Titel: Gesellschaftslügen Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Parallelwelt Ereignis: Valentinstag 2018 Erstellt: 11.02.2018 Disclaimer: - Die Ärzte, 1/2 Lovesong (aus dem Album "13" von 1998) - The Beatles, All you need is love, 1967 - Ich hab Uniform von Rot Rock Rappers (Mainzer Prinzengarde) Herausforderung von Vegeta: - Die Welt des großen M. (aka "Parallelwelt"-Kategorie) - Die Ärzte, 1/2 Lovesong - Holländische Holzschuhe Für Vegeta, vielen Dank für die Herausforderung! ~ <3 ~ + ~ <3 ~ + ~ <3 ~ + ~ <3 ~ + ~ <3 ~ + ~ <3 ~ + ~ <3 ~ + ~ <3 ~ + ~ <3 ~ + ~ <3 ~ + ~ <3 ~ + ~ <3 ~ + ~ <3 ~ + Gesellschaftslügen Kapitel 1 - Seitenwechsel! Theoderich Witten atmete tief durch. Kichern, amüsierte Seitenblicke, abschätziges Schnauben: das war zu erwarten. Eigentlich hätte er sich echauffieren müssen. Nicht, dass Herumpoltern und Schimpfen an der Situation etwas änderte, abgesehen von einer gewissen Erleichterung der inneren Frustrationsregulation am Anschlag, aber er neigte nicht dazu, die kleinen Nickeligkeiten des Schicksals mit großen Gefühlsregungen zu kommentieren. So lächelte er auch artig, als ihm ein schlanker, ein wenig merkwürdig wirkender Herr einen Keramikbecher reichte. "Eine Spezialmischung!" Dröhnte die joviale Stimme anpreisend. "Garantiert einzigartig und eine besondere Erfahrung." Dem war nichts hinzuzufügen, außer dem Umstand, dass es Theoderich genau eine halbe Minute später nicht nur metaphorisch aus den Pantinen haute. ~ <3 ~ + "Du hast was?!" "Was soll das heißen, gelegentlich füttern und die Papierunterlage austauschen?!" "Was für ein Haustier?!" "Spinnst du?!" "Ehrlich, Carambeu, wenn du nicht ACHTKANTIG hier aufschlägst...!!" ~ <3 ~ + Angefangen hatte alles mit dieser Fortbildung. Nun, nicht unbedingt eine Fortbildung, die sich auf Sachinhalte konzentrierte: gruppendynamische Performance-Optimierung unter Beachtung von Gender- und Gleichstellungsparametern. Nicht gerade ein Steckenpferd, aber die Fortbildung erhielt das Prädikat "unverzichtbar", nachweispflichtig in der Personalakte, Teilnahme angeordnet, weshalb man dann, die komplette Abteilung, in ein Schulungszentrum reiste, Begeisterung und Interesse heuchelte, ungeachtet des Umstands, dass sich Akten, altmodisch in Papier und modern in Bits und Bytes, stapelten, weil auch gesetzliche Fristen zum Abschluss der Bearbeitung einzuhalten waren. »Kompletter Kasper-Kram!« Dachten die meisten unfreiwillig Teilnehmenden. Untunlich jedoch, für die künftige Entwicklung, sich dieses verräterische Urteil im Vorfeld schon anmerken zu lassen. Der übliche Firlefanz mit Videodreh ("grauenvolle Schikane") bei Rollenspielen ("Laien-Theater mit projizierten Verhaltenserwartungen"), dazu Zettelroulette an Tafeln und Klebepunkte-Applizieren in Koordinatensystemen, Theorie, die man gleich wieder vergaß, Modelle mit dubiosen Namen, die Ergebnis aufwändiger Forschungsarbeiten waren, in der Praxis gleich wieder verworfen wurden. All dieser unerwünschte, überflüssige Zirkus direkt vor den Tollen Tagen! Was ja eigentlich eine nette Entschädigung hätte sein können, wenn man sich mit der Fünften Jahreszeit auskömmlich arrangierte. "Sei unbedingt pünktlich, ja?! Und vergiss den Galgenstrick nicht!" Mareks Ermahnung, immerhin standen nach der Bildungstortur weitere sechs Tage an, die ebenfalls das Äußerste verlangten, bis am siebten Tag Erlösung nahte. Nahen sollte. Aber irgendwas ging gerade gehörig schief, was partiell erklärte, warum Theoderich die Welt aus der Horizontalen studieren konnte, auch wenn sie sich erheblich verändert hatte. Zumindest der Knebel war neu. ~ <3 ~ + Es verhielt sich keineswegs so, dass Ubaku seinem Cousin höhere Weihen der Promotion neidete, aber gerade verspürte er den heftigen, unwiderstehlichen Drang, Carambeu den dürren Hals umzudrehen und dessen Schlauberger-Schnauze bis zum Anschlag mit Potteln zu füllen! "Was hat der Blödmann jetzt wieder angerichtet?!" Für einen (aus Büchern) gebildeten Daimonen neigte sein werter Cousin nämlich zu geradezu drastischer Dummheit, unerfreulicher Weise gepaart mit der Überzeugung, man müsse bloß die Initiative ergreifen, dann beweise sich schon, dass die eigene Einschätzung korrekt sei. "Dieser aufgeblasene Depp!" Knurrte Ubaku, der seine Pause nun zwangsweise nutzen musste, MAL WIEDER die Eseleien seines Cousins auszubügeln, wobei er sich eigentlich geschworen hatte, nun aber wirklich standhaft zu bleiben und AUF GAR KEINEN FALL....!! Andererseits, wenn der Idiot wirklich irgendeine arme Kreatur aufgelesen hatte... Grummelnd stapfte Ubaku den Gehsteig entlang, durch die gepflegte, ruhige Wohnsiedlung, zweistöckige Häuschen, immer abgetrennt von handtuchgroßen, umlaufenden Grünstreifen, hübsch pastellfarben gestrichen. Wenigstens war die Tante verreist! Gar nicht auszudenken, wenn er an dem alten Drachen vorbei in Carambeus Zimmer hätte schleichen müssen! Ubaku seufzte. Typisch für so einen Idioten, noch bei Muttern zu hausen, denn im echten Leben wäre der Herr Doktor in spe so was von AUFGESCHMISSEN! Außerdem ein Glücksfall, denn Ubaku dräute schon das Ungemach, seinen lästigen Cousin schlimmstenfalls in der eigenen, kleinen Unterkunft aufnehmen zu müssen! Junggesellenbude hin oder her, aber bestimmt nicht mit diesem Voll-Horst! Ubaku ließ sich selbst in das im lichten Bleu gehaltene Häuschen herein, von der unsichtbaren, jedoch sehr argwöhnischen Nachbarschaft ohne Zweifel bei jedem Schritt bereits akribisch beäugt, auf Motive ergründet. Hier sollte schließlich alles hübsch ordentlich, ruhig und gepflegt bleiben, friedlich und idyllisch! Wer dagegen agierte, dem würde unmissverständlich die Hölle heißgemacht, aber hallo! Entsprechend Spezialisierte logierten hier, weshalb man dieses Versprechen durchaus ernstzunehmen hatte. Grummelnd und grollend stapfte Ubaku in den ersten Stock. Carambeus Zimmer wäre wahrscheinlich wie immer die reinste Müllkippe, überall Papier, Pergament, Schiefertafelsplitter! Er öffnete die Tür, wappnete sich mit mühsam gebändigter Unlust. Was für ein armes Viech hätte der Depp bloß eingesperrt?! Die Fensterläden waren zugeklappt, die Vorhänge zugezogen, tagsüber gerade noch akzeptabel, wenn die Bewohnenden verreist waren. Mit einem Schnauben klopfte Ubaku Leuchtkäfer wach, die den Schlaf der Nachtaktiven in einer Laterne pflegten. Dann hängte sich ihm der Unterkiefer aus. ~ <3 ~ + Marek etwas abzuschlagen gestaltete sich als äußerst schwierig, von mangelnder Voraussicht ganz zu schweigen. Auf dem Land, so mochte man annehmen, herrschten Funktionäre in Parteiorganisationen und Vereinen mit erheblich sinkender Mitgliedszahl. Ochsentouren, Hochdienern über Jahre, Bauchpinselei, Spezln-Wirtschaft: das war gestern, quasi frühe Steinzeit. Junge Leute tickten definitiv anders. Über den Äther, stets "bewölkt", tauschten sich blitzschnell Mitteilungen aus, Informationen, Aufrufe, Termine. Keine fein verästelten Hierarchien, sondern Graswurzelebene. Marek war bekannt, stets gut gelaunt, umtriebig, ein Organisationstalent, sehr gut vernetzt, eloquent und überzeugend. Im gesamten Landkreis kannte er alles und jeden. Landleben, öde, fade, ereignisarm?! Hier nicht, hier steppte der Bär, flog das Schwein, lachte die Kuh! Eurovision Song Contest-Fete im Gemeindesaal, Halloween-Grusel-Partys, Mittsommer-Schwoof, Eierlikör-Wettbewerb zu Ostern, Silvesterfeier, Herbst- und Frühjahrsball, Weißes Picknick, Tulpen-Roulette, Rudelsingen, Karaoke-Wettstreits, Mini-Olympiade mit kuriosen Sportarten... Tatsächlich kamen Leute aus der Stadt, um hier Spaß zu haben! Dieses Jahr sollte nun zu all den Unternehmungen eine "Kavalierstour" als Karnevalsprinz kommen. Fasching, Fastnacht, Karneval, nicht unbedingt eine Tradition in der Gegend, da es keine bedeutende Historie vorzuweisen gab (wie bei den linksrheinischen Regionen), keine artistischen Umläufe durch die Gemeinde in tradierten Kostümen, kein Maskenzug, keine Narrenspiele, -taufen oder die Aushändigung von Ratshausschlüsseln. Andererseits jedoch keine Argumente, sich nicht anderswo entsprechend zu beteiligen, den Spaß mitzumachen! Als Prinz Karneval konnte man doch selbst eine Tour organisieren, sechs Tage lang alles einbeziehen, was geboten wird, textsicher Gassenhauer intonieren, sich prächtig ausstaffieren und so richtig bütze, schunkele, lache, fiere, danze, hopse, springe! Am Aschermittwoch dann wäre ohnehin alles vorbei, eine neue Zeitrechnung beginne. In diesem Jahr allerdings fiel der Aschermittwoch ausgerechnet noch auf ein (neueres) Hochfest der (nicht platonischen) Liebe, was es notwendig erscheinen ließ, gewisse Vorkehrungen zu treffen. Diese brachten Theoderich ins Spiel, der zunächst von seinem "Glück" gar nichts ahnte. ~ <3 ~ + "Was zum Großen M?!" Ubaku starrte auf das kompakt verschnürte Paket auf den ausgelegten Papierseiten. Dass Carambeu in der zubereitenden Kulinarik ein Totalausfall war, erklärte die Kilometer an Hanfseil, die den lebenden Rouladenwickel eher wie eine Garnspule wirken ließ. "Dieser komplett durchgedrehte, verantwortungslose, vollidiotische Gehirn-Eunuch!" Zischte Ubaku durch spitze Raubtierzähne. Eilig ging er in die Knie, kämpfte mit dem Knebel. "Nichts zu machen." Fluchte er unterdrückt, fingerte aus seiner Gürteltasche ein kleines Messer. Hastiges Ritschen und Ratschen trennte endlich den groben Stoff ausreichend, dass er diesen reißen konnte. Sein Engagement wurde mit einem erstickten Seufzer belohnt. "Ehrlich, Kamerad, das tut mir leid! Mein verblödeter Cousin hat sich wieder mal was geleistet!" Dann verschlug es Ubaku zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeitspanne die Sprache. Weil die Hörner definitiv nicht echt waren! ~ <3 ~ + Angefangen hatte alles am Bahnsteig. Nach seinem Umzug pflegte Theoderich wie alle Pendelnden entlang der Stadtbahnlinie am Bahnhof zu warten. Die Züge fuhren nicht so häufig, dass sich nicht Fahrgemeinschaften gebildet hätten. Mit anderen Worten: zur selben Zeit trafen sich immer dieselben, die üblichen Verdächtigen, zu denen er sich auch gesellte, wenn auch etwas abseits, denn immerhin war er ja zugezogen, nicht sonderlich gesprächig, am sehr frühen Morgen keine Seltenheit. Marek neigte dazu, den gesamten Landkreis in seinen Bekanntenkreis zu verwandeln, weshalb er das Gespräch suchte, die halbstündige Bahnfahrt nutzte, quasi einen Steckbrief konstruierte, den "Neuzugang" einzusortieren. Theoderich Witten, wohnte in der ehemaligen Ferienwohnung der Zeirichs, beschäftigt beim Finanzamt, kein Auto, nur ein Fahrrad, alleinstehend, keine Hobbys, höflich, sehr zurückhaltend. Die Buschtrommeln, die er bemühte, verrieten ihm zusätzlich dazu, dass Theoderich, genannt Theo, als akribisch, sorgfältig arbeitend galt, sehr ruhig, beinahe maulfaul, nicht besonders ehrgeizig, zum Umzug gezwungen aufgrund der Sanierung des Wohnblocks, in welchem er vorher mit dem verstorbenen Vater gelebt hatte. Fader Typ, aber harmlos, ging nicht aus, trank keinen Alkohol, rauchte nicht, aß kein Fleisch. "Ah, einer von diesen Straight Edge-Typen, wie?" Konkludierte Marek. Theoderich konnte mit dieser Begrifflichkeit gar nichts anfangen, negierte auch religiöse Überzeugungen, was in gewisser Weise nahelag, da er seine rasch ausdünnende Haarpracht pragmatisch zu rasieren pflegte. Nun gut, testierte Marek, dieser Theo stellte eben einen etwas langweiligen, aber verlässlichen Typen dar. Konnte man sehr gut gebrauchen bei all den erlebnishungrigen Jungspunden! Zugegeben, kein Führerschein, etwas unpraktisch, aber kein Hindernis für einen planvoll vorgehenden Hansdampf in allen Gassen! Weshalb sich Theoderich trotz höflich vorgebrachter Bedenken dazu genötigt sah, an der "Kavalierstour" als Gouvernante der beteiligten Damen und Herren zu fungieren, damit am Aschermittwoch respektive Valentinstag auch die Protagonisten das Standesamt aufsuchen konnten. ~ <3 ~ + "Oje." Stellte Ubaku trostlos fest. Wahrscheinlich dauerte es nur noch Sekunden, bis die P.U.D.E.L. auftauchten. Die "Hölle" würde sich für ihn ganz neu erschließen. Purgatorium wäre wahrscheinlich eine euphemistische Umschreibung. "Augenblick!" Sicherte er der eindeutig MENSCHLICHEN Roulade zu. Er verließ, etwas eckig, da er sich auch wie ein Aufziehmännchen fühlte, Carambeus Reich, stakste die Treppe herunter in die Küche. Er benötigte etwas wie einen Bolzenschneider, denn die Hanfseile würden seinem treuen Messerchen, das für derlei Einsatzzwecke nicht gedacht war, glatt die Klinge völlig abstumpfen! Mit einer Varianz an häuslichen Werkzeugen ausgerüstet begab er sich wieder in das chaotische Junggesellenzimmer seines VERABSCHEUUNGSWÜRDIGEN Cousins. "Das tut mir wirklich sehr leid." Versicherte er, sich hinkniend, die Laterne an seiner Seite. "Meinem notorischen Cousin wird es auch SEHR leid tun." Dafür würde er höchstpersönlich Sorge tragen! Der Mensch keuchte benommen. Ubaku schnupperte, vermutete ein weiteres Beispiel "angewandter Chemie" aus dem Schulunterricht für Daimonen. Typisch! Zuhause kokettierte der Idiot damit, sich nicht mal unfallfrei eine Stulle schmieren zu können, aber bei Giftmischerei hatte der keine Probleme! "Das ist nur eine temporäre Betäubung." Raunte er mit gezwungenem Lächeln. "Fühlt sich sicher merkwürdig an, geht aber rasch vorbei." Zumindest hoffte er das, während er in erzwungener Geduld ganze Festmeter an Hanf zersäbelte. Carambeus "Haustier" rührte sich nicht, von mühsamen Atemzügen abgesehen. "Ich werde den Kerl so was von verdreschen!" Knurrte Ubaku empört. DIESES Mal hatte Carambeu den Bogen überspannt! ~ <3 ~ + Theoderich trug sehr selten förmliches Ornat. Er verfügte über genau zwei Hemden und den Anzug, den er sich für sein Bewerbungsgespräch hatte anschaffen müssen, in Schwarz, vielfältig einsetzbar. Meistens wählte er robuste Stoffhosen und schlichte Polohemden, förmlich genug, praktisch, widerstandsfähig. Die einzige Krawatte, die er sein eigen nannte, war schmal und schwarz gehalten. Sollte er sie etwa für die Weiberfastnacht opfern?! Sich extra in Schale werfen, so wie Marek es auf der "Tour-Liste" angeordnet hatte, damit man ihm "Schwanz ab!" den Schneid abkaufen, den Schniedel kürzen konnte?! So ganz durchschaute er diese tradierte Sachbeschädigung nicht, mutmaßte, es könne möglicherweise auch das Kupieren "alter Zöpfe" im sprichwörtlichen Sinn gemeint sein. Für eine entsprechende Lektüre der Hintergründe hatte er jedoch nicht ausreichend Zeit aufwenden können. Wie das, im Jahrzehnt allgegenwärtiger digitaler Vernetzung?! Tja. In seinem Domizil (seit einem halben Jahr) gab es in der Anliegerwohnung, ehemals Ferienappartement, keinen festen Telefonanschluss. Fernsehen hätte man empfangen können mit einem Satelliten-Receiver, eine Ausgabe, die sich Theoderich erspart hatte. Das Signal für das Mobiltelefon blieb lausig. Anbindung an das weltweite Netz, digitale Autobahnen, Glasfaserkabel, Industrie 4.0?! Selten so gelacht! Man sollte doch bitte schön dankbar sein, dass wenigstens die Straßen asphaltiert waren, sich um Wasser, Abwasser, Hausmüll und Strom gekümmert wurde! Weshalb es Theoderich lediglich in der Stadt, an seinem Arbeitsplatz, möglich war, sich entsprechend einfach sachdienliche Hinweise und den üblichen Unsinn aus der Digitalwelt zu verschaffen. Er hatte jedoch, wegen der ungeliebten, aufgezwungenen Fortbildung, kaum Spielraum gehabt, sich ein Kostüm zu besorgen und den Galgenstrick, der der schnippischen Schere zum Opfer fallen sollte. Theoderich hätte auch gern auf die Fron verzichtet, Anzug zu tragen, allerdings galt auch hier die eindeutige Ansage: formvollendetes, konservatives Auftreten, man repräsentierte schließlich! Von der heimtückischen, chemischen Keule zeitweise gelähmt fragte sich Theoderich nun, was sein Erscheinungsbild JETZT für eine Botschaft übermittelte! ~ <3 ~ + Ein lächerliches Klischee, total bekloppt, kannte man aus Geschichten von der Menschenwelt, aber Ubaku stand unter Zeitdruck, schließlich musste er sich im wahrsten Sinne des Wortes seine Brötchen verdienen! Diesbezüglich verstand er überhaupt keinen Spaß, weshalb er nun, in die feine Vorhangware der Tante gehüllt, einen humanoiden Wickel über dem Buckel transportierte. Der blöde Teppich war einfach zu kurz gewesen! ~ <3 ~ + Eigentlich sollte man, als junger Mensch, an allgegenwärtige Ablichtung, mal einzeln, mal in Bewegtbildern, gewöhnt sein. Trotzdem und verblüffender Weise galt diese freiwillige Selbstbespiegelungsbegeisterung NICHT für Videoaufnahmen zur Verhaltensstudie in Rollenspielen, von Tonaufzeichnungen ganz zu schweigen! Am letzten Tag sah die Pflicht vor, die angepasste Optimierung mit einem griffigen Beispiel einzutrichtern. Erlebnis-orientiertes Memorieren! Theoderich war der Jüngste in seiner Abteilung, nicht nur im Alter, sondern auch in der Dauer der Beschäftigung, weshalb ihn der Rest des "Rudels", sich zusammenrottend, ohne Bedenksekunde opferte, sich für eine Demonstration zur Verfügung zu stellen. "Gell, Herr Witten, Sie machen das, ja?" Widerspruch nahezu unmöglich. Ausgenommen, die Schuhgröße, aber ihr engagiert-aufgedrehter Seminarleiter befleißigte sich der Überzeugung, dass die männlichen Exemplare dieser Spezies sich leichter zum Horst machen ließen, Erfahrungswerte, statistisch belegt. Trauten sich weniger, zu protestierten, in Tränen auszubrechen, mit schriller Stimme anklagend zur Gegenoffensive zu stöckeln-schreiten! Auf Nummer Sicher gehen, das bewies auch in diesem Metier Professionalität, weshalb er eine gängige Schuhgröße zum Einsatz gebracht hatte. "Sehen Sie? Industriegröße, durchaus, aber beachten Sie, wie der Kollege sich anstrengen muss! Wie ungelenk der Gang wird! Da werden ungewohnte Muskelgruppen beansprucht!" Man lupfte, während Theoderich endlich das Paradieren zu Demonstrationszwecken einstellen durfte, ein Hosenbein. "Nun der Vergleich: gleiche Größe, aber flexibel angepasste Umweltkoordinaten! Ergebnis: leichter, müheloser Gang, mehr Energie! Zufriedenheit und Schwung!" Man tänzelte, zog alle Register und eine Show ab, die Gene Kelly verzückt hätte. Applaus, Applaus! Nachdem dem Aufruf des grünen Froschs ausreichend gefolgt worden war, hieß es, die letzte Runde zu absolvieren. Reflektion, Veränderung in den Erwartungen, mitgenommene Erkenntnisse, Selbstverpflichtung. Theoderich störte die Seligkeit der Pinocchio-Anhänger. "Verzeihung, aber hätten Sie wohl einen Schuhlöffel? Ich stecke, fürchte ich, fest." ~ <3 ~ + "Na endlich! Schick mir was hoch, du Herumtreiber!" Ubaku atmete tief durch, kreiste mit den mächtigen Schultern. "Ja doch, kommt gleich, Arachnei!" Die rüstige Dame mit den acht Beinen, die auf der Erdgeschossebene den Verkauf übernahm, erwies sich glücklicherweise als etwas schwer von Gehör. Dass seine Antwort vernommen worden war, durfte Ubaku mit recht bezweifeln, es spielte jedoch keine Rolle. Arachnei würde ausdauernd so lange mit der Kordel, die die aufzufüllenden Fächer mit kleinen Plättchen ins Tiefgeschoss meldete, rappeln und rattern, bis er ihrer Aufforderung nachkam. Rasch kordelte er über seine Pluderhose eine Schürze, kurbelte die Transportschütten gefüllt nach oben, überprüfte seine geschätzten "Mitarbeitenden" in ihren Gläsern. Im Ruheraum, bei lieblicher, geothermisch vorgehaltener Wärme, arbeiteten fleißig ihre Separierten mit den Teigrohlingen. Ihr Anblick, in Regalen artig geordnet, beruhigte seine aufgewühlte Psyche. Seufzend wandte er sich ab, schloss die Tür wieder, justierte die Vorhangzipfel mit Knoten zwischen zwei Regalen. Der Mensch erwies sich noch immer als nicht in der Lage, seine Gliedmaßen koordiniert zu bewegen. "Glaubst du, du könntest Wasser schlucken?" Erkundigte sich Ubaku ratlos. Allzu viel Erfahrung mit Humanoiden hatte er nämlich nicht, nicht mal auf theoretischer Ebene! Vorsichtig setzte er ein rasch gefülltes Glas an, überwachte das mühselige Trinken. Verbale Verständigung wäre gut, aber es sah noch nicht danach aus, als könnte dieser Wunsch in Erfüllung gehen. "Hör mal, Kamerad, ich weiß, das hier ist alles ein wenig wild, aber ich sortiere das aus, in Ordnung?" Beschwor er mit gebleckten Reißzähnen seinen unerwarteten Gast. Die braunen Augen zwinkerten. "Ah, gut!" Schnaufte Ubaku erleichtert. "Ich muss mal eben meiner Arbeit nachkommen, ja? Du schaust einfach, wann du wieder Gefühl in den Knochen bekommst." Außerdem konnte er, während er walkte, abteilte, formte und in den Ofen justierte, besser nachdenken, nicht nur darüber, wie versiert er Carambeu seine Abreibung verpassen würde! ~ <3 ~ + Theoderich verstand durchaus, warum man ihn recht kritisch beäugte. Die Zeirichs hatten noch nie erlebt, dass Mietparteien ihres Anbaus mit dem Fahrrad anreisten, dass jemand auf dem Dorf zu leben beabsichtigte, ohne über ein Auto zu verfügen! Überhaupt, wie sollte der Umzug...?! Ob der Bursche tatsächlich beim Finanzamt arbeitete?! Wen stellten die da bloß ein?! Andererseits konnte man nicht sonderlich wählerisch sein, weil die ehemalige Ferienwohnung gelinde gesagt altmodisch- abschreckend-abgenutzt war. Innen. Gut, die Fenster schlossen ordentlich, mit Schimmel gab es keine Probleme und nach einem klitzekleinen Schwelbrand hatte man alles neu verkabeln und unter Putz legen lassen! Nun ja, die Küche hatte in den 70ern durchaus was hergemacht! Bett, Schrankwand sowie Spiegelschrank im Bad kamen immerhin von einer Möbel-Messe! 30 Jahre alt, das stellte doch eine Zeitspanne dar, die Klassiker schuf, ganz zweifellos! Jeder einigermaßen geschmackssichere Mensch hätte sich allerdings mit Grausen abgewandt. Die Badezimmerkacheln erwiesen sich als grün-braune Restposten, die sich mit der über die Jahre vergilbten Sanitärkeramik ein unrühmliches Rennen um Abschreckung lieferten. Die Wohnküche, klapprige Kunststofffronten, einem alpenländischen Stil nachempfunden, wirkten so überzeugend wie die rot-weiß verblichene Garnitur der Vorhänge und Sitzpolsterbezüge. Das Schlafzimmer enthielt ein Schrankungetüm aus der vorletzten Jahrtausendwende, dem winzige, dort hausende Scharen heimlich nagend den Garaus zu machen beabsichtigten. Bettgestell, Nato einfach, Pressholz, mit Maserung-Folie überklebt, Sofa vor der Schrankwand, garniert mit Polster-Abschnitten, dunkelgrün bezogen, Schrankwand selbst "Gelsenkirchener Barock", aber nachempfunden, nicht mal ordentlich brennbar. Die Zeirichs wollten sich dem Stress der Werbung um Feriengäste nach zahlreichen Rückschlägen nicht mehr unterwerfen. Warum also nicht vermieten? Viel Mietzins konnte man nicht verlangen, diese Erkenntnis hatte sich nach unerfreulich direkten, unverbrämten Rückmeldungen durchgesetzt, andererseits, darauf setzten sie, würden Mietparteien möglicherweise die ein oder andere Veränderung vornehmen, und man müsse bloß das Placet erteilen, sich selbst aber nicht mehr darum bemühen. In dieser Hinsicht zeigte sich ihr erster Mieter Theoderich Witten als recht unergiebig. Tatsächlich hatte Theoderich, der bei der Miete ruhig, aber entschieden verhandelt hatte, bis er die Wohnsubstanz als dem Gegenwert angemessen einschätzte, nicht rabiat das Gruselkabinett in Angriff genommen. Gewisse Änderungen ließen sich einfach umsetzen. Der Ölschinken mit dem röhrenden Hirsch wurde wie all die anderen Staubfänger von der Wand genommen und, sorgsam in die fadenscheinige Tischdecke eingeschlagen, der Schrankwand anvertraut. Er rollte die grässlichen Läufer von den Linoleumfliesen, deponierte sie im Bauernschrank des Schlafzimmers, damit die Tierchen dort ihre Diät erweitern konnten. Der altersschwache, unglaublich Energie verschlingende Kühlschrank wurde vom Netz getrennt, dito der Herd mit Backofen, bei dem man nicht mal mehr die Schutzplatte von den Kochplatten lösen konnte. Am Röhrenfernseher war Theoderich ebenfalls nicht interessiert. Das Bettgestell baute er (ohne große Mühe) auseinander wie auch das entsprechende Gerüst des Sofas. Die Polster enthielten den Staub der Jahrtausende dieser Milchstraße und wurden exiliert, nämlich in das nun sehr viel geräumigere Schlafzimmer. Ausgerüstet mit einem Lappen und einem altmodischen Besen reinigte Theoderich sein neues Domizil. Er besaß nicht viel, weshalb auch zwei Touren mit dem Fahrrad genügten (die Mitnahme in der Stadtbahn war laut Betriebsregel untersagt). Ein wenig wirkte es wie bei einem Camping-Urlauber, ohne Gasanschluss. Elektrische Heizplatte und ein Wasserkocher, Thermoskanne, Geschirr und Besteck für eine Person, im Kochtopf transportiert, Trockenware und Schraubgläser für Proviant, Kurbelradio und -lampe, Schlafmatte, Schlafsack und Decken, Leibwäsche, reduzierte Bekleidung, zwei Paar Schuhe, Sandalen, Handtücher, Lappen, Stoffreste, wasserabweisend eingeschlagen Dokumente und Nachweise seiner Vita. Alles verstaut in Taschen und Beuteln, auf den altmodischen Drahtesel gepackt, abseits großer Wege mit Geduld und Langmut transportiert. Damit richtete er sich häuslich in der Wohnküche ein. An eine gewisse Anspruchslosigkeit hatte er sich in den letzten Jahren gewöhnen können. Nun empfand er sie als ganz normal, zumindest in seiner Welt. ~ <3 ~ + Ubaku schwirrte leichtfüßig trotz seiner sehr muskulösen Gestalt durch seine Backstube. Während sein Körper den gewohnten Aufgaben beschwingt nachkam, den leckeren Duft genießerisch einsog, arbeitete sein Verstand widerwillig an dem "Haustier"-Problem. Unzweifelhaft war sein noch namenloser Gast in der Vorhang-Drapierung ein Mensch. Das konnte man niemandem zum Vorwurf machen, ganz fraglos! Bloß, hier begann das Dilemma bereits, auf dieser Seite, in dieser Dimension, hatten Menschen nichts zu suchen. Gut, ausnahmsweise gab es hin und wieder mal Ex-Menschen, also tote Menschen. Oder untote, also Neu-Daimon-Ex-Menschen eben, wenn sie hier eingebürgert wurden! So viel Konsequenz musste sein! Argumentativ betrachtet und nach den ihm in der Daimonenschule vermittelten Regeln hätte sein Gast also entweder tot sein müssen oder schon untot, aber er registrierte weder eine daimonische Ausstrahlung, noch irgendein göttliches Gehabe. Weil, das durfte man auch nicht vergessen, frühere, eben Ex-Göttlichkeiten, hier auch Asyl fanden, bis sie sich in Wohlgefallen (oder bessere Luft) auflösten. Ubaku rieb die bemehlten, großen Hände grimmig. Theoretisch dürfte ein Mensch nicht einfach auf diese Seite gelangen, wenn der nicht tot war, was den zukünftigen, Nutzen stiftenden Aufenthalt ohnehin auf Null reduzierte. Aber irgendwie war es diesem dämlichen Deppen von Carambeu gelungen, einen Menschen von der anderen Seite hierher zu verfrachten! Lebendig, nicht tot, auch nicht in Kürze untot. Ubaku verstand nicht besonders viel vom Raum-Zeit-Kontinuum, trotzdem sträubte sich ihm der imposante Kamm bei der Vorstellung, was gerade alles so richtig durcheinander lief! Gab es da nicht irgendeine Theorie von einem Schmetterling und deshalb riss einem der Sandalenriemen? Korrekt, so genau, im Detail, hatte er sich damit nicht befasst, da seine Talente definitiv praktischer Natur waren. Jedenfalls konnte er den armen Menschen, der da eingeknotet im Vorhang hing, auf keinen