Titel: Gefühlsmeister Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Romantik Ereignis: Valentinstag 2017 Erstellt: 12.02.2017 Disclaimer: alles Meins! ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? ?-? Gefühlsmeister Kapitel 1 - Nicht-Rivalen Kurz vor Mitternacht marschiere ich den geschwungenen Kiesweg zwischen den Dreieckshäusern zu meinem Domizil entlang, als ich bemerke, dass sich vor meiner Haustür eine Gestalt in die Höhe schraubt. Ich hebe meine handbetriebene Taschenlampe an, doch der Schatten kommt mir zuvor, legt einen Hechtsatz hin, wirft sich mir förmlich an den Hals. "Dschoosefff!!" Diesen Signalruf samt der elastisch hoch springenden Sirene kenne ich. Zum ersten Mal hörte ich ihn nämlich vor einem Dutzend Jahren. ?-? "Wir drehen nur einen kurzen Videoschnippel, okay?" Ich nicke artig, weil mich mein Schultrainer schon instruiert hat, sehe großzügig über die Nervosität des zappeligen Aufnahmeleiters hinweg, der zum Veranstaltungsteam gehört. Der kurze Marsch rund ums Zelt an dessen Rückseite, wo schon Scheinwerfer und Kamera auf Stativ warten, wird jedoch von einem Kreisch-Zirkus unterbrochen, sehr schrille Mädchen-Quieker der ekstatischen Begeisterung, ein mobiler, Tinnitus verursachender Pulk. "Serge! Serge! Serge!" In das verstörende Kakophonie-Konzert der Soprane mischt sich erst eine Trillerpfeife, dann die bärbeißig-raue Stimme einer passionierten Kettenraucherin. "Arrete! Stop! Stand back!" Die Zuchtmeisterin klatscht energisch in die Hände, ihr strenger Blick würde Medusa vermutlich beeindrucken. Größeren Effekt versprechen jedoch die zwei wandernden Kleiderschränke, die einen Sicherheitskokon für die Hauptperson in ihrer Mitte bilden. Natürlich habe ich schon von ihm gehört. Seine Poster hängen in vielen Zimmern in meinem Sportinternat. Sergej, das russisch-französische Langstreckenlaufwunder. Ein Popstar der Szene, ganz unbestritten, dazu noch knapp ein halbes Jahr jünger als ich. Über den Weg gelaufen sind wir uns bisher nicht, weil die Altersgrenze für Marathons auf internationaler Ebene strenge Vorgaben macht. Mit unseren 14 bzw. 15 Jahren sind wir die jüngsten im Teilnehmerfeld. Ich warte also gelassen darauf, dass das Fan-Knäuel sich um sein frenetisch verehrtes Zentrum weiterbewegt, damit ich mich der kurzen Filmsequenz stellen kann. Unerwartet flankieren die beiden massiven Buchstützen hinten, während die Zuchtmeisterin mit dem Bannblick als Herold an die Spitze stapft. So habe ich für einen Augenblick freie Sicht auf Serge in natura. Umgekehrt genauso. Er stutzt, als er mein Trikot erkennt, das mich als Teilnehmer ausweist, denn ich bin schon in vollem Ornat, dann lächelt er spitzbübisch, wirft sich in Pose, winkt mir zu. "Hi, I'm Serge! Wanna take a picture with me? Don't be afraid, it won't suck your soul in!" Dabei schwenkt er einen dieser hochmodernen, sehr kleinen Fotoapparate. Ich erinnere mich meiner Manieren und der Lektionen meiner Mutter. "I'm Joseph. And I guess, it already got YOUR soul." ?-? Es wird nicht erstaunen, dass ich nicht von der Fan-Horde gelyncht worden bin, auf ein gemeinsames Foto mit ihrem Schwarm so ungeniert verzichtet zu haben. Serge (seinen Geburtsnamen Sergej benutzt er nie) blinzelt bloß, übersetzt kurz, lacht, winkt wild, während er schon weiter gedrängt wird, ruft mir zu. "See you later, Dschoosefff!" Ja, da mischt sich ein merkwürdiges Englisch mit französischem Akzent und überbordender Energie. Ich setze meinen Weg fort, um artig vor der Zeltplane als Hintergrund in die Kameralinse zu starren, geradeaus und ohne Brille. "Hallo, mein Name ist Joseph, und ich bin 15 Jahre alt. Mutmaßlich." Der Aufnahmeleiter wechselt einen Blick mit dem gemütlichen Burschen hinter der Kamera. "Ja, schon nicht schlecht!" Wagt er sich tapfer vor. "Aber es ist vielleicht besser, wenn du doch deine Brille aufsetzt, einfach nur deinen Namen und dein Alter sagst. Bitte dreh dich auch ein wenig hier rüber, damit wir deine...." Er stottert, Farbe auf den Wangen. "Ah, meine Schokoladenseite." Ergänze ich zuvorkommend. "Selbstverständlich." Man hustet verschreckt, verzichtet auf weitere Äußerungen. Das bin ich schon gewohnt, seit einem weiteren Dutzend Jahren. Mutmaßlich. ?-? Ein Dutzend Jahre zurück, anderer Kontinent, grobe Orientierung "Schwarzafrika". Ausbrechender Bürgerkrieg inklusive Völkermord, diverse Ethnien und eine flüchtende Völkerwanderung zu den umgebenden Staaten. Wenige Hilfscamps, internationale Organisationen, die das bisschen Leben, was sich bis hierhin geschleppt hat, bewahren wollen. Sie müssen sich mit Milizen arrangieren, können nicht mehr sein als ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich bin Nutznießer so eines Tropfens. Meine Erinnerung beginnt dort, als ich ein Plastikarmband bekomme, separiert werde. Ich habe keinen Namen, keine Sprache, keine Eltern, keine Geschwister. Keine Geschichte, die irgendwer erzählen könnte. Dafür Brandwunden unter den Fußsohlen und verteilt über meine linke Körperhälfte bis zum Gesicht. Außerdem stehe ich kurz vor dem Hungertod, trage nur noch einen Lumpen am Leib, kann nicht um das bisschen Ration kämpfen, das gewährt wird. Es ist nicht ganz klar, zu welcher Volksgruppe man mich rechnen muss. Ich bin aufgetaucht wie so viele, nach elenden Fußmärschen. Aber eben allein, deshalb habe ich eigentlich keine Chance. Das medizinische Personal und die Hilfsorganisationen wissen das. Trotzdem. Ich erhalte einen Namen, einen Platz bei anderen, damit ich meine Ration auch tatsächlich schlucken kann. Die Lage verschlimmert sich. Wen soll, wen kann man überhaupt retten? Bei mir werden keine Menschen auseinandergerissen, nach mir sucht niemand, ich werde nicht vermisst. Deshalb fliegen sie mich aus, damit meine Wunden behandelt, mein Leben gerettet werden kann. So komme ich hierher. Was heute eigentlich nur noch in Ausnahmefällen geschieht, nämlich, dass man schwerverletzte Kinder ohne ihre Familie zur Behandlung so weit wegbringt. Ich bin auch gar nicht so übel dran, denn man hat mir nicht Körperteile mit Macheten abgeschlagen oder Schlimmeres. Freiwillige mit medizinische Profession kümmern sich mit Spenden- und Steuergeldern um Fälle wie mich. Davon weiß ich natürlich nichts zu diesem Zeitpunkt. Ich muss nur zur Behandlung zum Brandwundenspezialisten in die Uni-Klinik, weshalb ich zu einer Pflegefamilie komme. Sie haben schon öfter für kurze Zeitspannen verletzte Kinder betreut, die dann in viel besserem Zustand zurück zu ihren Angehörigen kommen. Aber so weit sind wir noch gar nicht. Für meine Pflegeeltern, die drei eigene Kinder großgezogen haben und eigentlich viel Erfahrung, bin ich eine Herausforderung. Nicht nur, weil sie gar nicht wissen, welcher Sprache sie sich bedienen sollen, denn obwohl ich eine Brandwunde auf der linken Seite meines Schädels habe, gibt es keine organischen Ursachen für mein Schweigen. Ganz klar ein Trauma, da ist man sich einig. Also sprechen sie mit mir auf Deutsch, mit Gesten und Bildern. Ich lerne ihre Sprache, auch wenn mein erstes Wort tatsächlich "Kodiak" ist. So heißt nämlich der American-Husky, vor dem ich nicht den geringsten Anflug von Angst zeige. Sprechen funktioniert, essen auch. Allerdings zeige ich selten Gemütsregungen, ich lache nicht, ich weine nicht, ich tobe nicht herum. Schwierig. Es dauert fast ein halbes Jahr und eine ganze Galerie an gemalten Smileys, bis ich verstanden habe, dass ich meine Mimik einsetzen muss. Trotzdem bleibe ich damit sparsam. Weiteres Problem: Schuhe. Ich mag keine tragen. Nicht wegen der vernarbenden Brandwunden unter den Sohlen, nein, ich muss den Boden spüren. Konventionelle Schuhsohlen sind zu dick und zu starr. Meine Pflegemutter arbeitet in ihrer Verzweiflung nach dem Prinzip "Hüttenschuhe", also Socken mit per Bastelkleber angefügten Mini-Sohlen. Prompt lasse ich "meine Schuhe" artig an, versuche nicht mehr heimlich, sie rasch abzustreifen, in der Hand zu tragen. Das erste Strahlen, wie sich beide erinnern, können sie mir dann mit einer eigenen Brille entlocken. Ich bin begeistert und sehr stolz. Also geht es mir ziemlich gut. Weshalb sich nach Abschluss meiner Behandlung ohne weitere Infektionen und ordentlich aufgepäppelt die Frage stellt: wann geht es zurück? Da wird es dann turbulent, denn die Ausreise hat zwar aus humanitären Gründen geklappt, aber keiner der Staaten will mich zurücklassen. Sie haben genug eigene Waisen, noch mehr andere Probleme. Also, solange nicht nachgewiesen wird, mit offiziellen Papieren (und jeder Menge Schmiergeld), wer meine Eltern sind und wo sie gelebt haben, gibt es keine Rücknahme. Das zieht sich folglich. Ich bin staatenlos, mittlerweile auf etwa vier Jahre geschätzt. In ihrer Verzweiflung entschließen sich meine Pflegeeltern, nach einer Adoption zu fragen. Irgendwas muss schließlich passieren! Trotz einigem Hin und Her klappt es, sodass ich einen vollen Namen, ein Geburtsdatum und eine Familie bekomme. Gestatten, Joseph Schmitz, Deutscher mit tiefschwarzen Wurzeln. ?-? Ich habe es sehr gut getroffen, auch wenn ich ein etwas merkwürdiger Zeitgenosse bin. Meine Eltern kümmern sich um mich, ich darf lange Spaziergänge mit Kodiak unternehmen. Da wir in einer Großstadt leben, die lange Zeit G.I. beherbergt hat, falle ich mit meinem Äußeren auch gar nicht so sehr auf. Nun, zumindest nicht aufgrund der Hautfarbe. Kindergarten, Grundschule, das passt, auch wenn sich an meiner sparsamen Emotionalität nicht viel ändert. Eine Sache sticht jedoch heraus, denn mein Vater bemerkt, dass die halbe Stunde Gassigehen mit Kodiak weniger ein Gehen als ein Laufen ist, ich samt Kodiak ordentlich Strecke mache. Auf meinen Sockenschuhen. Mir macht das Spaß, ja, ich brauche die Bewegung, denn das lange Stillsitzen in der Schule laugt mich aus. Nicht, dass ich zappelig werde, aber ich fühle mich unglücklich. Also, auch, um den armen Kodiak ein wenig zu schonen, meldet er mich beim Sportverein im Viertel an, Leichtathletik-Abteilung. Im Sprint bin ich nicht sonderlich gut, außerdem gibt es gleich Ärger wegen meiner Sockenschuhe. Wirkt ja so, als müsse der arme, schwarze Bub darben und bekäme nicht anständige Sportschuhe wie die anderen Kinder! Das ist schon ärgerlich, denn ich bin ja nicht darauf aus, irgendwas zu demonstrieren. Ich will bloß laufen, und zwar mit Bodenkontakt. Heimlich hänge ich mich also an die Erwachsenen-Laufgruppe ran, verdrücke mich von der kleinen Sportanlage. Die laufen 15km, dreimal die Woche, am Wasser entlang, Asphaltwege, Parks, wenige Stopps an Ampeln, kaum Fuß- oder Radverkehr. Ich bin gut darin, sogar sehr gut. Das fällt auf, aber man will sich natürlich auch keinem Ärger aussetzen, denn allzu lange Strecken gelten für Grundschulkinder nicht als besonders gesund. Ich bekomme also die Empfehlung, doch mal bei einem Sportinternat vorstellig zu werden. Talent fördern, aber unter Aufsicht, heißt die Devise. Dort ziehe ich ein, mit 12 Jahren, weil meine Eltern nach Kodiak nicht gleich mich auch noch verlieren wollen. Jedem Neuling wird als Mentor ein Älterer zugewiesen, was in meinem Fall, da es keine Langstreckenläufer gibt, etwas schwierig ist. Timo, genannt "der Knipser", 16 Jahre alt und hoffnungsvoller Biathlet, wird mein Mentor. Immerhin, eine Ausdauersportart, das sollte mir das Training erleichtern. Unsere Freundschaft beginnt wie für Timo typisch. "Mann, hast Glück, daste so schwarz bist! Sieht man wenigstens nicht, was fürn hässlicher Vogel du bist!" ?-? Einige waren selbstredend schockiert. Ich nicht, aber ich bin ja auch eher "gefühlssparsam". Mit Timos erster Einlassung war nämlich schon alles aufs Tapet gebracht, was an persönlichen Themen anstand: - ich bin der einzige Schwarze - ich habe hässliche Brandnarben auf dem Leib - ich bin der Schützling vom Knipser. Er hat mir übrigens auch meinen Titel verlieren: Gefühlsmeister. Weil ich selten die Miene verziehe, meine Energie anderweitig investiere, als in Überschwang zu verfallen. Wir sind bis heute befreundet und halten Kontakt, denn ich verdanke ihm viel, nicht nur gemeinsames Training, sondern auch seine Bestätigung, dass ich (abgesehen von meiner leidigen Unfähigkeit, mit den schlechten Glotzern auf die Zielscheiben schießen zu können) ein unglaublicher Biathlet hätte werden können. Ich habe nämlich ein eingebautes, gut tariertes Strecken- und Zeitgefühl (was für "Hasen" oder Pacer sehr wichtig ist) inklusive der wichtigen Fähigkeit, meinen Puls zu beherrschen. Für Biathleten ist das sehr bedeutsam, weil sie trotz hohem Tempo mit einem erstaunlichen Ruhepuls am Schießstand (Stehen oder Liegen) visieren und feuern müssen. Man kann diese Fähigkeit auch trainieren, aber ein Grundtalent ist ein großes Plus. Die Schule gefällt mir gut, auch, weil ich als wenig anspruchsvoll gelte. Ich darf unter Aufsicht lange Strecken laufen, in meinen Sockenschuhen. Ich bekomme Unterstützung, um den Schulstoff trotz Training und später Wettbewerben zu meistern. Meine Ernährung wird optimiert (obwohl ich da schon gut unterwegs bin), ich werde betreut, alles organisiert. Ein ungeheurer Vorteil, den man erst richtig schätzen lernt, wenn man erfährt, wie es anderen ergeht. Da befinde ich mich also, als ich Serge zum ersten Mal persönlich begegne, ein schwarzer Marathon-Junior mit deutschem Pass auf Socken mit großem Brillengestell. ?-? Serge ist etwas Besonderes. Zunächst äußerlich, das kann man gar nicht übersehen, helle Haut, weizenblonder, dichter Schopf, meist mit Zopf zurückgebunden, graugrüne Augen, sehnig-schlank, biegsam wie eine Weide, lange Arme und Beine, ohne zu schlaksig-klapprig zu wirken. Es ist ganz objektiv bemerkt kein Wunder, dass alle auf ihn abfahren. Aber er läuft auch wirklich elegant, während ich da ein wenig gedrungen wirke, weil meine Beine nicht so lang sind. Er gibt alles, strengt sich an, lässt alle teilhaben, lacht, weint, leidet, strahlt, strauchelt, jubelt ausgelassen. Fan-Service inbegriffen, Erinnerungsfotos, Autogramme, kleine Scherze. Im Gegensatz zu anderen ist er unter Vertrag bei einer internationalen Künstleragentur, die regelmäßig verhandelt, dass er für Russland an den Start gehen kann, ohne dort leben oder trainieren zu müssen. Er hat Sponsoren. Er steht schon bei seinem Debüt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das kommt nicht überall gut an. Zu dem Zeitpunkt ist der Marathon nicht unbedingt ein Publikumsmagnet. Die vordere Spitze wird häufig von Sportlern aus Afrika beherrscht, die auch eingebürgert werden können (wenn es sich lohnt). Dazu gibt es noch die Tempomacher, die engagiert werden, um Rekorde zu ermöglichen. Für viele ist es ein Vermögen, was sie gewinnen können, verglichen mit den Möglichkeiten, die sie sonst in ihrer Heimat haben. Da kommt ein blonder Weißer, sahnt Prämien ab, gewinnt diverse Sponsoren für sich, macht anderen die Chancen kaputt, obwohl er doch schon im Luxus schwimmt! Da ich hin und wieder als Tempomacher engagiert werde, kenne ich diese Vorwürfe auch, obwohl man mich wegen meiner Hautfarbe selten so offen angeht. Wir, die wir schon in Saus und Braus leben, reduzieren die Chancen von anderen, die mit ihrem Verdienst ganze Dörfer am Leben erhalten. Das kann man sich zu Herzen nehmen. Der Knipser zuckt dann nur mit den Achseln und meint, der nächste Vorwurf ziele darauf ab, dass wir nur die körperlichen Konditionen ausnutzten wie bei den Gladiatoren, deshalb ebenfalls rassistisch seien. Tatsache ist, dass die Sponsoren ihre Produkte verkaufen wollen, an Leute, die sie sich, gern auch in unterschiedlichen Varianten, leisten können. Die lockt man eben am Besten mit einem charismatischen, attraktiven Sportler! Ich neide Serge da nichts. Meinem Vater gefiel anfangs die Situation aus anderen Gründen gar nicht, weil etwas abgedroschen zwischen uns Vergleiche gezogen worden sind, nämlich unter dem Titel "der Schöne und das Biest". Offenbar bin ich doch nicht schwarz genug für manche, um zu erkennen, was für ein hässlicher Vogel darunter steckt. ?-? Serge und ich sind unterschiedliche Läufertypen. Er wirkt sehr elegant mit seiner Figur, variiert das Tempo, gibt alles, trägt, ganz klar, von den Sponsoren die entsprechenden Trikots, Hosen, Kniestrümpfe und Hightech-Schuhe. Ich mache optisch nicht viel her (abgesehen von abschätzigen Bemerkungen zu meinen "Barfußschuhen", die es seit einiger Zeit für "natural runners" regulär im Handel gibt). Mein Tempo bleibt konstant (mein besonderes Gespür), ich laufe nie mit Taktik. Ich habe immer noch eine kleine Reserve. Meine Trainer hat das verrückt gemacht, aber ich kann das nicht ändern. Der Knipser meint lakonisch, es werde schon zu etwas gut sein. Meine Eltern glauben, es habe etwas mit den Dingen zu tun, die passiert sind, an die ich mich nicht erinnere. Ich laufe für mich, nicht gegen andere. Eine gute Zeit ist zwar schön, aber wenn mein innerer Taktgeber, der sich nicht irrt, mir ein anderes Tempo vorschlägt, halte ich mich daran. Als Gefühlsmeister werde ich bei einem Sieg nicht euphorisch, sondern nehme das Resultat so artig hin wie die ewige Kritik, dass da noch mehr drin gewesen wäre, wenn es nicht so läuft (wobei ich eigentlich immer rund laufe, auch wenn es optisch nicht so hübsch anzusehen ist). Ich komme jedes Mal in den "Flow", einen fließenden Zustand, wo quasi alle Rädchen perfekt ineinander greifen. Das "Runner's High", den berühmten Rauschzustand, wenn der stark beanspruchte Körper Hormone freisetzt, um die Schmerzen zu lindern, habe ich noch nie erlebt. Ich bin eben ein langweiliger, aber zuverlässiger Marathonläufer. ?-? Ich hatte ja nicht erwartet, dass der ständig entourierte, extrovertiert wirkende Serge sich nach unserem ersten gemeinsamen Rennen an mich erinnern würde, aber unsere Leistung war vergleichbar gut (auch wenn ich weder im Spurt explodiert bin, noch man mich förmlich hinter der Ziellinie vom Asphalt kratzen musste), deshalb habe ich wohl Eindruck auf ihn gemacht. Bei jedem der folgenden Rennen, in denen wir beide antraten, trompetete Serge lautstark "Dschoosefff!" Und warf sich mir um den Hals. Gut, ich hätte ihn zurückweisen können, aber mein stoisches ("selbstgenügsam", wie mein Vater klassifiziert) Naturell befand, dass es ja nicht so wild war, keiner Aufregung wert. Vor Ort konnten wir keine großen Worte wechseln, auch schmeckte seiner Entourage mein Erscheinen recht wenig. Unerfindlicher Weise kümmerte ihn das keinen Deut. Er luchste mir sogar meine E-Mail-Adresse ab, um mir heimlich zu schreiben, wobei er mich hinter die Kulissen blicken ließ, im blinden Vertrauen darauf, dass ich nichts verraten würde. Stolz erklärte er mir, sich mit Hilfe von Radio Luxemburg und den Toten Hosen selbst Deutsch beizubringen. Das fand ich nett, es kostete mich ja keine große Mühe, ihm zu schildern, wie anders es bei mir im Sportinternat ablief. Ich beneidete ihn gar nicht, trotz all des Trubels und der zahlreichen Luxusartikel, die er ständig bekam (und sich darüber amüsierte, dass mich das so gar nicht fuchste). Die Agentur hatte ihn in einer Wohngemeinschaft mit anderen Klienten untergebracht. Sie engagierte Trainer und Berater, wenn sie es für notwendig hielt. Seine Mutter, die Französin, hatte sich schon längst von seinem Vater, Russe im diplomatischen Dienst, scheiden lassen. Serge war in Frankreich geboren und dann, aufgrund einer gefährlichen Atemwegserkrankung als Kleinkind, von ihr nach Paris zurückgebracht worden. Irgendwie presste sie ihrem Ex-Mann die Zustimmung ab, das alleinige Sorgerecht für Serge zu bekommen (eine Menge von den Dingen, die er mir erzählte, waren definitiv nicht koscher). Keine schöne Atmosphäre, aber Serge wurde auf seine Karriere als Langstreckenläufer, Künstler und Goldesel getrimmt. Davon erfuhren seine Fans natürlich nichts. Den ersten richtigen Eklat leisteten wir uns zwei Jahre später. ?-? Ein Marathon ist eine sehr zehrende Herausforderung. Man benötigt Übung, Erfahrung, vor allem mit den unterschiedlichen Phasen, eine entsprechende Konstitution. Und auch Glück. Bei Freiluftveranstaltungen spielt nämlich das Wetter eine große Rolle, Temperaturen, Luftfeuchtigkeit, Witterung, auch Bodenverhältnisse. Wie fühlt man sich selbst? Läuft alles rund? Sind die Depots ausreichend gefüllt? Habe ich die Ruhe weg? Bin ich mental vorbereitet? Komme ich mit den Phasen klar? Wenn alles stimmt, dann kann man Erstaunliches erreichen. Das ist nicht immer der Fall, eher sogar selten. Dann ist Routine hilfreich, damit man sich nicht selbst Schaden zufügt. Eines ist jedoch Langstreckenläufern gemeinsam: man steigt nicht einfach aus. Ganz gleich, wie übel es ist, wie elend man sich fühlt: die Maschine läuft weiter, man bleibt in der Bewegung. Stehen bleiben, geht nicht. Aufgeben, geht nicht. Quatsch, geht selbstredend schon, aber da existiert eine enorme psychische Hemmschwelle, die flüstert, manchmal ganz unbewusst. "Wenn du jetzt hier aufsteckst, dann wirst du es wieder tun. Früher. Bei kleineren Problemen. Dann hast du verloren. Dann ist es ganz aus." Denn man muss sich immer überwinden, erst den Trägheitsmoment, bis man in Schwung ist, dann den ganzen Rest der Strecke, jeden Schritt. Mir kommt da mein innerer Tempomat zur Hilfe. Mein ungeschlagener Titel als Gefühlsmeister unterstützt das auch. Mit Gespür für die "schlechten Tage" bringe ich mich nicht in Zwangslagen (enerviere aber hin und wieder die Trainer), muss nicht aussteigen, aufgeben. Damals war es eigentlich kein schlechter Tag. Ziemlich weit fortgeschritten im Kalender, etwas kühl, aber trocken. Ich bemerkte schon bei der gewohnten Umhalsung, dass es Serge nicht so gut ging. Nun, Spuren von Makeup an meiner Wange genügten auch als Indizien. Er lief vorneweg, einen großen Teil der Strecke. Ich hielt mich an mein Tempo, gleichmäßig, ohne Hektik. Er wurde langsamer, strauchelte, fing sich ab, lief weiter, totenbleich, elend anzusehen. Als ich auf gleiche Höhe kam, bemerkte ich aufgeschürfte Knie und Handflächen, was bedeutete, dass er schon mal gefallen sein musste. Sein Trikot sah auch nicht mehr appetitlich aus, wahrscheinlich hatte er sich übergeben müssen. Es wäre besser gewesen aufzugeben. Ging nicht, nicht bei einem Läufer. Noch drei Kilometer, sagte mir meine innere Uhr (ich trage tatsächlich bis heute nur die Aufziehuhr meines Vaters, keines dieser digitalen Wunderwerke mit GPS, Streckenmessung, Schrittzähler und sonst was). Er konnte es schaffen. Allerdings nicht, wenn er so taumelte, mal beschleunigte, dann wieder einbrach. Ihm liefen Tränen über das Gesicht (meine Mutter hätte gesagt, "sah aus wie das Leiden Christi!"), er hatte Schmerzen. Er konnte mein Tempo nicht halten, so sehr er sich anstrengte. »Na, rekordverdächtig ist es heute ohnehin nicht mehr.« Dachte ich mir. »Ordentliche Platzierung wäre nicht übel.« Ich bin eben auch nicht über Gebühr ehrgeizig. "Dschoosefff..." Winselte er neben mir. Ich sinnierte nicht lange, sondern streckte ihm einfach die Hand hin. Er fasste sofort zu. So stabilisierte sich sein Lauf nach einer Weile, während ich das Tempo gemächlich reduzierte. Es gab Geschrei vom Begleitfahrzeug, aber er ließ mich nicht los. Ich hielt einfach seine Hand, zog ihn nicht etwa mit. Klar, Ärger stand zu erwarten, immerhin war es ein Wettbewerb, kein Volkslauf, wo sich alle lieb haben, sondern ein beinharter Kampf. Wie sähe das auch aus, auf der Zielgeraden?! Spielte keine Rolle. Ich schraubte behutsam unsere Geschwindigkeit so herunter, dass er es bis ins Ziel schaffte, an meiner Hand. Er sackte unter mir weg und spuckte hellrotes Blut aufs Pflaster. ?-? Ich bekam eine Standpauke zu dieser Aktion, aber nur mit halbem Dampf. Der Veranstalter war extrem verschnupft, der Verband drückte eine Sperre auf, aber ohne bedeutende Wirkung, weil sich keine Rennen mehr in dem Jahr anboten. Ich konnte Serge nicht im Stich lassen, nicht nur, weil er ein Freund ist, sondern auch, weil ich weiß, wie es ist, nicht aufhören zu KÖNNEN. Dann herrschte erstmal Funkstille, keine E-Mails mehr. Unbedeutende Magenentzündung, hieß es. Serge meldete sich später, da las es sich dann ganz anders. Er war ziemlich auf den Hund gekommen, Entzündungen, Geschwüre, vollgepumpt mit allem, was Hilfe versprach. So wäre er nie durch die obligatorischen Dopingtests gekommen. Zwangspause also, außerdem Engagement Ernährungsspezialisten, die herausfinden sollten, was er nach der Beinahe-Katastrophe überhaupt noch zu sich nehmen könne, ohne sich gleich wieder böse Entzündungen zuzulegen. Er entschuldige sich auch für den Ärger, der mir drohte. Nicht so wild, auch wenn ich die Geste sehr nett fand, denn immerhin war es ja meine spontane Entscheidung zu helfen. Wir trafen uns nicht mehr so oft, hielten aber den digitalen Kontakt. Ich kümmerte mich verstärkt um meinen Schulabschluss, denn Sportprofi wollte ich nicht werden. Klar, ich hatte eine Kiste voller Medaillen, aber davon leben? Keine Chance! Also nahm ich Kontakt mit einem Sponsor des Leichtathleten-Teams auf, einer Lebensmittelkette. Mein erklärtes Ziel: Markt-Leiter/-Manager werden! Duale Ausbildung, Abschluss nach drei Jahren, Förderung, gleichzeitig noch Geld verdienen, nahe an den Leuten sein... Ich sehe vielleicht nicht danach aus, aber ich habe gern mit Menschen zu tun. Mir macht mein Job wirklich Spaß, trotz Schichtdienst. Das Gute an der Ausbildung war ja auch, dass ich Gelegenheit bekam, trotzdem noch bei Volksläufen und Marathons anzutreten. Vom Internat ging es also für mich in ein Einzimmer-Appartement und rein in die wirkliche Welt. Plus jeden Tag mindestens eine Stunde Strecke machen, an freien Tagen dann die ganze Etappe. Serge entdeckte die sozialen Netzwerke für sich. Noch mehr Aufträge, in Videos, mitträllernd, in Talkshows, dazu noch all die anderen Präsenzaufträge. Kaum volljährig verpasste er sich auch noch optische Appetizer: sehr filigran stilisierte Flügel direkt unter den Ohrläppchen im Nacken, auf den Fußknöcheln und von den Schultern bis zur Po-Mitte auf dem Rücken. Einem Schmuckhersteller, der mit seinem perfekten Erscheinungsbild warb, verdankte dann das verzückte Publikum noch ein Piercing im Bauchnabel, ein geflügeltes Herz, aber sehr kostspielig. "Verdammt hübscher Bengel!" Pflegt der Knipser zu kommentieren, und er hat recht. Als Werbe- und Verkaufsargument beinahe unschlagbar, dazu auch immer noch diverse Sport- und Bekleidungsartikel, deren Design er übernommen hat (die tatsächlichen Anteile sind eher gering, wie Serge mir spöttisch verriet). Umso verblüffter war ich natürlich, eines Abends vollkommen unvermittelt "Dschoosefff" zu hören, Serge an meinem Hals kleben zu finden. Den Vertrag mit der Agentur hatte er nun selbst abgeschlossen (und die waren ja nicht gerade auf Sportler spezialisiert), war jedoch ausgerückt, weil ich immer noch keine Digitalkamera hatte, um Bilder meines neuen Heims zu schießen und ihm zu schicken! Er selbst hauste nämlich weiterhin unter strenger Aufsicht (und jederzeitiger Verfügbarkeit) in einer Wohngemeinschaft der Agentur. So ein Überfall konnte mich als Gefühlsmeister nicht erschrecken. Aber die Besichtigungstour von knapp 20qm waren auch nicht das vordringliche Ziel des Klammeräffchens. ?