Titel: Flügelschlag des Schmetterlings Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original + Fan Fiction FSK: ab 16 Kategorie: Seifenoper Ereignis: Valentinstag 2008 Erstellt: 14.02.2008 ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ Herausforderungen für den Valentinstag 14.02.2008 ~> "Flügelschlag des Schmetterlings" Einsendezeitraum bis 30.12.2007, Vorschläge nach Eingang: # Miss P-chan: - Schokoladenallergie, - eine Goldene Hochzeitsfeier, - Briefe von einem Unbekannten, - Tattoo auf dem Schulterblatt mit chinesischem Drachenmotiv # Misa: - Vollmond, - ein Körper aus Schokolade, - vier Hundewelpen (verschiedene Würfe/Rassen), - eine Feier/Party voller dunkler Gestalten, die Sirtaki tanzen, - ein kaputter MP3-Player, - Klimts Bild >Der Kuss<, - Rage against the machine: "Killing in the name of" und - "Ring of fire" (ohne Interpret) # Nordlicht: - "I don't quite know how to say how I feel, those three words are said too much, they're not enough" aus "Chasing cars" von Snow Patrol, - Fandom: Princess Princess, - "und wer zur Hölle ist Valentin?", - Romantikphobie # Esther: - eigene Charaktere, - Füller (spielt eine bedeutende Rolle, grüne Tinte), - Pralinen in einer herzförmigen Schachtel, - Kollege um die 60 Jahre alt, belästigt halb so alte Kollegen/Kolleginnen, - Spring mit "Met de trein naar Oostende" # Vegeta: - Zwillinge, - Weltzeituhr, - karmesinrote Gummibärchen, - verschütteter Kaffee # Imani: - Kitkat mit Grüner Tee-Geschmack, - Hello Kitty, - laut schreiender Polizist, - Butler-Café # Koryu: - Istvan und Marius (»Verweile doch!«) sollen vorkommen, - "You don't own me" von Lesley Gore, - "Wenn du durch die Hölle gehst, gehe weiter", - >Aida< von Verdi, - ein unvergesslicher Opernabend ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ # Disclaimer/Erklärungen: ~ Princess Princess wurde von Mikiyo Tsuda geschaffen ~ die Rechte an den Liedern gehören den jeweiligen Inhabern. ~ Hello Kitty ist eine eingetragene Marke von Sanrio ~ "You don't own me" von M. Green und A. Lancaster ~ "Wenn du durch die Hölle gehst, gehe weiter" ist eine Übersetzung eines Ausspruchs, der Winston Churchill zugeschrieben wird ~ die zitierten Ereignisse zu Ring of fire fanden 2004 in Amerika statt ~ Kitkat mit grünem Tee-Geschmack wird von der Firma Nestlé in Japan vertrieben ~ Sonny Crockett ist eine Figur aus der amerikanischen Serie »Miami Vice« ~ Johnny Castle ist eine Figur des amerikanischen Spielfilms »Dirty Dancing« ~ Tony Manero ist eine Figur des amerikanischen Spielfilms »Saturday Night Fever« ~ Danny Zuko ist eine Figur des amerikanischen Spielfilms »Grease« ~ Shohei Sugiyama ist eine Figur des japanischen Spielfilms »Shall we dansu?« ~ Scott Hastings ist eine Figur des australischen Spielfilms »Strictly ballroom« ~ »Hairspray« bezieht sich auf den John Waters-Spielfilm ~ Don Lockwood ist Gene Kellys Charakter im Spielfilm »Singin in the rain« ~ Jerry Mulligan ist Gene Kellys Charakter im Spielfilm »An American in Paris« ~ »Ginger and Fred« bezieht sich auf die Tanz- und Schauspielpartner Fred Astaire und Ginger Rogers ~ Sirtaki ist ein Kunsttanz, dessen Choreographie aus verschiedenen griechischen Volkstänzen für den Film »Alexis Sorbas«, eine Romanverfilmung, erfunden wurde ~ Pachinko sind Glücksspielautomaten, deren Einsatz glänzende Kugeln sind ~ Pink Eiga, (rosa Filme) sind erotisch-skurril-experimentelle Filme für Erwachsene, sexuell explizit, oft avantgardistisch ~ Eta/burakumin: 'Paria' der japanischen Gesellschaft, Abkömmlinge der ausgestoßenen Klasse unter dem Vier-Stände-System, immer noch Diskriminierungen ausgesetzt ~ Cut, eigentlich Cutaway, ist ein festlicher Anzug, das Gegenstück zum Frack ~ Goya/gooyaa = Balsambirne, ein tropisches Kürbisgewächs mit gurkenähnlichen Gemüsefrüchten, eine Spezialität auf Okinawa. # Erklärung: Natürlich sind alle geschilderten Begebenheiten, Umstände, Ortsbeschreibungen und Personen fiktiv, obwohl sie sich auf diese Weise hätten ereignen können...möglicherweise ^.^ # Danksagung Vielen lieben Dank an die tollkühnen Herausforderer, ihr habt mich gehörig ins Schwitzen gebracht! Mein besonderer Dank gilt Miss P-chan, die mich tapfer bei Laune gehalten, mit Selbstgestricktem versorgt und einen fanatischen Fan-Anfall mit Humor gekontert hat. Sie konnte mir auch die Antwort auf das ungewöhnlich große Echo der Herausforderungen ganz unnachahmlich geben: >Ich nehme mal an, es liegt daran, dass so viele Menschen wie möglich ein Teil deines neuesten Ergusses sein möchten!" Habe die Ehre, meine Liebe! ^_~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ Flügelschlag des Schmetterlings Teil 1 - Präludium Kapitel 1 - Dompteur "Das ist ein Skandal!" Stereo tönten Yujiro Shihodani und Toru Kono quer durch das Büro, die Hände auf dem Schreibtisch aufgestützt, die Wangen gerötet vor Empörung. Akira Sakamoto gab sich der Hoffnung hin, dass die Tirade nun beendet war und er nicht eine dauerhafte Schädigung seines Gehörs fürchten musste. Ein wenig abseits wie stets wartete Mikoto Yutaka, der sich seiner Haltung nach kilometerweit weg wünschte. Verständlich, da er ebenfalls Ziel einer wüsten Verbalattacke gewesen war und sich der Ignoranz, grundsätzlichen Ahnungs- und Gefühllosigkeit sowie fundamentaler Blödheit hatte zeihen lassen müssen. Wenn es eins gab, was die beiden Ex-Prinzessinnen Yujiro und Toru meisterlich beherrschten, dann war es das synchrone Terrorisieren ihrer ehemaligen Mitstreiterin. Akira richtete sich auf, denn die schiere Vehemenz der Empörung, die unvermutet über ihn hereingebrochen war, hatte ihn tief in die Polster des großen Bürosessels getrieben. "Du musst sofort etwas unternehmen, Akira!" Yujiro griff neben sich und zerrte Mikoto zur Verstärkung der Front heran. "Das schadet dem Ruf der Prinzessinnen!" "Genau!" Toru trompetete nahtlos weiter. "Die Stimmung unter der Schülerschaft ist ohnehin aufgeheizt, da können wir uns keinen Skandal leisten!" "Also, ich finde..." Was Mikoto äußern wollte, ging in einem gebellten "Maul halten"-Befehl unter. Akira seufzte stumm und dankte den Göttern, dass seine rechte Hand, Vertreter und Vertrauter Toi C. Mitaka nicht anwesend war. Aber es konnte nicht mehr lange dauern, bis Toi erfolgreich von seiner Mission zurückkehrte. "Bitte beruhigt euch." Akira hob in einer beschwichtigenden Geste die Hände und lächelte besänftigend. "Ich bin überzeugt, wir klären dieses Missverständnis auf." "Missverständnis?!" Yujiro lupfte in geübt-arroganter Pose die Augenbrauen. "Hast du die beiden mal gesehen?! Das ist bestimmt KEIN Missverständnis!" "Genau!" Auch Toru unternahm keine Anstalten, Platz zu nehmen und einen Gang zurückzuschalten. "Hätten wir damals geahnt, wie die beiden sich aufführen würden, dann...!" In diesem Augenblick wurde die Schiebetür energisch zur Seite bewegt. Es gab nur eine einzige Person, die ohne zu klopfen eintreten durfte: Toi. Wie gewohnt hatte er seine Aufgabe mit der üblichen Effizienz erfüllt: in seiner Begleitung, etwas blass und durchaus verschreckt, befanden sich Tomoe Izumi und Kiriya Matsuoka, die amtierenden Prinzessinnen der Jungen-Oberschule. Offenkundig waren sie gerade von einem Spiel gelotst worden, denn sie trugen Cheerleader-Uniformen in den Schulfarben, bunte Pompons und modisch herabgesunkene Kniestrümpfe. »Wirklich!« Akira lächelte aufmunternd in die mädchenhaft zarten Gesichter. »Die Idee mit den weiblichen Rundungen ist doch etwas...grenzwertig.« Aber er wäre nicht Akira Sakamoto gewesen, wenn er sich einem Experiment ohne stichhaltige Gründe einfach in den Weg gestellt hätte. "Jetzt kommt's raus!" Yujiro streckte unfein den Zeigefinger aus und richtete ihn anklagend auf die beiden Zehntklässler. "Frag sie, was sie getan haben!" Drängte Toru im selben Tonfall. Akira riskierte einen Blick auf Toi, der hinter den beiden Prinzessinnen stand. In dessen blauen Augen blitzte es gefährlich. »Pscht!« Sandte Akira in Gedanken aus. »Ich mache das schon!« Er hatte Kopfschmerzen von der Brüllerei und hoffte, sich eine Fortsetzung zu ersparen. "Mikoto." Wandte er sich zur Überraschung der Anwesenden dem widerstrebenden Elftklässler zu. "Ich habe keine Einwände, dass du dich nicht an der Inszenierung beteiligst. Du willst sicher jede Gelegenheit nutzen, um zu deiner Familie nach Hause zu fahren, nicht wahr?" Er lächelte in Mikotos Augen, die vor Begeisterung zu Wagenrädern mutierten. "Du hast also meine Erlaubnis. Bitte grüße auch Megumi von mir, ja?" Schmunzelnd genoss er das Strahlen, das Mikotos gesamtes Gesicht veränderte, ihn freundlich und zutraulich erscheinen ließ, während seine Rechte eifrig gedrückt und geschüttelt wurde. "Na, geh schon telefonieren!" Flüsterte er seinem Mitschüler zu, der wie ein geölter Blitz das Büro verließ. Gute Nachrichten sollten in Windeseile weitergegeben werden! "Was soll das denn bedeuten?! Inszenierung?!" Yujiro und Toru übten sich im Chorgesang, auch wenn der hauptsächlich in misstrauischem Protest bestand. Akira erhob sich aus seinem Bürosessel, fasste die beiden Stürmer und Drängler entschlossen ins Auge. "Ich danke euch beiden für eure Unterstützung. Wir sehen uns dann später." Bevor sich ein erneuter Sturm des Widerspruchs erheben konnte, nutzte Toi seine überlegene Körpergröße, legte jeder der Ex-Prinzessinnen eine Hand auf die Schulter und sorgte mit eisiger Stimme für Gehorsam. "Abmarsch, aber hurtig!" Im Stillen bat Akira Toi um Verzeihung, weil der ihm die unangenehme Aufgabe abnahm, sich gegen die beiden durchzusetzen und dabei einiges an Gemeinheiten und Vorhaltungen zu hören bekam. Leider musste sich Akira allerdings eingestehen, dass er sich einer weiteren, endlosen Diskussion nicht gewachsen sah. Nun kehrte, mit dem nachdrücklichen Schließen der Schiebetür, endlich wieder die seltene Stille in seinem Büro ein. "Bitte setzt euch doch, Tomoe, Kiriya." Mit einladender Geste wies Akira auf das alte Sofa und verließ seinen Schreibtisch, um es sich dort mit ihnen gemütlich zu machen. "Wir haben leider nicht so oft die Gelegenheit, uns richtig zu unterhalten." Er lächelte und bemerkte, wie zumindest Tomoe sich ein wenig entspannte. "Ich bin sehr stolz auf eure Arbeit als Prinzessinnen. So viele Termine, und euer Arbeitseifer ist ungebrochen!" "...danke." Murmelte Kiriya als Antwort, riskierte einen raschen Seitenblick, der Akira nicht entging. "Ich weiß, dass eure Aufgabe nicht einfach ist." Akira seufzte mitfühlend. "Kaum Privatleben, eigentlich nie Zeit für sich selbst. Besonders die Imagepflege und die ständige Beobachtung durch die anderen Schüler, das ist sehr hart." Scheinbar gedankenverloren versuchte er einige besonders widerspenstige Strähnen zu glätten, gab schließlich auf. "Wahrscheinlich habt ihr auch schon von einem unerfreulichen Gerücht gehört, das seit heute Morgen durch die Schule geistert." Akira seufzte noch einmal. "Das bereitet mir Sorgen." Zur Betonung schwieg er einen sehr langen, sehr effektiven Augenblick, bevor er weitersprach, um die beiden Jüngeren nicht zu sehr zu quälen. "Es handelt sich zweifellos um ein Missverständnis. Ärgerlich daran ist, dass es für Unruhe sorgt und einen Schatten auf die Institution der Prinzessinnen wirft." Er bemerkte das verräterische Zucken. Tomoe hatte sich nicht so sehr im Griff wie der zierlichere Kiriya, tastete mit den Fingerspitzen nach denen des Freundes. "Nun ja!" Energisch schlug sich Akira auf die Oberschenkel. "So etwas passiert eben. Ich werde dafür sorgen, dass das dumme Missverständnis aufgeklärt wird. Euch möchte ich nur bitten, für die Musical-Version von Schneeweißchen und Rosenrot, die ihr für das Fest zum Jahresabschluss aufführen wollt, nicht vor Publikum zu üben. Es verdirbt ja auch ein wenig die Überraschung, nicht wahr?" Erneut blieb es sehr still. Kiriya sprang als Erster in die Höhe, verbeugte sich artig. "Vielen Dank, Herr Sakamoto! Wir werden Ihre Worte beherzigen!" Tomoe folgte mit leichter Verzögerung, strahlte aber so erleichtert, dass Akira das Lächeln leicht fiel. "Dann halte ich euch nicht länger auf. Wenn ihr Unterstützung benötigt, zögert bitte nicht, mich zu fragen." Geleitete er die beiden Prinzessinnen zur Tür. Wie erwartet lauerten auf dem Flur, knapp außer Hörweite, wofür ohne Zweifel Toi verantwortlich war, Toru und Yujiro. "Ah, kommt doch herein." Akira winkte dezent und lächelte unverwüstlich, während ihn skeptische Blicke bombardierten. Offenkundig war es immens irritierend, dass Tomoe und Kiriya nicht gesenkten Hauptes den Gang hinunterschlichen, sondern vielmehr elastisch sprangen, von frischem Mut beseelt. Akira zwinkerte Toi zu, der gewohnt stoisch seinen Posten in Reichweite einnahm. Wie immer, wenn Yujiro und Toru zugegen waren, umgab den Stellvertreter des Schülerpräsidenten eine Aura von bissiger Verärgerung. Und mehr als eine Ahnung von Eifersucht. "Wieso hast du sie nicht zurechtgewiesen?!" Yujiro baute sich vor Akira auf, die Hände in die Hüften gestützt. "Du hast ihnen doch nicht etwa geglaubt?!" Toru wirkte, als wolle er sich die Haare vor Entsetzen über so viel Naivität raufen. "Bitte, setzen wir uns doch." Akira ließ sich nicht beirren, klopfte einladend auf die abgetragenen Polster des Sofas. "Wie ich schon vermutet habe, handelte es sich einfach um ein dummes Missverständnis." Strahlte er breit in die Runde. "Das natürlich lückenlos aufgeklärt werden konnte." Er beugte sich vor, eine Hand erhoben, um die hitzigen Proteste im Keim zu ersticken. "Selbstverständlich war es das einzig Richtige, dass ihr hierher gekommen seid und mit mir gesprochen habt! Immerhin habt ihr ja die beiden als Prinzessinnen ausgewählt und tragt auch Verantwortung!" Das war definitiv kein feiner Zug, Akira wusste es, doch er ignorierte den zarten Schmerz des Schuldgefühls. Yujiro und Toru wechselten einen Blick und klappten die Kiefer hoch. Vielleicht war es doch angeraten, zunächst zu schweigen. "Die beiden sind wirklich hervorragend geeignet und gehen in ihrer Aufgabe auf! So viel Engagement ist vorbildlich!" Akira kämmte widerspenstige Strähnen hinter die Ohrmuscheln, wie gewohnt ohne bleibenden Erfolg. "Es ist jammerschade, dass durch die kleine Unachtsamkeit jetzt schon die ganze Schule wissen wird, dass die beiden zum Jahresabschluss ein Musical von 'Schneeweißchen und Rosenrot' inszenieren wollen!" Nachdem diese Bombe abgeworfen worden war, konnte sich Akira in die Polster lehnen, ein Bein anwinkeln, um es sich bequem zu machen. "Das nenne ich ambitioniert, mit Popsongs etwas ganz Neues zu kreieren! Ich habe die beiden gebeten, ab jetzt ein wenig vorsichtiger zu sein, damit die Überraschung nicht verdorben wird!" Konspirativ lehnte er sich vor. "Aber mir wäre es eine besondere Freude, wenn ihr beide mit eurer Erfahrung und eurem grandiosen Triumph bei der letzten Schulaufführung den beiden ein wenig unter die Arme greifen würdet." Nun hätte man eine Stecknadel auf den verschlissenen Teppich fallen hören können. "Und was ist mit Mikoto?" Yujiro gab nicht klein bei. Wenn schon Fronarbeit, dann sollte es auch ihre widerwillige Ex-Kollegin treffen! "Oh, Mikoto!" Akira legte den Kopf schief, als müsse er etwas erwägen. "Ja, darüber habe ich mir auch den Kopf zerbrochen, aber seht mal..." Er zwinkerte. "Das würde doch einen schlechten Eindruck machen, wenn gleich drei ehemalige Prinzessinnen den beiden amtierenden assistieren! Da würde man sich doch fragen, ob sie nicht in der Lage sind, ihre Aufgabe zu erfüllen, wenn ihre Tutorinnen vollzählig ihre Aktivitäten überwachen müssen!" Toru klappte nach oben, eindeutig steif, weil er konsterniert war. Yujiro folgte seinem Beispiel, die Lippen dünn vor Ärger. "Ich verlasse mich auf euch beide." Schmeichelte Akira freundlich. "Ich weiß, ihr wisst ganz genau, wie eine Prinzessin zu sein hat!" Er gestattete sich erst einen tiefen Atemzug, als Toi die Schiebetür hinter den beiden ehemaligen Prinzessinnen geschlossen hatte. "Du hast sehr gute Entscheidungen getroffen, Akira." Lobte der hochgewachsene Exot, nun mit warmer, zärtlicher Stimme. "Das hoffe ich, auch wenn ich mich zur Strafe ordentlich kneifen sollte." Bekannte Akira und rieb sich heftig über die Stirn. Die Kopfschmerzen rückten wieder in den Vordergrund. "Es war nicht nett gegenüber Yujiro und Toru." Legte er ein Geständnis ab, kam langsam auf die Beine. "Ich konnte niemandem einen Vorwurf machen." Ergänzte er müde. Er trat an das Fenster, blickte hinaus in die Dunkelheit und schauderte unter dem eisigen Strom der Klimaanlage. Toi schlang die Arme wärmend um seine Schultern, hauchte neckend auf Akiras Schopf, der sich einmal mehr in der Gegenwart des Halbjapaners klein und unreif fühlte. "Du hast dich verausgabt." Selbst im Vergleich mit Tois dunkler, erwachsener Stimme überkam Akira Wehmut. »Mit 18 Jahren...« Gab er seinem Spiegelbild stumm zu verstehen. »Da sollte man nicht mehr so kindlich aussehen.« "Was passiert, wenn sich zwei Prinzessinnen ineinander verlieben?" Tois Arme wanderten ein wenig tiefer, als wolle er sich selbst wie ein schützender Mantel um Akira wickeln. Akira lehnte sich gegen die vertraute Gestalt, runzelte die Stirn. "Ich glaube nicht, dass mir so etwas schon mal zu Ohren gekommen ist." Antwortete er nachdenklich. "Ich nehme an, dass mit den beiden Ausgeburten der Hölle als Schwiegermütter auf den Fersen eine Wiederholung zumindest bis auf Weiteres ausgeschlossen ist." Toi spielte auf Toru und Yujiro an. "Ja." Murmelte Akira und senkte die Lider, wollte nicht den feuchten Glanz seiner Augen in der Fensterscheibe sehen, weil ihn der migräneartige Anfall quälte. "Es wird bestimmt nicht mehr vorkommen." Außerdem hatte er Yujiro und Toru vehement daran erinnert, dass sie die beiden Zehntklässler vorgeschlagen hatten. Also würden sich die Ex-Prinzessinnen davor hüten, öffentlich irgendwelche Zweifel an der offiziellen Version des 'Missverständnisses' zu äußern. »Ich beneide sie.« Akira genoss die große, elegante Hand, die seine kalte Stirn wärmte. »Verliebt zu sein und sich zu küssen, das klingt himmlisch!« ~+~ Mikoto kauerte in der Telefonkabine und vermied es, auf dem polierten Tastenfeld für die Zahlen sein Gesicht zu betrachten. Verliebte sahen erfahrungsgemäß idiotisch aus, und er war herzklopfend, himmelhochjauchzend, unvergleich erregend verliebt! "...und dann sind sie auf mich losgegangen, wie die Brüllaffen! Ich sei unsensibel, würde nie mitbekommen, was los ist, wäre begriffsstutzig und total naiv! Der ganze Rest war noch gemeiner!" Er holte tief Luft. "Da nennen sie MICH gefühllos, aber, Megumi, wie feinfühlig ist es denn, mir immer solche Dinge an den Kopf zu werfen?! Sie behaupten zwar, dass sie meine Freunde sind und nur mein Bestes wollen, aber darauf kann ich verzichten! Ich bin bloß der Prellbock, an dem sie ihre miese Laune auslassen! Und ihre Eifersucht!" Am anderen Ende der Leitung war es still, sodass Mikoto sofort bereute, sich zu einer wütenden Klage aufgeschwungen zu haben. "Megumi?" Hakte er piepsig nach. "Die sind ja oberfies!" Zischte es am anderen Ende. Er konnte förmlich hören, wie seine Freundin die Fäuste ballte, denn es knirschte verdächtig. "Warte nur, wenn ich die zu fassen kriege...! Dann vergesse ich mal kurz, dass ich jetzt ein Mädchen bin!" Mikoto lachte gerührt. "Danke schön!" Wenn Megumi wütend wurde, sah sie besonders reizend aus. Vor allem, wenn ihr Zorn sich gegen jemand anderen als ihn richtete. "Akira hat mir die Erlaubnis gegeben, dass ich nicht mehr aushelfen und repräsentieren muss als Ex!" Sprudelte er hervor. Selbstverständlich hätte er Megumi auch einfach überraschen können, doch er war auf ihre Unterstützung angewiesen, wenn sie seine lästige, intrigante, ältere Schwester und Megumis Verehrerclub abwimmeln wollten. "Wirklich?! Spitze!!" Megumi lachte. "Dann sollten wir uns gleich was einfallen lassen, wie wir ohne Gefolge ausgehen können!" »Sie liest meine Gedanken!« Seufzte Mikoto hingerissen. Für diese faszinierende, einzigartige, wunderschöne Frau war er sogar bereit, sich an die Universität zu wagen, um sie abzuholen! ~+~ "AAAAAKIIIIIRAAAAAAAAAA!" Noch bevor er sich die Uniformjacke von den Schultern streifen konnte, folgte dem klagenden Wehgeschrei ein junger Mann, der Akira rücksichtslos von den Füßen fegte, sich mit ihm auf das Bett warf und hysterisch schluchzend alles Ungemach der Welt von seiner Seele schütteln wollte. "Harumi, ist ja gut!" Akira klopfte seinem drei Jahre älteren Bruder auf den Rücken und ertrug tapfer, dass sein Schulhemd am Kragen mit Krokodilstränen getränkt wurde. Für einen Moment, den man bloß den gehässigen Kopfschmerzen und der lähmenden Müdigkeit zuschreiben konnte, wünschte er sich, dass Harumis Kommilitonen ihren verehrten 'Herrn Sakamoto' so sehen konnten. Doch in der Öffentlichkeit war der älteste der Sakamotos stets der perfekte Prinz, souverän, zurückhaltend, attraktiv und mit ausgezeichneten Manieren gesegnet. Zu Hause allerdings, da lebte er seinen Bruderkomplex aus und klammerte sich regelmäßig an Akira wie an einen übergroßen Teddybären, dem er seinen Kummer anvertraute. Harumis größte Sorge bestand darin, dass er bereits volljährig war, es bisher aber nicht zu einer einzigen Verabredung geschafft hatte. Dieser Zustand war darin begründet, dass seine hauptsächlich männlichen Verehrer ihn seit der Schulzeit auf ein Podest stellten, zu einem unerreichbaren Idol verklärten. Auf keinen Fall irgendwelche menschlichen Schwächen zuließen! So hatte Harumi nicht die geringste Chance, eine Freundin zu finden, da er nicht einmal in Reichweite der Studentinnen kam. Der ideale Prinz war schließlich unbeweibt! Trotzdem versuchte Harumi immer wieder, aus diesem goldenen Käfig auszubrechen, was bisher aber nicht mit einer erfolgversprechenden Eroberung geendet hatte. Weshalb er sich recht häufig im Zimmer seines jüngeren Bruders fand, um sein Leid zu klagen und sich trösten zu lassen. Auch dieses Mal lauschte Akira geduldig der jammervollen Schmach, hielt Taschentücher zum Schnäuzen hin und klopfte seinem Bruder wie einem Kleinkind sanft den Rücken, während er beruhigende Phrasen wiederholte. "Aberaberaberaber!" Harumi zog höchst unvornehm die Nase hoch, blickte mit großen, feuchten Hundeaugen auf seinen jüngeren Bruder hinunter, der einen außerordentlich zerrupften Eindruck nach der Attacke machte. "Das ist noch nicht das Schlimmste!!" "Ah nein?" Akira bemühte sich um ein mitfühlendes Lächeln, hoffte, dass ein wenig Druck mit spitzen Fingern unterhalb der Rippen seinem Bruder subtil mitteilte, dass er bald unter dessen Gewicht erstickte. Nicht, dass Harumi etwa ein Schwergewicht gewesen wäre, doch er überragte Akira um einen Kopf, trotz seines familientypisch zierlichen Körperbaus. "Nein! NeinNeinNein!" Harumi klopfte mit einer Faust vehement auf die wehrlose Matratze. Die Tränenperlen in seinen langen Wimpern funkelten wie Diamanten. "Also!" Er setzte sich im Erzählmodus auf und ließ zu, dass Akira sich ebenfalls aufrichten konnte. "Du hast mir doch geraten, einmal wenigstens mit einem meiner Kommilitonen auszugehen, richtig?" Akira nickte artig und unterdrückte den Anflug schlechten Gewissens. Hatte er etwa zu verantworten, dass sein armer, verschreckter, hasenfüßiger Bruder belästigt worden war?! "Ich habe mir also den rausgepickt, der am manierlichsten ist." Harumi lehnte die Stirn gegen Akiras, schniefte selbstmitleidig. "Ich will ja nicht befummelt werden! Am Sonntag wollen wir uns im Einkaufszentrum treffen." DAS klang ja eigentlich gar nicht so furchtbar, wie Akira analysierte. Folgerichtig musste er Harumi nun liebevoll ermutigen, den Rest der Tragödie preiszugeben. "Was ist denn passiert? Was macht dir solchen Kummer?" Sanft kraulte er den grazilen Nacken des Älteren, lächelte schmelzend, um genau den richtigen Grad an Anteilnahme und Ernsthaftigkeit zu treffen. "NATSURU!!" Heulte Harumi aufs Stichwort wie die gleichnamige Boje los, umhalste Akira so erdrückend, dass der für einen Augenblick Sternchen sah, bevor er sich wieder Luft verschaffen konnte. Seltsamerweise klang der Name seiner zwei Jahre älteren Schwester aus Harumis Mund grundsätzlich wie ein Bannfluch. Die beiden verhielten sich trotz ihres Alters noch immer wie Katz und Hund. Was ihm seit seiner Geburt die undankbare Aufgabe des Vermittlers aufgenötigt hatte. "Oje, oje!" Summte er leise, klopfte dem hysterisch schluchzenden Bruder auf den Rücken und versuchte zu erraten, was seine burschikose Schwester dieses Mal für eine Gemeinheit ausgeheckt hatte. Vielleicht war es an der Zeit, mit ihr ein ernstes Wort zu reden. Sonst hätte er noch in zehn Jahren Harumi an seinem Hals kleben! Wenn der endlich ausgehen könnte, würde jemand anders sich zukünftig mit dem heulenden Elend zu befassen haben. Nachdem diese Gedanken sich tückisch manifestiert hatten, fühlte Akira, wie seine Wangen sich dunkelrot vor Scham färbten. Er liebte seine Geschwister ausnahmslos und mit all ihren Schwächen. Es war geradezu niederträchtig und verwerflich, sich aus der Verantwortung stehlen zu wollen! Immerhin, das durfte er nicht vergessen, ertrugen sie es klaglos, dass so ein farbloser Niemand wie er sich in ihre Mitte eingeschlichen hatte. "Erzähl mir doch einfach, was passiert ist." Ermunterte er Harumi darum besonders nachsichtig. "Ich verspreche dir, alles wird gut. Ich kümmere mich darum!" Harumi vertraute ihm, wie stets. 'Akira wird's schon richten' war mittlerweile ein geflügeltes Wort in der Familie Sakamoto. »Das Schmiermittel in allen verqueren Lebenslagen.« So übersetzte Akira es sich selbst. Unterbrochen von heftigen Schluchzern, Panikattacken und verzweifelten Anklagen unterrichtete Harumi ihn nun von der aktuellen Missetat der ältesten Tochter des Hauses. Um ihn auf sein erstes Rendezvous mit einem Verehrer vorzubereiten, so ihre Worte, habe sie ihm Basis-Lektüre zukommen lassen. Akira schwante zu diesem Zeitpunkt schon Übles, aber die Realität übertraf seine Befürchtungen. Harumi hatte also gelesen, und zwar in den Manga, weil Natsuru ihn für einen debilen Halbidioten hielt, der von seinem guten Aussehen zehrte und eigentlich mit bloßem Schriftbild ohne Piktogramme hoffnungslos überfordert sei. Besagte Lektüre sparte nicht mit den Details, die Harumi den Notschweiß auf die Stirn trieb: Männer machten mit Männern rum! In Zeitlupe, mit allen hässlichen Einzelheiten! UAAARGHHHHHHH! »Natsuru, Natsuru!« Akira seufzte und verdrehte die Augen. Auch wenn er keine besonders großen Erfahrungen im Umgang mit Mädchen hatte, da er seine Schullaufbahn seit der Grundschule nur unter Jungen absolvierte, wusste er doch, dass das vermeintlich schwache Geschlecht in mancherlei Hinsicht überhaupt nicht zartbesaitet war. Ganz im Gegenteil. Schwestern schienen in diesem Zusammenhang noch dem Tyrannosaurus Rex den Rang abzulaufen. Sie witterten die kleinste Schwäche und Heimlichkeit auf 100 Kilometer Entfernung und konnten jedem Bluthund das Wasser reichen. Dass Männer vor ihren Müttern oder Schwestern Angst hatten und sich vorzugsweise nicht zu Hause aufhielten, konnte man ja überall beobachten. "Na hör mal, Harumi!" Versuchte er, den kakophonischen Klangteppich aus Geheul, Wehklagen und schnaubender Empörung zu durchbrechen. "Das ist doch bloß ein dummer Scherz." Allein, Harumi war derart in seinen Kokon aus Selbstmitleid, ungerechtfertigter Grausamkeit seiner Umwelt und hysterischer Verzweiflung eingesponnen, dass er für jede rationale Bemerkung definitiv kein geneigtes Ohr hatte. "Uuuuund daaaaann..." Holte er Anlauf zum vernichtenden Schlag, der der bodenlosen Schlechtigkeit seiner Schwester die Krone aufsetzen sollte. "Da wurden sie noch schwanger!!" Akira blinzelte, warf dann einen sehr langen, sehr angestrengten Blick in die attraktiv verheulten Hundeaugen seines älteren Bruders. Er setzte sein liebevollstes Lächeln auf, reserviert für Babys, Welpen und Harumi in diesen speziellen Momenten. "Männer können nicht schwanger werden." Geübt fischte er Zellstofftücher aus dem Spender, der aus trauriger Erfahrung immer in Reichweite stand. Sanft tupfte er Harumi das Gesicht trocken. "Nicht mal Arnold Schwarzenegger kann schwanger werden." Harumi rutschte noch näher heran, wand sich um Akira wie einen großen Teddybären und schmiegte den Kopf in dessen Halsbeuge. "Denen ist da ein Extra-Bauch gewachsen, innen drin!" Ihn schauderte heftig. Akira wurde in der Folge beinahe zerdrückt. "Das sind bloß Geschichten." Akira streichelte über die perfekt seidigen, akkurat angeordneten schwarzen Strähnen. "So etwas gibt es nicht. Du musst keine Angst haben." "Ich habe Albträume davon bekommen!" Wimmerte Harumi Mitleid heischend an seinem schmächtigen Brustkorb. "Ist ja gut!" Akira hauchte einen freundlichen Kuss auf die Stirn seines Bruders. "Hab keine Angst mehr." Obwohl er wusste, dass er das besser nicht tun sollte, konnte er doch nicht anders. Er fasste Harumi bei den Schultern und richtete ihn auf. "Hör mal, wie wäre es, wenn ich am Sonntag mit zu eurem Rendezvous komme? Heimlich, im Hintergrund? Dann kannst du mir ein Zeichen geben, wenn alles in Ordnung ist. Und wenn nicht, dann komme ich dir zur Hilfe." Von einem Augenblick zum nächsten strahlte Harumi wie eine 1000 Watt-Birne, sprang vom Bett auf und wirbelte Akira mühelos durch die Luft. "Oh, superklassetoll!! SpitzeSpitzeSpitze! Akira, du bist einfach der Beste!" Trällerte er melodisch und lautstark durch das Haus. Akira wurde bereits schwindlig, aber die Hochstimmung hielt ohnehin nicht lange an, denn nun wurde zum zweiten Mal an diesem Abend seine Zimmertür ohne Klopfen aufgerissen. Herein stürmte, das Gesicht attraktiv trotz Zornesröte, Natsuru! "Du! DU!" Ihr anklagender Zeigefinger richtete sich auf Harumi, der eilends hinter Akira in Deckung ging. "Du Schlampsack! Du Trauerkloß! Du unsensibler Idiot!" "Natsuru..." Akira, ins Zentrum eines seit Jahren andauernden Zwistes geraten, hob beschwichtigend die Hände. "Akira, aus dem Weg! Ich muss ihn verprügeln, er bettelt ja geradezu darum!" Natsuru krempelte die Ärmel ihres Herrenhemds hoch. Kein Mann hätte darin reizvoller aussehen können. "Hier wird niemand verprügelt." Stellte Akira kategorisch fest, um dann in eine sanftere Tonlage zu wechseln. "Was ist denn passiert? Kann ich dir helfen?" "Er hat meine Bücher ruiniert! Ich habe ihm meine Bücher ausgeliehen und ihm LAUT UND DEUTLICH gesagt, er soll die Buchrücken nicht ruinieren, indem er sie einfach aufgeschlagen irgendwo liegen lässt!" Natsuru umkreiste Akira, der sich bemühte, für Harumi ein einigermaßen zuverlässiges Schutzschild zu bieten. "Ich habe von deinen doofen Manga Albträume bekommen!" Fauchte Harumi zurück. "Du bist selbst schuld!" "Und du bist ein Schlappschwanz! Ein Jammerlappen, der sich immer bei Akira an die Rockschöße hängt!" Natsuru zahlte ungerührt mit gleicher Münze zurück. "DAS reicht jetzt!" Akira klatschte laut in die Hände, der Ringrichter pfiff den Kampf ab. "Natsuru, bring mir doch bitte deine Bücher, ja? Ich werde sie wieder in Ordnung bringen." Vermittelte er und drückte seiner Schwester einen Kuss auf die Wange. "Danke schön!" Kaum dass Natsuru mit funkelnden Augen, die für Harumi Ungemach angekündigten, das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Akira zu Harumi um, der ihn noch immer umklammerte. "So, siehst du, alles in Ordnung. Und hab keine Angst wegen Sonntag, ich bin in deiner Nähe." Er lächelte hoch, tätschelte Harumi eine Wange und entließ ihn mit der Bitte, doch ihrem Vater beim Tischdecken zu helfen. So konnte man wenigstens eine Kollision mit Natsuru ohne Publikum vermeiden. Er atmete tief durch, als sich erneut seine Zimmertür öffnete. Es war allerdings nicht Natsuru mit den in Mitleidenschaft gezogenen Manga, sondern seine jüngere Schwester Fuyuki. "Hallo Kätzchen." Begrüßte er sie erfreut, denn Fuyuki neigte nicht dazu, ihn anzufallen. Dafür hatte sie vor vier Jahren die Angewohnheit angenommen, ihre Gefühle und Gedanken deutlich auszusprechen. Manchmal brachte ihre Ehrlichkeit ihn dann wirklich in arge Nöte, weil Fuyuki von seinen Geschwistern die scharfsinnigste Beobachterin war. "Darf ich dich um Rat bitten?" Fuyuki lächelte ihr gefährlichstes Lächeln, das selbst zähnefletschende Rottweiler zu fiependen Kuscheltieren mutieren ließ. "Am Sonntag will ich mit meinen Freundinnen von der Schule ins Kino und anschließend essen gehen. Ich kann mich aber nicht entscheiden, was ich anziehen soll. Das ist aber immens wichtig, weil..." Akira blendete, recht unhöflich, das gestand er sich ein, den Rest des Monologes aus. Die Quintessenz hatte er ohnehin erfasst: Fuyuki wollte eine zweite Meinung einholen, ob sie die Freundschaft mit einem Klassenkameraden, der etwas älter als sie war, vertiefen sollte. Ohne durch eine Gunstbezeugung den Rest ihrer Verehrer ungebührlich vor den Kopf zu stoßen. »Liebeshändel, warum verfolgen mich alle mit ihren Liebeshändeln?« Akira konnte nur staunen. Er selbst hatte es ebenfalls, wenn auch aus zweifellos anderen Gründen, niemals zu einem Rendezvous gebracht. Wenn man ihm an den Fersen klebte, ihn mit Ehrentiteln bedachte, dann war das nostalgische Erinnerung an seinen strahlenden Bruder Harumi. Oder jemand, der seinen Rat suchte. Ein durchaus deprimierender Gedanke, aber Akira wischte ihn schnell weg. Zum Kopfweh auch noch Herzschmerz, nein, das konnte er wahrlich nicht gebrauchen! ~+~ Kapitel 2 - Ausfallerscheinungen Toi hatte bereits die Befürchtungen gehegt, dass es Akira nicht gut ging, doch die Hoffnung, der würde sich ihm anvertrauen, wollte er nicht aufgeben. Er holte tief Luft, bevor er ihr gemeinsames Büro betrat. Akira stand am Fenster, kehrte ihm den Rücken zu. Beunruhigt verschloss Toi die Schiebetür hinter sich, durchquerte dann den Raum. Es war anzunehmen, dass Akira über die Entscheidung des Rektors nicht erfreut war, auch wenn man ihm die mangelnde Begeisterung nicht ansehen würde. "Ich werde dir natürlich weiterhin als Assistent zur Seite stehen." Eröffnete Toi behutsam das Gespräch, legte eine Hand auf Akiras Schulter. "Das ist furchtbar." Murmelte Akira kaum verständlich, presste die Stirn gegen die Scheibe. Toi zuckte zusammen, unterdrückte eine spontane und SEHR scharfe Replik. "Alles...furchtbar." Es klang fast so, als wäre Akira den Tränen nahe, doch unvermittelt kicherte er hell. »Das kann doch nicht wahr sein!« Bevor Toi sich bremsen konnte, hatte er Akira heftig herumgerissen, beugte sich tief über ihn und schnupperte. Akira roch definitiv nach Alkohol, und seine fiebrig glänzenden Augen kombiniert mit geröteten Wangen waren bereits Beweis genug. "Akira, was hast du getrunken?!" Toi stabilisierte den schwankenden Schülerpräsidenten mit einer Hand, während er sich hastig umsah. Er fasste Akira schließlich um die schlanke Taille und angelte mit der freien Hand nach der untersten Schublade des Schreibtisches, wo sich konfisziertes Eigentum befand. Die Flasche importierten Likörs war tatsächlich zur Hälfte geleert, auch wenn es sich lediglich um eine geringe Menge handelte. "Du meine Güte!" Toi hob Akira auf den gepolsterten Bürosessel, starrte auf den Likör und überlegte angestrengt, wie er nun vorgehen sollte. Auf gar keinen Fall durfte jemand Akira in diesem Zustand antreffen! Doch obwohl er sich dazu anhielt, sofort eine geeignete Lösung zu finden, konnte er nicht verhindern, dass ein Teil seiner Gedanken abschweifte. Er hatte nicht erwartet, dass Akira so unglücklich sein würde. Oder war es Verzweiflung? "Ich werde ein Taxi bestellen." Verkündete er, die Stirn in konzentrierte Falten gelegt, die sein exotisches Äußeres betonten. "Du wirst bei mir übernachten müssen." Denn, keine Frage, Akira in diesem Zustand bei den Sakamotos abliefern, DAS würde wahrscheinlich einen Lynchmord auslösen! "Ich will nicht zu dir." Brabbelte Akira undeutlich, vor allem darin begründet, dass er wie Pudding aus dem Bürosessel geglitten war und nun spannungslos eingeklemmt zwischen den Rollen und dem Schreibtisch kauerte. Toi unterdrückte einen Fluch, ging in die Hocke und kämpfte mit den Widrigkeiten der Situation. Akira war zwar nicht sonderlich schwer, kam ihm aber keineswegs entgegen bei seinen Bemühungen und er scheute sich vor allzu grober Gewalt. Endlich gelang es Toi, Akira wie bei einem Rettungsgriff unter den Achseln zu packen und seine Hände auf dessen Rücken zu verschränken, sodass er Akira mühsam auf die Beine hieven konnte. Nun schwitzte Toi, das Schulhemd klebte unangenehm auf seiner Haut. Rasch beförderte er Akira auf den Schreibtisch, bevor dessen weiche Knie ihn erneut auszählen und zu Boden schicken konnten. "So heiß..." Akira beklagte sich nicht wirklich, aber er wischte sich unruhig über das Gesicht, zappelte, als könne er sich tatsächlich noch auf den Beinen halten und Abkühlung an der Fensterscheibe finden. "Bleib liegen." Kommandierte Toi streng, drückte Akira mit einer flachen Hand auf die Schreibtischplatte, bevor er rasch zu einem Einbauschrank lief und dort die Erste Hilfe-Ausrüstung inspizierte. Er kehrte zu Akira zurück, der sich angestrengt aufzusetzen versuchte, aber kläglich scheiterte. "Schön liegen bleiben!" Toi versuchte es mit einem mütterlichen Tonfall, denn er fühlte sich von der Angelegenheit durchaus überfordert. Weniger die Herausforderung, diesen Zwischenfall zu vertuschen, bereitete ihm Sorgen als Akiras Zustand. Dessen Stirn glühte, die Hände waren kalt und klamm, seine Äußerungen unverständlich bis wirr. "Gleich wird es besser." Verkündete Toi, wischte mit der Linken Akiras ungebärdige Strähnen aus der Stirn, während er mit der Rechten das Kühlpflaster auf die freigelegte Haut klebte. "Ich wollte das letzte Jahr mit dir verbringen." Unerwartet füllten sich Akiras Augen mit Tränen. »Bitte kein besoffenes Herumheulen!« Toi presste die Lippen zu dünnen Strichen zusammen und schämte sich für seine spontane Abneigung. Es war doch offenkundig, dass Akira nicht die geringste Alkoholtoleranz hatte und unter erheblichem Druck litt! Warum musste er sich da so egoistisch um die eigene Würde kümmern?! Denn nichts anderes war doch seine gemeine Klage gewesen! "Ich bin immer an deiner Seite." Versprach er leise, wischte mit den Fingerspitzen behutsam die feuchten Spuren weg. "Wir bleiben zusammen, Akira, Ehrenwort." Akira lachte, aber es war keine freudige Reaktion. "Du verstehst nicht..." Er rollte den Kopf zur Seite. "Warum gelingt mir gar nichts?!" Nun begann er doch tatsächlich, mit geballten Fäusten auf die Tischplatte zu prügeln?! "Hör auf! Akira!" Toi fing eilends Akiras Handgelenke ein, schüttelte ihn sogar, aus Angst, man möge sie hören. "Tut mir leid." Murmelte er, als ihm seine Beweggründe erneut deutlich wurden. Warum konnte er seine vermaledeite Würde nicht einmal vergessen?! "Akira." Toi würgte an der wiederholten Niederlage. "Akira, wir fahren zu mir, es geht nicht anders. Ich rufe jetzt ein Taxi. Bitte, du musst leise sein, niemand darf etwas merken!" Zwar murmelte Akira Unverständliches, doch Toi gewann den ermutigenden Eindruck, dass bereits das Stadium trunkener Müdigkeit eingetreten war, die man geschickt mit einem Gesichtsschutz tarnen konnte. Eilig kontrollierte er das Büro, bevor er ihre Schultaschen auflas und Akira um die Hüfte fasste. Wenn sie nun niemandem begegneten und der Taxifahrer die zugesagte Zeit einhielt, konnte die erste Hürde erfolgreich gemeistert werden! Toi gelang es, Akira unsicher, aber auf eigenen Beinen zum Schultor zu dirigieren, wo der per Mobiltelefon herbei beorderte Taxifahrer nicht lange auf sich warten ließ. Auch gab der Mann sich damit zufrieden, dass Akira bloß schwer erkältet sei und deshalb einen so matten Eindruck machte, sich kaum auf den Füßen halten konnte. Sobald sie das feudale Eigenheim der Mitakas erreicht hatten, fühlte Toi, wie eine drückende Last von ihm abfiel: hier musste er sich nicht mehr um den äußeren Schein sorgen! Die Haushälterin erledigte ihre Aufgaben vormittags, sodass er allein war, da seine Eltern sich geschäftlich im Ausland aufhielten. Ohne viel Federlesens ließ er die Schultaschen neben der Eingangstür in der Halle fallen und hob Akira auf seine Arme. So konnte er auch leichter in den ersten Stock gelangen, wo sich seine Zimmer befanden. Er durchquerte die Zimmerflut, sein Wohn- und Arbeitszimmer, dann den Ankleideraum und schließlich das Schlafzimmer, wo er Akira behutsam auf seinem Bett ablegte und sogleich die Slipper abstreifte. "Uuuuuhhhhh!" Kommentierte Akira die Entwicklung, was Toi zu einer hastigen Frage nötigte. "Ist dir übel? Musst du dich übergeben?!" "...schwindlig..." Beklagte Akira die Veränderung, ließ sich aber willig aus der Schuluniform pellen. Toi deckte ihn rasch zu und rieb sich nachdenklich über die Stirn, die erneut in Falten geworfen wurde. Er hatte den Eindruck, dass nicht nur der Alkohol Akira zusetzte, doch er konnte wenig gegen das Fieber und/oder eine Erkältung unternehmen, weil er die Wechselwirkung mit dem Likör fürchtete. Außerdem, er sank auf die Bettkante, musste er noch die schwierige Hürde nehmen, die Sakamotos zu informieren. "Akira?" Toi beugte sich über ihn. "Denkst du, du kannst deiner Familie sagen, dass du hier übernachtest, weil wir so lange arbeiten mussten?" Akira starrte an die Zimmerdecke. Langsam richtete sich sein Blick auf Toi, der ihn beunruhigt studierte. "...ich kann gar nichts allein bewältigen, nicht wahr? Ich falle dir schon wieder zur Last." "Unsinn!" Widersprach Toi kategorisch, lehnte sich tief über Akira, um die wirren Strähnen zu striegeln, "Akira, lass uns das besprechen, wenn es dir besser geht, ja?" "Sicher...natürlich..." Aber Akira wirkte keineswegs einverstanden, drehte den Kopf weg. Nun war es an Toi zu zögern. Sein erster Impuls bestand darin, Akira in seine Arme zu ziehen und ihn zu trösten, ihm zu versichern, dass sein Selbstverständnis nicht der Realität entsprach. Aber wie immer wagte er nicht, so weit zu gehen. "Dann... helfe ich dir jetzt auf." Toi fasste Akira vorsichtig um die Schultern, setzte ihn auf, wandte sich herum, um sein Mobiltelefon aus der Tasche zu bergen. Obwohl Akira erschöpft war, gelang es ihm, einen sorglosen und munteren Tonfall anzunehmen, als er seinem Vater erklärte, warum er bei Toi übernachtete. Sogar die Glückwünsche, ein weiteres Jahr als Schülerpräsident aufgrund seiner Popularität fungieren zu können, nahm er fröhlich entgegen. Erst als Toi das Mobiltelefon auf den Nachttisch legte, sackte Akira gegen ihn, schlang die Arme um dessen Hals und begann, leise zu weinen. Nicht wie ein wehleidiger Betrunkener. "Es ist nicht so schlimm." Bemühte sich Toi um Trost. "Wir schaffen das gemeinsam." Er spürte, dass Akira Protest einlegen wollte, aber ohne eine Äußerung aufgab, sich einfach auf die Matratze sinken ließ und zur Seite, von ihm weg, rollte. Toi erhob sich langsam. Auch wenn es ihm nicht gefiel, so hielt er es für ungeschickt, jetzt noch in Akira zu dringen. "Ich bin gleich wieder zurück!" Verkündete er und zog sich in das Erdgeschoss zurück. Immerhin mussten die Schultaschen eingesammelt und die Haushälterin mit einer Nachricht darauf vorbereitet werden, dass ein Frühstücksgast im Haus war. Als Toi endlich wieder in sein Schlafzimmer zurückkehrte, lag Akira in einem fiebrigen Schlaf, die Augen gerötet, die Wangen von hitzigen Tränen gezeichnet. Er löschte alle Lichter und ließ sich neben seinem Bett im Lesesessel nieder. So kurz vor dem Jahresende hatte er sich eine positivere Entwicklung erwartet. ~+~ Wenn Toi sich vom gemeinsamen Frühstück eine Verbesserung der Situation erwartet hatte, so musste er sich eine weitere Niederlage eingestehen. Akira hatte kaum Appetit, schien noch immer unter Fieber zu leiden und vermied den Blickkontakt. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Einrichtungsgegenstände. Zierliche Möbel des Empire, wertvolle Tapisserien, kunstvolle Blumengestecke in alten, chinesischen Vasen, beherrscht von einer Reproduktion des Klimt-Kunstwerks 'Der Kuss'. Um wenigstens die Konversation aufrechtzuerhalten und ein unverfängliches Thema zu wählen, deutete Toi auf die dekorativen Elemente und erklärte sie mit wenigen Worten. Ihm selbst gefiel das Speisezimmer nicht sonderlich, weil es wie ein Museum wirkte, angefüllt mit Werten, aber ohne Wärme oder Wohnlichkeit. "Die Reproduktion wurde eigens mit Goldplättchen nachgebildet." Erläuterte er gerade, als Akira ihm heiser das Wort abschnitt. "Es ist ein kaltes Bild, finde ich. Ohne Gefühle." Toi blinzelte irritiert. Gemeinhin galt das Kunstwerk als ein Sinnbild großer Gefühle zwischen Liebenden. Wieso lehnte Akira die Komposition ab? Oder war es nur ein Vehikel, ihm eine andere Botschaft zu übermitteln? "Das Gold blendet die Augen, es ist kalt. Und sie sehen einander gar nicht an." Akira funkelte Toi ins Gesicht, sein gewohntes Lächeln verflogen. "Wer weiß, an wen sie denken, wenn sie die Augen geschlossen halten?" Toi verzichtete auf eine Erwiderung, denn er hatte nicht die Absicht, Akira zu widersprechen. Im Grunde waren ihm das Bild und dessen Bedeutung gleichgültig. »Ich hätte besser gestern das Gespräch fortsetzen sollen.« Erkannte Toi seinen Fehler, denn er hatte Akira offenkundig immens enttäuscht, wenn der sich so ungewohnt kratzbürstig und übellaunig zeigte. Doch auch jetzt konnte er nicht die geeignete Atmosphäre schaffen, um das heikle Thema erneut anzuschneiden. Möglicherweise war Akira sein Auftritt am Vortag nun auch peinlich und es wäre von Vorteil vorzugeben, dieser Zwischenfall habe sich nie ereignet? Nur widerwillig ließ sich Akira von Toi ein frisches Schulhemd leihen, ein weiterer Hinweis darauf, dass Akira noch nicht wieder er selbst war, stellte Toi besorgt fest. Da das Jahresende mit den Neujahrsfeierlichkeiten vor der Tür stand und einige Mitschüler offenkundig auch mit dem Fest der Liebe beschäftigt waren, herrschte während des Unterrichts eine träge Stimmung, zähe und matt, weil jeder nur darauf wartete, endlich den wichtigen Dingen des Lebens seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen zu können. Toi, der nicht mit Akira in eine Klasse ging aufgrund der unzeitigen Einschulung in der zehnten Oberstufe, musste sich energisch zur Disziplin ermahnen, um nicht enerviert mit dem Stift auf dem Schreibtisch zu trommeln. Dass Zeit relativ war, bewies sich ihm gerade bis zum absoluten Überdruss, denn sie dehnte sich wie Kaugummi und wollte einfach nicht verstreichen! In der Pause, ungeduldig ersehnt, sprang er gewohnt elastisch auf, um mit langen Schritten zum benachbarten Klassenraum zu wechseln. Vielleicht konnte er nun mit Akira sprechen, zumindest so vertraut, wie sie es sonst taten? Doch seine Hoffnungen wurden bitter enttäuscht: Akira saß nicht an seinem Platz. Toi blickte sich um und registrierte irritiert die seltsamen Blicke, die ihn trafen. "Wo ist Akira?" Toi fragte einfach in den Raum, da er ja im Mittelpunkt des Interesses stand. "Shihodani und Kono bringen ihn nach Hause." Erbarmte sich schließlich einer, dem Tois raubvogelartiges Starren die Nerven malträtierte. "Nach Hause?! Was ist passiert?!" Toi stürzte vor wie ein Habicht, seine ärgsten Befürchtungen im Hinterkopf. "Ihm ging's nicht gut!" Krächzte der Unglücksbote. "Ist einfach unter den Tisch gerutscht." Toi fluchte, eher er sich beherrschen konnte, allerdings in der Sprache seiner Mutter, sodass er nicht zu verstehen war. "Danke!" Würgte er bemüht höflich hervor, machte dann scharf auf dem Absatz kehrt und flüchtete in den Flur, wo er ein Fenster aufriss und die frostige Luft tief einatmete. Wäre bei den Sakamotos jemand um diese Uhrzeit zu Hause? Vielleicht die Mutter? »Ich hätte doch mit ihm zum Arzt gehen sollen« Toi knirschte hilflos vor Wut mit den Zähnen. Immerhin musste der Alkohol ja inzwischen verfolgen sein, oder? Außerdem wäre der Arzt doch zum Stillschweigen verpflichtet. Aber auch gegenüber den Eltern bei einem Minderjährigen? Toi blickte in Abgründe der Unwissenheit, die ihn in Rage brachten und ertappte sich dabei, Akira Vorhaltungen zu machen. Weil der sich betrunken hatte. Weil der nicht mit ihm geredet hatte, sondern sich betrank. Weil der darauf bestanden hatte, den ursprünglichen Besitzer der Flasche nicht bei der Schulleitung anzuzeigen, sondern Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Weil ausgerechnet Akira sich betrinken musste, der so offenkundig keinerlei Alkoholtoleranz hatte, dass es schon bedauernswert war. »Weil du nicht du selbst bist!« Hielt er Akira stumm vor. »Warum führst du dich so auf?!« Die größte Wut jedoch sparte er für sich selbst auf. Weil ER selbst nicht wusste, wie er mit diesem Akira umgehen sollte, der sich nicht an die Regeln hielt. Der so ganz anders war als sonst. Der ihn erneut erkennen ließ, wie erbärmlich abhängig er von seiner kostbaren Würde, von seinem Ansehen bei anderen, vom äußeren Eindruck war! Er WOLLTE nicht so sein! Toi ballte in ratlosem Zorn die Fäuste, öffnete sie dann keuchend wieder. Doch es schien ihm wie ein Kampf gegen Windmühlenflügel. So sehr er sich auch anstrengte, ein besserer Mensch zu werden, seine Charakterschwächen zu überwinden: er fiel immer wieder auf sie zurück. Der Lehrer nahte, die nächste Stunde würde beginnen. Toi straffte seine hochgewachsene Gestalt, setzte die üblich undurchdringlich-kühle Miene auf und schlüpfte gemessenen Schritts wieder in das Klassenzimmer, glitt auf seinen Platz. »Arbeite! Konzentriere dich!« Ermahnte er sich streng. »Alles andere ist jetzt nicht von Bedeutung!« ~+~ Der unerträgliche Wunsch, sie im Nacken zu packen und mit den Köpfen aneinander zu schlagen, quälte Toi körperlich, als er Toru und Yujiro sah, grinsend in ihrem Triumph, weil SIE Akiras beste Freunde waren und er bloß ein lästiger Störenfried. Betont selbstzufrieden schienen sie auf ihren Schokoladenriegeln zu kauen, die Lippen zimperlich gespitzt, wohl, um ihn noch mehr zu provozieren. Einzig Mikoto, der ein wenig abseits saß und keinen glücklichen Eindruck machte, zog eine hilflose Grimasse, als Toi den kleinen Sitzungssaal betrat. "Du bist zu spät." Wies Yujiro Toi katzenfreundlich hin, bevor Toru mit dem gleichen boshaften Grinsen die offene Schachtel Kitkat in der Geschmacksrichtung 'Grüner Tee' offerierte. "Ich bitte um Entschuldigung." Zischte Toi steif und ignorierte die Süßigkeiten. Obwohl er zur Hälfte Japaner war, was ihn allerdings immer noch zum Ausländer stempelte, mit verwässertem Blut und bedenklichen Erbanteilen, konnte er den grauenvollen Experimenten, Schokolade mit typisch japanischen Geschmacksnuancen zu verbinden, keinen Reiz abgewinnen. Im Gegenteil, Schokolade, Keksriegel und grüner Tee-Geschmack?! Widerlich! "Es geht um das Musical." Toru mümmelte weiter ungeniert Kitkat-Stäbchen, leckte sich in einstudiert lasziv-obszöner Geste über die Lippen. "Schneeweißchen und Rosenrot." Toi musste kein Hellseher sein, um eine weitere Intrige zu ahnen. Hätte eine seriöse Besprechung abgehalten werden sollen, wären die beiden amtierenden Prinzessinnen auch dazugebeten worden. "Die Planung liegt bei Izumi und Matsuoka." Antwortete er also barsch. "Das ist schon richtig." Schnurrte Yujiro trügerisch wohlwollend. "Wir sind ein wenig in Sorge wegen der Kostüme." Sehr sparsam lupfte Toi eine helle Augenbraue. Wut brodelte giftig in seiner Magengrube. Üblicherweise hätte Akira jetzt bereits mit einigen freundlichen Worten den beabsichtigten Konflikt verhindert, aber er sah sich dazu außerstande. Die beiden Ex-Prinzessinnen bürsteten ihn so gegen den Strich, dass er nicht professionell sein konnte! "Nun ja..." Toru leckte sich geziert mit der Zunge über die Fingerspitzen. "...ohne Zweifel bist du mit den INTIMITÄTEN..." Eine bedeutungsvolle Pause. "...der Handlung vertraut. Man sollte wirklich darauf achten, dass es nicht zu..." Erneute Pause. "... Missverständnissen kommt." Äußerst beherrscht antwortete Toi. "Wenn ihr so in Sorge um das Musical seid, warum besprecht ihr das nicht direkt mit Izumi und Matsuoka?" "Aber, aber!" Yujiro winkte manieriert mit einer schlanken Hand ab. "Unmöglich! Wirklich, das sähe doch nach Einmischung aus!" "Und genau die..." Toru traf EXAKT den gleichen nachsichtigen Tonfall. "...hat Akira sich ja verbeten." "So." Knurrte Toi dunkel, erhob sich, weil die Versuchung zu groß war, ein benachbartes Schienbein hart zu treten. "Und was erwartet ihr von mir?" "Och..." Yujiro zwinkerte. "... du könntest in deiner Funktion als Vize mit ihnen reden." "Genau, von Mann zu..." Toru grinste. "... nun ja, Mann. Sollte man meinen." "Ist das alles?" Erkundigte sich Toi frostig, grub die Finger hart in den Einbanddeckel seines Notizbuches. Aber besser dort die verstärkte Pappe lädiert, als sich hier zu Ohrfeigen hinreißen lassen! "Wir stehen dir natürlich gern mit unserem Rat zur Seite." Säuselte Yujiro, bevor Toru den entscheidenden Schlag führte. "Wir sind ja länger an der Schule als du." Toi legte sehr langsam sein Bündel auf den Tisch, stützte sich mit beiden Händen ab. "Ich werde nichts dergleichen tun." Artikulierte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. "Das Musical ist Sache der amtierenden Prinzessinnen, die IHR ausgewählt habt. Akira hat euch ausdrücklich jede Einmischung verboten, also haltet euch daran." Die freundlichen Masken fielen, Yujiro und Toru sprangen ebenfalls auf die Beine. "Überschätze deine Position nicht!" Zischte Yujiro giftig. "DU bist NICHT der Schülerpräsident!" "Und du willst doch nicht, dass Akira Ärger bekommt, weil du dir Kompetenzen angemaßt hast, die dir nicht zustehen!" Toru knurrte ebenso bissig. Toi richtete sich auf, nutzte seine überlegene Körpergröße aus. "Akira ist nicht hier." Erklärte er langsam. "Ich bin sein Vertreter. Und ich warne euch: lasst die Prinzessinnen in Ruhe." "Oder was?" Yujiro kippte eine Hüfte vor, warf sich in demonstrative Pose. Ihm gegenüber bleckte Toi seine perfekten Zähne, nützliches Erbe seiner Mutter. "Oder ihr werdet von jeglicher Aktivität der Prinzessinnen und der Schülervertretung ausgeschlossen." "Pff!" Toru winkte geringschätzig ab. "Akira wird das nie zulassen. Wir sind schließlich seine Freunde." "Wenn ihr seine Freunde wärt, dann würdet ihr zuerst mal daran denken, welchen Ärger ihr ihm aufhalst, indem ihr euch permanent einmischt!" Fauchte Toi hitzig, vergaß seine mühsam errungene Selbstbeherrschung. "Eure Zeit ist vorbei, begreift das endlich!" "Ha!" Yujiro tippte Toru auf die Schulter, ein Zeichen zum Gehen. "Du wirst dich noch wundern, Herr Eliteschnösel!" "Blau und grün wundern!" Ergänzte Toru gallig, bevor die beiden hoch erhobene Hauptes den kleinen Besprechungsraum verließen. Mikoto behielt seinen Platz, seufzte aber vernehmlich, bevor er den Kopf hob und Toi bekümmert ansah. "Wenn sie sich mit Arisada verbünden, wird es hässlich." Das konnte man wohl kaum bestreiten. Mit einer Hand wischte sich Toi die langen Strähnen aus dem Gesicht, sortierte seine Habseligkeiten ordentlich. "Ich fürchte Arisada nicht. Der hat zweifellos schon ganz andere Pläne. Die Oberstufe ist für den doch bloß Kleinkram." Unschlüssig zuckte Mikoto mit den Schultern. Zwei Jahre unter Arisadas Fuchtel hatten Spuren hinterlassen. Für einen Augenblick studierte Toi stumm den strubbelhaarigen Mitschüler. Mikoto hatte auch keinen leichten Stand, besonders, wenn sich die beiden anderen ständig gegen ihn verbündeten. Es war sehr mutig, nicht auf ihre Seite zu wechseln. "Du musst dir keine Sorgen machen. Ich werde Akira gut vertreten und hoffentlich kommt er schnell wieder." Bemüßigte sich Toi eines freundlichen Tonfalls. "Ja, hoffentlich!" Seufzte Mikoto und kam auf die Beine. Toi lächelte matt, klopfte seinem Mitschüler auf die Schultern. Es war ein Lob, und auch ein Dank, dafür bedurfte es keiner Worte. Mikoto grinste schief und verließ den Besprechungsraum. Nun, ohne lästige Zeugen, atmete Toi tief durch, spürte die schmerzhaften Verspannungen in seinen Schultern. »Einen verdammten Streit mit diesen zickigen Ex-Transen!« Fluchte er stumm und massierte sich die Nasenwurzel. Selbst wenn es zutraf, dass Izumi und Matsuoka ineinander verliebt waren und sich küssten, ging das nach seiner Auffassung niemanden etwas an. Natürlich sollten sie sich zurückhalten, solange sie die Kostüme trugen, damit kein anderer auf die Idee kam, sich an sie heranzumachen und körperliche Überlegenheit auszunutzen. Aber es war doch wohl kaum zu verleugnen, dass hier zwei Jungs betroffen waren und nicht zwei getarnte Mädchen! »Und überhaupt!« Toi suchte sein Mobiltelefon heraus. »Diese blöde Prinzessinnen-Nummer!« Er hatte einen Teil seiner Schullaufbahn im Ausland verbracht, zuerst in Europa, dann in Amerika. Ihm waren gewisse Kompensationshandlungen an reinen Jungenschulen durchaus nicht fremd, aber die Vergötterung von Idolen oder Prinzessinnen, die sogar dazu überging, Jungen in Mädchenkleidung zu stecken, um sie anbetend zu verfolgen, das widerstrebte ihm noch immer. Man durfte sich das selbstverständlich nicht anmerken lassen, aber in diesen Augenblicken fühlte er sich so fremd wie ein Außerirdischer auf der Erde. Nicht, dass es nicht in Europa oder Amerika anders gewesen wäre. Es gab immer Situationen, die ihn spüren ließen, dass er einen anderen Horizont hatte. Die Nummer war eingespeichert, aber um sein Gedächtnis zu trainieren, tippte er sie gelenkig ein und lauschte auf das Verbindungszeichen. "Guten Tag Frau Sakamoto." Meldete er sich höflich. "Hier spricht Mitaka, Toi Mitaka." Seine Erkundigung nach Akiras Gesundheitszustand wurde freundlich genug aufgenommen, sodass er erleichtert für sich verbuchte, dass zumindest der Alkoholexzess nicht aufgefallen war. Akira ging es leidlich, er hatte Fieber und klagte über Gliederschmerzen, man wartete auf einen Arzt. Zweifellos eine Grippe, sehr lästig, aber durchaus nicht unüblich. Toi verabschiedete sich mit Genesungswünschen und versprach, Kopien der Aufgaben vorbeizubringen, ein wichtiger Vorteil gegenüber Shihodani und Kono, denn die waren ja im schuleigenen Internat untergebracht und durften nicht so einfach durch die Stadt streifen. Die vorläufige Diagnose Grippe stimmte Toi allerdings nicht hoffnungsfroh. Mindestens 14 Tage dauerte sie, soweit ihm bekannt war. Also musste er noch eine ganze Weile ohne Akira auskommen. Er sank langsam auf einen Stuhl, als ihm auch körperlich klar wurde, wie dunkel und einsam es ohne Akira war. ~+~ »Schon komisch.« Dachte Toi ohne jeden Anflug von Humor. »Wie die Umstände sich auswirken können.« Eine Woche war seit Akiras letztem Schultag verstrichen. Seit diesem Zeitpunkt hatte er ihn weder gesehen noch mit ihm gesprochen. Kein Wunder, denn wie sich herausgestellt hatte, litt Akira unter einem hochaggressiven Virus, der sogar lebensbedrohlich werden konnte. Allein die Überlastung der Krankenhäuser hatte verhindert, dass Akira eingeliefert worden war, denn dort konnte man auch nicht mehr tun, als ständig das Fieber zu messen, Flüssigkeit zuzuführen und Schmerzmittel zu verabreichen. Jeden Tag, den Toi damit abschloss, am späten Abend bei den Sakamotos vorzusprechen, um Kopien abzuliefern und sich nach Akiras Befinden zu erkundigen, hörte er bloß unerfreuliche Berichte darüber, wie schlecht es Akira ging. Die ganze Familie war in Sorge, niemand kümmerte sich um eine eventuelle Ansteckungsgefahr. Ohne Akiras mäßigenden Einfluss knirschte es häufig zwischen den angespannten Familienmitgliedern. Auch an diesem Tag überreichte Toi Kopien und ein wenig Obst, sehr teuer aufgrund der Jahreszeit, aber sein großzügig bemessenes Taschengeld konnte kaum besser investiert werden. Vielleicht war Akira ja nun in der Lage, etwas zu sich zu nehmen und bei sich zu behalten? Mundschutz, Handschuhe, der aufdringliche Geruch von Heilöl zur Desinfizierung der Luft: erneut kroch es ihm kalt über den Rücken. »Erstaunlich, dass ich noch etwas fühle!« Dachte er milde überrascht. Eine Woche hatte genügt, ihn wieder in die Person zu verwandeln, die er vorher gewesen war, vor der Begegnung mit Akira. Die Welt war nichts weiter als eine Anhäufung von Aufgaben, die schnell und effizient erledigt werden mussten. Er musste klüger sein, flinker in der Auffassung, unabhängig und kühl, um nicht ins Straucheln zu geraten. Zu einer Maschine werden, unaufhaltsam, unbeirrbar. Auf eine gewisse Weise war es sogar leichter, zu seinem alten Selbst zurückzukehren. Es gab keine Zweifel, nichts und niemand stellte in Frage, was er wie tat. Alles war simpel und einfach strukturiert. Aber er spürte, wie die Kälte und Dunkelheit ihn einschlossen. Wie er jeden Tag länger in der Schule blieb, natürlich auch, um alle anstehenden Aufgaben zu erledigen, besser als jeder andere zu sein. Aber auch, weil er dort mit Akira zusammen war. Mit den Gefühlen, die der in ihm auslöste. Um diesen Schmerz, den Verlust zu überwinden, drehte er einfach am Pensum. Wie früher flog er förmlich dahin, wie ein Spieler mit einer unglaublichen Glückssträhne. Man durfte nicht innehalten, nicht zögern, nicht einmal blinzeln. Dann wäre der Rausch unwiederbringlich vorbei und wie Ikarus würde man von der Sonne in die dunklen, vernichtenden Tiefen des Meeres abstürzen. Toi wusste, dass es seine Bestimmung war, zu diesem einzigartigen Pfeil zu werden. Die Beschäftigten der zahlreichen Unternehmen, die seiner Familie gehörten, bauten darauf, dass der zukünftige Direktor sie ohne Fehl und Tadel führen würde. Er MUSSTE zum Ideal werden, übermenschlich und perfekt. So lange, bis er seinen Nachfolger vorbereitet hatte. Wie der Großvater es mit seinem Vater getan hatte. Und andere Väter vor ihnen. Was wäre übrig, wenn die Last abgeworfen war? Oder würde er schon vorher zerbrechen? Gäbe es einen Augenblick in seinem Leben, wo er zögern würde, geschäftliche Interessen privaten Bedürfnissen unterzuordnen? Toi wickelte sich enger in den teuren Mantel, ging eine Weile zu Fuß, bevor er ein Taxi heranwinkte. Tatsache war, dass er bereits gezweifelt hatte. Und vielleicht sogar bereit war, freiwillig in den Abgrund zu stürzen. ~+~ "Eine wundervolle Idee." Der Anzugträger nickte Toi wohlwollend zu, apportierte den teuren Champagner wie den Heiligen Gral. »Viel zu dick aufgetragen.« Dachte Toi leidenschaftslos, während er sich laut höflich bedankte. Vermutlich, wenn er sich anstrengte, würde er sich des Namens entsinnen. Alle diese 'salary men' in ihren einheitlichen Anzügen: sie sahen aus wie Zwillinge. »Als wären sie alle aus demselben Ei geschlüpft.« Er unterdrückte ein abschätziges Schnauben und fragte sich, ob es ihm jemals gelingen würde, sich so einfach in ihre Reihen einzuordnen, sich in eine Uniform aus gleichförmigen Anzügen zu werfen, farblos und ohne Ausdruck seiner Persönlichkeit. »Wie gut, dass mir Mutter Natur da hilfreich zur Seite steht!« Toi nahm einen dezenten Schluck des Champagners. Eigentlich war er zu jung, um in diesem Land Alkohol trinken zu dürfen. In Europa dagegen wäre es kein Problem, in den USA hätte er sich vermutlich über den jeweiligen Bundesstaat informieren müssen. Nein, er würde niemals in die uniformen Reihen passen. Seine Haarfarbe, seine exotischen Gesichtszüge, ja, sogar seine Größe, die langen Beine, das alles würde ihn immer wieder hervorstechen lassen. In diesen rebellischen, galligen Momenten erfreute er sich daran, dass er gar nicht erst untergehen konnte in diesem gesichtslosen Heer, in der Ameisenarmee, die fleißig vor sich hin arbeitete und nur im Kollektiv auftrat, Isolation und Individualität mit Misstrauen beobachtete. Rational verstand er natürlich, warum ein so bevölkerungsreiches Land sich einer Disziplin unterordnen musste, um den Alltag in Wohlstand und Ruhe erleben zu können, aber tief in ihm drin kochte ein kleiner Feuerteufel sein eigenes Süppchen und reizte ihn manchmal bis aufs Blut. Es war erstickend, hier zu sein. Er würde immer ein Außenseiter bleiben. Toi nickte einer vornehmen Dame zu, die erstrahlte und eine Reihe sehr schief stehender, gelber Zähne offenbarte. Noch so ein Punkt, an dem er immer wieder scheiterte: wieso wurden hier die Zähne nicht korrigiert?! Wie konnte sie sich teures Geschmeide um den faltig-dürren Hals hängen, aber so ein Gebiss präsentieren?! "Ah, gleich ist es soweit!" Der stellvertretende Direktor fasste Toi am Ellenbogen, stocknüchtern und ebenso ernsthaft. Toi wandte sich herum, studierte die geschmückte Wand, an der recht altmodisch eine Reihe von Uhren hingen, die die unterschiedlichen Vor-Ort-Zeiten ihrer Dependancen anzeigten. Nun wurde per Projektionsstrahl die Anzeige einer Weltzeituhr an die Decke geworfen. Alle stellten sich artig auf, das Glas im exakten 90°-Winkel in der rechten Hand, diszipliniert und ruhig, bis die letzte Ziffer abgezählt worden war. "Ein glückliches neues Jahr!" Schmetterte der stellvertretende Direktor neben Toi, als gelte es, einen unsichtbaren Feind mit den donnernden Lauten in die Flucht zu treiben. Die traditionelle Antwort erschallte im gleichförmigen Chor, dann richteten sich alle Augenpaare auf Toi, der immerhin vorgeschlagen hatte, die Belegschaft samt Familie im Firmensitz zu versammeln, um ein wenig zu feiern, gemeinsam zum benachbarten Schrein zu ziehen, um dort das erste Gebet des neuen Jahres zu sprechen. Obwohl ihm der Puls schnell schlug, hob Toi leicht das Glas, damit es mehr als den vorgeschriebenen Winkel erreichte, lächelte sonnig in die Runde und formulierte mit ruhiger Stimme in wohlgesetzten Worten die Neujahrswünsche, bevor er sich tief verneigte, nicht einen Tropfen verschüttete. Im Namen der Belegschaft donnerte der stellvertretende Direktor neben ihm erneut. Nun verneigte sich der gesamte Raum, dann wurde noch einmal angestoßen, Kampai-Rufe hallten, die starre Choreographie löste sich auf. Toi nahm einen tiefen Schluck. Bereits die erste Hürde, als sich sein Vater per Konferenzschaltung mit Video-Übertragung aus Sydney gemeldet hatte, konnte als Erfolg betrachtet werden. Jetzt war seine Aufgabe als 'Entertainer' beinahe abgeschlossen. Statt der Weltzeituhr wurden nun aus anderen kleineren Filialen die örtlich Verantwortlichen eingeblendet, die teilweise nervös, teilweise steif ihre Grüße entrichteten und von Toi höflich in ein auflockerndes Gespräch gezogen wurden. Endlich, eine gute Stunde später, waren Belegschaft und Kind/Kegel zum Aufbruch bereit. Warm in seinen teuren Mantel gehüllt und keineswegs so konservativ gekleidet wie die anderen Männer schritt Toi der Prozession voran. Er achtete darauf, nicht zu schnell zu gehen, damit die Kinder und die Ehegattinnen in den prachtvollen Kimonos nicht ins Stolpern gerieten. Sein leuchtend roter Schal diente als Orientierungsmarke im Gewimmel, denn auch andere Menschen wollten den ersten Tempelbesuch in Angriff nehmen. Eingerahmt vom stellvertretenden Direktor und einem weiteren, hochrangigen Mitarbeiter konzentrierte sich Toi darauf, keinen Fehler zu begehen. Im Gegensatz zu seinen Begleitern hatte er keine Routine in diesen Ritualen. Ja, er konnte sich nicht einmal entsinnen, mit seinen Eltern gemeinsam privat einen Tempel zum Neujahr besucht zu haben. Nicht, dass es einen Unterschied machte. Er glaubte nicht an Gebete, war eher von einer christlichen Einstellung geprägt, die unter dem Motto 'hilf dir selbst, dann hilft dir Gott' fungierte. Aber vielleicht half es ja, wenn man nichts beeinflussen konnte, sich wenigstens durch ein stummes Zwiegespräch abzulenken? Toi richtete sich auf, ließ anderen den Vortritt, zog sich ein wenig zurück und beobachtete die Angestellten mit ihren Familien. Da war sie wieder, die Kälte und die Dunkelheit, die ihn einschnürte, sein Gesichtsfeld verengte. »Nein.« Toi wärmte sich die Hände in den Manteltaschen, ignorierte die neugierigen Blicke des anderen Tempelbesuch ob seines exotischen Erscheinungsbildes. Wenn er Zwiegespräche hielt, dann ausschließlich mit sich selbst. »Du kannst nichts tun.« Ermahnte er stumm seinen trotzigen, rebellischen Zwilling. »Wenn du aufrichtig bist und konsequent, dann DARFST du nichts tun.« So traurig ihn diese Tatsache auch stimmte. Wenn es nötig wurde, würde er hocherhobenen Hauptes in die kalte Finsternis marschieren. Er wusste, dass er es konnte. Dieser Gedanke ließ Tränen in seine Augen treten, sodass er sich abwandte, angestrengt in den Himmel sah, doch hier dräuten nur Wolken, kein Stern zeigte sich. ~+~ Die Neujahrsfeierlichkeiten waren vorüber, nun herrschte bei einigen der letzten Oberstufe freudige Erwartung, weil sich der Jahrestag der Volljährigkeit näherte. »Wie ein Bienenstock!« Toi bemühte sich, mehr als professionelles Interesse an der Aufregung seiner Mitschüler zu zeigen, doch es fiel ihm von Tag zu Tag schwerer. Zumindest sorgte dieses Datum aber dafür, dass Arisada nicht an einer Parteinahme für die beiden Ex-Prinzessinnen interessiert war, denn zahlreiche Studenten warteten am Schultor, um sich für den ehemaligen Schülerpräsidenten in einen Sklavenstatus zu begeben. »Schon wieder ein neuer Hofstaat!« Toi zollte Arisada widerwillig Anerkennung. Er sammelte seine Bücher ein, um sich wie gewohnt bis zum Toresschluss im Büro des Schülerpräsidenten aufzuhalten, Arbeiten zu erledigen und die Arrangements seines Vaters zu goutieren, der für die anstehenden Ferien bereits Pläne aufstellte, damit sein Sohn sich noch mehr für die Belange des Familienunternehmens einsetzte. Vor dem Büro warteten die beiden amtierenden Prinzessinnen auf ihn. Sie hielten einander zwar nicht an den Händen, aber ihre Schultern streiften sich vertraut. "Ah, die beiden Prinzessinnen." Toi lächelte verhalten, seine Muskeln wollten nicht recht gehorchen. "Womit kann ich euch helfen?" "Das ist...also..." Beinahe unisono drucksten sie herum, so synchron, dass Toi Mühe hatte, nicht die Augen zu rollen. "Besprechen wir das doch im Büro." Bot er an. Man konnte ja nie wissen, wer auf der Lauer lag. "Ach, so wichtig ist es auch nicht!" Tomoe winkte ab, während Kiriya unerwartet energisch Tois Ärmel packte. "Bitte, würdest du den Prinzen spielen?!" Sprudelte er hastig heraus. Toi lupfte eine Augenbraue, dann dämmerte ihm die Bedeutung dieser Anfrage. "Bedauerlicherweise lassen mir meine Aufgaben keine Zeit, um eine so bedeutende Rolle zu übernehmen." Formulierte er höflich. Damit war Kiriya nicht abzuwimmeln. "Das dauert nicht lange, wirklich! Wir haben jemanden, der den Bären spielt, aber keinen Prinzen! Es ist bloß der Auftritt am Schluss!" Erläuterte er drängend. "Bitte, es ist nicht mal eine Sprech- oder Singrolle!" "Wieso kann der Bärendarsteller nicht auch den Prinzenpart übernehmen?" Behutsam machte sich Toi los. Immerhin, wenn er sich korrekt entsann, war ja der Bär eigentlich der Prinz. "Na ja..." Tomoe warf einen unsicheren Blick auf Kiriya, der finster auf die Tür starrte, dann stellte er sich auf die Zehenspitzen und flüsterte Toi hastig zu. "Er hat Angst, es könnten Gerüchte entstehen." Tois Augen verengten sich zu Schlitzen. "Und bei mir wäre das nicht der Fall?" Erkundigte er sich scharf. "Nein, ganz bestimmt nicht!" Tomoe strahlte ihn erwartungsvoll an und hielt Kiriya an der Hand. Mit einem Seufzer löste Toi ein Buch aus seinem Stapel, tippte damit auf die verschlungenen Finger. "Das ist hier keine Bühne." Hastig pressten sich zwei Paar Hände auf die jeweilige Hosennaht. "Ich erwarte ein aktuelles Skript." Entschied er und dämpfte den aufkommenden Jubel sofort. "Das ist noch KEINE Zusage!" Aber er wusste, dass es vermutlich keinen Ausweg gab. Offenkundig hatten die streitbaren Vorgängerinnen dafür gesorgt, dass jeder, der sich allzu 'romantisch' mit den Prinzessinnen zeigte, zu einem bedenklichen Ruf kam. Prinzessinnen waren natürlich tabu. Andererseits waren diese beiden ja tatsächlich Jungen unter dem Kostüm und deshalb ein homoerotisches Interesse nicht abzustreiten. Wenn man böswillig entsprechende Andeutungen fallen ließ. Toi öffnete die Bürotür, schob sie hinter sich ins Schloss und atmete tief durch. Akira würde enttäuscht sein, wenn er wiederkam... "Warum setzt du dich nicht in den Bürosessel?" Ruckartig zuckte Tois Kopf hoch, starrte auf die schmale Person, die hinter dem Schreibtisch saß, ein wenig versetzt, weil Toi sich einen einfachen Stuhl hinter das Pult gerückt hatte. Er war nicht dumm genug, sich in den Sessel des Schülerpräsidenten zu setzen, um weiteren Intrigen Vorschub zu leisten! "Akira!" Wisperte er perplex. Der legte verschwörerisch einen Finger auf die Lippen und signalisierte Stillschweigen. Er lächelte munter. "Schließe bitte die Tür hinter dir ab. Ich möchte hier nicht gefunden werden." Durchaus verwirrt von diesem Ansinnen leistete Toi nichtsdestotrotz Folge. Dann durchquerte er rasch den Raum, ließ seine Habseligkeiten auf den Schreibtisch sinken und beugte sich über Akira. "Wie geht es dir? Seit wann bist du hier?" "Hmmm..." Akira schmunzelte. "Besser, und eine Viertelstunde?" "Aber-aber...!?" Toi ging vor Akira in die Hocke, die Hände auf die Lehnen gestützt. "Warst du denn nicht im Unterricht? Bist du etwa ausgerückt?!" Akira lachte leise, hob eine Hand, um dem verblüfften Toi über den Scheitel zu streicheln. "Ja." Raunte er vertraulich. "Ich bin ausgerückt. Eigentlich dürfte ich noch gar nicht wieder raus, aber ich musste einfach an die Luft." Besorgt tastete Toi unter Akiras wirren Strähnen auf der Stirn nach der Temperatur. "Du fieberst ja!" "Das ist nur die Bewegung an der frischen Luft." Winkte Akira gelassen ab. "Du hattest es sicher schwer, die ganze Zeit meine Arbeit auch noch zu erledigen." Toi schraubte sich langsam in die Höhe. "Das ist meine Aufgabe. Ich kann dir Bericht erstatten, wenn du möchtest." Akira lehnte sich in seinem Bürosessel zurück, um zu Toi aufsehen zu können. "Deshalb bin ich ganz sicher nicht hierher gekommen!" Stellte er ungewohnt scharf fest. Unvermittelt streckte er eine Hand aus, packte Tois Linke und funkelte ihn ohne das gewohnte Lächeln an. "Willst du nicht endlich fragen, warum ich mich betrunken habe?" Fauchte er so frostig, dass Toi unwillkürlich zurückzuckte. "Nein?!" Akira erhob sich. "Warum schweigst du?! Ist es dir egal? Oder hast du Angst?" "Ich..." Toi zögerte, studierte Akira verwirrt. "Was ist los mit dir? So kenne ich dich gar nicht." "Nein, natürlich nicht." Akira hob ankündigungslos Tois Hand und biss sehr fest in dessen Handrücken. Mit einem entsetzten Keuchen stolperte Toi zurück, presste seine Hand instinktiv an sich. Akiras Zahnabdrücke waren deutlich zu erkennen und seine hastige Reaktion hatte blutige Kratzer in die eigene Haut getrieben. Seine Ausweichbewegung fand aber ihr Ende beim Schreibtisch in seinem Rücken, der sich hinderlich gegen seine Hüfte drückte. Vor ihm schoss Akira heran, rammte ihm kraftvoll die Faust in die Magengrube, sodass Toi ächzend vornüber kippte, von dieser Attacke vollkommen überrascht. Während er noch gequält nach Luft rang, aufsteigende Galle herunter zwang, blinzelte, grub Akira mit der freien Hand die Fingernägel in den Schulpullunder und zwang Toi einen Kuss auf. Akiras Finger lösten sich aus dem Stoff, schoben sich durch Tois Strähnen und legten sich auf dessen Schädel, hielten ihn gefangen in der leicht gekrümmten Haltung, während er an dessen Lippen und der Zunge saugte, sie mit seinem Speichel tränkte. Als Toi sich aufzurichten versuchte, biss Akira energisch zu, gestattete es Toi nicht, sich zurückzuziehen. Der schmeckte Blut und geriet in Panik. Was auch immer geschehen war, es behagte ihm gar nicht! Bevor Akira ihm auch noch die Haare ausreißen konnte, packte er dessen Handgelenke und schleuderte ihn herum. Er hatte allerdings dabei außer acht gelassen, dass Akira trotz seiner zierlichen Gestalt ein hervorragender Sportler war, sich unglücklicherweise auch auf Judo verstand. Einen Hüftwurf später winselte er unter dem harten Aufschlag auf der Schreibtischplatte, hörte, wie Bücher und Schreibutensilien auf den Boden fielen. Toi zwinkerte Tränen aus den Wimpern, sein Rückgrat protestierte heftig gegen die Misshandlung. Der Schmerz wurde abgelöst durch den Druck auf seinen Hüften, als sich Akira behände auf den Schreibtisch schwang und rittlings auf ihm Platz nahm. Nun waren es seine Handgelenke, die in einen Schraubzwingengriff geklemmt wurden. "Was jetzt?!" Zischte Akira, in den Mundwinkeln Blutspuren. Unter ihm konnte Toi bloß starren. Akira fletschte die Zähne, beugte sich dann tiefer, um von Tois Kinn bis hoch zu dessen Stirn zu lecken. Er grinste, als Tois Augen sich weiteten, immer noch ungläubig staunten. "Akira..." Keuchte er überwältigt. "...Akira...?" "Schnauze!" Knurrte der liebenswürdig und küsste Toi erneut, weder zurückhaltend noch jugendfrei. Toi schwindelte schon, als sich Akira aufrichtete, Tois Handgelenke freigab und sich mit einem Handrücken über den Mund wischte. "Was nun, huh?" Akira legte die Hände um Tois Hals. "Verdammt, willst du nicht endlich mal wütend werden?! Bin ich dir so egal, dass es dich nicht kümmert, was ich tue?!" Der Druck um Tois Kehle wurde schmerzhaft, aber er wollte Akira auch nicht weh tun. Er hob also die Hände und legte sie auf Akiras Hüften. "Es ist mir ganz und gar nicht egal, was mit dir los ist." Antwortete er heiser. "Aber böse kann ich dir nicht sein." "Warum nicht?!" Akira schlug Toi energisch auf die Brust. "Warum nicht?!" Unter ihm lächelte Toi schief. "Weil wir Freunde sind. Ich mag dich, Akira." Akira sackte langsam in sich zusammen, wischte sich fahrig über die Stirn. "Wieso bist du nicht gekommen?" "Gekommen?" Toi begriff nicht. Überhaupt, die ganze Situation wirkte so befremdlich, so surreal, dass er sich außerstande sah, kühl und kritisch über sein Vorgehen nachzudenken. Akira war niemand, der andere körperlich angriff, der sie verletzte, der fluchte oder beleidigte! Nein, Akira war freundlich, immer auf harmonischen Ausgleich bedacht, zurückhaltend bis zögerlich, oder? Vor allem aber blitzte er ihn jetzt wütend an, packte den V-Ausschnitt des Schulpullunders, hob Toi hoch und ließ dessen Kopf hart auf die Tischplatte fallen. "Wieso bist du nicht zu mir hochgekommen?! Was nützen mir die bescheuerten Kopien, huh?!" Tois Hinterkopf schlug erneut heftig auf die Platte. "Was hätte ich denn tun sollen?!" Toi hatte sich beim Aufprall auf die Zunge gebissen und verlor seine eiserne Contenance. "Hast du erwartet, dass ich bei dir fensterle?! Deine Familie hat mir gesagt, dass du zu krank bist, keinen Besuch bekommen darfst! Soll ich das ignorieren und dich in Gefahr bringen?!" Toi verstummte, erschrocken über die Lautstärke, die er angenommen hatte. "Warum nicht?!" Akira fauchte mit überschlagender Stimme, die Finger tief in die Strickware des Pullunders gegraben. "Wieso gibst du so schnell auf?! Wovor hast du so viel Schiss, verdammt?!" "Schiss?!" Toi knurrte wütend. "DU hast doch hier Schiss! Warum hast du dich sonst besoffen, hm?! Jeder andere wäre stolz, zwei Jahre Schülerpräsident zu sein, wenn nur ein Jahr üblich ist! Was ist bloß los mit dir?!" "Und was ist mit DIR los?!" Akira packte Tois lange Strähnen und verdrehte sie. "Ist dir nichts anders wichtig als dieses bescheuerte Amt?! Kannst du an nichts anderes denken?! Was bist du, so eine Art Karriere-Roboter?!" Darauf wusste Toi keine Antwort. Er konnte diesen Vorwurf nicht ganz entkräften, weil er sich selbst in diesem Zusammenhang nicht traute. "Scheiße!" Akira setzte sich auf seine Fersen zurück, wischte sich fahrig durch die struppigen Strähnen. "Kacke! Mist! Verflucht! Bullshit!" Er keuchte, offenkundig am Ende seiner Kenntnisse über Schmähworte. Unter ihm wusste sich Toi keinen Rat mehr. Er konnte nicht verstehen, was Akira zu diesem Verhalten bewegte. Oder warum Akira seine Aggression an ihm ausließ. "Akira, kannst du bitte runtersteigen? Mein Rücken tut weh." Nicht nur der Rücken, auch die aufgebissene Zunge und der Hinterkopf, doch man musste Prioritäten setzen. "Ist mir egal!" Schnappte Akira zornig, drückte Toi an den Schultern runter. "Wirklich?" Toi streckte langsam die Rechte aus, kämmte wirre Zotteln aus Akiras Gesicht. So vorsichtig, als bestehe die Gefahr, ihm würden die Finger abgebissen. "Nein." Antwortete Akira endlich leise, aber er unternahm keine Anstalten, sich von Toi zu lösen. Im Gegenteil: unerwartet fiel er über ihm in sich zusammen, legte eine glühende Wange in Tois Halsbeuge. "Warum bist du nicht gekommen?" Wiederholte er kaum vernehmlich, aber so matt, dass Toi die Worte mehr erahnte als tatsächlich hörte. "Es tut mir leid." Flüsterte Toi, legte die Arme um Akira. »Seltsam!« Stutzte er. »Ist Akira etwa einsam ohne mich?« Aber so ein Gedanke war vermessen, bei Akira, der so viele Freunde hatte! "Wieso kannst du mich so einfach abschreiben?" Akira hieb erstaunlich spitze Zähne in Tois Ohrläppchen, leckte dann über die Eindrücke. "Das ist grausam." "Autsch." Brummte Toi, wandte dann den Kopf, um sein malträtiertes Ohrläppchen in Sicherheit zu bringen. "Was redest du denn da?! Ich habe dich keineswegs abgeschrieben!" "Ha!" Schnaubte Akira, richtete sich ungelenk auf, als hätte ihn seine Energie komplett verlassen. "Du hast alles ohne mich geregelt. Ich könnte genauso gut unsichtbar sein. Für dich macht es keinen Unterschied, ob es mich gibt oder nicht." "Das ist absoluter Unsinn!" Protestierte Toi heftig und nutzte die Gelegenheit, sich auf die Ellenbogen hochzustemmen. "Leidest du unter Wahnvorstellungen?! Ich kann wirklich nicht begreifen, was mit dir los ist!" "Ja." Akira seufzte, sein gewohnt sanftes Lächeln blitzte auf. "Das ist das Problem, nicht wahr?" Er zuckte vor, die Arme lässig um Tois Nacken geschlungen und küsste ihn erneut. Ohne nachdrückliche Gewalt, ohne Bisse, aber nicht ohne das zärtliche Ablecken der Speichelspuren aus Mundwinkeln und vom Kinn. Dann ließ er sich vorsichtig von Tois Hüften und dem Schreibtisch gleiten, kletterte in seinen Bürosessel und zog die Beine eng vor den Leib, lehnte die Stirn auf die spitzen Knie. Toi richtete sich auf, rieb sich verlegen die gequälten Lendenwirbel. Zögerlich setzte er sich auf seinen einfachen Stuhl, den er vor den Schreibtisch gerückt hatte. "Akira..." Vorsichtig drehte er den Bürosessel herum. "Ist es nicht besser, wenn ich dich nach Hause bringe? Deine Familie wird sich bestimmt schon um dich sorgen." "Willst du mich so dringend loswerden?" Drang es gedämpft, aber deutlich hinter der Phalanx der dünnen Beine hervor. "Nein!" Toi rang um Beherrschung. "Das will ich nicht. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, was du von mir jetzt erwartest. Willst du reden? Dann nimm die Beine vom Stuhl. Willst du dich wieder prügeln? Davon habe ich genug, vielen Dank! Was willst du eigentlich?!" Akira schwieg eine lange Weile. Dann setzte er nacheinander seine Füße wieder auf den Boden, sah Toi an. Den beunruhigten die roten Flecken auf Akiras Wangen durchaus, denn sie sahen verdächtig nach erhöhter Temperatur aus. "Ich will, dass du mich ausziehst." Akira beugte sich vor und legte seine Hände auf Tois Knie. "Ich will deine Zunge von den Zehen bis zum Kopf auf meiner Haut spüren. Ich will, dass du hier, auf dem Schreibtisch, mit mir Sex hast. Ich will deine Finger in mir haben. Ich will, dass du mir so nahe bist wie kein anderer Mensch." Toi spürte, wie heftige Hitzeschübe seinen Kopf erreichten. So etwas hatte er bisher in keiner ihm gebräuchlichen Sprache gehört, obwohl er sich vernachlässigte Kenntnisse im Bereich der Pornofilme eingestehen musste. "Warum sagst du gar nichts?" Akira lächelte fiebrig. "Hast du deine Zunge verschluckt?" Obwohl er den Mund öffnete, brachte Toi einfach kein Wort heraus. Was sollte er auch sagen, wo er nicht einmal etwas denken konnte?! "Sag was!" Akira kam auf die Beine, packte Tois Handgelenke. "Verdammt, sag endlich etwas!" Ehe Toi reagieren konnte, kletterte Akira auf dessen Schoß, verkroch sich in den Armen und flüsterte immer wieder erstickt Tois Namen. In dessen Kopf herrschte noch immer Funkstille. Das KONNTE einfach nicht wahr sein! Akira würde doch nie....! Er musste sich verhört haben...es war das Fieber, ohne Zweifel... ! Tatsächlich glühte Akiras Wange an seiner, aber die Kraft, mit der er sich an ihn klammerte, sprach nicht gerade für einen Schwächeanfall. "Sag etwas, bitte!" Flüsterte Akira an seinem Ohr. "Toi, bitte! Rede mit mir." Der holte tief Luft, wusste aber nicht, ob er in der Lage war, etwas Sinnvolles zu äußern. "...ich bin...ich bin so überrascht." Toi nahm Anlauf. "Ich hatte nicht erwartet, dass du so für mich empfindest." DAS war wohl die Untertreibung des noch jungen Jahres. "Was hast du denn gedacht, was ich bin?!" Akira stieß die Silben gequält hervor. "Ein Neutrum? Ein niedliches Hundchen? Der tolle Herr Sakamoto, unser Maskottchen? Die wandelnde Friedenstaube?!" "Tut mir leid." Murmelte Toi und meinte es dieses Mal sehr aufrichtig und bedauernd. "Ich habe die Nase so voll!" Akira löste sich gerade so weit, dass er Toi ins Gesicht sehen konnte, schniefte erhitzt. "Ich bin doch kein Automat! Jeder bastelt sich ein Bild von mir und zerrt so lange herum, bis ich mich genauso verhalte, eine Marionette, die an den Strippen tanzt! Aber ich WILL nicht mehr!" Erschöpft von seinem Wutausbruch lehnte Akira wieder die Stirn auf Tois Schulter. Eine unbequeme Haltung, obwohl Toi ihn gewöhnlich um einen Kopf überragte. Dessen Verstand hatte sich schließlich doch noch bequemt, die Mosaiksteinchen zusammenzusetzen. Das Bild war im Ergebnis berauschend und erschreckend zugleich. "Du wolltest deshalb nicht mehr Schülerpräsident sein?" Toi hasardierte eine kühne These. An seiner Schulter schnaubte es verächtlich. "Das hättest du wohl gern, wie?!" Toi presste die Lippen zusammen, um keine wütende Entgegnung entschlüpfen zu lassen. Warum verlangte Akira von ihm zu reden, rückte aber selbst nicht deutlich mit der Sprache heraus?! "Was wäre wohl passiert, hm?" Akira wechselte von der Schulter zu Tois Stirn, gegen die man sich auch lehnen konnte. "Auch das letzte Schuljahr würden wir bloß herumhetzen, keine Zeit für nichts, Prüfungen, Organisation, usw. Dann wäre der Abschlusstag, wir schütteln uns die Hände, das war's." Unter ihm erstarrte Toi bei den bitteren Worten. "So weit hast du gar nicht gedacht, oder?" Akira legte die kalten Hände um Tois Wangen. "Bin ich denn der Einzige, der das letzte Jahr nutzen wollte, damit wir zusammen sind? Zeit für uns haben?" Toi blinzelte bloß. In seinem Magen hatte sich Blitzeis gebildet und alles in einen schweren Klumpen verwandelt. Akira zog eine Grimasse. "Schreibst du mich wirklich so einfach ab?" Unwillkürlich, es konnte nur ein Reflex sein!, quetschte Toi in einer Umarmung Akira beinahe die Luft ab, presste ihn so eng an sich, als wollte man ihm seine Seele entreißen. "Ich habe wirklich...!!" Stammelte er hilflos, schauderte unter den eisigen Klauen des Schreckens. "Auf keinen Fall wollte ich...!" "Wenn wir jetzt nichts tun, dann ist es aus, Toi." Akira wisperte erstickt an seinem Ohr. »Das ist unsere letzte Chance!« Übersetzte dessen Verstand schockiert und sorgte dafür, dass Akira vor Schmerz stöhnte, weil Toi ihn um keinen Preis freigeben wollte. "Nein!" Flüsterte Toi, um dann vehementer zu wiederholen. "Nein! Ich lasse das nicht zu! Auf gar keinen Fall!" Er lockerte seine erdrückende Umklammerung ein wenig, fokussierte Akiras glänzende Augen. "Ich werde immer an deiner Seite sein. Das habe ich dir versprochen." Akira neigte den Kopf ein wenig, lächelte schief. "Wie will der Direktor des Familienunternehmens Mitaka das bewerkstelligen?" "Ich werde eine Lösung finden." Versprach Toi ohne Zögern. Für jedes Problem gab es schließlich eine Lösung! "Ich wusste nicht, dass du ein Träumer bist" Akira stieß sanft seine Stirn gegen Tois, streichelte mit den kalten Fingerspitzen durch Tois lange Strähnen. "Ich lasse mir etwas einfallen!" Knurrte Toi verärgert, weil Akira ihm so offen nicht zutraute, seine Worte in die Tat umzusetzen. "Aber so einfach ist das nicht." Widersprach Akira, rieb seine kalte Nasenspitze an Tois, ein beunruhigender Kontrast zu den roten Flecken auf den Wangen. "Das heißt nicht, dass es keine Lösung gibt." Toi vergaß seinen verletzten Stolz und legte seine Finger auf Akiras Wangen. Tatsächlich, sie glühten! "Ja, vielleicht..." Unerwartet rutschte Akira von Tois Schoß, sodass der hektisch zugreifen musste, um einen Absturz zu verhindern. "Wir müssen das Thema vertagen." Toi kam auf die Beine und deponierte den taumelnden Akira in dessen Bürosessel. "Du musst wieder ins Bett. Solange du krank bist, können wir keine Pläne schmieden!" "Ich will aber nicht gehen!" Akira formulierte zwar Protest, klang aber sehr matt. "Das wird auch nicht nötig sein." Toi sammelte eilends die zuvor herunter gestoßenen Gegenstände ein, um sie auf den Schreibtisch zu befördern, holte dann sein Mobiltelefon. "Ich rufe ein Taxi und bringe dich nach Hause. Du musst dich ausruhen, Akira, sonst können wir uns wieder nicht sehen, weil du einen Rückfall auskurieren musst!" Seine strenge Ermahnung zeigte Wirkung: Akira seufzte leise, erhob aber keinen Einwand mehr. Gemeinsam schlichen sie zum Schultor, gingen einige Schritte, um das Taxi zu erwarten, dass Akira nach Hause bringen sollte. Der war recht sprachlos, nicht nur wegen der fiebrigen Schübe, die ihn zittern ließen, sondern auch, weil Toi ohne Umschweife seine Hand hielt, ihn führte. Toi dagegen bemerkte sein unbewusstes Handeln gar nicht. Er war in Sorge um Akira, wollte ihn sicher und warm verpackt wissen, mit Brühe gefüttert und verhätschelt. Umsichtig wies er den Taxifahrer an, nicht direkt vor dem Haus zu halten, um die zweifellos wütende Sakamoto-Meute auf sich aufmerksam zu machen. Er half Akira beim Aussteigen, drückte ihm dann sein Mobiltelefon in die Hand. "Du musst es verstecken!" Schärfte er Akira ein. "Dann können wir wenigstens miteinander sprechen. Jetzt geh, bevor es Ärger gibt." Akira lehnte sich an Toi an. "Ich will nicht." "Akira." Toi kämmte unruhig durch dessen wirre Strähnen. "Ich verspreche dir, wir tun das, was du dir wünschst. Aber dafür musst du gesund werden. Deshalb, bitte, geh jetzt hinein." "Alles, was ich mir wünsche?" Akira blinzelte hoch, das Kinn in Tois teuren Schal gestützt. "Alles, was du dir wünschst." Bestätigte Toi. "Mein Ehrenwort." "Dann küss mich noch mal." Akira zerrte an dem wertvollen Webstoff. Toi seufzte, lächelte dann zögerlich. Seltsam! Er hatte weiche Knie und ein seltsames Kribbeln in der Magengrube, als wäre er ganz rettungslos verliebt! Er beugte sich hinunter, stützte Akira ein wenig, damit sie den Größenunterschied überwinden konnten und erfüllte Akiras Wunsch zärtlich. "Geh jetzt." Drängte er leise. "Umso schneller können wir das wiederholen." Akira löste sich widerwillig, stapfte davon, um sich kurz vor dem Hauseingang noch einmal umzudrehen. Toi stand noch immer da, achtete darauf, dass er sicher und wohlbehalten in seinem Elternhaus eintraf. Akira grinste schief, dann wurde bereits die Haustür aufgerissen und verschiedene Familienmitglieder stürzten die kleine Treppe zur Straße hinunter. Toi schlug eilig den Kragen seines Mantels hoch und ging stiften, um das Taxi nicht noch länger warten zu lassen. ~+~ Kapitel 3 - Eskalation Am nächsten Tag erwartete Toi nicht, Akira in der Schule anzutreffen, denn es handelte sich um den letzten Schultag der Woche. Am kommenden Montag waren die Feierlichkeiten für die Volljährigkeit angesetzt, sodass ohnehin genug Aufregung herrschte. Wie Toi selbst gab es an der Schule durchaus einige, die älter waren, weil sie Auslandsaufenthalte oder familiäre Gründe vorweisen konnten, die niedrigere Schulstufe als allgemein üblich verantworteten. Gerade einige der dritten Oberstufe, die kurz vor ihrem Abschluss standen, hatten Beziehungen zu ehemaligen Mitschülern oder Studenten, sodass sie in die Feierlichkeiten einbezogen wurden und kurzzeitig abgelenkt waren vom ständigen Druck der Aufnahmeprüfungen. Er studierte pflichtbewusst das Skript des Musicals, doch seine Gedanken weilten bei Akira. Zu seiner Verwunderung hatte er tatsächlich Schlaf gefunden, tief und fest, so, als ob Akiras Ausbruch auch ihn selbst endlich von einer unbewussten Last befreit hätte. Für Toi war eine Tatsache unabdingbar: ohne Akira an seiner Seite würde er tatsächlich zu einer Karriere-Maschine, zu einem kalten Roboter, der Gefühle imitierte, wenn es opportun war, sich perfekt und kalkulierend für das Unternehmen opferte, bis er endlich den Stab an die nächste Generation übergeben konnte. In einem ewigen, dunklen Winter-Albtraum existierte, aber längst nicht mehr lebte. »Aber ich darf nicht bloß an mich denken!« Ermahnte sich Toi und legte das aufgerollte Skript beiseite, blickte konzentriert auf den leeren Bürosessel neben sich. Akira hatte auch Erwartungen und Wünsche. Wünsche, von denen Toi niemals erwartet hätte, sie von Akira zu hören, die ihm erneut die Röte der Verlegenheit in die Wangen trieben. Eine Lösung musste her, aber!, Toi ballte die Fäuste, er durfte nicht den Fehler begehen, sie allein zu finden. Schließlich war Akira wirklich kein Gute Laune-Bär, kein Spielzeug, das nach jeder Melodie tanzte! "Ich habe ihn schon wieder falsch eingeschätzt!" Toi schüttelte den Kopf über sich selbst. Dabei hatte er sich vor ihrem Wettstreit um den Posten des Schülerpräsidenten doch streng ermahnt, diese Eselei kein zweites Mal vorkommen zu lassen! Er entschied, dass für diese Woche genug getan war und begab sich auf den Heimweg, aber nicht ohne einen Umweg zu einem der zahlreichen Elektronikfachgeschäfte, denn er musste schließlich Akira anrufen und ihm seine neue Nummer mitteilen. ~+~ Toi schreckte hoch, als sein frisch erworbenes Mobiltelefon eine muntere Melodie absonderte, um ihm anzuzeigen, dass jemand seine Aufmerksamkeit wünschte. "Kurz vor Drei!" Stöhnte Toi in der Abgeschiedenheit seines Schlafzimmers und kämmte wirre Strähnen hinter die Ohren. Dann dämmerte ihm, dass es nur eine Person geben konnte, die ihn auf seiner Neuerwerbung anrief. "Akira?!" Eiligst nahm er den Anruf entgegen, setzte sich auf. "Wie geht es dir?" "Toi? Tut mir leid." Akira krächzte, sprach dann leise weiter. "Sie lassen mich einfach nicht in Ruhe. Und diese blöde Medizin macht mich ganz schläfrig." "Fühlst du dich denn besser?" Toi wickelte sich in seine Bettdecke. "Wie viel Akkuzeit hast du noch?" "Na ja..." Akira hustete. "Ein bisschen noch. Musstest du dir extra ein neues Telefon kaufen?" "Das ist nicht weiter wichtig." Toi interessierte sich viel mehr für Akiras Zustand, der gar nicht gut klang. "Hast du etwa einen Rückfall erlitten? Oder kann ich dich heute besuchen kommen?" Akira seufzte. "Musst du nicht in die Firma? Ich habe deinen Terminkalender gesehen. Und die vielen Benachrichtigungen." "Oh." Entfloh es Toi, bevor er an sich halten konnte. Als er sein neues Mobiltelefon mit seinem Terminkalender und all den anderen unverzichtbaren Daten synchronisiert hatte, war ihm glatt entgangen, dass Akira über sein Telefon auch Einblick in alles nehmen konnte. "Keine Angst." Akira lachte gedämpft. "Ich verrate schon nichts. Aber ich wollte auch nicht einfach alles löschen. Soll ich dir vielleicht durchgeben, wer versucht hat, dich anzurufen?" "Nein, nicht nötig." Toi nagte an seiner Unterlippe. "Ich teile meine neue Nummer später allen mit. Die können es dann noch mal versuchen." »Oder ihre Probleme allein lösen.