Titel: Herz flambiert Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original Jutts Halloween-Challenge 2008, Teil 2 FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Ereignis: Halloween 2008 Erstellt: 07.10.2008 Stichworte der Herausforderung: Strohblumen, barfuß, Tomaten, Kerle, Streit, Bordsteinkanten, keine Brusthaare, Herz, Tokio Hotel. Fröhliches Halloween! ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ ~?w?~ Herz flambiert Kapitel 1 - Aus den Fugen "Also, dann lassen wir sie mal kommen, wie?" Quintus lächelte seiner Partnerin für diesen Abend energiegeladen zu. Consuela Maria, von ihren Freunden frech "Connie" gerufen, nickte munter, rollte sich ebenso tatendurstig die Ärmel ihres Strickpullovers hoch. "Bestimmt wieder die übliche Mischung." Mutmaßte sie feixend, ließ ihm den Vortritt in den großen Verkaufs-, Koch- und Gastraum. Quintus spannte die Muskeln an, richtete sich hoch auf, marschierte forsch voran. ~?w?~ Die "übliche Mischung" war ihr gemeinsamer Code für die Koch- und Ernährungsberatung, die sie gemeinsam in den Verkaufs- und Wirtsräumen eines großen Lebensmittelherstellers bestritten. Von Haus aus war Quintus selbstständiger Ökotrophologe. In seiner Funktion als Ernährungsberater war er bei Kursen in der Volkshochschule tätig, als Berater für das staatliche Schulamt, hatte zusätzlich noch eine Kolumne in einer Frauenzeitschrift, für die er auch Anfragen beantwortete. Dazu kam das Engagement für diesen Lebensmittelhersteller, der in den Verkaufs- und Bewirtungsräumen gern nach Ladenschluss Kochkurse anbot. Quintus hielt sich durch Kontakte in der Branche stets auf dem neuesten Stand, hatte aber den Gang in die Forschung vermieden. Es hätte auch eines abgeschlossenen Studiums bedurft. Er hatte sich über die Fachhochschule qualifiziert, gleichzeitig seine persönlichen Stärken ausgebaut. Er konnte schlichtweg gut mit Menschen, wollte den direkten Kontakt nicht missen. Ob es Seniorenkochkurse waren, Ernährungsberatung für Grundschulkinder, den Umgang mit Diätvorschriften für Diabetes oder Cholesterin-Bewusste: Quintus verfügte über das Talent, auf verständliche Weise das zu vermitteln, was Wissenschaft und Forschung herausgefunden hatten. Üblicherweise trat er dabei als Einzelkämpfer auf. Deshalb war es für ihn eine sehr willkommene Abwechslung, wenn er eine gelernte Köchin wie Connie an seiner Seite hatte. Ein Glücksgriff obendrein, denn sie bewies Sinn für Humor und ausreichend Geduld mit dem sehr bunt gemischten Klientel von Kochkursen. Sozialkompetenz war ein Muss. Über die nun zwei Jahre andauernde Zusammenarbeit hatten sie sich zu einem eingespielten Team entwickelt, das wie ein altes Ehepaar mit den Teilnehmenden jonglierte, Spannungen geschickt abfing. Dabei hatte sich auch eine eigene Sprache entwickelt. Die "übliche Mischung" war ihre eigene Kategorie von Personen, die sich zum Kochkurs an diesem Mittwochabend einfanden. Im Vorraum kassierte noch das Personal die Einladungen mit der Kassenquittung als Beleg ein, bevor sie Quintus und Connie die Verantwortung übertrugen. Die beiden lächelten, begrüßten die Truppe für den Abend, verteilten zunächst einmal Kochschürzen mit dem Signet des Lebensmittelherstellers. Connie und Quintus wechselten verschwörerische Blicke. Bereits bei diesem Ritual zum Eisbrechen, wo man sich gegenseitig dabei half, Schürzenbändel zu justieren, Schleifen zu binden, konnten sie einschätzen, zu welcher Kategorie die jeweiligen Teilnehmenden gehörten. Da waren die fünf munteren Damen, die schrill und bereits durch ein "kleines Gläschen" Prosecco aufgeheizt in gespannter Erwartung der Dinge harrten, die da kommen mochten. Sie gehörten zur Gruppe der alleinstehenden Frauen in den "besten Jahren", die sich im Freundinnenkreis zu diesem Kochkurs entschlossen hatten, um mal eine Abwechslung zu VHS-Kursen und Tanzcafés zu haben, wenn es darum ging, sich zu amüsieren und gepflegt zu flirten. Solange sie nicht miteinander in Streit gerieten, waren sie unproblematisch, konnten mit harmlosen, aber charmanten Sprüchen in Schach gehalten werden. Zur Kategorie "junges Glück" gehörten definitiv Mendy und Stiev. Sie waren leicht auszumachen, denn die Hände schienen miteinander verwachsen zu sein. Beide strahlten sich stets verliebt an, waren grundsätzlich ein wenig abgelenkt, wie das von Wolke 7 umnebelten Köpfen so geschah, hatten gerade die erste gemeinsame Wohnung bezogen. Außerdem traten sie im Partnerlook auf, T-Shirts der Jugendband Tokio Hotel auf der schmächtigen Brust. Harmlos, beinahe schon niedlich. Man musste lediglich ein Auge darauf haben, dass sie sich nicht zu sehr vom tatsächlichen Geschehen in höhere Sphären verabschiedeten. Connie würde die mütterliche Aufsicht übernehmen. Die nächste Kategorie nahm das zweite Pärchen für sich in Anspruch, Klugscheißer mit gelangweiltem Partner. Das war, aus nahe liegenden Gründen, Quintus' Metier. Der Herr trug einen teuren Anzug, diamantenbesetzte Manschettenknöpfe, eine protzige Luxusarmbanduhr und dozierte mit dröhnender Stimme über seine Fertigkeiten als Feinschmecker und Koch. Seine bessere Hälfte, ein ausgehungertes Blondchen in einem Designerfetzen, ebenfalls mit Pretiosen behängt wie ein Pfingstochse, blickte stark geschminkt extrem gelangweilt in die Gegend und wiederkäute einen Kaugummi. Kategorie vier traf für die beiden leicht alternativ wirkenden Studierende zu. Waren sie aus Muttis Nest geworfen worden? Häufig zumindest war ihre Teilnahme weniger freiwillig als arrangiert. Sie hatten ausschließlich Erfahrung im VER-speisen. Beim Zubereiten hingegen wurden sie schnell nervös, wirkten wie kleine Kinder. Auch hier würde Connie dafür sorgen, dass die Unfälle sich im Rahmen hielten, dass Hände gewaschen und entsprechende Kochutensilien benutzt wurden. In die letzte Kategorie gehörte der zwölfte Teilnehmer. "Stille Wasser", die wenig fragten, sich grundsätzlich im Hintergrund hielten, aber sehr aufmerksam zuhörten, wie gebannt zusahen. Vielleicht schüchtern, manchmal aber auch lediglich besonders konzentriert. Dieses Exemplar hier war eindeutig männlich, trug einen marineblauen Zweiteiler zu einer goldfarbenen Krawatte und einem artigen Seitenscheitel, Prototyp des netten Beraters in der Bankfiliale um die Ecke. Dass er beruflich wohl nichts Besonderes darstellte, konnte man daran erkennen, dass der Klugscheißer nach ein paar jovialen Bemerkungen das Wort nicht mehr an ihn gerichtet hatte, nur noch seine Gattin monologisierend belagerte. Quintus wies jedem Teilnehmer einen Platz zu, damit alle verfolgen konnten, was er mit Connie zubereitete. Dazu gab es im Vorfeld immer Erläuterungen, Tipps und Tricks für den Alltag. Für den heutigen Abend war ein herbstliches Dreigänge-Menü avisiert worden. Das bedeutete, dass sie abwechselnd vom Einkauf der Zutaten bis zum abschließenden Verzehr etwa zwei Stunden zu füllen hatten. Grundsätzlich hatte Quintus keine Vorbehalte gegen Produkte der Lebensmittelindustrie. Man konnte nun wirklich nicht erwarten, dass alle jeden Tag auf den Wochenmarkt zogen, noch viel Zeit in der Küche verbrachten. Auch von moralischen Verboten hielt er nicht viel. Es kam ihm auf die richtige Balance an. Eine Tütensuppe zum Beispiel, wenn sie hochwertig war, konnte durchaus genau das richtige sein, wenn man sie mit einigen frischen Zutaten ergänzte. Gewürzpasten waren praktische Helfer im Alltag, ebenso Konzentrate, wenn man nicht stundenlang Knochen auskochen wollte. Dafür musste man sich beim Einkauf einen Moment mit den Inhaltsstoffen vertraut machen, über Unverträglichkeiten und Allergien Bescheid wissen. Sich nicht kritiklos an werbenden Schlagworten wie >Bio<, >ohne Zucker< oder >fettreduziert< orientieren, sondern genau hinschauen, ob das Produkt wirklich den eigenen Erwartungen entsprach. Routiniert beantwortete er die Fragen, übergab zur Reihenfolge der Zubereitung an Connie. Sie führte auch die Techniken vor, mit denen man den Lebensmitteln auf die Schale oder unter die Haut rückte. Dabei assistierte Quintus nur, gab den Teilnehmenden Hilfestellung. Das Menü war recht einfach gestaltet, sollte es allen ermöglichen, in kurzer Zeit die Speisen fertigzustellen, gastlich zu glänzen. Dazu musste man sich allerdings genau an die Abfolge halten. Beginnen sollten die drei Gänge mit einer jahreszeitlich passenden Pilzcremesuppe. Dabei konnte man sich fertiger Produkte bedienen, die um frische Zutaten ergänzt wurden. Hier zeichnete sich Quintus vor allem als Ratgeber aus, denn unterschiedliche Pilze in verschiedenen Konservierungsstufen ergaben auch ein jeweils differierendes Ergebnis beim Kochen. Der Klugscheißer mischte sich ein paar Mal ein, doch Quintus' höfliche Art, ihm zunächst für den hilfreichen Beitrag zu danken, um die zumeist fehlerhaften Behauptungen sanft zu korrigieren, nahmen ihm erst mal den Wind aus den von heißer Luft aufgeblähten Segeln. Gang Zwei war eine Kombination, ausschließlich vegetarisch gehalten. Kürbis mit Cashew-Kernen und Koriander, eine ostasiatische Spezialität, traf auf überbackene Tomaten, die eher im Mittelmeerraum vertreten war. Der Clou erschloss sich mit dem abschließenden Gang, einem Apfelmuskuchen. An sich recht unspektakulär gewann die Kombination an Charme, wenn man sich die Zubereitungs- und Backzeiten betrachtete. Zunächst wurden die Zutaten für den Apfelmuskuchen vereint zu einem Teig verrührt, den man einer Auflaufform anvertraute, bei mäßiger Hitze in den Ofen einfuhr. Waren der Kürbis, die Pilze, die Zwiebeln zerschnitten, die Fleischtomaten sowohl geköpft als auch ausgehöhlt, konnte man erst die Füllung mit Tiefkühlblattspinat in einer heißen Pfanne oder einem Wok zubereiten. Man