Titel: Freie Radikale Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Seifenoper Erstellt: 18.08.2014 Disclaimer: alle Rechte obliegen den Inhabern, Mangaka und Verlagen. §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ §-#-§ Freie Radikale Kapitel 1 - Katze aus dem Sack "Ich hasse den Frühling!" Schnaubte Thierry Cavallino und wischte mit der Linken eine Locke aus seinen Wimpern. Durch den Nieselregen und die allgemein hohe Luftfeuchtigkeit kringelten sich seine Naturwellen noch stärker, während ihm Hose, T-Shirt und Regenjacke gleichsam auf der Haut klebten. Und das war nur EIN Umstand, der seine Stimmung an diesem Morgen in ungekannte Tiefen abstürzen ließ! Unleidlich rollte er das Eukalyptusbonbon in seinem Mund umher, bis er es erneut unter den Gaumen schmiegte, kein Geschmack, den er mochte, aber das zweite Übel an diesem Morgen (und leider permanenter Begleiter in diesen Monaten!), nämlich eine ausgedehnte Gräserpollenallergie, die ihn heimsuchte, konnte mit dieser chemischen Zuckerkeule zumindest temporär in Schach gehalten werden. Seine beleidigten Geschmacksknospen mussten da eben zurückstehen! Schlimmer ging jedoch immer, wie Thierry wusste. Als wären Witterung, Jahreszeit und Schnodderseuche nicht schon lästig genug, gab es noch eine gänzlich unerwünschte Dreingabe! Diese brachte ihn dazu, mit den Zähnen zu knirschen und finstere Mordpläne zu schmieden. Das vertraute Schnurren kleiner Rollen erregte seine Aufmerksamkeit, sodass er den Schirm in der Rechten anhob und mit der freien Linken die Kapuze auf den Rücken schlug. "He." Krächzte es neben ihm. "He." Antwortete Thierry höflich. In diesem knappen Austausch entfaltete sich eine ganz eloquente Unterhaltung, nämlich ein höflicher Morgengruß, gefolgt von einer Erkundigung nach dem werten Befinden und einer resignierten Kommentierung der aktuellen Wetterlage, sowohl lokal als auch global. Außerdem versicherte sie dem jeweiligen Empfänger eine enge Freundschaft und Vertrautheit. "Brass?" Erkundigte sich der schmale Junge auf dem Skateboard aufmerksam, lupfte den australischen Outback-Hut ein wenig, um das darunter befindliche Kopftuch an der blanken Stirn zu justieren. Thierry verstand auch diese kryptische Frage mit einer volkstümlichen Vokabel aus dem örtlichen Dialekt ohne große Mühe. "Henning!" Knurrte er grimmig und zog die schmächtigen Schultern noch höher unter den schweren Lederträgern seines Tornisters. "Oha!" Bemerkte sein Trabant mitfühlend, grub in der Känguru-Tasche seines Regencapes eine Lakritzschnecke aus und bot sie freigiebig an. Eigentlich sollte Thierry ablehnen, das wusste er, denn es verdarb nicht nur gänzlich jedes Geschmacksempfinden, wenn er Schnecke und Bonbon kombinierte, sondern veranlasste seinen besten (und einzigen) Freund Dominique auch dazu, sich selbst eine Schnecke zu genehmigen. Das sollte Niq, wie er gelegentlich gerufen wurde, tunlichst unterlassen, wollte er nicht unter den Folgen seines Exzesses leiden! Thierry griff zu, knurrte, "danke!", fädelte gekonnt die Schnecke zu einer langen, schwarzen Schnur auf. Quasi einer Lunte zu seiner explosiven Stimmung! "Hmm!" Pflichtete Dominique ihm bei, ließ sein Skateboard ausrollen, trat kräftig auf das hochgezogene Ende und katapultierte das Brett geschickt in seine freie Hand. Hier wurde seine freundschaftliche Aufmerksamkeit gefordert, ganz offenkundig. Es wäre ausgesprochen unhöflich gewesen, simpel neben Thierry vor sich hin zu rollen! "Dieser...!!!" Thierry kaute zornig Lakritz und ballte die freie Faust, während er den Schirm über sie beide hielt. "Verstehe." Dominique war über die Situation en detail im Bilde und hätte Thierry niemals widersprochen, wenn sein Freund den Erzfeind Henning Brauer als ein ausgemachtes Brechmittel auf zwei Beinen deklarierte. "Es muss doch möglich sein, den Kotzbrocken abzuservieren!" Thierry drehte den Kopf und funkelte erbost in wasserblaue Augen unter weizenblonden, kaum erkennbaren Augenbrauen und Wimpern. "Was hat er denn dieses Mal angestellt?" Dominique mümmelte seine Lakritzlunte betont nicht über die Mundwinkel. Er mochte zwar hin und wieder rebellisch sein, aber masochistisch war er nicht! "Er hat meiner Mutter gestern gesagt, ich würde ja ohnehin bald ausziehen, wenn ich mit der Schule fertig bin!" "Krasser Fehler" Wertete Dominique sofort, denn jedes Muttertier, dem auch nur angedeutet wurde, der innig geliebte Nachwuchs würde bei erstbester Gelegenheit die Flucht ergreifen, reagierte dann wie eine Furie. Und zwar nach dem griechischen Original! "Der Schweinepriester macht das extra!" Thierry schäumte. "Er weiß, dass meine Mutter zu nachsichtig mit ihm ist!" Bedauerlicherweise war in jenen Momenten kein Filetierbesteck in der Nähe, das unfalltechnisch für Erlösung und mildernde Umstände sorgen konnte! Dominique kannte Freya Cavallino. Sie hatte das Gardemaß nordischer Göttinnen, eine unerschütterlich gute Laune und neigte grundsätzlich dazu, Männer nicht als Galane um ihre Gunst wahrzunehmen. Das waren Nachbarn, Arbeitskollegen, Bekannte, Kumpel... Was Henning Brauer jedoch nicht davon abschreckte, ihr penetrant und aufdringlich den Hof zu machen! Dieses Unterfangen gestaltete sich jedoch schwieriger als erwartet, da Thierrys Mutter in ihrem Beruf aufging, Kolumnen verfasste, Reportagen konzipierte und ein untrügliches Gespür für die Themen des Augenblicks besaß. Flirtversuche registrierte sie häufig gar nicht oder verschob sie mit einem höflichen Lächeln auf irgendwann, um sich dem anstehenden Artikel zu widmen. "Tja." Dominique zuckte mit den knochigen Achseln. "Bei mir reicht es normalerweise, wenn ich mich vorstelle. Aber da dieser Vogel dich schon kennt, müssen wohl andere Methoden her." Thierry schnaubte und wagte einen Seitenblick auf seinen Freund. Die Feststellung war zwar sachlich vorgebracht und entsprach auch der Erfahrung, doch in Untertönen konnte er nicht ignorieren, dass Niq litt, denn im Gegensatz zu Freya Cavallino hätte Jacqueline Reitze gern einen neuen Lebenspartner gefunden. §-#-§ "Also, hast du eine Idee?" Dominique ließ sich neben Thierry auf die Bank sinken. Gerade hatte man für das Basketballspiel die Mannschaften zusammengestellt, und, oh, Überraschung!, er fand sich mit seinem besten Freund im Abseits der Bankdrücker wieder. Das war durchaus verständlich, denn Thierry maß mit seinen knapp 17 Jahren gerade mal 1,70m auf Socken und hatte nicht viel Kampfmasse aufzuweisen. Und er selbst? Tja. Tja, er konnte zwar 5 Zentimeter mehr für sich verzeichnen, aber besonders bei körperbetonten Spielen blieb er außen vor, nicht nur wegen seiner schlaksig-spindeldürren Gestalt, sondern weil er die "Mumie" war. Oder der "Zombie". Gedankenverloren klopfte er auf seine Armbeuge, konzentrierte seinen Atemrhythmus. Wäre es um Selbstbeherrschung, Autogenes Training oder Zen-Übungen gegangen, so hätte er sämtliche seiner Klassenkameraden locker in den Schatten gestellt. Diese Qualitäten waren jedoch nicht gefragt. Auch nicht seine Nähe, obwohl jeder wusste, dass seine Disposition nicht virulent war, doch der Aberglaube, dass Unglück ansteckend war, Außenseitertum überspringen konnte, sorgte für eine unüberwindliche Distanz. "Ich dachte dran, irgendwas zu unternehmen, damit sie ihn feuern!" Thierry ballte die Fäuste. "Aber dann habe ich herausgefunden, dass der Blödmann gar nicht angestellt ist!" "Zu drastisch sollte es ja auch nicht sein, wenn deine Mutter mit ihm zusammenarbeiten muss." Ergänzte Dominique aufmerksam. "Ja, leider!" Grollte Thierry unversöhnlich. Tatsächlich wäre es keine besonders kluge Strategie, so viel Flurschaden zu verursachen, dass seine Mama darunter litt! "Wie wäre es denn mit Konkurrenz?" Dominique stellte das Klopfen der Wundstellen ein und richtete sich auf. "Ich meine, vielleicht hat er ja eine andere Flamme, die man auftreiben könnte?!" "Aussichtslos!" Seufzte Thierry und stützte das spitze Kinn in die Handfläche. "Habe ich schon eruiert. Es gibt zwar eine Praktikantin, aber die steigt wohl mit einem Redakteur in die Kiste, und der Typ ist so egomanisch, dass er sich gar nicht für irgendein Betthäschen interessiert!" "Zumindest nicht, wenn's keine ist, die ihn anhimmelt, wie?" Brummte Dominique finster. Er hatte schon so einige Rosenkavaliere aufkreuzen sehen, die mit ihrem Verhalten viel Kummer bei seiner Mutter ausgelöst hatten. "Jedenfalls muss der Kerl weg!" Thierry ging keine Kompromisse ein. Dazu hatte er, der viel mehr ahnte als alle anderen, auch jeden Grund. §-#-§ "Absolut TWILIGHT!" "Nee, ich fand Hugh Jackman in Van Helsing viel geiler!" "Der war aber doch kein Vampir!" "Meine Mutter hat tatsächlich diesen Oldman in Dracula angehimmelt, voll abartig!" "Abartig seid ja wohl ihr!" Grummelte Thierry in sich hinein und wünschte sich einen eigenen Tisch, ohne die blöde Unterhaltung der Unterstufen-Hühner. "Über was reden die da?" Dominique marschierte heran, zog sich den freien Stuhl neben ihm zurück und ließ sich fallen, bevor er aus seinem Rucksack den üblichen Dosenreigen produzierte. "Vampire!" Schnaubte Thierry grummelnd und spießte bauchige Nudeln auf, während er die schwarzen Augen verdrehte. "Ach so! Also, am Besten sind natürlich D und Alucard aus Hellsing Ultimate! Und, okay, ich gebe zu, Johnny Rayflo ist ziemlich sexy, wenn man auf diesen Typ steht." Dominique war sofort im Thema. Thierry schenkte ihm einen warnenden Seitenblick. "Ist doch alles Humbug!" "Wer weiß?" Dominique grinste herausfordernd. "Nur, weil einem noch keiner begegnet ist, heißt das ja noch nicht, dass es nicht möglich ist!" "Pah!" Knurrte Thierry und hoffte, Dominique würde sich auf sein Mittagessen konzentrieren. Der kannte sich zu Thierrys Leidwesen mit dem Sujet recht gut aus, weil sein Vater dazu neigte, ihm immer mal wieder Comics, Manga und DVDs zu kaufen, wenn sie sich an den Besuchstagen doch nicht treffen konnten. Da Dominique mitteilsam war (wenn man ihn ließ), blieb Thierry keineswegs verschont. "Ischd diää shhn wasch ngeflln?" Dominique kaute gründlich die Rohkost. Er musste eine strenge Diät einhalten, nicht etwa der Figur geschuldet, sondern seiner Neurodermitis, die extrem leicht reizbar war und dazu neigte, von der Haut auch auf andere Organe zu expandieren, wenn man nicht aufpasste. Geübt im Dechiffrieren kryptischer Äußerungen während der Nahrungsaufnahme schüttelte Thierry frustriert den Kopf. Nein, leider hatte sich noch kein entscheidender Geistesblitz verirrt, der das Henning-Problem wirklich lösen konnte! "Kommt bestimmt noch!" Munterte Dominique ihn loyal auf. "Ach, übrigens!" Er stippte Thierry sanft mit dem Ellenbogen in die Seite. "Willst du heute noch kurz bei mir vorbeikommen? Ich habe doch letztens auf dem Flohmarkt so ein altes Spiel gekauft, das ist echt lustig!" Er war sich recht sicher, dass Thierry mitspielen konnte, auch wenn dessen Augen mit Bildschirmen so ihre Schwierigkeiten hatten. Sein Sitznachbar erwog kurz die Optionen. Er hatte zwar noch Wäsche aufzustellen und dann aufzuhängen, doch ansonsten keinen Zapfenstreich, da seine Mutter heute länger unterwegs sein würde. Was konnte es also schaden, bei Niq vorbeizuschauen, wieder mal festzustellen, dass er mit Bildschirmen Sehprobleme bekam und deshalb bei Computerspielen eine totale Null war? Zumindest Niq würde es bestimmt aufmuntern. Damit wäre wenigstens eine gute Tat für diesen Tag zu verzeichnen! §-#-§ Der Regen hatte definitiv nicht gereicht, die Seuche in erträglichen Grenzen zu halten! Thierry schniefte hinter den getönten Gläsern seiner Brille mit staubtrockenen, rötlich entzündeten Augen und presste vehement die Zunge gegen den Gaumen. Das half leider nur wenig, denn wenn die Schnodderseuche eine erfolgreiche Attacke geritten hatte, kam sie mit Vehemenz und Verstärkung zurück, weshalb ihren Pfad auch zahlreiche Papiertaschentücher in jedem erreichbaren Abfallkorb markierten, und Thierry bereits die zweite Rotzbatterie (seine Bezeichnung für die Taschentuchpackungen) öffnete. Eine weitere, heftige Niesattacke überfiel ihn, sorgte für Schnäuzen und Husten, während ihn leicht schwindelte durch den Unterdruck der ausgelösten Explosion. Natürlich umwölkten sie förmlich in der Backofenhitze des Frühabends die Pollen und Flusen!! Verdammte Pestilenz! Dominique warf einen besorgten Blick auf seinen besten Freund, der nur noch nach Gehör steuerte. Er wusste, dass die Allergie Thierry sehr zu schaffen machte. Außerdem litt der unter Lichtempfindlichkeit und krächzte wie ein Kolkrabe vor sich hin. Immer wieder stupste er unauffällig einen Ellenbogen an, um Richtungskorrekturen zu initiieren. "Wir sind gleich da." Verkündete er wiederholt und fühlte sich ein wenig schuldig, Thierry diesen Ausflug zugemutet zu haben. Das Spiel hätte ja auch wirklich noch warten können! "HmmHmm." Thierry trompetete, aber das half kein bisschen. Der verdammte Schnodder lief wie Wasser einfach nach, während ihm die Zunge wie ein alter Flokati förmlich im Hals hing! Von seiner Kehle ganz zu schweigen, die wahrscheinlich schon von ganzen Flusenpolleninvasoren besetzt war! Eine weitere bellende Attacke näherte sich mit der Ur-Gewalt einer Stampede! "Hää-hhffnnn! Hää-hffnnn!! Häää-hfffnnn! Häää---UuUuuUUUUUU!!!" Dominique, der immer höflich geradeaus starrte, wenn Thierrys armer, vermutlich schon brummender Schädel, von gewaltigen Anfällen nach vorne gerissen wurde, wandte sich alarmiert zu ihm. Während Thierrys Linke mit dem Papiertaschentuch den Schnodder aufzuhalten versuchte, gewährte sein aufgerissener Mund Blicke in Untiefen, jedoch eingeschränkt, denn zwei nadeldünne, durchscheinende Dornen hatten sich durch seine Unterlippe getrieben, sie durchstochen und verursachten nun zwei blutige Rinnsale, die über das spitze Kinn Richtung Boden glitten. §-#-§ Thierrys Winseln, die Rechte, die ungelenk über Kinn und Wangen wischte, die hinter den Brillengläsern weit aufgerissenen Augen... Urteilte man zumindest nach den dünnen, hochgezogenen Augenbrauen: hier bahnte sich ein mächtiges Problem an! "Vampir!" Brabbelte Dominique ungläubig, denn nichts anderes konnten diese seltsamen Dornen bedeuten, die aus Thierrys Gaumen unterhalb der oberen Zahnreihe geschossen waren! "HNnnHGGHNNN!!" Blut, Speichel und dünnflüssiger Schleim in einer unappetitlichen Melange tropften auf das Trottoir, sprenkelten Thierrys Hemd und veranlassten Dominique, eiligst in die Gegenwart zurückzukehren. "Was soll ich jetzt tun? Kannst du die... Dinger nicht einziehen?" Beunruhigt kramte er selbst nach einem Taschentuch, bemühte sich, den Schaden einzudämmen, fürchtete sich aber davor, durch eine ungeschickte Bewegung seinem Freund weitere Schmerzen zuzufügen. Dem wurde es langsam blümerant vor Augen. Er hatte keinerlei Kontrolle über das Geschehen, verschluckte sich an unsäglich widerlichem Nasenschleim und in seinen Ohren dröhnte noch der Knall des Kiefergelenks. "Hilfe." Murmelte Dominique ratlos. "Wir brauchen Hilfe!" Just in diesem fragilen Moment kehrte Herr Emil Sandemann, in der Rechten den sorgfältig geleerten Mülleimer, in der Linken die gefaltete Stofftasche für sorgsam in Zeitungspapier eingeschlagene Bio-Abfälle, zum Haus zurück. Seinem T-Shirt nach zu urteilen ("Misanthrop aus professioneller Überzeugung!") befand er sich bereits im Feierabend-Freizeit-Modus. "Herr Sandemann! Herr Sandemann, bitte, wir brauchen Hilfe!" Tapfer versperrte Dominique dem Nachbarn aus dem zweiten Stockwerk den Weg. "Mein Freund ist verletzt!" Herr Sandemann warf einen konsternierten Blick auf das verschmutzte Trottoir, das bekleckerte Hemd und dann die aufgespießte Unterlippe. "Das kann ich sehen. Ihr solltet diese Piercing-Sachen von Profis durchführen lassen." Bemerkte er trocken. "Also, das ist kein Piercing." Dominique wich nicht, während Thierry neben ihm taumelte. "Bitte, es geht ihm nicht gut!" Unterdessen hatte Herr Sandemann die Brille höher auf den Nasenrücken geschoben, die Augen zusammengekniffen und die Brauen kritisch gekräuselt, sich tiefer gebeugt und das scheinbar missglückte Kunststück inspiziert. "Kurios." Kommentierte er sachlich. "Habe so was noch nie bei Säugetieren gesehen. Ist das so eine neue Reptil-Mode?" "Nein!!" Dominique, der in knappen Worten über das Motto seines Nachbarn aufgeklärt worden war ("Menschen sind unausstehlich! Widerwärtige Bande! Kannst du jeden Tag aufs Neue sehen! Selbst die Bäume haben sie herunter geschmissen, und die tolerieren sogar Schaben!"), gab sich nicht geschlagen. "Das ist beim Niesen passiert! Heuschnupfen!" "Aha." Herr Sandemann hielt diese Behauptung für fragwürdig, war jedoch interessiert. "Nun, es ist eine ziemliche Schweinerei. Wenn der Habicht das sieht, steckst du in Schwierigkeiten." Dominique schauderte. Der Habicht, das war die Nachbarin aus dem Hochparterre, Frau Meckenröder, eine Petze vom Dienst. Die kleinste Verfehlung wurde sofort der Hausverwaltung mitgeteilt! Sie hatte an ihrem Rollator extra einen Halfter für einen Fotoapparat befestigt und sich das Mobiltelefon um den Hals gehängt, wenn sie auf Patrouille war. Flehend blickte er in die schwärzlich gefleckten, braunen Augen des erklärten Menschenverabscheuers. "Hmm." Knurrte Herr Sandemann, seufzte übertrieben laut und rollte die Augen. "DESWEGEN kann ich Menschen nicht ausstehen! Immer haben sie was!" Damit deponierte er die Stofftüte im säuberlich leeren Mülleimer, packte Thierry am linken Ellenbogen. "Emil Sandemann, unwilliger Samariter, der das ganz bestimmt bereuen wird. Unangenehm, deine Bekanntschaft zu machen, was zweifellos auf Gegenseitigkeit beruht." Thierry konnte nicht folgen, fühlte sich pilotiert und hustete würgend. "Danke schön, Herr Sandemann!" Skandierte Dominique an seiner Stelle erleichtert. "Das ist mein Schulkamerad Thierry Cavallino." "Aha. Und er ist entweder eine mutierte Säugetier-Reptil-Schimäre oder fungiert als talentfreier Vampir." Bemerkte Herr Sandemann ebenso beiläufig wie bissig. "Also, das hat er bisher noch nie gemacht." Dominique tigerte hinter dem ungleichen Duo eilig hinauf in die zweiten Stock. "Nun, ich würde es auch nicht als neues Hobby empfehlen." Schnurrte Herr Sandemann, schloss seine mit schweren Bolzen gesicherte Wohnungstür auf und beschied seinen unerwarteten Gästen kategorisch. "Die Füße auf die Zeitung! Ich will keinen Dreck in der Bude haben!" Weshalb nun von Papierinsel zu Papierinsel ins Wohnzimmer gehopst wurde. §-#-§ Herr Sandemann wusste, was zu tun war, hoffte Dominique zumindest, der von seinem Nachbarn durchaus fasziniert war, weil der ungeniert niemanden mochte, ganz im Allgemeinen, und einige noch weniger im Speziellen. Dazu konnte man ihn aber hin und wieder, wenn man ganz ratlos und verzweifelt war, nach Antworten fragen. Die kamen, zynisch, sarkastisch, ironisch, bissig, gehässig, forsch, barsch bis kurz angebunden, aber sie halfen weiter. Was man auch über Herrn Sandemann sagen konnte: er war höflich, grüßte, trennte den Müll ordentlich, neigte nicht zu überlautem Musikgenuss, feierte keine wilden Partys, blockierte nicht den Keller mit seinem Fahrrad oder stapelte seine Schuhe im Treppenhaus. Das wog seine Einstellung und die eindeutigen T-Shirt-Motti auf. Unterdessen hatte Herr Sandemann die Slipper abgestreift, aus einem Schrank ein altes Handtuch gezogen, um Thierrys Schultern gewickelt, diesen auf seine Couch mit sehr aufrechtem Rücken platziert (Lümmeln schied hier definitiv aus) und erteilte wie ein Feldwebel Anweisungen. "Dominique, füll die Gießkanne mit Wasser und beseitige die Spuren bis zum Gehweg, ja? Hier, da ist ein Lappen für die Treppenstufen." "Thierry, Kopf in den Nacken! Ich weiß, das ist widerlich, aber das Leben ist schließlich kein Ponyhof!" Dominique fühlte sich dazu veranlasst, Thierry zu versichern, er werde gleich wieder bei ihm sein, um nicht wie ein Feigling zu erscheinen, dann eilte er los, um seine Schultasche und das Skatebord erleichtert, seine Aufgaben zu erfüllen. Herr Sandemann marschierte mit absichtsvollem Gesichtsausdruck in die Küche, öffnete den Eisschrank, entnahm ein Stieleis mit drei Geschmackssorten, wickelte es in ein Küchentuch und kehrte zu Thierry zurück. Die Behelfskühlung in dessen Linke gedrückt kommandierte er. "Da, auf die Lippe halten! Das haben wir gleich!" Mit dieser zuversichtlichen Ankündigung wandte er sich einer imponierenden Regalwand zu, wählte zielsicher einen schmalen, hochformatigen Band aus, schlug ihn auf, nachdem er sich sicherheitshalber die Hände an den Hosenbeinen abgewischt hatte, inspizierte den Inhalt, warf einen prüfenden Blick auf den mühsam ächzenden Thierry, dem mittlerweile speiübel war. Es klopfte, und Herr Sandemann eilte, Dominique wieder einzulassen. "Gut, ich denke, ich habe eine Lösung! Setz einen Wasserkessel voll auf." Erneut wurde der Schrank konsultiert. "Dann hältst du dieses Handtuch über den heißen Dampf, verstanden?" "Ist gut!" Nickte Dominique, der zwar Sinn und Zweck nicht begriff, aber willig war, bei jeder Handreichung zu assistieren, um seinem Freund beizustehen. Herr Sandemann enteilte unterdessen in sein Badezimmer, requirierte Vaseline, Pflaster, eine Schere, dazu Mundwasser und eine Rolle Toilettenpapier. Bewaffnet mit dieser Ausrüstung nahm er neben Thierry Aufstellung, der durch seine von brennenden Augen eingeschränkte Sicht glücklicherweise nicht ahnte, was ihm blühte. Dominique erschien mit dem dampfgewässerten Handtuch, "und jetzt?" "Über den Kopf damit!" Herr Sandemann inspizierte das aufgeschlagene Buch. Kaum, dass das Handtuch Thierrys Kopf einhüllte und er von der unerwarteten Hitze aufstöhnte, spreizte Herr Sandemann entschlossen die Finger, presste sie sofort vorwarnungslos in Höhe der Wangenknochen bei den Ohren ins Fleisch. Er schob nach oben, es knackte vernehmlich. Thierry schrie auf. Der verschreckte Dominique sah, wie die aufgespießte Unterlippe freikam, die Dornen blitzartig verschwanden. "So weit, so gut." Konstatierte Herr Sandemann zufrieden. "Jetzt wird operiert!" Damit befleißigte er sich unerbittlich darin, die Wunden mit Mundwasser zu desinfizieren, von außen mit Vaseline zu beschmieren, einzupflastern und von innen mit Streifen Toilettenpapier auszukleiden. Dominique staunte eingeschüchtert und verzehrte ohne bewussten Entschluss das Stieleis, das zur Kühlung gedient hatte. §-#-§ Nur eine Viertelstunde später, auch wenn es sich eher wie Ewigkeiten anfühlte, saßen Thierry, Dominique und Herr Sandemann auf der sehr aufrechten Couch. Man trank stark gesüßten Kamillentee (desinfiziert von innen), zwei der Herren aus der Teerunde aus hübschem Porzellan, der dritte mittels Strohhalm im Mundwinkel aus Melanin. "Echt genial!" Lobte Dominique erneut, denn das vermeintlich anatomische Lehrbuch, das der tollkühnen Operation gedient hatte, erwies sich als Comicband zu einer bestialischen Mordserie. Darauf musste man erst mal kommen! "Zweckdienlich." Nickte Herr Sandemann beipflichtend. "Was mich nun zu der Frage verleitet, wieso jemand Dornen im Oberkiefer spazieren trägt!?" Thierry knurrte leise und zog die schmalen Schultern hoch. So langsam ging es ihm etwas besser. Er konnte auch die Papierrollen schon entfernen, aber die Inquisition erfreute ihn gar nicht. "Ich wusste gar nicht, dass du ein Vampir bist!" Dominique hielt sich nicht lange mit Feinfühligkeit auf. "Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke, du bist schon ein Kandidat!" "Vampire gibt's nicht" Herr Sandemann wurde kategorisch. "Das ist bloß eine Erfindung! Und völliger Humbug, rein physikalisch betrachtet!" "Eben." Brummte Thierry unwillig. "Aber du hast diese Hauer im Mund!" Dominique gab sich nicht so leicht geschlagen. "Du bist lichtempfindlich! Du hast schöne, schwarze Locken und Augen, trägst meist Hemden und schicke Hosen, willst nicht in die Sonne." "Das beweist gar nichts! Ich löse mich ja auch nicht in Fledermäuse auf oder schlafe im Sarg!" Konterte Thierry beleidigt. "Schon...oh! OH!" Dominiques wasserblaue Augen wurden tellergroß. "Die Schlange! Und die Mäuse!!" Während Thierry den Kopf zwischen die Schultern zog, mischte sich Herr Sandemann ein. "Welche Schlange?!" Er konnte Schlangen überhaupt nicht leiden! "Na, Thierry hat eine Schlange, aber sie ist kein Kuscheltier oder so!" Dominique hockte noch aufrechter, als es die Couch verlangte, balancierte auf der Kante, während er an den Fingern abzählte. "Er hat extra eine Mäusefarm, und Mäuse haben ja auch Blut! Der Schlange macht's bestimmt nichts aus, wenn sie die Mäuse ein bisschen trockener futtern darf! Perfektes Arrangement!" "Mäuse? Igitt!" Herr Sandemann verzog die Mundwinkel. "Das ist aber keine sehr fortschrittliche Lösung!" "Aber pragmatisch!" Sprang Dominique seinem Freund ritterlich zur Seite. "Außerdem hält Thierry alles immer sehr sauber und reinlich! Grundsätzlich ist es doch eine gute Idee!" "Ausgenommen für die Mäuse." Bemerkte Herr Sandemann spitz, der Mäuse, sofern nicht im pekuniären Sinn gemeint, auch nicht leiden konnte. "Doch, ganz sicher sogar!" Dominique gestikulierte agitiert. "Auch wenn Thierry bei Computerspielen eine Niete ist, aber seine Reflexe sind unglaublich! Ich wette, wenn er eine Maus murkst, dann merkt die das nicht mal!" "Oh, sehr HUMAN!" Ätzte Herr Sandemann zynisch. "Also sprechen wir hier über eine Win-Win-Situation, wie es so unerträglich Neudeutsch heißt, was?!" "Ich geh heim." Murmelte Thierry, denn die beiden beömmelten sich mit ihrem Schlagabtausch amüsiert, während sein Leben gerade mit Hochgeschwindigkeit den Bach runterging! "Davon würde ich abraten." Herr Sandemann schoss einen scharfen Blick aus den gefleckten Augen ab. "Du siehst ziemlich tattrig aus. Flucht ist sinnlos, die Katze ist aus dem Sack." Unerfreulicherweise konnte man ihm da nicht widersprechen. "Also ein echter Vampir!" Dominique staunte ihn höchst erfreut an. "Das ist so COOOOOOOL!" "Wobei ich es dennoch für fragwürdig halte, sich mit Mäuseblut aufzuputschen." Herr Sandemann stocherte ungeniert weiter. "Ich gehe davon aus, dass irgendein Enzym oder etwas Ähnliches fehlt, das dann mit dem Speichel aufgenommen wird. Was man heutzutage zweifellos auf andere Weise erzeugen könnte, wenn man den Mangel untersuchen würde. Wobei ich es für erstaunlich halte, dass dein Dentist sich nicht über diese ungewöhnlichen Extras verbreitet hat." Ein lässiger Plauderton, dennoch Nadelspitze um Nadelspitze, die Thierry gnadenlos traktierte. "Meine Zähne sind perfekt, herzlichen Dank!" Fauchte er giftig zurück. "Wie clever wäre es wohl, in die Öffentlichkeit zu treten mit solchen Problemen?! Da kann ich mich ja gleich zum Versuchskaninchen erklären!" "Korrekt." Herr Sandemann schien das Aufbegehren zu goutieren, die Augen funkelten erfreut, was seiner galligen Art keinen Abbruch tat. "Man weiß ja spätestens seit Dr. Frankenstein, was dabei herauskommt! Ich würde diese Dornen-Blutsaug-Geschichte ja für einen evolutionär gesehen toten Ast halten. Andererseits ist die Menschheit als einzige Affenbande mit einem Gehirn ausgerüstet, das hauptsächlich damit beschäftigt ist, die bewusst getroffenen Entscheidungen zu korrigieren und das Unterbewusstsein ständig in Schwierigkeiten zu bringen." "Meine Güte, sind Sie ätzend!" Feuerte Thierry ungewohnt ungezogen zurück. "Genau. Überzeugter Misanthrop!" Stolz deutete Herr Sandemann auf das Motto seiner Oberbekleidung. "Jeden Tag gibt's weitere Beweise für diese Einstellung! Was man von der Theorie der Evolution ja nicht gerade behaupten kann." "Hat ja auch keiner behauptet, es würde eine Verbesserung werden!" Grollte Thierry zurück. "Nun, ich kann jetzt auch keinen Vorteil in deinen Extras erkennen." Herr Sandemann grinste süffisant. "Was schon wieder einen Beleg für meine Feststellung bedeutet!" Dieser Punktsieg schien ihn mit diebischer Freude zu erfüllen! Thierry schnaubte enerviert. "Dann haben Sie uns also auch nur beigestanden, um sich zu beweisen, dass Menschen total dämlich sind?" "Exakt! Und überbewertet, kosmisch betrachtet" Herr Sandemann strahlte nun. "Ich wette, du stimmst mir zu, wenn ich sage, gerade JETZT hast du allen Grund, Menschen, vor allem spezielle Vertreter dieser Spezies, so gar nicht ertragen zu können! Quod est demonstrandum!" »Der Kerl hat nicht mehr alle Latten am Zaun!« Stellte Thierry resigniert mit brummendem Schädel fest. Zugegeben, eine gewisse Logik war nicht von der Hand zu weisen, aber sollte man nicht eher aufbegehren, sich verwahren gegen die Option, dass Menschen ein verdammt mieser Haufen von Zellanballungen waren?! "Sie sind ja nun aber auch ein Mensch." Mischte sich Dominique tapfer ein. "Ja, und GENAU deshalb habe ich auch allen Grund, Menschen an und für sich nicht zu mögen. Manche noch viel weniger als andere, das ist wahr, aber die grundsätzliche Tendenz lautet: ich kann Menschen nicht ausstehen!" Herr Sandemann nickte zur Bekräftigung entschieden, hocherfreut, sein Publikum unterhalten zu haben. "Und wenn Sie dann doch mal jemanden mögen sollten...?" Dominique lupfte eine hellblonde Augenbraue ratlos. "Oh, das vergeht schon wieder!" Herr Sandemann zeigte sich selbstsicher. "Das ist ja nur eine Phase. Wo wir gerade von Phasen reden: hat deine Mutation in der Pubertät eingesetzt, oder hast du schon immer diese Dinger im Mund spazieren getragen?" Schon war der Bluthund wieder auf der Fährte. "Das ist noch nicht so lange her!" Zischte Thierry und zerrte trotzig Pflaster von seiner Unterlippe. "Bevor Sie fragen: nein, ich kenne meine leiblichen Eltern nicht! Auch sonst niemanden, der so wie ich ist!" DAS, ganz unumwunden, stellte ihn allein und ohne Rat vor große Herausforderungen. §-#-§ Thierry hätte sich streng dagegen verwahrt, seine Lebensgeschichte (zumindest bis zu diesem unerfreulichen Augenblick) als "romantisch" oder "mysteriös-aufregend" zu kategorisieren. Sie war eher seltsam. Er wusste, dass auf das eigene Gedächtnis nicht sonderlich viel Verlass war. Wissenschaftlich galt es als erwiesen, dass man sich selbst seine Erinnerungen manipulierte, zu "wissen" glaubte, obwohl Tatsachen sich anders verhielten. Was er über sich selbst tatsächlich wusste, war sein Erscheinen auf einem großen Kopfbahnhof, geschätzte drei Jahre alt, in einen altertümlichen Matrosenanzug aus Leinenstoff gekleidet, bewaffnet mit einem gefütterten Umschlag, in dem sich eine auf Bütten gedruckte Visitenkarte befand. Mit einer schwärzlichen Tinte stand dort in Sütterlin-Schrift sein Name zu lesen: Thierry. Er war aufgefallen, ein unbegleitetes Kleinkind, das auf einer Betonstütze hockte und geduldig wartete. Die beiden Damen von der Bahnhofsmission erweckten trotz Uniform keine Ängste, er folgte ihnen in die Aufwärmstube und unterhielt sie in einer ihnen vollkommen fremden Sprache. Niemand verstand sie. Die Polizei, das Jugendamt, sämtliche hilfsbereiten Personen konnten sich nur darauf einigen, dass dieses Idiom einem slawischen Sprachraum angehören konnte, aber so richtig verstanden sie den völlig ruhigen Jungen nicht. Thierry konnte sich selbstredend nicht mehr an Details erinnern, er kannte sie nur aus Protokollen, die er später gelesen hatte. Offenbar hatte man ihm gesagt, er solle auf Uniformierte warten, artig sein und brav den Aufforderungen Folge leisten. Was er getan hatte. Nun, da ihn jedoch niemand wirklich verstand (umgekehrt galt die gleiche Barriere), verlernte er rasch die unbekannte Sprache wieder, passte sich an, mehr oder weniger zumindest. Natürlich suchte man nach seinen Eltern, nach Verwandten, nach Reisegruppen, nach Vermissten. Nach Hinweisen, die erklärten, warum ein auf ca. drei Jahre geschätzter Junge an einem Bahnhof ausgesetzt worden war. Ohne Ergebnis. Thierry kam zunächst in eine Pflegefamilie. Und noch eine. Und eine weitere. Innerhalb von zwei Jahren hatte er ganze acht Pflegefamilien verschlissen. Nicht durch Aufsässigkeit, Ungehorsam oder dissoziales Verhalten, nein, er war seinen Gastgebenden einfach zu unheimlich. Er mochte weder Kuschelstunden, noch verlangte er nach Stofftieren, Puppen, Spielzeug oder Trost. Er blätterte begeistert durch Bücher, verschmähte aber andere Kinder oder Haustiere. Dafür forderte er einen festen Tagesablauf, die Teilhabe an Hausarbeiten und die abgelegte Tageszeitung. Es herrschte eine gewisse Ratlosigkeit, weil Thierry ein eigentlich ungeheuer pflegeleichter Gast war, bloß in gewisser Weise unheimlich. Unnahbar. Distanziert. Daran konnte Thierry sich nicht mehr erinnern. Aber ihm war noch präsent, dass ihm all diese Menschen einfach fremd geblieben waren. Vielleicht hatte er auch einfach nicht das Bedürfnis nach einer Bindung gehabt? Dann wurde alles anders. Mittlerweile fünf Jahre alt, recht klein für sein Alter, ein richtiger Bücherwurm, ordentlich, sauber und höflich, wartete er in einer Kinder- und Jugendeinrichtung auf seine nächste "Chance", ein weiteres Pflegeelternpaar. Große Hoffnungen machte sich jedoch niemand mehr. Auftritt Giancarlo Cavallino mit seiner Gattin Freya, für Adoption schon zu alt, ein kurioses Paar, bei dem die Frau ihren Mann um Haupteslänge überragte. Ein "Maßkonfektionist für Fußbekleidung" und eine Frauenmagazin-Journalistin. Thierry wollte den Moment nie vergessen, als sie in den Besuchsraum eintraten, durch die Tür, die er aufmerksam belauert hatte. Der kleine, rundliche Mann mit der Halbglatze, den großen Händen, dem Schnurrbart, der an ein Walross erinnerte, so kluge, freundliche Augen, die ihn voller Freude in den Fokus nahmen, die dunkle, volltönende Stimme, die ihn begrüßte. Dahinter die imponierende Dame, hellrote, fusselige Locken, Waschbär-Look mit ungelenk aufgetragenem Makeup, eine Umhängetasche von der Größe eines Kleinwagens und Schokoladenflecken auf der zerknitterten Bluse. Sie lächelte freimütig, Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen inklusive. Ein seltsames Paar. Ein Pappa in spe, der ihm sein Schweigen nicht übelnahm, sondern im heimatlichen Idiom plauderte, eine ungewohnte Melodie an Silben, illustriert mit beredeten Gesten und einer quecksilbrigen Mimik. Thierry erinnerte sich an die atemlose Faszination, die ihn erfüllt hatte, dass alles andere im Raum aus seiner Wahrnehmung verschwunden war und nur diese beiden seltsamen Menschen seine gesamte Aufmerksamkeit bündelten. Er sprach gar nichts, hörte nur zu und staunte sie an. Zum Abschied kraulte ihm der gar nicht so große Mann durch die wolligen Locken, was Thierry üblicherweise mit blitzartigem Zurückweichen konterte, doch von dieser Hand ließ er sich gern liebkosen. Er durfte den neunten Versuch wagen, in eine große Wohnung Einzug halten, die ein wenig chaotisch, aber sehr gemütlich war, erfüllt mit Geschichten, dem Radio, dem Rascheln verstreuter Blätter, dem herzlichen Lachen seiner Mama in spe, den kräftigen Händen seines Pappas, die ihm Vertrauen in die Welt schenkten. So wurde aus dem unheimlichen Findelkind Thierry der zierlich-zähe Thierry Cavallino, ganzer Stolz seiner Eltern, die sich und ihn mit allen Stärken und Schwächen liebten. Ja, so was kam wohl in den Schnulzen häufiger vor, allerdings waren die Protagonisten dann hässliche Entlein und später schöne Schwäne, ebenfalls umgeben von schönen Schwänen! Thierry grübelte nicht über die Zeit vor seinen Eltern nach. Er entsann sich einfach nicht und basta! Warum auch eine komische Sprache pflegen, die niemand verstand, wenn man vom Pappa die Sprache seines Heimatortes lernen konnte? Und so viele andere Sachen? Jedenfalls war sein Leben einfach perfekt gewesen. Ohne Abstriche. Ein Leben in Luxus. Dem Luxus, geliebt zu werden, in die Welt eingeführt, gelehrt und unterstützt. Er war eines der wenigen Kinder, das mittags nach der Schule zum Vater in dessen Geschäft marschieren konnte, ihn dort an einer großen Hand nach Hause leitete, wo der Vater das Mittagessen zubereitete, man gemeinsam aß und sich vom Vormittag erzählte, eine gemeinsame, kurze Siesta auf der alten Couch einlegte, bevor man wieder zur Arbeit zurückkehrte! Thierry liebte den Geruch nach Leder und Politur in den hinteren Lager- und Werkstatträumen seines Pappas. Vorne wurde Maß genommen, geplaudert, erwogen, Vereinbarungen getroffen, doch hier hinten zauberte sein Pappa für jeden Fuß das passende "Kleid", hochwertige, langlebige Schuhe, Anschaffungen fürs Leben, die man noch reparieren konnte, wenn andere Schuhe bereits zu Hunderten im Müll gelandet waren. Er saß dann fröhlich Beine baumelnd (hier war das ausdrücklich erlaubt) auf der alten Sitzbank am Werktisch, erledigte unaufgefordert seine Hausaufgaben und hörte seinem Pappa zu, der immer etwas zu erzählen hatte, alte und neue Geschichten, was er im Radio gehört oder was sich vor abertausenden Tagen ereignet hatte. Es war das Paradies gewesen. Dann, unvermutet, als er in die Unterstufe ging, mittags nicht mehr nach Hause kommen konnte, was besondere Arrangements für die "Butterbrotdose" verlangte, war sein Pappa aus der Siesta nicht mehr aufgewacht. Ein Kunde fand ihn im mächtigen Polsterstuhl sitzend, den er für die Kundschaft bereithielt und der an einen Königsthron erinnerte, beinahe wie schlafend wirkend, aller Sorgen ledig. Gehirnschlag, Aneurysma, das waren bloß Worte, doch sie blieben dürr angesichts des bodenlosen Grams, der Thierry erfüllte. Er vermisste die starken Hände, die volltönende Stimme, die physische Präsenz seines Pappas so furchtbar, dass es ihm für eine Weile komplett die Sprache verschlug. Auch der Mama ging es nicht besser. Weil ihr Kummer ihm wehtat, entschloss er sich mit knirschenden Zähnen, dass sie gemeinsam kämpfen wollten! Es sich trotzdem schön machen wollten in einer Welt, in der der Pappa nicht mehr zum Greifen nahe bei ihnen sein konnte. Das kam auch in manchen Schnulzen vor, doch keine konnte nach Thierrys Meinung auch nur im Ansatz vermitteln, wie er sich als zehnjähriger Halbwaise gefühlt hatte. Gelegentlich gab es immer noch Momente, wo ihn die Trauer mit einem so heftigen körperlichen Schmerz überfiel, dass er die Luft anhalten, die Fäuste ballen, die Augen zukneifen musste, um nicht wie ein waidwundes Tier aufzubrüllen. Disziplin. Rücksichtnahme. Diese Werte hinderten ihn daran, sich gehen, den Druck in eine Explosion münden zu lassen. Gefühle, aufrichtige und wahrhaftige, verlangten auch Besonnenheit, deshalb hatte er, zwei Jahre nach diesem Unglück, auch darauf verzichtet, seiner Mama zu beschreiben, dass plötzlich merkwürdige Bilder vor seinem inneren Auge aufblitzten. Erinnerungen, die keine sein konnten, Ratschläge, die er befolgen musste. Weil die Pubertät ihn nicht nur scheinbar in einen Außerirdischen verwandelte. §-#-§ Kapitel 2 - Konspiration "Nun, das ist zwar eine Begründung, aber noch lange kein Hindernis." Herr Sandemann lächelte noch immer sehr aufgeräumt in seiner Begeisterung darüber, weitere Beweise errungen zu haben, dass man Menschen nicht mögen sollte, zumindest nicht, wenn man bei klarem Verstand war. "Es gibt bestimmt mehr Leute!" Dominique bemühte sich um Optimismus. "Man müsste bloß herausfinden, wie die das hinkriegen, mit dem Blut und so." Unsicher wedelte er eine erläuternde Geste in die Luft. "Auf den Gedanken bin ich auch schon gekommen!" Ätzte Thierry und schraubte sich hoch. "Aber das ist allein meine Sache! Jetzt werde ich gehen. Herr Sandemann, Niq, danke für die Hilfe! Guten Abend!" Steif und zackig vor Verärgerung stakste er zur Tür und zog sie betont leise ins Schloss. "Ziemlich geladen." Herr Sandemann nickte erfreut. "Der Energieschub sollte bis nach Hause reichen." "Vielleicht sollte ich ihm doch lieber nachgehen." Dominique erinnerte sich daran, dass Thierry ja eine Menge durchgemacht hatte und dann noch die blöde Allergie...! "Ah was, lass ihn ruhig ein wenig grollen." Herr Sandemann schüttelte den Kopf. "Jetzt will ich aber alles wissen: was ist unser kleiner Vampir für einer, und wo drückt sonst noch der Schuh?" Dominique blinzelte in die schwärzlich gefleckten, braunen Augen und wunderte sich doch über die unerwartete Hilfsbereitschaft eines professionellen Misanthropen. Nichtsdestotrotz erzählte er Herrn Sandemann von der Hausschlange, der Mäusefarm, der privaten Tragödie und zuletzt auch vom Henning-Problem. Möglicherweise gab es ja hier Experten-Tipps, wie man jemanden gründlich und erfolgreich vergraulte? §-#-§ Thierry köchelte tatsächlich auf kleiner, aber ausdauernder Flamme, während er steif nach Hause stapfte, seine Allergie, die brennenden Augen, die schmerzenden Kiefermuskeln und Herrn Sandemann verfluchte. Was für eine grottendämliche Situation! Sich selbst wie ein Vollidiot auch noch vor Zeugen die Unterlippe zu durchspießen! "Bescheuert!" Schnaubte Thierry und widerstand tapfer der Versuchung, dem Jucken seiner Augäpfel mit Kratzen weiteren Vorschub zu leisten. Bis jetzt hatte nicht mal er selbst die "Hauer" zu sehen bekommen, weil sie sich unerfreulicherweise nicht kontrollieren ließen! Wenn der, nun ja, Hunger, kam, er nicht mehr an sich halten konnte, dann nahm er eine Maus heraus, wischte ihr behutsam mit einen warmen, in Essig getränkten Lappen über die Haut und brach ihr blitzschnell, schneller als jeder bewusste Gedanke, das Genick, hielt sie sich an die Lippen... und zack! Nicht mal, wenn er gewollt hätte, wäre es ihm möglich gewesen, mit der Zungenspitze diese "Extras" zu ertasten! Sie schlugen zu, löcherten, benetzten sich mit dem Blut und zogen sich sofort wieder zurück. Er schmeckte zwar den metallischen Geschmack noch auf der Zunge, eine säuerliche Melange, aber das war es dann auch schon. Da half auch keine arhythmische Grimassengymnastik vor dem Spiegel! Nun jedoch war die Katze aus dem Sack! Jahrelanges, sorgfältiges Vermeiden von Zahnarztbesuchen, die geniale Idee mit der Mäusefarm und Schlangenverwertung: alles umsonst! Dekuvriert als Vampir! Und zwar einer von der Sorte, die schlecht sahen, sich dank Nieskanonade den eigenen Kiefer ausrenkten und dann auch noch die Schnauze aufspießten! Na, herrlich! Seine unterdrückte Wut über diese neuerliche Episode von Welt-gegen-Thierry wandelte sich in Sorge um. Was, wenn Niq sich nun gegenüber seiner Mama verquatschte?! Oder dieser Herr Sandemann herumposaunte, was für eine evolutionäre Sackgasse sich hier aufgetan hatte?! Wie sollte er bloß seiner Mama erklären, warum er fünf lange Jahre jede Gelegenheit hatte verstreichen lassen, sie in sein Geheimnis einzuweihen? Thierry presste die Lippen fest aufeinander und fixierte den Blick auf das Trottoir. Jetzt steckte er wirklich übel in der Klemme! §-#-§ Herr Sandemann war zweifelsohne ein komischer Vogel, aber auch wirklich genial! Befand zumindest Dominique, als er sich sehr gut gelaunt in die heimatliche Etage begab, sich etwas Basmati-Reis aufwärmte, dazu zerteilte Möhren und Lauch dämpfte und mit etwas süßem Senf verputzte. "Nicki, ich halte es nicht für eine gute Idee, wenn du unseren Nachbarn behelligst." Seine Mutter gab sich Mühe, diplomatisch Kritik zu üben. "Immerhin mag er keine Leute." "Oh, keine Sorge, Mutti." Dominique schaufelte genüsslich und kaute vollmundig. "E mg kn Leut..." Heftiges Schlucken. "Aber er hilft gerne, wenn er beweisen kann, dass man grundsätzlich keine Leute mögen sollte. Wissenschaftliches Prinzip." Reiskörner grinsten aus Dominiques Mundwinkeln. Seine Mutter lupfte eine skeptische Augenbraue. "Das klingt mir jetzt aber nicht nach einem Charakterzug, dem du nacheifern solltest." "Tu ich auch nicht." Der Filius des Minihaushaltes Reitze feixte ungeniert. "Ich nutze nur eine günstige Gelegenheit!" Die konnte noch besser werden, wenn er Thierry überzeugen konnte, bei ihrem Plan mitzuspielen! §-#-§ Herr Sandemann konnte Leute nicht verknusen. Gut, sie konnten nichts dafür, schlechte Charakterzüge waren schlichtweg systemimmanent, und wie hieß es so unerfreulich: man muss die Menschen nehmen, wie sie sind, es gibt keine anderen. Leider. Andererseits waren einige Exemplare ein Garant für amüsante Unterhaltung. Er war realistisch genug sich einzugestehen, dass er als Eremit nicht mal zwei Stunden aushalten würde. Menschen mussten also sein. Wenn schon, dann konnte man sich ja wohl auch ein wenig Aufheiterung gönnen! Henning Brauer war ein Kandidat für eine kleine Scharade, die ihm zu planen gefiel. Zugegeben, üblicherweise hielt er sich aus Beziehungskisten heraus. Da konnte nicht nur das sprichwörtliche Porzellan zu Bruch gehen, sondern auch Kiefer oder Kniegelenke. Mit Humor war diesen Folterinstrumenten der gesellschaftlichen Ordnung nicht beizukommen. Deshalb hatte er auch den Skateboard-Bengel nach Strich und Faden verhört, bevor er sich engagiert hatte. Die Mutter des Vampirs wollte wohl wirklich nichts Intimes von dieser "Hackfresse", also konnte man hier auch für ein wenig Zores sorgen! Dass Henning Brauer eine "Hackfresse" war, hatte Herr Sandemann mit flinker Recherche, gutem Bildgedächtnis und einer großen Portion Verachtung für diese Art von "Kerl" selbst ermittelt. Da war ein ausgeklügelter Schlachtplan eine Frage der Ehre! Von gehässiger Vorfreude gewürzt, selbstredend. §-#-§ Eine Nacht voller Grübelei hatte genügt, Thierrys Wut auf sich selbst und die Umstände im Allgemeinen in nagende Sorge umzuwandeln. Würde Niq ihn verraten? Oder bloß ganz unabsichtlich etwas Verfängliches herauslassen? Und dieser Sandemann erst! "He." Thierry schreckte höchst peinlich heftig zusammen, als Dominique, der die Schleich-Anfahrt wirklich nicht erfunden hatte, vernehmlich auf seine Anwesenheit aufmerksam machte. "He." Nuschelte Thierry und senkte den Kopf noch tiefer, zog, nicht nur Allergie-verschnupft, dumpf die Nase hoch, die er gern gerümpft hätte, wäre seine Situation nicht derart prekär. "Wie geht's?" Dominique erkundete feinfühlig die Großwetterlage, beugte sich vor, um Thierrys Profil auf Spuren der gestrigen Verheerung zu inspizieren. "Alles okay!" Blaffte der eingeschnappt und zog auch noch die Unterlippe wie ein schmollendes Kleinkind hoch! "Gut." Dominique hielt sich nicht mit kleinkarierten Vorhaltungen von Unfreundlichkeit oder ungerechtfertigtem Beleidigte Leberwurst-Spielen auf. "Wir haben eine Lösung für das Henning-Problem! Sie ist einfach genial!" Er strahlte Zuversicht unter der NYC-Baseballkappe in die Welt. "Aha." Brummte Thierry noch einsilbiger, dann trat ihn sein Verstand kräftig in den Hintern. "He, was heißt denn WIR?!" "Na, Herr Sandemann und ich!" Dominique brachte wieder ein wenig Schwung unter sein Rollbrett. "Die Idee ist echt klasse!" "Du hast ihm alles erzählt?!" Thierry blieb abrupt stehen und starrte fassungslos in die wasserblauen Augen, die ihm so gut gelaunt ins Gesicht blickten. "Klar!" Sein Freund lupfte die kaum erkennbaren weizenblonden Augenbrauen. "Jetzt hör mal, WIR hatten doch keine Lösung, oder? Herr Sandemann ist zwar Profi-Leute-Hasser, aber er ist auch ziemlich klug! Wenn man ganz höflich fragt, hilft er sogar." "Du kannst doch diesem Typen nicht einfach so alles erzählen!" Empörte sich Thierry aufgebracht. "Na, doch!" Dominique beförderte sein Skateboard mit geübtem Tritt aufs Heck in seine freie Hand. "Mehr als die Show gestern können wir ja wohl niemandem bieten, oder?" Das war nicht die feine Englische Art oder sehr subtil, aber ein Wirkungstreffer. Thierry erblasste sichtlich. "Nun mach dir doch nicht solche Sorgen!" Dominique stupste ihn behutsam in den Oberarm. "Hör mir lieber mal zu! Wenn das klappt, bist du das Brechmittel bestimmt los!" Auch wenn Dominiques Euphorie keine Ansteckungsgefahr bei Thierry auslöste, so erkannte er doch die Signale. Entweder mitspielen oder noch mehr Schwierigkeiten kumulieren! §-#-§ "Ich habe Zweifel." Murmelte Thierry in sich hinein, während er seine schwarzen Locken mit einer dem Anlass geschuldeten Schmuckspange im Nacken bändigte. Aus dem Spiegel blickte ihn ein zierlicher Jugendlicher mit dezenten Schatten unter den schwarzen Augen an. Auch sein gewöhnlich warmer Teint wirkte fleckig. Sein Anzug, dreiteilig, das Hemd makellos, die gewienerten Halbschuhe: die Verpackung war mehr als adrett. Wenn bloß der Inhalt nicht so verunsichert wäre! Aber es half ja alles nichts! Thierry streckte sich selbst die Zunge raus und straffte die schmalen Schultern. Ein ordentlicher Auftritt war angesagt. Er würde sich diese Blöße nicht geben! §-#-§ Dominique fühlte sich in dem Anzug nicht sonderlich wohl. Er saß etwas zu locker, das konservative Dunkelblau wirkte irgendwie stumpf und unkleidsam, nicht zuletzt aufgrund seiner natürlichen Blässe. Auf dem Kopf trug er eine fein gehäkelte Mütze, denn einen Hut in geschlossenen Räumen aufzusetzen, widersprach der Erziehung im Hause Reitze. Ein Kopftuch in gewohnter Weise umzuwickeln lief dem feierlichen Rahmen zuwider. "Hoffentlich klappt alles!" Nervös konsultierte er seine alte Aufziehuhr bezüglich der Zeit. "Selbstverständlich wird es funktionieren!" Herr Sandemann, Leinenhemd unter Sakko und Bundfaltenhose, alles in Braun- und Rosttönen gehalten, lächelte wie ein Piranha. Er war definitiv auf Großwildjagd und absolut entschlossen, das Wild zur Strecke zu bringen! Ein Taxi fuhr heran. Herr Sandemann ergriff die Initiative. "Guten Abend, zwei Personen zur Galerie Aphrodite in die Rosenholzstraße 43." "Sandemann und Reitze?" Der junge Mann, dem Turban nach urteilen ein Sikh, blendete ein strahlendes Gebiss auf. "Guten Abend! Sie gehen zur Eröffnung der Vernissage?" Herr Sandemann, der Dominique energisch in den Fond dirigiert hatte und neben ihn plumpste, antwortete. "Ganz genau. Aufstrebender Fotokünstler, wie man hört." "Tatsächlich?" Ihr Chauffeur fädelte sich geübt in den fließenden Verkehr ein. "Ich habe gelesen, dass er für die Lokalzeitung und Magazine arbeitet." "Ambitionierter Mann." Herr Sandemann lächelte gefährlich. Ehrgeizig, ja, aber besonders geschickt? Nein! §-#-§ Obwohl Thierry den Plan kannte und wusste, dass seine Mitverschwörer sich ebenfalls beim Empfang in der Galerie einfinden würden, schreckte er zusammen, als Herr Sandemann Dominique die Tür aufhielt, ihn höflich vor sich in das Gebäude einließ. Zwischen Stehtischen mit Husse standen Kunstinteressierte, potentielle Auftraggebende, geladene Gäste und Menschen, die nur aus Höflichkeit hier waren. Thierry befand sich hier, weil das Brechmittel seine Mama auf die Gästeliste gesetzt und insistiert hatte, sie möge kommen. Keine Frage, dass Thierry seine Mutter begleitete, um jeden Annäherungsversuch in alkoholgetränkter, später Runde im Keim zu ersticken! Herr Sandemann fiel aus dem Rahmen. Die warmen Braun- und Rosttöne standen ihm gut zu Gesicht, erinnerten im Sommer jedoch an den Herbst. Die meisten anderen Männer trugen entweder die "Business"-Uniform in Grau oder Dunkelblau. Die Künstler blieben ganz in Schwarz oder in schrillen Glanzstoffen, die eher im Nachtleben zu verorten waren. Außerdem war er der einzige Mann mit einem Jugendlichen im Schlepptau, der artig an seiner Seite blieb und mit vorgeblichem Interesse den Ausführungen lauschte, dabei Notizen ganz altmodisch in einen kleinen Collegeblock krakelte und gedankenvoll die blanke Stirn in Falten legte. Sie erregten Aufsehen, zumindest bei der etwas umfangreicheren Dame, die offenkundig eine altmodische Tischdecke zum Kleid zweckentfremdet hatte und vermutlich farbenblind war. Mit der tödlichen Zielgenauigkeit eines Torpedos steuerte sie Herrn Sandemann an. Thierry ballte unruhig die Fäuste. Lief da etwas schief? Das Gespräch dauerte nicht lange, dann machte die Fregatte schnaubend kehrt und dampfte von hinnen, um sogleich auf das Brechmittel zuzusteuern, das noch damit befasst war, alles und alle zu begrüßen. Das sah aber nicht nach guten Kritiken aus... §-#-§ "UN-GLAUB-LICH!" Marie-Louise Häckler von Damme-Imphoff schnaubte empört. "Da frage ich ganz höflich, ob er sich die Fotografien anschaut und dieser impertinente Kretin sagt mir INS GESICHT, das ließe sich wohl kaum vermeiden, weil ja jede Wand damit verschandelt sei!" "Ist der von der Presse?" Ein Herr, der schon mehr als einmal diskret seinen teuren Chronometer konsultiert hatte und offenkundig nur aus Zuneigung zu seiner Kunst liebenden Gattin hier verweilte, beäugte amüsiert den eifrigen Schreiberling neben dem erwähnten Kretin. Lehrer und ein Mitglied der Schülerzeitung? "GANZ sicher nicht! Das wüsste ich doch!" Die Galeristin fauchte atemlos. "So etwas Unverschämtes!" Um ihr Erleichterung zu verschaffen, reichte ihr Kay Nelson Jefferson von einer aufmerksamen Hostess des Catering-Unternehmens ein hochstieliges Glas Prosecco. "Uh, danke, mein Lieber!" Eine feiste Hand, die vor teuren Ringen so strotzte, tätschelte ihn lobend. Kay lächelte und schnurrte sonor. "Ist mir ein Vergnügen, Mary-Lou." Prompt strahlte ihn die Galeristin an, zeigte sich besserer Laune, denn es gab schließlich Wichtigeres zu tun, als sich über einen ungehörigen Schnösel zu ärgern! Diese Gelegenheit nutzend beobachtete Kay interessiert den ungewöhnlichen Mann mit seinem Sekretär, der sich um die Anwesenden nicht scherte, sondern vor jeder Fotografie stehen blieb und in den Kuli diktierte. Das musste ja den Künstler Henning Brauer auf den Plan rufen! §-#-§ Dominique konnte nur staunen. Der misanthropische Herr Sandemann, Leute-Hasser mit Leidenschaft, deklamierte in sichtlich boshaftem Vergnügen seine Rechercheergebnisse, süffisant formuliert, zielsicher ins Mark des gar nicht amüsiert blickenden Brechmittels treffend, auf diabolische Art gut gelaunt plaudernd, beschwingt gestikulierend. Scheinbar in Unkenntnis, wen er da vor sich hatte, lud Herr Sandemann Zaungäste förmlich ein, ein klein wenig zu lauschen, um was es dort ging. Dem Erzfeind entgleisten mehr als einmal die Gesichtszüge, das aufgesetzte starre Lächeln knitterte erkennbar. Herr Sandemann musste verschwinden, aber flott! Sonst war alles perdü! §-#-§ Kay konnte nicht an sich halten, berufsbedingte Neugierde, also näherte er sich unter dem Vorwand, die beiden Herren ebenfalls mit Prosecco zu beglücken, dem Trio des mittlerweile nicht mehr krakelnden Jugendlichen und der beiden Kontrahenten. "... und nun werfen Sie doch mal einen Blick auf dieses Porträt? Kommt Ihnen das nicht auch bekannt vor?" Der Herr in Herbsttönen lupfte den Zeigefinger triumphierend-schelmisch. "Ah! Ich sehe, Sie können mir folgen! Das kennen wir doch!" Lustvoll säuselte er. "Wissen Sie, wir alle bewundern ja die Kunstfertigkeit eines Jim Rakete oder einer Annie Leibovitz, aber solche Kopien... Man könnte von einer Hommage sprechen, im günstigsten Falle, wären die beiden vor 50 Jahren verstorben, aber sie leben ja noch, glücklicherweise! Da kann ich mir einfach nicht verkneifen zu sagen: warum die Kopien?! Wir vermissen selbstredend auch noch die Bekanntheit der Subjekte!" Kay stockte der Atem. Belegte dieser Unbekannte gerade, dass der ausstellende Künstler nicht mehr war als ein Nachahmer? Keine Kunst als Eigenleistung, sondern Handwerk in Form von Kopie? »Uhoh!« Dachte er, denn hier waren einflussreiche und wohlhabende Personen anwesend, die sich sehr schnell zurückziehen konnten, wenn sie vermuteten, dass es nichts zu gewinnen gab, wenn man einen nur in Branchenkreisen bekannten Fotografen protegierte, dessen Kunst leider nicht innovativ war. Henning Brauer schien seine Befürchtungen zu teilen, denn nun ließ er die Maske jovialer Freundlichkeit vollends fallen und schnaubte. "Was, bitte schön, befähigt Sie zu einem Urteil?! Sie sind doch kein Experte!" "Oh nein!" Der Unbekannte lächelte schmelzend, die gefleckten, braunen Augen tanzten hinter den Brillengläsern vor Vergnügen. "Ich zeichne mich lediglich durch ein Paar Augen und ein sehr gutes Bildgedächtnis aus. Das wird ein interessanter Artikel in der Zeitung, nicht wahr, Kollege? Vielleicht unter dem Titel 'Kopien- sind sie das neue Original?'" Der Jugendliche lächelte nervös und nickte. "Ein guter Vorschlag. Dann können wir auch noch die Problematik der Remixe unterbringen." "Prosecco?" Mischte sich Kay todesmutig ein, denn er erkannte eine mörderische Wut in den eisblauen Augen von Henning Brauer. "Danke, nein, sehr aufdringlich." Flötete der Unbekannte, ohne ihn auch nur tatsächlich anzusehen. "Bei der Arbeit nur Wasser und Brot. Wünsche noch einen schönen Abend, die Herren!" Mit diesem eleganten, boshaften und unverschämten Rausschmeißer ließ er sie stehen. §-#-§ Dominique atmete tief durch und wunderte sich über die Seelenruhe, mit der Herr Sandemann sich vom Kampfplatz entfernte, um vorgeblich weitere Fotografien als Kopien zu entlarven. Die aufgenommenen Personen wichen vom Original ab, selbstredend, aber Position, Komposition, Atmosphäre: nicht sehr viel originelle Eigenleistung zu verzeichnen. Dank Internet und narzisstischer Selbstverliebtheit für einen Systemanalytiker ein Leichtes, hier geschickt die Bresche zu schlagen, die die Front des Brechmittels einreißen würde. Er riskierte einen Blick zur Seite, registrierte die unverhohlene Freude seines erwachsenen Begleiters über den gelungenen Auftakt. Herrn Sandemann gefiel es außerordentlich, die Szene hier aufzumischen. Da konnte man wirklich nur hoffen, dass sie nicht achtkantig an die Luft gesetzt wurden! §-#-§ Während Henning Brauer kochte, mit Blicken hinterrücks mordete, ließ Kay ihn unauffällig allein stehen, damit der sich wieder fassen konnte. Ihn selbst interessierte Henning Brauer nicht, umso mehr jedoch dieser ungewöhnliche Mann. Wenn die Notizen, die er hatte identifizieren können, ein Beispiel für den scharfen Blick dieses Kritikers waren, dann konnte der Fotograf seine Ambitionen erster Klasse beerdigen. Schlimmer kam immer, denn nun gesellte sich der Unbekannte zu anderen Anwesenden, ließ kleine Bemerkungen fallen, kurze Gespräche, dann Abmarsch zum nächsten Bild, bevor er eine große, rotblonde Dame in Begleitung eines zierlichen Jugendlichen mit schwarzem Lockenschopf ansprach. §-#-§ "Eine große Freude, Frau Cavallino." Herr Sandemann schüttelte artig die Hand lächelte höflich. "Ich hörte, Sie sind eine Kollegin des Künstlers? Aber keine Fotografin?" Während Thierrys Mutter sich freundlich erklärte und ihre Aufgaben beschrieb, stupste Dominique seinen besten Freund vorsichtig mit der Schulter an. "Alles klar bei dir?" "Das Brechmittel kocht!" Wisperte Thierry, erfüllt von Ehrfurcht und Sorge zugleich. Würde der Kotzbrocken etwa ihren Plan durchschauen, wenn er Herrn Sandemann hier mit seiner Mama im Gespräch bemerkte?! "Ach, ich habe mal einen Bericht gelesen!" Herr Sandemann plauderte weiter. "Richtig, Ihr verstorbener Mann hat Schuhe maßgeschneidert, nicht wahr? Viele berühmte Zeitgenossen in der Kundenkartei." Betont nachdenklich legte er den Kopf schief, warf die Stirn in Falten und funkelte unter halb gesenkten Lidern hervor. "So, so..." Dann fiel sein Blick, wie zufällig, auf Henning Brauer, der gerade bemüht war, einen hölzern wirkenden Mann zu beschwichtigen, der ihn verächtlich musterte. "Ja, nun!" Herr Sandemann nickte gravitätisch. "Ich nehme an, der Künstler wird Sie auch bemühen, um andere Motive vor die Linse zu bekommen, nicht wahr? Ich sagte gerade zu meinem jungen Begleiter, dass das eben auch den Erfolg von Rakete und Leibovitz befördert hat, die Stars und Berühmtheiten. Nicht zu vergessen die Tantiemen für die zahlreichen Abdrucke." Thierry warf einen ängstlichen Blick hoch zu seiner Mama. Wäre sie sehr verletzt? Doch sie lächelte bloß gewohnt freimütig und neigte sich Herrn Sandemann zu. "Ja, man könnte meinen, dass das hilfreich wäre. Aber ich bin da nicht die richtige Adresse. All die Berühmtheiten haben ja meinen Mann aufgesucht. Da wäre wohl eine rührige Agentin besser." Sie zwinkerte Herrn Sandemann amüsiert zu!! §-#-§ "Abmarsch, Kamerad, best foot forward!" Kommandierte Herr Sandemann geradezu euphorisch, nötigte seinen jungen Begleiter, hinter ihm durch das sich verdichtende Gedränge mäßig interessierten Besuchs der Vernissage zu schlängeln. Dominique befand, dass sie mutmaßlich Erfolg gehabt haben mussten, auch wenn es durchaus bedenklich anmutete, wie viel Vergnügen Herr Sandemann daraus schöpfte, das Brechmittel zu sabotieren. "Ah, Verzeihung!" Ein sehr attraktiver Mann, schlank, mit breiten Schultern, einem einladenden Lächeln und tiefschwarzen Augen, von karamellfarbenem, Schokostreusel-gesprenkeltem Teint und einem samtig-schmelzenden Bariton gekennzeichnet, behinderte erfolgreich Herrn Sandemanns rapiden Abflug. "Wollen Sie denn wirklich schon gehen?" Äußerte der Unbekannte Bedauern. "Dabei habe ich Ihre Meinung zu diesem Porträt noch gar nicht erfahren!" Dominique erkannte nun nicht nur den Prosecco-Wegelagerer, sondern auch, dass es sich bei dem menschlichen Hindernis in Herrn Sandemanns Flugbahn um eine durchaus als prominent zu nennende Persönlichkeit handelte. Doch bevor er hastig seinem Nachbarn zuraunen konnte, wer ihnen da höflich, aber unerbittlich die Route blockierte, schoss Herr Sandemann bereits los. "Ich bin davon überzeugt, dass es meiner Meinung nicht bedarf." Mit einer abschätzigen Geste fing er das Bild nachlässig ein. "Kommen Sie, sehen Sie und schnauben Sie!" Caesar hatte diese Aufforderung dezent abgewandelt der Nachwelt hinterlassen. "Also eine weitere Hommage?" Der Mann gab nicht so leicht auf. "Sagen Sie bitte, wer ist die Quelle?" "Oohhhh!" Schnurrte Herr Sandemann diabolisch, beugte sich ein wenig vor, um vermeintliche Vertraulichkeit zu indizieren, die ein wenig daran krankte, dass der Fallensteller ihn mühelos um einen halben Kopf überragte. "Das könnte ich Ihnen wohl verraten, mein Bester, ganz ohne Zweifel." Er blendete sein etwas unsortiertes Gebiss auf. "Allerdings ginge dann jeder Reiz verloren! Betrachten Sie es doch als Schnitzeljagd und forschen Sie selbst. Einfach googlen, und das können SIE bestimmt!" Damit täuschte er eine leichte Drehung an, wirbelte jedoch in die entgegengesetzte Richtung und fegte in forciertem Marsch zur Tür. Dominique hatte veritable Mühe, diesem bühnenreifen Abgang zu folgen und hastete hektisch hintendrein. Er konnte nur staunen, mit welcher Süffisanz und abgeklärten Frechheit Herr Sandemann aufgetreten war, diesen ganz offenkundigen Flirt-Auftakt gnadenlos sabotiert hatte! §-#-§ "Mama." Wagte Thierry einen behutsamen Vorstoß. Keine Frage, inzwischen hatte sie bestimmt die richtigen Schlüsse gezogen und erkannt, dass Dominique und sein unglaublich unverschämter Nachbar hier nicht zufällig aufgetreten waren. "Nicki will einen Artikel für die Schülerzeitung einreichen?" Freya Cavallino schmunzelte. "Ich habe immer angenommen, dass er lieber den Stift für Zeichnungen schwingt." Thierry ballte hilflos die Fäuste, denn hier war ein Geständnis gefragt, das mit jedem verstreichenden Moment schwieriger wurde. "Schatz." Ein Fingerspitzenstupser brachte Thierry zum hektischen Blinzeln. "Deine alte Mama weiß schon recht gut Bescheid, wie der Hase läuft." Sie lachte mit ihrer frechen Zahnlücke freimütig, bevor sie sich herunterbeugte und ihre Augen auf die gleiche Höhe brachte. "Mach dir keine Sorgen, ja? Obwohl Gianno sich bestimmt köstlich auf seiner Wolke amüsiert." Wisperte sie ihm sanft zu. Er konnte gar nicht anders, als sichtbar zu schlucken und die Lippen aufeinander zu pressen. Wenn Pappa nur hier wäre! Dann wären sie nicht hier, und dieses Brechmittel hätte niemals gewagt...!! "Der Kerl ist ein A...Widerling!" Presste er leise hervor. "Hmmm." Ein kräftiger Arm legte sich um seine schmalen Schultern und drückte ihn an eine warme Brust. "Stell dir vor, der bleibt immer so! Jeden Tag! Puuuhhhh!" Thierry fiel in das Kichern seiner Mutter ein, lächelte erleichtert hoch in die roten Locken, die mit der Aufsteckfrisur bereits Schiffbruch erlitten hatten und sich nun solitär wie trotzige Lianen abseilten. Er schlang die Arme um ihre Hüften und schmiegte sich fest an. Niemals würde er zulassen, dass irgendwer seiner Mama wehtat oder sie benutzte!! §-#-§ "Wissen Sie, wer das war?" Dominique nutzte die Rückfahrt mit dem Taxi, um sich über ein paar seltsame Beobachtungen zu versichern. "Wer?" Herr Sandemann, nicht mehr ganz so triumphierend ob des ärgerlichen Störenfrieds, der seinen Auszug als Triumphator behindert hatte, warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. "Der Mann eben!" Dominique drehte sich auf dem bequemen Ledersitz weiter zu seinem Mitverschwörer. "Das war Kay! Kay Nelson Jefferson!" "Ist mir nicht bekannt." Bemerkte Herr Sandemann knapp, durchaus gelangweilt. "Aber...!" Dominique konnte es nicht glauben. "Er ist ein Star! Vor ein paar Jahren hat er einen landesweiten Gesangswettbewerb gewonnen! Er war dauernd im Fernsehen, hat Reklame gemacht und so! Jetzt arbeitet er beim Radio, er synchronisiert auch Filme und nimmt Songs auf!" "Tatsächlich." Kommentierte Herr Sandemann mit dem gleichen Elan, den Mr. Spock beim "Faszinierend" an den Tag legte. Dominique gab nicht auf, auch wenn er enttäuscht war, dass Herr Sandemann hier eine bodenlose Bildungslücke offenbarte. "Er ist die deutsche Stimme von Jack Cougar, dem Super-Detektiv!" "Aha." Desinteresse wäre noch geschmeichelt gewesen. Ärgerlich kreuzte Dominique die dünnen Arme vor der Brust und knurrte. "Ich wette, Sie haben nicht mal gemerkt, dass Kay Sie angebaggert hat!" Herr Sandemann lupfte nach einem Atemzug eine mokante Augenbraue, drehte anschließend den Kopf und musterte Dominique wie ein Forscher mit Skalpell einen Laubfrosch. "Ich nehme mal an, dass wir hier nicht über eine sportliche Aktivität über ein Netz reden." Schnurrte er mit frostigen Eiszapfen an jeder Silbe. "Welche Intentionen auch immer diese mir völlig unbekannte Figur gehegt haben mochte: ich habe für derlei Unsinn keine Zeit." Abrupt wandte er den Kopf nach vorne, als ihm etwas ebenso Unwichtiges einfiel. "Überhaupt, Prosecco! Pfuibah!" Dominique seufzte vernehmlich und richtete seine Aufmerksamkeit ebenfalls nach vorne, wo ein amüsierter Fahrer darüber spekulierte, was für eine merkwürdige Abendgestaltung dieses ungleiche Paar wohl hinter sich gebracht hatte. §-#-§ Kapitel 3 - Revanche "Was ist das denn?" Thierry bestaunte verblüfft einen eng bedruckten, einseitigen Artikel. "Reportage." Brummte Dominique missmutig, denn er war Herrn Sandemann nicht entkommen, ohne dass dieser ihm auferlegt hatte, TATSÄCHLICH einen Beitrag für die Schülerzeitung zu verfassen! Immerhin hatten sie eine Menge recherchiert, konnten die Besuchenden der Vernissage charakterisieren (was Dominique dazu verhalf, einige Karikaturen zu "duudeln"). Eine Abhandlung über das schwierige Verhältnis von Original und Kopie/Hommage in der Kunst sollte auch eine positive Erwähnung im Zeugnis einbringen, was ein Jahr vor dem Abschluss nicht schaden würde. "Dein Nachbar ist ziemlich merkwürdig." Kommentierte Thierry schließlich, der sich mit diesen Maßstäben zweifellos auskennen musste. "Ha!" Grummelte Dominique, atmete konzentriert durch, weil er vor lauter Frust Obst gegessen hatte, was auf der 'Schmerz-Liste' stand und ihn deshalb jetzt heftig, peinvoll und unbarmherzig reute. "Wie hat deine Mutter die Sache denn aufgenommen?" Wagte er sich auf trügerisches Terrain vor. Nun war es an Thierry, durchzuatmen und eine unangenehme Wahrheit weiterzugeben. "Ihr geht's gut. Sie wusste schon, hinter was das Brechmittel wirklich her war." "...oh..." Murmelte Dominique schließlich. "Also viel Lärm um nichts?" "...tschuldige." Thierry knetete seine Finger unbehaglich, wagte nicht, in die wasserblauen Augen zu sehen. "Keine große Sache!" Zeigte sich sein Freund großmütig. "Lustig war's ja auch! Hast du das übrigens mitgekriegt? Dass Kay versucht hat, Herrn Sandemann anzugraben?" Thierry entließ einen bodenlosen Seufzer. "Also, da muss ich dir was sagen..." §-#-§ Kay hatte sich, ausgerüstet mit einem altmodischen Nettop, das sich erstaunlich wacker hielt, betrachtete man sein biblisches Alter von sechs Jahren, der Sonnenbrille auf der Nase und einem schicken Sommerhütchen auf dem werten Haupt, auf der niedrigen Steinmauer bequem gemacht. Er wartete geduldig, während er sich gleichzeitig auf dem neuesten Stand hielt und geschickt auf der engen Tastatur Notizen eintippte. Über die Motivation seines Verweilens vor einem Mehrfamilienhaus, unter den Argusaugen einer alten Blockwartin, machte er sich nicht sonderlich viel Gedanken, wenn sein ganzer Körper vor Spannung kribbelte und krabbelte! Es war verrückt, unverschämt, absolut albern! Zweifellos ein herrliches Abenteuer! Er wollte schlichtweg herausfinden, wer dieser Mann war, der sich ihm so unerbittlich entzogen hatte, nachdem er Henning Brauer geschickt in heftige Erklärungsnöte gestürzt hatte. Was lag also näher, als den jungen Mann höflich zu befragen, der ihn mit großen, schwarzen Augen durchaus reserviert-beklommen gemustert hatte? Dank seiner Frau Mama, die über einen nach Kays Meinung sehr gewinnenden Sinn für Humor verfügte, war er mit geschickten Fragen und guter Kombinationsgabe schnell im Bilde gewesen: der Nachbar des Klassenkameraden hatte sich eingebracht, um zu offenbaren, dass hier weniger Originalität als geschickte Kopierkunst am Werke waren. Mit diebischer Freude, obwohl er Henning Brauer zuvor wohl nie begegnet war! "Sie da! Ja, Sie, junger Mann! Ei, was wolln Sie dann hier?" Die Adleraugen des Gevierts näherten sich mit Rollator und sichtbar deponierter Reizgasdose. "Oh, guten Tag, gnädige Frau!" Kay erhob sich artig. "Tja, ich warte auf Herrn Sandemann. Bin ein wenig früh dran, deshalb habe ich hier die sonnige Lage genossen!" "Ei, zu DEM wolle Sie?" Das lederknautschige Gesicht wirkte wie eine Zitronensäure-Werbung. "Ja, sin Sie sich sicha? Der is doch än Misanthropist!" Das klang eher wie eine terroristische Splittergruppe. "Oh, das ist ja nur ein Hobby." Schnurrte Kay in schönstem Schokoladen-Bariton mit Extra-Schmelz. "Der eine liebt seine Briefmarken, der andere Münzen." Ließ er schmeichelnd den Satz ausklingen. "Na, so lang es keinen Radau mächt un s Treppehaus net versäut werd!" Mit dieser Einschränkung der Pflege von Freizeitaktivitäten in ihrer Einflusssphäre ließ sie Kay allein zurück, amüsiert schmunzelnd. Also war Herr Emil Sandemann nicht nur ein Kenner von Foto-Kunst, mit boshaft-spitzer Zunge ausgerüstet, sondern auch misanthropisch veranlagt? Warum half denn ein Misanthrop zwei Jungs dabei, den aufdringlichen Verehrer der Frau Mama zu blamieren? Kay nahm wieder Platz und wartete geduldig, während seine Neugierde sich erwartungsfroh die imaginären Hände rieb. §-#-§ Ein guter Tag war für Emil Sandemann einer, der nach Plan verlief, sich an die Regeln hielt: keine unerwarteten Änderungen, keine Komplikationen außerhalb des gewöhnlichen Rahmens, keine Veranlassung zu Spontan-Improvisationen. Was andere als langweilige Routine verabscheuten, gefiel Herrn Sandemann durchaus. Routine bedeutete, dass er sich in einem bekannten System bewegte, dass er nicht ständig und fortwährend auf der Hut sein musste. Emil Sandemann war ein sehr guter Systemanalytiker, Schwerpunkt Anlagen- und Ablauftechniken jedweder Art. Er konnte sich sowohl auf die kleinsten Details als auch auf das Gesamtgefüge konzentrieren, jonglierte mühelos mit verschiedenen Berechnungsformeln, Szenarien und Variablen in unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten. Dabei hatte er es zumeist mit Maschinen zu tun, auch wenn eingestandenermaßen regelmäßig Menschen beteiligt waren. Leider. Es verhielt sich keineswegs so, dass Herr Sandemann sich nicht auf gesellschaftlichem Parkett angemessen bewegen konnte. Er kannte die ungeschriebenen Regeln, beachtete Höflichkeit und Anstand. Jedoch stand er mit verächtlichem Abscheu vor allem, was die Barrieren seiner demonstrativen Distanz zu überwinden versuchte. Er wollte sich nicht offenbaren, anvertrauen, öffnen, über das notwendige Maß beteiligen oder anpassen. So gesehen nahm es sich für seine umgebende Arbeitswelt auf zwei Beinen gelegentlich recht schwierig aus, mit jemandem zu agieren, der fachlich und sachlich superb, jedoch auf menschlicher Ebene ein frostiges Phantom ohne Eigenschaften war. Emil Sandemann störte das nicht. Er war "geschäftlich" da, nicht auf privater Ebene. Er wollte arbeiten und sich nicht emotional einlassen! Er war niemand, der "gemocht" werden wollte. Es genügte ihm vollkommen, dass man ihn als menschliches Wesen respektierte und nicht weiter in ihn drang. Wenn sich alle an diese "Regeln" hielten, er seine Arbeit nach seinen Erwartungen erfolgreich abschließen und die Mittagspause ungestört verbringen konnte, dann erwies sich der Tag als gut. Zumindest bis zu dem Moment, als Herr Sandemann um die Ecke bog, schon in Feierabend-Stimmung und Kay Nelson Jefferson vor seinem Haus erblickte. "Überraschung!" Intonierte die samtige Stimme im melodischen Bariton. "Kruzifix!" Polterte Herr Sandemann finster zurück. Er HASSTE Überraschungen! §-#-§ Für Henning Brauer war es ultimativ kein guter Tag gewesen, von dem Abend zuvor ganz zu schweigen. Wenn die Presse ihn nicht ignorierte, was man sogar als gutes Zeichen werten musste!, nahm sie die Spur dieses aufgeblasenen Wichtigtuers auf, der von Kunst ganz offenkundig keine Ahnung hatte! Das las sich nicht schmeichelhaft. Schlimmer noch, es schreckte Mäzene und Kaufinteressierte ab! Die fette Wachtel von Galeristin hatte ihn schon gleich zugetextet, in ihrem oberlehrerhaften Ton, dabei sollte sie froh sein, dass er ihrer Galerie für Hobbythek-Tussen und Autodidakt-Dilettanten überhaupt die Chance gegeben hatte, seine Bilder auszustellen! Die Krönung stellte jedoch Freya Cavallino dar. So lange hatte er sich bemüht, ihren verzogenen Bengel und seine Frechheiten ertragen, ihr den Hof gemacht, sich selbst dabei lächerlich, einer alten Frau nachzurennen, und dann ließ sie keinen Kontakt für ihn spielen! Dabei wusste doch jeder, dass ihr abgekratzter Alter mit jeder Menge internationaler Prominenz bekannt gewesen war! An allem war dieser verfluchte Schleimer Schuld, daran, dass man ihn jetzt belächelte oder verspottete! Die blöden Witzeleien in der Redaktion! Die dämlichen Kommentare in seinen Internet-Profilen! Die miesen Collagen, um ihn zu blamieren! Das schrie förmlich nach Vergeltung. Die gärte einen ganzen, langen Tag in ihm, bis ihre Säure ihn zu zerfressen drohte. Henning Brauer dürstete es nach Rache, und die würde er sich gönnen. §-#-§ "Zehn Schritt vom Leib!" Polterte Herr Sandemann mit einem literarischen Zitat aus den Mundarttheater los. Er war ganz und gar nicht amüsiert, sein trautes Heim im Belagerungszustand vorzufinden. "Guten Abend." Kay lächelte unbeeindruckt. "Wir haben uns gestern leider gar nicht richtig kennenlernen können, deshalb wollte ich das unbedingt nachholen. Kay Nelson Jefferson, freut mich!" Damit streckte er auffordernd die Rechte aus. Ein wohlerzogener Herr hätte sie ergriffen und höflich geschüttelt, dabei seine Antipathie streng in Zucht gehalten. Herr Sandemann starrte die dargebotene Hand wie ein gemeingefährliches Instrument an, funkelte hoch in die tiefschwarzen Augen, als hielte man ihn tatsächlich für derartig beschränkt, dieser Strategie auf den Leim zu gehen. "Sie! Laufen Sie mir gefälligst nicht nach, ja? Ich führe hier kein Streuner-Asyl!" Fauchte Herr Sandemann bissig, hielt mehr als katholischen Sicherheitsabstand. "Nachlaufen ist ein bisschen stark, meinen Sie nicht?" Kay grinste herausfordernd. "Immerhin war ich zuerst hier. Ich verspüre den mächtigen Wunsch, Sie als berühmten Misanthropisten näher kennenzulernen!" "Kommt nicht in Frage!" Zischte Herr Sandemann mit zusammengezogenen Augenbrauen. "Jetzt heben Sie sich hinweg, aber hurtig!" "Ausgeschlossen!" Antwortete Kay kategorisch und trat auf Herrn Sandemann zu. "Sie sind viel zu faszinierend! Aufbrausend, gallig, widerborstig!" Er zwinkerte. "Echt süß eben!" Zu seiner großen Freude sackte Herrn Sandemann die Kinnlade tiefer. Der starrte ihn fassungslos an, bevor er sich wieder in der Gewalt hatte. "Sie haben wohl zu lange in der Sonne gesessen, wie? Wahrscheinlich sind Sie sogar der Hoppla entsprungen! Bleiben Sie mir von der Figur, sonst rufe ich die Polizei!" "Na, das ist aber ein wenig übertrieben." Bemerkte Kay sachlich. "Solche Angst müssen Sie ja nun wirklich nicht vor mir haben. Ich mag Sie eben, da ist es nur logisch, dass ich Ihre Gegenwart suche." "Lächerlich! Und PERFID!" Donnerte Herr Sandemann im Rückzugsgefecht. Dieser Bursche erwies sich als sehr hartnäckig! Und dickfellig! Kay streckte die Hand aus, einladend. "Wollen wir uns nicht irgendwo setzen und uns unterhalten? Ich würde gern mehr darüber erfahren, warum Sie Dominique und Thierry geholfen haben." Es dauerte einige Sekunden, bis sich Herr Sandemann entsann, wer hinter den beiden Namen steckte. Er merkte sich solche Angelegenheiten nur selten, weil er Menschen ja nicht ausstehen konnte. Von diesem KERL hier würde er sich ganz sicher GAR NICHTS merken außer einer weiteren, unerfreulichen Bestätigung seiner Lebensauffassung! Außerdem galt für ihn die Britische Losung: my home is my castle. Die bedenkliche Belagerung durch diesen offenbar geistesgestörten UND geschmacklosen Schniegelpoppi behagte ihm gar nicht. Mit Sturm im Blick und gefletschten Zähnen (ein wenig unsortiert) wich er einen Schritt zurück. "Ich habe KEIN Interesse, verstanden?! Also subtrahieren Sie sich gefälligst, bevor ich die Polizei rufe!" "An was genau kein Interesse?" Kay rückte unerschrocken nach, schmunzelte über die finstere Miene, die ihn vertreiben sollte. Dieser Emil Sandemann hatte, ungeachtet seines ausgeprägten Misanthropismus, etwas Korrektes, Würdevolles an sich, das ihm zupass kommen konnte, wenn er geschickt agierte. Und er witterte Angst. Bedrängnis. Ungewöhnlich. Bevor Kay jedoch weitere Avancen initiieren konnte, um herauszufinden, wie man das abgestrittene Interesse doch wecken konnte, hörte er eine vertraute, ausgesprochen giftige Stimme. "Na, wenn das nicht bezeichnend ist! Der knödelnde Stricher und der Hobby-Kunstkritiker!" Henning Brauer näherte sich im Eiltempo, ohne die geschmeidige Leisetreterei, die ihn üblicherweise kennzeichnete, wenn es ums Geld ging. Hier jedoch drehte sich alles um seine verletzte Ehre, seine verlorene, goldene Zukunft und seine Vergeltungssucht. "Was zum Henker?!" Herrn Sandemann wurde es nun entschieden zu viel. Wie hatte dieser unerträgliche Schleimbolzen ihn gefunden?! Was wollten all diese Idioten plötzlich von ihm?! "Immer mit der Ruhe." Kay hob beide Arme in einer beschwichtigenden Geste, denn das Auftauchen dieses Grobians erleichterte es ihm nicht gerade, eine vertrauensvolle Atmosphäre aufzubauen, um diesen ungewöhnlichen Misanthropen aus der Reserve zu locken. "Verpiss dich, Boytoy!" Henning Brauer ignorierte die friedfertige Aufforderung und feuerte ansatzlos die Rechte in Kays Seite, ein heimtückischer, regelwidriger Schlag. Kay krümmte sich zusammen und bekam auch noch einen harten Ellenbogen direkt ins Kreuz, was ihn in die Knie brechen ließ. "Saukerl!" Donnerte Herr Sandemann unterdessen empört und packte seine lederne Aktentasche wie eine Keule. "Die eigene Unzulänglichkeit auf andere abzuschieben ist erbärmlich!" Nicht gerade eine Äußerung, die zur Entspannung der Situation beitrug. "Überfall! Polizei!! Mord und Totschlag!" Plärrte nun, von der Seitenlinie quasi, Frau Meckenröder aus dem Hochparterre. Sie war bewaffnet. "Verflixt!" Herr Sandemann presste eilig den abgewandten Kopf in den Ärmelstoff seines Hemdes und stolperte hastig zurück, da entlud sich bereits eine gewaltige Wolke über ihren Häuptern. Vor allem der Aggressor Henning geriet in den dichten Sprühnebel. "Nur gegen Hunde!!" Protestierte Herr Sandemann der Form halber, hustete und zerrte, mit leidender Miene, schließlich auch den angeschlagenen Kay aus der Nebelwand. "Isch hab mei Brill ned uff!" Verkündete Frau Meckenröder stolz. Warum eine große Dose Pfefferspray im Haus vorhalten, wenn man nie die Gelegenheit nutzte, sie auch auszuprobieren?! Wenn sie die Warnhinweise zum eingeschränkten Einsatz nicht lesen konnte, musste sie die ja wohl nicht beachten, oder?! Herr Sandemann unterdessen sah sein Heil nur in der Flucht aus diesem beißenden Gestank. Ein Vorsprung wäre wohl auch nicht verkehrt, weshalb er mit einem beherzten Körper-Check wie im Eishockey Henning Brauer zu Fall brachte, der in Bodennähe noch intensiver die aerosole Hundeabwehr goutieren konnte. Mit Kay, den er am Hemdkragen hinter sich her zerrte, erreichte Herr Sandemann das Treppenhaus, verschloss die Eingangstür hinter ihnen und schleifte den schniefenden, hustenden und japsenden Kay hinter sich her zu seiner Wohnung. Er schubste ihn rasch in den langen Flur, warf die schwere Tür ins Schloss und atmete erst auf, als die drei schweren, durchgängigen Sicherheitsbolzen im verstärkten Rahmen einrasteten. Die Festung war gewonnen, der Feind abgeschlagen! Angesichts der diebischen Freude, die es Frau Meckenröder bereitet hatte, sie einzunebeln, wäre wohl nicht zu erwarten, dass sie sich diese Feierstimmung verdarb, indem sie wirklich die Polizei alarmierte! Trotzdem war keineswegs alles gut, denn nun kauerte, röchelnd und hechelnd, ganz und gar uneingeladen SCHON WIEDER ein Fremder in SEINER Wohnung! "Bin doch keine Erste Hilfe-Station!" Grummelte Herr Sandemann unzufrieden, stellte seine Aktentasche ab und wechselte die Straßenschuhe ordentlich im Regal gegen Hauspantinen aus. Das nächste, akute Ziel bestand zweifellos darin, diesen aufdringlichen Burschen loszuwerden! Andererseits war es ausgesprochen hinderlich, wenn der nicht mal aus den Augen gucken konnte, sich nachher noch im Treppenhaus das Genick brach und im Weg herumlag! Das verstieß definitiv gegen die Hausordnung. Grollend stapfte Herr Sandemann, so sich das mit flachen Hauspantinen überhaupt bewerkstelligen ließ, in das kleine Badezimmer, was rechter Hand vom Flur abzweigte, fischte einen Waschlappen ab, den er befeuchtete. Im Flur selbst öffnete er einen Wandschrank, angelte ein fröhlich-buntes Handtuch heraus, ging solcherart bewaffnet vor Kay in die Hocke. "Da!" Schon klatschte der nasse Lappen Kay auf die brennenden Augen und tropfende Nase. "Hiermit abtrocknen! Außerdem Schuhe aus im Haus!" Kay, dem es keineswegs blendend ging, träufelte sich erst mal das Reizgas aus den Augenwinkeln und heulte anständig, bis er blinzelnd wieder klarsehen konnte. Anschließend trocknete er die restlichen Verheerungen dieser Gasattacke ab, entledigte sich auch artig seiner leichten Mokassins. "Hmm!" Knurrte sein unfreiwilliger Gastgeber übellaunig, die Hände in die Hüften gestemmt, beäugte ihn kritisch, wandte sich dann ab, um die nächste Türöffnung zu wählen. Wenige Augenblicke später kehrte er zurück, drückte Kay energisch eine Familienpackung tiefgekühlten Spinat und ein Küchenhandtuch in die Hände. "Einwickeln, Seite kühlen und aufstehen!" Bellte Herr Sandemann herrisch, drehte ab, marschierte den Flur entlang bis in sein Wohnzimmer. Kay folgte ihm, trotz der Schmerzen in seiner Seite durchaus amüsiert. Er hatte gar nicht damit gerechnet, schon beim ersten Treffen in die heiligen Hallen der Höhle dieses seltsamen Mannes zu gelangen! "Platz!" Kommandierte Herr Sandemann unterdessen, klopfte auffordernd auf eine hochlehnige, steif gepolsterte Couch, die er mit einem Badelaken abgedeckt hatte, wohl, um zu verhindern, dass Kays improvisierter Kühlpack tropfte oder die vom Straßenstaub gezeichneten Knie Schmutzspuren hinterließen. "Danke schön!" Betont höflich ließ sich Kay nieder, unterdrückte ein Ächzen. Autsch, das war bestimmt ein blauer Fleck! Für lange Augenblicke starrte Herr Sandemann seinen ungebetenen Gast an, der seinerseits die Gelegenheit wahrnahm, sich umzublicken. "Schön blöd!" Schnarrte Herr Sandemann schließlich. "Typische Heldenaktion!" Definitiv keinen Dank wert, weil Kay sich vor ihn gestellt und Prügel eingesteckt hatte. Kay jedoch grinste entspannt. "Ja, wäre clever gewesen, wenn ich ihn mit Judo durch die Luft geworfen hätte! Oder wie Bruce Lee gekontert hätte! Huuuaaaa!" Herr Sandemann lupfte eine kritische Augenbraue. "Das ist die erbärmlichste Bruce Lee-Kopie, die ich jemals das Unglück hatte, bezeugen zu können." "Exakt!" Kay feixte. "Da habe ich dann doch gar nicht so schlecht ausgesehen, zumindest, bis er mich in die Seite erwischt hat. Das war ein Foul." "Stimmt." Gab Herr Sandemann widerwillig zu. "Andererseits kann man nicht erwarten, dass so ein liederlicher Kretin, der zum Kopieren zu doof ist, sich an die Regeln hält." "Tja." Kay lehnte sich entspannt zurück und rollte behutsam die Schultern. "Dann bin ich eben der lädierte Gute! Ist auch nicht schlecht." Sein bezeichnendes Zwinkern, eine eindeutige Herausforderung, veranlasste Herrn Sandemann zu einem zornigen Dementi. "Bloß keine Schwachheiten, ja?! Ich hab für diesen Heroen-Schmus nichts übrig!" "Was weckt dann Ihr Interesse?" Kay schnurrte förmlich im Bass. "Jedenfalls nicht irgendwelche Leute, die einem einfach auf der Türschwelle auflauern!" Zischte Herr Sandemann gallig zurück. "Einem einen Stuss erzählen und Neugierde heucheln!" "Hmm, das ist aber kein guter Umgang, den Sie da pflegen." Purrte Kay frech. "Ich für meinen Teil bin sehr an Ihnen interessiert und absolut neugierig, was Sie betrifft!" "Da gibt's nichts zu erfahren, capice?!" Fauchte Herr Sandemann agitiert, Zornesröte auf den Wangen, weil Kay ihm so impertinent auswich und nicht lockerließ. "Glaub ich nicht!" Trällerte der lächelnd. "Sie haben jede Menge Talente und Fähigkeiten, die mich sehr anziehen! Ihre Wohnung ist auch sehr sprechend!" Zu seiner Verblüffung wurde Herr Sandemann unerwartet bleich und fror seine Gesichtszüge ein. »Oha!« Konstatierte Kay überrascht. Offenkundig wollte Herr Sandemann auf keinen Fall von irgendjemanden "gekannt" werden! §-#-§ Herr Sandemann überschlug fieberhaft seine Optionen, um diesen aufdringlichen Samariter loswerden zu können. Fakt war, dass dieser Kerl verschwinden musste, bevor der sich irgendwelche Schwachheiten einbildete! Kay dagegen strengte seine Adleraugen an, bemühte sich seinerseits, möglichst viel Zeit bis zu seinem unvermeidlichen Rauswurf herauszuschinden. "Tolle Bibliothek übrigens!" Komplimentierte er artig. "Das sind alles Alben, oder? Sie mögen Comics, richtig? Gehören die alle Ihnen?" Eine weitere Gelegenheit für Herrn Sandemann, schnippisch zu sein. "Nein, die stehen nur hier, damit die Regalbretter sich nicht durchbiegen!" Ätzte er bösartig. "Darf ich sie mir mal ansehen?" Schon hatte Kay sich unternehmungslustig erhoben, näherte sich den eingebauten Schränken mit ihren Plexiglastüren. "Kommt nicht in Frage!!" Donnerte Herr Sandemann kategorisch und verstellte ihm den Weg, die Augenbrauen zornig zusammengezogen. "DEN Trick kenne ich! Sich die längste Serie herauspicken, dann ständig angeschleimt kommen, weil es ja so gar nicht auszuhalten ist, ohne die Fortsetzung zu lesen! HA!" "Verflixt, auf die Idee bin ich gar nicht gekommen!" Grinste Kay herausfordernd aus seiner überlegenen Position, da er seinen Gastgeber durchaus um halbe Haupteslänge überragte. "Was mögen Sie denn am Liebsten? Welches Genre?" Unerschrocken schoss er sich ein, denn es erstaunte ihn doch, dass der selbsterklärte Misanthrop sich für illustrierte Geschichten interessierte, die sich zweifelsohne auch um Menschen und ihre Lebenswelten drehten. "Kein Kommentar!" Fauchte Herr Sandemann agitiert und riss das Spinatpaket samt Handtuch an sich. "Jetzt sollten Sie gehen, zurück in Ihr Schickimicki-Reservoir, bevor der Glamour komplett abgeblättert ist!" "Glamour?" Kay klimperte mit den dichten Wimpern, warf sich in Pose. "Ehrlich? Sie denken, ich sei glamourös, Herr Sandemann? Oh, das ist ja ganz liebreizend!" "Impertinent!" Schnarrte Herr Sandemann aufgebracht, die Spinatpackung knirschte vernehmlich in seinem Griff. "Sie sind aufdringlich, unbelehrbar und hier VOLLKOMMEN fehl am Platz!" "Kann gar nicht sein!" Konterte Kay und ließ sich wieder bequem auf der Couch nieder. "Ich fühle mich von Ihrer Gesellschaft ungemein angeregt! Ihre Wohnung gefällt mir! Gemütlich, ordentlich und bunt!" Vor ihm rang Herr Sandemann um Contenance, mit einer liebenswürdigen Frechheit konfrontiert, die sich an seiner demonstrativen Ablehnung überhaupt nicht störte. "Ich verlange, dass Sie JETZT meine Wohnung verlassen!" Stieß er schließlich hervor, das Spinatpaket in der einen Hand, mit der anderen unmissverständlich den Weg zur Tür weisend. Kay lehnte sich vor auf seine Oberschenkel, studierte den aufgebrachten Mann ernsthaft. "Ich weiß nicht, wie ich dir Anlass gegeben habe, mir mit solcher Furcht zu begegnen." Äußerte er leise. "Was lässt dich glauben, dass ich dir etwas Böses will?" §-#-§ Herr Sandemann war sprachlos. Kein ungewöhnlicher Zustand, da er sich zumeist Kommentare verkniff, sich ungern über Überflüssiges unterhielt. Doch ohne eigenen Willen jenseits aller Worte zu sein: DAS war wirklich rar! Er starrte in das attraktive Gesicht, hörte die samtig-dunkle Stimme, registrierte die fehlende Aggression in der Körperhaltung. »Das ist nicht FAIR!« Protestierte endlich eine dünne Stimme in seinem Hinterkopf. Wie kam dieser gelackte Schönling dazu, ihm SO ETWAS direkt ins Gesicht zu sagen?! Schlimmer noch, wieso hatte er DIE Schwäche erkannt, die Herr Sandemann seit jungen Jahren bereits zu allem entschlossen zu verbergen suchte?! "Ich kann Menschen nicht ausstehen." Formulierte er dezidiert, aber leise, den Blick auf eine Stelle auf dem Teppich vor sich gerichtet. "Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie meinen Wunsch respektieren und mich allein lassen würden." Nach einigen Herzschlägen erhob Kay sich widerstrebend. "Ich sehe ein, dass heute ein bisschen zu viel Rummel war." Antwortete er bedauernd. "Trotzdem möchte ich zu den Menschen gehören, die du etwas weniger grundsätzlich nicht ausstehen kannst. Ich glaube, wir haben mehr gemeinsam, als du dir im Moment vorstellen kannst." Ohne weiteres Insistieren seines Gastgebers verließ Kay das Wohnzimmer, durchquerte den Flur und schlüpfte in seine Mokassins. "Übrigens, ich mag die Peanuts." Er wandte sich zu Herrn Sandemann herum, der das Spinatpaket im Handtuch-Rock umarmte. "Garfield. Der rote Korsar. Blake und Mortimer habe ich auch verschlungen." Vorsichtig drehte er den Schlüssel herum, mehrfach, bis alle Riegel und Bolzen ihm den Weg freigaben, öffnete dann die Wohnungseingangstür. "Und Möbius?" Kay lächelte über die Schulter. "Ach, dessen Zeug war mir einfach ein bisschen zu kopfert! Irgendwie nicht mein Ding, obwohl es bestimmt tolle Sachen mit Western oder Sci-Fi gibt." Herr Sandemann antwortete nicht, aber als Kay die Tür hinter sich zuzog, war er sich ziemlich sicher, dass er gerade einen tückischen Test absolviert hatte und nicht durchgerasselt war. §-#-§ Kapitel 4 - Im Exil "Und, du glaubst es nicht!" Dominique paradierte wie aufgezogen neben Thierry her. "Die alte Meckenröder hat die komplette Ladung Pfefferspray auf sie abgefeuert!" "Ist das nicht verboten?" Thierry fühlte sich nicht gerade prickelnd bei dem Gedanken, dass ER Kay auf dessen liebenswert-unnachgiebiges Bestehen verraten hatte, wer der Hobby-Kunstkritiker war, wo man ihn möglicherweise aufstöbern konnte. "Bestimmt." Dominique wedelte mit den Armen und einem halb gelutschten Wassereis am Stiel. "Aber es war einfach eine klasse Show! Hätte nicht gedacht, dass dieses Brechmittel einen auf Rambo macht!" "HmmHmmm." Murmelte Thierry zurückhaltend, denn er ahnte, dass da noch mehr kommen würde. Dominique nahm unerschrocken Anlauf. "Sag mal, hast du es deiner Mutter gesagt?" "Wegen des Brechmittels? Aber..." "Nee!" Unterbrach Dominique energisch. "Wegen der Sache mit deinen Zähnen! Den anderen Zähnen, meine ich." Thierry studierte konzentriert das Trottoir vor ihnen, wünschte, sie hätten den Schulweg schon absolviert. "Bin nicht dazu gekommen. Bisher." "...oh..." Signalisierte sein bester Freund Verständnis, trottete für einige Meter schweigend neben ihm her. Dann jedoch siegte sein Mitteilungsdrang. "Was ich nicht kapiere: wie hast du das gewusst? Mit dem Blut und so!" Unbehaglich schnäuzte sich Thierry pro forma und contra Gräserpollenattacke. "Also, da sind Eingebungen, so, wie man Ideen hat, aber als Bilder im Kopf." Zuckte er betont nachlässig mit den schmalen Schultern. "Weißt du, es muss noch andere geben!" Dominique entledigte sich seines Eisstiels an einem Müllkorb, lief vor Eifer rückwärts vor ihm. "Ganz bestimmt gibt's noch mehr! Ist vielleicht so eine Art Geheimgesellschaft! Wie die Freimaurer!" Thierry zog eine schiefe Grimasse. "Das bezweifle ich, denn besonders erleuchtet oder clever komme ich mir nicht vor." »Vor allem nicht, wenn ich eine tote Maus anbeiße, die ich vorher mit Apfelessig abgeledert habe!« "Herr Sandemann meint..., na ja, ich habe mich mit ihm unterhalten, weißt du?" Dominique hielt inne und rieb verlegen die Ärmelenden, die seine Hände verbargen, aneinander. "Er weiß ziemlich viel, über Vampire und Untote und Wiedergänger, und so! Das waren alles natürliche Phänomene im Zusammenhang mit Virus- oder Bakterienerkrankungen. Schmatzende Tote, aufgeblähte Leichen, all das. Er meint, diese Blutsache könnte ja ein genetisch bedingter Mangel sein. Oder auch eine Art Psychose. Weil unser Gehirn ja wie ein Computer funktioniert, unsere Umgebung quasi interpretiert. Dann gibt's da schon mal Fehlzündungen, nee, Fehlschaltungen!" "Mit anderen Worten: ich habe entweder einen Dachschaden oder eine erblich bedingte Unterversorgung mit irgendwas!" Knurrte Thierry säuerlich. "Ist ja reizend!" "Ist doch nicht tragisch!" Dominique ignorierte geflissentlich die Verärgerung seines besten Freundes. "Guck mich an! Ich bin ja auch nicht gerade das Luxusmodell der Krone der Schöpfung! Aber wäre es nicht klasse, wenn du kein Blut mehr trinken müsstest?" Das war nicht zu bestreiten, denn im Grunde seines Herzens hätte Thierry nicht nur gern auf die despektierliche Abwicklung verzichtet, sondern auch auf die Mäusefarm und die Schlange selbst. "Na schön, ich gebe zu, das wäre eine Verbesserung." Er warf Dominique einen unwilligen Blick zu. "Nur stellt sich doch die Frage, warum man nie von Leuten wie mir gehört oder gelesen hat? Ich habe ganz sicher keine Lust, irgendwo bei 'Forschungsfragen zu helfen', oder wie man das heute nennen würde, wenn man Leute aus medizinischen Gründen einkassiert!" "So was macht doch niemand!" Protestierte Dominique, doch ein wenig Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit. Ganz ohne Risiko war es zweifelsohne nicht, von der Norm abzuweichen und dies auch noch bekannt zu machen. "Wenn man's schlau genug anstellt..." Weiter kam er jedoch nicht, denn unvermutet packte Thierry ihn am Arm. Vor dem Haupteingang hatten sich schon ganze Scharen von Jugendlichen geballt. Irgendetwas war im Gange. §-#-§ "Das ist so scheiße!" Thierry stupste Dominique dezent in die Seite, damit der nicht frontal einen Laternenmast küsste. Er wünschte wirklich, dass sich sein Freund von der Begeisterung für Cheyenne-Belle erholte. Zugegeben, sie war eines der schönsten Mädchen ihrer Stufe, aber ganz sicher nicht am "Zombie" interessiert. Musste man sich wirklich jede Blöße geben, indem man jemanden anhimmelte, der einen für Dreck unter dem Schuh hielt? "Sie hat recht." Murmelte Dominique seufzend, der sich durchaus der Unmöglichkeit einer Liäson bewusst war. So ziemlich jedes weibliche Wesen in seiner näheren Umgebung, seine Mutter ausgenommen, hielt ihn auf Distanz, zog Grimassen bei der Vorstellung, er, der siffende, blutende, sich kratzende Klapper-August, würde in taktophiler Absicht eine Annäherung in Erwägung ziehen! Aber wenigstens schauen durfte man ja, resigniert und melancholisch, nahezu ohne Hoffnung. "Kann man nichts machen." Stellte Thierry entschieden fest. Zahlreiche Schulräume waren durch den Wasserschaden geflutet worden. Es stank erbärmlich, Bodenbelag und Tapete lösten sich. Es gab nicht mal genug Pumpen und Entlüfter. Also war es nur verständlich, dass die letzten drei Wochen bis zu den Schulferien noch ein Ersatz-Refugium gefunden wurde, auch, um zu verhindern, dass in Wahljahren die Unterrichtsgarantie ins Bodenlose absackte. Für ihre Klassenstufe hieß das, zum Europa-Gymnasium zu marschieren, verteilt auf die dortigen Fachklassen. Es bedeutete einen längeren Schulweg, früheres Aufstehen und ein Arrangieren mit den "Gastgebenden". "Klausuren müssen wir da auch noch schreiben." Dominique gefiel diese Komplikation gar nicht. Wer weiß, wo man sie einquartierte? Mit Klappstühlen und Campingtischen? "Sind doch nur drei Wochen." Thierry war nicht geneigt, sich zu echauffieren. Ihn plagte sein Gewissen, denn nachdem es nun sogar ein Fremder (Herr Sandemann) wusste, sollte er seiner Mama lieber diese Vampir-Sache beichten. Bloß wann?! Und wie?! Und wie erklären, warum er so lange geschwiegen hatte?! §-#-§ Dominique seufzte innerlich und zog die mageren Schultern noch etwas höher, den geliebten, australischen Lederhut noch tiefer in die Stirn. Die ersten Tage waren immer die schlimmsten. Alles starrte, tuschelte, kicherte oder gab Geräusche von sich, die man üblicherweise nur auf Toiletten hörte. Er existierte zwar für die anderen Jugendlichen, aber nicht unter der Kategorie "menschliches Wesen". Nein, es machte keinen Spaß, zu den Exilierten am Europa-Gymnasium zu gehören! Außerdem waren sie nun rein zahlenmäßig schon in der Minderheit. Cheyenne-Belle, NUR, um ein Beispiel zu nennen!, würde die letzten drei Wochen bis zu den Sommerferien in die Albert Schweitzer-Schule gehen aufgrund der Kombination ihrer Hauptfächer. Er spürte die Blicke auf sich ruhen, inspizierend/sezierend/abschätzend. Absolut deprimierend! "Wir sehen uns später!" Sein bester Freund klopfte ihm kurz auf die Schulter zur Aufmunterung, schulterte dann seinen Tornister, um mit dem Treck der anderen "Biologen" zum Fachunterricht abzuziehen. "...ja..." Murmelte Dominique wenig euphorisch. Für ihn hieß es jetzt "Sport", wobei sich seine Betätigung in der Regel auf "Bankdrücken" reduzierte und zwar nicht die Sorte, wo Gewichte gestemmt wurden. Dieser Sportunterricht verlief jedoch keineswegs so, wie er es gewöhnt war. Wie üblich mit langen Unterhosen und einem entsprechenden Leibhemd unter Sporttrikot und Shorts trottete er zur großen Gruppe der anderen, die in der Turnhalle standen, sich über die stickige Luft beschwerten, verlangten, man möge die großen Doppeltüren nach draußen öffnen. "Entweder Türen auf oder Musik an!" Der Sportlehrer tänzelte geschmeidig in ihre Mitte und wirkte auf den verblüfften Dominique wie eine Karikatur aus grauen Vorzeiten des Aerobic-Wahns: violettes Stirnband, passende Schweißbänder für die Handgelenke, goldenes Trikot aus glänzendem Material über einer royalblauen Leggings mit goldenen Ziernähten an den Seiten! "Herr Ruedi" klang trotz seines charmanten Schweizer Akzents wie eine Parodie auf die Schwulenwitze, die man sich vor Ewigkeiten erzählt hatte. Er gestikulierte auch entsprechend effeminisiert. "Kinder, Kinder, ihr müsst euch schon entscheiden: Dampfbad oder Zen-Meditation!" Wiederholte er geduldig. "Also, ich bin ja für die Musi!" Dabei blieb es schließlich auch. Aufgepeitscht durch schnelle Rhythmen folgte die Gruppe artig ihrem Lehrer, der jede neue Übung ansagte, sich quecksilbrig bewegte und über die Energie eines Gummiballs zu verfügen schien. Dominique konnte gar nicht glauben, dass hier niemand dämliche Scherze machte, herumnörgelte oder sich rundheraus weigerte mitzumachen, irgendwelche Atteste zückte. Nachdem sie nun definitiv aufgewärmt und schwitzend im Rund standen, stellte Herr Ruedi zwei Optionen zur Auswahl: Zirkeltraining mit Stationen oder Tanz. Wobei letzteres voraussetzte, dass man die notwendigen Schritte bereits einigermaßen unfallfrei beherrschte. Ein Hauen und Stechen begann, denn die meisten Mädchen zogen den Tanz vor, während ihre Klassenkameraden lieber die Muskeln an den Trainingsstationen, die sie schon aufbauten, stählen wollten. Dominique stand verloren abseits. Er nahm an, man würde ihn in die Gruppe schieben, die zahlenmäßig geringer besetzt war. Stattdessen jedoch erlebte er eine Überraschung. Bis auf ein Mädchen hatten sich Tanzpaare gefunden, durchaus in unterschiedlicher Besetzung. Nun gab es recht hämische Kommentare, das Fleckerl möge sich doch endlich zur nächsten Trainingsstationen verfügen, damit man beginnen konnte. Das Fleckerl starrte auf den Boden, zumindest nahm Dominique das an, weil man durch das Band, das rund um den Kopf gewunden war und die schwarzen Haare wie einen Vorhang dicht nach unten zwang, keinen Rückschluss auf das Gesicht darunter ziehen konnte. Allerdings sprachen die geballten Fäuste Bände. Es war ein seltsamer Impuls, eine Mischung aus Trotz, Verzweiflung, Solidarität und der Furcht davor, als Blitzableiter gleich einen Schwall bösartiger Verunglimpfungen zu hören zu bekommen, weil niemand so tief sinken würde, mit IHM, dem "Zombie", sich noch größeren Demütigungen vor aller Öffentlichkeit auszusetzen. Trotzdem setzte Dominique einen Fuß vor den anderen, hob den Kopf und hielt vor dem Fleckerl inne, streckte ihr höflich die Rechte entgegen und krächzte scheu. "Darf ich bitten?" §-#-§ Unter dem schwarzen Vorhang befand sich ein Gesicht. Vor allem aber funkelten zwischen den Strähnen dunkelblaue, fast violette Augen bitterböse, wer sich hier einen so niederträchtigen Streich erlaubte. "Dominique." Stellte er sich selbst höflich vor. "Wie heißt du?" Statt einer Antwort wich das Mädchen vor ihm einen halben Schritt zurück, knurrte rau. "Kannst du überhaupt tanzen?!" "Ja." Antwortete Dominique schlicht, hob seine Rechte leicht an. "Wollen wir?" Weil die Umstehenden eine Gaudi erwarteten, johlten sie auf und verlangten, dass es jetzt endlich losgehe! Man konnte es wirklich durch den Strähnenvorhang nur ahnen, aber Dominique spürte, dass das Fleckerl mit sich rang. Sie wollte tanzen, hier bot sich die Gelegenheit, oder war es eine Falle?! Noch ein Fußtritt der Spaß-Gesellschaft? Die Musik setzte ein, zum Aufwärmen ein Walzer. Dominique kannte die Schritte auswendig, seine Haltung war, wie er wusste, sehr gut. Natürlich nicht die Posen der Profis, sondern die Art, wie man tanzte, wenn man das Leben aus vollen Zügen feiern wollte. Zu seiner Erleichterung zuckte seine Partnerin nicht zurück vor ihm, legte die eben noch vor Zorn geballte Hand auf seinen langen Ärmel, ließ sich führen und wirbeln, ohne Scheu die andere Hand seiner eigenen anvertraut. Mit jeder Drehung, eleganten Manövern und dem hörbaren Tuscheln der anderen Paare wuchs ihre Sicherheit. Dominique lächelte schüchtern. "Klappt doch ganz gut, finde ich!" Nach dem anschließenden Wiener Walzer wusste er, dass seine Partnerin Rosegunde hieß, benannt nach der Großmutter, aber schlicht "Rosa" bevorzugte. Er revanchierte sich mit dem Angebot, auf "Niq" zu hören, zumindest, wenn er nicht gerade abgelenkt war. Rosegunde kicherte, ein bisschen rau. Überhaupt wirkte sie weniger feminin als ihre Mitschülerinnen. Ihre Gestalt entsprach beinahe seiner eigenen, knochig bis mager, eckig und nicht besonders groß. Herr Ruedi legte nun einen Gang zu. Wer Zumba mochte, würde ja wohl auch zu Samba, Rumba und Chachacha nicht Nein sagen! "Ähem." Machte Dominique sich bemerkbar, denn er hatte die Sorge, sich in den dichten Strähnen doch zu verfangen, die wie rohes Sauerkraut um Rosegundes Kopf hingen. Ihn traf ein funkelnder Blick. "Kannst du das nicht?" "Doch, schon." Er zögerte. "Entschuldige, aber könntest du deine Haare nicht zusammenbinden? Oder hochstecken? Ich will dich da nicht versehentlich ziepen." Murmelte er eingeschüchtert von einen mehr als zornigen Blick. Er hatte wohl definitiv etwas Falsches gesagt! Zu seiner Erleichterung hörte er ein grollendes Knurren, dann klappte Rosegunde die kantigen Ellenbogen hoch, zerrte das elastische Band von ihrem Kopf, drehte ihre Haare und band sie auf dem Oberkopf wie eine Kaskade zusammen. Nun erklärte sich Dominique auch ihr keineswegs liebevoller Spitzname: vom Hals über den Kiefer bis zur Schläfe zog sich ein beeindruckendes Feuermal, das beinahe bordeauxrot mit ihrer bleichen Haut kontrastierte. §-#-§ "Jetzt kommt der Moment, wo du angeekelt die Flucht ergreifen musst." Wies Rosegunde grimmig auf die Formalitäten hin. "Und ich verliere auf der Treppe einen Schuh, so wie bei Schneewittchen?" Gab Dominique tapfer zurück, denn er begriff, dass Rosegunde vermutlich aus demselben Grund so kratzbürstig wie er schüchtern war. Sie starrte ihn finster an, bevor sie korrigierte. "Du meinst Aschenputtel. Schneewittchen war die Trulla bei den Zwergen, im Glassarg." "Oh... klar." Murmelte Dominique hilflos, "Hab ich verwechselt... Haut weiß wie Schnee..." Rosegunde erwog ernsthaft, ihrem Tanzpartner nun eine Maulschelle zu verpassen, die ihn in die nächste Woche katapultierte. "He, ihr seid im Weg!" Der ärgerliche Warnruf ließ sie hastig an die Seitenauslinie weichen. Dominique warf Rosegunde einen unschlüssigen Blick zu. "Rosa, tut mir leid, ich meinte das nicht böse, ehrlich! Es ist bloß so wie im Märchen..." "Oh ja, kenne ich!" Ätzte Rosegunde verächtlich. "Haut weiß wie Schnee, Haare so schwarz wie Ebenholz und ne Watschen vom Satan, er erkennt ja die Seinigen!" Bevor sie ihn jedoch stehen lassen konnte, schoss Dominique vor, nutzte den Tango-Rhythmus aus, ihre reflexartige Gegenwehr auszukontern und sich wieder in das mehr oder minder geschickte Reigen einzufädeln. "Ich habe Neurodermitis." Bekannte er. "Glückwunsch!" Fauchte Rosegunde bitter. "Willst du jetzt nen Orden, oder was?!" Unbeabsichtigt entwich Dominique ein amüsiertes Glucksen. "Ehrlich, warum spulst du dich so auf, Rosa? WIR müssen doch nun echt nicht die Vorurteile der anderen zu unserem Thema machen!" Dieser Appell verfehlte seine Wirkung nicht, im Gegenteil, Rosegunde kam sogar ins Stolpern, doch das brachte Dominique nicht aus dem Rhythmus. Er zwinkerte bloß lässig. So lässig, wie es jemandem möglich war, dem die Pumpe gar gewaltig bummerte! "...na gut." Grummelte Rosegunde schließlich widerwillig nach einer exaltierten Drehung. "Willkommen im sehr exklusiven Club der Freaks am Europa, Niq!" §-#-§ Thierry staunte nicht schlecht, als beim Mittagessen, das aufgrund der beengten Situation eher einem großflächigem Picknick ähnelte, sein bester Freund geradezu euphorisch gelaunt in weiblicher Begleitung erschien. Man machte sich bekannt, auch Thierry verzichtete darauf, Rosegunde anzustarren. Er war im Gegenteil verblüfft darüber, wie sehr sich die beiden ähnelten, nicht äußerlich, aber in ihrer unfreiwilligen Isolation. Bloß reagierte diese Rosa wie ein Stachelschwein auf Testosteron, während Niq eher in die innere Eremitage einkehrte! "Musst du Diät halten, oder so was?" Rosegunde beäugte kritisch Dominiques "Futterbox", während sie ihren Teller mit Gemüseauflauf auf den Oberschenkeln balancierte. "HmmHmmm." Dominique kaute hastig. "Deshalb wäre Schneewittchen nicht so gut. Äpfel vertrag ich nicht." Während Thierry eine Augenbraue lupfte, brach Rosegunde in heiseres Gelächter aus. "Mit den Tussen habe ich eh nix am Hut, also geht das klar!" Dann studierte sie nach einigen Löffeln neugierig Thierrys Mahlzeit. "Sieht echt klasse aus! Profi-mäßig! Selbst gekocht?" "Ja." Thierry nickte höflich. "Das habe ich von meinem Vater gelernt. Die Mensa an unserer Schule entsprach nicht unbedingt meinem Geschmack." "Verstehe!" Unerwartet umgänglich nickte Rosegunde. "Ich bin Vegetarierin. Das ist hier immer noch ein Problem. Wenn ich nix auf dem Wochenmenü finde, stopf ich mir Müsliriegel und so Zeug in die Tasche. Was Kaninchen nicht killt, kann mir ja auch nix, oder?" Dominique lachte. "Arme Kaninchen! Die bekommen doch eine Staublunge!" Rosegunde lehnte sich vertraulich zu ihm herüber. "Das Geheimnis ist Kakao. Jede Menge davon!" Nun grinste sie auch breit, die Augen funkelten vor Vergnügen. »Au Backe!« Dachte Thierry in diesem Moment und verwünschte eines seiner Talente nachdrücklich. Er konnte sich des starken Eindrucks nicht erwehren, dass Rosegunde von Dominique ziemlich angetan war. §-#-§ Nicht angetan, und zwar von gar nichts im Allgemeinen und im Besonderen war Herr Sandemann. Seine Seelenruhe war empfindlich gestört, seine Nerven angefressen, seine Laune auf rekordverdächtigem Tiefststand. Ja, NUN verwünschte er seine verflixte Hilfsbereitschaft, angefangen bei dem Nachbarbengel! Überhaupt, was ging ihn der blöde Lackaffe von Kopier-Fotograf an?! Warum hatte es ihn bloß gejuckt, diesem Schnösel ordentlich die Petersilie zu verhageln?! Er MUSSTE eine Lösung finden! Es gab immer eine Lösung! Diese musste zwingend beinhalten, dass er diesen aufdringlichen Kay Nelson Jefferson (Wer um alles in der Welt gab seinem Kind einen derart dämlichen Namen?!) ein für alle Mal aus seinem Leben entfernte! Bloß hatte er sie noch nicht gefunden. Selbstredend gab es unzählige grauenvolle Phantasien, die ihn für Wimpernschläge siegesgewiss und gehässig grinsen ließen! Doch bei realistischer Betrachtung der Umstände und unter Subtraktion aller Elemente aus Zeichentrick- oder Comicverfilmungen reduzierte sich die Palette auf exakt NULL Optionen! Was tun? Was tun, wenn der Kerl wieder einfach vor der Tür stand?! Wenn er draußen spektakelte, so Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, was Herr Sandemann auf den Tod nicht verknusen konnte! Oder schlimmer, wenn er ihm bei der Arbeit auflauerte?! "Schwachstellen-Analyse!" Ermahnte er sich selbst. "Keine Hysterie, verflixt!" Genau, er musste professionell vorgehen, diese Situation als einen Prozess betrachten, der kompliziert wirkte, offenkundig einen gewaltigen Fehler hatte und dringend korrigiert werden musste. Es KONNTE nicht so schwer sein, in der Gleichung dieses unerträglichen Schickimicki-Schnurrers eine Lücke zu finden, die er ausnutzen würde! Gnadenlos und unerbittlich! Der Kerl glaubte wohl, er habe ihn in der Hand! HA! Nein, das war ein fundamentaler Irrtum! Herr Sandemann war entschlossen, so unerbittlich und gründlich zurückzuschlagen, dass sein unerwünschter Verehrer ihm nie wieder unter die Augen treten würde. §-#-§ "Eigentlich ist es gar nicht so übel am Europa." Bemerkte Dominique und rollte geschickt neben Thierry her. Der Lederhut ruhte auf seinem Rücken, über dem Rucksack, nur das Kopftuch verbarg sein rasiertes Haupt. "Es wird schon gehen für drei Wochen." Pflichtete Thierry ein wenig sauertöpfisch bei. Die Aussicht darauf, dass es sich nur um ein zeitlich sehr begrenztes Intermezzo handelte, trübte Dominiques gute Laune ein. Nachdenklich balancierte er seine magere Gestalt auf dem Rollbrett aus. "...ja...nur drei Wochen." Murmelte er. Eine Weile leisteten sie einander auf dem Heimweg stumme Gesellschaft, bis Dominiques unverzichtbarer Optimismus die Senke der Melancholie durchschritten hatte. "Hast du eigentlich schon davon gehört? Vom Abschlussball?" "Abschlussball?" Thierry gab sich nicht über Gebühr interessiert. Er hatte keinen Tanzkurs absolviert, da er nach dem Tod seines geliebten Vaters keinen Geschmack an gesellschaftlichen Verpflichtungen gefunden hatte. "Ja!" Dominique nickte eifrig. "Die meisten gehen noch zu einem Fortgeschrittenen-Kurs in einer Tanzschule in der Nähe. Da gibt's einen Abschlussball!" "Tatsächlich?" Thierry kommentierte höflich. "Ich kann jetzt den Zusammenhang zwar nicht erkennen...?" "Ach so!" Dominique klatschte sich nachsichtig ob der Gleichgültigkeit seines besten Freundes an die Stirn. "Na, Rosa geht auch in den Kurs. Ich dachte, wenn es mit uns gut klappt, also beim Tanzen, dann könnte ich sie ja fragen, ob ich sie begleiten darf. Zum Ball, meine ich! Als Gast käme ich ja rein." Sein Begleiter schwieg eine Weile, gedankenversunken. "Keine so gute Idee, was?" Murmelte Dominique ernüchtert. "Sie hat bestimmt schon jemanden. Es wäre ja auch ziemlich aufdringlich..." "Sie hat keinen Freund." Antwortete Thierry bestimmt. "Wahrscheinlich wäre es nett, nicht darauf warten zu müssen, aufgefordert zu werden." Dominique staunte ihn verblüfft an. "Bist du sicher? Mit dem Freund? Ich meine, mit keinem Freund?" Thierry verzichtete auf Beteuerungen und nickte schlicht. Wie gewohnt hinterfragte Dominique diese Aussagen nicht weiter, sondern grübelte nun seinerseits fieberhaft. Wenn Rosa keinen Freund hatte, möglicherweise auch keinen festen Tanzpartner, wäre es gar nicht zu unverschämt, ihr die Begleitung anzutragen! Höflich, selbstverständlich. Wer weiß, vielleicht verstanden sie sich ja tatsächlich in drei Wochen so gut, dass seine Offerte mit einer Zusage belohnt würde? "Ihr könntet zusammen üben." Thierry seufzte innerlich über sich selbst. "So als Vorbereitung für den Ball. Dann wäre dein Angebot auch ganz selbstverständlich." "Genau!" Dominique strahlte. "Außerdem habe ich gehört, dass sie gut in Spanisch ist! Da könnte ich etwas Hilfe brauchen! Eine Unterstützung auf Gegenseitigkeit, SEHR guter Gedanke!" »Au Backe!« Der selbstlose Samariter hoffte stillschweigend, dass er hier keiner Katastrophe Vorschub leistete! §-#-§ Kay hätte Herrn Sandemann gern so rasch wie möglich erneut getroffen, um sich mit ihm auszusprechen. Er wollte ihn nicht in der falschen Annahme zurücklassen, dass seine Worte der Zuneigung und des Interesses bloß hohle Phrasen waren, um sich einen schlechten Scherz zu erlauben. Ihm war bewusst, dass dieser rätselhafte Mann sich versteckte, distanzierte, verschanzte vor seinen Mitmenschen, dass eine allzu forsche Vorgehensweise verhängnisvoll enden konnte. Herr Sandemann hatte viele Eigenschaften eines verwilderten Tieres: er war misstrauisch, scheu, immer auf dem Sprung, nicht einzufangen und ganz gewiss nicht mit Drohungen oder Gewalt anzulocken. Unseliger Weise verlangte Kays berufliches Engagement einen temporären Ortswechsel. So blieb ihm nichts Anderes übrig, als einen kurzen Brief zu verfassen, indem er seine Abwesenheit zu entschuldigen bat, alle verfügbaren Kontaktmöglichkeiten aufzählte und verkündete, ihn sofort nach seiner Rückkehr aufsuchen zu wollen. Kay verabschiedete sich von Zermatt, der in seinem Terrarium stoisch den Sand umgrub, kontrollierte erneut die Zeitschaltuhren und die Stromversorgung, bevor er auf dem Weg zum Bahnhof einen Briefkasten beehrte. §-#-§ "Das ist ein Fehdehandschuh!" Knurrte Herr Sandemann empört über die Dreistigkeit, ihn nicht nur auf die Folter zu spannen, wann der nächste Schlag erfolgen würde, sondern auch noch die Frechheit zu besitzen, IHM irgendwelche Kontaktdaten aufzunötigen. Als hätte ER ein Interesse daran, diesem unerträglichen Kerl eine Nachricht zu senden! "Unerhört!" Schnaubte Herr Sandemann verärgert, verdrängte für einen Augenblick die niederschmetternde Erkenntnis, dass er zwar viel über Kay Nelson Jefferson herausgefunden hatte, jedoch nicht sicher zu sagen wusste, wie GENAU dieser Bursche tickte. Und wie man ihn so auf die Palme treiben konnte, dass er garantiert nicht mehr auftauchen würde. §-#-§ "Also, ich finde, dein Spanisch ist echt lausig!" Rosegunde nahm kein Blatt vor den Mund, als sie sich neben Dominique und Thierry mit einer lauwarmen Reispfanne die Backen vollstopfte. "Du scholltischd Nchhlfee nehm!" Dominique nickte betrübt. "Ja, ich weiß, aber im Moment kann ich mir das nicht leisten, deshalb..." Innerlich drückte er energisch die metaphorischen Daumen, während er gedünstete Karottenstangen mümmelte. "Das langt doch eh nicht für den Test." Stellte Rosegunde ungeniert fest. "Das wär rausgeschmissenes Geld." Artig ließ Dominique die Schultern in tiefer Resignation hängen. »Jetzt bloß so erbarmungswürdig wie möglich gucken!