einem ordentlichen Frühstück der grausamen Realität zu stellen. Damit war jedoch nicht mehr zu rechnen. Ein ordentliches Frühstück für Weltmeister gab es auch nicht, stattdessen eine schlappe Tasse Kaffee ohne Milch und Zucker, matschiges Müsli (würg!) und eine bereits braun verfleckte Banane. So euphorisch gestimmt wie ein Pinguin in einer Bratröhre würgte Quirin einige Bissen herunter, verabscheute den Geschmack nach Wellpappe und fühlte sich unwillkürlich an den vorangegangenen Abend erinnert, an eine Ahnung von Pfefferminz, an ein Feuerwerk in seinem Mund, an ein Blitzlichtgewitter vor seinen geschlossenen Augen. Hastig rappelte er sich auf, stieß beinahe den Küchenstuhl um, der protestierend über die Fliesen schabte und deponierte eilends das benutzte Geschirr in der Spüle. »ICH MUSS NACHDENKEN!« Gab er Losung und Rechtfertigung aus, während er die Treppe hoch in sein Zimmer stürmte, eilig das Fenster schloss und sich bibbernd in eine alte Sweatjacke wickelte. Warum musste seine Mutter immer sofort lüften?! Man hätte ja ruhig noch mal ins Bett kriechen können! Was es offenkundig gewissenlos zu verhindern galt! Alle Gedanken an die mütterliche Grausamkeit zerstoben, als Quirin einen Blick auf seine Gürteltasche warf. »Ja, Trottel, wir haben echt wichtigere Probleme!« Blökte sein "Hirn" gehässig. »Ist mir bewusst!« Schnappte Quirin ärgerlich zurück und plumpste auf sein ausgekühltes Bett. Was sollte er nun unternehmen? Ob Maik oder Sharif...? Wenn er dem-dem perversen Küsser Glauben schenkte, hatte der seine beiden Freunde über sein Mobiltelefon aufgespürt. Die hatten sich durch kompromittierende Bilder erpressen lassen, nichts über die Angelegenheit zu verbreiten. »Ob sie sauer auf mich sind?« Erwog Quirin und nagte automatisch an einem Daumen. Immerhin hatte der fiese Buschhocker ihn zuerst aufgegriffen! "Ich rufe besser gleich mal." Schon wollte er das Mobiltelefon samt der Gürteltasche angeln, als sein "Hirn" auf die Bremse trat. »Jau, GUTE IDEE! Was sagst du, wenn sie DICH fragen, wieso er dich laufen gelassen hat, hä?!« Quirin zögerte, nagte heftiger an seinem Daumen. Er wollte bestimmt nicht, dass Maik und Sharif erfuhren, wie GENAU er sich ausgelöst hatte. »Du könntest ja lügen. WENN du das denn könntest!« Ätzte sein "Hirn" gehässig. Diese Alternative schied definitiv aus. Quirin wusste, dass er nicht überzeugend lügen konnte, seine Körpersprache, rote Flecken, die Nervosität, das verriet ihn sofort. Außerdem, die eigenen Freunde anlügen, in so einer wichtigen Sache, das war Verrat! »Also besser das Thema komplett vermeiden!« Schlussfolgerte er ratlos. »Du MUSST den Spieß umdrehen!« Drängte ihn sein "Hirn". »Wer weiß, ob der Typ nicht trotzdem das Bild überall verbreitet!« »Er weiß doch gar nicht, wer ich bin!« Behauptete Quirin zaghaft. »Der Typ hat deine Nummer, du Schlauberger! Hat sich bestimmt auch die SMS angeschaut, die du längst mal hättest löschen können!« Widerlegte ihn sein "Hirn" erbarmungslos. Man musste nicht paranoid sein, um sich auszumalen, welche Macht der perfide Abknutscher über ihn hatte. "Toll." Murmelte Quirin niedergeschlagen. Nicht nur, dass ihn diese blamable Episode völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, nein, nun musste er sich ständig in der Ungewissheit wiegen, irgendwann der öffentlichen Schaulust vorgeworfen zu werden! »Deshalb MUSST du rausfinden, wer der Vogel ist!« Beharrte sein "Hirn" ungeduldig. Genau! Vorsprung durch Wissen! Quirin straffte sich und ließ den abgekauten Daumen in Ruhe. Um die Erpressung zu kontern, musste er seinerseits etwas herausfinden, um seinen Peiniger damit erpressen zu können. »Sag ich ja!« Trompetete sein "Hirn" unaufgefordert. »Fang endlich mal an, mich zu benutzen! Jetzt geh, verdammt noch mal, auf die Toilette und versorge die Beule in deiner Hose!