« Ergänzte ein ungewohnt rebellischer Teil in seinem Kopf. "Kann ich dich wirklich nicht besuchen kommen?" Hakte er nach. "Sieht nicht gut aus." Akira klang verändert. "Sie haben dich zwar nicht gesehen, sind aber sauer, weil ich in der Schule war. Lag ja nahe, wo sollte ich auch sonst hingehen." Ergänzte er bitter. "Das ist ärgerlich." Toi bemühte sich um Haltung. Es war sinnlos, sich über Kleinigkeiten zu erregen. "Außerdem könnten wir hier auch nicht reden und... Pläne schmieden." Akira murmelte schläfrig. "Nur in der Schule sind wir ungestört." "Dann ist es das Wichtigste, dass du schnell gesund wirst." Toi wischte sich über den verwüsteten Scheitel. "Du kannst mir ja Nachrichten schicken." "Das tue ich." Akira gähnte unterdrückt. "So ein Mist, ich bin zu müde für Telefonsex!" Toi verschluckte sich und hustete nun selbst. Telefonsex und Akira waren gegensätzliche Welten! "Würde dir das gefallen?" Beinahe hörte er Akiras ungewohnt freches Grinsen. "Käme wohl auf den Versuch an." Antwortete Toi tapfer, der Telefonsex eigentlich für Geldverschwendung hielt und damit nur einschlägige Angebote in Verbindung brachte, ganz sicher aber nicht Liebesgeflüster mit Akira! "Ich denke, das werde ich mir wünschen, wenn ich dich nackt gesehen habe." Entschied Akira souverän, gähnte erneut. "Entschuldige, aber mir fallen die Augen zu. Schlaf gut, Toi." "Gute Nacht, Akira." Flüsterte Toi verlegen und wartete, bis die Verbindung unterbrochen wurde. Er ließ sich rücklings auf sein Bett fallen und starrte in der Dunkelheit an die hohe Zimmerdecke. "...du lieber Himmel." Formulierte er schließlich sehr bedächtig. Akira wollte ihn NACKT sehen! ~+~ Toi lächelte, als er Akiras Mitteilung erhielt. Darin bat ihn sein Freund, ihn doch von Zuhause abzuholen, allerdings nicht in Sichtweite seiner Familie. Er hatte nämlich die Absicht, sich erneut abzusetzen, bevor ein regelrechter Fackelzug ihn feierlich bis zur Schule akkompagnierte. Nun fand er sich, frostige Atemwolken ausstoßend, hinter Akiras Elternhaus und verfolgte angespannt, wie sich Silhouetten hinter den Fenstern bewegten. Ein Licht erlosch, dann schwang sich eine Gestalt behände aus dem Fenster. Etwas tiefer stockte Toi der Atem. Wenn Akira nun ausglitt?! Warum hatte er sich auf diesen waghalsigen Plan eingelassen?! Zu seinem nicht gelinden Entsetzen ließ Akira den Fensterrahmen los und rutschte auf Händen und Knien langsam die Dachschräge herunter. Eilig löste sich Toi aus seiner Erstarrung und nahm eine Position unter der potentiellen Absturzstelle ein. Er bekam den unbekümmert herunterbaumelnden Akira um die Hüfte zu fassen, schwankte leicht, weil Akira doch kompakter war, als die schlanke Gestalt vermuten ließ. Dann ging er in die Knie, um ihn abzusetzen. "Schnell!" Akira streifte sich die mit Reif und Schmutz bedeckten Handschuhe ab, rollte nun arg in Mitleidenschaft gezogene Knieschützer von seinen Hosenbeinen, während er aus den Slippern schlüpfte. "Wir haben nicht viel Zeit!" "So ein Wahnsinn!" Knurrte Toi zwischen zusammengebissenen Zähnen. "Du trägst ja nicht mal Stiefel!" "Aber zwei Paar Socken." Konterte Akira unbeeindruckt, wandte sich zu Toi herum. "Du darfst mir ruhig auch mal was zutrauen." Getroffen von diesem Vorwurf tappte Toi einen Schritt zurück. "Los, verschwinden wir!" Akira ignorierte die Verlegenheit, packte Tois sorgsam in Lederhandschuhen verpackte Finger und zerrte ihn energisch durch das kleine Gartentor. Schweigend und schniefend, denn es war eisig kalt, und ein feuchter Schleier lag in der Dunkelheit, hetzten sie zur Schule, Hand in Hand. Erst als das Schultor in Sicht kam, verlangsamte Akira sein Tempo. "Wahrscheinlich werde ich es erst nach der Schule ins Büro schaffen." Verkündete er mit gebremster Begeisterung, die Stirn unter den wirren Strähnen gerunzelt. "Geht es dir auch wirklich gut?" Toi versuchte, mit der freien Hand seine verwirrten, langen Haare einigermaßen zu frisieren. "Zweifelst du daran?" Akira sah zu Toi auf und funkelte verärgert. "Ich bin nicht aus Zucker, weißt du?!" "Nein, natürlich nicht." Tois Mund reagierte auf Autopilot, bevor er die Zeit fand, sich darüber zu ärgern. Warum war seine Sorge für Akira ständig ein Quell des Streits?! Abrupt entzog er Akira seine Hand. "Wenn du nicht willst, dass ich mich um dich sorge, dann gib mir keinen Anlass dazu." "Da ist Herr Sakamoto!" Der Aufschrei verhinderte die Fortsetzung ihres Disputs, denn nun sammelten sich ihre Mitschüler um sie, drängten sich um Akira. Toi wandte sich ab und betrat das Schulgebäude. Er bedauerte bereits, dass er Akira so angeherrscht hatte, doch es war jetzt keinesfalls angebracht, ihre Auseinandersetzung vor Publikum fortzusetzen. Nur einen kleinen Triumph konnte er für sich verbuchen: Yujiro und Toru warfen ihm giftige Blicke zu, weil ihnen nicht entgangen war, wer Akira zur Schule begleitet hatte. ~+~ Toi widerstand mannhaft der Versuchung, erneut das Zifferblatt seiner Armbanduhr zu konsultieren. Es würde nichts daran ändern, dass Akira noch immer nicht im Büro eingetroffen war. Sorgfältig stapelte er all die erledigten Eingaben, Anfragen und Unterlagen, richtete sie akkurat aus, erwog, mit dem Ergebnis seiner Anstrengungen ins Sekretariat zu gehen, um die Post in die Fächer zu verteilen. Dabei, das konnte er absehen, würde er wohl einen weiteren Berg an Dokumenten vorfinden: ein Perpetuum mobile. Als er gerade die Schiebetür aufzog, prallte er beinahe mit Akira zusammen, der noch immer einen Tross hinter sich her schleppte. "Oh, Toi, schon fertig?" Akira blendete sein harmlos-freundliches Lächeln auf, doch Toi bemerkte sehr wohl das Glitzern in den großen Augen, bevor ihm seine Last entzogen wurde. "Ah, Yujiro, wärst du so nett, dies ins Sekretariat zu bringen? Und Toru, sei mein Retter und gib die Pläne hier beim Hausverwalter ab, wenn du ins Wohnheim gehst, ja, bitte? So, vielen Dank für eure Unterstützung, aber nun muss ich endlich mal meinen Aufgaben nachkommen, für die ihr mich gewählt habt!" Mit einem zuckersüßen Lächeln drängte er sich an Toi vorbei, der in bester Türstehermanier einen Arm gegen den Rahmen stemmte und streng auf die versammelte Schar herunterblickte. "Ich bin sicher, ihr habt Verständnis dafür, dass Akira sich an seinem ersten Tag in der Schule nicht überanstrengt. Vielen Dank!" Damit zog er nachdrücklich die Schiebetür wieder ins Schloss und lauschte einige Augenblicke, bis er kein enttäuschtes oder ärgerliches Gemurmel mehr hören konnte. Erst dann wandte er sich zu Akira herum und erstarrte, denn der beliebte Schülerpräsident hatte Anzugjacke, Pullunder und Hemd bereits achtlos von sich geworfen, streifte sich gerade die Socken ab und taumelte, weil der Gürtel sich nicht so gehorsam lösen wollte, wie es ihm anstand. "Was tust du denn da?!" Entfuhr es Toi fassungslos. "Mich ausziehen. Wie gut, dass du schon den Schreibtisch freigeräumt hast." Akira zog den Reißverschluss herunter und stieg ohne Umschweife aus seinen Hosen. "Was, um alles in der Welt soll das?!" Toi knirschte mit den Zähnen, während er mit langen Schritten den Raum durchmaß. "Toi." Akiras Tonfall signalisierte, dass er sich gezwungen sah, langsam und in einfachen Worten mit einem offenkundig geistig untermöblierten Gegenüber ein Gespräch zu führen. "Wir treiben's jetzt auf dem Schreibtisch. Ich will's, und DU hast versprochen, all das zu tun, was ich will." Damit schob er die Finger in den breiten Bund der Jockeys, wollte sich auch vom letzten, textilen Feigenblatt trennen. Toi umklammerte Akiras Rechte, um die Entblößung zu verhindern, während er seine eigene Rechte unter den filzigen Pony schob. "Du hast schon wieder Fieber!" Diagnostizierte er mit unterdrückter Wut. "Da haben wir die Bescherung!" "Dann wird mir wenigstens nicht kalt beim Bumsen!" Akira legte den Kopf in den Nacken und packte gleichzeitig Tois Handgelenk, sodass der nicht ausweichen konnte, als er langsam mit der Zunge über dessen Handteller glitt. Über ihm starrte Toi finster, hielt sich nur mühsam im Zaum. Warum führte Akira sich so auf?! Und diese Ausdrücke! Wie ein pickeliger Teenager, der sich als Supermann ausgeben will! "Genug von diesem Unsinn." Zischte er schließlich. "Zieh dich an, damit ich dich nach Hause bringen kann." "Von wegen!" Akira schleuderte Tois Hand wie lästigen Abfall weg. "Was ist los? Hast du jetzt die Hosen voll, oder was? Du hast mir versprochen, dass wir tun, was ich will! Ist das hier die Art, wie du dein Ehrenwort verpfändest?!" Getroffen versteinerte Toi. Er hatte nicht die Absicht, sein Versprechen zurückzunehmen, aber langsam näherte er sich dem gefährlichen Punkt, an dem seine Selbstbeherrschung nicht mehr griff. Aber das ging nicht! Er war dazu streng angehalten worden, sich stets unter Kontrolle zu haben, solchen Emotionen nicht nachzugeben... "Ich habe nicht vor,mein Wort zu brechen. " Toi packte Akiras Handgelenke, um dessen Jockeys vor dem Abstieg zu bewahren. "Aber das hier ist nicht der geeignete Augenblick!" "Ach was!" Akira stemmte die Fersen in den nackten Boden, um seine Hände frei zu bekommen. "Lächerliche Ausflüchte, nichts weiter! Du bist bloß feige, ein Maulheld!" Über ihm zogen sich Tois Augen zusammen zu schmalen Schlitzen. In den Wangen arbeiteten die Sehnen sichtbar, weil ihr Besitzer die Kiefer zusammenpresste, um eine giftige Replik zu verhindern. "Du hast es versprochen!" Akira trat Tois vors Schienbein, ein bis dato undenkbares Ereignis. "Verlogener Bastard! Feigling! Schisser! Lügenbaron!" Akira brach ab, weil er krächzend husten musste. Toi nutzte die Gelegenheit und seine erfolgreich absolvierten Tanzstunden. Blitzschnell drehte er Akira herum, wechselte den Griff um die Handgelenke, sodass er dessen Arme vor ihm kreuzen und Akira so fesseln konnte. Gleichzeitig spürte er selbst durch den Stoff seiner Schuluniform die Hitze, die von Akiras nacktem Rücken ausging. "Weißt du überhaupt, was du da verlangst?" Fauchte er bissig auf den struppigen Schopf herunter. "Ha!" Akira keuchte heiser. "Sicher! Dank der grafischen Literatur meiner Schwester bin ich voll im Bilde! Gib bloß nicht so an, weil du es schon mal getan hast!" Über ihm stutzte Toi, ließ aber nicht locker. »Du meine Güte...« Er fühlte sich an einen Tierbändiger erinnert, der einen schweren Dressurakt vorzunehmen hatte. "Da hast du wohl etwas Falsches gehört." Antwortete er diplomatisch, aber Akira war nicht bereit, sich auf subtile Hinweise hin ablenken zu lassen. "Los, Hosen runter, die Position stimmt doch schon fast!" Provozierte er weiter. "Zeigen wir Arisadas Machtzentrum mal, was wir von ihm halten!" "Darum geht es dir?!" Toi stieß Akira wütend von sich, wich einen Schritt zurück. "Du willst dich an Arisada rächen?! Auf diese Weise?!" "Der Mistkerl hat mein Leben versaut!" Akira wischte herum, taumelte leicht und musste sich auf den Schreibtisch stützen. "Sitzt hier feist und arrogant herum, grinst mich an und verschwendet keinen Gedanken daran, dass ich wenigstens in der Oberstufe mal ein normales Leben führen wollte!" Vor ihm sackten Tois Schultern herab. »Aha.« Dämmerte es ungläubig in seinem Kopf. »Aha...« Es ging Akira nicht um ihn. Er war bloß ein Mittel, um sich zu rächen für die aufgebürdete Verantwortung. Akira kämpfte sich ungehindert aus seinen Unterhosen, schwenkte den mageren Hintern vor Toi, die Ellen auf der Schreibtischplatte abgelegt. "Na los doch! Oder kriegst du keinen hoch?!" Toi stand sehr still. Er hatte Mühe zu atmen, weil der Kloß in seiner Kehle ihn zu ersticken drohte. DAS war nicht Akira. Das konnte nicht Akira sein. Akira würde niemals so unbarmherzig und rücksichtslos auf seiner Hoffnung herumtrampeln, sich wie ein läufiger Köter aufführen, ungeschickt herumfluchen. "Nun tu schon endlich was!" Akira richtete sich auf, wandte sich Toi zu, der nicht einmal blinzelte, sondern ins Leere starrte. Da er keine Reaktion erhielt, beging Akira eine Premiere: er holte weit aus, um Toi mit aller Kraft ins Gesicht zu schlagen. Das löste zumindest dessen eingefrorene Haltung, dann färbte sich Tois Wange ein, während ihm Tränen in die Augen traten. Ruckartig drehte er sich von Akira weg, floh zum Fenster, presste beide Hände flach auf sein erhitztes Gesicht. All der Kummer, die Enttäuschung, sie wurden durch die Ohrfeige befreit, brachen aus ihm heraus. Ganz gleich, wie sehr er sich anstrengte, das Schluchzen wollte sich nicht ersticken lassen, im Gegenteil, er heulte wie ein Wolf, unterbrochen von würgenden Atemzügen. "...Toi..." "...Toi..." Er fahndete nach dem frischen Stofftaschentuch, um sich über das Gesicht zu wischen, fürchtete sich aber davor, Akira anzusehen, erneut wie ein Kleinkind loszuplärren, obwohl er doch ein erwachsener Mann war! Warum konnte er nicht einmal wütend genug werden über die eigene Schwäche?! »Das hast du jetzt davon!« Hielt er sich vergeblich vor. Seine Enttäuschung wog einfach zu schwer. Erst ein Knirschen, das von der hohen Lehne des Bürosessel herrührte, die gewaltsam gegen den Schreibtisch stieß, veranlasste ihn, seine Bedenken zu verabschieden. Akira war in den Bürosessel gesackt und hatte in seinem Schwung die Kollision ausgelöst. "...Akira?" Toi schnüffelte unterdrückt, aber er konnte erkennen, dass Akira Probleme mit der Atmung hatte. Die Fingerspitzen gruben sich in die Lehnen, er hatte sich zusammengerollt und keuchte pfeifend. "Was ist los?" Toi schnellte vor, ging auf die Knie, um Akiras Gesicht zu betrachten, der Speichel würgte und ihn panisch anstarrte, dann zu krampfen begann. Toi erwachte aus seinem Schrecken. Hastig eilte er zum Schrank, der den Erste Hilfe-Koffer enthielt, riss die Verpackung eines Inhalators auf und rammte die beigefügte Patrone in das Gerät. Er beugte sich seitlich über den Bürosessel, klemmte Akiras Kopf mit einem Arm wie ein Ringer ein und setzte den Inhalator an. Es bedurfte einiger Stöße, bis sich endlich die Wirkung auch zeigte, Akira nicht mehr wie ein Erstickender keuchte und krampfhaft zuckte. Wieselflink, weil es etwas zu tun gab, dass ihn von seinem Kummer ablenkte, wischte Toi durch das Büro. Der Inhalator wurde abgelegt, dann begann er, Akira die verstreuten Kleider überzustreifen, was einiger Anstrengung bedurfte. Toi kramte sein Mobiltelefon heraus und bestellte eilends ein Taxi, schob sich für alle Fälle den Inhalator in die Manteltasche und stellte Akira auf die Beine, der vollkommen erschöpft im Bürosessel gelagert hatte. "Ich bringe dich jetzt ins Krankenhaus. Irgendwas stimmt nicht, das muss untersucht werden." Verkündete Toi, fasste Akira um die schlanken Hüften. "Wahrscheinlich mein Kopf, wie?" Akira grinste fahl, aber seine zerbissenen Lippen waren blutleer, sein Gesicht trotz des Fiebers bleich. Neben ihm verstärkte Toi seinen Griff, marschierte so schnell, wie es Akiras schwache Knie zuließen, durch das Schulgebäude, ignorierte die wenigen anwesenden Mitschüler. "Wir reden darüber, wenn es dir besser geht!" Zischte Toi schließlich. Er war erleichtert, direkt vor dem Schultor das Taxi wenden zu sehen, beschleunigte noch. Sie kletterten in dem Fond, da lehnte Akira schon an seiner Schulter, umklammerte mit kalten Händen Tois Rechte. Toi wies den Taxifahrer an, eine Klinik anzusteuern, die in der unmittelbaren Nachbarschaft zum Hauptsitz des Familienunternehmens beheimatet war. So konnte er auch nötigenfalls direkt vom dort aus zum Klinikum laufen, wenn Akira sich eine ernsthafte Erkrankung zugezogen hatte. Akira hing an seinem Arm wie ein verängstigtes Kind, als sie zur Aufnahme gingen. "Keine Angst." Toi spürte die klammernden Finger in seinem Fleisch wie eine Markierung. "Ich bleibe hier. Möchtest du, dass ich deine Familie jetzt schon informiere?" "Nein!" Akira krächzte schrill, erweckte unerwünschte Aufmerksamkeit, doch Toi warf eisige Blicke um sich, damit Ermahnungen im Keim erstickten. "Wie du möchtest." Beruhigte er Akira, hielt dessen Anorak, während die Untersuchung stattfand. Es dauerte eine Weile, bis Toi wieder zu Akira durfte, der auf einer abgedeckten Liege lag, an einem Tropf mit zwei Infusionsbeuteln hing und noch immer sehr blass und verletzlich wirkte. "Wie fühlst du dich?" Toi zog sich den kleinen Hocker heran, streichelte über Akiras glühende Stirn. "Nicht gut." Flüsterte Akira, leckte sich über die zerbissenen Lippen. "Darfst du etwas trinken?" Toi kämmte wirre Strähnen aus Akiras geröteten Augen. "Ich weiß nicht." Akira tastete mit der freien Hand nach Tois Rechter. "Geh nicht weg, bitte." "Ich hole dir bloß etwas zu trinken." Toi erhob sich, tätschelte Akiras Hand beruhigend. "Nur einen Augenblick Geduld." Er klapperte die allgegenwärtige Automatenfront ab, flipperte grünen Tee und einen Pflegestift für Akiras arg geschundene Lippen, dann machte er kehrt. Akira hatte den freien Arm über die Augen gelegt, zuckte aber hoch, als Toi leise den Raum betrat. Toi ignorierte geflissentlich die spontane Reaktion, legte seinen Mantel ab, bevor er den Hocker neben die Liege dirigierte, darauf Platz nahm. "Lehne dich in meinen Arm, dann stütze ich dich beim Trinken." Wies er Akira umsichtig an, der mühsam zu ihm rutschte, dann schwer gegen Tois Schulter sank. "Schön langsam." Ermahnte Toi fürsorglich, überwachte streng, dass Akira auch nicht zu gierig trank und sich verschluckte. Noch immer strahlte Akira eine erschreckende Hitze aus, wie Toi beunruhigt registrierte. Nachdem er die Getränkeverpackung abgestellt hatte, löste Toi den Lippenpflegestift aus der Hülle, betupfte sanft Akiras wunde Haut. "Wie lange musst du hier warten?" Erkundigte er sich leise. "Ich weiß nicht." Akira schmiegte sich in seinen Arm, schloss die Augen. "Es ist wohl besser, wenn ich deine Eltern anrufe." Toi seufzte leise. "Vielleicht musst du ja die Nacht hier verbringen, dann können sie dir schon etwas mitbringen." "So schnell willst du mich loswerden?" Akira krächzte. "Unsinn." Toi schnaubte, atmete dann tief durch. "Aber das hier ist ernst, Akira. So viele Rückfälle sind gefährlich." Behutsam kämmte er durch die filzigen Strähnen an seiner Schulter. "Wir kümmern uns um alles, wenn es dir besser geht. Das habe ich dir versprochen." "Aber du bleibst, bis sie kommen, ja?" Akira legte den Kopf in den Nacken, um zu Toi hochzublinzeln. "Selbstverständlich." Versicherte Toi lächelnd. "Jetzt ruhe dich bitte aus, während ich telefoniere, ja? Wenn dich deine Familie so elend sieht, kommen wir in ernsthafte Schwierigkeiten." Akira grummelte etwas Unverständliches, gehorchte aber. Über ihm holte Toi noch einmal tief Luft, bevor er die Sakamotos auf den Plan rief. Was für ein Wochenbeginn! ~+~ Toi verabschiedete sich zügig, da man ihm kaum Beachtung schenkte. Akira war von einer Traube Familienmitgliedern umzingelt, wurde behätschelt, die Ärzte herbeigerufen, das gesamte Personal in Bann geschlagen, weil die Sakamotos grundsätzlich ein Ereignis waren. Nun lenkte sich Toi mit Arbeit ab, ließ sich die Details erläutern, die man auch als Führungsmitglied des Unternehmens kennen musste. Außerdem warteten schon wieder Aufträge seines Vaters, elektronisch übermittelt. So konnte er sich davon abhalten, vor Sorge um Akira die Wände hochzugehen. Er begriff immer weniger, was genau Akira von ihm erwartete. Wollte der seine Zuneigung? Oder doch nur jemanden, der ihm half, aus seinem goldenen Käfig auszubrechen? Zwei elend lange Tage verstrichen, bis er endlich Nachricht von Akira bekam. Man hatte ihn tatsächlich nicht mehr nach Hause entlassen, sondern in eine andere Abteilung verlegt, um ihn für mindestens 24 Stunden beobachten zu können, da das Aufzeichnungsgerät für die Herzströme Rhythmusstörungen festgehalten hatte. Es stand zu befürchten, dass das Virus die Herzmuskeln angegriffen hatte. Nun musste Akira sich zu Hause im Kreis seiner Lieben schonen, ein tragbares Aufzeichnungsgerät mit sich führen und wurde nicht aus den Augen gelassen. Lediglich auf der Toilette war es ihm möglich, Nachrichten an Toi zu übermitteln. »Eine weitere Woche verloren.« Toi seufzte, dachte angesichts der Kopien, die er täglich ablieferte, ohne Akira zu Gesicht zu bekommen, dass selbst ein sehr guter Schüler langsam in Schwierigkeiten geriet, all den Stoff und die ständigen Leistungsprüfungen zu bewältigen. Einen Vorteil zeigte Akiras Abwesenheit aber: die Streitigkeiten reduzierten sich aufgrund der gedrückten Stimmung. Nicht mal Yujiro und Toru legten gesteigertes Interesse an den Tag, den beiden amtierenden Prinzessinnen dazwischenzufunken. Eine Woche nach dem spektakulären Striptease unternahm Akira erneut einen Anlauf, sich wieder ganz normal in das Schulgeschehen einzugliedern. Selbstverständlich wurde er sofort wieder in Beschlag genommen, aber nun wie ein rohes Ei behandelt, verhätschelt und verwöhnt, mit Aufmerksamkeiten so eingedeckt, dass es selbst den stoischen Toi schüttelte. Der hielt sich zurück, beobachtete im Hintergrund. Ja, wenn Akira unter seinen Klassenkameraden war, würde niemand auf die Idee kommen, der stets freundliche, nachsichtige, sanfte Schülerpräsident ohrfeige seinen Stellvertreter, fordere ihn zum Beischlaf auf dem Schreibtisch auf. »Es muss warten.« Hielt Toi sich zur Geduld an. Die Aufklärung würde vermutlich auch keine besonders einfache Situation heraufbeschwören. Also verschanzte er sich hinter der Arbeit, die in Akiras Ressort fiel und wartete klaglos darauf, dass der endlich die Gelegenheit bekam, sein verwaistes Büro aufzusuchen. "Warum hockst du bloß immer auf dem Stuhl?" Akira wischte wirre Strähnen aus den Augen, Yujiro und Toru wie Buchstützen an seiner Seite. "Toi, wirklich, du kannst jederzeit im Bürosessel Platz nehmen." "Der ist aber für den Schülerpräsidenten!" Zischte Yujiro giftig, während Toru bekräftigend nickte. "Das wäre Amtsanmaßung!" "Quatsch!" Akira lachte herzlich. "Tois Hintern im Bürosessel maßt sich bestimmt keinen Posten als Schülerpräsident an, obwohl er wahrscheinlich seine Arbeit besser als ich machen würde!" Yujiro und Toru wechselten einen irritierten Blick, denn so ein boshafter, zweideutiger Scherz sah Akira gar nicht ähnlich. "Tja, also, ich finde das Skript wirklich gut und die Kostümentwürfe hervorragend." Akira klopfte auf eine Seite des Schreibtisches, damit Toru dort apportierte Kopien aufstapeln konnte. "Danke, Toru. Deshalb habe ich volles Vertrauen in unsere beiden Prinzessinnen." Er grinste die beiden Ex-Prinzessinnen an. "Außerdem, wenn Toi sogar als Prinz auftritt, dann adelt das die Aufführung ungemein." Er wandte sich um, drehte frech eine Locke in Tois glatte Strähnen. Diese subtile Abfuhr ließ Yujiro und Toru sprachlos stehen. Toi konnte in ihren verblüfften Mienen den Schock darüber lesen, dass Akira einmal nicht vermittelte, auf Harmonie bedacht war, jeden Standpunkt genau abwog. "Also, wir sehen uns dann morgen, nicht wahr? Kommt gut ins Internat." Verabschiedete Akira die beiden. "Danke für eure Hilfe heute!" Als er die Schiebetür hinter den widerstrebend abziehenden Klassenkameraden geschlossen hatte, rammte er nonchalant einen Keil in die Laufschiene. "Wie fühlst du dich?" Toi erhob sich höflich, räumte den Platz hinter dem Schreibtisch. ER wusste genau, wie man jede seiner Gesten auf Arroganz und Anmaßung hin analysierte! "Hervorragend." Akira schlenderte heran, ein seltsames, beinahe lüsternes Grinsen auf den Lippen. "Denkst du, dass du heute dein Versprechen erfüllen kannst?" Toi musterte Akira konsterniert. "Das ist keine gute Idee." Kommentierte er distanziert. "Ah nein?!" Akira zischte bitter. "Welche Ausrede hast du denn dieses Mal? Oder kriegst du ihn überhaupt nicht hoch?!" Mit einem erschrockenen Keuchen krümmte sich Toi zusammen, als Akira ein ungeahntes Foul beging und ihm in den Schritt fasste. "Wir müssen uns nicht mal ausziehen." Akira flatterte übertrieben mit den Wimpern, kopierte einen süßlichen Tonfall. "Na, was ist? Bekomme ich deine Dampframme endlich mal zu sehen, oder wie?" Toi schloss die Augen, knirschte mit den Zähnen. Beinahe übermächtig war das Verlangen Akira wegzustoßen, um ihn dann wie einen Welpen im Genick zu packen und energisch zu schütteln. "Du tust mir weh." Formulierte er schließlich frostig. Unter ihm knitterten Akiras Züge in ärgerlicher Frustration. "Du bist so ein erbärmlicher Waschlappen..." Nun war der Siedepunkt erreicht. Die ganze Zeit über hatte Toi sich unermüdlich und eisern abgeplagt, seine angeborene Ungeduld mühsam gezähmt, jedem noch so unsinnigen Ansinnen gelauscht, die Gemeinheiten der Ex-Prinzessinnen ertragen, die unzähligen Aufgaben seines Vaters erfüllt. Aber jetzt hatte der letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht. Folgerichtig packte er Akira bei den Oberarmen, hob ihn ansatzlos in die Höhe und beförderte ihn auf den Schreibtisch, bevor er ihn auf die Platte drückte. "Sei still!" Fauchte er bitterböse. "Noch ein Wort von dir und ich prügle dich windelweich! Die ganze Zeit muss ich mir diesen Scheiß anhören, jetzt reicht's!" Akira unter ihm schwieg, wehrte sich nicht. "Du denkst, dass wir mal eben hier Sex haben?!" Toi war nun in voller Fahrt und kümmerte sich weder um eine angemessene Ausdrucksweise noch um die Würde. "Du meinst, mit ein paar Bildergeschichten bist du vorbereitet?! Spinnst du eigentlich?! Ich habe dir gesagt, dass ich keine Erfahrung habe, aber du erwartest von mir, dass ich mit dir rammle wie ein Karnickel, bloß weil du ein dämliches Trauma loswerden willst?!" Toi richtete sich auf, ließ Akira los, funkelte verächtlich. "Denkst du wirklich, dass Arisada von so einer Aktion beeindruckt ist?! Der lacht dich bloß aus! Was bist du schon? Eine erbärmliche Kopie deines Bruders, die ihm dienlich war!" Blitzartig schnellten Akiras Fäuste hoch, wollten Tois Mitte treffen. "Ich bin KEINE Kopie meines Bruders!" Doch Toi hatte diese Reaktion erwartet und wich ohne Anstrengung aus. "Warum gehst du nicht raus und zeigst aller Welt, wie du wirklich bist, Herr Sakamoto?" Versprühte Toi unbeeindruckt weiter Gift. "Oder kannst du nur hier drin mutig sein?! Wer ist hier der Jammerlappen, hm?!" "Ich schaffe das aber nicht!" Brüllte Akira zurück, wischte sich mit den Fäusten über die Augen. "Warum kapierst du das nicht?! Wieso kannst du nicht einfach tun, was ich von dir will?! Hilf mir doch!" Steigerte er sich zu einem verzweifelten Aufschrei. Toi lehnte sich schwer über ihn. "Du glaubst doch nicht wirklich, dass du dich änderst, wenn ich mit dir geschlafen habe, oder?" Erkundigte er sich matt. Akira wirkte so zerrissen, dass sein Zorn verrauchte, sich in Resignation verwandelte. Der wandte den Kopf von ihm weg, flüsterte heiser. "Wie soll ich das schaffen? Sooft ich es versuche, IMMER gebe ich nach. Wenn ich nur stärker innen drin wäre, dann hätte ich die Kraft..." Er verstummte und rollte sich ganz auf die Seite, kehrte Toi den Rücken zu. Schweigend studierte Toi Akiras zusammengerollte Gestalt. Er seufzte tief. "Kannst du mir auch bestimmt versichern, dass du wieder gesund bist?" Hakte er langsam nach. "Ja." Brummte Akira heiser. "Ich darf mich nicht überanstrengen, aber sonst ist alles in Ordnung." "Gut." Toi stützte sich schwer auf der Schreibtischplatte ab. "Dann steh jetzt auf und zieh deine Jacke an. Wir gehen erst zum Umziehen zu mir, dann in ein Hotel." Akira rührte sich nicht, aber Toi spürte förmlich die Spannung, die den gesamten Körper erfasst hatte. "Meinst du das ernst?" Äußerte sich Akira endlich so ungläubig, dass es Toi ein müdes Lächeln entlockte. "Selbstverständlich. Das hier ist nicht der geeignete Ort für die Premiere." Toi kämmte sich Strähnen hinter die Ohren. "Du magst mein Zuhause nicht, also müssen wir einen anderen angemessenen Rahmen finden. Allerdings geht das nur ohne Uniform." "Willst du das wirklich tun?" Akira rollte sich nun zu ihm herum, starrte ihn voller Hoffnung an. "Das habe ich dir doch versprochen." Toi streckte die Hände aus, um Akira aufzuhelfen. Der umklammerte Tois Hände wie den einzigen Anker in stürmischer See, ließ ihn keinen Moment aus dem Bann der großen, leicht geröteten Augen. "Du vertröstet mich auch nicht wieder?" Die Frage klang weniger misstrauisch als bange. In Tois Brust krampfte sich sein Herz zusammen. Nun sah Akira so aus, wie man ihn ständig zu sehen bekam: schief lächelnd, ein wenig unsicher, recht zerrupft. "Aber nein." Versicherte er sanft. "Bitte hol jetzt deine Jacke." Er zögerte, zog unbewusst die spitzen Zähne des Unterkiefers über seine Oberlippe. "Vielleicht sollten wir deiner Familie sagen, dass du bei mir übernachtest? Es könnte etwas später werden." "Wenn wir im Hotel sind!" Beharrte Akira störrisch, rutschte vom Schreibtisch herunter. "Vorher rufe ich nicht an! Sonst lauern sie uns noch auf!" "In Ordnung." Toi lächelte, weil Akira tatsächlich hopste wie ein Kind. »Du weißt doch gar nicht, was dir blüht!« Wunderte er sich. »Und ich habe auch keine Ahnung...« Aber er hatte Akira ein Versprechen gegeben. Wie schwer konnte so ein bisschen Sex schon sein?! ~+~ "So schön flauschig und weich!" Akira liebkoste den geliehenen Pullover verliebt, strahlte still vor sich hin. "Einfach herrlich." Toi schmunzelte, legte seinen eleganten Mantel ab. Dank seiner Größe, seines exotischen Aussehens und geschickter Tarnung mit Mütze und Schal waren sie beide ohne Schwierigkeiten in einem Love Hotel eingekehrt, ein nicht zu preisgünstiges Etablissement, das eher einem regulären Hotelzimmer entsprach, gedeckte, klassische Farben, stilsicher ausgewähltes Mobiliar, unaufdringlich präsentierte Utensilien für das bevorstehende Ereignis. "Ich schenke ihn dir." Toi lächelte über Akiras Begeisterung. Außerdem besaß er zahlreiche Kaschmir-Pullover, sodass er einen weniger durchaus verschmerzen konnte. "Oh, so habe ich das nicht gemeint!" Wiegelte Akira hastig ab, verlegen errötet, ganz der Alte. "Bitte mach mir die Freude und nimm ihn als Geschenk an." Toi wusste genau, wie er damit umzugehen hatte. Er wandte sich der anstehenden Aufgabe zu und registrierte ärgerlich ein beklommenes Gefühl in der Magengegend. "Ich schlage vor, dass wir zuerst duschen." Toi straffte seine groß gewachsene Gestalt energisch. Er würde doch wegen so einer Kleinigkeit keinen Bammel bekommen! "Fein." Akira erledigte sich ordentlich seiner Bekleidung, kein Vergleich zu den Auftritten zuvor, zögerte dann aber, als er sich Toi zuwenden wollte. Der hatte Akira ebenfalls den Rücken zugekehrt, um sich auszukleiden. Es gab zwar keinen Grund, eine ablehnende Geste zu fürchten, aber trotzdem waren sie sich nun beide sehr bewusst, dass es kein alltägliches Geschehen in Gemeinschaftsumkleiden war. "Ich sehe leider nicht so gut aus wie meine Geschwister." Linkisch zuckte Akira mit den Schultern, die Hände vor seiner Blöße, bevor er sie tollkühn zur Seite zog. Toi konzentrierte sich auf Akiras Gesicht. Alles andere wäre unhöflich und aufdringlich gewesen. "Es heißt, Schönheit liege im Auge des Betrachters." Entgegnete er galant. "Und ich nehme nicht an, dass du mir ein mangelndes Urteilsvermögen unterstellen willst, nicht wahr?" "Nein...nein." Akira grinste erleichtert, atmete dann tief durch. "Ich bin froh, dass du nicht zu enttäuscht bist." Unwillkürlich schnalzte Toi tadelnd mit der Zunge, streckte dann auffordernd die Hand zu Akira hin. Er verzichtete darauf, ihn daran zu erinnern, dass er mit dessen unbekleideter Erscheinung durchaus vertraut war. Hand in Hand wechselten sie in das angegliederte Badezimmer, teilten sich die Dusche. Bevor erneut Verlegenheit und Nervosität aufkommen konnte, schmiegte sich Akira einfach an Tois Brust, umarmte ihn erstickend und schloss die Augen. "Ich darf mich nicht zu sehr anstrengen." Verkündete er verschmitzt mit leicht getönten Wangen. "Daher wünsche ich, dass du mich auch wäschst." Mit gewohnter Nachsicht kam Toi diesem Ansinnen nach, ja, er war sogar dankbar für Akiras Verhalten. Während er ihn bog und drehte, damit das Einseifen und Abbrausen jedes Fleckchen Haut einbezog, wurde ihm erneut schmerzlich klar, wie viel ihm Akira bedeutete. Für keinen anderen Menschen hätte er etwas anderes als eine Verpflichtung verspürt, hier jedoch genoss er jede Handreichung. Behutsam wickelte er Akira in einen flauschigen Bademantel, nachdem er recht energiegeladen mit einem Handtuch tätig geworden war. "Ich fürchte, deine Haare werden wir in einem Turban trocknen müssen." Stellte er kritisch fest. Wirklich, diese wüste Mähne suchte ihresgleichen! Der Wasserkontakt hatte sie nicht gnädiger gestimmt, wenn man die verzottelten Strähnen betrachtete, die wie Antennen aus dem wirren Nest herausragten. "Meine einzige rebellische Ader." Akira lächelte verschmitzt, schüttelte sich dann wie ein Eisbär, sodass die wirre Mähne auch noch als Badezimmer-Sprenger fungierte. "Unvergleichlich." Knurrte Toi, trocknete sich erneut ab. Seine glatten, schweren Strähnen lagen wie immer akkurat. Erst das Trocknen würde zum Kämmzwang führen. "Gehen wir." Betont forsch fasste er nach Akiras Hand. »Jetzt immer der Reihe nach!« Ermahnte er sich, schluckte verstohlen. Zunächst kommandierte er Akira, sich sofort unter die warmen Decken zu verziehen, damit sich nicht die Spur einer Erkältung einschleichen konnte. Er dimmte das Licht auf ein heimeliges Glühen herab, sortierte notwendiges Zubehör in Reichweite und studierte die Kondomvarianten. Akira neben ihm hatte sich auf den Bauch gerollt und beobachtete ihn. "Hast du wirklich noch nie mit jemandem geschlafen?" Erkundigte er sich und erschreckte damit Toi, der gerade eine Entscheidung hinsichtlich der Präservative getroffen hatte und sie nun beschämender Weise alle fallen ließ. "Wenn du es noch nie getan hast, warum sollte ich es dann?" Knurrte er peinlich berührt, mied Akiras Blick. "Bloß weil ich zur Hälfte ein Ausländer bin? Erstaunlicherweise pflegen die nicht alle kurz nach der Wiege herumzurammeln." "Das habe ich nicht gedacht." Akira lachte amüsiert. "Ich dachte bloß, dass du bestimmt viele Verehrerinnen hattest. Du bist groß, schlank, sportlich, gut gebaut, klug, attraktiv." Zählte er an den Fingern ab. "Und stehe in derselben Gefahr wie ein gewisser Herr Sakamoto Nummer 1." Konterte Toi spitzfindig. "Jetzt nicht mehr." Akira setzte sich auf, schlang die Arme um Tois Nacken und schmiegte sich behaglich an dessen Rücken, noch sicher eingepackt im Bademantel. Toi seufzte. "Theoretisch sollte das jetzt recht einfach sein." Ordentlich sortierte er die Verhütungsmittel. "Ist es auch." Versicherte Akira und rieb seine Nasenspitze an Tois Ohrmuschel, bevor er sanft seine Zähne darum schloss. "Ich sage dir, was wir tun. " Flüsterte er dem rasch errötenden Toi ins Ohr. "Zuerst küsst du mich, von unten nach oben, dann schmirgeln wir uns so richtig ab. Alles weitere kommt dann von selbst." "Abschmirgeln." Wiederholte Toi trocken. Sehr romantisch. Aber er gab nach, erhob sich und schlüpfte aus dem Bademantel, den er akkurat auf der vorgestellten Bank ablegte. Bevor er jedoch Akiras Zehen küssen konnte, mussten die erst mal massiert werden, damit sie nicht wie Eisbrocken gefühllos auf das seidig glatte Laken schlagen konnten, wenn es Akira nicht schnell genug ging. Zu Tois Verblüffung entspannte sich Akira sehr schnell, streckte sich wohlig aus und räkelte sich vergnügt. "Vielleicht sollten wir tauschen." Knurrte er indigniert, denn SEINE Nervosität wollte nicht weichen. "Einverstanden!" Trällerte Akira, der langsam aufdrehte, sich rittlings auf Tois Hüften niederließ, die Hände neben dessen Kopf aufstützte und einen wahren Kusshagel auf ihn niederregnen ließ. Dann reduzierte er das Tempo, konzentrierte seine Bemühungen. Ehe Toi sich versah, rollte er selbst mit Akira quer über das Bett, küsste ihn so ausgehungert, als hätten sie dies schon immer getan. Wie konnte er auch nicht reagieren, auf die Nähe, auf die Körperwärme, auf das leise Lachen, Akiras Keuchen und Stöhnen? Mehr als einmal verhedderten sich seine gelenkigen Finger in Akiras wüster Mähne, rutschte er tiefer, um die rosigen Brustwarzen mit seinen Lippen zu umschließen. "Toi?" Akira lag gerade obenauf. "Wie wär's jetzt mit Fingerabdrücken, hm?" Schnurrte er vorwitzig. Unter ihm bemühte sich Toi gerade, seine Finger aus Akiras filzigen Strähnen zu befreien. "Wir haben aber gar keine Ansprüche, wie?" Nach seinem Dafürhalten war er bereits überall verewigt und wollte sich nun ein wenig schadlos halten mit leichtem Spott. "Ich meine nicht, dass du mich bloß anfasst." Akira ließ die Fingerspitzen über Tois Wangenknochen streifen. "Kannst du mich nicht wie einen Liebhaber behandeln?" »Was denkst du denn, was ich hier tue?!« Lag als scharfe Erwiderung auf Tois Zunge, doch glücklicherweise schluckte er sie herunter. "Warum tauschen wir nicht?" Akira tippte Küsse auf Tois gefurchte Stirn. "Bedien dich!" Brummte der geschlagen und ließ die Arme seitlich auf die Matratze fallen. Es war durchaus beschämend, wie souverän Akira der Situation Herr wurde, während er kläglich unterging! "Danke schön!" Akira zwinkerte und verschwand unter der Decke. Allerdings bekam Toi recht schnell eine Vorstellung davon, wo sich sein unsichtbarer Partner befand. Mehr als einmal musste er eine Hand fest auf seinen Mund pressen, um nicht allzu verräterisch das Geschehen zu kommentieren. Endlich tauchte Akira wieder erhitzt an der Oberfläche auf, schmiegte sich keuchend auf Tois Brustkorb. "Tauschen!" "...ja..." Toi stemmte sich mühsam auf die Ellenbogen, kippte Akira zur Seite von sich herunter. Da sie beide aber bereits ordentlich aufgewärmt waren, warf er die Decke nach hinten ab, angelte in die Batterie der Einsatzmittel. "Was ist das?" Akira zog die Knie unter den Leib, um sich aufzusetzen, doch Toi drückte ihn mit einer flachen Hand behutsam wieder herunter. "Brav liegen bleiben." Kommandierte er, schraubte die kleine Flasche auf. Es roch recht gut, ja, sogar anregend. Toi setzte sich auf das Fußende der Matratze, verteilte das duftende Massageöl auf seinen Handflächen und begann damit, von den Füßen nach oben zu streichen. Akira kicherte, als Toi seine Kniekehlen erreichte, zappelte spielerisch. Über ihm vertieften sich Tois Sorgenfalten auf der Stirn. Akiras ohnehin schlaksige, zierliche Gestalt hatte unter der auszehrenden Krankheit gelitten. Die sehnigen Muskeln waren kaum noch auszumachen, die Haut recht trocken. Er ließ sich auf Akiras Oberschenkeln rittlings nieder und massierte dessen Kehrseite, spürte deutlich die knochigen Hüften unter der dünnen Haut. "Oohhhhh, das tut gut!" Seufzte Akira unter ihm, den Kopf auf die gekreuzten Arme abgelegt. "Nicht aufhören, ja?" "Nein." Wisperte Toi leise. "Sag mir aber, wenn es dir zu kalt wird." "HmmHmmm." Akira schmunzelte. "Das ist wirklich herrlich!" Toi lächelte versöhnt, verteilte weiteres Öl auf seinen Händen und arbeitete sich die Wirbelsäule behutsam hoch. Er wusste, dass man mit ungeschicktem Krafteinsatz heftige Schmerzen auslösen konnte. Als er Nacken und Schultern behandelt hatte, erhob er sich von Akira. "Bitte einmal wenden." Lächelnd rollte Akira herum, löste eine Hand und streichelte Toi über die Wange, wo bereits schwere Strähnen klebten. "Denkst du, dass du auch weitermachen kannst, ohne hinzugucken?" Zwinkerte er hoch. Verdutzt zögerte Toi. Was genau schwebte Akira vor? Akira stützte sich auf die Ellenbogen, brachte sein Gesicht nahe an Tois. "Ich meine, kannst du mich auch massieren, wenn wir das hier tun?" Damit küsste er Toi neckend, grinste herausfordernd. "Das lässt sich schon einrichten." Toi bleckte die Zähne. Ganz schön vorwitzig! Dank langer Beine und einer großen Gestalt konnte er sich vornüberbeugen und Akira küssen, während seine Hände dessen Oberkörper nachdrücklich einbalsamierten. Ihm gefiel es, wie Akiras Finger über seine Kopfhaut tanzten, wie liebevoll er geküsst wurde. Endlich löste er sich, um sich der delikatesten Etappe zu widmen. Sanft umkreiste er die knochigen Hüften, streichelte den Unterbauch, der beinahe eingefallen wirkte. Dann nahm er zum ersten Mal in seinem Leben mit heftig klopfendem Herzen einen fremden Penis in die Hand. Akira keuchte leise, protestierte aber nicht. »Ich kann das!« Redete sich Toi ein. »Alles kein Problem! Ist ja nicht so, als wäre mir das vollkommen unbekannt!« Aber trotzdem zitterten seine Hände und er spürte den nervösen Knoten in seinem Magen. »Konzentrieren.« Toi holte tief Luft, spürte Akiras Reaktion bereits. Zu seiner Überraschung verlor er sich beinahe in seiner Aufgabe, blendete seine Zweifel aus. Seine Versunkenheit endete erst, als Akira heftig zuckte und erstickt winselte. Toi schreckte auf und registrierte, dass Akira die Laken in den Fingern zerknitterte, die Lippen zusammenpresste und Tränen unter seinen Wimpern hervorquollen. "Akira?" Toi beugte sich vor, wischte eilig die feuchten Spuren aus Akiras Augenwinkeln. "Soll ich aufhören?" "MmmmMmmmm!" Akira schüttelte den Kopf, ächzte atemlos. »Ich...Idiot« Toi dämmerte, dass er bereits den Erfolg erreicht hatte, den er anstrebte. Wie aber nun vorgehen? Akira auf die Seite drehen? Oder auf die Knie heben? Verunsichert zögerte er, ließ allein seinen Daumen an neuralgischer Stelle die Spannung aufrechterhalten. Akira krümmte sich unter ihm, hob unwillkürlich die Hüften von der Matratze, schien dem Zugriff entwischen zu wollen. "...kann...nicht...mehr...!" Schluchzte er angestrengt, hechelte gequält. Toi traf eine Entscheidung. Er fühlte sich noch nicht bereit, SO WEIT zu gehen, wie es notwendig war und konnte angesichts Akiras verzweifelten Versuchen, an sich zu halten, nicht zuwiderhandeln. Er gab Akiras Erektion frei, grub beide Arme unter dessen Rücken, um ihn auf seinen Schoß zu heben, ihn so eng wie möglich an sich zu pressen. Als er Akira sicher auf seinen Oberschenkeln wusste, schmuggelte er seine Rechte zwischen ihre erhitzten Unterleibe, setzte seine Massage fort. Akira drückte seine Lippen auf Tois Kehle, schlang mit aller Kraft die Arme um Tois Schultern. Er stöhnte und keuchte hilflos, grub die Fingernägel in Tois Haut, kämpfte mit letzter Kraft darum, noch nicht zu kommen. "Akira." Toi krächzte erstickt, schwindelte unter der unglaublichen Hitze, die sich aufgebaut hatte, konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassten, hingerissen von diesem neuartigen Empfindungen. "Akira, lass los." Er wurde von Akiras heftigem Orgasmus erschüttert, zuckend und von kehligen Lauten begleitet, die so gar nicht zum harmlos-niedlichen Schülerpräsidenten passten. Toi fing sich einen unabsichtlichen Kinnhaken ein, doch der Schmerz blieb hinter dem unglaublichen Gefühl zurück, als ihn Akiras Sperma traf, glühend heiß und explosiv. Sich an Akiras ermatteten Körper klammernd ergoss er sich selbst, blinzelte heftig, weil er befürchtete, ohnmächtig auf die Seite zu kippen. Sein Herz raste, der Puls trommelte im Stakkato, Speichel trocknete kühl auf seinem Kinn, während er das Gefühl hatte, ihm bliebe gänzlich die Luft weg. "Du...du hast...geschummelt." Flüsterte Akira an Tois Halsbeuge. "Habe ich?" Toi war erschöpft und verwirrt, hielt sich an Akira fest, bewegte probeweise mal seine Zehen. Ja, sie reagierten noch. Das ließ hoffen, dass sein Verstand nicht dauerhaft geschädigt worden war. "Toi?" Akira legte die Hände um dessen Gesicht. "Toi, alles in Ordnung?" Sanft kämmte er ihm Strähnen aus dem Gesicht hinter die Ohren. Akira seufzte, drückte die Knie in die Matratze, um den Größenunterschied zu reduzieren und lehnte die Stirn an Tois. "Du hattest recht." Seufzte er leise. "Hatte ich?" Tois Gehirn stand noch immer unter Schock, stark beeindruckt von den neuen Eindrücken. "Ja." Akira rieb seine Nasenspitze an Tois. "In den Manga sah es wirklich einfacher aus. Vielleicht wäre es auch leichter, wenn ich ein Mädchen wäre." Er wandte sich ab, beugte sich zur Seite, um nach den Taschentüchern zu angeln. Toi stützte ihn endlich ab, räusperte sich, während Akira gewissenhaft die Spuren tilgte. "Ich bezweifle, dass es einen Unterschied macht." Nahm er heiser den Gesprächsfaden wieder auf. "Mit ein wenig Übung geht alles. Ich KANN das wiedergutmachen!" Akira grinste schief, kämmte durch Tois Strähnen. "ALLES wäre anders." Er seufzte noch mal resigniert, kletterte dann von Tois Beinen, sammelte benutzte Utensilien ein, um sie dem Abfall anzuvertrauen. Hinter ihm rieb sich Toi kräftig über das Gesicht, brummte angesichts des eindeutigen Odeurs, der noch immer seinen Handflächen anheftete. "Ich entschuldige mich, weil ich die Kondome vergessen habe." Bemühte er sich, Akira aufzumuntern. "Das wird nicht mehr vorkommen. Verzeihung." Neben ihm ließ sich Akira schwungvoll auf die Matratze plumpsen, fiel dann hintenüber und studierte die Zimmerdecke. Er drehte den Kopf, um Toi zu betrachten, der einigermaßen ratlos auf ein Stichwort wartete. "Außerdem hast du nicht angedockt." Tadelte er Toi vorgeblich streng, streichelte dann über dessen Unterarm. "Schon gut. Wenn ich nicht so ein erbärmlicher Waschlappen wäre, müsste ich mich nicht an dich klammern. Bin schon ein toller Freund!" Toi streckte sich neben Akira aus, lehnte sich auf einen Arm und reichte mit dem anderen nach Akira, um über dessen gerötete Wangen zu streicheln. "Es würde mir helfen, wenn du mir sagst, was eigentlich los ist." Wagte er vorsichtig einen Vorstoß. Akira schmiegte seine Wange in Tois Handfläche, hielt dann dessen Hand fest, während er den freien Arm über seine Augen legte. "Also..." Holte er tief Luft, räusperte sich dann mit einem verlegenen Grinsen. "Ich hatte mir vorgestellt, dass, na ja, dass wir im letzten Jahr zusammen sein können, aber dann wollte niemand als Schülerpräsident antreten." Toi unterdrückte einen Schmerzlaut, weil Akira seine Hand so fest umklammerte, dass er glaubte, die Knöchel aneinander reiben zu spüren. "Es wäre alles so weiter gegangen wie vorher! Alle zerren an mir herum, jeder will etwas und es gibt keinen Augenblick für uns! Dann gehst du an eine Universität im Ausland und wir sehen uns vielleicht irgendwann mal, wenn es ein Klassentreffen gibt, in zehn Jahren!" Akira fauchte, quetschte Tois Hand verkrampft. "Wenn ich ein Mädchen wäre und gut aussehen würde, WÄRE es einfacher! " Er knirschte mit den Zähnen. "Dann könnte ich einfach schwanger werden, und du könntest mich als Geliebte behalten! Na, oder heiraten..." Akiras Zorn verpuffte kläglich. "Aber Männer können bloß in Manga schwanger werden. Ohne Schönheitsoperationen ist es mit dem guten Aussehen auch nicht weit her." Beurteilte er zynisch seine Optionen. Toi brachte nun mit einem energischen Ruck seine Hand an sich, bevor sie endgültig zerdrückt wurde und zog Akira heftig an der Nase. "Würdest du BITTE endlich mit diesem Quatsch aufhören, ja?! Außer Narziss ist wohl keiner so beschäftigt damit, wie er aussieht wie du! Was stimmt denn mit deinem Äußeren nicht, erkläre mir das mal!" "DU kannst das nicht verstehen!" Akira zog den Unterarm von seinen Augen und blitzte hitzig zu Toi hoch, der halb über ihn gelehnt saß. "DU siehst ja auch gut aus! DU hast kein Allerweltsgesicht, aber eine muskulöse Figur und keine Streichholzbeinchen! Oder Glupschaugen!" "Nein." Toi beugte sich tiefer, lange, schwere Strähnen rahmten sein Gesicht ein. "Hinter meinem Rücken wird bloß getuschelt, dass ich minderwertiges Blut habe, ein halber Ausländer bin! Musstest du jemals nachweisen, dass deine Haarfarbe Natur ist?! Hat man dir mal hinterher gemacht, weil Asiaten ja untenherum alle niedlich bestückt sein sollen?! ICH gehöre nirgendwo richtig dazu." Toi zischte, seine Augen glühten vor eisiger Wut. "Aber so ist das nun mal! Ich bin, wer und wie ich bin! Also, willst du weiter herumjammern und deine Probleme auf dein Aussehen schieben, oder ENDLICH mal zu dir selbst stehen?!" Nach Luft ringend funkelte er auf Akira herab, der ihn eindeutig fasziniert bestaunte. "SO WAS sagen Leute über dich?" Plapperte er verblüfft. "Ehrlich?!" Ehe Toi sich indigniert echauffieren konnte, dass Akira offenkundig der wesentliche Aspekt seiner Ansprache entgangen war, wurde er von ihm beiseite geschoben, um sich aufzusetzen. "Aber das ist doch Blödsinn!" Akira legte impulsiv die Hände auf Tois Schultern. "Du bist SCHÖN! Unglaublich attraktiv! Wer was anderes behauptet, der ist bloß neidisch!" Toi seufzte geplagt. Musste er etwa seinen Vortrag wiederholen, damit Akira den Kern auch begriff? Gerade, als er einen erneuten Anlauf fahren wollte, lehnte Akira seine Stirn an. "Aber verstehst du auch, dass das ein weiteres Problem ist? Ich habe nicht nur das falsche Geschlecht, sondern auch optisch schlechte Karten. Ich kann bloß mit meiner 'Persönlichkeit' punkten, aber du weißt ja jetzt, dass ich mich verstelle..." Er verstummte. "Akira." Toi schmuggelte eine Hand unter Akiras spitzes Kinn, zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. "Verstehe ich das auch wirklich richtig? Du willst dein Leben mit mir verbringen?" So GANZ konnte er das einfach nicht glauben. Vielleicht war es ja bloß eine vorübergehende Leidenschaft, aus der Verzweiflung über die eigene Situation geboren. Akira krächzte verlegen, wandte den Kopf ab. "Was glaubst du denn, warum ich die Manga studiert habe? Warum ich so gemein zu dir bin?" Erst als er das Gesicht wieder Toi zuwandte, bemerkte der die Tränen, hörte ihn nun auch vernehmlich schniefen. Sprachlos zögerte Toi, denn der Gedankengang, sich als 'Frau' zu betrachten, weil man sich damit Chancen bei einem männlichen Partner ausrechnete, war ihm selbst noch nie gekommen. Außerdem, suggerierte ihm sein verwirrter Verstand streng, geht es ja schließlich um die inneren Werte, nicht die Verpackung! Sollte man meinen. "He." Verlegen wischte er die Tränen weg. "Wenn du in mich verliebt bist, dann sag mir das doch einfach." Ein gequälter, aber sehr deutlicher Blick traf ihn. »Umgekehrt wird auch ein Schuh daraus!« Signalisierte Akira und bewies damit, dass hier nicht nur ein Esel den anderen Langohr schimpfte. Zu seiner Verteidigung lief Toi rot an und befand, dass sich diese peinliche Situation leichter bewerkstelligen ließ, wenn man ihr nicht das Gesicht bot. Er umarmte Akira eng und bot seine Halsbeuge als Ruhekissen an. "Tja...also...nun..." Stammelte Toi, sich deutlich der Körperwärme und des Gewichts von Akira in seinen Armen bewusst. "Ich halte es für angeraten, dass du diese dubiosen Comics wieder deiner Schwester überlässt." An seinem Hals schnaubte Akira, partiell amüsiert, partiell resigniert. Toi straffte seine Gestalt energisch. "Außerdem ist es keineswegs erforderlich, dass du eine Frau bist und/oder schwanger! Selbstverständlich wird es eine andere, adäquate Lösung geben." Das klang so sehr nach dem zukünftigen Direktor des Familienunternehmens, dass Akira unwillkürlich hochsah, Toi kritisch musterte. "Und wie willst du das anstellen, Herr Direktor?" Erkundigte er sich weniger boshaft als traurig. "Ist es nicht deine Aufgabe, die passende Partie zu machen und Nachwuchs für die nächste Generation zu zeugen?" Toi erwiderte stolz und eigensinnig Akiras inquisitorischen Blick. "ICH habe nicht die Absicht, Sklave des Unternehmens zu werden." Verkündete er streng. "Wenn meine private Lebensführung für die japanische Gesellschaft zu beleidigend ist, dann wandere ich eben aus. Australien zum Beispiel." Akira blinzelte. "Das ist verrückt!" Dann rückte er so nahe an Toi heran, dass sie beide beinahe schielen mussten, um das Niederstarr-Duell nicht zu unterbrechen. "DAS würdest du für mich tun?" "Nein." Toi zwinkerte, weil seine Augen brannten. "Das tue ich für MICH, wenn es erforderlich ist." "Dein Vater wird das nie zulassen." Akira gab nicht auf, jeden Stein umzudrehen, um ein unüberwindliches Hindernis aufzuspüren. Immerhin hatte er genug Zeit gehabt, sich all die traurigen, einsamen Zukunftsperspektiven auszumalen, da wollte er nicht unvorbereitet erscheinen! "Was soll er sonst tun?" Toi blieb in seiner Argumentation betont nüchtern. "Ich habe keine Geschwister und werde bald volljährig sein. Meine Ausbildung ist exzellent, ich kann also auch für meinen Unterhalt selbst sorgen. Was meine Nachfolge angeht, so gibt es IMMER alternative Möglichkeiten." Toi lächelte reserviert. "Es könnte ja genauso gut sein, dass meine Kinder gar nicht geeignet oder willens wären, die Firma weiterzuführen, nicht wahr? Folglich kann man auch eine andere Option ins Auge fassen, wenn es soweit ist." Um sich ein wenig schadlos zu halten, ergänzte er trocken. "Außerdem solltest du auch mal an DEINE Familie denken! Die werden dich doch wohl kaum einem halben Ausländer überlassen, der dich zu widernatürlichen Handlungen anstiftet!" "SO kleinkariert sind meine Leute gar nicht!" Schwang sich Akira erbost zur Verteidigung auf. "Sie sind sehr offen!" "Klar." Toi verwuschelte absichtlich gönnerhaft Akiras wirren Schopf. "Hast du denn jemals versucht, aus dem heimeligen Nest herauszukommen? Warst du jemals irgendwo ohne deinen Clan?" "Selbstverständlich..." Akira verstummte mitten im energischen Protest. Schulausflüge, bei denen man von der kompletten Familie hingebracht und abgeholt wurde, waren vielleicht doch keine so guten Beispiele. "Die werden diesen bösen, ausländischen Teufel zerfleischen!" Prophezeite Toi mit verstellter Stimme finster, fand allmählich Spaß daran, sich mit Akira zu kabbeln. Solche Unterhaltungen hatte er nie geführt, war stets sachlich, ernsthaft und distanziert auf andere zugegangen. "Werden sie nicht!" Akira hielt Toi den Mund zu, umschlang mit dem anderen Arm dessen Nacken. "Werden sie nicht." "Ganz kleine Fetzchen!" Flüsterte Toi frech, als er gerade Luft holen durfte, grinste Akira provozierend an. "Gar nicht." Murmelte Akira und versiegelte Toi den Mund. Erst als sie beide taumelten, der Atem zu seinem Recht kommen musste, lösten sie sich ein wenig voneinander. "Ich tue, was du willst." Wiederholte Toi heiser, küsste Akiras Nasenspitze. "Du musst es mir nur sagen." Akira kicherte erstickt. "Eine große Verantwortung! Wenn ich nun sage, dass ich mit dir zusammen sein will? Bis wir alt und tatterig sind?" "Dann werde ich mit dir zusammen sein, bis dass der Tod uns scheidet." Toi antwortete ohne zu zögern, während seine Augen über Akiras Gesicht wanderten, hin und her sprangen, um kein Detail zu verlieren. Im Augenblick nagte Akira an seiner Unterlippe, kämpfte sichtlich mit sich, bevor er halb erstickt heraus würgte. "Bleib für immer bei mir." "Das werde ich." Versicherte Toi erneut, ließ sich umhalsen und streichelte über den knochigen Rücken. Wie dumm von ihm, an Akira zu zweifeln! Sich so wenig auszurechnen! Aber andererseits wäre es auch vermessen gewesen, Akira einfach als bereits gewonnen einzustufen, nicht wahr? Er ließ sich langsam nach hinten fallen und zog Akira mit sich, dirigierte ihn halb auf sich drauf, wickelte ihre Beine ineinander. Plötzlich überkam ihn eine lähmende Müdigkeit, als wiche alle Spannung, jede Energie aus seinen Gliedern. Das war es also. Akira liebt Toi und Toi liebt Akira. Ganz einfach. »Worüber habe ich mir bloß die ganze Zeit den Kopf zerbrochen?!« Wunderte er sich matt über sich selbst. "Toi?" Akira streichelte über Tois Brustkorb, zog mit den Fingerspitzen das Brustbein nach. "Lass uns zu dir gehen, ja?" "Zu mir?" Toi hob den Kopf leicht an, blinzelte überrascht zu Akira hin. "Aber du magst mein Zuhause doch nicht." "Stimmt." Bekannte Akira offen, stemmte sich auf einen Ellenbogen. "Aber ich will heute Nacht mit DIR zusammen sein." "Fein." Murmelte Toi nach einer verblüfften Gedenkpause an die Einfältigen. Er schlief schließlich am Besten im eigenen Bett. ~+~ Kapitel 4 - Liebesbeweis Toi ließ Wasser in die große Wanne in seinem Badezimmer einlaufen, konnte aber trotzdem Impressionen des Telefonats hören, das Akira gerade führte. Offenkundig, dessen ungewohnt gereizter Tonfall legte diesen Schluss nahe, wollte man einfach nicht akzeptieren, dass Akira aushäusig nächtigte. Das kam ja auch, sah man von zwangsweisen Krankenhausaufenthalten ab, kaum je vor! Als er wieder sein Schlafzimmer betrat, um dort frische Pyjamas aus einem Schrank zu nehmen, stand Akira stocksteif am Fenster, die Hände zu Fäusten geballt. "Das Bad ist eingelassen." Verkündete Toi mit gedämpfter Stimme, hielt Distanz für angeraten, damit Akira sich wieder beruhigen konnte. "Du hast schon wieder recht gehabt!" Klärte ihn Akira bissig auf. "Ich bin ganze 18 Jahre alt und es ist ein DRAMA, wenn ich eine Nacht bei einem Schulkameraden verbringen will!" Er fegte herum, blitzte Toi an, der diese Offenbarung bereits erwartet hatte. "Sie haben nicht etwa gemerkt, dass ich dich liebe, nein, es geht ja ums Prinzip! Ich könnte ja wieder krank werden! Oder es könnte sonst was passieren!" Mit einigen, eiligen Schritten überwand er den Abstand zwischen ihnen, packte Tois Oberarme. "Hör mal, du MUSST mich heute Nacht vernaschen, ja?! Sonst ende ich noch wie mein Bruder! Ich will endlich ich selbst sein!" Leicht überrumpelt taumelte Toi einen Schritt zurück, lächelte schief. "Es ist doch aber gestattet, dass wir uns zuerst entspannen, oder? Das Wasser hat gerade die richtige Temperatur." Akira schob die Unterlippe vor, deutete ein beleidigtes Schmollen an, was er nur von seinen Geschwistern gelernt haben konnte, brach dann aber unerwartet in Gelächter aus, stellte sich auf die Zehenspitzen und umhalste Toi, der klaglos Knitter in den eingeklemmten Pyjamas hin nahm. "Ach Toi!" Akira küsste ihn überschwänglich. "Du bist so COOL!" Der nahm mit gelupften Augenbrauen das Kompliment in Empfang, errötete dann, als ihm aufging, dass es Akira tatsächlich nicht spöttisch, sondern aufrichtig meinte, ihn dabei bewundernd anstrahlte, dass er mit seinen großen Augen durchaus jedem verliebten Hundewelpen den Rang ablaufen konnte. "Ah...ja, dann ins Bad, nicht wahr?" Rettete er sich verlegen und ging voraus, Akira an seinem Arm führend. Da wusste er noch nicht, dass Akira sich in den Kopf gesetzt hatte, eine Seifen-Schaum-Blasen-Plansch-Party zu veranstalten. ~+~ "Das war herrlich!" Mit Schwung sprang Akira in Tois Bett, federte von den gut gepolsterten Matratzen wieder hoch und lachte befreit. Toi, der es aufgegeben hatte, das Chaos in seinem Badezimmer noch vor dem Schlafengehen beseitigen zu wollen, schmunzelte nachsichtig, löschte den Großteil der Beleuchtung, bevor er sich zu Akira gesellte. Sie betrachteten einander lange, eingehend, unverwandt. Der Übermut verabschiedete sich, aber auch die Nervosität, die Toi erneut befallen hatte. »Das ist der Mensch, mit dem ich mein Leben verbringen werde.« Dachte er benommen. Er stützte sich auf einen Ellenbogen auf und beugte sich über Akira. Wer hatte so unsinnig behauptet, der sei bloß durchschnittlich, unscheinbar?! Toi spürte das unwiderstehliche, überbordende Verlangen, Akira zu küssen, zu streicheln, ihn zu verwöhnen, jeden Zweifel auszutreiben, ihm zu versichern, dass er das Beste war, was diese Welt zu bieten hatte. Er wollte ihm Vergnügen bereiten, ihn amüsieren, die herbeigesehnte Ekstase bewirken, ihm BEWEISEN, wie sehr er ihn liebte, für sich allein behalten wollte! Ohne Umschweife wurden die Pyjamas der Lagerstatt verwiesen, liebkosten sie einander, nutzten die gewaltige Breite der Matratzen, um sich zu haschen und wieder einzufangen, mal oben, mal unten zu logieren. Nun wurde auch Toi von dem verlangenden Fieber besessen, Akira immer noch näher zu sein, ihn zu überwältigen, ja, zu verschlingen! Alles sollte Sein werden, jeder Seufzer, jedes Aufbäumen, die glühende Hitze, die Feuchtigkeit ihrer Anstrengungen. Mühsam ermahnte er sich, wenigstens dieses Mal die Kondome zum Einsatz zu bringen, obwohl es ein harter Kampf war, stillzuhalten, sich zu konzentrieren. Doch nicht umsonst hatte er sich des Angebots im Hotel bedient! Akira stöhnte schon vernehmlich, verhinderte aber mit eigenem Griff, dass erneut das von ihm gesetzte Ziel verfehlt wurde. Toi erinnerte sich mit zusammengebissenen Zähnen seiner Pflicht, fokussierte sich auf den Mund, den er nicht müde wurde zu küssen, stahl sich Speichel, weil ihm die Kehle brannte, während er sich bemühte, Akiras Beine zu trennen und den engen Muskelring zu passieren. Die Augen geschlossen musste er nicht en detail sehen, was er fühlen konnte. Eine berauschende Erfahrung, da seine anderen Sinne gesteigert wurden. Unwillkürliche Bewegungen, die Qualität des Stöhnens, die unglaublich verzehrende Hitze: es feuerte ihn noch stärker an, den Auslöser zu finden! Erst scharfe Fingernägel in seinem Oberarm weckten ihn aus seiner fiebrigen Trance. Akira unter ihm wand sich verzweifelt, die Augen tränenfeucht, konnte nicht viel länger mehr aushalten. "Ist gut." Raunte Toi kehlig, zog seine forschenden Finger zurück an die kalte Wirklichkeit. "Ist gut, Akira." Behutsam fasste er den ächzenden, schniefenden Partner um Schultern und Hüfte, drehte ihn auf die Knie, der freie Ellenbogen in die Matratze gebohrt. In seinem Kopf trommelte es, ein archaischer Rhythmus, treibend, schnell, gewaltig. Vor seinen Augen schien ein seltsamer Schleier zu liegen, ein merkwürdiger Tunnelblick. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte Toi den unwiderstehlichen, überwältigenden Drang, jemanden gewaltsam an sich zu reißen, sich in einen anderen Körper zu bohren, zu verhaken, mit aller Kraft zuzustoßen, bis es keine andere Erlösung als das Verschmelzen gab! Obwohl ihm ein eiskalter Schauer ob dieser grausigen Emotion überlief, umschlang er Akira, beugte sich wie eine zweite Haut über ihn und suchte sich mit der freien Hand den Eingang in dessen Unterleib. Wenn Akira auszuweichen versuchte, zitterte, krampfhaft schluchzte, sich kaum abstützen konnte mit dem einen Arm, Tränen auf das Bettlaken tropfte, wisperte Toi gedankenleer beruhigende Worte, küsste die glühenden Wangen und Ohren, doch er hielt nicht inne. Akira gab schließlich auf, konnte der Anspannung nicht länger widerstehen. Da er sich ruckartig zusammenkrümmte, den Kopf einrollte, unkontrolliert schwankte, übernahm Tois Instinkt die Führung. Er entschied sich, dem urtümlichen, aggressiven Trommeln des Blutes zu folgen, den Flüchtenden festzuhalten, an sich zu pressen, sich aufzureiben am Widerstand im Inneren, bis endlich die Welt in einer weißen Explosion zerbarst. Toi fand sich auf der Seite wieder, ohne konkrete Erinnerung daran, dass er Akira auf seinen Schoß gezwungen hatte, dessen schmale Schultern umklammerte, um jede Ahnung von Distanz zu tilgen. Ihm den Rücken zugekehrt lag auch Akira auf der Seite, rang würgend nach Luft, ein hilfloses, zusammengerolltes Bündel. Nicht einmal ein Eimer eiskaltes Wasser hätte Tois Ekstase schneller abkühlen können. Wacklig aber flink kam er wieder auf die Beine, beugte sich besorgt über Akira. Er packte ein schmales Handgelenk, führte es über den eigenen Nacken, bevor er Akira wie ein kleines Kind anhob, dessen Beine um die eigene Taille wickelte und die Arme unter dessen mageren Hintern kreuzte. "Alles ist gut, ist ja vorbei!" Murmelte er beschwörend, stolperte nackt durch sein abgedunkeltes Zimmer, wiegte Akira, ging wie ein besorgter Vater mit dem Säugling auf und nieder, der einfach nicht einschlafen wollte. Akira beruhigte sich, lagerte schwer auf seiner Schulter. Endlich wagte es Toi, sich wieder auf sein Bett zu setzen. "Wo tut es weh?" Erkundigte er sich beklommen, beschämt von seinem Kontrollverlust. Was für eine dumme Idee auch, mit aller Gewalt eine so kleine, von dünner Haut gesäumte Körperöffnung erobern zu wollen! Oder war es noch schlimmer, gab es etwa innere Verletzungen?! Seine private Horrorvorstellung wurde von Akira unterbrochen, der sich ungelenk von ihm löste und auf die Matratze kniete. "Übung." Krächzte er ebenso verlegen wie Toi. "Ich glaube, wir sollten das noch etwas...üben." "Ist es sehr schlimm?" Toi wirrte hartnäckige Strähnen aus Akiras geröteten Augen. "Brauchst du einen Arzt?!" "Einen Arzt?!" Akira starrte Toi verwirrt an. "Warum sollte ich...? Oh..." Er grinste schief. "Nein, SO arg ist es auch nicht." Toi sackte vor Erleichterung in sich zusammen. "Aber du könntest die Gummis abmachen." Akira piekte ihn in die kurzen Rippen. "Ich habe nämlich Wackelpudding in den Knien." Er lächelte Toi frech an, der sich mit einem eiligen Kuss rächte und dann die 'Abschlussarbeiten' erledigte. Nachdem er Akira auch beim Einkleiden in den Pyjama assistiert hatte, kroch er vollkommen erledigt neben ihn unter die Decke. JETZT waren ihm etwaige Spuren von Gleitmittel oder Speichel absolut gleichgültig. Er konnte nicht verstehen, wie man Sex zum Vergnügen betreiben konnte, wenn es solch schweißtreibender Anstrengungen bedurfte! "Und?" Wandte er sich Akira matt zu. "Fühlst du dich jetzt anders?" "Definitiv!" Akira schmiegte sich an Tois Seite, schnaubte einige wirre Strähnen aus seinem Gesicht. "Ab jetzt bin ich ein neuer Mann." "Oh." Toi unterdrückte ein schläfriges Gähnen. "Ich mochte den alten eigentlich auch." Sofort wurde seine Nase rächend gekniffen, dann küsste ihn Akira versöhnlich auf den Mund. "Wirst sehen, Toi, JETZT bin ich noch besser!" ~+~ Gewohnt vornehm mahnte der Wecker zum morgendlichen Appell, sodass Toi, noch schlaftrunken, wie ein Taschenmesser hochklappte, automatisch dem Alarm ein Ende bereitete, langsam den Verstand auf Betriebstemperatur brachte. Der gewohnte 'Zündungsprozess' wurde allerdings erheblich beeinträchtigt durch eine fremde Hand, die blind herumtastete und versehentlich, oder absichtlich?, Tois Unterleib an neuralgischer Stelle touchierte. "HAH!" Keuchte er mit aufgerissenen Augen, wischte nach dem nächsten Lichtschalter, fand einen wirren Wischmopp neben sich auf den lädierten Kopfkissen, der sich herum rollte und die Möglichkeit eines Gesichts bot, denn kleine Fäuste massierten etwas unter der Putzwolle. "Oh...guten Morgen, Akira." Toi atmete erleichtert aus, wechselte dann die Gesichtsfarbe, als auch das Erinnerungsvermögen herbeischlenderte. »Ich muss ins Badezimmer, zu einer Privatsitzung! SOFORT!« Signalisierte ihm panisch seine Würde. Sonst käme es unweigerlich zu einer sehr peinlichen Situation! "Morgen, Toi." Krächzte Akira und bemühte sich, ein Gesichtsfeld freizulegen, das einen Blick auf die Umwelt ermöglichte. Toi griff mitleidig ein und beteiligte sich dabei, Bekanntes unter dem wüsten Zottelgewirr aufzudecken. "Ist es schon spät?" Akira blinzelte müde, lächelte dann aber. "Kommen wir etwa zu spät?" "Nein...nein, selbstverständlich nicht." Antwortete Toi perplex. Der für einen langen Moment den beunruhigenden Verdacht hegte, dass Akira sehr gern EINMAL zu spät gekommen wäre. Hatte er etwa in der letzten Nacht einen Delinquenten erschaffen?! "Oh, na ja." Akira setzte sich auf, studierte das zerwühlte Bett. "Konntest du wenigstens ein bisschen schlafen? Ist ja ungewohnt, mit jemandem im Bett, nicht wahr?" "Ich konnte gut schlafen, danke." Murmelte Toi und studierte Akira neben sich wie ein fremdartiges Tier, den subäquatorialen Notstand vergessend. "Ich auch, obwohl ich Muskelkater habe." Bekannte Akira munter, schwang die Beine über die Bettkante. "Sollen wir dann jetzt duschen? Deine Haushälterin ist sicher schon da, oder?" "Ist schon da." Wiederholte Toi vorsichtig, leckte sich über die trockenen Lippen. Er musste zwar keine 'Entdeckungen' fürchten, da die Zugehfrau niemals seine Räume betrat, bevor er zur Schule aufgebrochen war, aber proprietär waren augenblicklich gewisse Visionen über eine gemeinsame Dusche. DIE waren zweifelsfrei unkeusch. "Hast du auch Muskelkater?" Akira wieselte auf die andere Seite des Bettes. "Kannst du nicht aufstehen? He, Toi, bist du überhaupt schon richtig wach?!" Mit dieser lachenden Bemerkung fasste er Toi an den Händen und zerrte ihn auf die Beine, woraufhin sein Blick ungehindert auf ein merklich hervorstehendes Ereignis gelenkt wurde. "Ich MAG deinen Enthusiasmus!" Grinste er noch breiter. "Komm, bis zum Badezimmer schaffen wir es noch!" "...wennwirlangsamgehen!" Presste Toi zwischen den Zähnen hindurch und beschloss, Akira gleich hinter der Badezimmertür in Grund und Boden zu knutschen! ~+~ "So, das wäre erledigt!" Akira strahlte Toi an und ließ das Mobiltelefon in seine Jackentasche gleiten. Die Familie war informiert, dass er auf dem Weg zur Schule war und artig nach Hause kommen würde. Toi schmunzelte reduziert und spürte den verschwörerischen Druck ihrer verschränkten Finger in seiner Manteltasche. Er war versucht, sich vor dem Schultor artig zurückzuziehen, doch Akira schleifte ihn förmlich hinter sich her, hielt ungeniert auf die Schülerscharen zu, die sich langsam ins Gebäude schoben. Yujiro und Toru schossen wie Raubvögel auf Akira zu, wollten ihn in ihre Mitte nehmen, doch Akira schmiegte sich einfach an Tois Seite, lächelte unvermindert. "Guten Morgen, ihr beiden! Toi bringt mich zur Klasse." Feindselige Blicke trafen Toi, doch er ignorierte sie gewohnt stoisch. Erst am Schließfach durfte er seine Finger wieder vollständig sein Eigen nennen, weil sie die Schuhe tauschen und sich aus den Winterkleidern schälen mussten. "Du holst mich auch für die Mittagspause ab, nicht wahr?" Akira hängte sich einfach an seinen Arm, eine sehr vertrauliche Geste, aber immerhin war das ja der niedlich-harmlose Schülerpräsident... Ein Schelm, wer Arges dabei dachte. »Eben.« Stimmte Toi dem Motto des Hosenbandordens zu und neigte galant das Haupt. "WIR gehen mit dir Mittagessen!" Krähten Yujiro und Toru im Chor. Akira reagierte nicht, wandte sich anderen Schülern zu, die ihn unbedingt begrüßen wollten. Auf eine subtile Weise hatte Toi den Eindruck, dass die Ereignisse der letzten Nacht DOCH einen Unterschied machten. ~+~ Toi tauschte gerade einige Bücher an seinem Schließfach, als er einen ausgerissenen Fetzen Notizpapier fand. [Triff mich in der Toilette beim Büro, letzte Kabine!] Teilte ihm Akira mit. Mit gerunzelter Stirn steckte Toi die Nachricht ein. War etwas passiert?! Als er sich wie angeordnet in die sanitären Örtlichkeiten begab, dauerte es nicht lange, bevor auch Akira eintrudelte, von Klassenkameraden umzingelt. "Leute!" Toi merkte auf, außer Sichtweite in der letzten Kabine verborgen. "Bitte! Darf ich wenigstens allein pinkeln, oder was?!" Verblüfftes Schweigen, denn so natürlich, wie Prinzessinnen stets nach Blumen dufteten und ganz sicher KEINER Toilette bedurften, 'pinkelte' ein Herr Sakamoto nicht! Allerhöchstens würde man mit gedämpfter Stimme von 'sich erfrischen' oder nötigenfalls von 'Wasser lassen' sprechen! In der Kabine presste sich Toi eilends an die Wand, damit er nicht sichtbar wurde, wenn jemand hereinstürmte, um sich zu verbarrikadieren. Akira wischte hinein, verriegelte energisch die Tür zum Zeichen dafür, dass er nicht gestört werden wollte und man sich auf eine durchaus längere Zeit einrichten musste, wandte sich dann Toi zu und küsste ihn leidenschaftlich. Er schmiegte die Wange an dessen Brust, umklammerte Tois schlanke Taille. Der, von dem Hunger überrascht, den Akira ungeniert offenbarte, streichelte über den wirren Kopfputz und erwiderte die Umarmung. Er beugte sich über Akira und wisperte kaum vernehmlich. "Was nun?" Immerhin konnte Akira ja nicht ewig in der Kabine bleiben. Der legte ihm die Arme um den Kopf, stellte sich auf die Zehenspitzen und wisperte eindringlich. "Du rufst mich von der Halle aus an! Wir schwänzen die Büroarbeit!" Tois Augen weiteten sich. Akira wollte mit ihm ausrücken?! Nicht die ganzen Bittsteller, Seelenentmüller und anderen Plagegeister geduldig anhören, während er im Hintergrund endlose Papierberge verwüstete?! "Fünf Minuten." Antwortete Toi leise, genoss das begeisterte Strahlen in Akiras Augen. Plötzlich hatte er auch große Lust auf Abenteuer! ~+~ Wie vereinbart, bereits metaphorisch in Hut und tatsächlich in Mantel, setzte Toi den Notruf ab, der als Anlass diente, dass Akira seine 'Sprechstunde' wegen einer unaufschiebbaren, dringenden Angelegenheit zu seinem größten Bedauern beenden musste und eiligst zu den Schließfächern sockte. Dort schloss sich Toi an wie ein Leibwächter, materialisierte sich schneller als jeder Rivale um Akiras Gunst, sodass allen Hartnäckigen bloß das Nachsehen blieb. Akira schob seine Hand in Tois Manteltasche, hielt forsch auf die nächste Bahnstation zu. "Wohin fahren wir?" Erkundigte sich Toi. "Wir fahren gar nicht." Akira grinste verschwörerisch zu ihm hoch. "Wir gehen vorne rein und bei einem der anderen Ausgänge raus." Sehr gerissen. Obwohl, hatten sie überhaupt Verfolger? Während Toi sich noch dieser Frage widmete, schlängelte sich Akira durch das Gewühl, denn der Bahnhof diente auch als gewaltige, vertikale Einkaufsmeile. Zielsicher fand er den richtigen Ausgang, fischte dann nach Tois ehemaligem Mobiltelefon, um das Anzeigenfeld zu studieren. "Ah, da geht es lang." Murmelte er konzentriert und schritt frisch aus, offenkundig energiegeladen. Toi ließ sich einfach mitziehen, ignorierte die neugierigen Blicke der Passanten, denn er wirkte mit seinem teuren Mantel und dem exotischen Aussehen durchaus deplatziert. "Hier, da vorne, siehst du?!" Begeistert zupfte Akira an Tois Mantelärmel, damit der noch an Tempo zulegte. Leider 'sah' Toi nichts, vertraute aber darauf, dass Akira schon wusste, was er tat. Tatsächlich führte sie ihr Weg in ein schmales, schon in die Jahre gekommenes, mehrstöckiges Haus, das zahlreichen, kleineren Geschäften Heimat bot. Der schrill ächzende Aufzug beförderte sie in das 12. Stockwerk, wo Akira den bunten Hinweisen folgte und einen kleinen Frisiersalon ansteuerte. "Du willst dir die Haare schneiden lassen?" Fasste Toi überrascht zusammen. "Besser!" Akira strahlte, erwiderte die freundliche Begrüßung des einigermaßen befremdlich wirkenden, mutmaßlich 'trendigen' Personals und ließ sich zu einem dekorativ verzierten Sessel führen. Sein Begleiter wusste nicht, ob er lachen oder zürnen sollte. DAS war das große Abenteuer? ~+~ "Na?" Akira zwinkerte und riss Toi aus einer sehr gewöhnungsbedürftigen Lektüre, die an die Invasion der Körperfresser erinnerte. Toi sah sich dem übermächtigen Wunsch ausgeliefert, für die Körperfresser zu votieren, weil er die Heldenbesetzung entsetzlich öde und nervtötend empfand. Als er aufblickte, einmal mehr die zu niedrige Sitzgelegenheit stumm verwünschend, blieb ihm die Spucke weg. Erst nach einem krächzenden Hustenanfall sah er sich imstande, Akiras Frage zu beantworten, doch sein Gesichtsausdruck musste schon sprechend genug gewesen sein. "Ganz anders, oder?" Akira sprühte förmlich vor Freude. Das zeigte sich auch in dem Glitzerspray, das als Krönung seine kastanienbraun getönten Strähnen benetzte. Die Seiten und der Nacken waren ausrasiert worden, die filzigen Strähnen des Deckhaars abgeteilt und mit einer stützenden, sauren Dauerwelle in Form gebracht. "Was denkst du, soll ich mir auch die Ohrläppchen durchstechen lassen?" Grinsend ging Akira vor Toi in die Hocke, der hypnotisiert die Veränderungen goutierte. NATÜRLICH war das noch Akira, aber dieser Akira sah erwachsener aus. Und, auch wenn der Gedanke ihm die Röte in die Wangen trieb, mit der verwegen-wilden Frisur sehr sexy. "Nein." Entschied er endlich heiser, legte ohne Nachzudenken eine Hand um Akiras Wange. "Deine Ohren sind ohne Schmuck perfekt." »Außerdem wäre das recht hinderlich bei diesem oder jenem...« Aber diesen verräterischen Gedanken formulierte er nicht. Nachdem Akira den Obolus entrichtet und sich überschwänglich bedankt hatte, enterten sie erneut den altersschwachen Aufzug. Toi trennte sich von seinem teuren Wollschal, legte ihn Akira um den Hals. "Du wirst frieren." Erläuterte er streng. "Es heißt, dass man 30 Prozent der Körperwärme über den Kopf einbüßt!" Akira schmunzelte. "Na schön, aber nur leihweise. Sonst stricke ich dir einen zum Valentinstag! Ich bin ganz ENTSETZLICH ungeschickt bei Handarbeiten!" Toi grinste über die gefährliche Drohung und legte Akira den Arm um die schmalen Schultern. "Wirklich, du siehst umwerfend aus." Komplimentierte er laut. "Deine neue Frisur und diese Tönung, das steht dir ausgezeichnet." "Danke schön!" Akira strahlte zu sehr, um sich über rote Wangen Gedanken zu machen. Erst als sie sich seinem Haus näherten, verzögerte er das Tempo. "Machst du dir Sorgen?" Erkannte Toi messerscharf und warf einen prüfenden Blick auf die Fensterfront. Lag man schon sehnsüchtig auf der Lauer nach einer Nacht Trennung? "Wird sicher ein Zirkus." Akira zuckte verlegen mit den Schultern. "Aber das ist es mir wert." "Wenn du möchtest, begleite ich dich noch bis hinein." Bot Toi an. "Dann vergeht vielleicht der erste Schreck." Vor ihm, einem Fremden, würden selbst die Sakamotos nicht sofort zu streiten beginnen. "Ach, nachher glauben sie noch, es wäre DEINE Idee gewesen." Widerstand Akira mannhaft der Versuchung. " Nein, ich schaffe das schon." Trotzdem zog er Toi an den Mantelaufschlägen herunter und stahl sich einen langen Kuss. Dann wickelte er auch den Schal von seinem Hals, drapierte ihn fürsorglich um Tois, der sich lächelnd bücken musste. "Toi?" "Ja?" "Wenn sie mir den Posten als Schülerpräsident wegnehmen, bist du dann sauer?" "..." "...ja...ich werte das mal als 'nein', oder?" Geschützt hinter einer Straßenecke wartete Toi noch, bis Akira im Hauseingang verschwunden war. Auf seinen Lippen prickelten ihre Küsse wie Sternenstaub. ~+~ Akiras neue Aufmachung schlug tatsächlich ein wie eine Bombe. Obwohl der Haarschnitt nicht gegen die Regeln verstieß, war es doch höchst diskutabel, ob sich ein Schülerpräsident eine kastanienbraune Tönung leisten konnte, ohne komplett an Seriosität einzubüßen. Doch Akira ließ sich nicht beirren. In liebenswürdigster Weise bot er gleich seinen Rücktritt an, nahm alle Verantwortung auf sich und verbat energisch, dass man seinem Stellvertreter mit dem ausländischen Blut die Schuld zuwies. Immerhin wusste man ja, wie lax die Sitten außerhalb waren! Toi zeigte keine Gemütsregung, auch wenn es in ihm brodelte. Rational konnte er durchaus nachvollziehen, warum es zahlreiche Regelungen für das Zusammenleben in der Schule gab. Aber aus einer Haarfarbe eine Affäre aufzublasen und dann noch auf seiner Herkunft herumzureiten...! Für den Nachmittag vertröstete Akira erneut alle Anfragen, schloss sich mit Toi in Klausur ein. "Wir müssen einen Aufruf verfassen!" Akira nahm in seinem Bürosessel Platz, aktivierte den Arbeitsplatzrechner konzentriert. "Zu welchem Thema?" Erkundigte sich Toi überrascht. "Die Japaner als Mischvolk, von der Vergangenheit bis heute." Antwortete Akira ihm knapp, ganz der herausragende Schüler. Eine Weile beobachtete Toi stumm, wie Akira methodisch Quellen zusammenstellte, Bücher in der Bibliothek anforderte, dann legte er eine Hand auf Akiras. "Du musst das nicht für mich tun." Akira lächelte mit allen Zähnen, wie ein Raubtier kurz vor dem tödlichen Biss. "Toi, ich tue das für MICH. Bin ICH nicht der Schülerpräsident?! Soll ich nicht die Verantwortung für das Klima und die Harmonie der Schüler an dieser Schule tragen?! Soll ich tolerieren, dass hier widerwärtige Vorurteile einzelne Schüler an den Pranger stellen?!" Schwungvoll drehte er sich zu Toi, fasste dessen Hände fest. "Wie passt denn das zusammen, dass man verkleidete Jungs bejubelt, aber Jungs, die sich ineinander verliebt haben, ausgrenzt und quält?! Wie kann man für unsere Prinzessinnen schwärmen und gleichzeitig Transvestiten mit Schimpfnamen bedenken?! Wie kann ich die Ahnenreihe eines Mitschülers gegen ihn verwenden und gleichzeitig propagieren, dass wir alle hier dieselben Startchancen ins Leben haben?! Wie kann ich meine Mitschüler auf ihren weiteren Lebensweg vorbereiten, wenn ich alles unterdrücke, was nicht ganz dem Durchschnitt entspricht?! Wie soll jemand kreativ sein, neue Entdeckungen machen, neugierig auf das Leben bleiben, wenn er sich ständig vor Repressalien fürchten muss?!" Toi blinzelte nach dieser Brandrede, sprachlos und durchaus eingeschüchtert. Akira keuchte, senkte den Blick, räusperte sich. "Ich BIN nicht 'Herr Sakamoto'. Wenn sie bloß ein Idol zum Anbeten haben wollen, eine Karikatur, aber keinen Menschen, dann sollen sie mich eben meines Amtes entheben." "Akira?" Toi beugte sich vor, suchte die großen Augen, in denen noch immer eine Spur des kämpferischen Zorns loderte. "Akira, ich stimme dir zu. Lass uns an die Arbeit gehen, hm?" Ein verlegenes Lächeln zuckte auf Akiras Gesicht. "Tut mir leid, dass ich ausgerechnet dich angeherrscht habe." "Oh, ich bedauere das keineswegs." Um Tois Mundwinkel spielte ein amüsiertes Grinsen. "Du hast Charisma, Akira, und du kannst die Menschen begeistern. Wenn du du selbst bist, ist 'Herr Sakamoto' bloß ein Staubkorn." Damit fand er das Schlusswort gesprochen und rückte näher an den Bürosessel heran, um die Arbeit in Angriff zu nehmen. ~+~ Unversehens verbrachten Toi und Akira die nächsten Tage in konzentrierter Arbeit. Nicht nur für die lästigen Leistungsprüfungen, sondern besonders für die von Akira initiierte und von Toi konzipierte Reihe der 'Offenen Briefe' des Schülerpräsidenten, der Stellung bezog. Plötzlich war es nicht mehr ein absolutes Totschlagargument jeder Diskussion, eine Spaltung der Schülerschaft um jeden Preis zu verhindern. Es SOLLTE Auseinandersetzungen geben, zu denen die beiden Schülervertreter durch fleißige Recherche Fakten und Standpunkte lieferten. Das Manko, als 'Erbe' des beliebten Bruders gewählt worden zu sein, erwies sich nun als Vorteil, denn es verhinderte, dass man Akira absetzte. Trotzdem wurden seine verwirrten Eltern einbestellt, weil man sich sorgte, der Vorzeige-Primus mutiere zu einem gefährlichen Unruhestifter, der nicht kritiklos die Autorität der getroffenen Regelungen anerkannte. Auch Toi erwartete Anfang Februar, dass man seine Eltern zu einem Gespräch auffordern würde, doch diese Ehre wurde ihm nicht zuteil. Vielleicht, vermutete er bissig, wagte man nicht offen, ihn der Anstiftung zu bezichtigen, weil er ja einen kritikwürdigen Stammbaum aufwies. "Toi?" Akira erhob sich aus seinem Bürosessel und streckte sich ächzend. "Ja?" Toi arbeitete sich methodisch durch die Unterlagen, denn die Eingaben hatten sich leider nicht reduziert. Ständig wollte jemand etwas anderes. "Lass uns Schluss damit machen. Es ist Samstag, wir müssen hier nicht übernachten!" Akira absolvierte ein paar Kniebeugen. "Bin gleich fertig." Murmelte Toi abgelenkt. Er hatte einen Beitrag über die Tradition männlicher Darsteller in weiblichen Rollen verfasst und mit zahlreichen Hintergrundinformationen gespickt, die sich wiederum mit Akiras Recherche verwoben, statistischen Erhebungen und Forschungen dazu, wie viele Homosexuelle es überhaupt unter Transvestiten gab. Welche sozialen Funktionen die 'Okamas' erfüllten. Wie verheerend sich ignorante Vorurteile auf die gesamte Gesellschaft auswirken konnten. "Denkst du, dass unsere Aktionen uns Schwierigkeiten machen werden?" Akira legte die Arme um Tois Schultern, verschränkte sie vor dessen Brustkorb. "Wenn wir an die Toudai wollen?" Toi legte seinen Stift beiseite und lehnte sich gegen Akira, den Kopf in den Nacken geworfen. "Wenn die uns nicht nehmen wollen, suchen wir uns eine andere Universität." "Was wird da dein Vater sagen?" Akira streichelte über Tois Wangen, denn immerhin war die Toudai, die größte Universität von Tokio, die renommierteste des ganzen Landes. "Das finden wir raus, SOLLTEN sie uns ablehnen." Versetzte Toi ruhig. "Es könnte auch sein, dass wir gerade wegen unseres Engagements herausragen." Wandte er ein, denn ihre Leistungen gaben zu großen Hoffnungen Anlass. Die Aufnahmeprüfungen waren für alle Bewerber gleich schwer, sodass zumindest die üblichen Hürden nicht von der Schulakte beeinflusst werden konnten. Theoretisch bestand ja auch die Möglichkeit, mit Beginn des neuen Schuljahrs im April kurzfristig ihre Posten neu zu besetzen. "Hast du viel zu tun, morgen?" Erkundigte sich Akira, um das Thema zu wechseln, streichelte über Tois Brustkorb. "Mäßig." Antwortete Toi nach einer kurzen Konzentrationspause. Nichts, was man nicht einigermaßen zügig in wenigen Stunden absolvieren konnte. "Was denkst du, können wir rasch einkaufen, bei dir was kochen und dann ein bisschen im Bett üben?" Akira grinste frech auf Toi herunter. "Ausgezeichnete Idee!" Antwortete Toi wie aus der Pistole geschossen. ~+~ "Darf ich?" Akira angelte nach dem Elektrorasierer, dirigierte Toi auf einen dekorativen Hocker in dessen Badezimmer. Er stellte sich hinter ihn, streichelte über Tois überdehnten Hals, bevor er mit Geschick den leise summenden Apparat über die Haut führte. "Das macht Spaß." Bekundete er leise, lächelte Toi im Spiegel zu, der gehorsam seinen Kopf neigte, um sich gründlich von jeglichem Bartansatz befreien zu lassen. Alles war so vertraut, als hätten sie schon eine Ewigkeit miteinander verbracht, obwohl es tatsächlich noch zahlreiche Premieren gab. Doch, wie Toi zutreffend vermutete, die rosarote Brille saß noch perfekt und verhinderte unerfreuliche Meinungsverschiedenheiten oder Auseinandersetzungen. Es war simpel nichts zu wichtig, um ihre Einheit zu stören. "Schon wieder Montag!" Akira seufzte übertrieben. "Es wäre schön, wenn wir ein paar Tage Urlaub hätten, zusammen wegfahren könnten." Die Aussichten dafür waren aber bescheiden, da die Sakamotos die Nähe zu Toi misstrauisch beäugten und Toi selbst erhebliche Mühe hatte, seinem Vater Freizeit abzutrotzen. "Das kommt noch." Versprach Toi gelassen, wusch sich nach abgeschlossener Behandlung das Gesicht und ließ Akira die Pflegecreme auftragen. "Hmmmm!" Schnupperte der begeistert. "Bei dir riecht es richtig gut!" "Danke schön." Toi zwinkerte, küsste Akira auf die Stirn unter die wilden Putzwollesträhnen. "Du verwöhnst mich." "Dito!" Zwinkerte Akira und kletterte rittlings auf Tois Schoß. Er wollte jetzt den Pfefferminzgeschmack seiner Zahnpasta mit dem verspielten Orangengeschmack von Tois Variante verbinden! ~+~ "Ist das eine Überraschung." Bemerkte Akira ungewohnt trocken, als er sein Büro betrat und Arisada in seinem Bürosessel vorfand. Toi hinter ihm erstarrte, zweifellos höchst verärgert. "Ah, Herr Sakamoto." Arisada lächelte geziert, erhob sich gemächlich. "Ich wollte bloß Erinnerungen frönen." "Dann gibt es keinen bestimmten Grund für diesen...Besuch?" Erkundigte sich Akira kühl, bot Arisada mit einer Handbewegung einen Besucherstuhl an, ein ganz offensichtlicher Affront. "Ich bin angenehm überrascht, wie du dich entwickelt hast." Arisada schlug anmutig ein Bein über das andere. "Andererseits stand das nur zu erwarten, nicht wahr?" "Tat es das?" Akira bleckte die Zähne in einer Grimasse, bevor er sich ebenfalls einen Besucherstuhl heranzog. "Oh, sonst hätte ich dich doch nicht als mein Nachfolger aufgebaut!" Amüsiert winkte Arisada ab, so, als habe sich Akira einen frivolen Scherz erlaubt. "Wie du meinst." Antwortete ihm Akira knapp. "Nun, was kann ich für dich tun?" "Hmm, du bist erwachsen geworden. Richtig zielstrebig." Arisada lehnte sich vor. "Das steht dir gut." "Danke." Knurrte Akira, belauerte Arisada wachsam. "Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich an der Toudai studieren werde." Manieriert tupfte sich Arisada die Mundwinkel mit einem blütenweißen Stofftuch. "Es wird bestimmt interessant, wenn viele Vertreter unser geliebten Schule dort Aufnahme finden." "Bestimmt interessant." Wiederholte Akira giftig. Wann ließ Arisada endlich die Katze aus dem Sack?! "Dem Ruf unserer Schule wird dadurch Glanz verliehen." Arisada umtänzelte das Sujet geziert. Akira erhob sich langsam. "Wenn du hier bist, um mir zu sagen, ich sollte meine Aktivitäten als Schülerpräsident einstellen, damit das Renommee unserer Schule nicht leidet, dann spare dir den Atem." Arisada lachte. "Aber ganz im Gegenteil! Was auch immer du unternimmst, Herr Sakamoto, ich werde es zu nutzen wissen." Er stand ebenfalls auf und schlenderte zur Tür. "Wir sehen uns, mein Lieber. Tüdelü!" Akira ballte die Fäuste und funkelte die Schiebetür an. Selbstverständlich würde sich der intrigante Arisada aus jeder Schlinge herauswinden, immer ein passendes Argument für seinen Vorteil finden! "Muss furchtbar sein, jeden Morgen aufzuwachen und Arisada zu sein." Kommentierte Toi trocken. Das brach die Spannung und entlockte Akira ein Lächeln. Er drehte sich zu Toi herum, der gewissenhaft den Schreibtisch und den Arbeitsplatzrechner untersuchte, dann methodisch die Schränke abschritt. "Ich kann keine bemerkenswerte Veränderung entdecken." Erklärte er schließlich. "Aber ich gehe auch nicht davon aus, dass er sich noch solche Mühe vor dem Abschluss machen sollte." "Du meinst, Wanzen oder versteckte Kameras?!" Akira schnaubte. "Warum bitten wir nicht einen Spezialisten von der Elektrotechnik AG um Unterstützung!" Bevor Toi ihm einen Vortrag darüber halten konnte, welche Auswirkungen es hatte, wenn sich diese Aktion herumspräche, war Akira bereits aus dem Büro marschiert. »Nun ja.« Toi schmunzelte. »Andererseits konnte es ja auch nicht schaden, wenn man die Gemüter mal ein wenig anregt.« Akira kehrte wenig später wieder in Begleitung eines Schwadrons von Technikbegeisterten, die üblicherweise nicht gerade den besten Ruf hatten. Sie widmeten sich mit Feuereifer und zahlreichen Gerätschaften der Aufgabe, während Toi und Akira im Flur warteten, sich per Hand und Stift durch die tägliche Post arbeiteten. Bald gab es natürlich Zuschauer. Spekulationen wurden ausgetauscht und irgendwer brachte das Gerücht auf, Arisada habe das Büro kurz vor dem Einsatz in Sachen Lausch- oder Voyeur-Angriff verlassen. Mit einem süffisanten Lächeln mischte sich Akira ein, um ausdrücklich zu betonen, dass selbstverständlich der unerwartete Besuch des ehemaligen Schülerpräsidenten nichts mit dieser Vorsichtsmaßnahme zu tun habe. »Ah ja....