Fall länger hier behalten! Doch wie sollte er ihn auf die andere Seite bringen? Ein offizielles Portal schied definitiv aus, denn dann würde ja gewahr werden, dass ein Mensch...!! Was die Frage aufwarf, wie der verwünschte Vollpfosten Carambeu es bewerkstelligt hatte. Sie beide gehörten keiner Daimonenspezies an, die sich einfach auf der anderen Seite (unsichtbar) unter die Menschen mischen konnte. Oje, außerdem...!! Ubaku seufzte laut auf. Irgendwie müsste er auch die Erinnerungen des Menschen löschen, denn sonst konnte er ihn wohl kaum auf die andere Seite zurückkehren lassen. Allerdings galt für ihn wie für alle Daimonen die goldene Regel: NICHT einmischen! Niemals, um keinen Preis, auch wenn es schier unerträglich auszuhalten war. Selbstredend war eine Beschädigung menschlicher Wesen auch verboten, grundsätzlich. Gewisse Ausnahmen existierten, jedoch streng limitiert, nur nach regelmäßiger Fortbildung und Spezialtraining. Der Friedensstifter, um nur ein Beispiel zu nennen, wobei Ubaku weder entsprechende Kampfmittel zur Verfügung standen, noch erwartet werden konnte, dass irgendwer ohne peinliche Einzelheiten sich seines Dilemmas erbarmte... Ubaku fluchte unterdrückt, aber sehr blumig. Allerdings lag er fehl in der Annahme, dass sein Tag nicht schlimmer werden konnte. ~ <3 ~ + In gewisser Weise hätte es einen nachdenklich stimmen sollen, dass den Original-Klompen an seinen Füßen nicht mal ein irritiert-amüsiert-abschätziger Blick gewidmet wurde. Außerdem konnte Theoderich auch nicht leugnen, dass er den Henkelbecher-Reichenden nicht beschreiben konnte. Etwa gleich groß, schmal, aber Gesichtszüge? Frisur? Farbe des Teints? Fehlanzeige. Als überlagere ein Verzerrer seine Wahrnehmung, weshalb es vermutlich auch nicht viel zu erinnern gab. Nun, bezog man die heimtückische Vergiftung mit einem Betäubungsmittel ins Kalkül, erklärte sich eine gewisse Nähe zur chemischen Keule. Warum? Um seinen Platz einzunehmen? Sicher nicht bei der Fortbildung, da alles bereits eifrig zur Abreise marschierte. Die Kavalierstour also. Allerdings konnte die merkwürdige Person doch kaum annehmen, man würde sie nicht auseinanderhalten können. Oder? Theoderich standen keine allzu intimen Kenntnisse von Sci-Fi-Literatur zu Gebote. Er votierte aber dafür, dass es fiktiv vorstellbar war, die eigene Erscheinung mit technischen Tricks vor anderen zu verschleiern. Bei ihm hatte diese Methode zumindest ausreichend lange vorgehalten, ihn vertrauensselig an dem Henkelbecher nippen zu lassen. Außerdem sprach für das Einschleichen in die Kavalierstour auch eine andere Beobachtung, deren Indiz ihm gerade etwas störend um den Hals baumelte. Man konnte geneigt sein, an einen schlechten Scherz zu glauben. Jedoch ausgesprochen aufwändig, zweifellos! Andererseits, sein Gastgeber, der selbst erklärte Cousin des Übeltäters, bot recht viel Haut, olivfarbene Haut, wie die eingelegten Steinfrüchte. Bei einem Menschen eher sehr selten jenseits künstlicher Effekte anzutreffen. Betrachtete man sich den imposanten Kamm auf dem Schädel, der Theoderich an die durchbluteten Knorpelkonstruktionen mancher Reptilien erinnerte und im abwechslungsreichen Farbenspiel präsentierte... Nicht zu vergessen die schwefelgelbe Iris mit schwarzem Pupillenschlitz und die Reißzähne. Das ließ den Schluss zu, dass entweder hier die Fünfte Jahreszeit GEWALTIG gepflegt zu werden schien, oder er sich sehr weit weg von seiner letzten Heimat aufhielt. Ganz sicher konnte er sich dieses Fazits jedoch nicht sein, weil um seinen Hals eine Maske mit zwei Hörnern baumelte. Sie erinnerte ihn ob des grimmigen Ausdrucks an Gruselgestalten der eher urtümlicheren Fastnachtserscheinungen, schwäbisch-Alemannisch zum Beispiel, mit menschlichen Zügen, aber nicht sonderlich einnehmend, außerdem gehörnt, was auch den langsameren Gehirnakrobaten signalisieren sollte, dass hier ein Unhold, ein Böser, Scherze trieb. Mummenschanz, aber danach sahen Pluderhosen, Sandalen und Unterhemd mit gebundener Schürze wiederum nicht aus. Gut, ein Bäcker pflegte eine etwas andere Uniform, dazu das Haupt bedeckt, aber der Knorpelkamm haarte unzweifelhaft nicht, da wäre wohl eine Kopfbedeckung aus hygienischen Gründen kaum erforderlich. Theoderich stellte für sich selbst fest, dass er in dieser kuriosen Situation zwischen zwei Regalen einer Backstube in einen Vorhang eingewickelt auszuharren hatte. Panik ob der verwirrenden Lage war nicht angezeigt, da erst die Abnahme der Lähmung abgewartet werden musste. Mit der langsamen Rekonvaleszenz seiner Gliedmaßen meldeten sich auch Partien, die erneut pochend Klage führten. Jetzt musste bloß seine Zunge wieder verständlich funktionieren... ~ <3 ~ + "Huhu! Carambeu? Bist du hier?!" Ubaku fluchte eilig, wandte sich seinem noch unbekannten Gast zu, justierte hastig die dämliche Maske. "Der Depp ist nicht da!" Fauchte er abweisend, als schon zwei leidlich bekannte Figuren die Backstube stürmten. "Nicht hier?! Potzblitz!" Hatschym lupfte buschige Augenbrauen in zwei perfekte Bögen, die gewaltigen Ohrmuscheln wedelten. "Ich sagte dir ja, irgendwas hat er ausgeheckt!" Veroxi schnaubte, rammte einen Bleistift zwischen die zusammengebundenen Pseudo-Fühler auf ihrem Kopf. "Ja, er ist nicht da, ich weiß nicht, wo er ist, und ich habe zu tun!" Die imponierenden Schultern ausstellend klopfte Ubaku staubend Mehl zwischen seinen großen Händen. Sein engagierter Versuch, die beiden Studierenden zu exilieren, zeitigte jedoch nicht den gewünschten Erfolg. "Ärgerlich! Sein Urteil ist gefragt!" "Ausnahmsweise." Man spähte unter Ubakus Achseln hindurch, wo die Vorhangroulade in den Fokus geriet. "Besuch? Oh, hallo! Guten Tag!" "Ist das eine neue Mode? So eingeschnürt?" Ubaku versuchte sich als Scheucher. "Ihr seht, ich bin beschäftigt, also, da ist die Tür!" "Moment mal, das ist doch Carambeus Maske!" "He, du willst uns wohl anführen, wie?!" Ubaku konnte nur Hatschym haschen, Veroxi hingegen schlüpfte nach einer geschickten Körpertäuschung an ihm vorbei, zupfte die Maske hoch, in der sicheren Erwartung, den gesuchten Kommilitonen aufgestöbert zu haben. "Hoppla..." "Famos! Einfach unglaublich!" Hatschym applaudierte begeistert, die Ohrwascheln zuckten ekstatisch. "Verstehst du?!" Wandte er sich aufgeregt an seine Begleiterin. "Er hat es wirklich gewagt! Er ist drüben! Oh, welch eine Kühnheit!" "Welch ein vollidiotischer Blödsinnsplan!" Konterte Ubaku grimmig. Prächtig, noch zwei Mitwisser, deren Realitätssinn er hin und wieder anzweifelte! "Kannst du sprechen? Verstehst du unsere Sprache?" Veroxi beäugte den zweifelsfrei als Menschen eingestuften Gast interessiert. "Dauert wahrscheinlich noch ein wenig. Er hat wohl Betäubungsmittel intus, das die Muskeln lähmt." Ubaku packte Hatschym am Kragen des Hemdes. "Jetzt hätte ich gerne eine Kurzfassung davon, welchen Mist mein bescheuerter Cousin ausgeheckt hat!" Für einen studierten Daimonen ging Hatschym ein wenig der Selbsterhaltungstrieb ab, denn er fuhr fort, Carambeus Vorhaben zu preisen. "Oh, ganz und gar tollkühn! Um seine Doktorarbeit abzuliefern, ist er in die Menschenwelt gewechselt! Kann sich jetzt höchstpersönlich den Forschungsobjekten nähern! Grandios!" Ubaku funkelte bitterböse mit mehr als einer Haupteslänge Vorsprung herunter. "Ja, grandios. Werden die P.U.D.E.L. sicher auch finden. Habt ihr eine Idee, wie er die Seiten gewechselt hat?" Veroxi, die systematisch die Vorhangknoten löste, nun Theoderichs Aufzug inspizierte, zuckte mit den Achseln. "Nun, ich würde vermuten, dass er sich in ein Kongresszentrum eingeschlichen hat. Der Mensch hier trägt formale Kleidung, hat noch einen dieser Aufkleber am Revers." Sie fokussierte ihre Facettenaugen. "Verschmiert, tsktsk. Schlechte Qualität." Eine Entzifferung des möglichen Namenszugs der handschriftlichen Selbstetikettierung konnte nicht mehr reüssieren. "Sehr gute Idee!" Pflichtete Hatschym ihr bei. "Die Durchlässigkeit ist gegeben, der Zeitpunkt exakt ausgewählt, sehr gerissen! Mein Kompliment!" "Empfehle ich dir nicht." Grollte Ubaku. "Wenn du auf deinen Füßen hier raus willst, sparst du dir besser diese Lobeshymnen." "Hmmm." Machte sich Veroxi erneut bemerkbar, eine Äußerung, die Ubaku stets in Alarm zu versetzen pflegte, denn üblicherweise ging sie einer mittleren Katastrophe voraus. "Was, hmm?!" "Nun ja." Veroxi zupfte ein Lineal aus dem Pseudo-Fühlerbündel, stippte gegen die holländischen Holzschuhe, feuerwehrrot lackiert mit weißen Tüpfelchen. "Also, die hier gehören nicht dazu. Zu einem formalen Anzug." Ergänzte sie. Ubaku schaltete einen Gang höher. "Das heißt, jemand auf der anderen Seite wird merken, dass etwas nicht stimmt, wenn da seine Schuhe herrenlos herumstehen?!" Wundervoll! Noch eine Komplikation mehr! In diesen kritischen Augenblick einer ganz und gar nicht verheißungsvollen Zukunft ließ Theoderich ein trockenes Krächzen ertönen. "Verzeihung, aber könnten Sie mir wohl behilflich sein? Diese Klompen drücken fürchterlich." ~ <3 ~ + Kapitel 2 - Fußfreiheit und Maskerade "Ich hau ihn windelweich." Stellte Ubaku sehr gelassen, mit Seelenruhe quasi, fest. Immerhin hatte es ihm keine Mühe bereitet, nach einem langen Augenblick völliger, perplexer Verirrung, seinen Gast auf den Rücken zu legen, die Beine hoch, damit Körperflüssigkeiten sich nicht in den offenbar schmerzhaft gequetschten Füßen sammelten. Außerdem hatte er Veroxi und Hatschym hinauskomplimentiert, leider nur gegen die Zusicherung, aber am nächsten Tag unbedingt ihre Thesen für die jeweilige Arbeit mit dem ersten Ansichtsexemplar "Mensch" auf dieser Seite diskutieren zu dürfen. Nun wusste er auch, dass sein Gast auf "Theo" hörte, ebenfalls gewisse Sorgen hegte, weil der auf einer Rundreise für die nächsten sechs Tage erwartet wurde. Obwohl Ubaku den Impuls verabscheute, verspürte er doch einen Augenblick Reue, Carambeus Vorträge zu dessen Forschungsgebiet konsequent überhört zu haben. Sechs Tage Versteckspiel. Er war verratzt, geliefert, abgeschrieben. "Halten Sie es für wahrscheinlich, dass Ihr Cousin den Rücktausch vorbereitet hat?" Dieser Theo klang sehr höflich, distanziert, gefasst, ruhig. Ob das Anzeichen eines schweren Schocks waren?! "Das kann ich nicht ausschließen." Antwortete Ubaku vorsichtig. "Übrigens kannst du mich ruhig duzen. Wir sind ja Schicksalsgenossen, was die egoistische Blödheit meines Cousins betrifft." Theoderich schwieg einen Moment. "Wäre es dann vermessen, etwas mehr über deine Welt zu erfahren? Ich möchte nicht unwissentlich Ärger provozieren." Ubaku seufzte, angelte frische Potteln heran. "Iwo, kein Problem! Finden wir erst mal raus, was du hier essen kannst." Das verschaffte ihm zumindest Zeit herauszufinden, wie das mit der Tintenfisch-Lobotomie zu bewerkstelligen war. ~ <3 ~ + Theoderich staunte, sehr zurückhaltend, zivilisiert. Soweit er die geduldigen Ausführungen seines Gastgebers Ubaku verstanden hatte, existierte eine Welt neben der eigenen, die über gewisse Portale einen "Dimensionswechsel" zuließ, grob gesagt und nicht der exakten, technischen Funktion entsprechend, doch an den technischen Einzelheiten scheiterte nicht nur die Übersetzung, sondern auch die atomphysikalischen Kenntnisse. Geschenkt! In dieser Welt hier lebten unter der fürsorglichen und von allen geschätzten Aufsicht des ziemlich sicher unsterblichen "Großen M" Daimonen, Ex-Göttlichkeiten aus der Menschenwelt, Phantasiegestalten, Gestrandete... Und Engel. Wobei Ubaku nicht zu gewähren wusste, ob es sich um denselben "Himmel" und "die Engel" handelte, von denen in diversen Konvoluten in der Menschenwelt gesprochen wurde. Überhaupt merkte Theoderich dem großgewachsenen Daimonen an, dass der Göttlichkeiten und Religionen für recht unpraktisch-eigenwillig-hinderliche Einrichtungen hielt, gemessen zumindest an dem, was er hier an Resultaten registrierte. Auf dieser Seite des Zauns galt eine Ober-Regel: was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Praktisch, eingängig und nicht übertrieben komplex. Hier kam man jedenfalls gut damit zurecht. Klar, Streitigkeiten konnten schon mal auftreten, aber dafür gab es Friedensgerichte, Mee-Poos, KOK-Offize, kurz und bündig, man kümmerte sich umeinander. Theoderich gewann den Eindruck, dass hier möglicherweise von einem eher repressiven System die Rede war, doch das schien nicht der Fall zu sein. "Bauch und Hirn!" Erläuterte Ubaku ihm ungefragt ob seines skeptischen Blicks. "Darauf kommt es hier an. Verstand gebrauchen, aber Gefühl nicht außer acht lassen. Simpel!" Deshalb gab es weder Kriege noch Morde, Überfälle oder andere Verbrechen gegen Leib und Leben. Na ja, hin und wieder ging es beim Sport etwas robust zu, aber da hatte man Schiedsgerichte, die einschritten, wenn irgendwer die Ober-Regel nicht begriff! Wer sich ganz und gar nicht an dieses Gebot halten wollte, bekam es mit den P.U.D.E.L. zu tun. Nicht zu verwechseln mit den Pudeln, über die man besser keine albernen Scherze machte, denn der Große M hatte da so seine Vorlieben! P.U.D.E.L. kürzte die Bezeichnung "Paramilitärische Untergrund-Division enigmatischer Lieblingslakaien" ab, deren Mitglieder als schnelle, um nicht zu sagen blitzartige Eingreiftruppe agierten. Mit denen wollte man GAR NICHTS zu schaffen haben, weil ihr Erscheinen bedeutete, dass man etwas WIRKLICH ÜBLES angestellt hatte. Weshalb es Ubaku offenkundig leidlich beruhigte, dass bisher noch kein Angehöriger dieser Elitetruppe hier aufgeschlagen war. Vorsichtig explorierte Theoderich den Kontakt zur Menschenwelt. Tja, also, sein Gastgeber schnaufte grimmig, so als Benachbarte war man schon neugierig. Manch einer schlimmer als eine naseweise Katze! Zunächst gab es nur wenige Daimonen, die auf die andere Seite wechseln konnten, dort unsichtbar oder unkenntlich verhüllt ihrer jeweiligen Aufgabe nachgingen, unter Beachtung der zweiten, wesentlichen Regel: nicht einmischen und keinen Menschen gefährden! Dann tauchten frühere Göttlichkeiten auf, suchten Asyl, weil man nicht mehr an sie glaubte, ihre Heimstätten geschleift worden waren, ihre Existenz zu enden drohte. Sie wurden nicht mehr gebraucht. Der Große M bot ihnen eine Zuflucht, vielen auch die Chance, endlich aus ihrer abgesteckten Bestimmung auszubrechen! So bekamen mehr Daimonen etwas mit von der Menschenwelt, wenn auch indirekt. Fabelwesen, Phantasiegestalten: wenn nur intensiv genug ihre Existenz beschworen wurde, "lebten" sie, wollten auch Asyl bekommen. Dazu tauchten dann auch Engel auf, verwirrt, ohne notwendige Aufgabe, ganz und gar fremd in ihrem Dasein. Nun, Platz würde sich schon finden! Was zu anderen, gesellschaftlichen Diensttuenden führte: Mee-Poos, Metropolitan Police, die durch die Siedlungen spazierten, mit Rat, Tat und Einfühlungsvermögen dafür sorgten, dass die Gesellschaft funktionierte. Außerhalb der großen Siedlungen wanderten Inspize über das Land. Es gab KOK-Offize, Angehörige des Komitees organisierter Kreativität, die gern assistierten, wenn man sich eine sinnstiftende Beschäftigung suchen wollte oder einfach mal ein wenig schwatzen, Kontakte knüpfen, richtig "ankommen" im Viertel. Ein nahezu bahnbrechendes Ereignis stellte die Möglichkeit dar, Signale aus der Menschenwelt einfach empfangen zu können. Erst Töne, dann auch Bilder! Was gab es da nicht alles zu entdecken, selbst für die Daimonen, die keine Chance hatten, jemals auf die andere Seite wechseln zu können! Auch jetzt wurden "Grenzübertritte" durchaus streng reguliert. Energie-Verzehrende durften erst hinüber, wenn sie in der Schule erfolgreich einen entsprechenden Kurs absolviert hatten. Man benötigte in der Regel "Siegel", die die Dauer des Aufenthalts anzeigten, dazu verschiedene Hilfsmittel, denn die Menschen sollten ja nichts merken! Theoderich lauschte fasziniert, beinahe abgelenkt von seinen wirklich sehr schmerzenden Füßen. Was für eine Welt! Allzu gern würde er mehr von ihr sehen! Woraufhin sich sein Verstand einschaltete, der eher pragmatisch die Frage aufwarf, wie seine unmittelbare Zukunft sich gestalten sollte. Konnte er irgendwie zurück in das Kongresszentrum gelangen und dort in die eigene Welt zurückkehren? Oder bestand die Gefahr, dass er als bedrohlicher Mitwisser um diese phantastische Welt eingestuft, deshalb hier behalten wurde? Überhaupt, wieso Kongresscenter? ~ <3 ~ + "Ja~ha!" Ubaku verteilte Brotreste vom Vortag in eine gewaltige Auflaufform, die er mit cremiger Flüssigkeit füllte, darüber Körner und klein gehackte Früchte verteilt. Die Auflaufform fuhr in eine große Backröhre ein. Er kramte seine Erinnerungen an den Schulunterricht zusammen. "Es ist ja so, dass wir nicht so viel Steuern zahlen." Er warf einen Blick auf Theoderich, der ihm trotz Rückenlage aufmerksam lauschte. "Damit jetzt ein großes Polster für die Allgemeinleistungen vorhanden ist, hat der Große M immer mal wieder auf eurer Seite investiert. Beteiligungen, Anteile, Immobilien." Konsequent und vorausschauend, wenn man daran dachte, wie viele gesellschaftliche Diensttuende alimentiert werden mussten. "Tja, und er hat eben so eine Vision." Ubaku zog die Stirn kraus, sein Kamm schillerte grell. "Na ja, Dienstleistungen, damit sozusagen das Logikzentrum trainiert wird." Theoderich beäugte ihn verwirrt. "Im Kopf." Ubaku tippte sich mit einer Kralle an die Schläfe. "Verstehst du? Wir mischen uns nicht ein, klare Kante, aber trotzdem kann man ja das systematische Denken fördern." "Mit Fortbildungskursen?" "Genau!" Nun lächelte Ubaku erleichtert. "Das bedeutet ja schließlich nicht, dass man nicht selbst entscheidet! Aus der Nummer kommt niemand raus! Aber wenigstens viele Aspekte einbeziehen, das ist doch wichtig!" Zugegeben, hin und wieder wäre wohl ein kleiner Schubs in die "Gemeinwohl"-Interessen-Richtung nicht verkehrt gewesen, doch das schloss sich aus. Ja, man lehrte alle möglichen Techniken, auch solche, die nicht zum Vorteil von Kundschaft/Klientel/Opfern waren. Allerdings bestand immer die Option, sich in der Umsetzung zu verweigern, aus eigenem Urteilsvermögen heraus zu erkennen, das bestimmte Vorgehensweisen untunlich sein mussten. Ubaku eilte in seinen "Brutkasten", um die nächste Charge mit Teiglingen aufzufüllen. Diese kurze Unterbrechung wollte er Theo gönnen, damit der seine Antennen auf diese Welt justieren konnte. "Was geschieht, wenn man mich hier entdeckt?" Uoh, eine Frage, die Ubaku zu vermeiden gehofft hatte! Er walkte Teiglinge durch, bevor er sie in ihre Backkörbchen absetzte, mit liebevoller Akkuratesse. "Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung." Antwortete er schließlich. "Ich habe nur von Methoden gehört, wie man in deiner Welt zufällige Entdeckungen ausbügelt, aber hier, bei uns? Nada!" Er seufzte. "Eigentlich habe ich sogar angenommen, dass Menschen hier gar nicht leben können." Was offenbar, zumindest bis zu diesem Moment, kein großes Problem darstellte. Ubaku bugsierte mehrere Stiegen mit Backkörbchen in den großen Ofen, kontrollierte dabei den Fortschritt in der Auflaufform. Wieder klapperten Metallplättchen, weshalb er im Schütten-Verfahren Frischware nach oben kurbelte. "Du sagst, dass du eigentlich eine Rundreise antreten wolltest, oder?" Hakte er nach. Theoderich nickte. "Dann haben wir wenigstens ein paar örtliche Anhaltspunkte, wo sich mein depperter Cousin herumtreibt!" Konkludierte Ubaku grimmig. "Das bedeutet, dass wir eine Möglichkeit finden müssen, dich zurückzubringen und ihn einzukassieren." Ubaku entstaubte seine großen Hände an der Schürze, löste sie von seinen Hüften. "Hör mal, ich werde gerade eine Nachricht an einen Freund absetzen, damit wir diese Holzklötze von deinen Füßen bekommen, in Ordnung?" "Vielen Dank!" Nickte Theoderich mit ersten Anzeichen der Freude. Seinen Mienenspiel schien nämlich sonst nicht allzu abwechslungsreich, wie Ubaku befand. Andererseits waren Menschen ja auch generell etwas detailarm. Farbe, gut, wenn auch limitiert, aber keine Hörner, Hauer, Geweihe, bloß zwei Augäpfel und zwei Ohrmuscheln, der Mund immer ähnlich... Ein bisschen fade Gestalten, rein optisch! Nun, Aussehen war eben Glücks- und Gen-Sache, das konnte man niemandem vorhalten! "Bin gleich wieder da!" Versprach Ubaku also, stürmte rasch die Stiege hoch auf die Straße. Das nächste Aero-Flott-Büro lag an der Ecke. Er opferte bereitwillig für den Eilservice zwei Handvoll feinster Körner! ~ <3 ~ + Theoderich kontemplierte die Stationen des Tour-Plans. Konnte Carambeu unentdeckt bleiben? Zweifellos. Im Trubel, mit Verkleidungen, dazu vermutlich vorsichtig, was fremde Speisen und Getränke betraf, plus die Fähigkeit, die Wahrnehmung des Gegenüber zu beeinflussen! Vielleicht könnte man ihn abfangen. Bedingte das aber nicht, dass entsprechende Portale vorhanden sein mussten? Konnte er, als Mensch, überhaupt durch das Portal schreiten, oder hatte der Wechsel nur funktioniert, weil Carambeu als Daimon dabei gewesen war? Tja, auf all diese Fragen konnte er selbst ohne weitere Einblicke in diese komplexe Welt keine Antworten geben. Es klapperte. Theoderich drehte den Kopf, erkannte, dass die Dame oben, Arachnei, Nachschub orderte. Er rollte sich herum, setzte sich auf. Die Füße schmerzten höllisch, aber es gelang ihm, trotzdem die Backstube zu durchqueren und eine Schütte zu füllen. Er stemmte sich mit aller Kraft ins Seil. Zwar unterstützte ein Flaschenzug die Mühe, doch ihm erklärte sich rasch, warum Ubaku imponierende Muskeln präsentierte. Er ächzte und mühte sich, bis der Erfolg eintrat. Weil er stand, wenn auch eine Grimasse unterdrückend, studierte er das Schriftsystem: gängige, schlichte Zeichen, dem lateinischen Alphabet nicht unähnlich. Die Ziffern definitiv arabischen Ursprungs, dazu Farbkennungen und kleine Bildchen! Sehr fortschrittlich, ohne Zweifel. Eigentlich, das dämmerte ihm nun, hätte er sich auch stärker erstaunt zeigen müssen, was die Sprache betraf, denn man unterhielt sich ja mühelos und fließend in seiner Sprache! Dass es auch ein eigenes Idiom gab, konnte er lediglich daran ermessen, dass Ubaku hin und wieder sehr leise etwas murmelte. Erstaunlich! Auf der Stiege vernahm er gedämpfte Schritte. Ubaku betrat schon wieder sein Reich. "Theo, warum stehst du? Deine Füße sollten sich eigentlich ausruhen." Theoderich verwies auf die leere Schütte. "Es gab ein Gesuch um Nachschub." Erläuterte er. "Ich habe mir die Freiheit genommen, es zu beantworten, um keinen Verdacht zu erwecken." "Oje, schon wieder leer?! Die wollen mich wohl erledigen!" Doch Ubakus Gesichtsausdruck, soweit Theoderich ihn zu deuten vermochte, zeigte einen nicht geringen Anteil an Stolz. "Wir müssen jetzt bloß darauf warten, dass mein Freund sich meldet." Schon kordelte er die Schürze wieder über die Pluderhosen. "Außerdem ist der Auflauf gleich fertig. Ich denke, den kannst du gefahrlos essen." Tatsächlich roch es wirklich köstlich, ließ bei Theoderich Erinnerungen an "arme Ritter" aufkommen. Ubaku teilte Portionen ab, die er höchstpersönlich nach oben transportieren musste. "Sag mal, stimmt es, dass ihr alles in Fett ausbackt?! Carambeu hat da so was erzählt..." Während sie nun beide nach Ubakus Auslieferung speisten, erklärte Theoderich die Bedeutung von Schmalz- und Fettgebackenem vor der Fastenzeit. ~ <3 ~ + "Sieh an, sieh an! Wenn das kein Menschlein ist." Ubaku zuckte zusammen, rotierte um 180°, vollkommen überrumpelt. Der einen Kopf kleinere Daimon lächelte, die geschlitzten Augen funkelten golden, der doppelte, buschige Schwanz zeichnete aufreizende Figuren in die Luft. "Warum so verblüfft?" Die dunkle Stimme klang wie stets nach Honig, nach Samt, nach sanftem Spott, nach Verführung und Sünde. "Inario! Schleich dich doch nicht so an!" Schnaubte Ubaku, wusste, dass dieser Tadel nicht nur vergeblich war, sondern ihn selbst in kein allzu souveränes Licht rückte. Andererseits, konnte er Inario IRGENDWAS vormachen? Ha! Der hatte sich in tänzerischer Geschmeidigkeit bereits aus seinem Schatten geschoben, studierte Theoderich, der ihn ebenso eingehend betrachtete. "Diese Holzschuhe müssen herunter." Erläuterte Ubaku. "Sie sind aus einem Stück gefertigt." "Ah, holländisch. Klompen." Nickte der Daimon mit dem doppelten Fuchsschwanz, wischte sich die in einem Zopf gebundene, rote Mähne von der Schulter. "Kein Problem." Präsentierte er zierliche, aber nadelspitze Zähnchen. "Ohne seine Füße abzusäbeln." Präzisierte Ubaku grollend, sich ein wenig schadlos haltend für seine Schreckhaftigkeit. "Ah. Ein Schwierigkeitsgrad." Lächelte Inario unverändert trügerisch, bevor er ergänzte. "Das wird teuer, mein Freund." Den letzten Satz formulierte er allerdings in ihrer eigenen Sprache, sodass Theoderich der Sinn entgehen musste. Was Ubaku daran erinnerte, die Honneurs nachzuholen. Es lenkte ihn entschieden davon ab, wie hoch der Preis sein würde! "Theo, das ist Inario. Inario, Theoderich, nicht freiwillig hier, sondern Opfer der epochalen Blödheit meines Cousins!" Inario streckte die Rechte aus, schüttelte Theoderichs Hand, weiße, porzellanglatte Haut mit roten Krallen an den feingliedrigen Händen. "Sehr erfreut." Er verneigte sich sogar. "Willkommen auf dieser Seite." "Vielen Dank. Ich freue mich auch, Ihre Bekanntschaft zu machen." Antwortete Theoderich gewohnt ruhig. Eine Ruhe, die Ubaku langsam bedenklich fand, da er bisher noch keinen einzigen Gefühlsausbruch ob dieser Situation registriert hatte. Definitiv ungewöhnlich! Inzwischen hatte Inario sich mit den Holzschuhen befasst, das Problem inspiziert. "Was denkst du, Theo?" Schnurrte er samtig. "Deine Holzschuhe gegen ein Paar praktische Sandalen und neue Socken?" Dabei deutete er auf seine eigene Fußbekleidung unterhalb der mit gekreuzten Bändern fixierten Stulpen. "Dagegen hege ich keine Einwände." Antwortete Theoderich nach einem Augenblick. Zwar gehörten ihm die Klompen nicht, andererseits sah er auch keine Möglichkeit, sie ihrem Eigentümer zurückzuerstatten, der ihn so verärgert wie ungnädig hatte stehen lassen. "Fein. Ich bin gleich wieder zurück." Inario lächelte mit den kleinen, nadelspitzen Zähnen. Im Vorbeigehen streifte der doppelte Fuchsschwanz subtil Ubakus sehr appetitliche Kehrseite. »Uhoh!