« Ermahnte er sich selbst eindringlich. "He, nun zieh nicht gleich so ne Fresse!" Gewohnt rustikal rammte Rosegunde einen spitzen Ellenbogen in seine Seite. "Ich könnte mit dir üben! Dafür müsstest du aber mein Tanzpartner sein, klar?" "Ehrlich?" Dominique biss sich auf die Zunge, um nicht zu dick aufzutragen. Rosa war ganz sicher nicht blöd und würde ihm eine Scharade bestimmt übelnehmen! "Klar! Also, abgemacht?" Damit streckte sie ihm ihre feingliedrige, jedoch unerwartet kräftige Rechte hin. "Abgemacht!" Besiegelte Dominique ihre Vereinbarung und strahlte erleichtert. Punktsieg auf der ganzen Linie! "Wieso kannst du überhaupt so gut tanzen?" Rosegunde jagte energisch flüchtige Reiskörner. "In was für einer Tanzschule warst du denn?" Ziemlich verlegen druckste Dominique herum, warf einen flehentlichen Blick auf seinen besten Freund, doch der zuckte nur mit den Schultern. Hier konnte er ihm nicht aushelfen, die Wahrheit musste auf den Tisch. "Na ja..." Seufzte Dominique ergeben. "Ich bin überhaupt noch nicht in einer Tanzschule gewesen." "Hä?!" Ein Löffel bremste auf halber Strecke vor Rosegundes Mund. Ihr blau-violetter Blick versprach ein in Kürze aufziehendes Gewitter, wenn er nicht blitzartig mit ALLEN Umständen herausrückte. Dominique fügte sich, auch wenn er nun Gefahr lief, dass sein eben abgeschlossener Handel widerrufen würde, weil er gegen Treu und Glauben verstoßen hatte. "Meine Mutter hat einen Tanzkurs für Singles geschenkt bekommen, von einer Freundin, nach der Scheidung, damit sie auf dem Weg nette Männer kennenlernt. Leider waren da nur Figuren, die überhaupt nicht kompatibel waren, die hauptsächlich dort gebucht hatten, um Frauen kennenzulernen, aber nicht, um wirklich zu tanzen, so Marke Kachelofen mit zwei linken Hufen und null Rhythmusgefühl." "Schande!" Kommentierte Rosegunde sehr aufmerksam, studierte Dominique eindringlich, der durchaus ob dieser Observation aus nächster Nähe nervös wurde. "Jedenfalls kam sie nach zwei Übungsstunden total deprimiert nach Hause. Da habe ich einfach gefragt, ob nicht ich mit ihr tanzen könnte, so zur Übung! Wäre ja Verschwendung, wenn sie den Kurs nicht bis zum Ende machen würde." "So hast du alles gelernt?" Rosegundes raue Stimme zweifelte merklich. "Internet-Videos haben auch geholfen." Dominique grinste schief. "Wenn man mal den Dreh raus hat, ist es gar nicht so schwer. Ich bin natürlich kein Profi und so, aber für ein bisschen Spaß reicht's." "Hmmm." Brummte Rosegunde schließlich und schaufelte den Rest ihrer Mahlzeit schweigend in sich hinein. Dominique warf einen beunruhigten Blick auf Thierry, was dessen Einschätzung betraf: hatte er es gerade wieder verbockt oder bestand noch Hoffnung? "Deine Eltern sind geschieden?" Rosegunde brachte sich wieder ein, bevor die beiden Freunde ihren stummen Austausch intensivieren konnten. "Ja, seit vier Jahren jetzt." Dominique zwang sich zu einem nonchalanten Lächeln. "Na ja, passiert eben. Leider bin ich so eine Draufgabe, die meiner Mutter eine neue Beziehung ziemlich verhagelt." "Tja, wenigstens sind das die Typen, die begreifen, dass man die Kinder nicht mit 18 einfach abhaken kann." Bemerkte Rosegunde mitleidlos und harsch. Thierry zuckte zusammen, denn allzu sehr erinnerte ihn diese Aussage an das Brechmittel. "Sind deine Eltern auch geschieden?" Erkundigte sich Rosegunde unterdessen bei ihm, die Augen undurchdringlich. Er schüttelte den Kopf und zwang den Kloß in seiner Kehle herunter. "Mein Vater ist vor einigen Jahren ganz plötzlich gestorben. Meine Mutter hat kein Interesse an einer neuen Beziehung." "Echt?" Rosegunde schnaubte, deponierte scheppernd den Löffel in die Keramikschale. "Dann ist sie ein rares Exemplar der weiblichen Spezies. Meine Alten sind nicht geschieden, laufen sich aber garantiert nur noch über den Weg, wenn der erste den Löffel abgibt. So, ich zieh dann mal Leine! Bis später!" So abrupt wie gewöhnlich richtete sie sich auf, sammelte Geschirr und Habseligkeiten ein, marschierte zurück in das Mensagebäude. "....holla..." Stellte Dominique endlich trocken fest, nachdem beide Freunde mit einer Mischung aus Unglauben und dezenter Verärgerung diesem Abgesang samt Ausmarsch gefolgt waren. "Ein bisschen schwierig ist sie schon, deine Rosa!" Bemerkte Thierry spitz, wirrte schwarze Locken aus seinem Gesicht. "MEINE Rosa ist sie noch nicht!" Korrigierte Dominique im gleichen Tonfall, grinste dann aber entwaffnend. "Ich habe aber den Eindruck, dass sie eine Menge Gepäck mit sich rumschleppt." Möglicherweise würde er noch die eine oder andere Tretmine erwischen, wenn er versuchte, ihr näher zu kommen. §-#-§ Während Dominique über die Ungewissheiten einer näheren Bekanntschaft mit Rosegunde sinnierte und nach Hause schlenderte, anstatt wie gewöhnlich mit seinem Rollbrett das Weite zu suchen, stapfte Thierry ebenso in wenig erfreuliche Gedanken versunken Richtung Heimathafen. Er MUSSTE endlich reinen Tisch machen, alle Karten aufdecken. Die Zähne zeigen. Nun ja, wohl eher von ihnen berichten, denn diese unerwünschte Fähigkeit entzog sich weiterhin hartnäckig seiner Kontrolle. Überhaupt, wie lächerlich, einmal im Monat Mäuseblut...!! Doch wie sollte er beginnen? Das Gespräch durfte ihm nicht aus der Hand gleiten, sonst würde er nach dem Laienschauspiel gegen das Brechmittel seine Mama ernsthaft bekümmern! Thierry erwog verschiedene Ouvertüren, achtete nicht auf seine Umgebung, zumindest nicht über die banale Unterscheidung "mobiles" oder "stationäres" Hindernis im Orbit hinaus. Laufen auf Autopilot. So entging ihm selbstredend, dass das geschmähte Brechmittel im Sturmschritt herannahte, entschlossen, dem jugendlichen Erzfeind nach verlorenem Krieg ordentlich den Kopf zu waschen. Thierry zuckte heftig zusammen, als sich unmittelbar vor ihm Henning Brauer manifestierte, ihn energisch am Arm packte. "Wir werden uns jetzt mal unterhalten, du kleiner Quälgeist!" Fauchte der Mann heiser. Seiner äußeren Erscheinung nach ging es ihm nicht blendend, denn da waren ungepflegte Bartstoppeln, fettige Strähnen, geplatzte Äderchen in den Augen und der Dunst von Nikotin, in Schweiß gebadet. "Loslassen!" Protestierte Thierry heftig, stemmte die Absätze in den Gehweg, versuchte, seinen Oberarm aus der Umklammerung zu befreien. "Zick hier ja nicht rum, du kleiner Scheißer!" Der Fotograf schlug Thierry mit der Rechten ansatzlos ins Gesicht. "Du und deine dämlichen Kumpane haben mein Leben total versaut!" "Von wegen!" Trotz der Schmerzen und des Schrecks schraubte Thierry die Lautstärke hoch. "SIE haben doch die Fotos gemacht! Jetzt lassen Sie mich sofort los!" "Ich werd dir helfen...!" Henning Brauer verlor das letzte Quäntchen Beherrschung und ballte die Faust, um Thierry damit zu bearbeiten, seinen aufgestauten Frust und die Hoffnungslosigkeit seiner Lage mit einem Rausch auszutoben, gnaden- und rücksichtslos. In diesem kritischen Moment jedoch ging ein prallgefüllter Wasserballon auf das schmuddelige Haupt nieder, zerbarst wie vorgesehen. Dann folgten drei weitere Treffer, begleitet von Kinderjohlen und Gelächter eines hochgelegenen Balkons. Nass, aber geistesgegenwärtig trat Thierry seinem Angreifer ungeniert direkt unter die Kniescheibe und kam auch sofort frei. Während droben nun mütterliches Geschrei ertönte und die Attentäter in Gewahrsam genommen wurden, gab Thierry Fersengeld. Er drehte sich erst um, als er die Haustür fest hinter sich geschlossen wusste. §-#-§ Rosa war extrem mies gelaunt, wie Dominiques Feinsensorik ihm warnend signalisierte. Aber kneifen stellte keine Option dar! "Sollen wir zuerst tanzen, oder...?" Tollkühn stellte er sich der Herausforderung, einer ausgewachsenen Unwetterfront zu begegnen. Ein schwarzer Blick des Unheils durchbohrte ihn. "Falls es dir entgangen ist, Kumpel, ich habe gerade eine SCHEISS-Laune!" Fauchte sie kehlig. "Hältst du es da für eine clevere Idee, mit mir auf Tuchfühlung zu gehen?!" Bevor er sich selbst davon abhalten konnte, antwortete Dominique selbstmörderisch. "Nun, das könnte potentiell kontagiös sein, aber es hat keinen Einfluss auf meine Neurodermitis, also geht das für mich in Ordnung." "...was?!" Rosegunde stemmte die Hände in die schlanke Taille, funkelte ihn an, die gesellschaftliche Distanz dabei demonstrativ überschreitend. "Wie bitte." Korrigierte Dominique liebenswürdig, lächelte und wusste, dass er gerade einer herabsausenden Guillotine entgegensah. "Ich habe nichts dagegen, mit dir zu tanzen." "...ist ja ganz allerliebst!" Ätzte Rosegunde nun hämisch. "Wie generös von dir! Soll ich dir untertänigst noch die Zehen küssen aus Dankbarkeit, ja?!" Irgendwie musste die Luft den Sauerstoff verloren haben, denn Dominique fühlte sich schwindelig leicht im Kopf, schmunzelte ziellos und plapperte einfach heraus, was sich über seine Zunge verirrte. "Oh, das geht mir etwas zu schnell, aber generell würde mir das schon gefallen, doch, ja! Ich bin nicht ansteckend, weißt du, ich meine, im Gegensatz zu deiner Laune..." Blitzartig, vielleicht sogar beinahe zu schnell für Thierrys außergewöhnliche Reflexe (zumindest, wenn sein Kopf nicht mit schwerwiegenden Gedanken gefüllt war), schnellten Finger hoch und klemmten Dominiques Nase genau zwischen ihren Knöcheln ein, drückten fest zu, drehten leicht. Ihm entwich ein gedämpft-hupendes Ächzen, was nach "honk!" klang. Dominique hielt still und auch dem inquisitorischen Blick tapfer stand. Rosegunde verfügte über eine erhebliche Kraft in ihren schlanken, fast knochigen Fingern. Er konnte nicht verleugnen, dass sie mit Aggression und Wut auf die Welt reagierte, während er sich lieber zurückzog und versteckte. "Du bist ein sehr seltsamer Bursche." Stellte sie nun mit ruhiger Stimme fest. Ihr konzentrierter Ausdruck ließ Dominique vermuten, dass sie auf eine ihm unbekannte Weise versuchte, sein Innerstes zu lesen. "...abä nich nstggnd!" Näselte er schüchtern und grinste schief. "Hmm." Stellte seine Tanzpartnerin in spe fest, gab seine malträtierte Nase wieder frei. Sie trat auch einen Schritt zurück, studierte ihn knapp, dann knurrte sie. "Na los, vorzeigen!" Dominique starrte verwirrt zurück. "Was denn?" Rosegunde verdrehte demonstrativ die Augen. "Na, das, was nicht ansteckend sein soll! Zeig mal her!" Es währte einen sehr langen Augenblick, bevor sich Dominique entschloss, die Aufforderung als das zu begreifen, was sie darstellte: eine private Horrorshow. Widerwillig rollte er einen Ärmel hoch, löste die Manschette über der Armbeuge und lupfte die Kompresse an. Ohne Berührungsängste packte Rosegunde unvermutet seinen Arm, drehte ihn zur besseren Sicht, inspizierte die dünne, rissige Haut, die nässenden Spuren der offenen Wunde. "Also, ich hatte etwas Spektakuläreres erwartet." Bemerkte sie nüchtern. Tief durchatmend reagierte Dominique beherrscht. "Im Moment ist es nicht zu schlimm." Er machte sich aus ihrem Griff los, um seine lädierte Armbeuge wieder sorgsam zu verpacken. "Ja? Nun, wie sieht's denn wirklich übel aus?" Rosegunde beäugte ihn unbeeindruckt. "Warum willst du denn...?" Nun war Dominique wirklich ratlos. Hatte sie vielleicht einen seltsamen Fimmel für blutige Wunden oder Ähnliches? Guts'n'Gore-Fan? "Oh, ich LIEBE es einfach, wenn's anderen dreckig geht, das baut mich wieder auf!" Säuselte Rosegunde betont ätzend, packte Dominique am Handgelenk, zerrte ihn zu einer steinernen Treppenstufe des kleinen Amphitheaters im alten Schulhof. Er musste ihr zwangsläufig folgen und platzierte sich auch neben sie. "Na los, erzähl mir alle blutigen Einzelheiten! Die schlimmste Version!" Dominique konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass trotz dieser betonten, groben Kaltschnäuzigkeit hinter der Aufforderung mehr steckte. Möglicherweise ein ehrliches Interesse daran, ihn besser kennenzulernen? "Also gut." Grummelte er, stählte sich, denn einfach war dieser Gang in die Vergangenheit wirklich nicht. "Ich war noch kein Jahr alt, als Neurodermitis bei mir diagnostiziert worden ist." Begann er gefasst. "Meine Mutter hat mich auf alles Mögliche testen lassen. Wir haben von Anfang an ein Ernährungstagebuch geführt, damit ich genau weiß, was ich schlecht vertrage. Eine Weile funktionierte das auch, ab und zu kamen Schübe, dann hatte ich hohes Fieber, musste Medikamente nehmen und meine Haut mit Salben einbalsamieren. Das war aber auszuhalten." Er leckte sich über die plötzlich trockenen Lippen, konzentrierte seinen Blick auf den Boden vor sich, wollte dem prüfenden Blick ausweichen, der ihn nicht aus den Augen ließ. "Ich war ungefähr 12, da kam ein heftiger Schub, richtig brutal. Überall hat sich meine Haut entzündet, an den Augenlidern, zwischen den Fingern und Zehen, sogar unten herum, na, du kannst es dir denken. Das Fieber war hoch, ich kam auf die Intensivstation, auch, weil sich meine Mund- und Nasenschleimhäute entzündet hatten. Ich konnte nichts mehr trinken, nicht mehr schlucken." Er räusperte sich und kämpfte gegen die eisige Kälte an, die ihn ganzkörperlich erstarren ließ. "Nun, es ging mir so übel, dass ich wirklich lieber sterben wollte. Ich konnte es nicht mehr aushalten, nicht mehr denken, reden, gar nichts mehr. Alles war nur noch Schmerz. Die Ärzte hatten Angst, dass meine Organe auch versagen würden, von den unzähligen Entzündungen ganz zu schweigen. Sie haben dann einen Medikamenten-Cocktail ausprobiert, der bei schweren Verbrennungen schon Erfolge hatte. Es wusste jedoch niemand genau, wie das bei einem Kind zu dosieren ist. Damals standen meine Eltern kurz vor der Scheidung, doch dieser Schub hat sie noch mal zusammengeschweißt. Ein halbes Jahr lang war ich total aus dem Verkehr gezogen, musste sogar eine Reha machen, weil ich so schwach war, dass ich nicht mehr laufen oder sitzen konnte." Dominique zuckte überrascht zusammen, als Rosegunde ihre Rechte auf seine Hand legte, die verkrampft sein Handgelenk umklammert hatte. "Üble Sache." Stellte sie ruhig fest. "Tja." Dominique fühlte sich veranlasst, die bittere Realität mit einem verächtlichen Witz zu würzen. "Wie mein werter Klassenkamerad David so treffend bemerkte: ich bin so scheiße, dass sogar meine Haut abhauen will." "...aha." Brummte Rosegunde leise. "Kenn ich den Typen? Ist der auch hier?" Etwas irritiert gab Dominique zurück. "Nein, aber warum willst du das wissen?" "Oh, ich dachte bloß, dem Wichser die Fresse zu polieren würde mich echt aufheitern!" Schnurrte Rosegunde im üblich heiseren Tonfall gehässig. Unwillkürlich entwich Dominique ein ersticktes Kichern. Wieder kniffen rächende Fingerspitzen seine Nase. "Wenn du jetzt sagst, ich sei süß, dann passiert dir gleich ein hässlicher Unfall!" Warnte sie ihn finster vor. Beschwichtigend hob Dominique beide Hände an, konnte jedoch nicht aufhören zu lächeln. "Dann, wollen wir tanzen? Darf ich bitten?" Tatsächlich gelang es ihm, die strafende Rechte in seinem leichten Griff zu entführen, die dunklen Wolken schlechter Stimmung spurlos zu vertreiben. §-#-§ Kapitel 5 - Unerwartete Begegnung "Das ist idiotisch!" Zischte Thierry sich selbst an und ballte die Fäuste. Er war doch kein Feigling! Kein Hosenschisser! »Für irgendwas müssen die blöden Reflexe ja auch gut sein, oder?!« Aber sie hatten ihn am Vortag im Stich gelassen. Er hatte auch die mörderischen Absichten des Brechmittels nicht rechtzeitig wahrgenommen, wie es ihm sonst gelang, was nur eins bedeuten konnte: es musste mal wieder DIESE Aktion im Monat absolviert werden. Aus selbst-disziplinierenden Gründen versuchte Thierry den Moment, wenn er mal wieder Blut trinken musste, so weit wie möglich hinauszuzögern, denn er wollte sich nicht einfach mit seiner Disposition abfinden. Die Schlange durfte ja auch nicht zu fett werden, richtig? Allerdings konnte er nicht verleugnen, dass mit dieser Diät die Fähigkeiten, die ihm zur zweiten Natur geworden waren, rapide abnahmen. Auf Alternativen schien sein Kopf außerdem nicht eingestellt zu sein! Was seine Laune noch verschlechterte, war der Umstand, dass er nach dem großen Schrecken nicht imstande gewesen war, mit seiner Mutter über DAS Thema zu sprechen. Schlimmer noch, er hatte ihr nicht von der Attacke berichten können! Jetzt, am Morgen, verquollen, von Albträumen gequält, übernächtigt und von einem gemeinen Schub seiner Allergie heimgesucht, fühlte er sich einer ernsthaften Unterhaltung nicht gewachsen, die Nase verstopft, fiebernd, die Augen trübe oder tränend, das Hirn in Watte gepolstert. Der Tag war schon schlimm genug gewesen! Wollte er jetzt noch einen Umweg nach Hause machen, bloß um nicht erneut dem Wegelagerer in die Arme zu laufen?! »Andererseits, in unserem Zustand haben wir keine Chance.« Warf schniefend eine dünne Stimme in seinem Hinterkopf ein. Nein, für eine Flucht fehlte ihm die Luft, geschultes Prügeln hatte er nie gemeistert und mit dem rauen Hals nach möglicher Hilfe schreien, das konnte auch keine reale Lösung sein! Also half es nichts: der Umweg musste sein. Unseliger Weise verwünschte er nach der halben Strecke seinen standhaften Entschluss schon wieder vehement, zumindest innerlich, während er sich schnäuzte, blinzelte, schniefte und halbblind, den Blick auf das ihm nicht vertraute Pflaster gerichtet, der Heimat entgegen stolperte. Warum mussten alle Idioten auch gleichzeitig mähen?! Wieso musste der ganze Mist wie ein Wüstenwind hier durch die ohnehin staubtrockene Luft wehen?! Und warum war ihm so unerträglich heiß?! Die Lider verklebt, würgend, weil seine Zunge sich in eine flusige, alte Tennissocke verwandelt hatte und seine Kehle offenkundig mit Schmirgelpapier ausgelegt war, hielt Thierry pfeifend und ächzend in einem Häuserschatten inne, stützte sich mit klammer Linker an der schmutzig-grauen Fassade ab. Das war nicht zu schaffen! Warum hatte er sich keine Wasserflasche eingepackt?! Ihn schwindelte leicht. Er widerstand tapfer der Versuchung, sich auf die Oberschenkel abzustützen, weil er fürchtete, dann vornüber zu kippen. "Verzeihung!" Eine dunkle, sympathisch-energische Stimme drang an sein Ohr. "Macht's dir was aus, mir mal eben deine Zähne zu zeigen?" Thierry registrierte lediglich zwei mächtige Brustkörbe, sah sich von zwei jungen Männern umstellt, die locker die 1,90m-Marke rissen, von der Gestalt her athletische Schwimmertypen, breitschultrig, muskulös, aber schlanke Hüften, lange Beine. Vollkommen unvermutet überkam ihn ein heftiges Zittern. Seine besondere Fähigkeit registrierte eine so ultimative Bedrohung in nächster Nähe, dass sein Adrenalinspiegel förmlich kochte, damit wertvolle Energiereserven, die schon auf "Reserve" standen, hemmungslos plünderte. "Hnnghh!" Protestierte Thierry erstickt, rang nach Luft. Wie durch einen Nebel hörte er den anderen Mann sprechen. "Selim, ich glaube, ihm geht's nicht gut." Jemand fasste nach seinen Arm. Thierry versuchte zu entschlüpfen. Ihm sackten die Knie ein und eine heftige Welle von Übelkeit überwältigte ihn. §-#-§ "...he, ich glaube, er kommt zu sich." Flüsterte eine tiefe Stimme gelassen irgendwo über Thierry. Der wollte nicht aufwachen und sich einer mutmaßlich grauenvollen Realität stellen, denn üblicherweise hörte er keine Stimmen, wenn er die Augen aufschlug! Das konnte nur Ärger bedeuten. Er blinzelte trotzdem, nicht etwa, um vorsichtig die Lage zu sondieren, sondern weil seine Wimpern verklebt waren. "Moment!" Verlangte die Stimme über ihm im Bass, dann wischte feuchte Textur über Thierrys Gesicht, signalisierte ihm unmissverständlich, dass er sich ganz unbedingt und dringlich ein Bild über die Lage verschaffen musste. Hier stimmte gar nichts! "So isses besser!" Stellte die Stimme befriedigt fest. Die grobe Struktur verschwand. Jemand streifte mit der Hand über Thierrys Lockenschopf, wirrte offenkundig widerspenstige Strähnen aus seiner Stirn. Plötzlich überfielen ihn gar unerfreuliche Erinnerungen: die Straßenecke, zwei sehr kräftige, große Männer. Zähne!! Ruckartig setzte Thierry sich auf, übersah dabei, dass zur Stimme über ihm ein kantiges Kinn gehörte, das er nun mit seiner Stirn traf. "Autsch." Kommentierte die dunkle Stimme recht unbeeindruckt, während Thierrys Hände automatisch seinen Kopf umklammerten, er zischend Luft holte, was nur ein wenig besser als vor seinem Filmriss gelang. "Hab dich gewarnt." Brummte eine andere Stimme im Hintergrund, leicht unbehaglich. "Das ist ein Reflex, weil ich hier bin." "Ist ja nix passiert." Versicherte Sprecher 1 gelassen. "Ich glaub's erst, wenn ich die Hauer... Zähne gesehen hab." Nachdem der Schmerz des Volltreffers sich widerwillig verabschiedet hatte, klappte Thierry die Augenlider hoch. Flucht war zwecklos und er befand sich unzweifelhaft in Schwierigkeiten. Feigheit änderte da gar nichts. Er blinzelte und registrierte gleichzeitig mehrere Dinge: das war nicht länger die Straßenecke, sondern ein abgedunkeltes Zimmer, angenehm kühl temperiert. Er selbst kauerte in einem breiten Bett unter einer leichten Decke. Auf der Kante hatte einer der beiden Männer Platz genommen, rieb sich gerade das kräftige Kinn, während sein Begleiter auf einem Hüpfball federte, der vor einem Computerarbeitsplatz saß. Außerdem trug Thierry kein einziges Fädchen mehr am Leib! Hastig zerrte er die Decke höher, blinzelte in den Raum, verstört und hilflos. Was war passiert?! Wie lange war er ohne Bewusstsein gewesen?! Wo waren seine Kleider?! "Hallo." Der Mann auf der Bettkante lächelte und bleckte ein kräftiges, weißes Gebiss in einem aparten Gesicht, die Hautfarbe Creme-Toffee, der offene Blick aus hellen Bernsteinaugen, die an den Schläfen kurz rasierten Haare schwarz, schwer und glatt, ebenso die Augenbrauen. Unter einem weißen T-Shirt spannten sich imponierende Muskeln. Thierry presste die Zähne fest aufeinander, entsetzt über die seltsame Unruhe, die ihn befiel. "Ich heiße Selim." Mit einer großen Hand auf der Brustseite stellte sich der Mann vor, keineswegs bedrohlich, doch Thierry spürte schon ein Zittern in seinem Inneren. "Und das ist Rutger, der Verlobte von meiner Schwester." "Der Esel nennt sich immer selbst zuerst." Gluckste Rutger amüsiert, der eine noch beeindruckendere Gestalt präsentierte, jedoch hellblaue Augen zur Glatze trug, aber mit einem gepflegten Dreitagebart und einer randlosen Brille glänzte. "Oh, stimmt, 'tschuldige!" Vollkommen unbeeindruckt von dieser freundschaftlichen Zurechtweisung lächelte Selim weiter in Thierrys Gesicht, der mit schweißnassen Händen die Decke umklammerte. "...was..." Er räusperte sich rau. "Was geht hier vor?! Wo sind meine Sachen?!" "Ah!" Selim drehte sich zur Seite, pflückte eine Flasche Wasser vom Boden, die er aufschraubte und ebenfalls vom Boden aufgelesen in ein bauchiges Glas leerte, bis dieses zur Hälfte gefüllt war. "Trink am Besten erst mal was, ja? Rutger meint, dass du Fieber hast, aber ich finde, das fühlt sich ganz normal an." Schon reichte Selim das Glas weiter. Thierry hatte Durst, ihm wurde schon wieder flau in der Magengegend, sein Puls raste und er wünschte sich weit weg. Aber durfte er dieser Offerte trauen? Was, wenn das Glas präpariert war?! "Soll ich dir vielleicht helfen?" Selim missverstand Thierrys Zögern wohlwollend. "Klar, du bist ein bisschen angeschlagen!" Wollte Thierry nicht gleich noch begossen werden, musste er wohl oder übel die ungeniert an seine Lippen gesetzte Ladung löschen. Das Wasser war nicht zu kalt, schmeckte unauffällig und half ihm, ein wenig leichter zu atmen, weil Zunge und Gaumen nicht mehr miteinander verklebt waren. Dafür dröhnte ihm nun der Schädel. Unerwünschte Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln. "Ist dir noch übel? Kopfweh?" Selim rückte ihm noch näher, studierte ihn eindringlich. "glaubst du, dass du ne Aspirin verträgst? Oder musst du dann wieder spucken?" Es klang ein wenig wie bei einem kranken Kind, diese besorgten Nachfragen. Thierry sammelte unbehaglich die fehlenden Informationen auf: er hatte sich erbrochen?! "Das ist kein Aspirin, glaube ich." Mischte sich Rutger aus dem Hintergrund ein, studierte die Schachtel. "Ist von der Konkurrenz." "Ach?" Selim studierte die Tablette auf seiner Handfläche, sah dann Thierry wieder an. "Zumindest ist es die kleinste Konzentration. Willst du's mal versuchen, ja?" Schon streckte er Thierry die offene Handfläche hin, in der anderen Hand das aufgefüllte Glas Wasser. "Ich möchte lieber gehen. Wo sind meine Sachen?" Thierry schob sich angespannt in die hinterste Ecke des breiten Betts, beäugte die beiden Männer ängstlich. "Na, da wird erst mal nichts draus." Selim zuckte mit den Achseln. "Ich hab zwar das Kurzwahlprogramm eingestellt, aber dann müssen deine Klamotten ja auch trocknen. Bis heim schaffst du es nicht, wenn's dir noch so übel ist wie vorhin." "Mir geht's gut!" Behauptete Thierry, ließ keinen der beiden Männer aus den Augen. "Nöö, stimmt nicht." Stellte Rutger fest. "Dein Herz rast, du hast Schweißausbrüche und Fieber. Und keine Klamotten, also ich würde nicht sagen, dass du jetzt nach Hause kannst." Thierry wäre gern erstarrt, weil er nicht zu sagen vermochte, wieso dieser Mann seinen Zustand so präzise erkennen konnte, doch ein heftiger Schmerzimpuls in seinen Schläfen ließ ihn zusammenzucken. "Spannungsschmerz." Stellte Rutger fest. "Also, ich wäre jetzt für die Tablette. Hilft vielleicht auch ein bisschen, das Fieber zu senken." "He." Selim legte Thierry eine Hand auf die angezogenen Knie. "Wir wollen dir doch nix tun, ja? Ich bin bloß wegen der Zähne neugierig. Die würde ich echt gern sehen, und weil Rutger gesagt hat, du wärst ein Vampir..." "Es GIBT keine Vampire!!" Explodierte Thierry mit hysterisch-überschlagender Stimme lautstark, von sich selbst überrumpelt. Seine Gefühle spielten verrückt, sein Kopf schmerzte entsetzlich und ganz gleich, wie er sich auch anstrengte, er verstand nicht, was ihm sein von der Diät abgeschwächter Sinn so dringend sagen wollte! Die beiden Männer hielten überrascht inne, eindeutig verblüfft über die unerwartet grimmige Reaktion. "Also, du kannst uns schon vertrauen." Nahm Selim Anlauf, doch Rutger unterbrach ihn. "Schluck erst mal die Tablette, sonst spuckst du gleich wieder. Außerdem bringt's dir nichts, das Offenkundige zu leugnen." Thierry fühlte sich wie das Kaninchen zwischen zwei Schlangen. Er wollte sie zurechtweisen, auslachen, ihre Behauptung ins Lächerliche ziehen, und klapperte doch unkontrolliert mit den Zähnen! Mit den normalen zwar, aber was, wenn ihm hier so ein Missgeschick wie vor Kurzem erst passierte?! "Hier." Selim hielt ihm die Hand mit der Tablette vor den Mund und sammelte wieder das Glas vom Boden. "Wir können uns bestimmt besser unterhalten, wenn dir nicht mehr so übel ist, richtig?" In diesem Moment hörte man leise Geräusche, dann eine Frauenstimme, die "bin wieder da, Jungs!" verkündete. Rutger sprang sofort vom Hüpfball hoch und warf einen unsicheren Blick auf Selim. "Da haben wir den Salat! Ich geh lieber schnell und erkläre Selina alles!" Damit verließ er fast fluchtartig das Zimmer. §-#-§ "...ich verstehe das also richtig?" Selina, Selims Zwillingsschwester, saß nun an seiner Stelle auf der Bettkante, noch in ein sommerliches Kostüm gewandet, streng die bruchstückhaften Erklärungen der beiden jungen Männer repetierend. "Du sagst, unser Gast sei ein Vampir, woraufhin du ihn anhältst, damit er dir seine Zähne zeigt. Als Ergebnis davon kollabiert unser Gast auf offener Straße, weshalb ihr ihn kurzerhand hierher bringt?" "Genau." Selim nickte eifrig, während Rutger unter sich sah und murmelte. "Bei näherer Betrachtung..." "War das keine besonders gute Idee meines Bruders, zu der du dich hast überreden lassen." Tadelte Selina streng. "Zwei solche Riesen wie ihr stehen um so einen schmalen Jungen herum, also wirklich!" "Doch nur, weil er sich an der Fassade abgestützt hat!" Selims Worte waren simple Erläuterung, keine hastige Rechtfertigung im Rückzugsgefecht. "Selim." Die Stimme der jungen Frau nahm einen strengen Ton an. "Was haben wir zu deinen spontanen Einfällen vereinbart?" "Hmmm." Etwas verlegen zupfte der Angesprochene sich an der geraden Nasenspitze. "Bis Zehn zählen und über die Konsequenzen nachdenken?" "Genau." Schnurrte seine Schwester grimmig. Ein sehr scharfer Blick traf den anderen Mann, der sich unbehaglich wand. "Wenn Rutger dir sagt, dass eure Präsenz Unwohlsein auslösen kann, ist es dann nicht klug, etwas diplomatischer vorzugehen?" "Ja, das sehe ich ein." Selim nickte gehorsam, rieb sich den Nacken. "Ich war einfach zu neugierig, wie ein echter Vampir aussieht, weißt du? Tut mir wirklich leid." Wandte er sich Thierry zu, der diesem Austausch ungläubig gelauscht hatte. "Es gibt keine Vampire!" Wiederholte er nun hastig, hoffte, dass ihm die junge Frau, die hier ganz unbestritten die Hosen anhatte, beipflichten würde. Rutger brummte grollend, während Selim vor dem Bett in die Hocke ging und Thierry anstarrte. "Aber du BIST doch ein Vampir!" "Das-das ist totaler Quatsch! Bloß Erfindungen und Romane!" Thierry warf einen flehenden Blick in das zweite Paar heller Bernsteinaugen. "Blutsauger und all dieses Zeug sind doch nur Schauergeschichten!" "Na, Sauger stimmt auch nicht." Ließ sich Rutger aus dem Hintergrund vernehmen. "Bluttrinker. Wichtiger Unterschied. Wenn wir schon bei der Beweisaufnahme sind: besondere Fähigkeiten, hauptsächlich zur Täuschung von Menschen. Erzeugen von Illusionen, sehr niedrige Körpertemperatur, unangepasstes Sozialverhalten..." "Und schwer umzubringen, hast du vergessen!" Assistierte Selim eifrig. "Und panische Angst vor Werwölfen, also mir." Nun funkelten die blauen Augen kriegerisch. "Oder willst du das auch abstreiten?!" Thierry wandte sich bange an Selina. "Bitte, das glauben Sie doch nicht, oder?! Bitte, können Sie mich nicht einfach gehen lassen?" Selina erhob sich elegant, sehr viel kleiner als ihr imponierend gebauter Bruder, dafür kurvenreich wie ein 50-er Pin-Up-Girl. "Thierry, ich schlage vor, du rufst deine Eltern an, damit sie dich abholen können mit ein paar Kleidern zum Wechseln. Bis sie kommen, werden wir etwas essen. In der Zwischenzeit wird niemand irgendjemandes Zähne inspizieren oder sich über Vampire, Werwölfe und sonst was verbreiten!" Ihr Lächeln war ebenso blendend wie das ihres Bruders, strahlte darüber hinaus jedoch eine natürliche Autorität aus, die jeden Widerspruch im Keim erstickte. Thierry schickte sich ebenso schweigend wie die beiden jungen Männer in dieses Vorhaben drein. "Rutger, sei so nett, mir in der Küche zu helfen." Wurde der selbst-erklärte Werwolf vertrieben, dann befand sich Thierry allein mit Selim in dessen Zimmer. Unbehaglich beäugte er mit angezogenen Knien den athletischen Mann, der ohne große Worte Thierrys Tornister apportierte und ihm reichte. "Wir haben aber auch Festnetz." Bot er unbeeindruckt von der Standpauke seiner Schwester an. Thierry zögerte, denn er wusste, dass seine Mutter an diesem Abend erst spät heimkehren würde. Ihr als Ouvertüre für das längst fällige Offenbarungsgespräch so eine Aktion zuzumuten verbot sich von selbst. Dann bemerkte er, dass in seinem Tornister gekramt worden war. Ruckartig hob er den Kopf an, starrte vorwurfsvoll in die hellen Bernsteinaugen. "Oh, das war ich." Bekannte Selim ohne jeden Anflug von Unrechtsbewusstsein. "Weil du so schlecht dran warst, hat Rutger vorgeschlagen, nach Medikamenten oder so was zu suchen. Diese Spray-Dinger für Asthma, und so." Thierry überlief ein eiskalter Schauer, als ihm bewusst wurde, dass der Inhalt seines Tornisters alles über ihn preisgab, was ihm gefährlich werden konnte: Adresse, Schule, Telefonnummer, Girokonto... "Sag mal, warum bist du eigentlich diese Strecke heim gelaufen?" Selim hockte sich in einen Schneidersitz neben das Bett und visierte Thierry an. "Ist doch ein Umweg. Wenn du von der Europa kommst..." In seinen Augen funkelte ein Geistesblitz. "Oh, kann es sein, dass du jemandem ausweichen wolltest? Hast du Ärger? Dann war es aber nicht gut, ausgerechnet da lang zu laufen, wo so viel Grünfläche ist." Selim schnalzte mit der Zunge. "Wenn ich an die Taschentuchbatterien denke, die du mitgeschleppt hast, bist du bestimmt auf Gräserpollen allergisch, richtig? Die sind gerade richtig übel." Bevor Thierry grundsätzlich alles abstreiten konnte, zogen sich die Augenbrauen des jungen Mannes zu seinen Füßen zusammen. "Oh, Moment! Wenn du vor jemandem abhaust, warum hast du uns dann nicht bemerkt? Nicht, dass wir dir was wollten, gar nicht, aber trotzdem!" Was sollte man darauf antworten? Thierrys Kopf schien sich mit Watte zu füllen. Geistesblitze waren definitiv aus! So blieb ihm nichts weiter, als sich demonstrativ abzukehren. "Ehrlich!" Selim fuhr besorgt fort. "Wir wollten dir nichts tun! Rutger ist zwar ein W... ich meine, er macht optisch mächtig was her, aber er ist echt nett! Und ziemlich klug! Weißt du, er studiert Informatik!" Die schwesterliche Ermahnung wirkte Wunder. "...wirklich..." Knurrte Thierry heiser und fragte sich, ob es seiner ohnehin verlorenen Würde noch schaden konnte, nun doch um die verschmähte Tablette zu bitten. "Tatsache!" Selim ignorierte großzügig den Sarkasmus. "Lina ist WIRKLICH klug! Sie hat schon den Master für Ingenieurwissenschaften, ist die erste Frau im Team hier bei unserem Entsorger! Für die ganzen Anlagen! Das mit 26 Jahren! Keine Quote, oder so! Die haben sich richtig um sie gerissen!" Der brüderliche Stolz verleitete Thierry dazu, einen vorsichtigen Seitenblick zu riskieren. Selim strahlte, die hellen Bernsteinaugen funkelten mit den Zähnen um die Wette. "Ich bin übrigens auch beim Entsorger beschäftigt, Fachkraft für Kreis- und Abfallwirtschaft. Im Moment bin ich bei der Verwertung für den Sperrmüll, aber ich fahre auch gern die Touren mit, weißt du? Container laden, das muss immer mal sein, damit man sich ein gutes Bild verschaffen kann." "Du fährst auf den Müllautos mit?" Thierry begriff nicht ganz und hoffte, dass die zunehmende Watte in seinem Kopf nicht noch schlimmere Turbulenzen auslöste. "Genau! Hin und wieder." Selim grinste. "Ich war auch schon bei der Straßenreinigung unterwegs, im Winterdienst und beim Rasierern. So nennen wir die Fahrzeuge, die das Unkraut abkratzen. Aber im Moment ist es mein Job, beim Sperrmüll die Verwertung zu organisieren usw. Warst du schon mal im "2. Chance"? Das ist unser Kaufhaus!" Müde schüttelte Thierry den Kopf, aber behutsam, denn nun schlich sich auch noch Seegang ein, der ihm wieder Übelkeit bereitete. "Da gibt's immer tolle Sachen!" Selim war nicht zu bremsen, gestikulierte lebhaft. "Ich habe für unser Wohnzimmer die perfekten Stühle gefunden, fotografiert, Lina geschickt und zugeschlagen! Für die Wirtschaft ist ja Konsum und Verbrauch ganz wichtig, aber viele Sachen sind doch zu schade, um sie einfach wegzuwerfen!" Bemerkte er versonnen. Für Thierry waren derlei philosophische Anwandlungen in seinem angegriffenen Zustand zu viel. Er räusperte sich und wollte den Gang nach Canossa, oder vielmehr zur Kopfschmerztablette antreten. "Ah, hast du Durst?!" Selim federte plötzlich hoch, Flasche und Glas parat, hilfreich zu Diensten. "...und ich hätte jetzt gern doch... bitte die Tablette." Murmelte Thierry nach den ersten Schlucken. In seinem Kopf läuteten gewaltige Glocken gerade das Te Deum ein, zumindest erschien es ihm so. "Sicher, kommt sofort!" Gutmütig streckte Selim, der wieder ungeniert auf der Bettkante hockte, den Arm aus, um die neben dem Bett abgelegte Tablette von einem bunten Untersetzer zu lupfen. Just in diesem Moment erwies sich für Thierry, dass Murphys Law ihn heute nicht verlassen wollte: alles, was schiefgehen konnte, ging schief. Grandios. §-#-§ "Au... oh, warte! Lass mich gucken, ja?" Nur für wenige Wimpernschläge verblüfft von der unerwarteten Attacke hob Selim seinen perforierten Unterarm an. Thierry, das muskulöse Fleisch an den Lippen und Zähnen (den richtigen), unseliger Weise mit den unerwünschten "Hauern" noch enger mit Selim verbunden, stieß einen erstickten Laut der Qual über sein Schicksal aus, wich blitzartig in die hintere Ecke des Bettes zurück. "Nicht doch!" Selim folgte ihm. "Entschuldige, aber das ging echt zu schnell! Kannst du's noch mal machen, ja? Hat auch nicht wehgetan!" Schon streckte er Thierry den Unterarm hin, völlig unbeeindruckt von einem dünnen Rinnsal Blut aus zwei kleinen Stanzlöchern. Die Lippen zusammengepresst, bis sie jede Farbe verloren, schüttelte Thierry den Kopf, schwindelig, panisch, beschämt und unglücklich. Er konnte das Blut riechen, verspürte einen Durst, als sei er völlig ausgetrocknet, einen Heißhunger wie nach einer unendlichen Diät, einen Drang, der seinen bewussten Willen einfach überrennen wollte. Nur eine dünne Lackschicht von Zivilisation trennte ihn von einem urtümlichen Akt der Gier. "Bitte, ich werd auch nix verraten!" Selim kniete nun vor ihm, im Begriff, seinen Unterarm Thierry einfach zwischen die Kiefer zu schieben. "Nnnggghh!" Das "Nicht!", das Thierry voller Verzweiflung ausrufen wollte, erstickte an fremdem Fleisch. Seine Hände umklammerten gegen seinen Willen den muskulösen Unterarm, während er das Blut aufleckte, zu einem ungezähmten Tier wurde. In seinem Hinterkopf heulte sein zivilisierter Anstand auf, entsetzt über diesen Mangel an Selbstbeherrschung, den Verlust jeglicher Würde. Sein kühl kalkulierender Verstand registrierte jedoch unbeeindruckt: »aha! Fremdblutmangel. Tsktsk!« Thierry wich zurück, das Gesicht auf die Kniescheiben gepresst, beide Arme um seinen Kopf geschlagen, ein kompaktes Paket der Scham und Verzweiflung. Was sollte er jetzt tun?! Es kam jedoch noch schlimmer, denn die dringend benötigte Nahrung sorgte nun dafür, dass schubweise seine besonderen Fähigkeiten aus ihrer gelähmten Apathie erwachten, prompt sämtliche Alarmglocken läuteten. Nicht nur der selbst-deklarierte Werwolf jagte ihm panische Schauer über die nackte Haut, auch die Konfrontation mit den Emotionen und "Gedankenbildern" des jungen Mannes, der ihm besorgt-fasziniert-hingerissen-hilfsbereit immer näher rückte, ihm unentwegt versicherte, dass er keine Schmerzen habe, alles in Ordnung sei und er so gerne einen richtigen Blick auf die Reißzähne werfen wolle! Fliehen, dieser Befehl überstimmte alle anderen, doch draußen lauerte die Präsenz des Werwolfs. Thierry schlotterte nun, gefangen zwischen dem Todfeind und der absoluten Unmöglichkeit, sich von Selims Gefühlen und Intentionen abzuschotten. "Oh, oh, ist dir wieder übel?" Selim kauerte verwirrt neben Thierry, streichelte sanft über die zuckenden Glieder, registrierte die würgenden Atemgeräusche beklommen. "Wo tut's denn weh? Was stimmt nicht?" Ein günstiger Zeitpunkt für Rutger, das Zimmer zu betreten und das Abendessen anzukündigen. §-#-§ "Ich weiß ja nicht!" Grollte Rutger missgelaunt, lehnte in größtmöglicher Entfernung neben der Zimmertür an der Wand, die mächtigen Arme demonstrativ ablehnend vor der imposanten Brust gekreuzt. "Mittlerweile glaube ich, dass er's nicht im Griff hat." Selim tupfte mit einem Waschlappen fahle Züge ab, kontrollierte das mit einem Eispack versehene Handtuch auf Thierrys Stirn- und Augenpartie. "Hat er vorher wenigstens telefoniert?" Selina betrat, zwei flache Teller balancierend, den Raum, reichte ihrem Verlobten einen, der sofort eine sehr viel augenfreundlichere Miene zur Schau trug. Unüberhörbar begrüßte auch sein Magen diesen unerwarteten Service, denn üblicherweise legte Selina Wert auf Manieren. Im Stehen essen, nein, das kam nicht in Frage! Sie nahm auf der Bettkante neben ihrem Zwillingsbruder Platz, stellte ihm kurzerhand seinen Teller auf den Schoß. Sie hob einen schlaffen Arm an, um Pulsschläge unter Kontrolle ihrer Uhr zu zählen. "Er hat auch einen Herzschlag!" Selim mümmelte eilig. "Hast du nicht gesagt...?" "Ja, schon!" Knurrte Rutger unbehaglich. "Ist schon möglich, dass sie den nachher verlieren. Wenn sie mal gestorben sind. Quasi." "Eigentlich fühlt sich seine Temperatur auch ganz normal an." Kritischen Blicks studierte Selina den seltsamen Gast. "Du bist sicher mit dem Fieber?" Ein gesunder Selbsterhaltungstrieb und eine ebenso rigorose Erziehung verhinderten, dass Rutger geplagt die Augen verdrehte ob der wiederholten Zweifel der Zwillinge an seinen Aussagen. "Vampire haben grundsätzlich eine niedrigere Körpertemperatur." Brummte er beherrscht. "Guck ihn dir an! Er KANN Löcher in den Arm stanzen und hat nicht nur Blut geleckt." Ein humorfreies Schnauben entwich ihm. "Sondern prompt danach diesen Rappel bekommen, weil er JETZT nämlich genau spürt, dass in unmittelbarer Nähe ein Werwolf lauert." "Wieso hat er denn solche Angst?" Selim konnte diesen Punkt nicht unberührt lassen. "Du tust doch niemandem was! Das habe ich ihm auch gesagt! Warum...?" "Weil wir ihre Tricks erkennen und gegen sie immun sind." Leierte Rutger in gefährlicher Nähe einer strengen Ermahnung herunter. "Sagte ich dir doch schon. Sie können Illusionen erzeugen, haben ungewöhnliche Fähigkeiten, mit denen sie Menschen beeinflussen. Klappt bei Werwölfen aber nicht. Ergo Panik. Kein Vampir ist einem richtigen Werwolf gewachsen." Das war schlichtweg eine Tatsache. "Seine Eltern? Hat er telefoniert?" Brachte Selina sich in Erinnerung, studierte ihren ein wenig verlegen herumrutschenden Bruder. "Also, dazu sind wir nicht gekommen. Wegen des Tornisters. Weil wir ja rein geguckt haben. Das habe ich ihm erklärt und auch, wer wir sind, was wir machen, beruflich, und da..." Er zuckte mit den Schultern. Ohne weitere Worte zu verlieren nahm Selina den Tornister an sich, ging den Inhalt systematisch durch. Das altmodische Mobiltelefon war nicht abgeschlossen, sodass sie im eingespeisten Telefonbuch die wenigen Einträge durchblättern, den Eintrag "Mama, mobil" auswählen konnte. Beide Männer beobachteten sie angespannt. Man konnte sich vorstellen, dass Eltern nicht gerade erfreut reagieren würden, wenn Fremde anriefen, um mitzuteilen, dass das eigene Kind sich nach einem Kollaps bei ihnen befand und nicht etwa in ärztlicher Obhut. Rutger wollte auch nicht weiteren Vampiren begegnen. Üblicherweise zeichneten sich diese zwar nicht durch große Familienliebe aus (Hass traf es eher), aber Ausnahmen bestätigten die Regel, was im schlimmsten Fall zu einer unschönen Auseinandersetzung führen konnte. "Nur die Sprachbox." Resümierte Selina nüchtern. Aus dem Schülerausweis entnahm sie die Festnetznummer, erprobte diese als nächstes, doch hier gab der Blechknecht bloß bekannt, man könne eine Botschaft hinterlassen. "Nun!" Stellte sie fest und erwog die Möglichkeiten. Dass ihr die Entscheidungsgewalt oblag, war in diesem Trio selbstverständlich. Federnd erhob sie sich. "Ich sehe mal nach, ob ich noch etwas von diesem Grippemittel habe. Das sollte auch gegen Fieber wirken. Selim, schau mal, ob du nicht doch etwas findest, was dem Jungen einigermaßen passen könnte. Liebling, sei so nett und recherchiere etwas über seine Eltern, ja?" Die Aufgaben verteilt, die Strategie klar: Thierry befand sich in besten Händen. §-#-§ Um das Grippemittel schlucken zu können, musste Thierry wieder die Welt der Ermatteten verlassen. Selim entschied, die beste Variante sei die, sich selbst eine kleine Wunde zuzufügen, mit dem austretenden Blut vor Thierrys Nase dessen Reflexe auszunutzen. So saß der heimliche Vampir schon aufrecht, noch bevor seine Augenlider hochrollten, angelockt von dem Blut. Weil er sich in dieser vorteilhaften Position befand, stützte Selim ihn ab, während seine Schwester ohne Zögern die Medizin einflößte. "Uhhhh!" Thierry schüttelte sich, konnte den eisernen Banden dieser muskulösen Umarmung aber nicht entwischen. "Das ist gegen das Fieber." Selina tauschte die Flaschen. "Jetzt noch Wasser. Du bist wahrscheinlich auch dehydriert, deshalb die Kopfschmerzen." Ihre kühle Stimme, die gelassenen Handgriffe und die Ausweglosigkeit sorgten dafür, dass Thierry ergeben tat, was man ihm auftrug. Er hatte wirklich fürchterlichen Durst! Nachdem er gierig die gesamte Wasserflasche geleert hatte, hielt es ihn nicht länger in der trauten Umarmung. Er drehte und wand sich, wollte unbedingt entschlüpfen, zischte, weil Rutger ja in der Tür stand. "Ich tu dir doch nix!" Beschwichtigte Selim ihn leicht gekränkt. "Wir wollen dir bloß helfen! Weil doch deine Mama noch nicht zu Hause ist und dich abholen kann!" Thierry erstarrte. Genau, er wollte doch anrufen... oder zumindest so tun, danach heimlich entwischen! Um keinen Preis durfte seine Mama ihn hier auflesen und ganz beiläufig all die unangenehmen Wahrheiten erfahren, die er ihr vorenthalten hatte! Eine kühle Handfläche legte sich auf seine Wange, helle Bernsteinaugen fokussierten ihn beinahe hypnotisierend. "Hör mal, Thierry, wenn du jetzt noch etwas isst und einige Sachen von Selim anziehst, kann ich dich nach Hause fahren." Nach einem kurzen Moment nickte Thierry entschlossen, kämpfte seine Panik herunter. Es war wohl die beste Offerte, die er bekommen würde. §-#-§ Kapitel 6 - Komplikationen Thierry zog sich in den Keller zurück, denn dort war es kühl und niemand störte ihn hier während seiner Freistunde. Er wollte allein sein, um gründlich nachdenken zu können, über seine Existenz als Vampir, über allzu viele Personen, die etwas darüber wussten und genau die eine Person in seinem Leben, die als erste darüber hätte Bescheid wissen sollen. Wozu es noch immer nicht gekommen war. Und natürlich über seine besonderen Fähigkeiten, die ihm bis dato durchaus nützlich gewesen waren, hier aber schmählich versagt hatten. Wieso hatte ihn nichts vor diesem Rutger gewarnt?! Und Selim erst! Ja, dieser Selim war wirklich ein Problem. Möglicherweise lag es an seinem Zusammenbruch, der vielleicht ein Hitzschlag in Verbindung mit der verfluchten Allergie war, dennoch gab es Restzweifel, weil er selbst später, mit ausreichend Blut versorgt... Die Scham färbte seine Wangen rosig, er ballte die Fäuste. Nun, selbst danach war er unfähig gewesen, Selims Emotionen und Absichten aus seinem Kopf zu verbannen. Warum? Warum funktionierte bei ihm nicht, was bisher immer und ausnahmslos bei allen geklappt hatte?! "Beunruhigend" war noch eine euphemistische Umschreibung für diese Entdeckung! Was also tun? Ad 1: Schluss mit dem Diät-Wahn! Wenn er das Blut benötigte, leider, leider, leider!!, dann musste er es sich beschaffen. Die Alternativen stellten ein zu großes Risiko dar, wie man ja jetzt wusste. Ad 2: Unbedingte Distanz von allen Fremden, die sein Geheimnis kannten. Gegenüber den Zwillingen und diesem unwirschen Werwolf mochte es sich als nützlich erweisen, dass der Werwolf auch eine seltsame Kreatur war, die nicht in der Öffentlichkeit stehen wollte. Der misanthropische Nachbar von Niq schien kein Interesse zu zeigen, ihn bloßzustellen, doch eine Garantie wäre besser. Aber Erpressung war schwierig und ebenso gefährlich, deshalb lieber weiträumiges Ausweichen und die Hoffnung, man möge sich gegenseitig rasch vergessen. Ad 3: Mama die Wahrheit gestehen. Über alles. Thierry seufzte unglücklich. Was für ein Schlamassel! §-#-§ "Niq!" Dominique, der sich gerade an Thierrys Seite gesellte, um diesem ein wenig Gesellschaft auf dem Heimweg zu leisten, flog förmlich herum. Heran preschte Rosegunde, sehr in Eile, sehr entschlossen blickend. "Da!" Schon drückte sie ihm ein Musikabspielgerät in die Hand. "Verlier's ja nicht! Zuhören! Und merken!" Auf dem Absatz kehrtwendend marschierte sie im Blitztempo davon, kein Abschiedsgruß, kein Blick über die Schulter. "...nanu?" Stellte Dominique überrascht fest, beäugte das Gerät in seiner Hand. Vor wenigen Jahren noch waren diese kleinen Wunderwerke begehrte Statussymbole gewesen, nun schien jedermann wahllos über sie zu verfügen. Ausgenommen er selbst, denn sie waren nicht billig, verbunden mit weiteren finanziellen Verpflichtungen und man musste einfach Prioritäten setzen. Für den Anschaffungspreis gab es einige der Medikamente und Salben, die er dringend benötigte. Damit war die Entscheidung gefallen. "Speziell." Flankierte Thierry ungewohnt in sich gekehrt, nahm Dominique das Gerät aus der Hand. "Hier geht's an. Für das Menü musst du diese Tasten hier bedienen." "Danke." Antwortete Niq höflich. Auch wenn sein bester Freund ebenfalls kein derartiges Gerät sein Eigen nannte, hatte der doch einen geschickten Zugang zu all den Dingen, die angeblich lebensnotwendige, technische Gimmicks waren, in der Hauptsache jedoch die früheren Kinderspielkonsolen ersetzten. "Ich bin gespannt, was da drauf ist." Murmelte Dominique beiläufig, den Blick wieder auf die längst entschwundene, schlanke Gestalt gerichtet. Thierry enthielt sich eines Kommentars, doch was er aufgefangen hatte, bestätigte seine Vermutung: die gefleckte Kratzbürste war entschlossen, seinem besten Freund widerwillig zu helfen. §-#-§ Während Dominique, die wertvolle Leihgabe sicher verstaut, sein Rollbrett energisch in Bewegung versetzte, zottelte Thierry missmutig nach Hause. Er hätte sich vermutlich besonders wachsam verhalten sollen, immerhin konnte der Brass des Brechmittels noch nicht abgeklungen sein, in eine zweite Attacke münden. Trotzig widerstand Thierry dieser Vorsichtsmaßnahme. Das Brechmittel war nun sein kleinstes Problem, denn er ahnte durchaus, dass sein sorgenvoller Tag noch kein Ende nahm. Vor der Hauseingangstür schraubte sich Selim hoch, lächelte gewinnend (unerfreulicherweise SAH er wirklich gut und sympathisch aus, wenn man den athletischen Schwimmertyp mochte), verströmte eine beängstigende Mischung aus Freude, Neugierde, Hilfsbereitschaft und Interesse. Erneut, Thierry ballte die Fäuste, gelang es ihm einfach nicht, diese Emotionen auszusperren, die Bilder aus seinem Kopf zu verbannen, die wie Schlaglichter erhellten, welche Prozesse in Selims Gedankenwelt abliefen. Das war äußerst beunruhigend. "Hallo!" Schon schnürte der geschmeidig heran, schwenkte eine Papptüte mit dem Aufdruck eines Designerlabels, während quer über seine breite Brustpartie ein breiter Tragegurt einer Überschlagtasche spannte. "Thierry, ich habe deine Sachen dabei!" "Guten Tag." Murmelte Thierry distanziert, verwünschte die Nervosität, die seinen Puls beschleunigte. "Vielen Dank für die Mühe und Entschuldigung für die Umstände." War das subtil genug? Würde Selim ihn nun als groben Klotz klassifizieren und in Ruhe lassen? "Oh, war keine Mühe!" Versicherte der vollkommen unbeeindruckt. "Geht's dir heute besser? Ist ja wieder ziemlich heiß! Hast du ans Wasser gedacht? Und Salzstangen?" Unwillkürlich verzog Thierry das Gesicht zu einer säuerlichen Grimasse. Nicht mal seine Mama betüttelte ihn derart! Apropos, je schneller er Selim aus seinem Dunstkreis vertrieb, umso größer die Chance, dass niemand von dieser unerfreulichen Begegnung erfuhr! "Danke der Nachfrage. Es wird nicht noch einmal vorkommen." Behauptete Thierry steif, griff nach der Papptüte, doch Selim grinste gewinnend. "Lass nur, ich trag sie hoch. In welchem Stockwerk wohnst du denn?" Fassungslos starrte Thierry hoch in die hellen Bernsteinaugen. Der Kerl wollte mit in ihre Wohnung?! Jetzt?! "Nach dem Klingelschild ist es die dritte Etage." Selim legte Thierry einen muskulösen Arm um die schmalen Schultern, dirigierte ihn einfach Richtung Eingangstür. "Aber man kann ja nie wissen. Manchmal wechselt der Bezug so häufig, dass immer der nächste freie Briefkasten vergeben wird!" Thierry stemmte hastig die Fersen in den Boden, sodass er durch Selims Schwung ins Stolpern kam, der rasch seine breite Brustpartie als Notlandebahn zur Verfügung stellte. "Hoppla! Geht's dir wirklich gut?" Schon studierte er Thierrys Gesicht aus nächster Nähe. "Oh, hat man dir aufgelauert? Ist was passiert?!" Da war sie wieder, diese gewaltige Explosion von Gemütsbewegungen in nächster Nähe: Sorge, Interesse, Schutz, Betroffenheit... und eine beinahe liebevoll zu nennende Einstellung zu seiner gesamten Person! Was Thierrys Unbehagen und Pulsschlag nur noch steigerte, denn üblicherweise wurde er nie so direkt mit Gefühlen, die ihn betrafen, konfrontiert. Gut, seine Mama ausgenommen, doch selbst bei ihr hatte er sich aus disziplinarischen Gründen eine Sperre verordnet. Niemand wollte wirklich alles wissen, was andere über ihn oder eine Situation dachten! "Was ist denn los?" Selim kannte offenkundig keine Berührungsängste, verfügte über eine nur wenig ausgeprägte, intime Distanz, die andere zu wahren hatten, denn er strich mit der freien Hand ungeniert über Thierrys Wange. "Ist dir nicht gut? Hast du Fieber?" Abrupt wich Thierry zurück, funkelte zornig und verlegen hoch. "Mir geht's gut! Danke für die Wäsche, aber ich möchte jetzt bitte allein sein!" Selims Augenbrauen kräuselten sich überrascht. "Tatsächlich? Warum?" Seine Gefühle mischten sich wie am Vorabend in Verwirrung, Hilfsbereitschaft, Offenheit und Besorgnis. Keine Spur von Verärgerung oder Selbstzweifeln! Eilig legte Thierry eine größere Distanz zwischen sie, in der Hoffnung, auf diese Weise auch ausreichend Abstand von der Gefühlsmelange zu gewinnen, die ihn belagerte. "Wenn ich was falsch gemacht hab, sag mir das bitte, ja?" Selim setzte ihm nach wie in einem albernen Pas de deux. "Lina hat's schon erwähnt, gestern, mein ich, dass ich ein Idiot bin." Dieses Urteil, signalisierten seine Emotionen, entsprach einer Tatsache und erregte keine Wut oder Scham, sondern lediglich den Wunsch, dass dieser Fakt bei Entscheidungen ausreichend gewürdigt und berücksichtigt werden sollte. Was sollte man da tun?! Weglaufen? Und wohin?! "Ich komme allein klar!" Fauchte Thierry in der vergeblichen Hoffnung, ungebührliche, brüske Ablehnung würde seinen Gegenüber entmutigen. "Bestimmt!" Selim transportierte keinen Zweifel, lächelte wieder. "Ich möchte mich gern noch weiter mit dir unterhalten! Du bist wirklich interessant, nicht nur wegen der Vampirzähne!" Es war nicht so gemeint, wie Thierry es im ersten Schreck grimmig aufnahm, nämlich als subtile Drohung, nein, die Emotionswolke verströmte die Hoffnung auf Gesellschaft, Freundschaft, Teilhabe und engeren Kontakt. "Ich bin total langweilig!" Beschwor Thierry den älteren Mann beunruhigt. "Außerdem möchte ich Sie nicht aufhalten! Sie wollen doch bestimmt nach Hause, richtig?" "Oh, nein, nein!" Selim schüttelte fröhlich den Kopf. "Heute keine BGM-Stunde, Lina hat auch länger zu tun, ich habe also viel Zeit, um mit dir zu sprechen! Ich möchte dich noch so viel fragen!" Ungewohnt verlegen, dabei verschmitzt lächelnd zuckte er mit den imponierenden Schultern. "Rutger hat so viel über Vampire erzählt, was ich gar nicht glauben kann, dass ich gern deine Meinung dazu hören würde. Bitte, hm?" Dieses Augenpaar, das helle Bernstein, die dezent mandelförmige Stellung, nichts prädestinierte für einen patentierten Hundeblick! Doch auf unerklärliche Weise meisterte Selim selbst das. Thierry ballte hilflos die Fäuste. Er spürte die Entschlossenheit des anderen, sich nicht abspeisen zu lassen, ihn einfach für scheu oder schüchtern zu halten. Ganz gleich, wie grob oder ungebührlich er sich auch aufführen würde! Aus einem unerklärlichen Grund blitzte in Selims Gemüt die Impression auf, dass Thierry von der Welt verfolgt und sich stets im Verborgenen haltend der besonders liebevoll-freundschaftlichen Versicherung bedurfte, dass er etwas Besonderes war und selbstverständlich dazu gehörte. "So ein Quatsch!" Explodierte er laut, bemerkte Selims Verwirrung, der selbstredend nicht wissen konnte, worauf sich Thierrys Empörung begründete und ERNEUT geneigt war, ihm sein seltsames Gebaren als Schutz vor der übelwollenden Umgebung auszulegen. "Oh, willst du lieber warten, bis deine Eltern da sind? Keine Fremden in der Wohnung? Verstehe!" Selim nickte artig zu seiner eigenen Interpretation. "Ich stell mich gern vor. Kein Problem!" Er lächelte unbeeindruckt von Thierrys wachsender Verzweiflung. Wie konnte ein einziger Mensch so penetrant sein?! So unerschütterlich ignorant, was die Absichten seines Gegenüber betraf?! Schlimmer noch, wenn der wirklich warten wollte, um sich seiner Mama vorzustellen, saß er richtig in der Klemme. "Eine Viertelstunde." Murmelte Thierry schließlich grimmig. "Dann müssen Sie gehen." "Einverstanden!" In der gleichen Selbstverständlichkeit wie zuvor schüttelte Selim Thierrys Hand, der langsam TATSÄCHLICH panisch wurde, weil keine seiner sonstigen Fähigkeiten in Gegenwart dieses Mannes zu funktionieren schienen! Wo waren seine rasanten Reflexe, wo sein Abschirmmechanismus?! Hastig entzog er seine Hand dem warmen Griff, senkte den Kopf, zog schützend die Schultern hoch und stapfte unwillig die Stufen bis zur Wohnung hoch. Auf der Fußmatte kehrte er sich um und erinnerte mit finsterem Blick. "Eine Viertelstunde!" Als Reaktion erhielt er ein blendendes Lächeln, das demonstrative Aktivieren der Stoppuhrfunktion einer gar nicht so billigen Armbanduhr. Leise seufzend entriegelte Thierry das Türschloss, führte seinen unerwünschten Gast durch die Wohnung, bot widerwillig ein kühlendes Getränk an. "Danke schön!" Selim lupfte das beperlte Glas Eistee (selbstgemacht), stieß fröhlich mit Thierry an, der einfach nicht fassen konnte, wie UNGENIERT jemand alle Umstände ignorierte. "Auf unsere Freundschaft!" »Das ist ein böser Traum!« Winselte eine schrille Stimme in Thierrys Hinterkopf. »Den wir ganz fix beenden müssen!« Antwortete er sich selbst entschlossen. Weil zumindest die Möglichkeit bestand, Selim zu vergraulen, führte er ihm die Schlange und die Mäusefarm vor. Dabei bedachte er jedoch nicht, dass Selim außerordentlich erfreut war, sein Zimmer betreten zu dürfen, ihn fasziniert bewunderte ob seiner Findigkeit in Sachen "Blutbank". Allein der Gong in Form eines energischen Piepsens rettete Thierry über die Runde. Selim schüttelte ihm sehr erfreut zum Abschied die Hand, bekundete seine Begeisterung über ihre wunderbare Bekanntschaft und versprach, sich baldmöglichst wieder zu melden, um ihr Leben auf weitere Gemeinsamkeiten hin zu erkunden. Thierry sackte besiegt an der Wand herab auf den Flurboden herunter. Sein Puls lärmte, in seinem Kopf tobte ein Trommelwettstreit, und sein Magen schlug Kapriolen. Selim war einfach nicht beizukommen. Anstelle einer gehörigen Portion Wut herrschte in seinem Gefühlshaushalt Beklommenheit vor. Wie konnte es einem solche Angst einjagen, wenn ein anderer einem tatsächlich nur Gutes wollte?! §-#-§ »Erst die Pflicht, dann die Kür!« Das galt auch für Dominique. Das bedeutete zunächst, die Wäsche abzuhängen, das Bügelbrett aufzustellen, Bügeleisen mit Wasser zu betanken, sämtliche Falten und Knicke einzuebnen. Anschließend die Ladung ordentlich zu verstauen, bevor er Gemüse putzte, um es sich für das Abendessen zu dämpfen und rasch noch die Grünpflanzen auf Durst oder Schädlinge kontrollierte. Einen Teller mit gedämpftem Reis und Wurzelgemüse vor sich platzierte er das winzige Gerät auf einem umgedrehten Glas (sicher vor nassen Kollateralschäden), wienerte die Fingerspitzen, platzierte die Hörstecker vorsichtig in seinen Ohrmuscheln und startete den Abspielmodus. Verdutzt ließ er die Gabel sinken, die eigentlich eine bescheidene Ladung in seinem Mund löschen wollte. Das war eindeutig Rosas Stimme! Ein bisschen rau, kehlig, aber unverkennbar! Mit einiger Konzentration gelang es Dominique auch zu verstehen, was sie sagte, begleitet von einer akustischen Gitarre, die nicht nur gezupft, sondern auch geschlagen wurde, um einen Rhythmus zu geben. Rosa hatte für ihn diverse Spanisch-Lektionen aufgesprochen, im musikalischen Kontext, beinahe eine Aufforderung zum Tanz. "...wow...!!" Stellte Dominique schließlich hörbar fest. Ein verzücktes Lächeln eines sehr bescheidenen Triumphs breitete sich über seinem Gesicht aus. §-#-§ "Ehrlich, Kay, das ist doch was für Nerds!" Robert schüttelte den Kopf, justierte dann die quadratische Kunststoffbrille erneut. Sie war zu groß für sein schmales Gesicht, wirkte wie ein Zensurbalken. Leider jedoch war sie topaktuell und Robert unseliger Weise ein williges Fashion-Victim. Kay, der seit Jahren mit ihm in der Redaktion des Senders zusammenarbeitete, dachte nicht einmal "Geck", obwohl das die korrekte, wenn auch altmodische Entsprechung darstellte, sondern lehnte sich zurück in seinem Bürodrehstuhl. "Komm schon!" Sein Schweigen veranlasste Robert, die Argumentation auszubauen. "Ich meine, Comics und dieses Zeug, das ist was für Loser! Für Typen, die nichts am Laufen haben! Verschrobene Freaks! Wenn die ein Leben hätten, müssten sie sich nicht was zurechtpinseln!" "Das sind nicht zufällig stereotype Vorurteile, die du da pflegst?" Schnurrte Kay bedächtig. "Denk mal an unser Image!" Demonstrativ wedelte Robert mit der neuesten Ausgabe des "Apollon". Es war das auflagenstärkste "Lifestyle"-Magazin für Männer jenseits der Journale mit monothematischen Bildstrecken. "Apollon" war der Prototyp des neuen Mannes: der gepflegte Held in allen Lebenslagen. Mit der rechten Hand die Welt retten, den Müll sortieren UND raus bringen, mit der Linken den Nachwuchs gewickelt und bar aller Malaisen immer ein Gentleman, perfekt gekleidet, sportlich, gesund, selbstverständlich attraktiv bis zur Blendwirkung. "Apollon" hatte "Männer-Hobbys", es ging demgemäß ums Grillen, Technik, Autos, Flugzeuge, Computer, Roboter und Rasenmäher, Geldanlagen und kostspielige Uhren. Die aktuelle Ausgabe verkündete großspurig die besten Tipps, um den Sommer noch heißer zu machen. Der Apollon von Welt verabredete sich dazu mit seiner Liebsten (oder der rassigen Unbekannten aus dem ICE) an aufregenden Orten, um sich den Kick zu geben, natürlich "safe" und, weil man eben ganz Gentleman war, mit einem winzigen "Safe-Bag", in dem sich die notwendigen Utensilien fanden gegen Essensreste zwischen den Zähnen, Mundgeruch, Körpergeruch, Schwitzflecken etc. "Denkst du, solche Typen haben Sex auf dem Klo?" Anklagend blätterte Robert ihm einen der unglaublich originellen Vorschläge auf. "Nicht, wenn sie clever sind." Grummelte Kay in einem Anflug von Überdruss. Robert witterte sofort eine Enthüllung, rutschte auf die vordere Stuhlkante und gierte förmlich. "He, he! Los, sag mir alles, jedes schmutzige Detail!" "Kein Kommentar." Stellte Kay entschieden fest, um zu ergänzen. "Außerdem ist Sex auf dem Lokus wie Freistil-Ringen in einer Abstellkammer, bloß unappetitlicher." Wahrscheinlich gab es auch Ausnahmen, wenn zum Beispiel die Toilette groß wie ein Schlafsaal war, blitzsauber, gut belüftet, adrett ausgeleuchtet mit intakten Einrichtungsgegenständen und ohne Besuchsfrequenz! Sein einziges Mal auf einer Toilette hatte er Jorge zu verdanken, einem sehr geschmeidigen Tänzer, mit dem er sich in einem Tanztempel an der ruhigeren Bar unterhalten hatte. Jorge liebte seine Stimme und verzehrte sich nach akustischer Verführung. Dezent angeheitert und sehr guter Stimmung hatte Kay sich nicht lange bitten lassen, sotto voce Komplimente und unmoralische Angebote zu schnurren, in genau dem Timbre, das den sehnigen Mann in Erregung versetzte. Um sich zu revanchieren, hatte Jorge ihn zum Waschraum gelotst, in eine Kabine dirigiert, erst mal bis zu definitiv weichen Knien geknutscht, sich dann über eine temporär hervorstechende Eigenschaft seiner Anatomie hergemacht. Ja, wäre der sehnige Mann nicht so geschmeidig gewesen, sie beide jung und angeheitert genug, um die Enge zum Kichern zu finden, dann hätte es absolut lächerlich und unbequem geendet. Kay mochte sich gar nicht vorstellen, wie man einen solchen Ringkampf mit einer Frau absolvierte, deren Kleider nicht schmutzig werden sollten, nichts sollte reißen... Außerdem war ja auch etwas Bewegungsfreiheit für ein Rotationsmoment erforderlich... "Vielleicht bist du einfach übersättigt!" Versetzte Robert spitz, der gelegentliche Neidanfälle zu kompensieren hatte. Aus einem Kay unerfindlichen Grund nahm er an, dass Kay wie ein Magnet auf Groupies, Fans und sonst wen wirkte, selbstverständlich alle Offerten mitnahm, die sich ihm boten. "Ich denke nicht, dass meine Idee so schlecht ist oder unser Image ruiniert." Versetzte er ruhig. "Comics sind unter anderem auch Sammlerstücke von hohem Wert. Roy Lichtenstein hat beispielsweise Werke im Comic-Stil gemalt. Es ist eine Erzählkultur zwischen Buch und Film, passend für die Hosentasche. Hieß es nicht in einer der letzten Ausgaben, dass der Mann sein inneres Kind wiederentdecken solle, als es um die Midlife-Crisis ging?" Robert verdrehte kunstvoll die Augäpfel. "Na hör mal! Wie soll das dann aussehen?! Irgendwelche Typen stammeln ein paar Sätze über ihre ollen Heftchen? Zwischendrin gähnst du ein paar Mal?! Wer soll sich das anhören?! Wie sollen wir damit Werbezeit verkaufen?!" "Ich finde das Konzept interessant." Schaltete sich Werner ein, seines Zeichens Aufnahmeleiter. "Wir haben nicht nur Apollon-Hörer." Erinnerte er in seiner unaufgeregten Art. "Wenn ich es mal vergleiche mit dem Thementag zu Perry Rhodan-Romanen, also, da hatten wir enorme Zugriffe, jede Menge Kommentare und Reaktionen. Richtig strukturiert können wir damit einen interessanten Samstag gestalten." Im Rückzugsgefecht jammerte Robert nach einem gequälten Blick zwischen beiden. "Wie soll das alles so schnell gehen, hä?!" Kay zwinkerte Werner zu, lupfte aus seiner Dokumentenmappe einen Collegeblock. "Ich habe da mal was vorbereitet..." §-#-§ Wenn man nach landläufiger Meinung attraktiv war (das schien wohl eine gewisse Symmetrie zu beinhalten), hatte das nach Kays Erfahrung Vor- und Nachteile. Die Vorteile sprachen für sich selbst, die Nachteile jedoch konnten nervenzehrend werden, wie beispielsweise die Feststellung, dass selbst Kollegen noch immer überrascht waren, wenn er seinen Kopf nicht nur zur Präsentation seiner Frisur auf den Schultern trug. Er hatte schon als Kind bei Amateursendungen mitgemacht, Schülerradio, Praktika, sodass er mit der Technik umzugehen wusste. Mit dem Stimmbruch kamen immer mehr Offerten, es gab so viel zu lernen und auszuprobieren, was ihn begeisterte. Noch vor dem Gesangsunterricht finanzierte er durch seine kleinen Gagen Sprechunterricht, denn eigentlich sah er seine Zukunft als Radiomoderator nach amerikanischer Prägung, ein "Nachtfalke" mit der eigenen Sendung, ein Ray Cokes für die Ohren. Das war mehr, als Regler ziehen, Knöpfchen drücken und Musik ohne Stottern ansagen. Es sollte um Themen gehen, Gespräche, Dialog, eine Beziehung zum anderen Ende der Schallwellen. Sein Lieblingsbild war das Schnurtelefon, das zwei Menschen verband. Sie waren nicht zusammen, doch einander nahe, mussten sich bemühen und konzentrieren, damit der andere auch verstand, was da über den einfachen Schalltrichter herüber drang. Kay wusste, dass er ein verflixter Romantiker war, gelegentlich auch sentimental. Dazu brauchte er nicht mal die Liebeslieder zu intonieren, die ihm zu einem zeitweiligen Starruhm verholfen hatten. Er liebte seine Arbeit. Er lebte für sie. Er sammelte unermüdlich Ideen und Themen in seinen Collegeblocks. »Deshalb wird's auch nix mit den Groupies oder dem Naschwerk a la Apollon!« Konstatierte er innerlich. Weil die Arbeit immer zuerst kam, und er, auch wenn er über eine augenfreundliche Verpackung verfügte, mit großem Eifer und selbstverständlicher Sorgfalt vorging. Das traute man ihm häufig nicht zu. Kay mutmaßte, dass Emil Sandemann sicherlich äußerst zufrieden wäre, wenn er sich als hübsche, aber hohle Nuss entpuppen würde, weil das die ganze Situation so zuvorkommend auflösen würde. »Aber so leicht mache ich es dir nicht!« Kay spürte seine herausgeforderte Entschlossenheit wie ein stählernes Korsett. Er wollte herausfinden, wie Emil Sandemann tickte, was ihm Freude bereitete und seine Mauern durchdrang. Wenn es über die Person nicht allzu viel herauszufinden gab außer Profession und Adresse, musste er es eben über die zweite, wesentliche Erkenntnis versuchen. Man konnte allerdings nicht innerhalb einer Woche zum Experten mutieren, der geschickt genug Fettnäpfchen auswich, um die widerwilligen Sphären der Akzeptanz zu erreichen. Ausgenommen, man rekrutierte unzählige Hörer UND Leser dazu, ihre Kenntnisse, Erfahrungen und Meinungen zu teilen! §-#-§ "Ehrlich, sie hat mir zig Lektionen draufgesungen!" Berichtete Dominique gerade Thierry, der in sich gekehrt in seinem Rucksack kramte. "Sehr aufmerksam von ihr." Murmelte er, wischte sich fahrig durch die schwarzen Locken. Seine Nacht war kurz gewesen, immer wieder unterbrochen vom Hochschrecken aus lebhaften Albträumen, in denen ihm sein Leben und seine verwünschten Talente vollkommen entglitten, in denen Selim herumspukte, ihn aus der Fassung brachte. Dominique registrierte trotz seiner Begeisterung für die Energieleistung von Rosegunde die verstörte Stimmung seines besten Freundes. "Ist was passiert?" Erkundigte er sich tapfer. "Geht's dir nicht gut?" "Zu wenig geschlafen." Brummelte Thierry, zwang sich zu einem nonchalanten Grinsen. "Heute soll's auch noch so furchtbar heiß werden. Bei meiner Allergie ein echter Saunagang." "Wem sagst du das?!" Pflichtete Dominique ihm seufzend bei. Er hatte auch seine "Schutzschichten" zu tragen. Im gewohnten Eilschritt näherte sich ihnen Rosegunde. Lächelnd hielt Dominique ihr das Musikabspielgerät hin. "Vielen Dank, Rosa! Einfach toll, wie du..." "Haste dir alles gemerkt?!" Fiel sie ihm grob ins Wort, funkelte ihn an, die blau-violetten Augen tief umschattet. "Ich...denke schon." Antwortete Dominique vorsichtig. "Gut!" Bellte Rosegunde knapp. "Verbock den Test jetzt nicht. Und nur, dass du es weißt!" Dabei packte sie ihn am Ausschnitt seines Oberhemdes. "Ausbiegen is nich! Du wirst deinen Teil einlösen, klar?!" "Selbstverständlich." Antwortete Dominique perplex ob der unerwarteten Aggression. Ein zorniger Blick traf ihn, dann gab Rosegunde ihn frei und ließ ihn stehen. Verwirrt blickte er ihr nach. "Also...?" Wandte er sich ratsuchend an Thierry, der sich die Stirn mit einem Lappen rieb. "Tritt ihr nachher mal kräftig auf den Fuß, das wird sie freuen." Knurrte Thierry grimmig. Das Mädel war ja schlimmer als ein gereiztes Stachelschwein! §-#-§ Dominique lächelte, als Rosegunde heran stapfte. Ihre gewittrige Laune hatte sich nicht gebessert, was er daran erkannte, dass sie wieder den Haarvorhang benutzte. Wahrscheinlich würde er als Blitzableiter einige Treffer einstecken müssen. Dennoch trat er tapfer vor sie. "Vielen Dank noch mal, Rosa! Ich glaube, mein Test lief gar nicht so schlecht..." Eine knochige Hand umklammerte schmerzhaft seine Ellenbeuge, genau dort, wo seine Haut sich heftig zu entzünden pflegte. "Du tanzt mit mir, klar?!" Sie stieß die Silben wie Gewehrsalven heraus, zwischen den Zähnen zischend. "Gern. Hier und auch auf dem Ball." Dominique unterdrückte eine schmerzverzerrte Grimasse. "Und überall, wo du magst." Der grobe Griff lockerte sich langsam. Herr Ruedi teilte hinter ihnen schon wieder die Halle auf. Subtropische Temperaturen konnten ihn nicht beeindrucken, oh nein! "Ich werd keinen Rückzieher machen!" Fauchte Rosegunde. Dominique begriff, dass sie zwischen der Entscheidung schwankte, ihm seinen Vertragsanteil erlassen zu wollen und auf die Erfüllung zu bestehen, was sie nun wohl als gemein einstufte. Aber warum? Was war denn geschehen, das sie veranlasste, von ihrer Vereinbarung Abstand zu nehmen, nicht mehr mit ihm tanzen zu wollen? Aufmerksam blickte er sich um, erkannte in der Körpersprache einiger Mädchen, dass getuschelt wurde, gespottet. Abschätziges Grinsen, ungeniertes Mustern. "Darf ich bitten?" Obwohl noch keine Musik erklang, weil Herr Ruedi noch die Zirkeltrainingseinheiten aufbaute, bewegte er sich im Tanzschritt, sang halblaut die spanischen Lektionen vor, die Rosegunde für ihn aufgenommen hatte. Nur ein Rhythmus war nötig, ein gemeinsamer Takt, das genügte schon! Entgegen ihrer üblichen Kratzbürstigkeit folgte Rosegunde seine Führung, drehte sich mit ihm, blinzelte ihm durch den Haarvorhang ins Gesicht. Dominique lächelte sie ernst an. Kein Fell der Welt konnte so dick sein, die Gemeinheiten einfach abprallen zu lassen, die ihnen zuteil wurden, weil sie anders waren, makelbehaftet seit ihrer Geburt. Dennoch konnten sie für ihr Recht auf Glück und Freude eintreten, für sich selbst beweisen, dass das Wesen entscheidend war, nicht die Verpackung. Wer solches nicht verstand, war bloß zu bedauern. Musik setzte ein, lautstark, fast dröhnend. Dominique passte sich an, ganz auf Rosegunde konzentriert. "Ich tanze gern mit dir." Formte er Worte, die kaum zu hören waren im Getöse. "Ich bin stolz, dich auf den Ball begleiten zu dürfen." Ihre blau-violetten Augen ruhten auf ihm. Erst drei Tänze später, schwitzend, schon leicht außer Atem, knurrte sie herausfordernd. "Du gehst am Samstag mit mir einkaufen. Ich brauche Sprühfarbe." §-#-§ »Du bist so ein Idiot!!« Bedachte Thierry sich innerlich mit bitteren Schmähungen. Allein, es half nicht. Gerade, weil er besonders vorausschauend agieren wollte, wählte er den kurzen Weg nach Hause, Wasser und salzige Erdnüsse in petto (auch wenn er sie nicht sonderlich mochte), Rotzbatterie schussbereit, japanisches Minzöl linke Außentasche des neuen Rucksacks, Eukalyptusbonbons rechte Hosentasche. Nichts half jedoch, wenn einmal die Bresche geschlagen worden war. Pappelflusen! Igitt! Erst nur ein Niesen. Dann, unvorsichtig, Augenreiben. Nasehochziehen. Ein würgendes Kratzen im Hals. Thierry kannte die Symptome zur Genüge. Auf der Hälfte des Weges hätte er nackig durch blühende Gräser marschieren können, ohne dass sich seine Situation verschlimmerte. Glaubte er. Asthmatisch keuchend, in Papiertaschentücher spuckend, mit Wasser gurgelnd, bereits fiebrig von den zahlreichen Entzündungen in seinem Körper registrierte er entsetzt, dass da auch noch eine Steigerung möglich war, denn in seinem ohnehin indisponiertem Zustand schlenderte ihm Selim in den Weg! "Hallo, Thierry! Wie geht's dir heute?" Ein jovialer Ruf, die Stimmung aufgekratzt, beinahe euphorisch, sich doch nicht verfehlt zu haben (obwohl von einer Verabredung keine Rede war!), gewürzt mit Neugierde und einer entspannten Grundhaltung zum Leben im Allgemeinen. Thierry ächzte und strengte sich an, diese fremden Gefühlswelten zu verbannen, von sich abzutrennen, denn sie schienen sich wie ein Geschwür auszubreiten. Eine virale Infektion, die ihn daran zweifeln ließ, wo seine eigenen Emotionen zu verorten waren oder wie sehr er bereits von Selims Gemütswelt beeinflusst war. Er scheiterte, strengte sich verbissen an, hustete, spuckte in ein Taschentuch, zornig über sich selbst und den Brei, in den sich sein Verstand langsam verwandelte. Wieso wollte es ihm einfach nicht gelingen, die Kontrolle über die Lage zu gewinnen?! Selim hielt sich wie gewohnt nicht mit Nuancen auf. Thierrys prekäre Lage dauerte ihn, seine Besorgnis wallte wie Wolken auf, die Thierrys Selbsteinschätzung vernebelte. "Mr gts gdd!" Schniefte er heftig, entzog Selim seinen Arm, der ihn einfach untergehakt hatte, damit keine Kollision mit einem Laternenmast stattfand. "Abgesehen von dieser lästigen Allergie." Pflichtete Selim ihm vollkommen unbeeindruckt bei, bleckte perfekte Beißerchen. "Vielleicht solltest du auch eine dieser Masken tragen! Du schnaufst nämlich ganz schön." »Freut mich, dass dir mein Röcheln zusagt!« Das hätte Thierry gerne geätzt. Leider klebte ihm nun die Zunge im Gaumen, seine Kehle war ausgedörrt und mit Pelz ausgekleidet. Schon wieder lief ihm die Nase!! Schnäuzend hatte er Mühe, den Weg im triefenden Blick zu behalten. Die Augen juckten ja auch, doch er hatte mit seiner Nase schon alle Hände voll zu tun, was sie nun zu verstärkten Reklamationen an seine Nerven bewegte. "Achtung." Ohne Hast fischte Selim ihn um die Taille ab, damit er nicht direkt in einen Aufsteller auf dem Trottoir lief, der für das Mittagsmenü eines Bistros warb. Beschämt, zornig und elend zugleich machte Thierry sich wütend los, hasste alles, alle und vor allem sich selbst für diesen unwürdigen Auftritt und platzte heraus. "Lass mich in Ruhe!!" Selim schenkte ihm einen verwirrten Blick, sichtlich verwundert über die Heftigkeit dieser Reaktion, während er doch ganz Hilfe und Fürsorge war! Und DAS, genau DIESE penetrant wohlwollenden Gedanken, ließen Thierrys letztes Quäntchen an gesellschaftlichem Pli detonieren. Mit einem unartikulierten Aufkreischen stieß er Selim beide Hände vor die muskulöse Brust, brachte ihn aus dem Gleichgewicht, sodass der junge Mann in einen Rhododendron stürzte, während er selbst auf dem letzten Loch pfeifend Fersengeld gab. §-#-§ Kapitel 7 - Hilfestellungen, ungebeten Dämliche Kurzschlussaktionen waren selten von Erfolg gekrönt, wobei nicht mal der Erfolg definiert werden konnte. Exakt 200 Meter weiter, zwei Straßenzüge von der rettenden Festung, die sich Wohnung nannte, entfernt, sah Thierry vor Seitenstechen nur noch Sterne. Zu allem Überfluss (im wahrsten Sinne des Wortes) schäumte auch das Mittagessen wieder hoch. Blindlings taumelte er hinter einen gemauerten Müllverschlag alter Schule, stützte sich an der verputzten Mauer ab, spuckte aus, was sich von ihm trennen wollte. Das verbesserte sein persönliches Befinden kaum. Nun zitterten sogar seine Hände, eine klamme Schweißschicht benetzte seinen gesamten Körper. Er fieberte und stolperte mehr schlecht als recht zurück auf den Gehweg. Wenigstens hatte niemand ihn beobachtet! Jetzt nur noch heim und hoffen, dass Selim endlich begriff! "Warum bist du so böse auf mich?" Der Teufel kam ihm direkt entgegen, nur ein wenig außer Atem, weil er ungeachtet der schwülen Hitze gejoggt war, um seinen interessanten Vampir abzufangen. Hätte Thierry nicht ohnehin Anflüge eines schlechten Gewissens gehabt, so wäre ihm jetzt eine Portion Enttäuschung über ungerechte Behandlung direkt serviert worden. Zudem mischte sich Erschrecken über den Anblick, den er selbst bot, hinein in die neuerliche Attacke fremder Gefühle. "Gnnhhh!!" Protestierte Thierry, hob die Fäuste, sich den Weg freizukämpfen. Selim jedoch fing beide Handgelenke ab, ließ Thierry an seiner breiten Brust notlanden. §-#-§ Selim scherte sich nicht um Publikum oder delikate Seelenzustände. Einen muskulösen Arm um die schlanke Taille seines röchelnden, schniefenden und in Taschentücher speichelnden Begleiters gelegt schleppte er diesen simpel ab, lupfte auch mal die für ihn nicht sonderlich beschwerliche Gestalt an, um Bordsteine zu meistern. "Ist ja eine wirklich üble Sache, deine Allergie." Stellte er gelassen fest, bemächtigte sich des Rucksacks, an dem Thierry wie ein Schluck Wasser in der Kurve hing, fischte geübt dank der Erst-Inspektion den Schlüsselbund heraus und ließ sie in das Mehrfamilienhaus ein. Thierry schäumte unverständlichen Protest, der in einem weiteren der sich rasch dem Ende zuneigenden Papiertaschentuchvorräte erstickte. "Und aufwärts!" Selim packte sich den vor Entsetzen ob der Demütigung stocksteifen Thierry wie ein Kleinkind auf die Hüfte, sicherte seine Balance mit der freien Hand am Treppengeländer ab und enterte den Treppenlauf ohne besondere Mühe. Das ging leichter als erwartet, da Thierry sich nicht wehrte, sondern überrumpelt auf Schadensbegrenzung bedacht den raschen Aufstieg nicht behinderte. "Gleich geht's dir besser, home sweet home!" Lächelte Selim auf dem Fußabstreifer entschlossen, denn gerade war ihm eine nützliche Eingebung gekommen. Thierry jedoch stimmte die plötzliche Begeisterung, die ungefiltert SEIN Gehirn attackierte, mehr als argwöhnisch. Das konnte jedoch nicht verhindern, dass Selim einfach die Segeltuchschuhe abstreifte, Thierrys Mokassins abschüttelte, ihn fest an sich zog, vom Boden lupfte und zielsicher das Badezimmer wählte. "Hnngghh!!" Protestierte Thierry ebenso energisch wie wirkungslos. Die angenehme Kühle in der Wohnung forderte seine ohnehin überdrehten Sinnesorgane heraus, die von der feuchten Hitze schon verärgert worden waren. Selim machte unterdessen weder Gefangene, noch Kompromisse. Er hatte gelesen, dass Allergien hauptsächlich auf Stäube in der Luft reagierten. Wenn es einen akuten Anfall gab ("Check!"), dann sollte man Ruhe bewahren ("Check!"), für ausreichend Mundspülung sorgen ("Roger in spe!") und auch die lästigen Stäube/Pollen/Giftträger aus Kleidung und Stoffen entfernen ("Check!"). Weshalb er Thierry nun einfach in die Wanne stellte und die Brause aufdrehte. §-#-§ Thierry wehrte sich gegen die lauwarme Dusche (zugegeben, sie WAR nach der Hitze angenehm) und Selims hartnäckige Entschlossenheit, ihm etwas Gutes zu tun, nun, zumindest etwas zukommen zu lassen, was aus unerfindlichen Gründen als "Hilfe" figurierte. Weil die Zappelei in der Wanne einen Sturz zeitigen konnte, blieb Selim zwar davor stehen, beugte sich aber dank seiner überlegenen Körpergröße weit hinein, um Thierry an seine Brust zu pressen, auf diese Weise seinen armen, vom Schicksal so unbarmherzig gebeutelten Schützling gründlich zu durchnässen. Er selbst wurde zwar mitgetauft, doch das störte ihn wenig. Bei dem Wetter tat schließlich jede Abkühlung gut! Tropfend und schniefend stand Thierry nun in der häuslichen Wanne, fassungslos ob der Schandtat. Wenigstens bekam er wieder richtig Luft, auch wenn seine Kehle sich noch immer wie das Flusenmeer unter einem Sofa ausnahm! "So, die ollen Pollen und das Zeug hätten wir erledigt!" Selim strahlte hocherfreut über eine geglückte Mission. "Ist das hier dein Handtuch? Kann ich mir das Gästehandtuch kurz nehmen?" Schon wickelte er sich selbst aus T-Shirt und Stoffhose, wrang beide über der Wanne aus, glättete sie ordentlich, bevor er die feuchten Spuren auf seinem nunmehr nur mit Slip bekleideten Körper tilgte. "...!!" Thierrys zorniger Protest endete schon im Ansatz mit einem kläglichen Husten. "Ah, genau! Sekunde, ja?" Selim wischte ihm unaufgefordert nasse Locken aus dem Gesicht. "Das haben wir auch gleich!" Er verließ summend das Badezimmer, Hose, Handtuch und T-Shirt über den Arm gelegt. Hilflos die Fäuste ballend starrte Thierry auf die Badezimmertür, doch selbst ein Laserblick hätte hier keine Erleichterung gebracht. Widerwillig musste er eingestehen, dass er sich ein wenig besser fühlte. Andererseits rechtfertigte das ja wohl in keiner Weise diesen Überfall!! Wieso glaubte dieser Verrückte, ihm ständig helfen zu müssen?! Ärgerlich streifte sich Thierry die nasse Kleidung vom Leib, trocknete sich ab und seufzte. Die nassen Sachen konnten hier warten, aber sollte er etwa im Adamskostüm in sein Zimmer zuckeln?! So etwas tat er nicht einmal, wenn seine Mama nicht im Haus war. Das war schlichtweg unmanierlich. Empört über diese weitere Zumutung wickelte er sich mühsam das nasse Handtuch um die Hüften, huschte über den Flur in sein Zimmer. Mit der Rüstung der Zivilisation würde er dann aber SOFORT den Invasoren aus seinem Heim vertreiben! Aber hallo!! Entsprechend rasch wählte er solide Freizeitkleidung aus, drapierte das Handtuch nun höher, nämlich um die tropfende Putzwolle, in die sich sein Schopf zu verwandeln drohte und galoppierte energisch Richtung Küche. "Ah, da bist du ja!" Selim, lediglich Slip-bekleidet, diesbezüglich aber gänzlich unbeeindruckt, fischte gerade Teebeutel aus Tassen, während neben ihm die Waschmaschine artig rotierte. "Ich dachte mir, bunte Wäsche, nasse, bunte Wäsche, das passt ja! Keine Angst!" Er zwinkerte gut gelaunt. "Ich kann richtig waschen! Keine roten Hemden zu weißen Socken, oder so was!" "Das ist nun wirklich nicht notwendig." Brachte Thierry mühsam hervor, der seine zornige Ansprache umbauen musste, weil sich Selim einfach zu Hause fühlte, mal eben die Waschmaschine okkupierte. "Kein Problem!" Versicherte der lächelnd, in vollkommener Unkenntnis der turbulenten Emotionen seines Gegenüber. "Hier, Pfefferminz, gut gegen die fiesen Pollen im Hals!" "Ja, danke." Nun trat sich Thierry selbst gegen das Schienbein, denn Selims zufriedene Triumphstimmung über die gemeingefährliche Allergieattacke drohte ihn zu infizieren und seine Wut einfach aufzufressen! "Hören Sie, danke für die Hilfe, aber das passt mir heute wirklich gar nicht! Außerdem sollten Sie sich wieder bekleiden." "Trink lieber erst mal was." Empfahl Selim gelassen. "Ich kann die Flusen auf deiner Zunge ja hören! Mir ist nicht kalt, keine Sorge! Willst du dich nicht setzen? Ah, ich habe mir einige Fragen notiert, Sekunde! Wo habe ich den Notizblock hin?!" Schon stürmte Selim eifrig an ihm vorbei, hinaus ins Badezimmer, wo seine Kleider abtropften. "Also wirklich!" Fauchte Thierry nach einem großzügigen Schluck empört, wenn auch mit sehr viel weniger Verve als gewünscht. Wie dickfellig war der Kerl eigentlich?! Wieso freute der sich einen Kullerkeks, dass er jetzt Zeit mit ihm verbringen konnte, obwohl er ihm ja EINDEUTIG zu verstehen gegeben hatte, dass es gerade überhaupt nicht konvenierte! Und überhaupt nie passen würde! "Da bin ich wieder!" Selim eilte zurück, glitt elegant über die Küchenfliesen, strahlte mit den perfekten Zähnen und funkelnden Bernsteinaugen. "Also, du weißt ja, dass Rutger ein Werwolf ist, richtig? Er sagt, dass Vampire besondere Fähigkeiten haben, die Menschen beeinflussen." Die Rechte wedelte kurbelnd, ein optisches Etcetera. "Ich soll mich zwar vorsehen, weil ich ja ein Mensch bin, aber ich möchte doch gern wissen, was deine Fähigkeit ist." Erneut ein Hundeblick. "Ja, bitte, Thierry? Ich sag's auch bestimmt nicht weiter, Ehrenwort!" Das klang eher wie das Plädoyer eines zehnjährigen Pfadfinders als eines Mannes von 26 Jahren. Thierry konnte nicht umhin, von der ungeschminkten Offenheit des Älteren beeindruckt zu sein, denn, soweit es seine MAL WIEDER nicht steuerbaren Fähigkeiten betraf, meinte Selim jedes Wort ernst, offenbarte keine Hintergedanken. "Da gibt's nichts zu erzählen." Behauptete er trotzdem laut und verwünschte die verräterische Röte in seinen Wangen. "Können Sie jetzt bitte gehen?" "Aber das kann doch nicht sein!" Selim starrte ihn verwirrt an. "Rutger hat gesagt..." "Wieso glauben Sie an diesen ganzen Unsinn?! ALLE wissen, dass Vampire und Werwölfe bloß Erfindungen sind!" Ging Thierry hastig zum Angriff über. Er MUSSTE einfach die Chance nutzen und sämtliche Zeugen seiner seltsamen Disposition aus dem Feld schlagen! "Also, alle wissen das nicht." Selim reagierte gewohnt unaufgeregt, lächelte amüsiert. "Ich habe das zwar auch für bloße Erfindungen gehalten, aber wenn es Werwölfe gibt, warum soll's dann nicht auch Vampire geben?" "GRRR!" Knurrte Thierry laut, stellte die Tasse mit seinem Pfefferminztee ab und ballte die Fäuste. "Es GIBT keine Werwölfe! Das ist doch totaler Quark! Niemand verwandelt sich bei Vollmond in eine reißende Bestie!" "Ha!" Nun feixte Selim ungeniert. "Da hättest du mal Linas Freundin Rania erleben sollen! PMS mit Dr. Jekyll und Hyde! Der Onkel hat ihr einen Sandsack aufgehangen, damit sie nicht alles in Stücke schlägt!" Ärgerlich zog Thierry die schwarzen Augenbrauen zusammen. "Ich meine NICHT irgendwelche Extremreaktionen, die ganz natürliche Ursachen haben!" Zürnte sich selbst, weil er eine Verteidigung auffuhr, die offenkundig überflüssig erschien, da Selim ihn necken wollte. Was wiederum vom Thema ablenkte! "Willst du dich nicht setzen?" Selim hockte bereits bequem am Küchentisch, klopfte auf das polierte Holz. "Also, ich erzähl dir von den Werwölfen, ja?" "Die es nicht gibt!" Betonte Thierry, lehnte sich entschieden mit vor der schmächtigen Brust gekreuzten Armen an die Arbeitsplatte, funkelte grimmig in das fröhliche Gesicht. Unbenommen von der unterschwelligen Aggression spulte Selim seine kleine Einführung ab. "Vor zwei Jahren war ich mit Lina eislaufen, auf der Kunsteisbahn vor der Messehalle, weißt du? Da fiel mir so ein kräftiger Bursche auf, der sie dauernd anstarrte. Ich bin also hinüber, während Lina mit ihren Freundinnen gekreist ist, habe ihn angesprochen. 'Wenn du meine Schwester kennenlernen willst, Kumpel, dann musst du dich schon aufs Eis begeben!' Der Typ läuft rot an, guckt ganz fürchterlich mitleiderregend, aber er leiht sich auch ein paar Schlittschuhe und stakst wie ein Storch im Salat übers Eis. Absolut unfähig! Na ja, ich habe ihm dann ein bisschen geholfen, und wir kamen ins Gespräch. Lina fand ihn ganz unterhaltsam, also haben wir uns öfter getroffen, was zusammen unternommen. Ich hab natürlich gleich gemerkt, dass Rutger total hin und weg war!" Selim grinste breit. "Ist ja auch klar, Lina ist schließlich die Beste überhaupt! Wie's also richtig ernst wurde, haben wir ihn ins Verhör genommen, damit er alles auspackt. Da hat er uns erzählt, dass er ein Werwolf ist." Selim zwinkerte. "Das konnte man natürlich nicht einfach glauben! Die polierte Platte hatte er schon damals." Er wischte über seinen dichten Schopf. "Ungewöhnlich ist sein Gebiss auch gar nicht. Also sind wir spätabends raus, zu einem der Glascontainer, der etwas abseits stand, zwischen Gebüsch. Rutger breitet die Arme aus, presst sich an den Container, geht in die Knie und stemmt das Ding!" Die Begeisterung über die Heldentat erleuchtete Selims attraktiv-kantiges Gesicht. "Er hat den vollen Container einfach angehoben! Mächtig stark, ganz ohne Vollmond!" "Manche Leute können Lastwagen mit den Zähnen ziehen." Schnaubte Thierry kritisch. "Richtig." Selim nickte beipflichtend. "Aber er ist schon enorm stark! Und hat tolle Instinkte! Sehr imponierend, aber hallo!" "Das beweist noch gar nichts!" Thierry kämpfte auf verlorenem Posten, und er wusste es, weil Selims Gefühle ihn belagerten, die Erinnerungen stark waren, die positiven Gefühle für den Freund ein beinahe blindes Vertrauen erzeugten. "Lina glaubt ihm auch." Ergänzte Selim schlicht. Für ihn war damit der Fall entschieden. "Aber-aber das mit Vampiren ist doch Stuss! Selbst wenn er ein Werwolf sein sollte, dann heißt das noch lange nicht, dass er sich mit Vampiren oder sonst was auskennt!!" Thierry betonte seine Zweifel unmissverständlich, rang aufgeregt mit den Händen. "STIMMT!" Selim sprang elastisch auf, strahlte. "Genau DESWEGEN möchte ich ja gern von dir alles wissen! Nicht nur die Vampir-Dinge." Er lächelte und umrundete den Küchentisch. "Auch alles andere! Weil du faszinierend bist und ich davon überzeugt bin, dass wir gute Freunde werden!" Thierry starrte hoch, den Unterkiefer auf Halbmast, fassungslos. "Ich verrate auch niemandem was, großes Indianer-Ehrenwort!" Versicherte Selim erneut, streckte die Hand aus, um eine entkommene Locke zu entwirren. Thierry zuckte verschreckt zurück. Der Handtuchturban kam ins Rutschen, landete auf der Arbeitsplatte, während sich schlingpflanzengleich die feuchten Lockenstränge um sein Gesicht kringelten. Auf Selims Gesicht erschien ein merkwürdiger Ausdruck, schwankend zwischen andächtiger Bewunderung und akut aufwallender Lust, ganz und gar nicht platonisch-freundschaftlich. Obschon er einen Atemzug später das animalische Verlangen energisch unterdrückte, ja, zu negieren versuchte, spürte Thierry diesen Impuls so stark wie einen Volltreffer beim Gewitter: 10.000 Volt Hochspannung. Einen kehligen Laut später stürzte er sich in heillose Flucht, raus aus der Küche, der Wohnung. §-#-§ "Thierry?!" Panik. Atemnot. Herzrasen. Mit offenem Mund, ächzend, in einem seltsamen Scheuklappenblick gefangen hetzte Thierry barfuß die Treppen hinunter. Er hatte kein Ziel, keinen Plan, keinen schlüssigen Gedanken. Nur zügellose Angst. Mächtige Emotionen, Gefühle, die nicht seine eigenen waren (oder doch?), Impulse mit einer Leidenschaft, die ihn verschreckten. Weg! Nur weg! Er hörte nicht die lautlosen Sohlen, reagierte trotz seiner sonst so unfehlbaren Reflexe viel zu spät, als muskulöse Arme seine Hüften umschlangen, ihn einfingen. Thierry wehrte sich mit hysterischem Zappeln, trat mit den nackten Fersen nach nackten Schienbeinen, ächzte erstickt und konnte doch keine Hilfe rufen. Schlimmer noch, es klang wie ein begehrliches Stöhnen, was sich ihm da entrang! "Beruhige dich doch!" Bat die dunkle Stimme an seinem Ohr eindringlich. "Ich tu dir nix! Hab keine Angst, ja?" Das sagte sich so leicht! Thierry wand sich wild, die Füße längst vom Boden gehoben, eingeschüchtert von der Größe und Kraft des älteren Mannes. Er spürte imposante Herzschläge wie gewaltige Trommeln. Wärme durchpulste ihn, die er nicht abschütteln konnte. Emotionen wie eine Springflut, Sorge, Zuneigung, Aufrichtigkeit, Leidenschaft, Lust, Hingabe... "Aufhören!" Jaulte Thierry protestierend auf, schniefte gegen Pollen und Koller an. "Ich bring dich rein." Selim nahm Tritte hin, hielt ihn unbeirrt umschlungen. "Alles wird gut, Thierry." Eine unerschütterliche Überzeugung, ein fester Schritt, stählerne Muskeln, übergroße Körperwärme. Ein Mann, der nur mit einem Slip bekleidet wieder das Treppenhaus betrat, sich um nichts mehr kümmerte als um ihn, der ihn auf mehr als eine Weise wollte und ungeachtet seiner gewohnten Direktheit eiserne Bande um die Impulse wand, die alle Barrieren überrannten. Thierry heulte gequält auf, weil ihm bewusst wurde, dass selbst die größte Distanz die Intensität dieser Gefühle nicht mehr aus seinem Gedächtnis tilgen konnte. §-#-§ Schon wieder Tee. Thierry saß, in eine leichte Decke eingewickelt, um den Schüttelfrost in Schach zu halten, auf einem Küchenstuhl, die bloßen Füße zwecks Reinigung und Aufwärmung in eine flache Waschschüssel aus Plastik deponiert, wo ein weiteres Hausmittel a la Selim ihm helfen sollte: ein Schuss Essig, etwas Backpulver, warmes Wasser und dank natürlicher Chemie viele Sprudelbläschen. Es prickelte angenehm, ein immenser Kontrast zu seinem übrigen Körper, der erneut verrückt spielte. Selim hatte sich selbst rasch den Schmutz von den Fußsohlen gewienert, flink den Boden ob der Spuren gemoppt und Tee aufgebrüht, nachdem die erste Ausgabe eine unschöne Bitternote angenommen hatte. "Also, ich denke mir Folgendes: Rutger liegt richtig damit, dass du ein Vampir bist." Er hielt artig Abstand, lehnte nun seinerseits an der Arbeitsplatte, was ihre Positionen geradezu verkehrte. "Ich glaube, dass du die Vampirsache nicht unter Kontrolle hast." Thierry starrte auf seine nackten Zehen, verweigerte den Blickkontakt. Er musste nicht sehen, um zu spüren, was Selim empfand. Wie stets prägte sich Sorge aus, der starke Drang, ihn zu beschützen, ihm zur Seite zu stehen, begreifen zu wollen, was es ausmachte, dieses Vampir-Sein. Und eine große Zärtlichkeit. Er konnte wie ein Schlaglicht sein eigenes Bild durch Selims Gefühle geistern sehen, zusammengekauert, elend, zugleich anziehend und schön mit seinen wirren Locken, den großen, tiefschwarzen Augen, den eher feinen Gesichtszügen. Wieder empfand er einen Anflug von markbebender Angst. Ein Schauder durchlief ihn, ließ seine ohnehin verkeilten Zähne klappern. Waren es bloß Selims Emotionen, die ihn verschreckten? Oder die eigene Machtlosigkeit, die Unfähigkeit, sich von ihm wie von allen anderen Menschen abzugrenzen? Die ohnmächtige Wut, nicht absoluter Herr über sich selbst zu sein? Sich nicht mehr selbst trauen zu können, weil er so offenkundig beeinflussbar war? "Rutger sagt, dass Vampire hauptsächlich über Fähigkeiten verfügen, die Menschen in ihrer Wahrnehmung beeinflussen." Selim krauste die sonst glatte Stirn konzentriert. "So was wie Hypnose, mal durch Blicke, mal durch die Stimme oder Körperkontakt." Er zuckte mit den Schultern, um ein dezentes Unbehagen abzuschütteln. "Na ja, und sie können auch nicht so leicht getötet werden. Das will ich allerdings lieber nicht ausprobieren." Thierry schwieg beharrlich, nippte widerwillig am Tee und ignorierte die Sondierung seines Gastes. "Ich hab nachgedacht." Selim ließ nicht locker. "AUCH über Konsequenzen!" Das war ihm sehr wichtig, denn er beabsichtigte durchaus, die Ermahnungen seiner Zwillingsschwester zu beherzigen. "Ich weiß, dass du schön bist. Ich meine, das sehen ja alle!" Ungeniert zählte er seine Erkenntnisse auf. "Deine Körpertemperatur ist wirklich etwas niedrig. Wenn du nicht gerade Fieber hast." Die Beweisaufnahme würdigte artig jedes Detail. "Aber ich glaube nicht, dass du mich hypnotisieren kannst. Über die Augen oder die Stimme. Oder so." Man müsste etwas tun! Bloß was?! Thierry wusste, dass es höchste Zeit war, einzuschreiten und alles zu beenden. Was, wenn seine Mama jetzt nach Hause kam? Was, wenn die Nachbarschaft sie doch gesehen hatte und Fragen stellte? Was, wenn Selim erkannte, wie viel Macht er über ihn hatte?! "Lina hat mir ein bisschen bei der Recherche geholfen." Selim setzte unterdessen seinen unfreiwilligen Monolog fort, entschlossen, eine Reaktion herauszukitzeln. "Dass deine Mama eine bekannte Kolumnistin ist mit einem untrüglichen Gespür für aktuelle Themen. Da fiel mir ein, dass ich ein paar Mal Antworten von dir bekommen habe, wo ich dachte 'wau! Als ob er meine Gedanken lesen kann!' Jetzt denke ich mir, dass das vielleicht deine besondere Fähigkeit ist." "So was geht doch gar nicht!" Thierry krächzte trotz Teespülung mit belegter Stimme, die Kehle eingeschnürt durch die Tatsache, dass Selim entgegen seiner liebenswerten Natur und der Etikettierung "Idiot" keineswegs dumm war. Möglicherweise ein scharfsinniger "Tor", ein gutmütiger Narr, aber kein Trottel. "Ist wahrscheinlich nicht einfach." Pflichtete ihm Selim konziliant bei, hocherfreut, endlich eine Antwort zu bekommen. "Heißt aber nicht, dass es nicht funktioniert." Bedrängt presste Thierry die Lippen fest aufeinander. Was konnte er noch tun, wenn starrsinniges Leugnen und Flucht keine Abhilfe schafften?! "Ich denke mir, dass du deiner Mama hier und da mit Tipps hilfst." Selim löste sich gemächlich von der Arbeitsplatte, umrundete den Küchentisch, ging vor Thierry und dem Fußtauchbecken in die Hocke. "Dass du deine Fähigkeiten nur einsetzt, wenn es nötig ist, weil du niemandem schaden willst." »Ha!« Thierry schnaubte ob der ihm unterstellten Ideale. So ein Dussel war er ja wohl nicht, den Heiligen zu spielen! "Es ist kein Unrecht." Selim legte ihm die Hände ungefragt auf die spitzen Knie unter der Decke. "Du tust nichts Böses! Ich verstehe, dass du alles verstecken willst, um keinen Ärger zu bekommen. Ich werde dich bestimmt nicht verraten! Du musst keine Angst haben." »Ach ja?! ACH JA?!« Zornig und von diesem Plädoyer bedrängt sprang Thierry auf die Beine, schmetterte seine Tasse auf den Küchentisch, funkelte auf Selim herab. "So, ich muss keine Angst haben, ja?! Das sagst ausgerechnet DU?! Du bist es doch, der mich nicht in Ruhe lässt! Der mich so anguckt, und...!!" Hastig hielt er inne, denn der konzentrierte Ausdruck auf Selims Gesicht verriet ihm viel zu spät, dass neben dem ernsthaften Appell und dem Versprechen auch die Entschlossenheit wohnte, ihn kennenzulernen, die Wahrheit zu erfahren. "Und was?" Mit ruhiger Stimme richtete sich Selim auf, zwanzig Zentimeter Höhenvorteil. "Was denke ich, dass dir solche Angst macht?" Thierry drehte ruppig den Kopf zur Seite und schnaubte trotzig auf, verweigerte sich aber einer Antwort. Innerlich kochte er, weil er so taktisch unklug gehandelt hatte, nicht nur bestätigt, was Selim erraten hatte, sondern die Konfrontation betrieben, während er noch mit beiden Füßen in einer engen Waschschüssel stand! Selim hob die Rechte an. Thierry bemerkte es aus dem Augenwinkel, schlug hastig nach ihr, kam prompt ins Trudeln, woraufhin Selim sehr viel schneller die Attacke unterlief, wie gewohnt Thierry um die schmalen Hüften fasste, ihn anhob und mit einem eleganten Schwung höher warf, sodass sie nun einander auf Augenhöhe begegneten. "Nein!" Thierry holte sofort mit den Fäusten aus, trommelte auf die mächtigen Schultern. "Lass mich runter! Ich will nicht!!" "Aber ich tu dir doch gar nichts!" Versicherte Selim, ignorierte den Schlagwirbel, wippte wie bei einem heulenden Kleinkind aus den Kniekehlen. "Thierry, es ist doch alles okay!" "Ist es nicht!!" Widersprach der heftig, konnte seinen Blick aber nicht aus den hellen Bernsteinaugen lösen. Selim war viel zu ruhig, viel zu gelassen, zu sicher! Diese Seelenruhe machte ihm Angst. Er kam außer Atem, wehrte sich verzweifelt gegen die Gewissheit, dass hier starke Gefühle aufbrandeten, dass Selim schlichtweg überzeugt war, dass sie einander Gutes tun würden. Schlimmer noch, in dieser unerschütterlichen Ruhe erschöpfte sich Thierrys hilflose Wut! Er fühlte sich vom eigenen Widerstand ausgelaugt, hoffnungslos ausgeliefert an Emotionen, die nicht seine eigenen sein konnten! Nicht sein durften! Auf keinen Fall!! "Hab doch keine Angst!" Bat Selim erneut, sanft, leise, zärtlich, lehnte seine Stirn an Thierrys. Der keuchte, es klang wie ein Aufschluchzen. »Du lügst doch!« Hätte er am Liebsten protestiert, doch Selims Gefühle boten ihm diesen günstigen Ausweg nicht an. "Das ist nicht fair." Wisperte Thierry schließlich schniefend, das Trommelfeuer längst eingestellt, die Augen geschlossen. Er konnte nicht gegen diese Übermacht ankommen, alles stand gegen ihn. "Schsch, wird alles gut." Antwortete Selim ihm sanft, stellte ihn behutsam auf die Füße, beugte sich hinab, Thierry eng zu umarmen. "Kommt alles in Ordnung." Wiederholte er ruhig, streichelte mit einer Hand so lange über Thierrys verkrampften Rücken, bis der die Waffen streckte und sich eng in die tröstliche Umarmung schmiegte. §-#-§ "Also dann!" Selim kniete neben Thierrys Bett, streichelte ihm über die noch feuchten Locken. "Mach ein wenig Augenpflege. Wenn die Waschmaschine fertig ist, bist du wieder topfit und putzmunter!" Sein strahlendes Lächeln hätte Blinde blenden können. "Okay." Murmelte Thierry ratlos. Ins Bett gesteckt, mit Fürsorge überschüttet, mit Wasser in Reichweite versorgt: wie konnte man da noch toben und zürnen?! Unfair! "Ich melde mich wieder bei dir." Selim beugte sich vor, küsste ihn tatsächlich auf die frei gekämmte Stirn! Er zwinkerte, erhob sich und huschte beinahe lautlos aus Thierrys Zimmer. Selbst die Wohnungstür wurde fast geräuschlos ins Schloss gezogen. Thierry blinzelte überrannt an die vertraute Zimmerdecke. Er fühlte sich wirklich erschöpft, ausgelaugt und ausgeliefert. Waren das überhaupt noch seine eigenen Gefühle? Wenn Selim in seiner Nähe war, konnte er keine Abgrenzung vornehmen, so viel stand schon fest. Auch, dass Selim ihn sehr mochte, auf eine nicht nur platonische Art. Dennoch war es ihm selbst gelungen, diese starken Impulse streng zu kontrollieren. "Ganz im Gegensatz zu mir." Murmelte Thierry, drehte sich auf die Seite und zog die Knie zu einer fötalen Haltung an. Nein, er hatte wirklich kein Glanzstück an Selbstbeherrschung und Manieren abgeliefert! Sich herumzuprügeln, unglaubwürdig zu lügen, peinlicher Weise aus der Puste geraten und in fremde Büsche speien: ganz blamabel! »Das alles nur aus Angst!« Konstatierte kühl ein Gedanke, der nicht weichen wollte. War es Angst vor Selim? Vor dessen Gefühlen? Oder nicht doch eher die Angst vor sich selbst? Vor der Versuchung, sich auf die Verlockung einzulassen, kopfüber in den reißenden Strom zu springen, sich hin und her wirbeln lassen, alle moralischen Bande und Vorbehalte zu ignorieren? "Blödsinn!" Schnaubte Thierry leise, aber der Zweifel blieb hartnäckig in seinem Hinterkopf. Selim hatte sich selbst im Griff, reagierte selbst auf körperliche Attacken und verbale Ausfälle mit Langmut und Nachsicht. "Klar, weil er ein total falsches Bild von mir hat!" Zugegeben, da saß wohl eine rosa Brille auf der geraden Nase im markanten Gesicht, aber entgegen des ersten Eindrucks war Selim kein Idiot. Seine Instinkte jedenfalls durfte man nicht unterschätzen. "Danke, ich habe alle Hände voll mit meinen dämlichen Instinkten zu tun!" Wohingegen Selim einen Werwolf kannte, somit als Quelle für das Vampir-Sein in Frage kam. Ganz zu schweigen von den peinlichen Ausfällen, in denen er Blut "gespendet" hatte. "Ich komm allein klar!" Unbestritten, andererseits gab es innerhalb kürzester Zeit diverse Augenzeugen und Mitwissende. Von "allein" konnte also keine Rede mehr sein. "Ich... ich...!!" Die Aufdeckung WAR ein Problem, vor allem, was seine Mama betraf. Sie MUSSTE es aus seinem Mund erfahren. Je mehr Zeit verstrich, umso schwieriger würde es werden, sich ihr zu offenbaren. »Aber damit ist noch längst nicht alles paletti.« Thierry umklammerte seine Knie, hasste die eiskalten Schauer, die ihn erzittern ließen. Solange Selim ihm so zugeneigt war, schwebte er in höchster Gefahr. Die bestand nicht in einem eventuellen Annäherungsversuch, sondern in dem überwältigenden Drang, allen Trieben zügellos nachzugeben. §-#-§ Kapitel 8 - Freundschaftsbekundungen Emil Sandemann hatte selbstverständlich eine Stammhandlung, das Wasserloch für Enthusiasmus, das Asyl der Anderen, der Exoten und der Freaks. Hier fühlte er sich zu Hause, man beschaffte ihm die gewünschte Lektüre, gab hin und wieder Empfehlungen, hielt sich jedoch mit aufdringlichen Kommentaren oder Rezensionen zurück. Eine wohltuende Atmosphäre von Eingeweihten. Die jedoch gerade erheblich von einem Beavis und Butthead-Gespann der App-/Smartphone-Generation gestört wurde. »Spackos!« Dachte Emil Sandemann, eine in seiner Jugend ausgesprochen vernichtende Bezeichnung. Kicherten dümmlich vor sich hin und glaubten, sie seien die Krönung der Schöpfung, auf die die Welt nur gewartet hatte, halbstark und gehirntot. Grauenvoll! Er warf einen angewiderten Blick Richtung Theke, wo ihm ein ebensolcher besänftigend zugesandt wurde. Die Botschaft lautete: "Ja, es sind Vollidioten, aber sie werden gleich gehen und dann sind wir wieder unter uns." Einigermaßen in seiner Seelenruhe bestätigt balancierte Emil seine In spe-Käufe auf dem Arm aus (nur Laien hätten bemerkt, er wiege sie wie ein geliebtes Kind), studierte das Schwarze Brett. Es handelte sich dabei tatsächlich um diese altmodisch-analoge Erfindung vorvergangener Jahrhunderte, wo man ganz gegenständlich Nachrichten aus Papier und Kartonage aufspießte, zur allgemeinen Information. Gelegentlich gab es hier Tauschgesuche, Hinweise auf Messen und Märkte, Ankündigungen von Autogrammstunden, themenspezifische Reisegruppen und auch Kontaktbörsen. Nichts für die App-Affen-Generation! Nun jedoch prangte im Mittelpunkt, frisch gedruckt, ein unübersehbares Plakat. Kay Nelson Jefferson, leibhaftig fotografiert, Rücken an Rücken mit Jack Cougar, umringt von allerlei Comic-, Manga-, Cartoon- und Zeichentrickfiguren. [Die neunte Kunst- unser Thementag! Reinhören, mitgestalten! Vom Ohr für die Augen! Moderator Kay Nelson Jefferson, dazu viele Gäste und Beiträge!] Emil Sandemann starrte, dann verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck merklich. Dieser unerträglich engagierte Lackaffe versammelte doch glatt eine Legion, um ihn einzuschüchtern!! "Na warte!" Knurrte er finster, marschierte zur Registrierkasse, die imprägnierte Ledertasche schwingend, in die er seine Einkäufe zu deponieren gedachte. Wie schwer konnte es schon sein, diesen dämlichen Möchtegern so richtig bloßzustellen?! §-#-§ Dominique lächelte erleichtert, als er Rosegunde in ihrem üblichen Sturmschritt herannahen sah. Er hatte auf sein Rollbrett verzichtet, sich besonders ordentlich gekleidet (dezente Bermudas und ein Safari-Hemd über den hautnahen Hosen/Pullover), dazu eine schmucklose Baseballkappe über dem weißen Kopftuch. Rosegunde hingegen sah nicht nach Busch-Abenteuer aus, eher nach Gruft-Killerin: hochgeschnürte Stiefel, eng gekordeltes Lederkleid, grell-magentafarbenes Top samt langärmligen Handschuhen und einer hochtoupierten, völlig verwüsteten Frisur a la Frankensteins Braut. "Wo ist dein Gewehr?" Erkundigte sie sich kritisch, musterte ihn mit in die knochigen Hüften gestemmten Fäusten. "Hab ich vergessen, als ich über den Tigerkopf gestolpert bin." Murmelte Dominique in Reminiszenz an den Neujahrsabendklassiker "Dinner for one". Eine dunkelrote Kaugummiblase detonierte vor Rosegundes Gesicht, das einen Waschbär-Look zur Schau stellte. "Magst auch einen Jawbreaker?" Erkundigte sie sich lauernd. Dominique lächelte. "Leider vertrage ich das nicht. Steht dir aber gut." Eine von Farbzusätzen eingefärbte Zunge entbot ihm einen frechen Gruß, dann hakte sich Rosegunde einfach bei ihm unter. "Also los, Sprühfarbe kaufen!" §-#-§ "Na, hättest du mich lieber in Nutten-Kackfarbe oder Broiler-Solarium-Schnalle?" Rosegunde präsentierte zwei Tiegel, deren Preis Dominique bereits die Farbe aus dem Gesicht getrieben hatte. "Äh." Kommentierte er hilflos und fühlte sich in der exklusiven Ecke eines Kaufhauses sehr deplatziert. "Tja, der Schneewittchen-Look scheint aus zu sein. Anämisch geht wohl mehr im Winter." Schnarrte Rosegunde rau, knatschte vernehmlich auf ihrem Kaugummi herum. "Und-und was tust du mit diesem Zeug?" Tapfer bemühte sich Dominique um eine leichte Note. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Vorbereitung auf den Ball zu einem Balanceakt über dem Fegefeuer ausarten würde. Ein Fehltritt, und Rosegunde wäre vermutlich kreativ bei den Foltermethoden! Im Moment lupfte sie eine übertrieben gezeichnete Augenbraue. "Niq-Süßer, was denkst du wohl?" "Aber-aber ist das denn gesund?" Dominique kannte sich durchaus mit Cremes und Salben aus. Leidgeprüft. Er konnte sich wirklich nicht vorstellen, dass diese Abdeckfarbe auf dem ganzen Körper die beste Lösung darstellte. "Denkst du, ich will mir von ein paar Arschgeigen und ihren dämlichen Scheiß-Kommentaren den Abend versauen lassen?!" Rosegunde zischte Silben wie Schrapnell eines Gatling-Gewehrs. "Diese ätzende Pampe deckt all die kleinen Unannehmlichkeiten des Lebens ab, Altersflecken, Prügelspuren, Unfälle, versoffene Nächte. Meine Mutter wäre begeistert!" Dominique blieb eine Weile stumm, während Rosegunde auf kleiner Flamme gefährlich köchelnd das Angebot inspizierte. Schließlich fasste er sich ein Herz, straffte seine knochige Figur, räusperte sich tollkühn. "Rosa, sag mal, vertraust du mir?" Die blau-violett funkelnden Augen in ihrem Rahmen aus dick verschmierter, schwarzer Farbe musterten ihn eindringlich. "Was soll das werden? Willst du mit mir von einem Balkon hopsen, oder wie?" "Wie bitte?" Erwiderte Dominique entgeistert, von seiner Mission kurzzeitig abgelenkt. Rosegunde studierte ihn, dann winkte sie lässig ab. "Oh, vergiss es! Schätze, du bist nicht der Typ Waise-Dieb-Fliegender Teppichbesitzer." "Äh, nein. Nein." Murmelte Dominique verwirrt, lächelte dann aber tapfer und hob seinen Arm an. "Ich glaube, ich habe eine bessere Lösung. Kommst du mit mir?" Wieder ein kritischer Laserblick, der ihn durchleuchtete, erforschte. Rosegunde hakte sich ein. "Na schön. Aber wenn du's verbockst, reiß ich dir deinen hässlichen Schädel ab und spiel damit Fußball. Klar?!" §-#-§ "Bist du sicher, Mama?" Thierry beäugte die aufgekratzte Aufbruchstimmung seiner Mutter unbehaglich. "Es soll nachmittags ganz übel gewittern!" "Dann stellen wir uns unter." Freya Cavallino kämpfte vergeblich mit einer Aufsteckfrisur für ihre roten Locken. "Aber wenn du lieber hier bleibst, ist das in Ordnung, Schatz! Du bist ein bisschen blass und diese dumme Allergie, da musst du dich wirklich nicht meinetwegen quälen!" Thierry biss sich auf die Lippen und schüttelte entschieden den Kopf. Seine Mama allein zum Straßenfest gehen lassen?! Mit Sack und Pack?! Wo sie ohnehin so wenig Zeit miteinander verbringen konnten? "Vielleicht sind wir ja ganz schnell durch." Murmelte er tapfer, bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. Eigentlich hätte er gegen einen Stippvisite nichts einzuwenden gehabt, wäre da bloß nicht Selims Einladung auf GENAU dieses Fest gewesen! Die er ausgeschlagen hatte, weil er vor einigen Erkenntnissen, die der ältere Mann ausgelöst hatte, noch immer auf der Flucht war. §-#-§ "Also, ich dachte, als ich es gesehen habe, das könnte dir prima stehen." Druckste Dominique nervös, wrang die Hände. Sie standen vor dem kleinen Schaufenster der "Kommode", einem Altkleidergeschäft. In dem schlauchartigen Laden dahinter reihten sich alle möglichen abgelegten Kleider und Kommissionsware von Jung-Designern in zwei Etagen auf. Nur zwei Schneiderpuppen konnten in der Ausstellungsfläche zur Straße hin Platz finden. Eine der beiden Puppen trug ein schönes Sommerkleid mit Petticoat, ein gewagtes Blau, dazu weiße Punkte, ein breiter Lackgürtel für die Taille und ein hübscher, weißer Spitzkragen, der nach hinten sehr tief reichte. "Für das Ding braucht man weder Titten noch Arsch." Lautete Rosegundes knapper Kommentar. Tatsächlich, das gestand sich Dominique ein, hing das gute Stück wohl deshalb im Schaufenster, weil es sehr schmal geschnitten war. Er warf einen ängstlichen Seitenblick auf Rosegunde. Hatte er sie beleidigt, indem er ihr dieses Kleid ans Herz legen wollte? Womöglich hatte sie heimlich Minderwertigkeitsgefühle wegen ihrer sehr übersichtlichen Kurven? Sie wandte sich ihm zu, schlug dann eine Faust in die flache Hand. "Fußball, wie?" Murmelte Dominique resigniert. Jetzt waren sie seiner Eingebung gefolgt, hatten das Zentrum hinter sich gelassen, die Einkaufspaläste und Edelboutiquen. Verständlich, dass Rosa ihm Saures geben wollte. Ein magentafarbener Handschuh schoss vor und zerknitterte sein Safari-Hemd am Kragen. Mit unerwarteter Kraft zog Rosegunde Dominique zu sich heran. Der erwartete artig die versprochenen Prügel. "Ich hoffe, dein Sakko passt zu meinem Kleid, Kumpel!" §-#-§ Es waren lediglich kleine Änderungen vorzunehmen, die die ältere Dame, die ehrenamtlich in der "Kommode" für eine Wohlfahrtsorganisation arbeitete, gleich zu erledigen versprach. Weil Rosegunde die besseren Augen hatte, sollte sie die Fäden ins Nadelöhr befördern und assistieren. Dominique schwante eine Szene, doch zu seiner Erleichterung gab sich Rosegunde pflegeleicht und sehr gut gelaunt, ignorierte pieksende Stecknadeln und harrte geduldig aus. "Rosa." Er berührte sie sanft am Arm. "Ich bin gleich wieder da, ja? In Ordnung?" "Ha!" Schnaubte sie grollend. "Fängst mit dem Rauchen an, damit du Zigaretten holen gehen kannst?! Oder haust mit meinen scharfen Lederklamotten ab!" "Das würde er nicht tun." Mischte sich die alte Dame ein. "Er hat doch extra ein Sakko hier gekauft! Ihr zwei geht auf einen Ball, richtig? Da wird er doch nicht stiften gehen!" Während Dominiques Wangen sich verräterisch färbten, lachte Rosegunde kehlig auf. "So, so, du Heimlichtuer! Na schön, ich werde großmütig über deine Abwesenheit hinwegsehen, wenn du zackig wieder hier bist!" "Versprochen!" Haspelte Dominique hervor und gab Fersengeld. Verflixt, so würde er wohl nie Eindruck auf Rosa machen!! §-#-§ "Los, wir tauschen!" Rosegunde griff nach Dominiques Tüte und hielt ihm auffordernd ihre eigene hin, die mit dem Kleid gefüllt worden war. Der zögerte, denn die Absicht war keineswegs, sich einer Last zu erledigen, sondern unzweifelhaft zu entdecken, was er während seiner kurzen Absenz käuflich erworben hatte. "Warte!" Protestierte Dominique und schwenkte seine bescheidene Tüte rasch hinter sich. "Ich kann das erklären!" "Was genau erklären?" Rosegunde hopste wie ein Boxer vor ihm, rechts-links, vor-zurück, eine spielerische Herausforderung. "Bitte!" Dominique streckte die freie Hand aus, leckte sich nervös über die Lippen. "Bitte, vertrau mir, ja?" Misstrauisch beäugte Rosegunde seine Handfläche, die geheimnisvolle Tüte, seine bang-hoffnungsvolle Miene. "Schön." Grummelte sie schließlich, verdrehte theatralisch die Augen. "Also gut! Was steht auf dem Plan, bevor ich dir den Schädel abschraube?" Dominique seufzte hilflos. "Also, eigentlich wollte ich ein schattiges Plätzchen hinter den Büschen da suchen..." §-#-§ Unglaublich. Zumindest beinahe. Dass Rosa hier neben ihm saß, die Augen geschlossen hielt, das Haar auf eine Seite gekämmt. Ihn nicht erwürgte. Dominique atmete ganz ruhig, verlor sich in der Konzentration auf seine Aufgabe. Die nervöse Spannung fiel von ihm ab, nichts weiter zählte als das Bild vor seinen Augen. Er musste es einfach nur nachziehen. §-#-§ Das war nicht sein Tag. Nicht seine Woche. Nicht sein Jahr. Überhaupt nicht sein Leben, jedenfalls nicht so, wie er es sich vorstellte. Das Brechmittel war als Fotograf aufgetaucht, erinnerte Thierry durch simple Anwesenheit daran, dass er seiner Mama die Ohrfeigenattacke nicht gestanden hatte. Henning Brauer bedachte ihn mit knappster Höflichkeit, nutzte jeden unbeobachteten Moment, ihn mit den Augen aufzuspießen, zu vierteilen und in kleine Fetzen zu reißen. Thierry bemühte sich, frostig zurück zu funkeln, diesen miesen Möchtegern und Auslöser von Magenkoliken zu ignorieren, aber innerlich fürchtete er sich doch. Wenn das Brechmittel in Vorausverteidigung etwas erzählte, wie stünde er dann vor seiner Mama da?! Wie enttäuscht würde sie sein! Wie blamiert! "Ach, hier gibt es ja wirklich jede Menge interessanter Stände!" Seine Mama war von der feindseligen Elektrizität unbeeindruckt, schwärmte neugierig aus, fragte hier und da, schnupperte, kostete, schwatzte und lachte. Sie verfügte über die gleiche Gabe wie sein Pappa, nämlich zu den Herzen der Leute zu sprechen. Man WOLLTE ihr etwas erzählen, sie teilhaben lassen, fröhlich stimmen! Das Brechmittel zischte etwas Verächtliches, drängte sich an ihm vorbei, konnte jedoch den beabsichtigten Ellenbogencheck nicht anbringen, da Thierry solche Aktionen kilometerweit voraussah, dank seiner Fähigkeiten, die ihn ständig in neue Katastrophen verwickelten. Die nächste bahnte sich an, denn unvermittelt spazierten Selim, Rutger, Selina und drei weitere junge Leute genau in die Lücke im dichten Menschengewimmel, die unverstellt einen deutlichen Blick auf Thierry preisgab. §-#-§ "Los, mach ein Bild!" Verlangte Rosegunde energisch, drückte Dominique ihr großes Mobiltelefon, ein teures Markengerät der neuesten Generation, in die Hand. "Da draufdrücken." Erklärte sie angesichts seines hilflosen Blicks ob dieser Wundermaschine. Dominique kam eilig der Aufforderung nach. In Nachhinein fand er seine gestotterten Floskeln von "schattigem Plätzchen hinter den Büschen" selbst sehr zweideutig. Und irreleitend, denn seine Absichten waren definitiv lauter! Und respektabel!! Unterdessen starrte Rosegunde auf das Foto, das Dominique geschossen hatte, lange Atemzüge. Schließlich, ohne ihm einen Blick zu schenken, erkundigte sie sich mit flacher Stimme. "Woher kannst du das?" Dominique sammelte beunruhigt die einfachen Stifte ein, Kinderschminke, günstiges Einsteigersortiment. "Ich male manchmal so vor mich hin. Nichts Besonderes." Er seufzte leise und murmelte. "Ich dachte, es wäre eine nette Idee. Entschuldige, Rosa." Für einen langen Moment verharrten sie so, Rosegunde ihm den Rücken zugewandt, auf ihr Mobiltelefon starrend, Dominique mit hängenden Schultern in einiger Entfernung, beide Tüten apportierend, entmutigt. "Komm!" Sein Handgelenk wurde gepackt, dann marschierte Rosegunde in forciertem Tempo los. Dominique blieb nichts übrig, als ihr zu folgen, denn ihrem starken Griff konnte er nicht entschlüpfen. Nach geschätzten fünf Minuten strammen Marsches wagte er zaghaft eine Inquisition hinsichtlich ihres Ziels. "Sag mal, wohin gehen wir denn? Bitte?" Den Blick unverwandt nach vorne gerichtet schnarrte Rosegunde. "Na, zu mir natürlich! Ich zeig dir meine Strapsensammlung!" §-#-§ "Ichwusstenichtdasswirhierhergehen!MeineMamaistberuflichhier!" Sprudelte Thierry in Selbstverteidigung und hochgeschwind heraus. Wie peinlich konnte es denn noch werden?! Dass er ausgerechnet hier dem Mann über den Weg lief, den er doch unbedingt vermeiden wollte! Ganz zu schweigen von seiner Absage auf dessen Einladung. "Wirklich? Dann kannst du uns ja bekannt machen." Selim lächelte erfreut, zeigte keine Spur von Verärgerung oder Zweifel, "Und, gefällt's dir?" "Äh... sehr voll." Haspelte Thierry nervös und blickte sich ängstlich um. Er wollte seiner Mama um keinen Preis Selim oder dessen Freunde vorstellen, denn wie sollte er ihre Verbindung erklären?! Wenn er doch immer noch nicht die Vampir-Sache gebeichtet hatte! "Stimmt!" Lachte Selim munter, streichelte Thierry unaufgefordert verschwitzte Locken aus der Stirn. Der zuckte im verspäteten Reflex so heftig zurück, dass er gegen einen Tapeziertisch prallte und dort die feilgebotene Ware zum Tanzen brachte. "Ja, Vorsicht, Junge! Pass doch auf!" "Entschuldigung, ist so eng hier." Schon hatte Selim Thierry einen muskulösen Arm um die schmächtigen Schultern geschlungen, hob die freie Hand besänftigend, dirigierte sie beide aus der Gefahrenzone. »Oh nein! Nicht schon wieder!« Thierry kämpfte gegen ein heftiges Schwindelgefühl an. Sein Puls raste, er schnappte mit offenem Mund nach Luft. Wieso?! Wieso reagierte sein verdammter Körper so auf Selim?! "Du bist ganz bleich!" Bemerkte der gerade besorgt, der Arm schlang sich tiefer um Thierrys Taille. "Halt dich an mir fest, ja? Schön tief atmen, Thierry. Gleich wird's besser." Eine große Hand kreiste über seinem Rücken, der feste Herzschlag klopfte gelassen an seine Wange, die auf der breiten Brust lag. Er nahm einen exotisch-angenehmen Geruch war, der von Selims erhitztem Körper durch den T-Shirt-Stoff drang. Thierry grub die Fingernägel tief in das Gewebe. Er durfte gar nicht darüber nachdenken, was für ein erbärmliches Bild er gerade abgab. "Sag mal, wer ist der Typ mit dem Fotoapparat, der dich so säuerlich angestarrt hat? Ist das etwa der, dem du ausgewichen bist?" Selim legte ihm beschützend den anderen Arm um die Schultern, raunte in seinen Lockenschopf. Thierry presste seinen akut kopfschmerzgeplagten Schädel gegen die sehr solide Figur und unterdrückte ein gepeinigtes Aufstöhnen. Musste Selim so scharfsinnig sein?! "Wenn der dir was will, sag's mir, ja?" Selim massierte ihm die verspannten Schultern. "Ich will nicht, dass dir was passiert." Vor seinem Brustkorb ersparte sich Thierry eine Antwort. Er wäre am Liebsten im Boden versunken, so sehr schämte er sich seiner Schwäche. Andererseits traute er sich aber auch nicht, Selim loszulassen, denn ihm war tatsächlich sehr flau. Er bezweifelte, dass er auf eigenen Füßen stehen konnte. Wahrscheinlich würde er zur Krönung auch noch ohnmächtig werden! "Thierry?" Selims samtige Stimme schnurrte durch seine Locken, verursachte eine Gänsehaut. "Sag mal, bekommst du überhaupt noch Luft, so, wie du das Gesicht an mich presst?!" §-#-§ Es gab weder Strapse noch Briefmarken oder ähnliche Vorwände zu bewundern. Zögerlich folgte Dominique seiner energischen Entführerin in eine mondäne Altbauwohnung, die einem "Schöner Wohnen"-Beitrag entstammen konnte. Sie wirkte jedoch nicht sonderlich belebt, bis man Rosegundes Zimmer betrat. "Schmeiß den Scheiß einfach auf den Boden und mach's dir bequem!" Lautete ihre gebellte Anweisung, bevor sie Dominique in ihrem Reich allein ließ. Hier hatte kein Innenausstatter seiner Passion gefrönt, so viel konnte Dominique feststellen. Kein vorhandenes Möbelstück passte zum anderen, wobei ihr ursprüngliches Aussehen unter lackierten Schichten von Papierfetzen oder zerrissenen Folien nicht auszumachen war. Kunterbunt wirkten jedoch der doppeltürige Schrank, der bodentiefe Spiegel und das auf quer gelegten Hochregalen aufgebockte Bett mit dieser "Farbgebung". Auf dem Bett lagen überall Kleidungsstücke herum, so, als habe die ebenso kunterbunte Kommode ihren Inhalt ausgespien. Dazu gab es diverse Sitzkissen, auf einem thronte ein Laptop, an den hohen Wänden hingen farbige, durchscheinende Tücher. Ein wenig Harem, ein wenig Gruft, ein wenig Punk... und sehr viel Trotz. Auf der hohen Fensterbank stand ein Holzklotz mit einem gemeingefährlichen Nagel, auf dem unzählige Notizen aufgespießt waren. Dominique vergewisserte sich, dass Rosegunde nicht im Ansturm war und inspizierte rasch dieses Kunstwerk. Die Zettel waren sämtlich von einer eleganten Handschrift geziert, die stets kurze Nachrichten enthielten, wann mit der Rückkehr der Mutter zu rechnen war. »Hmm.« Dachte Dominique, entfernte sich eilig, verschränkte die Hände mit den artig apportierten Tüten auf dem Rücken. Man musste schon sehr dickfellig sein, um nicht zu bemerken, dass hier jemand einen erbitterten Kampf mit dem noch verantwortlichen Elter führte. Seiner Einschätzung nach erzielte Rosegunde nicht besonders viel Eindruck, denn eingedenk der häufigen Abwesenheit ihrer Mutter konnte die wohl kaum Interesse an den Wandlungen von Zimmer, Bekleidung oder sonst was beweisen, schlichtweg aus Unkenntnis. »Ob es ihr wirklich gleichgültig ist?« Unbehaglich drehte sich Dominique um die eigene Achse, erspähte auch die Gitarre, die ihm zu einer ordentlichen Spanisch-Note verholfen hatte. Von seiner Mutter konnte er jedenfalls ohne den geringsten Zweifel bekunden, dass er ihr niemals egal gewesen war. Sein Gesundheitszustand WAR eine Belastung mit dem Urteil "lebenslänglich ohne vorzeitige Entlassung bei guter Führung", doch er konnte sich nicht an einen Augenblick erinnern, in dem seine Mutter ihm signalisiert hätte, sie würde auf seine Existenz verzichten können. Galt diese unverbrüchliche Bindung auch für Rosa? Oder passte sie nicht mehr in das Lebenskonzept ihrer Eltern und wurde zeitig "abgewickelt", ihr eigenes Leben zu führen? Diese Vorstellung schüttelte ihn. "Mein Saustall gefällt dir wohl nicht?!" Knurrte Rosegunde, die sich auf nackten Sohlen genähert hatte. "Kannst gern putzen, wenn du magst." So ruppig und provozierend wie immer, aber Dominique war dieser Widerborstigkeit dankbar. Rosa würde anders als er selbst nicht introspektiv in tristen Gedanken versinken, sondern aggressiv aufbegehren, beißen, kratzen, um sich schlagen. Rebellieren, nie klein beigeben. Das bewunderte er wirklich sehr. "He!" Ein eckiger Ellenbogen traf seine Seite. "Pennst du hier mit offenen Augen, oder was?" Verlegen lächelnd zuckte Dominique mit den schmächtigen Schultern. "Ich bin bloß erleichtert, dass du deine Fußballschuhe noch nicht angezogen hast." Rosegunde grinste, die Zähne bleckend. "Ja, pass bloß auf!" Dann drückte sie ihn unvermittelt auf ihr Bett, ignorierte die dort verstreuten Kleidungsstücke. "Denk bloß nicht, dass du schon aus dem Schneider bist, Picasso! Du verdienst nämlich nen Arschvoll Prügel, weil du mir nich erzählst hast, dass du malen kannst!" "Entschuldigung." Murmelte Dominique und stellte beide Tüten neben dem Bett ab. "Also, das ist der Deal: du kriegst das Ganze auf die Reihe!" Sie baute sich vor ihm auf, die Fäuste in die Hüften gestützt. "Ich lade dich zu einer Fressorgie in der Küche ein. Es gibt Grünzeug, Nudeln, Pizza, Eis, Schokolade, Pommes, alles, was du dir vorstellen kannst. Wenn das nicht langt, können wir noch ordern." "Okay?" Dominiques wasserblaue Augen suchten in den blau-violetten Hinweise auf die fehlende Information: was GENAU sollte er auf die Reihe kriegen? Rosegunde wandte sich von ihm ab, schälte sich unversehens aus ihrem Lederoutfit, das achtlos zu ihren Füßen auf den Boden fiel. Rasch folgten weitere Reste, bis sie lediglich mit sehr knapper Unterwäsche vor ihm stand, den Kopf herausfordernd in den Nacken geworfen. Dominiques Kinnlade hing tief, er schloss sie mit einem peinlich schmatzenden Geräusch abrupt. "Was dachtest du denn, warum ich gleich einen verdammten Eimer von der Sprühfarbe wollte?!" §-#-§ Kapitel 9 - Wahrheiten Thierry beichtete, stockend, den Blick auf den Pappteller geheftet, der auf seinem Schoß balancierte: wer das Brechmittel war, warum der so giftig guckte und warum es notwendig war, dass seine Mama nichts von all diesen Katastrophen der jüngsten Zeit erfahren durfte. Selim, der für Thierry nicht nur einen Sitzplatz auf einer Bank ergattert hatte, sondern ihn auch gleich mit nahrhaften Speisen aus Indonesien versorgte, lauschte ihm mit konzentrierter Miene. In seinen Gefühlen konnte Thierry durchaus Enttäuschung spüren, weil er nicht im Hause Cavallino offiziell eingeführt wurde, überwiegend jedoch die ihm schon bekannte Mischung aus Sorge, Hingabe, Freundschaft, Wohlwollen und unerschütterlicher Zuneigung. Ein Aufblitzen des Begehrens registrierte er nicht. Vielleicht, weil Selim wusste, dass er Gedanken lesen konnte? Nun, zumindest Intentionen auffangen. "Du bist sicher, dass der komische Vogel dir nicht mehr auflauern wird?" Es empörte Selim durchaus, dass so ein großer Kerl, der sich selbst in die Bredouille gebracht hatte, einfach einen zerbrechlichen Jugendlichen ins Gesicht schlug, weil der verhindert hatte, dass seine geliebte Mutter ausgenutzt wurde. "Ich werde es meiner Mama sagen." Murmelte Thierry, pickte beschämt Reste vom Teller. Wenn er endlich die Wahrheit eingestand, würde er sich dann auch nicht mehr so ausgeliefert und lebensuntüchtig fühlen? "Ich vertraue deinem Urteil." Selim streichelte ihm über die Wange, was Thierry beinahe von der Bank stürzen ließ. Verschreckt blickte er Selim an. Der lächelte bloß sanft, wo alle anderen irritiert bis beleidigt die Distanz gesucht hätten. »Spürt er es etwa auch?!« §-#-§ Das Verrückte war, dass er sich hier im Zimmer eines Mädchens befand, das bloß marginale Unterwäsche trug, was ihm wirklich noch nie geschehen war. Dass es sich um ein Mädchen handelte, das er ziemlich sicher sehr mochte. Dass er ihre Haut berührte, ihren Duft roch, ihren Atem teilte und nicht total durchdrehte, sondern wie ein Schlafwandler jedes einzelne Mal auf ihrem Körper verzierte. Nein, eigentlich hob er nur das hervor, was er selbst in diesen Formen sah, die sich von der schneeweißen Haut in starken Rot- und Rosatönen abhob. Ohne sich dessen bewusst zu sein bewegte er behutsam Glieder, drehte den knochigen Körper, stützte mit Kissen ab, bevor er selbstvergessen seiner Leidenschaft frönte. Nun, geschlagene zwei Stunden später, deren Verstreichen er überhaupt nicht bemerkt hatte, kauerte er auf dem breiten Bett, registrierte überrascht den Platzregen, der heftig ans Fenster schlug und die Sommerhitze in Kürze in eine beschwerliche Schwüle verwandeln würde, seinen knurrenden Magen und Rosegunde selbst. Sie stand mit ihrem Mobiltelefon/Wundergerät vor dem bodentiefen Standspiegel, dokumentierte die vergänglichen Werke auf ihrem Körper, ungewohnt still und konzentriert. Dominique errötete beschämt, als ihm aufging, dass die gesamte Situation eigentlich absolut verfänglich sein sollte. Seine Chance bedeutete! Nun ja, wohl eher die Gelegenheit für einen Draufgänger und Mädchenschwarm, was ganz sicher nicht zu seinen Qualitäten zählte. Zögerlich hob er den Blick, um Rosegunde wieder zu betrachten, die sich selbst studierte, ganz absorbiert von Blütenwolken auf ihrer Haut, so bunt wie ihre wilde Zimmerdekoration, gleichzeitig nicht einen einzigen "Fleck" verdeckend oder übertünchend. "Du bekommst das auch noch mal hin, oder?" Erkundigte sie sich schließlich rau, ihm immer noch den Rücken zukehrend. "Ja." Antwortete Dominique schlicht. Rosegunde warf ihm einen Blick über die Schulter zu, schief lächelnd, durchaus berührt von dieser Erfahrung. "Na schön, was willst du essen?" §-#-§ »Schlimmer geht's nimmer!« Das hätte Thierry gerne geschrien, in den gleichgültigen Weltraum hinaus, doch gerade konnte er es bloß mit Mühe DENKEN! Dass Schauer angekündigt waren, darauf hatte er seine Mama ja hingewiesen, er hatte auch vorausschauend einen Taschenschirm eingesteckt. Worauf er jedoch nicht vorbereitet war, stellte die Kombination des ihm unbekannten würzigen Essens und die hohe Luftfeuchtigkeit dar. Zunächst waren es bloß Schleier vor der Sonne, was der Hitze keinen Abbruch tat, sie verwandelte sich jedoch in eine drückende Schwüle, die Schleier wurden zu Schwaden. Thierry spürte, wie jeder Atemzug anstrengender wurde, ihm Notschweiß auf der Stirn stand, seine ohnehin wirren Locken sich durch die Feuchtigkeit noch stärker kringelten, wenn sie nicht bereits matschig auf seiner Haut klebten. Er keuchte und versuchte krampfhaft, sich mit der Hand Luft zuzufächeln. Er wollte raus, raus aus dem Gedränge, der physischen Anwesenheit so vieler Leute, nur irgendwie entkommen, damit er genug Platz hätte. Raum zum Atmen, genug, um dieses grauenvolle Japsen zu beenden! Dann gab es da eine Art Zeitsprung. Oder Aussetzer in seiner Erinnerung. Während sich nämlich eine heftige Gewitterzelle über der Festgesellschaft austobte, stand er unter einem schmalen Dachüberhang, den Rauputz im Rücken, vor sich ein feuchtes Hemd über einer beeindruckenden Brustpartie, sicher gehalten in muskulösen Armen. Abgeschirmt von Selim, dem vermutlich der Gewitterregen ungehindert über seine Rückenpartie rauschte. "Geht's besser?" Hörte er vage, ein wenig gedämpft, so, als hätte er Wasser in den Gehörgängen. "Nghn!" Gurgelte Thierry, versuchte trotz der feuchten Luft, mehr Atem zu schöpfen. Er legte sogar den Kopf in den Nacken, hoffte auf einen kühlen Luftzug, der nicht als Flüssignahrung agierte. "Puh!" Stöhnte Selim über ihm kehlig, ließ den festen Griff ein wenig lockerer. "Ich hatte schon Angst, ich müsste einen Rettungswagen rufen!" »Rettungswagen?!« In Thierrys mattem Bewusstsein drängelte sich eine Alarmglocke zwischen die Rückmeldungen seiner übrigen Nervenstränge. Hastig richtete er seine Augen hoch in das helle Bernsteinpaar über sich, das ihn besorgt inspizierte. Selim lächelte wirklich nicht. "Hast du das nicht gemerkt?" Erkundigte sich der Ältere überrascht, lupfte die Augenbrauen an. Wäre die Atmosphäre anders beschaffen gewesen, hätte wohl eine überdeutliche Röte Thierrys Wangen eingefärbt, doch in dieser Dampfsauna konnte er nur noch ächzen. "Wir sind von dem indonesischen Stand weg, weil du sagtest, es würde gleich regnen. Im Gewühl bist du dann gestolpert, dachte ich zumindest, aber als du nach vorne gesackt bist, habe ich gleich gesehen, dass du keine Luft mehr hattest. Da habe ich dich hochgenommen und weggeschleppt." Selim grinste schief. "Mittlerweile eine leichte Übung für mich. Wegen des einsetzenden Regens hat es allerdings gedauert, bis ich dich aus der Masse der Leute rausgeschafft hatte." Er löste einen Arm von Thierrys Taille, strich mit den Fingerkuppen über dessen klamme Wange. "Du hast förmlich gepfiffen! Als wären deine Lungen perforiert!" Unbehaglich zuckte er mit den imponierenden Schultern. "Hast mir ganz schön Schiss eingejagt. Mit Hyperventilation kenne ich mich zwar aus, aber..." Seine blendenden Zähne knirschten beschämt übereinander. "Entschuldigung." Murmelte Thierry ächzend, blickte rasch zur Seite. An nichts von all dem konnte er sich erinnern! "Hör mal, ich weiß, es ist aufdringlich und möglicherweise gefährlich, aber geh zu einem Arzt, Thierry." Selims Zeigefinger unter seinem Kinn dirigierte ihn beharrlich in ihren Blickkontakt zurück. "Bitte! Ich mag gar nicht daran denken, dass du irgendwo zusammenbrichst und niemand da ist, um dir zu helfen!" Thierry presste die Lippen fest aufeinander, jedoch nicht aus Trotz oder Abwehr. Nein, er hatte selbst Angst. Wie oft hatte er in der letzten Zeit die körperliche Kontrolle über sich eingebüßt? Das waren nicht nur die verhassten Hauer in seinem Oberkiefer oder die lästige Gräserpollenallergie! Seine Physis verweigerte ihm den Gehorsam, seine Psyche ließ sich auch nicht mehr lange bitten, ihn durchdrehen zu lassen! Da musste er nur an seine Unfähigkeit denken, die eigenen von Selims Emotionen sauber abzutrennen!! "Bitte! Bitte tu das für mich, ja?" Selim gab nicht auf, hatte auch die besten Karten, so, wie er Thierry hielt, ihn abstützte, vor dem Gewitterguss selbstlos abschirmte. Mit seiner ungefilterten Sorge, dem Kummer über das erschöpfte Erscheinungsbild seines Gegenüber, seinem Willen zur Freundschaft eine gewaltige Woge von Emotionen über Thierry schwappen ließ. Dem wurde flau, in Händen und Füßen prickelte es eisig. Er hatte den Eindruck, seine Glieder nicht mehr zu spüren, vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte. Vielmehr als die Ohnmacht selbst löste die Furcht vor ihr Panik aus. Er kniff die Lider so fest zusammen, dass er Sterne vor Schmerz sah, krallte Zehen und Finger in sein eigenes Fleisch, damit er sich selbst spüren konnte. "Thierry?" Alarmiert fasste Selim ihn unter, hing ihn sich wie ein Kleinkind über Schultern und auf die Hüften. "Keine Angst, ich bin da! Halt dich an mir fest!" Regen tränkte Thierrys Knie und Hosenbeine, rann von seinen nackten Armen herab, bis er beide Gliederpaare eng um den älteren Mann wickelte, energisch gegen die eigene Panik ankämpfte. "Ich bin bei dir, Thierry. Gleich geht es wieder." Raunte Selim in seinen nassen Schopf, wiederholte seine Worte immer wieder beruhigend, während sein rapider Herzschlag mit Thierrys eigenem korrespondierte. Es währte schier eine Ewigkeit, bis Thierry es wagte, seine Beine zu lösen und die Zehenspitzen wieder auf den Boden zu setzen. Zur Sicherheit umklammerte er immer noch den muskulösen Nacken über sich. "Besser?" Selim rollte sich artig ein, um ihren Größenunterschied zu reduzieren, studierte sorgenvoll das spitze Gesicht vor sich. Er kämmte behutsam verklebte Locken beiseite. "Ich werde zum Arzt gehen." Versprach Thierry heiser, beschämt und deutlich erschrocken. "Danke schön." Selim lächelte erleichtert, die blendenden Zähne funkelten heller als jeder Blitzschlag. Spontan, beugte er sich vor, küsste Thierry auf die feuchte Stirn. Verlegen wandte Thierry sich ab. "Ähem." Er krächzte nervös, verwünschte seinen unartigen Puls. "Hast du vielleicht meine Mama... meine Mutter gesehen? Ich gehe besser heim, aber damit sie sich keine Sorgen macht." "Also, ich sollte wohl erwähnen, dass dieser miese Foto-Knilch vorhin auf uns geschossen hat." Selim rückte ein wenig ab, hielt aber fürsorglich einen Arm unter Thierrys Achseln. "Unter Umständen wäre es doch besser, du erklärst deiner Mama, wer ich bin." §-#-§ "Ach, das tut mir so leid, Schätzchen!" Freya Cavallino kraulte mit beiden Händen durch die wirren Locken ihres Sohnes. "So dumm von mir! Als ich dir die Tasche gegeben habe, hab ich doch glatt vergessen, dass der Schirm drin steckt! Was für ein Schlamassel!" Thierry blinzelte zwischen fürsorglichen Händen hindurch und räusperte sich zum zweiten Anlauf. Das erwies sich jedoch als gar nicht notwendig, denn nun streckte seine Mutter Selim die Rechte hin. "Oh, Verzeihung! Manieren gegen Schusseligkeit, 0:1." Grinste sie entwaffnend mit der Zahnlücke, übernahm selbst die Honneurs. Selim strahlte wie gewohnt sympathisch, ging sogleich auf das Wetter ein, dass sie ordentlich getauft worden seien und er sie gern ein Stück begleiten wollte, da er ohnehin von seiner Zwillingsschwester und ihren Freunden getrennt worden sei. "Ach ja, wir sollten wirklich eine Pause einlegen." Freya Cavallino nickte und zupfte an der vollkommen derangierten Hochsteckfrisur. "Hast du nicht auch Hunger, Schätzchen? Wir können nachher noch eine Runde drehen, dann haben sie bestimmt auch schon alles trockengelegt!" Thierry, der gar nicht in die Zwickmühle geriet, die letzten Kalamitäten zu erwähnen oder GENAU zu erklären, wie er die Bekanntschaft von Selim gemacht hatte, wurde eingehakt. Seine Mutter paradierte schon los, Selim als aufmerksamer Kavalier an ihrer Seite, diskutierte mit ihm munter ihre Entdeckungen zum aktuellen Stand der Festlichkeiten, fragte nach seinen Eindrücken und Wertungen. Auf diese Weise nicht sonderlich gefordert gelang es Thierry auch unfallfrei, einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis sie ihre Wohnung erreichten. §-#-§ Rosegunde lebte im Tiefkühl-Fertiggericht-Schlaraffenland. Zumindest erschien es Dominique so, als er die Auswahl ungläubig studierte. Hinter den verglasten oder klinisch-weiß schimmernden Fronten verbargen sich entweder Gefrierabteile oder Geräte zum Aufwärmen, ganz gleich ob Teller oder Gerichte selbst, dazu jede Menge schmuckloses Geschirr. In jedem Fall nicht das zugestellte, kunterbunte, wilde Chaos, das in ihrer eigenen kleinen Küche vorherrschte. Was nicht bereits portioniert eingefroren war, stand in einer Ecke abseits, Trockenfutter wie Müsli oder Nudeln. Selbst Brot gab es eingefroren! Und Popcorn-Mais! Auch wenn es einem Gast ganz sicher nicht anstand, Kritik zu üben (Dominique fühlte sich durchaus noch auf Bewährung wegen der Sache mit dem Kleid), konnte er doch nicht umhin zu bemerken, dass Rosegundes kulinarische Talente sich auf das Verzehren beschränkten. Zu seiner Verblüffung zeigte sie jedoch keine Ungeduld, als er jedes Gericht auf die Zutatenliste hin studierte, hatte keine Einwände gegen ein Suppengemüse-Curry mit den Nudeln, die Dominique mangels Kochgeräten in der Mikrowelle al dente zauberte. Und Popcorn danach, das konnte ja nur ein Luxus-Menü sein! Nach diesem frugalen Bankett, Beine baumelnd auf dem vermutlich noch nie genutzten Küchenblock unter einer futuristischen Dampfabsaughaube mümmelnd, sammelte Rosegunde das Geschirr ein, ließ einen gewaltigen Strahl heißen Wassers darauf niedergehen. "Warte, ich helfe dir!" Sofort rückte Dominique an ihre Seite, sah sich nach Spültuch, Geschirrtuch und Lappen um, so, wie er es von zu Hause gewöhnt war. "Helfen? Bei was helfen?" Rosegunde lupfte eine sehr kritische Augenbraue, trat einem Schrank vor die Blende, was mindestens eine gelbe Karte im Fußball bedeutet hätte, klappte dann eine Spülmaschine auf, deren Korb sich langsam füllte. "...oh." Kommentierte Dominique hilflos. Richtig, andere Leute hatten Spülmaschinen, so viel Geschirr, dass sie zwei Wochen lang ohne Einschränkung leben konnten, bis der Korb richtig voll war, bevor sie das Gerät einschalteten. Der Geruch mochte unangenehm sein, aber dafür gab es ja diverse künstliche Aromen, die in der Zwischenzeit alles überdeckten, bis die Nase die Segel strich und aufgab. Rosegunde grinste herausfordernd. "Was denn, bist wohl ein kleiner Hausmann, wie? Ne Küchenfee!" Wie sollte man darauf reagieren? In einer vermeintlichen Herabwürdigung, die unterschwellig so viel Neid mit sich führte? Von unterdrückter Wut geprägt war? Also zuckte er nur nichtssagend mit den Schultern, folgte seiner Gastgeberin, die immer noch nur Unterwäsche trug, von seinen Kunstwerken abgesehen, zurück in ihr Zimmer. "Ich könnte dir noch beim Aufräumen helfen, bevor ich gehe?" Bot er höflich an. "Aufräumen? Wieso aufräumen?" Mit kaum verhohlener Freude grollte Rosegunde ihm erneut. "Was solln das heißen?! Denkste etwa, hier sieht's sonst anders aus?!" "Ja." Tollkühn nickte Dominique, faltete das erste in Reichweite befindliche Kleidungsstück ordentlich zusammen. Er war sich ziemlich sicher, dass selbst Rosa, das gereizte Stachelschwein, keine Lust hatte, sich jeden Abend durch mehrere Kleidungsschichten tief unter ihre Bettdecke zu graben. "Ist ja ganz allerliebst!" Ätzte sie nun, die Fäuste in die Hüften gestützt. "Bin ich dir etwa nicht ordentlich genug, oder was?!" "Aber woher denn!" Winkte Dominique höflich ab, stapelte gefaltete Werke. "Ich nutze bloß einen Vorwand, um deine Wäsche ausgiebig befingern zu können." Für einen langen Moment, in dem er nervös unter gesenkten Lidern und mit eifrig gebeugtem Kopf hervor schielte, blieb es bemerkenswert ruhig. Rosegunde lachte laut heraus, denn natürlich glaubte sie ihm kein Wort. Selbstredend gefiel es ihr auch, dass er sich von ihrem groben Verhalten nicht einschüchtern ließ. "Na schön!" Demonstrativ verschränkte sie die Arme vor der Brust. "Lass mal sehen, ob du als Heimchen am Herd und im Schlafzimmer was taugst!" Dominique atmete verstohlen auf, räumte sogar alle Kleidungsstücke sorgsam in die leere Kommode (Ha!), hängte das neu erstandene Kleid auf, glättete die Überdecke auf dem hochgebockten Bett. "So, nun muss ich aber los." Leitete er dann schüchtern seinen Abgang ein. "Lass mir deine Nummer da, damit ich dich beim Bügel-Notfall einbestellen kann!" Feixte Rosegunde provozierend. Dominique zögerte, dann leistete er seinen Offenbarungseid. "Ich habe kein Handy. Nur Festnetz." Rosegunde, die ihn zur Tür führte, blieb betont abrupt stehen, drehte sich zu ihm um und stöhnte theatralisch auf. "Na toll! Ich schätze, ich brauche auch nicht auf deinen Anruf zu warten, wie?" "Äh, wenn du mir deine Nummer gibst?" Dominique war durchaus bereit, ihm unbekannten Verabredungsregeln Folge zu leisten. "Ich geb dir lieber was zu denken!" Schnarrte Rosegunde bissig, die Augenbrauen gewittrig zusammengezogen, ihre kräftigen Finger um seine Nasenspitze geklemmt. Dominique trötete verhalten. "Wenn du das am Freitag versaust, Knackarsch...!" Ein Schlag traf seine Kehrseite. "Dann hänge ich dir dein Gekröse um den Hals und binde rosa Schleifen rein, alles klar?" "Knaa gnii Gnoosbnüüä!" Antwortete Dominique zwangsweise näselnd, rieb sich verstohlen die malträtierte Sitzbacke. Wirklich, dieses Mädchen hatte viel mehr Kraft als Rambo! "Guuuut!" Gurrte sie nun süßlich-gehässig. "Dann lasse ich dich leben. Vielleicht." "Oh, danke." Murmelte Dominique und justierte seine Baseballkappe. "Also, dann bis Montag. Danke fürs Essen". Als er sich abwandte, der Höflichkeit Genüge getan, durchaus im Zweifel, welche Art von Gangsterfilmen sich Rosegunde wohl zu Gemüte führte, wurde er energisch an einer knochigen Schulter herumgerissen, gegen die halb geöffnete Wohnungseingangstür gepinnt. Ein Kuss landete auf seinem zum verschreckten Ruf geöffneten Lippen. Entschlüpfen konnte er nicht, denn Rosegunde quetschte ihn mit ihrem Gewicht und den auf seinen Brustkorb gepressten Ellen fest. Solcherart bedrängt war es keineswegs verwunderlich, dass er die Waffen streckte, eine potentielle Gegenwehr ablehnte. Und herausfand, was es mit all dem altmodischen Beschnäbeln und Kosen so auf sich hatte! §-#-§ "Stell dich schnell unter die Dusche, ja?" Thierry wurde von mütterlicher Fürsorge angetrieben, die sich nicht wesentlich von Selims Aufmerksamkeiten unterschied, im Großen und Ganzen zumindest. Er duschte, wickelte sich in einen leichten Pyjama, darüber einen Bademantel, damit nicht der geringste Zweifel aufkam, er könne nicht ordentlich auf sich selbst achten. Leider musste er nun in schaurigen Details genau das Gegenteil berichten. Als er wenig hochgestimmt, bereits in Armer Sünder-Haltung die Küche betrat, topfte seine Mama gerade zwei Henkelbecher mit heißer Schokolade auf Untersetzer. "Bitte, setz dich." Ihre Haare waren noch immer wirr, über dem Kleid trug sie jedoch, als könne das den Guss austreiben, einen verfilzten Pullover. "Danke." Murmelte Thierry und wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Die heiße Schokolade und das Sitzen am Küchentisch hatten Tradition, wann immer eine ernste Sache besprochen werden musste. Unwillkürlich warf er einen Blick auf das gerahmte Bild seines Vaters, das in einem Küchenregal aufgestellt über sie wachte. Er seufzte leise, straffte seine zierliche Gestalt und legte die kalten Hände um den heißen Becher. Er musste jetzt reinen Tisch machen. Angefangen bei den Zähnen. §-#-§ "Du liebe Güte." Diesen Satz hatte er in der letzten halben Stunde seines Sündenbekenntnisses oft genug gehört. Jetzt, den Kopf gesenkt, hob er den fixierten Deckel des Terrariums an, ließ die schlaffe Maus behutsam auf den groben Sand sinken, wo die Schlange sie vermutlich während der Nacht verzehren würde. "Es tut mir leid." Auch das hatte er immer wieder gesagt, ein Ausdruck, der kaum den Schatten davon vermitteln konnte, wie sehr er sich schämte. Und fürchtete. Vor der Ablehnung. Abscheu. Ekel. Zurückweisung. Leiser Enttäuschung. Vertrauensentzug. Ihn schauderte, er fror trotz Pyjama und Bademantel plötzlich, hätte am liebsten die Hände seiner Mutter ergriffen, hastig all die vermeintlichen Gründe hervorgesprudelt, die ihn daran gehindert hatten, ihr die Wahrheit anzuvertrauen. Fünf lange Jahre. "Ach Schatz!" Ihre Umarmung war heftig, impulsiv. Sie hielt ihn so fest, als könne er sich in Luft auflösen. Was hatte er nur angestellt?! Ihr solchen Kummer zu bereiten! Thierry fühlte sich elend, ihrer Liebe nicht würdig, noch weniger ihrer Nachsicht. Da zitterte sie nun, seine unverwüstliche Mama, kämpfte mit den Tränen, konnte nicht lachen, sie, die sonst jeder Absurdität des Alltags mit Humor begegnete! "Es tut mir so leid!" Quetschte er mühsam mit kindlich hoher Stimme hervor, verweigerte sich die Erlaubnis, zur Seelenerleichterung auch ein paar Tränen zu vergießen. Diese Gnade hatte er sich nicht verdient! §-#-§ "Die Sache mit den Mäusen und der Schlange: Gianno hätte das mächtig beeindruckt." Sie saßen wieder in der Küche, die zweite Runde einläutend, es gab mit bitterer Orangenmarmelade bestrichene Mürbeteigkekse. Thierry wagte einen zerknirschten Blick hinüber zu seiner Mutter. Sie lächelte versonnen, schniefte leicht, zwinkerte ihm zu. Beschämt ließ er die Schultern hängen und biss sich auf die Lippe. "Allerdings kann es nicht so bleiben." Sie setzte sich auf, klopfte mit der Hand auf die Tischplatte. "Dein Freund Selim hat recht: du musst zu einem Arzt gehen, bevor es noch schlimmer wird mit deiner Allergie." Niedergeschlagen nickte Thierry. "Aye." "Die Ayes haben die Mehrheit." Stellte seine Mutter fürs Protokoll fest, klopfte noch zweimal auf den Tisch. Damit war der Familienbeschluss gefallen. Sie streckte die Hand offen auf der Platte aus. Thierry ergriff sie und sah seiner Mutter beklommen in die Augen. "Ich bin froh, dass du so oft Hilfe gefunden hast." Freya Cavallino lächelte nun, ein wenig ernster als gewöhnlich. "Das ist ein großes Glück." Thierry erwiderte ihr Lächeln vorsichtig, drückte ihre Hand sanft. Sie blickte ihn ruhig an, entschieden, ohne Zweifel oder Zögern. "Ich möchte, dass du etwas weißt, Thierry: es gibt keinen Grund, nicht einen einzigen, dass du für meinen Beruf Gemeinheiten oder gar Schläge einstecken musst! Was Henning getan hat, ist nicht akzeptabel. Ich werde mich darum kümmern. Versprochen." "Das... also..." Druckste Thierry herum, der durchaus befürchtete, das Brechmittel könnte in Selbstverteidigung weitere Verleumdungen gegen ihn und Selim ausstreuen. "Vielleicht war es ein wenig zu viel, unser Plan mit der Ausstellung, weil du ja auch mit ihm zusammenarbeiten musst. Deshalb wäre es wahrscheinlich besser, mit einem Remis die Sache zu vergessen." "Unter anderen Umständen möglicherweise." Freya Cavallino funkelte nun ganz Juno. "Aber nicht bei so einem Auftritt. Nein, bedaure, mein Sohn, aber dem Burschen MUSS geholfen werden! Unmissverständlich." Hier war nichts mehr zu wollen, Thierry begriff das, nickte schließlich matt. Wenn seine Mama gegen Selim nichts einzuwenden hatte, sogar entschieden dankbar war, dass der ihrem armen, kleinen Sohn so unerschütterlich beistand, dann konnte wohl das Brechmittel kein Geschütz mehr auffahren, dass diese mütterliche Überzeugung erschütterte. "Ah, apropos Hilfe!" Freya Cavallino warf ihrem Sohn einen flehenden Blick zu. "Könntest du mal nachschauen, wo die verflixten Kämme sind? Ich glaube, mein Haar hat sie wieder gefressen!" §-#-§ Üblicherweise beschränkte Emil Sandemann seinen Konsum an akustischer Berauschung auf Nachrichtensendungen, wissenschaftliche Magazine, den Börsenbericht, hin und wieder die Wettervorhersage. Musiksender oder gar so aufgemotzte Idiotenreservate wie "Apollon on Air" verabscheute er aus Prinzip. Unerträgliches Dauergedudel aus den "Charts" des Populär-Gegreines unterbrach Gehirnzellen vernichtende Werbung und nervtötende "Jingles", die früher noch verständlich Erkennungsmelodien waren. Die vermarktete Selbstbefruchtung der Verkaufslisten (Charts! Lächerlich!) verkleisterte jeden Gehörgang, wurde von überdrehten Berufsjugendlichen angepriesen, die enervierende Zappeligkeit mit hemmungsloser Sprach-Legasthenie kombinierten und Spontan-Tinnitus einen unwiderstehlichen Reiz verliehen. Kurz gesagt: für Emil Sandemann waren die meisten Hörfunkfrequenzen Ausgeburten der mitmenschlichen Hölle, die seine Misanthropie noch verstärkten. Unter diesen Vorzeichen war es unglaublich, dass er dennoch den Samstag vor dem Radio oder seinem Computer verbrachte, mit wachsendem Zorn verfolgte, dass der Thementag, den dieser unsägliche Lackaffe mit der Ex-Gröl-Karriere aus der Fernsehschau-Talent-Restrampe, sich großen Interesses erfreute. Zugegeben, die Redaktion hatte einige sehr informative Beiträge eingespielt, und, ja, die drei Diskussionsrunden waren kurzweilig und lehrreich gewesen. Nein, es waren nicht die erwarteten Horden von selbstverliebten Super-Fans, verdrucksten Amateur-Trotteln im Pubertätskoma und besserwisserischen Alleinunterhaltern aufgetreten. Dieser miese Knilch und seine Schergen hatten sich unerhörter Weise Mühe gegeben, Gedanken gemacht und auch noch von zahlreichen Hörern und Lesern Schützenhilfe bekommen!! Leider stand auch nicht zu erwarten, dass die Spätschicht, eigentlich das "Apollon"-Territorium mit "Rummel-Bums-Mucke", wie Emil Sandemann ungnädig bemerkte, den Erfolg zunichte machte, denn hier waren die Fans auch maßgeblich dabei, hatten im Vorfeld Wünsche eingereicht zu Musiktiteln, die mit dem Thema zu tun hatten. Sein Plagegeist höchstpersönlich übernahm die Anmoderationen und hielt sich zu kurzen Plaudereien bereit. "Perfid!" Schnarrte Emil Sandemann und rieb sich die müden Augen. Unwahrscheinlicher Weise schien es diesem unerträglichen Schlangenbeschwörer mit der Ochsenfrosch-Stimmlage gelungen zu sein, in kürzester Zeit ein Studium seines Lieblingszeitvertreibs absolviert zu haben. Diabolisch. Unseliger Weise hatte sich noch kein Antidot gefunden, diesen krebsartigen Eindringling in die Idylle seines Alltags auszumerzen! §-#-§ Als Kay kurz vor drei Uhr morgens den Staffelstab an seine Kollegin Agnieska weiterreichte, die nun zu House-, Ambient- und Trance-Musik wechselte, die Unermüdlichen unterhielt, um dann gegen Sieben den Rüstigen Rolf ans Ruder zu lassen, der mit Rock'n'Roll der alten Schule loslegte, bis gegen 11 Uhr für zwei Stunden Gospel und Soul den Äther beherrschten, fühlte er sich befriedigt wie ein vollgefressenes Raubtier, ein wenig Erschöpfung gemischt mit sehr viel Selbstvertrauen und einem friedfertigen Magen. Sein Bauchgefühl signalisierte ihm nämlich, dass es schlichtweg nicht möglich war, seinen Etappensieg abzutun. Gut, es bestand die vage Möglichkeit, dass Emil sich geweigert hatte, das Radio anzuschalten, demonstrativ den Thementag zu seinem offenkundigen Hobby ignorierte. Doch selbst dieses Eingeständnis würde einen Sieg bedeuten, da es gleichzeitig aufzeigte, dass er ausreichend Gefahrenpotential aufgefahren hatte, um den leidenschaftlichen "Misanthropisten" aufzuschrecken. Vermeidung bedeutete ja wohl ultimativ Kenntnisnahme. Und Re-Aktion. Also Interaktion, bloß nicht in Reichweite! Kay bedauerte, nicht über eines dieser wundervollen Gimmicks aus den zahlreichen Comics verfügen zu können, das ihm ermöglichte, den vermutlich zitronensauren Gesichtsausdruck seiner Zielperson über große Entfernung betrachten zu können. Jetzt würde er sich erst mal eine Mütze voll Schlaf gönnen, dann ausgiebig frühstücken, seine Reisetasche leeren und darüber nachdenken, wie er die zweifelsohne erzeugte Verärgerung zu seinen Gunsten nutzen konnte. §-#-§ Emil Sandemann tippte ärgerlich mit dem hinteren Ende seines gespitzten Bleistifts auf seinen Block. Seine sonntägliche Ruhe war erheblich gestört von der Aussicht, dass dieser grässliche Schönling wieder in der Nähe weilte. Bestimmt auf seine Reaktion zum gestrigen Thementag lauerte! Nun, der Bursche kannte weder seine Telefonnummer, noch seine E-Mail-Adresse. Herr Sandemann legte Wert auf Privatsphäre. "Aber er weiß, wo ich wohne." Der Bleistift trommelte energischer. Das bedeutete unter Umständen erneutes persönliches Auflauern oder postalische Belästigung. Ärgerlich. Option A bedeutete, dass er selbst reagierte, sich eine Wegadresse besorgte und eine gepfefferte Absage losließ. "Allerdings erscheint der Typ ziemlich schwer von Begriff." Grummelte Emil vor sich hin. Eine Ablehnung würde wahrscheinlich nicht genügen, es müsste noch darüber diskutiert werden oder sonst was Unsägliches! Option B war eine Variation von Option A, nur eben keine ehrliche Absage, sondern eine schleimige 08/15-Huldigung an den Super-Mega-Top-Sänger-Moderator-Frauenschwarm, so ekelhaft gewöhnlich und banal wie nur möglich, um jedes Interesse abzutöten und in der Masse der anderen bekloppten Schwärmer unterzugehen. "Könnte funktionieren." Der Trommelwirbel reduzierte sich zu einem stockenden Klopfen. Andererseits war der Kerl keineswegs dumm. Wenn der die Scharade durchschaute, war nichts gewonnen. Option C bedeutete, sich nicht zu rühren und Desinteresse zu signalisieren. Das würde jedoch bewirken, dass der Knabe hier aufschlug, wie bei diesen so genannten Stars üblich seine Bewunderung einforderte! Wusste ja jeder, dass die einen Hau weg hatten, Geltungsdrang mit manisch-depressiven Anwandlungen! "Hier nicht!" Grummelte Emil vor sich hin, denn er hatte wirklich keine Lust mehr auf Zusammenstöße auf seiner Türschwelle. Überhaupt wollte er nicht, dass irgendwer wusste, wo er lebte. Sein Heim war heilig. Hier und da gab es Ausnahmen, hauptsächlich für die Zustellung, aber er goutierte keine Gäste, trennte sein berufliches Leben strikt von seinem privaten. Er wollte auch nicht bei seinen Kollegen "bekannt" sein. Das bedeutete, dass er nichts von seiner Freizeit berichtete, kein Familienleben preisgab, nicht über Vorlieben plauderte oder sich über seine grundsätzlichen Auffassungen verbreitete. Sie kannten nur sein "Arbeitsgesicht" und so sollte es bleiben. Tatsächlich diskutierte er seine private Person mit niemandem. Einmal im Monat besuchte er seine Eltern, die von seinem Alltag nicht viel erfuhren, zufrieden damit waren, dass er zurechtkam, was zu ihrer Zeit Priorität genoss. Sein Interesse an Comic-Alben und verwandten Themen besprach er nicht, ausgenommen mit Eingeweihten seines Vertrauens in seinem Stammladen. Das Verlangen danach, sich in Clubs zu versammeln, ob virtuell oder real, ging ihm völlig ab. Er weigerte sich, seine Freizeitbeschäftigung zu begründen oder zu verteidigen. Er warb nicht für sie. Nein, es war ganz allein seine eigene Angelegenheit, sie gehörte nur ihm allein mit all ihren Gründen und verbundenen Freuden. Dass niemand darum wusste, dass niemand ihn privat kannte, war durchaus sein Streben. Keine Entschuldigungen oder Rechtfertigungen, keine Kompromisse, keine Einschränkungen. Er lebte mit sich allein, in eigener Verantwortung und im Bewusstsein der Konsequenzen. Dass dieser unsägliche Betthascherl-Flüsterer sich einmischte, aufdrängte, versetzte ihn in die Zwangslage, sich rigoros erklären zu müssen, einem mutmaßlich dümmlich glotzenden Torfkopf einzuprügeln, dass nicht alle auf der Welt auf der Suche nach einer angeblich verlorenen Hälfte waren, traute Zweisamkeit oder Familienanschluss wünschten, sondern durchaus dankbar dafür waren, sich nicht ständig in zwangsweiser Gemeinschaft um andere Leute bemühen und kümmern zu müssen. Dass er den Schneid besaß, es mit sich selbst auszumachen, ohne Ablenkung von außen. Dass er keine Lust hatte, für 15 Minuten Ansprache oder gelegentliches Herumgegrabbel andere Leute fortwährend in seiner unmittelbaren Nähe ertragen zu müssen. Dass er sein Leben nicht für eine kindliche Flucht aus der Verantwortung von Erwachsenen betrachtete, sondern eine absichtlich getroffene Entscheidung, seiner eigenen Vorstellung zu folgen, sich wenigstens nicht in die eigene Tasche zu lügen, nicht egoistisch zu sein und aus einer verdrehten Idee heraus selbstverständlich absolut selbstlos Frauen, Männer, Kinder und sonst was zu lieben und deshalb um sich zu versammeln. Der Mensch an sich war ein systemimmanent egoistischer Drecksack, der es unglaublicherweise an die Spitze der Nahrungskette geschafft hatte, entgegen aller Wahrscheinlichkeit und Erwartung, obwohl dümmliche Ideen jenseits des Verstandes seine Umtriebe lenkten, er nicht vor unbeschreiblichen Gräuel an seiner Art zurückschreckte und sein Gehirn fortwährend damit auslastete, sich und den Planeten samt Flora und Fauna in Schwierigkeiten zu bringen. Emil Sandemann nahm sich eingedenk dieser Tatsachen das Recht heraus, er selbst zu sein, nach seinen Ideen zu leben. Nicht ein einziges Leben allein, sondern unzählige, durch fremde Augen zu sehen, in fremden Köpfen zu wandern, nur dann in der Realität verfügbar zu sein, wenn es unabänderlich war, um sich später ungehindert seinen Wanderungen widmen zu können. §-#-§ Kapitel 10 - Entwicklungen "Irgendwas stimmt doch nicht!" Thierry stiefelte neben seinem bestem Freund her, beäugte dessen verträumte Miene argwöhnisch. Die wasserblauen Augen unter den weizenblonden Brauen klärten sich, Dominique zuckte verlegen mit den knochigen Schultern. "Na ja, ich war am Samstag mit Rosa unterwegs, weißt du?" Erläuterte er, die Wangen bemerkenswert eingefärbt. "Es war wirklich toll." Er beugte sich zu Thierry hinüber, flüsterte in die schwarzen Locken. "Als ich dann gehen wollte, da hat sie mich geküsst. So richtig!" "Oh." Kommentierte Thierry, seufzte innerlich. Das erklärte das metaphorische Schweben über dem Asphalt! Einige Meter legten sie schweigend zurück. Thierry entschied, dass er selbst seinem Freund auch eine knappe Zusammenfassung seines Wochenendes schuldete. "Ich war am Samstag mit meiner Mama auf dem Fest der Kulturen. Wir sind ziemlich nass geworden." Er warf einen Seitenblick auf Dominique, um zu erproben, ob der in verliebtem Gehirntod-Zustand überhaupt aufnahmefähig war. "Abends habe ich dann alles erzählt, von den Zähnen und so." Dominique, der mit jedem Meter näher an das Gelände der Europa etwas von seiner Euphorie verlor, denn es bestand ja durchaus die Möglichkeit, dass Rosa bloß "nett" zu ihm gewesen war, längst ihre spontane Geste bereute, zog die Augenbrauen zusammen, blieb stehen. "Moment mal, heißt das, du hast deiner Mama alles erzählt? Was hat sie gesagt?!" Betont lässig zuckte Thierry mit den schmalen Schultern. "Sie war natürlich überrascht. Aber so richtig übel hat sie es mir nicht genommen. Ich muss allerdings zum Arzt gehen, wegen meiner Allergie." Er zog eine bittere Grimasse und seufzte. "Sie macht noch heute einen Termin aus." "Uhoh!" Pflichtete Dominique in freundschaftlicher Verbundenheit bei. "Aber vielleicht guckt der nur auf deine Zunge, nicht in den Gaumen. Und sieht gar nichts. Könnte gutgehen." "Ja, das hoffe ich." Thierry straffte seine zierliche Gestalt. Andererseits würde er auftretenden Schwierigkeiten besser begegnen können, wenn er nicht ständig in der Gefahr stand, nach einem Anfall auf dem Gehsteig zu landen. Deshalb musste dieses Risiko eingegangen werden. "Wird eine spannende Woche." Fasste Dominique zusammen, schlüpfte mit Thierry durch das Schultor. Es war nicht nur die letzte an der Europa, sondern auch vor den Sommerferien und der Zeugnisvergabe. Sie waren beide noch jung genug, um an den verheißungsvollen Zauber des Sommers zu glauben. §-#-§ [Mein Kompliment. Der Thementag war durchaus geeignet, das Interesse zu wecken. Am Sujet. Für meine Person versichere ich, dass keine Absicht besteht, die Bekanntschaft aufzufrischen oder zu vertiefen. Friedliche Koexistenz ohne sich kreuzende Wege fürderhin.] Kay studierte die E-Mail, die von einer Wegwerf-Adresse an seinen privaten Briefkasten gesandt worden war. Emil Sandemann hatte ihn zur Kenntnis genommen, seine Anstrengungen sogar lobend quittiert und gleichzeitig abgelehnt, ihre Verbindung aufrechtzuerhalten. "Hmmm!" Schnurrte Kay im Bariton vor sich hin. Wenn dieser seltsame Mann ihn partout ablehnte, forderte ihn dieser Umstand schon heraus? Oder gab es andere, tiefgründigere Motive, es nicht bei einer Abfuhr zu belassen? Was GENAU zog ihn an? Eine geheimnisvolle Aura? (Die Emil Sandemann vermutlich mit gehässiger Genugtuung sofort zerstören und auf den banalen Boden der Tatsachen zurückführen konnte.) Die steife Abwehr und forsche Frostigkeit, die alles und alle fernhalten sollte? Oder das Paradoxon, dass ein Misanthrop so viele Geschichten verschlang, förmlich in einer Bibliothek lebte, über ein gutes Bildgedächtnis verfügte, obwohl all dies von und mit Menschen unmittelbar verbunden war? Möglicherweise auch nur einen leidenschaftlichen Geist, der wie er selbst seinem eigenen Weg folgte, seine ganz persönliche Melodie spielte? "Er macht mich neugierig." Stellte Kay erneut fest. Er wollte einfach wissen, wie Emil Sandemann tickte, die Person hinter den Masken und Fassaden, sturmfesten Wällen und Minenfeldern. §-#-§ "Unerhört!" Knurrte Emil Sandemann unterdessen vergrätzt. Wieso kapierte dieser Kerl nicht, dass er nicht wollte?! Gar nichts! Jeder andere Mensch mit halbwegs Verstand oder Manieren hätte sich nun zurückgezogen! Doch dieser verdrehte Schnulzen-Schleimer mit Liebesromaneinband-Maßen blieb notorisch ablehnungsresistent! Also nach Fehlschlag von Option A in Option B umsteigen? Emil Sandemann knirschte mit den Zähnen, ertappte sich dabei, schob sich ein Pfefferminzbonbon zwischen die mahlenden Kiefer, um ein Gelenk schädigendes Verhalten mit beißendem Geschmack zu kontern. Selbstdisziplin! Hätte ein banales Herumschmeicheln ohne Tiefgang noch eine nennenswerte Wirkung? Wäre er dann langweilig genug, um seinen lästigen Verehrer abzuschütteln? Wie lange währte die Aufmerksamkeitsspanne eines Irgendwie-"Promis"? Jedenfalls setzte die Antwort ihn unumwunden unter Zugzwang. Wenn er nicht wollte, dass dieser unsägliche Kay Nelson Jefferson seine heimische Fußmatte belagerte, musste er einen Treffpunkt vorschlagen, wo die schlichte Unmöglichkeit einer wie auch immer gearteten Beziehung diskutiert werden konnte. Mathematisch gesehen standen zwar alle Körper im Raum in einer Beziehung miteinander, sofern es sich um dieselbe Zeit und denselben Raum handelte, doch hätte Emil Sandemann die größtmögliche Distanz und sich nicht kreuzende Laufbahnen unmissverständlich vorgezogen. "Also, was nun?!" Schnauzte er sich selbst unzufrieden an. Man musste wohl einen Treffpunkt vorschlagen. Unsäglich! Dazu mit Schwierigkeiten verbunden, da Emil Sandemann nicht ausging, Menschenansammlungen aus Prinzip mied, keine besondere Ortskenntnis von "Locations" hatte. In einem Café herumlungern und nichts tun?! Das stand für ihn nicht zur Diskussion. Beim Essen reden war ohnehin nicht sonderlich glücklich und verhinderte im schlimmsten Fall einen schnellen Abgang. Es musste ein öffentlicher Ort sein (Zeugen), aber dergestalt, dass einem nicht jemand unglücklich über den Weg lief, den man kannte oder kennen musste (Zeugen!), vor allem, wenn es hässlich wurde. "Park." Seufzte Emil Sandemann ungnädig. Grünanlagen waren für sich gesehen ganz nett, mussten jedoch ständig mit Hunde-Ausführenden, Joggenden, ganzen Rudeln von Mutter-Kind-Gespannen und der Pestilenz der Neuzeit, den Radfahrenden, geteilt werden, die selbstredend alle ihre Anliegen für besonders wichtig und vorrangig hielten. Da sprang man entweder in Hecken (Hunde, Fahrräder, Kinderwagen) oder wich Zivilisationsmüll aus (Tretminen, Glasscherben, Kippen, Spritzbesteck). Wenigstens konnte es einem bei Tageslicht nicht zu oft passieren, dass eindeutige Geräusche hinter spärlichen Hecken auf Kopulationsversuche rückschließen ließen, was Emil Sandemann ebenso unappetitlich wie lächerlich fand. Wenn er nun eine frühe Uhrzeit vorschlug, waren die Mini-Terror-Verbreitenden mit ihren Rambo-Müttern und die Macho-Gehirn-Anarchisten-Rudel der angeblich zukünftigen Rentenzahlenden (haha!) aus dem Rennen! Blieben noch Köter, sportelnde Fliegenfressende und Drahtesel-Attackierende übrig. Andererseits verdarb ein früher Termin den kompletten Samstag, wenn er nicht von Erfolg gekrönt war. "Nun, der Tag ist ohnehin vermurkst!" Schnaubte Emil Sandemann kategorisch, denn es verstieß absolut gegen seine Wochenendroutine, sich irgendwo herumzutreiben, mit anderen gemein zu machen, wenn er doch zeitgleich viel besser zu Hause gemütlich in seinem eigenen Reich SEINEN Interessen nachgehen konnte! "Na schön!" Er ballte die Fäuste, funkelte finster den arglosen Bildschirm an. Wenn er ohnehin schlechter Laune sein würde, woran kein Zweifel bestand, würde er diesem aufdringlichen Schnösel gleich den richtigen Eindruck davon vermitteln, was es hieß, seine Kreise zu stören wegen so etwas Überflüssigem wie einer persönlichen Beziehung! §-#-§ "Das ist so ärgerlich!" Thierry hörte die Stimme seiner Mutter nur gedämpft durch den Hörer, denn in seinen Ohren herrschte die falsche Art von Druck, obwohl er sich vergeblich geschnäuzt hatte. Verdammte Gräserpollen! Die Enttäuschung seiner Mama gründete darauf, dass der Hausarzt einfach vorgezogenen Urlaub genommen hatte und sich nicht zwecks eiliger Konsultation im Lande befand. Selbstredend gab es eine Vertretung, doch die behagte seiner Mama nicht ("die Schnepfe kenne ich! Da gehst du nicht hin, auf keinen Fall!"). "Ich könnte auch zur Apotheke gehen." Bot Thierry an. Möglicherweise gab es ja etwas Rezeptfreies gegen seine Luftnot. Wenn die Feuchtigkeit in der Atmosphäre abnahm, weil die drückende Hitze trockener wurde, konnte er noch einmal glimpflich davonkommen. Keine optimale Lösung, aber die beste Alternative für den Moment. §-#-§ Was tat man, wenn man von einem Mädchen, das man ziemlich mochte, heftig geküsst worden war (sogar mit Zunge!), ein quasi historisches Ereignis, und die dann ganz ungerührt tat? Einem zur Begrüßung den Ellenbogen in die Seite rammte, total zerkochte Lasagne aus der Schulkantine löffelte und gut kalkuliert mit vollem Mund über die Solariums-Broiler aka Mitschülerinnen spottete? Dominique kümmerte sich nicht um die anderen Mädchen, die in sehr kurzen Hosen auf hohen Absätzen oder in Römersandalen auf und ab paradierten, über ihre Urlaubspläne diskutierten. Alle wirkten, als seien sie Werbe-Postillen für Jugendzeitschriften oder Schönheitsmittelchen entsprungen. Dank jahrelanger Gewöhnung an seine Einordnung als "Nicht-Existenz" konnte er ihre Gegenwart registrieren und damit abgehandelt sein lassen. Zugegeben, Cheyenne-Belle stellte einen Lapsus dar, aber das war einfach die Ausnahme von der Regel. Ihn kümmerte jetzt Rosa, die störrische, widerborstige, schwierige Person an seiner Seite, die ihn ständig in nervöses Rätselraten ausbrechen ließ. Was tat man jetzt? Was erwartete sie? Wie sollte er sich verhalten? Speziell in diesem Moment, wo er sich zu genau daran erinnerte, wie ihr eckiger Körper sich an seinem eigenen anfühlte, wie weich die langen, wirren Haare über seine Wange geglitten waren, welche Kraft sie eingesetzt hatte, um ihn festzuhalten! Wie ihre Küsse schmeckten! Hastig wandte er den Kopf ab, konzentrierte sich auf das Bild eines Butterflys in seiner Bauchdecke, eine der wenigen Erinnerungen an den schlimmsten Schub seiner Krankheit, die ihm noch immer grausige Frostschauer durch die Knochen jagte. Ausreichend, um die weichen Knie und Glutnester einer sehr physischen Begeisterung für das Mädchen an seiner Seite zu vertreiben. Sollte er jetzt lässig den nonchalanten Kumpel geben? Gab es da nicht irgendwelche Regeln?! Anders als Loriot bei seinem Einstand als Rentner glaubte Dominique sich zu erinnern, dass es "Dating"-Regeln gab. Bei den Amerikanern. Wenn es sich um ein "Date" handelte. Zumindest hatte er irgendwo mal so etwas gelesen. Hilfesuchend sah er sich nach Thierry um, der trotz seiner sonst so angenehmen Hautfarbe käsig wirkte, sich immer wieder mit einem altmodischen Taschentuch Stirn und Nacken abtupfte. Thierry könnte möglicherweise einen Rat erteilen, er lag stets richtig mit der Einschätzung seiner Mitmenschen. Nun, in den meisten Fällen. Seine Mutter kannte sich bestimmt mit Verabredungen und dem ganzen Zeug aus, was Thema in Frauenzeitschriften war, richtig? Unglücklicherweise konnte er dieses delikate Sujet nicht ansprechen, wenn das Objekt des Interesses genau zwischen ihnen saß und latschige Nudelblätter mit dem Zorn eines urzeitlichen Jägers erlegte. §-#-§ Thierry brachte das japanische Minzöl erneut zum Einsatz, hielt es sich unter die bebenden Nasenflügel, kämpfte um einige, tiefe Atemzüge. Daraufhin löste sich ein wenig der Druck, der seinen Schädel einklammerte wie eine Zwinge. Entweder lief einem die Nase wie ein Wasserfall, oder sie war absolut verstopft und bezog auch gleich noch die Ohren mit ein! Außerdem fühlte sich sein Kopf so schwer an, als hätte er ihn mit Dämmwolle gefüllt. So sehr er sich auch auf Dominiques Anliegen zu konzentrieren versuchte, es schien ihm, als müsse er durch Brei waten, um von einem sinnvollen Gedanken zum nächsten zu kommen. "Du könntest sie fragen." Offerierte er schließlich, denn nach seinen getrübten Sinnen wirkte Rosegunde nicht gerade so, als erwarte sie eine besondere Reaktion von seinem besten Freund. "Ein bisschen peinlich." Antwortete der ihm verlegen. "Ich bin zwar neu im Geschäft, aber das zählt vermutlich nicht." Diese Einschätzung konnte Thierry nicht kommentieren, er lutschte gerade an einem hartnäckig an seinem Gaumen klebenden Eukalyptusbonbon. Dominique seufzte auf, murmelte eingeschüchtert. "Ich hätte nie gedacht, dass das alles so kompliziert ist! Menschen sind wirklich komische Tiere." Wiederholte er einen Ausspruch seines misanthropischen Nachbarn. Neben ihm seufzte Thierry zustimmend. Wer wüsste besser als sie, WAS für komische Tiere es da draußen gab?! §-#-§ Dominique rollte neben ihm her, bis ihre Wege sich wie gewöhnlich trennten. Thierry bestand darauf, dass er auch allein in der Apotheke auf seinem Heimweg nach möglichen Medikamenten fragen konnte. Allerdings konnte er nicht bestreiten, dass er sich nicht gut fühlte. Sein Atem kam mühsam, ständig stand ihm Schweiß auf der Haut, er fühlte sich wie zerschlagen, ganz zu schweigen von den unerträglichen Kopfschmerzen. Nun, im nicht ganz günstigen Besitz eines Inhaliergerätes für die Hosentasche und einiger Kartuschen, die bei akuter Atemnot helfen sollten, schlich er heimwärts, wie ein Automat, schlurfend, denn ihm war elend. Er vermutete, dass er Fieber hatte, jedenfalls ziemlich erhitzt war. Innerlich. Das war nicht gut. Vielleicht half es, wenn er jetzt schon mal den Inhalator ausprobierte? Wenn das japanische Heilöl schon keine Wirkung mehr zeigte? Thierry kämpfte mit der Verpackung. War das etwa eine dieser vermaledeiten Kindersicherungen?! Immer wieder glitten seine Finger ab, sein Puls raste, er spürte das Herannahen einer Panikattacke. Er strengte sich stärker an, keuchte rasselnd, verspannte seine Schultern, um endlich den Sieg gegen den lästigen Feind erringen zu können. Wieso funktionierte das nicht?! Er blinzelte, bemerkte die berüchtigten schwarzen Punkte in seiner Sicht. Übelkeit schäumte in seinem Magen auf. »Ruhe! Ganz ruhig bleiben!« Versuchte er sich selbst zuzureden, aber gegen das Concerto furioso seiner Nerven kam er nicht an. "Thierry?" War das wirklich Selims besorgter Bariton? Oder hörte er sprichwörtlich schon Stimmen?! Eine kühl wirkende Hand legte sich auf seine klamme Stirn, er fühlte eine muskulöse Gestalt in seinem Rücken. "Himmel, du glühst ja! Du musst sofort aus der Sonne raus!" »Guter Vorschlag!« Pflichtete Thierrys Verstand zähneknirschend bei. »Wenn dieses blöde Dings aufgegangen wäre!« Als Selim ihn wie gewohnt unterhaken wollte, sackten Thierry einfach die Beine weg. "Hilfe..." Konnte er noch japsen, dann senkten sich auch seine Lider unerbittlich. §-#-§ Selim lud sich Thierry, der wenigstens noch unterbewusst reagierte, auf den Rücken. Er schaffte ihn Huckepack in die eigene Wohnung. Wenn Rutger recht hatte, dann musste eine etwas erhöhte Körpertemperatur bei einem Vampir schon auf hohes Fieber hinweisen! Angesichts des ohnehin strapazierten Gesundheitszustandes seines jüngeren Freundes sah er sich nun in erster Linie angehalten, dessen Körper abzukühlen, um einen Hitzschlag abzuwenden. Entgegen den Ermahnungen seiner Zwillingsschwester zählte er nicht erst langsam bis Zehn und dachte über die möglichen Konsequenzen seiner Handlungen nach, nein, er wickelte Thierry einfach aus seinen Kleidern, streifte sich selbst auch Bermudas und T-Shirt ab, klappte im Badezimmer den Sitz herunter und drehte die Brause auf. Vor die Tür stellte er einen Ventilator mit gemächlicher Umdrehung hin. Anschließend zog er Thierry von den Fliesen hoch, lupfte ihn geübt an und setzte sich den halb Bewusstlosen auf den Schoß. Eine angenehm laue Wolke aus sanften Tropfen hüllte sie ein. Der künstliche Windzug sorgte für eine langsame Abkühlung ohne Erkältungsgefahr. Selim kämmte nasse Locken aus einem angestrengt wirkenden Gesicht, wiegte Thierry tröstend. "Gleich wird es besser." Raunte er zärtlich. "Das haben wir gleich." Thierry hing ihm zwar wie der sprichwörtliche nasse Sack in den Armen, aber es schien ihm, als könne der schon leichter atmen, als hebe sich der schmächtige Brustkorb nicht mehr so hektisch wie ein Blasebalg. Ewigkeiten schienen so zu verstreichen, in einem hausgemachten Nieselregen, auf einem Klappsitz kauernd, die muskulösen Arme um den zerbrechlichen Körper gewunden, der mit sich selbst rang. Da legten sich die schmalen Hände auf seine Arme, gruben sich Fingernägel erprobend in seine Haut. "Thierry?" Wisperte Selim kehlig, küsste nasse Locken über dem rechten Ohr. Ein müdes Schnaufen antwortete ihm. "Brauchst du diese Medikamente aus der Tüte jetzt gleich?" Selim hatte sie erst mal zurück in den Plastikbeutel gestopft, als er Thierry abgefischt hatte. Nun lagen sie im Flur, außer Reichweite, doch mutmaßlich müsste er sich bei Bedarf dahin bemühen. "Hallo?" Horchte er leise nach, legte eine Hand unter Thierrys Kinn, bog behutsam dessen Kopf in den Nacken. Die Augen waren unverändert geschlossen. "Aktuell kein Anschluss unter dieser Nummer." Murmelte Selim sanft, studierte das entspannte Gesicht. Thierry war wirklich schön mit diesen dichten, langen Wimpern auf seinen sanft geröteten Wangen, wundervollen schwarzen Locken, leicht aufgeworfenen Lippen. JETZT war es angebracht, langsam zu zählen. Bis Zehn. Und dann ausgiebig nachzudenken. Nicht einen Augenblick die strenge Zucht zu verabschieden, auf die er sich mit sich selbst geeinigt hatte. Dieses hehere Vorhaben unterliefen jedoch die tiefschwarzen Augen, die ihn nun unfokussiert ansahen. Etwas sagen. Irgendwas. Hallo zum Beispiel. Selim hatte keine Erfahrung mit Hypnose. Es wäre ihm auch gleich gewesen, in diesem universellen Moment jenseits der Zeitrechnung. Huhn oder Ei, Initialzündung aus eigener oder fremder Entscheidung, wen kümmerte es?! Er beugte sich ein wenig tiefer, stützte Thierrys Kinn in seiner Hand, strich mit dem Daumen über die Lippen, genoss das leise Keuchen der noch betäubten Sinne. Und küsste Thierry. §-#-§ Es war, als träte man unvermutet aus einem stockfinsteren Raum mitten in eine gleißend helle Sonne, von einem Wimpernschlag zum nächsten, ohne Vorwarnung. Thierry wurde überrannt von Lust, Begierde, Verlangen, Leidenschaft, in den Strudel eines Rausches mitgerissen, bei dem er nicht wusste, ob es seine eigenen Gefühle oder die von Selim waren. Oder beides zugleich? Oder identisch und damit EIN gemeinsames Gefühl? Er ritt auf Selims muskulösen Schenkeln, die eigenen Beine weit gespreizt, um ihm möglichst nahe zu sein, strich mit aufgefächerten Fingern über den imposanten Torso und küsste den älteren Mann ausgehungert, unersättlich. Stöhnend feuerte er die Hand an, die ihre Erektionen unisono umschlossen hielt, geschickt massierte, während die andere Hand seine nassen Locken verdrehte, seinen Nacken dirigierte, ihm Distanz auferlegte, um an seinen prickelnden Brustwarzen zu saugen, sein geschmeidiges Rückgrat stützte. Er wollte es. So sehr. Unerträglich stark. Noch eine Stunde zuvor hätte er müde abgewinkt bei den angeblichen Verheißungen physischer Kontaktpflege intimer Natur, es für eine lächerliche Projektion unter Hormondoping gehalten. Nichts hatte ihn darauf vorbereitet, wie mächtig und intensiv diese Verbindung sein konnte, jenseits aller artig studierten chemischen, elektrischen und emotionalen Reaktionen auf dem Reißbrett. Sodass es ihm unmöglich war, die Stimme der Vernunft zu vernehmen. §-#-§ Selim hielt Thierry in seinen Armen, froh über den Klappsitz. Ganz schön lange her, dass er einen so heftigen Orgasmus gehabt hatte! Mit weichen Knien, einem heftigen Ziehen von Brustwarzen bis hin zu seinen sekundären Geschlechtsorganen. "Wow!" Murmelte er leise und schluckte heftig. Eigentlich ein Augenblick, sich über die Konsequenzen seiner Handlungen Gedanken zu machen, wenn da nicht der Bodennebel aus ungestillter Leidenschaft aufwallen würde! Auf seinen Beinen richtete sich Thierry auf, sah ihm ins Gesicht. Selim erinnerte sich vage daran, dass er von ihm in den Arm gebissen worden war, Thierry von seinem Blut genascht hatte. Sollte er sich vielleicht erklären? Rechtfertigen? Thierry schlang ihm die dünnen Arme um den Nacken, verdrehte sich gelenkig, küsste ihn herausfordernd. Er lernte sehr schnell und im Moment regierte sein besonderes Erbe ihn vollkommen. §-#-§ Ungezwungen in natürlicher Blöße bewegte sich Selim durch die Wohnung zu seinem Zimmer, hielt Thierry an der Hand, die sich einfach nicht lösen wollte. Sie konnten einander einfach nicht gehen lassen, die körperliche Verbindung unterbrechen! Allein der Versuch hieß sie unisono nach Luft schnappen. Es war nicht genug, Selim spürte das mit jeder Faser seines elektrisch aufgeladenen Nervenkostüms. Er hatte Erfahrung, kannte seinen eigenen Körper, vermutete recht zielsicher, was seinen bisherigen Mitspielerinnen gefiel. Selbst in größter Leidenschaft ging seine Empathie weit genug, sich zu vergewissern, dass alle Beteiligten zu ihrem Recht und Vergnügen kamen. Mit einem Geschlechtsgenossen hatte er noch nie geschlafen. Auch nicht mit einer Person, die so absolut seine Gedanken und Gefühle vereinnahmen konnte, ganz ohne Anstrengung oder Absicht. Thierry. Er lupfte die dünne Decke an, ließ ihn darunter schlüpfen, setzte sich auf die Bettkante, hielt die ihn fesselnde Hand in stählernem Griff, blickte in die tiefschwarzen Augen. "...!" Er konnte keine Worte, keinen Befehl des Widerstands finden, nicht eine Unze Selbstdisziplin auftreiben. Ja. Er wollte mit diesem außergewöhnlichen Menschen schlafen. So ungezügelt und ungehemmt wie nie zuvor. §-#-§ Üblicherweise hätte er vor Scham, Beklemmung, Unsicherheit und der einschüchternden Auslieferung an einen anderen niemals diesen Weg angetreten. Sich unter einem nackten Mann ausgestreckt, ihn eng auf sich gezogen, in jedem verschlingenden Kuss begehrlich aufgestöhnt, diese großen Hände herbeigesehnt, die ihm unerträgliche Lust bereiteten. Überwältigende körperliche Hitze, atemraubendes Gewicht, fremder Speichel, der auf seiner Haut kühlte. Nichts hatte ihn darauf vorbereitet. Nichts hatte er erprobt. Überspült von diesem Verlangen, besessen, wie im Rausch WOLLTE er sich mitreißen lassen! Kein Nachdenken, keine Zweifel, keine Hemmungen, keine Skrupel! Nur Tier sein! Nur der Begierde frönen! Keine Grenzen mehr, nicht moralische, nicht körperliche. Er wollte sich verlieren in dieser Lust, brennen wie tausend Sonnen zugleich! §-#-§ Selim sortierte seine Glieder, rieb sich mit beiden Händen energisch über das erhitzte Gesicht. Thierry lag an seiner Seite, verklebte ihre Haut miteinander durch Schweiß und Sekrete, war in süßem Delirium eingewoben, das dem zweiten, heftigen Orgasmus gefolgt war. Der Ältere setzte sich mühsam auf, sein Puls raste noch. Etwas ungelenk pellte er das Kondom ab, wischte die beschmierten Finger an Taschentüchern ab, die wie zerdrückte Schmetterlinge auf dem zerwühlten Laken lagen, rollte die prosaischen Schutzvorkehrungen zusammen, tupfte dann besorgt die schmalen Schenkel seines Geliebten ab. »Himmel sei Dank!« Stoßseufzte er erleichtert. Jetzt sollte ihn wohl Reue überkommen. Scham. Schuldgefühl. Was es nicht tat, ihm EBENFALLS Schuldgefühle verursachen sollte. Selim war sich darüber im Klaren, dass Thierry bis zu dieser denkwürdigen Episode keinerlei Erfahrungen mit körperlicher Liebe gehabt hatte, auch wenn der glücklicherweise schnell lernte und keine Scheu bewies. Allerdings war es aus ethischer Sicht ohne jeden Zweifel verwerflich, die gesundheitliche und seelische Notlage eines Minderjährigen auszunutzen, um mit ihm heftigen Sex zu haben. Wenigstens nach Selims Erfahrungen heftig genug. Er biss sich auf die Lippen, studierte das erschöpfte Gesicht auf seinem Kopfkissen. Hatte er Thierry Schaden zugefügt? Selbst wenn sie sich körperlich einvernehmlich viel näher gekommen waren? Es war durchaus sein Verlangen gewesen, sich diesen schönen Körper einzuverleiben, in ihn einzudringen, um in der Hitze zu vergehen, einer Dynamik zu frönen, die weder Anfang noch Ende kannte, weil sie miteinander verbunden waren. Einander unmittelbar spüren konnten. "Aber richtig war es nicht." Fällte er mit rauer Stimme ein hartes Urteil über sich selbst. §-#-§ Es war kein gewohntes Erwachen, eher ein sanftes, träges Hinübergleiten. Thierry blinzelte, streckte Arme und Beine leicht, zwinkerte mit Zehen und Fingern probehalber. Wie verblüffend! Wenn er in der letzten Zeit die Augen mühsam öffnete: verklebte Wimpern, verstopfte Nase, steifer Nacken und bleierne Schwere in seinem Körper, manchmal noch eingeschweißt in einen klammen Kokon nächtlicher Feuchtigkeit... Dann fühlte er sich sofort matt, erschöpft, leidgeprüft, hasste den Sommer, die Schwüle, seine eigene Anfälligkeit und den ständigen Kampf gegen die Antriebslosigkeit, die ihn wie Mehltau befiel. Nichts davon jetzt. Wohlig seufzend räkelte er sich unter der leichten Decke. Das seidige Gleiten des weichen Gewebes auf seiner nackten Haut holten ihm rasch die Erinnerungen ins Gedächtnis. Das hier war nicht sein Zimmer, nicht sein Bett. Eigentlich war er das nicht mal selbst, dieser ungenierte, wilde, zügellose Verrückte! "Wie geht's dir?" Selims warme Stimme begleitete eine vertraute, große Hand, die seine Wange einfing, ihn streichelte. "Hmm!" Schnurrte Thierry ratlos. Er SOLLTE sich nicht so unverschämt wohlfühlen! Sondern peinlich berührt sein, hastig nach seinen Kleidern haschen, Ausreden finden für sein Verhalten! "Ich hab Grießbrei gemacht." Selim verlangte Aufmerksamkeit, die Augen mussten geöffnet, die traurige Realität akzeptiert werden! Widerwillig richtete Thierry sich auf, hob langsam den Kopf an, blinzelte durch wirre Locken hindurch hoch in die hellen Bernsteinaugen. Selim, züchtig mit Bermudas bekleidet, balancierte eine Schüssel auf seinem Schoß, einen Löffel zur Hand. Er räusperte ungewohnt ernst. "Thierry, also..." "Was ist das?" Unterbrach der ihn heiser, studierte die farbigen Kleckse auf dem Grießbrei interessiert. Im von Jalousien gedämpften Licht des Zimmers war eine exakte Identifizierung nicht so leicht zu bewerkstelligen. "Oh, das? Eingekochte Schattenmorellen." Erläuterte Selim artig. "Ich weiß, es klingt ein wenig unpassend, aber es schmeckt wirklich toll! Ehrlich!" Thierry lächelte zögerlich, enthielt sich eines Kommentars. Es erfüllte ihn mit Unbehagen, wie Blitze von Nervosität und peinigender Selbstkontrolle durch die gewohnte, liebevolle Sorge in Selims Gefühlshaushalt geisterten. Es musste auch diese Irritation sein, die den Älteren veranlasste, einfach den Löffel in die Schüssel zu stippen, eine gemischte Ladung aufzunehmen und in Thierrys artig aufgesperrtem Mäulchen zu löschen. Sie stutzten beide über diese unausgesprochene Aktion, die eher einer Henne mit Küken zuzutrauen war, lächelten sich verschämt an. Selim wagte einen Neuanlauf, straffte seine muskulöse Gestalt. "Also, das war nicht richtig, was ich da gemacht habe. So alles auf einmal..." Seine imponierenden Schultern sackten herab. Er wusste nicht weiter, wollte kein Bedauern vorgeben, das er nicht verspürte, keine Entschuldigung äußern, die unzutreffend den Eindruck erweckte, ihn reue ihre Intimität. Ihm gegenüber studierte Thierry, um die unglückliche Emotionswolke auszukontern, die ungewohnt eingeschrumpfte Gestalt auf der Bettkante. Nun mischte sich sein Gedächtnis ein, erinnerte ihn an das Gefühl der großen Hände auf seiner Haut, den heißen Atem in seinem Nacken, auf seinem Rückgrat, die winzigen Schwielen an den Fingern, genau DIE Qualität, die ihn heftig erregte, wenn sie über seinen Torso strichen. Die Sicherheit, die er gespürt hatte, den Mangel an Zweifeln und Hemmungen, den Eindruck, mit seiner ganzen Gestalt, so makelbehaftet und keineswegs perfekt, doch stürmisch/hauchzart geliebt zu werden, akzeptiert zu sein. Er erinnerte sich auch seiner atemlosen Begierde, dem Vulkanausbruch in seiner Magengrube, als Selims beeindruckende Erektion neckend über seine mageren Pobacken gestreift war, seine Schenkelinnenseiten bestrich, ihn wild davon träumen ließ, was als nächstes glühend sein Innerstes erfüllen würde. Eine heftige Röte stieg mit dem Blut in seine Wangen. Er drehte hastig den Kopf weg und schnappte eilig nach Luft. "Bist du mir böse?" Selims kindlich anmutenden Worte offenbarten seine gelegentlich einschüchternde Ehrlichkeit. Sie trafen ganz unvermittelt mitten ins Herz. Thierry wandte sich ihm zu, hob einen Arm, berührte behutsam einen dezent dunklen Fleck auf der schönen, creme-toffee-farbenen Haut. Nicht der einzige Knutschfleck, den er verursacht hatte. "Bist du mir böse, weil ich dich beiße? Dein Blut trinke?" Hörte er sich selbst leise fragen, die Stimme klar, ohne Räuspern. "Bestimmt nicht!" Beteuerte Selim sofort. "Das ist doch nicht der Rede wert! Es tut ja nicht weh, und wenn es dir hilft..." Thierry nahm Selims freie Hand, verflocht ihre Finger miteinander, presste seinen Handteller auf den des Älteren. Es wirkte wie eine Energieentladung, bevor sich eine angenehme, trockene Wärme ausbreitete. Ein schiefes Grinsen tanzte zögernd über Selims blendendes Gebiss. "Weißt du, ich HABE ja versucht zu denken, aber..." Er zuckte verlegen mit den Schultern, blickte ihm unverwandt in die tiefschwarzen Augen. "Ich mag dich einfach viel zu sehr. Da sind keine Kapazitäten mehr übrig." Unwillkürlich entschlüpfte Thierry ein Kichern. Er hielt sich hastig die Hand vor den Mund, doch Selim reagierte keineswegs beleidigt, sondern zwinkerte aufmunternd und seufzte laut auf. "Ich bin eben ein Idiot." Das konnte Thierry nicht unwidersprochen lassen. "Du bist kein Idiot!" Er holte tief Luft, drückte ihre Hände, um sich Mut zu machen. "Ich mag dich auch. Sehr sogar. Auch, was wir getan haben." Weil es längst keine Rolle mehr spielte, ob er ihre Gefühle separieren konnte oder nicht. Es musste Schicksal sein, dass bei Selim seine besonderen Fähigkeiten kläglich versagten, er gleichzeitig aber den großzügigsten Menschen getroffen hatte, der zum Durchfüttern eines hoffnungslos untalentierten Vampirs bereit war! §-#-§ Thierry hielt beide Arme innig um Selims trainierte Mitte geschlungen, wurde beschwingt durch den lauen Sommerabend pedaliert. Es war ihm gleich, was Flanierende denken mochten. Er lauschte, die Wange angeschmiegt, den kräftigen Herzschlag, teilte das Gefühl von satter Glückseligkeit. Selim hatte ihn mit Grießbrei-Schattenmorellen-Kompott gefüttert, mit ihm geduscht, ihn höchstpersönlich eingeseift, schwindelig geküsst und ihn einfach festgehalten, unerschütterlich, zufrieden, unter dem sanften Schauer aus dem Brausekopf. Der müde Ventilator hatte das Abtrocknen an der Sommerluft kühlend unterstützt. Nun verlängerten sie ihre unerwartete, gemeinsame Zeit mit dieser Drahteselkavalierstour noch ein wenig, die sich nun verlangsamte, als Selim geschickt in die das enge Tor einbog, vor dem Hauseingang anhielt. "Soll ich noch mit nach oben kommen? Deine Mama beruhigen?" Bot er lächelnd an. Immerhin wusste er um Thierrys Offenbarungseid und hielt es auch für eine Frage der Ehre, sich als würdiger Bewerber um die Gunst des einzigen Sohnes vorzustellen. Wenngleich auch nicht sofort in allen Umständen und Details! "Willst du?" Thierry kletterte vom Gepäckträger, seinen lästigen Rucksack auf den schmalen Schultern, eine Hand unwillkürlich auf Selims Arm, als könne er ihre physische Verbindung einfach nicht abreißen lassen. "Natürlich." Selim zwinkerte in der Dämmerung. "Ich schließe gerade noch das Rad an, dann können wir!" Widerwillig wich Thierry ein wenig zurück, um nicht hinderlich den Weg zu blockieren, fischte seine Schlüssel heraus und wandte sich nach Selim um, die halb aufgestoßene Tür mit seinem Körpergewicht balancierend. Selim trat zu ihm, nicht jedoch hautnah an ihm vorbei ins Treppenhaus, sondern nutzte spontan die Gelegenheit, sich herunterzubeugen, Thierrys dezent schmollende Lippen zärtlich zu versöhnen. "Gehen wir" Raunte er schließlich sanft in die schwarzen Locken, fädelte seine Finger zwischen Thierrys. Graf Zahl und Herr Ratio hatten Sendepause! §-#-§ Kapitel 11 - Ein Rosenball und Flirten für Zyniker "Was ist denn mit dem?!" Rosegunde rammte Dominique gewohnt vertraulich ihren spitzen Ellenbogen in die Seite, stibitzte ungeniert eine gedämpfte Möhre aus seiner Brotdose. Dominique wagte einen zögerlichen Blick an ihr vorbei auf Thierry, der selbstvergessen ein BUTTERBROT auf den Beinen jonglierte und ziellos in die Gegend träumte. "Ich weiß nicht recht." Murmelte er leise. "Als wir uns gestern vor der Apotheke getrennt haben, war er noch normal." "He!" Noch ein Ellenbogen-Einschlag. "Krieg raus, was sie ihm verpasst haben, ja? So was will ich auch!" §-#-§ Thierry fischte ungeübt das wenig genutzte Mobiltelefon aus seinem Rucksack, weckte es aus dem Dämmerschlaf und inspizierte die Nachrichtenlage. Er war sich des durchaus verblüfften Blicks seines besten Freundes bewusst. [Hi Thierry! Geht's dir gut? Habe heute BGM, lass es aber sausen, wenn du Geleit nach Hause brauchst! HDL, xxx Selim :-)] "Alles in Ordnung?" Erkundigte sich nun auch Dominique dezent misstrauisch. Er zweifelte zwar daran, dass der mickrige Inhalator Thierry derartig verwandelt haben könnte, war aber geneigt, plausiblen Erklärungen sein Ohr zu schenken. "Absolut." Thierry schmunzelte vor sich hin, sah dann zu ihm auf. "Mir geht's gut. Du hast jetzt noch mal Sport, oder? Generalprobe?" Dominique seufzte verhalten. "Wahrscheinlich schwänzen die meisten ohnehin. Aber Rosa ist unerbittlich. Ich will Herrn Ruedi auch nicht hängen lassen." Selbst wenn das langsames Gesottenwerden in einer überhitzten und schweißgenährten Flachdachhalle bedeutete. "Sehr tapfer!" Lobte Thierry grinsend, klopfte seinem besten Freund aufmunternd die Schulter. "Du wirst sehen, Durchhaltevermögen stärkt nicht nur den Charakter, sondern erhöht deine Chancen bei dem Stacheltier ungemein!" "Aha." Grummelte Dominique, konnte sich aber nicht allzu sehr echauffieren über die Neckerei, denn er hatte schließlich selbst erwähnt, dass das Stacheltier ihm zumindest am vergangenen Samstag recht deutlich ihr Interesse bekundet hatte. So straffte er lediglich energisch die Schultern, schnaubte schnippisch und paradierte zur Stätte der Qual, während Thierry sich eine bequeme Hauswand suchte, um dort abgestützt die ungewohnte Tipperei einer elektronischen Rückantwort vorzunehmen. §-#-§ Freitag. Countdown. Oder Fegefeuer der zivilisierten Gesellschaft. Lediglich drei Stunden mühsamster Bändigung exponentiell anwachsender Hormonschübe, nur gebremst von der knappen Aushändigung eines Zellstoffblattes. Die Klingel ertönte. Die unteren Stufen stürmten wie Barbarenherden in Hollywood-Schinken brüllend in die Flure, blockierten sich gegenseitig in der Drängelei, hysterisch vor Glückseligkeit, die keine andere Ursache als sechs Wochen Sommerferien hatte. Thierry und Dominique ließen sich unabgesprochen mehr Zeit, die Zensurzusammenfassung ordentlich verstaut (als Kopiervorlage für Bewerbungen potentiell wichtig!), tröpfelten der Sturzflut gemächlich hinterher. Rosegunde erwartete sie schon am Schultor, mit wüst geraufter Mähne, in einen ausgeleierten Jogginganzug gekleidet. "Niq! Zeig mal deine Uhr!" Schon wurde sein bandagiertes Handgelenk okkupiert, hochgerissen, mit dem Alleskönner Telefon/Kamera/Internet/ Spielkonsole/ Stromfresser abgeglichen. "Na schön, dann komm auf alle Fälle rechtzeitig, ja? Wenn dir das vorhandene Futter nicht gefällt, iss vorher was zu Hause, klar?!" Thierry zog die schwarzen Augenbrauen zusammen, denn ihm gefiel Rosegundes selbstherrliches Herumkommandieren gar nicht. Dominique jedoch nickte artig und salutierte. "Jawoll! Eintreffen sauber und satt, wie besprochen!" Sofort befand er sich in einem würgenden Griff, die blau-violetten Augen unter dem wüsten Putz funkelten. "Lass mich bloß nicht hängen, Kamerad. Ich will nicht drastisch werden müssen." "Kein Gedanke!" Keuchte Dominique, bemühte sich angestrengt, nicht herauszulachen. Wer hätte gedacht, dass Rosa, stacheliger Mini-Rambo, so nervös sein konnte? Sie schnaubte bloß, nickte Thierry knapp im Abgang zu und brummte. "T-Mann, man sieht sich. Ciao." Solcherart beiläufig verabschiedet fühlte der sich veranlasst, vernehmlich zu antworten. "Auch dir wundervolle Ferien, ROSEGUNDE!" Dominique prustete unterdrückt neben ihm. "Sei nicht beleidigt, ja? Das macht die Anspannung. Vermutlich auch diese komische Tiefkühl-Brause, die sie sich morgens aufgießt." "Ist ja widerlich!" Kommentierte Thierry kühl, bevor er ihren gemeinsamen Heimweg in Angriff nahm. "Wirst du sie heute zum Ball abholen?" "So ähnlich." Sein Freund druckste verlegen vor sich hin. "Na ja, ihr ein bisschen zur Hand gehen." "Tatsächlich?" Thierry blieb stehen, starrte auf die schlaksige Gestalt an seiner Seite, vollkommen verblüfft, denn er hatte da Bildblitzer aufgefangen, die ihm die Sprache vor Überraschung raubten. "Ist was?" Zögerlich wandte Dominique sich zu ihm um, justierte verlegen seinen australischen Outback-Hut. "Nichts weiter." Thierry schloss wieder zu ihm auf. Niq hatte noch mehr Mut, als er ihm zugetraut hatte!! §-#-§ [Samstag, 9:00 Uhr, Friedrich-Park, Altes Schachspielfeld. Das wird an meiner Ablehnung nichts ändern.] {Ich werde kommen! :-) Ich bin immer noch der festen Überzeugung, dass wir uns sehr gut verstehen. Ich mag dich jetzt schon sehr.} [Ich bitte mir Pünktlichkeit und Distanz aus. Ihre so genannte feste Überzeugung mangelt jeder belastbaren Basis. Sie ist irrelevant.] {Wecker ist gestellt ;-) Da du mir mangelndes Urteilsvermögen aufgrund fehlender Kenntnis vorwirfst: kläre mich auf! Ich will alles von dir wissen!} [Abgelehnt. Definitiv. Im Übrigen ist Wissen nicht erforderlich, wenn ein offenkundiger Einigungsmangel vorliegt. BGB. Schlagen Sie's mal nach.] {Ich will ja gar nicht handeln oder Verträge mit dir abschließen! Zumindest noch nicht ;-) Außerdem sind die Voraussetzungen doch korrekt: übereinstimmende Willenserklärungen! Ich will dich treffen, um dich besser kennenzulernen. Du willst mich treffen, um mich mit allen schaurigen Details davon zu überzeugen, dass, wenn ich dich besser kennenlerne, ich dich nicht mögen werde. Was ich aber nicht glaube. Richtig?} [Es steht überhaupt nicht zur Debatte, ob Sie mich mögen oder nicht! Ihre pestilente Aufmerksamkeit bestärkt mich in MEINER Überzeugung, dass Sie ein Paradebeispiel für die Unsäglichkeit des menschlichen Naturells sind!] {Dann ist mir zumindest deine Aufmerksamkeit sicher! Ich stehe an der Spitze deiner Liste, oder? ;-) Fairerweise sollte ich dich darüber in Kenntnis setzen, dass ich Menschen, die ich mag, gern treffe und mit ihnen Zeit verbringe. Carpe diem!} [Warum suchen Sie sich dann nicht ein williges Opfer aus Ihrem unerschöpflichen Verehrer- und Fan-Kreis?! Oder schlafen länger, essen einen Apfel, terrorisieren Ihr Kollegium?! Dito carpe diem!] {Ich habe eben auch meine Prioritäten! Du bist mein Favorit. Wir können gern gemeinsam schlafen, Äpfel essen und die Menschheit mit Liebe terrorisieren :-) Ich werde "Whole lotta love" für dich spielen.} [Unterstehen Sie sich! Außerdem höre ich keine Ihrer nervenzersetzenden Lärm-Formate! Es drängt sich der Eindruck auf, dass Sie unter Wahnvorstellungen leiden, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Vermutlich eine Nebenwirkung von Liebes-Gewäsch-Gesangskatastrophen.] {He! Du hast dich ja auch ein wenig über mich schlau gemacht! :-) Aber von mir gibt's noch viel mehr zu erfahren, exklusiv für dich. Ich liebe es jetzt schon, mich mit dir zu unterhalten! "Let's stay together" ist heute nur für dich!} [Blanker Unsinn! Ein "Zusammen" gibt es überhaupt nicht, solches ist meinerseits auch unbedingt zu vermeiden, da Ihre wahnhafte Phantasiewelt schon virulente Ausmaße annimmt! Diese Unterhaltung ist jetzt beendet.] {Ich freue mich schon auf unser Rendezvous! Heute gibt's "Night time is the right time" für dich ;-)} [Es ist KEIN Rendezvous! Auch kein Date, keine Verabredung, keine Tete-a-tete! Sie dürfen es als Duell nicht übereinstimmender Überzeugungen betrachten, das keine Wiederholung finden wird!] {Endlich gibst du zu, dass Leidenschaft im Spiel ist! ;-) Zwischen uns geht eine Menge, wie man sieht! Auf der richtigen Wellenlänge sind wir auch. Wo warst du bloß vorher? :-xxxxx} [Sie leiden unter einer permanenten Empfangsstörung, will mir scheinen! Ich werde am Samstag genau dahin verschwinden, wo ich vorher war: weg von Ihrem schwer gestörten Schirm!] {Keine Chance, Cinderella ;-) Ich werde dich suchen, finden und unsere Liebe neu anfachen! Wozu ist das Leben sonst gut, wenn nicht, um es mit dir zu verbringen?} [Das ist ja WIDERWÄRTIG! Sie sind ein Affront gegen jedes Quäntchen Würde und Selbstwertgefühl. Außerdem sollten Sie als Profi wirklich umsichtiger lügen, wenn Sie doch längst an Ihre Arbeit vergeben sind.] {Autsch! Du kennst mich ja schon ziemlich gut, Emil. Ich arbeite tatsächlich eine Menge, auch unregelmäßig und zeitintensiv. Das ist jedoch ein gutes Argument für dich, mit mir zusammen zu sein! Die 15 Minuten Konversation am Tag laut Statistik schaffen wir und gehen uns ansonsten nicht auf den Geist! Ich würde dich jedenfalls sofort heiraten!} [Haben Sie das mal hochgerechnet, Sie Genius-Dialektiker?! Bei der gegenwärtigen Lebenserwartung übertreffen wir damit sogar "lebenslänglich ohne Bewährung"! Rein wirtschaftlich wäre da Totschlag aus Selbsterhaltung die günstigere Alternative!] {Würdest du echt deine Comic-Leidenschaft opfern, um mich abzumurksen? 8-0 Wahnsinn! "I was made for loving you", das hast du dir verdient!} [Für diesen Nonsens habe ich weder Zeit noch Nerven. Spielen Sie ein Requiem nach Wahl.] {Dann soll's "Requiem for a dream" sein. Heavy Metal-Version. Ich freue mich auf dich. Live und nicht im Knast ;-)} §-#-§ Dominique machte sich noch zeitiger auf den Weg, um für Notfälle ein Zeitpuffer zur Verfügung zu haben. Mit Kleiderbügel und einem zu diesem Zweck mittig perforierten Müllsack transportierte er über die Schulter seinen hellen Sommeranzug mit dem dünnen Hemd. Das Kopftuch, gebügelt und frisch gewaschen, lag obenauf in seinem Rucksack, darunter die aufgebürsteten, hellen Segeltuchturnschuhe. Nun war er auch ein bisschen nervös, denn es war nicht nur sein erster Ball, sondern auch die erste "richtige" Verabredung mit einem Mädchen. Und es konnte spät werden! Ein bisschen Trübsal mischte sich auch in seine Vorfreude, denn er verspürte ein gewisses Schuldgefühl. Er hatte jemanden gefunden, der mit ihm den Abend vergnüglich verbringen wollte (zugegeben, auch, um die anderen zu provozieren), während seine Mutter allein zu Hause irgendeinen entsetzlich langweiligen Romanzenschnulz im Fernsehen ansah, keinen Verehrer hatte. Seinetwegen. Dennoch hatte sie ihm viel Spaß gewünscht, ihn stolz umarmt, weil er bestimmt richtig "schmuck" aussehen werde! Es war zwar nicht das erste Mal, dass ihn seine Existenz als Hindernis im Liebesglück seiner Mutter plagte. Doch zum ersten Mal ging es ihm selbst besser als ihr. Ganz gleich, wie blöd, überflüssig, lächerlich oder unnütz diese Gefühle sich ausnahmen: sie waren präsent. §-#-§ "Na schön, sagst du mir jetzt, was los ist, oder muss ich erst deine Nieren auf kleiner Flamme grillen?" Rosegunde, in eine hübsche Unterwäsche-Kombination gekleidet und bereits ganzkörperlich mit wundervollen Blüten geziert, baute sich vor Dominique auf, der seinerseits gerade das Badezimmer verlassen hatte, in Gala geworfen. "Wie bitte?" Entgeistert blickte er in die blau-violetten Augen, die ihn unverwandt ins Visier nahmen. "Spiel nicht den Trottel!" Seine Gastgeberin klemmte in gewohnt ungehemmter Aggression sogleich seine Nasenspitze ein. "Du guckst schon die ganze Zeit wie ein begossener Pudel!" "...oh." Hastig bemühte Dominique sich um ein Lächeln. "Verzeihung!" "Das ist noch schlimmer!" Kommentierte Rosegunde gnadenlos. "So ne Fratze entwertet sogar unsere Ballkarten! Los, komm mit!" Energisch an der Hand genommen wurde Dominique in das Schlafzimmer gezerrt. Rosegunde plumpste auf ihr Bett, neben sich Bürste und diverse Artikel zur Frisurpflege. "Da!" Sie klopfte auf den wirren Haufen. "Mach dich nützlich! Gleichzeitig erzählst du mir, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist!" "Bevor du sie mir raus reißt." Ergänzte Dominique höflich, nahm aber Aufstellung, begann, die schwarzen Haare zu kämmen. "Du kannst sie mit den Klammern hochstecken." Wurde er instruiert. "Ramm mir bloß nicht zu viele Nadeln ins Hirn, ja?" "Ich werde mich vorsehen." Konzentriert machte er sich ans Werk. Darüber vergaß er natürlich die strenge Anweisung, Auskunft zu erteilen, auch über die Aufforderung, ihr die Lippen nochmal nachzuziehen. "Das mache ich, aber wieso...?" Rosegunde hatte ihre eigene Taktik, Lampenfieber zu bekämpfen: sie küsste Dominique und überprüfte, ob sich dessen Lernfortschritte seit Samstag nicht verschlechtert hatten. §-#-§ Dominique half Rosegunde aufmerksam beim Aussteigen aus dem Taxi. Sie hatte darauf bestanden, es auch bezahlt und wollte wie gewöhnlich keines seiner höflich vorgebrachten Argumente gelten lassen. Bei ihm eingehängt schwenkte sie die Eintrittskarten, stolz und aufrecht, jeder Zoll eine Königin. Natürlich staunten Publikum und andere zahlende Gäste über ihr Erscheinungsbild. Sie war Romantik und Rock'n'Roll, adrett, schlank und Fashion-Punk zugleich. Sie fühlte sich, ein wenig beschämt über diese vermeintlich anbiedernde Emotion, schön. Und perfekt. Abgesehen von der Anreise hatten sie nicht viele Worte gewechselt. Voller nervöser Erwartung hätte sich die Konversation nur verheddert, das spürten sie beide. Rechts und links der Tanzfläche gab es reservierte Tische, im Foyer auch die berühmten Stehtische für die Flüchtenden, gleich in Reichweite der zweiten Bar. An ihrem Tisch saßen augenscheinlich stolze Großeltern, die zwar höflich die Vorstellung erwiderten, immerhin teilte man diese Plätze miteinander, aber Rosegundes Erscheinungsbild, so exotisch-auffällig und Dominiques Kopftuch über dem rasierten Schädel, das entsprach wohl einem absichtlichen Stilbruch von Kunstbanausen. "Ich hab Hühneraugenpflaster mit." Raunte Rosegunde Dominique zu, während sie ungeduldig auf die Eröffnung warteten. "Du kannst also nicht auskneifen, egal, wie oft ich dich erwische!" Dominique lächelte bloß und drückte ihre schlanke, kräftige Hand. Er spürte die Kälte der Anspannung, einen dezent feuchten Film auf der Haut. Nach all dem "Augen zu und durch!", seinen Schuldgefühlen und Selbstzweifeln erfüllte ihn in der Ausweglosigkeit unerwartet eine große Ruhe. Die Würfel waren gefallen. Jetzt konnte er auch einfach tun, was ihm gefiel! §-#-§ Ganz einfach war es nicht. Thierry rang mit einem ständigen Kribbeln unter der Haut. Ein Warnsignal, Rutgers Anwesenheit geschuldet. Der warf zwar hin und wieder kryptische Blicke in seine Richtung, verhielt sich sonst aber wohlerzogen und höflich. Allzu viel abrücken konnten sie auch nicht, der Platz auf der Picknickdecke war schließlich beschränkt, das Außengelände des örtlichen Wasserversorgers sehr gut gefüllt. Eine vertraute, große Hand glitt sanft über seine eigene aufgestützte. Selim konnte wohl auch eine körperliche Separation nicht ertragen! Thierry wandte den Kopf und lächelte ihm zu. Der Ältere zwinkerte verschwörerisch, hochgestimmt und munter. Dabei hatten die beiden älteren Männer durchaus eine Energieleistung erbracht, nämlich nicht nur die eigene Person bis hierher per Drahtesel befördert, sondern auch noch die jeweilige Liebeslast auf dem Gepäckträger, plus Picknickdecke, Malerfolie und Nahrungsmittelversorgung für eine Kompanie. Selina hatte bereits im Vorfeld die Eintrittskarten für die Eröffnungsnacht des Kultursommers mit "OpenAir"-Kino an ungewöhnlichen Orten erstanden, wie immer vier Stück, wobei sie es ihrem Bruder überließ, seine Begleitung zu wählen. Dass nun Thierry auf dem Sozius präsidierte, erstaunte sie keineswegs. Thierry selbst hegte keinen Zweifel daran, dass Selim die veränderte Qualität ihrer Beziehung unverzüglich seiner geliebten Zwillingsschwester mitgeteilt hatte (obwohl das vermutlich nicht mal nötig gewesen war). Ein bisschen unbehaglich fühlte er sich schon, doch Selina verhielt sich ihm gegenüber so aufmerksam-freundlich wie bei ihrem ersten Zusammentreffen. Lediglich Rutger..., aber das konnte wiederum daran liegen, dass sie nach Bauplan Antagonisten sein mussten, ganz ungefragt. Nun saßen sie hier, blickten auf eine von Bäumen schön dunkel beschattete Projektionsfläche und warteten auf den Beginn des Films, "Der Frosch mit der Maske", Nummer 1 in einer Reihe von Edgar Wallace-Romanverfilmungen, ein bisschen gruselig, ein bisschen albern, schwarz-weiß und für alle Neugierigen ab 12 Jahren zugelassen. Hier, unter den Bäumen, das alte Wasserwerk mit seinem hübschen Backsteinbau gleich in Reichweite, gewann selbst ein so betagter Film eine besondere Note. Thierry veränderte seinen Schwerpunkt, schob unauffällig seine Finger in Selims Hand. Er war viel zu froh, hier zu sein, mit ihm zusammen, als dass er sich an irgendetwas stören wollte. Von den perfekten Augenblicken im Leben gab es ohnehin zu wenige! §-#-§ "Wir laufen." Entschied Rosegunde kategorisch, zog Dominique einfach hinter sich her. Der hatte sich die Anzugjacke schon über den Arm gehängt und nahm jede Schicksalswendung als ein unerwartetes Sahnehäubchen hin. Die Rosa, die ihm heute Abend begegnet war, unterschied sich von ihrem sonstigen Auftreten wie Tag und Nacht. Zunächst hatten sie noch ein wenig steif bei den Standards artig ihre Kreise gezogen, doch mit wechselnder Musik, fetzigen Rhythmen, gelösterer Stimmung (bei einigen anderen auch gestiegenem Alkoholpegel) verwandelte sie sich. Nicht etwa die hässliches Entlein-schöner Schwan oder Muckelraupe zu Super-Schmetterling-Variante, nein, schön war sie schon vorher gewesen, wenn auch vielleicht auf eine sehr spezielle Weise. Hier jedoch konnte man erleben, was sich hinter Trotz, Stacheln, Aggression und diversen Abwehrwällen tatsächlich versteckte: ein lebenslustiger, temperamentvoller Geist voller Anmut und Humor. Boogie Woogie oder Twist, noch nie probiert? Kein Problem, solange die Nähte alles hielten! Abschätzige oder neidische Blicke? Wen kümmert's, wenn man so viel Spaß haben kann? Dominique registrierte durchaus, dass sich im Laufe des Abends einige Interessenten fanden, die gern mit seiner Rosa das Tanzbein geschwungen hätten, nun, da sie wirklich etwas Besonderes in ihren Augen darstellte. Rosegunde jedoch lächelte befreit und nahm nur SEINE Hand, für jeden Tanz! Ihr Blick ruhte auf seinem Gesicht, auch wenn er funkelte, jubilierte und das Leben feierte. »Sie ist wundervoll.« Dachte er andächtig und ein wenig eingeschüchtert von seinem Glück. Von ihr auserwählt zu sein, das konnte man sich selbst schon ein wenig anrechnen. Ein bisschen zumindest. Warum sie nun aber darauf bestand, zu Fuß den Heimweg zu wählen (das trotz der engen Schuhe!), erschloss sich ihm nicht ganz. Die Euphorie jedenfalls baute sich noch nicht so leicht ab, an schnelles Einschlafen war in dieser Nacht nicht zu denken. Er ließ sich führen, erhob keine Einwände, genoss die laue Wärme und die ertanzte Geschmeidigkeit all seiner Glieder. Ein bisschen zwickte das Zwerchfell noch, weil sie ein paar Mal sehr ausdauernd gelacht hatten, aufgedreht und von lästigen Banden strenger Manieren befreit. Beinahe hysterisch, doch dazu waren sie beide dann doch etwas zu prosaische Geister! Ein gemeinschaftliches Schweigen verband sie, hin und wieder ein verschmitztes, verschwörerisches Lächeln. Es gab ein offizielles Ballphoto. Wahrscheinlich konnten schon jetzt all die Schandmäuler sehen, wie das "Fleckerl" sich prächtig amüsiert hatte. Ganz ohne Blutbad a la Carrie! Sie bogen in die wie ausgestorben wirkende Seitenstraße ein, in der Rosegunde wohnte. Vermutlich waren schon einige aus der Nachbarschaft in die Ferien aufgebrochen, denn manches Haus wirkte trutzig verrammelt wie eine mittelalterliche Burg. Rosegunde schloss die Tür auf, ließ Dominique eintreten, der schon das Badezimmer ansteuern wollte, um sich darin wieder in sein profanes Alltagsselbst zu verwandeln und dann artig den Heimweg anzutreten. "Falscher Weg." Knurrte sie leise, dirigierte ihn im Halbdunkel der Altbauwohnung in ihr Schlafzimmer. Nur eine LED-Kerze nahm ihre Aufgabe wahr, als sie am Bewegungsmelder vorbeiliefen. Darauf konzentriert, in der noch relativ unvertrauten Umgebung nicht ins Stolpern zu geraten, konnte Dominique keinen Einwand erheben. Seine Anzugjacke wurde jedenfalls schon ungnädig dem Fußboden anvertraut. Rosegunde erstickte jeden Protest mit fordernden Küssen und einer engen Umarmung. Ihrem Gast wurden bald Hemd und Hose beängstigend eng. An seinem Ohr wisperte eine raue Stimme tödlich entschlossen. "Hier kommst du nicht lebend raus." §-#-§ »Oh oh« »Oh oh« »Oh oh« Keine Litanei, jedoch der fortwährende Kommentar in Dominiques Hinterkopf, während der Rest seiner Selbst zwischen heftiger Erregung und galoppierender Panik schwankte. DAMIT hatte er wirklich nicht gerechnet! Aber er mochte sie. Sehr. Mehr als die angeschwärmten Cheyenne-Belles seiner traurigen Vergangenheit. Unzweifelhaft, anders als sein hasenfüßiges Gewissen und sein nur rudimentär ausgeprägtes Selbstwertgefühl, war sein Körper bereit, seinen Mann zu stehen, auch wenn sich der gesamte Rest in der Horizontalen befand, halb entkleidet. Rosa dominierte wie immer, aggressiv, Flucht nach vorne, das Kleid achtlos abgestreift, die Haare vollkommen verwirrt, fest entschlossen, nach Lehrbuch zu agieren. Wenn sie Angst hatte, was Dominique nicht ausschloss, auch wenn er in der Dämmerung der einsamen Kerze ihr Mienenspiel nicht genau erkennen konnte, dann gab sie sich schließlich immer besonders forsch! Außerdem war diese Aktion im Vorfeld akribisch vorbereitet: Kondome, Gleitmitteltube, Kosmetiktücher. Er stöhnte erschrocken auf, als Finger zupackten, mit dem Präservativ und dem Objekt der Begierde rangen. "Ich kann...!" Aber seine Einmischung war nicht gefragt! Selbst war die Frau, das geringste Zögern hätte all den Mut pulverisiert, der seine Gastgeberin befeuerte. Dominique erkannte, selbst als Novize, dass Rosas Strategie, sich auf ihn niederzulassen, auch mit Schmiermittel und Schmerztoleranz auf eine Katastrophe zusteuerte. Entschlossen umklammerte er die knochigen Hüften, rammte die Ellenbogen in die Matratze unter sich. "Nnneinn!" Protestierte Rosegunde durch knirschende Zähne, denn sie hatte einen Plan ausgearbeitet, sich anhand diverser Lektüre (hauptsächlich optischer Einspielungen) vorbereitet, war entschlossen, diese Premiere, die ohnehin nicht sonderlich angenehm verlaufen würde, mit DIESEM Gast über die Bühne zu bringen. Weil Niq eben kein eingebildeter, chauvinistischer, gefühlsblinder Vollidiot war! Zumindest bis eben. "...zu schnell..." Ächzte es angestrengt unter ihr. Ihre Beine zitterten schon in der wenig komfortablen Haltung, eine Hand um die erstaunlich heiße (und glitschig eingegelte) Erektion gewunden, während die andere noch mühsam auf der Matratze die Balance wahrte, "...langsamer... bitte..." Ein frustriertes Keuchen entfloh ihrer Kehle, klang beinahe wie ein Schluchzer, aber zum Schimpfen fehlte ihr der Atem. Jetzt versuchte dieser Dussel auch noch, sich ihr entgegen zu beugen!! Tatsächlich zielte Dominique darauf ab, Rosegunde aus dem fragilen Gleichgewicht zu bringen, sie aufzufangen und für eine Entspannung (relativ jedenfalls) zu sorgen, auch wenn er Gefahr lief, sein bestes Stück zu lädieren. Möglicherweise funktionierten aber die uralten Reflexe auch und sie fing sich mit beiden Händen ab, wenn sie auf ihn runter sank? §-#-§ Protest würde kommen, wenn nur ein wenig Atem zur Verfügung stand. Dominique hatte wie alle seine Altersgenossen die einschlägigen Vorbereitungen auf die technischen Aspekte dieses Ur-Triebes abgesessen. Mechanik, check! Zudem noch eindringliche Ermahnungen hinsichtlich ungeplanter Generationszuwächse (zweifelhafte Karrieren in Spartensendungen des Unterschichtenfernsehens), der unappetitlichen Krankheiten, die man sich einfangen und weiterreichen konnte, das Abschießen einiger Mythen und Legenden. Auf die Realität mit all ihren Tücken (trotz Mechanikkenntnissen) bereiteten diese Lektionen nicht vor. Dafür prägten ihn aber die Horrorerzählungen der Selbsthilfegruppe, denn sehr empfindliche, entzündete Haut, größtes Sinnesorgan des Menschen, spielten hier auch tragende Rollen. Die schiere Unerträglichkeit, Verursacher von Schmerzen bis zum Erbrechen, blutigen Abschürfungen und seelischer Pein zu werden, DAS kam nicht nur für ihn nicht in Frage, sondern reduzierte die Gefahr eines einseitigen Vergnügens erheblich. Ja, er war erregt (wer wäre das nicht?), aber nein, und wenn Herkuleskräfte requiriert werden müssten, er würde nicht zulassen, dass Rosa tollkühn bis selbstmörderisch auf ihn herunter plumpste! Geschickt hebelte er die fragile Balance aus, rollte sich herum, ignorierte die Proteste südlich des Gürtel-Äquators und verhinderte wütende Einsprüche mit einem immer geübter werdenden, oralen Siegel. Weil seine Zungenfertigkeit nicht nur hier herausgefordert wurde, nutzte er auch die Gelegenheit, mit allen Sinnen den knochigen Körper unter sich zu erkunden, sorgsam, achtungsvoll, zärtlich. Rosa musste sauer sein, aber erneut spielte ihm ihr Trotz in die Hände: was er sich anmaßte, das konnte sie schon lange! Ihre Finger ignorierten die Verbände an seinen Gelenken, glitten aber über seine nicht sonderlich anziehende Gestalt, kniffen herausfordernd in die mageren Pobacken. Eine kleine Gemeinheit, die Dominique in geübter Weise beantwortete, gezielt die kleinen Brüste zu küssen, seinen Speichel mit dem eigenen Atem zu trocknen. Ein Schauer ließ sich nicht verbergen, auch wenn ihnen beiden der jeweilige Pulsschlag in den Ohren dröhnte. Folglich stand Rache an. Seine Rechte wurde entführt, um dort für Wohlbehagen zu sorgen, wo kurz zuvor noch eine Katastrophe drohte. "Uhoh!" Entwich ihm überrumpelt. Kein sehr charmanter Beitrag, aber ein atemlos-boshaftes Schnauben an seinem Ohr verriet ihm, dass er gerade im Begriff war, sich Pardon zu erwerben. Zusätzlich lernen konnte, wie ihr Keuchen zu einem Hecheln wurde, je eine Hand eifrig beschäftigt, die andere klammernd, Halt suchend, alles ein wenig wacklig, schwankend, auf hoher See, ineinander verschlungen, Bettlaken zerwühlend. Der zweite, nun gemeinsame Anlauf, vorsichtiger, aufmerksamer, verlief erfolgreicher und erfüllender, als beide vermutet hatten. §-#-§ Dominique blinzelte Richtung Zimmerdecke, bei Altbau eine größere Distanz als gewöhnt, ächzend, wie eine Schildkröte auf den Panzer gedreht zwischen Mattigkeit und Panik schwankend. Euphorie wechselte sich blitzartig mit Scham und Hilflosigkeit ab. WOWOWOWOWOWOW zu WasmachichjetztmitdemGummi?! Wassagichjetzt?! Aber die Realität erwies sich als unerbittlich und der störende Gummi musste runter, verflixt! Folglich rollte er sich ein wenig ungelenk auf die Seite, setzte sich auf, angelte verstohlen nach der Schachtel mit den Kosmetiktüchern. Stellte es eigentlich einen Verstoß gegen die Etikette dar, wenn er sich nun vergewisserte, dass es Rosa gut ging? Den Umständen entsprechend zumindest? "Willste dich davonmachen, nachdem du deinen Spaß hattest?!" Das klang ziemlich rau und ausgesprochen bitter. Dominique beeilte sich mit der glitschigen Mission. "Entschuldige, aber ich möchte bloß das Kondom..." "Oh, klar, bitte sehr! Dann sollte ich wohl auch mal besser mein Puderdöschen lackieren, wie?!" Mit einem wütenden Sturmschritt ließ Rosegunde ihn allein in ihrem Zimmer zurück. Bange Herzschläge später, als sich nicht abzeichnete, dass der Orkan unerwartet kehrtmachte, wagte Dominique einen Stoßseufzer. Na schön, es war ja eigentlich zu erwarten gewesen. Wenn Rosa etwas zu nahe ging, dann verwandelte sie sich in Miss Hyde, wurde unausstehlich, vulgär und ausfallend. Das wusste er ja. Weil er sich jedoch ein klein wenig verantwortlich fühlte, blickte er sich sorgenvoll um, ob es Hinweise auf Verletzungen gab (Bittebittebittebittenicht!). Er wartete geduldig darauf, dass es Rosegunde im Badezimmer zu langweilig wurde. §-#-§ Als sie zurückkehrte, lupfte Dominique einladend die dünne Bettdecke an. Er hatte das Rauschen von Wasser gehört, konnte im Zwielicht der Kerze erkennen, dass ziemlich energisch die Spuren seines Kunstwerkes beseitigt worden waren. Einen unterdrückten Fluch hatte er auch vernommen. Rosegunde kroch zwar unter die Decke zu ihm, kehrte ihm aber demonstrativ den Rücken zu und zog die Beine vor den Leib. "Ist ja reizend!" Ätzte sie kehlig. "Bin dir zu sehr Schlampe, wie? Adrett alle Klamotten vom Boden aufpicken und wegräumen, schön spießig! Wieso bist du überhaupt noch hier? Haste keine Angst, ich könnte dir Läuse oder Flöhe verpassen, hä?!" Hinter ihr ballte Dominique für einen Augenblick fest die Fäuste, ließ sie dann langsam locker und spürte, wie der Blutfluss sich veränderte, atmete entspannt. "Ich habe meiner Mutter aufs Band gesprochen, dass ich bei dir übernachte, weil es schon so spät ist." "Süß! Wer bestimmt, dass du hier pennen darfst?!" Die nächste Angriffswelle rollte. Dominique konzentrierte sich auf einen inneren Ruhepol, so, wie er das durch seine schubweisen Krankheitsphasen gelernt hatte, wenn Schmerzen unumgänglich waren und man nicht verzweifeln wollte. Ablenkung. Tiefe Atmung. "Wenn du es wünschst, dann gehe ich selbstverständlich." Antwortete er schließlich beherrscht in die angespannte Atmosphäre, "Es wäre aber schön, wenn wir einfach für den Rest der Nacht verliebt sein könnten." "Ach, und ich versau es mal wieder, wie?! Klar, DU kennst dich ja aus!" Das Fauchen klang ein wenig gedrückt. Dominique fragte sich, ob ihre zusammengerollte Haltung nicht doch auf Schmerzen hindeutete. "Ich bin mir zumindest sicher, dass du diese Show jetzt nicht nötig hast." Stellte er tapfer fest. "Was weißt du denn schon?! Nur, weil wir gevögelt haben, macht dich das noch nicht zum Experten über mich und mein Leben!! Du hast NULL Ahnung, überhaupt keine!" Die Bettdecke flog zurück, zwei geballte Fäuste auf ihn zu, die er rechtzeitig an den schlanken Handgelenken vor einem Einschlag abfangen konnte. "Soll ich glauben, dass es dir hier gefällt, in dieser einsamen Schöner Wohnen-Kulisse, nur mit Tiefkühlfutter und zig Nachrichten, wann deine Mutter mal kurz vorbeikommt?!" Entgegnete er lauter und schärfer als eigentlich beabsichtigt. Ein kurzes, scharfes Atemeinziehen, dann ging Rosegunde, die über ihm kauerte, die Haare zerrauft, nur ein verzerrtes Schattenspiel, zur nächsten Attacke über. "Oh, und dein Leben ist natürlich TOTAL geil, wie?! Immerhin hat mir meine Erzeugerin ihre abgelegten Dildos überlassen, damit ich Übung habe, lerne, wie's richtig läuft, wenn der Schwanzbesitzer keine blauen Pillen und schwedischen Pimmelpumpen braucht, um ihn hochzukriegen!!" Nun blieb Dominique beeindruckt und gleichzeitig erschüttert die Sprache weg. Entsprach das der Wahrheit? Falls ja, hatte sie wirklich...? "Glaubste wohl nich, was?!" Giftete Rosegunde über ihm verächtlich. "In meinem GEILEN Leben muss ich auch nicht mitkriegen, wie mein Alter ständig irgendwelche verblödeten Anfangssemester bespringt, die einen Daddy-Komplex haben! Den Wichsern, von denen sich meine Mutter aushalten lässt, bin ich scheißegal! Für die bin ICH jedenfalls kein Kopulationsanbahnungshindernis!" "Das ist gemein." Wisperte Dominique endlich gepresst. Auch wenn ihm verdächtige Feuchtigkeit auf die nackte Brust tropfte, einen Schlag unter die Gürtellinie konnte er nicht so lässig abtun. "Tja, so bin ich eben! Ne fiese, hässliche Schlampe!" Nun versuchte Rosegunde, seinen Zugriff um ihre Handgelenke aufzubrechen. "Hast doch behauptet, du würdest mich kennen, Sunnyboy!" Ihr Auftritt wäre auch nicht überzeugender gewesen, wenn nicht ständiges Schniefen ihre Ansage zerstückelt hätte, die nun in eine gestotterte Tirade überging. "Sch-eiß-e! Schscheiße! Scheischeiße!" "Warum weinst du?" Dominique gab ihrem Ausbruchsversuch genug Freiheit, dass ihre hektischen Aktionen ihn in eine sitzende Haltung aufrichteten. "Schscheiße, weil ich... ne Blase habe! Total scheiße! Tut weh, verdammt!" Fluchte/schluchzte Rosegunde, den Kopf abgewandt, zerrte an ihren Handgelenken. "Das tut mir leid." Bekundete Dominique leise, um sein ganzes Gewicht in die Waagschale zu werfen, sich selbst dabei rücklings auf die Matratze, was Rosegunde mitriss, zu einer Notlandung auf ihm zwang. Blitzartig hielt er sie fest umarmt, an sich gepresst, um eine wüste Rangelei zu unterbinden. "Lass mich los!!" Begehrte sie prompt schrill auf, zog die Nase hoch, zappelte in seinem unerbittlichen Griff. "Verdammt, wieso bist du immer so verflucht...cool?! Scheiße! ScheißeScheißeScheiße!" "Bin ich gar nicht." Raunte Dominique in die wirre Mähne, widerstand der Strampelei eisern. "Ich bin bloß nicht so mutig wie du, meine Gefühle zu zeigen." Er wartete auf den nächsten Ausbruch, eine weitere Kanonade an falschen Vorwürfen, wütenden Anklagen, vulgären Schnodderphrasen und Verwünschungen. Stattdessen jedoch hörte er bloß ein ersticktes "...gemein!", bevor über ihm ein heftiges Aufschluchzen Rosegunde förmlich durchschüttelte. Sie klammerte sich an ihm fest, während der Weinkrampf jede Verständigung torpedierte, ein gepeinigtes Heulen, eine offene Wut auf sich selbst. Aber er ließ nicht los, hielt sie ebenso fest, schluckte schwer, weil sich ihm nun offenbarte, was hinter der Fassade für lange Zeit aufgestaut worden war. Alles an diesem Tag hatte sich zu diesem Befreiungsschlag zusammengeballt, bis eine Explosion unvermeidlich wurde: Freude, Anerkennung, Stolz, Aufmerksamkeit, Zuneigung und Vertrauen... Mit nachlassender Verkrampfung lockerte er seine Umarmung, streichelte mit einer Hand sanft über die wirren Strähnen. Rosegunde schniefte unterdrückt und knurrte. "Es ist eine üble Blase!" Auch wenn ihm nicht nach Lachen zumute war, konnte Dominique ein Schmunzeln nicht verhindern. "Das tut mir leid." Für lange Atemzüge registrierte er lediglich ihre nasse Wange auf seiner Brust, dann flüsterte sie rau. "Tu das nicht." "Was nicht?" Dominique zupfte mit der freien Hand die halb entwischte Decke über ihnen zurecht. "Du weißt schon, nett sein." Rosegunde rutschte ein wenig von ihm herunter, an seine Seite, verteidigte aber die Premiumposition ihres Hauptes. "Du bist nett, wenn ich ein Arschloch bin. Das macht mich echt fertig." Er glättete beiläufig zerzauste Strähnen. "Das ist, ehrlich gesagt, auch ein bisschen meine Absicht. Ich mag dich sehr, und MICH macht es fertig, wenn du dich selbst so herabsetzt, Rosa." "Schon machst du es wieder!" Eine schlanke Hand schob sich über die Handwurzel in seine freie, verschränkte ihre Finger miteinander. "Ist nicht fair, so nett zu mir zu sein." "Du bist es nur einfach nicht gewöhnt." Konterte Dominique sanft. Rosegunde grunzte betont abschätzig. Eine Weile schwiegen sie versonnen, lauschten auf den Herzschlag des anderen, verunsichert, wie es weitergehen sollte, dann murmelte Rosegunde kaum hörbar. "Ich hab's wirklich getan. Geübt. Mit so nem Ding." Unter ihr setzte Dominique unvermindert seine Liebkosung fort, auch wenn sein Herzschlag beschleunigte. Hatte es sie Überwindung gekostet, den mutmaßlichen Ratschlag ihrer Mutter zu befolgen? Seinetwegen? Wie konnte sie annehmen, er würde ihr jemals glauben, dass sie eine unsortierte, gleichgültige, promiskuitive Schlampe sei?! "Ich schätze, es ist etwas anderes, wenn ein ganzer Mensch dranhängt." Wisperte er leise. Nach einem Stutzen hörte er zu seiner Erleichterung Rosegunde kichern, ein sanftes Beben an seiner Seite, ein verbundener Händedruck. "Was hast du gesagt, was du den Rest der Nacht sein wolltest?" Ihr warmer, eckiger Leib entspannte sich merklich. "Verliebt." Antwortete Dominique sanft. "Lass uns ineinander verliebt sein, Rosa." §-#-§ Kapitel 12 - Stelldichein Der Ruf der Natur trieb Dominique unerbittlich im frühen Morgengrauen (eher farbenprächtigem Spektakel eines Sonnenaufgangs) aus dem Bett. Schamhaft seine Unterhose angelnd machte er sich auf den Weg ins Badezimmer, leise und vorsichtig auf dem unbekannten Gelände. Die Gelegenheit nutzend verpasste er auch seinen nicht verbundenen Körperpartien eine Katzenwäsche. Auf Zehenspitzen wieselte er durch den Flur zurück. Das sah zumindest der Plan vor, doch die angelehnte Wohnzimmertür lockte ihn, einen prüfenden Blick hineinzuwerfen. Alles war makellos eingerichtet, geschmackvoll dekoriert und wirkte unbehaust. Kein Durcheinander, auch keine Zimmerpflanzen, vergessenen Chipstüten oder aufgeschlagenen Bücher. Zögerlich schob er sich hinein, studierte ein eingerahmtes Bild auf dem obligatorischen Kaminsims: Vater, Mutter, Kind. Rosegunde musste etwa fünf oder sechs Jahre alt sein, ein spitzes, ernstes Kindergesicht, den Kopf mit dem Pony und Pagenschnitt so gedreht, dass ihr Feuermal nicht zu sehen war, ein passend zur Augenfarbe ausgewähltes Samtkleid, weiße Bluse darunter. Vermutlich saß sie auf einem Barhocker, um die Höhendifferenz zu ihren Eltern zu reduzieren. Der Vater stand lässig, Professoren-Tweed, schlank bis sehnig, ein Robert Redford-Typ, den Falten und graue Schläfen erst richtig attraktiv machten. Sein Altersunterschied zu Rosegundes Mutter war dennoch gewaltig, ein exotisches Schneewittchen, zart, von beinahe einschüchternder Schönheit, perfekte Gesichtszüge, die selbstbewusste Haltung einer Frau in ihren Zwanzigern, die wusste, was sie wollte und wie sie es bekam. "Das ist noch gar nichts." Schreckte ihn Rosegundes raue Stimme auf. Dominique fuhr herum, beschämt, weil er unerlaubt sein Aufenthaltsfeld erweitert hatte. Sie packte seine Hand, die Haare wirr im Gesicht hängend, lediglich mit einem sackartigen Sweatshirt bekleidet, das offenkundig einem Sumoringer gehörte. Dominique ließ sich in ein weiteres, ihm unbekanntes Territorium zerren, das Schlafzimmer der Mutter. Auch hier viel Geschmack, exklusive, teure Accessoires und wenig Leben. Dafür hing über dem breiten Bett ein Foto, das sie selbst zeigte, kein Akt, da ein dezentes Hemdchen profane Nacktheit verhinderte, aber genug versprach, um die Vorstellungskraft anzufachen. "Na? Eine echte Schönheit" Knurrte Rosegunde herausfordernd, doch Dominique kannte sie gut genug, um darin auch den Schmerz zu hören. Er studierte die professionelle Aufnahme eingehend, Körperhaltung, Ausdruck. "Sabber jetzt bloß nicht auf den Teppich!" Rosegundes Fingernägel drückten gegen seine Knochen. "Ja, sie ist schön." Er wandte sich zu ihr herum. "Aber du übertriffst sie um Längen." Er hörte das abfällige Schnauben, erwartete den Zorn, die Vorhaltungen. "Ich bin selbstverständlich nicht objektiv, aber, so kitschig das klingt: wenn man mit dem Herzen sieht, kann man erkennen, wer von euch beiden über tatsächliche Schönheit verfügt. Das bist mit Abstand du, Rosa." "Schwachsinn! Ihr guckt jeder Typ hinterher..." "Und hat das Nachsehen, wette ich." Unterbrach Dominique ungeniert, streckte die freie Hand aus, um Rosegundes Gesicht unter dem wirren Haarmopp freizulegen. "Glaubst du, sie würde mich in ihr Herz schließen, obwohl ich so nett bin, hm?" So gezeichnet von einer unheilbaren Krankheit, mit rasiertem Kopf, nicht groß genug, knochig, ein hoffnungsloser Fall. "Depp." Rosegunde nagte an ihrer Unterlippe, hin und her gerissen zwischen Zweifel und dem Wunsch, ihm zu glauben. "Aber ein netter Depp." Grinste Dominique ebenso nervös, hob ihre Hand, die seine umklammerte, drückte einen verlegenen Kuss auf den Handrücken. Heftige Röte färbte die freigelegten Wangen ein. Rosegunde machte fluchtartig kehrt, zerrte ihn hinter sich her in die Küche. "Wenn du meckerst, schmeiß ich dich raus!" Lautete die finstere Drohung, aber Dominique zweifelte nicht daran, dass seine Rosa sich auch hier ins Zeug gelegt hatte. Ja, sie hatte viel mehr Herz als die berechnende Schönheit auf dem Foto! §-#-§ Es musste sofort ein Schlussstrich gezogen werden unter diese lästige Affäre! Emil Sandemann köchelte schon ungenießbar auf kleiner Flamme, als er sich auf den Weg zum Treffpunkt begab. Diese blöden E-Mails! Dann glaubte dieser schnöselige Schönling auch noch, er würde sich seine dämlichen Sendungen anhören! Ha! Was gab es bitte schön an einem "Kein Interesse" nicht zu verstehen?! Aber das war ja typisch für diese Z-Promi-Schmierlappen! Immer im Mittelpunkt, die ganze Welt kreiste um sie! Selbstverständlich war jeder spitz drauf, die gnädig erwiesene Audienz dankbar zu absolvieren! WIDERWÄRTIG! Faselte irgendwas von LIEBE! Sollte das vielleicht ein Beispiel für diese albernen "Versteckte Kamera"-Aktionen sein?! Eine verlorene Wette?! Irgendein anderer Ausdruck eines Humors, der jedem anständigen Menschen fremd blieb?! Im Sturmschritt näherte er sich dem Schachfeld, verärgert, dass dort schon lässig das Objekt seiner Ablehnung wartete, ihm erfreut zuwinkte. Kruzifix, hätte er JETZT kotzen können!! §-#-§ Kay schmunzelte, schob die Sonnenbrille auf seinen Schopf, verringerte im Schlendertempo die Distanz zu seinem sichtlich erbosten Kontrahenten. Duell, damit hatte Emil zweifelsohne recht gehabt. Es würde gar nicht so einfach sein, ihm glaubhaft zu machen, dass er ihre elektronische Auseinandersetzung genossen, sich jedes Mal gefreut hatte, wenn seine Provokation stark genug war, Emil das schlichte Ignorieren zu vermiesen, noch mal zu antworten. "Guten Morgen, Emil! Hast du gut geschlafen?" Eröffnete er dementsprechend launig den Schlagabtausch. "Der Morgen ist mir jetzt schon verleidet!" Schimpfte der empört. "Ich habe bestimmt nicht die Absicht, mich hier lange mit Ihnen aufzuhalten. Nehmen Sie gefälligst zur Kenntnis, dass ich nicht interessiert bin!" "Wie kann das sein, wenn du doch hier bist? Bei mir?" Schnurrte Kay herausfordernd, reduzierte den Abstand um zwei Schritte, die Emil eilig zurückwich, die Stirn vor Wut gefurcht. "Abstand, Sie! Sprechen Sie mich gefälligst nicht so vertraulich an, ja?! Ich bin dieser Albernheiten müde, also suchen Sie sich ein anderes Objekt Ihrer Eitelkeit aus!" "Eitelkeit? Emil, da missverstehst du mich aber!" Kay zwinkerte. "Traust du mir ehrlich zu, dass ich dich nur angesprochen habe, weil ich einen Kult um mich mache, mich anhimmeln lasse? Also, das ist doch so fad, da solltest du mich besser kennen." "Ich habe gar nicht die Absicht, Sie zu KENNEN!" Donnerte Emil zurück, die Fäuste geballt. "Tun oder lassen Sie, was Sie wollen, ist mir schnurz, solange Sie mich damit nicht behelligen, klar?!" "Selbstverständlich, mache ich genau so, wie du es mir empfiehlst, bloß die Viertelstunde täglich, die möchte ich ganz dir widmen!" "Kommt nicht in Frage!" Explodierte Emil aufgebracht. "Ich verplempere doch nicht meine Zeit für diesen Unsinn! Ich habe Ihnen NICHTS zu sagen, weder täglich noch für Viertelstunden oder sonst wie!" "Gerade sprichst du aber eine Menge." Beobachtete Kay amüsiert, studierte die lebendigen Gesichtszüge vor sich, die schwarzen Flecken in den braunen Augen hinter den Brillengläsern, die schiere Entrüstung über seine unartige Hartnäckigkeit. "Wir müssen auch nicht die ganze Viertelstunde sprechen. Wir können auch andere nette Dinge gemeinsam tun." "Ausgeschlossen!" Emil schnappte brüskiert nach Luft. "Ist Ihnen eigentlich mal der Gedanke kommen, wie lächerlich Sie sich hier machen?! Halten Sie es tatsächlich für amüsant, hier herumzustehen und unproduktive Diskussionen zu führen?!" "Ich finde es im Gegenteil sehr lehrreich." Kay ging nun lächelnd zum Angriff über. "Gerade erfahre ich nämlich, dass du es gar nicht magst, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, dass du glaubst, ich würde mich für was Besseres halten und du meinst, jemand wie du, mit einem unspektakulären Job und einem nicht so gewöhnlichen Hobby wäre unpassend für mich." Auf Emils Wangen zeigten sich rote Flecken. "Ich verbitte mir diese Spekulationen!" Kay wies mit einer ausschweifenden Geste auf den Spazierweg. "Gehen wir doch ein paar Schritte, ja? Wenn ich mich irre, kannst du mir sicher anhand von Fakten meine Irrtümer belegen." "Wieso sollte ich?!" Detonierte Emil erregt. "Ist mir doch wurscht, was Sie sich an Blödsinn einbilden!" "Wenn ich davon überzeugt bin, dass wir sehr gute Freunde werden, ist dir das auch wurscht?" Schnurrte Kay, setzte sich im Spaziertempo in Bewegung. Emils altmodisch anmutende Haltung gefiel ihm sehr. "Das ist Quatsch! Erstens kennen wir uns gar nicht, zweitens will ich es auch dabei belassen, und drittens hat dieser Blödsinn überhaupt keinen Zweck! Freundschaft, pah!" "Na schön, wir können auch mit leidenschaftlicher Feindschaft starten." Gab sich Kay konziliant. "Dass du mich nicht verknusen willst, ist mir ja nicht entgangen!" "Von wollen kann wohl kaum die Rede sein!" Fauchte Emil spitzfindig. "Ich MAG Sie nicht! Nicht nur, weil Sie Mensch sind, sondern auch aufdringlich, lästig, unverschämt, distanzlos und impertinent unausstehlich! Wenn Sie wenigstens ein bisschen Verstand hätten, würden Sie ihn nutzbringender einsetzen, als hier herumzulungern und mich mit Ihren Phantastereien zu behelligen!" "Unverschämt gutaussehend hast du vergessen!" Ergänzte Kay hilfsbereit. "Schon wieder habe ich was über dich gelernt: wer über Verstand verfügt, was mich ausschließt, ist dazu angehalten, ihn zu nützlichen Zwecken zu gebrauchen. Also schön, welchen Nutzen hätte ich denn bedienen sollen, wenn ich über Verstand verfügen würde?" "Na, Sie werden doch wohl irgendwelche Talente haben, oder nicht, Mr. Apollon?!" Ätzte Emil grantig zurück. "Schwafeln Sie Testosteron-verseuchte Gehirnamöben ins Idioten-Koma, säuseln Sie dämlichen Spargel-Tussis mit Kreisch-Abschluss lächerlichen Dünnpfiff in den Gehörgang!" "Sorry, aber aktuell sind die Kollegen auf dem Äther." Säuselte Kay liebenswürdig. "Ich könnte dir allerdings als Kompensation ein Ständchen bringen!" Blitzartig zuckte Emil zurück, kroch förmlich in einen unschuldigen Busch, schon auf der Flucht. "Unterstehen Sie sich! Wo ist der NABU?! Wo ist die UNO?!" "Nur ein kleines Liedchen!" Grinsend rückte Kay nach, denn die Panik in den gefleckten Augen reizte ihn. »Sieh an, der störrische Misanthropist aus Überzeugung ist ganz schön schreckhaft und bange!