Titel: Herz am Spieß Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original Jutts Halloween-Challenge 2008, Teil 1 FSK: ab 16 Kategorie: Parallelwelt Ereignis: Halloween 2008 Erstellt: 05.10.2008 Stichworte der Herausforderung: Strohblumen, barfuß, Tomaten, Kerle, Streit, Bordsteinkanten, keine Brusthaare, Herz, Tokio Hotel. Fröhliches Halloween! ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ Herz am Spieß Kapitel 1 - Ein grauenvoller Tod Lysander ließ seine Brille achtlos fallen, massierte sich mit beiden Händen die Schläfen, begleitet von einem gequälten Stöhnen. Weder die eine, noch die andere Aktion verbesserte seine Situation wesentlich. Er blinzelte einen klebrigen Tränenfilm weg. "So hat das keinen Sinn." Stellte er trostlos mit herabsinkenden Schultern fest. Vor ihm stapelten sich Dokumente aller Art, die verarbeitet werden wollten, doch er war kaum in der Lage, die Buchstaben zu identifizieren. Sie verschwammen zu einem unleserlichen Brei, begleitet von dem mahnenden Dröhnen in seinem Schädel, das jeden klaren Gedanken zerstieben ließ. Eine neue Schmerzwelle krampfte seinen Magen zusammen. Lysander winselte gepeinigt, taumelte von seinem Hocker hoch zur improvisierten Küchenzeile, wo er eilig ein Glas Leitungswasser trank. Er stützte sich schwer an der verbeulten Spüle ab, schloss die Augen für einen langen Moment. Wenn er wirklich lernen wollte, und das musste er unbedingt!, führte kein Weg daran vorbei, dass er sich aufraffte und ausging. Seufzend drückte er den Rücken durch, richtete sich auf zu seiner ganzen Größe von bescheidenen 1,72m in Socken, wandte sich einem Plastikkasten zu, der auf einem wackeligen Turm von Kisten thronte. »Ich nehme drei.« Entschied er, schluckte ohne Flüssigkeit die hochdosierten Kopfschmerztabletten herunter. Für eine Weile würde er einen klaren Kopf haben. Hoffentlich. Lysander blickte sich in der Trostlosigkeit seines Einzimmerappartements um. Ihm stach jedoch nicht der uneingeschränkt gruselige Eindruck ins Auge, nein, er suchte nach passender Bekleidung. Wenn man ausgehen wollte, ER wollte ja nicht, er musste!, konnte man mit ausgewaschenen Jeans, einem alten T-Shirt und einer ausgeleierten Strickjacke ganz sicher keinen Staat machen. Er entschied sich für ein rostrotes Hemd mit Rüschenbesatz, schlank geschnittene, braune Cordhosen und Slipper aus einem Kunststofflederimitat mit Krokodilmuster. Vor dem Handspiegel, der aus einem fragilen Verbund großer Scherben bestand, wühlte er sich seine kastanienbraunen, weichen Locken in den Versuch eines Seitenscheitels, um etwas sehen zu können. Die großen, unfamiliär dunkelbraun glänzenden Augen kündeten von einem Fieber, das gar nichts mit einer erhöhten Körpertemperatur gemein hatte. Lysander schauderte bei seinem eigenen Anblick, leckte sich über die perfekten Zähne und entschied, dass er besser vor seinem Aufbruch noch mal nach der Zahnpasta fahnden sollte. ~?w?~ Ein eisiger Wind pfiff über die ehemalige Automeile, die sich im Laufe der Jahre zur angesagten "Partylocation" gemausert hatte. Lysander wickelte sich enger in seinen alten Parka, wünschte vergeblich, sich den unförmigen Wollschal umgehängt zu haben. Er fror erbärmlich, daran änderte auch die Heizung in der Straßenbahn nichts. Am einem Freitagabend war noch eine Menge los: spätes Pendeln, fröhliches Nachtschwärmen, Happyhour-Tourismus. Die nächtlich tätigen Beschäftigten mischten sich dazu. Wer etwas auf sich hielt, nicht gern zum Eisblock mutierte oder aus der Provinz kam, fuhr mit dem Auto vor. Lysander war auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Er hängte sich an eine munter schwatzende Gruppe von aufgekratzten Studierenden. Eigentlich wäre er gern in einen der Ü30-Clubs gegangen, um sich nach einer passenden Bekanntschaft umzusehen, doch dort wurden tatsächlich die Ausweise kontrolliert. Mit seinen knapp 22 Jahren hatte er keine Chance. Also musste er Zeit totschlagen, sich in einen Club flüchten, wo er hoffentlich gleich Erfolg hatte oder später die Ü30-Gäste auf einen Abstecher vorbeisahen. Die Türsteher waren streng, doch Lysander hatte Glück. Er war zwar nicht so nobel gekleidet wie andere Wartende, trug kein Designer-Label zur Schau, aber er hatte die passende Mischung aus Bohemian-Stil und Vintage gewählt, die gerade aktuell war. Er war allein, zeigte keinerlei Anzeichen, sich zu betrinken/bekiffen und Streit anzuzetteln. Der Eintritt war happig. Lysander zahlte und seufzte. Das würde sein Budget ganz schön strapazieren, aber er hatte keine Wahl. Während er sich an die Beleuchtung und die plötzliche Hitze gewöhnte, sah er sich hoffnungsvoll um. Der große Club, über drei Etagen reichend, war gut besucht. Unterschiedliche Musikstile wurden gepflegt, aber unaufdringlich, alles war von hohem Niveau, zielte auf ein bestimmtes Klientel ab. Lysanders Magen knurrte, vernehmlich. »SchSch!« Ermahnte ihn sein Besitzer hastig, wandte sich zu einer der zahlreichen Theken. Im Eintritt inbegriffen war schließlich ein Gratis-Getränk, das wollte er lieber gleich einkassieren. Er adressierte die adrette Dame, die wie ein Krake hinter dem Tresen wirbelte, mit einem freundlichen Gruß zum Abend, bat unter Hinweis auf das Billett, das seinen Zutritt berechtigt hatte, um eine Bloody Mary. Sie lächelte ihm mit professioneller Höflichkeit zu, strich auf seinem Billett das Freigetränk aus, kombinierte vor seinen fiebrigen Augen, die auch ohne Brille perfekt sahen, die Zutaten für seinen Cocktail. Lysander bedankte sich freundlich, nahm das hohe Glas an sich und beruhigte seinen Magen mit einem ersten Schluck. »Uuuooohhhhhh!« Stöhnten seine Geschmacksnerven begeistert. »Wirklich, diese Bloody Mary schmeckt tatsächlich nach sonnigen Tomaten!« Der Cocktail füllte auch seinen Mund, blieb nicht bloß eine dünne Ahnung von künstlichen Aromen, die sich verflüchtigten. Der Club hatte eben Klasse, das konnte niemand bestreiten. Ziellos wanderte Lysander durch die Etagen, lehnte sich an eine Säule, studierte das elegante, muntere Treiben um sich herum. Er summte unbewusst "Wild Thing" in der Version von Toneloc und Peaches mit, bewegte sich automatisch zum dominierenden Rhythmus. An weiblichen Gästen herrschte kein Mangel, aber er hoffte auf eine bestimmte Zielgruppe: ohne männliches Pendant, aus dem aufgeblasen-albernen Paris Hilton-Stadium herausgewachsen, auf der Suche nach netter Unterhaltung, ohne verbindlichen Zugzwang. Lysander wollte keinen Ärger mit eifersüchtigen Freunden oder aufgeputschten Nachwuchs-Machos. Er konnte auch auf Konfrontationen mit "kernigen Kerlen" verzichten, die aus der Provinz kamen, um sich mal in einem anderen Rahmen "die Hörner abzustoßen". Wozu merkwürdigerweise eine zünftige Prügelei zu gehören schien. Der Alkohol konferierte inzwischen mit den Kopfschmerztabletten und seinem leeren Magen. Lysander fühlte einen leichten Schwindel aufsteigen, beschloss, eine der zahlreichen Sitzgelegenheiten zu nutzen. »Bloß nicht hektisch werden!« Ermahnte er sich, atmete tief durch. Auch wenn er unter Druck stand, durfte er das niemals zu erkennen geben, sonst wäre es gleich vergeblich. "Das ist ja mal ein schickes Hemd!" Eine hübsche, junge Frau, die neben ihm Platz genommen hatte, zupfte begeistert an seinem Ärmel. "Ist das echte Seide?" Lächelnd folgte Lysander ihrem Blick, bedauerte, dass er das leider nicht genau sagen könne. Das Schild im Hemdkragen sei längst verblasst und unleserlich. "Wirklich, die Farbe ist wunderschön." Seine Sitznachbarin trug Korkenzieherlocken zu einer späten Sonnenbräune und einem weißen Cocktailkleid. In ihrer Begleitung waren drei weitere junge Frauen und zwei Männer. Sie wirkten auf Lysander gepflegt und freundlich, eine fröhliche Gruppe, die gemeinsam etwas unternahm. Er stellte sich vor, erfuhr die Namen der kleinen Gruppe, war rasch Bestandteil ihrer Konversation. Man sprach über die aktuellen Kinofilme, eine spektakuläre Ausstellung und die traurigen Resultate der heimischen Fußballmannschaft. Von seiner Bekannten erfuhr Lysander einiges über ihr Interesse an schönen Stoffen und den Schwierigkeiten, sie richtig zu erhalten. Er hörte gern zu, denn das verringerte die Gefahr, sich durch eine unbedachte Bemerkung ins Abseits zu stellen. »Vielleicht gefalle ich ihr und sie lässt mich...« Hoffte er. Außerdem sah es nicht so aus, als würde sonst jemand sich für ihn interessieren oder in sein Beuteschema passen. Lysander schloss sich der männlichen Begleitung an, die flüssigen Nachschub beschaffen wollte. Er orderte ein alkoholfreies Bier, suchte sich im Schlepptau der kleinen Gruppe eine angenehme Nische. Nach einer weiteren halben Stunde votierte man einhellig dafür, den Ort zu wechseln. Ein deftiger Mitternachtsimbiss wäre gerade recht, danach die Pfunde abschütteln! Reichlich nervös, sich der nachlassenden Wirkung der Kopfschmerztabletten bewusst folgte Lysander seinen neuen Bekannten. Obwohl ihn der Geruch des aromatischen Bratfetts beinahe taumeln ließ, ignorierte er die Ebbe in seinem Budget tollkühn. Er versorgte sich mit belgischen Kartoffelstäbchen. Man schwatzte aufgedreht, futterte begeistert und wechselte hinüber in einen anderen großen Club, der weniger Eleganz, dafür aber schweißtreibende Geschäftigkeit versprach. Im Trockeneisnebel, von Stroboskop-Licht bestrahlt, zuckten und zappelten zahllose Gestalten. »Besser als reden und auch intimer.« Hoffte Lysander, glitt mit der Gruppe hinein. Seine neue Bekannte schlang ihm die Arme um den Hals, forderte ihn auf, mit ihr zu tanzen. Obwohl Lysander zweifellos einen eher ungelenken Eindruck machte, konnte er sich geschmeidig bewegen, hatte keine Scheu, sich dem Rhythmus anzuvertrauen. Er ging bloß nicht gern aus. Sie lachte, amüsierte sich prächtig, um ihn dann unerwartet loszulassen, an die Hand zu nehmen und zu einem großen, breitschultrigen Mann zu ziehen, der gerade mit drei Freunden zur Gruppe gestoßen war. Lysander wurde vorgestellt und seufzte innerlich. Na klasse, die Drei kamen aus einem Ü30-Club und das Prachtexemplar eines gestandenen Kerls war der Verlobte! Artig nickte Lysander, auch wenn Konversation in der herrschenden Atmosphäre zum Scheitern verurteilt war, tanzte mit einer anderen jungen Frau aus der Gruppe. Er konnte jetzt nur auf ein Wunder hoffen, als sich im Gewimmel die Freunde aus den Augen verloren, aber hier war es in dem diffusen Licht schwierig auszumachen, ob er jemanden fand, der ihm zugeneigt war. Unter dem Vorwand, ein wenig Luft schnappen zu wollen, übergab er seine letzte Tanzpartnerin an ihren Freund, schlängelte sich enttäuscht durch die Menge. Was nun?! Doch bevor er den Eingangsbereich ins Auge fassen konnte, rempelte ihn ein Mann an. Lysander, der Streit vermeiden wollte, entschuldigte sich sofort, doch sein Gegenüber winkte ab, es sei seine Schuld gewesen. Ob er ihn nicht als Wiedergutmachung auf ein Getränk einladen könne? Eigentlich wollte Lysander ablehnen, denn so viel Kompensation war wirklich nicht notwendig, doch der junge Mann mit dem Mondgesicht und der zurückweichenden Strubbelfrisur wirkte so bestürzt, dass er lächelnd zustimmte. Eine zweite Bloody Mary, die Tomaten nur aus der Ferne gesehen haben konnte, folgte der ersten. Sein neuer Bekannter stellte sich als Rufus vor, Pädagogik-Student. Er redete wie ein Wasserfall auf ihn ein. Allerdings hatte er ebenso viel Mühe wie die Freundesgruppe vorher, seine Aussagen auch zu Gehör zu bringen, deshalb schlug er Lysander vor, in eine der großen Kneipen zu gehen, die hauptsächlich von Studierenden besucht wurden. Lysander wog seine Chancen ab. Sein Hunger quälte ihn bis zur Unerträglichkeit, die Kopfschmerztabletten hatten ihre Wirkung eingestellt und der Alkohol prügelte sich in seinem Magen mit den belgischen Kartoffelstäbchen. Langsam wurde es kritisch. Bevor er seine Meinung ändern konnte, zog ihn Rufus am Arm mit sich, trat auf die Straße. Trotz seines Parkas fror Lysander schlagartig erbärmlich, denn ein eisiger Wind nutzte die lange Straßenschlucht wie eine Schneise, fegte fauchend in jede Ritze und unter jede Stoffschicht. "Gehen wir ein Stück." Ungezwungen hakte sich Rufus bei ihm unter. Gutmütig ließ Lysander das geschehen, denn die Straße war ja voller Leute, ihm drohte keine Gefahr. Wenn dieser Rufus ein wenig aufdringlich war, dann sicherlich nur, weil er auch keinen Anschluss gefunden hatte. ~?w?