« Konnte man in vielen Gesichtern lesen, denn alle außer den Mitschülern der zehnten Klasse erinnerten sich lebhaft an das Schreckensregiment des Schülerpräsidenten Arisada. Toi hielt sich im Hintergrund, konnte aber nicht anders, als heimlich Akiras Hand zu fassen und stolz zu drücken. Dieser 'neue' Akira war einfach sexy: selbstbewusst, klug und durchaus gerissen. Endlich wurde das Büro für spähangriffsfrei erklärt, sodass Toi und Akira sich wieder einfinden durften, noch eine Viertelstunde von Solidaritätsbekundungen überschüttet wurden, bevor sie mit sich allein waren. Erstaunlicherweise hatten die Bittsteller und Kummerkastenkunden sich reduziert, seit man gespannt auf neue 'Offene Briefe' warten konnte. Akira verkeilte die Tür und streifte sich summend seine Uniformjacke ab. "Toi." Verkündete er aufgeräumt. "Ich denke, es ist an der Zeit, diesen Schreibtisch einzuweihen." Ein wenig überrascht wandte sich Toi ihm zu. "Jetzt?" "Absolut." Akira wühlte in einer Tasche herum. "Nachgewiesen ohne Wanzen oder Kameras, nur wir zwei, der Schreibtisch und diese Spielsachen hier." Bei denen es sich um Kondome und eine unbeschriftete Flasche handelte, die nach Tois Vermutung Gleitgel enthielt. Hast du das geplant?" Erkundigte er sich endlich einigermaßen gefasst. "Nicht in allen Einzelheiten." Akira spazierte vergnügt lächelnd auf ihn zu. "Aber ja, doch, für alle Fälle." Dabei zwinkerte er grinsend und streifte Toi die Uniformjacke von den Schultern. "Komm!" Neckte er und bohrte sein Kinn in Tois Brust, schielte nach oben. "Lass uns ein wenig Spaß haben, ja? Ich wünsche es mir." Toi hatte ein Einsehen. Außerdem war es entschieden zu lange her, dass er an Akiras fragilem Nacken geknabbert hatte. Ohne all die wirren Zotteln bereitete es ihm definitiv ein erotisches Vergnügen. Akira hatte klare Vorstellungen, wie die Initiation des Schreibtisches zu verlaufen hatte. Er gestattete, dass Toi ihn von den Beinkleidern und der Unterhose befreite, ließ sich auch Hemd und Schulpullunder so hochstreifen, dass Toi begehrlich über seine nackte Brust bis zum Bauchnabel wandern konnte. Aber mehr durfte nicht sein! Für Toi kein Hindernis, der damit befasst war, die Kondome überzustreifen, das Gleitgel zu verteilen und gleichzeitig die Spannung anzuheizen. Ihm selbst klebte das Schulhemd auf dem Leib, aus den eigenen Hosen war er zwecks Manövrierfähigkeit gestiegen und nun schloss er die Augen. Es war leichter und gleichzeitig schwerer auf diese Weise, eine besondere Herausforderung. Er liebte es, über Akiras Front zu streichen, begehrlich, intensiv, sich erst zuletzt mit dessen Erektion zu befassen. Und er mochte es definitiv, seine eigene Erektion zwischen Akiras schlanke Oberschenkel zu schmuggeln, immer wieder neckend unter und über den verlockenden Eingang in dessen Leib zu streifen. Nun war ihm gleich, ob man sie vielleicht hören konnte. Selbst wenn Akira die Hand von der entfernten Schreibtischkante löste, um sich zu dämpfen, denn das Fieber dieser heimlichen Leidenschaft hatte ihn längst infiziert. Toi verband endlich ihre Körper, umklammerte mit zupackendem Griff Akiras Erektion, ließ nicht zu, dass der sich erlösen konnte, fokussierte seine Fortschritte auf den imaginären Punkt, den er mittlerweile recht gut anvisieren konnte. Dieses Mal jedoch hielt er inne, bevor es keine Wiederkehr mehr gab, löste sich aus Akiras Leib und drehte ihn kurzerhand auf den Rücken, schob ihn weiter auf die Schreibtischplatte, damit er unter dessen Lendenwirbel greifen konnte. Der Schreibtisch war für ihn etwas zu niedrig und er wollte Akira nicht verletzen. Der blinzelte unter halb gesenkten Lidern hoch, jenseits der Sprache, atemlos, attraktiv glühend, die Fingernägel in Tois Pullunder verkrallt. "Gleich!" Keuchte er besänftigend, drang erneut in Akira ein, was ein tiefes, kehliges Stöhnen bewirkte, legte dann beide Hände unter Akiras Rücken und hob ihn an, damit er nicht allzu sehr in die Knie gehen musste. Wie Schraubzwingen schlossen ihn Akiras sehnige Beine ein, doch Toi hatte längst wieder die Lider gesenkt, beugte sich vornüber, um seinen Nacken von Akira umhalsen zu lassen, atmete glühend heiß im Rhythmus der Stöße auf dessen fiebriges Gesicht. Akiras Glied rieb gegen die nun doch recht groben Strickmaschen von Tois Schulpullunder. Er bäumte sich auf und kerkerte in seinem Orgasmus Tois empfindlichsten Part derart gründlich ein, dass sie zuckend und keuchend in rascher Folge einander Gesellschaft auf der Tischplatte leisteten. Mühsam, schwindlig und weich in den Knien gelang es Toi, die intime Verbindung zu lösen, doch dann sackte er wieder auf Akira zusammen, ließ sich in dessen Armen bergen. "...wow..." Kommentierte Akira ächzend unter ihm. Er drehte einige von Tois Strähnen um einen Finger. "Geht's dir gut?" "...so lala." Antwortete Toi, stemmte sich angestrengt hoch. Ihn fror langsam an den unbedeckten Extremitäten. Offenkundig konnte nicht nur der Kopf recht schnell viel Hitze abgeben. Akira grinste unter halb gesenkten Lidern über Tois verwüstete Frisur und den verschleierten Blick. Er stützte die Ellenbogen und die Fersen auf, legte den Kopf auf die Seite, um Toi zu beobachten, der mit einiger Mühe in seine Beinkleider stieg, Hemd und Hose akkurat justierte und endlich die langen Strähnen zum Abkühlen hinter die Ohren verbannte. "Meine Hosen, bitte." Säuselte Akira aufrührerisch, wackelte mit den Zehen, genoss die verstreichenden Sekunden, die Toi gebannt auf seinen nackten Oberkörper starrte. Er hatte so eine Ahnung, als hätte der eine gewisse Schwäche für seine Brustwarzen entwickelt... "...ja...natürlich!" Mit einem Ruck kehrte Toi in die Realität zurück, arrangierte Akiras Bekleidung ebenfalls ordnungsgemäß, bevor er sich erneut auf den Schreibtisch stützte. "Setz dich!" Kommandierte Akira munter, drückte Toi in den Bürosessel und kletterte anschließend rittlings auf dessen Schoß, schlang die Arme um Tois Brustkorb und schmiegte sich an den Schulpullunder auf dessen Schulterbeuge. "Kuscheln!" Lautete seine Order, der Toi gern nachkam. Nach einer geraumen Weile richtete sich Akira auf, legte die Unterarme auf Tois Schultern und studierte ihn schelmisch. "Sag mal, Toi..." Begann er gedehnt. "Der Schreibtisch in deinem Büro, wie stabil ist der eigentlich?" ~+~ Teil 2 - Tokio Kapitel 5 - Dem Hochgenuss verpflichtet "Ah, Herr Edani ist da! Guten Morgen, Herr Edani!" Kaum hatte er sich dem Eingang des schmalen Hauses genähert, da erhob sich unisono die Belegschaft, verneigte sich und strahlte ihn an. Sie waren ihm so vertraut wie die eigene Familie. Nein, sie WAREN seine Familie. Er lächelte höflich, erwiderte jeden Gruß und freute sich über die emsige Betriebsamkeit, die herrschte. Mit dem kleinen Aufzug fuhr er in sein Büro, überließ der älteren Dame, die zuverlässig seinen Empfang leitete, Mantel, Schal und Handschuhe, bevor er an seinem Schreibtisch Platz nahm. Wie jeden Morgen erwartete ihn frisch aufgebrühter Tee einer erlesenen Sorte. Sein Kalender war aufgeschlagen, die Stifte lagen ordentlich in Reihe und Glied. Noch immer frohgemut nahm er Platz, klappte den kleinen Mobilcomputer auf, studierte flink die elektronische Post, bevor ihm die einzelnen Auftragsformulare in einem säuberlichen Stapel gereicht wurden. Es gab wie immer Einiges zu tun, doch er liebte seine Arbeit. Sie war sein Leben, ebenso wie seine Belegschaft seine Familie war. "Herr Edani, diese Dame hat schon wieder angerufen." Seine Vorzimmerdame seufzte nachsichtig. "Vielen Dank." Lächelte er freundlich. "Ich werde mich sofort darum kümmern. Sie ist sehr hartnäckig." Bekundete er Verständnis. Ärgerlicherweise hatte der Großkonzern kein Einsehen, aber er lehnte es kategorisch ab, die Produkte in seinem Sortiment zu führen. Sie mochten vielleicht die weibliche Kundschaft bis Anfang Zwanzig magisch anziehen mit ihrem inzwischen 32 Jahre alten Katzen-Maskottchen, doch sie widersprach dem Konzept seines Delikatessengeschäfts. Anders als bei den großen Filialketten, die ebenfalls behaupteten, ausgewählte Spezialitäten zu vertreiben, würde es bei ihm niemals 'Hello Kitty' heißen! Auch Auswüchse wie Schokoriegel mit grünem Tee-Geschmack ignorierte er standhaft, ohne dass er etwa die Delikatessen anderer Nationen diskriminieren wollte, doch hier, bei ihnen, fanden Gourmets und Interessierte das, was ganz Japan regional an Kostbarkeiten bieten konnte. Nicht unbedingt preisgünstig, aber erlesen und mit garantierter Qualität. Er hatte Edanis Delikatessen gegründet, nicht nur das Ladengeschäft, sondern auch den kleinen Lieferservice für Feierlichkeiten, plante, wenn ausreichend finanzielle Reserven zusammengetragen waren, im Stockwerk darüber ein kleines Restaurant anzusiedeln. Für einen Mann Anfang Dreißig war es durchaus eine beachtliche Leistung. "Herr Edani! Herr Edani!" Seine Vorzimmerdame stürzte herein, empört bunte Wurfzettel schwenkend. "Nun sehen Sie sich diese Unverschämtheit mal an!" Er erhob sich, lächelte beschwichtigend und nahm die bunten Drucksachen entgegen, studierte die Reklame eingehend. Der aufgedruckte Plan zeigte eine Straßenkreuzung vor dem benachbarten Bahnhof, markierte das neue Geschäft, für dessen Angebot geworben wurde: eine weitere Filiale der 'Divine Delight'-Unternehmensgruppe. Diese landesweit verbreitete Kette von Geschäften und Restaurants vertrieb nicht nur Delikatessen aller Art, sondern auch diverses Zubehör für die gehobene Küche. Ganz zu schweigen von den angeschlossenen Restaurants. "Oh, sie bieten Kochkurse an." Bemerkte er schließlich laut, wenn auch gelassen. "Diese Preise sind doch unverschämt!" Beklagte sich seine Vorzimmerdame bitter. In der Tat, es waren Lockangebote, um den Verkaufsstart in der neu eröffneten Filiale zu befördern, aber trotzdem fühlte er sich nicht über Gebühr bedroht. "Ich glaube, dass unsere Kundschaft uns treu bleiben wird. Unser Sortiment ist dafür Garant. Nicht zu vergessen unser besonderer persönlicher Service." Ermunterte er seine treue rechte Hand sanft. "Wir haben diese unverfrorenen Koberer gleich vertrieben!" Verkündete sie triumphierend. "Das wäre ja noch schöner, diese Zettel vor unserem Geschäft zu verteilen!" "Vielen Dank." Er vertraute die Wurfsendung der selbst ernannten Konkurrenz dem Abfall an. "Ich glaube nicht, dass wir uns sorgen müssen. Ist der Vertreter für die Kürbisse und die Chilischoten schon eingetroffen?" Auch hier waren persönliche Beziehungen wichtig. Sie mussten gepflegt werden, denn nicht zuletzt ihre Zulieferunternehmen waren entscheidend für ein breites Angebot nationaler Waren und die Erfüllung hoher Qualitätsansprüche. »Wenn wir erst mal die Mittel für das kleine Restaurant haben, dann wäre es auch möglich, mit einer kleinen Versuchsküche selbst Kurse anzubieten.« Sinnierte er, während er mit dem Aufzug ins Erdgeschoss fuhr. Solchen Planungen konnte er sich jetzt widmen, nachdem er einen festen Stamm von Lieferunternehmen angeworben hatte, nicht fortwährend durch das gesamte Land reisen musste, auch wenn es ihm nicht sonderlich viel ausmachte. Die Suche nach Kostbarkeiten, nach kulinarischer Erfüllung, nach all dem, was er mit Genuss und Hingabe verband, trieb ihn unermüdlich an. Wie sonst hätte es ihm auch gelingen können, praktisch aus dem Nichts sein bekanntes Delikatessengeschäft mit Lieferservice zu etablieren? Maki Edani, 32 Jahre alt, ledig, lebte für den japanischen Gaumenschmaus und die Bewahrung tradierter Nahrungsmittel und ihrer Zubereitung. Er verfügte zwar über ein winziges Einzimmerappartement zur Nachtruhe, Dusche und Kleiderwechsel, doch seine wahre Heimat war sein Geschäft. Wie jeden Morgen besichtigte er die Auslagen, sprach kurz mit den Lieferunternehmen, lobte seine Belegschaft für ihr Engagement, hörte sich Vorschläge an, denn immerhin stand ein Feiertag bevor. Zugegeben, ein sehr junger Feiertag, den kommerzielle Interessen prägten. Bei Edanis Delikatessen gab es selbstredend keine Schokolade, in keiner Zusammensetzung, aber das bedeutete nicht, dass man die Kundschaft im Regen stehen ließ. Auch traditionelle Köstlichkeiten der Saison konnten entzücken, besonders die älteren Semester, die sich damit an ihre Jugend erinnert fühlten. War nicht der Valentinstag auch ein Tag der Verliebten? Der ersten Liebe? Maki organisierte selbst mithilfe seiner flinken Damen, allesamt Hausfrauen, die im späten Alter wieder ins Berufsleben eingetreten waren, das Schaufenster. Nur subtil, dezent sollte das begrenzte Angebot beworben werden, das gesamte Dekor mit dem Eindruck eines Stilllebens nicht stören. Er hatte eine tief verwurzelte Abneigung gegen grelle Reklamefarben, gegen die enervierenden Jingles, die über Lautsprecher eine unsägliche Kakophonie anstimmten, um vermeintlich die Kundschaft zu verlocken. Dabei wusste doch jeder, dass Abgrenzung vom Gewöhnlichen den Unterschied, die Anziehung ausmachte! "Bitte sprechen Sie unsere Stammkundschaft an, wenn es besondere Arrangements geben soll. Wir müssen die Lieferungen sorgfältig planen." Gab er die Losung aus. Warum nicht statt ungeliebter Schokoladenberge am Nachmittag oder Abend in intimer Gesellschaft soupieren? Ohne dass sich dafür einer der Beteiligten lange in der Küche aufhalten musste? Mit unerschöpflicher Energie, doch eine beseelte Ruhe ausstrahlend wirbelte er graziös wie ein Tänzer durch das Angebot, sorgte durch seine Präsenz dafür, dass seine Belegschaft mit ganzem Einsatz bei der Sache waren. Schließlich waren sie auch das Aushängeschild des Geschäfts, nicht eine müde Rotte von schulpflichtigen Jugendlichen und Studierenden, quasi gesichtslos und austauschbar, die bloß Regale auffüllten und ihre Persönlichkeit verhüllen mussten. Als er in sein Büro zurückkehrte, um die Einkaufsliste zu überprüfen, die ihn in den frühen Morgenstunden zum größten Fischmarkt des Landes führen würde, überreichte ihm seine rechte Hand die nächste Postlieferung. Maki bedankte sich wie immer höflich, zeigte sein herzlich-sanftes Lächeln. Es machte ihn glücklich, mit wie viel Herzblut sich andere für seinen Traum begeisterten. Er nahm an seinem Schreibtisch Platz, sortierte die Post aufmerksam, mit der geübten Schnelligkeit, die ihn bereits seit der Schulzeit ausgezeichnet hatte. Rechnungen pünktlich zu begleichen, Geschäftskontakte mit Aufmerksamkeit zu behandeln, auch private Grüße nicht zu vergessen, das war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Sein gewaltiger Kalender in den Ausmaßen eines Telefonbuchs kündete davon und konnte auch durch die elektronische Gedankenstütze nicht ersetzt werden. Als er den letzten Umschlag in die Hand nahm, begann sein Herz zu rasen. In einem nichtssagenden Großumschlag eines Kurierdienstes befand sich ein Kuvert aus handgeschöpftem Büttenpapier. Innerlich zum Zerreißen gespannt öffnete er ihn behutsam, las die spärlichen Zeilen, die offenkundig professionelle Kalligraphie auf das Papier gebannt hatte. [Ich erlaube mir, Sie zu dieser Veranstaltungen einzuladen.] Fassungslos strich Maki mit den Fingerspitzen über das beigefügte Billett. Die Aufführung der Aida von Giuseppe Verdi im Rahmen eines Gastspiels der Staatsoper Unter den Linden im Opernhaus von Tokio war bereits eine Viertelstunde nach Eröffnung des Kartenvorverkaufs restlos ausverkauft gewesen. Die Preise waren immens, auch gemessen an der Bedeutung und Einmaligkeit der Aufführung. Er selbst hätte es sich nicht leisten können. Wie beim ersten Mal drehte er den Brief, studierte auch den Umschlag des Kurierdienstes eingehend. Dennoch konnte er nicht den kleinsten Hinweis auf den unbekannten Gönner entdecken. Zögerlich schob er das kostbare Billett in den teuren Umschlag zurück, verharrte gedankenverloren. Handelte es sich vielleicht um einen Irrtum? War auch diese Gabe an einen anderen gerichtet? Sollte er sich erneut diskret erkundigen, ein Versehen vermuten? »Oder treffe ich dann...?« Aber er wagte den Gedanken nicht auszuführen. Obwohl er bei seiner Kundschaft sehr beliebt und bei den Geschäftskontakten hochgeschätzt war, konnte er sich nicht im Entferntesten vorstellen, dass jemand von ihnen über die Mittel und Hingabe verfügte, ihn mit solch erlesenen Geschenken zu bedenken. Denn diesem Billett war bereits eine limitierte und nahezu unmöglich zu beschaffende CD mit seltenen Opernaufführungen vorangegangen sowie ein handgemaltes, antikes Opernplakat, auf Leinwand gezogen und sicher hinter Spezialkunststoff geborgen. In keinem der beiden Fälle war es ihm gelungen, den unbekannten Gönner zu ermitteln, der nur kurze Nachrichten hinterließ, sich aber nicht offenbarte. »Ich frage mich, wie...?« Es gab da durchaus ein Rätsel, das sich Maki nicht zu lösen im Stande sah. Wie hatte der Unbekannte herausgefunden, dass seine heimliche Leidenschaft der Oper gehörte? Obwohl die Gesten einen romantischen Air hatten, vermutete er durchaus verwirrt einen Mann als Absender, denn er glaubte nicht, dass sich eine Frau so lange im Verborgenen halten würde, wenn sie solche Mittel aufwand, ihr Interesse zu bekunden. Er seufzte lautlos. Schon wieder ein Mysterium! Durfte er es wagen, die Aufführung zu besuchen? Würde er dort endlich erkennen, wer sich hinter der Maske des geheimnisvollen Gönners verbarg? ~+~ "Herr Edani! Herr Edani!" Maki blickte überrascht auf, als gleich vier seiner hochgeschätzten Mitarbeiterinnen in sein bescheidenes Büro stürmten, die Wangen vor Empörung gerötet, während sie unisono protestierten. "Das ist eine Unverschämtheit!" Auf die Unverschämtheit, die der Stein des Anstoßes für die Aufregung war, wurde er mittels farbiger Handzettel hingewiesen. Just am Valentinstag erdreistete sich ihre Konkurrenz von der 'Divine Delight'-Gruppe, mit einem frechen Coup ihre eigene Zielgruppe abzuwerben! Unter den funkelnden Argusaugen seiner Mitarbeiterinnen nahm sich Maki sorgsam und mit gebührend ernstem Gesicht die Wurfzettel vor. Der erste Wurfzettel war in sanftem Rosé gehalten, richtete sich offenkundig an weibliche Flanierende. [Sind Sie es auch leid, stundenlang in der Küche ein wahres Wunder zu vollbringen, um dann nicht entsprechend gewürdigt zu werden? Haben Sie auch die Pflicht-Schokolade selbst gefertigt und werden mit einem müden Dank abgespeist? Fehlt der wahre Valentin in Ihrem Leben, der Ihre Anstrengungen zu schätzen weiß? Dann gönnen Sie sich am Tag der Liebe etwas Besonderes: wir bieten Ihnen eine Massage und für Ihre schöne Haut eine Schokoladenkur! Verwöhnen Sie sich, verlieben Sie sich in sich selbst!] Der zweite Wurfzettel war auf rotem Papier gedruckt, wie eine Verwarnung gegen einen Regelverstoß gehalten. [Haben Sie schon eine Schokoladenallergie?! Wird Ihnen auch übel bei den Bergen an Süßkram, die man Ihnen zumutet? Genug vom Stress mit enttäuschten Frauen, Freundinnen und Mitarbeiterinnen? Wer zur Hölle ist Valentin?! Zeigen Sie uns die Rote Karte! Bringen Sie uns diesen Wurfzettel und all die ungeliebte Schokolade, wir wiegen sie auf und geben Ihnen zum Kilowert wahre Delikatessen! Zigarren, Whiskey, Kaviar, geräucherte Schinken, Austern uvm.! Verwöhnen Sie sich selbst!] Natürlich war das Angebot auf den Valentinstag beschränkt, doch diese Aktion hatte in der Tat etwas ungeheuerlich Unverschämtes an sich. Ausgerechnet den Tag, der den größten Umsatz versprach, auf eine solche Weise zu diskreditieren, dazu bedurfte es schon einer gewissen Chuzpe. Andererseits würde es wohl auch die Kundschaft verdoppeln, denn jetzt würden nicht nur romantische Jugendliche und Jungverliebte einkaufen, sondern auch all die, die das Leben mit entsprechenden Enttäuschungen schon gebeutelt hatte. "Wahrscheinlich schmelzen sie die Schokolade, um dann die Frauen damit einzupinseln!" Bemerkte eine seiner Mitarbeiterinnen spitz. Maki zwinkerte aufmunternd. "Das wäre zumindest eine Erklärung, wie sie die ganze Schokolade, die man ihnen abliefert, loswerden." Nicht, dass er ernsthaft an diese Alternative glaubte. "Gibt es denn Schokoladenallergien?" Erkundigte sich eine andere verwirrt. So etwas hatte man ihr bisher vorenthalten. "Nein." Maki lächelte versöhnlich. "Eine Schokoladenallergie gibt es sicher nicht. Allerdings kann man gegen bestimmte Inhaltsstoffe je nach Sorte durchaus allergisch sein. Zum Beispiel Nussschokolade wäre jemandem nicht zu empfehlen, der bereits eine Allergie gegen Nüsse hat." "Was ist das überhaupt für eine Art, mit der Kundschaft zu sprechen?!" Empörte sich die Wortführerin. "'Wer zur Hölle ist Valentin?' Einfach unmöglich!" Tatsächlich, so gestand sich Maki unausgesprochen, fand er den Gedanken hinter diesem vulgären Ausdruck gar nicht mal so unverständlich. Wer interessierte sich eigentlich für die Geschichte des Namenspatrons? War nicht die übertragene Bedeutung hinter dem kommerziellen Interesse zurückgetreten, ja, sogar beinahe verschwunden? Ging es denn nur noch um Schokolade, um einen lächerlichen Beliebtheitswettbewerb? Er wusste von seiner Mitarbeiterin, dass sie der kleinen, christlichen Gemeinde in ihrer Nachbarschaft angehörte und offenbar eine Verunglimpfung verurteilte. "Soweit ich mich entsinne, hat ein Bischof heimlich Verliebte getraut und wurde dafür hingerichtet." Tat Maki seine Einschätzung kund. Welchen Zusammenhang es aber zwischen heimlichen Liebespaaren und den Pflichtgeschenken an Kollegen und Vorgesetzte gab, das konnte er auch nicht beantworten. Selbst wenn zahlreiche Ehen am Arbeitsplatz gestiftet wurden. "Sollte man nicht dagegen irgendwie vorgehen?!" Die Zettel wurden energisch geschwenkt. Bedächtig faltete Maki die Wurfzettel zusammen. "Ich wüsste nicht, mit welcher Begründung." Er lächelte zuversichtlich in die Gesichter, die ihn gespannt ansahen. "Ich werde sie einfach wegwerfen. Bestimmt werden andere das auch tun. WIR wissen, wer Valentin war. Bei uns muss sich niemand mit einer Schokoladenallergie plagen." Mit diesem Salomonischen Urteil hatte er die Aufregung ausreichend gewürdigt und eine Lösung gefunden, die den Frieden wiederherstellte. Wenn man sich darauf versteifte, auf alles zu reagieren, verlieh man der Konkurrenz eine Bedeutung, die sie nicht hatte. Sie wussten ja schließlich, wer sie waren. Edani Delikatessen, traditionelle, japanische Köstlichkeiten. ~+~ Maki transportierte seinen einzigen Smoking in einer Schutzhülle, gerade gereinigt und aus der Wäscherei abgeholt. Obwohl es ein sehr langer Tag zu werden versprach, konnte er das Kribbeln der erwartungsvollen Freude bis in die Haarspitzen fühlen, schwebte förmlich über dem Boden. Würde alles funktionieren, alle Lieferaufträge zur Zufriedenheit der Kundschaft erledigt werden? Bis an ihre Kapazitätsgrenze waren sie ausgebucht worden mit Aufträgen, die für die diskret offerierten, intimen Soupers sprachen. Außerdem hatten sie Picknickkörbe zum Ausliefern gepackt, sogar ganz unüblich für ein spätes Frühstück einen Auftrag erhalten. Maki gefiel die Vorstellung, dass sich dort Paare jedes Alters ihre Zuneigung und Wertschätzung bewiesen, sich verwöhnten, einen gewöhnlichen Wochentag aus dem Alltag heraushoben. Er selbst würde, da sich niemand gemeldet hatte, um einen Irrtum zu reklamieren, am späten Abend, kurz nach Geschäftsschluss in die Oper fahren. Auch das erfüllte ihn mit einer prickelnden, nahezu unbändigen Vorfreude. Obwohl er keineswegs unter einer Romantikphobie litt, konnte er sich selbst nicht mit derartigen Gesten in Verbindung bringen, konzentrierte sich darauf, nun dem Mysterium des unbekannten Gönners auf die Spur kommen zu können. Doch hieß es zunächst, die eintreffende Belegschaft auf den langen Tag einstimmen und für gute Laune zu sorgen! ~+~ Maki kleidete sich in seinem bescheidenen Büro eilig um, überprüfte die tadellose Lage seiner Haare, reinigte die randlose Brille erneut, bevor er sich seinen einfachen Mantel überwarf, den Schal justierte und das Billett in seiner Innentasche kontrollierte. Aus Anlass des besonderen Ereignisses verließ er sein Geschäft, um sich per Taxi zum Opernhaus kutschieren zu lassen. Auf diese Weise geriet er nicht in die Verlegenheit, sich den frisch gereinigten und sorgsam behandelten Smoking zerdrücken zu lassen, konnte in Gedanken noch die Arbeit durchgehen, die er so schmählich im Stich gelassen hatte. Andererseits, beruhigte er sein Gewissen, wenn die Oper so herrlich war, würde er morgen noch zeitiger gut aufstehen können, um nachzuarbeiten, was er nun aufgeschoben hatte. War der Tag nicht bisher herrlich gewesen? Jeder Auftrag war erfüllt worden! Sie hatten sogar zeitweise die Laufkundschaft vertrösten müssen, weil viele Delikatessen bereits ausverkauft waren, trotz der besonders großen Order. Aber man musste schließlich auch bedenken, dass ihre Waren keiner industriellen Massenverarbeitung entstammten, nicht durch Zukäufe ausländischer Artikel ergänzt wurden. Immerhin rechtfertigte das auch die gehobenen Preise, die den Menschen in Anbau und Erzeugung das Überleben und den harten Arbeitseinsatz vergalten. Als er vor der Oper ausstieg, spürte er bereits die Erwartungsfreude der geladenen Glücklichen. Alle hatte sich herausgeputzt, plauderten angeregt, zeigten sich höflich mit besten Manieren, während man sich dem Einlass näherte. Schon jetzt wusste Maki, dass dieser Opernabend ihm unvergesslich sein würde. Beinahe fassungslos folgte er der Platzanweiserin, konnte kaum glauben, dass er in einer Loge nahe der Bühne sitzen würde, bestens ausgestattet, der Sessel bequem gepolstert, ein Programm bereits wartend. Maki blickte sich wissbegierig um, ließ alles auf sich wirken, wollte keinen Moment versäumen, keine Szene auslassen. Alles wollte er in sich aufsaugen, in sein Gedächtnis eingravieren. Welche musikalische Untermalung konnte da besser sein als die tragische Liebe in einem fernen Land, die ein so heroisch-trauriges Ende fand? ~+~ Betäubt und gleichzeitig euphorisch reihte sich Maki in die langsam aus dem Foyer schlendernde Gruppe des Opernbesuchs ein. Nun erst wurde ihm verspätet bewusst, dass er sich nicht nach einem Hinweis auf den unbekannten Gönner umgesehen hatte, doch die Loge war ihm allein vorbehalten geblieben. Die Servicekräfte schienen ihm auch nicht geneigt, über solcherlei Informationen zu verfügen. Das Programm als Souvenir an sich gepresst, von den Arien mitgetragen, löste er sich aus der Menge, verwarf den Gedanken, sich in ein Taxi zu bemühen, auch wenn es schon nach Mitternacht war. So einen unvergesslichen Opernabend einfach damit zu beenden, dass man nach Hause kutschiert wurde, um wie gewöhnlich ins Bett zu fallen?! Niemals! Er wollte sich bewegen, wollte die eisige Luft spüren, allein und zugleich verbunden sein mit diesem unglaublich-euphorischen Gefühl in seinem Inneren. Man hätte mit Anlauf auf den Mond springen können! Oder einmal rund um die Welt flitzen, so viel Energie schien in den Fußsohlen zu vibrieren! Könnte man singen, so würde man sicher die Ode an die Freude aus voller Kehle schmettern, bis die gesamte Stadt erzitterte! In seinem Inneren tat er all diese Dinge, während er nach außen mit einem geistesabwesend-seligen Lächeln so lange lief, bis seine Füße schmerzten, die selten genutzten Schuhe zu sehr drückten. Als er sich gerade für eine letzte U-Bahn entschied, konnte er plötzlich vom Bahnsteig aus in der Ferne einen rotglühenden Himmel bewundern. Es schien, als würde die Stadt in Flammen stehen und selbst im Untergang noch immer von einer unfassbaren Schönheit zu künden. ~+~ "Wir sollten ein ähnliches Angebot für den Weißen Tag konzipieren, Herr Edani!" Voller Begeisterung traf die Belegschaft am nächsten Tag ein, gut gelaunt und fröhlich, weil sie so überschwängliches Lob von ihrem leicht übernächtigten Vorgesetzten erfuhren. In der Tat wirkten der Erfolg und auch der unvergessliche Opernabend inklusive der anschließenden Feuersbrunst auf Maki aufputschend. So pflichtete er seiner Belegschaft begeistert bei. Ja, auch am Weißen Tag wäre ein besonderes Angebot zuträglich! Wenn man jetzt schon die Stammkundschaft ansprach, hatte man ausreichend Zeit, alles vorzubereiten und bei den Lieferunternehmen auszuloten, wie viel zur Verfügung stand. "Bin gespannt, mit was DIE da dieses Mal werben!" Schnaubte seine rechte Hand unerwartet grimmig. "Es gibt wohl keine Maske mit weißer Schokolade, oder?" Maki lächelte, schenkte für sie beide einen besonderen Tee aus und antwortete. "Das entzieht sich meiner Kenntnis. Doch was auch immer man da plant, UNS soll das nicht betreffen. Unser Konzept hat sich als erfolgreich erwiesen. Daran werden wir uns halten." Dann nahm er Platz, um sich den Rechnungen, Bestellungen, Geschäftskontakten und der Buchhaltung zu widmen. Außerdem warteten noch Einladungen verschiedener landwirtschaftlicher Genossenschaften, die ihm neue 'alte' Erzeugnisse vorstellen wollten. Er streichelte mit den Fingerspitzen über den frischen Zweig mit Kirschblüten, seufzte glücklich. Der Frühling versprach herrlich zu werden! ~+~ Der Valentinstag war kaum verstrichen, da wendete sich das Blatt. Madame Fortuna zeigte Maki die kalte Schulter. Zumindest erschien es ihm so, als er sich nach Hause aufmachte und auf Absperrungen stieß. Überall winkten Polizisten höflich die Passanten, doch nicht zu verweilen, sondern weiterzugehen. Maki jedoch hatte sein Ziel bereits erreicht, immerhin residierte er ja in dem alten Appartementhaus! "Verzeihung, aber ich wohne in dem Haus. Was ist geschehen?" Erkundigte er sich besorgt. "Oh." Der Polizist musterte ihn kritisch, bequemte sich dann aber zu einer Auskunft. "Es hat einen Wasserrohrbruch gegeben. Jetzt ist das Fundament abgesackt. Das Haus neigt sich." Fassungslos starrte Maki an der Fassade hoch, konnte jedoch keinen Unterschied ausmachen. In diesem Augenblick schrie ein Polizist lautstark, gestikulierte wild, offenkundig im Nachteil ohne die allgegenwärtigen Megaphone. Seine Aufregung war verständlich, denn einige Personen hatten sich aus der glotzenden Menge hinter den Absperrungen gelöst und versuchten, sich Eintritt in das Haus zu verschaffen. Obwohl er kaum in seinem Appartement Aufenthalt nahm, erkannte Maki einige als aus seiner Nachbarschaft. Sofort kam Bewegung in die Einsatzmannschaft, die über die Freifläche sprengte, die Leute am Betreten hinderte. Laute Proteste, ebenso harsche Repliken schlossen sich an. Beunruhigt arbeitete sich Maki durch die Menge, wollte erfahren, wer den Einsatz leitete, wann damit gerechnet werden durfte, das Haus wieder zugänglich zu machen. Ein älterer Herr in Zivil, einen abgenutzten Notizblock in der Hand, flankiert von zwei jüngeren, hochgewachsenen Mitarbeitern, nahm mit unerschütterlicher Geduld die Klagen auf. Ihm schien es fremd, laut herumzuschreien so wie sein Kollege zuvor. Auch Maki reihte sich ein, erbat sich Auskunft, nachdem er seine Personalien preisgegeben hatte. "Also, die Bauschäden sind erheblich." Wiederholte der Einsatzleiter geduldig. "Sie sollten sich für diese Nacht ein anderes Quartier suchen. Wir werden Sie telefonisch informieren, wenn Sie das Haus betreten dürfen, um Ihr Eigentum umzuziehen." "Umziehen?!" Maki erschrak. "Aber das bedeutet ja...!" "Genau." Der Einsatzleiter nickte gravitätisch. "Nach der vorläufigen Einschätzung muss das Haus wegen Einsturzgefahr abgerissen werden." Diese Antwort fühlte sich an, als würde der Asphalt unter Makis Füßen wegbrechen und seine Knie erodieren. Umziehen?! Aber wohin?! Schon die Unmöglichkeit, sich in seinem Appartement umzuziehen, sich zu erfrischen, bereitete ihm Kopfzerbrechen! Doch Maki wusste, dass er jetzt nichts ausrichten würde, denn selbst seine aggressiv auftretenden Nachbarn gaben klein bei. Wohin gehen? Zurück ins Geschäft, sich dort notdürftig für die Nacht einrichten? Oder ein Hotelzimmer finden? Es kostete Maki beinahe eine halbe Stunde, sich eine Notunterkunft zu sichern. In einem der berüchtigten Kapsel-Hotels fand sich noch ein Schlupfloch, zudem auch Automaten, wo man sich mit Leibwäsche und Hygieneartikeln versorgen konnte. So musste sich Maki auf den Weg durch die halbe Stadt machen, mit der düsteren Aussicht, dass sein Leben morgen aus einer Plastiktüte mit Einwegartikeln und ebensolcher Wäsche bestehen würde. Um sich selbst aufzumuntern, dass der Schreck über diesen unerwarteten Schicksalsschlag ihm nicht den Schneid abknöpfen konnte, besorgte er sich gleich eines der gewaltigen Magazine, die freie Appartements mit Grundriss aufführten. In der U-Bahn herrschte drangvolle Enge. Maki war das nicht gewöhnt, denn üblicherweise konnte er den Weg zu seinem Geschäft ja zu Fuß zurücklegen. Mit zerdrückten Kleidern und verschwitzt entkam er schließlich dem Massentransport, flüchtete in das Kapsel-Hotel, wurde zunächst streng instruiert, wie er sich zu verhalten hatte. Erschöpft tauchte er unter der Dusche ab, ignorierte die Gesellschaft, die er nicht gewöhnt war, kletterte dann mühevoll in seine Kapsel, kroch in die enge Kajüte. Nervös beäugte er den Akku seines Mobiltelefons und entschloss sich schweren Herzens, es auszustellen, um die Energie zu sparen. Es war ja schließlich nicht mitten in der Nacht mit einem Anruf zu rechnen. Ernüchtert blätterte er in dem gewaltigen Katalog, schluckte betroffen bei den angesetzten Mieten. Bisher war seine Miete nicht sonderlich hoch gewesen, weil das Appartementhaus schon alt war und keinen Komfort bieten konnte, im Sommer heiß, im Winter eisig kalt, hellhörig und mit zahlreichen Defekten. Möglicherweise wusste jemand in seiner Belegschaft von einer günstigen Gelegenheit? Um sich wenigstens im Schlaf von Sorgen zu befreien, stöpselte Maki seinen handlichen MP3-Player ein, ließ sich von bekannten Arien davontragen. ~+~ Die Aufbruchstimmung in den benachbarten Kapsel schreckte Maki auf, der zuerst orientierungslos hochfuhr, sich den Kopf schmerzhaft anstieß, hastig nach seiner Brille fahndete und dann begriff, wo er sich befand. Als er endlich die Beleuchtung gefunden hatte, ließ ihn die Uhrzeit zusammenzucken. Wenn er sich nicht beeilte, würde er zu spät in sein Geschäft kommen! Eilig sammelte er seine Habseligkeiten ein, um nichts zu vergessen, kletterte dann aus der Kapsel heraus. Er hörte ein verräterisches Ratschen, doch es war zu spät: die Plastiktüte war an einer Stelle aufgerissen und hatte ihren Inhalt auf den Boden ergossen, aus einer nicht unbeträchtlichen Fallhöhe. Maki klaubte alles zusammen, hielt den Kopf gesenkt angesichts der zischenden Kommentare anderer Übernachtungsgäste, die seine Aktionen hinderlich fanden. Er knüpfte sich aus einem Stofftaschentuch ein Bündel, eilte dann in den Hygienebereich, um sich wenigstens das Gesicht zu waschen, die Zähne zu putzen, die Haare zu kämmen und sich leicht verzweifelte Blicke im Spiegel zuzuwerfen. Die zerknitterte Kleidung vom Vortag, die Tasche aufgebläht mit dem Katalog und den neu erworbenen Artikeln quetschte er sich mit zahllosen anderen Menschen in die U-Bahn. Just bevor die erste Mitarbeiterin eintraf, erlangte er im gestreckten Galopp seine 'Heimat'. Sein Zustand nötigte ihn also zu einigen Erklärungen. Sofort bot man sich an, ihn zu beherbergen, bei der Suche nach einem neuen Appartement zu helfen und tröstete ihn mitfühlend über den großen Schreck. Gegen Mittag war Maki ausreichend nervös, um sich selbst bei der Polizei zu melden und den Stand der Ermittlungen zu erfragen. Die Auskunft stimmte ihn nicht glücklich, denn das Haus war nach wie vor aus Sicherheitsgründen gesperrt, senkte sich nun sichtbar. Um sich eine kurze Auszeit zu verschaffen, fingerte Maki seinen MP3-Player aus der Tasche, erlebte, dass Madame Fortuna noch immer verstimmt war: der Sturz hatte offenkundig das Gerät beschädigt, denn es weigerte sich, in Betrieb zu gehen. Da konnte Maki auch nicht die kleine Köstlichkeit erfreuen, die ihm seine rechte Hand kredenzte. Mit der Adresse einer kleinen Pension versorgt fuhr Maki am Abend in das Elektronikviertel der Stadt, um seinen armen MP3-Player untersuchen zu lassen. Ihm schien der unvergessliche Opernabend im Augenblick gar nicht mehr so unvergesslich, denn die Sorgen verschafften ihm extreme Bodenhaftung. Ja, sogar in unterirdische Regionen. Während er sich anstellte, um in einem Laden die Diagnose zu erfahren, stieß er beinahe mit einem hektischen Jugendlichen zusammen, dessen blondierte Mähne wie ein Wischmopp wirkte. Einige Ellenbogenstöße später wurde er mit der traurigen Wahrheit konfrontiert: der MP3-Player sei kaputt. Nun, mit einem gewissen Zynismus vergiftet, bemerkte Maki spitz, der Defekt sei ihm ebenfalls nicht entgangen. Ob man wenigstens die Dateien retten könne, denn er hatte einige Zeit investiert, um die Musikstücke zusammenzutragen, doch der Angestellte ließ sich nicht zu einem detaillierteren Befund bewegen. Unbefriedigt von dieser Behandlung verließ Maki das Viertel, leistete sich noch zwei Hemden, Unterwäsche, Socken und einen günstigen Anzug, denn es schien ihn unvermeidlich, dass er sich auf eine Existenz als Vertriebener einstellen musste. Wenigstens in der kleinen Pension wurde er freundlich empfangen, konnte ohne unerwünschtes Publikum duschen und sich dann in ein bequemes Bett kuscheln. Am nächsten Morgen erreichte Maki die Nachricht, es sei endlich gelungen, das Haus ausreichend abzustützen, sodass die Bewohnenden mit den Beschäftigten von Umzugsfirmen zurückkehren und ihr Habe in Sicherheit bringen konnten. Also war Maki gezwungen, sich rasch um eine entsprechende Firma zu bemühen. Er verließ sein Geschäft und packte innerhalb von zwei Stunden alles, was seine spärliche Habe ausmachte, in Reisetaschen und Umzugskisten, verabschiedete sich von den Möbeln, die auseinandergenommen und gleich entsorgt wurden, denn das Einlagern wäre ihn zu teuer zu stehen gekommen. Zudem waren die Möbel abgenutzt, gehörten dem Vermieter, der sich bisher noch nicht gezeigt hatte. Wenigstens verfügte er jetzt wieder über wichtige Dokumente und seine Kleider. Er verabschiedete sich von den Menschen aus seiner ehemaligen Nachbarschaft, die wie er große Sorgen wälzten, sich nach einer neuen Bleibe umsehen mussten und ebenfalls über die Mieten erschrocken waren. Maki kehrte in sein Geschäft zurück, fest entschlossen, sich nun aber den Vorbereitungen für den Weißen Tag zu widmen. Außerdem drohte ja auch eine frühe Kirschblüte, sodass man sich die richtigen Köstlichkeiten sichern musste, bevor andere schneller die Optionen auf die Waren ausübten. Zu seiner Überraschung erwartete ihn seine rechte Hand bereits am Eingang, sichtlich nervös. Auch andere beäugten ihn besorgt. "Herr Edani! Oh, Herr Edani, wie gut, dass Sie kommen!" Schon schoss seine Vorzimmerdame auf ihn zu und flüsterte in sein Ohr, was längst bekannt sein musste. "Da warten zwei Herren in Ihrem Büro! Von der Bank!" Maki blinzelte verblüfft. Von der Bank? Aber sie befanden sich doch nicht im Rückstand mit den Ratenzahlungen! Mit beschleunigtem Schritt bewegte er sich durch das Geschäft, enterte den Aufzug und bemühte sich um eine gelassene Miene. Seine rechte Hand hatte die beiden Herren in ihren dunklen Anzügen, die wie Zwillinge wirkten mit identischen Brillen und geklebten Scheiteln, aufmerksam mit Tee bewirtet und sämtliche offenen Unterlagen samt des tragbaren Rechners in Sicherheit gebracht. Bei seinem Eintreten zuckten die beiden Männer hoch, verneigten sich höflich, eine Geste, die Maki erwiderte. Man tauschte Visitenkarten aus, bewunderte sie gebührend, um sich dann wieder zu platzieren. Der ältere der beiden Herren kam auf den Anlass zu sprechen, ungewohnt direkt. Man habe die Darlehensschuld veräußert. Die Urkunde sei bereits übergeben worden, sodass zukünftige Zahlungen an den neuen Eigentümer zu leisten seien. Aus diesem Grund erlaube man sich, ihm die Bankdaten des neuen Inhabers zu überreichen. Maki nahm den Auszug entgegen, plumpste fassungslos auf seinen Bürodrehstuhl zurück. Der neue Inhaber der Darlehensschuld war die Divine Delight-Unternehmensgruppe! ~+~ Da Maki nicht wagte, sich jemandem anzuvertrauen, verbrachte er den Sonntag damit, sich Mut zuzusprechen. Während er seine Wäsche reinigen ließ, studierte er einen weiteren Katalog mit Appartements. Außerdem vervollständigte er seine Planung, faxte Aufträge an Lieferunternehmen und stellte die ersten Zeittafeln auf. Er konzipierte die Angebote, die man für den Weißen Tag machen würde, kalkulierte die erforderlichen Aufwendungen, um erste Preise festzusetzen. Solange er geschäftlichen Erfolg hatte, würde sich schon alles Weitere finden! Er hielt an diesem Gedanken fest, als er am Montagmorgen sein Geschäft wie üblich als Erster betrat. So langsam gewöhnte er sich auch an die drangvolle Enge in der U-Bahn, aber die Stille, wenn er einen Augenblick Muße genießen wollte, setzte ihm zu. Andererseits wollte er nicht unnötig Geld verschwenden, um den defekten MP3-Player zu ersetzen. Die Daten mussten ja auch gerettet werden! Er war sich nicht mal sicher, dass er ein Duplikat auf seinem tragbaren Rechner hatte. Durch seine unverändert positive Einstellung trotz der kleinen Nickeligkeiten, die ihm Madame Fortuna zugedacht hatte, gelang es ihm auch, seine Belegschaft zu überzeugen, dass der unerwartete Besuch der beiden Bankvertreter keine negativen Auswirkungen befürchten ließ. Zum Wochenbeginn nun fand sich erneut ein Umschlag aus handgeschöpftem Büttenpapier im Transportkuvert eines Kurierdienstes. Makis Herz schlug höher. Eine Aufmunterung des Unbekannten? Oder endlich die Gelegenheit, sich kennenzulernen, die Motivation für die Gönnerschaft zu enthüllen? Dieses Mal lag eine vornehme Einladungskarte bei. [Ich bitte Sie höflich, mich heute an diesem Ort um zwölf Uhr zu treffen.] Auf die Rückseite der edlen Karte hatte man eines dieser zerwürfelten Bildchen aufgebracht, das mittels Mobiltelefon und eingebauter Kamera die verschlüsselten Informationen dekodieren ließ. Er machte sich rechtzeitig auf den Weg, um den vorgeschlagenen Treffpunkt pünktlich zu erreichen. Als er jedoch das schlanke, mehrstöckige Gebäude erreichte, stutzte er verwirrt. Konnte das richtig sein? Oder hatte er etwas missverstanden? Doch auch ein weiteres Mal Einlesen in das Mobiltelefon und die entsprechende Software veränderten das Ergebnis nicht: er wurde im zehnten Stockwerk erwartet, in einem so genannten Butler-Café. Tapfer betrat Maki also die Eingangshalle, um sich in einen der chromglänzenden Aufzüge zu begeben. Ungeachtet der glitzernden Aufmachung waren Gebäude und Technik schon älter, aber hübsch verkleidet, um nicht Anstoß zu erregen in dieser hochpreisigen Gegend. Er verließ den Aufzug und streifte sich den Mantel ab, legte ihn über den Arm, bevor er das Butler-Café durch eine Glastür betrat. Dort lehnten zwei junge Männer, in eine Phantasie-Uniform gekleidet, schwarze Hosen zu weißen Hemden mit Rüscheneinsatz und gestreiften Westen, die Haare exakt mit glänzendem Lack frisiert, so, als kopierten sie Brillantine, das Gesicht gepudert und dezent geschminkt, um ihre individuellen Züge zu verbergen. Sie wirkten wie Zwillinge aus einem alten Schwarzweißfilm. Unbehaglich räusperte sich Maki, denn ihm entging keineswegs, dass ihn die beiden 'Butler' trotz ihrer Pose einer abschätzigen Musterung unterzogen. Kein Wunder, Männer gehörten üblicherweise nicht zur Kundschaft dieser Lokalität. Doch bevor sich Maki genötigt sah, eine Erklärung zu geben und die beiden Buchstützen zu einem höflichen Willkommen aufzufordern, löste sich ein hünenhafter Mann aus einem zierlichen Stühlchen hinter einer künstlichen Zimmerpalme. Maki identifizierte den Fremden sofort als einen ehemaligen Sportler, denn dessen Haltung war vorzüglich, die Schultern breit, die Hüften schmal, die Miene von ruhiger Gelassenheit geprägt. Der Mann, dem äußeren Anschein nach ein wenig älter als Maki selbst, verbeugte sich zuvorkommend, äußerte dann mit angenehm tiefer Stimme. "Ich freue mich, Herrn Maki Edani begrüßen zu dürfen. Bitte erlauben Sie mir, dass ich Sie an den reservierten Tisch führe. Ihr Gastgeber wird in Kürze eintreffen und bittet für die Verspätung um Ihre Verzeihung." Unwillkürlich nickte Maki, erwiderte die Geste, registrierte, dass der dunkle Anzug seinem Träger wie auf den Leib geschneidert war und von einem teuren, exklusiven Geschmack kündete. Mit einer beherrschten Geste vertraute der Fremde Makis Mantel einem der beiden wie Ölgötzen glotzenden Butler-Zwillinge an, übernahm es dann selbst, vor Maki in das Café zu treten, um ihn an den avisierten Platz zu geleiten. So konnte er gewiss sein, dass alle Augenpaare der anwesenden, jungen Frauen auf ihm ruhten, als der Fremde ihm den Stuhl zurecht rückte, sich erneut höflich verbeugte und im Namen des unbekannten Gastgebers um einen Augenblick Geduld bat. Im Fokus des tuschelnden und kichernden Interesses fühlte sich Maki bald wie eine Ameise unter der Lupe des Forschers: ihm wurde brennend heiß. Obwohl er von Natur aus ein eher scheuer Mensch war, verstand er es doch auf geschäftlicher Basis, mit seinen den Lieferunternehmen und der Kundschaft kurzweilige Konversation zu pflegen. Diese Atmosphäre hier jedoch quälte ihn mit Zweifeln und Ungewissheit. Wer war dieser Gönner bloß? Warum bestellte der ihn an so einen ungewöhnlichen Ort? Warum gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt? Die beiden Buchstützen vor der Tür hatten weitere Zwillingsbrüder im Inneren, die um die Tische und Sitzecken kreisten, Süßspeisen und Getränke reichten und ansonsten eine gewisse Lethargie an den Tag legten. Gerade, als Maki zum zweiten Mal die feuchten Handflächen unauffällig an seinen Oberschenkeln abstreifte, wurde die Doppeltür schwungvoll geöffnet. Der Mann, der durch sie hindurch trat, lässig seinen losen Mantel von den Schultern schüttelte, ihn mit einer eleganten Bewegung herum schwang und einem perplexen 'Butler' in die Hand drückte, lenkte sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. Er war groß gewachsen, auf eine athletische Weise gut gebaut und strahlte ein ungetrübtes Selbstvertrauen aus, als er quer durch den Raum direkt auf Maki zuhielt. Der taumelte von seinem Sitz hoch, unfähig, seinen Schrecken zu verbergen. Vor ihm stand niemand anderes als Yoshiaki Masakuni! ~+~ "Bitte entschuldige, dass ich dich warten ließ, Maki-Sempai! Meine Manieren wollen einfach nicht besser werden, nicht wahr?" Ein spöttisches Lächeln tanzte auf dem männlich-attraktiven Gesicht, funkelte spitzbübisch in den schwarzen Augen. Maki wusste, dass er etwas antworten musste, dass er seine Hände Yoshiakis festem, exotischen Gruß zu entziehen hatte, doch der hielt sie vertraut, wie ein fremder Staatsmann, der einen Pakt besiegelt und für die zahlreichen Kameras die perfekten Zähne blitzend präsentiert. "Setzen wir uns doch!" Endlich durfte Maki seine Hände wieder an sich bringen, plumpste ungelenk auf seinen Stuhl zurück. "Ah, lass uns erst Visitenkarten tauschen." Yoshiaki lächelte, wie es Maki vorkam, ungewohnt diabolisch, fingerte aus seinem teuren Anzug eine edle Schatulle, die ihm perfekt und lautlos eine Karte beim Öffnen emporstreckte. Mit einer eleganten Geste, die einem Magier würdig war, überreichte er die Karte zwischen zwei Finger geklemmt, schnipste dann herrisch mit den Fingern. "Garcon, beehren Sie uns doch freundlicherweise!" Eindeutig verwirrt taumelte schließlich einer der Butler-Klone herbei, staunte Yoshiaki wie das Achte Weltwunder an. Möglicherweise stellte er es auch dar, ein Mann wie ein Salonlöwe, in einer Umgebung, die keineswegs zu seinem Territorium gehörte, aber sofort im Sturm eingenommen wurde. "Du nimmst sicher Tee, nicht wahr?" Yoshiaki blickte sich nicht nach dem Butler um. "Also Earl Grey bitte und für mich eine heiße Schokolade. Wenn es sich einrichten lässt, ein anderes Tischtuch. Man kann förmlich die Generationen verfolgen, die hier Kaffee verschüttet haben!" Wies er auf unansehnliche Flecken hin. Der Butler stakste steif und wie in Trance davon. Yoshiaki dagegen, in feinem Zwirn, dezent glänzendem Stoff, jedoch ohne eine lästige Krawatte, die er verabscheute, lehnte sich vor, lächelte Maki an. Der fühlte sich, als mustere ihn ein Hai und erwäge dabei, ob es sich lohne, vorher noch die Kleider abzurupfen, oder ob man sich gleich den Happen gönnen sollte. Vor allem aber war er vollkommen verwirrt. Was steckte dahinter? "Deine Karte?" Erinnerte ihn Yoshiaki mit süffisantem Grinsen, bevor er höchst unmanierlich die Ellenbogen aufstützte und das Kinn in die verschränkten Hände legte. "Ich habe gehört, dass du dir deinen Traum erfüllt hast, Maki-Sempai. Ein eigenes Delikatessengeschäft. Meinen Glückwunsch." Mit zittrigen Fingern gelang es Maki endlich, seine Visitenkarte aus der Kunststoffhülle zu lösen und sie weiterzureichen. Yoshiaki studierte sie mit gebotener Aufmerksamkeit, während Maki die Gelegenheit nutzte und den Blick senkte. »Präsident der Divine Delight-Unternehmensgruppe?!« Überrascht blickte er auf, direkt in die schwarzen Augen, die ihn unverwandt studierten. War er sich vorher wie unter einem Brennglas vorgekommen, so röstete ihn nun die Sonne direkt. "...Prä-.." Er räusperte sich heiser. "Verzeihung, Präsident?" "Oh ja." Yoshiaki lehnte sich ein wenig zurück, deponierte Makis Visitenkarte demonstrativ in der Brusttasche seines seidig schimmernden Hemds. "Mein Vater hat sich aus dem operativen Geschäft zurückgezogen. Ein Schlaganfall beim Golfen, lächerlich unpassend." Den heiteren Ton strafte das boshafte Grinsen Lügen. Maki krächzte mühsam. "Ich bedaure, das zu hören. Ich hoffe, er befindet sich wieder besser?" Sein Gegenüber lächelte wie ein Raubtier. "Er tyrannisiert nun das Pflegepersonal. Keine wesentliche Veränderung also." Nun nahte schwankend einer der Butler-Klone, stellte ungelenk Tee und heiße Schokolade ab. "Tsktsk!" Tadelte Yoshiaki mit spitzer Zunge. "Offenkundig haben sie keine besseren Tischtücher. Oder unserer freundlicher Herr vom Service leidet unter Spontan-Amnesie." Ihm gegenüber nippte Maki an seinem Tee. Er war aus unerfindlichen Gründen nur lauwarm und schmeckte leicht zitronig. Man konnte nur hoffen, dass es Reste des Geschirrspülmittels waren. "Ah!" Yoshiaki hatte seine heiße Schokolade probiert, schob die Tasse nun zu Maki hinüber. "Bitte koste, Maki-Sempai!" Verwirrt aber stumm kam Maki der Aufforderung nach, löste aus seiner Hosentasche ein winziges Reisebesteck, sein Arbeitswerkzeug auf kulinarischen Reisen. Vorsichtig löffelte er ein wenig der bräunlichen Brühe und verkostete artig. Kakaopulver, Sojamilch und Zuckerkristalle, die sich nicht aufgelöst hatten. "Grauenvoll, nicht wahr?" Yoshiaki hielt seine Kritik nicht zurück, eine ausschweifende Geste fing den gesamten Raum ein. "Dieses Etablissement ist ein gruseliges Beispiel dafür, mit welch grässlichen Kopien sich manche abspeisen lassen. Schweigen wir mal von dieser 'heißen Schokolade'." Er zog eine verächtliche Grimasse. "Sieh dir nur diesen grauenvollen Abklatsch eines Wiener Kaffeehauses an! Kombiniert mit pseudo-viktorianischen Devotionalien und das Ganze garniert mit einer Mannschaft, die so viel Begeisterung ausstrahlt wie ein Schneemann in der Sahara." Maki fragte höflich. "Warum sind wir dann hier?" Er war dankbar dafür, dass er sich von dem Schrecken erholt hatte. Yoshiaki zwinkerte. "Das ist genau der Punkt. Weißt du, was für ein Laden vorher in deinen Geschäftsräumen beheimatet war?" Verwirrt nickte Maki. Selbstverständlich war ihm das bekannt, immerhin hatte er die Räumlichkeiten umgestaltet. "Der Punkt ist, dass hier Geschmacklosigkeit vorherrscht, doch jemand mit deinem exzellenten Sinn für Ästhetik könnte mühelos etwas aus diesem Loch machen." Yoshiaki lächelte funkelnd. Ein zweifelhaftes Kompliment, zumindest nach Makis Auffassung, aber er schwieg. Worauf wollte Yoshiaki hinaus? Er HATTE bereits ein Geschäft, SEIN Delikatessengeschäft! Um abzulenken, wechselte er das Thema. "Ich habe eure Aktion für den Valentinstag gesehen. Sehr innovativ." Lobte er aufrichtig. "Ach." Yoshiaki schmunzelte. "'Leiden Sie unter einer Schokoladenallergie? Wer zur Hölle ist Valentin?'" Zitierte er amüsiert. "Das entspricht natürlich nicht deinem Niveau, Sempai." Wieder zeigte sich dieser diabolische Funkel. "Aber es zieht auch die Frustrierten und Romantikphobiker an. Oh, Augenblick!" Er winkte seinem Herold zu, der schnurstracks das Café durchquerte und etwas überreichte, das Maki für Pralinen in einer herzförmigen Schachtel hielt, zumindest dem äußeren Anschein nach. Als die Schachtel auf dem befleckten Tischtuch lag, musste er jedoch seine Vorstellungen korrigieren. Pralinenschachteln pflegten seiner Erfahrung nach nicht schwarz mit Spinnennetzen bedruckt zu sein, darauf ein durchbohrtes, blutrotes Herz mit Stacheldrahtverhau als Dekoration. "Bitte öffne es doch!" Yoshiaki bleckte die Zähne, eindeutig amüsiert über seinen Gesichtsausdruck, faltete die Hände trügerisch zurückhaltend auf dem Tisch. Sehr vorsichtig hob Maki den Deckel an, blinzelte ins Innere. Es fanden sich wie erwartet keine Pralinen, sondern Gummibärchen, allerdings in einer verstörend roten Farbe. "Karmesin." Erläuterte Yoshiaki zuvorkommend. "Die Farbe hat man aus Schildläusen hergestellt und erstaunlicherweise ist das ein Renner bei den Gothic-Lolitas im Moment! Wir verwenden selbstredend keine armen Schildläuse, sondern beuten Himbeeren und rote Beete aus." Tapfer pickte Maki ein karmesinrotes Gummibärchen heraus, schob es sich auf die Zunge und dirigierte die Gummimasse auf eine Seite, wo er sie zerkauen konnte. Der Geschmack war wie erwartet recht süß und hatte keine besondere Ähnlichkeit mit dem Aroma von erlesenen Himbeeren, aber er konnte sich vorstellen, dass es für junge Frauen eine Alternative war. "Ist nicht dein Fall, selbstverständlich." Yoshiaki grinste. "Aber unsere Kundinnen glauben, dass Schokolade zu viele Kalorien hat und außerdem schlecht für die Haut ist. Dabei vergessen sie, dass Gummibärchen jede Menge Zucker enthalten." "Ich erinnere mich." Maki lächelte ratlos. "Ich nehme an, mit Reisbonbons kann man sie wohl nicht begeistern." Yoshiaki legte den Kopf schief. "Nein." Bemerkte er leise, bedächtig. "Sie sind noch zu jung, um Erinnerungen nachzuhängen. Die wenigsten von ihnen sind von ihren Eltern oder Großeltern mit traditionellen Süßigkeiten verwöhnt worden." "Schade." Maki stimmte in die sanfte Melancholie ein. Manchmal vergaß er einfach, wie die Zeit verstrich, dass er schon drei Jahrzehnte erlebt hatte und sich die Welt erstaunlich rasch veränderte. "Es dauert eine Weile, bis man gewisse Dinge zu schätzen weiß." Yoshiaki lehnte sich zurück. "Sieh dir diesen armseligen Laden an, einer kurzlebigen Mode geschuldet. Aber niemand hier ist mit Herzblut bei der Sache, deshalb wird sich dieses Geschäft nicht halten." Er erhob sich, nickte über den Raum zu seinem Herold ihn, wandte sich dann Maki zu, der von diesem plötzlichen Aufbruch überrascht wurde. "Wir sollten in deinem Büro diese Unterhaltung fortsetzen." Ohne Zögern streckte er die Hand nach Maki aus, der perplex einem Automatismus folgte und sie ergriff. Das Tuscheln wurde merklich lauter, aber Maki hatte keine Gelegenheit, sich zu genieren, denn Yoshiaki bewegte sich flink, half ihm selbst in den Mantel und warf sich den eigenen lässig über die Schulter, beugte sich dann zu seinem Herold und gab Instruktionen. Dann wandte er sich wieder Maki zu. "Nun, wollen wir?" Mangels Alternativen folgte der und registrierte, dass er sich neben Yoshiaki zierlich und klein vorkam. Zum ersten Mal. Der schlenderte selbstsicher durch die Flanierenden, hatte keine liebe Not damit, sich die freie Passage zu erkämpfen. Maki musste darauf achten, nicht von ihm getrennt zu werden, während er sich an ihre gemeinsame Vergangenheit erinnerte. Nach der Mittelschule hatten sie beide eine Fachoberschule mit dem Schwerpunkt auf Betriebswissenschaften, Gastronomie und Gaststättengewerbe mit Hotellerie besucht. Dass sie zwei Jahre trennten, wirkte sich auch auf ihren Werdegang aus, denn so hatten sie eigentlich kaum Möglichkeiten, einander zu begegnen. Doch Präsident Masakuni, zu dieser Zeit Inhaber einer Firma, die Nahrungsmittel produzierte, suchte für seine Versuchsküche einen Geschmackstester. Maki hatte sich beworben, immer auf der Suche nach Möglichkeiten, sein Stipendium durch Nebenjobs zu ergänzen. So hatte er Vater und Sohn Masakuni kennengelernt. Nach seinem Abschluss hätte er bei zahlreichen Firmen einen gut dotierten Arbeitsplatz annehmen können, weil man sein besonderes Talent, das Gespür für die richtigen Geschmacksnuancen und seinen Arbeitseifer schätzte, doch er hatte alle Offerten höflich abgelehnt, weil er sich einen Traum erfüllen wollte. Zuerst wollte er die Lieferunternehmen für sich zu gewinnen, indem er für ein großes Magazin durch das Land reiste, über Rezepte und Nahrungsmittel berichtete. Anschließend eröffnete er das bescheidene Delikatessengeschäft, das er nach und nach erweitert hatte. Wenn er an Yoshiaki damals dachte, so waren ihm nur dessen Augen im Gedächtnis, die ihm folgten, ohne preiszugeben, was ihr Besitzer dachte. Aber Maki hegte damals die Vermutung, dass ihm der Jüngere nicht wohlgesinnt sein musste, da dessen Vater ihn stets zu tadeln pflegte und Maki lobte. Jedoch, das gestand er sich nun ein, er hatte sich nicht sonderlich für Yoshiaki interessiert, war ihm sogar ausgewichen, um nicht weitere, unangenehme Szenen mit dessen Vater zu ertragen. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt damals seinem Studium, seinem großen Traum und der Hingabe für die Köstlichkeiten seines Landes, die langsam in Vergessenheit gerieten, weil die Einflüsse der gesamten Welt auf die Kunden einströmten. Was ihn wieder in die Gegenwart führte. War Yoshiaki tatsächlich der unbekannte Gönner? Warum? Auch ihr Treffpunkt war eine absonderliche Wahl. Warum wollte ihm Yoshiaki dieses zugegeben hässliche Café zeigen? Und sprach über verschenkte Möglichkeiten und den Zeitgeist? In seiner Manteltasche ertastete er die Pralinenschachtel mit den karmesinroten Gummibärchen. Eine verrückte Idee, aber er traute Yoshiaki durchaus zu, ein feines Gespür für die Bedürfnisse junger Frauen zu haben. Immerhin pflegte der damals sehr beliebt zu sein, immer der Mittelpunkt amüsanter Feiern, zu denen sich Maki kaum gesellte. Als sie sein Delikatessengeschäft erreichten, spürte er die besorgten Blicke seiner Belegschaft auf sich ruhen. Er war dankbar dafür, dass sie nicht wussten, WEN er als Gast in sein Büro führte! Yoshiaki ließ es sich aber nicht nehmen, langsam durch den Verkaufsraum zu schlendern, das Angebot zu loben und hier und da eine Kostprobe zu nehmen. Makis Puls raste davon, trieb ihm kalte Schweißperlen auf die Stirn. War die Anerkennung tatsächlich ernst gemeint oder eine boshafte Anspielung, um ihn zu verunsichern? "Mit gefällt, was du aus den Gegebenheiten gemacht hast." Yoshiaki bewegte sich geschmeidig durch das Bürogeschoss, blickte auf das muntere Treiben der Menschen hinunter. "Meine Hochachtung, Maki-Sempai!" Maki schenkte eilends Tee aus und ignorierte standhaft die Nervosität, die seine Fingerspitzen zittern ließ. Es kam ihm merkwürdig vor, dass sie sich so vertraut unterhielten, aber er hatte keinen Anlass, Yoshiaki die intime Anrede zu untersagen. Dennoch wusste er nicht, wie er ihn nun ansprechen sollte. Ein ungewohntes, verwirrendes Gefühl. "Möchtest du nicht Platz nehmen?" Bemühte er sich darum, den 'Salonlöwen' ein wenig in Schach zu halten, die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Schließlich waren sie in SEINEM Büro, da sollte es doch wohl möglich sein, in angemessener Weise in Erfahrung zu bringen, welche Absichten Yoshiaki verfolgte! "Vielen Dank." Geschmeidig glitt Yoshiaki auf den Besucherstuhl, erwiderte die höfliche Geste, sich andeutungsweise zu verbeugen, als er den Tee aufnahm und das Aroma kostete. Es schien seine Meinung über Maki zu bestärken, denn auf den spöttischen Lippen tanzte ein feines Lächeln. Dann richtete sich sein forschender Blick wieder auf Maki, unverwandt und direkt. "Du fragst dich, wie meine finsteren Pläne beschaffen sind, nicht wahr?" Er amüsierte sich diebisch, was Maki aus dem Konzept brachte. Hatte Yoshiaki wirklich solchen Anlass, ihn zu verabscheuen? Der seufzte laut, schüttelte den Kopf, verabschiedete die spitzbübische Miene. Ernst und eindringlich fixierte er Makis Augen, der immer stärker eine bange Vorahnung unterdrücken musste. "Ich nehme an, die kleinen Aufmerksamkeiten haben dir gefallen." Yoshiaki stützte das Kinn in einer eleganten Pose auf eine aufgesetzte Handfläche, ließ die perfekten Zähne aufblitzen. Man sah ihm deutlich an, dass er eine geraume Zeit im Ausland verbracht hatte. Sein Auftreten wirkte ungezwungener und zugleich bewusster, um der Wirkung Willen erprobt. "Vielen Dank." Maki verbeugte sich artig, senkte den Kopf tief und genoss die winzige Verschnaufpause aus dem konzentrierten Fokus der Aufmerksamkeit. Yoshiakis Augen hatten eine beinahe hypnotische Wirkung auf ihn, was ausgesprochen beunruhigend war. "Ich bin beschämt, dass ich keine Gelegenheit hatte, mich früher zu bedanken." "Spare es dir auch jetzt." Versetzte Yoshiaki knapp, schlug ein Bein über das andere. "Ich bin lediglich erfreut, dass mich mein Gedächtnis nicht getrogen hat. Du bist tatsächlich die einzige Person, die mein verehrter Vater in der Bibliothek warten ließ, und die IMMER vor demselben Regalabschnitt stand." Maki errötete zu seiner Verärgerung leicht, sich eine solche Blöße gegeben zu haben. Doch wie hätte er damals ahnen sollen, dass man ihn beobachtete, während er auf den Präsidenten der Divine Delight-Unternehmensgruppe wartete? Wer konnte widerstehen, wenn in einem Regal in Augenhöhe solche Schätze nur darauf warteten, das Gehör zu liebkosen und die Seele zu verzaubern?! "Eine Verschwendung." Stellte Yoshiaki fest, der ihn genau beobachtete. "Einige CDs waren nicht einmal ausgepackt. Das gesamte 'Bildungsgut' ist kiloweise beschafft worden, obwohl bunte Aufsteller mit aufgedruckten Buchrücken günstiger gewesen wären." Die bissige Selbstironie überraschte Maki nicht, auch wenn er sie zum ersten Mal hörte. Aber ein so erfolgreicher Mann wie Yoshiaki würde sich wohl auch nicht mehr mit flammenden Blicken begnügen. "Mein Vater hat immer von dir geschwärmt." Die schwarzen Augen studierten Maki so eingehend, dass er sich entblößt fühlte. "Der ideale Sohn. Etwas Besonderes, Exquisites." Peinlich berührt wollte Maki das zweifelhafte Kompliment kontern, doch Yoshiaki schüttelte majestätisch den Kopf, lachte grollend. "Aber nein, er hatte recht! Du BIST in der Tat ein Genie, simpel der Beste. Weder vor noch nach dir hat ein Absolvent solchen Erfolg gehabt." Nun wagte Maki kaum noch, den Blick zu heben, weil ihn Scham dunkelrot färbte. Diese Lobpreisung klang neutral, ausgesprochen sachlich, aber er glaubte, eine stille, gärende Verzweiflung mitschwingen zu hören. Von dem Sohn, der niemals den Erwartungen des Vaters gerecht wurde, von dessen Ambitionen ganz zu schweigen. "Kein Wunder, dass es dir gelungen ist, deinen Traum zu erfüllen. Wenn ich das richtig einschätze, steht auch deine Belegschaft mit Leib und Seele hinter dir." Yoshiaki lächelte lauernd. »Was, um alles in der Welt, willst du, Yoshaki?!« Sie starrten einander an, ein stummes Duell. Das Geplänkel war vorbei. Yoshiaki zupfte aus seiner Jackeninnentasche zwei Dokumente, faltete sie sorgsam auseinander und legte sie exakt in die Mitte zwischen ihnen. Maki zögerte einen langen Moment, sich aus dem stillen Zweikampf zu lösen, dann senkte er entschlossen den Blick auf die Mitteilungen. Ein schwerer Knoten zog sich in seinem Leib zusammen. Schlagartig fror er entsetzlich, während die Betäubung seinen Körper in eine biblische Starre versetzte. Eine Salzsäule hätte nicht anders auf das Publikum gewirkt. Die Abtretung seiner Zahlungsschuld hatte er bereits befürchtet, doch es kam noch schlimmer: seine Vermietungsgesellschaft war eine hundertprozentige Tochter der Divine Delight-Unternehmensgruppe! Mit anderen Worten: Yoshiaki konnte ihn nach Belieben ruinieren. Fassungslos klebte sein Blick auf den Schriftstücken. Er bemerkte nicht mal, wie sich Yoshiaki graziös erhob den Tisch umkreiste und sich lauernd über ihn beugte. "Ein unmoralisches Angebot." Raunte er kehlig an Makis Ohr. "Der Fortbestand deines Traums gegen mein Bett." Maki konnte sich nicht rühren, hörte die Worte, doch er begriff sie nicht. Was erzählte ihm Yoshiaki da? Kraftvolle Finger legten sich auf seine Schultern, drückten sie kurz. "Ich hole mir morgen deine Antwort." Damit verschwand er wie ein Phantom. Oder ein Albdruck. Doch er würde wiederkommen, sich erstickend auf Makis Seele legen, ihm das Herz in der Brust zerquetschen. Als Makis Assistentin schließlich nach einer Stunde beunruhigt nach ihrem Chef sah, fand sie ihn totenbleich auf seinem Stuhl sitzend, stocksteif und unfähig, sich zu erklären. ~+~ Kapitel 6 - Die unmoralische Offerte Lange nach seinem üblichen Geschäftsschluss verließ Maki seine wahre Heimat, noch immer stark angeschlagen. Widerstandslos ließ er sich in die U-Bahn schieben, taumelte automatisch an der richtigen Station heraus, um wieder an die Oberfläche zu gelangen. In der Pension stand er lange unter der heißen Dusche, entwickelte langsam wieder ein Gefühl in seinen Fingerspitzen. Er schlüpfte im Pyjama unter die Bettdecke, blickte in der Dunkelheit nach oben, obwohl er nichts erkennen konnte und es auch nichts zu sehen gab. Was sollte er tun? Was KONNTE er tun? Unermüdlich hatte Panik in seinem Kopf sämtliche Gedanken auseinanderstoben lassen, bevor sie sich gruppieren konnten, aber nun war er zu erschöpft für die hysterische Angst. Deshalb hatte er nun die Chance, seine Optionen zu erwägen. Er kannte die Optionen beider Verträge und wusste, dass Yoshiaki ihn in kürzester Zeit ruinieren konnte. Ausziehen, sich eine andere Heimat für sein Geschäft suchen? Nein, beschied er sich selbst bedächtig, er hatte schließlich lange gesucht, bevor er sich diesen idealen Platz gemietet hatte, nahe an einer Bahnstation, von Wohnvierteln umgeben, mit einer Andienungsmöglichkeit über eine kleine Hintergasse, mit praktischem Kellerraum, der auch Kühltruhen beherbergen konnte. Außerdem, wie sollte er sich einen Umzug und eine Renovierung leisten? Wenn ihm die Darlehensschuld bereits enge Grenzen setzte? Was würde aus seiner Belegschaft werden?! Waren sie nicht seine Familie? Konnte er sie im Stich lassen? Er konnte noch immer nicht begreifen, was Yoshiaki eigentlich bezweckte. Wie lange würde diese Vereinbarung anhalten? »Will er sich an mir rächen?« Maki senkte die Lider, rief sich Erinnerungen vor das innere Auge. Sein Leben war so eng mit seiner Berufung verknüpft, mit lukullischen Genüssen, mit der Freude, diese Entdeckungen zu teilen, andere Menschen zu begeistern. Nein, er KONNTE seine einzig wahre Heimat nicht aufgeben. »Wie lange wird er DAS auch aushalten?!« Sprach er sich selbst trotz des flauen Gefühls in der Magengrube Mut zu. Yoshiaki vermögend, einflussreich, ein bedeutender Mann, wusste sich in der Gesellschaft selbstsicher zu bewegen, außerdem attraktiv und jovial: zweifelsohne würde er seine Rachegelüste rasch überwinden! Überhaupt, damit drehte sich Maki entschlossen um, knuffte das Kissen zurecht, warum sollte ausgerechnet so ein bedeutender Mann das Bedürfnis haben, ihm nahe zu kommen? Wenn man ehrlich war, was hatte er schon an Vorzügen zu bieten?! Mit dem festen Entschluss, die Zähne aufeinander zu beißen und einfach auszuhalten, bis Yoshiaki die Lust verlor, fiel Maki endlich in einen erschöpften Schlaf. ~+~ Es war eine leidvoll trainierte Fähigkeit, die ihm half, den nächsten Tag mit Zuversicht und Energie anzugehen: er blendete einfach das Hinderliche aus seinem Bewusstsein aus, um sich den anstehenden Aufgaben zu widmen. Für den Weißen Tag musste organisiert werden. Außerdem waren Lieferungen zu empfangen und er wollte sich eine kleine Geschäftsreise gestatten, um nach Frühlingsspezialitäten Ausschau zu halten. Er konzipierte gerade die Varianten für die Picknickkörbe anlässlich der bevorstehenden Kirschblütenschau, als ihm ein Besucher gemeldet wurde. Hinter seiner Vorzimmerdame ragte Yoshiakis Herold unter die Decke. Maki schreckte von seinem Bürodrehstuhl hoch, fing sich dann und bemühte sich um ein schwaches Lächeln. "Bitte treten Sie doch ein. Leider sind wir einander nicht vorgestellt worden." Überspielte er die seltsame Verlegenheit, denn auch Yoshiakis Herold beherrschte die Kunst, ihn durchdringend zu fixieren, als könne er ihn mit einem Röntgenblick durchleuchten. "Mein Name ist Sanji, Herr Edani." Der groß gewachsene Mann verbeugte sich elegant, dann nahm er wieder seine imposante Haltung ein. "Yoshiaki lässt Sie bitten." Perplex blinzelte Maki. Standen sich die beiden etwa so nahe, dass man sich mit Vornamen ansprach?! Sanji nutzte die Gelegenheit, sich Makis Mantel und Schal zu greifen, hinter ihn zu treten und den Ankleidereflex auszulösen. Peinlich berührt bemerkte Maki die geschickte Manipulation erst, als ihm sorgsam der Schal um den Hals geschlungen wurde. "Ich darf vorausgehen." Sanji verbeugte sich höflich, aber seine Augen ließen Maki nicht eine Sekunde frei. Solcherart genötigt, sich dem Unvermeidlichen zu stellen, um das zu bewahren, was ihm sein Herz erfüllte, folgte Maki, 'klebte' sich metaphorisch eine tapfere Miene auf. Niemand sollte auch nur ahnen, was sich hinter den Kulissen ereignete. Sanji passte sich seinem Schritt an, geleitete ihn zu einem der winzigen Parkhäuser, führte ihn zu einer vornehmen Limousine, in mattem Silber gehalten, nicht fade schwarz wie die gewohnten Dienstwagen. Die Fahrt verlief schweigend, seltsam distanziert, denn der Wagen schien so gut geräuschisoliert, dass Maki sich wie in einem Raumschiff fühlte, das durch eine bunte, aber unzugängliche Szenerie glitt. Er hatte erwartet, dass sich die Panik wieder einnisten würde, akkompagniert von nassen Handflächen und Taubheitsgefühl im gesamten Körper, doch erstaunlicherweise war eine leichte Schläfrigkeit die einzige Emotion, die ihn erfüllte. Die Polster waren angenehm, die Stille besänftigend, die Welt draußen fremd und weit entfernt. Sanji musste ihn ansprechen, damit er aus dieser Trance erwachte und die ausgestreckte Hand annahm, sich aus dem Fond helfen ließ. Während ein Angestellter den Wagen in einer Garage parkte, geleitete ihn Sanji in die Lokalität, wo Yoshiaki seine Antwort einfordern wollte. Hätte Maki eine Wette abschließen müssen, so wäre seine Wahl auf ein exklusives Restaurant oder einen Ryokan gefallen, mit Separees, wo man sich ganz ungestört unterhalten konnte, mit Verbindungen und dem erforderlichen Geld prahlen konnte. Doch Yoshiaki verweigerte sich offenkundig dieser primitiven Demonstration der Überlegenheit. Maki fand sich in einem Expressaufzug wieder, der zu einem bevölkerten 'GastroTempel' führte. Hier wurde so genanntes Fusion Food serviert, eine kunterbunte, experimentelle Mischung verschiedener, internationaler Küchen. Obwohl die gewaltige Halle mit verschiedenen 'Kochinseln' äußert gut besucht war und es vor Kundschaft nur so wimmelte, muntere Unterhaltung die angeregte Musik übertönte, fand Sanji Yoshiaki ohne Umwege. Die beiden Männer tauschten lediglich einen Blick aus, Worte schienen überflüssig. Yoshiaki befreite Maki galant von Mantel und Schal, schenkte ein Softgetränk mit Lychee aus und wartete. Maki schwieg ebenfalls. War es denn nötig, dass er zuerst nachgab, sich offenbarte? Als hätte er eine Wahl gehabt? Yoshiaki lehnte sich in einer vertraulichen Geste über den Tisch, zwinkerte mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen. "Ich nehme an, ich kenne deine Antwort auf mein Angebot." "Ich habe es weniger als Angebot verstanden." Maki hielt dieses Mal dem sezierenden Blick stand, denn seine Entscheidung war ja getroffen, er konnte somit durchaus Rückgrat beweisen. Ihm gegenüber neigte Yoshiaki amüsiert das Haupt, strich sich langsam mit dem Zeigefinger über die entblößte Kehle, eine unerwartet laszive Geste. "Du hast recht." Schmeichelte er frech. "Es gibt keine Wahl für dich." "Warum tust du das? Willst du dich an deinem Vater rächen?" Maki ging sachlich aber entschieden zum Angriff über. "Willst du ihm beweisen, dass es dir gelungen ist, mich für euch zu gewinnen?" In den schwarzen Augen blitzte es anerkennend. Unerwartet langte Yoshiaki dann über den Tisch, kaperte Makis Rechte und hielt sie fest. "Das könnte vielleicht mein Motiv sein." Schmunzelte er mit gedehnter Sprechweise. Er hob Makis Hand an die Lippen und küsste sanft die Fingerknöchel. Maki stutzte irritiert. Hatte er sich verschätzt? Yoshiaki flözte sich lässig auf seinem Stuhl, lächelte hintergründig, während sein Daumen immer wieder über Makis Handrücken glitt. "Warum erzähle ich dir nicht die Wahrheit, hm?" Er ließ die perfekten Zähne aufblitzen, schnurrte die Silben förmlich. "Die Sache mit dem Golfen ist eine etwas euphemistische Umschreibung dafür, dass sich mein werter Vater gerade beim Einlochen befand. Bei seiner Mätresse." Obwohl Maki die Anspielung sehr wohl begriff, konnte er noch immer nicht den Zusammenhang zu seinem unerfreulichen Schicksal herstellen. Und dann war da noch seine Hand in Yoshiakis Gewalt, der sie langsam öffnete, mit der einen Hand hielt und mit der anderen neckend die Linien nachzog, als würde er aus Makis Handfläche lesen. In einem munteren Singsang, fuhr er mit der angekündigten Aufdeckung der Wahrheit fort. "Mein alter Herr war sehr enttäuscht von seinem durchschnittlichen, unbedeutenden Filius, sodass er ihn einfach ins Ausland abschob. Immerhin mangelte es dem sauberen Früchtchen nicht nur an herausragenden Talenten!" Hörte Maki wirklich Eisen in der so angenehmen Stimme?! "Nein, das undankbare Balg entpuppte sich auch noch als hoffnungslos schwul." Nun sengten die schwarzen Augen wieder direkt durch alle Hindernisse hindurch, bohrten sich in Makis Kopf. Konnte das wahr sein? Dass Masakuni senior sich eine Geliebte zulegte, um Nachwuchs zu zeugen und seinen einzigen Sohn von der Firmenführung auszuschließen? Yoshiaki lehnte sich zurück, hielt Makis Hand nun sehr locker in seiner eigenen. "Glücklicherweise habe ich im Exil erfahren, dass ich keineswegs ein völliger Versager ohne jede Begabung bin. Jetzt leite ich seit beinahe zwei Jahren die Firma. Wenn ich IHM etwas beweisen wollte, müsste sich sein Zustand noch erheblich bessern." "...aber...warum dann?" Maki wusste sich keine Erklärung. Wenn es nicht darum ging, die Konkurrenz auszuschalten oder sich zu rächen, was blieb dann übrig? "Darüber lasse ich dich ein wenig grübeln." Antwortete Yoshiaki süffisant, erhob sich, um auf eine der Kochinseln zuzusteuern. Zwei Jahre schon? Maki bedauerte, dass er sich nicht interessierter an den Wirtschaftsmeldungen gezeigt hatte, dann wäre ihm sicher der Wechsel an der Führungsspitze nicht entgangen. Yoshiaki kehrte zurück, bunte Teller und Schalen auf einem großen Tablett angerichtet. "Von jedem etwas." Kommentierte er seine Auswahl, nickte Maki zu. "Bitte fange doch an." Unschlüssig nahm Maki das Besteck auf, studierte das Angebot, doch seine Gedanken kreisten immer noch um Yoshiakis Erpressung. Er legte das Besteck wieder ab, sah Yoshiaki in das spöttisch lächelnde Gesicht. "Wenn du mich weiterhin meinen Geschäften nachgehen lässt, was willst du dann von mir? Will sagen, es ist doch nicht dein Ernst, dass du...?" Er ließ den Satz mit einem bedeutungsschweren Nicken ausklingen. Yoshiaki pickte sich ein Stück eingelegtes Hähnchenfleisch von einem der Teller, schaufelte es auf seine Zunge, rollte sie ein und kaute mit Appetit. »So ein dummes Spielchen!« Befand Maki ungewohnt ungehalten, entschloss sich, dem frechen Vorbild zu folgen und ebenfalls zuzugreifen. Er würde seine Antwort eben später bekommen! In der Tat präferierte es Yoshiaki offenkundig, sich zunächst den Speisen zuzuwenden. Dabei ließ sich auch ungehemmt studieren, wie Maki standhaft das Nachdenken über Beweggründe und finstere Absichten zu vermeiden versuchte. Als sie das 'Buffet' zufriedenstellend abgegrast hatten, wandte er sich Maki zu. "Nun, ist dir noch etwas eingefallen?" Neckte er ungeniert. "Nein." Schnaubte Maki verstimmt. "Und ich wünschte, du würdest endlich mit diesen kapriziösen Spielchen aufhören!" Yoshiaki befleißigte sich einer verletzten Miene. "Kapriziöse Spielchen?!" Gab er die verfolgte Unschuld. "Wie grausam! Dabei versuche ich lediglich, mit dir zu flirten!" "Wie bitte?!" Maki starrte Yoshiaki ungläubig an, um dann streng zu erwidern. "Ist das nicht ein sehr teurer Spaß?! All diese Geschenke und der Opernbesuch, meinst du nicht, dass das für einen Scherz unangebracht ist?" Nun wandelte sich die amüsierte Miene in eine lauernd-bissige. "Ein Flirt ist beileibe kein Scherz. Ebenso wenig dein Mietvertrag und die Darlehensschuld." Der Hieb saß. Maki wurde blass. Unter dem Tisch krallte er die Hände ineinander. Er durfte Yoshiaki nicht verstimmen, auf keinen Fall! War der etwa so launisch wie sein Vater?! Yoshiaki dagegen fand einmal mehr bestätigt, was private Ermittlungen und sein eigener Instinkt ihm bereits versichert hatten: Maki mochte ein unvergleichlicher Gourmet sein, ein virtuoser Künstler in allen lukullischen Aspekten, aber im Bereich zwischenmenschlicher Anziehungskräfte hatte er offenkundig die Initialzündung ausgesetzt. "Ich will dich haben." Verkündete er schlicht sein Motiv. Ungerührt hielt er dem verständnislosen Blick hinter der randlosen Brille stand, konnte von den feingeschnittenen Gesichtszügen ablesen, dass Maki ihm nicht glaubte. "Ich bin doch kein Spielzeug." Brachte der tatsächlich leise vor. Yoshiaki streckte den Arm aus, streichelte mit der Hand hauchzart über eine Wange, ein wenig überrascht, dass Maki keine Anstalten unternahm, dieser Liebkosung auszuweichen. "Ich weiß." Antwortete er ebenso ruhig. "Aber ich muss meinem Vater beipflichten: alle unbedeutenden Durchschnittstypen sehnen sich nach dem Besonderen, Einzigartigen, Exquisiten. Und in unserem Fall bist du das." "Nun, aber...was willst du mit mir anfangen?!" Maki bemühte sich angestrengt, die Situation zu begreifen. Rache, Triumph, das hätte er verstanden, aber jemanden besitzen zu wollen, DAS konnte doch nicht funktionieren! Auf der anderen Seite des Tisches lächelte Yoshiaki wieder. "Du wirst mit mir zusammen wohnen, schlafen, essen und deine knappe Freizeit verbringen. Ich bin ein ziemlich guter Fang, habe außerdem Verständnis für lange Arbeitszeiten, bin fachlich vorgebildet, sodass wir uns unterhalten können. Und ich bin zusätzlich noch gut im Bett." Diese Bewerbung fand, beinahe schon erwartet, nicht das übliche Echo. Maki seufzte erschöpft. "Das ist zweifellos eine Verlockung, aber ich kann da nicht mitbieten. Ich verbringe meine Zeit hauptsächlich im Geschäft oder auf Geschäftsreisen. Ich wüsste wirklich nicht, welchen Nutzen du von meiner spärlichen Anwesenheit hättest." "Oh, Das wirst du sehen. Garantiert." Yoshiaki schnurrte gedehnt. »Das hält sicher nicht lange vor.« Konstatierte Maki innerlich, schöpfte neuen Mut. Mochte Yoshiaki noch so ein erfolgreicher Direktor sein, ihm mangelte es sichtbar an Vorstellungsvermögen! Sonst hätte er wohl erkannt, wie untauglich Maki für ein solches Leben war! ~+~ Nachdem Yoshiaki unmissverständlich die Weisung erteilt hatte, sich telefonisch bei seinem Adlatus Sanji zu melden, durfte Maki wieder in sein 'gewohntes Leben' zurückkehren. Obwohl er sich noch immer keinen Reim darauf machen konnte, was Yoshiaki wirklich beabsichtigte, verdrängte er den Gedanken und die Unruhe in einen finsteren Raum in seinem Hinterkopf, versiegelte beides dort. Er hatte schließlich zu arbeiten! Hätte der Privatdetektiv, den Yoshiaki vor geraumer Zeit engagiert hatte, noch seine Aufgabe wahrgenommen, so hätte er einmal mehr seinem Auftraggeber zu berichten gewusst, dass Maki geradezu euphorisch aufzublühen pflegte, wenn er in seinem Delikatessengeschäft herumwirbelte. Der Tag neigte sich bereits dem Ende zu, als Maki sich endlich lösen musste. Es kostete ihn ein wenig Überwindung, denn er hatte keine veritable Vorstellung, was ihn erwartete, aber sein analytischer Verstand rief ihn kühl zur Ordnung. Das Ehrenwort war verpfändet, die Prioritäten eindeutig, somit alles Zögern und Herumwinden nutzlos. Folglich wählte er die von Yoshiaki notierte Nummer an, um sich von Sanji auflesen zu lassen. Während er im Fond thronte, so unglaublich bequem und still, fragte er sich müßig, in welcher Beziehung die beiden Männer zueinander standen. Nach seiner Einschätzung musste Sanji Mitte Zwanzig sein, also jünger als Yoshiaki. Hatten sie sich vielleicht im Ausland kennengelernt? Oder in der Mittelschule? Maki justierte seine Tasche seufzend, erwog, die Notizen und seinen kleinen, mobilen Rechner herauszunehmen, um die Fahrtzeit zu nutzen, doch die unwirkliche Atmosphäre verleitete ihn wie beim ersten Mal dazu, die Szenerie jenseits des silbrigen 'Raumschiffs' zu studieren. Die Fahrt währte nicht lange, führte in ein gehobenes Wohnviertel mit teuren Hochhäusern, die einer exklusiven Klientel ein entsprechendes Ambiente bot, edel und erlesen, dazu Sicherheits- und Servicepersonal. Ja, hier blieben die Elite und die Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens unter sich! Sanji chauffierte die Limousine tadellos auf den ausgewiesenen Parkplatz, half Maki höflich aus dem Fond und geleitete ihn zu den Aufzügen. Vornehme Schildchen, goldene Namensplaketten, informierten den Besuch, dass die Divine Delight-Unternehmensgruppe den kompletten achten Stock einnahm. Eine Glückszahl, und zweifellos teuer erkauft. Der Aufzug setzte sich jedoch erst in Bewegung, als Sanji eine Stimmprobe abgab und seine Iris eingelesen wurde. »Furchtbar kompliziert!« Befand Maki, der es gewöhnt war, mit normalen Schlüsseln zu operieren. In zügiger Geschwindigkeit, von leichten Meeresrauschen untermalt, bewegten sie sich hoch in dem vornehmen Gebäude. Die Türen öffneten sich und gaben den Blick auf eine Vorhalle preis, die dezent mit Blumenschmuck und einer Sitzecke aufwartete. Eine gewaltige Flügeltür schwang auf, Yoshiaki trat heraus. Er nickte Sanji lächelnd zu, winkte Maki dann hinein. "Herzlich Willkommen in deinem neuen Heim!" Maki dagegen starrte Yoshiaki an. Der hatte sich für die Freizeit umgezogen, eine enge, verwaschene Jeans zu einem hautengen T-Shirt. Man konnte nicht übersehen, dass die natürlichen Anlagen noch durch körperliche Ertüchtigung verbessert worden waren. Yoshiaki grinste spöttisch, signalisierte, dass ihm die Musterung nicht entgangen war und schob Maki Hausslipper zu. Sie trugen die aufgestickten Schriftzeichen seines Vornamens. Bevor Maki etwas einwenden konnte, wurde er geschickt aus seinem Mantel gewickelt und von seiner Aktentasche befreit, die einer Garderobe anvertraut wurden. "Ich führe dich herum." Kündigte Yoshiaki an, fasste Maki wie ein Kind bei der Hand und zog beschwingt los. Das Appartement war in der Tat gewaltig. Gästezimmer, zwei gut ausgestattete Badezimmer, separate Toiletten und ein enormes Schlafzimmer, wo sich bereits seine Kleider in einem Ankleideraum befanden. "Aber wie...?!" Maki konnte es nicht glauben, denn bei näherer Betrachtung enthielt der begehbare Kleiderschrank auch Habseligkeiten, die er durch die Umzugsfirma zur Einlagerung aufgegeben hatte! "Oh, ich habe Sanji gebeten, sich darum zu kümmern. Das spart die lästige Lauferei, meinst du nicht?" Yoshiaki genoss seinen Triumph und schlang einen Arm um Makis Hüften, dirigierte ihn auf diese intime Weise aus dem Schlafzimmer heraus. Maki dagegen war hauptsächlich perplex. Noch nie hatte er so ein großes Appartement betreten, und dann bewies Yoshiaki, oder vielleicht auch eine kostspielige Innenausstattungsberatung?!, so viel Geschmack! Außerdem ging die 'feindliche Übernahme' so effizient vor sich, dass er kaum zu Atem kam! Vor allem war es Yoshiakis Note, die ihn überraschte, denn sie hatte gar nichts gemein mit dem Herrenhaus, in dem er mehr als einmal zu Gast gewesen war. "So." Yoshiaki schmunzelte über Makis verwirrten Gesichtsausdruck. "Aber das ist nicht das, was dich interessiert, oder?" Also präsentierte er sein Wohnzimmer mit angeschlossener Küche. Wie erwartet entschlüpfte Maki seinem Handgriff und kreiselte um den gewaltigen Küchenblock, strich mit den Fingerspitzen über die Oberflächen, die Augen vor Begeisterung glühend. Yoshiaki lehnte sich an einen Schrank und verschränkte die Arme vor der Brust. Es hatte den Anschein, als würde seine Küche zumindest bei Maki punkten. Der kommentierte nicht, was er inspizierte, aber er war überwältigt. Diese Küche ließ alle Profis vor Neid erblassen! Es juckte ihn in den Fingern, gleich die Ärmel hochzukrempeln und sich hier zu versuchen. "Na?" Yoshiaki hatte sich hinter ihm angeschlichen und umarmte ihn nun. "Möchtest du noch etwas zaubern?" Maki nagte unbewusst an seiner Unterlippe, registrierte die Annäherung gar nicht richtig, sondern überlegte fieberhaft. Er WOLLTE gerne die Küche erproben! Andererseits war es schon spät und regelmäßig aß er nur im Geschäft, sodass er eigentlich keinen Hunger hatte. Da wäre es Verschwendung, jetzt noch mehrere Stunden in der Küche seiner Leidenschaft zu frönen. "Sie läuft nicht weg." Raunte Yoshiaki amüsiert in Makis Ohr. "Ich schlage vor, wir duschen noch und gehen dann in unser großes Bett." Blinzelnd kam Maki wieder auf den Boden der Realität zurück, seufzte hörbar. "Eine herrliche Küche..." Murmelte er sehnsüchtig. "Sie gehört ganz dir." Yoshiaki küsste Maki auf die Wange, legte ihm dann einen Arm um die Schulter, führte den Widerstrebenden langsam durch das gewaltige Wohnzimmer hinaus zur Suite des Hausherren. Er spürte, wie sich Maki merklich straffte, von der lockenden Versuchung verabschiedete. "Wir überlassen die Wäsche Frau Satori, meiner Hauswirtschafterin." Erläuterte er beiläufig, wies im Ankleidezimmer auf die Wäschesäcke mit der erklärenden Aufschrift. Maki schwieg, folgte aber seinem Beispiel, sich systematisch zu entkleiden, die Wäsche entsprechend in die Behälter zu verteilen, bevor Yoshiaki ihm aufmerksam einen flauschigen Bademantel überstreifte. "Ah, Pyjama!" Entsann sich Maki und wollte kehrtmachen, doch Yoshiaki fasste seine Hand, hob sie an die Lippen und küsste den Handrücken, die schwarzen Augen diabolisch funkelnd. "Heute Nacht werden wir keine Pyjamas benötigen." "Oh." Murmelte Maki, zu gleichen Teilen schicksalsergeben und verunsichert. Im Badezimmer übernahm es Yoshiaki, die Bademäntel ordentlich aufzuhängen. Er folgte Maki in die geräumige Dusche, mit schwebenden Glastüren abgetrennt, in warmen Sepiafarbtönen gehalten. "Bitte gib mir deine Brille." Erinnerte er lächelnd, streckte die Hand aus und erwiderte Makis besorgten Blick aufrichtig. "Ich sehe wirklich sehr schlecht." Befleißigte sich Maki einer Warnung, fühlte sich schutzlos ohne die kontrastreiche Sicht auf die Welt. "Vertraue dich mir an." Yoshiaki nahm Makis Hände, legte sie sich selbst um den Nacken, trat nahe an den Älteren heran. "Ich werde darauf achten, dass dir nichts zustößt." "Du meinst, ausgenommen von dir." Brummte Maki mit einem schiefen Grinsen und schloss die Augen. Er hatte sich darauf eingeschworen, Yoshiaki die ganze 'Arbeit' zu überlassen, einfach abzuwarten, wie 'es' sich entwickeln würde. Wäre es aus Gründen der Fairness vielleicht angebracht, ihn darauf hinzuweisen, dass er es mit einem absoluten Anfänger zu tun hatte? Maki hätte sich mit diesen Gedanken nicht belasten müssen, denn Yoshiaki wusste exakt, dass er in mehreren Aspekten Premieren zu bewältigen hatte. "Ich werde gut zu dir sein." Wisperte er kaum vernehmlich, küsste Maki sanft, aber lange, als wolle er diese Ankündigung für alle Ewigkeit siegeln, auf die Stirn. Dann wandte er sich um, wählte ein Duschgel aus, das seiner Vorliebe entsprach, um mit der aufgeschäumten Flüssigkeit Maki von den Füßen bis zu den Haarspitzen langsam und gründlich zu bedecken. Wie erwartet reagierte Maki auf diese Handreichungen, die vollkommen ungewohnt waren, nicht zu vergessen das perfide Geschick, mit dem Yoshiaki zu Werke ging, der sich durchaus als Virtuose verstand. Doch der wollte nicht unter der Dusche ihre erste, gemeinsame Nacht überstürzt beginnen und achtete deshalb darauf, dass die reizvollen Kontakte nicht die Grenze des Erträglichen überschritten. "Bitte übernimm meinen Rücken." Lenkte er Maki ab, der leicht schwankte und bereits schwerer atmete. Er konnte nicht damit rechnen, dass Maki ihm entgegenkam, nutzte aber die Gelegenheit, als dessen Finger blindlings über seine rückwärtige Partie strichen, sich selbst auch einzuseifen. Unter dem feinen Regenschauer, der von einem enormen Brausekopf auf sie niederrieselte, barg er Maki schlicht in seinen Armen, ließ den duftenden Schaum im Abfluss verschwinden. Schweigend nahm er Maki bei der Hand und trat in den hinteren Bereich neben der Dusche, wo sich ein warmes Gebläse befand, das rasch die Haut trocknete. Lediglich die Haare bedurften eines Föhns, was Yoshiaki die Möglichkeit bot, Makis Kopfhaut zu liebkosen, ihn dann neckend zu zausen. Ohne Eitelkeit ließ sich Maki diese Aufwartung gefallen, bestaunte, kurzsichtig, diesen unerhörten Luxus. Gar kein Vergleich zu den brettharten Handtüchern, die er in Gebrauch hatte! "Gehen wir." Beschloss Yoshiaki, dessen Friseur offenkundig um die Gewohnheit wusste, sich nicht lange mit dem Arrangieren aufzuhalten, und der für einen entsprechenden Schnitt gesorgt hatte. Bar und bloß, nun aber wieder im Vollbesitz der Wahrnehmung, tappte Maki hinter Yoshiaki her. Durch die Dusche erfrischt und gleichzeitig warm genug, um sofort beim Aufschlag auf die Matratze in tiefen Schlaf zu sinken. Ihm war selbstredend klar, dass diese Option erst zum Tragen kam, wenn Yoshiaki den Preis für seine Patronage des Delikatessengeschäfts eingefordert hatte. Fürsorglich schlug ihm der gerade die Bettdecke auf, umrundete dann das gewaltige Bett, dämpfte die Beleuchtung und folgte Maki unter die leichte Decke. Der, die Brille verabschiedet, streckte sich bequem aus und wartete geduldig. Vage hatte er eine Vorstellung, dass gewisse Aktionen zum 'Vorglühen' absolviert werden mussten, wollte sich aber nicht mit zwecklosen Sorgen belasten. Was auch immer es war, dass Yoshiaki zu ihm hinzog, er musste nicht fürchten, dass sein äußeres Erscheinungsbild missfiel, weil es offenkundig keine Rolle spielte. Wenn man etwas besitzen wollte, ging es dabei doch um das 'Haben', nicht um das 'Sein'! Yoshiaki verfügte über ausreichend Erfahrung, seine Lust zu zügeln, nicht auf den unglaublich unkundigen Maki loszustürzen. Seit wie vielen Jahren lebte der schon allein? Kurz nach seinem zwölften Geburtstag hatten sie ihn aus dem Heim in eine winzige Wohnung 'ausgelagert', das schwierige, gefühlskalte Kind. »Immer sachte!« Ermahnte sich Yoshiaki, streichelte Maki, küsste die duftende Haut zärtlich, arbeitete sich so systematisch vor, als wolle er eine Karte anfertigen. Maki war es bestimmt nicht gewöhnt, dass man ihn berührte, dass man ihm körperlich auf eine Art nahe kam, die absichtlich und nicht flüchtig war. Yoshiaki schluckte die süßen Nichtigkeiten herunter, die ihm auf der Zunge lagen und so gern in ein geneigtes Ohr geflüstert werden wollten. Maki würde sie nicht verstehen, mit Verwirrung reagieren. So, wie er jetzt weder zurückschreckte, noch eine Beteiligung in Erwägung zog, einfach abwartete, geschehen ließ, die Augen geschlossen. Mit der Zeit, war sich Yoshiaki sicher, würde Maki begreifen, dass es angenehm war, jemandem auf diese Weise verbunden zu sein. Er erwartete sich keine flammenden Liebesschwüre, keine körperliche Bekundung von Zuneigung. Nach seiner Überzeugung war Maki nicht gefühlskalt, sondern etwas Besonderes. Ein Mann, der nicht die geringste, sexuelle Ausstrahlung hatte, weil es ihm unbedeutend erschien. »Aber man kann ihn daran gewöhnen.« Darauf setzte der Präsident der Divine Delight-Unternehmensgruppe. Vielleicht würde Maki seine Liebe niemals so erwidern, wie man es in kitschigen Romanzen sah, aber das spielte für ihn keine Rolle. Er richtete sich zwischen Makis Beinen ein, dirigierte ihn in eine vielversprechende Position, um seine Aufwartung zu machen, die empfindlichsten Körperpartien an seine Zärtlichkeiten zu gewöhnen. Fasziniert lauschte er auf Makis Stimme, weder unterdrückt noch leise, das lustvolle Stöhnen, das seine Anstrengungen belohnte. Maki würde sich nicht zurückhalten, das erleichterte ihn ungemein. Leise lachend suchte er sich die unverzichtbaren Hilfsmittel zusammen, beugte sich über Maki. Der registrierte die Unterbrechung der Wohltätigkeiten, die ihm zusehends gefielen, Glückshormone in seinen Körper schwemmten, ohne dass er sich selbst dafür anstrengen musste. Blinzelnd schlug er die Augen auf, fand Yoshiaki tief über sich gebeugt, ein ungewohnt offenes Lächeln auf dem attraktiv glühenden Gesicht. Hatte er den spöttisch-einschüchternden Mann jemals so glücklich gesehen? Ohne die arrogant-süffisante Maske des Präsidenten? Er grinste schief nach oben, die Lippen geteilt, da ihm der Atem knapp wurde. Yoshiakis Mund formte Silben, doch ohne optisches Hilfsmittel konnte Maki nicht genau ermitteln, wie die Botschaft lautete. Sie war kurz und prägnant. "I love you." ~+~ In Yoshiakis Kopf tobte sich ein Orkan aus, fing in seinem vernichtenden Sog alles ein, um es durcheinander zu schleudern und an unvermuteter Stelle wieder auszuspucken. Wie konnte man sich noch einmal verlieben, wenn es bloß ums Küssen ging?! Gerade das widerfuhr ihm aber, nachdem Maki verstanden hatte, worin der Zauber bestand. »Vielleicht schmecke ich ihm auch einfach!« Hasardierte Yoshiaki angesichts des Engagements, mit dem Maki seine Fertigkeiten erprobte. Man konnte sich zu gut vorstellen, wie der Feinschmecker sich sein Urteil bildete, keine Nuance auslassen wollte. Da musste man dankbar sein, dass man bereits lag und nicht beschämender Weise in die weichen Knie brach! Um sich ein wenig zu revanchieren, aber auch, weil der Geigerzähler heftig ausschlug, nutzte Yoshiaki die oralen Affektionsbekundungen, um sich weiter südwärts eine Passage zu schaffen. Waren das nicht schnurrend-rollige Untertöne in Makis lustvollem Stöhnen? Ermutigend genug jedenfalls, um dem ersten Kundschafter weitere folgen zu lassen, auf Expedition zu gehen, in unentdeckten Regionen das Nervenzentrum zu erreichen, den Pol zu erobern und dort zu flaggen. Der Mast jedenfalls brannte förmlich auf seinen Einsatz! Yoshiaki schloss die Augen, konzentrierte sich auf seine übrigen Sinne, tastete sich an den Lustpunkt heran, ließ sich erstickend küssen. Das enttäuschte Ächzen, als er sich temporär auf dem Rückzug befand, aufsetzen musste, um sich in Position zu bringen, feuerte ihn an, Maki endgültig für sich zu gewinnen. Der überließ sich seinem Instinkt, denn erstaunlicherweise gefiel ihm, was sein erpresserischer Geschäftspartner tat. Sogar außerordentlich gut. Schloss man die Augen, trieb man dahin, ohne Scheuklappen oder Konventionen, konnte man unerschrocken genießen. Maki wusste nicht zu bestimmen, wann er das letzte Mal seine körperlichen Kräfte erprobt hatte. Der leidenschaftliche Austausch mit Yoshiaki beflügelte ihn aber darin, wandelte etwas zu einem Vergnügen, das er jahrelang abgelehnt hatte. Endlich, herrlich angenehm, kam auch die versöhnliche Schwärze tiefen Schlafs! ~+~ Yoshiaki schmunzelte erhitzt, den Kopf auf einen Arm gestützt, streichelte mit der anderen Hand die feuchten Spuren von Makis Gesicht, das einen gelösten Ausdruck trug. Kein Wunder, vom Gipfel der Leidenschaft in festen Schlaf gefallen, das musste ja Wirkung zeigen! Man konnte ihm nicht böse sein, unmöglich. "Wir werden das bei passender Gelegenheit wiederholen." Wisperte Yoshiaki rau, rollte sich auf die andere Seite und füllte sich seine Tasse mit Tee aus dem vornehmen Spender, nippte genüsslich und seufzte profund. "Ich habe es geschafft." Sagte er zu sich selbst, beinahe ungläubig, schüttelte dann mitleidig den Kopf. Wie lange hatte er seinen Traum verfolgt, zwölf Jahre? Zwischen abgrundtiefer Verzweiflung und nun einem stillen, so erfüllenden Glück, das ihm das Herz stocken ließ. »Endlich.« Seine Odyssee hatte ein Ende gefunden. ~+~ Maki erwachte, weil ein sanftes Glockenspiel ertönte, eine bekannte Melodie anstimmte. Er blinzelte kurzsichtig, versuchte, sich zu orientieren. Verwirrt registrierte er, dass sich neben ihm jemand rührte, ein schwerer, aber angenehm warmer Arm sich von seinem Brustkorb löste. "Guten Morgen." Brummte eine raue Stimme schläfrig. Neben ihm erhob sich ein Schatten, was den Bewegungsmeldern Anlass gab, die Beleuchtung zu aktivieren, wenn auch deutlich gedämpft. "...oh..." Stellte Maki treffend fest und umschrieb damit eine Vielzahl von Erkenntnissen, die sich nun im Rudel einfanden und um Beachtung buhlten. Yoshiaki wandte sich zu ihm um, in einer Hand eine dampfende Tasse Tee, in der anderen seine Brille. Unscharf, aber unverkennbar identifizierte Maki ein Lächeln auf den spöttischen Lippen. "Na, wie fühlst du dich?" Yoshiaki strapazierte sein Glück tollkühn. Maki justierte seine Brille, nippte am Tee und atmete dann hörbar tief aus. "Ich beginne zu begreifen." Konstatierte er mit trockenem Humor. "Nun, diese Partnerschaft birgt erstaunliche Vorteile." Das amüsierte Grinsen wandelte sich zu einem herzlichen Lachen, dann küsste Yoshiaki Maki überschwänglich auf die Lippen. "So ein Kompliment habe ich noch nie bekommen!" Aber er hatte das untrügliche Gefühl, dass ihn Maki auch zukünftig überraschen würde. ~+~ "Hmm!" Brummte Maki bestimmt, arbeitete sich in Windeseile durch den bunten Strauß Rechnungen und Vorbestellungen. "Hmmm!" Obwohl er sich auf seine Arbeit konzentrierte, streunten abtrünnige Gedanken in seinem Kopf zielgerichtet in die 'Schmuddelecke', die er für sie eingerichtet hatte. Sie wollten endlich genügend gewürdigt werden. Aber diese Muße gönnte sich Maki erst, als sich der Stapel merklich reduziert und in das Ausgangspostkörbchen verlagert hatte. Er musste mit Yoshiaki reden. Dieser Muskelkater in bisher eher unerforschten Regionen war ihm bei der Arbeit recht hinderlich. Folglich musste über den Rhythmus ihrer sexuellen Aktivitäten nachverhandelt werden. "Mit ein bisschen Übung bessert sich das zweifellos." Murmelte Maki vor sich hin. Aber er pflegte keinen Sport auszuüben und musste deshalb erst mal entsprechende Beweglichkeit und Ausdauer trainieren. Zweitens, nun, eigentlich erstens, aber das wäre sehr unhöflich gewesen, wollte er abwechselnd das Frühstück zubereiten, wenn er nun schon morgens etwas außerhalb seiner Geschäftsräume zu sich nehmen musste. Wie sollte er sonst die Küche usurpieren?! Auch kein feiner Zug von ihm, das gestand er ehrlich ein, trotzdem, DIESE Küche! Sie war ein Traum! "Und der Transport!" Richtig, den durfte er nicht vergessen! Obwohl es ein unerhörter Luxus war, den man genießen sollte, wollte sich Maki lieber unabhängig von Sanjis Chauffeurdienstleistungen machen. Mit der U-Bahn wie so viele andere Menschen auch seinen Arbeitsplatz erreichen. Schließlich war Yoshiaki der mit dem immensen Einkommen! Was zu der noch ungeklärten Frage führte, ob Yoshiaki ihn wie eine Mätresse auszuhalten gedachte, oder ob es gestattet war, wenigstens einen kleinen Beitrag zum Haushalt zu leisten. Pragmatisch veranlagt wusste Maki durchaus, dass er hoffnungslos im Hintertreffen war, was einen gerechten Anteil an den Ausgaben betraf, aber er hatte auch seinen Stolz. Für den Fall, dass sich Yoshiaki schnell von seiner seltsamen Anwandlung erholte, ihn in seinem Bett zu halten, würde er ein kleines, finanzielles Polster haben an gesparter Miete, um einen Neuanfang zu machen. "Ich notiere es mir besser!" Beschloss Maki letztlich, schob sich den Notizzettel in die Hosentasche. Alles in allem, das konnte man nicht von der Hand weisen, hatte er wirklich ein unerwartet gutes Geschäft gemacht! ~+~ Maki traf gerade die letzten Vorbereitungen für den nächsten Tag, als sich sein Mobiltelefon lärmend bemerkbar machte. Yoshiakis Stimme umfing ihn warm, ein wenig spöttisch. "Denk nicht mal daran, im Büro zu übernachten!" "Ich bin schon beinahe zur Tür raus!" Verteidigte sich Maki automatisch, bevor er inne hielt. "Du bist doch nicht schon in der Wohnung?" "Erwischt!" Yoshiaki klang tatsächlich ein wenig zerknirscht. "Deshalb rufe ich ja an. Mein letzter Termin wird sich noch ein wenig ziehen, ich muss noch durch ein paar Kneipen stolpern. Deshalb schicke ich dir Sanji, er wird dich abholen und mit dir zum Sicherheitsbüro gehen. Sonst kannst du ja nicht in unser trautes Heim." "Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht." Kommentierte Maki trocken. "Nun, soll ich etwas für das Frühstück mitbringen?" "Du willst etwas machen?" Klang Yoshiaki etwa erstaunt?! "Können wir uns nicht einfach abwechseln?" Maki fingerte den Notizzettel aus seiner Hosentasche. Der Kampf um die Nutzung der Küche war IMMENS wichtig! "Sicher können wir das." Yoshiaki lachte unterdrückt. "Ich habe dich wohl mit meiner Küche gewonnen, wie?" Maki zog es vor, diese Frage unbeantwortet zu lassen. Er genierte sich zwar nicht, weil wohl alle bei rechtem Verstand sofort von dieser Küche verzaubert waren, andererseits riet ihm sein wenig ausgeprägter Instinkt, sich nicht allzu sehr zu offenbaren. Zwischenmenschliche Beziehungen waren schwierig, soviel wusste er aus flüchtigen Erinnerungen an Filme und Bücher. "Ah, man bläst zum Aufbruch!" Yoshiaki klang nun aufgeräumt. "Ich komme etwas später. Lass dir ein schönes, heißes Bad ein, ja?" "Das werde ich." Versicherte Maki würdevoll. Dann hörte er tatsächlich einen Schmatzer über den Äther wandern! Kopfschüttelnd schob er sein Mobiltelefon zurück und verstaute den Notizzettel wieder. Ob Yoshiaki wirklich wusste, auf was er sich da eingelassen hatte? Immerhin hatte er seit Ewigkeiten allein gelebt, kannte sich in all diesen kleinen, vertraulichen Gesten absolut nicht aus. Bevor er ins Grübeln verfallen konnte, wie er Yoshiaki diese Bildungslücke erklären sollte, klingelte es an der verschlossenen Eingangstür. Maki eilte durch sein Büro und blickte aus dem Fenster in den geschickt montierten Spiegel. Er drückte den Summer an seinem Schreibtisch, sammelte seine 'Hausaufgaben' in seiner Aktenmappe zusammen, als der Aufzug Sanji in das erste Geschoss beförderte. »Muss auch herausfinden, wie die beiden sich gefunden haben!