« "Wehe!" Emil schwankte zwischen den Optionen, mit seiner Umhängetasche für einen freien Radius zu sorgen oder sich mit beiden Händen die Ohren abzudecken. Er konnte es nicht ERTRAGEN, wenn neben ihm gesungen wurde! Uneingeladen, ungefiltert! Ganz gleich, ob talentfrei oder professionelle Expertise. Das hatte er schon als Kindergartenstöpsel nicht aushalten können, von der obligatorischen Gitarrenklampferei ganz zu schweigen. Musik ja, aber bitte auf Konserve und gemischt! Außerdem nach Wahl und auf Nachfrage, nicht spontan! "MmmmhMmmmhMmhhhhh!!" Stimmte sich Kay herausfordernd ein, spielte die ganze Bandbreite seiner sonoren Stimme aus. Üblicherweise machte das Frauen wuschig (behauptete Robert zumindest). Hier jedoch erntete er entsetzte Blicke und einen Anfang Vierziger, der gleich in einen rettenden Sprint außer Hörweite ausbrechen würde. "Wenn ich nicht singen soll, welchen Nutzung schlägst du dann vor?" Half Kay nachgiebig aus. "Weiß-weiß ich doch nicht!" Fauchte Emil unbehaglich, die Tasche immer noch angelupft, um leichter rennen zu können. "Tun Sie sonst noch was, außer Herumgreinen und lächerlichen Blödsinn für dieses Deppen-Magazin faseln?!" "Also kennst du das 'Apollon'?" Kay setzte sich wie ein Bluthund auf die Fährte. Er wollte das Gespräch laufen lassen, ganz gleich, wohin sie damit mäanderten. Kommunikation, das war der Schlüssel! "So einen Quatsch lese ich doch nicht!" Empörte Emil sich. "Mir reicht schon das Titelbild mit den doofen Überschriften! Die aufdringliche Werbung in der Glotze! Wer kauft diesen Quark eigentlich?! Das ist ja so, als würde ich mir den 'Spiegel' ins Auto legen, damit mich alle für links-intellektuell halten!" "Echte Themen für echte Männer!" Warb Kay prompt sonor im Bariton mit dem aktuellen Wahlspruch des Verlags. "Dann bist du kein echter Mann?" "Pah!" Winkte Emil verächtlich ab. "Das kaufen doch nur Typen, die ein Problem mit sich selbst haben! Welcher Gimpel reduziert sich auf seinen Chromosomensatz oder die Füllung der Unterwäsche?! Die Figuren haben wohl als allererstes das Selbstdenken 'outgesourct'!" "Ich sehe schon, damit kann ich dir auch keine Freude bereiten." Kay grinste und schlug einen weitläufigen Spazierweg an der Kreuzung ein. "Wie wäre es dann mit einem Auszug aus einem Jack Cougar-Hörspiel?" "Kenne ich nicht!" Knurrte Emil frostig, betont ablehnend. "Solltest du aber." Kay generierte schauspielerisch talentiert Missionierungseifer. "Es wird dazu sogar eine Comicserie geben! Jack Cougar würde dir bestimmt gefallen, er ist kein James Bond-Aufreißer, sondern immer bei der Sache!" "Hrmpf!" Schnaubte Emil, den Blick stur geradeaus gerichtet. "Ich lese doch nicht irgendwas!" "Wenn du das erste Album kaufst, gebe ich dir sogar ein Autogramm! Könnte wertvoll werden!" Kay sondierte die nächste Tretmine mit Genuss. "Danke, nein!" Ätzte Emil sofort, funkelte verächtlich. "Unterschriften sammle ich bloß auf gedeckten Schecks, sonst ist mir das wurst!" "Uoh, du gehst aber ran!" Missverstand Kay begeistert mit anzüglichem Timbre. "Meine Güte, du willst schon meine Einkommensverhältnisse erfahren, dabei haben wir noch nicht mal geknutscht!" Emil Sandemann stutzte, blieb abrupt stehen, den Kiefer ungläubig ausgehängt, starrte Kay an, der sich in Pose warf (lange genug geübt für seine Auftritte), eine Hand in die gekippte Hüfte stützte und dann einen sehr lasziven Schwung präsentierte. "Keine Frage: DU brauchst 'Apollon' nicht!" §-#-§ Dominique verkniff sich jeden Kommentar zum Frühstück, denn wie er vermutet hatte, gab sich Rosegunde Mühe, zumindest in den Sphären, in denen man Nahrung präpariert nur noch auftauen musste. Das galt sogar für Würfel, die angeblich Orangensaft wurden. Er räumte ab, während sie den Geschirrspüler volllud, suchte dann nach einem Lappen, um den Küchentisch abzuwischen. Fehlanzeige. Schließlich entschied er sich für einige Blatt des Küchenkrepps, der dekorativ in einer offenen Nische wartete. "Nicht!" Rosegunde bremste seine Aktion hastig. "Entschuldige! Ich wollte bloß den Tisch..." Seine Hand wurde nachdrücklich abgepflückt, das Dekor wieder in die vorige Position gerückt. "Ich nehm Klopapier." Erklärte Rosegunde leise, zuckte mit den Achseln. "Das ist hier ne Kulisse, Niq. Meine Mutter dreht am Rad, wenn's hier so aussieht, als hätte einer drin GELEBT!" "Oh... verstehe." Murmelte Dominique eingeschüchtert, was nicht der Wahrheit entsprach. "Ja, klar!" Knurrte Rosegunde. "Das bezweifle ich aber! Du hast keine Ahnung, wie das hier läuft. Ich ordere bei einem Tiefkühldienst, meine Mutter bestätigt die Bestellung, so komme ich zu Futter. Wenn sie mal hier übernachten will, bestellt sie einen Reinigungsservice. Ihre Klamotten gehen grundsätzlich in die Reinigung. Die holt alle 14 Tage einen vollen Sack mit meinem Zeug ab. So läuft das hier." Ihre blau-violetten Augen funkelten verächtlich. "Ich hab keine Ahnung, wie man putzt oder wäscht oder bügelt. Ich kann nicht kochen. Pflanzen oder Tiere sind verboten. Gott bewahre, wenn ich etwas benutze und es geht kaputt! Mann, dann ist aber der Teufel los!" Dominique staunte ungläubig. "Seit... ich meine, seit wann läuft das so?" Erkundigte er sich besorgt. "Ha!" Lachte Rosegunde auf und zog ihn zurück in ihr Zimmer. "Das willst du nicht hören! Außerdem sollte ich bloß nicht herumflennen, gibt doch für alles ein Youtube-Video!" "Ich möchte es hören, bitte." Dominique ließ sich Rosegunde gegenüber auf einem der unzähligen Sitzkissen nieder, sah ihr offen ins Gesicht. Dort hingen die wirren Strähnen noch immer wild herunter. Rosegunde atmete tief durch, den Kopf abgewandt, die schlanken Hände damit beschäftigt, Finger zu biegen und zu dehnen. Unwillkürlich beugte er sich hinüber, streichelte mit einer Hand ihre Haare hinter die kleine Ohrmuschel zurück. "Na ja, als es um den Schulwechsel ging, von der Grundschule, da wollte meine Mutter, dass ich in ein Schulinternat gehe. Mein Vater hatte einen Job in England angenommen, sie hatte ihre eigenen Pläne, und ich wäre aus dem Weg gewesen. Aber ich wollte nicht. Mir war zwar klar, dass die beiden keine Lust mehr aufeinander hatten, aber..." Sie seufzte. "Ich war halt blöd, hab gedacht, es gäbe eine bessere Lösung. Ich wollte nicht in so einen Elite-Verein, wo ich rund um die Uhr angemacht und gemobbt werde." Nun neigte sie den Kopf ein wenig, riskierte einen trotzigen Blick in Dominiques wasserblaue Augen, die konzentriert auf ihr ruhten. "Glücklicherweise kostet so ein Internat eine ziemliche Stange Geld." Sie grunzte. "Okay, ich war sauer und dämlich. Hab gesagt, ich käme allein zurecht. Das hat sich meine Mutter natürlich sofort gemerkt. Wenn ich nur andeute, ich könnte etwas elterliche Unterstützung benötigen, erinnert sie mich süffisant an meine Worte. Na schön, komme ich eben allein zurecht! Ich werde den Teufel tun und mir ihren Scheiß anhören!" Das war wieder Rosa, aggressiv, kämpferisch, sofort auf Angriff gepolt. Dominique streckte die offene Hand nach ihr aus. Alle benötigten im Leben die Hilfe von anderen, aber wenn sie sich schon so lange allein durchschlug, war es wirklich kein Wunder, dass sie es gar nicht mehr in Erwägung zog, sich anderen anzuvertrauen. Rosegunde musterte seine Hand. Zögerlich schob sie ihre eigene hinein. Dominique drückte behutsam. "Danke, dass du mir das erzählt hast." Lächelte er verhalten. "Wenn du mal Hilfe brauchen solltest, also, wenn Youtube nichts Gescheites anzubieten hat, dann würde ich dir gern beistehen." Da, tapfer gesprochen! Jetzt würde er sich auch den Rüffel artig anhören! Doch Rosegunde senkte den Kopf, studierte ihre verbundenen Hände und seufzte leise. "Du bist echt nett, Niq. Gerade deshalb will ich dich eigentlich nicht mit diesem ganzen Dreck belasten. Ist bloß so, dass ich, keine Ahnung, aber irgendwie will ich trotzdem, dass du Bescheid weißt, dass ich nicht nur so ein Arsch bin." Sie schniefte leise. "Du bist überhaupt kein Arsch!" Schimpfte Dominique ungewohnt laut, robbte auf Knien (dafür waren die Fix-Verbände sehr nützlich) heran, zog mit dem freien Arm eine perplexe Rosegunde an seine schmächtige Brust. "Hör auf, so was zu sagen! Es macht mich wütend, wie du hier leben musst! Es ist NICHT in Ordnung! Ich will dir helfen, da musst du jetzt eben durch! So einfach lass ich mich nicht abschrecken!" An seinem Hals ertönte ein ersticktes Schnauben. "Masochist!" "Nein." Dominique streichelte über die wirren, schwarzen Haare, erinnerte sich an die letzten 24 Stunden. "Ich hab dich lieb, Rosa. Du hast viel Besseres verdient als das hier. Wenn ich kann, dann trage ich meinen Teil dazu bei!" "Du klingst schon wieder so fies cool!" Beschwerte sie sich mit verstopfter Nase. Dominique seufzte leise. "Bin ich zwar nicht, aber vielleicht gibt es dafür ein Youtube-Video." §-#-§ "Das-das ist ja WIDERWÄRTIG!" Emil Sandemann benötigte tatsächlich einige Herzschläge, bis er die Fassung wiedergewonnen hatte. "und INFAM!" Hinter den Brillengläsern blitzte es Ungemach und Tod. "Wollen Sie mir etwa unterstellen, dass ich aus monetären Interessen mit Ihnen ANBÄNDELE?!" Allein schon der Gedanke schien eine bodenlose Beleidigung darzustellen. Kay zwinkerte amüsiert, fand, dass die schwarzen Einsprengsel in den braunen Augen gut zu seinen "Schoko-Streuseln" im Gesicht passten. Im Bariton deklamierte er melodramatisch. "Oh, ich wünschte, es wäre so! Aber, ach! Ich nenne kein Vermögen mein Eigen, meine Mitgift ist so gering, dass ich dir allein meinen nackten Körper als Morgengabe zu Füßen lege!" "Igitt!!" Behauptete Emil eilig, wich jedoch sicherheitshalber einige Schritte zurück, nur für den Fall, dass dieser Verrückte sich päpstlich betätigen, Mutterboden knutschen und ihm auch noch auf die Laufwarzen rücken wollte. "Liebst du mich auch um meiner Selbst?! Nicht nur meine unvergleichliche Schönheit, sondern auch meine Seele?" Kay spielte seine schauspielerischen Fähigkeiten als schwärmerischer Schmierenkomödiant mit Hingabe aus. Es gefiel ihm, Emils unverstelltes Mienenspiel zu studieren, der zwischen Entsetzen, Zweifel, Panik und Wut schwankte. "Ich liebe Sie überhaupt nicht!" Platzte der hastig heraus. "Das ist nicht persönlich gemeint." Nun straffte er seine Gestalt, justierte die Umhängetasche. "Außerdem sagte ich das schon: kein Interesse! Wenn Sie darauf beharren, hier irgendwelche Szenen zu machen, dann gehe ich!" "Ja?" Kay schaltete sofort um, wagte einen tollkühnen Hechtsprung, wurde mit dem Griff um ein Handgelenk belohnt. "Das heißt, du bleibst, wenn ich hübsch unauffällig bin? Ja? JA?" "Sie und unauffällig, ha!" Emil bemühte sich energisch, sein gekapertes Handgelenk loszueisen. "Das reicht jetzt aber! Hände weg, Sie Taktophiler! Wer weiß, wo Sie sich mit Ihren Bakterien- und Virenschleudern schon überall herumgetrieben haben!" "Oh! OH!" Kay trippelte auf der Stelle wie der übereifrige Streber des Klischees. "Ich weiß das! ICH weiß das! Frag mich! Frag mich, Emil!" Konsterniert ob der anhaltenden Albernheiten stellte der seine Ausbruchsversuche ein. Er funkelte hoch in die tiefschwarzen Augen. "Hören Sie, HERR Jefferson, was soll das hier eigentlich? Ist Ihr Leben wirklich so fade, dass es Sie unterhält, so einen Zirkus zu machen?" Kay gab das Grimassieren auf und konterte ruhig. "Gegenfrage: ist es für dich wirklich so unglaublich, dass jemand wie ich gern mit dir zusammen sein möchte?" "Selbstverständlich ist es das!" Feuerte Emil entschieden zurück. "Ich MAG keine Menschen! Sie dagegen sind dauernd unter Menschen! Ich mag keine physische Gegenwart von irgendwem, SIE fassen aber alles und allen an! Unsere Gemeinsamkeiten enden bei der Gattungszugehörigkeit, und gelegentlich bin ich bei Ihnen nicht sicher, dass da nicht doch was beigemischt ist!" "Was denn zum Beispiel?" Kay verschaffte sich Zeit, um weitere Attacken gegen das Abwehrbollwerk zu starten, das Emil um sich aufgebaut hatte. "Was weiß ich?!" Emil riss ungeduldig die Arme hoch. "Aliens?! Tintenfische mit Saugnäpfen?! Piranha mit falsch montiertem Gebiss?!" Diese Ahnengalerie entlockte Kay ein Prusten. "Piranha? Ist ja nett, und Tintenfische? He, da fällt mir ein, kennst du eigentlich dieses japanische Bild mit der Fischersfrau..." "Nein!" Fauchte Emil grimmig und wandte den Kopf ab. "Nie gesehen!" Das war mehr, als Kay tapfer konsumieren konnte. Er bog sich vor Lachen, während Emil trotzig wie Rumpelstilzchen partout in die andere Richtung sah, erneut um sein Handgelenk kämpfte. "Verdammt!" Ächzte Kay schließlich erheitert. "Du bist so niedlich! Es ist einfach klasse, sich mit dir zu unterhalten!" "Wir unterhalten uns nicht!" Schimpfte Emil, stemmte die Sohlen in die gekieste Fläche. "Sie lachen wie eine Hyäne mit Magenverstimmung! Halten alles und alle für Ihre persönlichen Entertainer! Ich bin aber nicht IHR Animateur!" Anstelle einer weiteren Bemerkung blickte Kay schlicht schmunzelnd auf die fruchtlosen Versuche, die der kleinere Mann unternahm, um wieder autark zu werden, zappelnd, zerrend, rupfend und 'roppend'. "Du bist wirklich süß." Raunte er kaum hörbar, streichelte mit der freien Hand über den unspektakulär hellbraunen Schopf. Er hätte genauso gut eine Hochspannungsleitung benutzen können, denn Emil zuckte derart heftig zusammen, dass es sie beide ins Stolpern brachte. "Noli me tangere! Pfoten weg! Distanz!" Feuerte er eilig in Überschallgeschwindigkeit, nun unverkennbar Panik im Blick. Kay, der sich keine Grausamkeit zuschulden kommen lassen wollte, hob rasch beide Hände an, wich auf einen zuträglichen Abstand zurück. "Verzeihung." Intonierte er verblüfft. "Ich wollte dir nichts tun." "Aber einfach anpacken, das ist erlaubt, oder wie?!" Explodierte Emil aufgebracht. "Wo sind SIE denn her?! Ich habe Ihnen gerade eben erklärt, dass ich diese Grabbelei nicht ausstehen kann, und SIE fassen zu?! Ja, wie komm ich mir denn da vor?!" Kay verdrehte weder die Augen, noch gab er enervierte Seufzer von sich, denn auch wenn Emil ihn offenkundig für einen schnöseligen Schönling ohne Verstand und Manieren hielt, so hatte er im Laufe seiner Berufstätigkeit gelernt, die Körpersprache seiner Mitmenschen zu lesen: hier wurde jemand nicht zu Louis de Funes, weil er gern spektakelte, sondern weil er sich durch die physische Annäherung bedroht fühlte. Mit anderen Worten: ohne den richtigen Abstand würde er Emil ganz sicher vergraulen. "Es tut mir leid." Bekundete deshalb aufrichtig. "Es wird nicht mehr vorkommen, dass ich dir über die Haare streichle, wenn du es nicht selbst ausdrücklich möchtest." Eine ernsthafte Entschuldigung brachte seinen Gegenüber auch ein wenig aus der Fassung, weshalb nur ein hastiges Abwinken zur Antwort diente. Nun studierten sie einander angespannt, Optionen erwägend. Einige Grenzen waren zumindest schon abgesteckt, bedeutete das aber, dass sie einander besser nicht mehr begegneten? "Also, was kann ich tun, um dir zu beweisen, dass ich ein guter Freund bin?" Kay ließ die Arme locker hängen, die Hände offen. "Du hast gesagt, dass wir Fakten sprechen lassen sollen. Das bedeutet doch dann, dass es einen Maßstab gibt, an dem du mich messen kannst, richtig? Wie siehst dieser Maßstab aus?" Emil zögerte, wandte den Kopf ab, schnaubte. "Fürs Protokoll will ich festhalten, dass es mir gar nicht um 'Freund' geht. Akzeptierte Ko-Existenz, das ließe sich einrichten." Grummelte er schließlich. "Welche Qualitäten muss ich dafür beweisen?" Kay signalisierte Entschlossenheit. "Na, eben die Regeln beachten!" Schwamm sich Emil argumentativ frei. "Also nicht anfassen, nicht anblödeln, nicht auf den Keks gehen, nicht über 'nein' verhandeln, keine Bücher ohne Lesezeichen herumliegen lassen, sodass die Bindung ausleiert!" Ein grimmiger Blick schloss sich an. "Überhaupt nicht mit fettigen Fingern lesen! Und keine Eselsohren machen! Ausleihvereinbarungen nicht einhalten! Dauernd Fragen stellen..." "Das klingt jetzt ein wenig nach einer Benutzungsordnung für die öffentliche Bibliothek?" Bemerkte Kay zögernd. "Ich weiß natürlich, dass die Neunte Kunst dein Hobby ist..." "Gegenfrage!" Knurrte Emil bissig. "Wieso wundert Sie das, wo Sie doch Bescheid über mich wissen?! Sollen wir etwa philosophische Betrachtungen über Politik, Religion und die Weltwirtschaft führen?! Oder, schlimmer noch, endlos fade Schwafeleien über unser persönliches Befinden?!" Kay schmunzelte. "Nein, da gebe ich dir recht. Über unsere Jobs möchte ich eigentlich nicht groß reden, aber deine Leseleidenschaft und meine Neugierde geben bestimmt genug Gesprächsstoff." Indirekt würden sie, so hoffte er, über eine Menge mehr einen regen Austausch pflegen. "Wie kann ich mich deines Vertrauens als würdig erweisen?" Er streckte Emil die offene Rechte hin. "Was kann ich tun, damit du mir glaubst, dass es mir ernst ist?" "Traue niemandem!" Zitierte Emil kühl, beäugte die offene Handfläche wie einen außerirdischen Parasiten auf Expansionstour. "Ich verstehe nicht mal, warum jemand, der den ganzen Tag von unzähligen Personen belatschert wird, auch noch privat eine Viertelstunde lang behelligt werden will!" "Du bist für mich keine Behelligung, sondern eine Erhellung und Bereicherung." Kalauerte Kay herausfordernd. "Also, was hältst du von diesem Vorschlag: wir unterhalten uns jeden Tag eine Viertelstunde, oder auch länger. Die ganze nächste Woche. Am Wochenende treffen wir uns und werten aus, ob ich mich an die Regeln gehalten habe und wir beide eine akzeptable Ko-Existenz auf die Beine stellen können. Na?" Emil überlegte sichtlich, die Stirn gekräuselt, die Augenbrauen zusammengezogen, zweifelnd. Gab er sich schon eine Blöße, wenn er erwog, sich mit ihm gemein zu machen? »Komm schon, Emil!« Bettelte Kay stumm, verbannte jeden offenkundigen Hundeblick. »Sag ja! Lass uns nach Herzenslust streiten, keiner Meinung sein und uns dabei kennenlernen! Ich mag dich, also könntest du mich zumindest energisch nicht ausstehen! Bitte!« "Da wir ja Regeln und Maßstäbe haben, auch die Fakten sprechen sollen, erkläre ich mich zu einem Testlauf bereit." Widerwillig formulierte Emil Wort um Wort. Er seufzte profund und ergriff argwöhnisch Kays große Rechte. "Abgemacht!" Kay schüttelte ihre Hände und strahlte. Emil schnaubte vernehmlich. "Ich sollte mir mal den Kopf untersuchen lassen." §-#-§ "Also gut, ich habe zwar keine Ahnung, um was es dabei geht, aber das können wir machen." Gab sich Rosegunde kompromissbereit in ihrem gewohnt ruppigen Stil. Dominique lächelte, denn gerade war es ihm schließlich gelungen, das Mädchen, in das er mit großer Sicherheit verliebt war, zu sich nach Hause zu einem Video-Abend einzuladen! Ein wenig könnte er vor seiner Mutter auch damit angeben, dass ihr Sohn gar kein ganz hoffnungsloser Fall war. "Ich bringe dich auch nach Hause." Ergänzte er seine Offerte eifrig, ganz Kavalier. "Ach was, nicht nötig, ich komme mit dem Rad." Rosegunde schnaubte. "Dann muss ich auch nicht so früh weg. Oder wäre dir das lieber?!" Die blau-violetten Augen funkelten herausfordernd, ihre Stimme gurgelte mal wieder Stahlnägel. Bevor Dominique jedoch ihrem Vorschlag uneingeschränkt beipflichten konnte, ertönte eine gedämpfte Fanfare. Es klang verdächtig nach dem Trompetenstoß der Neunten Kavallerie. "Verdammt!" Rosegunde kämmte wirre Strähnen aus ihrem Gesicht. "'Tschuldige, aber da muss ich rangehen. Ist mein Vater." Sie buddelte bereits ihr Wunder-Mobiltelefon aus. "Natürlich!" Hastig kam Dominique auf die Beine. "Ich warte draußen." Er verfügte sich eilig in den Flur, zog brav die Zimmertür hinter sich zu. Da lief er nun langsam auf und ab, in der Schöner Wohnen-Kulisse, fragte sich, wie es wohl war, hier zu leben. Nein, eher zu logieren, wie ein geduldeter Gast, ständig allein, ohne Gesellschaft, darauf bedacht, möglichst keine Spuren zu hinterlassen, abgestellt und durch fremde Serviceunternehmen versorgt. Rosa wirkte auf ihn nicht wie der berüchtigte Teenie, der per sozialem Netzwerkeintrag Partys schmiss und damit Katastrophengebiete erzeugte. Auch die bunten Verkleidungen ihrer Möbel konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich an die 'Regeln' hielt, weil sie noch hoffte, auf Anerkennung durch die schöne Frau auf dem Poster, die sich nicht weiter für sie interessierte. Nahm sie Rosa die Hautanomalien übel? Er hatte davon gelesen, dass auf ihre äußere Erscheinung fanatisch bedachte Frauen in ihren eigenen Töchtern sogar Rivalinnen sahen, die stete Erinnerung, dass sie älter wurden, dass Konkurrenz im eigenen Haus heranwuchs und sie dabei den Kürzeren zu ziehen drohten. Eine hässliche Vorstellung. Wenn er allerdings Rosas Äußerungen als Zitate aus dem Mund ihrer Mutter verstand, dann zählte für diese das äußere Auftreten und die damit verbundenen Manipulationsmöglichkeiten am Meisten. Perfektion. Ebenmaß. Adaption gängiger Schönheitsideale. Diesen Wettstreit konnte Rosa nicht gewinnen, denn ihre Anziehungskraft war nicht die Schnittmenge aller Ideale. Sie entsprach eben nicht der NORM, dem Durchschnitt! Diese Kontemplation führte ihm jedoch vor Augen, dass er recht wenig über seine Rosa wusste. Hatte sie andere Verwandte? Lebten ihre Großeltern noch? Gab es jemand in ihrem Leben, der ihr als Vorbild diente? Eine Person aus Fleisch und Blut, die sich nicht so distanziert wie ihre Eltern verhielt? "Ich muss mich wohl schlauer machen!" Tadelte er sich selbst halblaut. So wenig statistische Daten über eine Persönlichkeit aussagten, so wichtig waren sie doch, um Begrenzungspfähle einzuschlagen, an denen man sich ein wenig orientieren konnte: Geburtstage, Konfektionsgrößen, Stundenpläne, Freizeit, bevorzugte Speisen, Hobbys... Er hatte eine Menge aufzuholen, befand er beklommen. Aber Aufgeben kam selbstverständlich nicht in Frage! In diesem Augenblick vernahm er seltsame Geräusche. Sie waren dumpf, wiederholten sich, wenn auch mit kleinen Unregelmäßigkeiten. Vorsichtig klopfte Dominique an die Zimmertür. Als er keine Antwort erhielt, drückte er die Klinke leise, lugte wagemutig durch den entstandenen Spalt in Rosegundes Zimmer. Diese verlegte sich gerade, mit einer Art aufblasbarer Keule auf ihre Matratze einzuprügeln, das Gesicht bereits hochrot, die Haare fliegend. Ein leiser aber umso beängstigender Koller tobte sich hier aus. Ein wenig ratlos wagte sich Dominique weiter hinein in die Höhle des tobenden Untiers. Inzwischen war Rosegunde sichtlich außer Atem, ihre Arme zitterten merklich, die aufgepumpte Keule glitzerte, wo Schweiß ihrer Hände Spuren auf dem Kunststoff hinterließ. Die Keule weg schleudernd drehte sie ihm den Rücken zu, legte den Kopf in den Nacken, keuchend, die Linke in die schlanke Taille gestützt, die Rechte zur Faust geballt. "Rosa?" Dominique war bereit, den Blitzableiter zu spielen. Wenn er sonst nichts beitragen konnte, um ihr zu helfen... "Niq, ich muss dich leider jetzt rausschmeißen." Ihre Stimme klang gefährlich beherrscht, die Diktion blieb knapp, betont sachlich. "Mein Vater hat mich ab Montag für ein Archäologen-Camp im Nirgendwo in der Bretagne angemeldet. Jetzt muss ich sehen, dass ich die Anreise organisiere, die Fahrkarten bezahle und noch packe. All die winzigen, unwesentlichen Details, die ihm leider entfallen sind." "...oh..." Stellte Dominique fassungslos fest. "Tja, also morgen kein Videoabend, richtig? Na klar, dumme Frage. Ich geh dann. Darf ich dich morgen Abend noch mal anrufen? Gute Reise wünschen?" Er kam sich wie ein Vollidiot vor, wollte sich selbst gar nicht zuhören, während sein Herz langsam wie eine ausgetrocknete Sandburg zerkrümelte. "Ich ruf dich an." Rosegunde zerwühlte nun ihre wirren Strähnen, wandte ihm stur den Rücken zu. "Sorry, aber du kennst ja den Weg raus, richtig? Mach's gut und....danke, Niq." Einige Herzschläge standen sie wie Statisten in ihrem eigenen Leben reglos herum, unschlüssig, ob nun Geduld oder Konfrontation die bessere Lösung darstellte. Die Schultern auf Halbmast schluckte Dominique und verabschiedete sich mit klarer Stimme. "Dann viel Erfolg, Rosa. Danke dir für alles." Als er sich in der Wohnungseingangstür noch einmal auf der Schwelle herumdrehte, hörte er wieder das dumpfe Aufschlagen der Keule, mit Vehemenz und schneller Schlagzahl. §-#-§ Dominique hätte gern bei seiner Ankunft in den heimischen vier Wänden Trübsal geblasen, das stand ihm ja wohl zu, doch seine Disziplin gewann die Oberhand. Der Anzug wurde ausgelüftet, die Schuhe ordentlich in einem Karton verstaut, der Rucksack von allem befreit, was dort nicht hineingehörte. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel für ihn. [Guten Morgen, Nickie! Hattest Du gestern Spaß? Kannst Dich ruhig noch mal hinlegen, ich bin allein einkaufen. Rita fährt mich, dafür muss ich mit ihr auch den Schweden-Laden besuchen. Du bist also Selbstversorger heute Mittag. Kopf hoch, mein Großer, Küsschen, Mama!] Dominique grinste ein wenig getröstet, denn er wusste, dass seine Mutter den "Schweden-Laden" fürchtete. Immer kaufte sie etwas, obwohl sie es partout nicht wollte! Und dann auch noch mit groteskem Namen! Aber der Bummel würde ihr Vergnügen bereiten, was sie sich redlich verdient hatte! Das Telefon lärmte quäkend, Dominique hob pflichtschuldig ab. "Thierry? Was...nein, ich bin wach! War prima, ja... dich treffen? Jetzt gleich?... ah, verstehe. Nein, kein Problem, ich komme!" §-#-§ "Was genau suchen wir?" Dominique folgte Thierry artig, der in ungewohnter Aufregung durch das große Kaufhaus stromerte, auf den Einschlag eines Geistesblitzes hoffte. "Ich weiß selbst nicht!" Sein bester Freund atmete tief durch. "Aber sie haben morgen Geburtstag. Beide, logisch. Eine Kleinigkeit sollte ich mitbringen, für jeden, selbstverständlich, aber ich bin ratlos..." DAS war nicht zu übersehen, wie Dominique ein wenig leidend konstatierte. Zwar war er höflich über den Ball befragt worden (Thierry HATTE ihm zugehört), als er dann jedoch dezent auf seine Übernachtung anspielen wollte, lief Thierry unerwartet rot an, fingerte sich nervös in den wirren Locken herum und lenkte ab. Woher sollte Dominique auch ahnen, dass seine Erinnerungen Thierry einen für dessen Geschmack viel zu intimen Eindruck davon gaben, welche neuen Universen sich für seinen Freund eröffnet hatten? "Nun, wie wäre es mit einem Spiel? Oder etwas zu essen? Wenn es doch eine Grillparty ist." Dominique bemühte sich um hilfreiche Anreize. "Außerdem, sag mal, wie alt sind denn die Zwillinge? Woher kennst du sie?" Thierry erstarrte, was zu einem Aufprall führte. "Ähemm." Antwortete er eloquent. "Sag mal, hängt das mit dieser Sache vom Mittwoch zusammen?" Dominique studierte seinen besten Freund verblüfft. "Dieser Wunder-Medizin, oder was auch immer du geschluckt hast?!" "Das ist ein wenig kompliziert." Wich Thierry unruhig aus, verweigerte den Blickkontakt. "Sie werden 27 Jahre alt. Selina und Selim. Außerdem, ich habe KEINE Wunder-Medizin geschluckt." "Aber du benimmst dich total schräg!" Konterte Dominique, kreuzte die dünnen Arme vor der Brust. "Bist du vielleicht in das Mädchen, ich meine, die Frau verliebt?! Arbeitet sie in der Apotheke?" "Wie? Nein, sie ist Ingenieurin beim Entsorger... wieso verliebt?! Wie kommst du denn auf so was?!" Da konnte Dominique nur die wasserblauen Augen verdrehen. So eine schlechte Schmierenkomödie hatte er lange nicht mehr gesehen! "Hör mal, du stotterst, bist fahrig, schwitzt, läufst dauernd rot an, kannst mir nicht mal ins Gesicht sehen und lügst so unterirdisch schlecht." Dominique zählte nun den Daumen der rechten Hand an. "Soll ich weitermachen? Also, kaufen wir jetzt die Geschenke und du erklärst mir, was los ist, oder verschwenden wir hier unsere Zeit?!" Thierry hielt den Kopf gesenkt, seine Fäuste geballt, rang mit sich. "He, du musst es mir auch nicht sagen." Versetzte Dominique kühl. "Aber hilfreich wären wenigstens ein paar dürre Informationen, damit wir diese Geschenke finden und dann jeder nach Hause gehen kann." "Komm mal." Thierry zog ihn am Handgelenk durch die Kauflustigen in die dank hochsommerlicher Hitze wenig frequentierte Sockenabteilung. Er seufzte tief, studierte seine Schuhspitzen. "Also, sie haben mir geholfen, als ich auf der Straße wieder einen Anfall hatte. Danach haben wir uns immer wieder getroffen." Er stockte, biss sich auf die Lippen. "Du bist nicht in diese Selina verliebt." Dominique soufflierte leise, ohne jeden Spott. Thierry, der direkt vor ihm stand, schüttelte bloß unmerklich den Kopf. »Au Backe!« Dachte Dominique erschrocken. »Das wird ja immer komplizierter!« "Weiß er Bescheid? Über diese Vampir-Sache?" Tastete er sich tapfer vorwärts. Dass Thierry sich verliebte, war eigentlich kein Wunder und erklärte zumindest dessen merkwürdige Verwandlung (oh, verflixt, wie sehe ich dann eigentlich heute aus?!), denn abgesehen von seiner zugeknöpften Art hatte er einen liebenswerten Charakter und sah unverschämt gut aus. Nicht nur für einen Vampir! Sein bester Freund nickte wieder minimal. Aufzusehen traute er sich nicht. "Oha!" Kommentierte Dominique mitfühlend. Wahrscheinlich schämte Thierry sich dafür, in einen älteren Mann verliebt zu sein und hatte Angst vor der Reaktion seiner Umwelt. "Na schön!" Energisch klopfte er auf eine schmale Schulter. "Genug Zeit verschwendet! Wenn auf die Party Leute kommen, die nicht wissen, was zwischen euch läuft und die Geschenke ausgepackt werden, halte ich was Neutrales für besser. Dein spezielles Geschenk gibst du ihm dann, wenn ihr alleine seid." Endlich richteten sich die tiefschwarzen Augen wieder auf ihn, erschreckend dankbar und kleinmütig. "Na los!" Dominique hängte sich tollkühn ein. "Wir machen es so, dass ich was aufstöbere und du entscheidest, ob es für deine Zwecke was taugt!" §-#-§ Für Selina landete er den ersten Treffer, einen Stoff-Schlüsselanhänger in Gestalt eines Helferleins aus einem aktuell laufenden animierten Film, perfekt mit Nerd-Brille, Latzhose und Kreuzschlüssel, niedlich, praktisch und unverfänglich. Dann galt es, für Thierrys Herzbuben etwas zu finden, den Dominique gar nicht kannte. Er wählte eines dieser zusammengepressten Handtuch-Geschenke, die sich in Wasser aufplusterten, ein grünes, kulleräugiges Krokodil. Ein netter, harmloser Gag. "Was gibt dein Budget denn noch her?" Erkundigte er sich bei Thierry, der ruhiger wirkte, deutlich erleichtert, zumindest einen Teil seiner selbst gewählten Verpflichtung erfüllt sah. "Was mag er so? Gibt es irgendwas, das so eine Art Code zwischen euch ist, worauf du anspielen willst?" "Vampirgebiss aus Plastik." Grummelte Thierry seufzend. "Tut mir wirklich leid, dass ich so untertalentiert bin! Ich habe einfach keine Erfahrung mit Geschenken!" "Ich mach so was hier auch zum ersten Mal!" Antwortete Dominique ihm ein wenig ironisch. "Also, gib mir ein paar Hinweise! Mag er ein bestimmtes Aftershave? Trägt er Schmuck? Was ist mit einem Taschenkalender für Verabredungen?" Gut, DAS war wirklich kitschig! "Ich geh mal hier rund und du da." Thierry gestikulierte. "Dann fällt mir bestimmt was ein!" Etwas Persönliches, Verbindendes. Dominique musterte seinen besten Freund nachdenklich. Ein besonderes Geschenk mit einer Botschaft, der erste Geburtstag... Thierry hatte es ganz sicher nicht leicht. Und er selbst?! Ein unglaublicher Abend und eine unvergessliche Nacht lagen hinter ihm, und er stand nun hier, zwar klimatisiert, aber schmollend und unleidlich wie ein ewiger Grantler! Beleidigt, weil seine unausgesprochenen Hoffnungen torpediert worden waren, dabei war es ja normal, in den Ferien auch wegzufahren! Rosa würde ja wiederkommen, richtig?! Wenn sie schon allein abreiste, wäre es doch eine Schande, sich so unbehaglich zu trennen! »Genau! Ich bringe sie zum Bahnhof! Verabschiede mich ordentlich! Und...!!« Es gab noch etwas, das er tun konnte!! §-#-§ Der Anhänger war perfekt. Zugegeben, eigentlich sollte er den Erstklässlern wohl an den Ranzen gehängt werden, ein frech grinsender Schutzengel, nicht zu vergleichen mit St. Christophorus oder ähnlichen heheren Figuren! Zuversichtlich, keck, optimistisch feixte dieser Engel vollbackig ins Leben. Thierry WUSSTE einfach, dass dieser Anhänger wunderbar auf Selims toffee-farbener Haut aussehen würde. Der Botschaft war überdies nichts hinzuzusetzen: Selim hatte ihn gerettet. §-#-§ Kapitel 13 - Bedeutungsvolle Gaben "Das geht so?" Selbstkritisch drehte sich Thierry vor seiner Mama. Üblicherweise hatte er keinerlei Probleme, sich der Situation angemessen zu kleiden, doch eine Geburtstags-Grillparty, DAS war wirklich ein Novum. "Du siehst klasse aus!" Daumen hoch, signalisierte Freya Cavallino amüsiert, wuschelte durch die noch nicht gebändigten Locken ihres Sohnes. "Also, Mama!" Tadelte der streng, kämpfte mit der Schmuckspange. "Ich komme doch zu spät!" "Das wird bestimmt toll!" Munterte sie ihn verschmitzt auf. "Amüsiere dich gut, ja? Ruf mich an, dann hole ich dich ab!" "HmmHmm." Thierry nuschelte, die Spange zwischen den Kiefern, zwang seine widerspenstigen Locken in einen Zopf. "Versprochen!" Er küsste ihre Wange, schämte sich ein wenig, weil er ausging und sie den Sonntagabend allein verbringen würde, doch die prickelnde Vorfreude schäumte alle Zweifel ein. Adrett gewandet, in Stoffhosen, kurzärmligem Hemd und Strickjacke (es konnte abkühlen!), in einer Papptüte die Geschenke apportierend, das lästige Mobiltelefon in die Gürteltasche geklemmt machte er sich auf den Weg zur Kleingartenkolonie, wo im gemieteten Vereinslokal die Zwillinge ihren Ehrentag zelebrierten. Er wusste nicht, dass seine Mama einen kleinen Seufzer ausstieß. "Sieh dir nur unseren wunderbaren Sohn an! Jetzt geht er schon auf Freiers Füßen! Ach ja..." Vertraute sie ihrem Gianno an. Man musste kein Vampir sein, um zu erkennen, wie die Situation zwischen ihrem Schatz und dem sympathischen Selim stand, der sich artig vorgestellt, sie munter unterhalten hatte. Da genügte schon der bluthundartige Instinkt einer Mutter. §-#-§ "Oh, Telefon... Nickie, gehst du bitte mal ran?" Dominique brummelte eine Antwort, schnappte sich den Hörer, meldete sich artig. Es war kurz vor Sechs und er hatte sich vorgenommen, danach bei Rosa anzurufen, in jedem Fall vor der Tagesschau! Da wollte er sich an die ungeschriebenen Regeln halten. Außerdem lieber eine Abfuhr kassieren, als aus Stolz zu lange zu warten, sich die ganze Nacht den Kopf zu zerbrechen, ob er ihr vor dem Haus auflauern oder sie am Bahnhof überraschen wollte. Was ohne zeitliche Vorgabe eine sehr lange Geduldsprobe darstellen konnte! "Rosa?! Oh...das... ja, das kann ich machen! Ja, einverstanden. Gut, dann also bis gleich!" In euphorischer Stimmung legte er behutsam den Hörer auf die Gabel, flüsterte, "jajajajaja!", wischte dann eilig zu seiner Mutter. Sie MUSSTE einfach zustimmen, dass er Rosa morgen zur Bahn brachte und praktischerweise bei ihr vorher die Nacht verbrachte! Filmabend, ganz harmlos! §-#-§ Die Atmosphäre war ausgelassen, dezente Musik, Rutger hantierte am Grill, es gab die obligatorischen Salate, aber auch Grillkäse und -gemüse, geröstete Brotscheiben, Dipps mit exotischem Inhalt, dazu alkoholfreie Getränke und ziemlich zerrupfte Dekoration, zwischen Disco und Bierzelt. Ein wenig eingeschüchtert hatte sich Thierry dem Trubel genähert. Selim erspähte ihn jedoch sofort, nahm ihn an seine Seite und wich nicht mehr einen Moment von dort. Die meisten anderen Gäste waren älter als Thierry, Studierende, Bekannte, Menschen aus dem Kollegium oder der Nachbarschaft. Familienangehörige schienen sich nicht zu zeigen, aber danach wollte Thierry sich lieber nicht erkundigen. Seine Mitbringsel fanden dankbare Freude, er wurde geherzt, überall vorgestellt. Selbst Rutgers Präsenz setzte ihm nicht mehr so zu. Der Werwolf musste wohl widerwillig akzeptiert haben, dass er nun zum engsten Kreis gehörte, was nicht bedeutete, dass seine Beziehung zu Selim offiziell war. Glücklicherweise, denn was zwischen ihnen so perfekt funktionierte, ganz natürlich und selbstverständlich wirkte, konnte vor Dritten wohl kaum diesen Rang einnehmen. Mit Grillware versorgt mümmelte Thierry ein wenig abseits vom größten Trubel vor sich hin, erlebte die Zwillinge in Gesellschaft anderer Personen. Selina wirkte weniger kühl und beherrscht, lachte viel und herzlich. Darin stand sie Selim in nichts nach, der gewohnt optimistisch an alles heranging, Scherze machte, Essen austeilte und für alle einen launigen Gruß übrig hatte. Ein bisschen Grimmen konnte man da schon, dass Selim zu allen so freundlich war! Thierry schämte sich postwendend dieser lächerlichen Eifersucht, denn seine feinen Fühler fingen zwar auf, dass besonders einige der weiblichen Gäste die Bekanntschaft gern vertieft hätten, doch von Selims Seite kein Interesse aufblitzte. Überrascht blickte er von seinem Teller hoch, als sich Rutger neben ihn platzierte. "Da!" Der muskulöse Werwolf schob ihm verstohlen einen gefalteten Zettel zu. "Nette Feier, was?" "Ja, sehr lustig." Antworte Thierry langsam, schob den Zettel unter seinen Teller. "Das sind übrigens sehr hübsche Ohrringe, die du Selina geschenkt hast." Verlegen rollte der Werwolf die mächtigen Schultern. "Kein Kunststück, hat sie selbst ausgesucht. Sie gibt mir immer Hinweise, damit ich es nicht total vermurkse." In unerwarteter Verbrüderung lächelte Thierry zu ihm hoch. "Oh, das kenne ich!! Ich habe meinen besten Freund als Ratgeber mitgenommen!" Rutger brummte sonor Unverständliches, berührte Thierry kameradschaftlich an der Schulter, bevor er sich erhob, murmelte, er werde Selim mal am Rost ablösen. Als Thierry sich unbeobachtet fühlte, lupfte er behutsam den Teller von seinem Schoß und studierte eilig den Zettel. Es war eine Adressliste von unterschiedlichen medizinischen Einrichtungen, die besondere Geheimnisse zu wahren wussten. §-#-§ Dominique klemmte sich sein Rollbrett unter den Arm und stürmte die Zitadelle. Bevor er jedoch klingeln konnte, öffnete Rosegunde bereits die Wohnungseingangstür. "Komm rein!" Grollte sie gewohnt rau, die Haare wirr, ein sackartiges T-Shirt über noch unkleidsameren Haremshosen präsentierend. "Danke." Dominique folgte ihr, schlüpfte aus seinen Schuhen, stellte Rollbrett und Rucksack ab. "Ich habe das Video mitgebracht." "Okay." Ohne sich nach ihm umzusehen ging Rosegunde voraus in ihr Zimmer. Dort lief ihr Laptop, daneben lag das Wunder-Mobiltelefon wie ein lästiger Tyrann. "Setz dich!" Sie klopfte auffordernd auf ein Sitzkissen an ihrer Seite. Dominique leistete ihrer Order Folge, faltete seine dünnen Glieder artig ein. "Kein Internet, kein Fernsehen, nur Satellitentelefon, Schlafen in dem alten Steinschuppen da. Alle zwei Stunden fährt ein Bus durch das Kaff. Fußmarsch zum Ausgrabungsort ne halbe Stunde." Dominique studierte die Bilder. Er war noch nie in der Bretagne gewesen, hatte nur frustriert ein wenig darüber gelesen. "Sehr ländlich." Kommentierte er schließlich. "Was genau wird dort ausgebuddelt?" "Keine Ahnung!" Rosegunde schnaubte. "Aber es sind alles ganz tolle Leute dort! Ich bin die Einzige, die nicht vom Fach ist oder es studiert. Soll aber niemand behaupten, dass mein Herr Vater sich nicht um die Bildung seiner Tochter kümmert, oh nein! Da werden keine Kosten und Mühen gescheut!" Sie klang verbittert und enttäuscht, unter dem trotzigen Lack aus Spott und Verachtung. "Wie lange dauert so eine Ausgrabung?" Dominique rückte ein wenig näher heran, sodass sich ihre Schultern streifen konnten. "Kampagne!" Rosegunde näselte plötzlich blasiert. "Wir nennen es Kampagne, Kleines. Ich habe zwei Wochen vereinbart, deine Mutter will sicherlich auch etwas mit dir unternehmen." Dominique identifizierte den absenten Vater in diesen Worten. "Also 14 Tage... und dann verreist du wieder?" Seine Sommerferien hatte er sich ein wenig anders ausgemalt. Immerhin trennten sich ihre Schulwege danach! "Ha!" Schnaubte Rosegunde frustriert. "Meine Mutter wird mir die Sommerakademie vorschlagen oder etwas, was von ihr kein Engagement erfordert. Und mich daran erinnern, dass ich ja allein zurechtkomme." "Besucht du also keine Verwandten?" Eisfelder voraus, doch Dominique bewies Traute. "Besuchst DU Verwandte?!" Knurrte Rosegunde ihn finster an, die blau-violetten Augen blitzten ärgerlich. "Tja." Dominique ließ sich nicht abschrecken. "Meine Oma in Krefeld lebt im Altersheim, da telefonieren wir nur. Mein Vater wird vielleicht was mit mir unternehmen, aber nicht verreisen, denn das ist ziemlich teuer. Seine Eltern sind nach Thailand ausgewandert, das ist zu weit. Andere Verwandte sind eher weitläufige Bekannte, und wir haben keinen engen Kontakt." Er zögerte, straffte dann aber seine dürre Gestalt. "Außerdem, das Geld wird vielleicht wieder für meine Behandlung benötigt. Oder es kommt eine unerwartete Reparatur. In diesem Sommer habe ich auch keinen Ferienjob gefunden, also..." Ließ er seine Erläuterung leise ausklingen. Rosegunde klickte die eintönigen Bilder auf ihrem Laptop weg, wandte sich ihm aber nicht zu. "Ich kenne meine Großeltern nicht. Die Mutter meines Vaters, Rosegunde I, ist schon vor meiner Geburt gestorben. Der einzige Bruder meines Vaters lebt in den USA, und die beiden sind sich spinnefeind. Meine Mutter hat sich mit ihrer Mutter überworfen, also gibt's da keinen Kontakt. Wenn ich in den Ferien nicht irgendwohin verfrachtet worden bin, habe ich sie meist allein hier verbracht." "Das tut mir leid." Rutschte Dominique raus, bevor er sich bremsen konnte. Rosegunde warf ihm einen provozierenden Blick zu, prustete lästige Strähnen aus ihren Augen und lupfte die Braue ironisch. "Also, wenn du nicht verfrachtet wirst, dann könnte ich ja einen Teil der Ferien mit dir verbringen. Gelegentlich. Nach Absprache." Dominique lächelte scheu. Ihre Mundwinkel zuckten leicht, dann schmunzelte sie schräg. "Ach, halt die Klappe, Niq, ja?" Sie küsste ihn sanft auf den Mund. §-#-§ "Danke, dass du geholfen hast." Selina strich Thierry einige entfleuchte Locken aus dem erhitzten Gesicht. "So sind wir noch schneller fertig." "Nicht der Rede wert!" Beeilte er sich zu versichern. "Noch mal vielen Dank für die Einladung. Es hat sehr viel Spaß gemacht." Selina lächelte ihn offen an. "Das wird bestimmt nicht unsere letzte gemeinsame Feier sein, Thierry. Jetzt lass dich von Selim nach Hause bringen. Ist schon spät." Thierry nickte, wurde kurz geherzt, dann durfte er Selim suchen, der mit Rutger gemeinsam aufgeräumt und Selinas geliebten Kleinwagen beladen hatte. "Ah, hast du deiner Mama Bescheid gesagt, dass ich dich bringe?" Selim klemmte sich das Krokodil vorne in den Ausschnitt seines T-Shirts. Er war immer noch munter und tatendurstig, wie es schien. "Ja, ich habe sie angerufen. Ist das auch wirklich in Ordnung?" Immerhin musste Selim den Drahtesel eine gehörige Strecke bewegen und gefeiert hatten sie ja recht lange. "Aber sicher! Komm!" Schon wurde Thierrys Hand gekapert. "Machen wir uns auf die Socken! Ist doch ein toller Abend, laue Luft, Sterne und so viel Lachen, dass mir die Backen schon wehtun!" Wie zuvor kletterte Thierry auf den Gepäckträger, schmiegte sich an Selims athletische Gestalt, horchte auf die kraftvollen Herzschläge unter seiner Wange. Er spürte die Hitze, roch den verlockenden Duft der Haut. Hätte vor Wohlbehagen schnurren mögen! Allerdings klopfte sein Herz auch beschleunigt, denn eine Mission lag noch vor ihm und die wollte er unbedingt in Angriff nehmen, wenn Selim das Rad anhielt. Sie sprachen nicht, während es im gemächlichen Tempo durch ruhige Wohnstraßen ging, nur Hunde-Ausführende ihnen begegneten. Geübt bog Selim ein, ließ sein Fahrrad vor der Haustür ausrollen. "Da sind wir schon." Stellte er fest, klappte den Ständer aus. "Es war toll, dass du heute da warst, Thierry. Danke schön." "Selim!" Hastig umklammerte Thierry einen muskulösen Oberarm. "Warte bitte noch einen Moment!" "Nichts dagegen." Schnurrte der ältere Mann sonor und dirigierte Thierry mit Hüftkontakt aus dem Sensorbereich der Außenleuchten, beugte sich herunter, schlang die Arme um ihn und küsste ihn hingebungsvoll. Thierry stieg seinerseits auf die Zehenspitzen, grub die Fingernägel in den T-Shirt-Stoff, rang mit dem Handtuch-Krokodil um den größeren Hautkontakt an Selims muskulöser Brustpartie. Der prustete schließlich ob des bizarren Wettkampfes und rückte ein wenig von Thierry ab. Im Licht der Straßenlaternen konnten sie einander nur erahnen, deshalb waren Worte wichtig. Thierry sprach sie leise aus. "Ich habe noch ein Geschenk für dich. Kannst du dich ein bisschen vorbeugen, bitte?" Vorsichtig entführte er den in ein Taschentuch eingewickelten Schutzengel-Anhänger aus seiner Hosentasche, fädelte die schlichte Kette um Selims Nacken und verschloss sie. "Oh, das muss ich sehen!" Selim nahm Thierrys Hand, führte ihn aus ihrem Blinden Fleck heraus. Die Beleuchtung zündete, in der Glastür spiegelten sich ihre Gestalten, ebenso Thierrys Geschenk, das halb auf dem Krokodil lag. Das musste nun weichen, während Selim sich studierte. "Perfekt." Raunte er endlich andächtig. Er wandte sich Thierry zu, der ihn halb bange, halb stolz betrachtet hatte. "Vielen Dank, Thierry. Das ist wunderbar." "Freut mich, dass es dir gefällt..." Thierrys Füße verloren den Bodenkontakt, er wurde beschleunigt durch die Luft gewirbelt und sicher aufgefangen. "Ich liebe dich." Flüsterte Selim mit dezent geröteten Wangen zu ihm hoch, hielt ihn fest an sich gepresst. Prompt errötete Thierry heftig, wusste nicht, wo er hinblicken sollte, verwünschte seine Verlegenheit und quäkte krächzend. "Ich liebe dich auch." Uh, was für ein grauenhafter Auftritt! Er schlug die Hände vors Gesicht. Selim lachte leise, sein Herz trommelte Begeisterungswirbel, wie Thierry eindeutig spürte, dann wärmte ihn eine herzliche Umarmung. "Danke. Danke, Thierry." "Dito." Wisperte Thierry in eine vertraute Halsbeuge und schmiegte sich fest an. Das war wirklich ein perfekter Moment. §-#-§ Laptop, DVD und Mobiltelefon waren vergessen. Dieses Mal leisteten der einsamen LED-Kerze altmodische Teelichter mit Aroma in Laternen Gesellschaft. Ein sanfter, lauer Luftzug bewegte vom Fenster her die Stoffbahnen. Hin und wieder fuhr leise ein Auto in der Nähe vorbei. Dominique ließ sich anleiten, wie schon zwei Nächte zuvor. Sie mussten eigentlich niemandem etwas beweisen, deshalb stand auch nicht zu befürchten, dass Rosegunde sich kopfüber in die nächste Aktion stürzte. Er wollte vor allem sicher sein, dass sie sich geliebt fühlte, nicht ertrank in Zynismus, Einsamkeit und herablassender Arroganz. Außerdem spürte er Melancholie in ihrem Verhalten, in der Art, wie sie über sein Gesicht, seinen rasierten Kopf strich, ihre Fingerspitzen seine Verbände berührten. »Wir wollen wohl beide, dass es dem anderen besser geht.« Wanderte ihm durch den Kopf, während sie einander liebkosten, die sexuelle Spannung nur langsam aufbauten. Er initiierte eine Rolle, ignorierte die lästige Decke, erkundete ihren knochigen Leib erneut, zog Spuren mit seinen Lippen, sengte Male mit seinem Atem, hörte ihr Seufzen, ein bisschen rau, ein bisschen traurig. Höchste Zeit herauszufinden, ob seine Rosa nicht doch ein wenig kitzelig war! §-#-§ Auch wenn sie das Wort nur ungern benutzte: gelegentlich nötigte Niqs Verhalten sie zur Ehrfurcht! Weil er unerwartet cool, nein, souverän agierte, sich nicht ins Bockshorn jagen ließ von ihren Eskapaden und Ausfällen, sich offenbarte, wenn er doch Spott befürchten musste. Niq war wirklich verdammt tapfer, und das schüchterte sie mehr als einmal ein. Doch so oft sie ihn auch auf die Probe stellte, aus Trotz, häufig und uneingestanden jedoch aus Angst: er blieb unerschrocken dabei, ließ nicht locker, ohne sie kontrollieren oder beherrschen zu wollen. Er stellte keine Forderungen, sondern hoffte einfach auf ihr Entgegenkommen! Also kam sie ihm eben entgegen. Es war gar nicht so bedrohlich und erstickend, wenn er sich über ihr bewegte, sein Gewicht auf ihre Knochen drückte. Bequem hatte er es vermutlich nicht, sie kannte sich ja selbst, eckig, linkisch, ohne nennenswerte Kurven, von fehlender Übung ganz zu schweigen! Aber typisch Niq, der nett sein wollte! DA war er wieder, dieser hässliche, Fratzen schneidende Zweifel, den sie am Liebsten aus ihrem Kopf geätzt hätte: dass sie nur deshalb hier zusammen waren, weil sie sonst niemanden hatten. Dass alles nur eine Illusion aus der Not heraus war, die Einbildung von Zuneigung anstelle der ursprünglichen Emotion. Was selbstverständlich absoluter Scheiß war, Henne und Ei, spielte doch keine Rolle!! Oder? "Rosa?" Niq flüsterte ihren Namen immer sanft, liebevoll. Wenn sie es recht bedachte, war er auch der Einzige, der ihn überhaupt regelmäßig benutzte und nicht auf Spitznamen oder Beschimpfungen auswich. Sie schmiegte sich in seine dünne Gestalt, die ebenso knochig und sehnig wie ihre eigene war, presste die brennenden Augen auf die trockene Haut seiner Schulter, würgte die bittere Galle von Selbstzweifeln und Angst herunter. Sie schob sich ein wenig tiefer unter seiner Gestalt, höflich abgestützt, typisch Niq, um sie nicht zu erdrücken, verpasste ihm mit Unterdruck und spitzen Zähnen einen vermutlich ziemlich hässlichen, aber unverkennbaren Knutschfleck direkt über seinem hastigen Herzschlag. Körperverletzung als Besitzmarke, als einen temporären Beweis dafür, dass sie Rechte an ihm hatte! Ziemlich gemein, wie Liebe sich auswirkte, fand sie und verbannte weitere Zynismen, die sich in ihren Kopf drängen wollten. Sie hörte Niq zischend durch die Zähne atmen, ihm kam jedoch keine Klage oder ein Wehlaut über die Lippen. Das war eines seiner besonderen Merkmale, wie ihr schon aufgefallen war: die Selbstbeherrschung durch kontrollierte Atemzüge. Jetzt hätte er sich rächen können, sie ebenfalls beißen oder kratzen, das wäre nur gerecht gewesen! Stattdessen streichelte er ihr durch den wirren Schopf, schlang die Arme um sie, forderte nichts ein, verstand viel zu viel von ihren schmutzigen, selbstsüchtigen, kleinmütigen Gefühlen! Rosa hasste das salzige Wasser, das ihr die Sicht verschmierte. §-#-§ Viele Gedanken konnte man wirklich nicht erübrigen, da fehlte die rege Blutzufuhr, konstatierte Dominique beinahe beiläufig. Vielmehr verließ er sich auf seine Intuition, reagierte im Reflex. Sie war wütend, traurig, ratlos, mochte sich selbst gerade nicht leiden, das spürte er genau. Er schämte sich ein wenig, weil ein prominenter Teil seiner Physis nicht zartfühlend in den Hintergrund trat, sondern besondere Aufmerksamkeit einforderte. Ablenkung tat Not, nicht subäquatorial, das schien ihm aussichtslos, aber Rosa sollte sich allein auf JETZT und HIER konzentrieren! Weil der Morgen und mit ihm der Abschied viel zu bald kommen würden. »Ein bisschen eigennützig sind wir auch, richtig?« Dominique wehrte sich nicht gegen die Behauptung, sondern ergriff die Initiative, Hautkontakt, das größte Organ jedes Menschen bedienend. Damit kannte er sich schließlich aus! Wenn er sie in unsichtbare Bande geschlagen hatte, er jedem Fleckchen ihres Körpers seine Aufwartung gemacht hatte, dann sollte sie in eine Wolke aus Liebe und Bewunderung gehüllt sein! Positive Energie! §-#-§ Dominique hielt einladend die leichte Decke gelupft, als Rosegunde von der Toilette zurückkehrte. Er hatte seine "Nacharbeiten" schon bewältigt, dankbar für ihre praktische Natur, die ausreichend Kosmetiktücher und kleine Müllbeutel in Reichweite zur Verfügung stellte. Ein wirklich manierlicher Mensch hätte wahrscheinlich noch die Dusche aufgesucht, das Bettzeug gewechselt, doch ohne eine Beschwerde seiner Gastgeberin und Mitspielerin sah Dominique ungewohnt rebellisch dafür keine Veranlassung! Rosegunde rollte sich ein, kehrte ihm den Rücken zu. Er nahm das nicht übel, rutschte scheu ein wenig näher heran, verweigerte sich aber ein uneingeladenes Anschmiegen. "Erwarte bloß kein Frühstück, klar? Kann schließlich die Sauerei nachher nicht wegputzen!" Krächzte sie grollend. "Das werde ich nicht." Antwortete er artig. Hatte ihr Austausch von Zärtlichkeit (und hormongetriebener Leidenschaft) sie wieder so eingeschüchtert, dass sie zur Kratzbürste wurde? "Denk bloß nicht, dass ich am Bahnsteig ne Szene will! Ratzfatz, rein und ab!" Knurrte sie rau. Dominique robbte noch näher, legte tollkühn einen Arm über ihre Taille, vorgeblich die gemeinsame Bettdecke justierend. "Verstanden. Ich werde mich in Zurückhaltung üben, Rosa, auch wenn ich dich sehr vermissen werde." Für lange Augenblicke blieb es still, die Atmosphäre angespannt, in Erwartung. "Red keinen Stuss! Sind doch bloß 14 Tage! Ich werd jedenfalls keine Zeit haben, um irgendwas zu vermissen!" "Ausgenommen heiße Bäder, das Internet, deine Ruhe..." Dominique stichelte ein wenig, mit sanfter Stimme. Seine Hand wurde gegriffen und grob gequetscht. "Halt die Klappe!!" "Aye, aye!" Schnurrte er in den Nacken direkt vor seinen Lippen. "Schlaf gut, Rosa." Weil sich einladend die Strähnen teilten, direkt vor den Wirbeln ihres Nackens, küsste er die weiße Haut dort warm. "...Depp!" Raunzte sie kaum hörbar, seine Hand noch immer ihr Pfand, rollte sich noch kompakter zusammen, berührte seinen Körper, den er einladend um sie wickelte. »Wie praktisch!« Dachte er in satter Erschöpfung. »Dass das Unterbewusstsein in kritischen Momenten die Regie übernimmt!« Nur ohne die Einmischung von Verstand, Manieren, Zwängen, Ängsten und genereller Paranoia stellte sich diese postkoitale Zufriedenheit ein! Er atmete tief den vertrauten Geruch seiner Rosa ein und lächelte sich in einen ruhigen Schlaf. §-#-§ Die Nacht war kurz, eine innere Unruhe weckte sie, noch bevor Mobiltelefon und Uhr ihren Alarmruf aktivieren konnten. Rosegunde setzte sich auf, blinzelte in die ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Morgens, was ihr verriet, dass es wirklich noch früh sein musste. Sie erlegte hastig die beiden Zeitwächter und wandte sich herum zu Dominique. Anders als sie schien er es zu bevorzugen, auf dem Rücken zu nächtigen. Sein Gesicht wirkte entspannt, die bloßen Arme mit ihren Verbänden an den Gelenken lagen locker oberhalb der Bettdecke. Sein Atem ging tief und regelmäßig, eine leise Symphonie. Sie wischte sich lästige Strähnen aus dem Gesicht, klemmte sie hinter die Ohren. Was für ein Kontrast, und gut, dass er sie nicht im Schlaf gesehen hatte! Aus Gewohnheit schlief sie auf dem Bauch, die Arme an den Leib gepresst, den Kopf unter der Decke. Wie ein Krokodil im Schlamm, das hatte ihre Mutter einmal süffisant bemerkt. Hastig schüttelte sie die lästigen Gedanken beiseite. Vorsichtig lupfte sie die Decke an, schlüpfte heraus, raffte ihre Kleider zusammen. Sie nahm auch den Stapel sauberer Wäsche auf, die für ihren Abreisetag schon bereitlag. Unter der Dusche, nur lauwarm, um nicht zu trödeln, rekapitulierte sie den Ablauf, verbannte energisch die Erinnerungen an den Abend zuvor. An den Waschlappen, der trocknete, an die verwirrenden Emotionen, an die kurzen Momente, in denen ihr Kopf ohne Gedankenlast und ihr Körper perfekt gewesen waren, in einem fremden Rhythmus getanzt hatten, der Ekstase bedeutete. "Blöde Kuh!" Schimpfte sie sich selbst aus, denn ihre Wangen leuchteten rot, es prickelte in ihrem Leib in Reminiszenz an neuralgischen Stellen, die jetzt ganz bestimmt keine Aufmerksamkeiten erfahren würden! Betont ruppig trocknete sie sich ab, stopfte die Kleidung des Vortags in den Wäschesack, der erst nach ihrer Rückkehr zur Reinigung gehen würde, zog sich an, schnitt sich verächtliche Grimassen im Spiegel. Bloß nicht ins Grübeln kommen!! §-#-§ Dominique hatte mit einem energischen Aufbruch gerechnet, dass er aus süßen Träumen gerüttelt, ins Bad gejagt und auf Tempo getrimmt wurde. Dass die Wohnung quasi versiegelt wurde, Rollläden heruntergelassen, Stromversorgung unterbrochen, jede Spur ihrer Anwesenheit getilgt wurde. Er nahm seinen Rucksack und das Rollbrett auf, ignorierte seinen grummeligen Magen. Rosegunde warf sich selbst einen gewaltigen Rucksack aufs Kreuz, eine vollgestopfte Sporttasche in der Hand. "Abmarsch, losloslos!" Kommandierte sie wie ein Feldwebel, die Haare wie früher mit einem Tuch ins Gesicht gewirrt, in Cargohosen und ein weites Sweat-Shirt gekleidet, hochgeschnürte Wanderstiefel an den Füßen. Bevor Dominique Anstalten unternehmen konnte, den zweiten Griff der Sporttasche zu fassen, die Last zu teilen, bog das bestellte Taxi bereits ein. Herrisch wie gewohnt verstaute Rosegunde selbst ihre Tasche und den Rucksack, drängte Dominique in den Fond, bevor sie sich selbst niederließ und angurtete. Ihre Fahrerin hob zwar knapp die Augenbrauen ob der ungewöhnlichen Passagiere, steuerte aber gelassen den Weg zum Bahnhof an. Rosegunde starrte auf ihr Mobiltelefon, das sie schließlich in einen wasserdichten Beutel verstaute, blickte dann kompromisslos geradeaus. Gespräche waren nicht gewünscht, das signalisierte ihre Körpersprache eindeutig. Dominique hielt sich daran, nutzte jedoch die Gelegenheit, die Reisetasche und den Rucksack aufzuklauben, als Rosegunde die Fahrt entlohnte. "Gib mir den Rucksack!" Schon wurde er herumgezogen, dann am Riemen der Reisetasche in das Gewühle der Halle gezerrt. "Ich brauch noch Proviant. Hoffentlich klappt das auch mit dem Scheiß-Handy-Ticket!" Rosegunde war im Krawallmodus. Er ließ sie gewähren, apportierte artig die zweite Bäcker-Tüte, half auch, die Wasserflasche in ihrem Rucksack zu verstauen. "Da ist der Zug." Rosegunde kannte sich aus, er folgte in ihrem Kielwasser, durch die Reisetasche verbunden. "Okay, ich kann das Zeug allein reinschaffen!" "Ich helfe dir." Dominique wusste, dass bis zur Abfahrt noch einige Minuten Zeit waren. Er würde den Teufel tun, sich so abspeisen zu lassen! Da musste Rosa jetzt durch! "Nicht nötig, klar?!" Aber stur folgte er der Tasche und ließ es sich nicht nehmen, sie mit Rosegunde gemeinsam in das offene Fach über ihrem Sitzplatz zu befördern. "Geh jetzt!" Befahl sie, den Rucksack auf den noch freien Platz neben ihrem fallen lassend, beide Hände gegen seine schmächtige Brust gestemmt. "Schöne Ferien, blablabla!" Dominique stemmte die Fersen energisch in den Kunststoffbelag, fischte aus seiner Tasche die kleine Papiertüte, die er sorgfältig gehütet hatte. "Augenblick bitte, Rosa." Bat er höflich, aber unerschütterlich, umfasste mit seiner Linken ihr rechtes Handgelenk auf seinem Brustkorb, zog es zu seiner Rechten und schob den Keramikring über ihren Ringfinger. Die Gegenwehr endete abrupt. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, sie hatte es wohlweislich unter den wirren Strähnen verborgen, hielt auch jetzt den Kopf gesenkt. "Ich möchte mit dir gehen." Dominique kämpfte gegen das Dröhnen seines eigenen Pulsschlags in seinen Ohren an. "Und ich möchte dir danken, für alles." Er verstummte, weil die geballte Linke gegen seine Brust schlug. Dennoch hörte er nichts weiter als heftige Atemzüge, sah hochgezogene Schultern, blickte auf den verwüsteten, schwarzen Schopf. "Wo ist deiner?" Hörte er schließlich ihre gepresste Stimme. Aufatmend fingerte Dominique das zweite Exemplar aus der Papiertüte, ließ es sich brüsk über seinen Ringfinger streifen. "Du weißt schon, dass rechts die Schwurhand ist?!" Hinter wirren Strähnen funkelten blau-violette Augen. Hier lauerte Verhängnis, doch Dominique überwand diesen Abgrund souverän. "Ist mir bekannt. Ich finde es bloß albern, dass ein Unterschied gemacht wird, so traditionell! Links, weil's von Herzen kommt, rechts des Eides wegen, das gilt ja schließlich für beide! Ich mag dich ja nicht weniger, nur weil ich die Schwurhand nehme!" "Depp." Hörte er Rosegunde murmeln, der sämtlicher, aufkeimender Wind aus den Segeln genommen war. Dominique lächelte schlicht, denn es war nicht nötig, mehr zu sagen. Er taumelte dennoch einen Schritt zurück, als sie ihn urplötzlich ansprang, die Arme um seinen Hals schlang und ihn schmerzhaft eng drückte. "Ich warte auf dich." So eine lächerliche Phrase, doch Dominique wisperte sie trotzdem. Er hoffte, sie möge seine Rosa trösten, weil er sie schließlich überrumpelt, ihr keine Gelegenheit gegeben hatte, sich auszutoben und zu revanchieren. Vage registrierten sie eine Durchsage, der Zug würde gleich abfahren. Rosegunde stieß Dominique heftig von sich, riss ihm das Kopftuch herunter und fauchte. "Jetzt verzieh dich! Wink mir bloß nicht! Ich werd dir nicht schreiben, nicht anrufen und überhaupt nix!" Dominique nickte, schluckte heftig und murmelte. "Bis dann, Rosa." Er machte hastig kehrt, sprang durch die Türen hinaus auf den Bahnsteig. Der übliche Signalton lärmte, pneumatisch schmatzten die Türen zu. Durch das Fenster konnte er Rosa erahnen, auf dem Sitz zusammengekauert, die Füße hochgezogen, sein Kopftuch um den Hals gewickelt, von ihm abgewandt. Er sah dem ausfahrenden Zug nach, zog er aus seinem Rucksack die zweite Bäckereitüte und biss heftig in einen Milchwecken, um den Kloß in seinem Hals herunterzutreiben. Ziemlich sicher erlitt sein Kopftuch gerade eine Salzwaschung. Das krampfte ihm das Herz zusammen. §-#-§ Kapitel 14 - Pläne schmieden "Eigentlich ziemlich blöd, hm?" Dominique touchierte seinen besten Freund sanft an der Schulter. "Da haben wir Ferien, und was machen wir? Hocken gleich am Montag in der städtischen Bibliothek." Thierry erwiderte die schiefe Grimasse. Andererseits hatte er ja bei Dominique angefragt, ob man sich nicht hier aufhalten wolle zwecks Zukunftsplanung. Oder eher Klatsch aktualisieren. Deshalb befanden sie sich nun in einer kleinen Arbeitsecke, studierten die altmodisch anmutenden Loseblatt-Sammlungen zu Berufsbildern, vermieden es, über ihr Liebesleben, das Wochenende oder die kleinen Augen hinter den tiefen Schatten zu sprechen. Dominique seufzte, zupfte sein Kopftuch zurecht. Das erinnerte ihn an eine lange Reise zu einem Ort, der quasi unerreichbar war, jenseits moderner Kommunikationsmedien. "Willst du studieren?" Thierry wirkte auch nicht sonderlich wacher, er fühlte sich jedoch nicht traurig, eher ein wenig vernachlässigt. Wäre er zehn Jahre jünger gewesen, hätte er ob der Gemeinheit des Schicksals, das ihn so gründlich von Selim trennte, ausgiebig geschmollt. "Das ist wohl keine Option." Dominique streckte seine langen Glieder. "Das Geld habe ich nicht. Wenn ich so viele Darlehensschulden habe noch vor dem ersten richtigen Arbeitstag..." Er schüttelte sich unbehaglich. "Ist schon sonst auf Kante genäht bei uns, das würde mir schlaflose Nächte bereiten." Er seufzte leise. "Außerdem, was sollte ich denn studieren, das mir einen Job garantiert? Meine Mutter meinte schon, ich sollte gleich beim Staat anfangen und immer mal prüfen, ob ich nicht unter die Behindertenquote falle." Thierry zog die Augenbrauen hoch, denn das klang nicht gerade freundlich, doch Dominiques sachliche Erläuterung bedeutete ihm, dass der durchaus in Erwägung zog, seine unheilbare Kondition zu seinem Vorteil ins Spiel zu bringen, wenn sie sich sonst schon als extrem hinderlich erwies. "Schön und gut, aber in welche Richtung willst du denn gehen?" Thierry kräuselte die Stirn passend zu den Locken. "Hier steht, dass die Kommune verschiedene Ausbildungsberufe anbietet." "Tja!" Dominique seufzte, klopfte auf seine Armbeuge, um den Juckreiz zu kontern. "Wahrscheinlich wäre ein Büroarbeitsplatz die klügste Wahl. Oder in einem Kühlhaus beim Großmarkt." Grimassierte er. "Damit käme ich auch zurecht. Möglicherweise." Für einen langen Augenblick brüteten sie beide düster über ihrer all so glückverheißenden Zukunft. Unzählige Möglichkeiten trafen auf existentielle Ängste, GENAU die falsche Wahl zu treffen und den Rest seines Lebens schon gleich beim Start total zu vermurksen! "Und du?" Dominique klappte missmutig einen Sammelordner zu. "Wirst du nicht studieren?" Das erschien zumindest naheliegend, da Thierrys Mutter einen entsprechenden Abschluss vorweisen konnte. Nun war es an Thierry, unbehaglich auf dem harten Stuhl herumzurutschen. "Eigentlich würde ich gern etwas, nun ja, Werthaltiges machen so wie mein Pappa." Murmelte er, vermied die wasserblauen Augen seines besten Freundes, studierte seine Hände, schnaubte. "Bloß beschleicht mich der traurige Verdacht, dass handwerkliche Tätigkeiten nicht gerade meine Forte sind." Versonnen studierte nun jeder seine Gliedmaßen. Welche Talente standen ihnen zu Gebote? Welche Fähigkeiten konnten ihnen den Lebensunterhalt sichern? Konnte man Thierrys vampireske Reflexe nutzen? Oder Dominiques geduldige Selbstbeherrschung? "Weißt du..." | "Wir sollten..." Hastig unterbrachen die Freunde ihren energischen Chor, der unisono auf Entschlossenheit gründete. "Bitte, du zuerst." Dominique gestikulierte höflich, das Gesicht ein wenig aufgehellt von der Erkenntnis, dass er sich nicht allein dieser Lebensprüfung stellen musste. "Danke." Thierry nickte ebenso artig. "Ich glaube, ich habe im Eingang ein Plakat gesehen, das Leute vor dem Schulabschluss oder im Studium zu einer Berufsmesse einlädt. Versuchen wir es damit!" "Einverstanden." Dominique lächelte nun. "Wir könnten auch mal nachschauen, ob es beim Arbeitsamt nicht diesen Test gibt, wie früher. Meine Mutter hat erzählt, da konnte man anhand von Fragen überprüfen, welche Berufsgruppen einem eher liegen als andere." "Zukunft-O-Mat." Kalauerte Thierry grinsend. "Gut, machen wir das! Wenn uns schon niemand einen Ferienjob anbietet und wir nicht verreisen, nutzen wir eben den Heimvorteil!" Verschwörerisch reichten sie sich die Hände, drückten sie fest. Wer gemeinsam das Brechmittel in die Flucht treiben konnte, der ließ sich auch von der eigenen Zukunft nicht ins Bockshorn jagen! §-#-§ "DAS haben Sie sich andrehen lassen?!" Emil stöhnte entsetzt über derartige Naivität auf. "Also, das ist ja jenseits von Gottvertrauen! Der Klappentext hätte Sie doch schon warnen müssen!" Am anderen Ende der Leitung, unverzeihlich knapp vor seiner eigenen Sendung, grinste Kay verschmitzt vor sich hin und wusste, dass ihm die Backen schmerzen würden. "Ja, da hätte ich dich wirklich gern an meiner Seite gehabt, Emil!" Jammerte er betont kläglich. "Aber die Dame hat mich so bedrängt..." "DAS kann ich mir lebhaft vorstellen!" Ätzte es gallig aus dem Lautsprecher. "Wahrscheinlich haben Sie sich auch mit Händen und Füßen gegen diese Aufwartung gesträubt!" Wobei Emil Sandemann ungeniert unterstellte, dass Kay Nelson Jefferson, der unseliger Weise nicht nur eine Augenweide bot, sondern auch über eine Stimmlage verfügte, die rollig machte und wie Honig runterging, jeden Flirtversuch provozierte, zu seinem Vorteil ausnutzte. Weil Typen seines Schlages eben so gestrickt waren! DIESER Typ jedoch amüsierte sich königlich darüber, dass Emil so hartnäckig daran festhielt, eine absolut unterirdische Meinung von ihm haben zu wollen. Was leider nicht so funktionierte wie geplant! "Ich war ganz ausgeliefert, so allein und ohne Expertise!" Winselte er also brav und schnüffelte ein wenig. "Wenn ich natürlich an DEINEM Wasserloch nachgefragt hätte..." "Pah! Das fehlte auch noch!" Emil schäumte förmlich ins Mikrophon. "Damit Sie mir dann da ständig auflauern?! Was sollen die Leute denken?! Da kann ich mich ja nie mehr sehen lassen!!" "Uhoh, das will ich bestimmt nicht!" Schnurrte Kay kläglich und rang mit seinem Panorama-Grinsen. "Ich würde auch mucksmäuschenstill sein! Nichts anfassen!" "Oh, wie BERUHIGEND!" Zeterte Emil an seinem Ohr. "Ich sehe die Szene schon vor mir: Z-Promi aus dem Jodel-Wühltisch tritt auf: ganze HYÄNEN-HORDEN hormonbenebelter WEIBER stürmen den Laden, kreischen und drängeln! Ein Horror! Ein Albtraum!" "Weiber?" Hakte Kay kühl nach, musste all seine Schauspielkünste aufbieten, um nicht loszuprusten. Offenbar glaubte sein scheuer, abweisender Menschen-Unverknuser, dass er eine Mischung aus Elvis, Mick Jagger und Justin Timberlake war! "Weiber wie 'Die lustigen Weiber von Windsor' oder wie in 'Weibsbild'!" Schnauzte Emil bärbeißig zurück. "Das klassische Bild der mannstollen Hysteria, die sich auf alles stürzt, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist!" "...du lieber Himmel..." Entschlüpfte es Kay unterdrückt. "Woher weißt du da so gut Bescheid? Hast du das etwa mal mitgemacht?" Zugegeben, das war eine gemeine Frage, aber Kay genoss es viel zu sehr, immer noch einen Scheit drauf zu packen, um die zugestandene Viertelstunde auszuweiten. Dafür erwarb er sogar "Bilderbücher" nach Romanvorlagen, die Emil für GRAU-EN-HAFT hielt! "Ich?! Beileibe nicht! Lächerlicher Gedanke!" Wie gewünscht giftete der gewohnheitsmäßige Misanthrop heftig. "Aber das sieht man ja wohl im Fernsehen! Alle durchgedreht! Und dann in MEINEM Laden?! NIEMALS!" Kategorisch bekam in diesem Ausruf marmorne Qualitäten, von Stahlgerüsten verstärkt. "Nun, ich könnte mich ja verkleiden?" Bot Kay selbstlos an. "Weißt du, ich würde wirklich gern meinen Horizont erweitern, aber wenn ich da auf mich allein gestellt auf Abwege gerate..." Es blieb einen erstaunlich langen Moment sehr still. "Netter Versuch." Hörte er Emil endlich knurren. "Mich bauchpinseln, damit ich Ihnen auf den Leim gehe und Sie mitschleppe, weil ich ja der Experte bin: SO läuft das nicht! Warum reden wir nicht mal über IHRE Hobbys?! Dann kann ich mich mal als Nervensäge erweisen und damit drohen, Sie bis in die Steinzeit zu blamieren!" Kay nickte zu Robert, der ihm ärgerlich winkte, dass er gleich seine Arbeit in Angriff zu nehmen hatte. Für private Telefonate wurde er schließlich nicht bezahlt! "Na schön!" Er lächelte versöhnlich. "Dann reden wir morgen einfach mal über meine Steckenpferde! Und keine Angst, Emil, ich bin un-blamierbar!" "Pah!" Schnaubte es am anderen Ende wütend. "DAS werden wir ja sehen!" §-#-§ Kay war wirklich verblüfft, denn Emil hörte ihm tatsächlich zu, aufmerksam, geduldig, interessiert. Er legte nicht etwa den Hörer auf die Seite, das identifizierte Kay anhand der leisen Atemzüge. Geduld benötigte sein unwilliger Gesprächspartner wirklich, denn Kay gestand sich ein, dass oft die Pferde mit ihm durchgingen, wenn er über seine Liebe zum Radio, zum Hörspiel, zu Geräuschmalerei fabulierte. Er spürte, wie Emil seine Erklärungen und Schilderungen aufsaugte, verarbeitete. Das nahm nicht Wunder, denn er hatte den Eindruck, dass der Systemanalytiker gerne Fakten in seinem geistigen Fundus verstaute. Was man von Emotionen und Zwischenmenschlichem wohl nicht behaupten konnte. Oder? "Tja, wenn du magst, können wir uns gern mal einige meiner alten Hörspiele anhören. Ich habe einige Beispiele akustischer Atmosphärenbilder gespeichert. Oder schläfst du gerade?" Schnurrte er sanft in den Hörer. "Was soll das denn heißen?! Ich bin selbstverständlich noch wach!" Fauchte Emil ärgerlich. "Wenn das ein Versuch war, mich einzulullen mit Ihrem Sirenen-Organ, dann haben Sie es vermasselt!" Kay lachte. "Üblicherweise flieht mein Publikum, wenn ich theoretisch werde." "Nun, wenn Sie das vorziehen, ich kann gerne den Hörer auflegen!" Grollte Emil. "Ist keine große Anstrengung für mich." "Bitte tu das nicht." Schnurrte Kay wie ein V8-Motor in sonoren Tiefen. "Ich freue mich, dass du so interessiert bist." "An dem Sujet, nicht der Person!" Beeilte Emil sich bärbeißig zu versichern. "Nun sollten Sie sich langsam an Ihre Testosteronbomben-Sendung begeben, ist schon spät!" "Dann hörst du mir zu?" Kay schmunzelte schon in Erwartung der grantigen Replik. "Ich?! Auf keinen Fall!! Ich passe grundsätzlich nicht in das Schema Ihrer 'Gemeinde' und werde auch peinlich genau darauf achten, dass diese Situation nie eintritt! Apollon-Jünger, so ein Unsinn!!" "Das hätte mich auch überrascht!" Lachte Kay sanft in das Mikrophon. "Du bist so viel mehr. Schade, dann heißt es wohl für heute Adieu, hm?" "Zutreffender wohl gute Nacht." Grollte Emil beckmessernd. "Das ist ein weiterer Grund, warum wir nur die Gattungszugehörigkeit teilen: hier Lerche, da Eule! Nicht kompatibel." "Oh, ich bin flexibel, Emil, mein Biorhythmus kann sich mit ein bisschen Vorlauf auf alles einstellen!" Kay grinste, noch einen Augenblick herausgeschunden zu haben. "Ha!" Schnauzte es an sein Ohr. "Das ist nicht flexibel, das ist wahllos und unspezifisch! Jetzt legen Sie endlich auf, es ist spät!" "Nach dir, mein lieber Freund." Es ging nicht anders, die Funken mussten stieben, immer wieder neu angefacht werden! "Fein! Gute Nacht!" Patzte Emil wie ein trotziges Kleinkind, rammte vernehmlich den Hörer auf die Gabel, ein wesentlicher Vorteil eines alten Bakelit-Wählscheibentelefons. Nun war es an Kay, Robert ein süffisantes Lächeln zu schenken, der ihn für komplett wahnsinnig hielt, dann die Kopfhörer zu justieren. Es kribbelte von ihrem kleinen Streitgespräch noch überall in seinen Gliedern. DAS spornte ihn für seine lange Radionacht an! §-#-§ Es war nicht angenehm, doch Thierry konnte nichts Anderes tun, als sich der Situation stellen: auf eine Liege klettern und der Werwolf-Ärztin in ihre grauen Augen blicken! Sie musterte ihn prüfend, auf eine Art und Weise, die sein Unbehagen noch verstärkte, ihn die Fäuste ballen ließ. In einem Papierbündel blätternd, das auf einem Klemmbrett befestigt war, erkundigte sie sich ruhig. "Du bist hier wegen einer Gräserpollenallergie, Luftnot und Kreislaufproblemen, korrekt?" "Das ist richtig." Thierry räusperte sich nervös. Sie WUSSTE, was er war, oder? "Nun, ich werde mir zunächst mal ein Allgemeinbild deiner Kondition verschaffen." Was bedeutete husten, Lungen abhorchen, Blutdruck messen. Nichts Ungewöhnliches soweit. "Jetzt lauf bitte hier auf der Stelle, ja?" Das zumindest war für Thierry neu. Er leistete der Aufforderung jedoch Folge, hob die Knie hoch wie ein Anwärter auf olympische Ehren. Sein Ehrgeiz währte nicht sonderlich lange, dann keuchte er bereits erbärmlich, hatte Mühe, sich zu koordinieren. "Danke, das genügt. Bitte setz dich." Thierry sackte auf der Liege zusammen, keine höflich-aufrechte Haltung, schnaufte wie ein altes Dampfross. Die Ärztin betrachtete ihn einen Augenblick, hob schlicht seinen Arm an und tastete mit den Fingerspitzen über seine Achsel. Thierry zuckte prompt und schämte sich, starrte auf seine Knie. "Sag mir, schwitzt du häufig? Ist deine Stirn heiß?" Sie schien den Affront nicht bemerkt zu haben und wischte sich die Hände mit desinfizierenden Tüchern ab, Etwas verwirrt antwortete Thierry. "Also, im Moment ist mir schon sehr warm und bestimmt schwitze ich auch..." Das Funkthermometer, das sie zum Einsatz brachte, widersprach jedoch seinen Empfindungen erheblich: 36°C. Auf seinen Armen zeigte sich nicht die kleinste Transpirationsschicht. "Thierry." Sie sortierte die Papiere sorgfältig. "Ich habe hier die Vollmacht deiner Mutter, dass ich offen mit dir über alles sprechen kann. Ich bin etwas verblüfft." "Entschuldigung." Thierry unterbrach sie leise, atmete tief durch. "Meine Mama... meine Mutter ist nicht meine leibliche. Meine leiblichen Eltern sind unbekannt. Ich bin adoptiert worden." Die Werwolf-Augen ruhten viel zu lange auf ihm. Sein Herzschlag beschleunigte. "So ist das also." Nun klang sie nachdenklich. "Ich nehme an, dass du jedoch weißt, WAS du bist?" Mit einem tiefen Seufzer bestätigte er ihre Vermutung. "Ja, ein Vampir. Obwohl ich mich damit nicht auskenne." "Nun, dann bist du in guter Gesellschaft." Ein Grübchen tanzte in ihrem Lächeln. "Auch für mich ist das etwas ungewöhnlich. Doch das wird mich nicht daran hindern, eine Arbeitshypothese aufzustellen." Aufmerksam erwiderte Thierry ihren konzentrierten Blick. "Fakten, die entscheidend sind!" Sie zählte an den Fingern auf. "Deine Körpertemperatur ist niedrig. Deine Drüsen arbeiten nicht wie gewöhnlich, du schwitzt kaum noch. Deine Haut ist erstaunlich hart an der Oberfläche. Puls und Herz sind normal, vermutlich im Alltag etwas untertourig, um es salopp auszudrücken. Ich halte eine Blutuntersuchung für wichtig." "Stimmt etwas mit meinem Blut nicht?!" Thierry imaginierte schon Schreckgespenster, fühlte sich prompt flau. "Davon gehe ich eigentlich nicht aus, ich möchte die Blutanalyse jedoch zur Sicherheit machen." Sie streckte ihre Rechte aus, und ehe Thierry sich versah, lag seine eigene in ihrer Hand. "Nein, die Summe der Fakten ergibt für mich folgendes Szenario: dein Körper verändert sich gerade massiv und kann seine Temperatur nicht mehr gut regulieren. Unsere Haut, unsere Drüsen sind wie die Klimaanlage bei einem Kühlschrank. Um unsere Körpertemperatur vor Überhitzung zu schützen, schwitzen wir. Durch den Wasserfilm verbunden mit Luftbewegungen kompensieren wir die Hitze. Das ist dir nicht mehr möglich. Wenn dazu noch deine gewohnte Körpertemperatur sehr viel niedriger ist, besteht ein erheblicher Niveauunterschied zur Außenluft um dich herum. Das belastet deinen Kreislauf." "Das... aber was soll ich dann tun?! Wird es aufhören?" Thierry wollte sich nicht mit der Aussicht anfreunden, bei höheren Temperaturen ständig vor einem Kollaps zu stehen. "Ich bin keine Vampir-Sachverständige." Ihre ruhige Stimme veranlasste ihn, sich widerwillig zurückzusetzen und selbst anzuhalten, jetzt nicht hysterisch zu werden. "Nach allgemeiner Erkenntnis ist es für Vampire nicht untypisch, eine sehr niedrige Körpertemperatur zu haben. Auch die 'Panzerung' der Haut scheint ganz normal zu sein. Da du dich noch in der Pubertät befindest, ist ebenfalls anzunehmen, dass eine Adaption dieser Attribute regelmäßig vorkommt." Das half Thierry leider nicht in der akuten Notlage. "Sag mir bitte: wie ernährst du dich? Ich meine, als Vampir." Die grauen Augen funkelten. Kein angenehmes Thema, doch ohne kenntnisreiche Hilfe würde es ihm nicht besser gehen, deshalb schob Thierry seine Scham ärgerlich beiseite. "Nun, hauptsächlich Mäuseblut. Und seit ein paar Wochen..." Er räusperte sich, straffte seine schmale Gestalt. "Ich habe einen Freund, der mich sein Blut trinken lässt. Nicht viel, wirklich! Und freiwillig! Tricks beherrsche ich gar nicht!" Dabei unterschlug er großzügig seine Fähigkeit, Gefühle und Gedanken Dritter aufnehmen zu können. Doch was bei Werwölfen nicht funktionierte, konnte wohl nicht von großer Bedeutung sein, richtig? Nachdenklich hielt sie seine Hand. Zu spät erinnerte sich Thierry an die Andeutungen von Rutger, dass seine Art in der Lage war, körperliche Beschaffenheit zu "sehen". Bevor er jedoch eilig seine Hand in Sicherheit bringen konnte, griff sie fest zu, schneller, als seine Vampir-Reflexe ihm zur Rettung kamen. "Ich verstehe. Benötigst du jetzt mehr Blut als vorher? Ist dein Freund dir eng verbunden?" Das war eindeutig seine Privatsache und ging niemanden etwas an!! Thierry erkannte jedoch zeitgleich mit der aufflammenden Empörung, dass er beide Fragen eindeutig positiv bescheiden musste. Unwillig drehte er den Kopf weg, nickte abgehackt, presste die Lippen fest aufeinander. "Bist du in der letzten Zeit häufig ohnmächtig geworden?" Sie blieb sachlich, unberührt ob seiner Trotzgeste. "Ein paar Mal." Da gab es nichts zu beschönigen. "Verstehe." Nun gab sie seine Hand frei, erhob sich, rief ihre Assistentin herein, damit diese Thierry etwas Blut für die Analyse abnahm. Währenddessen notierte sie sich auf dem Klemmbrett Stichworte. Als sich die Tür hinter der Assistentin schloss, nahm sie auf einer Schreibtischkante Platz, betrachtete Thierry mit, wie ihm erschien, einer gewissen Andeutung von Mitleid. "Wenn ich deine Blutwerte erhalte, werden wir Genaueres wissen, doch in der Zwischenzeit brauchst du auch eine Lösung, nicht wahr?" Thierry nickte und aktivierte seine Manieren wieder. "Das wäre mir sehr wichtig. Was kann ich tun?" "Tja, ich kann dir einige praktische Tipps geben, die ich auch Frauen in den Wechseljahren bei Hitzewallungen erteile. Besorge dir Pfefferminzöl, reib es dir mit feuchten Tüchern über die Haut. Das kühlt ein wenig und beruhigt auch das Gemüt. Trage lose, helle Kleidung, setze dich nicht der direkten Sonne aus und bedecke deinen Kopf. Nimm dir immer Wasser oder eine leichte, selbstgemischte Schorle mit. Trink lieber zu viel davon als zu wenig aus Angst, es könne keine Toiletten in Reichweite geben. Wenn du noch schwitzen solltest, trockne das Wasser nicht ab, sondern fächere dir Luft zu. Je mehr Wasser dein Körper nämlich abgeben muss, umso mehr belastet das deinen Kreislauf. Vermeide überhitzte Räume, stell die Klimaanlage aber nicht so niedrig ein, dass du dich erkältest. Mach langsam, gönne dir Pausen. Und weder Diäten noch Fastenkuren im Hochsommer!" Thierry nickte eifrig. Es waren schließlich nicht gerade unbekannte Hinweise, auch wenn er sich das Pfefferminzöl erst noch besorgen musste. Sein Heilöl reichte da wohl nicht heran. "Da ist dann auch noch der zweite, schwierigere Part." Nun blickte sie ernst in seine tiefschwarzen Augen. "Du musst lernen, dich zu entspannen. Der nächste Kreislaufkollaps ist nämlich nicht das Hauptproblem, sondern die Angst VOR ihm." Es dauerte einige Herzschläge, bis Thierry die Bedeutung dieser Worte entschlüsselt hatte. "Niemand fällt gern auf, vor allem nicht vor lauter Fremden aufs Pflaster, möglicherweise noch torkelnd wie ein Betrunkener, weil der Körper verrückt spielt. Davor haben wir alle Angst. Wenn wir glauben, die Vorboten eines weiteren Kollapses zu erkennen, läuft unsere Angst-Maschine im Kopf auf Hochtouren, was dann zu einer selbst-erfüllenden Prophezeiung werden kann." Womit sie leider recht hatte, wie Thierry uneingeschränkt erkannte. "Es gibt einige kleine Hilfen für den Alltag. Bei vielen Leuten wirkt es, wenn sie sich die Ringfinger in die tiefste Stelle im Handteller drücken, also so." Sie zeigte Thierry ihre Hände. "Da soll sich ein Druckpunkt befinden, der den Kreislauf stabilisiert. Es hilft auch, sich auf die eigenen Atemzüge zu konzentrieren. Für Geübte ist Autosuggestion eine Unterstützung. Ich hatte auch mal einen Fall, da hat sich jemand bei aufkommender Panik selbst gekniffen, so heftig, dass der Schmerz alle anderen Nervenmeldungen im Gehirn überschrieben hat und so eine Steigerung verhindert werden konnte. Sich verschiedene Szenarien vorzustellen und ein gutes Ende zu diktieren, das hilft auch in einigen Fällen. Was DIR hilft, musst du jedoch selbst herausfinden, da wir alle auf unterschiedliche Reize ansprechen. Wichtig ist der erste Schritt, nämlich das Selbstvertrauen, die Lage meistern zu können." DAS sollte ihm doch nicht so schwerfallen, meinte Thierry, immerhin ging es ihm eigentlich gerade ziemlich gut. Er müsste bloß lernen, in der Panik-Situation all seine Wohltaten abzurufen! §-#-§ "Hallo Emil, wie geht's dir heute?" Kay trällerte fröhlich in sein Mobiltelefon. Schon verrückt, dass er wie ein Pennäler auf die große Wanduhr schielte und den Sekundenzeiger hypnotisierte, damit der schneller die Runde machte und es ihm erlaubte, seinen Schwarm anzurufen! "Wie gestern, bloß älter und hässlicher." Grollte es am anderen Ende der Leitung erwartungsgemäß. "Hast du denn heute wieder Leute getroffen, die deine Abneigung gegen Menschen bestärkt haben?" Kay eröffnete die Partie mit einem geübten Zug. Solange er Emil zum Sprechen ermunterte, würde sich ihre Beziehung immer enger verfestigen. "Pah, was wollen Sie denn hören?! Dämliche Seicher in der U-Bahn, die ungeniert in ihr Handy plärren, Kampf-Mütter mit ihrem grenzdebilen Rudel, Rad-Apostel, die alles blockieren, weil sie ja so 'öko' und 'total heilig' sind! Obwohl sie dann nicht den ganzen Zug belagern müssten, die faule Bande! Eben der lästige Querschnitt der Höllenqual-Staffage des Alltags!" "Klingt, als hättest du dich gut unterhalten?" Schnurrte Kay. "Dazu noch herrliches Wetter!" "Blödsinn!" Fauchte es heftig an seinem Ohr. "Man schwitzt, die Gehirnleistung ist noch reduzierter als sonst (da reden wir quasi von negativen Werten) und die Idioten, die endlich mal woanders nerven könnten, fahren nicht weg! Zumutung, aber hallo!" "Apropos fahren!" Tollkühn wechselte Kay vom Käse auf die Lenkstange. "Hast du Lust, am Sonntag mit mir ins Museum zu gehen? Da gibt's eine tolle Ausstellung, zur Holzschnittdruckkunst!" Für einen langen Augenblick blieb es still. Kay vermutete nicht zu unrecht, dass am anderen Ende der Leitung fieberhaft nach einer Ausrede gesucht wurde, um ihn abzuschmettern. "Sonntags habe ich frei. Da will ich nicht auch noch belästigt werden." Grummelte es schließlich halbherzig. Kay schmunzelte, denn er sah hier Gelegenheiten auf den Mutigen zukommen. "Es ist wahrscheinlich gar nicht viel los, bestimmt kaum Besuch! Wenn wir gleich morgens hingehen, sind wir auch vor den Spätentschlossenen wieder draußen! Ich lade dich auch zu einem Kaffee ein!" "Danke, ich verzichte!" Zischte Emil sofort. "Ich hocke mich doch nicht in das lächerliche Museumscafé und beglotze Leute, während ich deren gefärbtes Spülwasser herunterkippe!" Grinsend gab Kay nun zurück. "He, ich wusste gar nicht, dass du dich so gut da auskennst!" "Das-das tut nichts zur Sache! Im Übrigen lege ich Wert auf die Feststellung, dass ich mich grundsätzlich nicht dekadent in irgendwelchen Cafés herumtreibe!" "Im Café zu sitzen ist dekadent?" Hier musste man nachhaken, denn so einfach schien es gar nicht zu sein, Emil auf einem neutralen Boden zu begegnen. "Selbstredend! Herumlümmeln, aufs Handy glotzen oder dummes Zeug mit anderen Herumtreibern schwatzen, das ist absolut dekadent! In der Zeit könnte man schließlich etwas Konstruktives arbeiten!" "Oha, da bist du aber sehr streng!" Triezte Kay in betont dusseligem Tonfall. "Etwas Entspannen ist doch ganz nett..." "Entspannen, schön und gut, aber das reicht doch mal für fünf Minuten, oder?! Dann diese Laberei, der ganze Klatsch, dieses Beäugen, das so genannte Straßentheater...GRAU-EN-HAFT! Bestimmt nicht mit mir!" "Auch gut." Ins Bockshorn konnte man Kay mit diesem puritanischen Ideal nicht jagen. "Machen wir eben ein kleines Picknick!" "Kommt nicht in Frage! Auch noch Ameisen anlocken und Tauben vergiften im Museumspark?! Oder freilaufende Hunde, die bloß spielen wollen?! Außerdem müsste das Zeug ja erst mal in den Schließfächern verstaut werden, weil großes Gepäck im Museum nicht erlaubt ist! Wenn schon Museum, dann gucken und Schluss!" "Oooch!" Maulte Kay unglücklich. "Wenn ich danach Hunger habe? Und Durst? Wegen des Staubes?" Es schnaubte empört in seine Ohren. "Was sind Sie denn, ein Kleinkind?! Frühstücken Sie gefälligst anständig! Disziplin! Selbstbeherrschung!" Kay stöhnte betont leidend auf und jammerte ein wenig, bevor er sich deprimiert drein schickte. "Herrje, nun machen Sie doch nicht so einen Film!" Schimpfte Emil. "Stecken Sie sich eben einen dieser Schoko-Riegel ein! Oder diese Power-Dingsbums-Brocken, die Ihre Apollon-Jünger sich so gerne in die Backen hauen!" "Die mag ich aber nicht!" Kay quengelte kleinmütig herum. "Können wir nicht wenigstens danach noch eine Curry-Wurst essen gehen?!" "... wo soll's denn da eine Curry-Wurst-Bude geben?" Kay rammte eine geballte Faust Richtung Zimmerdecke und veranlasste den Ungemach fürchtenden Robert, ihm einen Vogel zu zeigen. Das kümmerte ihn jedoch wenig, denn nun hatte er seinen Emil am Haken. Mit Curry-Wurst konnte man fast jeden locken! §-#-§ »Das hätte besser laufen können!« Grollte Thierry in zähem Gedankenbrei, hielt nach einer freien Bank Ausschau. Eigentlich wollte er bloß zur Bibliothek, etwas einwerfen in das Rückgabefach, dann spornstreichs zu Selim, denn der hatte einen freien Tag bekommen und beabsichtigte, mit ihm etwas ganz nach Wahl zu unternehmen! Unseliger Weise dampfte die Luft nun förmlich, was theoretisch nicht schlecht für den Wasserfilm auf seinem "Hautpanzer" war, jedoch nicht recht funktionieren wollte. Hohe Luftfeuchtigkeit außen reduzierte das Diffundieren. Bei tropischer Wärme kehrte sich das Ganze geradezu um! Thierry plumpste auf eine wüst bekrakelte Holzbank, lupfte den Borsalino seines Vaters, um sich mühsam Luft zuzufächeln. Er hechelte wie ein Hund, atmete geräuschvoll durch den geöffneten Mund, zwang sich, bloß die Ruhe zu bewahren! Er hatte Pfefferminzöl, eine Flasche selbstgemachten Zitronentee, helle Kleidung, einen Hut und so etwas wie Selbstvertrauen... Und war vermutlich zu spät, weil er weder zügig ausschreiten noch konsequent nachdenken konnte! "Pause... ausruhen...gut..." Suggerierte er sich artig, spürte jedoch die Sanduhr im Hinterkopf. Wenn er hier Zeit vertrödelte, sich von Bank zu Bank schleppte, würde er Selim absolut unentschuldbar warten lassen, wo der sich doch extra einen Wochentag freinahm, um mit ihm Zeit zu verbringen! "Anrufen..." Vage erinnerte er sich an die Innovation, die schon mehr als eine Dekade alt war, was ihre Massenverbreitung betraf, ihn im Alltag jedoch nur wenig interessierte: er hatte ja ein MOBILTELEFON! Es wäre zwar niederschmetternd für seine Selbstachtung, aber ein Akt der Höflichkeit, Selim über seine Trödelei zu informieren! Obwohl Thierry es verabscheute, Idiotengespräche zu führen, die aus "wo bisdu grad'?' und 'was machstn jetz'?' bestanden, wählte er tapfer Selims Eintrag in seinem gespeicherten Telefonbuch aus. "Hallo, Thierry hier! Bitte entschuldige die Störung... nein, es geht mir gut... nun, auf dem Weg... also, ich brauche ein wenig länger... ich klinge komisch? Wirklich, ich schaffe das... nun, am Raiffeisenpark... das ist nicht nötig... gut, ich warte...ja, ich schalte es nicht aus. Ja, bis gleich." Den Kopf sinken lassend, was seinem Kreislauf auch etwas Auftrieb gab, seufzte Thierry geschlagen. Das hatte er ja wieder mal SOUVERÄN gemeistert! Selim roch gleich Lunte und würde wie der Blitz trotz des eklig-schwülen Wetters sofort den Drahtesel quälen, um ihn hier aufzulesen! Dieser Umstand kratzte eingestandenermaßen an seinem Stolz. So ganz fair nahm es sich nicht aus, wie Selim jede Hürde meisterte, während er ständig und fortwährend auf Unterstützung angewiesen war! Missmutig wedelte er den wertvollen Hut seines Pappas, spürte einen heftigen Stich, gefolgt vom Zuschnüren seines Brustkorbs. Zu gut erinnerte er sich an viele Augenblicke, wenn sein Pappa so stilsicher und elegant mit ihm spaziert war, niemals etwa in Schlappen, Unterhemd oder Jogginghosen! Zunächst hatte er auch abgelehnt, den Hut selbst zu tragen, der in einer Schachtel im Kleiderschrank seiner Eltern residierte, wo auch die Anzüge hingen, die gebügelten Hemden, die Schuhe aufwarteten. Manchmal, wenn er sein Leben überhaupt nicht mehr zu ertragen glaubte, steckte er den Kopf zwischen die Stoffe und atmete tief ein, streichelte über ihre hochwertige Textur. "Ich leihe ihn mir aus." Das hatte er gesagt, das traurige Lächeln seiner Mama mit hochgerecktem Kinn erwidert. Nur geborgt. Borgen war akzeptabel. Veränderte nichts. Thierry rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht, bevor er entschied, dass er diese Prozedur mit dem Pfefferminzöl absolvieren konnte. Wenn ihm dann das Wasser übers Gesicht lief, war es dem beißenden Geruch geschuldet! Langsam und bedächtig hantierte Thierry nun, studierte seine Haut beiläufig. Wenn man nicht zu genau hinsah, dann musste man auch nicht feststellen, dass sie immer unwirklicher wurde, richtig?! Zwar behielt er die leichte Tönung, die manche veranlasst hatte, ihm "Schmuddel" oder "Schmutzfink" nachzurufen, doch auf seltsame Art verloren sich die, nun, normalen Spuren von Poren, Härchen, Adern, winzigen Segmenten. "Bescheuert!" Schimpfte er, drehte seine Flasche auf, nahm einen kräftigen Schluck und fühlte sich schon ein wenig besser. Man könnte ja nun den Hintern heben und Selim entgegengehen, nicht wahr?! Umständlich packte Thierry zusammen, sondierte die Lage. Schwindelgefühle, Atemnot, aufkeimende Panik? Die Analyse votierte, sich einfach einige Meter weiter zu bewegen, einen Fuß vor den anderen gesetzt, schön bedächtig und gelassen. So konnte er wenigstens ein bisschen seinen Stolz aufpäppeln! §-#-§ Selim wusste, dass Thierry ihn "spüren" konnte, trat schwungvoll in die Pedale. Schweiß benetzte seinen Körper durch den Dunst, der dicht wie Nebelbänke in den Straßen hing. Der für eine Weile noch die Sonne filterte, bis sie genug Hitze erzeugt hatte, um die Schwaden zu zerstreuen. In seiner Erinnerung hatte Thierry bemüht leichthin geklungen, was ihm ein Alarmsignal bedeutete. Schließlich hatte sich sein liebenswerter Freund schon mehr als einmal übernommen und war zusammengeklappt! Was ihn keineswegs gegen Thierry einnahm, sondern für Bewunderung sorgte, weil der Jüngere so standhaft bleiben wollte, Disziplin übte, Haltung wahrte. Zugegeben, nicht immer mit dem gewünschten Erfolg, doch solche kleinlichen Nickligkeiten des Schicksals ignorierte Selim unbeschwert, weil er nun mal, da biss die Maus keinen Faden ab, ein Idiot war. Niemand konnte einem das dafür "natürliche" Verhalten vorwerfen, richtig? Er erspähte nun Thierry, der sich so stilsicher und elegant auf dem Trottoir bewegte wie ein Herr aus dem vergangenen Jahrhundert in der Sommerfrische, leger den Umständen angepasst, helle Halbschuhe, eine helle Leinenhose, darüber ein gleichfarbiges Hemd desselben Fabrikats, dezent geknittert, der weiße Borsalino, der die prachtvollen, ihn stets verführenden, schwarzen Locken versteckte, ein Lederrucksack, vermutlich selbstgenäht vom Pappa, dessen bloße Erwähnung einen so liebevollen, sehnsüchtigen Ausdruck in die tiefschwarzen Augen zauberte. "Thierry! Guten Morgen!" Selim trompetete fröhlich, spürte, wie sein Herz noch etwas mehr Tempo aufnahm, weil er Thierry nun in Reichweite wusste. Im geübten Schwung stieg er von seinem Fahrrad ab, rollte auf der linken Pedale direkt bis vor den kleinen Vampir, schenkte ihm sein schönstes Lächeln. "Selim, tut mir leid..." In dem aparten Gesicht unter der Hutkrempe zeichnete sich Beschämung und Verlegenheit ab, die schmalen Schultern wurden merklich gestrafft. Der ältere Mann lehnte flugs sein Fahrrad an die Hauswand, neben der sie standen, legte den Handrücken auf eine Wange, überprüfte die Temperatur. Sie blieb merklich unter seiner eigenen Körperwärme, was ihn an die Hinweise seines Werwolf-Freundes erinnerte. "Ich habe mich wegen dieser Schwüle wohl ein wenig übernommen." Gestand Thierry ihm zerknirscht ein. Selim votierte für eine gründlichere Überprüfung. Litt Thierry wieder unter einem Fieber? Seine Haut verriet ihm immer weniger, nicht mal die reizvolle Röte der Verlegenheit wollte sich noch einstellen. Kurzerhand legte er den linken Arm unter Thierrys Armbeuge, lupfte ihn gleichermaßen auf die Zehenspitzen, fing mit der Rechten aufmerksam den Borsalino ab, während er seinen überraschten Freund intim küsste, ohne Rücksicht auf mögliches Publikum. "Hmmm, also innen hast du etwas höhere Temperatur." Diagnostizierte er endlich, lächelte hinunter in das von einer gewissen Sehnsucht weichgezeichnete Gesicht. "Da ich selbst ziemlich erhitzt bin, schätze ich, dass du wieder Fieber hast. Wir müssen dich also rasch abkühlen! Glaubst du, du kannst dich hinter mir auf dem Rad halten, bis wir bei mir sind, ja?" Thierry nickte und setzte zu einer weiteren Entschuldigung an. "Wirklich, es tut mir leid! Ich habe mich an die Empfehlungen gehalten..." "Du wirst eben gerade umgebaut zu einem richtigen Vampir." Selim justierte den Borsalino wohlgefällig. "Kein Anlass, sich zu entschuldigen! Schau, wir sind heute den ganzen Tag zusammen, darauf habe ich mich absolut gefreut!" Er strahlte bis in die letzte Zahnreihe, zwinkerte verschwörerisch. Nur keinen Augenblick verschwenden an triste Gedanken oder überflüssige Phrasen der Manierendiktatur! Thierry blinzelte ihn verblüfft an. Seine Mundwinkel zuckten verräterisch, ein Funkeln des Amüsements tanzte in den tiefschwarzen Augen. "Darf ich bitten?" Selim drehte sein Fahrrad schwungvoll, hob das Bein mühelos gestreckt über den Sattel und präsidierte betont aufrecht wie die Herren in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts. Sein Passagier wählte den Sozius und schlang die Arme um seine Taille. "Fahrer, starten Sie die Maschine!" §-#-§ Thierry keuchte, haschte nach ein wenig Luft ohne Wassertropfen aus der Dusche, bevor er Selims starken Armen nachgab, sich von ihm erneut leidenschaftlich küssen ließ. Der hockte wie zuvor auf dem Klappsitz an der Wand, hielt ihn sicher rittlings auf seinem Schoß und beschäftigte sich an mehreren Fronten zugleich. Abkühlung sah theoretisch gewiss anders aus, doch Thierry fühlte sich auf eine sehr viel anregendere Weise unter Spannung als in Furcht vor einem neuen Zusammenbruch. Seine Hände glitten versichernd über die imposanten Muskeln in Schultern und Armen, seine Finger zupften die glatten, schwarzen Haare. Mit den Fingerkuppen zeichnete er immer wieder das markante Gesicht nach und lauschte dieser samtigen Symphonie von Wohllauten, die Selim ungeniert absonderte. Er seufzte, stöhnte, summte, schnurrte, brummte, wisperte Silben, verströmte dazu freigiebig seine Körperwärme, übermittelte Bilder und Emotionen, die Thierry vor Verlangen und Glück schwindelig machten. Je mehr er Selim jedoch liebkoste, küsste, an sich zog, streichelte und, das wollte er nicht verschweigen!, auch biss, Blut aufleckte, umso ausgehungerter, gieriger, verzweifelter, ungeduldiger fühlte er sich. "Mehr!" Verlangte er drängend, biss in ein schutzloses Ohrläppchen und flehte/forderte. "Mehr!" §-#-§ Selim setzte die kleine Plastikschüssel ab, begann methodisch, mit dem angefeuchteten Lappen die makellose, exotische Haut seines Liebhabers abzutupfen. Wie schön Thierry war! Manchmal, wenn er so selbstvergessen und unvorbereitet innehielt, ihn betrachtete, dann stockte ihm der Atem vor Bewunderung. Vampir hin oder her, Thierry war wirklich das schönste Wesen, das er jemals zu Gesicht bekommen hatte! Nun, entspannt/erschöpft von einer feucht-fröhlichen und zwei hitzig-leidenschaftlichen Runden über die gesamte Distanz frönte er den süßen post-koitalen Träumen, bot seinem älteren Liebhaber die Gelegenheit, ihn voller Verehrung und Zärtlichkeit zu betrachten. Unregierbare, wilde Löckchen, lange, dichte Wimpern, eine winzig aufgeworfene Nasenspitze, anmutig geschwungene, dünne Lippen, eine zierliche und doch maskuline Gestalt. Vielleicht ein wenig zu perfekt, was die Haut anbetraf, doch für Selim stellte jeder einzelne Aspekt eine logische Konsequenz der Seele dar, die in diesem Leib wohnte, einen aufrechten, standhaften, tapferen, liebevollen, großzügigen Geist, klug und mitfühlend, nachsichtig und streitbar. Jeder andere wäre wohl von der Intensität dieser Gefühle geängstigt gewesen, doch Selim fühlte sich vielmehr außerordentlich beschenkt. Nie zuvor hatte er einen anderen Menschen auf diese vielschichtige Weise geliebt. Er kannte durchaus die Nachteile seiner Natur als Idiot, die ihn daran hinderte, die Realität in ihrer gesamten Bandbreite an Grausamkeiten und Enttäuschungen zu erkennen. Für ihn stand jedoch fest, dass er in jeder Wendung des Schicksals, das ihm Thierry beschert hatte, ein Geschenk sehen wollte. Gerade war das Leben einfach herrlich! DAS sollte man doch feiern! §-#-§ Thierry kehrte langsam, ohne Eile in die Gegenwart zurück. Er erprobte nachlässig seine Glieder, fühlte sich geschmeidig und wohlig aufgewärmt, von einer satten Zufriedenheit durchdrungen, die ihm früher wohl eine heftige Röte in die Wangen gebrannt hätte. Gnadenlos aufrichtig mit sich selbst konnte er jedoch nicht verhehlen, dass ihm diese Leibesertüchtigung mit Selim außerordentlich zusagte. Zwar mochte es für einen außenstehenden Betrachter entwürdigend und lächerlich aussehen, wenn man da so miteinander herumturnte, doch diese Bedenken vaporisierten im Getümmel spurlos, soviel konnte er versichern! Er liebte den Austausch ihrer Kräfte, den spielerischen Widerstand, ein wenig Katz und Maus, Aufbegehren, einander umwerben, bis sie gemeinsam tanzten, verbunden, ohne Anfang und Ende. Wenn sich dann alles auflöste, das "Mu" im Zen eintrat, das Bewusstsein durch elysische Wonnen ausgeknipst wurde. Er konnte ein aufschlussreiches Grinsen, mancher hätte es vermutlich als "versaut" beschrieben, nicht gänzlich von seinem Gesicht wischen, als er die Augen aufschlug, nach seinem geliebten Komplizen Ausschau hielt. Wie gerufen drückte sich Selim, die Kehrseite voran, an der Zimmertür vorbei hinein, drehte sich geschickt, die Hände voll mit Schüssel und Werkzeug, blendete sein Lächeln auf, als er registrierte, dass Thierry ihm wieder Audienz gewährte. "Ah, schon aufgewacht? Wie fühlst du dich? Immer noch schwindelig?" Selim nahm auf der Bettkante Platz, nur in schlichte Unterhosen gewandet, stellte die beiden Schüsseln ab und kontrollierte erst die Stirn unter den Locken, bevor er probehalber oral die Temperatur überprüfte. Thierry schlang ihm die Arme um den Nacken, ließ sich so frech aufsetzen, rieb die Nasenspitze an ihrem freundlichen Pendant. "Ich fühle mich einfach prima! Grandios! Bombastisch!" Selim lachte samtig. "Da sind wir schon zu zweit! Sag, magst du die Batterien ein bisschen aufladen? Ich habe meinen speziellen Grießbrei gemacht. Dazu gibt's eingedickte Sauerkirschen." Wer hätte dieser Offerte schon widerstehen können, vor allem, da Liebe durch den Magen ging? §-#-§ Kapitel 15 - Konfrontationen "Nun, da habe ich getauscht, also die beiden Bände und ein gebundenes Exemplar von 'Fifty Shades'." Erläuterte Kay eifrig, nach Lob heischend. "Ist das dieser banale Soft-Sado-Maso-Murks, den amerikanische Hausfrauen in Papptüten gebunden lesen?" Wie gewohnt klang Emil Sandemann grantig. "Wird in Kürze verfilmt, genau." Kay schmunzelte, bemühte sich, diese Emotion bloß nicht über die Leitung hörbar werden zu lassen. "Diesen Schmarrn lesen Sie?!" Da mischte sich Entsetzen mit resignativer Fassungslosigkeit. "Rein beruflich!" Salbaderte Kay wichtigtuerisch, in exakt der Nuancierung, die man auf Volkstheaterbühnen einsetzte, um den aufgeblasenen Dämlack zu kennzeichnen. "Ich bin nun mal verpflichtet, den Zeitgeist wahrzunehmen!" "Wenn da was 'Geist' hatte, ist eine Flasche Korn ausgelaufen!" Knurrte Emil verächtlich. Kay hielt den Hörer zu, um sein Prusten nicht zu verraten. Eilig fasste er sich, kehrte zu seiner Rolle zurück, der übereifrige Schlaumeier, der um Anerkennung bettelte. "Ist doch dann ganz sicher in deinem Sinn, dass ich es eingetauscht habe! Gegen eine Percy Pickwick-Sammlung!" "Tatsächlich?" Nun hatte er die Aufmerksamkeit seines griesgrämigen Gesprächspartners fokussiert. "Wer gibt denn für diesen Quark Percy Pickwick her?!" "Eine rachsüchtige Ex-Freundin?" Säuselte Kay im Bariton. "Die Welt ist eben schlecht." "Aber hallo!" Pflichtete ihm Emil aufgekratzt bei. "Vor allem aber von Trotteln durchsetzt! Das ist jedenfalls ein gutes Tauschgeschäft! Percy Pickwick, ein Klassiker!" "Also habe ich das gut gemacht?" Schnurrte Kay zärtlich. "Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn!" Grollte Emil bissig, doch seine Aufregung über die Sammlung blieb hartnäckig. "Jetzt können Sie wenigstens Ihren Horizont erweitern, mal eine Auszeit von diesen Macho-Hirntod-Apollon-Themen nehmen!" "Ich könnte meine Lieblingsalben am Sonntag mitnehmen, dann lesen wir gemeinsam drin nach dem Museumsbesuch." Lockte Kay herausfordernd. "Ach ja, Sie Genie?! Wo wollen Sie sich damit hinsetzen?! Wo lauter Volk stört und man ständig behelligt wird?!" Emil putzte ihn geübt gnadenlos herunter. "Wenn wir also einen Raum für uns benötigen, quasi sakral für den Genuss, dann könnten wir doch nach dem Museum zu dir gehen! Ein Stündchen, Stoppuhr läuft, nur schmökern, kein Dreck, keine Umstände..." "Zu mir?! Nach HAUSE?!" Kay konnte sich den Schaum direkt vorstellen, der Emil nun aus dem Mund quoll, von der Rage aufgeschlagen wie Sahne. "Ist Ihnen entgangen, dass wir die Testwoche haben?! Dass ich Ihnen eindeutig zu verstehen gegeben habe, dass wir keine Schnittmenge von Bedeutung aufweisen können?! Da wollen Sie sich frech wie Graf Rotz zu MIR einladen?!" "Ganz genau!" Lautete Kays unbeeindruckte Replik. "Weil es praktisch ist. Wenn wir uns an die Fakten halten." Zugegeben, beim letzten Satz konnte man schon seinen dezent gehässigen Tonfall schwingen hören, aber so ein wenig schadlos halten durfte er sich auch, nicht wahr? "Fakten?! Was sollen das für Fakten sein?! Unerhört!" Tobte Emil zornig. "Erstens ist deine Wohnung näher am Museum." Gab sich Kay geschäftig. "Zweitens hast du jede Menge Lesestoff. Drittens ist deine Wohnung für Lesungen perfekt geeignet, da ruhig, sauber, passend möbliert und wir sind viertens absolut ungestört. Kein Besuch, keine Anrufe, kein Nichts! Also, das sind für mich doch sehr stichhaltige Argumente, die alle auf Fakten gründen!" "Das-das ist Humbug! Nur, weil Sie Ihre Bude vermutlich in einen Sündenpfuhl umgewandelt haben und zu faul sind, sich mehr als unbedingt nötig zu bewegen, können Sie sich mir ja nicht einfach aufdrängen! Ich MAG keine Besuche! Oder andere Leute in meinen vier Wänden! Wollen Sie das bitte zur Kenntnis nehmen!" "Habe ich doch, selbstverständlich, Emil!" Schnurrte Kay zärtlich. "Ich bin allerdings weder 'Leute' noch 'Besuch'. Ich bin gekommen, um zu bleiben, mein Freund." In seinen Ohren gellte ein schrilles Kreischen der hilflosen Empörung. Emil rammte vernehmlich den Hörer auf die Gabel. Kay lehnte sich in seinem Bürodrehstuhl zurück, verschränkte die Arme im Nacken, drehte übermütig ein paar Runden um sich selbst, ein mehr als FEIST zu nennendes Grinsen im Gesicht. Emil was besser als Zucker. Emil war Schokolade-Erdnussbutter-Kaffee-Sahne-Konfekt in Perfektion! §-#-§ Dominique zuckelte, den Fersenporsche ziehend, gemächlich Richtung Heimat. Die Sonderangebote des Discounters mussten genutzt werden, vor allem, wenn man bedachte, dass er sein Sparschwein geplündert hatte, um Ringe zu kaufen. Die eiserne Reserve war eigentlich dafür vorgesehen, den regelmäßigen Verschleiß der Rollen an seinem gewohnten Transportmittel zu finanzieren, aber Prioritäten veränderten sich eben! Es wurmte ihn ein wenig, dass Thierry sich abgeseilt hatte, er keinen bezahlten Ferienjob ergattern konnte, Ebbe im Schweinchen herrschte und auch, dass er sich allein beschäftigen musste. Hausarbeit war schließlich mal erledigt, dauernd nur lernen und sich den Kopf zermartern über eine vermutlich nicht sonderlich rosige Zukunft: da gab's eben Leerlauf. Er war nicht gern ohne Beschäftigung. So viel Freizeit nagte an ihm, verursachte ein schlechtes Gewissen. Nun, zu seiner Beruhigung hatte er jedenfalls günstig zugeschlagen, der Hausfrauen-Mercedes war rappelvoll, die guten Dinge mussten ja auch noch verstaut werden! Also doch noch ein wenig zu tun. Einzurechnen war letztlich auch die längere Wegstrecke! Er schob mit der freien Hand seinen geliebten Outback-Hut ein wenig in den Nacken, pustete sich selbst ins Gesicht, um die vereinzelten Schweißperlen als Kühlung zu nutzen. Er blinzelte, hielt in seinem bedächtigen Schritt inne, wischte sich über die Augen, zog die Stirn kraus. "Rosa?" Die zusammengekauerte Gestalt schreckte hoch, fiel fast von der wackligen Bank, die in einem kleinen Grünstreifen zwischen trockenen Büschen neben einen überquellenden Papierkorb gezwängt worden war. Dominique sah wirre, schwarze Strähnen, die modische Katastrophe einer Haremshose, dazu ein schlabbriges T-Shirt, das einem Quarterback mit Schutzausrüstung besser gestanden hätte und völlig verdreckte Wanderstiefel. Außerdem einen recht schmutzigen, zerrupften Verband von Handgelenk bis zum linken Ellenbogen. "Rosa! Du bist schon zurück?" Wachsam näherte er sich mit seinem Schwertransporter im Schlepp, registrierte die angespannte Haltung. Wenn sie jetzt vor ihm flüchtete, würde er sie nicht einholen können, so viel stand fest. "Wolltest du auch einkaufen?" Eine dumme Frage, er wusste, dass sie beliefert wurde, vermutlich keinen Discounter von innen kannte, doch seine Worte dienten einzig dem Zweck, sie aufzuhalten. "Habt ihr in der Bretagne viel ausgegraben?" Nun waren es nur noch drei Schritte. Die Alarmglocken in seinem Hinterkopf wollten gar keine Ruhe geben, schrillten wie verrückt! "..." Rosegunde keuchte etwas Unverständliches, ihr Gesicht völlig verdeckt von der wüsten Frisur. Sie taumelte zurück, prallte mit den Kniekehlen gegen die Bohlen der Parkbank. Bevor sie ihm zur Seite entwischen konnte, griff Dominique beherzt zu, fing ihr rechtes Handgelenk ein. Obwohl er keineswegs fest zupackte, entrang sich Rosegunde ein gequälter Aufschrei. Sie stemmte die linke Hand gegen seine Brust, um sich zu befreien. Das jedoch stellte keine gute Initiative dar, denn dieses Mal winselte sie jämmerlich, rollte sich ein, barg ihren verbundenen Arm vor der Brust, keuchte instinktiv, um den Schmerz zu kompensieren. "Rosa, was ist denn los?! Ich will dir doch nichts tun!" Erschrocken gab Dominique das rechte Handgelenk frei, legte beide Arme behutsam um die zuckenden Schultern. "Was ist denn passiert? Wo tut's weh?" Er hörte nur ihre abgehackten Atemzüge, immer schneller, was ihn Hyperventilieren befürchten ließ. Unerwartet krallte sich ihre rechte Hand in sein Sweat-Shirt, der Stoff ächzte unter der Belastung. Rosegunde schluchzte auf, zornige, animalische Laute, die sich trotz aller Bemühungen nicht unterdrücken oder beherrschen ließen. Dominique, der sie vorsichtig umarmte, benötigte einige Anläufe, bis er aus dem Silben-Stakkato herausgefiltert und dechiffriert hatte, warum sie so außer sich war: sie hatte ihren Ring verloren! §-#-§ Dominique war es gelungen, den schweren Anhänger links hinter sich her zu bugsieren, während er den rechten Arm um Rosegundes schmale Hüften gelegt und sie unfallfrei zu einem Kinderspielplatz in Sichtweite dirigiert hatte. Hier, unter den misstrauischen Augen einiger Mütter, okkupierten sie eine Sitzbank unter einer gewaltigen Platane, die kühlenden Schatten spendete, boten vermutlich ein sehr desolates Bild. "Lass mich bitte mal nach deinem Verband schauen, ja?" Ungewohnt resolut übernahm er das Ruder. "Ich kenne mich damit ein wenig aus." Ausführlich und detailliert, um präzise zu sein. Er kramte in seinem allgegenwärtigen Rucksack herum, beförderte Ersatz- und Notfallmaterial, säuberlich sortiert und griffbereit, zutage. Rosegunde hob nicht mal den Kopf an, ihr Gesicht blieb hinter dem schmuddelig-wirren Vorhang verborgen. Hin und wieder schluchzte sie unterdrückt, es klang jedoch keineswegs selbstmitleidig, sondern zornig, aufgebracht. Verzweifelt. Dominique schob seine nagende Sorge beiseite, wickelte den dilettantisch befestigten Verband ab und deponierte ihn in einer Abfalltüte. Aus dem Einkaufswagen holte er die Kühltasche, wischte mit der Tüte Tiefkühlerbsen behutsam über den knochigen Unterarm, der unschöne Hämatome aufwies und leicht angeschwollen war. Er begann, eine elastische Bandage zu befestigen, entschieden aber vorsichtig, auf jedes Winseln lauschend. Rosegunde nahm die Tiefkühlerbsentüte in die Rechte, presste sie sich aufs Gesicht, was Dominique erleichtert schmunzeln ließ. Ein wenig Trotz war also noch vorhanden! "Ich hab deinen Ring verloren." Ihre Stimme klang rau, gepresst. "Hattest du einen Unfall?" Dominique legte ihr sanft den sorgsam gewickelten Arm auf den Schoß. "Ist ja eine üble Prellung! Woher kommen die ganzen Blutergüsse?" "...wusste nicht...wie ich's dir sage... dass der Ring... tut mir so leid!" Rosegunde weinte wieder, die Schultern zuckten. Dominique fühlte sich erbärmlich. "Das-das kann jedem passieren!" Versicherte er hilflos. "Ist doch nicht so schlimm..." Damit trat er jedoch eine Lawine los. Rosegunde sprang von der Bank hoch, auf der sie rittlings wie ein Häufchen Elend in ihrem unmöglichen Aufzug gekauert hatte, funkelte ihn wütend an, BEIDE Fäuste ungeachtet der Schmerzen geballt. "Ist es wohl!! Ich war so blöd! Hab ihn abgelegt, weil der beschissene Dreck überall geklebt hat! Dann hat diese französische Pute ihn in den Brunnenschacht geworfen, mitten in den Schlamm! Hat blöd herumgekichert, ihren Franzsacken-Blabla rausgelassen!" Rosegunde fauchte nun lautstark und kehlig. "Ich bin in den Schacht gesprungen, aber ich hab ihn nicht mehr gefunden! Ich hab wirklich alles umgegraben, aber er war weg!!" Blau-violette Blitze zuckten, ihre Stimme überschlug sich. "Da sagt diese Puta zu mir, 'oppla, is er perdu?' mit ihren scheiß-überkronten Bleichzähnen und grinst mir ins Gesicht!" Dominiques Kinnlade hing bereits auf Bauchnabelhöhe. "Da hab ich dem Miststück eine Abreibung verpasst!" Rosegunde kochte nun vor unverarbeiteten Gefühlen. "Dann haben sich alle natürlich auf ihre Seite geschlagen, weil ich ja so ein Freak bin und sie eine zarte Elfe! Sie haben die Flics gerufen, ihre Zickenmutter ist aufgekreuzt, alles Gucci-Chanel, und hat mich geohrfeigt!" Nun befand sich Rosegunde in Angriffsstellung, alle Schmerzen und ihr Unglück waren temporär vergessen- "Das war natürlich in Ordnung, weil ich's war und sie so reich und aufgebrezelt und sonst was ist..." In ihren Augen funkelte ein unheiliges Feuer. "Aber da hat sie sich die Falsche ausgesucht! Im Schlammcatchen hab ich ihr jedenfalls nen ordentlichen Einlauf verpasst, der Zimtzicke!" Abrupt drehte sie den Kopf weg, ließ die Arme sinken, den linken nur so weit, wie es die elastische Bandage zuließ. "Die Flics wollten sich nicht die Hände schmutzig machen, aber da kann der Grabungsleiter, das Ober-Arschloch, mit einem anderen Wichtigtuer. Da mussten die Flics Einsatz zeigen, also hat einer mich gepackt und mir den Arm verdreht. Weil's total laut geknackst hat, haben sie Schiss bekommen, dass sie mir den Arm gebrochen hätten." Rosegunde zischte verächtlich. "Einer hat meine Sachen in den Kofferraum der Bullenschaukel gefeuert, dann sind sie zum Bahnhof gefahren und haben mich da mitten in der Nacht rausgeschmissen." Dominique starrte nun fassungslos, er bemerkte nicht mal, wie ihm der offene Mund austrocknete. Rosegunde sackte langsam auf der Bank zusammen, ihre Energie verpuffte. "Das war total scheiße." Wisperte sie rau. "Alles war zu, es regnete mal wieder, keiner da. Scheiß-Nacht! Mm Morgen wollte mir der alte Saftsack nicht helfen wegen des Tickets. Handy-Tickets kann er nicht lesen, außerdem er nix verstehen, was ich sage. Er ruft lieber die Bullen. Die kommen gar nicht, ich hätte da versauern können! Aber dann ist eine Gemeindeschwester vorbei geradelt. Die hat dem Depp Bescheid gegeben. So konnte ich wenigstens raus da. Hab fast zwei Tage bis hierher gebraucht, Bummelzüge, Umsteigen, Verspätung, Zwischenspiel bei der Bahnhofsmission, weil ich mich mit meinem Zeug verhoben hatte... Tja, wenn einer auf Reisen geht, hat er was zu erzählen!" Ihr bitterer, zynischer Tonfall täuschte Dominique nicht. Er konnte sich kaum vorstellen, wie verängstigt und schutzlos sie sich vorgekommen sein musste, allein gegen den Rest der Welt. "...es tut mir wirklich leid... der Ring..." Rosegunde zitterte wieder, die Wut verlor gegen ihren Kummer. Dominique beugte sich vor, zog sie sanft in die Arme, raunte ihr tröstende Worte ins Ohr. "Du warst unglaublich tapfer, Rosa! Ich hätte das nie ausgehalten! Ich bin so stolz auf dich, dass du alles gegeben hast." "..blöd war ich!" Schniefte es gequält. "Nur wegen diesem doofen Dreck...!" "Bitte quäl dich nicht so!" Mutig schob Dominique sich zurück, nahm ihr von Tränen gezeichnetes Gesicht in seine Hände, ignorierte die lästigen Strähnen. "Weißt du was? Wir teilen uns einfach meinen Ring! Jetzt sind wir ja wieder zusammen, da wechseln wir uns ab!" Rosegunde blinzelte, Tränen hingen wie Perlen in ihren Wimpern und verzauberten Dominique, weil sich in ihnen die prachtvolle Augenfarbe seiner Freundin brach. "...du... du bist immer so... nett!!" Warf sie ihm schnüffelnd vor. Schuldbewusst nickte Dominique. "Ich weiß, entschuldige! Schlechte Angewohnheit von mir." Er beugte sich vor und küsste sie sanft auf die Lippen. "Außerdem trage ich ja auch ein wenig Schuld an dieser Lage." Behauptete er lächelnd. "Ist doch reichlich gestrig, Ringe an den Fingern zu tragen! Hängen wir ihn uns um den Hals, schon stört er viel weniger! Darauf hätte ich gleich kommen sollen!" Dieses Mal erhielt er keine Antwort, dafür perlten stumm Tränen über Rosegundes Wangen, ohne Kommentar, wie an einer endlosen Schnur aufgezogen. Er schluckte, spürte Beklemmung, hoffte, mit seinem Ablenkungsmanöver ihre Gefühle nicht reduziert oder gar ins Lächerliche gezogen zu haben. "Komm." Er räusperte sich verlegen. "Bitte komm doch jetzt mit mir, ja? Wir kochen was Feines zusammen, du putzt mich wegen all meiner Nettigkeiten und anderer Unarten runter..." Rosegunde senkte den Kopf. In plötzlicher Panik nahm Dominique ihre Hände in seine. "Bitte! Bitte komm mit mir, ja? Ich werde mich auch mustergültig benehmen! Ich mache dir keinen Ärger..." Ein tonloses Auflachen unterbrach ihn. Den Blick noch immer auf ihren Schoß gerichtet, so angespannt, dass nur ein minimales Beben ihre Seelenqual verriet, wisperte Rosegunde kaum hörbar. "Du bist der einzige Mensch in meinem Leben, der mir die Hand gereicht hat. Du hast was Besseres verdient, das weiß ich, aber ich lass nicht los. Weil ich's nicht aushalte, ganz allein." §-#-§ »Das wird nicht einfach.