-? "Ganz schön spartanisch!" Kommentiert Serge das winzige, fensterlose Gelass für Dusche und Lokus. "Ja, schön ist anders." Pflichte ich ihm bei, stelle seinen Rucksack neben meinen an der Tür. "Aber ich bin hier nicht so häufig". "Musst du das alles lernen?!" Schon studiert er die Ordnerrücken. "Dann hast du ein eigenes Geschäft?" "Das dauert noch." Ich stöbere im offenen Einbauregal durch meine bescheidenen Vorräte. "Was darfst du denn essen?" "Bah!" Er seufzt, wischt sich eine entflohene blonde Strähne hinters Ohr. "Pulvermischungen! Ein bisschen Banane dazu!" Ich studiere ihn mitleidig. An seiner Ernährung wird wohl wieder herumgedoktert, dabei ist er schon ziemlich mager. Von irgendwoher muss aber Substanz kommen, sonst klappt es nicht mit dem Laufen. "Ich könnte Haferbrei machen." Schlage ich vor. "Mit ein paar Datteln." "Vielleicht später!" Er grinst herausfordernd. "Dschoosefff, hast du wirklich nur diesen klapprigen Laptop?" Serge verfügt natürlich über die neuesten Spielkonsolen, große Flachbildfernseher, technische Gimmicks und anderen teuren Kram. Um mitzureden und zu repräsentieren, selbstverständlich, aber auch, weil solche Geschenke dort schmieren, wo man sonst Schwierigkeiten bekommt. Zum Beispiel, wenn man weiterhin für Russland starten muss, weil die Franzosen einem die kalte Schulter zeigen. "Na, für das Studium und die E-Mails an dich reicht es." Stelle ich richtig, denn ich bin schon froh, dass man hier, einer ehemaligen Pension, eine anständige Internetverbindung hat. Das ist 2009 gar nicht selbstverständlich, nicht mal in großen Städten. "Wo schlafen wir denn?" Serge beäugt schon die ältliche Schlafcouch, ein Modell aus dem schwedischen Möbelhaus, gebraucht, aber noch funktionstüchtig. "Ich habe nie Übernachtungsgäste, also wirst du dir das Bett mit mir teilen müssen." Ich schiebe ihn beiseite, räume die Couch frei, um das Aufklappen zu demonstrieren. "Nie?! Keine Freundin?!" Serge reißt die Augen auf, plinkert übertrieben mit den Wimpern, posiert schockiert. "Nie und nein." Ich bin Gefühlsmeister, daher nicht aus der Ruhe zu bringen. Tatsächlich verspüre ich keinen Wunsch nach körperlicher Nähe, zumindest nicht so, dass es ein Bedürfnis ist wie Schlaf, Durst oder Hunger. Das sollte es ja sein, oder? Zumindest bei mir, um meine Gefühlsträgheit zu überwinden. Aber das ist so wie mit dem Plüschteddy meiner Eltern für mich in meiner Kindheit: nette Geste, wird artig aufs Bett gesetzt, und damit hat es sich. Ich bin eben kein Kuschel- oder Anschmiegtyp, kein Trost- oder Glückssucher in anderen Armen. Dazu kommt noch, dass ich genügsam auf mich selbst konzentriert bin. Sport und Schule, jetzt Ausbildung, das reicht mir, nimmt den größten Teil meiner wachen Zeit ein. Was soll ich da anderen Menschen an Teilhabe bieten? Freundin von mir zu sein, das wäre schlichtweg monoton langweilig und enttäuschend. "Aber du gehst doch jetzt bestimmt aus, oder?" Serge wippt auf der Couch auf und nieder, die Beine gelenkig wie eine Katze vor den Leib gezogen. "Immerhin bist du ja raus aus dem Internat!" Ich betrachte ihn dezent erstaunt. "Ausgehen? Du meinst, in Clubs?" "Klar!" Schon springt er elastisch auf die Sohlen. "Tanzen und sich amüsieren! Die Nacht zum Tag machen!" Während ich mir noch seine lebhaften Schilderungen in Erinnerung rufe, tippt er mir kurz auf den Handrücken. "...oder vermeidest du... Schwierigkeiten?" Ich stutze, begreife dann. "Nun, das befürchte ich eher weniger. Ich würde aber nicht in einen Club kommen, weil ich nicht entsprechend angezogen bin." Da ich meist allein unterwegs bin, recht manierlich wirke, dazu noch eine große Brille trage und keine Rauschmittel konsumiere, schätze ich es nicht so ein, dass das Türpersonal mich allein wegen meiner Hautfarbe abweisen würde. "Hm, du hast doch aber bestimmt ein paar schicke Sachen, oder?" Schon inspiziert Serge meinen aufgeklappten Koffer, der als Depot dient. Seine schockierte Ernüchterung ist ihm von der Miene abzulesen und lässt mich innerlich schmunzeln. "Ist das alles?! Wo kaufst du ein?!" Pirouettiert er mit Verve zu mir herum, in der vergeblichen Hoffnung, ich hielte ihn zum Narren. "Na, ich habe einen Anzug, vom Vorstellungsgespräch." Erkläre ich gelassen. "Und dann kaufe ich das, was ich brauche, in einem Geschäft für Berufsbekleidung." Sein fassungsloser Blick schwirrt wie ein Kolibri zwischen mir und dem Koffer hin und her. "...wieso??!!" Platzt er schließlich heraus, die Hände in die schlanken Hüften gestützt. "Ich nehme Kleidung nicht so wichtig?" Voluntiere ich einen plausiblen Grund. "Aber das geht doch nicht!" Protestiert Serge erschüttert. "You never get a second chance for a first impression! Dschoosefff! Deine Kleider repräsentieren dich!" Klar, hier spricht das gefragte Modell, auch wenn Serge nicht ganz das dafür notwendige Gardemaß erreicht. "Schätze, ich bin ein durchschnittlich-pragmatischer Typ." Urteile ich, etwas neckend, denn ich habe ja meine persönliche Biographie, die durchaus ins Auge sticht, sich nicht einfach verhüllen lässt. Serge mustert mich, die Augenbrauen zusammengezogen. "Ist übrigens etwas ungewöhnlich, deine Aufmachung." Werfe ich leichthin in die konzentrierte Stille, gestikuliere sparsam sein Erscheinungsbild, denn er scheint "Aufmachung" nicht verstanden zu haben. "Oh! DAS!" Schon strahlt er mich spitzbübisch an, wirft sich in Pose, wedelt mit dem gewaltigen Stricksack in den Landesfarben Jamaikas, den er sich beiläufig in eine Tasche seines Jeans-Overalls gestopft hat, schält sich wie ein Stripper aus der leuchtend roten Kunstleder-Weste, zupft den Reißverschluss des Overalls herunter. Das darunter befindliche Trikot mit Leoparden-Print passt schon eher zu ihm. "Tarnung, weißt du?" Er feixt. "Beim letzten Job habe ich mir das Zeug geliehen, um abhauen zu können! Sonst werde ich zu schnell erkannt. Genial, oder?!" Zugegeben, der erste Eindruck ist abschreckend. Ohne seinen Kampfschrei hätte ich auch Abstand gehalten. Das Ensemble präsentiert sich keineswegs unauffällig, aber von der Güte, die es einem erleichtert, es und den Träger zu ignorieren, um nicht der Geschmacklosigkeit geziehen zu werden. "Du bist ausgerückt?" Hake ich nach. "Warum denn das?" Serge schmollt prompt. "Na, um dich zu sehen, natürlich! Du trittst zu selten an, immer nur Arbeit, Arbeit! Jetzt, wo du eine eigene Bude hast, kann ich dich ja mal besuchen kommen, richtig?!" "Du handelst dir aber Ärger ein." Gebe ich zu bedenken, denn üblicherweise ist Serge entouriert, wird kaum außer Sichtweite gelassen. "Ist mir gleich!" Trompetet er, plumpst wieder auf meine Couch, verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust. "Außerdem muss ich sowieso in zwei Tagen nach Tokio fliegen! Weißt du, wie lange das dauert?! Nur Termine, Termine, Termine! Keine Zeit zum Umschauen! Und die werden mich wieder ganz verrückt in Szene setzen! Das ist sooo anstrengend!" Er seufzt tief, sackt rückwärtig auf die Polsterung. "Ich darf nicht sightseeing, nicht Japanisches essen! Stress, Stress, Stress!" Ich nehme neben ihm Platz. "Hast du mir nicht geschrieben, dass es dort die neuesten Elektronikspielereien gibt?" Vielleicht heitert ihn das ja ein wenig auf? Serge seufzt noch mal, stemmt sich dann geschmeidig hoch. "Schon, aber ich darf nichts mitnehmen, Zoll-Vorschriften, was weiß ich!" Er betrachtet mich einen Moment länger, zieht sich dann unvermittelt das Trikot über den Kopf. "Probier das mal!" Drängt er mich aufgekratzt. "Ich wette, wenn ich dir Kleider aussuche, wirst du überall hereingelassen!" Darauf lege ich eigentlich keinen Wert, will mich jedoch nicht streiten. Die Brille absetzend schiebe ich mir mein eigenes T-Shirt über den Kopf, zwänge mich in das Trikot. Mein Brustkorb ist etwas breiter, deshalb spannt der Stoff ein wenig. Ich äuge an mir herunter. "Zum Spiegel!" Schon hat Serge mich an den Händen gefasst, zieht mich ins Separee. Der Eindruck bleibt unscharf, bis er sich erbarmt, ich zur Brille greifen darf. Nun, Leopardenmuster gereicht mir nicht zum Vorteil. "Möglicherweise wäre ein Zebra besser... oder eine Holsteiner Kuh." Murmele ich. Ernsthaft, in derart auffälligen Kleidern würde ich mich nicht mal vor die Tür trauen, geschweige denn in die Schlange vor einem der bekannten Nachtlokale! "Holsteiner Kuh?" Wiederholt Serge ratlos, zupft an mir herum. "Schwarz-weiß gefleckt." Erläutere ich. Nun ist seine Künstlerseele in Aufruhr. "Aber Farbe steht dir ganz ausgezeichnet! Nicht nur immer schwarz-weiß! Das ist zu langweilig!" Ich lupfe unterdessen meine Brille, streife das Trikot wieder ab, bevor es ausleiert. "Nun, im Moment reicht es mir." Tröste ich ihn. "Ich habe ja keine Gelegenheit. In der Filiale tragen wir eine Uniform." Serge nimmt sein Trikot ungewohnt nachdenklich entgegen, zieht es aber nicht mehr über. "Aber wenn du nicht ausgehst, immer nur arbeitest, dann bist du ja allein!" Ich sortiere Bettzeug. "Allein bin ich nur beim Laufen oder Schlafen, sonst habe ich viel Gesellschaft." "Hast du denn Freunde bei deiner Arbeit?" Serge lässt den Overall auf seine Knöchel sacken. Ich überlege einen Moment, während ich eine zweite Decke ausschüttele. "Nun, ich komme mit den anderen aus. Aber so vertraut sind wir nicht miteinander." Außerdem bin ich nicht so rasch dabei, mich zu verbrüdern. "Was ist denn mit dir?" Kontere ich Serges kritische Miene. "Oh, ganz viele!" Winkt er mit einer abschätzigen Geste ab, löst den Zopfgummi um seine Mähne. "Du weißt schon, wir sind alle Freunde!" Seine saure Grimasse deute ich auch ohne Erläuterungen, die vermutlich nicht angemessen in meine Muttersprache transkribiert werden kann. "Und all der Spaß?" Erinnere ich an seine überschwänglichen Schilderungen. "Pah!" Nun fällt auch das letzte Feigenblatt. Serge schwingt sich ungeniert unter die Decke. "Weißt du, das ist Spaß der Arbeit. Nicht Spaß meines Vergnügens." Ich verstehe die etwas kryptische Umschreibung, krame aber in meinem verschmähten Kleidern nach einer Bermudas. "Zieh dir was über." Reiche ich ihm ein steingraues Modell. "Brauche ich nicht, mir ist nicht kalt." Behauptet Serge, um sofort zum Thema zurückzukehren. "Ich gehe zwar aus, aber das ist für die Arbeit! Immer unter Aufsicht, weißt du, damit ich nicht die falschen Leute treffe." "So viel hat sich dann ja nicht geändert." Stelle ich fest, wechsle selbst in eine Bermudas, falte unsere jeweiligen Wäschehäufchen ordentlich zusammen. "Du KÖNNTEST es ändern!" Serge setzt sich auf. "Du bist jetzt ganz frei!" Ich schalte die Deckenbeleuchtung aus, aktiviere eine Kurbelleuchte, deren Funzelglimmern ausreicht, mich morgens wieder unfallfrei bis zum Lichtschalter zu führen. "Ich mag mein Leben so, wie es ist." Betone ich ohne Nachdruck, stelle die Leuchte ab, lege meine Brille dazu. Nachdem ich sie ausgeknipst habe, schlüpfe ich unter die Ersatzdecke, ein eher leichtes Modell. Aber durch die Enge der Couch wird es schon ausreichen, vermute ich. "Ich finde, wir sehen uns zu wenig!" Beharrt Serge, immer noch hockend, tippt mir anklagend auf die Brust. "Kannst du nicht öfter starten?" "Ich bekomme nun mal nicht ständig frei." Erkläre ich geduldig. "Der Verband übernimmt nur einen Anteil der Kosten. Lehrjahre sind eben keine Herrenjahre." Ich spüre sein Stirnrunzeln. "Was heißt das? Ist das ein Sprichwort?" Er zupft an meiner Nasenspitze. "Übersetzung, bitte!" Sein extrovertiertes Gebaren bin ich gewohnt, daher ignoriere ich die Malträtion meines Riechkolbens. "Es bedeutet, dass man sich als Neuling unterordnen muss." "Ah... aber ärgert dich das nicht?! Bist du nicht enttäuscht?!" Ich fange seine Hände ein, bevor er mir andere Körperglieder kneift. "Es stört mich nicht. Ich habe mir das so ausgesucht. Ich möchte kein Profi-Sportler sein." "Oh, aber du könntest! Du wärst ganz toll!" Serge zappelt und wippt. "Es ist langweilig ohne dich! Du bist der Einzige, den ich richtig mag! Die anderen, da bin ich nur freundlich!" "Vielleicht habe ich mehr Gelegenheit, wenn ich meinen Abschluss gemacht habe." Vertröste ich ihn. "Da ergeben sich bestimmt noch viele Gelegenheiten." Er brummelt und knurrt. "Das dauert so lange! Ich bin nicht gut geduldig!" Lässt er mich ohnehin Bekanntes wissen. "Du wirst dir die Zeit bestimmt vertreiben." Necke ich. "Dann kannst du mir umso mehr erzählen!" Ich komme ja selten zu Wort, wenn wir uns treffen, da seine Entourage mich nicht goutiert. "Schon." Er streckt sich aus, allerdings auf mir. "Aber das ist so Blabla!" Etwas anderes würde seine Begleitung möglicherweise auch auf die Idee bringen, dass wir häufiger kommunizieren als vermutet. "Sag mal...?" Schon stemmt er sich hoch, hockt auf meinen Hüften. "Was ist mit dem High? Hast du immer noch keins?" Ich verabschiede mich schon mal von einem raschen Einschlafen, denn mein unerwarteter Gast wäre wohl nur durch einen Zentner Schlafsand der Marke "Morpheus' Bester" einzulullen. "Weiterhin keins." Gebe ich langmütig zurück. "Dafür bin ich wohl nicht der Typ." Serge schweigt einen Moment, denn ER kennt sich damit aus, was auch an seiner Lauftaktik liegt. Von seiner schwankenden Konstitution gar nicht zu reden. "Das müssen wir ändern." Beschließt er, beugt sich herunter, mir die orale Luftzufuhr kundig abzuschneiden. ?-? Hin und wieder mal habe ich einen Schmatz auf meine "Schokoladenseite" bekommen. Mehr aber auch nicht. Andererseits verspüre ich als Gefühlsspartaner auch keinen Drang, mich jemandem körperlich aufzudrängen. Da fehlt wohl der Zündfunken. Also ist Serges unerhört marodierender Kuss auch mein erster, kombiniert mit Zunge und Speichel, mit beiden Händen meinen Schädel fixierend, damit ich nicht ausbüchsen kann. Wir müssen beide schnaufen. Doch bevor ich meine Sprachlosigkeit überwinden kann, bearbeitet Serge mich an zwei Fronten: oben und direkt unter dem Gürteläquator. Ich sollte ihn vermutlich in die Schranken weisen, zumindest handgreiflich, aber seine Arme fühlen sich zerbrechlich an. Ich höre das leise Klingeln seines Bauchnabelpiercings, weil er sich geschmeidig über mir bewegt, mit pumpenden Bewegungen unsere Erektionen strammstehen lässt. Schön, das bekomme ich gelegentlich selbst hin, keine große Sache. Halte dein Rohr sauber, wie der Klempner sagt, gilt ja auch für unsereins. Gesellschaft ist dabei neu, fremde Finger definitiv auch. Sein Timing hier ist bahnbrechend, zumindest, was mich betrifft. Einen Salut für die Funktionstests! ?-? Na schön, ich gestehe offen, so eine gemeinschaftliche Übung von Horizontalgymnastik ist nett, aufregend, entspannend, angenehm, wenn auch etwas glibberig. Serge frönt seinem Ehrgeiz, denn ich soll in einen ekstatischen Rausch verfallen. Das ist zumindest seine Intention, weil "Sex beinahe so gut ist wie das High". Zumindest meine bescheidenen Erfahrungen will er erheblich ausweiten. Da bin ich kein Spielverderber, auch wenn mein Verstand nur recht kurz aussetzt. Körperlich gesehen, wirklich nett, gar keine Frage. Aber Suchtpotential? Das doch eher nicht. Gefühlsmeister eben. ?-? Ich habe mir, ehrlich gesagt, am nächsten Morgen über diese Episode keine großen Gedanken gemacht, weil ich hauptsächlich als Pragmatiker damit beschäftigt war, Serge rechtzeitig zum Bahnhof zu lotsen, ihm vorher etwas Nahrhaftes einzutrichtern, was keine Schäden anrichtete, aber auch nicht pulverisiert aus einem Labor stammte. Betrachtet man die Chancen, standen die von Serge jedenfalls am Besten, sich mir so direkt anzunähern. Physische Hemmschwellen hat er mir gegenüber schließlich nie an den Tag gelegt. Er bekam selbstredend ordentlich Ärger. Als Profi dürfe er nicht einfach verschwinden, ganz zu schweigen von seinen vertraglichen Pflichten! Außerdem müsse man ja jederzeit wissen, wo er sei, wegen der Dopingkontrollen, und so weiter. Strengste Aufsicht ab sofort. Sie schienen jedoch keinen Verdacht zu schöpfen, wohin sich Serge verfügt hatte. (Dass er mal nicht einfach für quasi zwei Tage in Paris herumgezogen war, sondern per Schnellzug gleich ins Nachbarland düste, bloß, um dort eine sehr kurze Nacht zu verbringen...) Einige Tage später erhielt ich dann per Luftpost ein Fotoalbum (die Japaner sind da immer vorne dran, auch sehr serviceorientiert), mit zahlreichen Bildern, die Serge in den verrücktesten Aufmachungen zeigten, kommentiert und verziert. Die Geisha, die er mir zwar nicht schicken konnte, posierte in Verneigung, er gegengleich, wie ein postapokalyptischer Krieger herausgeputzt. Ich hatte keine Ahnung, für was er alles warb. Mein Pop-kulturelles Wissen besteht vor allem aus Lücken. Wenigstens aber blieb unser E-Mail-Kontakt bestehen. Auch Serge ließ sich nichts anmerken, was diese Basislektionen in Sachen gemeinschaftlicher Körperertüchtigung mit großem Vergnügungsanteil betraf. Er sprang mich bei unserem nächsten Aufeinandertreffen gewohnt undistanziert an und plapperte auf mich ein. Die Medien gingen davon aus, dass wir einfach auf eine merkwürdige Weise keine Konkurrenten sein konnten, so gegensätzlich, wie wir auftraten, aber Freunde? Das wohl eher nicht. In der Folgezeit musste ich mich einschränken, wurde im Verband eher als "Gelegenheitskandidat" geführt, doch trotzdem bekam ich Unterstützung, allerdings ohne Trainer, mehr in der Fernüberwachung, per Trainingstagebuch und "Selbststudium". So schlecht funktionierte das nicht. Ich profitierte davon, dass ich mich nicht um die Organisation kümmern musste, auch das Startgeld gezahlt wurde. Das ist schon fein, mein Dank gilt den Steuerzahlenden und Lottospielenden, die indirekt ermöglicht haben, dass ich weiter an Wettbewerben teilnehmen kann! Serge hingegen wurde so richtig in die Zange genommen, Aufträge über Aufträge, Werbung, Shows, rund um den Globus. Besonders die Asiaten waren verrückt nach ihm, vielleicht, weil er wie ein Märchenprinz wirkte, dazu noch sein Auftreten, stets gut gelaunt, zu Späßen aufgelegt, munter, durchaus ein "Entertainer". Damit sein strammes Programm nicht mit den zahlreichen Marathonläufen kollidierte, verpasste ihm seine Agentur einen straffen Zeitplan und natürlich Aufpasser. Für ihn ging es rund um die Erde, bei allen großen Läufen, sich so oft sehen lassen wie möglich, immer im vordersten Feld. Das kam bei mir aufgrund meiner Ausbildung natürlich nicht in Frage. Im "Training" blieb ich trotzdem, da ja meine Unterkunft morgens und abends einen einstündigen Lauf verlangte, also Halbmarathonstreckenniveau hatte. Wie schon erwähnt, ich bin nicht übertrieben ehrgeizig. Wichtigstes Thema, wenn auch nicht aufgrund finanzieller Bedeutung, war dann Richtung 2012 die Teilnahme an den Olympischen Spielen in London. Kurz davor schloss ich meine Ausbildung ab, wurde jedoch, wie das so üblich war, zwischen den Filialen erst mal als Springer herumgereicht. Klar, so schnell findet man keine feste Wirkungsstätte. Ich hatte zwar die Olympia-Norm geschafft, ließ mich aber auf die "Ersatzbank" setzen, weil ich ja nicht wirklich "trainierte". Trotzdem wurde ich nominiert, auch wenn die Aussichten auf eine Medaille illusorisch waren. Dafür waren die Profis schlichtweg besser. Ruinieren wollte ich mich auch nicht, so als "Reserven-Vorhalter". Serge sollte selbstverständlich für den russischen Verband antreten. So viel Konkurrenz hatte er da ja nicht, auch wenn es dort durchaus kritische Stimmen gab, nämlich dass er ein Land repräsentieren sollte, in dem er sich kaum aufhielt. Auf tragische Weise löste sich dieser Konflikt jedoch, weil sich Serge das Pfeiffersche Drüsenfieber zuzog, so außer Gefecht gesetzt war, dass sich seine Fans schockiert zeigten. Anzutreten war schlichtweg unmöglich. Ich wollte auch nur kurz vorher anreisen, weil ich meinen Job nicht vernachlässigen konnte, versprach ihm aber zum Trost das kitschig-grässlichste Souvenir, das mir über den Weg laufen würde. Er schickte mir dafür regenbogenfarbengeringelte Socken mit winzigen Seidenflügeln, die ich tragen sollte, als Glücksbringer. Fotografieren lassen sollte ich mich auch damit. Tatsächlich bin ich sogar mal kurz zu sehen, weil ich es vollbrachte, unter den ersten Zwanzig einzulaufen. Das erstaunte mich selbst. Der Verband war zufrieden, ich kaufte für den Knipser eine Baseballkappe (er sammelt grauenvolle Kopfbedeckungen), für meine Eltern Tee und Scones. Serge schickte ich eine Wackel-Queen in den britischen Nationalfarben mit den olympischen Ringen statt Krone und einem "Thank you"-Schild in der Rechten. Made in China. Für Serge war jedoch die gesamte Saison gelaufen, auch wenn die Auftritte und die Werbung darüber hinwegtäuschten. Er kam einfach nicht richtig zu Kräften. Seine latenten Magen- und Darmprobleme halfen nicht dabei, eine robuste Konstitution zu gewinnen. Bald wurden Vergleiche mit einer russischstämmigen Tennisspielerin laut, die trotz sportlich eher überschaubaren Erfolgen unheimlich viel Geld mit Werbung und anderen Engagements verdiente. Leicht hatte er es nicht, es dauerte fast zwei Jahre, bis er bei einem nicht so bekannten Marathon einen Sieg errang. Hinter den Kulissen sah es auch nicht so rosig aus, obwohl seine "Medienpräsenz" selbstverständlich nichts davon verlauten ließ. Es wirkt vielleicht nichts so, aber Serge ist ein Arbeitstier. Er weiß sich zu geben, mit großer Disziplin seinem Image zu entsprechen. Trotzdem, der Druck ist gewaltig, er muss liefern, ständig und immerzu. Ich hatte es da sehr viel leichter, deshalb auch wenig zu erzählen. Mitte 2015 bekam ich nämlich DIE Chance: Junior-Filialleiter! Also ein Stammmarkt, MEIN Stammmarkt. Ich war selbstredend Feuer und Flamme, zog auch aus den Einzimmer-Appartement um in die ehemalige Wochenend-Feriensiedlung mit den charakteristischen Dreieckshäusern. (Unten Vollgeschoss, oben quasi niedriger Dachboden als Schlafzimmer, ein beliebter Gag aus den 70-ern, umgebaut und vermietet). Die richtige Distanz für den Halbmarathon (knapp über eine Stunde) zum Arbeitsplatz. Ja, zugegeben, mein Leben war ganz schön langweilig, zumindest für andere. Der Job und das Laufen, selbst an freien Tagen, dann eben Wandertouren, nur schneller, Rucksack auf, alles zu Fuß. Mir machte es Spaß, ich verschwendete keinen allzu großen Ehrgeiz an Wettbewerbe oder Olympia in Brasilien. Was sich vermutlich merkwürdig anhört, aber hätte ich selbst die Reisen zu den großen Marathons organisieren müssen, diesen ganzen Zirkus, dann hätte ich aufgesteckt. Ich laufe ja liebend gern, aber ich brauche weder Gesellschaft oder Anfeuerungsrufe, geschweige denn Konkurrenz um Zeiten. Und, ja, das berühmte Runner's High hatte sich bei mir auch nicht eingefunden. Serge fand das nicht merkwürdig, dazu hatte er kaum Zeit. Ermüdungsbruch im linken Fuß, schwere Grippe, eine Infektion, die mit Antibiotika behandelt werden musste: ein Drama folgte dem nächsten. Wenn sich schon nicht mit Erfolgen Geld verdienen ließ, dann eben mit Tragik und anderen "Jobs", die nicht erforderten, dass er dafür längere Strecken zurücklegte. Seine Agentur nutzte die neuen Medien da unheimlich geschickt, um selbst aus seiner Misere noch Profit zu schlagen. (Was man nicht einfach verurteilen kann, denn von irgendwas mussten sie sich und ihn ja finanzieren). Der geneigte Fan war stets dabei, wurde auf dem neuesten Stand gehalten, konnte sich Serge quasi wie ein Familienmitglied digital ins eigene Leben integrieren. Für mich etwas beängstigend, denn der "virtuelle" Serge, die "offizielle Version" stimmte nicht mit der Person überein, die ich zu kennen glaubte. Wir schrieben uns immer noch E-Mails, weil ich mich weigerte, ein Smartphone zu kaufen (was ich sonst nicht brauchte). Überhaupt, meine Genügsamkeit hatte sich auch nicht gewandelt. Serge musste schließlich auf Brasilien verzichten, seine Konstitution war noch nicht robust genug. Ich bewarb mich gar nicht erst, schlichtes Dabeisein war mir zu wenig, um den Aufwand zu rechtfertigen. So kam es, dass ich Serge eigentlich nur noch "digital" sah, aber nicht mehr persönlich traf. Deshalb rechnete ich auch nicht damit, ihn ankündigungslos vor meiner Bude vorzufinden. ?-? Kapitel 2 - Auf der Flucht! Da sind wir also, ein Dutzend Jahre später, Winter, Anfang 2017. Serge klammert sich an mich wie ein Ertrinkender, sein Griff ist durchaus schmerzhaft. "Na, das ist mal eine Überraschung." Merke ich unaufgeregt an. "Lass uns aber erst mal reingehen, okay?" Wie lange wartet er hier schon? Sollte er nicht eigentlich woanders sein? War da nicht die Rede vom russisch-orthodoxen Weihnachtsfest? Er zittert nicht bloß, er schlottert, fühlt sich trotz seines Stahlzwingen-Griffs an, als würden ihm gleich die Beine wegsacken. Irgendwie gelingt es mir, uns auszubalancieren, dass ich auch die Sporttasche schnappen kann, die neben dem Eingang lauert. Gleich hinter der Tür lasse ich sie fallen, pflücke Serge von meiner Front, um die Lage zu sondieren. Trotz grässlichem Tarnfleck-Parka, Ballonmütze mit Schirm und Palästinenser-Feudel zeigt Serges Gesicht rötliche Färbungen, die Haut ist splittertrocken, die Augen entzündet. "Dusche." Entscheide ich, weil sein Zähneklappern ohnehin keine nennenswerte Konversation zulassen würde. Das ehemalige Ferienhäuschen ist etwas kurios aufgeteilt. Man fällt sozusagen in die Wohnküche, hinter der schmalen Küchenzeile schließt sich das kleine Bad an, um nur einen Anschluss vorhalten zu müssen. Also dirigiere ich Serge mühsam ums Eck (er trägt diese teuren Moon-Boots, die an seinen dünnen Beinen überdimensioniert wirken), dann an Waschbecken und Lokus vorbei (durch ein Milchglas-Wändchen getrennt) zur Duschkabine. Ich pelle ihn frei, weil seine Hände, nachdem ich sie mühsam aus meiner Sportjacke geborgen habe, ein ähnlich gruseliges Bild wie sein Gesicht bieten. Wie lange hat er da draußen herumgestanden?! Im Gegensatz zu mir ist Serge Körperkontakt mit Fremden gewöhnt, das weiß ich. Wenn er irgendwo zurecht gemacht wird, pusseln unzählige Leute an ihm herum, für die er Arbeitsmittel ist, keine eigenständige Person mit möglicherweise einem Wunsch von persönlicher Sphäre. Was ich sehe, gefällt mir nicht. Ich gehe jede Wette ein, seine Fans wären schockiert. Serge ist nicht bloß durchgefroren bis ins Mark, was mich nicht wundert, er ist abgemagert bis ausgezehrt, nur noch Knochen und Sehnen, die Haut schuppig-rau wie Pergament, kein bisschen Körperfett mehr zu spüren. Sein Gesicht ist spitz und ausgemergelt, die weizenblonden Haare stumpf. Ich drehe den Wasserstrahl auf behutsames Rieseln, die Temperatur lauwarm. Das ist nicht der Serge, den ich kenne, sondern ein fremdes Skelett, das röchelnde Laute ausstößt, leise winselt, als sich langsam die Froststarre verabschiedet. Ich sollte ihn allein lassen, ein wenig Abstand und Diskretion wahren, aber eine Wallung von Ingrimm stachelt mich an, mich ungebührlich zu benehmen, indem ich meinen Rucksack vom Buckel streife, selbst strippe und mich zu ihm in die Kabine schiebe. Platz genug haben wir schließlich. Vorsichtig steigere ich die Wassertemperatur, streiche ebenso behutsam über seine dürren Glieder, um wieder Gefühl hinein zu bugsieren. Das kann nicht angenehm sein, keine Frage, kennen wir ja alle, wenn wir die Handschuhe vergessen haben, ein eisiger Wind weht und wir dann noch nass-klamme Stoffe anfassen müssen. Prickeln-Pritzeln-Zucken, es tut einfach weh. Mir tut es weh, ihn zu sehen, bloß harte Knochen zu spüren, Adern zu registrieren, die sich deutlich sichtbar aus der Haut drücken. Aber ich bin Gefühlsmeister, als solcher auch meinem Naturell verpflichtet: etwas tun. Keine Energie an Emotionen verschwenden, die besser in Aktion genutzt werden kann. Folglich frottiere ich mich rasch, verpacke seinen wüsten Kopfputz in ein Handtuch, tupfe ihm dann die Tropfen vom Leib. Da der Wasserdampf die Kabine noch wohltemperiert hält, gebiete ich mit hochgerecktem Zeigefinger, sich nicht zu rühren, wische dann heraus, fege blitzblank in das Dachgeschoss, um mich anzukleiden (klar, wenn ich nicht da bin, ist die Bude natürlich nicht beheizt). Aus meinem Fundus sammle ich Pyjama, Jogginganzug (weit), zwei Paar Socken, Fäustlinge und ein Tuch ein, hechte wieder zurück auf Erdniveau. Serge kauert in der Hocke, ein klapprig-kompaktes Paket. Aus meiner sehr übersichtlichen Sammlung von Hygieneprodukten, die unter dem Spiegel auf einem Bord paradieren, fische ich einen Tiegel mit besonders fettender Creme, meine Geheimwaffe bei der Kälte, trotz dünner Laufbekleidung. Zunächst fühlt man sich zwar wie eine Speckschwarte, aber die Fettschicht hält die Körpertemperatur drinnen, weist schneidende Winde ab. Praktisch. Mit dem Tiegel zwänge ich mich zurück in die Kabine, löse einzelne Glieder, um Serge von oben bis unten einzubalsamieren, zwischen den Zehen, hinter den Ohren, nahezu überall. Es erschöpft ihn sichtlich, aber das asthmatische Keuchen reduziert sich ein wenig. Anschließend betätige ich mich als Ankleider, balanciere auch den Handtuchturban aus. Durch das Schlachtfeld abgeworfener Klamotten geht es zurück in die Wohnküche, wo ich ihn auf die ehemals romantische Rattan-Gartenbank bugsiere. Kissen, Decken, Polster, Überzüge: man erkennt nicht, dass sich darunter ein Sammelsurium an ausrangierten Gartenmöbeln befindet. Schön sind sie nicht mehr, aber ausgesprochen robust, da für den Außeneinsatz vorgesehen. Ich setze den Wasserkocher auf sein Podest, versenke sparsam genau einen Tassenbeutel in der altmodischen Keramikkanne (entweder schnell trinken oder eben lauwarm bis abgekühlt). Während der Tee zieht, fege ich durchs Bad, sammle die abgeworfenen Kleider ein, apportiere meinen Rucksack, leere die Lebensmittel in den kleinen Kühlschrank, klettere unters Dach, um dort die große Matratze mit Decken und Kissen für zwei Personen auszustatten. Wieder im Erdgeschoss reiche ich Serge seinen Teebecher in die Fäustlinge. "Langsam trinken." Ermahne ich nach einem kurzen Puster über die schillernde Oberfläche. Serge nippt gehorsam, das Gesicht glänzend von der Fettcreme. "Hast du Hunger?" Erkundige ich mich, die mütterliche Liste abhakend. Er schüttelt, sehr vorsichtig wegen des Turbans, den Kopf. "Muss irgendwer bis morgen..." Ich korrigiere mich. "...bis später wissen, dass du hier bist?" In seinen graugrünen Augen blitzt Panik auf. "Ich meine, hat, was auch immer los ist, Zeit, bis ich aufstehen muss?" Fasse ich zu, bevor er den Teebecher fallen lassen kann, halte diesen und seine Hände. Immerhin geht es schon auf zwei Uhr in der Nacht zu. Ich löse Probleme nicht gern ohne eine gewisse Substanz und ausgeschlafen. Er nickt hastig, der Turban löst sich auf. "Gut." Entscheide ich. "Glaubst du, dass du schlafen kannst?" Serge überlässt mir seinen Teebecher, dreht sich suchend nach seiner Trainingstasche um. Ich stelle den Becher ab, erhebe mich, apportiere sie, damit, was auch immer er sucht, aus ihren Innereien hervorgekramt werden kann. Tatsächlich ein wildes Durcheinander, dann fischt er, durch die Fäustlinge behindert, eine Arzneidose heraus. Der mehrsprachigen Aufschrift entnehme ich, dass es sich um ein "rein pflanzliches" Schlafmittel handeln muss. Eine Pille herausschüttelnd wirft sie sich Serge in den Rachen, spült mit dem verdünnten Tee nach, den ich aufmerksam reiche. Glücklicherweise sieht man mir meine Gefühlsregungen nicht so einfach an, aber ich bin schon konsterniert, was nichts ändert. Also helfe ich Serge auf die Beine, klettere hinter ihm die freischwebende Stiege hoch auf den Dachboden. Mit einem weiteren Handtuch und dem Stoffgürtel meines selten genutzten Bademantels bändige ich Serges nasse Haare, dann entlasse ich ihn unter meine Steppdecke. Er will natürlich nicht den wärmenden Luxus für sich allein beanspruchen, aber ich bin eisern. Zwei dünne Decken halten mich ausreichend warm, außerdem habe ich die Konstitution, die Serge so völlig abgeht. "Dschoosefff!" Krächzt er kaum hörbar, als ich das Licht gelöscht habe, neben ihn rutsche. "Das wird wieder." Raune ich ihm zu, auch wenn ich nicht die geringste Vorstellung davon habe, was EXAKT die Problemlage darstellt. Aber das muss warten, bis ich ausgeschlafen habe. ?