Titel: Gier Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Drama Erstellt: 31.12.2000 Disclaimer: alles Meins. ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ Gier Emile ließ den Blick durch die Mensa schweifen: wo war ein bekanntes Gesicht? Aber er erkannte niemanden, mit dem er sich gern beim Mittagessen unterhalten hätte, und so suchte er sich einen freien Tisch, auf dem zusammengestapelt noch die Reste der Vorgänger standen. Langsam glitt sein Tablett auf die Resopaloberfläche, ebenso ruhig setzte er sich hin. Was für eine Woche! Seit einer Woche studierte er hier an dieser relativ kleinen Privat-Universität. Sein Vater hatte jahrelang gespart, um ihm eine gute Ausbildung angedeihen zu lassen. »Tja, und jetzt werde ich Innenarchitekt, damit ich in die Firma meines Onkels einsteigen kann.« Versonnen rührte er in dem Eintopf herum, sinnierte über das Schicksal. »Ist wirklich alles, was wir tun, vorherbestimmt durch unsere Erfahrungen, unser Milieu in der Kindheit, die Gesellschaft? Oder kann ich selbst mein Schicksal ändern? Aber wie bricht man aus, wenn man doch dazu die selbst programmierten Eindrücke im Unterbewusstsein überlisten müsste? Verdammt!« Emile musste über sich selbst lächeln. »Ich bin wohl doch zu lange mit den Philosophen unterwegs gewesen!« ~+~ Tatsächlich hatte er einen neuen Kommilitonen am gestrigen Tag kennengelernt, der Philosophie und Psychologie studierte, und sie hatten in der Mittagspause über die letzte Vorlesung diskutiert. Aber Karl ("meine Mutter ist Historikerin und hat eine besondere Vorliebe für Karl den Großen") war jetzt nicht hier, um Emile wieder aus seiner Vorlesung zu berichten. Karl hatte sich am Vortag einfach neben Emile gesetzt, der sich darüber ärgerte, dass es ihm so schwerfiel, einfach jemanden anzusprechen und Kontakte zu knüpfen. "Wusstest du, dass wir alle Marionetten unseres Unterbewusstseins sind?" Emile hatte den Sprecher mit der sonoren Stimme vollkommen perplex angestarrt, dann hatte er hastige Blicke nach rechts und links geworfen, um festzustellen, ob tatsächlich er, Emile Gustave Meier, mit dieser Frage angesprochen worden war. Ungelenk ließ sich der Sprecher mit dem Ziegenbart und den Akne-Narben neben ihm nieder. Auf seinem Tablett türmten sich mehrere Becher einfachen, sauren Jogurts. "Hallo, ich bin Karl Grundlinger, genannt Karl der Große. Philosophie und Psychologie." Emile hüstelte verlegen, »was für ein Entree!« "Sehr erfreut. Ich bin Emile Gustave Meier, Architektur." "Also, was denkst du über diese Theorie? Ist doch gespenstisch, wenn man sich vorstellt, dass der eigene Wille nur eine Illusion ist, die uns davor bewahren soll zu erkennen, dass wir uns selbst auf bestimmte Verhaltensmuster konditionieren, ähnlich wie der Instinkt bei Tieren!" ~+~ Emile beendete den Kampf mit dem Eintopf, stand auf und stellte das Tablett in einen Servierwagen zurück. Er stieg wieder in den ersten Stock und holte seinen Rucksack aus dem Schließfach. An diesem Nachmittag hatte er keine Vorlesungen mehr, auch die Studiengemeinschaft, der er sich angeschlossen hatte, tagte nicht. Eine gute Gelegenheit, in der Bibliothek nachzuarbeiten und sich einen ersten Überblick über die vorhandenen Promotionsarbeiten zu verschaffen. ~+~ Emile starrte schon seit geschlagenen fünf Minuten auf dieselbe Seite, aber er kam einfach nicht weiter. Wie berechnete man denn nun genau die Statik eines Fensterbogens? Ein Ausschnitt aus der Kathedrale in Dijon war abgebildet, dann folgten, Reihe auf Reihe, die Berechnungen. »Ich hasse diesen Statik-Kram! Gerade, wenn man meint, man habe es endlich verstanden, rinnt es einem wieder wie Sand durch die Finger!« Er blickte auf und starrte leicht verzweifelt ins Leere. "Du arbeitest dich durch die Formeln?" Emile wandte den Kopf und sah einen jungen Mann krummbucklig neben seinem Tisch stehen. Er hatte mausbraune Haare, dunkle Augen hinter runden Brillengläsern, ein absolut unauffälliges Gesicht. Auch seine Bekleidung wirkte durchschnittlich, Bluejeans und ein dunkelblaues Sweatshirt. "Oh, entschuldige, ich wollte dich nicht von der Arbeit abhalten!" Das freundliche Gesicht wirkte plötzlich besorgt, dann drehte der junge Mann die Hüfte nach außen, das Gesicht schmerzverzerrt. Emile sprang erschrocken hoch. "Alles in Ordnung? Kann ich helfen?" Sein Gegenüber stemmte beide Hände fest auf den Tisch, die Fingerknöchel traten unter der Haut weiß hervor. Dann hob er vorsichtig wieder den Kopf zu Emile hoch. "Nicht nötig, aber danke schön!" Trotz der offensichtlichen Schmerzen schenkte er Emile ein warmes Lächeln. "Willst du dich vielleicht setzen?" Emile zerrte hastig einen weiteren Stuhl heran. Ächzend ließ sich der andere nieder, sackte dann förmlich in sich zusammen. Dann langte er mit der rechten Hand über den Tisch. "Ich möchte mich gerne vorstellen, Maurizio Patara. Mathematik und Informatik." Emile ergriff behutsam die ausgestreckte Hand und schüttelte sie so vorsichtig, als halte er ein rohes Ei. "Freut mich. Ich bin Emile Gustave Meier. Architektur." Emile nahm wieder Platz und schielte besorgt auf die bucklige Haltung von Maurizio. "Du bist neu, oder?" "Ja. Soll ich nicht doch einen Arzt rufen?" "Nein, nein, nicht nötig. Ich habe einen Bandscheibenschaden und müsste eigentlich mein Korsett tragen, aber gerade gestern sind ein paar Stäbe kaputtgegangen und der Ersatz ist so furchtbar, dass ich ihn heute nicht angezogen habe." Maurizio grinste bedauernd. "Ich hätte es wohl besser getan. Na ja, halb so schlimm." Dann zog er sich Emiles Lektüre vor die Nase und überflog den Text. "Möchtest du vielleicht, dass ich dir helfe?" Emile schenkte Maurizio ein warmes Lächeln: ein Mathematiker zur rechten Zeit! "Wenn es dir nichts ausmacht..." ~+~ Emile saß vor dem Computer und studierte sorgfältig das Schwarze Brett seiner Universität im Intranet. Eine Willkommensparty für die neuen Semester, ausgerichtet von den Studenten der Germanistik. »Vielleicht sollte ich auch hingehen, ein bisschen Ablenkung kann nicht schaden!