« Dachte Dominique. Eine simple Feststellung, kein banges Einknicken oder Wegducken. Er hatte das sichere Gefühl, noch nicht mit der GANZEN Wahrheit vertraut gemacht worden zu sein, befürchtete, dass noch mehr Unerfreuliches ans Tageslicht kommen würde. Was er bis jetzt schon erfahren hatte, bestärkte ihn in der Überzeugung, dass ab sofort Rosas Ferien sehr viel besser werden mussten! Dass er zumindest kompensieren wollte, was die französische Pute, ihre Zickenmutter, das Ober-Arschloch, die Flics und sonst wer noch angestellt hatten. Allerdings gab es zuvor noch eine heikle Klippe zu umschiffen. "Rosa." Begann er tapfer, hielt ihre rechte Hand ein Ideechen fester, um eine Flucht zu verhindern, stoppte den Hausfrauenporsche. "Ich bin mir bewusst, dass es sehr aufdringlich ist, trotzdem, können wir eben in die 'Kommode' reingehen? Bitte?" Die blau-violetten Augen funkelten hinter dem wirren Haarvorhang skeptisch. Rosegunde knurrte spöttisch. "Schätze, dir gefallen meine Klamotten auch nicht, wie?!" Dominique überging den gezwungen verächtlichen Tonfall souverän und antwortete aufrichtig. "Ich finde das Zeug grässlich. Ich habe auch Zweifel, dass das deine Konfektionsgröße ist." Mit dem Kinn zielte er vielsagend auf das vollkommen überdimensionierte T-Shirt. Er konnte sehen, dass hinter dem Haarvorhang eine patzige Retourkutsche mit Mühe heruntergeschluckt wurde. "Bitte!" Ungeniert hob er Rosegundes Rechte an, hauchte einen Kuss auf den bleichen Handrücken. "Mir zu gefallen, ja?" "Meinetwegen. Sind ja nicht meine Erbsen, die hier auftauen und matschen!" Grollte Rosegunde grummelig, half Dominique jedoch mit der soeben liebkosten Rechten, den Hackenporsche über die Eingangsstufe zu hieven. Dominique ging voran und sondierte das Angebot. Ihm fiel sogleich ein leichtes Empirekleid auf, ein blass-violetter Stoff, der ohne Zweifel perfekt mit Rosas Augenfarbe harmonieren würde! "Das da!" Entschied er unmissverständlich, nahm das Kleid behutsam vom Bügel, erprobte die Passform an seinem widerwilligen Modell. "Moin Moin!" Aus dem winzigen Kabuff näherte sich geschäftig eine junge Frau, in einer extrem altmodisch geblümten Kittelschürze diverse Wollknäuel transportierend, strich eine leuchtend grün gefärbte Strähne aus ihren Augen. "Seid ihr schon fündig geworden?" "Das Kleid hier." Dominique wandte sich herum. "Ist das vielleicht reserviert? Hier klebt ein blauer Punkt auf dem Schild." Direkt neben dem handausgezeichneten Preis von 30,00 ¤. "Ah, da schaue ich mal nach, Augenblick, ja?" Schon machte die junge Frau kehrt, kam aus dem Kabuff mit einem gewaltigen Ringordner zurück, blätterte. "Hmm, hier steht, dass es reserviert ist, allerdings ist der Termin schon zwei Wochen herum." Sie zog die Nase kraus, fingerte aus einer Kittelschürzentasche ein ebenso altmodisches Mobiltelefon und holte sich Beistand. "Oma? Bea hier! Sag mal, das Empirekleidchen, das noch nicht abgeholt worden ist, können wir das verkaufen? Kennst du die Leute, die das reserviert haben?" Mit einem aufmunternden Zwinkern lauschte sie der Auskunft und signalisierte mit der freien Hand 'Daumen hoch'. "Danke schön, Oma! Ach, soll ich dir nachher was mitbringen? Von der Salatbar? Alles klar! Tschöö!" Dominique atmete erleichtert durch, warf einen Blick auf Rosegundes verdreckte Wanderstiefel. Doch woher Ersatz nehmen? Rosegunde streifte unterdessen durch den winzigen Laden, sondierte die angebotenen Waren, die eine neue Chance verdient hatten. Niq gefiel das Kleid, er hatte ein gutes Auge für schlichte, klassische Eleganz. Er mochte es, wenn sie nicht wie eine Beleidigung für den guten Geschmack herumlief, auch ohne Anlass ihre Stacheln aufstellte! Das Dilemma bestand darin, dass sie sich selbst durchaus mochte, wenn sie Niq entgegenkam, sich gleichzeitig wie eine Verräterin an ihrer trotzigen Ablehnung gegen die heuchlerische Gesellschaft und ihr Schönheitsdiktat fühlte! "Na, was hältst du von denen?" Bea hatte sich hinter sie geschoben, deutete auf eine eigenwillige Konstruktion, eine einfache Stahlkette, in die S-Haken eingehängt waren, an denen Schuhe baumelten. "Das sind alte Reifen als Sohlen, darüber dann bearbeitete Bast-Riemen. Eine ganz spezielle Sorte, die halten unheimlich lange. Bekommen wir von einem Entwicklungspartner." Bea strahlte sie an. Die Riemensandalen waren nett, aber nackte Füße kamen Rosegunde stets schutzlos und entblößt vor. "Und hier, das ist der richtige Gag!" Damit klemmte Bea auf jede Riemensandale eine gehäkelte Blumenrosette. Rosegunde lächelte schief, strich mit der Rechten zögerlich über den Blumenschmuck. So gar nicht ihr Stil! Nun, meistens wenigstens. Sie warf einen Schulterblick zu Dominique hinüber und unterdrückte ein hilfloses Seufzen. Er lächelte. Mal wieder. Freute sich über das hübsche Kleid, die niedlichen Rosetten auf den Sandalen. "Okay." Rosegunde gab sich geschlagen. "Kann ich mit Karte bezahlen?" §-#-§ Rosegunde stand ein wenig unschlüssig in der kleinen Küche. Dominique verstaute flink und geübt die Einkäufe, die es trotz der Hitze und der ausgedehnten Tour mit Abstecher auf dem Rückweg in ihrer Kühltasche mit den Akkus gut überstanden hatten. Alles hier war klein, kunterbunt, voll, trotzdem ordentlich und heimelig. Sie fühlte sich wie ein Eindringling, kam sich nun wirklich schmutzig, mies und falsch vor, hier Gastfreundschaft zu beanspruchen. Dominique richtete sich auf und lächelte sie an. "Sag mal, willst du dich vielleicht ein bisschen frischmachen? Die Kleider wechseln?" Erkundigte er sich höflich. "ich zeige dir gerade das Bad, ja? Wenn du duschen magst, guck ich mal, dass ich eine Plastiktüte für deinen Arm finde." Würde sie sich besser fühlen, wenn sie ihre Schuldgefühle und die seltsame Beklemmung, unverdient an einen schönen Ort gelangt zu sein, kalt abspülte? "Das ist wirklich in Ordnung." Versicherte Dominique, der ihr Schweigen missdeutete. "Ach, ich gebe dir auch ein schönes, flauschiges Handtuch! Während du im Bad bist, mache ich für uns Eistee, ja?" Rosegunde zwang sich zum Nicken, ihre Kehle schnürte sich zu, hinderte sie am Sprechen. "In Ordnung!" Freute sich Dominique aufgeräumt, drehte sie sanft. "Da geht's lang, bitte." Wie konnte er nur immer so höflich und liebenswürdig sein?! Auch noch nachsichtig mit ihr?! Für einen winzigen Moment übermannte Rosegunde die Panik. Fast hätte sie die Flucht ergriffen, wäre über den Flur aus der kleinen Wohnung gestürzt. Dominique, der diesen inneren Aufruhr nicht bemerkte, zog aus einem Rolltürenschrank im Flur das zugesagte Handtuch, legte es im bescheidenen, langgestreckten Bad auf den Toilettendeckel neben der Duschwanne. "Ach ja!" Erinnerte er sich selbst. "Die Tüte!" Prompt funktionierte er eine Tüte von der blanken Rolle, die in einem offenen Bord mit allerlei Kästchen und Körbchen lag, ordentlich aufgeräumt, in eine schützende Hülle um, die er mit langen Haarklammern fixierte. "Das sollte ausreichend halten." Bemerkte er überzeugt. "...d'nk'." Nuschelte Rosegunde erstickt, legte ihr neues Kleid auf dem altmodischen Rippenheizkörper ab. "Gern geschehen." Dominique zwinkerte. "Dann lass ich dich mal alleine..." Er hielt inne, tauchte mit der Linken tief in seine Hosentasche ab. "Ach, Moment mal!" Rosegunde, die ihm die Schulter zugewandt hatte und mit ihren Selbstvorwürfen kämpfte, wandte sich ihm alarmiert zu. Hatte er jetzt endlich bemerkt, dass sie seine liebevolle Fürsorge überhaupt nicht verdiente? Dominique streckte ihr die Linke entgegen, auf der eine kleine Figur saß, ein winziger, gehäkelter Bär. "Ein kleiner Freund, als Glücksbringer und Gesellschaft." Erläuterte er verlegen, war froh, dass Bea seine verstohlenen Gesten fehlerfrei dechiffriert und ihr kleines Geschäft so diskret abgewickelt hatte. Rosegunde starrte lange Augenblicke auf den winzigen Bären mit seinen Knopfaugen und dem verschmitzten Grinsen. Sehr vorsichtig hob sie ihn mit Zeigefinger und Daumen von Dominiques Handteller, der runde Schlüsselring baumelte vom Bärenkopf herunter. Einen Augenblick später wurde er ziemlich gequetscht, als Rosegunde ihn fest in ihre Faust schloss, die Arme eng um den verblüfften Dominique schlang, der zwar auf eine spöttische Bemerkung gehofft, jedoch so eine heftige Geste nicht erwartet hatte. Beinahe schmerzhaft eng presste sich der schlanke Körper an ihn, hielten ihn die dünnen Arme eisern umschlungen. Ein wenig sanfter erwiderte er die Liebkosung, strich behutsam über die struppigen Strähnen, die merklichen Wirbel des Rückgrats. "Wenn du nicht aufhörst so nett zu mir zu sein, dann...!" Raunte es kehlig, von unterdrückten Tränen gezeichnet an sein Ohr. "Dann werde ich dich heiraten! Und bis ans Ende meines Lebens an mich ketten!" Rosegunde schluckte. »Was du vermutlich für ein ganz furchtbar grauenhaftes Schicksal hältst, hm?« Dachte Dominique zärtlich, der doch ein wenig stolz auf den ersten Quasi-Heiratsantrag seines Lebens war. "Das hört sich nach einem sehr guten Angebot an!" Gab er laut zurück. "Obwohl ich gern wegen der Toilettengänge eine etwas längere Kette hätte..." Rosegunde knurrte und biss ihn ins Ohrläppchen. §-#-§ Sie lagen im Wohnzimmer auf einer alten Strandmatte in einem Sonnenfleck. Eistee kondensierte in Gläsern in Reichweite. Rosegunde trug das frisch gekaufte Empirekleid. Um ihren Hals, von einer einfachen Kette, die Dominique dem Wühlfundus des Schmuckkartons seiner Mutter entnommen hatte, hing ihr gemeinsamer Keramikring. Die schwarzen Haare waren zu einer im französischen Stil geflochtenen Hochsteckfrisur zusammengefasst. Mithilfe eines alten Augenbrauenstifts erblühte auf Rosegundes Gesicht eine prachtvolle Päonie. Dominique wandte leicht den Kopf, betrachtete das vertraute Profil. Es erleichterte ihn zu sehen, dass sie nicht mehr so elend und schuldbewusst blickte. "Woher kannst du das?" Rosegunde raunte, die Augen geschlossen. "Zöpfe flechten?" "Ist doch Mädchenkram!" Er lachte leise und streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken. "Stimmt, aber man weiß nie, wann es nützlich sein kann." Versöhnlicher fuhr er fort. "Ich habe es im Krankenhaus gelernt. Auf der Kinderstation sind oft Kinder, die mit Chemotherapien behandelt werden, Leukämie, Tumore im oberen Körperbereich, all diese Fälle. Da ich ja auch Glatzenkönig aus praktischen Gründen bin, passte ich gut in unseren Trupp. Damals wurden wir getröstet, dass uns die Haare ja wieder wachsen. Für die Mädchen war das besonders wichtig, deshalb kam extra ein Therapeutin und hat gezeigt, wie man die Puppen frisieren kann." Er wandte den Kopf, studierte die angespannten Linien in ihrem Gesicht. "Weißt du, sogar wir Jungs haben da mitgemacht. Es hat uns abgelenkt, es wurde gelacht, wir hatten zusammen Spaß. Wenn man so für sich allein liegt und Schmerzen aushalten muss, dann ist das sehr einsam und bedrückend. Vor sich selbst ist man ja auch nicht ganz so tapfer wie vor anderen." Er spürte die Verkrampfung ihrer Finger in seiner Hand, die wachsende Anspannung in ihren Gliedern. Ja, das waren keine schönen Themen, doch für ihn waren sie mittlerweile eine vergangene Erfahrung geworden, die ihm bewiesen hatte, dass er an Erschwernissen wachsen konnte, auch negative Erlebnisse nutzte, die Perspektive wechselte. "Du bist viel tapferer als ich." Wisperte Rosegunde schließlich tonlos. "Iwo!" Winkte Dominique eilig ab. "Ich habe oft genug gejammert und geheult! Mit der Zeit habe ich bloß gelernt, dass es manchmal nichts bringt, sich selbst leid zu tun, das ist alles." "Ich TU mir aber leid!" Explodierte Rosegunde neben ihm heftig, drückte seine Hand schmerzhaft. "Ich bin kein bisschen so cool, wie du glaubst!! Ich hab nämlich meinen Vater angerufen, dass er mir hilft!" Dominique atmete zischend durch die Zähne. Seine Finger taten weh. Rosegunde neben ihm starrte zur Zimmerdecke, die Mundwinkel verächtlich heruntergezogen, lachte abschätzig über sich selbst. "Tolle Idee! Er hat sich über die späte Uhrzeit beklagt und dass ihn der Penner schon gebrieft hätte. Und dass er sich gerade so über mich ärgert, dass er nicht mit mir sprechen möchte. Also hat er aufgelegt." Unter ihrer bleichen Haut arbeiteten Sehnen, ihre Zähne knirschten vernehmlich. "Zu meinem Glück hatte meine Mutter ihren Anrufbeantworter laufen, als ich zu Kreuze kriechen wollte. Ich solle mich bitte nicht vor nächster Woche bei ihr melden, weil sie viel zu beschäftigt ist. Also siehst du, wenn's drauf ankommt, bin ich auch nur eine kleine, verlogene, opportunistische Heulsuse, die nach Mami und Papi schreit, wenn sie in der Scheiße sitzt!" Dafür verachtete sie sich selbst. Dominique entschied, sich unfair zu verhalten, indem er sich aufsetzte, um sie ansehen zu können. Sie glaubte also, es gereiche ihr zur Schande, dass sie in ihrer Notlage ihre Eltern um Hilfe gebeten hatte? Dass es ein Verrat an ihrer Überzeugung war, immer allein zurechtkommen zu müssen? "Ich hätte es nicht ausgehalten, wenn mir meine Eltern nicht beigestanden hätten." Antwortete er leise, aber pointiert, " "Ich war nie allein. Sie haben unerschütterlich an mich geglaubt, mir Mut gemacht, nicht aufgesteckt, nie aufgegeben. Deshalb finde ich es unglaublich tapfer, dass du durchhältst, ohne dass dir jemand zur Seite steht." Was ihn zutiefst erschütterte. Rosegunde drehte den Kopf, schenkte ihm eine bittere Grimasse. "Aber ich bin nicht liebenswert, so wie du." In ihren Augen stellte dies durchaus eine Rechtfertigung dafür dar, dass sie alles allein zu schultern hatte, was ihre Persönlichkeit an Widrigkeiten hervorrief. Dominique rückte näher heran, strich ihr mit der freien Hand über die Wange, seine Miene ernst und streng. "Denkst du denn tatsächlich, du hättest es verdient?! Weißt du nicht, dass du liebenswert bist? ICH liebe dich." Er räusperte sich errötend. "Nur so zum Beispiel. Wärst du wirklich so ein unausstehliches Ekel, wie du zu sein glaubst, dann würdest du dir darüber gar keine Gedanken machen. Du hättest nicht mal den kleinsten Zweifel an der Richtigkeit deiner Selbstdarstellung." Unter ihm schnaubte Rosegunde und blinzelte heftig gegen den feuchten Film auf ihren Augen. "Da, du machst es schon wieder! Immer musst du nett sein! Und so verdammt logisch!! Das ist so unfair!" "Unfair?" Echote Dominique verblüfft. Nun war seine Linke plötzlich solitär, weil Rosegunde sich losmachte und aufsetzte. "Ja, unfair!" Wiederholte sie energisch. "Du zwingst mich praktisch dazu, dass ich dir immer weitere Niederungen meines abscheulichen Charakters aufzeige, damit du endlich Vernunft annimmst!" "Also, bis jetzt sind mir noch keine Niederungen aufgefallen." Hielt Dominique unerschrocken dagegen. "Na ja, bei der Ketten-Sache bin ich mir nicht so sicher, das hört sich ein bisschen nach Sado-Maso an, aber im Leben kann man ja immer noch was Neues lernen..." Rosegunde kniff ihn in die Nasenspitze, aufgebracht, erheitert, den Tränen nahe und hilflos. "Klappe, ja?! Du hast keine Ahnung davon, was für ein Miststück ich bin!! Offiziell verachte ich meine egoistischen, eingebildeten, verlogenen, heuchelnden Eltern, aber trotzdem will ich, dass sie mich anerkennen!" Sie schluckte heftig, holte tief Luft. "Wieder und wieder, wie eine Bekloppte, versuche ich, sie auf mich aufmerksam zu machen! Obwohl ich doch weiß, dass sie mich für einen Fehler halten! Einen lästigen Lapsus, der in ihrem Leben stört! Wie bescheuert ist das denn, hä?! Wie blöd und eingebildet und egoistisch muss man sein, um so einen Scheiß immer wieder durchzuziehen?!" Bevor Dominique etwas erwidern konnte, presste sie ihm ihre Rechte auf den Mund, Tränen des Zorns hingen in ihren Wimpern. "Wenn ich nicht aufpasse, dann werde ich genauso wie sie." Flüsterte sie mühsam. "Vielleicht merke ich das nicht mal mehr. Und das will ich..." Ihre Stimme brach weg, sie räusperte sich gequält. "Ich will dir das nicht zumuten. Das hat niemand verdient." Behutsam pflückte Dominique die Hand von seinem Mund. Er beugte sich vor, unerschrocken über das reflexartige Zurückweichen, küsste sanft salzige Spuren von den geröteten Wangen, setzte sich sehr gerade auf, hielt Rosegundes Rechte entschlossen. "So wirst du nicht werden, Rosa. Wenn du mich an die erste Stelle setzt und dir Gedanken um mich machst, kannst du gar nicht egoistisch sein. Ab jetzt wirst du diesen Kummer auch nicht mehr haben, denn ich liebe dich. Und du kannst mich lieben. Ich gehe jede Wette ein, dass meine Mutter dich auch lieben wird. Da draußen sind bestimmt noch mehr Menschen, die dich für das lieben werden, was du wirklich bist. Vertrau mir, ja?" Rosegunde schniefte, drehte den Kopf weg, blinzelte, zog aber ihre Hand nicht zurück. "Du redest echt wie'n Buch." Murmelte sie. "Bringst auch noch dauernd Sachen, die kein Typ sagen würde, weil's viel zu peinlich ist." Dominique schmunzelte erleichtert. "Ich bin eben eine andere Sorte Typ." Nun richteten sich die blau-violetten Augen wieder auf ihn, konzentriert, entschieden. "Ich werde das wirklich tun." Erklärte Rosegunde ihm leise. "Ich werde dich heiraten, Niq. Auch wenn eine Bessere auftaucht, ich werde dich nicht rausrücken." Ihr gegenüber lächelte Dominique aufmunternd, drückte sanft ihre Hand. Sie war das perfekte Mädchen, das hatte er gleich gewusst! §-#-§ "Ich bin eben wirklich nur gut im Essen." Rosegunde spazierte gemächlich an Dominiques Seite, hielt seine Hand. Er selbst apportierte die Plastiktüte mit den von ihm abgebürsteten Wanderstiefeln und der verschmähten Kleidung. "So schlecht war's gar nicht." Tröstete er versöhnlich. "Mit ein bisschen Übung bist du in Nullkommanichts fit im Kochen!" "Ha, ha!" Spottete Rosegunde gut gelaunt, streckte ihm die Zunge raus. "Ich finde die Arbeitsteilung gerade total richtig: du kochst, ich esse!" Dominique grinste. Er hatte vorgeschlagen, gemeinsam das Abendessen zuzubereiten, nachdem er mittags mit seiner Rosa frische Waffeln gebacken hatte. Sie kannte bloß die Sorte, die man auftaute und in einen Toaster steckte. Mit Gemüse war seine Küchenassistentin lediglich theoretisch vertraut, doch hilfsbereit. Als dann noch seine Mutter gekommen war, angelockt von Essensdüften, einem gedeckten Tisch, hatten sie erst recht viel Spaß gehabt. Es hatte ihn verblüfft, wie bange und scheu Rosegunde seiner Mutter gegenübergetreten war, ängstlich auf ein Wohlwollen hoffend, was ihr vermutlich allzu oft in der Vergangenheit versagt worden war. Seine Mutter jedoch mochte Rosa, davon war er überzeugt. Sie hatte die Schnappschüsse vom Ball auf Rosas Handy mit Begeisterung aufgenommen, um einen Abzug gebeten, nach dem Geschirrspülen vorgeschlagen, das alte Reisespielset auszupacken und mit kleinen Würfel noch winzigere Kegel auf dem Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spielfeld herum zu schieben. Auch Mikado-Stäbe wurden geworfen, die Stimmung war sehr ausgelassen. Ein herrlicher Abend. Leider nun zu Ende, denn er musste Rosa nach Hause bringen. "Hoffentlich ist deine Mutter nicht sauer auf mich." Bemerkte Rosegunde leise. "Ich meine, ich komme einfach uneingeladen zu euch nach Hause..." "Aber ich habe dich doch eingeladen!" Korrigierte Dominique erstaunt. "Sie mag dich! He, ich habe noch nie ein Mädchen eingeladen!" "So, so!" Rosegunde warf ihm einen halb spöttischen, halb dankbaren Blick zu, ihre Verlegenheit zu überbrücken. "Hast du jetzt die Absicht, daraus eine Gewohnheit zu machen?" Dominique lächelte. "Bei dir bestimmt. Nur, dass du Bescheid weißt: meine Mutter hat mir gesagt, sie hätte nie erwartet, dass ich so ein bildhübsches Mädchen zur Freundin bekomme!" Rosegunde stolperte prompt über ihre neuen Riemensandalen, starrte Dominique fassungslos an. Der blieb wie sie stehen und ergänzte sanft. "Ich kann mir schon denken, was dir im Kopf herumspukt, Rosa." Er hob ihre verschränkten Finger, küsste ihren Handrücken. "Ich wünschte, du könntest dich mit meinen Augen sehen." »Nicht mit den überkritischen, von Vorurteilen und fragwürdigen Idealen verblendeten Augen deiner Mutter!« Ergänzte seine innere Stimme streng. Nach einigen hastigen Herzschlägen setzte er sich langsam in Bewegung, Rosegunde im Schlepptau. "Du denkst, dass ich eine ziemlich dusslige Kuh bin, weil ich mich da nicht rauswinden kann, aus diesem Lügen-Zirkus." Murmelte Rosegunde rau hinter ihm. "Ich denke, dass du sehr streng mit dir bist, beinahe unerbittlich." Dominique schmunzelte. "Dass du denen, die diesen verdrehten Blick auf die Welt haben, immer noch eine Chance geben willst. Dass du ein klein bisschen Angst hast, ebenso eingebildet und selbstverliebt zu werden, wenn du wirklich BEGREIFST, dass du bildhübsch BIST." Für einige Schritte blieb es bemerkenswert still hinter ihm. Dominique rang mit seinem raschen Herzschlag, denn er wagte sich in vollem Bewusstsein auf verminten Boden. Wer war er schon, dass er sich ein Urteil erlaubte?! Seine Mutmaßungen zur Wahrheit verklärte, ihr Gedanken in den Kopf phantasierte?! "Irgendwann werde ich dich ganz fürchterlich beuteln." Murmelte Rosegunde hinter ihm kleinlaut. "Weil du schlauer bist, als mir geheuer ist!" Vor ihr wandte Dominique sich im Gehen herum und lächelte verschmitzt. "Tu das ruhig, ich hab's dann bestimmt verdient." "Genau!" Knurrte Rosegunde vorgeblich finster, funkelte ihn herausfordernd an. "Was musst du dich auch in mich verknallen!!" Dominique grinste vor sich hin, während Rosegunde den Abstand energisch reduzierte, auf gleicher Höhe mit ihm spazierte. §-#-§ Jacqueline Reitze sortierte ein paar Wäschestücke und überdachte diesen unerwarteten, vergnüglichen Abend. Das war also Rosa, das Mädchen, das mit ihrem Sohn tanzen ging, seinen Ring um den Hals trug, sie immer wieder nervös von der Seite beäugt hatte, ob sie auch nicht über die Stränge schlug. "Tja!" Murmelte sie ein klein bisschen melancholisch. Aber so spielte das Leben! Nickie war schon 17, klar wollte er eine Freundin haben, so langsam die Nabelschnur kappen! Wenn ihr mütterlicher Instinkt (kombiniert mit einem eindeutig debilen Jungengrinsen, was allen Männern genetisch einprogrammiert war) nicht trog, hatte sie auch großen Anteil an einer neuen Erfahrungswelt ihres Sohnes. »Sex, dusselige Kuh! Reden wir nicht drumherum!« Aber da war sie zu sehr Muttertier, das wollte sie sich gar nicht wirklich vorstellen! Immerhin war es ja quasi erst gestern gewesen, als sie dem Wonneproppen den Popo abgewischt hatte! Es sah ernst aus, das musste sie auch zugeben. Ihr Nickie verhielt sich nicht albern-großspurig-deppert, von Hormonen besoffen, sondern umsichtig, aufmerksam und verantwortungsbewusst, glotzte nicht wie ein verliebtes Mondkalb, sondern behielt Rosa auf eine intensive, entschiedene Art und Weise stets im Blick. Ja, vor Jahrzehnten hatte sie sich auch mal in so einem Visier befunden. Das musste er vom Vater geerbt haben. Dazu diese Entschiedenheit gepaart mit ihrer eigenen Halsstarrigkeit?! Das arme Mädel würde nicht auskneifen können! Als sie gerade das Licht in der kleinen Küche löschen wollte, hörte sie die vertraute Stimme ihres Sohnes im Hausflur. Mit wem sprach er denn da zu so später Stunde? Sie öffnete die Wohnungseingangstür und prallte verblüfft zurück, weil nicht nur ihr Sohn, sondern auch seine Rosa wieder auf der Fußmatte standen. Allerdings zitterte das Mädchen am ganzen Leib und war barfuß. §-#-§ Kapitel 16 - Es wird ernst Dominique hatte Rosa nicht entlocken können, was genau sie dazu getrieben hatte, ihm förmlich ins Kreuz zu springen, totenbleich, schlotternd, die Zähne so hart aufeinander schlagend, dass er Funkenflug erwartete. Hals über Kopf musste sie geflohen sein, keine Sandalen an den Füßen, die vornehme Hochsteckfrisur wirr, ohne die Tüte mit ihren Habseligkeiten. Er hatte instinktiv reagiert, sie klammern lassen, so fest sie wollte, sich nicht damit aufgehalten, ihr seine Schuhe oder Socken aufzunötigen. Ihrem glasigen Blick konnte er nur entnehmen, dass sie unter Schock stand und bei ihm Zuflucht suchte. Selbst Rosa, die so hart im Nehmen war, hatte heute wohl ihr Limit überschritten! Also hatte er sie geführt, in einem seltsamen Krabbengang, damit er beide Arme um sie schlingen konnte, was sie zu beruhigen schien, hatte belanglose Phrasen gemurmelt, gehofft, dass sie nicht auf offener Straße zusammenbrechen würde. Nun kauerte sie auf dem Rand der Sitzbadewanne, wiegte sich vor und zurück, die dürren Arme trotz ihrer Verletzung eng um den Leib geschlungen, ächzend wie ein geprügeltes Tier. Mit warmem Wasser spülte Dominique ihr die bloßen Füße ab, ließ sie nicht aus den Augen. Seine Mutter kam hinzu, schmiegte sich in die überfüllte, kleine Nasszelle, hängte Rosa eine ausgeleierte, aber flauschige Strickjacke um, rieb ihr dann energisch die Oberarme. Einige Herzschläge später verlor sich der glasige Blick aus den blau-violetten Untiefen. Stotternd, klappernd wiederholte Rosegunde immer wieder. "Ent-ent-schld-schld-gng! Ent-ent-schld-schld-gng!" "Ach, Kleines!" Jacqueline Reitze ignorierte großzügig tatsächliche Verhältnisse, zog Rosegunde in eine tröstende Umarmung. "Ist ja alles wieder gut! Niemand tut dir was! Alles in Ordnung, Kleines, alles wieder gut." Dominique verfolgte durchaus überrascht, dass Rosegunde sich an seine Mutter schmiegte und in gequältes Schluchzen ausbrach, ein flehentlicher Appell um Schutz. Seine Mutter ließ sich nicht beirren, streichelte durch die wirren Strähnen, barg das totenbleiche Gesicht warm an ihrer Brust und summte beruhigende Töne. Das arme, kleine Hascherl stand ja ganz neben sich!! Dominique tigerte auf leisen Sohlen hinaus, um Milch aufzuwärmen und mit ordentlich viel Honig zu versüßen. Er holte Bettzeug für Rosegunde und einen Pyjama seiner Mutter für ihren unerwarteten Gast. §-#-§ "Dieser miese Erpresser!" Knurrte Emil Sandemann zwischen knirschenden Zähnen. Was eine Verdrehung der Tatsachen darstellte, immerhin hatte er SELBST eingewilligt, eine Woche lang jeden Tag Kontakt mit diesem aufreißerischen, schmalzenden Schmalspur-Casanova zu halten! Weshalb er nun, im Wort stehend, nach ihrem Disput am Vortag, vor dem Telefon saß und haderte. Er wusste, wann Kay auf Sendung ging. Er hatte eine Funkuhr im Blick. Die Sekunden verstrichen, kein aufreibendes Klingeln schreckte ihn auf. Was also tun? Wenn man im Wort stand. "Drecksack!" Schnaubte Emil, zürnte sich selbst. Weil er sich jetzt erhob, in seiner kostbaren Freizeit, um tatsächlich den Computer anzuwerfen! In dem eigentlich nur für eine einzige Gelegenheit geschaffenen E-Mail-Briefkasten einer Wegwerfadresse nachzuforschen, ob sich dort eine Nachricht für ihn befand. [Sorry, Emil, kleines Chaos hier, melde mich später, 1001 xxx für süße Träume! Kay] Erbost fauchte Emil den Bildschirm an. Wie konnte dieser eingebildete Pinsel ihm so eine dämliche Nachricht senden?! Dann noch "1001xxx!" Für wen hielt der sich?! "Als ob ich diesen parasitären, aufdringlichen Herumtreiber auch nur in Spuckweite an mich heranlassen würde!" Von widerwärtigen Schlabber-Schnabel-Kontakten mit Bakterien-Viren-Seuchenerregern-Austausch ganz zu schweigen! Was sollte das bedeuten, er melde sich später?! Erwartete dieser aufdringliche Chaot etwa, er würde nur seinetwegen seinen Biorhythmus vernachlässigen und sich nicht wie üblich zur Ruhe betten?! "Da träumst du aber!" Ätzte Emil bissig. Das kam überhaupt nicht in Frage! Er gehörte schließlich zur arbeitenden Bevölkerung! Wenn der Kerl sein Leben gern als Nachteule bestreiten wollte, so war das sein persönliches Pech. Dann war ja da noch die Sache mit dem Museum. Gegen die Currywurst-Bude, die es da angeblich in der Nähe geben sollte, hatte er ja gar nichts einzuwenden, aber Comicalben durch die Gegend schleppen und sich bei ihm einquartieren, am HEILIGEN SONNTAG?! Auf keinen Fall! Grundsätzlich, das stellte eine beunruhigende Entwicklung dar in der letzten Zeit, wie viele Fremde sich in seinem Wohnzimmer eingefunden hatten. Emil warf die Stirn in Falten. "Fehlt noch, dass dieser Vogel dann glaubt, er könne ganz nach Laune hier hereinschneien!" Ein wahrer Albtraum für Emil Sandemann, der seine Privatsphäre unerbittlich schützte. Er WOLLTE nicht, dass ihn jemand in seiner privaten Natur kannte! Niemand hatte das Recht, sich seinem Wunsch zu widersetzen! Die Vorstellung eines "offenen Hauses", wie es einige Klassenkameraden in seiner lange zurückliegenden Kindheit gepflegt hatten, wo sich ein Rudel wuseliger Schüler trafen, unter Nachsicht der langmütigen "Hausmutter", jagte ihm das kalte Grauen ein. Man konnte einfach nicht man selbst sein, nicht mal in einem kleinen, privaten Kokon. "Kommt nicht in Frage!" Entschied Emil entschlossen. Er würde sich nicht verbiegen. Auch nicht beugen. Zeit, dass dieser Hallodri das begriff und ihr Experiment beendet wurde! Mit dem grimmigen Blick eines bärbeißigen Bullterriers meldete er sich auf der "Apollon"-Webseite und hinterließ mit der Wegwerf-E-Mail-Adresse seinen "Musikwunsch". [American Idiot, in der Version von Dick Brave und den Backbeats.] §-#-§ "Bistduirre?!" Robert verdrehte eindrucksvoll die Augen im Kopf. Immerhin hatten sie ja mal so was wie ein Sendekonzept und eine Zielgruppe gehabt! Was dieser seit kurzem total bekloppte Weiberheld gerade in die Tonne trat!! Kay ignorierte die Störgeräusche aus seinem Kopfhörer, jonglierte geübt mit seiner Anlage und den Computern, lächelte stillvergnügt vor sich hin und schnurrte in zärtlichem Bass in die Nacht hinaus, wo sich Partyvolk, einsame Herzen, Berufstätige oder schlaflose Eltern von Kleinkindern von ihm unterhalten ließen, ihn zu ihrer Gesellschaft machten. Doch vor allem wollte er einem, der sich angeblich standhaft weigerte, seine Sendungen zu hören, der ihn nicht ausstehen konnte, sich über ihn echauffierte, grundsätzlich jede Gemeinsamkeit zwischen ihnen bestritt, der ihm vermutlich nicht einmal zuhörte, weil er jetzt selbstzufrieden die Matratze abhorchte, einen Gruß senden. Selbstverständlich seinen "Musikwunsch" abspielen, ganz gleich, ob der in das Sendekonzept passte, oder nicht. Immerhin war dies seine Sendung, er konnte alles passend machen! Kay schmunzelte, als er sich vorstellte, wie Emil wohl überlegt hatte, welche "Botschaft" er ihm senden wollte, sich wahrscheinlich geärgert hatte, weil klassische Musik nicht so treffend ausdrücken konnte, was er von ihm hielt. »Aber er hat gewartet. Er hat seinen Computer nur für mich angeworfen.« Das WAR ein Triumph. Zugegeben, Emil war ein Mensch, der sich streng an sein Wort gebunden sah, Verpflichtungen nicht einfach entfloh, nicht mal dann, wenn es ihn in die Enge trieb. "Süß!" Raunte Kay sanft, entschied, Emil eine Grußkarte zu schicken mit einem Treffpunkt für ihre Exkursion am Sonntag, begleitet von der grässlichsten Aufreißer-Mucke, die er im Angebot finden konnte. Er hatte schließlich eine Erwartung zu erfüllen! §-#-§ Dominique war durchaus verblüfft, dass seine Mutter nicht darauf bestand, ihn auf der Couch im Wohnzimmer einzuquartieren, damit Rosa in seinem Bett nächtigen konnte, doch ohne große Umstände hatte sie zugelassen, dass er seine verstörte Freundin in seinem Zimmer unterbringen konnte, wo es nun wirklich nur ein Bett und kaum Raum für ein Matratzenlager gab. Nicht, dass er in dieser Situation irgendwelche unsittlichen Annäherungen getätigt hätte. Trotzdem, seine Mutter war uneingeschränkt die verständnisvollste Person auf der ganzen Welt! Behutsam streichelte er über Rosegundes wirre Haare, hoffte, dass dicke Socken, Pyjama und warme Milch mit Honig die letzten Nachwirkungen ihres Schocks vertreiben würden. Mit der anderen Hand hielt er ihre Linke, achtete auf den Verband. "Tut mir leid." Flüsterte sie rau, mal wieder, wie ein gescholtenes Kind, verängstigt und gedemütigt. Es schnürte ihm die Kehle zu. "Kein Grund." Versicherte er erneut. "Du hast nichts falsch gemacht, Rosa. Ich bin froh, dass du hier bei mir bist." Ein wenig verlegen, doch tapfer, sie aufzuheitern um den Preis der eigenen Würde. "Ist außerdem das erste Mal, dass ein Mädchen hier ist. In meinem Zimmer. In meinem Bett. Von meinen Armen ganz zu schweigen." Rosegunde kicherte leise, seufzte dann auf. "Du bist wieder viel zu lieb, Niq." "Ja, schlechte Angewohnheit." Pflichtete er ihr artig bei, drehte den Kopf leicht, um ihre Stirn zu küssen. "Wird alles wieder gut." Tröstete er, roch im Halbdunkel die Tränen, die er nicht sehen konnte, die sie wieder herunterzwang. Einfach jedoch, das war ihm durchaus bewusst, würde es nicht werden. §-#-§ Dominique hielt Rosegundes Hand, als sie zu ihrem Gang aufbrachen. Ein spätes Frühstück hatte die Grundlage gelegt für diese Erkundungstour. Trotz der sommerlichen Wärme trug Rosegunde über ihrem Empirekleid ein Sweatshirt von Dominique und ein Paar seiner Sneaker mit dicken Socken. Mit jedem Schritt wurde ihr Griff um seine Finger fester, fast schmerzhaft. Das Haus in der ruhigen Wohngegend wirkte normal, trügerisch unberührt. Dominique hörte Rosegundes vernehmliche Atemzüge, hektisch, bange, während sie die Stufen hochstiegen. Vor der Wohnungseingangstür verharrten sie. Dominique wandte den Kopf, sah Rosegunde in das fahl-weiße Gesicht. Sie bemühte sich um ein tapferes Grinsen, doch die angespannten Sehnen verrieten sie. "Da unten." Wies sie mit dem Kinn auf eine Stufe, unter deren Steinplatte die äußere Schmuckfliese in der Reihe beweglich sein musste. Dominique ließ ihre Hand los, ging in die Hocke und schob die Fliese aufmerksam herum, bis er sie abheben und darunter den Ersatzschlüssel hervorholen konnte. Er war es auch, der die Haustür aufschloss, Rosegunde sanft hinter sich geschoben. "Hallo?" Rief er in den Flur hinein, lehnte die Wohnungseingangstür nur an. Sicher war sicher, falls sie eilig verschwinden mussten. Er lauschte in die Wohnung hinein, doch sein Gefühl suggerierte ihm, dass sie allein miteinander waren. Küche, Badezimmer, Wohnzimmer: alles wirkte so wie bei seinem letzten Besuch, wie eine Ausstellung, unbehaust. Tollkühn stieß er auch die Schlafzimmertür auf. Auch hier keine Spur von jemanden. Hinter ihm hörte er einen erstickten Wehlaut. Rosegunde war in ihr eigenes Zimmer abgebogen. Auf der Sohle wirbelte er herum, stürzte zu ihr. Dieses Zimmer allerdings war nicht unberührt. Sämtliche bunten Tücher waren von den Wänden gerissen worden, die Kissen aufgeschlitzt, der Bodenspiegel eingeschlagen, die Matratze aufgerissen. Kleidungsstücke lagen wie tote Paradiesvögel herum, in Fetzen gerissen. Rosegundes Laptop war zertrümmert, daneben ihr zerstörtes Telefon. Am Fenster aufgehängt ihr zerfetztes Tanzkleid, nur noch ein Lumpengewand für Vogelscheuchen. Schuhe waren auf den gewaltigen Notizklotz mit seinem Nagel gerammt worden, auch die neuen Sandalen. In einem Aschenbecher bogen sich die verkohlten Überreste von Plastikkarten, das ausgeräumte Portemonnaie lag daneben, um keine Zweifel aufkommen zu lassen. Dominique starrte fassungslos auf das Tohuwabohu. "Wo ist der Bär?" Rosegunde stürzte auf die Knie, wühlte wie von Sinnen in dem Durcheinander. "Wo ist dein Bär?!" "Lass gut sein." Dominique hockte sich zu ihr, legte ihr die Hand auf die Schulter, doch sie schüttelte sie ab. "Wo ist der Bär hin?! Wo ist dein Bär?!" Er befürchtete einen Zusammenbruch, wollte sie auf die Beine ziehen, aber Rosegunde warf ihm einen wilden Blick zu, quetschte sich zwischen den Bettrahmen und den Boden, angelte wie wild darunter, bis sie endlich den Bären am Schlüsselanhänger hervorzog. Er war ein wenig staubig, jedoch unversehrt. Sie lächelte, putzte ihn mit einem Stofffetzen, küsste ihn und umklammerte ihn wie eine Trophäe. Dominique streckte ihr die Hand hin, zog sie vom Boden hoch. Er ließ sich nicht täuschen. "Ich rufe jetzt Thierry an. Er kann sich bestimmt eine Kamera von seiner Mutter ausleihen." Rosegunde schenkte ihm einen leeren Blick, wandte sich dann ab. "Das hier muss dokumentiert werden." Dominique akzeptierte keinen Widerspruch. "Jetzt ist Schluss mit lustig." §-#-§ "...meine Fresse!" Kommentierte Thierry mit einem für ihn ungewohnten Kraftausdruck, warf dann seinem besten Freund einen inquisitorischen Blick zu. Dominique wirkte ernst, fast düster. "Das muss ja eine wilde Party gewesen sein. Oder ein sehr lokaler Orkan." Mit spitzen Fingern pickte Thierry Holzsplitter auf, die an Saiten hingen. War das etwa Rosas Gitarre gewesen, mit der sie ihre Spanisch-Lektionen für Dominique begleitet hatte? Unruhig beobachtete er Rosegunde, die am Fenster stand und hinaus starrte. "Danke, dass du so schnell gekommen bist." Dominique legte ihm nachdrücklich die Hand auf die Schulter, um ihn auf sich zu fokussieren. "Könntest du alles ablichten, bevor wir die brauchbaren Reste aufklauben?" "Sicher." Thierry lupfte die praktische Kamera. "Soll das an die Versicherung gehen?" "Wohl kaum!" Schnaubte Dominique. "Es dient zunächst der Beweissicherung. Wer weiß, wozu wir es brauchen können." Auf Thierrys skeptischen Blick hin dirigierte er ihn außer Hörweite und spulte rasch die Ereignisse vom Vortag ab, bis er auf den nächtlichen Überfall zu sprechen kam. "Ich war noch gar nicht weit gekommen, da kam sie wie von Furien gehetzt zu mir gerannt. Wir hatten ja vorher wegen des Lichts im Schlafzimmer schon vermutet, dass ihre Mutter da war, aber die hatte sich einen Begleiter mitgebracht. Der stand dann, blankgezogen, im Flur, verwechselte Rosa mit der 'Überraschung', die ihre Mutter ihm bieten wollte und wurde handgreiflich." Thierry wandte sich unwillkürlich zu Rosegunde um. Er konnte sich kaum vorstellen, was geschehen musste, um die zähe Rosa in Panik zu versetzen, doch offenkundig war genau so ein Ereignis eingetreten. "Da hat der Typ hier alles zu Klump gehauen, weil er nicht...?!" "Nein." Dominiques Miene verfinsterte sich. "Das war die werte Frau Mama. Ich nehme mal an, es kam nicht zu einem erfolgreichen Geschäftsabschluss." Unwillkürlich sackte Thierry die Kinnlade herunter, er ließ sogar die Kamera sinken. "Das, also, das ist wirklich ziemlich grob für deine Verhältnisse!" Tadelte er leise. Dominiques Mundwinkel zuckten. "Die letzten zwei Tage haben mich auf einige unschöne Wahrheiten hingewiesen. Wäre dir auch nicht anders ergangen." Thierry akzeptierte diese Kritik nachgiebig. "Wenn das ihre Mutter war, dann frage ich mich, ob sie ein paar heftige Persönlichkeitsstörungen ausbrütet. Oder ist das hier üblich?" "... sie war sauer. Wegen dem Typen." Flüsterte Rosegunde vom Fenster her, die doch nicht so absent war, wie sie wirkte. "Das hier war KEIN Wutanfall." Korrigierte Dominique unnachgiebig. "So viel Energie und Zeit, um hier wirklich alles zu zerstören, das ist überlegt und absichtlich passiert. Entschuldige, wenn ich so unverschämt bin, aber meiner Meinung nach ist deine Mutter psychisch gestört." Rosegunde widersprach ihm nicht, lediglich ihre Schultern zogen sich noch höher zusammen, wie ein Panzer, in den sie sich verkriechen wollte. Thierry berührte Dominique leicht am Arm. "Ich habe alles aufgenommen. Jetzt sollten wir das, was noch zu retten ist, einsammeln und uns verziehen. Kommt mit zu mir, wir machen Lasagne!" Denn mit gefülltem Magen nahm es sich leichter aus, die nächsten Schritte zu planen. §-#-§ Bepackt mit der Reisetasche Schmutzwäsche, einem alten Rollkoffer und einer Plastiktüte mit den elektronischen Überresten machten sie sich auf den Weg zu Thierrys Heim. Dort erklärte er der sehr stillen Rosegunde, wie man eine Waschmaschine bediente, schob sie dann in die Wohnküche, wo sich Dominique bereits tummelte. Nudelblätter schwebten im kochenden Wasser, in dem er auch gleich die Tomaten abbrühte, um leichter die Haut entfernen zu können. Kurz eingetauchte Spinatblätter, geriebener Käse, in Scheiben geschnittene Oliven, das fügte sich schon bald zu einem Schälchenreigen. Thierry selbst rührte die Béchamel an, bat seinen besten Freund, sie kurz zu beaufsichtigen, während er die Küche verließ und Rutger anrief. Vielleicht wusste der ja eine Möglichkeit, den Rest der Daten von Laptop und Mobiltelefon zu retten? Tatsächlich lud Rutger sie ein, am frühen Nachmittag zur Universität zu kommen, in den technischen Flügel. Mochte woanders auch Sonnenschein und Wochenende locken, Großeinkauf am Samstag, hier trafen sich die Unentwegten. Dort könnte man auf ein Wunder treffen. §-#-§ Thierry beobachtete Dominique und Rosegunde durchaus überrascht. Er hatte immer angenommen, dass sie seinen besten Freund ohne viel Federlesens einfach überrennen würde, ihre Ansprüche vehement vertrat. Es war jedoch Dominique gewesen, der darauf bestanden hatte, dass Rosegunde ihrem Vater sofort ein Fax sandte, und zwar an sein Büro in der Universität (damit er nicht die Gelegenheit bekam, "es" schlicht zu vergessen). Sie brauchte eine neue Bankkarte, denn ohne diese verfügte sie über gar kein Geld. Dafür würde es notwendig werden, in der Filiale die Einverständniserklärung eines Erziehungsberechtigten zu präsentieren. Sobald die Liquidität wiederhergestellt war, konnte sie auch die anderen Hindernisse in Angriff nehmen, die ihre Mutter ihr in den Weg gelegt hatte. Angesichts der schnörkellosen Aufzählung aller Widrigkeiten konnte sich auch Thierry nicht mehr der Auffassung seines besten Freundes verschließen: Rosegundes Mutter hatte sich planvoll "gerächt", ihre eigene Tochter blank, bloß, pleite und auch noch ohne einfache Möglichkeit der Bitte um Hilfe bei ihrem Vater zurückgelassen, der ohnehin wegen des Archäologie-Debakels nicht sonderlich gut auf seine Tochter zu sprechen war. Es war auch Dominique gewesen, der die gehäkelten Blumen an den alten Sneakern befestigt hatte und entschieden ihre Hand hielt, keineswegs Ausdruck eines "Besitzanspruchs", sondern einer grimmigen Entschlossenheit, nicht mehr auf seiner Freundin herumtrampeln zu lassen. »Das hätte ich wirklich nicht erwartet.« Stellte Thierry verblüfft fest. Selbst jemand, der Gedanken auffangen konnte wie er, war gegen die Schicksalswendungen nicht gefeit. "Da, das muss es sein!" Dominique hatte den Eingang zum "Labor" erspäht und schritt voran. Thierry folgte ihm, registrierte das leichte Ziehen in seiner Magengrube. Aha! Rutger war in der Nähe. Tatsächlich erwartete sie der Werwolf, begrüßte sie höflich, wehrte den Dank ab. Gavin, der typische Nerd, Marke Motto-T-Shirt, Schlabberjeans und alte Turnschuhe, blinzelte sie erwartungsfroh an, nachdem die Honneurs gemacht wurden. "Oh, geil!" Bekundete er angesichts der Trümmer in der Tüte, fischte zuerst den Laptop heraus. "Was'n passiert, damit?" "Eine spanische Konzertgitarre." Murmelte Rosegunde rau. "Ah, verstehe!" Eine ziemlich Fingerabdruck-gezierte Brille wurde justiert, mit Kennermiene nickte Gavin. "Klare Sache! Kritiker sind schon derb drauf, heutzutage!" Damit schlappte er voran zu einem großen Werkstattraum. Für seine drei Besucher und Rutger, der seiner Aufgabe als "Dolmetscher" nachkam, hieß es nun, hinter dem Tresen abzuwarten, denn der Bereich dahinter blieb ein Tabu. Nicht, dass einer des Quartetts den Wunsch verspürt hätte, sich in dem augenfälligen Wirrwarr an Bauteilen, kuriosen Werkzeugen, ausgedruckten Schaltplänen und Lötkolben herumzudrücken. "Tschaa!" Gavin schlappte, sehr viel dynamischer angesichts der neuen Herausforderungen, zum Tresen, legte mit liebevoller Behutsamkeit SIM-Karte und Speicherkarte ab. "Wenn ihr'n neues Handy habt, könnter damit arbeiten. Beide noch okay, hab's grad gecheckt. Keine Profiarbeit." "Ein Hoch auf den Dilettantismus!" Grummelte Rosegunde sehr leise, mit bitterem Unterton. Sie verfügte im Moment nicht mal über einige Münzen, geschweige denn den Zugang zu einem Mobiltelefon als Ersatz. "Hier!" Ein schmuddeliger Ausdruck wurde über den Tresen geschoben. "Wir machen 'türlich keine Werbung oder so, aber der Laden da hat gebrauchte Handys, die okay sind. Wenn's nicht gerade so n Apple-Ding sein muss." "Danke schön." Dominique, auf Sparsamkeit programmiert, speicherte eilig in seinem Gedächtnis diesen Hinweis. Man konnte nie wissen, wann man auf günstige Gelegenheiten angewiesen war! "Also, der Lap, das is n büsschen figgeliensch." Ließ Gavin sie wissen, was ihm drei Mienen mit Testbild im Blick einbrockte. "Kompliziert und fummelig." Übersetzte er kundenfreundlich. "Ich kann alles rausbauen und testen, was noch läuft. Das dauert aber, und ich muss eine Servicegebühr kassieren. Darin ist auch schon die Entsorgung enthalten." Sichtbar stolz darauf, dieses Sprüchlein aufgesagt zu haben, strahlte er sie blinzelnd an. "Ich regle das." Rutger schob sich hinzu. "Kannst du vielleicht zuerst die Festplatte testen? Dann könntest du die Daten brennen und die Platte erst mal putzen. Nur zur Sicherheit." Die drei Freunde schwiegen, denn Rutger schien sich auszukennen. Wenn er die Vermittlung übernahm, konnten sie sich auch überlegen, wie sie die Gebühr zusammenkratzen wollten. "Yo, geht klar!" Sehr ungelenk salutierte Gavin und dirigierte einen Durchschreibesatz der sehr altmodischen Sorte über den Tresen. "Hier is der Vertrag für den Service. Muss ich machen, sonst killt mich Xenia, unser Buchhaltungshobbit." Thierry Augenbrauen kräuselten sich fragend, Dominique zuckte ratlos mit den Schultern, Rosegunde seufzte lautlos. Man konnte sich wirklich in einem Paralleluniversum vermuten! Rutger nickte, warf einen kurzen Seitenblick in die Runde, fischte aus seiner Hosentasche einen Tintenstift. "Ich mach das schon. Bevor der Hobbit uns einen Einlauf verpasst." Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen wusste er genau, warum Gavin sich fürchtete. Während er aufgrund der geringen Durchschlagskraft des Tintenstifts auch die Kopie ausfüllte, das Kohlepapier ignorierte, zogen sich die drei Freunde ein wenig zurück, studierten "Ausstellungsexemplare". "Interessant." Murmelte Dominique neugierig, gab sogar Rosegundes Hand frei, um versuchsweise auf einem digitalen Zeichenbrett zu kritzeln. Thierry überließ ihn der weniger heimlichen Bewunderung seiner Freundin, spazierte an den Geräten vorbei. Was für eine verfahrene Situation! Er nahm an, dass Dominique Rosegunde eine Weile bei sich wohnen lassen würde, auf den Langmut seiner Mutter vertrauend, doch wie sollte es bloß weitergehen? Dass sich Rosegunde dieselben Fragen stellte, bange, sich sofort verbeißend, sich selbst anherrschend, aus Angst, sie würde nun im Stich gelassen, bestärkte ihn darin, dass in ihrer Familie Einiges im Argen lag. Was mochte sie ihnen (und vielleicht auch sich selbst) verschweigen?! Welche Vorfälle herunterspielen, um sich wenigstens ein Heim zu bewahren? "He, Kumpel, du hast's aber drauf!" Gavin, eine DVD im umweltfreundlichen Pappumschlag in der Hand, blickte Dominique über die Schulter. "Schon mal dran gedacht, bei uns mitzumachen? Design und so?" "Bisher noch nicht." Antwortete Dominique höflich, der starke Zweifel hegte, sich ein Studium leisten zu können. Außerdem, konnte man von künstlerischem Talent wirklich leben? Würde das reichen für einen Beruf? Was, wenn einem die Wünsche der Kundschaft irgendwann die Freude so verleideten, dass man leidenschaftlich hasste, was einen zuvor mit so viel Vergnügen erfüllt hatte? Lieber was Solides, dual, mit einem kleinen Lehrlingsgehalt als Darlehen mit Schulden zum Start. Oder? Dominique skizzierte nun auch Gavin neben seine Darstellung von Rosegunde. Der Homo technikus strahlte ihn an und gab prompt einen Discount. "Ist zwar nicht 'haushaltsnah' für die Steuererklärung, aber damit habt ihr auch noch keine Probleme, schätze ich mal." Entschuldigte er grinsend. "Echt scharf, Kamerad! Also, ich setz mich dann mal an euren Lap und sag Rutger hier Bescheid, wenn ich fertig bin, okay? Vielleicht tu ich noch irgendwo ein altes Chassis auf, da könnte ich die laufenden Reste rein stopfen, wenn ihr keine neue Kiste kaufen wollt." "Wenn noch brauchbare Teile da sind, dann reden wir." Rutger nickte höflich, Damit war Gavin zufriedengestellt, denn er trollte sich, einen Ausdruck seines virtuellen Ichs an die Brust gepresst, fröhlich bei der Aussicht, Rosegundes zertrümmerten Laptop ausweiden zu dürfen. Rutger wandte sich den drei Freunden zu. "Das wird bestimmt eine Weile dauern. Es hat keinen Sinn zu warten. Ich kann dich anrufen." Er nickte Thierry zu. "Oder ihr lasst mir eure Nummer da. Dann können wir auch gemeinsam überlegen, welches Angebot am Besten ist." "Guter Vorschlag." Dominique nickte, zückte aus seinem Rucksack einen Notizblock, auf den er seine Nummer vermerkte und Rutger überreichte. "Wegen der Gebühr..." "Das klären wir schon." Winkte Rutger entschieden ab, was Thierry vermuten ließ, dass der Werwolf etwas mehr von den atmosphärischen Spannungen aufgefangen haben musste, als er selbst glaubte. Beunruhigend. "Wir bleiben in Kontakt." Rutger lächelte zurückhaltend. "Seht jetzt erst mal zu, dass ihr noch ein bisschen Sommersonne abbekommt. Ist ja schließlich Samstag!" Diese Aufforderung war unverkennbar ein Rausschmiss, also trollten sich die Freunde. §-#-§ Thierry fühlte sich ein wenig schäbig, als er Rosegunde half, ihre vom warmen Sommerwind trocken gepustete Wäsche abzunehmen, zu falten und in den Koffer zu packen. Wenn Freunde in Not waren, Hilfe benötigten, sollte man eigentlich nicht an das eigene Rendezvous denken! Dominique warf ihm einen knappen Blick zu, der genügte, ihre Verständigung zu bekräftigen. Während Thierry sich nämlich mit Rosegunde an der Kleidungsfront getummelt hatte, nutzte Dominique die Gelegenheit und den Computer seines Freundes. Das Fax, das Rosegunde ihrem Vater gesandt hatte, enthielt nach seiner Auffassung nicht die Botschaft, die ihr Vater WIRKLICH verstehen sollte: dass es nicht bloß um verbrannte Bankkarten ging, einen Disput zwischen Mutter und Tochter, sondern darum, dass seine Ehefrau einen Fremden in die Wohnung mitgebracht hatte, der nicht davor zurückschreckte, ein minderjähriges Mädchen zu begrabschen und zu nötigen, im Beisein ihrer Mutter! Die dann einen Rachefeldzug in Angriff nahm, der nicht lediglich von einer akuten Gefühlswallung geprägt war, sondern von einem unterschwelligen Hass. Die heile Fassade konnte nicht aufrecht erhalten werden, auch nicht vom Kanal getrennt. Selbst in der Ferne, mit seinem gemütlichen Posten und vermutlich einer diskreten Liebschaft konnte ihm nicht gleichgültig sein, was sich hier abspielte und auch herumsprach. Für Dominique erklärte sich Rosegundes tiefsitzende Angst auch damit, dass sie wusste, dass ihr Vater sie nicht bei sich haben wollte. Ohne die pro forma-Aufsicht ihrer Mutter verfügte sie über keine Zuflucht. Wohin nun? Internat? Im letzten Schuljahr? Grauenvolle Idee! Verwandte schieden wohl aus, Freunde, die sich um sie kümmern wollten, schienen ihre Eltern auch nicht zu haben. Grimmig nutzte Dominique seine Chance, versandte als Anhang in seiner E-Mail nicht nur die Bilder, die Thierry geschossen hatte, sondern er malte auch die Reaktion der Nachbarschaft aus, die der Schulgemeinde (alles Spekulation, aber beileibe nicht zu weit hergeholt) und die Herausforderungen des bevorstehenden, letzten Schuljahrs. Mit anderen Worten: es musste kommuniziert werden. Über die praktischen Dinge von Unterbringung, Aufsicht etc. Wenn nicht das Jugendamt aus Fürsorgegründen von Schule, von der Nachbarschaft oder sonst wem eingeschaltet wurde... Er hoffte darauf, dass seine klaren Worte auch den nachlässigsten Vater der Welt aufrüttelten, wenn der nicht aus seinem britischen Paradies vertrieben werden wollte. Jetzt, einen Teil von Rosegundes Habe transportierend, musste er sich bloß noch einfallen lassen, wie er ihr sein eigenmächtiges Vorgehen am Besten erklärte. §-#-§ "Was ist denn los?" Selim strich zärtlich eine widerspenstige Locke aus Thierrys Stirn, der ihm gerade erklärt hatte, dass er sich eigentlich ganz gut fühle, auch wenn ihm die Blutwerte erst in der nächsten Woche erläutert würden. Ferienzeit eben. "Oh, entschuldige!" Durchaus beschämt zwang Thierry ein Lächeln auf sein Gesicht. Jetzt, wo er endlich mit Selim zusammen war, dachte er an Rosegunde und Dominique! Er verspürte Gewissensbisse, weil er auf Selims Schoß saß, der sich eigens Zeit für ihn nahm, ihn verwöhnen wollte, was ja wirklich herrlich war, bloß... Bloß auch egoistisch, selbstverliebt und ziemlich... hormongesteuert. "Woran denkst du, hm?" Selim ignorierte das gezwungene Lächeln, hauchte einen Kuss auf Thierrys Nasenspitze. "Wenn ich helfen kann, sag's mir bitte, ja? Auch wenn ich ein Idiot bin." "Du bist kein Idiot!" Protestierte Thierry heftig, seufzte dann. "Ich bin hier der Idiot. Weißt du, Freunde von mir stecken in Schwierigkeiten." Er räusperte sich, wandte den Blick ab. "Aber ich denke bloß daran, was ich tun will, mit dir, hier." "Oh, das tue ich aber auch!" Versicherte Selim ihm ebenso ehrlich wie hilfsbereit. "Sturmfreie Bude, Sommer, wir beide allein..." Nachdenklich legte er den Kopf schief. "Meinst du, wir sind zu brünstig drauf?" Thierry sackte der Unterkiefer herunter, während das Blut in seine Wangen stieg. "Was möchtest du denn gern machen?" Wie gewohnt attackierte der Ältere ein mögliches Problem mit unverbrämter Kompromissbereitschaft und Aufgeschlossenheit. "Ich weiß nicht recht." Murmelte Thierry heiser, als er sich von seiner Verlegenheit halbwegs erholt hatte. "Ich habe noch nie eine Beziehung gehabt." "Hmmm." Selim dachte ernsthaft nach, die Stirn kraus, die Bernsteinaugen konzentriert. "Also, ich war immer brünftig drauf, wenn ich mich recht entsinne. Obwohl, das war auch anders, damals. Ehrlich, so genau habe ich keine Ahnung, was man in einer Beziehung so tut." Entwaffnend. Thierry studierte, einmal mehr ungläubig, das attraktive Gesicht seines Liebsten. Ein wenig hatte er sich schon davor gefürchtet, in einen Wettbewerb zu treten mit den Verflossenen des älteren Mannes. Für ihn war schließlich alles ganz neu! Jetzt jedoch, glaubte er Selims Worten, stellte sich heraus, dass der nicht mal daran dachte, seine Erfahrungen zu vergleichen! Oder auf bestimmte Vorgaben und Erwartungen festgelegt zu sein! Thierry zögerte. "Ich vermute, dass man viel miteinander spricht, gemeinsam etwas unternimmt." Nun grimassierte er. "Allerdings liegt es ja an mir, dass wir nicht raus können. Oder tanzen gehen. Oder so." "Tanzen?" Selim studierte ihn neugierig. "Tanzt du gern? Ich kenne mich da nicht so aus, also, wenn Jungs mit Jungs tanzen, aber wenn du das gerne möchtest..." "Nein, nein!" Winkte Thierry panisch ab. "Ich habe nur so allgemein gesprochen, Disco und so!" "Oh, klar, richtig!" Selim nickte artig, "Jetzt verstehe ich. Also, ist schon eine Weile her, dass ich in einer Disco war oder diesen riesigen Tanz-Schuppen. Lina mag nämlich den Lärm nicht so, und Rutger steht gar nicht auf Tanzen, aber wenn du das mal sehen willst..." "Nicht wirklich!" Murmelte Thierry eilig, schmuggelte seine Arme unter Selims Achseln hindurch, legte die Wange auf dessen warmen, muskulösen Brustkorb. Ihr gemeinsamer, eiliger Herzschlag übertönte die nörgelnden Stimmen in seinem Hinterkopf, die ihn ständig an die "Regeln" und gesellschaftlichen Erwartungen erinnerten. "Warum sind wir nicht zusammen brünstig und überlegen uns später, was wir so tun wollen?" Raunte ihm Selim zu, hauchte perfider Weise noch in seinen Nacken! Das war so beängstigend perfekt, dass Thierry sich rächen musste und seine Hauer in Selims Fleisch trieb. §-#-§ "...und jetzt darfst du mich verprügeln." Beendete Dominique tapfer sein Geständnis. Sie saßen in dem winzigen Hinterhofgarten im Schatten auf einer alten Picknickdecke, während der Abend so langsam anbrach. Rosegunde, die Beine vor den Leib gezogen, die dünnen Arme darum gewickelt, den lädierten etwas ungelenker, starrte ins Leere. "Du musst dich nicht zurückhalten, wirklich nicht!" Ermutigte Dominique sie beunruhigt. "Ich hab eine Abreibung verdient! Ich bin dir auch nicht böse, versprochen!" Ein hilfloses Lächeln irrlichterte über Rosegundes angespannte Züge, bevor es eilig detonierte. "Du kannst mich auch kneifen! Oder kratzen!" Dominique gab nicht auf. "Wenn's mit deinem Arm nicht so klappt, könnte ich dir aber auch eine Zitrone holen. Oder einen Apfel. Du suchst dir eine Stelle aus, reibst sie drüber und lässt mich büßen!" Nun nahmen ihn die blau-violetten Augen endlich in den Fokus. Rosegundes Stimme blieb rau, galvanisiert. "Denkst du wirklich, ich könnte dir so etwas antun?" Ihn dazu veranlassen, eine seiner wunden Hautstellen zu offerieren, um ihn zu quälen. Dominique straffte seine dünne Gestalt. "Es wäre ja ein Ausgleich. Ich stimme ja auch zu. Das ist dann schon in Ordnung." "Ha!" Krächzte Rosegunde mit überschlagender Stimme und drehte den Kopf weg. Dominique beobachtete sie unbehaglich, dann nahm er einen neuen Anlauf. "Also, ich könnte mir auch selbst Eine kleben. Was meinst du dazu?" Rosegunde biss sich auf die Lippen und zwang stur aufsteigende Tränen herunter. Ganz ohne jeden Zweifel saß hier bei ihr der beste Freund, den sie jemals finden würde, mit einem guten Herz und einem aufrechten Charakter, tapfer und aufmerksam. Sie hatte ihn dazu bewegt, etwas zu tun, was er unter normalen Umständen sicher als unanständig abgelehnt hätte. Konnte sie irgendwann seiner Loyalität und Liebe gerecht werden? "Rosa?" Sehr sanft berührte Dominique ihre Schulter. Sie schniefte zornig und unglücklich zugleich. Wahre Liebe war grausam! §-#-§ Kapitel 17 - Verbindungen [Das ist eine Zumutung!] {Tut mir auch ehrlich leid, Emil, aber ich kann hier einfach nicht frei sprechen! So ein Chatroom ist da die beste Lösung.} [Das hängt ja wohl erheblich vom Auge des Betrachters ab! Ich empfinde diese ganzen Umstände als lästig!] {Dafür hast Du Dich aber prima geschlagen, ehrlich! Mit der Anmeldung und so! Das ist wirklich sehr lieb von Dir, dass Du mir so entgegenkommst.} [Davon kann überhaupt keine Rede sein! Ich stehe ausschließlich im Wort aufgrund der Vereinbarung. Im Übrigen ist ja wohl festzuhalten, dass Ihre Probleme darin bestehen, sich einfach nicht an Absprachen halten zu können, was einer koordinierten Beziehungspflege doch in erheblichem Maße im Weg steht.] {Puh, das ist ein harsches Urteil, da bin ich geplättet. Leider hast Du da auch recht, Emil, obwohl ich mich wirklich bemüht habe! Gestern, das war quasi höhere Gewalt, und ich entschuldige mich, dass ich nicht mit Dir plaudern konnte, obwohl ich mich den ganzen Abend darauf gefreut habe! Aber wenn meine Mutter mal dabei ist, mir die Leviten zu lesen, dann gibt's kein Halten mehr. Du kennst das sicher.} [Bedaure, das entzieht sich meinem persönlichen Erleben. Eine einvernehmliche Absprache und ein wenig Disziplin verhindern solche unangemessenen Überfälle.] {Deine Mutter ruft wahrscheinlich nie bei Deiner Arbeitsstelle an, beklagt sich über Deinen egoistischen Lebensstil, wie?} [Natürlich nicht.] {Und sie hält Dir auch keine Vorträge darüber, dass Du schon längst Frau und Kinder vorweisen solltest, wie?} [Gar keine Frage.] {Beneidenswert! Wie stellst Du das bloß an?} [Tsktsk. Ich muss mich doch sehr wundern. Zwischen erwachsenen Menschen sollte es doch im Allgemeinen möglich sein, sich auf Kommunikationswege und -zeitpunkte zu verständigen. Zur privaten Lebensführung ist ganz preußisch festzuhalten, dass alle für sich selbst verantwortlich sind und die Konsequenzen zu tragen haben.] {Das klingt sehr rational. Deine Leute sind bestimmt pragmatisch veranlagt. Meine Mutter hat den absoluten Draht dazu, mich auf kleiner Flamme zu rösten, bis ich mir schäbig, egoistisch und total verantwortungslos vorkomme.} [Wenn das ein aufsteigender Testballon sein soll, mein Mitleid zu erregen, so können Sie sich diese Mühe sparen. Mangelnder Willen zur Problemanalyse erzeugt bei mir lediglich Unverständnis.] {Hui, Du glaubst, ich würde die Sache falsch angehen? Kannst Du mir einen Hinweis geben, wie ich die Lage besser einschätzen kann? Wo gucke ich falsch drauf?} [Tsktsk. Die erste Frage ist doch grundsätzlich: cui bono? Für Einheimische: wem nutzt es? Sie müssen sich zunächst fragen, welchen Vorteil Ihre werte Mutter daraus zieht, Sie lektionieren zu können. Wenn Sie sich über die Motivlage im Klaren sind, stellt sich die nächste Frage: warum funktioniert es? Wenn Sie diese Antwort dann analysieren, sollten Sie wissen, wie die Situation gestaltet ist und sich dann über die Lösungen Gedanken machen. Sehr simpel.] {Wenn man es so betrachtet, stimmt das schon. Sag mal, denkst Du nie darüber nach, warum Du nicht verheiratet bist? Vermisst Du keine Familie?} [Ein weiteres Beispiel für nutzlose Zeitverschwendung. Im Übrigen geht es ja um IHR Problem. Ich habe keins.] {Fühlst Du Dich denn nie unter Druck gesetzt? Oder musst Dich rechtfertigen?} [Nein.] {Wow! Da bist Du ja sehr souverän. Bei mir funktioniert das nicht so. Wie sähe denn da die Fragenreihenfolge aus?} [Simpel.] {Ja, das glaube ich, gib mir doch bitte Hinweise, ja? Bittebittebitte?} [Auch ein schriftlicher Hundeblick ist Übelkeit erregend.] {Das hast Du gemerkt? Na schön, dann bitte ich Dich ganz aufrichtig um Deine Unterstützung! Wie befreie ich mich von diesen wiederkehrenden Selbstzweifeln?} [Schon stapft der Herr in die erste Falle: wieso Selbstzweifel? Freud wäre entzückt.] {Okay... also keine Selbstzweifel?} [Zweifeln Sie denn tatsächlich an Ihrer Entscheidung, unbeweibt zu sein? Oder ist es gar keine Entscheidung, sondern vielmehr die Unfähigkeit, sich auf die legale Anzahl von Angetrauten zu beschränken?] {He, das ist gehässig, Emil! Ich bin ehrlich kein Apollon oder Frauenmagnet, auch wenn Du das anzunehmen scheinst. Wenn ich jetzt Deine Frage für mich beantworte, dann muss ich sagen, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, mein Leben mit einer Frau im hübschen Einfamilienhäuschen zu verbringen.} [Das bedeutet in der Konsequenz, dass es in Ihrem Leben eine Prioritätenliste gibt. Ist diese Rangfolge Ihrer Prioritäten gesellschaftlich akzeptabel oder tendenziell randständig, also in bestimmten Kreisen verwerflich?] {Beeindruckende Formulierung. Also, für mich kommt mein Beruf an erster Stelle. Ich liebe es einfach, Radio zu machen, zu synchronisieren, im Tonstudio Zeit zu verbringen. Was nicht unbedingt mit einem Familienleben aus dem Bilderbuch kompatibel ist.} [Fragen Sie sich nun: ist diese Einstellung auf eine bestimmte Zeitspanne beschränkt? Oder ist Ihre berufliche Leidenschaft so ausgeprägt, dass Sie sich zeitlebens nicht vorstellen können, sie nachzuordnen?] {Uiii.... nein, selbst wenn ich nur noch mit Kurzwelle herumfuhrwerken könnte, würde ich nicht aufhören. Die Antwort lautet also: ewige Nummer 1.} [War doch gar nicht so schwer bis hierher.] {Sarkasmus kann ich auch lesen.} [Gratulation. Das trennt Sie schon mal vom durchschnittlichen Apollon-Fan.] {Haben wir da ein kleines Feindbild? Aber das stört mich nicht, bitte hilf mir jetzt weiter, nachdem wir ja die erste Frage geklärt haben! Wieso lass ich mich irritieren?} [Analysieren Sie doch zunächst mal, wann, wo und in welcher Umgebung Sie Ihre eigene souveräne Entscheidung in Frage stellen.] {Hmmm... in Gegenwart meiner Mutter. Oder wenn bei den Kollegen mal eben die Familie reinschaut. Zum Beispiel.} [Nun, was folgern wir daraus?] {Ich bin nicht sicher, aber hat es etwas mit der Gelegenheit zu tun?} [Konzentration, bitte! Treten Sie mal einen Schritt von sich selbst zurück, stellen Sie sich die Situation vor. Ehefrau und/oder Nachwuchs kommen zu Besuch. Sie sind als Augenzeuge dabei. Preisfrage: würden Sie die gleichen Gefühle verspüren, wenn Sie allein wären?] {Also ich nur mit mir und die Idee einer eigenen Familie?} [Exakt.] {Eigentlich kommen mir die Gedanken nicht so häufig.} [Liebe Güte...formulieren wir den Ansatz differenziert: wenn Sie allein sind, ist Ihr Leben dann perfekt? Zu Ihrer Zufriedenheit?] {Ja, so ziemlich.} [QED. Quod est demonstrandum, oder was zu beweisen war.] {Uh... ehrlich?} [Obacht, Sie gleichen sich gefährlich dem subterranen Niveau Ihrer Sendungen an!] {Oder ich stehe gerade auf der Leitung. Hilfe?} [Ist doch wirklich simpel: wenn Sie allein mit sich zufrieden sind und keinerlei Verlangen nach einer Familie verspüren, jedoch in Zweifel geraten in Gegenwart von anderen und/oder dem Drohpotential Ihrer Mutter, dann ist die Ursache einfach Ihre unzureichende Kommunikation nach außen.] {Aha. Ich verstehe gerade nichts mehr, entschuldige.} [Dann heben Sie doch mal Ihre Quadratlatschen von der Leitung! Ihr Problem besteht einzig darin, nicht für sich selbst konsequent einzugestehen, dass ein gesellschaftliches Ideal anderer Personengruppen, nämlich die eigene Familie mit Anhang und Nachwuchs, nicht Ihr persönliches Ideal ist. Wenn Sie nun unmissverständlich nach außen signalisieren, dass für Sie an erster, unangefochtener Stelle Ihr Beruf steht, dann erübrigen sich auch weitere überflüssige Grübeleien.] {Jetzt wird ein Schuh draus. Aber ist das nicht ziemlich egoistisch?} [Selbstverständlich.] {Also moralisch verwerflich, oder?} [Blanker Unsinn!! Es ist die ureigene Natur des Menschen, egoistisch zu sein. Egoismus ist sowohl zum Überleben des Individuums als auch der Spezies notwendig. Mit Moral hat das nichts zu tun. Jedes Lebewesen ist auf den Selbsterhalt programmiert.] {Aber ich tue nichts zum weiteren Erhalt der Spezies, wenn ich mich nicht fortpflanze.} [Ebenfalls Humbug. Zunächst mal steht nicht zu befürchten, dass die produktionstechnischen Bemühungen der gesamten Spezies in Gefahr geraten. Wenn schon auf metaphysischer Ebene nach einer Bedeutung der eigenen Person für die Spezies gesucht werden muss, dann kann man die eigenen Fähigkeiten und Lebensumstände ins Feld führen. Zum gedeihlichen Funktionieren einer einigermaßen gerechten Gesellschaft beizutragen ist durchaus ein Beitrag zum Fortbestehen der Spezies.] {Jetzt kann ich definitiv nachvollziehen, warum Du keine Diskussionen mit Deiner Mutter über Dein Leben führen musst! Echt phantastisch, mit Dir zusammen zu sein!} [Keine voreiligen Schlüsse, wenn ich bitten darf! Aktuell befinden wir uns unverändert in einer vereinbarten Testphase. Sie sollten eigentlich nicht während Ihrer Arbeitszeit in Chatrooms müßige Privatfragen klären!] {No can do! Die Unterhaltungen mit Dir inspirieren mich einfach, und ich freue mich total darauf, Dich morgen zu sehen, Emil! Das wird ein phantastischer Ausflug werden!} [Bei Ihrer Einbildungskraft möchte ich lieber nicht erfahren, welchen Phantasien Sie frönen! Im Übrigen bitte ich mir Pünktlichkeit aus.] {Ich werde da sein, versprochen! Danke, mein Freund, dass Du hier mit mir in ein Privatzimmer gegangen bist und mir so lange Gesellschaft geleistet hast. Wenn Du mich heiraten willst, stehe ich sofort zur Verfügung!} [Ihnen scheint wohl der Sauerstoff ausgegangen zu sein! Kontrollieren Sie die Lüftung und die Filter in Ihrer Klimaanlage! Versteigen Sie sich nicht in solchen Unsinn! Haben wir nicht eben in epischer Breite geklärt, dass Sie mit Ihrem Beruf verheiratet sind?!] {Eine Viertelstunde täglich mit Dir fremdgehen ist aber immer drin!} [Unerhört. Ihre Inkonsequenz ist enervierend! Nun kann ich nachvollziehen, warum Ihre Mutter Sie auf kleiner Flamme grillt. Widmen Sie sich jetzt lieber Ihrem Partyvolk-Schmalzgesäusel. Gute Nacht.] {Süße Träume, mein Emil!} §-#-§ Thierry tauschte mit Selim einen langen, intensiven Kuss. Dieses Mal aber wirklich und definitiv der letzte! Sie standen vor der Haustür, im Halbschatten der Laterne, das Rad aufgebockt, mit dem Selim ihn befördert hatte, von sommerlicher Hitze umgeben, die jedoch keinem Vergleich zu den Gluttemperaturen in ihrem Inneren standhielt. Metaphorisch gesprochen, denn Thierry registrierte selbst, dass sein Körper sich langsam veränderte. Er wurde immer kälter, seine Haut glatter, erinnerte eher an feines Porzellan. "Bist du enttäuscht von mir?" Selim blickte auf ihn herunter, hielt ihn fest in seinen muskulösen Armen. Seine Stimme klang besorgt, ein wenig kleinlaut. "Wieso denn enttäuscht?!" Hastig sondierte Thierry seine Emotionen, konnte sie nicht von denen des älteren Mannes trennen. Alles schien sich zu durchdringen, doch wessen Enttäuschung war zuerst aufgetreten? "Na ja." Ungewohnt verlegen zuckten die imponierenden Schultern. "Ich bin nicht sonderlich geübt in den Sachen, die verantwortungsvolle Erwachsene so tun." Thierry runzelte ratlos die Stirn. "Was meinst du denn damit?" "Beziehungen, und so." Selim seufzte leise. "Klar, ich frage mich immer, was Lina tun würde. Und ich denke auch ehrlich nach, bloß..." Unbehaglich rollten die Schultern wieder. "Wenn wir zusammen sind, vergesse ich das gleich wieder und bin brünftig. Entschuldige." "Da-da gibt's nicht zu entschuldigen!" Versicherte Thierry stockend, verstärkte seine Umarmung. "Ich bin ja auch nicht besser!" Da musste er sich bloß an die Orgie der vergangenen Stunden erinnern, Sex, ein bisschen Blut naschen, kuscheln, schmusen, verwöhnt werden! Wie bereitwillig er sich seiner körperlichen Lust überantwortete. Sehr peinlich. Selim drückte ihn etwas enger an sich. "Die schlichte Wahrheit ist: ich liebe dich. Mit dir zusammen fühle ich mich so glücklich und erfüllt wie noch nie. Weil es so gut, so perfekt ist, will ich gar nicht an anderes denken. Blöd abergläubisch, oder?" "Gar nicht!" Widersprach Thierry entschieden, räusperte sich. "Mir geht's genauso. Ich schäme mich zwar ein bisschen, doch das vergesse ich sofort, wenn du bei mir bist." Über ihm lachte Selim leise. "Oje, jetzt sagst du mir so schöne Dinge, und ich soll dich eigentlich brav zu Hause abliefern! Puh, das ist wirklich hart!" "Ich bemühe mich ja ernsthaft!" Behauptete Thierry, straffte seine zierliche Gestalt, löste sich sehr widerwillig aus ihrer Umarmung. "Die hormonelle Konterrevolution behindert meinen Anstand erheblich!" Selim lachte so sehr, dass Thierrys Mutter tatsächlich die Treppe zu ihnen herunterkam, um ihren Sohn auszulösen, der so unsterblich verliebt war. §-#-§ Domenique wälzte sich unruhig auf kleinstem Raum und dachte an die schlimmsten Splatterfilme, die er gesehen hatte. Es half nichts. "Entschuldige!" Krächzte er hochnotpeinlich berührt. "Tut mir leid! Ich gehe ins Bad...!" "Kommst du an die Taschentücher?" Erkundigte sich Rosegunde im Dunkel seines Zimmers leise. "Das ist jetzt vollkommen unpassend." Bemühte Dominique sich um verantwortungsvolles und reifes Gebaren. "Die Taschentücher?" Wiederholte Rosegunde sanft. "... tu das nicht!" Flehte Dominique heiser, biss sich heftig auf die Lippe, als er ihre Finger spürte. Verdammte Hormone, er wollte das wirklich nicht!! Rosa hatte so viel Kummer, der Tag war anstrengend gewesen und er selbst ein verräterisches Charakterschwein! Wieso konnte seine aufsässige Libido nicht EINMAL kooperieren?! "Es ist okay." Wisperte Rosegunde nun an seinen Lippen, schmiegte erhitzte Hautpartien an seine eigenen, nahm mit der freien Hand seine eigene, die er nicht gerade auf den Mund presste, um ein verräterisches Stöhnen zu ersticken. Das war nicht richtig!! Es gehörte sich nicht!! Dominique wollte auf keinen Fall, dass Rosegunde ihm gefällig war, sich verpflichtet fühlte. "Keine Angst." Raunte ihre raue Stimme an seinem Ohr, während sie sich halb über ihn schob. "Das ist okay." Sie küsste ihn, seine Fingerspitzen benetzten sich mit Feuchtigkeit. »Vielleicht...« Dachte er von Lust benebelt. »Vielleicht ist es doch okay...« Dass sie ihm ebenso nahe, vertraut sein wollte wie er ihr. §-#-§ Emil Sandemann war entschlossen, bärbeißig und übellaunig zu sein, weil es Sonntag war, ER nicht zu Hause, frank und frei zu tun, wie ihm beliebte, sondern hier herumstand, vor einem Museum, Rucksack auf dem Buckel (man wusste ja nie, was einem so außerhalb der eigenen vier Wände begegnen konnte), unter dem Zwang, gefälligst gute Laune zu haben, eine höfliche Konversation zu pflegen! Wieso hatte er sich nur darauf eingelassen?! Klar, jetzt würde dieser Schniegelpoppi heranflanieren, alles mit Rock auf sich lenken und ihn zuschleimen mit totalem Blödsinn, um sich seine Langeweile oder was auch immer zu vertreiben! Könnte ihm dann zusätzlich, was sich viel schlimmer ausnahm, auch unter die Nase reiben, dass er selbst, der große Vortragskünstler in Sachen Beziehungsarithmetik, selbst nicht konsequent war! Konsequent wäre nämlich gewesen, unerbittlich jeden Kontakt zu vermeiden und in seiner geliebten, privaten Welt mit sich selbst zu verweilen. »Du bist so ein Idiot!« Hielt er sich grimmig vor. »Wieso machst du diesen Scheiß hier?! Stellst dich als Witzfigur in die Landschaft, damit irgendein Ü-Promi von Anno tubac, ein Schnulzen-Figaro, seine drei mickrigen Gehirnzellen über dich ausschütten kann!« Wenn man solches zuließ, bewies das nämlich unseliger Weise, dass man sich selbst auf dem geistigen Tiefflug befand. Vom Verlust der Würde ganz zu schweigen. Es war blöd zu glauben, man würde einfach so "gemocht". Es war dämlich, irgendwelchen Zuneigungsbekundungen zu vertrauen. Emil Sandemann hasste die Vorstellung, man möge ihn als Idioten "erkennen". Hin und wieder kreuzdämlich zu sein, mit sich selbst allein, das konnte man ja verschmerzen, aber vor Publikum, und sei es noch so bescheuert, als Depp ausgedeutet und vorgeführt zu werden, OBWOHL man es hätte besser wissen müssen: DAS war ein SUPER-GAU. Der Typ würde bestimmt nicht kommen. Oder lässig zu spät, ohne jedes Schuldgefühl. Oder dämliche Handyvideos schießen, die er dann auf irgendwelchen Portalen zur Schau stellte. »Guckt euch den nerdigen Vollpfosten an, der hat doch echt geglaubt, ich würde mich irgendwo mit ihm sehen lassen!« Nein, Emil hielt sich nicht für einen Pessimisten. Er war pragmatischer Realist und, wenn er die Muße dazu hatte, leidenschaftlicher Zyniker. Er wusste genau, wer er war, auch, wie die "Regeln" funktionierten, deshalb war die lächerliche Konstellation, die ihn jetzt hierher geführt hatte, definitiv als Systemfehler zu verbuchen. Er konsultierte seine Armbanduhr, entschied, keineswegs eine Viertelstunde zu warten, höchstens fünf Minuten, aus gezwungener Höflichkeit, dann würde er gehen und einen Strich ziehen. Abgehakt und aus! Mit einer bitteren Befriedigung darüber, dass er zwar Zeit verschwendet haben würde, aber sein Erwartungshorizont bestätigt wäre, richtete Emil sich auf, bemerkte einen munter winkenden Mann, der in modischer Lässigkeit aufgemacht mit einem blendenden Zahnpasta-Grinsen auf ihn zuhielt. Emils Mundwinkel hingen tiefer. Ärgerlich umklammerte er die Tragegurte seines Rucksacks. Hölle und Verdammnis, er hasste diesen Tag jetzt schon! §-#-§ Kay schmunzelte, als er das Saure Gurken-Gesicht erkannte, schob die Sonnenbrille auf seinen Kopf, winkte noch aufgedrehter. Kein Zweifel, sein Emil hatte darauf gehofft, dass er sich als unzuverlässiger Stoffel erweisen würde, der in seinem primitiven Reptiliengehirn einen lächerlichen Kick daraus bezog, andere Leute vorzuführen! Das war zwar nicht schmeichelhaft, bewies ihm jedoch, mit welchen Erwartungen der Systemanalytiker der "humanen" Umgebung in seinem Alltag begegnete. "Guten Morgen!" Trällerte er laut, strahlte betont. "Wow, ich könnte dich glatt drücken, so freue ich mich, dich zu sehen!" Emils entsetzter Gesichtsausdruck, das hastige Zurückweichen amüsierten ihn prächtig. "Distanz!" Verwahrte sich der nach der Schrecksekunde. "Noli me tangere!" "Schon verstanden!" Kay lachte. "Keine sexuelle Belästigung auf offener Straße! Nun, wollen wir gleich rein, oder magst du erst einen Kaffee trinken?" Ein verächtlicher Blick aus den gefleckten Augen hinter den blank gewienerten Brillengläsern strafte ihn ab. "Meine Aufmerksamkeitsspanne ist keineswegs erschöpft. Im Übrigen habe ich doch unlängst erwähnt, was von dem hier servierten Gebräu zu halten ist!" "Hast du, ganz recht!" Kay zwinkerte aufgeräumt. "Ich würde mit dir aber um mehr als einen Block ziehen, um einen richtig genialen Kaffee zu ergattern!" "Vereinbart war ein Museumsbesuch." Stellte Emil frostig fest. "Das Museum befindet sich da, die Ausstellung drinnen. So lautet die Absprache." Er schien keineswegs gewillt, auch nur ein Zentimeterchen abzuweichen. Kay lachte in sich hinein, denn einmal mehr glaubte er förmlich das statische Knistern des aufgestellten Fells zu hören. Emil Sandemann war eine misstrauische, bissige, argwöhnische Katze, die auf das dicke Ende lauerte. "Das ist wahr, so haben wir es abgestimmt." Pflichtete er Emil launig bei. "Dann gehen wir mal rein, ja? Wird bestimmt klasse!" "Ha!" Hörte er ein leises Schnauben vor sich, weil er in aller Höflichkeit Emil den Vortritt durch die Drehtür gelassen hatte. Unwillkürlich plusterte sich ein wohliges Prusten in seiner Magengrube auf, das er kaum zu beherrschen vermochte. Emil war einfach süß! §-#-§ Die Verwandlung setzte immer dann ein, wenn er sich unbeobachtet wähnte. Aufmerksam, konzentriert, auch fasziniert studierte er die Ausstellungsstücke hinter ihren schützenden Kokons aus Stahl und Glas. Seine ohnehin sehr jugendlichen Gesichtszüge wurden weicher, die Ahnung eines Lächelns spielte um seine Mundwinkel. Kay fragte sich, was geschehen musste, damit jemand, der offenkundig träumen konnte, phantastischen Vorstellungen nicht abgeneigt war, in geheimnisvolle Strukturen sprang, sich mit einem derartig massiven Schutzpanzer umgab, einen Tarnumhang aus Zynismus, eisig-kalter Höflichkeit und kilometerweiter Distanz trug. Selbstredend konnte man auch die stärkste Mauer, die härteste Rüstung "knacken", doch Kay schreckte vor dieser kühlen Überlegung zurück. Er wollte sich nicht mit Gewalt einen Weg bahnen, um herauszufinden, was den "wirklichen" Emil ausmachte, der sich hier so entschieden versteckte und verleugnete. Möglicherweise, wenn die Zeit reif war, wenn er sich ausreichend Vertrauen verdient hatte, würde er eine Einladung erhalten, den Emil kennenlernen, von dem seine eiserne "Fassade" zweifellos behauptete, es sei überhaupt nicht gerechtfertigt, einen solchen Aufwand zu treiben! Dass es sich bloß um eine weitere Ausgabe der humanoiden Affen-Spezies handelte! Kay glaubte das nicht. Er war eben nicht so, wie SEINE Fassade die meisten Leute erwarten ließ! §-#-§ »Perfid!« Das dachte Emil einmal mehr, als sie nun formidable Currywurst-Scheiben, Belgische Fritten und einen Kokosmilch-Cocktail verputzten. Das Leben war einfach ungerecht! Leider, das ließ sich nicht vermeiden, verlangte die unerbittliche Aufrichtigkeit seines analytischen Verstandes, dass er anerkannte, was wirklich WAR: dass er sich nämlich prächtig amüsierte! Ausgerechnet der schmalzige Frauenmagnet und Horizontal-Flüsterer verhielt sich mustergültig. Er quengelte nicht, drängte nicht vor den Schaukästen, wollte nicht ständig wissen, was seine Begleitung dachte, oder, übler noch, textete ihn mit Belanglosigkeiten aus dem eigenen Meinungsreservat zu! Nein, Kay blieb Gesellschaft, jedoch unaufdringlich, gelassen, autark und tatsächlich aufmerksam. Kein Hans-guck-in-die-Luft, der nur vorgab, sich die Ausstellungsstücke zu betrachten! Perfid. Entweder war dieser unerträglich smarte Schönling ein sehr viel besserer Schauspieler, als man allgemein annehmen konnte, oder er verhielt sich wirklich gegen jede Erfahrung! Von Emils zynischen Erwartungen ganz zu schweigen. »Das kann nicht sein!« Ermahnte er sich selbst zur Ruhe, pickte mit dem ökologisch artig aus verholzendem Gras gefertigten Zahnstocher eine weitere saftig-goldene Kartoffelscheibe auf. Der Kerl musste einfach ein Rosstäuscher sein! Unerfreulicherweise bewies der jedoch ein beängstigendes Durchhaltevermögen, was diese Scharade betraf! Das machte es konsequenterweise extrem schwierig, ihn zu entlarven. Sehr beunruhigend. Grimmig erstach Emil eine Wurstscheibe, tunkte sie energisch unter. SO sollte es wirklich nicht sein! Dass er Spaß hatte, sich wohlfühlte und dass es ihm auch noch schmeckte! Er musste sich selbst mehr als einmal bremsen, die gewonnenen Erkenntnisse nicht mit den Kolorationen in Alben zu vergleichen, von ihrer beeindruckenden Intensität zu schwärmen, die immerhin schon über 100 Jahre anhielt. Zu schwärmen, das war gefährlich. Immer aufpassen, ständige Selbstkontrolle. Jeder Anflug von Offenbarung, von Begeisterung, von Hingabe konnte zu einem Einfallstor für gemeine Attacken werden, eine Einladung darstellen, die Nägel in den Sarg zu schlagen und das Gesamtkunstwerk dann an den Pranger! »Sei kein Idiot!« Ermahnte er sich selbst streng. Emil Sandemann wusste unerschütterlich, dass er mit sich recht gut leben konnte. Ebenso verhielt es sich mit seiner Überzeugung, dass andere, wer auch immer es sein mochte, ihn nicht so nehmen würden, wie er wirklich war. Wollte er überleben, seine private Welt bewahren, musste getäuscht, getarnt, getrickst und im Zweifelsfalle auch eilig "verpisst" werden. §-#-§ Kay genoss dieses fröhliche Kribbeln in seiner Magengrube, wie ein neckisches Kitzeln der Seele. Das Wetter war angenehm, das Essen lecker und die Gesellschaft, ja, die Gesellschaft verlor immer wieder den einsamen Kampf gegen die gute Laune! So sehr sich sein Emil auch anstrengte, den miesepetrigen Misanthropen zu geben, es funkelte doch hier und da hervor, dass es ihm gefiel, hier und jetzt zu leben. Damit war schon ein wichtiger Erfolg erreicht, befand Kay, auch wenn er sein Ziel noch längst nicht erreicht hatte. Immer wieder bremste sich sein Emil nämlich mitten in der Rede ab, beendete seine Sätze mit ironischen Formulierungen oder relativierte seine Aussagen in abschätziger Weise, um bloß niemandem einen tatsächlichen Einblick in seine Welt zu gestatten. »Schade!« Dachte Kay ein ums andere Mal, denn er hörte seinem widerspenstigen Freund gern zu. Da mochte der sich noch so entschieden als ein elender, pessimistischer Kotzbrocken gerieren: wenn dies zuträfe, so würde er wohl kaum so viele Gedanken wälzen, so intensiv darüber grübeln, was andere wohl denken oder empfinden mochten. Auch wenn eine derartige Einsichtsfähigkeit sofort und vehement abgestritten werden würde! Ein wenig fühlte Kay sich an seine Schulzeit erinnert. Damals galt es plötzlich nicht mehr als vorteilhaft, als klug oder gar belesen dekuvriert zu werden. Man stellte sich dümmer als man war, Blödheit war in, alles selbstredend unter der Prämisse, dass man ja, wenn man nur wollte, auch klug sein konnte, sogar besonders clever, eine Schattenfechterei sozusagen, jedoch mit ungewissem Ausgang. Pflegte man nämlich eine ziemliche Weile das Image als "Blödel vom Dienst", konnte sich das Etikett als nicht mehr löslich erweisen. DANN war man tatsächlich gelackmeiert. Eine kurze Weile hatte er als Teenager natürlich auch mit der Trottel-Nummer kokettiert, scheiterte jedoch ziemlich schnell an seiner Neugierde auf Radio, Funk, die dazugehörigen Geräte und die physikalischen Grundlagen zu diesem Sujet. Wenn man sich begeisterte, war konsequente Dummheit nur schwer aufrechtzuerhalten! Kay tupfte sich die Mundwinkel mit einer Papierserviette ab (100% Recycling aus Altpapier, nicht gebleicht oder gechlort), fragte sich, ob es ihm wohl gelingen würde, Emil aus seiner "alle Menschen sind doof!"-Ecke herauszulocken. Er könnte sich beispielsweise als die Ausnahme von der Regel präsentieren, dann wären alle Gesichter gewahrt. Andererseits zeichnete Emil sich durch einen ausgeprägten Argwohn aus. Der würde einen "Braten" vermuten, den er noch nicht riechen konnte und sich im Vorfeld schon gegen jede "Anbiederung" verwahren. Schwierig. Wie sollte er sich Vertrauen erwerben, wenn er er selbst war und blieb, Emil jedoch nicht glauben wollte, dass es jemanden wie ihn tatsächlich gab?! §-#-§ »Was hat der Bursche bloß vor?!«, Emil räumte geschäftig und sortenrein ihr Geschirr in die Behälter, forderte seinen Verstand auf, gefälligst nicht ins Suppenkoma zu versinken, sondern endlich herauszufinden, welche Heimtücke dieser Kay ausheckte! Das ging nicht mit rechten Dingen zu, kein Zweifel, doch was steckte dahinter?! Welche diabolischen Absichten verbargen sich hinter dieser Einladung?! Es wurmte ihn sehr, dass er trotz seiner analytischen Fähigkeiten den geheimen Schlachtplan einfach nicht aufdecken konnte! »Taktischer Rückzug!« Ermahnte ihn sein Verstand nervös. Das hier war eindeutig nicht sein Spielfeld, denn üblicherweise vermied er "Restaurationen" aller Art, Horte der ungezwungenen Geselligkeit und Beziehungsanbahnungsarenen, den öffentlichen Nahverkehr mal ausgenommen. »Außerdem ging's nur um die Ausstellung und die Curry-Wurst! Abmachung erfüllt, ab durch die Mitte!« Allerdings musste die Gelegenheit günstig sein, die Zeitabstimmung war wesentlich. Immerhin, der Bursche wusste ja leider, wo er wohnte, kannte auch seine Telefonnummer, sodass eine Trennung mit klinischer Akkuratesse und steriler Sauberkeit erfolgen musste! Doch wie es schien, spielte ihm das Schicksal genau in die Hände. Es näherten sich nämlich drei junge Frauen, sommerlich entblättert und chic aufgemacht, die seinen notorischen Begleiter zweifelsfrei identifiziert hatten. Emil blieb für sie unsichtbar, während sie auf Kay einsprachen, ihrer Bewunderung Ausdruck verliehen und flirteten, was das Zeug hielt. Oder vielmehr nicht, da in subtiler Weise noch mehr Haut entblößt wurde. »Praktisch, Steilvorlage!« Soufflierte Emils Verstand aufgeräumt. »Jetzt ein knappes Nicken, dann nichts wie weg! Der Mann ist ja praktisch schon gebucht, du kannst dich also ohne Gewissensbisse subtrahieren!« Trotzdem verspürte Emil einen dezent bitteren Nachgeschmack auf der Zunge, als er seinen Rucksack justierte, sich im Blinden Fleck des Quartetts auf den Abflug vorbereitete. §-#-§ Kay stand schon recht lange im grellen Licht einer Öffentlichkeit, die glaubte, ihn zu kennen, durch Lieder, Figuren, Sendungskonzepte und all die anderen Dinge, die er als Künstler und Freiberufler getätigt hatte. Er hatte gelernt, mit Begeisterten, Fans, Betrunkenen, Liebestollen und Prominenten zu sprechen. Mit beinahe allen, ausgenommen seiner eigenen Mutter, kam er gut zurecht. Öffentlichkeitsarbeit war wichtig, Kontaktpflege für seinen Berufsweg erforderlich. Die drei Damen vom Grill, Marke Broiler im Sonnenstudio, störten ihn jedoch gerade erheblich, obwohl er ohne Wimpernzucken aufgeschlossen und freundlich blieb, denn im Augenwinkel registrierte er durchaus, dass Emil, der die Kunst der Unsichtbarkeit beherrschte, seine Chance in der Flucht suchen wollte. Vermutlich in der grimmigen Überzeugung, dass so ein Aufreißer wie er nach der vormittäglichen Durststrecke nun eine Belohnung für seinen Lümmel nicht ablehnen konnte! Außerdem noch wortbrüchig, gedankenlos und ungezogen agierte, ihre Verabredung schlichtweg ad acta legte! Möglicherweise würde das Zerrbild des Apollon tatsächlich dieser lächerlichen Chauvi-Phantasie folgen, doch Kay Nelson Jefferson war aus einem anderen Holz geschnitzt! "Sorry, Ladys!" Schnurrte er deshalb in seinem rolligsten Timbre, tief aus der Magengrube heraus, senkte die Lider auf Halbmast. "Wir sind leider spät dran, müssen noch zu einer Besprechung." Damit packte er Emil am Oberarm. "Entschuldige, ich hab glatt die Zeit vergessen! Gut, dass du mich immer erinnerst!" Die Augenbrauen knitterten zwar, doch dann spielte Emil zu seiner Verblüffung mit. "In der Tat! Es wäre sehr unhöflich, wenn wir deine Geschäftspartner warten ließen!" Ruckartig beugte er sich in das Damentrio, das verächtlich zurückwich. "Wir stehen nämlich in Verhandlung für die Vertonung eines wissenschaftlichen Klassikers! 'Erinnerungen eines Prostata-Tätowierten'! Bedeutendes Werk!" Nach einer Gedenkminute an die Stehgreifkomödianten unterdrückte Kay mannhaft ein Prusten, tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn, deutete eine Verbeugung an und säuselte. "So long, Ladys!" "Ja, hasta la vista!" Grollte Emil bärbeißig, der nun untergehakt wurde! "Darf ich fragen, wohin wir gerade entfliehen, oder stört das beim Geradeauslaufen?!", Kay grinste zu seinem Mitverschwörer herunter. "Gegen ein Durchbrennen mit dir zu einer Blitzhochzeit in Vegas hätte ich nichts einzuwenden, aber ich glaube, das käme jetzt ein wenig zu plötzlich!" Emil bremste nun abrupt neben ihm, machte sich energisch los. "Das finde ich keineswegs amüsant! Außerdem nehmen Sie doch wohl nicht an, dass ich Ihnen diese Bi-Nummer abkaufe!" Den Kopf leicht auf die Seite gelegt studierte Kay den empörten Mann vor sich, betont distanziert, das Kinn hochgereckt, die Arme vor der Brust verschränkt, was durch die Rucksackgurte dezent behindert wurde. "Ich werde jetzt nicht behaupten, dass mir die Chassis gleichgültig wäre, aber für mich zählt in erster Linie die Person. Ob ich dann bi-, homo-, hetero- oder auch asexuell werde, ist mir völlig schnurz. Nicht meine Schubladen, nicht meine Kommode." "Ich bin NICHT interessiert!" Erinnerte Emil ihn aufgebracht. "Das habe ich Ihnen schon mal ausdrücklich zur Kenntnis gegeben! Nicht persönlich gemeint, doch das ändert nichts an meiner Überzeugung." Eine sanfte Röte färbte die Wangen, die gefleckten Augen blickten jedoch stur. "Das geht für mich in Ordnung, so lange ich meine tägliche Viertelstundendosis Emil bekomme." Lächelte Kay becircend. Sex war zweifellos eine feine Sache, sein Horizont nahm sich jedoch viel weiter aus, und 'carpe diem' sorgte für Prioritäten. "Darüber ist noch nicht das letzte Wort gesprochen!" Empörte sich Emil postwendend. "Ich bin doch nicht Ihr Pausenclown oder die 'Vertreib mir eine Viertelstunde Zeit'-App! Das habe ich nicht nötig!" Ein kritischer Moment, das wusste Kay, doch er hatte sich auf diese Auseinandersetzung vorbereitet. "Du hast recht. Für dich besteht keinerlei Notwendigkeit, dich mit mir abzugeben. Ich kann dir nichts bieten, das ist wahr. Ich kann dich nur um die Chance bitten, dir meine Freundschaft zu beweisen. ICH habe dich nötig, denn seit unserer ersten Begegnung in der Galerie gehst du mir nicht aus dem Kopf und ich habe ungeheuer viel Spaß mit dir. Das möchte ich nicht missen, deshalb werde ich alle Bedingungen akzeptieren, die du mir stellst." §-#-§ "Das-das ist doch bescheuert!" Emil rang mit sich, kämpfte zwischen Verlegenheit, Empörung und wütendem Belehrungsdrang. Keinesfalls schmeichelhafte Emotionen. "DAS ist ja mal wieder typisch für Sie!" Sorgsam senkte er die Stimme, immerhin wollte er kein Spektakel veranstalten, zischte zornig weiter. "Wie dusselig ist das denn, nicht mal ordentlich feilschen zu wollen! Ich würde Sie ja für einen Ignoranten halten, der trotz all unserer Gespräche immer noch nicht verstanden hat, dass jede Interaktion eine Verhandlung darstellt, aber das wäre Verschwendung! Denn Sie sind doch infernalisch darauf aus, mich durch moralische Zwänge zu einem Entgegenkommen zu erpressen!" "Pardon?!" Kay stutzte verwirrt. "Ha! Ganz der große Schauspieler!" Ätzte Emil nun mit neuem Schwung. "Glauben Sie bloß nicht, ich hätte Sie nicht durchschaut! Einfach den Ball in meine Spielhälfte kicken und sich als williges Opfer stilisieren, das wäre ja gelacht! Netter Versuch, David, doch bloßes Schrumpfen macht mich noch nicht zum Goliath! Ich werde mich ganz sicher nicht wie ein Gutmensch moralisch erpressen lassen! Kommt nicht in Frage!" Kay sortierte sich. "Ich bin nicht ganz sicher, ob ich das richtig verstanden habe, aber du glaubst, ich mache mich klein, demütig und hilflos, damit du ganz sicher mein Freund wirst, was du aber nicht wirst, weil du das für eine Finte hältst. Wenn ich dich aber ganz selbstherrlich als Freund betrachte, würdest du doch auch ablehnen, oder?" "Versteht sich ja von selbst!" Emil raunzte förmlich. "Das wäre ja noch schöner! Unverschämte Anmaßung!" "Folglich kann ich dich nicht auffordern und nicht bitten. Verzwickte Sache! Wie stelle ich es denn an, dass du meine Freundschaft annimmst?" Kay hakte offenherzig nach. Emil erkannte nun mit säuerlichem Gesicht, dass er sich selbst in die Enge getrieben hatte, weil er mal wieder den großen Zwangsbeglücker gegeben hatte! Mit abgewandtem Gesicht brummte er. "Das hatten wir doch schon, als wir die Regeln besprochen haben." "Wenn ich mich artig daran halte, habe ich Chancen?" Schnurrte Kay samtpfotig, ein Lächeln auf den Lippen. "Möglicherweise." Knurrte Emil, reckte das Kinn in der Profilansicht. "Im Übrigen habe ich für heute genug! So viele Viertelstunden wie heute, das reicht ja wohl für die nächsten 14 Tage!" Kay griff blitzartig zu, fing ein Handgelenk locker ein. "Dann morgen Abend wieder? Bitte?" "Mal sehen!" Fauchte Emil im Rückzugsgefecht, befreite sein Handgelenk. "Was habe ich über die Regeln gesagt?! Nicht anfassen! So, danke für den Ausflug, schönen Sonntag noch!" Im Sturmschritt eilte er der nächsten Unterführung entgegen, ohne einen Blick zurück. Kay blickte ihm nach, durchaus versonnen. Gar nicht so einfach, diese argwöhnische Katze anzulocken! Jede Geste, jedes Wort musste kontrolliert werden, bis sie davon überzeugt war, dass man ihr nichts Böses wollte. "Trotzdem!" Munterte er sich selbst auf, schraubte die Sonnenbrille auf seine Nase. Ihr Date für morgen stand! §-#-§ Kapitel 18 - Von Rittern und anderen Helden »Nein.« Stellte Jacqueline Reitze fest, hormonelle Blödigkeit von frisch Verliebten konnte sie ihrem Sohn nicht ansehen. Turteln und Herumalbern war auch nicht zu konstatieren. Durchaus bemerkenswert. Es erfüllte sie jedoch mit einem beschämenden Anflug von Neid, wie fokussiert er seine Rosa betrachtete, aufmerksam, liebevoll, aber nicht unkritisch oder selbstverleugnend. Ja, so unselig diese Emotion war, sie hätte auch gern einen Daumen über ihrem Handrücken streichen gespürt, wenn sie zur großen Offenbarung ansetzte! Aber wie konnte sie es diesen beiden Kindern auch neiden, das Bedürfnis, sich an den Händen zu halten, einander den Rücken zu stärken? Obwohl sie mit ihrer größeren Lebenserfahrung wusste, dass Romeo und Julia-Affären sträflich überschätzt wurden, war sie in diesem besonderen Fall sehr geneigt, ausdrücklich Partei zu ergreifen, denn was sie da hörte, in rauer Stimme leise geschildert, ohne Beschönigungen oder Rechtfertigungen, war wirklich keine Umgebung, die man irgendeinem Kind zumuten sollte, vor allem nicht diesem nur vorgeblich trotzigen Mädchen, das sich selbst ständig die Frage stellte, wie groß ihr Anteil am familiären Katastrophenzustand war. Hätte sie vielleicht die Zerreißprobe verhindern können, wenn sie nicht stur darauf bestanden hätte, kein Internat zu besuchen? Wäre alles anders gekommen, wenn sie die schmucke Zierpuppe sein konnte, die zum perfekten Bild der Familie gepasst hätte? Trieb sie möglicherweise durch ihre Hartnäckigkeit die Eltern in die Enge? War ihre bloße Existenz nicht mehr als eine Rechtfertigung für das Zerrbild einer Ehe, das als Fassade diente, um den ganz unterschiedlichen Bedürfnissen ihrer Eltern zu genügen? Wie lange wollte sie ihre Selbstsucht noch pflegen? Wie sollte sie bloß einen Absturz verhindern, wenn sie volljährig wurde und damit aller vorgeblichen Fürsorge ledig? All diese Gedanken hörte sie zwischen den Zeilen, las sie in dem blassen Gesicht, entnahm sie den großen blau-violetten Augen. Wo war es schiefgegangen? Oder hatte nie eine Hoffnung bestanden? "Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen so eine schlechte Seite von mir zeige." Murmelte Rosegunde in diesem Augenblick, drückten sich die beiden Hände fester. Jacqueline Reitze lächelte müde. "Schatz, ich möchte gern alle deiner Seiten kennenlernen. Du gehörst immerhin jetzt zu unserer kleinen Familie und wir stehen einander bei." "Genau!" Bekräftigte Dominique entschlossen, mit dem resoluten Ausdruck, den Jacqueline Reitze von ihrem früheren Mann kannte. "Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Da werden wir auch eine Lösung finden." Dabei würden die beiden Kinder Hilfe benötigen, das stand für sie fest. Möglicherweise war es nicht für immer, was sie nun zueinander zog, doch das konnte man schließlich erst erfahren, wenn die Geschichte voranschritt, aus Gegenwart Vergangenheit wurde. "Wir lassen uns was einfallen." Pflichtete Jacqueline Reitze ihrem Sohn bei und nickte dem jungen Paar zu. Im Kämpfen war sie schlussendlich geübt! §-#-§ "Auf keinen Fall!" Ermahnte sich Thierry leise. Auf keinen Fall würde er dauernd vor sich hinträumen wie jetzt, sondern endlich seine vernachlässigten Hausarbeiten erledigen, aber pronto! Ebenfalls nein, er würde nicht schon wieder auf eine Nachricht, einen Anruf lauschen!! Man wusste ja, wie das endete: Selim meldete sich, sie trafen sich und frönten in beschämendster Weise vulgärem Vergnügen in der Horizontalen! (Zumeist wenigstens.) Eine kaum wahrnehmbare Röte färbte Thierrys Porzellanwangen ein. Er schämte sich für sich selbst, denn eigentlich sollte er nicht so bereitwillig, freudig, ja, begierig dem Sex verfallen! Nicht bloß kuscheln, knutschen, fummeln, sondern der anderen, rückwärtigen Angelegenheit! Sich total der Ekstase ausliefern, es genießen, wenn hier Muskeln und Sehnen aufeinanderprallten, sich einen Wettstreit im Durchhaltevermögen lieferten, bis endlich der Rote Knopf gedrückt wurde! Wenn alles weiß, dann kurz schwarz wurde, spastische Zuckungen ihn in elysische Höhen schleuderten. Das war würdelos. Auch ein wenig "unmännlich", von einem chauvinistischen Standpunkt aus. Außerdem kritisierte sein Verstand säuerlich die eigene Bereitschaft, vollkommen die Selbstkontrolle aufzugeben, sich in einen Rausch zu versenken. Wenn das keine Flucht vor der Realität, der Verantwortung, der Selbstbeherrschung war! "Du tust es schon wieder!" Grollte Thierry zornig, wischte sich widerspenstige Locken aus dem Gesicht, drückte das Bügeleisen fester auf die Leinenhose. In einer Liebesbeziehung sollte man miteinander reden, Detailkenntnisse vertiefen, einander kennenlernen, Vorlieben, Abneigungen, Interessen, Zukunftspläne, Kindheitserinnerungen, eben eine richtige Basis aufbauen, damit das Haus darüber nicht in sich zusammenfiel. Was er selbst jedoch in der Hauptsache zu tun pflegte, war körperlicher Intimität nachzugehen und sich von Selim durchfüttern zu lassen. Nicht nur postkoital-Dessert-technisch, sondern auch per Blutspende! Ein Plan musste her! Sein Selbstwertgefühl verlangte, dass er in diesem Chaos endlich eine Ordnung herstellte. Zettel und Bleistift! Nummern aufgemalt! Erst würde die Liste abgearbeitet, bevor wieder An- und Abkoppelungsaktionen erprobt wurden! §-#-§ "Danke, Thierry." Raunte Selim wie stets heiser an seiner Kehle, küsste ihn, noch außer Atem, mit offenem Mund recht nass, schmiegte sich an seine Seite. Ihre Herzen rasten, ganz ohne Unterschied. Er spürte den Schweiß und die Hitze des älteren Mannes angenehm auf seiner kühlen, porzellanglatten Haut. In seinem Inneren pochte es noch, schwang die Erinnerung an den sich beschleunigenden Stahlhammer mit, der das heißeste Feuer genutzt, auf dem Amboss das Schwert geschmiedet hatte, das mit Funkenspektakel heller als jedes Feuerwerk temporär jede Verbindung zur Ratio kappte, eine Urgewalt, die mächtiger war als das vermeintlich überlegene Bewusstsein. "Entschuldige, was wolltest du vorhin sagen?" Selim lehnte sich wieder halb über ihn, kämmte ihm zärtlich verirrte Locken aus den Augen. Die hellen Bernsteinaugen funkelten so lebendig, dass Thierry glaubte, noch den Funkenflug und Feuerschein der Schmiede in ihnen zu sehen. "... Liste." Murmelte er, musste seine träge Zunge erst wieder sortieren, zur Arbeit anhalten. "Also, ich habe eine Liste gemacht, die ich eigentlich erledigen wollte, bevor..." "Oh, verstehe!" Selim lächelte auf ihn herunter, setzte einen vorwitzigen Kuss auf Thierrys Nasenspitze. "Tut mir leid, da habe ich meinen Bedürfnissen mal wieder ganz ungeniert den Lauf gelassen." Das schien ihn jedoch keineswegs zu zerknirschen. Thierry sah sich außerstande, einen Tadel auszusprechen, denn leider, ganz entschieden im Verstoß gegen seine hehren Grundsätze, hatte er sofort mitgespielt. Thierry konnte einen schuldbewussten Seufzer nicht unterdrücken, drehte sich dann ächzend auf die Seite, damit sie einander bequem betrachten konnten. "Es ist so!" Verlegen räusperte er sich, senkte den Blick, unseliger Weise auf einen deutlichen Knutschfleck, der auch noch die Ahnung einer Bisswunde aufwies. "Also, es heißt ja immer, dass eine Beziehung ein gutes Fundament benötigt. Ich mache mir Sorgen, dass, na ja, dass die Grundlage bei uns ein wenig dünn ist." "Verstehe." Antwortete Selim nach einer Weile langsam. "Zumindest glaube ich, dass ich's kapiert habe. Du machst dir Sorgen, dass wir uns zu sehr auf den Sex verlegen und sonst nichts gemeinsam haben." "Es ist ja nicht nur Sex!" Beeilte sich Thierry aufgeschreckt zu versichern, hob den Blick eilig wieder. "Wir haben ja schon Einiges zusammen unternommen, und...!" Weiter kam er nicht, da Selim sich über ihn schob und ihn sehr ausdauernd küsste. Verunsichert blinzelte Thierry zu ihm hoch. Sein Pulsschlag rannte ihm davon, doch er registrierte von Selim nichts anderes als Liebe, Lust, Fürsorge und Hingabe. Die Bernsteinaugen glitzerten herausfordernd. "Das war jetzt nicht fair. Ich verdiene, dass du mich ordentlich auszankst." Selim grinste schief. "Ich habe nämlich ein Problem damit mir einzugestehen, dass ich kein Vollidiot bleiben kann. Höchstens noch Teilzeit." Thierry blinzelte verwirrt hoch. "Der Vollidiot in mir hat gern seinen Spaß und lässt alles auf sich zukommen." Erläuterte Selim sanft. "Ist bis jetzt ja auch immer gutgegangen. Wenn ich aber mit dir zusammen sein will, bekommen wir mit meiner Einstellung ein ernstes Problem. Ich muss mich engagieren, bloß bin ich mir nicht sicher, wo und wie." Ungläubig studierte Thierry die vertrauten, attraktiven Züge. So eine Offenbarung hatte er nicht erwartet, vor allem nicht von einem erwachsenen Mann! "Du guckst ganz erschrocken." Stellte nun auch Selim bedauernd fest. "Sieht's so schlecht aus?" "Nein! Nein-nein!" Haspelte Thierry verdattert. "Es ist bloß... du bist so ehrlich!" "Ja." Selim seufzte bedauernd. "Das ist der Idiot in mir. Einfach nicht unterzukriegen." Thierry hob die Arme an, streichelte über die Wangen, das markante Gesicht. "Ich liebe dich." Wisperte er, konnte kaum noch erröten als Vampir, obwohl er innerlich in Flammen stand. "Ich gebe dich nicht auf." Selim entfuhr ein sonores Schnurren. SEINE Wangen färbten sich deutlich sichtbar ein. "Verflixt, Thierry, ich liebe dich auch! Ich werde mich anstrengen, wenn du die Denkarbeit übernimmst! Ehrenwort!" Da konnte Thierry nicht anders, als hingerissen zu lächeln und seine Liste wieder in der Hosentasche verschwinden zu lassen. §-#-§ Rosegundes Vater war nicht amüsiert. Überhaupt musste er sich erst mal mit ihrer Mutter besprechen, wie es weitergehen sollte. Im Augenblick hatte er für derlei Kalamitäten jedoch keine Zeit. »Wenigstens hat er sich erbarmt und die Faxbestätigung geschickt!