-? Vor einiger Zeit habe ich mir den Komfort eines Lichtweckers geleistet. Das ist recht angenehm, nicht durch einen schrillen Alarmton aus den Federn (oder Baumwoll-Gewölk) gerissen zu werden, sondern langsam durch die steigende Lichtintensität selbst auf "wach" zu schalten. Zur Not kann selbstredend auch ein Signalton die letzte Warnung aussprechen, aber dazu kommt es bei mir eigentlich nicht. Trotz der vorherrschenden Dunkelheit (klar, unterm Dach gibt es nur einen winzigen Ausguck), ist es dementsprechend heimelig sonnig, als ich die Augen aufschlage. Serge neben mir schläft leise schnaufend, völlig weggetreten. Das Präparat scheint tatsächlich zu wirken. Ich schäle mich aus den Decken, falte rasch zusammen, was mir sonst in die Füße geraten könnte, eliminiere die Weckfunktion (es wird wieder schummrig), klettere auf leisen Sockensohlen runter ins Erdgeschoss. Katzenwäsche, dann Frühstück. Gut, dass auf Spätschicht Spätschicht folgt, denn so muss ich mich nicht hetzen. Meine erste Mahlzeit am Tag für Helden hat sich nicht bemerkenswert geändert über die Jahre: Haferflocken, wenig gehäckselte Trockenfrüchte, über Nacht in Wasser aufgequollen, morgens in die Mikrowelle, Getreidekörner oder Nüsse darüber gestreut, Leinöl getropft, umgerührt, mjamm! Dazu Getreidekaffee (kein Koffein, keine Säure), Körnerbrot oder Vollkorntoast mit Aufstrichen aus Gemüse und Hülsenfrüchten. Wenig Fruchtzucker, ordentlich Kohlenhydrate und Eiweiß, plus, zum Ölen und für den Geschmack, ein bisschen Fett. Während ich also im Stehen kaue, hinausschaue, wo kein Bär steppt (obwohl wir am Waldrand liegen), die Nachbarschaft ebenso ruhig ist wie ich (klar, viel Platz ist ja nicht, außerdem muss man schon ein wenig exzentrisch sein, um sich hier dauerhaft einzumieten), lasse ich mir Einiges durch den Kopf gehen. Ich brauche mehr Lebensmittel als gewöhnlich. Bloß, was darf Serge gerade essen? Wenn er länger bleibt, muss Platz für seine Klamotten gesucht werden. Was ist mit seinen Jobs? Und dem Verband? Und den üblichen Dopingtests? Ich beende mein Frühstück, spüle das Geschirr rasch in der kleinen Plastikschüssel ab, verstaue es, marschiere zu meinem alten Laptop. Wir haben hier tatsächlich den unerhörten Luxus von Glasfaserleitungen, was an dem Neubaugebiet nur einen Steinwurf entfernt liegt. Wer hochpreisige Objekte vertreiben will, muss heutzutage auch superschnelle Verbindungen in die weite Welt draußen anbieten, deshalb der neue Glasfaserknoten in Reichweite und wir "Hexenhäuschen"-Bewohnenden nutznießend. Da sitze ich mit untergeschlagenen Beinen, studiere Serges offiziellen Blog, vielmehr den der Agentur. Kurzreise über die (russisch-orthodoxen) Weihnachtsfeiertage. Strahlendes Grinsen, Victory-Zeichen, endlich Ferien! Hmm. Und nicht zu sagen: hmmhmm. Das passt jetzt aber gar nicht zu dem klapprigen Elend in der Dachstube. Wenn es eine geplante Reise war, wieso hat Serge mir nicht vorher per E-Mail Bescheid gesagt? Verwirrend. Weil mich Spekulationen nicht weiterbringen, putze ich die Beißerchen, hänge eine zweite Garnitur Handtücher raus, kontrolliere den Toilettenpapiervorrat, bevor ich mich nach oben schleiche und mich anziehe. Ominös. Serge schläft noch immer. Ich bringe es nicht über mich, ihn zu wecken. Also runter, Einkaufsliste schreiben, vorsichtshalber eine Handvoll Haferflocken ertränken und im Kühlschrank stehen lassen. Zettel mit Notfallanweisungen, Telefonnummer meiner Filiale, Adresse, dazu Zweitschlüssel. Ich werfe mich in meine Laufklamotten, streife mir Rucksack und Barfußschuhe über, wickle mir ein Tuch mit Haifischgrinsen vor das Gesicht, justiere meine große Brille unter der Pudelmütze und ziehe lautlos die Tür hinter mir zu. Halbmarathon zum Arbeitsantritt, auf los! ?-? Meine Umgebung ist das schon gewöhnt, dass ich in meinen Laufklamotten durch den Lieferanteneingang marschiere, die Personalumkleide ansteuere, mich kurz abreibe, in meine Uniform steige (Kittel gibt es schon längst nicht mehr) und dann die Schichtübergabe absolviere. Ich bin so routiniert, dass ich bloß Wasser fassen muss und später die vorgeschriebene Pause mit Broten oder Eintopf überstehe. Mir macht das nichts aus, weder in der frühen noch in der späteren Schicht. Meine Filiale befindet sich nicht gerade in einer gehobenen Gegend. Früher wohnten hier Bahnarbeiter, jetzt gehören die Reihensiedlungen städtischen Wohnungsgesellschaften. Die Mietparteien sind bunt gemischt, aber eindeutig nicht besonders wohlhabend. Im Viertel selbst befinden sich auch Gewerbetreibende aller Art, Gebrauchtwagen, kleine Spezialläden, winzige Restaurants, dazu eine Spielothek mit Wettbüro, eine Münzwäscherei und die üblichen Telefonläden mit Auslandsverkehr. Wir haben eine Frischetheke und eine Backstation, das hebt uns schon mal heraus. Auch bei Obst und Gemüse können wir punkten, da wir ins Programm aufgenommen worden sind, regionale Erzeugnisse vertreiben zu dürfen. Kosmetika gibt es bei uns nicht, auch Hygiene- und Reinigungsprodukte nur in geringer Auswahl, weil sich gleich um die Ecke eine Drogeriekette niedergelassen hat. Unser Zeitschriftenangebot ist auch eher übersichtlich, denn der kleine Kiosk gegenüber hat schon früher auf, versorgt die Laufkundschaft. Aber grundsätzlich bin ich schon sehr zufrieden, wir kommen mit unserer Nachbarschaft "ohne Kannibalismus" aus. Viele Leute sind Stammkundschaft, die sich auch nicht scheuen, mir immer mal wieder was "ins Stammbuch" zu schreiben, wenn sie Produkte vermissen, wenn die Qualität nicht stimmt, wenn Aktionsangebote zu schnell weg sind. Oder auch, wenn sie sich freuen, weil wir etwas zurückgelegt haben, uns Zeit nehmen, etwas aus dem Lager zu holen. Kommunikation ist hier auch wichtig. Dann kann man zumindest hin und wieder der Zentrale signalisieren, warum manche "Gebinde", die wir verkaufen sollen, hier einfach nicht gehen. Langweilig wird es mir also nicht. Durch den Sicherheitsdienst, der regelmäßig tagsüber die Geldbomben abholt, haben wir auch keine Überfälle, was mich beruhigt. Der Schwund hält sich in Grenzen, Hausverbote musste ich bisher auch nicht aussprechen. Die Mannschaft ist motiviert, auch wenn es durchaus anstrengend ist, alles schnell einzuräumen, die Regale gefüllt zu haben, wenig Ausschuss zu produzieren und immer freundlich zu sein. Nun ja, ich mag meinen Job eben. Und MEINE Filiale. Bekannt wie ein bunter Hund bin ich ohnehin. Heute habe ich ein Ohr auf das Telefon im Büro, falls Serge sich meldet, aber es tut sich nichts. Schön, da kann ich rasch nach Ladenschluss über mein Mitarbeitskonto noch in den Rucksack packen, was ich mir notiert habe. Abrechnung, letzter Kontrollgang, alles verschließen, Alarmanlage scharf machen, dann trabe ich langsam los. Üblicherweise teile ich mir meine Besorgungen auf, bin ja an der Quelle, sodass die Last auf meinem Buckel nicht zu drückend ist. Andererseits kann ich das bisschen mehr auch verknusen, fühle mich fit, noch so in Schwung, dass ich nicht gleich zu Hause in mich zusammenfalle. Denn möglicherweise will Serge die Karten auf den Tisch legen und wartet schon ungeduldig auf mich. ?-? Kein Lichtschein verrät, dass sich jemand im Haus befindet. Ich schließe lautlos auf, lasse mich herein. In der Dämmerung meiner Taschenlampe (wie gesagt, wir sparen draußen jede Menge Strom und der Gegend Lichtverschmutzung) schreckt ein Schatten auf meiner bunten Sitzlandschaft auf, also Taschenlampe aus und Deckenleuchte an. "He, Serge, ich bin's bloß." Beruhige ich, ziehe mein Haifischgrinsen in Stoff herunter, stelle den Rucksack ab. Wie das blühende Leben sieht er nicht aus, überall Schatten im ausgezehrten Gesicht, die Haare struppig, die Augen noch dezent verklebt. "...Dschoosefff!" Krächzt er, fällt sich beinahe selbst, noch in die Decken eingewickelt, wirft sich mir an den Hals, klammert. "Hast du was gegessen?" Ich arbeite mich an meiner privaten Bedürfnisliste langsam nach unten. Eine Antwort erhalte ich nicht, dafür stößt Serge mit sich steigerndem Beben Informationsschrapnell hervor. "...Hilfe, Dschoosefff!...ganz kaputt! Nicht mehr laufen! Will nicht tot sein! Wegen Fluch!" Ich verstehe so gut wie gar nichts, weil die Lücken zwischen den einzelnen Fragmenten zu groß für meine gewohnte Begriffsstutzigkeit sind. Außerdem klingt Serge schrill und drängend, so, als stünde er kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Das würde allerdings die Aufklärung erheblich behindern. Er erstickt mich beinahe dank der stabilen Laufjacke, in die er sich gekrallt hat, also halte ich Gegenmaßnahmen für angezeigt. "Serge, ganz ruhig. Ich helfe dir." Wobei, das finde ich sicher auch noch heraus. "Nicht sterben! Nicht tot sein!" Wiederholt er trotzdem verzweifelt, zerrt an mir herum, schnüffelnd, die graugrünen Augen aufgerissen und tränenfeucht. "Nein, hier wird nicht ohne Not gestorben." Lege ich mich fest, umschlinge ihn ebenso energisch wie er mich. Da ich mehr Muskelmasse und Kondition aufbieten kann, habe ich ihn nach hastigen Atemstößen genötigt, seinen Klammergriff zu lockern. "Vorschlag!" Es ist nicht sonderlich bequem, seine spitzen Knochen zu spüren. "Ich mache uns was Warmes zu trinken und du erklärst mir, was los ist." Dann bekomme ich ihn vielleicht auch dazu, nicht förmlich in meine Figur zu diffundieren. Ich muss Geduld beweisen, denn es dauert ein Weilchen, bis er tatsächlich nachgibt, sich von mir wieder aufs Sofa dirigieren lässt, in die abgeworfenen, aber anhänglichen Decken eingewickelt. Weil ich schon stehe, angesichts der späten Stunde wohl nur noch Tee die Lösung ist (hab ich schon erwähnt, dass ich "Schmuusiiiis" verabscheue?!), kann ich auch die Ladung aus meinem Rucksack bergen, mich aus meiner Jacke und der kurzen Sporthose (obendrüber) pellen. Im Kühlschrank finde ich die Haferflocken, aufgequollen und unangetastet. Auch sonst scheint nichts zu fehlen. Hat er gar nichts gegessen? Ich wechsle hinüber, Teekanne und zwei Becher apportierend, lasse mich auf einem alten Hocker vor ihm nieder, das Geschirr auf dem Klapptisch abstellend. Serge klappert schon wieder mit den Zähnen, zappelt unruhig vor sich hin, mit flackerndem, unsteten Blick. So kenne ich ihn gar nicht. "So." Stelle ich fest. "Ich helfe dir. Erklär mir, was los ist." Er holt Luft, ein rasselndes Geräusch. "Es geht nicht mehr! Nicht mehr laufen! Alles kaputt! Ich sage es ihnen, aber sie verstehen nicht! Bloß Nerven!" Er schnaubt, hascht nach meinen Händen. "Aber das stimmt nicht! Kann nicht mehr laufen! Ich kann nicht mehr laufen!" Hmm. Ich begreife das nicht. Serge registriert meine Skepsis (so ein Gefühlsmeister bin ich dann wohl doch nicht), beklammert meine Hände, überschlägt sich förmlich. "Du verstehst, Dschoosefff! Kein Gefühl mehr, no timing! Wenn ich gelaufen, dann für High! Für Ende Schmerz! Für weg! Aber alles kaputt! Und nun bald 27 Jahre! Fluch von 27 Jahren, Dschoosefff! Janis Joplin, Jim Morrison! Amy Winehouse!" Nun heult er atemlos, nahezu hysterisch, zerrt an meinen Händen, vor mir auf die Knie gesunken. "Nicht sterben! Hilfe, Dschoosefff! Aide-moi! Bitte!" Aus dem Durcheinander wirre ich mir einen Eindruck heraus, auf den ich mich konzentriere. Dieses mehrsprachige Gestammel entspringt einer vollkommenen Verzweiflung, die selbst mir kalte Schauer über den Rücken laufen lässt. "Serge." Ermahne ich betont sonor. "Setz dich wieder, bitte." Sein bleiches Gesicht, von hässlichen Flecken der Hektik entstellt, verzieht sich gequält, aber er taumelt wieder hoch, lässt sich von mir warm verpacken. "Also." Ich ziehe den Hocker direkt vor ihn, spreche so ruhig und gefasst, wie es mir möglich ist. "Verstehe ich das richtig, dass du das Gefühl fürs Laufen verloren hast?" "Ja! Ja, richtig!" Schon wippt er unruhig, aber mein strenger Blick bewegt ihn dazu, sich wieder zu beherrschen. "Du hast Angst, dass du dir schadest, wenn du so weiter machst." Er nickt heftig. "Wie Junkie! Immer früher, für Schmerz!" "Bist du deshalb gekommen, damit ich dir helfe, wieder zu laufen?" Einen bizarr-komischen Moment lang schüttelt er den Kopf und nickt gleichzeitig. "Nicht sterben!" Wiederholt er hektisch. "Nicht sterben! Du verstehst! Sie nicht!" Aha. Nun, nicht ganz, aber ich denke, ich bin im Bilde. "Weiß deine Agentur, dass du hier bist?" Serge presst seine Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen. Ich erhebe mich, er schreckt hoch, panisch nach mir haschend. "Langsam." Gebiete ich, lasse mich neben ihm nieder, nicht unerwartet sofort umhalst. Er kriecht mir sogar auf den Schoß. "Bitte!" Fleht er kläglich an meinem Ohr. "Bitte, Dschoosefff, Hilfe!" Ich streiche ihm über den Rücken, nur Knorpel und Knochen. "Natürlich helfe ich dir. Dazu müssen wir aber einen Plan machen, in Ordnung?" Einige hastige Atemstöße klammert er schmerzhaft, dann lässt er etwas locker, legt die Stirn an meine. Er weint, wie ein Kind, mit dicken Perlen in den Augenwinkeln, schniefend und schluchzend. "Herrje." Stelle ich fest. Jetzt wäre die Laufjacke wegen ihrer wasserabweisenden Beschichtung natürlich praktisch, aber man kann eben nicht alles haben. "Das wird wieder." Verspreche ich ihm, wiege ihn ohne bewusste Entscheidung leicht. "Morgen habe ich frei, da schmieden wir den perfekten Plan, richtig?" Winseln und schnauben. "D'accord?" Nerve ich unerbittlich. "...ouais." Nuschelt er mir schließlich mundartlich ins Ohr. Schön. Jetzt muss es mir nur gelingen, ihn und mich trocken zu legen, damit wir vorher noch genug Schlaf bekommen, um das Vorhaben anzugehen. ?-? Mein Luxus-Wecker bringt gemächlich Licht in die Dachstube. Ich schraube mir die Brille auf den Nasenrücken, setze mich auf. Serge schläft noch, keinen Fingerbreit neben mir zusammengerollt. Hmm. Auf das Schlafmittel hat er verzichtet, weil es ihn glatt bis zum Mittag außer Gefecht gesetzt hat, was wirklich sehr prägnant auf seine Konstitution hinweist. Wichtiges zuerst, ermahne ich mich. Das bedeutet, die zwei Decken lautlos falten, das Wecksignal abklemmen, ohne Zwischenfälle die Stiege runter, um mir das Gesicht zu polieren. Draußen wird es langsam hell, klares Indiz, dass es recht spät ist. Knackig kalt, aber mit heftigen Andeutungen von Rosarot, die auf einen prächtigen Sonnenaufgang hinweisen. Gut, um den tatsächlich zu sehen, müsste ich schon ein Stück marschieren, wir sind hier ja von Bewuchs recht umzingelt. Frühstück heißt die Devise. Die Matschflocken lassen sich gut verarbeiten, dann überlege ich mir auch etwas für meinen heiklen Esser. Eintopf, ganz klar, aber die magenverträgliche Variante. Das bedeutet Nudeln, schock- und tiefgefrorenes Gemüse, hübsch angeschwitzt in Sonnenblumenöl, bevor mit Wasser aufgegossen wird. Vorteil: mehrfach aufwärmbar, prächtig portionierbar. Ich hoffe zumindest, dass ich Serge dazu bringen kann, etwas davon zu kosten. Ich rühre Kakaopulver (nicht entölt) unter meine Matschflocken, schön angewärmt, löffle, während Wasser durch Kaffeepulver und Porzellanfilter in meinen Becher tropft. Dabei lasse ich mir meine Theorie durch den Kopf gehen, die die Bruchstücke von Serges Ausbruch zu einem schlüssigen Bild kitten soll. Diese Theorie gibt mir ordentlich zu denken. Wie lange steckt er schon in der Klemme? Ohne mit mir darüber zu reden? Früher hat er sich in unserer Kommunikation nicht zurückgehalten. Doch jetzt scheint es mir, als wäre mindestens ein halbes Jahr verstrichen ohne die geringste Andeutung über das Ausmaß seiner Schwierigkeiten. Warum hat er geschwiegen? Wollte er sich selbst helfen? Oder hat er befürchtet, dass unsere Unterhaltungen nicht so vertraut bleiben, wie sie immer waren? Das gefällt mir nicht. Ich darf aber auch nichts überstürzen, denn so fragil wie gestern Abend ist er mir noch nie erschienen. Klar, er hat schon mal bitterlich geheult, weil er sich mit seiner Taktik verschätzt oder Schmerzen hatte, die er nicht mehr verbergen konnte. Doch diese panisch-hysterische Verzweiflung, die passt nicht zu ihm. Deshalb: handle with care! Ich wärme Kokosmus leicht an, rühre Kakaopulver unter und verdünne die Mischung, steige dann mit dem Becher hoch, um Serge aufzuwecken. Als ich ihn bei der Schulter fasse, zuckt er zusammen, als hätte er einen heftigen elektrischen Schlag erhalten. "Guten Morgen." Schlage ich optimistisch vor, lasse den Duft meines Gebräus Herold spielen. Serge setzt sich auf, reibt sich die verklebten Augen, mit seinem verwüsteten Putz ganz sicher kein Bild für die Götter. Ich halte ihm den Becher hin, warte die bangen ersten Schlucke ab. Ja, natürlich schmeckt es nach Ballast, nach dem Kokosfett, dem etwas herb-bitteren Kontrast des Kakaos. Aber ich will etwas gegen seinen verheerenden Zustand unternehmen, damit er nicht wie eine Trockenpflaume verschrumpelt! Er wischt sich mit der freien Hand über Gesicht und Haare, schenkt mir ein beschämtes Lächeln. "Danke, Dschoosefff. Ich seh scheußlich aus, richtig?" "Zerrupft." Nicke ich unverschämt. "Aber wir kommen auf dem Weg zum Frühstück am Bad vorbei." Subtil, ja, ja. Der Schatten seines früheren Strahlens huscht über seine Miene, dann rappelt er sich steif auf. Kein Wunder, bei der verkrümmten Schlafhaltung! Ich nehme den Becher an mich, als ich ihn zur Katzenwäsche sende. Zumindest die Hälfte der nahrhaften Kalorienbombe hat er schon intus, das lässt mich hoffen. Einige Momente später, ich nippe gerade an meinem Kaffee, lässt er sich neben mir nieder, beäugt unsicher die Nudelsuppenschüssel. Eine Faust voll, als Anfang. "Versuch es mal." Lasse ich Ausflüchte im Keim ersticken. "Ohne Mampf kein Kampf!" Eine winzige Falte zeigt sich auf seiner Stirn, als er die Bedeutung zu übersetzen versucht. Die Haare hat er unter einem bunten Tuch versteckt. Ich gestikuliere entsprechend, Kreis vor dem Bauch, dann Bizeps gebeugt. Zugegeben, Schwarzenegger wäre damit nicht zu imponieren, aber Serge dechiffriert, grinst mir scheu zu. Er leert auch brav die Schüssel und seinen Becher. Ich erkenne jedoch, dass ich ihm mehr nicht zumuten kann. Über Appetit brauchen wir wohl gar nicht zu reden. "Was hast du denn gestern gegessen?" Erkundige ich mich, knuspere Knäckebrot mit selbstgemachtem Aufstrich. Serge erhebt sich, kauert über seiner Sporttasche, fingert eine zerdrückte Tube heraus. Du liebe Güte. Irgendeine Super-Sportler-Nahrung, ein Gel mit Elektrolyten und noch mehr Zeug drin, das ich kaum entziffern und gar nicht für mich dolmetschen kann! Quasi die Quetschbeutel (grausam! Und ungesund!) für Erwachsene auf dem Survival-Trip. Oder im Weltraum. "Ich glaube, damit kann ich nicht dienen." So teure Produkte gibt es wahrscheinlich auch nur in Spezialgeschäften zu kaufen. Serge antwortet mir nicht, sondern lehnt sich an mich, drückt meine Hand, ganz still und in sich gekehrt. "Ich mach dir gern, was du magst." Breche ich schließlich die deprimierende Besinnungspause. "Sag's mir nur, ja?" Er seufzt leise, die Schultern absackend. "Ich hab schon lange keinen Appetit mehr." Wispert er matt. "Essen ist so schwierig." Zur Bekräftigung dieser Feststellung gräbt er einen mehrfach gefalteten Zettel aus seiner Tasche. Ergebnis einer ernährungstechnischen Untersuchung, wie ich mir übersetze. Diverse Tests und Proben haben zu Empfehlungen geführt, die mir nicht nur auf den Magen, sondern auch aufs Gemüt schlagen würden. "Was müssen wir denn unbedingt vermeiden?" Arbeite ich mich schließlich vom anderen Ende der Front heran. Wenn Serge schon keine Vorlieben mehr hat. "Zu viel von Obst." Stellt Serge fest, zuckt dann hilflos mit den Schultern. "Zucker wird sauer." Seine Grimasse spricht Bände. "Aha." Signalisiere ich Verständnis. Gut, zu viel Fructose vertragen nicht alle, damit kann ich arbeiten. Immerhin bin ich Junior-Marktleiter, damit auch gefordert, mich auf dem Ernährungssektor auszukennen. Wir sollen ja die verehrte Kundschaft beraten! "Das kriegen wir schon hin!" Verkünde ich also von mir selbst überzeugt. Serge wäre kein Profi-Sportler, wenn beträchtliche Komplikationen zu erwarten stünden, was seine Fütterung betrifft! "Wenn du rasch die Beißer polieren willst, nur zu." Gestikuliere ich. "Dann schaffen wir auch Platz im Bad für deine Sachen." Er zögert, ganz der höfliche Gast. "Ich spüle rasch, in Ordnung? Husch, husch!" Treibe ich ihn an, komme mir dabei selbst merkwürdig vor, weil ich hier so viel am frühen Morgen rede. Ohne Uniform! Während Serge also artig meinem Kommando Folge leistet, überlege ich mir einen gewissen Schlachtplan für den Tag. ?-? Da stimmt was nicht. Gut, das ist keine Überraschung mehr, aber die Ungereimtheiten verursachen selbst mir, dem Gefühlsmeister, ein gewisses Magengrimmen. Das Verstauen von Serges Hygieneartikeln geht noch einfach vonstatten, auch wenn ich mich wundere, dass er kein Äquivalent meiner "Warmhalte-Creme" dabei hat. Meine Kleidung befindet sich direkt unterm Dach, kleiner Vorhang hinter der aufgebockten Matratze, quer montierte Kleiderstange für Kleiderbügelware, Wäschesäcke für den Rest, der artig gerollt besonders platzsparend verstaut wird. Serges Sporttasche sieht nicht nach einer planvollen Reise aus, vielmehr so, als habe jemand in großer Hektik Greifbares unsortiert zusammengestopft. Das wäre ja nicht kritisch genug, auch wenn ich ihn anders kenne, der so viel Wert auf seinen Auftritt legt (oder legen muss). Nein. Es sticht mir direkt in die kurzsichtigen Augen. Serge hat keine Laufschuhe dabei. Wenn er hierher gekommen ist, um sich von mir sein Timing zurückzuholen: wieso ohne Arbeitsmaterial?! Äußerst bedenklich. Das verschiebe ich jedoch, nötige ihn, sich ordentlich zu verpuppen, weil es zwar eisig kalt ist, aber klar, ein blitzblauer Himmel, die Wintersonne funkelnd, da können wir doch unmöglich drinnen bleiben! Üblicherweise hätte ich rasch durch die Bude gefegt, wäre dann zum Marathon aufgebrochen, die ganze Strecke, natürlich, nicht aufgeteilt wie wochentags. "Was hast du vor, Dschoosefff?" Ich spüre seine Anspannung, als ich ihm Sonnencreme auf die wenigen erreichbaren Punkte des Gesichts tupfe. "Spazieren gehen. Ich zeig dir ein wenig von der Gegend. Immerhin wirst du ja ein Weilchen bleiben." Erläutere ich betont beschwingt. Sonnenbrille aufgeschraubt, Mütze aufgedeckelt, struppigen Schal um den Hals, dann bin ich auch soweit. Kaum, dass wir draußen stehen, hakt sich Serge bei mir unter. Daran bin ich nicht gewöhnt, gelegentliche Hilfeleistungen bei älteren Damen im Markt mal ausgenommen. Trotz der Stoffbahnen spüre ich seine Nervosität, aber sie gilt nicht mir oder einem nicht vorhandenen Publikum. Hm. Ich schreite gemächlich einher, erläutere knapp die ehemalige Wochenend-Ferienhausbebauung. Er passt sich meinem Tempo an, ist nach einigen Minuten, die uns am Waldrand entlang führen, nicht mehr so stocksteif und unterdrückt nervös. Aha. Ich reduziere meine Erklärungen auf das Notwendige, denn um die Zeit ist es hier nicht gerade bevölkert, die ersten Vögel zwitschern schon, der Raureif hat Geäste bezuckert, der Frost auf dem Asphalt funkelt pittoresk. Auch ohne Schnee schön anzusehen, selbst wenn einem die Nasenspitze vor Kälte prickelt! Eigentlich bin ich kein geübter Spaziergänger. Wenn ich unterwegs bin, dann in meinem Lauftempo, federnd, elastisch, flott von der Sohle weg. Das gemäßigte Ausschreiten hilft mir aber, mich darauf zu besinnen, was ich mir vorgenommen habe. Antworten zu erhalten, Entscheidungen zu treffen. Nun denn, auf ins Gefecht! "Hast du beim Auftreten Schmerzen?" Erkundige ich mich. Serge blinzelt zu mir, schüttelt dann stumm den Kopf. Also ist der Ermüdungsbruch gut verheilt? "Dann ist es kein motorisches Problem, oder?" Pirsche ich mich an. Wieder schüttelt er andeutungsweise den Kopf, den Blick zu Boden gesenkt. "Gut, denn andernfalls wäre ich schon mit meinem Latein am Ende." Zeige ich die Grenzen meiner Fähigkeiten auf. Nächster Punkt auf der Liste. "Was ist mit deinen Schuhen? Hast du immer noch einen Sponsor?" Tatsächlich hat mal ein bekannter Sportartikelhersteller mit ihm zusammen an der Weiterentwicklung des perfekten Laufschuhs für lange Strecken gebastelt. Serge führte das fertige Ergebnis selbstverständlich öffentlichkeitswirksam bei Rennen aus. "Kein Sponsor mehr. Waren in Ordnung." Murmelt er nahezu einsilbig in das Tuch, zieht es sich über die Nasenspitze. "Mitgenommen hast du sie nicht." Schlage ich unerbittlich zu. Serge zieht stumm die knochigen Schultern hoch, verkriecht sich in dem hässlichen Tarnflecken-Parka. "Kannst du sie nicht mehr anziehen, ohne...?" Lasse ich den Satz in der Luft hängen. Er antwortet nicht, also bleibe ich stehen, zwinge ihn dazu, sich zu mir umzukehren. Die Anspannung lässt ihn zittern. "Wenn wir gemeinsam laufen wollen, dann brauchst du Schuhe." Betone ich jedes Wort. "Glücklicherweise ist noch Schlussverkauf, da können wir ein Paar finden, das unbelastet ist." Von schlechten Erfahrungen und seinen aufwühlenden Ängsten. Er quetscht meinen Arm, holt mehrfach Luft und Anlauf. "...sie sagen, ich sei... nuts! Wenn ich nicht mehr allein laufen kann... sie verstehen nicht..." Seine Verzweiflung verwandelt sich in Resignation. Er gestikuliert nicht mal, wie er das früher immer ausschweifend und lebhaft getan hat. "Sie halten dich für übergeschnappt?" "Ich sage, dass es nicht geht! Dass es nur für den Schmerz ist! Aber sie verstehen nicht! No drama beyond the stage!" Stößt er bitter hervor. Nun, es IST eine Künstleragentur mit entsprechendem Personal. "Du bist also gelaufen, um das High zu erreichen." Lege ich den Köder aus. Serge gibt meinen Arm frei, um meine Hand zu umklammern. "Ich weiß! Ich weiß, es ist falsch! Aber...aber ich wollte...!!" Er dreht den Kopf weg, das Tuch wird benagt, seine Fingerkuppen stanzen Löcher in meine Handfläche. Auch als weiterhin Ahnungsloser, was den Rauschzustand durch das Runner's High betrifft, erlaube ich mir doch ein paar Rückschlüsse. Er hat sich an die Grenzen getrieben, um im Rausch zu laufen, auf das trügerische Hochgefühl gezielt, dann folgte wohl die Angst darüber, in welchen Zustand er sich manövriert hat. Diese (Sehn-)Sucht kann alles ruinieren. Da mischt sich dann der Mythos vom 27-er-Fluch rein, der mir selbstredend auch bekannt ist. Bei einer Künstleragentur schwirrt ja die Tragik in der Atmosphäre... "Wenn wir laufen, wirst du kein High erleben." Breche ich in seine private Horror-Revue ein. Sein Kopf fegt herum, er drückt meine Hand bekräftigend. "Ich brauche es nicht! Ich will es gar nicht! Wirklich, Dschoosefff, ich will es nicht!" Genug Angst hat es dir jedenfalls gemacht, Serge. Aber das kann nicht alles sein. Wovor ist er davongerannt, hat sich gequält, um es für kurze Zeit zu vergessen? Ich nehme unseren Spaziergang wieder auf, lasse meine Hand von ihm beklammern. "Du solltest deiner Agentur Bescheid sagen, dass du länger hier bleibst." Ich ziele auf den nächsten Treffer. "Du kannst ja auch von hier aus zu Terminen fahren, richtig?" Doch aus irgendeinem Grund hast du dein schickes Smartphone gar nicht erst eingepackt, nicht wahr, Serge? Nein, du bist hierher geflohen, hast eine günstige Gelegenheit genutzt. Serge bleibt stehen, bremst mich nun aus. "Bitte..." Er wispert, ohne mich anzusehen. "Können wir zurückgehen? Bitte?" Ich drücke behutsam seine kalten, krallenden Finger. "Trinken wir ein bisschen Gemüsebrühe zum Aufwärmen." ?-? Zwischen uns herrscht Schweigen, vom Schlürfen der Brühe unterbrochen. Serge weicht beharrlich meinem Blick aus, wickelt sich förmlich um ein großes Kissen, nachdem er den geleerten Becher abgestellt hat. Ich stehe auf, falte eine Decke auseinander, lege sie ihm um die Schultern. Endlich sieht er mich an, als ich mir den Hocker heranziehe, mich vor ihm niederlasse. Ich betrachte ihn schweigend, seine ausgemergelte Gestalt, die unterdrückte Anspannung, die in seinen Knochen vibriert, die feinen Linien, die sich in sein Gesicht gekerbt haben. Er senkt die Stirn gegen das Kissen, ein kompaktes Bündel zittriger Nerven. Ich warte. Er sammelt sich. "...ich bin weggelaufen..." Die Worte werden durch das Polster gedämpft. "...keine Termine... Ärger über mich. Nur Kosten, kein Gewinn mehr." Ja, das war schon eine hässliche Durststrecke, die er da in jüngster Zeit zu bewältigen hatte. "Ich muss wieder laufen... aber ich kann nicht! Es geht nicht!" Er richtet sich auf, blinzelt mich tränenfeucht an, ergänzt mit schriller Stimme. "Sie verstehen nicht! Ich soll nicht hysterisch sein! Vielleicht, ich brauche eine Therapie!" Damit liegen sie gar nicht so falsch, aber ich hüte mich, diesen Gedanken auszusprechen. "Alles ist... schwierig! Keine Aufträge! Kein Geld! Was, wenn ich nicht laufe?!" Serge nimmt das Kissen in die Mangel, umklammert es mit aller Macht. Kein tauglicher Schutzschild gegen so große Schwierigkeiten. "Was ist, wenn du nicht läufst?" Frage ich leise. Serge verzieht die Miene gequält, stößt das Kissen von sich, schüttelt dabei die Decke ab. "Nichts! Ich kann nichts! Nicht wie du, mit Arbeit, mit Beruf! Keine Siege, keine Aufträge! Sofort vergessen! Also besser schnell wieder laufen, richtig?!" Er ätzt die Worte heraus, aber sein Galgenhumor verfängt nicht, weil er dabei schnieft, sich über die Augen wischen muss. "Wollen sie dich loswerden?" Ich kenne die Details des Vertrags nicht, aber es kann nicht einfach sein, als Künstleragentur einen Sportler unter Vertrag zu haben (und zwar wirklich nur genau einen!). Möglicherweise wollen sie sich anders aufstellen? "...ich weiß nicht..." Er nagt an seiner Unterlippe, bietet mir sein knochiges Profil. "Wenn du nicht mehr laufen kannst, was dann?" Hole ich zum Tiefschlag aus. Er ballt die Fäuste, ringt mit sich, aber dieser Stachel sitzt zu tief, um mit Beherrschung kontrolliert zu werden. "Ich WEISS nicht!" Er springt auf, funkelt auf mich herunter. "Ich weiß NICHT!! Was soll ich tun?! Bitte, Dschooseff, was soll ich TUN?!" Ja, DAS ist wohl der eigentliche Grund für deine Verzweiflung, oder? Pure Existenzangst. Er will zornig sein, gegen die Welt losschlagen, aber was ihn antreibt, ist panische Angst. Bis in den Schmerz für die kurzen Phasen des High ist er davongerannt, aber das hilft nicht. Ich blicke zu ihm auf. Er weint schon wieder und schnieft, schlägt die Hände vors Gesicht. "Also bist du gekommen, um ein Leben nach dem Laufen zu finden." Stelle ich demonstrativ sachlich fest. Das ist kein kleiner Urlaub mehr. Seine Schultern zucken, er schluchzt so sehr, dass es ihn durchschüttelt. Ich erhebe mich, lege ihm einen Arm um die Hüfte, dirigiere ihn ins Bad, pflücke perforierte Blätter von der Toilettenpapierrolle ab. "Schnäuzen." Weise ich ihn an, versenke die geknüllten Papierbälle im Lokus. Anschließend schiebe ich ihn vors Waschbecken. "Einmal taufen, bitte." Er gehorcht mir, trocknet sich auch artig das Gesicht ab. Anschwellen kann nichts mehr, dafür fehlen ihm die Reserven. In der Wohnküche zurück pflanze ich ihn auf die Polster, wickle ihn in die abgeworfene Decke, setze mich auf den Hocker vor ihn. "Sind wir uns einig, dass ich dir helfen soll, wieder zu laufen?" Strecke ich ihm die Rechte hin. Er greift rasch zu und drückt sie. "Willst du, dass wir herausfinden, was du nach deiner aktiven Karriere machen kannst?" Serge schluckt schwer, nickt, lässt meine Hand nicht los. "Das bedeutet, dass du länger hier bleiben wirst, Serge." Stelle ich knapp fest. "Wir werden Zeit brauchen." Seine Linke schnellt hervor, gesellt sich zur Rechten, umschließt meine Hand fest. "Bitte, Dschoosefff! Bitte!" "Wir sind uns einig?" Wiederhole ich. "Einig!" Er nickt mehrfach, kämpft mit einem schwächlichen Lächeln. Ich bin ja kein großer Mimiker, deshalb klopfe ich mit meiner freien Linken auf unseren Händedruck, als Aufmunterung gedacht. "Fein. Dann müssen wir ein paar Entscheidungen treffen. Ich möchte, dass du deiner Agentur mitteilst, dass du bei mir bist. Melde dich für Doping-Kontrollen hier an." Serge schrumpft ein wenig in sich zusammen, strafft sich dann aber. "Okay." Sein Blick wirkt weniger grimmig als beabsichtigt, eher wie das Pfeifen im dunklen Wald. "Gut, mein Laptop steht zu deiner Verfügung." Ich bin ganz aufgeräumt, konzentriert bei der Sache, im Vorteil, weil ich mir ja im Vorfeld schon so meine Gedanken gemacht habe. "Ich schreibe dir auch meine Nummer hier auf, falls sie anrufen wollen." Das lässt ihn schaudern. Na, ich erwarte mir da auch nicht viel Enthusiasmus. "Was ist mit dem Verband?" Hake ich einen weiteren Punkt ab. Ohnehin eine schwierige Sache, weil Serge ja hauptsächlich in Frankreich trainiert hat, aber seit jeher für Russland an den Start geht. Wenn die Nationalität eine Rolle spielt. Für einen Moment erstarrt er, weicht jeder Ausdruck von seinem Gesicht. "...ich bin... gerade nicht akkreditiert..." Wispert er schließlich, auf unsere Hände starrend. Hm. Eigentlich sollten sie froh sein, angesichts der Doping-Problematik, denn Serge wäre einer derjenigen, der mühelos nachweisen kann, dass er nicht im vorgeworfenen staatlichen Dopingsystem agiert hat. Seine unglückliche Verletzung hat auch Auseinandersetzungen über einen Start in Brasilien verhindert. "Na, darüber können wir uns Gedanken machen, wenn du laufen kannst." Vertage ich das Problem. Wir haben schon genug akute Sorgen. "So." Erhebe ich mich entschlossen, ziehe ihn mit. "Während du fleißig an meinem Oldtimer arbeitest: hast du Wäsche für die Maschine?" Ich will nämlich die Gelegenheit nutzen, an meinem freien Samstag klar Schiff zu machen! ?