« ~+~ Emile stand vor dem Spiegel in seinem Zimmer im Studentenwohnheim der Universität und beäugte kritisch seine Aufmachung. Er hatte noch nie etwas von einer "coolen" Aufmachung verstanden, daran hatte sich auch hier an der Universität nichts geändert. Wie immer trug er eine Stoffhose mit Bundfalten in gedeckter Farbe, darüber ein helles Hemd. Zum wiederholten Mal kämmte er nun mit den Fingern die schwarzen Haare aus dem Gesicht, aber sie ließen sich einfach nicht bändigen. »Vielleicht sollte ich sie abschneiden?« Aber jedes Mal, wenn ihm dieser Gedanke kam, verwarf er ihn gleich wieder. Eigentlich mochte er seine Haare genau so, wie sie waren: im Nacken gekürzt, ansonsten auf Ohrläppchenlänge. Damit sie ihm nicht ständig ins Gesicht fielen, kämmte er die Strähnen hinter die Ohren, aber die Wirbel auf dem Kopf verteilten sie ohnehin aus seinem Gesicht in alle Himmelsrichtungen. Er erinnerte sich grinsend daran, wie seine Mutter eine Kurzhaarfrisur durchsetzen wollte, aber sein Vater hatte sich energisch dagegen ausgesprochen. Auch wenn er sonst sehr viel Wert auf eine seriöse Erscheinung legte, so wollte er um nichts auf der Welt die Haare seines einzigen Sohnes durch eine 08/15-Frisur in Zügel legen lassen. "Das passt zu Emile, Liebste! Er ist kein Bubi, nicht mein Sohn! Er hat Charakter, und das soll man auch sehen!" Emile hatte genau verstanden, was sein Vater nicht ausgesprochen hatte, nämlich, dass sie beide diese schwarzen, ungebärdigen Haare hatten und dass sein Vater sehr stolz auf ihn war. Emile warf seinem Spiegelbild ein Lächeln zu und ging zur Tür. ~+~ "Emile!" Emile wandte sich herum, um den Rufer in der wabernden Menge der Umstehenden ausmachen zu können. Karl materialisierte sich vor ihm, eine Flasche Wasser in der Hand. Emile unterdrückte ein Grinsen. Karl verstand sich ebenso wenig auf eine "coole" Aufmachung. Der trug heute braune Cordhosen mit Schlag, ein rot-weiß kariertes Holzfällerhemd und darüber eine grüne Anglerweste. Die Taschen der Weste waren so ausgestopft, dass sie wie kleine Beulen in alle Richtungen abstanden. "Karl! Ich dachte schon, du versetzt mich!" "Aber nein, mein Freund! Ich hatte nur eine erregte Debatte mit einem dritten Semester über Kant! Ein sehr nettes Mädchen übrigens, aber ich fürchte, sie wäre besser bei den Germanisten aufgehoben. Denen liegen freie Interpretation und Wunschdenken mehr." "He, he, vorsichtig! Die Germanisten richten die Party aus!" Karl grinste hintergründig und fuhr sich über den Ziegenbart. "Sag ich doch. Wunschdenken!" Emile erwiderte das Lächeln: Karl provozierte eben immer gern. Ein lautes Hallo in ihrem Rücken lenkte sie ab. Eine Gruppe Neuankömmlinge wurde geräuschvoll begrüßt. Die Menge teilte sich vor ihnen, als würde Moses durch das rote Meer schreiten. Allen voran paradierte ein groß gewachsener junger Mann, der wie eine Figur aus den nordischen Heldensagen aussah. Dickes Blondhaar wallte offen auf breite Schultern hinab, strahlend blaue Augen glitten über die Menge, das Gesicht im klassischen Schnitt wirkte ruhig. In seinem Gefolge befanden sich weitere Männer und Frauen, aber die natürliche Autorität ihres Anführers stellte sie alle in den Schatten. Emile beugte sich zu Karl hinüber. "Wer ist das?" Karl hatte die Augen zusammengekniffen, die Mundwinkel abschätzig nach unten gezogen. "Das dort ist Seine Göttlichkeit, der Zeus der Universität. Zumindest nach Meinung der Kleingläubigen und Leichtzubeeindruckenden! Leon Alexander McIntyre. Und in seinem Gefolge namenlose Bewunderer und Speichellecker!" Emile hatte Mühe, den Blick von diesem unglaublichen jungen Mann abzuwenden, aber Karls höhnischer Tonfall verwirrte ihn. "Warum bist du so verbittert? Stimmt mit diesem Leon etwas nicht?" Karl wandte der Gruppe demonstrativ den Rücken zu. "Das spürt man doch. Ein geltungssüchtiger, egozentrischer Kotzbrocken, und nichts weiter! Jetzt sieht er vielleicht noch gut aus, aber ich vertraue auf die unparteiische Wirkung der Zeit, die wird schon enthüllen, was er für ein Kaliber ist!" Karl zog Emile am Ärmel in eine entferntere Ecke des Raumes. ~+~ Inzwischen drehten sich einige Paare auf der Tanzfläche um einander, andere hopsten allein dazwischen. Der stampfende Beat hatte längst eine Konversation unmöglich gemacht. Entweder zuckte man mehr oder weniger im Takt am Rande der Tanzfläche oder tanzte direkt. Im Dämmerlicht, das nur von einer vereinsamten Diskokugel sporadisch erhellt wurde, bewegten sich die Körper nach einem komplizierten Muster. Emile unterdrückte ein Gähnen. Die Musik hatte sein Gehirn betäubt, er fühlte sich seltsam erschöpft, obwohl er doch gar nicht tanzte. Karl hatte sich bei den ersten Minuten Musik verabschiedet. Er wolle sich lieber unterhalten, als sich mit der Droge Musik zu betäuben. Außerdem sei inzwischen erwiesen, dass man mit einer bestimmten Beat-Frequenz die Menschen noch besser auf Arbeit konditionieren könne, und er habe nicht die Absicht, Teil dieses Feldversuches zu werden. Emile hatte sich entschlossen zu bleiben. Sollte er nicht endlich die Initiative ergreifen und andere kennenlernen? Dann hatte er aber doch schweigend und hilflos in seiner Ecke verharrt. Alle anderen schienen miteinander bekannt zu sein, und er hatte sich nicht einfach aufdrängen wollen. In der Menge hatte er für einen Augenblick Maurizios Gesicht zu sehen geglaubt, aber dann war der Moment vorüber, und Emile war zu dem Schluss gelangt, dass er sich das bloß eingebildet hatte. Maurizio hatte ein Durchschnittsgesicht, es hätte auch jemand anderes sein können. Er stellte seine Bierflasche, einziger Halt in diesem Raum, auf einer Fensterbank ab und versuchte, sich durch die zuckenden Körper Richtung Ausgang zu schieben. Mittlerweile dröhnte sein Kopf von der Lautstärke und den wechselnden Lichtverhältnissen. Eine Hand legte sich warm und schwer auf seine Schulter. Emile drehte sich überrascht herum und erschrak. ~+~ Leon bewegte sich um sich selbst, tanzte scheinbar selbstvergessen, ignorierte die Brünette, die sich flirtend an ihn drückte. Mit halb gesenkten Augenlidern musterte er seine Umgebung. »Nanu?