Titel: Eine vernünftige Liebe Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original + Fan Fiction Halloween 2011-Herausforderung FSK: ab 16 Kategorie: Parallelwelt Ereignis: Halloween 2011 Erstellt: 28.10.2011 Herausforderungen (alphabetisch): + Koryu: Gastauftritt von Koryu und Ryuki, Somtam (Papaya-Salat aus Thailand), 'können Engel Malaria bekommen' und zu guter Letzt vielleicht einen vegetarischen Vampir + Vegeta: Studentenfeier, Humor Disclaimer: + Shouta Kisa und Kou Yukina enstammen der Manga-Serie "Sekaiichi hatsukoi" von Shungiku Nakamura, die auch in zwei OVA und bisher zwei TV-Serien animiert worden ist + Koryu und Ryuki gehören zur Manga-Serie "Wish" von Clamp. Man sollte, um zu verstehen, was mit ihnen passiert ist, "Bonds" gelesen haben + "swem nie von liebe leit geschach, dem geschach ouch liep von liebe nie. liep unde leit diu wâren ie an minnen ungescheiden. man muoz mit disen beiden êre unde lop erwerben oder âne sî verderben." Zitat nach Gottfried von Straßburg, Tristan, Kapitel 3, Verse 204-210. (http://gutenberg.spiegel.de/buch/3161/3) ~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~~+~ Eine vernünftige Liebe Kapitel 1 - Ausgerechnet Urlaub! "Easy, Easy!" Der Ruf eilte voraus und entsprach weniger einer Pseudo-Anglisierung des betont lässigen Sprachgebrauchs juveniler Bohemiens als einer ernsthaften Warnung. Nicht mal Spendensammlungen oder vorgeblich aztekische Panflöten-Intonation mit mottenzerfressenem Poncho und spuckendem Lama hätten schneller für eine komplett freie Bahn gesorgt. Der Anlass für die Aufregung schritt so flott aus, wie es ihm möglich war, ein junger Mann in der Blüte seiner Jahre. Wobei es sich zugegeben um eine sehr spezielle Blüte einer eher exotischen und glücklicherweise raren Sorte handelte. Im Augenblick konnte selbst die giftigste Blume der Welt SEINER ätzenden Laune nicht das Wasser (oder vielmehr die Giftbrühe) reichen. Isidor von Spangenburg stakste, den altertümlichen Gehstock fest in den Boden nagelnd, über den Flur zum Büro des Präsidenten. Genau abgezirkelt und lässig aus dem Handgelenk klopfte er mit dem Griff am Rahmen an, betrat dann, keine Aufforderung abwartend, das Büro seines Vorgesetzten. Der Präsident (in dieser Bildungseinrichtung gab es kein "bloßes" Direktorium!) wälzte seine ausufernden Massen aus einem geräumigen Lederfauteuil, der nahelegte, dass hier selten einer tatsächlichen Schreibtischtätigkeit nachgegangen wurde. "Ah, Herr Kollege!" Befolgte er artig die erste Maxime seiner persönlichen Anleitung zum Umgang mit Mitarbeitenden: NIEMALS heraushängen lassen, dass man der Chef ist und mit den unerfreulichen Niederungen des Unterrichtens auch nur in Atemweite zu tun hatte. Isidor von Spangenburg schüttelte knapp die dargebotene Pranke und neigte leicht das Haupt. Gerade seine betonte Höflichkeit wirkte bereits wie ein ironischer Kommentar zu jeder Situation. DA hatte man noch keinen Blick in die eisblauen, völlig klaren Augen geworfen. "Bitte, nehmen Sie doch Platz!" Dröhnte der Präsident jovial. "Darf ich Ihnen etwas anbieten, werter Kollege? Wir haben hier Kaffee, Wasser, Kekse." "Danke, nein." Isidor von Spangenburg winkte reserviert ab und entfaltete seine Glieder in einen unbequemen Gästestuhl vor dem Schreibtisch, ergänzte sarkastisch. "Es ist doch wohl kaum anzunehmen, dass ich mich schon auf Wasser und Brot einstellen muss?!" "A...hummm." Ließ der Präsident diese scharfe Bemerkung unkommentiert und wucherte wieder in seinem Fauteuil. "Dann will ich auch gar nicht lange herumreden!" In perfekter Kopie der zahlreichen Mentaltrainings, die er konsultiert hatte, legte er die Klauenspitzen dreieckförmig aneinander. Das mochte bei anderen souverän wirken, hier jedoch konterkarierten kurze, fleischige Arme, die sich kaum um das Vorgebirge von Brust und Bauch wölben konnten, jede Anstrengung. Isidor von Spangenburg, der diese Tricks kannte, verzichtete auf einen bissigen Nachsatz. "Tja, nun!" Der Präsident blendete perfekte Zahnreihen auf. "Es ist diese Sache, wie soll ich sagen?" Er verdrehte die Augen Richtung Zimmerdecke und grübelte angestrengt. "Also, will sagen, dieser Zwischenfall." "Oh, wenn Sie erlauben?!" Fiel Isidor von Spangenburg ihm schnarrend in die mäandernden Gedanken. "Ein ZWISCHENfall war's ja wohl nicht! Die Konsequenzen einer von den Erziehungsverantwortlichen ausdrücklich gestatteten Exkursion, basierend auf dem INNIGSTEN Wunsch ihres Nachwuchses." Die frostige Gehässigkeit dieses Satzes veranlassten den Präsidenten, sich ein wenig aufrechter aufzurollen. Schwieriges Publikum, holpriges Gelände! "Ja, da bin ich GANZ auf Ihrer Seite, Herr Kollege!" Dröhnte er entschlossen. "Ich bin über jeden Zweifel hinweg überzeugt, dass alles seine formale Richtigkeit hat!" DAS zumindest musste man nämlich diesem unerfreulich scharfzüngigen Mann lassen: der arbeitete korrekt, wenn es sein musste, auf den Buchstaben genau. Vor allem bei den Angelegenheiten, die ihm ganz und gar gegen den Strich gingen. "Dennoch komme ich nicht umhin, mich zu fragen, ob wir nicht ein ganz klein wenig zu viel von unseren Discipuli erwarten." Säuselte er mit der Vorsicht bei Minenentschärfung mit Schluckauf. "Ha!" Fauchte Isidor von Spangenburg, saß noch einen Zoll aufrechter, die Eisaugen funkelnd. "Diese nutzlose Bande von gehirnerweichten Schlappsäcken?! Diese verwöhnten, kleinen Schleimscheißenden, die von der widerlich süßlich-abgöttischen Sentimentalität ihrer Altvorderen total vermurkst werden?!" Er schnaubte. "Aber verzeihen Sie, werter Kollege!" Er ätzte diese Anrede ob ihrer Lächerlichkeit giftig heraus. "SIE sprachen gerade über DISCIPULI! Muss wohl eine mir gänzlich unbekannte Gattung sein." Der Präsident verabschiedete sich von der vorgeschriebenen Haltung souveräner "Erster unter Gleichen"-Pädagogik, türmte nun, die fleischigen Arme auf der Lehne abgelegt. "Spangenburg, Sie und ich wissen, dass Sie formal nicht belangt werden können." Er grunzte. "Ebenso wissen WIR, dass diese gesamte Sache VERDAMMT nach Ihren besonderen Lehrmethoden stinkt!" "ERFOLGREICH!" Isidor von Spangenburg präsentierte seine Zähne, nicht so weiß, insgesamt kleiner und ohne Raubtierfänge. "Ich gratuliere mir selbst dazu, dass meine DISCIPULI eine ganze Menge UNVERGESSLICH gelernt haben." "Traumatisierend!" Zitierte der Präsident eine wutschnaubende Erzeugerin. "Eindeutig prägend!" Konterte Isidor von Spangenburg unbeeindruckt. Der Präsident seufzte und schlug die sehr einsam und winzig auf seinem gewaltigen Schreibtisch lungernde Akte auf. "Drastisch." Brummelte er seine eigene Einschätzung. Die Reaktionen der Eltern waren sehr viel weniger diplomatisch und höflich gewesen. "Pah!" Isidor von Spangenburg schnaubte und winkte mit der Rechten abschätzig. "Du liebe Güte!" Er flötete bitter. "Ich habe mir eingebildet, ich sollte hier Teufelsbrut und Satansbraten ausbilden! Dabei sind's bloß weinerliche Winselwelpen und patentierte Trottel!" "Ja~ah". Ächzte der Präsident, um auch einen Beitrag zu leisten. "UND!" Isidor von Spangenburg schwenkte triumphierend den Gehstock in der Linken. "SIE haben es so gewollt! Wird nicht ständig herumgejammert, man würde dem Nachwuchs nicht genug Entfaltungsmöglichkeiten geben?! Na bitte! ICH lasse sie ihren Willen haben!" "Schön und gut!" Der Präsident grollte aus der unwohlen Magengrube. "Aber 36 Stunden Dünnpfiff, Erbrechen und all der Rest, das ist doch ein wenig viel des Guten." Isidor von Spangenberg lehnte sich gerade einige Millimeter entspannter zurück und quittierte diesen Einwand ungerührt. "Sollte ich sie nicht beim Vertrauen auf die eigene Urteilsfindung unterstützen?" Vor ihm seufzte der Präsident verstohlen auf. "Nun haben sie jedenfalls gelernt, dass IHR Urteil keinen Pfifferling wert ist!" Zog Isidor von Spangenburg einen befriedigten, ja, sogar ein wenig rachsüchtigen Schluss aus der Affäre. "Heute klüger als gestern, wenn DAS kein Erfolg ist." ~+~ Der Präsident drückte einen Knopf unterhalb der Tischplatte. Zuvorkommend reichte ein mechanischer Butlerarm aus den Gedärmen des Schreibtisches einen perfekt temperierten, sehr alten Whiskey in einem wertvollen, vor allem aber sehr stabilen Glas. "Uuuhhhhhhhhh!" Stöhnte er auf, als der erste Schluck nach Herumrollen im Mund endlich den Schlund hinabstürzen durfte. Was für ein Genuss! Und was für eine Labsal für seine geplagten Nerven! Zugegeben, Isidor von Spangenburg WAR der Beste auf seinem Gebiet, bloß manchmal! Diese Zwischenfälle beunruhigten doch. Er blätterte in der dünnen Akte und erinnerte sich. Oh ja, die Sache mit den Nahrungsmitteln! Er seufzte auf. Wer hätte aber auch gedacht, dass dieser verflixte Spangenburg TATSÄCHLICH einen gewaltigen Fresskorb mitbrachte, angefüllt mit all dem, was Menschen ohne Kühlschrank altertümlich einmachten, um es für einen späteren Verzehr haltbar zu machen! Zum Beispiel Funazushi, Surströmming, Gammelrochen und Pla Raa, was den maritimen Aspekt betraf, für die Gourmets von Milchprodukten ein wenig Stinking Bishop, Limburger oder Epoisses de Bourgogne und für die Flora durfte selbstredend eine reife Durian nicht fehlen, von einer "Stinkenden Mango" mal abgesehen. Er krönte das Ensemble mit Gingko-Früchten. Diese verschärfte Aktion, seine DISCIPULI zu mehr Aufmerksamkeit zu veranlassen, resultierte schließlich im Verbot, irgendwelche menschlichen Nahrungsmittel in die heiligen Hallen der Bildung mitzunehmen. Diese Tat, die von Spangenburg SELBSTVERSTÄNDLICH nach den Schriftzeichen der Institutsregularien MAKELLOS eingefädelt hatte, erhöhte seinen Ruhm um ein weiteres. "EASY!" war definitiv ein Warnschrei, der selbst den Tyrannosaurus Rex vor Neid entledert und entschuppt hätte! "Tsktsk!" Dachte der Präsident und klappte unwillig die Akte zu. Er mochte es nicht, wenn man ihm eine Untat auch noch erklären musste, weil er sie nicht auf Anhieb erkannte. Aber woher hätte er wohl auch wissen sollen, als vielbeschäftigter Präsident und hochgeschätzter Daimon, was, bei Satans Eiern, ein "Casting" war?! Oder dass die offenkundig geistesgestörten Appellierenden für irgendeine lächerliche Wegwerf-Karriere eine derart Übelkeit erregende Energie abstrahlten?! "Aber ich habe mich durchgesetzt!" Lobte er sich selbst. Zumindest für den Moment konnte er sich in trügerischer Sicherheit ob der nahen, RUHIGEN Zukunft wiegen. ~+~ Die lokale Gegenwart zumindest wurde von einem akuten, geradezu mörderischen Tiefausläufer erbitterstem Zorn vergällt. "Shopping!" Isidor von Spangenburg rammte den Spazierstock übellaunigst in den Boden. "SHOPPING!" Eine Beleidigung sondergleichen! Was sollte er bitte schön "shoppen"?! Unsichtbarer Rauch quoll aus seinen Ohren, während es in ihm siedete. Wenn schon, dann ging er einkaufen, Besorgungen machen. Shopping! Ha! Außerdem! Seine Finger verloren ihre Farbe, so fest umklammerte er seinen Gehstock, während die Rechte den Trageriemen der robusten Ledertasche quetschte. Erst in den Zwanzigern hatte er eine komplette Garderobe anfertigen lassen, maßgeschneidert, aus hochwertigen Tuchen, ohne irgendwelche aufgebrachten Schutzschichten! Schön, heutzutage war es ja Usus, dass man mit einer Himalaya-tauglichen Ausrüstung in der Großstadt flanierte, wenn man es wagte, aus dem Hochgebirgsgeländewagen, dem Panzer des modernen Menschen, einen Fuß zu setzen! Doch so etwas kam für ihn nicht in Frage. Immerhin konnte wohl kaum jemand für diese Pseudo-Abenteuer im Großstadtdschungel einen originalen Kutschier-Mantel mit Pellerinen aus feinstem Leder, Unwetter erprobt, sein Eigen nennen! Noch erbosender als den vollkommen ungerechtfertigten Hinweis auf die vage Möglichkeit, eine neue Garderobe zu erwerben, nachdem die vorhandene über 90 Jahre lang ihrem Träger treue Dienste geleistet hatte, war der Vorschlag, sich doch einen dieser elektrischen Rasierapparate zuzulegen! Isidor von Spangenburg zischte durch die aufeinander gebissenen Zähne. Rasierapparat?! Elektrisch?! Das kam überhaupt nicht in Frage! Männer seiner Generation pflegten sich mit einem skalpellscharfen Rasiermesser selbst den Bart abzunehmen. Das erforderte Geschick und Augenmaß (sonst ging's schon mal INS Auge, haha!), eine gute Übung für die Konzentration! Abgesehen davon hegte Isidor von Spangenburg eine störrische Abneigung gegen unnötig elektrifizierte Gegenstände des Alltags. Er konnte sich sehr wohl selbst rasieren, die Zähne putzen und die fedrigen, schwarzen Locken trocknen, ohne dafür die Steckdose zu bemühen! Das war ja noch nicht alles, oh nein! Isidor von Spangenburg hielt einen Moment inne, bemerkte, da er außer sich vor Wut auf Autopilot marschiert war, dass er beinahe sein trautes Heim in einem Mehrparteienwohnblock erreicht hatte. Auf der anderen Seite, in den erbärmlich heruntergekommenen Holzlanghäusern regte sich nichts. Im Wind wehte, mal wieder, ein löchriger Pelz zum Trocknen. Offenkundig pullerte der altersschwache Fenris wieder im Haus, anstatt sich auf den verwahrlosten Vorgarten zu schleppen. Isidor von Spangenburg stellte seine Ledertasche neben sich auf dem Trottoir ab und ballte seine Rechte zur Faust, bevor er die einzelnen Finger wieder entspannte und bewegte. Der traurige Zustand der Asen bekümmerte ihn nicht weiter, da sie sich das selbst zuzuschreiben hatten, miesepetrige, antriebsschwache Ausbünde an Langeweile! Er presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und nahm seine Ledertasche wieder auf. Konzentration, und zwar auf die eigene prekäre Lage! Jahrhunderte treu sorgender, aufopferungsvoller Dienstleistung, und was war die Belohnung?! URLAUB!! Der Präsident, dieser WERTE Kollege, hatte sich tatsächlich nicht entblödet, ihm URLAUB zu verordnen!! Und zwar nicht etwa einen lächerlichen Erholungsurlaub, oh nein, schlimmer noch, mit dämlichem Grinsen und so unerträglich Stolz auf die absurde Idee, ein Arbeitsurlaub! Weil er seinen "guten Spangenburg" gleich auch noch zum "Head of future improvement", dem "Teamleader der Makeover"-Aktion, dem "Chief of Alertness" befördert hatte! UN-ER-TRÄG-LICH!! Die Beleidigung ließ sich kaum in Worte fassen. Wie KONNTE dieser ignorante Pachyderme auf seine wiederholte Warnung, die genetisch verankerte Idiotie der Menschen springe auch auf die Daimonen-Bevölkerung über, SO beantworten?! Mit einem nutzlosen Titel-Popanz, den man sich lieber gar nicht erst von Sprachkundigen übersetzen ließ! Überflüssiger, ja, sogar abschätziger Laber-Jargon von Consulting-Gurus! Isidor von Spangenburg fauchte vernehmlich. DREI Eingaben hatte er schon verfasst, Vertretende dieses besonderen Schlags als erste Kategorie Versuchskaninchen einzustufen! Doch unerklärlicher Weise zögerte die Administration, was ihn wurmte. Andererseits war dies nur ein weiterer Beleg für die schleichende Verblödung! Jetzt ordnete man solche Figuren als "eigentlich recht harmlos" ein!! "HA!" Fauchte Isidor von Spangenburg, während er aufrecht und gerade wie ein Zollstock den äußeren, offenen Treppenturm zu seinem Appartement emporstieg. Jeder TROTTEL konnte die Zeichen der Zeit erkennen: die Menschheit DETONIERTEN förmlich, übervölkerte den gesamten Planeten wie niemals zuvor! Wenn der Anteil von intelligenten Zeitgenossen, von Universalgenies ohnehin sehr gering war, auf ein Mindestmaß beschränkt, um die unbeweisbare Theorie der Evolution im Mindesten zu unterstützen, wie sollte es dann JETZT aussehen?! Dieselbe Anzahl Genies gegen UNMENGEN von Vollidioten?! Janus, der zwiespältige Schwätzer drei Blocks weiter bei den Römern behauptete zwar als unheilbarer "Humanist", dass sich nun die Genialität eben aufspalte und auf verschiedene Menschen verteile, was bei plötzlichem Tod nicht zu einem Totalverlust führe und "irgendwie eine total innovative Aktion" sei, doch für Isidor von Spangenburg war diese Erklärung schlicht und einfach Humbug. Das einzige, das seiner Auffassung nach trotz der Bevölkerungsexplosion der Menschen für Zuversicht sorgte, war die Tatsache, dass es ein genetisch unauflösbar verankertes Idioten-Gen im Stammsatz gab. Dieses Idioten-Gen verleitete zur Zerstreuung, zum vorzeitigen Roten Knopf-drücken, zur Inkonsequenz und zu blinden Flecken in der Selbstwahrnehmung. Bisher wenigstens war es der Menschheit noch nicht gelungen, sich versehentlich selbst auszurotten, was Isidor von Spangenburg nicht mal so sehr besorgte (er vertraute ja auf das Idioten-Gen). Vielmehr war es der wachsende, kaum noch einzudämmende Einfluss der menschlichen Gesellschaft! Radio war ja noch erträglich gewesen, aber mit rasanter Geschwindigkeit folgten die Glotze, dann tragbare