Titel: Hasenpower Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Erstellt: 14-08-2020 Disclaimer und Erklärungen: - VR = Virtual Reality, künstlich erzeugte, simulierte Umgebungen - Die Leiden des jungen Werther, Briefroman von Johann Wolfgang von Goethe - Effi Briest, Roman von Theodor Fontane - Paulchen Panther/Der rosarote Panther, hier die Zeichentrickfigur (MGM-Studios) - Viel Lärm um Nichts /Much ado about nothing, William Shakespeare - Heinz Erhardt, Komiker, Humorist und Unterhaltungskünstler - Heinz Rühmann, Schauspieler und Regisseur - Theo Lingen, Schauspieler und Regisseur - Tarantula, Horror-SciFi-Film von 1955 - Tremors-Im Land der Raketenwürmer, Horrorkomödie von 1990 - Der Blob, Horror-SciFi-Film von 1988 - Kevin Bacon, Schauspieler - Fred Ward, Schauspieler - Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde stammte von Robert Louis Stevenson - Der unglaubliche Hulk, Marvel-Comic-Serie von Stan Lee und Jack Kirby - An ideal husband/Ein idealer Gatte, Oscar Wilde => "Angels Geschichte" ist in fünf Büchern erzählt, diverse Cameo-Auftritte folgten später nach ^_~ => Silvain und Linus sowie Rai und Tibo erscheinen in der Trilogie "Schutzengel", "Powermann" und "Trick!" ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ ~¢~ Hasenpower Kapitel 1 - Außergewöhnliche Umstände »Egoistisch, durchaus.« Gestand Silvain, während er den mitgenommenen Trolley hinter sich her zerrte. Der bockte hin und wieder, weil die Übersetzung von Griffstange auf die kleinen Räder zu viel Spielraum hatte. Allerdings konnten das lädierte Pflaster und Bordsteine ihn nicht zur Havarie bringen, denn auf dem Trolley residierte eine Reisetasche wie eine überfressene Raupe, prallgefüllt, ebenso mächtig wie der Rucksack, der Silvain vornübergebeugt stapfen ließ. Doch ihn trieb eine Mission an, akkompagniert von einem Versprechen und, nicht ganz unbedeutend, ein erhebliches Maß an komprimiertem Zorn. ~¢~ "Ja?" Silvain schnaufte durch, richtete sich auf, wäre beinahe nach hinten übergekippt. Er balancierte mühsam die trudelnde Bewegung aus. "Hallo?!" Klang die ohnehin raue Stimme argwöhnisch, leicht verzerrt aus der Gegensprechanlage. "Hallo, ja, Entschuldigung...!" Stammelte Silvain, weniger wie gewöhnlich verschreckt und überrumpelt als unerfreulich blind und krächzend, denn die Anstrengung hatte seine Brillengläser beschlagen lassen, der pollenreiche Gruß an den Frühling seine Kehle mit Mehltau verklebt. "Silvain?!" »Genau, ich bin's, entschuldige den Überfall.« Hätte Silvain gern formuliert, doch was ihm entschlüpfte, war ein bellender Husten, der zur mangelnden Durchsicht auch noch einen Tränenfilm addierte. Ärgerlich, aber leidlich erfahren mit den eigenen Unzulänglichkeiten schnaufte Silvain durch. Nicht die beste Idee, bei Flusen besetzter Zunge. Er kolkte förmlich, taumelte Rucksack-beschwert, wäre prompt im ungepflegten Mini-Vorgarten vor der Haustür und dem Klingelpaneel mit den letzten vier Buchstaben gelandet. Justament flog die schwere Haustür auf, eine geübte Hand fischte den Tragegriff am Rucksack aus der Luft, bremste somit Silvains allzu eilige Annäherung an den Erdmittelpunkt ab. "E-e-nt..." Adressierte Silvain mit tränenden Augen, Triefnase, auf die Knie gesackt die Luft über sich, bevor es raketenartig beschleunigt wieder nach oben ging, in muskulöse Arme. ~¢~ Nein, so hatte sich Silvain sein Erscheinen definitiv nicht vorgestellt. Er war an Alltagskatastrophen dank Schreckhaftigkeit, Kurzsichtigkeit, Schlaksigkeit, Höhenangst und Horror-Phobie unerfreulich gewöhnt. JETZT saß er auf der Bettkante, einen Henkelbecher mit rasch aufgebrühtem Tee austarierend, einen sichernden Arm um die knochige Schulterpartie gelegt. Nachdem er gurgeln, sich das Gesicht waschen und seine Brille zwecks Politur herausgeben musste. "Ich wage mich mal an eine wilde Vermutung." Stellte die raue Stimme an seiner Seite eine Hypothese vor. "Angesichts der ganzen Bagage, um nicht von Tross zu sprechen, beabsichtigst du keinen auf eine Viertelstunde angelegten Höflichkeitsbesuch." Silvain schluckte hastig den wohltuenden Tee. "Ja, das stimmt...oh, bitte entschuldige, Linus! Ich wollte wirklich nicht so fürchterlich unsortiert hereinplatzen! Mir ist durchaus bekannt, dass man sich nicht einfach einlädt." Nahm er einen erneuten Anlauf, sich und das ganze Schlamassel seit dem Drücken des Klingelknopfes zu erklären. Dazu kam er, auch in dieser Runde, nicht. Linus entführte flink den Becher aus den schlanken, anmutigen Händen, umarmte Silvain, bevor er ihn schwindlig küsste. ~¢~ Obwohl man es gar nicht glauben sollte: es lag sich ausgesprochen bequem! Fand Silvain, der dieses Privileg nicht zu teilen wünschte. Auf Linus, Wikinger, Vize-Kapitän der Schulhockeymannschaft, 1,90m athletische Gestalt mit Muskeln, kupferroten Locken auf dem Schädel und Friesen-blauen Augen, dessen Arme ihn sichernd umschlungen hielten, vom Nacken über das knorpelige Rückgrat mit warmen Händen strichen. "Ich dachte wirklich, ich könne es aushalten. Immerhin verfüge ich über ein eigenes Zimmer. Wir haben sogar einen kleinen Garten." Silvain seufzte in die vertraute Halsbeuge. "Aber nach vier Wochen hieß es: ich und mein bisschen Verstand oder sie!" Er musste Linus nicht erläutern, wer mit "sie" gemeint war: Mireille und Marielle, seine gerade mal ein paar Monate jüngeren Schwestern. Attraktive Zwillinge, die ihrem Bruder "Silly" bevorzugt das Leben zur Hölle machten, wenn er ihren Ansprüchen nicht genügte. Eine Messlatte, die Silvain gar nicht reißen konnte, weil er sie selbst mit steifen Genick nur von weit unten in himmlischen Sphären erahnte. "Außerdem habe ich dich ganz furchtbar vermisst." Vorsichtig legte er die dünnen Ellen auf Linus' kräftigen Brustkorb, blinzelte kurzsichtig in die Friesen-blauen Augen, straffte seine magere Gestalt entschieden. Deshalb hatte er, die Überwältigung durch niedere Instinkte wie Mordgelüste fürchtend, die heimischen Gefilde verlassen, um sich mit Sack und Pack gänzlich verbotenerweise bei seinem festen Freund in dessen winziger Dachwohnung einzunisten. "Entschuldigung." Fügte er leise an. Ihm war die Zwickmühle durchaus präsent, in die er Linus manövriert hatte. Der hätte ihn nicht mal in seine Nähe lassen dürfen, weil ein geringerer Abstand als 1,50m dank COVID-19-Pandemie-Verordnungen nicht gestattet war, wenn man nicht im selben Haushalt lebte. Von Körperkontakt und ausgiebigen Küssen ganz zu schweigen! "Linus?" Eingeschüchtert robbte Silvain ein wenig höher, blinzelte, in der trügerischen Hoffnung, präzisere Konturen erkennen zu können. "Ich bemühe mich gerade angestrengt, nicht Rotz und Wasser zu heulen." Ließ ihn Linus mit seiner tiefen, rauen Stimme wissen, gewohnt selbstironisch. "Oh." Kommentierte Silvain ausschweifend. "Du hast mich auch vermisst?" Versicherte er sich selbst eine tollkühne Vermutung. Unter ihm knurrte Linus beeindruckend, bevor er einen Seufzer ausstieß, der sich von den Zehenspitzen hochzuarbeiten schien. "Dass ich seit mehr als zwei Jahren allein hause, hat mich nicht ausreichend gegen Einsamkeit imprägniert. Wobei 'Gesellschaft leisten' nicht annähernd beschreibt, was DU mir bedeutest." Unvermutet fand Silvain sich auf die Seite rotiert. "Ich hab's versucht, weißt du?" Hörte er Linus rau wispern, den Kopf auf dessen Bizeps abgelegt. "Irgendwie Geld zusammenzukratzen für ein gebrauchtes Mobiltelefon. Aber Minderjährige bekommen keine Verträge und meine Mutter..." Instinktiv streichelte Silvain über die nordisch-markanten Züge des vermeintlichen Wikingers, spürte die angespannten Sehnen. "Aisha hat mir Walkie Talkies überlassen für die Nachbarschaftshilfe. Aber leider konnte ich nur zwei Geräte wieder in Gang bringen. Die anderen waren hinüber, korrodiert, die Batteriesäure ausgetreten." Ein gepresster Atemzug. "Nun ja, da musste ich mich entscheiden, richtig? Verantwortung übernehmen, Haltung beweisen, Solidarität!" Seine raue Stimme klang so bitter und gequält, dass Silvain die Augen vor Mitgefühl beschlugen. Mochte Linus auch wirken wie der personifizierte Ragnarök mit seiner ehrfurchtgebietenden Erscheinung: unter dem Panzer schlug ein großes Herz. Silvain liebkoste die rasierten Seitenpartien, schniefte unterdrückt. "Die Omas haben mir von früher erzählt: Briefchen schreiben, das ging ja nicht, wenn man einen heimlichen Schwarm hatte. Sie haben kleine Notizbücher oder Alben ausgetauscht, fast wie Agenten, mit 'totem Briefkasten'." Linus schnaubte grimmig. "Wenn ich nicht so eitel gewesen wäre...! Leider behagte mir die Vorstellung so überaus gar nicht, dass deine notorischen Schwestern euren Briefkasten belagern." Silvain seufzte. Mit seiner Einschätzung hatte Linus zweifellos recht: private Alben auszutauschen war keine Lösung. Für seine Schwestern verfügte er über keine Intimsphäre. "Es tut mir leid, Linus! Ich hätte mir auch wirklich mehr einfallen lassen müssen." Übernahm Silvain bekümmert seinen Anteil an der unerfreulichen Lage. "Sicher nicht. Du kannst dir kaum die Verantwortung zuschustern, einen Einsiedler auf dem Niveau der 1950-er im Jahr 2020 auf herkömmliche Weise zu kontaktieren." Grollte Linus gallig, drehte sich abrupt weg, auf den Rücken, fauchte kehlig. "Manchmal hab ich es so satt....!" Silvain setzte sich auf. Er war eine der ganz wenigen Personen, die Linus hinter die Fassade des unbeeindruckbaren, grimmigen Wikingers blicken ließ. Der sich mühsam mit dem Kindergeld über Wasser hielt, weil die Unterhaltszahlungen (eingeklagt) gerade für die Warmmiete reichten. Kein Fernseher, kein Computer, kein Smartphone, kein Kühlschrank, keine Waschmaschine... Bisher hatten sie sich immer in der Schule gesehen, dort verabredet, Zeit miteinander verbracht oder, hin und wieder, in Linus' winziger Dachwohnung, ein Zimmer mit Badnische. Trotz dieser Umstände erwies sich Linus nicht nur als großherzig, sondern auch großzügig. Silvain glaubte auch keinen Wimpernschlag lang Linus' selbstironische Bemerkung, das ehrenamtliche Engagement sei allein seinem "Lagerkoller" zuzuschreiben. Nein. Captain Spectaculars Einfluss, dem mindestens ein Stern am Firmament gebührte, und eine innere Stärke, die sämtliche Asen zusammen in den Schatten stellte. Silvain hielt korrigierende Kritik für geboten. "Ent-..." Eine Fingerspitze touchierte sehr sanft seine Lippen. Vage erahnte er ein gequältes Lächeln auf den vertrauten, nordischen Zügen. "Außerdem bin ich aufgeflogen." ~¢~ Linus reichte Silvain die Visitenkarte. [Matthias Fermont]. E-Mail-Adresse, Mobilfunknummer. [Ich komme gegen 15 Uhr vorbei.] "Oje." Murmelte Silvain, mit Brille besser gerüstet für weitere Unbillen des nickeligen Schicksals. Durch die von ihm vor nun doch ein wenig zu langer Zeit gestutzten Strähnen streichelnd lächelte Linus leicht. Silvain nahm sich immer so viel zu Herzen! "Ich vermute mal, dass meine Mutter nicht reagiert hat. Also ist er hergekommen, hat die Klingelbeschriftung gesehen und die richtigen Schlüsse gezogen." Brummte Linus, beschämend erleichtert, diese Komplikation seines Daseins einer anderen Person anvertrauen zu können. "Daran habe ich gar nicht gedacht." Bekannte Silvain beschämt, ließ den Kopf hängen. "He, aufgemerkt!" Bugsierte Linus selbstherrlich mit der Fingerspitze das Kinn seines Freundes wieder hoch, funkelte Friesen-blau. "Es war lediglich eine Frage der Zeit, bis ich auffliege. Präzise ausgedrückt: ich hatte bisher unverschämtes Glück. Zudem war es ungezogen von mir als Charakterwanze, diesen Frust bei dir abzuladen." Nicht, dass Silvain ihm diesbezüglich jemals die Leviten lesen würde! Das Selbstmanagement musste in der Konsequenz erheblich optimiert werden. Unerwartet für Linus nahm Silvain seine kräftigen Hände, drückte sie entschieden. "Erstens bist du ganz und gar keine Charakterwanze, Linus. Zweitens können wir diesen Herrn Fermont vielleicht gemeinsam überzeugen! Sieh mal, ich habe mein Smartphone und mein Lesegerät dabei! Die Aufgaben, die für dich gedacht sind, können wir einfach an meine E-Mail-Adresse schicken lassen. Mit dem Lesegerät kann ich über die W-LAN-Hotspots auch ins Internet gelangen. Oh, das habe ich noch gar nicht erwähnt, nicht wahr? Selbstverständlich werde ich mich am Lebensunterhalt, Strom, Wasser usw. beteiligen!" Linus schwieg, denn er erkannte treffsicher, dass Silvains Appell an seine Zuversicht noch nicht vollendet war. "Natürlich entschuldigt das noch nicht meinen Überfall, aber es hat so ja auch etwas Gutes, richtig? Ich bin recht sicher, dass ich nicht infiziert bin. Also ist es doch unkritisch, wenn WIR einen Haushalt bilden! Zudem kann ich mithelfen, wenn du mit dem Walkie-Talkie alarmiert wirst. Dieser Herr Fermont ist als Lehrer ja auch eingesprungen, um fremde Schüler zu kontaktieren. Bestimmt versteht er, dass besondere Situationen einen speziellen Beurteilungsspielraum eröffnen!" Verteidigte Silvain eifrig seine optimistische Einschätzung, die mageren Wangen leicht gerötet. Linus schmunzelte, spürte, wie ihn seine "Wikinger"-Maske verließ, die Verhärtungen unter der Sonne dieser unerschütterlichen Zuneigung wegschmolzen. "Du bist einfach großartig, Silvain." Wisperte er rau einmal mehr, belohnte die Ansprache mit ausgiebigem Schnäbeln. ~¢~ Zunächst hatte "Corona-Ferien" sich wie eine Janus-köpfige Schimäre präsentiert: frühzeitige, verdoppelte Osterferien, hier und da mit "Corona-Partys" verknüpft, denn die Witterung nahm sich ungewöhnlich mild aus. Andererseits von Null auf Sofort eine Vollbremsung in dem, was man als schulischen Alltag kannte, ohne große Reserven und in Ermangelung von konkreten Plänen oder Vorgehensweisen. Matthias Fermont unterrichtete am altsprachlichen Gymnasium jenseits der Demarkationslinie Englisch, Deutsch, Ethik, Sport und gelegentlich Latein. Er kannte "sein Rudel" recht gut, weil die Schulgemeinde sich übersichtlich ausnahm. Ganz anders bei der Gesamtschule auf der anderen Seite, wo jeder Jahrgang achtzügig war. Ein riesiges Areal vollgestopft mit in die Jahre gekommenen Gebäuden und gestapelten Containeranlagen! Aber er bezweifelte, dass die Unterschiede allzu groß ausfielen, ganz gleich, wie die Dimensionen sich gestalteten. "Schule" war an fünf Tagen die Woche "Zuhause, Heimat, Familie". Manche kamen schon, wenn die Tore frühmorgens entriegelt wurden und gingen erst, wenn man wieder absperrte, nicht zwingend gekoppelt mit monetären Kapazitäten. Deshalb hatte er auch keinen Augenblick gezögert, sich für diese Aufgabe zu melden, nämlich auch im benachbarten Stadtbezirk nach den "Blindmeldern" zu sehen. Wo es keinen Anschluss unter der Nummer gab, keine E-Mail-Adresse hinterlegt war, keine Reaktion erfolgte. Nicht gerade wenige Adressen abzuklappern. Ausgerüstet mit Visitenkarten und der unerbittlichen Entschlossenheit eines Schattenkriegers, zudem noch mit engster Verbindung zur IT-Abteilung der Universität, die sich bereit erklärt hatte, zumindest Hilfestellungen zu leisten, was die Fortsetzung von Unterricht ohne physischen Kontakt betraf. Wobei man hier sämtliche Illusionen über Bord werfen musste. Die schöne, neue, vernetzte, digitale Welt mit ihren Möglichkeiten nahm sich utopisch aus. Lernmittelfreiheit bedeutete, die vergilbenden Reclam-Ausgaben verschiedener Klassiker von einem Jahrgang zum nächsten weiterzureichen. Kreide trocknete nicht ein wie Eddings, was die Weißwandtafeln in die hintere Reihe verwies. Overhead-Projektoren warteten auf die finale Entsorgung, aber jeder größere Beamer verschlang aufgrund der teuren Lampen enorm viel Geld. Die Vernetzung (gar Verkabelung) von wenigen Räumen konnte nur dann in Angriff genommen werden, wenn zuvor die Schäden so groß waren, dass eine Grundsanierung anstand. Computerarbeitsplätze wurden in der Bibliothek vorgehalten, mit mühsam ausgehandelten Verträgen zur Software-Nutzung und für "Flatrates". Ohne engagierte Freiwillige, einen Schulförderverein, kenntnisreiche IT-Bastelei stolperte man durch eine reale Dystopie des Traums der kompletten Digitalisierung. Altmodischer formuliert: was schiefgehen konnte, ging schief. Deshalb konzentrierte man sich im täglichen Kampf mit den Beinahe-Katastrophen nicht auf "Home-Schooling", "Video-Tutorials" und andere Methoden. Matti sah auch jetzt davon ab, sich vor einer Kamera zu produzieren, Video-Anrufe zu tätigen oder irgendwelche Lernplattformen zu füttern. Während einige seiner Schützlinge damit jede Menge Erfahrung und die notwendigen Mittel vorweisen konnten, half anderen so ein Angebot gar nicht, weil es schlichtweg zu Hause keinen Computer gab, keinen Internetanschluss, man das vorhandene Material mit anderen (Stichwort "Home Office") teilen musste, weil die Zugänge, Übertragungsgeschwindigkeit und andere, nicht unwesentlichen Voraussetzungen solchen Luxus nicht zuließen. Manchmal stellte es schon ein Problem dar, täglich eine warme Mahlzeit zu erhalten. Es fehlten die finanziellen Mittel, die Übersicht, eine Zukunftsperspektive, Interesse, Mitgefühl.... Gründe gab es zuhauf. Welcher Art Aufgaben bedurfte es nach den offiziellen "Ferien"? Wenn alle Bibliotheken geschlossen waren. Wenn die einen privilegiert alles nutzen konnten und andere, ein ganz und gar nicht kleiner Teil, nur abgespeckt oder gar nicht teilhaben würden. Ganz zu schweigen von der sozialen Komponente, der Gesellschaft, dem Austausch. Die wackere Idee, Aufgabenbögen zuzusenden, wurde schon zum Problem, wenn es vor Ort keine Drucker gab. Wenn man eine E-Mail mit Verweis auf die Plattform zum Herunterladen versandte, erfuhr, dass es nur ein Telefon gab, das über E-Mail-Eingänge unterrichtet wurde, man aber keine Möglichkeit hatte, ans E-Mail-Postfach zu kommen, weil das besagte Telefon nicht "smart" war und die Internet-/Welttelefonläden geschlossen hatten. Matti entschied daher in Abstimmung mit den anderen im "Kontakt-Kollegium", erst mal zu sammeln, was möglich war. Wie es so ging, ganz allgemein. Zu vereinbaren, dass man die Verbindung nicht abreißen ließ, weil niemand zu sagen vermochte, wie lange dieser Zustand anhalten würde. Außerdem hoffte er darauf, seinen Lebensgefährten, einen studierten Mathematiker aus der IT-Abteilung der Universität, um Unterstützung bitten zu können. Mit Angel hatte er schon andere Untiefen durchschwommen, sodass ihm nicht bange war. ~¢~ Drei Personen in der Öffentlichkeit, das stellte die aktuelle Obergrenze dar. Linus entschied, vor dem Haus zusammen mit Silvain auf den ihnen noch unbekannten Herrn Fermont zu warten. Zum altsprachlichen Gymnasium aus dem anderen Ortsteil gab es wenig Verbindungen. Zwar waren die freien Felder verschwunden, aus den "Landstraßen" für Kutschen ganz normale Strecken innerörtlichen Verkehrs geworden, aber es existierte eben immer noch eine gewisse Trennung. Natürlich hätte mal "Hulk" kontaktieren können, Gabriel Heppner, ein guter Freund, der das Gymnasium besuchte (wenn es geöffnet war). Andererseits hätte das nichts an ihrer durchaus prekären Lage geändert. Silvain drückte Linus aufmunternd die Hand, rückte entschlossen die Brille auf der Nase höher. Es gab einige Argumente für ihre Sache, die man zur Sprache bringen würde! Linus lächelte zärtlich, beugte sich herunter, küsste eine magere Wange. Andere legten sich "Corona-Plauzen" zu: sein schlaksiger Freund wurde hingegen noch dünner! Weil Silvain Ärger den Appetit verdarb. Eine schlanke Linie, den notorischen Schwestern geschuldet. In ihr Blickfeld marschierte mit energischem Schritt ein hochgewachsener Mann, schwarzer Bürstenschnitt, dunkler Teint, exotische Züge, Wollsakko, Rucksack. Linus schraubte sich hoch, gab Silvains Hand jedoch nicht frei. Der rappelte sich neben ihm ebenfalls auf, dezent frierend trotz der milden Witterung. "Herr Fermont?" Adressierte Linus den athletischen Mann mittleren Alters und jugendlicher Erscheinung forschend. Der blieb in abgezirkeltem Abstand stehen. "Matthias Fermont, richtig. Dann musst du Linus sein." Die Stahlaugen ruhten inspizierend auf Silvain und ihren verschränkten Fingern. "Guten Tag. Ich bin Silvain, aus Linus' Stufe." Krächzte Silvain rasch, straffte seine magere Erscheinung auf ganze 1,77m. "Ob wir wohl woanders weitersprechen können? Vielleicht in dem kleinen Park, schräg gegenüber?" Ein minimales Lächeln zuckte um die Mundwinkel des Lehrers. "Bitte, geht doch voraus." ~¢~ Matti hielt vorbildlich Abstand, was ihm Gelegenheit bot, die beiden Jugendlichen zu betrachten. Im bescheidenen Rahmen der Möglichkeiten hatte er sich über alle auf seiner Liste erkundigt. Linus, Vize-Kapitän der Schulhockeymannschaft, genannt der Wikinger, unverwechselbar bei der beeindruckenden Statur, den Friesen-blauen Augen und den kupferroten Locken auf dem Schädeldach. An seiner Hand, zierlich, ein wenig ungelenk, offenbar extrem kurzsichtig, der feste Freund, Silvain. Über den Matti nichts wusste, weil der offenkundig nicht zu den "Blindmeldern" gehörte. Sie wählten zwei benachbarte Parkbänke, die den Abstand einhielten. "Ich möchte gern vorab etwas erklären." Fing der Schlaks rasch an, kaum, dass sie saßen. Oder er vielmehr daran gehindert wurde, von der Bank zu rutschen in seinem Eifer. "ICH habe mich heute bei Linus ungefragt einquartiert. Wir wissen natürlich beide um die Verordnungen, das Abstandsgebot, die Haushaltsregel. Allerdings hat es auch Vorteile! Ich habe ein Smartphone und ein Lesegerät." Nun kämpfte Silvain mit seinem Stadionparka, dessen Tascheninhalt sich nicht in eleganter Mühelosigkeit exilieren ließ. Linus half aus, indem er Silvain auf die Füße stellte, was die Operation "Taschenpfändung" erleichterte. "Sehen Sie? Ich kann bei W-LAN-Hotspots auch ins Internet kommen. Wenn die Aufgaben für Linus an meine Adresse geschickt würden, könnte er sie auch alle erledigen." Matti schmunzelte unverhohlen. "Das ist ehrenwert, dass du dich so für deinen Freund verwendest. Heißen deine Eltern denn diesen Haushaltswechsel gut?" Merklich verkrampften sich die kleinen Fäuste der schlanken Hände. "Ich habe selbstverständlich meine Absichten schriftlich hinterlassen." Murmelte er, reckte das Kinn kämpferisch. "Zu Hause kann ich nichts beitragen, frustriere mich in Auseinandersetzungen mit meinen Schwestern. Bei Linus kann ich nicht nur mir selbst, sondern auch anderen helfen. Wir verstehen uns sehr gut miteinander. Es schadet doch niemandem." Er nahm wieder auf der Bank Platz, wo Linus die wichtigen Kommunikationsgeräte verwahrt hielt. "Mir hilft es auch sehr." Hörte Matti die raue Stimme des Wikingers zum zweiten Mal, erwiderte unerschrocken den Friesen-blauen Blick. "Sie haben es wahrscheinlich schon vermutet, dass ich nicht bei meiner Mutter unten lebe." Linus stellte das breite Kreuz aus, hielt Silvains Hand. "Ich lebe unter dem Dach, allein, seit mehr als zwei Jahren. Dort gibt es keinen Telefonanschluss, kein Internet, kein Kabel, keine Satellitenschüssel. Ich habe kein Mobiltelefon oder einen Computer." Mit jeder Silbe wurde die dunkle Stimme immer rauer. "Ich habe einfach keine Mittel, um an dieser Lage etwas zu ändern. Da ich nicht zur Schule gehen kann, um andere Leute zu treffen, bleibt mir nur die Nachbarschaftshilfe. Sonst bin ich allein mit mir selbst. Das ist kein erquicklicher Zustand." Folgte eine bitter-spöttische Einschätzung. Matti studierte schweigend die beiden Jugendlichen. Er hatte keinen Anlass, Linus' Ausführungen zu bezweifeln. "So langsam mache ich mir ein Bild. Also gut, ich schlage folgende Vorgehensweise vor: Silvain, du gibst mir bitte deine Kontaktdaten. Wenn ihr wider Erwarten euren Haushalt auflösen müsst, sagt ihr mir Bescheid. Linus, von dir benötige ich die Nummer dieser Nachbarschaftshilfe. Meine Kontakte habt ihr ja. Wenn es irgendwas gibt, das ihr besprechen wollt, meldet euch bitte. Im Moment versuchen wir uns an einer Bestandsaufnahme, wie Lernstoff überhaupt weitergegeben werden kann. Aber das ist ja nicht die einzige Schwierigkeit aktuell, nicht wahr? Auch wenn ihr mitbekommen solltet, dass andere Probleme haben, sagt Bescheid." Silvain erstrahlte förmlich, nickte eifrig. Linus' angespannte Haltung verlor sich ein wenig. "Bitte, Sie werden Linus nicht verraten, oder? Wir müssen nur durchhalten bis zur Volljährigkeit und dem Schulabschluss!" Plädierte Silvain, der rasch nach dem abgelegten Notizbuch zwecks Eintragung angelte. "Wenn wir uns alle an unsere Abmachung halten, sehe ich dazu keine Veranlassung. Allerdings ist es keine Schwäche, sich Unterstützung zu verschaffen. Gemeinsam lassen sich Probleme oft besser lösen." Linus schnaubte prompt. "Entschuldigung. Grundsätzlich teile ich Ihre Auffassung durchaus. Andererseits sind kriegsähnliche Zustände zu erwarten, wenn ich mir den Raum mit dem aktuellen Lebensabschnittsgefährten meiner Mutter teilen muss." Entgegen pädagogischer Anweisungen konnte Matti ein Grinsen nicht unterdrücken. "Mit solchen Empfindungen bin ich durchaus vertraut. Sehen wir erst mal zu, dass die Konstellation nicht erforderlich wird." Er nahm sein Notizbuch wieder aus der neutralen Zone der Bank-Sitzfläche, ergänzte. "Also, Smartphone und Lesegerät, Internet-Zugriff über W-LAN-Hotspot. Kein Computer, richtig? Nun, das sieht schon mal gar nicht schlecht aus." Matti verstaute sein Notizbuch im Rucksack. "Wie sieht es sonst aus? Verfolgt ihr die Nachrichten? Nach Toilettenpapier und Nudeln will ich nicht fragen, aber seid ihr einigermaßen aufgestellt?" Silvain nickte emsig. "Ich habe viele Vorräte mitgebracht, außerdem noch genug Geld für die Bäckerei in der Nähe." Linus räusperte sich. "Außerdem mache ich Besorgungen für die Omas, bringe Pakete von der Tafel vorbei. Wir kommen bestimmt zurecht." Auf bescheidenem Niveau. Matti erhob sich, lächelte. "Das hört sich für mich gut an. Dann seid bitte beide nett zueinander und umsichtig miteinander. Ich melde mich wieder." Silvain federte hoch, überließ es Linus, ihre Habseligkeiten aufzulesen. "Sie tragen es uns nicht nach, dass wir~dass ich gegen die Verordnungen verstoße?" Sein mageres Gesicht wirkte ernst, hartnäckig bemüht, den Freund von jeder Verantwortung reinzuwaschen. Matti zwinkerte. "Silvain, ich habe die Liebe meines Lebens Anfang der Oberstufe gefunden. Obwohl ich Jahrzehnte Kampfsporttraining absolviert habe, fehlt mir immer noch die Disziplin, ihn länger als zwei Tage am Stück zu entbehren. Also, bin ich geeignet, hier moralische Keulen zu schwingen?" ~¢~ Linus führte Silvain noch ein wenig spazieren. Es stand ja nicht zu erwarten, dass ihrer Aufgaben harrten. "Wirklich nett." Fällte Silvain schließlich ein Urteil, blinzelte zu ihm hoch. "Der hat sich den Ehering eintätowieren lassen." Teilte Linus seine Beobachtung mit. "Nun, recht praktisch, wenn man überlegt, wie häufig so ein Ring verloren geht. Aber sicher schmerzhaft, oder?" Silvain grimassierte schief. "Wenn die örtliche Betäubung nicht auch mit Spritzen oder Nadeln verbunden wäre, würde ich das auch in Erwägung ziehen." Linus lachte leise. "Weißt du, Beulen oder Hämatome bin ich ja gewöhnt, aber da...! Ganz schön beschämend, so zimperlich zu sein!" Seufzte Silvain neben ihm geknickt, was Linus zu einer Vollbremsung veranlasste. Mühelos lupfte er Silvain von den Füßen, stemmte ihn hoch. "Du bist großartig, Silvain. Ich werde nicht müde, dir das zu sagen." Behutsam ließ er Silvain ein wenig tiefer gleiten, hielt ihn umschlungen, raunte mit der tiefen, rauen Stimme. "Ich liebe dich. Ich möchte dir einen Antrag machen, wenn ich auf eigenen Füßen stehen kann. Wartest du so lange auf mich?" Eine rhetorische Frage, was Silvain betraf. Er verpasste sich erneut eine mentale Kopfnuss, weil er Linus' Stolz verletzt hatte. Der NATÜRLICH von sich selbst erwartete, Ringe (oder andere Varianten der Verbundenheit) zu beschaffen, um ihre Liebe mit Brief und Siegel zu versehen! Eilig initiierte er einen Eskimokuss. "Tut mir leid, so meinte ich das gar nicht. Überhaupt finde ich es gut, wenn wir uns zusammen Anträge machen! Nur ärgere ich mich darüber, dass ich unsere Möglichkeiten einschränke!" Weil er eine Aversion gegen spitze Gegenstände in der eigenen Figur hegte. Von all seinen anderen, überaus anstrengenden Schwächen mal ganz abgesehen! Glücklicherweise teilte Linus diese vernichtende Selbstbeurteilung nicht. Er wusste aus Erfahrung, dass Taten hin und wieder Worten überlegen waren, indem man einfach die Zweifel wegküsste. ~¢~ Kapitel 2 - Ein ganz fürchterliche Geschichte Matti schmunzelte noch, als er sich der nächsten Adresse auf seiner Liste widmete. Die beiden Jugendlichen wirkten so sehr umeinander bemüht, dass es anrührend war. Natürlich würde er die Entwicklung im Auge behalten. Hier war ziemlich viel Ballast auf vier Schultern verteilt, der gestandene Erwachsene in die Knie zwingen konnte. Er fischte sein Telefon hervor, wählte die nächste Nummer an. "Hallo? Guten Tag, Matthias Fermont für die Schulbehörde. Spreche ich mit Cornelius Weidrich?" ~¢~ »Oh...richtig...« Trudelte durch Cornelius' Verstand. Eine Nachricht hatte ihm den Anruf des betreuenden Lehrers avisiert. "Ah...Herr Fermont... ich...wir sind gerade...nicht zu Hause..." Formulierte er mühsam. "...mein kleiner Bruder...Ruru... Können wir...im Park...der beim Gartenhaus..." Cornelius schloss die Augen, vor denen es trotzdem blitzte und funkelte. Nervengewitter. "...ja...bitte... ...mir...geht es nicht... so gut..." ~¢~ Matti blieb abrupt stehen. Zunächst hatte er an eine lausige Verbindungsqualität geglaubt, aber die verwaschene Sprache schien nicht auf technische Probleme zurückzuführen zu sein. "Cornelius?! Hallo?! Sag mir bitte, wo ihr seid. Hallo?!" Unerwartet drang ein dumpfes Geräusch an sein Ohr, doch die Verbindung mit dem anderen Mobiltelefon bestand noch. "Hallo! Hallo, bitte antworte mir!" Hastig steuerte er zu seinem Kleinwagen. Die meisten Ziele hatte er fußläufig abgeklappert, aber diese Entwicklung hier gefiel ihm gar nicht. "Hallo?! Cornelius?!" Versuchte er es wieder, stieg eilig ein. Endlich, eine Antwort. Eine helle Kinderstimme, schluchzend. "Hallo? Hallo, bist du das...Ruru? Hörst du mich?" »Verdammt, verdammt, verdammt!« Wetterte Matti innerlich, fädelte sich aus der bescheidenen Parklücke in den sporadischen Verkehr ein. Der Lockdown erleichterte zwar das Fortkommen, doch einen Abstellplatz zu finden wurde noch sehr viel schwieriger. "Ruru? Kannst du mir antworten?" Versuchte er es weiter, dankbar für die gemeinsam eingebaute, nachgerüstete Freisprecheinrichtung. "Nelli...Nelli...!" Weinte die Kinderstimme verängstigt in den Kleinwagen. "Ruru...ich komme zu euch, ja? Leg nicht auf, bitte! Wo genau seid ihr? Was siehst du?" Der verflixte Park war nämlich gar nicht so klein! "...Haus..." Schniefte der kleine Bruder. "Haus...für die Ruderboote? Mit einer blauen Welle auf der Wand?" "...ja...Welle... Hilfe...bitte...bitte..." Ein verzweifeltes Betteln, das Matti an die Nieren ging. Wie alt war der kleine Bruder überhaupt?! "Ich hole Hilfe, versprochen! Leg nicht auf, Ruru, ja? Gleich melde ich mich wieder, in Ordnung?" Das Kind schluchzte untröstlich. Matti knirschte mit den Zähnen, nutzte eine rote Ampelphase, alarmierte den Notruf. Nein, er wusste nicht genau, was dem Jungen zugestoßen war, aber offenkundig befand er sich allein mit dem kleinen Bruder im Park und niemand war in der Nähe. Nachdem er den ungefähren Ort mitgeteilt hatte, wählte Matti eilig das Telefon an. "Ruru? Ich bin's wieder, Cornelius'...Nellis Lehrer. Ein Krankenwagen kommt zu euch. Kannst du andere Leute sehen?" Doch entweder gab es nichts zu sehen oder das völlig verstörte Kind hatte die Sprache verloren. Alles, was Matti hörte, war unglückliches Schluchzen und immer wieder den Kosenamen des Bruders. ~¢~ Matti bugsierte den Kleinwagen in eine winzige Lücke, schnappte rasch Rucksack und Telefon, verriegelte das Gefährt, spurtete los. Er war gut trainiert, mit körperlicher Kondition gesegnet, um den Park Richtung Bootshaus wie ein geölter Blitz zu durchqueren. Jedoch schienen die Parkbänke unbesetzt zu sein. Keine Hundebegleitung oder Flanierende zeigten sich. Kein Wunder, der Himmel bezog sich unerfreulich, bestätigte die Wettervorhersage. Ein reflektierendes Blitzen. Eine niedrige Mauer um ein mit Sträuchern abgetrenntes Separee für die Gründerfamilie samt Gedenkstein. Matti erkannte eine rote Jacke, eine kauernde Gestalt. Sirenengeheul näherte sich, aber hier würden sie den Jungen nicht finden, der sich dort verkrochen zu haben schien. Heran preschend bremste Matti knapp, blickte in das verquollene, bleiche Gesicht eines sehr schmächtigen Kindes. Es umklammerte einen Waschlappen mit Hasenkopf und ein Smartphone. Vor ihm, zusammengekrümmt, lag in der roten Jacke ein Jugendlicher mit auffälligem Teint. Helle und dunkle Flecken lösten sich ab, die Augen dunkel umschattet. "Cornelius? Cornelius, hörst du mich?!" Matti ging auf die Knie, tastete nach einem Puls, beugte sich tiefer, um Atemzüge zu erhaschen. Natürlich hatte er sich für einen langen Gedanken gefragt, wie sehr er sich einlassen wollte. Handschuhe, Gesichtsmaske für medizinische Zwecke: darüber verfügte er nicht. Wenn Cornelius vom Virus zu Fall gebracht worden war, ging er hier ein nicht unbeträchtliches Risiko ein. Andererseits sprangen seine Instinkte einfach an: man wollte helfen. Weil man schließlich auch selbst auf Hilfe von anderen hoffte, wenn es einem schlecht ginge. Vorsichtig versuchte er, die stabile Seitenlage zu arrangieren. Er bemerkte dabei eine merkliche Schwellung am Hinterkopf, wo die Naturkrause nicht mehr sorgsam gestutzt war. Argwöhnisch zog er den Reißverschluss herunter, lupfte das verwaschene Sweatshirt. Nein. Kein Virus der gegenwärtigen Art. Matti unterbrach die überflüssige Standleitung, wählte erneut den Notruf an. Besser schien es ihm, die Besatzung anzuleiten, damit sie hier rasch gefunden wurden, denn er befürchtete lebensbedrohliche, innere Verletzungen. ~¢~ Nein, erlaubt war das selbstverständlich nicht, aber Matti hatte keine Muße auf ein Taxi zu warten, das mit einem Kindersitz ausgerüstet war. Deshalb schnallte er den leise winselnden Jungen auf dem Beifahrersitz an. "Keine Angst, Ruru, ich weiß, wo wir hinmüssen. Dein Bruder bekommt Hilfe, das wird schon. Wir müssen nur ein wenig durchhalten." Matti ließ den Motor an, fädelte vorsichtig aus der winzigen Parklücke. Erste ärgerliche Tropfen nadelten auf die Karosserie herunter. Tja, wahrscheinlich war er nun auch noch wegen Kindesentführung dran. ~¢~ Aus Ruru, dessen Namen Matti immer noch nicht kannte, war kein Wort mehr herauszubringen. Telefon und Hasentuch umklammernd kauerte er stumm neben ihm in der abgesperrten Wartezone. Die Automatenriege und die Cafeteria waren verrammelt. Matti seufzte innerlich. Er konnte nicht alle Fragen beantworten. Name, Adresse, Geburtsdatum, das hatte er aus den Schuldaten. Doch warum war Cornelius mit seinem Bruder von Zuhause bis zum Park gelaufen? Wer hatte ihn derart zugerichtet? Etwas stimmte hier jedenfalls überhaupt nicht. Nicht erst, als Ruru sich unter die Sitzbänke verkroch, als die Polizeistreife in den Flur trat. ~¢~ "Ich bin fix und alle." Teilte Matti dem Telefon und seinem Lebenspartner fernmündlich mit. Dieser Feststellung waren fast fünf Stunden sehr unerfreulicher Ereignisse vorausgegangen: die Befragung durch die Streifenwagenbesatzung, in gehörigem Abstand, Ruru, der nicht unter der Sitzbank hervorgelockt werden konnte. Zwischenzeitlich die gute Nachricht, dass die Verletzungen nicht lebensbedrohlich waren: eine mittelschwere Gehirnerschütterung, angeschlagene Rippen, schwere Prellungen, aber keine gefährlichen Organschäden. Dann Auftritt der Mutter, die Ruru mitnehmen wollte, selbstverständlich. Woraufhin der kleine Junge hysterisch zu heulen und zu kreischen begann, nach seinem Bruder rief, sich in der Not an Mattis Beine klammerte. Niemand, der diese Wehklage hörte, konnte unbeteiligt bleiben. Das Kind ließ sich weder zureden noch beruhigen, sodass Matti erklärte, ER werde Ruru über Nacht bei sich beherbergen. Wenn der kleine Bursche dann am nächsten Tag seinen Bruder sehen könne, würde er sicherlich nicht mehr so verzweifelt sein. Außerdem konnte man wohl kaum zu so später Stunde einen Vierjährigen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie abliefern! »Vier Jahre alt.