« Er drehte den Kopf leicht, wartete die nächste glitzernde Drehung der Scheinwerfer ab. »Wer ist das?« Dort stand tatsächlich ein junger Gott, der seiner Schönheit ebenbürtig war. Schwarze, wirre Haare, dunkle Augen in einem spitzen Gesicht, Haut so weiß wie frisch gefallener Schnee. »Und die Lippen rot wie Blut«, ergänzte er hungrig. Dabei war der Junge noch gertenschlank und so feingliedrig, perfekt! ~+~ Die Hand gehörte zu Leon, der inmitten der Tänzer aufragte. Er schenkte Emile ein einladendes Lächeln und öffnete den Mund. Emile verstand durch die Geräuschkulisse kein Wort und zuckte hilflos mit den Schultern, um zu signalisieren, dass er nichts gehört hatte. Da wurde er einfach an den blonden Riesen herangezogen, der sich zu seinem linken Ohr herunterbeugte. Blonde Haare kitzelten Emile im Gesicht, er roch ein würziges Aftershave. "Du willst doch nicht schon gehen? Ich habe dich noch gar nicht kennengelernt." Die Stimme drang wie ein glühendes Eisen in Emiles Ohr, strömte durch seinen Körper, löste eine Gänsehaut aus. Emile schnappte unwillkürlich nach Luft, während sein Körper in Flammen aufging. "Ich bin Leon. Wie heißt du?" Emile schüttelte mühsam die Starre ab, die ihn erfasst hatte, holte tief Luft und nannte seinen Namen in das Ohr des Riesen. Obwohl Leon sich zu ihm heruntergebeugt hatte, musste Emile auf die Zehenspitzen steigen. Leon überragte ihn um fast zwei Hauptlängen. "Tanz mit mir." Diese Aufforderung war keine Bitte, wie Emile beiläufig registrierte, sie war ein Befehl, zu dem es keine Ablehnung gab. Emile folgte vorsichtig den Bewegungen von Leon, wie ein Pantomime mit leichter Verzögerung. Dann griff Leon nach seinen Händen, umfasste sie warm. Emile spürte sein Herz rasen, eine neue Flammenwand verbrannte jeden einzelnen Nerv in seinem Körper. Er sah in die blauen Augen so weit über seinem Kopf, die ihn ruhig beobachteten. Er bemerkte kaum, wie Leon ihn eine Drehung ausführen ließ, so gebannt hielt er den Blick auf dieses schöne Gesicht gerichtet. ~+~ Emile erwachte mit starken Kopfschmerzen in seinem Bett. Er hatte keine Erinnerung mehr daran, wie er es bis hierher geschafft hatte. Alles, was sein Bewusstsein erfüllte, war dieses berauschende Gefühl, wenn Leon ihn berührt hatte, der Rhythmus der Musik, der das Tempo seines Blutkreislaufes bestimmt hatte. Emile kam schwankend in die Höhe, torkelte zum Waschbecken und spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. »Hör auf!! Reiß dich zusammen, Emile!!« Er warf sich einen Blick im Spiegel zu und erschrak. Die helle Gesichtshaut war fast durchscheinend, die Sommersprossen verblasst. Dunkle Ringe umgaben seine Augen, die Wangen waren eingefallen, die Haut spannte über dem spitzen Kinn. »Als ob ich mehrere Nächte durchgefeiert hätte!« Schaudernd wandte sich Emile ab. ~+~ "Hallo Emile!" Emile ließ fast das Tablett fallen, als er die Stimme hörte. Hypnotisiert wandte er sich um und ging wie ferngesteuert an Leons Tisch. Eilfertig rückten die anderen auseinander, damit er sich neben Leon setzen konnte. "Du bist ein bisschen blass. Ist alles mit dir in Ordnung?" Emile lächelte verlegen in die Runde, starrte dann auf das Tablett. "Ich bin nur ein bisschen müde", murmelte er. "Wie schade." Eine rothaarige Schönheit, die auf Leons anderer Seite saß, warf ihm ein falsches Lächeln zu, während sie besitzergreifend eine schmale Hand auf Leons Oberschenkel platzierte. Leon schien das nicht zu registrieren. Er drehte sich zu Emile und schob eine Hand unter dessen Kinn. "Ich glaube, du brauchst Ruhe. Iss etwas, dann bringe ich dich in dein Zimmer." Emile riss vor Überraschung die Augen auf, stocherte dann verlegen in seinem Essen herum. Er hatte ohnehin wenig Appetit und die Vorstellung, dass alle am Tisch ihm nun beim Kauen zusahen, schnürte ihm die Kehle zu. "Leute, geht schon mal vor, ich treffe euch später." Leons ruhige Stimme durchbrach souverän die angespannte Stille am Tisch. Wie auf Kommando standen tatsächlich alle auf und schlängelten sich Richtung Ausgang. Nur die Rothaarige drehte sich um, giftige Blicke auf Emile abfeuernd. "Schon besser so, hm?" Leon rückte noch näher an Emile heran, den es abwechselnd heiß und kalt überlief. Dann erzählte Leon leichthin von seinem Studium, Biochemie. Emile würgte ein paar Bissen herunter. Leons Stimme versetzte ihn in eine seltsame Trance. "Komm." Emile wurde an der Hand vom Stuhl hochgezogen, dann zuckelte er hinter Leon zum Ausgang des Saales. Sein Tablett blieb verlassen auf dem Tisch zurück. ~+~ Leon lächelte mit leisem Triumph, als er den Jungen an der Hand hinter sich herzog. »So schmal! Emile Gustave Meier!« Emile passte hervorragend zu der zarten Gestalt, zerbrechlich wie chinesisches Porzellan. Meier wirkte dagegen wie ein Schmutzfleck, bürgerlich, gewöhnlich. »Nun, fürchte dich nicht, Emile. Ich habe dich gefunden und du wirst nie mehr auf dieses Niveau sinken!