« Stellte er fest, doch diesen Punkt notierte er nicht. Es schien ein möglicherweise delikates Sujet zu sein. ~+~ Es ging auf ein Uhr in der Nacht zu, als sich Yoshiaki leise in seine gewaltige Wohnung hineinließ. Per Mobiltelefon hatte ihn der Sicherheitsdienst des Appartementgebäudes darüber in Kenntnis gesetzt, dass Maki in allen Rechten für sein Wohneigentum autorisiert worden war. Von Sanji wusste er, dass Maki dessen Fahrbereitschaft für die Zukunft abgelehnt hatte und eine ganze Stofftasche voller hochwertigem Gemüse apportiert worden war, um das Frühstück zu gestalten. »Du darfst die U-Bahn benutzen, wenn das schneller als der Wagen ist.« Führte Yoshiaki ein stummes Zwiegespräch mit dem imaginären Maki. Er wollte die private Zeit nicht wegen lästiger Transporte reduziert wissen. Auf leisen Sohlen schlich er in seine Küche, hob neugierig die schützenden Küchenhandtücher an und linste in die Schüsseln, wo sich bereits geschnittenes Gemüse drapierte. In einem geschlossenen Glasbehälter hatte Maki eine bunte Gemüsemischung eingelegt. Yoshiaki konnte nicht widerstehen, eine Duftwolke entweichen zu lassen. Prompt meldete sich sein Magen mit heißhungrigem Knurren, aber Yoshiaki ertränkte ihn mit einer Tasse Tee. Frau Satoris vornehmste Aufgabe bestand darin, die allgegenwärtigen Teespender stets gut gefüllt zu halten. Der amtierende Präsident der Divine Delight-Unternehmensgruppe dankte den gewogenen Göttern und einem glücklich gemischten Satz Gene dafür, dass er Alkohol recht gut vertrug. Die pflichtgemäßen Kneipentouren fielen ihm dennoch lästig. Wie viele seiner Geschäftspartner sehnten sich auch nach ihrem Heim, nach der Familie? Nun, man würde erproben, wie viel Innovation sich auf diesem Gebiet noch bewerkstelligen ließ! Er wechselte in das Badezimmer seiner Hausherrensuite, verteilte wohlerzogen die Wäsche in die Behälter, bevor er sich eine auflockernde Dusche gönnte und den Geruch von Zigaretten und Alkohol tilgte. Da er gerne ohne Kleidung schlief, hängte er sich lediglich für die kurze Strecke einen Bademantel lose über die Schultern, huschte dann in sein Schlafzimmer. Das Licht wurde aktiviert, gedämpft nur, präzise auf seine Vorlieben programmiert. Maki schlief tief und fest, in einen recht fadenscheinig wirkenden Pyjama gehüllt, einen Arm locker über der Brust, den anderen lose auf dem Kissen neben dem Kopf abgelegt. Yoshiaki setzte sich behutsam auf die Bettkante und studierte das Stillleben, während die Bewegungsmelder langsam das Licht reduzierten, bis der Raum beinahe dunkel war. Leise seufzend kroch Yoshiaki unter die Bettdecke, rutschte nahe an Maki heran, der zwar auf seine Annäherung reagierte, doch nicht wach wurde. "Irgendwann werde ich dir erzählen, dass ich diese Küche nur für dich konzipieren und einbauen ließ." Flüsterte er leise. ~+~ "Wenn ich zustimme, dass wir nur einmal pro Woche Sex haben, dann wirst du dir den kompletten Sonntag für mich freinehmen." Yoshiaki funkelte Maki agitiert und sichtbar spitzbübisch amüsiert über die Breite des massiven Esstisches an. "Du musst tun, was ich dir sage." Maki zog die Nase kraus, überlegte, ob er sich auf diesen Handel einlassen konnte. "Vorausgesetzt, diese Abmachung ist auf zwei Monate begrenzt, schlage ich ein." Verkündete er schließlich, denn dann begann der Frühsommer. Er wollte wieder auf die Schatzsuche nach besonderen Schätzen der heimatlichen Küche gehen, neue Rezepte erfinden, neue Quellen auftun, die auch die Großstädter mit den Köstlichkeiten ihres Landes verwöhnten! "Der Handel gilt!" Yoshiaki streckte kontinental die Hand aus, erwartete, dass Maki einschlug. Der musterte ihn einen Augenblick verwirrt, hängte dann aber ungelenk seinen kleinen Finger in Yoshiakis, schüttelte ihn. "Du wirst mir wohl ein wenig Nachhilfe geben müssen, was diese Umgangsformen betrifft." Warnte er Yoshiaki vor. "Es ist eine neue Erfahrung für mich." "Ich weiß." Yoshiaki fing Makis Hand ein, führte den Handrücken an seine Lippen, küsste die Haut sanft, erschnupperte dabei ungeniert die süße Orange, die Maki zerteilt hatte. Er erwiderte den irritierten Blick mit seinem arrogant-spöttelnden Ausdruck, der patentiert war und darauf ausgelegt, das Opfer zu enervieren. Maki runzelte folgerichtig die Stirn. "Ich habe eine Privatdetektei auf dich angesetzt." Verriet Yoshiaki gelassen. "...aber...wann?!" Maki forderte seine Hand zwar nicht zurück, versteifte sich aber leicht. "Vor etwas mehr als einem Jahr." Ihm gegenüber verwandelte sich Yoshiakis Miene in ein melancholisches Lächeln. "Du wirst mir beipflichten, dass das nur vernünftig war, wenn ich dich für mich gewinnen will." DAMIT hatte er Maki am Wickel, das wusste er, denn rational gesehen hatte er sich der probaten Mittel bedient, um sein Ziel zu erreichen. Jedoch moralisch gesehen ein diskutables, sogar unverschämtes Vorgehen. "...oh." Stellte Maki endlich vielsagend fest. Yoshiaki lächelte becircend, liebkoste die eingefangene Hand zärtlich. Er liebte diesen verwirrten, so nüchtern-unschuldigen Maki. Stundenlang konnte er ihm zusehen, wenn der in der Küche werkelte, voller Begeisterung erklärte, strahlend und in seinem Element, ein Genie auf seiner Mission. Da störte es ihn wenig, dass Maki nicht den üblichen Erwartungen an eine Liebesbeziehung entsprach, ja, er vielleicht niemals wissen würde, ob Maki für ihn so empfand wie er für ihn. Für so einen analytischen Menschen wie Maki wäre Liebe mutmaßlich auch ein obskures Konglomerat unausgegorener Emotionen, aber nichts, worauf man bedeutende Entscheidungen gründete. Umso wichtiger, Übereinstimmung herbeizuführen auf den Gebieten, die Maki etwas bedeuteten! Yoshiaki setzte darauf, dass das Zusammenleben und -arbeiten, gemeinsame Erlebnisse und geteilte Interessen den Schlüssel zu Makis Herzen formten. Hätte er es erst mal erreicht, so würde Maki nicht zaudern oder zweifeln, davon war er überzeugt. "Also!" Ergriff er wieder das Wort, bevor Maki unruhig auf seinem Stuhl herumzurutschen begann. "Am Sonntag bin ich der Kapitän." "In Ordnung." Maki zappelte nun unterdrückt, wollte seine Hand zurückziehen. "Darf ich jetzt das Soufflee ausprobieren? Du weißt, es braucht ein wenig Zeit, und wenn ich noch aufräumen will..." Yoshiaki erhob sich, hielt Makis Hand locker in seiner eigenen. "Lass mich dir assistieren, dann geht es doppelt so schnell mit dem Aufräumen." "Sicher!" Maki lächelte schon wieder strahlend, in Vorfreude auf das neue Abenteuer, das er zu meistern gedachte. Ihm gegenüber schmunzelte Yoshiaki, fühlte sich an einen Augenblick in der Vergangenheit erinnert, der sein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt hatte. ~+~ Kapitel 7 - Eingewöhnungsphase Am Samstagabend musste sich Maki fügen, denn Yoshiaki hatte ihn eindringlich daran erinnert, dass er ihn zeitig zu Hause erwartete, er habe eine Überraschung. Also kletterte Maki in den Fond der Limousine, die Sanji wie gewohnt steuerte. Maki studierte dessen Hinterkopf und wog Vor- und Nachteile einer direkten Frage ab. Üblicherweise war er eigentlich nicht sonderlich neugierig, weshalb es ihm nun unangenehm war, eine solche Anwandlung bei sich selbst zu entdecken. Doch es wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen, wie vertraut die beiden Männer waren, die sich ohne Worte verständigen konnten. "Sagen Sie, Sanji, wie lange kennen Sie Yoshiaki schon?" Schoss er mutig auf das Ziel los. Der athletische Mann erwog seine Antwort sorgfältig, streifte Makis Blick im Rückspiegel kurz. "Ich habe ihn nach seinem Studienabschluss ins Ausland begleitet." Nun war es an Maki, gründlich über die nächste Frage nachzusinnen. Er war erstaunt, dass Masakuni senior dem verstoßenen Sohn einen Begleiter mitgegeben hatte. Oder hatte sich Sanji dazu entschlossen, weil sie beide... ein Paar waren? "Wie hat er Sie denn entdeckt?" Maki konzentrierte sich auf die Fakten. "Ich meine, haben Sie mit ihm studiert?" Nun lächelte Sanji leicht, eine spöttische Geste. "Ich bedaure, ich habe keinen Schulabschluss." "Verzeihung." Murmelte Maki verwirrt. Wie konnten sich die beiden dann begegnen? Sanji schien Mitleid mit ihm zu haben, denn er erklärte von sich aus, als sie an einer roten Ampel warten mussten. "Ich habe als Rausschmeißer in einem Club gearbeitet, illegal. Yoshiaki sprach mich an, ob ich interessiert wäre, mit ihm zu trainieren. Gegen Bezahlung." "Trainieren?" Maki hakte nach. lehnte sich unwillkürlich nach vorne, wollte begierig mehr erfahren, das ihm helfen konnte, Yoshiakis Verhalten zu verstehen. "Judo und Karate. Er fand keine Partner mehr, weil jemand verbreitet hatte, dass er homosexuell ist." Sanji pilotierte sicher durch den zähflüssigen Verkehr. "Oh, wie gemein!" Empörte sich Maki spontan. "Wie gut, dass Sie nicht so kleinkariert denken!" Zum ersten Mal hörte er Sanji tatsächlich lachen, nein, eher prusten! Diese Reaktion verwandelte auch seinen Gesichtsausdruck, zeichnete die markanten Linien weicher, verrieten sein jugendliches Alter. "Ein Kleinkrimineller ohne Schulabschluss oder Berufsbildung kann sich wohl nicht anmaßen, andere leichtfertig zu kritisieren." Erklärte er schließlich verschmitzt. "Außerdem hatte Yoshiaki kein amouröses Interesse an mir." Aus einem Maki nicht ganz erfindlichen Grund erleichterte ihn diese Aussage ungemein. "Also sind Sie seitdem Yoshiakis rechte Hand? Das ist beeindruckend." Äußerte er sich durchaus bewundernd. Sanji lächelte, bleckte die Zähne auf eine Weise, die ihn wie Yoshiakis Bruder wirken ließ. "Wir halten einander den Rücken frei." Das klang kriegerisch genug, um Maki erschauern zu lassen. Andererseits hatte Yoshiaki ihm ja knapp bescheinigt, wie sein Vater mit ihm umgegangen war und dass er sich sein Erbe erkämpft hatte, zweifellos auch gegen heftige Widerstände im Direktorium und umgeben von Intrigen. "Habe ich das übrigens richtig gesehen, Sie wohnen auch auf unserem Geschoss?" Lenkte Maki das Gespräch in ungefährlicheres Fahrwasser. "Das ist richtig." Sanji verschwand wieder hinter der undurchdringlichen Maske. "Meine Familie, meine Frau und meine Tochter, lebt mit mir in Yoshiakis direkter Nähe." "Ah, Sie haben eine Tochter? Wie heißt sie denn?" Maki kannte DIESEN Pfad der Konversation. "Aiko. Sie ist zwei Jahre alt." Sanji verzog keine Miene, aber seine Augen funkelten in väterlichem Stolz. "Meine Frau Nadeshiko hat sie an ihrem 15. Geburtstag auf die Welt gebracht. Yoshiaki ist ihr Taufpate." Maki lächelte aufmerksam, stutzte dann, blinzelte. »Gute Güte, sie war 15 bei der Geburt, also...!!« Als er in den Rückspiegel schielte, konnte er auf Sanjis Gesicht wieder dieses Raubtierlächeln sehen, das Yoshiaki ihm zu Anfang auch gezeigt hatte. Es war eine Waffe, Verletzungen zu rächen und alte Wunden zu schützen. "Ich würde mich gerne einmal vorstellen." Maki richtete sich hoch auf. "Immerhin werden wir Nachbarn sein." Wenn sich Yoshiaki und Sanji so ähnlich waren, stur und unbeirrt auf ihr Ziel losmarschierten, dann gab es keinen Grund, sich um die junge Frau zu sorgen. "Aiko liebt Reisbonbons." Verriet Sanji, ohne mit der Wimper zu zucken. "So, so..." Maki lächelte verschwörerisch. Ein kleines Mädchen, das noch nicht nach Schokolade oder karmesinroten Gummibärchen verlangte, das konnte man bestimmt mit traditionellen Leckereien gewinnen! ~+~ Maki erwartete eigentlich, dass nach Yoshiakis Überraschung, einer sehr seltenen Kürbissorte, die einen erstaunlich nussigen Geschmack hatte und geradezu einlud, sie für allerlei unterschiedliche Speisen zu verwenden, die Belohnung im Bett eingefordert werden würde. Das störte ihn keineswegs, denn er wollte schließlich diesen Austausch trainieren und zudem, das konnte man ja zugeben: er mochte es. Wer hätte auch gedacht, dass Sex mit einem, glücklicherweise!, sehr versierten Mann angenehm sein würde? Nachdem sie gemeinsam ein Bad genommen hatten, über den Tag gesprochen und sich in die Bademäntel gehüllt, nahm Yoshiaki Maki an die Hand und geleitete ihn zum Bett, wo er wahre Kissentürme aufbaute. Er bat Maki, es sich bequem zu machen, kuschelte sich dann bei ihm ein und erteilte die rätselhafte Anweisung, das Buch aufzunehmen. Maki sah sich um, entdeckte tatsächlich ein Taschenbuch neben dem Teespender und klappte es auf. Ein britischer Kriminalroman Ende des viktorianischen Zeitalters? "Na los!" Yoshiaki stupste ihn sanft in die Seite. "Lies mir vor!" DAMIT hatte Maki in den verrücktesten Träumen nicht gerechnet. Er musterte Yoshiaki aufmerksam, ob er vielleicht einen Scherz nicht richtig begriff, doch der rollte sich nur gemütlich neben ihm ein, den Kopf auf seinen Schoß gebettet, die Lider gesenkt. "...tja...fein. Es geht los." Entschloss sich Maki artig. Auf unbestimmte Weise fühlte er sich geborgen, in dieser Kissenburg, mit Yoshiaki in seiner Nähe. ~+~ Maki wurde subtil auf den Sonntag vorbereitet, denn als der Schlaf ihn in einem langen Rückzugsgefecht endlich dem Tag überantwortete, fand er Yoshiaki über sich, angelegentlich damit befasst, seine Haut mit Brandzeichen zu markieren. Ein zähnestarrendes, selbstbewusstes Grinsen grüßte ihn, was er blinzelnd identifizierte, doch der Griff zur Brille wurde ihm verwehrt. Zugegeben, er MUSSTE auch nicht jedes Detail gestochen scharf erkennen, denn er ahnte, was ihm blühte. Und hatte sich Yoshiaki nicht artig zurückgehalten, ihm Dispens gewährt? Maki räkelte sich also in eine bequeme Lage, stellte die Beine angewinkelt auf und ließ Yoshiaki ungehindert nach Laune agieren. Er mochte die warmen Hände, die geschickten Finger, sogar ab und an einen aufreizenden Biss. Schließlich war die Haut widerstandsfähig und sehr elastisch! Wenn es seinem Partner gefiel, ihn zu necken, dann konnte er das tolerieren. Trotzdem versuchte Maki, sich auf die Küche und das Frühstück zu konzentrieren, aber seine Gedanken schweiften ab, zerstoben sogar! Immer stärker wurde das Verlangen danach, dem erregenden Pulsieren in seinem gesamten Körper nachzugeben, den Punkt ohne Wiederkehr zu überschreiten. Wie verteufelt gut sich Yoshiaki darauf verstand, ihn zu locken, zu reizen und dann wieder exakt einen Schritt zurückzutreten! Eine perfid-lustvolle Tortur! Yoshiaki dagegen erweckte lediglich den Anschein, dass er souverän und mit Leichtigkeit die Grenze wahrte. Tatsächlich kostete es ihn enorme Anstrengungen, nicht so ungehemmt-offen wie Maki der Leidenschaft nachzugeben. Ihn drückte die Verantwortung, die Regie zu behalten, sie beide an ihr Limit zu führen, um den höchsten Genuss zu erreichen. »Ich will auch herumtoben!« Jammerte eine klägliche Proteststimme in seinem Hinterkopf. Glücklicherweise bezauberte ihn Makis gelöster Ausdruck immer wieder, sodass er sich im Zaum hielt, zumindest, bis er spürte, dass Makis kontrahierende Muskeln unkontrolliert zu flattern begangen, sich der gesamte, schlanke Leib, mit dem er sich verbunden hatte, aufbäumte und heftig bebte. Zitternd stützte er sich auf den Ellen über Maki ab, folgte ihm, rollte unbewusst die Augen im Schädel, unterdrückte sein Begehren nicht länger. Heiser und temporär vollkommen ermattet lagerten sie keuchend nebeneinander, die Bettdecken längst abgeschüttelt, das Laken zerknittert. Als er endlich wieder regelmäßig atmen konnte, rollte sich Yoshiaki auf die Seite, legte die Hand um Makis Hinterkopf, drehte ihn behutsam, damit er sich recken und die glänzende Stirn küssen konnte. Noch immer erschien es ihm als eine unglaubliche Gnade, dass sich Maki auch so gut anfühlte, wie er es in feuchten Träumen über Jahre hinweg gewünscht hatte. Nun, der Traum-Maki nieste zwar nicht trocken und rieb sich grummelnd die verklebten Augen, aber das ersparte es Yoshiaki auch, sich erneut in den Arm zu kneifen. Er stützte sich lächelnd auf, bemühte den eleganten Teespender um eine milde Gabe, nutzte seinen starken Arm, um Maki aufzurichten, vor seine Brust zu ziehen und ihn nippen zu lassen. Dann bediente er sich selbst, streichelte dabei mit der freien Hand in zärtlichen Kreisen über Makis Unterbauch. "Das tut gut." Hörte er Maki leise seufzen. Spontan brach ein Prusten aus Yoshiaki heraus. Er musste sogar die Teetasse abstellen! Nur Maki konnte so sprechen, in einem ehrlichen, keineswegs komisch gemeinten Tonfall. Er umarmte ihn folgerichtig, knuddelte ihn wie ein bevorzugtes Kuscheltier, rieb seine Wange an Makis Schopf. "Alles in Ordnung?" Erkundigte sich Maki verwirrt bei ihm, wollte sich umdrehen, ihn ansehen. "Bestens!" Lachte Yoshiaki unbeherrscht. "Einfach hervorragend!" Hervorragend war auch das, was sich südlich der Gürtellinie wieder abzeichnete. Allerdings, während er eilig das benutzte Kondom abstreifte, sich die Finger an Papiertaschentüchern abtrocknete, konnte er Maki zumuten, in die zweite Runde zu gehen? Der kümmerte sich gerade um die eigene Hygiene, improvisierte Streck- und Dehnübungen, um die geschmeidige Körperwärme nutzbringend zu verteilen. "...Maki..." Rollig-lasziv raunte Yoshiaki seinen Lockruf, streichelte mit den Fingerspitzen über dessen Rücken, vom Genick bis tief hinunter zum Steiß. "Ich habe schon wieder einen trockenen Mund." Zum Beweis krächzte Maki, rutschte zu ihm herum, angelte nach der Teetasse, die sie sich geteilt hatten. "Lass mich das tun." Drängte sich Yoshiaki vor, blockierte Makis Zugriff. Die Hände auf dessen Schultern drückte er ihn zurück auf die Matratze, legte sich schwer genug auf den Älteren und initiierte verlangende Küsse. Er gab nicht auf, Maki oral zu umwerben, bis er spürte, dass er unterhalb der Taille Gesellschaft, alerte Aufmerksamkeit erzeugt hatte. Es war nicht nötig, sich mit Worten zu erklären, Handreichungen genügten. Langsam rollte er Maki auf den Bauch, bedachte Schultern, Oberarme, Nacken mit Küssen, während seine Hände begehrlich über die schlanken Hüften streiften, immer wieder zwischen Makis Schenkel glitten, wo die Haut so unbeschreiblich zart war. Seine Übung machte sich bezahlt, als er Makis Wirbelsäule beknabberte, mit einer Hand über dessen Front kreiselte, die rosigen Brustwarzen neckte, während er im gleichen Bemühen seine Erektion verhüllte und einbalsamierte. Yoshiaki spürte, dass Maki diese Haltung auf allen Vieren, ihm den Allerwertesten zugekehrt, nicht sonderlich gefiel. Wenn er sich jedoch eng an ihn schmiegte, die Haltung kopierte, bürstete er Makis Stolz nicht gegen den Strich. Zumindest hoffte er darauf. Also lieber ein wenig verrenken, Zungenolympiade betreiben, damit seine Finger in den Glutofen tauchen konnten, erneut die Passage vorbereiten! Maki goutierte die Vorstellung der kunstvoll bemäntelten Finger in seinem Leib, die seine Knie in Gelee verwandelten, spielerisch Nervenimpulse auslösten, die ihn stöhnen und keuchen ließen. Wie virtuos Yoshiaki ihn beherrschte, das hatte durchaus Reiz! Einem Könner auf seinem Gebiet zollte er immer Respekt und Anerkennung. Indem er sich beispielsweise vertrauensvoll und gehorsam dirigieren ließ. So konnte er auch akzeptieren, dass sich Yoshiaki hinter ihm aufrichtete, ihn sanft im Nacken etwas tiefer Richtung Matratze drückte, sich dann langsam in seinen Leib bohrte. Mit geschlossenen Augen hechelte Maki, stellte sich innerlich vor, wie er Yoshiakis beeindruckende Erektion abschmirgelte, behutsam vor und zurück. Yoshiaki gewährte ihm diese Bewegungsfreiheit, bis er Sterne vor einem schwarzen Universum sah, sich auf die Fersen sinken ließ, Maki an den Hüften umklammert. Der musste nun folgen, saß fast auf Yoshiakis Schoß. Er wand sich, bildete ein Hohlkreuz, doch es gab kein Entkommen, immer tiefer drang Yoshiaki in seinen Körper ein! Atemlos und doch durchdringend stöhnend rieb er mit den Händen, die nun sein Gewicht nicht mehr abstützen mussten, über seinen Bauch, glaubte, dass der mächtige Spieß ihn durchstoßen würde. Unter seinen Armen hindurch hielt Yoshiaki ihn umschlungen, leckte ihm keuchend über die Wange, bewegte sich nur noch minimal, mehr ein Vibrieren. Als er eine Hand löste, um sich Makis anzuschließen, über dessen Bauch zu streicheln, entlud sich Makis schier unerträgliche Anspannung mit einem röchelnden Aufschrei, dann zuckte er spasmisch in Yoshiakis Klammergriff. Durch die heftigen Kontraktionen leistete ihm Yoshiaki rasch Gesellschaft, verstärkte den Druck noch einmal, was Maki die Impression gab, er ziele direkt auf sein Herz, begnüge sich nicht mit dem Erreichten. Ihm ging die Luft aus, schlagartig verschwanden die grellen Sonnenfeuer, wichen einer völligen Finsternis. Er fiel in Ohnmacht. ~+~ Yoshiaki streichelte mit der Fingerspitze sanft über eine rosig-warme Wange, den Kopf in einen Arm gestützt, bequem neben Maki ausgestreckt. Eigentlich sollte man jeden Tag so beginnen! Obwohl, das musste er sich eingestehen, es ausgesprochen kräftezehrend war. Andererseits, wie sollte er sonst Maki die beinahe überwältigende Intensität seiner Liebe begreiflich machen? Jemandem, der Körperkontakt weder gewohnt war, noch das Fehlen vermisste. Maki blinzelte, die Wimpern flatterten. "Hey, wieder da?" Flüsterte Yoshiaki zärtlich, küsste ihn neckend auf die Nasenspitze. Makis Augen visierten unfokussiert die Zimmerdecke an. "Was ist passiert?" Krächzte er schließlich verwirrt. Yoshiaki drehte ihn schwungvoll zu sich herum auf die Seite, rutschte noch näher heran, um Maki an seine Brust ziehen zu können, dessen Haupt auf seiner Schulter. "Wie geht's dir?" Schmunzelte er amüsiert. "...oh..." Antwortete Maki in der unnachahmlichen Weise, als gemächlich die Erinnerung eintrudelte, begleitet von seinem Verstand. "Lass uns noch ein wenig dösen, hm?" Schlug Yoshiaki vor, sank auf den Rücken, Maki dabei geschmeidig mit sich ziehend. "...fein..." Fügte der sich, nachdem eine kurze Bestandsaufnahme ihm versichert hatte, dass das künstliche Suspensorium bereits entsorgt worden war und es Einbildung sein musste, dass er noch immer intim mit Yoshiaki verbunden war. »Komisch.« Dachte er rechtschaffen ermattet. »Beinahe bedaure ich es...« ~+~ Yoshiakis Vorstellung eines gemeinsam verbrachten Sonntags sah vor, dass sie gemeinsam in der Badewanne herumplanschten, sich dann ein sehr spätes Frühstück zauberten und dann wieder eine Auszeit nahmen. Maki, der den Luxus einer Geschirrspülmaschine schätzen lernte, ließ sich willig auf das große Sofa ziehen, in den Arm nehmen, um eine halbe Stunde mit Yoshiaki einfach zu dösen. Zunächst blieb er recht angespannt und steif, doch die ruhigen Herztöne, die unter seiner Wange an sein Ohr drangen, lullten ihn zärtlich ein, verführten ihn, die Augen zu schließen, sich gehen zu lassen. Yoshiaki unter ihm lächelte, als er die Veränderung registrierte, hinter gesenkten Lidern. Er hatte sich nicht geirrt: Maki würde sich an ihn gewöhnen, ihm Intimitäten gestatten. Mehr konnte man nicht erwarten. Nach der Siesta telefonierte er kurz über den Hausanschluss mit Sanji, und bald fanden sich zwei Familien in den Räumlichkeiten hinter der dritten Tür des Geschosses ein. Üblicherweise pflegten Yoshiaki und Sanji in dem großen Multifunktionsraum zu trainieren, doch mit wenigen Handgriffen konnte man die Fensterfront verdunkeln, einen Projektor aufstellen, die Spielkonsole in Betrieb nehmen, bevor sie sich vor der virtuellen Landschaft aufstellten. Sanji teilte sich das Kontrollgerät mit seiner quirligen, kleinen Tochter Aiko, die übersprudelnd lachte und schier unermüdlich an jedem der kleinen Spiele teilnehmen wollte. Während die beiden sich mit Yoshiaki ein Duell auf dem Tennisplatz lieferten, hatte Maki die Gelegenheit, Sanjis sehr junge Frau Nadeshiko kennenzulernen. Obwohl sie erst 17 Jahre zählte, ging von ihr eine erstaunliche Ausstrahlung aus, selbstbewusst und willensstark. Mit einer zierlichen Figur, aber einem aparten Gesicht ausgestattet konnte er durchaus begreifen, dass Sanji jede Vorsichtsmaßnahmen außer acht gelassen hatte, um sie für sich zu gewinnen. So erfuhr er auf der 'Ersatzbank' auch, dass sie plante, ihren Schulabschluss nachzuholen, da Aiko nun aus dem Gröbsten herausgewachsen war und dass sie ihren Mann seit fünf Jahren kannte. Keine Sandkastenliebe, sondern das Ergebnis einer ungewöhnlichen Begegnung. Sie sei mit einem vollgeladenen Shopper auf dem Heimweg gewesen, als plötzlich die Achse brach. Da habe er sich einfach den Shopper unter einen Arm geklemmt, den Regenschirm über sie beide gehalten und sie bis nach Hause begleitet, ohne Rücksicht auf seinen teuren Anzug. Vor der Haustür habe er ihr eine Visitenkarte überreicht und sie darum gebeten, sie wiedersehen zu dürfen. Sie habe ihm daraufhin zu verstehen gegeben, dass er sich mit jemandem unter seinem Stand unterhalte, da ihre Familie zu den burakumin gehöre. Maki konnte sich lebhaft vorstellen, wie unbeeindruckt das den eifrig wettkämpfenden Sanji gelassen haben musste, da er Yoshiaki so sehr glich. Nadeshiko lächelte, als sie seinen Gesichtsausdruck deutete. Selbstredend hatte der unerwartete Kavalier nicht aufgegeben. Wenn man beobachtete, wie die beiden miteinander umgingen, die stille Konversation, die Körpersprache, dann wusste er, dass sie zusammengehörten. Ihr 'Geschmack' war eine einzigartige Kombination, eine herrliche Komposition. Nach diesem anstrengenden Spiele-Nachmittag kommandierte Yoshiaki alle als Gäste in das Appartement, damit sie gemeinsam etwas für das Abendessen zaubern konnten. Genug Platz war ja schließlich vorhanden! Maki war überrascht, wie amüsant und kurzweilig der Abend verlief, wie wenig er an seine Arbeit, die kommende Woche, die Vorbereitungen für Geschäftsreisen und ähnliche Angelegenheiten dachte. Yoshiaki hingegen gratulierte sich kurz vor dem Einschlafen, den Krimi beiseite gelegt, dass er sich langsam wirklich Richtung Herz arbeitete. ~+~ Während die Woche verstrich, zeigte sich, dass sie sich an ein privates Ritual gewöhnten, gemeinsam zu duschen, dann abwechselnd einander vorzulesen, bevor sie sich mit einem langen Kuss in den Schlaf verabschiedeten und morgens während des Frühstücks einander die Tagespläne anvertrauten. Yoshiaki gefiel das, denn er hielt solche Routine für notwendig, um eine Beziehung stetig fester zu knüpfen. Nun saß er artig im Wohnzimmer, lauschte den Geräuschen, die Makis emsige Arbeit in der angeschlossenen Küche verkündeten. Sein Blick fiel auf die hastig abgelegte Aktentasche. Selbstredend war es unfein, sie zu öffnen, um einen Blick in das geheimnisvolle, schwarze Buch zu werfen, das Ausmaße eines Telefonregisters angenommen hatte. Ihm war bereits aufgefallen, dass Maki dazu neigte, sich ständig etwas zu notieren, die kleinen Zettel dann in seinen Hosentaschen deponierte, um sie nach und nach zu erledigen. Doch auch in dem schwarzen Buch fanden sich klebrige Notizzettel. Wie jeder gewissenhafte Geschäftsmann vermerkte Maki seine Kontakte, dazu Gesprächsnotizen über die private Situation, Vorlieben, Familie, Interessen... Eben all die Dinge, die man wissen musste, um die Verbindung 'geschmeidig' zu halten. Da konnte ein elektronischer Kalender nur bedingt mithalten. Zu seiner Überraschung entdeckte Yoshiaki beim Blättern aber auch einige ungewöhnliche Stichworte, die sich bei jedem Eintrag fanden. "Das ist sehr ungezogen!" Ermahnte ihn Maki streng. Yoshiaki pflichtete ihm bei ohne Aufzusehen, denn gerade hatte er sich selbst in Makis schwarzem Buch entdeckt. "Vollkommen richtig." Maki baute sich vor ihm auf, die Hände demonstrativ in die Hüften gestützt. "Bitte gib mir mein Buch zurück." "Was bedeuten diese Stichworte hier?" Yoshiaki tippte auf die Eintragungen. "Die Speisen verstehe ich ja noch, aber das hier?" Er erhob sich, um das schwarze Buch seinem Eigentümer wieder auszuhändigen. "Ist das ein Geheimcode?" "Nein." Maki seufzte. "Es sind Kopf-, Herz- und Basisnote. Notizen nur für mich." Yoshiaki studierte ihn fragend, denn für ihn erklärte sich noch nichts. "Eigentlich stammt diese Einteilung aus der Parfümindustrie." Maki verstaute sein gewaltiges Notizbuch wieder in der Aktentasche. "Aber bei mir gehören Geschmack und Geruch zusammen. Wenn ich jemandem begegne, notiere ich mir später meinen Eindruck vom dem, wie ich ihn gerochen und 'geschmeckt' habe. Die erste Notiz ist die Kopfnote, der spontane Eindruck. Dann kommt die Herznote, die habe ich in der Regel am Abend, aus einer gewissen Distanz heraus. Die Basisnote entsteht, wenn man sich öfter getroffen hat." Auf Yoshiakis interessierten Blick gestikulierte er ungewohnt verlegen. "Es ist nicht einfach in Worte zu fassen, aber ich 'schmecke' Menschen wie Früchte oder Gemüse. Wenn ich mir das notiere, erinnere ich mich leichter." "Und?" Yoshiaki bleckte seine Zähne, doch sein Lächeln war schief, nicht wie üblich arrogant-selbstherrlich. "Wie 'schmecke' ich dir?" Maki überlegte ernsthaft, was Yoshiakis Anspannung reduzierte, ihm ein Grinsen auf das Gesicht zeichnete. "Zuerst überwiegend scharf, beinahe bitter. Dann mit der Herznote pikant, fruchtig, vollmundig..." Maki schloss die Augen, senkte den Kopf leicht, um sich besser konzentrieren zu können. "Die Basisnote...nein." Er öffnete die Augen wieder. "Ich weiß noch nicht, welche Speisenfolge dir gerecht wird." Er runzelte die Stirn. "Diese bittere Note allerdings, die ist unvorteilhaft." "Autsch!" Murmelte Yoshiaki. "Ich bin getroffen. Kann ich denn meine 'Kopfnote' verbessern?" "Natürlich." Antwortete Maki überrascht über diese simple Frage. "Jeder Mensch verändert sich im Laufe der Zeit. Oder ich entdecke eine neue Speise, die es noch besser trifft. Aber das sind meine Betriebsgeheimnisse, und du solltest dich da eigentlich nicht einmischen." Damit warf er Yoshiaki einen strengen Blick zu. "Du hast recht." Yoshiaki bemühte sich, Maki versöhnlich zu stimmen. "Wie wäre es, wenn ich dir im Austausch dafür ein Geheimnis anvertraue?" Unentschlossen beäugte ihn Maki. "Bist du sicher, dass du das tun willst?" "Da es nur mich selbst betrifft, bringe ich niemanden außer mir selbst in Verlegenheit." Beteuerte Yoshiaki schmunzelnd, ließ sich wieder auf dem Sofa nieder und klopfte auffordernd neben sich auf die Polster. Artig pflanzte Maki, die Hände auf den Oberschenkeln abgelegt, hoch aufgerichtet, als erwarte ihn die Einweihung in ein Staatsgeheimnis. Yoshiaki dagegen zog ein Bein an, drehte sich zu Maki herum, stützte den Arm auf die Lehne, ganz leger, um seine Erzählung zu beginnen. "Ich war ein unverschämt verzogener Bengel, der einzige Sohn, reicher Vater, vornehme Schule, mäßig intelligent. Papis Liebling, wenn ich mal etwas geleistet hatte. Dann, als ich in die Siebte kam, änderte sich das plötzlich." Er strich sich beiläufig über das Kinn, eine kunstvolle Pause, die die heiter-spöttische Reminiszenz kontrastierte. "Ganz gleich, was ich tat, welche Noten und Testergebnisse ich vorzeigte, es war nie genug. Ich war nicht länger das Ideal meines Vaters. Ich brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass er sich für jemand anderen begeisterte." Er bleckte die Zähne. "Wie ich diesen anderen hasste!" Maki blinzelte verstört, von der Inbrunst, mit der Yoshiaki diesen Satz hervorgestoßen hatte, verschreckt. "Ja, ich hasste ihn! Hätte ihn mit bloßen Händen erwürgen können! Mir einfach so den Vater wegzunehmen, mich abzuwerten!" Yoshiaki lächelte wieder, die übliche spöttisch-arrogante Maske, als er selbst-ironisch ergänzte. "Ich hätte eigentlich dankbar sein müssen, weil der andere mich dazu bewegte, mich richtig reinzuhängen, wie ein Verrückter zu pauken und emsig zu trainieren." Dann seufzte er mitleidig mit seinem unbedarften, leidenschaftlichen früheren Selbst. "Aber es war nicht genug. Ich konnte diesen Kampf nicht gewinnen." Sein Blick senkte sich auf die Polster zwischen ihnen, die kleine, vertraute Distanz. "Mein Vater lud den anderen zu uns ins Haus ein. Meistens weigerte ich mich, anwesend zu sein, unternahm irgend etwas, um bloß nicht meiner ständigen Schmach ausgeliefert zu werden. Dieses eine Mal aber war ich so in Harnisch nach einem Streit mit meinem Vater, der mich nach meiner Meinung nicht genügend gewürdigt hatte, dass ich herunterkam und meinen Konkurrenten sehen wollte." Behutsam eroberte er sich Makis Hand, hielt sie locker in seiner eigenen, streichelte mit dem Daumen über dessen Handrücken. "Also komme ich herunter, folge ihren Stimmen. Er erzählt etwas, richtig euphorisch, irgendein Gemüse ist das Sujet. Eigentlich will ich mitten in ihre Unterhaltung hineinplatzen, aber dann bleibe ich stehen, da, wo sie mich nicht bemerken können und sehe ihn an." Yoshiaki hob den Blick, funkelte Maki aus seinen schwarzen Augen ernsthaft an, bevor er dessen Hand an seine Lippen hob, sich leise räusperte. "Ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt." ~+~ Maki kroch, noch immer seltsam benommen, neben Yoshiaki unter die Bettdecke. Vorlesen, ein Kuss, dann schlafen, morgen wird's wieder ein langer Tag...aber er wollte jetzt nicht ihrem Ritual frönen. Nun, da er von Yoshiakis Geheimnis wusste, erklärte sich dessen damaliges Verhalten. Hatte Yoshiaki damals auch das Gefühl gehabt, man zöge ihm gänzlich unerwartet den Boden unter den Füßen weg? Dass er sich nicht rühren konnte, wie zu Stein erstarrt war, heiß und kalt wie ein Blitzgewitter in seinem Körper wechselte? "Wie konntest du dich in mich verlieben?" Platzte es plötzlich aus ihm heraus, als Yoshiaki gerade seine Brille abpflückte, sie neben den eleganten Teespender deponieren wollte. Maki blinzelte nervös hoch in das attraktive Gesicht. "Hmmm..." Yoshiaki verstaute Makis Brille sorgsam, rollte sich dann zurück neben ihn, stützte das Kinn in eine Hand. "Das war keine bewusste Entscheidung. Es war eher wie der Blitz der Erkenntnis. So ein besonderer Moment, wenn auf einen Schlag alles klar ist, man alles begreift." Er beugte sich über Maki, küsste ihn sanft auf die Lippen. "Ich habe dich gesehen und wusste: 'der ist es'. So einfach." Maki wich seinem Blick aus, nagte verstört an der Unterlippe. "Aber...ist das immer so? Und wenn ich nun...?" Erschrocken verstummte er. "Du meinst, wenn es dir umgekehrt nicht genauso ergeht?" Yoshiaki streichelte über Makis Wange, gelassen und besonnen. "Das ist vollkommen in Ordnung. Solange wir zusammen sind, bin ich glücklich." Denn Maki war nach Yoshiakis Meinung nicht der Typ, der sich Hals über Kopf verliebte. Starke Emotionen konnte man ihm als seltene Gemüsesorte entlocken, vielleicht noch als ein besonders schmackhaftes, traditionelles Gericht! »Wenn meine Kopfnote stimmt, DANN habe ich es geschafft.« Ergänzte er sich schmunzelnd. Maki legte ihm eine Hand auf die Wange, eine scheue, sehr seltene Geste, so, als wolle er ihn trösten, sich entschuldigen und gleichzeitig um Nachsicht bitten, dass er nicht wusste, wie 'normale' Menschen miteinander umgingen. Er betrachtete Makis konzentriertes Gesicht geduldig, hielt sein Lächeln aufrecht. »Wie ein Kind.« Dachte er. »Oder eher wie ein kindliches Genie. So bemüht um alles.« "Können wir heute auch Sex haben?" Erkundigte sich Maki zögerlich, immerhin war das nicht geplant. Außerdem musste, zumindest nach seiner Auffassung, Yoshiaki die Hauptleistung erbringen und man hatte ja gerade geduscht, aber...er wollte sich körperlich gut fühlen. Yoshiaki verstand sich unnachahmlich darauf. "Sicher können wir das." Raunte ihm Yoshiaki ins Ohr, leckte neckend über die Ohrmuschel. "Nichts lieber als das." "Danke schön." Artig absolvierte Maki die Honneurs, entspannte sich sichtlich. Es würde richtig gut werden, davon war er überzeugt. ~+~ Es ließ sich nicht vermeiden, dass Yoshiaki, wollte er den Abend mit Maki verbringen, des Öfteren Arbeit mit nach Hause brachte, doch wozu gab es Computer und Mobiltelefone? Jetzt, wo er endlich seinen langjährigen Traum erfüllen konnte, würde er sich nicht mehr sklavisch an die Firma binden, sondern auch mal zeitig gehen! Maki war inzwischen eingetroffen, hatte ihn munter begrüßt, darauf bestanden, ihm nicht in den Weg zu geraten, sondern im Wohnzimmer seinen Tee zu trinken, dabei ein wenig Musik zu hören. Um Yoshiaki jedoch nicht zu stören, waren ihm die Funkkopfhörer anvertraut worden, sodass er mit Wohlklang auch mobil war, seine Notizen von Klebezetteln in das schwarze Buch und seinen Taschencomputer eintragen konnte. So umsichtig wie gewohnt hatte Yoshiaki kurzerhand Makis Eigentum in seine Regale und Schränke einsortiert, ihre Habseligkeiten fusionieren lassen. Trotzdem stand Maki nun ratlos vor einem Regal, mit einem kleinen Problem konfrontiert. Er hatte seine CD gefunden, wollte sich noch einmal Aida zu Gemüte führen. Doch wohin mit der unbeschrifteten CD, die sich bereits in der kostspieligen Anlage befand? Gab es denn keine herrenlose CD-Hülle? Aber einfach irgendwo achtlos ablegen, das brachte er auch nicht übers Herz. Hilfe suchend sah er sich nach Yoshiaki um, zögerte dann. Yoshiaki telefonierte gerade, tippte dabei in Hochgeschwindigkeit und zerkaute die karmesinroten Gummibärchen, die offenkundig nicht nur jungen Frauen vorzüglich mundeten. Ihre Blicke kreuzten sich, Yoshiaki sah ihn unvermittelt an, so als habe er den stummen Ruf um Beistand gehört, lächelte, signalisierte mit hochgestrecktem Zeigefinger, er werde sich ihm gleich widmen. In der Tat wurde das Telefonat flugs beendet, dann erhob sich Yoshiaki. "Findest du sie nicht?" "Doch, schon, danke." Maki zögerte. "Aber es liegt noch eine CD im Fach, und ich weiß nicht, wohin sie gehört." "Spiel mir den Anfang vor, dann sage ich es dir." Antwortete Yoshiaki munter, zerrte spielerisch einem Gummibärchen einen Giraffenhals, bevor der klügere Bär nachgab und sich von seinem Haupt trennte. Da Maki noch nicht den Kopfhörermodus umgestellt hatte, ertönte das erste Stück der ungekennzeichneten CD lautstark. >You don't own me, I'm not just one of your many toys; You don't own me, don't say I can't go with other boys< "Ah." Yoshiaki verließ seinen Arbeitsplatz an der großen Tafel im Essbereich, während Maki hastig die Lautstärke regulierte. Yoshiaki lehnte sich hinter Maki an das Regal, kerkerte ihn somit zwischen seinen aufgestützten Armen ein. "Das weckt Erinnerungen." Dann griff er nach oben, doch es war keine CD-Hülle, die sich in seiner Hand fand, sondern ein Fotoalbum in moderater Größe, eines von den Utensilien, die man zum eigenen Gestalten verschenkte. Durchaus neugierig ließ Maki sich einen Blick nicht entgehen, während Yoshiaki langsam Seiten umschlug. Wie ein Soundtrack zur Untermalung lief, deutlich reduziert, das Lied im Hintergrund weiter. >And don't tell me what to do And don't tell me what to say And please, when I go out with you Don't put me on display, 'cause You don't own me, don't try to change me in any way You don't own me, don't tie me down 'cause I'd never stay Oh, I don't tell you what to say I don't tell you what to do So just let me be myself That's all I ask of you< Nun stimmte Yoshiaki mit seiner angenehmen Stimme laut ein. Der Text ging ihm flüssig von den Lippen, die Worte selbst hatten sich in seinem Gedächtnis verankert, so oft hatte er sie gehört. >I'm young and I love to be young I'm free and I love to be free To live my life the way I want To say and do whatever I please A-a-a-nd don't tell me what to do Oh-h-h-h don't tell me what to say And please, when I go out with you Don't put me on display I don't tell you what to say Oh-h-h-h don't tell you what to do So just let me be myself That's all I ask of you I'm young and I love to be young I'm free and I love to be free To live my life the way I want< Bevor das nächste Stück beginnen konnte, bremste er die Umdrehung der CD, schmiegte sich an Makis Rücken, der seinerseits die Gelegenheit ergriff, das Album eingehend zu betrachten: Schnappschüsse, Einladungen, Karten, ausgefranste Armbändchen, Zeitungsartikel, insgesamt ein Potpourri unterschiedlicher Memoranden an einen Zeitabschnitt, den Yoshiaki im Ausland verbracht hatte. "Damals ... war ich in Sydney." Raunte der sanft in Makis Ohr. "Ich habe mich in der Universität als Gasthörer eingeschrieben und bei einem großen Exporteur für Nahrungsmittel ein Praktikum absolviert. Abends und am Wochenende bin ich dann mit anderen um die Häuser gezogen." Sanft rieb er seine Wange an Makis. "Auf den Bildern kannst du sie sehen, meine Bekannten und Freunde. Wir haben Theater besucht, Musicals und kleine Kneipen, haben am Strand diskutiert und herumgealbert. Und gesurft!" Er lachte über einen gelungenen Schnappschuss, der ihn pudelnass, aber glücklich mit einem zerbrochenen Surfbrett zeigte. "Wir haben damals immer wieder Listen angefertigt, so zum Spaß." Kam er zum Wesentlichen zurück. "Was man zum Beispiel hören sollte, wenn man zum Mindestlohn irgendwo bei einem Ausbeuter schuften muss. Oder wenn man mit dem Auto stundenlang durch die Gegend fährt. Das hier ist die Kombination unserer Hitliste für gebrochene Herzen." Maki wandte den Kopf, blinzelte überrascht zu Yoshiaki. Warum lag sie dann im Abspielfach? Hatte er etwa Anlass dafür gegeben?! Yoshiaki entschlüsselte die Geste mühelos, zwinkerte beruhigend. "Keine Angst, mein Herz fühlt sich pudelwohl. Nein, während die anderen Jungs das Stück Nummer 1 immer ihrem Ex ins Gesicht schleudern wollten, dachte ich dabei an meinen Vater." Für einen Moment konnte Maki in Yoshiakis Ausdruck erkennen, warum er bei seiner Kopfnote 'bitter' notiert hatte, auch wenn es nur eine Ahnung war, lediglich eine Prise. "Hast du den Text verstanden?" Erkundigte sich Yoshiaki, ließ das Stück erneut abspielen, zog Maki allerdings vom Regal weg, nahm ihn in die Arme und hielt ihn eng umschlungen, während er minimale Bewegungen initiierte, einen sehr engen, vertrauten Tanz. Leise übersetzte er, registrierte überrascht, dass Maki ihm ungewohnt tollkühn tröstend über den Rücken strich. So, als spüre er die verzweifelte Enttäuschung des verstoßenen Sohns und wisse, welche Geste angemessen sei. "Ich werde es wegräumen." Yoshiaki lächelte, küsste Maki auf die leicht gekrauste Stirn. "Das ist jetzt vorbei." Er führte Maki an der Hand zurück zur Musikanlage, wechselte die CDs aus und setzte Maki den Kopfhörer auf, bevor er neckend die Hand unter dessen Kinn schob und ihn zärtlich auf die Lippen küsste. "Ich beeile mich." Maki nahm artig auf dem Sofa Platz, zog dann die Beine an und lehnte sich bequem in die hohen Rückenpolster. Er konnte sich nicht vorstellen, warum man den eigenen Sohn psychisch so demoralisierte. Es erschien ihm abwegig und unverständlich. Spielte es wirklich eine Rolle, ob der einzige Sohn, den man so lange verwöhnt hatte, Männer bevorzugte? Oder nicht den perfekten Geschmackssinn sein Eigen nannte? Da erschien es ihm kein schlechtes Los, ohne Familie aufgewachsen zu sein. Er schloss die Augen und verlor sich in der Musik, bis Yoshiaki sich zu ihm gesellte, frech sein Haupt auf Makis Schoß bettete. Sie tauschten stumme Blicke aus, Maki noch immer ernst, Yoshiaki amüsiert, da er sich so innig einnisten konnte. Yoshiaki streckte schließlich die Hand aus, streichelte Maki über die Wange. Er hatte seine Antwort auf alle Fragen gefunden, sorgte sich nicht mehr um seinen Vater und dessen Erwartungen. Hatte Churchill nicht gesagt, "wenn du durch die Hölle gehst, gehe weiter?" Genau DAS hatte er getan. Hatte nach seiner Rückkehr das Vipernnest ausgehoben, sich gegen alle Intrigen mit Geschicklichkeit und Härte behauptet, führte nun ein gut aufgestelltes Unternehmen und hatte Maki für sich gewonnen. Natürlich gab es noch einige, die ihn verachteten, den notorischen Homosexuellen, den halben Ausländer mit seinen unverschämten Manieren, den respektlosen, verstoßenen Sohn. Den Mann, der sich nicht scheute, mit anderen Außenseitern zu verkehren. "Du hast recht." Sagte er plötzlich laut, drapierte sich Makis Hände um die eigenen Wangen. "Man kann Menschen 'schmecken'. Wie typisch für mich, das erst so spät zu bemerken, nicht wahr?" Sein Spott kräuselte Makis Stirn wieder, der ihn konzentriert studierte. "Weißt du, Ich würde es vorziehen, wenn du nicht so eine schlechte Meinung von dir propagiertest oder Vergleiche mit mir ziehst. Du bist nicht dein Vater. Du weißt, dass wir ganz unterschiedliche Menschen sind." Antwortete er endlich bedächtig. DAS hatte gesessen. Jedenfalls genug, um Yoshiaki in eine aufrechte Haltung zu bringen. "Ich kränke dich." Stellte Yoshiaki durchaus bestürzt fest, denn seine kleinen Spitzen richteten sich gegen die falsche Person. Maki war nicht für den Kleinkrieg der Masakunis verantwortlich. "Entschuldigung." Murmelte er beschämt. Um von Maki eilig aufgemuntert zu werden durch dessen Hände, die seine eigenen drückten, während Maki selbst eine unsicher-schiefe Grimasse präsentierte. "Verdammt..." Flüsterte Yoshiaki gebannt, zupfte flink die Kopfhörer von Makis Haupt, um ihn auf die Polster zu drücken, in seinen Armen eingefangen, damit er ihm nicht entwischen konnte, wenn er ihm mündlich ausdrücklich und leidenschaftlich versicherte, wie sehr er bereit und willens war, für die Gemeinheiten der Vergangenheit Kompensation zu leisten. So musste Maki sich an den Geschmack der Gummibärchen gewöhnen. Zumindest zeitweilig. ~+~ Kapitel 8 - Geschäftsreise und sehr ehrenhaftes Angebot Obwohl der Weiße Tag für Makis Delikatessengeschäft kein besonders umsatzträchtiges Ereignis darstellte, da sie keine Schokolade verarbeiteten, konnte man doch mit dem Kontrastprogramm, was bereits einen Monat zuvor Kundschaft gewonnen hatte, den Umsatz steigern. Nicht zu vergleichen mit der Divine Delight-Konkurrenz, die mal wieder besonders die ratlosen Männer umwarb, sich diskret mit einer romantischen Geste zu bedanken, spezielle Grüße lieferte wie essbare Blumensträuße oder einen Gutschein für eine Milch- und Honig-Behandlung am Abend, verabreicht durch eigens verpflichtete Kosmetikerinnen. Maki kannte einige der Angebote, da sie Yoshiakis Kreativabteilung entstammten und vor ihm nicht geheim gehalten wurden, denn in der Tat sah Yoshiaki Maki nicht als Konkurrenz an, sondern als bewunderungswürdiges Unternehmen, das sich der Bewahrung traditioneller Lebensmittel und Rezepturen verschrieben hatte. Allerdings konnte man mit diesem Konzept nicht so viele Menschen in Lohn und Brot halten wie die Divine Delight-Unternehmensgruppe. Die Kundschaft hatte eben die Wahlfreiheit zwischen einheimischen Köstlichkeiten und importierten Artikeln! "Nimm dir am Sonntag nichts vor!" Warnte er Maki, der seinerseits noch die Reste seiner Buchhaltung flink an der großen Tafel erledigte. "Eigentlich wollte ich noch aufräumen..." Maki verstummte, lächelte dann entschuldigend, als Yoshiaki ihm gegenüber einen filmreifen Flunsch zog. "In Ordnung." Bestätigte er ergeben. "Ich halte mir den Sonntag frei." Da wusste er noch nicht, dass Yoshiaki eine weitere Stufe auf seinem Masterplan erklimmen wollte und zu diesem Zweck am Samstagmorgen nach Makis Aufbruch zwei kleine Reisetaschen für eine Übernachtung packte. ~+~ "Was genau unternehmen wir?" Erkundigte sich Maki verwirrt, rückte unwillkürlich näher an Yoshiaki heran. Der hatte ihn kurzerhand von Sanji aus dem Geschäft entführen lassen. So fand er sich nun vollkommen unvorbereitet und perplex auf einem Bahnsteig wieder, in seiner Hand eine kleine Reisetasche, an Yoshiakis Seite, der seiner Funktion als Präsident nachkam und der kleinen Reisegesellschaft vorstand. Sie bestand aus den Führungskräften einiger Sektionen der Divine Delight-Unternehmensgruppe, sechs Männer und drei Frauen. "Ah, wir sind nun vollzählig." Yoshiaki blendete sein spöttisch-arrogantes Lächeln auf, die perfekten Zähne blitzen. "Dann darf ich bitten einzusteigen." Man kletterte hinein, verteilte sich, wobei Yoshiaki dafür Sorge trug, dass Maki neben ihm am Fenster Platz nahm. "Was hast du vor?" Erkundigte der sich in gedämpften Ton, durchaus nervös. "Oh, eine kleine Reise in einen herrlichen Landgasthof." Yoshiaki grinste diabolisch. "Ein Abendessen im Kreis meiner geschätzten Mitarbeitenden. Immerhin müssen wir unsere Beziehung ständig erneuern, damit die Zusammengehörigkeit und Loyalität nicht leidet." "Fein." Brummte Maki dezent verärgert. "Aber was habe ICH damit zu tun?" Yoshiaki nahm ohne Rücksicht auf die Umgebung Makis Hand, küsste den Rücken unverschämterweise. "Ich benötige deine Hilfe als Geschmacksexperte." Ein fassungsloser Blick streifte ihn, dann seufzte Maki ergeben, sank tiefer in den Sitz. Er konnte sich lebhaft vorstellen, dass Yoshiaki im Geschäftsmodus kein angenehmer Gegenüber war. ~+~ Der Landgasthof, zu dem man sie mit zwei Kleinbussen transportierte, erwies sich als herrlich traditionell, schlicht aber geschmackvoll eingerichtet. Die Aufteilung der Zimmer für die Nacht war durch praktische, mobile Schiebewände schnell vollbracht. Wenn sich jemand darüber wunderte, warum der Inhaber eines kleinen Delikatessengeschäfts mit dem Präsidenten das Gemach teilte, so ließ man es sich nicht allzu deutlich anmerken. Das Abendessen wurde an einer langen, niedrigen Tafel serviert, ein opulenter Augenschmaus, zierlich dekoriert, der Jahreszeit angemessen. Maki überhörte Yoshiakis joviale Konversation mit seinen Führungskräften, auch die kleinen Bosheiten, die er einstreute, um ihnen zu demonstrieren, dass er sie alle genau im Blick hatte und Opposition wie Intrigen nicht tolerieren würde. Ihn beschäftigten allein die servierten Speisen, die Komposition der unterschiedlichen Nahrungsmittel, das erzeugte Geschmacksbild. Als man danach Bier und Sake servierte zu Knabberzeug, wünschte er sich seine Notizzettel herbei, sah sich nun aber genötigt, wenigstens dem Anschein nach der Unterhaltung zu folgen. Für die Beschäftigten der Divine Delight-Unternehmensgruppe stellte er ein Rätsel dar. Hatte sich der Präsident etwa wirklich mit einem unbedeutenden Konkurrenten eingelassen und war frech genug, ihn auf diesen Ausflug mitzunehmen? Yoshiaki dagegen, der selten ohne Sanji verreiste, verließ sich auf Makis Urteil, der genau beobachten konnte, wie sich wer verhielt, während er das Gespräch bestritt. Nicht jeder an dieser Tafel war ihm wohlgesonnen. Von einigen Personen war ihm sogar bekannt, dass sie subtil seine Anweisungen boykottierten oder sabotierten. Aus Erfahrung wusste er, dass es nicht genügte, der Hydra einzelne Köpfe abzuschlagen. Nein, man musste das gesamte Nest ausheben, deshalb hatte er sie verpflichtet, ihn zu begleiten, um sich darüber klar zu werden, wer hier die Fäden zog, wer als Marionette tanzte und wer bereit war, den neuen Präsidenten weiterhin zu unterstützen. Spät in der Nacht entließ er endlich, einige stark angetrunken, seine Mitarbeitenden, um sich mit Maki zurückzuziehen. "Lass uns noch rasch in ein heißes Bad steigen." Hielt er seinen Liebsten vom Futon fern. "Nur einige Minuten, dann fühlen wir uns wieder frisch." Zumindest befreit von dem anheftenden Alkoholgeruch. Maki unterwarf sich seinem Wunsch klaglos, sackte aber in dem Außenbad unter einem beeindruckenden Sternenhimmel in sich zusammen, sodass Yoshiaki ihn an sich zog und abstützte. "Sag mir morgen früh, wer welchen Geschmack hat." Wisperte er vertraulich in ein geneigtes Ohr. "HmmHmmm." Brummelte Maki schläfrig, die Lider auf Halbmast. Amüsiert zeigte Yoshiaki ein Einsehen, enttäuschte die neugierigen Lauscher, die auf einen akustischen Beweis gehofft hatten, dass ihr Präsident ein unersättlicher Perverser war. ~+~ "Bitte verzeihen Sie die frühe Störung." Die Dame des Hauses und damit ihre Gastgeberin kniete neben der Schiebetür, verneigte sich entschuldigend. Yoshiaki setzte sich auf, schlug die Decke beiseite. "Ist etwas vorgefallen?" "Wie es scheint, hat sich einer Ihrer Begleiter, ein Herr namens Mishima, bei einem Spaziergang verletzt." Erläuterte ihm die Gastgeberin höflich. »Der alte Säufer ist irgendwo umgefallen.« Erfasste Yoshiaki trotz der recht frühen Stunde die Situation zynisch. Er antwortete aber laut. "Wären Sie so freundlich, uns Ihren kleinen Bus zur Verfügung zu stellen? Ich werde mich sogleich ankleiden und Herrn Mishima abholen." "Selbstverständlich. Ich veranlasse, dass ein Fahrer für Sie bereit steht." Mit einer Floskel zog sie sich zurück und schloss die Schiebetür hinter sich. Yoshiaki wandte sich herum, wo Maki ihn müde anblinzelte. Ihr Futons lagen nebeneinander, kein züchtiger Abstand trennte sie. "Versuch, noch ein wenig zu schlafen." Yoshiaki beugte sich herunter und küsste Maki sanft auf die Stirn, dann erhob er sich, um sich frischzumachen und anzukleiden. Für Mishima benötigte er Makis Einschätzung sicherlich nicht. ~+~ Die Rückfahrt verlief schweigend, während Yoshiaki den Geruch der frischen Backwaren genoss. Da das Frühstück in den Zimmern serviert werden würde, beabsichtigte er durchaus, einige der Gebäckstücke mit Maki zu verkosten, die Reste dann einzupacken und zu Hause zu verzehren. Die frostige Stimmung, die zwischen den Reisenden im Bus herrschte, sagte ihm durchaus zu. Mishima hatte sie blamiert, sich als unzuverlässig erwiesen, und die beiden, die ihn einbezogen hatten, mussten ihn nun auch noch ins Haus transportieren, sich um den alten Säufer kümmern! Yoshiaki lächelte sich selbst spitzbübisch zu. Wenn er seine Rolle weiterspielte, hier und da Spitzen einstreute, würde er bald die solidarische Front der Gegner unterminiert haben. ~+~ Maki kaute an einem der 'Melonenbrötchen', während er seinen Notizzettel füllte. Eigentlich war es nicht SEIN Zettel, sondern Yoshiakis, der ihn um seinen Eindruck gebeten hatte. »Ich kann wirklich dankbar sein, dass ich eine so gute Belegschaft habe!« Dachte er schaudernd an die vergangenen Stunden. Yoshiaki hatte ihm beim Aufstehen kurz über die Ereignisse des Morgens berichtet und ihn um seine Unterstützung gebeten. Angesichts dieser Jonglage konnte Maki ihn nur bewundern. Eine so gewaltige Firmengruppe zu führen, sich nicht nur über Verkaufsstrategien Gedanken zu machen, sondern auch noch in den eigenen Reihen Gegenspieler aussortieren zu müssen! Dabei den Umsatz zu vergrößern und immer auf der Höhe der Zeit die Verbraucherwünsche zu erspüren: wie konnte man da nicht ehrfürchtig sein? "Maki?" Yoshiaki studierte den Zettel, lehnte sich dann zu ihm hinüber. "Wie denkst du über Pfefferminz und Vanille?" Maki wandte den Kopf, staunte Yoshiaki ratlos an. Der faltete den Zettel gerade, verstaute ihn in einer Hosentasche, bevor er sich wieder Maki zuwandte, leise sprach. "Ich möchte dich darauf vorbereiten, dass ich dich heiraten werde. An einem weißen Strand unter Palmen. In einem pfefferminzgrünen Smoking, während du einen vanillegelben Cut trägst." Er lächelte, als sich Makis Augen hinter den randlosen Brillengläsern weiteten, bevor der ihm zuzischte. "Ist das nicht illegal?" "Pfefferminzgrün zu Vanillegelb?" Missverstand Yoshiaki boshaft, verschränkte ungeniert seine Finger mit Makis. "Nein, in manchen Ländern nicht." "Oh." Kommentierte Maki gewohnt schlagfertig, starrte verwirrt auf den Sitz vor sich. Yoshiaki ließ ihn gelassen eine Weile im eigenen Saft schmoren, bevor Maki sich wieder ihm zuwandte, flüsterte. "Bekommen wir dann Ärger?" "Oh, garantiert." Versicherte Yoshiaki entspannt. "Aber das wird meinen Vater, sofern er dann noch einigermaßen bei Verstand ist, davon überzeugen, dich in unsere Familie aufzunehmen. Wenn er dich nicht adoptiert, dann tue ich das als Familienoberhaupt." Man hätte Flugzeuge bequem in Makis geöffnetem Mund einparken können. Es verstrich eine geraume Zeit, bis Maki sich herumdrehte, in den Sitz einpasste und unterdrückt brummte. "Du bist wirklich diabolisch." Neben ihm lachte Yoshiaki leise, keineswegs beleidigt. "Sag das nicht. Du darfst ganz allein die Speisen auswählen für unser Hochzeitsbankett." "Dafür bestehe ich auf einheimischen Nahrungsmitteln!" Verhandelte Maki prompt, um dann den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen. Seine Prioritäten mussten allen merkwürdig erscheinen, das wurde ihm nun verspätet klar. Nicht jedoch Yoshiaki, der sich an Makis Vorstellungswelt gewöhnt hatte. Solange er also das Menü mit allen Details Maki überließ, hatte der keine Einwände, was das Heiraten im Cut an einem Strand in der Ferne betraf... Beinahe reute es ihn, dass er so lange Zeit benötigt hatte, um seinen Traum zu erfüllen. "Sag mal, wenn ich dich damals gefragt hätte, ob du mit mir leben willst, hättest du zugesagt?" Forderte er sein Glück heraus. Maki grübelte. "Ich war ziemlich selten zu Hause, also hätte es wohl keinen Unterschied gemacht. Andererseits war ich so daran gewöhnt, allein zu wohnen..." "...da hätte ich schon etwas bieten müssen, wie?" Yoshiaki seufzte. "Ich glaube, als Goya hätte ich bessere Chancen gehabt!" Beklagte er sich anzüglich, aber auch erleichtert, dass er den richtigen Zeitpunkt gewählt hatte. "Da hätte ich dich wahrscheinlich filetiert, einen Teil von dir eingelegt, den anderen in Sesamöl ausgebacken, zu Zuckerschoten serviert, mit Ananas und gerösteten Melonenkernen kombiniert..." Grübelte Maki. "Vielleicht noch Süßkartoffeln..." "Genug!" Lachte Yoshiaki, knuffte Maki sanft, der seinerseits spitzbübisch grinste, es sich gefallen ließ, dass Yoshiaki den Kopf auf seiner Schulter ablegte, um noch ein wenig Schlaf nachzuholen. ~+~ Teil 3 - Eine Großstadt in Deutschland "Marius? Istvan hier!" "Ja, also...ein bisschen später." "Wie?! Bis halb Elf?! Aber wie soll ich meinen Luxuskörper...nein, ganz bestimmt nicht, halb Elf spätestens!" "Oh haua!" Kommentierte Istvan von Grünberg, Übersetzer bei der Polizei, die Gesprächsentwicklung bekümmert. Man konnte seinem Gesprächspartner, der recht gründlich den Hörer auf die Gabel gelegt hatte, keineswegs mangelndes Verständnis vorwerfen. "Blödes Timing." Knurrte der Übersetzer, zerraufte seinen lockigen Schopf und starrte anklagend auf den Bildschirm. Eigentlich war Marius, sein Freund und Liebhaber, recht gelassen, was die Unwägbarkeiten des Dienstbetriebs betraf, nahm sogar erstaunlich langmütig hin, dass er unter Istvans Kollegen bereits als 'Lebensgefährte' eingeordnet worden war, obwohl Istvan berechtigte Zweifel daran hegte, dass Marius noch vor einem halben Jahr sich eine solche Entwicklung hätte träumen lassen. »Liiert mit einem Mann...« Istvan stoßseufzte erneut und wünschte sich eilig die verfluchte Datei herbei, die um den Globus reisen sollte. Er selbst konnte von sich sagen, dass seine sexuelle Orientierung recht eindeutig und bereits bekannt war, ohne dass er auf irgendwelche Schwierigkeiten gestoßen wäre. Das Problem hatte, ebenfalls bis zu einem schicksalhaften Aufeinandertreffen, darin bestanden, dass er sich zu schnell verliebte, zu viel und zu häufig arbeitete und recht zügig das Hintertreffen hatte, weil man sich stets freundschaftlich, aber leider sehr endgültig trennte. Mit einem ausgeklügelten Plan in der Hinterhand für den glücklichen Fall, dass er sich noch einmal Hals über Kopf verliebte, war er über Marius und dessen zwei reizende Katzen gestolpert. Bisher hatte eigentlich alles ganz gut funktioniert. So oft es möglich war, nistete er sich bei Marius ein, verbrachte Zeit mit ihm, hatte, gemäß Plan, auch eine Wohnung ausgekundschaftet, wo zwei erwachsene Männer und zwei ausgesprochen aparte Katzendamen standesgemäß residieren konnten. Dummerweise musste der Umzug zum Ende des Monats stattfinden. Sie hatten gerade mal vor knapp 14 Tagen nach einer sehr langen Nacht herausgefunden, dass sie einander genug mochten, um von sich als "wir" zu denken. "Hoffentlich..." Istvan verkniff sich eilig, seine Befürchtungen auszusprechen, ein wenig abergläubisch, dass sie sich vielleicht dann in die Tat umsetzen würden. Er hatte Angst davor, dass Marius eines Morgens aufwachte und die ganze Sache abblies, weil alles viel zu schnell ging, dass es nicht mehr genug sein würde, zahlreiche Listen aufzustellen, um sich von den Zweifeln abzulenken. Marius pflegte diese Aufstellungen emsig! Dass er selbst in dem Augenblick nicht zur Stelle war, in dem Marius sich allein gelassen fühlte und die Balance ihrer Beziehung in Frage stellte, durch die forcierte Zusage, die größere Wohnung zu mieten, die ihnen beiden einiges an Belastungen und Kompromissen abforderte, in eine Situation gedrängt wurde, die er gar nicht so rasch verarbeiten konnte. "Ausgerechnet heute!" Energisch federte Istvan aus seinem Bürodrehstuhl, marschierte in seinem kleinen Reich auf und ab. Aber er hatte ja keine Wahl gehabt, musste schließlich Akiko vertreten! Sie konnte wiederum nichts dafür, dass sie das verdammte Magen-Darm-Virus niedergestreckt hatte, nicht wahr? "Er wird das schon verstehen." Redete Istvan sich gut zu, warf dann einen nervösen Blick auf den Bildschirm. Wenn er nach halb Elf eintraf, würde er zwar nicht auf dem Sofa schlafen müssen, aber er bekäme nicht mal mehr einen Gute Nacht-Kuss, und an den hatte er sich wirklich gewöhnt. Außerdem konnte er damit rechnen, dass Anais und Iris ihn in die Zehen kneifen würden, weil er sie versetzt und Marius deprimiert hatte. "Und ich mag meine Zehen!" Er bewegte sie in seinen Halbstiefeln, schwarz selbstverständlich. Die Katzen hatten gefährliche Zähnchen! "Kommt schon, beeilt euch!" Sprach er mit dem Bildschirm die unbekannten Kollegen am anderen Ende der Welt an. ~+~ Marius warf einen frustrierten Blick auf den Küchentresen, liebevoll gedeckt und dekoriert mit einer Kerze. Eigentlich hielt er Candlelight-Dinner immer für verdächtig, weil die Beleuchtung so bequem Falten im Gesicht und Schmutzflecken auf dem Tischtuch versteckte, quasi zu Illusionen verführte. An seinen Knöcheln strichen Anais und Iris herum. Sie wollten spielen, wenn sich hier schon nichts Entscheidendes mehr tat. Marius seufzte, drehte die Hitze im Backofen herunter, stellte die Kerze neben die Spüle und deckte das Geschirr mit einem Tuch ab, bevor er das Licht löschte. Vorsichtig schlängelte er sich durch die bereits eingeräumten Umzugskisten, ein ungewohnter Parcours in der Wohnung, die er so lange sein Zuhause genannt hatte. Wieder nahm er sich die Listen vor, prüfte, ob ihm nicht doch noch etwas einfiel, doch selbst die Blutsauger der GEZ hatte er bereits über den bevorstehenden Umzug informiert. Istvan versicherte ihm zwar stets, dass es ganz normal sei, bei Umzügen immer etwas vergessen zu haben, doch Marius wollte systematisch an die Sache herangehen. Wenn er schon Panikanfälle hatte, sein Leben würde vollkommen aus den Fugen geraten! Anais hakte die kleinen Krallen in Marius' Hosenbein und wollte offenkundig als Bergsteigerin die Aufmerksamkeit auf ihre Bedürfnisse lenken. "Nicht! Ganz schlecht!" Tadelte Marius, pflückte Anais von seiner Hose und fokussierte die dunkelblauen Katzenaugen, die unschuldig strahlten. "Ich werde euch beiden die Krallen stutzen lassen!" Kündigte Marius an und legte sich Anais über die Schulter, während er nach seinem Kalender fahndete. Der musste ja irgendwo hier sein, hoffentlich! Anschließend warf er die Deckenbeleuchtung an, wer brauchte schon gedämpftes Licht?!, und brachte den Katzenfußball ins Spiel. Valentinstag oder nicht, ER würde hier bestimmt nicht Trübsal blasen! ~+~ Istvan stürzte die Treppen hoch, im Laufschritt, denn auch auf den letzten Metern zeigte sich wahrer Einsatzwille. Bevor er den Schlüssel in das Schloss geschoben hatte, ein Ersatz nach dem Einbruch vor Weihnachten, öffnete Marius schon selbst die Wohnungstür. "Es... tut... mir... leid..." Istvan stützte keuchend die Hände auf den Oberschenkeln ab, vornübergebeugt, blinzelte durch die wirren Locken nach oben. Marius lupfte eine Augenbraue, richtete die Tolle ein wenig, die Anzeichen dafür zeigte, dass ihr Besitzer auf der Couch eingeschlafen war, außerdem auch die Knitterfalte auf der linken Wange, von einem zerdrückten Laken. "Hast du noch Hunger?" Auch Marius' Stimme klang rau, während er sich herumwandte, die Diele freigab. Istvan kam in die Höhe, drückte eilig die Tür hinter sich zu und fing Marius ab, bevor der in die kleine Küche treten konnte. Er schlang die Arme um dessen Taille, drückte einen sanften Kuss auf eine dezent raue Wange, wo am Morgen leichte Bartstoppeln zum Vorschein kommen würden. "Entschuldige!" Wiederholte Istvan, flatterte hilflos mit den Wimpern, bemühte sich um ein schmeichelndes Grinsen. "Erzähl mir beim Essen davon." Marius grinste schief. "Aber statt Wein hätte ich gern warme Milch." Der Übersetzer streichelte Marius' Hüften sanft. "Kommt sofort." Während er die Milch mit einem Löffelchen Honig süßte und dann der Mikrowelle anvertraute, warf er Blicke über die Schulter, wo Marius die Teller wieder aufdeckte, die Kerze an ihren Platz stellte und den Docht anzündete. "Was riecht da so gut? Tortellini?" Istvan schnupperte begeistert. "Mein Repertoire ist etwas begrenzt und man kann die Reste aufwärmen." Die Antwort ließ den Übersetzer unwillkürlich laut seufzen. "Wenn du wütend bist, dann sag mir das ins Gesicht, ja?" Er stellte sich neben Marius an die Theke, studierte das vertraute Profil. Marius neben ihm lehnte schwer auf der Theke. "Ich bin nicht wütend." Stellte er heiser fest, den Blick auf die eigenen Hände gerichtet. "Ich bin bloß müde, habe schlecht geträumt und komme mir wie ein Idiot vor, weil ich so ein Bohei um diesen dämlichen Floristik-Gedenktag gemacht habe." Istvan lehnte die Stirn an Marius' Kopf, die Arme eng um dessen Hüften geschwungen. "Ich finde das richtig süß, gar nicht idiotisch!" Er hatte das bestimmte Gefühl, dass gerade der gefürchtete Moment drohte, wo Marius von Selbstzweifeln geplagt wurde, aber es wäre wohl keine sonderlich erfolgversprechende Taktik, mit Worten Überzeugungsarbeit zu leisten, nicht mal bei seiner Vielsprachigkeit. Kuss um Kuss regnete er auf jedes erreichbare Fleckchen Haut, bis Marius ihm endlich das Gesicht zukehrte und errötet brummte. "Das reicht jetzt aber! Außerdem habe ich Durst!" Angesichts der Schmirgelpapierqualität seiner Stimme gab Istvan nach, denn die warme Milch wartete ja schon. Marius verteilte gekonnt die Tortellini auf die Teller, hielt dann aber inne. "Ich sollte besser was anderes anziehen." Kritisch sah er an sich herab. Der Bademantel über dem Pyjama war weniger festlich als gemütlich und schon ein wenig abgenutzt. "Mir gefällst du so, wie du bist." Istvan langte über den schmalen Tresen nach Marius' Handgelenk. "Essen wir erst mal, ja? Dann kann ich dir auch erzählen, was mich aufgehalten hat!" Er war froh, dass Marius nicht allzu verärgert wirkte und nippte rasch an der warmen Milch. "Danke, dass du auf mich gewartet hast." Eilig suchte er in den leicht geröteten Augen nach weiteren Hinweisen, wie er die gefährliche Klippe umschiffen konnte. "Nicht der Rede wert." Marius schaufelte eine Ladung der Nudeln in seinen Mund, legte dann aber die Gabel beiseite. Er schluckte und murmelte dann Richtung Teller. "Es ist alles nicht so einfach." "Ich weiß!" Istvan fasste behutsam über die kurze Distanz, umschloss Marius' Rechte. "Wir müssen uns ständig neu darum bemühen, und es gibt keine Gebrauchsanweisung." Er drückte Marius' Hand und seufzte laut. "Es tut mir wirklich leid, dass ich dir keine große Hilfe bin." "Ach was!" Marius zuckte mit den Schultern. "Wir haben ja nichts vereinbart, du konntest das nicht ahnen." Nun nahm Istvan seinen gesamten Mut zusammen. "Ich will alles richtig machen, aber so genau weiß ich nicht, wie das funktioniert. Wie kriegen andere das bloß hin?" "Gute Frage." Marius spülte Nudeln mit Milch herunter. "Vielleicht durch Soap operas?" Istvan prustete. "Du meinst, wir sollten uns Nachhilfe bei der Glotze holen?" "HmmHmmm." Marius schien nun doch Appetit zu entwickeln. "Bill Cosby? Die Waltons?" "Oder die Sesamstraße." Istvan grinste. "Hör bloß auf, gleich wachsen mir noch die Zähne!" "Nun ja." Sein Gegenüber tupfte Sauce mit der Serviette von den Lippen. "Klingt blöd, aber irgendwoher müssen wir Vorbilder haben, wie man als Pärchen lebt." In Istvans kohlrabenschwarzen Augen tanzten diabolische Funken. "Wie wäre es mit Ernie und Bert? Eine glückliche Männerfreundschaft seit wie vielen Jahren?" "HE!" Marius knurrte grimmig, sogar die Tolle schien sich zu sträuben. "Wenn du jetzt anfängst, die Helden meiner Kindheit in ein schräges Licht zu rücken, dann besorgen wir gleich getrennte Betten!" "Niemalsnicht!" Beteuerte der Übersetzer eifrig, aber sein breites Grinsen ließ sich nicht tarnen. "Ich meine es ERNST!" Nun war Marius tatsächlich wütend, rutschte vom Barhocker herunter. "Ich weiß im Moment wirklich nicht, wie das weitergehen soll! Vielleicht brauchst du keine Pläne oder Visionen, aber ich muss mich an etwas orientieren!" Betroffen wich jedes Amüsement aus Istvans Zügen. Er kam hastig auf die Füße, haschte nach Marius' Arm, um eine Flucht zu verhindern,auch wenn er spürte, dass Marius der Wutausbruch bereits leidtat. "Ich wollte mich nicht lustig machen!" Istvan räusperte sich verlegen. "Bitte, Marius, bleib hier." "Ich wohne hier. Noch." Brummte der mit abgewandtem Kopf, ließ sich aber in die Arme des Übersetzers ziehen. Istvan schmuggelte die Stirn wie ein angriffslustiger Stier an Marius' Tolle vorbei, streichelte gleichzeitig über das abgenutzte Plüsch des Bademantels. "Du hast ja recht." Raunte er sanft. "Wir brauchen ein Vorbild." Selbst durch den Stoff konnte er spüren, wie angespannt Marius noch immer war, vermutlich an sich hielt, die Beherrschung wahrte, um sich keine Schwäche anmerken zu lassen. Kurzentschlossen löste sich Istvan aus ihrer Umarmung, trat einen Schritt zurück und kordelte den Bademantel auf, streifte ihn von Marius' Schultern über die Arme zu Boden. Dann nahm er Marius wieder in die Arme, schmiegte sich so eng an seinen Liebsten, dass der Stoff unter der Belastung knirschte. "Ist vielleicht ein bisschen spät, aber ich habe auch noch nie lange mit jemandem zusammengelebt." Flüsterte er zerknirscht in Marius' Ohr. "Ich bastle mir üblicherweise spontan was zurecht." Marius seufzte leise, seine Schultern sackten tiefer. Sein Griff um Istvan verstärkte sich für einen Augenblick beinahe schmerzhaft. "Weißt du, ich will auf keinen Fall so wie meine Eltern leben." Sein Atem kitzelte Istvans wüste Locken. "Jeden Tag Scharmützel in einem ewigen Kleinkrieg." Istvan schauderte unwillkürlich. Wenn es etwas gab, an das er nicht denken wollte, dann handelte es sich um Marius' Eltern. Seine eigene Familie war über den Globus verstreut und hauptsächlich mit eigenen Angelegenheit beschäftigt, gar nicht an anderen interessiert, sodass er keinerlei Schwierigkeiten befürchtete. Aber einem so kampferprobten Pärchen gegenüberzutreten, dessen einzigen Sohn er "verschwult" hatte (Originalton Marius' Mutter), DAS bedurfte doch erheblicher Courage. Oder suizidalen Absichten. "Wenn man darüber nachdenkt, dann gibt es kaum Pärchen, bei denen es nach dem 'Happyend' ordentlich weitergeht." Marius' Stirn sank in Istvans Halsbeuge, wo sie gern Zuhause war. »Vor allem männliche.« Ergänzte Istvan schweigend, hob die Linke, um Marius' Nacken zu liebkosen. "Du willst doch aber nicht aufgeben?" Erkundigte er sich erstickt. "Nein. Wahrscheinlich bin ich bloß müde." Zog Marius sich wieder auf sein gewohnt rationales, reserviertes Benehmen zurück. »So geht das nicht weiter!« Beschloss Istvan energisch. Er musste sich eingestehen, dass sein großartiger Plan noch nicht ganz ausgereift war, was den Abschluss betraf, aber daran konnte man arbeiten! Behutsam schob er Marius von sich. "Hör mal, lassen wir das mit dem Essen, ja? Duschen wir und reden im Bett weiter." "Ich habe schon geduscht." Setzte ihn Marius würdevoll in Kenntnis, doch das hinderte ihn nicht, den Pyjama abzustreifen und mit ihm die kleine Kabine auszufüllen. Nachdem Anais und Iris nachdrücklich auf ihr Katzenkissen verwiesen worden waren, rückten Istvan und Marius in dessen Bett nahe aneinander, zugewandt, damit sie sich unterhalten konnten. "Es tut mir leid, dass ich unseren Tag so vermasselt hatte." Istvan entschuldigte sich erneut. Den Donnerstag hatten sie erst letzten Sonntag als IHREN reservierten Tag festgelegt. Marius seufzte, streichelte durch Istvans stark gekrauste Locken, noch ein wenig feucht von der Dusche. "Du kannst nichts dafür." Murmelte er. "Ich VERSTEHE das alles, aber ich fühle mich einfach beschissen." Er stöhnte leise. "Was ist, wenn das alles nie so klappt, wie wir uns das vorgestellt haben? Wenn es uns irgendwann egal ist? Oder wir uns nur noch angiften?!" "Das passiert nicht! Ganz bestimmt nicht!" Istvan griff hastig zu, schlang die Arme um Marius und bettete ihn auf seiner Brust. "Wir geben nicht auf!" Er keuchte, als Marius' Fingerspitzen über seine Brustwarze glitten, denn trotz des textilen Hindernisses erregte ihn die Berührung. "Wäre auch unangemessen." Brummte Marius spöttisch. "Wo ich vor meinen Eltern schon als verschwult aufgetreten bin." Seine Finger knöpften Istvans Pyjama Oberteil auf, um mit den Fingerspitzen die kurzen Locken auf der muskulös-sehnigen Brust zu liebkosen. Istvan wusste, dass Marius dieses zärtliche Spiel mochte, deshalb wehrte er sich nicht, auch wenn es schon heftig bis zu seinen Zehen prickelte. »Ich kann mich beherrschen!« Hypnotisierte er sich selbst. "Ich werde es wieder gutmachen!" Versprach er Marius, ließ die Finger über dessen Rückgrat tanzen. "Ich hab's verbockt, aber ich leiste Kompensation!" "Hmmm." Brummte Marius leise, schon ein wenig schläfrig, dann breitete sich ein freches Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er stellte die Liebkosungen ein und stützte sich auf, um in Istvans Gesicht zu blicken, ignorierte die Dunkelheit seines Schlafzimmers. "Du willst es also ausbügeln?" "Bin fest entschlossen!" Verkündete Istvan im Brustton der Überzeugung, nickte eifrig. "Fein." Schnurrte Marius trügerisch sanft, er hatte von Anais und Iris eine Menge gelernt. "Würdest du am Samstagmorgen für mich einen Termin erledigen?" "Ist gebongt!" Versprach der Übersetzer großspurig. Marius lachte leise, als er sich wieder gemütlich auf Istvans Brustkorb einrichtete. "Ich nehme an, du warst bisher noch nicht in einer Kleintierpraxis, oder?" "Äh, nein?" Istvans Stimme deutete nun doch eine gewisse Unruhe an. "Fein." Schmunzelte Marius diabolisch. "Wird dir gefallen." Er fragte sich einen Augenblick später, ob er nicht gerade den Grundstein für gehässige Kleinkriege gelegt hatte, wie sie seine Eltern pflegten. "Du musst aber nicht!" Panisch schreckte er hoch. "Wir können auch tauschen! Oder später einkaufen!" Istvan streichelte ihm mit beiden Händen sanft über die Wangen. "He, was ist los? Traust du mir das nicht zu? Darf ich nicht mit den Mädels allein ausgehen?" "Na ja, es könnte ein wenig anstrengend werden." Druckste Marius, bevor er sich wieder hinlegte. "Das macht nichts." Istvan kraulte mit den Fingern neckend dessen Schulterpartie. "Im Gegenteil, ich MÖCHTE mich anstrengen. Du hast so viel getan, den Umzug praktisch allein organisiert! Ich will nicht, dass du glaubst, du hättest dich mit einer totalen Pfeife zusammengetan." "Du bist keine Pfeife!" Widersprach Marius loyal. "Deine Locken sind sexy." "Oh toll!" Schnaubte Istvan vorgeblich pikiert. "Meine Haare sind mein einziger Pluspunkt?!" "Tja..." Marius lachte neckend, schmiegte die Wange an Istvans Brust. "Sieh also zu, dass du nicht kahl wirst!" Istvan lächelte. "Zur Not lasse ich mir ein totes Frettchen auf den Schädel tackern!" "Buuuuhhhh!" Kommentierte Marius, kuschelte vertraut. Auch wenn die Zweifel nicht verschwunden waren, so konnte er sich doch nicht vorstellen, auf ihre Gespräche verzichten zu können. "Erzähl mir von dieser wichtigen Sache." Er drückte einen sanften Kuss auf Istvans Brustwarze. »Nur nicht übertreiben!« Ermahnte er sich, denn für körperliche Ertüchtigungen war er definitiv zu müde. "Hmmmmmm!" Schnurrte der Übersetzer genießerisch. "Das wird dir gefallen!" Seine Hände falteten sich auf Marius' Rücken, damit er nicht in Versuchung geriet, zu ausschweifend zu gestikulieren. "Also, Akiko hat Bekannte in Tokio. Einer von denen hat sie kontaktiert, weil sie da auf eine komische Sache gestoßen sind, aber sich nicht blamieren wollten. Sie haben nämlich einen zerstörten MP3-Player mit Blutflecken gefunden, lauter Drähte und Gedöns. Weil es ja möglicherweise einen terroristischen Hintergrund geben könnte, denn das Ding war so ein Kombigerät mit Mobiltelefon, haben sie versucht, den Speicher zu rekonstruieren." Marius schnaufte leise. Wo war die Pointe? "Geduld, Geduld!" Istvan grinste, löste die Hände, um Marius tadelnd an einem Ohr zu zupfen. "Der Gag kommt noch. Es gelingt ihnen tatsächlich, eine Datei zu retten. Popmusik in einer ganz merkwürdigen Sprache, extrem verdächtig!" "Also haben sie dir die Datei geschickt?!" Marius merkte auf. War das das richtige Vorgehen bei einem so schwerwiegenden Verdacht?! "Akiko war ja nicht im Dienst." Verteidigte sich Istvan. "Außerdem lag die Wahrscheinlichkeit für eine Gefährdung bei Null, denn der Akku war leer. Es gab keinen Sprengstoff oder Ähnliches in Reichweite." Er räusperte sich. "Nun ja, du wirst nie erraten, was das für eine Popmusik war." "Nein?" Marius rutschte höher, rückte ein wenig von Istvan herunter, ließ aber seinen Arm auf dessen Brustkorb ruhen. "Flämische Popmusik." Istvan lachte leise. "Die seltsame Sprache, die unsere Kollegen aus dem Land der aufgehenden Sonne so irritiert hat!" Leise summte er für Marius die Melodie. "Met de trein naar Oostende, mit dem Zug nach Ostende. Von einer kleinen Pop-Band namens Spring." "Hört sich ja gefährlich an." Marius schmunzelte. "Sicher hat ein Tourist das Gerät verloren. Dafür musstest du so lange arbeiten?" "Na ja, die Kollegen sind jetzt beruhigt und es gab keine peinliche Situation." Istvan drehte sich auf die Seite. "Wir können nicht jeden Tag Heldentaten vollbringen." Marius stützte sich auf einen Ellenbogen auf, strich sanft über Istvans Bartschatten. "Sexy Locken..." Wisperte er, beugte sich herunter, um die lächelnden Lippen zu küssen. "Und ein Held internationaler, diplomatischer Beziehungen." "HmmmmmMMMMHHHHHHH!" Schnurrte der Übersetzer genießerisch. "Kann ich noch mehr von der Belohnung bekommen?" An seiner Seite lachte Marius, ließ sich aber auf ein kleines Gerangel ein. Neben ihnen zuckten Schnurrhaare unter großen, tiefblauen Katzenaugen amüsiert: die Jungs brauchten zwar lange, aber irgendwann lernten sie doch, was das Leben ausmacht! ~+~ "Was tust du da?" Marius hatte sich endgültig entschieden, welche seiner Kleider in den stabilen Hartschalenkoffer und welche in den zwei Reisetaschen untergebracht werden sollten. So langsam verabsentierte sich auch der Trennungsschmerz von seiner alten Wohnung, denn nun glich sie mehr einem Auffanglager für zwei Flüchtlinge mit erstaunlich viel Eigentum. Ein Teil davon würde den Umzug definitiv nicht mitmachen. Entsprechend den Empfehlungen im städtischen Umzugsratgeber, der eigentlich für Neuzugezogene aufgestellt worden war, sollte man vor einem Umzug noch einmal entrümpeln. Der Sperrmüll war für morgen Früh bestellt, weshalb Marius gleich ZWEI Wecker programmiert hatte. Aber allein wäre er nicht in der Lage, vor dem Arbeitsantritt die ausgesonderten Einrichtungsgegenstände an der Zufahrt aufzubauen. "Hm?" Istvan blickte auf, lächelte dann. "Eine wichtige Aufgabe!" Er warf sich in Pose, was leider erheblich darunter litt, dass erst Anais und dann Iris kurz niesten. So ein Umzug konnte jede Menge Staubflocken umsiedeln und sogar heimatlos machen! "Aha?" Marius zog eine Augenbraue fragend hoch und studierte Istvans Laptop. Der war recht unscheinbar, beherrschte aber allerlei Tricks, die ihn immer wieder in Erstaunen versetzten. "Also..." Istvan drehte sich um, warf Anais und Iris, die sich gerade mit den Resten des Zeitungspapiers vergnügten, das zum Verpacken des Geschirrs genutzt worden war, einen strengen Blick zu. Sie sollten bloß nicht wieder seinen Vortrag so despektierlich unterbrechen! "Also, das hier ist ein Computer." Setzte er erneut in gedehnter Sprechweise an. Marius knuffte ihn sanft gegen die Schulter. "Keine Klugscheißerei, bloß die Fakten!" "Bah!" Winkte der Übersetzer geknickt ab. "Wo ist die Poesie?! Wo die Romantik? Wie soll das Leben prickeln ohne Drama und große Szenen?!" "Bei mir prickeln bloß die Zehen." Antwortete Marius stoisch. "Ich glaube, ich muss mir ein dickeres Paar Socken überziehen." "Grmblpfhklsz!" Kommentierte Istvan den schnöden Abgang von der Bühne des Alltags und richtete seinen Blick auf den Bildschirm. Manchmal war er sich wirklich nicht ganz sicher, ob Marius ihn bloß ein wenig neckte oder tatsächlich unempfänglich für seine kleinen Inszenierungen war. Er summte leise vor sich hin, sprach die Worte einfach mit, als sich vertraute Arme in einem flauschig-weichen Kunststoffpullover um seine Schultern legten, eine Wange sich an seine raue schmiegte. "Also, was ist das?" Marius lehnte sich halb auf ihn, den Blick neugierig auf die Oberfläche gerichtet, die von Istvans eifrigen Anstrengungen kündete. Für einen Augenblick erwog Istvan, kindlich zu schmollen, um sich dann trösten zu lassen, doch er verabschiedete diese Eingebung. Marius konnte mit alberner Herumturtelei nicht viel anfangen, er war geradeheraus und ehrlich. Da musste man auch keine Narrenkappe aufsetzen, um verklausuliert seine Gefühle auszudrücken. "Wenn wir anstreichen und aufbauen wollen, ist Musik zur Motivation sehr wichtig." Erläuterte Istvan also, drehte den Kopf leicht, um Marius auf die Wange zu küssen. "Schon, aber..." Marius starrte mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm. "Du willst deinen Laptop da in dem Chaos laufen lassen?" "Nein, nein!" Der Übersetzer lachte. "So verrückt bin ich dann doch nicht. Hier, ich lade einfach die besten Lieder auf den USB-Stick. Es geht einiges auf den Speicher drauf, keine Sorge. Dann schließe ich ihn einfach an meinen CD-Player an." Istvan drehte sich, um Marius' Gesichtsausdruck nicht zu verpassen. "Oder willst du lieber Radio hören?" Erkundigte er sich zögerlich. "Radio?! WÜRG!" Kommentierte Marius sehr eindeutig, der NICHT DIE GERINGSTE Lust verspürte, sich zigmal in kürzester Zeit die aktuelle Hitparade der Verkaufscharts anzuhören, unterbrochen von unsäglichen, nervtötenden Werbe-Jingles. "Na also!" Istvan grinste schon wieder fröhlich. "Dann doch lieber was nach eigenem Gusto!" Er war dankbar dafür, dass Marius ihm nicht allzu viele Jahre voraus hatte, sodass ihr kultureller Hintergrund nicht ständig der Erklärungen bedurfte. "Sag mal, hast du dir früher auch Kassetten zusammengestellt und mit dem Finger förmlich auf der Aufnahmetaste geklebt? Und gebetet, dass der doofe Moderator nicht in die Auftakte reinquatscht?" Er legte den Kopf in den Nacken und hörte das statische Knistern seiner ungebärdigen Locken. Marius zwinkerte, küsste Istvans Nasenspitze. "Ziemlich oft. Allerdings haben sie nicht so häufig das gespielt, was ich gerne höre." Das war anzunehmen, denn der King hatte diese ungastliche Stätte kurz nach ihrer Geburt bereits verlassen. Marius' Ohrwürmer entstammten einer Zeit, die noch weiter zurücklag. "Was ist das da?" Seine Frage lenkte Istvans Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. "Oh, da habe ich mir einen Teil des Textes auswerfen lassen." Istvan räusperte sich und regulierte die Lautstärke, bevor er einstimmte. "I don't quite know how to say how I feel, those three words are said too much, they're not enough..." "Nein." Erklärte Marius. "Wie, nein?" Istvan stellte das Mitkrähen ein und blinzelte fragend hoch. "Wirklich sehr tiefsinnig." Marius zog eine Grimasse. "Aber nein. Bei diesem deprimierten Singsang kann ich definitiv nicht arbeiten." "Aber das Lied ist ziemlich bekannt!" Istvan zog eine filmreife Schnute. "Mag sein." Marius angelte nach der Maus. "Ich mag es trotzdem nicht. Da schlafen mir meine tiefgekühlten Zehen ein." Damit vertrieb er "Chasing cars" von Snow Patrol aus dem Verzeichnis. "Na guuuuuuuuut!" Istvan fing die 'Maus-Hand' ein, bevor Marius sich wieder zurückziehen konnte, drapierte sich dessen Arm wie einen eleganten Schal um die Schultern. "Ich habe auch noch ein paar Klassiker. Hier, 'Ring of fire'!" "Nein." Marius lehnte entschieden ab. "Auf keinen Fall, ausgeschlossen. Da muss ich an Hämorrhoiden denken." "Wie bitte?" Perplex wischte Istvan zu ihm herum. "'Ring of fire', Johnny Cash, Hämorrhoiden. And it burns, burns, burns, like a ring of fire." Marius sang durchaus angenehm einen Teil des Refrains, lupfte die Augenbrauen. "Neee, wirklich, Istvan, der nicht." "Johnny Cash hat ein Lied über Hämorrhoiden geschrieben?" Der Übersetzer konnte das nicht fassen. "Nein, nein!" Wiegelte Marius ab, hockte sich in Ermangelung eines freien Stuhls auf die Tischkante. "Ganz im Gegenteil. Der Song sollte mal in einem Werbespot für eine Hämorrhoiden-Creme oder so etwas eingesetzt werden, aber das wurde dann wohl unterbunden." "Wirklich?" Istvan staunte bewundernd zu Marius auf. "Woher weißt du das?" "Oh, manche Dinge bleiben mir einfach im Gedächtnis hängen." Marius zwinkerte. "Je oller, je doller." "Also gut." Einen Arm um Marius' Hüfte geschlungen drehte Istvan den Computer leicht, damit sie beide die Liste betrachten können. "'Ring of fire' fliegt raus. Was sollen wir dann nehmen, hm?" "Tja..." Marius massierte sich das Kinn. "Disco ist nicht schlecht wegen des Rhythmus. Aber keine Bee Gees, da rollen sich mir die Zehen auf! Bloß kein Hippie-Kram!" Istvan bettete sein mattes Haupt auf Marius' Schoß. "Warum stellst du nicht die Liste auf? Das ist ja richtig anstrengend!" "Über Geschmack lässt sich eben nicht streiten." Bemerkte Marius süffisant, liebkoste Istvans Locken und bemächtigte sich erneut der Maus. "Keine Angst, du musst nicht eine Elvis-Motown-Diät ertragen. Ich kann beim Aufräumen auch andere Stücke hören." "Welche Erleichterung!" Neckte ihn Istvan und verdrehte die Augen affektiert. Über ihm schmunzelte Marius zwar, war aber bereits mit konzentriertem Eifer dabei, die Liste abzugrasen. Der Übersetzer genoss die Gelegenheit, seinen Liebsten ungestört zu betrachten. Wenn Marius so lächelte, das markante Gesicht von der Dusche noch rosig erhitzt, die Tolle ein wenig gezaust, weil sie unter der Plastikhaube eingezwängt worden war, dann überkam ihn das unwiderstehliche Bedürfnis, mit den Fingerspitzen jedes einzelne Detail zu erkunden, keine Einzelheit auszulassen. Wie seltsam, sich in so trivialen Momenten so absolut zu verlieben! "Ich liebe dich." Formulierte er lautlos. Marius leckte sich über die Lippen, arbeitete emsig weiter, dann senkte er aber doch den Blick. "Du weißt schon, dass dein Bildschirm arg spiegelt, oder?" Istvan auf seinem Schoß zeigte erstaunlich schnell eine recht interessante Gesichtsfärbung. Die Maus wurde im Stich gelassen, dafür streichelte Marius' freie Hand nun über die deutlich erhitzten Wangen des Übersetzers. "Ich liebe dich." Marius lächelte. "Und so schwer ist das gar nicht." Seine Hand wurde eingefangen und festgehalten, dann räusperte sich Istvan und grinste verschmitzt hoch. "Ja,ja, keine Klugscheißerei, bloß die Fakten." "Genau." Marius dirigierte Istvans Lockenhaupt von seinem Schoß und rutschte von der Tischkante. "Das Dings funktioniert doch auch im Bett, oder? Los, kriechen wir unter die Decke, sonst muss ich morgen Kraut um meine Eisbeine wickeln!" Istvan lachte und erhob sich. "Wir könnten auch schon mal den Rhythmus testen." Bemerkte er anzüglich. "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen." Antwortete ihm Marius hoheitsvoll, bückte sich dann, um Anais und Iris aufzulesen, die lieber per Katzentransporter als auf eigenen Pfoten durch das improvisierte Kisten- und Kartonlager befördert werden wollten. Immerhin durfte man die einzige Garnitur Tatzen, die man hatte, nicht unnötig abnutzen! Lächelnd schüttelte Istvan den Kopf und kümmerte sich um das Abnabeln seines Computers. "Hätte ihm vielleicht gleich sagen sollen, dass ich jede Menge James Brown- und Barry White-Lieder abgespeichert habe." Murmelte er amüsiert. DAMIT konnte man JEDE Arbeit zum Vergnügen machen! ~+~ Teil 4 - Der Schmetterling Kapitel 9 - Beste Absichten "Perfekt, absolut groovy!" Versicherte er sich, deponierte die Sonnenbrille in der Brusttasche seines schillernden Satin-Hemdes. Die wenigen Besitztümer, die er sein Eigen nennen konnte, wurden systematisch verstaut, was zu seinem Leidwesen die männlich-attraktive Silhouette seines Anzugs ein wenig ausbeulte. Ein langer Mantel wäre natürlich noch vorteilhafter für sein Erscheinungsbild gewesen, aber der alte Armeeparka mit dem Flecktarn hielt wenigstens warm. "Bruchbude!" Knurrte er und betrachtete den Schlafsack, seinen großen Rucksack. Konnte er sie wirklich hier zurücklassen? Aber wenn er sie nun mitnahm, wie sähe das bloß aus?! Wie ein Penner, na klar! Alternativ könnte er ein Schließfach suchen, doch das würde wieder Geld kosten. Da er aber beim Pachinko nicht allzu viel Erfolg gehabt und auch noch in einem Internet-Café den Speicher seines Mobiltelefons mit Musikdateien vollgeladen hatte, die durchaus dubiosen Quellen entnommen waren, war seine Barschaft stark eingeschränkt. Möglicherweise konnte er ja bei seinen Brüdern ein wenig schnelles Geld verdienen, bevor er sich wieder auf den Laufsteg begab? ~+~ "He!" "Boss?" "Was geht da vor?" "Äh... ich glaube, das ist ein Tanz, Boss." "Ein Tanz." Er runzelte die Stirn und fingerte nach einem Zigarillo. Sekunden später entgingen seine Augenbrauen lediglich durch Glück der Auslöschung. Aber konnte man einen Untergebenen für Enthusiasmus tadeln, wenn der seine Feuerzeuge zu wahren Flammenwerfern umfunktionierte? »Es war schon immer schwierig, gutes Personal zu bekommen.« Er nahm einen tiefen Zug und produzierte kleine, perfekte Kringel. »Wenigstens unterzieht er sich nicht der Anstrengung zu denken. Dann könnte er gemeingefährlich werden.« "He." "Boss?" "Gib ihnen etwas von den rosa Päckchen und schick sie unten rein. Die vertreiben mir sonst noch die Kundschaft." "Geht klar, Boss. Sofort, Boss." Er schraubte sich langsam aus seinem Sessel und trat ans Fenster. Es war hinter einem massiven Rollladen gut gesichert und bot keinen Ausblick. Dafür musste man dankbar sein, vor allem, nachdem man diese Szenen auf den Monitoren der allgegenwärtigen Kameras gesehen hatte. Natürlich war er für Nachwuchsförderung. Selbstverständlich stellte die Straße die größte Prüfung dar. »Aber ich will nicht, dass unsere Kunden denken, die Kerle hätten unsere Ware probiert, und so etwas käme dabei heraus.« Noch einmal sog er tief das Aroma des Zigarillo in seine Lungen. »Wo ist ein Talent, wenn man es mal braucht?« ~+~ "Großer Bruder, könnte ich nicht kurz mit dem Boss sprechen?! Ich habe tolle Ideen, wirklich, da können die Roppongi bald vergessen!" Beharrlichkeit musste sich ja irgendwann auszahlen, deshalb gab er nicht auf. Außerdem war er sich recht sicher, dass der Boss ihn schon bemerkt hatte. Ein guter Boss ließ sich nie eine Gelegenheit entgehen, Geld zu machen, richtig? Dafür bedurfte es nur des passenden Mannes an der geeigneten Stelle, und hier stand er ja! Was konnte dagegen sprechen?! "Halt die Klappe. Setzt euch, der Boss schmeißt ne Runde, aber macht keinen Ärger, kapiert?!" "Jawohl, großer Bruder. Vielen Dank, großer Bruder!" ~+~ "He." "Boss?" "Was ist das hier?" "Ein Zettel, Boss." Tiefes Durchatmen. "Ich kann sehen, dass es ein Zettel ist. Woher kommt der Wisch?!" "Ah...hmmm... das muss der Blonde gewesen sein! Soll ich ihn aufmischen, Boss?" "Nein. Erzähl mir von ihm." "Ah...ah... er trägt nen Anzug. Will Host werden. Plappert immer davon, wir könnten ne Menge Geld machen, mit nem Club. Drüben. Wo's leersteht." "Aha." Mit zusammengekniffenen Augen strengte er sich an, die krakeligen Zeichen zu entziffern. Sie sagten eine Menge über ihren Urheber aus: schlampig, windschief und mit grüner Tinte aufgetragen. »Dabei hat der Schlaumeier einen Reklamezettel der Konkurrenz benutzt.