« Dachte der Bäcker, schluckte merklich. ~ <3 ~ + Theoderich bemerkte die scheinbar beiläufige Geste und mutmaßte, dass hier sehr viel Subtext zwischen den beiden Daimonen ausgetauscht wurde. Er fragt sich auch, ob er sich äußern sollte zur Erscheinung dieses Inario, dessen Kostüm ihn vage an die Aufmachung von Kriegern im Kabuki-Theater erinnerte: die Jacke mit dem imposanten Revers, in der Taille gebunden, die ungewöhnlichen Hosen, die gekreuzten Bänder und die hochgezogenen Spitzen an den Sandalen, damit man keinen Dreck auflas, wenn man schnell lief. Nun, das wirkte dann eher wie bei einem Reitervolk, statt Stiefeln... Verwirrend. Er räuspert sich höflich. "Darf man fragen, welche Profession Herr Inario ausübt?" Ubaku, der ziemlich energisch Teiglinge vorbereitete und immer wieder zur "Kinderstube" für das Gären wechselte, seufzte. "Nicht nötig, so höflich zu sein, Theo! Was Inario genau treibt, weiß ich auch nicht." Bekannte er, ein wenig grimmig. "Allerdings ist er recht erfindungsreich und verschwiegen. Wenn alles klappt, können wir dich wenigstens wieder auf die Füße stellen." Das würde vonnöten sein, damit Theoderich in das traute Heim der Tante expediert werden konnte, denn in seine Junggesellenbude könnte er ihn heute GANZ SICHER nicht mitnehmen! ~ <3 ~ + Inario kehrte tatsächlich ebenso geräuschlos wie unheimlich zurück, vielmehr schien er einfach in den Vordergrund zu schlüpfen, wahrnehmbar zu werden, weil man schlichtweg keine Bewegung registrierte! Der Daimon mit dem doppelten Fuchsschwanz präsentierte solide Sandalen aus geflochtenen Halmen mit robustem Zehenschutz aus Palmwedeln. Die Socken, fein, blickdicht und wollweiß, waren noch verkaufsfertig zusammengebunden zu einer perfekten Rosette. Gespannt warteten Ubaku und Theoderich auf die Lösung zum Dilemma, denn trotz Beinehochlegens bewegte sich das jeweilige Holzstück kein bisschen! Inario zog aus dem weiten Ärmel seiner Kostümjacke ein gefaltetes Papiertütchen, blies Pulverkörnchen auf Theoderichs Füße. Nun, den erreichbaren Teil der Socken, nachdem sicherheitshalber die Hosenbeine sehr hoch gekrempelt worden waren. Prickelnde Wimpernschläge später lösten sich die Socken auf! Theoderich keuchte, denn seine schmerzhaft pochenden, glühenden Füße kühlten scheinbar rapide aus. Dann entzündeten sich winzige, farbige Funken, wie Popcorn-Mais-Gewitter, nur bunt und sehr klein! "Tada!" Triumphierte Inario mit seinem verschwörerisch-herausfordernden Lächeln, lupfte mühelos die Holzschuhe ab. Theoderich rollte sich zur Seite, schwenkte die Beine herum, studierte verblüfft seine Füße. Normale Hautfarbe, normale Temperatur. Gut, kein Fädchen mehr übrig von den Socken, aber...! "Ganz erstaunlich!" Lobte er aufrichtig. "Ich danke Ihnen herzlich, Herr Inario!" Der Daimon zwinkerte mit den geschlitzten, goldenen Augen, warf mit einer großspurigen Geste die roten Haare auf den Rücken. "Nichts zu danken, Freund Mensch. Hier, der Preis für die Klompen!" Damit erhielt Theoderich seine neue Fußbedeckung, die er sogleich applizierte. "Sehr schön. Bequem und angenehm." Stellte er maßvoll begeistert fest, erlaubte sich das erste breite Lächeln an diesem verrückten Mittwoch. Tatsächlich, besser als jedes Paar Schuhe, das er bisher getragen hatte! "Qualität und Erfahrung." Inario zuckte mit den Schultern, tauschte seinerseits die eigenen Sandalen mit den Klompen. Sie harmonierten perfekt mit seinem überwiegend rot und weiß gehaltenem Kostüm. Er löste sie wieder, kramte in den Ärmeln herum, die offenbar als geräumige Taschen fungierten, fingerte mit den feingliedrigen Händen Steine heraus. Ihre scharfkantigen Seiten benutzte er außerordentlich versiert, das Innenleben der Klompen exakt auf die eigenen Füße auszuhöhlen! "Danke, Inario." Ubaku reichte ein rundes, flaches Gebäck an. Theoderich hätte es auf SEINER Seite für eine Variante von Schüttelbrot gehalten, dem Äußeren nach zu urteilen. Inario ließ alle kleinen, nadelspitzen Zähne sehen. "Zu Diensten, mein Freund. Nun muss ich mich aber sputen, denn es wartet noch ein Auftrag auf mich." Er glitt elegant herum, fast schwerelos, obwohl er doch nun die Klompen trug, verneigte sich leicht vor Theoderich. "Ich bin überzeugt, dass wir uns noch einmal über den Weg laufen, Freund Mensch. Bis dahin empfehle ich einen angenehmen Aufenthalt!" Artig setzte Theoderich zu einem Dank an, doch bevor er noch eine Silbe über die Lippen brachte, adressierte er freie Luft. Ubaku neben ihm schnaubte. "Das macht er ständig! Denk dir nichts dabei, ist so eine Marotte!" Diesem Ratschlag folgend glitt Theoderich auf die eigenen Füße, absolvierte rasch einige Kniebeugen. Ah, welche Wohltat, sich wieder regen zu können! Unterdessen rollte Ubaku den Vorhang zusammen, hielt Theoderich die Maske hin. "Entschuldige, aber wenn wir nach draußen wollen, musst du dich ein bisschen tarnen." ~ <3 ~ + Theoderich konnte durch die Maske eingeschränkt nicht das volle Spektrum des Panoramas wahrnehmen, doch was er sah, erstaunte ihn. Am späten Abend, überall hatte man Laternen illuminiert, wenn auch mit beweglichem Innenleben, was auf Leuchtkäfer hindeutete, wuselten viele Flanierende umher, von einer Varianz, die ihn überwältigte. Sicher, in einschlägigen Serien gab es Außerirdische oder Phantasiewesen zu sehen, die "Bösen" einfallslos hässlich, die "Guten" immer einen Tick zu attraktiv, aber hier...! Alle Farben des Regenbogens, besondere Ausprägungen aus dem Tierreich, jede Form von Bekleidung, bunt, geschäftig, meist gut gelaunt, nicht allzu eilig, Geweihe, Hörner, Federn, Schwingen und Flügel, Facettenaugen, Krallen, Pfoten, Hufe, Rüssel, Fühler, unterschiedlich viele Gliedmaßen... Theoderich war dankbar für Ubakus muskulösen Arm, der ihn eingehakt hatte. Was für ein Spektakel! Man konnte sich kaum vorstellen, dass diese Varianz an Wesen sich ausgerechnet für Menschen interessierte, deren oft lächerlich zwanghafte Vorstellung dazu neigte, vom Einband des Buches auf den Inhalt zu schließen und anhand von äußeren, erblichen Phänotypen auf mögliche Intelligenz! Ob hier auch Rassismus existierte oder der abschottende Drang, sich nur der eigenen Spezies, Volksgruppe zuzuordnen? Er schwieg, um nicht unnötig Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, denn hier sprach man offenbar Daimonisch. Als sie nach einigen Minuten geschmeidigem Gleitens im Passantenstrom abbogen, nahm das Gewimmel rasch ab. "Ich bringe dich zum Haus meiner Tante, wo Carambeu dich einquartiert hat." Raunte Ubaku ihm zu. "Keine Angst, sie ist verreist. SO schlau war der Depp nämlich!" "Vielen Dank." Antwortete Theoderich, der eine Reaktion für angezeigt hielt. "Dort bist du heute Nacht ungestört und kannst dich erst mal ausruhen." Erklärte Ubaku, ein wenig nervös. "Im Haus ist auch mehr Platz als bei mir." Theoderich nickte leicht, um zu signalisieren, dass weitere Ausführung zu diesem offenkundig schwierigem Sujet nicht erforderlich waren. In der sehr ruhigen Siedlung leuchteten nun verschiedene Laternen, die wenigen Leute kamen entweder von ihrem Tagwerk oder spazierten noch mal um den Block. Ubaku grüßte betont launig, plauderte demonstrativ auf Daimonisch, so, als halte er tatsächlich dem Cousin einen Vortrag, was Theoderich annehmen ließ, dass dieser Carambeu des Öfteren mit einer Maske herummarschierte. Im Haus erklärte ihm Ubaku rasch den Umgang mit den Leuchtkäfern, die gern gefüttert werden wollten, die Komposttoilette, das fließende Wasser in der Küche. Das Chaos in Carambeus Zimmer solle er einfach unbeachtet lassen! Immerhin, das Bett, frei von Studien-Streugut, war gelüftet und würde ihm die verdiente Mütze Schlaf verschaffen. Am nächsten Morgen solle er warten, bis Ubaku käme, ihn abzuholen. Wenn er die Wäsche wechseln wolle, so habe Carambeu bestimmt keine Einwände, sich aus dessen Reservoir zu bedienen, dafür würde er später schon sorgen, aber hallo! Nach dieser finsteren Drohung einer sehr ungemütlichen Zukunft für den abwesenden Cousin eilte Ubaku raschen Schritts davon. Theoderich atmete tief durch. Die Leuchtkäfer summten leise und erhellten das Zimmer in einem warmen, lagunenblauen Schimmer. Wenn es ein Ordnungssystem gab, erschloss es sich Theoderich nicht, aber er beabsichtigte auch nicht, die "Ablage" seines Gastgebers/Entführers in Unordnung zu bringen. Trotzdem studierte er Papiere, Schiefertafelsplitter, Pergamente, feine Glasscheiben. Vieles konnte er nicht entziffern, da es in den Schriftzeichen der Daimonen formuliert war, doch er erkannte auch Originale aus "seiner" Welt. Offenkundig faszinierte Carambeu die selektive Erinnerung der Menschen. Sie glaubten, zumindest viele, dass es sich bei den Bräuchen um solche der "Heidenzeit" handelte, weil es bei den Römern auch schon Festivitäten gegeben hatte, wo der gesellschaftlichen Status ausgesetzt war, sich beispielsweise Sklaven wie Herren gerieren konnten, dann die "Hofnarren"-Position im Mittelalter, Spaßmacher, Gaukler, herumziehende Schauspieler mit Masken. Doch das, was man für vermeintlich uralt hielt, lag gerade mal 200 Jahre zurück, wenn überhaupt! Die Gardekorps mit ihrer militärischen Aufmachung stellten tatsächlich einen Widerspruch zur eigentlichen Fastnacht dar! Eine strikte Ordnung, eine bürgerlich-biedere Einhegung von allzu wildem Treiben! Tanzmariechen?! Nachkriegserfindung. Elfer-Rat mit Damen-Beteiligung? Erst wenige Jahrzehnte alt. Musikzüge in feinem Ornat? Ebenfalls nicht sonderlich alt, sondern eine hübsch manierliche Aufstellung, um das vorherige wilde Rasseln, Trommeln und Klappern zu zähmen! Die Darstellung aktueller Missstände, politische Botschaften, der Narrenspiegel? Ebenfalls kaum hundert Jahre, dazu noch mit Unterbrechung. Insbesondere alle Kriege hatten Zäsuren mit sich gebracht, für Veränderungen gesorgt. Tatsächlich, das markierte Carambeu mit einem besonders hohen Stapel, schien das, was landläufig zu sehen war (offenkundig sogar hier, bei den Daimonen) nur wenig "typisch", sondern jung und angepasst. Hübsche Kostüme, nette Umzüge, Sticheleien, dazu Gassenhauer und Tanzvorführungen, ein gesittetes, temporäres Ventil für eine saturierte, harmoniebedürftige Gesellschaft. Der Ursprung der Fünften Jahreszeit verhielt sich, einer ganzen Bildergalerie zufolge, anders, keineswegs heidnisch geprägt, etwa, um den Winter auszutreiben, einen "wilden Gesellen"! Nein, christlichen Ursprungs, nämlich als eine "Galgenfrist" vor den vierzig Tagen in der Wüste, der Wüste der Entsagung, der Fastenzeit, mit strengen Regeln, Entbehrungen, im grauen Alltag noch grämlichere Einschränkungen. Damit es sich aber "lohnte", zu entsagen, sich Asche aufs Haupt zu streuen, zu büßen, musste man vorher ordentlich über die Stränge schlagen, noch einmal mit den kärglichen Resten der Vorräte des langen Winters so richtig schlemmen, Krach schlagen, sich amüsieren! Eine Freiheit, die sich im Übrigen auf die männliche Bevölkerung beschränkte. Das allzu wilde, vogelfreie Treiben gelang besser, wenn man eine Maske aufsetzte, sich also von sich selbst distanzierte, ein "Gesicht" zeigte, das man nicht im Alltag trug, sodass die Taten nicht auf einen selbst zurückfielen, sondern auf die "andere" Gestalt in dieser kurzen Zeitspanne der Zügellosigkeit. Weil die Masken tarnten, verstand sich auch ein obrigkeitsgeprägtes Unbehagen, denn da konnte ja JEDER Schabernack treiben, sich erdreisten, das Wort zu ergreifen! Überhaupt, recht unzivilisiert, so manches Brauchtum, da wurden dann Honoratioren in den Brunnen befördert, mit Ruß beschmiert, verspottet, zogen ganze Gruppen junger Männer durch die Gegend, forderten Schnaps, Eier, Speck, schlugen Krach und trieben wilde Scherze, betranken sich, rauften herum, grölten, pflegten lose Sitten! Wie viel besser, es in klare Regeln zu pressen, dieses Treiben, mit Rangstufen, mit Uniformen, mit Ritualen. Theoderich rieb sich die trockenen Augen und fragte sich, wie viel Zeit wohl verstrichen war, während er fasziniert gestöbert hatte. So genaue Vorstellungen hatte er nicht gehabt, auch nicht die nötige Zeit gefunden, Mareks Instruktionen gründlich zu studieren. Nun erschloss sich ihm, dass zumindest einige der Höhepunkte, die ihre Tour umfasste, doch eher dem Zeitgeist geschuldet waren und weniger einer langen Tradition. Andererseits, welche Regel besagte schon, wann EXAKT etwas eine Tradition wurde oder noch eine vorübergehende, wiederholte Erscheinung war? Tja, es hatte den Anschein, als würde an seiner Stelle Carambeu die Hochzeit dieser Saison (die Fünfte Jahreszeit dauerte ja schon eine Weile an) genießen, doch angesichts der akribischen bis besessenen Sammelwut, die sich ihm hier offenbarte, konnte Theoderich keinen besonders intensiven Groll empfinden. Es stand zu vermuten, dass Carambeu jede einzelne Minute der Tour sehr viel mehr wertschätzen würde als er selbst. "Und ich?" Fragte sich Theoderich laut, während er seinem Anzug entschlüpfte, sich bis auf die Leibwäsche minus Socken entkleidete. Ja, was sollte er in der Zwischenzeit mit sich anfangen? Doch darüber wollte er lieber am nächsten Tag grübeln. ~ <3 ~ + Ubaku wirbelte durch seine Wohnwabe, welche bloß einen Schlafplatz mit Lug sowie ein wenig Stauraum umfasste, eher einer begehbaren Röhre ähnelte. Seine Wohnwabe befand sich auf mittlerer Höhe in einem Wabenstock, eine kreisrunde, mehrstöckige Wohnbehausung. Vom spiralförmigen Treppenhaus ging es gemütlich in die Geschosse. Die einzelnen Waben mochten zwar klein sein, doch sie waren nahezu schalldicht und verfügten über das runde Fensterchen an der Front. Gemeinschaftsräume gab es auf jedem Stockwerk IN der Treppenspirale, kleine Küchenzeilen, Waschräume und Toiletten. Ubaku liebte seine Freiheit hier, denn es hätte ihn bestimmt die Wände hochgetrieben, wie der Cousin bei den Eltern hausen zu müssen. Als junger Daimon wollte man auch mal für sich sein! Vor allem in solchen Situation wie jetzt... Er atmete tief durch: Matratze ausgerollt, Decke zusammengefaltet (warm genug wäre ihm ohnehin), Katzenwäsche absolviert, für danach Speis und Trank auf dem oberen Bord... Ah, Kissen aufklopfen! Seine aufgeregte Nervosität ärgerte ihn selbst. Als wäre das jetzt so etwas Besonderes! War es nicht, und trotzdem. Trotzdem flatterte sein Herz wie wild, räusperte er sich immer wieder. "Hat sich nicht verändert." Schnurrte es unvermittelt hinter ihm. "Korphytkacke! Willst du mich zu Tode erschrecken, oder was?" Stieß Ubaku hervor, wollte sich umwenden, doch dünne, erstaunlich kräftige Arme umfingen ihn, hinderten seine Pirouette entschieden. Inario lachte leise, guttural. "Hast du mich nicht erwartet, mein knackiger Bäcker?" Neckte er Ubaku herausfordernd. "Andere Leute klopfen an!" Schimpfte Ubaku, verwünschte die Röte auf seinen Wangen, die sich unkleidsam mit seinem olivfarbenen Teint biss. "So,so, empfängst du hier auch andere Leute?" Der Daimon mit dem doppelten Fuchsschwanz gurrte spöttisch, herausfordernd. Ubaku atmete tief durch, was die dünnen Arme ihm großzügig gestatteten. "Natürlich nicht." Antwortete er leise, legte seine großen Hände auf die feingliedrigen mit ihren roten Krallen. "Danke für deine Hilfe heute." Ergänzte er, doch bevor er die Umstände ausführlicher erläutern konnte, wurde er mühelos über ein Knie auf die Matratze geschleudert. Ein weißer, porzellanglatter Finger legte sich auf seine ächzenden Lippen, die geschlitzten Augen zwinkerten golden. "Nicht mehr sprechen." Raunte die samtige, verführerische, bannende Stimme. Für Ubaku gar kein Problem. Ihm würde es ohnehin in Kürze den Atem verschlagen! ~ <3 ~ + Alles hatte angefangen, als er noch sehr jung war, zumindest für daimonische Verhältnisse, aber schon recht groß gewachsen. Da hatte er ihn gesehen, diesen Daimon mit dem doppelten Fuchsschwanz und dem roten Zopf, in einem schlichten Gewand mit Umhang, wie der kleinen Kindern Tricks vorführte. Ubaku hatte sich vom Schulhof geschlichen, einfach geschwänzt, um diesem Fremden zu folgen. Er wusste nicht mal zu sagen, warum! Aber jede Geste, jede Bewegung, das alles hatte ihn verzaubert, jeden anderen Gedanken verdrängt. Unerwartet war das Objekt seiner Verfolgung vor ihm erschienen, von einem Wimpernschlag auf den nächsten. "Hmm, so eine Überraschung. Hab ich dich neugierig gemacht?" Hatte er irgendetwas über die Lippen gebracht? War mehr als fassungslose Anbetung gewesen? Ubaku konnte sich nicht erinnern, nur, dass Inario seine Hand genommen hatte, ihn an einen verschwiegenen, kleinen Ort geführt. Er wusste bis heute nicht zu sagen, wo sie gewesen waren, wie lange es gedauert hatte, wer ihnen vielleicht begegnet war. In den Bann geschlagen hatte er, der dreizehnjährige Schlacks, sich verführen lassen, verzaubern, vernaschen, mit Haut, Kamm und Krallen. Für die nächsten beiden Monate hatten sie es so gehalten, ohne besondere Vereinbarung, überhaupt ohne große Konversation. Den Kopf voll mit Inario galt jede freie Minute dem Begehren, der Lust aufeinander. Oh ja, gründlich und versiert hatte er im Blitztempo eine Menge gelernt! Dann hatte Inario ihm erklärt, er müsse für eine Weile fortgehen, Arbeit. Der Katzenjammer trieb Ubaku durch ein Tal der Tränen, der Verwirrung, der Hilflosigkeit. Seit diesem ersten Aufeinandertreffen hatte sich Inario kein bisschen verändert, mit Humor aufgenommen, dass Ubaku ihn nun überragte, sehr viel mehr Kampfmasse auf die Waage brachte, was angesichts der mühelosen Wehrhaftigkeit Inarios keine Rolle spielte. Sie begehrten einander noch immer, ungezügelt, fordernd, ausdauernd. Die richtige Distanz zu finden, das war zumindest Ubaku bis zum heutigen Tag nicht gelungen, empfand er selbst. Katzenjammer-Verzweiflung gab es nicht mehr, denn er vertraute darauf, dass Inario wie eine Erscheinung immer wieder unerwartet aus dem Boden wuchs, dass er dessen Geheimnis nicht ergründen würde. Was ihn nicht mehr sonderlich kümmerte, denn so oder so war er dem Zauber erlegen! Allerdings zeigte sich im Alltag hin und wieder, dass es sich etwas schwierig gestaltete, vollkommen verrückt nach Inario zu sein und so gar nichts über dessen Umstände zu wissen. Manche empfanden dies als ein wenig unpassend. Ubaku hatte für sich entschieden, die Situation zu akzeptieren. Er war Inario nun mal verfallen. Umgekehrt konnte er das nicht sagen, verabschiedete aber auch entsprechende Fragen. Inario zu ändern, diesen zu Kompromissen zu bewegen, das stand schlicht nicht in seiner Macht. Und, verwünscht noch eins, wenn der ihm seine VOLLE Aufmerksamkeit widmete, interessierte ihn sowieso gar nichts mehr! ~ <3 ~ + Kapitel 3 - Gesellschaftslügen Theoderich erwachte früh, der Gewohnheit und des wirren Traums geschuldet, der ihn noch immer unterschwellig antrieb, bloß nicht die Krawatte zu vergessen, weil ab 11.11 Uhr die Weiberfastnacht...! Er setzte sich auf, rieb sich kräftig über das Gesicht. Nun, die Frage der Etikette gegenüber amüsierfreudigen Damen mit scharfen Schneidewerkzeugen hatte Carambeu an seiner Stelle zu erörtern. Energisch erhob er sich, schlug das Bettzeug ordentlich zwecks Belüftung auf und überdachte seine Situation. Ubaku hatte ihn angewiesen zu warten, sich im Übrigen jedoch wie zu Hause zu fühlen. Katzenwäsche schien daher angezeigt, was im Anschluss herausforderte, sich seiner Bekleidung zu widmen. Solcherart gerüstet kümmerte sich Theoderich auch um die hilfsweise genutzten Vorhänge. Er befeuchtete sie gerade ausreichend, um sie über eine Tischkante zu ziehen, danach befestigte er sie wieder an ihrem angestammten Ort. So würden sich die mutmaßliche Nachbarschaft nicht zu wundern haben über die Aktion vom Vortag. Während er noch etwas Wasser trank, das erstaunlich kühl und frisch schmeckte, klopfte man munter ans Türblatt. Theoderich erstarrte. Sollte er sich verborgen halten? Würde die Maske genügen? Doch nein, er sprach kein Wort Daimonisch! "Guten Morgen, Theo! Lass uns zusammen frühstücken!" Die muntere Stimme jenseits der häuslichen Burg ließ sich leicht identifizieren: Hatschym. Rasch öffnete Theoderich, fand sich nicht nur Hatschym, sondern auch Veroxi gegenüber. "Ah, sehr vorausschauend maskiert." Lobte der Daimon aufgekratzt, einen Picknickkorb schwenkend. "Ja, aber so kann er nicht durch die Gegend laufen." Konterte Veroxi entschieden. Sie betrat, ohne die kreative Ablage des Kommilitonen zu beachten, Carambeus Zimmer im Obergeschoss, kramte in dessen Habseligkeiten herum. Theoderich wurde gestisch bedeutet, sich anzunähern. "Hat keinen Sinn, mit der Maske herumzurennen." Erläuterte Veroxi, während sie eine Hemdbluse und eine Hose heraussuchte. "Du kannst nicht als Carambeu fungieren." "Ja, richtig." Hatschym wedelte mit den großen Ohren. "Wenn man dich anspricht, merkt man sofort, dass du nicht er bist." "Was du als Kompliment auffassen kannst." Grummelte Veroxi, tippte Theoderich auf die Schulter. Der zögerte zwar, weil beide keine Anstalten machten, sich abzukehren, drehte ihnen dann selbst den Rücken zu, aus Anzug und Hemd zu schlüpfen. "Gut." Unbeeindruckt ging Veroxi vor ihm in die Hocke, wickelte ein Band um Theoderichs Waden, die Hosenbeine ab den Knien zu fixieren. Anschließend wurde ein Tuch um seinen rasierten Kopf gewunden, einem kleinen Turban nicht unähnlich. Darunter konnten sich sowohl spitze Ohren als auch Hörner oder kurze Geweih-Enden verbergen. Hatschym reichte ihm auch noch eine extravagante Sonnenbrille, mit schillernden Brillengläsern, die an Perlmutt-Auflage oder einen Ölfilm erinnerten. "Ubaku hatte sich angekündigt, mich abzuholen." Warf Theoderich artig ein. "Ach, der hat bestimmt erst mal in seiner Backstube zu tun. Er sammelt dich viel später ein!" Veroxi kramte einen Papierfetzen heraus, krakelte geschickt mit einem Kohlestift einige Zeichen auf. "So, nun weiß er Bescheid!" "Ja, gehen wir, gehen wir!" Hatschym marschierte fröhlich voran, während Veroxi die Haustür hinter ihnen schloss, Theoderich fürsorglich einhakte. Der verzichtete auf einen Einspruch angesichts dieser geballten Energie. Außerdem war er wirklich neugierig, wohin ihn sein unerwartetes Abenteuer führen würde. ~ <3 ~ + Fort. Nun, das stand zu erwarten. Ubaku setzte sich auf. Er WUSSTE, dass ein feistes Grinsen sein Gesicht verunzierte, weil er das stets im Spiegel erblickte, wenn Inario ihm seine Gunst gewährt hatte. Erstaunlicherweise, er war sich sicher, dass Krallen und Zähne zum Einsatz gekommen waren, trug er nie derartige Spuren davon! Umgekehrt konnte er allerdings nicht ausschließen, Inario nicht mit seiner Leidenschaft gezeichnet zu haben. Er fühlte sich phantastisch, erfüllt, satt, mit der Welt im Einklang. Wäre da nicht...! Während er eilig seine Wabe verließ, um sich gesellschaftsfein zu machen, erinnerte er sich an die aktuelle Komplikation. Genau, wie ein Blitz in die Backstube hetzen, Arachnei laut genug zubrüllen, sie solle nicht so feixen und sich Kommentare sparen, eilig Nachschub auf den Weg bringen und dann Theo auflesen! Hoffentlich hatte der die Nacht gut überstanden, nicht doch noch einen verspäteten Schock angesichts der Umstände erlitten! Nun, das musste warten, sein Broterwerb ging erst mal vor! ~ <3 ~ + Außer Hatschym und Veroxi trugen sich auch andere kleine Gesellschaften mit dem Gedanken, den schönen Morgen im Grünen zu verbringen, selbstredend mit Proviant ausgerüstet. Sie suchten sich ein freies Fleckchen. Es wurde aufgetischt. "Keine Angst, ich habe mich schlau gemacht, was die Inhaltsstoffe angeht" Versicherte Veroxi gewohnt ernst. "Alles vergleichbar mit Nahrungsmittelbestandteilen in deiner Welt." Theoderich, der nun doch ein gewisses Hungergefühl verspürte, nickte aufmunternd. "Herzlichen Dank für die Mühe!" "Guten Appetit!" Hatschym strahlte aufgeräumt. "Lassen wir es uns schmecken!" Im Verlauf des munteren Verzehrs wurden Theoderich ganz beiläufig die Speisen erklärt, sogar in Daimonisch übersetzt. Konnte schließlich nicht schaden! Der sah sich auch um, betrachtete das Panorama. Ob ihre Welten einander auch in anderen Aspekten ähnelten? Gab es hier auch Jahreszeiten, unterschiedliche Klimazonen, Berge und Meere, Wälder und Wüsten? "Oh!" Entfuhr ihm überrascht, als sich eine Erkenntnis manifestierte. "Ihr habt zwei Sonnen!" "Uhum." Kaute Hatschym nickend, sodass die Ohrmuscheln wedelten. "Ganz erstaunlich!" Bekräftigte Theoderich. "Die Planetenlaufbahnen sind sicherlich ungeheuer kompliziert zu berechnen." "Schon." Veroxi zuckte mit ihren knochigen Schultern. "Aber weißt du, das brennt uns jetzt nicht so unter den Krallen. Funktioniert ja von alleine, nicht wahr?" Hatschym kicherte beifällig. Theoderich erwog dieses Argument, lächelte leicht. "Das ist selbstverständlich richtig. Darf ich fragen, ob es in eurer Welt auch Klimazonen und Jahreszeiten gibt?" "Fragen kannst du alles." Veroxi grinste breit. "Ja, haben wir hier auch. Es gibt hier und da einige Unterschiede, was Bodenschätze betrifft, aber ansonsten ähneln sich die Verhältnisse." "Warum können Menschen hier nur tot sein? Oder habe ich das missverstanden?" Theoderich platzte damit heraus, für ihn durchaus untypisch. Hatschym räusperte sich. "Na ja, tatsächlich lebst du ja noch, sodass es weniger die Umweltbedingungen hier sind als, nun ja, der Wechsel zwischen den Dimensionen." Er zupfte an einem gewaltigen Ohr. "Betrachte es vielleicht eher als eine Art Sicherheitsvorkehrung." Langsam nickte Theoderich. Ja, von einer gewissen Warte aus betrachtet tat niemand wohl daran, der Menschheit den kleinen Finger hinzustrecken. Meist rammte sie die gesamte Tür ein, breitete sich unkontrolliert aus, schleppte dabei noch Unerfreulichkeiten ein, die die Gastgebenden elend ausrotteten. Lernfähigkeit und eine profunde Einsicht in die menschliche Natur konnte man den Daimonen keineswegs absprechen. "Das ist mutmaßlich eine sehr weise Entscheidung." Kommentierte er laut. "Machen wir uns aber jetzt an die Arbeit!" Veroxi räumte Strandgut des Picknicks zusammen, hielt anschließend Hatschym die geballte Faust unter die Knubbelnase. Dessen Gesicht verzog sich in eine Fratze angestrengter Konzentration, während er seinerseits die Faust lupfte. Eine Variante des "Schere-Stein-Papier"/"Schnick-Schnack-Schnuck" ging los, über drei Entscheidungsrunden. Gequält heulte Hatschym auf, was Theoderich signalisierte, dass der Daimon mit den großen Ohrwascheln nicht siegreich aus diesem Kräftemessen hervorgegangen war. "So, ich darf anfangen!" Verkündete Veroxi höchst zufrieden. Sie entnahm einer Mappe aus Pflanzenfasern sehr dünne, durchscheinende Papierseiten, hängte ein weißes Tuch an die breite Seite des Korbs, klopfte an ein kleines Glas. Darin brummte es geschäftig, bevor durch eine Linse stark fokussiertes Licht ausgestrahlt wurde. Es projizierte die Papierseiten wie bei einem Lichtbildvortrag an die Seite des Picknickkorbs. "Mein Thema lautet 'Ökonomische Entwicklung des Valentinstags im Zeichen des Klimawandels'" Ließ sie Theoderich wissen. Der nickte brav, signalisierte Aufnahmebereitschaft. Die ein wenig rustikale Materialwahl und die Umgebung täuschten ihn kurz über die Ernsthaftigkeit der Studierenden, dann lauschte er gebannt und beeindruckt. Veroxi präsentierte Karten, Statistiken, historische Zeitabläufe, handgemacht, ohne Computer! Eingangs erklärte sie knapp die kurze (tatsächlich!) Geschichte des "Valentinstags" in ökonomischer Hinsicht, den Verbreitungsgrad, um auf die Produkte einzugehen. Befragungen und Erhebungen ließen recht eindeutig wissen, dass Süßigkeiten, Blumen, Schmuck und Duftwässer/Kosmetika erworben wurden. Aus naheliegenden Gründen konzentrierte sich ihre Ausarbeitung auf die beiden ersten Aspekte, Süßigkeiten, mit einem großen Anteil an Schokolade, also Kakaoverarbeitungsprodukte, im Mehrklang mit den nahezu in zweimonatigem Abstand aufmarschierenden Feierlichkeiten zu Weihnachten/X-Mas, Ostern und, etwas kürzer, Muttertag, bei denen auch eine entsprechende Nachfrage dieser Produkte zu verzeichnen war. Sodann explorierte sie die Anbaubedingungen für Kakaobohnen, Ernte, Transportwege, politische und klimatische Entwicklungen, desgleichen