« ~+~ Leon ging die ganze Zeit vor Emile her. Er schien genau zu wissen, wo Emiles Zimmer lag. Emile genoss das Gefühl, seine Hand in dieser großen, warmen zu spüren. Er hatte keinen Blick für seine Umgebung mehr. Das Kribbeln in seinem Körper machte ihn wahnsinnig. "Schlüssel." Gehorsam reichte Emile seinen Zimmerschlüssel an Leon weiter, der die Tür öffnete und Emile in das Zimmer zog. "Okay, ich glaube, du solltest dich einfach hinlegen." Emile stand betäubt mitten im Zimmer, sah in diese blauen Augen, die so unergründlich strahlten und fühlte sich gelähmt. "Ich helfe dir." Leon stellte keine Fragen, wartete nicht auf Antwort. Er knöpfte geschickt Emiles Hemd auf, dann die Hose, streifte alles von Emile ab, als habe er ein kleines Kind auszuziehen. Emile ließ sich hin- und her biegen, entkleiden. Schließlich fand er sich nur in Unterhosen in seinem eigenen Bett wieder, bis ans Kinn warm zugedeckt. Leon hockte neben ihm auf der Bettkante und streichelte ihm über die Haare. "Schlaf ein wenig. Ich sehe heute Abend noch mal nach dir." Gehorsam fiel Emile in tiefen Schlaf. ~+~ Leon betrachtete das Gesicht, die geschlossenen Augen, die Blässe. »So sinnlich!« Er biss sich auf die Lippen, »nur Geduld! Du gehörst mir bereits, mein schöner Knabe! Ich kann es noch ertragen, deine Schönheit nur zu betrachten.« Er nahm den Zimmerschlüssel und zog behutsam die Tür ins Schloss. ~+~ Emile erwachte erholt und setzte sich auf. Neben ihm saß Leon auf der Bettkante, die blauen Augen ruhten auf Emiles Gesicht. Sanft strich er Emile ein paar Strähnen aus dem Gesicht. "Wie geht es dir?" "Ich... ich bin okay. Wartest du schon lange?" Leon lächelte, enthüllte starke, gerade Zähne. "Das macht mir nichts aus. Ich sehe dich gern an." Emile wurde puterrot, keuchte verlegen. Leon liebkoste sanft Emiles Gesicht mit den Fingern. "Du gefällst mir. Ich will mit dir zusammen sein." Emile sackte überwältigt auf das Kissen zurück. Leons Finger folgten ihm, glitten über sein Gesicht, hinterließen Brandflecken auf seiner Haut. Verstand er das richtig? Wollte Leon...? »Aber ich bin doch nicht schwul! Oder? Mag ich ihn denn überhaupt?« Leon beugte sich herunter, strahlte die Wärme einer Sonne aus. Emile sah in seine Augen, versank in einem Meer von Blau. ~+~ Leon spürte die kalte Haut von Emile unter seinen Fingerspitzen erglühen. »Ja, ich kann dein Verlangen spüren, Liebster! Ich werde deine Lippen kosten wie köstlichsten Nektar! Meine Liebe wird dein Ambrosia sein!« ~+~ Der erste Kuss war so sanft und liebevoll, dass Emile sich in einem Traum glaubte. Er reagierte, suchte die Wärme, die von Leon ausging, streichelte die blonden Haare, glitt mit den Händen über die muskulösen Schultern. Leon küsste nun hungriger, erforschte mit der Zunge Emiles Mund. Emile schloss die Augen, genoss diese Zuwendung, lieferte sich Leon aus. ~+~ »So ist es richtig! Lass es geschehen, erfülle meinen Wunsch, beuge dich meinem Willen! Ich werde dich erheben über alle anderen. Ich werde dich ausfüllen bis an die Grenzen deines Bewusstseins. Ich werde deine verborgene Leidenschaft entzünden. Ich werde deine Seele trinken wie blutroten Wein aus güldenem Kelch. Du gehörst allein mir.« ~+~ Emile erlag der Versuchung, die Wärme, die von Leon ausging, in sich spüren zu wollen. Ohne Zögern gestattete er Leon, mit Händen, Zunge und Zähnen seinen Körper zu erkunden. Jeder seiner keuchenden Laute der Lust trieben den großen Mann über ihm zu weiteren Anstrengungen. ~+~ »Ja, sing für mich in der ältesten Sprache! Ich will dich hören, bis du alle Geräusche der Welt verdrängst. Mein schöner Knabe, ich werde mit deinem Körper die herrlichste Symphonie anstimmen! Ergib dich mir!« ~+~ Emile ließ sich treiben, schlang die Arme um den starken Nacken von Leon, der über ihm lag. Er versank im strahlenden Blau, begierig auf jede Reaktion. Wenn er Leon die entsprechenden Zeichen gab, würde der immer neue Lust in seinem Inneren entzünden! »Nimm mich! Oh, bitte Leon, nimm mich ganz!« ~+~ Leon hielt den Blick von Emile mit seinen Augen in hypnotischer Gefangenschaft, während er in den zarten Körper eindrang. Er erstickte den Schmerzensschrei mit einem glühenden Kuss, begann dann den sanften Rhythmus beider Körper, der sich zu einem rasenden Stakkato steigerte. ~+~ Emile kämpfte vergeblich gegen die schwarze Ohnmacht an. ~+~ Leon rollte sich sanft von den erschlafften Körper herunter. Zärtlich strich er schwarze, feuchte Strähnen aus dem bleichen Gesicht, küsste die Schläfen seines Liebhabers. »Mhmmm, du bist so süß, wie dein Gesicht verspricht! Und so wild wie deine zerrauften Haare!« Leon legte sich auf dem engen Bett auf den Rücken und hob mühelos den jungen Mann auf seine breite Brust. »Lausche meinem Herzschlag, mein Liebster! Er wird nun den Takt deines Universums angeben.« ~+~ Emile erwachte durch den summenden Schmerz, der seinen ganzen Körper erfüllte. Dann erinnerte er sich an den gestrigen Nachmittag und fuhr heftig hoch. Das löste ein Schwindelgefühl aus, aber auch mit schwarzen Punkten vor den Augen konnten seine tastenden Hände niemanden neben sich ausmachen. "Leon?" Seine Stimme war heiser, brüchig. Er war allein. »Was habe ich nur getan?! Und mein Körper schmerzt so!« Langsam kam er auf die Beine, schwankte mit weit ausgestreckten Armen zum Spiegel über dem Waschbecken. Er starrte sein Pendant auf der anderen Seite an und erschrak. Er war von vielen dunklen Flecken übersät, sein ganzer Körper wies keine einzige unversehrte Stelle mehr auf. An den Innenseiten seiner Oberschenkel klebte eingetrocknetes Blut. Emile keuchte entsetzt, presste eine Faust in seinen Mund, um den Schrei zu ersticken. »Großer Gott, wieso habe ich das gestern nicht gespürt??!!