-? Letztendlich habe ich Serge doch mit zu unserem "Waschhäuschen" genommen, weil er sich so beeilt hat. Na ja, die E-Mails waren wohl auch kurz gehalten. Das Waschhäuschen stammt noch aus den Zeiten, als unsere Dreieckshäuschen zum Wochenendaufenthalt dienten. Wenig Platz drinnen, dafür eine Art Campingplatz-Gemeinschaftsgefühl, deshalb auch die kleine Hütte mit den Industriewaschmaschinen und dem angeschlossenen Trockenraum direkt am Blockheizkraftwerk. Alle Mietparteien haben einen Spezialschlüssel, gezahlt wird mit Münzgeld, sein Waschmittel besorgt man sich auf eigene Kosten. Ich finde das praktisch, habe regelmäßig Glück, eine freie Maschine zu finden. Das Auf- und Abflaggen der Wäsche im Trockenraum gestaltet sich ebenfalls entspannt. Serge hat auch noch ein paar Kleidungsstücke zu meinem Sack beigesteuert, lehnt jetzt an meiner Seite, während ich die Maschine programmiere. Üblicherweise benutze ich die Kurzwaschgänge, niedrige Gradzahl. Das reicht, wenn man sich nicht sehr eingesaut hat oder krank ist, finde ich! Ein bisschen pinseliger bin ich da bei Lappen, Handtüchern und ähnlichem, aber so viel kommt da bei mir nicht zusammen. Nun ja, bis jetzt, zu zweit ändert sich das wohl. "Ich kann dir die Anlage kurz zeigen." Schlage ich vor, damit wir die gefühlte halbe Stunde bis zum Ausräumen nicht ungenutzt verstreichen lassen. Serge nickt, hängt sich bei mir ein. Daran muss ich mich gewöhnen, denn mit Körperkontakt habe ich es nicht so. Es macht mir allerdings auch nichts aus bei ihm. Also führe ich ihn ein wenig herum, während die Sonne schon recht tief steht, gerade durch die hohen Bäume noch blinzelt. Auf unserem Gelände gibt es noch eine einsame Tischtennisplatte, zwei Stangen ohne Volleyballnetz, eine überdachte Grillstelle als Pavillon und ein kurioses Pflanzenbeet mit flankierenden Sitzbänken. Das ist allerdings wirklich merkwürdig, was ich an Serges fragendem Blick erkenne. "Früher befand sich hier mal eine Sandgrube mit montierten Spielgeräten, also eine kleine Rutsche, eine Wippe und so Turnstangen." Zeichne ich mit dem freien Arm nach. Nicht, dass ich diese Einrichtungen selbst gesehen hätte, es gibt davon lediglich alte Fotografien. Die hängen im Schaukasten bei der Briefkastenanlage direkt am Weg zu unseren Hexenhäuschen. Spart Brief- und Zeitungsaustragenden den Fußweg, und Neugierigen die Nachfragen. "Als man sie nicht mehr unterhalten konnte, hat man die Geräte abgebaut und den alten Sand ausgebaggert." Ich tippe auf den Rand der stabilen Betonwanne. "Danach sah es aber trostlos aus, also wurde hier Erde rein geschüttet und Pflanzen eingesetzt." Was zähe genug war, hat sich gehalten, weshalb wir ein kurioses Durcheinander an Stauden und Gräsern vorweisen können, ergänzt von allerlei wildem Fluggut. Ganz anders als die von Moos und Klee durchsetzten Grünflächen zwischen den Häusern. "Erst vor einigen Jahren hat man das 'kleine Zentrum' errichtet." Ich paradiere mit Serge an unserem Briefkasten vorbei, weise die Straße hinunter. In unserer Straße, die ja von Wochenendvillen gesäumt ist, gab es nicht viel Infrastruktur, das war nicht üblich. Aber die Bebauung hat sich langsam angenähert. Bis der alte Siedlungskern an die Wochenendhaus-Region gerückt ist (oder auch umgekehrt), weshalb man entschied, dass auch für die Versorgung etwas getan werden sollte. Auf halber Strecke wurde daher eine Ladenzeile in schlichter Blockbauweise hochgezogen, die jetzt umgebaut wird, weil man sich durch das Neubaugebiet größere Kundschaft erwartet. Meinem inneren Timing zufolge haben wir noch etwas Zeit, daher schlendere ich mit Serge bis zur Mündung, lasse ihn bergab auf das Geviert schauen. "Es gibt einen Friseur, einen Kiosk und einen kleinen Supermarkt mit Café. Außerdem haben wir noch einen Geldautomaten und eine Packstation." Was ich gar nicht mal so übel finde für unser doch eher beschaulich wachsendes Eckchen. Immerhin war hier lange Zeit ja unter der Woche gar nichts los, da diente der Kiosk eben nur den Ausflüglern, die einen Spaziergang durch Wald und Gelände unternehmen wollten. "Sehr klein." Kommentiert Serge zögerlich. Klar, wenn man in einer Metropole zu leben gewohnt ist, wirkt das Umfeld hier eher abschreckend und karg. "Ich kaufe das, was ich brauche, ja in der Stadt ein." Muntere ich ihn auf. "Du wirst sehen, da ist es nicht so bescheiden." Seine graugrünen Augen blicken etwas verloren. "Komm, schauen wir mal nach der Wäsche." Lenke ich ihn ab. Vermutlich wird ihm gerade deutlich, dass seine spontane Flucht ihn weit weg geführt hat, in eine fremde Welt. Eigentlich sollte ich mich mal selbst fragen, warum ich, auch als Gefühlsmeister, so unbeeindruckt das Zepter übernommen habe. ?-? Gewöhnlich laufe ich ja an freien Samstagen den ersten Marathon, wenn die Bude aufgeräumt ist, sonntags eben den zweiten (ausgenommen, ich muss Samstag arbeiten), was sich jetzt verbietet, denn ich kann Serge ja nicht hier sich selbst überlassen. Viel Unterhaltung habe ich allerdings nicht zu bieten, das hat sich nicht geändert. Also weihe ich ihn in meine Selbstversorgungstechniken ein. Seit ich tatsächlich allein lebe (und nicht mehr von der Gemeinschaftsversorgung zehren kann), habe ich mir angewöhnt, mein Essen möglichst selbst zu machen. Das hilft nicht nur bei der Kosten- sondern auch der Gewichtskontrolle. Außerdem gab es ja schon unliebsame Überraschungen mit Zusätzen, die man besser vermieden hätte, als Profi-Sportler umso mehr. Ich ernähre mich ganz normal, mal abgesehen vom Verzicht auf Fleisch aller Art und Kuhmilchprodukte, die vertrage ich einfach nicht. Ansonsten bin ich kein heikler Esser, brauche auch keine ständige Abwechslung, weshalb meine kulinarischen Fähigkeiten keineswegs herausragend sind. Eintopf, Getreidebreis, Aufstriche, Nudelsuppen, kleine Tricks mit der Mikrowelle: da fühle ich mich firm genug. Serge findet sich also genötigt, mir bei einem neuen Aufstrich zu helfen, rote Linsen mit einem feschen Chinakohl, etwas Sellerie und Tomatensugo, kleingeschnitten, angeschwitzt, aufgegossen, abgeschmeckt und noch sehr heiß aus dem Dampfdrucktopf in Einmachgläser gefüllt. Mjamm! Er mümmelt vorsichtig an einem Stück Knäckebrot mit der frischen, noch sehr warmen Paste, per Handrührgerät fein gemust. "Und?" Erkundige ich mich, denn wenn er bei seiner "Diät" von Riegeln und Pulvern bleibt, wird es schwierig. Da muss ich erst herausfinden, wo wir das Zeug beschaffen. "HmmHmm." Nickt er brav, kaut. Ich kann ein Lächeln nicht ganz unterdrücken. Wir werden schon noch etwas Substanz an deine Figur bringen! "Wenn ich weiß, was du magst und essen kannst, dann stellen wir auch einen Plan auf." Versichere ich ihm. Klar, mein Kühlschrank ist klein, bisher musste ich mich ja nur nach meinem Gusto richten. Er zuckt hilflos mit den Schultern, schlingt mir dann die Arme um den Nacken und hält sich an mir fest. "Das wird schon." Streiche ich nach einem langen Augenblick über seinen knochigen Rücken. Vielleicht sollte ich mir doch Rat einholen, bei jemandem, der weiß, wie man sich kümmert. ?-? Ich gestehe ein, ich bin ein Langweiler, was die Freizeitgestaltung betrifft. Ich gehe nicht in Clubs, Konzerte, Theater, Kinos oder Museen. Nicht aus Prinzip, das nicht, aber nach einem langen Arbeitstag noch losziehen, das ist mir zu viel Aufwand, bei Spätschicht ohnehin, ich habe ja auch die Stunde Heimmarsch. Hin und wieder, wenn mich etwas interessiert, mache ich eine Ausnahme. Ausstellungen, da kann man bei Frühschicht noch zeitig hin, dann sind die Schulhorden raus und noch keine Happyhour-Aktionen angesagt. Musik auf dem Ohr benötige ich auch nicht, was bedeutet, dass ich relativ unbeleckt bin, nur durch die Nachrichten einen vagen Überblick habe, was "man" gerade so hört. Ich laufe grundsätzlich nicht mit "Kabeln im Ohr", das funktioniert einfach nicht, erscheint mir auch ein wenig gefährlich, denn meine Wegstrecke führt mich entlang der Straßen. Da sollte man schon mal aufpassen, besonders frühmorgens und spätabends. Eine Weile versuchte ich es mal mit Hörbüchern, der Bildung wegen, aber das lenkt mich nur ab. Also bleiben die Ohren frei für meine Umgebung. Mein innerer Tempomat agiert störungsfrei. Mangels Platz in meiner heimeligen Bude (und aus Gewohnheit aus dem Internat) besitze ich auch nur wenige Bücher selbst. Leihbüchereien, vor allem mit der Möglichkeit zur On-Leihe, sind eine sehr praktische Erfindung. Ich bin ein Sachbuch-Fan. Wenn mich etwas interessiert, stöbere ich durch das Angebot und flocke bei der Bücherei vorbei, selbstredend in der Stadt, hier draußen kann man sich solch einen Luxus gar nicht leisten. Gegen Unterhaltung oder Romane hege ich keine Bedenken, aber bei begrenzter Freizeit (und ebensolchem Fassungsvermögen meines Rucksacks) wird man wählerisch. Wie soll ich Serge aber die Langeweile vertreiben? Gut, er weiß, was ihn erwartet. Ganz im Gegensatz zu seinen Auftritten bei Partys und in Clubs, all den aufregenden Bildern, die seinen Blog füllen, seinen Fans eine Teilhabe an seinem täglichen Leben vorgaukeln. Trotzdem. Ich möchte mich nicht als ganz hoffnungsloser Gastgeber erweisen. Ich setze also erst mal rasch zwei E-Mails ab, dann teste ich die Leitung. Stabil, das Abrufen von Sendungen aus den Mediatheken läuft gut (nein, ich habe mich keinem Bezahl-Club angeschlossen). Ich bin doch ein langweiliger Einfaltspinsel, ich schlage Serge nämlich vor, eine Dokumentation über den Kosmos anzuschauen. Nun, Sternchen statt Schäfchen zählen, ist doch nett, oder? ?-? Serge schläft noch, als ich meinen Wecker erlege, sich die trübe Dunkelheit über den Dachboden senkt. Wir haben genug Platz auf meiner sehr großen Matratze (war ein Kampf, sie die Treppe hochzuschaffen, aber hallo!). Er hat sich auch über das zeltlagerartige Leben noch nicht beschwert. Ich falte meine zwei Decken zusammen, husche in Gewohnheit runter ins Erdgeschoss, poliere mich ein wenig auf, setze den Wasserkocher auf sein Podest, klappe meinen Laptop auf, der für uns gestern das Fenster zur Welt (oder zum All) war. Stimmt, ich habe nur ein Radio, aber kein Fernsehgerät. Andererseits, wer mit der winzigen Anzeige von Smartphones lebt, kann sich wohl kaum beklagen, oder?! Ich habe Glück, meine Hilferufe sind ausführlich beantwortet worden. Schon stellt sich mir automatisch das Kreuz breit aus, weil ich zuversichtlich gestimmt bin. Also, ab jetzt bin ich Coach, wundere mich doch ein wenig über mich selbst, weil mir die Idee gefällt. ?-? Das Frühstück ist bereit, ich habe sogar schon die Wäsche abgeflaggt und gefaltet, als ich Serge ermuntere, die Lider hochzuklappen. Er lächelt matt, wirrt sich die strubbelige Masse seiner weizenblonden Strähnen aus dem Gesicht. Ich notiere mir einen weiteren Punkt auf meiner Liste, erst mal mental, dann, später, unauffälliger, in meinem kleinen Notizbuch. Inspector Columbo lässt grüßen! Während Serge nun seine faustvoll Nudeleintopf mümmelt, einen dünnen Kräutertee schluckt, beäugt er mein eifriges Herumwerkeln. Ich fülle meinen Rucksack, Wasser, belegte Brote, zwei Schraubgläser mit Obstbrei. Und eine brandneue Kladde mit Bleistift. "Ab heute beginnt das Training." Lasse ich ihn wissen, durch die erneut freundlich blinzelnde Wintersonne ermutigt. "Ziehen wir uns warm an, dann geht's in die Stadt!" ?-? Serge ist warm eingepackt, mehrere Schichten, die man nach Bedarf abwerfen kann, der typische Zwiebellook. Die hässlichen Boots und die grauenvolle Jacke mit ihrem Tarnfleckmuster würde ich aber gern dem nächsten Kleidercontainer anvertrauen. Zumindest die Jacke passt gar nicht zu seinem sonst eher glamourösen Auftreten. Ich habe mich auch etwas wärmer angezogen als gewöhnlich, weil wir ja gehen und nicht laufen, nämlich die gesamte Strecke zur Stadt, also ungefähr Halbmarathon-Distanz. Schon auf dem Weg kommt die neue Kladde zum Einsatz, denn ich zeige Serge nicht nur die Wegstrecke, sondern bestimmte Orientierungspunkte fürs Timing. Während ich ja bekanntlich wie ein Uhrwerk laufe, ohne Taktik, ohne Beschleunigung und Temporeduzierung, hat er ja stets anders agiert. Nun aber wollen wir ja verhindern, dass er so weitermacht, seine Schmerzgrenzen ausreizt, um dann das High zu erwischen, auf Kosten seiner Gesundheit. Pro Etappe gebe ich ihm fünf Minuten zu meiner üblichen Zeit hinzu, ein großzügiger Korridor, aber ich weiß nicht, wie sehr ich ihn belasten kann. Seine Substanz ist ja schon stark angegriffen. Er bleibt artig an meiner Seite, notiert sich die Abschnitte, blickt auch auf die alte Armbanduhr an meinem Gelenk, Handaufzug, mit Uhrwerk, heutzutage ein Unikum. Mir genügt sie. "In der Kladde kannst du auch notieren, welche Zeiten du zurückgelegt hast, was du gegessen hast, und so weiter." Ich verstaue sie für den letzten Abschnitt wieder in meinem Rucksack, damit Serge keine kalten Finger bekommt. "Ich mache das genauso. Für meinen Trainer reicht das." Zugegeben, ich bin ja kein Berufssportler mehr, auch wenn ich keineswegs als Amateur gelistet werde. Aber nach jahrelanger Betreuung verfüge ich über die Erfahrung, mich auch allein in Form zu halten, nur sporadisch professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Serge ergeht es da nicht anders, denn er konnte ja durchaus auf entsprechenden Sportplätzen trainieren, aber den Anschluss an die französischen Langstreckenläufer vor Ort hat er nie gefunden, vermutlich wegen der immer noch herrschenden Verärgerung über seinen Vorzug der russischen Staatsbürgerschaft. Was wohl nicht ganz freiwillig war und von seinen Eltern ausgehandelt wurde. Tja, aber das ist Vergangenheit. "Ich habe eine Uhr." Er tippt sich auf sein freies Handgelenk. "Für Zeit und GPS...Tracker!" Sucht er nach der deutschen Übersetzung. "Damit gleich noch die ganze Welt Bescheid weiß." Nicke ich etwas gehässig, denn ich hege ein gewisses Misstrauen gegen die körpernahen Überwachungswerkzeuge. Er zuckt mit den Schultern, hängt sich wieder bei mir ein. Noch so ein "Must have", vermute ich mal, reite aber nicht darauf herum. Jetzt wird es natürlich etwas voller, denn die Wintersonne hat trotz der knackigen Kälte die Leute zum Sonntagsspaziergang auf die Straße gelockt. Vereinzelte Radfahrende mit Nachwuchs im Anhänger, Hundebegleitung, Outdoor-Straßencafé-Fans, ein beinahe Goethesches Gewimmel bietet sich dem Auge. "Schon besser, hm?" Schmunzle ich, weil Serge sich neugierig umschaut, erleichtert wirkt. Klar, das hier ähnelt schon eher Pariser Verhältnissen, oder? Ich stelle ihm meinen Markt vor, nutze die als Parkhindernis aufgebauten massiven Beton-Blumenkästen für unsere Rast. Serge löffelt artig Obstmus, kaut sogar ein belegtes Brot. "Ich zeige dir auch noch ein paar andere Orte, und wo man öffentliche Karten findet." Gebe ich die nächsten Ziele vor. Orientierung für Pfadfinder ohne digitale Unterstützung! Er lächelt, zum ersten Mal so verschmitzt wie früher. "Ich bin nicht ganz dumm." Weist er mich sanft zurecht. "Ich kann einen Metrofahrplan lesen und verirre mich nicht." Gut, Chapeau, da kann ich nicht gegen anstinken! ?-? Natürlich lasse ich es mir nicht nehmen, ihn trotzdem bei der nächsten Straßenbahnhaltestelle mit den Aushangfahrplänen vertraut zu machen. Die S-Bahn fährt bis zur nächsten Station an meine bescheidene Hütte (man muss dann allerdings noch den Bus bemühen, wenn man fußkrank ist). Außerdem haben wir Straßen- und Untergrundbahnen bis zum Stadtrand, innerstädtische Buslinien und Überlandbusse. Als Langstreckenläufer bin ich per pedes unterwegs, aber hin und wieder, wenn ich große Lasten zu bewältigen habe, nutze ich eben auch das öffentliche Angebot. Außerdem kann man, wenn man sich mal nicht so gut auskennt, den öffentlichen Linien einfach folgen. Diesen Vorteil genieße ich auch, um Serge weiter zu lotsen, die nächste Station heißt nämlich Bürgeramt (eine kombinierte Stelle für Einwohnermeldeangelegenheiten, bestimmte Steuern und so weiter). Unser bescheidenes Örtchen hat einen Kooperationsvertrag abgeschlossen, der es ermöglicht, diesen Service hier zu nutzen, gegen einen entsprechenden Obolus, ohne Eingemeindung. Serge wirft mir vor der selbstredend verschlossenen Eingangstür einen nervösen Blick zu. "Wir packen alles zusammen, deine Pässe und was wir sonst noch finden, damit du dich hier anmelden kannst." Erläutere ich. "Außerdem gebe ich dir noch meinen Mietvertrag mit. Die Anmeldebescheinigung schicke ich dann der Gesellschaft, damit die wissen, dass du bei mir wohnst." "Aha." Murmelt er hilflos. "Keine Sorge." Ermuntere ich ihn. "Du musst vielleicht eine Weile warten, aber das sollte problemlos klappen. Dank EU und deinem französischen Pass brauchst du ja keine weiteren Genehmigungen." Soll mal keiner behaupten, die EU wäre nur nachteilig! Nicht, wenn man die Freizügigkeit für so selbstverständlich hält, wie ich es gewohnt bin. Ich ziehe ihn an meinem Arm ein Stück weiter, nächste Station ist das Job-Center. Die feine Falte zwischen seinen Augenbrauen vertieft sich. Noch so ein Bürokraten-Tempel? "Sieh mal." Weise ich durch die teilweise einsehbaren Glasfronten. "Da sind Terminals. Wenn du Zeit hast nach dem Bürgeramt, kannst du schon mal hier reingehen und dir angucken, was es so an Ausbildungen gibt." Erkläre ich. "Man kann auch Eignungstests machen. Zur persönlichen Beratung braucht man zwar einen Termin, aber das können wir ja angehen, wenn wir schon mal eine gewisse Richtung wissen." "Darf ich denn das benutzen?" Erkundigt sich Serge unbehaglich. "Ich bin doch nicht deutsch?" "Klar darfst du das." Nicke ich im Brustton meiner nur ein paar Stunden alten Überzeugung. "Als EU-Bürger ohnehin. Warum auch nicht? Keine Angst, wir gehen es langsam an, ja?" Er wirkt trotzdem ängstlich, zieht den Schal höher unter die dezent gerötete Nasenspitze. Ich spaziere weiter mit ihm zur großen Einkaufsmeile. Einkaufszentren gibt es selbstredend auch, aber hier findet sich alles, was Rang und Namen hat, in den kleineren Seitenstraßen auch ein Mekka für Spezialbedürfnisse, wo es für die Franchise-Klitschen und Filialen großer Ketten einfach zu kleinteilig zugeht. Überall weisen Aufkleber und Aufsteller darauf hin, dass man sich im Schlussverkauf befindet, den es offiziell ja gar nicht mehr gibt. "Hier versuchen wir es morgen." Weise ich auf verschiedene Kaufhäuser hin, auch einen Laufshop in etwas größerer Distanz. Serge beäugt die Auslagen, dekoriert mit allerlei Schuhwerk, sehr schmal wirkenden Trikots und Hosen (die dehnen sich, man muss also keine Angst haben, es sei ein Geschäft für Zwerge!), Signalanlagen aller Art (Zyklopenbänder für den Schädel, Leuchtwesten, Anhänger, Clips, Bänder...). Er klammert sich unwillkürlich so fest in meinen Arm, dass ich blaue Flecke erahne. Na ja, sehen würde man die vermutlich nicht, bin ja eher der dunkle Typ. "Wir werden bestimmt fündig." Versichere ich ihm. "Bei den Auslaufmodellen geben sie auch viel Rabatt." Nicht, dass ich mich da so gut auskennen würde, mit meinen Barfußschuhen. Er ist ziemlich schweigsam, als ich ihn weiterführe, vorbei an unzähligen kleinen Lädchen, Handarbeitsutensilien, Geschenke, Papeterie, Bürsten, Sämereien, Messer, Musikinstrumente und Haustierparadies. Dort staunt er allerdings, nicht, weil man da Tiere in der Auslage präsentiert, sondern über all das Zubehör, was dekorativ ausgestellt ist, und das gleich neben einem Erotikgeschäft, das ähnlich operiert, wenn auch nicht alle Waren hier präsentiert werden (vermute ich mal, ich bin da eher unbeleckt). "So provinziell ist es gar nicht, oder?" Versuche ich, ihm seine neue Heimat schmackhaft zu machen. Serge lächelt verhalten. "Du denkst, ich bin ein Snob?" "Nein, gar nicht." Protestiere ich verblüfft. "Ich versuche bloß, ein bisschen Werbung zu machen, damit es dir hier auch gefällt." Er schmunzelt. "Geschnappt! Du bist gar nicht so...stoic?" "Erwischt." Helfe ich aus. "Geschnappt werden bloß die Pokemons. Stoisch war schon richtig." Schön, ich bin gern hier zu Hause, also will ich wohl doch nicht ganz so unauffällig, dass er sich hier auch willkommen fühlt. Neben mir seufzt er. "So schwierig! Dabei übe ich fleißig!" Tröstend lenke ich unsere Schritte zu einem Laden für besondere Situationen. "Du sprichst doch schon sehr gut Deutsch! Je mehr du dich unterhältst, umso leichter wird's." Dabei verschweige ich ihm natürlich ungeniert die zahlreichen Dialekte und regionalen Eigentümlichkeiten, die man ganz sicher nicht unter Hochdeutsch summieren kann. Andererseits, ein aufgeschlossener, netter, höflicher Mensch wie er sollte selbst bei total verknorzten "Eingeborenen" auf Hilfe und Übersetzung treffen! Denn wie man in den Wald ruft, so schallt es auch heraus. "So." Bremse ich vor einer kleinen Schlange, reiche Serge meinen Rucksack. "Hock dich mal in die Sonne, bin umgehend bei dir." Das "Hocken" muss ich kurz übersetzen, örtliche Spracheigentümlichkeit, die mir schon gar nicht mehr auffällt, weil ich mich auch angepasst habe. Dann platziert sich Serge auch schon artig an einem Drängelgitter auf dem oberen Holm. Ich hole für uns das perfekte Eis aus verschiedenen Nuss-Musen, ein wahrhaftiger Traum! ?-? Am späten Nachmittag kehren wir gemütlich zurück, Serge ein wenig erschöpft von den vielen Eindrücken, die er zu verarbeiten hat. "Du hast wirklich an alles gedacht!" Stellt er fest, als ich ihn aufs Sofa drücke, frischen Tee aufbrühe. "Na, ich habe mir auch Rat geholt." Gebe ich zu, denn die Lorbeeren gebühren hauptsächlich meinen Unterstützern. "Ich habe meine Eltern gefragt und den Knipser, weil ich mich bisher nicht um jemanden gekümmert habe. Da schadet erfahrene Hilfe nicht, finde ich." Serge staunt mich einen langen Moment schweigend an, während ich Tee ausschenke. Ich erläutere ungefragt, komme mir ganz ungewohnt wie ein Plappermaul vor, weil ich sonst ja wirklich nicht so viel zu reden habe, jenseits meiner Arbeit! "Na, der Knipser hat doch letztes Jahr ebenfalls so einen Behörden-Marathon hingelegt." Für Serge muss ich den Knipser nicht mehr vorstellen, er weiß ja, wer Timo ist. "Wegen He-Ri." He-Ri, das ist seine Freundin. Die kam, frisch von der Schule weg, auf Ausdauer getestet, mit einem Kooperationsprojekt zum Training hierher. Für die olympischen Winterspiele in Korea 2018 will man auch weibliche Biathletinnen vorweisen, also sollte gemeinsam trainiert werden. Bloß, abgesehen von einer gewissen Ausdauer und unfallfreiem Laufen mit den Spezialskiern, hatten die wenigen Damen noch nie mit den Spezialgewehren hantiert. Weshalb der Knipser bei einer "hundsgefährlichen" Situation, ohne zu wissen, dass er es mit Novizinnen zu tun hatte, erst mal losgepoltert hat. Die Sprachbarriere verhinderte internationale Verstimmungen. Aber weil er nun mal der Knipser ist, hat er sich die Unerschrockenste gleich zur Brust genommen (dahin reicht sie ihm auch gerade) und demonstriert, wie man mit dem Handwerkszeug umzugehen hat. Nach dem Abschluss der Saison ist sein Schützling dann nicht etwa wie die anderen ins Flugzeug gestiegen, sondern geblieben. Weil's "halt passt", wie er mir knapp, aber unumstößlich erklärt hat. Deshalb zehre ich von seinen Empfehlungen. Auch wenn ich es mit Serge einfacher habe, der braucht ja weder Aufenthalts- noch Arbeitsgenehmigungen. Meine Eltern zu fragen schien mir auch angemessen, immerhin haben sie nicht nur drei eigene Kinder betreut, sondern auch mich und die zahlreichen anderen Kinder auf Kurzzeitpflege, während ich ja als Gefühlsmeister gewisse Defizite ausgleichen muss, womit sie sich ganz gut auskennen, das heißt, mir Denkanstöße geben, was das Gefühlsleben anderer betrifft. Serge nippt stumm an seinem Tee. Ist er jetzt enttäuscht? Ich puste auf meinen Tee und beäuge ihn aufmerksam. Nonverbale Signale wären hilfreich, damit ich einen Fingerzeig bekomme, wie ich reagieren soll! "...merci, Dschoosefff, vielen Dank." Er lächelt schließlich schief. "Ich bin froh, dass du an alles denkst. Ich komme durcheinander..." Er tippt sich an die Schläfe. "Unordentlich im Kopf!" "Verwirrt." Schlage ich vor. "Alles verheddert." Gestikuliere, damit das Sprachbild sich einprägt. Ein Knäuel habe ich nicht zur Hand, male aber wilde Fäden durch die Luft. Er kichert, schmiegt sich in die Kissen. Ich federe hoch, marschiere rasch ins Bad, krame nach einer Dose herum, kehre dann zu ihm zurück. "Dreh dich mal." Kommandiere ich, setze mich hinter ihn auf die Couch, schraube die Dose auf, löse das versteckende Tuch von seinem wirren Schopf. "Was tust du?" Erkundigt Serge sich, blinzelt über die Schulter. "Was der Knipser mir empfohlen hat." Antworte ich. "'Hauptsache, der Bub hat die Haare schön'!" ?-? Serge ist neben mir eingedöst, während ich noch rasch das letzte Kapitel zur Hygieneverordnung rekapituliere. Das könnte ich auch während meiner Arbeitszeit im winzigen Büro lesen, aber hier habe ich Ruhe und kann mich konzentrieren. Im Schein des Laptops schimmern seine weizenblonden Strähnen nun glänzend. Ich habe kleine Zöpfe eingeflochten, die man im Nacken zusammenfassen kann. Der Knipser war keineswegs gehässig, als er mir die Empfehlung gegeben hat, denn Serges Optik IST wichtig für sein Wohlbefinden. Seine Attraktivität öffnet Herzen und Türen. Also mit den Pfunden wuchern, die man hat (selbst wenn man kein Brite ist, haha)! Erstaunlicherweise habe ich da was zu bieten. Nein, nein, nicht ich selbst, da mache ich mir nichts vor, kenne ja mein Spiegelbild. Aber mein Kosmetik-Reservoir. Auch wenn es nicht so wirkt: ich achte schon auf meinen stark gestutzten Schopf, der das Ergebnis jahrelanger Kosten-Nutzen-Erwägungen darstellt. Meine Mutter hat es mal mit einem Afro versucht, also meine dichte Naturkrause schick und voluminös herauszuputzen. Nur: das ist eine höllische Arbeit! Schopf und Kopfhaut brauchen viel Pflege, deshalb verfüge ich auch (ungeachtet meiner eher geringen Eitelkeit, was das Äußere betrifft) über eine entsprechende Creme. Damit kann ich meinen Schädel massieren und die Krause so behandeln, dass sie sich halbwegs manierlich vom Trimmer erfassen lässt. Für alles andere bin ich schlichtweg zu faul. Serges glatte Haare sind da eine wirkliche Entspannungsübung. Mit meiner Creme behandelt verabschieden sich die rauen Nester mit ihren kaputten Spitzen, zumindest äußerlich. Klar, bei so einem geringen Anteil an Körperfett ist es kein Wunder, dass sein Schopf so mitgenommen wirkt! Nun aber strahlt er glänzend und dicht, noch immer nicht nachgedunkelt, wie ein Halo um sein apartes Gesicht. Ich bin mit mir sehr zufrieden. Der Anfang ist jedenfalls gelungen, und mit jedem Schritt geht es voran. Das macht mir sogar Spaß, ich staune über mich selbst. Aber ich bin eben Gefühlsmeister, da können die kleinen Hakenschläge des Schicksals mich nicht leicht beeindrucken, richtig? ?-? Ich lasse Serge schlafen, tappe gewohnt lautlos herunter, wasche mich rasch, bevor ich Frühstück mache, für mich zum Sofortverzehr, für ihn zum Aufwärmen. Meine Brotdose verstaue ich schon im Rucksack, dann notiere ich ihm noch rasch die wichtigsten Hinweise für den Tag. Wieselflink husche ich oben herum, um mich anzuziehen, ohne ihn aufzuwecken. In aller Frühe, breche ich wie gewohnt zu meinem ersten Halbmarathon des Tages auf, den Kopf schon voll mit all den Dingen, die heute anstehen, durchaus in Vorfreude auf den Schuhkauf. ?