füllte sie in die Tomaten, bereitete gleich anschließend die Kürbiswürfel mit den weiteren Zutaten zu. Während die Kürbiswürfel noch ihre Viertelstunde in der Pfanne garten, konnte man den Tisch dekorieren, den Kuchen aus dem Ofen nehmen und die überbackenen Fleischtomaten bei höherer Hitze hineinsetzen. Der Kuchen wurde geteilt, Puderzucker bestreut, die Kürbiswürfel warm gestellt. Nun kam die Pilzcremesuppe zu ihrem Recht. War sie fertig zum Servieren, konnte man die Tomaten aus dem Ofen nehmen. Während man die Suppe verzehrte, erwärmte die Resthitze des Ofens die Kürbiswürfel, damit sie die gleiche Serviertemperatur wie die Tomaten hatten, wenn Gang Zwei anstand. Gekrönt wurde alles vom Apfelmuskuchen danach. Vorteilhaft war, dass man Zeit für die Eingeladenen hatte, ohne sich fortwährend in der Küche aufhalten zu müssen, denn der Ofen arbeitete ja von allein. Um die Durchführbarkeit zu demonstrieren, ging es deshalb auch nach der Einführung direkt zur Praxis über. Quintus hielt die fünf sehr beschwingten Damen bei Laune, die in Sachen Fingerfertigkeit keine Probleme hatten. Er lauschte geduldig den aufsässigen Fragen des Klugscheißers, der grundsätzlich alles besser zu wissen glaubte, warf gelegentlich einen Blick auf das "stille Wasser". Connie kam mit ihrem "Anteil" recht gut voran. Selbst die beiden ungeschickten Studenten hatten noch alle Finger. Alles lief nach Plan, die Konzentration ließ auch den notorischen Klugscheißer verstummen, der es gar nicht gerne sah, wenn andere geschickter waren oder mit der Zeit besser lagen. Deshalb kam es für Quintus völlig unerwartet, als das "stille Wasser" seine Glasschüssel mit der heißen Tomatenfüllung fallen ließ. Sofort spritzten Spinat, Tomatenwürfel, Gewürze und der heiße Feta vom Boden hoch, besprenkelten Hosenbeine und Lederslipper. "Alles in Ordnung?" Quintus nahm solche Unfälle gelassen hin, ging in die Knie, um mit einem feuchten Handtuch den Stoff abzureiben. "Ah, ich mach das schon." Connie kniete sich neben ihm, eine Putzgarnitur in den Händen. "Besser, du gehst mit ihm nach nebenan, sonst ist die Hose verloren." Der Dramatik geschuldet lächelte Quintus, reduzierte sein Grinsen aber, als er wieder oberhalb der Kochebene auftauchte. Sehr blass und beschämt blickte das "stille Wasser" unter sich, entschuldigte sich hochnotpeinlich berührt. Entspannt wurde die Situation keineswegs dadurch, dass der Klugscheißer nachlässig Ratschläge absonderte, von oben herab kommentierte. Das erweckte sofort das Mitgefühl der Damenriege, die dem armen Mann zur Hilfe eilten, erfahren wollten, ob er sich auch wirklich nichts getan habe. "Kommen Sie." Quintus nahm ihn schmunzelnd beim Arm. "Nebenan können Sie sich einen Moment hinsetzen. Wir reinigen Ihre Hose. Das ist keine große Sache, kann uns allen passieren." Aber auch im Nebenzimmer, dem Personalraum, wo er mit Connie die privaten Habseligkeiten für diesen Abend verstaut hatte, entschuldigte sich der junge Mann beschämt wieder, offenkundig zutiefst entsetzt über die eigene Ungeschicklichkeit. "Das ist wirklich nicht der Rede wert." Quintus fixierte die erstaunlich schwarzen Augen auf sich. "Bitte, nehmen Sie es sich nicht zu Herzen. Ich habe bestimmt ein Dutzend Schüsseln fallen gelassen, so ist das eben. Zu rutschig, zu heiß, zu schwer: das kann immer mal vorkommen." Er drückte eine Schulter aufmunternd, registrierte im Unterbewusstsein erstaunt, dass der fragil wirkende Mann bemerkenswert muskulös war. "Hauptsache ist, dass Sie sich nicht verbrüht haben. Wären Sie jetzt so nett, mir Ihre Hose und die Strümpfe anzuvertrauen? Connie kennt sich mit Flecken aller Art aus." Sein Gegenüber blickte verlegen zu Boden, gürtete dann die Anzughose frei, ließ sie auf den Boden sinken, deutlich bemüht, sich hinter Hemdzipfeln zu verbergen. "Die Strümpfe auch bitte." Kommandierte Quintus mit kritischem Blick. Diese Hose war für seinen Geschmack zu dünn, der Stoff hatte dem feuchten Überfall nicht standgehalten. Fürsorglich band er dem armen Pechvogel die lange Kochschürze wieder um, vor die Beine ein extra langes Handtuch. Nun war der zwar barfuß, aber nicht mehr allzu unschicklich entblößt. Quintus nahm Hosen und Strümpfe, kehrte zu Connie zurück, die mit Energie die anderen daran hinderte, Maulaffen feil zu halten. Sie schnalzte mit der Zunge. "Sieh mal nach den Schuhen! Da ist Packpapier im Lager, damit sollte man was anfangen können." Gehorsam machte Quintus sich auf den Weg, kehrte zu ihrem Pechvogel zurück, der noch immer barfuß, gesenkten Hauptes im Personalraum wartete. "Ich glaube, das hier funktioniert." Bemerkte Quintus betont zuversichtlich, rubbelte die Slipper gründlich ab. Sie waren eine ebenso enttäuschende Angelegenheit wie die Anzughosen, weniger Leder als billiger Kunststoff, wenigstens aber leicht zu reinigen. "Kommen Sie." Quintus nahm den jungen Mann beim Arm, nachdem der in seine Slipper geschlüpft war, sich beinahe unterwürfig bedankt hatte. "Sie haben noch ein Menü fertigzustellen!" Connie hatte inzwischen über die Hausmittel doziert, mit denen man verschiedene Flecken aus der Wäsche bekam. Sie nutzte einen weiteren Ofen, um dort Hosen und Strümpfe zu trocknen. Immerhin wollte ihr Pechvogel ja auch wieder nach Hause kommen! Die Damenriege stiftete mitleidig je einen Teil ihrer eigenen Füllung, sodass auch der Unglücksrabe seine Tomaten schließlich dem Ofen anvertrauen konnte. Ihm wurde so viel Sympathie und Zuspruch zuteil, dass er nun auftaute, scheu lächelte, weniger distanziert wirkte. Der Rest der Zubereitung verlief ohne Probleme. Noch vor dem Servieren am gedeckten Tisch, den Connie mit bunten Blättern, Kastanien und kleinen Kerzen geschmückt hatte, konnte sich ihr Pechvogel wieder korrekt bekleiden. Die Resultate ihrer gemeinsamen Anstrengungen mundeten durchaus. Alle, den Klugscheißer ausgenommen, waren sehr zufrieden. Fröhlich verabschiedeten Connie und Quintus ihre Truppe in den Feierabend, wie auch immer dieser aussehen würde. "Wetten, der Angeber wird sich morgen beschweren?" Quintus grinste Connie zu, während sie aufräumten, die Geschirrspüler bestückten, die Essensreste entsorgten. Connie zuckte verächtlich mit den Schultern. Natürlich hatte sie alle darauf hingewiesen, dass sie eine Kritik zum Kurs im Internet abgeben konnten, während sie die Teilnahme-Urkunden verteilte. Konstruktive Kritik trug schließlich zur Verbesserung des Angebots bei. Andererseits waren Figuren wie der Klugscheißer NIEMALS zufriedenzustellen. "Wetten, dass unser Unglücksrabe sich in dich verguckt hat?" Sie warf ihm einen spitzbübischen Blick zu. "Wie bitte?" Quintus verdrehte einer großen Mülltüte den Hals, sah sie erstaunt an. "Wie kommst du denn darauf?" "So was sehe ich." Behauptete Connie entschieden. Quintus schüttelte nachsichtig den Kopf. "Vielleicht war er nur froh, dass wir ihn nicht heruntergeputzt haben wegen der zerdepperten Schüssel." "Ah was!" Winkte Connie ab, rollte zum Abschluss der Aufräumarbeiten die Ärmel herunter. "Ich habe ihn GENAU beobachtet, Quin! Er war sehr geschickt mit den Händen, die ganze Zeit. Da lässt er einfach so die Schüssel fallen?" Sie schnalzte so laut mit der Zunge, dass es wie ein Peitschenknall klang. "Unsinn! Schade, dass du ihm nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hast!" Nun musste Quintus doch lachen. "Connie, ich merke schon, dass du mich aufziehen willst! Zugegeben, er machte einen netten Eindruck, aber ich bin schon vergeben, das weißt du!" "Jajajaja!" Wedelte Connie ab, grinste frech zurück. "Na, werdet ihr jetzt endlich heiraten?" "Im nächsten Jahr." Gutmütig zwinkerte Quintus. "Evita will eine Hochzeit im Sommer, mit Sonnenschein und großem Empfang." Evita war seine Verlobte, seit sechs Jahren. Angefangen hatte alles damit, dass er zu einem sehr großen Familienfest eingeladen worden war. Quintus, als fünfter Sohn geboren, wuchs bei einem kinderlosen Bruder seines Vaters und dessen Frau auf, die ihn wie einen eigenen Sohn liebten. Bei seinen leiblichen Eltern war einfach zu wenig Platz. Sie hatten auch rasch erkannt, dass Sprössling Nummer fünf von insgesamt acht Kindern ungewöhnlich klug war. Warum den Jungen dann nicht zum Onkel nach Deutschland schicken, der ihm sicher auch ein Studium finanzieren würde? Auf jenem schicksalhaften Familienfest jedenfalls war er, wackere 16 Jahre alt, Mittelpunkt der Neugierde seiner Geschwister, der knapp 10-jährigen Evita aufgefallen. Sie hatte ihn an der Hand gepackt und vor allen verkündet, dass sie ihn heiraten wolle. Perplex, aber amüsiert hatte Quintus sich darauf eingelassen, sich mit ihr zu verloben, wenn sie 16 Jahre alt werde UND sie beide sich dann immer noch mochten. Wer hätte damit rechnen können, dass ihre Familie zwei Jahre später ebenfalls in seinen Heimatort einwanderte, er fortan seine entfernte Cousine Evita häufig zu Gesicht bekommen würde? Quintus hatte sein Wort gehalten, weshalb sie seit Evitas 16. Geburtstag offiziell verlobt waren. Nun, nachdem Evita ihren Schulabschluss gemacht, ihre Ausbildung als kaufmännische Angestellte abgeschlossen hatte, konnte aus der Verlobung endlich die Ehe werden. Die Hochzeitsfeierlichkeiten plante Evita schließlich seit Jahren! Für Quintus, der seit drei Jahren mit Evita zusammenlebte, bedeutete es zunächst bloß, dass die ständigen Vorhaltungen, er arbeite zu viel, kümmere sich zu wenig um sie, endlich ein Ende hatten. Nun musste Evita selbst arbeiten, verstand bald besser, dass man sich nicht immer die Zeit nach eigenem Gusto einteilen konnte. Nach Quintus' Auffassung passten sie gut zueinander. Er konnte mit seinem ausgleichenden Wesen ihre Temperamentsausbrüche auffangen, sie war für ihn ein fester Hafen im stürmischen Arbeitsalltag. Sie waren miteinander und aneinander gewachsen, sich vertraut. Deshalb erfüllte ihn der logische nächste Schritt nicht mit Panik, immerhin war die Eheschließung ja seit Jahren avisiert worden. "Erzähl mir alles über die Vorbereitungen, ja?" Connie stieß ihm einen Ellenbogen in die Seite. "Hui, das macht mich ganz kribbelig!" Gutmütig lachte Quintus und versprach, sie auf dem Laufenden zu halten. Sie verabschiedeten sich bei Connies Auto, wohin sie Quintus galant begleitet hatte. Er selbst würde mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause fahren. ~?w?