« ~+~ "Emile? Alles in Ordnung?" Emile gähnte unterdrückt und gab ein schwerfälliges Nicken ab. Maurizio sackte neben ihm auf einen Stuhl, im Gegensatz zu ihrem letzten Zusammentreffen hielt er sich nun aufrecht. "Zu wenig Schlaf?" Emile nickte wieder, die Formeln verschwammen bereits vor seinen Augen zu einem wirren Zeichensalat. "Ich helfe dir." ~+~ Zwei Tage hatte Emile vergeblich nach Leon Ausschau gehalten. Zuerst hatte die Scham ihn getrieben, dann die Angst, zuletzt aber eine wachsende Sehnsucht, die ihn noch mehr ängstigte. »Wie kann ich mich vor ihm fürchten und gleichzeitig seine Nähe herbeisehnen?!« Nun stocherte er in seinem Essen, versuchte, sich den Inhalt der letzten Lesung ins Gedächtnis zu rufen. ~+~ Leon gilt geschmeidig und mühelos durch die Reihen. Da saß sein Liebster, versunken in Tagträumen. »Ich war zwei Tagen enthaltsam, mein Schöner, aber jetzt ist es an der Zeit, unser gegenseitiges Begehren erneut zu erfüllen. Ich kann deinen Hunger riechen!« ~+~ Emile fuhr abrupt in die Höhe, aber Leons Hand drückte ihn mit sanfter Gewalt wieder auf den Stuhl. "Du hast keine Vorlesungen heute Nachmittag. Ich möchte dir daher Gesellschaft leisten." Emile schluckte krampfhaft, seine Kehle war wie ausgedörrt, sein Herz überschlug sich beinahe. "Okay." ~+~ Leon bewunderte das Muster, das er auf Emiles Körper hinterlassen hatte. »Wie ein Gepard gefleckt bist du nun, mein wilder Liebhaber! Du trägst mein Zeichen, bist mir verfallen. Und ich gebe meine Beute nie mehr frei.« ~+~ "Emile!" Emile wandte sich zu dem Rufer herum, langsam, weil seine rechte Schulter schmerzte. "Karl. Lange nicht mehr gesehen." "Das liegt nun wirklich an dir. Ich muss mit dir sprechen." Karls ernstes Gesicht rüttelte Emile aus der tagträumerischen Trance, die ihn seit einiger Zeit befiel. "Worum geht es denn?" "Um dich. Und diesen Möchtegern-Jupiter Leon! Halt dich von ihm fern, er tut dir nicht gut." "Wir sind Freunde, rede nicht so von ihm! Er ist eigentlich ganz nett." Karl fuhr sich erregt mit beiden Händen durch den wirren Haarschopf. "So ein Quatsch! Der Kerl hat keine Freunde! Der kreist nur um sich!" "Du kennst ihn doch gar nicht. Hör auf, über ihn den Stab zu brechen!" Karl packte Emile an den Oberarmen, schüttelte ihn heftig. "Wach auf, verdammt! Du vernachlässigst deine Studien, hängst mit diesem Despoten herum! Und sieh dich mal an! Du siehst aus wie ein wandelnder Geist!" Emile hielt den Schmerz in seiner Schulter nicht mehr aus und stöhnte laut. Karls Gesicht wurde blass, hastig gab er Emile frei. "Was ist los?! Bist du verletzt?" Emile winkte ab, aber seine Augen schwammen bereits in Tränen. "Lass sehen!" Eher er zurückweichen konnte, hatte Karl flink die Knöpfe seines Hemds geöffnet und es ihm über die schmalen Schultern gestreift. Einen kurzen Blick später bedeckte Karl seine Schultern wieder. Er starrte Emile durchdringend an, der den Kopf senkte und auf seine Schuhe sah. "So ist das also." Karl entfernte sich ein paar Schritte, die Hände in den Hosentaschen verborgen. Dann kehrte er wieder zu Emile zurück. "Du glaubst doch nicht etwa, dass er dich liebt? Wenn das nämlich der Fall sein sollte, dann irrst du dich gewaltig. Niemand, der so etwas tut, liebt." Emile wischte mit dem Handrücken Tränen aus seinem Gesicht. "Trenn dich von ihm. Werd ihn los, egal wie. Bevor er dich kaputtmacht." ~+~ Emile schleppte sich betäubt zu seinem Zimmer zurück. »Ich sollte etwas essen.« Er öffnete die Zimmertür, überrascht, dass sie nicht abgeschlossen war. Leon saß auf seinem Bett. "Willkommen, mein Liebster. Hast du Hunger?" ~+~ Emile kaute auf den Spaghetti herum, die Leon extra für ihn gemacht und in einer Warmhaltebox mitgebracht hatte. »Karl redet Unsinn! Wenn Leon so ein selbstbezogenes Ungeheuer ist, warum kümmert er sich dann so um mich? Vielleicht ist seine Liebe zu stark für mich, aber wenn er mich liebt, empfinde ich keinen Schmerz.« ~+~ Leon bestand darauf, dass Emile sich an ihn ankuschelte und seine Bücher studierte. Ein Viertelstunde später aber wurde Emile schlecht. Schweiß brach ihm aus, er hatte das Bedürfnis, sich zu erbrechen. Sein Herz raste, ihn schwindelte. Leon begleitete ihn auf die Toilette, hielt seinen zuckenden Leib, während Emile sich erbrach. ~+~ Zu erschöpft, um sich zu bewegen, ließ Emile sich ausziehen und in sein Bett legen. Er wollte eigentlich nur noch schlafen. ~+~ Leon fuhr mit der Zunge über das bleiche Gesicht. Er schmeckte Salz. »Ich heile dich, mein schöner Knabe, überlass dich mir!« Er packte Emiles Handgelenke, presste sie in die Matratze und lächelte auf den erschöpften Jungen hinab. »Ich werde dein schönes Antlitz bannen, keinen Augenblick abschweifen.« ~+~ Emile schluchzte leise, Tränen rannen über seine Wangen, aber er konnte seinen Blick nicht von diesen blauen, hypnotischen Augen abwenden. Er konnte keinen Widerstand leisten, als Leon gewaltsam seinen Körper einnahm. ~+~ Emile genoss die Einsamkeit um sich herum. Er hatte alle Geräusche, das Gelächter und Geplauder der anderen, aus seinem Bewusstsein ausgeblendet. »Endlich allein!