-? Kapitel 3 - Mehr als "ziemlich beste Freunde"! Der Schichtwechsel ist noch nicht ganz absolviert, da erscheint Serge, etwas atemlos. "Bin gleich soweit." Lasse ich ihn wissen, denn in die Personalräume darf er nicht mitkommen, auch die Hintereingänge sind alarmgesichert. Serge nickt, aber sein Erscheinen bleibt natürlich nicht unbemerkt. "Ein Freund von dir?" "Bist du zu Besuch?" "Kommst du öfter vorbei?" Ich schreite lieber ein, bevor sich Personal und Kundschaft verstopfend im Gang um Serge sammeln, der professionell höflich lächelt, sehr nahbar wirkt. "Liebe Damen, liebe Herren, das ist Serge, der mit mir für Langstreckenläufe trainiert. Damit wir gleich loslegen können, müssen flugs ein paar neue Schuhe her, also sind wir ein wenig in Eile!" Glücklicherweise habe ich meine Ergänzungskäufe schon vorher erledigt, sonst kämen wir vermutlich die nächste Viertelstunde nicht mal bis zur Tür! Serge zwinkert für Selfies in die Kameralinsen, schnurrt mit französischem Akzent die üblichen Antworten nach Alter, Familienstand, Zukunftsplänen und modischen Vorlieben. Darin hat er Übung, nicht nur durch seine "Zubrot"-Auftritte, es wiederholt sich schlichtweg. Endlich kann ich ihn aber für mich reklamieren, damit wir uns auf die Mission "Schuhkauf" machen können. "Hast du was gegessen?" Erkundige ich mich, um meinem Anspruch als Coach gerecht zu werden. "Ja, und ich habe auch Wasser und noch etwas Proviant mit." Signalisiert er zur Stofftasche, die er wie einen Rucksack an den Griffen über seine Arme geschoben hat. "Du bist gegangen, wie gestern?" Hake ich die Fragen zum Tempo ab. In den grässlichen Boots kann er ja glücklicherweise nicht laufen. Serge nickt, hängt sich bei mir ein. "Ich habe genau auf deine Uhr gesehen!" "Prima." Lobe ich zufrieden. "Gutes Wetter haben wir auch noch." Er beäugt mich von der Seite. "Dschoosefff, ich bin nicht zu diesem... Center gekommen." "Ah, war so viel Betrieb im Bürgeramt?" Ich dirigiere unseren Marsch im flotten Slalom um andere Flanierende und Kaufwillige Richtung Laufshop. "Zuerst ist die Kontrolle gekommen, für Doping." Korrigiert er meine Vermutung. "Dann war ich spät, eine hohe Nummer, deshalb musste ich warten." "Hm." Stelle ich fest. Das ging ja fix! Andererseits auch nicht verwunderlich, immerhin wechselt Serge die "Zuständigkeiten", da will sich niemand überrumpeln lassen, was spätere Enthüllungen betrifft. "Hast du die Bescheinigung bekommen? War die Gebühr richtig?" Erhoffe ich mir wenigstens auf diesem Gebiet die Bestätigung meiner planerischen Voraussicht. Serge nickt. "Sie sagen, dass ich sie immer mitführen soll, mit dem Pass, für... Sicherheitskontrolle." Sucht er sich schwierige Begriffe zurecht. "Wir können um die Klarsichthülle noch eine Plastiktüte wickeln." Schlage ich vor. "Außerdem brauchst du auch einen Rucksack, wenn wir laufen." Mit dem bunten Stoffbeutel aus meinem Fundus wirkt er zwar niedlich, aber bequem und praktisch ist dieses Arrangement nicht. "Morgen, da gehe ich in den Center, ja?" Serge heischt um mein Wohlwollen, was mich ein wenig irritiert. "Das läuft uns nicht weg." Beruhige ich ihn. "Einen Fuß vor den anderen." Auch das Stichwort, denn ich betrete den Laufshop, ignoriere die geschrumpft wirkenden Hemdchen und Höschen. Entlang der Wände reihen sich Schuhe, es gibt verschiedene Hilfsmittel, um die perfekte Fußbekleidung auszudeuten, das Personal schwirrt hilfsbereit herum. Im Moment stört das Wetter zwar noch die eigene Motivation, aber kaum ist es heller, sonniger, da schwärmen Laufbegeisterte aller Art wieder aus. Ich muss es wissen, deshalb erstaunt mich der Andrang nicht sonderlich. "Was für ein Modell brauchst du?" Serge klebt förmlich an meiner Seite. Ich kann an seiner angespannten, bleichen Miene erkennen, dass er mit sich ringt, mit Erinnerungen, Erfahrungen, Verlockungen und der Furcht davor, ihnen nachzugeben. Aber er ist auch Profi. Mit geschultem Blick pickt er eine engere Wahl heraus. Es heißt Platz nehmen, in das erste Modell schlüpfen. Als er sich erhebt, umklammert er meine Hand, sein Atem geht flach, schnell. "Kannst du gut abrollen?" Bemühe ich mich um Ablenkung. "Schabt nichts?" Er läuft auf der Stelle, bewegt den Fuß, dreht den Knöchel, hält sich an meiner Hand fest wie an einer Rettungsleine, als könnte schon das Reinschlüpfen eines Fußes die Sirenenrufe provozieren. "Ist der gut?" Gehe ich vor ihm in die Knie, studiere das Material und die Verarbeitung, blicke zu ihm hoch. "Soll ich noch einen anderen holen?" Mein Ansinnen, sich für einen Moment zu entfernen, lässt ihn keuchen. Wortlos drücke ich seine kalten Finger. Bin ich vielleicht doch etwas zu blauäugig an die Sache herangegangen? ?-? Es ist jetzt nicht so, als hätten wir es darauf angelegt, aber in Kombination sind wir doch recht auffällig. Mit anderen Worten: Serge wird erkannt. Die nächste Fragerunde, Fachsimpelei über Schuhwerk und Kniestrümpfe, Fitnesstracker, die nächsten Marathonziele, dazu noch mehr Selfies... Das lenkt ihn ein wenig ab. Wir bekommen einen satten Rabatt auf das Paar Laufschuhe, das er sich ausgesucht hat. Ich bugsiere ihn weiter, denn wir brauchen ja auch noch einen geeigneten Rucksack, nicht allzu aufwändig gestaltet, kein Transporter für Laptops oder Akten, kein Outdoor-Camping-Zweites Zuhause-Modell. Ich kann ein Grinsen nicht ganz unterdrücken, als Serge eine schlichte Version mit einem auffälligen Leopardenmuster-Druck in Augenschein nimmt. "Gefällt es dir nicht?" Registriert er meine Reaktion enttäuscht. "Im Gegenteil." Ich nehme ihm die Tüte mit den Schuhen ab. "Der scheint wie für dich gemacht! Probier doch mal, ob er richtig sitzt!" Keine Frage, die Geldkarte flutscht ein zweites Mal durch den Terminal! "Und jetzt?" Serge hängt sich bei mir ein, angespannt. Der Heimweg. Die Premiere. Ich halte bei einer mitgenommenen Sitzbank, reiche ihm die Tüte mit den Sportschuhen. "Reifenwechsel." Scherze ich, studiere seine Reaktion: verhalten, bange, sich selbst zur Tapferkeit zwingend. Seine Boots wandern in die Tüte, die wir dem Leoparden-Rucksack anvertrauen. Serge erhebt sich zögerlich, ziemlich blass um die Nasenspitze. "Wir fangen langsam an, in Ordnung? Ich kümmere mich um alles, du folgst meinem Beispiel." Gebe ich vor. Ohnehin müssen wir uns erst mal aus dem Menschenstrom lösen, bevor der Startschuss fallen kann. "Okay?" Wende ich mich herum, damit Serge aufschließt, denn jetzt werden wir mehr Platz haben, können auf gleicher Höhe laufen. Er ist bleich, leckt sich immer wieder mit der Zungenspitze über die ohnehin schon rissigen Lippen, zappelt unruhig, schüttelt die Glieder heftig. "Konzentriere dich einfach auf mich." Lautet meine Losung, dann trabe ich an, natürlich nicht in meinem üblichen Tempo, das wäre zu riskant. Außerdem muss ich erst einschätzen, wie seine Belastungsgrenze sich verhält. Serge ist verkrampft, ich sehe es an seinen Schultern. Er läuft nicht rund, kontrolliert sich selbst, ob er auch ja nicht das Tempo variiert. In dieser Verfassung liefere ich ein Nervenbündel auf der heimischen Schwelle ab. Was tut man als Coach? Hm. Ich laufe ja stets für mich, mit mir, deshalb kann ich nicht auf vorgefertigte Lösungen zurückgreifen. Würden Worte etwas bewirken? Ich ahne seine unterdrückte Panik, die versteifende Angst vor der Schmerzlust, die gerade auch durch seine nervöse Körperspannung befeuert wird. So nicht! Intuitiv greife ich einfach seine Hand, verschränke unsere Finger miteinander. Das hat vorher schon mal funktioniert, also sollte es jetzt auch klappen. Mein Laufrhythmus überträgt sich auf ihn, meine lockere Haltung sprengt die verkrampften Muskeln. Ich achte auf seinen Atem, das Abrollen der Fußsohlen, die Schultern. Er passt sich mir an, ein zögerliches Lächeln huscht über sein Gesicht. Ich grinse und signalisiere mit der freien Hand Daumen hoch. Wir schaffen das, gar keine Frage! ?-? Wir laufen an der Briefkastenanlage langsam aus. Ich zücke den Schlüsselbund, um sicherzugehen, dass tatsächlich keine Wurfsendung gelandet ist. Unvermittelt wirft sich mir wiederum Serge um den Hals. "Hat doch gut geklappt." Stelle ich fest, lasse mich drücken. "Und?" Murmle ich in seine weizenblonden Zöpfe. "Was machen die Füße?" Immerhin schon riskant, die gesamte Strecke in den neuen Schuhen zurückzulegen. "...okay." Serge klammert noch immer. "Und sonst? Wie fühlst du dich?" Ich streiche über seine Schulterpartie. War sicher anstrengend, unter so viel Druck zu laufen. "Nicht mehr ängstlich." Vertraut mir Serge an. "Prima." Werte ich für das Protokoll, rotiere ein wenig. "Dann schlage ich vor, wir gehen rein, machen uns frisch und tanken auf!" Brav lässt er sich von mir dirigieren. Dennoch werde ich halbseitig umschlungen, was zu einem etwas kuriosen Krebsgang führt. Wir treten uns die Sohlen ordentlich ab, dann wird auch die Buckellast abgestreift. Im Badezimmer schiebe ich Serge unter die Dusche, während ich mich selbst mit einem feuchten Lappen abledere. Ich schwitze nicht sonderlich viel, daher genügt mir diese Variante. Deshalb bin ich auch schon frisch eingekleidet, lege Serge Feigenblätter raus. Bevor er sich jedoch ganz verpuppen kann, massiere ich ihm Creme in die Schulterpartien ein. "Tut dir sonst noch was weh?" Begleite ich meine selbstherrliche Aktion. "Nein, alles in Ordnung." Serge seufzt genüsslich, weil ich zupackend walke, was auf seiner hellen Haut unkleidsame Rötungen hinterlässt, aber die verklingen hoffentlich rasch, während die Hitze seine Muskeln und Sehnen entspannt. "Fein." Ich widme mich unserem Ballast, packe meinen Rucksack aus, stelle schon mal den morgendlichen Brei in den Kühlschrank. "Kannst du uns Wasser ausschenken?" Kranenberger, sauber und frisch vom Hahn. "Was meinst du?" Äuge ich über den Rand meines Glases. "Brauchst du noch Elektrolyte dazu?" Serge schüttelt den Kopf. "Alles gut. Auch keine Schmerzen." Er tippt sich an die Schläfe. Zu großer Flüssigkeitsverlust oder ein Mangel an Mineralien durch starkes Schwitzen präsentiert sich manchmal auch durch heftige Kopfschmerzen. Mir wird bewusst, dass ich als Trainer gerade mal Bordsteinniveau erreiche, denn gäbe es tatsächlich ein Problem, hätte ich nicht mal die richtigen Hilfsmittel greifbar! Das dämpft meine Selbstzufriedenheit merklich. "Dschoosefff?" Serge krault über meine kurze Krause. "Ca va?" "Hm." Seufze ich. "Eine fällige Lektion in Demut." Zwischen seinen Brauen zeigt sich die Knitterfalte, daher erläutere ich. "Ich habe gerade bemerkt, dass ich für einen Trainer nicht sonderlich vorausschauend agiere." Serge seufzt nun selbst. "Ich verstehe nicht?" "Na, Ich HABE gar keine Elektrolyte hier." Nehme ich erneut Anlauf. "Hätte ich aber sollen. Wenn dir die Füße jetzt weh täten, säße ich auch in der Patsche." Den Begriff kennt er, denn Serge amüsiert sich über sehr lautmalerische Begriffe. "Du bist nicht in der Patsche!" Er präsentiert seine beweglichen Zehen. "Alles gut." "Noch besser, wenn ich uns eine Kleinigkeit zum Essen mache und für morgen schon etwas zusammenpacke." Reiße ich mich selbst am Riemen. Serge assistiert mir mit wachsender Vertrautheit meiner Habseligkeiten. Wir löffeln kurze, dicke Nudeln in einer würzigen Brühe, dann gibt es noch mal verdünnten Tee. "Wenn du was anderes möchtest, sag es mir, ja?" Leiere ich erneut die alte Platte ab. "Also, richtigen Kaffee oder Milch oder so." Bereits gemütlich auf meiner zusammengewürfelten Sofa-Landschaft lagernd lächelt Serge mich an, durchaus verschmitzt. "Du magst doch keine Kuhmilch." Deutet er Rücksichtnahme an. "Außerdem muss ich aufpassen. Wenig Säure, kein unnötiger Zucker." Er wedelt seinen persönlichen Ernährungsfahrplan bezeichnend. Ich justiere meine Brille knapp. "Mein Kühlschrank ist nicht wählerisch. Du kannst dich nicht ständig nach mir richten, das verdirbt deinen Geschmack!" Für einen Moment stutzt er, dann lacht er laut heraus, knufft mich in die Seite. Na gut, meine stoische Haltung kann bei Witzen schon mal nach hinten losgehen, aber er hat sich an mich gewöhnt, soviel ist sicher. "Ich trinke sonst auch nur Wasser." Versichert er mir. "Alle anderen quetschen sich um Kaffeeautomat und Mixer!" Dabei zieht er ganz plastisch die Schultern an, macht sich noch schmaler, um die Enge zu demonstrieren. "Künstler eben." Nicke ich in verständnisvollem Klischee. Serge zwinkert, verfolgt, wie ich mir den Laptop auf ein umgedrehtes Tablett setze, aber so lässt er sich auf den Beinen balancieren, ohne gleich unangenehm heiß zu laufen. "Zeit für die Post." Erläutere ich ihm. Ja, ich bin einer dieser Ewiggestrigen, die nicht ständig in Bereitschaft sind, auch nicht digital. Ich rufe einmal am Tag meine E-Mails ab, erledige meine Korrespondenz, dann ist Schluss. Da ich mich auch nicht in sozialen Netzwerken herumtreibe, den Netzzugang eher als Arbeitswerkzeug betrachte, fällt mir das gar nicht so schwer. Der Knipser, der sich eigentlich auf sportliche Höchstleistungen konzentrieren sollte, immerhin ist Biathlon-Saison, schickt mir noch eine ergänzende Nachricht, nämlich, welche Hilfsmittel für den Deutschtest am Besten geeignet sind (und was er für fürchterlichen Nepp hält). Ich lasse Serge mitlesen, der sich höflich abwenden will. "Daran habe ich auch noch nicht gedacht." Stelle ich fest. "Wahrscheinlich muss dein Sprachlevel auch eingeordnet werden. Du hast in deinem Bac keine Deutschnote, oder?" Serges Miene lässt auf eine Ladung Zitronen schließen. "Das Bac, also...!" Winkt er verächtlich ab. "Vielleicht, es zählt im Dunkeln, aus Distanz!" Ich meine mich auch düster an entsprechende Andeutungen seinerseits zu erinnern, dass man ihm quasi den Abschluss zugestanden hat unter der Bedingung, dass er bloß nicht versucht, damit irgendwo studieren zu wollen. "Macht nichts, das finden wir auch noch heraus." Entscheide ich unverdrossen. Seine Deutschkenntnisse sind sehr viel besser als mein klappriges Schulfranzösisch, also sollte sich ein Nachweis auch erbringen lassen. Möglicherweise über die Volkshochschule? Ich setze Tablett und Laptop auf seinen Schoß, stemme mich hoch, krame mein Notizbuch hervor. Serge schmunzelt über mein "ausgelagertes Gedächtnis". "Du kannst auch deine Post abrufen." Biete ich ihm an. Da tauchen schon wieder die Zitronen auf. Er ist nicht begeistert, schickt sich aber drein. Seine Stimmung hellt sich auch nicht sonderlich auf, als er mir das Tablett wieder übereignet. Die Unterlippe leicht vorgeschoben wirkt er fast kindlich, schmollend. Ich muss meiner Neugierde keine Zügel anlegen, sein Temperament spielt mir in die Hand. "Sie verstehen nicht! Immer unzufrieden!" Schimpft er, funkelt mich empört an. "Du bist kein Trainer mit Lizenz! Ich habe kein Recht, Aufträge zu erteilen! Sie werden nicht bezahlen! Überhaupt, was denke ich mir! Blablabla!" "Du könntest antworten, dass wir zusammen trainieren, ganz unentgeltlich." Werbe ich für meinen Plan. "Dass du heute schon erfolgreich einen Halbmarathon absolviert hast, dass du auch schon kontrolliert worden bist, was ja bedeutet, dass man dich als Profi ernst nimmt!" "Ah bah!" Schnaubt er, winkt ab. "Details! Petitessen!" "Du bist auch ein Aushängeschild..." Ich korrigiere mich. "Ein wertvoller Werbeträger! Mit dem Erfolg werden sie sich schon wieder beruhigen." Serge lupft dramatisch eine Augenbraue, Ausdruck purer Skepsis. "Bis jetzt hat's doch funktioniert." Gebe ich den Takt vor. Mit Optimismus ackert es sich leichter. Wir werden schon eine Lösung finden. ?-? Als ich aufwache, rührt sich Serge auch. Er besteht darauf, mich zu begleiten. Allerdings nötige ich ihn, auf halber Strecke mit meiner Uhr den Rückweg anzutreten, denn für das Jobcenter ist es definitiv zu früh, schlau machen kann er sich auch zu Hause. Ich will auch verhindern, dass er es übertreibt, die ganze Strecke zu schnell wieder angeht. Mit dem Versprechen, mich nachmittags wieder an unserer Etappenstation abzuholen, lässt er sich überzeugen. Während ich nun also meinem Arbeitsplatz entgegen laufe, den leichten Nieselregen auf meiner Brille nicht gerade goutiere, mache ich mir Gedanken darüber, was Serge während meiner Abwesenheit tun kann, um sich die Zeit zu vertreiben. Klar, er ist Profisportler, ein abgestimmtes Fitnessprogramm gehört dazu, aber übertreiben darf man es auch nicht, der Körper benötigt schließlich Zeit, sich zu erholen. Sonst hatte er auch immer Engagements außerhalb seines Trainings, war rund um die Uhr getaktet, was in letzter Zeit wohl ausfiel. Hm. Ich bemerke zum ersten Mal richtig, dass wir noch einige Gespräche und Erkenntnisgewinne übereinander aufzuholen haben! ?-? Ich werde ihn fragen, deshalb zerbreche ich mir auch nicht weiter den Kopf, sondern starte einigermaßen pünktlich, um ihn zu treffen. Natürlich gab es jede Menge Fragen. Wie lange er bleibt, ob er immer noch als Profi arbeitet, welche Modell-Jobs er hat... Fluch und Segen der medialen Vollvernetzung. Aber es genügt nie, die Neugierde vollends zu stillen, weshalb ich ungewohnt auskunftsfreudig jenseits der Arbeit sein muss. Andererseits, es geht um Serge, und der ist nun mal auffällig. Wundern sollte mich das Interesse daher nicht. Er erwartet mich an der verabredeten Stelle, lächelt mir entgegen. Ich will eigentlich gar nicht langsamer werden, doch sein Hechtsprung um meinen Hals, das gewohnte "Dschoosefff!" als Kampfschrei in den Ohren, das bremst mich aus. "Na, wie war dein Tag?" Gebe ich originell den heimkehrenden Hausvorstand der Fünfziger. Serge wippt vor mir auf die Zehenballen, noch immer die Arme um meinen Nacken geschlungen. "Ich habe das Programm gestartet, aber da waren so viele fremde Worte!" Bricht es springflutartig aus ihm heraus. "Da habe ich aus dem Regal dein Lexikon genommen. Nachschlagen, so viel!" Er schnauft theatralisch. "Ich habe Pausen gemacht. Dann bin ich nach draußen gegangen, zur Sandgrube mit den Pflanzen. Ich habe mich auf eine Bank gesetzt und durch ein Buch geblättert." Er präsentiert mir eine kritische Stirnfalte. "Betriebs-Wirtschafts-Lehre!" Stolz wird jeder Bestandteil extra betont. "Uh, war dir das nicht langweilig?" Erkundige ich mich verblüfft, denn bei dem Buch handelt es sich um einen Ordner mit Lernstoff für meine Prüfungen. Wie schon gelegentlich erwähnt: bei mir ist Unterhaltungsmaterial eher rar gesät. "Ich habe dein Lexikon mitgenommen." Er seufzt. "Die Zahlen verstehe ich, aber der Text!" In meinem alten Französisch-Deutsch-Lexikon hat er bestimmt auch die zahlreichen Bleistiftergänzungen gesehen. Ein bisschen peinlich, aber ich habe mir am Anfang viel notiert, um die Sprachbarriere abzubauen. "Und dann!" Macht Serge es spannend, denn offenbar ist er mit seinen Erlebnissen noch nicht am Ende des Tages angelangt. "Dein Nachbar kam vorbei! Wir sprachen über Betriebs-Wirtschafts-Lehre, kurz, dann wollte er seine Fahrräder flott..." Serge sucht Zustimmung in meinen Augen, weshalb ich artig nicke. "...flott machen!" Während Serge mir nun stolz die neuen Fachbegriffe aufzählt, die er bei der Assistenz in fortgeschrittener Fahrrad-Forensik gelernt hat, wirkt er munter, durchaus mit sich zufrieden, was mich erneut daran erinnert, dass er ein richtiges Arbeitstier ist. In Selbstmitleid suhlen, auf der Couch wurzeln, das ist nicht sein Fall. "Er hat mir gegeben Honigwein, aber nur..." Serge wackelt mit dem Zeigefinger. "Finger-Hut gefüllt!" "Du liebe Güte." Kommentiere ich diese Belohnung. Mein Nachbar ist dafür berüchtigt, seine Variante von Met zu brauen, die gefährlich viele Stockwerke aufweist. "Der Geschmack war...originell." Zwinkert Serge mir zu. "Ich habe nicht viel geschluckt, wegen Alkohol und Kontrolle." "Alle Achtung." Murmele ich. "Dein Tag war ja spannend!" Serge schmunzelt mich an. "Und bei dir?" Ich rücke meine Brille zurecht. "Du bist gleich vermisst worden, also wurde ich mit Fragen gelöchert. Aber sonst alles paletti." "Deine Kollegen sind sehr nett." Lächelt Serge. "Ich fühle mich sehr willkommen!" "Das bist du auch." Bekräftige ich, hebe seine Arme von meinen Schultern. "Dann lass uns jetzt mal trainieren!" Immerhin haben wir ja noch eine Mission! ?-? Wir laufen wieder Hand in Hand, was ihn zu entspannen scheint. Ich bleibe bei einem durchschnittlichen Tempo, beäuge ihn von der Seite, welche Signale er aussendet. Nun, ein Signal registriere ich erst, als wir nach der Briefkastenanlage dem trauten Heim entgegen streben: Serge hält noch immer meine Hand. Nicht, dass es mich stören würde, aber ich habe den Eindruck, dass er mich als Rettungsleine betrachtet. Oder als Äquivalent zu Linus' Kuscheldecke bei den Peanuts. Ihr kongenialer Erfinder Charles M. Schulz verfügte aber über mehr Einfühlungsvermögen als ich, deshalb verabschiede ich mich lieber von Mutmaßungen. "Hat es denn geklappt mit der Uhr und den Etappen?" Stelle ich die kritische Frage, die Schwelle überschreitend. "Geht gut." Serge nickt, tippt auf die alte Uhr an seinem filigranen Handgelenk. "Ich habe mich an deine Anweisung gehalten! Exakt!" "Schön." Lobe ich. "Machen wir uns frisch, fassen Wasser und überlegen uns dann, was wir zu deiner Unterhaltung tun können!" Serge folgt mir ins Bad, verweigert aber den Luxus der Dusche, verlangt den Waschlappen abwechselnd mit mir zu benutzen. "Unterhaltung?" Gibt er mir das Stichwort, blinzelt Tropfen aus den dichten Wimpern. "Na, ist doch langweilig, oder?" Ich frottiere mich schon. "Seit ich allein hause, habe ich verlernt, wie man Zeit mit anderen verbringt." Er runzelt die Stirn, weshalb ich meine Erklärung ausbaue. "Nun, wir sind ja beide Wohngemeinschaften gewöhnt, richtig? Da kann man sich immer beschäftigen, immer ist etwas los! Aber hier bist du doch allein, wenn ich arbeite, ohne Gesellschaft und ohne, na, eben Unterhaltung! Amüsanten Zeitvertreib!" Serge wischt sich durch die weizenblonden Strähnen, legt den Kopf ein wenig schief und mustert mich mit seinen graugrünen Augen abwägend. "Eigentlich bin ich froh, hier nicht mit anderen zu sein." Formuliert er bedächtig. "Keine... Ablenkung. Ich kann nicht vor mir weglaufen." Ich suche forschend in seinem Gesicht nach Anhaltspunkten für die emotionale Großwetterlage. "Aber langweilst du dich denn nicht? Du bist doch immer emsig und beschäftigt..." Mit einem dekorativen "Bah!" inklusive opernreifer Gestik tut er meine Nachfrage ab. "Das ist doch... leer! Hohl! Nur Show! Geschäft!" Er streift sich wie ich Räuberzivil für die Sperrstunde über, nimmt meine Nasenspitze anschließend in klemmende Gefangenschaft. "Ich bin hier bei dir! Das ist gut! Viel Training und außerdem endlich wissen, was ich tun kann! Sehr gut!" Dabei funkelt er mich so ausdrucksstark wie früher an, wenn meine Empathie Starthilfe zu benötigen scheint. "Na schön." Gebe ich mich geschlagen. "Wollen wir trotzdem mal gemeinsam in diesen Beratungskurs reinschauen?" Serge nickt eifrig, packt meine Rechte, zieht mich zur Küchenzeile, auftanken, danach mit Tablett und Laptop all die "fiesen Worte" übersetzen, die ihm den Parcours durch die Talentfindung erschwert haben. Dass er sich dabei an mich kuschelt, verbuche ich großzügig unter Aufmunterungsbedarf. ?-? So ganz habe ich mein unterentwickeltes Freizeitverhalten in Gesellschaft nicht abgehakt. Ich muss aber gestehen, dass ich mich an meine uneingeschränkte Herrschaft gewöhnt habe, weil ja auch niemand in Reichweite war, der mir reingeredet hätte. Zu zweit geht das selbstredend nicht, obwohl Serge extrem pflegeleicht ist. Doch normale Menschen unternehmen in ihrer Freizeit was, richtig? Ich fühle mich ein klein wenig gefordert, denn ich habe ja auch mal mit anderen zusammengelebt. Also, was tut man so? Hm, Fernsehgucken, na ja, das reizt mich eher wenig. Erstens mangelt es am Gerät, zweitens hat der Laptop trotz der flotten Leitung schon seine Mühe. Musik hören. Oje, das ist so gar nicht mein Metier. Ausgehen. Tanzen, Film, Essen? Jetzt wird es peinlich, denn das leuchtet meine eklatanten Schwächen aus. Auf dem Gebiet bin ich gar nicht bewandert, es hat mich allerdings auch nicht gelockt. Also, weitere Vorschläge? Tja, wenn ich mich erinnere, habe ich viel gelesen und gepaukt. Stimmt, Brettspiele haben wir manchmal veranstaltet! Sollte ich also in der Leihbücherei mal herausfinden, ob man diese Utensilien ausborgen kann? Bei der Gelegenheit könnte ich mich auch über die Sprachkurse schlau machen, immerhin hat sich Serge sogar einen Beratungstermin gesichert, da könnte ein wenig Vorwissen nicht schaden! Schützenhilfe bekomme ich gratis, denn Serges erster Auftritt hat sich so herumgesprochen, dass ich unentwegt angehalten und befragt werde, garniert mit Vorschlägen, wie man gemeinsam Zeit verbringen könnte, was ihn so interessiere, wenn er mal wieder vorbeikäme. Hm. Wie hat Serge eigentlich den Tag verbracht, als er nicht mehr laufen konnte? ?-? Der Aufruhr überrascht mich im Büro, als ich die letzten Arbeiten nach der Woche Frühschicht und dem Großkampf-Samstag absolvieren will. Zu meiner Verblüffung hat es Serge sogar bis ans Kaffee-Regal geschafft, doch nun steckt er fest, entouriert, mit Fragen bestürmt, nach allen Regeln der Kunst und des Geschlechterkriegs charmiert. Ich stutze allerdings auch, denn er sieht blendend aus, und zwar auf die Art, die von der Kunstfertigkeit professioneller Natur kündet. "Dschoosefff!" Winkt er mir eilig zu, entschuldigend. "Die Agentur, weißt du?" Nein, noch nicht, aber ich vermute etwas. Tsk,tsk, dabei haben wir erst gestern die gemeinsame Etappe verlängert, um das Pensum langsam wieder zu steigern! Serge schenkt mir ein werbendes Lächeln, widmet sich dann wieder seiner begeisterten Entourage. So wird das mit dem Ladenschluss heute wohl schwierig! ?-? "Tut mir leid, wirklich." Serge hat seine Fan-Schar nicht nur vor den Laden dirigiert, was mir meine Arbeit erleichtert hat, sondern auch dafür gesorgt, dass man sich so langsam trollt. Ich klopfe auf seinen Rucksack. "Sind da die vornehmen Kleider drin?" Denn in seiner Trainingsaufmachung wird er kaum wo auch immer reingeschneit sein. Serge nickt. "Ich muss mich melden, sofort, bei einer Agentur hier! Und dann Fotos, Video, für Portfolio." Er gestikuliert, zeichnet um die eigene Figur herum. "Ich hatte Angst, ich würde dich verpassen!" "Na, es hat ja geklappt." Studiere ich ihn aufmerksam. Kein Wunder, dass er wie ein Mädelsmagnet wirkt, so, wie sie ihn herausgeputzt haben! "Sei nicht böse." Er umarmt mich prompt, legt die Stirn an meine. "Ich habe auf deine Uhr ge...geguckt?!" Fragend blinzelt er mich an. Aha, schon wieder einen neuen Begriff gelernt! Ein Arbeitstier ist er noch immer! "Geguckt." Bestätige ich. "Mir geht's nur darum, dass du dich nicht übernimmst." "Ich habe aufgepasst, wirklich!" Beteuert er. "Uhr, Strecke, Uhr, Strecke, genau an Limit halten!" Was zweifellos anstrengend war. "Dann werden wir jetzt wohl schauen, ob wir die ganze Strecke schaffen." Nehme ich die Herausforderung an. "Alles klar!" Nickt er zuversichtlich, nimmt wie gewohnt meine Hand. "Was hat dir übrigens die ältere Dame zugesteckt?" Erkundige ich mich betont beiläufig. "Oh!" Serge grinst mich an. "Adresse von einem Lokal. Damit ich esse wie zu Hause." "Pulver und Quetschbeutel?" Voluntiere ich boshaft, woraufhin er stehen bleibt, mit der freien Hand meine Nase kneift. "Das ist nicht nett." Stellt er zutreffend fest, lächelt aber. "Stimmt." Gebe ich zu. "Sag mal, hast du Heimweh?" Damit meine ich nicht, wie die alte Dame irrtümlich, das ferne Russland, sondern Serges gewöhnlichen Aufenthaltsort, Paris. Er wirft mir einen überraschten Blick zu. "Aber nein!" Antwortet er mit Schwung. "Kein bisschen!" Das beruhigt mich ein wenig, doch kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich etwas Wichtiges außer acht lasse. Sei's drum, wir haben einen Halbmarathon vor uns! ?-? Als wir die Türschwelle überqueren, hat es sich schon ungemütlich zugezogen, eisige Böen rauschen zwischen den Bäumen. "Dusche!" Bestimme ich, denn ich beabsichtigte durchaus, es wohlig zu haben, wenn draußen Väterchen Frost zuschlagen will! Serge gehorcht brav, zieht mich dann aber zu sich unter den Strahl. Bevor ich Protest äußern kann, schlingt er die Arme um meinen Nacken, küsst mich. Nicht anders als in unserer gemeinsamen Vergangenheit bin ich sprachlos, kann ihn nicht mal warnen, dass meine Kunstfertigkeit seit dem letzten Mal nicht gesteigert wurde. Das kümmert ihn (vermute ich) gar nicht, mir wird mein grundsätzlicher Mangel auch gleichgültig, denn Serge bedenkt mich mit aller Aufmerksamkeit, die sich unzählige seiner Fans wünschen. Bloß, ICH komme in den Genuss, ohne dafür etwas geleistet zu haben! ?-? Man sollte annehmen, dass nach dem spritzigen Intermezzo unter der Dusche wieder der Verstand das Ruder ergreift. Immerhin kann das Wasseraufschnappen unter der Dusche nicht ausreichen, unsere Laufleistung zu kompensieren! Ganz zu schweigen von den weiteren Kalorien, die bei gegenseitiger Feldforschung mit Salutschüssen verbrannt wurden. Dennoch unterzieht sich keiner von uns beiden der Pflicht, die Ratio als höchsten Maßstab unseres Handelns einzusetzen. Stattdessen verlagert sich unser Schäferstündchen unters Dach, pudelnackig, ziemlich aufgeputscht. Da erweitert Serge meinen Horizont mit Sieben Meilen-Stiefeln. ?-? Er schmiegt sich an meine Seite, ich halte ihn ebenso kraftvoll fest. Wow. So langsam, dem einseitigen Blutfluss zu verdanken, dämmert mir, warum Sex eine nicht zu unterschätzende Triebfeder für menschliches Verhalten ist. Ich bin auch ein wenig schockiert über mich selbst. Klar, Hunger, Durst, Kälte, Wärme, Schlaf: das sind mächtige Bedürfnisse, die mühelos diktieren, was man zu tun hat. Aber dass ich mich selbst dabei finde, mit aller Vehemenz einem anderen Menschen derart auf die Pelle (und darüber hinaus) zu rücken: das überrascht mich. Ganz tief innen drin, bin ich erschrocken darüber, wie meine Selbstbeherrschung ausgehebelt wurde, dass ich so zugegriffen habe, mit beträchtlichem Körpereinsatz und Schwung eine Dynamik bedient, die mir im Nachhinein brutal, fast viehisch erscheint. Kopulation, sicher, trotzdem ist da so viel egoistische Eigenmacht vorhanden. Meinem Selbstbild verpasst das einen heftigen Stich. Als Gefühlsmeister wähnte ich mich davor gefeit, doch da liege ich falsch. Wow. Ich kann von Glück reden, dass Serge nicht so ungeübt und ignorant gegen die eigenen Bedürfnisse ist wie ich. "...Dschoosefff..." Seufzt-schnurrt-raunt er leise an meinem Hals. Ahum. Ich drücke ihn einen Augenblick fester, weil ich immer noch unsicher bin, ob ich tatsächlich richtig einordne, was wir uns da eben geleistet haben. Andererseits, wer würde einen absoluten Anfänger wie mich so nahe an und in sich lassen, wenn dahinter nicht intensive Gefühle stehen?! ?