für Schnittblumen, die keineswegs im historischen Kontext eines "Mitbringels" in der regionalen Natur wuchsen, sondern über Kontinente geflogen wurden! Theoderich hörte konzentriert zu. Beide Sujets lagen ihm nicht gerade nahe, aber er konnte Veroxi gut folgen, die einen solchen Vortrag sogar in seiner eigenen Sprache flüssig zu halten verstand! Ihre Prognose sah nicht gerade verheißungsvoll aus, wenn sich an den Umständen nichts änderte. Die immer knapper werdenden Ressourcen von Wasser und urbarem Boden mussten anders genutzt werden, nachhaltiger. Ein Umdenken wäre notwendig, damit nicht wenige Solvente einen unerträglichen Druck auf die vielen Benachteiligten ausübten. Eine korrekte Bepreisung des Aufwands könnte jedoch nur einen Aspekt darstellen. Vielleicht wäre es auch angezeigt, das Ereignis an sich zu überdenken, andere "Gewohnheiten" zu etablieren! Immerhin handelte es sich um eine Feierlichkeit, die vier Generationen zurück kaum anzutreffen gewesen war. Veroxi sammelte ihre feinen Papierblätter ein, ließ geschmeichelt das Lob ihrer beiden Zuhörer gelten. "Nun, wie ist deine Auffassung, so als Mensch?" Theoderich überlegte. "Ich kann zumindest sagen, dass deine Schlussfolgerungen und Empfehlungen stichhaltig sind." Antwortete er schließlich bedächtig. "Also wärst du bereit, von den hergebrachten Präsentideen abzuweichen, für eine bessere Zukunft?" Veroxi zückte ein Notizbuch, den Kohlestift in Habachtstellung. "An mir sollte es nicht scheitern." Bestätigte Theoderich gelassen. "Allerdings habe ich noch nie einen Valentinstag begangen. Insofern bin ich leider ein ungeeigneter Vertreter meiner Spezies." "Tatsächlich?" Veroxi seufzte. "Warum nicht?" Eine recht persönliche Frage, der Theoderich üblicherweise nur ein distanziertes Lächeln der Höflichkeit gewidmet hätte. Andererseits begriff er das erstaunliche Interesse der Daimonen für eine Welt, die nicht die ihre war. "Üblicherweise wird dieser Tag von Paaren begangen." Gab er deshalb laut zurück. "Ich bin seit jeher Solist." "Hmmm." Veroxi kraulte ihre Pseudo-Fühler konzentriert. "Also ist es keine Ablehnung aufgrund Konsumkritik oder religiös-ethischen Erwägungen?" Mit einem Schmunzeln schüttelte Theoderich den Kopf. "Wenn es dir hilft, kann ich erzählen, was sich Kollegen ausgedacht haben." Bot er Kompensation an. "Ich kann mir aber auch vorstellen, dass manche den Valentinstag boykottieren, weil er als Konsum-Vehikel angesehen wird." "Hm~Hm." Die Daimonin notierte eifrig. "Dachte mir, dass das möglicherweise ein hilfreicher Trend sein könnte, ließ sich aber statistisch nicht ausreichend belegen." "Ein Kollege plant, seiner Frau Wärmekissen zu schenken. Wegen der Kalorien sehen viele wohl von Süßigkeiten ab. Oder man geht zum Essen aus. Wer etwas mehr investiert, schenkt Karten für eine Veranstaltung." "Was ist mit den Blumen?" Eifrig wurde umgeblättert. "Siehst du da Alternativen?" Theoderich grübelte, denn diese Art von Mitbringsel hatte sich nicht im beiläufigen Gespräch aufgedrängt. "Das ist etwas schwieriger, weil man eigentlich bei jeder Gelegenheit, bei Feierlichkeiten oder Besuchen, Blumen mitbringt." Antwortete er schließlich. "Hin und wieder gibt es einige Personen, die allergisch sind, aber es ist noch üblich." Was sich in früheren Zeiten, sah man von kostbaren Exoten ab, einfacher gestaltet hatte. Fast jeder Garten verfügte über ein Eckchen mit Blumen, und sei es nur, um damit den Kirchhof zu schmücken. Dazu gab es noch Wildwiesen, bei denen man sich bedienen konnte. "Eine Variante wäre, statt Schnittblumen ganze Pflanzen zu schenken." Was er verstärkt beobachtete, wenn die zu Beschenkenden sich vorab äußern durften. "Oder Sämereien. Die Anzahl der Fachgeschäfte geht auch zurück." Denn ohne Spezialisierung konnte man kaum von der Entlohnung leben. Veroxi schrieb eifrig mit. "Darf ich dich etwas fragen?" Theoderich wartete höflich, bis der Kohlenstift ruhte. "Wieso ist es von solcher Bedeutung, was aus Blumenimport und Schokolade wird? Für euch?" Die Daimonin nickte lobend, als habe er sich als aufmerksamer Schüler ausgezeichnet. "Zum einen haben wir auch wirtschaftliche Interessen auf eurer Seite." Stellte Veroxi heraus. "Zum anderen sind diese beiden Produkte in einem größeren Rahmen Stellvertreter für eine gewisse Entwicklung in eurer Welt." Sie klappte ihr Notizbuch zu. "Wir sehen nicht nur den Klimawandel mit Besorgnis, sondern auch die damit verbundenen Wanderungsbewegungen, die Belastung für Boden und Wasser, die gesellschaftlichen Spannungen." Theoderich runzelte die Stirn. "Bedeutet das, dass ihr uns vielleicht unterstützen wollt?" "Oh nein, nein, versteh das nicht falsch!" Wedelte Veroxi eilig. "Für uns gilt weiterhin absolut 'nicht einmischen!' Aber wir sind eben Nachbarn und einige von uns auch in eurer Welt unterwegs, deshalb müssen wir uns interessieren." Das konnte Theoderich, dem sich sehr langsam ein Bild dieser Daimonenwelt zusammenpuzzelte, nachvollziehen. "Gibt es bei euch einen ähnlichen Feiertag?" Erkundigte er sich. Veroxi und Hatschym blickten sich kurz an, schüttelten unisono den Kopf. "Wir sind ein klein wenig anders aufgestellt, was das Feiern betrifft." Antwortete Hatschym schließlich mit einem Grinsen. "Weißt du, wir feiern, wenn wir zusammen sind, einfach so. Man muss auch nichts austauschen. Zusammen sitzen, reden, etwas trinken und essen, wenn man sich trifft." Veroxi ergänzte beinahe beschwichtigend. "Was nicht heißt, dass wir menschliche Feiertage nicht nachvollziehen können! Auf uns wirken sie nur ein wenig förmlich, sehr organisiert." Das konnte man kaum bestreiten, wie Theoderich fand. "Klingt sehr sympathisch, eure Einstellung." Äußerte er, um seine Gastgebenden zu beruhigen. Sie sollten nicht annehmen, dass er glaube, sie sähen auf menschliche Konventionen herab. "Was ist mit Schokolade? Gibt es bei euch auch Kakaopflanzen?" Erkundigte er sich neugierig. "Es gibt eine ähnliche Pflanze." Hatschym nickte emsig. "Man röstet die Kerne. Daraus wird ein Pulver gewonnen. Aber es ist nicht sonderlich fetthaltig, sodass man es eigentlich trinkt." "Was aber nicht heißt, dass wir keine Süßigkeiten hätten!" Veroxi sprang ihrem Kommilitonen eifrig bei. "Pudding, Obsttörtchen, Pussys Patisserie!" Beide stöhnten genießerisch auf, die Augen glänzend vor Begeisterung. "Quasi ein Wallfahrtsort für Leckermäulchen!" Erklärte Hatschym feixend. "Ubaku grummelt zwar immer, aber selbst unser Bäcker würde NIE ein Obst-Hörnchen von Pussys Patisserie zurückweisen!" Sie lachten unisono auf. Veroxi zwinkerte. "Wir haben allerdings keine so spezialisierte Lebensmittelproduktion wie bei euch. Wir verarbeiten die Zutaten nicht so aufwändig." Hatschym seufzte. "Außerdem gilt es als Ehrensache, dass das Verhältnis Fett zu Zucker nicht pari ist, wie es bei euch verbreitet anzutreffen ist. Schließlich soll kein ungezügelter Verzehr gefördert werden." Theoderich zögerte. "Ich fürchte, ich kann nicht ganz folgen. Was meinst du damit?" Woraufhin ihm Einsichten eröffnet wurden, die erklärten, warum man bei bestimmten Rezepturen und Produkten nicht aufhören konnte, bis die Tüte, Rolle, Schachtel, Verpackung leer war. Es wurde geschickt und erprobt ausgenutzt, worauf der menschliche Organismus ansprang, um sich vermeintlich das eigene Dasein noch länger zu erhalten. Selbst wenn keine Notzeiten zu erwarten standen. Da war noch keine Rede von Geräuscheffekten, haptischer Ausrüstung und Gestaltung der Verpackung, Düfte und Aromen sowie einer ausgeklügelten Werbung! Veroxi zuckte mit den knochigen Schultern. "Meine WG-Genossin ist das, was man bei euch als Ökotrophologin bezeichnen würde. Da bleibt immer mal was hängen." Hatschym zwinkerte. "Leider nichts Nahrhaftes!" Kalauerte er klagend. Nach einem erzieherischen Rempler brachte er nun seine Unterlagen in Position. "Ich studiere Human-Psychologie." Schickte er zu Theoderichs besserem Verständnis voran. "Mein Thema lautet 'Totalitarismus im Liebes-Verständnis'. Ich habe dazu einen Klassiker ausgewählt." Veroxi schnaubte. "Von wegen Klassiker! Infantil!" Was Hatschym keineswegs aus dem Konzept brachte. "Das Stück wurde vor 20 Jahren verfasst und erstmalig intoniert. Es genießt eine gewisse Verbreitung, somit keine schlechten Voraussetzungen für einen Klassiker." Zu Theoderichs Verblüffung kurbelte Hatschym an einem kleinen Kästchen, das verdächtig an eine Miniaturversion eines Grammophons erinnerte. Samt Schallmuschel! Während die Musik spielte, präsentierte Hatschym den dazugehörigen Text, in der Originalsprache und auf Daimonisch übersetzt. "Ein halber Lovesong, 1998, der beim Auditorium den Eindruck erweckt, die Ich-Person spreche zu einer anderen Person, die im Begriff ist, eine längere Beziehung zu beenden." Hatschym räusperte sich. "Tatsächlich erfahren wir aus der Perspektive des Erzählers von sehr unterschiedlich gelagerten Emotionen und Erwartungen, die auf die andere Person projiziert werden..." Theoderich lauschte der Textexploration mit einer gewissen Übung, dem Schulunterricht geschuldet. Egoismus, Larmoyanz, Zuweisung der Verantwortung, unzulängliche Balance der eigenen Wertigkeit, tendenziell stärker Wehmut als aufrüttelnde Selbstreflektion, ein halbgares Plädoyer für eine Fortsetzung, wenn zuvor zumindest eine Partei die Warnsignale nach eigenem Bekunden nicht registriert hat oder wollte. Die kurze Einführung stellte jedoch lediglich den Einstieg für Hatschyms Thema dar. Er referierte zum Eigen- und Fremdbild, unter der Beeinflussung eines undefinierten Gefühlszustands, der im Weiteren sogar als Ordnungsmerkmal innerhalb der Gesellschaft genutzt wurde. "Liebe", so explorierten seine Ausführungen, war keineswegs ein klar abgegrenztes, eindeutiges Empfinden, eine leicht zugängliche Emotion wie Angst, Wut oder Freude, nein, es handelte sich um ein heterogenes Gemisch unterschiedlicher Affektionen, deren Balance und Anteil wechselte, eine Art große Klammer. Zusätzlich zu einem chemisch-biologischen Körperzustand trug darüber hinaus noch ein Konglomerat an Erwartungshaltungen dazu bei, diesen "Gemischtwarenladen" aufzublasen. Die Lage wurde noch beschwert mit der tradierten Weigerung, die "Klammer" aufzuklappen, kritisch zu eruieren, was genau der eigene Gefühlszustand war und welche Erwartungen gehegt wurden, wozu sich exemplarisch dieses "halbe Liebeslied" gut eignete, weil es von Sprachunfähigkeit kündete. Welche Gefühle wurden hier exakt angesprochen? Sexuelle Begierde? Freundschaft? Loyalität? Vertrauen? Sympathie? Biographisch bedingtes Zusammengehörigkeitsgefühl? Wie war es um die Erwartungen bestellt? Stets den "Himmel voller Geigen"? Konstantes Umwerben oder eine routinierte Basis? Welche Gemeinsamkeiten bestanden? Gab es Ziele? Übereinstimmende Träume? Zusätzlich konnte man Hinweise auf die gesellschaftlich ordnende Aufgabe erkennen: verletztes Selbstwertgefühl (Stolz), getrennt sein als Manko in der Außenwahrnehmung, was darauf hindeutete, dass "Liebe" als Konzept auch vollkommen überfrachtet war! Hatschym kurbelte eifrig, noch konzentriert. Beispiel Nummer 2, in gewisser Weise ein Kontrast, dafür über 50 Jahre alt: All you need is love von The Beatles, ein Emotions-Gemischtwarenladen als Garant für ein gutes Leben, als Wundermittel/Kitt in jeder Lage. Zudem zeigte sich, dass diese prägende Vorstellung in Gesellschaften, die dieser Haltung anhingen, einen erdrückenden, totalitären Charakter angenommen hatte. Die Norm verlangte, sich der "Liebe" unterzuordnen, ein entsprechendes Pendant zu suchen und zu halten. Sonst war mit einem sinkenden Ansehen zu rechnen. Folglich entstand ein gewaltiger Druck, dieser Vorstellung zu entsprechen, was zu verstärktem Stress führte, wobei man nicht vergessen durfte, dass es keine EXAKTE Definition davon gab, wie "Liebe" sich im Alltag zu gestalten hatte, welche genauen Vereinbarungen getroffen werden mussten. Hinderlich dabei, dass es nicht als schicklich galt, Vor- und Nachteile auszuformulieren, in Verhandlungen zu treten, sich anders zu verhalten als beispielsweise bei Entscheidungen über die Berufswahl oder die Anschaffung von höherpreisigen Artikeln. Als gemeinsamen Nenner aller diffusen Vorstellungen konnte man übereinstimmend ausmachen, dass eine bestimmte Person gefunden werden sollte, die als "Schicksalsbegleitung" entdeckt wurde, möglichst bis zum Ableben, was persönliche Veränderungen über die Lebenszeit zu einem fatalen "Irrtum" erklärten, der wiederum Gewissensnöte hervorrufen konnte. Zudem gründeten damit verbundene Verletzungen einen Mangel an Vertrauen in die eigene Urteilsfähig- und Wertigkeit. Konnte man sich dieser "Liebes-"Vorstellung überhaupt entziehen? Brachte man mit einer Verweigerung nicht eine gesellschaftlich unerwünschte Egozentrik zum Ausdruck? Basierte nicht auf den "Liebes"-Gemeinschaften auch das Ordnungsprinzip, als Kleinstgruppen-Bildung, die verlässlicher zu regieren waren? Musste nicht zu einer gewissen Konformität in der Gesellschaft angehalten werden, um überhaupt Vereinbarungen treffen zu können? Wäre es nicht schädlich, wenn jede Person frei nach Situation, Lebensalter und Neigung mal hier, mal dort Assoziierungen vornahm? Das ordnende, erdrückende, zuweilen unterdrückende Element repräsentierte sich nicht nur in Gesangsstücken, sondern auch in populären Erzählungen bis zu Geschichten für die Jüngsten. Hatten sich exakt zwei Personen gefunden, wurde der Vorhang gesenkt und der Eindruck gepflegt, bis zum seligen Ableben verharre das Paar entsprechend. Einzeln agierendes Personal fungierte häufig abschreckend als Hexen, wurde als verwitwet oder als isoliert solitär lebend beschrieben, weshalb ganze Generationen mit einem "Liebes"-Ordnungsbild geprägt wurden, das sie einem erheblichen Zwang unterwarf, dieser Vorstellung zu entsprechen, oder sonst der versprochenen Belohnung "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute froh und munter" verlustig zu gehen. Zusammenfassend blieb festzustellen, dass eine vage Vorstellung, die keiner Realität standhalten konnte, als Druckmittel für eine gesellschaftliche Ordnung fungierte, die erhebliche Folgewirkungen auf die Psyche und Lebensqualität von Menschen hatte. ~ <3 ~ + Hatschym sammelte sein kleines Musikabspielgerät und die Papierblätter ein, warf einen nervösen Blick auf sein Publikum. "Uh, ich hoffe, ich habe dich nicht verletzt?" Optionierte er schließlich besorgt. Theoderich, der noch versonnen auf die versammelten Märchenfiguren starrte, schüttelte langsam den Kopf. "Es ist nicht so, dass wir ein bestimmtes gesellschaftliches Interagieren herabsetzen wollen." Verteidigte sich der Daimon unbehaglich. "Wir beobachten und analysieren aus unserem kulturellen Verständnis heraus." Nun nickte Theoderich bedächtig, streifte eine gewisse Benommenheit entschlossen ab- "Das verstehe ich durchaus. Über die Dysfunktionalität unserer Illusionen werde ich auch sicher nicht mit dir streiten!" Er seufzte mit einem schiefen Lächeln. "Dein Vortrag ist wirklich sehr gut gelungen und aufschlussreich. Auch die Märchenfiguren..." Hatschym tätschelte ihm besorgt das Knie. "Ich hatte bestimmt nicht die Absicht, deine Gefühle zu beleidigen." Wiederholte er beklommen, selbst die Ohrwascheln hingen schlapp herunter. "Das hast du auch nicht." Stellte Theoderich richtig, setzte sich energischer auf. "Ich wünschte, man hätte mir auch früher diese Zusammenhänge aufgezeigt!" Er konnte an der Mimik des Daimonen lesen, dass der gern mehr erfahren hätte, aber nicht wagte, direkt zu fragen. Theoderich wollte sich jedoch nicht den Schutzstatus eines unterdrückten Opfers gesellschaftlicher Missstände zu eigen machen. "Tatsächlich bin ich sehr froh, deinen Vortrag gehört zu haben." Er lächelte aufmunternd. "Du hast mir damit bestätigt, dass ich mit meiner Haltung gar nicht so falsch liege." Quid pro quo galt es nun zu beachten. "Mir scheint es, als verhalte es sich so wie in einem anderen Märchen, dem von des Kaisers neuen Kleidern: allen ist bewusst, dass der Kaiser nackt ist, dass diese Kleider nicht existieren, doch niemand spricht diesen Umstand aus. Meines Erachtens ist 'Liebe' in diesem Konzept verbunden mit konkreten, statischen Erwartungen und Glücksversprechen, ein nicht existentes Kostüm." Weil den meisten Erwachsenen durchaus gewärtig war, dass die Fixierung auf genau eine andere Person als "Garant für stetes Glück und Erfüllung" schlichtweg unlogisch und sogar schädlich sein musste, dass es sich unrealistisch ausnahm, nach dem "Vorhangfall" wie im Märchen zu erwarten, die Welt würde stillstehen, es gäbe keine Veränderung, man in einer tradierten Form der Familie ewiges Elysium finden würde (was selbst in den angeblich "guten, alten Zeiten" niemals zugetroffen hatte). "Ich bin, wie alle anderen in meiner Gesellschaft, mit diesen utopischen Vorbildern aufgewachsen." Erläuterte Theoderich sachlich. "Allerdings bedingt durch meinen Werdegang kann ich mich nicht mehr an der kollektiven Hingabe beteiligen." Angefangen damit, dass es zwischen seinen Eltern aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen von der Alltags- und Zukunftsgestaltung erst Streit gab, dann Schweigen, aneinander vorbei leben, Gespräche ohne substantiellen Inhalt, auf das Nötigste beschränkt. Wozu Auseinandersetzungen pflegen? Wozu noch sich mitteilen? Es existierte offenbar nichts mehr, was seinen Eltern diese Mühe wert schien. Der Mutter verlangte es nach der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, nach höherer Qualifikation. Zu Hause sitzen, nur Haushalt und Kind?! Nein, ausgeschlossen. Der Vater erwartete genau dies, weil es ihm natürlich, notwendig, normal ankam. Der eine behielt recht, die andere schaffte Fakten. Als er selbst auf eine weiterführende Schule kommen sollte, hatte die Mutter nicht nur eine Arbeitsstelle, sondern auch eine eigene Wohnung, ohne Aussprache, ohne Ankündigung. Die Scheidung folgte in gleichermaßen konzertierter Nicht-Kommunikation. Theoderich konnte sich nicht entsinnen, jemals verstanden zu haben, was seine Eltern bewogen hatte, einander die Ehe zu versprechen. In seinen Erinnerungen fand er sie nicht verliebt oder gar turtelnd. Nun, geschiedene Eltern zu haben, das kam keinem Phänomen gleich. Ihn jedoch erfüllten unterschiedliche, wenig wünschenswerte Empfindungen, Scham darüber, nicht die "Lüge" erkannt zu haben, die Unsichtbarkeit der Kleider des Kaisers begriffen zu haben, obwohl doch alle darum wussten. Nur im Märchen blieb alles unverändert gleich, liebte man sich bis zum seligen Ende! Aber auch Schuldgefühle, weil er sich nicht wünschte, die Eltern mögen zusammenbleiben oder es erneut miteinander versuchen, weil er unfähig schien, das zu begreifen, zu empfinden, was trotz aller empirischen und statistischen Erfahrungen anderen gelang: an ewige Liebe und Familie zu glauben, eine Idylle für erstrebenswert zu halten, für ein bedeutsames Lebensziel! Für ihn selbst, den man vernünftig nannte, bedeutete es, Notwendigkeiten zu akzeptieren, dass er, beim Vater verbleibend, ungefragt, da die Mutter sich selbst über Wasser zu halten beabsichtigte, die Haushaltsarbeiten übernahm. Es musste getan werden, also hatte es keinen Sinn, sich zu streiten. Überhaupt sorgte das Ende der Ehe nicht für eine Mäßigung in der Selbstbehauptung seines Vaters, sodass Theoderich sich auf das verlegte, was die Mutter ihm vorexerziert hatte: Schweigen. Keine Diskussionen, keine Aussprachen, keine Mitteilungen über sachliche Informationen hinaus. Bald kam es ihm normal an, nicht über sich selbst zu sprechen. Wer sollte auch hinhören? Wen sollte es kümmern außer ihn selbst? Monologe taten nicht not, er kannte sich selbst schließlich. Was hatte er sich von seiner Zukunft, seinem Leben erhofft? Er spürte den Abgrund, die wachsende Mauer zwischen sich und seinen Altersgenossen. Nicht nur die wirtschaftlichen Umstände separierten ihn, ihre Vorstellungen und Träume blieben ihm befremdlich, doch hütete er sich, dieses nach außen kundzutun. Familie, Kinder, Karriere, Haus, viele Reisen, außergewöhnliche Erlebnisse, Wohlstand... Dabei widerstrebte es ihm wirklich, sich abzusondern, denn das bedeutete, für ihn, den Vernünftigen, den Besonnenen, den Stillen, dass er sich zu wichtig nahm, in den Mittelpunkt stellte, deshalb schwieg er, in erprobter Gewohnheit. Ohnehin galt es, alles mit sich selbst auszumachen. Was seine persönliche Entwicklung betraf, die Glücksversprechen misstraute, hoffte er, mit einer dualen Ausbildung sich selbst in solvente Lage zu bringen, ausreichend Mittel zur Verfügung zu haben, die räumliche Trennung vom Vater der längst erfolgten, emotionalen anzuschließen. Sie waren schließlich seit dem Auszug der Mutter nichts weiter als zwei blutsverwandte Fremde, die notgedrungen einander im Alltag auf demselben Territorium begegneten, der eine wirtschaftlich abhängig vom anderen. Also setzte er seine Hoffnung darauf, sich selbst in bescheidenem Wohlstand ein eigenes Refugium zu verschaffen. Allein, kaum hatte er sich ein Einzimmer-Appartement zugelegt, mit nichts ausgerüstet als den Kleidern am Leib, da ihn der Vater so verabschiedete wie die Mutter einst, wurden seine Erwartungen torpediert: ein Schlaganfall, unerwartet, der Vater, plötzlich blind, bettlägerig, nicht mehr fähig zu sprechen, ein Pflegefall. Wieder sah sich Theoderich Notwendigkeiten ausgesetzt. Die finanzielle Lage zwang, den Vater in das eigene, bescheidene Heim aufzunehmen, einen Pflegedienst zu verpflichten, die gröbsten Leistungen zu absolvieren. Wenn er dann, nach Arbeit und Ausbildung, zurückkehrte, saß er auf dem Boden neben dem Siechenlager, hielt die verkrümmte Klaue des stark geschrumpften Mannes, der vorher so übermächtig seine Ansichten proklamiert hatte. Niemand anders hätte dies getan. Zunächst wirbelten ihm dann stets, in der Dunkelheit verharrend, weil er Energie sparen musste, noch all die Unablässigkeiten des Alltags durch den Kopf, dann, während sich seine Glieder an die schmerzhafte Starre gewöhnten wie ein Erfrierender an die Eiseskälte, wurde es stiller in seinen Gedanken. Das also blieb übrig von Träumen, von Märchen, von der Gesellschaftslüge, von Liebe: ein einsames, elendes Lager, auf sich selbst zurückgeworfen, enttäuscht. Obwohl es keine Hoffnung gab auf Besserung, sie dem Tod entgegen dämmerten in der Finsternis, umklammerte ihn diese Klaue mit aller Kraft, wollte nicht loslassen, nicht aufgeben, immer noch darauf beharren, dass es ein Versprechen gegeben hatte, eine Erwartung, eine Verheißung. Nicht mehr als unsichtbare, nicht existente Kleider eines Kaisers, der keiner war. Nur einer von bald acht Milliarden, ohne besondere Bedeutung, eine kurze Existenz in der ewigen Einsamkeit und Geräuschlosigkeit des Kosmos. Theoderich war diese Stille, die man nicht mit meditativer Einkehr verwechseln konnte, zur zweiten Natur geworden. Selbst als der Vater starb, tagsüber, in seiner Abwesenheit, umgab sie ihn wie der einzige Gefährte, der ihn auf seiner Lebensreise begleiten würde. Er sprach nicht darüber, auch nicht mit den Kollegen. Wie sollte er auch? Was hätten sie ihm antworten können, sie, die doch an die Versprechungen glaubten, den Masterplan zu einem glücklichen Leben befolgten? Es wäre unlauter gewesen, der zu sein, der schreit: "seht doch, der Kaiser ist nackt!" Allen waren auch statistische Erhebungen vertraut, wie viele Ehen scheiterten, wie viele Alte allein übrigblieben, im Krankenhaus starben, nicht im Kreis der Vertrauten, nach einem prosperierenden Leben in harmonischer Gleichmütigkeit. Trotzdem. Gegen die Wahrscheinlichkeiten, die Widrigkeiten der Realität! Theoderich konnte dies nicht. Er konnte nicht glauben, was er für unvernünftig hielt. Deshalb hielten Schuldgefühle ihn davon ab, mehr als ein höflicher, zurückgenommener Zeitgenosse zu sein, der nicht preisgab, was ihn bewegte, wie ein Asteroid allein durch das gemeinsame Universum flog, sich wenig mehr als eine ganz amöne Reise erhoffte, begleitet von der inneren Stille, die ihm die Konversation ersetzte. ~ <3 ~ + Hatschym beäugte Theoderich besorgt. "Weißt du, es ist wirklich nicht meine Absicht, die aktuelle Vorstellung von einer harmonischen Gesellschaft herabzusetzen." Betonte er erneut. Theoderich schenkte ihm einen beruhigenden Blick. "Ich weiß diese Anstrengung, unsere Vorstellungen und Erwartungen zu analysieren, durchaus zu würdigen." Wiederholte er entschieden. "Es muss sich für Außenstehen tatsächlich widersinnig und unvernünftig ausnehmen. Wie eine Art kollektive Selbsthypnose oder Gehirnwäsche." Zugegeben, harte Worte, die Hatschym nicht gewählt hatte, doch Theoderich als Pragmatiker empfand sie als zutreffend. "Zu meiner eigenen Vita: ich bin Scheidungskind und auch Halbwaise, somit ein statistisch relevanter Beweis für den Umstand, dass die Vorstellung von Liebe in einer Gesellschaft eher oppressiv ist. Das 'Versagen' meiner Eltern hat meinen Horizont geprägt, ich selbst weigere mich, an die Märchen zu glauben. Das führt in der Konsequenz dazu, dass ich mich isoliert habe." In Hatschyms sonst so lebhaften Mienenspiel konnte er Bestürzung lesen. Veroxi reichte ihm kommentarlos eine gepellte Frucht. Zum Trost? Zur Aufmunterung? Theoderich nahm sie mit einem höflichen Dank entgegen. "Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, was die Konsequenzen betrifft, wenn man nicht an die 'Liebe' glaubt. Mir sagt man nach, ich sei ein Sonderling ohne Ehrgeiz, da ich ungebunden bin, niemanden 'finden' möchte, auch nicht von einer Familie träume." Er fungierte als egozentrisches, verdächtiges Subjekt, das möglicherweise üble Absichten verfolgte, wie häufig ruhige, zurückgezogene, alleinstehende, junge Männer! Hatschym räusperte sich verlegen. "Es wird dich wahrscheinlich nicht trösten, aber es gibt Untersuchungen, die nahelegen, dass die Energie, die nicht für die Partnersuche verwendet wird, zu großen schöpferischen Leistungen befähigt." Theoderich schmunzelte dem Daimon aufmunternd zu. "Davon habe ich gerüchteweise auch schon gehört. Mir fehlt vermutlich bloß noch eine Zielrichtung für meine Energie." Veroxi mischte sich ein. "Wenn du meine Meinung hören willst: am Ende, wenn der finale Vorhang fällt, zählt, was du für dich selbst gewesen bist. Deine Maßstäbe, dein Urteil." Ihr Kollege pflichtete eifrig bei. "Genau! Lass dir nicht einreden, es sei Eigensucht und Ichbezogenheit! Sich selbst als Maßstab zu nehmen ist nun mal systemimmanent in der Biologie angelegt! Die eigene Person ist immer die erste Stufe für Veränderungen." Ermutigt durch die Bereitschaft, sich ganz offen mit ihm zu unterhalten, wagte sich Theoderich aus der üblichen Zurückhaltung heraus. "Ich würde gern erfahren, wie das hier, bei euch, so funktioniert. Wie lebt ihr zusammen? Welchen Stellenwert haben Kinder?" "Tja." Veroxi zuckte mit den knochigen Schultern. "Nun, das hängt schon ein bisschen davon ab. Ob man sich gut leiden kann. Miteinander auskommt. Man kann bei der Sippe leben, also Blutsverwandtschaft. Oder mit Freunden." "Im Kollegium. Oder nach dem Alter, das gibt es auch." Warf Hatschym ein. "Wobei