« "Pubertäre Hormonüberproduktion!" Behauptete Quirin zwischen zusammengebissenen Zähnen und schlich sich eilig ins Badezimmer. >(o_o)< Quirin hatte das Wochenende frei, einen Schlachtplan zu konzipieren, denn weder Maik noch Sharif nahmen zu ihm Kontakt auf. Das allein war nicht ungewöhnlich, da sie sich meistens bei einem Fußballspiel sahen oder an den Tischtennisplatten beim alten Bolzplatz. Dauerregen, der einer Sintflut als Herold zu dienen schien, machte solche Vorhaben zunichte. Quirin nahm diesen meteorologischen Schicksalsschlag erleichtert hin, denn so verfügte er noch über einen Aufschub, bevor er seinen Freunden erneut gegenübertreten musste. Was auch immer nach ihrer Trennung passiert war: Quirin hegte den innigsten Wunsch, es NICHT zu thematisieren! Also verbrachte er sein Wochenende, soweit nicht elterliche Intervention ihm andere Dienste aufzwang, damit, sämtliche Unterlagen zu sichten, die verfügbar waren und mit dem Käthe Kollwitz-Gymnasium in Verbindung gebracht werden konnten. Das war leider nicht sehr viel. Jährlich gab es einen Tag der Offenen Tür, dazu kam noch ein Schnuppertag für Interessierte, ausreichend vor dem üblichen Schulwechsel terminiert und immer mal wieder kleine Notizen über die Abitur-Aktionen der Abschlussklassen. Ortsbekannte "Prominente" entsandten ihre hoffnungsvollen Sprösslinge auf das Gymnasium und machten sich durch Spenden verdient, Konzerte und integrative Wettbewerbe wurden abgehalten. Doch das, was Quirin benötigte, war auf diese Weise nicht zu ermitteln. Folgerichtig klemmte er sich vor dem Computer und erforschte den Internetauftritt der Schule. Das war alles ganz nett und ergänzte teilweise die vorhandenen Papierausgaben, die im Übrigen nur deshalb noch existierten, da seine Eltern gelegentlich mit dem Gedanken liebäugelten, ihn von Maik und Sharif per Schulwechsel zu trennen. Eine leere Drohkulisse, wie Quirin hoffte, vor allem so kurz vor dem Abschluss. Ungeduldig klickte er sich durch Links und Hotspots, fand zu seinem Bedauern aber keine Klassenfotos, denn die hätten ihm ja weiterhelfen können. Oder zumindest einen Kreis von Verdächtigen bilden. Schließlich endete die Geduld seines "Hirns", und es mischte sich gnadenlos ein. »Dämlack, was nützt dir schon ein Bild?! Du musst dich postieren und dem Schlappmaul am Schultor auflauern! Stimme, Check! Größe, Check! Und dann gibt's Saures!« Punkt 1 und 2 leuchteten Quirin ja noch ein, doch beim Thema "Saures" winkte er wütend ab. »Ach ja?! Was bitte schön soll ich da GENAU tun?! Der Kerl hat ein extrem unvorteilhaftes Bild von mir!« »Verdammt noch mal, muss ich dir denn ALLES vorkauen?!« Geiferte sein "Hirn" aufgebracht zurück. »Besorge dir gefälligst selbst Erpressungsmaterial!!« "Grmblfph!" Antwortete Quirin ebenso ärgerlich. Vorausgesetzt er entdeckte den Übeltäter, so musste er herausfinden, wie der hieß, und dann? Was konnte dieser verkleidete Ochsenfrosch verbrochen haben? »Spielt keine Rolle, solange du es herausfindest, Depp!« Knurrte sein "Hirn", der Spekulationen überdrüssig, doch Quirin dachte noch lange darüber nach, wie um alles in der Welt er sich gegenüber seinem Erpresser in Vorteil setzen konnte. >(o_o)< Alle Sorgen, die Quirin sich selbst hinsichtlich der Begegnung mit Maik und Sharif am Wochenanfang gemacht hatte, erwiesen sich als überflüssig. In der ersten Doppelstunde stand ein Test an, was Maik wie üblich dazu veranlasste, nach einem knappen "Mrgn!" sofort Fragen auf Quirin abzufeuern, weil er am Liebsten den gesamten Stoff noch mal wiederholt hätte! Da Maik ständig Dinge zu fragen pflegte, die auch weitab vom Schuss lagen, brachte er alle anderen aus dem Konzept, sodass bei Unterrichtsbeginn alle in Hörweite Nervenbündel waren und sich fragten, was zum Teufel SIE überhaupt gelernt hatten! Bis zur Mittagspause blieb Quirin also von Erkundigungen zum Fest verschont, dann begann der übliche Kampf um freie Plätze in der Mensa, das Essen wurde kommentiert, man schaufelte eilig, denn es blieb ja nicht viel Zeit. Sharif berichtete von einer todlangweiligen Familienfeier am Sonntag, die man damit aufgepeppt hatte, dass die kunstvolle Perücke einer älteren Verwandten angekokelt worden war. Was zu einem heftigen Ausbruch