Musikabspielgeräte, Aufzeichnungsmedien und schließlich das Internet mit all dem Firlefanz! Ehe man es sich versah, wurde herumgechattet (Isidor von Spangenburg kamen dazu spontan die Angehörigen eines längst untergegangenen Volksstammes aus später deutschen Landen in den Sinn). Man zwitscherte banale Belanglosigkeiten (übrigens keine neue Erfindung, nur kosteten Telegramme zu Zeiten ihrer Einführung ein Erhebliches mehr) und bloggte noch mehr inhaltlichen Dünnpfiff, wenn man nicht gerade lächerliche Videos konsumierte, die in Sekundenbruchteilen ganze Gehirnareale veröden ließen. Dann saß eine derart fremd-verblödete Horde vor ihm, kopierte die aktuelle Mode der Menschenwelt inklusive der schlechten Körperhaltung, so, als gäbe es gar keine Wirbelsäule, stierte ihn wie einen Unterhaltungs-Clown an und brabbelte bräsig von den ach so tollen Karriereaussichten in der anderen Dimension! Hier war, mit Verlaub, eine verdammte Notbremse dringend angesagt! Die Belohnung seines unermüdlichen, tollkühnen Kampfes gegen die überschwappende Gehirnerweichung humaner Prägung präsentierte sich für ihn nun als URLAUB! "Noch nie!" Isidor von Spangenburg hielt energisch auf seine Appartementtür zu. "Noch nie habe ich Urlaub absolviert!" Eine unerträgliche Beleidigung und gleichzeitig auch noch eine dieser typischen Idioten-Gen-Einfälle der Menschen! Er schloss die Tür auf, betrat sein Appartement und ließ die Tür sehr beherrscht sanft einrasten. Einem Mann wie ihm war Urlaub, ganz gleich ob Erholung oder Arbeit, ein fremdes, sogar suspektes Vorhaben. Unerfreulicher Weise saß der Präsident am längeren Hebel. Momentan zumindest. "Ha!" Zischte Isidor von Spangenburg gallig. "Mal sehen, was der werte Kollege sagt, wenn er die Vertretung für diese Horde Amöben-Ausschuss organisieren muss!" Dann, noch immer ärgerlich, aber als ein sehr nüchterner und pragmatischer Mann, entließ er einen gedämpften Seufzer, begab sich daran, seinen ersten und hoffentlich auch letzten Urlaub in Angriff zu nehmen. ~+~ Chronos, einer von den alten Griechen und ein ausgesprochen korrekter, langmütiger Nachbar, mit dem sich Isidor von Spangenburg häufig im Waschkeller unterhielt, hatte nichts dagegen, die spärliche Post für den Nachbarn aufzubewahren. Ja, er erlaubte sich sogar den tröstenden Hinweis, dass, auch wenn die Asen aktuell einen geradezu erbärmlichen Auftritt hinlegten, eine neue Eiszeit durchaus bevorstehe. Damals habe es ja beinahe das Projekt "Menschheit" für immer schockgefrostet. "Betonung auf beinahe!" Grummelte Isidor von Spangenburg weniger optimistisch. "Nicht mal Meteoriteneinschläge oder Vulkanausbrüche haben ernsthaft gebremst, von den sporadisch grassierenden Seuchen ganz zu schweigen." Nicht, dass er per se für eine Ausrottung votiert hätte, bloß eine kleinere Anzahl und keine Ansteckung von Daimonen mit dem menschlichen Idioten-Gen! ~+~ Man konnte nicht behaupten, dass Isidor von Spangenburg sich jemals auf die unwahrscheinliche Ahnung einer Möglichkeit vorbereitet hatte, länger als zu Zwecken der Belehrung auf Exkursionen Zeit in der Menschenwelt zu verbringen. Dennoch verfügte er über ein angemessenes Reiseutensil, wenngleich auch aus anderen Gründen. So sah er sich nicht etwa gezwungen, seine Garderobe aus einem Schrank in Koffer oder diese eiernden, Hacken beißenden Rolldinger mit wackligem Teleskopgriff zu stopfen, sondern konnte, nach einem Abgleich der vorhandenen frischen Kleidung mit der noch zu reinigenden in einer alten Betttruhe, den Schrankkoffer befriedigt schließen. Wobei es eine grimmige, gar nicht heitere Befriedigung war. Er sammelte die Wäsche aus der Truhe in einem zweckentsprechenden Jutesack, kontrollierte, ob wie stets Geldbörse, Notizbuch und Bleistift vorhanden waren, bevor er sich zur nahegelegenen Wäscherei aufmachte. Dort konnte man sowohl zwecks Spezialreinigung seine Bekleidung abliefern wie auch selbst die Automatenriege in Schwung bringen. Isidor von Spangenburg leistete sich beides: Leibwäsche und Bettzeug in die Maschine, Anzüge und anderes Material, das das Gehopse in den Metalltrommeln nicht so gut vertrug, zur Rezeption. Er sah sich um, doch dieses Mal war Chronos nicht zeitgleich eingetroffen. Nun, das war auch kein Beinbruch, denn Isidor von Spangenburg hatte andere Arrangements zu treffen, bevor er sich Augenblicke der Muße in einem angenehmen Gespräch leisten konnte. Er hielt auf den öffentlichen Fernsprecher zu, ein altmodisches, schwarzes Groschengrab, fütterte die erste Einheit und erreichte, wie immer, die Auskunft. Wenn man es nicht gewöhnt war, schockierte das kakophone Begrüßungsgebrabbel in simultan unzähligen Sprachen, Dialekten und Ausdrucksformen die ahnungslos Anrufenden, doch Isidor von Spangenburg hatte sich auch mit diesem "Fortschritt" der "serviceorientierten, pluralistischen und dynamisch-optimistischen Daimonenwelt!" abgefunden. Auch wenn er die PR (es heißt ÖFFENTLICHKEITSARBEIT!)-Verantwortlichen für diesen überflüssigen Werbefeldzug (es gab keine Konkurrenz) gern höchstpersönlich gevierteilt hätte. "Atlas-Transportunternehmen." Nannte er laut und deutlich der einsetzenden Stille am anderen Ende der Leitung. Wenn sich keine polyphone Geräuschattacke entlud, konnte man zumindest die Hoffnung auf Aufnahmebereitschaft wagen. Statt der unerträglichen Babel-Kopie im Gehörgang wurden ihm nun die letzten Gehirnzellen durch einen "fröhlich-heiteren Jingle" zerfetzt. Wenn sie nicht in Selbstschutz spontan einen Tinnitus entwickelt hätten. "Jingle!" Zischte Isidor von Spangenburg und klopfte ungeduldig mit dem Gehstock auf den Boden. "Meine Fresse! Eine fürchterliche Erkennungsmelodie von einem amusikalischen Gehirneunuchen auf einer Harmonika geklimpert!" Fröhlich-heiter stimmte da lediglich die Aussicht auf sofort einsetzenden, irreversiblen Wahnsinn oder auf einen schnellen Tod. Das enervierende Gedudel setzte aus, dann hörte er eine erstaunlich helle Männerstimme. "Atlas-Transportunternehmen! Was kann ich für dich tun, Chef?" »Himmel hilf!« Seufzte Isidor von Spangenburg, obwohl er sich seit Jahrhunderten hartnäckig weigerte, an Göttlichkeiten oder anderes himmlisches Gekreuch zu glauben. Selbst hier hatte also das Idioten-Gen zugeschlagen! "Zum Gruß." Antwortete er höflich. "Mein Name ist Isidor von Spangenburg. Ich habe einen Transport in zwei Tagen zum Portal am Anger zu vergeben." "Aha! Gute Wahl, Chef!" Trillerte der Mann am Ende. "Wir packen's, Nullo Problemo! Gib mir deine Adresse, Chef, dann sind wir pünktlich da!" Souverän ignorierte Isidor von Spangenburg den Spott- und Lästerdämon in seinem Hinterkopf, schloss die Geschäftsverhandlungen rasch ab. »Vielleicht sollte ich die Gelegenheit für drastischere Maßnahmen nutzen?« Dachte er, während die chinesischen Drachen hinter der Theke die an langen, gewundenen Stangen wandernden Kleidungsstücke mit ihren kräftigen Schwänzen bearbeiteten, anniesten und mit schwefligem Mundgeruch dampfreinigten. Für heroisches Tun hatte er zwar überhaupt nichts übrig, andererseits konnte IHM doch nun wirklich nichts Schlimmes passieren! ~+~ Isidor von Spangenburg war einst ein Krieger gewesen. Seinerzeit handelte es sich jedoch nicht um eine Profession (man kannte diesen Ausdruck gar nicht), sondern um eine Tätigkeitsbeschreibung. Tatsächlich lebte und arbeitete er auf dem Besitz derer von Spangenburg, nicht als Leibeigener, nicht als beliehener Bauer, nicht als unfreier oder freier Handwerker. Auch war er mangels kirchlicher Protektion kein Schreiber oder Illustrator, weder Laienbruder, noch an höheren Weihen interessiert. Als Enkel des berühmt-berüchtigten, überaus listigen Rudger von Spangenburg konnte man nur Krieger sein. Oder tot. Dessen ungeachtet verbrachte Isidor von Spangenburg, mit 14 Jahren längst ein Mann, weniger Zeit damit, die ein wenig scharrtige, schlecht ausbalancierte Klinge zu schwingen und auf irgendwelche Strohballen einzustechen, sondern verwaltete das Gut. Das lag unzweifelhaft daran, dass Rudger von Spangenburg, um seinen kleinen Familienbesitz zu erhalten, sich mit zahlreichen adeligen Nachbarn in einem komplizierten Bündnisverhältnis bewegte. Was den regelmäßig ausbrechenden Fehden erst die richtige Würze gab. Dann musste eben, so es kommod war, sich zu engagieren (und man nicht aus einem gegebenen Versprechen ausbiegen konnte), der gesamte kampfmündige (wenn auch häufig nicht kampffähige) männliche Haushalt ausziehen, um sich Scharmützel zu liefern. Die Hausmeier erwiesen sich dabei unisono als wenig geschickt, samt und sonders ohne Fortune, mit der Folge, dass die vakante Position stets neu zu besetzen war. Jemand musste sich um all den alltäglichen Kleinkram eines Gutes kümmern, Entscheidungen treffen, Pacht und Ernten überwachen, kleinere Streitigkeit schlichten, Tauschhandel betreiben, Vorräte bewirtschaften und das Gesinde betreuen. Dass die Wahl (oder vielmehr die Notwendigkeit) auf Isidor fiel, nahm nicht Wunder. Rudger von Spangenburg, hochgewachsen, das blonde Haar und der stolze Bart nur mit wenigen grauen Fäden durchzogen, ein wackerer Kämpe mit den eisigsten Blauaugen, die man jemals erblickt hatte, einer Hakennase über dem familientypischen energischen Kinn mit Kerbe, produzierte unerschrocken und gleichmütig eine große Nachkommenschaft. Was nicht im Kindbett gleich dahinschied, sondern nach den Milchzähnen noch lebte und männlichen Geschlechts war, wurde seiner Kämpferschar zugeordnet, ganz gleich ob Sohn oder Enkel. Man brauchte Männer, denn die ewigen Händeleien verschlissen sie im Handumdrehen. Wer sich nicht gut zur Wehr setzen konnte, im falschen Moment einfach kein Glück hatte oder bloß dazwischen geriet, landete gelegentlich auf dem Gottesacker des Gutes. Die anderen wurden verscharrt, wo sie gefallen waren, sofern sich dazu Zeit und Gelegenheit fanden. Der Tod war alltäglich und eine ganz normale Folge der herrschenden Umstände. Isidor von Spangenburg jedoch war, was seinen Großvater betraf, etwas Besonderes. Nicht etwa, weil er der einzige bekannte Sohn seines ältesten Sohnes war oder zur Mutter eine verschleppte Sklavin eines Engagements unter dem König hatte, was sich nicht, wie erhofft, finanziell rentiert hatte. »Heiliger Boden!« Das dachte Rudger von Spangenburg hämisch. »Der ist nämlich immer MEIN Grund und Boden!« Der wurde verteidigt, ganz gleich, ob der Kopf einen Turban, einen Helm oder eine Kappe trug! Man zog in diese Engagements, weil man es musste (sonst verlor man SEINEN Besitz oder das Lehen) und weil es sich lohnen sollte. Hier und da plündern und rauben, das gehörte schließlich dazu! Könige zahlten nicht, das wussten alle. Sein ältester Sohn kehrte also zurück, bedenkenlos ausgeliehen vom Vater, der eine Menge weiterer Söhne in petto hatte, mit Sklavin (was niemanden kümmerte), mit einer weichen Birne (der Helm versagte tragisch), diversen Geschlechtskrankheiten und der Malaria. Noch bevor dessen Sohn das erste Wort sprechen konnte, versenkte man den ausgemergelten Leichnam auf dem Gottesacker, schichtete ein paar Steine darüber und fuhr mit dem Alltag fort. Zunächst kümmerte sich niemand um den Jungen, er wuchs wie alle anderen als ein Mitglied des Rudels der zum Gut gehörigen Gören auf. Deren Zahl lichtete sich ohnehin immer wieder, nur die Robusten kamen durch. Isidor jedoch war anders. Das lag nicht nur an seiner äußeren Erscheinung. Ein italienischer Ministerpräsident hätte ihn wohl ob seiner "Bräune" beglückwünscht, die sogar ganzkörperlich vorhanden war und keinerlei Auffrischung bedurfte. Um seinen Kopf wolkten federleicht und doch sehr dicht schwarze, elastische Locken. Die familientypischen eisigen Blauaugen waren dicht bewimpert, blickten unter abgezirkelten Augenbrauen kritisch in die Welt. Rudger von Spangenburg registrierte diesen Enkel erstmals, als ihm bewusst wurde, dass er ihn noch nie verprügelt hatte. Allen anderen Gören musste er häufig das Fell gerben, um ihnen die wichtigsten Lektionen einzubläuen, doch dieser "Mohrenkopf" war eindeutig zu clever, um sich bei Missetaten erwischen zu lassen. Dass ein Kind sich etwa gar keine Verfehlung zuschulden kommen ließ, konnte Rudger von Spangenburg sich schlichtweg nicht vorstellen. Damit lag er auch gar nicht falsch, denn Isidor von Spangenburg war keineswegs ein harmloses Schäfchen. In einem Rudel recht verwildert aufwachsender Jungen musste man sich durchsetzen können. Vielleicht war er körperlich nicht der stärkste oder größte, aber sein Verstand war den anderen Jungen weit voraus. Er konnte sich hervorragend konzentrieren, begriff Zusammenhänge, hatte keine Mühe, sich anhand der zerfledderten Bibel, die als Beute im Gut hängen geblieben war, die römischen Schriftzeichen des Alphabets einzuprägen. Stillschweigend landeten auf diese Weise auch die immer wieder verwaisten Hausmeier-Angelegenheiten bei ihm. Was Isidor gar nicht übelnahm, denn das untaugliche Schwert seines Vaters flößte ihm kein sonderliches Vertrauen in die Zukunft ein. Diesbezüglich sollte er sich jedoch durchaus spektakulär und profund irren. ~+~ Da Isidor von Spangenburg Unpünktlichkeit ohne zwingende Umstände nicht goutierte, wartete er bereits vor seinem Appartement auf das Eintreffen der Atlas-Transporteure. Tatsächlich näherte sich flotten Schritts ein bärtiger Riese in einer knappen Toga, die Beine mit Gamaschen umwickelt, die Füße in robusten Ledersandalen mit heimtückischen Nägeln in der Sohle. "Holla, Chef?" Trillerte der nach oben. Isidor von Spangenburg hob in abgezirkelter Gelassenheit die Rechte zum Gruß. Unten hielt der Riese sein Gefährt, einen offenen Planwagen, an, streifte sich das Zuggeschirr vom Oberkörper und klappte die Deichsel hoch. Kaum zu glauben, dass diesem Koloss eine derart, nun, falsettartige Stimme gehörte! Resonanzraum war jedenfalls ausreichend vorhanden. "Hallo Chef!" Mühelos war der Riese auf das Treppenhaus verträgliche Maß eingeschrumpft und elastisch nach oben geklettert. "Ah!" Strahlte er, als Isidor ihm höflich zunickte und mit der Rechten elegant auf seinen Schrankkoffer wies. "Das ist aber ein Schmuckstück!" Neugierig bestaunte er, und kein Zweifel, es MUSSTE Atlas persönlich sein!, die herausragende Verarbeitung und die zahlreichen, schmückenden Details. "So ein Kästchen habe ich ja noch nie gesehen!" Bekundete er begeistert. "Sicher eine Rarität?" "In der Tat." Nickte Isidor von Spangenburg, registrierte erleichtert, dass Atlas sich mühelos trotz des erheblichen Gewichts mit seinem Schrankkoffer über das Treppenhaus wieder auf den Boden zurück begab. Tatsächlich sollte es fast unmöglich sein, ein weiteres Exemplar seines hochgeschätzten Bekleidungstempels zu finden, denn es handelte sich um eine ganz besondere Edition, limitiert und nur zu einem einzigen Ereignis geschaffen. Isidor von Spangenburg hatte sich durch einen Zufall diesen Kleiderkoffer reserviert und ihn erfreut in Empfang genommen. Den übrigen Exemplaren war ein weniger erfreuliches Schicksal zuteil geworden, da der Anlass ihrer Kreation auf Jungfernfahrt gen Amerika beim Wettstreit mit einem sehr hartnäckigen Eisberg den Kürzeren gezogen hatte. Atlas verstaute den Schrankkoffer umsichtig auf der Ladefläche des Planwagens, dann klappte er ein kleines Leiterchen aus, damit sich Isidor von Spangenburg auf der mit einer ledernen Auflage versehenen Holzbank platzieren konnte. Er nahm das Geschirr auf und operierte mit der Deichsel, um den Wagen äußerst geschickt zu manövrieren. "Chef, du willst doch aber nicht für immer rübermachen, oder?" Unterhielt er seinen Fahrgast, während es mit zügigen Schritten entlang der Straße zum Anger ging. "Oh nein!" Antwortete Isidor mit ein wenig zu vehementen Nachdruck. Er umklammerte seinen Gehstock fest und sammelte sich. "Nur ein vorübergehender Aufenthalt." "Also, ich könnte das nicht!" Versicherte ihm Atlas mit seiner trillernden Stimme. "Nein, heute da rübermachen?! Auf keinen Fall!" Isidor schwieg, um keine weiteren Auslassungen zum Thema anzustacheln, doch Atlas schien entschlossen, anstelle eines Unterhaltungsprogramms auf den Frisiersalon-Beschallungsmodus umzuschalten. "Damals, als sie uns raus komplimentiert hatten, da gefiel's mir hier ja nicht so, doch das hat sich geändert, weil ich mich geändert habe!" Damit meinte er das Ende des griechischen Olymp nach der erfolgreichen Räumungsklage. Mitleidlos ließ Isidor die Augenblicke verstreichen, in denen wohltätige, wenn auch geplagte Zeitgenossen den Beförderer zum Fortfahren dieser hochinteressanten, persönlichen Reminiszenzen aufgefordert hätte. Was Atlas, auf Radio-Autopilot, nicht