« Seit fast zwei Wochen begleitete Leon ihn überall hin, wartete auf ihn, nach den Vorlesungen, in seinem Zimmer. Heute konnte er alleine in der Mensa sitzen. Zwar aß er nicht wirklich etwas, das ständige Erbrechen und der Schwindel ließen ihn jede Nahrungsaufnahme fürchten, aber er tarnte sich mit dem Tablett. "Emile?" Maurizio setzte sich ihm gegenüber, stocksteif wie immer. "Du warst schon lange nicht mehr in der Bibliothek." Emile blinzelte, seine Sicht trübte sich schon wieder. Er würde wohl eine Brille brauchen. "Ist dir nicht gut? Du siehst krank aus." Die Besorgnis in Maurizios Stimme ließ Emile lächeln. Das sagte jemand, der nur mit einem Korsett aufrecht sitzen konnte, ein schlaksiger Nerd?! "Ich habe keine Lust mehr gehabt." Emile sah Maurizio zusammenzucken. Dann lächelte Maurizio fahrig, kam langsam wieder in die Höhe. "Oh. Ich verstehe. Nun, dann mach es gut." Emile ärgerte sich über Maurizios traurigen Blick, der viel zu lange auf seinem Gesicht ruhte. Demonstrativ sah er auf die Tischplatte, bis Maurizios Schatten nicht mehr darauf fiel. ~+~ Emile saß auf seinem Bett und blätterte müßig durch ein Buch. Eigentlich hätte er schon längst mit der Arbeit beginnen müssen, aber er fühlte sich viel zu kraftlos, um das erste Wort auf die blanke Seite setzen zu können. Es klopfte, und er blickte überrascht zur Tür. Es dauerte einen Moment, bis Emile begriff, dass die Person nicht eintreten konnte, wenn er die Tür nicht aufschloss. Ungelenk kroch er vom Bett und öffnete die Tür. Der kurze Weg trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Er stieß die Tür ins Zimmer und lehnte sich an den Türrahmen. "Karl?" Karl wartete nicht auf eine Einladung einzutreten, sondern schob Emile in das Zimmer, schloss dann sorgfältig hinter ihnen ab. "Emile, du brauchst Hilfe!" ~+~ Emile saß mit angezogenen Beinen auf seinem Bett, starrte auf seine Hände. Karl beim Auf- und Abtigern in seinem Zimmer zu folgen strengte ihn zu sehr an. "Siehst du denn nicht, was er aus dir macht? Du bist völlig abgemagert, bleich wie der Tod! Du gehst nicht mehr zur Studiengruppe! Du lernst nicht mehr! Trenn dich von ihm, sonst..." "Warum? Das hat nichts mit Leon zu tun. Ich bin einfach ein bisschen fertig, das geht wieder vorbei." "Wie lange willst du dir diesen Quatsch noch einreden?! Seit du es mit ihm... seit ihr zusammen seid, verfällst du vor meinen Augen! Eure Beziehung ist krank! Du musst dich von ihm trennen! Er ist nicht gut für dich!" "Hör auf!! Hör endlich auf mit deinem psychologischen Gewäsch! Er kümmert sich um mich! Er ist immer für mich da! Du bist bloß neidisch!! Niemand wird je so für dich da sein!" Beide schwiegen, starrten sich in die geröteten Gesichter. "Ja, du hast recht. Niemand wird je auf diese Weise für mich da sein. Aber ich bin froh darüber. Ich stehe lieber allein meinem Schicksal gegenüber, als in Symbiose mit einem solchen Ungeheuer zu leben!" "Er ist kein Ungeheuer!" "Wie kann er dir dann solche Dinge antun? Beantworte mir das!" Instinktiv hatte Emile die Arme um sich geschlungen. "Könntest du jederzeit in ein Schwimmbad gehen?" Emile wurde weiß. "Nein, das könntest du nicht. Weil er dich so zugerichtet hat. Spürst du eigentlich keine Schmerzen?" Emile krallte die Fingernägel in seine Arme und biss sich auf die Lippen. "Hast du dich schon aufgegeben?" "Du... du verstehst das nicht. Wenn er bei mir ist, friere ich niemals. Er lindert meine Schmerzen, steht mir bei, wenn mir schlecht ist. Ich spüre nur seine Hitze. Alles andere ist mir egal." Emile brach ab, die Heiserkeit zerriss seine Stimme. Karl setzte sich neben ihn auf das Bett. "Du bist ihm hörig. Aber er hat nicht mehr Macht über deinen Körper als andere Menschen auch. Er kann deine Schmerzen nicht lindern." "Willst du sagen, ich lüge?!" "Aber nein! Bitte, Emile, versteh doch: er ist nichts Besonderes, kein Gott, kein Erlöser, kein Wundertäter. Im Gegenteil. Er macht dich kaputt. Wenn er dich lieben würde, würde er nicht so rücksichtslos mit dir umgehen." Emile presste die Hände auf die Ohren. "Geh! Ich will nichts mehr hören! Verschwinde!!" ~+~ Emile quälte sich mühsam durch seine Vorlesungen, schleppte sich erschöpft in die Mensa, aß das, was Leon ihm brachte, kroch dann in sein Zimmer zurück. Leon war immer um ihn, lieh für ihn Bücher aus, trieb ihn zum Selbststudium an. Und er half ihm, wenn er sich wieder erbrechen musste, blaue Lichter vor seinen Augen tanzten, unerklärlicher Schwindel ihn erfasste. Wenn Leon dann mit ihm zufrieden war, zog er ihn aus, legte ihn in sein Bett und schlief mit ihm. Emile war längst nicht mehr in der Lage zu bestimmen, ob er diesen Geschlechtsverkehr wollte oder nicht. Er brachte nicht mehr die Kraft auf, über sich selbst zu reflektieren, er ließ sich treiben. Die Schmerzen, die Leon ihm zufügte, hatten ihre Unerträglichkeit verloren, waren fester Bestandteil seines Alltags geworden. ~+~ Emile erwachte auf seinem Bett. Er musste über seiner Lektüre eingenickt sein. Auf dem Tisch stand eine Warmhaltebox. Leon hatte wieder etwas zu Essen mitgebracht. Lustlos öffnete Emile die Box, schnupperte angewidert den würzigen Geruch. Jede Speise, die er zu sich nahm, schien ihm Übelkeit zu bereiten. »Aber Leon wird beleidigt sein, wenn ich nicht etwas probiere.« Er nahm das sorgfältig in eine Papierserviette eingewickelte Besteck und stocherte in dem Auflauf herum. Nach ein paar Bissen sackte er erledigt wieder auf das Bett zurück, schloss die Augen. ~+~ Das überlaute Tropfen des Wasserhahns nagte an seinen Nerven. Emile schlug die Augen auf und kam schwankend auf die Füße. Er unterdrückte einen Entsetzensschrei. Das Zimmer war in Blau getaucht, die Schatten an den Wänden schienen nach ihm zu greifen. Er riss die Hände abwehrend vor das Gesicht, aber sie zogen den Kreis immer enger um ihn, tanzende Teufel mit grauenvollen Fratzen. Emile kroch auf Knien zum Tisch, tastete mit tränenden Augen nach dem Besteck. Sein Herz raste, stolperte dann, legt erneut an Tempo zu. Emile umklammerte das Messer, wehrte die Schatten ab. ~+~ Leon schloss gutgelaunt und selbstzufrieden Emiles Zimmertür auf. Nur das fahle Mondlicht durch das Fenster brachte Licht in den Raum. Mit einem Fluch