~ Vor der populären Studierenden-Kneipe, deren hellerleuchtete Fenster wie ein Leuchtturm in die Nacht strahlten, eine warme Zuflucht versprachen, warteten Schlangen von Taxen an den Bordsteinkanten rechts und links der Straßenbahngleise. Man hatte schon festgestellt, dass die letzte Bahn abgefahren war, nutzte den Service. Von überall her strömten laute, fröhliche, aber auch betrunkene, schwankende Gestalten, kamen aus einem großen Kino-Center, aus einem Theater, den Kneipen und Cafés, den Clubs und Event-Restaurants, die mit Akrobatik-Einlagen warben. Von einer verzweifelten Hoffnung angetrieben wandte Lysander den Kopf nach links und rechts. Gab es denn wirklich keine Chance, eine nette Dame in den schönsten Jahren zu becircen? Komplimente gegen einen Kuss einzutauschen? "Suchst du was?" Erkundigte sich Rufus lauernd, packte Lysanders Arm so fest, dass der zusammenzuckte. Seine überreizten, ausgehungerten Sinne registrierten etwas, das seit Jahrtausenden für panischen Alarm sorgte, einen Fluchttrieb auslöste. Lysander stieß Rufus von sich, wollte kehrtmachen, an den wartenden Taxen vorbeilaufen. Dazu kam es nicht. Das letzte, was er sah, waren die sprießenden Gräser zwischen den Steinen der Bordsteinkanten. Alles wurde finster. ~?w?~ Lysander blinzelte, doch seine Sicht veränderte sich nicht zum Besseren. Er konnte die Zimmerdecke nicht ausmachen, weil ihn ein greller Scheinwerfer blendete. Rühren konnte er sich auch nicht. Panisch versuchte er, Hand- und Fußgelenke freizubekommen, den Kopf anzuheben, sich einen Überblick zu verschaffen, doch ein Widerstand fesselte ihn auf eine harte, unnachgiebige Platte. "...ich hab doch gesagt, dass ich alles im Griff hab!" Hörte er Rufus' weinerliche Stimme, wandte den Kopf und krächzte. Sofort presste sich eine kräftige Hand auf seinen Mund, drehte seinen Kopf, sodass er wieder dem blendenden Scheinwerferlicht ausgesetzt war. "Ab jetzt übernehme ich." Erklärte eine sonore Stimme mit grollenden Vibrationen in der Tiefe. Lysander zitterte panisch, verlor die Kontrolle über seine Körperfunktionen. "Iiiihhhh!" Kommentierte Rufus irgendwo im schwarzen Hintergrund. "Kümmre dich um die Kamera." Der Besitzer der Hand schnarrte unbeeindruckt. Der grelle Lichtkreis verdunkelte sich, die Umrisse eines Schädels wurden für Lysander sichtbar. "...bitte...bitte nicht..." Flehte er stotternd, außer sich vor Angst. In dem Gesicht konnte er lediglich ein Paar ungewöhnliche Augen ausmachen. Sie funkelten hellgrün mit schwefelgelben Flecken. "Sorry." Schnurrte der Fremde kehlig, ließ ein imposantes Gebiss aufblitzen. Lysander brach in Tränen aus und verlor das Bewusstsein. ~?w?~ Seine Ohnmacht konnte nicht lange gedauert haben, doch in der Zwischenzeit hatte sich seine Lage noch verschlimmert. Zwischen seine Kiefer hatte man einen Knebel gezwungen, Lederriemen mit einer Kugel, die es ihm ermöglichte, zu atmen und nicht an seinem Speichel elend zu ersticken. Doch er konnte keinen Beistand herbeirufen. Außerdem war er nun nackt. Jemand musste auch den Urin aufgewischt haben, mit dem er unfreiwillig seine Wäsche getränkt hatte. Panisch zerrte er an den Fesseln. Sie gaben nicht um einen Millimeter nach. Oder er war schon zu schwach. "Hast du die Einstellungen überprüft?" Erkundigte sich die dunkle, sonore Stimme, die Lysander Todesangst einjagte. "Ja doch, Iago! Ich kenn mich aus!" Quengelte Rufus im Hintergrund. "Lass mich den kleinen Schwanzlutscher rannehmen!" War da wirklich ein kehliges Knurren, oder gaukelten Lysanders hysterische Sinne ihm etwas vor? Rufus jedenfalls quiekte irgendetwas Schrilles. Der Mann, den er Iago genannt hatte, trat zu Lysander. Mit den Augen flehte Lysander um Gnade. Um sein Leben. Alles, was er erkennen konnte gegen den grellen Schein, der die Gestalt wie eine höllische Korona umgab, waren die ungewöhnlichen Augen und das aufblendende Raubtiergebiss. "Sorry." Knurrte der Mann namens Iago guttural. Lysander begann zu schreien. ~?w?~ Rufus sabberte sich voll, ohne es zu bemerken. »Widerlich.« Dachte der Mann, der sich als Iago vorgestellt hatte, kontrollierte noch mal die Kameraeinstellungen. Dem Pfuscher war alles zuzutrauen, bloß keine Kompetenz! Er startete die Aufzeichnungen, betrachtete ihr Opfer durch die verschiedenen Objektive. Besser hätte es gar nicht sein können! ~?w?~ Lysander schrie aus wunden Hals, doch der Knebel reduzierte seine Qual auf ein ersticktes Röcheln. Das Ungeheuer hatte seine Brustwarzen mit langen Nadeln aufgespießt, seinen Penis mit diversen Manschetten und einem Schlauch malträtiert, seine Hoden eingeklemmt. Überall waren blutige Bisse in seiner Haut, ganz zu schweigen von den Mustern, die mit einem Skalpell eingraviert worden waren. Wahnsinnig vor Schmerz und Schwäche konnte Lysander nicht anders als schreien, ohnmächtig werden und erneut aufwachen. Zu einem rationalen Gedanken war er gar nicht fähig. Er wollte bloß nicht sterben. Alles, nur nicht sterben! ~?w?~ "Das is irre!" Rufus wäre beinahe vor die Kamera gelaufen, doch Iago stieß ihn verächtlich aus dem Weg, knurrte warnend. »Immer ruhig bleiben.« Ermahnte er sich selbst. Er drehte den Metallstab, der mit zahlreichen stählernen Dornen gespickt war, in der Hand, präsentierte ihn dem anonymen Publikum. Zeigte ihn auch ihrem Opfer, das erneut erzitterte, die geröteten Augen aufgerissen, den Kopf schüttelte, sich die Gelenke wund scheuerte in den vergeblichen Versuch, sich zu befreien. Iago bleckte die Zähne. ~?w?~ Lysander bäumte sich auf, als der stählerne Prügel in seinen rektalen Körperausgang gerammt wurde. Er spürte, wie seine Haut zerriss, Blut heiß ausströmte, während tiefer in seinem Unterleib seine Innereien zerfetzt wurden. Der Schmerz war unbeschreiblich, zu entsetzlich. Zuckend, Speichel schäumend wand sich sein Körper in unerträglichen Qualen auf der Platte. Trotzdem war Lysander noch bei Bewusstsein. Über ihm lauerten die hellgrünen Augen. »Er bringt mich um.« Geisterte ein letzter Gedanke durch Lysanders aufgewühlte Sinne. All die Tapferkeit angesichts dieser Folter war vergebens. ~?w?~ Iago beobachtete, wie sich die Lider senkten, sich ergaben in ein unvermeidliches Ende. Er packte den fragilen Nacken mit der Linken, den stählernen, nun mit Blut und Hautfetzen beschmierten Stab in die Rechte. Das Timing war entscheidend, deshalb brach er ihrem Opfer Sekundenbruchteile vor dem Einschlag das Genick, zerriss ihm erst danach die Bauchdecke. ~?w?~ Iago hielt die Aufnahme an, wandte angeekelt den Kopf ab. Rufus, dieser Abschaum, hatte sich übergeben. An seiner Hose klebte noch der widerliche Erguss, der dem Mord geschuldet war. "Lade das jetzt hoch." Knurrte Iago frostig, stieß ihn zu den Computern hin. So kurz vor dem Ziel stellten sich selbst ihm die Haare auf. Innerlich. Rufus schnüffelte gekränkt, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und missachtete seine offenstehende Hose. "Das is so geil...echt irre!" Brabbelte er vor sich hin, tippte mit schmierigen Fingern auf der Tastatur Befehle. "N echter Snuff..." Rufus kicherte hysterisch vor sich hin. Iago postierte sich hinter ihn, fischte aus seinem langen Ledermantel ein Wegwerftelefon. Er funkte seinen Computer an, damit der die Adressen abfing, sie weiterleitete an die anderen aus seinem Rudel. Für sie würde die Jagd nun erst beginnen. Er hatte seine arglose Beute jedoch gestellt, die Hatz näherte sich ihrem Höhepunkt. Deshalb raste sein Herz, in seinem Brustkorb wie einem Käfig eingefangen. Seine Muskeln spannten sich, wollten lospreschen, jagen, hetzen, laufen wie der Wind, immer der unsichtbaren Spur nach, die wie ein Leuchtfeuer in einer abgestumpften, blinden Welt loderte. Noch einmal atmete er tief durch, konzentrierte sich mit zusammengebissenen Zähnen darauf, sich zu entspannen, geschmeidig zu bleiben. Von seinem inneren Kampf bemerkte das abstoßende Subjekt vor ihm nichts. »Blind, taub und krank.« Schnarrte seine Stimme innerlich vernichtend. Mit Argusaugen verfolgte er die Zahlenkolonnen auf dem Bildschirm, eine schier endlose Abfolge von Adressen in einer virtuellen Straßenkarte rund um den Globus. Es wurden immer mehr. Nicht bloß Voyeure mit den widerlichsten Vorlieben, sondern zahlungskräftige Kundschaft und andere Lieferanten, die sich am "Umsatz beteiligen wollten, selbst im "Business" waren. Er kannte andere Aufnahmen. Er wusste zu unterscheiden. Es war eine Gabe. Ein ganz besonderes Geschenk. Manchmal auch ein Fluch. Aber das Einzige, was er tun konnte, um dieses Grauen zu vergelten, die Opfer zu rächen, bestand in der Hetzjagd. Die Ungeheuer mit der menschlichen Fratze des Durchschnittsbürgers zu stellen, ihren Umtrieben ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Iago bleckte unwillkürlich die Zähne, knackte mit den kräftigen Kiefern. »Ruhig Blut.« Ermahnte er sich. Wenn jede Transaktion erledigt war, konnte er seine selbst auferlegten Bande zerschlagen. »Diese Kreatur vernichten.« ~?w?~ Rufus paradierte von der Leiche auf und ab. Er wollte, ja MUSSTE, die Hände in die noch warmen Eingeweide schieben! Ob man den Burschen noch ficken konnte? Trotz der Löcher? Er sabberte begierig, seine Hände zitterten unkontrolliert in der Erwartung, sich gleich gütlich tun zu dürfen. Da packte ihn eine andere Hand im Nacken, mit einem stählernen Griff. Seine Zehenspitzen zuckten hektisch über den Boden. Er zappelte verzweifelt, um sich zu befreien. "Soooo." Raunte eine knurrende Stimme guttural an seinem Ohr. "Jetzt will ICH mich amüsieren." Rufus kreischte schrill, doch hier hörte ihn niemand schreien. ~?w?