« Für einen Moment war er versucht, das Machwerk mit Kreisen, Pfeilen und dem erschütternden Gekrakel der Brandfackel anzuvertrauen, die sein Untergebener eifrig offerierte, wann immer er nach den Zigarillos tastete. "Wie heißt der Typ?" "Ah...Boss?" Er hatte sich schon vor Jahren abgewöhnt, die Augen zu verdrehen oder eine andere Form von Ungeduld zu zeigen. Es war schlicht und ergreifend Energieverschwendung. "Der Blonde. Der den Zettel hier bekritzelt hat." "Ah...keine Ahnung, Boss. Wir nennen ihn alle Blonder." "Ja. Das dachte ich mir." Solche tiefschürfenden Gespräche weckten in jedem Mann das Bedürfnis, sich ein Bier zu gönnen. ~+~ Im Untergeschoss, das auch mal als Garage gedient hatte, tobte zeitgleich der Bär, metaphorisch gesprochen. Eigentlich warf ein altersschwacher Projektor verzerrte Bilder an die Wände, Pornos auf 8mm-Streifenband, während lädierte Boxen dröhnten und die aufgeplatzten, nach Nässe und Schmutz müffelnden Sofas belümmelt wurden. Damit man das Elend und den Zoo, der sich hier beheimatet fühlte und zwischen den Instant-Suppen und aufgerissenen Snack-Tüten herumflitzte, nicht störend registrierte, gab es kein Licht. Wozu dienten schließlich die Displays von Mobiltelefonen? "Du bist ja echt der Frauenversteher!" Höhnte einer in der flackernden Dunkelheit, aber das konnte ihn nicht bremsen. "Das muss man auch, damit der Laden brummt!" Erklärte er wichtig. "Ich habe alle Tricks drauf! Das kann schließlich nicht jeder!" In der Tat bedurfte es schon einer gewissen Hingabe und zweifelhafter Umstände, um sich eine vergleichbare Ausbildung zuzulegen. Der Blonde, wie sie ihn nannten, aber selten riefen, konnte sich stolz als Absolvent summa cum laude betrachten, und das in recht jugendlichem Alter: er war ein selbsternannter Connaisseur der weiblichen Spezies. Jahrelange, intensive Studien, die Bereitschaft, sich ständig und überall fortzubilden, ein gutes Gedächtnis für die wesentlichen Dinge, dieses von den Göttern verliehene Talent, beinahe genial anmutend, DURFTE nicht verschwendet werden! Im Augenblick jedoch befleißigte er sich nächstenliebend der Mission, denn es schadete keineswegs, Anhänger und Unterstützer zu haben. Auch ein Genie hatte gelegentlich Schutz notwendig, muskulösen, gewalttätigen Schutz. "Es ist nicht so einfach, wie es aussieht." Erläuterte er und kopierte Gesten, die er lange und geduldig vor einem altersblinden Spiegel einstudiert hatte, häufig auch in einer abgehängten Fensterscheibe, wenn sein Studienmaterial über die Glotze flimmerte. "Man muss jede Chance nutzen." Referierte er und zerdrückte versehentlich etwas, das nicht schnell genug in Deckung gehen konnte. Kakerlaken mochten ja generell einen Atomkrieg überstehen, diese hier gehörte aber wohl einer ausgestorbenen Sippe an. Bevor er jedoch ein bahnbrechendes Konzept mit einem Beispiel illustrieren konnte, wurden die Gratis-Päckchen verteilt, was die Stimmung merklich hob. ~+~ "Hier, Boss." "Danke. Kümmere dich jetzt um die Kundschaft." "Jawohl, Boss. Sofort, Boss." Stirnrunzelnd schlug er die Mappe auf, die offenkundig aus einer teuren Speisekarte 'umgebaut' worden war. Zum ersten Mal hielt er eine Bewerbung plus Lebenslauf in der Hand. Das WAR ungewöhnlich, aber er hatte das untrügliche Gefühl, dass DIESES Talent ein bisschen ZU außergewöhnlich für die bescheidenen Ansprüche seiner Organisation sein konnte! Gleichmütig kehrte er Papierabfälle von den einzelnen Blättern, ignorierte den unangenehmen Geruch, der von der Abfalltonne herrührte. Der Blonde hatte tatsächlich einen Namen. Fujiwara, Gorou. Während lediglich kurz die schulische Bildung mit dem Abschluss der Mittelstufe gestreift wurde, legte sich der Blonde ins Zeug, was seine Qualifikation als zukünftiger Host in einem Ladies' Club betraf. Die Liste der Eigenschaften drohte, sich über mehrere Seiten auszubreiten, war jedoch akkurat eingeklappt worden, einem Leporello gleich. "Autodidakt, wie?" Er fischte einen weiteren Zigarillo heraus und fragte sich, warum ihm einige der aufgeführten Namen so merkwürdig bekannt vorkamen. ~+~ Man konnte von Gorou Fujiwara nicht behaupten, dass er ein notorischer Schulverweigerer war, eine Eigenschaft, die sämtliche seiner Brüder verband. Ganz im Gegenteil! Es kostete erhebliche Mühe, ihn zum Tagesschluss zu vertreiben. Die Ursache lag nicht etwa in einem unglaublichen Lerneifer, was den regulären Unterrichtsstoff betraf, sondern in der unverschämten Selbsterkenntnis, er sei befähigt, sämtliche Frauen der Welt zu beglücken, ein veritabler Nachfolger von Casanova, Don Juan und Sonny Crockett. Diese illustre Reihe von Vorgängern und Vorbildern wurde ergänzt durch weitere 'Rollen' im Repertoire, das mittels der alten Videobänder, die er auf undurchsichtigen Kanälen in die Schule schmuggelte, ständig in die Breite wuchs. Gorous Theorien, in früher Kindheit bereits konzipiert, bezog simple Beobachtungen in einen unwiderlegbaren Kontext: Frauen hüteten das Geld. Wollte man an dieses Geld gelangen, musste man den Frauen etwas dafür bieten. Das größte Geheimnis der Welt bedurfte daher der Aufklärung: was wollen Frauen? Mit dem marktwirtschaftlichen Ansatz zur persönlichen Bereicherung widmete sich Gorou interessiert den Ansätzen Dritter. Mittlerweile stand nach langen Forschungen und Studien seine Antwort: Unterhaltung! Da konnte mancher Esel noch so wiehern, wenn er sich die Leitartikel und Themen der Frauenzeitschriften einprägte, über 100 Namen teurer und angesagter Mode-Labels auswendig lernte, Parfüms der Saison kannte, Diäten und Sportarten eruierte. DAS ALLES war das Geheimnis des Erfolgs! Frauen mochten Blumen und Edelsteine, Makeup und Kleider, sie liebten Komplimente in mehreren Sprachen und Tanzen mit Könnern! Was lag also näher, als bei Johnny Castle, Tony Manero, Danny Zuko und Scott Hastings Tanz und Auftreten zu lernen? Wenn ein farbloser Büroangestellter wie Shohei Sugiyama europäische Standardtänze lernen konnte, dann gelang das Gorou Fujiwara im wahren Leben mühelos! Unzählige Male verwandelte er sich in Don Lockwood oder Jerry Mulligan, beobachtete akribisch Rhythmus und Manieren von Ginger und Fred, entschied sich für einen gemäßigten Rebel without a clue-Look, bevor er dazu überging, die leichter erhältlichen Überreste der Disco-New Wave-Einflüsterungen zu übernehmen. Einen weiteren Vorteil hatte das exzessive Studium der korrekten Annäherung an das Objekt der Begierde (und des Vermögens in spe) auch gehabt. Gorou Fujiwara konnte sich rühmen, verschiedene Phrasen der Balz in fremden Sprachen zu formulieren. Eingestandenermaßen bereiteten ihm die Tango-Nummern und die temperamentvollen Paartänze ebenso Schwierigkeiten wie die seltsamen Zischlaute der Spanier, aber darauf kam es schließlich nicht an, wenn man sich bloß ausreichend vorbereitet hatte! Lässig, aber nicht locker erscheinen, selbstsicher, aber nicht arrogant auftreten, aufmerksam, aber nicht aufdringlich den Hof machen, bescheiden, aber souverän als Mann von Welt mit Geschmack und dem richtigen Einfühlungsvermögen. DAS war der Schlüssel zu seinem Erfolg. Unglückseliger Weise hatte das Schicksal hinderliche Ignoranten in seinen Pfad gestellt, die seinen Genius nicht als solchen erkannten. Nach einem ersten, eher unerfreulichen Versuch, sich in der Branche im Vergnügungsviertel einen Namen zu machen (ganze fünf Minuten, bevor die Rausschmeißer ihm seinen besten Anzug ruiniert hatten), stand für Gorou, der an diesem demoralisierenden Tag auch noch seinen Aushilfsjob in einem Spielcenter mit Filmverleih verloren hatte, fest, dass er sich mit Muskeln umgeben musste. Zwar verfügte er über einen durchaus ansehnlichen Körperbau, das Tanzen erforderte gewisse Anstrengungen, hielt sich fit (mangels Geld für fettige Mahlzeiten und schlecht bezahlter Gelegenheitsarbeiten auf dem Bau), aber hier musste man sich vor allem mit einem gewissen 'Nachdruck' versorgen. Was lag also näher, als alte Schulfreundschaften, nun, wohl eher Bekanntschaften, in der Nachbarschaft aufzufrischen und sich in eine der gewissen Organisationen einzuführen? Folglich wurde der Schwerpunkt seiner Weiterbildung kurzzeitig verlagert auf alles, was für einen zukünftigen Angehörigen gewisser Organisationen von Bedeutung war. Da sich in den Filmen, die er zwecks Studium konsumierte, ebenfalls eine eindeutige 'Choreographie' abzeichnete, konnte Gorou es kaum erwarten, sich als würdig für einen bedeutenden Auftrag zu erweisen, weil er ja die 'richtige' Sprache beherrschte und alles über echte Männerfreundschaften wusste! Leider befand er sich gerade im Kreis von Ignoranten, die weder Frauen richtig einzuschätzen wussten, noch mit den kulturellen Besonderheiten wahrer Männerbünde vertraut waren. Gorou sah sich in der Pflicht, seine Brüder einzuweisen. Allerdings wurden seine tapferen Versuche erheblich durch den Konsum der Gratis-Proben und der alkoholischen Flüssignahrung erschwert. "Man kann die amerikanischen Mafiosi nicht als Vorbild nehmen!" Betonte er gerade, während flackernd und ohne Ton zwei als Kaninchen verkleidete Körpervermieter rammelten. "Die haben sich am Ende alle betrogen!" Zumindest, soweit er sich an die epischen Handlungsstränge erinnern konnte. "Außerdem hatten sie nicht den richtigen Rhythmus!" Ergänzte er, verzichtete aber im Sinne seiner Gesundheit auf die Erwähnung von chinesischen Produktionen, die oft Kämpfe rivalisierender Banden zum Thema hatten. Von der Konkurrenz sprach hier niemand, zumindest nicht mehr nach einer korrigierenden Gesichtsbehandlung. "Der richtige Rhythmus ist entscheidend." Setzte er erneut an, versuchte, sich auf die Gesichter seiner Brüder zu konzentrieren, was mit steigendem Konsum des Biers schwierig wurde. "Zum Beispiel diese Griechen, die haben's drauf!" "Was drauf?" Jemand lebte zumindest am anderen Ende der endzeitlich geprägten Couch noch. Vielleicht war es aber auch bloß der Papageien-Reflex. "Sag ich doch!" Gorou kam in Fahrt, erhob sich schwankend und strich sich elegant über das Revers, damit unter dem offenen Seidenhemd der versilberte Anhänger betont wurde. "Rhythmus! Echte Männerfreundschaft!" Er taumelte, durch diverse, im Halbdunkel nicht zu erkennende Gegenstände, in die vage Richtung des Fragestellers, bei dem er ungewöhnliches Interesse am Sujet vermutete. "Denk an James Bond. 007. For your eyes only." Grinste er und tastete nach seinem Mobiltelefon. Dort musste doch eine Fassung gespeichert sein, oder? Da Gorou viel von interaktivem Lernen hielt, besonders in Sachen Fremdsprachen, speicherte er zahlreiche Lieder auf seinem Mobiltelefon, um die Phrasen auswendig zu lernen, selbstverständlich, nachdem er sich ein Bild über die ungefähre Bedeutung gemacht hatte. Üblicherweise. Nun, manchmal gefiel ihm einfach bloß die Melodie. Oder es gab die Lieder für lau. Irgendwo. "Also..." Er verstummte, schwankte ein wenig und suchte nach dem Gesprächsfaden, zurrte dann das metaphorische Knäuel von hinten auf. "For your eyes only, James Bond. Genau!" Lässig wischte er in der perfekten Mischung aus Gedankenlosigkeit und Narzissmus eine blondierte Strähne aus dem Gesicht. "Der einzige Streifen, wo Bond einen Partner hat! Außerhalb vom Geheimdienst natürlich. Diesen Griechen nämlich." "Was laberst du da wieder?" Blubberte es unkritisch in der Semi-Dunkelheit. Sofort war Gorou zur Stelle, seine Theorie zu verteidigen. "Na, der Grieche, der ihm geholfen hat! Weiß doch jeder! Die haben sich gleich vertraut, echte Männerfreundschaft. Weil Griechen Rhythmus haben." "Klar doch!" Höhnte ein anderer hinter Gorou. "Deshalb tanzt Britney Spears auch griechisch, was?! Geh endlich aus dem Bild, Blonder, ich will das Pferd sehen!" Gorou duckte sich unter dem flimmernden Porno hinweg. "Sie ist eine Frau." Erklärte er überflüssigerweise. "Außerdem tanzen Männer mit Frauen natürlich anders!" "Ja, horizontal!" Grölte einer, woraufhin brüllendes Gelächter ertönte. Solcherart in seinem Fachverständnis über Frauen und griechische Männerfreundschaften getroffen, die er engagiert studiert hatte, sah sich Gorou zu härteren Maßnahmen gezwungen. Er machte kehrt und steuerte von den Sofas weg, um das Beispiel zu demonstrieren. ~+~ "Und was genau ist dann passiert?" Er rieb sich über die Nasenwurzel und kniff die Augen zusammen, in der vagen Hoffnung, dadurch einen Teil der grausamen Realität auszulöschen. "Ja, Boss...also... sie haben gesagt, der Blonde hätte angefangen. Mit Griechen. Und dann hätte es eine Rangelei gegeben. Wegen eines Briten." "Eines Briten?" "Ja, Boss. Ein Sir Tackey. Könnte vielleicht ne Whiskey-Marke sein?" "Oder ein Deckname. Vielleicht ein russischer Spion." "Russen, Boss?!" Er winkte ab, griff nach dem Zigarillo und zuckte reflexartig zurück, als der Flammenwerfer diensteifrig eine feuerrote Blüte spuckte. Manchmal war es ein Kreuz, mit mehr Zynismus gesegnet zu sein als jeder andere anständig versaute Kerl auf Erden. Nach der Lektüre der 'Bewerbungsmappe' und dem Studium der Videoaufzeichnung war ihm durchaus klar, womit er es hier zu tun hatte: einer ernstzunehmenden Gefahr aus dem Inneren. Einem emsigen Vollidioten. Nachdenklich entließ er eine kleine, perfekte Kringel zur nikotingelben Decke. Konnte man diese Feststellung nutzen, um ihn als Lehrling bei der Konkurrenz unterzubringen? Nein, vermutlich würde jeder seriöse Konkurrent das Trojanische Pferd sofort erkennen. Nachlässig spielte er erneut die Aufzeichnung ab, wie der Blonde in seinem lächerlich dünnen Papageien-Anzug auf die Gruppe zusteuerte, die sich gegenseitig stützte und trunken lachte, trotz Restlichtverstärker nicht mehr als ein Rudel dunkler Gestalten, die jeden das Fürchten lehren sollte. Allerdings definitiv nicht in SOLCHEN Augenblicken. »Tsk tsk, und das bei unserer leichtesten Mischung, Hausfrauen-Freude!« Der Blonde schob sich zwischen die Schwankenden, platzierte Arme auf Schultern, navigierte mit den Hüften nach rechts und links. Die Massenträgheit kombiniert mit der Eigendynamik Besoffener sorgte für den richtigen Schwung in der losen Reihe der Taumelnden. »Interessante Schrittfolge.« Dachte er mit Kennerblick. Normalerweise führten solche Aktionen direkt zum Knochenflicker. "Wie viele?" "Boss?" "Wie viele Verletzte?" "Ah, zwei Arme gebrochen, vier Knöchel verstaucht, drei Zehen gebrochen und eine Nase. Wegen dem Karton. Also, sieben. Boss." "Sieben auf einen Streich. Zauberhaft." "Boss?" "Schon gut. Gib den Verletzten etwas von den grünen Pillen." "Jawohl, Boss. Sofort, Boss." In der wohltuenden Einsamkeit seines Büros überdachte er die Lage, während immer wieder das Videoband seine Aufzeichnung abspielte. Sir Tackey und der Blonde hatten mit gutem Willen die Hälfte seiner Mannschaft hirnloser Primaten im Bestatter-Outfit flachgelegt. Was könnte man wohl erst mit bösen Absichten erreichen? ~+~ Gorou Fujiwara, Connaisseur der Damen, künftiger Nachfolger von Casanova, Don Juan und Sonny Crockett, Paar- und Eintänzer, vertikal und horizontal, nagte deprimiert an seiner Unterlippe. Wieder zurück in der Bruchbude, wieder auf dem alten Schlafsack, wieder ergebnislos im alten Rucksack gewühlt! Der Boss hatte ihn noch nicht zu sich gerufen, aber er zweifelte nicht daran, dass man ihm die Verantwortung für das Ungeschick seiner Brüder zuschieben würde. Was vollkommen und absolut ungerechtfertigt war! Er hatte ja nicht erwartet, dass sie eine Chorusline absolvierten, wie beim Cancan ihre Beine in die Höhe warfen, von wegen! Bloß aufstützen und mal nach rechts, mal nach links treten, das konnte jeder Besoffene doch im Schlaf! Vielleicht sollte er vorschlagen, dass sie zuerst mal mehr Karaoke probten, für das richtige Rhythmusgefühl? Ob der Boss diese Empfehlung wertschätzen würde? Seufzend massierte sich Gorou den knurrenden Magen, befestigte dann geübt die Kopfhörer unter der blonden Pracht. Trübsinnig über sein Elend klagen, das lag ihm nicht! Außerdem bekam man Falten. Darum döste er mit gesenkten Lidern vor sich hin, lauschte fremden Worten in fremden Sprachen, die sich zu munteren Melodien bildeten. ~+~ "Du hast also über die Theorie der Männerfreundschaft bei den Griechen gesprochen." "Ja, genau, Boss! Über das Rhythmusgefühl! Und Rhythmus lernt man bekanntlich beim Tanzen." "Sieh an." "Rhythmus ist wichtig, quasi das Timing für jede Operation, Boss. Die blinde Abstimmung, die synchrone Ausführung!" "Ach wirklich." "In der Tat, Boss! Ich kann Ihnen einige Beispiele aus Filmen nennen..." "Nein." "Oh... nun, Boss, jedenfalls wollte ich das Rhythmusgefühl demonstrieren." "Von griechischen Männerfreunden." "Genau!" "Ich dachte, deine Profession sei die des Frauenverstehers?" "Frauenbeglückers. Connaisseurs, um genau zu sein, Boss." "Und dann kam Sir Tackey ins Spiel, wie?" "Sir Tackey, Boss?" "Ist das nicht dein griechischer Männerfreund?" "Also...nein... ich kann leider nicht folgen, Boss?" "Im Gegenteil, ICH denke, du bist deiner Zeit voraus. Nicht schnell genug für meinen Geschmack." "Verzeihung, Boss." "Damit eins klar ist: ab sofort gibt es keinen Unterricht mehr über Männer, Frauen, Griechen, Tänze oder Freundschaft. Verstanden?" "Ja, Boss." "Und jetzt verzieh dich. Ich will nicht auch noch den Rest meiner Männer bei dubiosen Experimenten außer Gefecht sehen." »Zumindest nicht denen, die ich nicht selbst angeordnet habe, um die Qualitätsstandards zu erfüllen.« "Ja, Boss. Vielen Dank!" "Boss?" "Ja?" "Soll ich ihn nicht doch vermöbeln? Er ist noch nicht die Treppe runter." "Nein. Um ihn herum passieren mir zu viele seltsame Unfälle." "Wirklich, Boss?" "Hol mir Kopfschmerztabletten." ~+~ Der sehnige Mann mit dem schwarzen Pferdeschwanz im Nacken und der Sonnenbrille grinste unverhohlen, als er die Kopie des Videobandes erneut betrachtete. Auf dem kleinen Pult vor ihm lagen Notizen, das Aufnahmegerät lud sich gerade wieder den Akku voll. "Sir Tackey, könnte das ein Spion von den Russen sein?" Wiederholte er laut die Frage seines Kontakts und lachte herzlich. "Wohl eher der Schutzheilige der rhythmischen, griechischen Männerfreundschaft!" ~+~ "Los, komm hoch, Blonder!" Gorou zuckte zusammen, als ihn ein weiterer Tritt in die Kehrseite traf, nur mäßig von seinem Schlafsack gepolstert. "Was-was ist los, großer Bruder?" "Hoch mit dir, der Boss will dich sehen. Aber fix!" Obwohl es bereits spät am Abend war, strahlte Gorou, als ihm klar wurde, dass nun seine Chance gekommen war! Der Boss schickte nach IHM! ~+~ "Ah, Fujiwara." "Guten Abend, Boss." "Ich habe einen bedeutenden Auftrag für dich." "Vielen Dank, Boss!" "Das ist deine Bewährungsprobe, verstanden?" "Ja, Boss, vielen Dank, Boss!" "Du wirst ein Paket an dieser Adresse abholen und dorthin liefern, verstanden?" "Jawohl, Boss!" "Keine Fehler und auf keinen Fall improvisieren." "Nein, Boss." "Und keine Tänzchen, klar? Sir Tackey ist aus dem Spiel!" "Äh....ja, Boss. Selbstverständlich, Boss." "Dann verschwinde jetzt." "Ja, Boss. Vielen Dank, Boss." Als sich die Tür hinter ihm schloss, wanderten kleine, perfekte Kringel Richtung Decke. Unter ihnen thronte ein Mann, der sich amüsiert fragte, ob er die Wette mit sich selbst gewinnen oder verlieren würde. ~+~ Gorou starrte auf das Paket. Es war keins. Sondern ein Sack. Ein zuckender, zappelnder Sack. "Na los, du Schnecke, auf was wartest du noch, ne schriftliche Einladung?!" "Ja...aber was soll ich damit? Was ist da drin?" "Was denkst du wohl, du Penner?! Jetzt verzieh dich, die Pillen bauen ja schon ab!" ~+~ »Ich werde nicht in den Sack gucken. Nein, ich WERDE NICHT in den Sack gucken!« "Werde ich nicht. Ich werde nicht in den Sack gucken!" Gorou blieb stehen, denn es wurde immer schwieriger, den sich ausbeulenden, Geräusche absondernden Sack zu transportieren. Wenigstens hatte er endlich den Ort erreicht, an dem er das 'Paket' abliefern sollte. Unwillkürlich reduzierte Gorou die Lautstärke der Musik, glotzte auf das Display seines Mobiltelefons, jener konzentrierte, Bann schlagende Blick, den er von Graf Dracula gelernt hatte. Leider änderte das gar nichts. Der Bestimmungsort war erreicht, doch hier gab es kein Gebäude, keinen Eingang, kein nichts. Nur einen tiefen Entwässerungsgraben. "...oh..." Dämmerte dem selbsternannten Frauenkenner mit einiger Verspätung. Bedauerlicherweise schlossen seine Studien gewisse Aspekte der Existenz als Angehöriger der Organisation nicht ein, sodass er sich einem Dilemma ausgesetzt sah: was tun?! Hastig blickte er sich um. Niemand in Sichtweite. Nichts wäre einfacher, als den Sack lässig in die Mitte des dreckigen, trägen Stroms zu schleudern! Aus den Augen, aus dem Sinn! Theoretisch. Praktisch geschah Folgendes: während Gorou mit mangelndem Enthusiasmus, aber in großer Hoffnung ob der Zukunft den Sack wie ein Hammerwerfer schleuderte, verhedderte er sich unglücklich in der audialen Verkabelung seines Mobiltelefons. Erschrocken baute er instinktiv einen weiteren Schritt in die tadellose Drehbewegung ein, die jedem Walzer zur Ehre gereicht hätte, erlegte damit treffsicher das abgestürzte Telefon und beförderte den Sack samt Inhalt ans Ufer. Auf eine Matratze, angeschwemmt und verkeilt. "Oh, Scheiße!" Fluchte Gorou, suchte im Dunkeln nach den Trümmern seines Mobiltelefons. Prompt schnitt er sich auch noch an einem Kunststoffsplitter. Blut tropfte mit vehementem Nachdruck aus der Schnittwunde an seinem Handballen, ungehindert, bis er endlich, nunmehr bleich und zittrig, mit der Reservekrawatte für besonders vornehmes Auftreten die Wunde eingewickelt hatte. Sein Mobiltelefon mit den kostbaren Musikdateien, es war zerstört! Dann hörte er sie leise jaulen, ein banges Winseln, erbärmlich dünn und zaghaft. "Verdammt, verdammt, verdammt!" Kommentierte Gorou verbissen die Entwicklung. Er warf einen bitterbösen Blick auf den Entwässerungsgraben, der sich unbeeindruckt zeigte, starrte trauernd auf sein zertrümmertes Eigentum und stapfte dann zum Ufer. Es war nicht beleuchtet, der Himmel zwar wolkenfrei, aber ohne das erhellende Licht des Mondes, der gerade erst wieder zunahm. "Wo seid ihr?" Zischte er unterdrückt, tappte suchend in den Abfallberg. Offenkundig wollte das Schicksal nicht, dass er den Inhalt des Sacks versenkte, weshalb er nun den Verlust seines treuen Gefährten zu beklagen hatte! Andererseits könnte man ja nun auch wenigstens mit ein bisschen Glück bei der Suche aushelfen, oder nicht?! Gorou fischte mit der intakten Hand ein Feuerzeug aus seinem Armeeparka, ließ die Flamme aufschnappen und sah sich um. "Mist." Knurrte er, gar nicht salonfein, aber seines Wissens waren auch keine Damen zugegen. Er kämpfte sich durch die mit Abfall übersäte Botanik den abschüssigen Graben hinunter. Recht rasch, zog man die unerfreulichen Umstände ins Kalkül, gelang es ihm, den Inhalt des Sacks wieder zu bergen: vier Hundewelpen. Sie waren jeder eine Handvoll, allerdings hellwach und mit ÄUSSERST vorwurfsvollen Blicken ausgestattet. Vage konnte sich Gorou entsinnen, dass zu den Geschäftszweigen der Organisation auch die Zucht bestimmter, einheimischer Hunderassen gehörte. So entledigte man sich wohl der Welpen, die nicht zu verkaufen waren, bevor sich die Kosten-Nutzen-Analyse zu ihrem Nachteil entwickelte. "Was fange ich jetzt an?" Gorou kletterte zunächst mal den Graben wieder hoch, kein leichtes Unterfangen, denn der Boden war schlüpfrig und zudem mit Unrat bedeckt, den er ohne sein Feuerzeug nicht ausleuchten konnte. Außerdem war es nicht einfach, gleich vier zapplige Welpen in den Armen zu halten, während man sie lieber zwecks eigener Stabilisierung ausgestreckt hätte! Aber einen geborenen Ein- und Paartänzer schreckte die Gefahr nicht! Zunächst mal musste er seine Hände, nun, die eine Hand, die nicht pochte und schmerzte, wieder freibekommen, also die Welpen irgendwo einsperren, wo sie nicht ausrücken konnten. Nachdem er sich zweimal die Schienbeine angerannt hatte und nun auch noch seine Anzughose schmutzig war, brodelte ihm die Wut gallig hoch. Hatte er die Hunde nicht verschont?! Konnte jetzt nicht mal ein bisschen Glück auf seiner Seite sein?! Endlich fand er eine eingerissene Plastikwanne, in die er die vier Welpen hineinsetzte. Sie kläfften nun, nicht allzu laut, aber fröhlich. Außerdem hatte sie der Körperkontakt ein wenig aufgewärmt. "Pscht!" Mahnte Gorou und fummelte sein Feuerzeug frei. Es ließ sich mehrere Versuche lang bitten, bis endlich eine flackernde Flamme erschien. "Na toll, jetzt geht mir auch noch das Gas aus!" Schnaubte er empört. Fortuna konnte keine Frau sein, sonst wäre ihm nicht so übel mitgespielt worden! Er bewegte die Kiste mit den Füßen vorwärts, während er sich um eine neue Lichtquelle bemühte. Schließlich, es half ja nichts!, zückte er die Dose Haarlack, sehr günstig erworben und gelegentlich unverzichtbar, wenn es einer DIESER Tage war. Ihn trieb die Hoffnung an, vielleicht doch noch etwas von seinem Mobiltelefon retten zu können. Als er die ungefähre Stelle erreichte, hielt er das Feuerzeug vor die Dose und drückte mit der lädierten Hand den Knopf ein. Leider konnte sein Daumen wieder und wieder der tückischen Handfackel keine Flamme entlocken. Endlich sprang der Funken lodernd über, spie das Feuerzeug den letzten Rest Gas aus. Gorou fackelte prompt eine gewaltige Lohe quer über das Areal. Dabei blickte er in zahlreiche, funkelnde Augen, eine wahre Armee räudiger Hunde und katzengroßer Ratten. Aufkreischend sengte er den Boden vor sich an. Die Dunkelheit wies ihn nicht darauf hin, dass die Pfützen nicht vom Regenwasser stammten, sondern vom lecken Tank einer alten, mobilen Ölheizung. ~+~ Kapitel 10 - Flügelschlag Kurz nach Mitternacht rückten Feuerwehr und Polizei aus, nachdem ihnen gemeldet wurde, dass ein Entwässerungsgraben brannte und mehrere, kleinere Detonationen erfolgt waren. Zehn Straßenzüge vom Schauplatz des nächtlichen Feuerzaubers kauerte der Frauenkenner und Ex-Aufnahmeaspirant einer gewissen Organisation in einer Betonröhre auf einem Kinderspielplatz, umklammerte hysterisch zitternd eine Plastikwanne mit vier recht beeindruckten Hundewelpen. ~+~ Es ging auf zwei Uhr in der Frühe zu, die Straßen waren entvölkert, zumindest hier, wo sich hauptsächlich Wohnungen und kleine Geschäfte befanden. Ziellos, aber wie aufgezogen stapfte Gorou mit seiner Plastikwanne die Straße entlang, setzte einen Fuß vor den anderen. Man musste nicht besonders helle sein, um sich auszumalen, dass es gewisse Kritikpunkte bei der Erledigung dieses Auftrags gab, vordringlich den, dass er ihn noch nicht erfüllt hatte. Gorou starrte konsterniert auf die Welpen. Jeder sah anders aus, aber alle kuschelten sich Wärme suchend aneinander in der Plastikwanne. Die Welt war ungerecht. Er tat sein Bestes, hatte die lautere Absicht, Gutes zu tun, sein Talent zu nutzen und was kam dabei heraus?! "Scheiße." Beantwortete er sich selbst die Frage. Man müsste der Welt vors Schienbein treten können! Während er vor einem Geschäft Pause machte, um seine Gedanken zu sortieren und jeden Welpen in einen arglosen Blumentopf setzte, damit sie eine öffentliche Toilette absolvieren konnten, seufzte er geplagt. Richtig, die Dekorationen erinnerten ihn daran, dass in ein paar Stunden der Tag der Liebenden anbrach. Oder zumindest der Tag, an dem Schokolade Männer beglücken sollte. Wenn man diesen Tag nutzte, um einer Frau etwas zu schenken, natürlich spontan, als Aufmerksamkeit für ihre Gabe, DANN hätte man richtig ein Stein im Brett. Oder sie die Hand in der Börse! Man musste das Überraschende tun! Romantik! Kleine Gesten mit großer Wirkung! Eigentlich wäre es DER Tag, um sich als Host noch mal anzudienen, was theoretisch funktioniert hätte, sähe man mal von diesem eindeutig missglückten Auftritt ab! "Und mein Anzug ist auch schmutzig!" Gorou schnaubte. GANZ schlechte Aussichten. Außerdem, was sollte er JETZT tun? Man könnte immer noch zurückgehen und den Auftrag als abgeschlossen melden. Immerhin konnte das Feuer mit den Explosionen ja auch später ausgebrochen sein, oder? Bei so viel Unrat! Über sich hörte er ein paar der großen Krähen warnend rufen. Oder hungrig?! Hastig pflückte er die vier Welpen aus dem übergroßen Blumentopf, beförderte sie wieder in die Plastikwanne zurück. Dabei kam ihm eine glänzende Idee, auch ohne das leitende Licht eines Vollmondes. ~+~ "Was ist das hier? Sehen Sie mal, sind das nicht verschmorte Drähte? Und ein Telefon?" "...könnte die Explosion ferngezündet worden sein?!" "Ich kenne diese Version, Chef. Das ist ein Mobiltelefon mit MP3-Player, nicht mehr ganz neu." "War dieses Mobiltelefon-MP3-Player-Ding kaputt, bevor die Hölle hier losgebrochen ist?" "Kann ich nicht sagen, Chef." "...sammeln Sie es ein. Vielleicht haben wir es hier mit einem VORFALL zu tun." "...natürlich! Sofort, Chef!" ~+~ "Ich habe sie gleich gesehen, als ich gekommen bin! Sind sie nicht niedlich?" "Ja, schon, aber was fangen wir mit ihnen an? Sollten wir nicht die Polizei rufen?" "Ach was, warum denn?! Hier, lies doch mal den Zettel!" "...was denn, als Geschenk für glückliche Paare zum Valentinstag?" "Ist das nicht herzig? Sieh doch, dass hier ist ein Akita, das ein Shiba. Der hier ist ein Ainu Ken, das habe ich nachgesehen, und hier, der ist richtig selten, ein Shikoku Ken!" "Wieso verschenkt die einer so einfach? Sind die nicht teuer?! Wahrscheinlich sind sie gestohlen worden!" "Und wenn schon! Weißt du was? Wir verlosen sie heute! Als Preis für das Paar, das uns die schönste Liebesgeschichte erzählt!" "Hör mal, wenn die doch gestohlen sind..." "Kamamura, du bist ein Weichei! Guck doch auf den Zettel, Mensch! Den heben wir auf und geben ihn einfach der Polizei, wenn es ein Problem gibt." In der Tat sollte der die Beamten auf Trab halten. Der anonyme Spender, der in grüner Tinte ziemlich ungelenk seine großzügige Gabe offerierte, hatte ebenso geschickt einen perfekten Fingerabdruck in der hoffnungsfrohen Farbe hinterlassen. ~+~ Einige Stunden später stand Gorou Fujiwara vor der einzigen spiegelnden Fläche in dem heruntergekommenen Männerheim und unterdrückte den quälenden Wunsch, in lautes Geheul auszubrechen. Zunächst war es ja bloß die Krawatte gewesen, dann noch die Beine der Anzughose, aber jetzt!! Der verfluchte Füller mit der grünen Tinte, ein weiteres Sonderangebot, das er beim Pachinko eingetauscht hatte, war ausgelaufen und hatte seine Anzugjacke UND sein Seidenhemd versaut! Für einen langen, rachsüchtigen Moment erwog er, sich beim Betreiber zu beschweren, denn auch das Feuerzeug und sein Haarspray entstammten dieser Quelle. Dann siegte aber sein Überlebensinstinkt. Außerdem wäre es so, als würde er seinem zukünftigen Arbeitgeber ans Bein pinkeln. Definitiv keine erfolgversprechende Option. Während er mühsam die grüne Farbe von seinem Oberkörper schrubbte, um sich nicht als heimlicher Ire zu entlarven, immer wieder ärgerlich auf die Brusttasche schielend, fragte er sich, ob seine Hoffnungen berechtigt waren. Eine entsprechende Geschichte hatte er schon ersonnen: selbstverständlich waren die Hunde weg. Er hatte bloß so lange mit der Rückmeldung gebraucht, weil sein Telefon kaputtgegangen sei. »Und mein MP3-Player.« Winselte er stumm. Wie sollte er jetzt seine Lektionen mit den Fremdsprachen fortsetzen?! Englisch allein reichte auf keinen Fall! Aber Notizen zu machen, das war sinnlos, er hatte ja selbst Mühe, seine eigene Sauklaue zu dechiffrieren! Nachdem er sich Nase rümpfend gewaschen hatte, in der fehlgeleiteten Vorstellung, dass es in einem Damenbad sicher nach Lilien gerochen hätte, schlüpfte er in Ersatzkleidung aus dem großen Rucksack. Sein zweiter und letzter Anzug, hellblau, eigentlich nur für den Sommer geeignet. Ohne Seidenhemd musste ein weißes Doppelripp-Unterhemd ausreichen. Im Umkleideraum versorgte ein Lautsprecher die miesepetrige Kundschaft, Senioren, Obdach- und/oder Arbeitslose, mit flotter Unterhaltung. "...und noch mal herzlich Willkommen bei TWNBT, Ihrem Lieblingssender! Wir suchen noch immer vier liebevolle Paare, die unsere vier Welpen adoptieren wollen! Erzählen Sie uns Ihre persönliche Liebesgeschichte und krönen Sie sie mit einem niedlichen Hund! Die Hunde können Sie auch auf unserer Webseite sehen und noch bis 18 Uhr heute Abend läuft die Abstimmung über die besten Liebesgeschichten! Rufen Sie an! Beteiligen Sie sich, stimmen Sie ab!" Gorou lächelte. Wenigstens die vier Welpen, seine Gefährten im Unglück, würden es bald besser haben! Niemand würde wissen, dass er seinen Auftrag nicht weisungsgemäß erledigt hatte! ~+~ "Was soll das heißen, illegale Hundezucht?! Wir haben die Hunde nicht gezüchtet!" "He, die Hunde sind ein Geschenk! Sehen Sie hier, der Zettel!" "Beschlagnahmen, und dann?! Wollen Sie sie umbringen?! Ich verlange, Ihren Vorgesetzten zu sprechen!" ~+~ "...verloste heute Morgen der Radiosender TWNBT vier Hundewelpen, die von einem Unbekannten in der Nacht vor dem Gebäude des Senders ausgesetzt worden sind. Bis zum Mittag bewarben sich über 100 Paare um die Welpen, bis die Polizei einschritt, da der Verdacht bestand, es handle sich um illegale Züchtungen. Wie inzwischen durch den Pressesprecher mitgeteilt worden ist, liegt der Polizei ein Dokument vor, das dem Unbekannten zugeordnet wird und eine Identifizierung ermöglicht. Mehrere Tierschutzorganisationen haben gegen das bedenkenlose Verschenken der Welpen protestiert..." Gorou, der gerade eine lauwarme Nudelsuppe schlürfte, runzelte die Augenbrauen. »Nur ein Bluff!« Triumphierte er. »Sie sollte die Bluse eine Nummer kleiner kaufen...« Schweiften seine Gedanken ab. "Und nun noch ein Aufruf der Polizei. Gesucht werden Hinweise auf die Identität eines Mannes, der in der Nacht bei Aoyama unterwegs war. Möglicherweise sind Finger und/oder Bekleidung mit grüner Tinte beschmiert." Ein feiner Sprühnebel wurde von matschigen Nudelbrocken begleitet, als er explosionsartig Gorous Mund verließ, der würgte und hustete. »Vielleicht sollte ich doch nicht gleich zum Boss gehen.« Dachte er, als er wieder zu Atem kam und verzweifelt auf die öligen Flecken auf seiner Hose starrte. ~+~ "Boss?" "Ah. Sind das hier die letzten Unterlagen?" "Ja, Boss." "Gut. Verbrenne sie." "Verstanden, Boss." "Ach ja, sag den anderen, sie sollen ein wenig... präsenter sein. Nur für alle Fälle." "Jawohl, Boss." Er zündete sich einen Zigarillo an, drehte sich schwungvoll um die eigene Achse und legte die Beine auf den Schreibtisch. Das lief ja noch besser als geplant! Viel besser sogar. Während die Konkurrenz jetzt untertauchen musste, weil die Polizei in ihrem Revier entlang des Entwässerungsgrabens emsige Tätigkeit demonstrierte, um die Bürgerschaft zu beruhigen, jagten notorische Tierschützende die Konkurrenz, die sich mit der Tierliebe ein weiteres Geschäftsfeld erschließen wollten. Er lächelte und ließ den Fernseher laufen, studierte amüsiert das krakelige Dokument, das man immer wieder einblendete. Praktisch, wenn man in einer 'Bewerbungsmappe' ein Gegenstück dazu besaß! »Diese Füller haben noch nie was getaugt.« Grinste er und beglückwünschte sich dazu, so viel Ungemach über seine lästige Konkurrenz gebracht zu haben. Mit ein wenig Glück, wer weiß, würde der wandelnde Katastrophenherd intime Erkenntnisse über japanische Männerfreundschaften in geschlossenen Anstalten gewinnen! ~+~ Gorou zog sich tiefer in sein Versteck, eine kleine Nische in einer engen Gasse hinter verschiedenen Bistros und Love Hotels zurück. Es half jetzt nichts, seine mangelnde Bildung in dieser Hinsicht zu verwünschen, aber er hatte das betrübliche Gefühl, dass der Boss nicht zufrieden mit ihm sein würde. Die finsteren Schlägertypen, denen er auf dem Weg zu seinem Quartier begegnet war, sahen auch nicht glücklich aus. Gorou wusste, dass es verschiedene Organisationen in unterschiedlichen Revieren gab. Manchmal erkannte er sie sogar und achtete darauf, nicht zum Ziel zu werden. JETZT, seine wenigen Habseligkeiten mit dem kläglichen Rest Bargeld Schließfächern anvertraut, konnte er mit einiger Sicherheit sagen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie GEZIELT nach ihm suchen würden. Mit wachsendem Entsetzen hatte er sich in verschiedenen Elektrogeschäften herumgetrieben, eigentlich in der vagen Hoffnung, er möge Ersatz für seinen zertrümmerten MP3-Player finden, wenn schon ein teures Mobiltelefon außer Reichweite war. Doch die Nachrichten, die übertragen wurden, beraubten ihn aller Illusionen. Dafür konnte er nun einige blaue Flecken sein Eigen nennen, weil er immer mal wieder mit anderen Kunden zusammengeprallt war, nicht auf seinen Weg geachtet hatte. Experten hatten analysiert, intime Kenner geurteilt, Lokalpolitiker gesprochen. Gorou konnte sich des unrühmlichen Titels schmücken, aus dem 'Fest der Liebe' ein 'Fest der Hiebe' zu machen, da man von einem Revierkampf ausging, prompt auf das Valentinstag-Massaker in Chicago anspielte, da der Nachwuchs der Organisationen von fragwürdigen Einflüssen geprägt wurde. Gorou hatte keine Ahnung, um was es sich dabei handeln könnte, verfügte aber nun dank der Stunden Fernseh- und Radiokonsums über ein sehr viel ausgeprägteres Bild der gegenwärtigen Situation. Mit anderen Worten: wenn er irgend jemandem von den Organisationen in die Hände fiel, konnte er seine Zukunft beerdigen. Mutmaßlich nicht nur die. Deshalb kauerte er nun hier, leidlich getröstet, dass die vier kleinen Racker trotz der Querelen nette Ehepaare gefunden hatten, die sich ihrer annehmen würden. Das war besser, als ersäuft werden oder in einer Katzenfutterdose zu landen! Doch was sollte er jetzt tun? Gorou war ratlos. Er konnte nicht aus der Stadt verschwinden, weil er sie erstens nie verlassen hatte und zweitens nicht wusste, wohin! Drittens, es fehlten ihm die Mittel. Und viertens, wie sollte er am Bahnhof unerkannt in einen Zug steigen?! Würde man ihm da nicht auflauern? Sich stellen, das kam aber auch nicht in Frage. Seine Brüder verraten, nie und nimmer. Da blieb ihm nur der Versuch, die unabsichtlich ausgelöste Katastrophe beim Boss als besonders waghalsige Tat zu verkaufen und zu hoffen, dass der sich gnädig erweisen würde. Allerdings, wann war der passende Moment, um sich in die Höhle des Löwen zu wagen? ~+~ "Ist eine ziemlich spektakuläre Show gewesen." Kommentierte er mit unbewegtem Gesicht, schob sich einen Kaugummi in den Mund, während er seinen Informanten belauerte. Der knöpfte sein Hemd am Kragen auf und leerte eine weitere Flasche Bier. "Verdammte Schweinerei, das! Die Bullen schwärmen aus wie die Fliegen auf einen Scheißhaufen! Wenn wir den Pisser erwischen, dann..." Er zertrümmerte demonstrativ die Flasche an der Tischkante. Unbeeindruckt reichte ihm der Mann mit dem langen, schwarzen Pferdeschwanz eine weitere Flasche. "Wer könnte dahinter stecken?" Erkundigte er sich betont gelangweilt. "Sieht doch eher nach einem Griff ins Klo aus." "Ja, verdammt!" Sein Gegenüber rülpste vernehmlich. "Stört bei allen das Geschäft. Gibt auch zu viele Möglichkeiten, wer das angeordnet hat." "Könnte kein Streich sein?" Ein schlanker Finger strich über den sorgfältig gestutzten, modischen Spitzbart, eine markante Betonung der attraktiv-herben Gesichtszüge. "Nee!" Ein Ächzen. "Dafür war es zu gezielt und auch zu koordiniert. Hab läuten gehört, dass die Bullen sogar nen Anschlag befürchtet hatten, Bombe, oder so. Keine Ahnung, warum." "Schätze, dann werde ich erst mal meine Zelte hier abbrechen." Der Kaugummi klebte unter dem Gaumen. "Ist keine geeignete Zeit für Vereinbarungen." "Tja, dann sieht man sich wohl." Sie tauschten einen herzhaften Stoß der Ellen aus, die Fäuste geballt, dann war er allein. Nur noch ein paar lose Enden verknüpfen, dann... Er merkte auf, ruckartig flog sein Kopf herum. Ohne eine weitere Sekunde zu verlieren stürzte er zur Tür, riss sie auf und hechtete die kleine Treppe hoch, sah die davon stolpernde Gestalt. Also hatte man sie trotz der Mülltonnen und Fahrräder, die das kleine Appartement im Untergeschoss verdeckten, belauscht?! Mit ausgreifenden Schritten folgte er dem Ohrenzeugen, mutmaßlich einem jungen Mann, der wohl zu lange in der Kälte regungslos gekauert hatte und sich deshalb mit seinen Gliedmaßen in Sachen Koordination nicht einig war. Er holte auf, streckte die Arme aus und hämmerte mit geübtem Schwung seine Fäuste auf die Schultern des Flüchtenden, der taumelte, umknickte und strauchelte. Die blonde Mähne am Hinterkopf gepackt drehte er den Fremden um, rammte seine Faust blitzartig in die Magengrube. Seine Beute keuchte erstickt, krümmte sich zusammen, aber er hatte keine Zeit, sich jetzt um Kleinigkeiten zu sorgen. Hastig blickte er sich in der schmutzigen Gasse um. War Verstärkung in der Nähe? Hatte man sie beobachtet? Mit Präzision versetzte er dem winselnden Blonden einen heftigen Schlag gegen die Schläfe, um für Ruhe und Bewusstlosigkeit zu sorgen. Obwohl es ihm nicht mehr so leicht wie früher fiel, hievte er sich den Bewusstlosen über die Schulter und kehrte mit breitem, schweren Gang zu seinem temporären Quartier zurück. Jetzt galt es schnell zu handeln, aber damit hatte er noch nie Schwierigkeiten gehabt. Er fesselte die Handgelenke mit Kabelbindern an die Leitungsrohre, kramte Iso-Band hervor, um die geschlossenen Augen abzukleben, bevor er mit einem billigen, nach Parfüm stinkenden Tuch einen Knebel improvisierte. Dann erst leerte er den Armeeparka, tastete den der Witterung völlig unangemessenen Anzug ab und sichtete das Eigentum des Blonden. Ohne viel Federlesens ließ er sein Klappmesser aufspringen, schlitzte das Unterhemd auf und drehte den noch immer Bewusstlosen hin und her. Stirnrunzelnd verstaute er das Klappmesser wieder, rieb sich nachdenklich über den eleganten Spitzbart. Er beugte sich über den Oberkörper des Unbekannten, aktivierte sogar die mächtige Stablampe, die schon bei seinem Gepäck wartete. Langsam kroch ein diabolisches Grinsen über sein Gesicht. »Kleine Welt, hu?« ~+~ Da war Musik. Gorou versuchte, sie zu identifizieren, vermutete schließlich, dass es sich um einen Fernsehsender handelte. Oder um einen Internetkanal? Ihm war ohne Weiteres klar, dass er in großen Schwierigkeiten steckte, nicht nur, weil er mit den Händen an Leitungsrohre gefesselt war und seine Fingerspitzen kaum noch spürte. Oder weil Klebeband für absolute Finsternis hinter seinen Horror-Visionen sorgte, während er an einem aufdringlich parfümierten Tuch würgte. Nein, er lag vollkommen nackt auf etwas, das sich wie gewebte Putzwolle anfühlte und es war eisig kalt. Dass er seine Zehen überhaupt noch spürte, musste schieres Glück sein. "So, der kleine Wichser ist endlich wach." Schnurrte eine Stimme kehlig, versprach allein durch die samtigen Vibrationen, dass es NOCH schlimmer kommen würde. Mangels Möglichkeit, sich zu artikulieren, versuchte Gorou sich wenigstens in eine halbwegs aufgerichtete Haltung zu hieven. Dafür fing er sich sofort eine Ohrfeige ein, die seine Ohren klingeln ließ. "Fein, dass du endlich wach bist, Arschmade. War kein kluger Schachzug, vor meinem Fenster herumzulungern." Gorou ächzte in den Knebel, wollte beflissen kundtun, dass er nichts gehört und nichts gesehen hatte, ja, niemals hier gewesen war. "Das passt mir leider gar nicht, du dämlicher Pisser, deshalb bin ich jetzt nicht gerade bester Laune, klar? Gar nicht AMÜSIERT." Nun hielt Gorou es für besser, gar nichts mehr zu rühren. Das Vorhaben wurde erleichtert dadurch, dass er langsam einfror. Zumindest fühlte es sich so an. Oder, zutreffender, nicht. Hu? "Also." Unerwartet spürte Gorou Wärme, dann die frostige Kälte von Stahl an seiner Kehle. "Ich denke, ich stech dich mal eben ab und mach mich vom Acker. Ist nichts Persönliches, aber das ist die beste Lösung." JETZT schien ein geeigneter Augenblick zu sein, sich zu regen, um nicht für immer Toter Mann spielen zu müssen! Folgerichtig zuckte und strampelte Gorou verzweifelt, gurgelte und rang nach Atem. "Beruhige dich, Dumpfbacke, es wird auch nicht wehtun. Wenigstens nicht lange." Sein Folterknecht lachte diabolisch. "Sieh es einfach als Neustart an, okay?" Bevor Gorou sich wie ein Fisch in stummer Raserei herumwerfen und -zappeln konnte, platzierte sich der Mörder in spe gemütlich auf dessen Beinen, verhinderte so jeden Widerstand. "Also, das ist jetzt ziemlich kindisch von dir, Filzlaus! Ich meine, du wirst mir natürlich was vorheulen von ner Frau und zehn Kindern, ner alten Mutter und dass du seit Geburt blind, taub und stumm bist. Alles roger, die Story habe ich schon x-mal gehört." Er plauderte lässig. "Aber versetz dich mal in meine Lage! Du sagst mir zwar, dass niemand was erfährt, aber DU weißt es ja. Das ist dann ein Sicherheitsrisiko. Damit könnte ich nicht ruhig schlafen, ehrlich. Und du ja auch nicht, oder? Da ist es doch für alle Beteiligten besser, wenn wir die Sache so fix abhandeln, richtig?" Gorou stimmte ÜBERHAUPT nicht mit dieser Betrachtungsweise überein und setzte seine Bemühungen fort, sich irgendwie aus der Zwangslage herauszuwinden. Mathematische Bildungslücken kamen ihn da gerade gelegen, denn er geriet nicht in Versuchung, seine Chancen auszurechnen. "Tsk tsk, so was von unkooperativ! Dabei bist du doch der Schwachmat, der den ganzen Tanz erst ausgelöst hat! Die Nummer mit dem Fingerabdruck war übrigens erstklassig, habe selten so gelacht!" Der Fremde prustete boshaft. "Das macht dich garantiert zum Gewinner des Titels 'Blödester Gangster des Jahres'." In seiner Verzweiflung erwog Gorou, wenigstens rachsüchtig den gemeinen Mörder anzupinkeln. Das war nicht würdevoll angesichts seiner Lage und der Schwerkraft, konnte aber mit einem deftigen Kraftausdruck durchaus mithalten. "Mann, wenn ich dich kaltmache, tue ich dir sogar noch nen Gefallen!" Seine Gedanken zerstoben, als ein kräftiger Griff seine schulterlangen Haare verdrehte. "Was zum Teufel ist das für ein Zeug? Du denkst doch wohl nicht wirklich, dass dich einer für ne Blondine hält!" Das meckernde Lachen war so gemein, dass Gorou die Tränen in die Augen stiegen. Er war selbstverständlich für seinen Einsatz als Host perfekt vorbereitet! Seine Nägel waren stets poliert, er wusch sich gründlich, putzte artig die Zähne und achtete darauf, dass es NIEMALS dunkle Ansätze gab! Außerdem lebten JEDE MENGE blonder Männer mit braunen Augen auf dem Planeten, oder wie?! Ärgerlicherweise vertrug er leider die dämlichen Kontaktlinsen nicht, aber man musste ja nicht schummeln, um attraktiv zu sein, oder? Nicht, wenn es Casanova mit einer gepuderten Perücke geschafft hatte, bei Frauen zu landen! "Echt blond, was?!" Der miese Mörderich schüttete sich noch immer über ihn weg, was man nun wirklich ahnden sollte! Dummerweise spürte Gorou seinen Körper kaum noch, mutierte zu einer einzigen Frostbeule. "Weißt du was? Ich habe heute meinen großzügigen Tag und werde dafür sorgen, dass sich deine liebe Familie samt Hund nicht für dich schämen muss, wenn man dich ausbuddelt!" Obwohl das Gewicht auf seinen Beinen verschwand, schwante Gorou Übles. ~+~ "Echt blond, was?" Er schob sich einen neuen Kaugummi in den Gaumen, grinste auf sein Opfer hinab. DAS war wirklich komisch. Auf eine tragische Weise. "Du hast wohl noch nicht viel von der Welt gesehen, wie?" Plauderte er geübt harsch weiter. "Wieso trägt so eine Pflaume wie du dann Host Club-Werbezettel mit sich herum? Kann ja wohl nicht dein Ernst sein?!" Zumindest nach seinem Eindruck konnte dieser einfältige, magere Bursche nicht mal beim Studium von ausländischen Pornos besonders aufmerksam gewesen sein. "Na gut, lass uns ein wenig Spaß haben!" Er klemmte die Beine unter sich ein, schüttelte die Dose energisch. Unter ihm zitterte das großgewachsene Bürschchen, als er grinsend den Schaum verteilte, sich dann vorbeugte, um mit dem Einwegrasierer die erstaunlich blonde Schambehaarung abzuschaben. Ungeachtet des Entsetzens, das ihm nur körperlich nicht aber verbal mitgeteilt werden konnte, arbeitete er methodisch weiter, bis er sich erheben musste, damit auch die inwendige und rückwärtige Partie von ihrer künstlichen Blondierung befreit werden konnte. "Naturblond, von wegen! Deine Mutter würde dir den Arsch versohlen." Knurrte er dumpf und barsch wie eine Bulldogge, manövrierte den Kaugummi in eine Backe. "Die Beine auseinander! Und hoch mit der Kiste!" Sein Kommando blieb ohne Wirkung, sodass er sich den kubischen Abfalleimer heranzog und sein Opfer an den Fußgelenken packte. Er klemmte sich die Gelenke unter die Achseln, trat dann zurück, sodass sich der angespannte Körper langsam vom Boden hob, ob der wollte oder nicht. Dann bewegte er sich kontrolliert mit einigen Schritten zur Seite, bis er den Mülleimer im unteren Lendenbereich wusste. Nun galt es lediglich, das seitliche Herunterrutschen zu verhindern, nachdem er den verhinderten Blonden in eine Brücke gezwungen hatte. "Den Ärger hätteste dir auch ersparen können!" Tadelte er brummig und stellte sich auf die nackten Füße, sodass der Fremde in der unbequemen Haltung fixiert war. "An deiner Stelle würde ich jetzt die Zappelei einstellen, sonst kannst du deinen Ahnen ohne Eier gegenübertreten." Vollkommen verängstigt und stocksteif gehorchte der Möchtegern-Host, sodass er ungestört arbeiten konnte, bis sich kein Härchen mehr zeigte. "Gut." Er spülte sich die Hände ab, betrachtete den Angebundenen, der nun wieder flach auf dem Boden lag und erbärmlich schlotterte. "Sorgen wir dafür, dass du ne schöne Leiche abgibst." Außerdem wollte er die angebrochene Dose Rasierschaum nicht mitnehmen. ~+~ Gorou hatte keine Vorstellung davon, wie lange er bereits an den Rohren hing, nun in etwas eingewickelt, das man beim Umziehen unterlegte, um den Boden nicht zu verkratzen. Zumindest fühlte es sich so an und roch widerwärtig. Längst hatte er das klägliche Schluchzen eingestellt, schniefte nur noch keuchend. Der Typ, der ihn erwischt hatte, gehörte wohl zu den gefährlichsten Figuren in seiner Organisation, machte sich einen Spaß daraus, ihn noch zu quälen, bevor er ihn umbrachte. Einfach so. Weil er blöd genug gewesen war, sich nicht zu verziehen, sondern dem konspirativen Gespräch zu lauschen! »Jetzt ist sowieso alles egal!« Gorou verzweifelte, durchforstete sein Gehirn umsonst nach Helden, die sich aus so einer misslichen Situation befreit hatten. Gut, am Ende schaffte es der Held zwar immer, sich durch Hilfsmittel oder Getreue zu retten, um sich dann ganz grausig zu rächen, aber mit verstreichender Zeit fragte sich Gorou, ob er wirklich der Held in diesem Stück war. Oder bloß eine der lästigen Nebenfiguren, die reihenweise zwecks Atmosphäre abgemurkst wurden. Außerdem, was sollte er tun?! Die Brüder wussten nicht, dass er hier war. Ob sie ihn überhaupt SO erkennen würden? Gorou schluckte krampfhaft, verwünschte die Tränen, die nicht fließen konnten, weil das Iso-Band seine Augen noch immer verklebte. Seine Augenbrauen waren das einzige, was ihm noch an blondem Haar verblieben war. Der brutale, primitive Mistbock von einem Killer hatte ihm den Kopf kahlgeschoren, dann seine spärliche Brustbehaarung, die er so sorgfältig gepflegt hatte! Und unten... Als Kahlkopf hatte er schon keine Chance, aber wenn ihn eine Frau so sehen würde, die bekäme ja einen Lachkrampf! Er verspannte sich, als der Schlüssel gedreht wurde. Schlug jetzt sein letztes Stündchen?! ~+~ "He." "Boss?" "Der Blonde...ist er wieder da?" "Nein, Boss." "Hmm." "Boss?" "Hm?" "Soll ich ihn holen, Boss?" "Ich bezweifle, dass du ihn finden wirst. Und nein, du sollst ihn nicht holen." "Verstanden, Boss." "Ist dir eigentlich was aufgefallen?" "Boss?" "Es ist friedlich. Die Geschäfte laufen gut." "Boss." "Genau. Wir sollten dankbar für diese kleine Gnade sein." ~+~ Ohne auf das gut verpackte Elend in der alten Decke zu achten sortierte er interessiert das aus, was der große Rucksack enthalten hatte: ein bisschen Wäsche, zusammengerollte Unterlagen, billiger Kleinkram, das Zeug, das man für seine Pachinko-Gewinne erhielt, ausgeschnittene Bilder, aus Mode-Magazinen entnommen, eine schlechte Ray Ban-Kopie, eine Rolex, von der die Farbe abblätterte, eine Stoffblume, zwei Einstecktücher, alte Kekse, ein ausgeleierter Haargummi, ein übelriechendes Mittel, das offenkundig die Haare bleichte. Er studierte die zusammengerollten Unterlagen, während er über die Schulter Konversation betrieb. "Bist n gefragter Mann, wie ich festgestellt habe. Allerdings nicht lebend." Unter der Decke zuckte es verräterisch. "Tja, is wohl nich so, als würde man dich großartig vermissen. Schätze, ich werde dir einfach das Steak-Besteck in die Rippen hauen, ann könnse noch Tierfutter aus dir machen! Irdische Gerechtigkeit, oder?" Sein Opfer fand das wohl nicht komisch, denn in sein dröhnendes Gelächter stimmte es nicht ein. Er räumte die wenigen Besitztümer wieder in den Rucksack, wandte sich dann um und riss schwungvoll die Decke weg. "Dann wollen wir mal den Stecker ziehen..." Er setzte sich rittlings auf die schlanken Hüften, klappte sein Messer auf, legte die Schneide an die Kehle. "Ach! Tsk tsk, wie unhöflich von mir? Ne letzte Zigarette, richtig? Rauche nich mehr, also musste mit nem Kaugummi auskommen." Die kalte Klinge auf der bleichen Wange abgelegt beugte er sich tiefer und raunte grollend. "Aber bloß kein Geschrei, verstanden?!" Dann durchtrennte er ansatzlos das Tuch, von dem er nicht einmal wusste, wie es in seinen Besitz gelangt war. "Na, Gummi oder letzte Worte?" Betont fröhlich wiederholte er sein Angebot. "...Klo...Klo!" Krächzte der ehemalige Blonde unter ihm. "Scheiße." Antwortete er kernig, durchtrennte mit der scharfen Klinge mühelos die Kabelbinder und klemmte sich das keuchende Paket unter den Arm, um in das kleine Separee zu marschieren. Ungeniert pflückte er die kratzende Decke ab, setzte sein Opfer altmodisch auf den 'Topf' und kommandierte. "Beeilung." "Geht nicht." Winselte sein Gegenüber kläglich. "Warum nicht?!" Lauerte er mit mühsam unterdrückter Ungeduld, packte das spitze Kinn, weil es ja keine Haare mehr zum Raufen gab. "...kann nicht, wenn einer..." Piepste es nun gequält. "Himmel, Arsch und Zwirn! Was denkst du, was das hier ist?! N Scherz?! Ich hätte dich gleich abstechen sollen, dann wären wir sauber und fertig!" Er zog trotz der guttural gebrüllten Tirade aus der Gesäßtasche weitere Kabelbinder, band die Hände mit ihren bläulich schimmernden Fingerspitzen überkopf an alte Rohrleitungen. "Na los, du dämlicher, kleiner Pisser, aber EIN Fehler und ich stell dich mit blankem Arsch in deinem Viertel aus!" Drohte er donnernd, bevor er sich hinter den schäbigen Perlenvorhang zurückzog. Privatsphäre konnte man in so einem Loch ja auch nicht erwarten. Er marschierte zum Fernseher, der ununterbrochen lief, drehte den Ton lauter, irgendwelche Agit-Pop-Sendungen. Trotzdem spitzte er die Ohren, um das Wasserlassen nicht zu überhören. Als er das Separee wieder trampelnd betrat, hing sein Opfer noch immer in der verletzlichen Lage, offenkundig jeden Fluchtversuchs ledig. "Gut." Bekundete er und zog die rumpelnde, kollernde Spülung. "Rauchst du?" "...nein." Ächzte das kompakte Paket unter seinem Arm kläglich. "Lohnt sich jetzt auch nicht mehr. Obwohl es deiner Gesundheit kaum noch schaden kann." Lachte er meckernd, klopfte zur Betonung auf den kahlgeschorenen Schädel. Er ließ ihn auf die abgeschabte Decke fallen, fischte sein Klappmesser aus der Hosentasche und öffnete es. "So, nun ist Sense." »Im wahrsten Sinne des Wortes.« Doch bevor er mit der Messerspitze aufreizend über das Brustbein bis zum günstigsten Einstichort gleiten konnte, erschlaffte der Körper unter ihm. Der Ex-Blonde war in Ohnmacht gefallen. ~+~ "Das is kein feiner Zug von dir." Gorou stöhnte erstickt, ein gutes Zeichen. Zumindest lebte er noch. Allerdings klang die zornige, bollernde Stimme nicht so, als würde dieser positive Zustand anhalten. Er holte tief Luft, krächzte eilig. "Bitte nicht!" Was auch immer nötig war, er würde es versprechen, solange die eisige Klinge sich von seinen Rippen entfernte! "Also, das kann ich nich machen." Dozierte der Messerstecher. "Wenn du hier große Ohren hast, musste damit rechnen, dass ich für Ruhe sorge." "...ich werde nichts sagen!" Beteuerte Gorou verzweifelt, wandte den Kopf, um den Sprecher zu adressieren. "Ich schwöre es! Kein Wort! Ich habe Sie ja nicht mal gesehen!" "So." Knurrte es an seinem Ohr, dann wurde mit einem Ruck das Iso-Band von seinem Gesicht gezogen. Reflexartig schrie Gorou auf, verlor Augenbrauen und Wimpern. Er blinzelte, die Tränen verschmierten seine Sicht. "So, nun haste mich auch gesehen." Nur verschwommen, dann setzte sich ein Bild zusammen. Gorou schüttelte panisch den Kopf, wollte die Wahrheit leugnen. "Tja." Eine Hand legte sich auf seinen Mund, während die Messerspitze über die Rippen wanderte. "Früher war das einfacher. Zunge abschneiden, Ruhe is. Aber heute isses schwierig. Da können sogar Gelähmte noch mit Blinzeln aufm Computer schreiben! Da kannste nichts dem Zufall überlassen." "Ich werde niemandem etwas sagen! Wirklich nicht! Ich vergesse alles!" Beteuerte Gorou verzweifelt, flehte in das markant-attraktive Gesicht. "Bitte! Bitte töten Sie mich nicht!" "Tja." Der Mobster rieb sich nachdenklich den modischen Spitzbart über dem Kinn. "Was sollte ich mit dir anfangen? Ich kenn dich gar nich, wahrscheinlich haste nichts drauf, hm?" Gorou leckte sich verzweifelt über die Lippen. "Ich bin ein Frauenkenner! Ein Host! Absolut diskret!" "Host, wie?"? Die schwarzen Augen unter den schmalen, arrogant wirkenden Augenbrauen blitzten höhnisch auf. "Mit DEM Aussehen?! Wen haste denn bewirtet?" "Also..." Gorou zögerte, hielt es dann für ratsam, die Wahrheit nicht ungebührlich zu beschönigen. "Die Planungen für den Club waren noch nicht abgeschlossen. Sozusagen." "Sozusagen." Spottete der Gangster über ihm, grinste dann und enthüllte spitze Eckzähne, die ein wenig vorstanden, nicht korrigiert worden waren. "Bitte!" Wisperte Gorou heiser. "Bitte, töten Sie mich nicht." "Kann ich nich machen." Die Messerklinge lag nun eisig auf Gorous Bauch. "Ich arbeite für Sie!" Es MUSSTE doch ein Argument geben! "Was kannste überhaupt?" Ein skeptischer Blick streifte Gorou. "Willste mir deinen Arsch andienen, oder was?" Unter ihm erstarrte Gorou fassungslos. Er hatte gehofft, als Laufbursche oder Einkäufer und Putzmann oder... Die Klinge orientierte sich zwischen der dritten und vierten Rippe, der Winkel wurde angedeutet. "Ich tu's!" Krächzte Gorou ängstlich. "Ich mach's! Bitte...!" "Hmm." Ein kritischer Blick traf ihn. "Irgendwie hab ich nich den Eindruck, dasste das drauf hast. Bist n Schaumschläger. Mein ich." "Ich kann das! Ehrenwort! Ich gebe mir Mühe!" Gorou flehte, rutschte herum, um sich aufzusetzen, wieder ein wenig Gefühl in seine Arme zu bekommen. Die waren vermutlich schon mit den Rohrleitungen verwachsen! "Machen wir einen Test." Beschloss der Gangster, die Augen zu dünnen, bedrohlichen Schlitzen zusammengekniffen, die Gorou an die Zeichnungen von Fuchsgeistern erinnerte. "Danke. Vielen Dank! Ich gebe mir große Mühe!" Plapperte Gorou, lachte vor Erleichterung hysterisch, hatte Mühe, richtig zu atmen. Seine Handgelenke wurden von den Rohrleitungen getrennt, anschließend hinter seinem Rücken zusammengeführt und die Daumen per Kabelbinder aneinander gekettet. Der Gangster packte Gorou unter einer Achsel, um ihn auf die Knie zu hieven, marschierte mit den schweren Motorradstiefeln zu dem Klappbett mit der durchgelegenen Matratze, ließ sich auf sie fallen, den Rücken an die Wand gelehnt. Die Beine gespreizt, das Klappmesser zwischen den Lippen, knöpfte er seine Jeans auf, schob den Slip herunter, um seinen Penis hervorzuholen. "Na los, Hundchen, hol's!" Mühsam kroch Gorou auf den Knien über den zerkratzten, nicht sonderlich sauberen Boden, kauerte zwischen den Beinen des Gangsters und seufzte leise, weil sie eine angenehme Wärme ausstrahlten. Plötzlich saß der Mann aufrecht, packte Gorou im Nacken, die bedrohliche Klinge neben seinem rechten Auge. "Wage es nicht, mir deine Hauer in meinen Schwengel zu schlagen, sonst werde ich RICHTIG erfinderisch, bevor ich dich absteche. Klar?" Der Gangster zischte eisig in Gorous Ohr. Gorou zitterte, wisperte eingeschüchtert. "Werde ich nicht, ich verspreche es!" Er konnte erst tief durchatmen, als das Messer aus seinem Blickwinkel verschwand. »Ich kann das!« Sprach er sich selbst Mut zu, nahm das Objekt in Augenschein und schluckte erstickt. Vorsichtig näherte er sich an, senkte dann die Lider. Wenn man nicht hin guckte, würde es vielleicht... leichter. Mit den Lippen nahm er Kontakt auf, überrascht von der Hitze, die das Organ ausstrahlte, begann dann, wie er es gelesen hatte, die Zunge einzusetzen. Allerdings hatte er da eher weibliche Kundschaft im Sinn gehabt. Seine Zuversicht wuchs, als er spürte, wie die Sehnen sich spannten, der Griff in seinem Nacken nicht zu grob wurde. Nachdem er den eigenen Speichel großzügig verteilt hatte, registrierte er die Ungeduld des Gangsters, holte energisch Luft und balancierte über die Zungenspitze den fremden Penis in seinen Mund. Nun stellte sich akut die Frage, wie er weiter vorgehen sollte, denn Atmen ließ sich schwer an. Er konnte bloß noch schnüffeln, die Kiefer schmerzten ihm, weil er zu große Angst hatte, mit den Zähnen die glühende Haut zu touchieren. Der Gangster bewegte sich, rutschte an die Kante des Klappbettes, dirigierte Gorous Kopf langsam in den Nacken. "Verschlucke dich nicht!" Klang die Stimme nicht verändert? Gorou blinzelte Tränen, würgte erstickt und saugte verzweifelt über die Nase Luft an. Über ihm hörte er ein tadelndes Zungenschnalzen, dann wärmten kräftige Hände Gorous überspannten Hals am Nacken. "Nur die Zunge bewegen. Den Kopf vorsichtig vor und zurück." Kaum konnte er die Anweisungen hören, weil sein Puls so heftig pochte. Blindlings wiederholte er, was er blitzschnell hatte lernen müssen, bis eine Hand vor seiner Stirn ihn wegschob. Am ganzen Leib zitternd hockte Gorou auf seinen Fersen, schämte sich, weil er selbst durch diese Darbietung erregt war und starrte auf seinen Wärter, der sich mit blitzenden Augen selbst erlöste, dann unbeeindruckt für saubere Verhältnisse sorgte. »Es war nicht gut...es war nicht gut, und er bringt mich um!« Von Panik ergriffen drehte Gorou sich ungelenk auf den Knien, kam taumelnd auf die nackten Füße und suchte kopflos nach der Tür. Bevor er noch sein Ziel erreichen konnte, ihm die Sinnlosigkeit seiner Aktion bewusst wurde, weil er die Tür ohne Hände nicht öffnen konnte, griffen die kräftigen Hände zu, in seinem Nacken und bei seinen verkabelten Daumen. Gorou winselte vor Schmerz und ging in die Knie. "Ich finds gar nich gut, dass ich mit heraushängendem Schwanz hinter dir her rennen muss." Wurde er bissig in Kenntnis gesetzt. "Ich denke, ich stech dich doch ab." "Bitte nicht!" Gorou schluchzte. "Ich habe es doch versucht! Ich mache es besser!" "Steh auf! Komm verdammt noch mal sofort auf die Beine, du erbärmlicher Wicht!" Taumelnd gehorchte Gorou, wurde mit Stößen in den Rücken zurück zum Klappbett getrieben. Der Gangster löste Gorous lädierte Daumen, fesselte die Hände vor dessen Leib und legte ihm eine Schlinge um den Hals. "Die Regeln sind ganz einfach." Die Schlinge zog sich zu, Gorou winselte bange. "Du tust, was ich sage. Nervst du mich noch einmal, muss ich bloß hier ziehen. Nicht so effektiv wie eine Garotte, aber hübsch wie ein Galgenstrick." "Ichwerdeallestun,ichwerdeallestun!" Plapperte Gorou hysterisch. Die mangelnde Luftzufuhr machte ihm große Angst. "Biste beim Vögeln laut?" Der Gangster stieß Gorou mit der Faust in die Seite. Gorou zögerte. Welche Antwort sollte er geben? Was wollte der Kerl von ihm hören?! "Dachte ich mir." Ein gemeines, meckerndes Lachen dröhnte in Gorous Ohren, dann wurde die Lautstärke des Fernsehers wieder aufgedreht. Musik-Clips, eine endlose Schleife, ein Bildersturm, auf den Gorou sich verzweifelt zu konzentrieren versuchte. Er wollte nicht sehen, was der Gangster tat. Aber es half nichts, wenn er auf alle Viere dirigiert wurde, musste er gehorchen. Und dann waren diese Hände da, kräftige, elegante, zupackende Hände. Gorou keuchte, brannte sich selbst das Muster der Schlinge in die Haut. Er wollte nicht denken, aber die Bilder vor seinen Augen vermischten sich mit dem, was ihm geschah. SO hatte er sich das nicht vorgestellt! SO hätte er nie...! In seinem Magen krampfte sich die Angst zu einem hässlichen Klumpen zusammen. Speichel tropfte ihm über die Lippen, als seine Hüften ein Eigenleben entwickelten, Muskeln sich zuckend um die Finger zusammenpressten. Er erschrak, als der Gangster in sein Ohr raunte. "Muss ich wohl noch lauter aufdrehen." Gorou schluchzte leise. Die fremden Hände waren so sicher, so souverän, dass sie ihn einschüchterten, er wehr- und hilflos wurde, sich selbst nicht mehr begriff, weil er fliehen wollte und gleichzeitig verzweifelt hoffte, der Gangster würde ihn erlösen, dieser Unsicherheit ein Ende bereiten. Ihm liefen die Tränen über das Gesicht, als er in intimer Verbindung auf den Schoß seines Peinigers gezogen wurde, obwohl er mit den Fingerknöcheln über seine Wangen wischte, eine Faust in den Mund schob und in das Fleisch biss. ~+~ "...na toll." Er erhob sich langsam, ließ sein Opfer auf die Seite sinken, löste die Schlinge. "Kerlchen, wenn du jemals als Host arbeiten willst, musst du noch hart an dir arbeiten." Er richtete seine Kleider und schob sich einen Kaugummi in die Wange. Nachdem er die Lautstärke wieder reduziert hatte, wickelte er den Jugendlichen in die dünne Decke, legte die Hand auf die Stirn. "Tja, sieht wohl so aus, als müsste ich unser Fräulein in Not auch noch auffüttern." Er federte von der Matratze hoch, kämmte seine schwarzen Haare zu einem strengen Zopf zusammen, schlüpfte in die schwere Lederjacke. »Wie ein Vogeljunges, kahl, zusammengekrümmt und schutzlos.« Dachte er, kaute grimmig. »Und fällt beim Sex ständig in Ohnmacht, tsktsk.« ~+~ Gorou kam nur langsam zu sich, eingelullt von den gedämpften Unterhaltungen, die über ihn hinwegrauschten. Mühsam rollte er sich auf den Rücken, stöhnte, weil seine Arme schmerzten. Der Fernseher, der an die Decke geschraubt worden war, flimmerte Nachrichten, Bilder und Spruchbänder. Zu seinem Entsetzen waren seit seinem nächtlichen Einsatz zwei Tage vergangen, ohne dass andere Themen den mutmaßlichen Revierkampf abgelöst hatten. "Sieht nicht so aus, als könntest du deine Nase ungefährdet draußen zeigen." Spottete eine samtige Stimme amüsiert. Gorou drehte langsam den Kopf, blinzelte matt. Auf einem klapprigen Tisch standen Plastiktüten, sein Wärter schlüpfte aus einer teuren Lederjacke. "Musst du mal?" Der Gangster durchquerte den engen Raum, packte Gorou an den Schultern und setzte ihn auf. Dem schwindelte der Kopf aufgrund der plötzlichen Beschleunigung. Außerdem hatte es seinem Körper nicht gut getan, gefesselt zu liegen. Er würgte erstickt, aber das produzierte nur sauren Speichel, der sich in seinem Mund sammelte. Unversehens fand er sich gegen die Wand gelehnt, dann beugte sich der Gangster über ihn, klebte ihm ein Fieberpflaster auf die Stirn, wischte ihm mit dem Handrücken über den Mund. "Schätze mal, dass dir auch Instant munden wird." Ein boshaftes Grinsen tanzte auf den sinnlichen Lippen. Gorou ächzte, verfolgte benommen, wie sich der fremde Mann abwandte, zum Tisch zurückkehrte und in den Tüten stöberte. Nun, da Gorou ihn beobachten konnte, musste er sich eingestehen, dass er diesen Mann eigentlich nicht für einen Gangster gehalten hätte, eher, so schmerzlich das war, für das, was er selbst gern sein wollte: ein Host. Zunächst war da diese Stimme. Ohne Zweifel war sie trainiert worden, konnte sich der Situation anpassen. Herumbollern, Kommandos brüllen...und gleichzeitig lasziv raunen, mit der Qualität, die Turbulenzen und Gänsehaut auslöste, genau DAS Timbre hatte, das zu Vibrationen im Unterleib führte. Die Wortwahl stellten auch einen Fingerzeig dar. Nicht immer strotzte sie von schnoddrig hervorgestoßenen Drohungen. Manchmal war der Akzent verschwunden, der auf eine andere Region hindeuten sollte. Angesichts der Kraft und der Stärke hatte er eine Mischung zwischen Gorilla und Wrestler erwartet, doch dieser Mann konnte ihn kaum überragen mit seinen 1,80m, war sehnig und alert, ein Körper wie eine gespannte Bogensehne. Kraftvolle Hände. Gepflegte Hände. Und dieses Gesicht. Es hätte auch in einer dramatischen Aufführung eines Shakespeare-Stücks erscheinen können. Bezwingende, funkelnd schwarze Augen, diabolisch geformte, dünne Augenbrauen, eine gerade Nase über einem sinnlichen Mund, gerahmt von einem modisch-markanten Spitzbart, sorgfältig rasiert. Eigentlich hatte der verfluchte Kerl genau das, was sich Gorou wünschte: das Aussehen, das Auftreten, die Mittel und letztlich auch noch das Charisma, das Frauen magnetisch anzog. »Die Welt ist ungerecht!« Er senkte die Lider erschöpft. War ihm nun kalt? Oder doch warm? »Wird er mich doch umbringen?« Langsam aber stetig rutschte Gorou zur Seite, bis er mit einem dumpfen Geräusch auf der Matratze landete. ~+~ Kapitel 11 - Land-Flucht "Ich WEISS, dass ich spät dran bin." "Nein, ich stecke nicht MAL WIEDER in der Klemme, in Ordnung?! Das ist hier bloß ein Zufall." "Für wen hältst du mich, für einen Feuerteufel?! Natürlich sind sie nicht hinter MIR her!" "...das ist...ungefähr...richtig." "Kenji...Kenji, bitte, krieg dich mal wieder ein, ja?! Wenn du einen besseren Vorschlag hast, he, ich bin für jede Option offen! Tatsache ist aber nun mal, dass er hier keine Chance mehr hat." "..ja...ja, das weiß ich doch." "...nein. Nein, ich passe auf...Kenji, ich habe schon mal ne Erkältung gehabt, ich KANN damit umgehen." "Ist gut. Nein, ich gebe dir Bescheid, wie versprochen." "Ich bin wie ne Katze auf dem heißen Blechdach, das weißte doch. Nicht totzukriegen." ~+~ Gorou schwankte zwischen Wachen und Träumen, seltsam losgelöst. Immer wieder war da dieser fremde Mann mit den langen, schwarzen Haaren, diesem konzentrierten Blick, der ihn zwang, sich zu fokussieren. Er begriff zwar dessen Motivation nicht, ließ sich aber willig mit Suppe füttern, mit einem Tuch abreiben, mit Fieberpflastern am ganzen Leib bekleben. Es roch nach Medizin und aufgewärmten Mahlzeiten, untermalt vom Geräusch des schier pausenlos aktiven Fernsehgeräts. Gorou schloss die Augen wieder, glitt in den nächsten Traum. ~+~ "Bist du wach?" Gorou öffnete die Augen, starrte die trostlose Decke an, versuchte, sich zu orientieren. Wieder erschien das Gesicht des Fremden über ihm. Obwohl er zwar registriert hatte, dass sie sich das klapprige Feldbett teilten, wurde Gorou nun bewusst, dass der Gangster nackt über ihm kauerte. Er blinzelte erschöpft. "Ich hab gerade mächtig Druck!" Schnodderte die donnernd-drohende Stimme guttural. »Ah.« Gorous Kopf rollte langsam zur Seite, als könne ihn der Muskelstrang am Nacken nicht mehr stützen. »Der Gangster...« Die kräftigen Hände legten sich bezwingend um seinen Kopf, richteten seinen Blick wieder nach oben aus, direkt in die schwarzen, schmal zusammengekniffenen Augen. "...ja..." Brachte er matt über die Lippen. Solange man ihm keine aktive Beteiligung abverlangte, würde er sich nicht wehren, es wahrscheinlich gar nicht können, so zerschlagen, wie er sich fühlte. Über ihm lief wie gewohnt der Fernseher. Irgendeine Sendung, wechselnde Bilder, Musik mit Untertiteln, Kommentare, dann wieder Konzertaufnahmen, ein Mann mit wild abstehenden Rastalocken, Demonstrationen, Särge mit Flaggen bedeckt. Er erspähte zwar einen Titel, der ihm seltsam passend für seine Situation schien, doch der Gedanke verschwand im fiebrigen Sumpf seines Gehirns. 'Rage against the maschine' Gorou grinste schwach. Das klang irgendwie aufsässig und politisch, gar nicht sein Thema, außerdem unnütz für seine Arbeit. Er löste den Blick vom Fernseher, als seine Arme über den Kopf gehoben wurden, sich der Fremde zwischen seinen Beinen positionierte. »Wehrlos.« Dachte Gorou seltsam ungerührt. Es gab nichts, dass er verbergen konnte, all seine Schwäche war vor dem anderen Mann ausgebreitet. Er selbst war verwundbar, ausgeliefert, hoffnungslos einer fremden Gnade oder Laune unterworfen. »Ob er mich umbringen wird?« Der Gedanke verursachte eine träge Heiterkeit, die ihn zu einem schiefen Grinsen veranlasste. »Ich weiß ja nicht mal, für WEN er mich tötet...« 'Killing in the name of'...? ~+~ "...heißt du?" Er blickte auf, vom sehnigen, rasierten Brustkorb, der mit ausreichender Ernährung sicherlich anziehend wirken würde. Die braunen Augen waren geöffnet, vor Trockenheit aufgeplatzte Lippen formulierten Silben, die die Stimme nicht ertönen lassen konnte. Für das Erste Mal, und er war sich dessen recht sicher, lief es beinahe unheimlich glatt, möglicherweise darin begründet, dass der Körper unter ihm noch geschwächt war, sich nach Wärme und Energie sehnte, auch wenn sie von einem anderen stammten. Er unterbrach den treibenden Rhythmus, hakte die Beine hinter seinem Rücken zu einer verschränkten Einheit, studierte das fahle, mit einem feuchten Film überzogene Gesicht unter sich. "Und wie heißt du?" Wisperte er kehlig zurück, obwohl er längst über Einzelheiten informiert war. "...Fujiwara. Gorou." Stellte sich der hoffnungslose Host in spe vor. "Wie nett, dann kann ich dich anfeuern!" Lästerte er boshaft. "Go, go, Go!" Die braunen Augen blinzelten schwach, verloren ihren Fokus. Er wusste nicht, ob Gorou noch bei Bewusstsein war, als er sich in ihn ergoss. ~+~ Gorou erwachte, zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit, klar und mit dem Eindruck, dass er nicht in einem schrecklichen Albtraum gefangen war. Nein, der nackte Körper neben ihm war Realität, ebenso der Fernseher, der fortwährend lief, mit reduzierter Lautstärke. Sehr vorsichtig setzte Gorou sich auf. Sein Herz pochte wild, als ihm klar wurde, dass er fliehen konnte. Bloß aufstehen und dann...Neben ihm bewegte sich der Gangster im Schlaf, drehte sich auf die andere Seite. »Keine Chance.« Gorou erstarrte. Auch wenn er sich passabel fühlte, er konnte unmöglich mit einem Satz über den Fremden hinwegsetzen, sich dessen Kleider schnappen, überstreifen und auf die Straße fliehen! Als er die Hand hob, um sich über den kahlen Schädel zu streichen, der erste Anzeichen von wiederkehrender Behaarung zeigte, betrachtete er im Schein der flimmernden Fernsehbilder den Mann neben sich. Wenn er je die Hoffnung gehegt hatte, dass er es nicht mit einem Gangster zu tun hatte, so begrub er sie jetzt. Auf der linken Schulter prangte eine Tätowierung, so farbenprächtig und detailliert, das man glauben konnte, der chinesische Drache, der sich da schlängelte und wild mit den Augen rollte, einen gewaltigen Schnurrbart sträubte, würde im nächsten Augenblick abheben und durch das heruntergekommene Appartement fliegen. Gorou streckte die Hand aus, zögerte, als er die Spuren der Kabelbinder auf seinem Handgelenk bemerkte, doch die Bewegung genügte, um den Gangster aufzuschrecken, der sich ruckartig auf Knie und Hände stützte, den Kopf zu Gorou herumwandte, mit genug Schwung, dass die offenen, schwarzen Haare flogen. Ertappt wich Gorou wieder an die Wand zurück, zog schützend die Knie vor den Leib. Für einen langen Augenblick maßen sie sich mit Blicken, dann rieb sich der Gangster knapp über die Augen, wischte sich lose Strähnen auf den Rücken. "Erst frühstücken oder vögeln?" So früh schien es wohl noch nicht ganz so gut mit der Stimmmodulation zu klappen, wie Gorou bemerkte. Trotz dieser Entdeckung verschanzte sich Gorou bange in seinem Eckchen. "Toilette?" Piepste er eingeschüchtert. Das Stirnrunzeln neigte die Augenbrauen in einen bedrohlichen Winkeln, dann grunzte sein Wärter abschätzig. "Aber flott." Ungelenk kam Gorou auf die Beine, schwankte, tastete sich nackt über den schmutzigen Boden in das Separee. Die plötzliche Kälte, ohne die Körperwärme und die Bettdecke, sie kam wie ein Schock über ihn, ließ ihn hilflos zittern. So konnte er auch das Wasserlassen nicht forcieren, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, jederzeit auf ein zorniges Gebrüll gefasst. Es blieb aus, sodass er es tollkühn wagte, sich eine weitere Gunst zu erbitten. "Darf ich mich bitte waschen?" "Hrmpf, vergiss nicht die Ohren! Los, schaff die Schüssel und den Lappen hierher, sonst ersäufst du mir noch versehentlich!" Die gewohnte Gehässigkeit stellte sich ein, untermalt von nachdrücklichen Kaugeräuschen. Gorou kehrte in den Raum zurück, die Plastikschüssel vor den Leib gepresst. Ungelenk füllte er sie mit kaltem Wasser aus der Leitung, rotstichig wie von Rost. Die Augen abgewandt begann er, sich mit dem Lappen abzureiben, zitternd vor Kälte. Er spürte den intensiven Blick wie Nadelstiche, zwang sich, ruhig zu atmen, auch wenn seine Zähne vernehmlich aufeinander schlugen. "Das reicht jetzt!" Wurde er abkommandiert. Hauptsächlich die Sehnsucht nach Wärme trieb ihn an, sich dem Klappbett wieder zu nähern. Gorou wusste, was ihn erwartete, nun, er glaubte, sich an gewisse Aspekte erinnern zu können, doch solange von ihm nichts weiter gefordert wurde, als wehrlos zu sein, sich benutzen zu lassen, konnte er damit leben. Die Alternative bedeutete schließlich, mit einem Klappmesser in den Rippen vor den Ahnen vorstellig zu werden! Der Gangster zog ihn auf die Matratze, stellte Gorous Beine auf und drückte ihm unvermittelt eine kleine Flasche in die Hand. "Komm schon, Mister Host Superstar, liefre mir mal ne Show!" Begriffsstutzig blinzelte Gorou, starrte auf die Flasche, bevor langsam Erkenntnis am bisher unbeleckten Horizont rhythmischer Ganzkörpergymnastik dämmerte. Er war peinlich berührt, andererseits fürchtete er, die kalte Klinge, die auf seinem rechten Spann ruhte, würde sich schnell einen anderen Aufenthaltsort suchen. Mit Todesverachtung funkelte er in die schwarzen Augen, eine winzige Geste der Aufsässigkeit, bevor er sich verrenkte, um das Gleitgel zu verteilen. Zusammengerollt, die hinderlich durchgelegene Matratze keine Hilfe, war es nicht bequem, sich selbst auf das vorzubereiten, was sich unweigerlich anschließen würde. Außerdem drückte er sich selbst unerfindlicherweise die Luft ab. Ächzend, schon erschöpft von dieser Traktion des eigenen Unterleibs, sackte er gänzlich auf den Rücken, wollte sich eine Pause gönnen, doch die sehnig-muskulösen Arme kamen ihm zuvor, schoben sich unter seinen Leib, brachten ihn auf die Höhe des Invasoren, der ungeniert Einlass begehrte. Gorou winselte, grub die Fingernägel in die starken Oberarme, warf den Kopf hin und her, um nicht überwältigt zu werden. "Entspann dich!" Forderte die raue Stimme über ihm gepresst, aber Gorou wusste nicht, wie er seine geballten Muskeln auf Kommando erschlaffen lassen sollte. Überhaupt, was erwartete der miese Mörderich von ihm, angesichts der Fahnenstange, die da munter flaggte?! Wie sollte man DAS entspannen?! Beharrlich wurde jedoch die Verbindung fortgesetzt, wühlte sich der glühende Botschafter in seinen Leib. Gorou ächzte, stöhnte, bäumte sich auf, wollte einerseits weg, sich befreien. Andererseits konnte er nicht genug haben von diesem aufwühlenden Schmerz, der so viel Lust bereitete. Der Gangster über ihm ignorierte seine pochende Erektion schmählich, nachdem er sie recht lieblos mit einer Latexhaut versehen hatte, beugte sich tief über Gorou, um in dessen linke Brustwarze zu beißen. Der stieß einen gurgelnden Protestschrei aus, doch auf der rechts gelegene Zwilling musste dieselbe, grobe Liebkosung erleiden. Eine angedeutete Brücke sollte Distanz schaffen, er warf den Kopf in den Nacken, knitterte das müffelnde Laken zwischen den Fingern, doch der Gangster ließ ihn nicht entwischen. ~+~ »Vielleicht wäre das Messer doch...« Gorou stöhnte leise, seine Lider flatterten, als er spürte, wie sich der Gangster aus seinem Leib zurückzog. Komisch, er hatte nicht erwartet, ÜBERHAUPT noch ein Gefühl in seinem Körper zu haben... Seit der Katzenwäsche am Morgen war eine geraume Zeitspanne vergangen, von der er lebhaftes Zeugnis ablegen konnte. Metaphorisch gesprochen, da er gerade glaubte, nie wieder diese Matratzengruft verlassen zu können. Der Gangster hatte ihm keine Pause gegönnt, wieder und wieder hatte er mit ihm geschlafen, seinen Körper mit Knutschflecken markiert, ihn an seine Belastungsgrenze getrieben, bis die Lichter sprichwörtlich ausgingen. Nun ruhte das Gewicht des Mannes auf ihm, leicht abgemildert durch die aufgestützten Ellenbogen. "Wenn du als Host arbeiten willst, musst du mehr Durchhaltevermögen entwickeln." Gorou blinzelte, keuchte leise. DER Gedanke hatte sich zwischen die beschämenden Aussetzer bei ihm auch eingeschlichen! Viel zu oft war er ausgezählt worden, hatte in den Seilen gehangen... "...ich werde mir mehr Mühe geben." Versprach er matt. "Wusstest du, dass Frauen öfter können? Und in kürzeren Abständen?" Die schwarzen Augen blitzten im Zwielicht der Fernsehdauerberieselung auf ihn herunter. Davon hatte Gorou gelesen, aber bis zu dieser denkwürdigen Katastrophe war ihm die Bedeutung nicht eingängig gewesen. Die Vorstellung ließ ihn schaudern. Über ihm lachte der Gangster leise, als könne er seine Gedanken lesen, stemmte sich elegant auf alle Viere, bevor er auf den Fersen Platz nahm und die Kondome nonchalant entsorgte. "Los." Gorou bekam einen mahnenden Schubs. "Dreh dich auf die Seite." Artig wenn auch unbeholfen, kam er der Aufforderung nach. Würde sein Bein wieder angehoben, und dann...? Nein. Zu seiner vollkommenen Verblüffung schmiegte sich der Gangster an ihn, löffelte knurrend, bis ihm die Position behagte und blies seinen hitzigen Atem in Gorous Nacken. »...es ist vorbei?« Mit einem erleichterten Seufzen schloss Gorou die Augen und dämmerte in einen erschöpften Schlaf hinüber. ~+~ "Steh auf, los!" Er warf einen knappen Blick auf die nackte Gestalt, zog dann ruckartig auch das Bettlaken weg, warf es zu der Bettdecke. "Komm jetzt hoch!" Er packte die Schultern kraftvoll, zerrte ihn in eine sitzende Position. "Du sollst dich waschen, verstanden?!" Braune Augen blinzelten verschleiert aus einem bleichen Gesicht, gezeichnet von dunklen Schatten und zerbissenen Lippen. "Hier!" Energisch drückte er den nassen Lappen in eine schlaffe Rechte, votierte für eine Ohrfeige, die nicht nur aufweckte, sondern auch für Farbe sorgte. "Beweg dich, verdammt noch mal!" Dann kehrte er dem Jugendlichen den Rücken zu, sammelte konzentriert Überreste ein. Die Müllabholung erfolgte in einer halben Stunde, er musste sich also beeilen, um alle Spuren, die ihn verraten konnten, zu beseitigen und die Abfallsäcke rechtzeitig in die Betonwanne zu werfen. Hinter ihm stand der Junge tapsig, schwankte, fror sichtlich. "Zieh das an!" Fauchte er barsch, schleuderte Wäschestücke auf die alte Matratze, schob sich einen weiteren Kaugummi in den Mund. Das dauerte einfach zu lange! Er hatte verschlafen, und wer trug daran die Schuld?! Erbost mischte er sich in die umständliche Bekleidungsprozedur ein, zerrte hier, gürtete da und schnürte abschließend, bevor er den kahlen Kopf unter einem kecken Kopftuch verbarg. "Guck hierher, aber tu wenigstens so, als wärst du wach!" Schnaubte er wütend und richtete sein Mobiltelefon aus, damit das Bild, das die integrierte Kamera fertigte, auch aussagekräftig war. "Los, nimm das hier!" Der alte Schlafsack und der Rucksack kehrten zu ihrem Besitzer zurück. "Dann schwing die Hufe, aber plötzlich!" Er verstaute das Mobiltelefon in seiner Jackentasche, klaubte die Abfalltüten zusammen und schulterte sie mühelos. Vor dem Eingang blieb er stehen, ließ die Säcke fallen und kehrte noch einmal zurück, um das Speiseöl zu verteilen und eine Kerze unter der Matratze aufzustellen. Es würde zweifellos eine Weile dauern, bis sich die Matratze in Brand setzte, aber die Hitze reichte aus, auch das restliche Speiseöl so stark zu erwärmen, dass das Refugium nicht mehr wiederzuerkennen wäre. Draußen verriegelte er die Tür und verbarrikadierte sie so, dass niemand sich unvermutet einschleichen konnte. Er nahm die Abfallsäcke wieder auf, stieß den Jugendlichen vor sich her, der unsicher wankte, sich mehr als einmal an einer Häuserwand abstützen musste. Nachdem die lästigen Abfallsäcke rechtzeitig in der Betonwanne gelandet waren und in Kürze abgeholt werden würden, packte er seinen taumelnden Begleiter im Nacken, dirigierte ihn grob zur nächsten Bahnstation. Sie mussten mehrfach umsteigen, wobei er seinen verängstigten Begleiter, der den Kopf wie ein Uhu drehte, um mögliche Gefahren auszumachen, häufig unter den Achseln packen und wieder auf die Beine stellen musste. Offenkundig war der Zoll für einen Tag voller horizontaler Aktionen hoch. "Hör jetzt zu!" Er baute sich direkt vor ihm auf, funkelte in die braunen Augen, die trüb schimmerten, von Strapazen und Erschöpfung kündeten. "Du wirst mit der Fahrkarte hier bis zu diesem Bahnhof fahren. Ein Mann holt dich da ab. Du wirst EXAKT das tun, was er dir sagt, sonst prügle ich dich erst windelweich und filetiere dich anschließend, klar?!" Sein Gegenüber krächzte eingeschüchtert. "Jawohl, verstanden." "Und denk nicht, dasste mir entwischen kannst, Junior!" Er zog aus seiner Tasche einen Schmuckstein mit zwei Ösen, durch die er den Kabelbinder führte, ihn einschnürend und ein Handgelenk befestigte. "Hier drin ist ein Sender, kapiert? Wenn du nicht da eintrudelst, wo ich dich vermute, dann setze ich ein paar Leute auf dich an, die mich wie deinen besten Freund aussehen lassen!" Das Entsetzen, das sich auf das improvisierte Armband richtete, konnte man kaum in Worte fassen. Eine Bombe hätte wohl nicht mehr Wirkung gehabt. "Rein da und mach keinen Ärger. Sonst..." Er ließ das zugeklappte Taschenmesser kurz in seiner Hand aufblitzen. "Nein, bestimmt nicht. Vielen Dank!" Beinahe wäre der Jugendliche vornüber gekippt in seinem Bemühen, sich ehrerbietig zu verneigen und gleichzeitig weitmöglichst von der Klinge entfernt zu bleiben. Ungelenk und eilig stolperte er durch die Türen in den Zug, wandte sich dann um, warf einen fragend-ratlosen Blick auf den Bahnsteig. Erst als der Zug abgefahren war, fischte er sein Mobiltelefon aus der Tasche. "Kenji? Hör mal, du musst mir einen Gefallen tun..." ~+~ Gorou saß am Fenster, geduckt und eingeschüchtert von den irritierten Blicken. Er sah nicht aus wie ein Student auf Exkursion, dafür war das Kopftuch zu flippig, aber für einen Geschäftsreisenden war er definitiv unpassend gekleidet. Blieb bloß noch ein Herumtreiber oder Wanderarbeiter, der mit dem letzten Geld irgendwo auf einen Neuanfang hoffte und ein Dach über dem Kopf. »So sieht es ja auch aus.« Er schielte nach oben, wo sich sein Rucksack neben den alten Schlafsack quetschte. Um es mal positiv zu betrachten und sich Mut zu machen, zählte er die guten Seiten dieser unverhofften Reise auf. Erstens, er lebte noch, kein Messer in seinen Rippen. Zweitens, er war aus der Stadt heraus, ohne abgefangen worden zu sein. Drittens, in seiner Tasche befand sich genug Geld, um eines von den eingepackten Bentos zu kaufen. Viertens, er hatte ein Ziel. Fünftens, am Ziel würde ihn jemand in Empfang nehmen und dann hoffentlich den Sender von seinem Arm abmachen. Er war sich nicht sicher, ob er tatsächlich durch seinen Einsatz am vorangegangenen Tag qualifiziert war, in die Organisation aufgenommen zu werden, die der Gangster vertrat, aber da er noch lebte und verschickt wurde, bedeutete das doch, dass sein Wert zumindest augenblicklich noch hoch genug war, um ihn nicht als Tierfutter zu verarbeiten! Wenn jetzt noch diese pochenden Erinnerungen an den Vortag vergehen würden... Gorou schlief ein, so tief und fest, dass er erst erwachte, als ihn ein Zugbegleiter energisch an der Schulter rüttelte. ~+~ "Ich fasse es nicht." Er lupfte seine flache Kappe mit dem angedeuteten Schirm, kämmte mit dem eingezogenen Band seine Haare flach und justierte die Kappe wieder geübt. Was da auf dem Bahnsteig stand, schlotterte, offenkundig kurzfristig aus dem Schlaf gerissen, sah aus wie auf der Aufnahme, die ihn vor einigen Stunden erreicht hatte. Aber der reale Auftritt überbot den elenden Eindruck noch. "...wenn ich dich zu fassen kriege, Cousin..." ~+~ Der bullige Mann, der sich Gorou näherte, sah so aus, wie er sich die Schläger und Muskelmänner vorstellte, sehr groß gewachsen, beinahe 2m, Schultern wie Atlas und ein mächtiger Brustkorb, Hände wie Schaufeln kombiniert mit einem dezenten Bauch, der lediglich dem Alter, aber nicht fehlender Muskeln geschuldet war. Er umklammerte seinen Schlafsack, schützend vor den Leib gepresst, enger, schluckte heftig und verneigte sich hastig. "Guten Tag, meine Name ist Fujiwara Gorou, vielen Dank!" Schoss er in einem hingekrächzten Atemzug hervor. "Sagara. Kenji Sagara." Brummte der Titan vor ihm, grapschte den Schlafsack und musterte Gorou kritisch. "He, Kleiner, was ist mit deinen Augenbrauen passiert?" ~+~ »Ich glaub's nicht. Ich WEIGERE mich, das zu glauben!« Aber ungeachtet dieser trotzigen Beteuerungen sah sich Kenji Sagara unwiderlegbaren Fakten gegenüber, die ihn maßlos ärgerten. »Clever, Cousin, dass du dir mit der Rückkehr Zeit lässt!« Knurrte er stumm, streifte mit einem Seitenblick das 'Souvenir', das ihm überlassen worden war. Gerade schlief es, den Kopf an die Seitenscheibe des kleinen Transporters gelehnt, doch Kenji hätte blind sein müssen, um nicht diverse Flecken zu bemerken, die die Haut zeichneten. Er knirschte mit den Zähnen, blinzelte dann, drosselte das Tempo und setzte den Blinker. Der Transporter rollte in der Parkbucht aus, dann marschierte bereits ein Junge, in einen leuchtend grünen Regenponcho und himmelblaue Stiefel gekleidet, heran. Kenji öffnete die Tür und kletterte geschickt aus dem Fahrerhaus. Er war zwar groß und massig wie ein Grizzly, aber das tat seiner Beweglichkeit keinen Abbruch. Außerdem war er daran gewöhnt, als Riese in einer Welt von Zwergen zu leben. "Youji! Na, warst du bei Batou? Komm, spring rein, ich nehme dich mit nach Hause!" Ohne Mühe fasste er den zierlichen Jungen unter die Achseln und setzte ihn neben sich, bevor er wieder einstieg. "Wer ist das?" Youji streifte die Regenkapuze ab und betrachtete kritisch das 'Souvenir'. Seine kurzgeschnittenen Haare sträubten sich wie ein schwarz glänzendes Fell. "Das ist Gorou." Erläuterte Kenji knapp, hob Youji die Brille von der Nase, um sie an seinem Hemdzipfel zu polieren. Er überreichte sie wortlos und wurde mit einem zahnlückigen Grinsen belohnt. Kenji setzte den Blinker und ordnete sich wieder ein, doch um diese Uhrzeit gab es nur wenig Verkehr auf der zweispurigen Straße. Neben ihm begutachtete Youji noch immer den Jugendlichen, der nicht einmal den Zwischenstopp registriert hatte. "Kenji..." Youjis helle Kinderstimme klang gewohnt grüblerisch. "Sag mal...?" "Ja?" Er lächelte nach einem Seitenblick auf den stachligen Schopf. "Was ist mit seinen Augenbrauen passiert?" ~+~ Nachdem er Youji vor dem einfachen Haus abgesetzt hatte, steuerte er sein Heim an. Es lag am Hang, mit einem perfekten Blick über den See, wo die nächtliche Kälte aus dem von der Sonne noch erhitzten See Nebelschleier zog. Kenji visierte die offene Garage an, stellte den Motor ab und betrachtete das 'Souvenir'. »Armes Kerlchen.« Dachte er und kletterte aus dem Fahrerhaus. Zunächst schaffte er den muffigen Schlafsack und den klobigen Rucksack hinein, dann machte er kehrt, um die Beifahrertür zu öffnen. Hätte der Sicherheitsgurt nicht eingegriffen, wäre ihm der Jugendliche direkt in die Arme gesunken, so aber konnte Kenji einen betäubten Gorou aus dem Würgegriff des Gurts befreien, sich die kraftlose Gestalt aufladen und den Eingang ansteuern. "Ruhig Blut." Ermahnte er den erschrocken Zappelnden. "Wir sind gleich da!" Er verzichtete darauf, seine bequemen Turnschuhe abzustreifen, sondern marschierte stoisch in sein großes Wohn- und Esszimmer, lagerte Gorou auf der dreisitzigen Couch und baute sich vor ihm auf. "Du bleibst hier und rührst dich nicht, verstanden? Liegen bleiben und keine Fisimatenten!" Eingeschüchtert klappte Gorou die Arme eng an den Leib und bemühte sich, keinen Anstoß zu erregen, auch wenn er die Anweisung nicht vollständig verstanden hatte. Kenji stapfte zurück zum Eingang, verschloss die Schiebetüren, entledigte sich seiner Schuhe, bevor er mit Hauspantinen losmarschierte, in die leichten Badezimmer- und Toiletten-Schlappen schlüpfte, um heißes Wasser einzulassen. Während es in der tiefen Sitzwanne brodelte, wienerte er akribisch die Spuren weg, die er selbst mit seinen Turnschuhen hinterlassen hatte. Als er wieder sein Wohn- und Esszimmer betrat, ähnelte Gorou einem krummen Besen: stocksteif, um sich keinen Ärger einzuhandeln, aber nicht gerade, weil er noch zu mitgenommen war. Kenji brummte vor sich hin, ließ sich dann auf dem gegenüber positionierten Zweisitzer nieder. "Das Wasser ist jetzt in der Wanne." Verkündete er. "Aber mehr als zehn Minuten ist nicht, sonst säufst du mir ab. Dann geht's ab in die Falle. Wecken, Duschen und Frühstück sind morgen um halb Fünf." "...danke schön." Murmelte Gorou ängstlich. Er konnte ja nicht aufstehen, denn er trug noch seine Straßenschuhe. "Nur kein Stress." Kenji hievte seine große Gestalt wieder in die Senkrechte, nahm sich des Problems an und winkte Gorou, ihm zu folgen. "Hier, da, dort, verstanden?" Lauteten die verbalen Anweisungen, während denen Gorou mit der Einrichtung vertraut gemacht wurde, eigene Schlappen und Hauspantinen zugeordnet bekam, dann allein gelassen wurde, damit sein Gastgeber nach einer passenden Yukata suchen konnte. Gorou hockte sich auf den Schemel, der nicht wirkte, als könne er das Gewicht eines solchen Riesen wie seines Herbergsvaters tragen und schäumte sich mit wachsender Scham ein. Sein gesamter Körper bezeugte, dass der Gangster ihn in Besitz genommen und markiert hatte. Eilig kletterte Gorou in die heiße Wanne, stöhnte vernehmlich, als seine Muskeln sich in der Wärme ausdehnten und all die Beschwerden vortrugen, die sie die ganze Zeit über hatten verschweigen müssen. Jetzt rot anzulaufen spielte auch keine Rolle mehr. Neben der Wanne begann eine gelbe Ente laut zu quietschen, woraufhin es an der Tür klopfte. "Raus aus der Brühe! Sonst gluckerst du mir noch weg!" Gehorsam, wenn auch schon ein wenig schwindlig entstieg Gorou der Sitzwanne, trocknete sich an den bereit gelegten Handtüchern ab und schlüpfte in eine saubere Yukata, die ihm wie angegossen passte. Alles duftete so sauber und frisch, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Wenn DAS HIER eine Organisation war, wollte er sich SOFORT anschließen! "Alles in Ordnung?" Der Riese hatte sich umgezogen, trug einen Freizeitanzug aus grauem Baumwollstoff, musterte Gorou aufmerksam. "Ja, vielen Dank!" Strahlte der, bevor er sich erneut hastig verneigte. "Vielen Dank, Herr Sagara!" "Hrmpf!" Knurrte der Bär, packte dann unvermutet Gorous Handgelenk. "Was ist das für ein hässliches Ding?" Gorou blinzelte, dann murmelte er kleinlaut. "Der Peilsender?" ~+~ Kenji kontrollierte den Wecker und fragte sich missgelaunt, ob er in dieser Nacht schlecht schlafen würde. Ausgeschlossen war das nicht, denn der überwältigende Impuls, seinen jüngeren Cousin zünftig zu verdreschen, klang noch nicht ab. Er verließ sein kleines Schlafzimmer, um noch mal in das Gästezimmer hineinzusehen. Lautlos glitt die Schiebetür zur Seite, der dezente Lichtschein aus dem Flur warf seinen gewaltigen Schatten auf die Tatami. Der Jugendliche lag auf dem Futon, warm eingepackt, kahl und erschreckend zerbrechlich, gar nicht wie ein 17-jähriger Delinquent, der angeblich Host werden wollte. Kopfschüttelnd ging Kenji in die Knie, zupfte die Decke zurecht und setzte den kleinen Stofffrosch, der sich irgendwann eingenistet hatte, auf das Kopfkissen. Dann verließ er wieder lautlos den kleinen Raum. ~+~ "Guten Morgen, Sonnenschein." Brummte Kenji, ging lässig neben Gorous Futon in die Hocke und schüttelte behutsam eine Schulter. Ruckartig kam Bewegung in die Schlafrolle, gefolgt von einem gequälten Ächzen. »Muskelkater.