inkommodierte. "Die haben mir damals glatt gesagt, ich könnte mich jetzt mal so richtig ausruhen! Nichts tun! URLAUB machen!" Atlas schnaubte, und dieses Mal hatte er Isidors Solidarität für sich gewonnen. "Unverschämtheit! Gedankenlos!" Urteilte Isidor feurig. "Genau, Chef! Ganz genau!" Atlas bog elegant in eine Kurve, der schwere Wagen schlingerte nicht mal, während er weiterhin so leicht trabte, als bewege er sich ohne Zuglast auf Wolken. "Da wird man doch verrückt dabei! Nix tun, wie soll das denn gehen?!" Er trötete einen Katzendaimon von der Straße, der sich angesichts seiner Masse lieber nicht auf die übrigen Leben oder Zauberkraft verlassen wollte. "Ich habe mich richtig nutzlos gefühlt." Setzte Atlas seine Erinnerungen fort. "Bin schließlich ziellos überall herumgelaufen und habe nur zum Spaß Sachen angehoben." Er trötete erneut, jedoch zur Unterstreichung des besonderen Augenblicks, nicht etwa aufgrund eines weiteren, suizidalen Hindernisses. "DA kam mir der Gedanke: warum nicht was Neues machen?!" Er grinste über die Schulter zu Isidor, der höfliche Aufmerksamkeit ausstrahlte. "Jetzt sieh mich an, Chef! Ich bin selbständiger Unternehmer, ich arbeite, wie ich will und so oft, wie ich will! Ich bin Chef UND niemand kann mir sagen, ich sollte mal Urlaub machen!" "Sie Glücklicher!" Schnaubte Isidor von Spangenburg, ein wenig neidisch. Die Welt war eben ungerecht, ganz egal, in welcher Dimension man hauste! ~+~ Rudger von Spangenburg befand sich, mal wieder, in einer äußerst unangenehmen Lage, um nicht zu sagen aussichtslos. Glücklicherweise dunkelte es vor den Mauern bereits, sodass zumindest für den Moment keine weiteren Attacken zu befürchten standen. Allerdings waren die Vorburg, die untere Burg sowie die Wirtschaftsgebäude verloren. Der Bergfried, vom Feuer verwüstet, fiel langsam, unter Aufwirbelung schmutziger Staubwolken, in sich zusammen. Mit anderen Worten: sie waren gefangen im befestigten Palas, umzingelt und zahlenmäßig unterlegen. Was sich hierher gerettet hatte, war rußverschmiert, dreckig, durstig, stank und kämpfte gegen die niederschmetternde Verzweiflung an. Andere röchelten bloß noch unbeachtet vor sich hin, bis eine finale Stille eintrat. Der Umstand dieses letal bedrohlichen Erlebnisses verdankte sich einer wüsten Drohung des aktuellen Fürsten, das Gut der von Spangenburgs auf seinem Zug einzunorden, wenn diese nicht ihrem Wort gemäß jeden kampffähigen Mann schickten! Selbst Rudger von Spangenburg sah keine Möglichkeit, sich aus dieser Forderung auszuklammern. Nun fand er sich hier, neben dem vermutlich bald ehemaligen Fürsten. Die Schar seiner eigenen Männer hatte sich, wie nicht anders zu erwarten, erheblich reduziert, und ER sollte sich, wie der hitzköpfige Trottel von Fürst verlangte, einen Ausweg einfallen lassen. Verhandlungen oder gar Lösegeldzahlungen schieden aus, dazu hatte man ihre Gegner zu sehr in Harnisch gebracht und sich allerlei andere Missetaten zuschulden kommen lassen, die sich nun rächten. Blieb noch die Flucht. Bloß wie? So sehr er auch wie alle anderen jeden Winkel untersucht hatte: es fand sich keine Ausfallpforte, kein geheimer Schleichgang, kein Nichts. Sollten sie hier also einen blutigen, sinnlosen und schmerzhaften Tod sterben? Rudger von Spangenburg erwog ALLE Möglichkeiten. Es gab da noch eine sehr traditionelle Option. ~+~ Der Anger war rasch erreicht, Atlas positionierte den Schrankkoffer ordentlich auf das markierte Feld und erhielt seinen Obolus, dann machte er sich leichtfüßig davon. Die Daimonen, die hier eher gelangweilt und nachlässig ihren Dienst versahen, kannten Isidor von Spangenburg bereits, allerdings nicht mit einem so gewaltigen Utensil. "Wollen Sie etwa fliehen?" Grinste ihn einer der Wachen an, klopfte mit den Klauen auf den Schrankkoffer. "Vorsicht!" Zischte Isidor von Spangenburg sinister. Die Andeutung genügte, die Wache von seinem Koffer zu vertreiben, auch wenn dieser trotz seiner Exklusivität nicht über magische Selbstschutzeinrichtungen verfügte. "Na ja, schön, dann brauche ich den Ort und die Zeit!" Näselte die Wache eingeschnappt und widmete dem vermeintlich gemeingefährlichen Reiseaccessoire keinen Blick aus den scheelen Augen mehr. Isidor von Spangenburg diktierte die Adresse des Hotels, in dem er sich ein Zimmer reserviert und schon bezahlt hatte. Die Wache kalibrierte rasch die genauen Koordinaten in Raum und Zeit, wedelte dann nachlässig mit der freien Klaue. Isidor von Spangenburg hob den Gehstock, tippte mit einer leichten Verbeugung in Stirnhöhe grüßend an die Wachen und trat neben seinen Schrankkoffer in die Schleuse. Zeit, Urlaub zu überstehen! ~+~ Der einzige Ort, ein wenig ungestört zu sein, ohne gleichzeitig die Haut zu riskieren, war der Aborterker. Es stank erbärmlich, und weder Rudger von Spangenburg noch sein Enkel Isidor wollten ergründen, auf was genau sie da standen. Rudger hielt nichts davon, sich mit großen Worten auszutauschen. Er wollte auch keine Meinungen hören, das führte bloß zur Verwirrung. Er packte das linke Handgelenk seines Enkels, der, wenn man es recht betrachtete, wohl das beste Verhandlungspfand war, brabbelte ein paar Worte in der alten Sprache seiner Vorfahren. An sich gesehen hätte er auch ein schweinisches Sauflied rezitieren können, das spielte keine Rolle. Seine Absicht zählte, und die war eindeutig. Vor ihm materialisierte sich zwischen den Luftlöchern des Aborts aus der Wand ein freundlich-aufgeschlossenes Gesicht. "Meine Herren, was für ein wunderschöner Abend!" Spulte das Spukgesicht ab. "Ja, da sag ich doch Gott zum Gruße!" "So weit sind wir noch nicht!" Bellte Rudger von Spangenburg galgenhumorig zurück. "Kommen wir gleich zum Geschäft." "Ah!" Geisterhafte Hände rieben sich aneinander. "Das höre ich gern! Ein Mann der Tat! Womit kann ich den werten Herren denn dienlich sein?" Rudger von Spangenburg unterdrückte den lebhaften Reiz, diesen dusseligen Lakaien zu fragen, was er wohl glaube, warum sie hier knöchelhoch in der Scheiße standen?! "Heil runter aus diesem Gemäuer und sicher vom Berg!" Forderte er stattdessen und riss seinen Enkel am Handgelenk vor. "Der hier ist der Preis." "Aha!" Das Spukgesicht wich aus der Wand, tanzte um Isidor von Spangenburg herum, den es nicht grauste, weil der Gestank ihm bereits die Haare ganzkörperlich aufstellte. "Fein, ein gutes Geschäft!" Strahlte die Daimonenfratze, spuckte auf eine armlose Hand und streckte sie dem Recken hin. Der tat dasselbe, drückte die erstaunlich reale Hand entschieden. "Er hat noch alle Zähne und pisst sich nicht ein." Erwähnte er, um zu belegen, dass der Pakt sich für beide Seiten vorteilhaft auswirkte. "Aber ganz allerliebst!" Trällerte der Daimon, schlang rankenartige Tentakel um Isidor, der sich mit wachsender Verzweiflung zu befreien suchte, doch die engen Wände des Aborts schienen sich weit von ihm entfernt zu haben. Von seinem Großvater war keineswegs Hilfe zu erwarten: jeder war sich selbst der nächste. "Nicht doch, mein Bester!" Der Daimon nahm Isidor an der Hand, den plötzlich alle Kräfte verließen. "Isidor von Spangenburg ist der Name, richtig?" Beeindruckende Fänge präsentierten sich hinter dem schleimig-schmeichlerischen Mund. "Herzlich willkommen in unserem kleinen Team! Mein Name ist Ratzfatz, und ich bin für die externe Personalwerbung zuständig! Du wirst dich in Nullkommanichts wie zu Hause fühlen!" Isidor verstand nicht, blinzelte überrumpelt. Selbst für einen 14-jährigen Veteranen diverser Metzeleien war das ein wenig zu viel des Guten. Ratzfatz schien ebenfalls diesen Eindruck zu gewinnen, denn er korrigierte sich. "Ach, Laberquark, ich meine selbstredend, dass Ihr, mein Herr, mit Verlaub, ohne Aufschub Eure neue Heimat schätzen werdet." Zu sich selbst ergänzte er. "Diese dämlichen Zeitsprünge! Wann wurde gleich noch mal die Null erfunden?!" Dabei kramte er nach einem Notizbuch, das ihm per Krallenauflage die Antwort gleich vorlas. "Was geht hier vor?" Piepste Isidor von Spangenburg benommen. "Nur keine Sorge!" Ratzfatz verstaute sein nützliches Buch irgendwo unsichtbar an seiner Person, legte wohlwollend-vertraulich den Arm um Isidors Schultern. "Es ist wirklich ein großer Karriereschub, Karma-technisch! Wirst schon sehen!" Isidor begriff nicht. Die Worte vernahm er wohl, doch sie ergaben für ihn keinen Sinn. "Oh, und DAS wird dir bestimmt gefallen!" Lachte Ratzfatz aufgekratzt, als er sich daran begab, seinen Part des Pakts zu erfüllen. Selbstverständlich brachte er alle Männer aus dem Palas und an den Fuß des Berges, mit einem Fingerschnippen. Allerdings hatte Rudger von Spangenburg, der sogleich Verblichene, vergessen zu spezifizieren, dass sie weder eine Gerölllawine treffen sollte, noch dass mit "runter vom Berg" nicht der reißende Fluss gemeint war, der hier seine wilden Kapriolen schlug. ~+~ Kapitel 2 - Tödliche Langeweile Immer, wenn Isidor von Spangenburg dem "Headhunter (haha, den Rest nehmen wir aber auch, ist sonst so ne Sauerei!)" Ratzfatz begegnete, strahlte der ihn an, klopfte ihm unverdrossen auf die Schulter und trompetete. "Na, das war ne Gaudi, richtig? Was haben wir gelacht!!" Isidor von Spangenburg konnte sich nicht erinnern, besonders ausgelassen gewesen zu sein, was mutmaßlich an den Umständen des Eintritts in sein "neues Leben" lag. Ratzfatz hatte es nicht versäumt, Isidor von Spangenburg sogleich von der Schleuse her zu einem Spezialisten zu leiten. Pylorus schmiss den Laden nur vertretungsweise, was die nachfolgenden Komplikationen erklärte. "Ah, Ratzfatz!" Er rollte seine Massen heran. "Du bringst den neuen Instrukteur! Hervorragend!" Isidor von Spangenburg zeigte jedoch eindeutig Anzeichen eines in Kürze eintretenden Todes. "Upps, mein Fehler!" Bekannte Pylorus, winkte seiner handlangernden Schar, die herbei wanzte und mit viel Elan an ihr Werk ging. ~+~ Isidor von Spangenburg, einst Krieger, nun seit Jahrhunderten Instrukteur, trat, seinen Missmut unterdrückend, entschlossen vor den elegant gestalteten Empfang. Er nannte seinen Namen und die Reservierung. Hinter ihm kämpften drei Hotelburschen mit seinem Schrankkoffer. Ihn auf das niedliche Wägelchen zu stemmen, mit dem üblicherweise das noble Gepäck umgeschlagen wurde, schied wohl aus. Einen strengen Blick auf seine Mannschaft werfend begleitete der Empfangschef Isidor höflich zum Aufzug, drückte die richtige Etage und versicherte, nach einer weiteren respektvollen Verbeugung, man werde in Kürze auch sein Gepäck abliefern. Isidor kramte nach seinen Bargeldreserven, während leichte Pianomusik das leise Geräusch des Aufzugs überspielte. Ihm war durchaus bewusst, dass man in Japan üblicherweise kein Trinkgeld reichte, doch seiner Auffassung nach zahlte es sich aus, wenn man sich mit dem Personal gut stellte. Das bedeutete auch, dass er sich einen Vorwand ausdenken musste, damit Neugierige seinen Schrankkoffer geöffnet erspähen konnten, um Gerüchten die Basis zu nehmen, er transportiere Illegales oder eine Leiche. "Verdammte Zumutung!" Schimpfte er leise vor sich hin. Urlaub, HA! ~+~ Das Erwachen als Instrukteur in spe zeichnete sich durch eine betäubende Ungläubigkeit und einen aufflammenden Zorn aus. Isidor von Spangenburg fand sich blinzelnd nicht nur in einem unnatürlich weißen Raum, auf etwas Elastischem, das ihm keine Halme in den Rücken stach oder von Wanzen bewacht wurde. Außerdem schmerzte sein linkes Bein auf eine enervierende, da pochende Weise. Er konnte es auch nicht anheben. Pylorus wieselte vom Nirgendwo heran, den dümmlich-optimistischen Ausdruck eines Wesens auf den feisten Wangen, das ohne jeden Zweifel einige Katastrophen zu verantworten hat, aber felsenfest davon überzeugt ist, dass sich das schon irgendwie ausschwitzt. "Ah, wieder wach?!" Dröhnte er fröhlich und prügelte mit der Rechten höchst unbedacht auf Isidors lädiertes Bein. Der zischte vor Schmerz und fauchte einige Worte, die sein Großvater vor dem finalen Tauchgang mit einer leidenschaftlichen Tracht Prügel quittiert hätte. "Oh, na, das ist natürlich ein bisschen unangenehm." Pylorus strahlte noch mehr Watt. "Aber deshalb benötigen wir ja dringend Instrukteure! Sieh mal, ohne Spezialisierte unterläuft uns hier und da ein Malheur." Knittrige, runzlige, breite, ledrige Daimonenfratzen tanzten um Isidor herum. Er erinnerte sich an den Pulk, der ihm angeblich helfen sollte. "Distanz!" Brüllte er, denn ein Mann wollte ganz sicher nicht von so einem Haufen Figuren belagert werden. Außerdem musste er mal dringend austreten. So weit wie möglich und ohne sich umzublicken! Als Isidor sich aufzusetzen versuchte (den Schmerz in seinem linken Bein verbiss er), registrierte er etwas, das schon eine ganze Weile in seinem Hinterkopf kreischend um Aufmerksamkeit gebuhlt hatte. "Aber, was ist mit mir passiert?!" Ächzte er fassungslos. "Ah ja!" Pylorus kratzte sich ungeniert an einem massiven Rettungsring. "Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Wir hatten da gewissermaßen einen kleinen Lapsus." Weshalb Isidor von Spangenburg nicht nur die Gesundheit eines Beins eingebüßt hatte, sondern auf einen Schlag doppelt so alt war. ~+~ Isidor von Spangenburg versagte es sich, müßig aus dem Fenster in die Tiefe zu starren. Dort wimmelte es von Menschen, selbstverständlich. "Der überlaufendste Ort der Erde!" Grummelte er. Dabei befand er sich nicht mal direkt in Tokio, sondern außerhalb in Saitama, jedoch lediglich eine Viertelstunde mit dem Schnellzug entfernt. Wie sollte er sich hier bloß seine Zeit vertreiben?! Er erinnerte sich mit säuerlicher Miene an das Päckchen, das ihm zugestellt worden war, ein Geschenk für den Arbeitsurlaub, vom Präsidenten. Unwillig entfernte Isidor die Verpackung und fluchte laut. Natürlich, das neueste Werk von Bestseller-Autor Gideon Gidderby! Wie er diesen Kerl HASSTE!! ~+~ Isidor von Spangenburg war seit frühester Kindheit an Arbeit gewöhnt. Müßiggang war nicht sprichwörtlich aller Laster Anfang, sondern gehörte nicht zur Erfahrungswelt eines Jungen auf Gut Spangenburg. Nachdem er die Realität seines Zustands untersucht und mangels Alternativen als gegeben hingenommen hatte, verlangte Isidor nach Kleidern und einem Stock. Zunächst war es seltsam, den größeren, stärkeren und auch haarigeren Körper eines erwachsenen Mannes von 28 Jahren zu beherrschen, doch auch in dieser Hinsicht erwies er sich als beharrlich bis stur. Alles war besser, als herumzuliegen und sich von Pylorus und seinen trotteligen Chargen "versorgen" zu lassen! Man stellte ihm einen Begleiter daimonischer Natur, Rosentau, zur Seite. Der machte Isidor nicht nur mit seiner neuen Heimat, dem Daimonenreich, bekannt und organisierte eine angemessene Unterkunft im Neubaugebiet für alle nicht-daimonischen Einwandernden, sondern vermittelte Isidor auch einen Begriff davon, was ein Instrukteur eigentlich leisten sollte. Man hatte, wie überall, Schwierigkeiten, gutes Personal zu finden. Daimonen, die sich nicht mit der Menschenwelt auskannten, gerieten zu schnell unter die Räder, was für Unmut sorgte. Warum also nicht Spezialisierte im "Menschsein" anwerben? Darin war Isidor von Spangenburg zweifelsfrei bewandert. Das bisschen Anpassung an die Daimonenwelt würde ihm ja wohl kein Problem bereiten, sie lebten ja schließlich auch hier! Eine Zeit lang durfte Isidor sich vorbereiten, bevor das erste Nest neugieriger Daimonenkinder auf ihn losgelassen wurde. Klappte das recht ordentlich, wären auch noch Abendkurse für die erwachsenen Daimonen anzubieten. Sobald Isidor sich erst mal in seine neue Aufgabe gestürzt hatte, neigte er dazu, die näheren Umstände seiner Verwandlung in den Hintergrund zu verdrängen. Hier gab es sprechende Bücher, spiegelnde Flächen, die weit entfernte Ereignisse abbildeten UND sanitäre Anlagen!! Im ersten Jahrhundert war schwer zu unterscheiden, ob die Daimonen oder ihr Instrukteur mehr lernten. Ratzfatz erhielt jedenfalls eine Gratifikation ob seines genialen Riechers! ~+~ Mit spitzen Fingern und Ekel in den Mundwinkeln lupfte Isidor von Spangenburg das Machwerk aus der Verpackung. Ein kreischendes Cover, wie gewöhnlich, und dazu wieder einer dieser Titel, die er verabscheute: [Können Engel Malaria bekommen?] "Oh, bitte!" Schnaubte er abschätzig. Der Klappentext, mit einer leicht panischen Stimme gesprochen, drohte an, was Isidor von Spangenburg auch ohne diese Unterweisung vermutet hätte: Gideon Gidderby, DER Bestseller-Autor, skizzierte mal wieder ein Horrorszenario mit den üblichen Konstanten. Erneut waren die Engel unter der Führung des fanatisch-genialen Prof. E dabei, die Daimonenwelt zu vernichten! Der