~ Kapitel 2 - Böses Erwachen Iago packte die lange Nadel in das schmale Bündel, ignorierte die greinende Gestalt, die in einer Ecke den Kopf gegen die Mauer schlug. Wieder und wieder. Systematisch entfernte er die andere Nadel aus den malträtierten Brustwarzen, löste Manschetten und anderes Zubehör. Alles würde unauffällig entsorgt werden, wo niemand es mehr aufstöbern konnte. Im grellen Licht des Scheinwerfers studierte er die nackte Gestalt, konzentrierte sich. Die Natur hatte es gut mit ihm gemeint. Nicht unbedingt jedoch mit seinen Gegenparts. Zusätzlich zu seinem herausragenden Erbe verfügte er über eine besondere Fähigkeit, die ihn zum Anführer ihres Rudels prädestinierte: er konnte jede Schwachstelle in einem organischen Wesen erkennen. Wenn man die Welt am richtigen Ansatzpunkt aushebeln konnte, war er in der Lage, jedes Lebewesen zielsicher am empfindlichsten Punkt zu treffen. Deshalb vegetierte hinter ihm nun ein besonders verabscheuenswertes Exemplar der Gattung Mensch, jenseits aller Hoffnung, jemals wieder zu Verstand zu kommen. Es war einfach gewesen, eine Nadel an der richtigen Stelle hatte genügt. Nun, vielleicht auch seine Überzeugungskraft, wer weiß? Ohne Scheu bestrich Iago den gemarterten Leib, löste das hoch geschnallte Bein schließlich zufrieden. Mit einem Lappen reinigte er ihr Opfer von den Spuren der Folter, fahndete müßig in den aufgeschnittenen Kleidern ihres Opfers, um dessen Identität festzustellen. "Tsktsk!" Schnalzte er missbilligend mit der Zunge, schüttelte den Kopf leicht. Ein Studienausweis, sehr wenig Kleingeld, das nicht mal für ein Taxi nach Hause gereicht hätte, der ausgewaschene Kassenbon einer Apotheke. Für ihn bot sich ein Bilderbogen verräterischer Assoziationen. Iago trat wieder an die Platte, schob eine Hand unter den Nacken des jungen Mannes, packte mit der anderen Hand dessen Stirn fest und drückte gekonnt zu. Es knackte heftig, ein knirschendes Geräusch. Gelassen trat er aus dem Lichtpegel, kreuzte die Arme vor der Brust und wartete. Es dauerte nicht lange. Ein plötzlicher Ruck fuhr durch den reglosen Körper, zerrte an den Fesseln. Die Lider flatterten auf, er hörte ein gequältes Ächzen, als die Luftröhre ihrer Aufgabe wieder nachkam. In Zeitraffer schlossen sich die scheußlichen Wunden, die er ihrem Opfer zugefügt hatte. Iago erlebte dieses Schauspiel nicht zum ersten Mal, doch auch ihn faszinierte es. Andere hätte es wohl den Verstand gekostet. Gemächlich trat er vor, beugte sich über den Tisch, fixierte die braunen Augen auf sich. Schlagartig begann der junge Mann zu schlottern, bewegte panisch den Kopf, weinte vor Angst. Iago legte die Hände um die Schläfen, zwang ihm Blickkontakt auf. "Hallo, mein Freund." Raunte er grollend. "Ich nehme an, du weißt, WAS ich bin. Nicht wahr?" Tränen perlten über das fahlweiße Gesicht. Auf dem Knebel hackten die klappernden Zähne ein Stakkato. Er lächelte mit den starken Zähnen. "Das dachte ich mir." Nachdem er sich ein wenig auf die Seite gelehnt hatte, flüsterte er in ein Ohr. "Ich möchte, dass wir uns verstehen, mein Hübscher. Das wäre doch nett." Sein Opfer kniff die Augen zusammen, wie ein Kind, das glaubte, auf diese Weise unsichtbar zu werden. Unkontrolliert zitterte es unter heftigen Schauerwellen. Iago umklammerte das knochige Kinn. "SIEH MICH AN!" Donnerte er mit solcher Befehlsgewalt, dass seiner Order reflexartig Folge geleistet wurde. "So ist es gut." Flüsterte er kehlig, lächelte Zähne starrend. "Ich werde dich losbinden. Solltest du aber nur den kleinsten Muskel rühren, dann RAMME ich dir HIER einen Pfahl rein, verstanden?!" Sein Zeigefinger tippte auf eine Stelle des schmächtigen Brustkorbs. Schnüffelnd, erstickt schluchzend nickte sein Opfer minimal. "Fein." Jovial tätschelte Iago die verschwitzten Locken. "Wir verstehen uns doch prächtig." Methodisch löste er Schnallen und Knebel, bis der ganze, in seinen Augen zu schlanke Leib frei auf der Platte ruhte. Angespannt bis in die Haarspitzen, deshalb stocksteif. "Nun setz dich schon auf." Brummte er in normalem Konversationston. "Ist ja nicht so, als wärst du wirklich in Gefahr gewesen." Missbilligend registrierte er die leichenblasse Miene, die Verständnislosigkeit in den braunen Augen. Ungeduldig packte er einen dünnen Oberarm, um sein Opfer in eine sitzende Position zu ziehen. "Komm schon, Vampirküken, so arg war das doch nicht! Erzähl mir nicht, dass du noch nie deinen Tod vorgetäuscht hast!" Knurrte er energisch. Die Augäpfel verdrehten sich nach oben. Der junge Mann sackte ohnmächtig in sich zusammen. "Na, herrlich!" Schnaubte Iago ungeduldig. "Da habe ich mir ja wirklich ein Prachtexemplar ausgesucht!" ~?w?~ Der Mann, der sich Iago nannte, ließ sich Zeit, studierte den Bildschirm des Wegwerfhandys. Er beäugte anschließend die reglose Gestalt. Flacher Atem, niedriger Pulsschlag. Dazu musste er den kleinen Vampir nicht mal berühren. Er "sah" das einfach. Wie eine Landkarte, so präzise und eindeutig. In seinem Inneren brodelte das aufgestaute Adrenalin. »Nur weg!« Lockte es ihn mit Sirenenruf. »Komm, lass uns laufen!« Aber sein Pflichtbewusstsein, seine selbst auferlegte Ethik hinderte ihn. Er verstaute das Mobiltelefon in seiner Umhängetasche, streifte sich den Mantel von den breiten Schultern, sammelte die Mülltüte ein, in der sich die Fetzen der Bekleidung des kleinen Vampirs befanden. Man konnte sich wohl kaum der Mühe unterziehen, ihn ordentlich zu entkleiden, wenn man ihn erst foltern, vergewaltigen und schließlich bestialisch töten wollte! Mühelos, in einer einzigen, eleganten Bewegung stemmte er sich selbst auf die Platte, schob die Arme unter den nackten, jungen Mann, hob ihn auf seinen Schoß. Unwillig knurrte er, doch ein Blick auf das, was von Rufus noch übrig war, nämlich nicht mehr als ein Klumpen Zellen mit einem untermotorisierten Resthirn, bekräftigte seine Entscheidung. "He! Aufwachen, Küken!" Er schüttelte sein Opfer nachdrücklich. "Die Augen auf, aber zackig!" Seine befehlsgewohnte Stimme verfehlte ihre Wirkung nicht. Die unterschwelligen Vibrationen, die seit Jahrhunderten für einen eiskalten Schauer entlang des Rückgrats sorgten und Menschen seit jeher das Fürchten gelehrt hatten, sorgten dafür, dass die Lider hochzuckten. Wieder begann das Vampirküken unkontrolliert zu beben, japste erbärmlich nach Luft. Kurz vor dem nächsten Kollaps! "Nein, nein!" Schnarrte Iago energisch. "Reiß dich zusammen, Kleiner!" Mit dem linken Arm umklammerte er den schmächtigen Brustkorb, presste den Vampir an sich, hielt ihm das rechte Handgelenk vor den Mund. "Nimm etwas, aber WEHE, du lässt nicht los, wenn ich es dir sage!" Fauchte er in ein Ohr. Nicht etwa, dass er sich fürchtete vor diesem Vampirküken! Der einzige, der hier Angst haben musste, war dieser naive Bursche! Vampire fürchteten Werwölfe seit ihrer ersten Begegnung. Alle ihre Fähigkeiten, hypnotisierende Blicke ohne Zwinkern, die besondere Tonlage, die sich in jedes Gehör einschmeichelte, ihr gewinnendes Auftreten: sie wirkten nicht. Werwölfe hatten einen anderen Blick auf die Welt. Ihre Sinne waren geschärft, reichten im Spektrum weiter als die der Menschen. Sie wussten, manche noch besser als andere, wo der Schwachpunkt ihres Gegenüber war. Nichtmenschliche Organismen waren ihnen nicht fremd, ebenso wenig besondere Selbstheilungskräfte, eine andere Art der Zellstruktur und -organisation. Wenn Werwölfe Vampire tot sehen wollten, nutzten weder Kraft, noch becircender Charme. Sie ALLE kannten die Antwort, wie ein Vampir zu einem guten Vampir wurde: mit einem Pfahl durch den Brustkorb im Sonnengeflecht. "Na los!" Knurrte Iago ungeduldig, als der Vampir keine Anstalten machte, sich an seinem Handgelenk zu bedienen. "Du brauchst Blut, das weißt du!" Giftiger ergänzte er. "Oder haben wir etwa Dünkel und trinken kein Blut von einem Werwolf?! Willst du vielleicht lieber tot sein?" Schlanke, wohlgestaltete Hände hoben sich, aber nicht, um sein Handgelenk zu umfassen. Sie verbargen das Gesicht. Der Vampir schluchzte so herzzerreißend wie ein Kind. »Herrschaftszeiten!« Fluchte Iago enerviert. »Der Kerl ist 22! Der hat nicht bloß am Wasser gebaut, der zerfließt ja förmlich!« "Nun hör schon auf mit der Heulerei!" Schnaubte er ärgerlich. "Dazu gibt es gar keinen Grund! Trink artig dein Blut, und dann ist alles in Ordnung!" Leider hatte seine Ansprache nicht die geringste Wirkung. Der Vampir krümmte sich zusammen, würgte nach Luft, schluchzte hysterisch weiter, verlor sich in einem ernst zu nehmenden Schockzustand. »Na toll! GANZ großartig!« Iago widerstand der Versuchung, das Vampirküken am Nacken zu packen, ein wenig herumzubeuteln, bis die Jaulerei ein Ende hatte. Hier mussten andere Methoden angewandt werden! Er hob das Handgelenk an seinen Mund, riss sich mit einem sehr scharfen Eckzahn durch die äußerst elastische Haut eine leichte Kratzwunde, noch unbedeutender als ein Schnitt bei der Nassrasur. Sie war nicht tief, nur ein kleiner Riss, der zögerlich ein paar Bluttropfen produzierte, würde in Windeseile wieder heilen. Allerdings wollte er das noch nicht. Mit der Linken packte er energisch die Stirn seines Opfers, presste dessen Hinterkopf an seine eigene, sehr muskulöse Brust und rammte ihm förmlich das rechte Handgelenk zwischen die Kiefer. Der Vampirinstinkt siegte. Kalte Hände mit langen, anmutigen Fingern schlossen sich um seinen Arm. Das tiefe Einatmen an seiner Vorderseite mischte sich mit einem winzigen Schmerz. »So weit, so gut.« Resümierte Iago, zufrieden mit sich selbst, doch keinen Wimpernschlag später wusste er, dass die unerwartete Heimsuchung noch nicht abgeschlossen war. Das Vampirküken stieß sein Handgelenk weg, warf den Kopf in den Nacken. Es rang ächzend nach Luft, grub die Finger unwillkürlich in die Ärmel seines Pullovers, stöhnte gequält. "Was denn jetzt?!" Iago sorgte sich nicht um die bereits verheilende Wunde an seinem Arm, sondern packte den Kiefer des Vampirs, um dessen Gesicht zu sich zu wenden. Die Lider flatterten, die Augen rollten in den Kopf, der gesamte Körper in seinem Zugriff rang um Atem. "Das ist doch lächerlich!" Verabschiedete der Werwolf den Gedanken, sein Blut möge den Vampir tatsächlich vergiftet haben. Zu seiner Erleichterung ließen die Krämpfe nach, sackte das Vampirküken auf seinem Schoß in sich zusammen. "Was zum Teufel ist los mit dir, Kleiner?!" Iago studierte angespannt das bleiche Gesicht, das in seiner Armbeuge ruhte. Auch wenn er nicht oft, aus verständlichen Gründen, Kontakt zu Vampiren hatte, so war ihm noch nie so eine Reaktion zuteil geworden. »Na, da haben wir uns ja einen ganz TOLLEN Fang eingehandelt!« Schnaubte seine innere Stimme säuerlich. ~?w?