schlug er die Tür hinter sich zu, ließ den Rucksack auf den Boden fallen und kniete sich neben Emile nieder. Behutsam hob er Emiles Kopf auf seinen Schoß. Der schmale Körper zuckte, aus dem Mund quoll schaumiger Speichel. Fest in der kleinen Faust ragte das Messer auf, Blut klebte an der Schneide. Blut lief auch über die Unterarme, durchtränkte das T-Shirt und benetzte die Stoffhose. ~+~ Emile kam langsam zu sich. Er fühlte sich zu Tode erschöpft. Hatten die Dämonen gewonnen? Zögernd schlug er die Augen auf. Die Dunkelheit war verschwunden, fahler Sonnenschein durchtränkte das Zimmer mit winterlichem Licht. Emile wandte den Kopf: er war allein. Er schloss die Augen, versuchte, Schmerzen zu lokalisieren. Aber sein Körper verweigerte die Zusammenarbeit. Also setzte er sich auf, schlug die Decke zurück. Schluchzend kauerte er sich dann wieder zusammen, zog die Knie unter das Kinn und presste die Arme fest an den Körper. Es war kein Traum gewesen!! ~+~ Leise drehte sich der Türknauf, dann schob sich ein schmächtiger Schatten in das Zimmer. Vorsichtig näherte er sich der schlafenden Gestalt in dem zerwühlten Bett. Der Schatten hob die Decke an und studierte den nackten Körper darunter sorgfältig. Dann deckte er den Schlafenden wieder behutsam zu. Eilig verließ er das Zimmer. ~+~ "Emile, lange nicht gesehen!" Maurizio tauchte hinter Emile auf, ignorierte den abweisenden Blick. "Ich habe gehört, dass du krank warst und nicht in die Bibliothek gehen konntest. Ich dachte mir, vielleicht könntest du einen Intranet-Anschluss in deinem Zimmer gebrauchen?! Ich könnte alles für dich einrichten." "Ich weiß nicht..." "Du würdest mir damit wirklich helfen. Ich kann eine praktische Übung meiner Fähigkeiten gut gebrauchen. Ich besorge auch das notwendige Equipement!" "Also gut." ~+~ Emile studierte die Anweisungen, die Maurizio ihm hinterlassen hatte. So ein Anschluss im eigenen Zimmer war wirklich praktisch! Und so geschickt im Zimmer integriert, dass es kaum störte. Die Leitung lief über eine Steckdose, als Monitor diente der kleine Fernseher, der in seinem Regal residierte. Die kleine Schachtel mit dem eigentlichen Rechner verschwand hinter einem Stapel Bücher. Emile kannte sich nicht mit Technik aus, aber Maurizio hatte alles so eingerichtet, dass er keine Probleme hatte. ~+~ Emile saß gerade vor dem Computer, als Leon sein Zimmer betrat. Sein hungriger Blick blieb an Emiles entblößtem Nacken hängen. Er stellte sich hinter ihn, ließ die Hände langsam an Emiles Brust heruntergleiten, beugte sich vor, grub dann die Zähne in die weiche Haut. Emile stöhnte auf, umklammerte die kräftigen Unterarme. "Bitte, Leon. Nicht." Seine Stimme brach. "Aber Liebster, du willst mich doch. Vertrau mir, ich weiß, was du brauchst." Emile wehrte sich zaghaft gegen die erstickende Umarmung, drehte den Kopf weg vor der hungrigen Zunge, die sein Gesicht erkundete. Leon lachte über seinen Widerstand, sein ganzer Körper vibrierte. "Wie du möchtest." Emile wurde auf das Bett geschleudert, dann spürte er Leons schweren Leib auf seinem Körper. Erfahrene Hände rissen ihm die Hose vom Leib, zerrissen die Unterhose. Emile keuchte, vergrub das Gesicht in der Matratze, ballte die Hände zu Fäusten. Leons Griff um seine Handgelenke pressten ihn zu Boden, erstickten den Widerstand. "Du gehörst mir. Ich sorge für dich." Leon lachte wieder, unbeeindruckt, vergnügt. Emile biss in die Matratze, als Leon brutal in ihn eindrang. ~+~ Leon wrang den Waschlappen aus und legte ihn dann auf den Heizkörper. "Ich kaufe dir eine neue Unterhose." Emile kauerte auf seinem Bett. Leon hatte alle Spuren abgewaschen, ihm dann wie einer Puppe frische Sachen angezogen. Es klopfte an der Tür. Leon warf Emile einen irritierten Blick zu. Dann ging er an die Tür und öffnete. Maurizio drängte sich an ihm vorbei ins Zimmer. ~+~ Leon setzte sich neben Emile auf das Bett, legte besitzergreifend einen Arm um dessen schmale Gestalt. "Ich weiß nicht, wer du bist, aber du störst." Maurizio stellte sich direkt vor ihn, bleich, aber sehr aufrecht. "Ich weiß, was du getan hast." Leon zog eine Augenbraue hoch, grinste spöttisch. "Ach ja? Und was wäre das wohl?" Maurizio streckte die Hand zu Emile aus. "Komm her zu mir, bitte." Emile starrte blind auf die offene Hand. Leon lachte. "Was denkst du dir bloß? Er wird nirgends mit dir hingehen. Er gehört zu mir. Du hast keine Chance, du Niemand. Emile ist viel zu schön für dich!" "Er ist auch viel zu gut für dich! Aber das trifft auf jeden anderen Menschen auch zu." Leons Blick verdunkelte sich, seine Stimme wurde gefährlich leise. "Was willst du damit sagen?!" "Ich habe es bereits gesagt: ich weiß, was du getan hast." Leon erhob sich, ragte wie ein Gebirge vor Maurizio auf. Der ignorierte ihn, packte Emile an einer Hand, zog ihn auf die Füße und schob ihn hinter sich. "Wir werden jetzt gehen." "Du gehst, er bleibt." Maurizio wich vor Leons Griff zurück. "Tu das nicht! Ich warne dich!" "Lächerlich!! Du bist bloß ein hässlicher Gnom in einem unförmigen Pullover! Mach, dass du wegkommst, bevor ich dich in Stücke reiße!" "Ich werde nicht ohne Emile gehen, du Ungeheuer!" Leon grinste kalt, entblößte die starken Zähne. "Na, dann verrat mir doch mal, warum ich dich mit Emile gehen lassen sollte?!" Maurizio richtete sich entschlossen auf. "Ich weiß, dass du Emile vergiftet hast. Mit Fingerhut. Damit du noch leichter mit ihm >spielen< konntest! Und du tust ihm Gewalt an!" Das Grinsen wich aus Leons Gesicht. "Was für ein Unsinn!" "Oh nein. Ich habe Zeugen dafür, dass du Fingerhut im Chemie-Labor verarbeitet hast. Und ich habe die Symptome für eine Digitalis-Vergiftung nachgelesen! Du hast Emile