-? Serge ist eingeschlafen, so gelöst und entspannt, als hätte er sich tonnenschwerer Bleigewichte entledigt. Vielleicht schmeichle ich mir aber damit auch bloß. Während ich eine seiner langen Strähnen um den Finger wickle, in der Dämmerung zur niedrigen Decke blicke, sammle ich Indizien wie Brotkrumen. Er hat mich unter die Dusche gezogen. Er hat mich geküsst. Er wurde handgreiflich, so wie damals. Er hat darauf vertraut, dass meine ignorierte Libido Hals über Kopf ihre rare Chance nutzt. Er hatte Gleitgel und Kondome neben der Matratze deponiert, Feucht- und Kosmetiktücher. Er hat die Führung übernommen, bis ich meinen Verstand komplett abgemeldet hatte, um mir nahe zu sein, näher als jede andere Person. Ausgesprochen schmeichelhaft. Darf ich daraus schließen, dass wir neben Trainingspartnern und Freunden auch... ein Paar sind? Hm. Davon habe ich nun wirklich noch weniger praktische Ahnung als von Sex. Weiß er das? Sollte ich es ihm nicht sofort sagen? Ich will ihn schließlich nicht verletzen oder enttäuschen, weil ich so unzulänglich auf diesem Gebiet bin, keine Automatik wie andere Menschen aufbieten kann. Also hilft es alles nichts: wir werden miteinander sprechen müssen. ?-? Ich nutze die Leuchtfunktion meines Weckers, nachdem ich meine Brille erfolgreich justiert habe. Um Serge nicht aufzuschrecken, blende ich das bescheidene Licht ab, sammle rasch die zusammengeknüllten Papierstreifen mit ihrem Innenleben auf, tappe dann blank und bloß runter ins Badezimmer, an der Mülltonne vorbei. Dort warten ja unsere üblicherweise deponierten Wohlfühlklamotten noch unbeachtet. Flugs salonfein gemacht mustere ich mich im Spiegel, strecke mir trotzig die Zunge raus, weil ich mich schäme. Es liegt wahrscheinlich daran, dass ich keine Erfahrung mit Sex habe, der über Handanlegen und Küsse hinausgeht, aber ich hadere mit mir selbst. »Säuge-Tier, erinnerst du dich?! Bio-Unterricht?! Was hast du denn erwartet, mentale Schwingungen?!« Der Teil von mir, der knurrt, findet sich einer breiten Front gegenüber, die Kontra bekundet. »Und?! Musste das sein?! Ging das nicht auch anders?! Wir MÜSSEN nicht unseren Trieben nachgeben, wir haben Verstand statt Instinkt!« Dünnes Eis. Die innere Diskussion über meine Moral, die gegen hormonelle Triebe den Kürzeren gezogen hat, muss warten, weil Durst die Prioritätenliste an höchster Stelle erklimmt. Ich setze also Wasser auf, präpariere Kräutertee, wärme in der Mikrowelle zwei kleine Suppennäpfe auf. Der Laptop muss sein Tablett-Podest für den Transport opfern, dann steige ich nach oben. Der Leuchtstrahl der Lampe dringt zu Serge durch, der sich über die Augen reibt, blinzelt, schnuppert. "Wir müssen beide nachtanken." Stelle ich sachlich, aber linkisch fest, reiche ihm einen Teebecher. Er richtet sich auf, zieht die Beine in katzenhafter Geschmeidigkeit vor den Körper, pustet über die schillernde Oberfläche, nippt. Um irgendwas zu tun, lehne ich mich vor, hänge ihm eine Decke um die Schultern, arrangiere vorne das Steppbett. Ich reiche ihm seinen Nudelnapf und straffe mich. "Hör mal." Ich atme tief durch. "Es tut mir leid, dass ich so... grob und unbeherrscht war." Er studiert mich schweigend, ignoriert Löffel und Suppe. Ich steuere entschlossen den Eisberg an. Wofür bin ich schließlich Gefühlsmeister?! "Ich habe keine Erfahrung, was nicht entschuldigen soll, dass ich mich so aufgeführt habe. Ich wollte dir ehrlich nicht weh tun." Serge klappt die Knie herunter, die Decke rutscht von seinen Schultern, als er sich vorbeugt, eine Hand auf meine vernarbte Wange legt. "Dschoosefff." Er lächelt schief, was mich verunsichert. "Was sagst du da?" Ich nehme erneut Anlauf. "Dass es mir ehrlich leid tut, weil ich so brutal war und..." Er bremst meine Selbstanklage, indem er mir die Arme um den Nacken schlingt, mir sanft die Lippen versiegelt. "Ich hab dich lieb, Dschoosefff!" Raunt er an meinem Ohr. "Je t'aime." Ahum. So was hatte ich zumindest vermutet. Na ja, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als wir von der Dusche nach oben unterwegs waren. Serge lehnt seine Stirn an meine, die Hände um mein Gesicht gelegt. Ein leises Lachen schwingt in seinen Worten mit. "Es geht mir gut, Dschoosefff. Es war sehr schön. Hast du das nicht gefühlt?" Glücklicherweise sieht man mir Erröten kaum an. Ist manchmal ein Vorteil, so schwarz zu sein, dass man nicht merkt, wie hässlich der Vogel ist. "Gewissermaßen." Gestehe ich ein, denn mein Gespür hat mich nicht mal in dieser prekären Situation verlassen. Nicht nur Timing, auch das Rhythmusgefühl ist mir vertraut. Ich seufze. "Trotzdem, das war brutal, dich zu packen, und, na ja..." Serge lacht nun vernehmlich, löst eine Hand, um zu korrigierendem Verhalten meine Nasenspitze einzuklemmen. Seine graugrünen Augen funkeln vergnügt. "Du hast das noch nie gemacht, hm? Es tut dir leid, mir ein High zu schenken?" Ahum. "Also,...nein, und es muss doch irgendwie... nettere Methoden geben..." Stammle ich mir einen zurecht. Er kichert, lässt meine arme Nasenspitze in Ruhe, küsst mich noch mal. "Das ist so süß! DU bist süß, Dschoosefff!" Wohl eher peinlich, unzulänglich, inkompetent und auf dem besten Weg, mich als kompletter Idiot zu präsentieren. Glücklicherweise hat Serge ein Einsehen, setzt sich auf die Hacken, hält meine Hände. "Ich mag, dass du mich berührst." Erklärt er mir geduldig. "Ich mag deine Nähe. Deine Kraft. Deine Energie. Ich will ganz viel spüren von dir, verstehst du?" Ich schwimme in meiner Ratlosigkeit. "Schätze, ich kann dir folgen." Gestehe ich ein. "Bloß, du weißt ja, als Gefühlsmeister..." Nachdem mir der Knipser diesen Titel verliehen hat, kam ich nicht umhin, Serge das Ganze zu erläutern. Darum sollte es ihn nicht überraschen, dass ich auf emotionalem Gebiet Defizite aufweise. Er betrachtet mich eingehend, forschend. "Hat es dir nicht gefallen?" Hakt er nachsichtig Punkte auf seiner Liste ab. "Schon." Das kann ich nicht leugnen. "Im Nachhinein betrachtet ist das aber kein Grund für mein Verhalten..." Serge bremst mit einem Zeigefinger auf meinem Mund weitere Ausführungen. "Magst du mich jetzt weniger?" Ich stutze perplex. "Nein, wieso?" Er schmunzelt. Ich blinzele hilflos. "Wenn ich dir verspreche, dass es mir gefällt, und du mich magst, ist es dann in Ordnung?" Ich ringe mit meinem Gewissen. "Du versuchst auch nicht, nett zu sein? Mich zu schonen?" Serge blickt verwirrt. "Schonen?" "Na, mir nicht die Wahrheit zu sagen, weil ich verletzt sein könnte." Übersetze ich. Er begreift, schwenkt unsere Hände auf und nieder. "Aber nein! Ich.. schone.. dich nicht! Versprochen! Und jetzt du, vertraust du mir?" Gut, die Grube habe ich mir selbst geschaufelt. "Ich vertraue dir." Sage ich also zu, erwidere seinen Händedruck. Wäre ja auch lächerlich, jetzt einen Rückzieher zu machen, wenn ich ihm schon bereitwillig auf die Matte gefolgt bin! Er lächelt sonnig, beugt sich vor, küsst mich neckend, lässt sich dann wieder auf die Hacken sinken. Die Gefahr von Romantik tritt aber nicht auf, denn mein Magen knurrt unzivilisiert. Er riecht die Nudelsuppe, verlangt energisch zu erfahren, warum bei ihm noch nichts ankommt. Serge prustet, ich zucke mit den Schultern. "Suppe fassen!" Gebe ich knackig die Losung aus. Mit etwas Substanz im Magen kommt vielleicht auf mein Brägen wieder auf Touren! Gefühlsmeister hin oder her, hier stehe ich bisher ungeahnten Herausforderungen gegenüber! ?-? Ich gebe jede Aspiration als Trainer/Coach auf. Ich habe einfach nicht das Zeug dazu, das wird mir mal wieder deutlich, denn eigentlich ist es unverantwortlich, Serge nachzugeben und mit ihm die Marathonstrecke zu laufen. Zugegeben, es ist Sonntag, ich sollte ja auch trainieren, aber für ihn könnte die Steigerung zu schnell kommen, was ein tatsächlicher Trainer unterbindet. Ich dagegen stehe hier, im ungemütlichen Dunst, eine Warnweste übergezogen, kann nicht anders. Ich verstehe ja, dass er laufen will. Das Bedürfnis kenne ich von mir selbst, kann es nicht einfach abtun. Folglich: als Trainer bin ich ein Weichei. Serge dagegen ist sehr mit sich zufrieden, lächelt mir aufgekratzt zu, präsentiert meine alte Automatikuhr an seinem dünnen Handgelenk. "Ich passe auf." Versichert er mir mit nachdrücklichem Nicken. Nun ja, da er an meiner Hand hängt und ich das Timing übernehme, besteht kein großes Risiko. Außerdem laufen wir die Strecke zweimal. Ich könnte also theoretisch nach dem ersten Umlauf auch die Wiederholung abblasen, wenn ich das Gefühl habe, dass er sich übernimmt. Ha, wem mache ich hier was vor?! Vielleicht, möglicherweise ein bisschen, quasi mikroskopisch, liegt es auch an meinem schlechten Gewissen von gestern Abend. Ich hätte mich unter Umständen doch mal intensiver über Sex abgesehen von Autoerotik informieren sollen, aber an Pornos hatte ich nie Interesse, bin vermutlich auch zu dämlich, da an die entsprechenden Angebote heranzukommen. Tendenziell also der Blümchen-Typ. In der Praxis dann zupackend bis herrisch, was mich immer noch ein wenig vergrätzt. Tja, Leidenschaft, die Leiden schafft. Bei mir leidet an vorderster Front mein Selbstverständnis. Serge drückt mir einen Schmatz auf die Wange (nicht die Schokoladenseite!!!). "Los geht's!?" Schlägt er munter vor. Ich strecke die Waffen. Ein großer Befindlichkeitsanalyst ist an mir ohnehin nicht verloren gegangen. "Go!" Trabe ich an. Konzentrieren wir uns lieber auf das Metier, das ich wirklich beherrsche! ?-? Serge hat durchgehalten, was mich nicht verwundert. Auch die Kontrolle über das Tempo funktionierte reibungslos, das muss ich zugeben. Wir laufen erstaunlich synchron, obwohl das Händchenhalten dem Bewegungsablauf nicht gerade zuträglich ist. Trotzdem komme ich mühelos in den Fluss, die Maschine rollt, wie ein Pfeilschuss zum Ziel. Ob er das auch allein schafft? Hm. Dauernd auf die Uhr zu starren, dabei die Streckenabschnitte zu bedenken, das ist anstrengend. Wenn wir zusammen laufen, kann er sich auf mich verlassen, sich entspannen. Nun, zumindest vertreibt es seine Angst, gibt ihm Zuversicht. Wir müssen ja nichts überstürzen. Die Wetterlage nimmt sich daran unerfreulicherweise ein Beispiel, es bleibt wolkenverhangen und klamm-feucht. Da jagt man sprichwörtlich keinen Hund vor die Tür. Wir beiden wandelnden Warnsäulen (Serge hat von mir ein Reflektorband bekommen) bilden auf der Strecke eine der wenigen Ausnahmen (Hunde- und Kirchgänger). "Jetzt unter die Dusche!" Verlangt Serge, was ich ihm nicht abschlagen kann. Hauptsächlich von außen sitzt uns die Nässe in den Kleidern. Multi-Funktionsstoff, feine Sache, aber alles kann auch das Wunderwerk der Technik nicht kompensieren. Weil Serge auf eine gemeinsame Dusche besteht, der unabweisbaren Auffassung ist, dass ich Einiges nachzuholen habe, was die erotische Interaktion betrifft, dampfen wir erst eine geraume Weile später in der Wohnküche auf meiner zusammengewürfelten Sitzlandschaft aus. Zur Feier des Tages gibt es Pfannenpizza (eine Alternative zum Pfannenbrot, was manche sicher vom Camping kennen), nicht schön, aber selten, immer für eine Gaudi gut. Gemeinsam kämpfen wir uns nun durch die virtuelle Berufsberatung. Ich kann jetzt im Detail nachvollziehen, warum Serge sich herausgefordert fand, denn so viel Selbstanalyse plus Übersetzungsbedarf schlaucht ganz schön! "Was denkst du?" Erkundige ich mich, drehe leicht den Kopf. Er hat die Arme um meine Taille geschlungen, sich an meine Seite gekuschelt. Klar, der Laptop-Bildschirm ist nicht groß, da ist Nähe unverzichtbar. "Kann ich das schaffen, hm?" Hebt er den Kopf von meiner Schulter, blickt mich ratsuchend an. "Tja, ein paar Voraussetzungen erfüllst du ja." Hake ich das relativ neue Berufsbild von Fitness- und Sportkaufmann ab. "Abitur, Interesse an sportlichen Aktivitäten, Kontaktfreude, Bereitschaft zur ständigen Fortbildung, körperliche Fitness. Außerdem sprichst du mehrere Sprachen, bist Profi-Sportler. Du müsstest vielleicht noch ein paar Scheine nachlegen." Grüble ich. "Scheine?" Er präsentiert mir die Übersetzungsfalte in der Stirn. "Nachweise, über Lehrgänge und Kurse. Ein Trainerschein zum Beispiel. Oder andere Belege für Spezialwissen." Fische ich im meiner Semi-Kenntnis herum. Dass der kaufmännische Aspekt der Ausbildung ihm gelingen würde, daran zweifle ich weniger. Serge schreckt vor Zahlen und Bilanzen nicht zurück, wie ich ja schon festgestellt habe, als er durch MEINE Lehrbücher geblättert hat. Er zieht die Nase kraus. "Woher bekomme ich solche... Scheine?" "Tja, da gibt es bestimmt zertifizierte Kurse, weißt du, für Yoga. Oder offiziell anerkannte Lehrgänge. Das müssen wir wohl noch herausfinden." Ich greife nach meinem Notizbuch. "Denkst du, mein Deutsch reicht aus?" Er tippt auf meine Nasenspitze. "Klar." Nicke ich. "Bestimmt. Außerdem glaube ich, dass es da viele Möglichkeiten gibt, nicht nur in Fitnessclubs zu arbeiten, sondern auch in Fachgeschäften! Ich meine mich zu erinnern, dass es mal einen Zeitungsbericht darüber gab, dass einer der Outdoor-Läden hier auch Spezialreisen organisiert. Dia-Vorführungen und Lesungen! Ziemlich abwechslungsreich, das Ganze." Serge setzt sich auf. "Sie machen Reisen? Mit ihren Kunden?" "Genau." Nicke ich, Meister des Halbwissens. "Das ist wie bei den Gartenreisen meiner Mutter. Der große Gartencenter vor Ort stellt jeden Frühling eine Reise nach England zusammen, zu den prächtigsten Gärten, eine Rundfahrt. Damit haben sie dann treue Kunden, die auch gleich zu Hause ein Teil in ihrem Garten umsetzen wollen! Auf Neu-Deutsch: vom Konsum zum Event!" Er lässt sich das durch den Kopf gehen, seine graugrünen Augen blicken ins Ungefähre. "Bei deinem Termin wird man dir bestimmt mehr erklären." Versuche ich, die Unsicherheiten zu vertagen. "Aber mit dem Beruf wirst du natürlich nicht reich." Da ich in ähnlichem Gewerbe unterwegs bin, kann ich das zumindest profund bestätigen. Nun betrachtet mich Serge mit einem konsterniert zu nennenden Ausdruck. "Muss ich reich sein?" Ich habe mich mal wieder in die Bredouille gebracht. "Nun, im Vergleich zu den Modellaufträgen und all deinen Engagements ist das hier eher als bescheidenes Auskommen zu betrachten." Doziere ich. "Zum Beispiel könnte ich mir so ein Häuschen wie hier in der Stadt gar nicht leisten. Oder ein Auto, teure Elektronik. Ausgehen. Verstehst du?" Er blickt verletzt, das merke sogar ich als Gefühlsmeister. "Und ich brauche diese Dinge? Denkst du?" Das habe ich mal wieder toll hinbekommen. Aber jetzt muss ich auch Farbe bekennen. "Kannst du dir denn vorstellen, so bescheiden wie jetzt zu leben? Auf Dauer?" Serge löst eine Hand von meiner Taille, klemmt, mal wieder, zu erzieherischen Zwecken meine Nasenspitze ein. "Jetzt, gerade hier, fühle ich mich reich, weißt du?" Er tippt mit der anderen Hand auf das Polster. "Gesund, warm, satt und...in Liebe?...wie sagt man?" Ich sage erst mal gar nichts, weil er mir sauber Contra gegeben hat. "Touché." Antworte ich schließlich. "Du meinst wahrscheinlich 'verliebt'." Die Finger um meine Nase klemmen noch mal, bevor er sie unter mein Kinn schiebt, mich auf die Spitze küsst. "Nicht ver-liebt!" Schüttelt er den Kopf. "In Liebe mit dir. Und von dir." Oha. Eventuell sollte ich noch mal daran erinnern, dass ich das mit der Liebe wirklich nicht begriffen habe, doch er lächelt mich bloß versonnen an. "Du verstehst schon, Dschoosefff." Er krault kurz über meine borstige Krause. "Außerdem, so wichtig sind mir Dinge nicht. Ich bin nicht so...pampered? Wie sagt man?" "Verwöhnt." Helfe ich aus, mal wieder froh darüber, dass der hässliche Vogel nicht leicht erkennbar erröten kann über seine Vorurteile. "Du wirst sehen!" Serge lehnt seine Stirn an meine. "Ich bin nicht verwöhnt. Ich bin nicht mein Image, weißt du?" Da hat er recht. "Entschuldige." Leiste ich also Abbitte. "Das war blöd von mir. Ich gönne dir wirklich jeden Luxus, bloß ist der Lohn eben eher bescheiden." Er zwinkert. "Aber wir essen doch, leben doch gut, gerade jetzt, richtig? Zu zweit wird es noch ein wenig besser, d'accord?" Schön, das ist allein schon mathematisch nicht von der Hand zu weisen. "Stimmt. Wir schaffen das schon." Signalisiere ich Zustimmung und wedle mit der weißen Fahne. "Eh bien!" Sehr zufrieden schmiegt er sich wieder an meine Seite. "Hast du nicht gesagt, da sei eine Doku über den Fluch?" Tja, und so, zum Ausklang des Sonntags, schauen wir also einen Beitrag über die Ent-Mystifizierung der Legende des drohenden Todes mit 27 Jahren für Musiker an. ?-? Kapitel 4 - Alt-Lasten und Neu-Anfänge Ich habe die gesamte Woche über Spätschicht, was Serge natürlich reizt, mich morgens über die gesamte Strecke begleiten zu wollen. Um sich auf den Beratungstermin vorzubereiten, lässt er sich von der Agentur einige Dokumente digital zusenden, damit wir eine Bewerbungsmappe zusammenstellen können. Während ich arbeite, besucht er mit meinem Leseausweis die Leihbücherei, um sich dort über Deutschkurse schlau zu machen, vorhandenes Lehrmaterial zu studieren. Viel gibt es allerdings nicht, weil die zahlreichen Flüchtlinge, die der Stadt zugewiesen sind, sich auch dieser Quelle bedienen. Wir finden auch heraus, dass es ein spezielles Beratungszentrum mit Angebot für EU-Arbeitnehmende gibt, der Freizügigkeit geschuldet. Es stimmt mich zumindest zuversichtlich, dass Serge keinen Deutschkurs nachweisen muss, um eine Berufsausbildung zu beginnen, wenn er sich mühelos verständlich machen kann. Er paukt sich durch MEINE alten Lehrbücher, um schon mal Fachbegriffe zu lernen, aber auch seine Ausdrucksweise zu verbessern. Na, ein bisschen Schwadronieren können, das ist für einen Verkäufer ja auch nicht ganz unwichtig! Die einzige Auseinandersetzung, die wir in dieser Woche pflegen, besteht darin, dass ich entschieden darauf bestehe, dass er mich nicht nachts auch noch abholt! Eigentlich bin ich auch dagegen, dass er auf halber Strecke auf mich wartet, denn da in der einsetzenden Kälte zu stehen, bis ich eintreffe, um mit mir zurückzulaufen, das muss ja auch nicht sein. Andererseits ist Serge durchaus selbstständig, er braucht bestimmt kein Kindermädchen, betütteln soll ich ihn ja auch nicht. Bloß traue ich seinem fehlenden Gespür für das angemessene Tempo noch nicht, immerhin hat er früher auch mit Taktik operiert, mal langsam, mal schneller, oft bis an die Schmerzgrenzen und darüber hinaus. Die Schmerzgrenzen scheinen übrigens gerade nicht mehr verlockend zu sein, was wohl daran liegt, dass wir morgens mehr oder weniger ausgedehnte Schäferstündchen halten. Mir ist zwar immer noch ein wenig unwohl dabei, ihm so zuzusetzen, aber ich akzeptiere, dass ihm dieser Austausch gefällt. Gegen einen Orgasmus kann ich einfach nicht argumentieren, da muss mein Feingefühl zurückstecken. Beschweren kann ich mich auch nicht, ich werde ziemlich verwöhnt, gar keine Frage. Trotzdem. Ich könnte auch ohne auskommen. Es verhält sich einfach nicht wie Durst oder Hunger oder meine Sehnsucht nach dem Laufen. Deshalb halte ich mich für ein wenig schäbig, denn Serge bedeutet es offenbar sehr viel. Seine Gefühle sind stärker, bedeutsamer als meine. Da ist es doch unfair, dass ich profitiere, ohne im selben Maß zu antworten, oder? Ich kann mich allerdings auch nicht glaubwürdig verstellen, das weiß ich schon. Als Schauspieler bin ich definitiv eine Niete. Mit Serge wohnen und leben, das könnte ich auch ohne Sex. Meine (bescheidenen) Gefühle für ihn haben sich nicht verändert. Ob ihm das ausreicht? ?-? Ich habe wieder Frühschicht und bin so ungeniert, Serge einfach schlummern zu lassen. Er ist einfach ein unverbesserliches Arbeitstier. Weil er im Gegensatz zu mir in Bewegung auch Gehörtes aufnehmen kann, hat er sich meinen uralten Discman geborgt und aus der Leihbücherei mit meinem Ausweis Hörbücher zugemutet. Keine Romane oder ähnliches, sondern Fachliteratur, die vermutlich niemand freiwillig anhört. Ich weiß bloß, dass sie quasi auf den virtuellen Grabbeltischen eines Buch-Discounters feilgeboten werden. "Betriebs-Wirtschafts-Theorie." Betont er jede Silbe, da will er sich reinfuchsen. Ergo marschiert er durch die Gegend, artig meine Ermahnung beachtend, dass er sich beim tatsächlichen Laufen zurückhalten soll, bläst sich den Verstand voll mit Fachwissen. Das schlaucht natürlich, weshalb ich ihn bei strahlend blauem Himmel und eiskaltem Wetter zu einem Ausflug entführt habe. Ohne Gehirngebläse. Frost-verzuckerte Bäume, ein kleines Picknick im Rucksack, einfach mal ausspannen, in die Gegend gucken, die Seele baumeln lassen. Wieder zu Hause, in der Dämmerung, haben wir erst mal geduscht, danach den Abend mit fortgeschrittener Sportgymnastik auf der Matte ausklingen lassen. Dank Übung und seiner Geduld mit mir kann ich behaupten, dass wir so langsam als Dynamisches Duo elysische Weihen erreichen, weshalb ich auch uneingeschränkt dafür bin, ihn jetzt ausschlafen zu lassen. Sein Ehrgeiz (ich bin da ja nicht so geprägt) lässt ihn meiner Meinung nach einfach zu oft rücksichtslos gegen das eigene Wohlergehen voranpreschen. Möglicherweise liegt das ja auch an seiner bisherigen Karriere, die immer auf noch mehr und Höchstleistungen getrimmt ist. Na, ich laufe eben, weil es mir ein Bedürfnis ist, aber dauernde Rekordzeiten oder Wettstreits, das ist für mich nicht so wichtig. Andererseits bin ich ja auch sehr privilegiert, weil ich nicht von Preisgeldern leben muss, sondern trotz meiner Berufstätigkeit noch vom Verband mitbetreut werde, was Organisation und Akkreditierung betrifft. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns stark, weshalb ich mich auch etwas schwer tue, ihn direkt auszubremsen. Also etwas subversiver, indem ich seine Matratzenruhe nicht störe. Ich mache aber artig Frühstück für zwei, bevor ich aufbreche, um den häuslichen Frieden zu wahren. ?-? An das Zusammenleben mit Serge habe ich mich schnell gewöhnt. Er ist ja auch sehr unkompliziert, das muss ich schon sagen! Woran ich noch ein wenig zu knabbern habe, sind die ständigen Nachfragen: über Geschlechter- und Altersgrenzen hinweg hat er sich sofort eine breite Fan-Basis aufgebaut, die im Markt auf MEINEN Socken steht. Holt er mich heute ab? Wird er wirklich bleiben? Wenn er einen Job sucht, da wüsste man schon was! Will er mal was unternehmen? Lernt er nicht zu viel? Sollte er nicht mal wie zu Hause essen? Die Agentur, die ja seinen Blog betreibt (er schreibt da gar nichts selbst oder stellt Fotos ein), lässt sich nur sparsam zu einem "Trainingsaufenthalt" aus. Für mögliche Kundschaft wird weiterhin versichert, er sei jederzeit bereit, neue Aufträge anzunehmen. Die Medien-affine Meute auf meinen Fersen hat selbstredend schnell gemerkt, dass Serge gar nichts selbst verfasst, sondern die Öffentlichkeitsarbeit komplett seiner Agentur abgetreten hat. Abtreten musste. Was etwas unbefriedigend ist, wenn man Serge bereits als erweitertes Familienmitglied betrachtet! Ein bisschen unheimlich finde ich das schon, auch wenn mir gegenüber niemand zu extrem auftritt. Serge hingegen hält es für "lieb", dass sie sich so für ihn interessieren, obwohl er schon eine geraume Weile keine sportlichen Erfolge mehr vorweisen kann, bei Olympia nicht mal dabei war! Da ich selbst für mich keine Reklame mache oder in sozialen Netzwerken unterwegs bin, halte ich mich heraus. Zumindest war das meine Absicht. ?-? An der Aufregung erkenne ich schon, dass von mir gänzlich unerwartet Serge eingetroffen ist, und zwar deutlich vor meinem Schichtende. Um ihn herum wie gewohnt eine Traube von Neugierigen, Anhängern und besorgten Mütterchen. Artig hört er zu, lächelt, beantwortet Fragen. Ich kann jedoch schon aus der Distanz und seiner Körpersprache lesen, dass etwas passiert ist. Nichts Gutes. Er trägt seine Trainingsklamotten, ist also hierher gelaufen. Halbmarathon, ohne meine Aufsicht. Nun, das bedeutet wenigstens, dass er seine Panik, wieder in alte Verhaltensmuster zu verfallen, überwunden hat. In seinen Augen, die mich suchen, lese ich zu gleichen Teilen die Bitte um Nachsicht, dass er hier aufkreuzt, und um Beistand. Ansprüche kann ich aber vor Publikum nicht großartig anmelden, das ist mir auch bewusst. Ganz zu schweigen vom Umstand, dass ich noch zu arbeiten habe. "Wenn du magst, kannst du schon mal unsere Einkäufe zusammensuchen." Drücke ich ihm einen Papierschnippel in die Hand. Er nickt hastig, strafft sich wieder, als hätte ihm der kurze Körperkontakt neue Kraft gegeben. Hm. Mit Gefolge macht er sich nun an die Erledigung, während ich selbst beschleunigt meinen Aufgaben nachkomme. Es nützt ja nichts, sich den Kopf zu zerbrechen, Arbeit ist Arbeit, und Schnaps ist Schnaps. Die Auflösung erhalte ich jedoch früher, weil mich die Verkäuferin an unserer Frische-Theke am Ärmel packt, mir ihr Smartphone vor die Brille hält. Briefmarkengroß sehe ich da eine Aufnahme, wie Serge und ich laufen, Hand in Hand. Und? Ganz schon frech, uns ungefragt abzulichten, das finde ich schon. Doch die Begleittexte demonstrieren mir auch eine gewisse Brisanz, was zweifellos die Ärmelpackerin umtreibt. Offensichtlich ist unsere Trainingsmethode undifferenziert als Ausdruck gesellschafts- und sportpolitischer Demonstration "alternativer Lebensweisen" gedeutet worden, was mir völlig unbekannte Personen (oder auch nur Bots, wer weiß das heutzutage schon?) auf die Palme treibt. Irgendwelche Diskutanten schrauben sich da hoch, eine Schlammschlacht tobt. Während ich hier in der Realität stehe, von diesem ganzen Getöse um eine schlichte Geste überrumpelt bin. "Aha." Bemerke ich schließlich treffend, justiere meine Brille. "Da haben wohl einige Leute zu viel Freizeit." "Das ist so ätzend!" Erregt sie sich. "Was die da über euch schreiben, voll zum Kotzen!" "Hoffentlich nicht hier." Bricht der staubtrockene Norddeutsche aus mir heraus, prägendes Element meines Vaters. Aber mir schwant auch schon, dass Serges blasse Miene mit diesem Wirbel in Zusammenhang stehen muss. Bloß: wie hat er davon erfahren? ?-? Serge wartet vor der Tür, als ich endlich meinen Feierabend einläuten kann. "Es tut mir leid!" Sprudelt er zerknirscht hervor. "Aber ich konnte nicht zu Hause bleiben!" "Das macht nichts." Beruhige ich ihn. "Wir können uns bloß während der Arbeit nicht unterhalten, weißt du? Ich soll ja als Boss Vorbild sein." Er nickt, lächelt kläglich, schlingt mir die Arme um den Nacken, hält mich ganz fest. "Ach, Dschoosefff..." Oha. Ich streiche beruhigend über seinen Rücken. An seine Nähe bin ich ja schon gewohnt, seine Gesten fallen für mich gar nicht mehr aus dem Rahmen. Tja, ich hätte wohl schlauer sein müssen, das ist wahr. "Ist es wegen dieses Videos?" Hasardiere ich. Er zieht sich gerade so weit zurück, um mir in die Augen sehen zu können. "Ich bin gekündigt!" Presst er tapfer hervor. "Bis Ende vom Monat. Ein Besitzer der Agentur hat gegen politische Demonstration protestiert." Ich glotze. "Was denn für eine politische Demonstration?" Platze ich heraus, eher verblüfft als empört. Händchen halten, das ist eine politische Aussage? Wegen unserer Hautfarbe? Oder weil wir beide Jungs sind? Kommt mir reichlich albern vor. Gefühlsmeister, leider. Mir fehlt das Gespür. Serge schnüffelt leise. "Verstehst du, Dschoosefff? Keine Agentur mehr, keine Arbeit mehr! Und kein Heim mehr." So langsam klappern die Cents in meiner altmodischen Hirn-Registrierkasse. "Dürfen die das denn, dich so einfach kündigen?" Er zuckt mit den Schultern, eine lässig-französische Geste, aber ich bemerke genau, wie er sich um Tapferkeit bemüht. "Auch gut." Stelle ich entschieden fest, nehme seine Hand, damit wir hier nicht das nächste Spektakel produzieren. "Dann wissen wir wenigstens, woran wir sind." "Aber... was jetzt?" Serge beäugt mich kläglich. "Jetzt!" Justiere ich meine Brille entschieden auf dem Nasenrücken. "Laufen wir nach Hause. Dabei kann ich besser denken!" ?