innerfamiliärer Zwistigkeiten von Anfang der Zeitrechnung führte. Es war für Unterhaltung gesorgt, und er amüsierte sich prächtig, wie er berichtete. Die Details allerdings interessierten weder Maik noch Quirin, die Sharifs verzweigte Familie nicht näher kannten und gedanklich längst abgedriftet waren. Außerdem musste Quirin mit aufkommender Nervosität ob seines todsicheren Plans ringen. Unruhig trippelte er und wünschte, die Zeit möge schneller vergehen, um ES hinter sich zu bringen. In der kurzen Pause vor der letzten Stunde dann kam sein Einsatz: heimlich legte er sich eine der Aufbau-Vitamin-Vorsorge-Tabletten seiner Mutter unter die Zunge. Sie schmeckte so übel, dass er alle Farbe aus dem Gesicht verlor, heftig würgte und nach Luft schnappte. Angesichts der Möglichkeit, Quirin könne sich im Klassenzimmer übergeben müssen, entschied die Fachlehrerin, er möge besser die letzte Stunde ausfallen lassen und auf direktem Weg nach Hause gehen. Würgend und heftig schluckend (die widerliche Tablette hielt länger vor, als er eigentlich beabsichtigt hatte und nun WAR ihm beinahe wirklich schlecht) notierte er den nachzuholenden Stoff mittels Seiten im Lehrbuch, wickelte sich den Rucksack auf den Rücken und schleppte sich gehorsam vom Schulgelände. »Na also!« Lobte sein "Hirn" ausschweifend, als Quirin ein argloses, bald blattfreies Gebüsch mit der ausgewürgten Tablette beglückte und energisch mit den letzten Schlucken Wasser aus seiner Trinkflasche nachspülte. Grimmig und zu allem entschlossen nach dieser selbstmörderischen Einlage legte Quirin im Laufschritt die Distanz zum Käthe Kollwitz-Gymnasium zurück. Dort suchte er sich einen guten Platz aus, um auf die ausschwärmenden Jugendlichen zu lauern. Tatsächlich marschierten die oberen Stufen in Gruppen hinaus, lärmend, lachend, sich kabbelnd oder telefonierend. Quirin maß die Größe der männlichen Nestflüchtenden ab und lauschte angestrengt, ob nicht die Stimmlage dabei war, die sich ihm eingeprägt hatte. Erst bei den Nachzügelnden, als er sich schon enttäuscht aufrichten und sein Versteck verlassen wollte, hatte er Glück: eine kleine Gruppe, drei Mädchen und zwei Jungen, spazierten im Schlendertempo aus dem Schultor und paradierten lässig auf der anderen Straßenseite vor Quirin vorbei. Die Stimmung war offenkundig gut. Einer der Jungen mit rotblondem Irokesenschnitt neckte seinen Begleiter, der müsse noch eine ganze Weile per Pedes einrücken. Sein Gesprächspartner zuckte nonchalant mit den Achseln und antwortete, selbst wenn er in einem Jahr alt genug wäre, reize ihn ein Mopedführerschein gar nicht und Voraussetzung sei ja, dass die Altersgrenze wirklich gesenkt werde. Hätte Quirin nicht ein Hibiskusgebüsch als Deckung gedient, wäre in diesem Augenblick bereits seine Tarnung perdu gewesen, denn er schnellte blitzartig hoch. DAS war die Stimme! Ohne es sehen zu können, konnte er die sich amüsiert kräuselnden Mundwinkel HÖREN! »MOMENT MAL!« Mischte sich parasitär in seine Euphorie, den Schuldigen entlarvt zu haben, sein "Hirn" ein. »Heißt das etwa, der Kerl ist erst 14?!« Quirin blinzelte, kletterte aus dem Gebüsch und huschte möglichst unauffällig in einigem Abstand hinter der kleinen Gruppe her. Unterdessen schäumte sein "Hirn" Blasen vor Empörung darüber, dass Quirin sich von einem zwei Jahre jüngeren Hosenmatz hatte abschlabbern lassen! »Ist dir das überhaupt klar?! Das aktuelle Alter für den Mopedführerschein ist 16 Jahre, diskutiert wird über eine Senkung um ein Jahr, und wenn der Typ da, dieser Jungspund...!« »Es REICHT!« Knurrte Quirin ärgerlich. »Krieg dich wieder ein!