immer das Essen gebracht!" "Du redest irre. Selbst wenn ich Fingerhut verarbeitet haben sollte, was ich nicht zugebe, dann ist das noch längst kein Beweis. Ich bin Biochemiker, Erforschung von Heilpflanzen gehört zum Studium." "Dann können wir bei Emile ja ruhig einen Bluttest machen." "Du bist ja völlig übergeschnappt! Emile, komm her, der Typ ist ja irre!" Maurizio hielt Emile hinter sich, versperrte ihm den Weg, ohne Leon aus den Augen zu lassen. Leon ballte die Fäuste. "Ich werde dir jetzt eine Tracht Prügel verabreichen, die du niemals vergisst." "Nein, bitte, schlagt euch nicht! Ich werde auch bei dir bleiben! Bitte, Leon! Ich kenne dich doch!" "Aber dann weißt du auch, dass ich recht habe! Er vergewaltigt dich! Er hat es oft getan und er wird es wieder tun, wenn du dich nicht wehrst! Hör mir zu, Emile! Die Anzeichen für eine Digitalis-Vergiftung, die durch Beigabe von Fingerhut ausgelöst wird, sind Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, die Blau-Sicht und Halluzinationen!! Bitte, glaub mir!!" Maurizio hielt Emile am Arm fest. Emile schnappte nach Luft. Er starrte Leon an. "Er...er hat recht, oder? Oder?" Seine Augen schwammen in Tränen, seine Stimme war nur ein flüsternder Hauch im Zimmer, die Temperatur fiel auf arktische Grade. "Warum? Warum, Leon?" "Hör nicht auf dieses Nichts! Er kann gar nicht verstehen, was Menschen wie uns verbindet! Wir sind alles, was er nicht ist. Schön, intelligent, voller Leidenschaft und Poesie! Glaub ihm kein Wort!" Emile senkte schluchzend den Kopf. "Maurizio, hilf mir! Ich schaff es nicht allein!" "Was??!!" Maurizio schob Emile wieder hinter sich in Richtung Tür. "Lauf! Ich werde ihn aufhalten! Wir haben alle Beweise auf Band!" "Was redest du verdammter Bastard da?" Maurizio gestattete sich ein trauriges Lächeln. "Ich habe eine Web-Kamera installiert. Wir haben Proben des Essens, das du Emile mitgebracht hast. Wir haben die letzte Vergewaltigung auf Band. Du bist erledigt." Leon schnaubte, dann senkte er den Kopf und hob die Fäuste. "Dafür wird dich ein kleiner Unfall erwischen. Und dann hol ich mir deine so genannten Aufnahmen!" Emile schrie entsetzt auf, als Leon einen gewaltigen Faustschlag mitten in den Bauch von Maurizio platzierte. ~+~ Emile ging langsam neben Maurizio durch den kleinen Park beim Universitätsgebäude. Es lag Schnee, Flocken tanzten um sie herum, die Sonne hüllte sie in ein fahlgelbes Licht. Ihr Atem dampfte in der kalten Luft, verschmolz miteinander. "Wie hast du das bloß geschafft?" Maurizio lächelte und zwinkerte Emile schüchtern zu. "Ach, weißt du, ich bin ein großer Western-Fan. Erinnerst du dich an Clint Eastwoods Trick mit der Ofentür? Na ja, ich dachte, mein Korsett müsste das Gewicht einer Stahlplatte gut tragen können. Und unter dem Pullover..." Emile lächelte Maurizio dankbar und voller Bewunderung an. "Ich hätte mich das nie getraut. Du bist so mutig!" Maurizio errötete leicht, rieb verlegen die bloßen Hände aneinander. "Ich hatte schon Angst. Was, wenn er mir ins Gesicht schlagen würde? Aber manchmal muss man etwas riskieren. Und ich konnte dich unmöglich diesem Ungeheuer überlassen." Emile wandte den Kopf ab und starrte auf den Boden. "Ich... ich habe dich gesehen. Heimlich. Als du dich mit dem Messer verletzt hattest." Emile schwieg. "Als Karl mir erzählte, was er vermutete, konnte ich es einfach nicht glauben. Aber als ich dann Leon beobachtete, musste ich erkennen, dass er sich nicht getäuscht hatte. Ich kann nicht begreifen, wie er dir so was antun konnte." Emile zitterte, schlang die Arme fest um sich. "Also habe ich mit Karl den Plan mit der Web-Kamera ausgeheckt. Er hat alles aufgezeichnet." Maurizio warf einen schüchternen Seitenblick auf Emile. "Wie... wie hast du das bloß ausgehalten? Ich versteh nicht, wie er jemandem so Wundervollen wie dir das antun konnte." Emile warf Maurizio einen überraschten Blick zu, erkannte die Röte auf dessen Wangen. Er blieb stehen. "Ich glaube, ich wollte nicht einsam sein. Ich wollte, dass jemand sich um mich kümmert. Ich habe einfach Angst, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich studiere Architektur, obwohl ich viel lieber in der Werkstatt meines Vaters arbeiten würde. Ich lasse mich immer von anderen lenken!" Wütend stampfte Emile in den Schnee. Maurizio überwand die Distanz zwischen ihnen. "Du bist nicht einsam. Du hast doch Karl. Und mich." Emile lächelte zittrig. "Ohne euch wäre ich vielleicht schon tot." Dankbar hob er seine Hände aus den Manteltaschen und umschloss Maurizios kalte Finger, drückte sie fest. "Danke. Vielen Dank!" Maurizio lief dunkelrot an, keuchte hilflos. Emile studierte sein Gesicht, als sehe er es nun zum ersten Mal. Nur auf den ersten Blick wirkte es durchschnittlich, aber wenn man sich die Zeit nahm, genau hinzusehen, erkannte man in den Augen goldene Sprenkel, auf den schmalen Lippen lag immer ein leichtes Lächeln. Emile beugte sich zu Maurizio hin und küsste ihn sanft. Dann umarmte er ihn, vergrub den Kopf in der warmen Halsbeuge. Maurizio erwiderte behutsam die Umarmung und ließ den Tränen der Freude Lauf. ~+~ ENDE ~+~ Vielen Dank fürs Lesen. kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Mit eine der ersten Geschichten, die ich auf Yaoiger veröffentlicht habe und die sich erstaunlicher Popularität erfreute. Der schmale Grat zwischen hingebungsvoller Zuneigung und besitzergreifender Dominanz ist das Hauptsujet, wobei es immer diffiziler werden sollte, eindeutige Verantwortlichkeiten an dieser Entwicklung zuzuschreiben. Dass Maurizio den Helden mit einem Clint Eastwood-Auftritt erobert, ist meine persönliche Hommage an die Liebhaber von Spaghetti-Western ^_~