~ Auf der groben Matte schüttelte sich Quintus kurz, wickelte sich den gewebten Schal vom Hals, klopfte ihn ebenso wie seinen Wollmantel aus. Es hatte auf den letzten Metern von der Straßenbahnstation bis zum Haus doch noch zu regnen begonnen, was in Kombination mit einem eisigen Wind gar nicht angenehm war. "Hallo, Liebes!" Trällerte er munter in die Dreizimmerwohnung, schlüpfte aus seinen halbhohen Stiefeln mit Reißverschluss, arrangierte seine feuchte Bekleidung ordentlich im offenen Schuhschrank und der Garderobe. Er erhielt keine Antwort, dafür marschierte Evita selbst heran, verschränkte die Arme vor der Brust. "Du bist sehr spät." Bemerkte sie spitz. Quintus beugte sich zu ihr herunter, küsste sie auf die warme Wange. "Entschuldige, mein Schatz. Eine Bahn habe ich knapp verpasst, musste warten. Es regnet nämlich schon wieder." Entgegnete Quintus gut gelaunt. Er betrat ihr Schlafzimmer, hängte dort sein Sakko auf einen Bügel, ließ die Rollläden herunter. "Hast du schon gegessen? Oder möchtest du, dass ich dir eine Kleinigkeit mache?" Er seufzte irritiert, als ihm wieder keine Antwort zugedacht wurde, vermutete aber, die Wände zwischen Schlafzimmer und Wohnzimmer hätten die Akustik behindert. Also führte ihn sein Weg erst ins Badezimmer, um sich frischzumachen, dann zu seiner Verlobten ins Wohnzimmer, die mehr als konzentriert an einem Gesteck aus Strohblumen herumbastelte. Warum ihr das Arrangement nicht zusagte, konnte Quintus nicht ausmachen, aber in diesen Dingen hielt er seine Meinung lieber hinter dem Berg. Strohblumen waren wirklich nicht von Bedeutung. Er ließ sich neben Evita auf dem großen, mehrsitzigen Ledersofa nieder, atmete tief durch. Es duftete angenehm nach Vanille und Zimt. "Wie war dein Tag, Liebes? Sehr anstrengend?" Erkundigte er sich freundlich. "Es geht." Die knappe Antwort signalisierte die Gelbe Karte. Stirnrunzelnd fragte sich Quintus, welche Missetat ihm vorgeworfen wurde, die nun den häuslichen Frieden bedrohte. Er war sich definitiv sicher, den Müll hinuntergetragen zu haben und er hatte Toilettenpapier nachgefüllt. Was hatte heute noch angestanden? Etwa ein Jahrestag?! Bei dem Gedanken, einen wichtigen Tag vergessen zu haben, setzte er sich unwillkürlich auf. "Wenn du Anlass hast, auf mich wütend zu sein, Evita, dann sag mir das bitte." Forderte er drängend. Viel lieber als einen hoch aufgerichteten Rücken, der ihn abweisend auf Distanz hielt, hätte er gern eine anschmiegsame Partnerin in die Arme geschlossen, sich mit ihr ausgestreckt und gekuschelt. Endlich wurde das Trockengesteck, nun deutlich in Mitleidenschaft gezogen, zur Seite geschoben. Evita erhob sich wortlos, verließ das Wohnzimmer. »Herrje!« Dachte Quintus einigermaßen frustriert. »Was habe ich denn angestellt?!« Wenigstens einen Fingerzeig hätte sie ihm ja schon geben können! Nur einen Augenblick später ließ ihn ein schriller Wutschrei reflexartig in die Höhe schießen. Nach einem Moment der Erstarrung, in den sich heftig geschlossene Schranktüren und Schubladen mischten, kam wieder Bewegung in Quintus. Es klang nicht so, als hätte sich Evita verletzt, aber er tat zweifelsohne besser daran, dem Ursprung für diesen Eklat nachzugehen. Bevor er jedoch das Schlafzimmer erreichte, traf er Evita im Flur. Das Gesicht erhitzt, von Tränen verschmiert holte sie tief Luft, um ihn dann betäubend laut anzubrüllen. "Du verdammter Lügner! Ich habe es gewusst! Die ganze Zeit! Du Mistkerl!" Völlig perplex taumelte Quintus zurück, von der Phonstärke ins Wanken gebracht. "...ich habe keine Ahnung..." Konnte er mühsam hervorbringen, die Hände nach seiner Verlobten ausgestreckt. Die wedelte mit hasserfülltem Blick einen Notizzettel vor seinem Gesicht herum. "Ach nein?! Wie erklärst du DAS hier?! Du niederträchtiger Betrüger! So was ist in deinen Taschen!" Quintus haschte den Zettel der Anklage, warf einen verwirrten Blick auf das zerknitterte Beweisstück. Eine lange Nummernfolge, darüber ein Lippenstiftabdruck. "In meiner Tasche?!" Wiederholte er verblüfft. "Das kann doch gar nicht sein." "Ach, JETZT lüge ich, oder wie?!" Evita heulte vor Wut, das Gesicht mit hässlichen roten Flecken verunziert. "Aber ich weiß Bescheid! Wie lange geht das schon?! Ich hätte es ja gleich wissen müssen, weil du ständig unterwegs warst! Im Bett hast du auch nichts mehr gemacht!" Das Blut schoss Quintus angesichts dieser ungerechtfertigten Anschuldigung in die Wangen. Er hatte sich doch eigens zurückgehalten, damit Evita nicht noch mehr Stress vor den zahlreichen Abschlussprüfungen hatte! Arbeiten musste er schließlich, er war selbständig, da nahm man die Aufträge grundsätzlich an, solange sich Klientel interessierte! "Hör mal, das muss eine Verwechslung sein." Versuchte Quintus seine aufgebrachte Verlobte zu beschwichtigen. "Ich würde dich nie betrügen." "Du HAST! Ich kann nicht glauben, dass ich DICH heiraten wollte!" Kreischte sie ihm mit überschlagender Stimme ins Gesicht. Quintus überlegte fieberhaft, wie dieser seltsame Zettel wohl in seine Sakkotasche geraten sein mochte. Würde ihm Connie einen so niederträchtigen Streich spielen? Nein, ausgeschlossen! "Liebes, das kann nur ein Irrtum sein!" Beschwor er Evita. "Bitte, du kennst mich doch!" Als er die Hände ausstreckte, sie in die Arme nehmen wollte, selbst verwirrt von der Situation, die unangekündigt wie ein Wirbelsturm plötzlich über ihn hereinbrach, schlug sie ihm hart ins Gesicht. Quintus erstarrte, vollkommen außer Fassung. Er konnte nicht glauben, dass Evita, seine süße Verlobte, ihm tatsächlich eine Ohrfeige verpasst hatte. "Ruf mich nicht an und lauf mir nicht nach! Ich HASSE dich!" Zischte sie ihm schniefend zu, machte kehrt, ausgerüstet mit zwei kleinen Reisetaschen, im Begriff, ihre Wohnung zu verlassen. Hastig erwachte Quintus aus seiner Bestürzung, haschte nach einer Schulter. In einer gleitenden Bewegung fegte Evita herum, rammte ihm mit aller Kraft eine Tasche direkt vors Schienbein. Die Tasche war mit einem stützenden Gerüst aus Metallstreben versehen, hatte daher durchaus eine beeindruckende Wirkung auf Quintus. Mit einem Wehlaut knickte er ein, ging zu Boden. Evita sprintete die Treppen hinab. Als Quintus sich humpelnd wieder aufgerichtet hatte, konnte er aus dem Wohnzimmerfenster nur noch sehen, wie seine Verlobte in ein Taxi stieg. Völlig verdattert sank er auf die Ledercouch, legte den Kopf in die Hände. "...das kann doch einfach nicht wahr sein..." ~?w?~ Zwei Stunden und drei Gläschen süßen Dessertweins später hatte Quintus sich entschlossen, die Situation als real einzustufen. Evita war verschwunden, mit einem Teil ihrer Habseligkeiten. Der seltsame Zettel, den sie aus seinem Sakko gezogen haben wollte, gab ihm Rätsel auf. Die Nummer, die er schließlich angerufen hatte, konnte keinem Anschluss zugeordnet werden, existierte laut Ansage gar nicht. Aber wer würde ihm so eine lächerliche Botschaft zustecken? Noch deprimierender, wieso glaubte Evita ihm nicht? Seit sie zusammen waren, hatte er sich nicht mehr für andere Frauen interessiert. Mit Beginn der Verlobung war für ihn das Kapitel abgeschlossen. Wie konnte sie annehmen, dass er sie so leichtfertig betrügen würde?! "Wo bist du jetzt, Liebes?" Fragte er halblaut, rieb sich über die schmerzende Wange. Einer der zahlreichen Ringe, die sie gerne trug, um die Eleganz ihrer langen, schlanken Finger zu betonen, hatte ihm die Haut aufgeschürft. War sie zu einer Freundin geflüchtet? Oder zu ihren Eltern? Zu anderen Verwandten? Ratlos und müde bis in die Knochen beschloss Quintus, die Suche und Aufklärung auf den nächsten Tag zu verschieben. Er brauchte dringend erholsamen Schlaf. ~?w?