« Er hatte ausreichend damit zu tun, nicht aufzufallen und den Anschluss zu verlieren. Außerdem nieselte es schon wieder, unleidliches Novemberwetter! Von hinten konnte Quirin das "Zielobjekt" nicht besonders gut einschätzen. Was er wahrnehmen konnte, war ein Schopf schwarzer Haare mit leichtem Wellengang, was vielleicht der feuchten Witterung geschuldet war. Die Figur jedenfalls passte, konstatierte er, und irgendetwas in der Haltung, dem geschmeidigen Gang entsprach seiner Erinnerung an den denkwürdigen Abend im Heizungskeller. Inzwischen hatte sich die kleine Gruppe getrennt. Nun liefen nur noch der "Hosenmatz" und ein Mädchen mit wirrer Zottelmähne gemeinsam in ein gutbürgerliches Wohnviertel. Eine klobige Handtasche unter den Arm geklemmt schien sie den Moment abgewartet zu haben, in dem sie mit ihrem Begleiter allein war und begann, der Gestik nach zu urteilen, erregt zu schwadronieren. "Gute Ablenkung!" Murmelte Quirin, der sich langsam lächerlich vorkam, immer hinter parkende Autos zu schlüpfen, sich zu ducken, um nicht über zu leerende Mülltonnen oder Büsche zu ragen. Das MUSSTE ja irgendwann auffallen! Endlich konnte sich die "Hysterische", wie Quirin sie heimlich taufte, vom "Hosenmatz" lösen (so titulierte das "Hirn" beleidigt den Erpresser). Erleichtert seufzte Quirin und reduzierte den Abstand ein wenig, doch selbst das schien ein Fehler zu sein, denn inmitten einer Straße von kleinen Einfamilienhäusern aus der späten Nachkriegszeit verlor er die Spur. "Mist!" Fluchte er leise und nahm Tempo auf, spähte hastig, verstohlen über jedes kleine Vorgartentor zum Hauseingang. "Dein Gedächtnis arbeitet bemerkenswert gut." Hörte er plötzlich hinter sich. Quirin fegte auf dem Absatz herum, die Hände hoch gerissen, als erwarte er gleich Schläge. Sein Herz raste vor Nervosität und Überraschung. Vor ihm stand der Erpresser, und wie erwartet zuckte es amüsiert in dessen Mundwinkeln. >(o_o)< Alle anderen hätten wohl "hab dich!" oder "erwischt!" im Triumph gebrüllt, doch Quirin, dem sein "Hirn" bereits heimleuchtete, weil er sich erwischen lassen hatte, brachte kein Wort hervor. Sein Gegenüber verursachte ihm ein seltsames Gefühl des inneren Aufruhrs, einhergehend mit klammen Handinnenflächen, beschleunigter Atmung und der Furcht, er werde gleich einen Schluckauf bekommen vor Beunruhigung. »Nun tu was!« Drängte sein "Hirn", doch Quirin konnte sich nicht mal rühren. Er begriff einfach nicht, was er sah und zu einem logischen Urteil miteinander verbinden sollte. Vor ihm wartete in selbstsicher-gelassener Haltung ein junger Mann mit schwarzen Augen, einem markant-eckigem Gesicht, symmetrischen Gesichtszügen, einem zärtlich-spöttisch geschürzten Mund und einem energischen Kinn, eingerahmt von schwarzen Strähnen, die ungezwungen eine eigene Ordnung etablierten. Unter einem Sakko schmiegte sich ein dünnes Sweatshirt mit Stehkragen an eine athletische Gestalt. Die Beine waren in dunkelblauen Jeansstoff gehüllt und verdeckten halbhohe Biker-Stiefel. Kurzum, vor ihm stand ein UNMÖGLICH erst 14-Jähriger, der in jeder Jugendpostille als Adonis Furore machen würde! Deshalb erschien es Quirin einfach unglaublich, dass dieser Teenie- und Mütterschwarm ausgerechnet IHN geküsst haben sollte. "Gnahh!" Brabbelte er ungläubig. Er MUSSTE sich geirrt haben! Vielleicht verzerrte die Zeit ja seine akustische Erinnerung? Oder es gab einen älteren Bruder, Cousin oder so! Ein fröhliches Kläffen schreckte Quirin in seiner temporären Auszeit der Verwirrung auf. Auf der anderen Seite eines hüfthohen Jägerzauns bellte ein Cockerspaniel munter und schleuderte die langen Ohren. "Ah!" Der Erpresser lächelte nachsichtig. "Lord Nelson ist der Auffassung, es würde gleich wieder regnen. Wir sollten besser hineingehen." Schloss er seine Empfehlung mit einer einladenden Geste ab. Quirin zögerte. Hier wurde ihm eindeutig das Heft der Handlung aus der Hand genommen! Wenn er durch das Gartentor schritt, was sollte dann aus seinem höchst geheimen Plan werden, die Erpressung mit einer Gegen-Erpressung zu kontern?! Lord Nelson bellte erneut drängend. "Wieso Lord Nelson?" Fragte Quirin, um Zeit zu gewinnen. Er wusste einfach nicht, ob er sich für das Tor oder dagegen entscheiden sollte. Sein Gegenüber zwinkerte, öffnete das Tor und stellte Lord Nelson vor. Der Hund, dem nach näherer Inaugenscheinnahme mehr als Cockerspaniel-Vorfahren ihren Stempel aufgedrückt hatten, schnüffelte höflich an Quirins Hosenbeinen. Quirin