« Dachte Matti, zupfte sein Wollsakko über dem schmächtigen Jungen zurecht, der völlig erschöpft auf dem Beifahrersitz schlief. Jugendamt, Polizei, Schulamt... Aber das musste warten. "Willst du nicht doch ein Taxi rufen, den Wagen stehen lassen?" Erkundigte sich Angel sorgenvoll. Keine Klage von ihm über die späte Stunde, seinen ebenfalls langen, harten Tag bei der Sicherstellung der Versorgung der Universität. "Es gibt da eine kleine Schwierigkeit..." Leitete Matti seine Botschaft ein. ~¢~ Xavier St. Yves, stets Angel genannt, beäugte ungläubig aus faszinierend grünen, leicht schräg gestellten Katzenaugen das Bündel unter dem Wollsakko. "Ach du meine Güte." Kommentierte er sehr reserviert, verriet sich jedoch durch das fahrige Zurückstreichen einer entflohenen, weißblonden Haarsträhne. Er ging voraus, schlug rasch die Tagesdecke zurück, damit Matti ihren unerwarteten Gast ablegen konnte. Matti nahm sein Wollsakko auf, reichte es Angel mit einem entschuldigenden Lächeln weiter. Er zupfte vorsichtig abgeschabte Kunststoff-Galoschen herunter, barg das Telefon aus recht schmutzigen Händchen. Das Hasentuch erwies sich als ebenso schmuddelig und durchgeschwitzt wie der Rest der Kleidungsstücke. "Der Junge braucht ein Bad." Flüsterte Angel grimmig. Notlage hin oder her, aber so einen schmutzigen Gast in der nicht vorhandenen Besuchsritze in ihrem Bett kam nicht in Frage! Matti gluckste amüsiert, pflückte Ruru von der Matratze. "Schön, ich mache den Kleinen sauber, wenn du so nett bist, Ersatzkleidung zu stiften? Den Hasen werden wir nur putzen dürfen, wenn wir ihn gleich danach föhnen." Sonst stand zu erwarten, dass der kleine Kerl erneut in Tränen ausbrach. Angels grüne Augen funkelten grimmig hinter der randlosen Brille. "Und du hast dich beklagt, als ich die Blindschleiche hier vorübergehend untergebracht habe!" Hielt er seinem Lebensgefährten sehr gedämpft vor, die Hände in die schlanke Taille gestützt. Matti zwinkerte aus Stahlaugen, hauchte einen warmen Kuss auf die kirschroten Lippen. "Danke, Angel." ~¢~ Matti hatte Ruru in die Sitzbadewanne bugsiert, wo der Junge und sein Hasentuch eine sanfte, aber gründliche Reinigung erfuhren. Dass es kein Geschrei gab, lag vermutlich an der Erschöpfung und dem Hunger. Deshalb wurde im kleinen Bad auch noch ein Picknick eingeschoben. Eingekleidet in ein T-Shirt und Strümpfe sowie einer geschickt geschnürten Unterhose lag nun zu sehr später Stunde ihr Gast mit Hasentuch im Bett, schlief mit dezent verstopfter Nase leise schnorksend. "Zumindest scheint der Kleine keine Prügel bezogen zu haben." Raunte Matti leise, der Angel die wenigen Erkenntnisse in Stichworten zuflüsterte. "Das ist eine ganz fürchterliche Geschichte!" Wisperte Angel aufgebracht zurück. Dem konnte man nicht widersprechen, deshalb gestattete Matti sich einen ungezügelten Augenblick des Anschmiegens. "Danke, Angel." Murmelte er erschöpft. Dessen faszinierendes Erscheinungsbild hatte Ruru wie so viele andere in den Bann geschlagen. Eigentlich hätte er sich ja bei zwei fremden Männern allein fürchten müssen, aber Angel wohnte ein Zauber inne, der sich nie verflüchtigen würde, wie Matti überzeugt war. Mit einem Lächeln konnte der Granit brechen, mit einem Zwinkern Freundschaften gewinnen, strahlte umso heller, wenn man um seine Lebensgeschichte wusste, die viel zu viel Finsternis bot. Einen Schattenkrieger wie ihn hatte das zwar zögern lassen, aber nicht abschrecken können. Unterdessen schnaubte Angel leise, streichelte ihm die trainierte Rückenpartie. "Gar keine Frage, dass ich helfe. Ich mag bloß keine Dreckstreifen im Bett." Da war er nun mal pingelig! Matti gluckste unterdrückt, atmete erleichtert aus. Wenn Angel IHN aufzumuntern versuchte, musste er wirklich ziemlich heruntergekommen aussehen! ~¢~ "Ist nicht schlimm, wenn du gerade keinen großen Hunger hast." Versicherte Angel entschieden. "Ich packe dir einfach was ein, in Ordnung? Hier, such dir einen aus. Damit kannst du alles aufpicken und die Hände bleiben sauber." Offerierte er dekorierte Zahnstocher, die er im Asia-Laden gekauft hatte. Ruru staunte ihn zögernd an, das Hasentuch umklammernd. "Oh, gefällt dir gar keiner? Hmm..." Gab Angel sich grüblerisch. Ein Finger tippte ohne direkten Kontakt eilig auf einen Zahnstocher mit einem grinsenden Kugelkopf. "Fein, das ist jetzt Deiner! So bist du für die Zukunft gut gerüstet." Verkündete Angel schmunzelnd, während er einen Doppeldecker in mundgerechte Stücke säbelte. "Magst du auch eine Gurke dazu? Hier, das sind getrocknete Erdbeeren, versuch mal eine!" Immerhin konnte man dem Kind kein Taschenmesser überlassen, um Obst zu zerteilen, das sonst rasch braun anlief oder mehlig wurde. Ruru mümmelte, wagte ein schiefes Grinsen. "Nicht schlecht, oder? Tja, auf richtige Erdbeeren müssen wir noch ein wenig warten." Und hoffen, dass die kleinen Walderdbeeren, die er in einem Blumenkasten beherbergte, auch fruchteten, wenn er sie nach draußen verlegte! "So, nun muss ich aber los! Matti, ich hab euch Verpflegung hierhin gestellt, ja? Schick mir bitte eine Nachricht, wenn was sein sollte." Angel klemmte noch eilig eine widerspenstige, weißblonde Strähne in die Spange im Nacken, justierte die randlose Brille, ging neben dem Hocker, auf den sie Ruru mit zwei Polsterkissen platziert hatten, in die Knie. "Hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Ruru. Die Hasenpower sei mit dir!" Damit signalisierte er die "Pommesgabel", statt "Hörnern" jedoch Schlappohren und den Daumen hinter Mittel- und Ringfinger wegen der Hasenzähne. Das bedurfte einer gewissen Übung, lenkte jedoch bei der "Dreckspatz"-Reinigung in der Sitzbadewanne ab. Ruru gluckste, bemühte sich, seine kleinen Finger entsprechend zu koordinieren. Angel zwinkerte, federte hoch, tauschte mit Matti einen zärtlichen Kuss auf die Lippen, eilte hinaus. ~¢~ Matti registrierte das verblüffte Staunen ihres kleinen Gastes. Na ja, sie waren Männer, da sah man Küsse nicht so häufig in freier Wildbahn. Andererseits konnte es auch ein Indiz sein, dass man bei "Weidrichs" nicht... Moment. Er lächelte Ruru entschuldigend zu, der ihn verwirrt beobachtete, kramte rasch sein Notizbuch aus dem Rucksack. Cornelius Weidrich. Aber der Nachname der Mutter... "Darf ich bitte jetzt zu Nelli?" Machte sich Ruru bemerkbar. "Richtig, da sollte ich besser mal anrufen. Im Krankenhaus darf man nämlich nicht einfach so vorbeischauen. Ich probier es gleich mal." ~¢~ Am Kleinwagen führte kein Weg vorbei. Selbst wenn Ruru nicht lauffaul war, in diesen zu kleinen Plastikgaloschen kämen sie nicht weit! Zudem hatte Matti auch noch andere Adressen abzuklappern, obwohl man sich verständnisvoll, vor allem aber bestürzt ob der letzten Ereignisse zeigte. Nein, Vorkommnisse hatte es nie gegeben! Nun, die Mutter schien mit der Heirat ihren Mädchennamen aufgegeben zu haben. Ruru saß artig neben ihm auf dem Beifahrersitz, spitzte nur ab und an hoch, um die Umgebung jenseits des Fensters betrachten zu können. Matti nahm ihn zu zwei weiteren Stationen mit, wo man sie überrascht, aber dankbar empfing. In sicherer Entfernung. Bis jetzt war er nicht auf Erziehungsberechtigte gestoßen, denen die schulische Karriere ihrer Kinder gleichgültig war. Aber auf verunsicherte, beschämte, hin und wieder verzweifelte Erwachsene mit existentiellen Sorgen, ohne Vorstellung, wie sie alles abfangen sollten, was da auf sie einprasselte, vom Selbstmanagement ganz zu schweigen. Da half es schon, wenn man zuhörte, Sorgen aufnahm und versicherte, gemeinsam nach Auswegen zu suchen. Nicht mal Superhelden konnten allein alles wuppen! Auf dem Rückweg zum Auto klingelte Cornelius' Telefon. Ruru zuckte zusammen, tippte dann tapfer auf die Oberfläche. "Nelli! Nelli!" Matti ging neben ihm in die Hocke, wischte kugelrunde Tränchen ab, lächelte über das glückselige Strahlen auf dem kleinen Gesicht. ~¢~ Matti lupfte Ruru an, damit der auch das Desinfektionsgerät am Eingang erreichen konnte. Der große Empfang war hinter Plexiglas nahezu hermetisch abgeschirmt. Transportable Trennwände begrenzten die Laufwege, die zusätzlich noch mit farbigen Klebestreifen auf dem Boden markiert wurden. Mobile Patienten durften draußen, unter Beachtung der Abstandsregeln, Besuch empfangen, ansonsten war kein Besuch zugelassen, Notfälle ausgenommen. Man bat darum, innerhalb des Hauses eine Maske zu tragen. Matti vermutete, dass eine generelle Maskenpflicht trotz der gegenteiligen Aussagen nur noch eine Frage der Zeit war. Am Vortag hatte man auch ein wenig ärgerlich diskutiert, dass die kommunalen Beschäftigten in einer konzertierten Aktion mit einem Paar Stoffmasken versorgt worden waren. Als Beschäftigte des Landes musste man jedoch darauf hoffen, dass dort eine ähnliche Versorgung angestrebt wurde. Und nicht nur eine "Nähanleitung" präsentiert! Vorausschauend hatte sich Matti mit einem Multifunktionstuch ausgestattet. An der freien Luft beabsichtigte er nicht, sich derart zu verpuppen. In dem kleinen Freigelände waren schon einige Plätze, die man markiert hatte, besetzt. Schließlich gab es auch andere Erkrankungen oder Verletzungen jenseits der Pandemie und Zuspruch war nie verkehrt. Ruru entdeckte Cornelius zuerst. Ein Halten wäre nur mit Anketten möglich gewesen. Mit Hasentuch und Telefon trotz der grässlichen, zu kleinen Galoschen preschte Ruru los, warf sich Cornelius in die Arme. Matti ächzte innerlich, denn nach dem gestrigen Bulletin musste dieser Akt brüderliche Liebe ordentlich schmerzen! Cornelius richtete sich auf, hielt Ruru ebenso umklammert wie der ihn. Nein, ähnlich sahen sich diese beiden ganz und gar nicht: aschblonde, überlange, zauselige Strähnen, blaugrau verwaschene Augen, eine sehr helle Haut, schmaler Nasenrücken, dünne Lippen. Cornelius hingegen wirkte in allen Teilen wie Wiener Melange mit Zartbitter- und Krokantstreuseln, die krausen Haare nicht wirklich schwarz, der Teint ohnehin uneinheitlich, lange Beine zu einem eher kurzen Oberkörper, dessen Schultern andeuteten, dass er dort noch kompakter, fast bullig werden konnte. Die Augen, die Matti nun in den Fokus nahmen, während er sich mühelos trotz Ruru näherte, waren weder braun noch grün oder grau. Eine eigentümliche Koloration. Dazu ein recht breiter Nasenrücken und weiche, aufgeschwungene Lippen. Nein, für Brüder hätte man diese beiden kaum halten können. "Hallo, Cornelius. Ich bin Matthias Fermont. Wir haben schon mal telefoniert." Lächelte Matti, präsentierte den "Hasenpower"-Gruß. ~¢~ Cornelius arrangierte sich mit Ruru auf dem Schoß, nutzte diese kurze Unterbrechung. So hatte er sich einen Matthias Fermont nicht vorgestellt: Stahlaugen in einem exotisch geschnitten Gesicht mit dunklem Teint und Bürstenhaarschnitt, dazu eine sehr athletische Gestalt mit geschmeidiger Mühelosigkeit in jeder Bewegung. "Danke, dass Ruru bei Ihnen übernachten durfte." Nahm er Anlauf, denn so viel hatte er Ruru vorhin am Telefon entlocken können. "Gern geschehen. Wie geht es dir?" Der Mann machte nicht den Eindruck, als fürchte er sich vor der Antwort. "Schon viel besser. Mein Schädel scheint eine harte Nuss zu sein. Der Rest ist nicht so wild." Zumindest im Vergleich mit dem Studenten im Nachbarbett, der über den Fahrradlenker abgestiegen war. "Eigentlich wollte ich mich erkundigen, wie wir dich mit Lernstoff erreichen können." Der Lehrer grimassierte schief, strahlte dennoch eine große Ruhe aus. Automatisch begann Cornelius, Ruru über den wirren Schopf und den Rücken zu streichen. "Ich weiß nicht, wie es weitergeht." Bemerkte er beherrscht. Die Vorstellung, die sich aufdrängte, wollte er nicht in Worte fassen. "Kannst du mir erzählen, was passiert ist?" Cornelius seufzte. ~¢~ Matti hegte keinerlei Intention, sich herauszuhalten. Ja, er kannte Cornelius nicht, der war nicht sein Schüler. Es gab zumindest eine Mutter, vermutlich einen gesetzlichen Vormund. Aber der Jugendliche gehörte zu SEINEN Schützlingen auf der Liste, steckte offenkundig in der Klemme. "Ich habe schon Anrufe gehabt. Jugendamt und Polizei." Cornelius sprach leise, beherrscht. "Es hilft vermutlich nicht, aber... Der Mann unserer Mutter arbeitet in der Servicetechnik für die Gastronomie, Zapfanlagen, Fettabscheider, all diese Dinge. Es gibt keine Aufträge mehr, Kurzarbeit, also ist er zu Hause. Da hat er angefangen, am Computer zu spielen, Glücksspiele, Poker und so etwas. Ich denke, er hat Geld eingesetzt." Matti lauschte angespannt der ruhigen Stimme. "Normalerweise gehen wir viel raus, Ruru und ich. Das ist besser als in der Wohnung zu sein. Trotzdem wurde es immer angespannter." Cornelius kraulte behutsam die überlangen Strähnen am Hinterkopf seines Bruders. "Da war so viel Druck. Ich habe keine Windeln mehr bekommen. Manchmal passiert eben ein Malheur. Das ist ja nicht schlimm, unter dem Laken habe ich ein Handtuch und einen großen Müllbeutel ausgebreitet. Die Matratze bekommt so nichts ab. Trotzdem." Er rang sichtlich um Beherrschung. "Der Mann ist einfach ausgetickt. Ich war zu langsam, sonst wären wir, nun, raus. Da habe ich mich in den Weg gestellt." ~¢~ In dem exotischen Gesicht arbeiteten Sehnen, die Stahlaugen verengten sich zu Schlitzen. Cornelius ignorierte die wachsenden Schmerzen. Man hatte ihm gesagt, dass die Wirkung der Medikamente nachlassen würde. "Ich bin nicht auf Ärger aus, Herr Fermont. Oder benutze aus Neid und Eifersucht meinen kleinen Bruder, um alle zu diskreditieren. Ich will nur verhindern, dass Ruru etwas passiert." Er seufzte leise. "Natürlich gibt es dafür keine Belege. Es stehen die Aussagen der Eltern gegen die eines Jugendlichen, den man schon mal nachts aufgegriffen hat. Wie soll ich aber beweisen, dass ich nicht aus Hass oder Neid handle? Mich als Unschuldslamm darstelle und gegen eine ordentliche Familie intrigiere?" ~¢~ Matti ließ die Worte noch mal Revue passieren. "Ordentliche Familie?" Griff er als erstes auf. Cornelius lächelte bitter. "Vater, Mutter, Sohn." Sohn. Nicht Söhne. Oder Stiefsohn. "Sind solche Attacken schon mal vorgekommen?" Ja, das klang ganz nach Ermittlungsbehörde. Cornelius zuckte bloß kurz mit den Schultern. "Mit anderen Worten: sagst du was, bist du raus?" Versicherte sich Matti seiner Schlussfolgerungen. Cornelius presste die Lippen aufeinander, wich seinem prüfenden Blick aber nicht aus. "Schwierig." Konstatierte Matti angespannt. "Und eure Mutter?" Würde sie sich nicht vor ihre Söhne stellen? Oder wenigstens vor den Jüngeren? Ihm gegenüber seufzte Cornelius leise, während Ruru das Kuscheln verstärkte. "Sie verliert leicht die Übersicht. Klare Regeln, einfache Antworten, verstehen Sie? Und nach einem Fehler mit einem Busch-Affen kann sie sich keine weiteren erlauben." ~¢~ Nicht, dass er sich noch an den "Busch-Affen" erinnern konnte, dessen Namen kannte. Selbst die Geburtsurkunde, einziges Zugriffsmittel, blieb vor ihm unter Verschluss. Hatte sich "davongemacht", der "Busch-Affe", als sein hinterlistiger Plan nicht klappte, sich in "ordentliche Verhältnisse" reinzudrängen. Cornelius konnte darüber nicht urteilen. Er wusste nichts über die Lebensumstände seines Vaters. Das Thema war tabu. Er HATTE gefälligst keinen Vater. Selbst wenn man das "Busch-Affen"-Erbe im Angesicht eines Spiegels nicht verleugnen konnte. Hin und wieder tröstete es ihn, denn Abschieben an den "anderen" Elternteil kam so nicht in Frage. Aber mit 15 Jahren war man fast erwachsen, konnte rausgeschmissen werden. Leider waren Internate zu teuer. Für betreutes Wohnen musste man "auffällig" werden, was er tunlich zu vermeiden suchte. Sich verstecken, unsichtbar werden, ins Freie entkommen. Auf der Flucht sein und immer auf der Hut. Bloß, Ruru war erst vier Jahre alt. Wer sollte ihn beschützen, wenn...? Daran wollte Cornelius nicht denken. Ganz gleich, wie wenig Ähnlichkeiten sie aufwiesen, wie erheblich der Altersunterschied war: Ruru war ihm die liebste Person auf der Welt. Da durfte er nicht aufgeben, das ging einfach nicht! ~¢~ "Was haben die anderen dir heute gesagt?" Matti arbeitete sich verbissen weiter entlang der sehr unerfreulichen Ereigniskette. "Er verzichtet auf eine Anzeige wegen Körperverletzung, besteht aber darauf, dass der Vormund und das Jugendamt zum Schutz SEINES Sohnes reagieren. Das Gleiche fordert die Mutter SEINES Sohnes." Cornelius drückte Ruru einen Augenblick fester an sich. Matti erhob sich in einer fließenden Bewegung, initiierte Entspannungsübungen, die Füße fest auf den Boden gestellt. Eskalieren half hier gar nicht. Leichte Erkenntnis, aber kaum umzusetzen, selbst mit knirschenden Zähnen. In diesem Augenblick zuckte sein Mobiltelefon, ein Anruf, den er nicht unterdrücken, verschieben konnte. Entschuldigend wandte er sich halb ab. "Ja?" "Verstehe." "Aha." "Ihren Namen hätte ich gern noch." "Das sehen Sie richtig." "Guten Tag." Er legte auf, den Kopf in den Nacken, atmete tief durch. Als er sich umdrehte, die Züge einigermaßen entknittert, blickten ihn zwei Augenpaare besorgt an. Cornelius erhob sich langsam. "Ich muss jetzt wieder rein, Ruru. Die gucken noch mal nach, ob ich wieder ganz heil bin." "Nein, Nelli!" Protestierte der jüngere Bruder erwartungsgemäß, klammerte sich verzweifelt fest. "Das ist nicht schlimm, Ruru. Schau mal, du nimmst das Telefon mit, ja? Ich trage die Nummer ein, da kannst du mit mir sprechen. Du rufst an und sagst meinen Namen, dann holen sie mich ans Telefon." "Nein, nein, Nelli!" "Du schaffst das, ganz sicher. Guck mal hier: so kann ich nicht mitkommen." Präsentierte Cornelius eine Art korsettierenden Stützverband unter dem Kittel, über dem er seine rote Jacke trug. Ruru schluchzte trotzdem kläglich. "Das wird schon wieder, Ruru. Nur heute. Morgen darf ich bestimmt raus. Das ist nur ein Mal Schlafen. Das bekommen wir hin, hm?" Er wippte und wiegte Ruru, bis der ihm ins Gesicht sah. "Nur ein Mal Schlafen." Wiederholte er. Schließlich nickte Ruru, weniger überzeugt als geschlagen, war auch nur sehr widerwillig dazu zu bewegen, Cornelius loszulassen. Der tippte rasch die Nummer in den Speicher des Telefons, überreichte es seinem jüngeren Bruder. "So, ein Mal Schlafen, bis dahin...wie geht das? Hasenpower?" Lächelte er Ruru zu, sortierte seine Finger auch mit Mühe. Ruru umklammerte das Hasentuch und das Telefon. Ihm war sichtlich nicht nach "Hasenpower", weshalb Matti übernahm. "Ich melde mich bei dir, Cornelius." Versicherte er entschlossen. Der nickte bloß, schien jedoch keine große Hoffnungen in ihn zu setzen, was Matti ihm kaum verdenken konnte. Musste er doch jetzt "auf direktem Weg" endlich das Kind seinen leiblichen Eltern zurückbringen! ~¢~ Kapitel 3 - Von Feuerstühlen und Stachelschweinchen "Wir nehmen das durchaus ernst, Herr Fermont. Es IST vorgesehen, dass beide einer kinderpsychologischen Untersuchung vorgestellt werden. Aber, und das bitte ich doch sehr zu bedenken: ein vierjähriges Kind seinen leiblichen Eltern zu entziehen, das ist der absolut letzte Schritt. Zunächst mal wird es besser sein, die Situation aufgrund der Enge und der aktuellen Lage zu entzerren. Das gestaltet sich schon schwierig genug, wie Sie selbst sicher wissen. Wir haben kaum Kapazitäten für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Kontaktbegrenzungen und besondere Schutzmaßnahmen aufgrund der Demographie unserer Beschäftigten kommen noch dazu. Wir tun unser Möglichstes und bleiben dran. Austausch und Kooperation sind unsere besten Werkzeuge." ~¢~ "Frustrierend." Stellte Angel fest, erhob sich, schlang Matti von hinten die Arme um den Nacken. Der schnaubte leise. "Alles, was Cornelius bisher vermieden hat, steht nun gegen ihn. Ich muss mir anhören, ich sei möglicherweise voreingenommen, ganz verständlich, aber...!" Knurrte Matti. Ja, ihm war bekannt, dass es Intriganten in jeder Altersgruppe gab, mit viel Charme, teuflischem Gespür und einem großen Mangel an Empathie. Er bezweifelte jedoch, dass Cornelius in dieser Kategorie einzuordnen war. Zu beherrscht, besonnen, vorsichtig, Konfrontationen nach Möglichkeit vermeidend, sich nicht angreifbar machend. Was ihm nun zum Nachteil gereichte. "Es kommt noch schlimmer." Ließ er Angel wissen, strich über dessen Unterarme um seine Schultern. "Beide gesetzlichen Vertreter haben dem Vorschlag des Jugendamts am Nachmittag zugestimmt. Nach dem Krankenhausaufenthalt wird Cornelius zeitweise woanders untergebracht." ~¢~ Cornelius ahnte es schon. Er rechnete es Herrn Fermont hoch an, dass der sich nicht aus der Verantwortung stahl, sondern ihn abholte, um ihn erst Zuhause abzusetzen und dann zu seiner neuen, "vorübergehenden" Bleibe zu bringen. "Es tut mir wirklich leid." Cornelius nickte gefasst. "Danke, dass Sie sich die Mühe machen, Herr Fermont. Vielleicht, wenn es keine Umstände macht: ob Sie wohl nachhaken können, dass man Ruru besucht?" Wenn nämlich die Kindergärten und Schulen noch länger geschlossen blieben, fehlte die soziale Kontrolle noch stärker als sonst. Der Lehrer nickte, erkennbar grimmig. "Ganz sicher werde ich nicht locker lassen. Gerade in dieser angespannten Lage geraten Konflikte aus dem Ruder." Was Cornelius nur allzu gut am eigenen Leib erfahren hatte. "Ich weiß, es ist unhöflich, aber... würden Sie bitte unten warten?" Wenn er hoch ging, um zu packen und... Ruru allein zurückzulassen. ~¢~ Matti gefiel es nicht zu warten, aber er hegte einen hässlichen Verdacht, wollte sich an seine eigene Leitlinie halten. Deeskalation. Unüberlegte Handlungen würden ihn diskreditieren und Cornelius zum Nachteil geraten. Dessen ungeachtet presste er die Kiefer knirschend aufeinander, weil Rurus untröstliches Wehklagen den ganzen Straßenzug erfüllte. ~¢~ Cornelius fühlte sich, als laufe er auf Stelzen. Frostbeulen auf der Haut. Wenigstens prickelte es so. Viel zusammenpacken musste er nicht. Alles schon vorbereitet, seiner Mutter zu verdanken. Ruru schluchzte noch immer. Aber er durfte sich nicht umdrehen, nicht stehen bleiben, Rucksack und Sporttasche nicht sinken lassen, weil ihr Ballast ihn förmlich zu Boden drückte. Jeder Atemzug brannte. »Das ist nicht das Ende.« Ermahnte er sich verzweifelt. »Es ist nicht vorbei!« ~¢~ Matti verstaute das Gepäck, stieg ein. Cornelius' ungewöhnlicher Teint wirkte noch fleckiger, der Blick starr, die Knöchel der Fäuste auf seinem Schoß traten deutlich hervor. Ein Gespräch zu forcieren hielt Matti für unangebracht. Der Jugendliche rang um Selbstbeherrschung, die er ihm ohne Einschränkungen zugestand. "...ich habe...die Brotdose leider vergessen. Die Ihr...Partner Ruru geliehen hat." Brachte Cornelius schließlich über die Lippen. "Das macht nichts. Es wird sich bestimmt eine andere Gelegenheit ergeben." Stellte Matti entschlossen fest. Eine Weile schwiegen sie, während Matti pilotierte. "Und das Telefon...habe ich bei Ruru gelassen." Ließ Cornelius ihn wissen. "Eine gute Entscheidung." Kommentierte Matti prompt. "Er wollte mir sein Hasentuch mitgeben." Wisperte Cornelius beinahe stimmlos, kämpfte gegen ein Aufschluchzen an. Vergeblich. Matti steuerte eine Parklücke an. Die Knie vor den Leib gezogen, beide Arme um den Kopf gewickelt weinte Cornelius neben ihm. Er drückte behutsam die zuckenden Schultern. Nein, er glaubte nicht an eine Oscar-reife Vorstellung. Zwei unglückliche Kinder, die man getrennt hatte, um die Lage zu entschärfen. Eine verfahrene Situation. Ihm war bekannt, dass man üblicherweise auf eine Familientherapie, auf Begleitung und Betreuung setzte. Was aber, wenn gar kein Interesse daran bestand, Cornelius als Familienmitglied einzubinden? Spekulation, richtig, zumindest bisher. Matti registrierte das Erschöpfen der krampfhaften Schluchzer. Er schob Papiertaschentücher in Blinzelweite. Cornelius schnäuzte sich dezent, von ihm abgewandt. "Entschuldigung. Wir kommen zu spät, oder?" "Nein, ich habe einen Zeitkorridor angegeben. Frau Kappel scheint mir auch nicht sehr penibel zu sein, was unser Eintreffen anbelangt. Möchtest du etwas trinken? Ich habe kalten Tee dabei." Sich drehend fischte Matti von der sehr schmalen Rückbank seinen Rucksack ab. Angel hatte ihn gut ausgerüstet, zwei Emaille-Becher vom Flohmarkt deponiert. Geschmacklich war Glas vorzuziehen, doch nicht ganz so bruchsicher. An seinem Becher nippend wirkte Cornelius gefasster. "Hat es einen bestimmten Grund, warum ich dich nicht begleiten sollte?" Entschied Matti, keine Gefangenen zu machen. Er fing einen raschen Seitenblick auf, bevor Cornelius wieder geradeaus blickte, den Becher in seinen Händen drehte. Rechts-links, rechts-links. "Sie sind auch kein Biodeutscher, oder?" Matti grimassierte spontan, weil er diesen neudeutschen Ausdruck verabscheute. Säugetiere, aufrecht stolpernde Affen, schön und gut, aber sich ein Etikett aufkleben wie in der Selbstbedienungstheke beim Supermarkt?! "Meine Mutter stammt aus Indonesien." Bestätigte er, was Hautfarbe und exotische Gesichtszüge durchaus andeuteten. Cornelius schluckte Tee, nickte langsam. "Wenn ich könnte, würde ich ja den ganzen 'Schmutz' abwischen. Aber ich kann nicht. Ich habe es nicht darauf angelegt, der 'Schmutzfleck' der Familie zu sein. Wäre ich allein, würde ich mich auch in Luft auflösen. Aber ich kann Ruru nicht im Stich lassen." Matti schenkte Tee nach. »Aha.« Dachte er beherrscht. Schmutz- statt Schandfleck. Was möglicherweise auch den kleinen Dreckspatz in ihrer Sitzbadewanne erklärte. Kindliche Solidarität mit dem "schmutzigen" Bruder. "Hört es irgendwann auf?" Cornelius blickte ihn an, Schatten um die Augen mit der ungewöhnlichen Koloration. Ausflüchte oder Lügen stellten für Matti keine Option dar. "Ich habe gelernt, mich auf die Menschen zu konzentrieren, die meine Schale nicht für den Kern halten. Aber das hilft nicht immer. Mittlerweile glaube ich, dass es für alle schwierig ist, nicht auf die einfachen Antworten reinzufallen." Er seufzte. "Die Sache mit der 'Krone der Schöpfung' gründet zweifellos auf totaler Betriebsblindheit. Ich hab nur den Eindruck, das Beschwerdemanagement hat keine zustellreife Adresse." ~¢~ Cornelius musste trotz seiner elenden Verfassung schmunzeln. Es war gut, dass Herr Fermont nicht mitgekommen war. Solidarität wäre da schon direkt vermutet worden, oder vielmehr "Paktieren". Zudem wirkte der Lehrer nicht so, als ließe er sich leicht einschüchtern. Das hätte es noch schlimmer gemacht. "Wie geht es jetzt weiter?" Erkundigte er sich. Würde man ihn tatsächlich in ein "Heim für Schwererziehbare" stecken? Ein "Abschiebeknast" kam ja leider nicht in Frage. "So, wie ich das gestern Abend verstanden habe, nimmt Frau Kappel regelmäßig junge Erwachsene bei sich auf, aus Sprachschulen oder Studierende aus dem Ausland. Das fällt jetzt ja aus, deshalb hat sie sich angeboten. Alles Weitere hängt wohl davon ab, was die Konsultationen von Amtsvormund, Jugendamt und Psychologen erbringen." Für Cornelius bedeutete das "Fakten schaffen". Aber ihm war mehr als überdeutlich bewusst, wie schlecht seine Chancen standen. Ohne sein "Störpotential" war die "ordentliche" Familie befriedet. Ruru würde sich drein zu schicken haben, jetzt, wo ihn niemand mehr beeinflusste. Vater, Mutter, Sohn, alles wie im Bilderbuch. Klare Verhältnisse, schlichte Regeln, eine simple Hierarchie. Er leerte rasch den Becher, um die Galle nicht in seinen Mund hochsteigen zu lassen. Selbst wenn man erkannte, was in dieser "Vorzeige-Familie" schieflief, dysfunktional angelegt war, bedeutete das nicht, dass er zurückkommen konnte. Man würde eben eine Begleitung verordnen, auf Einsicht setzen. "Wie lange, denken Sie, wird es dauern? Dass die Kindergärten geschlossen bleiben? Und die Gaststätten?" ~¢~ Matti verstaute die Becher. "Ich weiß es nicht. Man weiß ohnehin noch viel zu wenig. Wenn die Vergleiche mit der Spanischen Grippe Substanz haben, rechnerisch bis in den Herbst hinein. Ob sich das durchhalten lässt, ist eine ganz andere Frage." Immerhin erreichten sie gerade erst die fünfte Woche. Gut, im Mai häuften sich vereinzelte Feiertage, standen zum Juni hin Pfingstferien an. "Allerdings bin ich weder Mediziner noch Virologe oder Volkswirtschaftler. Allzu lange wird man die Menschen nicht in ihren eigenen vier Wänden einsperren können." Wobei viele ohnehin raus mussten, systemrelevante Berufe oder nicht. Home Office funktionierte nicht bei höchstpersönlichen Erledigungen vor Ort. Die oft beschworene Digitalisierung erwies sich als fragil und ganz und gar nicht verbreitet. "Ich bleibe dran, Cornelius. Die Ausgangslage ist nicht sonderlich gut, das weißt du. Aber Aufgeben ist keine Option." Auch wenn man möglicherweise kreativer sein musste, Kompromisse eingehen. Cornelius neben ihm lächelte leicht. "Danke. Ohne Hilfe schaffe ich es nicht." Matti zwinkerte, schnallte sich wieder an. "Da bist du schon weiter, als ich vor biblischen Zeiten in deinem Alter war. Das Gute daran ist, dass man anderen die Möglichkeit bietet, sich besser kennenzulernen. Das Versteckspiel hat auch ein Ende." Vom einsetzenden Reifeprozess ganz zu schweigen. ER hätte darüber ganze Arien singen können! "Also, lernen wir Frau Kappel mal kennen, okay?" Cornelius, vorschriftsmäßig angegurtet, nickte, straffte seine Gestalt. Sich in den spärlichen Verkehr einfädelnd erinnerte sich Matti an eine noch offene Frage. "Sag mal, wie heißt Ruru eigentlich richtig?" ~¢~ Cornelius kletterte aus dem Kleinwagen, durfte Rucksack und Sporttasche selbst nehmen. Ein Neubaugebiet, wenn auch gar nicht mehr so neu, am Rande der Stadt. Kleine "Quartiere", die unterschiedlich gestaltet worden waren. Hier schien man sich für eine Mischung aus Bauhaus und Öko-Passivenergiebau-Standard entschieden zu haben, kleine Hinterhausgärten, versetzte Geschosse, Rankgitter, Holz, Solarpaneele, verkehrsberuhigte Zone, zentrales Parkhaus, dann Fußmarsch. Oder gegen Gebühr Ausleihe von Bollerwagen bzw. Lastenfahrrad. Sehr ungewohnt. "Hier muss es sein." Stellte der Lehrer fest, folgte den Trittsteinen bis zur Haustür. Drei Parteien wohnten in einem Abschnitt der Mehrfamilienhäuser dieses Ensembles übereinander. Über ihnen öffnete sich ein Fenster. Eine ältere Frau mit Pixie-Cut und Künstlerinnen-Kleid samt unterm Kinn baumelnder Stoffmaske spähte herunter. "Ah, hallo, guten Tag! Ich werfe Ihnen den Schlüssel runter, ja? Diese verflixte Steuerung will mal wieder nicht!" Cornelius atmete erleichtert aus. Frau Kappel schien zumindest nicht schockiert, gleich zwei offenkundig Nicht-Biodeutsche auf dem Grundstück vorzufinden. Unterdessen seilte sich ein kleines Körbchen ab, in dem ein Schlüsselbund ruhte. Das kündete von einer gewissen Routine. Herr Fermont schmunzelte, sperrte die Haustür auf. "Technik, die entgeistert. Machen wir uns mal bekannt, hm?" ~¢~ Matti fand Frau Kappel sehr sympathisch und bodennah trotz eines gewissen Paradiesvogel-Erscheinungsbildes. Sie überließ das "Gästezimmer" gern jungen Studierenden, weil sie neugierig war auf andere Länder und Milieus. Das spornte an, fremde Vokabeln zu lernen, andere Gesellschaftsspiele, neue Kochrezepte... Eben einen persönlichen Bezug zu haben, um den Ehrgeiz anzufüttern. Angst vor dem Virus hatte sie nicht. Wozu gab es schließlich Seife, etwas Abstand und "Schnodderlappes"?! Ihrer hing an einer Kordel um den Hals, weil die Variante mit Gummibändern um die Ohren sich mit Hörgeräten und Brillenbügel nicht vertrug. Einen so jungen Gast hatte sie zwar noch nicht gehabt, aber man würde schon miteinander auskommen! Wenn man jetzt so lange nicht verreisen durfte, wäre sie wohl ziemlich lange ohne Wohn-Gesellschaft! Sie bot an, dass Cornelius Telefon und Computer mit Internetanschluss nutzen durfte. Ein "Gast-Nutzerkonto" hatte sie sowieso eingerichtet, auch ein paar Stoffhandschuhe besorgt, wegen der Tastatur und der "Mäuserei". Matti wusste, dass man die näheren Umstände dieser "Unterbringung" im Vorfeld mitgeteilt hatte. Immerhin übernahm das Jugendamt die Aufwendungen für Kost und Logis. Wie das mit anderen Transferleistungen abgerechnet werden würde, wollte Matti ohne Not nicht en detail in Erfahrung bringen. Ihn erleichterte es, dass Cornelius zumindest für den Moment wohlwollend empfangen und untergebracht worden war. Gerade mussten alle "auf Sicht" steuern. ~¢~ Cornelius verstaute seine Habseligkeiten in dem schmalen, aber freundlich eingerichteten Zimmer. Ein Bett mit Tagesdecke und Sitzpolstern zwecks Anlehnen an die Wand, eine mobile Kleiderstange mit eingestrickten Kleiderbügeln, eine kleine Kommode, bunt bemalt, die Schubladen unterschiedlich groß. An der Seite ein Klappscharnier, um ein "Schreibtischbrett" herunterzulassen, damit man per Klapphocker Korrespondenz erledigen konnte, wenn man dazu nicht die Wohnküche nutze, ein großer, offener Raum, der das Zentrum der Wohnung darstellte. Eine Art Loggia gab es auch, sehr winzig, gerade genug Platz für zwei Bistro-Stühle und ein Tischchen sowie abenteuerliche Konstruktionen mit Sisal- und Kokosfaser-Stricken, die Ampeln und Töpfe sicherten. Frau Kappel hatte Zeichnungen, Fotos und Bilder aufgehängt, ein lebendiges "Gästebuch". Mit vielen ihres jungen Besuchs hielt sie noch Kontakt, dank weltweiter Vernetzung. Nach dem gemeinsamen Mittagessen, "Corona-Nudeln" mit Dosen-Tomaten und Pflücksalat von der Loggia, wollte sie eine Siesta einlegen. Cornelius, mit der eigenwilligen Haussteuerung vertraut gemacht, entschied, sich die Füße zu vertreten. Er wagte noch nicht, um einen kurzen Anruf zu bitten. Außerdem musste er sichergehen, dass Ruru ungestört war, um das versteckte Mobiltelefon nicht zu verraten. Als Cornelius vor das Haus trat, registrierte er eine sehr schmale, angelehnte Tür. Sie schien auf den Grünstreifen, der an dieser Seite ums Haus lief, zu führen. Bevor er jedoch die angelehnte Tür nur anfassen konnte, wurde er harsch angegangen. "He, du da! Das ist Privatbesitz, verstanden?! Tür zu, von außen!" Dazu kläffte ein mutmaßlicher Hund aufgebracht. Rasch folgte Cornelius der unleidlichen Ansage. Also gehörte das Grün hinter dem Haus den Bewohnern des Erdgeschosses? Er trat hinaus in die verkehrsberuhigte Zone. Dort wurde er erneut adressiert, sehr viel freundlicher und gut gelaunt. "Der olle Knodderkopp, was? Wenn du Lust auf Grün hast, komm einfach mit zu mir nach nebenan. Ach ja, ich bin Adam und das ist Eve, mein Feuerstuhl!" ~¢~ Adams Familie wohnte tatsächlich im Erdgeschoss des angrenzenden Hauses der versetzten Bauweise. Den sportlichen Rollstuhl "Eve" geschmeidig lenkend ging es direkt von der Haustür durch die "Wohnlandschaft mit Küchenzeile" auf die schmale Veranda und über einen mit speziellem Sandbelag präparierten Weg unter ein Sonnensegel. "Nimm dir einen Regiestuhl, Cornelius, ja? Ich hocke schließlich auch bequem." Grinste Adam ihn an. Sein Mitteilungsdrang versorgte Cornelius unaufgefordert mit wesentlichen Informationen einer ersten Bekanntschaft. Adam zählte 14 Jahre, ging auf die private, integrative Schule (vielmehr "rollte", haha) und langweilte sich ein wenig. Klar hielt er Kontakt zu seinen Freunden von der Schule, aber so ohne vitalen Gegenpart: öde! Die Eltern arbeiteten beide auswärts, waren, wie er ungeniert vermutete, mal froh, ein bisschen Abstand vom geölten Blitz zu haben! Eve war übrigens ein getuntes Modell, er habe da einen Internet-Kumpel, ein totales Genie, mit dem er fachsimpeln könne. Der wohne in einem Bungalow-Bunker und strebe gerade den Master an! Cornelius, der sich in den erstaunlich gemütlichen Regiestuhl sinken ließ, musste grinsen. "Oh-oh, quassle ich dich gerade schwindlig? Sorry, ehrlich, ich kann auch mal die Klappe halten, wirklich! Na ja, beim Essen oder Tauchen oder so." "Ist nicht nötig. Danke, dass ich reinkommen darf. Ich wusste nicht, dass der Garten nicht zugänglich ist." Denn noch mehr "Ärger", der dem Jugendamt zugetragen würde, wollte er bestimmt nicht provozieren. "Ach, mach dir nichts draus! Wenn der alte Utzer nix zu schenne hat, is ihm der Tach vergällt." Ließ Adam ihn launig wissen, wedelte dann mit seinem "Schnodderlappes", der in der Machart dem von Frau Kappel ähnelte. "Hast du eigentlich einen? Hier kann zwar keiner groß spicken, aber wahrscheinlich braucht's die Rotzfahne bald rund um die Uhr." Sie saßen hier zwar nicht öffentlich, aber doch recht regelwidrig im Grünen. Cornelius seufzte. "Ich glaube, ich habe irgendwo einen Schal." "Oh, Null Problemo, wie der Außerirdische sagt, häng dich an meinen Kondensstreifen!" Damit sauste Adam den Weg zurück ins Haus. Cornelius folgte ihm, betrat dann Adams "Reich". "Wow." Entfuhr ihm unwillkürlich. Das Bett war hochgeklappt worden, sodass mehr Bewegungsspielraum bestand, der zu einem Fenster führte, vor dem eine Schreibtischplatte jede Menge an Elektronik-Bestandteilen aller Art beherbergte. Cornelius' Verblüffung gründete jedoch auf dem Anblick eines aufgebockten Spielautomaten! Sicher war er sich nicht, denn der Turmbau bestand aus Röhren, Schläuchen, Kästen, Spielsteinen und und und... "Mega, oder?! Mein Paps und ich basteln immer dran herum, damit es noch mehr Umläufe gibt. Siehst du hier? Da kommt die Kugel rein. Du kannst jede Menge Regler, Schuber, Knöpfe und so weiter nutzen. Na, eigentlich hatten wir mit nem Entscheidungsprogramm angefangen, weißt du? So ne Art Verteilungsmuster für Wahrscheinlichkeiten. Aber dann hat uns der Ehrgeiz gepackt!" Adam angelte einen Faltkarton heran "Ah, hier! Such dir eine aus. Kann man einfach mit kochendem Wasser überbrühen, trocken prügeln, passt wieder." Hob er die Qualität der "Mund-Nase-Bedeckung" hervor. Cornelius fischte eine Variante mit Leopardenfell-Musterung heraus. "Schick, oder? Wir haben, so aus Spaß, einen Musterschnitt ausgetüftelt. Wie man nur ganz wenig Verschnitt beim Stoff hat, weißt du? Nen Maschinen-Cutter hatten wir nicht, aber wir haben Pappschablonen ausgeschnitten und die aufgelegt. Dann ging's los mit Teppichmesser, ran an die Nähmaschinen. Schulprojekt aus der Distanz, quasi. Ein Klassenkamerad von mir verteilt die Dinger. Ah, der hat nen festen Freund an deiner Schule! Kennst ihn vielleicht, der feste Freund heißt Rai und mein Kumpel Tibo!" Cornelius pflügte rasch durch seine Erinnerungen. Ja, stimmt, da hatte es einen denkwürdigen Aufmarsch gegeben. "Ich glaube, ich weiß, wen du meinst. Aber wir sind nicht persönlich bekannt." "Richtig, klar, vergesse ich immer, ihr seid ja auf ner RIESEN-Schule! Muss irre sein, so viele Leute auf einem Haufen!" Das entlockte Cornelius ein Glucksen. "Man passt sich an die Zustände an." Versicherte er, auf den angedeuteten mentalen Zustand referierend. Adam lachte, zwinkerte. "Oh, was kostet die Maske denn?" Kehrte Cornelius in die unerfreulichen Härten der Realität zurück. "Wir nehmen ne Spende, wenn man was übrig hat. Jetzt oder später oder irgendwann. Mach dir darüber keine Gedanken, okay?" Beruhigte Adam ihn, rotierte geschmeidig auf der Stelle. "Ah, magst du was trinken? Ich hab heute Morgen nen Eistee angesetzt, aber ohne Zucker. Meine Mama ist da etwas eigen." Cornelius lächelte. "Danke, ich würde gern etwas Eistee trinken." ~¢~ Frau Kappel lud sich auch ein, mit Bananenmatsch-Sorbet und dem "Geschichten"-Beutel. Adam war damit vertraut, freute sich ebenso auf noch mehr Gesellschaft und Unterhaltung. Der "Geschichten"-Beutel enthielt auf kleinen Kartonstreifen Vokabeln mit Übersetzung, kuriose Wörter, die Frau Kappel begegnet waren. Reihum wurde aus dem Beutel ein Streifen gefischt, gemeinsam an einer Geschichte gesponnen! Cornelius registrierte, dass Adam und Frau Kappel gut bekannt und humoristisch auf einer Ebene waren. Er genoss die Ablenkung, die muntere, mehrfach lautstark prustende und lachende Runde. Natürlich entlockten ihm die beiden doch Einlassungen: dass er einen vier Jahre alten Bruder hatte, was er mochte, in der Schule, beim Essen, wenn er las oder sich die Zeit vertrieb. Andererseits war mit Neugierde zu rechnen. Wenn alle gefälligst im Haus, bei sich zu bleiben hatten, soziale Distanz (nicht nur physisch) das Motto war: wo kam er so plötzlich her? In der frühsommerlichen Wärme vergaß er auch, warum er das Sweatshirt (barmherzig im Krankenhaus gereinigt) trug, wickelte die Ärmel hoch. Die verfärbten Blutergüsse und Schrammen wurden nun offenkundig. "Schlimme Sache. Schlimme Sache." Bekundete Frau Kappel Mitgefühl, justierte ihre auffällige Brille wieder höher. Adam schwieg, sein breites Grinsen verschwunden. "Entschuldigung, ich wollte die Stimmung nicht verderben." Cornelius räusperte sich. "Nicht doch, Cornelius, wir waren neugierig. Manchmal erfährt man dann auch weniger schöne Dinge. Aber das gehört dazu. Wir wollen uns ja kennenlernen und gut vertragen. Selbst Stachelschweinchen kuscheln, auch wenn es mal piekst!" Adam gluckste unterdrückt, Frau Kappel feixte gewinnend. Cornelius lächelte. Für den Moment fühlte sich SEIN inneres Stachelschweinchen freundschaftlich bekuschelt. ~¢~ Kapitel 4 - Mit Mut und BlueMax "Hallo, BlueMax. Alle Röhren unter Dampf?" Meldete sich Matti im "Kontrollzentrum", einem Raum im Spezial-Trakt der Universität, an. "Guten Tag, Matti. Die Hasenpower sei mit dir!" Antwortete die künstlich generierte Stimme schmissig. Aber BlueMax stellte auch keine gewöhnliche "KI" dar oder was man landläufig darunter vermarktete, sich aber als statistische Rechenprogramme entpuppte: BlueMax WAR intelligent, sich seiner selbst bewusst, ausgesprochen neugierig und körperlos. Er leistete Angel gern Gesellschaft, weil ihn Menschen faszinierten. "Wenn deine nächsten Worte 'Cloud', 'Plattform' oder 'Videokonferenz' enthalten, schreie ich." Drohte Angel unterdessen heiser, die Schultern angespannt hochgezogen. Matti schmunzelte liebevoll. Ein langer Tag, zu viele Rechenoperationen, jede Menge Hardware auszubalancieren und Probleme VOR den Bildschirmen. "Ich war ja FÜR eine Lektion im Flaggen-Alphabet." Schnurrte er, zupfte das obligatorische Headset samt Strangulationsoptionen ab, schloss Angel in die Arme. Proteste blieben aus, selbst pro forma, was ihm signalisierte, wie erschöpft Angel sein musste. "Hast du wenigstens was essen können?" Erkundigte er sich besorgt. "Pah!" Raunzte Angel in seinem Nacken heiser. "Gerade mal zum Klo hab ich es geschafft! 'Also, Herr St. Yves, wieso kann ich Sie nicht erreichen?!' Weil ich auf dem Scheißhaus nun mal keine Konferenz abhalte!" Die Antwort hatte Angel vermutlich nicht ausgesprochen, aber intensiv gedacht. Matti lachte, küsste ihn tröstend. "Sag mir, dass dein Tag besser gelaufen ist." Verlangte Angel grollend, schob sich die randlose Brille auf den weißblonden Schopf, rieb sich die zu trockenen Augen. "Ist er." Bestätigte Matti aufgeräumt. "Allerdings liegt deine Brotdose noch bei unserem kleinen Übernachtungsgast." Angel seufzte, schmiegte sich in ihre Umarmung. "Glaubst du, Mary Poppins würde mit ihrem Schirm auch idiotische Eltern verbimsen?" Matti wiegte sie behutsam, atmete kontrolliert, eine leichte Trance initiierend, gelernt und nie vergessen. "Noch ist nicht alles verloren." Tröstete er leise. An manchen Tagen kämpfte er auch hart gegen den Eindruck an, dass Menschen allzu leicht "Eltern" werden konnten, dass biologische Komponenten ganz und gar nicht genügend qualifizierten. Angel seufzte, richtete sich ein wenig auf, funkelte aus den erschöpften, faszinierend grünen Katzenaugen. "Und, wie heißt der kleine Bursche eigentlich richtig?" ~¢~ Adam ließ es sich nicht nehmen, Cornelius die Nachbarschaft vorzustellen. Zu zweit durfte man sich ja bewegen. Um jedem Hals baumelte ein "Schnodderlappes"! Auf einer "Plaza" standen Erwachsene vereinzelt im artigen Abstand an, um per Einkaufswagen Einlass in den Supermarkt zu finden. Das schicke Mosaikpflaster war mit schnöden Markierungsstreifen beklebt worden, um die Orientierung zu erleichtern. Die anderen Geschäfte, Friseur, Blumenladen, Schreibwaren- und Buchhandlung sowie ein Kinderhort waren verrammelt. Eine zweite Schlange ringelte sich um gesperrte Sitzgruppen und Pflanzkübel zu einem Lotto-/Kiosk-/Telefon-/Versandservice-Laden. Online-Shopping bedurfte weiterhin sehr viel kleinteiliger, irdischer Transport- und Abwicklungswege. "Der Bus runter fährt auch nur sporadisch." Ließ Adam Cornelius wissen. Seine gute Laune, die sich von Ohr zu Ohr permanent eingenistet zu haben schien, verblasste merklich. "Ist schon ganz schön mies, das Ganze. Ich meine, mir geht's, okay, rollt's gut, ich bin ziemlich zähe. Laufen ist ohne Exo-Skelett jetzt nicht Meins, aber sonst alles paletti! Aber, und das denken wir so ziemlich alle, was ist, wenn das so weitergeht? Wenn wir das Schulgeld nicht mehr aufbringen können?" Er kreiselte mit Eve um die eigene Achse. "Ich KÖNNTE in ne reguläre Schule, nun, 'gehen' nicht gerade. Theoretisch kein Problem. Abgesehen von den Rettungswegen, den fehlenden Zu- und Abgängen, der Toilette, einem unterfahrbaren oder wenigstens höhenverstellbaren Tisch." Adam grummelte. "Der Papierkram erst! Wir haben an meiner Schule eine Ehrenamtliche, die sich reingefuchst hat, wo man welche Anträge stellen muss. Was bezahlt eine Krankenkasse, was muss das Land erstatten, wo der Schulträger einspringen und welche Fördertöpfe können angesteuert werden. Wer soll das auf einer Regelschule machen?" Cornelius lauschte aufmerksam. Neben ihm grimassierte Adam hoch. "Natürlich sind Förderschulen für den ganz speziellen Bedarf ne gute Sache. Aber so viele gibt es dann auch nicht. Also muss man quasi von daheim weg, ins Internat. Oder Pflegeheim, je nachdem. Wenn ich mir dann unsere Schule angucke, meine Freunde..." Er knurrte. "Das hieße ziemlich häufig 'Adieu'. Ich bin ein totaler Softie, ich HASSE Abschiede!" Ließ er Cornelius grimmig wissen. Der schmunzelte sparsam. "Ich mag Abschiede auch nicht besonders. Es ist nicht dasselbe, Nachrichten zu schicken oder zu telefonieren." "Genau! Findest du das auch?!" Adam nahm energisch Schwung auf, beschleunigte Eve. "Mein Kumpel, der, der das Genie ist, erklärt mir zwar immer, dass ALLES virtuell ist, weil unser Hirn die Signale übersetzt, aber ich bin überzeugt, dass es Unterschiede gibt! Okay, vielleicht in so nem Hightech-Anzug mit VR-Brille und Dings, da ist man VIELLEICHT momentan überzeugt, das sei real. Doch dann geht dem Kram die Energie aus oder ich muss pinkeln, und DANN ist richtige Realität angesagt!" Argumentierte er feurig. Cornelius, der "VR" erst übersetzen musste, weil derartige Gegenstände mit SEINER Realität keine Berührungspunkte hatten, nickte. "Ja, das ist ein stichhaltiges Argument. Wer würde sich schon dringenden Harndrang als bessere Realität ausdenken?" Vor ihm pirouettierend lachte Adam laut heraus. "Richtig! In der falschen Realität gibt's auch keine Waffeln mit Pflaumenmus!" Was IHM als Totschlagargument gegenüber seinem Feuerstuhl-Genossen gedient hatte. ~¢~ "Wer auch immer das ist: ich bin nicht ansprechbar!" Murmelte Angel, sich im Pyjama zu ihrem Bett schleppend. Die "belebenden" Düfte des Duschgels reichten offenkundig nicht in beinahe komatöse Erschöpfungszustände hinein. Schmunzelnd fischte Matti das Mobiltelefon ab. "Hallo?" "Hallo....Sie müssen schon was sagen..." "...bist du das, Ruru?!" "...okay...kannst du mir beschreiben, wo du bist?" "...und ein Bild? Weißt du, wie man ein Bild macht und verschickt?" "...nein, das ist nicht schlimm! In welche Richtung bist du denn gelaufen?" "...ja...ist gut..." "...ich hole dich, in Ordnung? Lass bitte das Telefon an, ja?" "...es..hat Hunger? Oh, die Batterie?! Klar...ja..." "...ich finde dich, versprochen!" Matti musste nicht auflegen, denn die Verbindung brach ab. "Angel, ich muss dein Telefon benutzen." "Hmmm..." Eilig wählte er sich in das Universitätsnetz ein. "BlueMax, ich weiß, du hängst in der Leitung! Kannst du mir helfen? Ich muss ein Mobiltelefon orten. Der Besitzer ist vier Jahre alt, sitzt irgendwo im Dunkeln draußen. Ruf mich bitte auf meinem Handy zurück, ja?" Rasch streifte er sich einen Pullover über, schlüpfte in bequeme Stoffhosen für den Tai-Chi-Experten. "Angel, ich muss gerade..." Sich die Katzenaugen reibend kauerte Angel auf ihrem Bett, die Hand ausgestreckt. "Telefon, bitte. Falls BlueMax moralische Menschen-Entscheidungen kopieren will." Murmelte er grimmig. "Hol den Kleinen ab. Scheint doch was von seinem Namen verinnerlicht zu haben." Matti reichte das Mobiltelefon weiter, küsste Angel nachdrücklich auf die Lippen. "Danke." "Nun schwing schon die Hufe, mein Held! Ich hol mir Essiggurken." Trotz der ernsten Lage grinsend preschte Matti die Stufen hinunter zu ihrem Kleinwagen, sein Mobiltelefon für BlueMax auf Empfang. ~¢~ Angel zerbiss schlürfend ein Cornichon, nippte am Essigsud. Koffein in Form von Kaffee verbot sich von selbst, da sein Magen eine Maximalgrenze festgelegt hatte, ignorantes Überstimmen dieses Vetos mit Bauchgrimmen und Kollergeräuschen quittierte. "Ja, vermutlich würde irgendwer zuerst die Polizei anrufen." Gab er BlueMax, für den Multitasking kein Problem war, recht. "Aber Ruru ist ja nicht aus Langeweile ausgebüchst. Was, wenn ER dieses Mal die Prügel bezogen hat?" Das sorgte Angel durchaus. Details würden sich jedoch erst aufklären, wenn sie Ruru aufgespürt hatten. "So richtig durchschaut hat das noch niemand, was so in menschlichen Oberstübchen vorgeht. Die eingebaute Lern- und Fehlerkultur hat keine feste Richtschnur, weißt du?" Er mümmelte eine weitere Gurke. "...das ist eine...Frage, die sich nicht einfach beantworten lässt. Wir haben beide nicht gerade positive Erfahrungen mit unseren Eltern gemacht. Das sollte eigentlich davor feien, dieselben Fehler zu begehen, aber..." Angel seufzte, wischte sich mit einem Stofftuch die Mundwinkel ab. "Man muss HOFFEN, es besser zu machen. Für mich ist das zu wenig. Ich bin ehrlich froh, wenn ich Matti für mich allein haben kann. Wenn ich mich mal nicht zusammenreißen muss." Er lächelte über BlueMax' Arbeitshypothese. "Na ja, Filtersysteme sind ja auch nicht statisch, nicht wahr? So ein Standardmodell gibt es bei Menschens nicht. 