~ Wenn Quintus sich vom nächsten Morgen eine Verbesserung der Situation erhofft hatte, wurde er bitterlich enttäuscht. Bevor es ihm auch nur gelingen konnte, Evita ausfindig zu machen, um ein Treffen zu bitten, damit er seine Unschuld beweisen konnte, riefen ihn ihre Eltern, zahlreiche engere und entferntere Verwandte und viele Freunde an, die ihm heftige Vorwürfe machten, wie er das arme Mädchen so hintergehen konnte! Nur selten hatte Quintus eine Chance, seine Seite darzustellen, die Beschuldigungen zurückzuweisen. Selbst seine eigenen Eltern riefen ihn an, um sich besorgt zu erkundigen, ob er etwa wirklich...? Gegen Mittag bereits war Quintus restlos geschlagen. Nicht allein die ständigen Telefonanrufe, die ihm den letzten Nerv raubten, auch seine Arbeit belastete ihn. Gewöhnlich bedeutete der letzte Donnerstag im Monat für ihn Büroarbeit. Am frühen Morgen sandte die Redaktion der Frauenzeitschrift, für die er monatlich eine Kolumne schrieb, Anfragen beantwortete, die gesammelten Einsendungen, die nicht mit einer Standardantwort zufriedengestellt werden konnten. Briefe wurden eingescannt, alles andere elektronisch belassen, um komprimiert bei ihm einzugehen. Bis zum Abend erwartete die Chefredaktion seinen Beitrag. Seine persönliche Ansprechpartnerin rief ihn meist das erste Mal gegen Mittag an, um Themen abzustimmen, seine ersten Beiträge zu redigieren. Heute erwies sich diese Arbeit als besonders zähe. Er konnte sich nicht gut konzentrieren, war abgelenkt, deshalb auch wenig stilsicher. Häufige Korrekturen, noch mehr Anrufe und Abstimmungsarbeiten. Zur Krönung sagte ein Kindergarten für den morgigen Freitag kurzfristig ab. Dort hätte er, für ihn eine Premiere, für und mit den Kindergartenkindern eine kleine, spielerische Einführung in die Lebensmittelkunde durchführen sollen. Dummerweise hatte eine höhere Gewalt eingegriffen, die Windpocken ausbrechen lassen. Also musste der Termin verschoben werden. Quintus war bedient. Wie konnte sein Leben innerhalb von 24 Stunden so aus dem Ruder laufen?! Außerdem war es ihm noch nicht gelungen, Evita aufzuspüren. Entweder wurden seine Anrufe gleich unterdrückt, oder aber man hielt ihm einen harschen Vortrag. Langsam wurde Quintus wirklich wütend. Er hatte nichts getan, um sich Vorwürfe zu verdienen, kam aber nicht umhin sich zu fragen, wie es Evita gelungen war, in so kurzer Zeit so ziemlich alle Bekannten und Familienangehörigen gegen ihn aufzustacheln. Gegen Abend, als endlich die leidige Arbeit für seinen monatlichen Beitrag in der Frauenzeitschrift erledigt war, fühlte sich Quintus elend genug, um einen Abstecher vor die Tür zu wagen. Jetzt brauchte er wirklich etwas für seine Seele, zum Beispiel Currywurst mit Pommes Frites, Schaschlik-Sauce und dazu ein kleines Bier. Als er durch den Nieselregen stapfte, in ebenso düsterer Stimmung, bemerkte er zu seinem Leidwesen, dass sein Favorit für diese Leib- und Magenspeise an besonders üblen Tagen in Dunkelheit lag. Ein handgeschriebener, durch die Witterung bereits recht verschmierter Zettel an der Eingangstür setzte die liebe Kundschaft davon in Kenntnis, dass aufgrund eines Trauerfalls in der Familie die Lokalität an diesem Tag geschlossen war. Quintus rammte, ganz gegen seine Gewohnheit, eine Faust gegen das dicke Eichenfurnier, ächzte gequält. Wenn er an Götter geglaubt hätte, wäre er jetzt der Versuchung erlegen, sie für schuldig an dem Debakel zu halten. Aber es half ja nichts. Mit knurrendem Magen machte er kehrt, um in einer Bar einzukehren, sich aufzuwärmen. Gegen die Kälte und gegen den Kummer half feiner Mandellikör. Im Hintergrund plätscherte die leichte Muse dezent vor sich hin, die Atmosphäre war entspannt. Auch Quintus beruhigte sich langsam wieder. »Das wird sich schon wieder einrenken. Irgendwie.« Obwohl er noch immer nicht begreifen konnte, wie dieser ominöse Zettel in seinem Sakko gelandet sein konnte. Was das zu bedeuten hatte und warum~warum in aller Welt Evita ihm keinen Glauben schenkte! Hatte er jemals sein Ehrenwort gebrochen? Oder ihr Verlobungs- und Treueversprechen nicht eingehalten? Dass sie ihm so etwas zutraute, das schmerzte am Meisten. Gerade weil er jeden Tag mit so vielen unterschiedlichen Menschen zusammen kam, war es für ihn immanent wichtig, dass sie wusste, er würde ihr Vertrauen nicht missbrauchen. Wie sollte eine Beziehung, ja, eine Ehe, Bestand haben, wenn man nicht darauf bauen konnte, dass man für den anderen Partner auch das Wichtigste war, die oberste Priorität hatte. Die man nicht mit lächerlichen Versuchungen in Gefahr brachte! "Guten Abend." Schreckte ihn eine sanfte, höfliche Stimme aus seinen düsteren Gedanken. Quintus, nach drei Gläsern Mandellikör durchaus erhitzt und mehr als angeheitert, da er ja seit Stunden nichts mehr im Magen hatte, blickte blinzelnd auf. "Ah, guten Abend." Organisierte er mühsam einen Gruß, lächelte automatisch, um dann die Stirn zu runzeln. Das war das "stille Wasser" von gestern, doch irgendwie hatte sich der junge Mann verändert. "Darf ich Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten?" Erkundigte sich der Pechvogel des Vortags behutsam. Einladend schwenkte Quintus den Arm. "Aber gern. Ich fürchte allerdings, ich bin heute keine besonders fröhliche Unterhaltung." "Das tut mir leid zu hören." Erwiderte der Unglücksrabe mit sanft modulierter Stimme, bestellte einen offenen Roten. Quintus zog eine Grimasse. "Ich möchte Sie wirklich nicht langweilen." Er hielt inne, richtete sich ordentlich auf. "Wollen wir vielleicht die Förmlichkeiten fallen lassen?" "In Anbetracht der Tatsache, dass ich schon ohne Hosen vor dir gestanden habe, hege ich keine Einwände. Ich heiße Vernon." Lächelte sein Gegenüber amüsiert. "Quintus." Er streckte die Hand über den schmalen Bistrotisch, schüttelte Vernons. "Aber die meisten rufen mich bloß Quin." "Freut mich, dass wir uns hier wiedertreffen, Quin." Versetzte Vernon leise. "Ich glaube, dass seit gestern mein ganzes Leben verhext ist." Seufzte Quintus laut. Vom Alkohol aufgewärmt und enthemmt erzählte er Vernon von der Szene des vergangenen Abends und den Ereignissen des Tages. ~?w?~ Kapitel 2 - Erkenntnisse Quintus erwachte, weil sich auf seiner Zunge ein Pelz ausbreitete, der offenkundig seine gesamte Mundhöhle bedecken wollte. Und natürlich, weil ein Presslufthammer in seinen Schläfen mit Hingabe seine Schädeldecke zum Schwingen brachte. Außerdem war ihm speiübel. Er rollte sich stöhnend zusammen, ballte das Kopfkissen um seinen gemarterten Schädel. Das brachte überhaupt keine Abhilfe. Da gab es nur eine Lösung: die chemische Keule. Mit ihr konnte man zurückschlagen. Sie erforderte zunächst persönlichen Einsatz: aufstehen, bis ins Badezimmer wanken. Davor war allerdings die Anstrengung gesetzt, sich in eine aufrechte Position zu hieven. Ächzend und stöhnend gelang es Quintus tatsächlich, den Übelkeit erregenden Schwindel so lange in Schach zu halten, bis er in der Vertikalen saß, den Kopf in den Händen geborgen, leise winselnd. Als er die klebrigen Wimpern teilte, langsam die Lider auf Halbmast hisste, registrierte sein Gehirn einige Abnormitäten. Nun lärmten Alarmsignale so ausdauernd und enervierend, dass sich schließlich auch ein Denkprozess zur Arbeitsaufnahme bequemte. »Das ist nicht mein Schlafzimmer.« Stellte er knapp fest. Die Zimmerdecke trug eine Stuckkruste vor himmelblauen Grund. Direkt vis-a-vis strahlte ein Rubens-Engelchen in einem mit Altgold veredelten Bilderrahmen glückselig. "Oooohhhhhh!" Stöhnte Quintus, der diesen Anblick kurz nach dem Wachwerden gar nicht goutierte. Speckrollige Amoretten waren nicht sein Fall. Gequält fuhr er sich mit gespreizten Fingern durch die dunkelblonden Haare, in sanften Wellen bis zum Nacken gestuft, nun allerdings zerzaust, mit einer Ahnung von Feuchtigkeit behaftet. Quintus sah sich langsam um. Ein unerwarteter Tempowechsel hätte ihn, so fürchtete er, aus dem fragilen Gleichgewicht gebracht, erneut Übelkeit provoziert. In diesem Zimmer, das stand nach einem Panoramablick fest, war er noch nie zuvor gewesen. Ein Altbau, spärlich möbliert mit einem umgearbeiteten Bauernschrank und einem umfunktionierten Waschtisch. Durchaus geschmackvoll, wenn man in einem wilden Mix der Aufklärung hausen wollte, obwohl er dem Künstler Respekt zollte, der so geschickt die Möglichkeiten ausgeschöpft hatte. Nun wagte Quintus auch, die eigene Person in Augenschein zu nehmen. Er saß in einem zerwühlten Bett mit französischen Ausmaßen inmitten von lavendelfarbener Bettware, Kissen aller Größen, zwei warme Winterbetten und ein gewaltiges Laken. Und er war splitternackt. »Guter Gott!« Dachte Quintus mit aufkeimendem Entsetzen. »Ich werde doch nicht...?!?« Allerdings waren da sehr verräterische, dunkle Flecken auf seiner Haut. »Nein, ich würde nie...!!!« Das Hämmern in seinem Schädel musste vor dem Schrecken zurückweichen, der ihm eiskalt das Rückgrat hinunterlief. Ein Abenteuer?! Er?! "Bitte lass es nicht wahr sein!" Krächzte er erstickt. Vor Scham würde er sich selbst nicht mehr unter die Augen treten können! Außerdem sollte er sich doch wirklich daran erinnern können, was genau...!! Tapfer bog er die Finger um eine massive Verstrebung am Kopfende des Bettes. Es wirkte nun dekadent mit den vergoldeten Verzierungen, dem gebogenen Gestänge an Kopf- und Fußende. Mühsam schwang er die Beine aus dem wärmenden Kokon auf den kalten Parkettfußboden, zuckte winselnd zusammen. Sein Kreuz schmerzte übel, die Hüfte knirschte, er fühlte sich gerädert. »Denk nach!« Ermahnte er sich eilig. Irgendwo hörte er gedämpft ein blubberndes Geräusch. Zum Beispiel von einer Kaffeemaschine, in der das entsprechende Getränk aufgebrüht wurde. »Also, gestern war ich bei Enzo in der Bar. Da war auch Vernon, genau! Und dann...« Rekapitulierte er angestrengt. "DANN" hüllte sich in die undurchdringliche Finsternis eines Schwarzen Lochs. "Verdammt!" Stöhnte Quintus gepeinigt. Er hätte es besser wissen müssen, als so viel Alkohol zu konsumieren, wie er es mutmaßlich getan hatte! Wem war er gefolgt? Wo war er jetzt? »Und mit wem habe ich...?!