miese Plan in diesem Schinken: sie wollten eine Seuche über die Daimonen bringen. Dazu bedienten sie sich der parasitären, aufrechten Affen! Eine Mückenpopulation wurde manipuliert, die fiebrigen Menschen strahlten Energie aus, die Daimonen kamen und wurden infiziert, ein Schreckensbild, denn die virulente Ansteckung verwandelte das Daimonenreich in ein übergroßes Lazarett. Doch Prof. E, der geisteskranke Daimonenhasser, hatte die Rechnung ohne Kain Kirby gemacht, den Alter Ego von Tausendsasa Gideon Gidderby! Außerdem hatte Prof. E wie IMMER total außer acht gelassen, dass sämtliche Bewohnende der Menschenwelt außer Fressen hauptsächlich schnackseln und Nachwuchs produzieren im Kopf (oder anderen Körperteilen) hatten. Wie IMMER geriet das Experiment des ach so genialen Prof. E außer Kontrolle, die rasch mutierenden Mückengenerationen entwickelten eine enorme Schwarm-Intelligenz, drohten damit, die Weltherrschaft an sich zu reißen (mutmaßlich, weil sie trotz ihrer unzähligen Augen kein Fernsehen schauen konnten). Kain Kirby, der sexy, reiche, clevere und tapfere Abenteurer, deckte mit Hilfe von diversen super-attraktiven und jederzeit begattungswilligen Wissenschaftlerinnen die Manipulation auf. Wie gewohnt gab es Verfolgungsjagden mit den Engel-Schergen, doch ebenso erwartet schaffte er es in die neutrale Zone an der Brücke zwischen Himmel und Daimonenreich. Dort klagte er Prof. E an. Ein Tribunal fand statt, denn selbstredend durften Engel nichts erschaffen (woher kamen dann eigentlich die kleinen Engel?), sonst wurde ihr Boss sauer. Der war not amused und sperrte Prof. E weg, während unser Held (brech, kotz, würg!) seinen Triumph mal wieder in einer Bums-Orgie beging. Aber selbstverständlich würde Prof. E rechtzeitig zum nächsten Band wieder aus seinem Hochsicherheitsknast, der offenkundig die gleiche Sicherheitsstufe wie ein wackliger Kaninchenstall hatte, entkommen und erneut Perfides planen. "Grauenvoll!" Ätzte Isidor von Spangenburg und schleuderte das Buch verächtlich zurück aufs Bett. "Widerwärtig!" Er hasste diesen Kerl nicht nur aufgrund ganzer Regalreihen dieser schwachsinnigen Blödsinnsgeschichten, sondern auch deshalb, weil dieser Idiot Gidderby wie er als Quasi-Mensch und Instrukteur angefangen hatte. Vor allem aber musste man ihn, fand Isidor grimmig, dafür verantwortlich machen, dass Daimonen sich dieselbe Idiotie wie Menschen einfingen! Welcher Engel (Prof. E, nein, wie originell!) sollte ein Interesse an Menschen und/oder Daimonen und ihrer Vernichtung haben?! Nach seinem Eindruck, die Gazetten berichteten von den sporadischen Treffen an der neutralen Brücke nichts anderes, war man in beiderseitigem Interesse mit den eigenen Angelegenheiten voll ausgelastet und neidete sich nichts, zumindest nicht viel. Manchmal gab es zwar Gerüchte über unangemessenes Verhalten und verbotene Liäsons, aber liebe Güte, was bedeuteten schon gemischte Paarungen? War ja nicht so, als könne dabei Nachwuchs entstehen! Trotzdem. Gideon Gidderby war ein Schleimbeutel, eine Schmeißfliege, ein unsäglicher Dämlack, eine Schande für alle jemals tätigen Instrukteure! Ein Trojanisches Pferd für menschliche Dummheiten aller Art! IHN sollte man als wandelnden Ansteckungsherd für Blödheit wegsperren!! Isidor von Spangenburg entschied, eine Liste anzulegen mit all den Typen und Umständen, die ihm schwer auf den Zeiger gingen, anschließend herauszufinden, ob man hier, in der Menschenwelt, nicht ein paar nette Anregungen fand, um diese Figuren ordentlich durchzuklopfen! ~+~ Nachdem Isidor von Spangenburg einen Ausflug per Schnellzug ins Hinterland unternommen hatte, wo sich angeblich der schönste, farbenprächtigste Herbst Japans präsentierte und danach einen ganzen Tag in einer öffentlichen Bibliothek zugebracht hatte, um sich auf die Höhe des Zeitgeschehens zu bringen, fühlte er sich ernsthaft ausgelaugt, weil er sich langweilte. Gut, das Herbstlaub war schön, und ja, er könnte Jahre in Bibliotheken verbringen, wenn er sich nicht stets und ständig von zig anderen Menschen umgeben sah! So seltsam es auch schien, nach einem Aufwachsen (Kindheit konnte man das kaum nennen) in einem Rudel, auf engstem Raum, ohne Privatsphäre, war es ihm jetzt schier unerträglich, fortwährend die Präsenz anderer ertragen zu müssen, ohne sich durch eine Aufgabe ablenken zu können. Zwar hatte er ganze zwei Stunden in herrlichen Ideen geschwelgt, wie er die grassierende Idiotie von der Daimonenwelt fernhalten könnte (und dabei Gideon Gidderby in die Ewigen Jagdgründe schickte), allerdings konnte keine dieser Phantasien in die Praxis umgesetzt werden, sehr zu seinem Bedauern. Nun verließ er das Hotel, denn das Fernsehprogramm war so grottig, dass er seine Gehirnzellen wie Seifenblasen zerplatzen spürte. Außerdem hatte er Hunger. Im Daimonenreich war Isidor von Spangenburg regelmäßiger Gast bei Medusa Delikatessen. Seit man der guten Frau eine ordentliche Sehhilfe besorgt hatte, konnte sie sich ungeniert ihrem Hobby widmen und es zum Broterwerb ausbauen. Medusa kochte gern, aß noch lieber und konnte dank der Schlangen auf ihrem Schädel mehr Gäste bedienen als jeder Kopffüßler. Hatte man sich erst mal dran gewöhnt, dass der Teller von einem Schlangenmäulchen mit dezentem Schürzchen angereicht wurde, trat einem Genuss nichts mehr entgegen. Es gab das, was man bei den Menschen wohl als mediterrane, leicht rustikale Kost einordnete. Isidor von Spangenburg war nie gezwungen gewesen, sich auf die feinere Ebene der lukullischen Künste zu begeben, sodass er auch kein mäkeliger Esser war. Wenn es sich nicht mehr bewegte und nicht abstoßend roch (man konnte zur Not auch mit einer Wäscheklammer auf der Nase operieren), verzehrte er, was man ihm vorsetzte. Außerdem konnte er sich die Menüs bei Medusa Delikatessen leisten, was ihm nun verstärkt ins Bewusstsein drang, als er sich auf die Suche nach etwas Essbarem (und Verzehrfähigen) machte. Ihm war durchaus bekannt, dass die Lebenshaltungskosten der Hauptstadtregion ungeheuer hoch waren, DAS jedoch verschlug einem ja glattweg die Sprache! Auch wenn es leider den Appetit gar nicht dämpfte. Es wurde, während er flanierte, oder vielmehr im Strom mitschwamm, alles geboten, was die Natur zu bieten hatte, in Plastik, perfekt dekoriert. Dummerweise kosteten diese kulinarischen Streifzüge rund um den Globus eine Menge. Isidor von Spangenburg ließ den Kennerblick schweifen. Er war Instrukteur und deshalb äußerst bewandert in den Fragen menschlicher Nahrung. Sie zeigten nämlich große Wirkung auf die Energie, die Menschen ausstrahlten und diese Energie war die Nahrung der Daimonen, weshalb es dringend geboten war, dem Instrukteur zu lauschen und seine Hinweise ernst zu nehmen. Auch wenn man gerade quasi-außerirdisch aufgrund pubertärer Hormonvergiftung war und sich mit Daimonen oder der durchschnittlichen Ratio temporär überhaupt keine Überschneidungen fand. Als Instrukteur nahm er seine Aufgabe ernst, auch wenn er sich schlichtweg weigerte, eine emotionale Verbundenheit zu seinen DISCIPULI aufzubauen. Für ihn, den Untoten aus der Menschenwelt, galt stets und immer das Arbeits- und Kontraktprinzip. Er war hier, sie zu lehren und sie waren da, um zu lernen, damit sie als Erwachsene in der Daimonen- und der Menschenwelt zurecht kamen. Früher ließ sich das leichter an, so viel stand fest. Die Daimonengören waren zwar auf Schabernack aus, jedoch an Gehorsam gewöhnt, wussten durchaus, dass ihnen ihre Altvorderen das Fell oder die Schuppen gerben würden, wenn sie sich zu größeren Dummheiten hinreißen ließen. Heutzutage jedoch, nach der Invasion der menschlichen Idiotie, verwirklichten sich die Eltern an ihrem Nachwuchs und hingen mit äffischer Affektion an den Balgen, denen das nach Isidor von Spangenburgs Meinung keineswegs gut tat. Verhätscheln und nachgeben, den besten Freund mimen: Isidor hielt das für eine ausgesprochen schlechte Strategie. Wenn er auch keineswegs die gerechte Brutalität seines Großvaters befürwortete, stellte er als Instrukteur feste Regeln auf und geizte nicht mit den Konsequenzen. Kinder jeder Spezies mussten lernen, die Verantwortung für sich und die eigenen Taten zu übernehmen, die Folgen ihrer Handlungen VORHER zu bedenken und auch Bestrafung als Sanktion zu akzeptieren, wenn sie wider die Regeln agierten. Die Gesellschaft konnte nur so funktionieren, wenn alle eine Chance auf eine ordentliche Existenz haben sollten. Man konnte ihm, fand Isidor von Spangenburg, deshalb keine Bosheit unterstellen, wenn er seinen DISCIPULI, die nicht zuhörten, sich nicht interessierten und ihre verblendeten, im Jugendwahn verhafteten Eltern vorschickten, sich von allem und jedem entschuldigen zu lassen, eine denkwürdige Lektion erteilte. Dann gab es eben, weil sie es so wünschten, mal eine Kostprobe internationaler Spezialitäten, von Handkäs mit Musik über den mit vergorenem Fisch angerichteten Somtam-Salat bis zu Affenhirn auf Aspik! Die spektakuläre Aktion, die ihm nun diese Strafversetzung in den Urlaub eingebracht hatte, resultierte hoffentlich in der Erkenntnis seiner von pubertierenden Menschenkindern vergifteten DISCIPULI, dass die Energie, die Teilnehmende an einem Talentwettbewerb ausstrahlten, kurz vor der Hysterie, keineswegs zum Leibgericht taugte. Im Gegentum, sie war nur zu empfehlen, wenn man gern längere Zeit auf dem häuslichen Lokus verbringen und sich auf Energielevel Null reduzieren wollte. Isidor von Spangenburg ging jede Wette ein, dass die Beteiligten DIESE Erkenntnis nicht vergessen würden, was für ihr Überleben, auch wenn sie jetzt wie immer undankbar waren, eine wichtige Voraussetzung darstellte. Summa summarum erfüllte Isidor auf diese Weise perfekt den Auftrag, den man ihm vor Jahrhunderten erteilt hatte: er machte die Daimonenbande fit für die erforderlichen Abstecher in die Menschenwelt. »Erstklassig!« Schnaubte er in Gedanken. »Genau deshalb bist du jetzt hier, auf der Suche nach einer anständigen Mahlzeit. Im URLAUB!« Undank ist eben der Welten Lohn! Er hängte sich an einen Pulk junger Männer, eher salopp gekleidet, ein wenig herumalbernd, gut gelaunt, Studenten mutmaßlich, damit, das glich sich wohl überall auf der Welt, knapp bei Kasse, aber hungrig und einfallsreich. Seine Hartnäckigkeit wurde belohnt, denn es zeigte sich, dass die gewaltige Mensa der Universität mit ihren Zweigstellen auf dem aufgeteilten Campus auch "Fremd-Speisende" (wenigstens hatten sie nicht "Mit-Esser" gewählt) fütterte. Selbstredend galt für diese Externen nicht der vergünstigte Studierendentarif, doch Isidor von Spangenburg war zufrieden, als er das Angebot inspizierte. Er wählte, da IHM der Geruch von gesäuertem Reis den Magen umdrehte und er seit der Erfindung des Kühlschranks keinen Grund sah, Fisch roh zu kauen, etwas Gegrilltes aus. Damit konnte man selten fehlgehen, da ordentlich Hitze vieles abtötete, was einem gewöhnlichen Menschen gefährlich werden mochte. Isidor von Spangenburg war sich nicht sicher, ob ihn ein fataler Fehler gefährden würde, da er nicht mehr gänzlich menschlich war, neigte jedoch nicht dazu, ein unnötiges Risiko einzugehen. Er bezahlte sein Menü und suchte sich per Leitsystem einen freien Platz. Dabei, er registrierte es mit Staunen, hatte man farblich abgegrenzt, wo man als Pflanzen- bzw. als Allesfressende Platz nehmen konnte. Er lupfte eine Augenbraue und ließ sich an den mit roten Symbolen markierten Tischreihen auf einem freien Platz nieder. Fühlten sich diese durchgeknallten Salatlutschenden jetzt schon belästigt, wenn ihnen Fleischfressende am Tisch gegenüber saßen? "Idiotie. Typisch menschlich!" Knurrte er und operierte mit den Stäbchen. Jemand sprach ihn an, wollte sich auf den freien Platz neben ihn setzen. Isidor von Spangenburg antwortete höflich in einem fließenden, wenn auch etwas steifem und gelegentlich altertümlichen Japanisch. Man stutzte, lächelte automatisch verwirrt und nahm mit mehrfachem Nicken dann exakt einen Stuhl weiter Platz. Eine Reaktion, die Isidor durchaus kannte, denn er befand sich aus Forschungsgründen häufig für kurze Zeitspannen in der Menschenwelt. Es passte nicht zu seinem Erscheinungsbild, das stets mehr oder weniger versteckte Seitenblicke erntete, dass er eine fremde Sprache so gut beherrschte. Andererseits wäre es jedem verständlich vorgekommen, der über eine so lange Spanne wie Isidor von Spangenburg existierte und seine Aufgabe als Instrukteur in der bestmöglichen Weise erfüllen wollte. Ihn kümmerte die Reaktion anderer Menschen recht wenig, denn er wusste, dass es nicht wahrscheinlich war, sich ein zweites Mal über den Weg zu laufen. Wenn ihm jemand gefährlich werden sollte, dann würde diese Person den fatalen Fehler nicht so schnell vergessen. Mochte auch sein linkes Bein gelitten haben: mit Rudger von Spangenburgs cleverstem Enkel legte man sich besser nicht an. Als Isidor von Spangenburg sich gestärkt aus der Mensa verabschiedete, konnte er einen bunten Lichtschimmer am verdunkelnden Himmel wahrnehmen. Er hörte auch dumpfe Schläge, deren Resonanz sich in konzentrischen Kreisen weiterverbreitete. Aller Aufgaben ledig, ohne Plan und Zeitdruck, entschied Isidor von Spangenburg, seiner Neugierde Nahrung zu verschaffen. Gemächlich spazierte er auf die Geräuschquelle zu und fand ein buntes Fest am anderen Ende des Campus. Wie jede Universität verfügte auch diese über Studierende aus anderen Ländern, war mit anderen Institutionen verbrüdert oder befreundet. Was man nun wie ein spätes Sommerfest feierte, mit Ständen und Informationstafeln, Arbeits- und Lerngruppen, die sich vorstellten und um neue Mitstreitende warben. Isidor, der einen hellen Borsalino, einen ebenso gehaltenen dreiteiligen Anzug über einem elfenbeinfarbenen Hemd und zweifarbigen Schuhen trug, fiel hier nicht ganz so exotisch auf, denn es wimmelte vom bunten Treiben rund um den Globus. Da er keinerlei Absicht hegte, sich auf eine Bekanntschaft oder ein Gespräch einzulassen, konzentrierte er sich auf die zahlreichen Tafeln und Projektionen, die einen Querschnitt der Aktivitäten an der Universität darstellten. Auf ebenem Boden ging es sehr turbulent und gedrängt zu, in den anderen Geschossen im Geviert um den großzügigen Innenhof wurde es dagegen ruhiger. Das oberste, vierte Stockwerk konnte man, frisch fertiggestellt, anstelle von alten, engen und brandgefährlichen Treppenhäusern über eine barrierefreie Serpentine von außen erreichen, was die gesamte Anlage Isidor durchaus sympathisch machte. Er erklomm das oberste Geschoss und arbeitete sich an den hier aufgepinnten Plakaten und Bettlaken entlang. Wider Erwarten konnte er sich jedoch nicht allein auf weiter Flur in Ruhe tummeln. Auch hier herrschte eine Geräuschkulisse der anstrengenderen Art, Kinder rannten auf und nieder, es klapperte hier Geschirr, da Besteck. »Auf einer Messe könnte es nicht schlimmer sein!« Knurrte Isidor innerlich verärgert. Bereits zweimal hatte eines dieser verzogenen Bälger ihn angerammelt, ohne sich dafür zu entschuldigen! »Wehe, wenn sie losgelassen!« Schnaubte er und begab sich zu einer weiteren Tafel. Er wich auf den Gang aus, um nicht über die vorstehenden Stützfüße steigen zu müssen, als ihn mit voller Kraft etwas von hinten rammte. Isidor fauchte erschrocken, kämpfte um das Gleichgewicht und ließ, als er diese Schlacht verlor, instinktiv den Gehstock los, um sich auf dem harten Kunststoffboden abzufangen. Der Aufprall war schmerzhaft, andererseits hatte Isidor von Spangenburg dank Rudel- und Kriegererfahrung Übung darin, sich so abzufangen, dass er seiner permanenten Behinderung keine fatalen Begleiter hinzufügte. Was nicht hieß, dass ihm kein Zischen entwich. Der Verursacher seines Falls rappelte sich bereits wieder auf. Isidor blickte dem Wahnsinn in die Augen, zumindest eine gemeingefährliche Kombination von zu viel Zucker, zwanghaftem Bewegungsdrang und geradezu hysterischer Ausgelassenheit, jedes Verstandes ledig. Der blonde Rüpel, ein herausgeputzter Dreikäsehoch, grinste ihn mit fiebrigem Glanz in den aufgerissenen Augen an, stellte sich auf die Beine und gab mit Isidors Gehstock Fersengeld. Der sparte sich nutzlose Aufforderungen zum Stehenbleiben oder andere Drohungen, denn a) hatten sie nur den Effekt, ihn selbst zu verlangsamen und b) konnte man nicht sicher sein, welcher Sprache dieser Bengel zugänglich war. Wobei Isidor von Spangenburg diese Art von Wahnsinn erkannte und darauf nur eine Kur verabreichen konnte, nachdem er selbst wieder in die Senkrechte gekommen und mit grimmiger Miene die Verfolgung aufgenommen hatte, ärgerlicherweise die Linke ausgestreckt, sich immer mal wieder an Wänden abzustützen. Wenn er sein Bein sehr beanspruchte, konnte er das verwünschte Gör im Innenhof stellen. Mit offenem Mund, den Teufel im Blick, starrte es gebannt in eine der Baumkronen. Isidor benötigte keine Hinweise, um das Geschehen zu analysieren: das kleine Ungeheuer hatte während der Flucht selbstredend seinen Gehstock in den Baum geschleudert, um herauszufinden, ob dieser hängen bleiben oder auf das Pflaster des Hofes schlagen würde. Isidor quittierte diese Unverschämtheit auf die robuste Weise seines Großvaters: er packte den Übeltäter beim Kragen und verabreichte ihm mit der kraftvollen Linken zwei Maulschellen. Damit, so war er überzeugt, rettete er diesem Enfant terrible mutmaßlich das Leben, denn ohne Grenzen würde dieses kleine Ungeheuer weitere Leute terrorisieren und letztendlich verdient ermordet werden. Bevor mit einem triumphierenden Blitzen das sirenenartige Geschrei der verfolgten Unschuld ausbrechen konnte, drückte Isidor mit der Linken die Kehle des Rabauken zu. Sein kühler, unbeeindruckter Blick signalisierte dem Tunichtgut, dass mit Isidor von Spangenburg zu rechnen war: er war eine Macht, die konsequent und unbeirrbar jedes Vergehen ahnden würde und keine Furcht vor aufgebrachten Eltern hatte. Er wich dem irrigen, aufgeputschten Blick nicht aus, drückte ausreichend lange die Sauerstoffzufuhr ab, bis der ungezogene Bengel wieder etwas Verstand in seinen Augen präsentierte, verschlagene Furcht. »Du bist schon vorgemerkt!