wiederum bemerkte, dass Lord Nelson die rechte Vorderpfote bis zum Gelenk fehlte, außerdem war ein Auge trüb. "Lord Nelson verabscheut Wasser über Trinknapfhöhe und er kommt nicht gern in den Regen." Informierte ihn der "Hosenmatz" amüsiert. "Aha." Murmelte Quirin hilflos. "Bitte." Erneut lud ihn die schwungvolle Geste ein, durch das Tor zu schreiten. Über einen mit hölzernen Platten belegten Sandweg gelangte man zu einem schmalen, einstöckigen Haus. Quirin presste die Lippen so fest aufeinander, wie er konnte. Was tun?! Was tun?! Fortlaufen und später herausfinden, wie das Namensschild an der Gartenpforte lautete? Raten, wie sein Erpresser mit Vornamen hieß? Und dann?! »Er hat gemerkt, dass ich ihm gefolgt bin. Ist kein bisschen überrascht. So WIDERLICH cool und selbstsicher!« In Quirins Kopf überschlugen sich die Gedanken. Lord Nelson schnaufte, fühlte zu viel Regen in zu kurzer Distanz und hoppelte über die Platten zur Haustür, wo er sich durch eine Klappe zwängte. »Verdammt!« Fluchte Quirin stumm und setzte sich in Bewegung. Durch das Gartentor. >(o_o)< Quirin kannte Einfamilienhäuser ähnlicher Bauart. Kaum stand man im Eingang, drängte eine steile Stiege ins Obergeschoss, während man durch einen schmalen Flur direkt ins Wohnzimmer, manchmal mit angebautem Wintergarten, stoßen konnte. Gegenüber der Treppe befand sich regelmäßig die Küche und darüber im ersten Stock das Bad. Gelegentlich existierte unter der Treppe noch ein winziges Gäste-WC oder aber eine vollkommen zugestellte Rumpelkammer. Nachdem sich die Haustür hinter ihm geschlossen hatte, übernahm der Erpresser, nun sein Gastgeber, dessen Namen er nicht mal kannte, die Führung. Er hängte seine Schultasche an die Garderobe, lud Quirin nonverbal ein, seinem Beispiel zu folgen und schlenderte wortlos in die Küche. Quirin folgte ihm zögerlich, blendete die Vorwürfe seines "Hirns" aus, die sich auf seine impulsive, dämliche und höchst gefährliche Entscheidung bezogen, und das jede Verantwortung für weitere Katastrophen ablehnte. Unterdessen spülte sein Gastgeber den Trinknapf mit heißem Wasser aus, bevor er aus dem Kühlschrank stilles Mineralwasser einfüllte und Lord Nelson kredenzte. Der schleuderte die langen Ohren und schlabberte begeistert, aber erstaunlich sittsam das kühle Nass auf. "Möchtest du lieber Tee oder Kaffee?" Erkundigte er sich bei Quirin, der sich verstohlen, aber keineswegs unbemerkt umsah. "Tee." Antwortete Quirin und sah sich einmal mehr ratlos dieser Situation ausgeliefert. Was tat er hier eigentlich?! Der Kerl war schließlich der Feind! »Aber es FÜHLT sich nicht so an!« Wehrte er sich gegen die eigenen Vorhaltungen. Üblicherweise hätte er Aggression, massive Abwehr, einen Tunnelblick der Antipathie erwartet, doch in seinem Kopf wirbelte das Chaos seltsam losgelöst um sich selbst, spiegelte seine haltlose Verwirrung wider. »Ich begreife einfach nicht, was hier los ist!« Jammerte er innerlich ein wenig bange. Seine Situation war mehr als surreal! Das Wasser siedete inzwischen, in zwei Bechern wurden Teebeutel einem Tauchbad unterzogen. Sin Gastgeber drückte ihm beide in die Hände und pflückte Lord Nelson vom Küchenboden ab. "Bitte, gehen wir!" Mit einem mokanten Lächeln trat er in den Flur. "Wohin gehen?" Erkundigte sich Quirin misstrauisch, obgleich er die Becher apportierte. "Nach oben, in mein Zimmer." Antwortete sein Gastgeber ihm gleichbleibend freundlich, gewürzt mit einer Prise Ironie. "Wohl zum Briefmarkenanschauen?!" Fauchte Quirin kriegerisch, entschlossen, sich wenigstens selbstsicher ZU GEBEN, auch wenn er sich führerlos ohne Anker auf hoher See fühlte. "Möchtest du Briefmarken ansehen?" Schnurrte der "Hosenmatz" mit lieblichem Augenaufschlag. Für einen Moment, da er registrierte, wie dicht die schwarzen Wimpern saßen, verlor Quirin die Stimme, dann aber fauchte er böse. "Von wegen! Bestimmt NICHT!" "Fein." Artig nickend nahm sein Gastgeber den Aufstieg in Angriff. "Dann lassen wir den Part aus." »GRHMMBLLRLL!