« Quintus streckte einen Arm aus. Sein Nacken schmerzte, er konnte nur unzulänglich an seinem Torso herabsehen. Ja, wenn man ein höchstwahrscheinlich blutunterlaufenes Auge genau fokussierte, sah das verdächtig nach einem Knutschfleck aus! "Oh Gott, was habe ich angestellt?!" Stöhnte er heiser, stützte den Kopf in die Hände. Ein Luftzug um seine nackten Beine verriet ihm, dass er nicht länger allein war. In der Tür stand Vernon. Zumindest war es dessen Gesicht. "Guten Morgen." Auch die sanfte, melodiöse Stimme passte. "Ich habe dir Kaffee gemacht. Glaubst du, dass du dazu ein paar Kopfschmerztabletten verträgst?" Quintus starrte ihn verständnislos an. War das ein Traum?! Oder drehte er selbst gerade durch? Unwillkürlich rieb er sich die Augen heftig, doch das Bild war unverändert. Im Türrahmen lehnte ein junger Mann mit Vernons feinen, dezent exotisch wirkenden Zügen, aber die Haare waren nun zu einem pechschwarzen, sehr kleidsamen Fransenschnitt um den Kopf gelegt, die Gestalt in ausgewaschene Jeans und einen anschmiegsamen Wollpullover gehüllt. Stumm durchquerte er in barfüßiger Eleganz den Raum, beugte sich vor, um Quintus den Kaffeebecher in die reglosen Hände zu drücken. "Wie geht es dir?" Ging er vor ihm höflich in die Hocke, damit Quintus sich nicht verrenken musste. Der blinzelte. Es benötigte einige Zeit, bis die Frage derart verarbeitet war, dass er sich zu einer Antwort aufraffen konnte. "Danke. Was tue ich hier?" Ein kurzes Lächeln flackerte über Vernons Züge. "Kannst du dich nicht mehr erinnern, Quin?" Quintus schüttelte vorsichtig den Kopf, kniff gepeinigt die Augen zusammen. "Ich weiß nichts mehr! Ich muss sturzbetrunken gewesen sein! Alles ist leer in meinem Kopf, dafür ist mir speiübel!" Vernon erhob sich, stopfte einige Kissen gegen das Gestänge am Kopfende. "Dann lehn dich hier an. Es ist ziemlich kalt." Unaufgefordert nahm er Quintus den Kaffeebecher aus den willfähigen Händen, damit der wieder die Beine unter der Decke bergen konnte. Anschließend hockte er sich auf die Bettkante, studierte Quintus' Miene konzentriert. "Glaubst du, dass du den Kaffee bei dir behalten kannst?" Stellte er die kritische Frage. Sein lädierter Gast nickte behutsam. Kaffee versprach zumindest, dass es besser werden konnte, wenn die Durchblutung angeregt wurde, deshalb erhielt Quintus auch den Kaffeebecher zurückerstattet, durfte vorsichtige Schlucke nehmen. Vernon produzierte aus der Gesäßtasche seiner Jeans eine Verpackungseinheit Kopfschmerztabletten. "Nimm erst mal eine." Beriet er mit der leisen Stimme, für die Quintus ausgesprochen dankbar war. Er rollte die Tablette auf das hintere Ende seiner Zunge, winselte gequält, als er wie gewohnt, in diesem Moment umständehalber gedankenlos, den Kopf in den Nacken warf, um sie zu schlucken. "Uuuoooohhh!" Stöhnte er, stützte die Stirn in einer Hand ab. Der Pelz in seinem Mund schien zwar besiegt, aber der restliche Zustand war keineswegs verbessert. "Was ist gestern passiert?" Hörte er sich selbst gepresst krächzen. Für einen Moment blieb es sehr still, belastend still. Beunruhigend still. Vernon antwortete knapp. "Wir waren in dieser Bar, haben uns unterhalten. Du hast etwas zu viel getrunken. Da meine Wohnung näher lag, habe ich dich mitgenommen." Das sollte eigentlich das Ende der Geschichte sein. Dummerweise, Quintus' Verstand kam nach einigen heftigen Tritten in den imaginären Allerwertesten endlich in Gang, KONNTE das nicht alles gewesen sein. Bedauerlicherweise. "Ich war also betrunken." Formulierte er deshalb bedächtig, streckte dann einen Arm aus, auf dem einer der verräterischen Flecken prangte. "Was ist das? Doch kein Flohbiss, oder?" "Nein. Kein Flohbiss." Bemerkte Vernon kühl. Quintus presste die freie Hand auf die Augen. "Der stammt von dir." "Ja." Kurz, bündig, keinesfalls schuldbewusst. Da musste Quintus doch anklagenden den Kopf heben und krächzen. "Du wusstest, dass ich betrunken war!" "Ja." Vernon erwiderte seinen Blick aus tiefschwarzen Augen ohne sichtbare Gemütsregung. "...aber...aber.." Quintus stammelte vor Entsetzen. "Ich HABE dir doch von Evita erzählt!" Wie gern hätte er die Schuld abgewälzt! Eine Entschuldigung gefunden, damit er sich nicht vorwerfen musste, das Treueversprechen nun doch gebrochen zu haben! Vernon erhob sich, schnappte den Kaffeebecher aus Quintus' flatternden Händen, bevor das Bett eine unfreiwillige Dusche erhielt. "Ja, hast du." Zischte er frostig. "Wie konntest du das tun?! Ich war betrunken! Ich bin verlobt!" Platzte aus Quintus in jämmerlicher Verzweiflung seine Seelenlage heraus. Ein undeutbarer Blick wurde aus den tiefschwarzen Augen abgefeuert. Vernon drehte sich in barfüßiger Leichtigkeit um und ging. Im Türrahmen hielt er einen Moment inne, um Quintus über die Schulter zu adressieren. "Das Bad befindet sich linker Hand. Wenn du geduscht hast, komm bitte in die Küche. Ich habe Frühstück gemacht." Damit wurde die Zimmertür lautlos geschlossen. Quintus rutschte unter die wärmende Decke, rollte sich ohne Rücksicht auf seine mitgenommene Bandscheibe zusammen. Wenn er doch bloß die Zeit zurückdrehen könnte! ~?w?~ Nach gefühlten zehn Minuten Selbstmitleid, Bejammern seines Schicksals, Schuldzuweisungen an alle anderen und lächerlichen Rechtfertigungsplänen setzte sich Quintus wieder auf. Er war, oft zu seinem Leidwesen, ein erwachsener, verantwortungsvoller Mann. Es half also nach seinen Erfahrungen grundsätzlich nicht, sich unter der Bettdecke zu verkriechen. »Nun nimm dich aber mal zusammen!« Forderte ihn sein Über-Ich kritisch auf. »So geht's doch nicht weiter!« Das traf unglücklicherweise zu. Ungelenk stemmte sich Quintus hoch, kam auf die Beine, wackelte schlotternd zur Zimmertür. Er öffnete sie vorsichtig, spähte durch den Spalt in den dunklen, winzigen Flur einer Altbauwohnung, huschte wie angewiesen splitternackt in das erste Zimmer linker Hand. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, entfuhr ihm ein verschrecktes Quieken, weil er sich selbst gegenüberstand. Nun, tatsächlich seiner Reflexion in einem bodentiefen Spiegel. Die Hand auf sein stolperndes Herz gelegt keuchte er, um laut zu seufzen. Da Kaffee und Kopfschmerztablette den Kampf aufgenommen hatten, konnte er sehr viel klarer sehen, auch im übertragenen Sinne. Die Zahl der dunklen Flecken auf seinem Körper war immens. Wenn er sich verschämt drehte, so schien keine Körperpartie ausgenommen worden zu sein. Peinlich berührt, aber von einem finsteren Verdacht gelenkt verrenkte er sich derart, dass er auch seine Kehrseite in Augenschein nehmen konnte. »Oh Gott!« Durchbrach eine klägliche Stimme in seinem Kopf die Stille. Tapfer hob Quintus einen Fuß auf den Toilettendeckel, inspizierte die Innenseiten seiner Schenkel. Auch hier waren Spuren zu finden und nicht nur das. Plötzlich schwindelte ihn, er musste sich an einem offenen Leitungsrohr festhalten, bevor er sich sehr langsam und unsicher auf dem hohen Rand einer altmodischen Badewanne niederließ. In seinem Kopf war Bodennebel aufgestiegen, dick wie Erbsensuppe. Erst das alarmierte Prickeln seiner Zehen, die randalierten, weil sie langsam WIRKLICH sehr froren, weckte ihn aus seiner Erstarrung. »Das kann nicht sein.« Wieder und wieder durchlief der Gedanke seinen Kopf, während er ungelenk über den hohen Wannenrand in die Dusche kletterte, erst unter einem brühwarmen Wasserstrahl auftaute. Aber es musste wahr sein. Mit Tränen in den Augen seifte sich Quintus ein, spülte den Schaum gründlich herunter, hockte sich auf den Wannenrand, spreizte die Beine weit genug. Er kniff die Augen fest zusammen, bevor er mit der Rechten in seinen Schritt glitt. Dieser Bereich war tabu, schmutzig. Aber, das bewies er sich nun selbst mit zusammengebissenen Zähnen, nicht mehr länger unberührt. Quintus drehte erneut das Wasser auf, beugte sich vor. Er wollte nicht, dass jemand, auch nicht er selbst!, ihn beim Heulen ertappte. ~?w?~ Verstummt, bis ins Mark erschüttert kletterte er schließlich aus der Wanne. Die Hitze und die Bewegung hatten die Gelenkschmerzen vertrieben, sah man von dem dumpfen Pochen in Hüfthöhe ab. Quintus trocknete sich mit den demonstrativ auf einem geflochtenen Wäschekorb gestapelten Handtüchern ab, stieg in die Kleidung, die Vernon für ihn ausgelegt hatte. Der Kummer schnürte ihm die Kehle zu. Wie sollte er Evita jemals wieder gegenübertreten? Wie sollte er seine Unschuld beweisen, wo er nun nicht mehr unschuldig war?! In einen warmen Jogginganzug und geliehene Boxershorts gewandet, an den Füßen dicke Wollsocken, schlich Quintus elend in die Küche. Sie war schmal, jedoch Altbau-typisch sehr hoch, mit Schränken bis zur Decke ausgestattet. An einer Wand, den Arbeits- und Kochfeldern gegenüber, hatte man einen schlanken Tisch montiert, um den sich zwei Barhocker gruppierten. Vernon lehnte an einer Schrankfront, einen Arm um den Leib geschlungen, in der anderen Hand einen dampfenden Becher, blickte versonnen aus dem Fenster. Draußen dräute der Nebel, verschlang die blasse Sonne vollkommen, tauchte die Welt in ein milchig-trübes Licht. Als Quintus unschlüssig im Türrahmen verharrte, ihn stumm beobachtete, wandte er sich um. "Bitte setz dich doch." Wies er mit einer kurzen, jedoch anmutigen Bewegung auf die Barhocker. "Willst du noch mal Kaffee, oder ist Kamillentee auch in Ordnung?" "Danke." Murmelte Quintus erstickt. "Kamillentee wäre schön." Steif erkletterte er den Barhocker, heftete den Blick auf die schmale Tischplatte. In einem Körbchen knackte kaum hörbar frisch getoastetes Brot vor sich hin, daneben warteten Margarine und Honig. Obwohl es unmanierlich war, stützte Quintus beide Ellenbogen auf, sackte mit dem Kopf in die Handflächen. So elend war ihm noch nie zumute gewesen! Vernon platzierte den Teebecher direkt zwischen seine Ellenbogen, sodass der aufsteigende Wasserdampf ihn schließlich ausreichend benetzte, um seinen Kopf wieder von den Händen zu lösen. Alle Vorwürfe der letzten zwei Tage, die ihn ungerechtfertigt getroffen hatten, legte er in den Blick, den er Vernon zuwandte. Dessen Lippen pressten sich zu einem dünnen Strich zusammen. Er stellte heftig seinen Teebecher auf der Platte ab. "Du willst, dass ich die Schuld auf mich nehme, ja?!" Fauchte er Quintus wütend an. "Gut, ich tue es!" Aufgebracht baute er sich vor Quintus auf, der unwillkürlich gegen die Wand rückte. "Ja, du warst betrunken, und ja, ich habe mit dir geschlafen! Es war mir verdammt egal, ob du noch verlobt bist oder nicht!" Die tiefschwarzen Augen blitzten agitiert. "Sieh mich nicht so an! Ich habe die Situation nicht stärker ausgenutzt als du selbst!" Heftig atmend wandte er sich eilig ab, zog sich zum Fenster zurück, sah hinaus, die Hände zu Fäusten geballt. Quintus, der vor Schreck die Luft angehalten hatte, keuchte leise, entspannte sich ein wenig. Vernon gab ihm Rätsel auf. Wieso war der gleichzeitig außer sich vor Wut und blickte so traurig drein? Dann kamen ihm wieder Connies Worte in den Sinn. Hatte Vernon sich damals wirklich in ihn verliebt? »Aber das ist doch keine Rechtfertigung dafür, dass...