« Dachte Isidor von Spangenburg mitleidlos. Wenn sie dieses Gör nicht zur Räson brachten, würde sein weiterer Lebensweg ihn garantiert bergab führen. Mit einer brüsken Geste schleuderte er den Jungen zur Seite. Anstelle eines theatralischen Sturzes, akkompagniert mit Schluchzen und tränenumflorten Blick gab das kleine Biest mucksmäuschenstill Fersengeld. Isidor wischte sich mit einem Stofftaschentuch angewidert über die Hände, dann betrachtete er seinen Gehstock und überlegte, wie dieser am Besten aus dem Geäst zu bergen sei. "Ich mach das schon!" Schnurrte hinter ihm eine Stimme. Uneingeladen legte sich eine Hand auf seine Schulter. Ein junger Mann schob sich an ihm vorbei. Ohne größere Anstrengungen hangelte er sich kletternd im Geäst in den zweiten Stock, wo Isidors steter Begleiter seinen temporären Aufenthalt nahm. Mühelos befreit sauste der nach unten in die erwartungsvoll ausgestreckten Hände seines Besitzers, dem sogar das Fangen gelang (was sich bei dieser Höhe und einer Tendenz zum Trudeln durch winzige Berührungen mit dem Geäst als gar nicht so einfaches Unterfangen erwies). Der unaufgeforderte Retter stieg hinab und bot Isidor von Spangenburg die Gelegenheit zu einem kritischen Studium. Er mochte ihn wohl um einen Kopf überragen, zeichnete sich durch einen pechschwarzen, nach Manier der jungen Studenten wild frisierten Schopf kräftiger Strähnen aus, zeigte auch sonst, von sehniger Gestalt bis zu den Gesichtszügen, etwas typisch Japanisches. Dennoch fühlte sich Isidor subtil irritiert, als lausche man einer wohlbekannten Melodie und höre, ganz zart, einen Missklang. "Danke, Tarzan." Brummte er distanziert, als der junge Mann mit einem Effekt heischenden Sprung vor ihm landete. "Stets gern zu Diensten!" Da war wieder diese Ahnung von Befremdlichkeit! "Sie sprechen ein perfektes Japanisch!" Komplimentierte ihn sein Helfer und betrachtete ihn eingehend, auf die Art, die befürchten ließ, man müsse sich nun länger unterhalten. "Sie doch auch!" Feuerte Isidor von Spangenburg den Ball wieder scharf übers Netz. Etwas irritierte ihn, und er verblüffte sich selbst mit einer Nachvorneverteidigung, die gar nicht notwendig schien. Zu seiner Überraschung schien die scharfe Replik gerade das direkte Gegenteil seiner Absicht zu befeuern. Anstatt brüskiert dem undankbaren Fremdling den Rücken zu kehren, pirschte sich der Student noch näher heran! Bestaunte Isidor so intensiv, dass der sich bedrängt fühlte. "Sind Sie vielleicht einer der Gastdozenten?" Rückte ihm der Kletteraffe auf den Pelz. "Sagen Sie, woher kommen Sie? Welches Fach geben Sie denn?" »Ich gebe dir gleich ordentlich was aufs Riechorgan, wenn du nicht SOFORT weichst!« Dachte Isidor, ganz gegen seine Gewohnheit nervös und blitzte frostig in die schwarzen Augen hoch, presste die Lippen zusammen. Ärgerlich, dass er schon preisgegeben hatte, der japanischen Sprache mächtig zu sein! "Lovely-chan! He, Lovely-chan, du kannst doch nicht einfach verschwinden!" Leider war diese Ablenkung, aus mindestens vier dezent geschminkten Schmollmündchen im Chor intoniert, nicht ausreichend genug, Isidor die Gelegenheit zur Flucht zu bieten. Im Gegentum! Beinahe geistesabwesend umklammerte "Lovely-chan" auch Isidors Gehstock, wandte zwar den Kopf zu den hübschen Mädchen, die ihm nachgerufen hatten, doch sein sehniger, hochgewachsener Körper war wie eine Eins auf Isidor ausgerichtet. Bevor Isidor sich rasch verabschieden konnte, die günstige Gelegenheit ausnutzen, hatte sich sein aufdringlicher Helfer wieder gefangen. "Ah, Entschuldigung! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt!" Leider ging diese Eröffnung nicht mit der Freigabe seines Gehstocks einher, was Isidor merklich verärgerte. "Mein Name ist Frederick Ryoumei Kawai." Stellte sich der Student vor. "Aber ich werde hier nur Lovely-chan gerufen." "Ganz originell." Knurrte Isidor bissig, den dieses konzentrierte Studium seiner Erscheinung nun WIRKLICH gegen den Strich bürstete. "Keine Sorge, ich habe nicht die Absicht, Sie in irgendeiner Weise anzureden. Ich darf mich nun verabschieden." Zumindest war das seine entschiedene Intention, doch Lovely-chan zeigte nicht die mindeste Bereitschaft, ihn friedlich ziehen zu lassen. "Woher wussten Sie, dass ich kein Japaner bin?" Unbeeindruckt von den Eisstürmen, die Isidor ihm entgegen sandte, hakte Lovely-chan nach. "Yukina, hierher!" Trällerte eines der Mädchen und wedelte wild mit den Armen. Isidor wurde es langsam zu viel. Gerade, als er mit voller Absicht seinen Absatz auf den Fuß seines Belagerers stellen wollte, wich der beiseite, um einen auffälligen, jungen Mann in die zu große Runde einzulassen. Unseliger Weise war Isidors Gehstock jedoch nicht aus dem festen Griff entlassen. "Endlich, Yukina-chan!" Sämtliche Mädchen piepten und zwitscherten in einer Weise, die nach dem berüchtigten MOE, einer kitschigen Überniedlichkeit, kommen sollte. Für Isidor von Spangenburg wirkte ein solches Gebaren befremdlich und auch abstoßend. "Ah, Entschuldigung!" Auch der neu hinzugestoßene Prinz, mit verwegen aufgehelltem Braunhaar und einigen Ohrringen, verbeugte sich höflich vor ihm. "Mein Name ist Yukina, Kou Yukina, angenehm. Sind Sie ein Gastdozent?" Isidor von Spangenburg entschied, dass er JETZT und HIER ein Zeichen setzen musste. Er holte tief Luft, um mitzuteilen, dass er in der Hauptsache EXTREM genervt von ihrem aufdringlichen Verhalten war, doch dazu kam es gar nicht. Der verzogene Bengel schleifte eine ausgemergelte Frau hinter sich her, um greinend auf Isidor zu deuten. Mit bebenden Lefzen hielt das Muttertier auf Isidor zu. Bevor sie auch nur mit schwellender Hühnerbrust ihrer Verachtung für Kinderschläger wie ihn kundtun konnte, detonierte Isidor in eisiger Wut. "Sind Sie die Mutter dieses Jungen? Dann lassen Sie sich geraten sein, ihm Grenzen zu setzen, sonst läuft er Gefahr, erschlagen zu werden. Sie sollten mir dankbar sein, dass ich sein erbärmliches Leben ein wenig verlängert habe." Da er seine Ausführungen im Tonfall eines Oxford-Absolventen giftig und gallig gesprochen hatte, klappte bei Mama Tyrannosaurus Rex die Kinnlade zwischen die knorpeligen Kniescheiben. »Eine dusselige Amerikanerin erkenne ich auf 100 Meter!« Grollte Isidor innerlich, riss dann mit einem Ruck seinen Gehstock frei. "Entschuldigen Sie mich." Mit einer knappen Verneigung in die verblüffte Studierendenrunde machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte davon. Wie seit Jahrhunderten ließ er dabei seine Sinneswahrnehmungen nicht außer acht. Auch dieses Mal wurde er nicht enttäuscht. Aufgebracht, dass der Mutterdrachen mit einem akzentuierten Wortschwall hypnotisiert worden war, galoppierte das kleine Ungeheuer heran, Attacke von hinten. Er rechnete wohl nicht damit, dass Isidor von Spangenburg diese Nickligkeit erwartet hatte, einen genau abgepassten, eleganten Schritt zur Seite tat und dem vorbei fliegenden Gör mit seinem Gehstock noch ordentlich einen Schlag auf die Kehrseite brannte. "Deennniiiiiis! Deeennniiiiisss! Komm sofort hierher!" Plärrte die Frau Mama, der wohl diese blitzartige Actio-Reactio-Folge entgangen war. Dennis (wie bezeichnend!) brüllte aus voller Kehle, jeder im Umkreis beäugte missbehaglich den Kreisch-Affen und seine ebenso grelle Mutter. "Lächerlicher Zirkus!" Kommentierte Isidor von Spangenburg zufrieden und tippte sich mit einem boshaften Lächeln, das er sich nur in Ausnahmefällen gönnte, an seinen Borsalino. Es gab durchaus Gründe, warum Daimonennachwuchs den Instrukteur von Spangenburg schlotternd fürchtete. ~+~ Kapitel 3 - Gipfeltreffen Diese Episode hatte an sich Isidor von Spangenburgs Laune durchaus gehoben, doch seine Gedanken kreisten, unerfreulicherweise, immer noch um diesen merkwürdigen Studenten. Was GENAU hatte ihn so irritiert? Das wollte Isidor ergründen, selbstredend aus sicherer Entfernung, denn auf eine neugierige Unterhaltung in einem Hühnerhof hatte er keine Lust. Es war anzunehmen, dass seine vollkommen normale Reaktion (für einen von Spangenburgschen) auf das ungebärdige und hysterische Verhalten von Nachwuchs-Soziopath Dennis nicht auf Gegenliebe beim Publikum stieß. Gewalt gegen Kinder war, zumindest in gewissen Teilen der menschlichen Gesellschaft, geächtet. Isidor war durchaus willens, sich diesem Grundsatz anzuschließen. Eine Nothilfemaßnahme musste jedoch ebenso eindeutig zulässig sein! Immerhin würde man einen Mann, der eine in seelischem Ausnahmezustand hysterisch agierende Frau ohrfeigte, auch nicht einer sexistischen Gewalttat für schuldig befinden! Dass seine Vorstellungen diesbezüglich überholt waren, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Während er sich durch die stets dicht bevölkerten Straßen seinen Weg bahnte, überdachte er seine ungewohnte Verwirrung über den Studenten, optisch doch eindeutig ein junger Japaner: diese wilde Strähnenfrisur, dichtes, schwarzes Haar, getupfte Augenbrauen, schwarze Augen, einen schönen, nur dezent gebräunten Teint, ebenmäßige Gesichtszüge, die alterlos wirkten, dazu eine eher sehnige Figur, die Beine im Verhältnis zum Oberkörper kürzer, lange, schlanke Finger an schmalen Händen, mandelförmige Nägel und die Durchschnittsklamotten von Studierenden weltweit. Warum also? Isidor rekapitulierte in der Ruhe seines Inneren, auf Autopilot marschierend, die Ereignisse. Der Bursche war flink und gelenkig wie ein Affe in den Baum geklettert und vorher hatte er ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Frederick Ryoumei Kawai. »Aha!« Kommentierte Isidor stumm seinen Geistesblitz. Seine Irritation musste sich wohl darauf gründen, dass Lovely-chan aussah wie der durchschnittliche Japaner, aber tatsächlich keiner war. Wo fand man wohl die meisten japanisch aussehenden Menschen mit anglophonen Vornamen? Gut, Hawaii lag nahe, aber in seiner Vermutung wollte er sich lieber auf die gesamten Vereinigten Staaten festlegen. Also wahrscheinlich ein Yankee, weshalb sein Verhalten, seine Körpersprache seinem typisch japanischen Aussehen zuwiderlief. Nun, wenigstens hatte Lovely Tarzan für seine Anstrengung einen ordentlichen Vortrag im schönsten Oxford-Englisch gehört, das sollte Lohn genug sein. Nachdem dieses Rätsel gelöst war, entfernte Isidor von Spangenburg diese Begegnung aus seinem Kopf. Zumindest hegte er entschieden diese Absicht. ~+~ Kou Yukina warf einen besorgten Blick auf seinen Kollegen in der benachbarten Abteilung des gewaltigen Bücherkaufhauses Marimo-Books. Sein Wohnungsnachbar und beinahe schon Freund Frederick Ryoumei Kawai krakelte in jedem freien Moment in einem Collegeblock herum, strich durch, warf die Stirn in Dackelfalten und zeigte Anzeichen, bald das Linoleum abzukauen. Er war jedenfalls nicht gerade in einem aufmerksam-zuvorkommend-unaufdringlichen Zustand, für den die Geschäftsführung ihn teilzeitbeschäftigte. Kou wieselte flink über den Gang in die benachbarte Sektion, die allgemein nur die "Nahkampfzone" genannt wurde. "He, Lovely-chan, kannst du nicht mal ne Pause einlegen?" Erkundigte er sich besorgt und wies mit dem Kinn Richtung Collegeblock. Frederick seufzte profund und keineswegs leise, rollte die Schultern. "Ich hab alles durchprobiert!" Klagte er Kou sein Leid. "ER ist kein Dozent, kein Student, niemand weiß was!" "Pscht!" Ermahnte Kou ihn hastig, denn mehr als einmal hatte die Verwirrung und Ablehnung, die Frederick hervorrief, weil er sich nicht angemessen verhielt, auch ihn miteinbezogen. "Immer noch dieser Bursche?" Nun war es an ihm, den mildesten aller vorstellbaren Seufzer zu intonieren. "Warum ist dir das bloß so wichtig?" "Weil er's gleich erkannt hat!" Verkündete Frederick ebenso kategorisch wie entflammt. "Er wusste gleich, dass ich kein Japaner bin!" Da Kou bereits dreimal in den zweifelhaften Genuss der Wiedergabe dieser tiefschürfenden Unterhaltung gekommen war, hatte sich bei IHM der nicht ganz von der Hand zu weisende Verdacht festgesetzt, dass Herr Unbekannt weniger scharfsinnig als besonders hämisch gewesen war. Aber selbst die Andeutung dieser Möglichkeit stellte für Frederick keinen Dämpfer dar. "Wenn du ihn finden solltest, was dann?" Kou hoffte auf eine gewisse Ernüchterung. "Oh, ich würde ihn fragen, wie er's gemerkt hat!" Frederick wühlte ungeniert durch seine kräftigen, zipfelig frisierten Strähnen. "Dann würde ich alles von ihm wissen wollen. Ich meine, bist du jemals so einem Mann begegnet?!" Das konnte Kou nicht von sich behaupten. Andererseits löste der Fremde bei ihm ein unerklärliches Unbehagen aus, nicht direkt Antipathie oder Angst, jedoch eine mahnende Vorsicht. "Wo könnte ich ihn denn sonst noch finden? Könnte er nicht vielleicht doch an deiner Uni sein?" Frederick legte schon wieder dieselbe Platte auf. "Ausgeschlossen." Erteilte Kou ihm eine Absage. "Ich habe mich schon umgehört und -gesehen. Wie du wolltest." Ergänzte er ein wenig schärfer. "Ich habe schon überlegt, ob ich nicht eine Anzeige schalte!" Frederick zumindest gab sich noch nicht geschlagen. "Aber wo? In einer Zeitung? Das Problem ist ja, dass ich nichts über ihn weiß! Wieso zum Beispiel hat er sich für die Arbeitsgruppen und all das interessiert?" Kou atmete tief durch, kniff dann, durch einen kunstvoll dekorierten Bücherstapel verdeckt, Frederick fest in die Kehrseite. "Jetzt nimm dich mal zusammen, Kumpel! Wir brüten gemeinsam nach der Arbeit, in Ordnung?" Frederick schnaubte, registrierte jedoch den warnenden Blick seines Kollegen, definitiv guten Freundes und Wohnungsnachbarn. "In Ordnung." Gab er sich für den Moment geschlagen, klappte seinen Collegeblock zu und klemmte den Stift in der Spiralbindung ein. Noch hatte er keine Lösung für sein Problem gefunden, aber vielleicht kamen ihm ja Madame Fortuna oder ein Wunder zur Hilfe? ~+~ Isidor von Spangenburg marschierte in seinem Hotelzimmer auf und ab. Seit genau sieben Tagen saß er seinen Urlaub ab, und es trieb ihn förmlich in den WAHNSINN! Wie lange brauchte der Präsident denn, um zu erkennen, dass er ohne ihn aufgeschmissen war?! Isidor drehte eine weitere Runde, klopfte sich dabei rhythmisch mit dem Gehstock gegen das steife Bein. Er langweilte sich, ein fürchterlicher Zustand für jemanden, der von jeher an stete Arbeit gewöhnt war und mit der Muttermilch quasi die Maxime "Müßiggang ist aller Laster Anfang" aufgesogen hatte! Soweit er sich erinnern konnte, und diese Zeitspanne war mittlerweile beachtlich, hatte er immer gearbeitet, etwas getan. Hier, in seinem verhassten Urlaub, schien es dagegen nichts mehr zu tun zu geben, denn er hatte sich, wie verordnet, die schönsten Herbst-Ausflugsorte angesehen, den Schnellzug benutzt, war auf einem Fest gewesen und hatte auswärts gespeist: was denn noch?! Das Fernsehprogramm boykottierte er grundsätzlich, eine Internetverbindung hatte er zu Hause auch, was, also, sollte er HIER noch tun?! In Museen gehen?! Konzerte besuchen?! Etwa SHOPPING?! Grauenvolle Vorstellung, zumindest die letzte Option. Alles andere reizte ihn nicht sonderlich. Was Museen enthielten, kannte er zumeist aus Epochen, als