« Kenji unterdrückte ein mitfühlendes Grinsen. "Hoch mit der Kiste, Gorou. Ab unter die Dusche, dann rein in die Klamotten. Frühstück gibt es unten." Damit verließ er das kleine Gästezimmer, ging die steile, kurze Treppe hinunter, um in seinem Wohn- und Esszimmer das Frühstück zu servieren. Schüchterne Schritte erklangen, dann spitzte ein scheu lächelndes Gesicht um die Ecke. "Na komm, bevor es vom Teller springt!" Kenji grinste aufmunternd, nahm schon mal Platz. Das Frühstück zeugte von seiner Profession: es gab aufgewärmte, süße Brötchen, dazu eine kräftige Brühe mit Gemüse und ein in Röllchen geschnittenes, würziges Omelett. "Guten Morgen, Herr Sagara. Danke schön." Zögerlich ließ sich Gorou ihm gegenüber nieder und bestaunte die Auswahl. "Kaffee oder Tee?" Kenji lupfte die buschigen Brauen. "Tee ist im Spender, Kaffee in der Thermoskanne." "Tee ist in Ordnung, vielen Dank." Flüsterte Gorou gehemmt, langte dann aber doch zu, der Duft war einfach zu verlockend. Ihm gegenüber grinste Kenji stolz. SEIN Frühstück brach noch immer jedes Eis! Sie aßen schweigend, dann sammelte Kenji das benutzte Geschirr ein. "Geh mir mal eben zur Hand, dann können wir uns auch auf die Socken machen." Erteilte er Anweisungen, spülte flink mit der Hand, um Gorou das Abtrocknen zu überlassen. "Der Plan für heute sieht folgendermaßen aus: wir fahren in mein Geschäft. Ich bin Bäckermeister, das heißt, wir werden gleich richtig viel zu tun haben. Ich habe jede Menge Vorbestellungen, das wird bis mittags ordentlich reinhauen. Nachmittags stehen Auslieferungen auf dem Plan, außerdem bereite ich dann alles für den nächsten Tag vor." Der Riese musterte den noch immer recht kahlen Schädel, konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die braunen Augen, die nun weniger umwölkt wirkten. "Denkst du, du kannst mir als Lehrling assistieren?" "...ja. Ja! Bestimmt! Ich werde mir sehr viel Mühe geben, Meister!" Langsam erstrahlte ein warmes Glühen in den Augen, die so verschreckt auf das neue Leben geblickt hatten. "Was hattest du dir denn für die Zukunft so vorgestellt?" Beiläufig erkundigte sich Kenji, während er zum Eingang stapfte, die Schuhe wechselte und sich in Kappe und Jacke hüllte. "...ah..." Gorou zögerte, hielt es offenkundig nicht für angeraten, sich in dieser Sache einzulassen. Er gab sich einen Ruck, wickelte recht geschickt das Tuch um seinen Kopf. "Ich wollte Host werden. Eigentlich." "Aha." Kommentierte Kenji, marschierte in die offene Garage. "Sieht aber nicht so aus, als könnte das in Kürze was werden, oder?" Eingedenk seines Spiegelbildes grinste Gorou schief und kletterte ungelenk auf den Beifahrersitz. "Nein, das glaube ich auch nicht." Gekonnt manövrierte Kenji den Transporter, nutzte dann die morgendliche Stille, um sich darüber zu informieren, was genau sein notorischer Cousin DIESES MAL ausgebrütet hatte. "Sag mal, Gorou, was GENAU ist in Tokio passiert, hm?" Er drosselte das Tempo, steuerte die Hauptstraße an, die mitten durch die malerischer Ortschaft am See führte. Neben ihm rutschte der Jugendliche nervös auf seinem Platz herum, leckte sich zögerlich über die Lippen und schmeckte noch eine Ahnung des herzhaft-süßen Frühstücks. Gorou entschied sich, dass die Wahrheit nicht schaden konnte, weil sie ohnehin ans Licht kommen würde. Außerdem hatte der merkwürdige Killer sicherlich seine Organisation informiert! "Also, ich wollte ja Host werden und deshalb habe ich nach Unterstützung gesucht..." ~+~ Kapitel 12 - Eine etwas andere "Organisation" Mit deutlich mehr Energie als gewöhnlich drehte Kenji die Teigklumpen, die er vorbereitet hatte, in den Formen, rotierte in seiner Backstube und erteilte zugleich Anweisungen. Vorbestellungen mussten in Tüten verpackt und ausgepreist werden, hinter der Verkaufstheke in der Reihe der Abholung deponiert. Die luxuriöse Kaffeemaschine musste aufgefüllt werden, bis die Bäckerei um sieben Uhr ihre Pforten öffnete. Innerlich brodelte Zorn in ihm, denn Gorou hatte nichts ausgelassen, weder die unfreiwillige Brandrodung der Müllberge am Entwässerungsgraben, noch seine Hoffnung, sich willig zu zeigen, um sein Leben zu erkaufen. "Hast du alles erledigt?" Kenji registrierte Gorou neben sich, der aufmerksam seinen Händen zusah, sich tatsächlich bemühte, trotz früher Stunde Lerneifer zu zeigen. "Jawohl, Meister!" Gorou strahlte sorgenvoll, spürte wohl, dass die Atmosphäre ein wenig angespannt war. "In Ordnung." Kenji straffte seine hünenhafte Gestalt. "Handschuhe? Schürze? Kopftuch?" Gorou kontrollierte eilig sein Erscheinungsbild, das ihn wirklich sehr von seinem gewöhnlichen Auftritt in Tokio unterschied. "Gut, dann nimm die Schlüssel, schließe die Eingangstüren auf. Der Lichtschalter ist hinter der Theke. Die Fahne steht neben dem Garderobenständer." Flink wischte Gorou hinaus, erledigte die Aufgaben und schnupperte begeistert. Es roch herrlich nach den frischen Backwaren und dem Kaffee, dessen verschiedene Pulvermischungen er aufgefüllt hatte. Es verwunderte ihn zwar, dass die Organisation sich hier auch mit 'normalen' Geschäften befasste, aber man musste schließlich mit der Zeit gehen, nicht wahr? Als er sich gerade umdrehte, um wieder in die Backstube zurückzukehren, hörte er, wie sich die pneumatischen Eingangstüren teilten. "Oh...guten Morgen!" Eine Frau trippelte herein, schlüpfte aus einem bodenlangen Kapuzenumhang und enthüllte einen eleganten Kimono. "Guten Morgen. Herzlich willkommen!" Stammelte Gorou überrascht, denn diese Frau gehörte ungeachtet ihrer exklusiven Aufmachung zum Nachtgewerbe. Hinter ihm schob sich Kenji aus der Backstube, lächelte breit und hielt auf die Kaffeemaschine zu. "Guten Morgen, Eri. Milchkaffee und eine Schnecke mit Bohnenpaste?" "Wie immer." Grazil kletterte die Frau auf einen der wenigen Bistro-Stühle. "Hast du einen Lehrling gefunden, Kenji?" "Ah!" Kenji servierte den Milchkaffee zusammen mit dem Gebäckstück. "Das ist Fujiwara. Gorou Fujiwara." Er winkte Gorou heran, der unschlüssig hinter der Theke verharrte. "Gorou, leiste meiner geschätzten Freundin Eri Gesellschaft." "Ich darf mich vorstellen, Eri Isaki. Mir gehört die Bar 'Mandelblüte' am Ende der Hauptstraße." Unerwartet lag eine gepflegte Hand mit dezent lackierten Nägeln unter Gorous Kinn, der mitten in der Bewegung erstarrte und sich nicht zu setzen wagte. "Ach herrje!" Die sanfte Stimme verströmte Mitgefühl und freundliche Heiterkeit. "Was ist denn mit deinen Augenbrauen geschehen, Gorou?" "...ahmmm..." Krächzte er hilflos, suchte vergeblich nach den hübschen Formulierungen, die er so eifrig in mehr als einer Sprache auswendig gelernt hatte. "Setz dich, Herzchen." Die schwarzen Mandelaugen lächelten milde. "Meinst du, ich könnte dir ein wenig zur Hand gehen?" Kenji staunte nicht schlecht, als er aus der Backstube trat und beobachtete, wie Eri mit geübtem Strich die verlorenen Augenbrauen aufzeichnete und dabei verschmitzt lächelte. "Möchtest du die gleiche Lieferung wie immer?" Erkundigte er sich betont beiläufig, warf einen Blick auf die Uhr und rührte eine heiße Schokolade an. "Oh ja, Kenji, vielen Dank! Schätzchen, mach dir keine Gedanken, Gorou, Haare wachsen schnell wieder nach." Sie lächelte, tippte Gorou auf die Nasenspitze. "Bestimmt werden im Sommer die Mädchen in Scharen hierher radeln, um Fruchteis und Kekse von dir serviert zu bekommen." Gorou warf einen zögerlichen Blick auf Kenji, denn der Sommer schien ihm in sehr weiter Ferne zu liegen. Außerdem konnte es ja durchaus sein, dass er an anderer Stelle in der Organisation eingesetzt werden würde! Kenji brummte Nichtssagendes, wandte sich dann der Eingangstür zu, wo Youji sich in gewohnter Aufmachung mit Regenjacke und Gummistiefeln Zutritt verschaffte. "Guten Morgen alle miteinander!" Krähte er fröhlich, setzte sich zu Eri, die ihm zärtlich über die schwarzen Igelstacheln streichelte. "He, du bist das Souvenir! Und du hast wieder Augenbrauen!" Neben ihm lief Gorou rot an, blinzelte ratlos zu Kenji hinüber. Sollte er diesen Schuljungen kennen? "Das ist Gorou Fujiwara, Liebling." Erklärte Eri nachsichtig. "Schau mal, da kommt auch schon deine Schokolade. Iss rasch, damit wir den Schulbus nicht verpassen!" Kenji stellte vor Youji tatsächlich die Tasse ab, servierte ein Brötchen mit einem Aufstrich aus eingekochten Beeren. "Nicht schlingen, Youji." Er klopfte sanft mit einer großen Hand auf die zierliche Schulter. "Ich packe dir was fürs Mittagessen ein." "Ich war gestern bei Batou." Informierte Youji Eri. "Kenji hat mich nach Hause gefahren." "Ah, danke schön." Eri lächelte zu Kenji hinüber, der hinter der Theke verschwand. "Aber beeil dich, gleich müssen wir gehen!" Nun kam wie Perlen an einer Kette die Kundschaft, erhielt Tüten, zahlte, warf irritierte Blicke auf Gorou, der artig in die Backstube flitzte und sich dort nützlich machte. Dankbar orientierte er sich an den zahlreichen, verglasten Anleitungen, die an den Wänden montiert waren. Kenji schneite immer wieder herein, um Anweisungen zu erteilen, einfache Arbeiten vorzuführen, damit Gorou sich daran erproben konnte. Gegen Mittag endlich konnte man sich den anderen Bestellungen widmen und der Artikel, die nicht zum sofortigen Verzehr bestimmt waren. "Brezeln." Kenji schwang geübt die großen Hände. "Sauerteig, sehr praktisch. Wie eine Schleife, dann bestreichen wir es vorsichtig mit der Lauge hier." Artig pinselte Gorou und strengte sich an, eine gewisse Geometrie in seine Brezeln zu bringen. Später rief ihn Kenji in den kleinen Verkaufsraum. "Um diese Zeit kommt selten Kundschaft, deshalb machen wir jetzt ein Päuschen. Dir muss doch auch schon der Magen in den Kniekehlen hängen, oder nicht?" Eifrig nickend nahm Gorou Platz, durfte sogleich an duftendem Tee nippen und sich strecken. Er spürte wirklich jeden einzelnen Knochen im Leib und hoffte, dass die Arbeit am Nachmittag nicht so anstrengend bleiben würde. Kenji trug ofenfrische Brötchen auf. Dazu hatte er Fisch und Gemüse gegrillt, eine Suppe mit Nudeln angedickt. "Greif ordentlich zu!" Lud er seinen Lehrling ein. "Der erste Tag ist immer der härteste." Nachdem sie sich ungestört gestärkt hatten, verschloss Kenji die Bäckerei, um seine Auslieferungen vorzunehmen. "Ich habe Kundschaft, die für nachmittags und abends noch Backwaren und Süßigkeiten abnimmt. Eri hast du ja schon kennengelernt, zu ihr fahren wir als letzte Station heute Abend, wenn sie ihre Bar öffnet. Jetzt haben wir einige Privatleute und das große Landgasthaus etwas außerhalb. Sie geben mir manchmal auch Sonderaufträge, abhängig von der Anzahl und den Wünschen ihrer Gäste." So wurde Gorou auch der Hälfte der einheimischen Bevölkerung vorgestellt, die sich nicht bei der Arbeit oder in der Schule befand. Es wunderte ihn durchaus, dass sich eine Organisation so ein kleines, doch ein wenig abgelegenes und idyllisches Dörfchen ausgesucht hatte, wo man vom Tourismus lebte, der Spaziergänge am See umfasste, Entspannung in den wenigen heißen Quellen anpries und die Verkostung von Zuchtfischen offerierte. Sie kehrten wieder in die Bäckerei zurück, wo Kenji ihn bei den Vorbereitungen für den nächsten Tag einspannte, zwei große Tassen mit karamellisiertem Milchkaffee hinstellte und Gorou zu sich winkte. "Wir müssen uns mal unterhalten." Kenji schob Gorou leicht beschädigte Kekse hin. "Über diese Geschichte, die du mir erzählt hast." Gorou erstarrte. Würde er doch nicht bleiben können?! Aber dann, wohin sollte er gehen?! Kenji knusperte einen Keks, zog sich das weiße Kopftuch herunter und nippte an seiner Tasse, bevor er konzentriert in die braunen Augen sah. "Ich halte es für notwendig, dass du ein bisschen mehr über meinen Cousin erfährst..." ~+~ Gorou stapfte durch den Wald, noch kahl, der Boden nass und morastig unter seinen Schuhen, die für das Gelände ungeeignet waren. Sein Meister hatte ihn laufen lassen, denn an konzentriertes Arbeiten war an diesem Nachmittag nicht mehr zu denken. »Gemein!« Gorou trampelte durch das Gehölz, wischte sich über die Wangen. Er war schon ein paar Mal umgeknickt, aber stehen bleiben oder umkehren wollte er auch nicht. Natürlich konnte man es auch positiv sehen, zumindest bemühte er sich darum, doch die Ratio wurde von seiner Enttäuschung überstimmt. Wieso war IHM das alles geschehen? Und da es nicht zu ändern war, wie sollte er sich nun verhalten?! Unversehens fand er sich vor einem kleinen Tempel, der an einen besonderen Ort in der Natur erinnerte. "Willst du Batou besuchen?" Gorou sprang vor Schreck fast in die entblätterten Baumwipfel. Youji tauchte hinter ihm auf, ein buntes Männchen in einem noch winterfahlen Wald. "Geht's dir nicht gut?" Der Schuljunge musterte Gorou, kramte dann ein Papiertaschentuch hervor. "Dein Gesicht ist nass." "....Regen." Behauptete Gorou verlegen, tupfte sich eilig ab. "Wer ist denn Batou?" Youji marschierte voraus, an dem Tempel vorbei. "Das ist der Hund, der bei Kenji gewohnt hat." Gorou stutzte. "Wieso wohnt der Hund nicht mehr da?" Er tappte hinter seinem kleinen Führer her, dankbar für die Ablenkung von seinen unerfreulichen Gedanken. Er erhielt keine Antwort, dafür erklärte der kleine Findling unter einem alten Baum dem finalen Auszug aus Kenjis Heim. "Batou war mein Freund." Youji klopfte vertraulich auf den Stein. "Er sah aus wie ein Bär. Als ich noch kleiner war, bin ich sogar auf ihm geritten." "Wann ist er denn gestorben?" Erkundigte sich Gorou und tätschelte auch den Stein. Es schien ihm angemessen. "Vor zwei Jahren ungefähr." Youji konsultierte seine Uhr. "Jetzt müssen wir los, sonst verpassen wir Kenji. Er nimmt mich immer mit, wenn er von Eri kommt." "Aha." Murmelte Gorou, der keine Lust mehr verspürte, durch den Wald zu ziehen. "Batou ist vom Wald her gekommen." Youji streckte seine Linke leicht nach hinten, damit Gorou unauffällig zugriff. "Man wollte ihn einfangen und töten lassen, aber Kenji hat ihn mit Gemüse und Brötchen angelockt. Er war ganz lieb, nur ziemlich groß. Wie ein Bär." Youji markierte mit der freien Hand die Maße. "Doch Kenji ist ja selbst riesig, da ist das gar nicht aufgefallen." Er grinste zu Gorou hoch und bleckte seine Zahnlücken. "Hört sich sehr sympathisch an." Tat der seine Einschätzung kund. "Ich hätte ihn gern gesehen." "Du kannst bei mir Fotos anschauen." Bot Youji großzügig an. "Ich bringe sie morgen mit. Eri mag es nicht, wenn ich so spät mit Freunden allein zu Hause bin." Sie hoppelten den letzten Abhang hinunter, bis sie die Straße erreichten. Gorou schob sich nach außen, damit sie vom spärlichen Verkehr nicht übersehen wurden. In der Parkbucht wartete der Transporter bereits. Kenji war ausgestiegen und betrachtete scheinbar den Anblick der abendlichen Landschaft, doch Gorou hatte das Gefühl, er gebe ihm nur noch weitere kostbare Augenblicke, um sich zu sammeln. Er seufzte leise. Die Aufregung war sinnlos, die Vergangenheit konnte er nicht mehr ändern. Irgendwie musste er ja weiterleben! Warum also nicht die großherzige Offerte annehmen und das Bäckerhandwerk lernen? Wahrscheinlich wäre er dann schon zu alt, um als Host einzusteigen, aber man konnte ja immer auf gastronomische Kenntnisse zurückgreifen, um beispielsweise einen Club zu leiten, oder? "Na, wart ihr bei Batou?" Kenji wandte sich herum, justierte die Kappe erneut. "Richtig!" Youji ließ sich kichernd von Kenji auf den Sitz heben. "Ich habe Gorou gezeigt, wo der Stein ist. Sag mal, kann ich Gorou noch mit ins Haus nehmen? Ich möchte ihm Fotos zeigen!" "Wir sind ohnehin fertig." Kenji ließ den Motor wieder an. "Eri lässt dir ausrichten, dass du deine Aufgaben ordentlich erledigen sollst. Sie hat dir das Abendessen in das Thermogeschirr gestellt." Youji grübelte für einen Moment, blickte dann zu Kenji hoch, der langsam die Straße befuhr, da Sprühregen und die Dunkelheit einsetzten. "Wollt ihr nicht zum Abendessen bleiben? Wenn du mir hilfst, teilen wir uns das Essen," Bot er generös an. Kenji schmunzelte. "Nun, Lehrling, ist das eine verlockende Einladung?" Auf dem Beifahrersitz warf Gorou einen knappen Seitenblick auf die beiden. Sie wirkten wie Vater und Sohn, wenn auch nicht durch äußere Ähnlichkeiten. Beide grinsten verschmitzt, als teilten sie einen vertraulichen Scherz, der sie verband und einen entsprechenden Code nutzte. "Danke schön." Antwortete er rasch. "Ich würde gern bei dir essen und die Fotos von Batou sehen." Tatsächlich war es Kenji, der sich der spartanischen Küchenzeile bemächtigte, aus dem warmgehaltenen Abendessen einen kleinen Happen für drei Personen zauberte, während sich Youji mit Gorou auf dem kleinen, geblümten Sofa ein Fotoalbum ansahen. "Da, das ist Batou." Youji erläuterte mit großen Ernst. "Kenji hat ihm ein Geschirr umgeschnallt, damit alle sofort sehen, dass er ein guter Hund ist." Er tippte auf das Bild, das einen gewaltigen Hund zeigte, dessen Fell in der Tat so plüschig wie das eines Bären wirkte und auch eine entsprechend braune Farbe hatte. Auf dem Rücken des enormen Hundes saß ein jüngerer Youji, strahlte lachend in die Kamera. "Ich durfte auf ihm reiten. Er hat mich nie angebellt." Eine Seite wurde umgeblättert. "Da, da sind wir an der Bushaltestelle. Eri hat das Foto geschossen." Batou saß artig und beeindruckend groß auf dem Markierungsstreifen. Die Zunge hing heraus, während er an einem sonnigen Tag direkt neben dem Verkehrszeichen für den Schülerbus ausharrte. "Er hat mich abgeholt, und weil er da allein hingelaufen ist, hat Kenji ihm zum Geschirr auch eine Plakette umgehängt und überall Bescheid gesagt, damit alle wissen, dass Batou niemandem was tut." Das nächste Foto zeigte Youji in der Grundschüler-Uniform, nämlich mit dem einheitlichen Käppchen und einer einfachen Stoffjacke, beides mit den Schriftzeichen der Schule versehen. Er stand kerzengerade, daneben saß der Hund und überragte ihn mühelos. Die lange Schnauze, die wirklich an einen Bären erinnerte, die runden Ohren und die dunklen Augen: man konnte den Eindruck gewinnen, dass der Hund auf diesem Foto sich um Würde bemühte, gleichzeitig aber verschmitzt grinste. "Das ist bei der Einschulung. Kenji hat uns alle hingefahren." Youji blätterte um und präsentierte die nächsten Bilder. Sie zeigten ihn mit Eri, die einen prachtvollen Frühlingskimono trug und hinter Youji stand, die Arme vertraut um dessen Nacken geschlungen. Es gab eine Aufnahme von Kenji, der saß, auf einem Bein Batous mächtiges Haupt, auf dem anderen saß Youji, und beide feixten in die Kamera. "Wir sind danach Eis essen gegangen." Vertraute er Gorou an. "Batou hat auch eins bekommen, in einer Schüssel." Er blätterte weiter. "Da sind wir am See. Batou konnte Fische fangen, am Ufer. Youji kniete sich und legte die Hände um Gorous geneigtes Ohr. "Aber das ist ein Geheimnis! Sonst hätten wir Ärger bekommen." "Ich werde ganz sicher nichts verraten!" Versicherte Gorou und studierte den gewaltigen Hund. Der hatte gewisse Ähnlichkeiten mit einem der Welpen, auch wenn es sich hier um eine Dinosaurier-Version handeln musste! "Im Schnee haben wir viel Spaß gehabt." Was das nächste Bild illustrierte. Ein vollkommen mit Flocken verzierter, zottiger Riesenhund, ein zierlicher Junge in einem Schneeanzug und ein gewaltiger Schneemann, der sehr grimmig dreinblickte. "Ich will gar nicht in die Stadt zurück." Gestand Youji Gorou ernsthaft ein. "Batou hätte es da gar nicht gefallen. Er mag keinen Lärm, und ich auch nicht." "Zurück in die Stadt?" Gorou musterte den Grundschüler verwirrt. "Wohnt du denn nicht schon immer hier?" "Nein." Youji klappte das Album zu, kletterte gelenkig an einem offenen Regal in die Höhe, um eine schmale Schachtel herunter zu klauben, noch bevor Gorou aufspringen und auf die Gefährlichkeit hinweisen konnte. "Keine Sorge." Youji legte die Schachtel auf das Sofa. "Alles ist festgebunden und angenagelt wegen der Erdbeben." "Ah." Antwortete Gorou und grübelte darüber nach, ob es hier wohl häufig schwere Erdstöße gab, doch er konnte sich nicht entsinnen, Entsprechendes jemals in den Nachrichten erfahren zu haben. "Schau!" Youji hatte den Inhalt der Schachtel wie ein Bilderpuzzle ausgebreitet. "Da bin ich geboren, Yokohama." Er tippte auf ein Bild, das ein junges Paar mit einem eingewickelten Säugling vor einer typischen Häuserkulisse zeigte. "Aber so genau kann ich mich nicht daran erinnern, weil ich mit Eri dann nach Osaka gezogen bin." Ein weiteres Bild wurde hervorgekramt, Youji als Kindergartenkind, die Haare beinahe schulterlang unter dem kleinen Hut, auf dem Arm einer jungen Frau in einem eleganten Hosenanzug. Eine modische Kurzhaarfrisur, unaufdringliches Makeup: war das Eri?! Gorou spürte einen prüfenden Blick auf sich ruhen, bevor Youji die Reise in die Vergangenheit fortsetzte. "Als ich in die Grundschule kommen sollte, sind wir hierher gezogen. Ich habe Eri beim Einrichten der Bar geholfen!" Stolz präsentierte er Gorou verschiedene Aufnahmen, die unterschiedliche Stadien der Renovierung zeigten. Immer wieder Eri in einem Overall, die Haare unter einem Kopftuch geschützt, lachend, fröhlich. Und natürlich auch Kenji, der anpackte, was Gorou nicht mehr sonderlich verwunderte. "Ich war sogar mal auf Hawaii, aber daran kann ich mich auch nicht erinnern." Youji stapelte Fotos. "Da lebt meine Mutter." Die schwarzen Augen fixierten Gorou, der das untrügliche Gefühl hatte, er müsse nun eine Bewährungsprobe bestehen. Tapfer wagte er, sich auf seine Intuition zu verlassen. "Besuchst du sie denn nicht manchmal? Auf Hawaii?" "Nein." Youji schüttelte entschieden den Kopf, grinste dann plötzlich verschwörerisch. "Ich zeig dir was." Damit breitete er Bilder aus, die offenkundig älteren Datums waren, denn ihre Qualität hatte dem Zahn der Zeit die Farbechtheit und die Stabilität schulden müssen. Eine Schulklasse, ernst blickende Jungen und Mädchen in Uniformen. Ein junger Mann mit seinen Eltern, sehr förmlich gekleidet, offenkundig beim Abschluss der Oberschule. Dann verschiedene Aufnahmen, die den gleichen jungen Mann abbildeten, der vor einer Universität posierte, im Kreis von Kollegen ein Prosit anhob, mit einem Stahlhelm im Blaumann vor gewaltigen Röhren stand. Der gleiche junge Mann, der mit der jungen Frau und dem Säugling vor dem Häusermeer von Yokohama in die Kamera gelächelt hatte. Eine zierliche, sehnige Gestalt, die Züge klassisch-unauffällig geschnitten, die Haare simpel in einem Seitenscheitel aus dem Gesicht gekämmt. "Eri war früher Ingenieur und hat auf Bohrinseln gearbeitet. " Youji sammelte die Bilder wieder ein. "Deshalb bin ich auch gut in Mathematik." Erneut kletterte er gelenkig wie ein Affe am Regal hoch, doch Kenji trat dazu und pflückte ihn herunter, klemmte sich den zappelnden Grundschüler unter einen Arm. "Jetzt wird gegessen, danach machst du noch deine Aufgaben, sonst ist es nichts mit guten Noten!" Während Youji und Kenji beim Abendessen plauderten, sich gegenseitig von den kleinen Erlebnissen des Tages erzählten, blieb Gorou stumm und in sich gekehrt. Er hatte das Gefühl, dass er seine gesamte Weltsicht neu ordnen musste. ~+~ Kenij schloss den Transporter ab und stapfte voran zum Eingang. Er wartete auf die Frage, eigentlich auf alle Fragen. Dass Gorou ihm so stumm und alert folgte, als fürchte er, man möge ihm den Kopf abreißen, wenn er es wagte, sich auf dieses unbekannte Terrain vorzutasten, ärgerte Kenji. »SO eine furchtbare Type bin ich ja doch nicht!« Grollte er schweigend, hielt sich dann aber streng an, seinen Lehrling nicht zu drängen. Der stand zögerlich im Wohn- und Esszimmer, sollte sich eigentlich unter die Dusche und dann in sein Zimmer verziehen, damit sie am nächsten Morgen frisch ans Werk gehen konnten. "Ist Eri ein Mann?" Piepste er schließlich, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, als könnte er sich wie eine Schildkröte bei drohender Gefahr in einen schützenden Panzer zurückziehen. "Eri hat als Mann ihr Leben begonnen und führt es nun als Frau." Erklärte Kenji ruhig. "Es ist nicht einfach, ein Kind ganz allein aufzuziehen." Die braunen Augen musterten ihn sorgenvoll, suchten nach Indikatoren, ob es tunlich war, weitere Fragen zu unterlassen. Also ließ Kenji sich nieder auf dem geräumigen Dreisitzer, klopfte auf das Polster neben sich. "Setz dich hin, Lehrling, die Herumsteherei ist so ungemütlich. Schau bitte nicht so drein, als würde ich dich auffressen. Er klopfte auf seinen Bauch. "Das sind bloß die vielen, süßen Sachen." Gorou grinste schief und sackte ungelenk neben ihn auf die Couch. »Muskelkater.« Diagnostizierte Kenji und schmunzelte. Der würde sich schon geben. "Wir sind alle hier in der Gegend aufgewachsen, Eri, mein notorischer Cousin und ich." Erklärte er und gestikulierte dabei sparsam. "Hier gab es früher viele kleine Ortschaften, da sind dann alle Kinder immer in der Schule zusammengetroffen." Sein Blick wanderte über den Zweisitzer hinaus aus dem Fenster, in die Dunkelheit. "Das Haus hier gehörte meinen Großeltern, bevor ich es gekauft habe. Eris Familie hat in der nächsten Ortschaft gewohnt, da sah es genauso aus wie hier, eine Hauptstraße, viele kleine Häuser, kleine Geschäfte, nicht viel Gewinn und wenig Aufregung." Er schloss die Augen und ließ die Erinnerungen Revue passieren, vor einer Kulisse, die es nicht mehr gab. Entgegen allen Vermutungen ihrer Kindheit blieb auch hier die Zeit nicht stehen, verstrich das Leben so rasch wie in den großen, pulsierenden Städten, wenn man es individuell betrachtete. "Eris Leute waren sehr stolz, weil ihr Sohn studiert hatte, ständig im Ausland arbeitete. Bohrinseln, Ölförderungsprojekte. Als Ingenieur war er sehr gefragt. Sie wollten aber irgendwann einen Enkel haben, deshalb wurde eine Ehe angebahnt, mit einer jungen Frau hier aus der Nähe. Eri hat sich dann bemüht, nicht mehr so häufig versetzt zu werden. Youji kam auch noch auf die Welt, da wollte er auch mehr Zeit mit seiner Familie verbringen." Kenji strich sich über die schweren Strähnen. "Als Youji dann ein halbes Jahr alt war, hat seine Mutter sich abgesetzt. Da waren sie gerade in Yokohama." Er wandte sich zu Gorou herum, dessen aufgemalte Augenbrauen bekümmert zuckten. "Eri hat für sich und Youji eine Entscheidung getroffen, aber die Eltern waren mit ihrem Entschluss nicht einverstanden." Langsam legte er seine großen Hände flach auf die Oberschenkel, nahe bei den Knien. Sie waren ruhig. "Die Eltern sind weggezogen, als Eri mit Youji hierher kam. Sie wollten nicht mit der Schande leben." "Das tut mir leid." Murmelte Gorou, offenkundig eine spontane Äußerung, denn erschrocken über seinen Freimut presste er die Lippen zusammen und blickte Kenji ängstlich an. "ICH kann nicht sagen, dass es mir leidtut." Bemerkte Kenji säuerlich. "Aber das ist nicht meine Angelegenheit. Hier auf dem Land ist manches anders als in der Stadt. Die Leute kennen sich, sind aufeinander angewiesen, ob man das will oder nicht. Eine Vergangenheit ist hier auch immer die Gegenwart, und wenn man sich nicht wehrt, sogar die Zukunft." Er erhob sich und legte Gorou eine Hand auf die Schulter. "Aber du bist nicht von hier, Lehrling. Du kannst ein neues Leben anfangen." Damit ließ er Gorou zurück, erklomm die steile Treppe zu seinem Schlafzimmer und wartete, bis er hörte, dass sein Zögling das Badezimmer verlassen hatte. ~+~ Gorou blickte gerade Youji über die Schulter, der sich in der Bäckerei eingenistet hatte, weil es in Strömen regnete, als Kenji sein Mobiltelefon knurrend unter der blendend weißen Schürze hervor fischte und in die Backstube ging. "Wenn das noch ein Auslieferauftrag ist, dann wirst du klitschnass." Bemerkte Youji naseweis. "Du brauchst ein Regencape und Gummistiefel." "Ich weiß." Seufzte Gorou, doch er hatte noch nicht gewagt, mit seinem Meister über die Notlage zu sprechen. "Warst du gut in der Schule?" Betrieb Youji Konversation, während er flink seine Aufgaben erledigte. Eingedenk der Erklärungen des Vortags vermutete auch Gorou, dass der Sohn viel von seinem Vater hatte. "Ging so." Gorou rieb sich verlegen über den Nacken. "Aber ich habe nach der Mittelschule aufgehört." "Warum?" Youji teilte Gorou einen Farbstift zu und kommandierte. "Die Linien da bitte nachziehen." Zögerlich kam Gorou der Aufforderung nach, während er überlegte, wie er die Antwort formulieren sollte. "Ich wollte arbeiten. Allein wohnen." "Komisch." Der Grundschüler notierte stoisch weiter. "Ich dachte, du wärst obdachlos, wegen dem Schlafsack, als Kenji dich abgeholt hat." Ein sehr direkter Blick aus den schwarzen Augen traf Gorou, der perplex den Stift abgesetzt hatte. Zu seiner großen Verlegenheit färbten sich seine Wangen ein, und er senkte hastig den Blick. "Mach dir keine Gedanken." Youji tippte auf eine noch nicht farbig markierte Linie. "Kenji bringt das in Ordnung. Er bringt alles in Ordnung, das ist sein Spezialgebiet." "Wirklich?" Heftig schluckend widmete sich Gorou mit gesenktem Kopf der Aufgabe. "Ja. Das sagt Onkel Ryuuji auch immer." Er grinste durchaus boshaft in zwei weit aufgerissene, braune Augen. ~+~ "Du hast wirklich Nerven, das muss ich dir lassen!" Kenji hatte Mühe, das zierliche Mobiltelefon nicht zu zerdrücken, so sehr juckte es ihn in den Fingern, seinem jüngeren Cousin eine Abreibung zu verpassen. "Nein, ich rege mich gar nicht auf!" Blaffte er zornig. "Verdammt noch mal, Ryuu, wie konntest du ihn so zurichten?! Der Junge ist halb so alt wie du!" "Deine Eitelkeit ist mir schnuppe! Schwing deinen Hintern endlich auf den Bock und komm her! Übernimm die Verantwortung!" "Was denkst du denn?" Kenji musste tief Luft holen, denn er konnte in der Backstube nicht so brüllen, wie es ihn gelüstete. Dazu hätte er vermutlich in den Ofen kriechen müssen. "Diesen Jungen, den du in Todesangst versetzt hast, kennst du ihn überhaupt?! Hast du eine Ahnung, was du angerichtet hast?!" Er wechselte auf das andere Ohr. "Nein, du hörst mir zu! Wenn nicht jetzt, dann später, aber ANHÖREN wirst du dir das!" "Prima, wenn du jetzt keine Zeit hast, ich WERDE sie für dich finden, wenn du hier bist!" Versetzte er giftig. "Und ruf gefälligst vorher an, damit ich deinen Wanzenpalast lüften kann!" Wütend unterbrach er die Verbindung, lief ein paar Mal auf und ab, bevor er sich wieder in der Gewalt hatte. Das war so typisch! "Mist!" Knurrte er abschließend, löste dann Schürze und Kopftuch. "Lehrling, hilf mir saubermachen! Wir fahren noch bei Eri vorbei und dann ist Schluss für heute!" ~+~ Die Bar war noch nicht geöffnet, als sie eintrafen. Kenji und Gorou luden die Lieferung aus, während Eri Youji in die Arme schloss und sich auf den aktuellen Stand bringen ließ, was seine Erlebnisse betraf. Gorou blickte sich neugierig um und erkannte anhand der Bilder so Einiges wieder, praktisch und gemütlich zugleich, ohne überladen oder zu kitschig zu wirken. Es gefiel ihm, und er konnte sich vorstellen, dass viele diese Bar einem öden Fernsehabend zu Hause vorzogen. "Vielen Dank, dass du dich um Youji gekümmert hast!" Eri legte ihm eine gepflegte Hand auf den Unterarm. "Ich weiß, dass man in deinem Alter mit Grundschülern nicht viel anfangen kann." "Zum Glück bin ich beinahe Zehn." Mischte sich Youji ein. "Ich werde bald in die fünfte Klasse gehen. Das ist schon nahe an der Mittelschule!" Gorou lachte. "Stimmt! Außerdem verstehen wir uns gut. Bei Freunden ist das Alter nicht so wichtig." Zwinkerte er Youji zu, der grinste. "Das ist sehr richtig." Eri lächelte fröhlich. "Warum essen wir nicht am Sonntag alle bei mir? Bevor ich die Bar öffne?" Dabei blickte sie Kenji an, der endlich nickte. "Ja, warum nicht?" Allerdings schien er Komplikationen zu befürchten, und Eri, ganz unterhaltsame Gastgeberin, lenkte rasch auf ein anderes Thema ab. ~+~ Der nächste Tag verlief nach demselben Schema, nur spürte Gorou, dass Kenji ihm mehr Verantwortung übertrug, eine gewisse Unruhe ausstrahlte, als warte er auf etwas Bestimmtes. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: dessen Cousin würde zurückkehren! Gorou überliefen heiß-kalte Schauer, wenn er daran dachte. "Lehrling." Kenji winkte ihn heran, positionierte sich vor der Wand, wo hinter den verglasten Rahmen Anleitungen und Hinweise aufgereiht hingen. "Ich möchte, dass du darüber nachdenkst, ob du bei mir lernen willst." Bevor Gorou etwas entgegnen konnte, hob Kenji Einhalt gebietend eine Hand. "Augenblick. Ich weiß, dass du glaubst, es gäbe keine Alternative wegen dieser Geschichte in Tokio, aber das stimmt nicht. Wenn du etwas anderes tun möchtest, werden wir auch eine Lösung finden." Unwillkürlich fühlte sich Gorou an Youjis frechen Ausspruch erinnert. Konnte es sein, dass sich hier wirklich jeder auf Kenji verließ? "Außerdem halte ich es für notwendig, dich darauf hinzuweisen, was eine Ausbildung bei mir bedeutet." Kenji tippte auf einen Rahmen. "Ich kann dir nur das beibringen, was ich selbst beherrsche, auch wenn ich nicht vorhabe, dir irgendwelche großen Geheimnisse zu verheimlichen." Er zog eine Grimasse. "So etwas wie Geheimrezepte gibt es hier also nicht. Was du hier nicht finden wirst, ist einen Abschluss. Ich habe einen Teil meines Handwerks in einem großen Hotel gelernt. Richtig anerkannt wird man allerdings nur, wenn man einen Abschluss im Ausland, zum Beispiel in Deutschland, vorweisen kann. Diese Ausbildung zu finanzieren kostet eine Menge Geld, und so viele Reserven hatte ich nie, deshalb habe ich mir vieles selbst beigebracht." Er zog einen schweren Ordner hervor, in dem in Plastikhüllen eingepackte Dokumente abgeheftet waren. "Hier ist alles, was ich gelesen und erfolgreich ausprobiert habe. Backwaren rund um die Welt." Kenji beugte sich ein wenig, um Gorou unverschränkt in die braunen Augen zu sehen. "Ich kann dir das Rüstzeug beibringen, um eine kleine Backstube wie diese hier zu führen. Davon kann man einigermaßen leben." Ein kleines Grinsen erleuchtete sein Gesicht. "Kost und Logis, dazu ein bisschen Taschengeld, das ist mein Angebot. Über Urlaubstage können wir verhandeln. Also, denk darüber nach, in Ordnung?" "Ja, Meister." Gorou zögerte, dann nahm er seinen Mut zusammen. "Bin ich denn überhaupt geeignet?" "Du schlägst einen Test vor?" Kenji klatschte in die Hände. "Einverstanden, das lässt sich mühelos arrangieren!" Gorou, der eigentlich auf eine einfache Einschätzung oder Ermutigung gehofft hatte, machte muntere Miene zum unerwarteten Spiel. "Mir schwebt da schon was vor..." Kenji knurrte, als das Mobiltelefon unter seiner Schürze lärmte. "Moment bitte." Entschuldigte er sich höflich bei Gorou, wandte sich ein wenig ab und lauschte. Ab und zu brummte er etwas, schnaubte dann knapp. "Und klatsch den Hobel nicht gegen einen Baum!" Anschließend verstaute er sein Telefon wieder, streifte sich Schürze und Kopftuch ab. "Gorou, kümmere dich bitte um den Automaten, ich räume hier hinten auf. Wir beliefern noch Eri, dann müssen wir noch etwas anderes erledigen." »Oh, oh!« Dachte Gorou und zerknitterte seine Schürze. ~+~ Die Fahrt von Eri verlief schweigend, führte sie außerhalb des Dorfes, bis ein schmaler, asphaltierter Weg abzweigte. Kenji betätigte den Blinker und bog langsam ab, folgte der Straße, bis er ein altes Bauernhaus erreichte. Die Schiebetüren waren blockiert, was dem Haus den abweisenden Ausdruck einer Festung verlieh. "Wir müssen die Schutzwände abnehmen." Kenji ließ den Transporter laufen, damit sie das Licht der Scheinwerfer nutzen konnten. "Wenn wir drinnen sind, kann ich den Generator anwerfen." Gemeinsam gelang es ihnen recht schnell, das Haus 'abzurüsten". Kenji öffnete die Eingangstür und wies Gorou an, den Motor des Transporters abzustellen, während er die ersten Öllampen entzündete. Zögerlich folgte Gorou, sah sich scheu um. Die Einrichtung verschwand unter zahlreichen, staubabweisenden Laken, doch sein Hauptaugenmerk lag auf einer gewaltigen Bücherwand, die das Wohnzimmer dominierte. Von dort hatte man direkten Blick auf eine vorgelagerte Veranda und den See. "Hilf mir bitte, die Laken abzunehmen. Wir lüften mal ordentlich durch." Kenji bewegte sich routiniert und planvoll, sodass Gorou vermutete, diese Aufgabe gehöre zu einem Standardprogramm, das der öfter zu bewältigen hatte. Als alle Laken eingesammelt und in einem großen Bambuskorb verstaut waren, die Luft frisch und kühl roch, nahm Kenji Gorou beiseite. Ohne ein Wort wies er auf die Buchrücken einer Regalreihe. Obwohl sehr unterschiedliche Themen behandelt wurden, Reportagen, Dokumentationen und Romane, zeichneten sie sich alle durch eine Gemeinsamkeit aus: der Autor identifizierte sich mit den Kürzeln D.T. "Ich werde feucht durchwischen." Verkündete Kenji. "Die Pumpe muss auch in Gang gesetzt werden, damit die Wasserversorgung wieder in Schwung kommt. Sieh dich ruhig um." Damit überließ er Gorou sich selbst. »Es ist also wahr.« Gorou wischte eilig aus dem Haus hinaus auf die Veranda, um tief durchatmen zu können. Trotzdem sackte er auf die Knie, umklammerte mit den Fingern die mächtigen Holzbohlen, als wären sie das einzig Beständige in seiner Welt. ~+~ "Du konntest wohl nicht gut schlafen, wie?" Kommentierte Kenji trocken Gorous desaströses Erscheinungsbild beim Frühstück. "Entschuldigung, Meister." Murmelte Gorou, aber das konnte wohl kaum die dunklen Ringe unter seinen Augen tilgen. "Es gibt keinen Grund zur Angst." Versicherte Kenji, mischte Honig unter den Tee, den er vor Gorou platzierte. "Wenn du ihm eine Abreibung verpassen willst: ICH mische mich bestimmt nicht ein." Gorou blickte beschämt hoch, denn der Gedanke, sich an dem vermeintlichen Gangster zu rächen, war ihm bisher gar nicht in den Sinn gekommen. Kenji vermutete schon zutreffend: er hatte Angst vor der Begegnung. »Ich verstehe einfach nicht, warum er das getan hat.« Unschlüssig studierte er das reichhaltige Frühstück, wusste nicht, ob er etwas essen sollte oder das lieber unterlassen, damit ihm sein nervöser Magen keinen Streich spielte. "Du kannst bis heute Abend tun, was du möchtest." Wiederholte Kenji seine Offerte ruhig. "Die paar Vorbereitungen für unsere Verabredung und morgen Früh erledige ich alleine." Obwohl es eine großzügige Geste war, wäre es Gorou lieber gewesen, sich beschäftigen zu können, damit der Kopf von all den turbulenten, verwirrenden Gedanken befreit wurde, aber er hatte nicht den Eindruck, dass sein Meister ihm eine einfache Flucht gestatten würde. "Vielen Dank." Antwortete er aufrichtig und wählte sich ein Stück gerolltes Omelett aus. "Wird schon gut gehen." Kenji schob ihm ein noch dampfendes, goldbraun gebackenes, süßes Brötchen zu. "Nur Mut." Das stimmte Gorou seltsam zuversichtlich. ~+~ Als Gorou Kenji sicher aus dem Haus wusste, suchte er sich Aufgaben, indem er die Waschmaschine füllte und in Betrieb nahm, feucht aufwischte, die Futons der kühl-klammen Februarluft anvertraute, dabei in Kenjis Regalen entdeckte, was sich in der Backstube nur angedeutet hatte: sein Meister sammelte jede Information, um sein Repertoire noch zu erweitern. Davon kündeten auch die sorgfältig beschrifteten Speicherkarten, die neben einem Computer in einer quadratischen Keksdose lagerten. Obwohl ihn sein Gewissen durchaus mahnte, dass er sich Freiheiten herausnahm, studierte Gorou neugierig die Bände, bevor er sich den Büchern widmete. Auch hier fanden sich die zahlreichen Ausgaben des D.T. Kurzentschlossen erhängte er die Wäsche, denn in dieser Hinsicht fehlte ihm eine gewissen Übung, rettete die Futons vor einer zweiten Karriere als fliegende Teppiche. Er entleerte seinen alten Rucksack, um einige Bücher dort unterzubringen, bevor er sich mit einer kleinen Thermoskanne Tee und einigen von Kenji fabrizierten Keksen auf den Weg machte, sich am See ein gemütliches Plätzchen zum Schmökern zu finden. Er wollte, nein!, er MUSSTE wissen, wer D.T. wirklich war! ~+~ "Mir gefällt das Buch über die japanischen Mythen des Weiten Westens am Besten." Gorou schreckte hoch, bemerkte erst Youji, dann die Dämmerung. Wie viel Zeit war bloß vergangen?! War es schon so spät?! Youji ließ sich ungefragt neben ihm nieder, im Vorteil durch die lange Regenjacke. "Also, ich bin überrascht, dass du überhaupt was liest. Kenji hat erzählt, dass du unheimlich viele Filme studiert hast." Dabei traf Gorou so ein wissender Blick, dass ihm die Farbe in die Wangen stieg. Er konnte nur hoffen, dass Kenji ein schlechtes Gedächtnis besaß, was die Titel betraf, denn sonst musste er sich auch noch von Youji dazu löchern lassen! "Selbstverständlich lese ich auch." Versetzte er ein wenig gekränkt. "Es kommt eben auf das Thema an. Manche Dinge versteht man besser, wenn man sie sieht." "Kann mir aber nicht vorstellen, wie man allein Tänze für zwei Personen durch Zuschauen meistern will." Konterte Youji trocken, bevor er mit seinem zahnlückigen Grinsen Gorous Entsetzen milderte. "Ich habe Kenji nach Einzelheiten gefragt, aber er hat nur etwa die Hälfte von dem behalten, was du ihm erzählt hast. Also habe ich einfach im Internet nachgesehen." Er wischte sich in einer Kopie von Kenjis Gesten über die schwarzen Stacheln. "Ich kann nämlich ziemlich gut Englisch." "Hrmpf!" Knurrte Gorou und schnappte sich Youjis zierliche Gestalt, um ihn zu kitzeln. "Was kannst du eigentlich nicht?! Soll ich dich Herr Professor nennen, oder wie?!" Youji kreischte vor Vergnügen, entwischte Gorou aber und schnitt ihm begeistert Grimassen. Da Gorou sich ebenfalls anhand einer innovativen Formel zur Vermeidung von Falten auf solche Schreckensbilder verstand, währte der Wettbewerb eine Weile, bis sie lachend aufgaben. "Wir sollten langsam zu Eri gehen, sonst fangen sie ohne uns an." Youji füllte unaufgefordert Gorous Rucksack. "Sie wollte Sushi machen, und das gibt es bei uns nicht so häufig." "Klingt gut." Pflichtete Gorou bei und versuchte sich daran zu erinnern, wann er sich das letzte Mal Sushi gegönnt hatte. Es wollte ihm partout nicht einfallen, aber das war auch kein Wunder. Gemeinsam trotten sie einen Trampelpfad vom See weg zur Hauptstraße entlang. "Und, welches Buch hat dir am Besten gefallen?" Youji fragte über die Schulter hinweg, ein kleines, farbenprächtiges Männchen in einer grauen, zwielichtigen Atmosphäre, nicht ganz Nacht, aber bestimmt nicht mehr Tag. "Ich weiß nicht." Gorou zupfte das Kopftuch vom Schädel, um es auszuwringen, da sich Feuchtigkeit eingenistet hatte. "Ich habe bloß hier und da reingeschaut. Aber das Buch über den Wilden Westen klang wirklich spannend." "Ist es auch." Versicherte Youji. "Obwohl der Roman noch besser ist. Den darf ich aber nicht lesen, weil Schweinkram drin steht." Es dauerte einige Sekunden, bevor Gorou richtig schaltete. "Aber wenn du ihn nicht lesen darfst, woher weißt du dann, dass er besser ist?" Youji blieb stehen, wandte sich um und schenkte Gorou einen SEHR geduldigen Blick. "Selbstverständlich WEIL ich ihn gelesen habe." Er zuckte mit den Schultern. "Den Sex-Kram habe ich einfach ausgelassen, das ist ja nicht so interessant." "Aber wie bist du an das Buch gekommen?" Gorou wollte den Kampf noch nicht aufgeben. "Mein Meister hat es dir bestimmt nicht ausgeliehen." Stellte er eine kühne Behauptung auf. Vor ihm grinste der Grundschüler, beinahe zehn Jahre alt, nachsichtig. "Ganz einfach: ich habe Onkel Ryuuji versprochen, das zu überspringen, was noch nichts für Kinder ist. Da hat er mir eines von seinen Exemplaren ausgeliehen." Gorou starrte auf den munter ausschreitenden Jungen, bevor er sich beeilte, ihm zu folgen. WAS für eine LOGIK war DAS denn?! ~+~ "Da kommen sie!" Kenji verließ die Eingangstür der kleinen Bar, die er mühelos ausfüllte, sich sogar unbequem bücken musste. "Ah, dann werde ich gleich den Aperitif ausschenken." Eri lächelte, tauchte die Gläser in ein 'Zuckerbad', damit sich an ihrem Rand eine dekorativ-süße Kruste bildete. Für Kenji und sich selbst hatte sie eine leichte, alkoholische Variante eines fruchtigen Cocktails gemischt, während sie ihren Sohn und Kenjis unterhaltsamen Lehrling mit der jugendfreien Version versorgte. "Dachte schon, ich müsste einen Suchtrupp ausschicken." Brummte Kenji, pflückte Gorou den Rucksack vom Rücken. "Hereinspaziert, wascht euch die Hände, dann können wir endlich essen." Gehorsam duckten sich die beiden späten Spaziergänger unter einem mächtigen Arm hindurch, flitzten auf die Gästetoilette, um sich eilig zu säubern. Gorou kam sich in der eleganten Bar deplatziert vor, wünschte sich seine beiden Anzüge zurück. Plus ein changierendes Seidenhemd. Doch leider waren seine größten Posten auf der Attraktivitätsskala der Katastrophe in Tokio zum Opfer gefallen. Eri bot die Aperitifs anmutig auf einem Tablett an. Anschließend führte sie ihre geschätzten Gäste an die Bar, wo jeder sich einen Barhocker eroberte, während sie als Gastgeberin und Dame des Hauses hinter dem Tresen blieb. "Bitte greift ordentlich zu und spart nicht mit Kritik!" Forderte sie heiter auf, Schüsseln, Tellerchen und Näpfchen auf ihren Inhalt zu erproben. Kenji hatte ganz untypisch, aber beliebt Würstchen im Schlafrock beigesteuert, die mit selbst angefertigtem Senf verfeinert wurden. Sie kauten und komplimentierten die Speisen, spülten mit Bier bzw. Tee nach, als Youji plötzlich den Kopf wandte. Tatsächlich war das dumpfe Dröhnen eines starken Motors zu vernehmen, ein ganz unverkennbares Geräusch für den Eingeweihten. "Onkel Ryuuji!" Krähte er begeistert, rutschte von seinem Barhocker herunter. "Onkel Ryuuji ist da!" "Aber Youji!" Tadelte Eri nachsichtig, doch nicht einmal Ketten hätten ihren Filius davon abhalten können, zur Eingangstür zu flitzen, sie weit aufzureißen und nach draußen zu stürmen. "Entschuldigt bitte die Manieren." Eri lächelte, richtete sich aber hauptsächlich an Gorou, der auf seinem Barhocker eingefroren war. "Gegen Heldenverehrung ist einfach kein Kraut gewachsen." Brummte Kenji, löste sich ebenfalls von seinem Hocker. "Ich fürchte, wir brauchen noch ein Gedeck. Der Kerl hat eine Nase wie ein Bluthund, wenn er sich irgendwo zum Essen einladen kann." Ihm gegenüber kicherte Eri hinter elegant vorgehaltener Hand. "Ich freue mich immer über so illustre Gäste in meiner bescheidenen Bar." "Illuster?!" Kenji lupfte die buschigen Augenbrauen. "Schillernd trifft es eher. Wollen wir hoffen, dass er nicht wie eine Wildsau aussieht." Damit folgte er Youji hinaus auf die Straße. Gorou verharrte starr auf seinem Platz, glaubte, sein ängstlich rasendes Herz könnte sich jederzeit unkleidsam in seiner Reisschüssel dekorieren, die er noch in der Hand hielt, so vehement, wie es gegen seinen Brustkorb raste. Er schreckte zusammen, als ihm Eri die Schüssel aus der Hand nahm. "Gehen wir auch hinaus, ja?" Sanft, aber nachdrücklich legte sich ein Arm um seinen, wollte Geleit angetragen bekommen. Man konnte sich nicht verweigern, es sprach einen Reflex an. Als sie aus der Tür traten, erstarb gerade der gewaltige Motor, wurde ein Helm gelüftet, bevor eine schlanke Gestalt im Schein der Barbeleuchtung von der Maschine stieg, so lässig wie ein Cowboy. "Onkel Ryuuji!" Krähte Youji begeistert. "Du bist ja wieder da!" "He, nenn mich nich Onkel!" Knurrte der Angesprochene finster, donnerte die Silben barsch heraus. "Na, dann sag ich eben 'Onkelchen'!" Entschied sich Youji pragmatisch, bevor er kreischend in Deckung ging, weil die dunkel gekleidete Gestalt nach ihm haschte. "Kenji! Kenji, hilf mir!" Suchte er eilends einen Verbündeten, der ihn mühelos vom Boden pflückte und hoch über den Kopf hielt, außer Reichweite des schwarzen Mannes, der knurrte und bösartig zischte. Da wechselte der Tonfall jedoch, verwandelte sich ein lautes, herzliches Lachen. "Komm schon her, verdammter Schlingel, sonst bekommst du kein Souvenir!" Kenji reichte Youji weiter in die ausgestreckten Arme, woraufhin der Junge wild im Kreis gewirbelt wurde, hoch in die Luft geworfen und sicher aufgefangen. Eine solche Kraft hätte man der schlanken Gestalt nicht zugetraut. Sie öffnete eine der Hartschalen-Seitentaschen und produzierte eine einfach verpackte Schachtel, drückte sie in die kleinen Hände. "Ich werde deine Fortschritte überprüfen, also hab bloß keinen SPASS mit dem Zeug!" Drohte sie. "Danke schön!" Youji strahlte zahnlückig, presste das Geschenk, dessen Inhalt er zweifelsohne richtig eingeschätzt hatte, wie eine Kostbarkeit vor die Brust. "Verdammter Rumtreiber, ich schätze, ich habe mein Souvenir schon erhalten, wie?" Bollerte Kenji, baute sich, die kräftigen Hände in die Seiten gestemmt, mächtig vor der vergleichsweise schmalen Gestalt auf. Gorou konnte den Gesichtsausdruck des Neuankömmlings nicht erkennen, da Kenji ihn überragte, doch dann zog der seinen Cousin in eine bärige Umarmung, hielt ihn lange fest. Wie man ein Kind umarmte, beschützend, tröstend. Youji lenkte ihn ab, zupfte mit einer Hand an seiner. "Willst du mal das Motorrad anschauen?!" Sein Tonfall indizierte, dass ER das Gefährt unbedingt vorstellen wollte. Artig und dankbar für den Aufschub ließ sich Gorou mitziehen, lauschte nervös den Erklärungen, die Youji mit Begeisterung abspulte, während er bewundernd das Gefährt inspizierte. "Das ist eine Touring Maschine, siehst du? Stauraum, Antennen und großer Tank." Dozierte er. "Harley Davidson!" Gorou las brav die Inschrift auf dem Firmensignet, während Youji seine Hand löste, die Fingerspitzen ehrfürchtig auf den Sitz legte. "Die Farbe heißt vivid black." Aber Gorou half diese Information angesichts der Lichtverhältnisse nicht viel. "Das Modell ist eine Ultra classic electra glide." Stellte Youji vor. "Onkel Ryuuji hat sie gebraucht gekauft und aus Amerika mitgebracht! Zwei Leute können bequem darauf sitzen." Sehnsüchtig klopfte er auf den Sozius. "Manchmal darf ich auch mitfahren, aber nicht auf der Straße." Seufzte er unglücklich. "Mein Kopf ist für den Helm zu klein." Das schien ein schwerer Schicksalsschlag zu sein, deshalb signalisierte Gorou Mitgefühl. "Aber du bist ja bald Mittelschüler. Dann passt der Helm bestimmt." Youji seufzte unzufrieden. "Das dauert aber noch! Komisch, irgendwie hat man für die spannenden Dinge im Leben nie das richtige Alter oder die richtige Größe." Stellte er tiefsinnig fest. Darauf konnte Gorou nur mit der Schulter zucken. Er riskierte einen Seitenblick. Kenji hatte gerade ein Buch erhalten, das ihm offenkundig sehr zusagte. Eri verbeugte sich leicht vor ihrem unerwarteten Gast, der vorschnellte, ihre Hände in seine nahm, flink rechts und links ein Küsschen auf die dezent gepuderten Wangen tupfte. Irgendwo sackte eine Kinnlade zwischen Kniescheiben, und Gorou stellte anhand der unerklärlichen Kühle auf seiner Zunge fest, dass es SEIN Unterkiefer war. Solche Szenen kannte er aus Filmen, weshalb sie in der Realität eigentlich nicht vorkommen konnten. Ausgenommen in Amerika, wo sich die merkwürdigsten Dinge taten, die man besser nicht alle glaubte, aber das hier war schließlich echt! Eri lachte, legte ihre gepflegten Hände auf die Wangen und gab Scham vor, aber ihre nachsichtige Heiterkeit widerlegte den äußeren Anschein. "Das reicht jetzt!" Kenji packte seinen Cousin am Kragen, nicht grob aber entschieden. "Lass diese ausländischen Manieren, Ryuuji!" "Spielverderber!" Schnurrte der Getadelte, zog den Reißverschluss seiner Motorradjacke herunter, präsentierte geübt wie ein Magier eine rosafarbene Rose, deren Blüten sich noch nicht geöffnet hatten, überreichte sie mit einer Verbeugung. "Du liebe Güte." Wisperte Eri überrascht. "Aber Ryuuji! Eine Rose zu dieser Jahreszeit?!" Der grinste breit, das Feixen eines kleinen Jungen, dem ein besonderer Coup gelungen war. "Ich würde als Dank auch einen Kuss akzeptieren." Versicherte er großzügig. "Treib's nicht auf die Spitze!" Kenji knurrte hinter ihm. "Gehen wir jetzt rein, bevor das Essen kalt wird." Gorou hoffte schon rasch hineinschlüpfen zu können, mit seinem Sitzplatz recht weit weg von seinem Retter/Peiniger, doch er kalkulierte nicht ein, dass Kenji keine weiteren Tändeleien zulassen wollte und sich als menschliches Hindernis hinter Eri platzierte. Youji informierte unterdessen Ryuuji, dass Gorou sich dessen Bücher angesehen hatte. "Ah, natürlich..." Mit gedehnter Sprechweise richtete Ryuuji seine Aufmerksamkeit konzentriert wie ein Scheinwerfer auf Gorou, der ängstlich anwurzelte. "Youji, sag meinem liebenswürdigen Cousin, ich komme gleich nach." Schickte er den Grundschüler vor. Er wandte sich Gorou zu, der unwillkürlich zurückwich, gegen die Hauswand prallte. "Da bin ich wieder, Schatz." Flüsterte Ryuuji rau, stemmte seine Hände auf den Putz, kerkerte Gorou dazwischen ein. "Bekomme ich keinen Kuss, hm?" Gorou brachte kein Wort hervor, starrte lediglich panisch in die schwarzen Augen unter den dünnen Augenbrauen. Obwohl er sich doch vorgenommen hatte, mutig zu sein, zitterten ihm die Knie, glaubte er, gleich in Ohnmacht fallen zu müssen. Unvermittelt packte Ryuuji Gorous Handgelenk, drehte es prüfend. "Sieh an, hat Kenji dir den Mist mit der Zange abgezwackt?" Spielte er auf den 'Peilsender' an, den er mit Kabelbindern einschnürend befestigt hatte. "Ah!" Er trat lässig einen Schritt zurück. "Ich hätte beinahe vergessen, dir dein Souvenir zu überreichen!" Er drehte sich zu seiner Harley herum, befreite ein zusammengerolltes Magazin und drückte es Gorou in die starren Finger. "Dachte, es würde dich interessieren, wie Blonde tatsächlich aussehen." Bemerkte er perfide, bevor er ebenfalls in die Bar eintrat. Ungläubig stierte Gorou auf das ausländische Herren-Hochglanzmagazin, bevor er in die Bar stolperte und es hastig in seinem Rucksack verstaute. Er konnte nicht glauben, dass derselbe Mann, der ihn mit dem Tod bedroht hatte, jetzt so ungezwungen und fröhlich mit den anderen parlierte, ihm keine Erklärung dafür gab, WARUM er so grausam gehandelt hatte. ~+~ Während des Essens plauderte Ryuuji gut gelaunt über seine Reise, erzählte kleine Anekdoten und lobte die Speisen. Gorou wagte kaum, hinüberzusehen, wo Ryuuji neben Youji saß, ihn neckte und über das Geschenk debattierte. Es handelte sich um eine Lern-Software, die mehrere Sprachen bediente, etwas, das den Grundschüler offenkundig begeisterte. Ein wenig neidisch lauschte Gorou, gestand sich aber ein, dass er vermutlich nicht genug 'Grips' hatte. Die Erkenntnis schmerzte durchaus. Als sich die Zeit näherte, an der Eri gewöhnlich ihre Bar für das Publikum öffnete, packten alle an, um rasch aufzuräumen, das Geschirr in die große Spülmaschine zu verstauen und die Speisereste zur Aufbewahrung zu verpacken. "Gorou, Youji, steigt schon mal in den Transporter." Kommandierte Kenji, wandte sich Eri zu. "Vielen Dank, Eri. Ich werde Youji gleich absetzen und ins Bett stecken." Vor dem Eingang nahm er Ryuuji beiseite, der neben seiner Maschine wartete. "Mach dem Jungen keine Angst!" Zischte er unterdrückt. "Oder hast du ihn hierher geschickt, damit es ihm hier auch dreckig geht?!" Ryuuji zupfte seine Handschuhe aus dem Helm. "Du hast ihm doch gesagt, wer ich bin, oder?" "Das reicht aber nicht." Grummelte Kenji energisch. "Weißt du eigentlich, dass er einige sehr unbedarfte Vorstellungen über seinen 'Beruf' und 'Frauen' hat?!" "Das wundert mich." Entgegnete Ryuuji bissig, aber keineswegs ironisch, zupfte aus einer Brusttasche ein zusammengefaltetes Dokument, drückte es Kenji in die Hände. "Hier, das ist mein Souvenir für dich, Bäckermeister." Kenji starrte in die schwarzen Augen, faltete dann das Papier auf, studierte es im Schein der Eingangslampe. "Du hast seine Mutter besucht?" Erkundigte er sich leise. "Pff!" Ryuuji schürzte die sinnlichen Lippen zu einer abfälligen Geste. "Sie hat mich empfangen, war gerade frei." Auf den fragenden Blick seines älteren Cousins hin erklärte er knapp. "Entweder auf Droge oder Medikamente. Schafft in ihrer Wohnung an. Dann kam ihr Zuhälter dazu, so eine schmierige Ratte. Der meinte, er könne noch eine Ablöse für das 'Schmuckstück' kassieren!" Er lächelte eisig. "JETZT glauben die beiden, dass die Yakuza den Jungen hat und halten das Maul. Du wirst also keine Schwierigkeiten haben. Der Wisch da ist ohnehin nur eine Formsache. " Er tippte abfällig gegen das Dokument. "In der Wohnung war gar nichts, was auf ein Kind hingewiesen hätte." Ein unvermeidlicher Kaugummi wurde aus einer vorderen Brusttasche produziert. "Ich war bei seiner Schule und bei dem Medienverleih, wo er zuletzt gearbeitet hat. Die hatten ihn nach dem Abschluss rausgeschmissen, weil er keine feste Adresse mehr vorweisen konnte." Unwillkürlich zuckten Kenjis kräftige Hände, drückten zusätzliche Falten in das Schriftstück, das ihm die Verantwortung und Entscheidungsgewalt über Gorou zusprach. Er atmete tief durch, verstaute das Papier, nachdem er es sorgfältig gefaltet hatte. "Ryuuji." Der Angesprochene klappte das Visier seines Helms hoch. "Warum hast du dem Kleinen das angetan?" Ryuuji schwang sich auf sein Motorrad, ließ den Ständer einklappen, balancierte das beträchtliche Gewicht mühelos aus. Kenjis Hand ruhte auf dem Tank. Langsam wandte der Jüngere sich dem Bäckermeister zu. "Die hätten mich getötet, wenn er mich verraten hätte. Ich hatte keine Wahl." "Auch nicht, als du ihn im Bett hattest?!" Kenji knurrte guttural. Er bezweifelte nicht, dass Ryuuji wirklich in Gefahr geschwebt hatte, aber es gab immer eine Alternative. Sein Cousin klappte das Visier herunter und startete dröhnend den Motor. Er WOLLTE nicht darüber sprechen. ~+~ "Du kannst auch mal mit mir spielen." Offerierte Youji großzügig, als er aus dem Badezimmer kam, die Haare nass, von Kenji energisch frottiert. "Danke schön." Gorou zwang sich zu einem Lächeln, auch wenn er sich am Liebsten irgendwo verkrochen hätte. "Wir können doch auch bei dir am Computer spielen, oder?" Youji wühlte sich unter dem Handtuch frei, blickte Kenji an, der hinter ihm auf dem Sofa saß. "Dann könnte ich dir auch bei neuen Rezepten helfen." Erklärte er verschwörerisch. "Mal sehen." Kenji warf sich das Handtuch über die Schulter, legte eine kräftige Hand auf Youjis zierliche Schulter. "Aber jetzt geht es ins Bett." "Meine Beine sind ganz müde!" Beklagte sich Youji, erschlich sich so einen Transport auf Kenjis Arm. "Wir sollten öfter zusammen essen, meinst du nicht?" Kenji meinte etwas Unverständliches, zwickte Youji aber behutsam in die Nase. "Genug jetzt, du freche Krabbe!" Gorou wartete im Wohnzimmer, bis er Kenjis schwere Schritte auf der engen Treppe hörte, dann erhob er sich. Sie verschlossen die Tür hinter sich, stiegen schweigend in den Transporter. Entlang der Hauptstraße waren nur einige Fenster erleuchtet, es herrschte kein Verkehr. Die Stille und Dunkelheit, so gänzlich ohne das Leuchtfeuer von Reklame, den ständigen Lärm von Warnsignalen und Werbemelodien, sie löste bei Gorou plötzlich Beklemmung aus. War ihm zuvor die ländliche Abgeschiedenheit noch heimelig und sicher vorgekommen, fühlte er sich wie in einer finsteren Falle gefangen. "Du musst wirklich keine Angst mehr haben." Brach Kenji unerwartet das unbehagliche Schweigen. "Hier wird dir nichts passieren." Mit einem schiefen Lächeln antwortete Gorou heiser. "Danke schön." "Wirst sehen, Backen macht Spaß." Kenji bog in die Einfahrt zu seinem Haus ein. "Ist vielleicht nicht glamourös, aber dazu können wir ja bei Eri vorbeischauen, nicht wahr?" Der Versuch, ihm das Landleben schmackhaft zu machen, rührte Gorou und lenkte ihn von seinen Ängsten ab. "Es ist schön hier." Beschwichtigte er und meinte es aufrichtig. Er mochte die seltsame, kleine Familie, die ihn ohne Vorbehalte aufgenommen hatte. ~+~ Kapitel 13 - Herausforderungen! Der Morgen kam recht zeitig, aber Gorou entschloss sich, mit ganz neuem Elan an seine Aufgabe zu gehen. Auch wenn er sich vor dem nächsten Treffen mit Ryuuji fürchtete, überwog doch eindeutig das Positive: er war gut untergebracht, bekam genug zu essen, niemand jagte ihn weg oder brüllte ihn an. Im Gegenteil, die Leute freuten sich, wenn er kam. Nun ja, das lag wohl hauptsächlich in den Backwaren begründet, die er für Kenji auslieferte, aber man durfte da nicht so pingelig sein! "So!" Kenji winkte Gorou heran. Sie hatten gerade das Mittagessen und die wenigen Auslieferungen erledigt. "Diese Woche haben wir ein hartes Programm. Morgen Abend gibt es im Landgasthof einen großen Empfang, eine Goldene Hochzeit wird da gefeiert. Die Leute sind nicht von hier, deshalb haben sie auch einige ausgefallene Wünsche." Er breitete einen Zettel aus, löste die Schürze und wechselte Kopftuch gegen Kappe. "Ich möchte, dass du schon mal die Rezepte heraussuchst und einen Zeitplan aufstellst. Ich fahre zum Großhändler, um unser Lager aufzufüllen." Damit wurde Gorou auch deutlich, dass sein Meister bereits die erforderlichen Mengen ausgerechnet hatte, deshalb das Lager umgeräumt und ihn eine Unmenge an Formen hatte präparieren lassen. "Heute wird's deshalb ein wenig später. Wenn du damit fertig bist, möchte ich, dass du die Transportkörbe aufstapelst und die Thermoboxen vorbereitest." "Jawohl, Meister!" Gorou nickte eifrig, wenn auch leicht beklommen. Würde es ihm gelingen? So einfach, wie es klang, war es nicht, Bäcker, Lagermeister, Großeinkäufer und Auslieferer zu sein! "Ich rufe dich an, wenn es länger dauern sollte." Kenji klopfte Gorou auf die Schulter. "Du schaffst das schon." »Hoffentlich!« Dachte Gorou und gab sich an die Arbeit. Eine Stunde später hätte er sich gern die Haare gerauft, doch die bescheidenen Stoppeln erlaubten solche Extravaganzen nicht. Youji, der sich einmal mehr eingefunden hatte, um seine Hausaufgaben zu erledigen und Gorou bei der wenigen Kundschaft zu unterstützen, spitzte neugierig in die Backstube. "Stimmt was nicht?" Gorou wedelte mit den Armen. "Ich habe jetzt endlich alle Rezepte, aber wie soll das bloß bis morgen alles gebacken werden?! Ich habe keine Ahnung, in welcher Reihenfolge was gebacken wird!" "Ach so." Youjis Interesse sank gewaltig, da sich keine Katastrophe anzubahnen schien. "Vielleicht solltest du mal andersherum dran gehen? Was kann denn am Längsten in den Thermoboxen gelagert werden?" "Oh..." Gorou staunte Youji an, der frech zwinkerte. "Wenn ich dir beim Wäschefalten helfe, hilfst du mir vielleicht hierbei?" Handelte er eilig, um die Geheimwaffe nicht zu verlieren. "Leg noch zwei Kekse drauf, und wir sind im Geschäft!" Youji grinste zahnlückig und sehr gerissen. Eifrig nickend holte sich Gorou Schützenhilfe. Man musste seine Möglichkeiten nutzen! ~+~ "Youji, pack dein Zeug zusammen. Ich fahre eben die Lieferung zu Eri, dann setze ich dich zu Hause ab." Kenji unterbrach die anstrengende Arbeit, schob Gorou gleichzeitig eine Tasse Tee zu. Dem klebten seine Kleider auf dem Leib, denn er hatte kaum Zeit zum Verschnaufen. "Wie lange ist man verheiratet, wenn man Goldene Hochzeit feiert?" Youji war müde und deshalb ein wenig überdreht, lief rund um die drei Tische im Verkaufsraum. "Genug jetzt." Kenji fing Youji ein- "Und es sind fünfzig Jahre. Hast du alles?" "Zählt es auch, wenn man mehrmals verheiratet war?" Youji wollte aus Kenjis Griff schlüpfen, doch der klemmte ihn sich einfach unter den Arm, ignorierte das Zappeln. "Nein. Man fängt immer wieder bei Null an." Erläuterte Kenji geduldig. "Komm schon, du kleiner Wilder, genug getobt!" "Aber Gorou hat mir versprochen, mir bei der Wäsche zu helfen!" Beklagte sich Youji schrill. "Gorou muss hier weiterarbeiten, sonst werden wir nicht fertig." Ungerührt klaubte Kenji den Schulranzen und die unverwüstliche Regenjacke zusammen. "Wir müssen jetzt los!" "Ich bin aber noch nicht müde! Gorou kann mich doch nach Hause bringen!" Youji schniefte ärgerlich. Unversehens wurde er auf die Gummistiefel abgestellt, dann ging Kenji vor ihm in die Hocke, funkelte ihn an. "Fein, dann finden wir heraus, wie müde du bist! Gorou, bring mir eine der Thermoboxen!" Der näherte sich, durchaus beschämt, weil er sein Versprechen gegenüber Youji nicht halten konnte, zumindest noch nicht. "Hier." Kenji wies auf die Thermobox, die Gorou auf einem Tisch abgestellt hatte. "Hebe sie hoch!" Youji schob die Unterlippe trotzig vor, doch die Thermobox, die er mit seinen kleinen Armen nicht mal in der Länge umfassen konnte, war viel zu schwer. Kenji nahm sie ohne Mühe auf, drückte sie Gorou wieder in die Arme. "Stell sie wieder zurück. Und du wirst jetzt einsteigen, damit wir losfahren können." Er schnappte Youjis Hand. "Das ist unfair!" Beklagte sich Youji weinerlich, wagte aber nicht, der Hand zu entschlüpfen. "Höchste Zeit, gute Nacht zu sagen." Ordnete Kenji an, hob sich Youji doch auf den Arm, warf sich den Ranzen über die freie Schulter, die Regenjacke in der Hand. "Morgen ist auch noch ein Tag." Als Gorou ihm die Beifahrertür des Transporters öffnete, bemerkte er, dass Youji schon auf der mächtigen Schulter des Bäckers döste, vertrauensvoll die Arme um dessen kräftigen Nacken geschlungen. Kenji zwinkerte Gorou zu, bettete Youji behutsam auf den Beifahrersitz, wo der sich gleich zusammenrollte, aus dem Sicherheitsgurt rutschte. "Mach weiter wie besprochen. Ich bin bald zurück." Gorou nickte und atmete die kalte Abendluft ein. Er fragte sich, ob Kenji je erwogen hatte, zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen. ~+~ Sie hatten nur wenig Zeit zu schlafen, bevor unvermeidlich der nächste Tag zur Arbeit rief. Neben dem üblichen Geschäft musste ja die Extra-Bestellung für die Goldene Hochzeitsfeier fertiggestellt werden! "Ich bringe die erste Lieferung rüber." Kenji nickte Gorou zu, hängte seine Schürze auf. "Mach eine kleine Pause, ja? Trink deinen Tee, sonst fällst du mir hier noch um!" Denn in der Backstube herrschten unerträglich hohe Temperaturen, dem zusätzlichen Auftrag geschuldet. Gorou schluckte gehorsam den Tee, spülte sich den Mund, hatte das Gefühl, immer noch auf Mehl zu beißen. Musste Einbildung sein! Mit einer Teigtasche, die noch keinen Abnehmer gefunden hatte, wechselte er in die Bäckerei, dankbar für die angenehme Atmosphäre. Um sich ein wenig abzulenken, blätterte er in Kenjis Arbeitsordner, stutzte dann, als ihm ein loses Blatt Papier auffiel. Als er es einheften wollte und die entsprechenden Seiten umschlug, bemerkte er, dass es sich um eine Liste handelte, allerdings nicht mit einem ihm bekannten Auftrag verbunden. Ein Lächeln schlich sich auf seinem Gesicht ein, als er begriff, was dort warum notiert worden war. SO sah also die Herausforderung aus, die Kenji ihm stellen wollte, um seine Begabung für das Handwerk erproben zu können! ~+~ Gerade, als Gorou eine weitere Fuhre delikater Teigwaren dem Ofen anvertraut hatte und die Uhr programmierte, hörte er das sanfte Klingeln der Eingangstür, die Kundschaft signalisierte. "Willkommen! Ich bin sofort bei Ihnen!" Rief er eilig, rollte Papier aus, damit die gerade dem Ofen entnommenen Backwaren auskühlen konnten. Da die Arbeitsfläche in Gebrauch war, mussten die noch nicht gefüllten Transportkörbe herhalten. "Sehr sexy." Raunte es hinter ihm. Gorou fuhr zu Tode erschrocken herum, sah sich unvermittelte Ryuuji gegenüber, der in der Tür lehnte, sich langsam die teure Lederjacke aufknöpfte. "Verdammt heiß." Wisperten die sinnlichen Lippen maliziös, ließen verschiedene Interpretationsmöglichkeiten offen. Mit einem amüsierten Grinsen wandte sich Ryuuji ab, kehrte in die Bäckerei zurück, nahm artig vor der Theke Aufstellung. "Ich möchte gern eine der belegten Stangen und ein Melonenbrötchen." "...kommt-kommt sofort!" Gorou schob sich mit gesenktem Blick hinter die Theke, fischte mit der Zange die Backwaren aus der Auslage und öffnete eine der Papiertüten. "Nein, nicht zum Mitnehmen." Ryuuji korrigierte samtpfotig. "Ich pflege hier zu speisen. Außerdem hätte ich gern einen Milchkaffee mit Vanille- und Karamellsirup!" "...kommt...sofort." Gorou dekorierte eilig einen Teller, kämpfte mit Besteck und Serviette, wischte dann um die Theke, näherte sich dem Tisch, den sich Ryuuji ausgewählt hatte, von der entferntesten Seite, um hastig zur Kaffeemaschine zu fliehen und das gewünschte Gebräu in Auftrag zu geben. "Viel Arbeit heute, hm?" Ryuuji ignorierte das Besteck, zerpflückte sein Melonenbrötchen, das nach europäischer Art nichts mit einem japanischen melon pan gemein hatte. "Ein Auftrag...eine Goldene Hochzeitsfeier...in Landgasthof." Murmelte Gorou nervös, vermied jeden Augenkontakt. In der Backstube ertönte der Wecker. Aufgeschreckt ließ Gorou den Kaffeeautomaten im Stich. "Ich komme gleich wieder!" Er flitzte in die Backstube, damit er den nächsten Schichtwechsel nicht mit verbrannten Mini-Croissants bezahlte. In seinem Magen rumorte es bange. Wieso musste ER ausgerechnet jetzt kommen?! Gorou lehnte sich an die Arbeitsfläche, atmete tief durch. »Immer mit der Ruhe!« Hielt er sich zur Ordnung an. »Gib ihm den Kaffee und arbeite hier weiter!« Tapfer stellte er erneut den Zeitmesser ein und marschierte zurück in den Verkaufsraum, um festzustellen, dass sich Ryuuji bereits selbst mit seinem Kaffee versorgt hatte. "Eintippen." Leckte er sich provozierend über die Lippen. "Vergiss nicht, die Kasse zu bedienen." Dunkelrot vor Scham holte Gorou das Versäumte nach, erwog, wieder in der Backstube unterzutauchen, immerhin musste er ja die nächste Ladung in die Formen verteilen! Da wartete auch der nächste Teig auf die Umlagerung von der Rührmaschine zur Weiterverarbeitung! "Du weißt, wer ich bin, oder? Kenji hat es dir gesagt, nicht wahr?" Ryuujis Stimme ließ ihn innehalten. Gorou nickte zögerlich, immer noch mit dem Rücken zu Ryuuji. "Und wer bin ich?" Zischte der streng, in einem Befehlston, der selbst Soldaten erschreckt hätte. "..der-der Autor...D. T.!" Stotterte Gorou, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. "Genau." Schnurrte es lasziv, dann strich Atem über seinen Nacken, überlief es ihn trotz der infernalischen Temperaturen, die von der Backstube hereindrangen, eisig kalt. "D. T. alias Ryuuji Sagara. Willst du wissen, wofür D. T. steht?" Obwohl er die Fäuste ballte, zitterte Gorou am ganzen Leib. Es war, als würde die Stimme über seine Ohren durch seinen ganzen Körper krabbeln, überall kleine Explosionen auslösen. "Es steht für deep throat." Nun streiften die Lippen sein Ohr, eine Zunge leckte über sein Ohrläppchen. "Weißt du, was das bedeutet?" Gorou umklammerte mit den Händen seine Ellenbogen, die Arme vor dem Leib verschränkt. Er hätte nicht mal die Frage nach seinem Namen korrekt beantworten können, so sehr revoltierte sein Körper gegen die Gegenwart des anderen Mannes. Nicht unbedingt aus Abneigung. "Ryuuji, lass das!" Donnerte Kenji von der Tür her, dann flogen die kleinen Glöckchen mit hysterischem Gebimmel. Als Gorou es wagte, wieder Luft zu holen, war Ryuuji bereits an seinem Platz, nippte an seinem Kaffee, so ungerührt, dass man glauben könnte, es wäre nichts geschehen. "Kümmere dich bitte um den Ofen." Kenji schob Gorou behutsam wieder in die Backstube, schloss dann vernehmlich die Tür hinter ihm. "Ich nehme an, du weißt von dem großen Auftrag." Beinahe beiläufig schüttelte er seine Regenjacke ab, hängte sie über den Stuhl, bevor er sich seinem Cousin gegenüber setzte. "Die Goldene Hochzeitsfeier bei den Watanabes." "Hat mir dein kleiner Lehrling gerade erzählt." Ryuuji pflückte mit spitzen Fingern die Reste seines Melonenbrötchens vom Teller, leckte sich dann lasziv über die Fingerspitzen. "Benutze eine Serviette, du Ferkel." Noch immer klang Kenji gefährlich ruhig. Er beugte sich vor, fixierte die schwarzen Augen bezwingend. "Ich wünsche nicht, dass du den Jungen belästigst." Ryuuji erwiderte den Blick, ohne zu zwinkern. "Wir haben uns bloß ein wenig unterhalten." Antwortete er in dem gleichen, flachen Tonfall. Kenji erhob sich langsam. "Wenn du fertig bist, dann geh bitte." Er legte sich die Regenjacke über einen Arm, hielt dann inne und wandte sich Ryuuji noch einmal zu, trat hinter dessen Stuhl, stützte sich schwer auf die Stuhllehnen. Sehr leise und beherrscht zischte er in dessen Ohr. "Ich habe dich immer unterstützt. Aber als ich den Jungen gesehen habe, so, wie du ihn zugerichtet hast, da habe ich mich zum ersten Mal dafür geschämt, dass wir blutsverwandt sind." Damit ließ er Ryuuji allein in der Bäckerei zurück. ~+~ Gorou zuckte zusammen, ließ beinahe die schwere Rührschüssel fallen, die er angehoben hatte, um die kleinen Portionen abzuteilen. Er verstand nun, warum Kenji so viel Muskelkraft sein Eigen nannte. "Bist du schon fertig? Sehr gut!" Kenji inspizierte die Ergebnisse, wusch sich die Hände, bevor er Gorou einfach die schwere Schüssel abnahm, geübt mit einem Portionierer den Teig aufteilte, der Arbeitsfläche anvertraute. "Weißt du noch, wie du ihn kneten musst?" Er klang so ruhig, so gefasst, dass Gorou ihn besorgt betrachtete. Hatten sich die Cousins gestritten? "Ich glaube schon." Murmelte er vorsichtig. "Gut, dann nimm dir die Ladung vor. Ich werde den nächsten Teig ansetzen, dann kümmern wir uns um die Nachspeisen." Diese sollten noch heiß direkt zum Verzehr abgeliefert werden. Obwohl Gorou noch einige Seitenblicke auf Kenji warf, konnte er ihm kein weiteres Wort mehr entlocken. ~+~ Youji studierte die Liste, die ihm Gorou heimlich zugeschoben hatte. "Das soll in zwei Tagen fertig sein?" "Soweit ich weiß holt er heute Morgen noch mal beim Großhändler Zutaten." Gorou ging neben Youji in die Hocke, der wie immer in der Bäckerei frühstückte. Als Kenji aus der Backstube kam, stopfte Youji Gorou eilig die Liste unter dem Tisch in die Hand. "Also abgemacht!" Antwortete er laut, bekräftigte damit ihren Handel. War es der Kaffee oder die Zuversicht, die ihn so munter stimmte, trotz der zwei Tage harter Arbeit? Gorou strahlte, als Kenji ihm auf die Schulter klopfte. "Abmarsch, wir können uns nicht auf der faulen Haut ausruhen!" Kenji lächelte aber dabei. Er hielt inne, als Eri eintrat, einen Schirm ausschüttelte, dann heiter grüßte und sich zu ihrem Sohn gesellte. "Geh schon mal vor." Erteilte Kenji Gorou Demission. Der nahm sich vor, jede freie Minute am Vormittag zu nutzen, um sich noch besser vorzubereiten, damit er die erste Prüfung seines Meisters bestand. ~+~ Nach dem Mittagessen präsentierte Kenji die Liste, die schon durch einige Hände gewandert war. "Das da müssen wir bis Freitag zusätzlich herstellen." Er räusperte sich und feuchtete die trockene Kehle mit Tee an. "Du weißt, welcher Tag am Freitag ist?" "Ja, natürlich. Der Weiße Tag." Gorou lächelte, saß besonders aufmerksam und artig auf seinem Stuhl. Eine buschige Augenbraue wanderte zum Haaransatz. "Na fein. Hier auf dem Land gibt es keine große Abnahme, die meisten Pendelnden kaufen irgendwelches Zeug an ihrer Arbeitsstelle. Aber das wird uns nicht daran hindern, mal etwas auszuprobieren!" »Möglicherweise würde das eine oder andere leckere Stück im Landgasthof oder in Eris Bar zusätzlich abgenommen werden.« Aber diese Hoffnung sprach Kenji nicht aus. Die Grundstoffe, die er beim Großhändler bezog, waren nicht billig, eben, wie das bei Qualität und Importen erwartet werden konnte, deshalb durfte er nicht allzu viel 'Ausschuss' produzieren. Nur wenige seiner Backwaren konnte er noch verwenden, wenn sie nicht frisch gekauft wurden. "Also, wir werden mit Marzipan arbeiten, mit weißer Glasur und mit ein wenig weißer Schokolade." Er winkte Gorou, ihm in das Lager zu folgen. "Ich habe auch eingelegten Ingwer bekommen, dazu noch eine Stiege Maraschino-Kirschen. Sehen wir mal, was wir daraus machen können, richtig?" Gorou nickte eifrig und war dankbar dafür, dass er sich zumindest schon theoretisch in die Materie hatte einarbeiten können. ~+~ Bis zum folgenden Abend leisteten sie neben den gewöhnlichen Bestellungen die Vorbereitungen für den Weißen Tag. Kenji hatte bereits Erfahrung mit Marzipan, sodass er sich auch auf die Gestaltung verstand, dekorative Elemente produzierte. Gorou dagegen musste sich mit weißen Glasuren befassen, winzige Törtchen backen, die per Spritze mit süßer Bohnenpaste oder einer Beeren-Marmelade gefüllt wurden. Gegen Abend nahm ihn Kenji zur Seite, denn jetzt wollten sie an einem Ausstellungsstück arbeiten. Es sollte eine Vase aus weißer Schokolade sein, in der sich kristalline Blumen befanden, aus Zucker hergestellt. "Mit dem Föhn müsste es gehen." Kenji klang zuversichtlich. Er hatte sich Anleitungen zum Umgang mit Zucker besorgt und hoffte, dass es mit Thermometer, genauer Beobachtung und dem etwas unkonventionellen Werkzeug schon funktionieren würde. Zunächst musste die große Vase hergestellt werden. Zu diesem Zweck hatte sich Kenji eine einfache Gussform beschafft, einen Zylinder.Er verarbeitete die weiße Schokolade genau nach Anweisung, füllte sie vorsichtig in den Zylinder und drehte diesen so lange, bis er sicher war, dass sämtliche Wände und der Boden der 'Vase' vollkommen bedeckt waren. Die überschüssige weiße Schokolade ließ er ablaufen, rasch genug, damit sie nicht härten konnte. "Jetzt wird es spannend!" Er wies Gorou an, sich mit dem Föhn bereitzuhalten, während er die einfache Zylinderform sehr vorsichtig aufschnitt. Beide atmeten tief durch, als die Hälften keine groben Fehler aufwiesen. Erneut wurde weiße Schokolade erhitzt, damit man nun die beiden Hälften aneinander befestigen konnte und kleine Unebenheiten mit einem Spatel korrigieren. "Sehr schön." Lobte Kenji Gorou, der ihm umsichtig zur Hand ging. "Den Körper aus Schokolade haben wir jetzt schon. Die Verzierungen tragen wir später auf, da färben wir Zuckerguss mit Lebensmittelfarbe und spritzen ihn auf." Während die 'Vase' auf ihre Vollendung warten musste, galt es nun, verzehrfähige Blumen herzustellen. Dazu hatte Kenji ebenfalls eine Gussform besorgt. Der Zucker musste genau auf Temperatur gehalten werden, auch noch in verschiedene Farben getönt. Es galt, darauf achten, dass der 'grüne' Stiel zuerst trocknete, bevor man die Zuckerblüte goss und alles aus der Gussform befreien konnte. Kenji arbeitete sehr konzentriert, überließ es aber vertrauensvoll Gorou, mit einer Zange behutsam die Zuckerblumen aus der Form zu heben und sehr vorsichtig in einen Behälter abzustellen. Es vergingen fast zwei Stunden, bis die Menge erreicht war, die die 'Vase' füllen konnte. Gorou mischte unter Kenjis Aufsicht die Farbe in den Zuckerguss, der noch auf die 'Vase' gespritzt werden musste. Kenji bemühte sich unterdessen, noch einen 'Boden' aus weißer Schokolade herzustellen, damit die Vase sicher stand. Spät in der Nacht war das Werk vollendet. Gemeinsam dekorierten sie das Schaufenster vor der Theke. Kenji holte eine Kamera hervor, um ihren Erfolg zu dokumentieren. "Schön. Sehr schön." Kenji lächelte so entspannt, dass Gorou ihn anstaunte. "Legen wir uns noch ein bisschen hin." "Ich bin neugierig, was die Leute sagen werden." Gorou wickelte sich aus seiner Schürze und packte wie Kenji auch die Arbeitskleidung in einen Wäschesack. "Gute Arbeit!" Kenji klopfte Gorou auf die Schulter. "Du kannst stolz sein. Na, willst du Lehrling bleiben, hm?" Der nickte eifrig.Trotz der anstrengenden Arbeit hatte ihm der Tag gut gefallen und geschickt genug fühlte er sich auch. Frohgemut kletterte er zu Kenji in den Transporter und freute sich bereits auf die Dusche und seinen Futon. ~+~ Wie gewöhnlich trafen sie am nächsten Morgen ein, um die üblichen Aufträge zu erfüllen, hofften dann auf die Reaktion der Kundschaft, die nicht beliefert wurde. Wie jeden Morgen kam zuerst Youji vorbei, bestaunte die Ausstellungsstücke und erhielt zum Kosten ein Törtchen mit Maraschino-Kirsche. "Dafür gehst du aber morgen Nachmittag mit mir ins Kino!" Er zupfte Gorou an der Schürze, als der geschäftig durch die Bäckerei eilte. Das Versprechen war der Preis für Youjis Unterstützung, der nicht allein in die Stadt fahren durfte. Gorou fand, dass er einen Teil seines Taschengelds gut investiert hatte. "Wie versprochen." Versicherte er also lächelnd, als auch Kenji nickte. Eri erschien ebenfalls, wuschelte Youjis Igelstacheln und nahm lächelnd neben ihm Platz. Sie schien ein wenig angestrengt, winkte aber betont heiter Kenjis besorgte Frage ab. Der machte ihr eine Tasse Jasmintee, reichte ihr dann eine der Zuckerblumen, damit sie sich den Tee versüßen konnte. "Komm, Youji." Er sammelte die unverzichtbare Regenjacke auf. "Zeit für den Schulbus. Gorou, liefere ihn doch bitte an der Haltestelle ab. Sekunde noch!" Bremste er Youji, drückte ihm das Mittagessen in die Hand. "Keine weiße Schokolade für Eri?" Youji schenkte erst ihm, dann Eri einen langen Blick. "Ich bleibe lieber bei Fensterputzen." Antwortete er hoheitsvoll. "Die Wirkung hält länger vor." "Ein richtiger Herzensbrecher!" Ryuuji schlenderte herein, schüttelte sich wie ein Raubtier, um das Wasser abzustreifen. "Frauenkenner, keine Frage." Scherzte er pointiert, ließ seinen Blick auf Gorou ruhen, der eine Stuhllehne umklammerte und sich bemühte, nicht vor Scham zu erröten. Ryuuji hatte offenkundig eine schlechte Meinung von ihm und versäumte keine Gelegenheit, ihm seine Überlegenheit unter die Nase zu reiben! "Los, ihr beiden." Kenji dirigierte Gorou zur Tür, an seinem Cousin vorbei. "Passt auf die Autos auf. Es ist noch recht dunkel!" Außerdem sorgte der langmütige Regen für eine schlechte Sicht, sodass Marschierende entlang der Hauptstraße besser Vorsicht walten ließen. Dankbar für die Ablenkung lauschte Gorou Youjis Vortrag, der sich offenkundig sehr auf den Kinobesuch freute. Inzwischen hatte sich Ryuuji nach einer Inspektion der Auslage und des erweiterten Angebots bei Eri am Tisch niedergelassen. Er lehnte sich vor und studierte sie kritisch. "War es eine anstrengende Nacht, Liebes? Du siehst blass aus." "Liebe Güte!" Eri bemühte sich um gelassene Heiterkeit. "Ist das deine Art, die Damen zu becircen? Eine raffinierte Methode." Zwinkerte sie neckend. "Dann lass mich dich nach Hause fahren." Mischte sich Kenji ein. "Ich übernehme auch deinen Lieferanten heute." "Oh, ist das deine Variante von 'Fensterputzen'?" Erkundigte sich Ryuuji süffisant, beäugte seinen Cousin unter halb geschlossenen Lidern. Kenji funkelte hitzig zurück, verbiss sich aber jede scharfe Replik, streckte Eri die Hand hin. "Ich bringe dich heim." Als er Eri galant in ihren Kapuzenmantel geholfen hatte, wandte er sich knapp an Ryuuji, der noch immer lässig in seinem Stuhl saß und keine Anstalten unternahm, sich zu verabschieden. "Du hältst hier die Stellung, ja? Gorou ist gleich zurück." Er brummte. "Ich bin auch schnell wieder da." Die letzte Ankündigung diente eindeutig der Ermahnung. Ryuuji schmunzelte, erhob sich und betrachtete interessiert das Angebot. Als Gorou zurückkehrte, fand er Ryuuji hinter dem Tresen, der eifrig die Vorbestellungen ausgab, kassierte und jovial mit der Kundschaft plauderte. Die Auslage mit den Spezialitäten zum Weißen Tag hatte sich auch merklich geleert. Wieder einmal frappierte es ihn, wie sehr sich der Pseudo-Gangster und der Mann hier unterschieden. Ryuuji Sagara, der Journalist und Autor D. T., er musste außerdem ein geborener Schauspieler sein! Zögerlich und stumm schob er sich seitwärts durch die Bäckerei in die Backstube, entschied sich dafür, lieber hier weiter zu arbeiten. Der Quälgeist Ryuuji konnte sich ja melden, wenn er das Bedürfnis verspürte, abgelöst zu werden! Konzentriert widmete er sich den Aufträgen und bemerkte nicht, dass Ryuuji in der Tür lauerte, ihn eingehend betrachtete. "Auch ein Host muss mal kleine Brötchen backen, wie?" Kommentierte er süffisant. Gorou erschrak, taumelte mit dem Tablett für den Ofen und hatte Mühe, die Schlagseite zu korrigieren, bevor ein Absturz unvermeidlich wurde. "Liegt dein Berufswunsch in der Familie?" Ryuuji tigerte in die Backstube, lässig, auf eine verwegene Art gut aussehend, wie ein Halbstarker der frühen Sechziger, deren Auftreten sich Gorou anhand der einschlägigen Filme eingeprägt hatte. Zittrig schloss er die Ofentür, doch der Wecker verriet ihn, fiel aus seinen bebenden Händen und zerbrach auf den Bodenfliesen. Bestürzt ging er hastig in die Hocke, sammelte unglücklich die Einzelteile ein, wollte Ryuuji nicht ansehen. Was hatte der gesagt? In seinen Ohren rauschte es zu laut. "Wie ungeschickt. Man stelle sich vor, das wäre mit Champagner passiert!" Erbarmungslos schnalzte Ryuuji mit der Zunge, schob mit einer Schuhspitze weitere Bruchstücke vor Gorou. "Da wären die Damen aber begeistert. Deine Stärken liegen wohl eher hier." Die Schuhspitze richtete sich bedrohlich auf Gorous Schritt, ließ ihn von der Hocke angstvoll auf den Hintern plumpsen. Wieder zerstreuten sich die Trümmer des Weckers, weil er sich mit den Händen abzufangen versuchte. "Bleibt ja in der Familie, nicht wahr?" Ryuuji ging lässig vor ihm in die Hocke und lächelte diabolisch, freundlich und eiskalt zugleich. Gorou zitterte so stark, dass seine Zähne ungehindert aufeinander schlugen. Er konnte nur noch die schwarzen Augen unter den dünnen Brauen sehen, erinnerte sich daran, was ihr Besitzer zu tun vermochte. Der lehnte sich vor, raunte samtig. "Hast du inzwischen eine Spezialität? SIE wollte meinem Pseudonym alle Ehre machen..." Vor ihm rang Gorou um Luft, presste dann die Hände fest auf die Ohren, rollte sich zu einem kleinen Ball zusammen. Zumindest, soweit es seine 1,80m Körpergröße und die Backstube zuließen. Er kniff die Augen zusammen, lauschte bloß noch dem eigenen, donnernden Puls, die Zunge gegen den Gaumen gedrückt, damit die Übelkeit nicht überhandnahm. Ryuuji schraubte sich langsam hoch, öffnete dann die Ofentür, um die Ware vor einer ungesunden Brandkruste zu bewahren. Gerade, als er das schwere Tablett abgestellt hatte, hörte er die Glöckchen, dann die schnellen, schweren Schritte. Kenji war zurückgekehrt. ~+~ "Verschwinde." Ryuuji streifte sich langsam die Schutzhandschuhe von den Händen, bleckte seine Zähne. "Bin schon weg." Kenji schüttelte die Regenjacke ab, ging neben Gorou auf die Knie, angelte ihn heran, um ihn in eine sitzende Haltung zu hieven. "Was hast du gesagt?" Seine Stimme war flach, beinahe monoton. "Oh, ich habe mich bloß erkundigt, ob sein Berufswunsch eine Familientradition ist." Versetzte Ryuuji im leichten Plauderton. "Es frappiert mich aber, dass der Knabe so unbedarft ist. Bei dem Hintergrund." Es gelang Kenji, Gorous verkrümmte Haltung aufzubiegen, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Der Jugendliche verkroch sich in seinen Armen, noch immer die Ohren fest verschlossen, schlotternd. "Wie zuvorkommend von dir." Kenji zischte unterdrückt, wandte sich dann seinem Cousin zu. "Wäre auch empfehlenswert, wenn du dir mal den Kopf untersuchen lässt." "So? Aus welchem Grund?" Ryuuji war noch ganz Liebenswürdigkeit, aber die Augenbrauen zogen sich bereits zusammen. "Weil du nicht mehr zwischen deinen beschissenen Rollen als größter Aufklärer der Welt und der Realität unterscheiden kannst!" Kenji tippte Ryuuji vor die Brust. "Lass dich hier erst wieder blicken, wenn du deinen Verstand wiedergefunden hast, klar?!" "Du willst mich also rauswerfen?" Knurrte Ryuuji, gar nicht mehr freundlich, sondern rau und aggressiv. "Gut erkannt." Kenji antwortete in der gleichen Tonlage, kehlig und beißend. "Hau ab!" "Oder was?!" Ryuuji präsentierte sein Gebiss, die Fäuste geballt, leicht vorgebeugt. Kenji richtete sich zu seiner imponierenden Größe auf, hielt Gorou mit einem Arm umschlungen. "Was jetzt? Willst DU mich schlagen?" Ryuuji knurrte guttural, angespannt wie eine Bogensehne. Sein älterer Cousin neigte den Kopf leicht, kühl und distanziert. "Was ist nun? Willst du auch eine Familientradition weiterführen? Dann komm! Ich werde auch mit dir fertig." Doch Ryuuji wandte sich mit einem deftigen Fluch ab. Sekunden später lärmten die Glöckchen hysterisch, es setzte eine betäubende Stille ein. Der Bäcker atmete tief durch, betrachtete dann das zitternde Bündel in seinem Arm. Nein, Gorou wirkte auf ihn nicht wie jemand, der sich körperlich auseinandersetzte, sich auf diese Weise verteidigen konnte, sondern wie ein Kind, das weglief oder sich irgendwo versteckte, sich in eine andere Welt flüchtete. Wo Frauen wundersame, liebevolle, großzügige Märchengestalten waren und Männer sich der Minne verschrieben hatten. ~+~ Erst beim Mittagessen gelang es ihm, Gorou ein wenig aufzumuntern, der beschämt und schweigend den Vormittag über gearbeitet hatte. "Wenn du mit Youji morgen ins Kino gehst, dann schau mal, ob du auch etwas Passendes zum Anziehen findest." Kenji spülte mit Tee nach. "Keine Sorge, für die Arbeitskleidung komme ich auf." Damit waren nicht etwa die Kopftücher und Schürzen gemeint, sondern die weißen Arbeitsschuhe, die Stoffhose und die langärmligen Hemden. "Vielen Dank." Gorou neigte den Kopf und ergänzte kleinlaut. "Ich werde den Wecker natürlich ersetzen." "Ach, das ist nicht so schlimm." Kenji setzte Gorou eines der noch nicht verkauften Törtchen auf den Teller. "Ich habe eine Reserve. Mehlstaub und Hitze, da geht immer mal was kaputt." Er erhob sich, streckte sich, dehnte den mächtigen Brustkorb. "Ich nehme mal an, es kommt noch einiges an Laufkundschaft, deshalb möchte ich, dass du hier den Verkauf übernimmst, während ich ausliefere. Es wird ohnehin ein wenig länger dauern, da ich ja Eris Lieferung auch noch in Empfang nehmen muss." "Verstanden!" Gorou erhob sich eilig, stopfte das Törtchen in eine Backe und kontrollierte sein Erscheinungsbild. Er sah nicht allzu mitgenommen aus trotz der Episode am Morgen. Kenji wandte sich zu ihm herum, musterte ihn ernst. "Keine Angst wegen Ryuuji. Der wird sich eine Weile hier nicht blicken lassen." "Oh." Murmelte Gorou, fragte sich, warum die Turbulenzen in seinem Bauch auch aus Enttäuschung grummelten. "Ich hätte dich warnen sollen." Der Bäcker griff nach seiner Regenjacke, wechselte die Kappe gegen das Kopftuch aus. "In letzter Zeit ist er zu sehr D. T. und zu wenig Ryuuji Sagara." Mit diesen kryptischen Worten überließ er Gorou dem Nachmittagsgeschäft. ~+~ "Alle Blumen sind schon weg? Die Törtchen auch?!" Youji zog eine enttäuschte Schnute, setzte seinen Ranzen neben sich auf dem Boden ab. "Das war ein großer Erfolg!" Gorou lächelte, die Wangen leicht gerötet. So viel Kundschaft! Nicht nur Männer, die sich gezwungen sahen, ein akut auftretendes Datum um des häuslichen Friedens Willen zur Kenntnis zu nehmen und für die liebe Gattin/Freundin oder Kollegin eine Kleinigkeit zu besorgen, sondern auch Angehörige des weiblichen Geschlechts, die das Angebot nutzen wollten! "Weißt du was?" Gorou wuschelte Youjis Igelstacheln. "Wenn die Vase bis zum Schluss nicht nachgefragt wird, dann dürfen wir sie vielleicht essen! Weiße Schokolade, Zuckerguss, ist das kein Angebot?" Youji krauste die Nase, studierte die Vase eindringlich. "Ja, das könnte schon gehen." Gab er sich schließlich zufrieden und begann, sich seinen Hausaufgaben zu widmen. Nur ein tadelloses Führungskonto gewährte das Kinoprogramm morgen! Gorou nutzte die kleine Ruhepause, um sauberzumachen und für den Morgen schon erste Vorbereitungen zu treffen. Die Hinweise, die überall an den Wänden hinter Glas hingen, waren tatsächlich sehr hilfreich, denn wiederholtes Lesen prägte sich gut ein und ergänzte die Praxis. In diesem Augenblick machte sich das Telefon bemerkbar. Gorou nahm ab und erhielt von Kenji einen Eilauftrag, da sich eine spontane Firmenmannschaft im Landgasthof für eine Nacht, nämlich Samstag auf Sonntag, angemeldet hatte. Das bedeutete, dass Gorou noch einmal Gas geben musste, denn er wollte ja am Samstag für einige Stunden mit Youji ausgehen! ~+~ Gorou vertraute sich ganz Youjis Anweisungen an, denn er hatte bisher nicht den Bus benutzt und kannte sich auch in der nächstgrößeren Stadt überhaupt nicht aus. Weil er ein Kopftuch trug, um die Stoppeln zu verbergen, die langweilig dunkelbraun nachwuchsen, sahen ihm einige Leute zwar nach, anders, als das in Tokio der Fall gewesen wäre, aber Youji zog ihn schwungvoll und unerbittlich munter weiter. Amüsiert bemerkte Gorou, dass Youji wie gebannt an der Leinwand klebte, staunte, mitlachte, ängstlich die Lehnen umklammerte und nach dem Film mit strahlenden Augen die besten Szenen kommentierte. Dabei lief er an Gorous Hand, was nun gar nicht einem 'beinahe Zehnjährigen!' entsprach, doch das spielte angesichts der Umstände überhaupt keine Rolle. Gorou sah sich suchend um. Er musste ein Bekleidungsgeschäft finden, das günstig entsprechende Artikel vertrieb, doch so einfach war das gar nicht, keinesfalls mit dem Angebot in Tokio zu vergleichen. Youji marschierte mit, wurde jedoch zunehmend langsamer und müde. "Tut mir leid." Gorou hielt schließlich ratlos inne. "Ist wohl am Besten, wir verschieben den Einkauf." "Nein, das geht schon." Youji straffte seine zierliche Gestalt. "Kannst du Eri anrufen? Wir erreichen den nächsten Bus nicht mehr rechtzeitig. Sie weiß bestimmt, wo wir das richtige Geschäft finden." Wortlos übergab Gorou Kenjis Mobiltelefon, lauschte mit, als Youji telefonierte, der Eri noch zu Hause erwischte. Wie prophezeit wusste sie Rat und zeigte sich auch nachsichtig, was die Verspätung betraf. Mit einer durchsichtigen Tüte bewaffnet, die zwei Garnituren Arbeitskleidung, ein großes Regencape und grüne Gummistiefel enthielt, machten sich die Beiden auf den Heimweg. Kenji hatte ihnen versprochen, die Vase mit dem Körper aus weißer Schokolade zu zerschlagen und dann die Bruchstücke einzeln verpackt zu verkaufen. Was nicht bis zum Sonntagnachmittag über den Tresen ging, das durften sie selbst essen oder verschenken. Die Zertrümmerungs-Show wollten sie sich beide nicht entgehen lassen. ~+~ Kenji trug Youji auf dem Arm, dessen Arme schlaff über seinen Rücken hingen. Gorou ging neben ihm, blinzelte immer wieder hoch, aber er konnte sich nicht so schuldig fühlen, wie er es wohl sollte, denn ihn überwältigte das Gefühl von Geborgenheit und Vertrauen. So, als wäre er mit seiner Familie unterwegs, einem jüngeren Bruder und einem zugegeben recht jungen Vater. "Ich bringe ihn gleich ins Bett." Kenji schloss die Tür auf. "Wolltest du nicht Wäsche falten? Ist bestimmt noch etwas übrig." Eingedenk seines Versprechens machte sich Gorou also nützlich, während Kenji in das Obergeschoss ging, Youji behutsam auf das Bett packte und dessen Kleidung gegen einen Pyjama tauschte. Fürsorglich deckte er den Jungen zu, ließ das Nachtlicht eingeschaltet und sammelte Gorou ein, der zufrieden den Stapel präsentierte. "Fein gemacht!" Lobte Kenji leise. "Gehen wir, war ein langer Tag." Als sie zur Bäckerei zurück liefen, wo sie den Transporter abholten, wagte Gorou das Schweigen zu brechen, denn die vertraute Atmosphäre nach dem aufregenden Tag beflügelte ihn. "Wird-wird Herr Sagara wieder zurückkommen?" Seine Stimme krächzte unkleidsam. Kenjis Gesicht verschloss sich, versteinerte. "Der kommt schon wieder." Antwortete er endlich. "Er kann sonst nirgendwohin." Beunruhigt stellte Gorou jede weitere Konversation ein. Er spürte, dass er an etwas rührte, das wenig erfreulich war. ~+~ Gorou erledigte gerade die sonntäglichen Abholungen, da hörte er den Transporter wieder vorfahren. Kenji hatte ganz zeitig die Auslieferung an den Landgasthof erledigt, da dort ja die Firmenbelegschaft noch übernachtete. "Sieh mal, wenn ich hier aufgelesen habe!" Er dröhnte fröhlich in die Bäckerei, schob Youji vor sich her, der verschmitzt grinste. "Ich war gar nicht mehr müde." Deklarierte er munter. "Und wenn ich doch müde werde, mache ich mit Eri einen Mittagsschlaf." Das taten sie häufig an Sonntagen, eine Familientradition. "Also schön." Kenji wickelte sich aus der Regenjacke. "Heiße Schokolade? Oder lieber Tee? Ich habe Früchtetee, hier, ganz neu, mit den ersten Kirschblüten." Youji ließ sich bereits an seinem angestammten Tisch nieder und bestellte hoheitsvoll Früchtetee. Er wolle sich als Produkttester betätigen! Gorou servierte ihm dazu ein ofenfrisches Brötchen mit Eier-Kräuter-Omelett, ein Angebot, das es nur an Sonntagen in der Frühe gab. Der Grundschüler stopfte sich gerade den Mund voll, grinste breit, weil Gorou ihm die Tomatenketchup-Flasche unter Kenjis missbilligendem Blick gereicht hatte, als Eri die Bäckerei betrat. Kenji half ihr wie gewohnt aus dem Kapuzenmantel, stellte unaufgefordert eine weitere Tasse Früchtetee vor sie hin. Sie lächelte müde, streichelte ihrem Sohn über die pralle Wange, der sofort vom Kinobesuch zu erzählen begann. Der Bäcker indessen warf einen besorgten Blick auf Eri, wechselte dann in die Backstube, um ein Hörnchen mit süßer Beeren-Marmelade zu füllen. Ihm schien Eri sehr abgespannt, auch wenn man es weniger ihrem Gesicht als dem Ausdruck ihrer Augen entnehmen konnte. Eri erhob sich von ihrem Stuhl, ließ Gorou weiter erzählen und inspizierte die verpackten 'Überreste' der Vase. Gorou nahm hinter der Theke Aufstellung, lächelte, als sie sich vorbeugte und wisperte. "Wie viele Tüten sollte ich nehmen? Er isst so gern die Schokolade." Schmunzelnd sammelte Gorou mit einer Zange die wenigen Päckchen ein, deponierte sie in einer der Papiertüten. Er war sich sicher, dass Kenji sie nicht berechnet haben wollte. Ein älterer Mann betrat die Bäckerei. Höflich grüßten sie den Neuankömmling, der leicht schwankte und etwas derangiert wirkte. So, als habe er in seinen Kleidern genächtigt. "Ah." Eri lächelte reserviert. "Herr Mishima! Konnten Sie nicht gut schlafen? Es ist ein weiter Weg vom Landgasthof zu Fuß, nicht wahr?" "Du erinnerst mich an meine Frau." Lallte der Mann namens Mishima undeutlich. "Wie freundlich von Ihnen." Sie verneigte sich zurückhaltend. "Noch so ein Schnösel." Ein unsteter Finger wies auf Gorou, der alarmiert zur Backstube sah, doch Kenji schien nicht in Hörweite zu sein. "Diese Milchgesichter, die meinen, sie wissen alles besser!" Röhrte Mishima ärgerlich. "Frech und faul!" "Warum nehmen Sie nicht Platz, Herr Mishima?" Eri wies freundlich auf einen freien Tisch. "Ich empfehle den Früchtetee, ganz frisch." "Hör auf, mich zu bevormunden, Weib!" Brüllte er Eri an, packte sie an einem Arm und zog sie zu sich. Gorou schnellte um den Tresen, doch Eris Warnruf hieß ihn erstarren. "Herr Mishima." Versetzte sie beherrscht. "Bitte lassen Sie mich los, sonst kann ich Ihnen den Tee nicht bringen." Nun registrierte Gorou die kleine Flasche, die Mishima in der freien Hand hielt. Er musste sie in einer Manteltasche verborgen haben. "Lass Eri los!" Youji wollte sich an Gorou vorbei schlängeln, doch der hielt ihn fest, schob ihn hinter sich. "Youji, setz dich bitte, Liebling." Eris Stimme klang ruhig, besänftigend. "Du hast mich betrunken gemacht!" Klagte Mishima sie an. Eine erhebliche Fahne wehte ihr ins Gesicht. "Du wolltest mich ausnehmen, du Schlampe!" Dabei schwenkte er die Flasche bedrohlich. Gorou ballte die Fäuste. Er MUSSTE sich einmischen, aber er hatte Angst, Mishima wäre schneller, könnte die Flasche an Eris Kopf zertrümmern. Aus der Backstube kam Kenji, Kekse und das gefüllte Hörnchen auf einem Teller. Er erstarrte auf der Schwelle, erfasste die Situation. "Was geht hier vor?" Fauchte er frostig, baute sich zu seiner beeindruckenden Größe auf. "Sei still, du Nichtsnutz! Nur, weil du jung bist, erlaubt dir das nicht, respektlos zu sein!" Brüllte Mishima, die Flasche beschrieb einen Halbkreis. Um ihr auszuweichen, lehnte sich Eri weit zurück, doch ihre Reaktion brachte den älteren Mann aus dem Gleichgewicht. Er taumelte und stieß Eri von sich, die sich nicht abfangen konnte und zwischen die Stühle fiel. Youji kreischte vor Angst, doch bevor Mishima etwas unternehmen konnte, preschte ein schwarzer Schatten durch die Eingangstür, riss ihn an der Schulter herum und landete einen vollendeten Kinnhaken. Die Flasche zersplitterte auf dem Boden, knapp gefolgt vom dumpfen Aufprall ihres Schwingers. Für einen langen Augenblick herrschte betäubtes Schweigen, dann kam hektische Bewegung in die Szene. Gorou gab Youji frei, der an ihm vorbei wischte, angstvoll Eri umklammerte und schluchzte, bis er einen Schluckauf bekam. Eri hielt ihn fest und wiegte ihn. "Youji, alles ist in Ordnung! Mein Schatz, nicht weinen, mir ist doch nichts passiert! Töricht, nicht wahr, wie ungeschickt ich bin! Da muss man lachen, Youji, nicht weinen!" Sprach sie zärtlich auf ihn ein, doch ihr blasses Gesicht verriet sie. "Hol-hol Verbandszeug." Kenji berührte Gorou an der Schulter. "Schnell." "Mir geht es gut." Versicherte Eri nun auch Kenji, der neben ihr kniete, sich nicht um Scherben scherte. "Dann... rufe ich im Landgasthof an." Sehr langsam kam Kenji wieder auf die Beine, starrte auf den älteren Mann, der noch immer keine Regung zeigte. "Sie werden ihn abholen wollen." "Toll." Pflichtete Ryuuji ironisch bei, die Fäuste noch immer geballt. "Bloß keinen Ärger riskieren, wie? Tust du das meinetwegen?!" Kenji blickte seinen Cousin an, wandte sich dann abrupt ab, um zum Telefon zu gehen. "Er ist besoffen und alt. Wenn die Polizei kommt, haben wir nur Unannehmlichkeiten. Wir müssen vielleicht beweisen, dass er nicht ausgerutscht ist oder sonst was." "Gott verdammt, musst du immer so beherrscht sein?!" Ryuuji brüllte nun. "DAS ist die falsche Reaktion, verstehst du das nicht?!" "Ich verstehe bloß, dass ICH wieder alles in Ordnung bringen muss!" Kenji drehte sich blitzartig herum. "Oh ja!" Höhnte Ryuuji wutschnaubend. "Du bist ein richtiger HELD! Deshalb muss ich auch tun, was DU dich nicht zu tun traust!" "Verschwinde!" Kenji brüllte. "Ich will dich hier nicht mehr sehen, Ryuu! Hau ab!" Erst, als er mehrere Schritte auf Ryuuji zu machte, verschwand der mit einem schrillen Zischen aus der Bäckerei. Gorou zögerte, warf dann einen entschuldigenden Blick auf Eri, bevor er sich neben dem älteren Mann hinkniete, vorsichtig Glasscherben beiseite wischte, unbehaglich registrierte, dass der Blackout abebbte und Leben in Mishima kam. "Wir setzen ihn besser nicht gleich auf einen Stuhl." Eri hatte sich inzwischen erhoben, streichelte Youjis Igelputz, der an ihrer Taille hing und keinen Stoffbreit wich. "Wahrscheinlich ist er noch benommen." "Soll-soll ich vielleicht Eis holen?" Erkundigte sich Gorou unentschlossen. Er wusste, dass Kenji in der Backstube telefonierte, zweifellos dort um Beherrschung rang. Zumindest glaubte er seine Meister richtig einzuschätzen: der war keineswegs feige oder gleichgültig. "Eine gute Idee!" Lobte Eri, lächelte so heiter, als habe sich der Zwischenfall nie ereignet. "Dann kehren wir auch die Scherben zusammen, nicht wahr? Es soll sich ja niemand verletzen." Sie wandte sich an Youji, löste mit einiger Anstrengung die kleinen Finger, die sich in den kostbaren Kimonostoff gekrallt hatten. "Schatz, holst du mir bitte das Kehrbesteck, ja?" Youji schniefte, warf einen hasserfüllten Blick an ihr vorbei. "Warum müssen wir dem Säufer helfen?! Er hat dir wehgetan!" "Weil er im Weg herumliegt, und dann müssen alle über ihn drübersteigen. Das ist nicht praktisch." Kenji packte den älteren Mann ohne viel Federlesens unter den Achseln, lehnte ihn gegen die Wand, schob den Tisch beiseite, stellte die Stühle mit umgekehrter Sitzfläche darauf. "Da hörst du es." Eri schmunzelte. "Bitte, Youji, das Kehrbesteck. Sieh mal, Gorou hat schon einen Eisbeutel fertig gemacht." "Also gut." Der Grundschüler schickte sich widerstrebend drein. "Ich kehre auf, aber anfassen werde ich den Saufaus nicht!" Eri staunte, kicherte dann hinter vorgehaltener Hand. "Youji, woher hast du bloß diesen Ausdruck?" "Sei dankbar, dass er nicht wiederholt, was mein notorischer Cousin sonst so von sich gibt!" Knurrte Kenji, der eine sehr genaue Vorstellung davon hatte, welche Lektüre sich Youji zutraute, heimlich von einem boshaften 'Onkel' unterstützt. Er nahm Gorou den improvisierten Eisbeutel ab, sprach ihn über die Schulter an, die Augen auf den Betrunkenen gerichtet. "Danke. Sieh in der Backstube nach dem Rechten, ja? Ich kümmere mich schon um das hier." Seine Stimme klang so flach und leidenschaftslos, dass Gorou unwillkürlich ein beklommenes Gefühl beschlich. "Eri, Youji, bitte macht es euch doch in der Backstube gemütlich, da kann Gorou auch die Teller noch mal aufwärmen." Kenji winkte Richtung Durchgang. Ohne verbrämten Zierrat wollte er sie aus dem Weg haben. Eri trat hinter ihn, selbst in der Hocke ein großer Mann, neigte sich leicht und wisperte Kenji etwas ins Ohr. Der zeigte keine weitere Reaktion, aber Eri schien ihre Mission für beendet zu halten, denn sie nahm den verlassenen Teller mit den Leckereien, die Kenji ihr zugedacht hatte, nippte im Gehen an ihrem Tee und neckte Youji. "Na, willst du etwa dein Frühstück den Ameisen überlassen?" Davon konnte natürlich keine Rede sein, sodass sich Gorou darum bemühen musste, die Teller aufzuwärmen und in der Backstube genug Platz für die beiden zu schaffen. Warum wollte Kenji allein auf die Leute vom Landgasthof warten? War der Betrunkene vielleicht ein wichtiger Mann? Oder befürchtete er, man würde die Polizei einschalten und ihrer Schilderung des Hergangs keinen Glauben schenken? Eri zwinkerte ihm zu. "Schau nicht so betrübt, Gorou. Kenji weiß sehr gut, was er tut." "Ja." Mischte sich Youji ein. "Er löst jedes Problem. Ist seine Spezialität." Doch dieses Mal klang es weniger stolz als enttäuscht. Beinahe so, wie Ryuuji den älteren Cousin angesehen hatte. ~+~ Kenji hielt den Eisbeutel auf das malträtierte Kinn, betrachtete den älteren Mann reserviert, bemühte sich darum, kein Abscheu zu empfinden. Dieser Mishima roch säuerlich, ungewaschen und natürlich nach Alkoholausdünstung, war nicht rasiert... Er erinnerte Kenji an die alten Käuze, die allein in ihren heruntergekommenen Appartements herumvegetierten, sich gehen ließen, allen anderen an ihrem Unglück die Schuld gaben. Er konnte eine solche Haltung zwar intellektuell begreifen, aber nicht nachfühlen. Dafür hatte die Erziehung des Großvaters gesorgt, der in jeder Lage Haltung und Selbstbeherrschung als Maxime ausgegeben hatte. »Jeder ist für sich selbst verantwortlich und darf sich nicht so wichtig nehmen!