~ Als sich die Sicht vor Lysanders Augen klärte, sah er immer noch den Mann namens Iago. Den Werwolf. Lysander spürte, wie erneut Panik in ihm aufstieg, aber er war zu erschöpft, um sich noch einmal von ihr mitreißen zu lassen. Er erinnerte sich vage, dass seine Eltern ihn eindringlich vor Werwölfen gewarnt hatten. Wenn er einen träfe, solle er weglaufen, sich nicht umdrehen, nicht stehen bleiben, nur laufen. Ein Werwolf war schlimmer als der ominöse "schwarze Mann", dessen Drohung nur ein Kind schrecken konnte. Werwölfe fürchteten sogar seine Eltern. Aber es war so lange her, dass er... Unerwartet wurde er aufgerichtet, in eine sitzende Position gehoben. An seinem Rücken vibrierte die sonore Stimme des Werwolfs. "Wir müssen uns unterhalten, Vampirküken." Reflexartig begann Lysander zu zittern. "He." Der Griff um seine Körpermitte verstärkte sich. "Wag es JA nicht, wieder hysterisch zu werden! Ich hau dir den Arsch voll, dass du ne Woche nicht sitzen kannst!" Völlig perplex überwand Lysander tatsächlich seinen Schrecken, denn die eindeutig genervte, einheimische Diktion ließ den Werwolf direkt sympathisch wirken. Der redete sich gerade in frustrierte Rage. "Ich kann's echt nicht fassen!" Hielt er Lysander zornig vor. "Wer lässt so was wie dich eigentlich allein auf die Straße?! Wann hast du das letzte Mal Blut getrunken, hmm?!" Lysander zuckte zusammen, senkte unwillkürlich den Kopf. "Du dämlicher, kleiner Döskopp!" Donnerte Iago über/hinter ihm. "Wie hast du dir das heute Nacht gedacht?! Küss die Hand, gnä Frau, und schlürf?! Du hast so viel Schlag bei den Weibern wie ne Kröte nach nem Blitzeinschlag!" DAS wusste Lysander schon länger. Seine heimliche Hoffnung, sich mit einem Kuss bei einer angetrunkenen Bekanntschaft ein wenig Blut zu stehlen, wurde nun auch höchst ungnädig ans grelle Scheinwerferlicht gezerrt. "Und DANN!" Man hörte förmlich den imaginären Schaum vor dem Mund. "DANN entblödest du dich nicht und rennst so einem Stück Scheiße wie dem da nach! Hast du eigentlich überhaupt kein bisschen Grütze in der hohlen Nuss da?!" Auf Lysanders Schädel klopfte ein Fingerknöchel grimmig. "Was haben sich deine Leute bloß dabei gedacht, so einen Trottel wie dich ohne Aufsicht herumziehen zu lassen?!" Bellte der Werwolf aufgebracht. Lysander schrumpfte in der unnachgiebigen Umklammerung in sich zusammen. "Entschuldigung." Murmelte er erstickt. "DAS REICHT NICHT!" Brüllte der Werwolf. "Wie hast du dir gedacht, dass dein Leben aussieht, hm?! WILLST du vielleicht abkratzen?!" In weiser Einsicht, dass jede weitere Äußerung den aggressiven Wutausbruch nur noch verstärken konnte, ihm aber keineswegs Pardon einbrachte, schwieg Lysander mit hängenden Schultern. "Was ist?! Hast du deine Zunge verschluckt, oder was?!" Der Werwolf hob ihn mühelos von seinem Schoß, setzte ihn grob neben sich auf der kalten Platte ab. Unwillkürlich schauderte Lysander, versuchte, die Beine hoch und vor den Leib zu ziehen. Allerdings war er so geschwächt, dass er vornüber zu kippen drohte. Bevor er jedoch hilflos rudernd den finalen Absturz hinlegen konnte, hatte der Werwolf ihn heftig aus der Gefahrenzone zurückgestoßen, stützte beide sehr muskulöse Arme entlang seiner Seite auf, funkelte blitzend auf ihn herunter. "Was für ne lausige Entschuldigung für nen Vampir bist du bloß?!" Fauchte es ihm übellaunig ins Gesicht. Lysander spürte Tränen aufsteigen, lächelte verzweifelt, um Prügeln vorzubeugen. Er war schlichtweg am Ende, von den Ereignissen überrollt, vollkommen durcheinander. Aber der Werwolf misshandelte ihn nicht, sondern starrte ihn nur an, beugte sich herunter und schnupperte! Die ausdrucksstarken, schwarzen Augenbrauen wölbten sich zu einem Dreieck der Wachsamkeit. Der Werwolf musterte ihn forschend, schien trotz des intensiven Blicks aus den ungewöhnlichen Augen angestrengt nachzudenken. Dies gab Lysander Gelegenheit, den ersten Werwolf, dem er je begegnet war, genau zu betrachten. Wären sie einander auf der Straße begegnet, hätte er sich wohl mit hochgezogenen Schultern an ihm vorbeigedrückt. Tatsächlich wirkte dieser Iago genau so, wie man sich einen klassischen Iago vorstellte: ein Schurke mit teuflischem Charme und unbarmherzigen Willen, gestählten Muskeln und einer überwältigenden Aura. Auch ohne den Bonus seiner Herkunft. Die Gesichtszüge waren kantig-markant, gleichförmig, boten den perfekten Rahmen für die außergewöhnlichen Augen unter den eindrucksvollen Augenbrauen. Schwarze Haare waren exakt getrimmt, lagen auf dem schön geformten Schädel an. Unter einer langen, geraden Nase fand sich ein dünner, jedoch sinnlicher Mund, von einem ebenso sorgfältig getrimmten, dünnen Bart umgeben. Der glitt über den unteren Kieferknochen zu den Koteletten, unterstrich die kantige Perfektion des Schädels. Lediglich am Kinn war ihm ein Schnörkel gestattet, sich den Lippen mit einer zarten Spitze anzunähern. Lysander hatte diese Manneszier immer in den bunten Kostümfilmen der Klassiker bewundert. Er selbst konnte sich bloß als "Milchbart" auszeichnen, veranlagungsbedingt. Und dann war da ja auch noch die imponierende Gestalt! Von der er recht wenig gesehen hatte, durch das unerträglich grelle Scheinwerferlicht gepeinigt. Ganz in Schwarz gehüllt war es nicht einfach, die Silhouette des Werwolfs auszumachen. Das, was er unter den Stoffbahnen gespürt hatte, entsprach den Geschichten, die ihm seine Eltern mit Schaudern erzählt hatten. Werwölfe waren eine einzige Zusammenballung von sehnigen Muskeln. Ihr Körper bestand aus dem Maximum an Kraft und Energie, das die Natur bieten konnte. Sie waren viel stärker, ausdauernder und schneller als jeder Mensch. Da konnte man als Vampir noch so stark sein; wenn der Werwolf auftrat, war man ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. »So wie ich jetzt.« Lysander hob einen Arm, der ungewöhnlich schwer schien, führte ihn an die schmerzende Schläfe. Wenn es nur möglich wäre, einfach einzuschlafen, das alles als furchtbaren Traum abzuhandeln! ~?w?~ Iago richtete sich auf, presste die Kiefer so fest aufeinander, dass die Knochen hörbar knirschten. Es verhielt sich nicht dergestalt, dass er nach seinem Erfolg bei der Hatz einen weiteren Zeitplan aufgestellt hatte, doch nach eigenem Empfinden sollte er sich auf den Weg machen. Spuren waren zu verwischen, lose Enden abzuschneiden. Das Letzte, was er jetzt noch brauchte, waren lästige Komplikationen. So wie die, die blass vor ihm auf dem Tisch lag, sich augenscheinlich nur mühsam auf den Beinen würde halten können. »Außerdem stimmt was mit dem Küken nicht.« Dieser Verdacht kam ihm nicht zum ersten Mal. Andererseits war er ein Werwolf! GANZ SICHER nicht für das Wohlergehen eines Vampirs zuständig! Vor allem nicht für so einen Tollpatsch wie dieses Exemplar hier! Bevor er sich wieder selbst in Rage bringen konnte, seinem brodelnden, ungeduldigen Adrenalin geschuldet, ballte er die Fäuste, atmete tief durch. Er war, verdammt noch mal, ein Werwolf, ein Rudelführer und zehn Jahre älter als dieses dumme Vampirküken! Sein Stolz gesellte sich zu seinem Verstand und seiner misstrauischen Wachsamkeit, bildete ein Triumvirat, das für Ordnung sorgte. "Genug herumgekaspert." Knurrte er bündig, packte den Vampir an den Schultern, setzte ihn mühelos auf. "Zeit, sich zu verziehen." Iago beugte sich nach seiner Tasche, hängte sie sich um. Er wandte sich wieder dem Vampir zu. "Auf die Beine, aber flott!" Kommandierte er energisch, fasste laut brummend zu, als der Jüngere einzuknicken drohte. "Womit habe ich das bloß verdient?!" Grummelte er halblaut, fädelte die dünnen Arme des Vampirs in seinen schweren Ledermantel, knöpfte ihn eilig zu. Der Größenunterschied verdeckte nun die Tatsache, dass das Küken vollkommen nackt war, zumindest bis zu den Knöcheln. Schon wieder schwankte das Gör! "Was ist bloß los mit dir?!" Iago balancierte den mehr als zwanzig Zentimeter kleineren Mann aus. "Gib dir mal ein bisschen Mühe, ja?!" Das Vampirküken senkte schon wieder den Kopf, taumelte unter dem Gewicht des Ledermantels, schluckte heftig. "Ich glaube, ich verdresche dich gleich, damit du Grund hast, hier mit deiner Heulerei alles unter Wasser zu setzen!" Schnarrte Iago aufgebracht. Wie konnte ein erwachsener Mann bloß ständig herumflennen?! Ärgerlich stieß er den Vampir gegen eine mit Kacheln bedeckte Mauer. "Platz!" Er wandte sich seiner Umgebung zu, räumte aus seiner Tasche einen kleinen Ballon, mit einer Chemikalie gefüllt, die Fett hochkonzentriert auflöste, damit Fingerabdrücke vernichten sollte. Der Ballon zerplatzte auf der Platte. Systematisch zerstörte er die Maschinen mit kleinen Kapseln Batteriesäure, ließ zum Schluss eine Duftbombe fallen, die die Witterung von Spürhunden störte. Bevor ihm selbst die Sinne schwindeln konnten, packte er mit der Rechten einen dünnen Oberarm des Vampirs, mit der Linken die Mülltüte. "Und Abflug." Kommandierte er. Hinter ihm zerplatzte der Beleuchtungskörper des Scheinwerfers. ~?w?~ Lysander war es nicht gewöhnt, barfuß zu laufen, vor allem nicht über schmutzigen, kalten Betonboden. Draußen, in der eisig kalten Nacht, war es nicht besser. Sie befanden sich offenkundig in der Nähe des Hafens, wo es zahlreiche Gebäude gab, die nicht mehr bewirtschaftet wurden, leer standen. Die Geschichte wandelnder Industrien eben. Gefrorener Schmutz, kaum mehr richtige Erdkrume, Gras, dann abgetragenes Kopfsteinpflaster. Er taumelte in dem unnachgiebigen Griff, riskierte einen Seitenblick auf den Werwolf. Würde der ihn wirklich verschonen? "Was ist mit...ihm?" Erkundigte er sich piepsig. Ein frostiger Blick traf ihn. "Um den wird man sich schon kümmern." Versetzte die sonore Stimme arrogant. "Der Kerl wollte deine Leiche übrigens vögeln, falls das deine Sympathie findet." Lysander stolperte ungläubig, starrte das Profil des Werwolfs an. "Warum?!" Wisperte er schließlich fassungslos. Grob stieß der Werwolf ihn gegen die Seitentür eines unauffälligen Wagens, öffnete die hintere Wagentür, um dort seine Tasche abzustellen, den Müllsack zu platzieren. "Weil's ihn aufgeilt, natürlich!" Ein ärgerlicher Blick streifte Lysander, der unwillkürlich zurückwich. "Hast du immer noch nicht kapiert, was hier läuft?!" "Ich bin nicht sicher." Antwortete Lysander tapfer, zwang sich, das Kinn nach oben zu recken. Der Werwolf seufzte enerviert, schlang einen Arm um Lysanders Hüften, zog ihn energisch von der Seitentür weg, öffnete sie schwungvoll. "Steig ein, aber pass auf deinen Kopf auf!" Überrascht von dieser freundlichen Geste leistete Lysander Folge, kauerte sich auf den Sitz. Er wurde sogar angegurtet! Iago tippte ihm auf ein Knie. "Lass die Beine unten, sonst kriegen die Polster was ab. Verstanden?" "Ja." Murmelte Lysander, unterdrückte standhaft ein Zähneklappern. Der Werwolf umrundete den Wagen, stieg auf der Fahrerseite ein und ließ den Motor an. "Damit eins klar ist: wenn du irgendwem von dieser Sache erzählst, finde ich dich und ramme dir einen alten, mit rostigen Nägeln gespickten Zaunpfahl in deinen Luxuskörper. GENAU an die richtige Stelle, klar?" Ohne die Scheinwerfer anzuschalten ließ er den Wagen bis zu einer verwaisten Ausfahrt rollen. "Klar." Wisperte Lysander, versteckte sich zwischen seinen hochgezogenen Schultern. Als ob er irgendwem etwas zu erzählen hatte! Geschweige denn so eine absolut absurde Geschichte! Als sie über eine alte Brücke endlich den regulären Straßenverkehr erreichten, aktivierte Iago die Beleuchtung. Es war später als gedacht. Wie zuvor minutiös geplant arbeitete er die Stationen seiner Strecke ab, hochkonzentriert wie immer, wenn er auf der Jagd war, selbst in diesem Augenblick, wo er doch seinen Erfolg genießen konnte. Die erste Station war der Hinterhof einer Klinik. Iago hielt in der Nähe an, nahm seine Tasche und das Bündel aus der Mülltüte, schloss den kleinen Vampir im Wagen ein. Mit einem gezielten Signal störte er die Videoüberwachung des Hofes, kletterte mühelos über das mannshohe, massive Rollgatter, um das Bündel einem der speziellen Abfallbehälter anzuvertrauen. Problemlos und unbemerkt kehrte er zum Wagen zurück. Unwillkürlich seufzte er, als er bemerkte, dass sein unfreiwilliger Begleiter eingeschlafen war. Nun, das traf sich umso besser, befand Iago. Er entsorgte erst die Kleider, das Mobiltelefon in einem anderen Stadtteil auf einem Recyclinghof. Anschließend parkte er den Wagen vor der Leihagentur. "Aufwachen." Rüttelte er an einer schmalen Schulter. "Los, schwing die Hufe." ~?w?