man unterscheiden muss zwischen Schlafstätte und Lebensmittelpunkt, weißt du? Carambeu lebt zwar bei seiner Mutter im Haus, aber das ist nicht immer so." Veroxi nickte heftig. "Oh ja! Du hast vielleicht einige der höheren Gebäude bemerkt, als wir hierher gekommen sind? Ubaku wohnt in einem, wir auch. Man hat eine eigene Schlafröhre, aber das Leben spielt sich in Gemeinschaftsräumen ab." "Gibt es auch für Kinder." Ergänzte Hatschym. "Je nachdem, wie sie besser klar kommen." "Wir leben hier ja recht dicht aufeinander, da lernt man schon früh, wie man sich mit anderen verträgt. Schon die Kleinsten können ihre Gefühle genau erkennen und ausdrücken." "Richtig! Dazu gibt es dann auch Übungen, damit man sich selbst quasi aus einer angespannten Situation herausnimmt und von der Position eines Dritten analysiert, wo genau der Schuh drückt." Hatschym wackelte mit den großen Ohren. "Außerdem kümmern wir uns eigentlich ständig umeinander, schon allein wegen der Enge. Damit alle entspannt sein können, alle nach der eigenen Fasson selig." Er zwinkerte, als er Theoderichs Erstaunen über dieses Zitat registrierte. "Wir haben hier keine auf Lebenszeit oder kürzer geschlossenen, gesetzlichen Vereinbarungen zwischen Personen, die der Bedeutung eurer Ehe entsprechen. Wenn man andere besonders mag, mit ihnen hausen will, tut man das eben." "Weshalb wir ausreichend Mittel generieren müssen, um die Voraussetzungen zu schaffen. Die Personen, die sich kümmern, die Gemeinschaftseinrichtungen bewirtschaften etc." Mischte sich Veroxi entschieden ein. Es klang in Theoderichs Ohren eher nach einer Utopie als nach einem tatsächlichen Beispiel für ein gedeihliches Miteinander. Andererseits, es schien ja zu funktionieren! Bisher war ihm noch niemand aggressiv, missgelaunt oder bedrohlich begegnet. Er hatte auch keine Bettelnden bemerkt, Obdachlose oder auf andere Art gesellschaftlich Randständige. Veroxi grinste, was ihre sehr scharfen Eckzähne sehen ließ. "Man kann dir deine Zweifel an der Nasenspitze ansehen." Neckte sie Theoderich. "Wenn Ubaku nichts dagegen hat, solltest du dich ruhig mal umsehen. Wir ziehen dich nicht auf, wir leben wirklich so." Eine Entschuldigung schien angezeigt. "Verzeihung, ich wollte euch nichts unterstellen! Ich bin einfach verblüfft, weil es zu gut klingt, um wahr sein zu können. Zumindest aus humanistischer Perspektive." "Manchmal denke ich, es würde euch vielleicht helfen, wenn ihr auch so wie wir darin geschult wärt, eure Gefühle zu erkennen, zu benennen und auszutauschen." Hatschym rieb sich nervös die Knubbelnase. Theoderich seufzte. "Dabei kämen zweifelsohne nicht besonders vornehme Empfindungen zur Sprache." Mutmaßte er. "Das kommt bei uns auch vor." Sprang Veroxi ihrem Kommilitonen bei. "Aber es hilft doch dabei zu erkennen, wo der Schuh drückt. Niemand möchte schließlich ständig negative Gefühle hegen!" "Gibt es bei euch also keine Liebespaare?" Das schien Theoderich recht ungewöhnlich. Veroxi lachte. "Doch, selbstverständlich, auch wenn es nicht immer exakt zwei sind. Es ist aber ein ganz klein wenig komplizierter." Sie stupste Hatschym an, der offenkundig unbedingt Ausführungen präsentieren wollte. "Weißt du, eigentlich ist es ein semantisches Problem." Ließ der Daimon Theoderich wissen, ganz engagiert. "In der menschlichen Sprachwelt ist 'Liebe' undifferenziert, wird vielfältig verwendet, ob es nun um Personen, Zustände, Gegenstände oder Naturphänomene geht! Selbst aus dem Kontext heraus ist nicht immer eine eindeutige Emotion zu ermitteln." Theoderich zögerte, nickte dann langsam, als er begriff, worauf Hatschym hinaus wollte. "Das macht es beispielsweise sehr schwierig, Texte oder Lieder zu transkribieren." Ergänzte Veroxi. "Die Ausdrucksweise ist doch recht unausgegoren." "Wir haben für Emotionen, die im menschlichen Verständnis unter 'Liebe' summiert werden können, sehr viele Begriffe, um präzise zu sein, angemessen, unzweideutig." Hatschym feuchtete sich kurz die Kehle an. "Lautet die Frage also, gibt es bei uns Personen, die sich aus enger, intensiver, mehrschichtiger, auch sexueller Verbundenheit auf längere Dauer hin zusammenfinden, so lautet die Antwort: ja." Obwohl es ihm recht dreist erschien, wagte Theoderich doch, neugierig nachzuhaken. "Verstehe ich das richtig, dass in eurer Sprache auch direkt eine auf physischen Austausch abzielende Liebe einen eigenen Ausdruck hat? Man das einfach so konstatiert?" "Sicher!" Veroxi grinste herausfordernd. "Gut, die meisten werden, wenn ein solches Interesse besteht, sich zunächst mal vorstellen, aber dann..." "Ah, du vergisst die Inkubi!" Warf Hatschym amüsiert ein. "Ein Inkubus könnte dir direkt auf die Nasenspitze zusagen, dass er sexuell verliebt in dich ist, dir entsprechend den Hof machen will." "Was eine sehr angenehme Offerte ist." Feixte Veroxi noch breiter. Theoderich lupfte reflexartig eine Augenbraue. "Doch was passiert, wenn ich nicht interessiert bin?" Lebhaft war ihm eine gerade vorherrschende Diskussion in Erinnerung. "Na, dann sagst du das einfach. Obwohl, bei einem Inkubus wäre das schon Verschwendung." Zwinkerte Veroxi unmissverständlich. "Aber ist das denn akzeptabel?" Die Daimonin blickte ihn perplex an. Hatschym erwies sich als in humanitären Gesellschaftskonflikten kundiger. "Ich verstehe, was du meinst." Ging er auf Theoderichs Nachhaken ein. "Dazu muss man wissen, dass bei uns niemand einen anderen für sich reklamieren kann. Wenn man die Emotionen von anderen nicht teilen kann oder möchte, dann spricht man das aus. Damit ist die Angelegenheit erledigt, weil es keinen Sinn hätte, sie zu forcieren." Der Daimon betrachtete Theoderich ernst. "Für uns ist manches menschliche Verhalten eher befremdlich, Theo. Dass einer über des anderen Kontakte bestimmt, den Körper, das Auftreten, die Bekleidung. Oder Exklusivrechte beansprucht. Dass man jemandem, der nicht das gleiche Interesse bekundet, nachstellt. Für uns ist das schikanöses Verhalten. Nicht nachvollziehbar." Umgekehrt konnte Theoderich kaum glauben, was er da vernahm. "Das heißt, es ist möglich, wenn zwei als Paar verbunden sind, dass man trotzdem, zum Beispiel mit anderen sexuelle Beziehungen unterhält?!" "Sicher." Veroxi antwortete sofort. "Warum sollte man sich nicht etwas Gutes tun, wenn sich die Möglichkeit bietet?" Sie starrten sich an, je auf der anderen Seite eines Grabens sehr unterschiedlicher, kultureller Hintergründe. "Dazu sollte man erläutern, dass physische Interaktion bei uns der Kommunikation, dem Wohlbefinden dient, Theo. Gewissermaßen sorgt es auch für Nachwuchs, wenn das gewünscht ist. Zumindest bei einigen unserer Spezies. Aber es ist kein Werkzeug der Machtausübung." Betätigte Hatschym sich erneut als Brückenbauer. "Ja, aber was ist mit Eifersucht? Ist es nicht kränkend, wenn ein Partner nicht damit zufrieden ist, was der andere ihm bietet?" Theoderich umkreiste, ein wenig hilflos, diese ungewohnte Sichtweise. Hatschym schmunzelte. "Das kommt vermutlich darauf an, welches gesellschaftliches Verständnis man pflegt. Bei uns gilt, das niemand Ansprüche an andere hat. Keine Rechte, keine Verpflichtungen. Vielmehr ist die Betrachtung die, dass das Wohlergehen im Zentrum steht. Wenn ich ein sexuelles Bedürfnis verspüre, mein Gegenpart jedoch nicht, kann ich entweder Verzicht üben oder eine Offerte annehmen. Dann bin ich ausgeglichen, niemand verspürt Druck, Stress oder eine unangenehme Spannung. Sex ist schließlich nur ein Aspekt im Leben, nicht wahr?" Ihm gegenüber staunte Theoderich unverhohlen. "Liebe Güte." Murmelte er schließlich. "Freie Liebe in Hippie-Manier. Ich glaube, mein kultureller Hintergrund würde mich trotzdem mit Schuldgefühlen und Scham plagen." Der Daimon lächelte mitfühlend, die Ohrwascheln wedelten dezent. "Deshalb studieren wir Menschen, Theo. Wir versuchen zu verstehen. In einigen Bereichen sind wir uns so ähnlich, in anderen jedoch sehr fremd." "Stimmt. Krieg, Mord, Folter, Vergewaltigungen, Sklaverei." Hatschym stippte Veroxi in die Seite, tadelnd. "Das existiert hier nicht?" Theoderich stellte die rhetorische Frage, denn der Ausdruck auf den kantigen Zügen der Daimonin hatte ihm die Antwort bereits bei der Aufzählung geliefert. "Wir haben ausreichend Platz, keine schwankenden Bevölkerungszahlen und ein recht ausgeglichenes Gesellschaftssystem." Erklärte Hatschym geduldig. "Niemand muss hungern, frieren oder um sein Leben kämpfen. Es gibt keine Kasten, Gesellschaftsschichten oder große Einkommensunterschiede." "Klingt für einen Menschen utopisch." Bekannte Theoderich mit einem entschuldigenden Lächeln. "Nun ja, wir haben auch gute Voraussetzungen." Kam Hatschym ihm diplomatisch entgegen. "Beispielsweise gibt es keinen persönlichen Grundbesitz. Alles ist Allmende." Veroxi war in ihrem Element als angehende Ökonomin. "Gemeinschaftlich und in Vereinbarungen entscheiden alle, wo Wohn- und Gemeinschaftsbehausungen stehen, wo der Boden für Nahrungsmittelanbau genutzt wird. Außerdem haben wir ja auch externe Einkünfte." "Wir haben natürlich auch Arbeitsteilung und Spezialisierung, doch das Gemeinwohl ist uns allen sehr wichtig. Zudem sind wir von Kleinauf darin trainiert, Meinungsverschiedenheiten konstruktiv einer Lösung zuzuführen." Hatschym zwinkerte. "Das erfordert hin und wieder Geduld und Diskussionen, stärkt jedoch unsere Gemeinschaft. Alle können darin ein Plätzchen finden." Mit einem Aufseufzen nickte Veroxi. "Sogar einige eurer extrem verdrehten Ex-Göttlichkeiten! Selbst wenn wir sie ein klein wenig einhegen müssen!" Vertraulich beugte sich Hatschym zu Theoderich hinüber. "Na ja, es gab anfangs einige Handgreiflichkeiten, weil es zu viele Sonnen-, Kriegs- und Sonst was-Göttlichkeiten gab, die alle Alleinanspruch anmeldeten. Selbstverständlich haben wir die Unstimmigkeiten gelöst." "Unblutig. Was denen absolut neu war." Grollte Veroxi. "Menschliche Ex-Göttlichkeiten." Kopierte Theoderich verständnisvoll ihren Tonfall, was der Daimonin ein Grinsen entlockte. "Zumindest deinen Humor hast du dir bewahrt." Komplimentierte sie. Theoderich lächelte leicht. "Es heißt, das sei häufig die einzige Methode, die Zähne zu zeigen." Hatschym tätschelte ihm behutsam die Schultern. "Wir wollten dir nicht zu nahe treten, Theo, wirklich! Weißt du, wir haben sonst nur mit indirekten Quellen zu tun, nicht mit einem echten Menschen, so vis-a-vis! Das ist ungeheuer spannend!" "Ich frage mich, wie Carambeu zurechtkommt. Ich bin nicht sicher, dass er sich trotz Kostüm als ich ausgeben kann." Wechselte Theoderich auf einen anderen Schauplatz. "Na, wenn er viel reden muss, fällt er bestimmt durch." Urteilte Veroxi direkt. "Eure Stimmen sind sich gar nicht ähnlich." "Nun, üblicherweise rede ich nicht viel." Warf Theoderich ein. "Nein?" Hatschym staunte. "Ich meine, wir unterhalten uns doch sehr angeregt?" Theoderich entschied, ganz freimütig zu sprechen. "Nun, ich antworte, wenn ich gefragt werde, gebe Informationen. Andererseits drehen sich Unterhaltungen doch meist um Themen, zu denen ich nichts beizutragen weiß." Veroxi kraulte ihre Pseudo-Fühler beiläufig. "Bist du denn nicht mit deinen Freunden auf diese Tour gegangen?" Hier schien eine Präzisierung angezeigt. "Es handelt sich dabei eher um Bekannte. Tatsächlich dem Freundeskreis eines Bekannten, mit dem ich morgens zu meinem Arbeitsplatz pendle. Ich habe keine Freunde." Diese Aussage sorgte für einen langen Moment verblüfften Schweigens. Theoderich entschied, ein wenig auszuholen. "Während der Schulzeit habe ich die Haushaltsarbeiten übernommen. Ich hatte keine Zeit für Freizeitaktivitäten, deshalb konnte ich auch keine Freunde für mich interessieren. Meine Kollegen haben ihre Gedanken woanders, Urlaub, Hausbau, Familiengründung, Freizeitvergnügen. Mir ist das alles fremd, deshalb ist Schweigen mir zur Gewohnheit geworden, weil es zumindest bis jetzt auch Ausgrenzung verhindert hat." Er atmete tief durch, verblüfft über sich selbst. Wie konnte er hier, vor diesen fremden, ungewöhnlichen Personen, so freimütig seine Seelenlage bekanntgeben? Erstaunlich! "Was machst du jetzt, wenn du glücklich sein willst?" Erkundigte Veroxi sich unerwartet. Theoderich überlegte. »Eine schwierige Frage.« Befand er stumm. "Ich schaue den Wolken nach. Ich gehe auf dem Wirtschaftsweg raus, bis an die Waldgrenze. Da ist es dann ruhig. Man kann ungestört den Himmel betrachten." Natürlich gab es schon Geräusche, zugegeben, doch innerlich fühlte er sich still, ganz still und gelassen. Nichts sagen, nichts hören, nichts tun müssen, nur schauen. Wie in der Atmosphäre der Wind aus winzigen Tropfen Wolkenformationen baute, sie veränderte, bewegte. Das war angenehm, friedlich. Man musste sich nicht ständig daran erinnern lassen, dass man sich wie ein Dieb eingeschlichen hatte in eine Gesellschaft, deren Motto man nicht teilte, ein Ungläubiger im Paradies. Veroxi zupfte an ihren Pseudo-Fühlern. "Nun, deine Gewohnheit zu schweigen, wird Carambeu zumindest eine Weile helfen." Wechselte sie angestrengt auf den ursprünglichen Pfad zurück. "Was studiert er eigentlich?" Erkundigte sich Theoderich. "Verhaltensforschung." Seufzte die Daimonin. "Schwerpunkt Freizeitverhalten. Allerdings neigt er zu einer gewissen Besessenheit." Theoderich grübelte kurz. "Ich frage mich schon eine Weile, wie es ihm möglich war, so viele Informationen über mich und die Ausflugstour in Erfahrung gebracht zu haben?" "Na ja, die Fortbildungen im Kongresszentrum stellen die beste Möglichkeit für uns dar, ohne Portal die Seite wechseln zu können." Veroxi zuckte mit den knochigen Schultern. "Wenn er sich da schlau gemacht hat, wer wann woher kommt und Signale abgefischt hat über eure Unterhaltungskanäle..." Theoderich starrte. "Ihr benutzt menschliche, soziale Medien?! Facebook, Instagram, Whatsapp, Google?!" "Nicht direkt." Veroxi schnaubte. "Aber all das Gezwitscher fliegt eben über den Äther. Wir als angehende Human-Forschende sind darin trainiert, eure Spuren zu lesen." Hatschym, der eine ganze Weile vor sich hin geschwiegen hatte, schaltete sich ein. "Carambeu will dir bestimmt nichts Böses! Ich glaube, ihn hat einfach geblendet, wie perfekt diese Gelegenheit erschien. Diese Rundreise hat zweifellos bei der Planung virtuelle Spuren hinterlassen." Die der Daimon vermutlich aufgestöbert hatte. "Ich bin nicht mal in sozialen Medien vertreten!" Seufzte Theoderich grimmig. Zu welchem Zweck auch? Vor allem bei der schlechten Anbindung? "Aber er weiß, dass Ubaku sich um dich kümmert!" Lenkte Hatschym eilig die Aufmerksamkeit auf einen positiven Aspekt. "Wir schaden den Menschen nicht, Ehrensache!" "Nur uns selbst!" Grollte hinter ihm unerwartet Ubaku höchstpersönlich. "Vor allem, wenn ich ihn erwische!" "Wir haben Theo gerade erklärt, dass es bei uns keinen Mord- und Totschlag gibt." Süffisant unterlief Veroxi mit zuckersüßem Lächeln seine Attitüde. "Was nicht heißt, dass es ihm nicht SEHR LEID TUN WIRD, diese Nummer abgezogen zu haben!" Schnaubte der Bäcker grimmig. Allerdings hielt wie gewöhnlich die Verärgerung nicht lange an. Ubaku war ein guter Kindergarten-Daimon gewesen, wusste über die wenig hilfreichen Seiten von Frustration Bescheid. "Ich würde euch ja gern in den Senkel stellen, weil ihr hier einfach mit Theo herumhockt, aber es scheint niemandem was aufzufallen." Er zuckte verwirrt mit den muskulösen Schultern. Obwohl die Kostümierung ja wohl nicht wirklich als Ganzkörper-Tarnkappe fungieren konnte! Auch Veroxi und Hatschym bekundeten ihre Ratlosigkeit. "Nun ja, solange niemand sich gestört fühlt." Ubaku streckte Theoderich die Rechte hin, um ihm beim Aufstehen behilflich zu sein. "Trotzdem muss ich jetzt wieder zurück, meine Brötchen verdienen. Wir sollten darüber nachdenken, wie du wieder unbeschadet auf deine Seite kommst, Theo." Theoderich nickte knapp, wandte sich dann Veroxi und Hatschym zu. "Vielen herzlichen Dank für das Frühstück und unser ausführliches Gespräch! Es war mir wirklich ein großes und lehrreiches Vergnügen." Die beiden Studierenden lächelten artig. "Gern geschehen! Wir mussten die Chance einfach nutzen." Versicherte Veroxi offenherzig. Hatschym hingegen überwand die kurze Distanz, drückte den verblüfften Theoderich einen Moment lang. "Pass gut auf dich auf, ja, Theo? Man muss nicht als Daimon geboren sein, um wie einer zu leben, weißt du?" ~ <3 ~ + Ubaku, der Theoderich einfach eingehakt hatte, um den schnellsten Weg zu seiner Backstube zu bahnen, überdachte die merkwürdige Szene. Worüber war gesprochen worden? Dass sein Begleiter schwieg, um nicht aufzufallen, kam ihm entgegen, weckte jedoch auch Zweifel. Was mochte den Menschen beschäftigen? Was hatten die beiden dusseligen Fast-Komplizen seines notorischen Cousins ihm erzählt?! "Hör mal, das kommt wieder in Ordnung, versprochen! Niemand wird dir was tun." Wandte er sich spontan Theoderich zu. Theoderich nickte gelassen. "Ich weiß. Die wichtigste Regel. Allerdings gilt sie auf meiner Seite leider überhaupt nicht." Ubaku seufzte. "Carambeu wird sich zu helfen wissen. Hoffentlich. Der Eierkopp!" Der Daimon hoffte jedoch inständig, dass genug andere Daimonen auf der anderen Seite unterwegs waren, um notfalls einem depperten "Landsmann" zu Hilfe zu eilen. ~ <3 ~ + Theoderich bestand darauf, sich nützlich zu machen. Ohnehin konnte er sich auch bei Arachnei als entdeckt betrachten, die lautstark Ubaku hinterher gebrüllt habe, der solle gefälligst auch für zwei arbeiten, wenn er schon ständig in Privatangelegenheiten durch die Gegend zog! Außerdem sei sie zwar taub, aber nicht blind! Der Daimon grummelte, ging zum Liebkosen seiner Teiglinge in die "Gärstube", was ihn stets in gute Laune zu versetzen schien. Unterdessen überdachte Theoderich seine Lage. Verflixt, hätte er sich doch im Vorfeld genauer mit den Details der Rundreise beschäftigt! Dann wäre es ihm auch möglich, konkrete Pläne mit seinem Gastgeber zu schmieden, den, so schien es, auch gewisse Sorgen plagten. "Das Problem ist, dass ich nicht sicher weiß, wo es Portale gibt zu den Orten." Konstatierte Ubaku nämlich gerade, engagiert knetend. "Selbst wenn wir auf deiner Seite die exakte Adresse lokalisiert haben." Er seufzte. "Und, entschuldige bitte mein Unverständnis, gilt diese Reise eher als Abschreckung?" Theoderich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. "Ich bin mir da selbst nicht sicher. Marek wollte für jeden Tag eine lokale Unternehmung organisieren, also entweder bei Umzügen dabei sein oder bei Veranstaltungen unter einem Dach. Weil die meist abends beginnen und bis in die Nacht dauern, sollte am nächsten Morgen die Reise weitergehen. Dazu noch Stadtführungen oder ein Brunch, je nachdem." In jedem Fall sechs Tage prall gefüllt mit Unternehmungen, wenig Schlaf und viel Aufregung. "Warum hast du dich dafür entschieden?" Ubakus Miene legte nahe, dass ihm dies nach wie vor rätselhaft erschien. "Zunächst war Marek sehr hartnäckig. Außerdem dachte ich, dass es etwas Neues wäre, einmal zu verreisen. Urlaub." Theoderich bürstete Gärkörbchen sorgfältig aus. Seit seiner Grundschulzeit hatte er diese Gelegenheit nicht mehr gehabt. Danach hatte sein Leben sich wie ein endloser Tunnel angefühlt, auf ein winziges, fernes Licht konzentriert, mit verengendem Sichtfeld. "Ah. Urlaub ist wichtig, verstehe." Kramte Ubaku sichtlich angestrengt in Erinnerungen an Lektionen der Schulzeit. Es entlockte Theoderich ein Lächeln. "Das ist, zumindest dort, wo ich lebe, einer der wichtigsten Pfeiler eines erfolgreichen Daseins. Familie, eigenes Heim, Auto, mindestens eine Urlaubsreise im Jahr." Er wandte sich Ubaku zu. "Eure Welt erscheint mir ganz anders als unsere, was Wertmaßstäbe angeht. Vielleicht verstehe ich es aber auch nicht richtig. Was sollte man hier als Lebensziel anstreben? Was ist besonders wichtig?" Ubaku zog die Stirn kraus, der Knochenkamm zeigte bunte Wirbel. "Hmm, darüber denke ich nicht sonderlich viel nach. Ich glaube, die Welt sollte kein schlechterer Ort sein, wenn man den Geist aufgibt. Ich tue das, was ich kann und für wichtig halte, mit Respekt und Hingabe. Ich kümmere mich um meine Umgebung." Er zuckte mit den mächtigen Schultern. "An mir ist kein Philosoph verloren gegangen, Theo. Ich bin nicht sicher, ob bei uns so strenge Erwartungshaltungen oder Gradmesser wie bei euch gepflegt werden." Der Daimon rieb sich die bemehlten Hände an der Schürze ab. "Es gibt bei uns ein Sprichwort, das dem Großen M zugeschrieben wird: 'Menschen sind ein steter Quell der Verwunderung'. So geht es mir schon seit der Schulzeit. Manches an eurer Welt erscheint mir einfach zu befremdlich." Dabei wirkte er ein wenig beschämt, fast defensiv. Theoderich nickte. "Das glaube ich gern. Was ich über eure Welt bisher erfahren habe, scheint mir ebenfalls erstaunlich. Ich bezweifle, dass Menschen dazu fähig sind, so unangestrengt und friedlich zu leben." Ubaku verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. "Ich kann mir da kein Urteil anmaßen. Vielleicht sind unsere Umstände einfach zu verschieden. Möglicherweise haben wir hier einfach mehr Vorteile auf unserer Seite." »Oder meine Spezies ist einfach nicht fähig, ausreichend Impulskontrolle auszuüben. Unsere Demut hält einfach nicht lange vor.« Dachte Theoderich stumm, doch diese Erwägungen führten zu keinem Ergebnis. Es galt, sich auf die aktuelle Situation zu konzentrieren. Vernünftig sein, DIE Kernkompetenz. "Was kann ich tun? Wenn Carambeu tatsächlich die Rundreise in meiner Maskerade absolviert, ist nach sechs Tagen Schluss, spätestens. Ich nehme an, er sieht mir nicht besonders ähnlich?" Der Daimon zog eine Grimasse. "Gerade mal die Körpergröße stimmt, aber ansonsten ist mein dusseliger Cousin dürr wie ein Stecken, hat meinen Teint und hier zwei Knochenkämme." Gestikulierte Ubaku. Nein, damit konnte man nun wirklich nicht als Mensch durchgehen, zumindest nicht in der Gegend, in der Theoderich wohnte. Ubaku seufzte. "Außerdem ist er ein bisschen übereifrig, die Sorte Typ, die noch vor der Begrüßung auf dich einplappert, was sie gerade Neues entdeckt hat. Der 'Wieder was gelernt!'-Besessene." Die Charakterisierung entlockte Theoderich ein Schmunzeln. "Dann wird man uns wirklich nicht verwechseln können." Bestätigte er das Offenkundige. "Ob es in seinen Aufzeichnungen Hinweise gibt, wie er sich die Rückkehr vorgestellt hat? Ich konnte leider nur die Quellen aus meiner Welt entziffern, aber da habe ich nichts entdeckt." Der Bäcker schnaubte, entschied, neue Teiglinge zu setzen. "Eine gute Idee, aber wie ich den Eierkopp kenne, hat er keine Spuren hinterlassen, die verhindern, dass er seinen Ausflug bis zur letzten Minute auskosten kann!" Ubaku dachte eine Weile konzentriert nach. "Die Tante ist eine Weile verreist, sodass du schon mal sicher einen Schlafplatz hast. Für Essen und Trinken sorge ich. Sollten alle Stricke reißen, dann~dann werde ich den Fall melden, damit du zurück in deine Welt kommst." Auch wenn er fürchtete, dass die Konsequenzen ausgesprochen unangenehm für die beteiligten Daimonen auf dieser Seite ausfallen konnten, aber er fühlte sich in der Verantwortung. Da gab es kein Ausbiegen! In diese etwas gedrückte Atmosphäre mischte sich ein munterer Sopran. "Huuhuuuu, Ubaku! Iocasta hier, wer ist dein schnuckliger Besuch von der anderen Seite?!" ~ <3 ~ + Kapitel 4 - (Fort-)Bildung "Ich kann das erklären!" Ubaku rutschte, zu seiner Verlegenheit, die populärste, dabei aber grundsätzlich nicht erfolgversprechende Phrase der Welt heraus. "Tatsächlich?" Iocasta trillerte spöttisch, stemmte die Hände in die Hüften. "In groben Zügen. Gewissermaßen." Relativierte der Bäcker gequält. "Iocasta, KOK-Offize." Ungeniert wurde Theoderichs Rechte okkupiert und durchgeschüttelt. "Angenehm. Theoderich Witten. Theo." Eine gewisse Verblüffung gestand Theoderich sich zu, denn diese mutmaßlich weibliche Person wirkte wie eines der Schweizer Riesenveilchen, die man unbedingt kaufen sollte: lila Hautfarbe, weiße Haare, Wimpern und Augenbrauen, die Figur einer Tänzerin, zwei geflochtene Zöpfe, dick wie Kabelstränge vom Meeresboden, eine Art von Uniform, violett gehalten (das Betrachten schmerzte ein wenig), dazu eine Dienstmarke um den Nacken, Taschen, quer getragen, insgesamt ordentlich bepackt. "Du bist hier auf Besuch, nicht wahr? Sechs Tage lang?" Falls die Katze jemals im Sack gewesen war, hatte sie sich spurlos und prompt daraus verflüchtigt, nicht nur, weil Iocasta konsequent nicht auf Daimonisch sprach. Ubaku schrumpfte ein wenig in sich zusammen. "Es geht ihm gut! Wir haben keinen Ärger gemacht." Hakte er zwei seiner Punkte auf der Liste hochnotpeinlicher Katastrophen ab. "Ja, chic siehst du aus!" Komplimentierte Iocasta die geliehene Kleidung an Theoderichs Gestalt. "Sehr adrett. Hast du Lust, mehr von der Stadt zu sehen?" Theoderich warf einen überraschten Blick auf Ubaku. Wenn hier keine Menschen (lebendig) erlaubt waren, wieso wurde ihm in Aussicht gestellt, einfach draußen herumzuspazieren, obwohl er doch ganz offenbar als Mensch zu entlarven war! "Du könntest mich auf meiner Runde begleiten. Ich erzähle dir ein wenig über unsere Welt, ja? Wie wär's?" So direkt und nachdrücklich angesprochen konnte Theoderich die verlockende Offerte schlichtweg nicht ablehnen. "Ich möchte Ihr Angebot sehr gern annehmen, Frau Iocasta. Andererseits habe ich nicht die Absicht, jemanden in Schwierigkeiten zu bringen." Diplomatisch formuliert. "Iwo, was denn für Schwierigkeiten?" Iocasta grinste, präsentierte zwei Reihen Zähne, die jeden Hai beeindruckt hätten. "Hier kann dir gar nichts passieren." Versicherte sie. "Ich liefere dich auch immer brav bei Ubaku ab. Einverstanden?" Solcherart ausgekontert blieb den beiden Herren kein Fluchtweg mehr übrig. Außerdem entsprach es ja schließlich allen Interessen, nicht wahr? ~ <3 ~ + "Komitee organisierter Kreativität." Erklärte Iocasta beschwingt, schlenderte aufmerksam umher, während sie gleichzeitig dolmetschte. "Dafür steht das KOK." Was Theoderich nicht sonderlich viel weiterhalf. "Meine Aufgabe besteht darin, allen, die es wünschen, dabei zu helfen, eine ihren Fähigkeiten oder Neigungen entsprechende Beschäftigung zu finden. Zu vermitteln." Iocasta zwinkerte. "Das bedeutet zwangsläufig, dass ich über eine MENGE Dinge Bescheid weiß." Ihr freundlicher Geheimdienst aus der Nachbarschaft... Die KOK-Offize ließ wieder ihr beeindruckendes Gebiss sehen. "Ja, klingt etwas unheimlich, aber auf eurer Seite wäre ich vielleicht in Sachen Therapie oder Sozialarbeit unterwegs. Manchmal braucht man einen kleinen Wink, damit es wieder wie geschmiert läuft!" Darum ging es ja schließlich, eine geschmeidige Gesellschaft, die allen Herausforderungen gewachsen war. "Ich hatte angenommen, dass meine Anwesenheit negative Konsequenzen nach sich zieht." Entschloss sich Theoderich, Erkundigungen anzustellen. "Hmm." Iocasta grübelte, winkte gleichzeitig einer älteren Daimonin zu. "Statistisch gesehen ist es zumindest mal ein ziemlicher Ausreißer. Allerdings haben wir Ex-Göttlichkeiten, Fabelwesen und Naturerscheinungen unterbringen können, also stellt dein Besuch für eine kurze Zeit keine besondere Gefährdung dar." Sie feixte, die weißen Wimpern zwinkerten einen Tusch. "Ex-Göttlichkeiten, heißt das, personifizierte Vorstellungen leben hier? Als richtige Lebewesen?" Theoderich arbeitete sich in diese fremde Materie ein, während er gleichzeitig einen Engel bestaunte, makellos wie eine antike Statue, aber irgendwie auch abschreckend perfekt. "Genau." Iocasta hakte sich trotz Gepäck geschickt bei ihm unter. "Richtig lebendig, so wie du und ich." "Das begreife ich nicht." Stellte Theoderich fest. "Sie waren nur Vorstellungen. Gut, es gibt Bilder und Statuen, aber...?!" Wie konnte eine Idee Gestalt annehmen, dann hier um Asyl bitten?! "Na ja, es gibt jede Menge Materie in den Universen." Antwortete Iocasta ihm munter. "Alles ist aus kleinsten Teilchen zusammengesetzt. Wir sind ja auch zuerst nicht mehr als eine Idee, ein Potential. Dann, husch!, treffen die richtigen Bedingungen aufeinander, der entscheidende, elektrische Funken: ob Mensch, Tier, Daimonen oder andere Wesen, das Prinzip ändert sich ja nicht." Die KOK-Offize lächelte zu ihm hoch, einen halben Kopf kürzer. "Schau mal, wenn du dir ein Papierflugzeug vorstellst, zum Beispiel, kannst du mit diesem Impuls einen richtigen Flieger basteln! Eine Idee wird real, gegenständlich. Wenn viele, sehr viele, ganz intensiv an etwas denken, sich vorstellen, warum sollte diese Vorstellung dann nicht auch Gestalt annehmen?" Theoderich zog die Stirn in Falten. Zugegeben, die Argumentation erwies sich bis dato als stichhaltig, trotzdem sträubten sich ihm die Haare bei all den Vorstellungen, die Menschen so haben konnten! "Reden wir hier von dunkler Materie?" Hasardierte er vorsichtig. Obgleich er sehr aufmerksam die Meldungen aus der Wissenschaft verfolgte, begegnete er der Astro- und der Atomphysik mit einer gewissen Hilflosigkeit. Spannend, faszinierend, aber unter dem Verstand eines Albert Einstein doch ziemlich knifflig! "Ich weiß nicht." Gab Iocasta fröhlich zu. "Macht es einen Unterschied?" "Vermutlich nicht, wenn man eher mit den Konsequenzen beschäftigt ist." Gab Theoderich nach. "All diese Ex-Göttlichkeiten sind hier untergebracht?!" "Oh ja! Manche räumlich getrennt von einander." Iocasta lächelte mal wieder in die Runde, nickte, winkte mit der freien Hand. "Nicht alle haben gelernt, miteinander auszukommen. Nun, wir haben's im Griff!" Der gerade ein Küsschen einfing, auf die Brust drückte. Die Versenderin, zahnlückig, ein laufender Meter, strahlte. Sie warf sich mit Anlauf auf Iocastas Beine, sprudelte begeistert Silben heraus. Theoderich bemühte sich um höfliche Distanz, allerdings nur einige Herzschläge lang, denn Iocasta entschied, sie könnten sich durchaus einen Daimonen-Kindergarten ansehen! "Da kannst du einen Eindruck von unseren Umgangsformen bekommen." Grinste Iocasta herausfordernd. Artig leistete Theoderich ihrer Aufforderung Folge. Wenn er die nächsten Tage nicht unangenehm auffallen wollte, bestimmt eine gute Ausgangslage! ~ <3 ~ + An die eigene Kindergartenzeit konnte Theoderich sich nicht mehr erinnern. Das "Kinderzentrum", an dem er auf dem Weg vom Bahnhof zu seinem Arbeitsplatz vorbeikam, bestand aus dreistöckigen Modulen mit Außengalerie und einem umzäunten Spielbereich. Statt Sand gab es Hackschnipsel (Infektionsgefahr durch Katzenkot gebannt), jede Menge Fortbewegungsmittel, Gummistiefelwannen (mit Desinfektionsspülung) und eingezäunte Gehölze. Was drinnen vorging, konnte man nur ahnen, wenn Geräusche herausdrangen, da die Fensterflächen mit Sichtschutzfolien beklebt waren. »Käfighaltung.