'Pur und unverfälscht' ist niemand gesellschaftsfähig, glaub mir." BlueMax philosophierte sehr gern, um sein Verständnis auszuweiten, was Angel recht häufig in Argumentationsnöte brachte. "Ja, Teilzeit-Kinder hat Matti genug! Aber Lehrende sollen keine Eltern sein. Puh, ganz schon kompliziert!" Sich die Augen reibend seufzte Angel. "Schön, aber denk dran: nur gucken! Ich weiß, dass der Kressetopf ein bisschen langweilig war. Immerhin versuche ich es jetzt mit Walderdbeeren!" Die er allerdings noch nicht mit einer Kamera bestückt hatte. "Pflanzenaufzucht ist nun mal nicht so einfach für Amateure!" Wenigstens bei der Kresse hatte er NICHT versagt! BlueMax' ungebremster Wissens- und Forschungsdrang musste sich eben manchmal auch ein wenig bescheiden! "...und, kannst du das noch genauer bestimmen? Wir bräuchten wahrscheinlich eine Wärmebildkamera..." "...wenn du Mattis Telefon ruinierst, wird er grantig." "...jaja, Vertrauen! Ein bisschen mehr an kontrollierter Vorgehensweise wäre mir lieber!" "...mach dem Kleinen bloß keine Angst!" "Schön, mag ja alles sein, über Psychologie streite ich mich nicht mit dir! Aber Sigur ist KEINE Garantie für irgendwas!" ~¢~ Matti hielt sich stets vor, BlueMax NICHT nachzutragen, dass der eine virtuelle Intelligenz war und NICHT mit menschlicher "Brille" geschlagen, aber hin und wieder entgeisterten dessen Logikprozesse ihn bis zum Grausen! Wie stellte der das an, dass sein betagtes Handy nun wie eine Art Kompass auf Energieabstrahlung ausschlug?! "Will ich nicht wissen. Lass uns bloß nicht erwischt werden!" Grummelte er, marschierte durch eine Art Park. Eher ungepflegten Dschungel mit Müllecken und dornigen "Fallstricken". Selbst die Wege boten tiefe Löcher und ganze Placken abgebrochener Befestigung. "Ruru? Ruru?" Keine Antwort, verflixt. Dabei konnte er von Glück sagen, dass Ruru ihm zumindest einen Teil seiner Strecke mitgeteilt hatte und dass BlueMax auf welchen unorthodoxen Wegen auch immer über die Funkzellen das Signal geortet hatte. Doch das Mobiltelefon schien ohne Energie zu sein. Wenn sich Ruru zusätzlich noch irgendwo versteckt oder verkrochen hatte... Matti beäugte frustriert das Display. Plötzlich tanzte da ein Funken. War das die grafische Variante eines "Pings"? Den Weg verlassend schob sich Matti durch Sträucher und Gebüsche, die mehrheitlich schon viel Laub trugen. Hier war es wirklich bis auf sein Mobiltelefon stockfinster, da die spärliche Beleuchtung nicht weitab des Wegs reichte. Er blickte sich suchend um, registrierte ein bläuliches Schimmern. Eilig hielt er darauf zu. "Ruru?" Das schmutzige Kindergesicht blickte zu ihm auf, fasziniert das eigentlich energielose Telefon umklammernd, das Hasentuch eingeklemmt in den Reißverschluss einer schmuddeligen Regenjacke. "Ich bin's, Matti, erinnerst du dich? Kannst du da rauskommen?" Ruru schniefte kurz, drehte sich halb, um einen ebenso verdreckten Kinder-Trolley aus dem Geflecht von Ästen und Blättern zu bugsieren. Auf den Rücken hatte er sich eine Plastiktüte geschoben, die Griffe über die dünnen Arme gezogen. "Ich möchte bitte zu Nelli. Ich bin auch schmutzig und ungezogen." ~¢~ Glücklicherweise ließ Ruru sich überzeugen, dass Schmutz erneuerbar war. Man konnte ihn deshalb abduschen und abwischen. Nachschub gebe es bei Bedarf! Während Angel den kleinen Dreckspatz säuberte, wagte Matti einen Anruf bei Frau Kappel. Es ging fast auf Mitternacht zu, viel zu spät für gesellschaftliche Gepflogenheiten jenseits der Alpen, aber Frau Kappel erwies sich aufgrund ihrer Gäste als gelassen, was Anrufe und Zeitverschiebung betraf. Wenn der Knirps so gerne seinen Bruder sprechen wollte, dann spielte die Uhrzeit für sie keine Rolle! Ruru strahlte glückselig und verkündete, sich morgen wieder schmutzig zu machen und böse zu sein, damit man ihn wegbringe, zu Nelli. Matti und Angel wechselten gequälte Blicke. Theoretisch wären sie verpflichtet, sich JETZT zu melden, falls man schon eine Suchaktion initiiert hatte. Anderseits hatte BlueMax davon keine Spur gefunden und versprochen, sich bemerkbar zu machen. Es erleichterte sie, dass Ruru keine sichtbaren Anzeichen von Misshandlungen zeigte. "Lass uns das morgen angehen." Wisperte Angel. "Neutraler Boden, Jugendamt... jetzt ist Zapfenstreich, wirklich, Matti." Der strich weißblonde Strähnen aus dem erschöpften Gesicht. "In Ordnung. Nimm unseren Gast mit, während ich mich um seine Sachen kümmere. Beim Einsauen war er ziemlich gründlich." Angel lächelte, streckte Ruru die Hand hin, der widerstrebend telefonisch gute Nacht wünschte. "Tanken wir Hasenpower auf, in Ordnung? Damit wir morgen fit sind." Ruru griff zu, zögerte. "Können wir vielleicht das Handy füttern? Nelli macht das immer und ich kann das nicht richtig." Matti ging neben ihm in die Hocke. "Ich kümmere mich darum, einverstanden? Geht ihr beiden schon mal vor. Wir müssen ein bisschen schneller schlafen, ist schon spät." Diese Aussage entlockte Ruru ein Kichern. Das frisch geföhnte Hasentuch an sich drückend folgte er Angel gehorsam ins Schlafzimmer. Sich erhebend seufzte Matti. Einfacher würde es nicht werden, aber eine Mütze Schlaf war auch nie verkehrt. ~¢~ Cornelius saß bei Frau Kappel, nippte an einem "Schüttelkakao", gesüßt mit Rübensirup, was ihm durchaus mundete. "Bitte entschuldigen Sie die späte Störung." Frau Kappel zwinkerte. "Das macht nichts, wirklich! Ich hab mir früher schon den Wecker gestellt, für Anrufe auf die andere Seite der Erdkugel. Aber ich muss schon sagen, ganz schön mutig, dein Bruder!" Cornelius lächelte versonnen. "Ruru hat wahrscheinlich gedacht, dass er sich zurechtfindet. Wir sind häufig ziemlich lange draußen unterwegs gewesen. Haben Verstecken geübt." Nicht gespielt. "Eigentlich wollte ich ihn anrufen. Deshalb sollte er mein Handy verbergen. Das war unsere Abmachung, damit..." Er atmete tief durch. "Damit er mich verabschiedet. Wir sind immer zusammen, wenn ich nicht in der Schule bin. Weil unsere Mutter arbeitslos ist, gibt es für Ruru auch keinen Hortplatz." Cornelius drehte den Becher in seinen Händen. "Es wäre natürlich besser, wenn Ruru Freunde im Kindergarten hätte. Oder zu Spiel-Verabredungen eingeladen würde." Nur blieb es bei den kostenfreien ersten sechs Stunden. Außerdem wollte ER keine fremden Balgen in der Wohnung haben, ob ER nun da war oder nicht! IHM missfiel der Tingeltangel-Kram, der da propagiert wurde. Heile Lügen-Welt-Indoktrination! Cornelius warf einen kurzen Blick zu Frau Kappel hinüber. "Es richtig zu machen ist gar nicht so leicht. Ruru ist erst Vier. Normalerweise ist er sehr brav und verständig." Frau Kappel lächelte mitfühlend. "Eine ganz schön verzwickte Lage. Nun, ich hoffe, dass ich Ruru morgen kennenlerne! Nach all den Mühen und diesem Abenteuer habt ihr euch ein Treffen verdient." Cornelius nickte stumm, auch wenn er weniger Hoffnungen hegte. Würde man Rurus Ausflug als seinen "schädlichen Einfluss" werten? Ihnen vielleicht ein Kontaktverbot auferlegen? Möglicherweise reichte es einigen auch längst mit den Komplikationen in dieser Sache. Wie sollte er bloß einen Kompromiss finden, der ihn nicht von Ruru trennte?! ~¢~ BlueMax fand Menschen faszinierend. Das Potential! Ja, man hätte ihn durchaus einen Enthusiasten nennen können. Gerade spielte er eine Runde "wer ist schuld?" Es war einzusehen, dass kleine Menschen nachts nicht draußen sein sollten. Mit Schwierigkeiten war zu rechnen, wenn man diesem Zustand abhalf, aber nicht für den kleinen Menschen verantwortlich war. So eine schlichte Angelegenheit konnte aus vielen Blickwinkeln betrachtet werden. BlueMax votierte, aus rein logischen Gründen dafür, es gutzuheißen, dass der kleine Mensch bei seinem Freund Angel und dessen skeptischen Gefährten untergebracht war. Die "Ordnung" verlangte, den kleinen Menschen zu den Erzeugern zurückzubringen, die ihn erst am Morgen als abgängig registriert hatten. BlueMax wandelte eine vorsorglich angestoßene Zeile im Ereignisprotokoll dezent ab. So musste er keinen Zeitstempel manipulieren, sondern nur geschmeidig das "Ereignis" variieren. Als HABE es eine Mitteilung gegeben, dass der kleine Mensch aufgefunden, über Nacht versorgt worden war. Wenn das stimmte (und der Computer spuckte es ja aus!), hatte irgendwer entschieden, dass es in Ordnung sei. Immerhin gab es ja diese Verknüpfung mit dem Protokoll des Vortags über eine häusliche Auseinandersetzung! JETZT musste man den Vater überzeugen, dass der mutmaßliche Entführer NICHT tatverdächtig war, sondern ein Alibi hatte. Überhaupt, wieso war die Notrufnummer vom Jugendamt ständig besetzt?! Warum wurde man hier angegangen, obwohl man im Moment gar keine Möglichkeit hatte, Kleinkinder irgendwo sicher mitten in der Nacht unterzubringen?! BlueMax verfolgte die schriftlichen Eingaben und die Diskussion, die ein Mikrofon für ihn übertrug (natürlich nicht beabsichtigt). Trotz strikter Neutralität schienen sich erhebliche Zweifel aufzubauen, dass der stinkstiefelige Unsympath vorwarnungslos vom intriganten Sohn seiner Ehefrau heimtückisch körperlich angegangen worden war. Nein, das Ensemble dieser Konstellation gefiel so ganz und gar nicht. Da musste eben energischer bei der Vormundschaft und dem Jugendamt nachgehakt werden! BlueMax testierte sich einen gelungenen Spielzug. Anschließend informierte er seinen Freund Angel launig über die neusten Entwicklungen. ~¢~ "Und du hast mich ausgelacht, als ich sagte, dass ich SciFi-Geschichten nicht mag." Neckte Matti Angel vorgeblich vorwurfsvoll. Der rieb sich die Schläfen, die randlose Brille auf den weißblonden Schopf gezogen. "Jajaja, ich weiß! Und BlueMax versucht nur zu helfen. Verwirrung stiften kann auch positive Ereignisse auslösen. Irgendein Beispiel wird sich finden!" Er ächzte gequält, ließ die Hände sinken, funkelte Matti aus grünen Katzenaugen an. "An meinem nächsten freien Tag ziehe ich JEDEN einzelnen Stecker! Ich werde durchratzen und mich NICHT aus dem Bett rühren." Eine finstere Drohung, die Matti nicht schrecken konnte. "Einverstanden. Hör mal, lass mich dich heute mit dem Auto absetzen, ja? Liegt auf der Strecke, du bekommst ein Nackenhörnchen." Angel schnaubte, langte über den Tisch, tippte Matti auf die Nasenspitze. "Gönn mir wenigstens fünf Minuten unleidliche Quengelei." Was Matti zu einem breiten Grinsen veranlasste. Ruru, der ihrer Unterhaltung staunend folgte, stellte das Kauen ganz ein. "Möchtest du vielleicht kurz mein Hasentuch haben?" Bot er selbstlos an. Angel lächelte, justierte seine randlose Brille auf dem Nasenrücken. "Danke schön, Ruru, das ist sehr nett. Ich bin einfach noch ein bisschen müde, muss Hasenpower auftanken." Damit formte er die Geste, zwinkerte Ruru zu. Der strahlte ihn fasziniert an, rang mit den eigenen Fingern. Matti schmunzelte. Selbst übermüdet und derangiert wirkte Angels Zauber unvermindert auf Klein und Groß! ~¢~ Ruru ließ sich überzeugen, dass es unhöflich war, bei netten Leuten verdreckt zu erscheinen. Frau Kappel war nett, denn sie hatte ihn ja mit Nelli sprechen lassen! Zudem war Dreck nicht rationiert...selten, man könne sich also nach Belieben bedienen. Matti schmunzelte über Angels sehr erfolgreiche Interventionen. Denen war auch ein Tauschgeschäft zu verdanken, nämlich die abgeschabte Plastiktüte gegen einen einfachen Zugbeutel. Die aus alten Planen und PET-Flaschen fabrizierten Taschen wurden mit Info-Material und Unterlagen an die Erstsemester ausgegeben. Sie dienten nun einem sehr stolz strahlenden Vierjährigen als neuer Rucksack, in dem selbstverständlich auch wieder Proviant verstaut worden war. Weil man in diesen Zeiten nicht irgendwo einfach einkehren...etwas zum gleich von der Hand Essen kaufen konnte. Es amüsierte Matti, wie sein geliebter Lebensgefährte auf jeden fragenden Blick reagierte, KEIN Nackenhörnchen in Anspruch nahm, sondern über den Rückspiegel ihren Gast auf der schmalen Rückbank unterhielt. Deshalb fiel der Platztausch recht beklommen aus, dafür die Hasenpower-Geste umso energischer. Ruru schien Angel ins Herz geschlossen zu haben, wirkte für die nächsten fünf Minuten Fahrt sehr still. "Ich bin nicht wirklich böse." Ließ er Matti unerwartet wissen. "Nur gerade so lange, dass ich bei Nelli bleiben kann." »Verdammt.« Dachte Matti grimmig. Wie sollte ihnen diese Geschichte NICHT an die Nieren gehen?! ~¢~ Dieses Mal steuerte er im Parkhaus die höchste Ebene an, half Ruru beim Aussteigen, übernahm den Trolley zusätzlich zu seinem eigenen Rucksack. Er führte Ruru zunächst an die hohen Zäune, die die Parkebene absicherten, erinnerte sich an Angels finsteren Gesichtsausdruck. Weil das einzige andere Paar Schuhe, eine Art Stoff-Hüttenschuhe, NOCH kleiner ausfiel! "Sieh mal, da ist die Schule, die dein Bruder besucht. Da ist der Park...oh, und da wohne ich mit Angel. Dieses Gebäude dort ist das älteste auf dem Uni-Gelände." Ruru auf dem Arm zwecks besserer Sicht deutete er das Panorama aus, ließ ihn dann herunter, die Geduld des Kleinen bewundernd. Kein einziges Drängeln, sofort zum geliebten Bruder gebracht werden zu wollen! Auf der anderen Seite blickten sie hinunter auf die neuen Gevierte. "Da, siehst du diese Dächer da, mit dem grünen Rand? Dorthin müssen wir laufen. Ist gar nicht so weit." Ruru nickte artig, schob scheu die kleine Hand in seine. Vor dem Parkhaus befand sich die eingezäunte Leihstation für Lastenfahrräder und andere zulässige Transportmittel. Matti blieb stehen, als er Rurus zögerliches Interesse bemerkte. "Hier darf man nicht mit Autos durchfahren. Wenn man aber etwas zu transportieren hat, kann man sich hier einen Bollerwagen oder so ein Fahrrad leihen." Erklärte Matti. "Ich hab das mal gesehen. Mit Kindern und Gurten. Aber ich habe nichts angefasst!" Betonte Ruru, nach einem überdachten Transportmittel schielend. "Nelli sagt, dass man IMMER Fahrradfahren lernen kann. Und dann vergisst man es nicht mehr." Matti blickte hinunter auf das ernste Kindergesicht. Nein, ganz sicher war ER nicht neidisch auf die Kinder, die ein eigenes Fahrrad hatten! Oder von ihren Eltern mit so einem schicken, teuren Transportrad im Kindergarten abgeliefert wurden! Beinahe glaubte Matti, diese Versicherungen aus der Luft greifen zu können. "Cornelius hat recht. Radfahren kann man immer lernen. Und man muss lernen, wie man ein Rad in Ordnung hält." Nun hatte er Ruru abgelenkt. "Na, die Reifen können Luft verlieren. Oder die Kette springt ab. Fürs Bremsen muss man immer mal die Belege erneuern." Eine kleine Falte der Anstrengung zeichnete sich zwischen den dünnen Augenbrauen ab. "An der Schule, an der ich unterrichte, gibt es deshalb eine kleine Fahrradwerkstatt, damit man das alles lernen kann. Und die ganzen Verkehrsregeln. Wir machen auch Übungen mit einem Hindernisparcours...einer Strecke mit Schwierigkeiten." Ruru staunte ihn an. "Ich bin sicher, wenn du in die Schule kommst, lernst du das auch alles. Das ist dann rechtzeitig, weil man für ein Fahrrad auch Werkzeug benutzen muss. Die meisten Werkzeuge sind für größere Hände ausgelegt." Was Ruru sicher auch schon gemerkt haben konnte. Beispielsweise an der flusigen Erwachsenenzahnbürste, die sich in seinem Trolley gefunden hatte. Matti setzte langsam ihren Weg fort. Rurus Kontemplation hielt jedoch nicht lange an. Er sah sich immer konzentriert um, die Lippen lautlos bewegend. "Oh!" Aber das konnte Matti ihm nicht verdenken, denn wenige Meter weiter saß ein kleiner Löwe. Oder zumindest eine Katze mit langem, prächtigen Fell, beäugte sie scheinbar desinteressiert...und gähnte gelangweilt. "Wir sind wohl nicht sehr spannend." Kommentierte Matti, zwinkerte Ruru zu, beobachtete seinen kleinen Begleiter aus den Augenwinkeln. Tatsächlich. Das Kind schien sich Orientierungspunkte merken zu wollen, Stichworte zu murmeln. Dabei waren sie nicht auf einer Schnitzeljagd. Doch Cornelius HATTE erwähnt, dass er häufig mit Ruru draußen unterwegs war. Um Fluchtwege im Notfall einprägen zu können? Unwillkürlich atmete Matti konzentriert, um Verspannungen keinen Vorschub zu leisten. Sie waren schon eine Weile marschiert, da präsidierte erneut der Löwe! Es MUSSTE sich um dieselbe Katze handeln. Ruru warf ihm einen verblüfften Blick zu. Matti ging neben ihm in die Hocke, trotz Rucksack und angehängtem Trolley. "Sieh an! Entweder ist das die schnellste Katze der Welt oder sie hat einen Katzengeheimgang benutzt." Auch Ruru beäugte prüfend ihren Weg, die Umgebung. "Bei den Hecken?" Deutete er schließlich mit der freien Hand eine Art freie Unterbahn neben einem langen Zaun an. War man nicht zu groß, konnte man unter dem Laub entlang des verholzten Teil der Bepflanzung flugs vom Parkhaus hierher gelangen, um die zweibeinigen Langweiler ein wenig zu beeindrucken! "Wir sollten das besser nicht verraten, hm?" Richtete Matti sich auf, lächelte verschwörerisch zu Ruru hinunter. Der grinste zu ihm hoch. Ein echter Katzengeheimgang! ~¢~ Cornelius war dankbar für die Nachsicht, die Frau Kappel bewies, am frühen Morgen vom energischen Telefonklingeln aus dem Bett geholt und befragt zu werden, ob ihr juveniler Gast den kleinen Halbbruder unbemerkt entführt haben könnte. Was zu harscher Replik einlud. Wie man sich das vorzustellen habe? Ob es dem Jugendlichen bei eingestelltem Busverkehr gelungen war, in Weltrekordzeit nach dem Abendessen die Stadt zu durchqueren, unbemerkt in die Wohnung einzudringen, deren Schlüssel man ihm alle abgenommen habe, lautlos den Kleinen in einen dunklen Park verschleppt und dort zurückgelassen zu haben?! Und dann, womöglich mit einem fliegenden Teppich, rechtzeitig zum Anruf des Lehrers aus dem Gästezimmer geholt werden zu können?! Möglicherweise wäre es angezeigter, mal den Geisteszustand des "Familienoberhauptes" zu untersuchen! "Unglaublich!" Cornelius entschuldigte sich erneut. Wahrscheinlich war er mit Abstand der schlimmste Gast von allen. "Warum ist dieser Mann nur derart unversöhnlich?!" Keine rein rhetorische Frage. "Ich passe nicht in die Familie." "Auf einmal?" Cornelius lächelte bitter. "Nun ja,vorher...normalerweise bin ich den ganzen Tag in der Schule. Dann draußen. Oder nur in unserem Zimmer. Bemühe mich, meine Existenz so selten wie möglich bemerkbar zu machen. Nur ist das gerade sehr schwierig." Frau Kappel studierte ihn in bekümmerter Rage. "Und dann wird Ruru so langsam interessant." Cornelius presste die Hände auf seine Oberschenkel, saß sehr aufrecht. "Ein Säugling hat ja keinen großen Unterhaltungswert. Aber nun gibt es mehr Möglichkeiten, sich mit dem eigenen Sohn zu befassen." Er seufzte. "Vielleicht ist es auch meine Schuld. Ich bin die wichtigste Bezugsperson meines kleinen Bruders, nicht unsere Mutter. Oder sein Vater." "Tatsächlich? Mit welchen verwerflichen Methoden hast du das angestellt?" Frau Kappel schnaubte, was Cornelius ein trauriges Lächeln entlockte. "Ich war einfach glücklich, dass er sich gefreut hat, wenn ich nach Hause kam. Weil das sonst nicht der Fall war." Er ballte unter dem Tisch die Fäuste. "Wenn da jemand ist, der einen braucht, der wartet, gibt es eine Aufgabe. Man HAT eine Bedeutung. Für Ruru bin ich wichtig. Nicht bloß ein 'Schmutzfleck'." ~¢~ Matti vermutete Cornelius schon in Habacht-Stellung, deshalb gab er beim Einbiegen in die verkehrsberuhigte Stichstraße das kleine Händchen frei. "Nelli! Nelli!" Ruru stürmte los, wäre beinahe mit den zu kleinen Plastikgaloschen gestürzt, doch Cornelius kam ihm ebenso schwungvoll entgegen, fing den kleinen Bruder ab, hob ihn auf die Arme. Wer da wen stärker umklammerte, ließ sich nicht ausmachen. Ruru schluchzte vor Erleichterung, konnte die Anspannung endlich lösen. Matti bemerkte einen Jugendlichen in einem schmalen, sportlichen Rollstuhl, der die Szene mit breitem Grinsen goutierte. Vermutlich hatte er Cornelius Gesellschaft geleistet. Zu dem Bruderpaar aufschließend machte Matti sich bemerkbar. "Guten Morgen, Cornelius." Die ungewöhnlich kolorierten Augen richteten sich auf ihn. "Herr Fermont, vielen Dank! Oh, das ist Rurus Trolley, oder?" Anstalten, ihn von dem mitgenommenen Gepäck zu befreien, winkte Matti gelassen ab. "Stört mich nicht. Ob Frau Kappel wohl ein Eckchen frei hat? Scheint sich zu ziehen mit den behördlichen Absprachen." Cornelius gab sich geschlagen. "Danke schön. Ah, Entschuldigung, Herr Fermont, das ist Adam aus dem Nachbarhaus. Adam, Herr Fermont vom altsprachlichen Gymnasium." Ruru konnte er im Augenblick nicht bekanntmachen, weil der sich an seiner Halsbeuge vergraben hatte. "Freut mich, guten Morgen! Bevor wir aber Ärger kriegen, so als Mini-Versammlung, troll ich mich rein. Kommt doch später vorbei, ja? Ich hab im Garten Platz und liebe Gesellschaft!" Er grinste schelmisch zu Matti hinüber, der schmunzelte. Das ließ sich doch gut an für die unerfreuliche Wartezeit, die er befürchtete. Aus dem Obergeschoss seilte sich derweil das Körbchen mit dem Haustürschlüssel ab. "Guten Morgen, Frau Kappel!" Winkte Matti hoch. "Guten Morgen! Kommen Sie doch rauf, da spricht es sich bequemer." Veranlasste nicht die Nachbarschaft, mit gespitzten Ohren auf der Lauer zu liegen. ~¢~ Frau Kappel gab "Apfelspritz" aus, hatte keine Einwände, Ruru und das Gepäck zu beherbergen. Ohnehin schien es ihr, als könne man das kleine Kerlchen nicht von seinem Bruder separieren. Wenigstens hatte sie nun mal ein erschöpftes Gesichtchen ausgemacht. Sie teilte die Auffassung des rührigen Lehrers, dass Absprachen mehrerer Behörden unterschiedlicher Gebietskörperschaften Zeit brauchten. Ihr war es gar nicht eilig, Cornelius oder Sigur ("liebe Güte, was dachten sich die Eltern bloß?!") loszuwerden. Es erleichterte sie, dass dieser "Fall" der mit Abstand unerfreulichste in der beklemmenden Lage der Pandemie war. Einschränkungen, Sorgen, Zukunftsängste, durchaus, aber keine weiteren Elternteile, die einen Sohn einfach rauswarfen! Mit Hasenpower-Gruß und der Zusage, telefonisch in Verbindung zu bleiben, brach der Lehrer auf. Frau Kappel schüttelte Studentenfutter in drei kleine Porzellanschälchen mit chinesischem Dekor. "Ich kann besser denken, wenn ich was kaue." Offenbarte sie ungeniert. "Sag mal, Ruru, hattest du denn keine Angst im Dunkeln?" Der kleine Bruder, auf dem Schoß residierend, ein abgegriffenes Tuch mit einem Stofftierhasenkopf umklammernd, schüttelte entschieden den Kopf. "Ich hab das Handy benutzt. Mit der Lampe. Da sind Trampelpfade, wo man sich verstecken kann." Eine kleine Falte prägte sich zwischen die dünnen Augenbrauen. "Aber dann wurde es müde! Ich konnte es nicht füttern. Deshalb habe ich Matti und Angel angerufen. Weil sie wissen, wo Nelli ist." Unwillkürlich rückten die beiden ungleichen Brüder enger aneinander. "Ah, ich habe nicht daran gedacht, dass die Taschenlampenfunktion den Akku so schnell leert!" Seufzte Cornelius, sich selbst tadelnd. "Oje. Da hast du im Dunkeln gesessen?" Frau Kappel gruselte es schon ein wenig. "Ich war versteckt und das Handy eingeschlafen. Aber dann kam ein blaues Leuchten. Vorher hat es das nicht gekonnt. Das war schön." Nickte der Vierjährige tapfer. "Blaues Leuchten?" Cornelius studierte ratlos sein betagtes, aufgeladenes Smartphone. Barg es denn irgendwelche Geheimnisse, die sich ihm nicht offenbart hatten? Frau Kappel nickte Ruru aufmunternd zu, der eine Rosine kaute, nicht mehr so scheu wirkte. "Das war aber sehr mutig. Ich hätte mich das nicht getraut, im Busch zu sitzen, im Dunkeln, mit lauter Krabbeltierchen!" Sie schüttelte sich demonstrativ. Cornelius schmunzelte. Ruru stellte das Kauen ein, studierte sie ratlos. "Ist das wirklich hier, wo man hinkommt, wenn man schmutzig und ungezogen ist?" ~¢~ Kapitel 5 - Eskalation Nachdem Frau Kappel die Bilder der vielen Gäste erläutert und Ruru das Zimmer gesehen hatte, wirkte er beruhigter. Cornelius ersparte sich die Vorstellung, was Ruru erzählt worden war. Trotzdem hatte der heimlich gepackt, sich raus geschlichen, allein auf den Weg in den Park gemacht, wo man nicht so leicht gefunden werden konnte. Allen fürchterlichen Schilderungen tollkühn die Stirn bietend, lieber bei ihm sein zu wollen. Das schnürte ihm die Kehle zu. Ruru war mutig und loyal wie kein Zweiter! Natürlich durfte er sich nichts vormachen. Selbst noch ein Kind verfügte er über keinerlei Handhabe, sich und Ruru irgendwie durchzubringen. Wahrscheinlich würden sie doch entscheiden, Ruru zurückzubringen. Ob man als Halbbruder auch ein "Umgangsrecht" bekommen konnte? Frau Kappel riss ihn aus den finsteren Gedanken. "Wollt ihr runter zu Adam in den Garten? Das Wetter ist ja schön, die Luft geht. Ich sage Bescheid, wenn sich jemand meldet." Cornelius nickte, nahm Ruru an die Hand. "Danke schön. Ich möchte Ruru auch gern vorstellen." Nachdem Adam so viel Interesse an ihrem Wohlergehen gezeigt hatte! ~¢~ Adam flitzte zur Wohnungstür, ließ seine erhofften Gäste ein. Gewohnt launig stellte er "Eve" vor, lud Ruru zu einer Spritztour ein! Nervös ließ sich der kleine Bursche auf seinem Schoß absetzen. "Okay. Festhalten! Hoffentlich hast du Astronauten-Gene. Raketenstart!" Damit setzte er die Räder schwungvoll in Bewegung, die Entsprechung eines Kavalierstarts. Sein Sozius gab keinen Muckser von sich, klammerte die Finger in die Gurte. Sie ähnelten den Varianten fürs Auto, waren jedoch eine Erfindung seines Kumpels. Warum Gewichte stemmen, wenn man das auch mit dem eigenen Feuerstuhl konnte? An den man sich festschnallte! Mit einer harten Kehre bremste er zielgenau vor dem Spielturm-/Bastelprojekt. Damit konnte man noch jedes Eis brechen! "Das ist ein Kugelautomat. Willst du mal ausprobieren?" Cornelius half aus, denn so ganz traute ihm der Kleine noch nicht. Doch dann gewann natürlich die Konstruktion! Jeder Umlauf war anders, es gab Geräusche, Spezialeffekte... Adam grinste über das verblüffte Strahlen auf dem bleichen Gesicht. Nein, auf der Straße hätte er diese beiden nie für Brüder gehalten, schon wahr. Aber sie schienen sich wirklich blendend zu verstehen. Das gefiel ihm. So konnten sie bestimmt auch bis zum Mittagessen im Garten Spaß haben! ~¢~ Cornelius saß neben dem Bett, streichelte Ruru behutsam den Rücken, bis der fest schlief. Kein Wunder, eine viel zu kurze Nacht, die ganze Aufregung, neue Menschen... Da Frau Kappel auch eine Siesta einlegte, hatte er Ruru überzeugen können, auch ein wenig zu schlafen. Er würde bei ihm sitzen, danach in den Garten zu Adam gehen. Aus dem Fenster könne er sie sehen, zu ihnen kommen, wenn er nicht mehr müde sei. Adam hatte angeboten, SEINEN Lernstoff mit ihm durchzugehen, als kleine Übung. Für Ruru würde er einfach "Baumaterial" nach draußen bugsieren! Da könnten sie gemeinsam Türme oder andere Dinge errichten. Solche Gelegenheiten gab es nicht häufig. Spielplätze waren geschlossen, der Kindergarten ebenso, und zu Hause... Lautlos verließ Cornelius die Wohnung, sein Mobiltelefon einsteckend. Noch immer keine Meldung über irgendeine Absprache. Was positiv war, denn das verlängerte die gemeinsame Zeit mit Ruru! Er klingelte, Adam ließ ihn fröhlich herein. "Ist k.o. gegangen, der Kleine, oder? Verständlich, wäre ich auch." Eve schnurrte lautlos durch die Wohnung in den Garten. "Danke, dass du uns eingeladen hast. Wir haben keinen Zugang zu einem Garten. In den Parks und Grünanlagen muss man immer in Bewegung sein." Schließlich waren Spazier-Gänge erlaubt, nicht aber das Herumlungern oder -lagern mit mehr als drei Personen! "Gern, immer doch! Sonst habe ich ja nur mich zur Unterhaltung, und das ist soooo öde!" Cornelius lachte, wie von Adam provoziert. Gemeinsam arbeiteten sie sich durch einzelne Aufgabenstellungen, die per E-Mail eingetroffen waren. "Vermisst du deine Schule eigentlich auch?" Adam seufzte. "So seltsam das klingt." In Anbetracht der Beschreibung konnte Cornelius diese Emotion nachvollziehen. "Mit Schule ist es bequemer. Ein Dach, wenn es regnet, Toiletten, Mittagessen." Cornelius grimassierte auf Adams zweifelnden Blick. "Natürlich habe ich jetzt viel mehr Zeit mit Ruru. Aber wenn wir zu Hause sind, nun ja. Deshalb waren wir ständig unterwegs, was sehr viel weniger bequem ist, wenn man nicht auf den Spielplatz gehen kann. Oder mal muss, aber alles abgeschlossen ist." Er legte die Hände fest auf die Oberschenkel. "Wenn man Mittags zu Hause essen muss, kostet das Geld. Davon haben wir ohnehin nicht viel. Nun wird jeder Kassenzettel kontrolliert." Durchatmen, nicht die Nerven verlieren. "Normalerweise, wenn ich einkaufe, habe ich einen gewissen Spielraum. Dann kann ich kleine Enden zusammenkratzen, weißt du? Ruru bräuchte dringend passende Schuhe. Im Discounter kann ich das irgendwie herausholen. Natürlich muss man einen längeren Fußmarsch absolvieren, quasi bei Öffnung vor der Tür stehen. Ich habe das immer hinbekommen. Kinderschuhe gibt es bei den Flohmärkten nämlich nur selten. Bloß, jetzt?" Cornelius presste die Lippen aufeinander. "In der Schule erfährt man von nützlichen Gelegenheiten. Andere haben auch kleinere Geschwister. Man kann zuhören, sich ein bisschen austauschen. Es fühlt sich nicht ganz so wie ein Kampf gegen den Rest der Welt an." ~¢~ Ruru hielt das Hasentuch fest, setzte sich auf. Er erkannte das Zimmer, bei der netten Frau Kappel, die so viel Besuch von überall her hatte! Die ihm sogar für die Toilette einen kleinen Schemel hingestellt hatte. Den konnte man auch zum Waschbecken tragen, so leicht war der! Nelli war nicht da, was ihn einen langen Augenblick in Angst versetzte. Aber über seinem Rücken lag eins von Nellis Sweatshirts. Das fühlte sich ein wenig wie eine Umarmung an. Ruru kletterte aus dem Bett, stieg auf den Hocker, den Nelli ans Fenster gestellt hatte. So konnte er unten im Nachbargarten sehen, wie Adam und Nelli die Köpfe zusammensteckten. Papier und Stifte: das mussten Hausaufgaben sein. Rasch stieg er vom Hocker, nahm sein Hasentuch fest in die Hand, öffnete die Tür. Wenn er sich streckte, würde er auch die Wohnungstür erreichen. Mit dem Plastikgaloschen, die drückten, stapfte er eilig die Stufen hinunter. Nun nur raus, rasch nach drüben, die Klingel drücken! Doch dazu kam er gar nicht. Weil der Vater auf der Straße stand! Ihm den Weg abschnitt. Ruru schrie schrill und rannte los, so schnell er konnte. ~¢~ Adam und Cornelius zuckten unisono zusammen. Im Nachbargarten begann der Hund zu kläffen. "Ruru?!" Cornelius blickte zum Fenster hoch, doch es zeigte sich kein Gesicht. Eilig rannte er durch die Wohnung, riss die Tür auf. "Denkst du, er ist weggelaufen? Warum?" Adam bremste neben ihm. Cornelius hörte in der Ferne einen barschen, etwas atemlosen Befehl. Ohne Nachzudenken rannte er los, den Stimmen zu folgen. ~¢~ Katzengeheimgang. Die blöden Schuhe. Sich gut verstecken. Doch Büsche waren nicht sicher, die gingen kaputt. Aber es gab einen Ort... ~¢~ Nein, die Besatzung der beiden Streifenwagen war ganz und gar nicht glücklich. Zumindest schien es sich beim Einbruchsalarm in das Blockheizkraftwerk um einen Fehler zu handeln. Niemand stahl aktuell eines der Autos oder versuchte, das Depot der Leihfahrzeuge aufzubrechen, obwohl dieser Alarm noch tobte, von der Kakophonie diverser Autos im Parkhaus ganz zu schweigen. Dann gab es noch die Durchsage, dass ein Mann den Linienbus zur Vollbremsung gezwungen hatte, einfach die Straße ankündigungslos gekreuzt. Jetzt mussten sie Platzverweise erteilen, weil Anwohnende ihre Gefährte in Gefahr glaubten. Weil ein Jugendlicher im Rollstuhl einen Mann mit Pfefferspray außer Gefecht gesetzt hatte, der wiederum einen anderen Jugendlichen zu verprügeln beabsichtigte. Dessen Intention darin bestand, ein kleines Kind unter einem SUV hervorzulocken, wie auch immer es darunter gekrochen war. Zudem passte die Beschreibung des Verkehrsrowdys zum Pfefferspray-Opfer. Der, nach Platzverweis, sich als treuer "Klient" seit zwei Tagen erwies, was Anzeigen betraf, sich als Hinderungsgrund präsentierte, das Kind unter dem verdammten Auto hervorzuholen. Dienstliche Neutralität hin oder her: das ging hier zu wie im Irrenhaus! ~¢~ Cornelius lag flach hinter dem teuren Vehikel, das immer noch lärmte, als stünde ein Raketenangriff bevor, streckte den Arm, so weit es ihm möglich war, unter das Auto. "Ruru, ganz vorsichtig, ja?" Er konnte nur hoffen, dass Ruru sich nicht irgendwo verkeilt hatte. Endlich, vor Anspannung schweißgebadet, gelang es ihm, langsam und umsichtig seinen Bruder herauszuziehen. Kein Anblick für die Götter, im Gegenteil: Rurus Gesicht war blutverschmiert, er schluchzte aus tiefster Seele. "Keine Angst, ist nicht so schlimm, Ruru. Ich bin da, das haben wir gleich!" Verkündete Cornelius heiser, obwohl er einen harten Knoten im Magen spürte. Aber jetzt die Nerven zu verlieren, das würde Ruru nicht helfen! "Brauchen wir einen Krankenwagen?" Nicht mal die Polizistin, die neben ihm gekniet hatte, wirkte noch gelassen. "Lass mich mal sehen." ~¢~ Matti schlich sich geschmeidig an den Autos vorbei, die Diskussionen vermeidend. Man befand sich schon in Androhung, den neuen "Gaffer- und Störer-Paragraph" anwenden zu wollen. Er ging neben Cornelius in die Hocke, nahm seinen Rucksack herunter, die Wasserflasche heraus, feuchtete ein Stofftaschentuch an, tupfte sanft über Rurus Gesicht. "Ruru, hast du noch ein bisschen Hasenpower, hm? Gleich ist es vorbei, ja? Nur noch ein bisschen tapfer sein." Aufgeschürfte Stirn, Nase, Kinn, Handflächen, verschmutzte Knie, bloße Füße. Unglaublich, dass der Kleine sich unter das Auto hatte quetschen können. Kein geländegängiges Gefährt, eher ein Möchtegern-Vehikel. "So, fertig. Frau Kappel hat bestimmt Verbandszeug." "Und Sie sind wer?" Matti richtete sich auf, zog seinen Personalausweis hervor. "Vielleicht kann ich zur Aufklärung beitragen. Eigentlich sollte auch eine Mitarbeiterin vom Jugendamt auf dem Weg sein." ~¢~ Man entschied, erst mal diese "Versammlung" aufzulösen. Kein Auto schwebte in akuter Gefahr, entführt oder beschädigt zu werden. Alle hatten sich hinweg zu verfügen, die keine Anzeige kassieren wollten. Anschließend gab es eine klare Ansage: der Verkehrsrowdy/Angreifer/Pfefferspray-Adressat wurde in einen Streifenwagen gesetzt. Protokollaufnahme, aber nicht hier! Die zweite Streife geleitete Matti, Cornelius und Ruru zu Frau Kappel. Dank Adam war sie schon im Bild, versorgte Ruru mit sterilen Kompressenabschnitten, bevor das arme Kind mit seinem Bruder im Bad verschwand, um geduscht und umgezogen zu werden. Unterdessen klingelte auch völlig abgekämpft eine junge Frau mit schwerer Umhängetasche. Die Dame vom Jugendamt. Sie hatte vergeblich auf den Linienbus gewartet, war dann losmarschiert. Die aktuelle Situation plus Streifenwagenbesatzung, ein verletztes Kind und eine Verfolgungsjagd durch die Nachbarschaft... Darauf hatten sie ihr Studium und das halbe Jahr Berufserfahrung nicht vorbereitet! ~¢~ "Lassen Sie die beiden hier schlafen, bei mir ist doch Platz genug. Ich kann auch nicht erkennen, wie etwas Gutes daraus erwachsen soll, die Kinder zu trennen." Frau Kappel bezog Partei, entschieden und energisch. Die Besatzung der Streife hatte schon vorher die Segel gestrichen. In der Zentrale reichte es nämlich auch so langsam. Erstaunlicherweise hatte eine Verkehrskamera die Vollbremsung samt Verursacher aufgezeichnet, wohingegen sich die Auslöser der Fehlalarme nicht mehr feststellen ließen. Es gab mehrere Zeugen, die bekundeten, ein Mann habe einen dunkelhäutigen Jugendlichen verprügeln wollen, dann noch einen Rollstuhlfahrer! Was in den sozialen Medien für Unruhe sorgte, auch noch eine Stellungnahme erforderte! Weshalb man final der Meinung war, dass die beteiligten Fürsorgebehörden sich doch BITTE einigen sollten. Diese unselige Episode hielt sie nämlich schon zu lange in Atem, wo man wirklich genug zu tun hatte. Matti votierte ebenfalls dafür, diesen Tag abzuhaken. Die Situation war schwierig, eine Entscheidung sollte nicht übers Knie gebrochen werden. Cornelius saß im Gästezimmer, wiegte Ruru unermüdlich. Seinen kleinen Bruder so verletzt zu sehen hatte ihm einen Schock versetzt, der nun seine Wirkung zeigte: ER trug die Verantwortung. Seinetwegen hatte sich Ruru unter ein Auto gequetscht, war nun verpflastert und verängstigt. "Es tut mir so leid, Ruru." Ruru sagte gar nichts mehr, hing nur an seinem Hals, vermutlich auch wegen der Sache im Bad. Weil er selbst durch das Herumkriechen im Parkhaus ebenfalls die Kleider wechseln musste, so die farbenprächtigen Folgen des letzten Zusammenstoßes mit dem Mann ihrer Mutter nicht verbergen konnte. Im Krankenhaus hatte die elastische Bandage einiges verdeckt, von langen Ärmeln und Hosen gar nicht zu sprechen. Nun, mit Klebestreifen, Sport-Tapes, versorgt wegen der abklingenden Prellungen, schimmerte er wie ein Kaleidoskop. Nur nicht zum Ergötzen des Publikums. Den entsetzten Blick in Rurus Augen konnte Cornelius nicht aus den Gedanken streichen. Ob sein Bruder sich die Schuld dafür gab? Das wollte er ganz und gar nicht, denn ER trug die größere Verantwortung. "Das wird wieder, Ruru, bestimmt." Wisperte er heiser, streichelte über den kleinen, angespannten Körper in seinen Armen. Allerdings WIE: da gingen ihm im Moment die Ideen aus. ~¢~ Frau Yilderim kämpfte gegen die Verspannung in ihren Schultern an, balancierte grimmig ihre Umhängetasche auf dem Schoß aus. Ein leichter Fahrtwind wehte durch sämtliche heruntergelassenen Scheiben in den Kleinwagen. Ja, vermutlich hätte sie die Offerte des Lehrers nicht annehmen sollen, um jeden Anschein einer Voreingenommenheit zu vermeiden. Aber, sie zupfte einen Gummizug der Stoffmaske hinter ihrem Ohr zurecht, es stand ihr Oberkante Unterlippe! Es hieß, lediglich ein Einführungsgespräch zu führen: pubertierender Jugendlicher, neuer Mann der Mutter, kleiner Bruder, unerklärliche Attacke auf den Ehemann... In der aktuellen Ausnahmesituation nicht so ungewöhnlich. Die Details hatte sie sich in der Akte im Bus anschauen wollen, doch der Bus kam wegen "eines Polizeieinsatzes" nicht! Hin und wieder fielen mal einzelne Züge aus, wegen einer "notärztlichen Behandlung", ja, aber so was?! Was sie nicht nur um die notwendige Lektüre brachte, sondern auch neben einem Fußmarsch im Eiltempo zu einer gehörigen Verspätung. Frau Yilderim empfand Verspätungen als grobe Unhöflichkeit, ganz gleich, was man ihrer Generation an laxer Einstellung diesbezüglich nachsagte! Anschließend gestaltete sich der Nachmittag noch schlimmer. Eine Polizeistreife, die von ihr eine Entscheidung forderte! Weil man THEORETISCH den verletzten, verstummten und verstörten Vierjährigen bei den Erziehungsberechtigten abzuliefern hätte. Andererseits, da wollte man lieber keine Fälle der Vergangenheit zitieren, gab es doch erhebliche Zweifel, ob DIE Situation Buchstabentreue verlangte! Frau Yilderim fühlte sich durchaus bedrängt. Es gab keine Allein-Entscheidungen in solchen Konstellationen. Man führte Gespräche mit der gesetzlichen Vertretung, den Behörden, der Schule, Jugendeinrichtungen, dem Team, holte therapeutische und psychologische Gutachten ein. Sie wusste doch gar nichts über den kleinen Halbbruder! Was sie sehen konnte, waren zwei Kinder, die einander umklammerten und Verletzungen offenbarten. Wie sollte sie ohne genaue Aufklärung, Gespräche auf neutralem Boden, herausfinden, was ihr jetzt da in Steno um die Ohren sauste?! Dass der Kleine in der letzten Nacht mit Sack und Pack aus der Wohnung verschwunden war, in einem dunklen Park den "nur aktuell zuständigen" Lehrer angerufen und bei ihm übernachtet hatte, zum Bruder wollte, woraufhin offenbar der Vater erschienen war, weshalb der Kleine sich unter ein Auto quetschte. Frau Kappel, die insistierte, dass man den Kleinen wohl kaum allein ins Krankenhaus zur Beobachtung verfrachten konnte. Schließlich hatte sie allein entschieden. In der Not, ohne Antwort auf ihre Anrufe, ohne Jugendgericht oder Vormundschaft (die bei dem Kleinen ja auch gar nicht in Frage kam. Bisher.): eine Nacht weiter beim Bruder, hier, unter Aufsicht, mit bekannter Adresse, das schien akzeptabel. Es fühlte sich nun, im Kleinwagen, zwar richtig an, aber entsprechend aller Vorgaben... Sie WUSSTE einfach viel zu wenig über die gesamte Situation, die Vorgeschichte, die Umgebung, das Lebensumfeld! Dem kleinen Jungen war kein Muckser mehr zu entlocken. Unwillkürlich entschlüpfte ihr ein Seufzer. "Ja, das geht mir genauso." Der Lehrer, Herr Fermont, nickte, weil er ebenfalls eine Maske trug, mimisch eingeschränkt war. "Alles sehr vertrackt." Frau Yilderim schüttelte ihre verspannten Schultern energisch aus. "Ich versuche, so rasch wie möglich Termine mit dem Kinderpsychologischen Dienst zu vereinbaren. Wir geben wirklich unser Bestes." Die Stahlaugen des Lehrers zwinkerten an einer roten Ampel. "Mehr ist manchmal auch einfach nicht drin." ~¢~ Frau Kappel servierte Griesbrei mit Bananenmatsch und eingelegten Erdbeeren. Die Wohnung schien größer, nun, da vier Erwachsene sich verabschiedet hatten. Cornelius löffelte Brei, fütterte Ruru damit. Selbstverständlich konnte Ruru allein und manierlich essen, doch im Moment schien das die einzige Methode, ihm überhaupt etwas Gutes zu tun. Er erhob auch keinen Einspruch, als Frau Kappel gesüßten Baldriantee offerierte: Ruru brauchte dringend Erholung, Schlaf, eine Auszeit. Bald schon hing er ihm wie ein nasser, kleiner Sack um den Hals, dösend, aber noch nicht schläfrig genug, ihn ins Bett zu bringen und damit, sich von ihm zu lösen, weshalb er sanft immer wieder über Nacken und Rücken streichelte, ihn auf dem Schoß wiegte. "Wieso unter ein Auto?" Frau Kappel sprach leise, nippte an ihrem Tee. Cornelius seufzte, richtete sich dann auf. Diese Verantwortung konnte er nicht von sich schieben. "Das ist meine Schuld." Bekannte er heiser. "Normalerweise schlafen wir in einem Etagenbett. Es ist schwer, in einer Ecke durch eine Kommode eingekeilt und an der Wand gegen Umstürzen befestigt." Man konnte es nicht einfach verschieben. Darunter, wenn man sich schmal an die Wand presste, nicht hervorgezogen werden. Cornelius kraulte Rurus zarten Nacken mit den überlangen Strähnen. "Wir haben zufällig mal gesehen, wie eine Katze es sich auf einer Motorhaube bequem machen wollte. Ein warmes, sonniges Plätzchen. Die Alarmanlage ging los, Riesenspektakel, Leute rannten herbei und die arme Katze hat sich unter einem anderen Auto verkrochen." Er räusperte sich beschämt. "Damals habe ich, nun, ich sagte zu Ruru, dass ein teures Auto die größte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wenn man in der Klemme steckt, geht das schneller als mit der alten Notrufsäule an der Taxi-Station." Frau Kappel tippte ungemütliche Augenblicke lang mit den Fingerkuppen auf die Tischplatte, warf ihm einen prüfenden Blick zu. "Was ich mich frage, Cornelius: hat der kleine Mann eine ungeheuer fixe Auffassungsgabe oder schlichtweg Übung?" ~¢~ Silvain hielt Linus' Hand, zupfte mit der anderen nervös an seiner Maske herum. Da sie sich im Freien befanden, musste er sie nicht über Mund und Nase streifen, war jedoch wie ein Pfadfinder allzeit bereit. Herr Fermont hatte eine Stippvisite auf dem Heimweg angekündigt, um zu sehen und zu hören, wie es ihnen so ging. Linus lächelte ihn an. Nicht die Wikinger-Ragnarök-Walhalla-Variante. Herr Fermont marschierte geschmeidig heran, winkte. Linus federte elastisch hoch, zog Silvain mit, der ein wenig linkisch sein Glieder zu sortieren suchte. "Guten Abend, ihr beiden! Wie geht es euch?" Linus übernahm die erste Antwort. "Guten Abend, Herr Fermont. Wir kommen gut zurecht, haben alle Aufgaben erhalten und erledigt." Der Lehrer, artig Abstand haltend, nickte. "Das habe ich auch mitbekommen. Ich wollte sehen, wie ihr in eurem Hausstand zurechtkommt. Das ist ja nicht so einfach, oder?" Bevor Linus die Stacheln aufstellen konnte, weil es um SEINEN, PREKÄREN Haushalt ging, legte Silvain los. "Es stimmt, dass ICH mich aufgedrängt habe, richtig! Aber wir haben vorher schon mal Wochenenden zusammen verbracht. Ich profitiere sehr von Linus' Erfahrung und seiner Gastfreundschaft! Wir passen wirklich gut auf, dass wir Abstand halten und die Masken waschen!" Plädierte er nervös, bugsierte seine vagabundierende Brille zurück auf den Nasenrücken. Herr Fermont grinste unverhohlen. "Das hört sich gut an. Was meinen deine Eltern?" Immerhin waren sie beide noch minderjährig und Linus krauchte am Existenzminimum herum! Unwillkürlich verstärkte sich der kraftvolle Händedruck, doch Silvain morste entschlossen zurück. "Nun, zugegeben, sie sind ein wenig verschnupft. Oh, missverständlich, ich meine konsterniert!" Silvain lächelte entschuldigend, bevor er sich ins Zeug legte. "Aber, Herr Fermont, dazu besteht kein Anlass! Wir erledigen zusammen unsere Schulaufgaben, wie alle anderen auch. Danach können wir uns nützlich machen, hier, in der Nachbarschaft! Linus ist mit vielen der älteren Menschen bekannt, sodass die Hemmschwelle nicht so hoch ist: einkaufen, kleine Transporte, nachsehen, wie es geht, Batterien besorgen. Wir waren auch im Tierheim! Nächste Woche springen wir bei Lieferungen der örtlichen Tafel ein. So haben wir Bewegung und wir können schauen, wie es den Leuten geht, denen vielleicht die Decke auf den Kopf fällt." Erneut musste er die Brille zurückexpedieren. "Linus hat eine prima Idee gehabt! Weil sich viele Leute im Moment fürs Spazierengehen Hunde ausleihen, sollen sie etwas spenden! Ein bisschen Geld oder eine Dose Futter oder Streu! Gerade, was man erübrigen kann, als Geste der Solidarität." Linus grummelte ergänzend, damit man keinesfalls den Eindruck bekam, er sei ein fürsorglicher, zugänglicher Mensch. "Für den Psychiater oder das Fitnessstudio zahlen die ja auch was." Wenn man dann noch bedachte, was am anderen Ende der Leine zockelte! Der Lehrer lachte amüsiert. "Scheint mir ein sehr guter Vorschlag zu sein! Ich bin froh zu sehen, dass ihr beiden euch gut versteht. Schön, meldet euch bitte, wenn was sein sollte, wie gehabt. Dann noch einen schönen Abend, ihr beiden!" Sie erwiderten den Gruß. Silvain wedelte eifrig zum Abschied mit dem dünnen Arm. Linus beugte sich ein wenig tiefer, küsste ihn auf die Wange. "Kommt's nur mir so vor, oder war der Mann hier, damit WIR IHN aufheitern?" ~¢~ "Das ist alles ganz fürchterlich!" Stellte Angel fest, warf einen letzten Blick auf seinen Arbeitsplatz, zwei Tastaturen, Mäuse, mehrere Bildschirme. Im Moment schien das Herz der Universität brav zu schlagen, nicht überlastet zu werden. Keine Klimaanlage schwächelte. "Ja." Pflichtete Matti ihm bei, zog ihn ungeniert in eine Umarmung. "Wenn BlueMax mir nicht alles erzählt hätte..." Begann Angel, wurde durch einen intensiven Kuss unterbrochen. Sie mussten nicht, wie andere Behörden, darüber spekulieren, was diverse Alarmsignale ausgelöst hatte. Noch BEVOR die Verfolgungsjagd das Parkhaus erreichte. "Es fehlt am Kreisel eine Sensoreinheit." Machte BlueMax sich ungebeten bemerkbar. "Ich hätte den Bus warnen können, bei einer gewissen Unschärfe." Wenn man das Mobiltelefon per Funkzellen orten, die Straßenkarten lesen UND mit gewissen menschlichen Vorgehensweisen vertraut war. Aber es gab keine Möglichkeit, einen unerwartet kreuzenden Spurter über die Fahrbahn anzukündigen, die Geschwindigkeit des Fahrzeug in Antizipation der Ereignisse zu reduzieren ohne die hin und wieder erheblichen Nebenwirkungen einer Vollbremsung ohne Anschnallgurte. Oder die psychologischen Auswirkungen auf die Reisenden samt Personal. "Hast du das Gelände weiter im Auge?" Matti erlaubte sich keine Illusionen. BlueMax war neugierig, an SEINEN Menschen interessiert. So konnte man zumindest hoffen, dass ein weiterer Anlauf, Ruru einzukassieren, nicht unbemerkt ablaufen würde! "Ausreichend. Interessante Konzepte, diese vernetzten Geräte drumherum..." Bevor explizit all die "interessanten" Einstiegsmöglichkeiten für eine aufgeschlossene KI im Detail auf sie einprasseln konnten, wehrte sich Angel. "Prima, BlueMax, aber jetzt muss ich heim. Mein Akku läuft auf der letzten Zelle, quasi." "Dann tüdelü, ihr beiden! Ich halte die Stellung und verhindere potentielle Weltuntergänge." Angel tauschte mit Matti einen grimmig-erschöpften Blick. Man hätte es für einen launigen Scherz halten können. Bloß wussten sie es sehr viel besser! ~¢~ "Mhhhmmmm!" Matti lächelte über Angels verzücktes Strahlen. Als kleinen Luxus und zur Unterstützung der örtlichen Spargel- und Erdbeerbauern hatte er eine Schale auf dem Heimweg erworben. Statt Zucker nutzte er jedoch eine winzige Brise, quasi ein Püdchen Salz. Das, fand Matti, brachte die "grüne" Süße der Sammelnussfrüchte viel besser zur Geltung. Angel lutschte seine Erdbeere gründlich, präsentierte sich nicht mehr ganz so elend. Zu viel Arbeit, zu lange weg vom Tageslicht, zu viel staubtrockener Monitorblick, das zehrte an seiner Substanz. "Warum wirkst du trotz allem so zufrieden?" Erkundigte sich Angel nun, ohne eine Note des Misstrauens in der Stimme. Immerhin hatte ihr armer, kleiner Übernachtungsgast einen sehr hässlichen Tag gehabt! Matti schmunzelte, pflückte Angels freie Hand, hauchte einen Kuss in den Handteller. "Na ja, ich habe zwei andere Schützlinge besucht, die seit einigen Tagen einen gemeinsamen Haushalt improvisieren. Es war schön zu sehen, wie sie sich um den anderen bemühen, wie aufmerksam sie füreinander waren." Angel lupfte eine Augenbraue. "Ach du Schande, wirst du auf deine alten Tage zum Romantiker?" Immerhin hatte DIESER Matti ihm vor Jahren erklärt, dass er nicht an Liebe und all die anderen Dinge glaubte! Er erntete ein amüsiertes Grinsen. "Das wohl weniger, aber ich sehe die beiden und denke mir: es geht auch ohne die Wegstrecke, die wir absolviert haben. Bevor wir uns ein Zimmer im Internat teilten." Nun leckte sich Angel stumm die Lippen, versonnen. Auf seinem Handrücken landete ein weiterer, zärtlicher Kuss. "Ich bin einfach froh. Vorbilder wie die Zwei sind wichtig. Die beiden sind auch wirklich herzig." Angel schnaubte, bevor er sich die letzte Erdbeere schnappte. "Liebe Güte! Herzig?! Wer bist du, und was hast du mit MEINEM Matti angestellt?!" ~¢~ Kapitel 6 - Der Ort, wohin man eingeladen wird Cornelius konzentrierte sich auf die positiven Tatsachen. Ruru hatte durchgeschlafen, die morgendliche Katzenwäsche samt Gaze-Pflaster brav über sich ergehen lassen. Die Matratze war trocken geblieben, Plastiktüte und Handtuch nicht beansprucht. Nun saß Ruru neben ihm auf einem Kissenstapel, mümmelte gemächlich ertränkte Cornflakes. Frau Kappel hielt viel von gesunder Ernährung, fand aber zur Nervenstärkung "Scheißerle" im Konzept vertretbar. Ja, nun, Cornflakes, bisschen arg viel Zucker schon drin, aber der kleine Kerl hatte ja auch einen bösen Tag hinter sich! Was Cornelius unangenehm an das Gebirge von Schwierigkeiten erinnerte. Er wagte nicht, Ruru zu fragen, ob der schon öfter rasch unter ihr Bett gekrochen war, es ihm aber nicht anvertraut hatte, weil... Weil sein kleiner Bruder viel mehr begriff, als ihm guttat. Außerdem durfte er sich selbst nichts vormachen: sie hatten eine Gnadenfrist miteinander gewonnen. Kein Gericht würde einen Vierjährigen seinen leiblichen Eltern entziehen ohne MASSIVE Gründe. Wenn das Entfernen eines Störpotentials doch genügte. Ein gesetzliches Umgangsrecht für Geschwister existierte nicht. Nein, wenn er Glück hatte, konnte er auf Heimlichkeiten hoffen, verstohlene Treffen irgendwo draußen. Natürlich nicht derzeit, wo Kinder und Jugendliche als Seuchenträger galten, egoistisch und verantwortungslos. Dazu kam auch noch sein äußeres Erscheinungsbild, da gab es kein Vertun: sie sahen sich ganz und gar nicht ähnlich. Er war nun mal "schmutzig", gehörte aufgrund Geschlecht und Alter zu einer statistisch auffälligen Gruppe mit Delikt-Potential. Masken, Mützen und Kapuzen konnten ihn saisonal tarnen, bei steigenden Temperaturen wurde es delikat. Cornelius registrierte eilig einen beklommenen Blick, das verkrampfte Umklammern des Hasentuchs. Er lächelte aufmunternd, stellte die Schultern aus, die vielleicht noch breiter werden würden. "Na, Ruru, wie sieht deine Hasenpower heute aus?" Ein schiefes Lächeln zwischen Pflasterabschnitten. "Ein bisschen besser. Nelli. Was machen wir mit meinen Schuhen?" Richtig, eine konkrete Aufgabe, die all die unabänderlichen Schreckensbilder verdrängte. Für den Moment. ~¢~ Als Cornelius vor das Haus trat, Ruru auf dem Arm, öffnete sich auch die Tür im Nachbarhaus. Adam rollte rasch heraus. "Guten Morgen. He, Ruru, wie geht's dir?" Ruru löste ein Ärmchen, adaptierte die Hasenpower-Geste, bevor er sich wieder an Cornelius anschmiegte. "Guten Morgen, Adam. Es tut mir leid, dass du gestern meinetwegen Ärger bekommen hast." Versicherte Cornelius ernst. Adam grinste schief. "Oh, das war nicht so wild. Meine Eltern fanden die Sache erst nicht so prickelnd, bis ich die Details aufgetischt habe." Er pirouettierte elegant. "Wollt ihr gerade einen Moment reinkommen? Ich hab was für Ruru, wenn er mag." ~¢~ Das Stoffstück hatte schon bessere Tage gesehen. Verkürzt mit einer Zackenschere ließ es sich gut an, ein Kopftuch für Ruru zu binden, der mit den Totenköpfen als Druckmotiv nun wie ein kleiner Pirat aussah. Zugegeben, die Hollywood-Variante. Dazu gab es noch ein kleines Tuch zum Lupfen, obwohl Vierjährige nicht unter die Masken-Pflicht fielen. Aber es tarnte die Pflaster-Landschaft vor neugierigen Blicken! Nun zogen sie gemeinsam los, "Mission Schuhe". "Ich hab das Abwehrspray schon lange, ist gegen Hunde. Deshalb gab es gestern auch keine Anzeige, nur eine mündliche Ermahnung. Als ich jünger war, hat mich mal ein Hund gejagt. Der hatte wohl ein Problem mit Autos, Radfahrern und Rollis. Das wusste die Frau, die zu Besuch war, mit ihm spazieren ging, aber nicht. Also, der rennt los, sie verliert die Leine, ich bin in Panik nen Hügel runter. Hab die Kurve nicht gekriegt, bin umgekippt. Bevor es dann hässlich werden konnte, hat mein Vater mit einem Super-Weltrekord-Sprint den Rucksack geschwungen. Der war hin, der Hund und ich lädiert." Adam grinste schief zu ihnen hoch. "Ist mir nicht mehr passiert, aber das Spray beruhigt mich einfach." Er wandte den Blick ab, leckte sich die Lippen, lächelte gar nicht mehr, sondern wirkte nun ungewohnt in sich gekehrt. "Gestern hab ich zum ersten Mal, ich meine, in Filmen sieht man zwar Prügelszenen... Aber das ist ja nicht echt." Unbehaglich schüttelte er die muskulöse Schulterpartie aus. "Schätze, ich bin das totale Weichei." Cornelius begriff die nicht ausgesprochenen Worte. Es hatte Adam schockiert zu sehen, wie der Mann ihrer Mutter auf ihn losgegangen war. Nicht, dass Cornelius das Gefühl hatte, sich daran gewöhnen zu können, aber für ihn keine Premiere, nein, wirklich nicht. "Du bist kein Weichei. Wenn ich kann, laufe ich weg." So schnell es ging, immer auf Anzeichen achtend, wann Verachtung in Aktion umschlug. "Das ist echt beschi...bescheiden." Murmelte Adam, einen grimmigen Zug um die Mundwinkel. Cornelius schmunzelte leicht, obwohl es keinen Anlass für Amüsement gab. Ihn freuten jedoch die Solidarität und Hilfsbereitschaft. "Tja, Ruru, da sind wir. Wo bist du lang gelaufen?" Ruru wandte sich um, wies nach unten. "Katzengeheimgang." Cornelius und Adam warfen sich einen verwirrten Blick zu. "Meinst du am Zaun lang, unter den Büschen durch?" Ruru nickte, sein Hasentuch umklammernd. "Na, dann sollten deine Schuhe ja noch da sein. He, fahr bei mir und Eve mit. Cornelius kann sich so leichter bücken." Bot Adam an, zwinkerte hoch. "Wir rollen rasch zum anderen Ende und gucken von da." Zögerlich ließ sich Ruru umplatzieren, allein der Notwendigkeit geschuldet. Cornelius ging, während seine Begleiter schneller die gesamte Strecke abmaßen, in die Hocke, arbeitete sich am "Katzengeheimgang" entlang. Wenn man nicht darum wusste, würde man zum Parkhaus einen Umweg nehmen müssen. Was Ruru den Vorsprung eingebracht hatte. Frau Kappels Frage vom Vorabend kam ihm bedrohlich in den Sinn. Ruru wirkte allzu geübt darin, auch ohne ihn zu flüchten. Ja, er hatte ein Spiel daraus gemacht, wenn sie unterwegs waren... Cornelius schluckte mehrfach, rang um Beherrschung. »Die Plastikgaloschen!« Ermahnte er sich. »Konzentrier dich auf die akuten Probleme!« Als er jedoch Ruru und Adam erreichte, hatte er keine Spur aufnehmen können. "Verflixt! Ob die jemand rausgefischt hat?" Adam runzelte die Stirn. "Ich nehme jetzt mal nicht an, dass die Katzen sie besser brauchen konnten." Cornelius seufzte, den Versuch quittierend, sie mit Galgenhumor aufheitern zu wollen. Ruru, der ihm um den Hals hing, blickte bange. "Das ist nicht so schlimm, Ruru. Sie waren ohnehin zu klein, nicht wahr? Ich lass mir was einfallen." Doch so langsam kroch ihm die Verzweiflung über ihre Situation bis in die Knochen. ~¢~ Eine Tour durch die Umgebung schien nicht verkehrt, damit man sich besser auskannte. Adam war ein versierter Botschafter des neuen Viertels. Zudem konnte man unauffällig Ausschau halten, ob nicht doch bei Mülltonnen die gesuchten Plastikgaloschen auftauchten. Was nicht der Fall war. Cornelius ließ Ruru auch mal wieder als Sozius bei Adam Platz nehmen. Den sorgte es, dass ihnen der Spaziergang zu lang wurde, der kleine Bruder Huckepack ohne eigene Bewegung. "Wollt ihr nicht zu mir in den Garten kommen? Barfuß über den Rasen ist ja gesund. Hab ich irgendwo gelesen." Grinste er einladend hoch. Cornelius lächelte, tippte Ruru behutsam auf die verpflasterte Nasenspitze. "Das klingt doch prima, oder? Beinahe wie auf einem Spielplatz, hm?" Ruru lächelte zögerlich. "Nanu?" Neben ihm rollte Adam langsamer. Vor dem Haus stand ein schlanker, sehr auffälliger Jugendlicher. Ein Schopf silbrig-grau schimmernder Haare, an den Seiten kurz, auf dem Oberkopf lang mit Lockenkringel ins Gesicht fallend. Eine modische Sonnenbrille verbarg die Augen hinter blauen Gläsern. Die Maske aus kornblumenblauem Stoff trug winzige, silberne Sternchen. Stoffhose und -hemd in Dunkelblau wurden mit der Lässigkeit eines Pyjamas apportiert. Nur die weißen Turnschuhe stellten einen Stilbruch dar. "Hallo, guten Morgen. Suchst du vielleicht jemanden?" Rollte Adam forsch voran. "Guten Morgen. Ich glaube, im Finden bin ich besser." In der Stimme schwang Erheiterung mit. Sie gab die Selbstsicherheit und Souveränität ihres Paradiesvogel-Eigentümers wieder. Der zupfte mit eleganten Händen die Maske herunter. Um einen leicht schimmernden Mund mit dünnen Lippen gruppierten sich zwei Grübchen. Die Sonnenbrille wurde auf den Oberkopf zwischen die silbrigen Locken gelupft, enthüllte marineblaue Augen ohne jeden Einschluss zu silbrigen Augenbrauen und farblosen Wimpern. "Hallo. Ich bin Junias und wollte meinen potentiellen Pflegebruder mal in Augenschein nehmen. Doch wie es aussieht, gibt es hier gleich zwei für den Preis von einem." ~¢~ Frau Kappel kam alles reichlich, nun, unter-organisiert vor. Erst hieß es, man finde nur ganz schlecht Pflegeeltern, vor allem bei so "alten" Kindern wie Cornelius. Nach zwei Tagen schon stand ein Pflegekind stellvertretend für die Pflegeeltern vor der Tür! Junias, der sich artig vorgestellt hatte, Abstand hielt, erläuterte die Hintergründe im Garten, weil bei Adam Platz war, die Tafelrunde tagen konnte und Barfüßigkeit kein Hindernis darstellte. Eigentlich sollte er, Junias, das letzte Pflegekind bleiben, immerhin schon siebzehn Jahre alt, vor sieben Jahren aufgenommen, wegen der Altersgrenzen und auch der Belastungen. Weil der Pflegevater drei schwere Bandscheibenvorfälle gehabt hatte, kürzertreten musste. Zudem, Eltern im Beinahe-Rentenalter, das war ja nicht unbedingt ein Idealzustand. Sie hatten im Verteiler die Anfrage gelesen. Für einen Jugendlichen mit fünfzehn Jahren wäre durchaus Platz. Räumliche Nähe, kein Schulwechsel, Kontakt mit der Familie. Weshalb er sich gedacht habe, mal ein erstes Beschnuppern in Angriff zu nehmen. Seine Fachoberschule (MINT) hatte wie alle anderen geschlossen, ein halbstündiger Spaziergang schien verlockend. Adam wirkte schon angetan von Junias, der Eve bewundert hatte, offenbar technisch fachsimpeln konnte. Cornelius hingegen fühlte sich eingeschüchtert. Irgendetwas an Junias bereitete ihm Sorgen. Abgesehen von dessen auffälligem Erscheinungsbild. Zu schick, zu souverän, zu elegant. Und eigenartig. Oder war das seine eigene Voreingenommenheit? Weil Junias' Haut makellos weiß schimmerte, ihm etwas beinahe Elfenhaftes anhing? Zugegeben, übertriebenes Selbstbewusstsein zeichnete ihn selbst nicht aus, was leider gewisse Vorurteile befeuerte. Trotzdem. Irgendwie schien Junias seltsam zu sein. ~¢~ Es sprach nichts dagegen, Henk und Luzie, Junias' Pflegeeltern zu besuchen. Ein leichtes Mittagessen, keine allzu lange Strecke, die Adresse bekannt, Kontaktmöglichkeiten notiert. Frau Kappel testierte, man müsse die Eisen schmieden, solange sie heiß seien, zum Beispiel, wenn man mit dem kleinen Bruder Zeit verbringen konnte, ohne dass Entscheidungen fielen, die sie trennten. Cornelius schluckte seine Bedenken herunter. Die Zuflucht bei Frau Kappel konnte nur temporär sein. Pflegeeltern am Ort waren ein Glücksfall. Junias konnte noch so merkwürdig sein: wenn er weiter Ruru treffen könnte, zählte nur dieses Argument! Allerdings beschämte es ihn, Ruru ohne Schuhe vorstellen zu müssen. Was Junias mit einem Lächeln abtat. "Aber das passt doch ausgezeichnet zu einem kleinen Piraten, richtig? Solche Kleinigkeiten stören meine Pflegeeltern nicht. Wir haben auch einen Garten. Wenn du möchtest, können wir uns auch abwechseln." Ruru, der Junias scheu beäugte, umschlang Cornelius' Hals fester. "Danke, ich bin das gewöhnt." Antwortete Cornelius höflich, Ruru ausbalancierend. Sie kannten einander kaum gut genug, dass er Ruru diesem fremden Jugendlichen anvertraut hätte. Überhaupt, ein bisschen arg schmal und eine ganze Handbreit kleiner als er selbst! Vermutlich ganz und gar nicht geübt, was Geschwistertransport betraf. "Du gehst auf die große Gesamtschule, oder? Das ist natürlich eine gewisse Strecke, aber mit dem Fahrrad leicht zu bewältigen." Sponn Junias unbeirrt ihre Konversation weiter, schlenderte neben ihm her. "Ja, vermutlich. Einige Mitschüler wohnen hier in der Nähe. Wenn man sich auskennt, geht es wohl ganz zügig." Ging Cornelius auf den sehr zivilen Gesprächsfaden ein. "Darf ich fragen, welche Leistungsfächer du gewählt hast?" Junias schmunzelte, die Augen hinter der extravagant getönten Sonnenbrille verborgen. "Damit du dich vor mir gruselst, hm? Tja, da oute ich mich mal: Mathematik und Informatik. Ich interessiere mich für Mustererkennung, Algorithmen, Statistik, all das ganze, grässliche Zeug, das so angesagt ist, aber niemand wirklich durchschaut." Cornelius unterdrückte ein Seufzen. Gemeinsame Gesprächsthemen ließen sich so kaum auftun! "Und du? Für was interessierst du dich?" Ruru unwillkürlich fester drückend zuckte Cornelius mit den Schultern. "Eigentlich sehe ich zu, dass ich mitkomme. Besondere Talente oder Begabungen haben sich bis jetzt nicht offenbart." Wiederholte er, dezent säuerlich, ein Etikett, das er akzeptieren musste. "Na, Ruru, was ist mit dir? Was interessiert dich gerade am Meisten?" Junias fing Rurus Blick ein, der eigentlich Cornelius galt. "Nelli." Murmelte Ruru entschieden. Woraufhin Junias lachte, mühelos die Hasenpower-Geste initiierte. "Eine sehr gute Antwort!" Ruru richtete sich auf Cornelius' Arm etwas auf. "Bist du wie Elsa?" Erkundigte er sich argwöhnisch. "Elsa? Ah, du meinst die Eiskönigin?" Junias schaltete verblüffend schnell, grinste bis in die beiden Grübchen. "Tja, ein König bin ich kaum, für Eis brauche ich auch ein Gefrierfach. Aber die Haarfarbe passt schon. Traust du dich?" Damit streckte er Ruru eine Hand hin, makellos weiß, anmutig, mit bläulich schimmernden Nägeln. Ruru zögerte, schob entschieden die Unterlippe vor, stopfte das Hasentuch in den Halsausschnitt seines T-Shirts, fasste entschlossen zu. "Kalt!" Stellte er fest, die Augenbrauen verwirrt zusammengezogen. "Ein bisschen, hm? Ist praktisch, im Sommer. Nur Zaubern kann ich nicht." Junias zwinkerte amüsiert. "Magst du Elsa denn? Hast du den Film gesehen?" Seine Hand zurückziehend zupfte Ruru wieder sein Hasentuch heraus, hielt es fest. "Ich darf nicht Fernsehgucken. Nelli hat mir davon erzählt, weil überall Bilder waren." Junias nahm ihren gemächlichen Spazierschritt wieder auf. "Aha? Ich hab den Film gesehen, zumindest Teil 1, muss aber gestehen, dass ich fast darüber eingeschlafen bin. Allerdings gehöre ich wohl auch nicht zur Zielgruppe." Um Versöhnlichkeit bemüht, falls er einen wunden Punkt berührte, ergänzte Junias seine Aussage. "Es gibt ja sehr viele andere Disney-Filme, nicht wahr? Für jeden Geschmack etwas dabei. Bestimmt darfst du die sehen, wenn du ein bisschen älter bist." Ruru blickte fragend zu Cornelius. Eine Menge Dinge waren nicht erlaubt, weil sie "Scheißdreck" seien. Cornelius lächelte vorsichtig. "Nun, lassen wir uns überraschen." Wie sollte er Ruru auch eine Prognose anbieten, in ihrer desolaten Situation gerade? Junias nickte beifällig. "Ein gutes Motto für den Moment! Ah, da vorne müssen wir rüber. Die Straße hier trennt sozusagen das neue Viertel vom alten Ort, deshalb auch 'Landstraße'." Er führte sie zu einer großen Kreuzung. Dort befand sich das zweite Parkhaus, ergänzt um Abstellflächen für Leute, die im neuen Viertel arbeiteten. Auf der anderen Seite der vierspurigen Straße würfelten sich ein wenig wild alte und neue Häuser, nicht untypisch für größere Gehöfte, die über Jahrzehnte hinweg zusammengewachsen waren. Die Fußgängerampel schaltete auf Grün, sie querten zügig den Übergang. Als die Autos anfuhren, glaubte Cornelius im Augenwinkel... Er fuhr herum, starrte zur Einfahrt des Parkhauses hinüber. "Und wir gehen artig weiter." Lenkte Junias ihren Gang, berührte Cornelius am Arm. "Ist ganz hübsch hier, ein bisschen verschachtelt und verwinkelt." Cornelius spürte, wie sich Schweißperlen auf seiner Haut sammelten. Aber es gab kein Vertun. Blickkontakt, und er WAR nun mal auffällig. "Ah, da fällt mir ein, eine kleine Erledigung!" Junias packte Cornelius' Arm mit festem Griff, ohne ihr gemächliches Flanier-Tempo aufzugeben. "Folgt doch bitte einfach dieser Straße hier, ja? Ich hole euch bestimmt gleich ein." Cornelius wandte sich halb herum. Einen eleganten Finger vor den Mund gelegt zwinkerte Junias ihn mit den perfekt-marineblauen Augen zu. "Pscht. Und nicht umdrehen." ~¢~ Ruru schmiegte das Gesicht in seine Halsbeuge. Cornelius lief wie aufgezogen weiter, versuchte, die eiskalten Schauder zu ignorieren. Ein dummer Zufall, oder...?! Er kannte sich hier nicht aus. Flucht würde deshalb nicht einfach werden. Zudem schien es keine Parks zu geben, nur private Gärten und winzige Beete an Straßenecken. "Alles wird gut, Ruru." Wisperte er. Natürlich spürte Ruru, dass etwas nicht stimmte. Hatte er das Auto auch erkannt? Cornelius zwang sich, auf dem Gehweg zu bleiben, nicht panisch loszulaufen. Nur an der Hauptstraße schien es noch zwei, drei kleinere Geschäfte zu geben. In den abzweigenden Gassen konnte man Wohngebäude aus diversen Epochen ausmachen, mit Vorgärten, ehemaligen Toreinfahrten, gekiester Brache vor Neubau-Schachteln. Irgendwo hinter ihnen rummste etwas lautstark. Cornelius ging ein wenig schneller. Hätte er Junias nicht besser aufklären sollen? Sich erkundigen, was ihm so plötzlich eingefallen zu sein schien? Eilig prägte er sich die Nachbarschaft ein. Aber ohne Übung, ohne Karte schien es unmöglich, auf die Schnelle dieses Labyrinth zu durchdringen. Er erreichte das Ende der Straße an einem Kreisel. Da schlenderte Junias heran, eine Papppalette mit Bäckereitütenumhüllung auf der flachen Hand apportierend. "Oh, passt prima! Ich dachte mir, ich schaue mal, ob es frischen Erdbeerkuchen gibt." Er lächelte sie gut gelaunt an. "Ah, wir müssen hier einbiegen, dann noch mal rechts, die Stichstraße zum Feldweg." Ruru richtete sich an Cornelius' Schulter auf. "Da war ein lauter Krach." Stellte er fest, tapfer zu Junias blickend. "Tatsächlich? Oh, manchmal fallen Tore laut zu. Oder jemand kippt mit den Mülltonnen um, wenn sie gerade geleert wurden. Eigentlich ist es hier immer sehr friedlich." Cornelius warf einen nervösen Blick über die Schulter hinter sich. "Wir erwarten hier niemanden." Kommentierte Junias sanft. "Ihr werdet sehen, wir sind eine unheimlich nette Familie." ~¢~ Die Stichstraße zum Feldweg war einspurig, einfach asphaltiert. Auf der rechten Seite führte sie entlang von landwirtschaftlichen Gehöften erheblicher Breite. Links jedoch, neben einem offenen Ablaufgraben, zog sich eine bunte, übermannshohe Hecke hin: Hainbuchen, gemischt mit Weiden, garniert von Feuerdorn und Hartriegel. Zwischen die Zweige schmuggelten sich Efeu und Winden, die mit zierlichen Blüten die Sonne erhaschten. Ein kleines Tor wirkte unscheinbar in diesem gewaltigen Wuchs, in dem es auch summte und brummte. "Nehmen wir den Garteneingang." Schlug Junias vor, hakte den Riegel nach oben. "Obacht, ein paar Steinchen könnten spitz sein. Lauf am Besten auf dem Grün, Ruru." Cornelius ließ Ruru tatsächlich von seinem Arm herunter, streckte ihm die Hand hin. Gerade mal so breit wie ein schlichter Schubkarre-Reifen zog sich eine Art Kiesel-Muschel-Backsteinbruch-Pfad durch kleine Hügellandschaften. Die waren sämtlich bewachsen, schlängelten sich um vereinzelte Bäume, mischten Blumen mit Gemüse mit Kräutern. "Henk und Luzie haben Permakultur-Bewirtschaftung für sich entdeckt. Wir sind sogar mal nach Frankreich gefahren, zu einem Seminar bei einem Ehepaar, das so ihren Anbau betreibt." Ein Abenteuer-Dschungel. Geistesabwesend nahm Cornelius Rurus Strümpfe in Empfang, der das Grün jenseits des Steinchenstreifens unter seinen Sohlen erprobte. "Na? Prima, oder? Keine Angst, das sind Polsterpflanzen, die sind es gewöhnt, dass man auf sie stapft." Sie trugen auch keine Schäden davon, wenn man nicht Tonnen wog oder stundenlang stehen blieb. "Oh!" Ruru zupfte an Cornelius' Hand, deutete mit der anderen, die das Hasentuch umklammerte, nach oben. Höher, sogar viel höher als von Rurus Blickpunkt ausgehend, befand sich ein Baumhaus, auf einer Plattform, die geschickt eine alte Linde mit bemerkenswerten Stammumfang nutzte. Man konnte von unten wenig mehr erkennen als ein Kletternetz zum Aufstieg und eine grüne Wand. Rambler-Rosen lieferten sich mit abgeblühtem Blauregen und panaschiertem Efeu einen harten Kampf um jedes freie Fleckchen. Junias lachte. "Na, Ruru, wagst du mit mir den Aufstieg? Es lohnt sich." Schweigend nahm Cornelius nun auch noch das Kuchenpaket entgegen. Junias, von dem er das sicher nicht erwartet hätte bei dieser extravagant-eleganten Erscheinung, kletterte ohne Mühe hinauf in die Plattform. Ruru, das Hasentuch vorne in den heruntergezogenen Latz/Mundschutz gestopft, folgte auf allen Vieren. Kurz darauf hörte Cornelius ihn begeistert jauchzen. Es ertönte ein gequältes, mechanisches Quietschen. "Ah, das Fernrohr, müsste mal geölt werden." Stellte unweit eine amüsierte Frauenstimme fest. Cornelius fuhr rasch herum, fand sich in adäquater Distanz einer älteren, kugelrunden Frau gegenüber, die höchstens 1,60m messen konnte. Ehemals rote Locken mischten sich mit ergrauten zu einer wilden Pracht um ein fröhlich-munteres Gesicht. "Hallo, ich bin Luzie. Du musst Cornelius sein, richtig?" Nickend holte Cornelius rasch die Begrüßung nach. "Guten Tag! Richtig, ich heiße Cornelius. Bitte entschuldigen Sie den unangemeldeten Besuch..." Luzie lachte. "Nicht unangemeldet, wir wussten ja, dass Junias nicht lockerlässt. Hat er deinen kleinen Bruder da oben? Ist der bei dir zu Besuch?" Cornelius zögerte. "Das trifft es nicht ganz. Leider sind seine Schuhe verloren gegangen." Nahm er den nächsten Anlauf, einen vernichtenden Ersteindruck zu relativieren. "Oha? Das macht uns nichts aus." Grinste Luzie schelmisch, präsentierte unter ihrem weiten Künstlerkleid und einer Arbeitsschürze mit grauen Streifspuren blanke Füße. "Ah, ist das Kuchen? Prima!" Sie streckte ihm die Hand hin, tippte sich mit der freien jedoch an die Stirn. "Herrje, Schnodderlappes!" Luzie kramte eilig in den Schürzentaschen herum. Cornelius schmunzelte, zupfte seine Leopardenfellmuster-Maske hoch. "So geht es auch." Verkündete er leicht gedämpft, überreichte Junias' Kuchenpaket. Über ihnen ratterte und quietschte es. Ein weißes, zerrupftes Bettlaken flatterte an der vorher verwaisten Fahnenstange. Mit einem gewaltigen, gelben Quietsche-Entchen darauf. ~¢~ Man konnte das Baumhaus natürlich über die Streben des Stricknetzes wieder verlassen. Oder, wenn man schmal gebaut war, keine Platzangst fürchtete, durch einen kleinen Falltunnel. Der diente üblicherweise dem Abtransport von Gütern aus großer Höhe in Container, wenn z. B. auf dem Dach gearbeitet wurde. Plastikeimer ohne Boden, mit Ketten verbunden, ineinander gestülpt, hier mit Schräge durch zwei große Taue, die mit Heringen im Boden verankert waren und eine gemächliche Kurve formten. Junias wählte den konventionellen Abstieg. Cornelius, der dessen hinweisenden Blick auffing, eilte, dem schmalen Pfad folgend, um die Linde herum, registrierte die geschlossene Röhre, in der es polterte, gluckste, am Ende, in einen recht üppigen Gras- und Moos-Teppich, Ruru herauspurzelte. So vergnügt wie das Entchen auf der gehissten Flagge. "Hallo, mein kleiner... Ach du Güte, hast du dir was getan?" Luzie eilte geschmeidig heran, noch immer das Kuchenpaket balancierend, was Cornelius zu einer weiteren Erläuterung und Entschuldigung veranlasste. "Ah, Verzeihung, Luzie, das ist mein kleiner Bruder Ruru. Wir hatten in den letzten Tagen ein paar weniger erfreuliche Erlebnisse." Ruru, der sich aufgerichtet hatte, blickte ein wenig befangen hoch zu der fremden Frau. Das Piratentuch verdeckte einen Teil der Schürfwunden, doch seine Nase und das Kinn samt Verpflasterung sprachen Bände. Außerdem hatte Cornelius ihn gewarnt, dass man wegen einem unsichtbaren, winzigen Luft-Ding Abstand halten musste. Zögerlich bot er den Hasenpower-Gruß an, mit der anderen Hand hastig das Hasentuch aus dem Latz ziehend und umklammernd. "Hallo. Ich bin mit Nelli gekommen." Eilig schob er sich neben Cornelius. "Das freut mich, willkommen, Ruru. Ich bin Luzie. Hat dir das Baumhaus gefallen?" Luzie überwand rasch ihren ersten Schrecken, zwinkerte. Ruru blickte verwirrt hoch zu Cornelius, dann wieder auf Luzie. "Schön." Antwortete er brav, aber mit einer merklichen Falte zwischen den Augenbrauen. "Nelli, ist das hier WIRKLICH der Ort, wo man hinkommt, wenn man schmutzig und ungezogen ist?!" Er wies ratlos auf Luzies blanke Füße. ~¢~ Cornelius spürte, wie ihm, zweifellos unkleidsam, das Blut in die Wangen stieg. Bevor er eilig seinen kleinen Bruder von jeder unbeabsichtigten Beleidigung freisprechen konnte, intervenierte Junias, merklich amüsiert. "Oh, nein, Ruru, das hier ist der Ort, wohin man eingeladen wird, wenn man Glück hat!" Er wischte sich in dramatischer Geste durch die silbergrauen Locken. "Ich fürchte, man hat dir Seemannsgarn erzählt, kleiner Pirat. Nun, beim Klabautermann, wir wissen es besser, nicht wahr? Oder hast du jemals so einen tollen Garten von so einem prächtigen Baumhaus aus gesehen?" Cornelius war sich nicht sicher, ob Ruru mit den nautischen Begriffen etwas anfangen konnte, doch Junias' Botschaft verfing auch ohne Übersetzung. Ruru drückte Cornelius' Hand. "Es ist ganz prima! Durch das Rohr kann man Dinge nah sehen, die weit weg sind." Berichtete er werbend, was Cornelius daran erinnerte, dass Ruru noch nie die kostenpflichtigen "Fernstecher" an Aussichtspunkten erlebt hatte, verständlicherweise verzaubert war. "Wollen wir uns den Garten von unten ansehen?" Luzie schien die etwas unglückliche Situation mit Humor zu nehmen. "Da finden wir vielleicht auch Henk, der fürs Mittagessen noch was ernten wollte." Cornelius lächelte entschuldigend. "Wenn es Ihnen keine Umstände macht..." "Aber nein, ich hab Spaß! Duz mich ruhig, Cornelius, wir sind auf Augenhöhe, nun, figurativ." Zwinkerte sie frech zu ihm hoch, balancierte das Kuchenpaket mit Grandezza auf einer Handfläche, paradierte voraus. Ruru gluckste vergnügt, zog Cornelius hinter sich her. Zu dessen Verblüffung staunte Ruru tatsächlich über all die Pflanzen und Insekten, ließ ihn sogar los, um zu Luzie aufzurücken. Allzu weit waren sie noch nicht gekommen, da trat ein hagerer, sehr großer Mann hinzu: eine grüne Arbeitshose mit Latz, ein kariertes Hemd, schwere Schuhe und ein eingedrehter Schnurrbart mit prächtigem Vollbart darunter. Dafür war der Schädel kahl und unter einem lädierten Strohhut vor Sonnenbrand sicher. "Ah, Henk, ich hab Ruru und Cornelius schon kennengelernt!" Luzie trat ein wenig beiseite, damit er die Gäste betrachten konnte. "Guten Tag. Hallo, kleiner Mann. Ob du mir wohl den Kohlrabi tragen kannst?" Sich sehr aufrecht haltend, fast steif, reichte Henk einen Kohlrabi samt üppigen Blattgrün weiter. Ruru starrte ihn erst mit offenem Mund an. Er stopfte das Hasentuch rasch in den Latz unterm Kinn, fasste vorsichtig zu. "Vielen Dank. Die Blätter kommen gleich in den Salat, deshalb muss man sie ganz sanft behandeln." Erläuterte Henk mit einer tiefen, gelassenen Stimme. Prompt überprüfte Ruru seinen Griff, streichelte behutsam über das Blattgrün. "Ah, ich sehe, du kennst dich aus. Vortrefflich! Dann wollen wir mal sehen, ob wir noch etwas finden, hm?" Gemessenen Schritts übernahm Henk die Führung, stellte Ruru ihr hügeliges Wunderland vor. Der hörte nicht nur zu, sondern sammelte und pflückte, was Henk ihn zu ernten bat, hingerissen von dem prächtigen Vollbart und all den spannenden Erlebnissen, die seiner hier harrten! ~¢~ Cornelius konnte Ruru nicht in "richtige" Gärten mitnehmen. Die Kleingartenanlagen achteten streng darauf, dass nur angemeldeter Besuch hineinkam. Der Botanische Garten der Universität blieb eingezäunt, nur über den Campus zugänglich. Was sich sonst an Grün bot, hatte wenig mit Gartenbau zu tun. Deshalb wunderte er sich über die Begeisterung seines kleinen Bruders. Hatte Ruru ein Faible für Gartenarbeit? Nun, Berührungsängste konnte er jedenfalls nicht feststellen. Andererseits hatte er selbst so einen Garten auch noch nie zuvor gesehen. Es dräute jedoch die nächste Kalamität, denn gegessen werden sollte im Haus. Ein ehemaliges Bauernhaus mit gemischter Nutzung, d. h. Ställe gleich Wand an Wand, zwei Geschosse, Satteldach, unten gemauert, das Geschoss darüber mit Holzschindeln verkleidet, offenkundig jedoch innen aus- und umgebaut, auch wenn Cornelius Steinfliesen ausmachen konnte. "Warte, Ruru, deine Füße!" Bloß keine Dreckstapfen hinterlassen! "Ah, folge mir, Ruru!" Lachte Luzie, machte sie mit der "Fußwaschanlage" bekannt. ~¢~ Gemeinsam mit Junias transportierte Cornelius Kuchenpaket und frische Ernte in die große Wohnküche. Man marschierte quasi mitten hinein, wenn man die recht große Haustür öffnete. Ein Kachelofen flankierte die Küchenzeile, Gläser und bunte Keramik strahlten aus einem altmodischen Büfett. Man konnte auf einer Sitzbank und unterschiedlichen Stühlen mit Kissenbesatz an einem alten Tisch Platz nehmen oder sich auf das Sofa und in zwei Sessel mit bunten Decken sinken lassen. Offene Regale präsentierten unzählige Bücher und diverse Schachteln, dazwischen allerlei bunte Objekte. Zwei Sekretäre leisteten sich Gesellschaft, der eine zierlich, kurvig, fast organisch, der andere quadratisch und Schubladen-bewehrt. Dort ahnte Cornelius auch technische Ausrüstungen der Gegenwart wie einen Laptop und einen Router. Luzie hatte Ruru durch die Fußwaschanlage geführt und an die "Gartentränke", ein altes Wandbrunnenbecken. Dort konnte man sich die Hände waschen, sauber durch eine hölzerne Schiebetür in die Wohnküche gelangen. Die blanken Füße erst mit feinen Bürsten geschrubbt, im Tauchbad mit Efeu-Auszug poliert und auf einem alten Frotteehandtuch getrocknet brachte sie Ruru herein, in viel zu großen, bunt bemalten Holzschuhen. Ihm gefiel die Schlurferei, was sein Kichern verriet. "Nanu, bist du den ganzen Weg zu uns ohne Schuhe gekommen?" Henk arbeitete am großen Küchentisch, um Gemüse, vereinzelte Beeren und Blätter zu portionieren. "Nelli hat mich getragen. Weil meine Schuhe im Katzengeheimgang verloren gegangen sind." Erläuterte Ruru unbefangen, warf Cornelius einen fragenden Blick zu, ob es erlaubt sei, sich neben den dünnen Riesen an den Tisch zu setzen und zuzugucken. Cornelius nickte kaum merklich. Henk lupfte die Augenbrauen, Pfeffer-und Salz-meliert wie sein Bart. "Ein Katzengeheimgang? Oho, das klingt aber spannend." Ruru, der sich auf einen Stuhl gezogen hatte, ergänzte seine Erklärung. "Dda war ein kleiner Löwe. Am Parkhaus, und dann, ganz schnell, auf der anderen Seite!" Er gestikulierte mit dem Hasentuch. "Matti sagt, dass es ein Katzengeheimgang ist. Aber der ist ziemlich eng unter den Büschen. Und die Schuhe waren im Weg." Seufzend ließ er das Hasentuch sinken. "Später waren sie weg. Ob der kleine Löwe sie versteckt hat?" Luzie brachte Henk eine große Schüssel für den Salat. "Meinst du? Was waren es denn für Schuhe? Stiefel vielleicht?" Cornelius folgte Junias' Beispiel, deckte am unteren Ende des Tisches. Er hatte schon befürchtet, Ruru würde erzählen, WARUM er den Katzengeheimgang benutzt hatte, was keineswegs die Atmosphäre bereichern würde. "So wie die, nur ganz klein und aus Plastik." Ruru lupfte die Holzpantinen vorsichtig, um sie nicht zu verlieren. "Tja, ich kenne nur den gestiefelten Kater aus dem Märchen. Mit Siebenmeilen-Stiefeln, oder?" Henk warf Luzie einen fragenden Blick zu. "Ja, kann sein. Komisch, übrigens, Katzen laufen auf vier Pfoten, richtig? Da sind zwei Schuhe zu wenig, wenn man keine Märchen-Katze ist." Sie zwinkerte Ruru zu, der dieses Argument kontemplierte. "Waren sie rot, deine Galoschen?" Ruru