~ Lysander rieb sich die Augen, tappte gehorsam barfuß auf die Gehwegplatten, die ihn mit einem eisigen Gruß empfingen. Unbeteiligt verfolgte er, wie der Werwolf einige Dinge in einen Umschlag packte, ihn verschloss, in einen Briefkasten einwarf. "Gehen wir." Wieder wurde Lysander am Oberarm gepackt und mitgezogen. "Wohin?" Erkundigte er sich leise, klapperte mit den Zähnen. Trotz seiner Erschöpfung wurde ihm nun SEHR bewusst, dass er unter dem unerträglich schweren Ledermantel splitternackt war. Der Werwolf konsultierte eine exklusive Uhr, reduzierte seine Schrittlänge, damit Lysander nicht hinter ihm her galoppieren musste. "Was studierst du eigentlich?" Erkundigte er sich, ließ Lysanders Frage unbeantwortet. Perplex und leicht außer Atem stutzte Lysander, fragte sich, woher der Werwolf wohl wusste, was er gerade tat. Auf den Gedanken, dass seine Habseligkeiten durchforstet worden waren, kam er schlichtweg nicht. "Also, das..." Er zögerte, bemerkte überrascht, dass ihr Weg sie zum Eingang einer U-Bahn-Station führte. "Es ist eine Ausbildung. Zum Diplom-Archivar." "Aha. Klingt nach einem Frauen-Magnet, so ein Job." Versetzte der Werwolf süffisant, flipperte an einem der Fahrkartenautomaten zwei Tickets, zerrte Lysander die Rolltreppe zum Bahnsteig hinab. Sie waren allein bis auf einen schnarchenden Betrunkenen. Auf der Anzeige war der Einfahrtszeitpunkt der ersten Bahn an diesem Morgen aufgelistet. "Erzähl mir davon." Kommandierte der Werwolf, gestattete Lysander, dass der sich auf einen der Drahtgeflechtsitze niederlassen konnte. Lysander riskierte einen Blick in die hellgrünen Augen mit ihren schwefelgelben Flecken, entschied sich, der Aufforderung nachzukommen. Wenn der Werwolf ihn verspotten wollte, würde er ihn wohl kaum daran hindern können. "Die Ausbildung dauert drei Jahre." Begann er vorsichtig, suchte nach Anzeichen von Langeweile in dem markanten Gesicht. "Man studiert vier Monate in Mühlheim und 18 Monate in der Archivschule in Marburg. Wenn man die Zwischen- und die Abschlussprüfung bestanden hat, dann kann man im gehobenen Dienst arbeiten. Als Beamter." Fügte er erklärend hinzu. "Das interessiert dich?" Der Werwolf blickte ihn konzentriert an. "In altem Zeug herumwühlen, es konservieren und katalogisieren?" Lysander lächelte kläglich. "Ich bin wohl ein bisschen neugierig." "Hff!" Kommentierte Iago, zog ihn energisch auf die Beine, als die U-Bahn einfuhr. "Wäre besser, du würdest dich mal auf die Gegenwart konzentrieren." Die kurze Fahrt mit dem Werwolf genügte, seine Schläfrigkeit abzuschütteln. Wie sollte die sich auch halten, wenn er unablässig von den ungewöhnlichen Augen fokussiert wurde, sie wie Brenngläser auf ihn wirkten?! Als sie ausstiegen, legte der Werwolf ihm den Arm um die Schultern, führte ihn ohne zu zögern. Lautlos stiegen sie in dem schäbigen Appartementhaus die Treppe hinauf, bis sie vor Lysanders Appartementtür standen. Der Werwolf zog Lysanders Schlüssel aus der Hosentasche seiner Lederhosen, ließ sie hinein. Er erstarrte mit einem angeekelten Ausdruck auf der Schwelle. "...du meine Güte..." Murmelte er grollend, schloss die Tür hinter sich, drehte Lysander an der Schulter herum. Wortlos knöpfte er den Ledermantel auf, schälte Lysander wie ein Kind heraus, der durchgefroren nicht einmal daran dachte, sich schamhaft zu bedecken. "Unter die Dusche!" Kommandierte er bellend. Lysander zögerte. "Es ist ein bisschen spät..." Der Werwolf lupfte eine drohende Augenbraue, also beugte sich Lysander der höheren Gewalt, verkroch sich in dem winzigen Glaskasten. ~?w?~ "Was für eine Bruchbude!" Iago legte seinen Ledermantel ab, stellte seine Tasche daneben, rollte unbewusst die Ärmel seines teuren Pullovers hoch. "Ein Saustall!" Das war noch gelinde ausgedrückt. Systematisch, völlig ungeniert pflügte er durch das grauenerregende Einzimmerappartement. Im Kühlschrank, der offenkundig nicht funktionierte, lagerten gerade zwei Tütensuppen und eine Packung Trockennudeln. Im Mülleimer fand er unzählige Verpackungen von Kopfschmerzmitteln. Die verstreute Kleidung wirkte, als habe das Vampirküken einen Altkleidersack geplündert, den nicht mal die Lumpensammlung noch haben wollte. Das Bett war eine dünne Matratze auf einer Iso-Matte, die Schränke in einem erbärmlichen Zustand, kein Fetzen Tapete mehr an den Wänden. "Grauenvoll." Brummte er. Es klopfte lautstark an der Tür. Instinktiv witterte Iago, denn wer benötigte schon einen Röntgenblick?! »Aha!« Dachte er grimmig, baute sich in der Türöffnung auf. Vor ihm stand, in einen unsäglich gemusterten Bademantel mit Stepppolsterung gehüllt, eine alte Vettel. Sie roch auch so. "Sie dürfen nachts nicht duschen! Das ist verboten!" Keifte sie triumphierend. Iago starrte hinab in ein verlebtes Gesicht, das die gehässige Freude darüber ausstrahlte, jemanden ertappt zu haben. "Ich dusche doch gar nicht." Stellte Iago grollend fest. Das irritierte seine Gegnerin einen Augenblick. "Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?!" Legte sie in noch schrilleren Tönen den nächsten Scheit aufs Feuer. "Spät genug, dass Sie Ihren dringend benötigten Schönheitsschlaf antreten, Madame." Knurrte der Werwolf bedrohlich, beugte sich lauernd über sie. Unwillkürlich verzog er die Miene, denn seine Nase kräuselte sich angewidert. "Sie dürfen mich nicht bedrohen!" Geiferte sie im Rückzugsgefecht. "Und Sie sollten mal darüber nachdenken, dass nächtliches Herumblöken im Hausflur verboten ist. Wegen Lärmbelästigung." Bellte Iago ärgerlich. "Also trollen Sie sich, aber hurtig!" Damit knurrte er kehlig und lautstark. Die alte Vettel floh zeternd zurück in ihre Wohnung. »Hoffentlich hat sie keinen Hund.« Dachte Iago kopfschüttelnd, schloss die Tür wieder. Das arme Tier würde wahrscheinlich wie ein Hackenhobel hinterher gezerrt! In der Dusche lief das Wasser noch immer. Wahrscheinlich hatte der kleine Vampir gelauscht, wie er den Erzfeind in die Flucht geschlagen hatte! Iago grinste spitzbübisch, nahm auf dem Hocker Platz, der einzigen, freien Sitzgelegenheit. Skrupellos studierte er die Arbeitsergebnisse, wandte sich dem Briefverkehr zu, der ebenfalls auf dem Tisch lag, gesichert durch einen der zahllosen Steine, die man als Briefbeschwerer abgelegt hatte. Seine Miene verdüsterte sich. So langsam erklärte sich ihm, warum das Vampirküken sich derart dämlich verhielt. »Aber das geht dich nichts an!!« Warnte ihn seine Vernunft. »Denk daran, du bist ein Jäger! Für so einen Mist hast du keine Zeit!!« Iago erhob sich, trat an das schmutzige Fenster, sah hinaus auf die frühmorgendliche Szenerie. Erst würde er mit dem Küken reden. Danach würde er verschwinden. ~?w?~ Kapitel 3 - Auf gar keinen Fall! Als Lysander zögernd aus der engen Dusche trat, nur unzulänglich in ein abgenutztes Handtuch gehüllt, wartete der Werwolf bereits auf ihn, wickelte ihn wie ein Kind in den alten Bademantel, den er irgendwo ausgegraben haben musste. "Tut mir leid." Murmelte Lysander mit einem gequälten Lächeln, wies mit einer Hand in die Runde. Er wusste ja selbst, dass die Wohnung eine Katastrophe war, doch er hatte so viel zu lernen gehabt und seine Gesundheit war ja auch wackelig... "Ich habe die alte Gewitterziege verscheucht." Verkündete Iago knapp, deponierte das nasse Handtuch auf einer Wand der Duschkabine, kramte ein anderes hervor, um Lysanders Lockenschopf zu frottieren. "Wir müssen uns unterhalten." Verkündete der Werwolf streng. "Ich werde niemandem etwas erzählen!" Versprach Lysander eilig, drückte sich zwischen zwei wackelige Schränke. Der Werwolf zog eine Grimasse, streckte dann auffordernd die Hand aus. "Lass den Quatsch und komm da raus. Können wir uns auf diesen Flohfriedhof setzen, oder brechen wir durch den Boden?" Er wies mit dem Kinn auf Lysanders Nachtlager. Ohne Alternative, denn seine "Zuflucht" spottete jeder Beschreibung, schob der Vampir seine Hand in die kraftvolle, warme des Werwolfs, kauerte sich neben ihn auf die dünne Matratze. "Ich nehme mal an, dass deine Eltern dir nicht gezeigt haben, wie man jagt, oder?" Eröffnete der die Unterhaltung. Es war eine rhetorische Frage. Lysander zog die nackten Beine vor die Brust, umklammerte sie, wippte leicht vor und zurück. "Sie haben dir auch nicht gesagt, wie deine Selbstheilungskräfte funktionieren, nicht wahr? Oder was dir wirklich gefährlich werden kann." "Sie wollten es bestimmt noch tun." Murmelte Lysander schließlich verteidigend. "Erzähl mir, was passiert ist, Küken." Der Werwolf studierte ihn, wirkte nun nicht mehr so bedrohlich oder einschüchternd. Eher mitfühlend? "Ich heiße Lysander." Stellte er fest. Neben ihm verdrehte dieser Iago die Augen. "Ziemlich pompöser Name für so einen kleinen Blutsauger!" Er neigte sich Lysander zu, der ängstlich zurückwich. "Na schön, LYSANDER. Was ist passiert?" Lysander zögerte, spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Ungelenk stand er auf, öffnete ein Schrankfach, entnahm ihm ein Fotoalbum. Es enthielt jedoch nicht nur Bilder, sondern alle Stationen seines Lebens. Wortlos drückte er es dem Werwolf in die Hände, kauerte sich wieder auf seine Matratze, rieb sich über die nackten Beine. Stumm verfolgte er in dem undurchdringlichen Gesicht, wie der Werwolf Seite um Seite studierte, Bildunterschriften und Dokumente las, schließlich das Album sanft zuklappte. "Das tut mir sehr leid." Kondolierte er sanft Lysanders schmerzlichen Verlust. Der zwang sich zu einem Lächeln, doch ihm liefen schon wieder die Tränen über das Gesicht. Zu seinem Erstaunen wurde er gegen die muskulöse Brust gezogen, von den kraftvollen Armen gehalten. "Ich habe es nicht gewusst." Die sonore Stimme klang tatsächlich bedauernd und traurig. "Ich habe angenommen, du wüsstest über deine Fähigkeiten Bescheid." Eine Hand streichelte durch Lysanders wirre, noch feuchte Locken, immer wieder, so tröstlich warm und aufmunternd. Lysander schlang die Arme um den Werwolf, schmiegte sein nasses Gesicht in den weichen Wollstoff des Pullovers. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich zum letzten Mal so geborgen gefühlt hatte. ~?w?