« Dachte Theoderich respektlos. Aber vielleicht ging es auch gar nicht mehr anders. Der Daimonen-Kindergarten war hingegen offen, sah man von farbigen Kieselstreifen ab, die das Areal eingrenzen sollten. Überall wuselten in Gruppen kleine Daimonen herum, Miniatur-Halloween! Dabei blieb es verblüffend ruhig. Natürlich sprachen die halben Portionen miteinander, fröhlich, munter, sangen oder summten, doch kein ohrenbetäubendes Kreischen versuchte, die anderen auszustechen, um Aufmerksamkeit zu heischen. Auch schienen die Aufgaben durchaus herausfordernd. Eine gemischte Gruppe arbeitete ganz zweifellos an der Vorbereitung einer Mahlzeit. Mit scharfen Steinklingen wurde sorgsam geschnitten, abgewogen mit unterschiedlichen Gewichten, eine bemalte Schiefertafel konsultiert, sich beraten. Andere arbeiteten an einem Trog mit nassen Wäschestücken oder kehrten. Jene Gruppe kümmerte sich um Beete und Sträucher, mit konzentriertem Ernst, dieser Trupp kopierte auf kleinen Schiefertafeln Schriftzeichen neben Ideogrammen. Da hantierte man mit Werkzeug, Fäden, Stoff, einer wachsähnlichen Masse... "Jede Gruppe übernimmt eine Aufgabe. Die Aufgaben rotieren ebenso wie die Zusammensetzungen der einzelnen Gruppen. Die Kinder lernen Kooperation und wichtige Grundfertigkeiten." Verblüffender Weise funktionierte die bienenfleißige Emsigkeit ganz ohne die Aufsicht oder Assistenz der Erwachsenen. Selbst als sich ein Kind schnitt, musste keine Lehrperson eingreifen. Einige trösteten, andere liefen nach Wasser, einem Stück Verbandsstoff, räumten den Arbeitsplatz etwas frei. Theoderich war beeindruckt. Wenn es Unstimmigkeiten gab, bildete sich beinahe sofort ein Grüppchen, betrachtete das Problem, schenkte Anteilnahme und Aufmerksamkeit. Kein Geschrei, kein Trotzen, keine Handgreiflichkeiten. "Ich sehe gar kein Spielzeug." Stellte er leise fest. Iocasta zögerte einen Augenblick. Sie begriff. "Ah, du meinst Kinder-Dinge? Puppen? Kleine Gefährte?" Oder all die anderen, unzähligen Gegenstände, die man besitzen konnte. "Sie können hier Dinge selbst herstellen. Wir haben die Rohmaterialien, siehst du? Außerdem Bücher, Tafeln und Musikinstrumente. Alles da!" Ihre Zahnreihen blendeten auf, nachdrücklich, bekräftigend. Theoderich begriff, dass sie glaubte, er habe einen Mangel in der Ausstattung erkannt. Was keineswegs zutraf, aber er verzichtete auf eine Richtigstellung. Es erstaunte ihn, was diese Kinder alles vermochten, dabei so umsichtig miteinander umgingen, einander aushalfen und trotz der "erwachsenen Aufgaben" so unbeschwert agierten. Sie störten sich auch nicht daran, dass er langsam flanierte, das bunte Treiben beobachtete. Bei der "Reinigungstruppe" hielt er inne. Die Wäschestücke, handgereinigt und durch eine Mangel gedreht, sollten aufgehangen werden. Allerdings schien sich in der Mitte der Wäschespinne, dem höchsten Mast, die "Krone" gelöst zu haben. So konnte keine Spannleine richtig halten. Ohne längeres Erwägen trat Theoderich zu der kleinen Gruppe, die für ihn unverständlich darüber beriet, was man tun konnte. Er gestikulierte, sich ein Kind auf die Schultern zu setzen, denn dann hätten sie die richtige Größe, das Problem auf Augenhöhe zu inspizieren. Man stimmte sich ab, er nahm einen schuppenhäutigen Jungen auf den Buckel. In gemeinsamer Abstimmung wurde die Wäschespinne instandgesetzt. Einmal mehr fiel Theoderich auf, dass es recht wenig Metallwaren gab. Auch die Krone bestand aus einem bestrichenen Holzstück, das mit getränkten Pflanzenfasern geflickt wurde, damit es wieder richtig in der Höhlung saß. Seine Unterstützung brachte ihm, wie Iocasta amüsiert übersetzte, die Einladung ein, an ihrem Tisch speisen zu dürfen. Obwohl Theoderich kein Daimonisch verstand, verbrachte er auch den Nachmittag bei wechselnden Gruppen als tätiges Mitglied. Als wäre er selbst ein ganz normaler Dreikäsehoch! ~ <3 ~ + "Sie stand plötzlich in der Backstube!" Ubaku säbelte geschickt einen sehr schmalen Spalt seines Gewürzbrot-Experiments ab, bot ihn Inario an. "Ich kam gar nicht dazu, mir irgendwas auszudenken!" Wenn es in dem Tempo weiterging, wussten bis Samstag ALLE, dass ein echter, nicht untoter Mensch hier frei herumlief! Der Daimon mit dem doppelten Fuchsschwanz kostete prüfend. "Warum sorgst du dich?" Erkundigte er sich sanft. "Na ja, immerhin gibt es ja wohl eine strikte Trennung zwischen unserer Welt und den Menschen, nicht wahr?! Das muss ja Gründe haben!" Auch wenn Ubaku immer weniger begriff, warum außer ihm NIEMAND die Situation als aufreibend empfand! "Ah, du glaubst, er ist der Vorbote einer Invasion!" Der Bäcker warf seinem geliebten Gelegenheitsgefährten einen verletzten Blick zu. Wirklich, musste Inario ihn jetzt auch noch aufziehen?! "Wir ticken anders." Murmelte er in Selbstverteidigung, knuddelte Teiglinge zärtlich, wich dem goldenen Blick aus. "Er ist ja unfreiwillig hier, ganz allein zudem." Außerdem stand ihm noch Hatschyms unerwartete Umarmung Theoderichs vor Augen. Inario ließ seinen Fuchsschwanz aufreizend über Ubakus knackige Kehrseite streifen. "Vielleicht hättest du ihn begleiten sollen, in den Kindergarten, da dir wohl das Vertrauen in unsere Gemeinschaft abgeht." Schnurrte er samtig. Ubaku stutzte, schnaubte dann, wenn auch ziemlich gebremst. Klar! Wer anders könnte die KOK-Offize auf Theoderich angesetzt haben?! Er stützte sich auf seine Arbeitsplatte, warf Inario einen grimmigen Seitenblick zu. "Ich versuche bloß, die Aufregung auf ein Minimum zu begrenzen." Grummelte er, immerhin würde die ganze Aktion ja auch für Carambeu, seinen verflixten Cousin, ein Nachspiel haben. Da sollte man doch meinen, je weniger Aufheben im Vorfeld gemacht wurde, umso geringer anschließend die ausgleichende Sanktion! Sein Kinn fand sich in einem unnachgiebigen Griff. Inario funkelte ihn golden an, so rätselhaft wie stets, leckte ihm dann engagiert über die Lippen, die Mundwinkel, den Amorbogen. "Bitte bleib heute Nacht!" Wisperte Ubaku flehentlich. Für das Dilemma seines Cousins konnte er sich auch morgen wieder Zeit nehmen! ~ <3 ~ + Theoderich verzichtete darauf, an diesem Abend die "Ablage-Halden" seines Entführers zu durchstöbern. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, vorzeitig den Rücktausch vorzunehmen, würde dieser Carambeu sie bestimmt für sich behalten haben oder nur im Notfall preisgeben. "Du wirst dich wundern." Konstatierte er, sich bequem ausstreckend in dem fremden Bett. Menschen, selbst in der heitersten, ausgelassensten Runde, verhielten sich selten so kooperativ und freundlich wie hier, rückten einfach zusammen, teilten ihr Mittagessen mit dem Unbekannten, der nicht einmal ihre Sprache verstand. Boten ihm sogar in ihrem Schlafsaal ein Plätzchen an, damit er nicht irgendwo allein und unbequem nächtigen musste. Irgendwas stand immer in Gefahr, verloren zu werden, ein Vorteil, ein Vorsprung, ein Besitztum, eine Überlegenheit. Möglicherweise hatte Ubaku es ganz richtig formuliert: dass die Ausgangsbedingungen voneinander abwichen. Auch hier galt wohl das "Überleben des Angepasstesten" an die sich ändernden Umstände, aber der Druck schien geringer. "Könnte auch was Hormonelles sein." Grübelte Theoderich. Eine geringere Neigung zur Aggressivität, zum Wettkampf, zur Dominanz. Nicht nur, dass es in Daimonisch unzählige unterschiedliche Begriffe dafür gab, was der Mensch mit "Liebe" vage im Schlendrian auszudrücken versuchte. Nein, Iocasta hatte ihm auch ganz selbstverständlich berichtet, dass biochemisch bedingte Abwehrreaktionen lediglich dafür sorgten, dass man sich höflich begegnete und Distanz wahrte. Keine Spontan-Antipathie, die in Hass, Attacken oder Abscheu mündete. Theoderich kam sich ausgesprochen unvollkommen und erschreckend Mangel behaftet vor. Zugegeben, die Menschheit hatte sich nahezu explosionsartig über den gesamten Planeten verbreitet, aber machte sie das wirklich erfolgreich? Der biologischen Wissenschaft zufolge gründete die Annahme, die "Krone" der Schöpfung zu sein, sowieso auf fehlgeleiteter Außenwahrnehmung. Bakterien beispielsweise steckten die Human-Spezies locker in die imaginäre Tasche! All das Abstraktions- und Vorstellungsvermögen des menschlichen Verstandes schien gerade noch den Tanz auf dem Hochseil auszubalancieren, damit man sich nicht vollends auslöschte. Jeder unglaublichen Erfindung und Entdeckung stand ein grausamer Ausschlag in die komplett andere Richtung gegenüber. Er konnte eigentlich nur dankbar dafür sein, dass sich Daimonen TROTZDEM mit ihm abgaben, ihn nicht sofort wegsperrten und sedierten, um den zerstörerischen Einfluss aufzuhalten! Sie brachten Wohlwollen entgegen, obwohl sie doch sehen konnten, was geschehen war, wieder und wieder geschehen würde. Theoderich verschränkte die Arme unter dem Nacken, betrachtete das Schattenspiel der leise summenden Glühwürmchen in der Laterne. Was sahen die Daimonen in der Menschheit, tatsächlich immer nur das Individuum? Was erhofften sie? Wieso steckten sie nicht auf? »Was könnten wir lernen?« Dachte er. »Wenn sie sich nicht einmischen, um uns unsere Entwicklung selbst zu überlassen, wäre es uns denn nicht auch möglich, wie sie zu leben?« Jedenfalls, entschied Theoderich, wollte er jeden Augenblick nutzen, noch mehr zu erfahren über diese andere Welt. ~ <3 ~ + Kapitel 5 - (Theo im) Wunderland Am folgenden Morgen erwachte Theoderich ungewohnt entspannt und zugleich tatendurstig. Er warf sich in die Kleider seines "Tauschpartners", tarnte den kahl geschorenen, aber sonst wenig geschmückten Schädel mit dem Tuch des Vortags. Er marschierte los, denn unzweifelhaft würde er sich nicht verlaufen, hatte er doch bereits genug Gelegenheit gehabt, sich die Route einzuprägen. Man nickte einander im Vorübergehen zu, warf einen launigen Gruß in die Runde. Morgenmuffelige Stress-Panickel auf der Koffein-Überholspur schien es hier nicht zu geben! Theoderich beschränkte sich mangels Sprachkenntnisse auf ein freundliches Nicken. Niemand hielt ihn an, beäugte ihn misstrauisch. Nun, vielleicht spielte es ja wirklich keine so große Rolle, dass er fremd, ein Mensch war? Auf halbem Weg kam ihm Iocasta entgegen, eingehakt bei einer anderen Daimonin mit beeindruckenden Körpermaßen. Sie schien fast einem Ballon Konkurrenz machen zu wollen. Ihre Stimme zwitscherte dagegen glockenhell und munter wie ein Vögelchen. "Ah, früh auf den Beinen! Geh doch bitte schon mal vor, ja?" Theoderich nickte artig, lächelte auch wohlerzogen hoch in das kreisrunde Gesicht der immensen Daimonin. Die zwinkerte ihm mit unglaublich dichten, langen Wimpern kess zu. Dezent verschreckt beschleunigte Theoderich. Ohne Frühstück konnte er es mit Flirtversuchen als Novize ganz gewiss nicht aufnehmen! ~ <3 ~ + "Ja, ich muss mich ein wenig sputen!" Gestand Ubaku ein, während er behände aus Resten ein herzhaftes Frühstück brutzelte. Versiertem Publikum wäre kaum entgangen, dass die dezente Übernächtigung gewissen Beschäftigungen horizontal-rhythmischer Natur zu verdanken war. Theoderich enthielt sich jeden Urteils, da er seine mangelnde Kenntnis nicht auch noch plakativ zu offenbaren wünschte. "Kann ich dir assistieren?" Bot er stattdessen an. Der Bäcker bleckte die Reißzähne. "Wenn du die Schütten auffüllst, damit Arachnei nicht runterkommt, mir meinen hässlichen Schädel von den Schultern reißt." ~ <3 ~ + Für diesen Tag sah Iocasta den Besuch der gewaltigen Collectio der Stadt vor. Sie hatte keineswegs in den Superlativen übertrieben: über mehrere Stockwerke schien sich fast eine eigene Stadt auszubreiten, in sich gedreht wie eine Nautilus-Muschel! Bücher, Glasscheiben, Pergamente, Steintafeln, Stoffrollen, alles, was geeignet schien, Bilder oder Text aufzunehmen, fand sich hier. Dazu eigens noch eine Kammer mit kleinen Scheiben, die man als Tonträger nutzte. Die gewaltige Collectio war sehr gut besucht, überall wimmelte es von Personen, doch erreichte der Geräuschpegel nie eine störende Intensität. Wer etwas lesen wollte, nutzte den von Tageslicht und geschickt justierten Spiegeln ausgeleuchteten Mittelpunkt der "Schnecke", für das Tonträger-Auditorium gab es im Tiefgeschoss einen entsprechenden Resonanzraum. Theoderich schlenderte die Regalreihen entlang. Die Sektion der "Menschenwelt" orientierte sich am Zeitstrahl, der im Boden mit farbigen Steinchen markiert war. Mochten alle anderen Bereiche nach Themen gegliedert sein, hier wich man davon ab. Es gab auch zwei weitere Fieberkurven unter der Decke zu betrachten, deren Sinn sich Theoderich nicht erschloss. Was mochten sie wohl bedeuten? "Verzeihung?" Tollkühn adressierte er eine Person in Hörweite, die nicht las oder nach Lektüre Ausschau hielt. Sie trug lediglich eine Schürze und wies die makellose Perfektion auf, die Theoderich gelernt hatte, mit "Engel" in Verbindung zu bringen. "Ja, wertes interessiertes Wesen?" Die Stimme, wohlmoduliert, antwortete ihm wie selbstverständlich in seiner eigenen Sprache. Dann traf das Klischee der Engelszungen wirklich zu? "Ob Sie mir diese beiden Streifen unter der Decke erklären könnten?" Bat er höflich um Auskunft. "Selbstverständlich. Die in unterschiedlichen Farben gehaltene Linie gibt die durchschnittliche Temperatur wieder. Die schwarze Linie dokumentiert die Bevölkerungszahl." "Vielen Dank, sehr freundlich." Quittierte Theoderich artig diese Erläuterungen. Der Engel nickte, wandte sich einem Regalbrett zu, begann mit sorgfältiger Genauigkeit, Staub und etwaige andere Spuren der Zeit von den Wissensträgern zu entfernen. Theoderich beäugte die Decke, empfand sie bald als bedrückend. Da sich die Ziffern der Daimonen nicht sonderlich von den ihm vertrauten arabischen unterschied, konnte er ohne großen Verzug die "Spuren der Zeit" identifizieren: Seuchen, Kriege, Hungersnöte, sogar verheerende Naturkatastrophen. Trotzdem. Es schien, als gäbe es kein Maßhalten, keine Balance, von einem Extrem zum nächsten. Entschlossen wandte er sich ab, wählte die Sektionen dieser anderen Welt. Da gab es dann Modelle zu betrachten, Anleitungen, Dokumentationen, Handwerk aller Art, aber auch Musikinstrumente, Kostüme zu Theaterstücken, unzählige Karten und Jahrbücher meteorologischer Aufzeichnungen. Die Historie hingegen schien recht einmütig zu verlaufen, nahm wenig Raum ein. Sehr viel Platz beanspruchte die "Fremdsprachen"-Abteilung, wie Theoderich sie für sich taufte, Schriftzeichen und Sprachen, transkribiert ins Daimonische, nicht etwa in Buchform gebunden, sondern zur leichteren Anpassung pro Vokabel aufgefädelt, damit man sie jederzeit ergänzen konnte. Am höchsten Punkt des "Schneckenturms" zog ihn eine kleine Gruppe an, die sich konzentriert über ein merkwürdiges Gerät beugte. Man hörte Musik, genauer gesagt einen der zahlreichen Sender, die gefühlt jede Stunde die aktuellen Verkaufslisten abspielte. Allerdings schienen die kleine Gruppe nicht gerade dem Genuss zu frönen, sondern lauschten konzentriert, während einer eilig auf einer Tafel kritzelte. Man stöhnte geplagt. Theoderich näherte sich neugierig, aber entfernt genug, keinen Anstoß zu erregen. Ein Daimon mit Federkleid trug den Text vor, oder das, was man zu hören geglaubt hatte. »Ach herrje!« Dachte Theoderich mitfühlend. Wie oft mussten sie wohl schon auf eine Wiederholung gewartet haben, um die Abschrift zu vervollständigen? Eine gewisse Verzweiflung schwang mit. Waren das Schulkinder? Handelte es sich um eine Projektaufgabe? Man debattierte leise, einer blätterte durch die Lose-Blatt-Sammlung der Lexika. Theoderich half aus, nicht, dass er ein ausgewiesener Chart-Kenner gewesen wäre oder viel Zeit auf den Musikkonsum verwendete, aber dieser Part gehörte zu Mareks Standardprogramm der Vorbereitung auf ihre "Kavalierstour". Sechs Augenpaare studierten ihn ungläubig. "Leider spreche ich eure Sprache nicht, aber so lautet der Text." Ergänzte Theoderich. "Es ist Mundart." Deshalb zweifellos für die Daimonen nicht ganz leicht zu dechiffrieren. "Danke. Ob du uns vielleicht ein wenig helfen kannst? Der Text ist so schwierig." Man wagte sich hoffnungsfroh aus der Deckung. Theoderich nahm die Kreide entgegen, notierte flüssig auf der Schiefertafel. Mainzer Prinzengarde, Rot Rock Rapper, "isch hab Uniform". Ja, die Saison ließ nicht mal die Hitparade unberührt! Nicht wenig später fand er sich integriert in das Team, blätterte mit, erklärte. So bestätigte man ihm auch seine Vermutung, dass sich hier eine Schulaufgabe darstellte, nicht nur Übersetzung, sondern auch noch möglichst melodiös passend sollte das Ergebnis werden! Theoderich konnte sich nicht entsinnen, dass man Derartiges von ihm in seiner Schulzeit verlangt hatte. Seine neuen Bekannten, die grinsend Stillschweigen gelobten über seinen "Gast-/Besuchsstatus", schienen nichts Ungewöhnliches an diesem Auftrag zu finden. Für das ganze Schuljahr mussten diverse Aufgaben erledigt werden, gern im Team, nicht zwingend nacheinander. Die Vorgehensweise ähnelte der des Daimonen-Kindergartens, mit dem Unterschied, dass es hier durchaus Bewertungen gab, um selbst zu erkennen, wo man sich verbessern musste, wo Stärken lagen. Auf praktische Anwendungen schien man großen Wert zu legen: Möbel oder Unterkünfte planen, Gartenanbau, literarisch-musikalische Aufgaben, Werkstücke herstellen... Theoderich fand sich eingeladen, beim Mittagessen Gesellschaft zu leisten. Anschließend wollte man ihm vorstellen, was man so als Daimonen-Schulkinder zu leisten hatte. Zum Ausklang noch ein wenig Sport! Da Iocasta ihn unbekümmert ziehen ließ, nahm Theoderich die Offerte dankbar an. Auch wenn die Sprachbarriere zwischen ihnen stand, fühlte er kein großes Hemmnis, sich auszutauschen. Während die Sonnen nacheinander den Horizont herabkletterten, spielte er auch ganz selbstverständlich mit, eine Variante von Petanque/Boule, doch ohne Triumphgeschrei oder das Ausstechen der Gegenpartei. Nach seinem Eindruck gab es diesen "Sieges-Drang" nicht mal! Wichtig war, dass alle mitspielen konnten, sich bemühten, Gemeinschaft pflegten. Kein Vergleich mit den "Sportarten", die ihm zuwider waren, weil sie eher an kriegerische Auseinandersetzungen erinnerten, zum Teil auch noch so hießen! Völkerball, ha! Hier ging es gemütlich zu, es wurde gelacht, Schultern geklopft, sich umarmt. Man schüttelte sich stets vor Beginn und am Ende die Extremitäten, bedankte sich. Iocasta, die unversehens zuschauend aufgetreten war, klärte Theoderich diesbezüglich auf. "Wir danken immer dem anderen, bei jedem Spiel. Ohne einander gäbe es schlichtweg keins." Ein Gedanke, der theoretisch auch jenseits dieser Dimension gepflegt wurde, aber im Wettstreit unterging, fand Theoderich. Es ging ja darum, zu siegen, zu übertreffen, eine Rangfolge herzustellen! Hier spielte das ganz ungewohnt keine Rolle, niemand zählte Runden oder Punkte. »Wie ist das möglich, dass die Utopie einer friedlichen Welt hier funktioniert?!« Fragte sich Theoderich auf dem Heimweg, in Gedanken gehüllt, ~ <3 ~ + Iocasta empfahl, sich die Märkte anzusehen, die Werkstätten, die Betriebe, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, welchen Takt das Leben hier hatte. Da es nicht ungewöhnlich war, sich als Assistenz anzudienen, um herauszufinden, was man tun konnte, wunderte sich niemand über ihn als Begleitung einer KOK-Offize. Theoderich staunte, zum Teil ehrfürchtig. Keine Computer als Helfer, statt fossilen Brennstoffen hin und wieder Geothermie, kaum Erzvorkommen zur Metallgewinnung, und trotzdem! Für ein angenehmes Leben gab es alles: Unterkunft, Nahrung, Bekleidung, Unterhaltung, auch Dienstleistungen aller Art, die ebenfalls nachgefragt wurden, Bargeld oder Tauschhandel, alles ganz friedlich. Nein, diese Welt musste einzigartig sein, konnte nicht übertragen werden, weil niemand sich anstrengte, immer mehr haben zu wollen, Dinge anzuhäufen! Theoderich kam sich hin und wieder sehr grob vor, wenn er ungläubig nachfragte, ob es denn wirklich keinen Streit über den Wert von Sandalen gab. Es funktionierte schlicht. Wie GENAU, das eruierte man offenbar nicht allzu angestrengt. Es passte schon! Was ihn selbst verwirrte, weil entsprechend der unterschiedlichen Wirtschafts- und Steuertheorien...!! Glücklicherweise hatten sie am Vortag die Einladung erhalten, zu einem Baseballspiel am Nachmittag zu gehen. Ein Volkssport bei Daimonens! Mit dezent abgewandelten Regeln jagte man dem Ball nach, hoppelte um Begrenzungspfosten. Alle hatten Spaß. Man jubelte für alle, klatschte, feuerte an, ganz ohne Parteinahme. "Na?" Iocasta stippte ihn vertraulich in die Seite. "Hat's dir gefallen?" Theoderich nickte, ein wenig benommen von den zahlreichen Erkenntnissen und noch mehr Fragen, die durch seinen Kopf tanzten. "Nach allen Regeln der Kunst dürfte das ALLES hier gar nicht funktionieren!" Entwischte ihm überfordert. "Aha?" Iocasta grinste nachsichtig. "Könnte an den Regeln liegen, hm?" Neben ihr schnaubte Theoderich, gar nicht mehr so zurückgenommen und reserviert wie zu Anfang. "Mir GEFÄLLT es hier! Leider kann ich mich aber nicht der Erkenntnis erwehren, dass Menschen hier zu recht nichts zu suchen haben." Das Talent, dies alles zu ruinieren, konnte er sich selbst jedenfalls nicht absprechen, einfach, weil stets Zweifel auf den Plan traten. "Meine Spezies ist zu verkorkst." Argumentierte er. Iocasta schmunzelte. "Im Moment vielleicht. Aber das kann ja noch werden, nicht wahr? Wo Phantasie ist, ist auch Hoffnung." Theoderich schluckte einen Konter herunter. Auch Vorstellungsvermögen konnte in extreme Pole auseinanderdriften! ~ <3 ~ + »Seltsam.« Stellte Theoderich am nächsten Morgen fest, als er sich den Turban wickelte, einen Blick auf das eigene Ponem wagte. Natürlich waren ihm die eigenen Gesichtszüge vertraut, doch er registrierte eine kaum wahrnehmbare Änderung. Die maskenhafte Spannung hatte sich verloren! Er galt als ruhig, zurückhaltend, keiner, der Emotionen freien Lauf ließ. Allein schon die Tatsache, dass er in den letzten Tagen hier so viel gesprochen, Persönliches preisgegeben hatte wie nie in seiner gesamten beruflichen Laufbahn, stach heraus! Dazu kam diese Ruhe, die er verspürte, nicht die Totenstille, die erstarrte Eiszeit, in der er sich so lange befunden hatte. »Habe ich tatsächlich meinen Frieden gemacht?