« Nach diesem Motto lebte er schon so lange, dass es ihm befremdlich anmutete, eine andere Lebenseinstellung zu propagieren. Ein Wagen fuhr vor. Kenji erhob sich, legte den Eisbeutel beiseite. Wie vermutet handelte es sich um den kleinen Bus, den der Landgasthof benutzte, um Gäste an der Bahnstation oder im Dorf abzuholen. Ein elegant gekleideter Mann, etwa Ende Zwanzig, stieg aus, gewandt und selbstbewusst. Eine Frau und ein Mann entourierten ihn, offenkundig zerknirscht und peinlich berührt. "Guten Morgen." Auch die Stimme entsprach dem vornehmen Äußeren. Allerdings war da ein amüsiertes Zucken in den Mundwinkeln, ein Funkeln in den schwarzen Augen, das andeutete, dass der Fremde die Situation durchaus genoss. Auf eine perfide Art und Weise. "Guten Morgen." Grüßte Kenji höflich und trat ein wenig zurück. Ein spitzbübisches Lächeln streifte ihn. Der Fremde ging trotz des eleganten Anzugs in die Hocke, kniff den älteren Mann ins Kinn, zielsicher die Stelle, die Ryuujis Faust getroffen hatte. "Nun, Mishima, Sie sollten sich in Ihrem Bett langlegen, nicht auf der Straße! Ein Odeur, also, an Ihrer Stelle würde ich schleunigst das Rasierwasser wechseln." Mishima gurgelte bloß, stierte aber mit einem gewissen Entsetzen in das männlich-attraktive Gesicht des Fremden. "Ah, nun ja, ein bisschen Aufregung zum Frühstück regt den Appetit an, nicht wahr? Besser als ein Waldlauf, möchte ich meinen." Er erhob sich, trat ein wenig zurück, damit seine Begleitung mit deutlicher Verärgerung Mishima auf die Beine ziehen konnten. Kenji wurde eine Visitenkarte überreicht. "Mein Name ist Masakuni. Yoshiaki Masakuni, Präsident der Divine Delight-Unternehmensgruppe. Meinen herzlichen Dank, dass Sie so freundlich waren, sich Herrn Mishimas anzunehmen!" Eine artige Verbeugung schloss sich an, dann glitten die spitzbübischen Augen über die Theke, an Kenji vorbei. "Ah, Sie haben einige sehr appetitliche Backwaren in Ihrem Angebot." Yoshiaki spazierte lässig an Kenji vorbei. "Ich glaube, Sie beliefern auch den Landgasthof?" "Das ist richtig." Antwortete Kenji wachsam. Ihn überraschte nicht, dass der Präsident eine Lügengeschichte ersann, um das Gesicht zu wahren, doch er hatte den unbestimmten Eindruck, dass es diesem Masakuni nicht sonderlich viel bedeutete, dass sich sein Mitarbeiter hier unangemessen aufgeführt hatte. Vielmehr tanzten in dessen Augen Funken hintergründiger Gedanken, die Kenji irritierten. "Wären Sie so freundlich, mir einige Ihrer Erzeugnisse zu verkaufen?" Säuselte der Präsident zuckersüß, zog Kenji damit auf, der nun steif hinter den Tresen wechselte und Papiertüten füllte. Erstaunlicherweise wandelte sich die selbstgewiss-überfreundliche Miene während der umfangreichen Bestellung. Man konnte förmlich sehen, dass es hinter der glatten Stirn arbeitete. Verblüfft glaubte Kenji, dass dieses Mal kein hinterlistiges Vergnügen geplant war, nein, vielmehr wärmte ein zärtliches Lächeln die so spottfreudigen Lippen. Trotzdem war Kenji erleichtert, als der Präsident mit seinem Gefolge die Bäckerei verließ, wieder in den Landgasthof zurückkehrte. Sauber machen, die verlorene Zeit aufholen, für die nächste Woche planen, das Lager prüfen.... Alles, nur nicht einen Augenblick unnütz verstreichen lassen! Vor allem aber nicht nachdenken über das Geschehen. ~+~ Da es noch relativ früh war, nötigte Eri Youji, sich von Kenji und Gorou zu verabschieden. Kuscheln und noch ein wenig Schlaf nachholen, danach stand ihr der Sinn und sie war unerbittlich darin. Youjis Protest erfolgte lediglich pro forma, seine Augen suchten unentwegt ihre anmutige Gestalt. Gorou verdrängte den Gedanken, dass Youji sicher mehr als einmal nachts Ängste ausgestanden hatte, ihr möge etwas geschehen. Der Grundschüler war schließlich nicht dumm. »Und Kinder sorgen sich um ihre Mütter...« Hastig verscheuchte er schattige Erinnerungen, tänzelte zur Ablenkung durch die Backstube. Man musste die Melodie im Kopf hören, den richtigen Takt, dann ging es von selbst, auch ohne einen Partner! Kenji enthielt sich eines Kommentars, ließ seinen Lehrling gewähren, wenn der leise Worte vor sich hin murmelte, im Wiegeschritt die Formen auf den Einsatzblechen anordnete. Er seufzte lautlos, lockerte die imposanten Schultern. Manchmal, für winzige Augenblicke, da fühlte er sich müde und erschöpft. Nicht etwa sein Körper, nein, der eiserne Wille, der ihn erbarmungslos antrieb, seine größte Stütze war, der zerfaserte, wankte. "Warum gehst du nicht schon mal vor, Gorou? Ich komme mit dem Abendessen später nach, möchte noch kurz bei Eri in der Bar vorbeischauen." Der Junge musste sich mal entspannen, Fernsehschauen oder Musik hören, etwas lesen oder stundenlang im Bad liegen. Kenji wollte ihm etwas Gutes tun, damit er sich selbst besser fühlte, neue Kräfte fand. ~+~ Obwohl er jetzt beinahe einen Monat bei Kenji lebte, zögerte Gorou noch, wenn er sich in dessen Haus aufhielt. Er fühlte sich zwar sehr willkommen, doch als Gast. Es galt, ungeschriebene Regeln zu beachten, sich nicht einfach zu bedienen. Auf keinen Fall wollte er Kenji belästigen! Zwar hatte seine Meister ihm angeboten, nach Belieben Fernsehen zu sehen oder Musik zu hören, aber Gorou hatte noch Manschetten, fürchtete, etwas zu verstellen oder sich zu sehr gehen zu lassen. Alternativ, nach einem gemütlichen Bad, das für ihn noch immer ein Luxus war, rollte er sich auf dem bequemen Dreisitzer in einer Ecke ein, nahm sich zur Lektüre einen der Romane von D.T. vor. Wie Youji ihm einmal erklärt hatte, nutzte Ryuuji seine Undercover-Reportagen nicht nur zu entsprechenden Zeitungs- oder Zeitschriftenartikeln, sondern verarbeitete die Erlebnisse regelmäßig auch zu Fiktionen. Da sich die Romane flüssiger lesen ließen, wie Gorou fand, bevorzugte er es, in ihre Welten einzutauchen, um den Mann verstehen zu lernen, der sich wie ein Chamäleon zu verhalten schien. Er mochte den lakonischen Ton der Erzählungen, die augenzwinkernde Selbstironie, aber auch die Eleganz des Ausdrucks. D.T. schien sich auch nicht um Konventionen zu kümmern, die verlangten, den verwöhnten Erwartungen des Publikums zu entsprechen. Es wurde dunkel, aber die Handlung nahm ihn derart gefangen, dass er lieber die Augen anstrengte, als seinen gemütlichen Platz zu verlassen, um das Licht zu aktivieren. Plötzlich wurde er aus seiner Versenkung in einen gefährlichen Überlebenskampf als Illegaler gerissen, für einen langen Augenblick desorientiert, weil er nicht einzuschätzen vermochte, was genau ihn alarmiert hatte. Dann bemerkte er die Stille. Doch war es nicht immer still hier? Wieso schien sie ihm nun bedrohlich? Die Antwort erhielt er gleich, denn Stiefel drückten den Kies ein, dann führte jemand einen Schlüssel in das schwere Gatter ein, bevor auch die Eingangstür geöffnet wurde. Dass es sich nicht um Kenji handelte, begriff Gorou, als Schuhe auf den Boden polterten, offenbar hastig und ohne Rücksicht abgestreift, gefolgt von einem eiligen Spurt in das Obergeschoss. Er erstarrte in seiner Ecke, durch die einsetzende Dunkelheit geschützt, fragte sich, wer das wohl sein konnte, der sich Zugang zum Haus verschafft hatte. Bange lauschte er auf Schritte im oberen Geschoss, wo sich lediglich die Schlafzimmer und ein zugestellter Lagerraum befanden. Es lief jedoch niemand auf und ab, keine Schranktür wurde aufgeschoben, keine Kommodenschublade herausgezogen. Nein. Im ganzen Haus war es still. Gorous Herz schlug wie eine der gewaltigen Trommeln, so mächtig, dass er meinte, die Töne würden durch seine Ohren in alle Welt hinausschallen. Sollte er es wagen? Sein 'Versteck' verlassen und tapfer die Autonomie seines Meisters verteidigen? Sein Impuls riet ihm, zu fliehen, sich zu verbergen. Bloß keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Aber jetzt bin ich erwachsen!« Wütend und beschämt zugleich ballte er die Fäuste. Diese Kinderängste MUSSTE er hinter sich lassen! Allein, es war leichter im stillen Kämmerlein seines Stolzes gesprochen, als in der feindlichen Welt außerhalb in die Tat umgesetzt. Nur widerwillig konnte er seine Beine dazu überreden, sich auszuklappen und auf den Füßen zu stehen, die schleppend und tapsig den Weg zur Treppe einschlugen. Feuchtigkeit sammelte sich auf seinen Handflächen, bildete einen schmierigen Film in den Fäusten. Langsam tastete er sich in der Dämmerung die Treppe hinauf. Jede Stufe ein Berggipfel, je höher er kam, desto weniger Sauerstoff blieb ihm. Kalt schwitzend, hechelnd und nahe einer Ohnmacht erreichte er die oberste Stiege. Die Schiebetür zum Schlafzimmer seines Meisters war nicht ganz geschlossen. Dort musste der Eindringling sich verkrochen haben. Um was zu tun?! Gorou schob sich zitternd an der Wand entlang, mahnte sich zur Tapferkeit. Ein Blick durch den Türspalt genügte ja schon, sich ein Bild zu machen! Er rang nach Atem, streckte im Zeitlupentempo den Kopf vor, blinzelte in den schlichten Raum. Vor dem Bett, angemessen groß für den Besitzer und deshalb gewaltig für die üblichen Dimensionen, lagen diffuse Haufen. Abgelegte Kleidung. Im Bett selbst, zusammengerollt, ein Kissen umschließend, was man anhand der Zipfel und der Silhouette beurteilen konnte, schlief jemand. Mit sehr leisen, tiefen Atemzügen. Seine Vorsicht vergessend stellte sich Gorou vor die Tür, wollte sich die Zeit nehmen, jedes Detail zu inspizieren, ob er nicht etwa doch einem Trugschluss aufsaß! Da hörte er in der Ferne den Transporter kommen. Das hieß ihn blitzartig in die Realität zurückkehren, eilends die Treppe hinunter stolpern, eine Hand krampfhaft an der Wand, um sich zurück in das Wohn- und Esszimmer zu tasten. Kaum hatte er sich eingefunden, die Hand am Lichtschalter, öffnete sich auch schon die Eingangstür. Die hünenhafte Gestalt des Bäckers war nicht zu verkennen. "Ah, Gorou." Er schälte sich aus der Regenjacke, reichte seinem Lehrling eine große Thermobox. "Für das Abendessen. Bitte wärme es noch mal im Ofen auf." "Jawohl." Gorou nickte eilends, zögerte dann, denn Kenji konnte wohl kaum entgangen sein, dass sie einen Besucher hatten. Er schenkte Gorou ein müdes Lächeln. "Ich kümmere mich schon um ihn." Dann stieg er langsam die Treppe hoch, einen bedächtigen Schritt nach dem anderen. Gorou marschierte widerstrebend, aber gehorsam zur Küchenzeile, räumte die Box aus und füllte den praktischen Ofen. Er fragte sich, was es war, dass diese beiden unterschiedlichen Männer so unzweifelhaft zusammenschweißte. ~+~ Kenji schob die Schlafzimmertür zur Seite, trat ein und sammelte die verstreute Kleidung auf. Sie wirkte so, als habe sich ihrer ein Flüchtiger erledigt, eilig abgeworfen, unnützer Ballast. Langsam ließ er sich auf seinem Bett nieder, studierte die Schattenwürfe. Licht war nicht erforderlich. Er kannte jedes Detail. Wie lange war es jetzt her? Jahrzehnte schon. Seit er zum ersten Mal vollkommen unerwartet einen Flüchtling in seinem Bett vorgefunden hatte, mit trotzigen, schwarzen Augen, die nicht bitten wollten, aber verzweifelt wünschten, er möge Schutz gewähren. Er hatte es getan, ohne Erklärungen zu fordern, ohne ihrer zu bedürfen. Aus dem dünnen, zierlichen Kobold war ein schlanker, attraktiver Mann geworden, doch das hatte nichts daran geändert. Vorsichtig legte er eine große Hand auf den Schopf mit den langen, schwarzen Haaren. Er hatte nie daran gezweifelt, dass Ryuuji wieder zu ihm zurückkehren würde. ~+~ Beim Abendessen lief das Radio, was ungewöhnlich war, aber Gorou verstand, dass Kenji nicht sprechen wollte. Sein Meister wirkte abwesend und natürlich auch müde. Zweifellos wäre er lieber allein gewesen, um sich entspannen zu können, doch mit ihm hier als Zuschauer blieb diese Erlösung verwehrt. »Wir sind doch keine Familie.« Dieser Gedanke stieg gallig in Gorous Kopf auf, würgte ihn beißend in der Kehle. In richtigen Familien war man schließlich vertraut miteinander und musste sich nicht immer und jederzeit in der Gewalt haben, oder?! »Andererseits...« Gorou bot lieber rasch an, das benutzte Geschirr noch zu spülen, bevor ihm einmal mehr die Realität ins Gesicht schlug und ihn einen lächerlichen Träumer nannte. Kenji nickte dankbar, wechselte dann zum Telefon, um Eri in ihrer Bar anzurufen, sich zu versichern, dass sie wohlauf war und seine Bereitschaft zu erklären, sofort zur Stelle zu sein, wenn Not am Mann war. Nachdem er seine selbstgewählte Aufgabe erledigt hatte, entschuldigte sich Gorou ins Badezimmer, reinigte sich rasch das Gebiss, gänzlich ohne Posen vor dem Spiegel zu üben, wünschte seinem Meister eine gute Nacht und stieg leise die Stufen hoch. Aus dem Schlafzimmer drang noch immer kein Laut, aber die Schiebetür war nun geschlossen. Er schlüpfte in das Gästezimmer, kleidete sich um und legte den Futon aus, doch so sehr er lauschte, im Nachbarzimmer blieb es ruhig. »Abwarten.« Nahm er sich vor, doch kaum hatte er sich gemütlich eingerichtet, da fielen ihm auch schon die Augen zu. So entging ihm, dass Kenji sich nach einer Dusche in sein Schlafzimmer zurückzog, neben seinen Cousin unter die Decke kroch und versichernd einen Arm über die sehnige Gestalt legte. ~+~ Kapitel 14 - Romantik bei Mondschein Am nächsten Morgen, dem ersten Wochentag, registrierte Gorou einigermaßen verblüfft, dass Kenji mit ihm ungerührt frühstückte, dann die normale Routine anlaufen ließ. Kümmerte ihn gar nicht, dass sein Cousin sich eingenistet hatte? Schlief der immer noch? Kenji dagegen hatte nicht die Absicht, sich unnötig in dieser Angelegenheit einzulassen. Erklärungen waren überflüssig, sie würden nichts daran ändern. Stattdessen erlegte er Gorou einiges an Arbeit auf, um sich allein zum Großhändler aufzumachen. Die Kirschblütensaison begann gerade, ständig wurde über den Zug der Blüten berichtet, Bilder präsentiert, die schönsten Orte benannt. Für den Bäcker bedeutete es eine weitere Möglichkeit, nach Valentinstag und dem Weißen Tag, besondere Köstlichkeiten zu zaubern, um Kundschaft zu binden. Was konnte man nicht alles mit den zarten Kirschblüten veredeln! Allerdings musste man sich sputen, um die beste Ware zu bekommen! Kenji hatte nicht die Absicht, diesen Spurt zu verlieren. Gut gelaunt kehrte er gegen Mittag zurück, der Transporter ächzte unter der Last, die man ihm aufgebürdet hatte. Sie benötigten beinahe zwei Stunden, bis die Ausbeute im Lager verstaut war. Gorou war erschöpft, denn er hatte nicht nur das Pensum erfüllt, sondern auch noch den Verkauf übernommen. Er fragte sich kleinlaut, wie es seinem Meister gelang, so mühelos alles abzuwickeln, sogar zwischendrin zum Großhändler zu fahren, ohne es sich mit der Kundschaft zu verscherzen! "Du machst das schon ordentlich." Lobte Kenji aufmerksam. "Immerhin bist du erst einen Monat hier! Wenn man eine gewisse Routine hat, dann geht es auch leichter, bald wirst du darüber lachen!" Zum Ausgleich betätigte sich Kenji für ihr verspätetes Mittagessen als wahrer Kochkünstler. Die Pfannkuchen flogen hoch, es gab frisches Gemüse und Obst, alles der großen Einkaufstour geschuldet. Versöhnt und sehr satt sah Gorou dem Nachmittag entgegen. Er füllte die Kaffeemaschine auf und erwartete, dass sich auch Youji wieder einfand. "Wenn es nicht regnet, wird er sicher bei Batou sein." Korrigierte ihn Kenji, studierte bereits ein Rezept, das er den unendlichen Weiten des Internets entnommen hatte. "Ah!" Plötzlich wandte er sich Gorou zu. "Geh ihm doch entgegen! Lass dir den Frühlingswind um die Nase wehen!" Überrascht schlüpfte Gorou in seine nagelneue Regenjacke, band sich das Kopftuch um, das er in der Öffentlichkeit trug. Wollte Kenji ihn etwa loswerden? Oder sorgte er sich um Youji? Doch was auch immer der Beweggrund war, der Spaziergang an der frischen Luft, die rasch ziehenden Wolken über dem frühlingshaft sonnigen Himmel, das vertrieb seine Sorgen. Hier roch es anders als in Tokio. Die Luft fühlte sich auch anders an, weicher, aromatischer. Gorou schob die Hände tief in die Taschen der Regenjacke und lächelte befreit vor sich hin. Es war gut zu leben, hier zu sein. So gut, dass er wie Gene Kelly Tanzschritte improvisierte und dazu sang, obwohl es gar nicht regnete. ~+~ "Youji?" Gorou sah sich suchend um, drehte sich im Kreis, horchte, ob sich nicht doch etwas in der Nähe des Tempels regte. Er wartete seit über einer Viertelstunde neben Batous Gedenkstein, doch niemand hatte sich bisher blicken lassen. War der Grundschüler nicht in der Nähe, oder wollte er ihn vielleicht nicht sehen? Gorous beschwingte Stimmung verabschiedete sich rapide, denn er wusste nicht, was er nun tun sollte. Konnte er in der Bäckerei erscheinen ohne Youji? Würde der Meister ihm nicht Vorhaltungen machen? "Tsktsk!" Schnalzte eine pointierte Zunge tadelnd hinter ihm, doch bevor Gorou erschrocken herumfahren konnte, lag eine Hand auf seiner Schulter. Er erbleichte, so dicht stand Ryuuji vor ihm, ein diabolisches Lächeln auf den sinnlichen Lippen. Offenkundig erfreute er sich daran, ihn überrascht zu haben! Gar kein Vergleich zu dem Auftritt am Vorabend... Gorou ballte die Fäuste, kämpfte gegen den Gefühlsorkan an. "Kenji glaubt doch nicht ernsthaft, dass Youji heute hier ist." Versetzte Ryuuji in spöttischem Tonfall. "Der Junge hat mehr Verstand." "Dann gehe ich jetzt besser. Bitte entschuldigen Sie mich, Herr Sagara." Gorou wich zurück, streifte dabei die Hand ab, die keine Anstalten unternommen hatte, ihn zu halten. Er gab sich förmlich, wollte die Distanz, ein weiterer Schutz gegen das, was in ihm toste, so verwirrend und beängstigend herumwirbelte. "Herr Sagara?" Ryuuji bleckte die Zähne. "Netter Versuch, Go-chan. Aber dazu kennen wir uns schon zu gut." Damit packte er Gorou blitzschnell am Kragen der Regenjacke, veranlasste ihn, durch den Ruck das Gleichgewicht zu verlieren, küsste ihn betont feucht. Von Ryuujis Speichel besudelt, dunkelrot und den Tränen nahe durfte sich Gorou endlich freimachen, taumelte zurück, bis ihn ein Baum in seinem Rücken stoppte. "Komm schon, du Zauberlehrling." Ryuuji grinste breit, bevor er einen unvermeidlichen Kaugummi produzierte und zerkaute. "Ich bringe dich besser zurück. Sonst fällt vielleicht ein altes Weib über dich her und raubt dir die Unschuld." Gorou wartete nicht ab, sondern machte auf dem Absatz kehrt und preschte den Weg durch das Gehölz zurück, bis er die Hauptstraße wieder erreichte. Nicht nur das Seitenstechen trieb ihm die Tränen in die Augen, auch die treffsicheren Gemeinheiten, die Ryuuji so lässig aus dem Ärmel schüttelte. »Wenn ich doch nur...!« Verwünschte er sich selbst stumm. Doch es half nichts, er hatte lieber Komplimente in Fremdsprachen gepaukt, als sich daran geübt, eine bissige Replik zu formulieren. Warum hatte er nicht die Initiative ergriffen und mit gleicher Münze erwidert? Immerhin verkroch sich Ryuuji im Bett seines Cousins! Er stolperte die Hauptstraße entlang, ignorierte das amüsierte Pfeifen hinter ihm. Ryuuji genoss wohl seinen Triumph! Als er die Haltebucht passierte, an der üblicherweise der Schulbus die Kinder auflas und ablieferte, begriff er, was Ryuuji so boshaft angedeutet hatte. NATÜRLICH hatte Youji nach dem Schrecken des Vortags lieber die Nähe Eris gesucht! Wehmütig fragte sich Gorou für einen verführerisch langen Augenblick, wie es wohl sein musste, wenn man sich derart umeinander sorgte, wenn es von Bedeutung war, wie es dem anderen erging, was er erlebte, wo er sich gerade aufhielt. Trotzig wischte er sich mit dem Handrücken energisch über den Mund, obwohl jedwede Spur der Kussattacke längst eingetrocknet war. »Wenn ich kein Host werden kann, dann versuche ich es eben als Bäcker, bei meinem Meister!« Sprach er sich selbst Mut zu. »Dann kann dieser miese Mistsack sich aufspielen, wie er will, ICH werde mich nicht mehr ins Bockshorn jagen lassen!« Leichter gesagt als getan. Aber mit angemessenem Vorsprung und dem Versuch, die heterogene Gefühlswelt auszubalancieren, betrat Gorou die Bäckerei wieder, bevor Ryuuji hereinschlenderte. "Nanu? Hast du Youji verpasst?" Kenji blickte auf. Er hatte gerade die Auslage neu arrangiert. "Sei kein Idiot, lieber Cousin." Ryuuji logierte nonchalant auf einem Stuhl, so als säße er auf einer Chaiselongue. "Du hast doch nicht ernsthaft angenommen, dass er heute nicht schnurstracks nach der Schule nach Hause läuft." Die beiden Männer starrten sich schweigend an, Ryuujis Haltung herausfordernd, Kenji beherrscht. Gorou hatte den Eindruck, in ein Duell geraten zu sein und zog sich diskret in die Backstube zurück. Er schlüpfte aus der Regenjacke, wechselte das Schuhwerk, um sich für die Arbeit ordentlich einzukleiden. Arbeit war immer ein guter Grund, dem gemeingefährlichen Schriftsteller auszuweichen! Während er den Teig knetete, in die vorbereiteten Formen gab, ließ ihn ein Gedanke stutzen: warum war Ryuuji eigentlich beim Tempel gewesen? ~+~ In der Bäckerei beendete Kenji seine Arrangements, legte die Greifzange beiseite und adressierte seinen Cousin ruhig. "Eri war heute Morgen mit Youji hier. Es ist alles in Ordnung." "Als ob sie dir jemals eine andere Antwort geben würde!" Schnaubte Ryuuji abfällig, löste sich von seinem Stuhl, um unruhig in der Bäckerei auf und ab zu tigern. "Kannst du das nicht begreifen, oder willst du es bloß nicht?" Dem älteren Mann entging die Schärfe in den Worten selbstredend nicht, aber er übte sich in Selbstbeherrschung. Die Provokationen waren schließlich kein Novum: Ryuuji versuchte es immer wieder, wenn er hier war. "Hast du schon begonnen, deine Informationen zu verarbeiten?" Lenkte er ab. Gewöhnlich verlor sich Ryuujis Unruhe, wenn der sich endlich zur Klausur in sein Haus zurückzog und dann unermüdlich schrieb. Allerdings wurde die Zeit vorher eine schier unerträgliche Nervenprobe für seine Umgebung. Ryuuji schlenderte zur Theke, lehnte sich lässig über sie, als wolle er sich wirklich in die hohe Kunst des verführerischen Arrangements vertiefen. "Glaubst du, dass wir zwangsläufig die Fehler unserer Eltern wiederholen?" Fragte er nach einer Weile. Kenji wischte über die Tische, rückte die Stühle akkurat. "Ich bin überzeugt, dass wir die Wahl haben. Wir entscheiden eigenverantwortlich, was wir tun." "Wenn man nichts wagt, gewinnt man nichts." Ryuujis Fingerspitzen glitten über die gläserne Front der Theke. "Aber wenn man etwas wagt, kann man auch stürzen." "Dann muss man eben wieder aufstehen." Antwortete Kenji ungerührt. "Oder lässt sich aufhelfen. Ganz einfach." "Ja...ganz einfach." Wiederholte Ryuuji nachdenklich, tippte sich dann mit zwei Fingern grüßend an die Schläfe und verließ die Bäckerei. Die Hände tief in seine teure Lederjacke vergraben spürte er einen vagen Plan auf, der aus einer bestürzenden Erkenntnis heraus geboren wurde. Er hatte noch nie erlebt, dass sein Cousin gestürzt war. Doch bedeutete das wirklich, dass Kenji jemals etwas gewagt hatte? ~+~ Eri notierte die Umsätze, als sie früh am Morgen das charakteristische Röhren des Motors vernahm. Sie lächelte, schloss ihre Buchhaltung ab, altmodisch in einem großen Rechnungsalbum geführt, schritt gemächlich zur Tür, um sie erneut aufzusperren. "Was für eine Überraschung!" Begrüßte sie den späten Gast, ganz in eine schwarze Motorradkluft gekleidet. Die schwarzen Haare hingen lose um das attraktive Gesicht, ließen Ryuuji jünger und verwegener wirken. "Ich muss die Gunst der Stunde nutzen." Er blendete sein Gebiss auf, grinste gerissen. Eri lächelte amüsiert, bot ihm einen Platz an der Theke an. "Was darf ich dir servieren?" "Wenn du hast, Tee, bitte." Ryuuji suchte ein kleines Stück Papier aus der hautengen Motorradhose, deponierte seinen allgegenwärtigen Kaugummi hinein. Gebieterisch streckte Eri die Hand aus, um das eingewickelte Paket in den Abfall zu entsorgen, im Gestus einer Mutter, die gerade zum Naseputzen aufgefordert hatte und das Schnäuzen überwachte. "Ihr habt euch wieder vertragen, nicht wahr?" Eri servierte den Tee in einem hohen Glas, fügte Gewürznelken hinzu, ihre persönliche Note. Ryuuji senkte den Kopf, verschwand hinter den losen Strähnen. Eine Antwort war müßig, dazu kannte Eri sie zu gut. "Du bist nicht enttäuscht von ihm, oder?" Ryuuji stellte den Tee ab, das Glas bereits zur Hälfte geleert. An den Tagen 'vorher' hatte er immer einen unerträglichen Durst, konnte gar nicht genug trinken. »Wie ein Kamel, fehlt bloß noch der Höcker!« Pflegte Kenji ihn zu necken, der Dromedare durchaus sympathisch fand, schließlich 'schafften sie sich auch den Buckel krumm' in der Wüste! Eri zog sich einen Barhocker neben Ryuuji heran, anmutig, obwohl es bereits recht spät für sie war. "Ich bin nicht enttäuscht." Sittsam faltete sie die Hände auf ihrem Schoß, betrachtete die schwarzen Augen unter den konzentriert zusammengezogenen Brauen. "Er hat sehr vernünftig gehandelt." "Ha!" Ryuuji schnaubte, warf die Haare auf den Rücken. "Vernünftig?! Ja, sicher, er ist so vernünftig, dass ich manchmal nach Drähten und Kabeln suche! Wie ein verdammter Roboter!" In Eris Mandelaugen blitzte es. "Du WEISST, dass er sich niemals schlagen würde." Ryuujis Schultern versteiften sich, dann seufzte er laut, nickte ruhig. Kenji würde sich nicht schlagen. Das war ein ehernes Gesetz. Nicht, dass er die Faust hätte heben müssen. "Ich habe auch nicht erwartet, dass er mich beschützt." Eri lächelte wieder gewohnt heiter. "Ich bin keine kleine Prinzessin." Ihr gegenüber schüttelte Ryuuji den Kopf. "Darum geht es nicht..." Eine gepflegte Hand berührte sein Knie. "Verzeih mir, Ryuuji, doch das ist ein wesentlicher Punkt: ich bin nicht aufgewachsen mit der Gewissheit, dass mich ein Mann beschützen wird." Ihr Lächeln war makellos, doch die Augen sprachen deutlich: wir wissen beide, dass ich nicht immer eine Frau war. "Ich erwarte nicht, dass Kenji so etwas tut. Er vertraut auf mich. Es ist meine eigene Ungeschicklichkeit gewesen, die diese Verkettung unglücklicher Umstände zur Folge hatte." Sie deutete zierlich eine Kopfnuss an, ganz sicher KEINE weibliche Geste. "Ich habe mich in meiner Einschätzung der Situation geirrt." Ryuuji grummelte. "Eure gegenseitige Rücksichtnahme und dieses zartfühlende Empfinden sind mir ein Graus! Überhaupt, wie wäre es zur Abwechslung mal mit einer Verkettung glücklicher Umstände?!" Eri glitt anmutig vom Barhocker. "Da stimme ich dir zu, Ryuuji, das wäre eine sehr erfreuliche Abwechslung." Sanft strich sie ihm die losen Strähnen aus dem Gesicht, eine mütterliche Anwandlung. "Es ist, wie es ist." Sie zwinkerte. "Mehr dürfen wir nicht erwarten." Er erhob sich, rückte den Barhocker ordentlich heran. "Weißt du, ich wünschte, du würdest mehr erwarten." Adressierte er sie leise über die Schulter. "Manchmal muss man etwas wagen." In der morgendlichen Einsamkeit ihrer Bar seufzte Eri leise, rieb sich vorsichtig den Nacken unter den elegant hochgesteckten Haaren. »Vielleicht erwarte ich zu viel von mir selbst?« ~+~ Es war Freitagmorgen, als Ryuuji in die Bäckerei spazierte. Er hatte sich nach der Auseinandersetzung recht rar gemacht, doch das bedeutete nicht, dass er schon den Punkt erreicht hatte, an dem seine Texte fertig vor seinem geistigen Auge lagen und er lediglich Tasten tippen musste. Youji und Eri teilten sich Kirschblütenpfannkuchen, eine saisonale Köstlichkeit, die dem Grundschüler den Tagesbeginn versüßte und Eri das Ende einer langen Arbeitsnacht. Wenn die Kirschblüten das Land mit frühlingshafter Hoffnung überzogen, war ihre Bar stets gut besucht, bis in die Morgenstunden hinein. "Ah." Ohne Zögern nahm er am Tisch der beiden Platz. "Youji, hast du nicht Lust, morgen mit mir zu campen? Auf der anderen Seite des Sees! Wir können uns die Sterne anschauen, denn es soll klar bleiben." Überrascht suchte Youji in Eris Gesicht nach einem Hinweis, ob sie der Offerte ablehnend oder zustimmend gegenüberstand. "Das hört sich ja nach einem richtigen Abenteuer an." Eri lächelte entspannt. "Hoffentlich grillt ihr auch Regenwürmer über dem Lagerfeuer und sperrt die lauten Leuchtkäfer in eine Schachtel!" Ihr Sohn verzog das Gesicht. "Käfer in Schachtel einzukerkern ist Tierquälerei." Verkündete er kategorisch. "Und die Regenwürmer kann man gar nicht richtig auf einen Holzspieß stecken. Außerdem würden sie verschmurgeln." "Spielverderber!" Ryuuji zog gekonnt eine Schnute, die man nicht bei einem Mann von 34 Jahren vermutet hätte, bevor er verwegen anbot. "Wir könnten auch fette Maden grillen! Die kann man gut aufspießen!" "Genug mit dem Unsinn!" Mischte sich Kenji ein. "Wenn ich mich recht entsinne, ist es ohnehin verboten, dort ein offenes Feuer zu entzünden. Ich packe euch etwas ein, das könnt ihr ohne große Umstände essen." Damit war die Sachlage entschieden, der Ausflug abgesprochen. "Ah, Cousin..." Ryuuji erhob sich, folgte Kenji in die Backstube, wo Gorou mit großem Eifer und geröteten Wangen Brezeln in Schleifen legte. "Was ist, darf dein emsiger Lehrling auch für eine Nacht draußen schlafen?" Gorou erstarrte, wartete förmlich auf die nächste Gemeinheit. Nicht zu unrecht vermutete er, dass Ryuuji sehr gut darüber im Bilde war, wo er die letzte Zeit in Tokio übernachtet hatte. "Einverstanden." Kenji löste Teig aus der Rührmaschine, ließ die Augen nicht von seiner Aufgabe. "Dein Schlafsack ist ja gewaschen, Gorou, da spricht nichts dagegen. Sonntag ist ohnehin nicht so viel los." "Aber die Vorbereitungen...!" Gorou blickte Hilfe suchend zu seinem Meister. Der Gedanke, mit Ryuuji irgendwo alleine zu sein, machte ihn furchtbar nervös. "Ich schaffe das schon." Nun sah Kenji ihn doch an, lächelte aufmunternd. "Ihr werdet sicher Spaß haben. So, wie ich Youji einschätze, wird der euch mühelos die ganzen Sternbilder herunterbeten!" »Oh!« Dachte Gorou und wusste, dass man seine Verblüffung ungefiltert von seinem Gesicht ablesen konnte, das zweifellos dämlich in die Landschaft stierte. »Gott sei Dank, Youji ist auch dabei! Dann kann er nicht...!« Es hätte ihn nachdenklich stimmen sollen, dass Ryuuji nicht einen einzigen Anlauf unternahm, ihn zu triezen. ~+~ Ryuuji marschierte voran, einen großen Rucksack und den eingerollten Schlafsack auf dem Rücken. Er trug zweckmäßige Wanderkleidung und bewegte sich trotz des recht unwegsamen Geländes sicher und zielstrebig um den großen See herum. Immer wieder stoppte er, wenn es eine besonders schöne Aussicht oder ein anderes bemerkenswertes Detail in ihrer Umgebung zu begutachten gab. Youji hielt sich wacker, obwohl er Mühe hatte, den weit ausholenden Schritten zu folgen. Gorou war froh, dass es ihm gelungen war, Youji zu überreden, dessen Schlafsack auch noch zu tragen, denn so konnte er in dessen Nähe bleiben und wurde nicht in ein verräterisches Gespräch mit Ryuuji gezogen. Ihm selbst fiel der Marsch wie auch die Last auf seinem Rücken erstaunlich leicht. Konnte das eine Auswirkung der Arbeit in der Bäckerei sein? Überhaupt, das bemerkte er nun, ließ es sich leichter bei körperlicher Arbeit denken, wenn die Oberaufsicht des Gehirns nicht ständig erforderlich war! Folglich ging er im Geist verschiedene Rezepturen durch, die er unter Aufsicht bereits ausführen durfte. Natürlich gab es noch zahlreiche Dinge zu lernen, aber er war zuversichtlich gestimmt, alles zu bewältigen. In seiner Arbeit steckte nämlich auch Musik und Rhythmus, sodass er Parallelen zu seinem 'alten' Leben erkannte. Schritt für Schritt, Tag für Tag, das spürte er, kam sein Mut, seine Lebensfreude wieder zurück. Er würde zwar nicht mehr der blonde Frauenkenner sein, aber es gab lohnenswerte Alternativen. Wenn der Volksmund recht behielt, zogen die meisten Frauen ohnehin eine leckere Leibspeise einem Mann vor. Vielleicht hatte er ja eine grandiose Karriere vor sich? ~+~ Ryuuji erwies sich als überraschend geübt darin, einen guten Lagerplatz zu suchen, wo er eine Schutzplane mithilfe von Bäumen befestigte, unter der sie auch mit ihren Schlafsäcken gut geschützt waren, falls es regnen sollte. Der Wetterdienst hatte zwar nichts Dementsprechendes gemeldet, aber Vorbeugung war besser, als in einem Sumpf aufzuwachen. Die Schlafsäcke wurden auf ausgerollte Bambusmatten deponiert, dann lud Ryuuji zum Abendbrot ein, umsichtig vorbereitet von Kenji. Youji holte aus seinem Rucksack einige Blätter, die er stolz präsentierte. Er hatte sich die Sternenkonstellationen ausgedruckt, die man zu dieser Jahreszeit mit Glück sehen konnte, die markierten Punkte mit einer Nadel sorgsam perforiert, damit man auch im Dunkeln durch den Lichtschein etwas erkennen konnte. "Hier ist ein guter Platz." Bestimmte Ryuuji, der sich den ganzen Tag über zugänglich und freundlich gezeigt hatte. "Legt euch etwas unter." Schließlich sollte sich keiner die Blase verkühlen auf den Steinen! Youji ließ sich neben Gorou nieder, breitete seine Rollen aus und hielt sie wechselweise über sich in die Luft. Hier, abseits künstlicher Beleuchtung, reichte die Strahlkraft der Sterne und des abnehmenden Mondes aus, die Punkte zu illuminieren. Begeistert erläuterte der Grundschüler seine Karten, schmiegte sich dann an Gorous Seite, der ihm den Arm um die Schulter legte, denn es wurde empfindlich kalt. Ryuuji hielt sich im Hintergrund, in dezenter Entfernung, kontrollierte ab und zu die Uhrzeit, bevor er schließlich verkündete, dass es Schlafenszeit war. Obgleich Youij ein wenig protestierte, gehorchte er endlich, weil trotz energischen Reibens die Augen einfach nicht mehr offen bleiben wollten. Gorou rückte mit seinem Schlafsack nahe an ihn heran, seltsam nostalgisch gestimmt, weil es ihn an seine Vergangenheit erinnerte, die kaum mehr als einen Monat alt war. Dort allerdings hatte es niemanden gegeben, mit dem er sich gemeinsam verkriechen konnte. Außerdem, auch wenn es ihm peinlich war, sich das einzugestehen, Youjis Gegenwart bot auch Schutz gegen eventuelle Avancen von Ryuuji. Der jedoch schlüpfte ohne weitere Umstände in seinen Schlafsack und stellte jede Tätigkeit ein. Erleichtert dämmerte auch Gorou weg. ~+~ Das Signal war leise genug eingestellt, dass Ryuuji aufwachte aus seinem leichten Schlaf, aber keinen seiner beiden jungen Begleiter aufschreckte. Gelenkig entschlüpfte er seinem Schlafsack, erhob sich, schnürte dann seine Wanderstiefel zu und beugte sich über die beiden Schläfer. Zufrieden richtete er sich auf. Mochten sie auch mal austreten müssen, es sah jedenfalls nicht so aus, als würde man ihn in Kürze vermissen. Ryuuji steckte sich seine Taschenlampe ein und marschierte frohgemut los. JETZT war es Zeit, für eine Überraschung zu sorgen! ~+~ Eri lächelte, als Kenji die Barhocker zurecht rückte, sich noch mal umsah, ob er nicht doch noch etwas fand, sich nützlich zu machen. "Vielen Dank für deine Hilfe." Sie legte eine gepflegte Hand auf Kenjis Unterarm. "Für heute ist es genug." "Gut." Betont aufgeräumt trotz der frühen/späten Stunde nickte Kenji. "Dann bringe ich dich noch nach Hause." "Danke schön." Eri nickte anmutig, bemerkte einmal mehr, wie ungewöhnlich aufmerksam Kenji war: er ließ ihr den Vortritt aus ihrer Bar und öffnete ihr die Tür des Transporters. Diese europäischen Tugenden wirkten ebenso charmant wie Ryuujis frech-frivole Küsschen auf die Wangen, gaben ihr Anlass zum Nachdenken, was wohl die Ursache für dieses ungewöhnliche Verhalten sein mochte. Die Fahrt währte nicht lange, immerhin wohnte sie nicht weit die Hauptstraße entlang, so wie die meisten Menschen der kleinen Ortschaft. Alte Bauernhäuser außerhalb, die auch noch intakt waren, gab es nur wenige. Höflich stieg Kenji aus, umrundete flink seinen Transporter, um Eri erneut die Tür zu öffnen, streckte ihr sogar eine Hand hin, damit das Aussteigen im Kimono nicht zu schwierig wurde. "Wie reizend von dir!" Zirpte sie neckend. "Dann schlaf mal gut. Wir sehen uns morgen..." Sie unterbrach sich kichernd. "...heute bestimmt noch." "Gute Nacht, Eri." Kenji lächelte. "Wie wäre es mit Kirschblütenpfannkuchen zum Frühstück?" Sie lächelte. "Ich freue mich schon darauf." Kenji startete den Transporter, fuhr aber erst los, als Eri sich in ihr Haus zurückgezogen hatte. Zu dieser Zeit herrschte kein Verkehr, die Stille nistetet sich angenehm ein in Kenjis Gemüt, der gedanklich bereits unter der Dusche stand und sein Bett anstrebte. Er bog auf seine Auffahrt ab, stellte den Transporter unter in die offene Garage und stieg aus. Als er die eiserne Schiebetür öffnen wollte, die den tatsächlichen Hauseingang blockierte, staunte er, weil trotz des Schlüssels die Schiebetür sich kaum rührte. Erst ein Blinzeln später ließ seine Wachsamkeit vollends aufblitzen: irgend jemand hatte ein Vorhängeschloss mit einer grobgliedrigen Kette um die Streben gewunden! "Was soll das?!" Kenji inspizierte das Vorhängeschloss, wandte sich dann um. So ein dämlicher Streich! Er kehrte zu seinem Transporter zurück, holte eine Taschenlampe heraus und umrundete sein Haus, doch nirgendwo gab es eine Möglichkeit, sich einzulassen. Zumindest nicht, ohne etwas zu beschädigen. "Ryuuji, du verdammter Strolch!" Nun hellwach und ärgerlich schwang sich Kenji zurück in seinen Transporter. Er steuerte seine Bäckerei an und fand sie ebenso mit fremden Vorhängeschlössern blockiert. Alle Beherrschung musste herhalten, damit er nicht vor seinem Geschäft in voller Lautstärke fluchte. Doch was tun? Im Transporter schlafen? Der allerdings war zwar geräumig, was die Ladefläche betraf, doch die Aussicht, darin zu nächtigen, missfiel ihm. Sollte er sich vielleicht bei Ryuuji schadlos halten? "Der verdrehte Mistbock hat sicher sein Haus auch abgeriegelt!" Vermutete Kenji nicht zu unrecht. Was ging bloß in diesem Wirrkopf vor sich?! Zögernd blickte er die Hauptstraße hinauf. Es GAB eine Alternative... ~+~ Eri blinzelte erstaunt, als sie die Tür öffnete, denn zu so später Stunde (oder vielmehr früher Stunde) rechnete sie nicht mit einem Besuch, es sei denn, es hatte sich ein Unfall ereignet! Kenji stand in der Tür, so groß, dass er komplett den Rahmen ausfüllte. "Ist etwas passiert?!" Fragte sie erschrocken, fasste unwillkürlich an den Ausschnitt ihres Morgenrocks. "Noch nicht." Knurrte Kenji. "Aber das kann noch kommen!" Verblüfft registrierte Eri das ungewohnte Mienenspiel des hünenhaften Mannes: verärgert, indigniert und gleichzeitig verlegen und beschämt. "Bitte komm doch rein." Lächelte sie in plötzlicher Erkenntnis und trat beiseite. Nach ihrer Erfahrung gab es nur einen Menschen, der Kenji Sagara in so eine Verfassung versetzen konnte. ~+~ "...er hat also überall Vorhängeschlösser angebracht?" Wiederholte Eri ungläubig. "So ein Frechdachs!" Kenji, der ihr Sofa wie ein Kindermöbel wirken ließ, brummte Unverständliches, das nur den Sinn haben konnte, den Cousin stärker zu beschimpfen. "Du kannst selbstverständlich hier übernachten." Sie erhob sich, berührte kurz Kenjis Knie. "Ich werde das Wasser im Bad anheizen." "Ich möchte dir keine Umstände machen!" Kenji federte hoch. "Es wäre bestimmt besser, ich würde gehen..." Sie drehte sich herum, löste den einfachen Knoten, der die langen Haare gehalten hatte. "Ich danke dir, dass du um meinen Ruf so besorgt bist. Ich bitte dich dennoch, mein Angebot anzunehmen." Ihre Stimme transportierte eine gewisse Schärfe, die Kenji beschämte. Wenn er ihren Ruf wirklich bedacht hätte, wäre er gar nicht erst hergekommen... "...vielen Dank." Antwortete er schließlich rau. Seine Augen konzentrierten sich auf die prachtvolle Mähne, die die zierliche Gestalt dekorierte. Eri bemerkte seinen Blick und lächelte. Mit gelösten Haaren zeigte sie sich niemals in der Öffentlichkeit. Kenji sah sie zum ersten Mal in dieser Aufmachung. "Man sollte es nicht annehmen, aber sie sind richtig schwer." Plauderte sie leichthin. "Ich erinnere mich, dass meine Mutter stets über meine Haare zu schimpfen pflegte, weil sie sich nicht ordentlich frisieren ließen. Sie hat ständig mit Spucke an meinem Scheitel herumgezupft." Sie nahm eine lange Strähne in die Handfläche. "Vielleicht sollte ich mir die Haare auch mal färben. Oder eine Dauerwelle legen lassen. Langsam muss ich mich doch meinem Alter stellen." "Tu das bitte nicht." Kenji hatte die Strähne sehr vorsichtig um einen Finger gedreht, sprach leise, gebremst, als wolle er ihr nicht zu nahe treten, gleichzeitig aber sein Anliegen energisch verfolgen. "Bitte, deine Haare sind schön." "Wenn sie dir gefallen, dann werde ich sie nicht verändern." Eri legte den Kopf in den Nacken, funkelte hoch in das vertraute Gesicht. "Danke schön." Wisperte der Hüne artig, was ihr ein Kichern entlockte. Nicht zum ersten Mal bemerkte sie, dass Kenji auf geschäftlicher Ebene selbstbewusst und forsch auftreten konnte, bei eigenen, privaten Angelegenheiten jedoch eine große Scheu zeigte. Sie hob eine Hand, streichelte sanft über seine Wange. "Ich lasse dir heißes Wasser ein. Nur einen Augenblick Geduld." Damit ließ sie Kenji allein zurück, der schwer auf das Sofa zurücksank. Sein Herz raste, und er fragte sich beklommen, ob er fähig war, die richtige Entscheidung zu treffen. Ob er es wagen sollte. ~+~ Kenji seufzte leise, den Kopf in die Hände gestützt. Das heiße Wasser entspannte und trieb, zwiespältig willkommen und unerwünscht, die Gedanken davon, die ihn beschäftigten. Er schämte sich für seine Halbherzigkeit. Zwar hatte er den Transporter vor der Bäckerei stehen gelassen und war zu Fuß zu Eri gegangen, doch HIERHER gekommen war er, zweifelsohne. Hätte er sich wirklich um Anstand und Ruf gekümmert, so wäre er eindeutig nicht hier, nicht in der herkömmlich großen Wanne, die ihn beengte, seiner Kleider ledig, die er in einem Korb vor die Tür gestellt hatte, weil Eri sie waschen wollte. Denn man konnte ja nicht wissen, wann Ryuuji sich bequemte, die Vorhängeschlösser wieder zu entfernen! »Überhaupt, was hat sich dieser Kerl dabei gedacht?!« Es mochte sich um einen Racheakt für ihren letzten Streit handeln, doch Kenji konnte sich nicht entsinnen, dass Ryuuji sich jemals gegen ihn gewandt hatte. Streiche, die spielte sein notorischer Cousin durchaus, aber niemals auf eine Weise, die seinen älteren Cousin bloßgestellt hätte. Er fragte sich träge in der dampfenden Hitze, ob er wohl in Youjis Zimmer übernachten würde oder im Wohnzimmer. Zweifellos musste erst ein Futon gesucht werden, wie auch eine Yukata, die ausreichte, ihn zu umhüllen. Ein Geräusch weckte ihn aus seiner Versunkenheit. Eri hatte das Badezimmer betreten, schob gerade die Tür zu. Sie trug noch immer den Morgenmantel, die Haare in einem lockeren Knoten aufgesteckt. Plötzlich raste Kenjis Puls, sein Herz trommelte Alarmsignale. Mit halb geöffnetem Mund verfolgte er ungläubig-fasziniert, wie der seidige Stoff von zierlichen, runden Schultern über lange Arme hinunterglitt, auf dem Boden einen farbenfrohen See bildete. Hörbar schnappte er nach Luft. »Sie wird doch nicht...!« Sie tat. Langsam drehte sich Eri zu ihm herum, zunächst den Kopf anmutig geneigt, einen Blick über die Schulter, dann erst folgte ihr Körper, scheu, zögerlich. Bis sie vor ihm stand, entblößt, eine zierliche Gestalt mit kleinen, festen Brüsten und sehr heller Haut, die Hände vor dem Schoß gefaltet. Obwohl sie lächelte, konnte Kenji an der Falte zwischen ihren Augenbrauen erkennen, dass sie angespannt war, all ihren Mut zusammennahm. Unwillkürlich streckte er die Hände aus, erhob sich aus dem Wasser, weil sie so schutzlos wirkte in der Kälte. Weil er sie in den Arm nehmen wollte, die ängstliche Sorge aus ihren Augen vertreiben. Noch ehe ihn Scham und strenges Anstandsgefühl überwältigen konnten, hielt er ihre gepflegten Hände in seinen großen, assistierte ihr beim Einstieg in die Wanne, die mächtig an Flüssigkeit abgab, als er sich wieder zu setzen versuchte. »Zu eng...!« Stellte er fest, denn saß er, hätte sich Eri mit den Knien unter dem spitzen Kinn unbequem kauern müssen. Sie löste das Dilemma selbst, ließ sich auf seinen Oberschenkeln nieder, die Arme um seinen kräftigen Nacken geschlungen. Als er die Umarmung erwiderte, spürte er, dass ihr Herzschlag ebenso nervös flatterte wie sein eigener. Zärtlich streichelte er über einen zarten, so zerbrechlich wirkenden Rücken, den Nacken, der ihn immer wieder in Bann schlug, fühlte jeden Knochen unter der Haut. »Großer Gott...« Aber er wagte nicht, etwas zu sagen, nicht einmal seinen Wunsch zu Ende zu denken. ALLES könnte dieses unerwartete Glück zerstören! Eri löste sich leicht, den Blick gesenkt, hauchte einen Kuss auf Kenjis Lippen. Die Geste musste erwidert werden, wiederholt, um sich zu versichern, dass er nicht träumte. Wie heiß ihre Lippen waren! Obwohl er sich gut gesotten glaubte im Badewasser, so gelang es dieser lockenden, köstlichen Zärtlichkeit, ihn zu verbrennen. Bevor er sich versah, küsste er Eri wie ein vom Glück Besoffener, so gierig, ungehemmt, berauscht, dass er beinahe die Besinnung verloren hätte. Zu seiner Rettung entschlüpfte ihm die zierliche Frau, wich endlich einem Blickkontakt nicht länger aus. Er verstand, ganz ohne Worte, folgte ihr, als sie zuerst die Wanne verließ. ~+~ Es gab keinen Futon, der seiner Größe angemessen war in diesem Haus mit zierlichen Personen. Kenji kümmerte sich nicht um derlei Nebensächlichkeiten. Mehrere Decken und Kissen im Wohnzimmer verstreut, die Möbel verschoben, der fahle Mondschein durch Gardinen: nichts hätte verzaubernder sein können. Immer wieder hielt er inne, war versucht, sich zu kneifen, doch die Magie betrog ihn nicht: das war real! Wahr und wahrhaftig lag er hier, die Frau, die er liebte, endlich in seinen Armen. Wie schön sie war! Kenji konnte sich nicht satt streicheln, nicht genug bekommen von jeder Liebkosung, die ihm gestattet wurde. So lebendig, so warm, so vertraut und neu zugleich! Wie oft hatte er das dezente Parfüm gerochen, die gepflegten Hände gehalten? Das alles schien vergessen, eindimensional, während seine Welt sich plötzlich überflutete mit Empfindungen, Aromen und Farben! Beinahe erschreckend registrierte er sein heftiges Verlangen, Eri für sich allein zu behalten, ihr so nahe zu kommen wie kein anderer Mensch, sie an sich zu binden, ihr Herz zu erobern. Benebelt schüttelte er sich wie ein Bär, richtete sich halb auf, starrte auf sie herab, atemlos und erhitzt. Ihre Finger wiesen ihn eindeutig daraufhin, dass er willkommen war, doch er zögerte. So theatralisch es auch anmutete: wenn er jetzt fortfuhr, gäbe es kein Zurück mehr. Dann wäre die letzte Barriere gefallen, die er zum Selbstschutz und aus Stolz errichtet hatte. "...Kenji?" Eri keuchte, nicht etwa unter dem Gewicht des Bäckers, sondern vor zitternder Anspannung. Auch sie erkannte genau, dass der kritische Punkt erreicht war. Verhasste Tränen traten ihr in die Augen, weil sie für einen langen Augenblick erwog, ihrer Scham nachzugeben und einen Rückzieher zu machen. Trotzig und wütend über sich selbst benetzte sie ihre Lippen, nahm erneut einen Anlauf. Immerhin war das Kenji, ER würde verstehen! "Kenji..." Ein leidenschaftlicher Kuss erstickte ihre Äußerung, die Hand, die streichelte, suchte vorsichtig nach dem Eingang in ihren Leib, wollte vorbereiten, verwöhnen, liebkosen. "Kenji." Eri blinzelte Tränen weg, umklammerte den kräftigen Nacken mit aller Kraft. "Ich spüre nicht... da... kannst du...?" Bange, erstarrt, hing sie an seinem Hals, die Augen fest geschlossen, das Herz rasend, erwartete das Urteil. Ihre innere Stimme flehte ein Mantra. »Oh bitte, lass ihn begreifen, bitte, bitte, lass ihn verstehen, bitte, bitte...« Als sie glaubte, nie mehr atmen zu können, weil ihre Kehle sich unwiderruflich zugeschnürt hatte, wanderte die große Hand zärtlich tiefer zwischen ihren gespreizten Beinen. Wieder perlten Tränen über ihr Gesicht, aber dieses Mal waren sie der Erleichterung und Freude geschuldet. ~+~ Obwohl es das erste Mal war, hatte Kenji durchaus eine Vorstellung davon, wie er vorgehen musste. Manche Dinge verlernte man nicht. So lange wie möglich liebkoste und verzärtelte er Eri, bis er endlich nicht mehr länger umhin konnte, sie behutsam auf die Knie zu drehen. Genügte die Vaseline, die größten Schmerzen zu verhindern? Er zweifelte und kam sich lächerlich unvorbereitet vor, doch es berührte ihn auch, dass sie beide nicht einmal Präservative hatten. Bange lauschte er auf jede unwillkürliche Regung, als er vorsichtig den Muskelring erprobte. Sie war so zart, so zerbrechlich! So verletzlich, in dieser fragilen Lage, ihm ganz ausgeliefert, darauf vertrauend, dass er sich auf das Handwerk verstand! Kenji küsste den Nacken, die Ohrmuscheln, streichelte mit der freien Hand über die Front, wählte erst die kleinen Brüste, dann den Unterleib, um mit kreisenden Bewegungen die Spannung zu lockern. Sie hatten beide Angst davor, einander zu enttäuschen oder zu verletzen. "...ich möchte es..." Raunte er ganz gegen seine Gewohnheit. "Ich möchte es." Nein, eigentlich WOLLTE er es, mit aller Kraft! Das war keine Sehnsucht, das war Begierde, Lust, unerträglicher Druck! Als ob seine gesamte Zukunft davon abhinge. "...ich möchte es auch." Dunkel und kehlig drang Eris Stimme an sein Ohr. "Bitte, ich möchte es auch!" Eri richtete sich auf, löste die Hände vom Boden, schob ihre Finger zwischen die Kenjis, die auf ihrem Unterleib lagerten. Der Anfang war doch bereits getan, warum dann nicht ihm entgegenkommen?! Die Beine zitterten ihr, den freien Arm balancierend ausgestreckt, aber Aufgeben stand nicht zur Debatte. Im gleichen Maße bewegte sich Kenji, liebkoste mit der freien Hand Brüste und Kehle. Er schloss die Augen, hörte die eigenen Atemzüge gepresst durch die Zähne zischen, schwindelte benommen von der Hitze, der Intensität ihrer Verbindung und dem gewaltigen Druck, den er kompensieren musste, wollte er nicht wie im Rausch die Hüften schwingen. So weit waren sie noch nicht, aber er war davon überzeugt, dass sie es gemeinsam schaffen würden. Ein gewaltiger Stahlhammer bearbeitete seine Schläfen, dröhnend wie gewaltige Kirchenglocken direkt im Turm, ein betäubendes Getöse. Obwohl er die Augen weit geöffnete hatte, erblickte er nichts, reduzierte seine Sinneswahrnehmung auf eine einzige Region: die intime Verbindung, die sein Unterleib einging. Waren es Millimeter, die ihm wie Meilen vorkamen? Aber er wagte nicht, den Atem angehalten, auch nur einen Iota zu beschleunigen. Ein Schauer ließ seine mächtige Gestalt erschüttern, als ihm bewusst wurde, WIE übergroß er gegen diesen zarten Körper wirkte. In diesem Augenblick hörte er Eri stöhnen, zum ersten Mal. Kein zarter Seufzer, kein zischendes Atemholen, nein, ein kehliger, gutturaler Laut. Sie bog die Wirbelsäule durch, eine elegante Linie, die an einer neuralgischen Stelle den Kontakt verstärkte. Als Kenji feste Muskeln unter samtiger Haut spürte, begriff er mit einiger Verzögerung, dass sie es geschafft hatten. Er war kein Mann, der große Worte schwingen konnte, nicht einmal plappern wollte ihm gelingen. So beschränkte sich seine Reaktion darauf, fiebrig mit beiden Händen über Eris Front zu streichen, jeden Punkt zu bedenken, den er als besonders empfänglich kartographiert hatte. Bis es unerträglich wurde, nur stillzuhalten. Sein Verstand verabschiedete sich, nahm alle Kontrolle mit, die Kenji gewöhnlich so meisterhaft beherrschte. Übrig blieb die große Lust, die nun keine Schranken mehr kannte. Sie wollte lieben, sie wollte diese Frau so lieben, wie es kein anderer Mann jemals zuvor getan hatte. ~+~ Kenji sank auf die Fersen zurück, schwer atmend, die Haut mit einem Schweißfilm benetzt. Ihn schwindelte, doch er vermochte es, Eri abzustützen, als sie nach vorne taumelte, ihre Ellenbogen jedoch nachgaben. Die plötzliche Distanz jagte einen frostigen Schauder über seinen Körper, sodass er instinktiv den zarten Leib umklammerte, beutegierig an sich zog und umschlang. Eri keuchte, wehrte die grobe Gunstbezeugung aber nicht ab, lehnte sich an den imposanten Brustkorb an. Sie verwünschte das aufsteigende Schluchzen, die vermaledeiten Tränen, die einfach nicht ausbleiben wollten. Emotionalität war so lästig! Und abschreckend! Kenji störte sich jedoch nicht daran, leckte die salzigen Spuren ab, einen Arm um die knabenhaften Hüften gewunden, damit er den Größenunterschied reduzieren konnte. Ohne große Überlegungen verstand er, dass es keine Tränen des Kummers oder des Schmerzes waren. Sie kannten einander seit beinahe fünf Jahren und nie hatte er gehört, dass sich ein Mann für die schöne Frau interessiert hatte. Die Einsamkeit, der tägliche Kampf darum, sich als vollwertige Frau zu fühlen, es musste sehr hart gewesen sein. Dabei gestand er sich eine egoistische Dankbarkeit dafür ein, dass es keinem anderen gelungen war, Eris Herz zu gewinnen. Zärtlich wiegte er sie in seinem Armen, bis das leise Schluchzen abebbte. Kenji beugte sich vor, um Eri auf ihrem improvisierten Lager abzulegen, streckte sich dann neben ihr aus, zeichnete mit den Fingerspitzen die Linien nach, die ihr attraktives Gesicht prägten. Die langen, seidigen Strähnen glitten durch seine Finger, faszinierten ihn mit dem Gefühl, das sie auslösten, elastisch und stark zugleich. Eri ihrerseits hob die Arme, liebkoste mit den gepflegten Händen die muskulösen Partien, die sie erreichen konnte. Da waren die starken Arme, der mächtige Brustkorb, aber auch der ausgesprochen knackige Hintern: sie konnte gar nicht glauben, dass all dies an sie verschwendet wurde! Als sie ihr Bein um Kenjis Hüfte wickelte, sich aufreizend an seinem Leib rieb, hielt er mit seinen Zärtlichkeiten inne, studierte im Zwielicht ihr Gesicht. »Bitte. Bitte, zögere nicht!« Flehte Eri stumm, stemmte sich hastig auf die Ellenbogen hoch, um Kenji zu küssen. So sehr sie seine Aufmerksamkeiten genoss, das Feuer in ihrem Inneren glühte noch immer, wollte erneut angefacht werden, um sie gänzlich zu verzehren. Ehe sie sich versah, hatte Kenji sich aufgerichtet, die Beine untergeschlagen und hob sie unter den Achseln mit einer derartigen Leichtigkeit in die Höhe, dass ihr unwillkürlich ein Schreckenslaut entfloh. Sobald sie auf seinen kräftigen Oberschenkeln saß, die Beine so weit gespreizt, wie es ihr möglich war, um sich direkt an seinen Körper zu schmiegen, vergaß sie jede züchtige Zurückhaltung. Die Hände um Kenjis Haupt gelegt küsste sie ihn mit aller Begierde, die in ihr brodelte, endlich ausbrechen wollte. Sie wollte ihn verzehren, seine gesamte Stärke einverleiben, hören, wie er seine Stimme vor Lust heiser schrie. Endlich die unsichtbare Mauer durchbrechen, die sie in einen einsamen Kokon eingesponnen hatte! ~+~ Gorou schreckte hoch, als jemand ihn unerwartet vom Boden riss, dabei seinen Mund mit einer Hand versiegelte. Blindlings versuchte er, sich zu befreien, irgendwie der Umklammerung zu entkommen, doch der Schlafsack behinderte ihn nachhaltig. Außerdem war da die mahnende Stimme, die eindringlich an seinem Ohr zischte. "Ich bin's, Go-chan, halt still und keinen Mucks!" Das besänftigte Gorous Pulsschlag keineswegs, aber er wusste aus Erfahrung, dass er gegen Ryuujis unerwartete Stärke keine Chance hatte. "Hör mit der Keucherei auf!" Zischte Ryuuji streng, nahm auf den legitimen Schrecken keine Rücksicht. "Du weckst noch Youji auf!" Das machte Gorou bewusst, dass es noch dunkel war, also recht früh am Morgen sein musste. "Also, ganz ruhig, klar?" Ryuuji gab ihn frei, stützte ihn mit einem Arm, während er bereits den Reißverschluss des Schlafsacks nach unten zog. "Was ist denn passiert?" Wisperte Gorou beunruhigt, blickte sich nervös um. Obwohl Kenji ihm versichert hatte, dass es hier keine wilden Tiere oder andere Gefahren gab, MUSSTE sich etwas ereignet haben, das sie bedrohte! "Du musst zur Arbeit." Verkündete Ryuuji ungerührt, stieß Gorou zu dessen Schuhen. "Los doch, trödle nicht herum!" Stolpernd fing sich Gorou ab, schlüpfte in seine Schuhe, um nicht in Socken auf dem kühlen, vom Morgentau feuchten Boden zu tappen. "Wieso das denn? Der Meister hat doch gesagt..." "Quatsch nicht herum!" Mahnte Ryuuji, sammelte rücksichtslos Gorous Habseligkeiten zusammen, bevor er ihn am Oberarm packte und wegzerrte. "Kenji ist heute Morgen, wenn er auch nur einen Funken Verstand besitzt, nicht in der Bäckerei. Also musst du ran, kapiert?!" Gorou verstand selbstredend überhaupt nicht, aber Ryuujis energischer Marsch zwang ihn, sich auf das Gelände zu konzentrieren, um sich nicht den Fuß zu vertreten. Außerdem erkannte er aus leidvoller Erfahrung, dass es keinen Sinn hatte, mit ihm zu diskutieren. Er war Ryuuji schlichtweg nicht gewachsen. Also besser sich drein schicken, abwarten und dann versuchen, einen Ausweg zu finden! "Was ist mit Youji?" Erkundigte er sich besorgt, drehte den Kopf. "Keine Angst, ich bin wie der Blitz wieder hier." Ryuuji beschleunigte das Tempo noch, als wollte er selbst dieser Befürchtung davonlaufen. Gefühlte Ewigkeiten, tatsächlich aber lediglich fünf Minuten anstrengenden Fußmarsches später standen sie vor Ryuujis beeindruckender Maschine. "Helm!" Gorou erhielt einen Stoß vor den Bauch. "Mach schon!" Artig setzte er sich den Helm auf, klappte das Visier allerdings hoch, denn ihm behagte die ungewohnte Enge um seinen Kopf nicht sonderlich, von der Reibung mit seinem Stoppelschnitt ganz zu schweigen. Außerdem spürte er, wie sein Magen sich regte, auf Nahrung wartete. Da konnte ihm leicht übel werden, doch tapfer schluckte er den vermehrt produzierten Speichel herunter. Unterdessen hatte Ryuuji geübt Gorous Habseligkeiten verstaut, schwang sich auf sein Motorrad und signalisierte Gorou ungeduldig, der möge sich gefälligst auf dem Sozius einfinden. Er versicherte sich noch, dass Gorous Füße auf den richtigen Stützen saßen, dessen Arme um seine Mitte lagen, dann ließ er den Motor an und rollte auf das verlassene Asphaltband der Straße. Sein Lichtkegel suchte sich einsam den Weg zurück in die kleine Ortschaft am See. ~+~ Gorou taumelte und stieß ungelenk gegen Ryuuji, der sich bereits mit dem Vorhängeschloss an der Hintertür, dem Eingang zur Backstube, befasste. Ihn schwindelte, denn das erregende Gefühl der Motorradfahrt auf der Harley Davidson mischte sich mit seinem leeren Magen und der bleiernen Müdigkeit. "He!" Protestierte Ryuuji ärgerlich, angelte Gorou mit einem Arm heran und lehnte ihn an die Hauswand, klappte das Visier hoch. "Auch das noch!" Beschwerte er sich, löste recht grob den Kinngurt, bevor er Gorous Kopf austopfte, den Helm auf seiner Maschine ablegte. Unterdessen rutschte Gorou rücklings an der Wand hinab, schnappte die kalte Morgenluft ein wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ihm bekam die Sauerstoffzufuhr nur unwesentlich besser. "Tsktsk!" Ryuuji schnalzte tadelnd mit der Zunge, öffnete die Tür zur Backstube, ohne Zweifel würde Kenji seine Zweitschlüssel nach dieser Aktion einkassieren, aktivierte die Beleuchtung. "Komm schon!" Er bückte sich neben Gorou, legte sich dessen Arm um die Schultern und führte ihn hinein, bis er einen Hocker erreichte, Gorou dort absetzte. "He!" Ein leichter Klaps auf die Wange zwang Gorou, sich zu fokussieren. "Du musst dich jetzt zusammennehmen, verstanden?!" Ryuujis schwarze Augen funkelten unerbittlich. "Ich kann Youji nicht so lange allein lassen, klar? Also sieh zu, dass du hier in Schwung kommst!" Gorou nickte automatisch, fand sich dann unerwartet allein in der stillen Backstube, ohne jedes Verständnis dafür, was sich gerade ereignet hatte. ~+~ Ryuuji umrundete die Bäckerei im Laufschritt, um auch am Vordereingang das Vorhängeschloss mit der grobgliedrigen Kette zu entfernen. Danach kehrte er zu seinem Motorrad zurück. Ohne viel Federlesens beförderte er Gorous Habseligkeiten in die Backstube, ignorierte die unsicheren Bewegungen, mit denen Gorou sich Tee zubereitete, den Ofen anheizte. Er musste sich beeilen! Jetzt noch hinauf zu Kenjis Haus, anschließend auf Hermes' Flügeln zurück zu seinem Quasi-Neffen! ~+~ Kapitel 15 - Die Wahrheit Kenji erwachte, weil ein Sonnenstrahl sich vorwitzig durch den vom See aufsteigenden, morgendlichen Dunst stahl, ihn an der Nase kitzelte. Als sein Verstand eintraf, hieß ihn diese Erkenntnis mit einem entsetzten Keuchen hochfahren. "Verdammt, ich habe verschlafen!" Neben ihm ertönte ein leiser Laut des Protestes und Kenji erkannte, dass er sich nicht in seinem Schlafzimmer befand. "...oh." Murmelte er fassungslos, studierte Eri, die sich neben ihm auf den Rücken drehte, kindlich über die Augen strich, die lieber noch ein wenig ausruhen wollten. Sein erster Impuls bestand darin, sich wegzuschleichen, sie nicht erneut zu wecken, doch dann wurde ihm klar, dass dieses Vorhaben grundsätzlich zum Scheitern verurteilt war. Erstens hatte er nichts zum Anziehen und konnte nur hoffen, dass seine Kleider vom Vortag im Trockner einen Spurt hinlegten. Zweitens war es bereits so spät, dass es kein Vertun mehr gab: er hatte seine Kundschaft versetzt! Und drittens...drittens zeichneten sich unter der Decke Eris Umrisse ab. "...was ist geschehen?" Eri räusperte sich heiser, wischte Strähnen aus dem Gesicht, die einem losen Zopf entkommen waren. "...ich habe verschlafen..." Kenji atmete tief durch. Wie konnte ihm diese Katastrophe im Moment so VÖLLIG EGAL sein?! "Aha." Eri rollte sich katzenhaft auf die Seite, bevor sie sich aufsetzte, dabei die schützende Decke verlor. "Wenn Ryuuji dahintersteckt, hat er bestimmt Vorkehrungen getroffen." Ihre gepflegte Hand lag auf seinem nackten Oberarm. "Warum rufst du nicht in der Backstube an?" "...ja. Gute Idee." Seine Kehle war ausgetrocknet und offenkundig arbeitete sein Verstand untertourig. Wo sich das gesamte Blut sammelte, spürte er nur zu genau. "Ich hole das Telefon." Erbot sich Eri, scheinbar unempfänglich für seine prekäre Situation, schlüpfte unter der Decke hervor und erhob sich, ein wenig unsicher, bevor sie über Kissen und Decken stieg. Es kam jedoch noch schlimmer, zumindest nach Kenjis Meinung, denn er konnte sich partout nicht an die Nummer erinnern, als er das Telefon in den Händen hielt. "Die Kurzwahl 1." Erklärte Eri amüsiert, kniete neben ihm, lediglich von einigen Strähnen bekleidet. Kenji schloss für einen Moment die Augen. Er musste wenigstens so klingen, als habe er noch einen Funken Verstand behalten! Beim dritten Läuten nahm Gorou den Anruf entgegen, aufgekratzt, aber sehr höflich. "Ich bin's." Brummte Kenji, räusperte sich krächzend. "Tut mir leid, ich habe... verschlafen. Kommst du allein klar?" "So, das ist sehr gut. Danke für deinen Einsatz. Mein notorischer Cousin ist nicht in der Nähe?" "Ja. Natürlich. Bei Youji. Sicher." Kenji atmete tief durch. "Ich...wir kommen später. Zum Frühstücken." Mit einem heiseren Gruß beendete er das Telefonat, rieb sich dann mit beiden Händen kräftig über das Gesicht. Er MUSSTE jetzt sofort aufstehen, zur Arbeit gehen! Konnte ja wohl nicht seinen armen Lehrling schuften lassen! Auch wenn sonntags nie großer Betrieb war. Eri, die ihr Telefon zurückgebracht hatte, streckte sich anmutig auf einer Decke neben ihm aus, die Lider halb gesenkt. Kenji betrachtete sie, konnte den Blick nicht abwenden. »Ich KANN nicht gehen.« Stellte er fest. Nicht nur, weil er sich der Erregung öffentlichen Ärgernisses schuldig machen würde angesichts der Standarte, die keine Hose zu verbergen vermochte. Sie würde schlicht in seinen Gedanken geistern, ihn tagträumen, seine Hände beben lassen, weil sie nicht über diese Haut gleiten, diese Hitze spüren würden. Er streckte langsam einen Arm aus, glitt mit der großen Handfläche über ihre Seite, kehrte von der knabenhaften Hüfte zu ihrer Brust, bedeckte sie vollkommen, spürte den Herzschlag darunter, als hielte er einen Vogel in seiner Hand eingeschlossen. Eine Bitte auszusprechen, dazu würde er sie nicht nötigen. So leicht würde er es sich nicht machen, sich keinen Ausweg mehr gestatten, indem er eigene Bedürfnisse als die Anforderungen anderer deklarierte. "Ich WILL noch nicht gehen." Flüsterte er rau, ließ sich auf die Seite sinken und rutschte näher an Eri heran. "Dann bleib bei mir." Sie lächelte, die Wangen rosig überhaucht. "Mir ist egal, was die anderen denken!" Brach es ungestüm aus Kenji heraus. "Ich werde nichts leugnen!" Eri lächelte bloß heiter, doch die Hand um Kenjis pulsierende Erektion forderte energisch, dass er seine Ankündigung erfüllte. ~+~ Gorou wischte sich über die Stirn, dankbar dafür, dass sich sein Kreislauf wieder gefangen hatte. Er spürte zwar den Schlafmangel noch, doch ein Frühstück vertagte die Nachwirkungen dieses sehr unerwartet beendeten Ausflugs. Inzwischen hatte er, trotz des Drucks, ganz allein die sonntäglichen Bestellungen zu bewältigen und für den nächsten Tag die ersten Vorbereitungen zu treffen, eine Theorie darüber, was geschehen war. Offenkundig war der Meister nicht nach Hause gefahren, denn der Transporter stand vor der Bäckerei, folglich übernachtete er im Dorf. Da Ryuuji sich so angestrengt hatte, sowohl den lästigen Lehrling als auch Youji zu entfernen, konnte es nur eine Person geben, bei der sein Meister die Nacht verbracht hatte. »Eigentlich keine Überraschung, die beiden verstehen sich ja blendend.« Sinnierte er. »Warum also sollten sie nicht auch ein Liebespaar sein?« Doch dann kamen ihm die zwiespältigen Bemerkungen in den Sinn, die seinen Meister als Spezialist für die Lösung der Probleme anderer auswiesen. Lief er etwa vor eigenen Schwierigkeiten davon? ~+~ Kenji protestierte lachend, als Eri ihn kitzelte, das Einschäumen unterbrach. Sofort schmiegte sie sich an seine Front, verschränkte die Arme hinter seinem Rücken, sodass jeder Tadel vergessen war. Behutsam duschten sie einander schließlich mit lauwarmen Wasser ab, dann durfte Kenji auch wieder in seine Kleider steigen. "Ich wünsche zum Frühstück diese Kirschblüten-Pfannkuchen, die du mir offeriert hast." Erinnerte Eri, drehte geschickt ihre Haare zu der Frisur auf, die sie in der Bar zu tragen pflegte. Um sich nützlich zu machen, beseitigte Kenji das Chaos im kleinen Wohnzimmer, sammelte Kissen auf und faltete Decken zusammen. Er wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab, verwünschte seine Nervosität. Es gab aber kein Zurück mehr, er MUSSTE diesen Sprung wagen, nicht etwa, weil es den Konventionen geschuldet war, sondern weil er es sich ersehnte. "Eri." Er trat vor sie, nahm ihre beiden Hände in seine und unterdrückte tapfer die Beklommenheit, die ihn beschlich, als sie ihn wachsam ansah, die gefürchtete Falte auf ihrer Stirn erschien. "Eri, ich bitte dich, eine Heirat mit mir in Erwägung zu ziehen." Sprudelte es aus Kenji heraus. Er holte tief Luft, blickte in die schönen Augen. "Ich liebe dich nämlich." Da. Es war heraus. »Und hat doch gar nicht weh getan!« Verspottete er sich selbst angesichts des Notschweißes auf seiner Stirn. Eri wandte sich ab, ballte die Hände zu kleinen Fäusten. Kein vielversprechendes Zeichen, doch Kenji gestattete sich keinen Kleinmut. Sie drehte den Kopf, lächelte vorgeblich heiter. "Ich danke dir, Kenji, aber ich kann dich nicht heiraten." Kenji erstarrte, das Blut gefror schlagartig, passte sich seiner befremdlichen Wahrnehmung der Situation an. Vor ihm zerbrach die tapfere Maske in beschämte Verzweiflung. "Bitte, verzeih mir, Kenji, aber..." Eine Hand wand sich ungehindert aus Kenjis Griff, wischte über die Augen, den Blick zu Boden gewandt. "Laut Familienregister..." Sie würgte hörbar. "...da bin ich noch Noburi. Ein Mann. Wenn ich den Eintrag ändern würde, könnte ich Youji verlieren." "...natürlich." Kenji fand die Sprache wieder, atmete erleichtert durch. "Das verstehe ich natürlich." Sanft hob er ihr Kinn an. "Dann werde ich warten, bis Youji erwachsen ist. Oder ich die Meinung deines Vaters ändern kann. Erlaubst du mir trotzdem, dich zu umwerben?" Eri lachte erstickt. "Willst du das wirklich auf dich nehmen? Ich bin keine richtige Frau, kann dir keine Kinder schenken und außerdem bin ich auch noch älter als du! Eine alte Schachtel!" "Pscht!" Kenji versiegelte ihre zitternden Lippen mit einer Fingerspitze. "Du bist eine Frau, das weiß ich ganz genau. Ich begleite deinen Sohn seit seinem sechsten Lebensjahr, darf ihn aufwachsen sehen wie ein eigenes Kind, ganz ohne schlaflose Nächte und Windelnwechseln. Ich möchte dich heiraten, weil ich mein Leben mit dir verbringen möchte." Sein letzter Satz klang beinahe flehend, denn wie sollte er erklären, dass all die Erwartungen anderer Leute ihn nicht kümmerten? Er wollte Eri. So, wie sie war. "...also gut." Wisperte sie gerührt. "Du bekommst mich, wenn ich dich bekomme. Denn ich..." Beinahe wütend stampfte sie auf, wie lächerlich, war sie denn keine Frau?! Warum also fiel es ihr so schwer, dieses Wort auszusprechen?! "...denn ich liebe dich auch." Mit einem lauten Aufseufzer kommentierte sie die überwundene Hürde. »Da! Ging doch! Gar kein Problem!« "Fein!" Kenji beugte sich hinab, fasste Eri mühelos um die Hüften und hob sie hoch, lächelte befreit. "Wir sind uns einig. Ein Siegel drauf!" Eri lachte, stützte die Arme auf seinen Schultern ab, küsste ihn dann ausgiebig. JETZT hatte sie auch großen Appetit auf das Frühstück! ~+~ Gorou flitzte aus der Backstube, als er das unverkennbare Röhren der Harley Davidson hörte. Er sah, wie Ryuuji sich vor den Transporter setzte, die schwere Maschine mit den Füßen ausrichtete, bevor er den Motor abstellte, die Stützen ausfuhr. Hinter ihm, vermutlich euphorisch und von Stolz erfüllt, den Helm viel zu groß auf dem kleinen Körper, hockte Youji. Bevor er darüber nachdenken konnte, hatte Gorou die Bäckerei bereits verlassen, war zum Motorrad geeilt, um Youji vom Sozius zu angeln. Obwohl er Ryuuji zutraute, sich um den Grundschüler zu kümmern, hatte er sich doch gesorgt, dass der Junge ganz allein aufwachen mochte. "Guten Morgen, Gorou!" Youji klappte selbst das Visier hoch, strahlte begeistert. "Guten Morgen." Murmelte Gorou, ließ sich widerspruchslos Youjis Habseligkeiten von Ryuuji aufnötigen. "Hast du gut geschlafen?" "Ganz prima!" Versicherte Youji aufgekratzt. "Die Ferien hätten nicht besser anfangen können! Außerdem bin ich jetzt ja in der fünften Klasse!" Zumindest, wenn die vierzehntägigen Ferien beendet waren und das neue Schuljahr begann. "Los, ihr beiden, ich habe Hunger!" Beklagte sich Ryuuji ungeduldig, trieb sie vor sich her. "Gorou, Bedienung!" Der schluckte einen rebellischen Impuls herunter, redete sich selbst beruhigend zu, während er erst mal für Flüssignahrung sorgte. Es war sinnlos, sich über Ryuujis anmaßendes Verhalten zu ärgern, denn damit spielte er ihm bloß in die Hände. Also zog er sich in die Backstube zurück, um die Pfannkuchen zu backen, kümmerte sich zeitgleich um die süßen Brötchen, die in den Ofen eingefahren werden mussten. Gorou fragte sich, wann sein Meister erscheinen würde, was genau Ryuuji ausgeheckt hatte. ~+~ Kenji konnte sich nicht entsinnen, jemals händchenhaltend am helllichten Arbeitstag durch die Gegend spaziert zu sein. Sicher, er hatte Kinder, die Großmutter, andere Leute manchmal an der Hand geführt, aber das war nicht zu vergleichen. »Überhaupt!« Stellte er fest. »Zum ersten Mal begreife ich, wie eine solche Liebe ist!« Nämlich nicht aufopferungsvoll, still, romantisch, zurückhaltend. Nein, er fühlte sich eher wie eine hormongeschwängerte Bestie, die rücksichtslos angreifen, verschlingen, in Besitz nehmen wollte! Aber da war auch die andere Seite, die ihn mit stummer Demut erfüllte: dass er eine Bestie sein durfte. Dass die Frau an seiner Seite der Bestie Paroli bot, sie akzeptierte und herausforderte. Als sie die Bäckerei betraten, bot sich ein gewohntes Bild: Youji kaute begeistert und hielt Ryuuji einen Vortrag in den Pausen, während der Autor schmunzelnd lauschte. "Oh, guten Morgen, Eri, Kenji!" Youji lächelte. Dann breitete sich ein wissendes Grinsen aus und er klopfte Ryuuji wie einem treuen Hund auf den Schopf. "Fein gemacht!" Kenji konnte diese Meinung nicht vollends teilen. "Eigentlich gehörst du verdroschen für diesen niederträchtigen Streich." Knurrte er brummig. Ryuuji feixte bloß, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, ganz lässig zurückgelehnt. "Oh, ich habe solchen Hunger!" Bekannte Eri ihrem Sohn. "Hast du mir noch etwas von den Pfannkuchen übriggelassen?" "Gorou macht noch welche." Youji deutete auf die Backstube, wo ein schüchterner Lehrling in die Bäckerei lunzte. Wäre der Meister wütend? Würde er gar vermuten, dass sein Lehrling in den Streich eingeweiht gewesen sei? "Zu zweit geht es schneller." Verkündete Kenji, folgte Gorou in die Backstube. "Ich habe alles erledigt. Wie immer sonntags." Plapperte der abgehackt, wartete auf Kritik. "Gute Arbeit!" Kenji klopfte ihm stattdessen lobend auf die Schulter. "Vielen Dank, dass du eingesprungen bist. Mein sauberer Cousin hat mich ordentlich an der Nase herumgeführt." Er räusperte sich. "Und dich dafür schuften lassen. Wie wär's mit einem freien Tag zum Ausgleich in der Woche? Es sind Schulferien, du kannst in die Stadt fahren, dich amüsieren. Mädchen treffen!" Gorou, noch ein wenig geduckt, wagte ein schiefes Grinsen. In seiner gegenwärtigen Aufmachung konnte er sich nicht mal in Tokio trauen, Mädchen zwecks Verabredung anzusprechen, geschweige denn hier, wo sich in kürzester Zeit alles herumsprach. Außerdem, seit Ryuuji ihn aufgelesen hatte, war sein Selbstbewusstsein (oder eher die naive Narretei, wie Ryuuji es formuliert hatte) geschwunden. Er konnte weder flunkern, dass er ein Host war, noch von einer großartigen Schule berichten, über Filme oder Schauspieler reden. Mode vielleicht, aber all diese Dinge, die er gelernt hatte, um sich selbst zu versorgen, wirkten nun befremdlich und wertlos für ihn. "Ich kann mit dir in die Stadt fahren, mal ordentliche Klamotten besorgen." Ryuuji mischte sich einmal mehr ungefragt ein. "He, die Mannschaft meutert schon! Was ist mit den Pfannkuchen?" "Drängle nicht." Mahnte ihn Kenji milde, packte ihn dann am Oberarm. "Komm mal eben mit." Hinter der Backstube auf der Straße gab er seinen jüngeren Cousin frei. "Was jetzt, bekomme ich Dresche?" Ryuuji war allerdings nicht besorgt. "Nein." Kenji brummte. "Ich schlage dich nicht, das solltest du mittlerweile wissen." Ryuuji stellte das herausfordernde Grinsen ein, nickte schweigend. "Du hast da was angerichtet." Kenji streifte sich seine Jacke ab, hängte sie über einen Arm. "Ich weiß." Ryuuji lächelte schief. "Ich kann wohl kein Asyl mehr in deinem Bett suchen, wie?" Unerwartet energisch fand er sich in der beschützenden Umarmung, die Kenji ihm immer zugedachte. "Du bist mir immer willkommen." Raunte ihm der Cousin zu, murmelte dann sanft. "Vielen Dank, Ryuu." Ryuuji vergrub sich in der imposanten Gestalt, atmete tief durch. Er wusste, dass er das Richtige getan hatte, aber er fühlte sich, als hätte er seine Heimat verloren. ~+~ Gorou verfolgte angespannt, ob die veränderte Situation ihn seine Unterkunft bei seinem Meister kosten würde. Er konnte sich nämlich nicht vorstellen, dass Kenji weiterhin allein wohnen wollte, von Eri getrennt, denn die beiden wirkten so gelöst und unaufdringlich verliebt, dass selbst die wenige Zeit, die sie zusammen hatten, ihnen nichts auszumachen schien. Aber über kurz oder lang würde es nicht genügen, einander nur dann zu sehen, wenn die Arbeit sie zusammenführte. Youji war offen begeistert, Kenji als 'Vater' zu bekommen, in das alte Bauernhaus ziehen zu können. Wäre für ihn dann noch Platz in dieser Familie? Ryuuji bestimmte selbstherrlich, dass er am Dienstag in die Stadt fahren würde und Gorou dann den zugesagten freien Tag nehmen sollte. Gorou war es einerlei, er wollte Youji entkommen, der seine Ferienzeit dazu nutzte, in der Bäckerei Einrichtungspläne aufzuzeichnen und schon Listen verfasste, was wie umzuziehen sei. "In dem Aufzug nehme ich dich nicht mit." Ryuuji musterte Gorou von oben bis unten. "Los, steh nicht da rum, schwing die Hufe!" Grob zerrte er Gorou hinter sich her, der den Kopf gesenkt hielt und schweigend hinter dem Autor auf das Motorrad kletterte. Ryuuji ignorierte seine Stimmung, steuerte seine abgelegene Residenz an, um ihn ins Haus zu scheuchen. "Die Treppe hoch, ins Schlafzimmer." Dirigierte er Gorou energisch, der unbehaglich das Schlafzimmer mit dem gewaltigen Fenster unter der Dachschräge betrat. "Ausziehen!" Ryuuji kam kurz und bündig zur Sache. "Du bist so groß wie ich, also sollte sich auch was Passendes finden." Gorou schlüpfte aus seinen Kleidern, die nicht für würdig befunden worden waren, in einer kleinen Provinzstadt zum Einkaufen getragen zu werden, wenn man sich in Begleitung eines Autoren fand. "Hier." Eine Jeans schleuderte auf Gorou zu, dann folgte ein Unterhemd und eine Motorradjacke mit einem applizierten Adler. So schnell es ging, bemühte er sich, in die Kleider zu steigen, doch das hinderte Ryuuji nicht, an ihm letzte Hand anzulegen und auch noch ein Kopftuch in Form des Union Jack umzubinden. "Viel besser!" Bekundete er seine Zufriedenheit. "Los, gehen wir shoppen!" Doch ungeachtet der Aufmerksamkeit, die sie auf sich zogen, blieb Gorou stumm und folgte Ryuuji wie ein Schatten. Er blickte zu Boden, wenn sich Schülerinnen kichernd näherten, mit Ryuuji flirteten. Vorher, mit blonder Mähne und Anzug, da hatte er sich sicher gefühlt, doch hier kam er sich bloß verkleidet vor. Aber darunter war er er selbst und damit ein nicht mehr ganz kahler Jugendlicher ohne Ausbildung, der nur hoffen konnte, dass für ihn ein Platz in der neuen Familie blieb. "Meine Güte, hast du eine Kröte verschluckt, oder wie?!" Ryuuji verpasste ihm einen Schlag gegen den Oberarm. "Die Sonne scheint, es sind Ferien, Frühling, Kirschblüten, was willst du mehr?" "Entschuldigung." Murmelte Gorou, weil es die einfachste Lösung schien. Artig marschierte er hinter Ryuuji her, der die einschlägigen Läden kannte, viel weniger als in Tokio, selbstverständlich, aber auch hier lebte man ja nicht hinter dem Mond! Gehorsam probierte er Hosen an, streifte Hemden und Shirts über, schluckte angesichts der Preise und ertrug Ryuujis Kritik. Plötzlich schien es reizvoll, wie Youji am Liebsten ein Regencape und Stiefel zu tragen, sich nicht um Kleider zu scheren. "Lass uns eine Pause einlegen." Ryuuji zeigte sich unbeeindruckt, betrat selbstsicher ein Familienrestaurant. "Setz dich irgendwo, ich kümmere mich ums Essen!" Das bedeutete, dass es Fast Food gab, bestaunt von zahlreichen anderen, hauptsächlich weiblichen Gästen. Die Aufmerksamkeit war Gorou unangenehm, schlug ihm auf den Appetit. Außerdem schien sich die gesamte Einkaufsaktion als Fehlschlag zu erweisen, da sie noch immer nichts käuflich erworben hatten. "Was soll das, passt dir auch das Essen nicht??" Ryuuji funkelte ihn herausfordernd an, aber Gorou zog es vor, besser nicht darauf zu antworten. "Fein, dann packen wir es ein. Du isst es zu Hause." Wie ein gescholtenes Kind tappte Gorou in Ryuujis Windschatten, trug demütig die Papptüte mit den Schachteln, seine 'Strafe'. "Wir fahren zurück." Ordnete Ryuuji an. Gorou erwartete nun, dass er wie ein lästiges Kind, das sich danebenbenommen hatte, einfach vor der Bäckerei ausgesetzt wurde, doch Ryuuji steuerte sein eigenes Haus an. Zögerlich folgte Gorou dem Schriftsteller ins Haus, der ihn mit einer lässigen Geste aufforderte, im Wohnzimmer Platz zu nehmen und dem Inhalt der Papptüte ein Ende zu bereiten. Um sich Aufschub zu verschaffen, während der Gastgeber in das Obergeschoss verschwand, studierte er ausgiebig das gewaltige Bücherregal. Wie konnte so ein vielseitiger Mann, urteilte man nach den Werken, bloß so grausam ihm gegenüber geworden sein? Jetzt verhielt sich Ryuuji zwar boshaft, aber nicht bösartig, doch warum hatte er damals so gehandelt? Wahrscheinlich würde es keine Antwort geben, denn zu fragen wagte er nicht. "He, Spielverderber, komm hoch!" Hörte er Ryuuji rufen. Mangels Alternativen oder guter Ausreden stieg Gorou zögerlich die Treppe hoch, näherte sich nervös erneut dem Schlafzimmer. Ungeduldig wurde er herbei gewinkt. "Schneck doch mal schneller, du Schleicher! Hier, probier das mal an!" Bevor Gorou protestieren konnte, wurden Kleidungsstücke auf dem breiten Bett abgelegt, er selbst brüsk aufgefordert, nun aber fix mal reinzuschlüpfen! Mutlos leistete er der energischen Order Folge, streifte sich Hemden, Hosen, Shirts und Jacken über. Nicht alles war so provozierend auf Nachtleben ausgerichtet, es gab auch ganz unspektakuläre Bekleidungsstücke, doch Gorou hielt sich mit einer Meinung lieber zurück. Auch wenn ihn Ryuuji vor einem großen Spiegel drehte, wie ein Mannequin bezupfte und Kombinationen erwog: Gorou starrte seinem fremden Zwilling müde ins Gesicht. "Ein echter Trauerkloß!" Schnaubte der Schriftsteller ärgerlich. "Ich verstehe wirklich nicht, wie du jemals auf die Idee kommen konntest, ein Host zu werden!" Gorou senkte den Kopf, fixierte seine Füße. Das schien alles in einer anderen Vergangenheit zu liegen, so surreal, als wäre es bloß ein Fiebertraum gewesen. All die Träume, die Hoffnungen, die Pläne: sie mussten einem anderen gehören. "Wenn du dich mal ein bisschen aufraffst, lasse ich dich sogar an meinen einschlägigen Erfahrungen teilhaben!" Lockte Ryuuji mit samtiger Stimme. "Danke." Murmelte Gorou. "Ich möchte lieber gehen." "Gehen?! Lächerlich!" Ryuuji schnaubte. "Was ist los mit dir?! Einen Tag in der Woche hast du frei, um Spaß zu haben und dich zu amüsieren, aber was tust du?! Du läufst herum, als drohe der Weltuntergang!" Tatsächlich schien sich eine endzeitliche Katastrophe anzubahnen, zumindest nach Gorous Gefühlslage. Wenn sein Meister und Eri heirateten, dann wäre kein Platz mehr für ihn. »Überflüssig.« Er seufzte innerlich erstickt. Eigentlich hätte man sich ja an den Zustand gewöhnen können, darin hatte er ja Erfahrung. Im Augenblick wollte er nur gehen, weg von Ryuuji, der zu gut gelaunt, zu lebendig und gnadenlos hartnäckig war. In Tokio war er sein eigener Herr gewesen, rasch abgetaucht in der Menge, um wieder allein mit seinen Gedanken zu sein. Doch hier musste man sich wirklich anstrengen, um der Gesellschaft zu entkommen. Er wandte sich von Ryuuji ab, schlüpfte aus den Kleidern, die ihm überlassen werden sollten, ignorierte die lasziv-süffisante Erzählung über die Recherche bei Porno-Drehs in den USA, wechselte in Hose und Hemd, wie er gekommen war. "Es tut mir leid, bitte entschuldige die Umstände." Murmelte er, ohne Ryuuji ins Gesicht zu sehen, verbeugte sich artig, aber nicht zu tief, damit er nicht erneut Gefahr lief, vom Schriftsteller angefaucht zu werden, er solle gefälligst nicht so distanziert tun bei ihrer Vorgeschichte. "Was soll das werden? Du willst abhauen? Was erzählst du Kenji?" Ryuuji ließ das Thema 'vergleichende Studien Pink Eiga-U.S. Porno' fallen und folgte Gorou. "Willst du ihm erklären, dass du nicht mal fähig bist, in der Stadt Kleider für dich zu kaufen? Na herrlich, DAS wird ihm sicher gefallen!" Höhnte er bissig. Gorou verzichtete darauf, über eine angemessene Antwort auch nur nachzudenken. Er fühlte sich bloß elend und mutlos, ohne alte und neue Träume, nackt ohne die schützende Haut der Illusionen und Hoffnungen, die wie eine Seifenblase geplatzt war. "Bleib hier!" Ryuuji forcierte sein Tempo, packte Gorou beim Arm, der sich instinktiv zu befreien versuchte. "Ich lasse dich nicht gehen, also hör mit dem verdammten Gezappel auf!" Brüllte Ryuuji nun, bar der betont selbstsicheren Arroganz. Es gelang ihm, Gorou auf dem Treppenabsatz gegen die Wand zu drängen, ihn förmlich mit Händen und Hüfte fest zu pinnen, bevor er blitzartig vorschnellte, den halbherzigen Protest erstickte. Sein widerspenstiger Partner begriff ohne Verzögerung, was ihm drohte. Schon wieder Spielzeug sein, für jemanden, der ihn verachtete?! Nicht einmal um der tröstenden Nähe eines anderen willen hätte Gorou das ertragen können! In einem wilden Anflug von Trotz gelang es ihm, Ryuuji von sich zu stoßen, dann hastete er panisch die Treppe hinunter. Es war eine halsbrecherische Flucht. ~+~ "Ryuu? Was ist los?!" Kenji stürzte in die Backstube, das winzige Mobiltelefon ans Ohr gepresst. Sein Cousin klang merkwürdig, als würde er neben sich stehen, die Stimme flach und leblos. "Ich komme sofort! Rühr dich nicht von der Stelle!" Brüllte er, schleuderte Schürze, Schuhe und Kopftuch beiseite. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, die Stiege Backwaren im Ofen zu retten, die in seiner Abwesenheit verbrannte. ~+~ "Gehen wir ein paar Schritte." Ohne weitere Präliminarien zerrte Kenji seinen jüngeren Cousin am Handgelenk hinter sich her, vor die Tür, vom Gebäude weg. In den Grünanlagen spazierten nur wenige Personen, sie waren also ungestört. "Was ist passiert?" Hakte er mit gefährlicher Ruhe nach. Wenigstens anhören wollte er sich die ganze Geschichte. Ryuuji zuckte achtlos mit den Schultern, blickte aber an ihm vorbei, die Hände in den Taschen der Motorradjacke verborgen. "Ein Unfall." "Ein Unfall." Wiederholte Kenji mit neutraler Stimme. Unerwartet schleuderte er Ryuuji an der Schulter herum, packte dessen Handgelenke so fest, dass der jüngere Mann zusammenzuckte. Außer sich vor Zorn funkelte er in die schwarzen Augen, die so schurkisch-charmant zu bezaubern pflegten. "Was ist passiert?" Wiederholte er seine Frage, ballte die Fäuste und starrte in Ryuujis Augen, der auszuweichen versuchte, aber den Schmerzen nachgeben musste. "Du tust mir weh!" Zischte er seinen älteren Cousin an, halb ungläubig, halb aggressiv. "Richtig." Pflichtete ihm Kenji unumwunden bei. "Ich tue dir weh. Vorsätzlich. Weil ich genug von diesen dämlichen Ausreden habe. Weil ich die Schnauze voll habe von deinen Ausflüchten. Du wirst jetzt reden, verstanden?" "Ich werde gar nichts!" Begehrte Ryuuji gellend auf, zu schrill, zu kindlich. Er erschrak über sich selbst, über seine hilflosen Versuche, dem Zugriff zu entwischen, über die verbissene Verzweiflung, den ungefilterten Trotz. Kenjis Miene blieb steinern, ungerührt. "Du kannst nicht verschwinden." Versetzte er knapp. "Ich mache es dir nicht einfach. Ich prügle dich nicht, ich sperre dich nicht ein und ich ignoriere dich nicht. Aber du wirst mir jetzt die Wahrheit sagen!" Ryuuji gab nicht auf, drehte und wand sich. Allein, es war die panische Zappelei eines Kindes, nicht der wehrhafte Versuch eines erwachsenen Mannes, der gelernt hatte, wie man sich selbst effektiv verteidigte. "Ich hab ihm nichts getan!" Platzte er schließlich schrill heraus. "Er ist die Treppe hinuntergefallen!" "Warum hatte er es denn so eilig? In deinen Kleidern?" Kenji gab keinen Iota nach. Sein jüngerer Cousin erstarrte. "Du hast doch nicht gedacht, dass mir das entgeht." Der Bäcker antwortete ruhig auf eine unausgesprochene Frage. "Ich lüfte doch ständig deinen Kleiderschrank, wenn du nicht da bist." Den Blick abgewandt sammelte sich Ryuuji. Er wollte, nein, er musste!, sich zusammenreißen, wieder die Beherrschung gewinnen. Außerdem wäre es gut, das finstere Geheimnis nicht allein zu tragen. Ja, vielleicht würde es ihm sogar den Vorwand liefern, all seine Wut, diese unerträgliche Spannung abzustreifen, sie herauszubrüllen! "Ich wollte nicht, dass er geht." Formulierte er endlich leise, richtete seine Augen auf eine kleine Fontäne in der Nähe, wählte sie zum Fixpunkt. Beiläufig, als führe er ein Selbstgespräch, ergänzte er seine erste Erklärung. "Wir waren in der Stadt, aber er hat sich für nichts interessiert. Natürlich kein offener Widerstand, aber nein! Sondern diese teilnahmslose Gehorsamkeit, die mich geärgert hat. Flirten, einen Happen Essen, sich bewundern lassen: nichts gefiel ihm." Ryuujis Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde härter, unnachgiebiger. "Mir waren die verdammten Klamotten egal. Er sollte etwas von mir tragen. Ich wollte ihn in meinen engen Jeans sehen, in meinen verwaschenen Shirts. Aber er hat abgelehnt, hatte keine Lust, mit mir zusammen zu sein." Wie ein Raubtier bleckte er die Zähne, hob den Kopf, funkelte Kenji agitiert an. "Da habe ich ihn gepackt. Er hat sich gewehrt, ist die Treppe 'runtergepoltert." "Und gestürzt." Stellte der Bäcker pointiert fest. Ihm gefiel das Mienenspiel seines Cousins ganz und gar nicht. "Warum kannst du den Jungen nicht in Ruhe lassen?" Erkundigte er sich betont sachlich. "Könnt ihr Tokio nicht endlich abhaken?" "Ha!" Ryuuji lachte abschätzig auf, die Augen fiebrig funkelnd. "Du verstehst das nicht! Jemand wie du kann das gar nicht verstehen!" Die Stirn in Falten rang Kenji um Beherrschung. "Dann erkläre mir doch bitte, was ich nicht verstehen kann." Ryuuji ließ sich nicht zweimal bitten. Nun musste eruptieren, was so lange in seinem Inneren gebrodelt hatte. "Du denkst, ich habe das Jungfräulein in Nöten gerettet, nicht wahr?" Versetzte er mit greller Stimme. "Ihn heldenhaft aus dem Moloch der Großstadt geborgen! Aber das ist nicht wahr!" Er verkürzte die Distanz, lächelte seinen älteren Cousin diabolisch an. "Ich habe ihn hierher geschickt, damit er in Reichweite ist! Hier kann er nicht abhauen oder untertauchen. Ich finde ihn überall wieder!" Kenji gab Ryuujis Handgelenke frei, packte stattdessen die Schultern. "Hör auf, so einen Unsinn zu erzählen!" "Du wolltest doch die Wahrheit hören!" Geiferte der Schriftsteller zurück. "Dann halt's Maul und hör sie dir auch an! Ja, dein sauberer Cousin, das schwarze Schaf der Familie, hat zugeschlagen! Ich habe ihn gründlich entjungfert, nach Lust und Laune gevögelt, dann hierher geschickt, damit ich weitermachen kann!" Von Kenjis erschüttert-angewidertem Ausdruck angestachelt lachte Ryuuji schrill. "Ich HABE dir doch gesagt, dass du es nicht verstehst! So ein Saubermann wie du, der es ausschwitzen kann, der BEGREIFT das nicht!" "Ich schwitze gar nichts aus!" Protestierte Kenji reflexartig, spielte Ryuuji somit direkt in die Hände. "Ah nein?! Du kannst es fast fünf Jahre lang aushalten, die Frau, die du liebst, nicht mal zu küssen?! Geschweige denn mit ihr ins Bett zu gehen?" Höhnte der Jüngere spöttisch. "Das ist tatsächlich der Gipfel des Anstands und der Selbstbeherrschung!" Dem Bäcker schoss das Blut ins Gesicht. Er kam sich keineswegs exotisch oder wie eine Rarität vor und empfand die Andeutung, er sei quasi impotent oder gefühlskalt, als beleidigend. Ryuuji präsentierte sein blendendes Gebiss. "ICH bin jedenfalls nicht so." Er machte sich ungehindert aus Kenjis Zugriff frei, wandte sich halb ab. "Du hast keine Vorstellung davon, wie es ist, wenn einem scheißegal ist, was der andere denkt, welche Ideale und Hoffnungen er hat! Wenn du diese Person verschlingen willst, fesseln, einsperren, wenn du es so oft tust, dass es schmerzt und trotzdem ist es nie genug!" In Kenjis Ohren klangen diese verbissen hervorgestoßenen Worte bedrohlich hysterisch. Folgerichtig schnappte er ein Handgelenk, um Fluchtversuche zu unterbinden. Sein jüngerer Cousin lachte bitter auf. "Ich wette, du bist noch nie in einen Raum gekommen, hast ihn gerochen und warst sofort hart wie ein Brett!" "Ich habe den Eindruck, dass du durchdrehst." Kenji rettete sich auf sicheren Grund. "Liegt das etwa an dieser Yakuza-Geschichte?" "Es hat nichts damit zu tun!" Brüllte Ryuuji unbeherrscht, befreite sich grob. Er funkelte Kenji an, der ein gutes Ziel bot für seine Frustration. "Ja, verdammt, vielleicht drehe ich durch, aber seinetwegen! Ich WILL ihn! Ich will ihn so sehr, dass es mich zerreißt!" Ungläubig registrierte Kenji die Tränen in den Augen seines Cousins. "Ich HASSE es! Ich WILL es nicht, aber ich kann es nicht loswerden! Denkst du vielleicht, mir macht das Spaß, hinter einem halb so alten Naivling herzurennen?! Dass ich gern meinen Stolz wegwerfe, meine Selbstachtung?! Er treibt mich schier in den Wahnsinn, NIE reagiert er so, wie er soll!" Die Lautstärke zog Aufmerksamkeit auf sie, also entschloss sich Kenji, Ryuujis Gebrüll an seiner Brust zu ersticken. Er zog den Cousin in eine Umarmung, wartete geduldig, bis das wütende Schnaufen und Fauchen verklang. Es erinnerte ihn fatal an ihre Kindheit. Ryuuji, der sich nicht gut zur Wehr setzen konnte, zu schmächtig war, zu sehr an Prügel gewöhnt, angefüllt bis zum Rand mit komprimiertem Zorn, zitternd und bebend unter dem gewaltigen Druck, sich nicht angreifbar zu machen. Früher hatte er immer einen Weg gefunden, durch seine Nähe, seine unerschütterliche Loyalität und enge Freundschaft, diesen 'wandelnden Explosionsherd' mit einer 'kontrollierten Sprengung' zu entschärfen. Ryuuji wollte damals, ob es ihm bewusst war oder nicht, diesen aufgestauten Hass loswerden. Doch dieses Mal war Kenji ratlos. Es lag ihm fern, auf diese rohe, ungestüme, beinahe mörderische Art einen anderen Menschen zu begehren. Das hatte nichts mit Zuneigung oder Liebe zu tun, zumindest nicht nach Ryuujis Schilderung. Andererseits, darauf hoffte er zumindest inständig, hatte Ryuuji von sich selbst oftmals eine vernichtende Meinung. Mochte es ihm auch zupass kommen, dass er Gorou hierher evakuiert hatte, so gestattete es dem Jugendlichen doch, ein neues Leben anzufangen. Langsam rückte er von Ryuuji ab, legte die großen Hände auf dessen Schultern. "Ich möchte, dass du nach Hause fährst." Er fixierte die schwarzen Augen, die trübe blickten. "Setz dich vor deinen Rechner und mach dich endlich an die Arbeit." "Toll, ist das deine Lösung?" Schnaubte sein Cousin, aber es war mehr eine Pose als ernstlicher Hohn. "Nein." Widersprach Kenji bedächtig. "Es wird DEINE Lösung sein. Hör auf, wegzulaufen und Ausflüchte zu suchen. Schreib deine Geschichte." Unerwartet für sie beide beugte er sich vor und küsste Ryuuji sehr sanft auf die sorgenumwölkte Stirn. "Fahr vorsichtig, Ryuu." Dann machte er kehrt, um im Krankenhaus nach seinem Lehrling zu sehen. ~+~ Gorou war zu schwach, um sich schuldig dafür zu fühlen, dass er sich auf Kenjis Arm stützte, wie ein Kind beim Vater Schutz suchte. Ihn elendete der Gedanke an die Kosten, die er verursacht hatte, von der Aufregung ganz zu schweigen. Außerdem plagte ihn eine latente Übelkeit, eine Folge der Gehirnerschütterung. "Es tut mir sehr leid, Meister." Murmelte er, als er endlich mit Kenjis tatkräftiger Unterstützung im Transporter angegurtet war. "Ich werde die Schulden abarbeiten..." "Lehrling." "...Meister?" "Sendepause." Kenji startete den Motor, ignorierte den hängenden Kopf und lenkte seinen Wagen auf die Straße. "Jetzt lausche mir mal aufmerksam, Gorou: es gibt keinen Grund, dass du dich entschuldigst. So ein Unfall passiert jedem mal. Hauptsache ist doch, dass du dich jetzt schonst, damit es dir wieder besser geht." "Jawohl, Meister." Piepste Gorou kleinlaut. "Sag mir, wenn ich anhalten soll, ja? Wenn einem der Kopf weh tut, dann wird einem auch schnell übel." "Danke schön, Meister." "Da nicht für." Stellte Kenji energisch fest, wandte kurz den Kopf zu seinem Beifahrer. "Du gehörst zur Familie, verstanden?!" Er schob es auf die Gehirnerschütterung, dass Gorou neben ihm leise weinte. ~+~ Eine weitere Überraschung erwartete Kenji, als er seine Bäckerei ansteuerte. Nun, da er Gorou sicher auf seinem Futon wusste, gut gepolstert, mit dem Mobiltelefon, viel Flüssigkeit und einem weichen Tuch über den Augen ausgerüstet, musste er sich den Konsequenzen stellen, die sein fluchtartiger Aufbruch mit sich brachte. Doch statt einer hastig verschlossenen Tür, dem deprimierenden Geruch von verbrannten Backwaren und wütender Kundschaft erwartete ihn Youji strahlend, der sich als Stellvertreter gerierte. "Na, was machst du denn hier?" Erfreut hob Kenji den Grundschüler auf einen Arm. "Bist du durchs Schlüsselloch gekrochen?" "Nein." Youji umhalste den Bäcker kichernd. "Ich wollte ein bisschen helfen, weil Eri geputzt hat." Er seufzte geplagt. "Da fliegt immer die Sicherung raus, deshalb darf ich den Computer nicht anschalten." "So, so." Kommentierte Kenji und betrat seine Backstube. Irgend jemand hatte die Fuhre versengter Backwaren entfernt, bevor ein Alarm ausgelöst werden konnte. "Du hast doch aber nicht den Ofen aufgemacht, oder?" Erkundigte er sich besorgt. "Nö." Versicherte Youji treuherzig. "Als du so schnell weggefahren bist, bin ich zu Eri gelaufen. Sie hat den Schlüssel mitgebracht. Wir haben sogar den Landgasthof schon beliefert!" Verkündete er stolz. "Das ist wunderbar! Vielen Dank!" Kenji knuddelte Youji so bärig, dass der protestierte, er werde gleich zerquetscht. "Ist Gorou noch nicht wieder zurück?" Erkundigte er sich arglos. "Eigentlich wollte ich mit ihm spielen. Aber jetzt ist es ja schon spät." In der Tat, Eris Bar würde in Kürze öffnen! Und er hatte noch Vorbereitungen für morgen zu treffen, der Junge musste ins Bett gebracht werden und und und...! "Hör mal." Kenji setzte Youji auf der Arbeitsfläche ab. "Kannst du mir ein wenig zur Hand gehen? Ich könnte wirklich deine Hilfe gebrauchen." Youji krempelte demonstrativ die Ärmel hoch, entblößte dünne Ärmchen. "Ich möchte aber auch eine Schürze und ein Kopftuch tragen!" Verkündete er seine Bedingungen. "Kommt sofort!" Kenji lächelte und fasste neuen Mut. Es würde sich bestimmt auch ein passender Moment ergeben, wo er von Gorous Unfall berichten konnte, ohne Youji zu verstören. ~+~ Eri blickte zwischen ihren beiden 'Männern' hin und her. Kenji wirkte ungewohnt zerknirscht, Youji so dickköpfig, dass Eri darin seine leibliche Mutter erkannte. "Also gut." Gab sie schließlich nach. "Du darfst bei Kenji übernachten, aber du versprichst mir, dass du Rücksicht auf Gorou nimmst." "Selbstverständlich!" Beteuerte Youji im Brustton der Überzeugung. Er spekulierte darauf, dass Gorou sich für treue Fürsorge erkenntlich zeigen würde. Zum Beispiel, indem er die genähte Platzwunde zur Ansicht freigab! "Dann gehen wir besser mal." Kenji klemmte sich Youji unter den Arm, der sich baumeln ließ. Es waren zwar nur eine Handvoll Stammgäste anwesend, aber er wollte Eri nicht das Geschäft verderben. Sie lebte schließlich auch von der Illusion, ihre Kunden für wenige Stunden in eine andere Welt zu geleiten, sie zu unterhalten und zu zerstreuen. Kind und Kegel wirkten da deplatziert. Im Türrahmen fasste sie seine freie Hand, drückte sie fest. "Das kommt wieder in Ordnung." Kenji gestattete sich ein verlegenes Lächeln im schwachen Schein des abnehmenden Mondes. "Ohne dich wird es nicht gelingen." Eri zwinkerte kokett. "Dann werde ich da sein." Bevor der Bäcker der Versuchung nachgeben konnte, seine Liebste zu küssen, zappelte das 'umgekehrte' Faultier in seinem anderen Arm. "Wenn wir endlich zusammenwohnen, muss ich meinen Pyjama nicht mehr extra abholen!" Die Erwachsenen lachten, ein wenig verschämt, doch Youji hatte recht: auch sie planten ungeduldig ein gemeinsames Leben. ~+~ Kapitel 16 - Eine verrückte Familie Als Gorou erwachte, dem seltsamen Schwebezustand zwischen orientierungslosem Dösen und tiefschwarz-besinnungslosen Schlaf entwischt, hatte der Morgen sich bereits ordentlich ins Zeug gelegt. Die Frühlingssonne bescherte den Schülern einen Urlaubstag, der vor die Tür lockte und den drohenden Beginn des neuen Schuljahres in weite Ferne rücken ließ. "Ist dir schlecht?" Erkundigte sich eine äußerst muntere Stimme neben ihm und zwang Gorou, die Lider zu heben. Über ihm äugte Youji interessiert, ein freches Grinsen auf den Lippen. "Wenn mir schlecht ist, muss ich Brühe mit viel Ingwer trinken." Verkündete er. Alarmiert murmelte Gorou heiser. "Mir geht's schon wieder besser." "Komisch." Der Grundschüler zog die Nase kraus. "Bei mir wirkt das auch SOFORT." Unwillkürlich musste Gorou grinsen. Vorsichtig stemmte er sich auf die Ellenbogen und überzeugte sich davon, dass er sich tatsächlich in Kenjis Haus in seinem Zimmer befand. "Du hast ganz schön lange geschlafen." Youji wirkte unternehmungslustig. "Aber ich habe Kenji versprochen, dass ich dich nicht störe." "Danke schön." Krächzte Gorou und befand, dass die Kopfschmerzen erträglich genug waren, um sich bis in die Küche zu schleppen. "Ich habe gestern noch geholfen, deshalb haben wir auch Frühstück." Youji zupfte unaufgefordert Gorous Decke herunter, rollte sie sorgsam zusammen. "Das, was nicht so gelungen ist, hat mir Kenji eingepackt." Er seufzte profund. "Ich glaube, mir fehlt das Talent, um als Bäcker zu arbeiten." Gorou lächelte, so viel Ernst lag in Youjis Feststellung. "Das macht die Übung." Redete er ihm gut zu. "Ich habe auch noch jede Menge zu lernen." "Ja, ich weiß, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen." Youji schmollte. "Aber ärgerlich ist es doch! Wo ich mir so viel Mühe gegeben habe!" Gorou gab sich ebenfalls Mühe, nämlich auf die Beine zu kommen, tapfer gegen den leichten Schwindel anzuschlucken und nicht merklich zu würgen, weil die Galle seine Kehle verätzte. "Ich habe eine große Kanne Tee gemacht." Youji studierte Gorou kritisch. "Aber vielleicht solltest du sie mit Kopfschmerztabletten kombinieren." "Gute Idee!" Gurgelte Gorou erstickt und ermahnte sich selbst, AUF GAR KEINEN Fall an Erbrechen zu denken. Dreckig genug ging es ihm ja bereits. So konnte er doch nicht umhin, sich von Youji umsichtig ins Erdgeschoss geleiten zu lassen, wo er auf den Dreisitzer platziert und mit Tee bewirtet wurde. "Die Tabletten habe ich in der Tasche!" Wie es sich für einen guten Expeditionsleiter gehörte, produzierte er eine kleine Schachtel und überreichte sie wie den Heiligen Gral. Nicht völlig aus der Luft gegriffen, denn Gorou merkte nun vermehrt, dass er seinem armen Schädel zu viel zugemutet hatte. Außerdem meldeten sich nun auch treuherzig alle anderen Prellungen und Schürfwunden zur Stelle. Ganz zu schweigen von der Platzwunde, die unter einem großen Pflasterpolster dezent pochte! »Essen!« Mischte sich sein Magen in den Klagechor der Befindlichkeiten. "Hast du Hunger?" An Youjis kritischem Blick konnte er erkennen, dass er mindestens so aussah, wie er sich fühlte: arg bescheiden. Statt einer Antwort nickte er und ertränkte den Beschwerde führenden Magen mit Tee, munter zwei Tabletten im Gefolge, die auf diese Weise getarnt an die Arbeit gehen konnten. Als ihm Youji die Ergebnisse seiner Produktivität in der Backstube präsentierte, fand Gorou sie gar nicht mal so schlecht gelungen. Schließlich konnte niemand von einem so zierlichen Grundschüler erwarten, dass er perfekte Brezel-Schleifen legte! Oder mit dem richtigen Schwung dem Teig zusetzte, der dann in die Formen eingepasst werden musste. Während er kaute und die einsetzenden Schmerzen verwünschte, sondierte Gorou die Lage. Wieder einmal hatte er seinen Meister im Stich gelassen, was ihn beschämte. Ohne den Großmut des Bäckers hätte er keine Chance gehabt, auch nur einen Tag auf sich selbst gestellt hier zu bestehen. "Hör mal." Youji knabberte aus Sympathie ebenfalls an einer windschiefen Brezel. "Hättest du was dagegen, wenn wir Brüder wären?" Gorou verschluckte sich am Tee und hustete, perplex. "Also, du gehörst doch zu Kenji und ich zu Eri." Youji sah sich gezwungen, ein wenig weiter auszuholen und auszusprechen, was hinter seinen schwarzen Augen rotierte. "Ich möchte gern hierherziehen und Kenji will Eri bestimmt heiraten. Daher sollten wir besser Brüder werden, meinst du nicht?" Bevor Gorou noch etwas antworten konnte, schränkte Youji die 'neue Verwandtschaft' aber strikt ein. "Allerdings will ich nicht herumgeschubst und schikaniert werden. Dafür verstecke ich auch nicht deine Pornohefte oder tausche dein Rasier- mit deinem Haargel. Oder so." An Gorous fassungslosem Gesichtsausdruck konnte er ermessen, dass sein Vortrag nicht ganz den gewünschten Erfolg zeitigte. "Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was man so als jüngerer Bruder tut." Bekannte er pragmatisch. "Ich höre bloß immer, was die anderen so erzählen. Ich habe mich nämlich vorher eigentlich nie für Geschwister interessiert." Vertraute er Gorou an, schenkte ihm noch mal Tee nach, erhitzte dann Wasser für eine neue Ladung. "Hast du Geschwister?" Erkundigte er sich laut über die Distanz. "Nein." Gab Gorou leise zurück. Er wollte nicht an so etwas denken. Oder an sie. Elend genug war ihm schließlich schon! Youji sackte wieder neben ihm auf den Dreisitzer, eine zierliche Gestalt mit dichtem Stachelputz. "Ein Kind zu sein ist manchmal ganz schön deprimierend!" Stellte er missmutig fest. "Ganz gleich, wie sehr man sich anstrengt, es reicht einfach nicht." Gorou wandte sich dem Grundschüler zu, registrierte in den feinen Zügen die Ähnlichkeit mit Eri. Ein anderer hätte wohl altklug und naseweis gewirkt, doch Youji machte einen reifen Eindruck, der nicht zu seinem Alter passen wollte. "Wir waren immer zu zweit, Eri und ich." Erklärte er Gorou mit einem schiefen Grinsen. "Ich weiß nicht, ob sie niemanden um sich haben wollte oder meinetwegen verzichtet hat. Aber zehn Jahre sind eine lange Zeit, ganz allein." Er bot Gorou wieder das Profil, zuckte mit den schmalen Schultern. "Ich habe keine Ahnung, wie es ist, eine Familie zu sein." Er schnaubte leise. "Natürlich sind da theoretisch noch meine Mutter und Eris Eltern." Die er nicht Großeltern nannte! "Aber das ist bloß Blutsverwandtschaft. Ich hätte lieber eine Familie, die zusammenhält, die man sich aussuchen kann. Und du?" Nun war es an Gorou, unbehaglich mit den Schultern zu zucken. "Ich weiß auch nicht, wie eine richtige Familie lebt." Bekannte er gepresst. Er wollte auch wirklich nicht darüber nachdenken. "Dann machen wir einfach unser eigenes Ding!" Youji streckte Gorou zur Vereinbarung den kleinen Finger hin. "Weißt du, was am Besten sein wird?" Sein schelmisches Grinsen erleuchtete das gesamte Gesicht. Er beugte sich vertraulich zu Gorou vor, der ergeben seinen kleinen Finger in Youjis einhängte. "Wenn Eri und Kenji heiraten, dürfen wir Ryuuji 'Onkel' nennen!" Diese Vorstellung entlockte auch Gorou ein boshaftes Kichern. Er betrachtete Youji einen Augenblick, dann hob er die freie Hand und strubbelte die schwarzen Igelstacheln. "Abgemacht. Und, kleiner Bruder, was hältst von einem kleinen Spaziergang? Ich brauche ein bisschen frische Luft für meinen Brummschädel!" Youji feixte. "Vielleicht sollte ich als Bruder pflichtbewusst laut mit den Türen schlagen und herumtoben?" "Untersteh dich!" Drohte Gorou grinsend. "Sonst lass ich dich nicht in meine Pornosammlung gucken, wenn ich jemals eine haben sollte!" "Na, klappt doch prima!" Stellte Youji befriedigt fest und federte munter auf die Beine. "Während du jetzt duschst, tausche ich schon mal deine Zahncreme gegen den Rasierschaum!" Mit dieser Ankündigung wirkte er so zufrieden, dass Gorou sicher war, 'sein kleiner Bruder' sei auch lange genug allein gewesen. ~+~ Als Kenji kurz nach Mittag eintraf, um den beiden 'Brüdern' das Essen zu bringen, traf er sie vor dem Haus an, wo sie mit improvisierten Papierfliegern ihren Spaß hatten. Nicht zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass Youji ausgenommen von Batou lange keinen Freund gehabt hatte. Es war ebenfalls gut, den blassen Gorou wieder lachen zu sehen. "Was macht der Brummschädel?" Erkundigte er sich fürsorglich und steckte seinem Lehrling beiläufig eine Schachtel mit Kopfschmerztabletten zu, die man lutschen konnte. Gorou grinste schief. "Es geht schon. Soll ich nicht doch besser in der Backstube helfen?" "Das fehlt gerade noch!" Schnaubte der Bäcker empört. "Traust du deinem eigenen Meister nicht zu, dass er mal ein paar Tage ohne Hilfe aushalten kann?" Der Jugendliche blinzelte, und Kenji erkannte seufzend, dass Gorou noch immer Probleme damit hatte, einen Scherz als solchen zu erkennen. War der es denn gewöhnt, dass man ihm solche Vorhaltungen machte? Die delikate Situation wurde von Youji entschärft, der darauf bestand, dass Kenji ihn mitnahm, wenn man die Fäden aus Gorous Platzwunde entfernte. Aus rein wissenschaftlichem Interesse selbstredend! Prompt pflückte Kenji den Grundschüler vom Boden und wirbelte ihn wild durch die Luft. Manchmal kam es ihm seltsam vor, einen Zehnjährigen so leicht anheben und tragen zu können. Das konnte jedoch auch daran liegen, wie er sich eingestand, dass er selbst in dem Alter nichts von Youjis zuversichtlich-munterer Ernsthaftigkeit an sich gehabt hatte. Er war nichts weiter gewesen als ein zu großer, kräftiger Junge mit ausdruckslosem Blick, der wenig sprach und viel arbeitete, um seine Ruhe zu haben, einer, der allein war unter vielen Menschen, sich jedoch nicht den Luxus gestattete, seine Lage zu analysieren. Alles andere hatte immer und grundsätzlich Vorrang. »Vielleicht bin ich im Weglaufen gar nicht mal so viel schlechter als Ryuu.« "Hör mal, Kenji!" Youji setzte seinen Papierflieger ab und flitzte ins Haus, um mit einem Block zurückzukehren, den er eifrig aufblätterte. "Ich habe mir schon Gedanken gemacht, wegen des Umzugs! Wir müssen doch bald hier einziehen, richtig?" "Wieso das denn?" Erkundigte sich Kenji durchaus verblüfft. Die Absprache war ihm nicht bekannt. "Erstens fliegt ständig die Sicherung heraus." Youji demonstrierte angestrengt Geduld. "Und zweitens ist das Haus eine Bruchbude. Vor allem aber sollte ein Paar zusammen wohnen, sonst wäre es ja kein Paar." Eine gewisse Logik konnte der Bäcker dem Jungen nicht absprechen, wiegelte aber vorsichtig ab. "Ich glaube, wir sollten nichts überstürzen. So einfach geht das auch gar nicht, Ummeldungen und Verträge müssen erst mal gesichtet werden..." Doch Youji unterbrach ihn aufgeregt. "Aber ich möchte so schnell wie möglich mit dir und Gorou zusammenleben! Die Ferien sind bald vorbei, und dann sehen wir uns ja kaum noch! Du und Eri arbeiten ständig, da haben wir ja nie gemeinsam Zeit!" Sein Ausruf gipfelte in einem wütenden Appell, erschreckte ihn in der Vehemenz selbst. An Gorous bangem Gesicht erkannte er, dass er vermutlich zu weit gegangen war. 'Ungezogen', kein Wunder, bei DIESER Person als Elternteil! Kenji registrierte ebenfalls, wie Youji blass wurde und offenkundig im Begriff war, sich für seinen Ausbruch zu entschuldigen. "He!" Er ging in die Knie und hob Youji mühelos auf seinen Arm, setzte ihn auf der Hüfte ab. "Sei nicht böse auf uns, ja? Wir sind schon etwas älter und brauchen einfach ein bisschen mehr Zeit." Er zwinkerte dem Jungen neckend zu. "Auch Zusammensein muss man erst lernen." "Aber..." Youji schluckte schwer, vermutete, er habe Anlass dazu gegeben, dass es sich der Bäcker noch mal überlegte. "Aber du magst Eri doch noch, oder? Du hast uns doch noch gern, nicht wahr?" "Natürlich!" Bestürzt von dem ängstlichen Flehen schlang Kenji den Arm eng um Youji, drückte ihn an sich. "Daran wird sich nie etwas ändern. Wir gehören zusammen, das weißt du doch!" Die dünnen Arme, die sich um seinen Nacken klammerten, verkündeten eine andere Sprache: Youji fürchtete, dass ER ein Hindernis in der Beziehung der beiden sein würde! "Youji." Kenji raunte sanft in ein kleines Ohr, das so sehr dem seiner Liebsten ähnelte. "Mach dir keine Sorgen, ja? Wir werden zusammenziehen und hier viel Zeit gemeinsam haben. Als Familie. Fest versprochen." "Und wird nicht gebrochen?" Youji blinzelte einen feuchten Tränenfilm weg, blickte halb trotzig, halb hoffnungsvoll in Kenjis offenes Gesicht. "Ganz sicher nicht!" Der Bäcker setzte den Grundschüler ab und streckte ihm feierlich die Hand hin. "Besiegelt per Handschlag!" Er schüttelte Youjis kleine Hand so vehement, dass der ganze schmächtige Körper erbebte, doch das lockerte auch die angespannte Atmosphäre. "Wisst ihr was?" Kenji legte den Arm um Youjis Schultern. "Wir nehmen uns den Sonntag frei! Und fahren alle vier in einen Vergnügungspark!" "Wirklich? Wirklich?!" Youji staunte zu Kenji hoch, hopste dann aufgeregt auf und nieder. "Oh toll! Super! Ich war schon Ewigkeiten nicht mehr da!" Gorou dagegen zögerte. "Soll ich nicht lieber arbeiten? Weil ich doch schon ausgefallen bin...?" Erkundigte er sich unbehaglich. "Unsinn!" Kenji packte Youji an einem Arm und einem Fußgelenk, wirbelte ihn im Kreis herum, bis der Junge vor Vergnügen kreischte. "Du gehörst zur Familie! Wir machen am Sonntag unseren ersten gemeinsamen Familienausflug!" Die Diskussion war damit beendet. ~+~ Die Aussicht auf den Ausflug sorgte dafür, dass Youji ohne großes Klagen Eris Aufforderung Folge leistete, nicht mehr bei Gorou zu schlafen, sondern wieder im eigenen Bett zu Hause. Gorou erhielt die Erlaubnis, wieder in der Backstube auszuhelfen. Aber Kenji achtete streng darauf, dass sein lädierte Lehrling sich nicht übernahm, immer wieder an die frische Frühlingsluft ging und seine Verletzungen auskurierte. Sie nutzten die ersten Sonnenstrahlen mit richtiger Kraft, um ein ausrangiertes Fahrrad aus Kenjis Freiluft-Garage wieder in Gang zu setzen, damit Gorou auch allein Auslieferungen in der näheren Umgebung tätigen konnte. So fuhr er am Samstagabend auf Kenjis strikte Order hin bereits frühzeitig in dessen Haus, während sich sein Meister noch mit Eri treffen wollte, um die Details für den nächsten Tag abzusprechen, dabei Youjis begeisterten Überschwang in kontrollierte Bahnen zu lenken. Gerade hatte er den Tisch im Wohn-Esszimmer gedeckt und die Waschmaschine in Gang gesetzt, da hörte er das charakteristische, sonore Brummen des schweren Motorrads. Wie vom Blitz getroffen erstarrte er mitten im Zimmer, stierte gebannt auf die Eingangstür. Was tun?! Ryuuji ließ sich selbst hinein, erblickte Gorou, der steif und bang wie angewurzelt stand. "Keine Angst." Knurrte er brummig. "Ich werde dich nicht anrühren!" Das stimmte, denn als Ersatz schleuderte er mit verblüffender Präzision einen prall gefüllten Seesack zu Gorou, der unter dem Einschlag taumelte, aber den Ballast nicht fallen ließ. "Kleider. Trag sie!" Fauchte Ryuuji finster, von einem ungepflegten Dreitagebart in Schurkenmanier unterstützt. "Ach, und sag Kenji, dass ich schreibe." Damit machte er kehrt, schlug die Schiebetür wieder fest ins Schloss, bevor Augenblicke später die Harley Davidson ihr unvergleichliches Lied röhrte. Langsam gaben Gorous Arme nach, lösten die Umklammerung des Seesacks, hinter dem er sich ängstlich versteckt hatte. Behutsam öffnete er die verstärkte Tasche, blickte hinein. Warum war Ryuuji bloß gleichzeitig grausam und fürsorglich zu ihm?! Als Kenji eintraf, fand er Gorou auf seinem Dreisitzer, ratlos und verunsichert, den Seesack neben sich abgestellt. Er begriff die Botschaft, die ihm Gorou stockend ausrichtete, drückte dann sanft die hochgezogenen Schultern seines Lehrlings herunter. "Keine Angst." Versicherte er beruhigend. "Alles in Ordnung." Zumindest so lange, wie sich Ryuuji an den Computer kettete. ~+~ Am nächsten Tag hieß es für die kleine Familie, sich morgens zum Bus aufzumachen, damit sie per Zug dann den Vergnügungspark erreichen konnten, denn im Transporter war nicht genug Platz. Aber auch ohne die Bequemlichkeit und trotz der frühen Stunde, zumindest für Eri, waren sie fröhlich gestimmt, erweckten damit das Interesse der Mitfahrenden, die sich über die muntere Familienbande wunderten. Waren die Eltern nicht ein wenig jung? Und der Junge mit dem Piratenkopftuch, sah er nicht ein bisschen blass aus, ein wenig leidend? Gorou ging es entgegen dem äußeren Anschein aber gut, auch wenn er Mühe hatte, sich in dieser fremden Situation zurechtzufinden. Alle waren so unbekümmert! Youji zupfte ständig an seiner Jacke, um ihn auf etwas hinzuweisen. Eri erkundigte sich wiederholt, ob er sich wohl genug fühle oder lieber etwas trinken wolle. So eine Idylle kannte er lediglich aus Filmen. Gab es tatsächlich im richtigen Leben auch so eine herzliche, warme Atmosphäre unter Familienmitgliedern? Er war dankbar dafür, dass sich Youji generös an ihn hängte und auf ihn einplauderte, ohne Antworten zu erwarten. Der Grundschüler hingegen sah es als seine Aufgabe an, seinen großen Bruder ordnungsgemäß auf das zu erwartende Vergnügen vorzubereiten. Es erschien ihm glattweg seltsam, dass jemand aus der Hauptstadt noch nie einen Vergnügungspark besucht hatte! Allerdings, das gestand er sich ein, es gab da vieles, dass er von Gorou noch nicht wusste. "Teilen wir uns auf!" Plädierte er angesichts der Warteschlangen. "Geht ihr doch in die Grotte, wir nehmen den Expressaufzug!" Damit fasste er Gorou bei der Hand und steuerte sie zielsicher auf eine der Attraktionen zu. In einer kreisrunden Gondel angegurtet wurden die Wagemutigen mit großer Beschleunigung in die Höhe katapultiert und stürzten dann an der Säule wieder entsprechend in die Tiefe. Ihm erschien es ein herrlicher, nervenkitzelnder Spaß, doch Gorou umklammerte die Sicherungsbügel mit totenbleichem Gesicht. "Hier." Youji streckte seine Hand aus, übertönte die Kakophonie der schrillen Alarm- und Anlocksignale. Gorou nickte abgehackt, nahm die kleine Hand in seine schweißnasse. Das Herz raste ihm und er fürchtete, sich übergeben zu müssen. Da glaubte er plötzlich Ryuujis spöttisch-dunkle Stimme zu hören, die aufreizend raunte. "Schließe die Augen und genieße es einfach!" Tapfer senkte Gorou die Lider, spürte die Beschleunigung selbstredend am frischen Wind, am Sog, den die Beschleunigung erzeugte, doch auch der unerträgliche Spannungsmoment, bevor der freie Fall einsetzte, ließ sich auf diese Weise aushalten. "Das war toll!" Youji strahlte ihn auf wackligen Beinen aber mit geröteten Wangen begeistert an. "Du warst so mutig! Wenn ich gewusst hätte, dass du Höhenangst hast, hätte ich das nicht vorgeschlagen!" Der Jugendliche blickte in das offene Jungengesicht und staunte. Weil Youji sich so um ihn sorgte, weil es ihm gleichgültig war, ob man sie sah, zwei 'große Jungs', die einander an den Händen hielten. "Danke schön." Antwortete er laut, beugte sich hinab, um Youji zu knuddeln. "Ohne dich hätte ich es bestimmt nicht gewagt." So aber hatte er für sich einen Beweis errungen, dass er auch unüberwindbar geglaubte Hindernisse bewältigen konnte. "Kannst du Eri und Kenji sehen?" Erkundigte sich Youji. "Sind sie schon aus der Grotte raus?" Er hatte gehofft, dass die beiden die romantische Atmosphäre nutzen konnten, sich näher zu kommen, verliebt zu sein. Gorou stellte Youji auf einen der liebevoll gestalteten Müllcontainer, hob ihn dann auf seine Schultern. "Siehst DU was?" Erkundigte er sich schmunzelnd, denn auf diese Weise konnten sie die wimmelnde Menschenmenge überblicken. "Da vorne!" Youji ruderte mit den Armen wie ein Signalgeber. "Geradeaus und dann zu der Bude mit der Zuckerwatte!" Artig schlängelte sich Gorou mit seinem Passagier durch die Vergnügungswilligen, ließ sich dann aber von Kenji widerspruchslos den 'Affen' abpflücken. Youji verzichtete auf Proteste, denn man saß recht bequem auf Kenjis Hüfte und konnte ungehindert von der bunt gefärbten Zuckerwatte naschen. Eri lachte, drückte Gorou eine Zuckerwaffel in die Hand und hängte sich bei ihm unter, damit sie dem Hünen mit ihrem Sohn folgen konnten. Sie liebte den Anblick der beiden, die wie Vater und Sohn vertraut wirkten, das stolze Strahlen auf Youjis Gesicht. "War es sehr schlimm auf diesem Aufzugding?" Erkundigte sie sich mitfühlend bei Gorou, dem offenkundig entging, dass man sie ungeniert anstarrte. "Zum Aushalten." Gab er verlegen zurück. "Eigentlich habe ich Angst vor großen Höhen." "Das kann ich gut verstehen." Eri nickte. "Stell dir vor, ICH habe Angst vor zu großer Enge. Ich bin mal in eine Röhre hineingeklettert, da wäre ich fast gestorben, wenn meine Kollegen mich nicht herausgezogen hätten! Ich war stocksteif!" Sie hielt inne, um ihm anschaulich zu demonstrieren, wie sie damals grimassiert hatte. "Nicht mal den kleinen Finger hätte ich rühren können!" Gorou lachte, durchaus die beabsichtigte Reaktion, sah sich dann nach ihren beiden Pfadfindern um, die ausgekundschaftet hatten, dass gerade keine lange Schlange vor dem Riesenrad wartete. Auch wenn das Rad gewaltige Dimensionen hatte, die kleinen, geschlossenen Gondeln trugen lediglich zwei Personen. Selbstverständlich DAS Paradies der Pärchen! Youji bestand sofort darauf, dass Eri mit Kenji in die Gondel kletterte, während er sich ein weiteres Gefährt mit Gorou teilte, auch aus Gründen der Gewichtsverteilung nur vernünftig, wie er betonte. "Fein." Erklärte er Gorou aufgekratzt, der den langsamen Anstieg und die ungewohnte Ruhe hoch über dem Trubel mit der Jahrmarktskakophonie genoss. "Läuft es nicht prima zwischen den beiden?" "Sehr geschickt machst du das." Lobte der Jugendliche artig, lächelte auf den zufriedenen Grundschüler herunter. "Sag mal, wirst du wirklich bleiben?" Youji legte den Kopf schief, zog die Nase ein wenig kraus. "Oder holen sie dich wieder zurück?" "Wer soll mich holen?" Platzte es erschrocken aus Gorou heraus. Doch nicht etwa die Yakuza?! Jagte man ihn noch immer? "Na, deine Eltern." Youji rutschte unruhig auf dem Sitzpolster herum, starrte geradeaus. "...oh..." Murmelte Gorou und verstummte. Der Gedanke war ihm bisher noch gar nicht gekommen. "Nein." Zwang er sich zu einem Lächeln. "Nein, mich wird niemand holen." Youji musterte ihn von der Seite, dann setzte er sich gerade hin und stellte das nervöse Zappeln ein. "Gut. Ich will nicht, dass du weggehst. Du passt sehr gut zu uns." Er räusperte sich verlegen. "Wenn du eine Freundin hast, musst du auch nicht weggehen, denn ich werde dir bestimmt nicht auf die Nerven fallen. Bei uns ist es schön, besser als in der Stadt!" Sein Plädoyer klang recht schrill aus, so, als wisse er sehr wohl, dass es kaum möglich war, die Hauptstadt auszustechen. "Ich gehe nicht weg." Versicherte Gorou eilig. "Ich mag es hier, wirklich!" Für einen langen, sehr traurigen Moment fühlte er sich wie Youji, der so verzweifelt versuchte, sich eine Familie zu schaffen und sie zusammenzuhalten. Was hatte er sich damals gewünscht? Ohne zu zögern hob er Youji auf seinen Schoß und umarmte ihn eng, streichelte über den Hinterkopf mit den weichen Igelstacheln. "Ich gehe schon nicht weg." Wiederholte er, doch er wusste, dass allein seine Nähe die Antwort war. Wie sehr hatte er damals gehofft, sie hätte ihn in den Arm genommen, seine Ängste vertrieben, ihm versprochen, dass alles gut werde. "Hör mal, wollen wir danach ins Gruselkabinett gehen?" Wisperte er Youji ins Ohr. "Mit der Geisterbahn?" "Oh ja!" Youji strahlte. "Glaubst du, sie haben auch richtige Zombies da? Denen die Glieder abfallen?!" Gorou war zwar auf diesem Gebiet nicht bewandert, doch das spielte keine Rolle. "Schauen wir es uns einfach an!" ~+~ Irgendwann, sie wusste es gar nicht zu sagen, hatten sich ihre Finger mit Kenjis verflochten. Seine Hand war so vertraut warm und groß, nicht grob, aber auch nicht leichtsinnig geöffnet, sodass sie einander entgleiten konnten. Wie immer bahnte sich Kenji entweder den Weg oder spielte den Prellbock hinter ihr, verhinderte in der Menge lästige Grapschereien. Sie mussten gar nicht sprechen, Blicke genügten. »Ich bin so froh. So unglaublich froh!« Summte es verliebt in ihrem Kopf, füllte ihn mit süßen Honig der Glückseligkeit wie einen Bienenkorb. Beinahe meinte sie, sogar schweben zu können, als hätte selbst die Schwerkraft ein Einsehen. »Tanzen.« Dachte sie. »Tanzen müsste man jetzt!« Allein das Kreiseln in den kraftvollen Armen könnte verhindern, dass sie vor Freude zerspringen würde. Kenji hielt an ihrer Seite auf ein langgestrecktes Gebäude zu, einen Saloon im Western-Stil von Hollywood, allerdings ohne die zahlreichen Tische und Stühle. Gerade lief ein Squaredance mit Animatoren und er dirigierte tollkühn Eri vor sich her. JETZT würde sich zeigen, ob das, was er sich von Gorou heimlich in der Backstube abgeschaut hatte, auch funktionierte! Die einfachen Schrittfolgen wurden angesagt, der Takt der Musik half auch und schon drehte er sich, hopste ein wenig unbeholfen mit Eri über die Tanzfläche. Doch hier war keine Präzision gefragt, die Hauptsache bestand darin, dass die Pärchen ihre Scheu verloren, sich auf die Bohlen wagten und dann ihren Spaß hatten. Er wusste, dass er einen guten Eindruck gemacht hatte, als Eri ihm stürmisch um den Hals fiel und sich im Kreis wirbeln ließ, übersprudelnd von ihrem perlenden, ein wenig rauen Lachen. ~+~ "Sie sind ja noch gar nicht da!" Wunderte sich Youji, zupfte Gorou am Ärmel. In der Tat, am verabredeten Treffpunkt bei einem Familienrestaurant mit Sommergarten, der nun dank der milden Witterung schon geöffnet war, fanden sie sich allein unter zahlreichen Gästen. "Nun, dann lass uns doch einfach schon etwas essen, ja?" Gorou blickte sich ebenfalls suchend um. "Was möchtest du denn haben?" Youji zog die Stirn in Denkerfalten, bevor er sich für gegrillte Hähnchenstücke entschied. Gorou bevorzugte aus Gewohnheit eine vegetarische Variante, platzierte den Grundschüler auf einer Bank-Tisch-Kombination am Rand der Freifläche, bevor er sich ins Getümmel an die Schalter stürzte. Mit den Beinen baumelnd wartete Youji artig auf Gorous Rückkehr, ein wenig müde von den vielen Attraktionen, aber der Nachmittag neigte sich ohnehin dem Abend zu und bald musste die Rückreise angetreten werden. Am nächsten Tag dann hätte er aber viel zu erzählen von seinen Ferien, keine Frage, doch das erschien ihm plötzlich gar nicht mehr so wichtig. Bedeutsam war, dass er mit seiner neuen Familie gemeinsam etwas erlebt hatte. Ob ihm das nun die temporäre Aufmerksamkeit seiner Klassenkameraden sicherte oder nicht! Erwartungsvoll winkte er Gorou entgegen, der sich durch die Menge schlängelte, dabei ihre Speisen balancierte. "Wir können auch tauschen, wenn du magst." Bot er großzügig an, was Youji gern in Anspruch nahm. Im Gegensatz zu Gorou entging ihm aber nicht, dass eine Gruppe von Mädchen seinen neuen Bruder interessiert beäugte, tuschelte. Und wie aufgedreht kicherte. "Gorou." Er beugte sich vertraulich herüber. "Ich glaube, die da haben's auf dich abgesehen!" Sein Hinweis löste jedoch kein freudiges Strahlen aus, vielmehr verlor Gorous Gesicht jegliche Farbe, bevor er sich geduckt umsah. Als er registrierte, dass ihm nur ein besonders vorwitziges Mädchen zuwinkte, sackten seine Schultern erleichtert herunter. Youji neben ihm musterte ihn kritisch. "Habe ich etwas Falsches gesagt?" "Nein! Nein." Gorou räusperte sich, vertrieb die Nervosität energisch. "Das war nur ein Missverständnis." Da er keine Anstalten unternahm, das 'Missverständnis' näher zu erläutern, entschied Youji, sich mit dem einzigen Zeugen der Tokioter Zeit, Ryuuji, entsprechend zu unterhalten. In welcher Art von Schwierigkeiten hatte Gorou bloß gesteckt? Er wusste nicht, wie ihm geschah, als plötzlich eine Gruppe junger Frauen an ihrem Tisch Platz nahmen, gänzlich uneingeladen, aber mit einer aufgedrehten Selbstverständlichkeit, die ihn verärgerte. Sie beachteten ihn jedoch gar nicht, sondern belagerten Gorou. Woher er komme. Ob er ein Modell sei. Ob er eine Freundin habe. Ob er nicht lieber mit ihnen losziehen wollte. Schmerzhaft erinnerte sich Youji an sein Versprechen. Musste er jetzt ganz allein auf Eri und Kenji warten? Plötzlich fühlte er sich gar nicht mehr so glücklich, zappelte unruhig auf seinem Platz, ob nicht endlich die beiden Erwachsenen kämen und verhinderten, dass Gorou ihn sitzen ließ. Gorou dagegen begriff nicht, warum er in seiner gegenwärtigen Verfassung von Mädchen angesprochen wurde. Ihre beinahe aggressive Fröhlichkeit verängstigte ihn, weil er sich keinen Reim darauf machen konnte, annahm, man könne ihn vielleicht in eine Falle locken. Beispielsweise, um den Freund eifersüchtig zu machen, der dann Geld forderte oder losprügelte. Allzu selten war er diesen Gemeinheiten nicht begegnet, doch niemals als Beteiligter. Konnte seine ungewohnte Anziehungskraft möglicherweise mit Ryuujis Kleidern zusammenhängen? Dabei waren es bloß schwarze, ausgebleichte Jeans, ein doppelreihig gestricktes Hemd mit Rundhals und das Piratenkopftuch! Der Aufzug hatte nichts gemein mit dem Auftritt, den er in Tokio gepflegt hatte. Nun zupften sie an ihm herum, wollten ihn dazu bewegen, sie zu begleiten. "Ich bin mit meinem Bruder hier." Versetzte er verschreckt. "Tut mir leid." Nun rückte Youji in den Fokus der Aufmerksamkeit, wurde für niedlich befunden, aber zu klein und überhaupt, die mangelnde Ähnlichkeit! Die kleinen Fäuste geballt wäre Youji am Liebsten weggegangen, hätte die unverschämten Mädchen sich selbst überlassen, doch der hoheitsvolle Abgang konnte nicht gelingen, wenn Gorou nicht entsprechend reagierte. "Tut mir leid." Krächzte der gerade, sammelte hastig das Einweggeschirr ein und fasste Youji an der Hand. "Wir müssen jetzt los." Sie protestierten zwar empört über diese Flucht, doch Youji revanchierte sich mit einer gebleckten Zunge. Ha! Sein Bruder hatte sich für ihn entschieden! Aber wäre Gorou denn mit ihnen gegangen, wenn er nicht gestört hätte? War es die Rücksicht, die sie verband, und nicht etwa Zuneigung? "Ich wollte dich nicht stören." Ließ er einen Testballon aufsteigen, um auszuloten, wie Gorou über die Affäre dachte. "Wie?" Ein abgelenkter Blick streifte ihn, während Gorou sich unruhig umblickte, nach Eri und Kenji Ausschau hielt. "Oh, nein, nein! Die wollten sich garantiert bloß einen Spaß erlauben. Außerdem sind wir zusammen hier." Er beugte sich herunter zu Youji. "Du denkst doch nicht, dass ich dich einfach stehen lassen würde? So was tue ich niemals!" Youji war geneigt, Ausnahmen gelten zu lassen, denn 'niemals' war eine erstaunlich lange Zeitspanne, aber ihn freute die vehemente Versicherung des Lehrlings. Er konnte ja nicht wissen, dass Gorou aus leidvoller Erfahrung sprach. ~+~ Auf der Zugfahrt zurück schlief Youji in Kenjis Arm, der nachsichtig lächelte. "Ganz schön viel Aufregung heute für das kleine Kerlchen." Bemerkte er und zwinkerte Eri zu. Die saß neben Gorou, von einen ungewohnten Strahlen erleuchtet. Sie hatte so viel gelacht, gescherzt, gekostet und getanzt, dass es ihr viel länger als einen Tag vorkam. Alle kleinen Mühseligkeiten der letzten Zeit schienen vergessen, ja, sie konnte es kaum erwarten, endlich mit Kenji unter einem Dach zu leben! So ein unerwartetes Glück durfte man einfach nicht verstreichen lassen! Gorou betrachtete aus dem Fenster die vorüberziehende Landschaft. Sie erfüllte ihn mit Melancholie und Dankbarkeit zugleich. Das Leben hier war herrlich, ohne Beispiel und er wollte nicht gehen. Andererseits wusste er, dass er ungeachtet aller Anstrengungen nicht in die kleine Familie passte. Zu viel Ballast lagerte auf seinen Schultern, zu viele finstere Geheimnisse und verborgene Ängste. Für ihn war es zu spät, ein Kind mit Eltern zu sein. Er war schlichtweg zu alt. ~+~ Die folgende Woche begann mit der gewohnten Routine, außerdem fing auch das neue Schuljahr an. Kenji bat Gorou, mittags mit dem Fahrrad ein 'Versorgungspaket' bei Ryuuji auszuliefern. Die Order lautete, mit dem Zweitschlüssel einzudringen, das Essen abzuliefern, den Schweinestall, in den Ryuuji sein Haus zu verwandeln versprach, zu ignorieren. Tatsächlich traf Gorou trotz einer gewissen Nervosität nicht auf Ryuuji, hörte aber das leise Geräusch von Computertasten im Akkord. Kenji plauderte ein wenig über die Vergangenheit, so, als wolle er für seinen jüngeren Cousin ein gutes Wort einlegen. "Als ich eine feste Stelle und ein kleines Appartement gefunden hatte, holte ich ihn nach, damit er die Oberschule machen konnte." Der Bäcker massierte gekonnt Teigklumpen. "Der Kerl war unglaublich: kaum Schlaf, ständig irgendwelche Nebenjobs und er hat auch geschrieben wie ein Verrückter. Damals habe ich günstig ein Aufnahmegerät besorgt und er fand immer ein Mädchen, die sich darauf einließ, seine Texte abzutippen!" Unwillkürlich schmunzelte er. "Hätte nie gedacht, dass er so viel Talent hat und sogar etwas daraus macht. Wenn er dann mal an einer Sache dran war, hat er geschrieben, als gäbe es kein Morgen. Waschen, essen, saubermachen, einkaufen: das war ganz vergessen! Später habe ich auch immer nachgeschaut, ob er noch lebt, wenn er diese arbeitswütigen Phasen hatte." Gorou lauschte diesen Ausführungen gebannt. Es wirkte wie ein Klischee: das chaotische Genie, im Alltag eine Katastrophe, aber zu unglaublichen Werken befähigt. Noch immer wusste er nicht, wie er Ryuuji einschätzen sollte. Er mochte den Autor, verschlang die Romane und konnte kaum glauben, wo sich Ryuuji überall eingeschlichen hatte, um darüber zu berichten. "Ist es denn wahr, dass..." Gorou stockte, sollte er Kenji wirklich fragen? Immerhin war es ein delikates Thema! "Was denn?" Der Bäcker topfte Teig in Formen, wandte sich dann interessiert nach seinem Lehrling um. "Nun ja..." Rang Gorou erst um Zeit, dann um die passende Formulierung. "...er hat erwähnt...Dreharbeiten...zu Filmen für Erwachsene..." Nun färbten sich seine Wangen dunkelrot. "Oh, DAS!" Kenji grummelte verstimmt. "Das ist wirklich wahr, auch wenn ich den Film weder gesehen habe, noch das jemals nachholen will. Erstaunlicherweise legt er einen gefährlichen Charme an den Tag, wenn er sich irgendwo einschleichen will. Ich schätze, er war einfach neugierig, wie weit er kommt und dann haben sie ihn ganz nett gebeten, doch einzuspringen." Bei dieser süffisanten, von imposantem Augenrollen begleiteten Schilderung konnte Gorou nicht anders als losprusten. Kenji gab eine sehr gute Vorstellung als extrem geplagter Cousin! "Lass dich bloß nicht anstecken!" Warnte er Gorou und stupste dessen Nasenspitze. "Ein Verrückter in der Familie reicht völlig." Gorou lächelte, spürte aber die quälende Melancholie bei diesem Stichwort. Er wollte gern zu einer Familie gehören, ein großer Bruder sein, doch er konnte deutlich erkennen, dass es nicht funktionieren würde. Zumindest nicht auf diese Weise. Deshalb bemühte er sich auch besonders, um die bevorstehende Enttäuschung zu mindern, Youji zuzuhören, wenn der von der Schule kam, ihm über die Schulter zu schauen, wenn der seine Hausaufgaben in der Bäckerei erledigte. Das Wetter besserte sich, und Gorou nutzte die Gelegenheit, mit Youji noch ein wenig Frisbee zu werfen oder Fangen zu spielen. Manchmal bemerkte er Kenjis nachdenkliche Blicke und fragte sich, ob sein Meister auch bedauerte, dass Youji keinen anderen Freund hatte. Doch es gab kaum Kinder seines Alters in dem kleinen Dorf und einen Hund, der so charakterstark wie Batou war, würde sich auch nicht so leicht finden lassen! Kenji erwog tatsächlich, vielleicht doch ein Haustier zu besorgen, doch Eri riet ihm davon ab. Die Schule würde immer länger dauern, und wer sollte sich um das Tier kümmern? Außerdem konnte es nicht den Umgang mit Menschen ersetzen. So nahm er sich wenigstens abends, wenn er Youji nach Hause brachte, noch ein wenig Zeit, mit ihm zu sprechen, ihn zu necken und zu warten, bis der Grundschüler eingeschlafen war. Da traf es sich gut, dass er Gorou schon einige Arbeiten überlassen konnte, der so genügsam war, auf ihn in der Bäckerei zu warten, damit sie gemeinsam mit dem Transporter nach Hause fuhren. Er war dankbar dafür, dass Gorou außer Lesen, sei es 'Arbeitsunterlagen' oder die Texte seines notorischen Cousins, kein Interesse an den Dingen zeigte, die andere Jugendliche in seinem Alter bevorzugten. Musik, Kinofilme, Tanzen, Verabredungen, Einkaufen: alles schien für ihn keinen besonderen Reiz zu besitzen. Das konnte, so vermutete der Bäcker, vielleicht auch daran liegen, dass Gorou in der Hauptstadt bereits diese Erfahrungen gemacht hatte. Oder in einem Viertel untergekrochen war, wo man sich auf derlei Unterhaltung verstand. Langsam, dabei waren es gerade fünf Tage später, wurde Kenji bewusst, dass er gar nicht bis zum Sommer warten wollte, um ihre kleine Familie zusammenzuführen. Auch den Traum, Eri zu heiraten und sich nicht ihrer wie einer Mätresse zu bedienen, hatte er noch längst nicht aufgegeben. Man musste nur den Hebel an der richtigen Stelle ansetzen... ~+~ Am nächsten Tag radelte Gorou gemütlich aus dem Dorf hinaus, um wie gewohnt den Proviant bei Ryuuji abzuliefern. Er ließ sich selbst hinein, lauschte auf Geräusche, doch das Haus war still, nicht einmal die Tasten tanzten. Zögerlich bewegte er sich zur Küchenzeile, stellte die Tüte ab und sah sich um. Der Wohnbereich wirkte erstaunlich aufgeräumt, eine Mülltüte lagerte zugeknotet in einer Ecke. Der Computer war abgedeckt. Somit alle Arbeiten abgeschlossen? Gorou pirouettierte förmlich, als er etwas hörte: Ryuuji, ein Handtuch auf den Schultern, ein weiteres tief auf den schlanken Hüften reitend. Er lächelte schief, als er bemerkte, wie Gorou erstarrte. "Sieh an, das Essen ist da. Und ich habe gewaltigen, unerträglichen Hunger." Er leckte sich provozierend über die Lippen. "...ich-ich wollte nicht stören!" Haspelte Gorou unbehaglich, konnte die Augen nicht von ihm lösen. Obwohl ihm der Anblick vertraut war, stolperte sein Herz unbeholfen, bevor es förmlich losgaloppierte. "Wie geht's der Wunde?" Ryuuji hatte sich wie eine Raubkatze herangepirscht und fasste Gorous Kinn, um mit der anderen Hand sanft über die Narbe zu streichen. "Die Fäden sind weg, aber..." Seine Fingerspitzen tanzten über das Kopftuch, lösten es schließlich, um über die braunen Stacheln zu kämmen. "...du wirst wohl eine Narbe behalten." Gorou blinzelte nervös, roch würziges Aftershave, denn Ryuuji hatte sich gründlich rasiert und sah nun, die losen, nassen Haare lang auf den Schultern, sehr viel jünger aus. Allerdings keineswegs weniger schurkisch als gewohnt. Obwohl sie gleichgroß waren, kam er sich kleiner vor, vor allem aber atemloser, schwankender, mit Knien aus Wackelpudding! In Ryuujis schwarzen Augen blitzte es plötzlich. Er schlang einen Arm um Gorous Taille, löste mit der anderen Hand den Gürtel, öffnete dessen Hose, bevor er sich eng an ihn presste, ihn gegen das Bücherregal dirigierte. Der Jugendliche keuchte, konnte sich nicht abwenden, erschauerte unter dem glühenden Blick. "Ich lasse dich nicht gehen!" Zischte Ryuuji grimmig. "Du gehörst mir. Mir!" Nun, ohne schmerzhafte Kollision mit unnachgiebigen Gürtelschnallen oder bissigen Reißverschlüssen, schmirgelte er sich förmlich in Gorous Gestalt hinein, küsste ihn leidenschaftlich, immer wieder, während er ungeduldig an dessen Sweatshirt zerrte, ihn entblößte. Es wäre an der Zeit gewesen, sich zu wehren, doch Gorou war es unmöglich. Er taumelte unter den fiebrigen Küssen, die so intensiv waren, dass sie ihn markierten, jede erreichbare Stelle in Besitz nahmen, ein fester, beinahe verzweifelter Griff, der ihn keinen Augenblick wirklich freigab, um jeden Preis einen Ausbruch verhinderte. Aber er wollte gar nicht fliehen. All die Gedanken, die er gewälzt hatte, die unausgesprochenen Sorgen, die ungewisse Zukunft: hier blieb die Zeit stehen. Wie damals, in der Dunkelheit des winzigen Zimmers. Ryuuji wurde seine Welt, sein Spiegelbild, seine Resonanz, seine Energiequelle. Der Mann, der es verstand, ihn vollkommen zu erfüllen und einen süßen Kleinen Tod sterben zu lassen. ~+~ Gorou konnte sich nicht erinnern, wie sie es in das Obergeschoss geschafft hatten. Um ihn herum wirbelten ausschließlich Impressionen von Ryuuji, wie Mosaiksteinchen in einem Kaleidoskop. Von den Zehen bis zu den Haarspitzen konnte er ihn spüren, nicht nur inwendig. Eigentlich hatte er auf den Schmerz gewartet, diesen Stich, der die Realität wie einen kalten Guss in rosarote Träume holte, doch einmal mehr blieb der aus. Ryuuji dagegen wusste genau, was er tat. Er wollte Gorou um den Verstand bringen, ihn zerschmelzen sehen, jeden Gedanken an Ablehnung ausmerzen! Sich schadlos halten für den wilden Schmerz, der ihn peinigte, seine Qual teilen und gleichzeitig beweisen, dass es ALLES war! Nicht bloß eine temporäre Grille! "Du gehörst mir!" Stieß er immer wieder hervor, wenn er noch ein Fleckchen Haut erhaschte, das nicht das Brandzeichen seiner vor Leidenschaft glühenden Lippen trug. "Mir! Nur mir!" Gorou unter ihm keuchte, die Lider flatternd, mehr als einmal völlig enthemmt in Ekstase getrieben, gezeichnet von dieser Tour de force. Allein, Ryuuji reichte es noch nicht. Er wollte das Herz durchbohren, es infizieren mit einer wahnsinnigen, tollkühnen und rücksichtslosen Liebe, die ihn all seine Vorsätze, Stolz und Zweifel vergessen ließ. Gorou gab einen erschrockenen Laut von sich, als er ohne jeden Schutz dessen Körper erneut in Besitz nahm, blickte ihn verschleiert an, geschüttelt von der gewaltigen Stoßbewegung, die sie beide synchronisierte, das große Bett in Vibrationen versetzte. »Bis ins Innerste!« Ryuuji rang mit aller Kraft um Beherrschung. »Bis ins Innerste gehörst du mir!« Der Orgasmus des Jugendlichen kam ihm nur wenige Sekunden zuvor, bevor er selbst eine feurige Ladung ungehindert in den unkontrolliert zuckenden Körper schoss. ~+~ Ryuuji erhob sich langsam, den Blick auf Gorou gerichtet, der völlig erschöpft in tiefem Schlaf lag. Der gesamte Leib, nur partiell unter einer Decke geschützt, war gefleckt wie ein Raubtierfell. Der Schriftsteller hängte sich der Form halber einen Morgenmantel über, bevor er mit dem Mobiltelefon auf Schlappen hinaus ging, auf seine Veranda trat. Es dämmerte bereits. Die Nummer war die erste der Kurzwahl, seit Jahren schon. "Er ist bei mir." Raunte er heiser, ersparte sich die müßige Einleitung. "Schläft gerade." "Ich weiß. Aber ich komme nicht dagegen an. Oder vielmehr..." Er fasste mit der freien Hand lose Strähnen über seinem Kopf zusammen und grinste bitter. "...ich will es nicht." "Morgen früh." "Nein." Er rollte sich zusammen, kauerte in der Hocke auf den stämmigen Bohlen. "Ich kann ihn nicht aufgeben." Ebenso übergangslos beendete er das Telefonat, richtete sich dann unbeholfen auf. Er wusste zu gut, gleich seinem Leib, was er getan hatte. Zum ersten Mal hatte er ungeschützt Sex gehabt, seinen Samen in einen anderen Körper gejagt, Vor- und Rücksicht in den Wind geschossen. Alles, weil er Gorou in seinen Besitz bringen wollte. Halb so alt, unerfahren, verängstigt und verträumt. Ryuuji kehrte in sein Haus zurück, stieg gemächlich die Treppe hinauf, bevor er den Morgenmantel abstreifte und unter die Decke kroch, sich den Jugendlichen auf den Leib bettete, ihn festhielt. Gorou wachte nicht einmal auf, lediglich unterbewusst richtete sich sein Körper in eine bequemere Lage ein. Stumm liefen Ryuuji die Tränen über das Gesicht. Er hasste sich dafür, was er getan hatte. Er wollte nicht SO sein! Aber wie Kenji konnte er nicht sein, er WAR einfach nicht GUT! Obwohl er seinen Liebsten beschützen, verwöhnen, verzärteln wollte. Mit dem Verstand mochte er wohl Alternativen ersinnen, sich in Fesseln schlagen, doch die unglaublich intensive Emotion überspülte alles, ließ nur das gelten, was an primitiven Gelüsten vorgeprägt war. »Und es hört einfach nicht auf!« Wütend wischte er sich mit einer Hand über die Wangen. Nein, es gab kein Leugnen, wenigstens ehrlich wollte er mit sich sein. Er liebte den verlorenen Prinzen leidenschaftlich und verzweifelt. ~+~ Gorou stöhnte leise, als das Schütteln an seiner Schulter nicht enden wollte. "He, Go-chan!" Wisperte eine raue Stimme an seinem Ohr, verglühte seine nackte Haut mit heißem Atem. "Du musst aufstehen." Den Körper auf Autopilot befreite sich Gorou schließlich vom verdrehten Bettzeug und rollte sich herum, um die Beine über die Bettkante zu schwingen, doch den ersten Versuch, sich auf die Beine zu stellen, musste er abbrechen, plumpste wieder ungelenk auf die Matratze zurück. Beim erneuten Anlauf fand er sich vornüber gestürzt auf den Knien wieder. Dann hatte Ryuuji ein Einsehen, ging neben ihm in die Hocke, schlang die Arme unter Gorous Achseln, richtete ihn auf, hielt ihm fest umschlungen. "Go-chan? Wach auf!" Der zitterte leicht, schmiegte sich dann an die vertraute Gestalt, keuchte benommen. "He." Ryuuji streichelte energisch über Gorous Hinterkopf. "Was ist los? Schwindlig?" Mit Mühe gelang es Gorou zu nicken, ohne gleich die seifige Galle, in die sich sein Speichel verwandelt hatte, auszuspeien. "Augenblick." Mit der verblüffenden Stärke, die Ryuuji manchmal durchblicken ließ, bugsierte er Gorou wieder auf das Bett, gegen einige eilig geknuffte Kissen gelehnt. Dem fielen prompt die Augen wieder zu, der Kopf sackte nach vorne. Ryuuji beeilte sich, seine Hausapotheke zu konsultieren. Wenn er in einer seiner schreibwütigen Phasen gefangen war, bedurfte er gewöhnlich keiner Helferlein, die für entsprechende Kondition sorgten, doch manchmal war es unvermeidlich, sich eines pharmazeutischen Aufputschmittels zu bedienen. Ein solches nötigte er Gorou nun zu schlucken, rieb ihm energisch mit einem feuchten Lappen über das Gesicht, bis er ihm in die Augen sehen konnte. "Go-chan, wir gehen jetzt duschen, verstanden? Kenji ist bald hier." Erklärte er geduldig, hielt dessen Hände in seinen eigenen. Der Lehrling lächelte vage, kämpfte dann sichtlich um eine alertere Haltung. Einander den Arm wechselseitig um die Taille geschlungen, die freien Hände zur Balance gegen die Wände gestützt erreichten sie das Badezimmer im Erdgeschoss. Ein kleiner Plastikhocker wurde Gorous nächste Station, dann kniete sich Ryuuji vor ihn auf die Fliesen, Seife, Waschlappen und den Brausekopf in den Händen. Er schäumte Gorou umsichtig ein, erkundigte sich dann in ihr erschöpftes Schweigen hinein. "Hast du Schmerzen?" Nicht von ungefähr, denn er musste sich ja auch der Aufgabe widmen, die Reste seiner besitzergreifenden Begierde zu beseitigen. Gorou hob mühsam eine Hand, streichelte über den Drachen auf Ryuujis linker Schulter. "...bringen sie wirklich Glück?" Erkundigte er sich geistesabwesend. "Nicht jedem." Knurrte der Schriftsteller bitter, blickte finster an Gorou vorbei, dann legte er die Handflächen um Gorous Wangen. "Ich kann DIR Glück bringen!" Beteuerte er eindringlich. "...ist das wahr? Mit Amerika?" Gorou spielte auf die Geschichte der Tätowierung an, die Ryuuji in einer seiner Reportagen als Anekdote anführte. Ein schiefes Grinsen nistete sich auf seinen sinnlichen Lippen ein. "Es ist wahr. Mit der Linken bin ich heute noch geschickter." Er stemmte sich von den Fersen hoch und küsste Gorou begehrlich auf die Lippen, zog sich dann widerstrebend zurück. Nun wirkte Gorous Blick klar, schüchtern-neugierig. Ryuuji wisperte. "Ich erzähle dir alles. Alles, was du wissen willst." »Wenn du bleibst.« Gorou senkte den Kopf, räusperte sich, aber seine Stimme klang dennoch belegt, kaum zu vernehmen. "Sie hat sich nicht nach mir erkundigt, oder?" Unwillkürlich richtete sich Ryuuji auf, schlang die Arme beinahe erdrückend um Gorou. "Vergiss sie! Vergiss das alles! Es ist vorbei und unwichtig!" Seine Forderung schallte von den Wänden wider, laut und drohend, doch Gorou begriff, dass es das Pfeifen im Wald war, sich nicht unbedingt gegen seine Mutter richtete. Da hörten sie das Motorengeräusch. Der Transporter. Kenji. Ryuuji erhob sich widerstrebend. "Ich empfange ihn besser. Keine Sorge, er weiß, dass ich dafür verantwortlich bin." Seine Fingerspitzen tanzten Falten aus Gorous Stirn. Damit verließ er das Badezimmer. Gorou nutzte die Gelegenheit, sich gründlich zu reinigen, wurde mit den groben Schwüngen des Waschlappens richtig munter. Auf eine gewisse, noch unbestätigte Weise hatte er verstanden, dass es nicht Angst gewesen war, die ihn in Ryuujis Gegenwart zum Erzittern brachte. Es war die Heftigkeit, mit der sie aufeinander reagierten. »Die Chemie stimmt.« Das war nur ein Teil dieser Gefühle. Ryuuji gab ihm Rätsel auf, verschanzte sich oft hinter süffisantem Spott oder hochfahrender Art, offenbarte aber immer wieder, dass es Abgründe und Erinnerungen gab, die ihn geprägt hatten und sein Verhalten begründeten. »Ich bin wohl nicht anders.« Der Jugendliche besprengte sich gründlich. Ein Teil von ihm klammerte sich verzweifelt an das, was alle anderen als lächerliche Illusionen deklassiert hatten. Er wollte so sehr daran glauben, dass er als Host eine Zukunft hatte, Frauen glücklich machen konnte, dass Sympathie, Loyalität, Zusammengehörigkeit und ehrliche Zuneigung wirklich existierten. Dass SIE nicht gleichgültig war, sondern sich sorgte. Dieses Mal, er haschte nach einem Handtuch, würde er nicht weglaufen können, denn hier gab es Menschen, die ihn aufspüren würden, ihn nicht aufgaben. ~+~ Kenji verschaffte sich gewohnt leise Zugang zum Haus seines Cousins. Der kam ihm entgegen, barfuß, trocknenden Schaum auf den nackten Unterarmen. "Er ist noch unter der Dusche." Erklärte er einleitungslos. Der Bäcker musterte den jüngeren Mann aufmerksam. Dass Ryuuji zu dieser frühen Stunde müde wirkte, war keiner Erwähnung wert, aber diese merkwürdige Unruhe, die ihn befallen hatte, konnte er sich nur auf eine Weise erklären: Ryuuji empfand Gewissensbisse. Sie würden ihn jedoch nicht von dem abhalten, was er als notwendig zu tun ansah. "Ich bin nicht einverstanden." Stellte Kenji ruhig klar. "Gorou ist mein Lehrling und kein Spielzeug." Ryuuji nickte abgehackt, doch das konnte auch darauf gemünzt sein, dass er Kenji zugehört hatte. Keineswegs signalisierte es uneingeschränkte Zustimmung. Er winkte Kenji, ihm in das Wohnzimmer zu folgen, machte sich an seinem Arbeitsplatz zu schaffen, bevor er einige geheftete Blätter hervorholte, sie seinem älteren Cousin vor den mächtigen Brustkorb drückte. "Das ist es?" Erkundigte Kenji sich, zweifelte aber nicht. Während er las, marschierte Ryuuji unruhig durch das Wohnzimmer, wechselte sogar auf die Veranda hinaus, obwohl es noch dunkel und recht frisch war. Er registrierte zwar, dass Kenji sich schwer auf das Sofa fallen ließ, tat dies jedoch als unwesentlich ab. Ihre Blicke kreuzten sich, als Kenji die Blätter an der Heftungsstelle wieder in eine akkurate Reihenfolge brachte. "Ein paar Artikel sind auch schon fertig." Plapperte Ryuuji geistesabwesend, knetete seine Finger. "Ich bin ausgelastet." Aber es widerstrebte ihm, in diese Welt abzutauchen, zumindest jetzt. Gorou kam dazu, zögerlich, in Ryuujis Kleidern: engen Jeans, einem modischen Sweatshirt, das seine athletische Gestalt umschmeichelte und seinem Kopftuch vom Vortag. "Ich bitte um Entschuldigung, Meister..." Setzte er an, doch Kenji winkte souverän ab. "Schon gut, ich bin im Bilde." Dann trat er näher an Gorou heran, beugte sich hinunter, um ihre Stirnfronten in Kontakt zu bringen. "Bisschen erhitzt, wie? Na, heute ist nicht allzu viel zu tun, das wirst du wohl schaffen." Er fasste Gorou beim Ellenbogen, dirigierte ihn Richtung Ausgang. Ryuuji folgte ihnen widerwillig, hoffte, dass Gorou sich noch einmal zu ihm umsehen würde. Der lächelte tatsächlich schief, bevor er in den Transporter kletterte. Erst eine geraume Zeit später bemerkte Ryuuji, dass Kenji seinen Aufsatz nicht zurückgegeben hatte. ~+~ Während der Fahrt zur Bäckerei schwiegen sie beide, ein wenig unschlüssig, wie all die Angelegenheiten, die in der Luft lagen, am Besten behandelt werden sollten. Kenji entschied sich dafür, Gorou erst mal die Backstube auf Vordermann bringen zu lassen, bevor er aus dem geschickt nachgefüllten Kaffeeautomaten zwei Becher produzierte, das gemeinsame Frühstück einläutete. Dabei schob er Gorou die eingerollten Seiten zu, enthielt sich eines Kommentars. Vor seinen Augen veränderte sich dessen Erscheinungsbild. Die Wangen bekamen eine tiefe Färbung, die Lippen wiederholten lautlos Passagen, während die Hände Mühe hatten, das Dokument zu halten. Ryuuji war seiner Aufforderung gefolgt und hatte aufgeschrieben, was ihn bewegte, das Unglaubliche in Worte gefasst. Gewöhnlicherweise gelang es ihm durch seine Formulierungen, Distanz zu schaffen, einen sicheren Abstand, von dem aus man kommentieren und sich amüsieren konnte. Hier gab es keine Barriere, keine selbstironische Reflexion. Übermannt von unbekannten, bis dato unerreichten Gefühlen hatte er verfasst, was ihn antrieb, seine Welt gänzlich überrannt hatte: sich hoffnungslos und verzweifelt zu verlieben. Mit allen Details, Sorgen und Wünschen, über die er zuvor leichtfüßig hinweggesetzt war, ein ewiger Flirtkünstler ohne Bindungswillen. Mit leidenschaftlichen, manchmal drastischen Worten hatte er von dem überwältigenden Gefühlschaos geschrieben. Von der Wut, den Selbstzweifeln, der Verachtung für sein Handeln, von der treibenden Lust und der erstickenden Sehnsucht. Von seiner Hoffnung, dass sich diese Gefühlsschwankungen reduzieren würden über die Zeit, um sich mit jeder weiteren Begegnung getäuscht zu sehen. Als das letzte Blatt umgeschlagen worden war, starrte Gorou blicklos ins Leere. Kenji studierte ihn aufmerksam, suchte nach Hinweisen, ob er ihm versichern sollte, dass er ihn auch gegen Ryuuji verteidigen würde, wenn es nötig war. Seine Konzentration wurde gestört, als Youji hereinspazierte, sich zum sonntäglichen Frühstück einlud. Auch ihm entging Gorous seltsame Haltung nicht. "Bist du krank?" Sofort legte er eine Hand auf Gorous Stirn, runzelte die eigene. "Was hast du denn da?" Wachsam brachte Kenji die Seiten außer Reichweite. "Das ist privat, Youji. Nun, was möchtest du frühstücken?" Doch der Grundschüler ließ sich nicht so schnell ablenken. "Ist es eine schlimme Nachricht? Sie wollen ihn doch nicht holen, oder?" Besorgnis ließ seine Stimme schrill umkippen. "Ihn holen?" Wiederholte Kenji perplex. "Wer will Gorou holen?" "Seine Familie! In Tokio!" Erklärte Youji energisch, mutmaßte, man wolle ihn aus der Angelegenheit heraushalten, weil er ja 'noch ein Kind' sei. "Nein, seine Familie holt ihn nicht ab." Versicherte Kenji kategorisch. "Also, Frühstück?" Auch ein zweites Mal erhielt er keine Antwort, weil das charakteristische Dröhnen der Harley die Ankunft seines Cousins meldete. Youji stürmte jedoch nicht wie gewohnt zur Tür, um Ryuuji zu begrüßen und begehrlich über das Motorrad zu streichen, nein, er wirkte alarmiert. Ryuuji betrat die Bäckerei, hastig angekleidet, die Haare offen und wirr. Seine Augen ruhten auf Gorou, der wie in Trance langsam aufsah. Kenji stellte sich zwischen sie, packte Ryuuji am Oberarm. "Ihr redet in der Backstube, aber reiß dich am Riemen, verstanden?!" Das automatische Nicken seines Cousins, der an ihm vorbei spähte, überzeugte ihn kaum, doch es bestand wenig Hoffnung, dass einer Intervention Erfolg beschieden wäre. "Was macht ihr denn?!" Youji umklammerte Gorous Hand, bremste die Vorwärtsbewegung, die Ryuuji initiierte, der die andere Hand erobert hatte. Innerlich seufzend schritt Kenji ein, löste behutsam Youjis Klammergriff, nickte Ryuuji knapp zu. "Was soll denn das?!" Youji wandte sich Kenji zu, doch sein Protest verlor sich ebenso, wie die Schultern geschlagen tiefer sackten, er den Kopf senkte, leise schniefte. "Er wird nicht mit uns zusammenleben." "Nein." Kenji nahm Platz, hob sich den zierlichen Grundschüler auf die Oberschenkel, wiegte ihn sanft in den Armen, während er leise raunte. "Nein, Youji, Gorou wird nicht bei uns wohnen." "Ich wollte einen großen Bruder haben." Youji vergrub das Gesicht an Kenjis Brust, ließ die Tränen der Enttäuschung laufen, bis ihm ein Schluckauf zusetzte. "Ich weiß." Kenji kraulte den zerbrechlichen Nacken unter den Igelstacheln behutsam. "Aber Gorou wird trotzdem zur Familie gehören. Jemand muss ja auch auf Ryuuji aufpassen." Denn er hatte keinen Zweifel daran, dass sein notorischer Cousin ihn als Familienoberhaupt bitten würde, Gorou zu adoptieren. So käme er zu einem sehr viel jüngeren 'Bruder' und Youji zu einem weiteren 'Onkel'. Auch wenn ihm das im Augenblick keinen Trost bedeuten konnte. ~+~ Ryuuji musste nicht fragen, ob Gorou gelesen hatte, was er für ihn empfand. Er konnte es ihm ansehen. Ungestüm drängte er ihn in eine Ecke, schlang die Arme um die schlanken Hüften, bedeckte Gorou mit gierigen Küssen, während er ihn eindringlich beschwor. "Lebe mit mir! Du musst! Du gehörst mir!" Es klang so bedrohlich wie damals, in ihrem Unterschlupf, doch Gorou verstand die tatsächliche Botschaft nun, da Ryuuji selbst den Schlüssel ausgehändigt hatte. Eigentlich lautete seine Aufforderung nämlich: bitte lass mich nicht allein! Ohne dich halte ich es nicht aus! Ich liebe dich, deshalb, bitte, übernimm die Verantwortung! Eine Umkehrung der Verhältnisse, aber Gorou konnte einschätzen, wie zerbrechlich und verunsichert sich Ryuuji fühlen musste. Nicht nur er selbst hatte dessen Welt erschüttert, auch Kenji würde nicht mehr stets und ständig sein Zufluchtsort sein. Er legte mitleidig die Arme um Ryuujis Rücken, erwiderte dessen fiebrige Aufwartung ebenso energisch, zumindest so lange, wie seine Kräfte es ihm erlaubten. Dann sank er schwer gegen den Schriftsteller, die Augen geschlossen, um den Schwindel auszutricksen. "Sag ja!" Nötigte ihn Ryuuji unermüdlich. "Komm schon, Gorou, sag ja!" "...ja." Stöhnte Gorou endlich matt, hatte kein Gefühl mehr in den Zehen. Spürte Ryuuji denn nicht, dass er gleich umfallen würde? Bevor er jedoch in die Knie brechen konnte, half ihm Ryuuji auf einen Hocker, fischte Tee heran und flößte ihm Flüssigkeit ein. Als Kenji seine Backstube betrat, fand er seinen Cousin neben dem Hocker stehend vor, doch es schien ihm, als lehne der sich auf Gorou. Er trat zu den beiden, den Autoschlüssel in der Hand. "Du bekommst ihn." Sein scharfer Blick fokussierte sich auf Ryuuji. "Dafür wirst du morgen den ganzen Tag für mich einspringen. Also sieh gefälligst zu, dass Gorou in Form ist, sonst kannst du was erleben." Zu seiner milden Überraschung nickte Ryuuji knapp, nahm den Schlüssel zum Transporter an sich und half Gorou, sich auf die eigenen Beine zu stellen, hielt ihn an der Hüfte, als er ihn zum zweiten Ausgang lotste. Er steuerte den Transporter langsam zum Haus seines älteren Cousins, damit sie dort Gorous Habseligkeiten einsammeln und umziehen konnten. Das Packen beanspruchte wenig Zeit, doch Gorou zögerte immer wieder, warf bange Blicke auf Ryuuji. "Wird er nicht böse sein?" Sprach er schließlich seine Sorge aus. Kenji gab sicherlich nur um Ryuujis Willen nach, verbarg seine Verärgerung deshalb vor ihm, dennoch...! Ryuuji sammelte die wenigen Gepäckstücke und den alten Schlafsack zusammen. "Er ist nicht böse. Ich habe nicht vor, deine Ausbildung zu behindern." Damit streckte er Gorou eine Hand hin. "Gehen wir." Gehorsam klemmte sich Gorou seinen Schlafsack unter den einen Arm, verschränkte die Finger mit Ryuujis, folgte ihm zum Transporter. Er war verblüfft, wie ruhig Ryuuji plötzlich auftrat, beherrscht und souverän. Als hätten ihn seine Zusage und Kenjis 'Segen' befreit. "Wie geht es dir? Hast du noch Schmerzen?" Erkundigte der sich, während er die Auffahrt zu seinem Haus in Angriff nahm. "Müde..." Gorou lächelte matt, beschämt. "Ich bin so merkwürdig müde." "Dann gehen wir erst mal rein. Du legst dich hin, ich verstaue deine Sachen." Entschied der Schriftsteller kategorisch. Kurze Zeit später beugte er sich über Gorou, liebkoste dessen Stirn und küsste die vernarbende Wunde. Er hatte ihm wohl zu viel zugemutet. ~+~ Da Gorou so tief schlief, dass ein Aufwachen in der nächsten Zeit wenig wahrscheinlich schien, bestieg Ryuuji erneut den Transporter, um ihn wieder bei seinem Cousin abzuliefern. Es befand sich Kundschaft in der Bäckerei, deshalb marschierte er in die Backstube, wartete geduldig im Duft der frisch aufgebackenen Waren, dass Kenji sich zeigte. "Wie geht's ihm?" Kenji musterte Ryuuji eindringlich, steckte seine Schlüssel ein. "Er schläft." Ryuuji lächelte schief. "Keine Angst, ich lasse ihn in Ruhe." Damit erhob er sich, doch Kenji hielt ihn an der Schulter zurück. "Warte. Ich packe dir etwas ein, sonst verhungert mir mein Lehrling noch." Damit befüllte er eine große Tüte, drückte sie seinem jüngeren Cousin in den Arm und ermahnte ihn streng. "Denk bloß an dein Versprechen! Ich baue darauf, dass du mich morgen hier vertrittst." "Was hast du denn so Bedeutendes vor?" Erkundigte sich Ryuuji neugierig, doch Kenji wedelte mit der Hand abwehrend vor seinem Gesicht. "Keine Fragen!" Zumindest nicht, bevor er seine Mission erfüllt wusste. Ryuuji umarmte die Tüte, wollte nun durch die Bäckerei marschieren, um sein Motorrad abzuholen, da nahm Kenji seine freie Hand, hielt sie fest. Über die Schulter blickte ihn der jüngere Cousin fragend an. "Versprich mir, dass du niemals die Hand gegen ihn erheben wirst." Kenjis Stimme klang rau, von Sorgen galvanisiert. Erbleichend presste Ryuuji die Lippen fest zusammen, schluckte merklich, bevor er seine Zusage krächzte. "Ich werde ihn niemals schlagen." "Vergiss das nicht." Kenji hielt seine Hand einen Moment länger als notwendig, gab sie dann langsam frei. Ryuuji verließ die Bäckerei eilig, den Kopf gesenkt, die Schultern hochgezogen. Obwohl ein winziger Teil von ihm aufbegehrte, protestieren wollte, wusste er nur zu gut, dass Kenji ausgesprochen hatte, was er insgeheim selbst befürchtete: in das Verhaltensmuster seiner Eltern zu verfallen. ~+~ Gorou erwachte am frühen Nachmittag, rieb sich die Augen, versuchte, sich zu orientieren. Ryuuji saß neben ihm im Bett, Kissen hinter den Rücken gestopft, seine Lektüre abgelegt. "Ist es schon so spät?" Murmelte Gorou benommen, blickte durch das Fenster direkt hinaus auf das im Sonnenlicht glitzernde Wasser des Sees. "Hast du Hunger?" Ryuuji lehnte sich über Gorou, streichelte ihm mit den Fingerrücken über die Wange, ungewohnt zurückhaltend und ernsthaft. "Möchtest du etwas essen?" "Ich glaube, das wäre ganz gut." Flüsterte Gorou beschämt, denn er fühlte sich wirklich schwach und kraftlos. Dass ihm Ryuuji aber eine von Kenji spendierte Mahlzeit ans Bett bringen würde, das erwartete er zweifellos nicht. Während er mit wachsendem Appetit zugriff, moderierte Ryuuji wie eine der kieksenden Präsentatorinnen im Fernsehen, wo er Gorous Eigentum verstaut hatte. "Dann... dusche ich nur kurz, ziehe mich um und helfe dir." Entschied Gorou verlegen, denn er wusste wirklich nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Nicht etwa, dass sie zum ersten Mal allein miteinander waren, aber Ryuujis Veränderung gab ihm Rätsel auf. "Ich komme mit." Bestimmte Ryuuji beinahe trotzig, folgte Gorou auf den Hacken, der nun tatsächlich nervös wurde. Dieser Unruhe half es nicht, dass Ryuuji darauf bestand, ihn einzuseifen, mit einem Waschlappen gründlich abzuschmirgeln und dann hautpflegendes Öl einzumassieren. Selbst in die Unterlippe eingehakte Zähne konnten nicht verhindern, dass Gorou vor Genuss aufstöhnte. Ryuuji wusste viel zu gut, wie er ihn an den Rand seiner Beherrschung treiben konnte. Schwer atmend lehnte er sich schließlich gegen eine geflieste Wand, hielt ihn mit einer ausgestreckten Hand gegen den Brustkorb auf zweifelhafter Distanz. Ihm fehlten die Worte, die Botschaft zu übermitteln, er konnte Ryuuji bloß flehentlich ansehen. "Bitte!" Wisperte der rau. "Bitte...!" Gorou gab nach. Warum sich etwas vormachen? Er wollte geküsst und geliebt werden, von oben bis unten eingedeckt mit zielgerichteten Zärtlichkeiten, umworben, bis sein Körper freigiebig jede Gunst gewährte. So taumelten sie die Stiege hoch in Ryuujis Schlafzimmer, wo der einfach die Decke auf den Holzboden zerrte, damit sie ihren Liebesakt im Sonnenschein vollenden konnten. Gorou registrierte einmal mehr, wie athletisch und anziehend Ryuuji sich über ihm wand, ein attraktiver Halbgott, von einer Gloriole umgeben. Obwohl es ein Trick des Lichts sein musste, überwältigte ihn dieser Anblick, prägte sich tief in seine Gedanken ein. Wie konnte er da widerstehen, mit dieser Lichtgestalt zu verschmelzen? Ryuuji dagegen verdrängte erneut die Erkenntnis, dass seine Libido wie bei einem Pubertierenden Amok lief, ihn in Teufels Küche brachte. Hatte er Kenji nicht zugesichert, Gorous Rekonvaleszenz nicht zu hintertreiben? Doch gerade tat er genau das Gegenteil davon, nicht nur metaphorisch gesprochen! Andererseits, sein Atem flog in harten Stößen durch die staubigen Sonnenstrahlen, wie konnte er die Augen vor Gorous Schönheit verschließen? Nicht nur die äußerliche Attraktivität, nein, es waren diese Augen, die ihm Kredit gewährten, wo er nur auf Verachtung und Ablehnung stoßen sollte. Er presste die Zunge hart gegen den Gaumen, um nicht enthemmt loszuschreien, dass Gorou ihm allein gehöre, er ihn niemals gehen lassen würde. Lieber krümmte er sich über Gorou zusammen, tauchte seine Zunge tief in Gorous Mund, vermischte ihren Speichel gierig, saugte und schluckte, berauscht wie bei einem Bacchanal. Nahe der Raserei sank er schließlich matt über Gorou zusammen, vollkommen erledigt von der Gewalt seines Begehrens. Eine Weile verstrich, winzige Staubpartikel tanzten im Sonnenschein, aus der Bahn geworfen von ihren sich beruhigenden Atemzügen. Gorou blinzelte geblendet, streichelte über den sehnig-muskulösen Rücken seines Liebhabers, versuchte aus dem Gedächtnis die Umrisse der Tätowierung nachzuziehen. In einem seiner Romane hatte Ryuuji verklausuliert die Geschichte seiner Tätowierung geschildert, als den sichtbaren Beweis eines kleinen Jungen, der regelmäßig mit einer Rute oder einem langen Holzlineal geprügelt wurde, weil er Linkshänder war, nicht mit der 'korrekten' Hand schreiben wollte. Er konnte nun nachvollziehen, dass jemand, der so leidenschaftlich wie Ryuuji war, sich nur von den Schatten seiner Vergangenheit befreien konnte, indem er demonstrativ und offensiv gegen sie anging. "Wie fühlst du dich?" Ryuuji rutschte von ihm herunter, richtete sich ächzend in die Hocke auf. "Gut." Antwortete Gorou, überrascht von dieser Tatsache, aber aufrichtig. Ryuujis Hand streichelte flach über seine Brust, kreiste über seinem Bauch, bevor sie zwischen seinen Beinen verschwand. "Wirklich?" Klang er nicht ein wenig besorgt und kleinlaut? Gorou stemmte sich auf die Ellenbogen, fing die liebkosende Hand zwischen seinen Oberschenkeln ein. "Wirklich." Bestätigte er lächelnd. "Tu das nicht." Wisperte Ryuuji mit belegter Stimme, leckte sich nervös die Lippen. Sein Herz raste schon wieder wie toll, Blut sammelte sich heiß in seinem Unterleib. Neben ihm setzte sich Gorou auf, legte Ryuujis Hand auf sein Herz, hielt sie dort eingefangen, während er mit der anderen behutsam wirre Strähnen aus Ryuujis Gesicht kämmte. "Darf ich nicht?" Ryuuji warf den Kopf in den Nacken, schluckte heftig, kniff für einen quälenden Augenblick die Augen zu, dann wagte er erneut, Gorou anzusehen. "Ich werde nicht aufhören können." "Dann hören wir nicht auf." Gab Gorou leise zurück, hauchte einen Kuss auf die zusammengepressten Lippen. Weil es Ryuuji war, würde es ihm gefallen, davon war er überzeugt. Er traute sich zu, Ryuuji ein ebenbürtiger Partner zu werden, ihm eine Zuflucht zu sein, die die Dämonen im Schach hielt. ~+~ Ein Picknick um Mitternacht, warm eingemummelt, auf einem Steg beim See, von einer Petroleumlampe beleuchtet, das war definitiv romantisch, befand Gorou und schlürfte genussvoll den Tee aus der Thermoskanne, lächelte Ryuuji zu, der es sich auf seinem Schoß bequem gemacht hatte, in den klaren Himmel zu den Sternen hoch blickte. "Youji ist stinksauer auf mich." Teilte er Gorou mit, der die Teetasse abstellte und langsam durch die offenen Strähnen streichelte. "Ich habe ihm seinen Bruder weggenommen." "Es hätte nicht funktioniert." Wisperte Gorou sanft. "Ich verstehe leider gar nichts von einem richtigen Familienleben." Ryuuji streckte die Hand aus, Gorous Wange zu liebkosen. "Glaub mir, es wird oft überschätzt." Gab er mit einem zynischen Unterton preis. "Kenji ist von uns der Einzige, der ein gutes Familienleben bewältigen kann." Für eine Weile schwiegen sie, hingen ihren eigenen Gedanken nach. Aber die Erinnerung an die Vergangenheit half nur bedingt, sich eine Zukunft vorzustellen. Sie diente eher der Abschreckung. "Ich werde mit Kenji sprechen." Ryuuji hielt Gorous Hand fest, legte sie um seine Wange. "Er wird dich adoptieren, wenn du volljährig bist, ganz sicher. Dann gehörst du auch legal ganz zu uns." "Muss ich dich dann mit 'großer Bruder' ansprechen?" Neckte Gorou verlegen, obwohl ihn diese Aussicht freute. Sie bedeutete Sicherheit und familiäre Geborgenheit. "Untersteh dich!" Schnaubte Ryuuji, richtete sich blitzartig auf, um seinerseits Gorou auf die breiten Planken zu drücken. Er funkelte mit den Sternen um die Wette. "Ryuu, das ist mein Name, klar, Go-chan?!" "Verstanden." Verkündete Gorou samtpfotig, zog den Reißverschluss von Ryuujis Jacke herunter, zerrte ihn dann an den geöffneten Aufschlägen auf sich herunter. Ryuuji nahm die Einladung, sich fiebrig zu küssen, bereitwillig an, genoss die zupackenden Hände auf seinem Gesäß, die rhythmisch ihre Aufmerksamkeiten untermalten. Eins musste er sich nun eingestehen: Gorou würde doch einen phantastischen Host abgeben. Das durfte außer ihm aber niemand erfahren! ~+~ Kenji sah auf, als erstaunlich pünktlich in der Frühe die Harley vorfuhr, zwei verwegene, gleichgroße Männer ablud. "Morgen." Begrüßte er sie aufgeräumt. "Umziehen und an die Arbeit. Ryuuji, keine Fummelei in meiner Backstube, verstanden?!" "Sag das dem kleinen Teufel da!" Jammerte Ryuuji theatralisch, zog sich das Sweatshirt aus der Hose bis unter die Arme, wo man Gorous Talente bewundern konnte. Der unterdrückte verlegen ein stolzes Grinsen, als Kenji ihn ansah, eine Augenbraue lupfte. "Scheint mir ausgleichende Gerechtigkeit." Beschied er Ryuuji mitleidlos. "Macht mir keine Schande, ihr zwei." Insgeheim war er erleichtert, wie ruhig Ryuuji wirkte, die nervöse Anspannung schien gewichen zu sein. Gorou würde zweifellos in kürzester Zeit erwachsen werden müssen, wenn er mit seinem notorischen Cousin Schritt halten wollte. Aber vielleicht war es die Aufgabe, die seinem Lehrling gefehlt hatte. Er bestieg seinen Transporter, um nach Hause zu fahren, sich umzuziehen und dann langsam die Fahrt in Angriff zu nehmen. Es war höchste Zeit, dass er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte! ~+~ "Ist das wirklich wahr?" Gorou hatte zwei neckische Mehlflecken auf den Wangen, doch seine ungläubige Aufmerksamkeit widmete er in diesem Augenblick ausschließlich Ryuuji. Der hatte geübt die Bedienung des Ofens übernommen, ließ den Lehrling die Teiglinge formen und kneten. "Wenn ich es dir sage! Heute Abend zeige ich sie dir!" Erklärte er mit großspurigem Grinsen, das nicht von ungefähr als das eines Freibeuters auf Siegeszug durchging. "Wieso hast du darüber nicht geschrieben?" Gorou wischte sich über die Stirn, die nun auch ein Mehlstreifen zierte. "Habe ich!" Versicherte Ryuuji. "Aber Kenji würde mich umbringen, wenn Youji darauf stoßen würde!" Das konnte man durchaus verstehen, denn Ryuujis Undercover-Mission bei den Herstellern von Erwachsenen-Erotik-Spielzeug war nicht unbedingt die richtige Lektüre für einen Grundschüler. Zu seinen Erinnerungsstücken an die Aktion vor fast zehn Jahren, eine 'Jugendsünde' sozusagen, gehörte auch ein rares Stück, dessen Aufgabe als Massagestab zweckentfremdet worden war. Und das Signet der berühmten, japanischen Katze trug. "Das möchte ich sehen!" Gorou neigte sich Ryuuji zu, küsste ihn kurz auf die Lippen. "Zeig mir heute Abend deine versteckten Schätze, ja?" Ryuuji bleckte triumphierend die Zähne. "Wenn du nett zu mir bist." "Klasse, groovy!" Scherzte Gorou fröhlich, wechselte mit Schwung in die Bäckerei, wo gerade der erste Kunde eintraf. Dass er allein mit Ryuuji den Geschäftsbetrieb aufrecht erhielt, erstaunte alle. Doch auf die Versicherung hin, dass es Kenji gut ginge, ermutigten alle die beiden, den Tag gut durchzuhalten. Das stellte sich nicht als problematisch dar, denn Ryuuji und Gorou kamen zu ihrer eigenen Verblüffung sehr gut miteinander aus. Oft genug erlaubten sie sich Scherze, um den anderen zum Lachen zu bringen. In der Mittagspause hörten sie Kenjis Transporter. Ihm entstieg jedoch nicht nur Kenji selbst, sondern er half auch Eri vom Beifahrersitz. Sie war in einen vornehmen Frühlingskimono gekleidet und hatte offenkundig geweint, was die leicht geröteten Augen verrieten. Gorou warf einen erschrockenen Blick auf Ryuuji, der Stühle zurechtrückte und Teetassen auffüllte. "Gott sei Dank, das Haus steht noch." Brummte Kenji, als er seine Bäckerei nach Eri betrat, sie sanft an der Hand führte. "Danke für dein Vertrauen!" Knurrte Ryuuji gespielt finster. "Und was hast du so angestellt?" Kenji zögerte seine Antwort hinaus, indem er zunächst für Eri einen Stuhl vorzog, ihr sanft über die schmalen Schultern streichelte, bevor er ebenfalls Platz nahm. "Ihr beide müsst euch Anzüge besorgen." Verkündete er schließlich. "Denn Eri und ich werden Anfang Mai heiraten." "Oh, toll!" Gorou sprang auf. "Meine Glückwünsche!" Strahlte er begeistert. Ryuuji lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und nickte anerkennend. "Hast du den alten Drachen umgestimmt?" Sein älterer Cousin grinste ungewohnt jungenhaft zurück. "Ich will nicht einfach abwarten." Wenn man bei alten Leuten vorsprach, die ihren einzigen Enkel seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen hatten, weil sie die Entscheidung ihres Sohnes nicht akzeptieren wollten, ihnen in Aussicht stellte, dass sie in Kürze einen Schwiegersohn bekommen würden, dann konnte das durchaus einen Meinungsumschwung bedeuten. Es hatte zumindest einen Eintrag im Familienregister nach sich gezogen: Eri war nun offiziell Frau und Tochter. Damit war der Weg frei für eine Eheschließung und ein neues Familienbuch, das Kenji führen würde als Oberhaupt der Sagaras. Dort würde er auch Youji als seinen Sohn eintragen lassen, damit Eri die Angst verlor, man könne ihr das Kind wegnehmen. Er nahm Eris Hand. "Damit wir uns recht verstehen: wenn ich das Familienbuch mit unserer Heirat anlege, werde ich Gorou auch adoptieren." Er funkelte Ryuuji an. "Dafür bist du zuständig. Ich besorge die entsprechenden Dokumente, du holst die Unterschrift ein." Ryuuji nickte schon, bevor Gorou ihn verschreckt ansehen konnte. "Kein Problem." Nach seinem Eindruck würde sich Gorous Mutter zweifellos gegen ein Entgelt sehr entgegenkommend zeigen. "Vielen Dank." Murmelte Gorou beeindruckt, weil sich so schnell einzustellen schien, was ihm ein ferner Traum gewesen war. "Fein!" Kenji küsste Eri sanft auf die Wange, erhob sich. "Dann darf ich auch davon ausgehen, dass ihr beiden mir am nächsten Sonntag helfen werdet, den Umzug über die Bühne zu bringen." "Sklaventreiber!" Grinste Ryuuji frech, beugte sich über den Tisch, um Eri ebenfalls auf die Wange zu küssen. "Willkommen in unserer verrückten Familie, liebe Cousine!" "Danke schön." Eri schniefte verlegen, blinzelte heftig. "Wäre es wohl möglich, etwas Warmes zu bekommen?" Kenji flitzte bereits in die Backstube, seiner zukünftigen Ehefrau etwas Herzhaftes zu servieren. Eri streichelte Gorou sanft über den Rücken, der immer noch erschrocken von der Aussicht war, dass er zu seiner Mutter zurück musste, sie ihn vielleicht nicht freigeben würde. "Dann darf ich dich bald als Sohn betrachten." Neckte sie ihn aufmunternd. "Das hört sich recht seltsam an, oder nicht?" Gorou blickte auf, lächelte schief. "Stimmt, das klingt seltsam." Pflichtete er ihr bei, aber es stand ihm nicht zu, sie um die intime Ansprache beim Vornamen zu bitten. "Warum bleiben wir nicht einfach bei dem, was wir schon vereinbart hatten?" Brachte sich Ryuuji wieder in die Unterhaltung ein. "Go-chan, Eri, Kenji, Youji und Ryuu?" "Genau." Kenji stellte mehrere Teller und Schüsseln ab. "Wir, die verrückte Familie Sagara! Und jetzt wird gegessen!" Damit war für ihn alles geklärt. ~+~ Epilog In einer schlichten Zeremonie heiratete Kenji Sagara seine geliebte Eri tatsächlich an einem frühsommerlichen Tag im Mai. Nachdem im Familienregister die benötigten Korrekturen angefertigt worden waren. Auch das Ehepaar Isaki wohnte der Eheschließung bei, sichtlich stolz auf ihren Enkel Youji. Nicht ganz so geheuer waren ihnen die beiden anderen männlichen Mitglieder der Familie Sagara, die händchenhaltend dem Oberhaupt das Geleit gaben. Gorou und Ryuuji störten sich aber nicht an scheelen Blicken, dazu ging es ihnen miteinander viel zu gut. Zudem bildeten sie auf ihre Weise eine weitere Attraktion des kleinen Ortes, wenn sie gemeinsam auftraten, gleich groß, athletisch gebaut, ausreichend modisch ausstaffiert und stets gut gelaunt, sich gegenseitig neckend. Für die Zukunft, zumindest hatte das der Familienrat so beschlossen, sollte Eri in der Bäckerei arbeiten, während Ryuuji sich um die Bar bemühte, bis man nötigenfalls einen Käufer fand. Dieses Arrangement würde es dem notorischen Abenteurer Ryuuji auch erleichtern, an Ort und Stelle zu bleiben, um in Gorous Nähe zu sein. In Tokio durften Toi und Akira ihren Vorgänger Arisada übertrumpfen, indem sie auch im dritten Oberstufenjahr unangefochten als oberste Schülervertreter fungierten. Doch trotz der bevorstehenden Prüfungen, ihres Ehrenamtes und der ungewissen Zukunft waren die beiden bester Dinge, denn sie hatten sich für die Sommerferien einen langen, gemeinsamen Urlaub auf Okinawa organisiert. Fernab aller Bevormundungen, aufdringlicher Mitschüler und Familienmitglieder. Definitiv abgeschnitten von vorgeschobenen, geschäftlichen Terminen zur Vorbereitung als Direktor. Auch ohne stabile Schreibtische ein sehr erinnerungswürdiger Urlaub. Ebenfalls in der Metropole gönnten sich Maki und Yoshiaki wie jeden Sonntag ein langes, gemeinsames Frühstück, während sie die Details für eine gemeinsame Geschäftsreise diskutierten. Man konnte zusammen die verborgenen, kulinarischen Schätze entdecken und neue Trends für die jungen Großstadt-Gourmets entwickeln! Zudem beabsichtigte Yoshiaki, mehr oder weniger heimlich, zu Makis Geburtstag eine hübsche Show-Küche für Kochkurse auszurüsten, damit Edanis Delikatessen einen weiteren Anziehungspunkt gewannen. Viele Kilometer entfernt räkelten sich Iris und Anais in einem Sonnenfleck auf dem neuen Kokosfaserteppich, nach ihrer Auffassung der perfekte Ort, um sich zu amüsieren und im Traum vielen bunten Bällen nachzujagen, die Marius perfider Weise nach dem Spielen wieder in eine kleine Tonne einsperrte. Besagter Marius wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, denn er hatte endlich die frisch gewaschenen, neuen Gardinen montiert. Nun schmerzten seine Schultern ordentlich von der ungewohnten Anstrengung. Das geriet in Vergessenheit, als er den Schlüssel in der Wohnungstür hörte, womit sich Istvans Rückkehr nach einer Sonderschicht ankündigte. "Guten Morgen." Marius nahm Istvan den Rucksack ab, küsste ihn aufmunternd auf eine Wange mit Dreitagebart. "Hast du noch Hunger, oder möchtest du lieber sofort in die Falle?" "Irgendwie vermisse ich die dritte Option!" Istvan seufzte tief bekümmert. Marius stutzte verwirrt. "Dritte Option?" "Ja." Unvermittelt hatte eine forsche Hand seinen Hosenbund attackiert und ihn herangezogen. "Du als mein Betthupferl!" Anais und Iris riskierten je ein tief blaues, wachsames Katzenauge, bevor sie einträchtig gähnten und sich streckten. Mit den beiden Hausgenossen würde in den nächsten Stunden garantiert nichts anzufangen sein! ~+~ ENDE ~+~ Vielen Dank fürs Lesen! kimera