« Grollte Dominique grimmig. So konnte nun in der Filiale eine Ersatzbankkarte bestellt werden, um den Zugang zum Konto wiederherzustellen. Sie konnten mit Gavin verhandeln, der angeboten hatte, die nicht zerstörten Bauteile des Laptops in ein anderes Modell "hinein zu pfriemeln". Auch mussten sie sich nach einem Ersatz für das zerstörte Mobiltelefon umsehen, denn der Vertrag lief schließlich weiter! Was die Unterbringung seiner Tochter betraf, zeigte sich der Herr Papa jedoch desinteressiert. Das Haus stand noch, aber wenn sie lieber bei Freunden ihre Zeit verbrachte, nun, sie war schließlich alt genug, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen! Wie unzuverlässig ihr Urteil da auch sein mochte, was die Exkursion in die Bretagne ja bewiesen hatte. »Man merkt, dass ihre Gehässigkeit nicht von ungefähr kommt.« Dachte Dominique, doch er sah es Rosegunde nach. Wenn man wie sie in einem Lügengebäude aufwuchs, dauernd auf den schönen Anschein bedacht sein musste, niemanden ins Vertrauen ziehen durfte aus Angst, es könnte die Wahrheit nach außen dringen, dann stellte eine gewisse Bärbeißigkeit lediglich ein legitimes Ventil für Frustration dar. Er hatte sich auch bei seiner Mutter sehr ernsthaft bedankt. Welche Mutter sah es schon gern, dass quasi ein Mädchen in das Zimmer ihres Sohnes einzog, mit Problemen im Gepäck, kaum eigener Bekleidung und einer rührenden Unkenntnis über haushaltstechnische Vorgänge! Ganz zu schweigen vom den Umstand, dass sie sich sein recht schmales Bett teilten. Es freute ihn jedoch, dass sich seine Rosa wieder gefangen hatte, den Schrecken überwunden, auch wenn er sie immer öfter dabei ertappte, ihn still zu betrachten, gedankenvoll. Sich nicht mit einem frechen Spruch herauszureden. Solange sie sich nicht einredete, er habe etwas Besseres verdient, wollte er ihre Kontemplation jedoch nicht stören. Schließlich fungierte er zum ersten Mal in seinem Leben als "Lehrer" für das Überleben auf monetärer Sparflamme und hatte eine sehr aufmerksame Schülerin! §-#-§ Emil Sandemann war zu sehr mit seinem eigenen Dilemma befasst, um sich großartige Gedanken darüber zu machen, dass bei seinen Nachbarn nun zusätzlich ein hübsches, schwarzhaariges Mädchen hauste, oder dass der Teilzeitvampir, den er verarztet hatte, erheblich blasser als zuvor, von einer ätherischen Schönheit geprägt, nur noch mit Borsalino behütet seinen Rollbrett-liebenden Nachbarn frequentierte. Kay Nelson Jefferson entwickelte sich zu einem ernsthaften Problem. Zu einer Bedrohung. Gut, was konnte eine Viertelstunde Schwatz am Tag schon schaden? Auch noch räumlich getrennt! Der Weiberheld würde es schon satt haben, sich bald langweilen, die Lust an was auch immer er gesucht hatte verlieren! DAS sagte ihm sein Verstand, der das "System" kannte, die Wahrscheinlichkeiten, "Schubladen", Verhaltensmuster, Vorbilder und abschreckenden Beispiele der alltäglichen Gesellschaft. SEINE Beobachtungsgabe teilte ihm jedoch mit, dass Kay sich nicht an die Regeln des Systems hielt. Der wurde es nicht leid, mit ihm zu sprechen, sich belehren, auf Distanz halten, zurechtweisen zu lassen! Schlimmer noch, jede sorgsam aufgestellte Fallgrube meisterte er souverän, erwies sich als ein aufrichtiger, interessierter, unverdrossener, amüsanter Zeitgenosse!! Entweder war der Typ ein Fehler im System, oder-oder das System stand vor dem Kollaps! Emil gefiel das gar nicht. Es gehörte zu seinen ureigensten Aufgaben, nicht nur beruflich, das System zu durchschauen, seine Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, sie zu nutzen, um sich selbst zu schützen und zu bewahren. Selbstredend, eine Aktion führte zu einer Reaktion, mit Konsequenzen war somit zu rechnen, dessen war er sich nur zu bewusst. Ein Preis war zu entrichten. Logisch. Doch dieser Kay spielte nicht nach den Regeln. Er verhielt sich nicht so, wie er sich hätte verhalten müssen! Es gab schließlich "Gesetze", Muster, Beispiele! Was diesen Kerl nicht kümmerte!! Tat der doch glatt, was ihm so passte!! Das wurde bedrohlich, weil Emil spürte, wie sich seine vehemente Abwehr gegen die Charmeoffensive abschwächte, wie er hin und wieder, in schwachen Momenten, versucht war, Kays Beteuerungen Glauben schenken zu wollen. Damit bestand jedoch die erhebliche Gefahr, sich zum Idioten zu machen! Nie, nie-nie-nie niemals in diesem Universum, in diesem System konnte es geschehen, dass so ein Strahlemann und Sahneschnitte erster Güte wie Kay Nelson Jefferson sich mit jemandem wie ihm, der personifizierten Misanthropie, zusammentat! Das passte einfach nicht, das konnte nicht sein, da waren nur diametrale Gegensätze vorhanden! Er musste ihn also loswerden, um sich selbst zu schützen. Schluss mit der Unsicherheit, der Angst vor der bevorstehenden Katastrophe! Aber. Aber was, wenn es wirklich wahr wäre? Wenn, zumindest auf einem kleinen Level, sie tatsächlich gut miteinander auskämen? Wenn sie auf dieser unverbindlichen Viertelstundenbasis Kontakt hielten? Konnte er dann so unerbittlich sein und das Freundschaftsangebot als diabolische Lüge zurückweisen, auf den ehrlichen Gefühlen herumtrampeln?! Sich genauso verhalten, wie er befürchtete, dass andere ihn behandeln würden, wenn sie eine Schwäche bei ihm entdeckten?! Unmöglich. Das war nicht nur unehrenhaft, sondern auch widerwärtig und abstoßend. So sah Emil Sandemann sich einem ernstzunehmenden Dilemma ausgeliefert. Wollte er an die eigentlich nur theoretische Möglichkeit eines "Systemfehlers" glauben? Oder lieber selbst den Regeln des von ihm verachteten Systems gehorchen, dafür in Kauf nehmen, sich ganz und gar verachtungswürdig zu verhalten? Es half wenig, dass er darauf bestand, Kay nichts von seinem inneren Konflikt erfahren zu lassen. Nur, weil er so damit beschäftigt war, jeden Anschein eines Dilemmas zu vermeiden, konnte er sich erklären, dass er sich zu einer Führung in einer Galerie hatte überreden lassen! §-#-§ Kay stellte das Wasserglas auf einer stabilen Transportkiste neben seinem Bett ab, ließ sich dann auf der Kante nieder. Als Emil sich fast ruckartig aufsetzte, reichte er ihm aufmerksam die Brille, erkundigte sich. "Wie geht's dir? Alles okay?" Aus Emils Sicht war gar nichts in Ordnung, auch wenn er nun schärfer blickte. DAS hier war weder seine Wohnung, noch konnte er sich im ersten Augenblick erklären, was zum Teufel er in einem fremden Bett tat! Dann jedoch setzten die Erinnerungen ein und ließen ihn heftig erröten. "Hast du Kopfschmerzen?" Kay reichte das Wasserglas an. "Soll ich dir Aspirin holen?" "Danke, nein." Emil trank sich mit dem Wasser Mut an. "Bitte entschuldigen Sie vielmals die Umstände! Es ist mir außerordentlich unangenehm, dass ich Sie derart behellige." Unmöglich, den Kopf anzuheben, seinem mutmaßlichen Gastgeber ins Gesicht zu sehen! Dazu war Emil viel zu entsetzt über sich selbst. Was hatte er bloß angestellt?! "Ach, das sind doch keine Umstände, wirklich! Mach dir nicht zu viele Gedanken, ja?" Kay gab sich betont fröhlich. "Wenigstens bist du in Ordnung! Ich habe ja auch sehr gemütlich neben dir gepennt, das war sehr entspannend!" Was Emil keineswegs so empfand. "Das ist wirklich nicht meine Art, und ich verstehe nicht...?!" Nahm er Anlauf, sich selbst hochnotpeinlich zu zerfleischen. Allein die Vorstellung, welche Blöße er sich gegeben hatte!! "Ich nehme an, es war der zweite Cocktail." Bremste Kay ihn mit sanfter Gewalt aus. "Der war wirklich tückisch! Die Hitze, nach der Rennerei, das hat sofort gewirkt!" "In der Tat!" Emil knirschte als selbstzerfleischender Büßer mit den Zähnen. "Ich habe es versäumt, mich auf Trinkfestigkeit zu schulen. Ich hätte es wirklich besser wissen müssen." "Iwo!" Winkte Kay energisch ab. "Ich fand es sehr sympathisch, dass du so selig eingeschlummert bist. Ich konnte dich sogar ohne Mühe ins Taxi lotsen, das hat prima geklappt! Dein Unterbewusstsein war sehr auf zack!" Zu entsetzt über seine Vorstellung hob Emil den Kopf, starrte in tiefschwarze, amüsiert funkelnde Augen. Kay musste sich keineswegs verstellen, um seine beschwingte Begeisterung für Emil auszudrücken. Er hatte des Öfteren mit Betrunkenen zu tun gehabt, darum kam man im Leben nicht herum, doch Emil war die erste Person, die einfach still und heimlich an seine Schulter lehnte und schlief, sich mit Kommandos dirigieren ließ, sich auf seinem Bett auf den Bauch rollte und einfach fortfuhr, Morpheus' Reich zu besuchen. Kein Gebrüll, kein unverständliches Gelaber, kein Kotzen, kein Striptease auf offener Straße! Nein, ohne Zweifel war Emil Sandemann der pflegeleichteste und zivilisierteste Angetrunkene, dem er je begegnet war. "Ich hätte vorher mal testen sollen, wie stark die Cocktails sind." Gestand sich Kay großzügig eine Mitschuld zu. "Aber andererseits, wer hätte gedacht, dass du einmal in meinem Bett landen würdest?" Damit zwinkerte er frech in die gefleckten Augen, die so erschüttert über sich selbst waren. "Das ist mir wirklich äußerst unangenehm." Setzte Emil nach einer Schrecksekunde in betont distanzierter Sprechweise zu einem erneuten Entschuldigungsinnuendo an, doch Kay unterbrach ihn entschieden. "Es ist nichts weiter passiert, auch nicht der Rede wert. Mir tut's leid, dass ich kein Anhänger von 'Schöner Wohnen' bin, wie dir bestimmt nicht entgangen ist. Deshalb finde ich es bei dir zum Schmökern auch viel gemütlicher!" Emil, der sich verstohlen umgesehen hatte, wechselte blitzartig von steifer Distanz zu bedrohter Empörung. "Das ist doch aber keine Rechtfertigung dafür, sich bei mir einzuladen! Nur weil Sie hier in einem Schuhkarton hausen, können Sie doch nicht meine Wohnung invahieren!" Diese Vorstellung musste mit dem Einfall der Hunnen vergleichbar sein, denn vor Schreck färbten sich Emils Wangen rot! Kay lächelte hingerissen und erfreut, dass er nicht auf höflicher-diplomatischer Entfernung am langen Arm ausgehungert wurde, sondern in Schlagdistanz kam. "Wenigstens ist es nicht die Jungfrauenfalle, die man so erwartet, oder?" Gab er schlagfertig zurück. "Wäre ja auch ausgesprochen dämlich." Knurrte Emil, dessen Gesichtsfarbe sich normalisiert hatte. "In den eigenen Wänden kann man nicht schnell Leine ziehen!" "Oho!" Kay genoss das Gefecht. "Ist das deine Methode? Heißmachen, vernaschen und dann ab durch die Mitte?" "Meine...?! Aber mitnichten! Frechheit!" Ging Emil in die Luft wie ein Knallfrosch. "Außerdem ging es gerade ja wohl um die von Ihrem Apollon-Flachlegerverein gepflegte Vorgehensweise!" "Obwohl wir ja schon geklärt hatten, dass ich kein Apollon-Anhänger bin." Schnurrte Kay nachsichtig. "Das ist dir sicher wegen der Schlummerstunden entfallen." "Von wegen!" Fauchte Emil bissig. "Ich GLAUBE das bloß nicht! Wie können Sie diese Sendungen moderieren, DAS Aushängeschild sein und dann behaupten, Sie wären das gar nicht, der berühmt-berüchtigte Apollon?!" "Klare Sache." Kay zwinkerte. "Konsum-Täuschung eben! Schicke Verpackung, das bin ich." Artig tippte er sich auf die Nasenspitze. "Der Inhalt ist dann eine etwas banale, altbekannte Backmischung aus verqueren Ideen, pubertären Wunschträumen und dem Durchschnitt der Meinungsumfragen." Emil starrte erneut mit halb geöffnetem Mund. "Das... also, das ist ja... empörend! Unsittlich!" Urteilte er schließlich entwaffnet angesichts der ironischen Offenheit des "Mr. Apollon". "Ganz recht." Kay legte den Kopf schief und lächelte Emil an. "Aber es sorgt für die Brötchen, all das teure Equipment in den Kisten hier und den ganzen Rest, den ich sonst nicht tun könnte." "Ha!" Schnaubte Emil, schwang vorsichtig die Beine über die Bettkante. "Sie können von Glück reden, dass ich nicht einer dieser Bekloppten bin, der ständig alles filmt und aufzeichnet! Was würden Ihre Fans sonst von Ihnen denken?!" "Dass wir alle nur kleine Spielfiguren auf einer großen Bühne sind, zwischen Schall und Rauch unser Sprüchlein aufsagen und am Ende doch nichts von Bedeutung ist?" Variierte Kay ungeniert einen Monolog des Shakespeareschen Macbeth. Emil starrte ihn nun offen an. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, die gefleckten Augen dunkelten merklich nach. "Wer sind Sie, und was haben Sie mit diesem öligen Kay Nelson Jefferson angestellt?!" §-#-§ Über eine Sache war sich Kay felsenfest sicher: Emil mochte ihn. Zwar ganz gegen seinen Willen und nicht aus freien Stücken, aber so oft der sich aufspulte, die Wangen gerötet, die gefleckten Augen funkelnd, sich über ihn empörend, änderte es doch nichts daran, dass er sich fortwährend Gedanken machte, ihm sogar aus argumentativen Schwarzen Löchern half, weil es die Fairness verlangte, selbst wenn er sich damit das eigene Bein stellte! Der Mensch, den Emil Sandemann sich anstrengte vorzugeben, der hätte sich nicht darum gesorgt, ob alles ehrlich und konsequent ablief, ob er auf Gefühlen herumtrampelte oder unter die Gürtellinie zielte. Der hätte ihn abserviert, jede Schwäche gnadenlos ausgenutzt, nur verbrannte Erde hinterlassen. Kay bezweifelte nicht, dass Emil, in die Enge getrieben oder außer sich, auch zielsicher und hart zuschlagen konnte, aber es würde ihn nicht unbelastet lassen. Er wollte ein Ekel sein aus vorausschauender Notwehr. »Gut für mich.« Diagnostizierte Kay positiv gestimmt, denn er wusste um die "Regeln", nach denen Emil spielte. Es gab einen Ehrenkodex, es gab vermintes Gelände. Es gab Gelegenheiten, ihn nur mit leichter Panzerung und ohne die Totalverbarrikardierung zu erleben. In Sachen Humor schienen sie auch eine Wellenlänge zu teilen, was für Kay von Bedeutung war, denn er lachte lieber als er heulte. Außerdem war Emil auch niedlich. Seltsam, dieses Adjektiv für einen erwachsenen Mann zu verwenden, allerdings schoss es ihm stets durch den Kopf, wenn er an Emils Gesicht dachte, als der so selig in seinem Bett geschlummert hatte, entspannt, ein dezentes Kräuseln in den Mundwinkeln wie die Ahnung eines scheuen Lächelns, dazu die sanft getönten Wangen. Er hatte kindlich gewirkt, zutraulich, ohne Arg. Ohne den ganzen Grantler-Rumpelstilzchen-Zinnober konnte man spüren, wie Emil wohl sein mochte, wenn all die Schutzwehre gefallen waren. Es hatte eine große Versuchung dargestellt, behutsam über die Wangen zu streichen, doch Kay hatte es sich selbst untersagt. Zu genau erinnerte er sich daran, wie reflexartig Emil bei unerwarteter, körperlicher Nähe zurückzuckte. Da wollte er keineswegs riskieren, die theoretisch verfängliche Situation in ein ganz falsches Licht zu rücken! Eigentlich lief es danach ja auch recht prima, denn er hatte Emils großes Entsetzen über sich selbst damit abmildern können, die Lage zu relativieren, dann dessen Aufmerksamkeit vom Bett weg auf das Terrarium zu lenken. Zermatt zog immer Neugierde auf sich. Emil mochte ganz sicher kein Anfasser und Knuddler sein, Interesse zeigte er jedoch schon. Was so ein Tier denn allein machte, wenn er mal wieder verreiste. dass es ja schon ein starkes Stück war, dass Zermatt so lange weitergereicht worden war, bis Kay ihn erhielt, der nicht ins Ausland abwanderte! Ehe Kay sich versah, wurde er mit literarisch-graphischen Vorbildern vertraut gemacht, der Sumpfschildkröte aus Disneys Bernhard und Bianca, den Tierfabeln, der dämlichen Werbung einer Bank sowie einer Kriminalepisode, die von Schildkrötensuppen-Gourmets handelte. Was definitiv schon Jahrzehnte zurücklag. Offenkundig konnte man durch Emils Leidenschaft für die Neunte Kunst eine Menge lernen. Ihr Verehrer schilderte dann so lebhaft, gestenreich und begeistert, dass jede Anmutung von Misanthropie wie ein schlechter Scherz wirkte. Wer hätte da nicht fasziniert sein können? Kay jedenfalls wollte mehr. Er wollte seine tägliche Dosis "Emil", ganz gleich, ob es der miesepetrige Groller oder der kenntnisreiche Liebhaber graphischer Literatur war! Glücklicherweise bedeutete das Jahrzehnt der medialen Totalvernetzung, dass man auch eine Woche nach München zum Synchronisieren reisen konnte, ohne auf die tägliche Injektion Kribbelkrabbel-Schnurren in der Magengrube verzichten zu müssen! §-#-§ Eigentlich war ein Zusammentreffen überfällig gewesen, immerhin hatte Thierry den Kontakt zu Rutger vermittelt, der wiederum mit Gavin und dem gefürchteten Buchhaltungshobbit namens Xenia verhandelt hatte. Rutger war in Vorleistung getreten, die Thierry abgelöst hatte, der mit ihnen ja auch die Ferien verbrachte. Weil sie nun mal neugierig waren, woher Thierry Rutger wohl kannte, hatte der sich genötigt gesehen, endlich das Geheimnis seiner gelegentlich überschäumend guten Stimmung zu lüften: Selim. Selim seinerseits wollte, weil er sich ja auch anstrengte, die Aufgabenliste für eine gute Beziehung zu erledigen, gerne wissen, wer seinem Thierry nahestand. Die Frau Mama kannte er schon, den Herrn Pappa lernte er über die lebhaften, zuweilen auch traurig-verzweifelt-wütenden Erzählungen seines Sohnes kennen. Fehlten also die Freunde, die Thierry tagsüber auf Trab hielten! Thierry und Dominique stimmten darin überein, dass eine gemeinsame Verabredung nicht in praller Sonne und erst nach Feierabend stattfinden konnte. Man hätte selbstredend auch auf das Wochenende ausweichen können, bloß, nun ja, da unterlag der Verstand eben den Hormonen! Thierry, der sich nur widerwillig an seine Zukunft als bleicher Vampir gewöhnte, seinen Blutdurst mit Argwohn beobachtete, war in diesem Aspekt ehrlich mit sich selbst: wenn sie die Zeit hatten, dann wollte er mit Selim allein sein und einschlägig tätig werden. Dominique enthielt sich artig eines Urteils, auch wenn er sich in seinem Hinterkopf doch fragte, ob sich sein bester Freund nicht langsam in ein Raubtier verwandelte. Körperliche Bedürfnisse waren ihm zumindest bis dato noch nicht als prägnant aufgefallen, im Gegenteil, Thierry hatte für so unnützen Bewegungsdrang wie zum Beispiel Schulsport gar nichts übrig. Die Schnittmenge ihrer Überlegungen aus Zeitpunkt, Gelegenheit, Angeboten und knappen Finanzmitteln (auch wenn Rosegunde dank einer Ersatzkarte die Auslagen eilig erstattet hatte) bestand in einem Taschenlampenkonzert. Das war günstig, bequem zu erreichen, man saß zusammen, aber auch lauschig abgedunkelt, konnte sich ein wenig beschnuppern und anschließend gemütlich seiner Wege ziehen. Schlichtweg perfekt! Gut unterhalten, jedoch in nachdenklicher Stimmung, einander an den Händen haltend, zuckelten Rosegunde und Dominique nun heimwärts. "Hätte ich nicht gedacht." Eröffnete sie schließlich bedächtig den Diskurs. "Ich meine, dass Thierry auf so jemanden wie Selim steht. Die beiden sehen zwar Hollywood-verdächtig gut zusammen aus, aber so vom Charakter her... Schon komisch." Dominique brummte widerwillig. "Soweit ich weiß, hat Selim ihm mehrmals geholfen, als er zusammengebrochen ist. Wenn man sich die beiden ansieht...!" Die da, durchaus zur Verlegenheit ihrer Begleitung, gemütlich und selbstvergessen geschmust hatten, Thierry wie selbstverständlich warm in Selims Armen geborgen, der immer wieder mit den elastischen Locken spielte. "Aber ein bisschen arg blass ist er schon." Warf Rosegunde ein. "Am Anfang hatte er mehr Farbe!" Eine Tatsache, die Dominique nicht bestreiten konnte, aber nicht kommentieren wollte, auch wenn er sich dabei unbehaglich fühlte, seiner Freundin etwas verschweigen zu müssen. Ohne Thierrys Einverständnis wäre es ihm aber als Wortbruch erschienen, von der 'Vampirsache' zu erzählen. "Er verträgt die Sonne eben schlecht." Murmelte er schließlich und konzentrierte sich auf das Trottoir. "Du denkst, ich bin total spießig, hm?" Rosegunde hakte nach, doch ohne Aggression. "Weil ich's komisch finde, dass so zwei unterschiedliche Typen zusammenfinden. Andererseits habe ich echt keine Ahnung, was richtige Beziehungen ausmacht, also..." Ihre wegwerfende Handbewegung relativierte ihre Meinung als bedeutungslos. "Ich denke nicht, dass du spießig bist, Rosa." Dominique seufzte. "Ich finde es auch ziemlich schwierig einzuschätzen, warum es zwischen manchen Leuten funkt und zwischen anderen bloß kracht." "Du meinst also, ich sollte mir besser kein Urteil erlauben, wenn ich keine Ahnung habe." Das war ebenfalls neutral formuliert, doch Dominique schnaubte nun gegen seinen eisernen Willen vernehmlich. "Hör mal." Er blieb stehen, sah Rosegunde unverwandt an. "Können wir das Thema nicht vertagen? Ich bin gerade nicht auf der Höhe." Rosegunde blinzelte überrascht, biss sich dann kurz auf die Unterlippe, bot Dominique ihr Profil. "Na klar, ich weiß auch nicht, warum ich so nervig bin. Es hat mir wirklich sehr gefallen, du hast das so toll arrangiert, und jetzt zicke ich herum. Tut mir leid." Dominique strich mit der freien Hand über ihre Wange. "Du bist weder nervig noch zickig und ich freue mich, dass dir der Abend gefallen hat. Es ist bloß so, dass ich wohl irgendwas nicht vertragen habe und deshalb ein wenig dünnhäutig bin. Im wörtlichen Sinne." Ergänzte er mit einer schiefen Grimasse. Sofort richtete sich Rosegundes Aufmerksamkeit wieder auf ihn. "Oh, verdammt! Ist dir übel? Kann ich was tun?!" Ihr abrupter Stimmungswandel nötigte ihm ein Schmunzeln ab, auch wenn er Mühe hatte, gegen die Nadelstiche der Entzündungen anzukämpfen, dem Juckreiz zu widerstehen, um sich nicht irgendwie Erleichterung/Ablenkung zu verschaffen. "Halt mich einfach an der Hand und bring mich heim, bitte." Antwortete er leise. "Alles klar, roger!" Rosegundes Händedruck wurde entschieden. "Kein Wort mehr von mir! Versprochen!" Augenblicklich regte sich Dominiques Gewissen. Auch wenn es ihm schwerfiel, sich zu konzentrieren, ein artiger Gesprächspartner zu sein, so wollte er seiner Rosa doch nicht den Eindruck vermitteln, ihre Worte, ihre Stimme, ihre schlichte Anwesenheit enervierten ihn! "Du kannst tun, was du magst." Betonte er. "ICH bin im Moment bloß zu nichts zu gebrauchen." Im Gehen drehte Rosegunde den Kopf, musterte ihn besorgt. "Fall bitte nicht um, oder so! Ich bin absolut unfähig in Erster Hilfe! Garantiert werde ich hysterisch!" Dominique schüttelte den Kopf, eher bedächtig, denn eine leichte Übelkeit stellte sich ein. "In die Verlegenheit werde ich uns nicht bringen. Sei mir nur nicht böse wegen meiner Stoffeligkeit." Rosegunde antwortete ihm nicht, schenkte ihm aber einen weiteren beinahe ängstlichen Blick, ganz und gar nicht wie die resolute, grobe Person mit dem Air eines missgelaunten Stachelschweins, die sie sonst zu sein vorgab. »Oh!« Schlich sich ein verstörender Gedanke in Dominiques Kopf. »So ist das also...« Er war hier wohl nicht der Einzige, dessen Haut sehr dünn geworden war. Gegen starke Gefühle gab es weder Schutz noch Schirm. §-#-§ Als Dominique sein Zimmer betrat, hockte Rosegunde mit angezogenen Beinen auf dem Bett, beäugte ihn sorgenvoll. So zusammengekauert, die dünnen Arme eng um die Beine geschlungen, wirkte sie in dem Pyjama wie ein kleines Mädchen, das sich vor einer Strafe fürchtete. "Es geht mir schon besser." Betont munter schwenkte Dominique seine verbundenen Arme. "Passiert halt hin und wieder mal. Wahrscheinlich rieche ich ein bisschen nach der Salbe." "Dasmachtmirnichtsaus!" Verkündete Rosegunde sofort in Höchstgeschwindigkeit, lupfte eilig für ihn die Decke an. Er kletterte in sein Bett, streckte sich aus, bot einladend seine Seite zum Kuscheln an. Rosegunde löschte das Licht und schmiegte sich an ihn. Ihre Unruhe konnte er dennoch spüren. "Keine Angst." Langsam zog er seine Finger durch ihre schwarzen Haare. "Alles okay. Kein Problem." "... wird es weggehen? Irgendwann?" Rosegundes Stimme klang hohl und leise an seiner schmächtigen Brust. "Bis jetzt gibt es keine Heilung. Eine Autoimmunerkrankung ist aber auch schwierig auszurechnen, weil jeder Mensch ein bisschen anders ist." Erläuterte Dominique sachlich. "Das ist so ungerecht!" Drang gepresst zu ihm hoch. Sanft kraulte er die dichten Haarsträhnen. "Das habe ich auch mal gedacht, früher. Mit Fairness oder einer Gerechtigkeit hat es nichts zu tun. Es sind einfach viele Variablen, die eine Wahrscheinlichkeit zur Gewissheit machen. Wenn man alles wüsste und alles steuern könnte, dann wäre es vielleicht unfair, aber das schaffen wir nicht. Es kommt eben vor. Ich hätte natürlich auch im Lotto gewinnen können." Er lachte leise. "Aber so einfach ist es nicht mit den Regeln in der Welt." "Du hast das nicht verdient!" Begehrte Rosegunde plötzlich auf, stemmte sich von ihm hoch. "Das ist nicht gerecht!!" Dominique begriff plötzlich die Botschaft zwischen den Zeilen und entgegnete ungewohnt scharf. "Meine Krankheit und deine Flecken sind keine Frage von Schuld oder verdienter Strafe, Rosa. Sie haben sich einfach ergeben, Punkt!" An ihrem ertappten Zusammenzucken erkannte Dominique, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Rosegunde schnappte nach Luft, drehte den Kopf weg, spannte sich an, um die Selbstbeherrschung wieder zu gewinnen. "Was muss man denn tun, wenn man sich das Äußere deiner Mutter beispielsweise verdienen will?!" Zischte Dominique zornig. "Gutes denken, Gutes tun ergibt gutes Aussehen?!" Über ihm keuchte Rosegunde ein Aufschluchzen weg. "Du hältst mich für eine Idiotin." Sie lachte bitter auf. "Ich weiß, dass ich eine bin! In meinem Kopf ist das alles so klar, aber..." Sie brach ab. "Du bist keine Idiotin." Dominique richtete sich auf, legte ihr sehr vorsichtig eine Hand auf die hochgezogene Schulter. "Ich möchte nur nicht, dass du dich so geringschätzt!" "Ha!" Ächzte Rosegunde, abgewandt, schnüffelnd. "Ich bin aber leider doof! Heute Abend, das war so toll! Ich hatte so viel Spaß, es war so aufregend und lustig! Aber das konnte ich nicht sagen, weil ich ein dämliches, blasiertes Huhn bin! Ich höre immer von den anderen Mädchen, wie oft sie ausgehen, was für Geld sie ausgeben, was sie alles unternehmen, all die tollen Sachen zum Angeben und Mitreden! Ich tue so, als wäre es mir egal! Als wüsste ich Bescheid, klar, ich kenne all die Markennamen, die 'Locations', den ganzen Kram!" Unerwartet heftig drehte sie ihm den Kopf zu, die Haare wirbelten durch die Luft. Er hörte ihre wütenden Tränen. "Die Wahrheit ist, dass ich nie ausgehe! Dass ich dir bloß was vorgelogen habe, als wir einkaufen waren! Ich trage die Klamotten, die meine Mutter wegschmeißt und verkrieche mich in meinem Zimmer, weil ich Angst habe, dass sie irgendwann gar nicht wiederkommt! Dass ich kein Geld mehr habe, nichts mehr zu essen! Total bescheuert, logisch, aber ich kann mit niemandem reden! Wenn ich in der Klemme stecke, kann ich niemanden um Hilfe bitten! Ich weiß, dass sie mich verabscheut, weil ich hässlich bin! Und trotzdem!" Rosegunde rang erstickt um Atem. "Trotzdem sitze ich wie ein Schoßhündchen herum und warte auf sie! Ich gebe kein Geld aus, erledige alle ihre Aufträge und hoffe, dass sie irgendwann mal akzeptiert, dass ich existiere!" Dominique zog Rosegunde mit sanfter Gewalt in seine Arme, wiegte sie ebenso aufgewühlt. Ihr würgendes Schluchzen krampfte ihm das Herz zusammen. "...ich hab doch nichts getan...!" Hörte er immer wieder, eine verzweifelte Anklage an das Schicksal. Sie war nicht die Person, die sie sein sollte und offenkundig scherte sich auch niemand darum, was aus ihr wurde. Alle Mühsal, alle Anstrengungen blieben ohne Erfolg. Ihren Gedankengängen konnte Dominique ohne Probleme folgen, nicht hinsichtlich seiner Neurodermitis, sondern weil er eine lange Zeit mit der Scheidung seiner Eltern gehadert hatte. Wäre er nicht krank gewesen, hätte es sie weniger belastet? War er zu oft lästig, frech, aufsässig gewesen? Was hätte er tun müssen/können, um das Aus zu verhindern? Doch mit der Erfahrung, die man unweigerlich sammelte, mit der unausweichlichen Introspektive konnte ein etwas älteres Ich begreifen, dass es bei Gefühlen und Beziehungen keine einfachen, logischen Gleichungen gab. Der Kopf wusste darum, das Herz und der Magen grollten weiter. Weil die Welt mal wieder nicht so funktionierte, wie man sie gerne hätte. Wie sie sein sollte. Doch welche Worte konnte er anfügen? Ohne gefühlskalt, berechnend, fordernd zu wirken? "Ich wünschte, du könntest dich mit meinen Augen sehen." Flüsterte er schließlich sanft in die wütend-verzweifelten Schluchzer, erwiderte die schmerzhafte Umklammerung unerschütterlich. "Eine zweite Meinung einholen, weißt du?" Rosegunde schnaubte erstickt. "Bist du nicht n bisschen parteiisch?!" "Genauso wie die erste Meinung!" Schoss Dominique prompt zurück, entzog sich der Umarmung, legte entschieden nasse Wangen unter wirren Strähnen frei. "Sag mal, gibt es außer tausendjährigem Schlaf nach Spindelstich oder an die Wand klatschen keine Entzauberungsmethoden? Ich kenne mich da wirklich nicht aus." Nun schniefte Rosegunde grunzend und fischte nach einem Papiertaschentuch. "Für Variante A müsste ich eine dämliche Prinzessin-Trulla sein und für B ein Frosch. Dann hättest du übrigens einen Kerl hier im Bett." Brummte sie heiser. "Ja, nun." Dominique gratulierte sich im Stillen, dass er Rosegundes grimmigen Humor geweckt hatte, der sich gut als Waffe gegen Seelenpein und Verzweiflung ins Feld führen ließ. "Deshalb suche ich ja nach einer besseren Option! In den Anime tut's auch ein Zauberstab, aber das ist ja eher Illusion..." "Zauberstab ist vorhanden." Bemerkte Rosegunde bodenständig. "Mir würde nicht mal ein Röntgenblick a la Superman helfen!" Dominique seufzte. "Herr Sandemann wüsste sicher passende Referenzliteratur! Also, als Seelentröster bin ich tatsächlich schändlich unterqualifiziert!" Finger klemmten sich um seine Nasenspitze, jedoch sehr sanft. "Du machst es schon wieder." Stellte Rosegunde leise fest, schnüffelte verhalten. "Du bist viel zu lieb zu mir." "Reibe Nob-bär!" Näselte Dominique abwiegelnd, dankbar für seinen Erfolg. "Du bist auch noch nass, weil ich dich vollgeheult habe." Addierte Rosegunde ihre Negativbilanz. "Och, das trocknet ja auch wieder." Dominique rieb verlegen die befreite Nasenspitze. "Es besteht keine Gefahr, dass ich einlaufe oder roste, da spreche ich aus Erfahrung!" Vor ihm legte Rosegunde den Kopf leicht schief, was ihre Silhouette ihm verriet. Gern hätte er sie besser gesehen, doch ohne Rücksicht auf zarte Gefühle einfach die Lampe anknipsen, das verbat sich von selbst! "Niq." Ihre Fingerspitzen glitten behutsam über seine Wange. "Ich halte es immer noch für ungerecht. Sollte ich jemals herausfinden, wer sich das ausgedacht hat, verpasse ich ihm, ihr oder es so einen Tritt, dass sie die nächsten hundert Jahre noch dran denken werden." "Das ist sehr ritterlich." Murmelte Dominique leise, sortierte seinerseits feuchte, lange Strähnen. "Tut mir leid, wirklich sehr leid." Rosegunde fing seine Hand ein, hielt sie fest. "Dass ich überhaupt nicht cool bin, sondern total anstrengend und nervig, ne richtige Psycho-Lise." "Das bist du gar nicht..." Weiter kam Dominique in seinem energischen Widerspruch nicht, weil ihn ein Kuss ausbremste. "Leider doch." Rosegunde drückte seine Hand. "Aber ich verspreche dir, dass ich mich anstrengen werde. Ich KANN besser als das hier sein!" Dominique schluckte trocken, hob ihre Hand hoch, führte sie kurz an seine Lippen. "Du BIST die Beste, die ich mir vorstellen kann, Rosa! Keine andere kann dir auch nur das Wasser reichen!" Zu seiner Verblüffung beförderte seine flammende Liebeserklärung ein quirliges Kichern. "Das reicht mir aber nicht, denn ich habe schon die Absicht, zu dir aufzuschließen! Denn wenn du mit MEINEN Augen sehen könntest, dann würdest du sehen, wie cool du bist." Rosegunde verlor das spielerische Amüsement und sprach sehr ernst weiter. "Ich habe viel aufgegeben, weil es mir zu anstrengend war, immer wieder allein in die Schlacht zu ziehen und so zu tun, als hätte ich den Durchblick, wüsste genau Bescheid und alles sei bestens. Ich hab mich zu sehr an meine Feigheit gewöhnt. Das muss jetzt ein Ende haben. Sonst riskiere ich ja, dass du nie mehr mit mir irgendwo hingehst!" "Das wird garantiert nicht passieren!" Versicherte Dominique heftig. "Ich mag dich genau so, wie du bist!! Ich werde dich nicht hängen lassen, du bist auch nicht mehr allein! Du hast MICH!" Sein rasender Appell trieb ihm selbst die Luft aus den Lungen, er keuchte, die Wangen in der Dunkelheit gerötet. Rosegunde lachte leise, rau. "Also willst du mein wackerer Ritter sein, der es mit dem schlimmsten aller Ungeheuer, nämlich meinem inneren Schweinehund, aufnimmt?" "Ritter vom rappeligen Rollbrett!" Dominique neigte leicht den Kopf, hob erneut ihre Hand an seine Lippen. "Zu Ihren Diensten, werte Dame! Verse schmieden und Minnelieder intonieren sind zwar nicht meine Stärken, aber ich bin ganz vorne dran, wenn's um Pinsel schwingen und Verbände anlegen geht!" Betont stolz warf er sich in die schmächtige Brust. "Also schön, Ritter vom rappeligen Rollbrett!" Rosegunde drückte seine Hand. "Willst du mir treu sein, im Kampf beistehen und meine Farben bei den Turnieren tragen?" Dominique zögerte. "Grundsätzlich absolut, bloß würde ich die Turniere gern zurückstellen, wenn's geht. Wie wäre es mit Tanzen statt Herumprügeln? Das käme mir sehr entgegen, holde Dame!" Rosegunde antwortete ihm nicht, was ihn durchaus verunsicherte. "Rosa?" Hakte er leise nach. Hatte er überzogen? "Ich werde das tun, Niq." Hörte er sie endlich wispern, es klang beinahe so, als führe sie ein Selbstgespräch. "Ich werde dich heiraten, auch wenn ich es nicht schaffe, dir gerecht zu werden. Ich werde dich nicht loslassen." Nun huschte eine veritable Gänsehaut über Dominiques Rücken, er fühlte sich jedoch weniger bedroht als ergriffen. Möglicherweise verkannte sie gerade ihre großen Stärken, schätzte sich selbst gering, doch ihre entschiedene Leidenschaft, mochte sie sich auch als Trotz oder Angriffslust verkleiden, hatte ihm sofort imponiert. Wenn er das Ziel ihres Temperaments wurde, so würde er sich bestimmt nicht beschweren! "Niq?" Er schreckte aus seinen Tagträumen auf. "Ja?" Rosegunde drückte verschwörerisch seine Hand. "Ich brauch ein bisschen Anlauf, bis ich den störrischen Schweinehund in die richtige Richtung dirigiert habe. Gib mir etwas Zeit, ja?" "Alle Zeit, die du brauchst!" Sicherte er ihr zu, nickte heftig zur Betonung, auch wenn die Dunkelheit ihn tarnte. "Danke." Dieses Mal traf zielsicher ein Kuss seine Lippen. "Gern geschehen." Antwortete er artig, zog seine holde Dame dann wieder behutsam an seine Seite auf die Matratze, um selbige abzuhorchen. Nur ausgeschlafene Drachentöter hatten Erfolg! §-#-§ Kapitel 19 - Zukunft und Vergangenheit "Hier ist der Eistee." Thierry verteilte die Portionen in hohe Gläser, die sofort beschlugen, ließ sich am heimischen Küchentisch bei seinen Gästen nieder. Dominique und Rosegunde stießen mit ihm an, auf die Gesundheit, wie es sich gehörte, doch er konnte kaum vorgeben, ihre neugierigen Blicke zu übersehen. Er seufzte, hob dann den Laptop auf die Tischplatte, klappte den Deckel hoch, weckte das schlafende Daten-Monstrum auf. "Ich glaube, es wäre gut, wenn ihr das wüsstet." Leitete er seinen unerfreulichen Gang in den ruinierten Tag an. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis seine Gäste den Schnappschuss studiert und die spöttische Kolumne, zum "Promi-Geflüster" gehörend, überflogen hatten. "Aufgrund der Ähnlichkeit nahm ich an, dass die Frau im Hintergrund deine Mutter ist." Brach Thierry zögerlich die bleierne Stille. "Stil-Beraterin. Personal Coach." Flüsterte Rosegunde tonlos, eine automatische Korrektur der fehlenden Details im Text. "Sie hat sich wohl noch nicht gemeldet, oder?" Tapfer wagte Thierry sich auf das Minenfeld. "Könnte ein wenig schwieriger werden, wenn..." "...sie mit einem zwielichtigen Midas aus der Halbwelt und seinem Harem auf einer Yacht durch die Gewässer schippert." Ergänzte Dominique grimmig seinen Satz. Er selbst war dankbar, dass es Rosegunde gelungen war, diesem widerwärtigen Scheißkerl zu entwischen. Der hatte offenbar, wenn man den Gerüchten glauben konnte, ein großes Faible für härtere Sex-Spielchen mit möglichst jung wirkenden Prostituierten, entlohnte großzügig, damit man sich nicht beschwerte. "Entschuldigung." Rosegunde erhob sich langsam, bleich, der Blick frostig. "Ich brauche kurz frische Luft. Ich bin gleich wieder zurück." Damit verließ sie die Küche. Die beiden jungen Männer hörten das leise Einrasten der Wohnungstür. "Verdammt!" Verschaffte Dominique seinen Gefühlen einen heftigen Ausdruck. "Das hat gerade noch gefehlt!" Thierry, der ziemlich beeindruckt verfolgt hatte, wie gut sich seine beiden Freunde verstanden, indem nicht einer dem anderen blindlings nachlief, sondern die unausgesprochenen Bedürfnisse treffsicher las, seufzte erneut. "Tut mir wirklich leid. Ich dachte mir aber, es wäre besser, schon Bescheid zu wissen, bevor...nun ja..." "He, versteh mich bitte nicht falsch!" Sofort wandte Dominique sich zu ihm um. "Es ist toll, dass du so schnell geschaltet hast! Ich hoffe, du bekommst deswegen keinen Ärger, denn das ist ja noch nicht raus, oder?" "Nein." Thierry schüttelte nachdrücklich den Kopf. "Außerdem habe ich meine Mama gefragt. Manchmal diskutieren sie länger, wo sie in der Sauren Gurken-Zeit was hinsetzen sollen. Der Vogel hier ist wohl auch nicht gerade ein beliebtes Sujet." Unruhig erhob sich Dominique, ging zum Küchenfenster, um von dort aus in das Grüngelände zu blicken. Er konnte Rosegunde sehen, die sich dort auf einem Stück Wildwiese-Klee-Rasen niedergelassen hatte. Seine Miene wurde grimmig. "Du hast ihr die Haare gemacht, oder?" Thierry trat an seine Seite. "Hm." Dominique nickte knapp. Es machte ihm Freude, er konnte ihr damit nahe sein und außerdem, das gab sie ja unumwunden zu, sie verstand sich auf diese Dinge nicht. Dass seine Mutter einen Strasskamm, der üblicherweise so billig wirkte, wie sein Kunstschmuck-Image verhieß, beigesteuert hatte, erfüllte ihn mit Stolz, denn in den schwarzen Flechten konnte er nun mit Diamanten ins Rennen gehen. Seine Rosa war tatsächlich bildhübsch! "Es ist so, dass wir gerade so viel am Hals haben." Nahm Dominique den ausfasernden Faden ihrer Konversation wieder auf. "Da fehlt dieser Murks noch! Ich verstehe einfach nicht, was mit ihrer Familie los ist! Die drehen doch alle total am Rad!!" Er echauffierte sich derart, dass er nun nach Atem rang. "Tut mir leid." Kommentierte Thierry leise, denn er konnte durchaus ermessen, was in den beiden vorging. Ihre Gedanken blieben ihm ja nicht versperrt. Unten hatte sich Rosegunde inzwischen wieder erhoben, einige Blumen- und Gräserstängel aufgerichtet, hielt gemächlich auf das Haus zu. Etwas unbehaglich warteten die beiden jungen Männer auf ihre Rückkehr, nippten, nun wieder am Küchentisch präsidierend, an ihrem Eistee. Rosegunde schloss die Wohnungstür leise hinter sich. Ihre leichten Schritte führten sie in die Küche, wo sie mit einem ruhigen Gesichtsausdruck Platz nahm. "Angenehm warm draußen." Berichtete sie höflich, bevor sich ihre Aufmerksamkeit auf Thierry fokussierte. "Danke, dass du mir den Artikel gezeigt hast. Wenn ich nicht bereits ein Freak an der Europa wäre, müsste ich mir jetzt Sorgen machen, aber so werde ich vielleicht ein temporär berühmter Freak." Sie zwinkerte spöttisch. "Vielleicht steigt sie ja auch aus, bevor..." Thierry bemühte sich um Optimismus. "Nein." Rosegundes Lächeln erinnerte an Piranhas, ihre blau-violetten Augen funkelten zornig. "Sie lässt sich gern aushalten, der Kerl hat Geld. Wahrscheinlich will sie vorsorgen, denn wenn ich aus dem Haus bin, wird irgendwann die Scheidung anstehen. Da benötigt sie mehr Mittel und noch mehr Einfluss. Wenn ich mich recht entsinne, und das habe ich mehr als einmal zu hören bekommen, ist Ehe für sie ohnehin nur monogame Prostitution. Wird allerdings gar nicht so leicht sein, in dem Hurenrudel das Meiste abzugreifen." Thierry und Dominique schnappten unisono nach Luft. Rosegunde nahm einen großen Schluck Eistee, wandte den Kopf ab und wischte sich mit widerwilliger Geste über die Augen. "Übrigens, wenn ich gestern so komisch geguckt habe, das war nicht gegen dich und Selim gerichtet." Sie räusperte sich. "Ihr gebt einfach ein perfektes Bild zusammen ab. Irgendwie ging mir dauernd im Kopf herum, dass du früher nicht so helle Haut hattest. Blöd, ich weiß. Ich sollte mir mal das Hirn untersuchen lassen!" Thierry warf einen erschrockenen Blick zu Dominique hinüber, der erst mit den Schultern zuckte, kaum merklich den Kopf schüttelte. Er hatte das Geheimnis gewahrt, aber was erwartete Thierry auch? Mit zwei Freunden, die eben dermatologisch geprägt einen besonderen Fokus einnahmen? Langsam wickelte er einen Hemdärmel hoch und präsentierte seine porzellanweiße, kühle Haut. Zwei Augenpaare studierten die Ausstellung sorgsam. Mit einem hoffnungslosen Auflachen ergänzte Thierry seine Offenbarung. "Ich kann sogar einen Trick!" Damit ließ er seine Fangzähne aus dem Kiefer schießen. §-#-§ "Ein echter Vampir." Rosegunde strich über Thierrys entblößten Unterarm, nachdem sie seine "Hauer" bestaunt hatte. "Clevere Kampagne, das muss ich schon sagen! Weil alle wissen, dass Vampire ja bloß Romanerfindungen sind, können die echten gut durchrutschen." "Das war nicht meine Idee." Murmelte Thierry, wirrte in seinen Locken herum. Ein bisschen ängstlich war er schon, sein großes Geheimnis einer weiteren Person anzuvertrauen. "Weiß Selim darüber Bescheid?" Sorgsam rollte Rosegunde den Ärmel wieder herunter, ihre Augen erlaubten jedoch keine Ausflüchte. Thierry nickte knapp, rang mit sich, wie weit er seine Auskünfte ausdehnen wollte. "Lass mich mal raten!" Dominique schmunzelte. "Den Trick hier hast du bestimmt so lange geübt, damit du nicht im falschen Moment zuschlägst, hm?" "He, ich habe keine Anleitung mitbekommen!" Schimpfte Thierry, wäre früher vermutlich dunkelrot angelaufen. "DU würdest dich ja wohl auch bedanken, wenn du immer Mäuse abschlabbern müsstest!" "Aber die Idee ist brillant." Sprang Rosegunde ihrem Freund zur Seite. "So, wie ich Selim einschätze, hat er gegen eine kleine Blutspende und etwas Anknabbern nichts einzuwenden. Ist ja ein sehr relaxter Typ." Dem konnte Thierry nicht widersprechen, also grummelte er bloß Unverständliches, feuerte grimmige Blicke zu Dominique, der ungeniert grinste. "Hört mal!" Rosegunde leerte ihr Eisteeglas in einem großen Zug, stellte es behutsam auf den Untersetzer ab, der den Tisch vor Kondenswasserkränzen schützen sollte. "Ich brauche eure Hilfe. Vorhin hat sich mein Schweinehund entschlossen, sich auf die Hinterbeine zu stellen, damit ich endlich mein Leben in die Hand nehme. Wird ja auch höchste Zeit! Also, ich habe mir Folgendes gedacht..." §-#-§ Hildeburg zu Wolkenstein hatte sich entschieden, in ihrem 82. Lebensjahr etwas Neues zu probieren. Wenn man sich nämlich Herausforderungen nicht stellte, wurde bald der Kopf lahm! Ein Zustand, den sie ganz sicher nicht fördern wollte. Außerdem konnte sie nicht länger ignorieren, dass ihre Nachbarin und gute Freundin Remy van der Lohe bereits die zweite Generation von Studierenden abgefrühstückt hatte. Möglicherweise war dieses Programm "Zeit gegen Raum 3.0" nicht nur etwas für wirklich alte Leute, wie Hildeburg zu Wolkenstein anfangs abwehrend gemeint hatte. Sie kam ja allein zurecht, auch wenn sie durchaus ein Zimmer zur Verfügung hatte. Fremde bei sich zu dulden, wenn man nicht darauf angewiesen war, nun ja! Andererseits prahlte Remy ganz ungeniert mit ihren beiden "jungen Herren"! Die besagten Studenten waren in der Tat nicht anders als umgänglich, manierlich und eine ausgesprochen anregende Gesellschaft zu nennen. So hatte sie sich an ihren Computer gesetzt, ein wenig ärgerlich über Remys freches Grinsen, das so gar nicht mit ihrer Bernsteinkette korrespondierte, weil sie so viele Tricks von "ihren" Herren gelernt hatte, dass sie nun quasi als Koryphäe galt. Die Bewerbung auszufüllen forderte nicht viel Finesse, danach würde man ja sehen! Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie nun in dem kleinen Café der Sozialstation saß, um ihre erste, potentielle Mitbewohnerin zu beschnuppern! Innerhalb von 14 Tagen! Der Programmbetreuer, ein gemütlicher Mensch mit dem Air des Weihnachtsmannes aus der Werbung, hatte ihr auf ihre Bitte hin, doch zunächst einen etwas kürzeren Zeitraum anzupeilen (drei Jahre für das durchschnittliche Grundstudium, also, das konnte sich ja doch ziehen, wenn man sich im Irrtum über den jeweils anderen befand!), eine Schülerin vorgeschlagen. Noch ein Schuljahr bis zum Abschluss, die Eltern im Ausland engagiert, artig, höflich und sehr selbständig. Nun studierte sie, Ruprecht unter dem Stuhl, wie er es gelernt hatte, ihre erste Kandidatin für das Eckzimmer: helle Haut, schwarze, in eine adrette Zopffrisur geflochtene Haare, schmal gebaut, nicht sonderlich groß, sichtlich bemüht, einen guten Eindruck in ihrem Sommerkleidchen zu den alten Turnschuhen zu machen. "So, jetzt haben wir's gemütlich!" Der Betreuer brach nach der gegenseitigen Vorstellung das Eis geübt. "Gehen wir mal die Gemeinsamkeiten durch, die wir hier haben!" Schon arbeitete er sich geschickt durch die beiden Bewerbungsbögen, wies immer wieder auf die gelungene Übereinstimmung hin. Dass seine junge Klientin erst am Vortag vorgesprochen hatte, kurz vor Dienstende, ließ er dabei geflissentlich aus. Wenn es hier klappte, musste man nicht über das Jugendamt eine Unterkunft suchen und die Eltern kostenpflichtig in die Verantwortung nehmen. Alles sehr unschön und belastend! "Fräulein Rosegunde." Hildeburg zu Wolkenstein blieb korrekt, auch wenn das nicht mehr dem Zeitgeist entsprach. "Ich sehe hier, dass Sie Vegetarierin sind. Wir beide, Ruprecht und ich, verzehren auch Fleisch und Fisch. Ist eine gemeinsame Küchenbewirtschaftung für Sie unter diesem Aspekt überhaupt vorstellbar?" Man las da schließlich geradezu ungeheuerliche Dinge! Rosegunde blinzelte, dann blitzte ihr Grinsen auf. "Oh, das ist kein Problem! Meine Freunde sind auch keine Vegetarier. Wir finden doch immer etwas, das wir alle gern essen können!" Zumindest, das ließ sie klug aus, wenn besagte Freunde die Zubereitung übernahmen. "Nun, wie denken Sie über die Hausregeln?" Hildeburg zu Wolkenstein war gründlich, immerhin war dieses Mädchen nicht mal volljährig. "Kein Herrenbesuch über Nacht, Nachtruhe ab 22:00 Uhr und keine Partys?" "Damit bin ich sehr einverstanden." Rosegunde nickte artig. "Meine Freunde kann ich sowieso nur am Wochenende treffen, weil wir nicht dieselbe Schule besuchen. Partys liegen uns nicht so sehr." "Hoffentlich auch nicht diese Facebook-Geschichten?" Entfuhr es Hildeburg zu Wolkenstein streng. Nun lachte Rosegunde rau, was sie nicht mehr so mädchenhaft-jung wirken ließ. "Ich habe weder bei Facebook noch einem anderen Anbieter ein Profil. Können Sie sich denn vorstellen, mit mir auszukommen, Frau zu Wolkenstein?" Angriff war schließlich die beste Verteidigung! Was Hildeburg zu Wolkenstein konnte, das galt ja wohl auch für sie selbst! Hildeburg zu Wolkenstein zögerte kurz, straffte ihre Schultern entschieden. "Verzeihen Sie, wenn ich das frage, aber heute Morgen war in der Presse so ein unerfreulicher Artikel mit einem Bild..." Rosegundes Miene fror ein. "Also, ich bin jetzt nicht im Bilde?" Mischte sich der Programmbetreuer irritiert ein, denn ihm schwante nun Übles, obwohl das etwas steife Abtasten sich ja eigentlich gut angelassen hatte. "Wenn Sie lieber nicht in Verbindung gebracht werden möchten mit meiner Familie, dann verstehe ich das." Rosegunde zwang sich zu gelassenen Worten. "Das würde ich selbst gern tun." Ergänzte sie grimmig. Hildeburg zu Wolkenstein lupfte die Mundwinkel knapp über den bitteren Scherz, dann entgegnete sie. "Ich bedaure, noch mal impertinent werden zu müssen, Fräulein Rosegunde, jedoch befindet sich da hinten ein junger Mann mit Kopftuch, der unentwegt zu uns sieht. Ein Bekannter?" Nun vergaß Rosegunde Haltung und Attitüde der höheren Tochter entschieden. "Wir sind sogar ziemlich gut bekannt, denn das ist mein Freund Niq. Er wollte unbedingt mitkommen, damit ich nicht allein dieses Interview absolvieren muss, sozusagen als moralische Unterstützung." "Warum trägt er ein Kopftuch und lange Bekleidung?" Hildeburg zu Wolkenstein gab ihrer Neugierde nach. Wenn sie schon angestarrt wurde, konnte sie sich auch schlau machen! "Das ist kein Radikalen- oder Rapperkostüm." Rosegunde winkte Dominique zu, der nun verlegen die Schultern hob. "Niq hat Neurodermitis. Ist aber nicht ansteckend oder gefährlich." "Er muss wohl einen wahren Drachen erwartet haben, seiner nervösen Miene nach." Allmählich begann Hildeburg zu Wolkenstein, die Situation zu genießen. Selbst Ruprecht unter ihrem Stuhl hob den Kopf, schnüffelte. "Er ist nur besorgt." Verteidigte Rosegunde entschlossen. "Außerdem ist er der netteste Mensch auf der Welt!" Ihre großen blau-violetten Augen sprühten Funken, die Hände waren zu kämpferischen Fäusten geballt. "Warum bitten Sie Ihren Freund Niq nicht an unseren Tisch?" Hildeburg zu Wolkenstein erwiderte den flammenden Blick interessiert. "Lernen wir uns doch alle kennen. Immerhin wollen wir ein Jahr miteinander verbringen, da sollten wir uns doch sicher sein, dass wir uns gut vertragen!" Rosegunde zögerte nur einen Augenblick, dann schnellte sie hoch, um Dominique zu holen. Dessen bange Miene verriet, dass er fürchtete, einen negativen Eindruck gemacht zu haben. Ruprecht kam elegant auf die Beine, marschierte majestätisch hinter Rosegunde her, die Ehrengarde bildend. Auch wenn er das nicht formulieren konnte, hatte er durchaus eine Schwäche für alte Sneaker. Heimlich, hin und wieder, konnte man an ihnen nagen und sie ein wenig herumbeuteln! §-#-§ Hildeburg zu Wolkenstein und Ruprecht flanierten sehr zufrieden mit ihrer Situation Richtung Heimstatt. Das Erkerzimmer würde eine pflegeleichte Bewohnerin haben, da war sich die Dame des Hauses sehr sicher. Sie mochte den Jungen, Dominique. Der wirkte, trotz seiner Verpackung, sehr manierlich, hatte sich artig mit ihr unterhalten. Wenn sie ein wenig getriezt hatte, waren die beiden jungen Leute energisch für den jeweils anderen eingestanden, hatten Tugenden hervorgehoben und bravouröse Zeugnisse ausgestellt. Hildeburg zu Wolkenstein gefiel das. Ja, ein ums andere Mal hatte sie Mühe gehabt, ein jugendliches Kichern zu unterdrücken angesichts dieses Pärchens. Außerdem hatte schon ihr Seliger unwidersprochen deklamiert, dass sie über eine besondere Menschenkenntnis verfügte! Irrtum ausgeschlossen. Ruprecht seinerseits marschierte ebenfalls zufrieden an der Seite seiner Rudelführerin. Der junge Mensch roch zwar ungewöhnlich, hatte aber kein bisschen protestiert, als er seinen Kopf auf dessen Schuh abgeladen hatte. Das Menschenmädchen verfügte über die interessanten Sneaker. Außerdem war ihre Stimme angenehm dunkel, kein bisschen schrill oder aufgedreht. Wenn beide jetzt noch lernten, unauffällig Leckerli an ihn zu verteilen, würde man zweifellos sehr gut miteinander auskommen! §-#-§ "...und dann hat Rosa gesagt, dass wir ihr unbedingt sofort alles beibringen müssen! Wie man Trockner, Mixgeräte, Bügeleisen und das ganze Zeug bedient, was womit gewaschen werden darf! Wie man richtig putzt usw. Außerdem sollen wir ihr noch einfache Gerichte beibringen, damit sie beim Einzug keine Blamage erleidet." Thierry atmete tief durch, lehnte in größtmöglicher räumlicher Entfernung am Fenster, wo ein Lamellenrollo die gleißende Mittagssonne aussperrte. "Ich kann auch beim Einzug helfen." Bot sich Selim gutmütig an, saß artig auf seiner Bettkante und tat ganz und gar nichts Provozierendes. Leider half das gar nicht, wie Thierry konstatierte. "Was war bei dir so los?" Hastig drehte er sich zur Seite, zupfte an einem Ärmel herum. Konversation war angesagt, nur KONVERSATION!! Er wollte auf keinen Fall daran denken, dass Selina und Rutger auch in der Wohnung waren. "Oh, wir haben mal wieder das alte Thema aufgewärmt." Selim antwortete leichthin. "Ob's nicht doch diese kleinen Kühlschränke für den Zigarettenanzünder im Auto geben sollte, weil lauwarmes Wasser ziemlich widerlich schmeckt. Aber wie immer: Energiebilanz vernichtend, außerdem zu teuer, richtig abschreiben lässt es sich auch nicht. Dann gab's noch Diskussionen um den Eistee, der ist ja sehr ungesund mit diesem komischen Zuckerersatzstoff. Nicht dieses Stevia-Dings, sondern so ein anderes Zeug aus der Tiermast..." »Das ist nicht fair!« Protestierte Thierry innerlich hilflos. Er hatte darauf bestanden, dass sie einander kennenlernten, sich ihren Alltag im Gespräch nahebrachten, musste streng auf die Disziplin achten, bloß, wie sollte das funktionieren?! Selim mochte nichts TUN, aber seine Gedanken, die Thierry einfach nicht ignorieren konnte, die ihn wie eine Wolke einnebelten, die hielten gar nichts von Zucht und Ordnung!! Wie eine wärmende Decke aus Impulsen hüllten sie ihn ein, Schlaglichter auf sich selbst werfend, eine beängstigende, außerkörperliche Erfahrung! Selim bewunderte seine Locken, dachte an seine zierliche Gestalt, wollte ihm ein Lächeln in die Mundwinkel küssen, erinnerte sich an die letzte Gelegenheit zum Schmusen... Seine Gedanken trugen Liebe und Lust mit sich! Ganz und gar schmeichelhaft, aber sehr hinderlich, wenn man sich an die 'Regeln' halten wollte! "Thierry?" Selim stand plötzlich direkt neben ihm, berührte ihn sanft an der Schulter. Erschrocken fuhr Thierry zusammen, weil er vor lauter Chaos in Kopf und Herz gar nicht mehr mit der Realität Anschluss gehalten hatte. "He." Selim tippte ihm neckend mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze. "Ich habe wirklich artig auf dem Bett gesessen, aber du hast gar nicht mehr reagiert." "Oh, verwünscht!" Schimpfte Thierry, der sich schämte, aber längst nicht mehr erröten konnte, sah hastig weg von den faszinierenden, hellen Bernsteinaugen. "Ich bemühe mich ja auch! Aber du... Du!" Wütend biss er sich auf die Lippe, denn er konnte Selim wohl kaum vorwerfen, was sich andere wünschten: dass es da nämlich jemanden gab, der an sie dachte, und dann auch noch derart liebevoll! "Klappt nicht, wie?" Selim spielte mit einer Locke. Aus einem Thierry nicht ganz verständlichen Grund wurde es der Ältere nie leid, ihm die wirren Zottel zu striegeln! "Alles andere hat ja auch funktioniert!" Ärgerlich präsentierte Thierry seine Fangzähne. "Schiist dfu?! Rausch... und rein, keine Unfälle, kein Problem! Wieso kann ich nicht...?!!" Die eigene Libido auf die Ersatzbank schicken! Sich wohlerzogen wie der ganze Rest der Welt auch mit einem anderen Menschen in dessen Zimmer aufhalten, ohne gleich eindeutig monothematische Gedanken zu hegen?! "Mich stört das gar nicht." Ließ Selim ihn nun grinsend wissen. "Lass uns einfach zur Entspannung zwischen den Trainingseinheiten ein bisschen nett zueinander sein, ja?" "Deine Schwester und Rutger sind hier!" Zischte Thierry, stemmte beide Hände gegen Selims mächtigen Brustkorb. "Das geht doch nicht! Wenn sie uns hören!!" "Och, das 'Bitte nicht stören'-Schild habe ich ausgehängt." Geübt nonchalant zuckte Selim die muskulösen Schultern, legte seine Hände auf Thierrys, zwinkerte zu ihm herunter. "Ich kann ja Musik anmachen. Irgendwas Subtiles wie die Apollon-Collection!" "Untersteh dich!" Fauchte Thierry peinlich berührt. Da konnten sie ja gleich plakatieren! Selim lachte leise und neckte. "Du bist echt süß, wenn du so verlegen guckst, Thierry!" "Ich bin überhaupt nicht süß!" Knurrte der eher pro forma, den Blick abgewandt, verzweifelt nach einem Ausweg forschend. Sein Herz raste schon, er spürte den übermächtigen Hunger einige Zentimeter UNTER seiner Magengrube. Er schnauzte sich selbst innerlich an, weil es SEHR peinlich war, wie bereitwillig und lüstern er sich dem Sex auslieferte! Zugegeben, die Rede war von Selim, aber dennoch: PEINLICH!! "Ein kleines Erholungspäuschen!" Lockte Selim gnadenlos, der durchaus registrierte, welche Wolken über die Miene seines jugendlichen Liebsten wanderten. Ein Vollidiot war nicht immer strunzdumm oder blind! Da er sich die ganze Woche auf ihre ausgedehnte Freizeit gefreut hatte, wollte er sich auch nicht durch kleinere Hindernisse des Alltags und überflüssige Rücksichtnahmen aufhalten lassen. "Horizontal-Walzer, Lektion 1!" Intonierte er deshalb entschieden, unterlief Thierrys automatische Abwehr, lupfte ihn in die Höhe, wirbelte sie im Kreis, bevor sie eine Plumps-Landung auf seinem Bett absolvierten. Thierry hätte gern protestiert gegen dieses abgekartete Spiel, doch gegen die Küsse und den Liebessturm in seinem Kopf zog er sofort den Kürzeren. §-#-§ "Irgendwie haut das einfach nicht hin!" Murmelte Thierry frustriert, nahm aber gern den Teller mit der Melonenscheibe von Selim entgegen. Der trug außer einem breiten Grinsen bloß des Anstands halber eine in wirren psychedelischen Farben gehaltene Bermudas, weil Thierry entschieden darauf bestanden hatte. Immerhin waren Selina und Rutger ja in der Wohnung! »Auch wenn sie taub, blind und blöd sein müssten, um unsere Gemeinschaftsaktivitäten nicht bemerkt zu haben!« Soufflierte ihm hilfreich sein permanent verletztes Anstandsgefühl. Wirklich, es war grauenhaft! "Meinst du?" Selim saß bequem neben ihm. "Was soll ich anders machen? Ich könnte..." Worin auch immer seine Offerte bestand: Thierry deckte seinen Mund entschieden ab und funkelte in die hellen Bernsteinaugen. "Ich meine NICHT den Sex!" "Okay." Zwinkerte Selim gelassen, in den Mundwinkeln zuckte es amüsiert. Mit dem Schicksal hadernd schlug Thierry die Zähne in das kühle Fruchtfleisch, schmatzte wütend. Er mochte es nicht, sich unzulänglich zu fühlen. Gerade zeigte sich unmissverständlich, dass sein souveräner Plan zum soliden Beziehungsaufbau erheblich unter Hormoneinfluss litt! Selim studierte ihn schmunzelnd, streckte gelassen eine Hand aus, tupfte mit den Fingerspitzen Melonenwasser von Thierrys Gesicht, leckte sich sorglos die Extremitäten ab. »Sexy!« Stöhnte Thierrys Libido begehrlich auf, doch einige Körperteile votierten mit einem Veto. Sein Anstand jaulte im schrillen Protestchor mit. In der Folge seufzte Thierry laut. "He, was ist denn los, hm?" Selim lupfte sein Kinn mit den Fingerspitzen, neigte sich näher zu ihm herüber, "bist du böse auf mich?" "Nein." Brummelte Thierry verlegen, wich dem forschenden Bernsteinblick aus. "ICH bin ja selbst das Problem!" Er seufzte noch mal aus tiefster Seele. "Ich hätte nie gedacht, dass ich derart zum Tier mutiere! Ich mag keinen Sport, ich hab mich nie für Knutschen, Flirten und diesen ganzen Kram interessiert, aber jetzt! Jetzt bin ich ein bescheuerter Vampir, der bloß noch aus niederen Instinkten besteht!! SO wollte ich nicht sein!" In Selims Augen blitzte Bestürzung auf. Seine Gedanken funkten Mitgefühl, Sorge, Entschlossenheit, ihm beizustehen. Erneut seufzte Thierry, nahm die warme Hand in seine kalte, glatte. "Alles ist total verdreht, guck mich bloß an! Ich sehe aus wie eine Porzellanfigurine, ich bin kalt, glatt und bleich! Ich habe immer diese Anfälle von tierischen Instinkten! Das ist so erniedrigend!" Selim lupfte seine Hand simpel an seine Wangen, führte sie über seinen imponierenden Brustkorb. "Also, ich finde dich prima! So erfrischend! Außerdem bist du schön. Deine Instinkte sind für einen Vampir ganz normal." "Ich fühl mich aber wie ein Monster!" Begehrte Thierry beschämt auf. "Früher war ich ganz anders..." Selim hauchte ihm einen glühenden Kuss auf den Handrücken, lächelte ernst. "Fühlst du dich jetzt auch wie ein Monster?" "Na ja..." Druckste Thierry kleinlaut, in die Knie gezwungen von Selims Zuneigung, die ihn in warmen Wogen umspülte. "Stört es dich denn nicht, dass ich so kalt bin? Unmenschlich?" "Nö." Antwortete der Ältere prompt, zwinkerte. "Wie gesagt, du bist ein Vampir! Ich mag dich so wie du bist, und das sogar sehr!" Er legte den Kopf schief. "Außerdem weiß ich nicht, wie du vorher warst." Diese Feststellung erstickte jeden weiteren Protest, denn Thierry musste sich selbst vor Augen halten, dass Selim damit einen wunden Punkt getroffen hatte. Eigentlich kannte sein Liebster ihn ausschließlich in eher peinlichen wie ungewöhnlichen Situationen! "He." Selim beugte sich vor, küsste Thierry zärtlich auf den halb geöffneten Mund. "Du bist perfekt du selbst, finde ich. Und du bist, nach Lina, der erste Mensch, den ich so sehr liebe. Das hat was zu bedeuten." Er schmunzelte nachsichtig. "Auch wenn wir uns nicht so oft unterhalten." Thierry grinste schief, wünschte, er könnte noch wie ein richtiger Mensch angesichts so eines Geständnisses erröten. Dann erinnerte er sich jedoch an etwas und wandte eilig den Blick ab. "Thierry?" Selim hob die gekaperte kalte Hand an seine Wange, lächelte unvermindert. Hindernisse waren dazu da, überwunden zu werden. Er wollte sich alle erdenkliche Mühe geben! "Ich würde gern etwas fragen." Thierry weigerte sich, Selim anzusehen. Er wirkte ungewohnt nervös und bange. "Allerdings..." "Keine Frage der Welt kann mich dazu bringen, dich nicht mehr zu lieben." Stellte Selim, der hellsichtige Vollidiot, in aller Ruhe klar. Wie immer brachte sein Scharfsinn Thierry dazu, ihn fassungslos anzustarren. Selim zwinkerte aufmunternd. "Frag mich einfach." Thierry wandte eilig den Kopf ab, nagte an seiner Unterlippe, bloße Kompensationshandlungen. Er straffte seine schmale Gestalt unerbittlich, richtete sich stocksteif auf, atmete tief durch. "Ich habe mit Rutger ein bisschen geflachst wegen Rosa und Niq. Dass das Treffen mit der Vermieterin beinahe so was wie das Vorsprechen bei der Schwiegermutter in spe war. Rutger hat gesagt, er hasst so Situationen, ihm wird dann kotzübel, woraufhin ich dann gefragt habe, wie er es bei euren Eltern geschafft hat." Angstvoll studierte er nun Selims blanke Miene. Dessen Gedanken übersetzten sich ihm nun wie eine Art Bildrauschen. Oder, als wäre ein Super 8-Film gerissen. So etwas hatte er noch nie erlebt. "Er hat gesagt, das wäre kein gutes Thema. Überhaupt kein Thema." Repetierte Thierry langsam, drückte Selims Hand verschreckt. Das Rauschen in seinem Kopf tat beinahe weh. Er konnte sich nicht erklären, wie es entstand! Was übersetzte sein Verstand denn da?! "Eltern." Selims üblicherweise so angenehme Stimme klang fern, ein wenig hohl. "Nein, es gibt nur Lina und mich. Ich weiß nichts mehr darüber. Oder ich habe es vergessen." Sein Grinsen erinnerte an Halloween-Kürbisse. "Lina hat uns zur Adoption freigegeben, als wir Acht waren. Das Leben vorher war nicht gut, bestimmt nicht. Aber ich weiß es nicht mehr." Thierry begriff, dass das Rauschen in seinem Kopf Selims Gedanken sein mussten, die keine Erinnerung mehr hatten. Haben wollten. Eine Lücke im Kopf. In der Seele. "Entschuldige!" Wisperte er rau, schlang den freien Arm um Selims Nacken, zog ihn an sich. "Entschuldige, dass ich gefragt habe! Ich werde es nicht mehr erwähnen, versprochen!" "Nicht schlimm, nichts passiert." Versicherte ihm Selim, hielt ihn ebenso fest. "Ich hab ja Lina. Und dann Rutger. Freunde. Und jetzt dich. Ich bin nicht allein. Mir geht's doch bestens! Alles ist gut." »Ja.« Dachte Thierry bestürzt, spürte, wie unendlich zähe und langsam sich Selims vertraute Gedanken in seinem Kopf einnisteten. »Jetzt, wo ich weiß, dass es da einen Blinden Fleck in deiner Seele gibt, werde ich alles daran setzen, dass es gut bleibt! Ich werde mich nicht mehr beklagen wie ein Jammerlappen!« Damit presste er Selim noch fester an sich, betupfte ihn mit kühlen Küssen. §-#-§ "Ich war schon neugierig." Selina musterte Thierry so gelassen wie stets, Herrin der Situation, während sie auf einer beschatteten Parkbank saßen und abgekühlte Nudeln verzehrten, die Thierry mitgebracht hatte. Ein heimliches Treffen in der Mittagspause zum Wochenbeginn, weil er sonst noch verrückt wurde. "Es tut mir leid." Setzte er steif an, denn das Bildrauschen in seinem Kopf trieb ihn die Wände hoch, wenn er nur daran dachte. Was er nicht wollte, doch daran hielt es sich leider nicht! "Oh, dazu gibt es keinen Grund." Die hellen Bernsteinaugen funkelten. "Rutger hat mir schon gebeichtet. Darin hat er große Ähnlichkeit mit Selim. Sie mögen es beide nicht ungemütlich." Thierry zog die Augenbrauen zusammen, spürte eine stählerne Härte, die nicht zu dieser anmutig-weiblichen Gestalt passen wollte. Selina lächelte in einer unverkennbar letalen Entschlossenheit. Sie war stärker, sehr viel stärker als ihr Verlobter und ihr Bruder zusammen, schien es Thierry. "Selbstverständlich gibt es biologische Erzeuger. Eltern." Sie zischte die Silben. "Aber unsere Wege haben sich lange getrennt. Wir hatten kein gutes Leben." Bitterkeit welkte ihr Lächeln. "Ich habe mich entschlossen zu gehen, frei zu sein." Behutsam, in kontrollierten Bewegungen, klappte sie die kleine Schlüssel zu, stellte sie neben sich auf die ausgebleichten Holzbohlen der Bank. "Selim wird das nie so sagen, aber ich bin immer ein Klugscheißer gewesen, ein sturer, wütender Klugscheißer." Sie wandte sich Thierry zu, der sie bestürzt ansah, Gefühle auffing, die ihn ahnen ließen, wie sehr sich die junge Frau an seiner Seite beherrschen, ja, bezwingen konnte. "Was fühlst du, wenn du Selim darauf ansprichst?" Erkundigte sie sich ruhig. Thierry zögerte, räusperte sich. "Es ist eine Art Bilderrauschen. Sehr unangenehm. Wie eine gestörte Frequenz oder so. Ich kann es schlecht in Worte fassen." "Aha." Selina blickte geradeaus, bot ihm ihr Profil. "Selim und ich waren immer zusammen, immer. Das ist bei zweieiigen Zwillingen gar nicht so üblich. Er hat schon immer eine sanfte Seele gehabt." Ihre Augen zogen sich zusammen, Sehnen traten hervor. Selina war eine Kriegerin. "Damals musste er eine Wahl treffen, seine Loyalität erproben. Für mich war das nicht mehr schwer, aber so, wie's aussieht, hat es seine Seele zerrissen. Die Erinnerung ist ihm unerträglich." Sie wandte sich Thierry zu, der vor ihrer eisernen Härte erschauerte. "Ich werde nicht zulassen, dass ihm so etwas geschieht. Eltern gibt es für uns nicht." Ihre Zähne bleckten auf wie bei einem Raubtier. "Wir brauchen sie nicht. Wir brauchen diese acht Jahre nicht. Wir haben uns." Thierry verstand diese Sätze als ein Credo, das ultimative Glaubensbekenntnis. "Ich habe ihm versprochen, dass ich es nicht mehr erwähnen werde." Murmelte er eingeschüchtert. Selina lächelte, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Ich verstehe deine Neugierde. Was du wissen musst, ist, dass dieses Leben furchtbar war. Wir sind durch ein Fegefeuer gegangen. Selim hat es überstanden, indem er seine Erinnerung gelöscht, einen Teil seiner Seele abgetrennt hat." Sie beugte sich ein wenig vor, legte Thierry eine kleine, jedoch kräftige Hand auf die Schulter. "Dieses Loch wird nicht heilen, Thierry. Selim wird immer Liebe, Fürsorge, Gesellschaft benötigen, damit diese Wunde nicht eitert und ihn zerstört. All die Kälte, die dich jetzt einschließt als Vampir, die musst du mit deinem inneren Feuer dazu verwenden, ihn zu lieben. Das wird nicht einfach, aber manchmal müssen wir eben Bestien sein, um die schönen, wertvollen Menschen in unserem Leben zu bewahren." Thierry starrte sie eingeschüchtert an, schluckte erstickt und nickte. "Das werde ich tun." Verkündete er leise, aber entschlossen. Wenn er sich jemals gefragt hatte, welche Garantie es für ihre Liebe, ihre Zukunft gab, dann hatte er hier seine Mission. §-#-§ "Bestimmt hast du dir das anders vorgestellt." Murmelte Rosegunde, schmierte vorgeblich sehr konzentriert mit einem Bleistift in einem alten Schulheft herum. "Ich kann mich nicht beklagen." Schmunzelte Dominique, denn gerade lag er im Schatten, den Kopf bequem gebettet auf dem unteren Rücken seiner Liebsten und genoss das Leben. "Ich würde echt gern weniger doof sein!" Schnaubte Rosegunde grummelnd. "Nicht so ungeschickt! Ich darf mir keine Fehler leisten!" Nun setzte sich Dominique doch widerstrebend auf, drehte sich leicht, wischte behutsam eine von der Hitze feuchte Strähne aus dem vertrauten Gesicht. "Rosa, das ist Quatsch. Du kannst nicht immer alles richtig machen, das ist einfach unmöglich. Wenn Thierry hier wäre, könnte er dir bestimmt auch die passende mathematische Formel dazu nennen." "Theorie!" Knurrte Rosegunde ohne aufzusehen. "Aber in der Praxis habe ich bloß ein Jahr! Das ist echt hart! Wir können uns ja bloß noch am Wochenende gelegentlich sehen." "He!" Dominique beugte sich nun herunter, küsste ein Ohrläppchen. "Du kannst mich jederzeit anrufen. Wenn du mich brauchst, bin ich da. Fest versprochen." Das meinte er so ernst wie Granitgestein! "Schon." Murmelte Rosegunde widerwillig, die nicht an seiner Einsatzbereitschaft zweifelte, jedoch auch ihren Stolz hatte. Sie wollte kein Mühlstein sein, vor allem nicht an seinem Hals! "Wir schaffen das gemeinsam, das haben wir doch vereinbart." Erinnerte Dominique, streichelte über die schwarzen Haare, als kraule er das Fell einer nervösen Katze. Rosegunde antwortete ihm nicht, ließ dann aber einen profunden Seufzer verlauten, stemmte sich aus der Bauchlage hoch, sah ihn an. "Weißt du, ich musste noch nie WIRKLICH auf eigenen Füßen stehen." Sie setzte die Silben bedächtig. "Was, wenn ich im Monat zu viel Geld ausgebe? Oder etwas nicht bedenke? Oder wenn ich einen Termin verpasse?!" Dominique streichelte die gezeichnete Wange sanft. "Dann finden wir eine Lösung. Ich zeige dir alles, was ich weiß. Damit kannst du dich bestimmt über Wasser halten. Thierry hilft dir doch auch. Ich wette, dass Frau zu Wolkenstein sich auch nicht lumpen lässt. Wir kriegen das hin." Rosegunde nagte an ihrer Unterlippe, rang mit sich, den Blick abgewandt. Irgendetwas brannte ihr immer noch unter den Nägeln, das erkannte Dominique fehlerfrei. Es hatte nichts mit "Überlebenstipps für Abgebrannte" zu tun, die sie gesammelt hatten. "Du erinnerst dich noch an dein Versprechen, oder?" Wagte er sich tapfer auf ungesichertes Gelände. "Du hast versprochen, du würdest mich heiraten. So schnell wirst du mich also nicht los, ich nehme dich nämlich beim Wort!" Eine abrupt steigende Nervosität bewies ihm seinen richtigen Riecher für einen Volltreffer. "Es-es ist bloß nicht fair!" Murmelte Rosegunde, sichtlich errötet. "Ich meine, von mir. Nicht fair. Bis jetzt habe ich dir ja eigentlich bloß Ärger gemacht." "Unsinn!" Schnurrte Dominique sanft, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, rückte noch näher heran, lehnte die Stirn an ihre. "Ärger haben die anderen gemacht." Er schob seine Hände auf ihre aufgestützten. "Gerade ist mein Leben absolut wundervoll. Deinetwegen. Da ich auch andere Zeiten kenne, möchte ich diesen Zustand so lange wie möglich genießen! Da bin ICH unfair, denn ich lasse dich nicht ausbiegen! Ich verlange, von dir geheiratet zu werden, klar?!" Das perfekte Mädchen kämpfte tapfer, doch das unaufhaltsame Prusten ließ sich wie eine Naturgewalt nicht bekriegen: Rosegunde platzte lachend heraus, die blau-violetten Augen funkelten. Dominique gefiel dieses gelöste Lächeln sehr viel besser als die sorgenvolle, eingeschüchterte Miene zuvor. Er hob ihre Rechte ritterlich an und hauchte einen Kuss auf den Handrücken. "Meine edle Dame." Rosegunde studierte ihn einen Moment mit sphinxenhaftem Ausdruck, stürzte sich auf ihn, was zu einem wenig eleganten Plumps auf dem Rasen führte, die Arme um seinen Nacken geschlungen. "Uuuuuhh, mein Ritter vom rappeligen Rollbrett!" Gurrte sie kehlig, küsste ihn mit der zielgerichteten Gründlichkeit eines Bussards. §-#-§ Kapitel 20 - Requiem für einen Freund Emil kontrollierte sein privates Literaturverzeichnis (handschriftlich in einer gebundenen Kladde geführt!) und die Veröffentlichungen der Verkaufsdaten für künftige Neuzugänge seines privaten Heiligtums. Weil er Disziplin durchaus für eine Tugend hielt, aktivierte er seinen Computer und überprüfte den Posteingang der elektronischen Wegwerfadresse. Nun, sie enthielt gähnende Leere, allerdings war das auch nicht anders zu erwarten, immerhin waren die Aufenthaltstage in München beendet. Somit musste nicht auf eine dieser unsäglichen Mitteilungen reagiert werden, die dieser notorische Kay Nelson Jefferson ihm TROTZ seines Engagements nicht müde wurde zu senden! Zwiespältig und unbehaglich, so fühlte Emil sich, wegen des Desasters nach dem Ausflug in die Galerie. Betrunken im Bett eines anderen Mannes aufzuwachen, das mochte ja im Kintopp amüsant sein, für ihn blieb es ein nicht vernarbtes Trauma. War ihnen jemand begegnet, der ihn kannte?! Konnte es sich herumsprechen, zu einer Waffe gegen ihn werden?! Eingestandenermaßen hatte sich Kay NICHT wie ein Apollon-Jünger verhalten, sondern taktvoll-höflich-galant, doch das machte es auch nicht leichter. Man kam sich klein vor, unzulänglich, nicht vertrauenswürdig, in der Selbstgewissheit erschüttert. Emil spürte förmlich, wie seine sorgsam errichtete Wehr zu wanken begann, hier und da Risse aufwies. Darüber sollte er wütend sein, empört, aufgebracht! Stattdessen jedoch fühlte er sich bange, beklommen. Man musste sich erst mal verkriechen! Einbuddeln, einbunkern! Auf gar keinen Fall mehr Gelegenheit bieten, sich erneut in tödliche Verlegenheit zu bringen, also besonders knapp angebunden, distanziert und abweisend agieren, keinen Millimeter von der Linie abweichen! Genau! Aber fairerweise konnte er Kay nicht so schroff abkanzeln, wenn der immer mit entwaffnendem Humor konterte. Das war schlichtweg ungerecht und kleinlich. Emil seufzte. Der Kampf gegen die Unwahrscheinlichkeit ihrer Verbundenheit verlangte ihm mehr ab, als er jemals vermutet hatte. Schlimmer noch, es war für ihn schon selbstverständlich geworden, die nächste Runde im nächsten Scharmützel zu erwarten! Wieso sonst hockte er hier vor der Glotze und kontrollierte einen elektronischen Wurfkorb?! Energisch deaktivierte er sämtliche Funktionen, die Augenbrauen grimmig zusammengezogen. »Reiß dich jetzt aber endlich mal am Riemen!« Ermahnte er sich selbst. In diesem Augenblick tapferer Entschlossenheit lärmte sein Telefon, ließ ihn zusammenschrecken. Welcher Torfkopp rief denn jetzt an?! Unverschämt! Überhaupt, wer wagte es, ihn privat zu stören?! Mit genäseltem Singsang des eingebauten Anrufbeantworters spulte eine digitalisierte Frauenstimme die unverfängliche Botschaft ab, dass derzeit der Anruf nicht entgegengenommen würde, man aber nach dem Signalton die Möglichkeit hätte, in KURZER Zeit eine Mitteilung zu hinterlassen. Emil zuckte erneut zusammen, als er Kays Stimme hörte. "Emil? ..ich wollte... entschuldige die späte Störung... weißt du...Zermatt ist...ist nicht rausgekommen... das hat er noch nie gemacht...dachte schon, er ist narkotisiert, wie der Papagei...aber...kannst du... bitte, kannst du mich begleiten? Am Samstag?..." Der verwünschte Signalton unterbrach rigoros die Aufzeichnung. Emil starrte auf das schlichte Gerät in schwarzer Kunststoffverschalung. »Oh...oje...oje...« Dachte er eingeschüchtert. §-#-§ Kay ließ sein Mobiltelefon auf den winzigen Waschtisch sinken, unempfänglich für gefährliche Pfützen, die immer entstanden, wenn man auch nur die Absicht hegte, in dem viel zu flachen Becken die Hände zu waschen. "Kay? Kommst du jetzt mal? Deine Sendung!" Hörte er durch das Türblatt des winzigen "Rest-Raums" (müder Scherz der Redaktion) die ungeduldig-nervöse Stimme von Robert. "HmmHmm." Brachte er mühsam hervor, konnte nicht sprechen, ja, nicht mal schlucken mit dem Kloß in seiner Kehle und dem Ring um seinen Brustkorb, der ihn einschnürte. Er beugte sich tief über das unzulängliche Becken, schlürfte geräuschvoll Wasser ein, schluckte begierig, bis er wieder seine Stimmbänder befreit glaubte, verlässlich, unverfänglich. Er schniefte, gurgelte lärmend, um den möglichen Lauscher hinterm Türblatt zu befriedigen. Ihm war elend zumute, doch er wollte diesen unerwartet heftigen Schmerz nicht teilen, nicht mit den Leuten, die da draußen auf seinen gewohnten Einsatz warteten. War das Eitelkeit? Kleinmut? Lächerlicher Stolz? Klar, kein Apollon-Jünger würde in heulendes Elend verfallen, weil eine Schildkröte, deren Alter man nicht einmal kannte, die sich nicht flauschig-kuschelig ausnahm, in die ewigen Jagdgründe eingegangen war! Im Spiegelbild zwang sich Kay, durch die trainierten Lektionen seiner Ausflüge auf die Leinwand, die Gesichtszüge zu entknittern, jeden Anflug von Trauer zu tilgen, eine Maske aufzusetzen. Sein Herz schmerzte. Weil es so weh tat, ihm die Luft abschnürte, hatte er aus einem Impuls heraus bei Emil angerufen. Der Anrufe hasste, ganz klar. Trotzdem. Aus irgendeinem Grund wollte er diesen seltsamen Mann als seinen Beistand bei sich wissen, seiner Stimme lauschen, Nichtigkeiten, Belehrungen, Tadel, ganz gleich! »Er hat wahrscheinlich bei meinem erbärmlichen Gestammel nicht mal verstanden, um was es geht.« Rekapitulierte Kay niedergeschlagen. Tolle Leistung für einen versierten Moderator, wirklich! Er atmete tief durch, sammelte sein Mobiltelefon auf, spannte sich ganzkörperlich an, bevor er die Tür entriegelte und auf den Flur trat. Es half nichts, die Show musste jetzt weitergehen! Verschanzt hinter seiner jovial-konzentrierten Maske, die alle täuschen sollte, nahm er im Studio auf seinem Stuhl Platz, setzte sich die Kopfhörer auf, ließ die Finger über Schalttafeln und Tastatur gleiten, ein virtuoser Maestro in seinem Element. Niemand würde ihm etwas anmerken, da blitzte eben sein alberner Stolz auf! Umso überraschter war er über die in einer Werbepause geöffnete Mitteilung in seinem privaten Postfach. [Mein aufrichtiges Beileid zum Verlust Ihres langjährigen Gefährten. Wenn ich Ihnen von Nutzen sein kann, lassen Sie es mich bitte wissen. In hochachtungsvoller Verbundenheit, Emil Sandemann.] §-#-§ Die Nacht war lang gewesen. Kay hatte sich einfach nur noch in sein Bett verkrochen, nachdem er hastig ein Bettlaken über das verwaiste Terrarium geworfen hatte. Er quälte sich am frühen Abend aus der Matratzengruft, körperlich etwas erholter, doch mit kratzendem Hals und bleischwerem Gemüt. Freitagabend, Sommer, schwüle Hitze, alles wartete auf die passende Begleitung für eine tropische Nacht mit Liebe, Action und Lust ohne Reue! Kay spürte bloß Wollmäuse auf der Zunge und einen kindlich-trotzigen Widerwillen gegen die Amüsierwut seiner Umgebung. Seufzend brachte er sich über die nervtötenden Nachrichten seines besonders klugen Mobiltelefons auf den neuesten Stand, öffnete seinen Hausbriefkasten, um eventuelle Einwürfe in seine Umhängetasche zu stopfen. Er hielt inne, als er einen Umschlag mit schwarzem Trauerrand bemerkte. Ein hilflos-schiefes Lächeln irrlichterte über seine angespannten Züge. Typisch Emil! Wer würde sonst eine handschriftliche Beileidskarte für eine tote Schildkröte persönlich abliefern?! §-#-§ Das war alles ein wenig plötzlich und unerwartet. Kurzfristig. Kay, der sich in einen zerknitterten Leinenanzug geworfen, seine übermüdeten Augen hinter einer schwarzen Sonnenbrille versteckt hatte, studierte unbehaglich am frühen, noch dunstigen Vormittag die Haltestelle der Straßenbahn. Er wurde nicht enttäuscht, vielmehr sogar erheblich überrascht. Emil Sandemann näherte sich in diszipliniertem Marsch, trotz der zu erwartenden Hitze im schwarzen Anzug, mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte, bewaffnet mit einem abgedeckten Korb. Er hielt vor Kay inne, stellte seinen Ballast ab, ergriff entschlossen dessen Rechte, drückte sie höflich. "Mein aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust." Bekundete er reserviert. Nur Kay konnte in den gefleckten Augen die Nervosität lesen, die hinter dieser von gesellschaftlichen Konventionen bestimmten Reaktion lauerte. "Vielen Dank." Wisperte er mit belegter Stimme, räusperte sich vorsichtig. "Auch dafür, dass du mich begleitest." Emil nickte bloß knapp. Ein Mann, eine Aufgabe, eine Pflicht, da brauchte es keine weiteren Worte. Kay hielt dieses entschlossene Schweigen nicht lange durch. Ihm graute vor der Endgültigkeit des Abschieds, der ihm bevorstand und mit jedem Gleismeter näher kam. Als sie an der Endstation in den Bus umstiegen, lediglich von einem älteren Ehepaar begleitet, die in den Morgenstunden entschlossen schienen, ihr Wanderpensum ungeachtet der zu erwartenden Temperaturen zu erfüllen, plapperte er einfach los, Mund auf Autopilot, jede peinliche Enthüllung vermeintlicher Schwäche ignorierend. "Immer, wenn ich zurückkomme, buddelt er sich aus, weißt du? Guckt nach, stellt fest, dass ich es bin, und dann ist zwischen uns alles klar. Dieses Mal aber nicht. Da habe ich nach ihm geschaut. Weil nämlich die Uhren funktionierten, hast du ja gesehen, Zeitschaltuhren am Stromschalter, Heizung und Wasser und so." Kay schluckte und zwang sich, seine verkrampften Finger auseinander zu lösen. "Alles okay, deshalb habe ich ihn ausgebuddelt...Aber er hat nicht reagiert. Ich dachte mir, vielleicht ist es ja ein Fieber oder ein Virus oder... Da habe ich ihn mit Handtüchern in einen Plastikkorb gesetzt und bin mit dem Taxi zur Notaufnahme in der Tierklinik." Es fiel ihm schwer, den sachlichen, ein wenig zu munteren Tonfall zu halten. Worte, die vorher heraus geperlt waren, wollten nun nicht mehr purzeln, hakten sich widerspenstig auf seiner Zunge fest, die ein ums andere Mal über Silben stolperte, ihn stocken hieß. "Also, die Ärztin sagte...sie fragte natürlich viel...Aber sie sagte...Zermatt...ja, Zermatt sei einfach..gestorben. Das passiert. Vielleicht war er herzkrank oder litt an einer Krankheit, die man äußerlich nicht einfach feststellen... So was gibt's." Er rang nach Luft, räusperte sich, wischte mit den Handflächen über seine Hosenbeine. Seltsam, wieso waren seine Hände trotz der Hitze klamm vor Kälte? "Vielleicht, wenn ich da gewesen wäre... Aber eigentlich habe ich keine Ahnung von Krankheiten bei Schildkröten. Allein gelassen habe ich ihn ja auch immer wieder..." Die Endhaltestelle war erreicht, die pneumatischen Stoßdämpfer des Busses seufzten, bevor sie sich auf ungefährliche Ausstiegshöhe absenkten. "...ja..." Murmelte Kay, rappelte sich auf, schob sich über den Gang nach draußen, von Emil gefolgt, der einfach zugehört hatte, konzentriert, aufmerksam. Stumm. Kay ging voran, wenn auch nicht sonderlich schnell, nein, beinahe schon widerwillig. Vor dem weitläufigen Friedwald befanden sich hübsch zurückhaltend platziert auch die beiden Bestattungsunternehmen mit schlichten Büros, jeweils getrennt zwischen Mensch und Tier. "Herr Jefferson?" Ein älterer Herr in einem Anzug mit Seitenstreifen und einer gestärkten Schirmkappe, die ihn uniformiert wirken ließ, kam ihnen entgegen, die Stimme höflich gedämpft. "Ja, das bin ich." Kay schüttelte artig die Hand, quittierte die Beileidsbekundungen mit einem leisen Dank. Im Büro leistete er die letzten Unterschriften. Er folgte dem ehrenamtlichen Beauftragten des Bestattungsunternehmens vorbei an Bäumen und Büschen, Emil mit etwas Abstand auf seinen Fersen, gemessenen Tempos, soweit es Wurzeln und florale Hindernisse zuließen, bis in der Nähe die ruhige Oberfläche eines Teichs aufblitzte. "Wenn Sie nun möchten?" Mit einer knappen Verbeugung reichte der uniformierte Herr die geschmückte Urne an Kay weiter, der sich mit einem tiefen Atemzug sammelte, das Zittern seiner Hände langsam reduzierte, während der ältere Mann, die Schirmkappe höflich unter den Arm geklemmt, neben Emil Sandemann trat, der seinen Korb abstellte, die Hände faltete und den Blick auf den von Moosen und Flechten gut gepolsterten Boden senkte. Kay rang ein letztes Mal um Beherrschung, fasste das verzierte Gefäß entschlossen, richtete sich auf, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. "Zermatt...mein Freund...ich bin sehr traurig, dass wir uns jetzt trennen müssen. Du warst mir nicht nur ein Freund, sondern mein Gefährte und Mitbewohner. Du hast dich nie über die vielen Umzüge beklagt, mein grässlichen Sinn fürs Dekorative und meine viele Arbeit!" Unwillkürlich huschte ein Lächeln über Kays Züge, er sprach nun leichter, befreiter. "Wir hatten nie Auseinandersetzungen über meinen Ordnungssinn, die Badbenutzung und die Müllentsorgung. Von allen Mitbewohnern bist du mir der liebste gewesen! Und nicht nur das, du warst auch immer meine Heimat, ganz egal, wohin es uns auch verschlagen hat." Kay seufzte vernehmlich, studierte die gemahlene Asche in der Urne. "Obwohl wir ordentlich herumgekommen sind, kanntest du doch nur dein Terrarium. Es tut mir leid, dass du erst jetzt, unter diesen Umständen, eine andere Umgebung kennenlernst." Er straffte sich, stemmte die Beine in den federnden Boden, streckte die Arme aus, ließ in einer halbkreisenden Bewegung die Aschekörner auf das Grün rieseln, von einer sanften Brise vernebelt. "Du fehlst mir, Zermatt, mein Freund. Ich hoffe, du bist jetzt da, wo für Schildkröten das Paradies ist. Vaya con dios, Zermatt." Die leere Urne locker vor dem Leib gehalten fixierte Kay die Ahnung von Firmament, die zwischen den Laubdächern hervor blinzelte. Er stimmte ohne Zögern "Amazing grace" an. §-#-§ Emil warf einen verwirrt-verunsicherten Seitenblick auf den Mitarbeiter des Friedwaldes, Sektion Tierbestattungen, der ihn ebenso verstohlen-hastig erwiderte. Während Emil gegen eine Gänsehaut ankämpfte, ließ der ältere Mann neben ihm die Schirmkappe (aufgesetzt in Erwartung des Endes der Gedenkansprache) auf dem Haupt, salutierte jedoch so entschieden, als handele es sich um das Ehrengeleit eines gefallenen Kameraden. Kays Stimme klang kraftvoll, tief und klar, formulierte die Silben präzise, ließ keine Ahnung von gepresster Trauer oder eingeschnürter Kehle zu. Die letzte Note verklang in betäubender Stille, dann zwitscherte in der Nähe ein Vogel. Kay wandte sich herum, ließ sich erneut die Rechte drücken und erstattete die entleerte Schmuckurne. Noch einmal neigte der ältere Herr den Oberkörper, dann zog er sich würdevoll zurück. Auch Emil ergriff in steifer Konvention Kays Hand, wiederholte beinahe hilflos seine Beileidsbekundung. "Danke." Kay lächelte ein wenig zittrig. "Danke, dass du hier bist...und auch für die Karte, natürlich! Ich weiß, es ist ein wenig überzogen..." "Ich habe dahinten Bänke gesehen." Fiel Emil ihm ungewohnt unhöflich ins Wort, machte auf dem Absatz kehrt, in der Linken den Korb apportierend, marschierte energisch mit Tempo durch die Vegetation, bis sie einen gekiesten Weg erreichten, der zu einem Picknickplatz führte. Kay folgte, an der Hand gezogen wie ein wackliges Kleinkind bei ersten Gehversuchen, dankbar für die kurze Auszeit, die es ihm ermöglichte, eilig die Sonnenbrille auf den Kopf zu schieben und mit einem zerknitterten Stofftuch seine entzündeten Augen trockenzulegen. Emil gab seine Rechte frei, rammte entschlossen den Korb auf die groben Holzbohlen, lud zunächst alte Handtücher als Sitzpolster für die Holzbänke aus. Es folgten eine gewaltige Thermoskanne mit Bechern, Servietten und ein Kunststoffkasten, aus dem er mit demonstrativer Selbstherrlichkeit Streuselkuchen vom Blech auf die Servietten platzierte. Ihm gegenüber, zum Platznehmen gezwungen, blinzelte Kay überrumpelt. "Ist so üblich bei Beerdigungen." Knurrte Emil mit funkelndem Blick aus den gefleckten Augen, in dem herausfordernden Tonfall, der jeden Angesprochenen aggressiv anstachelte, ihm auch nur mit einem GEDANKEN zu widersprechen! Kay nippte an dem ausgeschenkten Kaffee, stark gesüßt, registrierte völlig verblüfft einen geradezu alarmierend leeren Magen und beschämend gewaltigen Appetit. "Essen!" Ordnete Emil diktatorisch an, flammte förmlich glühende Blicke über die Breite des Holztisches, also malmte Kay artig, mit wachsendem Hunger, spürte die nachlassende Spannung seiner Schultern. "Ich bin froh, dass du mich nicht auslachst." Murmelte er beim zweiten Stück, das ihm unerbittlich aufgenötigt wurde. "Warum sollte ich?!" Fauchte Emil zurück, die Augenbrauen kritisch gelupft, nun doch die schwere Anzugjacke abgestreift. Kay lächelte schief Richtung Tischplatte. "Na ja, wegen einer Schildkröte... aber ich konnte-ich konnte Zermatt nicht einfach in die Tierkörperverwertung geben. Das ging einfach nicht." "Ich finde, es ist ein würdiger Abschied." Knurrte der erklärte Misanthrop, schlug demonstrativ die Zähne in sein zweites Stück Blechkuchen. Nach einem großzügigen Schluck des stark gesüßten Kaffees, der Kay wie flüssiges Gold durch die Venen glitt, ihn aufputschte, gab er seine Schuldgefühle preis, in der Sicherheit, nicht verspottet zu werden. "Mir tut es leid, dass Zermatt allein war. Ich habe mich auch nicht darum gekümmert, ob er nicht doch lieber in Gesellschaft gewesen wäre. Vielleicht hätte ich ihn doch abgeben sollen, aber das kommt alles zu spät. Schöner Freund, das war ich!" Er seufzte, registrierte, dass erstaunlicherweise seine Serviette noch immer mit einem Stück Kuchen belegt war, obwohl er doch eben noch...oder nicht? "Ist wirklich schwer, so ein Abschied für immer." Hastig spülte er mit Kaffee nach und blinzelte eilig. Emil studierte ihn, die Augenbrauen kritisch zusammengezogen, wie ein Verhaltensforscher ein potentiell gefährliches, exotisches Tier. "Wissenschaftlich gesehen, also von einem erkenntnistheoretischen Standpunkt aus ist eigentlich ein normaler Zustand eingetreten, quasi eine Erlösung, eine Befreiung aus einer Zwangslage." Setzte er schließlich an, heftete den Blick stur auf seine Serviette, leckte sich nervös über die Lippen, eine unbewusste Geste. "Alle Materie im Universum, jedes einzelne Teilchen, strebt dem Chaos zu, befindet sich allein in einem unendlich großen Raum von Nichts. Das ist der natürliche Zustand. Erst durch Energie wird es zu einem immer komplexeren Körper in die Nachbarschaft anderer Teilchen gezwungen." Er richtete sich auf, den Blick zur Seite, auf Blätter und Büsche gerichtet. "Jedes Wesen besteht eigentlich, auf subatomarer Ebene, aus großer Leere und nur ganz vereinzelten Teilchen. Die sind bestrebt, größtmöglichen Abstand, oder umgangssprachlich formuliert, Land zu gewinnen. Allein diese Energie führt sie temporär zusammen. Wenn diese Energie sie nun nicht mehr wie eine große Klammer zusammenzwingt, dann sind sie immer noch da, aber ungebunden, in vollkommener Freiheit. Ohne Zwänge, ohne Einschränkungen." Ungehindert durch Proteste oder Einreden ergänzte Emil seine Exkursion in physikalisch-philosophische Betrachtungen. "Diese Energie, dieser Lebensfunken, der die verstreuten Teilchen zusammenführt: auch das bleibt erhalten. Nichts geht verloren. Es verwandelt sich vielleicht, Reibung in Wärme, Wärme in Elektrizität, das kennt man ja! Aber der Funken, die Energie, die verliert sich nicht. Nicht mal im Universum, auch wenn es noch so schnell auseinander strebt." Ein SEHR zögerlicher Blick streifte Kay. "Von dieser physikalischen Warte aus ist alles, nicht nur auf dieser Welt, sondern alles Vorstellbare, Teil des Ganzen. Wir, ob nun Sternenstaub oder temporärer Zwangsheimat für Teilchen in einer bestimmten Form, sind Horte der Energie und mit dem Universum verbunden. Nichts geht verloren. Kein Teilchen ist allein. Wir selbst sind unendlich, voller Teilchen, Energie, angetrieben von unzähligen Funken in jeder Zelle, jedem Atom." Emil räusperte sich. "So gesehen sind die Vorstellungen über Wiedergeburt gar nicht so verkehrt, eine Art Recycling, bloß in der Realität viel komplexer. Man muss zugeben, dass eine bestimmte Konstellation von Energie betriebenen Teilchen statistisch gesehen einmalig und nicht wiederholbar ist..." Kay erhob sich halb, schreckte damit Emil auf, legte diesem die Rechte sanft auf die Wange, umspannte Kiefer und Hinterkopf, ein Ausweichen zu verhindern. Er beugte sich vor, küsste den perplexen Mann auf den zur selbstironischen Relativierung seines Trostversuchs geschürzten Mund. Ein entschiedener Kuss, voller Lebensfreude und Dankbarkeit, bar jeder begierigen Lust. Erwartungsgemäß sprang Emil eilig auf, doch Kay hatte diese Entwicklung geahnt, umschloss nun mit seiner Rechten unnachgiebig ein Handgelenk. "...was...loslassen! Ich hatte doch gesagt...!" Ein empörter Tonfall, doch die gefleckten Augen blickten bange, eingeschüchtert. Man musste als Nächstes mit einer gefletschten Aggression rechnen, einem Befreiungsschlag. Kay kam dieser Option mit einer friedvollen, entspannten Offensive zuvor. "Danke. Danke, Emil. Ja, ich weiß, dass du körperlichen Kontakt ablehnst. Ich habe weder deine Erklärungen vergessen, noch will ich dir etwas aufzwingen. Ich habe dich geküsst, weil es mir überaus wichtig ist, dass jedes Teilchen, jede kostbare Energie, die dich so einmalig und zeitlich begrenzt zusammenhält, spürt, dass ich dich liebe. Dass meine Energie tanzt, bitzelt und funkt, weil es dich gibt. Jetzt, hier, bei mir." Kay hielt unerschütterlich den aufbrausend-bangen Blicken stand, den schmal zusammengepressten Lippen voller Empörung und Sorge, lächelte zärtlich, verführt von diesem seltsamen, unkonventionellen, ungeschickten, freien und mitfühlenden Geist in Gestalt eines nicht mehr ganz jungen Mannes mit wirrem Schopf und gefleckten Augen. "Statistisch gesehen ist es mehr als ein Lottogewinn, dass wir hier zusammen sind, am selben Ort, zur selben Zeit, in Teilchen und Wellen. Dafür bin ich mehr als dankbar. Das erfüllt mich mit so viel Energie, dass ich sie, wie eben geschehen, auch mit ihrem Hauptgenerator austauschen möchte." Er zwinkerte. "Ich bin mir schon sicher, dass dich eine spontane Explosion meinerseits nicht sonderlich aus dem Konzept bringen würde, da ich dann ja in all meinen Teilchen wieder in die natürliche Ordnung zurückkehren würde. Aber mir persönlich ist das noch zu früh. Ich möchte noch mehr Energie kumulieren, hin und wieder mit dir austauschen." Emil starrte ihn an, als habe er ihm nicht nur ein unsittlich-unmoralisches Angebot unterbreitet, sondern auch gleich mit Folter und Verdammnis gedroht. "Das-das...auf keinen Fall! Gar nicht! Nie!" Protestierte er nach einem langen Augenblick der ungeschminkten Panik, zerrte an seinem gekaperten Handgelenk, von der massiven Sitzbank auch in seiner Flucht behindert. "Abgelehnt! Kategorisch! Und FINAL!!" Kay wich keinen Millimeter, betrachtete den verschreckten Mann, der sich in Zorn und abschätziger Verärgerung flüchten wollte, schon nach passend vernichtenden Worten suchte. Der ihm beigestanden, ihn getröstet hatte, nicht auf die gewohnte Weise, ohne Paradiese, jenseitige Gerechtigkeit, Glücksversprechen, Gottesvorstellungen. Vernünftig, pragmatisch, logisch, auf einem sicheren Netz von Formeln und Beweisen gründend. Ein anderer hätte sich möglicherweise beleidigt gefühlt, verletzt, in seiner Trauer belehrt, das war in Kays Augen nicht von der Hand zu weisen. Emils Ausführungen entsprachen eben nicht den Konventionen und Erwartungen, doch wenn man ihm lauschte, den Gesten, der Beschreibung eines Universums, das so viel größer und weiter, freier und wilder war als die üblichen Grenzen limitierter Glücksverheißungen, dann konnte man sich unmöglich dieser Magie der Überzeugung ihres Sprechers verschließen. Für Emil war dieser Aufbau allen Seins tatsächlich eine wunderbare Einrichtung, auch wenn es für einen Misanthropen wohl scheußlich sein musste, mit jedem Teilchen jedes anderen Menschen in irgendeiner Weise im Austausch zu stehen... Kay lächelte entwaffnend, um einen halben Kopf größer, in die gefleckten Augen, hielt das Handgelenk noch einen Moment fest, bevor er es sanft freigab. "Bitte sieh es mir nach, Emil, dass ich zu all meinen schon bekannten Charakterschwächen nun auch noch Liebe zu dir geselle. Ich kann schlichtweg nicht anders." §-#-§ "Das geht nicht!" Emil rieb sich übertrieben sein Handgelenk, die Sitzgarnitur als Hindernis zwischen sich und Kay gebracht, warf ihm über die Distanz giftige Blicke zu. "Ich bin nicht einverstanden!" Ergänzte er, um keinerlei Missverständnisse aufkommen zu lassen. Hatte er diesen unverschämten Abknutscher nicht eindeutig gesagt, dass er kein Interesse hatte?! An niemandem, und bestimmt nicht auf diese Weise?! Und trotzdem...!! Er war durchaus enttäuscht und erschrocken. Hatte sich beinahe übertölpeln lassen! Zugegeben, dieser verlogene Anflauscher mochte durch die Trauer nicht ganz zurechnungsfähig, aber JETZT war man gewarnt! Zehn Schritt vom Leib! Mindestens! Angespannt belauerte er, wie Kay sich setzte, nach dem letzten Stück Kuchen griff. "Entschuldige, ich bin so ausgehungert...wirklich peinlich." Schnurrte dieser unverschämte Taktophile ungeniert! "Pah!" Fauchte Emil ungnädig, fischte eilig nach seinem Becher, um die Neige zu leeren. Das hatte er jetzt davon! Hätte er bloß die Klappe gehalten und nicht ausposaunt, was niemanden etwas anging! »Blödmann! Fremdbesabbert, das kommt davon!« Wobei fairerweise einzugestehen war, dass der Kuss sich nicht unangenehm feucht ausgenommen hatte. Bloß wollte er NICHT geküsst werden! Von niemanden! Man wusste ja, wie das endete! Erst kosten, dann verschlingen! Auch noch verseuchen! Herpes, Skorbut, grassierende Idiotie, das nahm kein Ende! All das nur, weil er nicht wie stets auf der Hut gewesen war! Wieso hatte er nicht einfach das übliche Gesabbel runtergespult, was in den Trauerbegleitungsforen die Trefferliste anführte?! »Wenn du dich schon der Mühe unterziehst, dort herum zu gurken, um Fehltritte zu vermeiden!« Ätzte seine innere Stimme ihn erbarmungslos an. Emil ballte die Fäuste, hilflos, enttäuscht, eingeschüchtert und momentan ohne Eingebung, wie er sich aus dieser Affäre verabschieden sollte. Überhaupt, Affäre! Ha! Wäre ja noch schöner! Schlimmer ging's wirklich nimmer. §-#-§ Kay wusste, dass es an ihm war, die Entfremdung zu überbrücken. Emil waren die Regeln sehr wichtig, ja, mutmaßlich benötigte er sie auch, um ein Mindestmaß von Entgegenkommen zu wagen! Kay hatte selbstherrlich-egoistisch die "Rühr-mich-nicht-an"-Regel übertreten, vorsätzlich, also juristisch mit Wissen und Wollen, da gab es nichts zu leugnen, auch nichts an der Tatsache zu rütteln, dass Emil physische Nähe in Panik versetzte. Wie ein verwildertes, kaum zähmbares Tier, misstrauisch und verzweifelt autark, stolz und verletzlich zugleich. "Weißt du, irgendwie kann ich mir das nicht richtig vorstellen, das mit dem Universum!" Kay kaute entschieden die letzten, knusprigen Streusel. "Also, wenn man sich da ein Modell vorstellt, so eine Art unförmigen Ballon, der sich immer weiter ausdehnt: was ist dann draußen? Ich meine, wenn es eine Expansion gibt, dann gibt es doch eine Grenzüberschreitung, oder? Was ist dahinter?" Emils Augenbrauen schlugen kritische Kräusel. Automatisch nahm er auf seinem Handtuchpolster wieder Platz, grübelte einen Moment, herausgefordert und möglicherweise sogar ein wenig erleichtert über das Stöckchen, das ihm hier gereicht wurde. "Ich glaube, an der Stelle kommt das Beobachtungsproblem ins Spiel." Beschied er schließlich konzentriert. "Also, die Expansion der Teilchen und damit auch des Universums wird ja gemessen, indem man einen Punkt einnimmt, zumeist den Ort der Beobachtung, dazu eben die sich verändernde Distanz zu anderen Körpern im Raum. Relativ gesehen gibt es also eine Ausbreitung, ohne dass man sich über das Gesamtvolumen einigen müsste." "Aber wo zieht es denn die Teilchen und die leere Materie hin? Und wie lange?" Kay gab nicht auf, verteilte den Rest Kaffee aus der Thermoskanne gerecht auf beide Becher. "Tja." Keineswegs verärgert über die Vehemenz der Nachfrage lupfte Emil die Schultern. "Schwierige Sache. Wir können nicht gleichzeitig IM Modell und außerhalb sein, deshalb wird sich das von draußen Draufgucken wohl nur realisieren können, wenn es uns gelingt, eine Sonde bis ans Ende allen Universums zu schicken und darüber hinaus. Fraglich aber, ob wir dann Signale empfangen könnten. Von den technischen Schwierigkeiten mal abgesehen ist vermutlich unsere Galaxie schon längst im kosmischen Allerlei untergegangen, bis uns Signale wieder erreichen würden. Ich glaube, unser Verstand ist zu begrenzt, um die tatsächliche Beschaffenheit des Universums zu erfassen. Da ist 42 schon eine gute Antwort." Kay grinste, denn er hatte das richtige Lebensalter, um die Anspielung zu verstehen. "Und was ist mit Gott oder Göttern? Könnten die außerhalb hausen?" Kickte er gelenkig den Ball der Konversation über das Feld in die andere Hälfte. "Ach, bah!" Winkte Emil nun verächtlich ab, eine Schnute ziehend. "Das sind doch alles bloß Erfindungen, von Leuten für Leute! Erklärungs- oder Rechtfertigungsversuche für alles, was den eigenen, bescheidenen Verstand übersteigt!" "Also keine übermenschlichen Schöpfer für das Universum und den ganzen Rest?" Kay leerte seinen Becher, lächelte becircend, wollte das Feuer noch ein wenig schüren. Wer herumtobte, hatte keine Zeit, um bange zu sein! "Iwo!" Der erklärte Misanthrop schnaubte heftig. "Da sind wir wieder beim begrenzten menschlichen Verstand!" Er tippte sich an die Schädelseite, im dozierenden Modus. "Also, unsere graue Masse interpretiert das, was unsere bescheidenen Sinne so abliefern, siebt auch kräftig aus, deutet um, macht passend, kennt man ja. Tatsächlich gibt es unzählige Regeln und Formeln, Gesetzmäßigkeiten, die die Wahrscheinlichkeit bestimmter Ereignisse zur Gewissheit machen." Er klopfte mit verdrehten Augäpfeln ironisch auf die Holzbohlen. "Glücklicherweise werden wir nie clever genug sein, um alle Zusammenhänge und alle Faktoren zu identifizieren. Alles, was uns phantastisch oder magisch, von mir aus auch göttlich oder schicksalhaft erscheint: es beruht auf einem Informations-, Wahrnehmungs- und Deutungsdefizit." "Und wer hat's dann erfunden?" Kay kopierte den Schwyzer. Ihm gegenüber zuckten die Schultern noch einmal. "Ich würde sagen, die Wahrscheinlichkeit beim Zusammentreffen der notwendigen Faktoren war einfach bezwingend. Wir wissen nicht, was vorher war, ob es vorher ein zerdehntes Universum gab, bis die Energie nicht mehr reichte oder wie ein Gummiband alles zurückgerissen hat, um dann komprimiert zum Urknall zu führen, und wir wissen nicht, was danach kommen wird. Ob was kommen wird. Was zuerst da war, Urknall oder zerlaufenes Universum. Werden wir auch nicht herausbekommen." Emil lächelte versonnen. "Das Geheimnis besteht darin, die Energie jetzt zu nutzen, in den Momenten, in denen sie Teilchen zusammenhält, die einen Körper bilden, der Herz, Hirn und Magen beheizt, damit dauernd Zündfunken ein Bewusstsein erzeugen. Wenn das alles wieder in seine chaotische Form zerfällt, auseinander strebt, spielt es keine Rolle, wie das Universum warum beschaffen ist. Kein Bewusstsein, keine Fragen. Nur Sein. Nur Energie. In gewisser Weise gibt es kein Heft des Handelns, das ist uns abgenommen, deshalb gilt 'carpe diem'. So lange, wie es währt." Einige Herzschläge noch blickte er ins Grüne, ein wenig melancholisch, ein wenig nachsichtig über den notorischen Alltagstaumel jedes Menschen, dann erstarrte er merklich. Kay konnte sich vorstellen, wie plötzlich der innere Wachtmeister donnernd die Stimme erhob, um Emils Freimütigkeit zu verdammen, seine Offenbarungen zu geißeln, ihm allerschlimmste zu erwartende Vergeltung auszumalen. Niemand sollte wissen, wie Emil Sandemann tatsächlich tickte. "Ich stimme dir zu." Formulierte Kay deshalb sanft, lächelte beruhigend über die trennende Tischplatte hinweg, registrierte die schamrot glühenden Wangen seines widerwilligen Freundes. "Man sollte jeden Tag nutzen und seine Zeit nicht mit unlösbaren Mysterien vergeuden. Huhn oder Ei, ist doch wichtiger, dass es sie gibt, als die Frage, was denn nun zuerst da war!" Ein beinahe karnevalesker Schwenk in die Wirklichkeit und die Überleitung zur Frage, ob er Emils Zeit beanspruchen durfte. Der sammelte unterdessen, weil emsiges Treiben auch einen Schutzpanzer bot, die geleerten Behälter seines Leichenschmauses im Korb ein, verstaute geschäftiger als notwendig. Kay erhob sich, reichte wohlerzogen das Handtuch-Sitzpolster an, das den krönenden Abschluss darstellte. "Der Kuchen war wirklich sehr lecker! Hast du ihn bei dir in der Nähe gekauft?" Wechselte er zu Unverfänglichem über. Ein Fehlpass. "Ich habe ihn selbst gebacken!" Knurrte Emil grimmig, den Blick abgewandt, die Anzugjacke über den Korb gehängt, zum Aufbruch bereit. "Auf Wunsch kann die Zutatenliste der Staatsanwaltschaft und Forensik übergeben werden." Grinsend schloss Kay sich an. "Oh, darauf bin ich gar nicht gekommen! Die Örtlichkeit passt zwar, aber so ohne Sack und Schaufel...und ob der Tümpel tief genug ist..." "Pah!" Grollte Emil, grummelte über die Schulter. "Außerdem, bei der Witterung?! Grottendämlich!" Damit stapfte er, mit starker Neigung wie ein abgefüllter Seemann, Richtung Bushaltestelle. Er fand, dass er sich für diesen Tag genug entblößt hatte! Von der Knutscherei ganz zu schweigen. §-#-§ Kapitel 21 - Gefährliche Verwandte Freya Cavallino warf ihrem ungewöhnlich schweigsamen Sohn einen nachsichtigen Blick zu, erhob sich dann, um dessen zögerliche Stocherei in längst erlegten Nudeln mit einer Attacke auf die zerzausten Locken zu beenden. "Aber Mama!" Protestierte Thierry aus seiner Versunkenheit aufgeschreckt, lupfte vorwurfsvoll ausdrucksstarke Augenbrauen. "Na, ich will bloß mal die Flausen aufscheuchen, die in deinem Kopf herumspuken!" Rechtfertigte sie sich frech, grinste mit der charmanten Zahnlücke herausfordernd auf ihren Sprössling herab. "...oh." Murmelte Thierry ertappt, ordnete kleinlaut entfleuchte Lockenstränge in einer Spange. "Nun sag schon!" Stupste ein Ellenbogen seine Seite, rückte die Frau Mama sehr vertraulich im Stuhl an ihn heran. Thierry schluckte, fühlte sich beklommen. "Mama, also..." Er straffte seine zierliche, nunmehr bleiche Gestalt. "Weißt du, es ist so, also, Selim, Selina und Rutger haben über das Wochenende ein Häuschen gemietet. Von da aus kann man in einem See baden, mit dem Fahrrad fahren, mal rauskommen..." Freya stützte das Kinn in die Hand und studierte ihren Sohn amüsiert. Was für ein großartiger Mann er jetzt schon war! Ein guter Mensch obendrein! Aus dem Konzept gebracht von den Gefühlen, die er registrierte, sich streng hinderte, Gedanken verstehen zu wollen, verhedderte Thierry sich und verlor vollends den Faden seiner gestammelten Erklärungsversuche. "Soll ich mal raten?" Seine Mutter zwinkerte, zupfte eine kurze Locke aus seiner Stirn. "Du bist eingeladen, sie zu begleiten, traust dich aber nicht, weil aus unerklärlichen Schuldgefühlen heraus es ganz und gar unverantwortlich wäre, deine arme, alte Mutter über ein Wochenende allein zu lassen! Vermutlich würde dein Beitrag zum Ausflug uns auch ganz sicher an den Bettelstab bringen!" Noch vor diesem ereignisreichen Sommer wäre Thierrys Teint nun mohnblumenfarben detoniert. Jetzt konnte er bloß noch keuchen, beschämt und verlegen. "Hab ich recht?" Freya grinste, stieß tadelnd die Nasenspitze an. "Kleiner Schelm! Sag, magst du die Drei gern begleiten?" "Schon." Kleinlaut rang Thierry mit den eigenen Fingern. "Aber es wäre nicht fair." Dass er sich amüsierte, Geld kostete, während seine Mama..! "Quatsch mit Soße!" Bestimmte sie gerade, richtete sich durchaus imponierend auf. "Ruf gleich an und mach alles klar, verstanden?! Keine Widerrede!" Schwungvoll erhob sie sich, die Stuhlbeine scharrten geräuschvoll über die Fliesen. "Also, ehrlich, mein Sohn, wie kannst du annehmen, dass Gianno und ich dich nicht mit unserem zukünftigen Schwiegersohn urlauben lassen würden?!" Nun senkte sich Thierrys Unterkiefer wie die Laderampe eines Großraumcontainers unaufhaltsam Richtung Kniekehlen. Ganze Servierplatten hätten Mühe gehabt, seine aufgerissenen Augen abzudecken. "Dalli, dalli!" Drängte seine Mama, drückte ihm sanft eine schmale Schulter. "Ich will den Abwasch ja nicht allein machen!" Ohne die Unterstützung eines einprogrammierten Telefonbuchs hätte Thierry dennoch keine vernünftige Zusage an einen sehr erfreuten Selim absolvieren können. Selbst notorische Gedankenleser waren vor profunden Überraschungen nicht gefeit! §-#-§ Hildeburg zu Wolkenstein und Ruprecht verfolgten den Einzug ihrer neuen Mitbewohnerin mit Wohlgefallen. Lauter junge, höfliche Leute apportierten die beklagenswert wenigen Habseligkeiten in das Erkerzimmer, halfen trotz der drangvollen Enge munter plaudernd beim Verstauen, ließen es sich nicht nehmen, nach der großzügig gewährten Kaffeetafel auch beim Abwasch zu helfen. »Sehr nette junge Leute!