« Quintus stockte plötzlich. Der Blinde Fleck in seinen Überlegungen löste sich auf. Er hatte schamhaft verdeckt, was Quintus sich nicht vorstellen wollte. "Wie meinst du das?" Hörte er sich piepsig fragen. "Das mit dem Ausnutzen der Situation?" Vernon warf ihm über die Schulter einen seiner unleserlichen Blicke zu, drehte sich langsam, fasste seinen Wollpullover beim Bund, hob ihn über den Kopf. Sofort schoss Quintus mit aller Gewalt das Blut in den Kopf. Vernon war genauso gefleckt wie er selbst. ~?w?~ Nachdem das Blut sich langsam wieder verteilt hatte, kehrte auch Quintus aus seiner Schockstarre in die Gegenwart zurück. Er schloss den Mund, schluckte, um das trockene Gefühl auf der Zunge zu vertreiben. "Ich kann's nicht glauben." Murmelte er tonlos. "Willst du mir nun auch noch unterstellen, dass ich lüge?" Vernon klang weniger wütend als müde. "Wir können gern deinen Gebissabdruck mit dem auf meinem Nacken vergleichen." Quintus hob den Kopf an, blinzelte. "Ich meine nicht, dass du nicht die Wahrheit sagst. Es ist nur..." Erklärte er langsam, noch immer ungläubig. "Zu entsetzlich?" Bot Vernon zynisch an. "Nein." Quintus schüttelte bedächtig den Kopf, starrte auf einen unsichtbaren Punkt direkt vor sich hin. "Ich hätte bloß nie gedacht, dass ich den Mut dazu habe. So etwas überhaupt zu erwägen." Vernon stieß ein knappes, bitteres Auflachen aus. "So schwierig ist das nicht." Nun sah Quintus ihm direkt in die tiefschwarzen Augen. "Für mich schon." Entgegnete er schlicht. "Ich liefere mich nicht gern aus." Zu seiner Überraschung senkte Vernon den Kopf, seufzte leise. Seine Schultern sackten herab. Er glitt Quintus gegenüber auf den anderen Barhocker, fischte einen Toast aus dem Brotkorb, schmierte ihm Margarine auf das Haupt, beträufelte ihn mit leichtflüssigem Honig, knabberte an einem Ende, bevor er den Toast wieder ablegte. "Kannst du dich wirklich nicht erinnern?" Das klang so gequält, dass Quintus sich reflexartig entschuldigte. Den Blick auf den angekauten Toast gerichtet flüsterte Vernon kaum hörbar. "Ich habe nichts getan, das du nicht auch gewollt hättest." Sie seufzten unisono mit herabhängenden Schultern, blickten sich überrascht an ob der Synchronisation. Quintus lächelte schief. "Ich glaube dir." Er holte tief Luft. "Es tut mir leid, dass ich so rücksichtslos war. Die Schuld liegt allein bei mir." Vernon studierte ihn, pickte einen weiteren Toast heraus, behandelte ihn wie den Vorgänger, bevor er Quintus den Honigtoast hinstreckte. Der nahm ihn unwillkürlich an, lächelte erneut. Sie kauten in entspannterem Schweigen. Vernon erhitzte Wasser, versenkte zwei neue Teebeutel in ihren Bechern. Nachdem er sie ertränkt und die nächste Generation Toastbrot mit Honig dekoriert hatte, richtete er seinen konzentrierten Blick auf Quintus. Der hielt beim Kauen inne, senkte den Toast wieder, der ihm erneut zugedacht worden war. "Willst du die ganze Geschichte hören?" ~?w?~ Kapitel 3 - Risiko "Sohn, was ist los, hm?" Vernon blinzelte, als die große, noch immer schwielige Hand über seinen Kopf strich. Sein Stiefvater, ein gemütlicher, untersetzter Mann mit ausbleichendem, roten Haarkranz und einem eindrucksvollen Walrossschnurrbart zwinkerte ihm aufmunternd aus fröhlich blauen Augen zu. "Die Bilder sind gut geworden, dein Bericht ist lückenlos, du hast die Rechnung schon geschrieben. Ich bin sehr zufrieden. Du machst deine Sache wirklich gut!" Lobte ihn sein Stiefvater. "Ich gebe mir große Mühe, Vater." Antwortete Vernon mit einem verlegenen Lächeln. Eigentlich hatte er eine abgeschlossene Ausbildung als Buchhalter. Nun arbeitete er in der Detektei seines Stiefvaters, einfach deshalb, weil er gern so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen wollte. Natürlich auch, weil in ihrer Branche Wirtschaftskriminalität ein interessantes Aufgabengebiet war. Wenn man als Buchhalter eingeschleust wurde, konnte man für die Geschäftsführung recht gut ermitteln, wo der Schuh drückte, ohne dass die Erkenntnisse nach außen drangen. Die Ermittlungsarbeit als Detektiv hatte wenig mit der Fiktion im Fernsehen zu tun. Es gab kaum bullige Kerle, die in unauffälligen Autos an Bordsteinkanten stundenlang observierten, mit gezückten Kameras auf ihre Zielpersonen lauerten. Häufig ging es um private Auseinandersetzungen, Erbstreitigkeiten, Verkehrsunfälle, Schwarzarbeit, Untreueverdacht in Beziehungen jeder Sorte. Man verbrachte viel Zeit in Ämtern, suchte Meldedaten, Auszüge aus Urkunden aller Art, fertigte Berichte über Tätigkeiten, suchte Zeugen und Beweismittel. Eine Puzzle-Arbeit, die Geduld, Langmut und einen gewissen Spürsinn verlangte. Vernon hatte zwar als Kind begeistert Detektiv gespielt, sämtliche Werke von Sir Arthur Conan Doyle verschlungen, doch er zweifelte an seinen Fähigkeiten. Was seinen leiblichen Vater betraf, so hatte der ihm nicht mehr vererben können als einen sehnigen, biegsamen Körper, der für Karate besonders geeignet schien. Und einen Hang zu Risiken. Seine Mutter war als Krankenschwester von den Philippinen nach Frankreich gekommen. Sie hatte ihm lediglich anvertraut, dass sein Vater, angeblich bei der Armee, tatsächlich aber Mitglied der Fremdenlegion und lediglich auf Urlaub, sich um sie bemüht hatte. Sie verliebte sich, glaubte seinen zahllosen Versprechungen, blieb nach einigen Wochen im siebten Himmel allein und schwanger zurück. Zwar hatte er sich nach einem Jahr noch mal sehen lassen, ohne Vorbehalte die Vaterschaft anerkannt, doch von Ehe und gemeinsamen Leben war keine Rede mehr. Vernon hatte schon als Kind gespürt, dass seiner Mutter von seinem abwesenden Vater ein großer Kummer zugefügt worden war. Er mochte seinen unbekannten Vater nicht, der so leichtsinnig war, das Leben wie ein Spiel betrachtete. Deshalb beobachtete er sich selbst streng, ob er etwa selbst diesem Hang nachgab, unnötige Risiken einging, keine Rücksicht auf seine Mutter nahm. Sie war sein Vorbild, fröhlich trotz anstrengender Arbeit, fleißig und sparsam, tapfer in einem fremden Land. Nach Hause konnte sie mit einem unehelichen Sohn nicht zurückkehren, von der Schande ganz abgesehen, dass sie als gläubige Katholikin dem sündhaften Verlangen vor der Ehe nachgegeben hatte. Da war Erich, der kräftige, stets fröhliche Mann mit dem Riesenschnauzer und der Halbglatze. Er hatte auf ihre Annonce geantwortet, denn seine Mutter hielt es damals für an der Zeit, dass ihr Sohn einen anständigen Vater bekam. Immerhin war er schon acht Jahre alt, sollte nicht länger an ihrer Schürze hängen. Vernon war von Erich stark beeindruckt, der gelassen war, nicht wütend wurde, seine Mutter mit Aufmerksamkeit bedachte, sie verliebt anstrahlte, nicht den Eindruck erweckte, er würde sie auch ausnutzen und sitzen lassen. Vielleicht waren zehn Jahre Altersunterschied recht viel, möglicherweise konnte es etwas überstürzt sein, nach drei Monaten in ein fremdes Land überzusiedeln, aber die Zeit hatte ihnen recht gegeben. Sein Stiefvater Erich hatte ihn nie enttäuscht. Jeder Kummer erschien ihm weniger drückend, wenn die große, schwielige Hand über seine seidig glatten Haare strich, die vertraute Stimme ihn aufmunterte. "Kannst es mir ruhig sagen, Sohn." Bekräftigte sein Stiefvater gerade gelassen. Das entsprach der Wahrheit. Nicht mal die Tatsache, dass er schwul war, konnte seinen Stiefvater erschüttern. Seine geliebte Mutter hatte sehr viel länger an dieser Entdeckung zu knabbern gehabt. Langsam schob Vernon ein Foto über die Schreibtischplatte. Sein Stiefvater klappte die Lesebrille vom Kopf, studierte die Aufnahme mit großer Gründlichkeit. "Der hat's dir angetan?" Die Frage war von rhetorischer Natur. Die fröhlichen, blauen Augen wechselten vom Bild zu Vernon, der leicht errötete, ihnen aber nicht auswich. "Nun, der Auftrag ist abgeschlossen. Ich halte es nicht für ratsam, selbst in die Angelegenheit einzugreifen, bevor unser Klient das getan hat." Vernons Schultern sackten herab. Sein Stiefvater seufzte neckend. "Sohn, nun schau nicht so bedröppelt! Ich merke schon, dass dir das nicht reicht." Ein sanfter Knuff traf Vernon am Kinn. "Aber sei vorsichtig, versprochen?" Mit aufklarender Gemütsfassung lächelte Vernon in das vertraute Gesicht. "Ganz bestimmt, Vater, Ehrenwort!" ~?w?~ "Hier." Vernon kehrte in die Küche zurück, schob ein umgedrehtes Foto zu Quintus hinüber, der sich gerade Honig von den Fingern leckte. Grinsend reichte ihm Vernon etwas Küchenpapier von einer Rolle. "Danke schön." Murmelte Quintus verlegen, konzentrierte sich auf das Bild. Was mochte das Foto wohl darstellen, wenn er es umdrehte? Vernon tippte mit einem Finger auf die Rückseite. "Ein anderer Abzug ist in der Innenseite deines Sakkos." Verkündete er, durchaus nervös. Quintus lupfte fragend die Augenbrauen. "In MEINEM Sakko? Dem von Mittwoch?" Erkundigte er sich alarmiert. Ihm gegenüber nickte Vernon, ein wenig kläglich. "Ich nehme nicht an, dass du es gefunden hast." Ergänzte er leise. "Himmel!" Rief Quintus zynisch aus. "Ich weiß nicht, ob ich das Sakko jemals wieder anfassen werde! Scheint mir ja die Büchse der Pandora zu sein!" Die Puzzle-Teilchen sortierten sich plötzlich zu einem Bild. Verblüfft stellte er seinen Teebecher abrupt auf die Tischplatte ab. "Nein! Sag mir nicht, dass du extra im Kochkurs die Schüssel fallen gelassen hast, um an mein Sakko zu kommen?!" Ihm gegenüber schwieg Vernon bedeutungsvoll. "Aber dann..." Quintus kniff die Augen zusammen. "Stammt der Zettel etwa auch von dir?!" "Nein." Vernon schüttelte energisch den Kopf, zog die Hand vom Foto zurück. "Als ich dich abends in der Bar aufgespürt hatte, war ich genauso verblüfft." Er seufzte, nahm einen kalten Schluck Kamillentee. "Dreh das Bild um. Ich erzähle dir alles." ~?w?