« Fragte er sich selbst. Möglicherweise. Doch würde es anhalten, von Dauer sein? Hier, wo man sich so aufgeschlossen, langmütig zeigte, bedurfte es schließlich keiner besonderen Anstrengung. Niemand erwartete von ihm etwas. Nun, sich wie gute Daimonen zu verhalten, wahrscheinlich! Dazu musste er jedoch noch einen Beitrag leisten, weshalb er Iocasta entgegenging, die beschwingt ausschritt, ihn abzuholen. "Ich bitte um Entschuldigung für meine penetranten Nachfragen und Zweifel gestern." Theoderich hielt es für dringend angezeigt, seine Einsicht auch verbal zu demonstrieren. Die KOK-Offize schmunzelte, stippte ihn vertraulich in die Seite, bevor sie sich einhakte. "Kein Grund, sich für Interesse zu entschuldigen, Theo! Fragen stellen gehört einfach dazu, wenn man sich über die Welt ein Bild verschaffen möchte." Mit sich hadernd konterte Theoderich. "Schon, gewiss, doch ich habe hartnäckig nach einem Haken gesucht, so, als stünde es mir an, ein Urteil zu fällen!" Wo er doch gerade mal einen kleinen Blick in diese ganz andere Gesellschaft und Kultur geworfen hatte. Iocasta lachte. "Ja, du bist auf der Suche nach dem Pferdefuß! Liegt auch nahe, bei Daimonen." Sie zwinkerte herausfordernd. Theoderich seufzte. "Ich bin einfach nicht fähig zu akzeptieren, dass hier funktioniert, was bei uns als Utopie verschrien würde." "Was dich sichtlich wurmt." Bemerkte Iocasta sanft. "Dumm von mir." Grummelte Theoderich. "Ich möchte WIRKLICH verstehen, glauben, überzeugt sein!!" Iocasta verstand sehr gut, zwischen den Zeilen zu lesen. "Deshalb empfindest du Schuldgefühle, nicht wahr?" Neben ihr nickte Theoderich stumm. Er WOLLTE sich ja nicht wichtig machen, aus der Herde ausscheren, besonders sein. Bloß~bloß war ihm das abhanden gekommen, was die anderen scheinbar so felsenfest und unerschütterlich besaßen: eine feste Vorstellung, einen unbedingten Glauben, eine fundamentale Überzeugung, wie das Leben zu sein hatte. "Seltsam, dass mir es hier so leicht fällt, darüber zu sprechen." Gestand er mit einem schiefen Lächeln. "Das passiert hin und wieder, wenn man die Perspektive wechselt." Iocasta drückte ihm aufmunternd den Arm. "Du bist ein heller Kopf, Theo. Stell dich deinen eigenen Antworten. Es besteht allen Anlass zur Hoffnung, dass du mit ihnen ganz und gar nicht allein bist." ~ <3 ~ + Ubaku erwartete sie mit gewohnt umtriebiger Geschäftigkeit, die noch dadurch ergänzt wurde, dass er gerade eine Lieferung erhielt. Man tauschte Mehl und ganze Körner gegen Geld und Naturalien, sprich Backwerk, was Theoderich noch immer frappierte. Wie gelang es hier den Leuten bloß, immer einen angemessenen "Tauschkurs" festzusetzen, ohne Börse, ohne große Streitigkeiten, ohne Diskussionen?! "Was denkst du, Theo? Wollen wir beim Ausliefern helfen und uns mal ein wenig außerhalb umschauen?" Iocastas Offerte schien exakt Theoderichs Neugierde zu entsprechen. Sofort sagte er zu. Ubakus Lieferant, ein stämmiger Daimon mit wallender Mähne, bleckte das kräftige Gebiss, lud munter ein, ihn zu begleiten. Seine Waren, Säcke und Tauschgut, lagerten auf einem Karren, den er dreirädrig wie bei einem Tretroller bewegte. Für Theoderich ein außergewöhnlicher Anblick, obwohl man sich auf seiner Seite an die zahlreichen, zierlichen Roller bereits gewöhnt hatte, die eine Renaissance erlebten. Er studierte das Transportmittel neugierig. Keine luftgefüllten Gummireifen, nein, die drei Räder waren tatsächlich aus einem Holz gefertigt, dessen Profil man mit Pflanzenfasern dick zur Abpolsterung umwickelt hatte. "Wie denkt ihr über Fahrräder?" Erkundigte er sich interessiert. Zugegeben, man konnte nur einen Teil ersetzen, etwa den Rahmen, aber ein Zahnradgetriebe, sollte das nicht auch hier möglich sein? Iocasta, die hinten anschob, wie er selbst im Laufschritt, denn der Naturalien-Lieferant stemmte ordentlich abwechselnd die breiten Füße in den Boden, lächelte. "Haben wir durchaus versucht, aber es ist schwierig, bei uns Metallerze zu finden. Seile um einen Kranz zu winden hat auch nicht verlässlich funktioniert." Sie gestikulierte auf den Transportverkehr, der sich umsichtig den Weg bahnte. Niemand drängelte, brüllte, bahnte sich halsbrecherisch den Weg. "Diese Tretroller sind belastbar und wartungsarm." Sie schmunzelte. "Außerdem recht wendig und erschwinglich für alle." Theoderich hatte auch schon Rikscha-ähnliche Personentransporte gesehen, dazu hin und wieder vorgespannte "Tiere". Allerdings hielt er sich bei dieser Klassifizierung zurück, denn manche Daimonen hier hatten für einen Menschen viele "animalische" Attribute, die eine unzweifelhafte Distinktion erschwerten. "Was, wenn ihr große Lasten transportieren wollt? Oder weitere Strecken zurücklegen?" Ein wenig mutete es ja doch an wie im vorvorigen Jahrhundert, vor der Nutzung von Dampfkraft als Antrieb! "Wir könnten einen Karren-Treck bilden." Grinste Iocasta ihn an. "Es hängt aber eigentlich vom Gelände ab. Wir haben auch Schiffe, Schlitten, an Bergen Seilbahnen und Rutschen." Ihre Stimme enthielt einen neckenden Tadel, der Theoderich daran erinnerte, dass Hochmut hier nicht angezeigt war. "Entschuldigung." Reagierte er prompt. "Ich wollte nicht überheblich klingen. Nur, wenn so wenig Erze vorhanden sind...?" Ja, was gab es nicht alles an Transportmöglichkeiten aus Metallen? Eingestandenermaßen gehörten auch moderne Kunststoffe dazu, aber ohne Metalle gab es weder Chassis noch Motor! Oder Turbinen, Dampfkessel, Brennkammern! "Wir nutzen die Ressourcen, die wir haben." Die KOK-Offize nahm ihm seine Skepsis nicht übel. "Wir fliegen mit Ballons oder Drachensegeln. Es pressiert uns auch nicht ganz so arg." Touché! Nun, die Arbeitsteiligkeit schien hier noch nicht auf die Spitze getrieben zu sein, "just in time" benötigte man keine Komponenten, standen keine Fließbänder still. Die Geschwindigkeit übertraf nicht das Begriffsvermögen der Bewohnenden hier. Wenn alle sich mit diesem Tempo angefreundet hatten, gab es auch keinen Grund, etwas zu beschleunigen, immer mehr zu wollen, schneller, günstiger! Theoderich schleppte Säcke und verfolgte, dank Iocastas gedolmetschten Erläuterungen, wie Körner, Mehl, Backwaren und anderes Tauschgut den Besitz wechselte. "Keine Erzeugenden müssen bei den Restaurants, Garküchen oder Bäckereien Geld mitbringen." Erklärte Iocasta. "Menüs gegen Rohmaterialien, das ist normal." Ebenso normal schien es, in Krügen und Töpfen weitere Anteile aufzuladen, die man dann woanders tauschte. Alles funktionierte! Erzeugende betätigten sich als "Quasi-Garküche", bekamen dafür Material, Geld, Dienstleistungen. Man konnte nur staunen. Wirtschaftstheoretische Utopien, von denen er im Rahmen seiner Ausbildung gehört hatte, die nur auf dem Reißbrett ineinander griffen: hier klappte es. Ihr Weg führte sie aus den belebten, aber auch räumlich beengten Stadtvierteln hinaus. Zwar gab es auch Anbau IN der Stadt, auf Dächern, in Höhlen (Pilze, bestimmte Pflanzen), aber außerhalb der dichten Besiedelung boten sich mehr Möglichkeiten. Wobei, wie Theoderich lernte, auch dieses Land niemandem "gehörte", höchstens dem Großen M, selbstredend. Man einigte sich eben in der Gemeinschaft darüber, was man nutzen wollte und konnte. Ein Vorgehen, das ausschließlich in einer Gesellschaft möglich war, deren Bevölkerungszahl recht stabil blieb, wo man mit Augenmaß agieren konnte, nicht ausbeuten, ausplündern musste. Zudem schien der Einsatz von Arbeitskraft auch Grenzen zu setzen. "Verdienen wir uns einen Platz am Mittagstisch." Stippte Iocasta ihn in die Seite, sodass sie zwischen mannshohe Halme traten, die an Maispflanzen erinnerten. Diese Kolben waren noch nicht reif, aber man kombinierte geschickt die hochwachsenden Fruchtstände mit einer rankenden Bohnenart. So benötigte man keine besonderen Stützen, die beiden Pflanzenarten halfen sich gegenseitig. Von derartigen Kombinationsanbaumethoden hatte Theoderich durchaus schon einmal gelesen. Er hängte sich auch kreuzweise Säckchen um, pflückte nach kurzer Einführung die reifen Bohnen ab. Mit der Verarbeitung und Sortierung waren zwei sehr alte, runzelige Daimoninnen beschäftigt, was Theoderich daran erinnerte, dass er gar keine Vorstellung davon hatte, ob es hier Altersgrenzen gab. Oder Verrentungen? "Ah." Iocasta nickte schließlich nach einem Augenblick der Verwirrung, als er sich entsprechend erkundigte. "Davon habe ich gehört. Nun, bei uns tut alle, was sie können." Mit anderen Worten: keine Altersgrenze, kein Ruhegeld ohne Verpflichtungen! "Alle können etwas beitragen, soweit es ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten zulassen." Erklärte die KOK-Offize nachsichtig. "Alles ist von Bedeutung. Alle möchten doch gern anerkannt und wertgeschätzt sein, sei es auch nur von sich selbst." Sie lächelte, zeigte die Zähne. Theoderich kontemplierte diese Einlassung eine Weile schweigend. Vielleicht lag es ja daran, dass nicht jede Tätigkeiten mit einem Preisschild versehen war, dass er sich ein wenig schwertat mit diesem Gedanken, weil immer auch eine moralische Einordnung mitschwang, ob man einen wertvollen Beitrag für die Gemeinschaft leistete oder nur sich selbst der Nächste war, welches Ansehen man mit welcher Tätigkeit verband. Wenn man es so sah, waren eine Unzahl von Leistungen notwendig, damit eine Gesellschaft funktionierte, aber das jeweilige Ansehen differierte sehr stark, was sich häufig auch in der Entlohnung niederschlug. "Ich bin immer noch baff." Bekannte er schließlich kapitulierend. "Auf meiner Seite existiert eine ausufernde Staffelung der Bedeutung von Tätigkeiten." Iocasta pflückte geduldig Bohnenhülsen. "Dagegen ist nichts zu sagen, wenn es für euch funktioniert." Gab sie ruhig zurück. Andere Welt, andere Vorgehensweise. Theoderich runzelte die Stirn unter dem Turban. "Ich fürchte, dass das vielleicht nicht mehr so geräuschlos wie früher der Fall ist." Konstatierte er. Darin spiegelte sich nicht nur die Sorgen vor der Digitalisierung, die ihre analoge menschliche Arbeitskraft auffraß, sondern auch die Spannungen innerhalb der Gesellschaft. War die Betreuung von Menschen tatsächlich weniger (in Entgelt) wert als der Umgang mit Maschinen oder gar ideellen Konstrukten? Wie sollte man den Grad der Verantwortung bemessen? Er schnaufte. "Ich muss schon sagen, hier komme ich ganz schön ins Grübeln!" Was er sich eine ganze Weile, ja, über Jahre hinweg, verkniffen hatte, aus Selbstschutz, um seine persönliche Situation zu kompensieren, nicht von Zweifel und Hader zerfleischt zu werden. "Wenn du dabei weiter so gründlich schaffst, spricht nichts dagegen." Neckte Iocasta ihn zwinkernd. Unwillkürlich entlockte sie Theoderich damit ein schiefes Grinsen. Aber es tat gut, sich bewegen zu können, gleich das Resultat der Anstrengungen zu sehen! Nicht einmal der sanfte Landregen, der kurz vor der Mittagszeit niederging, konnte ihn erschüttern. Wer hätte jemals gedacht, dass Ernten am Sonntag so erfüllend sein konnte? ~ <3 ~ + Kapitel 6 - Theo tut was! Je mehr Theoderich über diese fremde, wundersame Welt und die Daimonen erfuhr, umso beeindruckter war er. Die Infrastruktur hielten die Leute selbst in Schuss, Inspize kontrollierten regelmäßig Straßen, Gebäude, Leitungen, Gräben. Wurden Unterhaltungsarbeiten fällig, sammelten sich alle freiwillig, bei der Umsetzung mitzuhelfen! Für Kinder die Möglichkeit, praktisch zu lernen, was man theoretisch vorbereitete, für alle anderen eine Repetition von Erfahrungen und Fertigkeiten. Kein Streit, keine Diskussion, kein Einziehen von Beiträgen und Gebühren. Ein Gemeinwesen, das sich auch als solches verstand, davon überzeugt war, jedes Mitglied sei wichtig, jede Leistung hilfreich. Iocasta berichtete ihm auch von der Art, wie man in der Peripherie auf dem neuesten Stand blieb. Da ließ man sich einfach per Flug Nachrichten senden, tauschte Bücher und andere Schriftträger aus. Zweimal am Tag trugen professionelle Erzählende Neuigkeiten an zentralen Plätzen vor. Dann gab es eine Kurzgeschichte und einen Fortsetzungsroman zu hören! Man liebte den persönlichen Kontakt, die Einmaligkeit der Vorstellung, des Augenblicks. Theater, Musik, verschiedene andere Darbietungen: man schätzte den direkten "Draht". Zwar kannte man von der anderen Seite die Aufzeichnungs- und Wiedergabemöglichkeiten, Fernsehen, Filme, Tonträger, hier war es nicht nötig. Zeitungen, eine feine Sache, bloß liebten die Daimonen den lebendigen Vortrag, die kurze Pause danach, um zu diskutieren, was nicht bedeutete, dass sie nicht lesen konnten, dass man keine Erkundigungen selbst einholte, doch das Gemeinschaftserlebnis wollte man einfach nicht missen! "In der Stadt haben wir auch Omniskope, verschiedene Sendemöglichkeiten, ähnlich wie euer Radio oder Abspielgeräte." Ergänzte die KOK-Offize gemütlich. "Trotzdem pflegen wir diese Vortragsformen. Unsere Nachrichten sind auch ein wenig anders." »Verständlich.« Dachte Theoderich, denn hier gab es weder Kriege noch Morde oder Verbrechen. Größere Naturkatastrophen schienen sich auch nicht zu ereignen. Was blieb dann noch übrig? Sport, die Lottozahlen und das Wetter?! "Daimonen sind neugierig wie eure sprichwörtlichen Katzen, also gibt es auch immer Kommentare und Erläuterungen zu dem, was auf eurer Seite so entdeckt und entwickelt wird." Iocasta schmunzelte. "Vielleicht haben wir heute die Gelegenheit, können uns das ansehen und anhören. Ich glaube, es ist für uns recht charakteristisch." Theoderich wandte sich herum, denn hinter ihnen, auf der Landstraße, vernahm er sich annähernde Geräusche: ein Lauftrupp rückte rasch heran, in sportlichem Tempo. Er wich höflich auf die Seite aus. "Ah, Bacchus ist mal wieder unterwegs." Iocasta trat ebenfalls beiseite. Neben ihr warf Theoderich ungläubig die Stirn in Falten. "Bacchus wie der griechisch-römische Gott?" Erkundigte er sich zweifelnd. Nach seiner Vorstellung, die hauptsächlich von Gemälden geprägt war, ein aufgeschwemmter, bärtiger Bursche mit liederlich-befleckter Tunika, besoffen, dem Rausch und Trunk ergeben. Was da aber in elastischer Mühelosigkeit mit einem höflichen Gruß vorbei zischte, wurde von einem sehnig-dürren Mann, rasiert, in Shorts und Trikot, angeführt. "Derselbe." Iocasta trat wieder auf den Feldweg. "Er hat sich umorientiert, glaube ich. Seine Expertise gilt auch für neue Sportarten der Menschen, er wird häufig befragt. Strikter Verfechter der Null-Promille-Grenze." Theoderich schnaubte verblüfft. "Als Gott für Rebensaft und Orgien?!" "Scheint, als hätte er eine Überdosis abbekommen." Kommentierte Iocasta ungerührt. "Wettert ziemlich gegen alles, was einen Rausch auslösen könnte." Sie zuckte mit den schmächtigen Schultern. "Wir schlagen ohnehin nicht so vehement über die Stränge, also gilt das vielleicht eher den anderen Ex-Göttlichkeiten." Ein Aufhänger für sie, Theoderich davon zu erzählen, welche Herausforderungen es bedeutet hatte, für diese Neuankömmlinge Unterkünfte zu errichten. Die wenigsten Ex-Göttlichkeiten verfügten nämlich über praktische Fertigkeiten, während sich die Daimonen hier erst kundig machen mussten, wie auf der anderen Seite gehaust worden war. Von dem Chaos bezüglich der Zuständigkeiten für "göttliche Ressorts" ganz zu schweigen, die beinahe in Handgreiflichkeiten ausgeartet wären. "Woran man wieder unmissverständlich erkennt, dass es sich um menschliche Götter handelt." Knurrte Theoderich. Ihn erstaunte die eigene Galligkeit, denn eigentlich äußerte er sich gar nicht zu Themen, wenn man ihn nicht explizit aufforderte. Allerdings erschien es ihm so, als verwandle er sich hier. "Seltsam, hier komme ich mir vor wie eine andere Person." Murmelte er halblaut. Zwar mit einem "Turban" getarnt/verkleidet, doch ansonsten ohne Maske! Als hätte er die Eigenheit der Fünften Jahreszeit mitgenommen, unangenehme Wahrheiten auszusprechen, den Spiegel vorzuhalten, unter der "Verkleidung" einer anderen Gestalt, damit man danach nicht in die Verantwortung genommen werden konnte. Iocasta hängte sich ganz selbstverständlich bei ihm ein. "Eine Luftveränderung hilft manchmal, eine andere Perspektive einzunehmen." Erinnerte sie ihn sanft. Theoderich wiederum begriff, was ihn schon die ganze Zeit in Gesellschaft der KOK-Offize fasziniert hatte: sie vernetzte die Leute, hörte zu, half, Probleme und Schwierigkeiten zu lösen, indem sie geschickt ermunterte, aus sich selbst herauszugehen, keine Angst davor zu haben, wer man gerade war und wer man sein wollte. Eigentlich beängstigend, sich in ihre Einflusssphäre zu begeben! Bloß verfolgte sie keine Hintergedanken, drängte ihre Sichtweise auf, sondern fungierte als Reflektionsfläche, damit man sich selbst auf die Sprünge half. "Ich hoffe, meinem Tauschpartner geht es gut." Brummte Theoderich. So umsorgt, betreut und einbezogen zu werden war wirklich ein ungeheures Privileg. Ihm bei seiner eigenen "Spezies" eigentlich nicht vorstellbar! ~ <3 ~ + Rund um die Stadt gab es Felder, Werkstätten, Weiher, Viehweiden, somit jede Menge zu sehen und zu lernen. Zunächst hatte Theoderich durchaus vermutet, dass die technische Entwicklung der Daimonen hinter dem vorvorigen Jahrhundert zurückblieb, doch er sah sich widerlegt. Zwar machte sich der Mangel an Erzen durchaus bemerkbar, was aber nicht hieß, dass man hier elend und kräftezehrend agierte. Findig, mit den eigenen Bordmitteln ausgestattet bewältigte man durchaus ein Transportwesen von Gütern und Personen. Der Lebensstandard wirkte hoch, obwohl sich das tägliche Tempo als eher gemütlich auszeichnete. Vielleicht, weil man durch die Umwelt begünstigt war, die Bevölkerungszahl nicht stark schwankte, die Lebensphilosophie zur Gelassenheit anhielt. "Was mich erstaunt, ist die Vereinbarkeit von Individuum und Gemeinschaftswesen." Ließ Theoderich Iocasta wissen, als sie sich gegen Abend aus einem Waldstück wieder Richtung Stadt wandten. Die KOK-Offize lauschte ihm aufmerksam. "Wenn ich mich nicht falsch entsinne, herrschte bei uns lange die Vorstellung, dass die Gemeinschaft notwendigerweise über dem Individuum stehen muss. Folglich zählte der Einzelne nicht besonders viel." Neuere, im historischen Vergleich betrachtet, Entwicklungen räumten dem Individuum mehr Rechte, mehr Gestaltungsspielraum ein, was zu der Befürchtung führte, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt sich verlieren werde. "In meiner Kultur, wo man mittlerweile den Fokus sehr viel stärker auf die Einzelperson legt, gilt die Anstrengung nun, Gemeinschaften zu bilden, Orte der Begegnung, gemeinsame Interessen." Hier, bei den Daimonen, wirkte das nicht wie ein Spannungsfeld. "Urteile nicht zu hart." Iocasta lächelte besänftigend zu ihm hoch. "Wir haben sehr lange Zeit gehabt, unser Gemeinwesen auszutarieren. Gewisse Einschränkungen gibt es bei uns durchaus auch." "Und dann?" Erkundigte sich Theoderich interessiert. Iocasta lächelte. "Meistens sind es die Grenzen, die zu neuen Erkenntnissen und Herausforderungen führen, die Veränderungen ermöglichen. Sie sind nicht so spektakulär wie eure Revolutionen, aber auch in unserer Welt verharren wir nicht auf der Stelle, sind Anpassungen erforderlich." Für Theoderich klang das nur folgerichtig. "Allerdings ist bei euch wohl kein Blutzoll zu entrichten." Vermutete er dennoch laut. Man wollte gar nicht daran denken, was allein das vorherige Jahrhundert an Leben gekostet hatte! "Das stimmt." Bestätigte Iocasta ihm versonnen. "Andererseits ist der Vergleich unserer Welten vielleicht auch nicht ganz gerecht." Gut sah seine "Mannschaft" jedenfalls nicht aus, das konnte Theoderich nicht in Abrede stellen! Da hörten sie hinter sich einen auffordernden Pfiff. Mit eiligen Schritten näherte sich eine groß gewachsene Gestalt, die offenbar Flügel auf dem Rücken zusammengefaltet hatte. Theoderich betrachtete sie neugierig, denn geflügelte Daimonen gab es in der Stadt recht selten zu Fuß zu sehen. "Ah, Oona, was tust du denn hier?" Iocasta ging ihrer mutmaßlichen Kollegin entgegen. Die lupfte von ihren Schultern eine kleine Gestalt in einem geflickten Kittelchen, ein Miniatur-Engel, um dessen Nacken sich ein Drachen ringelte! Theoderich konnte dem Austausch auf Daimonisch nicht folgen, deshalb verlegte er sich auf die Zuschauerrolle. Die ernsten Mienen der beiden Daimoninnen kündeten von einer schwierigen Situation. Iocasta winkte Theoderich schließlich heran. "Theo, kannst du den Engel an die Hand nehmen, bitte? Wie es scheint, kann er weder sprechen noch hören. Wir nehmen ihn mit zum Medi-Zentrum." Die KOK-Offize verabschiedete sich von der Kollegin. Die hob mit etwas Anlauf, den Drachen um den Nacken gewunden, ab, flog davon! "Oona ist Inspize." Erklärte Iocasta auf seinen erstaunten Blick hin. "Sie zieht über Land. Der Wasserdrache ist Casimir, ein Feuerwerk-Meister." "Sie kann wirklich fliegen!" Theoderich staunte, denn üblicherweise wären bei dem Körpergewicht große Schwingen oder eine Antriebsform nötig, weshalb fliegende Menschen, nun, Leute, ohne Hilfsmittel, einfach phantastisch waren. "Na ja, sie ist ein Banshee." Kommentierte Iocasta seine Verwunderung beiläufig, beäugte, in die Hocke gehend, den Miniatur-Engel. "Hab keine Angst, ja? Wir kümmern uns um dich." Der Engel, ohne Flügel, eher einer androgynen Puppe ähnelnd, verzog keine Miene, aber er ließ sich von Theoderich an die Hand nehmen. "Oona sagt, sie hat ihn etwa zwei Stunden von hier in einem Dorf aufgelesen. Ist dort aufgetaucht, allein, so klein wie jetzt. Die Leute haben ihn versorgt, aber irgendwas stimmt nicht." "Ist es nicht normal, so klein zu sein?" Mit Engeln kannte Theoderich sich nicht aus, zumindest nicht mit denen auf dieser Seite. Sie wirkten eher wie Androiden, gleichförmig, geschlechtslos. "Üblicherweise haben sie deine Größe." Iocasta wirkte durchaus besorgt. "Sie suchen eine Aufgabe, eine Betätigung. Dieser Engel hier aber..." Blieb plötzlich stehen, ohne erkennbaren Grund. Die schwarzen Augen dunkelten ein wenig, als sei ein Licht ausgegangen. Theoderich, der keine Erfahrung mit Kindern hatte, ging in die Knie, studierte zögerlich die stocksteife Gestalt. War sie vor etwas erschrocken? Iocasta seufzte. "Das scheint wohl eine knifflige Sache zu sein." Bemerkte sie ernst. "Kannst du den Engel tragen?" Ein wenig ungelenk mangels Übung setzte sich Theoderich die kleine Gestalt auf die Hüfte. Das Gewicht überraschte ihn, aber auch die fehlende Ausstrahlung von Körperwärme. "Ich möchte nicht unverschämt sein, aber es wirkt wie eine defekte Maschine." Die Daimonin warf ihm einen prüfenden Blick zu. "Mag sein, dass sie so konzipiert sind, aber mit einem Bewusstsein sind sie Lebewesen. Vielleicht ist der Engel krank." Und keineswegs defekt. Theoderich akzeptierte den sanften Tadel sofort. "Entschuldigung, da habe ich vorschnell geurteilt. Selbst bei uns sind die Grenzen zwischen Puppen, Robotern, Cyborgs und Menschen ja mittlerweile fließend." Allein schon, wie viele "Ersatzteile" man sich mittlerweile ganz selbstverständlich "einverleiben" konnte. Iocasta lächelte zu ihm hoch. "Ich danke dir jedenfalls, Theo, dass du mich so unerschrocken unterstützt. Gäbe es so etwas wie einen Ehren-Daimon, würde ich dich sofort nominieren!" Theoderich lachte, was zweifelsfrei beabsichtigt war. Er schritt beschwingter aus, strebte mit der KOK-Offize der Innenstadt zu. ~ <3 ~ + Der namenlose Engel saß reglos wie eine Puppe ohne Batterie neben Theoderich auf der blank gewetzten Sitzbank, durchaus ein wenig unheimlich, so perfekt, so gleichförmig in Gestalt und Erscheinung, die feinen Haare flachsblond, die Haut wächsern-weiß. Theoderich schauderte, was er zu unterdrücken suchte. Das Gesicht entsprach einer gefälligen Makellosigkeit, doch im Mund, mit nutzlosen Zähnen, fand sich keine Zunge. Verdauungs- oder Atmungsorgane fehlten ohnehin allen Engeln. Die Ohrmuscheln, so hübsch anzusehen, wenn man die schulterlangen Haare zurückstrich, waren nutzlos, ohne Funktion, wie angeklebt von jemandem, der sie zwar gesehen hatte, aber nichts über ihre Aufgabe wusste. Ihn dauerte die kleine, seltsame Erscheinung, nichts hören, nichts sprechen können, sich nicht mitteilen können. Zudem schien in den schwarzen Augen unaufhaltsam das "Licht" zu verlöschen. Impulsiv hob er den Engel auf die eigenen Oberschenkel, strich über die perfekten, aber eiskalten Hände, hauchte sie an, hielt sie warm. Er kannte diesen Anblick, Augen, die als Fenster zur Seele galten, wenn man zusah, zusehen musste, wie das Fenster beschlug, trübe wurde, unaufhaltsam verdunkelte. "Alles wird gut." Raunte er, vergaß seine Vorsicht. "Iocasta holt Hilfe. Hab keine Angst." Sinnlos, selbstverständlich, Ohren zu predigen, die nichts vernehmen konnten, nur Dekoration an einem hübschen Schädel waren, Zuversicht zu verkünden, obwohl dieses Versprechen nicht zu halten war. Der Daimonen-Medi selbst hatte ihnen ja versichert, man wisse recht wenig, was die Psyche der Engel betraf. Aber er konnte auch nicht untätig verharren. Hier gab es keine schweren Atemzüge, auf die man lauschte, sich bei jeder Verzögerung, jeder längeren Pause fragte, ob es der letzte Schnaufer gewesen war. Im Zwiespalt, in Gewissensnot. Hilfe holen? Oder nicht? Ein Ende zulassen, nicht verhindern. Eine kalte, verkrümmte Klaue halten, ohne Hoffnung, jenseits aller Gefühle. Theoderich hörte sich selbst erstickt nach Luft schnappen. Das war vorbei, verflixt, hatte nichts mit dieser kleinen Gestalt zu tun, die reglos auf seinen Beinen saß, ins Leere blickte, als ginge ihr die Energie aus! "Das kommt schon in Ordnung." Wippte er vorsichtig auf und nieder. "Nur noch ein wenig Geduld." Er wollte den Engel trösten, beruhigen, aufmuntern, der doch nach gar nichts verlangte, wie es schien. ~ <3 ~ + Iocasta kam zurück in Begleitung einer imposanten Erscheinung. Die Daimonin, bestimmt über 2m groß und sehr kurvenreich gebaut, musste eine Mischung aus Eichhörnchen und Katze sein, zumindest was ihr prächtiges, rostrotes, langes Fellkleid und den buschigen Schwanz betraf. In den katzenhaften Zügen tanzte trotz der spitzen Zahnreihen ein fröhliches Lächeln. Theoderich schrumpfte unwillkürlich zusammen ob der gewaltigen Person. Jedes Kind wäre bestimmt vollkommen eingeschüchtert gewesen. Der Engel nicht. Die fast erloschenen, schwarzen Augen fokussierten sich auf die erreichbaren Fellpartien, die kleinen Hände entzogen sich Theoderichs Aufmerksamkeit, bestrichen prüfend den langhaarigen Pelz. Die Daimonin lachte, schnappte den Engel schlicht, nahm ihn auf die Hüften. Munter dröhnte ihr mächtiger Alt zu Iocasta hinunter, die zwinkerte. Der buschige Schwanz legte sich wie eine zusätzliche Gliedmaße um die kleine Engelsgestalt, dann machte die Daimonin kehrt, paradierte beschwingt den Gang hinunter. "Puh, entschuldige, Theo, aber Üngdyr hatte gerade noch eine Vorstellung. Ich konnte sie nicht schneller loseisen." Theoderich erhob sich langsam, kam sich steif und klapprig vor. "Was geschieht jetzt mit dem Engel?" Selbst seine Stimme schien Rost angesetzt zu haben. Iocasta lächelte zufrieden. "Ich denke, dass Üngdyr gut geeignet ist, sich um ihn zu kümmern. Nicht nur, weil er offenkundig eine Vorliebe für ihren Pelz hat." Sie grinste amüsiert. "Üngdyr schauspielert, singt, beherrscht Akrobatik und Pantomime. Sie kann ihm Körpersprache und Gestik beibringen, damit wir herausfinden, was er gern tun möchte." "Das geht einfach so?" Für Theoderich kaum vorstellbar, dass irgendwer einfach kam, eine Waise aufsammelte und mit sich nahm, ohne jahrelangen Papierkrieg, unzählige Eignungsprüfungen, Überwachung, Nachweisführung. Die KOK-Offize blickte zu ihm auf. "Es ist eine gute Lösung. Üngdyr ist aufgeschlossen und kontaktfreudig. Sie ist gut vernetzt. Ich schaue natürlich auch regelmäßig nach dem Engel." Theoderich rieb sich verlegen über die Stirn. "Verzeihung, das ist für mich bloß etwas zu unkompliziert." Iocasta betrachtete ihn eindringlich. "Du wirkst mitgenommen, Theo. Ich habe dich zu sehr in Beschlag genommen." "Nein, nein!" Winkte Theoderich eilig ab. "Das ist es nicht! Bloß Erinnerungen." Er atmete tief durch, zwang sich zu einer besonders aufrechten Haltung. "Ich war mir nicht sicher, was ich tun sollte, wenn~wenn der Engel stirbt." Die Daimonin stellte sich auf die Zehenspitzen, streichelte ihm unversehens über die Wange. "Du hast deine Sache wirklich gut gemacht, Theo. Jetzt haben wir einen vielversprechenden Weg eingeschlagen. Das wird