« Konstatierte sie entschieden. Da würde Remy aber Augen machen! Ihre große Klappe wäre dann auch Vergangenheit. Ruprecht war ebenfalls sehr zufrieden. Der Riese mit der Glatze hatte ihm sogar heimlich ein ganz köstliches Würstchen zugesteckt! Weit entfernte Familie zwar, aber das war Respekt, wie er ihn überaus schätzte! Rosegunde hockte unterdessen mit angezogenen Beinen auf dem fremden Bettsofa, den ausnahmsweise gestatteten Herrenbesuch neben sich. Nach all dem Trubel empfand sie nun eine gewisse Beklommenheit dabei, auch Dominique verabschieden zu müssen. "Es sieht richtig heimelig aus." Stellte der gerade mit einem prüfenden Seitenblick auf seine Herzdame fest. "Das wird bestimmt prima hier." "Hmmm." Murmelte Rosegunde einsilbig, wippte unruhig auf der soliden Matratze. "Weißt du was?" Dominique lehnte sich an. "Am Wochenende machen wir bei mir ein Picknick, ja? Zum Abschluss der Ferien! Einverstanden?" Endlich wandte sie sich ihm zu, schlang ihm unerwartet heftig die Arme um den Hals, was sie dank des Schwungs längs auf die Matratze beförderte. Dominique erwiderte die stürmische Attacke, streichelte Rosegunde tröstend über den Rücken. "Wird schon komisch sein." Bemerkte er leise, ein wenig außer Atem durch das geliebte Gewicht auf seinem Leib. "Ganz allein zu schlafen. Ich werde dich bestimmt fürchterlich vermissen, Rosa." Ein grummeliges, gar nicht damenhaftes Grunzen antwortete ihm. "Klar, wirst dich jede Nacht in den Schlaf heulen, vor lauter Entzugserscheinungen!" "Wenn dir das ein Trost ist, bin ich gern bereit, als Karnickel..." Weiter kam Dominique nicht, weil Rosegunde ihn fiebrig und ausgiebig küsste. Sie löste sich schließlich, betrachtete sein nachsichtiges Schmunzeln. "Lach mich nicht aus!" Drohte sie grollend, konnte das entsprechend grimmige Gesicht aber nicht aufsetzen. "Tu ich gar nicht." Dominiques Hände strichen sanft über ihre Seiten, langsam, rauf und runter. "Pah!" Murmelte Rosegunde, legte den Kopf auf den schmächtigen Brustkorb, schmiegte sich an. Eigentlich wollte sie doch stark, selbständig und souverän sein, bloß... "Ich werde mir schon Gedanken machen." Drang Dominiques Stimme leise an ihr Ohr. "Mich fragen, was du gerade so tust, wie es dir geht. Aber ich setze mein Vertrauen in uns beide und all die Leute, die uns helfen wollen. Wir schaffen das schon, Rosa." "Jetzt komm ich mir echt blöd vor!" Schnaubte Rosegunde schließlich unterdrückt. "Ist ganz schön fies, dass du immer so cool bist! Und ich ne Drama-Tante!" Unter ihr bebte es leicht, weil Dominique lachte, zärtlich durch ihre Haare streichelte. "Ich finde das ausgesprochen großherzig von dir! Wie könnte ich sonst einmal im Leben als cool durchgehen, hm?" Nun setzte sich Rosegunde mit einem Ruck auf, enterte die schmalen Hüften, stützte die Arme neben Dominiques Ohren in die Matratze. "Du bist einfach zu nett!" Schimpfte sie halb empört, halb hilflos. "Es ist gar nicht nötig, dass ich mich total affig aufführe, weil du auch ohne absolut cool bist!" Sie setzte zu einer weiteren Tirade an, gleichzeitig Loblied und Protest zu intonieren, aber Dominiques Hände, die auf ihre Hüften wanderten, lenkten ab. "Das kommt daher, dass ich dich liebe, Rosa." Bekannte Dominique, keineswegs seelenruhig, vermutlich hummerrot, wie er annahm, aber grundehrlich und erbarmungslos offen. Er erwiderte den flammenden, aufgewühlten Blick ohne Scheu. "Vergiss das ja nicht, wenn wir nicht zusammen sind!" Grollte Rosegunde hilflos, blinzelnd, Fäuste in die Matratze bohrend. "Ich merke mir das!" Dominique lächelte hoch in die blau-violetten Augen, die einen verräterischen Glanzfilm zur Schau stellten. "Ist gut." Antwortete er schlicht. Nicht einen ganzen Atemzug später hielt er seine Rosa wieder in den Armen, eine knochige, jedoch überwältigend herzbewegende Empfindung. Sie WAR das perfekte Mädchen, daran gab es nicht den geringsten Zweifel! §-#-§ Man war verärgert, gegen den Strich gebürstet, nahezu vergrätzt. Aber. Trotz dieser fundamentalen Störung seines seelischen Empfindens, der ungenierten Übertretung der vorgegebenen Regeln, der MISSACHTUNG seiner Prinzipien sah sich Emil Sandemann dem Dilemma ausgeliefert, Ray Nelson Jefferson nicht einfach zum Mond schießen zu können. Obwohl er in eklatantem Verstoß gegen alle strikten Gebote geküsst worden war, führten sie bereits auf dem Heimweg vom Friedwald eine lebhafte Diskussion über diverse Science Fiction-Serien! Wo doch eisiges Stillschweigen, konsequente Nichtbeachtung und unüberbrückbare Differenz hätte herrschen müssen! Emil zürnte sich selbst. Wie charakterschwach, sich für einen anregenden Plausch nicht mehr aufzuregen über diesen körperlichen Übergriff! Das schrie ja geradezu eine Einladung in die Welt, ihn nicht ernst zu nehmen! Dennoch. Wie verabredet unterhielten sie sich jeden Tag die Viertelstunde, häufig auch länger. Weil dieser notorische Kay ihm ständig Vorlagen lieferte! Da war Widerspruch nötig, manchmal auch bärbeißiges Misanthropentum! "Das ist gefährlich." Murmelte Emil im Selbstgespräch, tippte ratlos mit dem Radiergummi seines Bleistifts auf seinen Block. Strategien, sich aus dieser Falle zu befreien, die wollte er sich skizzieren, sonst geriete sein Selbstbild, seine innersten Überzeugungen ins Wanken! Das würde alles fürchterlich peinlich enden! Vermutlich würde er blamiert sein, seine Gefühle, die niemanden etwas angingen, auch noch verletzt! Aber. Hin und wieder, also gelegentlich, einige Augenblicke während, verspürte er auch Vergnügen bei dieser Freundschaft. Was blöd war! Ausgesprochen dämlich! Welcher Idiot baute seine persönliche Beglückung auf der potentiellen Existenz oder Gegenwart einer anderen Person auf, hä?! Das war ebenso deppert, wie sich auf Spiele zu kaprizieren, die mehr als einen Teilnehmenden erforderten! Wer Solitär beherrschte, konnte sich beschäftigen, wer Skat lernte, war ohne zwei weitere Pappnasen gnadenlos der Langeweile ausgeliefert (ausgenommen talentierte Kartenbaumeister)! Andererseits, wenn man sich nicht allzu sehr, also über Gebühr, aus der Deckung wagte... Frustriert legte Emil den Bleistift ab und klappte den Block zu. Wenn es um Dinge, um Sachverhalte, um gegenständliche Probleme ging, wusste er sich immer zu helfen. Damit konnte er etwas anfangen. Befindlichkeiten von Personen jedoch, Klatsch, Beziehungen, all das blieb ihm befremdlich, häufig irrational und unnötig energiefressend. Zumeist auch lächerlich. Nachdenklich blickte er auf seine gut gefüllten Regale. Wenn man sich auf sachliche Aspekte beschränkte, keinen Beziehungsschmus zuließ, könnte man durchaus zukünftigen Umgang pflegen. Unter Vorbehalt, selbstredend! §-#-§ Kay rieb sich energisch den verlängerten Rücken, winkte, bis der Transporter außer Sichtweite war. Der neue Besitzer des Terrariums hatte ihm beim Abtransport geholfen, hocherfreut über die kostenfreie Ausweitung seines privaten Zoos. Tief durchatmend wandte sich Kay wieder dem Haus zu, erklomm die Stufen zu seiner kleinen Wohnung. Ohne das Terrarium schien ihm sein Appartement plötzlich groß und auch leer. Man könnte natürlich Grünpflanzen aufstellen. Vorzugweise künstlich. Aber irgendwie sagte ihm dieser Gedanken gar nicht zu. Alles in seinem Besitz musste unkompliziert transportfähig und mobil sein. Priorität hatten die mit seinem Beruf und auch seiner Leidenschaft verbundenen Apparate und Maschinen. Kay seufzte leise und ließ sich rücklings auf sein breites Bett fallen. Als 'Jungfrauenfalle' Marke Apollon wirkte es jedoch nicht, pragmatisch mit weißer, verstärkter Bettwäsche versehen, die man auch in Hotels bevorzugte, wo man zur Not die Textilien kochen konnte. Die Dimensionen trugen lediglich seinem persönlichen Bedürfnis Rechnung, sich ungehindert ausstrecken und räkeln zu können. Was Emil ihm wohl raten würde? Ein Lächeln zuckte über seine Mundwinkel. Vermutlich würde der patentierte Misanthrop ihm ans Herz legen, seinen hormonüberzüchteten Kadaver zum nächsten Kiosk zu schwingen, dort "Schöner Wohnen" käuflich zu erwerben oder irgendein anderes, aufgeblasenes 'Lifestyle'-Magazin, was grenzdebilen Geschmacksasketen vorbetete, wie sie sich ganz individuell exakt dem Massengeschmack der Industrie huldigend ihre eigenen vier Wände versauen konnten! Ein Kichern drängte sich frech heraus, wurde zu einem Prusten. Allzu deutlich konnte er sich die empörte Miene vorstellen, das beleidigte Funkeln in den gefleckten Augen. "Du bist so süß." Bescheinigte er dem abwesenden Emil schmunzelnd. Gleichzeitig so scheu, so bange, kratzbürstig, abweisend, grantig, unerbittlich in seinem Freiheitsdrang. "Ob er mir wohl mal glaubt?" Kay seufzte. Dass man für den Apollon-Schmu arbeiten, gleichzeitig der Überzeugung angehören konnte, dass Sex gar nicht so wichtig war? Dass er einen ganz bestimmten Jemand so liebte, dass es ihn nur hin und wieder unbezwingbar überkam, sich einen Kuss zu stehlen, in eine Umarmung zu lehnen? Aufzugeben angesichts einer gewaltigen Herausforderung stellte für Kay Nelson Jefferson jedoch keine Alternative dar. Seit ihrer ersten Begegnung liebte er Emil Sandemann. Er würde sich schon ein Eckchen in dessen Leben erobern! §-#-§ "Puh!" Stellte Rutger treffend fest, als er zügig durch das kleine Holzhaus stürmte, jede erdenkliche Öffnung nach draußen unerbittlich aktivierte. Die Anreise hatte fast vier Stunden Fahrzeit ausgemacht, nun, Freitagabend, waren sie angelangt, ein wenig steif vom Sitzen, doch guter Dinge. Da es abkühlte, schien auch das häusliche Einnisten fürs Wochenende keine allzu große Belastung. Während ein linder Durchzug Vorhänge sacht bewegte, suchte sich je ein Pärchen ein Schlafzimmer aus. Thierry übernahm entschlossen das Küchenregiment, verteilte die mitgebrachten Güter, kontrollierte den kleinen Kühlschrank, wählte einen Topf aus dem bescheidenen Sortiment aus, die gefüllten Nudeltäschchen in einer Brühe zu erhitzen. Selina beschäftigte sich unterdessen mit dem gemeinsamen Badezimmer, während Selim unverdrossen auf der kleinen Terrasse eine Tischtennisplatte enthüllte und aufklappte, Sitzkissen auf Gartenstühle verteilte und geschickt eine Laterne anzündete. Keine Viertelstunde später wurde unbehelligt von Insektenwolken auf der Terrasse zur Nacht getafelt. Zwei aufgedrehte Herren jagten weiße Kunststoffbälle im Zwielicht über die Platte, während Selina und Thierry verschwörerisch grinsend den Abwasch in Angriff nahmen. §-#-§ "Thierry?" Selim beugte sich tief über seinen zierlichen Liebhaber, der eine einladende Kühle verströmte, wisperte aufgekratzt in ein belocktes Ohr. "Lass uns zum See ausbüchsen, ja?" Schlaftrunken rollte sich der Vampir auf die andere Seite, murmelte Unverständliches, was Selim nicht hinderte, mit hell leuchtenden Augen die Verfolgung krabbelnd aufzunehmen, erneut seinen Vorschlag zu unterbreiten. "...See?" Wiederholte Thierry blinzelnd, wurde unvermittelt schwungvoll von muskelbepackten Armen aufgesetzt. "Hab ich verschlafen?" "Nein, nein!" Versicherte Selim eifrig. "Ich möchte bloß vor dem Frühstück einen Abstecher mit dir zum See machen!" "...oh..." Thierry wirrte hinderliche Locken aus seiner Sicht. "Kein Frühstück?" Er fühlte sich nicht wirklich Anstrengungen gewachsen ohne solide Grundlage. "Hmmm." Überdachte Selim unterdessen das Hindernis, strahlte entschlossen. "Ich mache was zurecht, während du dich anziehst, ja?" Damit hopste er schon beschwingt vom niedrigen Bett, fegte zur Tür hinaus die Stiege ins Erdgeschoss herunter. "...uuooh!" Stöhnte Thierry leise, plumpste rücklings auf die Matratze zurück. Richtig, schräges Dach, schmales Doppelbett, die Präsenz ein Zimmer weiter: sie waren auf dem Wochenendausflug! Selim brannte offenkundig voller Tatendrang und noch mehr Energie, also gab es keine Alternative dazu, die Beine über die Bettkante zu hieven, sich in die Höhe zu schrauben, die Stiege hinabzuklettern und eine Katzenwäsche zu absolvieren. Als er das bescheidene Bad gerade verließ, hatte Selim bereits Gepäck zusammengetragen, gerollte Handtücher, schlichte Badematten, die Kühlbox und ein sehr unternehmungslustiges Grinsen! "Hast du schon die Badehose an?" Hakte er lächelnd angesichts der müden Miene nach. "Ich habe ja nichts gegen FKK, aber vielleicht sind da schon andere Leute..." "...Badehose..." Thierry sortierte träge Gedanken. Selim wartete das Ergebnis nicht ab, sondern schlang einen Arm um Thierrys schlanke Gestalt, küsste ihn leidenschaftlich, beförderte ein Luftschnappen später ungeniert seinen Unterarm zwischen Thierrys Kiefer. "Wir müssen erst mal etwas gegen deinen schlappen Blutdruck unternehmen!" Ordnete er gut gelaunt an. Die Reißzähne spürte er kaum, registrierte das beschämt-verärgerte Augenbrauenkringeln nachsichtig. Ächzend schob Thierry nach wenigen Augenblicken den Arm weg, schnaubte. Selbstredend war er nun unzweifelhaft wach, gestärkt und energiegeladen, aber die Umstände!! Beleidigend für sein feines Empfinden! "Badehose." Erinnerte Selim betont dickfellig, verströmte die gewohnte Woge an Zuneigung, Bewunderung, Liebe und Zärtlichkeit. Er freute sich sehr auf die gemeinsame Zeit, das konnte auch ein Nicht-Vampir unverfälscht erkennen. "Bin unterwegs." Grummelte Thierry im Rückzugsgefecht, erklomm die Stiege. Es war schon ein wenig bedenklich, wie kritiklos Selim ihn genau SO annahm, wie er war! §-#-§ Das Wasser war kühl, glücklicherweise recht algen- und wucherbewuchsfrei. Am Ufer hatte noch niemand unter schattenspendenden Bäumen sein Lager aufgeschlagen. Vereinzelt jubilierten Vögel, ließen sich nicht stören. "Ich weiß nicht recht." Zögernd verharrte Thierry auf dem schlichten Steg, beäugte misstrauisch die sanft kräuselnde Wasseroberfläche. "Es ist herrlich!" Verkündete Selim, trat plantschend Wasser, streckte ihm die Arme entgegen. "Schlüpfe langsam rein, ich bin ja hier!" Zweifelnd, aber ohne tatsächliche Wahl kniete sich Thierry also auf die Bohlen, drehte sich herum, um langsam, tastende Zehen voran, die Oberfläche zu durchdringen. Ein großer Schwimmer war er ja wirklich nicht, aber mehr als Hundepaddeln sollte er eigentlich beherrschen... Bloß erfasste ihn eine unerklärliche Panik bei der Vorstellung, es gäbe gar nichts mehr unter seinen Zehen. Bevor er hektisch um sich schlagen konnte, hatte Selim ihn jedoch an sich gezogen, drehte sich mühelos auf den Rücken, trieb ihre gemeinsame Bewegung mit starkem Beinschlag an. "Richtig angenehm." Lächelte er befreit in Thierrys angespannte Miene. "Herrlich weich, findest du nicht?" Thierry, der noch mit seiner Angst kämpfte, konnte bloß ächzen, umklammerte versichernd Selims Nacken. "Was ist denn los?" Der paddelte mühelos auf der Stelle, studierte ihn überrascht. "Bist du wasserscheu? Oder ist dir nicht gut?" "Nein und doch, aber..." Thierry seufzte. "Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich habe ich Angst vor so viel Wasser um mich!" Das war ja nun wirklich lächerlich! "Aha...oh! Oh!" Selims Gesicht wurde von einem Leuchten erhellt. "Na klar! Ich hab mal gelesen, dass Vampire fließende Gewässer nicht überqueren können! Da liegt's vielleicht dran!" "Aber das sind doch bloß Erfindungen!" Konterte Thierry nach einer Gedenkminute an die Verblüfften entschieden. "Denk doch mal an die zahlreichen Wasserleitungen überall!" "Hmmm..." Selim grübelte, pedalierte sie dabei gemütlich durch das Wasser. "Da ist was dran. Komisch." Konstatierte er versonnen. "Könntest du mich vielleicht zum Steg zurückbringen?" Thierry studierte besorgt Selims Bernsteinaugen, ob der wohl beleidigt reagieren würde, doch so langsam wurde ihm richtig mulmig. "Sicher! Gut festhalten!" Unbeeindruckt legte Selim rücklings den Torpedogang ein, lieferte Thierry nicht nur artig ab, sondern schob auch von unten an, damit der sich ohne Anstrengung auf die sicheren Bohlen hieven konnte. "Geht es dir jetzt etwas besser?" Selim beäugte ihn aufmerksam, keineswegs enttäuscht oder aufgebracht von seinen vereitelten Wasserspielplänen. Thierry hockte auf dem ausgebleichten Holz, lächelte erleichtert. "Ja, danke schön! Ich werde mich drüben ein bisschen in den Schatten setzen, ja?" "Roger!" Salutierte Selim gekonnt, pflügte hochgeschwind durch die winzigen Wellenberge. Noch einen Moment länger bewunderte Thierry die anmutige Gestalt seines Liebhabers, dann richtete er sich auf, tappte vorsichtig zurück zu ihrem Lager. Er richtete sich bequem ein, kramte liebevoll belegte Brote aus der Kühlbox, nippte an einem lauwarmen Tee. Das tat richtig gut!!! Da konnte man sich auch mit gestärktem Magen nur ein Momentchen ausstrecken und es sich wohlsein lassen... §-#-§ Selim erklomm mühelos den Steg, schüttelte sich ungeniert wie ein Hund, streifte Wasserperlen ab und wanderte lautlos hinüber zu ihrem Lagerplatz. Thierry döste offenkundig, der Kopf auf die Seite gesunken, einen Arm halb über die Brust gelegt, die nassen, schwarzen Locken sich über seine Schultern kringelnd. Leise ging Selim neben ihm in die Knie, streichelte mit dem Handrücken zärtlich über eine weiße Wange. Ein wenig verschleiert blickten ihn die tiefschwarzen Augen an, lächelte Thierry noch halb im Traum hoch. Der Ältere beugte sich tiefer, überwand die Distanz zwischen ihnen, küsste begehrlich die kühlen Lippen, erhitzte den Mund mit seiner heißen Zunge. Kalte Arme legten sich um seine breiten Schultern, er hörte das sinnliche Stöhnen des zierlichen Vampirs. Selim fand, dass es hier keinen Anlass gab, sich Zügel anzulegen. Er hatte sich so sehr nach Thierry gesehnt! Folglich holte er sehr lustvoll nach, auf was sie in der vergangenen Zeit verzichtet hatten, brachte den Jüngeren innerlich zum Glühen. §-#-§ "...das war ziemlich...dumm von mir." Entschuldigte sich Thierry kleinlaut, obwohl ihm keine Vorwürfe gemacht wurden. Nein, Selim schien sogar stolz darauf, dass man die dunklen Male ihrer leidenschaftlichen Zuneigung auf seiner Haut sehen konnte. Nicht, dass er Thierry nicht die gleiche Aufmerksamkeit erwiesen hätte, doch dessen kalte, glatte Oberfläche war nicht mehr derart zu zeichnen. "Mir gefällt's!" Stellte Selim klar, kraulte zärtlich durch Thierrys offene Locken. Außerdem musste er wohl kaum seine geliebte Zwillingsschwester oder Rutger über die Unternehmungen am See täuschen. Schließlich hatten die beiden so im Haus Zeit und Ruhe für sich! Sie hatten am Samstagabend beschlossen, in den nahe gelegenen Ort zu spazieren, eine gut erschlossene Kleinstadt, die für ihre zahlreichen Feriengäste kleinere Veranstaltungen bot. Die örtliche Feuerwehrkapelle spielte auf, man konnte auf dem gepflasterten Marktplatz sitzen, Eis oder ein kühles Getränk genießen, Spezialitäten vom Grill verkosten, kurzum, sich die gemütlich die Zeit vertreiben, bis die Sterne aufgingen. Rutger, der artig an Selinas Hand ging, starrte immer wieder verlangend zu den Grillwürsten hinüber. Man sollte sich ja beherrschen, ganz klar, bloß sein ungezogener Magen, der hatte absolut keinen Sinn für Romantik! Thierry ahnte Selinas amüsiertes Grinsen eher, denn die beiden gingen einige Meter vor ihnen. Keine Frage, dass sie den Werwolf doch zum Grill begleiten würde, nicht verlangte, dass er Männchen machte oder bettelte. "Sieh mal!" Selim, der unbeeindruckt von manchem starren Blick Thierrys Hand hielt, in Aromaweite frittierte Kartoffeln erspähte, seufzte genießerisch. "Ob wir die mal versuchen sollen?" Geübt richtete Thierry seine 'Sinne' in die Richtung aus, sortierte Gedanken und Empfindungen. Man wollte ja nicht mit nem flotten Otto auf dem Örtchen enden, weil man dem falschen Betreiber traute! Da registrierte er für einen Moment eine seltsame Wahrnehmung, eine Art Blitz, der ihn durchzuckte. Unwillkürlich verkrampfte er seine Hand in Selims, drehte sich nach allen Seiten herum, doch die Ursache für sein Erschrecken konnte er nicht ausfindig machen. "Was stimmt nicht?" Sofort rückte Selim an ihn heran, stellte die Schultern aus, als könne er mit größerem Schattenwurf seinen Liebsten noch effektiver beschützen. "Ich weiß es nicht." Murmelte Thierry irritiert. "Da war nur einen Moment lang so ein komisches Gefühl." "Also, so unbedingt muss ich da auch nichts essen." Selim zeigte sich gewohnt verständig. "Wenn du lieber gehen möchtest, dann ist das in Ordnung, ja?" "Nein, schon gut, es ist ja vorbei." Thierry lächelte entschieden hoch in das besorgte Gesicht. "Mit dem Grill hatte es auch nichts zu tun. Vielleicht habe ich auch bloß Hunger." "Oh, na dann!" Schon beschleunigte Selim beschwingt, strahlte wieder freimütig in die Welt, was jede Kontaktaufnahme erleichterte. Thierry jedoch warf verstohlene Blicke um sich. Welche merkwürdigen Überraschungen erlebte man wohl noch als Plötzlich-Vampir?! §-#-§ Thierry schreckte aus dem Schlaf hoch, beim Glockenschlag hellwach und alert. Drei Uhr in der Früh, ganz entfernt schlug die alte Turmuhr artig die Zeit an. Sein Herz trommelte wie verrückt, obwohl es gar keine Ursache geben konnte, außer dem seltsamen Gefühl, das ihn einige Stunden zuvor in Unruhe versetzt hatte. Hastig wandte er sich nach Selim um, doch der schlief mit tiefen Atemzügen seelenruhig an seiner Seite, was die Ahnung einer Bedrohung noch unwirklicher, aber nicht weniger real gestaltete. Die Fäuste ballend atmete Thierry tief durch. Er spürte etwas. Draußen und ganz in der Nähe. Aber er konnte nichts auffangen, keine Gedanken 'lesen'. Lautlos kletterte er aus dem Bett, streifte sich rasch ein loses Hemd von Selim in wirren Farben und die eigene Hose mit langen Beinen über. Auf der Stiege lauschte er ins Haus. Hatte Rutger vielleicht auch etwas gespürt? Doch im benachbarten Schlafzimmer deutete nichts auf Aktivitäten hin. Sehr vorsichtig, um niemanden zu alarmieren, kletterte Thierry ins Erdgeschoss, schnappte sich kurzentschlossen einen alten Federballschläger, der seinem Zweck kaum noch dienlich sein konnte angesichts des ausgeleierten Netzes, huschte dann hinaus. Er blinzelte, um seine Augen an das Zwielicht zu gewöhnen, ging langsam, vorsichtig den gewundenen Weg zur Straße entlang. An ihrem Ende, wo sich die einzige Laterne befand, die diesen einsamen Streckenabschnitt bewachte, stand ein schmaler, sehniger Mann. Im Schein der Beleuchtung schimmerte sein weißblondes, gescheiteltes Haar wie kostbare Seide. Thierry umklammerte den alten Griff des Federballschlägers fester. Als er ausatmete, stand unvermittelt, wie aus dem Boden gewachsen, der fremde Mann vor ihm. Eine energische Hand verhinderte Thierrys erschreckten Aufschrei gründlich. §-#-§ Der Fremde war stark, unfassbar schnell, seine tiefschwarzen Augen wie glühende Kohlen in einem bleichen, sehr schönen Porzellangesicht. Thierry zitterte vor Angst. Das war also ein richtiger Vampir. §-#-§ »Niedlich.« Dachte Andronicus, studierte aufmerksam das fahlweiße Gesicht unter den verwirrten, schwarzen Locken. Ein Kind, nun ja, ein Knabe noch, aber zerbrechlich und nicht wie er selbst. Keiner von ihnen. "Keine Angst." Wisperte er leise in der Sprache ihrer Familie. Würde der Knabe verstehen? Erinnerte er sich noch? Was wusste er darüber, wer er war? Er konnte Verblüffung in den tiefschwarzen Augen sehen, dann Erschrecken. Also hatte er verstanden... "Ich habe nicht die Absicht, dir etwas zu tun." Formulierte er langsam. Möglicherweise erinnerte sich der Junge nicht mehr an die Sprache selbst, begriff aber genug. Finger gruben sich in seine Ärmel, dann schüttelte er verzweifelt den Kopf, schwarze Locken flogen. "Nicht mitnehmen! Nicht mitnehmen!" "Das ist nicht meine Absicht." Beruhigte Andronicus sanft, lächelte begütigend. Aha. Mochte er den Jungen auch noch so verschrecken, so galt die größte Sorge doch den Freunden im Haus und seiner Familie. Ah, der Mama. Er ignorierte den bangen Griff, betrachtete den Jungen vor sich, prägte sich seine Züge ein, den Ausdruck, die Haltung. "Du bist nicht wie wir." Flüsterte er sanft. "Darum hüte dich vor meinesgleichen, Thierry." Die Augen weiteten sich, ein merklicher Schrecken erschütterte den verspannten Leib. Andronicus blickte in die Richtung des Hauses. Seltsam, dass ein Werwolf Gesellschaft für dieses zerbrechliche Halbwesen war. Ungewöhnlich. Aber nützlich. Möglicherweise arbeitete da ein bestechender Instinkt! "Der Wolf soll auf dich achten." Ordnete er an, packte seinerseits schmale Oberarme fest. "Wo du auf einen von uns triffst, da geh fort. Versprich es!" Hastig, eingeschüchtert nickte der Junge, sogar seine Zähne schlugen nun aufeinander. »Ob er sich wohl an mich erinnert? Oder an sie?« Schoss es ihm durch den Kopf. Doch die Zeit war trügerisch, täuschte gern. Nicht konstant und verlässlich. "Sag, bist du glücklich? Ist dein Leben gut?" Erkundigte Andronicus sich leise, entschieden, den Knaben in die Freiheit zu entlassen. Das arme Kerlchen schlotterte zum Erbarmen! "Mir...geht es...gut. Ich..befinde mich...wohl." Mühsam wurden wie Brotkrumen vergessene Worte zusammengesucht. Die tiefschwarzen Augen plädierten verzweifelt, nicht eine Macht zu erproben, die der Junge zu recht fürchtete. "Dann bist du glücklich? Wirst geliebt?" Andronicus löste die Rechte, streichelte durch die schönen Locken. Himmel, was für eine gefährlich attraktive Mischung war da entstanden! "Ich...bin sehr glücklich! Besonders glücklich!" Nun perlten Tränen. "Bitte! Bitte, lass mich bleiben! Bitte!" Andronicus lächelte schief. "Nun weine doch nicht gleich, Sohn meiner Schwester! Achte auf das, was du mir versprochen hast. Dann ist alles gut." Wieder flogen die Locken, so eifrig, so besorgt nickte der Knabe! "Dann ist es in Ordnung. Geh jetzt wieder hinein. Lebewohl, Thierry." Er gab die schmale Gestalt frei. Sie zögerte, stolperte ungelenk einige Schritte von ihm weg, machte kehrt, gab in Windeseile Fersengeld, als wäre die wilde Jagd hinter ihr her. In der Ferne hörte er die Haustür schlagen. Andronicus lächelte zufrieden. Er würde nicht weichen müssen und hatte noch eine Überraschung erlebt. §-#-§ Thierry stürzte die Treppen hoch, hetzte über den winzigen Flur, sprang Selim förmlich in die Arme, der vom Lärm der zuschlagenden Haustür aufgeschreckt worden war. "Was-was ist passiert?!" Automatisch schlang er die muskulösen Arme um Thierry, der kalt in seiner Umarmung zitterte, sich an ihn klammerte wie an die letzte Bake auf hoher See. Rutger füllte den Türrahmen aus, nur spärlich bekleidet, guttural knurrend. "Wo ist er?! Was hat er gewollt?!" Von Thierry konnten sie außer einem erbärmlichen Zähneklappern keinen Aufschluss erhalten. Grimmig schnappte sich Rutger Taschenlampe und eine schwere Bratpfanne. "Wenn einer da herumschleicht, wird er sich das Gebiss neu machen lassen müssen!" Mit diesem Versprechen patrouillierte er über das Gelände. Selina unterdessen machte Tee, reicherte ihn mit ihrer letzten Ration Honig an. Sie verteilte das Ergebnis auf vier wuchtige Henkeltassen. Einige Mühen später gelang es, Thierry ausreichend von Selims kraftvoller Gestalt zu lösen, um ihm wenigstens den Becher in die Hände zu drücken. Nur stockend konnte er berichten, von diesem anderen, diesem wahrhaftigen Vampir. "Er wollte nur sichergehen, dass es dir gut geht?" Selinas Stirn warf kritische Falten. "Ich denke schon." Thierry nippte zittrig an seinem Tee. "Ich habe...nicht alles...nicht gleich... richtig verstanden. Es war so...alt!" Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. "Aber das ist Unsinn! Bloß, es fühlte sich so alt an!" "Vielleicht wie die Sprache, die du als Kind gelernt hast?" Selim half aus, ließ Thierry weder von seinem Schoß noch aus seinen Armen. "Das...kann sein...aber ich habe alles vergessen! Er sah mir gar nicht ähnlich!" Brach es verunsichert aus Thierry heraus. "Sie können doch jetzt nicht kommen... Ich HABE Eltern! Richtige!" Er schluchzte wie ein Kind auf, in heller Panik. "Niemand wird dich mitnehmen!" Versprach Selim energisch, presste Thierrys Gesicht in seine Halsbeuge. "Das lassen wir nicht zu. Vampir hin oder her, das läuft nicht." Rutger brummte zustimmend. "Außerdem bin ich auch noch da. Hat schon seinen Grund, dass der nicht näher gekommen ist, damit ich ihn nicht bemerke." Seine geballte Faust sauste in die freie Hand. "Kommt gar nicht in die Tüte, dass dich einer einfach so abschleppt! Überhaupt, Vampire sind Einzelgänger. Der soll sich gefälligst ein Beißholz zur Gesellschaft suchen, wenn er einsam ist!" Selina lachte leise, eine unerwartete Reaktion in der aufgeheizten, finsteren Stimmung ihrer drei Begleiter. "Nun stellt mal schön die Kriegsvorbereitungen wieder ein, ihr Helden." Neckte sie herausfordernd. "Habt ihr nicht richtig hingehört? Er wollte sich davon überzeugen, dass es Thierry gut geht, als Onkel. Wahrscheinlich, um sicherzugehen, dass sie damals die richtige Entscheidung getroffen haben." Sie beugte sich hinüber, streichelte über Thierrys verspannten Rücken. "Dass du dir deine richtige Familie ausgesucht hast. Das hast du ja. Deshalb ist alles gut, so, wie er es gesagt hat." Selim beäugte seine Zwillingsschwester verblüfft, während Rutger sich nachdenklich die Glatze rieb. "Da ist was Wahres dran." Bekannte er schließlich, um eilig zu ergänzen. "Ich meine, das ist alles logisch!" Seine Sorge darum, Selina zu verletzen, nahm gelegentlich übereifrige Züge an. Sie lächelte jedoch und erhob sich, küsste die polierte Glatze zärtlich. "Da wir uns jetzt einig sind, schlage ich vor, wir legen uns noch eine Weile aufs Ohr. Immerhin ist das unser letzter Urlaubstag hier!" Wer hätte ihr da widersprochen? §-#-§ Selim hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel, die sonore Stimme von Rutger, die hellere, gelassene seiner Schwester. Noch mal für ein Weilchen an den See, bevor das Gepäck ins Auto verstaut und die Heimreise am späten Nachmittag in Angriff genommen werden sollte! Thierry lag auf dem Bett, die Augen geschlossen, noch immer unter dem Eindruck der unerwarteten Begegnung in der letzten Nacht. Er hatte beim Mittagessen nur wenig Appetit verspürt und forschte in seinen verblassenden Erinnerungen. Waren sie wirklich verwandt?! Dieser Vampir hatte ganz andere Haare! Etwas größer war er auch! Zugegeben, die Augenfarbe entsprach sich, aber die war ja nicht echt! Wenn er sich an seine Hautfarbe vor der 'Verwandlung' erinnerte, dann war er doch alles andere als 'Buttermilch und Spucke' gewesen! »Sie haben mich weggegeben, weil ich nicht wie sie bin. Keiner von ihnen.« Das nagte doch an ihm. Bedeutete es, er war nicht gut genug? Wurde deshalb an einem Bahnhof ausgesetzt?! Oder lag es an seinen Fähigkeiten? Wenn er sich der Geschwindigkeit erinnerte, mit der sein fremder Onkel sich bewegt hatte, gruselig!! Er hatte wirklich Angst gehabt. Entsetzliche Angst, als könne er auch ohne Beweis ermessen, welche Macht dieser seltsame Mann zu seinem Gebote innehatte. Was selbstredend lächerlich war. So, wie Reißzähne und Blutlecken und Gedankenlesen und... "Thierry." Drängte sich Selim energisch in seine Wahrnehmung, kroch neben ihn auf die Matratze, streifte ihm ohne viel Federlesen die Kleider vom Leib. Zu matt, um sich zu wehren, ließ Thierry alles geschehen, keuchte auf, als sich der warme Leib des älteren Mannes auf ihn senkte, ihn umfing wie eine Woge aus Feuer. "Ich gebe dich bestimmt nicht auf!" Verkündete Selim mit kindlichem Trotz. "Ich glaube, du hast dich jetzt erst mal genug mit diesem komischen Vampir beschäftigt!" Das klang ausgesprochen eifersüchtig! Thierry klappte die Lider hoch und blinzelte in Selims ernstes Gesicht. "Ich hab nur versucht, mich zu erinnern." Murmelte er in Selbstverteidigung. "Ich wollte es verstehen. Vielleicht bin ich doch kein richtiger Vampir." Schlussfolgerte er zögerlich. "Ich finde, du bist perfekt du selbst!" Versicherte Selim sofort loyal, verlagerte sein Gewicht ein wenig, um den Jüngeren nicht zu erdrücken. Mit einer Hand streichelte Thierry über Selims Wange, lächelte scheu in das vertraute Gesicht hoch. "Tut mir wirklich leid, das ganze Chaos heute." Murmelte er beschämt. "Ich wollte nicht den ganzen Urlaub verderben." "Hast du nicht!" Selim siegelte einen sanften Kuss auf die Lippen, betrachtete Thierry eindringlich. "Du hast nichts falsch gemacht, Thierry. Wir werden einfach immer auf einander achtgeben, dann kann uns keiner was, ja?" "Ja. Das tun wir." Thierry atmete tief durch, schlang die Arme eng um Selims Nacken. Welche Hilfe konnte er ihm denn sein, wenn dieses lästige Vampir-Schlamassel ihn so aus dem Tritt brachte?! Selim schmuste unterdessen bedürftig, kuschelte, bewegte sich recht eindeutig. Innerlich errötend flüsterte Thierry an seinem Ohr. "Ist es dir nicht zu kalt?" "Perfekt." Raunte der ältere Mann begehrlich. "Einfach perfekt." Weil es die überkochende Hitze in seinem Leib in die richtigen Bahnen lenkte, ihn zu einem guten Vollidioten machte! §-#-§ Mit einem kecken Schnappen senkte sich die Klappe wieder auf die Front des Briefkastenschlitzes. In ihrem Inneren ruhte nun, auf den Transport wartend, eine schlichte Postkarte, ohne Datum, vorfrankiert, kaum Rückschlüsse auf den Absendeort ermöglichend. Kein sprechendes Motiv, verlaufende Farben, auf der Rückseite in einer längst vergessenen Sprache, die nur noch wenige auf der Welt beherrschten, ein schlichter Satz. [Er ist glücklich] Andronicus war überzeugt, sie würde verstehen. Es würde genügen, nach so vielen Jahren. Beschwingt trat er den Heimweg an, genoss die leichte Brise, die durch seine weißblonden, glatten Haare strich, von denen niemand glauben mochte, sie seien natürlichen Ursprungs und nicht etwa gebleicht. Kein Wunder, die tiefschwarzen Augen nährten Zweifel. Doch Andronicus mit seiner hellen Haut und dem schlichten Schopf, von einem dezenten Seitenscheitel gebändigt, gehörte in der Tat zur Fraktion 'Buttermilch und Spucke'. Ohne Hut oder Kappe sah man ihn selten draußen herumspazieren, eine schlanke, eher sehnige Gestalt, mit dem geschmeidigen Rhythmus eines galanten Flaneurs gesegnet, Musik in jeder Bewegung. »Ein sehr vorteilhafter Abschluss!« Unterhielt er sich mit sich selbst in der Stille seiner Gedanken, die Hände lässig auf dem Rücken verschränkt, schlendernd, ohne den lästigen Drang von Eile und Notwendigkeit. Ja, man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass sich diese Entwicklung mit einem positiven Schlussakkord beendete. Solcherart erfreut beflügelt vernachlässigte Andronicus auch seine übliche Wachsamkeit, als er in den ersten Stock stieg, den Schlüssel zückte, ins Schloss steckte, drehte und die Tür nach innen, in seine Wohnung schwang. Nur eine Schrecksekunde später brach mit einem scharfen Schnappen sein Genick. §-#-§ Kapitel 22 - Komische Kreaturen Thierry war so erschöpft von den intensiven 'Verhandlungen' mit Selim, dass der den Schlummernden wie ein kleines Kind auf den Armen zum Auto trug und dort auch umsichtig angurtete. Hals und Kopf fürsorglich mit einem gedrehten Handtuch abgestützt verschlief er die gesamte Fahrt. Die drei Erwachsenen sprachen kaum, jeweils steuernd auf den Verkehr konzentriert, die anderen in sich selbst gekehrt. Dieses Mal rasteten sie auch, um sich abzuwechseln, denn für alle würde am nächsten Tag der Alltag wieder anbrechen und für Thierry der Endspurt zum Schulabschluss. §-#-§ Die Zunge klebte ihm aufgedunsen wie ein gammliger Flokati am Gaumen, die Kehle war offenbar mit Flusen besiedelt worden und seine Wimpern fugendicht verleimt! Schwerfällig gruppierte er seine Gedanken, klebte Schnipsel wie Filmausschnitte zusammen und verwünschte sich einmal mehr. Andronicus blinzelte nun heftiger, zwang jedes Körperglied, sich darüber zu versichern, wo und in welchem Zustand es sich befand. Ein heiseres Krächzen entrang sich seinen ausgetrockneten Stimmbändern. "Ah, du wache biste! Ich mich freue sehre!" Der sehnige Mann rollte gequält die tiefschwarzen Augen in ihren Höhlen, stieß einen schrillen Protestlaut aus. Unerwartet zärtlich wurde ein Glas an seine verkrustete Unterlippe gepresst. Eine sämig-kühle Flüssigkeit verteilte sich gemütlich in seinem Mundraum, bevor sie den Absturz Richtung Magen wagte. Aus Schaden klug verzichtete Andronicus darauf, sich sofort zu artikulieren, in die falsche Richtung zu atmen oder voreiligen Wutausbrüchen Vorschub zu leisten. "So bässere seie?" "Aufhören!" Fauchte er, funkelte mit verschwommenem Blick, der sich erst allmählich klärte, zur Quelle allen Übels für sein feines Empfinden. "Noch EIN Wort, und ich breche dir eigenhändig das Genick!" Angesichts der Umstände eine sehr unwahrscheinliche Option, doch sein Peiniger seufzte bereits geplagt. "Ich verstehe es nicht! Dabei bemühe ich mich wirklich!" Da diese Sätze im Vulgär-Latein, ihrer Standard-Verkehrssprache, formuliert wurden, ersparten sie Andronicus die Anstrengung, seine wüste Drohung in die Tat umsetzen zu müssen. "Du bist einfach untalentiert, ja, sogar unter-talentiert!" Schimpfte er vernichtend los. "Dein Englisch ist ja gerade noch passabel, aber schon dein Französisch! Grauenvoll! Dieser Akzent! Als würdest du mit Kieselsteinen gurgeln! Wag es ja nie wieder, meine Muttersprache derartig zu verhunzen!" Nun, wider besseres Wissen, zerrte er an den Fesseln, die Handgelenke und Knöchel fixierten, was ihm keinerlei Erleichterung verschaffte, aber seine Empörung anheizte. "Was soll das?! Was willst du hier?!" In seinen Fokus trat ein athletischer Mann, ließ sich in geschmeidiger Eleganz auf der Matratze nieder, ein Bein lässig über das andere geschlagen, schlichte Leinenhosen, ein Baumwoll-T-Shirt unter einer gewebten Weste, zweifarbige Eintänzerschuhe Marke Gigolo. Eine Hand, kräftige Finger mit gepflegten Nägeln, legte sich auf Andronicus' Brustkorb. Unwillkürlich zuckte er zusammen, auch wenn darunter längst kein Herzschlag mehr aus dem Takt geraten konnte. "Andro, ich habe nachgedacht." Verkündete der Mann, der ihn ärgerlicherweise um eine Handbreit überragte. "Die letzten zehn Jahre war dieses Haschmich wirklich sehr unterhaltsam, aber jetzt bin ich es leid. Da dachte ich mir, wir bleiben einfach zusammen. Gut, richtig?" "Gut?! GUT?!!!" Explodierte Andronicus heftig, sprühte Speicheltröpfchen und geballte Empörung. "Bist du wahnsinnig?! Oh, Moment, richtig, du BIST wahnsinnig!" "Ah, nein." Winkte der andere Mann schmunzelnd ab. "Das solltest du doch besser diagnostizieren können, oder?" Die tiefschwarzen Augen hasserfüllt zukneifend zischte Andronicus. "Du bist ein ausgemachter Soziopath!" "Aber ein netter." Zwinkerte sein Gegenüber amüsiert. Nach einem kurzen Duell der tiefschwarzen Augenpaare knurrte Andronicus schließlich. "Du wirst mich jetzt SOFORT losmachen, oder du wirst es bitter bereuen!" Ein freches Lächeln kerbte die Mundwinkel ein. "Oh, ich werde dich losmachen, keine Frage! Nur ein bisschen später, mein Liebster!" Andronicus wusste durchaus, was ihm bevorstand, nicht nur, weil er nackt auf seinem eigenen Bett fixiert war. "Ich bring dich um!" Fauchte er kaum verständlich, mehr Konsonanten als Vokale, wünschte einmal mehr heftig, seine Sprachkenntnisse im Vulgär-Latein hätten mehr Aufschriften von Kloaken, Abtritten, Bordellen und Kaschemmen einbezogen. "Das darfst du selbstverständlich." Die Hand wanderte von seinem Brustkorb zu seinem Kinn, fuhr mit dem Daumen die vor Zorn schmal gepressten Lippen nach. "Ich gebe nur zu bedenken, dass du die letzten, wie viele Male waren es, acht?, nun, die letzten acht Male warst du jedenfalls nicht sonderlich erfolgreich. Wenn auch durchaus einfallsreich." Schmeichelte der allzu bekannte Eindringling charmant. Entgegen seinem festen Vorsatz, sich nicht sinnlos provozieren zu lassen, zischte Andronicus hilflos wie ein alter Wasserkessel auf dem Ofen, ein pfeifender Laut der schieren Frustration. Unterdessen kletterte sein uneingeladener Gast mühelos auf seine Oberschenkel, brachte ihre Gesichter so nahe aneinander, dass sie hätten schielen müssen, sich genau zu erkennen. Er wisperte in ein Ohr unter der weißblonden, glatten Mähne. "Lass uns jetzt die letzten zwei Jahre aufholen, mein Herz!" "Du hast nicht mal eins!" Keilte Andronicus ohne Rettung zurück, zerrte und zappelte an seinen Banden. Umsonst, natürlich. Wie all die anderen Male zuvor. §-#-§ Selbstredend war es ein Risiko, doch Andronicus hatte immer, in jedem Moment seines Lebens, auf seine besonderen Fähigkeiten vertraut. Deshalb verfügte er auch über die Selbstsicherheit, sich in die Öffentlichkeit zu wagen, sich in bestimmten Kreisen, recht bescheiden, einen Namen zu erwerben. Es hatte immer funktioniert seit damals. Dass er Menschen besonders leicht zu "lesen" vermochte. Die davon ausgehende Faszination hatte ihn Psychologie studieren lassen. Wenn man mal anfing, mäanderte das Interesse in weitere Gebiete, sodass er nun ohne Mühe mit einem anerkannten Abschluss als Psychotherapeut mit Schwerpunkt Trauma-Bewältigung und als zugelassener Heilpraktiker tätig werden konnte. Das äußere Erscheinungsbild konnte er mühelos so manipulieren, dass keine unerwünschten Fragen auftraten. Ja, sogar Maschinen vermochte er bis zu einem gewissen Grad zu täuschen, das hatte er selbst aus Neugierde erprobt. Denn da saßen ja immer noch Menschen, die sich Abweichungen ansahen... Manchmal war es wie bei einem Puzzlespiel. Er konnte die Umrisse erkennen, hier und da Hinweise streuen, ein wenig nachhelfen. Irgendwann verließ ein Mensch seine sachlich-nordisch-schlicht gehaltene Praxis mit dem Empfinden, sein Leben wieder bewältigen zu können, vernarbt, zweifellos, gezeichnet, außer Frage, aber stark genug. Andronicus erfüllte jede aufgerichtete Seele mit Stolz auf die Leistung seiner Behandelten, und Genugtuung, dass es Umständen und darin agierenden menschlichen Quellen des Übels nicht gelungen war, alles zu zerstören, was diese Person ausmachte. Er bildete sich gern fort, tauschte sich aus, ungefährdet, dank seiner Tarnkappe, stets mit den richtigen Papieren. So war er auch zu einem Kongress geflogen, nach Südamerika, damals, als sich das schlechte Gewissen noch nicht so sehr ob der Umweltbelastung regte. Am Abend, in einer typischen Kneipe, etwas heruntergekommen, aber sicher, hatte sich zu vorangeschrittener Stunde ein Vampir genähert. Wie es dem Verhaltenscode entsprach, signalisierte Andronicus dem ungewöhnlichen Mann sofort, dass er keineswegs gedachte, das Territorium zu bestreiten, sich einzunisten. Der andere Vampir hatte gelächelt, freundlich, interessiert. Man tauschte Gemeinplätze aus, trank etwas mehr, denn es blieb bis tief in die Nacht subtropisch. Damals hätte er es schon bemerken müssen! Nicht die soziopathische Natur dieses niederträchtigen Stalkers, aber die andere Sache... Doch zu viel Alkohol und die allgegenwärtige Schwüle hatten alle Alarmsirenen verstummen lassen. Andronicus, der Einzelgänger, vampirscheu und humanophil, ließ sich heimführen von diesem Fremden. Viel zu spät erkannte er, dass dieser Vampir ganz anders war. Ihm wirklich gefährlich wurde. §-#-§ »Heiß!« Dachte Andronicus ermattet. »So heiß!« Sein eigener Körper unterschied sich nicht von dem anderer Vampire. Porzellanglatte Haut, kühl bis kalt, ein Umstand, der kaum vertuscht werden konnte. "Genug!" Stöhnte er erschöpft an der muskulösen Brust, wand sich vergeblich. "Niemals genug." Wisperte es lustvoll an seinem Ohr, spürte er spitze Zähne. "Hast du es nicht vermisst?" Andronicus drehte mangels Alternativen schwerfällig den Kopf zur Seite, blinzelte in die Schwärze des abgedunkelten Raumes, keuchte, hin und her gerissen zwischen der Leidenschaft, die sein verräterischer Körper genoss, und seinem Verstand, der von Stolz angefeuert zur Rebellion aufstachelte. "Ich...hasse...dich, Khelchu!" Stöhnte er verzweifelt. §-#-§ Khelchu war anders. Mochten die Augen tiefschwarz sein, die Zähne blendend weiß, der Schopf schwerer, glatter Strähnen zu einem schwarzen Strang zusammengebündelt: er wirkte ohne jede Täuschung menschlich. Seine Haut ähnelte nicht den üblichen, an Marmor erinnernden Schattierungen, nein, sie war ockerfarben und nicht geädert. Vor allem aber war sie warm, was nicht möglich war, bis dato ungehört, ungekannt. Verzweifelt-wütend konfrontiert mit diesen Umständen zwinkerte er bloß nachsichtig. "Aber ich bin doch beinahe wie du! Gerade so verschieden, dass zwischen uns die Funken fliegen, mein Schönster!" Andronicus hatte ihn gehasst. Das war zumindest einfacher, als sich Angst einzugestehen. In der ersten Nacht hatte er eine körperliche Leidenschaft erfahren, die ihm bis dato unbekannt gewesen war. 'Orgiastisch' traf es durchaus. Dass sich diese kitschige Romanze in etwas viel Schicksalhafteres verkehrte, konnte er nicht mehr ignorieren, als Khelchu ohne Mühe seinen Flug umbuchte, sämtliche Kollegen überzeugte, er wolle noch ein paar Urlaubstage anhängen, alle Bedenken zerstreute... Und Andronicus zwei weitere Tage mit Sex und Blut an sich fesselte. Er hatte nur entkommen können, weil er Khelchu einen vernachlässigten Grillspieß von hinten direkt in die Nieren stoßen konnte, was möglicherweise sogar beabsichtigt war. Andronicus war in Panik geflohen, hatte alle Brücken abgebrochen, sich versteckt, war untergetaucht. Allzu lange hielt er diese Isolation selbstredend nicht aus, wagte sich wieder, an neuem Ort, ans Licht. Khelchu fand ihn immer, bemächtigte sich seiner bis zum Exzess, wurde kurzzeitig außer Gefecht gesetzt (leider nie endgültig, trotz aller Bemühungen), um dann, unvermutet, erneut zu erscheinen. Kein Mordversuch wurde Andronicus angekreidet, nein, Khelchu schien es durchaus als berechtigte Reaktion zu akzeptieren. Zehn Jahre Katz und Maus, eine Hatz um den halben Globus. Jetzt hatte er ihn erneut aufgespürt. §-#-§ "Verschwinde...geh weg..." Andronicus kämpfte mit seiner betäubten Zunge, schlug fahrig mit einem befreiten Arm nach Khelchu, der sich gerade wie eine zufriedene Katze die Lippen leckte. Zwei Jahre schon hatte er nicht mehr von diesem einzigartigen Mann gekostet! Er fing dem umherirrenden Arm ein, drückte die Hand freundschaftlich. "Aber dir gefällt es doch hier, oder? Ich habe mich schon deinen Nachbarn von unten vorgestellt! Willst du wirklich weg?" "Du-du sollst weg!" Stieß Andronicus hervor, setzte sich ächzend auf. Nach zwei Jahren Abstinenz war selbst sein Körper diesen Strapazen nicht mehr gewachsen. "Ich bleibe von jetzt an bei dir." Khelchu küsste die gekaperte Hand auf den Rücken. "Kommt-kommt nicht in Frage!" Hustete Andronicus finster, grub die Finger der freien Hand ins Laken. Er fühlte sich ungewohnt schwer. Bleischwer. "Schau!" Der schwarzhaarige Mann lächelte zärtlich. "Der Stefan hat mir erzählt, dass du privat ganz allein bist. Dem Stefan seine Mudder Gerlinde hat mich ermahnt, dich mal aufzupäppeln!" Artig wiederholte er den Duktus, in dem ihm diese vertraulichen Mitteilungen gemacht wurden. Andronicus rollte die Augen. "Ich bin der Stefan" und "dem Stefan seine Mudder Gerlinde" hatten ihn um Haaresbreite dazu veranlasst, seine Wohnung doch nicht über der Kleintierpraxis im Erdgeschoss nehmen zu wollen, doch sie war schön, der Mietpreis angemessen und zumindest über die Wochenenden war nicht mit Tieren zu rechnen, die jedes Mal in Wehgeheul ausbrachen, wenn er sich dem Haus näherte. »Verwünschte Viecher!« Dachte Andronicus dann immer. "Wir könnten zu viert ausgehen, mit dem Stefan seiner Hälfte, der Sändi." Kolportierte Khelchu gerade parodistisch eine weitere Empfehlung von Gerlinde, der Mudder aus der gefühlten Hölle. "Kann den aufgepumpten Zahnstocher nicht leiden!" Brummte der sehnige Mann mit dem verklebten, weißblonden Schopf verdrießlich, jedoch erheblich erschöpft. Sändi ähnelte ihrem psychopathischen Chihuahua und gehörte nach seiner Auffassung ebenfalls in eine praktische Tasche. Schwarz, sackförmig und mit Rundumreißverschluss für die Kühlhalle. Khelchu beugte sich vor, küsste ihn auf die rissigen Lippen, sanft, zurückhaltend. "Dass du mit den Tieren unten nicht viel Glück hast, habe ich ja erwartet." Er grinste herausfordernd. "Aber über die winzigen Fische in deiner Praxis war ich schon erstaunt." Andronicus starrte Khelchu an, dann wandte er matt den Kopf ab. Natürlich, was hatte er auch erwartet?! Khelchu hatte es schon immer verstanden, sich überall Zutritt und auch Zugriff zu verschaffen! "Bist du auch schon meine Sockenschublade durch?" Ätzte er gallig. Wenn er es ihm bloß einmal richtig heimzahlen könnte! Doch im Moment hatte er schon Mühe, zusammenhängende Gedanken zu formulieren. Eine warme Hand sortierte sanft die verklebten Strähnen auf seinem Schädel. "Hübscher Bursche, übrigens. Sohn deiner Schwester." Hätte Andronicus noch ein Herz besessen, wäre es wohl stehen geblieben. Ihm stockte zumindest der Atem, seine Glieder wurden steif und starr. Den Blick auf die Schiebetüren zu seinem begehbaren Schrankkabinett gerichtet würgte er tonlos. "Er ist noch ein Kind. Und nicht wie wir!" "Ach, weißt du, Kind, Jugendlicher, Erwachsener, das ist bei uns nicht wirklich von Bedeutung." Summte Khelchu in trügerischer Leichtigkeit. "Sein Freund ist ein Werwolf!" Bemühte sich Andronicus verzweifelt um Argumente. "Oh, der Werwolf gehört zu dem Mädchen. Der schnucklige Muskelprotz mit der labilen Psyche, das ist sein Schatz." Khelchus Worte wogen in der stehenden Luft noch schwerer. "...das kannst du nicht tun!" Flüsterte Andronicus, stemmte sich zittrig auf Arme, die sein Gewicht kaum zu stützen vermochten. "Das darfst du nicht!" Der andere Vampir neigte sich ihm zu, raunte fast schelmisch. "Soziopath, schon vergessen?" "...nein...nein!" Die Welt drehte sich, während Andronicus den Kopf schüttelte, appellierte, ohne seine Zunge noch zum Gehorsam zwingen zu können. Thierry hätte nicht die geringste Chance gegen Khelchu! Nicht einmal er selbst war diesem Kerl gewachsen! "Neeeiinn...!" Er biss sich unbeabsichtigt auf die Zunge, schwankte, spürte seine Glieder nicht mehr, dafür einen lähmenden, erstickenden, ganzkörperlichen Schmerz. Etwas tropfte auf seinen Schoß, nicht Speichel, nein...Tränen? Aber das konnte nicht sein, er hatte seit seinem ersten Tod mit elf Jahren nicht mehr geweint! "Andro? Andro, was ist los?" Nun klang Khelchu, den er kaum vor seinem sich trübenden Blick mehr erkennen konnte, streng. Besorgt. Nicht mal mehr um Gnade konnte er bitten. Der unerbittliche Schmerz raubte ihm das Bewusstsein, als sein Verstand entschied, dass dies jenseits des Erträglichen war. §-#-§ Khelchu verfügte nicht über eine Persönlichkeit, die schnell in Panik verfiel. Über seine Lebensspanne hinweg hatte sich auch das Gefühl für Überforderung und Hysterie verabschiedet. Nachdem er sich mit unleserlichem Gesichtsausdruck von der Richtigkeit seiner Diagnose überzeugt hatte, stemmte er den vor Schmerz bewusstlosen Mann hoch, beförderte ihn ohne besondere Anstrengung ins Badezimmer, senkte ihn in die Wanne ab. Das eingelassene Wasser, kalt, dampfte, als es den bleichen Leib berührte. Viel Zeit hatte er nicht, das wusste der Vampir, aber er würde niemals zulassen, dass irgendwer oder irgendetwas ihm seinen Andro wegnahm. §-#-§ "He." "Selber he." Müde und keineswegs in erwartungsfreudiger Stimmung bewegten sich Thierry und Dominique zu ihrem Schulgebäude, in den Ferien trockengelegt. Waren tatsächlich erst sechs Wochen verstrichen? Dabei schien es wie in einem anderen Leben zu sein! Dominique riskierte einen Seitenblick auf das von einem Hut beschattete Gesicht seines Freundes. "War der Ausflug schön?" Erkundigte er sich höflich. Es wurde durchaus schwierig, seinem besten Freund die Stimmung vom Gesicht abzulesen, das immer mehr poliertem Porzellan ähnelte. Thierry tappte einige Schritte stumm neben ihm her, dann murmelte er. "Ich habe meinen Onkel getroffen. Einen echten Vampir." "...oh." Kommentierte Dominique hilflos. Es schien sich wohl nicht gerade um eine besonders glückliche Begegnung gehandelt zu haben. "Echte Vampire sind zum Fürchten." Wisperte Thierry, warf ihm dabei einen eindringlichen Blick zu. "Wie im Film?" Dominique begriff nicht ganz, aber die tiefschwarzen Augen seines Freundes spiegelten ein Grauen wider, das ihn erschreckte. "Nein. Wirklich beängstigend." Thierry räusperte sich erstickt. "Er hat mich gewarnt. Ich soll den richtigen Vampiren bloß aus dem Weg gehen." Dominique blieb verblüfft stehen. "Heißt das, sie würden dir was tun? Aber du bist doch echt!" Protestierte er empört. Thierry wandte sich zu ihm um, mit einem schiefen Grinsen. "Nicht echt genug. Ich glaube, deshalb haben sie mich auch ausgesetzt." Nach einigen Augenblicken presste Dominique grimmig die Lippen aufeinander, schloss wieder zu Thierry auf. "Ich finde, dass einem diese Bande gestohlen bleiben kann!" Bekannte er nach einigen brütenden Minuten Schweigens. "Echt, unecht, halb-echt, das ist alles nicht wichtig!" "Aha." Grummelte Thierry spöttisch, aber auch ein wenig getröstet, dass sein bester Freund ihn keineswegs für Ausschussware hielt. "Selbstverständlich!" Schnaubte Dominique entschlossen. "Oder weißt du schon, was du nach der Schule machen willst?!" "...oh..." Murmelte Thierry ernüchtert. Stimmt, sie hatten ja noch eine Zukunft zu klären. Irgendwie. §-#-§ Manchmal kehrten sie wieder, Schemen aus der Vergangenheit, monochromatisch, gekörnt, wie ein schlechter Film. Aber es waren Erinnerungen. Andronicus verpackte sie stets streng in eine Kiste, schlug diese in Ketten und versenkte sie auf dem Grund des Sees im uneinsehbaren Schatten des Mondes. Er wollte sie nicht haben, sie störten, waren vergangen und sollten gefälligst verborgen bleiben. In Träumen jedoch war er wehrlos, konnte sich nicht immer selbst dazu bringen, aufzuwachen und ihnen damit ein Schnippchen zu schlagen. Es war eine andere Zeit gewesen, ein längst vergangener Ort, er selbst ein Knabe, eher zart, von den Entbehrungen durchaus gezeichnet, weißblond, schmal, unter dem abgeschabten Tornister schwankend, auf dem Heimweg der staubigen Piste, außerhalb der Ortschaft. Die Sonne glühte, die Ernte würde mager sein, feine Erdkrumen ausgedorrter Äcker wehten auf, verklebten Auge und Zunge. Sie kamen ihm entgegen, abgetragene, beinahe zerlumpte Kleidung, schwere Stiefel, etwas verwahrlost wirkend. Immer mal wieder wanderten Männer wie sie über die Feldwege, zu Fuß, heimatlos, ohne Ziel oder Zuflucht. Er hatte schlichtweg nicht erwartet, dass sie ihn passieren, plötzlich kehrtmachen und ihn auf den Acker zerren würden. Andronicus wehrte sich nach Kräften, sah den Wahnsinn in ihren fiebrig glänzenden Augen, das Ergebnis von Krieg, Elend und Verrohung. Um sein Schreien zu ersticken, drückte einer ihm die Kehle zu, so stark, dass er ihm den Kehlkopf zerquetschte. Andronicus starb schnell eines gewaltsamen Todes. Aber damit war es nicht getan. Irgendwann erwachte er, auf dem Gesicht in Dreck, von gewaltigem Druck eingeklemmt, der seinen gesamten Leib niederzwang. In Panik brach er in Tränen aus, wie jedes Kind, hätte zu gern, wenn es möglich gewesen wäre, um Hilfe und Beistand geschrien. Selbstverständlich gab es nichts dergleichen zu hoffen. Als ihm die Tränen versiegten, rasch, da er kaum Luft bekam, begriff Andronicus in seltsamer Klarheit, was ihn ereilt hatte: er war ermordet worden. Die beiden Mörder hatten seinen nackten Leib in eine der zahlreichen Gruben geworfen, die Granatentreffer erzeugt hatten, einen Dreckwall zum Einsturz gebracht, um seine Leiche abzudecken und ihren Mord zu verbergen. Kalter Zorn bemächtigte sich seiner. Er war allein, auf sich gestellt, aber nicht länger ein Kind, sondern ein anderer im Körper eines elfjährigen Jungen, den man wie Abfall weggeschmissen hatte. Während er immer wieder qualvoll erstickte, sich die Nägel abbrach, seinen Weg mühsam freigrub, schwor sich Andronicus eins: er würde Vergeltung üben! §-#-§ Khelchu ließ langsam seine kraftvolle Hand über den weißblonden Schopf gleiten. Andronicus rief nicht um Beistand, doch im todesähnlichen Schlaf winselte er tonlos in einem Albtraum, der keiner war. Er beugte sich hinab, um zärtlich eine raue Schläfe zu küssen. Ihm gefiel diese Tapferkeit und die unerbittliche Härte gegen sich selbst. Dass Andronicus die beiden Mörder in die Falle lockte und ihnen beim Sterben zusah: für Khelchu wirklich kein Anlass, sich zu plagen, Rechtfertigungen zu bemühen. Aber auch das zog ihn zu diesem sehnigen, scheuen, schönen Vampir: das ständige Ringen mit sich um Gut und Böse. Wahrhaftig ein Faszinosum! §-#-§ Kapitel 23 - URLAUB! "Urlaub." Wiederholte Emil Sandemann erbost. Er hatte für Urlaub nichts übrig. Er mochte freie Tage, die für einen selbst waren, ganz frei, ohne Verpflichtungen und Zwänge. Vor allem aber ohne die Anwesenheit anderer Menschen, die man zu ertragen hatte! Am anderen Ende der Leitung versprühte der notorische Kay Nelson Jefferson unbeeindruckt seinen Charme. "Eine Woche, nur wir zwei! In Brüssel, Tour zum Comicmuseum, da gibt's auch einen Rundgang und viele tolle Märkte! Pommes! Belgisches Bier!" Gut, die letzte Verlockung schien am anderen Ende in der Sandemannschen Burg orale Verstopfungen hervorzurufen, wie er amüsiert an den würgenden Lauten identifizierte, die an sein Ohr drangen. "Das ist doch klasse, wird bestimmt toll! Die ganzen Eurokraten sind noch in den Ferien!" Ergänzte er emsig seinen Werbefeldzug. "Aber da sind noch all diese Belgier! Flamen und Wallonen und wasweißichnoch!" Schimpfte Emil empört. "Hmmm...das ist wahr." Gab sich Kay samtpfotig. "Man wird wohl kaum verlangen können, dass sie die Stadt für uns räumen. Andererseits sind ja noch Ferien, da könnte es wie in Paris sein, im Sommer ausgestorben!" "Oh ja!" Raunzte es bitter an sein Ohr. "Bloß die ganzen Kleinkriminellen und das Gesocks treiben sich herum! Ha!" Mit einem betont enttäuschten Schniefen seufzte Kay gramgebeugt. "Also magst du nicht? Och, dabei fand ich das so gut, den Parcours Bandes Dessiné und das Museum in dem alten Kaufhaus..." Er ächzte noch einmal profund, der Theatralik geschuldet. Am anderen Ende dachte Emil fieberhaft nach. Er HATTE tatsächlich eine freie Woche geplant. Das Angebot klang wirklich toll. Aber er hasste es, zu verreisen! Und dann auch noch die gesamte Zeit zusammen mit anderen Leuten! »Vor allem mit Kay-Mr. Apollon!« Ätzte sein Verstand übellaunig. Andererseits: die Heimat europäischer Zeichenkunst, die Wiege der Neunten Muse. Quasi eine Bildungsreise. Kay lauschte geduldig auf den stummen Streit, den er sich lebhaft ausmalen konnte, wie da eine Schlacht geschlagen wurde, hochgerüstete Argumente aufeinander trafen, seine Person, ja, sein gesamter lasterhafter Charakter ins Feld geführt wurde! Er schmunzelte, stützte die Wange in die Hand. Natürlich konnte er sich nicht sicher sein, aber irgendwie hatte er so ein Gefühl... §-#-§ "Ich bin davon ÜBERZEUGT, dass das ein Joint-Venture mit der Inferno Inc. ist!" Knurrte Emil erbost, als sie den Zug wechseln mussten. Deutsche Bahn, die Fortsetzung der frühmittelalterlichen Folterwerkzeuge! Hexenhammer II! Wo aus Wahnsinn Methode wurde, die Pharmaindustrie ihr Klientel rekrutierte! Ein gewaltiges Tierversuchslabor mit den dämlichen Affen, die es nicht zurück auf den Baum geschafft hatten! Kay dirigierte amüsiert seinen Rollkoffer in geübter Mühelosigkeit über die Platten, lächelte über seinen grantigen Reisegefährten, der von den Umständen bereits in Harnisch gebracht war, noch bevor sie überhaupt die Grenze überquert hatten. "Pah! Wer hier was zu erzählen hat, der muss aufpassen, dass es nicht justiziabel wird! Ab Besten soll man die Fahrkarte kaufen und zu Hause bleiben!" Emil Sandemann kochte, sein ausgesprochen altmodischer Koffer zockelte artig hinter ihm her. Wie er Reisen HASSTE! Vor allem deshalb, weil er nicht daheim war! Vertraulich neigte sich Kay herunter. "Ich wäre ja auch lieber gebeamt, aber ich glaube, da muss man diese hässlichen Spandex-Anzüge tragen! SEHR unvorteilhaft!" Ein giftiger Blick aus gefleckten Augen laserte zu ihm hoch. "Angeln Sie ja nicht bei mir nach Komplimenten, nur weil Sie zufällig in so einer grässlichen Wurstpelle wie Adonis selbst aussehen!" "Oooooh!" Schnurrte Kay geschmeichelt, tapfer ein Prusten unterdrückend. "Du findest, dass ich es echt riskieren könnte? In meinem Alter?" Flötete er noch, um seiner Vorlage die Krone aufzusetzen. "PAH!" Fauchte es noch lauter an seiner Seite, zischte der humanoide Dampfkessel neben ihm. "Ist das jetzt hier das vermaledeite Abfahrtsgleis, oder was?!" Kay grinste vor sich hin, folgte dem eiernden Koffer brav hinter dem übellaunigen Eigentümer. Er hatte schon jetzt unglaublichen Spaß! §-#-§ "Sehr einladend." Brummelte Emil Sandemann matt, ohne die bissige Schärfe seiner gewohnten Ironie. Sie waren beide nach der langen Zugfahrt erschöpft. In Brüssel tobte sich gerade ein Unwetter aus, was die Optik nicht gerade verbesserte. "Na prima. Sintflut 2.0, und wir sind live dabei! Wie ich mich FREUE!" Grollte er, blinzelte zwischen den Tropfen auf seinen Brillengläsern hindurch den Stadtplan im Glaskäfig an. Jetzt wollte er bloß noch ins Hotel, aber bei ihrem Glück war das entweder eingestürzt, abgesoffen, in ein Wurmloch gefallen oder schlichtweg gar nicht gebucht. Kay studierte unterdessen sehr gelassen sein "Cleverle", wie Emil abschätzig das Mobiltelefon neuester Bauart getauft hatte. Perfekt für all die Dumpfbacken, die sich gern überwachen und kontrollieren lassen wollten! Für die Wettervorhersage auf ein dämliches Bildchen tippten, statt simpel das Fenster aufzumachen! "Theoretisch könnten wir die Metro nehmen, die in zehn Minuten abfährt." Eröffnete er höflich die nächste Runde. "Wenn wir den Automaten besiegen." Denn immerhin stand der Kauf zweier Billetts zwischen ihnen und hoffentlich sauberen Betten. "Ich hasse diese Ferien jetzt schon!" Verkündete Emil entschieden, packte seinen Koffer energisch am wenig ergonomisch geformten Griff, orientierte sich an den farbigen Leitsystemen. Nicht umsonst hatte er akribisch Notizen gemacht, wie ein Urwaldforscher auf Überlebensmission! Er war ja sehr weit weg von daheim! Lächelnd schloss Kay sich an, welt- und reiseerfahren. Er war gespannt, ob ein Automat Emil Sandemann die Courage abkaufen konnte. §-#-§ "Lecker, nicht?" Kay streckte erneut die durchsichtige Tüte mit den Kaffee-Sahne-Pralinen zu Emil hinüber, momentan das einzige Friedensangebot, was dessen gewittrige Miene entknittern konnte. Zu Kays eingestandener Verblüffung hatte Emil in Rekordzeit mit grimmigem Blick dem furchteinflößenden Automaten zwei Fahrkarten entlockt, im passenden Tarif, für den richtigen Zug. Den hatten sie auch artig bestiegen, samt Gepäck, unbelästigt. Jeder aufdringliche Blick war von Emils finsterem Ausdruck und dem altmodischen Taschenschirm in die Flucht geschlagen worden. Das Ding war locker zwanzig Jahre alt und schwer wie eine kleine Keule. Rolltreppen, unebenes Pflaster, Dusche von oben: der grantige Feldforscher war voran gezogen, unerbittlich in seiner Mission. Kay musste lediglich hinter den geteilten Fluten her spazieren. Dann hatte es im Hotel einen kleinen Fehler gegeben, ein winziges Missverständnis. Sehr bedauerlich. Weil man nämlich gerade einen Flügel renovierte, hatte der minimale Lapsus die Konsequenz, dass auf Kays Kreditkarte (Emil weigerte sich seit Jahrzehnten, diesen amerikanisch-imperialistischen Blödsinn mitzumachen) statt zweier netter Einzelzimmer ein komfortables Doppelzimmer registriert war. Mit einem großen Bett. Und einem extra großen Fernseher. "Wohl, damit man das Elend in dieser hässlichen Geschmacksruine nicht sehen muss!" Explodierte Emil im Foyer, nass, müde, bereits über das erträgliche Maß seiner Misanthropie hinaus frustriert. Kay war es unter Einsatz sämtlicher Entschuldigungsfloskeln, Mea Culpas, Verschwörungstheorien und Vergeltungsvorschlägen gelungen, Emil in den schleichenden Aufzug zu dirigieren, unter die Dusche zwecks Aufwärmen zu komplimentieren. Diese kurze Verschnaufpause hatte er genutzt, um Seelennahrung zu requirieren. Nun kauerte, in einen flauschigen Hausanzug gehüllt, der entschieden "Keiner da! Nie! Hau ab!" letterte, Emil zwar leidlich von einer Erkältung getrennt, aber resigniert und vergrätzt auf der Bettkante, mümmelte die aufgenötigten Pralinen. Es kostete Kay große Selbstbeherrschung, nicht tröstend über den wirren Schopf zu streichen. "Sie haben den Preis ganz schön heruntergesetzt." Versuchte er probehalber eine besänftigende Nachricht unterzubringen. "Wäre ja auch noch schöner! Hier verbrechen sie doch die ach so tollen Verbraucherschutzregeln, oder?! Da können sie sich mal gleich auf ne Klage freuen, wenn sie sich nicht am Riemen reißen!" "Das ist wahr!" Lobte Kay artig die gallige Replik. Immerhin sprach Emil wieder mit ihm, behandelte ihn nicht wie einen Mitverschwörer des Universums gegen ihn! Dennoch konnte er spüren, dass Emil mittlerweile vor ihrem Aufenthalt hier graute. Getrennte Zimmer waren ihm sehr wichtig gewesen, weil er auch mal für sich sein wollte. Niemanden sehen oder hören! Jetzt hingegen bestand auch noch die Befürchtung, dass sie dauernd zusammen sein würden, sogar im selben Bett!! "Hör mal, wenn du mal allein sein willst, sag's mir." Unterbreitete Kay deshalb ernst ein Friedensangebot, das keine Spuren in den Mundwinkeln hinterließ. "Dann drehe ich einfach eine Runde um den Block. Oder besuche den Wellness-Bereich." "Oh ja!" Fauchte Emil aufgebracht. "Schleppst dann Fußpilz von diesem Sportel-Ressort an, das kennt man ja! Oder irgendwelche Viren! Ekelhaft! Stinkst dann nach Chlor wie eine Chemietoilette!" Kay hielt sehr still. Sein ganzer Leib lauschte. Konnte das sein? Dass Emil in seiner Erschöpfung direkt zu ihm sprach, ihn nicht mehr mit penetranter Unerbittlichkeit siezte? "Dann lass ich das mal besser bleiben." Antwortete er versöhnlich. "Meinst du, man könnte hier in der Lobby das Internet benutzen?" Er achtete genau darauf, wie die Replik formuliert werden würde. "Oh, bestimmt!" Emil rieb sich die Nasenwurzel, polierte erneut die Brillengläser, deutliches Anzeichen für seine ausgelaugte Kondition. "Wahrscheinlich haben sie vorhin schon Dubletten von deiner Kreditkarte gezogen, ersteigern bei Ebay für dich Nilpferde und plündern deine Konten!" "Ganz zu schweigen von all den ekligen Bakterien auf Tastatur und Maus!" Seufzte Kay übertrieben kläglich, ließ sich rücklings auf die Matratze plumpsen. "Wälze dich bitte auf deiner Seite herum." Grummelte Emil neben ihm. "Ich kann diese Knitterfalten nicht leiden! Wieso können die Bettwäsche nicht so waschen, dass sie nicht vor Stärke steht?!" Kay, der bequem lag, schmunzelte hoch, legte noch einen Scheit auf das lodernde Feuer des Pessimismus. "Ich hab mal einen Bericht gesehen, da sind sie mit einer dieser UV-Lampen über Bettwäsche gegangen..." Emil wandte sich zu ihm herum. "Wenn jetzt noch etwas über klinische Forensik kommt, dann schläfst DU in der Wanne!" §-#-§ Die Nacht war nicht einfach gewesen, nicht, weil man sich wechselseitige sonore Geräuschentwicklung vorzuhalten gehabt hätte, oder weil das abgesteckte Territorium bestritten wurde, nein, sie waren es bloß beide nicht gewöhnt, dass da noch jemand schlief. Oder sich zumindest angespannt herum wälzte. So bedienten sie sich eher wortkarg beim Frühstücksbüfett, kauten matt vor sich hin. Draußen regnete es noch immer. Eine Spaziertour entlang des "Parcours" fiel somit buchstäblich ins Wasser. "Dann fahren wir eben direkt ins Museum!" Verkündete Kay entschieden. Da war es trocken, es gab einen gewaltigen Lesesaal. Zwischendrin konnte man auch etwas essen. Bestimmt würde sich Emils depressive Stimmung dann heben. §-#-§ Es bereitete ihm größeres Vergnügen als zuvor bereits vermutet. Tatsächlich war das Comic-Museum sehr bunt und informativ aufgemacht. Man wurde umfänglich über die Entstehungsperioden wortwörtlich ins Bild gesetzt und konnte über alle Phasen bis zur Produktion die Entstehung dieser Kunstbände verfolgen. Gemächlich, konzentriert schritten sie gemeinsam Wände, Ausstellungsvitrinen und Glastafeln ab, tauschten nur hin und wieder sehr gedämpft kurze Bemerkungen aus. Ein wenig sakral mutete diese Erfahrung durchaus an, doch Andacht zog den Kürzeren, wenn ein Magen grollend Beschwerde über Vernachlässigung führte. Also begaben sie sich in die gut gefüllte Brasserie des Museums, um die Energiereserven mit originellen Kreationen aufzufüllen. Draußen perlten noch immer Regenschnüre geduldig herab, was einen Spaziergang verhinderte. Warum auch, wenn doch der Lesesaal lockte? Hier ging es ein wenig lebhafter zu, denn wider Erwarten war nicht ganz Brüssel ausgeflogen, sondern verlustierte sich hier in allen Altersklassen, blätterte, kicherte oder klebte versunken mit den Augen auf verstärktem Papier. Kay wählte sich eine klassische Abenteuergeschichte, während Emil zu seinem Amüsement eine Art James Bond-Version franko-belgischer Prägung verfolgte. Schnelle Autos, Flugzeuge, Boote, fremde Länder, Exotik, es mochte durchaus altmodisch anmuten, doch dem gespannten Leser gefiel's, das konnte man am Mienenspiel erkennen. Das Kinn in die Hand gestützt, vorgeblich in seinem Piratenepos blätternd, studierte Kay seinen Reisegefährten schmunzelnd. Dessen Laune wirkte nun tatsächlich gehoben, so eifrig, wie er sich von der Welt separierte, um kopfüber in fremde Abenteuer zu stürzen! §-#-§ "Unglaublich!" Knurrte Emil Sandemann aufgebracht, klopfte energisch seine Jacke über dem Papierkorb aus. "Schon komisch." Kommentierte Kay artig, schwor sich ein, bloß nicht in unpassendes Gelächter auszubrechen. Nach dem ganzen Tag im Museum hatten sie, tatsächlich trockenen Fußes, im Schein einer wässrigen Abendsonne den Weg zum Hotel zurückgelegt. Beinahe störungsfrei. Aber das hier war Brüssel. In Brüssel konnte man eine Menge Helden aus der Comicwelt finden, nicht nur gute Pommes und ein leichtes Bier, das sogar Emil gemundet hatte. Als sie nach einem spontanen Halt zur Fütterung der Raubtiere in Gürtelhöhe wieder ihren Weg fortsetzten, führte dieser sie an einer Art Szenekneipe vorbei. Vor diesem Etablissement stand in Lebensgröße Jack Cougar. Nun, zutreffenderweise ein Pappaufsteller des Helden, Seite an Seite mit seinem deutschen Synchronsprecher, Werbung und Hingucker für eine Lesung in der Kneipe. Dummerweise gruppierten sich auf dem Bürgersteig vor besagtem Etablissement diverse, gut gelaunte Personen, die trotz der Zivilaufmachung und Unwahrscheinlichkeit dieser Begegnung Kay erkannten, weshalb er sofort freundlich, mit viel Hallo und noch mehr Mobiltelefonen und Flachcomputern umlagert wurde, damit auch alle ihm die Hand schütteln, mit ihm posieren konnten, für all die Leutchen daheim und die unzähligen Freunde in der digitalen Wunderwelt. Der kleine Aufruhr zog die Aufmerksamkeit nach draußen. Die Kneipe leerte sich ein wenig, man entschied, doch gleich drinnen die spontane Begeisterung fortzusetzen. So kam es, dass Kay ein kurzes Kapitel selbst vortrug. Ihm schwante durchaus Übles, was Emils Reaktion betraf. Andererseits wollte er auch die netten Menschen nicht enttäuschen, da er doch selbst einen wunderbaren Tag verbracht hatte. Emil, dessen wirren Schopf er immer am Rande des Publikums erspähte, wartete grollend im Hintergrund. "Das war wirklich ein seltsamer Zufall!" Beteuerte Kay nun besänftigend, während er seine eigene Jacke aufhängte. Dabei segelte ein Handzettel zu Boden, den er wohl eingesteckt haben musste. Er las ihn auf, lachte. "Schau mal, was es nicht alles gibt!" Mit spitzen Fingern wurde der kleinformatige Bogen in Empfang genommen. Emil schenkte ihm einen SEHR abgründigen Blick. "Ist das so eine Rosa Lesung, oder so?" Kay streifte sich sorglos sein T-Shirt über den Kopf, schenkte Emil ein aufmunterndes Grinsen. Der verdrehte seufzend die Augen, reichte das Blatt, auf dem sich im 40er Jahre-Stil zwei Matrosen eng umschlungen hielten, an seinen Besitzer zurück. "Ich würde, allerdings bin ich keineswegs Experte auf diesem Gebiet! dieses Pamphlet, vor allem aber die sich darauf befindliche, eindeutig mit Kugelschreiber ergänzte Telefonnummer, für einen genretypischen Kontaktanbahnungsversuch halten!" Ätzte Emil giftig. "Oh, das ist eine Nummer drauf?" Unbeeindruckt studierte Kay die Abbildung. "Hab ich gar nicht wahrgenommen." "Tsktsk!" Schnalzte Emil abschätzig die Zunge. "Dass eins aber klar ist: keine Ferkeleien im Zimmer! Das verbitte ich mir ausdrücklich!" Kay blinzelte verblüfft, lachte auf. "Ehrlich, Emil, ich liebe DICH! An irgendwem sonst bin ich überhaupt nicht interessiert!" "...ich werde jetzt eine Dusche nehmen und wünsche nicht gestört zu werden!" Flüchtete nach einem Augenblick konsterniert-verschreckter Erstarrung das Objekt seiner Zuneigung in den vermeintlich sicheren Hafen der Körperhygiene. Mit einem Lächeln entsorgte Kay den Handzettel in den Papierkorb, streckte sich gemütlich auf ihrem gemeinsamen Bett aus. Was für ein herrlicher Tag! Und was für eine phantastische Gesellschaft! §-#-§ Da sich der nächste Morgen, die Wochenmitte, mit schüchternem Sonnenschein zeigte, entschieden Emil und Kay in seltener Eintracht, nun auch den sogenannten Parcours abzuschreiten. Unzählige Häuserwände und Fassaden waren mit Figuren geschmückt worden, die zum Teil weltbekannt, aber auch gelegentlich eher Wissenden vertraut waren. Kay ließ sich von Emil mit eifrigen Nachfragen und unermüdlichem Interesse alles erklären. Sie diskutierten über die episodischen Entwicklungen, den gegenseitigen Einfluss anderer Kulturen (Hollywood, Bollywood, Manga, Manhwa, Cäsars de bello gallico, Homers Odyssee, Shakespeares Werke, Bibel, Talmud...), unterhielten sich derart prächtig in ihrer Auseinandersetzung, dass sie vom mittäglichen Grummeln der jeweiligen Innereien ganz überrascht wurden. "Wohin wollen wir?" Kay sah sich unternehmungslustig um, stupste Emil behutsam an. "Schau mal, ist das ein Bistro für Veganer?" "Sind das Außerirdische oder eine Sekte?" Emil verschwand so rasch in seinem eingerüsteten Schneckenhäuschen, dass er damit Kay überrumpelte. "Oh, wenn dir das nicht recht ist, können wir auch gern was anderes suchen." Tiefschwarze Augen studierten die hinter Brillengläsern versteckten, gefleckten forschend. "Ich will bloß beim Essen nicht moralisch belehrt werden." Grummelte Emil widerstrebend. Das Auskunftsbüro war gegen besseres Wissen doch noch geöffnet. "Hmmm." Kay spähte aufmerksam zu dem mutmaßlichen Ort potentieller Gewissensforschung. "Ich könnte einfach heroisch die Aufmerksamkeit der Sekte auf mich ziehen, dann kannst du fliehen!" Bot er selbstlos an. "Pah!" Knurrte Emil, starrte zu Kays Amüsement grimmig-verunsichert ebenfalls zu dem doch so harmlos wirkenden Ort. "Für manche Leute sind ihre Mitmenschen die Sorte Tier, die auf keine Rücksicht hoffen darf!" "Es könnte aber auch ein Rudel von notorischen Weltverbesserungs-Fans sein oder Hippies!" Soufflierte Kay im Verschwörungstonfall. "Oder wir werden beide gefilzt, ob wir Leder oder Wolle tragen. Sag mal, ist Baumwolle akzeptabel, wenn dabei nur Menschen ausgebeutet werden?" Richtete er sich auf. Emil schenkte ihm einen sehr langen, sehr gründlichen Blick. "Ich gehe davon aus, dass du dich ganz heldenhaft nackert machen wirst, wenn sie uns einkreisen, damit ich fliehen kann." Grummelte er entschlossen, straffte die Schultern. "Also, gehen wir da jetzt essen, oder was?!" Kay folgte artig, rang dabei mühsam mit polterndem Gelächter, das sein Zwerchfell zu sprengen drohte. Emil hatte eine Mission, er war nicht aufzuhalten! »Das alles nur für mich!« §-#-§ "So ein Pech!" Japste Kay und schlüpfte eilig aus seinen durchweichten Schuhen. Nach dem leckeren Mahl in dem ganz und gar nicht von gemeingefährlichen "Pflanzenfressenden" bevölkerten Restaurant (auch ein Striptease war nicht vonnöten gewesen) hatten sie ein Hergé gewidmetes Museum etwas außerhalb besichtigt, sich alles rund um Tim und Struppi, die bekanntesten Helden aus der Zeichenfeder des Künstlers, angesehen. Unseliger Weise zog eine weitere, sehr nasse Front über die Stadt, was sie gründlich taufte, trotz weniger Meter von der Station zu ihrem Hotel. So standen sie nun, tropfend, auf der Fußmatte, ziemlich eng beieinander, um in atemberaubend akrobatischen Verrenkungen nasse Kleider und Schuhe abzustreifen. "Deine Schuhe!" Emil, in Unterhosen, marschierte mit beiden Paaren zu den Zeitungen, die er bisher erworben hatte, um täglich im Bilde zu sein, was in der fernen Heimat vor sich ging, stellte sie umsichtig auf das Papier, stopfte auch ein wenig aus, um die Trocknung zu beschleunigen. "Geh du zuerst unter die Dusche!" Kay rollte unterdessen ihre nasse Wäsche zu kompakten Bündeln, um die Überschwemmung einzugrenzen. Emil musterte ihn kritisch. "Solltest du das offerieren, Herr Entenparka-Träger?" Kay warf sich in Pose, durchaus beeindruckend, denn er HATTE Modellmaße für die Liebesromaneinbandbilder, wie Emil ungnädig bemerkte. "Ich kann das ab!" "Apollon-Jünger! Dämliche Aufschneider!" Grummelte Emil, senkte jedoch die kritische Augenbraue wieder, barg die nassen Wäschepäckchen in einer Plastiktüte, verschwand zuerst im feuchten Gelass. Sich die Arme reibend, auf der Stelle hopsend verwünschte Kay innig die Heimtücke der Witterung. Andererseits konnte man ihr auch ein wenig Dank zollen, denn sonst hätte sich wohl ein bestimmter Körperteil in unerwünschter Weise gefährlich verraten! §-#-§ "Wir gehen jetzt zurück." Bestimmte Emil unerbittlich. Sie hatten sich die ausgestellten Figuren, Skizzen und andere Ausstellungsstücke im MOOF unterhalb der Galeria Horta angesehen, wollten dann noch einen Abstecher zu anderen historisch bedeutsamen Orten in der Nähe unternehmen. Allerdings reichte es ihm nun, dass Kay wie ein Schlafwandler neben ihm her tappte, unterdrückt schniefte und kaum ein paar Worte über die Lippen brachte, ganz gleich, wie er ihn auch provozierte! Von grimmiger Entschlossenheit angefeuert fasste er Kay im Nacken, zog dessen Kopf etwas tiefer und kontrollierte mittels Handauflage die Stirntemperatur, studierte die fiebrig glänzenden, tiefschwarzen Augen, die ihn verschleiert anblinzelten. "Na toll!" Schimpfte er bissig, hakte Kay unter, der sich willig ziehen ließ. "Gratulation, Held Apollon! Wir haben es geschafft, uns eine Erkältung anzulachen! Weil wir ja gestern den starken Mann markieren mussten, in Unterhosen auf der Fußmatte herumtanzen! Prächtig! Einfach prächtig!" "'Tschuldige." Krächzte Kay matt. Er fühlte sich wirklich nicht sonderlich gut, hatte aber nicht beabsichtigt, ihren Urlaub durch eine Unpässlichkeit zu verderben. Zudem hatte Emil ja wirklich blitzartig geduscht, so lange konnte er da ja gar keinen Solo-Tango hingelegt haben! Oder? "Papperlapapp!" Grollte Emil ungnädig. "Best foot forward, zurück in die Bruchbude und unter das Wanzenlager! Sollen die sich doch mit deinen Viren vergiften!" "Deine Fürsorge rührt mich sehr." Murmelte Kay in einem Anflug des üblichen Elans, was ihm einen bitterbösen Blick einbrachte, doch Emil fachte nicht für das nächste Verbalgefecht an, sondern lenkte ihn wie einen Schwertransporter Richtung Hotel. Dort musste er nach strenger Ermahnung heiß duschen und sofort unter die Decke kriechen. Kay schickte sich drein. In seinem Schädel nahm die Watte überhand. §-#-§ "Schlucken!" Kommandierte Emil befehlsgewohnt, traktierte Kay mit Brühe, nachdem er mit kritischem Blick eine Brauseschachtel studiert hatte, die bei Erkältungen die üblichen Symptome reduzieren sollte. Das grässliche Gebräu war der Brühe voran geschickt worden, in Erwartung, man könne dann die Zunge wieder etwas entlasten. "Brrrr..." Murmelte Kay matt, hielt sich mit beiden Händen den Schädel. Fies! "Langsam wieder runter auf die Matratzengruft!" Emil befleißigte sich literarischer Anspielungen, verhinderte unerwartet kraftvoll einen abstürzenden Plumps. Kay stöhnte unterdrückt. "Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein!" Tadelte Emil in gedämpftem Tonfall. "Helden-Schmus! Pah!" Kay registrierte vage, wie sorgsam die Decke festgestopft wurde. Der Raum versank in einer angenehmen Semi-Dunkelheit. Er senkte die Lider und hoffte auf Linderung. §-#-§ Kay wurde von seiner staubtrockenen Kehle geweckt, die ABER PLÖTZLICH Gegenmaßnahmen verlangte, bevor sie die nächste Eskalationsstufe beschritt, nämlich einen bellenden Hustenanfall einzuleiten. Dieser Entwicklung musste entgegengetreten werden, also tastete Kay nach den Überkopfschaltern der Bettseitenbeleuchtung, hievte sich ächzend auf. Der Nachttisch bot das gesamte Arsenal flüssiger Virenkiller, dazu noch Wasserflaschen, offenkundig nicht aus der Zimmerbar. Auch die Packung Lutschpastillen mussten erst später dazu gekommen sein. Behutsam fischte er, erfreut über die gute Koordination, eine Flasche heran, bediente sich gründlich. Nachdem eine drohende Dürre ausgeschlossen schien, warf er vorsichtig einen Blick auf die Nachbarbettseite, die im Schatten lag. Dort ruhte, wie gewohnt in Mumienart eingewickelt, nur die Schopfspitzen zu erkennen, sein rühriger Mitreisender, der offenbar eingekauft hatte, um ihn hier zu versorgen. "...danke." Wisperte Kay, von großer Zärtlichkeit erfüllt. Vermutlich würde er eine weitere Tirade zu seinem Heldentum anhören müssen, welches in die gallige Feststellung mündete, er sei als Kadaver einfach zu hinderlich, weshalb die Funktionsfähigkeit weitgehend wiederhergestellt werden müsse. Wagemutig löschte Kay die Beleuchtung wieder, rutschte über die Demarkationsgrenze näher an den süßen Schläfer heran. Ob er es riskieren sollte? Tollkühn legte er einen Arm über den Rücken, hielt die Luft an, ob neben ihm ein Rumpelstilzchen ob dieses Übergriffes explodieren würde, doch Emil schlief einfach weiter, regte sich nicht. Und damit auch nicht auf. »Fein!« Konstatierte Kay, der sich gleich noch ein bisschen besser fühlte und jagte ein paar Schäfchen über die Zäune. §-#-§ "Bist du auch sicher?!" Emils Laserblick hätte Superman erblassen lassen, doch Kay nickte unerschütterlich. Ja, er fühlte sich wirklich, ohne jeden Zweifel und absolut genesen genug, um an ihrem letzten Aufenthaltstag in das Village de la Bande Dessinée zu marschieren! Dabei handelte es sich um den größten Comicbuchladen in Europa. Außerdem konnte man dort auch thematisch korrekt und originell speisen. KEINE Bildungsreise in Sachen Comic hätte diesen Ort ausgelassen! Zwar hatte Kay noch hier und da ein Gefühl von Pudding in den Gliedern, aber sein Kopf funktionierte wieder (zumindest im gewohnten Maße). Er würde auf keinen Fall diesen letzten Punkt ihrer Reise durch kleinere Unwohlsamkeiten torpedieren! "Ich möchte da hingehen! Und auch endlich raus hier!" Mit bezeichnender Geste umfasste er ihr trautes Heim der vergangenen Tage. Sie waren einander zwar nicht unerträglich auf die Pelle gerückt, aber die triste Atmosphäre, von Umbauarbeiten begleitet, konnte auch das stärkste Gemüt in Melancholie versetzen. "Also gut." Gab sich Emil konziliant, doch ohne eine strenge Auflage entließ er Kay nicht wieder seiner eigenen, mutmaßlich leichtfertigen Urteilsfähigkeit. "Aber wenn du dich nicht wohlfühlst, wirst du es mir sofort sagen! Ich bin kein Ersthelfer oder Sanitäter!" "Aye, aye!" Kay salutierte, etwas wackelig, was ihm einen erneuten giftigen Blick einbrachte. Er wurde jedoch aus dem konzentrierten Fokus Sandemannscher Aufsicht entlassen, durfte sogar sein eigenes Gepäck dirigieren, was sie für die Zeit ihres "Dorfbesuchs" bereits am Bahnhof einschließen wollten. Zu seiner profunden Erleichterung nahm Emil ihm offenkundig seinen Erkältungsanflug nicht übel. Er hatte auch kein Wort darüber verloren, dass Kay in Missachtung ihrer Absprache am Morgen definitiv auf der verbotenen Zone des Betts lagerte. Dieses Pardon war vermutlich seiner Angeschlagenheit zuzuschreiben, dennoch ermutigte es Kay, von einer soliden Basis für eine lange Freundschaft auszugehen. Emil kam ihm unzweifelhaft entgegen, das konnte man nicht anders einschätzen! Sein Begleiter paradierte mit prüfendem Blick inzwischen die Regalreihen ab, blieb hier und da stehen, drehte den Kopf wie ein Uhu, um die Einbandbeschriftung zu entziffern. Kay folgte ihm artig, ließ sich immer wieder erklären, was Emils Aufmerksamkeit gerade auf sich zog. Das gewaltige Geschäft war enorm gut besucht, der Geräuschpegel auch nicht ohne, trotzdem fühlte es sich intim an, mit Emil den Kopf zusammenzustecken und leise zu debattieren. Emil seinerseits richtete seine Konzentration auf Bände und Serien, die man nicht so ohne weiteres im trauten Heimathafen bekommen konnte. Zwar gab es Mittel und Wege (vor allem flüssige Mittel), jedoch hier, an der Quelle, konnte man durchaus schwelgen. Das reduzierte die Auswahl erheblich, erfreute ihn jedoch auch, da er sich zu Hause damit gut versorgt wusste. "Sag mal, magst du die Schlümpfe eigentlich?" Kay beugte sich vertraulich zu ihm hinunter. Eine gefährliche Frage, immerhin wurden sie von den blauen Gestalten hier auf Schritt und Tritt begleitet. "Nö. Impertinent und nervig." Emil riskierte einen Lynchmob. "Ich mochte Abenteuergeschichten einfach lieber." Kay schmunzelte. Wie typisch für seinen Emil! Hasste Reisen, Aufregung, andere Leute, aber las gern Abenteuergeschichten! "Hier!" Gänzlich unerwartet wurde er am Ärmel gezupft. "Das hier ist sehr anspruchsvoll, aber nicht so verdreht wie bei Moebius oder Bilal!" Ein Album der Serie "Corto Maltese" wurde Kay aufgenötigt, der den Wink mit dem Zaunpfahl verstand, einen Schritt wich und artig blätterte. Allerdings waren hier spezielle Sprachkenntnisse vonnöten, wie er rasch feststellte, um sich keine Andeutung und Nuance entgehen zu lassen. "Ich habe auch einige in Übersetzung bei mir." Emil reihte sich neben ihm ein. "Ich denke, ich werde nichts kaufen und schwer mit nach Hause schleppen. Wir könnten aber etwas essen." Damit wies er auf das ausgestellte Angebot. Kay nickte beifällig und schob den Band wieder in die Lücke im Regal. "Prima! Ich würde gerne wissen, welche Serie die meisten Bände hat, damit ich die bei dir lesen kann!" Ergänzte er verschmitzt. Emil starrte grimmig zu ihm hoch, schnaubte bloß. Während sie sich Plätze suchten, um zu speisen, jubilierte Kay innerlich, denn Emil hatte ihm diese Gunst nicht verweigert! §-#-§ Kapitel 24 - Heim! Eigentlich wäre ein gezielter Ellenbogen-Check angezeigt, aber Emil Sandemann hatte seine Regeln. Die sahen trotz einer gewissen Bedrängnis "anständiges" Verhalten vor. Also grummelte er bloß leicht in sich hinein, als Kay erschöpft schlummernd, die Arme vor der Brust gekreuzt, den Kopf gesenkt, ein wenig eingerollt, unabänderlich zur Seite gegen seine eigene Schulter abkippte. »Depp!« Dachte Emil wenig schmeichelhaft. Das musste ja so kommen! Von wegen wieder vollkommen hergestellt! Dabei hatte er wirklich darauf geachtet, dass dieser notorische Aufmerksamkeitserreger sparsam mit seinen kümmerlichen Reserven umging! Er schoss einen giftigen Blick auf den Gang, als im Abteil die Tür aufgeschoben wurde, zwei junge Frauen zu Kay starrten, dabei tuschelten/kicherten. »Haut bloß ab, ihr trutschigen Tanten!« Bemühte Emil finstere Suggestionskräfte. Möglicherweise zeigte sich auch ein Anflug von Manieren, da sie davon absahen, Kay anzusprechen und damit aufzuwecken. Emil seufzte erneut lautlos. Die ganzen letzten Tage hatte er sich stark konzentriert, um auch nichts auszulassen, alles zu registrieren, zu speichern und zu verarbeiten. Seine "Festplatte" hatte ordentlich rotiert, das konnte man nicht leugnen. Darüber verstrich die Zeit, sich über seine gewohnte Abneigung gegen ständige Gesellschaft, Reisen, andere Leute, MENSCHEN und die Umstände im Allgemeinen zu ärgern. Ja, man musste, widerwillig, eingestehen, dass der dezent schnaufende Reisebegleiter an seiner Seite, tatsächlich sehr erträglich gewesen war, die Regeln beachtet hatte, ihm nicht auf die Nerven gegangen war oder ständig alles und jedes kritisierte, was Emil nun mal für wichtig hielt. Gut, auf die Episode in der Kneipe hätte er absolut verzichten können, andererseits... Anständiger Weise musste man zugeben, dass Kay Nelson Jefferson nun mal eine Person der Öffentlichkeit war, und, völlig überflüssigerweise, auch noch eine gewisse Attraktivität an den Tag legte (oder auch die Nacht, aber das war definitiv nicht seine Baustelle!). In Zeitanteilen gemessen nahm sich diese Trübung der Reise also eher gering aus, statistisch vernachlässigbar. Wäre demgemäß ein Fazit zu ziehen, so würde es wohl lauten: unerwartet nett. Unterhaltsam. Lehrreich auch, aber das lag an der akribischen Vorbereitung! Es gab jedoch auch einen durchaus beängstigenden Aspekt zu notieren: trotz ihrer ständigen Gesellschaft erwies sich der Apollon-Darsteller als erschreckend hartnäckig, schien nicht so leicht zum Aufgeben zu bewegen zu sein. Obwohl er doch nun wirklich erkennen müsste, dass bei ihm hier nichts zu holen war! Zumindest nicht für einen Mr. Apollon! Emil zog die Stirn kraus, lupfte vorsichtig die Brille, um die Gläser zu polieren, mit sparsamen Bewegungen, um den Tiefschläfer nicht aus der Balance zu bringen. »Schwierig!« Konstatierte er zwischen Sorge und Frustration schwankend. Nach seiner bis dato untadeligen Analyse-Formel zur Vorhersage potentieller Entwicklungen hätte das Objekt "Kay" sich eigentlich anders verhalten müssen. Schon längst! Bloß. Entweder stimmte also die patentierte Formel nicht (undenkbar!), oder es gab eine erhebliche Diskrepanz bei der Einschätzung unveränderlicher Eigenschaften des Objekts. Das zog besorgniserregende Konsequenzen nach sich. Entscheidungserhebliche Konsequenzen! §-#-§ Emil knuffte Kay behutsam in die Seite. "Augen auf! Wir müssen umsteigen!" Kommandierte er und apportierte sicherheitshalber auch noch Kays unverschämt gehorsames Gepäck. Dessen Besitzer taumelte nicht gerade vertrauenerweckend hinter ihm her. Knurrend hielt Emil inne, stellte den Koffer ab, nötigte Kay darauf. "Mach Platz! Bewachen und nicht vom Fleck rühren!" Ordnete er im besten Kommiss-Tonfall an, eilte dann zu einem der zahlreichen Geschäfte in ihrem Umsteigebahnhof, die rund um die Uhr die Reisenden mit allerlei versorgten. Besorgt um den Zustand hetzte er mit Beschleunigung zurück, registrierte erleichtert, dass sowohl Kay nicht vom Koffer gefallen als auch alle beide noch vorhanden waren, sich auch kein Auflauf notorischer Fans gebildet hatte. "Schnabel aufsperren!" Bellte er, noch im Lauf Traubenzuckerquadrate aus ihrer durchsichtigen Verpackung pellend, stopfte rücksichtslos einen Brocken in Kays Mund. Der ächzte, durfte dann mit Wasser aus einem Verkaufskühlschrank nachspülen. "Gründlich kauen! Es muss nicht schmecken, nur wirken!" Beugte Emil gnadenlos Protesten vor, beäugte wie ein Habicht, ob sein Schützling auch buchstabengetreu den Anweisungen von Mutter Curare nachkam. Kay verzog zwar das müde Gesicht, verzichtete jedoch auf jede Obstruktion. Ein wenig fühlte er sich doch angeschlagen. "Nun wieder auf die Beine!" Nachdem ein weiteres Quadrat vernichtet worden war, um die süß-toxische Wirkung in Kays Blutkreislauf zu entfalten, zockelte er, halb von seinem Koffer mitgezogen, den Emil ebenfalls neben seinem eigenen, bockigen Gepäck dirigierte, hinter ihm her. Vage registrierte er ein bedauerndes Schuldgefühl, doch so richtig wach wollte sein Verstand einfach nicht werden! §-#-§ "Einfach prächtig!" Knurrte Emil selbstironisch, doch das hinderte ihn keineswegs an konzertierten Aktionen. Sie hatten den Zielbahnhof zwar heil und unbelästigt erreicht, doch die Wirkung der Muntermacher reichte nicht aus, um Kay sich selbst zu überlassen. Also reduzierte er seine Barschaft um eine Taxifahrt, schleppte das Gepäck ächzend in Kays 'Schuhkarton'-Appartement, den Mieter selbst an seinem Ärmel im Schlepptau. »Wie Mutter Glucke!« Grollte er innerlich ein wenig hilflos. Andererseits konnte er Kay wohl kaum irgendwo stehen lassen, in dessen augenblicklichem Zustand! Ohne Rücksicht auf Verluste zog er den benommenen Gefährten in dessen kleines Badezimmer, wusch ihm Hände und Gesicht, nötigte ihn dann zum gewaltigen Bett, zerrte ihm die Kleider bis auf die Unterwäsche vom Leib, ordnete das Applizieren von sauberen Socken, Shorts und einem T-Shirt an. Anschließend musste Kay unter die Bettdecke kriechen und sich gefälligst von innen begucken! Dieser Anordnung leistete Kay mangels Alternativen Folge, rollte sich halb auf den Bauch und schlief schon, bevor ihn weitere Anweisungen ereilen konnten. "Tsktsk!" Kommentierte Emil gallig, aber sehr leise, reduzierte die Lichtquellen. Eigentlich sollte er nun sein Gepäck auflesen, hoffen, dass noch ein Zug nach Hause fuhr... Obwohl es schon ziemlich spät war und er eigentlich keine Lust auf den Nachtbus oder unternehmungslustige Gesellschaft hatte. "Na schön!" Brummte er entschieden, wühlte leise, ohne einen Anflug von Schuldbewusstsein in Kays Koffer herum, um die Schmutzwäsche auszusortieren, die Hygieneartikel im Bad zu verstauen. Anschließend studierte er mit kritischem Blick aus frisch gewienerten Brillengläsern die handschriftlichen Notizen zur Nutzung der Hauswaschmaschinen. §-#-§ Kaffee. Ja, es roch definitiv nach Kaffee! Kay klappte die Augen auf, fand sich zu seiner Verblüffung im eigenen Bett wieder. Er sortierte etwas schwerfällige Gedanken in die richtige Reihenfolge, drehte den Kopf, sah die zurückgeschlagene Bettdecke an seiner Seite, den bockigen Koffer... "Emil?" "Bei der Arbeit!" Drang es bissig aus dem Badezimmer, dann erschien der Misanthrop aus Leidenschaft höchstpersönlich. "Unglaublich, einfach unglaublich! Ich hoffe, du benutzt den Trockner im Keller nicht?!" Legte Emil auch sogleich los. Petitessen wie einen Morgengruß oder die Erkundigung nach dem werten Befinden mussten sich hinter seiner gerechten Empörung anstellen! "Erst musste ich dieses Ding, das angeblich eine Waschmaschine sein soll, ein RÜLPSENDES Monster aus der grauen Vorzeit, justieren, damit es nicht wie ein Springbock durch diese versiffte Abstellkammer hopst! Dann dieser Trockner! GRAU-EN-HAFT! Stinkt wie eine Senkgrube! Widerlich!" Emil baute sich vor Kay auf, die Hände in die Hüften gestützt, aufgebracht. "Ich habe mir also erlaubt, in deinem Badezimmer die Wäsche zu flaggen! Ich wünsche keine Kritik zu hören, denn solche Zustände sind skandalös! Ich kann gar nicht glauben, dass ich GELD eingeworfen habe, um dieses gierige Rüttelmonster zu füttern!" "...ich glaube, mir geht's besser." Kommentierte Kay schließlich trocken. "Ich höre und sehe dich toben." Augenbrauen zogen sich gewittrig zusammen. "Also, erlaube mal! Was sind denn das hier für Zustände, frage ich dich?! Ist doch Schweinkram, diese Maschinen so verkommen zu lassen! Das kann man doch nicht einfach so hinnehmen!" Pulsierte Emil auf 180, die Wangen gerötet. "Ich benutze den Trockner nie." Bemühte sich Kay unterdessen um Schadensbegrenzung. "Riechst du auch Kaffee?" "Selbstverständlich rieche ich auch Kaffee!" Schnaubte Emil grimmig. "Immerhin habe ich ihn gerade aufgebrüht! Wieso hast du eigentlich einen Kühlschrank?! Benutzt du den zur Energieverschwendung?! Nicht zu fassen, dass du überhaupt nichts zu essen in diesem Schuhkarton hast!" Mit dieser vernichtenden Verurteilung machte Emil kehrt, um die Kunst des Wäscheaufhängens im Badezimmer zu improvisieren. Kay sackte zurück auf seine Matratze, rieb sich mit beiden Händen kräftig das Gesicht. Er lächelte. §-#-§ Emil pflegte grundsätzlich zu frühstücken, und zwar nach dem Aufstehen. Er hatte überhaupt kein Verständnis für Langschlafende, Frühstücksverweigerung oder notorisches KuK-Menü! Kay war über diese Haltung bereits unmissverständlich ins Bild gesetzt worden. Da er weder ein KuK-Fall war ("Kippen und Kaffee, ist doch logisch?!"), noch nach dem Aufstehen zu streiten pflegte, passte er sich einfach seinem unleidlichen Freund an. Eine erfolgversprechende Taktik, denn wenn man Emil schalten und walten ließ, hatte der gute Laune, arbeitete durchaus stillvergnügt vor sich hin und war generell sehr entspannt. Also gab es eben frisch aufgebrühten Kaffee, in Kays selten genutztem Backofen aufgebackene Blätterteighörnchen mit Aprikosenmarmeladenfüllung, dazu Stullen mit Käse, Tomatenscheiben und Essiggurken. Ein Streifzug zum nächstgelegenen Supermarkt verschaffte Kay dieses unerwartete, opulente Mahl. "Also wirklich!" Emil tadelte ihn streng. "Du musst dir wenigstens eine eiserne Reserve vorhalten! Was machst du denn, wenn du morgens aufwachst und einen Hungerast hast?! Die Tapete abkauen?! Die Fussel aus den Waschmonster futtern?!" Bei dieser Vorstellung würgte es Kay hässlich im Halse. "Ich schätze, ich brauche da deine Nachhilfe." Er seufzte mitleiderregend. "Ich bin leider ein notorischer Automaten-Flipperer." "Das geht nicht!" Bestimmte Emil entschieden. "Du weißt doch gar nicht, wie lange das Zeug da drin liegt! Außerdem könnte der Strom mal in der Nacht ausfallen, und was dann?! Überzuckerter Labberkram! Aber mich in ein Veganer-Reservat schleppen! Ha!" Betont schuldbewusst senkte Kay den Kopf, kämpfte tapfer gegen ein unpassendes Prusten an. "Ich SEHE, wie du über mich lachst!" Zischte Emil grollend. "Das ändert nichts daran, dass es ein beklagenswerter Mangel an Kultur ist, wenn man nicht anständig frühstückt!" "Ich könnte ja zum nächsten Mac...?" Triezte Kay mit Unschuldsmiene zuckersüß, doch Emil fuhr ihm unmanierlich in die Parade. "Untersteh dich! Hast du eine Vorstellung davon, was in diesem Zeug alles drin ist?!" Eine vage Ahnung hatte Kay durchaus, doch Emil malte nun in wenig ansprechenden Farben jede Menge Details in ein abschreckendes Bild. Offenkundig gehörten Fastfood-Ketten zur Gruppe erklärter Feinde. "Ach, übrigens!" Emil erhob sich, um Geschirr zur winzigen Spüle zu apportieren. "Da hat irgendein Besessener fortwährend angerufen und den Blechknecht verbal belästigt. Ich wollte selbstverständlich nicht zuhören, "aber das Ding ist auf Mithören eingestellt." Ergänzte er bissig, Kay schmunzelte. "Das war wahrscheinlich Robert. Er ist ein bisschen übermotiviert." "Klang für mich wie jemand, der dieses dämliche Apollon-Zeug zu ernst nimmt!" Bemerkte Emil mit grimmigem Blick. "Der hat außerdem eine sehr unappetitliche Phantasie!" Ergänzte er angewidert, in Erinnerung an die Mutmaßungen, die Robert fernmündlich über die Hinderungsgründe geäußert hatte, Kay nicht persönlich zu erreichen. Der stützte den Kopf in eine Hand und grinste frech. "Robert GLAUBT an Apollon." Emil studierte ihn argwöhnisch. "Ich hoffe, er ist in ärztlicher Behandlung!" Schnaubte er schließlich bissig. "Nun, wie dem auch sei, ich nehme jetzt meinen Abschied!" Denn er wollte jetzt endlich nach Hause, seine Wäsche waschen, einkaufen und sich ein wenig erholen von so viel Gesellschaft! Kay erhob sich, folgte ihm. "Dann komme ich morgen Nachmittag bei dir vorbei, ja?" Lud er sich herausfordernd ein. "Wegen Corto Maltese." "Musst du nicht arbeiten?!" Emil packte seinen bockigen Koffer am unergonomischen Klappgriff. "Außerdem hast du bestimmt eine Erkältung! Wenn du heute Nacht diesen ganzen Bockmist für die anderen Apollon-Bekloppten raussäuselst, wirst du keinen Ton rausbringen!" "Na, dann hast du ja was, auf das du dich freuen kannst!" Grinste Kay provozierend, lehnte sich an die Wohnungstür, um eine rasche Flucht zu unterbinden. "Selige Ruhe, während wir gemeinsam schmökern..." "Unverschämt!" Bekundete Emil empört, die Augenbrauen zusammengezogen. "Lade dich nicht einfach ein! Überhaupt, wir waren die ganze Zeit zusammen! Zähl erst mal die ganzen Viertelstunden zusammen, ja?!" "Aber ich mag dich jeden Tag sehen!" Jammerte Kay in quengelig-süßlichem Tonfall, Widerspruch geradezu herausfordernd. "Wir können uns die ganze Woche ja nur anrufen...." "Das reicht ja wohl vollkommen! Ich hab doch nicht ständig was zu bequatschen!" Grollte Emil, griff nach der Türklinke. "Ich empfehle dringend, dass du erst mal deine Erkältung..." Weiter kam er nicht, da Kay die Ablenkung durch den bockigen Koffer ausnutzte, der Emils Finger einklemmte, weil er ja nun stand und nicht rollte. Er beugte sich geschwind herunter und küsste die zum Tadel geschürzten Lippen. §-#-§ Emil zuckte zurück als habe ihn eine Tarantel gestochen. Seinem entsetzten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, lief sie auch gerade auf sehr haarigen Beinen ungerührt die Wand hoch, vermutlich, um ihn in mörderischer Absicht anzuspringen. Kay blockierte seine Wohnungstür, wiederholte sanft in seinem sonoren Bariton. "Ich liebe dich, mein Emil." "...was-was...?!" Aus dem Konzept gebracht, verschreckt und nun alarmiert fauchte der bitter. "Was soll das?! Wie kannst du es wagen?! Was habe ich über die Regeln gesagt?!" "Ich habe die Regeln nicht vergessen." Bestätigte Kay konzentriert, denn Emil sah nicht so aus, als würde er eine leichte Note, gar einen Scherz, verkraften können. "Aha! AHA!" Nun ballte der Mann mit den fleckigen Augen die Fäuste, hielt aber einen Sicherheitsabstand ein, der Kay verletzte. "Wir kennen also die Regeln, haben aber mal eben beschlossen, dass sie für uns nicht gelten, wie?! Ist ja auch ÜBERHAUPT nicht von Bedeutung, was ich so sage! Spielt ja keine Rolle!" "Das stimmt nicht." Kay rang mit seiner eigenen Anspannung, wollte das Bedrohungspotential aber nicht unbedacht erhöhen. "Ich nehme die Regeln ernst. Ich nehme dich ernst! Ich habe dich geküsst, weil ich so froh bin, dass du hier bist, dass du dich um mich gekümmert hast. Es ist MIR wichtig, dass du meine Gefühle für dich kennst!" "Oh, wie großmütig!" Ätzte Emil mit hochrotem Kopf. "Ich bin weder blöd noch taub! Mir ist keineswegs entgangen, was du da so unablässig wiederholst! Aber es hat KEINEN Zweck, willst du das bitte ENDLICH einsehen! Ich WILL das nicht, klar?!" Kay richtete sich auf, funkelte in die blitzenden Augen. "Wovor hast du eigentlich solche Angst?! Dass ich plötzlich eine Hormonattacke erleide, mich auf dich stürze, um dich zu vernaschen?! Oder dass ich von einem Moment auf den anderen sage, 'hupps, ich hab's mir anders überlegt, ich verknall mich in so einen schicken Broiler mit Mördermöpsen und 'nem IQ-Defizit'?! Obwohl ich dir versprochen habe, dass ich mich an die Regeln halte?!" Emil, der abwechselnd rot und weiß angelaufen war, warf sich in Kampfpose. "Du hältst dich NICHT an die Regeln! Ich hab gesagt, dass ich kein Interesse an physischem Kontakt habe!! Aber das ist ja bloß ein Spruch, muss man ja nicht ernst nehmen! Ist bloß so ein dämlicher Aufhänger, der Typ spielt 'schwer zu erobern', um sich selbst zu schmeicheln!" Ergänzte er in bitterer Selbstironie. "Denkst du wirklich, dass ich jemand bin, der sich dem Menschen, den er liebt, so aufdrängt?! Über ihn herfällt?! Du hältst mir vor, dass ich deine Regeln nicht beachte, aber du bist es, der MICH nicht ansieht, sondern lieber ein dämliches Zerrbild von Apollon-Macker behalten will! Bloß, um sich nicht einzugestehen, dass ich die Ausnahme zu all diesen tollen Verhaltensformeln bin, die du so unerbittlich als ultimative Wahrheit pflegst!" Kay schluckte, als er sich der Lautstärke seiner geschulten Stimme bewusst wurde. Ohne dies zu beabsichtigen hatte er allein durch sein Auftreten Emil noch weiter von sich weggetrieben. Er presste für einen Moment die Augen schmerzerfüllt zusammen, von der Erkenntnis ernüchtert, dass er gerade durch das schonungslose Aussprechen einer sehr unerfreulichen Wahrheit die Freundschaft, die ihm so viel bedeutete, ruiniert hatte. "...es...tut mir leid. Ich habe die Beherrschung verloren." Murmelte er matt, streckte vorsichtig eine Hand nach Emil aus, der reflexartig noch einen Schritt von ihm wich, seinem Blick nicht begegnete, auf den Boden starrte. "Du verstehst das nicht." Emils Stimme klang sehr beherrscht, gezwungen ruhig. "Es ist auch nicht nötig, es zu verstehen. Es besteht kein Grund, sich miteinander abzugeben. Friedliche Koexistenz durch großräumige Vermeidung." Kay hatte diese Worte schon einmal gehört. "Ich habe nicht die Absicht, dich zu vermeiden. Ich will mich mit dir abgeben!" Insistierte er, lehnte sich vor. "Ich mag dich, Emil. Sehr! Es tut mir wirklich leid, dass ich so unbeherrscht war, aber das ist doch kein Grund, dass wir so auseinander gehen! Bitte, wir müssen doch bloß die richtige Distanz finden, das ist alles!" "Dazu besteht kein Grund." Emil heftete den Blick hartnäckig auf seine Schuhspitzen. "Wir verschwenden doch bloß Zeit." "Zeit für was?!" Kay grätschte energisch dazwischen. "Für mich ist keine Minute mit dir verschwendet!" "Ach nein?!" Emil ging zum Angriff über, hektische Flecken im Gesicht, die Augen dunkler als gewohnt. "Sei nicht albern! Willst du den Rest deines Lebens in deiner Freizeit Bilderbücher lesen?! Wohl kaum! Erinnere dich mal daran, was deine Familie von dir erwartet!" Für einen Augenblick stutzte Kay, dann feuerte er zornig zurück. "Oh, verstehe! Die blöde Apollon-Marionette muss in ihrer Freizeit dauernd irgendwelche Leute jeglichen Geschlechts bumsen! Dann heiraten, Bälger in die Welt setzen, die er dann auch noch in Teilzeit rettet! Und GANZ viel Spaß dabei haben, mit Gattin, Hund und Nachwuchs im Häuschen mit Garten herumzuwerkeln! Oh ja, meine Güte, wie konnte ich das bloß auslassen?!" Emil richtete sich straff auf, die Schultern ausgestellt. "Warum ist das so eine schreckliche Vorstellung?" Kay entließ schnaufend Luft. "Weil DAS nichts mit MIR zu tun hat! Wieso lebst DU diese tolle Idylle nicht, hm?!" Ein schiefes Grinsen irrlichterte über Emils Gesicht, bevor er kontrolliert antwortete. "Weil ich damit nichts anfangen kann." "Ach?!" Kay ätzte grimmig. "Aber ich muss das?! Wieso?! Wieso kann ich nicht so sein wie du?! Meinen Job wichtig nehmen, meine Hobbys lieben?! Das ist UNFAIR! Nur, weil ich deinem Lieblingsfeindbild optisch entspreche?! Würde es helfen, wenn ich mir einen Müllsack über den Kopf streife?! Darf ich dann ich selbst sein?!" Es war ein Schlag unter die Gürtellinie, der traf, aber Kay konnte nicht mehr zurück, durfte, wollte nicht mehr weichen. Diese Freundschaft war ihm wichtig. Es verlangte ihn danach, von Emil akzeptiert zu werden, ihm begreiflich zu machen, dass der nicht allein das Privileg genoss, anders als die vermeintlich 'Normalen' zu sein. Emil seufzte, nun ziemlich blass um die Nase. "Du musst doch einsehen, dass es zu nichts führt." Argumentierte er müde. "Du willst Körperkontakt, aber ich-ich mag das nicht. Mir ist durchaus bewusst, dass es normal und absolut üblich ist, physische Nähe zu suchen." Er ätzte gallig. "Aber ICH bin nicht so. Für mich ist das erstickend, bedrohlich und unangenehm. Was nicht persönlich gemeint ist." Ergänzte er übertrieben höflich. Kay studierte den Freund, der ihm endlich wieder in die Augen sah. Tapfer, konsequent, allein. "Was würde denn passieren?" Er hob einen Arm an, deutete mit der offenen Hand eine streichelnde Bewegung an. "Würdest du um dich schlagen? Oder, schlimmer, hast du Angst, dass du mich so magst, dass du es gegen deinen Willen aushältst? Es erträgst, weil du mich nicht verletzen willst?" Abrupt wandte Emil den Kopf zur Seite. Die angespannten Sehnen verrieten, wie sehr es in ihm arbeitete. "Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich es HASSE, wenn du das machst." Wisperte er kaum hörbar. Den ausgestreckten Arm langsam senkend antwortete Kay ebenso leise. "Ich möchte bloß, dass du anerkennst, dass wir gar nicht so verschieden sind. Wenn du mir erklärst, was dich bewegt, dann verstehe ich es auch. Wenn ich dir zu nahe komme, dann hast du jedes Recht, dich gegen mich zu wehren." Er seufzte übertrieben. "Meine Mutter wäre zwar entsetzt, aber wenn du dich in berechtigter Notwehr dazu entschließen würdest, abrupt meine Kronjuwelen zu kontaktieren, um meine Primärkonzentration auf andere Aspekte zu lenken, wäre mir das zwar äußerst schmerzhaft, aber entschieden begreiflich." "Klasse!" Schnaubte Emil, noch immer abgewandt. "Ich gebe dir einen Tritt in die Eier, und deine Mutter verklagt mich, dass sie keine Enkel bekommt!" "Die hat sie von mir ohnehin nicht zu erwarten." Kay studierte die vertraute Gestalt, die angespannte Haltung. "Ich habe mich schon vor langer Zeit entschieden, dass meine Interessen vorgehen. Für Kinder ist da einfach kein Platz. Bei meinem Job wäre ohnehin ein Familienleben extrem schwierig zu bewerkstelligen. So viel Zurückstecken will ich einfach nicht." Nun blickte Emil ihm direkt ins Gesicht. "Das ist aber sehr egoistisch!" "Stimmt." Pflichtete Kay ihm ungerührt bei. "Aber Selbsterkenntnis ist auch ein guter Weg, unnötige Komplikationen zu vermeiden." Den Kopf ein wenig schief gelegt musterte Emil ihn nachdenklich, zweifelnd, zögernd. Kay schüttelte seine Anspannung energisch ab, studierte seinerseits das vertraute Gesicht. "Lass es uns probieren. Jeden Tag neu. Eine Viertelstunde oder auch mehr. Zusammen sein, Zeit miteinander verbringen." Die offene Hand ausstreckend offerierte Kay sein Angebot. "Regeln aufstellen. Die richtige Distanz finden. Ordentlich Energie austauschen, bevor wir wieder ins Chaos stürzen." Emil schwieg einen Moment. "Wusstest du, dass es eine neue Theorie gibt?" Antwortete er bedächtig, blickte auf die geduldig ausgestreckte Hand. "Dass Schwarze Löcher das, was sie dreidimensional verschlucken, zweidimensional als Information auf ihrer Oberfläche speichern? Dass möglicherweise unsere ganze Existenz eine Art Hologramm ist? Die Illusion, die aus zweidimensionalen Informationen zusammengesetzt wird? Selbst wenn ich dir jetzt die Hand gebe, wäre es nur eine Projektion und keine tatsächliche physische Erfahrung." Verwirrt versuchte Kay, diese unvorstellbare Theorie zu begreifen. "Äh, ich gebe zu, dass ich nicht ganz folgen kann..." Außerdem hatte das ja nichts mit seinem Freundschafts- und Liebespakt zu tun! Behutsam glitten Emils Finger über seine, bevor er den Handteller erreichte, die Hand ebenso wie Kay schloss. "Egal, ob wir Projektionen unseres Gehirns sind, ich werde keine Rücksicht kennen, wenn du über mich herfällst, weil deine Apollon-Hormone verrückt spielen!" Emil schenkte Kay einen grimmigen Blick. Kay grinste. "So weit sind wir noch längst nicht, also mache ich mir darum keine Sorgen." Betont süffisant ergänzte er. "Außerdem entschuldigt sich der Mann von Welt in derartigen Situationen artig auf die Toilette und behebt geübt den lässlichen Missstand." Emil schnaubte. "ZU viele Informationen, Mr. Apollon! Erinnert mich aber daran, auf das Pfotenwaschen zu achten!" DAS hätte Mutter Glucke nicht vernichtender ausdrücken können. "Meine Hand!" Mahnte er nun aufgeräumt. "Ich habe noch zu tun. Du solltest diesen seltsamen Herrn kontaktieren, der unzüchtigen Umgang mit deinem Anrufbeantworter pflegt." Seufzend gab Kay Emils Hand frei. "Oje, ich werde mir auf die Schnelle ein paar wirklich liederliche Szenen einfallen lassen müssen, damit er nicht allzu enttäuscht ist!" "Ich würde es mit einer abstoßenden Krankheit versuchen." Grummelte Emil, hob seinen bockenden Koffer entschieden auf die Rollen. "Übt auf die meisten Leute eine ekelhafte Faszination aus, sorgt aber für eine gewisse Distanz." "GUTE Idee!" Lobte Kay lachend, gab die Tür frei. "Ich komme dann morgen Nachmittag zu dir, ja?" Emil musterte ihn sehr abschätzig, dann grummelte er. "Deospray. Das sollte anstelle des Tritts auch genügen. Muss ich gleich kaufen." Kay grinste, intonierte mit schmelzendem Bass. "Oh, I love you, darlin'! My sweety sweety cutey pie!" "Nimm deine Medizin!" Donnerte Emil einen Absatz tiefer durchs Treppenhaus, der Koffer polterte vernehmlich. Lachend schloss Kay schließlich die Wohnungstür und eilte zum Fenster. Tatsächlich verließ Emil gerade das Haus, wandte sich halb herum, finstersten Blicks. Kay blies ihm eine Kusshand zu, was der stets tadellos-manierliche Emil mit dem ungenierten Blecken seiner Zunge retournierte. §-#-§ "Kay! Kay!" Etwas energischer stupste Emil Kays Schulter. Der war auf dem gewaltigen Sitz- (oder eher Liege-)sack bei der Lektüre eines Comicbandes eingeschlafen. Emil hatte diese innere Einkehr nicht gestört, zumindest so lange nicht, wie nicht dieser unsägliche, offenbar schwer gestörte Bekloppte auf SEINEN Anrufbeantworter gequatscht hatte. "Hmmm?" Kay murmelte, rieb sich verwirrt die Augen. Bevor er zu Emil aufgebrochen war, hatte er eine Erkältungspille eingeworfen. Die rächte sich nun mit nachhaltiger Müdigkeit. "Dieser Kerl macht es schon wieder!" Emil stemmte die Hände in die Seiten, funkelte auf Kay hinab, der sich artig aufsetzte. "Er belästigt MEINEN Blechknecht! Und wie!" Was man da zu hören bekam, dämliche Anspielungen unterster Schublade über Potenz und lächerlicher Klischees, garniert mit einem hochgradig geschädigten Minderwertigkeitsgefühl, das war ja UNERTRÄGLICH! "Wieso ruft dieser Spinner hier an?! Bei mir?!" DAS kam noch belastend hinzu. Kay sortierte seine betäubten Gedanken, murmelte schließlich. "Oh, ich glaube, ich habe mein Telefon abgestellt." "Und du hast ihm MEINE Nummer gegeben?!" Emil kochte. Vor Entsetzen. "Er hat da so ein Trauma..." Weiter kam Kay nicht, weil Emil schnaubte. "Das ist kaum zu überhören! Und das auf anderer Leute Anrufbeantworter!" Er ging vor Kay in die Hocke, funkelte ihn grimmig an. "Du wirst diesem DRINGEND behandlungsbedürftigen Flachkopf jetzt SOFORT untersagen, hier noch mal anzurufen! Sonst hat er ruckzuck eine Anzeige wegen unsittlicher Belästigung und Erregung öffentlichen Ärgernisses am Hals!" Nun blinzelte Kay verwirrt. "Öffentliches Ärgernis?" "Weil ich STOCKTAUB bin und die gesamte Straße meinen Anrufbeantworter mithört!" Emil schraubte sich hoch, jedes Zoll steife Verachtung für den fernmündlichen Verbalangreifer. Ein Lächeln schmeichelte sich frech auf Kays Gesicht. "Verstehe. Gute Idee!" "Pah!" Schnaubte Emil, ergriff nach einem ermahnenden Blick Kays ausgestreckte Hand, um ihm beim Aufstehen zu assistieren. "Wo mein Telefon steht, weißt du ja. Also los!" Mit dieser unmissverständlichen Order wurde Kay sich selbst überlassen, während Emil in der schmalen Küche verschwand. Pflichtbewusst hörte er also Roberts beinahe hysterische, von Neid geprägte Ansprache an. Offenkundig bekam der mal wieder Panikattacken, er könne für seine Sendung ausfallen, weil er ja noch immer leidend war. Dabei hatte sich Kay in der Vergangenheit immer als sehr zuverlässig und belastbar gezeigt, auch wenn er sich manchmal wie ein Schluck Wasser in der Kurve zum Sender geschleppt hatte. Auftragsgemäß richtete er Robert auch aus, was passieren würde, wenn der noch mal bei seinem Emil anrief, was Robert vor Entsetzen quietschen hieß, legte auf, bevor die Hysterie über den Skandal überhand nahm. In der kleinen Küche wurde ihm knurrend ein Porzellantellerchen zugeschoben, auf dem sein Anteil "Stullen" wartete, mit verschiedenen Körnern gebackene Brotscheiben unter einer bemerkenswerten Schicht Erdnussbutter, die mit der gerade sehr beliebten Aprikosenmarmelade gekontert wurden. Dazu gab es gekühlten und verdünnten Apfelsaft, naturtrüb. Emil mümmelte energisch, während er Kay beäugte, der vergnügt kaute. "Robert wollte wissen, ob du Gardinen hast wegen der Leute. Oder der Drohne, so genau habe ich nicht hingehört." Schmunzelte Kay zu Emil hinüber, der abrupt den Verzehr einstellte. "Wieso Drohnen?! Meint der etwa...Medienfuzzis?! Paparazzi?!" Man konnte förmlich sehen, wie sich Emil die Haare aufstellten. "Was für versaute Gedanken hat dieser Spinner eigentlich über dich?! Und über mich?!" Kay grinste breit. "Oh, er unterstellt uns eine ganz und gar unmoralische Affäre, quasi minütliches Über-einander-herfallen, alles für alle frei sichtbar. Was natürlich alles ruinieren wird und vermutlich sofort den Weltuntergang auslösen!" "Wir holen also mal eben nach, was die Mayas falsch kalkuliert haben?!" Die gefleckten Augen funkelten Verdammnis. "Der Kerl soll sich mal den Kopf untersuchen lassen! Fährt wohl so einen Potenzhobel und hat in der dicken Brieftasche immer einen Leporello mit seinen Schiffen, Häusern, Pferden, und sonst was!" Leise prustend schwieg Kay, denn zumindest hinsichtlich des fahrbaren Untersatzes lag Emil richtig. "Er ist eben ein wenig unsicher über sich selbst." Flötete er stattdessen. "Das wäre ich an seiner Stelle auch! Hochgradig bekloppt!" Emil kollerte ärgerlich. "Aber mit so was geht man doch nicht hausieren!" In diesem Augenblick dengelte es melodisch aus Kays Hosentasche, hinten rechts. Er seufzte. Robert und sein Panikkoller. "Ist wohl besser, ich gehe jetzt." Erhob er sich. "Schade, ich weiß jetzt gar nicht, wie die Geschichte weitergeht." Emil verdrehte die Augen, folgte Kay in seinen bescheidenen Flur, wo der sich schon die brav abgestellten Schuhe anzog. "Ich werde so großmütig sein und ein Lesezeichen einlegen." "Danke! Danke auch für die Verpflegung!" Kay lächelte auf Emil herab, der grollend grummelte. "Na, los doch! Raus in die Apollon-Spinner-Welt!" "Ich werde tapfer sein!" Deklamierte Kay gut gelaunt und gar nicht mehr so schlimm von seiner Erkältungsmedizin verkatert. "Der Gedanke an dich wird mich aufrecht halten!" Das hörte das gesamte Treppenhaus. Emil starrte Kay entsetzt in die tiefschwarzen Augen, bevor er zischte. "Das nächste Mal streue ich Chili auf dein Brot!" Lachend suchte Kay das Weite, drehte sich, blies Emil die gewohnte Kusshand zu. Der schnalzte abschätzig mit der Zunge, nachdem er sie sehr unartig präsentiert hatte. "Alle bekloppt! Grassiert wohl! Hoffentlich stecke ich mich nicht an!" Aber das hinderte ihn keineswegs daran, vom Fenster aus zu beobachten, wie Kay beschwingten Schritts außer Sichtweite eilte. Selbstverständlich nur, um sicherzugehen, dass der Aggressor auch das Feld räumte! §-#-§ Kapitel 25 - Pläne schmieden Es war wirklich nicht einfach. Dominique seufzte, erntete bei Thierry einen verständnissinnigen Blick. Wenn man sich nur am Wochenende sehen konnte. Wobei Thierry den Vorteil hatte, unter der Woche telefonisch Kontakt mit seinem Selim zu halten, was zumindest die 'Basis'-Bildung etwas erleichterte, da sie sich nicht gegenseitig auf das EINE Thema lenken konnten. Eigentlich sollte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Endspurt gewidmet sein, lernen, Prüfungen schreiben, noch mehr lernen für die schriftlichen Abiturprüfungen im Frühjahr, aber da war ja auch die Frage nach der Zukunft. "Mich würgt es auch jedes Mal, wenn ich die Plakate sehe!" Murmelte Thierry. Werbung für Berufsmessen, Schnuppertage an der Universität oder den Fachhochschulen. Dominique seufzte erneut. "Gavin, Rutgers Freund von der Uni, hat mich noch mal angerufen. Ich könnte doch mal bei einem Test mitmachen, um herauszufinden, ob es nicht doch mein Traumberuf sein könnte." Unwillkürlich ballte er die Fäuste, um sich nicht über die eingewickelten Handgelenke oder Ellenbeugen zu reiben. Seine psychische Belastung schlug sich leider auch immer leidvoll auf seine Haut nieder. "Aber wenn du wirklich so gut bist, dann wäre das auch genau der richtige Ort, um abzuklären, welche Unterstützung du bekommen könntest!" Thierry studierte die vertraute, dünne Gestalt aufmerksam. Er spürte genau, ohne großartig seine zweifelhaften Fähigkeiten benutzen zu müssen, dass Dominique durchaus interessiert war. Bloß hatten ihn Jahre des knappen Budgets, immer an der Grenze zum Absturz, mit großer Vorsicht geprägt. "Du weißt wenigstens schon, was du machen könntest!" Jammerte er ein wenig, um Dominique aus seiner sorgenvollen Stimmung zu reißen. "Wolltest du denn nicht studieren?" Artig aufmerksam ging Dominique auf die Zukunftsängste seines besten Freundes ein. "Das könntest du doch sicher, oder?" Thierry schnaubte leise, studierte nun selbst seine geballten Fäuste, porzellanglatt, weiß, unwirklich perfekt. "Ich weiß leider überhaupt nicht, was ich tun soll. Mit Wasser, großen Temperaturschwankungen, Gräsern oder anderen Vampiren sollte es zwar nichts zu tun haben, aber das schränkt die Auswahl noch nicht entscheidend ein." Ergänzte er selbstironisch. "Na ja, es müsste etwas sein, was du hier studieren kannst, denn du wirst Selim und deine Mama doch nicht verlassen, oder?" Dominique lehnte sich ein wenig zurück, beäugte den Himmel, ob der spätsommerliche Schauer zu entsenden gedachte. Aus tiefschwarzen Augen wurde er prompt mit einem tadelnden Blick versengt, doch notorisch dickfellig überstand er diese reflexartige Reaktion. Dabei unterstellte er Thierry nun wirklich nicht, ein lebensunfähiges Muttersöhnchen zu sein! Nein, sein bester Freund wusste einfach die richtigen, die Herzens-Prioritäten zu setzen! "Ich wünschte, du würdest nicht so nobel von mir denken!" Grummelte der zierliche Vampir durchaus beschämt. "Es ist kaum zu ignorieren!" "Ätsch!" Grinsend bleckte Dominique die Zunge. "Darfst halt die Antennen nicht ausfahren!" "Kann ich aber nicht ändern!" Schimpfte Thierry prompt ein wenig kindlich-patzig "Recht hab ich auch noch!" Triumphierte Dominique ungeniert, der sich freute, dass seine Herausforderung wieder Leben in den bleichen Freund gekitzelt hatte. "Schön! Ich leugne es auch gar nicht!" Brummelte Thierry, die Arme grantig vor der schmächtigen Brust verschränkt. "Aber was soll ich da bloß wählen? Oder vielleicht doch lieber eine duale Ausbildung? Aber in was, verflixt?!" Immerhin musste man sich ja schon zu Jahresanfang bewerben, wenn man da eine Chance...! Grimmig schraubte er sich hoch, die Pause war ohnehin in Kürze vorbei. "Am Samstag ist eine Ausbildungsmesse, da gehen wir alle drei hin!" Entschied er kategorisch. Wenn schon ratlos, dann lieber in Gesellschaft! Dominique schmunzelte, kam ebenfalls auf die Beine. "Wenn du Selim überreden kannst, hätten wir unsere zweite Doppelverabredung." Soufflierte er subtil. Dessen Teilhabe wäre auch Grund genug, sich später artig zu verabschieden, damit jedes Pärchen auch im Stillen die versäumten Zärtlichkeiten der vergangenen Woche nachholen konnte. §-#-§ "Tut mir leid." Murmelte Rosegunde, wickelte sich noch enger in Dominiques Sweatjacke. Sie hatte sich wirklich um Beherrschung bemüht, was sich in kratzbürstig-grollender Stimmung präsentiert hatte, doch nach dem Rundgang über die Messe konnte sie Dominiques inquisitorisch-besorgten Blicken nicht länger standhalten. Nach den jüngsten Neuigkeiten hatten sich die Pärchen getrennt. Mit je einem Anteil versautem Wochenende, wie Rosegunde zynisch annahm. "Muss es nicht." Dominique legte einen dünnen Arm um ihre knochigen Schultern. "Ich wäre wahrscheinlich gleich damit herausgeplatzt. Du hast wirklich eine bessere Selbstbeherrschung als ich, Rosa!" "Pah!" Schnaubte sie, denn das konnte gar nicht stimmen. Nicht bei all den Schmerzen, die ihr Niq chronisch auszuhalten hatte! "Eigentlich sollte ich dankbar sein." Fuhr sie ätzend fort. "Jetzt muss ich mir keine Gedanken mehr darüber machen, was ich für meinen Vater bedeute. Klare Kante, das wird doch häufig gefordert!" Dominique presste die Lippen aufeinander, um bloß nicht entschlüpfen zu lassen, wie seine Meinung über die Eltern seiner Liebsten ausfiel. Das wäre weder salonfähig noch druckbar! Der aktuelle Stand des dysfunktionalen familiären Verhältnisses wurde in einem Telefonanruf von der Insel deutlich: der Herr Vater wollte angesichts der nicht mehr zu vertuschenden Eskapaden seiner Noch-Ehefrau die Scheidung. Was eigentlich keine größere Schwierigkeit darstellen sollte, wäre da nicht die leidige Frage nach dem Sorgerecht. Die könnte aber außen vor bleiben, wenn man bis zum Jahresende wartete, wo sich durch Volljährigkeit dieses Hemmnis von selbst erledigen würde. Aber bis dahin würde man selbstredend schon die Trennung der Güter, Auflösung des Hausstandes und dergleichen abgewickelt haben. Ein kundiger Rechtsanwalt könne da bestimmt Chancen aufzeigen. "Abwicklungshindernis, das ist mal neu!" Rosegunde lachte erstickt auf. "Könnte ich als persönliche Qualifikation für den nächsten Bewerbungsbogen verwenden!" Dominique zog sie enger an sich, legte die freie Hand um ihr Gesicht, küsste sie entschieden auf die bebenden Lippen. "Wir gehen jetzt zu mir. Deine Familie hat Sendepause." Verkündete er grimmig, funkelte in die blau-violetten Augen. Selbst aus großer Entfernung gelang es diesem verwünschten Paar von Egozentrikern noch, Rosa zu terrorisieren! Doch dem würde er ein Ende bereiten. Sie wollten Rosa nicht mehr haben?! Fein! »Denn jetzt schlägt meine Stunde! Ich gebe sie nicht mehr her!