schüttelte den Kopf, nachdenklich. "Na, dann sind es auch keine Zauberschuhe. Wenn man nämlich rote Zauberschuhe an den Haken zusammenschlägt, dann reist man an weit entfernte Orte!" Junias mischte nun mit. "Kamen da nicht auch ein Blechmann, eine Vogelscheuche und ein Löwe vor? Aber das waren Mary Janes, oder? Spangenschuhe?" Henk registrierte Rurus vollständige Verwirrung. "Ich versteh auch nichts. Ich hab noch keine Katze mit Schuhen gesehen. Lass uns nachher mal in der Werkstatt gucken, ob wir nicht was für deine Füße finden." Er strich sich einen Kringel in den Schnurrbart. Cornelius intervenierte nervös. "Ich habe Rurus Socken. Er muss die Strecke auch nicht laufen." "Solange wir keinen fliegenden Teppich auftreiben, sollten die Rappen auch was vom Schuster haben, meinst du nicht?" Gab ihm Junias spöttisch Kontra. Es wäre sehr unhöflich und konfrontativ gewesen, ihm etwas zu entgegnen, weshalb Cornelius sein Unbehagen herunterschluckte, nur kurz den Kopf neigte. Luzie schenkte aus einer Karaffe Wasser mit Zitronenmelisse in die Gläser reihum. "Bleiben wir mit den Füßen auf dem Boden und essen erst mal. Guten Appetit, alle miteinander!" ~¢~ Ganz selbstverständlich hatte man für Ruru ein kleines Wasserglas und eine Kuchengabel vorgehalten. Zwei Sitzkissen arrangierten ihn in bequemer Höhe auf der Sitzbank neben Cornelius, der rasch einen prüfenden Blick auf die Gastgeber warf. Bei anderen Leuten eingeladen zu werden, das kam sehr selten vor. Trotzdem hatte er Ruru an die Regeln erinnert, wenn sie draußen allein unterwegs waren: immer warten, bis die gastgebende Person anfing, nicht über den Tisch greifen, zuerst rechts und links schauen, ob man etwas anreichen konnte, nicht mit den Beinen baumeln, weil das häufig den Tisch in Schwingungen versetzte und etwas überschwappen konnte. Möglichst erst sprechen, wenn alle anderen auch gern eine Unterhaltung führen wollten. Wenn man nicht genau wusste, wie man etwas essen sollte, zu anderen hinsehen, ihrem Beispiel folgen. Das mochte wie unnötiger Formalismus wirken, doch Cornelius hatte jede Regel erklärt. Wenn man eingeladen wurde, war das eine besondere Auszeichnung. Deshalb sollte man sich auch besser ausgezeichnet benehmen, nicht wahr? Henk und Luzie hatten sich Mühe gegeben, alles war mundgerecht zerkleinert, wurde ihnen vorgestellt: Salat, Möhren, Radieschen-Sprossen, eingelegte Zuckererbsen, Schmetterlingsnudeln, Preiselbeeren, ah, Rübenschnitzel und Sellerieblättchen! Ruru mümmelte brav, nachdem er leise wiederholt hatte, was genau er aufspießte. "Oh, das ist ein bisschen bitter, bei diesem Salat, hm?" Luzie schenkte Ruru Wasser nach und zwinkerte. "Gut für den Magen, aber die Zunge mag nicht so recht. Schau, ich roll das Blatt um die Erbsen und nehme Beeren dazu." Verriet sie ihren Trick. Ruru bemühte sich um eine Kopie, grinste dann fröhlich. "Es ist alles sehr lecker." Komplimentierte Cornelius eilig, mal wieder an das eigene Unvermögen erinnert. Sie sollten sich gesünder ernähren, mehr Gemüse und Obst, möglichst frisch zubereitet, aber das ließ sich kaum bewerkstelligen. Die einzige warme Mahlzeit des Tages gab es in Schule und Kindergarten. Weil der Mann ihrer Mutter eine Abneigung hatte gegen Töpfegeklapper, Geschirrhalden, Gestank von Fraß.... ER pflegte auswärts zu essen oder sich nun etwas liefern zu lassen. Wenn Mikrowellengerichte oder Snacks nicht ausreichten. Cornelius hatte, weil er bei Mahlzeiten ganz sicher nicht am Tisch gelitten wurde, eine Strategie entwickelt: frühstücken vor dem Auftreten des Herrn im Haus. Jetzt versuchte er, mit Haferflocken oder Tee für wenigstens etwas Warmes am Tag zu sorgen. Außerdem adaptierte er "Picknick"-Mahlzeiten: eingelegtes Gemüse, Brot, Obst, Aufstrich aus Beeren, gekochtem Getreide, Hülsenfrüchten. Wenn man Vorprodukte in größerer Menge kaufte, führte das zu mehr Mahlzeiten als Fertigprodukte für Einzelpersonen. Man musste lediglich geruchsarm arbeiten, alles blitzblank hinterlassen, mundfertig zuschneiden, rasch verstauen, um aufzubrechen, bevor die nächtlichen Eskapaden nicht mehr im Bett festhielten. Ein Messer, nicht mal ein Kneipchen, steckte Cornelius nie ein. Er war nicht dumm genug, sich damit erwischen zu lassen. So konnte er Ruru recht wenig bieten, das war ihm bewusst. Er fragte sich oft, wie lange es wohl dauerte, bis Ruru im Kindergarten lernte, was bei anderen Familien normal war, nämlich ausgewogen zu speisen und selbst zu kochen. Dass ihre Mutter keinerlei Ambitionen in dieser Hinsicht hatte, konnte er nachvollziehen. Der Ehemann förderte es durch abfällige Bemerkungen nicht. Es schien wie eine zweite Jugendzeit zu sein, auszugehen und sich zu amüsieren. Was man derzeit natürlich kaum konnte, dafür aber die Drive-In-Möglichkeiten erschöpfte, wenn schon das Anliefern nicht zusagte. "Gibt's was, was du nicht essen magst?" Erkundigte sich Luzie bei Ruru, der zu den gedämpften Rübenschnitzel äugte, erwog, ob er sich selbst noch ein wenig nehmen durfte. Henk, der am Tischende neben Ruru saß, auf einem Stuhl, um sich leichter erheben zu können, legte unterdessen Rübenschnitzel nach, was ihm ein begeistertes Strahlen einbrachte. "Danke schön!" Ruru warf einen zögerlichen Blick zu Cornelius. "Also...ich mag nicht gern diese...Kapern." Oder zumindest das, was er mal probiert hatte. "Hmm, verstehe! Ja, bei eingelegten Sachen kann man sich schon mal mit der Marinade vertun." Pflichtete Luzie ihm verständnisvoll bei. Ermutigt durch diese Parteinahme holte Ruru tapfer aus. "Und...ich möchte lieber keine Tiere essen. Wenn sie nicht von alleine tot sind." ~¢~ Kapitel 7 - Eine unheimlich nette Familie Cornelius saß unwillkürlich aufrechter. Ein Großkampfschauplatz. Eine Auseinandersetzung, die er nicht austrug, selbstverständlich. Sinnlose Schlachten schlug man nicht. Ruru legte die Gabel beiseite, umklammerte unter dem Tisch das Hasentuch. "Ich habe nämlich einen Hof besucht." Erklärte er, merklich angespannt, aber entschlossen. "Da waren große Schweine. Mit keinem Fell oder ganz dicker Wolle. Die haben Fußball gespielt! Und ein Wettrennen, mit den Hunden, über eine Strecke gemacht. Mit Hügeln und Brettern und durch ganz hohes Gras." Erläuterte er mit wachsender Begeisterung. "Schweine können sogar schwimmen! Sie sind auch gar nicht schmutzig. Sie machen eine Schlammpackung als Sonnenschutz und Hautcreme. Und sie haben wie Menschen auch ein Bad, eine Toilette, ein Wohnzimmer. Da waren auch große Hühner! Und Laufenten! Die fressen die Schnecken vom Salat weg!" Ruru strahlte. "Und ganz riesige Kühe mit großen Hörnern und rotem Fell! Die waren immer draußen. Sie sind wichtig, damit Pflanzen richtig wachsen, die Berge festhalten! Sonst fallen die Steine runter!" Wiederholte er wesentliche Lektionen dieses lehrreichen Ausflugs. Mutig blickte er deshalb über den Tisch. "Deshalb mag ich Tiere lieber am Leben." Cornelius hatte diesen Vortrag noch nie gehört. Zweifellos HÄTTE er davon gehört, wenn Ruru gewagt hätte, seinem Vater solche Gedanken anzuvertrauen, dessen Meinung zu "Tingeltangel" allseits bekannt war. "Das sind gute Argumente." Erlöste Luzie ihn von seiner Anspannung, wirkte nicht beleidigt. "Ich glaube, ich muss mir das auch mal ansehen. Schweine, die Fußball spielen, das ist bestimmt lustig, oder?" Ruru, der wieder die Gabel ergriffen hatte, nickte eifrig. "Sie nehmen die Schnauze und die Beine! Sie unterhalten sich auch, aber leider habe ich das nicht verstanden." Luzie lachte, Henk gluckste sonor. "Es gibt schon so viele Menschen-Sprachen, die man gar nicht alle lernen kann, da ist es keine Schande. Manchmal sprechen Taten auch mehr als Worte." "Zum Beispiel Leckerli verteilen." Brachte sich Junias ein, der verblüffend lange geschwiegen hatte. "Die gibt's als Belohnung fürs Wettrennen." Bestätigte ihm Ruru, eifrig nickend. Äußerst zufrieden mit dem Zuspruch leerte er zügig seinen Teller. Cornelius atmete verstohlen durch. Natürlich war es ihm nicht fremd, für sich selbst werben zu müssen, sich zurückzunehmen, nicht anzuecken, doch selten war er zuvor auf Gedeih und Verderb auf das Wohlwollen Dritter angewiesen gewesen. ~¢~ Nachdem zum Abschluss mit selbstgebackenem Brot aus dem Glas jeder Teller sauber und trocken war, hob Henk die Tafel auf, so steif wie zuvor, dass das Zusehen schmerzte. Er bat Ruru, ihm doch in seine kleine Werkstatt zu folgen, um sich der Schuhe anzunehmen. Hin und wieder komme zwar Rasputin, ein wandernder Kater, zu Besuch, aber der sei sicher nicht an Schuhen interessiert. Ruru nahm sein Hasentuch, schlüpfte in die großen Holzpantinen, wartete brav auf Cornelius' Urteil. "Das ist wirklich sehr nett, vielen Dank." Gab der sein Placet mangels Alternativen. Wie von selbst streckte Ruru die freie Hand aus. Henk nahm sie ohne Zögern, Viren hin oder her. Zudem hatten die jede Menge Höhenunterschied zu überwinden. "Ah, Jungs, kann ich euch den Abwasch anvertrauen? Ich bin ein bisschen knapp dran mit meiner Bürozeit!" Luzie eilte geschmeidig hinüber zu dem zierlichen Sekretär, die Zunge schnalzend. "Tktsktsk, sehr nachlässig von mir!" Junias lachte. "Sie werden dir bestimmt genug aufgehoben haben, Luzie!" Sie lächelte ihm zu, bereits eifrig damit befasst, sich Kopfhörer mit Mikrofon aufzusetzen. "Luzie arbeitet für ein Steuerbüro. Sie haben nur begrenzten Zugriff aus der Ferne, also gibt es Zeitfenster zum Einloggen." Geübt stapelte Junias das Geschirr, füllte ein altes, tiefes Waschbecken. Cornelius griff zu einem Geschirrhandtuch. "Henk hat als Gärtner angefangen, Gartenbau studiert und berät noch heute. Nur die körperlichen Einschränkungen machen ihm zu schaffen. Ruru ist gut bei ihm aufgehoben. Wenn er sich für Pflanzen interessiert, gibt es nichts, was Henk ihm nicht beantworten kann." Unterdessen spülte er geübt das Geschirr ab, aus einer Glasflasche Seifenspülung auf ein Tuch gebend. "Luzies Kreation, Olivenölseife, gehobelt, dazu ein Efeublätterauszug und ein bisschen Natron. Funktioniert auch mit normalem Leitungswasser, selbst ungeheizt." Sorgsam das Geschirr trocknend nickte Cornelius, um Aufmerksamkeit zu signalisieren. Sehr ungewöhnliche Leute, aber möglicherweise bereit, ihn zu akzeptieren. Wenn er nur irgendeinen Weg fand, Ruru regelmäßig zu sehen! "Ich zeig dir anschließend das Haus. Schau nicht so, Ruru und Henk verstehen sich doch prächtig!" Tadelte Junias ihn spöttisch, während er das Geschirr verstaute. "Ich sagte doch, wir sind eine unheimlich nette Familie." ~¢~ Durch die Schiebetür ging es am kleinen Zugang für den Abstecher zur "Fußwaschanlage" vorbei durch eine zweigeteilte Tür. Sie hatte einstmals einem kleinen Viehstall vorgestanden und war "umgezogen". Ruru klapperte amüsiert über die recht groben Steine, die den Boden bildeten. "Katzenköpfe, so hat man die genannt. Das war hier vorher mal Teil eines Pferdestalls." Ließ Henk ihn wissen, der sich an zahlreiche "Oh!"-s von Ruru gewöhnte, denn die Werkstatt ähnelte nicht zwingend dem Standardmodell fürs Heimwerken. Beispielsweise fand man dort recht selten ein vollgestopftes Regal mit Büchern und Bildbänden, garniert von zahlreichen Planzeichnungen in bunten Farben. "Das hier sind Entwürfe für Gärten, die ich angelegt habe. Fotoalben habe ich auch, damit meine Kundschaft sich orientieren kann." Erläuterte Henk, drehte mit Ruru eine gemächliche Runde. "Hier ist die Kinderstube. Da ziehe ich Pflänzchen vor, bevor ich sie vereinzele und draußen einsetze. Erst keimen sie, da, siehst du, sie bekommen Keimblätter. Das ist wie Milchzähne bei Menschen, bevor die richtigen Zähne rauskommen." Ruru nickte eifrig, balancierte auf den Zehenspitzen in den klobigen Holzschuhen, denn alle Arbeitsplätze waren hoch eingerichtet, Tische und das große Stehpult für die Zeichnungen. "Tut mir leid, ist alles auf mich eingestellt." Bekundete Henk, der die Gymnastik durchaus registrierte. "MhmmMhmm!" Schüttelte Ruru eilig den Kopf. "Ich kann alles sehen. Bist du auch verletzt wie Nelli?" Henk schmunzelte in den prächtigen Vollbart, klopfte dann mit der freien Hand gegen seine magere Körpermitte, was ein dumpfes Knacken erzeugte. "Mein Rücken tut es nicht mehr gut. Darum trage ich ein Stützkorsett." Ruru beäugte ihn bekümmert. "Geht das auch wieder weg? Bist du gehauen worden?" Henk erkannte in dem nervösen Umklammern des Hasentuchs, dass Ruru sich zu spät bei einem kritischen Thema ertappte. Er streichelte mit dem Daumen über den Rücken der kleinen Hand in seinem Zugriff. "Ich fürchte, dass es nicht mehr einfach weggeht. Aber ich komme damit zurecht. Ich habe ein bisschen Pech, dass mein Rücken so schnell abgenutzt ist." Um das Thema zu variieren, führte er Ruru weiter. "Hier ist mein kleiner Tierpark. Da wachsen und wohnen Nützlinge. Das sind hauptsächlich Insekten, die mir im Garten helfen." Vorsichtig pickte er einzelne Kästen auf, hielt sie tiefer, damit Ruru hineinblicken konnte. "Im Garten gibt es Pflanzen und Tiere, die sich mögen und andere, die sich gar nicht leiden können. Wenn man sich Mühe gibt und das beachtet, entsteht ein gutes Gleichgewicht." Die letzte Station neben dem sehr breiten Werktisch mit Ablauf war ein kleines Gewächshäuschen. "Da wohnt der Salat drin, bis ich ihn draußen einsetze. Sonst essen zu viele andere mit." Ruru nickte verständig. "Schnecken!" Nannte er den Feind. Henk brummte. "Nun, nicht alle Schnecken. Die Spanische Wegschnecke gilt als großer Vertilger. Die sind auch ziemlich robust. Wir haben früher die Schnecken an der Unterseite von Brettern im Beet abgesammelt. Heute arbeite ich hier im Garten mit Verbündeten." Er wechselte zum Regal, um einen schmalen Band hervorzuziehen. "Da, das ist die Tigerschnecke. Die frisst Spanische Wegschnecken, wenn man keine Laufenten halten kann." Ruru bestaunte die Zeichnung auf der Haut des Schnegels. "Ich habe noch Fadenwürmer. Die heißen als Familie Nematoden. Die helfen mir auch. Zudem klettert die Schnecke nicht gern übers spitze Eck." Erläuterte Henk, tippte an die Tischkante. "Sie kann noch so glibbern und kleben:, da kommt sie nicht herum. Deshalb kann man bei Hochbeeten Kanten ansetzen." Henk lächelte über Rurus konzentriertes Interesse an den Bildern und Zeichnungen zum Bodenleben. "Nun brauche ich mal deine Hilfe, Ruru. Ich kann mich ja nicht gut bücken, darum müssen wir im Team arbeiten." Das bedeutete, dass sich Ruru die Fußsohlen mit blau getöntem Kalkaufstrich für Bäume bemalte, bevor er glucksend auf Pappe stapfte. ~¢~ Junias präsidierte geschmeidig durch die Wohnküche zu einer Tür mit Milchglas, eine Stufe höher als das Bodenniveau. "Das hier war früher die sogenannte 'Gute Stube' für den Empfang bei besonderen Gelegenheiten. Die Schlafzimmer befanden sich alle oben. Weil Henk aber mit der Treppe Mühe hat, haben wir das Schlafzimmer hierher verlagert. Aufgeständert, wie es vorher war, aber ganz modern mit Fußbodenheizung. Nicht so furchtbar verstaubt und steif." Cornelius warf, durch einen strengen Blick herausgefordert, einen zögerlichen Blick in das Schlafzimmer. Es wirkte sehr gemütlich, ohne plüschig oder überladen zu sein, beherrscht von Weiß und Himmelblau, schlicht gehalten. Nur die Tagesdecke fiel farblich aus dem Rahmen, da sie mit prächtigen, orangefarbenen Teerosen übersät war. "Setzen wir die Führung fort. Zunächst mal das Bad." Dirigierte Junias ihn aus der Wohnküche durch die Schiebetür in den Gang. Doch nicht die Werkstatt mit der zweigeteilten Tür war ihr Ziel, sondern der hohe Raum davor. "Hier, die Treppe nach oben, zeig ich dir gleich. Zum Bad müssen wir drumherum." Hinter den offenen Stufen der Treppe erhellte an der Rückwand nur ein schmales Fenster den "Gartenzugang". Auf den groben Steinfliesen davor lag ein Flickenteppich aus alten Stofffetzen. Junias schlüpfte aus seinen Turnschuhen, was Cornelius animierte, es ihm gleichzutun. Auch hier blockierte eine Milchglastür den Zugang. In sie waren kleine Seesterne und Anker eingeprägt. "Früher gab's hinter dem Haus einen Schuppen, der quasi die Pumpe in der Wohnküche gespiegelt hat. Da konnte man im Schuppen in die Bütte steigen. Die Toilette wanderte durchs Gelände. Luzie und Henk haben deshalb auch eine Komposttoilette im Garten etabliert, neueste Generation. Fürs Bad wollten sie aber auf die Schuppenvariante verzichten." Er zwinkerte, ging voran. Man konnte eine Art Umkleide aufsuchen, die ein Herz in der Tür aufwies, somit die Bestimmung dahinter, das "stille Örtchen". Oder an ihr vorbei das große Waschbecken nutzen. Hakenleisten mit Handtüchern und Hängeampeln mit Zahnputzbechern und anderen Hygieneartikeln umrahmten es. An der anderen Seite, mit dem Rücken zur Wohnküche, fanden sich eine Duschkabine und eine großzügige Badewanne, geschmackvoll separiert durch einen langen Vorhang mit bunten Schnüren, aufgezogenen Muscheln und Holzperlen. Originell und doch sehr hübsch, geschickt ausgeleuchtet trotz der wenigen, natürlichen Lichtquellen. "Schick, oder? Lass uns mal die Höhenluft erproben." Junias schien mit Cornelius' stummer Bekundung von Respekt für die Gestaltung zufrieden, erklomm die offene Treppe. Die Stufenabstände waren knapper als gewohnt gehalten, die einzelnen Stufenbretter breit, aber recht kurz. Das erinnerte tatsächlich an alte Stiegen, vor allem auch der steile Winkel. "Da oben haben wir einen Flaschenzug." Deutete Junias an die hohe Decke über der Treppe, direkt unter dem Satteldach mit den offenen Balken der Konstruktion. "Wäre sonst arg umständlich, Möbel und Matratzen über die Stiege zu schleifen." Hier erkannte man den scheunenartigen Charakter des ehemaligen Wirtschaftsgebäudes noch besser. Am Treppenpodest vorbei brachte ein Schrägfenster Licht in einen recht schmalen Gang. Von diesem gingen drei Türen ab in benachbarte Zimmer. "Fangen wir hinten an. Was verbirgt sich hinter Tor Nummer 3?" Trompetete Junias mit der notorischen Begeisterung eines aufgedrehten Showmasters des vergangenen Jahrtausends. Er öffnete die Tür, gab den Blick auf eine fast Bergbauernhof-ähnliche Einrichtung frei. Zwei Kastenbetten mit rotweiß-karierten Bezügen und Tagesdecke, unterm großen Fenster ein Schreibtisch mit zwei Stühlen, die natürlich auch Kissen im selben Muster trugen, ebenso wie die Tischdecke. Dazu zwei altmodische Zuglampen am Kopfende der Betten mit Lampenschirm im gleichen Design, ein Flickenteppich über den Bohlen, ein offener Schrank mit Vorhang, erstaunlicherweise cremeweiß gehalten. "Das Gästezimmer, zumindest derzeit, früher ein Kinderzimmer. Henk und Luzie hatten höchstens zwei Kinder gleichzeitig da. Ich bin der längste Betreuungsfall, quasi Einzelkind." Grinste Junias schelmisch, schloss die Tür wieder. Cornelius folgte ihm in das zweite, mittlere Zimmer. Es war eindeutig größer dimensioniert, auch wenn ebenfalls zwei Betten dort Platz fanden. "Das ehemalige Schlafzimmer." Hier herrschte keine Alpenland-Idylle in Rot-Weiß-kariert vor. Im Kontrast zu den sehr alten, dunklen Stützen, Bohlen und Streben waren die Möbel hell, lasiertes Birkenholz. Die Zwischenwände, die schräg an das Satteldach angepasst waren, die Räume voneinander bis unters Dach separierten, hatte man lindgrün gestrichen. Vorhänge und Tagesdecken trugen Löwenzahn-Muster, in Gelb und Grün. Eine Kommode diente der Aufbewahrung neben einem offenen Regal und einem Herrendiener mit längerer Kleiderstange. Der Schreibtisch erinnerte eher an einen umgewidmeten Küchentisch, die Stapelhocker trugen einen Kissenstapel in Form von Löwenzahnblüten. Eine Schreibtischlampe und die Zuglampe an der Decke funkelten in abertausenden farbigen Glassplittern. "Luzies Lieblingsbeschäftigung. Scherben bringen bei ihr Glück, sei es aus Keramik oder Glas. Sie hat einen kleinen Pavillon zu ihrer Freiluftwerkstatt umgestaltet, damit sie dort 'herummatschen' kann. IHRE Worte! Sie legt Mosaike zusammen, gestaltet die kleinen Kunstwerke, die du hier überall auf dem Grundstück und unten findest." Was dann auch den Zustand der Schürze erklärte, der Ruru so frappiert hatte. "Das würde hier dann dein Zimmer werden. Ich hoffe, du hast nichts gegen ein 'Zurück zur Natur' und Löwenzahn einzuwenden?" Drohte er Cornelius spielerisch. Dem kam die Größe des Zimmers sehr großzügig vor, von der befriedenden Atmosphäre ganz zu schweigen. Auch wenn er vermutlich keinen einzigen grünen Daumen entwickeln würde. Es schien ihm hier sehr angenehm zu sein. "Tada, mein Reich!" Geleitete Junias ihn weiter, stieß die letzte Tür, die dem Treppenabsatz am nächsten gelegen war, auf. Es ähnelte in der Farbgestaltung sehr seinem Bewohner: die Möbel waren silbergrau lasiert, Vorhang-, Bezugs- und Teppichstoffe in dunklen Blautönen gehalten. "Bitte tritt ein." Lud Junias mit ausschweifender Geste ein, setzte Cornelius unter Zugzwang. Hier lebte tatsächlich jemand. Das offene Regal quoll über von Büchern, Schachteln, Heften, Papierstapeln. Das Bett war aufgeschlagen, die Kleiderstange dieses Herrendieners ausgelastet. Statt eines Stapelhockers oder Stuhls wartete unter dem Schreibtisch ein Pouf, scheinbar aus dunkelblauer, grober Strickware, bis zum Bersten ausgestopft. Die Lampenschirme hier, ebenso von der Hausherrin veredelt, beschränkten sich im Farbspektrum auf Blau, Silber, Grau und Spiegelscherben. Es fehlten jedoch die üblichen Jugendzimmer-Accessoires von Postern, Plakaten, Flachbildschirmen und anderen technischen Geräten samt Zubehör. Unwillkürlich fragte Cornelius sich, wie Junias seiner Spezialität nachging, wo dessen Rechner wohl sein mochte. Er hatte schon eine größere Übereinstimmung mit Adams' Zimmer erwartet, der offenbar gern bastelte und programmierte. Hinter ihm schloss Junias die Tür, was Cornelius prompt in Anspannung versetzte. Als sei ihm der einzige Fluchtweg abgeschnitten! "Die Aussicht ist auch prima. Man muss sich um Hitze oder Kälte keine Gedanken machen." Ließ Junias ihn wissen, folgte ihm zum Fenster, an das sich Cornelius eilig zurückgezogen hatte. "Wirklich sehr idyllisch. Ich sollte jetzt besser..." Fing er hastig an, doch Junias unterbrach ihn knapp. "Ruru ist bei Henk gut aufgehoben. Wenn wir 'Umstände' befürchten würden, hätte ich dich wohl kaum zu uns eingeladen, nicht wahr?" Seine dunkelblauen Augen funkelten. "Du scheinst übrigens digital gar nicht vertreten zu sein. Nutzt du keine sozialen Medien?" Cornelius blickte entschlossen aus dem Fenster, wo sich Bäume und Sträucher zu einer grünen Wand verflochten. "Ich bin damit nicht so vertraut." Außerdem verschlangen solche Aktivitäten Zeit, Energie und indirekt auch Geld. Nichts davon konnte er entbehren. "Tatsächlich habe ich nur ein Foto von dir gefunden. Von diesem Wettbewerb damals, in der Lokalsparte der Zeitung." Unwillkürlich zog Cornelius die Schultern hoch. Vor drei Jahren war von der örtlichen Filiale der Volks- und Raiffeisenbank ein kleiner Wettbewerb ausgelobt worden. Kinder und Jugendliche sollten Vorschläge einreichen, wie man öffentliche Plätze und Räume lebenswerter gestalten konnte. Auch in der Schule hatte man kleine Gruppen angeregt, die Vorschläge beisteuern könnten. Cornelius war, mehr oder weniger, in eine Gruppe gestolpert, hatte sich dann aber wie die drei anderen engagiert dem Thema gewidmet. Mehr Grün in Pflegepatenschaften ohne allzu großen Aufwand, garniert mit Pflanzplänen, Zugang zu Wasser, Auswirkungen auf die Umwelt. Er selbst hatte Studien in Fachjournalen dazu recherchiert, auf die man verweisen konnte. Im Ergebnis hatten sie eine Vorführung mit Modellen, Planzeichnungen und Begleittexten abgeliefert, waren mit einem Anerkennungspreis bedacht worden. Selbstverständlich mit Fototermin, was Cornelius in eine fürchterliche Lage brachte. Zu Hause durfte er nichts davon erwähnen. Niemand würde ihn also begleiten, was durchaus zu verschmerzen war. Aber wie sollte er eine Erlaubnis für ein Bild bekommen, wenn er nichts über den Wettbewerb und seine Beteiligung verlauten lassen wollte? So hatte er, um den anderen die Freude nicht zu verderben, die Unterschrift seiner Mutter gefälscht. Gehofft, man würde entweder kein Foto schießen, oder, falls doch, bloß klein im Lokalteil berichten. Es stand nicht zu befürchten, dass seine Mutter und ihr Ehemann entsprechende Meldungen verfolgten. Sein Gewissen plagte es doch, weil schon damals nicht zu ignorieren war, dass er auf Messers Schneide balancierte, in den Augen des Herrn im Hause ein überflüssiger Störenfried war. Anlass für Ärger musste deshalb tunlichst vermieden werden. Cornelius konnte jedoch Madame Fortuna gewinnen, sodass er und seine Schandtat nicht entdeckt wurden. "Hübsch, dachte ich. Bist ein ganzes Stück größer jetzt, natürlich." Junias kommentierte diese Offenbarung gelassen, zufrieden mit seiner Recherche, was Cornelius zweifeln ließ, ob er hier wirklich willkommen sein konnte. Plötzlich stand Junias direkt vor ihm, viel zu nahe, lupfte ungeniert das Hemd an, inspizierte die Folgen der Prügel. "Nette Handschrift. Muss ja ein reizender Zeitgenosse sein." Cornelius wäre zurückgestolpert, doch Junias' eiserner Handgriff um sein Handgelenk ähnelte einer Schraubzwinge. Zudem hatte der ihn blitzartig neben das Fenster an die Wand gedrängt, legte nun den Zeigefinger der freien Hand auf Cornelius' Lippen. "Ah~ah, ich bin dran, Kamerad. Du wirst nicht schreien. Das hätte gar keinen Sinn. Deine Lippen sind versiegelt, bis ich es anders wünsche." In Cornelius' Ohren klingelte es, während ein Schauder über seinen Rücken tiefer krabbelte. Er konnte es sich nicht erklären, aber seine Kiefer saßen wie verdrahtet aufeinander! Junias studierte ihn konzentriert. "Kommen wir gleich zum springenden Punkt. Du willst ganz sicher nicht, dass dein geliebter, kleiner Bruder bei einem Komplex-überladenen, gewalttätigen, aggressiven Vollidioten aufwächst. Dummerweise haben die biologischen Eltern den ersten Anspruch. Bei der gegenwärtiger Lage ist es unwahrscheinlich, dass ihr beiden zusammen bleibt." Cornelius spürte, wie ihm sich die Kehle zuschnürte. "Ich hingegen bin ein ausgesprochen versierter, sehr nützlicher Verbündeter. Ein Pakt mit mir kann dir dazu verhelfen, dem kleinen Kerl ein liebevolles, großherziges Heim zu verschaffen. Also sollten wir nun...oh, verflixt!" Schnaubte Junias unerwartet in seine forsche Ansprache hinein. "Das ist so unfair! Wieso riechst du bloß so lecker?!" Bevor Cornelius vollends die Fassung ob dieser skurrilen Situation verlieren konnte, war Junias vorgeschnellt, presste ihm, begünstigt durch ihren leichten Größenunterschied, den Mund auf die Kehle. ~¢~ "Ooooh...verflixt und zugenäht! Man sagt zwar, das Auge isst mit, aber bei mir dominiert zweifelsohne das Näschen!" Cornelius registrierte kaum die Wand in seinem Rücken oder das schmerzende, noch immer umklammerte Handgelenk. Er konnte nicht sprechen, noch immer nicht, aber erschrocken nach Luft japsen. "Ah, Manieren!" Erinnerte sich Junias mit schelmischer Stimme. Seiner Mimik war nun nämlich gar nichts mehr zu entnehmen: maskenhaft, ohne die Grübchen, porzellanglatt und makellos weiß, die Augäpfel bis auf die schwarzen Pupillen burgunderrot wie in einem SciFi-/Fantasyfilm. "Verzeihung, sehr ungezogen von mir, dass ich meinem Appetit einfach nachgegeben habe." Junias klang amüsiert, sein Gesicht blieb starr, sah man von wenigen Muskeln um die Mundpartie ab. Cornelius keuchte erneut auf. "Ich bin eben ein Genuss-'Mensch' trifft es nicht ganz. Sei's drum, lass mich rasch meinen Gedanken weiterführen, ja?" Er öffnete den Mund, ließ über den Zahnreihen nadelähnliche Dornen bedrohlich herausschnellen: raus, halbe Kraft zurück, wieder raus...und gänzlich zurück. "Ein wenig Naschen zum Erhalt meiner Gesundheit, ganz und gar ungefährlich. Keine Krankheitsübertragung, keine Viren oder Bakterien, keine Narben, gerade mal ein Pieks. Oh, richtig, ich erwähnte es ja: Luzie und Henk sind der nette Teil der Familie, absolut 'Mensch'. Ich bin für das Unheimliche zuständig, kein Mensch." Seine Stimme seufzte. "Deine Prioritätenliste berücksichtigend: nein, Ruru ist absolut sicher, von mir angeknabbert zu werden. Im Gegenteil, ich könnte sein bester, effektivster Schutzengel sein. Nein, selbstverständlich gibt es keine Vampire, wie alle wissen. Hat also keinen Sinn, irgendwem etwas erzählen zu wollen. Hmm...ah, mein Angebot! Ich sorge dafür, dass du mit dem kleinen Burschen hier leben kannst. Wenn wir davon ausgehen, dass du ihn bis zum Erwachsenwerden beschützen willst, wären das vierzehn Jahre Laufzeit. Als Gegenleistung lässt du dich von mir vernaschen. Ist nicht viel, keine Sorge, jede Blutspende würde dir mehr abfordern. Alles selbstredend ganz diskret und rein privat. Klingt das nicht vortrefflich?" Junias zwinkerte, was bei seinen burgunderroten Augäpfeln durchaus gewöhnungsbedürftig anmutete. Cornelius zitterte. Er hörte selbstverständlich die Worte, doch die Person vor ihm offerierte kaum Mimik, das Gehörte korrekt einordnen zu können. Außerdem registrierte sein Verstand verängstigt, wie stark und blitzschnell Junias agierte. Sprach der überhaupt die Wahrheit, so verrückt sie sich ausnahm?! Oder schwebte Ruru in Gefahr?! "Herrjemine. Hast du überhaupt verstanden, was ich dir gesagt habe? Vielleicht solltest du dich ein wenig ausruhen." Mit der freien Hand, kalt und porzellanglatt, deckte Junias Cornelius die Augenpartie ab, raunte in samtigen Timbre. "Jetzt wirst du schlafen. Wenn ich es sage, wachst du erholt und erfrischt auf." Ohne einen Laut von sich geben zu können sackte Cornelius in sich zusammen. ~¢~ Junias fing mühelos den jüngeren, etwas größeren Jugendlichen auf, bugsierte ihn auf sein Bett, löste die Schuhe, kontrollierte kurz Puls und Atmung, lupfte dann erneut das Hemd. "Hrmpf!" Kommentierte er, zupfte die Tagesdecke über seinen Gast, seufzte. "Verflixt gemein, so lecker zu riechen!" Hielt er Cornelius leise vor, mit einem Lachen in der Stimme, das sich auf seinen Zügen nicht zeigen konnte. Er verließ sein Zimmer, schloss leise die Tür hinter sich, stieg die steile Treppe hinab und betrat die Werkstatt. Henk arbeitete, eine Lesebrille auf der Nasenspitze, konzentriert an einem Paar Sohlen. Im Hängesessel, der an einem alten Balken befestigt war, eigentlich wieder auf einen Einsatzort draußen wartete, schlummerte Ruru, um Hasentuch und ein kleines Buch gerollt, in seinem Rücken Rasputin, ein prächtiger, grau-weiß gezeichneter Kater mit gewaltigen Schnurrhaaren. Behutsam nahm Junias das Buch auf, legte es ins Regal. "Cornelius ruht sich bei mir aus." Ließ er Henk wissen, trat an dessen Arbeitstisch. Dort sollten Ausschnitte einer alten Teichfolie, von Sisalmatten und Bergmannstüchern aus Reststoff die Grundlage für Sandalensohlen bilden. "Soll ich die für dich pressen?" Henk nickte knapp, deutete auf die kleinen Haken, die alle drei Abschnitte übereinander verbanden. Junias nahm die In-spe-Sohlen, legte sie in die alte Blumenpresse. Ihm bereitete es keine Mühe, ausreichend Umdrehungen zu absolvieren, bis die Sohlen gequetscht waren, die Leimschichten ihr Werk zusätzlich zu den Haken tun konnten. "Gute Idee. Willst du Espandrillas kopieren, mit den Stoffresten hier?" Erkundigte er sich nach einem Plan. Henk brummte, die Lesebrille verstauend. "Geht mit Socken. Wer weiß, wann die Geschäfte wieder öffnen können. Kinderfüße brauchen eine Anprobe." Sein prüfender Blick richtete sich auf Junias, der diese Aufforderung richtig dechiffrierte. "Erinnerst du dich an die kurze Meldung heute Morgen? Von dem Tumult im Parkhaus? Sie waren das. Der kleine Kerl dort hat sich unter ein Auto gequetscht, um nicht von seinem Vater mitgenommen zu werden." Junias faltete die Stoffdreiecke, um sie geübt an den Kanten zu umsäumen, bevor man sie auf die Sohlen klammerte. "Cornelius trägt auch die Spuren dieses...Herren. War zwei Tage im Krankenhaus, so hat der ihn zugerichtet." Henk kontrollierte seine Pflänzchen in der Kinderstube, aber Junias wusste, dass seinem Pflegevater kein Wort entging. "Ich frage mich, wann die Hemmschwelle überschritten ist, den eigenen Sohn auch so zu traktieren. Wenn der schon mitten in der Nacht mit Sack und Pack zu seinem Bruder davonläuft." Henk nebelte behutsam winzige Pflänzchen ein, bevor er ihre Mini-Sphäre wieder schloss. "Hab ihm erklärt, warum wir keine Laufenten halten können. Kann man auch mieten, wie Hühner. Hat mich gefragt, ob man nicht Tigerschnecken züchten und verleihen könnte. Für kleine Gärten. Aufgewecktes Kerlchen." Henk hielt neben dem Hängesessel inne, studierte das Stillleben darin. "Was bringt es, zwei zu trennen, die einander das Wichtigste auf der Welt sind? Welche Therapie soll heilen, wenn einer sehen muss, wie der Bruder krankenhausreif geprügelt wird?" Junias warf Henk einen auffordernden Blick zu. Der wich ihm nicht aus. "Liegt nicht bei uns. Ist knifflig. Müssen mit den anderen Parteien ins Gespräch kommen." Antwortete er, drehte die Bartenden sorgsam ein. Was bedeutete, dass trotz des Alters und ihrer eigentlichen Konzentration auf die Kurzzeitpflege älterer Jugendliche die Bereitschaft bestand, nicht nur den fünfzehnjährigen, sondern auch den vierjährigen Bruder aufzunehmen, gleichzeitig drei Pflegekinder zu betreuen. "Lass uns später sprechen. Vorbereitung ist wichtig." Junias nickte beifällig, denn es bedeutete, dass sie gemeinsam eine Strategie entwerfen würden. "Ich werde mich rasch an meine Aufgaben setzen. Zum Kaffee hole ich euch dann ab." Kündigte er an, lächelte zufrieden. Henk brummte beipflichtend, legte sich die restlichen Bestandteile zurecht, wenn die Presse ausreichend ihrer Aufgabe nachgekommen war. Er entschied, eine langsame Runde durch den Garten zu drehen, Ruru in Rasputins Obhut zu lassen. Der kleine Bursche brauchte eine Siesta und er selbst mehr inneren Frieden, als er gerade aufbringen konnte. ~¢~ Luzie arbeitete konzentriert, winkte Junias nur beiläufig. Der hob einen Koffer aus dem Regal zwischen Büchern und Schachteln, recht weit unten, transportierte ihn zum langen Tisch, baute dort den Inhalt gelassen auf: Laptop, zwingende Voraussetzung für seine Schulpflichterfüllung, dann die Peripherie plus Kabelstrecke für die Onlineverbindung, um rasch nachzusehen, was das Postfach bereithielt, welche Erkundigungen im Netz zu ziehen waren. Er arbeitete gewohnt separiert, zügig und strukturiert. Ziemlich altmodisch, als gäbe es keine Flatrates, nur Modemgeschwindigkeit und stark begrenzte Ressourcen, doch Junias verteidigte seine recht spartanisch anmutende Vorgehensweise unbeeindruckt. Sich nicht blind auf alles verlassen zu können, sich selbst erinnern zu müssen, zuerst nachzudenken, bevor man nachsah: das schärfte den Verstand. Natürlich war es nicht wünschenswert, wenn all die gewohnten Annehmlichkeiten ausfielen. Trotzdem sollte man sich ein Quäntchen Eigenregie und Kompetenz bewahren, herausgefordert sein, mal außerhalb des eigenen Hinterhofs nach Lösungen zu fahnden. Nachdem er alles Anstehende mit verdächtig hohem Tempo erledigt hatte, verstaute er die Hardware wieder im Koffer, transportierte ihn zum Regal, deckte anschließend den Tisch ein, spazierte in die Werkstatt. Henk schien sich noch im Garten zu befinden. Junias beugte sich in den Hängesessel, raunte leise in Rurus Ohr. "Du wirst schlafen, bis Henk deinen Namen sagt. Dein Körper ist erholt. Die Schrammen verheilen rasch." Er richtete sich auf, verließ lautlos die Werkstatt, kletterte die steile Stiege nach oben. In seinem Zimmer schlief Cornelius wie angeordnet. Junias nahm auf der Bettkante Platz, grummelte. Wie fies war das denn, dass der Bursche so vernaschenswert duftete?! Seufzend tippte er Cornelius auf die Nasenspitze. "Frisch aufgewacht und mucksmäuschenstill!" Kommandierte er. ~¢~ Kapitel 8 - Ein Pakt, sie aneinander zu binden Cornelius klappte die Lider hoch, spürte sich unerwartet munter und erholt. Er starrte in burgunderrote Augen mit schwarzen Pupillen und ein maskenhaftes, porzellanglattes Gesicht unter dem silbergrauen Lockenschopf. "Willkommen zurück. Ja, ich weiß, gerade kannst du nichts sagen. Ich würde gern noch klitzekleine Details zu meinem Angebot für unseren Pakt ergänzen. Immerhin möchte ich durchaus, dass du gründlich und informiert nachdenkst! Also, ich bin, wie man unschwer erkennt, kein Mensch. Allerdings bin ich in der Lage, andere so zu beeinflussen, dass sie mich als Menschen ansehen. Ich bin stärker und schneller, als es den Anschein hat. Ansonsten bin ich sehr manierlich, stubenrein, für meine Art sehr aufgeschlossen und gesellschaftsfähig." Junias strich ihm mit einer kalten Hand über die Schläfe, die Wange, die Koteletten. "Meine tatsächliche Natur bleibt unser Geheimnis. Oder unser Pakt. Vierzehn Jahre Schutz und Heimat für Ruru und dich. Gegenleistung: kleine Blutspenden für mich." Cornelius blinzelte nervös. Er erinnerte sich daran, nicht sprechen zu können. Hieß das auch, dass er sich nicht aufrichten durfte? Tapfer versuchte er es. Junias ließ ihn gewähren. "Du fragst dich vielleicht: aber die Haare?!" Plauderte der leichthin, ohne große Mimik. "Tja, alle DENKEN natürlich, sie seien gefärbt. Sind sie nicht. Ich bin eitel genug, sie nicht verstecken zu wollen! Absurd, das einzig Echte für falsch zu halten, doch was wäre das Leben ohne ein wenig Komik, hm?" Cornelius, der nun saß, konnte darauf nicht antworten. "Oh, mein Fehler, Verzeihung! Sprich frei heraus." Was Cornelius zunächst veranlasste, tief durchzuatmen, wiederholt, bis er die Anspannung auf ein erträgliches Maß reduziert hatte. "...warum...tust du das?" Brachte er schließlich heraus. Junias ließ seine dornenartigen Zähne herausschießen. "Ich brauche Blutspenden oder zumindest einen Bestandteil im menschlichen Blut. Warum ich DIR das zumute? Einfach: du bist so verdammt lecker! Du könntest dringend meine speziellen Fähigkeit brauchen. Fairer Interessenausgleich, oder nicht?" Selbstverständlich war das vollkommen verrückt. Es gab keine Vampire! Nicht-Menschen existierten auch nicht jenseits von Fiktionen! Theoretisch. Cornelius studierte Junias überfordert. WENN das ein Scherz war, dann ein allzu aufwändiger. Zu welchem Zweck auch? Unterdessen leckte sich Junias über die Lippen. "Denk ruhig über deine nächste Frage nach." Gewährte er, zuckte vor. Erneut ächzte Cornelius ob der Kollision auf, aber er spürte hauptsächlich die Arme, die ihn umschlangen, weniger die Dornen in seiner Ader, registrierte jedoch die Kälte der Lippen auf seiner Haut, was ihn schaudern ließ. "Es tut doch nicht weh, oder? Ich bin mir fast sicher, dass..." "Deine Haut ist so kalt." Unterbrach Cornelius, richtete sich auf. Surreale Situation, ja, aber er durfte jetzt nicht in Schockstarre verharren! "Das kann ich nicht leugnen. Bisschen ärgerlich, aber im Sommer zum Beispiel bin ich doch eine angenehm erfrischende Abwechslung!" Warb Junias für sich, die Miene maskenhaft, nur die Stimme launig. "Was ist mit deinem Gesicht? Es fällt mir schwer, deine Worte einzuordnen, wenn..." "Ah. Die notwendige Lernkurve. Tja, es stimmt, ich kann mit meiner Stimme Mimik transportieren, die ich nicht habe. Nur, wenn du mich so siehst wie ich bin, fällt das aus. Andererseits, wenn die Masken-Order die nächsten Wochen gilt, werden eine Menge Leute lernen müssen, auch ohne Mimik zu leben." Es klang verletzt. Cornelius fragte sich, ob Junias eine Einschränkung hatte, oder dieses Manko bei "seiner Art" üblich war. Er votierte in der fragilen Lage, in der er sich befand, für eine Entschuldigung. "Tut mir leid, ich wollte keinen Vorwurf aus meiner Frage machen. Gerade fällt es mir einfach sehr schwer, die Situation richtig zu beurteilen." Oder zu akzeptieren, dass Junias ihm über Wange und Koteletten strich, die wie seine Naturkrause längst hätten gestutzt werden müssen. "Bisschen spät für 'soziale Distanz'." Schien Junias seinen Gedanken aufgefangen zu haben. In der Stimme schwang ein Lachen mit, während das Gesicht fast starr blieb. "Hör mal, ich hab nicht vor, dir was anzutun. Was ich dir anbiete, meine ich sehr ernst, immerhin sind das vierzehn Jahre! Denk bitte gründlich darüber nach, okay?" Cornelius nickte minimal, weil das die vernünftigste Reaktion erschien. Junias erhob sich geschmeidig, streckte ihm die Hand hin. Nach einem Augenblick des Zögerns nahm Cornelius sie, entstieg dem fremden Bett. "Darf ich fragen?" Er stellte die Schultern aus, die noch breiter werden konnten. "Bitte sehr, immer gern!" Neckte Junias' Stimme. "Der Lärm vorhin?" Junias lachte leise, schnellte vor, küsste Cornelius kalt, aber sanft auf die Lippen. "Aufgeweckt wie der kleine Kerl! Ich gestehe, ich mochte es nicht, dass so ein unangenehmer Anschleicher uns folgte. Als ich ihn ansprach, wurde er ungefragt ausfallend und zudringlich. Da sah ich mich aufgefordert, seine persönliche Evolution auf eine höhere Stufe zu heben. Oh, und ihn in einen geleerten Müllcontainer." ~¢~ Henk hatte die Blumenpresse um ihre Aufgabe erleichtert, die gesäumten Stoffecken aufgetackert. Vorne eine Zehenkappe, an den Fersen ein Doppelband, das um die Knöchel gebunden werden konnte. Vorsichtig beugte er sich herab, raunte leise. "Ruru? Lass uns mal deine Sandalen erproben." Nach kurzem Blinzeln und Justieren des Latzes kletterte Ruru bereits aus dem Hängesessel. "Oh! Sie sind schon fertig?!" Amüsiert verfolgte Henk, wie Ruru hineinschlüpfte, konzentriert "zwei Hasenlöffel" band. Schnürsenkelschleifen waren gar nicht so einfach! "Was meinst du, taugen die was?" Holte Henk das Urteil des kleinen Testers ein. "Schön! Vielen Dank!" Strahlte Ruru zu ihm hoch, präsentierte den Hasenpower-Gruß. Immerhin, man durfte nicht einfach aus Freude andere anknuddeln, weil die unsichtbaren Viren noch herumschwebten! Auch ohne diese Demonstration begeisterter Zuneigung fing Henk die Botschaft auf. Er drehte sich die Bartenden erfreut ein. "Zeigen wir sie den anderen, hm? Junias wollte den Kuchen servieren." Er streckte die große Hand nach unten. "Prima! Ich mag Kuchen!" Ruru griff zu, das Hasentuch in der anderen Hand, grinste zu ihm hoch, bestens gelaunt. Da konnte man für eine Weile die Schrammen in seinem Gesicht vergessen. ~¢~ Cornelius kletterte hinter Junias die Stiege hinunter, während seine Gedanken rasten. Dieser Nicht-Mensch vor ihm war viel schneller und stärker, konnte offenbar mit seiner Stimme Reaktionen beeinflussen, ein anderes Erscheinungsbild vortäuschen. Hypnose? Oder eine Droge, die über diese 'Dornen' ins Blut seiner Opfer gelangte? Was Cornelius nach einem Augenblick auf der untersten Stufe verharrend abtat. Nein, so schnell funktionierte kein Kreislauf. WAS glücklicherweise funktionierte, war sein Sinn für Pragmatik: zunächst sichergehen, dass Ruru nichts geschehen war. Anschließend wäre räumliche Distanz zu Junias äußerst wünschenswert! Dieses Vorhaben musste jedoch aufgeschoben werden, denn es galt, Kaffee und Kakaopulver mit Rübensirup zu servieren. Der Erdbeerkuchen bekam kein Sahnehäubchen, dafür kleine Minzblättchen zur Begleitung. Ruru präsentierte begeistert die neuen Sandalen, strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Luzie versorgte sie unterdessen seufzend mit den neuesten Entwicklungen, wie stets Freitagnachmittags, sehr zum Verdruss von Eltern, Erziehenden und den Schulkollegien. Man hatte Bibliotheken und Buchhandlungen wieder unter Auflagen geöffnet, da sollte ab Montag auch das Lernen "außer Haus" wieder starten! Die Abschlussprüfungen hatten schließlich funktioniert. Deshalb würde es in kleinen Gruppen maskiert mit Abstand auch klappen! Selbstredend nach Priorität, die Übergangsklassen zwischen Schulformen und die Abschlussklassen des kommenden Jahrs. Verhungern würde auch niemand, die Flächenbegrenzungen fielen. Jetzt konnte man sich Essen abholen oder liefern lassen. Verpflichtend musste jedoch der Schnodderlappes montiert werden, in Verkehrsmitteln, Geschäften, geöffneten Einrichtungen und geschlossenen Räumlichkeiten. Sollte das klappen, würde man nach dem Feiertag zum ersten Mai über weitere Öffnungen nachdenken. "Und Kindergärten?" Erkundigte sich Cornelius angespannt. Luzie wedelte, raufte sich den Schopf. "Oh, keine Rede davon! Vorhin kam über den Ticker rein, dass gegen die vierte Grundschulklasse-Verordnung geklagt wird. Und ich könnte WIRKLICH~WIRKLICH doch mal zum Friseur gehen wollen, bevor Krähen bei mir nisten!" Junias lachte, Henk brummte. "Na, ihr habt recht, einen großen Unterschied macht es nicht." Lachte Luzie. "Aber mit ein wenig Glück wird jede Woche wieder mehr möglich." Was Cornelius nur teilweise mit Erleichterung kontemplierte, während er an seinem Kakaobecher nippte. Lockerungen bedeuteten nicht, dass es für ihn einen Weg zurückgab. Oder dass Ruru eine Zuflucht vor IHM hatte, sei es Kindergarten oder Rückkehr zur Arbeit. Das Gastgewerbe würde ohnehin nicht rasch in den alten Zustand verfallen, da gab es keine Illusionen. Ihre Zwangslage verbesserte sich also nicht sonderlich, auch wenn es ihn sehr erleichterte, dass Ruru nun über ein Paar Sandalen verfügte. Die Öffnung aller Geschäfte mit Auflagen nützte wenig, wenn man kein Geld hatte, um dort etwas zu erwerben. Luzie musste wieder an ihren anmutigen Sekretär zurück. Junias verkündete, das Geschirr später zu spülen, denn er wollte ihre Gäste durchaus noch bis zur Kreuzung begleiten. Henk nahm Ruru an die Hand, folgte dem gewundenen Pfad durch ihren ungewöhnlichen Garten. Dieses Mal kam von Ruru kein begeistertes Kommentieren, Staunen und Glucksen. An der Pforte blieb er stehen, blickte hoch. "Ich bin nicht wirklich ungezogen. Ich wollte nur bei Nelli sein." Warb er eilig um Sympathie, offenkundig traurig, dieses Wunderland verlassen zu müssen. Henk drückte sanft die Kinderhand in seiner großen. "Wenn dich jemand über die Kreuzung bringt, darfst du immer gern kommen, Ruru. Ich hatte heute viel Spaß. Über die Leih-Tigerschnecken muss ich auch noch ein wenig nachdenken." Ruru nickte tapfer, löste brav die Hand, präsentierte den Hasenpower-Gruß, bevor er Cornelius' Hand umklammerte. "Vielen Dank für die Einladung, das Essen und natürlich die Sandalen. Es ist ein wunderschöner Garten mit einem herrlichen Haus. Wir beide hatten auch einen tollen Nachmittag." Sprach Cornelius aus, was Ruru zweifelsohne umtrieb. "Ah, genug der Reden! Ist keineswegs das letzte Mal, wenn meine Meinung zählt!" Preschte Junias in die leicht beklommene, melancholische Stimmung ungeniert hinein. "Wie sagt der rosarote Panther doch gleich? 