schon!" Theoderich zog eine Grimasse, weil er sich schämte, so kleinmütig und jämmerlich aufgetreten zu sein. "Sag mal, warst du schon bei Medusas Delikatessen?" Iocasta hängte sich gewohnt vertraulich bei ihm ein. Ein Versäumnis, das sofort ausgebügelt werden musste, sodass Theoderichs aufregender Sonntag mit einem Menü ausklang, das ihm von Schlangenköpfchen mit Servierschürzchen vorgeschlagen wurde. Was für eine unglaubliche, verrückte und liebenswert bodenständige Welt! ~ <3 ~ + Theoderich erwachte, noch immer die Ohren gefüllt mit der schwingenden Musik der spontanen Combo, die vor Medusas legendärer Wirkungsstätte ihren Musen gefrönt hatte. Die Leute hatten geklatscht, gelacht, getanzt, sich unterhalten, Brett- und Würfelspiele betrieben. Da spielte es keine Rolle, dass sie den abendlichen Nachrichten- und Vorlesevortrag verpasst hatten. Während er sich rasch anzog und die gewohnte Katzenwäsche absolvierte, rief Theoderich sich in Erinnerung, dass der Kalender "Rosenmontag" letterte, der Höhepunkt des Straßenkarnevals in den Hochburgen. Er bezweifelte, dass er sich auf "seiner" Seite besser amüsiert hätte. Ohnehin kostete es ihn Mühe, sich an die einzelnen Positionen der Kavalierstour zu erinnern. Schwungvoll ambulierte er zur Bäckerei, Melodiefragmente des Vorabends leise summend. Kurios und kurioser! Stammte das aus Alice im Wunderland? Gleichwohl, es passte, kein Zweifel, denn ungeachtet seiner Existenz als Mensch auf dieser Seite, wo er eigentlich nicht hingehörte, drehte ihm niemand einen Strick draus. Keine scheelen Blicke, kein Aufhebens, dass man ihm alles übersetzen musste! Sie merkten vermutlich alle, was er war, aber niemanden störte es. Theoderich fühlte sich stattdessen willkommen, wohlwollend akzeptiert. Ein mächtiges, aufbauendes, stärkendes Empfinden! In der Fremde, unter lauter ungewöhnlichen Gestalten fügte er sich besser ein als unter Seinesgleichen, konnte aussprechen, was ihn tatsächlich bewegte, ohne Angst vor den Konsequenzen haben zu müssen. Wirklich, ganz erstaunlich! ~ <3 ~ + Iocasta, die bei Ubaku in der Backstube vorbeischaute, ihren Schützling abzuholen, goutierte dessen prächtige Laune. Am Vortag hatte es sie überrascht, Trauer, Unglück und eine resignierte Verzweiflung auf seinen Zügen zu entdecken, als sie mit Üngdyr in die Klinik zurückgekehrt war. Theoderich schien jedoch eine Person zu sein, die ihre Gefühle zurückhielt, nur äußerst ungern preisgab und teilte. Da durfte man nicht forcieren, wenn die Not es nicht gebot! Umso besser, dass die dunklen Wolken von seinem Gemüt vertrieben waren. Kaum hatten sie frisch gestärkt Ubaku verlassen, der sich energisch seiner Arbeit widmete, bemerkte Theoderich eine Sanierungsaktion. Tatendurstig bat er darum, mittun zu dürfen: Rohrleitungen austauschen, die Einzelteile imprägnieren, verbauen, Wände verputzen, Backsteine formen, stützendes Geflecht weben. Sie staunte nicht schlecht, mit welcher Leidenschaft sich der Mensch diesen ihm ungewohnten Herausforderungen widmete! ~ <3 ~ + Theoderich ignorierte die Lehmstreifen, den Staub auf Kleidung und Haut. Auch wenn er noch immer kein Daimonisch verstand, hatte er doch während der unterschiedlichen Aufgaben viel gelacht. Die bunte Truppe, Anwohnende, Lernende, Freiwillige jeden Alters und jeder Gestalt, integrierte ihn ohne großes Aufheben. Er durfte mitarbeiten, sich an allem versuchen. Es fühlte sich einfach ungeheuer befriedigend an, wenn die Anstrengung Früchte zeigte, alles wieder funktionierte! War der Körper beschäftigt, konnte auch der Geist sich ein wenig erholen. Theoderich jedenfalls hatte es sehr genossen, wie alle auch mit einem kleinen Märkchen des Inspize ausgestattet an einem Imbiss zu speisen, anzupacken, keine Rücksicht auf sein äußeres Erscheinungsbild nehmen zu müssen. Nun bekam er ein zweites Märkchen zum Einlösen überreicht. Wie immer fand sich eine Übersetzung: zum Abspülen ins Dampfbad! Theoderich zögerte, denn er fragte sich doch, ob man nicht Anstoß nehmen würde, wenn er sich ganz ohne Turban und blank dazugesellte. Allein, man zog ihn munter schwatzend mit, bedeutete ihm, wo er die Kleidung lagern sollte, die dampfgereinigt werden würde. In den dichten Schwaden stellte es auch keine großen Anforderungen an die Schicklichkeit, bloß ein kleines Stoffläppchen zu apportieren. Man tastete sich quasi in dem großen Raum zu Sitz- und Ruhebänken, auf das Gehör angewiesen, um nicht versehentlich AUF anderen Besuchenden Platz zu nehmen! Im Sichtschutz des Tropfenvorhangs begab sich Theoderich auch zum Schwimmbecken, offenbar Ergebnis unterirdischer Thermalquellen. Angenehm temperiert konnte man gemächlich Bahnen ziehen, bis alle Glieder so geschmeidig wie eine gut geölte Maschine ineinander griffen. Was für eine Wohltat! Theoderich konnte sich nicht entsinnen, wann er das letzte Mal geschwommen war. In der Grundschule vielleicht? Öffentliche Bäder zu unterhalten, das konnten sich viele Gemeinden nicht mehr leisten. Private Einrichtungen verlangten selbstverständlich Geld, richtete sich nach lukrativen Nutzungsgruppen aus. Entspannt, glücklich, im Einklang mit sich selbst verabschiedete sich Theoderich von seinen "Putztrupp". Iocasta, die sein Engagement genutzt hatte, den üblichen Aufgaben als KOK-Offize nachzugehen, konnte er in dem Gewimmel nicht entdecken. Der Frühabend lockte, sich zu setzen, ein Schwätzchen zu halten, etwas zu essen und zu trinken. Unvermutet strich ihm jemand über den Nacken, sanft, freundlich. Theoderich rotierte eilig, jedoch dank des ausgiebigen Bades und der körperlichen Ertüchtigung in friedfertiger Gemütslage. Vor ihm stand ein unbekannter Daimon gleicher Größe, nur mit einem losen Leibchen bekleidet, der ihn hingerissen bestaunte. Die Worte, die er Theoderich zugedachte, konnte der jedoch nicht verstehen, signalisierte mit einem Zeigefinger an den Lippen, der Unbekannte möge ihn nicht verraten, immerhin wollte er auch kein großes Aufsehen erregen! Seine Rechte wurde gekapert, der Daimon führte seine Fingerspitzen an den Mund, küsste sie zärtlich. Theoderich stockte der Atem. Liebe Güte, war das vielleicht ein Inkubus?! Was hatte Hatschym ihm noch erzählt, über die dezidierten Formulierungen, die Daimonen verwandten, sich über ihre Gefühlslage zu verständigen?! "Entschuldige, aber ich verstehe leider nicht!" Raunte er hilflos. Messingfarbene, glatte Haut, klassisch-aparte Gesichtszüge, eingedrehte Hörner auf Schläfenhöhe und chromgrüne Augen! Die freie Hand, eher eine kräftige Klaue mit den Krallen, legte sich um seine Wange. Der Daimon betrachtete ihn versunken, murmelte mit einer angenehmen Stimme leise für Theoderich Unverständliches. Eigentlich hätte er sofort reagieren, sich Distanz verschaffen müssen, argwöhnen, dass man versuchte, ihn abzulenken, einzulullen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, ihn zu bestehlen, berauben, körperlich zu attackieren. Auf "seiner" Seite. Hier jedoch, in intimer Nähe, verspürte er nicht den mindesten Drang, seinen Gegenüber zurückzuweisen. Vielleicht, weil der trotz der unverbrämten Bewunderung so ungezwungen agierte, ihn so sanft liebkoste, dabei friedlich lächelte. Theoderich kam unversehens in den Genuss eines sich in Leidenschaft steigernden Kusses, eine Premiere, auf die er in seinem fortgeschrittenen Alter nicht mehr gesetzt hätte. ~ <3 ~ + Wie in Trance, in einer eigenen Welt, folgte Theoderich dem Daimon, der ihn an der Hand führte, gemächlich, ohne Hast, sich immer wieder nach ihm umwendend. Die Daumenkralle zog Kreise über seinem Handrücken. Eine mehrstöckige Unterkunft, nicht weit, ein kleines Zimmerchen, Betrieb auf den Fluren, überall Laternen mit Leuchtkäfern und Glühwürmchen, nicht mehr als ein Lager, bunte Decke, Kissen, eine Laterne mit Spiegelsplittern, die Sternchen an die Gewölbedecke zeichnete. Das zärtliche, geduldige, aufmerksame Bestreichen seiner Gliedmaßen, die noch von der Hitze des Dampfbades zehrten, zwangloses Entkleiden, Küsse, neckende, getupfte, längere, sich in der Intensität steigernde, gedippt, mit geschlossenen Lippen, mit Zähnen und Zunge, heiß, feucht, von elektrischen Entladungen akkompagniert. Theoderich staunte über die samtige Qualität der gedrehten Hörner, die dezente Wärme, die er registrierte. Er hatte so etwas wie kaltes Chitin erwartet, eine martialische Härte. Längst benötigte man keine Sprache mehr, genügten Handreichungen, angedeutete Gesten, Schnurren vor Wohlbehagen, leises, anfeuerndes Stöhnen der Lust. Keine Frage, der Daimon, der ihn so versiert, kunstfertig verwöhnte, aus seinem Begehren keinen Hehl machte, war wunderschön, attraktiv. In seiner Exotik einfach sexy! Dennoch hätte Theoderich wohl nie...! Es spielte keine Rolle, ging nicht um Stolz, um Image, um äußeres Auftreten, sondern schlichtweg um Erfüllung von Verlangen, von liebevoller Aufmerksamkeit, von freundlicher Zärtlichkeit, von Anerkennung und Respekt, leidenschaftlich und ungezwungen. Ganz im Augenblick sein. Theoderich zögerte nicht einen Herzschlag, seinem (Ver-)Führer auf diesem Pfad zu folgen. ~ <3 ~ + Versonnen wartete Theoderich auf Iocasta, wippte leicht in den praktischen Sandalen zum Takt der Musik. Der unbekannte, schöne, zärtlich-leidenschaftliche Daimon hatte ihn mit einem Kuss auf den Handrücken verabschiedet, ohne große Worte, die chromgrünen Augen so bezaubernd strahlend, das man einfach glücklich und zufrieden sein musste. Verrückt. Eine Blitz-Affäre mit einem Unbekannten am Rosenmontag, Klischee pur. Theoderich dachte jedoch hauptsächlich daran, wie die warmen Arme sich um ihn gelegt hatten, wie er selbst sich angeschmiegt hatte, ihm ein wenig Wasser, ganz ohne Schniefen und Schnauben, aus den Augen gelaufen war, weil er vergessen hatte, wie es sich anfühlte, in die Arme genommen zu werden. Ohne Forderungen, ohne Ansprüche, ohne Erklärungen, ohne Rechtfertigungen, ohne Bitten. Einfach so. Sich für lange Atemzüge beschützt vorzukommen, eine Auszeit nehmen zu dürfen, sich anzuvertrauen, in Obhut zu geben. Zweifellos konnte es nur hier geschehen. Theoderich betrachtete das Panorama. Es war schön, in diesem Moment, wie ein Traum, ein Paradies. Die leichte Melancholie verflog, verwandelte sich in eine friedliche Ruhe. Natürlich würde er zurückkehren, auf seine Seite. Jetzt konnte er mit seiner unerwarteten Reise abschließen. Kein Hadern, kein Trauern. Als er Iocasta erspähte, ging er ihr gelassen entgegen. "Entschuldige bitte, Theo, ich bin aufgehalten worden, habe dich dann aus den Augen verloren!" Theoderich lächelte. "Ich war in sehr guten Händen, nicht nötig, sich zu entschuldigen." Die KOK-Offize studierte ihn aufmerksam, lupfte eine bewegliche Augenbraue. "Du wirkst glücklich, Theo." Er schmunzelte. "Ich habe meinen Frieden gemacht." ~ <3 ~ + Theoderich erwachte zeitig am nächsten Morgen. Er kleidete sich an, schlüpfte in seinen Anzug, dem die Socken und Sandalen, wie er selbst fand, durchaus standen. Sorgsam faltete er die geborgten Kleidungsstücke, überprüfte das Haus seines abwesenden Gastgebers: gelüftet, gesäubert, aufgeräumt, manierlich. Schließlich wollte man durchaus als angenehmer Gast in Erinnerung bleiben. Er zog leise die Tür hinter sich ins Schloss, betrachtete für einen Moment den Himmel, wo nacheinander die Sonnen gemächlich aufstiegen. Iocasta hatte sich am Abend verabschiedet, mit einer festen Umarmung. Theoderichs aufrichtigen Dank für ihre Unterstützung wischte sie beiläufig beiseite. Sich nicht beirren lassen, das möge er beherzigen, auch auf seiner Seite, denn er sei schon sehr in Ordnung! Eine Formulierung, die Theoderich auch jetzt noch ein Schmunzeln aufs Gesicht zauberte. Er schritt zügig aus. Außerhalb der Häuschen-Siedlung bekam er Gesellschaft, nicht gänzlich unerwartet. "Guten Morgen, Herr Inario." Grüßte Theoderich höflich. "Guten Morgen, Freund Mensch." Schnurrte die aufreizende Stimme samtig. Der Daimon mit dem doppelten Fuchsschwanz fiel neben ihm elastisch in den Schritt, trotz der Holzschuhe lautlos und geschmeidig. "Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht zu große Ungelegenheiten bereitet." Bemerkte Theoderich aufmerksam. Inario zwinkerte mit goldenem Funkeln. "Keineswegs eine unmögliche Mission." Antwortete er, summte die einprägsame Titelmelodie einer Agentenserie. "Dann werden Sie mich zurück in meine Welt befördern?" Der Daimon tänzelte elegant. "Nach dem Frühstück." Bestimmte er entschieden. Dagegen hegte Theoderich keine Einwände, denn auch von Ubaku wollte er sich angemessen verabschieden. Der versorgte sie trotz des Arbeitsaufkommens gewohnt großherzig. Auch er bestand darauf, Theoderich fest in die Arme zu schließen. "Pass gut auf dich auf, ja, Theo? Wenn du meinen blöden Cousin triffst, geh nicht zu streng mit ihm ins Gericht, bitte?" Das konnte Theoderich guten Gewissens versprechen. Ohne Carambeu hätte er niemals diese Welt erlebt, selbst wenn er sie jetzt komplett vergessen würde. "Muss ich etwas beachten?" Er lief langsam neben Inario her, der noch an einem Hörnchen kaute. "Einen Fuß vor den anderen setzen." Mümmelte der Daimon, verblüffend deutlich. Theoderich seufzte leise, blickte sich um. Er gehörte nicht hierher, aber diese kurze Zeit hatte ihn wirklich beeindruckt. "Dass ich mich nicht mehr erinnern werde, an all die Begegnungen, Personen und Gespräche, das ist sehr schade. Wird wirklich nichts bleiben?" Inario hakte sich bei ihm ein, steuerte auf ein freistehendes Portal zu. "Das Gefühl." Summte der Daimon sanft. "Das Gefühl wird dir bleiben." Dann dirigierte er Theoderich einfach in den Torbogen. ~ <3 ~ + Eigentlich sah die Kavalierstour vor, dass man am Dienstag, dem Kehraus, zurückfuhr und sich vielleicht noch ein Rollmopsessen gönnte, um dem Katzenjammer so richtig Schwung zu verleihen. Was Theoderich NICHT erwartete, war ein lautstarker Streit zwischen Marek und Claudine, vor dem Hotel, etwas abseits die bleiche, dezent magenkranke, Kopfschmerz geplagte Entourage sowie zwei bedröppelt wirkende Gestalten, auf die Inario zustrebte, leise lachend. Die atemberaubende Brünette kramte hastig in einer teuren Designerhandtasche, zupfte an ihrem Kostüm, Marke "Krankenschwester". "Ich arbeite bloß, siehst du? Lizenz und Aufgabenliste!" Theoderich blinzelte. Vor seinen Augen veränderte sich die Wahrnehmung: nun erkannte er eine schmale Daimonin mit burgunderfarbener Haut, flusig weißen Strähnen und nervösem Blick aus Katzenaugen. "Ah, Manieren." Schnurrte Inario amüsiert. "Olymfy, lizenzierte Sirene. Freund Mensch hier ist Theo." Die Sirene beäugte ihn unbehaglich. "Wirklich, ich gehe bloß meiner Arbeit nach! Alles nach den Regeln!" Theoderich wandte sich der zweiten Gestalt zu, die ein ihm sehr bekanntes Fleckerl-Kostüm trug, bestehend aus billigen Stofffetzen, die einander überlagerten. "Carambeu, vermute ich?" Streckte er die Rechte entgegen. "Ich danke für die Gastfreundschaft deines Heims." Linkisch reichte ihm der Daimon mit der Linken die eigene Reisetasche, schüttelte ihm dann verlegen die Hand. "Nichts für ungut, ja? Es diente der Forschung." Carambeu klang, wie Theoderich gelassen konstatierte, wie ein übereifriges Kleinkind, das man bei kleinen Missetaten ertappt hatte. "Nun, ich hoffe, du hast die Reise genossen." Theoderich lächelte. Inzwischen zupfte Olymfy an ihrem Kostüm, dann an Inarios breitem Ärmel. "Wirklich, ich habe nichts angestellt, ich meine, nichts außerhalb der Regeln!" Inario beugte sich zu ihr, raunte. "Dann solltest du einfach damit fortfahren, nicht wahr? Vorzugsweise woanders." Schneller als der Überschall huschte die Sirene davon, was die beiden keifenden Streithähne nicht mal registrierten. "Tsktsk." Schnalzte Inario unterdessen mit der Zunge. "Was für ein Schlamassel." Carambeu zog die dürren Schultern noch höher, als könne er sich zwischen ihnen verkriechen. "Es war Notwehr!" Behauptete er. "Sie hat einfach ununterbrochen geredet!" Nun fiel bei Theoderich der Groschen, der seine Aufmerksamkeit auch dem Streit gewidmet hatte. "Ach du Schande." Stellte er sehr gefasst fest. Offenkundig hatte Marek sich in die Sirene verguckt und die Gelegenheit genutzt, was Claudine veranlasste, sich dem aufmerksamen, verständnisvollen Herrn im Kostüm zuzuwenden. Beide konnten zweifelsohne die tatsächliche Erscheinungsform der beiden Daimonen nicht erkennen, aber auch über Inario verlor niemand ein Wort. Dafür schoss nun Marek auf Theoderich zu. "Solltest du nicht aufpassen?! Wieso trägst du jetzt den Anzug und hast nichts gesagt, als dieser Betrüger sich da rangewanzt hat?!" Theoderich ignorierte den Griff ans Revers. "Kann man uns denn wirklich miteinander verwechseln?" Konterte er ruhig. Einige aufgebrachte Herzschläge stierte Marek ihn an, stieß ihn dann von sich, marschierte davon. "Ja, hau ruhig ab! Den Termin morgen kannst du dir auch abschminken!" Brüllte Claudine ihm nach. Automatisch ging Carambeu hinter Inario in Deckung. "Hilfe!" Piepste er. "Sie wird wieder pausenlos reden!" Theoderich wühlte in seiner Reisetasche, produzierte die Fahrkarten. "Wir sollten uns auf den Weg zum Bahnhof machen." Verkündete er, ausreichend gedämpft, die Leidenden nicht allzu arg zu plagen. Er teilte sie aus, wies den Weg, sodass sich die morbide Truppe überlebender Kavaliere auf die schmerzenden Füße machte. Er wandte sich den beiden Daimonen zu. "Hier trennen sich wohl unsere Pfade." Bemerkte er leise. "Herr Inario, ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe." Inario legte den Kopf schief, schnurrte. "Wohlgezogen, der Freund Mensch! Hab ein kleines Andenken für dich." Damit reichte er Theoderich eine kleine, bunt verzierte Röhre. "Danke schön." Theoderich hob neugierig das Kaleidoskop vor das rechte Auge, kniff das linke zu: eine prächtige, farbenfrohe, sich vielfach spiegelnde Traumwelt. Als er es absetzte, stutzte Theoderich einen Moment. Herrje, er musste ja mit den anderen zum Bahnhof! Rasch nahm er die Verfolgung auf. ~ <3 ~ + Theoderich nahm die Verspätung des Zugs gelassen auf, auch den Ausfall der Klimaanlage, immerhin ging es nach Hause, wenn auch in eisiger Stimmung. Marek und Claudine sondierten bereits Fronten, saßen so weit voneinander entfernt, wie es der Zug zuließ. »Seltsam, ich kann mich gar nicht erinnern, was ich die letzten Tage gemacht habe.« Dachte Theoderich versonnen. Sein Gefühl beruhigte ihn jedoch, vermittelte ihm den befriedigenden Eindruck, es sei ihm gut ergangen. Er drehte das Kaleidoskop in den Händen, entschied, dass die Sandalen und Socken nicht auf die Fünfte Jahreszeit beschränkt bleiben würden. Wo hatte er sie erworben? Nun ja, vielleicht beim Kostümkauf, das ihm im Übrigen abhanden gekommen war. Kein großer Verlust, wenn man bedachte, dass sich offenbar ein Galan im gleichen Gewand mit Claudine intim angefreundet hatte. Den morgigen Termin im Standesamt würde man wohl streichen. Theoderich war zwar nicht geladen, aber er fragte sich müßig, ob man ihn als Konsequenz zukünftig schneiden würde. Die Reserviertheit beim Aussteigen konnte man durchaus noch den Spätfolgen der Kavalierstour zuschreiben. Langsam spazierte er zu seiner Heimstatt, packte aus, lüftete, sah sich um: eine Behelfsunterkunft, kein gemütliches Zuhause. Das Kaleidoskop an den Schlüsselbund geknüpft marschierte er wie gewohnt über den Wirtschaftsweg an den Waldrand. Üblicherweise besänftigte ihn die Ruhe hier, weil er allein war, keinen Vergleich scheuen musste, sich nicht rechtfertigen oder verstellen. Hier, wo kein anderer war, konnte er SEIN. Allerdings genügte ihm das heute nicht, stellte sich nicht die betäubte Leere ein, die es ihm ermöglicht hatte, immer weiterzumachen, sich selbst zu bekräftigen, dass nichts wirklich wichtig, von Bedeutung war. Der Kopf befreite sich nicht selbst von den rotierenden Gedanken, kehrte sich besenrein in der Kälte. Nein. Theoderich verspürte einen ungewohnten Willen zum Aufbegehren! Was auch immer sich in den vergangenen Tagen zugetragen hatte: es bekam ihm, darum wollte er nicht länger hinnehmen, ein Mangelbehafteter, ein Unruhestifter, ein Unangepasster zu sein! Das, was die anderen im Dreiklang von "notwendig, normal und natürlich" als sinnstiftend und erstrebenswert erachteten, kam ihn einfach nicht an! Er ballte die Fäuste, drehte sich schnell im Kreis, bis ihn schwindelte. Nein, er sah in seiner Zukunft keine Ehe, keine Kinder, kein selbst hochgezogenes Eigenheim, keine Pauschalreisen, kein teures Auto! Was er sehen wollte, waren kostbare Augenblicke der Erfüllung, des Friedens, des Glücks: DAS war sein Plan. Eingestanden nicht ambitioniert, ohne ehrgeizige Zielstrebigkeit, für die Gesellschaft unbedeutend, aber das Leben bestand nun mal aus Veränderungen, Überraschungen, Unwägbarkeiten. Warum also in die Ferne schweifen, sei es Raum oder Zeit, wenn das Gute so nahe liegen konnte? Theoderich spähte entschlossen durch das Kaleidoskop, drehte es, entdeckte immer neue, einzigartige Kombinationen. Dieses schlichte Vergnügen hob seine Laune immens. "Ich werde mich trauen." Versprach er sich selbst laut. "Ich werde nach meinem eigenen Rhythmus leben!" ~ <3 ~ + Ubaku war fest entschlossen, Carambeu so richtig auszuzanken. Im Moment konnte er jedoch nicht anders, als die Hände in die Hüften stützen und staunen. "Du hast sie gepimpert, damit sie mal eine Weile die Klappe hält?!" Carambeu druckste vor sich hin, murmelte erneut etwas von Notwehr. "Spinnst du eigentlich komplett?! Die beiden wollten heiraten! Theo wird mächtig Ärger bekommen!" Immerhin, Ubaku erinnerte sich durchaus genau, galt diese Reise ja als Vorbereitung für die große Vermählung. Bei Menschen eine recht bedeutende Angelegenheit! "Ehrlich, ich hatte angenommen, du wärst nicht ganz so unbeholfen." Ließ er seinen Cousin streng wissen. Zu seiner Verwunderung wagte Carambeu keinen Widerspruch, umklammerte bloß seine Aufzeichnungen. "Jetzt geh lieber heim, bevor deine Mutter von dieser Geschichte hört!" Erteilte Ubaku ihm gnädig Demission. Außerdem rappelte Arachnei mit den Plaketten, forderte Nachschub. Eilig verabsentierte sich der jüngere Daimon. Inario, der der einseitigen Auseinandersetzung unbeeindruckt gelauscht hatte, baumelte lässig mit den Beinen. Ubaku reichte ihm einen noch sehr warmen, weichen Wecken. "Vielen Dank." Lächelte er schief. "Ohne deine Hilfe hätte es bestimmt eine Katastrophe gegeben." Inario zwinkerte, mümmelte manierlich weiter, was den Bäcker veranlasste, rasch seine Betätigungen wieder aufzunehmen, um nicht in Verzug zu geraten. Jedes Mal jedoch, wenn er an Inario vorbei kam, drückte er ihm ein sanftes Küsschen auf eine freie Stelle, ausreichend oft, dass der Daimon mit dem doppelten Fuchsschwanz ihn ausbremste, die Beine um die Hüften schlang. "Übst für den Valentinstag, hm?" Schnurrte er samtig. Ubaku lehnte die Stirn an die des geliebten, ihn unablässig verzaubernden Gefährten. "Jede Sekunde, die wir zusammen sind, ist für mich Valentinstag." Bekannte er leise, schlang die Arme eng um die vertraute Gestalt. "Ich kann nicht vernünftig sein." Gestand er aufgewühlt. "Entschuldige!" Inario lachte leise an seinem Ohr. "Lässt sogar was anbrennen um meinetwillen." Neckte er Ubaku, der nach einer Bedenksekunde hochschreckte, ihrer Umarmung entschlüpfte, um mit wehender Schürze Brandopfer zu verhindern. Anschließend warf er Inario einen beschämt-verlegenen Blick zu. Der streckte eine feingliedrige Hand nach ihm aus. Ubaku nahm sie sofort, instinktiv. "Magst mich um dich haben, hm?" Gurrte der ältere Daimon aufreizend. Mehr als ein abgehacktes Nicken brachte Ubaku nicht zustande. Natürlich hatte er keine Ansprüche zu stellen, Erwartungen auf Inario zu projizieren, der ohnehin sein Geheimnis nicht lüften würde! Trotzdem. Ein bisschen mehr, wenn es irgendwie zu bewerkstelligen war. Unvermutet kraftvoll fand er sich in Willkommen heißende Arme befördert, lehnte die Stirn an einen gastfreundlichen Partner an. "Halt mir den Platz frei, an deiner Seite." Wisperte Inario ihm unerwartet rau zu, küsste ihn beinahe besinnungslos. ~ <3 ~ + Am Bahnsteig, die wartende Herde merklich ausgedünnt als Spätfolge der Tollen Tage, registrierte Theoderich durchaus Distanz. Getuschelt wurde erst später, als er seiner Arbeit nachging. Klar, Gerüchte reisten schneller als Buschfeuer, auch ohne multimediale Unterstützung, doch die Isolation kümmerte ihn wenig. Er entschied, die Mittagspause zu einem kurzen Spaziergang zu nutzen, denn der Himmel hatte aufgerissen. Trotz Sonnenschein war es knackig-kalt, als er sich auf dem großen Marktplatz ein Eckchen suchte, zu picknicken. Sein Blick fiel auf einen drahtigen Mann, der sich mit einer Schautafel abmühte. Offenkundig wollte er etwas anbringen, doch das Schutzglas klappte immer gnadenlos herunter. Theoderich erhob sich, seine Hilfe anzutragen. Er stützte einfach den Vitrinendeckel. "Ah, danke schön, echt nett!" Der Tuchschal wurde tiefer gezupft, offenbarte ein munteres Lächeln. Man trug ansonsten Fahrradhelm zu einer grünen Arbeitskleidung, deren Aufdruck Dienstleistungen um Garten und Park anbot. "Ist für die Ehrenamtsmesse, kommendes Wochenende." Erläuterte man eifrig, pinnte rasch bunte Papierfiguren mit Sprechblasen auf. "Alle sind eingeladen. 'Tu was, was?' Das haben wir uns als Motto ausgesucht." Theoderich studierte das wachsende Werk: Patenschaften für Streuobstwiesen, Hundeausführen beim Tierheim, Reparatur-Café, Transition-Town, Umweltschutz, Energiesparen, ein kunterbuntes Potpourri an Möglichkeiten, sich zu beteiligen. Nachdem der letzte Zettel geklebt und gesteckt war, wurde das Werk sicher hinter dem Schutzglas eingeschlossen. "Noch mal danke schön." Der Fremde strahlte. "Geht doch immer besser zusammen als allein." Theoderich nickte, räumte den Schlüsselbund wieder in seine angestammte Jackentasche, die der ausbeulte, was bei der Assistenz gestört hätte. Dabei lenkte er das Augenmerk des Unbekannten auf das Kaleidoskop. "Oh, ist es das, was ich denke?" "Ein Blick gefällig?" Theoderich löste es, reichte es weiter. Wie er selbst staunte der Unbekannte fasziniert durch die Linse. "Das ist ja wirklich wunderschön!" Komplimentierte er. "Ist das selbst gemacht?" "Nicht von mir." Theoderich lächelte. "Ein Andenken." "Wäre vielleicht auch was für die Bastelstube." Grübelte der drahtige Mann halblaut. "Oh, jetzt muss ich aber los! Noch mal herzlichen Dank für die Hilfe!" Theoderich trat ein wenig zurück, weil das Fahrrad elegant ausgerichtet werden musste. "Wenn Sie Lust haben, schauen Sie doch bei der Messe vorbei, ja? Fürs leibliche Wohl ist auch gesorgt!" Spontan nickte Theoderich. "Das mache ich gern. Bis dann also." "Ja, bis dann! Schönen Tag noch!" Einhändig, da winkend, radelte der gar nicht mehr so Fremde davon. Theoderich kehrte zu seinem Picknick zurück, ließ sich nieder, blinzelte in die Sonne. "Tu was?" Ja, warum eigentlich nicht?! Bei fast acht Milliarden Menschen auf der Welt sollten die Chancen doch nicht schlecht stehen, auf ein paar zu treffen, die das Leben auch so sahen wie er selbst. Als Abenteuerreise mit wechselnder Begleitung! ~ <3 ~ + ENDE ~ <3 ~ + Danke fürs Lesen! kimera