« Polterte Quirin innerlich inhaltsleer, stapfte aber hinter dem Lord Nelson-Beschleuniger die Stiege hinauf. Die erste Abzweigung führte durch eine halb angelehnte Tür in das Zimmer, das er ansteuern musste. [Simon] letterte ein schlicht geprägtes Türschild in Brusthöhe. Simons Reich war bescheiden und eingeschränkt durch die Dachschräge. Es gab ein Bett mit Tagesdecke, in eine Ecke gerückt und mit zahlreichen Kissen gegen die Wände gepolstert. Vor dem Bett wartete ein offener Korb mit einer zerschlissenen Decke, auf der Lord Nelson sich bereits bequem einrollte. Unter dem Fenster zur Straßenseite verlief eine aufgesetzte Arbeitsplatte, davor wartete ein Klappstuhl mit Sitzkissen. In einem offenen Regalsystem bis unter die Decke lagerten Kleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände, Bücher und Unterhaltungsmedien. Die weiß gestrichenen Wände kontrastierten mit dem bunten Flickenteppich vor dem Bett. Quirin bemerkte, dass keine Poster, Aufkleber oder Postkarten die freien Wandflächen, von denen es ohnehin nur wenige gab, verzierten. Unter einem alten Tuch mit Totenschädeln verbarg sich ein kleiner Röhrenfernseher, daneben ruhte zusammengeklappt ein Laptop. Keine leicht bekleideten Aktricen, keine Fußballvereinsdevotionalien, keine PS-starken Luxusgefährte, keine Medaillen oder Pokale: Simon machte es dem Besucher nicht leicht, seine Interessen zu entdecken! "Bitte stell sie doch hier ab." Der Eigentümer dieser Unterkunft hatte inzwischen unter dem Bett einen Klapptisch hervorgeholt und forderte Quirin auf, sich seiner heißen Last zu entledigen. Mangels sinnvoller Alternativen kam Quirin der Anweisung nach, stand dann unschlüssig im Zimmer. Wenn er sich setzen wollte, musste er neben Simon auf dem Bett Platz nehmen. Aus naheliegenden Gründen war das keine gute Position, um ihm die Leviten zu lesen! Amüsiert grinsend klopfte der auch prompt auf die Matratze neben sich. "Keine Angst, ich beiße nicht." Versprach er. "Aber du knutschst!" Schoss Quirin zurück, fassungslos ob seiner blitzschnellen Reaktion. "Gelegentlich." Gab Simon unbeeindruckt und freimütig lächelnd zurück. "Warum?" Quirin ballte die Fäuste, drehte die Schultern aus und wollte, nun, da er aufrecht stand und nicht mehr um einen Kopf kürzer war, diese Gelegenheit nutzen. "Warum hast du das gemacht?" Simons Blick ruhte unverwandt auf ihm, was Quirin unerklärlich aufbrachte, deshalb funkelte er zornig zurück. "Weil ich es konnte." Antwortete Simon, beugte sich vor und kraulte Lord Nelson zwischen den langen Schlappohren. Diese selbstsichere Haltung potenzierte Quirins Verärgerung, deshalb verlegte er sich auch ohne weiter zu überlegen auf eine kühne These. "Du hast meine Freunde gar nicht erwischt!" Simon lächelte noch immer, höflich, gelassen. "Meinst du?" Empört ballte Quirin die Fäuste. "Los, zeig mir den Filzstift! Ich will ihn sehen!" Artig erhob sich Simon, stellte eine offene Keksdose auf den kleinen Klapptisch. In ihrem Inneren fächerten sich zahllose Schreibgeräte auf. Quirin entriss ihm förmlich den schwarzen Filzstift, zupfte die Kappe ab und malte sich einen satten Strich quer über die Handinnenfläche. Natürlich, der Stift malte perfekt, hätte am Freitagabend ergo ebenso seine Leistung abliefern können! »Er hat mich reingelegt!« Stellte Quirin fassungslos fest. "Aber... warum?" Murmelte er verwirrt, an sich selbst adressiert. Soweit er sich entsinnen konnte, war er diesem Simon niemals über den Weg gelaufen, geschweige denn in die Quere gekommen! Auf der Feier hatte er nun wirklich nichts angestellt! "Ich versteh's nicht!" Anklagend und durcheinander blickte er in die schwarzen Augen, die so unerschütterlich selbstsicher wirkten. Was hatte er diesem Simon denn getan?! Er spürte, wie seine Verwirrung in schockierte Empörung umschlug. Erst zuckten bloß seine Fingerspitzen, dann zitterten seine Hände, infizierten Arme und Beine, bis es ihn schüttelte. Das war alles nur ein mieser Scherz gewesen?! Ein Gag auf seine Kosten?! Er hatte in diesem finsteren, heißen, staubtrockenen Keller Todesängste ausgestanden, wurde