die Stücke noch nicht museal waren, sondern Ausdruck eines Zeitgeistes. Konzerte waren nicht sein Fall, weil man zumeist stillsitzen musste, nur zuhören, nichts weiter, was Isidor von Spangenburg nicht lag, denn er konnte besser zuhören, wenn er sich gleichzeitig auch bewegte. Erstarrtes Herumhocken wie bei den heutigen Beschulten hätte, davon war er überzeugt, bei ihm ein Koma der Langeweile ausgelöst. Weshalb er nun marschierte und auf Alternativen sann, sich die Zeit zu vertreiben, ohne seine gar nicht mehr gute Laune noch tiefer in den Keller zu manövrieren. Wieso dauerte das bloß so lange?! Enerviert wirbelte er seinen Gehstock, kreiselte erneut auf und nieder. Er konnte sich nicht entsinnen, wann er das letzte Mal für eine so lange Zeitspanne in der Menschenwelt gewesen war. Als Instrukteur und an regelmäßige Schulzeiten gewöhnt reduzierte sich ein Aufenthalt stets auf wenige Stunden. Durchaus ausreichend für bleibende Effekte (falls man seinen aufopferungsvollen Instrukteur ignoriert hatte und nun beim "Casting" lernte, "Hölle" ganz neu zu definieren). Schließlich hielt er es nicht länger aus, warf sich seinen erprobten Kutschier-Mantel über und topfte einen entsprechend soliden Hut auf, dem ständige Regenschauer nichts ausmachten. Er MUSSTE raus, sich bewegen, und sei es, sich Richtung Tokio durch die Einkaufsmeilen zu schieben! ~+~ In der ersten Zeit, als Isidor von Spangenburg, kein Instrukteur, sondern Adept allen Wissens, sich durch Erkenntnisse mit Begeisterung und Staunen gewühlt hatte, konnte er nicht begreifen, warum ein Teil der Menschheit mit Ideogrammen operierte, während ein anderer Teil in möglichst simplen Zeichen Silbenlaute dokumentierte. Menschen waren wirklich merkwürdig. Selbstredend, die Bilder waren, zumindest anfangs, sprechend, und für ihn, der es gewohnt war, Bilderrätsel zu deuten, eine logische Konsequenz. Verblüffend aber, dass sich abstrakte Zeichen wie das römische Alphabet trotzdem durchgesetzt hatten, obwohl sie keine direkte Bedeutung hatten, nicht eingängig wie ein Bild waren! Mit den Jahren, die seine Neugierde nicht dämpften, lernte er immer weitere Schriftzeichen und Sprachen kennen, verglich sie miteinander, nutzte Gemeinsamkeiten aus, sich die neuen Fertigkeiten anzueignen und auch präsent zu halten. Eins war ihm jedoch unverbrüchlich geblieben: die Begeisterung für Bilderrätsel. Für Bilder, deren Inhalt verschlüsselte Botschaften durch die Darstellung bestimmter Gegenstände enthielten. Es amüsierte ihn, wenn er wissenschaftliche Artikel las, in denen über manche Besonderheit spekuliert wurde, weil die Menschen längst vergessen hatten, "Platzhalter" in Bildern entsprechend zu dechiffrieren. Für ihn selbst war die Deutung als langjähriger "Zeitgenosse" offenkundig. Wo konnte man zu dieser Tageszeit ungestört Bilder betrachten? Eine öffentliche Bibliothek war Isidor von Spangenburgs erstes Ziel. Dort hatte man sich entschlossen, den Zugang nur mit Leseausweis zu gestatten, da sich in der letzten Zeit dort viele Leute aufgehalten hatten, denen die Mittel für ein Familienrestaurant fehlten und die kein Dach mehr über dem Kopf hatten. Manierliches Verhalten schützte nicht vor Ausgrenzung. Isidor weigerte sich, einen Leseausweis zu beantragen. Das hätte ja bedeutet, dass sein Aufenthalt von längerer Dauer war und er außerdem seine besonders präparierten Dokumente zum Einsatz brachte, was er ebenfalls nicht wollte! So blieb ihm nur, als potentielle Kundschaft eines dieser Bücher-Mekkas in Bahnhofsnähe aufzusuchen und zu hoffen, dass er dort zwecks Zeitvertreib in schönen Bildbänden schwelgen konnte. ~+~ Kou Yukina rang mit sich, während er unauffällig hinüber in die benachbarte Sektion blickte. Lovely-chan arbeitete höflich, still, in sich gekehrt, als habe man seinen sonst springlebendig-lebhaften Geist zig-mal durch die Vollwäsche gejagt, bis nur noch ein fadenscheiniger Abklatsch übrig geblieben war. Es hatte ihm durchaus nicht gefallen, die schon an Besessenheit grenzende Begeisterung seines Nachbarn und Kollegen zu tolerieren, doch so ausgelutscht und niedergeschlagen wollte er ihn auch nicht sehen. Das bereitete ihm durchaus Gewissensbisse, denn heute Abend war er nicht bereit, Unterstützer, Mitverschwörer und Seelentröster zu spielen, weil sein geliebter Kisa-chan ENDLICH nach dem Druck von Abgabeterminen, Streit mit Druckern, der Finanzabteilung und all dem Horror Zeit für ihn haben würde! Da musste, so bedauerlich das auch sein konnte, alles andere zurücktreten! Dennoch fühlte er sich ein klein wenig egoistisch. Andererseits, das hatte er behutsam gegenüber Lovely-chan zur Sprache gebracht, war es wirklich nicht leicht nachzuvollziehen, warum der sich so sehr auf diesen merkwürdigen und recht kratzbürstigen Unbekannten versteifte. Liebe auf den ersten Blick? Oder eher Wollust? Beides wedelte Lovely-chan einfach weg, konnte jedoch selbst nicht in Worte fassen, warum es ihm so bedeutsam war, diesen Fremden erneut zu treffen. Dem standen jedoch sämtliche Umstände im Weg. Die Welt mochte zwar klein sein, aber sie befanden sich hier im Großraum Tokio, der übervölkertsten Region der Welt. Viel Hoffnung hatte Kou nicht mehr, dem Freund Kummer zu ersparen. Da summte sein Mobiltelefon. Einen kontrollierenden Blick zum Geschossmanager, der sowohl ihn als auch Lovely-chan grundsätzlich auf dem Kieker hatte, weil er ihre etwas lebendigere, auffällige Art nicht mochte, dann angelte Kou das gute Stück heraus, inspizierte die Kurznachricht mit Bild. Er staunte nicht schlecht. Der Anzug war nicht derselbe, aber Gehstock und Haltung! Kou Yukina fröstelte, als er sich unwillkürlich fragte, ob nicht hier höhere Mächte ihre klebrigen Finger im Spiel hatten. ~+~ Isidor von Spangenburg hatte sich an Aufmerksamkeit für seine Person gewöhnt. Das lag nicht nur an seiner bevorzugten Kleidung, die manchen als altmodisch oder zu streng vorkommen mochte, sondern, definitiv und unbestritten, an seiner Hautfarbe, vor allem, wenn alle anderen eine andere aufwiesen. Er ignorierte die Seitenblicke, das Getuschel und konzentrierte sich erfreut auf seinen Diskurs mit einem emeritierten Professor für Kunstgeschichte. Der hatte ihn einfach angesprochen, als er, in einem prächtigen Schmuckband blätternd, den das Bücherkaufhaus zu Repräsentationszwecken ausstellte, über eine fehlerhafte Deutung den Kopf geschüttelt hatte. Prompt befand man sich schon in einer angeregten, leise geführten Fachdiskussion. Der Professor war sichtlich erfreut, einen Kenner vor sich zu haben, der auch noch seiner Muttersprache mächtig war, während Isidor nicht nur seine altertümlichen Japanisch-Kenntnisse mit Fachtermina aufpolierte, sondern Vergnügen daran hatte, kundig zu disputieren. Die Leute um sie herum blendete er einfach aus, entspannte sich zum ersten Mal seit seinem Urlaubsantritt merklich. Fachsimpeleien dieser Art konnte er sich nur selten gönnen, denn a) seine DISCIPULI scherten sich keinen Deut darum und b) die damaligen Zeitgenossen legten keinen Wert auf die Diskussion von Angelegenheiten, die ihnen allesamt vertraut waren. Allerdings erregten sie hier durchaus Aufsehen, denn manche Leute blieben einfach stehen und versuchten zu ergründen, ob es sich vielleicht um ein Umsatz förderndes Element handelte, warum dieser dunkelhäutige, junge Mann mit den unheimlichen Blauaugen fließend Japanisch sprach. ~+~ Yukiko, zuständig für die Publikationen aus dem Handarbeits- und Bastelsektor, gab Kou, für den sie merklich schwärmte, ungeniert Statusmeldungen per Mobiltelefonnachricht durch. Kou selbst zögerte, auch wenn er überzeugt war, dass es sich bei dem dunkelhäutigen Experten für frühmittelalterliche Kunst um den Gesuchten handelte. Es galt nämlich, aus schmerzhafter Erfahrung, genau zu bedenken, wie Lovely-chans Reaktion möglicherweise ausfallen konnte. Was sie beide nicht brauchen konnten, war eine begeisterte Szene vor den Augen des Geschossmanagers, denn sie beide benötigten das Einkommen dieses Teilzeitjobs dringend zur Fortsetzung ihres Studiums. Als Yukiko ihm meldete, der Assistent des Professors dränge zum Aufbruch, fasste er sich ein Herz und huschte wieselflink in Lovely-chans Abteilung hinüber. "Ah." Ein fahles Lächeln streifte ihn, die schwarzen Augen waren beschlagen und trübe. "Schnell!" Mahnte Kou eindringlich und zerrte Lovely-chan hinter den Sichtschutz eines vollgepackten Regals. "Halt dir mal den Mund zu!" Forderte er Lovely-chan auf, der ihn erst verständnislos ansah, dann aber mit bedrückender Mattigkeit diesem Befehl nachkam. Kou atmete tief durch. "Du darfst jetzt nicht durchdrehen, klar? Versprochen?" Lovely-chan nickte bloß reduziert. Was sollte ihn noch zu Emotionen bewegen? "Dein Prinz ist im Untergeschoss bei den Kunstbänden." Feuerte Kou hastig die Silben ab. "Schleiche dich hinten runter, ja? Ich halte die Stellung." Die unmittelbare Antwort bestand in einem kurzen Blinzeln, dann, als müsse die Nachricht erst einen komplizierten Gang von Gehör zu Gehirn zu Bauch über Herz absolvieren, explodierten Lichter in den schwarzen Augen. Lovely-chans gesamtes Erscheinungsbild veränderte sich in Sekundenbruchteilen, seine Haltung wurde straff, aufgekratzt, vibrierend vor Energie, die Strähnen verabschiedeten ihr schlaffes Herumbaumeln. Die Hände vor dem Mund krümmten sich, ja, seine gesamte Ausstrahlung TANZTE förmlich! Ein Zwinkern. Anschließend konkurrierte er mit dem Schall, schoss förmlich über die Personalgänge und -treppenhäuser nach unten. »Jetzt dürfen wir uns bloß nicht erwischen lassen!« Hoffte Kou Yukina und machte seinem Spitznamen "der Prinz" wirklich alle Ehre. ~+~ Durchaus bedauernd verabschiedete man sich voneinander, doch Isidor von Spangenburg erinnerte sich rechtzeitig daran, keine unnötigen Risiken einzugehen. So blieb er standhaft bei seiner Mär, nur einen kurzen Aufenthalt bis zur Weiterreise zu haben und gegenwärtig aus dem Koffer zu leben, sodass er weder Visitenkarte noch andere Kontaktmöglichkeiten weitergeben konnte. Wenigstens jedoch, als er sich noch einmal höflich vor dem alten Mann verneigte, hatte er sich die letzten eineinhalb Stunden herrlich amüsiert, sich ausgetauscht und angeregt disputiert. Das hellte seine Laune merklich auf. Um sie herum reduzierte sich der Pulk der Neugierigen. Isidor entschied, dass er sich besser auch an einen anderen Ort verfügen sollte. So langsam sehnte er sich nach frischer Luft, nicht die aufbereitete, klimatisierte Version, die einem hier zugemutet wurde. Da materialisierte sich plötzlich, eine der blauen Schürzen des Bücherkaufhauses tragend, der seltsame Student namens Lovely-chan aus dem Boden direkt vor ihm. Unwillkürlich stockte Isidor von Spangenburg der Herzschlag, stolperte er einen verräterischen Schritt zurück, musste sich auf seinen Gehstock stützen, um durch die abrupte Bewegung nicht ins Trudeln zu geraten. "Gott sei Dank!" Stöhnte Lovely-chan vor ihm aus tiefster Seele (und definitiv auf Amerikanisch). "Sie sind es wirklich! Ich habe überall nach Ihnen gesucht!" "Ach ja? Warum?!" Schoss Isidor hastig und scharf zurück. Der Kerl machte ihn nervös, was er nicht von sich kannte und auch nicht kennen wollte! "Sie sind mein Schicksal!" Antwortete Lovely-chan prompt und überreichte ihm, ein wenig ungelenk, als müsse er sich erst darauf besinnen, mit beiden Händen seine Visitenkarte in Funktion der Abteilungsleitung im Bücherkaufhaus. "Das wollen wir nicht hoffen!" Versetzte Isidor kühl und von oben herab. Wenn er irgendjemandes Schicksal war, dann ja wohl das der kleinen Daimonenbande, die er instruieren musste! Der Bursche war KEIN Daimon, so viel war sicher! "Bitte!" Die Visitenkarte wurde ihm aufgedrängt. "Können wir uns nicht irgendwo unterhalten? Ich möchte mehr von Ihnen erfahren." "Warum?!" Nun grollte sogar Isidors Magen beunruhigt. "Wir kennen uns gar nicht! Das ist ein Zustand, in dem sich die meisten Menschen befinden, also völlig normal. Ich sehe keinen Grund, das zu ändern!" "Sehen kann man's vielleicht nicht, aber Sie spüren es, genau wie ich!" Lovely-chan gab nicht auf, die schwarzen Augen glühten förmlich, der Blick war so intensiv, so eindringlich, dass er Isidor eiskalte Schauer über den Rücken jagte. Isidor setzte schon an, energisch, kategorisch, ja, GRUNDSÄTZLICH jedes Gespür von irgendwas von sich zu weisen, als sich ein recht streng wirkender Mann mit der Schürze des Bücherkaufhauses einmischte. In einem korrekten, durch eine seltsam verschleppte Betonung kaum verständlichen Englisch erkundigte er sich bei Isidor, ob er behilflich sein könne, signalisierte mit jeder Faser seiner stocksteifen Haltung, dass ER und nicht der ungezogene, aufdringliche Jungspund die einzig richtige Adresse für Anliegen aller Art war. Der guten Laune ledig, durchaus irritiert über sich selbst, schnaubte Isidor in seiner Großvatersprache. "Ich habe nicht mal die Absicht, was zu kaufen!" Der Verkäufer zuckte, weil er dieser Sprache nicht mächtig war, was Isidor nicht verwunderte. Zu seiner Verblüffung reagierte jedoch Lovely-chan. "Du sprechst Deutsch?" Isidor von Spangenburg dachte ein gotteslästerlichen Fluch, ermahnte sich dann dringend zur Haltung. Dieser Urlaub war wirklich geeignet, ihn in ernstliche Schwierigkeiten zu bringen! ~+~ "Mach's gut und viel Glück!" Wünschte Kou Yukina, hob zum Abschied die Hand im Gewühl der Passanten. Lovely-chan strahlte zuversichtlich, als er sich auf den Weg machte. »Ob dieser merkwürdige Mann wohl sein Wort hält?« Zweifelte Kou insgeheim, verbannte aber seinen Kollegen und dessen kuriose Leidenschaft energisch aus seinen Gedanken. Der Mann SEINES Herzens hatte ihm kurz mitgeteilt, dass er ein wenig später eintrudeln würde, weshalb Kou sich unter die nunmehr geschlossenen Arkaden des Bücherkaufhauses Marimo-Books zurückzog. Er wusste, dass seine Statur, schlank und ein wenig über dem Durchschnitt groß, dazu glänzend braune Haare und ein simpler, jedoch modischer Chic die Aufmerksamkeit flanierender Mädchen und Damen auf sich zog. Von seinem üblichen "Harem" mal abgesehen, dem weiblichen Klientel, das nicht nur seinen Empfehlungen für ihre bebilderte Lektüre blind vertraute, sondern ihn auch sonst zu ihrem Ideal erkoren hatte. Er legte es durchaus eigennützig darauf an, denn mehr als je zuvor war er bestrebt, die Emerald Comics des Marukawa-Verlags umzusetzen, schließlich war kein anderer als sein geliebter Shouta Kisa dort Herausgeber in der Mädchen-Manga-Sektion! Geduldig spähte er über die wuselnden Menschen, mal bummelnd, mal eilend, doch bevor er ihn selbst sehen konnte, spürte er schon an seinem beschleunigten Puls, dass Kisa-chan sich näherte. Ein Neurologe hätte Kou wohl bedeutet, dass dieses Gefühl "des roten Schicksalsfadens, der sie so untrüglich verband", eine eher verklärte Ausprägung der korrekten Wahrnehmung seiner Sinne war, die sein Unterbewusstsein zutreffend einordnete, aber nicht in dieser Weise weitergab. Nur so konnte sich sein Kopf-Kino selbst gemütlich betrügen, nicht etwa aus allen aufgefangenen Sinneseindrücken korrekt schließen, dass Shouta Kisa sich zu ihm durchschob, sondern von einer übersinnlichen Ahnung phantasieren. Wie dem auch sei, im Resultat stand ein zierlicher, junger Mann vor Kou, mehr als einen Kopf kleiner, unauffällig gekleidet wie ein Student. Die dunklen Augen waren tief umschattet und glänzten vor Übermüdung, die feinen Gesichtszüge wirkten noch spitzer als gewöhnlich. Kou beugte sich tiefer und schnurrte kehlig. "Guten Abend, Kisa-chan." Am liebsten hätte er seinem ersten Impuls nachgegeben und den knapp eine Dekade älteren Mann, der so knabenhaft wirkte, fest in seine Arme geschlossen, doch solche Aktionen würde sich wirklich nur Lovely-chan erlauben. "Guten Abend, Yukina." Murmelte Shouta Kisa verlegen und ziemlich heiser. Obwohl sie einander ihre Liebe gestanden hatten, kam es noch immer zu Augenblicken voll Befangenheit, Scheu und Verwunderung. "Wollen wir rasch noch etwas zu essen kaufen?" Schlug Kou umsichtig vor. So, wie er Shoutas Alltag kannte, hatte der unermüdlich bis zum Abgabetermin gearbeitet, in großer Hektik und Hetze. Fürs regelmäßige Essen blieb da keine Zeit. "Oh, ja, das wäre nett." Antwortete Shouta ihm, lächelte schwächlich und rückte ein wenig näher, weil der Personenstrom um sie herum dazu neigte, ihn wegzukegeln. "Dann mal los!" Ungeniert legte Kou einen Arm beschützend um die schmalen Schultern, dirigierte Shouta auf diese Weise an seine Seite und bahnte sich gleichzeitig mit dem freien Ellenbogen eine Passage. Er wohnte unweit seines Teilzeitarbeitsplatzes, hatte