~ Iago kraulte den kastanienbraunen Lockenschopf und dachte nach. Es war ihm natürlich aufgefallen, dass dieser Vampir optisch schon ein wenig anders war, aber nun hatte er die Gewissheit, dass das Küken, Lysander!, auch nicht wie andere Vampire aufgewachsen war. "Du musst dir einen Gefährten suchen!" Hörte er sich laut, drängend sprechen. "Hast du jemanden, dem du vertrauen kannst?" Ein Tränen-feuchtes, von dunklen Augenringen verunziertes, blasses Gesicht löste sich von seinem Pullover, blickte ihn an. "Nein." Iago seufzte laut. "Dumm von mir, das anzunehmen." Er schob den Vampir auf dessen Fersen zurück. "Hör mal, Lysander, so geht's nicht mit dir weiter. Du MUSST jemanden finden, der dein Geheimnis kennt und dich mit Blut versorgt!" Keine Frage, auf sich gestellt würde dieser kleine Vampir nicht lange überleben. "Also, diese Stelle ist dein Schwachpunkt. Bei allen Vampiren." Er tippte Lysander auf den Brustkorb. Sein Verstand brüllte ihn an, ob er wisse, was genau er da tue?! So einfach einem potentiellen Feind alles zu enthüllen! Iago gebot seinem Verstand, gefälligst das Maul zu halten. "Du musst darauf aufpassen. Eine Kugel kann dich wahrscheinlich nicht umbringen, aber jeder andere Gegenstand, der länger an dieser Stelle in deinem Körper steckt, WIRD dich töten." Grübelnd setzte er seine Basislektion im Vampir-Überleben fort. "Soweit ich weiß, kann dein Körper jede andere Wunde heilen. Dabei solltest du allerdings allein sein. Hüte dich vor Feuer. Brandwunden sind übel." Unerwartet lehnte er sich nach vorne, umfasste Lysanders spitzes Kinn, studierte dessen braune Augen. "Ich nehme mal an, du kannst niemanden verführen, oder? Hypnotisierender Blick, passende Stimmlage?" Lysanders fragender Gesichtsausdruck sprach Bände. Der Werwolf seufzte, tätschelte das Lockenhaupt abwesend wie einen Hund. "Dachte ich mir schon. Als Vampir ein Totalausfall." Er studierte Lysander kritisch, beugte sich vor, um unerwartet dessen Locken herunterzukämmen. "Mit dem Putz und diesen Trauerringen siehst du aus wie dieser Kasper von Tokio Hotel." Knurrte er indigniert. "Wann hast du das letzte Mal einen Frisör beglückt?!" Der Vampir senkte beschämt den Kopf. Iago schnalzte mit der Zunge, aber er begriff schon. Den Kredit, den das Küken abzuzahlen hatte, konnte es nur bedienen, indem es seine Lebenshaltungskosten radikal beschnitt. Das reichte nicht für einen solchen Luxus. "Kennst du andere Vampire? Jemand, der dir auf die Beine helfen kann?" Iago bemühte sich um einen Ausweg. Irgendwer musste dieser halben Portion doch helfen können! Eine kalte Hand schob sich in seine warme. "Kannst du bei mir bleiben? Nur für heute?" Schränkte Lysander eilends ein. "ICH?!" Iago platzte laut heraus. "Spinnst du?! Ich bin ein Werwolf!" Der Vampir zuckte zusammen, als hätte er ihn geschlagen. Um eine versöhnliche Note bemüht drückte Iago die schlanke Hand. "Du musst keine Angst mehr haben, diese Sache ist vorbei. In Ordnung? Die einzige Gefahr, die drohen könnte, das bin ich. Also wäre es doch wohl besser, wenn ich mich verziehe, nicht wahr?" Unerwartet heftig entzog ihm der Vampir seine Hand, um sich dann auf ihn zu stürzen, an ihn zu klammern. "Bitte! Bitte, geh nicht! Lass mich nicht allein! Bitte, bitte!" ~?w?~ Lysander presste das Gesicht in die Halsbeuge des Werwolfs, eine unwillkürliche Reaktion. Er dachte nicht mal im Traum daran, den Mund zu öffnen, eine Wunde zu schlagen und Blut zu trinken. Ihn beherrschte ausschließlich der Anflug von Panik, der sich bei dem Gedanken eingestellt hatte, er möge einschlafen und...tot sein. Wie einige Stunden zuvor in Dunkelheit fallen und sterben. Allein gäbe es keine Gewissheit für ein Erwachen! "Was soll das denn?!" Der Werwolf klopfte ihm auf den Rücken wie einem Säugling, der aufstoßen sollte, damit alles gut würde. "Du musst keine Angst mehr haben! Es ist alles okay, verdammt noch mal!" Fieberhaft suchte Lysander nach einem Ausweg. Ein Argument musste her, möglichst rasch und unwiderstehlich, um Iago zu überzeugen, dass der blieb! Seine Gedanken rasten wild durcheinander. "Du kannst mit mir schlafen!" Sprudelte er hastig heraus, gerade noch rechtzeitig, bevor er wie ein lästiges Insekt abgepflückt wurde. "Wie bitte?!" Die hellgrünen Augen funkelten wütend. Lysander verhaspelte sich in seiner Angst vor der Verlassenheit. "Es macht mir nichts aus, wirklich! Du schläfst mit mir und bleibst, bis ich aufwache, ja??" Der Werwolf knurrte ihm so laut und beängstigend ins Gesicht, dass Lysander nach hinten umkippte. "Spinnst du?!" Grollte Iago in dunkelsten, kehligen Lauten. "Du weißt doch gar nicht, wie man's mit nem Kerl treibt!" Nun beugte sich der Werwolf über ihn, warf einen bedrohlichen Schatten, fletschte das imposante Gebiss. "Ich bin ein Werwolf, kapierst du das?! Ich bin auf der Jagd! Hat es dir nicht gereicht, was vorhin mit dir passiert ist?! Bist du wirklich scharf auf ne Wiederholung?!" Lysander bebte die Unterlippe, aber für ihn gab es nur die eine Wahl: allein zurückbleiben oder sich für ein bisschen Sex opfern. Das eine konnte er überleben, wie sich gezeigt hatte, beim anderen war er sich nicht sicher. Diese irrationale Furcht beherrschte ihn vollkommen. Er klammerte sich in den Wollstoff, flehte verzweifelt. "Bitte, ich bitte dich! Ich mache mit, ich tue alles, was du willst, wenn du bei mir bleibst! Lass mich nicht allein, bitte! Bitte!" Iago schleuderte ihn mühelos von sich, stand auf, starrte auf ihn herab. ~?w?~ »Tu das nicht, Idiot! Seit wann stehst du auf magere Bürschchen, die aussehen, als hätten sie in die Steckdose gegriffen und wären mit nem Waschbären gekreuzt worden?!« Unwillkürlich verzog der Werwolf die Miene, als ihn seine Assoziation mit einem Teenie-Idol einfiel. Lysander kniete vor ihm, hatte die Hände auf seine Lederhosen gelegt. Immer wieder bettelte der kleine Vampir um seine Gunst. Iago schloss die Augen. Da war das Adrenalin, das ein Ventil suchte, hier ein praktisches Ziel fand. Genau entgegengesetzt seiner Moral, die ihm verbat, ein naives Jungchen quasi zu vergewaltigen, die seelische Notlage auszunutzen. Abrupt wandte er sich um, zog die erbärmlichen Fetzen zu, die als Vorhänge dienten. "Unter die Decke." Kommandierte er heiser, durchquerte den Raum, um seine Tasche zu holen. Ohne Scham streifte er seine Kleider ab, ging dann in die Hocke, um Kondome und eine Gleitcreme aus der Tasche zu nehmen. Ein guter Jäger war auf ALLES vorbereitet. Er schlüpfte unter die Decke, fauchte bissig. "Wenn du mir deine Hauer reinschlägst, prügel ich dich in die nächste Woche, klar?!" Lysander schlang die dünnen Arme um seinen Nacken, schmiegte sich an ihn. Wieder und wieder wisperte er seinen Dank, schwankte zwischen Lachen und Weinen. "Wart's ab." Brummte der Werwolf schicksalsergeben. "Noch sind wir nicht fertig!" ~?w?~ Lysander dachte nicht darüber nach, was ihm drohen könnte oder grundsätzlich bevorstand. Alles, was er wollte, war einen warmen Halt in der Dunkelheit, die im Schlaf wartete. Jemanden, der ihm die Gewähr dafür bot, dass er wieder aufwachte. Unwillkürlich begann er zu zittern, als er sich daran erinnerte, wie er auf der Platte in dem verlassenen Gebäude "gestorben" war. "SchSch." Raunte der Werwolf, bedeckte ihn mit seinem Körper, streichelte ihm über die Schläfen und Wangen. "Keine Angst. Alles ist in Ordnung." Lysander grub die Fingernägel tiefer in den von sehnigen Muskeln überzogenen Rücken, kniff die Augen zu, bis er Sterne sah. "Lass mich nicht allein, bitte, lass mich bloß nicht allein!" Wisperte er immer wieder, hätte sich am Liebsten IN dem Werwolf verkrochen. "Nein." Die dunkle Stimme vibrierte sonor durch seinen Körper. "Ich bleibe da, Küken." Unbewusst lächelte Lysander in der Dunkelheit kläglich. Wahrscheinlich verdankte er diese Aufmerksamkeit ausschließlich dem Mitleid des Werwolfs, für den er wie ein hoffnungsloser Verlierer erscheinen musste. "Bin ich der Erste?" Riss ihn die kehlige Stimme aus traurigen Gedanken. Lysander wäre errötet, wenn ihm so viel Blut und Kraft zur Verfügung gestanden hätten. So verströmte er lediglich eine Ahnung von Scham. "Ah." Brummte Iago über ihm. Ein sanfter Kuss siegelte Lysanders kalte Stirn. Bange, dass er doch als zu mangelhaft abgewiesen werden könnte, verstärkte er seinen Klammergriff, zog den Kopf zwischen die Schultern, unterdrückte Tränen der Panik. Über ihm seufzte der Werwolf profund. "Hör mal, Küken, du MUSST dringend was gegen diese Heulerei tun. Ich bin kein Fisch und will nicht in Salzlake eingelegt werden. Und du willst sicher nicht als Trockenpflaume enden, oder?" ~?w?~ »Na, haben wir das genial geregelt, oder wie?!« Verspottete ihn seine innere Stimme selbstironisch, als die Vampir-eigene Bewässerung eingestellt wurde, unter ihm dafür ein Frosch in ständiges Quaken ausbrach. Lysander hatte vor Überraschung falsch geatmet, litt nun unter einem heftigen Schluckauf. "Langweilig wird's mit dir jedenfalls nicht." Knurrte Iago tröstend, legte eine Hand um den schmalen Unterkiefer des Jüngeren, küsste den Vampir vor der nächsten Geräuschsequenz. Er spürte das Stolpern, auch wenn es keinen Herzschlag bei einem Vampir gab, aber Puls und Atem stockten für einen winzigen Moment. »Liebe Güte, du wirst dem Vampirküken wirklich von Adam zu Adam alles beibringen müssen!« Jaulte seine innere Stimme geplagt auf. Iago befahl ihr, mal ein paar Runden um den Block zu drehen, er war nämlich beschäftigt genug. Es war schon eine Weile her, seit er das letzte Mal mit einem männlichen Partner intim gewesen war. Ein "jungfräuliches" Wesen wie den kleinen Vampir hier hatte er noch nie als Bettgenossen gehabt. DAS jagte auch seinem Selbstbewusstsein einen gewissen Dämpfer ein. Allerdings verpasste ihm sein Verantwortungsgefühl ein steifes Rückgrat. Wer würde sonst dem Küken helfen? Es grenzte schon an ein Wunder, dass der es so weit gebracht hatte. Geduldig zog sich Iago immer wieder zurück, um einen neuen Kuss zu beginnen, zeigte dem unerfahrenen Jüngeren, wie man dieses Spiel aus Verführung und Hingabe betrieb. Warum sich etwas vormachen? Lysander rührte sein Herz an, mit dieser tapferen Hilflosigkeit. Vielleicht hatte der kleine Vampir noch nicht die Ausweglosigkeit seiner Situation erkannt, aber dessen ungeachtet zollte der Werwolf ihm Respekt für seine Einstellung. In anderen Zeiten hätten die Vampire jemanden wie Lysander in der Pubertät getötet, um ganz sicher zu gehen, dass ein behinderter Vampir nicht ihre ganze Rasse gefährdete. Wenn erst das Geheimnis aufgedeckt, der Schleier gelüftet wurde, würde die paranoide Angst der Menschen vor scheinbar überlegenen Lebensformen ihren Untergang bedeuten. Es war nicht ausgeschlossen, dass manche noch immer so dachten. Immerhin lebten sie seit jeher unter Menschen, waren nicht gefeit vor der Ansteckungskraft des Verfolgungswahns. Endlich entspannte sich der Klammergriff um seinen Rücken, schlängelten sich dünne Arme um seinen Nacken. »Ich werde dich heute Nacht so lieben, dass du alle Gedanken an den Alltag vergisst!« Schwor der Werwolf stumm. Und er hatte ja seinen besonderen Vorteil in petto. ~?w?