« §-#-§ Thierry spürte die Seitenblicke, drückte für einen Augenblick Selims Hand in seiner eigenen fester. Ja, er war noch immer missgelaunt, nicht wegen der Enthüllungen von Rosegunde, nein, weil ihn die Nutzlosigkeit des Messebesuchs plagte, was leider, das konnte er nicht leugnen, ganz und gar auf seinem Mist gewachsen war. Er wusste selbst nicht, was er wollte. Das fuchste ihn gewaltig! "Du musst dich nicht jetzt für immer entscheiden." Versicherte Selim ihm aufmunternd, lächelte zuversichtlich. "Man kann im Leben jede Menge lernen! Ist kein Beinbruch, wenn man sich mal vertut, das kann man immer noch nutzen!" Der zierliche Vampir seufzte, beschämt durch die unerschrockenen Beistandsversuche seines Liebsten. Herumschmollen zeichnete ihn nicht als besonders erwachsen oder verständig aus, keine Frage! "Weißt du, ich möchte gern etwas Wertiges schaffen, so wie mein Pappa!" Murmelte er kleinmütig. "Handfest und nützlich! Nicht bloß in digitalen Wüsteneien mit Zahlen herumspielen!" "Verstehe ich gut!" Nickte Selim beipflichtend. Ein paar gute Schuhe, das war eine Menge wert! Füße sollte man nicht stiefmütterlich behandeln, das rächte sich immer schmerzhaft! "Ja!" Grollte Thierry sarkastisch. "Meine Mama spring mir auch bei. 'Schau mich an, in zwei Tagen wickelt man meine Arbeit um den Biomüll', das sagt sie immer." Selim grinste breit. Freya Cavallino verfügte über einen herausragenden Sinn für Humor! Er mochte sie sehr. Neben ihm seufzte Thierry noch einmal laut, studierte seine freie Hand. "Aber handwerklich habe ich gar nichts von meinen Pappa geerbt." Grummelte er niedergeschlagen. "Besonders viel Kondition habe ich auch nicht!" "Nun, du könntest deine speziellen Fähigkeiten auch nutzen!" Selim gab nicht auf. "Wenn man anderen Menschen hilft, ist das auch eine nachhaltige Sache!" "Schon." Nörgelte sein wildlockiger Liebster unzufrieden. "Aber ich weiß nicht, ob ich das wirklich ertragen kann! Die meiste Zeit versuche ich, auf Durchzug zu schalten..." Wie gerade jetzt, was sich zu einer unerfreulichen Konfrontation verdichtete, denn vier juvenile Herumsteher eines Wasserhäuschens, jeder mit Flasche bewaffnet, der mutmaßlich schon einige andere vorangegangen waren, in der Phase des Warmtrinkens für die samstägliche Horrorshow, versperrten ihnen den Weg. Unzweideutig dem Umstand geschuldet, dass hier zwei männliche Exemplare der Spezies Mensch ungeniert Händchen hielten, auf offener Straße, vor aller Augen! Thierry, der alarmiert Alkohol geschwängerte Gedanken auffing, noch frustriert von der eigenen Unzulänglichkeit war, kam mit funkelndem Blick in Vampir-Geschwindigkeit einer Attacke zuvor. Er packte die Rechte, bog mit stählernem Griff die Finger Richtung Handrücken, zwang ihren Besitzer, vor ihm in die Knie zu gehen, schneller als ein Wimpernschlag. "Ja, wir ziehen hier ganz selbstverständlich unserer Wege, haben Spaß und in Kürze phantastischen Sex miteinander. Wenn so ein verklemmter, mit Minderwertigkeitskomplexen zugeknallter Vollspacko wie du seine Zeit auf ein wenig Charakterpflege verwenden würde, könnte er auch irgendwann mal auf einen Menschen treffen, der ihm nicht gleich vor die Füße kotzt! Also spare dir deinen erbärmlichen Neid und poliere dich selbst auf, klar?!" In die drei Ölgötzen kam Bewegung. Thierry funkelte in die Runde. "Nein, ich würde es nicht riskieren, Zwei gegen Vier auszuspielen!" Nahm er weitere Gedanken auf. "Denn ich habe gerade eine wirklich GRAUENVOLLE Laune und nicht die geringsten Skrupel, euch mit Hochgeschwindigkeit in die Eier zu treten. Also zieht Leine und sammelt euren Vordenker gleich mit ein!" Besagter Anführer kauerte winselnd auf den Haken, umklammerte seine pochende Rechte. Seine Flasche lag vergessen auf dem sandigen Boden daneben, begoss diesen mit Gerstensaft. Selim, der selbstredend bereit war, Thierry im Kampf zu unterstützen, zog diesen behutsam an der Hand weg. Eigentlich hatte er für körperliche Auseinandersetzungen nicht viel übrig. Es überraschte ihn, welches Aggressionspotential in seinem sonst so disziplinierten Begleiter schlummerte. "Phantastischer Sex, hu?" Griff er rasch ein Thema auf, zwinkerte. Thierry hob das spitze Kinn etwas höher. "So ein primitiver Neidhammel, der hat mir gerade noch gefehlt! Warum müssen Leute immer ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecken?! Einfach bescheuert!" Man kochte also noch immer vor sich hin. Selim schmunzelte. Er kannte diesen sturen Zug schon. "Freut mich aber, dass wenigstens DU mit mir in einem Aspekt zufrieden bist." Neckte er herausfordernd den Jüngeren. Neben ihm lächelte der kleine Vampir ein wenig schief. "Ich glaube, ich habe jetzt wirklich eine MENGE von deiner speziellen Aufmerksamkeit nötig." Bekannte er halb ärgerlich, halb beschämt. Der Druck musste ein Ventil finden! Selim bot sich so selbstlos an... "Ist mir ein Vergnügen!" Deklamierte der hochgestimmt, hob ihre verbundenen Hände an die Lippen, um Thierrys Handrücken zärtlich zu küssen. Eine ungefilterte Woge von prickelnder Vorfreude, Liebe und Verbundenheit hüllte den Vampir ein, entlockte ihm ein geschlagenes Seufzen. "Es scheint mir wirklich unmöglich, in deiner Gesellschaft lange zu schmollen, Selim." Raunte er leise. "Fein!" Nickte der größere Gefährte launig. "Wir haben schließlich viel Besseres zu tun!" Damit schritt er beschwingt in erhöhtem Tempo aus. §-#-§ "Mhhmmmm, sehr lecker!" Schnurrte Kay im sonoren Bariton melodisch, strahlte gut gelaunt über alle 'Schokostreusel' zu Emil hinüber, der akkurat seinen Anteil der Pizza mit Besteck metzelte. "Selbstverständlich!" Die gefleckten Augen hinter den Brillengläsern funkelten tadelnd. "Etwas Anderes war ja auch nicht zu erwarten!" Kay konnte da durchaus andere Erfahrungen mit selbstgemachten Teigfladen memorieren, enthielt sich aber einer Widerrede. Immerhin hatte Emil alles penibel vorbereitet, den Hefeteig am Vortag angesetzt, die Zutaten zusammengestellt. Für Kay blieb kleinschneiden und verteilen, was ihm großen Spaß bereitet hatte, denn sein Emil wirkte in der kleinen Küche als Herr über Ofen, Bleche und Gerätschaften gelöst und munter. Überhaupt glich es schon einem Wunder, dass er missmutig eingeladen worden war, bei Emil zu Mittag zu essen, bevor sie sich der Lektüre widmeten! Für eine misstrauische, kratzbürstige Katze wie seinen Emil unbestritten eine großherzige Offerte! Deshalb entschied Kay auch, sich auf die Themen zu beschränken, die sie in der Woche in ihren ausgedehnten Viertelstunden beackert hatten. Es ging um Comics, aber doch so viel mehr, wenn es gelang, Emil zum Reden zu bringen. Ein kleines Problem hatte sich allerdings auch eingestellt, erwähnen wollte Kay es aber lieber nicht. Nach dem obligatorischen Spülen/Abtrocknen verzogen sie sich in das Wohnzimmer, wo mit einem Lesezeichen markiert auch der Band wartete, den Kay am vorangegangenen Wochenende nicht hatte abschließen können. Mit einem Seitenblick auf Emil, der sich bereits in eine frisch erworbene Ausgabe versenkte, fädelte Kay wieder in die Erzählung ein. Artig wartete er, bis Emil seinen Band zuklappte, um Fragen zu stellen, sich auszutauschen. Ihre lebhafte Diskussion über die bevorzugte phallusförmige Gestaltung von Raumschiffen wurde jäh gestört, als der Anrufbeantworter seinen Spruch in die Gegend tönte, gefolgt von Roberts gehässig-neiderfüllter Stimme. Emils ohnehin leicht wirrer Schopf stand elektrisiert ab, seine Blicke verwandelten sich in tödliche Dolche. "Hatte ich nicht unlängst erwähnt, dass ich nicht wünsche, dass diese Nervensäge mit ihren Wahnvorstellungen hier anruft?!" Giftete er zu Kay hinunter, der sich langsam aufsetzte. "Ja, letzte Woche, ich erinnere mich genau." Bemühte er sein altes 'Image' als eilfertiger Volltrottel mit Apollon-Maske. "Ich habe es berücksichtigt." "Ach, wie überaus REIZEND!" Stemmte Emil die Hände in die Hüften, schnarrte sarkastisch. "Sieht mir aber verdächtig nach einem FEHLSCHLAG aus! Welchen Part von 'ruf hier nicht mehr an!' hat dieser Gehirnasket denn nicht verstanden?!" "Tja." Gemächlich schraubte Kay sich ebenfalls in die Senkrechte, was ein ärgerliches Blitzen in den gefleckten Augen provozierte, weil er Emil ja überragte. "Das Dumme ist, dass Robert annimmt, wir wären zusammen, Panik schiebt, dass das dem Apollon-Image schaden könnte..." Weiter kam er nicht, denn Emil detonierte vor Empörung. "Ja, spinnt dieser Kerl?! Als Weiberheld vom Dienst kannst du ja wohl kaum was mit einem anderen Mann haben! Außerdem LESEN wir hier! Der soll sich ob seiner Schweinferkeleien mal das Hirn ausräuchern lassen!" Kay lächelte in das aufgebrachte Gesicht hinunter, goutierte das aufgestellte Fell der verwilderten Katze. "Ich glaube, es passt einfach nicht in sein Weltbild, dass ich dich liebe, wir jeden Tag Kontakt halten, ohne dass wir gleich die Federkerne zum Quietschen bringen." Bemerkte er amüsiert. "Wie bitte?!" Emil starrte fassungslos zu ihm hoch. "Was hast du ihm erzählt?!" Tapfer widerstand Kay der Versuchung, mit dem Handrücken sanft über eine gerötete Wange zu streichen. "Einfach, dass ich meinen Emil liebe, das Glück der täglichen Viertelstunde genieße." Vor ihm schnappte das Zentrum seiner Aufmerksamkeit wie ein gestrandeter Fisch nach Luft. "So was-so was kannst du doch nicht einfach so erzählen!" Protestierte Emil endlich kriegerisch. "Kein Wunder, dass dieser Apollon-Bekloppte da wilde Phantastereien über uns verbreitet! Aber ich verbitte mir das!! Unerhört!" Den Kopf ein wenig auf die Seite neigend lächelte Kay köstlich unterhalten auf Emil herunter. "Ehrlich, mein Emil, mir ist vollkommen gleichgültig, was Robert über uns denkt. Ich verschwende meine Zeit doch nicht damit, ausgerechnet ihn zum Thema zu machen." Vor ihm schnappte wie eine Mausefalle ein tadelnd geschürzte Schnute zu, Arme wurden vor der Brust gekreuzt. "Trotzdem. Verdammte Unverschämtheit!" Grummelte der erklärte Misanthrop im rationalen Rückzugsgefecht, drehte den Kopf demonstrativ zur Seite, was Kay blitzschnell nutzte, den Höhenunterschied zu überwinden, einen sanften Kuss auf die Wange zu platzieren. "He!" Schon stand er wieder im Fokus, hatte das Rumpelstilzchen aufgeweckt. "So nicht, ja?! Nur, weil ich ausnahmsweise gestattet habe, dass du zweifelhafte Gefühle bezüglich meiner Person hegen darfst, heißt das noch lange nicht, dass hier nach Lust und Laune angeflauscht werden kann! Frechheit!" Kay wollte zwar einen angemessenen betretenen Gesichtsausdruck auf seine Miene zaubern, doch seine Begeisterung über Emils entflammbares Temperament torpedierte dieses Vorhaben. Er brach in lautstarkes Gelächter aus, musste sich sogar die Augenwinkel trocken wischen! "Pah! PAH!" Schnaubte Emil Sandemann vergrätzt, marschierte zu seinem Blechknecht, wo er grimmigsten Blicks die ungezogene Nachricht löschte. Er sann vergeblich darüber nach, wie er Kay Nelson Jefferson eine kleine Lektion erteilen konnte. Aber der war offenkundig vom geistesgestörten Liebeszustand schon so gestraft, dass er jede Geste oder scharfe Zurechtweisung als Beweis von Zuneigung umdeutete!! "Pah." Murmelte Emil leise vor sich hin, ignorierte seinen beglückt feixenden Gast geflissentlich. "Gehirnerweichung, ganz ohne Zweifel. Unheilbar. Wahnvorstellungen! Ha! Perfid." Denn so eine Strafe der Götter konnte nicht mal er übertreffen! §-#-§ "...und jetzt ist sie fest entschlossen, wie wild zu büffeln, einen hervorragenden Notendurchschnitt zu erzielen und dann eine duale Ausbildung zu starten, weil es da ja Geld gibt." Resümierte Dominique die Ergebnisse des verstrichenen Wochenendes. "Du wirst dich zum Test bei Gavin melden, richtig?" Thierry zwinkerte, denn offenkundig beabsichtigte sein bester Freund, diese Festlegung für seine potentielle Zukunft unerwähnt zu lassen. Zu seinem Amüsement errötete Dominique unmissverständlich und murmelte. "Ich war nicht in einer Position, die Order abzulehnen." Leider verstand es seine Rosa allzu gut, in fragilen Momenten intimen Beisammenseins Konzessionen zu erbitten, die man(n) einfach nicht abschlagen konnte (zum Erhalt der eigenen körperlichen Unversehrtheit). Tröstend stupste ihn Thierrys Ellenbogen in die Seite. "Ich habe dagegen meine Probleme bloß noch erweitert." "Ach ja?" Dominique suchte fragend die tiefschwarzen Augen. "Was ist passiert?" Der zierliche Vampir schnaubte. "Ich mutiere immer weiter, das ist passiert! Als wir nach der Messe nach Hause gegangen sind, haben wir Händchen gehalten, einfach so. Am Wasserhäuschen standen ein paar Vollidioten herum, die uns aufgehalten haben." Besorgt zog Dominique zischend Luft ein. Thierry marschierte weiter, einen Anflug sturen Trotzes im Gesicht. "Ich war nun mal frustriert. Als also einer der Deppen sich da aufspielte, habe ich seine Finger verdreht. Wie seine Kompagnons sich einmischen wollten, habe ich sie angeherrscht und in die Runde geguckt..." "Boah, ein Bannblick? DAS hast du drauf?!" Entfuhr es Dominique fasziniert. Ärgerlich grummelte Thierry. "Ich bin nicht sicher, aber sie standen da wie die Ölgötzen. Ich war so SAUER, dass ich richtig darauf gewartet habe, dass mir einer einen Vorwand liefert!" "Uhoh." Wertete Dominique beunruhigt. "Hast du jetzt auch noch Probleme mit der Selbstbeherrschung?" "Das ist nicht witzig!" Schimpfte Thierry los, bevor er die Fäuste ballend tief durchatmete. "Entschuldige bitte! Ich weiß nicht, was los ist! Ich verabscheue diese vermaledeiten Stimmungsschwankungen! Wenn Selim nicht da gewesen wäre...!" "Übel." Urteilte sein bester Freund loyal. Tapfer wagte er sich auf vermintes Gelände. "Es könnte psychisch bedingt sein. Immerhin hast du viel Stress auszuhalten." Nun schnaubte Thierry erneut, seufzte dann tief. "Ich habe gedacht, ich bekomme das schon hin, die Vampirgeschichte, unbekannter Onkel, all die blöden Prüfungstests, die Entscheidung über die Zukunft, aber wo ich auch hinschaue, es werden immer mehr Baustellen! Das ist SO LÄSTIG!!" Dominique riskierte einen Seitenblick, bemerkte dann trocken. "Du weißt aber schon, dass Multitasking nur eine urbane Legende ist, wissenschaftlich bewiesen nicht funktioniert, oder?" Der Vampir knurrte unverständlich vor sich hin, brummelte schließlich. "Ich hab nun mal Ansprüche an mich selbst!" Das entlockte Dominique ein Prusten. "Also, SO verändert hast du dich dann ja doch nicht, Mr. Perfect!" Neckte er seinen besten Freund. Thierrys Ungeduld mit der eigenen Unvollkommenheit war wohlbekannt. "Dir wird das Frohlocken noch vergehen, wenn Rosa mit dir Spanisch paukt!" Retournierte dieser die kleine Spitze, stupste aber erneut die knochige Seite seines Freundes. "Wir sollten uns vielleicht auch sonst zum Lernen zusammen tun, meinst du nicht?" Denn, so hoffte Thierry, mit Dominique als Kontrollinstanz würde er nicht so oft Gefahr laufen, zu sehr zu "mutieren" und sich damit in Schwierigkeiten zu bringen! §-#-§ "So geht es NICHT weiter!" Stellte Emil energisch fest, die Hände in die Hüften gestützt. Kay, der sich wohlerzogen wie immer die Schuhe abstreifte, warf ihm einen überraschten Blick zu. "Wie meinen bitte?" "Dieser spinnerte Apollon-Bekloppte aus deiner Anstalt für Geschmackseunuchen belästigt mich!" Präzisierte Emil seine Aussage. "Das ist nicht akzeptabel! JETZT wird zurückgeschossen!" "Tatsächlich? Wie?" Kay folgte dem unverkennbar grantigen Emil in dessen Wohnzimmer, ihre Lese-Oase. Dort warteten neben zwei Henkeltassen für Tee und einem Tablett mit belegten Broten ein Block mit gespitztem Bleistift. "DAS ist eben aktuell die Frage!" Emil befand sich unbeirrbar auf dem Kriegspfad. Er funkelte zu Kay hinüber, der artig Platz nahm, sich seinen Tee einschenken ließ. "Ich dachte erst mal an ABC-Waffen." Wurde er eingeweiht. "Aus naheliegenden Gründen fällt A flach, aber BC könnte funktionieren! In der Werbung gibt's doch diese grässlichen Sprühdosen, wo sämtliche weiblichen Wesen rollig werden, wenn sie in die Duftwolke geraten, richtig? Also könnte so etwas Ähnliches auch den Versuch wert sein!" Ein mit Radi-Scheiben belegtes Stück Brot zerkauend schluckte Kay höflich, bevor er Einwände vorbrachte. "Grundsätzlich eine grandiose Idee! Bloß hat Robert schon immer Probleme mit der richtigen Dosierung bei seinen Schönheitsmittelchen. Deshalb besteht inzwischen eine gewisse Abhärtung..." "Verflixt!" Emil pustete grimmig in seinen Tee, die Stirn in Denkerfalten gelegt. Aus Sympathie schob Kay ihm sofort das letzte Stück Brot mit Schokoladen-Erdnussbutter-Aufstrich zu. Die Räder, die da sichtlich rotierten, mussten schließlich geschmiert werden! "Na schön!" Stellte Emil gerade in einem Tonfall fest, der für das Subjekt dieser Betrachtungen definitiv NICHT schön zu enden drohte. "Dann werden wir zu psychologischer Kriegsführung greifen!" "Aha?" Kay hatte Mühe, ein hingerissenes Lächeln von seiner Miene fernzuhalten. Emil war einfach zu niedlich, wenn er in seinem Element war und vergaß, sich hinter seinen Trutzmauern zu verschanzen. "Gibt es denn irgendein weibliches Wesen mit schlichtem Gemüt und vorzeigbarer Figur in eurem Verein der geplanten Gehörbeleidigung?" Schon skizzierte sich ein weiterer Entwurf vor seinem geistigen Auge. "Nicht gerade eine schmeichelhafte Beschreibung, aber es gibt schon die eine oder andere ledige Frau bei uns." Kay schmunzelte. "Allerdings hat Robert sich da auch schon Körbe geholt." "Bei allen?!" Emil starrte ihn ungläubig an. "Was für eine Niete ist das denn?! Hat der etwa jeden schwachsinnigen Tipp von eurem Wischiwaschi-Magazin befolgt?!" Sich zurücklehnend konnte Kay nicht anders als breit grinsend. "Ich sagte dir ja schon, er GLAUBT an Apollon." Robert war somit blind für sämtliche Warnzeichen, die signalisierten, dass man nicht alles befolgen sollte, was da so an zweifelhaften Beziehungsanbahnungsmethoden offeriert wurde. "Du liebe Güte!" Empörte sich Emil, sprang auf, paradierte erregt durch sein Wohnzimmer. "Das wird ja immer grässlicher! Ich hatte ja schon mit einem grenzdebilen Hohlkopf gerechnet, aber so etwas!!" Er grübelte sichtlich, marschierte auf und ab. Kay lächelte und schwieg. Er konnte kaum erwarten, mit der nächsten Taktik vertraut gemacht zu werden. Ein Seitenblick streifte ihn, dann blieb Emil abrupt in einer Wende stehen, wirbelte. "DAS ist es!" Der Blitz der Erkenntnis leuchtete aus seinen gefleckten Augen, während eine Hand ganz unmanierlich auf Kay deutete. "Genau!" "Genau?" Kay lupfte sparsam eine Augenbraue. "Habe ich dich auf eine Idee gebracht!" "Oh ja!" Schnurrte Emil erstaunlich guttural, lächelte diabolisch. "Das wird perfekt!" Ein wenig unbehaglich ob des infernalischen Glühens in den vertrauten Augen setzte Kay sich alert auf, hakte nach. "Was genau schwebt dir vor?" Emil strahlte abgründig. "Ist doch naheliegend! Wir aktivieren seine Mutter!" §-#-§ »Igitt!« Nicht gerade ein literarisch herausragender erster Gedanke, doch präzise, wie mit dem Skalpell geschnitten, sprang Andronicus' Verstand wieder an. Von seinem Bewusstsein begleitet, das in ungeschickter Übereifrigkeit auch gleich alle anderen Befindlichkeitsmeldungen weiterleitete. Nicht nur die sämige Flüssigkeit, bitter und gallig, die ihm da in den Schlund genötigt wurde, erregte sein Missfallen, keineswegs!, jeder einzelne Knochen, und derer gab es viele, führte Beschwerde, pochte aufdringlich. Dazu registrierte Andronicus einen seltsamen Klebefilm auf seiner Haut, klamm und schleimig. Nun trudelten auch noch die Erinnerungen ein: was zuvor geschehen war. Prompt verschluckte er sich, würgte an der zähflüssigen Masse, bis er sie widerwillig in seine Kehle glitschen ließ. "Ah, du bist wach?" Ein Déja vu, dieses Mal jedoch im Vulgär-Latein, was seine Galle nicht erneut in Alarmbereitschaft setzte. Nichtsdestotrotz konnte von einer Entspannung der Situation keine Rede sein! "...Khelchu..." Krächzte Andronicus folglich empört. Seine Laune steigerte sich nicht bei der demütigenden Erfahrung, dass ihm ein feuchter Lappen über das Ponem gezogen wurde! "Ich bin bei dir, mein Liebster. Gleich setze ich dich auch auf." Trällerte es munter über ihm. »Davon träumst du!« Schäumte Andronicus innerlich, doch seine Versuche, die Ellenbogen in die Matratze zu stemmen, ja, schlicht die Arme vom Laken zu lösen, versandeten in vergeblicher Anstrengung. »Dieser durchgeknallte...!! Was hat er angestellt?!« Eine Welle von Panik durchlief den weißblonden Mann. Khelchu hatte ihm in der Vergangenheit mit seinen rauschhaften Gelüsten durchaus in Bedrängnis gebracht, doch niemals so sehr, dass er sich kaum zu rühren vermochte! Ein kräftiger Arm schlang sich ungefragt um seine Schultern. Mit elastischer Leichtigkeit wurde er gleich hochgehoben, gegen aufgeklopfte Kissen gestützt. Andronicus blinzelte, weil er sich nicht kindlich mit dem Handrücken über die verleimten Wimpern wischen konnte. Als sein Blick sich klärte, den Kopf demonstrativ zum Kleiderkabinett abgewandt, spiegelte sich in der lackierten Oberfläche der Gleittüren ein Skelett, dem man aus Schicklichkeit Pergament ähnliche Haut übergezogen hatte. Er rang nach Luft, selbst die instinktive Geste, die Hand vor den Mund zu schlagen, scheiterte an seiner Schwäche. Aus tiefen Höhlen blickten schwarze Augen aus dem abgemagerten, knochigen Leib eines Greises. "Das wird wieder, keine Sorge!" Drängte sich ungefragt Khelchu in seine entsetzten Verstand. "..was-was?" Eigentlich wollte Andronicus ihm ins Gesicht schleudern, was er ihm da angetan habe, aber mehr als ein klägliches Stammeln produzierte er nicht. Khelchu ließ sich gewohnt lässig neben ihm nieder, legte uneingeladen einen muskulösen Arm um Andronicus' bedrohlich herausstechende Schulterblätter. "Seltsam." Er lächelte melancholisch. "Man vergisst es tatsächlich. Dass man sterblich ist." Mit der freien Hand pflückte er Andronicus' verkrümmte, linke Klaue von der Matratze, führte sie an die Lippen, drückte einen warmen Kuss auf die eisigen Knöchel. "Aber ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht, Andro, keine Angst." Raunte er kehlig, küsste nun auch eine Schläfe, an der unkleidsam Adern hervorstanden. Andronicus wiederum begriff nicht. Was sollte das heißen?! Was war passiert?! Überhaupt....!! Er blickte mit einer ruckartigen Bewegung um sich, stierte ungläubig auf den Funkwecker, der von der Konsole aus die Zeit abzählte. ZWEI Wochen?! Zwei Wochen waren vergangen, seit Khelchu ihn überfallen hatte?! "Was hast du getan?!" Würgte er schließlich mühsam hervor. "Hmmm." Neben ihm zog der schwarzhaarige Vampir mit der ockerfarbenen Haut die Stirn kraus. "Nun, ich habe die Arznei zusammengestellt, deine Termine abgesagt, deine Fische gefüttert, deine grünen Freunde gegossen, deine Post beantwortet..." Er grübelte, lupfte dann leichthin die breiten Schultern. "Mich eben als Hausgenosse nützlich gemacht!" Dabei strahlte er mit perfektem Gebiss Lob heischend. "Aber...ich verstehe nicht..." Andronicus rang mit zu vielen Eindrücken und Widersprüchlichkeiten. "Was-was ist mit mir passiert?!" Khelchus Gesichtszüge verloren den üblichen charmant-schurkischen Ausdruck, wurden streng, beinahe hart. "Ich vermute, es ist eine Art Virus. Sehr aggressiv. Ohne Hilfe von außen tödlich." Der Mann, widerstrebend in seinen Armen geborgen, zitterte merklich. "Davon habe ich noch nie gehört!" Andronicus zwang seine Panik mit skeptischen Zweifeln in die Defensive. "Nicht weiter verwunderlich." Großmütig ignorierte Khelchu den unterschwelligen Vorwurf, er lasse sich eine Lüge zuschulden kommen. "Meistens leben wir allein, richtig? Wir sterben auch allein. Es geht viel zu schnell, um sich selbst retten zu können, also kann auch niemand darüber berichten." Das KLANG logisch, doch Andronicus war nicht willens, sich so leicht überzeugen zu lassen. Er hob das spitze Kinn höher, um das angebotene Handgelenk zu überragen, das ihm eine Vesper anbot. "Wenn das so ist, warum weißt DU darüber Bescheid?" Hakte er grimmig nach. Hörte er da etwa wirklich seinen Magen knurren?! Der schwarzhaarige Vampir lehnte sich tiefer in die Kissen, klemmte Andronicus schlicht den Arm zwischen die Kiefer, lachte leise auf, als dessen Reißzähne präzise Löcher prägten, gierig Blut geschluckt wurde, Instinkte über Zivilisation siegten. Er hob den Arm von den Schultern, streichelte über die Schläfe. "Das erklärt sich damit, dass ich mit etwa fünf Jahren auch vom Virus befallen worden bin." Sofort unterbrach sich das dezente Schlecken und Schlürfen. "Meine Mutter hat mein Leben gerettet. Ich konnte mich daran erinnern, wie sie es getan hat, weil sie es mir später erzählte. Deshalb konnte ich dir helfen." Erleuchtete Khelchu gemächlich die Hintergründe. Andronicus starrte, den Unterkiefer klebrig von Khelchus Blut. Ihm schwirrte der Kopf. Konnte es wahr sein? Warum sollte Khelchu so etwas erfinden?! War er dann wirklich in Lebensgefahr gewesen? Unwillkürlich umklammerten seine zu Krallen deformierten Finger den muskulösen Arm fester. Khelchu verzog keine Miene. Stattdessen lehnte er seinen Kopf an Andronicus', raunte sanft. "Keine Angst, Andro. Jetzt wird alles gut." In ihm regten sich Zweifel, pochten auf ihr Recht und seinen Stolz, allerdings verwies der weißblonde Vampir sie auf ihre Plätze. Er war schlichtweg zu erschöpft, um eine Entscheidung zu treffen. §-#-§ Als Andronicus erwachte, hörte er leises Lachen an seiner Seite. "Hallo, mein Schatz! Ich dachte schon, ich müsste die Viecher unten ruhigstellen, weil dein Magen sie in Aufruhr versetzt hat." Kicherte Khelchu gut gelaunt. Andronicus verschluckte eine bissige Bemerkung, denn es wurmte ihn durchaus, dass Khelchu keinerlei Händel mit Tieren hatte, während er selbst ständig als "Feind" wahrgenommen wurde! Doch sein kollernder, kaum zu überhörender Magen beschämte ihn zutiefst. Er blinzelte zur Zimmerdecke, erinnerte sich dann des letzten Erwachens als abstoßendes Gerippe, keuchte instinktiv. Selbstekel rang mit dem betäubenden Hungergefühl, verlor jedoch den Kampf. Vergeblich strengte er sich an, eine sitzende Haltung einzunehmen. Khelchus muskulöser Arm hievte ihn dagegen ohne Mühe in die Senkrechte. Der schwarzhaarige Vampir hockte vor seiner Bettkante, betrachtete ihn aufmerksam. "Wenn du möchtest, helfe ich dir zuerst unter die Dusche und danach essen wir." Offerierte er lächelnd. Andronicus knurrte matt. Wieso war er überhaupt nackt?! Khelchu federte geschmeidig in die Höhe. "So war es einfacher, weißt du? Bewegungen haben dir Schmerzen bereitet, da wollte ich dich nicht auch noch mit An- und Auskleiden plagen." Ungefragt beugte er sich herab, fädelte die starken Arme unter klapprige Knie und um knochige Schulterblätter, beförderte Andronicus mit beschwingtem Schritt ins Badezimmer, setzte ihn dann sanft in der Badewanne ab. Eine Übung, die bei allen anderen wohl mindestens einen Hexenschuss verursacht hätte. Der weißblonde Vampir, noch zwischen Scham und Zorn auf sich selbst kämpfend, stutzte plötzlich. Ein heftiges Zittern durchlief ihn, er konnte kaum seine dürren Glieder umklammern. Seine Zähne schlugen hörbar aufeinander. Khelchu federte auf dem Absatz herum, ließ Bekleidung und Handtücher sein, wo sie waren. Er sank auf die Knie, ignorierte die Fliesen, schlang die Arme um die verkrümmte, bebende Gestalt. "Du musst mich nicht fürchten!" Raunte er beschwörend, küsste ein Ohrläppchen. "Hab nicht solche Angst vor mir, Andro! Ich würde niemals zulassen, dass dir etwas geschieht!" Der Angesprochene winselte kläglich, ballte sich noch enger zu einem kompakten Paket hervorstechender Knochen zusammen. Also war es wahr, er hatte sich nicht getäuscht! Khelchu-Khelchu konnte wirklich seine Gedanken lesen! Nicht bloß Absichten erkennen, nein, hier, jetzt, da antwortete er auf das, was bloß im Kopf formuliert worden war! Das bedeutete, dass all seine Fluchten nur mit Khelchus Erlaubnis erfolgt waren. Dass er gar nicht unbeobachtet gewesen war. "Aber Andro!" Der schwarzhaarige Vampir wisperte zärtlich. "Hast du etwa vergessen, was ich dir bei unserer ersten Begegnung gesagt habe? Dass ich noch nie jemanden wie dich getroffen habe? Wie könnte ich da so nachlässig sein, das Schicksal herumpfuschen lassen? Riskieren, dass dir etwas geschieht?" Andronicus presste das Gesicht gegen die knochigen Knie und schluchzte vor Angst und Hilflosigkeit. §-#-§ Als Khelchu spürte, wie der geschwächte Leib überwältigt wurde, fasste er behutsam zu, lagerte den Ohnmächtigen so in der Badewanne, dass er ihn ungefährdet mit einem sanften Wasserstrahl abspülen konnte. Nachdem er auch die feine Seifenlauge entfernt hatte, tupfte er die kalte, weiße, nur dezent marmorierte Haut ab, barg seinen angeschlagenen Geliebten aus der Badewanne. Obwohl es keineswegs einfach war, bekleidete er die ausgemergelte Gestalt geübt mit Hemd und Hose, leichter Sommerstoff, Kordelzug, um unschickliches Entblößen zu vermeiden. Sorgsam kam er mit seiner süßen Last auf den Armen aus den Knien hoch, platzierte sie im altmodisch hohen Lesefauteuil im Wohnzimmer, achtete darauf, dass Andronicus nicht herunterrutschen konnte. Er bezog rasch das Bett neu, kontrollierte den Zustand seines Gefährten, um sich voller Tatendrang der Befriedigung des Wolfsgeheuls zu widmen. §-#-§ Es war beschämend! Nicht nur die widerlichen Tränen, die ihm einfach aus den Augen sickerten, auch die Tatsache, dass Khelchu ihn fütterte. Aber Andronicus konnte trotz aller Willensanstrengung seinen rebellischen Körper nicht zur Räson bringen! Ein Teil seiner Ratio erkannte messerscharf, dass er unter Schock stand, vollkommen geschwächt seinem Leib zu viel abverlangte. Ein anderer Teil jedoch förderte Wellen von Panik, Zorn, Hilflosigkeit, Hass, Verzweiflung und Resignation. Khelchu tupfte ihm mit einem Stofftaschentuch unbeeindruckt Tränen vom Gesicht. "Es ist doch wirklich nicht so schlimm." Stellte er sachlich klar. "Ich tue dir doch nichts!" »Ach nein?!« Tobte Andronicus innerlich, der keinen Ton artikulieren konnte. »Seit zehn Jahren verfolgst du mich, hast mich getäuscht, gefangen, missbraucht, ausgeforscht...!!« Über ihm seufzte der Vampir mit der ockerfarbenen Haut vernehmlich. "Andro, denkst du nicht, dass es an der Zeit ist, sich einzugestehen, warum du mich in der Nacht damals begleitet hast?" »Nein! NEIN!!« Dachte der weißblonde Vampir mit zugeschnürter Kehle, wandte demonstrativ den Kopf ab. Er wollte sich nicht daran erinnern, wie eingenommen, ja, beinahe verzaubert er gewesen war, wie wagemutig er sich gefühlt hatte, einem anderen Mann, einem Vampir sogar, all diese Freiheiten zu gestatten. Zornig auf sich selbst presste er die Lider fest zusammen, kniff die Augen zu, als könne dies die Ereignisse ungeschehen machen. Er verabscheute den Anteil seiner Persönlichkeit, der die Intimitäten, deren sich Khelchu als unübertroffen kundig erwies, genoss, herbeisehnte, vermisste. Da hielt er sich unerbittlich die nackte Angst vor, die ihn ergriffen hatte, als er Khelchus wahre Natur erkannt hatte. Nun, zumindest den Teil, den der nicht leichtmütig vor ihm verbarg! Er wollte hassen, ja, unbedingt sogar, um nicht vor Angst zu schlottern. Jahrelang war er in seinem Wesen als Vampir unangreifbar, sicher, beinahe unsterblich gewesen, hatte sich an diesen Zustand von Fremdsein unter den Menschen gewöhnt, wurde nun, unvermittelt, unerwartet, nach einer wundervollen Nacht, konfrontiert mit den Fakten: Khelchu würde es nicht mal ein Wimpernzucken kosten, ihn umzubringen, und zwar endgültig. Jetzt befand er sich in aussichtsloser Lage. Ohne Fluchtmöglichkeit, entkräftet, geschlagen, final ausgekontert. "Ich möchte mit dir leben." Schnurrte Khelchu sanft. "Dich lieben, beschützen und verwöhnen. Warum sollte ich dir da etwas antun?" "Weil du ein Soziopath bist!" Würgte Andronicus gepresst hervor. "Simpel, weil du es kannst. Es würde dich nicht mal anstrengen." Der schwarzhaarige Vampir stieß ein vernehmliches, aber amüsiertes Seufzen aus. "Mein Liebling, für jemanden, der so lange unter Menschen gelebt hat, gebricht es dir mächtig am Sinn für Romantik! Abmurksen ist nicht schwer, da muss man nicht mal die entsprechende Absicht haben." Dozierte er gelassen. "Aber das wäre doch einfach dumm! Vielleicht macht Liebe Menschen blind und blöd, aber ich bin nun mal kein Mensch. Ich will dich lieben, mit dir leben, Spaß haben. So viel verlangt ist das doch gar nicht!" "Du verstehst das nicht!" Explodierte Andronicus ihm beinahe ins Gesicht, die schwarzen Augen von Tränen poliert, aufgebracht, zitternd vor Anstrengung. "DU bist ja immer der Stärkere! DU liest meine Gedanken! Ich bin dir ausgeliefert! Stell dir das mal umgekehrt vor!!" Khelchu lupfte eine ausdrucksstarke Augenbraue. "Also, Andro, das würde mir keine Angst machen. Ich vertraue dir. Warum solltest du mir etwas tun wollen, wenn du mich liebst?" "Aber...! Oh, du bist so...so...ignorant!" Andronicus riss die dürren Arme im Fauteuil hoch, sorgte dafür, dass ihn durch die hektischen Bewegungen schwindelte. Khelchu würde es nie begreifen!! Der war so arrogant, so unsensibel, so...so...überlegen! "Ein bisschen unrecht tust du mir schon." Bbemerkte Khelchu, stellte die Schüssel mit dem Löffel beiseite, lehnte sich über Andronicus, der reflexartig in sich hinein schrumpfte, um weniger Angriffsfläche zu bieten. Die schwarzen Augen funkelten. "Niemals habe ich dich beschimpft oder gequält, dich geschlagen, erniedrigt oder wie ein Objekt behandelt. Oder dich belogen." Andronicus zwang sich, dem Blick standzuhalten. "Du hast mich nicht gehen lassen, verfolgt und..." Er seufzte, senkte die Lider. All seine Freiheiten waren Khelchus Wohlwollen zu verdanken, wenn der seine Gedanken lesen konnte. Allzu oft hatte er sich auch fallen lassen. "Ich habe dir nie Anlass gegeben, mir nicht zu vertrauen." Ergänzte der schwarzhaarige Vampir sanft, strich mit einer Hand den weißblonden Pony zur Seite, um die fahle Stirn zu küssen. Unter ihm zog Andronicus die Schultern hoch. Die beschämende Wahrheit: er hatte Khelchu nicht vertrauen wollen! Er hatte nicht glauben wollen, dass der genauso war, wie er sich gab. Diese Blindheit, die es Vampiren unmöglich machte, einander zu lesen wie Menschen, sorgte für Misstrauen, eine stete Angst, attackiert oder verletzt zu werden. Aus schierer Angst hatte er sich geweigert, Khelchu anzunehmen. Doch was nützte diese erzwungene Erkenntnis ihm jetzt? Eine warme Hand fasste seine kalte, ausgedörrte Rechte. "Nimm mich bei meinem Wort, dich zu lieben. Lass es uns einfach tun." Andronicus schniefte matt. "Na toll! Da habe ich mich zehn Jahre lang umsonst zum Idioten gemacht! Du bist überhaupt nicht mein Typ!" Über ihm lachte Khelchu unterdrückt. "Dass du einen bestimmten Typ hast, habe ich gar nicht bemerkt. Wir haben aber jede Menge Zeit, damit ich mich zu deiner großen Liebe mausern kann." Knurrend schlug der weißblonde Vampir die Augen auf, funkelte hoch in das lächelnde Gesicht. "Wir haben aber wohl gar keine Selbstzweifel, wie?!" Ätzte er grimmig. Khelchu zwinkerte gelassen. "Nö." Beschied er schlicht. §-#-§ Kapitel 26 - Klare Kante "Das ist schon gruselig." Bemerkte Kay, als er sich auf Emils Sofa häuslich eingerichtet hatte, sandte auf den von Triumph erleuchteten Gastgeber einen beunruhigt-hingerissenen Blick. "Pah, ER hat ja damit angefangen!" Konterte Emil mit dem ältesten Sandkastenstreit-Argument der Geschichte. "Wenn er sich so exponiert, ist er ja wohl selbst für die Konsequenzen verantwortlich!" Mit anderen Worten: Emil war sich keiner Schuld bewusst. Darüber hinaus auch ausgesprochen zufrieden mit sich selbst! Nun, den Erfolg seiner Guerillataktik konnte man auch nicht von der Hand weisen. Ein geschickt zusammengebasteltes, falsches Flugblatt für einen Escort-Service, der alleinstehenden Herren mit Niveau eine hervorragend ausgebildete, bildschöne, junge und anpassungsfähige Begleiterin offerierte, die aufgeschlossen für weitere Stufen der persönlichen Betreuung war, dazu ein verfremdetes QR-Bildchen (um nicht tatsächlich auf eine Webseite zu stoßen) und darüber gekrakelt "ein besorgter Nachbar". Alles in einen Umschlag, der per Post die werte Erzeugerin des offenkundig notorisch bekloppten Apollon-Spinners erreichte. Nicht einmal zwei Tage später nistete sie sich in heller Empörung über den potentiellen Lebenswandel ihres geliebten, neurotischen und einzigen Sohnes in dessen Wohnung ein. Die Telefonate, die Kay mithören musste, entbehrten nicht einer gewissen Komik, von Realsatire ganz zu schweigen! Kein Apollon hatte etwas zu melden, wenn das Muttertier die Fährte aufgenommen hatte, mutmaßte, dass ganze Rudel dubioser Glückssucherinnen sich an Haus, Auto, Pferd, Yacht und sonst noch was ihres Sprösslings zu vergreifen drohten! Robert, der neidisch Kays äußerst zweifelhaft-anrüchige Freundschaft zu "Kays" Emil mit Argusaugen beobachtet hatte, lebte fortan unter dem Brennglas seiner Mutter. Das hielt kein Image aus! Nach einer Woche konnte er schon Mitleidspunkte verzeichnen, aber nicht ungebührlich viele, denn man erinnerte sich ja noch an gewisse hysterische Ausbrüche und arrogante Ansagen. "Der ist erledigt!" Stellte Emil gerade befriedigt fest, löste zur Feier des Tages "Schweinespeck" (die heimische Variante von Marshmallows) im Kakao auf. "Keine Belästigung mehr, keine dämlichen Nachstellversuche, kein nichts! Quod est demonstrandum!" "Erinnere mich bloß daran, dich nicht zu verärgern." Murmelte Kay, rührte in seinem Kakao herum. Ein wenig leid tat ihm Robert ja durchaus, weil der eben ein kleiner Mann mit noch kleinerem Selbstbewusstsein war, der im Schatten seiner Komplexe einfach zu selten die Sonne sah. Emil hingegen funkelte nun grollend hinüber. "Erlaube mal, ja?! Ich hatte ihn gewarnt! Das war schon äußerst sportlich von meiner Seite!" "Du hast dir richtig viel Mühe gegeben!" Jammerte Kay vorgeblich gekränkt. "Ich bin schon ein wenig eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die du ihm gewidmet hast!" "Pardon?! PARDON?!" Nun stand Emil, die Fäuste geballt, jeder Zoll Empörung. "Ich höre wohl nicht richtig?! Wenn DU diesem debilen Deppen nicht von uns erzählt und ihm mal ordentlich den Marsch geblasen hättest, hätte ich keine Zeit darauf verschwenden müssen, ihn in die mütterliche Hölle zu jagen!" Er schnaubte, leerte seinen Kakaobecher in einem Zug, verließ betont stapfend das Wohnzimmer, von Gemurmel begleitet, das verdächtig nach, "unverschämt! Und undankbar! Da gibt man sich Mühe, und jetzt so was...", klang. Kay konnte ein breites Grinsen, nun ohne gefährliche Zeugen, nicht länger unterdrücken. Trotz aller Provokationen hatte sein Emil nicht EIN EINZIGES MAL erwogen, schlicht ihre Beziehung zu beenden, um den Ärger mit Robert abzuwenden! Das erfüllte ihn mit großer Zuversicht. Tollkühn erhob er sich also, als Vorwand die leere Kakaotasse apportierend, um seinen grantelnden Gastgeber in der Küche zu stellen. §-#-§ Regen perlte in Schnüren an der Scheibe herab. Thierry presste die Stirn und einige entflohene Locken an das dreifache Glas, doch kühler fühlte er sich nicht. Aber er musste sich DRINGEND auf Normaltemperatur bringen! Nun, zumindest die Variante für Frost-Vampire. "Stimmt was nicht?" Selim umarmte ihn sanft von hinten, rieb vertraut mit einer Wange durch Thierrys Locken, was ihm sehr zu gefallen schien, so oft, wie er sich an dieser Geste der Zuneigung erfreute. "Nicht anfassen." Murmelte Thierry, löste sich eilig von den muskulösen Armen, weg von der imponierenden Brustpartie. »Ganz ruhig!« Ermahnte er sich innerlich. »Fußpilz! Dampfende Hundescheiße! Mörder-Regenschirm-Teleskop-Metzel-Mechanismus! Verkochtes Labber-Risotto...« Selim hielt artig Abstand. "Wenn ich was angestellt habe, tut es mir wirklich leid! Könntest du mir wohl andeuten, was ich vermurkst habe, bitte?" »HHHNNNNGGGHHHHHH!!!!!!!« Dachte Thierry verzweifelt, trieb die Fingernägel tief in seine Handflächen. Das brachte allerdings in seinem Vampirstadium nicht mehr sonderlich viel. "Verdammt noch mal!!" Explodierte er schließlich, konnte sich nicht länger beherrschen, musste dem Druck ein Ventil bieten. Mit dem Rücken zur Scheibe, die Finger um die gemauerte Fensterbank hinter sich geklammert, eine eher miese Selbstfesselung, fixierte er seinen Liebhaber, dessen Sorge und unverbrüchliche Liebe ihn förmlich überrannte. Selim erwiderte den flammenden Blick tapfer, wie immer, wenn er mit Konsequenzen seiner "Vollidiotie" konfrontiert wurde. Thierry schabte mit den Zähnen, ein granulierendes Knirschen, fletschte sie, rang mit sich selbst. "Was ist denn los?" Selim streckte ihm die offenen Hände entgegen, zärtlich, sanft, unerschrocken. »Obwohl ich ein Monster bin! Eine Bestie!« Aber die wollte Thierry nicht werden, nein, ganz sicher nicht! Irgendwie musste es sich doch unterdrücken lassen! "Sag's mir, ja?" Selim berührte ihn nicht mal, nein, es war nur ein Atemhauch, der sich warm auf Thierrys vor Anstrengung verzerrtes Gesicht legte. "RAAAAHHHHH!" Ein hilflos-frustrierter Kampfschrei, dann brachen auch die letzten Siegel. §-#-§ "Ich bin verärgert." Setzte Emil Kay in der Küche distanziert auseinander. "Über diese vollkommen ungerechtfertigte Unterstellung, ich hätte mich über das notwendige Maß hinaus mit diesem Subjekt assoziiert." Reine Buttersäure konnte nicht zersetzender wirken. Kay jedoch verstand mittlerweile sehr gut, im Subtext zu lesen. Weil Emil ja nach Regeln spielte, konnte er sie zu seinen Gunsten nutzen. "Ich bin es eben nicht gewöhnt, dass du für andere außer mir deine Misanthropie zurücknimmst!" Maulte er folgerichtig kleinlaut herum. Die Mikrowelle klingelte in die einsetzende Stille hinein, um das Ende des Erhitzungsprozesses anzuzeigen. "Du spinnst ja!" Grollte Emil schließlich, barg beide Becher. "Das waren gerade mal eine Stunde für Recherche und Bastelei sowie das Briefporto!" Ohne aufzusehen stellte er Kays Becher in dessen Reichweite ab. "Außerdem kann niemand erwarten, dass ich mir ohne Gegenwehr die schweineferkeligen Lahmarsch-Phantasien dieses neurotischen Komplexwunders auf MEINEM Anrufbeantworter anhören muss!" Hinsichtlich der herrschenden Besitzverhältnisse verstand ein Emil Sandemann keinerlei Spaß! Kay schlürfte seinen Kakao so laut, dass es sich wie ein Schluchzen anhörte. Prompt baute sich Emil vor ihm auf, schon wieder in Krawall-Modus, was sehr viel besser als die Froststufe der Distanz war. "Überhaupt kann ich keinen Grund sehen, warum ICH mich hier rechtfertigen soll! Während Mr. Apollon hier, der Star Kay Nelson Jefferson, mit UNZÄHLIGEN Fans, Bekloppten, Speichelleckenden, Geschmackstauben und anderem Gesocks täglich poussiert! Also, WER hat hier wohl irgendwelche Eifersüchteleien zu beherbergen, hm?!" Kein Schulmeister mit Rohrstock hätte spitzer formulieren können. Sofort beugte Kay sich herunter, zwinkerte in die gefleckten Augen hinter den polierten Brillengläsern. "Das heißt, du bist ein wenig eifersüchtig? Möchtest mich für dich allein haben?" Schnurrte er süßlich. "Quatsch!" Donnerte Emil mit Inbrunst, verschränkte die Arme vor der Brust. "Warum sollte ich?! ICH habe ja wohl keine Konkurrenz zu fürchten!" Nach der durchaus arroganten Behauptung folgte sogleich die streng rationale Beweisführung. "Schließlich hat Mr. Apollon hier wie eine gesprungene Platte ständig herausposaunt, dass er mich liebt! Das habe ich über andere Leute noch nicht vernommen. Quod est demonstrandum!" Selbstzufrieden verbeugte er sich knapp vor einem unsichtbaren Auditorium. "Das ist wahr." Summte Kay in seinem verführerischen Bariton auf Basslage, schnellte vor, um die triumphierend geschwungenen Lippen kurz zu küssen. "...he! Frechheit!" Beschwerte sich Emil grollend, wischte sich mit dem Handrücken betont über die Lippen. "So eine Ferkelei! Jetzt habe ich deinen Kakaobart im Gesicht! Unmanierlich!" Damit stapfte er eilends ins Badezimmer, um seine Würde wiederherzustellen. Kay lehnte sich am Tresen zurück, legte den Kopf in den Nacken, gluckste fröhlich vor sich hin. Emil zu necken bereitete ihm einfach zu viel Vergnügen! Vor allem aber zeigte sich, dass seine Theorie über die "Rühr mich nicht an!"-Gebote den Praxistest bestand! Wenn er nur ein relativ kleines Emil-Areal in Beschlag nahm, fühlte der sich nicht zu sehr bedroht, sah grollend über die Anflausch-Attacken hinweg. Mochte Robert auch von zweifelhaften Infights träumen/schwärmen, für Kay Nelson Jefferson bedeuteten sie gar nichts. Sportliches "Workout" konnte er sich anderweitig verschaffen, pubertäre Notstände waren auch nicht zu zeitigen. Also konnte er sie genießen, diese kleinen Höhepunkte einer spannungsvollen, amüsanten, hinreißenden Liebe zu einer verwilderten Kratzbürste mit Krallen und aufgestelltem Fell. Die trotz allem Kakao und "Schweinespeck" mit ihm teilte! §-#-§ Thierry kauerte auf der Bettkante, die dünnen Arme schützend um ebenso dünne, angezogene Beine geschlungen. Er polterte mit sich selbst, lautlos. Wieso fühlte er sich nicht absolut unterirdisch, moralisch tiefer als Erdkern, eine verachtungswürdige Existenz?! Nein, trotz aller Anstrengungen summte ein Teil seiner Selbst fröhlich-entspannt vor sich hin, war ausgesprochen versöhnt mit der Welt! Der Welt, die er gerade GRANDIOS im Orkus versenkt hatte! "Uhhhhhhrrghhhh!!" Trommelte er mit den Fersen auf die Matratze, kniff sich, recht erfolglos, in die Unterarme. Zu was für einem niederträchtigen, gemeingefährlichen Charakterschwein war er bloß mutiert?! Wo würde das alles enden?! Hinter ihm regte sich etwas. Mit einem leichten Ächzen stemmte Selim die Ellenbogen in die leidgeprüfte Matratze. "....wooooow...." Murmelte er bedächtig, ein wenig heiser. Blinzelnd beäugte er die ihm zugekehrte knochige Rückenpartie, poliert wie Marmor, porzellanweiß, von einem wirren, sehr einladenden, schwarzen Lockenschopf gekrönt. Irgendwo in dem Wust gab gerade ein Zopfgummi seine Existenz auf. "Tu das nicht." Hörte er sehr gepresst von seinem attraktiven Liebsten. "Was genau nicht?" Erkundigte Selim sich, zog die Beine an, um sich aufzusetzen. Himmel, da waren doch einige Muskelpartien stärker beansprucht worden, deren Existenz er bisher schmählich ignoriert hatte! "Nachsichtig sein!" Explodierte Thierry keineswegs unerwartet, wandte sich blitzschnell herum, schon wieder auf 1.000 Umdrehungen, die kleinen Fäuste geballt. "Wieso bist du nicht sauer?! SEI GEFÄLLIGST WÜTEND AUF MICH!!" Selim lupfte eine Augenbraue, rieb sich mit beiden Händen energisch über das sanft gerötete, aparte Gesicht, studierte die Furie auf seiner Bettkante, die nun zur Betonung aufgesprungen war, in Angriffslaune posierte. Nackt und unheimlich anziehend auf ihn wirkte. Was man vermutlich seinen Gedanken entnehmen konnte, denn Thierry konterte mit einem frustrieren Wutschrei, trampelte sogar wie ein Kleinkind auf der Stelle herum. "Unglaublich, wie viel Energie du hast!" Bewunderte Selim ungeschminkt, lächelte dann befreiend. "Da ziehe ich echt den Hut!" "Du! Sollst! Wütend! Sein!" Fauchte Thierry ihm guttural ins Gesicht, kniete sekundenschnell neben ihn, schüttelte ihn durchaus beeindruckend an den muskulösen Schultern. "Sei! Sauer!" Geduldig wartete der Ältere ab, dass das Durchrütteln ein Ende nahm, denn er wollte sich nur ungern auf die Zunge beißen. Er blickte freimütig in die blitzenden, tiefschwarzen Augen. "Ich bin aber gar nicht wütend. Im Gegenteil! Ich habe bis eben gar nicht gewusst, was mir so alles gefällt! Ganz erstaunlich!" Dabei strahlte er seelenruhig in das aufgewühlte Zwillings-Mitternachtsmeer unter den langen, dichten Wimpern. "Aber...! Das...!" Thierry kämpfte damit, sich zu sortieren, denn wie verlautbart spürte er nicht einen Anflug von Furcht, Ressentiment oder gar Abneigung, nein, ihn bedrängte erneut die gewohnte Mischung aus Liebe, Hingabe, Loyalität und Bewunderung! Er zwang sich, mehrfach tief durchzuatmen, den Blick auf das zerknitterte Laken gerichtet. "Dir ist doch aber schon bewusst, dass ich ohne dein Einverständnis über dich hergefallen bin, oder?" Biss er Silben im forcierten Plauderton in Stakkato-Häppchen. "Also, ich frage dich ja auch nicht, wenn ich dich küssen oder umarmen will." Konterte Selim gelassen. "Das haben wir doch bis jetzt ganz gut hinbekommen, oder?" "Schon, aber...!" Aus seinem Konzept gebracht knirschte Thierry erneut mit den Zähnen, packte die muskulösen Oberarme etwas fester. "Aber DAS hier ist ja wohl etwas ganz anderes!" "Finde ich nicht." Bekannte sein älterer Liebhaber gänzlich unbeeindruckt, noch immer lächelnd. "Ich find's einfach klasse! Ehrlich, ich habe nicht gewusst, dass es mir gefällt, von dir so verwöhnt zu werden! Und..." Eine kleine Hand versiegelte streng seinen Mund. "Ich habe dich vergewaltigt!" Zischte Thierry in Selbsthass. "Auch noch dabei gebissen!" Unter seiner Hand wuchs das Lächeln zu einem breiten Grinsen, was ihn in seiner egozentrischen Zermürbung zwecks Vernichtung erheblich störte. Also gab er Selims Lippen wieder frei. Der hob eine Hand, um über Thierrys Locken und die bleiche Schläfe zu streicheln. "Ich ab dir gesagt, dass du mich jederzeit ankabbern darfst. Es ist in Ordnung, Thierry!" "Überhaupt nicht! Nichts ist in Ordnung!" Brüllte der, suchte sein Heil in der Distanz, sprang vom Bett auf die Beine. "Warum willst du das nicht begreifen?! Ich bin ein gemeingefährliches MONSTER geworden! Eine total unbeherrschte Bestie!!" Den Kopf leicht auf die Seite neigend blickten Selims helle Bernsteinaugen kritisch. "Da, finde ich, übertreibst du jetzt aber ein wenig." "Ach ja?!" Frustriert wedelte Thierry mit den dünnen Armen durch die Luft. "Wie würdest DU DICH bezeichnen, wenn du ständig nur das Eine im Kopf hast, einfach so über deinen Liebsten herfällst?!" "Ähm." Hüstelte Selim nachsichtig. "Als deinen Liebsten?" "Aber-aber...!!" Thierry erkannte zu spät, dass er argumentativ die falsche Abzweigung genommen hatte. "Ich meine, wenn es umgekehrt wäre!" "Oh." Selim seufzte geknickt. "Ich dachte eigentlich, es gefällt dir, wenn wir so zusammen sind. Stimmt das nicht?" "Was?! Natürlich gefällt es mir!" Die nächste Fallgrube war Thierry sicher. Das bemerkte er erst, als Selim ihn anschmunzelte. "Na, und mir gefällt erst recht, was wir zusammen tun." Ausgekontert schnaubte Thierry hilflos, wandte sich schließlich ab, hielt auf das Fenster zu. Draußen herrschte noch immer Weltuntergang, Marke Sintflut 2.0. "Wie kannst du mir noch über den Weg trauen?" Erkundigte er sich leise, die Stirn an die Glasscheibe gepresst. Selim war IMMER zu nachsichtig mit ihm! Also musste er sich selbst streng an der Kandare halten, doch wie sollte er das bewerkstelligen, wenn er nicht ständig Herr über sich selbst und seine Handlungen war?! Wenn er zu einem verblödeten, instinktgesteuerten, arschkalten Vampir mutierte?! Ein muskulöser Körper bog sich passgenau um seine schmale Gestalt, eine Wange rieb sich an seinen knisternden Locken. "Ich glaube, dass ich dich ziemlich gut kenne." Salbte Selim sanft die offenen Wunden. "Deshalb vertraue ich dir. Ich war zwar überrascht, das hast du ja gemerkt, aber es hat mir gut gefallen. Was dir auch nicht entgangen ist." Lachte er leise. "So intensiv habe ich Sex bisher noch nicht erlebt. Jetzt bin ich viel schlauer." Thierry schnaubte matt. Er lief hier einfach immer ins Leere, konnte sich an nichts reiben oder austoben! Selim war einfach zu LIEB! "Oh!" Bemerkte der an seinem Ohr, in einem geknickten Tonfall. "Oh, sag mal, jetzt bitte ehrlich, bist du mit meiner, nun ja, Performance eigentlich zufrieden? Ich glaube, ich bin nicht so phänomenal..." Der zierliche Vampir ahnte den Verlauf dieser Überlegungen, rotierte in der Umarmung, legte die kalten Hände auf die warmen Wangen und zog Selim zu sich herunter, um ihn gründlich zu küssen. "Niemand und nichts auf der Welt kann jemals an dich heranreichen, klar?!" Wisperte an den warmen Lippen. "Na schön, aber sollte sich das mal ändern..." Wie stets war Selim um Entwicklungspotential bemüht, was erneut gründlich versiegelt wurde, so nachdrücklich, dass er sich auf die schmalen Schultern stützen musste. "Hoppla..." Murmelte er erstaunt. "Ich bin noch wacklig in den Knien...?" Ohne Federlesen legte sich Thierry einen Arm um die Schultern, schlang den eigenen um die beneidenswerte Taille seines Liebsten und dirigierte ihn zurück zum verlassenen Lager. "Wahrscheinlich fehlt mir die Übung." Mutmaßte Selim gerade, bequem rücklings ausgestreckt, schon sorgsam mit der Bettdecke eingewickelt. "Du hilfst mir doch, meine Kondition zu verbessern, richtig?" Neben ihm knurrte Thierry, zerrte den hoffnungslosen Zopfgummi aus seinem verwilderten Lockenschopf. "Ehrlich, ich weiß nicht, wo das noch enden wird, wenn du mir nicht ordentlich Kontra gibst!!" Sondern ihn sogar dazu aufforderte, ihre bisherigen Rollen ganz nach Laune umzukehren! Das bei einem Amateur! Ohne notwendige Beißhemmung! Selim befreite einen Arm aus der Versiegelung, zog Thierry schwungvoll an seine breite Brust, lachte amüsiert. "Ich wünsche mir, dass es immer so bleibt! Ich bin glücklich, genau so wie es jetzt ist!" Daran ließen weder Gedanken noch Gefühlsstürme, die Thierry erreichten, einen einzigen Zweifel. "Also gut!" Gab er sich final geschlagen, rieb seinen Kopf über der muskulösen Brustpartie, weil er wusste, wie Selim diese Reibungsenergie gefiel. "Na schön, du hast gewonnen! Ich werde also hin und wieder über dich herfallen, dich ganz ungeniert, rücksichtslos und gründlich vernaschen!" Seine finstere Drohung wurde selbstredend nicht so quittiert, wie er es beabsichtigt hatte. "Oh, vielen Dank!" Schon landete ein liebevoller Schmatzer auf seiner Stirn, wurde er innig geknuddelt, dass sogar seine Vampirknochen ordentlich knirschten. Thierry seufzte profund und kuschelte entschieden zurück. Na fein, wenn Selim ihn eben als Vampir-Monster-Mutant auch liebte und es genoss, dann würde er sich eben drein schicken! §-#-§ "Ich kann dich nicht leiden!" Fauchte Andronicus, umklammerte verärgert den Rand des Spülbeckens in seiner Küche, starrte wütend auf das Grün vor dem Fenster, von der Abendsonne verklärt. "Bist du sicher?" Geschäftig räumte Khelchu gespültes Geschirr an seinen angestammten Platz, lächelte vergnügt vor sich hin. Seine Gelassenheit war leider, wie Andronicus nicht umhin konnte einzugestehen, allzu berechtigt. Drei Tage nach seinem Erwachen ähnelte er nicht mehr einem ausgemergelten Gerippe, sondern seinem früheren Selbst. Zudem verspürte er wieder seine körperliche Leistungsfähigkeit. Zu seinem Verdruss war dies ausnahmslos Khelchu geschuldet, der aufräumte, die Wohnung säuberte, Wäsche wusch, ihm assistierte, einkaufte, Mahlzeiten bereitete, zur Praxis fuhr... Kurzum sich derartig nützlich machte, dass Andronicus nicht EINEN EINZIGEN Anlass zur Klage fand! Was ihn sehr erzürnte. Jetzt kicherte der Kerl auch noch, weil er wieder ungefragt Gedanken las! "Dazu genügt ein Blick in dein Gesicht." Schmunzelte der schwarzhaarige Vampir, baute sich hinter Andronicus auf, beide Hände ebenfalls auf den Spülbeckenrand gestützt. "Ich habe dir gesagt, dass ich gut darin bin, mich um dich zu kümmern." Ergänzte er in nonchalantem Selbstbewusstsein. "Ist ja auch kein Kunststück, nachdem du mich quasi ausgespäht hast!" Fauchte Andronicus grimmig. "Was Sprachen betrifft, bist du immer noch eine Katastrophe!" Zumindest diesen Triumph, so schal er auch war, konnte er nicht auslassen, auch wenn sofort eine Spur Reue und Scham über diese niedrigen Beweggründe aufflammte. "...ja...das ist tatsächlich...ein blinder Fleck." Kommentierte Khelchu so bedächtig, dass der weißblonde Vampir direkt vor seiner Front, zwischen seinen muskulösen Armen eingeschlossen, eine Anwandlung von Schuldgefühl verspürte. Nervös blinzelte er über eine Schulter. Khelchu lächelte. "Glücklicherweise bin ich zumindest in einer Sprache bewandert, die dir bisher immer zugesagt hat." Vertiefte sich sein Grinsen. "..oh nein! Nein, ganz ausgeschlossen!" Protestierte Andronicus hastig, doch die Arme, warm und kraftvoll, hatten ihn bereits umschlungen. Verschreckt ballte er die Fäuste. "Hab keine Angst." Raunte Khelchu direkt an seinem Ohr, jagte Schauder durch seine verspannte Gestalt. "Ich tue dir nicht weh, Andro." Was dessen hilflosen Zorn nicht milderte. §-#-§ "Du bist gemein!" Wisperte Andronicus leise, legte sich einen Arm über die klamme Stirn. Er konnte Khelchus Hitze in seinem Körper spüren, ja, sogar, dass sein eigener eiskalter Leib einen Temperaturanstieg zu verzeichnen hatte. "Bedeutet es dir wirklich so viel, mich hassen zu können?" Khelchu stützte das Kinn in eine Hand, lagerte bequem auf der Seite neben Andronicus, der nun betreten verstummte. "Na ja, du kannst tatsächlich meine Gefühle verletzen, ich bin ja nicht aus Stein." Antwortete der schwarzhaarige Vampir auf unausgesprochene Gedanken. "Ich habe mir nie viel aus Drama und Theatralik gemacht, deshalb geht es mir ein wenig ab, sich verletzen zu wollen als Liebesbeweis, aber wenn dir das so wichtig ist..." "Ich hab einfach die Schnauze voll davon, dir immer unterlegen zu sein!" Platzte es schließlich frustriert aus Andronicus heraus. Er trommelte mit beiden Fäusten auf die Matratze. Khelchu schmunzelte, was Andronicus zu einer aufgebrachten Geste veranlasste, indem er sich abrupt aufsetzte, unmanierlich mit spitzem Zeigefinger auf ihn deutete. "Da! Du machst es schon wieder! Lachst über mich, als wäre ich so ein lächerlicher Clown! Ich bin aber nicht dein Hampelmann, klar?!" Der schwarzhaarige Vampir rollte auf den Rücken ab, kreuzte die Arme unter seinem Nacken, zwinkerte zu Andronicus hoch, der auf ihn herabblitzte. "Ehrlich, Andro, ich liebe dein Ehrgefühl sehr, auch wenn es gerade wie ein Brett vor deinem Kopf schwebt." Versetzte er nachsichtig. "Ist dir nie in den Sinn gekommen, meine Liebe gegen mich zu verwenden?" Andronicus starrte sprachlos auf den ungewöhnlichen Vampir herunter. "...aber...so was...das..." Stammelte er hilflos. Er hatte nie ernsthaft geglaubt, dass Khelchus Gefühle ihn von etwas abhalten würden. Dass sie eine wirksame Waffe sein konnten. Er hatte schlichtweg nicht auf sie vertraut. Khelchu löste einen Arm unter seinem Nacken, streckte ihn aus, um sanft über Andronicus' bleiche Wange zu streicheln. "Ich liebe dich, Andro. Deine Seele ist so besonders, so atemberaubend schön. Du überraschst mich immer wieder, weil du nicht aufgibst, die Welt besser machen zu wollen. Für mich ist das erstaunlich." Andronicus konnte nicht erröten, sein Herz konnte nicht schlagen, kein rasantes Tempo vorlegen. Ihm stockte bloß vor Verlegenheit der Atem. Er drehte abrupt den Kopf weg. Wie typisch, schmalzige Komplimente zu machen, um ihm die Munition für eine Gardinenpredigt wegzunehmen! "Dabei lüge ich nicht." Seufzte Khelchu schmunzelnd. "Wenn du mich gerne auszanken möchtest..." "Aber das geht ja nicht!" Fauchte Andronicus, schlug trotzig die Arme vor der Brust übereinander. "Du machst ja extra alles richtig! Damit ich dir nicht die Ohren langziehen kann!" "Alles richtig?" Khelchu stützte sich auf den Ellenbogen auf. "Wirklich? Dann hat es dir also gefallen..." "Halt die Klappe!" Schnappte Andronicus hastig. "Damit meinte ich...das Essen! Und die Hausarbeit!" "Ach so." Schnurrte der schwarzhaarige Vampir gedehnt, gnädig. "Obwohl ich schon überrascht war, ein veganer Blutsauger, das ist schon ungewöhnlich." "Hast du ein Problem damit?!" Grollte über ihm Andronicus betont grimmig, konnte aber den Blickkontakt nicht lange aufrechterhalten, sah hastig wieder weg. Khelchu setzte sich nun auf, strich seine schweren Strähnen auf den Rücken. "Du weißt, was ich vorhabe." Antwortete er leise, kaperte die Hände des weißblonden Vampirs. "Wir bleiben zusammen. Ich liebe dich, beschütze dich. Hab keine Angst vor mir, Andro." Andronicus hob langsam den Kopf, studierte das vertraute Gesicht. "Es wird Regeln geben." Murmelte er zögerlich. "Du kannst nicht einfach immer tun, was du gerade willst." "Ich werde deine Regeln befolgen." Versicherte Khelchu ohne Zögern. Er wich Andronicus' suchendem Blick nicht aus. "Du bist älter als ich, oder?" Begehrte der zu wissen, tastete sich voran. Wenn er mit diesem Mann den Rest des Lebens verbringen wollte, dann musste er sich Gewissheit verschaffen. "Ein wenig." Zum ersten Mal zögerte Khelchu merklich. "Du weichst mir aus!" Stellte Andronicus prompt mit spitzer Zunge fest. "Nun, war das Rad schon erfunden? Denk dran, du wolltest mich nie belügen!" Für einen Wimpernschlag verstärkte sich der Druck auf seine Hände. Khelchu wirkte sofort wieder lediglich konzentriert, der Anflug von Angst, der Andronicus durchzuckte, entging ihm ebenfalls nicht. "Das Rad gab's schon." Beteuerte Khelchu nun betont heiter. "Außerdem, stört dich mein Erscheinungsbild wirklich?" Für Andronicus war das nicht die Frage. Nein, die Physis hatte ihn bereits vor zehn Jahren rettungslos-verfänglich eingenommen. Zu seinem Leidwesen verstand sich Khelchu auch ausgezeichnet darauf, seinen ungezogenen Leib dahinschmelzen zu lassen vor Lust und Wonne, doch hier wollte er eine Antwort. Für seinen Stolz. "Wenn ich dein wahres Alter wüsste, würde es deiner Auffassung nach zwischen uns stehen?" Messerscharf formulierte er seine Frage, gnadenlos, unerbittlich. Khelchu leckte sich über die Lippen, studierte die tiefschwarzen Augen. Er blinzelte merklich, seufzte. "Ich möchte nicht, dass du dich vor mir fürchtest." Gab er schließlich zurück. "Ich weiß, dass du über viele Dinge sehr eindringlich nachsinnst. Es würde dich bestimmt belasten." Andronicus forschte in den markanten Zügen. "Dann ist dies meine einzige Frage." Er umklammerte die kräftigen Hände versichernd. "Gibt es jemand auf der Welt, der deine Muttersprache spricht?" Er spürte das Zucken, auch wenn es minimal war. Ein Anflug von Scham erfüllte ihn kurz. Den Kopf schief gelegt studierte Khelchu ihn, seufzte zärtlich. "Es würde mich sehr wundern, Andro." Nach langen Augenblicken nickte der weißblonde Vampir abschließend. Khelchu wollte es ihm nicht verraten, widerstand aber auch der Versuchung, ihn mit Lügen abzuspeisen. Ja, dieser Vampir vor ihm war anders, offenkundig sehr mächtig und alt, was möglicherweise manche seiner Verhaltensweisen erklärte. Wie lange mochte Khelchu wohl allein gewesen sein? Wann der letzte seines Schlages? War er deshalb vor zehn Jahren so überrascht, so begeistert, so entflammt gewesen? Wie lange hatte er sich isoliert durchgeschlagen? Khelchu beugte sich vor, küsste den versonnenen Andronicus sanft auf die Lippen. "Das ist alles nicht wichtig, mein Liebster." Er löste seine Hände, um Andronicus in seine Arme zu ziehen. Der ließ es geschehen, umhalste den nackten Mann vertraut. "Bring mir es bei!" Verlangte er leise, ernsthaft. "Bring mir etwas aus deiner Muttersprache bei. Ich bin ja nicht ganz so unfähig wie eine gewisse andere Person." Ergänzte er frech, um seiner Forderung den lähmenden Ernst zu nehmen, weil ihn tiefes Mitgefühl erfüllte. Weil er die Angst verloren hatte angesichts der Einsamkeit, die er vermuten musste. An seinem Ohr kitzelte ein Kuss das zarte Läppchen. Khelchu lächelte. Sich Andro unterzuordnen, nein, das würde ihm ganz gewiss nicht das Mindeste ausmachen! Er wisperte Silben, längst vergessen, zog sich ein wenig zurück, um das konzentrierte Gesicht zu studieren. Andronicus wiederholte die fremdartige Formulierung, prägte sie sich ein. "Was heißt das?" Ordentlich sortierte er Khelchus schwarze Strähnen auf den Rücken. "Lass uns Liebe machen." Lächelte Khelchu aufreizend, um sogleich Worten auch ausgiebig Taten folgen zu lassen. §-#-§ Kapitel 27 - Nackenschläge Dominique studierte die Unterlagen, die Gavin ihm übermittelt hatte, daneben lag die positive Rückmeldung zu seinem Test. Theoretisch war er durchaus geeignet, den Studiengang zu meistern, aber.... Er stützte den Kopf in die Hände, äugte auf den nächsten Stapel, der sich aus dem Lernpensum für diverse Tests in beängstigende Höhen schraubte. Es war wirklich schwierig, sich auf eine potentielle Zukunft zu konzentrieren, wenn die vermaledeite Gegenwart sich so aufdringlich anpirschte! Außerdem. Außerdem sollte er mit seinen Eltern sprechen, ob es vielleicht möglich sei, doch zu studieren. Das kostete erneut Geld, vermutlich die nächsten vier Jahre, bereitete ihm ein schlechtes Gewissen. "Da geht's mir nicht anders als Thierry." Murmelte er halblaut vor sich hin. Es mochte wohl Klassenkameraden geben, den war die Geldfrage ziemlich schnurz, weil Eltern ja schließlich verpflichtet waren, sie zu unterhalten, sonst hätten sie sich eben keine Kinder anschaffen sollen, aber derart kaltschnäuzig-narzistische Selbstüberhöhung kam sie beide nur als befremdlich und abstoßend an. Wenn Studieren, dann möglicherweise mit BaFöG? Das kostete Dominique noch stärkere Überwindung. Xenia, der Buchhaltungshobbit, hatte ihm sogar eines der Merkblätter für angehende Studierende überlassen, die dort über ihre diesbezüglichen Rechte und Pflichten aufgeklärt wurden. Theoretisch konnte er wohl BaFöG beantragen, allerdings würde das erforderlich machen, dass seine Eltern quasi die Hosen herunterließen, sämtliches Einkommen und Vermögen offenbarten. Nicht, dass er annahm, es gäbe etwas zu verbergen, nur fühlte es sich schäbig an, obwohl er die Notwendigkeit durchaus verstand. Aber das war für ihn schlichtweg ein anderes Paar Schuhe. Ein Offenbarungseid, nur, damit er studieren konnte (auf Pump) mit ungewissem Ausgang? Das rumorte nun doch in seinem Hinterkopf, deshalb hatte er sich auch nicht entschließen können, das gesamte, heikle Thema überhaupt zu äußern. Dominique seufzte in der kleinen Küche, schob den Stapel beiseite. Wenn er die Prüfungen nicht gut abschnitt, war jede Überlegung für die Zukunft ohnehin müßig! Einen Fuß vor den anderen setzen, vorausschauend fahren, wie beim rappeligen Rollbrett, sonst wurde einem unfreiwillig die Kauleiste neu geordnet! Er lächelte, als er an seinen "Adelstitel" dachte, von der Dame seines Herzens verliehen. Rosa hatte es noch schwerer, da konnte er sich nicht so hängen lassen! Außerdem standen die Herbstferien vor der Tür. Da wollte er sich von seiner besten Seite zeigen, denn vielleicht hätten sie Gelegenheit, jeden Tag miteinander zu verbringen. Gerade, als er den Mathe-Stapel erledigt mit zufriedenem Seufzer umbettete, um sich den ungeliebten Englisch-Aufgaben zu widmen, läutete die Türglocke. Überrascht hob Dominique den Kopf, denn für einen Zustelldienst war es wirklich zu spät, angekündigt hatte sich sonst auch niemand. Er rappelte sich hoch, sockte geschmeidig zur Gegensprechanlage. "Ja, bitte?" Meldete er sich höflich. "...hallo?" Wiederholte er, als keine Antwort kam. "...Niq..." Leise, matt, so kehlig, als gurgele die Besitzerin der rauen Stimme mit Kieselsteinen. "Rosa?!" In einer fliegenden Bewegung war der Summer bis zum Anschlag eingedrückt, in die Turnschuhe mit gelösten Bändeln geschlüpft, da hoppelte Dominique bereits in halsbrecherischem Tempo das Treppenhaus hinunter, um seiner Freundin entgegenzukommen. Rosegunde lehnte neben den Briefkästen an der Wand, den Kopf in den Nacken gelegt, leise keuchend. Die Haare waren nass, ja, sämtliche Bekleidung und die Schuhe trieften von herbstlichen Vorboten, die ordentlich die Himmelsschleusen geflutet hatten. "Ach du Schande!" Kommentierte Dominique bestürzt, kam mit quietschenden Sohlen neben ihr zu stehen. "Komm, ich helfe dir hoch!" Entschlossen schlang er einen Arm um die Taille, kümmerte sich nicht darum, nun selbst getauft zu werden. Rosegunde taumelte leicht, hatte Mühe, die Beine zu heben, die Füße auf jede Stufe zu setzen. Außerdem ächzte sie wie ein altes Dampfross. Auf Dominiques Stirn zeichneten sich Sorgenfalten. Vor der Wohnungstür schlüpfte er eilig aus seinen Turnschuhen, ging vor seiner Freundin in die Hocke, um ihre durchweichten Ballerinas, Wegwerfmodelle aus der Ramschkiste, abzupulen. Ob er sie noch retten konnte, das bezweifelte er doch stark. "Ins Bad." Kommandierte er mit mühsamer Beherrschung. Rosegunde tastete sich an der Wand entlang, unsicheren Gangs. Dominique ließ Schuhe Schuhe sein, sie mussten warten, denn er hatte ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache. Das bestätigte sich, als er Rosegunde auf der Badewannenkante hockend fand, vornüber gebeugt, leicht würgend. Ohne viel Federlesens fasste er ihre nassen Haare zusammen, rollte sie ein und wickelte ein Handtuch darum. Der Turban wurde mit dem Haarband seiner Mutter fixiert. "Rosa." Er ging in die Hocke, legte beide Hände auf eiskalte Wangen. "Rosa, was ist los?!" "...schwindlig..." Murmelte seine zukünftig bessere Hälfte, während ihr Speichel aus den Mundwinkeln rann. Dunkle Ringe beschatteten ihre sonst so ausdrucksstarken blau-violetten Augen, die einen fiebrig-unfokussierten Blick auf ihn richteten. "Verstehe." Wisperte er knapp, schraubte sich aus der Hocke, dirigierte die eiskalten Hände auf die nassen Füße ihrer Besitzerin. "Bleib so, ja? Einfach atmen, ich bin gleich wieder bei dir!" Damit eilte er rasch, um flüssige Nothilfe zu beschaffen. §-#-§ Seine Kiefer schmerzten, weil er sie so fest aufeinander presste, um nicht ein einziges Wort der Kritik, des Entsetzens, der Vorwürfe auszusprechen. Trotz der Kreislauftropfen, die er bei seiner Mutter entliehen hatte, war ihm Rosegunde in der Badewanne beinahe zweimal kollabiert, bis er den durchgefrorenen, zitternden, ausgemergelten Leib aus der nassen Bekleidung gepellt hatte. Auskünfte konnte er nicht fordern, das wusste er. Mit der letzten Reserve hatte sie es zu ihm geschafft, jetzt war nichts mehr da, was noch angezapft werden konnte. Mit entblößtem Oberkörper hing er halb in der Wanne, stützte seine Freundin ab, während die Handbrause sich anstrengte, wieder eine halbwegs normale Körpertemperatur aufzuheizen. Dominique fragte sich zunehmend verzweifelt, wie es seiner Mutter immer gelungen war, ihn selbst bei den schweren Schüben zu versorgen. Sein Puls raste, ihm stand Schweiß auf der Stirn, seine Muskeln ächzten bereits. In zwei große Handtücher eingewickelt ließ er Rosegunde auf dem Toilettensitz warten, bis er mit Ersatzkleidung aus dem Wäschedepot seiner Mutter zurückkehrte. Für Schamgefühle blieb keine Zeit, vielmehr musste er sich streng zusammenreißen, um effizient das schlotternde Etwas warm zu verpacken. "Rosa." Er beugte sich vor. "Rosa!" Mühsam fixierten sich die tief in den Höhlen liegenden Augen auf ihn. Er konnte rissige Hautpartien entdecken, die er von sich selbst kannte. "Bleib bitte hier sitzen, ja? Ich bringe dir gleich etwas zu trinken." Ordnete er mit präzisen Silben an, als spräche er zu einem kleinen Kind, bog eine Hand um den Wannenrand, damit sie sich festklammern konnte. Als es ihm sicher genug erschien, dass Rosegunde nicht ohnmächtig von der Toilette rutschen konnte, eilte er in die Küche, erhitzte Milch, fügte Kakao und so viel Zucker ein, dass selbst ein passioniertes Leckermäulchen sich vor Abscheu gekrümmt hätte, doch darauf kam es nicht an. Den dampfenden Becher mit seinem sämigen Inhalt apportierend kehrte er in das Badezimmer zurück, pustete energisch über die träge kreiselnde Oberfläche, setzte die Tasse dann an die aufgebissenen Lippen. Mühsam, in winzigen Schlucken, konnte er die Ladung löschen. Rosegunde zitterte unkontrolliert, blinzelte immer wieder flatternd. "Nein, nein!" Dominique strich ihr mit der freien Hand über das Gesicht, den Rücken. "Schön bei mir bleiben! Einfach schlucken und die Augen auf!" Eine gefühlte Ewigkeit verstrich, bis er glaubte, dass so langsam die akute Gefahr eines Kollapses gebannt war. Er stellte die Tasse auf dem Wasserkasten ab. "Jetzt versuchen wir gemeinsam, ob du aufstehen kannst. Leg die Arme um meinen Nacken, ich stütze dich ab." Tatsächlich gelang es, die Kniegelenke zur Kooperation zu überreden, Rosegunde aufzurichten. Ihr blau-violetter Blick fokussierte ihn nun klar, wenn auch fiebrig und schockierend beschattet. "...Hilfe." Formten ihre rissigen Lippen. "Bitte...Hilfe..." Dominique schluckte würgend, um die Fassung zu wahren, trotzdem klang seine Stimme belegt. "Natürlich, ich helfe dir!" Versicherte er tapfer. §-#-§ Es war gelungen, in einer Art seitlichem Krebsgang, sich in sein Zimmer zu bewegen. Dort hatte er seine Rosa in sein Bett geschoben, alle verfügbaren Kissen hinter sie, damit sie halbwegs aufrecht sitzen konnte, dick eingepackt. In Windeseile hatte er Instantnudeln nach chinesischem Vorbild aufgebrüht, geraspeltes Tiefkühlgemüse in einer dicken Tomatensauce erhitzt und beides in eine Schüssel versenkt. Der Koma-Kakao würde nur eine Weile vorhalten, das wusste er. Vorsichtig setzte er ein einfaches Tablett auf Rosegundes Schoß, Schüssel und Löffel bereit zum Speisen. Stattdessen tropften Tränen auf getaufte Nudeln. Dominique rutschte auf der Bettkante näher heran, wischte mit den Daumen nasse Spuren von der Haut. "Was auch immer passiert ist, erst mal musst du was essen, Rosa. Du weißt doch, ohne Mampf keinen Dampf!" Sein hilfloser Scherz erntete ein Schniefen, doch dann, mit eckigen Bewegungen, lupfte Rosegunde tatsächlich den Löffel. Während sie angestrengt, den Blick gesenkt, Ladung um Ladung löschte, sickerten weitere Tränen aus ihren Augen, ein schier unendlicher Strom. Obwohl es ihm die Kehle zuschnürte, blieb Dominique nichts weiter übrig, als schweigend an ihrer Seite zu verharren, bis er erfahren konnte, was geschehen war. §-#-§ "Ich werde morgen verreisen." Das hatte Khelchu nonchalant verkündet. Schön, sollte er doch! Immerhin, dass musste man ihm ja lassen, er bestritt die Hälfte ihres Unterhalts (aus was für fragwürdigen Quellen auch immer). Er wurde auch, wie es ihm befohlen war, nicht anhänglich, zumindest nicht sehr. Trotzdem ärgerte sich Andronicus über sich selbst, als ihn nicht nur der Krawall der über Nacht in der Praxis hausenden Kleintiere empfing, sondern auch eine stille, dunkle Wohnung. Wie konnte es sein, dass er sich so schnell an Khelchus Anwesenheit gewöhnt hatte, dass er sich nun einsam fühlte?! Überhaupt, EINSAM!! Was für ein Quatsch! Er war STETS prima allein mit sich selbst ausgekommen! Er grummelte, schmierte sich wie zum Trotz seinen Lieblingsbelag auf sein bevorzugtes Brot. Typisch, sich erst als unentbehrlich (und unvermeidbar) positionieren und dann mal eben die Flocke machen! DESHALB hatte er sich ja vor Khelchu gehütet!! »Klar, und wen belügen wir hier gerade so ungeschickt?« Schnaubte seine innere Stimme im Korrektiv ungehalten. Er WOLLTE Khelchu nicht vermissen, nicht nach einem Tag! Das war demütigend und lächerlich und irrational! Trotzdem fühlte er sich, als fehle ihm ein Körperglied. "Du musst dir mal den Kopf untersuchen lassen!" Herrschte er sich selbst an. Was für ein infantiles Verhalten war das denn?! Zu was für einem jämmerlichen Harmoniewichtel degenerierte er da gerade?! Und das als Trauma-Spezialist!! Trotzdem. "Haltet die Klappe!!" Brüllte er ungehalten, schlug gegen zwei Kochtöpfe, was einen gewissen Aggressionsabbau mit sich brachte. Anschließend gönnte er sich ein langes Schaumbad. Weil das auch nicht wirklich half, kroch er, wütend auf Khelchu, auf sich selbst und überhaupt die gesamte Welt, ins Bett. §-#-§ Die Wahrheit wurde Dominique nur sehr stockend, in abgehackten Einzelsätzen, zuteil. "...er hat das Geld nicht überwiesen..." "...hab gesagt, es sei bestimmt ein Fehler bei der Bank..." "...hat nicht zurückgerufen, hab's ständig versucht..." "...war genervt. Muss jetzt alles schneller gehen. Auflösung Vermögen, Güterteilung, Scheidung, all das. Weil Gwynifer schwanger ist. Vater sitzt im Oberhaus. Muss 'saubere Verhältnisse' schaffen..." "...soll meine Mutter fragen. Hat ja auch Pflichten. Er hat jetzt keinen Nerv für so was..." "...hatte dann kein Geld mehr. Wollte arbeiten, beim Supermarkt. Aber ohne Einwilligung der Eltern keine Chance. Bin ja minderjährig..." Dominique fasste die Hände, die sich so stark umklammerten, dass die Sehnen hervortraten. Rosegunde hatte kein einziges Mal den Blick von der Bettdecke gehoben. Ihre Stimme klang dünn, viel zu zerbrechlich für das übellaunige Warzenschwein, das sie doch sonst vorgab zu sein. "Wie lange ist das her?" Er zwang sich zu einem ruhigen, beherrschten Tonfall. Die Antwort ließ eine lange Weile auf sich warten. "...Telefonat vierzehn Tage..." "Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?" Er hob die verkrampften Hände an, um seinen Atem warm auf sie zu blasen. Rosegunde weinte wieder, stille, verzweifelte Tränen. "...hab..." Sie schluckte heftig. "...hab Pfund Zucker gekauft. In Wasser gelöst. Die letzten drei Tage..." Dominiques Miene wurde grimmig, er konnte es nicht verhindern. Eine ungeheure, bittere Wut kochte in ihm hoch. Also hatte sie die letzten drei Tage von Zuckerwasser gelebt, in Scham und Angst, weil ihr Vater weder die Miete noch das Geld für die Schulkantine oder den Unterhalt überwiesen hatte. Weil er zu beschäftigt damit war, die nächste Katastrophe anzurichten. "...schaff's nicht mehr...Niq..." Drang Rosegundes mutloses Schluchzen durch den blutig roten Nebel seiner Rage durch. Er überwand die kurze Distanz zwischen ihnen, zog sie in seine Arme, streichelte über den Handtuchturban und den knochigen Rücken, die zuckenden Schultern. "Es wird alles gut." Tröstete er bestimmt. "Keine Angst, Rosa. Alles kommt in Ordnung, das verspreche ich dir. Gemeinsam schaffen wir das!" Er wiederholte diese Worte so lange, bis sie in seinen wiegenden Armen erschlaffte, von erschöpftem Schlaf übermannt. §-#-§ Es war schon seltsam, wie wenig man sich selbst kannte. Dominique zumindest hätte nicht von sich geglaubt, mit kalter Entschlossenheit unerbittlich seinem Plan zu folgen. Andererseits genügte ein Blick auf die schmale, um eine Wärmflasche gekrümmte Gestalt in seinem Bett, diese Glut in seinem Herzen anzufachen. Zuerst rief er Frau zu Wolkenstein an, die sich durchaus Sorgen um ihre Mitbewohnerin gemacht hatte. Er erklärte die Situation und verteidigte seine Rosa im Vorausgefecht, dass sie aus tiefem Ehrgefühl heraus die Wahrheit nicht hatte offenbaren wollen, sondern aus eigenen Mitteln die fällige Miete bestreiten wollte. Frau zu Wolkenstein schnaubte konsterniert und erklärte, das Geld sei nun wirklich nicht von besonderer Bedeutung, vielmehr müsse das arme Kind rasch aufgepäppelt und getröstet werden, sie verlasse sich da auf seine Expertise. Noch vor den Sommerferien wäre Dominique wohl heftig errötet und hätte beschämt herumgestammelt, doch nun antwortete er mit klarer Stimme, er werde alles unternehmen, um Rosa zu helfen. Das schloss auch eine Stippvisite in der Höhle des bissigen Löwen ein. §-#-§ Emil Sandemann zuckte zusammen, als die Türklingel lärmte. Wer störte um diese Uhrzeit?! Argwöhnisch, einen alten Regenschirm umklammernd, spähte er durch den Türspion, erkannte in dem unzeitigen Klingler seinen jungen Nachbarn. Rasch entriegelte er alle drei Sperrbolzen, inspizierte die grimmig blickende Gestalt. Dominique stutzte unterdessen verblüfft, denn der notorische Misanthrop und Spezialist für alle Zweifelsfragen trug eindeutig ein Fan-T-Shirt von Jack Cougar! Und zwar mit einem noch unbekannten Titelbild! Emil entging der verdatterte Blick über seine Körpermitte nicht. Er verwünschte seine unbedachte Bekleidung. "Du weißt ja, wie das ist, die anderen sind in der Wäsche!" Knurrte er ohne Einleitung. Bloß keine Erklärung abliefern, wie er in den Besitz eines gar nicht erhältlichen T-Shirts gekommen war, das KEINE Kommentare zur Mangelhaftigkeit der Menschheit aufwies! Dominique räusperte sich. "Bitte entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich benötige dringend Hilfe." "Ah!" Emil lupfte eine Augenbraue, justierte die Brille. "Geht's mal wieder um eine Schädlingsvergrämung?" Vor ihm übersetzte der schlanke Jugendliche mit den Kopftuch die Anspielung, nickte knapp. Ja, von Schädlingen konnte man durchaus sprechen! §-#-§ Die Stunde bei Emil Sandemann verflog unbemerkt. Wenn es um die Sache ging, konnte man knapp und ohne Schnörkel mit ihm sprechen. Dominique legte den Notizzettel auf den Küchentisch auf seine noch unerledigten Aufgaben. Konzentriert hatte der ältere Nachbar ihm zugehört, Stichworte notiert. Er hatte ihm mit einem knappen Befehl geboten, sich anzuschließen, um vor dem Computer Recherchen anzustellen. Kontakte, Rechtsgrundlagen, eine in Punkte gegliederte Taktik, psychologische Kriegsführung, eine "Armee", die es zu rekrutieren galt. Dominique blickte noch finster, als seine Mutter heimkehrte und über den unerwarteten Übernachtungsgast unterrichtet wurde. §-#-§ Obwohl sie sich bemühte, wachte Dominique sofort auf, als Rosegunde aus dem Bett kletterte, um dem Badezimmer eine Aufwartung zu machen. "Oh!" Bemerkte sie betreten. "Hab ich dich aufgeweckt? Entschuldige..." Dominique setzte sich auf, streckte die Hand aus. "Das macht nichts. Wie fühlst du dich?" Rosegunde kroch unter die Decke an seine Seite. "Etwas besser." Dann ergänzte sie in einem Anflug ihres gewohnt bärbeißigen Humors. "Wenigstens muss ich jetzt keine Angst mehr haben, auch noch schwanger zu sein. Das hat sich erledigt." Nun murmelte Dominique kleinlaut. "Oh!" Obwohl außer Frage stand, dass dieses Problem tatsächlich aufgetreten war, was ihm Rosegunde auch gleich bestätigte. "Ist natürlich Quatsch, aber nach allem anderen..." Feinfühlig rutschte Dominique näher heran, ihr zugewandt, streichelte über ihren unteren Rücken. "Hast du Schmerzen?" Aus eigener Erfahrung war er zwar nicht mit dem Sujet vertraut, wusste jedoch, dass Menstruation kein Zuckerschlecken war. "Manchmal." Rosegunde zog die Knie etwas höher. Dominique spürte unter seinen Fingerspitzen ein merkwürdiges Vibrieren, als grummele ihr Magen lautlos. "Dieses Mal ziemlich." Ergänzte seine Freundin leise. "Komm." Dominique warf die Decke zurück, setzte sich auf, streckte ihr seine Rechte hin. "Ich fülle die Wärmflasche und mache uns Tee. Das hilft vielleicht ein bisschen." Außerdem musste er Rosegunde ja auch noch etwas beichten. §-#-§ "...sie ist gar nicht böse, und es ist auch kein Problem." Er verteilte das heiße Wasser auf die Becher, die Wärmflasche gluckerte bereits gemütlich auf Rosegundes eingefallenem Magen. "...danke." Murmelte sie kleinmütig, rührte einhändig den Agavensirup im Kräutertee schwindlig. Dominique studierte ihre Pose, gesenkter Kopf, hochgezogene Schultern. "Außerdem habe ich mich von einem Experten beraten lassen. Wir werden uns staatliche Unterstützung holen. Wenn deine Eltern glauben, dass sie bloß bis Dezember Zeit schinden müssen, um sich ihrer lästigen Pflichten zu entledigen, werden sie eine Überraschung erleben!" Seine grimmige Miene ließ keinen Zweifel daran, dass er willens war, in den Krieg zu ziehen, dabei keinerlei Rücksichten auf 'Gwynifer', Lords im Oberhaus oder zwielichtige Geschäftsmänner mit widerwärtigen Hobbys nehmen würde. Unterhaltsvorschuss, Kontenpfändung, Amtsvormundschaft, Anspruch auf Kindergeld: da konnten der Herr Professor und das Ex-Modell sich auf Gefechte gefasst machen. Rosegunde starrte ihn erst ungläubig, dann eingeschüchtert an. "Ehrlich, ich weiß, dass du dir Akzeptanz von deinen Eltern erhoffst." Dominique langte über den Küchentisch, kaperte eine bleiche Hand. "Ich glaube allerdings nicht, dass zwei derartige Egozentriker außer den eigenen Interessen irgendwas wahrnehmen! Die lieben doch nur sich selbst!" Den Kopf gesenkt lachte Rosegunde knapp auf, ein wenig schrill. "Ja, ich kann dir nicht mal widersprechen! JETZT werde ich zumindest mal die Art von lästigem Ärgernis, die sie mir die ganze Zeit vorgeworfen haben." Wisperte sie gepresst. Ihr gegenüber richtete Dominique sich auf, sein Daumen streichelte unaufhörlich über ihren Handrücken. "Ich betrachte das einfach als kosmisches Versehen." Adaptierte er eine Theorie des nachbarlichen Experten für die Mangelhaftigkeit der Menschheit allgemein. "Du bist simpel temporär bei der falschen Familie gelandet." Ein trauriges Lächeln irrlichterte über Rosegundes angespannte Züge, bevor sie sich hinter einigen Schlucken Tee versteckte. "Allerdings wird mir die Zeit jetzt echt knapp." Dominique studierte sie, hinter den offenen Strähnen getarnt. "Wenn ich als Nikolaus über das Studentenwerk etwas Geld verdienen könnte, wäre das zwar ein Anfang, aber Ostern liegt nächstes Jahr wirklich spät!" Nun hatte er ihre Aufmerksamkeit gefesselt, ein blau-violetter Frageblick huschte über sein absichtsvoll konzentriertes Gesicht. "Ich meine, ich weiß nicht, ob überhaupt Osterhasen nachgefragt werden, aber da könnte ich noch mal Geld reinholen." Erläuterte er gemächlich. "Ist natürlich verflixt riskant." "Wozu brauchst du das Geld?" Rosegunde kam ihm tapfer entgegen. Im dozierenden Ton, ihre Hand vertraut haltend, sortierte Dominique artig seine Andeutungsschnitzel für die entsprechende Jagd. "nun, im Dezember wirst du ja 18, also volljährig! Darfst dann alles, bist quasi ein total freies Radikal! Ich habe ganze drei Monate zu überstehen, bis ich auch 18 bin! Da kann ja jede Menge passieren! Ich will ja nicht, dass du mir von irgendwem weggeheiratet wirst!" Rosegunde sah ihn halb ungläubig, halb fassungslos an. "Also!" Betont eifrig spulte Dominique seinen Faden ab, die maßgebliche Strategie zu enthüllen. "Wenn ich als Osterhase noch Geld verdienen würde, dann könnte ich dir schon etwas bieten, hochzeitstechnisch! Bloß liegt Ostern ja nach meinem Geburtstag, was unpraktisch ist, da wirst du mir sicher beipflichten! Immerhin sollten wir ja die Trauzeugen zum Essen einladen, gehört sich so, habe ich gelesen. Ein Kleid muss her, dazu Blumen!" Er zählte an der freien Hand mit beweglichen Fingern ab. "Ich habe mal durchgerechnet: wenn Thierry mein Trauzeuge ist, muss ich eigentlich auch Selim einladen, dazu meine Eltern. Zu Selim gehören ja Selina und Rutger. Außerdem wäre es doch nett, wenn Frau zu Wolkenstein und Ruprecht dabei wären. Schließlich kann ich auch Thierrys Mama nicht weglassen! Und das ist bloß MEINE Seite!" Der schwarze Schopf senkte sich, die Schultern zuckten. "Ich habe nicht mal einen Trauzeugen." Würgte Rosegunde gequält hervor. Dominique streichelte tröstend den Handrücken. "Ich bin sicher, dass Frau zu Wolkenstein dir gern beistehen wird. Sie mag dich sehr, weißt du?" Rosegunde antwortete nicht, rieb aber mit der freien Hand unter dem Haarvorhang verdächtig die Augen. "Na ja." Dominique lächelte liebevoll auf seine tapfere, aufrichtige und vom Schicksal arg gebeutelte Freundin. "Da kam mir ein guter Gedanke: wenn wir jetzt, sagen wir mal, im Juni heiraten würden, dann wären wir beide eine Zeit lang freie Radikale gewesen, hätten etwas Geld gespart und könnten statt eines steifen Essens vielleicht ein Picknick veranstalten! Wir könnten es uns in einem Kleingarten gemütlich machen, alle bringen etwas zu essen und zu trinken mit. Das wäre zwar keine Märchenhochzeit, und für eine Hochzeitsreise würde es auch nicht reichen, aber ich finde die Idee als Rohentwurf gar nicht übel!" Von Rosegunde kam gar nichts mehr. Still und reglos saß sie auf ihrem Stuhl, ihre Hand in seiner. "Du kannst mir jederzeit übers Maul fahren, wie Herr Sandemann sagt." Ermunterte Dominique sie, beugte sich leicht vor. "Nur keine Hemmungen!" Er schwieg geduldig einige Herzschläge, raunte sanft. "Wenn du lieber länger ein freies Radikal wärst, um dich auszutoben, kannst du es mir auch ruhig sagen, Rosa." Das wäre schließlich normal, mit Erreichen der Volljährigkeit als frisch erwachsen die eigenen Fähigkeiten zu erproben, den Horizont zu erweitern, Neues zu erleben, zu erfahren und zu erlernen! Ein Händedruck ließ ihn aufmerken. "Ich glaube, ich bin schon sehr lange ein freies Radikal." Wisperte Rosegunde gepresst. "Ich habe es bloß nicht bemerken wollen." Dominique hob ihre Hand an seine Lippen, küsste ihren Handrücken sanft. "Wir könnten zwei verbundene, freie Radikale sein." Schlug er leise vor. "Ich habe nicht vor, dich zu verändern oder einzuschränken, Rosa." Nun hatte er ihre Aufmerksamkeit ganz und gar, die blau-violetten Augen funkelten von Tränen poliert. "Ich finde deine Idee für unsere Hochzeitsfeier wunderschön." Ein zittriges Lächeln zuckte über ihre Lippen. "Ich möchte sehr gern mit dir verbunden sein." Um dem Moment die beinahe erdrückende Bedeutung zu nehmen, kopierte Dominique recht ungelenk einen Showmaster. "Dann haben wir einen Deal!" Er tippte mit seinem Daumen ihren Daumen herausfordernd an, alle Zähne bleckend, in Kampfgrimasse. Rosegunde entließ ein leichtes Grunzen, die vom Kloß im Hals erstickte Variante eines Kicherns, hielt kräftig dagegen, sodass ihre Abmachung beinahe in Daumenhakeln und umgestoßenen Teebechern endete. §-#-§ Kapitel 28 - Neue Horizonte Die letzten sonnigen Tage des goldenen Herbstes nutzend hatte Andronicus eine Parkbank in der Mittagspause besetzt, dort seine Brotzeit ausgebreitet. Artig eine Serviette über dem Schoß, links gekühlten Kräutertee, rechts die Vesperdose mit Tomaten, Essiggurken, gedünsteten Möhrchen und bestrichenen Brotscheiben, ließ er es sich schmecken. Der Vormittag war gefüllt gewesen. Seine Klientel hatte ihm seine Auszeit aufgrund "Erkrankung", wie Khelchu das verkündet hatte, nachgesehen und war vertrauensvoll in seine Obhut zurückgekehrt. Nur am Nachmittag klaffte noch eine Lücke, was ihm missfiel, denn die Arbeit lenkte ihn ausreichend davon ab, dass dieser unzuverlässige, aufdringliche, unverschämte Khelchu seit ZWEI Tagen irgendwo seinem Vergnügen nachging (mutmaßlich!) und kein Wort von sich hören ließ! "Von wegen 'wir bleiben ab jetzt zusammen'!" Knurrte Andronicus grämlich, biss in eine bauchige Tomate. "Na, das tun wir doch auch!" Schnurrte es zärtlich im vertrauten Vulgär-Latein an seinem Ohr, was dafür sorgte, dass die Tomatenbissen unvermittelt wieder denselben Ausgang in Hochgeschwindigkeit nahmen. "Oh lala!" Kommentierte Khelchu leichthin, tupfte mit der Serviette unaufgefordert Andronicus' Mundwinkel ab. "Hast du mich gar nicht bemerkt?" "Kunststück!" Zischte der weißblonde Vampir empört, raffte seine Habseligkeiten zusammen. "DU bist hier schließlich der Gedankenleser! Überhaupt!" Er kam auf die Beine, entrüstet. "Was fällt dir ein, hier so unvermittelt aufzutauchen?!" "Ich nahm an, dass du mich vermisst hast." Khelchu ließ sich gewohnt nonchalant auf der Bank nieder. "Ist wirklich ein nettes Plätzchen hier!" "Ich arbeite, ja?!" Fauchte Andronicus, der sich durchaus lächerlich mit seinem theatralischen Ausbruch vorkam. "Du hast hier nichts zu suchen!" Immerhin hatte er diese Regel aufgestellt, richtig? "Im Moment sieht es mir eher nach Mittagspause aus." Ungeniert pickte Khelchu eine Tomate aus der Vesperdose. "Hmm, die ist gar nicht übel!" "OOHHH!!" Andronicus tobte hilflos. "Klau mir gefälligst nicht mein Essen!" "Wenn du es aber ausspuckst!" Zwinkerten Khelchus tiefschwarze Augen frech zu ihm hoch. "Ich-ich kann dich nicht ausstehen!" Explodierte Andronicus ratlos, patzig wie ein Kleinkind, die Fäuste geballt. Khelchu wischte seinen schweren Zopf auf den Rücken, studierte ihn schmunzelnd. "Das ist aber eine schmeichelhafte Lüge, so sehr, wie du mich vermisst hast." "Ich-ich hab...!!" »Dich bestimmt nicht vermisst!!« Wollte Andronicus herausfeuern, doch das wäre mehr als albern gewesen, wo Khelchu längst in seinen Gedanken hausieren ging. Mit einem mutlosen Ächzen sackte er zurück auf die Parkbank, geschlagen, ein wenig frustriert über die eigene Machtlosigkeit. "Entschuldige." Khelchus warme Hand streifte über seine kalte Wange. "Ich habe ein wenig länger gebraucht als erwartet. Es tut mir leid, dass du mich vermissen musstest." "...pah!" Schnaubte Andronicus matt. Wie beschämend, dass Khelchu einfach ALLES registrierte! "Ich habe auch an dich gedacht, beinahe ständig." Der schwarzhaarige Vampir kannte wohl überhaupt keine Scham?! Brachte solche Schmeicheleien mühelos über die Lippen! "Es ist die Wahrheit." Khelchu las Gedanken, antwortete auf sie, nahm Andronicus' Linke in seine beiden Hände. Als der hastig ob eventueller Zaungäste seine Hand zurückzog, trug er einen farbigen Ring am gleichnamigen Finger. "...was?!" "Nicht mit Blutdiamanten, nicht unter zweifelhaften Umständen geschürft, es waren auch keine dubiosen Zwerge beteiligt!" Khelchu lächelte. "Aus Spezialglas gefertigt. Obwohl ich ganz geschickt mit den Händen bin, hat es doch ein wenig länger gedauert." Ergänzte er sanft. Andronicus starrte. Bunte Einschlüsse tanzten in dem schmalen Reifen, zweifellos ein Unikat. "Bitte." Khelchu schob ihm ein schlichtes Papiertütchen zu. "Wärst du so nett? Es geht nicht ums 'Knechten'!" Grinste er frech in literarischer Anspielung. Mit einiger Mühe, weil ihm die Finger nicht gehorchen wollten, gelang es Andronicus schließlich, den zweiten Glasring über Khelchus linken Ringfinger zu streifen. "Selbstgemacht." Wiederholte er fassungslos, seine Gefühle eine imaginäre Meile hinter den Ereignissen her. Ungeniert streichelte ihm Khelchu über die Wange. "Ich dachte mir, dass ich deine hohen ethischen Ansprüche nicht einfach ignorieren kann!" Ohne Hemmungen malmte er ein Möhrchen aus der Vesperdose. "Obwohl ich zugeben muss, dass wegen des Heizens, also der Glasherstellung, die CO2-Bilanz möglicherweise nicht ganz optimal ist. Die Energieversorgung in der Werkstatt wurde zwar über Biogas aus der Nachbarschaft und Sonnenkollektoren unterstützt, aber ob das ausreicht?" Andronicus starrte schlicht auf den Ring. »Jetzt gibt es wirklich kein Zurück mehr.« Geisterte durch seinen Kopf. Eine lächerliche Feststellung angesichts der letzten Ereignisse, doch für sein Bewusstsein symbolisierte der beringte Finger eine unveränderliche Zeitenwende. Mochte ja sein, dass Khelchu bereits vor zehn Jahren den Plan gefasst hatte, sie zusammenzubringen, doch er selbst hatte sich immer als Solitär betrachtet, vor allem auch, weil Vampire nur selten in gegenseitiger Nähe leben konnten. Und natürlich, weil er gern unter Menschen war, aber nie wirklich zu ihnen gehörte, immer fremd, isoliert, ein Exot blieb. Zumindest nach eigenem Empfinden. "War es denn vorher so viel besser?" Leise drangen Khelchus Worte an seine Ohren. Natürlich nicht, auch wenn er sich sein Leben so gewählt hatte, bloß... "Ich wünschte, du würdest endlich damit aufhören, meine Gedanken zu lesen!" Wies er Khelchu scharf zurecht. "Das ist nicht nur unverschämt, sondern auch demütigend!" Für einen bangen, sehr langen Augenblick verharrten sie stumm, Andronicus bereits unbehaglich wegen seiner harschen Worte, Khelchu im dezidierten Studium seines Banknachbarn. "Tja." Antwortete er schließlich gedehnt. "Leider kann ich dir diesen Wunsch nicht erfüllen, Andro. Ich habe nie herausgefunden, wie ich diesen Automatismus abstellen kann." "Aber..?" Andronicus blinzelte verblüfft. "Ich verstehe nicht ganz...du lenkst es gar nicht?!" Das mochte er kaum glauben, denn bei Vampiren, wie er selbst einer war, galt es als besondere Fähigkeit, menschliche Absichten erkennen zu können, wenn man sich darauf konzentrierte. Natürlich wäre man als Genie betrachtet worden, hätte man es auch noch bewerkstelligt, veritable Gedanken 'lesen' zu können, doch von so einem Vampir hatte er selbst noch nie gehört. Inzwischen hatte Khelchu einfach eine Hand ergriffen, schien nicht willig, sie jemals wieder freizugeben. So ruhte eine helle, kalte Rechte in einer warmen, dunklen, mit einem bunten Reif verzierten. "Es ist schwierig zu beschreiben, aber vielleicht stellst du es dir einfach als einen weiteren Sinn vor. Wenn du deine Umgebung wahrnimmst, dann siehst du etwas, hörst dazu etwas, berührst etwas, riechst etwas, schmeckst die Luft. Ich habe dazu noch quasi als Untertitel die Gedanken." Die tiefschwarzen Augen geweitet murmelte Andronicus endlich. "Das-das ist ja...gruselig." Er wollte gar nicht wissen, was alle dauernd vor sich hin dachten! Kaum auszuhalten! Ihm zugewandt kicherte Khelchu. "Wenn es dir ein Trost ist: ich bin daran gewöhnt, beachte es meist gar nicht. Ausgenommen bei dir, selbstverständlich." "Pah!" Schnaubte der weißblonde Vampir, drehte den Kopf weg. Als einziger unter der Lupe, das musste wirklich nicht als Auszeichnung dienen! Im nächsten Augenblick stutzte er, so abrupt, dass nicht nur eine Vollbremsung in seinem Gedankengang eintrat, sondern auch sein Körper durchzuckt wurde. Hastig drehte er sich zu Khelchu herum, der ihn reglos ansah, vermutlich schon wusste, was Andronicus aussprechen würde. "Ich weiß, ich habe es versprochen." Leitete der bedächtig wie ein Mann auf Eisschollen seinen nächsten Schritt ein. "Doch ich möchte das verstehen. Du bist so anders als ich und alle anderen Vampire, die ich kenne... Wenn wir Obst wären, hätte es da rechts einen Apfel und hier links eine Birne?" Khelchu schloss die Augen. Sehnen spannten sich kurz in seiner aparten Miene. Er setzte wieder sein gewohntes Lächeln auf, seufzte theatralisch. "Wenn ich dich doch bloß endgültig überzeugen könnte, dass allein der Augenblick zählt! Carpe diem!" Schmetterte er wie in einer Operette. Andronicus ließ sich nicht ablenken, starrte stur, mit leicht vorgeschobener Unterlippe, auf das vertraute Gesicht. Nein, dieses Mal würde Khelchu nicht vom Haken entwischen! "Hach!" Der Vampir mit dem ungewöhnlichen Ockerhautton schob sich zur moralischen Stärkung noch ein Möhrchen in den Mund, kaute gründlich. Er richtete seine Augen auf Andronicus, der unwillkürlich schauderte. "Wenn ich mit dir leben will, weil ich dich liebe, werde ich wohl nicht umhin können, dir etwas zu erzählen. Für mich hat es wenig Bedeutung. Ich kann nur hoffen, dass du mir vertraust und nicht zurückschaust." Beunruhigt drückte Andronicus' Khelchus Hand. Hatte er etwa die Büchse der Pandora geöffnet?! Ein schiefes Lächeln huschte über Khelchus Züge. Mit der freien Hand streichelte er erneut Andronicus' kalte, bleiche Wange. "Ich bin, wie alle anderen, mit denen ich damals lebte, als Vampir geboren worden. Keine Verwandlung in der Pubertät, oder ähnliches. Für mich war ich immer 'normal', wie alle anderen auch. Erst, als ich später anderen Vampiren begegnet bin, habe ich bemerkt, dass wir uns unterscheiden. In einigen Aspekten." "Ich bin noch nie jemandem wie dir begegnet." Wisperte Andronicus nervös. Er ahnte, dass ihm die folgende Erklärung schwer aufs Gemüt drücken würde. Khelchu blickte ihn unverwandt an, beinahe statuesk, reglos. "Ich bin recht sicher, dass es niemanden von meiner Art mehr gibt." Seine freie Hand wanderte zu Andronicus' fragilem Nacken. "Ebenso kann ich dir garantieren, dass keine bucklige Verwandtschaft uns unerwartet heimsuchen wird." »Der letzte Mohikaner!« Fuhr dem weißblonden Vampir in den Sinn, bevor er beschämt die Hand vor den Mund schlug, den leichtfertigen Scherz, auch in Gedanken, verdammte. Khelchu lächelte jedoch zärtlich. "Nicht doch! Es ist nicht nötig. Ich wünsche es auch nicht, dass du dir um meinetwillen Scheuklappen anlegst. Ja, ich bin der letzte dieser Art. Ich war auch nicht einsam, danke für dein Mitgefühl, denn irgendwann auf meiner Reise ist mir dieses Empfinden abhanden gekommen. Wie das Leben mir selbst zur Gewohnheit wurde, so bestreite ich einen Tag nach dem anderen, lasse mich treiben, beobachte die Welt." Seine kräftigen Finger massierten Andronicus' verspanntes Genick. "Und dann bin ich dir begegnet." Raunte der schwarzhaarige Vampir liebevoll. "Jeder Tag wurde nicht ein weiterer, sondern ein kostbarer Schatz, eine Option auf die Zukunft. Deshalb ist es wirklich nicht nötig, dass du mich bedauerst, Andro. Lebe mit mir im Jetzt!" Andronicus blickte jedoch ins Ungefähre, verarbeitete mühsam, was ihm da anvertraut wurde. "...du liebe Güte!" Murmelte er schließlich eingeschüchtert. Wie ALT war Khelchu wirklich?! Was hatte er alles von der Welt und ihrer Geschichte gesehen?! Seine Anflüge von Kleinmut und Panik zerstoben unter einem sehr leidenschaftlich-nachdrücklichen Kuss, der mit seiner Dauer beinahe in einer Ohnmacht endete. "Carpe diem!" Erinnerte Khelchu streng, funkelte begierig in das bleiche Gesicht. "Sag mal, wollen wir nicht eben in deine Praxis gehen und dort deine Chaiselongue ausprobieren?" "...auf-auf keinen Fall!" Hastig, aber ungelenk wie ein neugeborenes Füllen kam Andronicus auf die Beine. "Neue Regel: keine Doktorspielchen an meinem Arbeitsplatz!!" "Böööhh!" Jaulte Khelchu geknickt, ganz Bild des Jammers, doch Andronicus weigerte sich, ihm auch nur einen Seitenblick zu widmen, sammelte eiligst sein Picknick ein. "Ich habe zu arbeiten!" Versetzte er hoheitsvoll, das Kinn besonders steil gereckt. "Das sollte auch für dich gelten!" Ring hin oder her, Schnaps war Schnaps und Pflichterfüllung nun mal kein Vergnügen! Steif, wie auf der Flucht, stakste er rasch davon, um nicht durch verräterische Gedanken einen Aufruhr zu provozieren. Khelchu hingegen lehnte sich mit ausgebreiteten Armen auf der Parkbank zurück und lachte erheitert. Es gab keine Worte zu beschreiben, wie sehr er diesen phantastischen Vampir liebte! §-#-§ Natürlich lauerte Khelchu ihm doch vor der Praxis auf, lässig an eine Hauswand gelehnt, rasch zwei Ohrstöpsel entfernend, deren bunte Kabel darauf hinwiesen, dass er wohl Musik oder Unterhaltung gefrönt hatte. "Bist du ein Stalker, oder was?!" Knurrte Andronicus bemüht kratzbürstig, denn ALLE seines Klientels hatten auf den Ring an seinem Finger gestarrt. Zu fragen wagte wohl niemand, aber ihm wurde mit jeder verstreichenden Stunde bewusst, wie sehr Khelchu sein Leben von innen nach außen gekrempelt hatte. "Ich bin dein Gefährte durch alle Wagnisse des Lebens!" Deklamierte Khelchu mit einem Zwinkern, unterlief eine ungeschickte Faust, kaperte gleich den Rechtsausleger, hängte sich vertraulich ein. "Nicht!" Protestierte der weißblonde Vampir unbehaglich. In südlichen Gefilden mochten Männer ja so innig spazieren, aber hier?! Da war steife Distanz die Sitte! "Wir machen unsere eigenen Regeln." Behauptete Khelchu kühn, legte einen Spazierschritt vor. "Schau mal, da hinten kommen auch schon wieder Regenwolken! Hurtig, hurtig!" Nun, noch eine Steigerung der bodenlosen Peinlichkeit, fand sich Andronicus an seiner Rechten fest gepackt, mit beschleunigtem Tempo bis zum Laufschritt Richtung Heimathafen gezogen! §-#-§ "...Mistkerl.." Ächzte Andronicus, angelte ungezielt nach dem Türknauf. Zumindest bis in die Wohnung hatten sie es geschafft, aber dann... Jetzt benötigte er dringend einen unverrückbaren Halt im Raum, um sich auf die wackligen Beine zu hieven. "'Schatz' wäre mir zwar lieber, aber du darfst gern die Kosenamen bestimmen!" Lachte Khelchu guttural und SEHR befriedigt nach oben. "Idiot!" Reagierte der weißblonde Vampir prompt, ächzte, rieb sich mit der freien Hand verstohlen das verlängerte Rückgrat. Khelchu kannte wirklich GAR KEINE Bremsen! Besagter Übeltäter, verantwortlich für nur noch eine rudimentäre Körperbedeckung und schweißtreibend-heftige Aktivitäten einige Minuten zuvor, stand schon wieder. Selbstredend nicht tattrig und außer Atem! Andronicus knurrte, mehr stand ihm nicht zu Gebote. "Ich habe so ein duftendes Massageöl gekauft, das könnte helfen." Bot der schwarzhaarige Vampir schmunzelnd an. "Toll, für die letzte Ölung bist du auch präpariert!" Fauchte Andronicus ärgerlich, schob sich, immer an der Wand abstützend, Richtung Badezimmer. Außerdem hatte der versaute Drecksack Kondome und Gleitgel mitgeführt! Hatte vermutlich in allen Details geplant, wie er ihn hier überfallen wollte! "Vernaschen." Korrigierte Khelchu sanft. "Ich bin mir doch recht sicher, dass es dir auch gefallen hat." "Ach ja?!" Schimpfte Andronicus fuchtig. "Autsch! Ja, ich merke gerade, wie mein Kreuz jubiliert! Musst du immer so ungehemmt und rücksichtslos sein?!" Das war, zugegeben, starker Tobak, auch nicht ganz aufrichtig, von dezent übertrieben ganz zu schweigen. Für einen Wimpernschlag kniff Andronicus die Augen zu, verwünschte seine grundsätzliche Unterlegenheit, denn sie allein brachte ihn dazu, so unmanierlich zu reagieren. Diese minimale Absenz genügte, dass Khelchu förmlich aus dem Boden wuchs, ihn mühelos auf die Arme hob. "Halt dich fest, Andro! Ich mache es wieder gut." In einem Anflug von Panik kreischte der Angesprochene schrill. "Oh nein! Nicht noch mal!" "Tsktsk!" Schnalzte Khelchu an seinem Ohr. "Ich mag zwar wie ein lateinamerikanischer Macho aussehen, aber ich handle nicht danach. Jedenfalls nicht häufig." Grinste er frech. Andronicus, der unerwartet sanft bereits auf seinem Bett landete, hatte keine Muße, eine Retourkutsche abzufeuern. Schon war er gänzlich entblößt, saß Khelchu bereits auf seinen Oberschenkeln, wärmte das erwähnte Massagegel zwischen den Handflächen auf (was eigentlich überflüssig war angesichts der vampiresken Körpertemperatur auf Kühlschrankniveau) und begab sich an seine Arbeit. Leise aufstöhnend stellte Andronicus jede Gegenwehr ein. Khelchu hatte nicht übertrieben, als er erwähnt hatte, er sei ganz geschickt mit den Händen. Der tückisch kneifende Schmerz vaporisierte, selbst seine Porzellanhaut registrierte die zärtlichen Berührungen als tröstend, liebevoll, intim. Trotzdem seufzte Khelchu über ihm geplagt. "Deine Fragen wollen wohl nie enden, hm? Kann ich nicht sein, wer ich jetzt bin?" "Wenn du nicht dauernd in meinem Kopf herumspuken würdest, müsstest du auch nicht antworten!" Verteidigte sich der weißblonde Vampir pikiert. Er hatte ja gar nicht beabsichtigt, seine Vermutungen hinsichtlich der Zugehörigkeit seines Gefährten laut auszusprechen! Er keuchte, als sich Khelchu der Länge nach auf ihm ausstreckte, die Arme um seine eigenen auf die Matratze legte. "Lass mich sein, wie ich bin, Andro." Es war kaum mehr als ein Hauch, der in sein Ohr geraunt wurde. "Alles andere ist mundan. Es hat nichts mit uns beiden zu tun." "Ich lebe eben schon lange unter Menschen." Murmelte Andronicus schließlich im Rückzugsgefecht. Da fühlte man sich selten allmächtig, grundsätzlich Herr der Lage, vorausschauend, gefeit gegen Sorgen, Erinnerungen und Entwicklungen! Vampire, zähe, durch diverse Fähigkeiten im Vorteil, entwickelten zwangsläufig eine andere, gelegentlich mitleidlose Sichtweise auf ihre Umwelt, besonders auf das 'Futter'. Aus einem ihm nicht ganz erklärlichen Grund hatte Andronicus diese Einstellung nie erreicht. Auch wenn ihm, besonders als Kind, Fürchterliches von Menschen angetan worden war, so hatte er doch die Verwandtschaft gespürt, nie die Ähnlichkeit aus dem Blick verloren. Da war es ganz gut, wenn er sich vor Vampiren mit dieser Meisterschaft in acht nahm! Khelchu verlagerte sein Gewicht, rutschte an seine Seite, fing seinen ein wenig beschämten Blick ein, lächelte. "Ich lasse nicht zu, dass dir jemand etwas tut." Versicherte er ohne Pathos. Man konnte kaum daran zweifeln, dass SEINE Fähigkeiten jeden anderen mühelos in den Schatten stellten. "Es war dumm von mir, von dir zu verlangen, deine Fragen zu unterdrücken." Eine kraftvolle Hand streichelte sanft durch weiche Strähnen. "Denn gerade deine Wissbegierde, deine Zuneigung zur Welt mit all ihren Fehlern und Unzulänglichkeiten, das zieht mich ja zu dir." "Also nicht mein phänomenales Aussehen?" Wagte Andronicus einen verlegenen Scherz. Das Lächeln auf Khelchus Gesicht prägte die Mundwinkel noch tiefer. "Ich liebe alles in und an dir." Flüsterte er zärtlich. "Du bist vollkommen, Andro. Auch wenn ich da ein ganz klein wenig voreingenommen bin." Schnurrte er frech. "Du bringst mich ständig in Verlegenheit!" Murmelte der weißblonde Vampir hilflos. "Was soll ich nur mit dir anfangen?" "Ich hätte da schon ein paar Vorschläge..." Weiter kam Khelchu mit blitzenden Augen nicht, weil ihm der Mund versiegelt wurde, mit einer kühlen, bleichen Hand. Andronicus tat etwas, dass er seit einem Jahrhundert nicht mehr getan hatte: er schmiegte sich in starke, warme Arme und verlangte stumm, bekuschelt zu werden. §-#-§ Es war eine kurze, von bürokratischem Pragmatismus geprägte Zeremonie an einem schönen Junitag. Dominique trug einen leichten Leinenanzug, aus zweiter Hand, geschickt geändert. Auf seinem Kopf prangte zur Feier des Tages ein mit dezenter Spitze versetztes, weißes Kopftuch. Rosegunde trug ein mit Unterrock ausgestelltes Cocktailkleid in hellem Lavendelton. Die zarten Ballerinas waren mit Häkelblüten geschmückt. Die prächtigsten Blüten, Päonien nachempfunden, hatte ihr Dominique auf den Leib gezeichnet. Sie tauschten einfache Ringe, ganz schlicht und ohne Verzierung. Thierry, der wie ein britischer Gentleman auf Ägyptenreise ganz in hellen Sandtönen gekleidet war, den Borsalino auf dem Schoß, überließ artig Frau zu Wolkenstein die erste Unterschrift als Trauzeugin. Sie hatte sich nicht nur in ihr elegantestes Kostüm geworfen, nein, auch Ruprecht, der ausnahmsweise in den Trausaal durfte und dort mucksmäuschenstill auf Selims Schoß wartete, trug am Halsband eine kleine Fliege. Dominiques Eltern saßen neben Selim, hielten sich fest an der Hand. Eigentlich nur Papierkram, kein Grund, so ergriffen zu sein, richtig? Allerdings hatten sie auch, vor zwei Jahrzehnten, so angefangen, voller Hoffnung trotz aller Unsicherheit. Das junge Paar jedoch blieb gelassen, heiter, grinste sich sogar herausfordernd an, als jeder dem anderen zuerst mit dem Ring behilflich sein wollte. Dann erhob man sich, schüttelte Hände, wurde an Brustpartien gedrückt und geherzt. Vor dem schmucklosen Rathaus wartete ein sehr verlegener Rutger, denn er hatte einen kleinen Bus geliehen, um die Gesellschaft zum Ort der Feier zu transportieren! Dort wartete bereits eine ganze Schar geladener Gäste in einem privaten Garten, freundlich zur Nutzung vermittelt. Zwischen Büschen und Obstbäumen, inmitten einer wildwüchsigen Wiese, empfing sie ein großes Büfett auf abgedeckten Tapeziertischen. Klappstühle, Strandmatten, Picknickdecken. Alles war so bunt durcheinander gewürfelt wie die Speisen und Getränke, die alle mitbrachten. Selina und Rutger, Bea und ihre Oma, die so viel Leidenschaft in das Brautkleid investiert hatten, Thierrys geliebte Mama und auch Gavin, der für Dominiques Großmutter im Heim in Krefeld per Satellit Filmaufnahmen verschicken würde, als Begleitung ausgerechnet Xenia, der Buchhaltungshobbit, die die besten Kartoffelsalatrezepte der Welt kannte. Recht eng war es da schon, doch mindestens ein Tänzchen musste möglich sein, immerhin hatte es das frisch gebackene Ehepaar Reitze zusammengeführt! Niemand anders als der berühmte Kay Nelson Jefferson fungierte als MC, ganz ohne Gage, dafür in hochgestimmter Feierlaune! Ein wahres Kunststück, eines der "Mitbringsel" des notorischen Nachbarn/Misanthropen Emil Sandemann (neben gleich drei Variationen von Blechkuchen)! Der kaute ein wenig konsterniert Kartoffelsalatscheiben (Xenia hielt nichts von breiartigem Gelabber, das man durch einen Strohhalm verzehren konnte), seufzte profund. Kay wirbelte um seine mobile Anlage herum (Schlau-Telefon ohne Strippe, dafür vollgepackt mit der Gruselparade von Stimmungsmelodien plus gemeingefährlicher Boxen) und stibitzte eine krumme, selbstgebackene Hefestange. "Laus über Leber-Gefahr?" Malmte er grinsend. "Mundraub!" Grollte Emil mit finsterem Blick hinter den gewienerten Brillengläsern, warf dann einen Blick in die muntere Runde, schüttelte grimmig den Kopf ob der allzu menschlichen Natur. Um Versöhnung bemüht reichte Kay ein Schälchen Kakao-Agavenmousse an, friedensstiftend. "Im Tausch für deine Gedanken!" Ein kritischer Blick flog über das ausgesprochen vegane Dessert, man schien jedoch gewillt, die Demutsgeste anzunehmen. "Nun ja." Emil löffelte, kostete prüfend. "Gerade kam es mir in den Sinn, wie typisch das Szenario hier ist. Alle bemühen sich um Freiheit, doch dann wollen sie radikal gleich Anschluss suchen! Physikalisches Grundphänomen, hier im praktischen Beweis. Extra-Energie, die dafür verplempert wird, sofort woanders anzudocken. Tragisch!" Ungeniert legte Kay einen Arm um die abgesackten Schultern, grinste eine halbe Haupteslänge tiefer in eine empörte Miene mit vornehmen Kakaomoustache. "Da danke ich dir besonders, dass du deine Extra-Energie dafür verwendest, mich unerschrocken über die Welt und den ganzen Rest aufzuklären, mein Emil!" "Frechheit!" Schnaubte der indigniert. "Solltest du nicht auf diesem Spielzeug-Dingsda mit Klebefingern herum wischen!" "Gemach, gemach!" Schnurrte Mr. Apollon im verführerischen Bariton, leckte ungeniert ein verkniffenes Mäulchen sauber. SEINE Extra-Energie wollte eben auch zielgerichtet verwendet werden! §-#-§ ENDE §-#-§ Danke fürs Lesen! kimera