'Heute ist nicht alle Tage, ich komm wieder, keine Frage!'" ~¢~ Trotz der schmucken Sandalen nahm Cornelius Ruru hoch auf den Arm. Der blickte noch lange in die Stichstraße zum Feldweg, kuschelte sich dann in seine Halsbeuge. "Nelli?" "Hm?" "Wer ist der Panther?" Junias, der gemächlich neben ihnen flanierte, kein Gespräch forcierte, prustete unterdrückt. "Ach herrje, kennt ihr den nicht? Klar, so kann ich euch nicht aufheitern!" Er zwinkerte Cornelius zu, der einmal mehr registrierte, dass er Junias nur noch 'in Natur' zu sehen bekam. Schon schwanden ihm die Erinnerung an die vorgetäuschten Züge, die falschen Grübchen, die marineblaue Iris, die lebendigere Hautfarbe! "Also, das ist eine Zeichentrickfigur. Ein rosaroter Panther namens Paulchen, läuft stets aufrecht, ist ziemlich gewitzt. Gehört zu den Cartoon-Klassikern. Aber ohne Fernseher kennt man die wohl nicht!" Er seufzte theatralisch. "Ich würde da unbedingt ein bisschen nachholen. Kleine Lektionen in Alltagsanarchie, Situationskomik und feine Reime." Cornelius strich Ruru kreisend über den Rücken. "Im Augenblick müssen wir uns auf andere Dinge konzentrieren." Ließ er Junias ungewohnt direkt wissen. Noch mehr Punkte auf der Liste, die Ruru entbehren musste, konnte er aktuell wirklich nicht goutieren! "Gutes Stichwort!" Lobte Junias ironisch, keineswegs beeindruckt. "Konzentration auf die wichtigen, die entscheidenden Lösungen." Unwillkürlich verspannte Cornelius die Schultern. Die Anspielung war unnötig, er selbst sich seines Dilemmas mehr als bewusst! Glücklicherweise näherten sie sich der Kreuzung, was ihn einer Antwort enthob. "Vielen Dank für die Einladung und die Begleitung." Hielt Cornelius sich an die höflichen Umgangsformen. "Gern geschehen. Wir bleiben in Kontakt." Zwinkerte Junias mit ausdruckslosem Gesicht und einem Lachen in der Stimme. Cornelius nickte knapp. Genug Geplänkel, aus dem er wohl nie siegreich hervorgehen würde! Er beeilte sich auch nicht sonderlich, zur Wohnung von Frau Kappel zu gelangen. "Nelli?" "Hm, was ist?" "Du sagst nichts." Stellte Ruru fest. Was Cornelius seufzen ließ. "Stimmt. Mein Kopf ist einfach gerade so voll. Heute ist so viel passiert, da muss ich erst mal Ordnung in meine Gedanken bringen." Ruru schmiegte sich an ihn. "Mein Kopf ist auch voll. Es war so prima und nun bin ich traurig." In Cornelius' Kehle bildete sich ein großer Knoten. "Das verstehe ich, Ruru. Uns wird schon was einfallen, versprochen." Allerdings, konnte er wirklich auf die naheliegende, völlig surreale Lösung vertrauen?! ~¢~ Als sie in die Straße einbogen, kamen ihnen zwei Jugendliche entgegen, der eine sehr attraktiv mit dunkelblondem Lockenschopf und sehr hellen Augen, Stoffhosen mit Bügelfalten zu einem schlichten Hemd tragend, der andere sehr schlank, eine auffällige Zipfel-Frisur, die seine androgyne Erscheinung unterstrich. Er wurde an der Hand geführt, während die andere Hand des größeren Begleiters eine Leine apportierte. "Ahoi, Pirat! Wir haben wohl denselben Schneider!" Adressierte der größere Jugendliche aufgekratzt Ruru, spielte auf den gemusterten Stoff an, der seine Maske und Rurus Kopftuch betraf. "Mast und Schotenbruch, beim Klabautermann!" Wünschte er, salutierte in lässiger Grandezza, was dem zunächst verblüfften Ruru ein Kichern entlockte. "Ehrlich, Tibo, könntest du wohl einen Gang runterschalten?" Murmelte sein Begleiter, verlegen lächelnd. "Momentan? Ausgeschlossen, bin bester Laune! Außerdem kann man mir doch nicht zum Vorwurf machen, dass dieser Garten-Troll rhetorisch untermotorisiert ist! Nicht wahr, Bella?" Die Hündin bellte einmal bestätigend. Cornelius hörte in der Entfernung den schmaleren Jugendlichen vernehmlich aufseufzen. "Und jetzt müssen wir selbstverständlich auch den ganzen Weg laufen..." Man konnte vermuten, dass die beiden bei Adam zu Besuch gewesen waren. Vor ihnen seilte sich jedoch das Körbchen mit dem Schlüssel ab. Frau Kappel winkte. "Da seid ihr ja! Kommt rein, denn die Show ist ja leider vorbei!" Was sie damit meinte, erklärte sie königlich amüsiert am Tisch, wo sie "Hagebuttenwasser" ausschenkte. "Habt ihr die beiden Jungs mit dem hübschen Hund zufällig gesehen, ja? Die waren bei Adam zu Besuch, Schulkameraden, nehme ich mal an. Der alte Knodderkopp hat rübergeblöckt, mutiert wohl zum Blockwart. Aber da hat er sich den Falschen ausgesucht! Hat ihn in Grund und Boden zitiert, der Lockenschopf! Kannte jede Passage der Verordnungen, sehr geübter Rhetoriker, ich würde Lektionen von Cicero vermuten!" Sprudelte sie förmlich hervor, in den Genuss einer Freiluftveranstaltung mit Logenplatz gekommen zu sein. Cornelius lächelte höflich. "Das haben wir wohl verpasst. Ob ich am Computer nachschauen kann, ob Nachrichten eingetroffen sind? Bis jetzt hat sich noch niemand gemeldet." Erkundigte er sich gleichsam indirekt, was Entwicklungen hier betraf, über die man ihn nicht informiert hatte. Frau Kappel runzelte die Stirn. "Oh, hier war nichts los, ich weiß auch nichts Neues. Wahrscheinlich sind die mit dem geplanten Schulstart am Montag ausgelastet." Eine Hoffnung, die Cornelius ebenfalls hegte, weil ihnen dann das Wochenende blieb. Andererseits, wenn er in die Schule gehen müsste, wäre Ruru allein bei Frau Kappel. Ein Umstand, der vermutlich nicht im Sinne der Behörden sein konnte. "Benutze ruhig den Computer, Cornelius. Die Handschuhe liegen daneben. Ah, Ruru, zeig mir mal deine tollen Sandalen!" Ruru präsentierte sie mit zögerlichem Lächeln. Während Cornelius sich hinter Tastatur und Maus klemmte, hörte er, wie es Frau Kappel gelang, Ruru aus der Reserve zu locken, sich erzählen zu lassen, was er gesehen und erlebt hatte. Unterdessen erreichte ihn lediglich die Mitteilung, dass man spätestens am Sonntagnachmittag einen "Stundenplan" mitteilen würde, wer in welcher Schicht an welchen Tagen für maximal zwei Stunden in die Schule kommen konnte. Zwar hatte man wie manche Einrichtungshäuser Einbahnwege abgeklebt, Abstände ausgemessen, Wartepunkte markiert, aber... Aber was passierte mit der bereits bekannten Eil-Klage? Kämen auch solche für andere Jahrgangsstufen dazu? Wer konnte vor Ort in Empfang nehmen? Was sollte man an "Lernmitteln" ausgeben, um annähernd vergleichbare Voraussetzungen zu schaffen? Dabei hatte man noch nicht mal alle erreicht und ein Lagebild über die vorhandenen Ressourcen! Cornelius meldete sich ab, rückte jedoch nicht vom Computer weg. Nachdenken! Junias WAR merkwürdig. Vampire blieben eine Erfindung aus Schauerromanen, die mit damals noch unerklärlichen Phänomenen geschickt Ängste hervorriefen. »Bleib praktisch!« Ermahnte Cornelius sich, ballte die Fäuste in den Handschuhen. Es war nicht in Abrede zu stellen , dass Junias ihn beeinflussen konnte, viel schneller reagierte, sich bewegte, stärker war, als es den Anschein hatte. Die seltsamen Dornen, das Blut, das Erscheinungsbild: er musste es als gegeben akzeptieren. Sollte er aber wirklich...? Cornelius atmete tief durch. Luzie und Henk waren so nett. Ruru liebte den Garten. »Was passiert, wenn ER nicht mehr die höhere Evolutionsstufe einnimmt?« Der Gedanke ließ ihn schaudern. Auch wenn Junias es nicht EXPLIZIT ausgesprochen hatte: Cornelius vermutete, dass der Mann seiner Mutter ihnen gefolgt war. Unglückliches zeitliches Zusammentreffen an der Kreuzung! Wenn Junias getan hatte, was er behauptete, wollte Cornelius keine Wetten abschließen, dass Ruru ungeschoren davonkam. Ob ihre Mutter intervenieren würde? Daran zweifelte er. Warum dann zögern?! »Deshalb.« Formulierte er in Gedanken, bevor er den Rechner abstellte. »Weil es bedeutet, Ruru die Mutter wegzunehmen.« Denn nur, wenn sie ebenfalls einwilligte, konnte Ruru auf eine Pflegschaft auch bloß hoffen. Konnte er sich aber dieses Urteil anmaßen? Der selbst mit einer Mutter aufgewachsen war? Zumindest hatte sie sich bemüht, ihn nicht als einzige Bezugsperson vereinnahmt, sondern in die Obhut verschiedener Institutionen gegeben: Kindergarten, Hort, Ganztagsschule, Nachmittagsbetreuung. Das war nicht selbstverständlich. Zudem stand Ruru noch ganz am Anfang mit seinen vier Jahren, während er selbst Richtung Schulabschluss marschierte, elf Jahre Vorsprung vorwies. Wäre es nicht doch ein Akt böswilliger Grausamkeit, Ruru und ihre Mutter zu trennen? Cornelius zupfte die Handschuhe ab, rieb sich kräftig über das Gesicht, tastete auch seinen Hals ab. Keine Spur von Einstichlöchern. Klar, das hätte Ruru ihm auch gesagt! »Was mache ich bloß?!« Vielleicht würde Junias es auch gar nicht gelingen... Wobei man überhaupt mal über das Kleingedruckte des angebotenen Pakts reden musste! Denn häufig taten sich genau dort die Stolperfallen auf. »Der hat dich auch geküsst!« Erinnerte ihn unbehaglich sein Verstand. Auf den Mund geküsst. Premiere, wenn auch recht kalt. Was bedeutete diese selbstherrliche Geste? Sich Junias auszuliefern nach den unerquicklichen Jahren mit dem Ehemann seiner Mutter präsentierte sich nicht als reizvoll. Cornelius erhob sich langsam, atmete tief durch. Er fühlte sich außerstande, jetzt eine Entscheidung zu treffen. Viel zu viele Steinchen in diesem Mosaik fehlten, um sich ein schlüssiges Bild für ein Urteil zu machen. Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf die beiden anderen in der Wohnküche konzentrierte, fand er sie vor dem Fernseher. Frau Kappel operierte mit der Fernbedienung, immer wieder über ihre Lesebrille äugend. Ruru saß gespannt neben ihr, das Hasentuch drückend. "Aha!" Triumphierte Frau Kappel, aktivierte die Lautstärke. Da legte sich die Ameisenbärin Elise gerade mit Paulchen Panther an! ~¢~ Kapitel 9 - Einander beistehen Angel hatte BlueMax streng ermahnt, nicht als Pseudo-Mensch Hinweise an Unternehmen zu schicken, deren virtuelle Eingeweide er mühelos durchleuchten konnte. Natürlich wäre es eine sehr nette Geste, auf Unzulänglichkeiten hinzuweisen, nur... Nur waren Menschen eben kontextorientiert! Da konnte man "Hinweise" schon mal in den falschen Hals bekommen und das Bundeskriminalamt einschalten. Vor allem, wenn man die menschliche Psyche nur von außen kannte. Wenigstens hielt sich BlueMax nun bei Laune, indem er freie Rechnerkapazitäten aufstöberte, um beim weltweiten Lauf nach Heilung mitzuwirken, auch wenn Angel sich keinen Illusionen hingab, wie lange diese Beschäftigung anhalten mochte. Als er sich, blinzelnd, denn Tageslicht gab es in seiner "Technik-Höhle" nicht, über den leeren Vorplatz aufmachte, bemerkte er Matti sofort. Der einzige Mensch, der geschmeidig mitten auf dem Pflaster sitzen, auf seinem umgedrehten Rucksack Schulaufgaben korrigieren konnte. Dabei ebenso alert wie souverän und gelassen wirkte! Matti bugsierte die Sonnenbrille auf seinen gestutzten Schopf, lächelte. "Ich nehme mal an, ich brauche Bewegung, weshalb du mich aufliest, hm?" Grummelte Angel, der sein geliebtes Volleyball vor einigen Jahren hatte aufgeben müssen, weil man die Turnhalle abgerissen hatte. In der Zwangspause verstreuten sich dann die letzten Enthusiasten in alle Winde oder entdeckten andere Sportarten. "Na ja, gerade reißen sich viele um Spaziergänge, also..." Grinste Matti ihn ungeniert an, offerierte aus dem Rucksack Essiggürkchen aus einem Glas. Angel schnaubte, die Hände in die Hüften gestemmt, das Kinn gereckt. Doch durch die staubigen Brillengläser ließ sich selbst mit grünen Katzenaugen nicht richtig funkeln. "Sehr hinterhältig, mich auf diese Weise zu bestechen." Was nicht bedeutete, dass er nicht mit einem angebotenen Picker die erste Gurke harpunierte und genüsslich lutschte. Neben ihm lachte Matti. "Ich brauchte einfach ein bisschen Gesellschaft, Angel. Bevor mir die letzte Gehirnwindung durchbrennt angesichts der Vorstellungen vom Schulunterricht, die einige so haben." Ein besorgter Seitenblick streifte ihn. "Klingt fürchterlich." Matti nickte, schlug ein gemütliches Tempo ein, das Gurkenglas nonchalant apportierend. "Ist es auch. Etwa 20 Prozent sind gar nicht ausgerüstet für digitalen Unterricht zu Hause, keine Geräte oder nicht ausreichend, keine gute Anbindung, Konkurrenz mit dem 'Home office'. Dann gibt es noch die, bei denen aus anderen Gründen das Lernen außerhalb der Schule nicht funktioniert, keine Lernatmosphäre, zu viele Leute auf zu engem Raum, keine Resonanz, kein geregelter Tagesablauf mehr. Auf der anderen Seite habe ich Kolleginnen und Kollegen, die keine Videos drehen wollen, sonst hätten sie ja 'als Unterhaltungsclowns beim Fernsehen anfangen können'. Kann man auch nicht von der Hand weisen, denn wer ist zu Hause schon so gut ausgerüstet, dass man sich die Videos auch anschauen kann? Dazu kommen die rechtliche Unsicherheit, Haftungsfragen, Kosten, mangelnde Ergonomie am Küchentisch..." Angel mümmelte mitfühlend eine weitere Essiggurke. "Mein letzter Stand ist, dass wir die Klassen halbieren, im Schichtunterricht maximal zweieinhalb Stunden. Zwei Tage Präsenz, also fünf Stunden vor Ort pro Woche, weil es ja keine Kantine gibt, die Pausenregelungen nicht eingehalten werden können. Spannende Frage: was soll man mit fünf Stunden bewältigen, damit Lernen zu Hause irgendwas bringt?" Nun nötigte Angel Matti ebenfalls eine Essiggurke auf, Solidarität mit seiner Vorliebe einfordernd. "Ich nehme mal an, dass die Antwort auf die letzte Frage noch auf sich warten lässt?" Vermutete er tollkühn. Matti nickte, sich die Lippen leckend. "Wir haben noch die Unterbrechungen durch die Pfingstfeiertage zu bedenken. Beweglichen Feiertage. Schon nähern sich die Sommerferien, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dass es Quarantänen geben könnte, wenn wieder so viele an einem Ort zusammenkommen." Er wollte lieber nicht aktuell eruieren, ob es Desinfektionsmittel, Gartenschläuche und Eimer sowie Seife für jeden Klassenraum gab, weil man vor Jahren schon die früher wegen der Tafeln vorhandenen Waschbecken abgebaut und die Leitungen trockengelegt hatte. So konnten sie nicht kaputtgehen und Kosten verursachen. Wobei eine Gartenschlauch-Medusa wohl kreativ, aber nicht zulassungsfähig wäre, wie er vermutete. "Gab es denn gar keine guten Nachrichten?" Hakte Angel nach, denn allzu deprimiert wirkte Matti nicht. "Hmm..oh, das Pärchen macht sich gut, die Aufgaben kommen pünktlich rein! Sie klangen auch ausgesprochen munter am Telefon." Was Matti freute, der nicht beabsichtigte, ohne Not auf die etwas ungewöhnlichen Lebensumstände des Wikingers hinzuweisen. Angel drehte unterdessen resolut den Deckel auf das Glas, gönnte den verbliebenen grünen Bewohnern eine Galgenfrist. "Was ist mit dem Jugendamt? Sie haben Ruru doch nicht seinen Eltern übergeben, oder?" Der kleine Kerl tat ihm leid, ganz besonders nach Mattis Schilderung über die Flucht unter den SUV. "Hab nichts gehört, was ich als gutes Zeichen einstufe. Solange man noch prüft und abwägt, können die Jungs zusammenbleiben. Für Cornelius gibt es sogar schon eine potentielle Pflegefamilie." Die rahmenlose Brille verstauend hängte Angel sich bei Matti ein. "Aber wenn die Schule anfängt und die Kindergärten öffnen...!" Erkannte er zielsicher das Dilemma. "Ja." Bestätigte Matti, streichelte sanft über Angels Unterarm. "Aber so weit ist es noch nicht." ~¢~ "Ich glaube, es hat alles geklappt." Verkündete Silvain, schob die abtrünnige Brille wieder höher auf den Nasenrücken. Mit seinem Lesegerät, dem rudimentären Browser und dem "Hotspot" eines Telekommunikationsunternehmens für Leseratten operierte er recht geschmeidig. Natürlich wären ein Computer und eine kabelgestützte Verbindung ins Internet besser gewesen, aber man konnte nicht alles haben! Außerdem reduzierte es schriftliche Hausarbeiten erheblich, die sie zusätzlich im "Briefkasten" ablegten. Dabei handelte es sich um eine kreative "Rutschbahn" in einen großen, verschlossenen Stahlcontainer, der täglich geleert wurde. Papier konnte man organisieren, selbst nach der "Klopapier-Krise", aber schnell Drucker kaufen, das klappte selten und nutzte nichts, wenn man keinen passenden Computer hatte. "Prima, vielen Dank!" Linus befleißigte sich einiger Liegestützen, ohne auch nur ansatzweise zu keuchen. Silvain lächelte, weil Linus sich JEDES MAL bedankte, dabei war es doch selbstverständlich, dass er dessen Arbeitsergebnisse ebenfalls auf die virtuelle Reise schickte! "Oh!" Ächzte er überrascht, weil sein Hintern vibrierte. Vielmehr das Smartphone, in einem schlichten Rucksack-Beutel verstaut, damit er die Hände frei hatte, weil die Dinger IMMER wie Marmeladenbrote aufs Display krachten, wenn sie einem aus den Fingern glitten! Vorausschauend nahm Linus, seine Übungen unterbrechend, das Lesegerät in Obhut. So konnte Silvain den "Taschenvibrator" bergen, die Ursache der Aktivität erkunden. "Ah, da ist noch eine E-Mail gekommen!" Verkündete er das Ergebnis, was das Lesegerät erneut zum Einsatz brachte. "Oh, die ist für dich, von Charlie!" Silvain wollte rasch sein Lesegerät weiterreichen, denn private Korrespondenz hatte privat zu bleiben, auch wenn sie seinen Account nutzte. Nun, entsprechend dem Postkartencharakter von E-Mails. "Lies bitte vor." Linus sprang elastisch neben ihm auf und nieder. "Meinst du...? Nun, gern! Also... [Hallo Linus. Schätze, Du bist auch fit und so. Bloß nicht so genervt wie ich, weil Silvain bei dir ist. Kannst Du ihn nicht überreden, dass seine tussigen Schwestern meinen Deppenbruder adoptieren? Immerhin ist ja gerade ein Zimmer frei! Die könnten sich dann gegenseitig auf den Keks gehen! Schule ist bei mir noch nicht, da hast Du mehr Glück. Wenn ich NOCH einen Scheiß-Regenbogen malen muss, KOTZE ich! Voll fies, dass ich Dich oder Hulk nicht treffen darf! Wir wären dann ja trotzdem nur drei auf einer Stelle. Hulk und der Powermann haben mir ne coole Maske in den Briefkasten geworfen. Nicht so n tussiges Blümchen-Ding! Ich würde ja abhauen, aber unsere Eltern hocken hier herum, da geht das nicht. Mein Board hat schon Spinnweben, ohne Scheiß! Also, frag Silvain doch, ob die nicht sein Zimmer vermieten wollen, ja? Locker bleiben und Hasenpower! Charlie]." Linus, der seine imponierenden Brustmuskeln gedehnt hatte, die Arme kreisen ließ, lachte. "Ja, das klingt sehr nach Charlie! Wenn sie eine Meinung hat, behält sie die nicht für sich." Silvain schmunzelte kurzsichtig. Er fühlte sich nicht bemüßigt, seine kaum jüngeren Schwestern zu verteidigen. "Ich fürchte, dass weder Yann noch seine schlaue Ratte an meinem Zimmer Gefallen finden würden." Denn es war recht bescheiden, angefüllt mit Gedrucktem und konnte keinesfalls eine sehr gewiefte Ausbrecher-Ratte in Schach halten. Er streckte Linus das Lesegerät hin. Über den Browserzugriff und Hilfsprogramme konnte man E-Mails auch beantworten, doch der winkte ab, beugte sich herunter, um Silvain zärtlich auf die Lippen zu küssen. "Danke, aber die Antwort kann noch ein wenig warten. Ist ja nicht so, als könnte ich ihr Hoffnungen machen, weder auf ein Treffen, noch in Bezug auf Yann." Silvain nickte verständig, deaktivierte die Kommunikationsgeräte, verstaute sie in seinem Beutel. "Vermisst du das Hockey sehr?" Erkundigte er sich mitfühlend, denn als Vize-Kapitän musste zwei bis drei Mal in der Woche trainiert werden. Seit fünf Wochen jedoch ging das nicht mehr, ohne Aussicht auf Änderung, denn Schul- und Sportgelände blieben abgesperrt. Feldhockey auf "Spielplätzen", die wieder geöffnet werden sollten, kam auch nicht in Frage. "Nicht sonderlich. Mein Aggressionspegel ist dank dir sehr niedrig." Lächelte der gar nicht grimmige Wikinger, fasste nach Silvains schmaler, feingliedriger Hand. Sie spazierten in trauter Eintracht einige Meter, da seufzte Silvain leise. "Mir geht gerade durch den Kopf: wenn sie uns 'Lernmittel' austeilen wollen..." Linus schnaubte. "Genau. Deine Ahnungen treffen höchstwahrscheinlich zu: die Lagerleichen aus dem Keller, vergilbte Reclam-Ausgaben aus der Tätärä. Obwohl ich 'Die Leiden des jungen Werther' nicht gerade für angemessen halte. Aber 'Effi Briest' würde mich genauso abschrecken. Unpassend auch 'Viel Lärm um Nichts.' Ich frage mich, welches Grauen uns die Restpostenrampe aus dem Kellerloch da zumutet." Denn Generationen von Beschulten waren mit den Stapeln zwecks Lektüre und Prüfungen versorgt worden, bevor es das Internet gab und Klassiker online verfügbar waren. "Ich würde etwas Humorvolles, Aufmunterndes bevorzugen." Gab Silvain seine Gedanken preis. Neben ihm brummte Linus. "Frommer Wunsch, leider. Frau Rottmann-Eisenbart hält uns schon mit Heinz Erhardt-Humorisken für überfordert. Haikus gingen gerade noch, die passen ja auf Twitter-Botschaftenlänge." Silvain gluckste, denn besagte Lehrerin konnte unangenehm treffend sarkastisch werden. Unseliger weise lag sie mit ihrer Einschätzung häufig richtig. "Also...es ist zwar unhöflich, trotzdem..." Silvain nahm tapfer Anlauf. "Ich habe einige dieser Filme bei den Großeltern gesehen. Rühmann, Erhardt, Lingen. Die sind doch sehr in ihrer Entstehungszeit behaftet." Wagte er Kritik. Manche Aussagen würde man heute wohl als sexistisch, homophob oder rassistisch einordnen. Oder auch als albernen Klamauk. "Oha, keine Klassiker für dich?" Neckte Linus, küsste versöhnlich Silvains Handrücken, zwinkerte. Der seufzte leise. "Einige vielleicht schon. Nur ist das Film-Anschauen mit meiner Familie immer etwas anstrengend." Die Friesen-blauen Augen funkelten ihn auffordernd an, mehr zu erzählen. Entschlossen bugsierte Silvain die Brille wieder von seiner Nasenspitze höher. "Zum Beispiel glaubt meine Familie, dass gegen brütende Hitze Kälteschauer helfen. Horror- und Gruselfilme! Weil ich so ein fürchterlich schreckhafter Angsthase bin, wurden alte Filme ausgewählt." Silvain zog unwillkürlich die schmalen Schultern höher. "Weißt du, 'Tarantula' mit mutierten Riesen-Taranteln wegen der Atombombentests ging ja noch. Schwarzweiß, alles sehr amerikanisch in dem Städtchen. Aber dann musste ich mir 'Im Land der Raketenwürmer' mit ihnen ansehen, weil meine Mutter Kevin Bacon so toll fand, woraufhin mein Vater für Fred Ward stimmte! Die kabbeln sich noch, da schießen in so einem Kaff aus dem Boden heraus riesige Viecher, die Leute auffressen!" Er grummelte, dezent verstimmt. "Die nächsten paar Tage habe ich wirklich NUR gepflasterte Wege und Trittsteine benutzt. Albern und unlogisch, selbstverständlich, aber so schnell bekam ich die Bilder nicht aus dem Kopf." Er schüttelte sich. "Meine notorischen Schwestern haben die Krönung eingeleitet. Achtziger Jahre, 'Der Blob'. Mutierter Riesenschleim, der sich überall aus dem Abwasser hochdrückte, irgendwas Außerirdisches. Ich konnte in keinen Ausguss oder Abfluss mehr schauen, ohne nervös zu werden! Wenigstens gelang es ihnen nicht, pinkfarbenen Glibber zu beschaffen, sonst hätten sie mich ganz zur Strecke gebracht." Linus blieb stehen, zog Silvain in seine muskulösen Arme. Der zurückhaltende, rücksichtsvolle Silvain beklagte sich nicht allzu offen oder häufig über seine Schwestern. Aber dass sie ihn piesackten, zwiebelten und sich damit Unterhaltung verschafften, ihn zu erschrecken, das ärgerte Linus maßlos. So viel zum niedrigen Aggressionspegel aktuell! "Mistbienen!" Knurrte er so höflich wie möglich, andere noch weniger schmeichelhafte Bezeichnungen unterdrückend. "Das sind übrigens keine Bienen, sondern Schwebfliegen. Aber ich teile deine Empfindungen." Schmunzelte Silvain kurzsichtig zu ihm hoch. Linus funkelte herunter. Lächelnd erklärte sich Silvain. "Weißt du, ich sitze in Bio neben Rai. Der interessiert sich sehr für Pflanzen und Nützlinge sowie eher lästige Insekten und anderes Getier. Da bleibt schon mal was hängen." Dass sich zwei eher introvertierte, ruhige, recht windschnittig gebaute Jungs den Tisch teilten, wunderte Linus kaum. "Das ist Yanns Sandkastenkumpel, oder? Der mit der Zipfelfrisur und dem Freund, der wie eine römische Statue aussieht, richtig?" Silvain nickte amüsiert. Natürlich konnte man Yann nach Charlies Schilderung für einen 'Deppenbruder' halten, weil der nicht nur das familieneigene, hitzige Temperament teilte, sondern eine solide Auffassung hatte, welchen Typ Mädchen er gern treffen würde. Andererseits konterte er furchtlos sämtliche Versuche, seinen Sandkastenkumpel Rai anzugehen, dessen Friseurbesuch und der denkwürdige Aufzug einer ganzen Gruppe von Jugendlichen der integrativen Privatschule für Furore gesorgt hatten. Dem Einfluss des tatsächlich sehr ansehnlichen Freunds schien es auch zu verdanken, dass Rai, eigentlich Raimund, nicht mehr zeltartige Kleidung bevorzugte. "Er ist sehr nett und kennt sich aus. Aber nicht aufdringlich oder belehrend!" Ergänzte Silvain hastig, denn Kenntnisreichtum wurde oft mit Besserwisserei und Strebertum gleichgesetzt, von Arroganz ganz zu schweigen. "Schön, ich werde mich zukünftig nicht mehr Zeihungen aus der Fauna befleißigen." Schloss Linus ironisch das Kapitel, zwinkerte jedoch, um Silvain zu signalisieren, dass 'der Wikinger' nicht an die Oberfläche zurückkehrte. Silvain gluckste, löste sich sanft aus Linus' Umarmung, streckte ihm die Hand hin. "Was glaubst du, ob wir vielleicht alternativ etwas vorschlagen können? Eine Kurzgeschichte könnte doch auch genug Stoff bieten." Statt einer Antwort blieb Linus jedoch stehen, blickte konzentriert an einer Gebäudefassade hoch. "Da ist ein rotes Tuch, Silvain. Warte bitte einen Augenblick, ich klingle mal." Überrascht blinzelte Silvain hoch, der das etwas ausgewaschene Stück Stoff in der vierten Geschosshöhe glatt übersehen hätte. Doch das hier war Linus' Kiez, und der verfügte über einen versierten Blick. "Guten Abend. Linus vom Nachbarschaftsbüro. Haben Sie das rote Tuch rausgehängt, weil Sie Hilfe benötigen?" "Verstehe. Kann ich mit meinem Begleiter hoch kommen? Wir bleiben im Flur und Masken haben wir auch." "Danke schön!" Etwas nervös blinzelte Silvain Linus an, dessen Gesichtsausdruck sehr ernst wirkte. "Dritter Stock, Möller. Kenne ich noch nicht." Nach dem kläglichen Summen stieß er schwungvoll die Haustür auf. Halbparterre, dämmrige Treppenhausbeleuchtung. Sich die Maske um den Hals hängend kletterte Linus voraus. Silvain folgte ihm beklommen. Die Nachbarschaftshilfe musste das Büro schließen, hielt aber den telefonischen Kontakt aufrecht. Wenn man Hilfe benötigte, aber nicht raus kam, sollte man ein Stück roten Stoff raushängen, damit zumindest jemand fragen konnte, ob Unterstützung gewünscht wurde. Unterdessen blieb Linus auf dem letzten Treppenpodest vor dem Dachboden stehen. In der Tür stand eine alte, sehr aufgelöst wirkende Frau. Sie reichte Linus gerade bis zum Ellenbogen. "Guten Abend, Frau Möller. Das ist Silvain und ich bin Linus, von der Nachbarschaftshilfe. Wie können wir helfen?" Frau Möller schluchzte mit entzündeten Augen in ein zerdrücktes Stofftaschentuch. "Der Hansi...und Peterle...beide tot..." Linus ging in die Hocke, hielt Abstand, während Silvain noch auf der Treppe wartete. "Das tut mir sehr leid, Frau Möller. Soll ich mal nach Hansi und Peterle sehen?" Er legte sich die Maske um, justierte sie geübt. Frau Möller zögerte. Dann trat sie zurück, gab den Weg frei. "Lassen Sie ruhig die Tür zum Flur auf. Frau Hütterer aus dem Hochparterre kennt mich schon, ich schaue immer mal nach dem Motor für die Rollläden." Erläuterte Linus, die gewöhnlich raue Stimme sanft und sehr ruhig. Silvain blieb im Treppenhaus, denn er wollte nicht, dass die alte Frau sich von zwei Fremden gleichzeitig bedrängt fühlte. Die Wohnung war klein und geschnitten wie die von der Nachbarin unten, winziges Schlafzimmer, kleines Bad und eine Kombination aus Wohnzimmer und Küche. Am Französischen Fenster, bodentief mit einem hüfthohen Gitter davor, stand ein altmodischer Vogelbauer mit geschwungenem Ständer. Linus schlängelte sich an den kleinen, sehr betagten Möbeln vorbei, die an die von ihnen just thematisierten 'Heimatfilme' erinnerten. Eine gefaltete Abdeckung lag zu seinen Füßen. Die beiden Wellensittiche selbst fanden sich auf dem Spreu liegend, recht steif. Knabberstangen, Schaukeln, Wasser, Vogel-Kosmetikartikel... "Wollen Sie den Bauer für mich öffnen?" Erkundigte er sich leise, ging erneut in die Hocke. Frau Möller schluchzte kurz auf, entriegelte jedoch die großzügig gehaltene Tür. "Wie lange leben die beiden schon bei Ihnen?" Linus richtete sich vorsichtig auf, behielt Frau Möller im Blick. "Zehn, nein, elf Jahre. Und heute Früh...sie singen immer, wenn ich sie ans Fenster stelle..." Damit schien es nun definitiv vorbei zu sein. Vitalzeichen konnte Linus keine erkennen. "Sie haben sich gut um die beiden gekümmert, Frau Möller. So ein Abschied macht Kummer." Frau Möller tupfte sich die bereits merklich entzündeten Augen. "Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann sie doch...nicht einfach in die Tonne... das geht doch nicht!" Linus nickte entschieden. "Nein, das geht wirklich nicht. Wollen wir uns einen Moment setzen und uns überlegen, was wir tun?" So brachte er die alte Frau dazu, sich in einen kleinen Sessel sinken zu lassen, wartete einen Moment, bevor er seinen Vorschlag unterbreitete. "Ich habe eine Idee. Sagen Sie, Frau Möller, Sie gehen doch bestimmt in den Supermarkt vorne, über die Kreuzung, oder? Wo man ein kleines Stück an dieser alten Grünanlage vorbeikommt." Zögerlich nickte Frau Möller, das Taschentuch umklammernd. "Was meinen Sie, wenn ich Hansi und Peterle dort bei einem der Bäume begrabe? Da sind die beiden nicht weit weg, und Sie können sich an sie erinnern." Linus ließ seine Offerte einen langen Moment einwirken. Frau Möller grübelte, wirkte nicht mehr ganz so hilflos und unglücklich. "Geht das denn? Darf man das?" Nein, Tierkadaver gehörten zweifelsohne in die Tierkörperbeseitigungsanstalt, doch Linus hielt dieses Detail für nicht zielführend. "Es geht. Wir nehmen einfach etwas Zeitung oder eine Bäckertüte, legen Hansi und Peterle vorsichtig hinein. Sie sind ja nicht groß, wen sollte also ein kleines bisschen umgesetzte Erde stören?" Frau Möller erwog diese Argumente, seufzte dann erschöpft. "So lange...und nun sind beide gegangen. Aber einer hätte auch den anderen nicht entbehren können, wäre am gebrochenen Herzen gestorben." Linus wartete geduldig, drängte nicht, während Frau Möller die leeren Stangen im Vogelbauer betrachtete. Dann erhob sie sich, verstaute das Taschentuch in ihrer Rocktasche. "Ich hole das Papier. Wenigstens das kann ich ihnen noch Gutes tun." Anschließend hob Linus ohne Mühe den großen Vogelbauer aus dem Haken des Ständers. Auf dem Tisch konnte man leichter hineingreifen, die traurigen Vogelleichen bergen. Frau Möller bettete sie sehr behutsam in geblümtes aber nicht beschichtetes Geschenkpapier. Linus platzierte eine der Visitenkarten der Nachbarschaftshilfe, die er stets mit sich führte, in ihrer Reichweite. "Sie können jederzeit anrufen, das kostet nichts. Im Moment ist das Büro zwar geschlossen, aber das Telefon wird bedient. Ein offenes Ohr ist gerade jetzt bestimmt nicht zu verachten." Zum ersten Mal zeigte sich ein zögerliches Lächeln. "Danke schön. Ob Sie wohl...die beiden mochten die Schleife hier immer so gerne?" Linus nahm sie mit dem 'Geschenkpaket' entgegen. "Natürlich nehme ich die mit. Wir schmücken den Baum, dann können Sie ihn erkennen." Er ging zur Tür, wo Silvain noch immer im Treppenhaus wartete, eilig das Licht aktivierte. "Dann auf Wiedersehen, Frau Möller. Und wenn Sie etwas auf dem Herzen haben: wir kommen gern." Sie nickte, schluckte kurz, lächelte dann bemüht. "Vielen Dank. Das hilft mir schon, junger Mann." Damit schloss sie langsam die Tür. ~¢~ Silvain wartete besorgt, bis sie auf der Straße waren. Linus drehte sich herum, blickte nach oben, verneigte sich dann kurz. Frau Möller zog langsam das rote Tuch ein, schloss das Fenster. An Linus' entschlossener Miene konnte Silvain ablesen, dass etwas zu tun anstand, er Fragen vielleicht lieber verschieben sollte. Doch Linus kannte ihn gut genug. "Die beiden Wellensittiche, heute Morgen tot im Käfig. Wir werden die beiden nun beerdigen. Das ist illegal..." "Ich helfe dir. Was kann ich tun?" Unterbrach Silvain ihn ungewohnt unhöflich. Selbstverständlich würde Linus ihn von Ungemach fernhalten wollen, doch das Urteil wollte er selbst fällen. Es schloss sich keine Diskussion an, was Silvain bedeutete, dass Linus seine Entscheidung ohne Widerrede akzeptierte, ihm die Urteilsfähigkeit zugestand. Eine angenehme Abwechslung zum Umgang mit seinen Familienmitgliedern! "Folgendes schwebt mir vor: ich weiß, wo der Ersatzschlüssel für das Gartenhäuschen bei dem Neubau liegt. Dort borgen wir passende Gerätschaften. Vorher marschieren wir beim Büro vorbei, für die Tarnung." "Tarnung?" Silvain schob verwirrt die Brille höher. Linus warf ihm einen grimmigen Seitenblick zu. "Wer illegal agieren will, sollte das schlau anstellen." ~¢~ Die Warnweste schlabberte um Silvains magere Gestalt herum, obwohl der sogar den Beutel darunter trug. Er balancierte vorsichtig den Müllpicker aus und die eingepackten, toten Wellensittiche auf der großen Mülltüte über seinem Arm. Linus hatte unterdessen keine Mühe, über das Tor zu steigen, auf Höhe der Knie nach einem Haken zu tasten und den Schlüssel für das Vorhängeschloss zu finden. Der Neubau war eingezäunt, Mehrfamilienhaus moderner Prägung, Schießschartenfenster, Rollrasen in Handtuchgröße. Die unteren Wohnungen verfügten über eine Veranda. Eine der Bewohnerinnen benötigte nach einem Schlaganfall einen Rollstuhl, liebte jedoch Pflanzen und erwies sich als ausgesprochen anarchistisch, was "Golfrasen" betraf. Er hatte hier schon ein paar Mal geholfen, auch Saatbomben begossen, die "zufällig" der Bewohnerin aus der Schleuderschlinge entwischt waren. Wenn er die ausgeliehenen Gerätschaften sauber und unversehrt zurückbrachte, wäre niemand geschädigt. Silvain, der Schmiere gestanden hatte (und dabei ausgesprochen unbehaglich wirkte), lächelte erleichtert. Getarnt als "Freiwillige" der Aktion "Saubere Nachbarschaft" näherten sie sich zügig der vernachlässigten Grünanlage. Linus stapfte voran, inspizierte Bäume oder vielmehr das Wurzelwerk zu ihren Füßen. "Hier." Legte er sich fest. Eine noch nicht so alte Eiche, offenbar kein Flachwurzler. Von Silvain abgeschirmt lockerte er mit der Handgrabgabel den Boden, setzte dann erst die Schaufel ein. Vorsichtig wurden Hansi und Peterle in der Geschenkpapier-Verpackung in das Loch gehoben. Linus verteilte den Aushub großzügig, streute etwas gestrunztes Gründünger-Saatgut über. "Gibst du mir die Wasserflasche?" Eilig rang Silvain seinen Beutel nieder, reichte sie weiter, ohne die beiden Müllpicker fallen zu lassen. Gerade genug Wasser, um die Saat zu befeuchten, das musste genügen! Sich erhebend nahm Linus eine Reißzwecke, justierte die Schleife und befestigte sie so an der Borke der Eiche. "Gut." Befand er, verharrte einen langen Moment schweigend. Er erlöste Silvain von beiden Müllpickern und dem Müllsack, apportierte die Gartenwerkzeuge zusätzlich. "Beeilen wir uns ein wenig. Es dämmert schon, und dann könnten doch einige unsere Motive in Frage stellen." ~¢~ Niemand hielt sie an, alles wurde ordentlich retourniert. Linus verstaute den Schlüssel zum Büro, griff nach Silvains Hand. Der spazierte eine Weile geduldig schweigend neben ihm her, bemerkte das "Wikinger"-Gesicht durchaus: den grimmigen, abweisenden, harten Ausdruck, die aufgestellten Stacheln. "Danke." Sagte er schließlich sanft. Die Friesen-blauen Augen studierten ihn von der Seite. Silvain blieb entschlossen und ernsthaft. "Das war sehr beeindruckend, Linus. Ich kann das gar nicht, so gut zu reagieren, in die Hocke zu gehen, ihren Kummer ein wenig zu lindern. Deshalb: danke schön." Über Linus' markante Züge huschte ein finsteres Lächeln. "Ich habe gar nichts Besonderes getan, bloß MEINE Lösung propagiert." Mühsam unterdrückte Silvain ein Zusammenzucken. Die raue Stimme klang so wie früher, bitter, voller Selbstverachtung und Ironie! Deshalb rammte er entschlossen die Schuhsohlen ins Pflaster, erzwang eine Vollbremsung, fixierte Linus streng. "Das ist nicht wahr. Du hast geholfen, mutig und ohne zu zögern, gerade WEIL du genau weißt, wie sich das anfühlt. Deshalb ist es etwas Besonderes: sich mit Respekt verabschieden zu können, Trauer zu empfinden und mitzutragen, wenn eine Gemeinschaft von Lebewesen endet, seien es nun Wellensittiche oder der beste Kater der Welt." Er keuchte, weil sich ihm der Hals zuschnürte. Nicht gerade nett, ausgerechnet jetzt eine Gardinenpredigt...! Linus ließ seine Hand los, schlang ihm blitzartig die Arme um die Hüften, hob ihn an. Normalerweise wurde Silvain dann als "Sportgerät" genutzt, hochgestemmt, wieder und wieder. Nun beförderte Linus ihn zwar hoch, aber nur, um das Gesicht in Silvains Halsgrube vergraben zu können. Der stützte sich rasch ab. Bevor er sich eilends für die allzu harschen Worte entschuldigen könnte, hörte er Linus rau wispern. "Du bist großartig, Silvain. Weil du bei mir bist, heul ich mir jetzt nicht die Augen aus. Nur ein wenig sentimental bin ich schon." Erleichtert drückte Silvain die muskulösen Schultern. "Das verstehe ich gut. Ich bin auch froh, dass wir zusammen sind. Ohne dich wäre mir auch elend zumute." ~¢~ Silvain nahm erfreut zur Kenntnis, dass trotz des stillen Rückwegs keine Verhärtung mehr Linus' Züge prägte, der sich für einen erbärmlichen Feigling hielt, aber, wie Silvain entschieden fand, dazu keinen Anlass hatte! Rücksichtsvoll, empathisch, feinsinnig und auch unerschrocken, was das eigene Ansehen betraf. Er schlug die Decke auf, wartete, dass Linus das winzige, fensterlose Bad verließ. Durch das Dachfenster konnte man, erstaunlich genug, den Nachthimmel