~ Nun tanzten Sterne vor seinen Augen, selbst wenn Lysander sie weit aufriss. Draußen dämmerte der späte Morgen des ersten Novembertags heran, hier drinnen explodierten dagegen Farben und Sensationen. Überall auf seiner glatten, sehr hellen Haut hatte der Werwolf Spuren hinterlassen, untrüglich genau die Stellen ausgemacht, an denen Lysander besonders sensibel auf jede Berührung reagierte. Der konnte gar nicht glauben, dass sein oft kühler, unmenschlich haarloser Körper so empfindsam war. Doch das spielte keine Rolle, nicht jetzt. Lysander gab Iago keinen Augenblick ganz frei, wollte diese liebevolle Aufmerksamkeit und tröstliche Wärme nicht verlieren. Seine wenigen, eher ernüchternden Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht hatten ihn nicht darauf vorbereitet, wie wahre Leidenschaft sich anfühlte, wie sie ihn in festem Griff umschlang, nicht mehr freigab, die Regie über seinen Körper an sich riss. Wirklich ALLES, was ihn ausmachte, war in Flammen gesetzt, loderte so sehr, dass er fieberte, sich unter dem Werwolf auf der dünnen Matratze wand. Was auch immer Iago wollte, er gestattete es ihm, kein Kontakt, so intim er war, löste bei Lysander auch nur ein Zögern aus. Weil der Werwolf so zärtlich war, geschickt und geduldig. Tränen sickerten aus Lysanders Augenwinkeln. Wenn er es doch nur verstünde, dessen Herz zu gewinnen! ~?w?~ Iago beugte sich tiefer, leckte die salzigen Tränen von dem blassen Gesicht, das sogar eine Ahnung von Farbe angenommen hatte. Er spürte, dass er Lysander keine Schmerzen zufügte, also mussten diese Tränen einer anderen Ursache geschuldet sein. "Ich bin hier." Raunte er kehlig zur Beruhigung, obwohl das offenkundig war, aber sein Instinkt belohnte ihn: Lysander seufzte leise, verlor die leichte Anspannung. Es war an Iago, darauf zu achten, dass der seinen unerfahrenen Liebhaber nicht zu rasch an die Grenzen der Selbstbeherrschung trieb, denn allzu viele Reserven schien der kleine Vampir nicht zu haben. In ihm selbst baute sich eine gewisse Anspannung auf, weil er im Begriff war, eine bis dato unberührte Körperpartie zu erobern, sah man von der Folter ab. Konzentriert fixierte er seinen Blick auf das blasse Gesicht, ob sich nur ein Hauch von Angst oder Unbehagen zeigte. Wenn sich Lysander erinnerte, Furcht offenbarte, würde er davon absehen, ihre Körper auf diese Weise zu verbinden. Es war schlichtweg nicht notwendig, um Erfüllung zu finden. Der Werwolf in ihm genoss es jedes Mal, für wenige Augenblicke die strenge Selbstkontrolle hinter sich zu lassen, in einen anderen Leib einzudringen, sich gleichsam selbst auszuliefern. Iago beugte sich herab, küsste Lysander intensiv, dirigierte mit einer Hand das schmale Becken in die richtige Ausgangsposition. Seine Erektion pochte bereits schmerzhaft, aber Iago war ganz Selbstkontrolle. Noch konnte er die Zügel nicht schießen lassen. Hatten drei Finger und die Gleitcreme genügt? Täuschte er sich auch nicht im Befinden des Vampirkükens? Unerschrocken, doch wachsam liebkoste er Lysanders Erektion mit der Linken, während er gleichzeitig sehr beherrscht in dessen Unterleib eindrang, auf den fliegenden, flachen Atemrhythmus achtete, um weiter voranzukommen. Fiebrig wand sich der Vampir unter ihm, grub die Fingernägel in seine Oberarme. Iago atmete zischend aus. Er wollte sich nicht zu zeitig bewegen, aber das ungezielte Herumhaschen der suchenden Hände rührte sein Mitleid. Sehr langsam beugte er sich, die Zunge hart gegen den Gaumen gepresst, um nicht vernehmlich zu stöhnen, herunter, legte die dünnen Arme um seinen Nacken. Hier war der Größenunterschied ein entscheidender Vorteil. Unter ihm hechelte Lysander heißen Atem in sein Gesicht, unnatürlich blass. Für einen Menschen. Iago schloss die Augen, visualisierte sich sein Ziel. Er "spürte", wo er Lysander touchieren musste. Dazu war kaum Schwung notwendig, lediglich ein sanftes Wippen, eine zärtliche Kurve, die ihren höchsten Punkt treffsicher erreichte. Der kleine Vampir unter ihm stieß unartikulierte Laute der Lust aus, zuckte heftig, füllte das Kondom, bäumte sich elektrisiert auf. Dann holte ihn der "kleine Tod" ab. ~?w?~ Iago stützte den Kopf in die Hand, betrachtete in der Semi-Dunkelheit des schäbigen Appartements seinen Liebhaber, streichelte behutsam über den feuchten Lockenschopf. Lysander schlief erschöpft, hatte aber das Bewusstsein wieder erlangt. "Was bist du doch für ein armes Kerlchen." Raunte der Werwolf leise. "Zu nahe am Wasser gebaut und ständig am Rand einer Ohnmacht." Wenn man ihn allerdings dazu anhielt, regelmäßig etwas Nahrhaftes zu essen, das unsägliche Vogelnest auf seinem Kopf stutzte, ihm ordentliche Kleider verschaffte, dann könnte das Vampirküken durchaus sehr attraktiv sein. Zwar nicht gerade auf die männlich-herbe Weise, als kerniger Kerl, aber als eleganter Dandy vielleicht? »Idiot!« Schnarrte seine innere Stimme alarmiert. »So was solltest du seiner Freundin oder seiner Mutter überlassen!« »Dumm nur, dass wir das wohl NICHT tun können.« Knurrte Iago ärgerlich zurück. Er ließ den Kopf auf die dünne Matratze sinken, fädelte den unteren Arm unter die erbärmlich leichte Gestalt des Vampirs, zog ihn sanft an seine breite Brust. "Herrje, was fange ich bloß mit dir an?" Flüsterte er leise und rau, streichelte behutsam über Lysanders Hinterkopf. Zum großen Ärgernis des Triumvirats HATTE er bereits unbewusst einen Entschluss gefasst. ~?w?~ Kapitel 4 - Eingefangen! Nach einem erquicklichen Schläfchen erwachte der Werwolf mit neuer Energie, nicht mehr so sehr von seinem Adrenalin angefeuert, nein, es war einfach die Befriedigung, eine weitere Jagd erfolgreich abgeschlossen zu haben. Er konsultierte seine Armbanduhr, die er neben der Matratze auf seiner Tasche abgelegt hatte. Wenn alles wie geplant verlaufen war, würden die örtlichen Behörden bereits von einer anonymen Quelle zahlreiche Beweismittel zugespielt bekommen haben. Irgendwo würde eine Streife in Marsch gesetzt, um nachzuschauen, ob sich in einem verlassenen Gebäude tatsächlich eine hilflose Person befand. Iago wandte den Kopf, entdeckte den Vampir neben sich, im Schlaf an ihn geschmiegt. Vorsichtig befreite er sich von Armen und Beinen, die ihn umschlungen und umfädelt hatten wie Pflanzenranken. Er erhob sich von der Matratze, deckte Lysander ordentlich zu, begann dann mit geübter Systematik, alle Muskeln und Sehnen zu dehnen, zu strecken, aufzuwärmen. Vor dem Fenster zeigte sich ein trüber Novembertag, gegen den eine blasse Sonne ankämpfte. Hier und da schimmerten noch einige wenige Blätter in herbstlich prächtiger Färbung. Der Werwolf atmete tief durch, streifte "Iago" ab. Geschmeidig und lautlos glitt er in seine Kleider, nahm seine Tasche auf, betrachtete den schlafenden Vampir, der sich automatisch in eine fötale Haltung zusammengerollt hatte. Er verließ das armselige Appartement. ~?w?~ Eher widerwillig gab der Schlaf Lysander frei, der sich auf den Rücken drehte, mit den Handrücken die Augen rieb. Ein wenig erstaunt darüber, dass ihm nicht wie gewohnt sämtliche Knochen schmerzten, schob er sich ungelenk in eine sitzende Haltung. Seufzte, als sich der schmierige Film vor seinen Augen klärte. Natürlich war Iago gegangen. »Aber ich BIN sicher und wohlbehalten aufgewacht.« Lächelte er bekümmert. Trotzdem zog er die Knie vor die Brust, umarmte sie mit hochgezogenen Schultern. Es war beschämend für einen erwachsenen Mann, so abhängig zu sein von der Anwesenheit eines anderen Menschen, das wusste er ja selbst. Dennoch, mit sich allein war es schwer, immer wieder von Neuem den Tag in Angriff zu nehmen. Er schreckte zusammen, als ein Schlüssel in seine Wohnungstür glitt, sie geübt geöffnet wurde. Mit offenem Mund beobachtete er, wie der Werwolf eintrat, umhüllt von einem so appetitanregenden Wohlgeruch, dass Lysanders Magen lautstark knurrte. "Das ist ja mal eine euphorische Begrüßung." Brummte der Werwolf. "Guten Morgen. Hätte nicht erwartet, dass du schon wach bist." "Guten Morgen." Lysander wischte sich eilig Speichel vom Mund, lächelte kläglich. "Ich habe angenommen, dass..." "Dass ich mein Wort breche, dich nach dem nächtlichen Vergnügen einfach sitzenlasse?" Schnarrte der Werwolf ärgerlich. "Na, danke für das Vertrauen!" "Es tut mir leid!" Hastig rutschte Lysander auf die Knie, bemühte sich, auf die Beine zu kommen. "Entschuldigung!" "Ach was!" Grummelte der Werwolf, schälte sich aus seinem Ledermantel. "Das beweist mir wenigstens, dass dein Verstand nicht gelitten hat. Es gibt noch Hoffnung für dich." Nervös beäugte der Vampir seinen Besucher, wusste nicht recht, wie er diese Bemerkung aufnehmen sollte. Er entschied sich schließlich für ein schiefes Lächeln. Das blätterte allerdings in Anbetracht des kritischen Blicks aus den hellgrünen Augen rapide ab. "Los, unter die Dusche, Vampirküken." Kommandierte der Werwolf energisch. "Danach wird anständig gefrühstückt. Auch wenn es schon auf Mittag zugeht." Was bei dieser Wetterlage keinen großen Unterschied machte. Eilig huschte Lysander in die Duschkabine. Unterdessen rollte der Werwolf die Ärmel hoch, zog die Vorhangfetzen zurück, zwang das klemmende Fenster nieder, öffnete es, damit frische Herbstluft eindringen konnte. Er wechselte das Bettlaken, hängte die Bettdecke zum Lüften aus dem Fenster und arrangierte seine Einkäufe. Bei Tageslicht betrachtet erschien ihm das Appartement noch erbärmlicher. "Verdammte Bruchbude." Kommentierte er grimmig, dankte dem Schicksal dafür, dass er weder Schimmel, noch Ungeziefer entdecken konnte. Schüchtern, das Lockenhaupt gehorsam in einen Handtuchturban gehüllt und in den alten Bademantel eingewickelt, nahm Lysander nach seiner Dusche auf der Matratze Platz. Er seufzte hingerissen, als er des Frühstücks ansichtig wurde: halbe Literbecher mit Milchkaffee, belegte Brötchen, mit feiner Krem gefüllte Croissants. "Guten Appetit." Wünschte der Werwolf, nickte ihm auffordernd zu. Sehr leise wiederholte Lysander den Gruß und fügte einen aufrichtigen Dank an. Langsam und andächtig verzehrte er das, was der Werwolf ihm ständig zuschob. Keine Vogelmutter hätte ihren Nachwuchs hingebungsvoller versorgen können. Als der Werwolf ihm schließlich sogar Zunge schnalzend die Hände mit einem Taschentuch abwischte, anschließend mit einer Serviette energisch den Mund abtupfte, konnte Lysander sich nicht helfen, lachte laut. Hatte man je gesehen, dass ein Werwolf ausgerechnet einen Vampir begluckte? "Was ist so komisch daran, wenn man wie ein kleines Ferkel isst?!" Ein indignierter Blick strafte ihn tadelnd, doch Lysander lächelte bloß warm. "Ich bin sehr froh, dass ich dich getroffen habe." Vertraute er ihm leise an. "Solltest du auch!" Knurrte der Werwolf mit betont finsterem Blick. "Du musst dich und diesen Saustall dringend mal auf Vordermann bringen!" ~?w?