-? Ich gehe methodisch vor, das heißt, erst mal Wasser nachtanken, dann Dusche, gemeinsam, da Serge nicht bereit ist, mich loszulassen. Das muss er final aber doch, damit wir uns Freizeitklamotten überwerfen können. Er präsentiert mir die E-Mail samt "Videobeweis". Das Juristen-Französisch muss er mir aber übersetzen, weil ich in all den Schnörkeln die Orientierung verliere. Offenbar hält man unseren Trainingsauftritt deshalb für eine politische Demonstration, weil Serge nicht nur Laufbekleidung in Blau, Rot und Weiß trägt (also die Farben der Trikolore oder wahlweise der russischen Nationalflagge), sondern, weil wir unpassend Hand in Hand laufen, wo gerade erneut Protestwellen gegen die Homo-Ehe hochschlagen. Na, wenigstens waren unsere Hautfarben mal nicht zu kontrastreich! "Homo-Ehe?" Hake ich nach, Punkt für Punkt meine Liste abarbeitend. "In Frankreich, man kann heiraten, also Männer Männer." Erläutert mir Serge. Das war mir nicht geläufig, allerdings hatte das Thema bisher für mich auch nicht übergroße Relevanz. "Gibt es hier keine Homo-Ehe?" Serge hängt an meiner Schulter, damit wir beide auf dem Laptop die Zeilen ablesen können. "Nein." Schüttle ich den Kopf. "Du darfst keine politischen Äußerungen tun?" Nun kopiert Serge meine Geste, legt dann den Kopf auf meiner Schulter ab. "Also, das ist garantiert diskriminierend." Stelle ich knapp fest. "Du könntest juristisch dagegen vorgehen." Aber zu welchem Zweck? Serge seufzt. "Du verstehst, mein Kopf war ganz verheddert! Kein Zuhause, keine Arbeit!" Ich schließe die Datei entschlossen. "Also, da muss ich dich aber korrigieren: du bist hier zu Hause! Gut, es ist nicht gerade geräumig, aber über Veränderungen im Rahmen des Mietvertrags können wir gern reden. Wenn es dir doch zu klein ist, finden wir eben eine andere Lösung. Was die Arbeit betrifft, so sind wir da ja schon auf dem richtigen Weg." Der Laptopdeckel rastet ein, ich verspüre energischen Tatendrang. "Schön." Urteile ich abschließend. "Die wollen dich also unbedingt loswerden. Wir starten eben hier durch, wie vereinbart. Außerdem geht es uns doch gut." Ich rufe mir den alten Sinnspruch ins Gedächtnis, der da 'count your blessings!' lautet. "Wir haben in ordentlicher Zeit einen Halbmarathon zurückgelegt, hocken hier jetzt sauber, warm und trocken. Ist doch prächtig!" Keine Anfeuerungsrufe von Serge, stattdessen klettert er rittlings auf meinen Schoß, umarmt mich eng. "Ach, Dschoosefff... ohne dich schaff ich das nicht!" Wispert er kläglich in mein Ohr. Ich streiche über seinen knochigen Rücken. "Deshalb gehen wir das ja zusammen an." Der Gefühlsmeister übernimmt das Regiment. "Kein Grund zur Sorge. Das wird schon, versprochen!" Nun zieht er sich ein wenig zurück, Nasenspitze an Nasenspitze. "Aber ich verheddere dein ganzes Leben." Ich stutze erneut, doch glücklicherweise kommt mir rasch die fürsorgliche Ermahnung meiner Mutter in den Sinn: Körpersprache beachten! Was ich tue. "Du bringst mein Leben überhaupt nicht durcheinander." Versichere ich ihm entschieden. "Ich bin froh, dass du hier bist. Wir kommen doch gut miteinander aus, oder? Haben Spaß zusammen, richtig? Also ist es vollkommen in Ordnung, dass du hier bist." Beweisführung abgeschlossen, für Klugscheißer: quod est demonstrandum. Er studiert mich aus nächster Nähe, die graugrünen Augen wirken ein wenig müde. "Und es ist nicht zu viel...mit mir?" So rasch habe ich ihn nicht überzeugt, wie sich zeigt. Hm. Das ist wieder eine dieser Situationen, die mir Schwierigkeiten bereiten, weil ich überzeugt bin, die Sachargumente schlüssig vorgetragen zu haben. Bloß geht es hier nicht rein um die Sache selbst, sondern um all die subtilen Untertöne zwischen den Zeilen. "Ich möchte dich nicht missen." Versuche ich es lyrisch, hauche ihm einen Kuss auf die Lippen. Zugegeben, ich bin einfach nicht geübt, was die üblichen, spontanen, nonverbalen Interaktionen betrifft. Trotzdem hoffe ich, dass meine Reaktion halbwegs akzeptabel für ihn ist. Er lächelt vorsichtig, legt unsere Stirne aneinander. "Das wird schon." Gebe ich den Leierkasten. "Mit Courage schaffen wir das locker!" Ein feiner Aufruf, der leider gänzlich unmanierlich von meinem Magenknurren untermalt wird. Serge beweist seinen gutmütigen Humor, denn er kichert leise, zwinkert mir zu. "Tja." Brumme ich. "Ich könnte jetzt noch was vertragen, so auf die kleine Aufregung hin! Satt lässt sich auch besser Pläne schmieden, meinst du nicht?" Die Ayes haben die Mehrheit, weshalb wir uns gemeinsam zur Küchenzeile begeben. ?-? Ich weiß nicht, welche deutsche Entsprechung der positiven Kategorie "soul and comfort food" es gibt, denn es dreht sich ja nicht um Leib- und Magenspeisen, sondern die Variante, die man sich gönnt, wenn das Leben einem gerade mal den blanken Hintern zeigt, ohne dass es gleich in "Frustfutter" oder "Trostpflaster" abgleitet, was ja eindeutig negativ besetzt ist. Deshalb bleibt es bei der amerikanischen Version, "Mampf zur Aufmunterung"! In meinem Fall besteht sie regelmäßig aus Eintöpfen mit Gemüse, Getreide und Hülsenfrüchten, sämig, mit Kau-Material, ausreichend gewürzt. Im Alltag ist so ein leckeres Eintöpfchen rasch zubereitet, wenn man eine gewisse Vorausschau walten lässt, die bei mir in Tiefkühlgemüse, vorgekochten, in Schraubgläsern gestopfte Pürees aus Hülsenfrüchten oder Linsen und der Trockenkonserve von Reis, Nudeln oder Haferflocken besteht. Dampfkochtopf für die Mikrowelle (sehr praktische Anschaffung!), schon beschlagen mir die Brillengläser, während ich mit Serge bequem auf den Polstern löffle. Eine kleine Auszeit der Seligkeit, kein Schwatzen, keine Ablenkung, keine Hektik. Das ist schon fein! Arbeitsteilig spülen wir die Schüsseln aus, der Frühstücksbrei wird getauft, dem Kühlschrank anvertraut. Anschließend lassen wir uns zur konspirativen Sitzung nieder. Ich zücke, ganz Inspector Columbo, mein Notizbuch. Serge kuschelt sich an meine Seite, schlingt die dünnen Arme um meine Taille. Also greife ich um ihn herum, damit leserliche Stichworte festgehalten werden können. "Ad 1!" Staatstragende Einleitung, aber selbst ein Gefühlsmeister ist nicht vor Stimmungen gefeit. "Du akzeptierst die Kündigung." Er seufzt neben mir leise. "Ich will keinen... Streit?... vor Gericht." Sucht Serge nach dem passenden Begriff. "Keine Klage, keinen Prozess." Schlage ich als Amateur-Lehrer Formulierungen vor. "Du solltest ihnen antworten, damit sie rasch deine ganzen Unterlagen fertig machen können. Die müssen sie dir ja vollständig übergeben, auch wegen der Anzeige, dass sie dich nicht mehr länger vertreten." "D'accord." Murmelt Serge, mutmaßlich eingeschüchtert von dieser Perspektive. "Positiv betrachtet hast du dann alle Originale schon beisammen!" Steuere ich unbeeindruckt das Ziel an. "Ich meine, wenn du hier Fuß fassen und dich bewerben möchtest." "Fuß fassen?" Serge bewegt gelenkig seine Zehen in den dicken Socken. "Ah." Ich sortiere mich. "Eine Redewendung. Wenn man sich an einem Ort etablieren will." Bemühe ich franko-lateinische Hilfstruppen zur Übersetzung. Serge lächelt verhalten. "So viele... Bilder in Deutsch, die ich nicht kenne." "Langweilig wird's dir da eine ganze Weile nicht werden." Prognostiziere ich. Weil ich eine vage Ahnung verspüre, dass eine Geste der Aufmunterung angezeigt ist, küsse ich ihn auf die Wange. Sein Lächeln vertieft sich. Na, so langsam habe ich den Dreh heraus! "Ad 2!" Neuer Aufzählungsstrich. "Kranken- und Rentenversicherung, Alterssicherung, Meldeverfahren! Ach ja, Bankverbindung!" Definitiv keine schönen Notwendigkeiten, aber die Broschüre des "Welcome-Center" hat uns ja deutlich gemacht, dass es unumgänglich ist, sich zu kümmern. An- und Abmelden, nicht nur als Bürger, sondern auch bei den Steuerbehörden! Haben Versicherer und Bankinstitute hier Partnerunternehmen oder Filialen? "Ad 3!" Kratze ich eilig über das Papier. "Vertrag mit der Lebensversicherung aussetzen." Da Serge als Profisportler quasi freiberuflich tätig ist, hat die Agentur für ihn zur Sicherung des späteren Lebensunterhalts Versicherungen abgeschlossen. Wenn er nun aber kein Einkommen mehr generieren kann, ist es notwendig, die Verträge einzufrieren, damit er seine bis dahin erworbenen Ansprüche nicht verliert. Neben mir winselt er leise. Ich nicke vehement. "Ja, das wird ein Bürokratie-Krieg! Wir schaffen das aber! Schwierigkeiten machen uns stärker." Behaupte ich vehement. Eingestanden, das ist eine sehr optimistische Erwartung, doch ich finde, mit Zuversicht lassen sich manche Hürden und längere Durststrecken besser bewältigen als mit der Gruselvision des wohl schlimmsten anzunehmenden Ausgangs. "Ad 4, hier die Originale vorlegen, damit du beim Finanzamt und bei der Arbeitsagentur registriert wirst." Das sollte, zumindest bei EU-Bürgern, nicht ganz so schwierig sein. Nehme ich an. "Ad 5!" Ich ergänze vor den Spiegelstrichen die jeweilige Örtlichkeit. "Dein Zimmer in der WG räumen." Ich wende den Kopf, erwische Serges Profil, erhasche den Ausdruck von banger Wehmut auf seiner Miene, bevor er die Kiefer zusammenpresst, um die Verzagtheit aus seinen Zügen zu vertreiben. "Hast du viel umzuziehen? Brauchen wir ein Umzugsunternehmen? Ich weiß gar nicht, was so was kostet." Grüble ich, denn die Strecke ist ja enorm. "Das geht schon." Serge schenkt mir ein blasses Grinsen. "Es ist nicht so viel." Ich stutze, weil ich mich doch der luxuriösen "Spielzeuge" erinnere, Konsolen, Fernseher, Computer, diverser anderer Schnickschnack, dazu wertvolle Accessoires. "Na ja, wenn es die Ausmaße von Reisegepäck nicht übersteigt, können wir es wohl hierher mitnehmen." Erwäge ich laut, betrachte ihn dabei aufmerksam. "Ansonsten könnten wir es auch verschicken." Er legt den Kopf schief, löst tatsächlich eine Hand, um sich weizenblonde Strähnen aus der Stirn zu wischen. "Das geht so." Wiederholt er. "Ich brauche bloß diese großen Stofftaschen..." Seine Geste übersetzt sich mir fehlerfrei, ich weiß, was er meint. "Da kann ich mal nachsehen, was sich bei mir so findet." Biete ich an. Serge lässt sich schwer gegen mich sinken. "Das wird schon." Tröste ich, lege Notizbuch und Stift weg, umarme ihn behutsam. Eine schwierige Situation. Ich habe mein Leben in der letzten Zeit stets selbst gelenkt, Veränderungen aus eigenem Entschluss angegangen. Für Serge stellt sich dieser Umbruch vermutlich anders dar. Außerdem, rufe ich mir streng in Erinnerung, hat er auch lange Zeit mit anderen in dieser WG zusammengelebt. Vielleicht fürchtet er, Freunde zu verlieren? "Es ist wie ein Marathon." Wispert Serge leise an meinem Ohr. "Aber ohne dein Timing bekomme ich das nicht hin. Ich muss laufen. Ich fürchte mich vor Stolpern und Fallen..." "Wir laufen zusammen." Verspreche ich ihm. "Wenn wir mal straucheln, dann stützen wir uns gegenseitig. Es wird dir hier gefallen, Serge, bestimmt!" Was kann ich noch sagen? Wie kann ich ihm Mut und Zuversicht einflößen? Ich bin überzeugt, dass wir alle Hürden nehmen, andererseits kenne ich ja meine beschränkte Gefühlswelt. Wie kann ich ihn erreichen? Serge klettert mal wieder auf meinen Schoß, betrachtet mich prüfend. "Hast du keine... Zweifel?" Ich erforsche kurz meinen übersichtliches Seelenleben. "Nein." Antworte ich ihm. Er entlässt eine Mischung aus Auflachen, Keuchen und Seufzer, grinst schief. "Du bist wirklich... exceptionnel?" "Außergewöhnlich?" Ich pflücke ein paar lose Strähnen aus seinem Gesicht. "Nein, gar nicht. Nur ein schräger Vogel." Serge setzt die Kritikfalte in seine Stirn. "Das ist nicht 'hässlicher Vogel'?" Erkundigt er sich. Da ich ihm das erste Urteil des Knipsers über mich nicht vorenthalten hatte, begreife ich seine Nachfrage. "Nein, 'schräg' bedeutet merkwürdig, seltsam. Etrange." Fische ich im Trüben meiner Erinnerungen an das Schulfranzösisch der Vergangenheit. "Ah." Seine Miene bleibt ernst. "Weil es nicht stimmt, weißt du? Du bist kein 'hässlicher Vogel'." Die gegenteilige Beweisführung erspare ich mir, denn er kennt mich ohne jedes Feigenblatt. Einiges von mir schmeichelt dem Auge der Betrachtung ganz sicher nicht. Seine graugrünen Augen funkeln streng, als er mir die Hände um die Wangen legt. "Ich hab nie gedacht, dass du hässlich bist! Du bist du, das ist mehr als schön!" Über die Beweisführung ließe sich streiten, doch da Serge mich jetzt küsst, und zwar sehr ausführlich mit großem Engagement, lasse ich mich nicht auf Haarspaltereien ein. Grundsätzlich, das kann ich nicht leugnen, streichelt Serge meine Narben immer so zärtlich, als müsse er mich trösten, als sei ich an diesen Körperpartien besonders empfindlich. Was nicht stimmt, wie wir wissen. Ich bin, wie die Ärzte damals richtig urteilten, ein zäher Brocken. Was auch immer damals passiert ist, als ich die Wunden erlitt, ich leide nicht darunter, denn sie sind gut vernarbt, behindern mich nicht. Deshalb fühle ich mich ein klein wenig unwohl, wenn Serge mir besondere Aufmerksamkeit widmet. Es kommt mir dann so vor, als betrüge ich ihn mit einer Zartheit, über die ich gar nicht verfüge. Weil wir ordentlich ins Keuchen kommen, zieht er sich schließlich ein wenig zurück, leckt sich über die Lippen, um Speichelspuren zu tilgen. Also. Wer von uns beiden attraktiv ist und gemeingefährlich herausfordernd für eine nahezu komatöse Libido, DARÜBER müssen wir nicht streiten. "Lecker." Kommentiere ich ungezogen, zwinkere ihm zu. Er knurrt spielerisch, kichert dann, wirft sich um meinen Hals, mit dem seit einem Dutzend Jahren bekannten Schwung. "Dschoosefff, ich mag dich sehr!" Ich umarme ihn entsprechend. "Serge, ich mag dich auch." ?-? Am nächsten Morgen begleitet mich Serge für eine noch größere Etappe, bevor er brav umkehrt, um sich an die Liste zu setzen. Der Plan sieht vor, wenn die Rückmeldung der Agentur kommt, dass sie seine Unterlagen zusammengepackt haben, nach Paris zu fahren, um dort die einzelnen Punkte zu erledigen. Ein letztes Entgegenkommen in dieser Hinsicht wäre durch die Agentur natürlich wünschenswert, aber das überlasse ich Serges Charme. Ich muss allerdings nicht bis nach Schichtende und Heimkehr warten, um über die neuesten Entwicklungen informiert zu sein. Gegen Mittag hält man mir schon die Smartphones vor die Brille, damit ich auch selbst lesen kann, dass die Agentur ihre Betreuung einstellt, die Accounts geschlossen werden. Zuletzt noch die artig-hohle Phrase des Glückwünschens für die weitere Zukunft. Ich werde folglich mit Fragen gespickt. Was Serge nun macht. Ob er hierher auswandert. Ob man ihn rausgeworfen hat. Wo er leben wird. Wie es ihm geht. Ob er mich heute abholt. Wie man ihm Nachrichten zur Aufmunterung zukommen lassen kann. Puh. Das Getöse erschwert mir das Arbeiten ein wenig, denn ich mache mir auch so meine Gedanken. Bin ich wirklich genug auf ihn eingegangen? Habe ich ihm das Gefühl der Unterstützung auch tatsächlich vermittelt? Weil mich das nachhaltig beschäftigt, frage ich Serge direkt, als er mich an unserem Treffpunkt erwartet. Die Nase ob der Kälte gerötet, meine alte Uhr konsultierend, blickt er mich überrascht an. "Gefühlsmeister." Ergänze ich sparsam. "Mir fehlt die Intuition." Serge lächelt, legt mir die Arme um den Nacken. "Ich verstehe." Versichert er mir. "Ich werde dir sagen, wenn ich mehr Gefühl will." Oh. Schön. Pragmatisch. Er grinst verschmitzt ob meiner sparsamen Mimik, die doch nicht so unleserlich bleibt, wie ich häufig vermute. "Ich war fleißig heute." Er legt seine Stirn an meine. "Du kannst mich zu Hause belohnen." Oh. Oha. ?-? Kapitel 5 - Au revoir, Paris! Also. Ich muss schon sagen. Allerdings bleiben mir wie gewohnt die Worte weg. Das stört nicht weiter. Zum Glück. Nachdem wir also in ausgesprochen guter Zeit das traute Heim erreicht hatten, gestattete mir Serge bloß ein wenig Wasserfassen, dann verlagerten wir unsere körperlichen Aktivitäten auf die Matratze im Obergeschoss, was zu meiner temporären Sprachlosigkeit führte. Nicht, dass ich irgendeinen Grund hätte, mich zu beklagen. Von ehrfürchtigem Staunen zu sehr leidenschaftlich-dynamischen Austausch ist es bei uns nicht weit. Serge ist schön, sexy, herausfordernd. Meine niederen Instinkte tragen den Sieg davon, wie gewöhnlich. Das dezent schlechte Gewissen verabschiedet sich trotz meiner Handgreiflichkeit, weil ich spüre, dass es ihm gefällt, dieser unverblümte, direkte, animalische Austausch von Energie. Tja. Ich habe noch unter der Dusche weiche Knie, was mir selbst nach strapaziösen Marathons nicht passiert. Tendenziell werden hier jedoch auch Muskeln und Sehnen beansprucht, die ich dabei nicht einsetze. Mit Serge auf dem Schoß, in post-koitaler Weltzufriedenheit, teile ich Nudeleintopf, lausche aufmerksam seinen Erfolgsmeldungen. Die Agentur hat sich in der Tat darum bemüht, seine vertraglichen Verbindlichkeiten an seine neue Heimat überzuleiten, soweit das möglich war, seine Unterlagen sind gepackt und stehen zur raschen Abholung bereit. Deshalb hat Serge sich auch für den morgigen Tag ein Zugticket besorgt, um trotz bevorstehendem Wochenende die Dienstleistungsbereitschaft vor Ort zu erproben. Bis Mitte der nächsten Woche hat er ja theoretisch Zeit, das Quartier zu räumen. "Gut gemacht!" Nicke ich dementsprechend lobend. "Ich sollte dir auch noch die Stofftaschen herauslegen, richtig?" Auf dem Hinweg kann er sie ja bequem zusammengefaltet im Rucksack mitführen. "Hör mal, was hältst du davon, wenn ich am Samstag den Nachtbus nehme?" Ich erhebe mich. "Ich könnte am Sonntag vorbeischauen, schon mal eine Ladung mitnehmen?" Klar, bequem wird das nicht, die Fahrt dauert mehr als neun Stunden, zurück dazu mit Gepäck, aber das kann ich schon mal verknusen. "Mit dem Bus?!" Serge schenkt mir einen entsetzten Blick. "Kostet weniger als die Zugfahrt." Erläutere ich. "Danach brauche ich bloß noch die S-Bahn nehmen." Zugegeben, von der S-Bahn-Station bis hierher ist es auch noch ein Stück, doch ich habe schon eine Idee, wie ich mir behelfen kann. "Wenn du den Laptop anwirfst, lass ihn bitte für mich an. Ich buche mir die Busfahrkarten." Verteile ich ungeniert Aufgaben, klettere die Stiege hinauf, krame Stofftaschen zusammen, leere die Inhalte aus, damit Serge nichts zukaufen muss, was hier bereits vorhanden ist. Als ich noch sortiere, höre ich ein ersticktes Stöhnen von unten. Nanu? Die Tür zum Bad schlägt, dann erklingt ein unverkennbares Geräusch: Mageninhalt wird der Porzellanschüssel anvertraut. Herrje. Ich stürze, die Stofftaschen apportierend, herunter, denn seit Serge hier ist, hat sich sein Magen sehr zivil gezeigt. War in der Nudelsuppe etwas, das er nicht vertragen hat? Bevor ich jedoch das Badezimmer ansteuern kann, registriere ich auf dem Laptop ungewohnte Bilder, verzerrte Geräusche. Ich bleibe stehen, ganz unwillkürlich, trete näher, hebe den Laptop vom Tablett hoch, um wirklich sicher zu sein. Es sind etwa sieben Minuten. Ich nutze den Fortschrittsbalken, schließe die Seite, die E-Mail mit dem Link, das Programm. Ich hole mir ein Wasserglas. Serge kauert vor der Toilettenschlüssel, ein ausgepumptes Bündel, das trocken würgt, weil die Kehle von der Galle verätzt ist, aber längst nichts mehr ausspucken kann. Das Wasserglas auffüllend gehe ich anschließend neben ihm in die Hocke, so beengt es auch ist, fädle den freien Arm unter seinen Brustkorb, richte ihn auf. Er wimmert gepeinigt, die Augen fest zugekniffen. "Ausspülen." Kommandiere ich, das Wasserglas an seinen Lippen. Er gehorcht, gurgelt, spuckt in die Schüssel. Zweimal noch, dann ist die Neige erreicht. Ich drücke den Spülknopf, ziehe ihn im Aufstehen auf die Beine. Sein ganzer Leib zittert erbärmlich. Damit er nicht zusammenbricht, nehme ich ihn in den Arm, dirigiere unsere verschweißte Einheit Richtung Waschbecken, Wasser trinken, auch wenn es schmerzt, um die aufgeraute Kehle zu beruhigen, die körperliche Pein ein wenig zu lindern. Widerstandslos lässt sich Serge zwar zur Tür führen, doch dann stockt er abrupt. "Ich hab's ausgeschaltet." Lasse ich ihn leise wissen. Seine Hände, die meine Taille umklammern, fliegen hoch zu seinem Gesicht, verbergen es. Er krümmt sich gequält winselnd, aber ich lasse nicht zu, dass er sich erneut zusammenfaltet und mir zu Füßen sinkt. Wenn einrollen, dann auf der Sitzbank, mit einer Decke um die Schultern! Ich nehme neben ihm Platz. "Man kann das anzeigen." Breche ich schließlich das unbehagliche Schweigen. "Ich hätte es auch zum Löschen angemeldet, aber ich habe keinen Knopf gefunden." Was ganz entschieden an den kyrillischen Zeichen lag, die ich nicht entziffern kann. "Ich weiß allerdings nicht, ob die Polizei was machen kann, wenn's ein ausländischer Server ist." Ergänze ich. Serge erstarrt. "Polizei?" Krächzt er, nimmt die Hände vom Gesicht, schüttelt unversehens die Decke ab. "Nein! Nicht Polizei! Dschoosefff, nein, bitte!" Ich bin etwas konsterniert. Was sollen wir dann unternehmen? Sehr ärgerlich, dass ich von diesem Medienkram keine große Ahnung habe. "Um was geht's hier?" Erkundige ich mich, wickle ihn erneut in die Decke. Er wendet blitzartig die Augen ab, ballt sich zu einem Päckchen zusammen, will möglichst wenig Angriffsfläche bieten. Ich warte eine Weile, doch Serge antwortet mir nicht, also erhebe ich mich, da schnellt er vor, umklammert meine Hand. "Nicht! Dschoosefff!" Kläglich, verängstigt, bleich, ausgezehrt, die Augen gerötet. "Ich mache uns Tee." Beruhige ich ihn. "Dein Hals tut doch sicher weh. Und ich habe Durst." Er starrt mich an, gibt meine Hand dann frei. "...sei nicht böse... Dschoosefff." Würgt er mühsam heraus, die Augen gerötet. Ich bin eher irritiert. "Ich bin nicht böse." Stelle ich richtig. "Aber es ist nicht die feine Art, solche Privatvideos zur Schau zu stellen, finde ich." Offenbar ohne Einverständnis aller beteiligten Parteien. Serge kommt klapprig auf die Beine, die Decke rutscht erneut von seinen Schultern. "...du bist nicht böse... wütend...?" Ich versuche, in seiner Körpersprache einen Hinweis darauf zu finden, warum er annimmt, ich sollte verärgert sein. "Also, ich habe keinen Anlass, wütend zu sein." Antworte ich schließlich ratlos. Er holt Luft, was in seiner Kehle ein seltsames, winselndes Geräusch auslöst, stößt einen vernehmlich gequälten Schrei aus, rammt mich mit beiden Händen vor die Brust und macht kehrt, während ich mich abzufangen versuche, hetzt zur Tür hinaus in die Dunkelheit. "Serge?!" Nun bin ich verwirrt. Was soll das?! Es macht ihn zornig, dass ich nicht wütend bin? Ich atme tief durch. Das ist wohl wieder einer dieser Momente, wo mir meine mangelnde Gefühlstiefe (oder wie auch immer man das bezeichnen mag) im Weg steht. Nun, so kann es nicht bleiben. Ich streife mir etwas über, sammle seine Jacke, die grässlichen Boots und ein Handtuch ein. Als ich dem gewundenen Weg durch unsere Siedlung folge, hält mich ein Nachbar an. "Joseph, n'Abend auch! Sag mal, euer Training, ist das wirklich gut so? Barfuß und bloß in dünnen Klamotten?" Ah, Serge hat sich also hier sehen lassen. "Bisschen viel Abhärtung, findste nicht?" Ich nicke, bediene mich einer Ausflucht. "Das ist bloß wie beim Eisbaden, kurzer Kälteschock, dann wieder zurück auf Normaltemperatur." "Besser is das!" Mit dieser Unterstützung für ein nicht existentes Übungsprogramm fahnde ich nach Serge. Zwischen den strohigen Gräsern am ehemaligen Spielplatz nehme ich einen zusammengekauerten Schatten wahr, der dort üblicherweise nicht zu finden ist. "Serge." Spreche ich ihn an. "Bitte lauf nicht weg." Ich könnte ihm zwar mühelos folgen, aber zur Straße hin liegt noch Rollsplitt. Seine blanken Fußsohlen sind das bestimmt nicht gewöhnt. Er rührt sich nicht, also überwinde ich rasch die Distanz, gehe neben ihm in die Hocke, lege ihm erst mal seine Jacke um die Schultern. Er schlottert so erbärmlich, dass selbst Schluchzen nicht möglich ist. "Lass mich rasch deine Füße abreiben, dann schlüpfst du in die Stiefel, in Ordnung?" Dafür bugsiere ich ihn mühsam in die Senkrechte, denn sein Körper will sich ob des Frosts schützend zusammenrollen. Ich zwinge ihn förmlich durch meine Eigenmächtigkeit, sich auf meine Schultern zu stützen, während ich nacheinander seine Füße vom überfrorenen Boden löse, sie abreibe, den hässlichen Boots anvertraue. Anschließend richte ich mich auf, spreche ihn direkt an. "Komm wieder mit rein, Serge. Dann reden wir." Er weicht hartnäckig meinem Blick aus, rückt mir jedoch eng auf die Pelle, umklammert mich, sodass sein Zittern sich auf mich überträgt. In Gegenwehr umarme ich ihn, reibe dann entschlossen über alle erreichbaren Partien. "Hör mal, es tut mir leid, dass ich nicht begreife, was genau los ist." Entschuldige ich mich. "Und dass es dir so weh tut, wenn ich nicht böse auf dich bin." Serge schluchzt auf, vermischt mit einem heiseren Auflachen. "Du könntest mir drinnen auf die Sprünge helfen." Schlage ich hoffnungsfroh vor. "Mir erklären, was ich vermurkst habe." Wieder erhalte ich keine Antwort, aber zumindest lässt Serge zu, dass ich ihn zum Haus zurückführe, eng an mich gepresst. Dort angekommen dirigiere ich ihn ins Bad, die Füße unter der Dusche vorsichtig abspülend. Glücklicherweise hat er sich keine Wunden zugefügt, in etwas Scharfkantiges getreten oder ähnliches. Rücksichtslos verpuppe ich Serge im Anschluss in alle Decken, die in der Wohnküche greifbar sind, setze dann den angekündigten Tee auf. Während der zieht, hole ich Kamm, Pflegeöl und die Dose Zopfgummis, richte mich hinter Serge ein. Zerzaust war er ja schon nach unserem Intim-Intermezzo, aber draußen hat er sich wohl die Haare gerauft, weshalb der unordentliche Wust behandelt werden muss, was ich nun tue, trotz der bedrückenden Stille. Seine hochgezogenen Schultern entspannen sich allmählich, während ich Strähnen entwirre, glattstreiche, ihm kleine Zöpfe flechte. Als ich fertig bin, fasst er unerwartet meine Hände, legt sie sich um die Taille, rutscht rücklings näher an mich heran, als könne er mich ebenfalls wie eine flauschige Decke um sich wickeln. "Ich möchte verstehen, was diese Sache bedeutet." Stelle ich fest. Wer ist der Mann im Video? Warum lädt jemand es hoch? Was hat all das Kyrillisch zu bedeuten? Wieso verschreckt es Serge so sehr, dass sich ihm veritabel der Magen umdreht? "...du bist nicht böse..." Wispert Serge leise, aber es ist keineswegs eine Frage. "Nein." Wiederhole ich entschieden. "Soll ich wütend sein? Auf dich? Aber du hast doch nichts getan!" Serge zieht die Beine vor den Leib. "Du verstehst nicht." Krächzt er. "Richtig." Nicke ich entschieden, löse eine Hand, angle unsere Teebecher nacheinander heran. "Deshalb bitte ich dich, mir das zu erklären." Er nimmt vorsichtig einen Schluck, seufzt dann gequält. "Vielleicht du bist doch ein schräger Vogel." Ich ahne einen Anflug von bärbeißigem Humor. "Ziemlich sicher sogar." Unterstütze ich diese These. Einige Augenblicke verstreichen, in denen wir an unseren Teebechern nippen, in dieselbe Richtung blicken, aber einander nicht ansehen (zugegeben, dazu hätte Serge Augen im Hinterkopf benötigt). Den Teebecher umklammernd verändert sich seine Körperspannung. Ein Entschluss ist also gefallen. "Nach den Spielen, mein Fuß war wieder in Ordnung, da versuchte die Agentur, eine neue Akkreditierung zu bekommen." Fängt er sehr leise an. Ich registriere, wie sich seine Glieder verspannen, einen unsichtbaren Panzer bilden. "Immer über die Botschaft, zum Sportministerium. Aber sie wollen nicht. Also, ich soll selbst zur Botschaft gehen." Er würgt einen hastigen Schluck herunter, von seiner ganzkörperlichen Verkrampfung behindert. "Ich gehe zur Botschaft. Man sagt mir, leider leider, momentan ist es schwierig. Trainieren in Frankreich, das gefällt nicht so sehr. Ich muss...wie sagt man, Agent?.. finden." "Fürsprecher?" Schlage ich vor. "Jemand, der an deiner Stelle für dich eintritt?" Serge schnaubt. "Fürsprecher...ja, er soll für mich sprechen. Darum muss ich zu Partys gehen, für mich werben." Mir gefällt die Richtung gar nicht, in die sich diese Erzählung bewegt. "Ich gehe hin, stelle mich vor. Sehr reicher Mann, viele...Connections...ah, Bindungen! Der Botschafter sagt mir, wenn dieser Mann mein Fürsprecher ist, dann wird alles gut. Ich soll daher anpassen." Korrekturen erspare ich mir, denn Serge kämpft offensichtlich nicht nur mit der fremden Sprache, sondern ringt um jede Silbe. Er atmet gepresst durch. "Also gehe ich zu den Partys. Dieser Mann fühlt sich wie Zar. Er ist Herrscher, alle anderen sind Bauern? Wie beim Schach. Er hat Macht, alle sollen das merken." Nun zittert er wieder, trotz seiner enormen Körperbeherrschung, dem unbedingten Willen, stark, unbeeindruckt zu sein. "Du musstest ihm also zu Willen sein, um eine neue Akkreditierung zu bekommen." Fasse ich zusammen. Serge entwischt ein gequältes Aufschluchzen. "Und die Agentur weiß nichts davon?" Er zuckt mit den Schultern, hat Mühe, eine Hand vom Teebecher zu lösen, um sich hastig über die Augen zu wischen. "Schätze, es hat ihm nicht gefallen, dass du nicht mehr in Reichweite bist." Hasardiere ich knapp. "Das ist auch der Grund, warum du so überstürzt zu mir gekommen bist, nicht wahr?" Er erstarrt, friert förmlich ein. "Entschuldige, ich bin weiterhin nicht böse auf dich." Stelle ich fest. "Bei diesem Burschen da hege ich jedoch entschieden finstere Gedanken." Nun erklärt sich also auch Serges seltsames Schweigen seit geraumer Zeit. Bleibt zu hoffen, dass der Drecksack sich selbst ein Bein stellt oder der russische Verkehr ihn mal trifft. Aber diese kleinen Rachephantasien spreche ich nicht aus. Niedere Instinkte reduzieren einen auf lange Sicht selbst. Unerwartet heftig windet sich Serge herum, den Teebecher achtlos in die vage Richtung des Tabletts fallen lassend. "Aber ich mag nur dich, Dschoosefff! Nur dich! Immer nur dich!" Ich lasse mich umhalsen wie die Boje vom Ertrinkenden, streiche ihm über den Rücken. "Das weiß ich doch." Versuche ich ihn zu überzeugen. "Ich mag dich auch, Serge." Das genügt ihm nicht, schon wieder laufen Tränen, während er erneut wiederholt, dass er nur mich mag, ganz allein mich. Könnte mir zu Kopf steigen, aber ich bin ja Gefühlsmeister. "Ich weiß." Lehne ich meine Stirn an seine. "Ich habe keinen Zweifel, Serge." Er blinzelt, die graugrünen Augen verhangen. "...warum?" Schnieft er, scheitert kläglich an einem Lächeln. Da muss ich nachdenken. "Das ist eben die Summe deiner Worte und Taten." Verkünde ich nach einer Weile Massieren der grauen Zellen endlich. Also, ich finde das schlüssig. Serge studiert mich, glücklicherweise ohne weitere Wässerung. "Aber... du hast doch gesehen, dass ich..." Er ringt mit sich. "...mit diesem Mann...!" Oh. Soll ich eifersüchtig sein? Darin bin ich noch ungeübter. "Den magst du nicht." Versuche ich es mit ableitender Logik. "Jedenfalls weniger als mich. Außerdem stecktest du in der Klemme. Das kann ich verstehen." Ohne Vorwarnung ballt Serge die Fäuste, schlägt sie mir synchron aufs Schlüsselbein, eindeutig frustriert. Sein Schnauben ist außerdem ein unmissverständlicher Fingerzeig. Ich nehme ihm das nicht krumm, an mir sind schon andere verzweifelt. "Hör mal, ich weiß, dass ich etwas seltsam bin, was Gefühle betrifft." Prognostiziere ich unbeeindruckt. "Ich kann dir leider auch nicht versprechen, dass sich das jemals ändert. Ich bemühe mich zwar, aber das ist eher selten von Erfolg gekrönt." Er lässt sich zurücksinken auf meine Knie, hebt dann die Rechte, um behutsam über meine linke Gesichtshälfte zu streicheln, das unschöne Pendant zur Schokoladenseite. Komplexe Ausdrücke huschen über seine Mimik, wie sich verändernde Wolken über den Himmel, in Zeitraffer. Diese Fähigkeit wird sich mir wohl nicht mehr erschließen. Gefühlsmeister eben. "Ich mag dich, Dschoosefff." Wispert er, beinahe andächtig. "Ich mag dich so sehr." Was auch eine Bürde zu sein scheint, wenn ich sein hilflos-schmerzliches Lächeln richtig deute. "Ich streng mich an, wenn du mir Hinweise gibst." Versuche ich es erneut. "Wahrscheinlich muss ich nur mehr üben." Nun prustet Serge halb erstickt, legt den Kopf schief. "Dschoosefff!" Verkündet er mit großem Ernst. "Du bist ein schöner, schräger Vogel." ?