danach gedemütigt und beschämt! Für einen billigen Spaß?! Die Ungerechtigkeit dieses unverständlichen Akts, unvermutet, unprovoziert und unbegreiflich, hieß ihn stottern, so außer sich geriet er. "Wwwiee... wwwarummm... wwwagenn... ggemein...!!" Seine Zähne schlugen aufeinander in dem inneren Aufruhr, zerstückelten jede Äußerung in unzusammenhängende Bruchteile. Aus Simons Gesicht war die Anmutung spitzbübischen Amüsements vollkommen verschwunden. Er schnellte vor, packte Quirins zitternde Rechte, brach dessen verspäteten Widerstand und presste sich die klamme Handfläche auf die linke Brustseite. Für weitere Augenblicke kämpfte Quirin verzweifelt darum, seine Hand zurückzuerobern, stemmte sogar die Linke gegen den unnachgiebigen Brustkorb, mit körperlicher Gewalt absolut überfordert. Gerade, weil er nicht gerade ein Riese und stets zurückhaltend war, fehlte ihm die obligatorische Erfahrung zahlreicher Kabbeleien, deshalb setzte kein Instinkt ein, der ihm verriet, wie er sich befreien konnte. Auch das hysterische Geschrei seines "Hirns", doch gegen Schienbeine und unter Kniescheiben zu treten, nach Augen zu zielen oder Ohren zu verdrehen, erreichte ihn nicht. Unter seiner gefangenen Handfläche schlug Simons Herz schnell und aufgeregt, stand in erheblichem Widerspruch zu dessen stoischer Haltung. Sein eigener Körper schüttete im Übermaß Stresshormone aus, reagierte sich bebend und zuckend ab, was Quirin nötigte, wie ein Fisch auf dem Trockenen hastig nach Luft zu ächzen. NICHTS stimmte hier! Ihm war schwindlig, obwohl er immer dringlicher um Atem rang! Das konnte doch nicht sein! Nur gedämpft drang Simons tiefe Stimme zu ihm durch. "Entschuldige, Quin." Dann wurde er vom freien Arm des zwei Jahre Jüngeren fest umschlungen und unerbittlich an dessen soliden Leib gezogen. >(o_o)< Der Schwindel legte sich langsam, in Rückzugsgefechten. Gegen die abstrahlende Körperwärme zog er jedoch den Kürzeren. Quirin hielt die Lider gesenkt, strengte sich an, seine Aufmerksamkeit auf den eigenen Pulsschlag zu richten. Immer noch ging der hastig, allerdings nicht ganz so hurtig wie der fremde Herzschlag unter seiner Handfläche. »Ich versteh's nicht.« Wiederholte er stumm. So seltsam hatte er sich noch nie gefühlt. Durcheinander, ausgeliefert, zittrig, bange und seltsam. »Ungerecht!« Dachte er niedergeschlagen. Ja, es war nicht fair, dass sich jemand wie dieser Simon, der so attraktiv war und viele Freunde hatte, auf die "bessere" Schule ging, so einen fiesen Scherz mit ihm erlaubte! Quirin versuchte, sich loszumachen, gewann sogar eine kleine Distanz, indem er die Linke energisch auf den athletischen Brustkorb presste. Dann aber wurden seine Kräfte ausgekontert. Einen Wimpernschlag später begriff er, warum Simon nachgegeben hatte. Ein Hauch warmer Atem schmuggelte sich über Quirins Lippen und Kinn, verwirbelte an Schlüsselbein und Kehle. Simon visierte zielgerichtet und küsste Quirin erneut auf den Mund. Da Quirin vorgewarnt war, was ihn erwartete, presste er die Lippen zusammen, wollte sich nicht noch einmal erwischen lassen. Allerdings hielt dieser wackere Versuch der Selbstverteidigung nicht lange vor, weil Simon in perfider Weise an Quirins Phalanx knabberte, mit der Zungenspitze nach einem Durchschlupf fahndete, einfach nicht aufgab! Eingelullt von dem schnellen Takt unter seinem Handteller, konfus und überfordert gab Quirin schließlich nach. Ungelenk, nachdem ein zweites Mal die "Festung" genommen worden war, stieg Quirin in das Duell der Liebkosungen ein. Als Simon ihn endlich langsam freigab, spürte Quirin längst seine Arme und Beine nicht mehr, fühlte sich merkwürdig schwerelos und entrückt. Langsam, widerwillig trat Simon einen Schritt zurück. Noch einen. Und noch einen. Sein ausgestreckter Arm musste schmerzen, doch er weigerte sich, Quirins umklammerte Hand, die auf seinem randalierenden Herz gelegen hatte, einfach fahren zu lassen. Quirin starrte ihn an, unbewusst die Lippen leicht geteilt, als sei er im Begriff, etwas zu formulieren. Für