~ Quintus stand am Küchenfenster, atmete tief die kalte, feuchte Luft ein, immer wieder und wieder. Er war allein. Vernon hatte sich taktvoll zurückgezogen, das inkriminierende Foto mitgenommen. Die Arme fest vor der Brust verschränkt zwang sich Quintus, nicht in Tränen auszubrechen, nicht zu schluchzen, den Kloß in seinem Hals herunterzuwürgen. Aber es tat höllisch weh, so enttäuscht und betrogen zu werden. »Wieso?« Fragte er sich unglücklich. »Wie konntest du nur?!« Aber auch die Antwort auf diese Fragen war kein Trost. ~?w?~ "Ich arbeite für meinen Stiefvater in seiner Detektei. Es gab da einen Klienten, dessen Tochter bald heiraten wollte. Er mochte seinen zukünftigen Schwiegersohn nicht, wollte, dass dessen Privatleben untersucht wird. Ob der nicht etwa 'zweigleisig' fuhr. Ich habe den Auftrag übernommen, bin dem jungen Mann gefolgt. Der Klient hatte tatsächlich recht mit seiner Vermutung: sein Schwiegersohn in spe hatte ein Verhältnis mit einer Kollegin. Sie trafen sich meist direkt im Anschluss an die Arbeit, manchmal auch für ein, zwei Stunden am Wochenende. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie ihr jeweiliges Eheversprechen einhalten wollten." Auf dem Foto waren eine schöne junge Frau und ein attraktiver, leicht zerzauster, junger Mann zu sehen, eng angeschmiegt, einander verliebt anstrahlend. Quintus hatte Evita auf den ersten Blick erkannt. ~?w?~ Quintus wischte sich über das Gesicht, als er Vernons Gegenwart hinter sich spürte. "Könnte ich wohl noch eine Kopfschmerztablette bekommen?" Fragte er gepresst. "Sicher." Hinter ihm erklangen verschiedene Geräusche. Tapfer drehte er sich um. Vernon stand vor ihm, die Tablette in der einen, ein Glas Wasser in der anderen Hand. "Vielen Dank." Murmelte Quintus kläglich, strapazierte sein Genick, spülte mit Wasser nach. Er senkte den Kopf, um dem besorgten Blick aus den tiefschwarzen Augen auszuweichen, seufzte leise, stellte das Glas zittrig ab. Dann lachte er bitter auf. "Sie war so überzeugend." Wisperte er erstickt. "Die Szene war so ECHT! Ich frage mich, wie sie das hinbekommen hat, obwohl sie doch wusste...!" Vernon legte ihm behutsam die Arme um die Schultern, zog ihn sehr sanft an sich. "Wie konnte sie das bloß tun?!" Krächzte Quintus an seiner Schulterbeuge schrill, bevor er viel leiser fortfuhr. "Ich erkenne sie gar nicht wieder." "Es tut mir leid." Raunte Vernon mit seiner melodiösen Stimme. "Dein Kummer tut mir wirklich leid." Quintus hätte diese Worte zurückgewiesen, wenn er die Aufrichtigkeit der Gefühle nicht gespürt hätte. Vernon hatte ihm auf die Sprünge helfen wollen, doch Evita war mit ihrer Inszenierung schneller gewesen. »Hätte sie mir nicht einfach sagen können...?!« Quintus erwiderte die tröstliche Umarmung, hielt sich fest. »Nein.« Dachte er traurig. »Nach all dem Aufwand, all den Jahren hatte sie wohl keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als den Bruch auf diese Weise herbeizuführen. ICH hätte es verstanden, aber die anderen? Nein.« Er schloss die Augen, atmete tief durch. Es war vorbei, der Traum zu Ende. ~?w?~ Vernon zögerte, ob er den Zenit nicht überschritt, in Kürze energisch zurückgestoßen werden würde. Tatsächlich löste sich Quintus von ihm, aber nicht grob, sondern langsam und geordnet. Also hatte er sich gefasst, würde ihm gleich mit höflichen Worten den Gnadenstoß versetzen. Vernon fühlte sich sterbenselend. ~?w?~ Quintus lehnte die Stirn an Vernons, bog die Hände behutsam um dessen Wangen. "Bitte entschuldige." Er lächelte beschämt. "Du hast so viel auf dich genommen, um mir zu helfen und ich habe es dir so schlecht vergolten." Er zog den Kopf zurück, um in die tiefschwarzen Augen zu blicken. "Es tut mir aufrichtig leid, dass ich dir Vorhaltungen gemacht, dich in so eine Lage gebracht habe." Er ergänzte beschämt. "Hätte ich mich nicht so dämlich betrunken, wäre das nicht passiert." Vernon stieß einen erstickten Laut aus, Quintus heftig von sich weg, sodass der gegen einen Küchenschrank taumelte. "Ich wünschte, du würdest dich erinnern! Wieso hast du nur besoffen Mut?!" Damit fegte er aus der Küche ins Badezimmer, knallte die Tür hinter sich ins Schloss. Quintus blinzelte benommen, dann seufzte er laut. "Heute kann ich wohl gar nichts richtig machen." Verkündete er sich selbst die niederschmetternde Wahrheit. ~?w?~ Richtig feige wäre es wohl gewesen, sich in den geliehenen Kleidern davonzustehlen, kein Wort mehr über diese ganze Angelegenheit zu verlieren. Das wollte Quintus nicht. Was sollte er stattdessen tun? Ratlos stand er in dem dunklen, winzigen Flur, überlegte, welche Worte er wählen konnte, um mit ihnen das Badezimmer zu belagern, damit Vernon wieder herauskam. Er seufzte laut, rieb sich heftig über das Gesicht. Es kam selten vor, dass er betrunken war. Zumeist fehlte es an Gelegenheiten. Er achtete auf seinen Konsum, schließlich wollte er nicht aus der Rolle fallen, sich und andere in Verlegenheit bringen. Das wäre ihm viel zu peinlich! Deshalb war es absolut unglaublich, dass er sich nicht nur betrunken HATTE, sondern anschließend mit einem attraktiven Fremden ins Bett gegangen war UND auch noch mitgemacht hatte bei...! Quintus konnte das Wort nicht mal denken, ohne vor Scham dunkelrot anzulaufen. So etwas tat man nicht. Als Mann ließ man SO ETWAS auch nicht zu! Langsam verließ er den Flur, betrat das Schlafzimmer. "Aber ich habe." Stellte er laut fest, ballte die Fäuste, um nicht feige vor der Realität davonzulaufen. Das zerwühlte Bett, die Spuren auf Vernons Körper, seine eigene Kondition: er MUSSTE es gewollt haben. Wenn er schon betrunken gewesen war, dann zumindest nicht in einem solchen Ausmaß, dass er seine Handlungen nicht mehr steuern konnte. Langsam ließ er sich auf der Bettkante nieder, studierte gedankenverloren seine ineinander verschränkten Finger. War es gut gewesen? Hatte es sich gut angefühlt? Er seufzte noch einmal profund. Vorher hatte er sich gefürchtet, aber JETZT wollte er sich unbedingt erinnern, um herauszufinden, was wirklich geschehen war. ~?w?~ Vernon umklammerte den Waschbeckenrand so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Wie blöd, sich Hoffnungen zu machen! Er hätte es doch besser wissen müssen! Im Spiegel blickte ihn ein verschwommenes Etwas an. Es gewann erst an Konturen, als er sich wütend mit dem Handrücken über die Augen gefahren hatte. "Du lernst es wohl nie?!" Machte er sich selbst zischend Vorhaltungen. Sich wie ein Idiot zu verlieben, ausgerechnet noch in einen Mann, der offenkundig NICHT schwul war! Auf ein Wunder zu hoffen! Obwohl er dieses Mal so sicher gewesen war, zum ersten Mal absolut und unerschütterlich überzeugt, dass ihn sein Instinkt nicht trog, dass Quintus sich auch in ihn verlieben würde. Zugegeben, vielleicht hätte er der Versuchung widerstehen sollen. Doch nach SOLCHEN Küssen wäre nicht mal ein Steinblock standhaft geblieben! Möglicherweise war seine Enthaltsamkeit auch nicht ganz unschuldig an der Misere. Wenn er sich überwunden hätte, ein paar Mal ausgegangen wäre, für eine Nacht lang einen netten, einfühlsamen Partner gewählt hätte, dann...! Aber das lag ihm nicht. Er wollte kein Wegwerfvergnügen mit eingebauter Haltbarkeit bis zum nächsten Morgen. Bei Quintus hatte er gehofft, mit aller Kraft des Glaubens, dass der genug Mumm hatte, auch am Morgen danach. Seine Schultern sackten herab. Er konnte ihm keinen Vorwurf machen. Nicht, wenn einer absolut heterosexuell sein WOLLTE, von Frau und Kindern träumte. "Du bist so ein erbärmlicher Idiot." Titulierte er sich selbst gequält. Wenn er jetzt wieder wochenlang an Liebeskummer litt, so hatte er ihn sich wirklich redlich verdient! ~?w?~ Quintus ließ sich seitlich auf das Bett sinken, streckte sich frech auf dem Rücken aus, studierte geistesabwesend die entfernte Decke. "Das kann doch nicht sein!" Tadelte er sich selbst ärgerlich. Man konnte doch nicht einfach so eine Premiere vergessen!! Alkohol hin oder her, er wollte sich jetzt, verxxx-verflixt noch mal, erinnern! Zu allem entschlossen klappte er die Lider herunter, befahl sich, GAAAAANZ entspannt zu liegen, tief zu atmen. Nach einer Weile, in der es ihm tatsächlich gelang, sich bequem auf das weiche Polster gebeutelter Kissen, Winterdecken und der Matratze einzurichten, nahm er die Ahnung von Geruch war, nicht unangenehm oder stickig, eher vertraut. Da Quintus wusste, dass man den eigenen Körpergeruch nur selten intensiv wahrnahm, ebenso, wie man sich selbst nicht kitzeln konnte, musste es sich bei dem Duft um Vernon handeln. Nun, das war wenig verwunderlich, immerhin lag er in dessen Bett. Vor seinem inneren Auge zogen Eindrücke von Vernon auf, dem attraktiv exotischen Zuschnitt seines Gesichts, dem sehnigen Oberkörper, muskulös auf die Art von Kampfsportlern. Keine Brusthaare, auch keine dezente Spur von Bauchnabel bis zur Schamgegend. Quintus seufzte unwillkürlich. Evita hatte ihn immer gepiesackt, er möge sich auch die Front rasieren, aber das hatte Quintus kategorisch abgelehnt. So viel Aufwand, dann noch Stoppeln und vielleicht entzündete Haarwurzeln mit Pickeln?! Keine Chance! Wütend fragte er sich, warum dieser haarige Affe mit dem blöden Grinsen dann bei ihr Anklang gefunden hatte. »Hoffentlich bekommt er Käsefüße. Und eine Glatze!