-? Der Vogel, also ich, macht seinem Ruf als Pragmatiker alle Ehre. Ich stopfe nämlich mit zerdrücktem Obst angereicherte und aufgequollene Haferflocken in die Mikrowelle, während Serge sich das Gesicht abspült. Als er zurückkommt, schon sehr viel adretter anzusehen, habe ich die Stofftaschen schon seinem vorbereiteten Handgepäck anvertraut, ringe mit dem Buchungssystem für meine Busfahrkarten. Der Anblick des aufgeklappten Laptops versetzt ihm zwar merklich einen Stich, doch Serge ist ganz sicher kein Feigling. "So." Verkünde ich entschieden, als er sich neben mich kauert, brav den Brei aus der Mikrowelle löffelt. "Jetzt brauche ich eine Streckenbeschreibung, wie ich vom Busbahnhof zu deiner WG komme." Ja, ich weiß, der moderne Mensch trägt üblicherweise seine Massenüberwachung mit sich, was teure elektronische Fußfesseln spart. Ich mag's lieber analog und anonym, deshalb kein Schlaubergerphone mit GPS und Ausspäh-Apps, sondern auf Papier ausgedruckt eine von Fußverkehr-Fans zusammengestellte Stadtkarte. Mein altersschwacher Tintendrucker schlägt sich wacker. Er ist nicht schnell, aber tapfer. (Mal ehrlich, sollte ich mit der Hand zeichnen müssen: oje. Da beklage ich mich lieber nicht über mangelndes Tempo!) Serge neben mir schweigt, aber ich kann an seiner blassen Miene ablesen, dass ihm durch den Kopf geht, was mich auch beschäftigt. "Was meinst du, wirst du morgen sicher sein?" Ja, ich weiß, taktvoll, immer wie ein Rhinozeros im vollen Schwung direkt durch die Mitte rein in die Turbulenzen. "Kannst du dir Begleitung organisieren?" Variiere ich meine Frage. Es fällt mir schwer einzuschätzen, was dieses Potenzwunder sich einfallen lassen könnte, um außer der globalen Bloßstellung noch direkter zu agieren. Von sich selbst berufenden Moralaposteln, Sittenwächtern und anderen hand- und übergreiflichen Bekloppten ganz zu schweigen. "...Saladdin." Murmelt Serge endlich. "Er kennt viele Leute." "Saladdin?" Hake ich nach. Ein Lächeln irrlichtert über Serges Gesicht. "Lady Mystique." Ergänzt er. Bei mir regnet's immer noch keine Centstücke. "Ich habe ihn mal erwähnt." Er schlingt mir wieder die Arme um die Taille. "Ein Dragqueen, sehr bekannt im Underground." "Eine." Brumme ich beiläufig. "Eine Dragqueen. Daran kann ich mich gar nicht erinnern." Nun schmunzelt Serge verschmitzt. "Saladdin mag mich sehr, Dschoosefff." Wird mir mit dem Scheunentor gewinkt. "Aber wir sind Freunde. Deshalb habe ich nicht so viel von ihm erzählt." Ah. Ach so. Na, die Rücksicht hätte er gar nicht üben müssen, ich bin chronisch schwer von Begriff. Was ihm wohl auch gerade aufgeht, denn er seufzt nachsichtig. "Ja. Ich hätte es nicht kapiert." Bestätige ich ihm amüsiert. Serge erspart sich eine Antwort, schmiegt sich stattdessen an meine Seite. "Das wird schon." Versichere ich ihm. "Weißt du, das ist unser Marathon. Wir laufen gemeinsam und helfen uns gegenseitig. Das klappt." Ich bin eben nicht nur Gefühlsmeister, sondern auch Optimist. ?-? Vernünftiger wäre es wohl gewesen, den späteren Zug zu nehmen. Dann hätte ich Serge auch davon abhalten können, vor der stressigen Reise mit mir die Halbmarathonstrecke zu absolvieren. Mein Fehler. Ich hatte angenommen, er würde den Zug um 10 Uhr nehmen, stattdessen hat er sich für den kurz vor 7 Uhr entschieden. Am Freitagvormittag in Paris hat man, zumindest nach seiner Auffassung, noch Chancen, dies und das zu erledigen. Ich schicke mich also drein, dass wir gemeinsam aufbrechen, ich zur Frühschicht, er zum Bahnhof, jeder einen Rucksack auf dem Buckel. Etwas zeitiger als sonst erreichen wir die Stadt, dann liefere ich ihn selbst am Gleis ab, kurz vor knapp, aber hier zeigt sich die Deutsche Bahn kulant: so ganz auf den Punkt fährt der ICE nicht raus. Eine eilige Umarmung, dann sprintet Serge zu seinem Abteil. Ich gebe auch Fersengeld, denn ich bin spät dran! ?-? Als Gefühlsmeister genieße ich den Vorteil, Entwicklungen, an denen ich persönlich nichts ändern kann, in den Hintergrund zu verschieben, mich auf das zu konzentrieren, was ich beeinflussen kann. Ich bin aber froh, dass niemand mich auf das Sex-Video anspricht. Meine ungewohnte Verspätung (aber noch locker vor Ladenöffnung) entschuldige ich mit der Reise nach Paris und der Versicherung, dass Serge tatsächlich hier bleibt. Das übertüncht all die Fragen und Zweifel, sein Charme becirct seine Fans wie gewohnt. Wenn er hier bleibt, dann kann man ihn ja öfter sehen, mal was unternehmen, gemeinsam! Er könnte für "uns" laufen! Ich überlasse die fröhlichen Zukunftsspekulationen den anderen und klotze ran. Aber es ist ein durchaus merkwürdiges Gefühl, am Nachmittag ins Haus zu kommen, ohne dass mir zwischenzeitlich jemand mit meinem Namen als Kampfschrei an den Hals springt. Gewöhnungseffekt, schon verstanden, trotzdem. Ja, es ist besser mit ihm. Der Knipser hat recht: wenn's passt, muss man die Sache klarmachen. Ich kann dabei schließlich nur gewinnen! ?-? Serge schickt nur eine kurze E-Mail am Abend. Er hat so viel Zeit wie möglich dazu genutzt, seine bürokratische, finanzielle und steuerliche Anwesenheit in Frankreich zu beenden. So wäre es wahrscheinlich auch schwer gefallen, ihm aufzulauern. In der WG gibt es wohl dezente Wehmut, dass er auszieht, aber man ist dort Kommen und Gehen gewöhnt. Die Stofftaschen reichen, seine Unterlagen von der Agentur hat er schon, auch ein Busticket für Sonntagabend, damit wir gemeinsam zurückfahren. ?-? Die samstägliche Frühschicht bringe ich hinter mich, ohne dass es zu größeren Unstimmigkeiten kommt. Aber ich mache mir doch Gedanken über Serge, ob es ihm einigermaßen gut geht, trotz der Anspannung. Da angeraten wird, eine Stunde vor Abfahrt des Fernbusses aufzulaufen, erspare ich mir den Rückweg nach Schichtende. Glücklicherweise kommt mir das Wetter entgegen, sodass ich am nahen Flussufer meinen Proviant um die Hälfte reduzieren kann. Anschließend nutze ich noch das Angebot des eintrittsfreien Samstags immer am letzten des Monats, schlendere durch eine Museumsausstellung, dann geht es zurück zum Fernbusbahnhof, sich anmelden und warten. Ich bin durchaus überrascht, wie viele Reisende sich einfinden. Manche sind aufgekratzt, andere routiniert, einige müde, so wie ich. Wir starten pünktlich, bereits darüber informiert, wann es die gesetzlichen Pausen geben wird und dass wir uns auch auf Kontrollen gefasst machen sollen. Zwei Fahrer werden sich abwechseln. Meine Umgebung nutzt die medialen Möglichkeiten, liest oder schläft. Ich versuche auch, Schäfchen zu zählen, aber über ein Dösen komme ich nicht hinaus. Das werden wohl lange neun Stunden. ?-? Es ist schon die zweite Kontrolle, die mich anhält, als ich den Fernbusbahnhof in Paris verlassen will. Das nehme ich nicht krumm, sondern nutze die Gelegenheit, die schwer bewaffneten Einsatzkräfte nach dem Weg zu fragen. Nun ja, ich hoffe zumindest, dass es einigermaßen verständlich ist, denn trotz der Atmosphäre scheint mein Schulfranzösisch noch immer im Tiefschlaf zu liegen. Die vage Richtung wird mir ausgedeutet. Dass es bis zur Adresse der WG ein ganz schönes Stück ist, wusste ich ja schon. Ich marschiere trotz Übermüdung entschlossen los. Die kurzen Pausen haben nicht genügt, die seltsame Taubheit langer Busreisen aus meinen Gliedern zu schütteln. Abseits der Ile de Cité hat man noch immer das Gefühl, Paris setze sich aus einem Flickenteppich ehemaliger Dörfer zusammen. Hier und da machen sich Leute auf den Weg, Frühstück ist angezeigt. Warum nicht, denke ich mir, hefte mich an fremde Fersen. Man beäugt mich selbstredend, den offenbar verirrten Touristen, doch Frühstück bekomme ich selbstverständlich, auch wenn ich Mühe habe, die Ansagen zu dolmetschen. Nun gut, wenn Serge in Französisch ausbricht, verstehe ich auch nur die Hälfte. Im Gegenzug muss ich eingestehen, dass man auch in unseren Breiten selten auf Hochdeutsch in Reinform trifft. Gesättigt und guten Mutes, immer dem ausgedruckten Plan folgend, steuere ich quer durch die Stadt das Ziel an. Das Viertel, in das es mich verschlägt, entspricht Serges Beschreibungen: bunt, laut, eng, improvisierend und ganz sicher nicht herausgeputzt. Das Klingelpaneel ist jedenfalls außer Betrieb, was die heraushängenden Drähte verraten. Dafür schließt die Tür nicht richtig und lässt mich hinein. Die Stockwerke abzählend entscheide ich mich für eine handbemalte Tür, klopfe. Ein Hund knurrt dahinter, der die Ausmaße eines Elefanten haben muss. Wenigstens klingt er so. Eine sehr übernächtigt wirkende Frau öffnet mir, den Dackel auflesend, sie ganz in verstaubtem Schwarz, der Hund mit einem rosafarbenen Leibchen. Artig stelle ich mich vor, da höre ich schon Serge meinen Namen rufen, taumle rückwärts ins Treppenhaus, weil er mich wie gewohnt umhalst. ?-? Serge hat nicht untertrieben. Ganze zwei Stofftaschen umfassen seine Habseligkeiten, ergänzt um seine Unterlagen in drei Aktenordnern. Sein Zimmer ist kahl, das Bett abgezogen, die bunt bemalte Kommode ausgeräumt. Außer einem betagten Nettop registriere ich keine der zahlreichen elektronischen Spielzeuge, mit denen er mich immer geneckt hat. "Und das ist wirklich alles?" Kann ich meinen Unglauben nicht verbergen. Wo sind die Spielkonsolen, die teuren Mobiltelefone, die großen Glotzen, der Fitness-Schnickschnack fürs Handgelenk? "Das ist alles, was mir gehört" Verkündet Serge entschieden. Hat das ganze Zeug also als "Aufmerksamkeit" gedient, wie er mir mal andeutete? "Nun, damit bekommen wir zumindest keinen Ärger im Bus." Stelle ich fest. Klamotten, Handtücher, Bettzeug. Ich muss mir eingestehen, dass ich ein anderes Bild von seiner Umgebung hatte, nicht, dass er so wie ich früher eher spartanisch lebt, mit wenig Privatsphäre, ohne großen eigenen Besitz. "Lass uns gehen, Dschoosefff." Drängt er mich, aber ich habe ohnehin schon registriert, dass er bei jedem Türenschlagen zusammenzuckt. "Zum Busbahnhof?" Es ist gerade mal Mittag, unsere Abfahrt ist erst für den Abend angesetzt. "Nein, Saladdin holt uns ab." In fliegender Eile absolviert Serge flüchtige Umarmungen, hingehauchte Wangenküsse, Abschiedsfloskeln. Ich apportiere artig das Gepäck, dann geht es durchs Treppenhaus abwärts. "In der Nacht war ich bei Saladdin." Vertraut Serge mir an, blickt sich auf der bevölkerten Straße um. "Ich habe nur heute Morgen hier gepackt." Neben uns bremst quietschend ein mehrfarbiges Vehikel mit fortschreitender Rostpest. Was auch immer Serge mit dem Punk hinter dem Steuer bespricht, entzieht sich meinem Verständnis. Ich bin nicht mal sicher, ob es sich um Französisch handelt. Ohne das Hupkonzert zu beachten, öffnet Serge den verbeulten Kofferraum, wir laden ein, klettern auf die Rückbank. Statt Sicherheitsgurten gibt es eine seltsame Gürtelkonstruktion zu bewundern. Durch Nebenstraßen gelangen wir in einer Viertelstunde in ein ähnlich strukturiertes Viertel. Mit demselben ungenierten Manöver werden wir exiliert. Im Schatten gewaltiger Siedlungsblöcke ducken sich Altbauten, allerdings ohne die liebevoll-strenge Hand vom Denkmalschutz konserviert. Es erinnert mich eher an die von Jacques Tati porträtierten Häuser in "mon oncle", heruntergekommene Überbleibsel einer einst vornehmen Wohngegend. Bis zum ersten Stockwerk überlagern sich Graffiti, doch darüber hat jemand mit herunterhängendem Efeu gekontert. Ein Hüne tritt aus einer zerkratzten Stahltür, bestimmt Gardemaß 2m. "Das ist Saladdin." Stellt Serge vor. Ich strecke artig die Hand aus. "Joseph Schmitz, freut mich." Der Riese mit glattrasiertem Schädel, einer etwas helleren Hautfarbe als ich mustert mich aus strengen Augen. Sein Gesicht wirkt apart, nicht unbedingt gefällig. Er tippt mir mit einem feuerrot lackierten Nagel vor die Brust. "Joseph also. Du bist ein Glückspilz. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen." Aha. "Das tue ich." Nicke ich höflich. Sein Englisch klingt so Britisch, ohne jeden Anflug von Akzent, dass ich verblüfft bin. "Sal!" Serge protestiert, schnappt meine Hand. "Dschoosefff ist mein Freund!" Saladdin zuckt, sehr französisch, mit den Schultern. "Ich bin nur an deinem Wohlergehen interessiert, mein Süßer." Er legt Serge den Arm um die Schulter. "Jetzt kommt erst mal rein, dann essen wir!" ?-? Es ist natürlich eine Lektion. Gefühlsmeister hin oder her, blöd bin ich ja nicht. Nachdem wir Serges weltlichen Besitz temporär verstaut haben, begleiten wir Saladdin durch die Nachbarschaft. Sämtliche Läden scheinen keinen Ladenschluss zu kennen, öffnen immer dann, wenn es ihren Eigentümern gefällt. Saladdin schwebt majestätisch voran, geschmeidig wie ein Raubtier, trotz seiner beeindruckenden Größe und Statur. Überall spricht man ihn an, er ist bekannt. Ich apportiere in kürzester Zeit Couscous, Gemüse, Obst, geheimnisvolle Gewürzmischungen in Papiertütchen, zahle artig, wenn mir mit einer königlichen Geste solches zugewiesen wird. Serge wirft mir immer wieder besorgte Blicke zu, also zwinkere ich. Ich habe nicht den Eindruck, dass Saladdin mich nicht leiden kann, aber er möchte sich wohl ein wenig schadlos halten. Als wir zurückkehren, haben sich in der engen Wohnung noch mehr Freunde und Bekannte eingefunden, alle mit Mitbringseln bewaffnet. Die Wohnküche platzt beinahe aus den Nähten, überall wird geschnippelt, geputzt, erhitzt, umgerührt, vorbereitet. Die Besetzung wechselt hin und her, aber die Mischung ist bunt und kosmopolitisch, ebenso das babylonisch anmutende Sprachgewirr. Ich beschränke mich auf Zuarbeiten, froh darüber, dass mein Magenknurren nicht deutlich zu vernehmen ist. Wirklich, es riecht einfach paradiesisch! Der Tisch quillt über, es wird mit allem gegessen, was der Haushalt hergibt. Der eine geht, die andere kommt, Küsschen, Scherzworte, Mitbringsel. Serge nimmt auf meinem Schoß Platz, als noch mehr Ankömmlinge eintreffen. So eine turbulente Runde habe ich lange nicht mehr erlebt. Auch wenn es durchaus beengend ist, gefällt es mir doch gut. Nachdem wir beide satt sind, spülen wir diverses Gedeck ab, denn ausgeteilt wird, bis nichts mehr übrig ist. Saladdin nimmt Serge beiseite, raunt ihm ein paar Worte zu. Daraufhin schieben und schlängeln wir uns durch die Gäste zum privaten Refugium unseres Gastgebers. Das Zimmer ist klein, wird vom Bett und einer Spiegelkommode fast völlig eingenommen. Ein vollgestopftes Boudoir, wie man es sich vorstellt. "Schlaft ein wenig." Saladdin streicht Serge über die weizenblonden Zöpfchen. "Jemand bringt euch zum Busbahnhof." So sind wir allein, strecken uns artig auf der dramatisch aus dunkelrotem Batist gefertigten Tagesdecke aus. "Entschuldige." Murmelt Serge, sich auf mir häuslich einrichtend. "Sal ist manchmal ungezogen." Seine Wortwahl lässt mich grinsen. "Das ist schon in Ordnung." Beruhige ich ihn. "Das war ein tolles Abschiedsessen, oder?" Wird Serge sie nicht vermissen? Aber ihn treibt etwas anderes um. "Ich habe hier geschlafen, Dschoosefff." Betrachtet er mich. "Aber Sal ist erst früh am Morgen zurückgekommen. Er hat nichts getan, verstehst du?" Ich nicke. "Sal ist ein guter Freund. Ein guter Mensch." Versichert Serge mir eindringlich. "Dann bin ich froh, dass er dich aufgenommen hat" Antworte ich ihm. Warum Serge weiterhin glaubt, dass ich zur Eifersucht neige, ist mir ein Rätsel. Die Hoffnung gibt er wohl so schnell nicht auf. "Machen wir ein bisschen Augenpflege." Folge ich dem Ratschlag unseres Gastgebers. "Im Bus ist das nicht sonderlich bequem." Serge seufzt leise ob meines Pragmatismus, schickt sich dennoch drein. Ich döse dagegen, streiche ihm beruhigend über den Rücken, spüre aber, wie er auch hier bei jedem Türenschlagen aufschreckt. Also hat er doch Angst, ihn könne hier noch eine Gemeinheit ereilen. ?-? Wir taumeln beide in der Semi-Dunkelheit hoch, als Saladdin uns aufscheucht. Ich bin beeindruckt, denn vor mir steht unzweifelhaft Lady Mystique. Er ignoriert mich betont, umarmt Serge sehr lange, ermahnt ihn, sich auch ja wieder zu melden. Glücklicherweise ist der Lippenstift kussecht, sonst würde man vermuten, Serge habe sich einen gefährlichen Ausschlag rund um die Mundpartie eingefangen. Ich verneige mich knapp, die Hand haltend, die mir divenhaft entgegenstreckt wird. "Meine Verehrung." Bekunde ich, denn er IST einfach umwerfend in seiner zweiten Persönlichkeit. "Vielen Dank. Wir haben Freunde gebraucht, und wir haben sie hier gefunden." Ein Mundwinkel zuckt, dann ist der Augenblick Nachsichtigkeit verflogen. In vollem Ornat bringt Saladdin uns zur Straße runter, wo bereits ein Taxi wartet, ohne Einsatz des Taxameters. Wir verstauen Serges Habseligkeiten, er wird erneut gedrückt, danach scheucht uns Saladdin auf die Rückbank. Auf verschlungenen Wegen, mutmaßlich nur halblegal, was die Straßenverkehrsverordnung betrifft, gelangen wir zum Busbahnhof. Ich suche nach Bargeld, doch Serge winkt ab. Nun, er hat vermutlich verstanden, was unser Fahrer von sich gegeben hat. Auf Arabisch? Oder sonst einem mir unbekannten Idiom? "Er sagt, dass mit Mittagessen Fahrt schon beglichen." Übersetzt Serge für mich. "Das ist nett." Kommentiere ich. "Sag mal, wie viele Sprachen beherrschst du eigentlich?" Er wirft mir einen verblüfften Blick zu, grinst dann verschmitzt. "Vielleicht verrate ich dir eines Tages." Schön, das sind doch Perspektiven. ?-? Die Rückfahrt verläuft ähnlich wie meine Hinfahrt, nämlich anstrengend, von Pausen und zwei Kontrollen unterbrochen. Serge umklammert fortwährend meine Hand, doch je mehr Kilometer sich abspulen, umso weniger schnürt ihn die körperliche Verspannung in einen Panzer. Schließlich kann er sogar, im Gegensatz zu mir, ein wenig schlafen. Ich döse bloß, verwünsche das unangenehme Kribbeln in allen Gliedern, hoffe, dass ich nicht bei der bevorstehenden Spätschicht im Stehen einpenne! Die letzte Pause nutzend hopsen wir auf und nieder auf dem Rastplatz. "Dschoosefff." Serge schleudert seine dünnen Arme nur so um sich herum, biegsam wie eine Weidenrute. "Ich werde russischen Pass bei Botschaft abgeben. In Briefkasten." Aufgrund meiner Müdigkeit dauert es ein wenig, bis ich meine Gedanken sortiert habe. "Ich glaube nicht, dass das genügt, um die Staatsangehörigkeit loszuwerden." Tue ich meine Einschätzung kund. Einmal Schwung aufgenommen rotieren die Muttern und Schräubchen in meinem Oberstübchen munter (im Gegensatz zu mir) weiter. "Wenn du nicht für Frankreich laufen kannst, dann musst du Deutscher werden. Da kannst du bestimmt auch offiziell die russische Staatsangehörigkeit aufgeben." Vermute ich mal, doch meine Ignoranz bremst meinen erschöpfungsbedingten Enthusiasmus nicht aus. "Es wird zwar etwas dauern, bis der Verband sich zur Akkreditierung entschließt, aber bei anderen hat das schließlich auch funktioniert." Fiebere ich weiter. Serge studiert mich aufmerksam. "He, vielleicht geht es sogar schneller, wenn wir uns verpartnern." Komme ich sehr subtil zu meinem Anliegen. "Ver-Partnern?" Sortiert er die Silben nach bekannten Bedeutungen. "Na ja, das ist nicht dasselbe wie heiraten, aber nahe dran." Behaupte ich. "Man vereinbart das ganz amtlich, also Männlein mit Männlein und Weiblein mit Weiblein. Da wir uns ja gut verstehen, miteinander auskommen und uns auch mögen, wieso also nicht?" Serge seziert mein Geplapper, während ich mir fahrig die Brille richte. Meine Güte, ich bin wohl schon ziemlich groggy! "Also...du willst mich partnern, was beinahe wie heiraten ist?" Fasst Serge die Quintessenz meines wirren Gefasels zusammen. "Genau!" Nicke ich, kraule mir selbst über die geschorene Krause. Ich fühle mich seltsam leicht, ein wenig benommen, nicht mehr vollständig auf der Höhe. Deshalb dölmere ich auch gefährlich durch die Gegend, als sich Serge um meinen Hals wirft. Glücklicherweise steht er besser auf dem Boden der Tatsachen, pendelt unser gemeinsames Schwanken auf sicheres Niveau aus. "Ich will, ja, ich will, Dschoosefff!" Oh. Schön zu wissen. Jetzt muss ich mich aber mal setzen. ?-? Als wir Montagfrüh eintrudeln, sind wir beide zerschlagen. Glücklicherweise bedeutet es aber auch, dass die S-Bahnen im engen Takt schon Pendelnde in die Stadt bringen, während wir heraus wollen. An der Station bitte ich Serge zu warten, während ich mit einem geliehenen Schlüsselbund das in der Nähe dreifach angebundene Lastenfahrrad meines Nachbarn auslöse. "Das ist toll." Murmelt Serge, beäugt mich, denn ich muss ja in wenigen Stunden zur Spätschicht antreten. Da hat ein Nickerchen zu reichen, wenn wir zu Hause sind. "Ich trete, du läufst, dann wechseln wir." Gebe ich vor, denn aufgrund der Lasten ist kein Platz mehr für einen Passagier. Zu Hause leine ich das nützliche Transportmittel wieder artig an, werfe den Schlüsselbund in den Briefkasten. Ich schaffe es gerade noch, meinen Wecker zu programmieren, dann ignorieren wir die aufsteigende Morgensonne, sinken gemeinsam auf die Matratze. ?-? Nicht nur der Wecker, auch Serge sorgt dafür, dass ich die verklebten Lider (zur persönlichen Unzeit) hochklappe. Er beugt sich über mich, besorgt, dann amüsiert grinsend. "Oje, Dschoosefff, du bist aber zerrupft!" "...derangiert." Bevorzuge ich mit Pelz auf der Zunge, angle nach meiner Brille. Serge kichert, drückt mich dann kurz. "Ich hab das Frühstück schon rausgeholt. Lass uns vorher aber duschen." Stimmt, nach der langen Reise sind wir einfach aufs Gesicht geplumpst, nicht gerade hygienisch. Fürsorglich werde ich also miteingeschäumt, ähnele so langsam wieder einem menschlichen Wesen, was meine Arbeitgeber garantiert begrüßen. Dann muss aus meinem Notreservoir aber Kaffee her, mit Koffein, unkastriert also. Serge grinst unverhohlen, während ich die aufgewärmten Haferflocken mit Begleitung schaufle, tiefschwarzen Zaubertrank schlürfe. "Dschoosefff!" Tippt er mir auf den Handrücken. "Also, was du gesagt hast... Partner sein...?" Ich blinzele, doch lebenserhaltend setzen Erinnerungen ein. "Oh, ist dir das doch nicht recht?" "Ist mir recht! Ich will!" Nun hängt Serge beinahe auf mir. "Aber du auch...immer noch?" "Sicher." Stelle ich fest. "Wir sind doch ein gutes Team." Nett von ihm, dass er meinen zeitweise reduzierten Verstand berücksichtigt. "Und... feiert man auch? Trägt man Ringe?" Der größte Ahnungslose von allen, ich nämlich, schützt Wissen vor. "Na, obligatorisch ist das zwar nicht, aber wir können das machen, wenn du magst." Nun sitzt Serge tatsächlich auf meinem Schoß, wo es ihm offenbar gefällt. "Ringe, ich mag einen Ring, ja?" "In Ordnung." Pflichte ich ihm bei, bevor mir ein weiterer Gedanke metaphorisch in den Allerwertesten tritt. "Aber du suchst sie besser aus." Bei meinem offenkundig faden Geschmack fahre ich garantiert besser, wenn ich Serge als Experten einspanne. Er nickt heftig, strahlt mich so euphorisch an wie früher, wie der weizenblonde Wirbelwind, der sich mir unbeeindruckt vom Rest der Welt ungeniert um den Hals wirft. Prompt entknittern sich meine Gesichtszüge, ich merke es selbst, erwidere sein freimütiges Lächeln. Gefühlsmeister, ha! ?-? Ich nötige Serge, mich nicht etwa über die halbe Etappe zu begleiten, denn er soll nach der Anspannung in Frankreich schließlich mal durchatmen. Mir erspart sich natürlich nichts, Spätschicht, Montag, gefühlte Lichtmeilen von irgendwelchen kaskadierenden Einträgen in den sozialen Medien. Auf den Grill lasse ich mich aber nicht legen. Die Auskunft, was persönliche Umstände betrifft, hat definitiv geschlossen. Außerdem muss ich mich auf meine Arbeit konzentrieren, denn das Nickerchen hat selbstredend nicht gereicht. Hoffentlich hat sich Serge wenigstens die Mütze Schlaf geholt, denke ich mir noch, da höre ich auf der vertrauten Strecke schon den Kampfschrei. Mein Partner in spe (nicht in crime), vorbildlich mit Leuchtwams, spurtet heran, wirft sich mir um den Hals. Mitten in der Nacht. Schön, das bin ich ja gewohnt. Nur, dass er mich danach sehr ausdauernd küsst, das ist eine Entwicklung, deren feste Einführung mir sehr gefällt. Ja, Serge hat mich aus meiner Komfortzone geholt, das ist mal sicher! Nun, ich mag's. Dabei bleiben wir jetzt! ?-? Das Fazit der sich anschließenden vierzehn Tage lettert unter "es geht rund." Von einem Rückfall in notorisch-übersichtlich-geregelt-dezent fade Tage keine Rede. Dass sich Serge mühelos bei mir einrichtet, alles trotzdem ordentlich und gemütlich ist, hatte ich ja erwartet, gegen Verbesserungen keine Einwände, was die Optik betrifft. Damit endet auch schon meine bescheidene Prophezeiung. Die Realität setzte dagegen zum Überholen an, aber hallo! Ein Nachrichtenmagazin mit Bilderstrecken nahm sich im hinteren Teil des Videos an, baute darum eine Enthüllungsstrecke über die unappetitlichen Verquickungen von Sport und Politik. Bei der hiesigen Agentur, die noch ein Portfolio von Serges Aufnahmen besaß, meldeten sich daraufhin Interessierte mit diversen Offerten. So einen knackigen Fast-27-jährigen, der sich sehen lassen kann (wenn auch unfreiwillig), der könnte sich ja auch für andere Angebote offen zeigen. Man staunt. Ich zumindest. Serge nahm es verblüffend gelassen hin, dass er bei jedem scheelen Blick oder Getuschel vermuten musste, man habe doch das Video gesehen, vermesse ihn nun mit den Augen auf Attraktivität und Moral. Das übliche Weltgeschehen, komprimiert auf 140 Zeichen oder Titel plus briefmarkengroße Bildchen, rückte den "Skandal" schnell wieder in den Hintergrund, aus dem Fokus des Interesses. Den Outdoor-Spezialisten, der mit seiner sehr großen Filiale und diversen "Testgeländen", Aushilfen suchte, juckte Serges zweifelhafte Prominenz nämlich keinen Deut. Nach seiner Schilderung marschierte Serge vorbei, registrierte das Suchplakat, betrat spontan das mehrstöckige Geschäft, wurde prompt als Helfer für die Boulder-Ecke einbezogen. Als Versuchskaninchen in den Sicherungsgurten (aber ganz sicher nicht in den Seilen hängend) machte er sich so gut, dass er unverzüglich verpflichtet wurde, auf Mini-Job-Basis mitzutun. Bewerbungsunterlagen mitbringen, gern! Ach ja, demnächst die Ausbildung als Sport- und Fitnesskaufmann beginnen? Prima, unterstützen wir! Ich war baff (muss wohl bald auch lernen, Wände hochzukraxeln, da Serge Blut geleckt hat, oder dieses Pulvergemisch für die Hände oder was auch immer die Spezis da brauchen!). Andererseits hätte ich es besser wissen müssen. Serges Charme ist ja von jeher legendär, er selbst entgegen des äußeren Eindrucks ein absolutes Arbeitstier, von seiner Begeisterungsfähigkeit und dem prickelnden Akzent mal ganz zu schweigen. Unterdessen zeigte sich der Verband, bei dem ich nachfragte, nicht ganz so enthusiastisch, nicht nur wegen der Video-Geschichte. Alles irgendwie kompliziert, diese Verstrickungen, dann ja auch die Formkurve nach der Verletzung, die möglichen Konsequenzen... Wenn jetzt alle aus einem Doping-verseuchten Verband einfach wechseln wollen, das schaffe ja auch Präzedenzfälle.... Da hatte ich mir insgeheim ein wenig mehr erhofft. Der Ortsverein signalisierte mir jedoch unter der Hand, dass man für Selbstzahler bestimmt noch ein Plätzchen im Mannschaftsbus finden würde. Oder andere Möglichkeiten, da sei bestimmt Verhandlungsspielraum in Sicht. Das freut mich natürlich. Da Serge aktuell entschlossen ist, nur noch neben mir zu laufen (wenn auch bei Wettbewerben nicht am Händchen), können wir gelassen der sportlichen Zukunft entgegenblicken. Das wiederum führte zurück zu meinem überaus kenntnisfreien, aber euphorischen Vortrag zur Staatsbürgerschaft und der Verpartnerung. Tatsächlich ist es für einen EU-Bürger gar nicht so problematisch, eine weitere Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedslandes zu erwerben. Klar, Tests sind zu bestehen, Gebühren zu entrichten, aber die nachzuweisenden Merkmale sind überschaubar. In diesem Zusammenhang scheint es auch, Sonderfälle mal ausgenommen, recht unproblematisch, die Entlassung aus der russischen Staatsbürgerschaft zu begehren. Eine Beschleunigung erhoffte ich mir von der Verpartnerung. Die Online-Beratung nutzend zeigt sich dieses Unternehmen auch recht simpel. Bloß. Mit einer Autogrammstunde unter standesamtlicher Aufsicht ist es keineswegs getan. Denn. Also, meine Eltern gaben sich überhaupt nicht verwundert. Mein Vater bemerkte lediglich, es sei doch kennzeichnend, dass wir beide Langstreckenläufer seien, die bräuchten bekanntermaßen einen langen Atem. Wenn sich mir Serge seit zwölf Jahren regelmäßig an den Hals werfe, könne man das wohl entsprechend subsumieren. Oha. Netterweise ließ er sich nicht laut über MEINE lange Leitung aus. Serge lachte sich förmlich kringelig, als ich ihm das implizierte Wortspiel entsprechend übersetzte. Gesetzt ist also, dass meine Eltern kommen wollen. Und meine Geschwister. Samt jeweiligem Anhang. Als "Trauzeugen" habe ich den Knipser gebeten. Der rückt mit seiner Liebsten an, "um schon mal zu üben, quasi". Nicht ausschließen kann ich auch die Mannschaft in meiner Filiale. Und die Nachbarn hier. So, das ist bloß MEINE Mannschaft. Saladdin hat sich selbst zu Serges Trauzeugen ernannt. Lady Mystique reist grundsätzlich mit Entourage, die würden dann auch für die Show-Elemente sorgen. Definitiv einzurechnen ist, dass sich aus dem Outdoor-Laden die Belegschaft auch einfindet. Sie haben Serge ja schon "adoptiert". Möglicherweise kommen auch seine Eltern. Getrennt. In Begleitung. Angesichts der wahrscheinlichen Anzahl von Personen musste ich erst mal einen sonntäglichen Marathon absolvieren. Mein. Lieber. Jolly. Wir werden wohl das Campinggelände anmieten müssen, einen Laster benötigen für die Verköstigung. Und sonst noch was. Serge hat mir angeboten, vielleicht doch mal über einige der potentiell lukrativen Offerten, die bei der Agentur hier eingingen, nachzudenken. Ich werde eine Geheimwaffe rekrutieren: die beiden Vereinsmütter von der Frischetheke, kampferprobt, durch nichts zu erschüttern und herausragend bei der Organisation (wenig Geld, viele Besucher). Was nun erklärt, warum es noch ein wenig dauert, bis es offiziell auf einer Teilnehmerliste bei Marathons heißt: "Joseph und Serge Schmitz". Trotzdem. Ich freue mich auf jeden weiteren Schritt bei unserem gemeinsamen Marathon. Weil ich ein lernfähiger Gefühlsmeister bin, habe ich trotz Spätschicht und Wochenanfang ein mitternächtliches Valentins-Picknick zusammengestellt, damit ich mir meinen täglichen Kampfschrei mit Umhals-Attacke auch redlich verdiene. ?-? Ende ?-? Danke fürs Lesen! kimera