einen Moment zeigte seine Miene kindliche Bestürzung über eine Erkenntnis, die sich enorm viel Zeit gelassen hatte, bevor sie sich wie ein Senkblei in die Untiefe stürzte. Zwei tiefrote Flecken blühten auf seinen Wangen auf. Mit einem Keuchen klappte er den Mund zu, riss seine Rechte an sich, pirouettierte um die eigene Achse, stürmte aus Simons Zimmer und polterte die Stiege hinab. Simon senkte die Lider für einen Atemzug, legte den Kopf in den Nacken und ignorierte Lord Nelsons verwirrtes Jaulen. Unten hörte er die Haustür zuschlagen, mit leichter Verzögerung, da Quirin sich wohl den Schulrucksack übergestreift hatte. Trotzdem, obwohl seine Befürchtungen Realität geworden waren, nahm Simon Lord Nelson hoch und stieg ins Erdgeschoss. Er öffnete die Haustür. Vor dem Gartentor auf dem Trottoir stand Quirin, zaudernd, zagend, noch immer verwirrt. "Entschuldige, Quin." Raunte Simon behutsam. Quirin hob den Kopf, noch außer Atem von seinem Treppensturm, blickte ihn an. Simon konnte nicht loslassen. Unverwandt hielt er diesen Kontakt aufrecht, scherte sich nicht um Zeit oder Publikum, blendete alles aus, bis nur noch Quirin übrig blieb, so liebenswert durcheinander, so angestrengt konzentriert und gleichzeitig hoffnungsvoll freundlich in seiner Ausstrahlung. »Wenn ich nur einmal blinzele, dann ist es vorbei.« Sagte sich Simon lautlos. »Dann läuft er davon.« Quirin seinerseits betrachtete betäubt und aufgeputscht den attraktiven Jugendlichen im Türsturz, so selbstsicher in seiner Haltung, souverän, cool, ihm auf subtile Weise gänzlich überlegen. »Ist es ein Scherz?« Fragte er stumm. »Treibst du ein Spiel mit mir? Oder-oder?« Er wusste nicht, ob er hoffen sollte, welche Konsequenzen GENAU drohten, wenn sich seine Hoffnungen wider Erwarten und jede Wahrscheinlichkeit erfüllen sollten. Behutsam, einem Seiltänzer gleich, ohne Netz und doppelten Boden, bewegte sich Simon über die Trittplatten bis zur Gartenpforte, spannte alle Muskeln an, hielt die Luft ein, bevor er sie durchschritt, wagte nicht, die Augen von ihm abzuwenden. Quirin stand noch immer auf dem Gehweg, den Rucksack an den ausgeleierten Trägern in der Rechten haltend. Simon neigte sich vor, wenig genug, den Größenunterschied zu überwinden, blies seinen Atem hitzig über die geröteten Lippen. Erst, als Quirin den sanften Druck erwiderte, senkten sich Simons Lider. >(o_o)< Quirin ging langsam, Schritt für Schritt, den Kopf gesenkt, in Gedanken versponnen. Unwirklich fühlte sich die Realität an, nur das Prickeln in seiner Magengrube schien handfest und wahr. »Er kennt meinen Spitznamen.« Dachte er. Von den gespeicherten Textnachrichten auf dem Mobiltelefon konnte Simon diesen nicht erfahren haben, da sie mit Abkürzungen operierten. »Er kennt meinen Spitznamen.« Repetierte er nachdenklich. Simon Bauer hatte ihn geküsst. Richtig geküsst. Und es sah nicht danach aus, als wolle der damit in absehbarer Zeit aufhören. Versonnen rubbelte er mit dem Daumen über den schwarzen Strich des Filzstifts in der Handfläche. Er lauschte tief in sich hinein, doch sein "Hirn" meldete sich nicht. Das erfüllte ihn mit einer gewissen Befriedigung. »Du hast auch keine Ahnung!« Triumphierte er innerlich. Das bedeutete ja wohl, dass er nach eigenem Gutdünken agieren konnte! >(o_o)< Simon streckte sich auf seinem Bett aus, hängte den rechten Arm über die Kante, um Lord Nelson zu kraulen. "Er ist süß, oder?" Erkundigte er sich nach Lord Nelsons Eindruck. Langsam leckte er sich über die Lippen, noch immer prickelnd von den sanften Küssen. Ja, Quin war niedlich, so verwirrt und unfähig, etwas vorzutäuschen oder zu lügen, so unschuldig und nachsichtig mit seiner frechen Taktik. Simon schloss die Augen und atmete tief durch. Ja, es hatte sich definitiv gelohnt, dem Simpel die drei leicht verzierten Eintrittskarten unterzujubeln! Irgendwann, wenn Quin ihn besser kannte und lieber mochte, würde er ihm verraten, in welchem Augenblick er sich Herz über Verstand in ihn verliebt hatte. >(o_o)< ENDE >(o_o)< Danke fürs Lesen! kimera