« Wünschte er zornig. Ärgerlich drehte er den Kopf zur Seite. Für einen Moment glaubte er, dort ein schlafendes Haupt zu sehen, seidig glänzende, fedrig geschnittene Haare, lange, dichte Wimpern, die Schatten auf die hohen Wangenknochen warfen, ein leicht geöffneter Mund, eine nackte Schulter. Quintus blinzelte. Die Vision verschwand. Er seufzte leise. ~?w?~ Vorsichtig entriegelte Vernon die Badezimmertür, lauschte auf den Flur hinaus. Es war still. »Er ist gegangen.« Resümierte sein Pessimismus ungerührt. Trotzdem lenkte Vernon seine Schritte barfüßig in die Küche. Sie war verlassen. Sein Mut sank, ebenso seine Schultern. Die gesamte Anspannung, die ihn in tänzerischer Anmut über den kalten Boden bewegt hatte, verlor sich abrupt. »Dann kannst du genauso gut gleich das Bett wechseln und lüften!« Ermahnte ihn sein Pflichtbewusstsein mütterlicherseits. »Müßig Trübsalblasen ist vollkommen nutzlos.« Leider wahr. Als Vernon sein Schlafzimmer betrat, lautlos wie gewohnt, erstarrte er im Türrahmen, denn der Verlorene hatte sich auf seinem breiten Bett ausgestreckt. Er schlief nicht, das spürte Vernon, hatte aber seine Gegenwart noch nicht registriert. Von einer wilden Hoffnung durchpulst flitzte Vernon eilig auf die andere Seite, schlüpfte neben Quintus ins Bett, kopierte sein Beispiel. Ihre Handrücken berührten sich für einen Moment, doch keiner zog seinen Arm nach dem flüchtigen Zucken weg. "Ich versuche mich zu erinnern." Erklärte ihm Quintus leise. Vernon schwieg. Es war wirklich kränkend, dass eine so turbulente, erfüllte Nacht bei seinem Partner keine bleibenden Erinnerungen auslöste! "...ich habe noch nie...na ja...deshalb..." Verlor sich Quintus neben ihm in Halbsätzen. Seine Fingerknöchel streiften Vernons, verhakten sich für einen Augenblick, um sich wieder zu lösen. "...es ist ziemlich peinlich..." Das konnte man Quintus' Stimme anhören. "Aber ich würde gern wissen: hat es mir gefallen?" Vernon schnaubte leise. Seine Hoffnung rüffelte ihn innerlich, nicht so stur zu sein. Quin bemühte sich auf seine Weise ja auch! Also flüsterte er leise. "Es hat dir gefallen." Er schloss die Augen, erinnerte sich an die Nacht. "Wir haben nicht darüber geredet. Es passte einfach. Wir mussten uns bloß ansehen." Ja, wenn man es recht bedachte, hatte es sogar an ein Wunder gegrenzt, wie einfach es funktioniert hatte. Sie waren beide derart entflammt gewesen, fiebrig vor Lust, dass es kein Zögern gegeben hatte. Die Choreographie war von allein entstanden, der Steigerung ihrer Leidenschaft geschuldet. Nichts war peinlich gewesen, abstoßend oder ernüchternd. Sie hatten sich einem Liebesrausch hingegeben. Vernon rollte sich auf die Seite, fasste Quintus' Linke. "Willst du eine Neuauflage? Damit du dich erinnern kannst?" ~?w?~ Quintus zögerte, schließlich stand er direkt vor einem Abgrund. Wer würde da bedenkenlos hinüberspringen wollen? Eine Entscheidung wurde ihm abgenommen, denn Vernon beugte sich über ihn, küsste ihn zurückhaltend. In diesem Augenblick wusste Quintus, dass er dem Mandellikör nicht die ganze Verantwortung zuschieben konnte. Vielleicht hatte der ihn enthemmt, sich von einem Mann küssen zu lassen, aber... In seiner Magengrube detonierte ein wild herumwischender Kugelblitz. Er fegte gefangen auf und nieder, kreiselte, setzte unablässig Explosionen frei, die in Form elektrischer Ladungen durch seine Glieder rasten. Quintus' Lider flatterten nach oben, blicklos auf die entfernte Zimmerdecke gerichtet. In einem konditionierten Reflex schlang er erstickend eng die Arme um Vernons Rücken, umklammerte ihn wie ein Preisringer, rollte sich um 180°, bis er auf dem anderen Mann zu liegen kam. Dieser winzige, kümmerliche, scheue Kuss hatte eine Kettenreaktion ausgelöst, die nun unaufhaltsam ablief. Er küsste Vernon erstickend, tränkte ihn mit seinem Speichel, stahl ihm den Atem. Er war so aggressiv, wie er es sich niemals zugetraut hätte. Vernon dagegen erinnerte sich sehr gut und plastisch an die vorangegangene Nacht, wo ein unglaublich gieriger Mann ihn mit einer Leidenschaft begehrt hatte, die ihresgleichen suchte. Ihn von Kopf bis Fuß küsste, ableckte, streichelte, biss, hungrig nach Liebe und Zuwendung. Keineswegs bescheiden mit ein paar Liebkosungen zufrieden war! Quintus war stürmisch, fordernd, ungeduldig, bis er ihm den letzten Faden Bekleidung vom Leib gerissen hatte, wollte ihn verschlingen. Nichts schien ihn bremsen zu können. Küsse bis zur Atemnot, Ringkämpfe im Bett, bis die Stellung ihm genehm war, rastlose Hände, die über seinen gesamten Körper wanderten. Nicht mal in einem Pornostreifen hätte man ein solches Begehren für glaubwürdig gehalten! Quintus konnte zu seiner Verteidigung bloß anführen, dass er selbst eine solche Reaktion nicht für möglich gehalten hätte. Der Kugelblitz in seinem Magen trieb ihn förmlich zur Raserei, wollte sich nicht bändigen oder besänftigen lassen! Küsse waren nicht genug, nicht Hände, nicht Streicheleinheiten oder Zärtlichkeiten! Er wollte immer mehr! Wie eine Lawine, die sich beim Abgang potenzierte, überschlug und ins Unendliche steigerte, so verhielt sich auch die überwältigende Lust in seiner Magengrube. Sie war nicht zufrieden, peinigte ihn, plagte ihn. Es gab nur eine Antwort, wie man sie erledigen konnte, mit einem finalen Elektroschock das Feuerwerk abschloss. Dabei konnte nur Vernon ihm helfen. Nein, der musste es sogar! Unbedingt! Vernon kam, wie in der Nacht zuvor, von zupackenden Händen und Zahnabdrücken gezeichnet, dem unausgesprochenen Wunsch gerne nach. So begehrt und geliebt zu werden trieb ihm die Tränen in die Augen. ~?w?~ Er hörte das leise Vibrieren, setzte sich auf, beugte sich über die Bettkante, um sein Mobiltelefon in der Gesäßtasche seiner Jeans herauszufischen. Wie sämtliche seiner Kleider war auch die Jeans fiebrig abgezupft, über Bord geworfen worden, lag verstreut mit den Kleidungsstücken, die er Quintus zur Verfügung gestellt hatte. Vernon blinzelte, stopfte sich ein Kissen in den Rücken, nahm den Anruf an. "Ja? Oh, heute Abend? Halloween?" Er lächelte auf seinen schlafenden Bettgenossen hinunter, der mit dezent geröteten Wangen neben ihm lag, die dunkelblonden Haare nun vollends zerzaust. "Nein." Antwortete er leise. "Entschuldige, Kiki, aber heute Abend kann ich nicht." "Nein~nein!" Lachte Vernon leise. "Ich verkrieche mich überhaupt nicht. Ich bin nicht allein, weißt du?" Sanft versuchte er, ein wenig Ordnung in die wirren Wellen zu bringen. So tief schlafend wirkte Quintus tatsächlich, als könne er kein Wässerchen trüben. Nicht etwa wie ein unersättlicher Satyr, der sich auf ihn stürzte, wortlos, aber unnachgiebig alle Leidenschaft einforderte, die ein gesunder Mann bieten konnte. Wenn er eine gute Kondition hatte, keine Angst davor bekam, sich unversehens in einem Rugbyspiel ohne Schutzpolsterung zu befinden. "Im Augenblick?" Vernon schmunzelte. "Sehr sexy." "Nein, ich werde dir bestimmt kein Bild von ihm schicken!" Widersprach er lachend. Die Aussage, dass Quintus gerade zum Vernaschen gut aussah, musste für die Phantasie seines Freundes reichen. "Er schläft. Nein, nicht noch, sondern schon wieder." Kokettierte er amüsiert. "Danke. Ich melde mich bei dir. Hab heute Abend viel Spaß, ja?" Gut gelaunt verabschiedete er sich, klappte sein Mobiltelefon wieder zu. Er ließ es auf den Boden gleiten, rutschte ein wenig tiefer zurück unter die Decke und beschloss, Quintus noch ein Weilchen im trüben Herbstlicht zu betrachten. ~?w?~ "Süßes oder Saures?" Quintus blinzelte, arrangierte seine Glieder in eine aufrechte Sitzhaltung, bemühte sich, sein Gehirn wieder auf Touren zu bringen. "Süßes, schätze ich?" Antwortete er schließlich verunsichert, blickte abwechselnd von der geschrumpften Zitrone über den Kuchenriegel in ein paar frech funkelnder, tiefschwarzer Augen. Vernon lachte, legte die Zitrone achtlos auf der Matratze ab, pellte für Quintus die Verpackung von Kuchenriegel. "Mehr habe ich leider nicht." Bedauerte er ungetrübt, schob Quintus einen Bissen in den Mund. Der kaute, nun tatsächlich hellwach, schnappte sich den Riegel, um seinerseits Vernon einen Bissen zu verordnen. Und noch einen Bissen. Beim letzten Bissen packte er den amüsiert Mümmelnden wie ein Ringer, warf ihn auf den Rücken, unterdrückte jeden Protest mit einem gierigen Kuss, der sich auch am Kuchen gütlich tat. Vernon stöhnte leise, schlang jedoch die Arme eng um Quintus' Nacken. Endlich durfte er Luft holen, von der unbequemen Zitrone rutschen, die lästiger als eine Erbse war. Eifrig leckte Quintus ihm das Gesicht sauber, dabei ungeheuer konzentriert. "Erinnerst du dich wieder?" Erkundigte sich Vernon leise. Neben seinem Kopf stemmte sich Quintus auf die Ellen, blickte auf ihn herunter. "Connie hatte recht." Bemerkte er nach einer gespannten Weile. "Ich hätte UNBEDINGT genauer hinsehen müssen!" Vernon studierte ihn fragend, konnte nicht ganz folgen. In Quintus' Brustkorb schlug sein Herz schon wieder Kapriolen. Etwas tiefer, subäquatorial, braute sich erneut eine energetisches Gewitterwolke zusammen, die sich in kürzester Zeit in einem Kugelblitz manifestieren konnte. Er hatte Vernon gewollt. Bis zur Unerträglichkeit hatte es ihn nach ihm verlangt. Unter ihm lächelte Vernon erleichtert, hob eine Hand, um ihm über die Wange zu streicheln. "Sag, willst du nicht heute bei mir bleiben?" Erkundigte er sich leise. "Bitte?" Quintus lächelte, erst verhalten, sich steigernd bis zu einem glücklichen Strahlen. "Und ob ich bleiben werde!" Schnurrte er zärtlich. Plötzlich hatte er begriffen, was Kopfschmerzen und Alkohol so lange vernebelt hatten: er war zum ersten Mal in seinem Leben Hals über Kopf verliebt. ~?w?~ ENDE ~?w?~ Vielen Dank fürs Lesen! kimera