~ Als er den bekümmerten Blick in den braunen Augen sah, bereute er seine harsche Kritik sofort. Trotzdem lächelte ihn das Vampirküken kläglich an. "Ich weiß. Tut mir leid. Ich bin wahrscheinlich eine große Zumutung, Iago." Er seufzte profund und besonders sonor. "Hör mal, ICH kann nicht auf dich aufpassen. Das verstehst du doch, oder?" Geistesabwesend pflückte er den Handtuchturban herunter, zupfte an den verwilderten Locken. Lysander senkte den Blick, lächelte auf die erbärmliche, zwangsweise verständnisvolle Weise, die geradezu danach verlangte, mit einer kräftigen Ohrfeige vertrieben zu werden. Er ballte die Fäuste, um den Reflex zu bekämpfen. "Ich bin ein Werwolf, du bist ein Vampir." Zählte er knurrend die Argumente auf. "Ich bin fast zehn Jahre älter als du. Ich gehe auf die Jagd, bin tagelang von Zuhause weg. Ich tue Dinge, die dir bestimmt nicht gefallen würden." Er verbesserte sich knapp. "Einige HABEN dir sicher nicht gefallen." Er zwang Lysanders Kinn mit festem Griff nach oben. "Aber ich WERDE damit nie aufhören." "Ich weiß." Murmelte Lysander, zwinkerte die verabscheuten Tränen weg, weil er sich so verlassen und wertlos fühlte. "Du fängst die Bösen, nicht wahr? Wie ein Comic-Held." "Nur ohne Strumpfhosen." Konnte der Werwolf sich nicht verkneifen zu erwähnen. Lysander lächelte leicht. Wieder kullerten glasklare Tränen über das blasse Gesicht, sammelten sich in der Hand des Werwolfs unter seinem Kinn. "Entschuldigung." Piepste Lysander erstickt. Er WOLLTE ja gar nicht weinen, aber seine Chancenlosigkeit schmerzte zu sehr. "Ach, Kerlchen." Murmelte der Werwolf sanft, zog Lysander in seine Arme, wiegte ihn wie ein Kind. "Mein richtiger Name lautet Dragomir." ~?w?~ Es WAR beschämend, aber Lysander kümmerte das nicht mehr. Er hatte nicht den Eindruck, dass es ihm möglich wäre, vor Dragomir etwas zu verbergen, der ihm gerade mit einem feuchten Lappen das Gesicht abwischte, ratlos wirkte. "Gibt es wirklich keine Chance?" Lysander holte tief Luft, ignorierte den Kloß in seinem Hals. "Kannst du dich gar nicht in mich verlieben?" "Na, das fehlte auch noch!" Grummelte der Werwolf, zupfte an Lysanders Locken herum, eine kritische Furche in der Stirn. "Hast du mir nicht zugehört?! Ich bin der große, böse Wolf, der die bösen Buben jagt! Du solltest dir was Nettes suchen, jemand, der sich ordentlich um dich kümmert." Unversehens erwärmte er sich für das Thema. "Jemand, der dich regelmäßig zum Friseur schickt, deine Kleider aussucht, damit du nicht wie eine Vogelscheuche herumrennst! Außerdem brauchst du dringend mehr Fleisch auf den Knochen!" Ordentlich wurden die Abfälle des Frühstücks in eine Tüte eingesammelt. "Dann musst du ausziehen. Diese Bruchbude hier ist eine Schande!" Die Miene des Werwolfs sprach Bände. "Außerdem sollte sich jemand um diesen Kredit kümmern, den du da abbezahlst! Das kommt mir nicht ganz koscher vor." Lysander nickte langsam. Schüchtern streckte er eine kalte Hand aus, legte sie auf eine Hand des Werwolfs. "Wie soll ich so jemanden finden? Warum sollte so jemand bei mir bleiben wollen? Wenn ich doch so furchtbar unfähig bin?" Dragomir schnarrte grollend. "Quatsch mit Soße! Du bist vielleicht nicht gerade ein Bilderbuch-Vampir, das mag ja sein." Gab er konziliant zu. "Aufgepäppelt und aufgerüscht würdest du bestimmt einen netten Eindruck machen." Da ihm diese Beschreibung selbst kläglich erschien, ergänzte Dragomir eilends. "Wenn du deine Prüfung bestehst, bist du doch im Staatsdienst, oder? Ein sicherer Arbeitsplatz, geregelte Arbeitszeiten, ausreichend Einkommen zum Leben, das ist doch nicht zu verachten!" Lysander seufzte. "Aber für dich ist das bei weitem nicht genug, oder?" Antwortete er bekümmert. "Also wirklich!" Schnaubte der Werwolf beleidigt. "Nur weil ich heute Nacht das Vergnügen hatte, mit dir zu schlafen, musst du dich nicht auf mich versteifen! Es gibt Millionen Menschen auf der Welt!" "Das stimmt." Lysander nickte beifällig. "Aber wie viele von ihnen wären bereit, einen behinderten Vampir, der so lebensuntüchtig ist, durchzuschleppen?" Dragomir warf ihm einen finsteren Blick zu. "Du musst eben suchen!" Im gleichen Augenblick schüttelte er ärgerlich über sich selbst den Kopf. "Nein, das wäre zu gefährlich." Widersprach er sich selbst nachdrücklich. Das Vampirküken könnte sich gleich eine Zielscheibe auf die Brust heften! Sie sahen einander für lange Minuten einfach in die Augen, beide ernst und ein wenig eingeschüchtert. Der Werwolf schüttelte als erster die stumme Spannung ab. "Bist du wirklich sicher, dass du das aushalten kannst?" Erkundigte er sich lauernd. "Auf mich zu warten, während ich jage? Dich von allen Vampiren zu distanzieren? Zum Mitverschwörer zu werden?" Lysander lächelte scheu. "Wenn wir zusammen bleiben, dann kann ich es." Deutlich errötend dank des opulenten Mahls fügte er hinzu. "Ich liebe dich nämlich." "Ach, das sind bloß Nachwehen von letzter Nacht!" Fauchte Dragomir hastig, wedelte dieses Eingeständnis weg. "Ich meine, ich BIN zwar ein ganz toller Hecht, gar keine Frage, aber gleichzeitig auch ein absolut fieser Typ!" Fügte er selbstironisch an. Den Unglauben konnte er deutlich von Lysanders amüsiertem Gesicht ablesen. NIEMAND, der einem verheulten Vampirküken das Gesicht abwischte, konnte ein "absolut fieser Typ" sein. Jede zärtliche Aktion konterkarierte diese freche Behauptung. "Vergiss nicht, was aus dem Abschaum von gestern geworden ist!" Drohte ihm der Werwolf ungehalten. Vielleicht hatte er als Rudelführer eine gewisse Neigung zum Beglucken, ABER er konnte auch GANZ ANDERS! "Das vergesse ich nicht." Versicherte Lysander ruhig. Er vertraute auf den Ehrencodex, den sich der Werwolf selbst gegeben hatte, auf den Ausdruck der Reue und des Bedauerns in dessen ungewöhnlichen Augen, als er ihm verständlich gemacht hatte, dass er nichts von seinen besonderen Vampirfähigkeiten gewusst, deshalb wirklich mit dem Tod gerechnet hatte. "Was kann ich tun?" Er streckte die Hand aus, streichelte sanft über eine markante Wange. "Was wünschst du dir? Ich werde mich anstrengen, ich verspreche es!" Zum ersten Mal sah er daraufhin ein Lächeln auf Dragomirs Gesicht, sanft, nachsichtig, mitfühlend. Lysander keuchte vor Verblüffung, denn die Verwandlung im Ausdruck war beeindruckend. Wenn es einen Spiegel für die Seele gab, reflektierte der gerade ohne Fehl, was Dragomir wirklich ausmachte. War es da ein Wunder, dass Lysander sich erneut heftig verliebte? ~?w?~ »Herrje!« Seufzte die innere Stimme des Werwolfs bekümmert. »Das Küken ist wirklich schlecht für mein Herz!« Man konnte einfach nicht widerstehen, MUSSTE, ganz gegen den eigenen erklärten Willen, ihm beistehen, ihn trösten. Beschützen. Lieben. ~?w?~ Dieses Mal schloss Dragomir lediglich das Fenster, als er die Decke barg, aber die Vorhangfetzen zog er nicht vor. Er streifte seine Kleider ab, stand einen Moment lang vollkommen nackt vor Lysander. Der blickte zu ihm auf und langsam an ihm herunter. Wusste der kleine Vampir, dass nur wahrhaft starke Werwölfe gänzlich ohne starke Brustbehaarung waren, weil sie ihre Haare nach innen trugen? Dragomir erinnerte sich, dass er immer behauptet hatte, er rasiere sich so gründlich, dass es keine Brusthaare zu sehen gäbe, um jeden Verdacht zu zerstreuen, er sei nicht ganz menschlich. Vielleicht hatte er genauso viele Geheimnisse wie der kleine Vampir, vor den er sich jetzt kniete. Wahrscheinlich hatten sie sogar mehr Gemeinsamkeiten, als er jetzt zu erkennen vermochte. Sanft streichelte er über eine blasse Wange, lächelte, als sich Lysander in seine Handfläche schmiegte. »Ich werde dich lieben.« Versprach er ihm stumm. ~?w?~ Dragomir erhob sich, nachdem er mit einem feuchten Tuch Lysander behutsam abgerieben hatte. Der blinzelte, streckte sehnsüchtig die Hand nach ihm aus. Der Werwolf ergriff sie, drückte einen warmen Kuss auf den Handrücken. "Ich möchte, dass du noch ein wenig schläfst." Er streichelte durch die verwilderten Locken. "Ich habe noch einige Dinge zu erledigen. Danach komme ich wieder vorbei." Lysander blinzelte gegen die Müdigkeit an, lächelte aber. "Versprochen?" Zwang er seine schwere Zunge zu einer lallenden Äußerung. Ihm fehlte wirklich die Kondition, um sich mit Dragomirs Liebeskünsten messen zu können. "Versprochen." Besiegelte der mit einem Kuss auf Lysanders Stirn ihre Abmachung, deckte ihn sorgfältig zu, stopfte die ausgefransten Enden gründlich fest. Als er sich vor der Wohnungstür noch einmal umdrehte, schlief der kleine Vampir bereits tief und ruhig. Dragomir lächelte zärtlich. Wie auch immer Lysander es angestellt hatte: er WAR in ihn verliebt. ~?w?~ Auf dem Weg zu seinem eigenen Wagen, gegen den tapferen Sonnenschein des frühen Mittags mit einer Sonnenbrille gewappnet, bemerkte Dragomir das Vibrieren in seiner Tasche. Er fischte sein privates Telefon heraus, studierte die Anzeige, verzog die Miene. Aber es half nichts, Flucht war zwecklos. Dragomir trat von einer Bordsteinkante zurück, suchte sich einen schattigen Platz unter einer Arkade, starrte blicklos auf die vollgestopfte Fensterauslage eines Blumengeschäfts. "Ja, Mutti?" Meldete er sich ergeben, um den üblichen Tadel zu ernten, er solle sich gefälligst mit Gruß und Namen melden. Der Werwolf verzichtete wie gewohnt darauf, seine Mutter auf die Tatsache hinzuweisen, dass ihre Nummer ihm angezeigt wurde, sie die Einzige war, die mit ihrem Mobiltelefon ausgerechnet ihn anrufen würde. "Nein, ich habe frische Wäsche. Nein, meine Waschmaschine funktioniert ausgezeichnet. Nein, ich habe ordentlich gefrühstückt. Mutti, du weißt, dass ich kaum Alkohol trinke." Er legte die Hand über das Mikrofon, seufzte laut. Warum konnten sich Mütter nicht daran gewöhnen, dass ihre allein lebenden Söhne durchaus mit dem Haushalt klarkamen?! Vor allem er selbst hatte doch immer bewiesen, dass er Ordnung zu halten verstand, planvoll einkaufte, großen Wert auf regelmäßige, nahrhafte Mahlzeiten legte. "Ja, da gebe ich dir recht." Erwiderte er in nachgiebigem Tonfall. "Solche Geräusche sind bedenklich. Nein, ich bin sicher, dass du sie gehört hast. Ja, wenn Vater das mir überlassen möchte." Warum konnten sie NIE einfach sagen, er möge mal vorbeischauen?! Ständig waren es dubiose Geräusche in den Maschinen, schwere Blumenkästen oder andere Dinge, die als Vorwand dienten, damit er anrücken musste. Obwohl er selbst gesehen hatte, wie seine Mutter ZWEI volle Kästen Wasser in Glasflaschen stemmte! Unwillkürlich studierte er das Angebot im Schaufenster eingehender. Da, die gelben, körbchenartigen Blüten in dem Trockenstrauß, die gefielen ihm. »Strohblumenart.« Kommentierte sein Verstand beiläufig. »Sie wird an die Decke gehen, wenn du ihr einen Trockenstrauß mitbringst!« Dragomir grinste sich selbst zähnefletschend in der Spiegelung zu. UNBEDINGT musste es ein Trockenstrauß sein! "Ja." Antwortete er höflich. "Ich komme gern heute zum Kaffee vorbei." Da kam ihm ein noch perfiderer Gedanke. Immerhin WAR er gelegentlich ein absolut fieser Typ! "Ach, Mutti? Hör mal, ich werde jemanden mitbringen, ja? So, nun muss ich los." Rasch unterbrach er die Verbindung, stellte das Mobiltelefon ab. Sein Einfall begeisterte ihn so sehr, dass er leise vor sich hin kicherte. Warum nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen? Lysander brauchte dringend was auf die Rippen. Seine Mutter würde es lehren, ihm noch mal Vorhaltungen zu machen, er sei nicht beziehungsfähig! ~?w?~ ENDE ~?w?~ ~~> mehr in "Ohne Dich", "Affenzirkus" und "American English"! Danke fürs Lesen! kimera