keine Scheu, seinen Liebhaber dorthin zu verfrachten und übernachten zu lassen. Seine attraktiven Züge und der Beiname "der Prinz" kamen ihm sehr zupass, denn niemand traute ihm zu, sein zierlicher Begleiter sei mehr als nur ein enger Freund. In einem der allgegenwärtigen Supermärkte ohne Ladenschluss besorgten sie sich Fertigmahlzeiten, die nur noch in der Mikrowelle erhitzt werden mussten. Das mochte nur graduell über den Fertignudeln aus dem Plastiktopf eingeordnet sein und definitiv nicht dem entsprechen, was die Ernährungsapostel empfahlen, doch es war nahrhaft und praktisch. Fürs Ausgehen hatten sie beide simpel keine Zeit zu verschwenden. Durch zwei enge Gässchen zwischen den Gebäuden geschlüpft kamen sie in die Gegend, in der das Taubenschlag ähnliche Wohnhaus stand, in dem sowohl Kou Yukina als auch Lovely-chan ihr Einzimmerappartement hatten. Kou apportierte in einer Hand die Einkäufe in einer Plastiktüte, mit der anderen hielt er die kleine Hand seines Liebhabers. Der tappte matt an seiner Seite. Sie bestiegen den Aufzug, marschierten über einen langen Gang an zahllosen, gleichförmigen Eingangstüren entlang und kamen zu Kous Appartement. Kaum hatte er den Schlüssel gedreht, sie eingelassen, Schuhe abgestreift und seine Jacke aufgehängt, als er Shouta schon in eine enge, wärmende Umarmung zog. Der, noch halb in seinen Schuhen, versteifte sich wie gewohnt zuerst, um sich dann, mit einem tiefen Atemzug, zu entspannen, die Arme ebenso eng um Kou zu schlingen, wie dieser ihn hielt. "Gute Arbeit." Raunte Kou ihm auf den seidigen Schopf. "Das hast du gut gemacht." Er musste diese Aussage nicht spezifizieren, sie war schlichtweg eine allgemeine Anerkennung, von der er glaubte, dass Shouta sie viel öfter hören sollte. "Du auch." Murmelte es an seiner Brust verlegen. "Gute Arbeit." Das zauberte ein verliebtes Lächeln auf Kous ohnehin sehr attraktives Gesicht. Kisa-chan war einfach zu niedlich, vor allem, wenn sie nicht im Smalltalk-Modus waren, wenn ihnen die Worte fehlten, sie unsicher, ungelenk waren, einander fieberhaft ansahen, auf Hinweise hofften, sich selbst völlig zurücknahmen! "Setz dich, ja? Ich mache das Essen warm." Gab Kou die Marschrichtung vor und entließ, ein wenig widerstrebend, Shouta aus ihrer kuscheligen Umarmung. "HmmHmmm." Brummelte der wie ein übermüdetes Kind, wickelte sich aus seiner Jacke und sortierte noch die Schuhe ordentlich, bevor er neben Kous Bett auf ein Sitzkissen sackte und in sich zusammenfiel wie ein Soufflee bei Temperatursturz. Kou entblätterte ihre Mahlzeit aus Verpackungs- und Tütenschichten, befüllte dann die Mikrowelle und überprüfte, ob noch ausreichend Tee in der Thermoskanne vorhanden war. Während die Mikrowelle gedämpft ihrer aufheizenden Aufgabe nachging, verteilte er auf dem niedrigen Klapptisch Becher und Stäbchen sowie Löffel, schenkte Tee aus und legte Untersetzer auf, damit die Plastiknäpfe keine Kondensspuren hinterließen. Shouta ruckte wieder hoch, setzte sich auf und lächelte automatisch. "Gleich geht's los!" Verkündete Kou und wischte neckend über den seidigen Schopf des älteren Mannes. Er selbst hatte sich ungläubig den Ausweis vorzeigen lassen und auch jetzt konnte er sich nicht daran gewöhnen, dass Shouta Kisa Anfang Dreißig war. "Wo ist denn dein Nachbar?" Erkundigte sich der gerade, um Konversation zu betreiben, was ihn vom Einnicken abhielt. "Lovely-chan?" Kou bugsierte das Essen aus der Mikrowelle. "Stell dir vor, heute ist zufällig dieser Mann, für den er sich so interessiert, im Kaufhaus gewesen! Der hat versprochen, sich mit Lovely-chan zu treffen." "Was für ein Zufall." Kommentierte Shouta lahm, wischte sich hastig über die Lippen, weil allein der starke Geruch seinen Mund wässerte. "Bitte schön, guten Appetit!" Kou faltete sich an Shoutas Seite, so eng es möglich war, lächelte ihm zu und schenkte Tee nach. Shouta murmelte einen Dank und schlürfte gedämpft ein wenig von der Brühe ab, bevor er die Nudeln mit den Stäbchen attackierte. Kou tat es ihm gleich und so verstrichen einige Minuten, in denen sie, zufrieden und ein wenig müde, ihre Seele und den Magen mit guter Hausmannskost verwöhnten. Dann räumte Kou rasch das Geschirr ab, deponierte es in den kleinen Spülkorb auf dem Becken. Die Mahlzeit hatte Shouta noch schläfriger gemacht, weshalb er sich zu weiteren Maßnahmen gedrängt sah. "Duschen wir rasch und dann ins Bett, in Ordnung?" Er ging neben Shouta in die Hocke. "Oh, es geht schon noch!" Versuchte der mit einem Ruck, nicht das Spiel zu verderben, indem er sich aus Erschöpfung in Gemüse verwandelte und nur vegetierte. Immerhin war er ja in Kous Wohnung, sie konnten endlich miteinander allein sein und, nun ja, auch gewisse andere Dinge tun, die sie so lange hatten zurückstellen müssen! "Fein." Lächelte Kou amüsiert, zog Shouta mit zupackendem Griff unter die Achseln auf die Füße. "Machen wir uns rasch frisch." Ihm gefiel das Angebot, auch wenn er überzeugt war, dass Shouta in Kürze definitiv die Augen zufallen würden. Er dirigierte seinen Freund in die winzige Nasszelle, legte Handtücher und Yukata sowie frische Unterhosen aus, bevor er, eher mütterlich als galant, die Kleidung von Shouta pellte und ihn auf das allgegenwärtige Plastikbänkchen topfte. Sich selbst entkleidete er flugs und ohne Umschweife, dann wurde geschäumt und geschrubbt, bevor die Schaumspuren unter der Dusche im Bodenabfluss tiefer gurgelten. Eigentlich war diese winzige Nasszelle mit zwei Personen überbesetzt, doch erstaunlicherweise harmonierten sie so gut, dass es nicht zu Blessuren kam. Frisch abgetrocknet, die Zähne geputzt und fürs Bett eingekleidet räumte Kou seinen Klapptisch beiseite, stellte den Wecker ein und schlug die Tagesdecke zurück, um Shouta den Vortritt zu lassen. Der ließ die bereits vorausschauend deponierte Doppelausstattung von Kopfkissen und Bettdecke unkommentiert, errötete aber dezent an den Ohrläppchen und auf den Wangen. Kou löschte das Deckenlicht mit der Zugschnur und fand seinen Weg geübt, kroch unter seine Bettdecke. Er schob sich Shouta auf die Brust, der sich anschmiegte und müde seufzte. "Bekomme ich einen Kuss?" Schnurrte Kou bittend, kreiste mit der Hand über Shoutas Rückenpartie. Der rappelte sich auf, robbte ungelenk Richtung Kopfteil des Bettes, schwankte bedenklich und landete dennoch zielsicher auf Kous erfreut geteilten Lippen. "Ich liebe dich." Raunte er sonor, als Shouta sich zurückzog, leckte sich über die nunmehr gründlich befeuchteten Lippen. Unerwartet schlang Shouta ihm die Arme um den Nacken. "Ich dich auch, lieben, meine ich." Brabbelte der Ältere unzusammenhängend, mit schwerer Zunge. Kou unterdrückte ein hingerissenes Auflachen, erwiderte die Umarmung und zupfte gleichzeitig die Bettdecken gemütlich zurecht. Nicht mal eine Minute später spürte er, wie Shouta den Kampf gegen den Schlaf endgültig verlor und schwerer auf ihm lastete. "Dann schlaf mal gut und träum etwas Hübsches." Wisperte er, als er Shouta auf das Kopfkissen an seine Seite arrangierte. "Vorzugsweise von mir." Dass er selbst von Shouta träumen würde, stand für ihn außer Zweifel. ~+~ Isidor von Spangenburg warf sich selbst in einem Schaufenster einen ärgerlichen Blick zu. »Was hast du dir dabei bloß gedacht?!« Diese Frage stellte er sich nun selbst zum wiederholten Male in der privaten Abgeschiedenheit seines Verstandes. Zugegeben, seine Bereitschaft, diesen verrückten Amerikaner noch mal zu treffen, hatte ihn aus der Bedrängnis des Bücherkaufhauses befreit, aber dennoch verstand er sich selbst nicht mehr. War er wirklich schon so verzweifelt, dass er lieber mit einem dubiosen Studenten in einem Familienrestaurant Quiz spielen wollte, anstatt in seinem Hotelzimmer den Teppich abzutreten? "Das ist nicht gut!" Konstatierte er in der Sprache seines Großvaters. Das war ein weiterer Punkt, der ihn irritiert und verblüfft hatte: wieso hatte dieser seltsame Amerikaner begriffen, dass er in seiner Gedankenlosigkeit in seiner ersten Sprache gesprochen hatte? Man konnte mit Sicherheit behaupten, dass der frühe, mittelhochdeutsche Dialekt, den Isidor von Spangenburg niemals vergessen hatte, niemandem sonst noch authentisch und unverfälscht von der Zunge rollte! »Wieso versteht der verflixte Kerl auch noch Deutsch? Sieht aus wie ein Japaner, brabbelt definitiv Amerikanisch und hört raus, woher ich mal kam?!« Gründe genug, wirklich sehr nervös zu werden! Andererseits, was sollte er hier sonst mit seiner Zeit anfangen, wenn nicht zu seiner eigenen Unterhaltung beitragen? »Ich muss dem Knaben ja nicht alles auf die Nase binden. Kann ihn ja selbst gründlich aushorchen!« Weil die Wahrheit ohnehin nicht zur Debatte stand, konnte er als Lügenbaron ausreichend Distanz schaffen, um umgekehrt zu ermitteln, wie man so ein komischer Kauz wie dieser Lovely-chan wurde! ~+~ Frederick sprintete, sich zwischen Menschenmassen hindurch schlängelnd, euphorisch und nervös zugleich, zu ihrem Treffpunkt. Spontan war ihm simpel nichts anderes eingefallen als das Familienrestaurant, denn zu gut hatte er Kous Erzählung in Erinnerung, wie der eigentlich mit seinem geliebten Kisa-chan in eines der dubiosen Cafés gehen wollte, was dann geschlossen hatte. So ein Fehler sollte ihm auf keinen Fall unterlaufen, denn dann, da machte er sich keine Illusionen, würde ihm dieser ungewöhnliche, faszinierende Mann endgültig entschlüpfen! »Ich MUSS endlich seinen Namen erfahren!« Nahm Frederick sich vor. Mehr als geschickt hatte sich das Subjekt seiner unablässig aufwirbelnden Gedanken dieser Preisgabe entzogen. Wahrscheinlich hätte er sich auch herausgewunden, wenn nicht der Abteilungsleiter für die bildende Kunst auf den Plan getreten wäre. In geradezu mörderischer Gemeinheit hatte er den gesetzten, so förmlichen Mann darüber in Kenntnis gesetzt, dass ausgerechnet der Prachtband einige sachliche Fehler enthielte und man vielleicht vorausschauend einige Seiten verkleben sollte. Ein Sakrileg sondergleichen, dazu noch in fließendem, wenn auch altertümlichen Japanisch geäußert, das den Abteilungsleiter erbleichen ließ. Anschließend, in einem Englisch, das Shakespeares Werken entstammte, hatte er sich herabgelassen, Frederick zu treffen, wenn der endlich die Güte besäße, sein Handgelenk freizugeben. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihm selbst gar nicht bewusst gewesen, dass er nach der drängenden Übergabe seiner Visitenkarte ganz automatisch ein sehniges Handgelenk gekapert hatte, als müsse er um jeden Preis verhindern, dass ihre unsichtbare Verbindung erneut durch Unkenntnis unterbrochen wurde. Frederick verbot sich energisch, über die Motive zu spekulieren, die ihm nun doch die Gunst gewährten, sich mit dem seltsamen Mann zu treffen. Er stürmte durch die aufächzende Glastür des Familienrestaurants und blickte sich suchend um. Seine Zielperson saß an einem der kleinen Zweiertische, die aneinandergereiht vor einer langen Bank standen. Rings herum hatten sich Pärchen niedergelassen, warfen ab und an neugierige Blicke zu ihm hinüber. Diese wurden jedoch ignoriert, da man sich bei einer Tasse Tee auf eine Hochglanzzeitschrift konzentrierte. "Entschuldigung, dass Sie warten mussten, und danke schön!" Strahlte Frederick in seiner Muttersprache auf den schwarzen Lockenschopf herunter. "Abwarten!" Knurrte es ihm scharf entgegen, das markante Kinn mit der Kerbe verlangte ein sofortiges Platznehmen, was Frederick sich nicht zweimal sagen ließ. ~+~ Kapitel 4 - Kreuzverhöre Isidor von Spangenburg spürte, wie ein merkliches Unbehagen sich in seinem Körper ausbreitete, was ihn verärgerte. Warum um alles in der Welt brachte ihn dieser intensive Blick dieses neugierigen Amerikaners so aus dem Konzept?! »Stell dir vor, er wäre ein bräsiges Daimonengör, nein, ein DISCIPULO!« Versuchte er sich selbst wieder auf das übliche Niveau distanzierter Strenge zu hieven, doch wollte es einfach nicht gelingen. "Bitte!" So verstörend, dass dieser aufdringliche Bursche schon wieder Körperkontakt suchte, indem seine Hände über den Tisch Isidors berührten! "Wollen Sie mir nicht Ihren Namen verraten?" "Und weiter?" Bockte Isidor entschlossen. "Was dann? Was nützt es Ihnen?" Der Amerikaner, Lovely-chan, liebe Güte!, stutzte, lächelte dann hingerissen. "Nun, ich könnte Sie direkt ansprechen." "Und natürlich irgendwelche haltlosen Spekulationen anstellen, vermeintliche Rückschlüsse auf den Charakter oder die Umstände ziehen!" Isidor verengte seine klaren, blauen Eisaugen zu Schlitzen. "Oder wie wäre es mit Identitätsdiebstahl? Cyber-Mobbing?" Lovely-chan blinzelte perplex. Isidor lächelte innerlich sardonisch. "Ähm!" Stammelte der Amerikaner überrumpelt. "Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir uns besser kennenlernen können. Dann wären Spekulationen nicht notwendig." "Aha!" Isidor schnaubte. "Wenn ich nicht kooperiere, dann werden die Daumenschrauben angezogen, oder wie?" Nun runzelte sein Gegenüber, diese perfekte japanische Idol-Puppe, die Stirn. "Ich bin nicht sicher, dass ich Ihnen folgen kann, aber warum nehmen Sie an, dass ich Ihnen etwas Böses will?" "Warum denn nicht?" Provozierte Isidor, der langsam auf Betriebstemperatur kam. "Sie kennen mich nicht. Was sollte Sie also davon abhalten?" "Oh." Der Amerikaner sackte sichtlich in sich zusammen. "Ich habe Sie auch abgeschreckt, wie? Dabei dachte ich..." Was auch immer es war, er sprach es nicht aus. Isidor schnaubte betont verächtlich. "Na, bitte sehr! Was habe ich vorhin gesagt?! Sogar ohne meinen Namen zu kennen haben Sie sich irgendwelche Illusionen über meinen Charakter gemacht!" "Das stimmt nicht!" Widersprach Lovely-chan agitiert. "Aber Sie haben gleich gemerkt, dass ich kein Japaner bin, und deshalb..." "Du liebe Güte!" Isidor verdrehte theatralisch die Augen. "DARUM geht's also? Knick im Selbstwertgefühl, Heimatlosigkeit, Unrast? Ist das das große Rätsel?" »Perfekt!« Entschied er selbstzufrieden. »Jetzt stutze ich den Knaben auf Normalnull herunter. Er ist nichts weiter als ein kleiner Student mit einem Persönlichkeitsknacks. Prompt geht's mir besser, und ER findet mich bestimmt auch nicht mehr so interessant!« Ein guter Plan. Lovely-chan starrte ihn mit halboffenem Mund an. Es war nicht schwer zu ergründen, dass er von der abschätzigen Einstufung seiner persönlichen Probleme schwer getroffen war. "Lass mich raten!" Isidor dagegen lebte richtig auf, die Eisaugen glühten arktisch. "Obwohl du so ein Sonnenschein bist, wirst du hier ausgegrenzt, wie? Zu Hause, bei Uncle Sam, da erwarten alle, dass du wie all die kleinen Japsen ein Mathe-Genie bist und/oder im weißen Schlafanzug mit Kampftricks sämtliche Opponenten auf die Strohmatte schickst!" Selbstredend war diese Behauptung eine niederträchtige Provokation. Isidor lächelte sardonisch und sehr amüsiert in das verstörte Gesicht des durchaus attraktiven, jungen Mannes vor sich. Liebe Güte, waren sie alle so schafsdämlich? Rannte der Knabe ihm deshalb hinterher? »Was sagt das dann über DEINE Ausstrahlung aus?« Ätzte er sich selbst spöttisch an, doch das kümmerte Isidor von Spangenburg nicht sonderlich, weil er sich jetzt wie befreit fühlte von diesem ungewohnten Unbehagen. "Also..." Lovely-chan räusperte sich, schluckte trocken. Sein Blick wechselte zwischen Tischplatte und zögerlichem Blinzeln in die gnadenlosen Blauaugen. "Das ist wohl schon das Thema." Endete er lahm. "Tragisch." Kommentierte Isidor von Spangenburg boshaft in genau dem gleichgültig-abschätzigen Tonfall, der heftigen Widerspruch hervorrufen musste. Der Amerikaner jedenfalls studierte sein Gesicht nun merklich schockiert und eingeschüchtert. »Ha!« Triumphierte Isidor innerlich frohlockend. »Normalnull erreicht!« ~+~ Frederick versuchte angestrengt zu begreifen, warum der ungeheuer anziehende Mann, der bei näherer Betrachtung unmöglich alt genug sein konnte, um bereits als Gastdozent an der Universität Beschäftigung zu finden, ihn mit unverhohlener Begeisterung abqualifizierte. Ja, der schien sogar aufzuleben, seine steife, alerte Haltung lockerte sich! So eine Reaktion hatte er nicht erwartet. Er musste sich gleich selbst konsultieren, um festzustellen, dass er eigentlich gar nicht wusste, was er erwartet hatte. Es verhielt sich lediglich so, dass dieser unbekannte, junge Mann so außergewöhnlich, so einzigartig wirkte, dass er UNMÖGLICH von ihm lassen konnte. Vielleicht hatte Kou ja recht, und er war tatsächlich besessen? "Was ist denn los, Lovely-chan?" Träufelte dessen beinahe schnurrender Tonfall Gift in seine schockierte Benommenheit. "Haben wir unsere Zunge verschluckt?" »Der hat wirklich seinen Spaß!« Teilte ihm seine innere Stimme angewidert mit. »Gehen wir, los! An so ein Brechmittel verschwendest du keinen Moment deines Lebens mehr!« Frederick blieb sitzen, obwohl er nicht angeklebt war. Er räusperte sich und war dankbar, dass eine aufmerksame Servicekraft sich flink näherte und seine Bestellung aufnahm. "Weshalb wolltest du mich gleich noch mal kennenlernen?" Säuselte ihm der Unbekannte giftig zu, lächelte dabei breit und sichtlich erheitert. Die Hände unterhalb des Tisches auf seinen Oberschenkeln zu Fäusten geballt ermannte sich Frederick und nahm den Kampf auf. Er WAR sich seiner Gefühle sicher, und die sagten ihm unmissverständlich, dass dieser Mann vor ihm sein Schicksal war! Einen bedeutenden Einfluss ausübte, auch wenn sich das möglicherweise nur darauf beschränkte, ihn zukünftig davon abzuhalten, sich jemals wieder mit ihm abzugeben. "Ich möchte Sie kennenlernen, weil wir miteinander verbunden sind." Wiederholte er tapfer. "Auch wenn Ihnen mein Problem trivial erscheint, möchte ich doch um Ihren Ratschlag bitten." Die fröhlich glänzenden Blauaugen verfinsterten sich schlagartig. "Haltlose Behauptungen!" Fauchte ihm der Fremde entgegen. "Schicksal, Humbug!" Bevor der damit fortfahren konnte, Fredericks Einschätzung zu disqualifizieren, kehrte die Servicekraft mit dessen Bestellung zurück. Dankbar nippte er an seinem Tee und spülte den bitteren Belag von Einschüchterung von der Zunge. "Na fein!" Giftete der Fremde in dem anachronistisch wirkenden, dreiteiligen Anzug böse. "Wo liegt das Problem?" Frederick hatte schon anderen Gegnern in die Augen gesehen und ermahnte sich, seine Angst in ihren Schranken zu halten. "Ich habe das Gefühl, nirgendwo richtig beheimatet zu sein." Bevor er sich genauer erklären konnte, schnaubte der Fremde bereits theatralisch und verdrehte die makellosen Eisaugen. "Ist das eine Überraschung!" Geiferte der gallig, um sich dann vorzubeugen und auf Frederick einzuschießen. "Also, dann lösen wir doch mal das Rätsel, nicht wahr? Was denkst du wohl, warum die Einheimischen hier dich nicht verknusen können, hm?" "Ich bin nicht sicher..." Frederick brach ab, weil ihn eine ungeduldige Geste dazu aufforderte. "Blödsinn!" Urteilte sein Gegenüber bissig. "Streng dein bisschen Verstand an, Bursche! Du magst zwar aussehen wie alle anderen, aber deine Körpersprache ist eindeutig anders. Du bist also ein Rosstäuscher!" "Wie bitte?" Frederick konnte damit nichts anfangen, fühlte sich jedoch vage herabgesetzt. "Muss man heute alles erklären?!" Beklagte sich sein Gegenüber aufgekratzt. "Ist doch ganz simpel: du siehst aus wie sie, bist es aber nicht! Typische Verfahrensweise bei Pferdehändlern: motz die alte Mähre auf und verscherble sie als Renngaul! Funktioniert bis zum nächsten Stuhlgang oder einem kräftigen Schauer." ~+~ Isidor von Spangenburg studierte die tiefschwarzen Augen und knurrte ungeduldig. Warum waren junge Männer bloß GRUNDSÄTZLICH so begriffsstutzig?! Nicht, dass junge Daimonen sich darin unterschieden, es ging ihm bloß erheblich auf die Nerven, dass niemand den bereits eingebauten Verstand zur Abwechslung auch mal einschalten wollte! "Ja, aber, ich mache das doch nicht absichtlich!" Protestierte Lovely-chan schließlich. "Na und?!" Fauchte Isidor energisch zurück. "Wen interessiert das noch?! Weißt du nicht, dass die ersten Sekunden im Unterbewusstsein die Entscheidung über den jeweils anderen treffen?! Oder wie heißt das bei euch: you never get a second chance for a first impression?" "Äh." Lautete Lovely-chans Kommentar. Isidor jedoch kam jetzt richtig in Fahrt. "Los doch, vergeuden wir keine Zeit: dein Problem ist ja nun wirklich leicht zu lösen. Konsequenz, das ist der Schlüssel." Auf der anderen Seite blinkte ihm Ratlosigkeit entgegen, weshalb Isidor sich ganz als Instrukteur zu einem Quiz herausgefordert sah. "Hast du japanische Vorfahren?" "Ja, also, meine Großeltern, also meine Oma mütterlicherseits und mein Opa väterlicherseits." "Die haben Nicht-Japan-Stämmige geehelicht, weshalb deine Eltern jeweils nur noch zur Hälfte japanische Wurzeln haben und bei dir ist es ein Viertel, oder wie?" "Das stimmt!" Lovely-chan rappelte sich nun auf. "Komischerweise sehe ich total wie ein Japaner aus!" "Verflixte Gene, wie?" Schnaubte Isidor von Spangenburg unbeeindruckt. "Aber du bist nun mal unverkennbar ein Ami. Wo sagtest du, hast du gelebt?" Das hatte ihm Lovely-chan zwar nicht anvertraut, aber Isidor war spezialisiert für Verhöre dieser Art. "Pittsburgh, Pennsylvania." Informierte ihn der nun eindeutig als Amerikaner etikettierte Lovely-chan. "Da wohnt meine ganze Familie." "Dort haben die bösen Kids dich immer als Japsen diskriminiert, nicht wahr? Tsktsk!" Heuchelte er boshaft nicht vorhandenes Mitgefühl. "Nun, bist du gut in Mathematik und Naturwissenschaften?" "Na ja, schon." Druckste Lovely-chan herum und spülte mit Tee nach. "Als die fiesen Kids dir was reinwürgen wollten, weil alle ollen Japsen ja totale Martial Arts-Könner sind, was hast du da gemacht?" Zu seiner Freude zeichneten sich rötliche Flecken der Verlegenheit auf dem perfekten Porzellanteint ab. "Ich hab Karate gelernt." Murmelte Lovely-chan und senkte den Blick. "Überraschung!" Säuselte Isidor giftig. "Damit entsprichst du doch perfekt den Erwartungen! Wo also liegt das Problem?" "Aber so BIN ich gar nicht!" Protestierte Lovely-chan heftig. "Sie haben mich immer wie einen Fremden behandelt! Wie einen Ausländer!" "Ach was?" Schnurrte Isidor, begeistert, dass seine Gemeinheiten so viel Echo auslösten. "Hier bist du auch nicht froh, weil dich die Japaner als Ausländer wie einen Ausländer behandeln?" "Äh, das..." Lovely-chan stockte. "Das ist etwas anderes!" "Ist es nicht!" Widersprach Isidor kategorisch und lehnte sich zurück. "Streng gefälligst deinen Verstand an. Du kannst kein Japaner sein, auch wenn du wie einer aussiehst. Wieso bist du überhaupt hier?" Wieder senkte Lovely-chan den Blick, murmelte. "Wegen des Studiums." "Ach, gibt's in Pittsburgh keine Uni?" Isidor setzte wie ein Bluthund nach. "Schon, doch." Lovely-chan seufzte. "Also, natürlich gibt es eine Universität. Ich möchte Ingenieur werden, doch die Carnegie Mellon-Uni können wir uns nicht leisten. Weil es aber noch Beziehungen gibt, konnte ich mich auf die Saidai, also die Saitama-Universität, bewerben." "Schön!" Isidor sah die Lage als geklärt an. "Wenn du hier deinen Abschluss gemacht hast, willst du hier arbeiten?" Lovely-chan zuckte mit den Schultern, starrte in seinen Tee. "Sieh mich gefälligst an, wenn wir uns unterhalten!" Herrschte Isidor ihn scharf an, was den jungen Amerikaner zusammenzucken ließ. "Also, noch mal: willst du hier in Japan arbeiten?" Setzte er Daumenschrauben an. In dem attraktiven Gesicht arbeitete es, bis Lovely-chan schließlich antwortete. "Ich glaube nicht." "Warum nicht?" Isidor forcierte konsequentes Denken. "Weil ich mich abgelehnt fühle, deshalb!" Brauste Lovely-chan plötzlich auf. "Schön!" Konstatierte Isidor mit einem gefährlichen Lächeln. "Also bist du hier nicht zu Hause, und das ist auch nicht deine Heimat. Das wäre geklärt. Willst du in Amerika arbeiten?" Lovely-chan funkelte ihn über die kurze Distanz der Tischplatte an. "Wahrscheinlich." "Aha!" Isidor lupfte eine kritische Augenbraue. "Wo liegt dann das Problem? Dass irgendwelche blöden Gören dich als Japsen eingestuft haben?! Oder ist nicht vielmehr das tatsächliche Problem, dass du selbst nicht weißt, wer du bist?" Gegenüber trat bleierne Stille ein. Isidor, im Instrukteur-Modus, ließ kein Ausbiegen zu. "Habe ich nicht recht?!" Wiederholte er scharf. "Doch." Murmelte Lovely-chan und würgte eilig Tee herunter. "Na also!" Isidor von Spangenburg sah auch das Problem als gelöst an. "Die Erkenntnis lautet: die einzige Heimat, die ich unverändert und immer haben kann, ist in mir selbst, darum muss ich wissen, wer ich bin." Er warf einen kritischen Blick auf das gesenkte Haupt des Amerikaners und donnerte. "Wer entscheidet, wer ich bin?!" "Ich selbst." Wiederholte Lovely-chan leise. Isidor nahm seinen Gehstock und schob den gebogenen Griff unter das spitze Kinn des Amerikaners, zwang ihn auf diese Weise zum Blickkontakt. "Bursche!" Ermahnte er ihn eindringlich. "Übernimm die Verantwortung für dein Leben! Keiner sonst kann das. Such nicht bei anderen das, was du dir nur selbst geben kannst!" Denn, was auch immer man Isidor von Spangenburg als Instrukteur nachsagte, er war nicht grausam. ~+~ Frederick studierte in einer fast gelähmten Traurigkeit die Eisaugen vor sich. Er begriff, weniger durch die Worte als durch die transportierten Schwingungen, dass der Fremde ihm auf harte, aber durchaus herzliche Weise eine wichtige Lektion erteilen wollte, sich selbst zu helfen. Insgeheim, da führte kein Weg daran vorbei, kannte er die Antwort auf sein Problem bereits. Bloß-bloß wollte er auch von außen akzeptiert werden! Gleich Anerkennung erfahren, ein paar Vorschusslorbeeren bekommen! Als hätte er ihm seine Gedanken von der Stirn abgelesen, klopfte der Griff des Gehstocks nun gegen seine Schläfe. "Pass bloß auf, Grünschnabel, Vorurteile sind ein zweischneidiges Schwert." Frederick seufzte. Zugegeben, er hatte durchaus schon davon profitiert, dass man Asiaten für clever und fleißig und loyal hielt. Bloß-bloß konnte der Verstand ja durchaus recht haben, sein Herz aber eben ein wenig störrisch auf mehr hoffen! "Mach deinen Abschluss, nimm die vielen Erfahrungen hier mit und hake diese ungesunde Sehnsucht nach Zugehörigkeit ab, Junge!" Der Fremde wirkte plötzlich ruhig und sogar ein wenig nachsichtig. "Am Ende, wenn es hart auf hart kommt, musst du immer allein aus eigener Kraft stehen." Das klang so erfahren, dass Frederick unwillkürlich in den Gesichtszügen des Unbekannten nach Spuren dieser Erkenntnis suchte. "Und Sie?" Erkundigte er sich tollkühn. "Wo ist Ihre Heimat?" ~+~ Isidor von Spangenburg nippte an seinem Tee und antwortete knapp. "Meine Heimat bin ich selbst. Dort, wo ich mich gerade aufhalte, richte ich sie mir ein, solange mein Aufenthalt währt." Er wollte vermeiden, sich über die üblichen Gemeinplätze auszutauschen, die damit einhergingen, wenn man einen Ort als Anlaufadresse nannte. Natürlich konnte man sagen, dass die Institution, sein Appartement und die Daimonenwelt seine Heimat waren, doch was bedeutete das schon? Ein Umzug würde ihn nicht heimatlos machen, eine andere Beschäftigung auch nicht. "Ich dachte nur..." Lovely-chan räusperte sich verlegen. "Ich dachte, es ginge Ihnen ähnlich, weil Sie, nun ja..." Isidor vollendete mit bissiger Gehässigkeit den Satz. "Weil ich dunkelhäutig bin, aber blaue Augen habe, dazu schwarze Locken, also mit ziemlicher Sicherheit eine kuriose Mixtur unter all den anderen, hübsch sortierten Leuten?" Lovely-chan wirkte verschreckt, vor allem, weil er sich sicherlich nicht dem Vorwurf des Rassismus aussetzen wollte. Wenn man darüber nachdachte, (was eine dämliche Verschwendung war, wie Isidor von Spangenburg konstatierte), dann SOLLTE er sich mutmaßlich ebenso fremd und als Ausländer fühlen. In seinem Leben als Mensch jedoch hatte er keine Muße für derlei sinnlose Überlegungen gehabt! Als Untoter im Daimonenreich, zwischen Ex-Göttlichkeiten und allerlei anderem Strandgut war er keineswegs bemerkenswert. Wo ALLE anders waren, fiel niemand sonderlich aus dem Rahmen. Wenn man sich im Daimonenreich anfeindete, dann war das, abgesehen von existenzgefährdend, immer persönlich gemeint. "Für solche fruchtlosen Ideen habe ich keine Zeit." Äußerte er laut. "Es hätte auch gar keinen Zweck, sich danach zu orientieren. Menschen neigen nun mal dazu, gerne Schubladen aufzumachen, um eine zweifelhafte Ordnung in ihre Umwelt zu bringen." "Man benutzt die Schubladen ja auch selbst!" Seufzte Lovely-chan geschlagen. "Et voila!" Wählte Isidor, um nicht mit quod erat demonstrandum zu elaboriert zu wirken. "Das wäre dann ja erledigt. Wolltest du sonst noch was, oder hat sich damit dein Schicksal erfüllt?" ~+~ Frederick konnte den Blick nicht abwenden, auch wenn er selbst nicht wusste, was ihn derart in den Bann schlug. Dieser boshaft gehässige, junge Mann, vom Ansehen definitiv ein Exot, strahlte etwas Einzigartiges, Faszinierendes aus, das sich kaum in Worte kleiden ließ. Der bezwingende, eisblaue Blick, die gleichförmigen Konturen, die wollig weichen, schwarzen Locken, dieser ironisch geschwungene Mund und ein Teint wie dunkler Toffee! Allein das Betrachten beschleunigte seinen Herzschlag heftig. Als der Mund sich dünn verkniff, wachte er aus seiner Versunkenheit auf und begriff in aufkeimender Panik, dass er reagieren musste, um ihre Begegnung zu verlängern. "Sagen Sie, kommen Sie aus Deutschland? Es ist Ihre Muttersprache, oder?" Stammelte er hastig, um ein neutrales Thema zu finden. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, sich nun für immer zu trennen. ~+~ "Kann man so nicht sagen." Knurrte Isidor von Spangenburg wachsam, aber grundehrlich. Welche Sprache seine Mutter, wenn überhaupt, gesprochen hatte, war niemals Thema gewesen. Sie hatte gefälligst zu begreifen, was man auf dem Gut sprach, wenn sie was zu melden haben wollte. Er hätte also, selbst wenn es ihm etwas bedeutet hätte, nicht festlegen können, woher genau seine Mutter kam. Es hatte keine Rolle gespielt, zumindest nicht für die Personen, die zählten. Lovely-chan wirkte erneut verblüfft. "Sie haben aber doch spontan Deutsch gesprochen, und da habe ich angenommen..." "Es ist die Sprache meines Großvaters." Brummte Isidor abweisend. "Und, haben Sie Familie in Deutschland?" Lovely-chan hatte sich von seinem Schock erholt, so schien es. "Nicht mehr." Antwortete Isidor knapp, nun sehr aufmerksam. Er wollte sich nicht zu Fehlern hinreißen lassen, auch wenn nicht zu erwarten war, dass sie einander noch einmal über den Weg laufen würden. "Oh. Wo lebt Ihre Familie denn?" Der Amerikaner lächelte hoffnungsvoll, sich auf sicherem Terrain zu bewegen. Er operierte tatsächlich auf einem Minenfeld. "Gar nicht mehr." Beschied Isidor und hob gebieterisch die Hand, bevor ihm völlig überflüssige Mitgefühlsbekundungen aufgenötigt wurden. "Es vermisst sie auch keiner, also kein Grund für diese Trauermiene." "Dann..." Lovely-chan räusperte sich verlegen. "Dann sind Sie ganz allein auf der Welt?" "Och, es sind ja nur noch sieben Milliarden andere Homo sapiens gleichzeitig auf den Beinen." Ätzte Isidor giftig. "Da kann man wohl kaum allein sein." "Ich verstehe." Überging Lovely-chan seine Herausforderung. "Deshalb legen Sie auch so viel Wert darauf, allein auf eigenen Füßen zu stehen. Sie haben ja keine Alternative." Nun war es an Isidor von Spangenburg, erst zu schnauben und die Augen zu verengen, bevor er diesen Volley-Schlag in sein Spielfeld akzeptierte. "ICH habe wenigstens keine Ausrede, mich nicht auf mich selbst zu konzentrieren!" Feuerte er zurück. "ICH suche nicht bei anderen die Lösung für mein Problem!" Lovely-chan war jedoch noch nicht ausgekontert. "Nun, nach Ihrer Einschätzung habe ich ja auch gar keine Lösung bei anderen gesucht, sondern lediglich eine Bestätigung MEINER Lösung, richtig?" Isidor von Spangenburg knurrte. "Was wiederum beweist, dass jeder auf seinen eigenen Beinen stehen muss, nur manche diese Wahrheit lieber verdrängen, indem sie sich bei anderen rückversichern." "Die Rückversicherung ändert jedoch die eigene Entscheidung nicht, sondern bezieht andere mit ein. Das erleichtert den gesellschaftlichen Umgang." ovely- chan bewies, dass er doch nicht dem Bild des dösigen Durchschnittsmannes entsprach. "Wer's nötig hat!" Fauchte Isidor im letzten Gefecht. Lovely-chan lächelte süffisant. "Ich glaube, es macht Ihnen Spaß, sich zu streiten." Behauptete er. "Kontrovers disputieren!" Korrigierte Isidor von Spangenburg ihn hoheitsvoll. "Wer's nicht verträgt, muss eben aussteigen!" "Sagen Sie, haben Sie vielleicht Kunstgeschichte studiert? Sie haben sich so lange mit dem Kunstprofessor unterhalten!" Lovely-chan sammelte begierig weitere Informationen auf. "Kunstgeschichte? Nein!" Bellte Isidor knapp. Diese Dinge waren für ihn zeitgenössisch gewesen, bevor sie für andere Geschichte wurden. "Dann sind Sie kein Professor? Oder ein Dozent?" Lovely-chan setzte unerschrocken nach. "Nichts davon!" Gab Isidor knapp zurück. "Ich habe auch nichts für Ingenieurwissenschaften übrig, also können wir dieses Sujet gleich ausklammern." "Aber für Bücher!" Triumphierte Lovely-chan. "Deshalb waren Sie ja im Marimo, nicht wahr? Was lesen Sie gern?" ">Ab 19:00 Uhr Happy hourGratisprobe, kostenfreie Verkostung...