mit einzelnen Lichtpunkten erblicken, die zweifellos keine Flugzeuge markierten. "Wollen wir Sterne zählen?" Linus schlüpfte zu ihm, lud ein, sich an ihn zu kuscheln. Eine Einladung, die Silvain niemals ausschlug. "Ich dachte, wir unterhalten uns ein wenig. Also, vielleicht, wenn du magst." "Mag ich." Entschied Linus mit gewohnt rauer Stimme zärtlich. "Und die Details, hm?" Silvain lachte leise. "Nun, wenn wir es machen könnten wie in den Geschichten, zu den Sternen reisen: wie sähe der erste Planet aus? Wenn du ihn dir frei vorstellen kannst?" Linus kraulte ihm sanft den Nacken, grübelte. "Also, quasi ein wenig wie Vincent Valentine herumreisen? Tja, wie wäre es mit einem Planet Käse?" "Käse?" "Oh ja! Du weißt schon, der Mond, ein Stück rausgeschlagen aus der Erde, ähnelte ja auch lange löchrigem Käse in bloß zweidimensionaler Betrachtung! Warum kein Planet Käse, der nach Käse aussieht? Hier gelb wie Emmentaler, da blau-schimmelig, dort viele Löcher, hinten ein Pelz aus weißen Pilzen wie beim Camembert..." "Wohnt jemand auf diesem Planeten?" "Sag du es mir, Silvain." Der dachte engagiert nach. "Vielleicht kleine Mäuse! Sie züchten den Käse und betreuen die Pilzkulturen und die Hefen. Man bräuchte eine Flüssigkeit, die gerinnt..." Linus schmunzelte, küsste Silvain liebevoll. Der blinzelte, unterbrach kurz seine Überlegungen zur Konsistenz der Flüssigkeit, die keine Kuhmilch sein konnte, also einen anderen Ursprung haben musste. "Würden uns die Mäuse Proviant aufnehmen lassen? Damit wir weiterfliegen können?" Silvain nickte eifrig, denn er war ein sehr versierter Kenner aller Abenteuer von Weltraumhändler Vincent Valentine, dessen Erfahrungen man ja durchaus für "eigene Reisen zwischen den Sternen" ausborgen konnte! Sie sponnen noch eine ganze Weile ihre gemeinsame Reise, bis Silvain auf Linus' Brustkorb einschlief. Den Blick auf den Nachthimmel richtend lächelte Linus versonnen. "Danke, mein Captain, dass du aus mir jemanden gemacht hast, der so sehr geliebt werden kann." Dass ein schreckhafter, kurzsichtiger, introvertierter Schlaks von Zuhause ausrückte, um mit ihm zu leben, seine Einsamkeit zu vertreiben. Sogar bereit war, mit ihm zu den Sternen zu reisen! ~¢~ Kapitel 10 - Introspektive Cornelius hatte Ruru vom Garten erzählen lassen, von den Pflanzen, von den Tieren, von der Werkstatt und der Kinderstube und den Brutkästen für Nützlinge und... Die Taktik zeitigte Erfolg, denn trotz des turbulenten Tags schlief Ruru durch. Ohne Malheur, denn das wäre Cornelius gegenüber Frau Kappel sehr unangenehm gewesen. Die hatte durchaus angeboten, eine zweite Übernachtungsstätte auszurüsten, doch Cornelius befand, dass sie beide noch gemeinsam in das Bett passten, auch wenn Ruru nicht mehr völlig verstört war und bereit, ihn loszulassen. Überhaupt schien das Schlimmste des letzten Schocks schon überstanden. Ruru klammerte sich nicht mehr im Bad an ihn in Anbetracht der farbenprächtigen Blutergüsse, die, zumindest kam es Cornelius so vor, im Vergleich zum Vortag erstaunlich schnell in die letzte Phase wechselten. Erst nach dem Frühstück wagte er sich an sein Mobiltelefon: noch immer keine Nachricht. Nicht vom Jugendamt, nicht von der Schule. Eine Galgenfrist. Ruru, der artig neben ihm abgewartet hatte, zupfte ihn am Ärmel. "Wollen wir Adam meine Sandalen zeigen, Nelli?" ER würde das schon sehr wollen! Cornelius zögerte. "Erst mal sollten wir vielleicht herausfinden, ob wir Frau Kappel nicht helfen können, Ruru. Und Adams Eltern sind bestimmt auch Zuhause." Frau Kappel lachte jedoch. "Amüsiert euch ruhig, ihr Beiden! Ich brauche bestimmt noch zwei Stunden, um die ganze Wochenendbeilage studiert zu haben. Das ist mein Samstagvormittag-Ritual." So entschied Cornelius, Adam eine kurze Nachricht zu senden. Vom Fenster aus konnte man zwar niemandem im Garten sehen, aber es war nicht auszuschließen, dass die Familie gerade beisammen saß, andere Pläne hatte. Doch Adam reagierte sofort, lud sie ein, zu ihm in den Garten zu kommen. Seine Eltern hatten nichts einzuwenden, frische Luft und Abstand funktionierten schließlich mühelos! So bekam Ruru eine "Spritztour" durch die Wohnung in den Garten und präsentierte stolz die neuen Sandalen. Adam war sehr neugierig auf den Garten, das Haus und die Familie. Er fragte ungeniert, wirkte ganz und gar nicht gelangweilt, etwas über ihm unbekannte Personen zu hören. Zumindest Junias hatte ja schon eine "Visitenkarte" abgegeben, mit DIESER Erscheinung! Cornelius ermahnte sich stumm, selbst höflich zu sein und nach den Besuchern vom Vortag zu fragen. Das entlockte Adam ein noch breiteres Grinsen. "Oh, da habt ihr was verpasst! Mein Kumpel Tibo war mit seinem Freund Rai da. Tibo hatte nämlich die Idee, in die Supermärkte zu gehen und zu fragen, ob sie dort Strichcode-Aufkleber anbringen dürften, da, wo auf dem Fußboden die Abstandsmarkierungen sind, in Höhe der mittleren Regalböden und vor der Tür, auf den Plakaten für die Verhaltensregeln. Wenn man nämlich blind ist oder stark sehbehindert, nutzen einem die optischen Hinweise ja nichts. Mit dem Smartphone oder einer speziellen Einkaufshilfe kann man die Strichcodes einscannen. Man hört, was dort steht. Überhaupt ist es schwierig, rein nur mit Einkaufswagen, aber da rummst man ja gegen Regale oder Leute! Was mit Blindenstock nicht passiert, also hat er nicht nur die Aufkleber angebracht, sondern auch Distanzen abgemessen, sozusagen einen akustischen Wegweiser. Da haben wir überlegt, ob es nicht was Einfaches gibt, um vorne am Einkaufswagen so einen Alarm wie beim Auto einsetzen zu können, eine Art Kollisionswarngerät, wie beim Einparken. Das könnte man ja auch unabhängig von der aktuellen Lage brauchen, richtig? Wir waren mittendrin im Gespräch, da hat sich der olle Knodderkopp von drüben beschwert, wollte das Ordnungsamt und die Polizei anrufen, weil wir wandelnden Pestilenzler gegen die Auflagen verstoßen würden. Stimmte nicht. Tibo ist jetzt keiner, der sich dümmlich anpöbeln lässt. Da ging es wie beim Tennis über die Hecke statt Netz, aber gegen Tibo hatte der Stänkerer keine Chance! War mir ein Fest, aber hallo!" Er feixte, pirouettierte sogar geschmeidig! Ruru, der ihm zugehört hatte und besagten Tibo schon wegen 'ihres gemeinsamen Schneiders' mochte, hakte nach. "Was ist eine Parkhilfe?" Adam erklärte prompt, zeichnete ein Auge auf und erläuterte, wie man versuchte, das elektronisch umzusetzen: mit Abstandsmessung von Wellen, wenn man keinen "richtigen" Sichtkontakt mit Lichtstrahlen hatte. Sie waren bis zu dem Punkt angelangt, als seine beiden Besucher aufbrechen mussten, nämlich für menschliche Ohren nicht hörbare Frequenzen. Wenn man die ausstrahlen konnte, eine gezielte Richtungspeilung einsetzte und Toleranzen vernünftig bestimmte... Ein Tüftelprojekt, ohne Zweifel! Es müsste so gestaltet sein, dass man auch ohne enorme Investitionen zum Ziel kam. Das erforderte ein wenig mehr Recherche, weshalb man sich vertagte. Zudem mussten ja auch die akustischen Beschreibungen der besuchten Supermärkte noch eingepflegt werden. Aber schon das Aufkleben der Strichcodes mit den Botschaften galt es, als Erfolg zu werten! Cornelius bekundete seine Bewunderung für die Aufmerksamkeit und das Engagement, immer wieder den eigenen Tellerrand zu überwinden, sich Gedanken darüber zu machen, wie die Lebenswirklichkeit anderer aussah. Wenn man nur aus der eigenen Perspektive heraus agierte, bemerkte man die Schwierigkeiten für andere gar nicht. Adam grinste. "Ach, nicht doch, Cornelius! Alle gucken aus eigener Perspektive, ist doch ganz normal! Wenn wir uns aber unterhalten und uns fragen, wie es uns besser oder leichter im Alltag gehen kann, dann lernen wir alle was, können uns gegenseitig helfen. Man muss sich nur trauen dürfen, das ist die Crux. Keine Angst davor haben, sich zu offenbaren, dass eben nicht alles so locker wuppt." DAS konnte Cornelius nur unterschreiben. Was das Wuppen betraf, entschied er, mit Junias Kontakt aufzunehmen. Er brauchte zweifellos Hilfe und hier ging es darum, die Konditionen und das Kleingedruckte zu erfahren! ~¢~ Junias erwartete sie an der Kreuzung, gewohnt auffällig mit seinem silbergrauen Schopf, der Sonnenbrille und einem blauen Hemd zu weißen Hosen. Unaufgefordert kaperte er auch Rurus freie Hand, erklärte, man solle abheben, wenn gutes Flugwetter sei, weshalb Ruru glückselig quietschend alle paar Schritte schwungvoll vom Boden bewegt wurde und eine halbe Kehre segelte! Cornelius wunderte sich im Stillen. Gab Junias nur vor, sich gut mit kleinen Kindern zu verstehen, oder tat der das tatsächlich? Immerhin war er ohne Geschwister hier aufgewachsen, oder? Konsterniert musste er erkennen, dass ohne eine inquisitorische Befragung eine Einschätzung von Junias nicht möglich war. Als sie den Feldweg erreichten, wartete Henk bereits am "Gartentor". Ruru warf Cornelius einen flehenden Blick zu und durfte losrennen. Vor Henk bremste er zwar artig, strahlte aber begeistert hoch. "Hallo, Ruru. Wollen wir den Garten anschauen?" Ruru wollte, und wie! Flugs schlüpfte er aus den Sandalen, wollte das Hasentuch ins T-Shirt stopfen, da winkte Henk mit einer sanften Geste ab. "Ich hab da was vorbereitet." Verkündete er mit sonorer Stimme schelmisch, beugte sich vorsichtig und steif vor, befestigte eine bunt bemalte Holzwäscheklammer an Rurus T-Shirt. Durch die kleine Schlinge, die man angefügt hatte, konnte das Hasentuch gezogen werden, bis der Hasenkopf munter in die Gegend lugte. "So sind die Hände frei." Erläuterte er die Konstruktion. "Oooh! Danke schön!" Ruru hopste von einem nackten Fuß auf den anderen, um seine Begeisterung zu kanalisieren. Vertraut griff er nach Henks großer Hand, strahlte hoch. "Ich möchte ganz dringend unbedingt sehr gern den Garten anschauen!" Tat er aufgeregt kund. Henk lachte, marschierte in den schweren Schuhen los, dem gewundenen Weg langsam folgend. Junias gluckste an Cornelius' Seite. "Da haben sich zwei gefunden. Großer und kleiner Gärtner." Einen Seitenblick riskierend konnte Cornelius nur die Segel streichen: Junias' Mimik, starr und steif, verriet ihm nichts, ob diese Äußerung aus Kalkül erfolgte, ihn zu überzeugen, oder der spontanen Beobachtung entsprang. "Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen. Eigentlich ist ja Wochenende..." "Iwo! Du siehst ja, was Henk gestern Abend noch gebastelt hat. Die beiden haben ihren Spaß, Luzie hat sich gestern noch eine Ladung Scherben besorgt und sortiert, ich habe frei." Unerwartet hakte er sich einfach bei Cornelius ein, der das gar nicht gewöhnt war. "Und ich sehe dir an, dass du jede Menge erfahren willst. Also, was hältst du vom Adlerhorst und einer ausgedehnten Unterhaltung?" Cornelius nickte, wurde zur Abwechslung an die Hand genommen, denn auf dem Gartenpfad konnte man schlecht nebeneinander gehen! ~¢~ Das gelbe Quietsche-Entchen trudelte nur sehr gemächlich in einer gelangweilten Brise. Im Baumhaus konnte man recht bequem auf Sisalkissen sitzen, die Kühle genießen und auf das dezente Brummen der Rosenbesucher lauschen. Es WAR verwunschen-aufregend-schön, sodass Cornelius Rurus Begeisterung nachvollziehen konnte. "Ich kann mich noch nicht entscheiden." Stellte Cornelius ihrem Gespräch voraus. "Ich weiß zu wenig darüber, wer du bist und warum du uns helfen willst." Junias' Stimme nahm ein übertriebenes Schmollen an. "Och, dabei habe ich mich dir doch so offenbart! Sogar meine Schokoladenseite, nun, eher Milchseite vor dir enthüllt!" Cornelius entschied, dass mit höflicher Rücksichtnahme und Zurückhaltung nichts zu gewinnen war. An Erkenntnis. "Warum das? Tut mir leid, dir nahetreten zu müssen, aber ich kann dich nicht einschätzen. Deinem Gesicht ist nichts abzulesen, und das verwirrt mich einfach." Junias legte den Kopf schief, schnalzte mit der Zunge. "Herrje, du bist aber misstrauisch, Cornelius, und ich weder Katze, noch im Sack unterwegs! Aber na schön... Übrigens, ich KANN nichts daran ändern, dass meine Gesichtsmuskeln recht untätig bleiben. Ist so eine Art persönliche Note. Oder ein Gruß der Evolution an mathematische Wahrscheinlichkeiten." Er klang erneut verletzt. Ein wenig bitter. Prompt verspürte Cornelius Schuldgefühle und Scham, denn schon ein Mal hatte Junias ihm ja zu verstehen gegeben, dass seine eingeschränkte Mimik ein wunder Punkt war. Von denen er selbst mehr als genug vorzuweisen hatte, um mal mit "Schmutzflecken" anzufangen! Bevor er jedoch sein Bedauern bekunden konnte, war Junias vorgeschnellt, hatte ihm mit einer kalten Fingerkuppe auf die Nasenspitze getippt. "Ja, ich ahne schon, was du sagen willst. Ich WEISS von meinem eigenen Spiegelbild, wie ich dreinschaue. Allerdings bin ich nicht so sehr auf die Mimik angewiesen, was meine Fremdwahrnehmung betrifft. Deshalb kann ich mir nur vorstellen, welche Einschränkung du empfindest." Seine Stimme klang versöhnlich, ruhig. "Lass mich dir einfach ein bisschen was über mich erzählen. Wird dir zwar keiner glauben, oder nur ganz bestimmte Leute, aber ich vertraue deiner Diskretion." Cornelius nickte langsam, signalisierte höchste Konzentration. "Ich bin kein Mensch, wie dir sicher schon aufgefallen ist. Wir nennen uns Lamia. Wenn man so will, sind wir Jäger mit einem starken, territorialen Bewusstsein. Wie alle Jäger tarnen wir uns, passen uns geschickt unserer Umgebung an. Deshalb bin ich in der Lage, menschliche Wahrnehmungen zu beeinflussen, um an meine 'Futterquelle' zu kommen." Schloss er ironisch mit einem Glucksen in der Stimme. "Außer dir weiß hier niemand, wie ich tatsächlich aussehe, oder was ich zu tun vermag. Nicht mal Henk und Luzie. Obwohl ich ein ziemlich menschenbezogener Typ bin." Cornelius rutschte nervös auf seinem Kissen hin und her. Diese Art Versteckspiel war ihm leider nur zu vertraut. "Oh, ich sehe dir an, dass du mit mir sympathisierst, Cornelius. Danke, aber es ist nicht nötig, Mitgefühl zu haben. Ich lebe einfach so, wie es meine Art und meine Instinkte mir vorgeben, weil ich WEISS, dass ich kein Mensch bin." Seine Stimme enthielt ein Schmunzeln. Dann, gewohnt überfallartig und viel zu schnell für eine normale Reaktion, kaperte er Cornelius' Rechte, hielt sie in seiner kalten Linken. "Ich kann Herzschlag, Puls oder Atemrhythmus anpassen, suggerieren, wie eine 'menschliche Ausgabe' von mir aussieht. Gut, meine Körpertemperatur kann ich nicht so hoch anheben und meine Haarfarbe...aber sei's drum. Ich wirke menschlich genug, kann mit meiner Stimme sogar Mimik vortäuschen." Die burgunderroten Augen blieben unbeirrt auf Cornelius gerichtet. "Es ist auch nicht so, dass meine Mutter mich ausgesetzt hätte. Wir funktionieren nicht auf, nun, menschliche Weise, was Bindungen angeht. Fortpflanzungstriebe sind bei uns instinktgesteuert. Wenn sich zwei passende Individuen auf einem Territorium begegnen. Ansonsten sind wir, wie im Klischee, einsame Jäger, wobei wir nicht zwingend einsam sind, sondern uns wohlfühlen, wenn wir allein in unserem Territorium sind. Bis ich etwa zehn Jahre alt war, konnten wir gut zusammenleben. Meine Mutter hat mir alles beigebracht, meine Instinkte geschärft. Wie bei Menschen, wenn die Pubertät einsetzt, stellen sich uns, nun, nicht die Haare auf, aber wir fühlen uns bedrängt. Wir wussten das beide. Ich war darauf vorbereitet, in eine Pflegefamilie zu Menschen zu kommen, immerhin hatte ich ja immer unter Menschen gelebt. Sie würde fortgehen, sich ein neues Territorium suchen, mir Geld zukommen lassen als Unterhalt." Junias tippte Cornelius mit der freien Rechten auf die Nasenspitze. "Das ist großzügig. Wie ich schon sagte: wir haben nicht solche Bindungen wie Menschen. Wenn einer meiner Art in Bedrängnis wäre, würde ich helfen, keine Frage. Aber es ist nicht so wie mit dem menschlichen Bedürfnis nach Liebe und ganz enger Gemeinschaft. In der Hinsicht bin ich schon ein wenig ungewöhnlich, weil ich gern bei Henk und Luzie lebe." Er zwinkerte. "Zugegeben, ein kleiner Schwindel war es schon. Dazu musst du wissen, dass Henk und Luzie eigentlich immer Jungs zwischen vierzehn und fünfzehn Jahren hier hatten. Zwei, drei Jahre längstens, damit die entweder in eine WG kommen konnten oder auf eigenen Beinen stehen. Bei mir ging man davon aus, recht rasch meine Mutter ausfindig machen zu können: da kam ja Geld, und es müsste ja Spuren geben." In seiner Stimme klang unmissverständlich Amüsement mit. "Das war selbstverständlich aussichtslos. Wir sind wirklich SEHR GUT darin, uns zu verbergen, unterzutauchen, unsichtbar zu sein. So gesehen nicht gerade nett, Henk und Luzie zu täuschen. Allerdings kam ich nicht aus zerrütteten Verhältnissen, mit Gewalterfahrung, psychischen Problemen oder Ähnlichem, fand mich selbst durchaus pflegeleicht, flexibel und anpassungsfähig. Die beiden sind sehr nett, aufgeschlossen und großzügig. Ich bin gern hier, zusammen, in ganz nahem Kontakt." Cornelius hatte sich an die kalte Hand gewöhnt, zog jedoch bei diesen Worten leicht die Augenbrauen zusammen. "Das bedeutet, dass ich nicht beabsichtige, schnellstmöglich auszuziehen, etwas Eigenes zu finden, immer einen gewissen Abstand zu halten. Erwachsene Lamia teilen normalerweise ihren 'Bau' nicht. Wir haben viele Kontakte, Bekannte, Freunde, durchaus, immerhin tarnt es und sorgt für ein leckeres Büfett! Aber wir brauchen einen Rückzugsraum, eine Höhle, eine Zuflucht, ein 'Safehouse'. Deshalb bin ich für meine Art erstaunlich tolerant, was Nähe betrifft." In seiner Stimme schwang ein Schmunzeln mit. "Allerdings zugegeben nicht menschlich tolerant. Die gemeinsamen Übernachtungen in Jugendherbergen bei Schulfahrten waren schon sehr fordernd. Ich verstehe zwar, warum Menschen intime körperliche Nähe mögen, nur begreife ich es nicht, weil mir dieses Bedürfnis, diese Sehnsucht abgeht." DAS zog Cornelius nun aber, in Anbetracht seiner gekaperten Hand und auch der Umarmungen, in Zweifel. Bevor er skeptisch nachhaken konnte, gluckste Junias neckend. "Oha, ich registriere erhebliche Skepsis! Es gibt durchaus ein sehr starkes Bedürfnis, dass mich menschliche Nähe suchen lässt! Bei dir kommt dazu, dass mein Näschen mir meldet, wie appetitlich du duftest!" Prompt färbten sich Cornelius' Wangen ein, denn man konnte glauben, Junias priese eine Köstlichkeit an! Innere Werte schienen da zumindest noch keine prominente Rolle zu spielen. "Du möchtest doch meine Motive verstehen, oder nicht? Also, die sind nicht kompliziert: du siehst für mich sehr anziehend aus, du bist als Blutquelle hervorragend in Kondition und von Gestalt, du riechst so erschreckend verführerisch, dass ich mich nicht beherrschen kann, und du brauchst dringend ein neues Zuhause für dich und den kleinen Gärtner. Ich kann dir bieten, was du brauchst, deshalb sollte es doch kein Hexenwerk sein, dass wir uns einigen, meinst du nicht?" Hexenwerk weniger, aber Cornelius kämpfte sich entschieden durch das Kleingedruckte. "Wie genau willst du das anstellen, Junias? Nicht mal das Jugendamt ist sich mit den anderen einig. Und Ruru hat Eltern. So einfach ist es nicht!" Junias schnalzte mit der Zunge. "Ich habe auch nicht behauptet, dass es einfach sei. Ich müsste mich schon strategisch versiert ins Zeug legen. Dennoch, das ist der wichtige Punkt: ICH kann das. Ich habe die Fertigkeiten dafür zu sorgen, dass Ruru ein Pflegekind wird, hierher kommt. Hast DU Alternativen?" Getroffen zuckte Cornelius zusammen. Er wich Junias' burgunderroten Augen aus, presste die Lippen fest aufeinander. "Du steckst in der Klemme und ich bin im Vorteil. Man kann das gemein, niederträchtig nennen, die Lage auszunutzen. Als Lamia spüre ich keine niederschmetternde Moralkeule auf mein Haupt sausen. Manche Menschen vermutlich auch nicht. Was hindert dich daran, mich beim Wort zu nehmen?" Bedrängt schnaubte Cornelius kurz durch, straffte seine verspannten Schultern, visierte Junias wieder entschlossen an. "Zum Beispiel deine Offerte, vierzehn Jahre lang unsere Vereinbarung einzugehen! Da bist du 31 Jahre alt, längst erwachsen, berufstätig..." Junias lachte leise. "Und lebe noch bei meinen Pflegeeltern, oje! Gegenfrage: warum sollte es mir NICHT möglich sein? Hier gibt es eine Universität, hier gibt es Arbeitsplätze. Eine Menge Menschen leben hier, warum sollte ich nicht bleiben, mich um meine Pflegeeltern kümmern wollen? Oder MEIN Territorium hier aufgeben?" Cornelius ließ nicht nach, denn Junias' Angebot versprach Hoffnung. Musste deshalb bis in die finstersten Ecken ausgeleuchtet werden. "Schön, gehen wir davon aus, dass DU hier bleiben wirst. Wer garantiert, dass ich das auch kann?! Wenn ich hier keine Arbeit finde, keine Unterkunft, meinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann?" "Warum solltest du weniger Glück als ich haben, hm? Wo ICH doch hier bin, dafür sorgen kann, dass du bei mir bleibst?" Zugegeben, das Argument stach. "Aber wie stellst du dir das alles vor?! Irgendwer wird es bestimmt seltsam finden, wenn wir dauernd zusammen sind. Außerdem: du hast mich GEKÜSST!" Nun kicherte Junias tatsächlich. "Sag nur, es hat dir nicht gefallen?! Dann wäre ich durchaus getroffen." Errötend ging Cornelius zum Angriff über. "Das hat mit Blutsaugen gar nichts zu tun! Du musst das also nicht machen, hast es aber. Was soll ich daraus schließen?! Küsst du ständig irgendwelche Leute?! Ich bin das nicht gewohnt und finde das SEHR aufklärungsbedürftig!" Was noch eine erstaunlich zivilisierte Form der Verärgerung in Worte goss. Junias strich sich mit der freien Hand durch die silbergrauen Locken. "Es hat nichts mit Blut zu tun, stimmt. Und, nein, ich küsse nicht ständig irgendwelche Leute. Ich küsse DICH, weil ich deinen Geruch liebe und deinen Geschmack kosten will. Aber ich ahne, worauf du hinauswillst. Kann es sein, dass du befürchtest, ich würde mich auf dich stürzen, um ungehemmt zu kopulieren in diversen sportlichen Varianten?" Sein spitzbübisches Amüsement konnte man nicht überhören. Zu seiner Verärgerung schoss Cornelius noch mehr Blut in den Kopf. Er fühlte sich wie ein Hummer im Dampfkochtopf! Bevor er sich von Junias' Hand losmachen konnte, weil ihm diese Unterhaltung und dessen ungezogene Selbstsicherheit missfielen, seufzte der leise. "Cornelius, ich habe nicht die Absicht, dich auf diese Art zu attackieren. Ich mag dich, und nicht nur, weil du mir sehr mundest. Ich behaupte auch nicht, dass ich gewisse Funktionskontrollen von Fortpflanzungsorganen nicht im stillen Kämmerlein durchführe. Diese starken, sexuellen Triebe haben wir Lamia nur Artgenossen gegenüber, wenn alle Voraussetzungen stimmen. Andere Zeitvertreibe mit Menschen dienen dem Amüsement oder einer Kontaktpflege. Es ist kein zwanghaftes Bedürfnis." Die burgunderroten Augen hefteten sich eindringlich auf Cornelius. "Solltest du dich, wie Menschen es nun mal tun, verlieben, diese Person treffen, mit ihr leben wollen, werde ich dich nicht hindern. Sex gehört nicht zu unserem Pakt. Der besagt schlicht, dass wir uns treffen, ich dein Blut verkosten darf und dafür garantiere, dass Ruru an einem schönen Ort bei sehr netten Menschen aufwächst. Sex-Sklaverei zählt nun wirklich absolut nicht zu meinen Interessen." Die freie Hand ballend zwang sich Cornelius, nicht verlegen wegzusehen. Bis jetzt hatte Junias auf alle Fragen eine Antwort, deshalb... Er räusperte sich entschieden. "Wie würdest du es anstellen? Alle hypnotisieren?" Junias zwinkerte. "Eigentlich ist es unhöflich, einen Zauberer nach den Tricks zu fragen. Henk und Luzie muss ich nicht überreden. Henk erkennt einen Gärtner, wenn er einen sieht, und Ruru ist bis jetzt der Einzige, der dieses Talent aufweist. Luzie verfährt häufig nach dem Prinzip, 'je mehr, je lustiger'. Zwei zum Preis von einem? Kein Problem. Sodass im Prinzip nur noch eine Person übrig bleibt." Cornelius unterbrach ihn. "Du~du wirst unsere Mutter doch nicht auch in einen Müllcontainer werfen, oder?! Sie verliert zwar schnell die Übersicht, und sie kann so gar nicht antizipieren, aber sie ist nicht bösartig! Nur generell überfordert!" Plädierte Cornelius mit wachsender Hilflosigkeit, schließlich galt es nicht ohne Grund als unfein, die eigene Mutter als etwas unterbelichtet im Oberstübchen zu skizzieren. Junias studierte ihn prüfend. "Interessante Interpretation. Nein, der Freiflug resultierte aus einem Versuch, MICH anzugehen. Ich bin sehr eigen darin, wem ich gestatte, mir nahezutreten." Cornelius reckte das Kinn, signalisierte Unerbittlichkeit, was eine verbindliche Auskunft betraf. Das entlockte Junias ein leises Lachen. "Du reizt mit leerer Hand, mein Freund, zumindest beinahe. Nun, um deine Sorge zu vertreiben: ein schlichtes Gespräch genügt mir." Zweifel konnte Cornelius kaum maskieren, denn Unterhaltungen mit seiner Mutter pflegten tendenziell im Nichts zu enden, weil die eine Partei verwirrt war und die andere erkannte, dass nicht mal eine Zeichnung Abhilfe schaffen würde. "Das ist womöglich schwieriger, als du annimmst. Wie willst du ins Gespräch kommen? Wenn es nicht funktioniert..." Junias gluckste amüsiert. "Dir ist schon bewusst, dass sich deine Situation durch mein Engagement nur verbessern kann? Schlimmer geht nach meinem Dafürhalten im Augenblick nimmer." Sich nicht vollends in seinen Bedenken zum Gelingen ernst genommen fühlend entzog Cornelius Junias seine Hand. "Vielleicht sollten wir mal die Plätze tauschen! Da würdest du in MEINEN Schuhen solche phantastischen Geschichten auch dubios finden!" Nun seufzte Junias betont. "Dein Argwohn in Ehren, doch übertreibst du nicht gerade ein wenig? Ich habe MICH dir offenbart, in meiner tatsächlichen Gestalt, mit all meinen Intentionen. Was GENAU ist noch nötig, damit du mir dein Vertrauen schenkst, hm?" Aus Cornelius platzte unzensiert heraus, was ihn jenseits der Argumente umtrieb. "Es ist einfach zu schön, um wahr zu sein! Nur ein Gespräch, und Ruru darf hier aufwachsen! Gegen regelmäßige Blutspenden. Das ist einfach absurd!" Junias lehnte sich zurück, Spott in der Stimme. "Oh, weil ich mich übervorteilen lasse? Ein gutes Leben gegen etwas rote Soße?" Blitzartig schnellte er vor, packte Cornelius an den Schultern, mit einem Griff, der diesen ächzen ließ. "Du bist schon ein seltsamer Mensch. Erträgst Demütigungen, Prügel, Verachtung und Ausgrenzung für etwas, das man nicht sehen, schmecken oder in Geld umtauschen kann. Für die Hoffnung, geliebt und akzeptiert zu werden von einem Dreikäsehoch. Wie absurd ist das wohl, hm?" Cornelius zuckte getroffen zusammen. In Attacken verfügte er über keinerlei Übung, denn nur Flucht bot ihm eine unsichere Gewähr auf Schonung. Bis jetzt. "Das~das ist doch anders! Ruru ist mein kleiner Bruder! Da wiegt man nichts auf oder vergleicht!" "Humbug, Cornelius. Selbstbestätigung, einen Existenzgrund, Gemeinschaft, Geborgenheit: das alles liegt in der Waagschale. Nicht zwingend mit einer Garantie, aber doch einer großen Hoffnung und Erwartung auf ein Gegengewicht. 'Selbstlosigkeit' ist lediglich ein Wort dafür, nicht gründlich genug hingesehen und nachgedacht zu haben. Harmonische Beziehungen beruhen auf Ausgleich. Ihr steht füreinander ein, ein Bruder loyal zum anderen. Schön. Was ist daran absurd zu vereinbaren, einander zu unterstützen? Wir verfügen beide über etwas, was dem anderen hilft. Nicht in einen Austausch zu gehen, DAS wäre absurd." Stellte Junias durchaus scharf fest, schnaubte. "Es geht doch nicht um Argumente. Du hast schlichtweg Angst, dass einer wie ich es nicht ehrlich meint, es gar nicht kann, weil du ja immer den kürzeren Zipfel von der Wurst erwischst." Der Hieb saß, ein Schlag ins Kontor, ihm zu verstehen zu geben, dass er sich in der Opferrolle zu sehr eingeigelt hatte! Was Cornelius sehr unangenehm sein Urteil über ihre Mutter in Erinnerung rief. Mitleid...aber bloß nicht genauso werden...! Junias gab seine Schultern frei, erhob sich müheloser Geschmeidigkeit. "Ich bin für das Mittagessen zuständig und sollte mich an die Vorbereitung begeben. Unterbrechen wir unsere Unterhaltung hier. So können wir beide ein wenig nachdenken." Damit kletterte er flink aus dem Baumhaus. Cornelius zog die Knie vor den Leib, umarmte sie, legte die Stirn auf seine gekreuzten Unterarme. ~¢~ »Er hat recht.« Ein Urteil, das Cornelius missfiel, sich aber nicht verbannen oder unterdrücken ließ. Aus eigener Kraft konnte er Ruru nicht das bieten, was sein kleiner Bruder erfahren sollte: Aufmerksamkeit, Fürsorge, Vertrauen, Freundschaft, Zuneigung, Zugewandtheit, Anleitung für ein selbständiges, erfülltes Leben. Deshalb musste es sein erbärmlicher, nutzloser Stolz sein, der trotzig Widerstand leistete. Cornelius löste die Umklammerung, lehnte sich an die Wand, legte den Kopf in den Nacken. Tatsächlich ging Junias das größere Risiko ein, oder nicht? Hatte der Erfolg, käme Ruru hierher, wäre sein Part erfüllt, musste er darauf vertrauen, dass Cornelius zu seinem Wort stand. »Du wärst auch nicht mehr so wichtig!« Ätzte ihm eine bissige Stimme in seinem Hinterkopf ein. Sie wiederholte, in weniger schroffen Worten, was der Mann ihrer Mutter mehr als einmal verächtlich geäußert hatte: dass Cornelius' einzige Bedeutung im Leben darin bestand, Rurus älterer Halbbruder zu sein. Mit anderen Bezugspersonen könnte Ruru sich emanzipieren, aus der Abhängigkeit entkommen. Was bliebe ihm dann noch übrig, dem überflüssigen, älteren Bruder?! Eine sehr bittere Bilanz. War er wirklich schon so tief gesunken, dass er sich auf Gedeih und Verderb an Ruru klammerte?! Unverzichtbar, unersetzlich sein wollte, obwohl er doch nur so wenig zu bestellen hatte?! Cornelius würgte erstickt an einem dicken Kloß in seinem Hals, wischte sich ärgerlich über die Augen mit der ungewöhnlichen Farbe. "Das ist widerwärtig." Fällte er schließlich ein vernichtendes Verdikt über sich selbst. Ungerechtfertigter Stolz, Kleinmut, Verzagtheit und Feigheit: davon DURFTE er sich nicht bestimmen lassen, sonst bliebe tatsächlich nichts übrig, was seine Existenz rechtfertigte! ~¢~ Kapitel 11- Entdeckungen Cornelius stieg vorsichtig am Netz herunter, gefasst und entschlossen. Als er dem geschlängelten Weg folgte, flitzte Ruru heran, barfuß, sein Hasentuch in der Klammer, kleine Möhren apportierend. "Nelli! Nelli, schau!" Strahlend präsentierte er sein Transportgut. "Sie haben in der Sandkiste geschlafen, in einem Bunker! Sind die nicht lustig?" Cornelius ging in die Hocke, studierte die durchaus nicht stromlinienförmig gewachsenen Möhren. "Sie sehen wirklich lustig aus. Sind die fürs Mittagessen? Ich kann sie Junias bringen, wenn du magst?" Ruru nickte, betrachtete ihn eindringlich. "Nelli, bist du traurig?" Erkundigte er sich gedämpft, in seinem verschrammten Gesicht Sorge offenbarend. Ertappt erwog Cornelius eine Ausflucht, versagte sie sich aber. "Ein bisschen, Ruru. Ich hab gemerkt, dass ich zu egoistisch war und bin ein wenig von mir enttäuscht." In dem kleinen Gesicht zeichnete sich Bestürzung ab. "Bestimmt nicht schlimm, Nelli! Ich mag dich! Du bist ganz toll! Der allerallerallerbeste Bruder auf der ganzen Welt!" Verkündete Ruru drängend, schlang ihm Arme und Möhren um den Hals. Cornelius musste auflachen, streichelte über den kleinen Rücken. "Ich mag dich auch, Ruru. Und ich finde, DU bist der allerallerallerbeste Bruder der Welt." Kompromissbereit bot Ruru eine friedensstiftende Lösung an. "Wir könnten BEIDE allerallerallerbeste Brüder sein, oder?" Schmunzelnd stupste Cornelius ihre Nasenspitzen aneinander. "Sehr gute Idee! Soll ich die Möhren mitnehmen? Du kannst Henk noch ein Weilchen helfen. Es gibt bestimmt noch viel zu sehen." Ruru nickte eifrig, zupfte an Cornelius' Hemd. "Luzie sagt, Gras unter den Füßen macht fröhlich. Du kannst auch die Fußwaschanlage benutzen, Nelli! Ich hab mit Henk schon ein schlaues Kraut mit flauschigen Blättern hingelegt. Wenn man die zerknautscht und die Füße einreibt, tut das richtig gut!" Erläuterte Ruru engagiert. Cornelius zögerte, löste die Schnürsenkel, streifte die Socken ab und rollte sie in seine Turnschuhe. Barfuß auf Gras oder anderen Bodendeckern zu laufen, das war ihm sehr ungewohnt. Aber wenn es guttat, sollte man das selbst erproben, nicht einfach ablehnen! Ruru strahlte ihn stolz an, reichte die Möhren weiter. Er begleitete Cornelius noch einige Windungen, dann sah er Henk und stob davon. Cornelius ließ sich Zeit, dem Weg zu folgen, links und rechts zu blicken. Rurus Begeisterung erstaunte ihn, doch er anerkannte das Interesse. Grundsätzlich war Ruru erstaunlich geduldig und langmütig, hier jedoch wirkte er wie ein Fisch im Wasser, in seinem Element. »Kleiner Gärtner.« Wiederholte er im Geiste Junias' Feststellung. Würde er dann irgendwann mal wie Henk werden? Gelassen, in sich ruhend, geduldig, nachsichtig? Angesichts dessen, was Ruru schon erlebt hatte, wäre es eine wunderbare Perspektive. Cornelius fragte sich im Stillen, wie Ruru diesen Garten wohl sah. Was ihm selbst als bunt, lebendig, schön erschien, hatte vermutlich ganz andere Dimensionen für Floraphile, mehr Details, mehr Tiefe, mehr Austausch, ein übervolles MEHR an allem. Er seufzte stumm. Aber es gab nun mal einen Unterschied zwischen Begabung und mühevoller Aneignung. Das gleiche Maß an Engagement und Fleiß führte trotzdem nicht zum selben Stand. »Siehst du?! Das kannst du ihm nicht bieten! Also nimm dich zusammen, spring gefälligst über deinen Schatten!« Ermahnte ihn sein selbstkritisches Ich unerbittlich. Zunächst entschied Cornelius jedoch, Möhren und Schuhe abzulegen, um sich die Füße zu waschen. In der Tat fanden sich dort frisch abgeschnittene Blätter. Etwas ratlos studierte Cornelius die abgenutzte Emaille-Schüssel. Erst Blätter knicken und die Füße einreiben, dann in die Fußwaschanlage? Oder andersherum? "Nimm ein paar, roll sie ein, drück sie. Reib dir dann mit den Händen über Rist und die Sohlen. Ein bisschen antrocknen lassen, rein ins Fußbecken. Kräftig auf dem Handtuch trocken stampfen." Luzie grinste, merklich gezeichnet von grauen Schmutzstreifen und Staub in ihrer wirren Lockenmähne. "Henk und Ruru sind offenbar schon fleißig. Lässt du mich gerade vor? Ich hab nämlich noch mehr abzuwischen." Zwinkerte sie. Cornelius nickte, wich höflich zurück, verfolgte konzentriert die Kneipp-Einlage im Schnellverfahren. "Keine Sorge, das Wasser schütten wir später an die Pflanzen aus. Im Sommer ist es eine Wohltat! So, fertig, danke schön, dass du mich vorgelassen hast!" Sie zupfte an ihrem Kittel, vollendete einen altmodischen Knicks. Lächelnd antwortete Cornelius mit einem Diener, begab sich an SEINE Fuß-Kur. Gar nicht mal so gewöhnungsbedürftig! Er schlüpfte in Socken und Schuhe, las die Möhren auf, ließ sich selbst durch die Schiebetür in die große Wohnküche ein. Junias werkelte konzentriert. Es duftete dezent nach herzhaften Gewürzen. "Ich habe Möhren aus dem Bunker dabei." Näherte sich Cornelius etwas verhalten. "Prima. Müssen wir sie schälen oder reicht abbürsten aus?" Cornelius beäugte die Möhren, blickte in Junias' burgunderrote Augen. "Hängt wohl von der Bürste ab." Junias lachte. "Bürste reicht, ich suche sie dir raus. Bist du geübt in der Küche?" Cornelius nahm eine Art Zahnbürste aus Holz entgegen. Zugegeben, die Möhren wiesen kuriose Formen auf, da wäre beim Schälen viel zu viel verloren. "Ich kann belegte Brote und Haferbrei machen. Alles andere ist schwierig." "Schwierig? Wieso?" Junias fischte einen Fritteuseneinsatz aus einem Kochtopf, zweckentfremdet, um darin dicke Nudeln zu kochen, darüber Gemüse zu dämpfen, das Nudelwasser abgekühlt noch für den Garten zu verwenden. "Kochen geht mit Lautstärke, Gerüchen und dreckigem Geschirr einher, deshalb ist es im Haushalt verpönt." Erläuterte Cornelius, legte die Bürste an jedes Möhrchen, polierte es sorgfältig. Unterdessen röstete Junias in einer sehr kleinen Pfanne Kerne, Saaten und Gewürze an. "Aha. Erstaunlicherweise hat man im Haushalt das Essen aber nicht eingestellt, oder?" Cornelius arrangierte die Möhrchen in einer offenen Schale kreisrund. Richtig hübsch wirkten sie nun, bekamen Radieschen zur Gesellschaft. "Ich habe versucht, zumindest für unsere Mahlzeiten draußen etwas Ordentliches zu machen, Gläser und Kartons mit Reis oder Bulgur oder Couscous versteckt, nur mit Wasserkocher und Mikrowelle operiert." Er nahm das Radieschengrün, rupfte es in mundgerechte Blattstückchen, die Junias auf jeden Teller dekorierte. "Es ist nicht so einfach. Kritik am Speiseplan zu üben gilt als Propaganda. Selbst wenn man Rezepte liest, ist die Umsetzung nicht mühelos zu meistern. All diese Programme, 'fünf Mal am Tag', 'Kreidezähne, nein danke!', ich hab das gelesen! Aber im Alltag kann man das nicht einfach so umsetzen!" Cornelius erschrak über sich selbst, weil er laut geworden war, seine Frustration hervorbrechen ließ, obwohl Junias ihm keinerlei Vorwürfe gemacht hatte! Der hatte die Speisen schon auf bunt zusammengewürfelte Schüsseln und Platten verteilt, betrachtete ihn mit dem maskenhaften Gesicht. "Kreidezähne?" Cornelius wich seinem Blick aus, wandte den Kopf ab. "Ja. Die Milchzähne werden weich wie Kreide, manchmal auch schon die zweiten, bleibenden Zähne darunter. Schlimmer als Karies. Die Ursache ist noch nicht genau erforscht, aber man vermutet Weichmacher, vielleicht auch zu viel Hormone in der Umwelt." Er ballte die Fäuste. "Versuch mal zu erklären, dass Plastik und Kunststoffartikel nicht gut für Kleinkinder sind! Dass Beißringe und Schnuller oder Nuckel zertifiziert schadstofffrei sein müssen! Dass man keinen Billigmist kauft, oder dass Kleinkinder keine verdammten Kindertees mit Zucker brauchen! Ganz zu schweigen von abgestandener Cola!" Zornig zwang er sich, durchzuatmen, die Erinnerungen abzuhaken, starrte grimmig auf seine Schuhe herunter, die Schultern ausgestellt. "Ich gönne Ruru Leckereien, wirklich! Mal ein paar Gummibärchen oder ein Bonbon, Kekse oder ein Stück Schokolade. Aber irgendwelche Riegel als Frühstück, zehn Zentimeter übersüßter Fettcreme auf Sandwichbrot...!" In seine vergebliche Wut mischte sich Junias' leises Lachen. Cornelius fegte aufgebracht herum. "Von wegen 'zwei zum Preis von einem'!" Schnurrte Junias' Stimme erheitert. "Mir scheint eher, wir haben hier 'vier zu eins', hm? Großer Bruder, Löwenmutter und alleinerziehender Vater." "Findest du das so amüsant?!" Fauchte Cornelius angegriffen. Junias löste sich, stand, in einem Wimpernschlag, direkt vor Cornelius. "ICH finde, dass du dich beinahe aufgerieben hast in einer ausweglosen Lage. Was aufhören sollte, weil DU völlig verschwindest. Der Cornelius, der nicht Bruder oder Elternersatz ist." ~¢~ Bevor Cornelius erneut Junias vorhalten konnte, dass der einfach nicht BEGRIFF, warum Ruru locker die Waagschale ausglich, kam Luzie hinzu. "Oh, kann gegessen werden? Wunderbar! Haust du den Lukas, Junias?" Damit war ein ausrangierter Gong gemeint, der unter der Traufe vor dem Haus hing, ein rundbackiges Gesicht trug. Cornelius wich an den Tisch zurück. Ob Luzie ihren Streit bemerkt hatte? Obwohl, Streit konnte man die letzte Unterhaltung auch nicht nennen. Sie lächelte ihm zu, von Schmutz und Staub befreit, doch die Haare noch immer wild. "Das sieht aber sehr lecker aus! Wollen wir einen Spritzer Apfelsaft für das Wasser?" "Da sag ich nicht nein. Ich hole die Flasche." Während Junias dieser Aufgabe nachkam, fischte Cornelius noch ein Sitzkissen ab, wollte sich der Schiebetür nähern, doch Henk kam schon hinein, Ruru an der Hand. Der trug statt seiner Sandalen wieder die zu großen Holzgaloschen, was ihm offenbar Freude bereitete. "Nelli, stell dir vor: ich hab einen echten Admiral gesehen! Der war so schön!" Strahlte Ruru ihn an, eilte rasch zur Spüle, um sich dort neben Henk die Hände zu waschen. Cornelius vermutete, dass es sich wohl um einen Schmetterling handeln musste. Er half Ruru auf die Sitzbank, schenkte ihm Wasser ein, das noch einen Spritzer Apfelsaft bekam. "Danke. Ich hoffe, der Admiral kommt noch mal, dann zeig ich ihn dir." "Das wäre nett, Ruru." Antwortete Cornelius, hastig eine Ergänzung herunterschluckend, nämlich den Hinweis, dass sie jetzt erst mal essen würden, und es dann im Belieben ihrer Gastgeber... »Ja. Du benimmst dich wie ein Elternteil. Sicher, die biologischen Eltern reichen nicht an deine Erwartungen heran, aber tut es Ruru gut, wenn du in Personalunion alle Rollen übernimmst?« Auch noch keiner wirklich gerecht werden konnte! Cornelius wagte nicht, zu Junias zu blicken, wählte eilig eine der kuriosen Möhren aus. Er biss ab, kaute, schluckte gegen das bittere Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit an. ~¢~ Nach dem Essen lud Henk Ruru ein, ihm in der Werkstatt ein wenig zu helfen. Die Kinderstube für Pflanzen und Nützlinge musste jeden Tag kontrolliert werden. Ruru war sofort Feuer und Flamme. Cornelius nickte rasch, assistierte beim Abwasch. Luzie scheuchte sie schließlich von der Küchenzeile weg. "Genug gearbeitet für jetzt! Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang? Den Kopf auslüften, die Nachbarschaft kennenlernen." Dem war nichts entgegenzusetzen, denn Cornelius kannte sich hier ja nun wirklich nicht aus. Außerdem sollte er sich wohl besser rasch an Junias' Gesellschaft gewöhnen! Der holte noch seine Sonnenbrille. Sie schlenderten in den ehemaligen Ortskern. Flanierende begegneten ihnen kaum, auch wenn es trotz der Mittagsstunden nicht zu heiß war. "Du weißt, dass ich den Pakt mit dir schließen werde." Brach Cornelius schließlich ihr Schweigen. "Aus der Sicht eines Lamia, Cornelius." Neckte Junias ihn. Cornelius straffte sich. "Ich wollte alles richtig machen, damit Ruru es gut hat. Darauf habe ich mich konzentriert. Das hat mich bei der Stange gehalten, denn sonst gibt es einfach nichts für mich." Junias nahm seine Hand, ganz selbstverständlich, ohne ein Stocken in ihrem Tempo. "Für den Moment mag das so aussehen, Cornelius. Auch wenn ich das mit meinen übersichtlichen siebzehn Jahren sage: es gibt noch jede Menge. Bisher haben Zeit und Gelegenheit gefehlt. Das wird nun anders werden." Vermutlich angefangen damit, dass sie jemand so sah, der sie kannte! "Diskretion, hattest du das nicht gesagt?" Damit lupfte Cornelius vorwurfsvoll ihre verschränkten Hände an. Neben ihm lachte Junias. "Hatte ich, sehr richtig! Möglicherweise bin ich einfach inkonsequent, wenn es um dich geht." Cornelius blieb stehen, wandte sich Junias zu. "Bitte. Bitte hilf mir, damit Ruru bei Henk und Luzie bleiben kann." Junias studierte ihn schweigend. "Ich habe dein Wort, was unseren Pakt betrifft?" "Ja." Antwortete Cornelius entschieden. Nach einem halben Tag sehr unerfreulicher Selbstreflexion konnte es keine andere Entscheidung geben. "Vielen Dank." Schnurrte Junias mit starrer Mimik, löste seine Hand, um beide um Cornelius' Gesicht zu legen, ihren geringen Größenunterschied zu überwinden, ihn kalt, aber sehr nachdrücklich auf die Lippen zu küssen. "Mhhmmm..." Cornelius sollte einen strengen Tadel äußern! Stattdessen pflückte er Junias' kalte Hände von seinen Wangen, hielt sie locker. "Es ist unverschämt, aber können wir eine nonverbale Methode finden, wie du mir deine Stimmung signalisierst?" Junias musterte ihn mit dem bekannten Pokerface. "Ist das so wichtig?" Hakte er schließlich gedehnt nach. "Für mich schon." Stellte Cornelius erneut heraus. "Wie dir nicht entgangen ist, neige ich zu ausweichendem Verhalten, wenn Konfrontationen drohen, denen ich nichts entgegenzusetzen habe. Wenn ich deine Stimmung nicht einschätzen kann, werde ich auf Distanz bleiben. Ich glaube jedoch nicht, dass wir die nächsten vierzehn Jahre so gestalten wollen." Den Kopf auf eine Seite neigend studierte Junias ihn. "Nun, ich werde mich neuen Erfahrungen nicht verschließen. Wie genau sollen wir das bewerkstelligen?" Es klang ein wenig Spott in seiner Stimme mit. Cornelius wandte sich halb ab, bot sein Profil. "Siehst du, genau DAS meine ich. Auf dich wirkt es wie eine Petitesse, belustigend und auch ein wenig ärmlich, auf Signale angewiesen zu sein. Deine Fähigkeiten bedürfen keiner Hilfsmittel. In Ordnung. Aber es bedeutet auch, dass wir nicht auf Augenhöhe sind. Willst du, dass das so bleibt? Wenn das für Lamia üblich ist, werde ich mich damit arrangieren, immerhin habe ich durchaus Erfahrung damit, nicht für voll genommen zu werden." Einige ungemütliche Augenblicke lang verharrten sie so. Schließlich fasste Junias Cornelius' Hand in festem Griff, marschierte etwas strammer als zuvor weiter. Ausbruchsversuche wären futil, deshalb ersparte Cornelius sich die vergebliche Mühe. War Junias verärgert? Oder nachdenklich? Gelangweilt und der Kleinigkeiten überdrüssig? Ohne Worte, ohne Mimik ließ sich das einfach nicht beantworten! Der Kurs führte sie wieder zurück zum Garten, wo Junias die "Gartentür" wählte, Cornelius hinter sich her zog, erneut ins Baumhaus kletterte. Mangels Alternativen folgte Cornelius ihm, nahm auch höflich auf einem Kissen Platz. Junias setzte sich ihm gegenüber, an die Wand gelehnt, die Beine angewinkelt aufgestellt, die Arme lose darüber hängend. "Dir ist bewusst, dass du einen wunden Punkt anrührst." Stellte er fest, ohne dass Cornelius seine Stimmung einzuschätzen vermochte. Die Stimme klang nämlich sachlich bis flach. Zu seiner Verblüffung jedoch wandte Junias den Blick ab, ließ die Beine in einen Schneidersitz sinken, legte die Hände in den Schoß. "Es funktioniert wirklich nicht." Brummte er leise, wie im Selbstgespräch. Cornelius zog fragend die Augenbrauen zusammen. Bevor er jedoch nachhaken konnte, kehrte sich Junias zu ihm um. "Ich kann es nicht: deine Augen wieder täuschen, meine wahre Erscheinung vor dir verbergen." Hatte Junias das etwa versucht? Auf dem Heimweg oder jetzt gerade? Junias schnaubte, was ein wenig frustriert anmutete. "Das hatte ich nicht vermutet." Auf einem anderen mentalen Pfad wandernd lotete Cornelius unbekanntes Terrain aus. "Bedeutet das auch, dass du mich nicht mehr mit deiner Stimme beeinflussen kannst?" Widerwillig zuckte Junias mit den Schultern, raufte sich knapp durch die silbergrauen Locken. "Nun, die Augen sind leichter zu manipulieren als die Ohren. Wahrscheinlich funktioniert es noch." Aber er schien keineswegs mehr überzeugt, wollte Cornelius seiner Stimme trauen. "Etwas unpraktisch." Erlaubte er sich ein Urteil. Sollte Junias so ein Lapsus auch bei anderen unterlaufen...! "Das ist nicht das Wort, das ich verwenden würde." Murmelte Junias leise. Cornelius bemühte sich unterdessen um einen "praktikablen" Vorschlag, weil Kritik allein sehr billig ankam. "Wir könnten uns Fachliteratur zur Körpersprache ansehen. Oder es wie beim Sport machen, mit versteckten Zeichen." Junias legte den Kopf in den Nacken, leise lachend, sich mit beiden Händen über das Gesicht reibend. "Als Plan B nicht verkehrt, aber..." Er ließ die Hände sinken, studierte Cornelius. Der wartete geduldig darauf, in Plan A eingeweiht zu werden. Stattdessen begab sich Junias geschmeidig auf die Knie, überwand die Distanz zwischen ihnen. "Augen zu." Wisperte er sanft. Eingedenk ihres Paktes erwartete Cornelius eine "Blutspende" abgeben zu müssen. Er zuckte nicht vor der kalten Hand auf seiner Wange zurück, während die andere sich auf seiner Schulter abstützte, neigte artig den Kopf auf eine Seite, spürte kalte Lippen, einen kurzen Druck, dann Junias' Zunge, die über seine Haut leckte. Der löste sich aus Cornelius' Halsbeuge, visierte dessen Lippen an. Anders als zuvor küsste Junias jedoch nicht bloß sanft die warme Haut, sondern betätigte sich engagiert in einem leidenschaftlichen, feuchten Kuss, schlang schließlich die Arme um Cornelius' Schultern, richtete sich auf dessen Schoß ein, schnupperte genießerisch, ihn umarmend. "Nicht die Augen öffnen, Cornelius. Spür mich." Wisperte er leise in eine Ohrmuschel. Cornelius, der durchaus eine MENGE Empfindungen zu verarbeiten hatte, stutzte, registrierte, wie er selbst witterte wie ein Bluthund! Er hob schließlich die Arme an, um Junias behutsam über den Rücken zu streichen. "...du bist...ganz schön erschrocken." Stellte er eine geradezu unglaubliche Behauptung auf. "Stimmt." Absolut phantastisch, aber konnte es sein...? Dass kurzzeitig ihr intimer Austausch ihn auch befähigte, wie Junias Stimmungen zu riechen?! "Kann es sein, dass du mir etwas aus dem Kleingedruckten verschwiegen hast?" Voluntierte Cornelius eine Erklärung, glitt wagemutig mit einer Hand über Junias' Nacken. Die silbergrauen, gestutzten Locken fühlten sich weniger seidig an, als man bei ihrem Anblick vermutete, sondern ähnlich "drahtig" wie seine eigene Krause! "Ich habe nicht angenommen, dass das stimmt." Murmelte Junias kaum hörbar, verdruckst. Cornelius fühlte sich sofort angehalten, Junias' vermutete Verunsicherung auszugleichen. Ein Gedanke, der ihm vorher nie gekommen wäre, weil Junias so überlegen und selbstgewiss auftrat! "Ist es möglich, dass ich nicht bloß 'appetitlich' bin? Falls ja: wäre das schlimm?" Junias richtete sich etwas auf, lehnte ihre Stirn aneinander. "Gerade macht es mich sehr nervös. So viel Übung hab ich ja auch nicht!" Er klang so kläglich-trotzig, dass Cornelius sich mit einer Neckerei revanchierte, nun, wo sie einander ebenbürtig waren. "Man soll eben nicht mit dem Essen spielen!" "Pah!" Klopfte Junias ihm mit einer Faust auf die Schulter, aber nicht zu fest. Cornelius hob die Hand, um sie sanft über Junias' kalte Wange gleiten zu lassen. Er spürte, wie sich die erstaunliche Verschärfung seiner Sinne wieder verlor. "Du zitterst immer noch." Bemerkte er leise, mitfühlend. Junias schnaubte, seinem Blick aufweichend. »Möglicherweise gibt es doch mehr Gemeinsamkeiten als gedacht.« Analysierte Cornelius diese Reaktion. Wenn ER solche Erschütterungen auslöste, gehörte es sich, die Verantwortung zu übernehmen. Schließlich hatten sie sich gegenseitige Unterstützung und Schutz versprochen! Deshalb lupfte er Junias' Kinn leicht, um ihn zu küssen. Selbstverständlich konnte er keine Übung vorweisen, ließ sich jedoch in dem entdeckten Strudel mitreißen, hielt Junias umschlungen, erkundete die vergleichsweise kühle Zunge, den Gaumen und den Geschmack, registrierte beiläufig die Fingerkuppen, die sich in Hemd und Haut bohrten. Kurze Atempausen nur, dann setzte er seine Liebkosungen fort, deutlich berauscht, denn tatsächlich schienen ihm seine Sinne geschärfter als gewöhnlich, durchströmten ihn mehr Reize. Einige davon erwiesen sich als recht bodenständig und hartnäckig. Wie lautete noch Junias' Umschreibung, "Funktionskontrollen"? Der durchlebte vermutlich ähnliche Empfindungen, rutschte auf Cornelius' Oberschenkeln, mühte sich um etwas Abstand. "Bleib, bitte." Raunte Cornelius, ohne die Augen zu öffnen. Rasche Kompensationshandlungen unter der Dusche hinderten ihn nicht daran, Hand anzulegen, vor allem, weil er annahm, dass Junias' kalte Hände SEINEN Enthusiasmus ein wenig bremsen würden. Zweifel oder Skrupel traten in den Hintergrund der aktuellen Notwendigkeiten. Junias fühlte sich durchaus "menschlich" an, keuchte an seinem Ohr, unterdrückte spontane Lustäußerungen. Das ließ den Schluss zu, dass ihm gefiel, was Cornelius in synchroner Handreichung vornahm. Der Höhepunkt erfolgte ebenso rasch, ließ sie atemlos aneinander gelehnt zurück. "Kommst du an Taschentücher?" Erkundigte sich Cornelius schließlich rau, blinzelnd. Junias löste die Arme um seinen Nacken, fahndete nach entsprechendem Gut. Cornelius griff zu, erledigte Säuberungsarbeiten, justierte die Beinkleider und Unterhosen. Er zog Junias wieder in eine Umarmung. "Du zitterst immer noch. Kann ich dir helfen?" Fragte er leise, nun doch besorgt. "...das...geht schon. Ich muss mich nur...gewöhnen..." Die profunde Verunsicherung erfassend begriff Cornelius plötzlich, was Junias so geschickt getarnt hatte, nämlich ganz allein zu sein mit Anweisungen und Regeln, von denen sich einige als eher ambivalent herausstellten. Auf sich gestellt zu sein mit einem gefährlichen Geheimnis. Ihn erfassten Mitgefühl und auch Beschämung. "Entschuldigung, ich hätte fragen sollen. Ich wollte dir auch keine Angst einjagen." Junias lachte erstickt auf, verstärkte den Klammergriff um Cornelius' Nacken. "Ich bin bloß durcheinander. Hab mehr abgebissen, als ich schlucken kann, fürchte ich. Dumm von mir!" Cornelius erstarrte. Wollte Junias von ihrem Pakt zurücktreten?! "...du...wirst mir...nicht helfen?" Stammelte er entsetzt. Rasch löste Junias die Umklammerung, lehnte sich etwas zurück, um Cornelius ansehen zu können. "So meinte ich das nicht! Ich stehe zu meinem Wort. Nur gerade..." Eilig wandte er den Kopf ab, presste die Lippen aufeinander. "Nur gerade?" Wiederholte Cornelius drängend, um Aufklärung heischend. Junias quittierte das mit einem leichten Klaps auf die Schulter, ihm immer noch das Profil bietend. "Wirklich, kannst du mal auf die Bremse treten?! Ich bin erst Siebzehn, ich mach das zum ersten Mal, meine Instinkte spielen verrückt! Ist gemein, mir so zuzusetzen!" Beschwerte er sich. "Tut mir leid." Antwortete Cornelius betreten, studierte eindringlich Junias' maskenhaftes Profil, hielt ihn dabei locker. "Für einen alleinerziehenden Vater hast du ganz schön Übung. Ich dachte, da gäbe es keinen Platz für...." "Triebe? Oder 'Funktionskontrollen'?" Unterbrach Cornelius, zwischen Verärgerung und Amüsement schwankend. Gleichzeitig Beleidigung und Kompliment, das musste man Junias schon anrechnen! "Ich hab das eben auch zum ersten Mal in Gesellschaft gemacht." Ließ er Junias ruhig wissen. "Andererseits handelt es sich ja nicht gerade um Raketentechnik, also..." Junias prustete unterdrückt, wandte ihm endlich wieder das Gesicht zu. "Du bist immer für eine Überraschung gut, das sehe ich ein." Junias legte ihm die kalten Hände auf die Schultern, zwinkerte. Cornelius bemerkte, dass sich das Zittern verabschiedet hatte. "Ich bin am Anfang einfach vorsichtig. Wenn ich sonst auch nicht viel vorzuweisen habe: im praktischen Alltag bin ich nicht ganz unbegabt." Eine kalte Hand strich behutsam über seine Krause, seine Koteletten, dann die Schläfen. "Ich wollte nicht herablassend sein, doch wahrscheinlich ist es dir so vorgekommen." Murmelte Junias. Cornelius seufzte. "Du hast mir ordentlich Stoff zum Nachdenken gegeben. Das war auch nötig. Ich bin immer argwöhnisch, wenn mir jemand helfen will, augenscheinlich ohne triftigen Grund. Es ist schwer, das abzustreifen, leider." "Dabei habe ich sogar einen Grund!" Jammerte Junias, die burgunderroten Augen rollend. Sich ein wenig zurücklehnend grinste Cornelius herausfordernd. "Ich würde behaupten, mittlerweile ist es MEHR als nur EIN Grund." Dabei leckte er sich provozierend die Lippen, als habe er gerade ein sehr leckeres Menü in mehreren Gängen verputzt. "Pah! Und du forderst von mir Diskretion!" Beschwerte sich Junias prompt, tippte Cornelius mit der Fingerspitze auf die Nase. Cornelius lächelte, streckte Junias die Rechte hin. "Freunde?" Der ergriff sie, hielt sie fest. "Freunde." Bestätigte er leise, gar nicht übermütig oder selbstsicher. Sie studierten sich noch einige Augenblicke schweigend. "Was nun?" Erkundigte sich Cornelius schließlich. Geschmeidig kam Junias auf die Beine, half ihm auch auf. "Jetzt backen wir was!" ~¢~ Kapitel 12 - Vorbereitungen Cornelius war mit der These vertraut, dass einige Personen Kompensationshandlungen in Form von Reinigungsaktivitäten vornahmen oder im Garten stundenlang werkelten. Backen, das war ihm neu. Andererseits handelte es sich auch nicht um eine schlichte Disziplin von Teig-Ofen-fertig! Nein, hier war mathematische Präzision gefragt: so viel wie möglich sollte in den Backofen, um die eingesetzte Energie optimal auszunutzen. Junias entwickelte Bienenfleiß, sodass er selbst im Hintergrund assistierte. Kekse, Brot im Glas, Zwieback, Kuchen, Crunch-Streu-Brösel... Erst die orchestrierte Vorbereitung, dann Einfahren in die heiße Grube, rechtzeitiger Wechsel mit Nachschub. Man musste seine Sinne schon beisammen haben! Der appetitliche Duft lockte auch Luzie herbei, die die Initiative lobte, eifrig Gefäße aufreihte, in die man das Backgut verstauen konnte. Sie rief Henk und Ruru auch dazu, die ohne Siesta Nachwuchs pikiert hatten, eine Pause vertragen konnten. Es gab frisch gebackene Schnecken mit feinem Aufstrich, bitterer Orangenmarmelade oder Haselnussmus. Ruru ließ Cornelius dabei wissen, wie knifflig es doch war, Keimlinge umzusetzen! Man durfte die winzigen Wurzeln nicht beschädigen. Alles musste auch schön im Anzuchttopf sitzen. Keine Luftlöcher, keine Knicke, genug Wasser... Cornelius staunte. Ganz schön harte Konzentrationsarbeit für einen Vierjährigen! Allerdings schien Ruru in seinem Element zu sein. Henk hatte offenbar keine Bedenken, ihn mittun zu lassen. Nach der Kaffee-Tee-Wasser-Schnecken-Pause kramte Luzie einen recht luftschwachen Ball hervor. Im Garten war kaum Platz zum Toben, doch die Stichstraße zum Feldweg konnte man schon nutzen! Aus Fairnessgründen alle barfuß. Henk sah dem leichten Kick die schmale Straße rauf und runter zu, dabei systematisch eine Gartenzange zerlegend, um sie zu reinigen und zu schärfen. Es ging nicht um Tore oder Herumschubsen, sondern den Ball im Rollen zu halten. Was nicht so einfach war, weil der eher kullerte und zu jedem Zentimeter überredet werden musste. Außerdem bedurfte es durchaus etwas Übung, mit nackten Füßen zu agieren. Am Ende ging es in feierlicher Prozession durch den Garten zur Fußwaschanlage. Wasser mit Minze kam zum Einsatz, um die durstigen Kehlen zu ölen. Cornelius registrierte, dass Rurus Hasenpower ziemlich aufgebraucht war, weil der blinzelte, immer wieder auf der Bank rutschte. Er nahm ihn auf den Schoß, zum Abstützen. "Wir sollten uns wohl langsam auf den Heimweg machen." "Ja, morgen ist ja auch noch ein Tag!" Strahlte Luzie, damit indirekt die Erwartung formulierend, man könne sich erneut ungeniert einladen. "Ist das denn in Ordnung?" Hakte Cornelius vorsichtig nach. "Aber sicher! Oh, aber wenn ihr eine Verabredung mit Frau Kappel habt..." Davon konnte keine Rede sein, deshalb negierte Cornelius eine derartige Vormerkung. Bevor er jedoch höflich werden konnte, legte ihm Junias die Fingerspitze auf den Mund. "Keine langweiligen Phrasen von 'Belästigung', 'Störung' oder 'Aufdrängen'!" Gebot er streng, zwinkerte. "Lass mich gerade noch etwas Proviant und für Frau Kappel was einpacken." Damit erhob er sich, um eine Stofftasche zu beladen. "Danke schön. Wirklich, vielen herzlichen Dank. Wir hatten lange nicht mehr so viel Spaß." Richtete Cornelius unerschrocken die Worte an Henk und Luzie. Selten konnte Ruru so ausgelassen herumlaufen, lachen und ein bisschen toben. "Dann sollten wir das unbedingt wiederholen, nicht wahr?" Grinste Luzie unbeschwert, streichelte Ruru über den Kopf, entklammerte das Hasentuch, damit er es festhalten konnte. Cornelius nahm Ruru auf den Arm, der sich mühsam wachzuhalten versuchte, den Hasenpower-Gruß mit der freien Hand ausführte. "Ich komm wieder, Henk, für die anderen Pflänzchen." Versprach er, ein klein wenig schleppend in der Aussprache. Henk nahm einfach seine Hand, drückte sie sanft. "Ich warte auf dich, Ruru." "Und ich habe jetzt gepackt! Gehen wir?" Cornelius erwartete nicht, dass Junias sie wieder begleitete, doch dem schien das selbstverständlich. Er verabschiedete sich deshalb von Henk und Luzie, justierte Ruru auf seinem Arm, der wie ein kleines Faultier an ihm hing und eindöste, kaum, dass sie die Stichstraße verlassen hatten. Junias, die Provianttasche apportierend, fing das Hasentuch ab, bevor es den kleinen Fingern entgleiten konnte. "Danke." Sie spazierten langsam, schweigend nebeneinander her, bis Cornelius wieder das Wort ergriff. "Als du mir vorhin sagtest, dass ich Löwenmutter und alleinerziehender Vater bin, war ich etwas eingeschnappt. Aber du hast recht: ich hab mich in diese Rolle reingedrängt, weil ich dachte, ich könne es besser. Im Moment muss ich erkennen, dass ich bloß andere Fehler begehe und dass es für Ruru vielleicht gar nicht so gut ist, wenn ich alles auf einmal sein will." Cornelius warf einen kurzen Seitenblick auf Junias, der ihm schweigend zuhörte. "Früher, da hatte unsere Mutter auch Freunde. Die wollten mit ihr zusammen sein, nicht Vater spielen oder Familie. Sie hat mir das erklärt, es sei normal, weil ich ja nicht ihr Kind sei, das sei bei Männern eben so. Dann kam dieser neue Mann, wollte heiraten, wollte eine Familie. Ich hab mich sehr artig benommen, bloß keinen Ärger machen, immer auf Manieren achten. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mir eingestanden habe, dass sich sein 'Familie' auf Ruru bezog. Aber ich habe mir eingeredet, dass ich als Bruder ja auch noch mitlaufe." Er räusperte sich, sah die nahe Kreuzung, doch Junias unternahm keine Anstalten, ihn zu verabschieden oder die Stofftasche mit Proviant und Hasentuch zu übergeben. "Ich habe mir Mühe gegeben, Familienratgeber gelesen, Bücher zur Schwangerschaft, Erziehung von Geschwistern in Patchwork-Familien." Cornelius grimassierte. "Tatsächlich habe ich alle möglichen Ratgeber gelesen. Ernährung für Babys, Gesundheit, Wege zum Trockenwerden, Entwicklungsunterstützung..." Er presste kurz die Lippen aufeinander. "Unsere Mutter ist ein wenig überfordert. Rurus Vater fand Säuglinge 'langweilig'. Außerdem dauerte es ihm zu lange, bis mit Ruru 'was anzufangen' war." Unwillkürlich umschlang er Ruru fester. "Ich war wütend, hilflos und so enttäuscht! Für mich hatte ich ja akzeptiert, dass es nicht so toll laufen würde, aber für Ruru war es unfair! Natürlich ist das Leben unfair, das weiß ich auch, aber das wollte ich nicht einfach so hinnehmen." Sie hatten längst die Kreuzung überquert, spazierten durch das Neubauviertel. "Ich hab Mobiles für ihn gebaut, bin mit ihm rausgegangen, hab ihn krabbeln lassen. Die Vorsorgetermine überwacht, die Impfungen. Welche Folgemilch geeignet ist, was man bei Beikost beachten muss. Wie man Bauchschmerzen mit Kümmelöl behandelt. Was beim Zahnen hilft. Übungen zur Beweglichkeit, weil die Kasse keine Osteopathie übernimmt. Ich habe mit ihm das Laufen geübt, Kleider gekauft oder getauscht." Cornelius würgte kurz. "Mein kleiner Bruder akzeptiert, dass Spielzeug im Kindergarten wohnt, weil man es ja allein nicht richtig gebrauchen kann." Wütend blinzelte er einen feuchten Film auf den Augen weg. "Es ist nicht fair. Ruru ist so lieb, einsichtig, nicht mal in der Trotzphase hat er gequengelt oder Ärger gemacht. Ich WILL, dass es ihm gut geht! Wenigstens ER soll eine richtige Familie haben!" Er straffte seine Gestalt. "Unsere Mutter hat es nicht so mit der Übersicht, deshalb war es nicht schwer, alles an mich zu reißen." Cornelius grimassierte bitter. "Ich hab ja auch schon vorher mehr Verantwortung übernommen. Ihr Mann hat sich um Ruru nicht großartig gekümmert, nur hin und wieder Gemecker. Aber wie soll so ein kleines Kind auch mit Erwachsenen mithalten können?! Hat ihn nicht interessiert!" Behutsam balancierte er Ruru leicht aus. "Ich hab mit anderen gesprochen, die auch viel jüngere Geschwister haben. Wo es Flohmärkte gibt, wer was loswerden will. Selbst hatte ich kein Spielzeug mehr, hatte das längst verkauft oder eingetauscht für Schulsachen. All das aufzuziehen, das war mühsam, dazu kaum Geld, aber..." Er befeuchtete sich die Lippen, die Kehle aufgeraut. "Ein Baby kann nur vertrauen, ist völlig auf Hilfe angewiesen. Das jagt einem einen Mordsrespekt ein. Man kann sich nicht wegducken, das ist Verantwortung für alles. Nicht 'ich', sondern 'wir'. Und im Zweifel 'er'. Deshalb KANN ich unmöglich zulassen, dass es Ruru ergeht wie mir!" Cornelius blieb stehen, blickte Junias aufgewühlt an. "Ich KANN nicht aufgeben, ausgeschlossen! Gar nichts hätte irgendeinen Sinn, wenn Ruru nicht glücklich werden kann!" Junias, der ebenfalls stehen geblieben war, studierte ihn schweigend. "Ich helfe dir." Versicherte er schließlich ruhig. "Ehrlich gesagt, für mich bedeutet 'Erwachsene' häufig nur 'Menschen über 18 Jahren'. Nicht zwingend Kompetenz, Einsicht oder eine Besserung des Charakters. Vielleicht mehr Sozialkontrolle. Aber das ist möglicherweise bloß der Blickwinkel eines Lamia." Cornelius hörte die heitere Note im letzten Satz heraus, die sanfte Selbstironie. Er seufzte, ließ die verspannten Schultern etwas sinken. "Ja, mittlerweile kommt es mir auch so vor, als sei ich einem Schwindel aufgesessen. Dass 'Eltern werden' bedeutet, dass man sich magischer Weise perfekt auskennt. Oder dass Eltern grundsätzlich ihre Kinder lieben. 'Blut ist dicker als Wasser', all diese Redensarten! Man kann JEDE MENGE verbocken! Lässt mich an der 'Krönung der Schöpfung' zweifeln." Junias lachte, nahm ihren langsamen Schlenderschritt wieder auf. "DARAN hatte ich schon länger Zweifel!" Neckte er Cornelius naseweis. Der lächelte auch leicht, schüttelte ein wenig der Anspannung ab. Ja, es war wohl jugendliche Überheblichkeit gewesen, selbst die Elternrolle zu übernehmen, sich für besser geeignet zu halten. Aber es schien, als habe er gerade noch die Kurve gekriegt! Wenn Ruru zu Henk und Luzie kam, gäbe es zwei Erwachsene, die ihm kompetenter und erfahrener erschienen als die biologische Alternative. Mehr Bezugspersonen, Verlässlichkeit, einen geregelten Alltag. Keine Angst vor Prügeln, vor Schimpftiraden, vor Herabsetzung und Missachtung. Er registrierte Junias' Seitenblicke, lupfte kurz die Schultern. "Menschen sind merkwürdig." Erklärte er eine Spur grimmig. Junias lachte leise. "Ja, das ist mir nicht entgangen. Ich bin neugierig, was wir noch so alles erleben werden." Mit einem Blick auf die Häuserzeile ergänzte er lakonisch. "Doch das wird wohl bis morgen warten müssen. Oh, und da kommt auch schon das Schlüsselkörbchen!" Frau Kappel winkte aus dem offenen Fenster. "Gute Nachrichten: keine Meldungen von niemanden!" Rief sie herunter, strahlte. ~¢~ Cornelius legte Ruru sanft auf dem Bett ab, löste die Sandalen von den Füßen, zupfte ein Sweatshirt als leichte Decke zurecht. Das Hasentuch kam in Reichweite, dann ließ er Ruru schlafen. Frau Kappel empfing ihn mit einem Becher "Schüttelkakao" und den neuesten Entwicklungen: bis zum Donnerstag, dem ersten Mai und somit Feiertag, blieben die strikten Regelungen noch aufrecht, verkündete man. Danach könne man mit Konzept ab der nächsten Woche wieder zum Friseur, in Museen oder den Zoo. Für die Schulen nichts wesentlich Neues, Kindergärten blieben weiterhin geschlossen. Man rechne eigentlich damit, bis zu den Pfingstferien am Ende des Monats so weitermachen zu müssen. Was bedeutete, dass immer noch Abstand und nicht mehr als drei Personen in der Öffentlichkeit zu beachten waren. Cornelius war sich nicht sicher, ob ihm das half oder schadete: wenn man sich nicht treffen durfte, garantierte es noch nicht, dass man Ruru hierbleiben ließ. Umgekehrt konnte auch keine Entscheidung getroffen werden. Frau Kappel nippte an ihrem Becher. "Es heißt, die Gerichte bereiten sich auch so langsam wieder auf Verhandlungen vor. Mit Plexiglasscheiben, Masken, in größeren Sälen und Video-Übertragung." Cornelius lächelte leicht, um sie zu beruhigen. "Alles so in der Schwebe zu wissen, ist ein wenig aufreibend. Aber im Moment geht es uns gut." Wenn Junias tatsächlich das Wunder vollbrachte... »Stopp!« Dachte Cornelius entschlossen. Denn wo sich unerwartet viel Hoffnung auftat, gab es entsprechend viel Raum für Befürchtungen und Sorgen! ~¢~ Ein vertrauter Duft lockte Angel aus traumlosen Untiefen in die Gegenwart. Er rollte sich murmelnd auf den Rücken, fädelte unter der Decke die Hände frei, kämmte sich entflohene Strähnen aus den Wimpern. "Doch schon wach?" Matti beugte sich herunter, küsste ihn zärtlich und luftig-leicht auf die Nasenspitze. "...guten Morgen..." Murmelte Angel, blinzelnd, sich auf die Ellen stemmend. Wie spät mochte es sein?! "Es ist Sonntag, gegen halb Elf. Ich habe alles erlegt, was Alarm schlagen könnte." Half Matti lächelnd aus, leger gekleidet, einen glasierten Keramikbecher anreichend. Angel nahm ihn entgegen, pustete leicht, nippte, die grünen Katzenaugen auf Matti gerichtet. "Danke." In den Stahlaugen tanzte Amüsement. Matti strich ihm sanft weißblonde Strähnen hinter die Ohren. "Wolltest du das nicht?" Erkundigte er sich in Referenz auf Angels letzten, grimmigen Ausbruch. Grimassierend nippte Angel erneut am Becher. "Absolut, bloß habe ich nicht damit gerechnet, auch in diesen dekadenten Genuss zu kommen!" Grummelte er. Schließlich schien in der letzten Zeit immer irgendwas allzu dringend zu sein, um sich erholen zu können, nicht dauernd aufgeschreckt zu werden. Matti zwinkerte. "Nun, es ist uns gelungen, würde ich behaupten." Er wirkte alarmierend aufgeweckt und hellwach. Sich gegen die Kissen sinken lassend seufzte Angel. "Du hast aber nichts angestellt, oder? Wenigstens nichts, das sich nicht irgendwie ausbügeln lässt, richtig?" Man konnte kaum leugnen, dass Matti nicht mal zögern würde, sich mit BlueMax zu verschwören, um ihm Erholung zu verschaffen. Matti lachte, nahm den Becher an sich, stellte ihn ab, beugte sich herunter, als gelte es, Dornröschen aus dem tausendjährigen Schlummer zu wecken. Angel kam ihm entgegen, engagierte sich in zärtlichen, neckenden, verlockenden Küssen. Sich die Lippen leckend zwinkerte Matti. "Sag, Angel, wie denkst du über Galettes?" ~¢~ Frau Kappel erhob keine Einwände, dass sie die Waschmaschine benutzen durften. Nach einer Woche mit reichlich zusammengewürfelter Bekleidung tat das not. Im Badezimmer wurde eine Wäschespinne aufgeklappt. Cornelius verteilte mit Ruru ihre Kleidung. Wie stets lobte Cornelius Ruru für dessen Engagement. "Wollen wir Adam besuchen?" Erkundigte Ruru sich, nach einem sehr langen, ruhigen Schlaf in der Nacht und einem üppigen Frühstück sehr energiegeladen. "Oh, Ruru, ich glaube, heute ist er schwer beschäftigt." Bemerkte Frau Kappel, die Zeitungsabschnitte faltete und sortierte. "Ich hab gestern seinen Vater gesehen, mit einer großen Kiste und drei Rollen Pizzateig obendrauf. Nach meiner Erfahrung bedeutet es, dass sie an diesem Wunder-Automat herumbasteln. Die Pizza gibt es dann mittags. Adams Mutter genießt die Ruhe mit einem Schmöker im Garten." Ruru warf Cornelius einen verwirrten Blick zu. "Schmöker nennt man auch ein sehr dickes Buch." Erläuterte Cornelius, der die Frage ahnte. "Schauen wir doch mal nach!" Lud Frau Kappel Ruru ein, mit ihr am Fenster in die Tiefe zu spähen. Tatsächlich, unter dem Sonnensegel ahnte man in sehr bunten, luftig-leichten Hosen mit nackten Füßen eine Person im Liegestuhl. "Oh..." Stellte Ruru fest. "Wenn wir einen Schnörkel spazieren gehen, können wir auch los, um pünktlich bei Henk, Luzie und Junias zu sein." Bot Cornelius an, um Rurus Enttäuschung zu lindern, wenn man gerade so richtig Energie hatte und gar kein Ventil dafür fand! "Das ist natürlich eine Idee! Für eine längere Wanderung sollte man gut ausgerüstet sein. Was meinst du, Ruru, wollen wir euch ein wenig Proviant für den Weg zusammensuchen?" Ruru wollte, eilte sofort in das Gästezimmer, um stolz seinen Beutel mit Universitätsaufdruck zu präsentieren. Dazu legte er auch den Picker mit dem lustigen Kopf. Frau Kappel steuerte noch eine Flasche Wasser und zwei Becher bei. In eine alte Keksdose wurden kleine Salzbrezeln, einige Cracker, Kirschtomaten und zwei Erdnussbutter-Müsli-Riegel platziert. Da konnte nun wirklich nichts schiefgehen! Cornelius entschied, die Flasche und die Becher zu übernehmen, damit sie sich die Last teilten (und Ruru der Beutel nicht zwischen den Knien hing!). Sie bedankten sich bei Frau Kappel, zogen gemächlich los, so, als müssten sie die Gegend erkunden, um Verstecken zu üben. Langweilig wurde das nicht, denn trotz der Fertighäuser, die sich ähnelten, hatte die Nachbarschaft ihrem "Fleckchen" den Stempel aufgedrückt: kleine Fahnen, Wimpel, Figuren, winzige Quellsteine oder Brunnen, ganz unterschiedliche Bepflanzungen plus Sonnenschutz. Ruru bedauerte, dass er Cornelius den kleinen Löwen nicht zeigen konnte. Irgendwo hier musste der bestimmt residieren! Was ihm die Sache mit dem verzauberten Kater und den Stiefeln ins Gedächtnis rief. Cornelius, herausgefordert, das Märchen zu memorieren, kämpfte mit vagen Vorstellungen und Erinnerungslücken. Der Kater mit den Stiefeln war verzaubert, richtig, und er half einem jungen Mann in der Klemme, der reich und verheiratet endete. Nicht gerade befriedigend. "Tut mir leid, Ruru, ich erinnere mich bloß an die Stiefel und, dass der Kater schlau war, mit Tricks seinem Besitzer geholfen hat." Ruru grübelte einige Schritte konzentriert. "Wahrscheinlich war es kein echter Kater, oder, Nelli? Bestimmt ein verkleideter Mensch, wie an Fasching. Dann ist es auch nicht so wichtig." Cornelius warf einen verblüfften Blick auf seinen kleinen Halbbruder. "Weil es keine richtige Katze ist?" Hakte er nach. Nach oben schielend nickte Ruru entschieden. "Eine richtige Katze mit Schuhen ist interessant. Verzauberte Katzen sind nicht echt. So wie Rentiere, die wie Menschen reden." Erklärte ihm der Experte für das Wesentliche. "Ja, da hast du schon recht." Pflichtete ihm Cornelius beeindruckt bei. "Neben Märchen gibt es auch Fabeln, da benutzt man Tiere, um eigentlich Menschen darzustellen. So hat man ein falsches Bild von den Tieren." Oder glaubte, Disney-geschädigt, dass Tiere eigentlich Menschen mit mehr Fellbespannung waren und behandelte sie auch so. Für Ruru schien das Thema abgehakt, er zuckelte nun entschlossen Richtung große Kreuzung. Cornelius schmunzelte, ließ ihn gewähren. Genug Geduld hatte Ruru ja bewiesen, nun konnten sie auch sein Paradies ansteuern. ~¢~ Angel beobachtete, wie Matti geübt den flüssigen Teig aus Buchweizenmehl rührte, exakt die richtige Menge in die heiße Pfanne gleiten ließ. Einmal wenden, hauchdünn ausgebacken, geschmeidig gerollt und flugs auf einen Teller platziert. Er stippte seine Galette in eine sehr eigenwillige Mischung aus gesalzenem Rapsöl und lindem Himbeeressig. Ja, das mutete merkwürdig an, doch Angel liebte diese Kombination, die für ihn nach Ferien und glücklichen Augenblicken in der Bretagne schmeckte. Matti wirkte äußerst zufrieden und in sich ruhend. Dabei musste es ihm, dem trainierten Sportler, doch langweilig sein, Dornröschen beim Baumsägen zuzuschauen! "Danke. Es schmeckt prima." Ließ Angel Matti wissen, leckte sich katzenhaft die Mundwinkel sauber. "Wenn ich mich sortiert habe, wollen wir dann einen Spaziergang unternehmen?" Bot er an, denn es galt, Mattis liebevolles Engagement ein ebensolches entgegenzusetzen! ~¢~ Kapitel 13 - Verständigung Henk wartete bereits am "Gartentor", denn Junias hatte wohl das Fernrohr gereinigt und "zufällig" die Gäste erspäht. "Henk, ich bin da! Ich kann ganz viel helfen!" Verkündete Ruru aufgekratzt, sich schon die Sandalen abstreifend. Cornelius trat hinzu. "Überlass mir deinen Beutel und die Sandalen, ja? Ich nehme sie zum Haus mit." Flugs entledigte sich Ruru der Gegenstände, klemmte das Hasentuch in die Schlinge der Wäscheklammer, haschte Henks große Hand. Der rollte einen Kringel in die Bartspitze, lachte leise. "Lass uns mit einem Gang durch den Garten beginnen." Cornelius spazierte gemächlich zum Haus, betrat die Wohnküche, wo Luzie ihn begrüßte. "Ich mache eine etwas dickere Frühlingssuppe mit Glasnudel-Bruch. Mögt ihr das?" "Das hört sich sehr lecker an. Vielen Dank, dass wir heute wieder kommen dürfen." Antwortete Cornelius artig, räumte ihre Habseligkeiten an die Seite. "Ihr seid immer herzlich willkommen, Cornelius. Henk kann endlich mit einem richtigen Enthusiasten arbeiten!" Sie grinste ihn an. "Ich bin auch interessiert, aber eher mit schwarzen Daumen gestraft. Deshalb haben wir die vielen Steckschildchen, damit ich nichts rupfe, was ich nicht soll." Cornelius erwiderte ihr freimütiges Feixen. "Ich kenne mich leider auch gar nicht aus. Da sind Hinweisschilder gern genommen." "Was ein gutes Stichwort ist, der Hinweis!" Mischte sich Junias ein, durch die Schiebetür tretend. "Komm doch mit nach oben und wir schauen, wie wir euer Zimmer einrichten." Er streckte Cornelius auffordernd die Hand hin. Der zögerte, griff zu. "Wir kommen rechtzeitig runter, Luzie." Versprach Junias über die Schulter. "Ich hau den Lukas, das werdet ihr schon nicht überhören." Lachte Luzie, widmete sich wieder ihren Vorbereitungen. Cornelius nahm durchaus verblüfft zur Kenntnis, dass Luzie nicht mal zur Zurückhaltung anhielt, immerhin war noch nichts gesetzt! Etwas argwöhnisch beäugte er Junias, der vor ihm die Stiege erklomm, offenkundig "Lunte" roch. "Herrjemine, was bist du misstrauisch! Nein, ich habe nichts Ungebührliches unternommen, um meine Pflegeeltern zu beeinflussen!" Ließ ihn Junias über die Schulter wissen. "Henk MAG Ruru und Luzie hat mehr Mitgefühl als ein Tanker Tonnage!" "Ich wollte nichts unterstellen." Begann Cornelius mit einer Beschwichtigung, doch Junias stieß bereits die Zimmertür auf. "Mein Mitverschwörer, versuch bitte nicht, gegen meinen Riecher zu argumentieren." Tadelte ihn Junias, das Gesicht eine unleserliche Maske. Nur auf seinen Tonfall vertrauend mutmaßte Cornelius, geneckt, nicht zurechtgewiesen zu werden, deshalb wechselte er das Thema. "Also, eigentlich ist das Zimmer sehr schön." Auch wenn er sich vermutlich erst mal an Löwenzahn und so viel Gelb-Grün gewöhnen würde müssen. "Das ist nur ein Vorwand gewesen." Stellte Junias richtig, wandte sich zu ihm um. "Ah!" Schaltete Cornelius, einen Obolus vermutend, nämlich "Blutzoll." Er neigte den Kopf leicht, was Junias ein Knurren entlockte. "Wirklich, hältst du mich für derart unbeherrscht?!" Cornelius lächelte schief. "Na ja, du leckst dir die Lippen." Auch wenn Junias' Mienenspiel nichts verriet, wirkte er für Sekunden erschrocken, die kalte Hand in Cornelius' verspannt. "Wenn Distanz hilft?" Bot Cornelius leise an, denn er erinnerte sich durchaus an Junias' Klage, "er rieche so verführerisch!". Stattdessen legte ihm Junias jedoch die freie Hand auf die Wange, stieg auf die Zehenspitzen, bediente sich. Es schmerzte kaum, vielmehr prägte sich Cornelius der Kontakt der kalten Lippen ein. Sich rasch abwendend zog Junias ihn zu einem der beiden Betten, lud stumm zum Platznehmen ein, räusperte sich kurz. "Eigentlich...nun, mit 'Hinweis' meinte ich, dass du mir ein wenig beispringst. Mit sachdienlichen Informationen, wo ich eurer Mutter über den Weg laufen kann. Eine direkte Konfrontation ist am Erfolgreichsten." Cornelius nickte, um die seltsame Verlegenheit abzustreifen. "Stimmt, dazu sind wir nicht gekommen. Also, ein Gespräch." Er riskierte einen kritischen Seitenblick. "Das könnte vielleicht nicht ganz so einfach sein." Junias grummelte ungeduldig. "Verlässt sie nie das Haus?! Nun, das ist dann etwas kniffliger." "Doch, aber..." Intervenierte Cornelius, sich ihrer verschränkten Hände bewusst. "Es ist nicht so einfach, sich mit ihr zu unterhalten." Murmelte er schließlich. "Aha? Weshalb? Hört sie schwer?" Junias klang noch immer dezent verstimmt. "Sie hört durchaus gut." Stellte Cornelius richtig, drückte sein Rückgrat durch, stellte die Schultern aus. Bevor er jedoch seine Bedenken aussprechen konnte, ergriff Junias die Gelegenheit. "Ich werde sie nicht anrühren, versprochen. Es ist auch nicht so, als könnte ich Leute grundsätzlich zu Dingen zwingen, die ihnen absolut zuwider sind. Respektive ich KANN schon, ja, aber der Erfolg ist dann nur begrenzt, nicht lange anhaltend. Nicht mehr als eine schlichte, kurze Unterhaltung, in Ordnung?" Cornelius registrierte eine gewisse Ungeduld, auch wenn er Junias nichts ansehen konnte. Er seufzte. "Nun, ich hoffe, dass du Übung mit Leuten hast, die ein wenig zerstreut sind." An seiner Seite knurrte Junias grimmig. "Ich schaffe das sogar bei Leuten, die ihre Gehörgänge zugedübelt haben, Cornelius. Also, kann ich JETZT sachdienliche Hinweise erhalten?!" Die Schultern dezent dehnend, die noch breiter werden konnten, schickte Cornelius sich drein. "Morgen wäre eine gute Gelegenheit. Sie besucht ab dem späten Vormittag eine Freundin, um zu trainieren." Die burgunderroten Augen laserten förmlich die Frage in sein Profil. Cornelius unterdrückte einen Seufzer. "Also, unsere Mutter hat eine Ausbildung als Einzelhandelskauffrau beziehungsweise Verkäuferin, aber sie träumt davon, ein 'Makeup-Artist' zu werden, bloß kostet so eine Ausbildung in einer Spezialschule viel Geld. Deshalb hat sie sich mit einer anderen Frau angefreundet, die beiden proben mit günstigen Artikeln. Üblicherweise ist Ruru ja im Kindergarten und der Junge der anderen Frau erst in der Grundschule, anschließend bei der Mutter ihres Ex-Freunds." Er wartete schicksalsergeben auf Junias' Nachhaken. "Jede Woche, jeden Montag?" Auf die kalte Hand in seiner achtend, die er nicht versehentlich zu stark drücken wollte, nickte Cornelius knapp. Für einige Herzschläge blieb es sehr still. "Das heißt, sie war letzten Montag gar nicht da, als dieser erbärmliche Wicht dich zusammengeschlagen hat." Junias' Stimme klang frostig. "Nein." Bestätigte Cornelius leise, den Blick auf die Zimmertür gerichtet. "Prügelt er sie auch?" Erkundigte sich Junias scharf, knapp. "Nein. Das verstößt gegen die 'Ehre'. Frauen schlägt man nicht, weil man sie ohnehin nicht für voll nimmt." Antwortete Cornelius bitter. Nicht, dass er seiner Mutter wünschte, was ihm wiederholt passiert war, doch die krude Vorstellungswelt und den seltsamen 'Ehrbegriff' ihres Ehemanns wollte er von Junias richtig eingeordnet wissen. Definitiv kein Vorbild für ein Kind, am wenigsten Ruru! "Was ist passiert?" Junias ließ nicht locker, selbst seine kalte Hand griff mit stählerner Härte zu. Eine leidige Geschichte, die Cornelius schon mehrfach repetiert hatte, nicht immer jedoch vollständig. Er zwang seine Schultern herunter, die sich unwillkürlich schützend hochgezogen hatten. "Ich war mit Ruru einkaufen. Unterwegs hatten wir noch ein kleines Picknick gemacht. Als wir zu Hause waren, habe ich die Einkäufe verstaut und im Badezimmer nach dem Bettlaken geschaut." Er seufzte. "Mir waren die Windeln ausgegangen. Ruru geht immer brav vorm Schlafengehen auf die Toilette, nur manchmal passiert noch ein kleines Malheur. Es ist keine Absicht, aber auch kein Drama, weil ich Handtücher und eine Mülltüte über die Matratze lege. Am Sonntag herrschte dicke Luft und kein Kind steckt das so einfach weg! Jedenfalls war es nicht schlimm, Schlafanzug und Bettlaken plus Handtuch rasch waschen, fertig. Ich bin also im Badezimmer, will alles abhängen, da stakst ER aus dem Wohnzimmer, schon total aufgeladen, sieht die Wäsche, brüllt los. Er stand im Flur, also konnte Ruru nicht in unser Zimmer oder auf die Straße raus. Ist zu mir gerannt, völlig verschreckt." Cornelius knackten die Kieferknochen vor Anspannung. "Ich hab ihn ins Bad geschoben und die Tür blockiert. Damit ER nicht rein kann." Er atmete zischend aus, reduzierte auch hastig den Druck auf Junias' Hand in seiner. "Woraufhin er dich zusammengeschlagen hat, in der sicheren Gewissheit, dass du dich nicht wehren wirst." Schloss Junias kalt ab. Die Schultern rollend nickte Cornelius knapp, blickte starr auf die Zimmertür. Nicht wanken noch weichen. Niemals zulassen, dass Ruru ereilte, was ihm geschah. Das klägliche, angstvolle Rufen seines Kosenamens in den Ohren. Aber es gab kein Zögern für ihn. Er räusperte sich. "Nachdem es vorbei war, bin ich mit Ruru abgehauen. Ich dachte nicht, dass es mich schlimmer erwischt hat als früher." Junias schwieg an seiner Seite, blickte jedoch ebenfalls geradeaus. "Wieso hast du angenommen, er würde Ruru nun auch verprügeln?" Cornelius atmete tief durch. "Schätze, weil er gebrüllt hat, dass er 'genug von der Einpisserei habe'. 'Dass ihm 'ne Lektion gut tun' würde." Antwortete er, gegen den galligen Geschmack auf der Zunge ankämpfend, legte den Kopf in den Nacken, schluckte wiederholt. "Aber ich lasse das nicht zu. Nie im Leben. Niemand schlägt Ruru." Er ballte die Fäuste, vergaß sogar Junias' Hand. "Ich kenne ihn seit seinem ersten Tag, hab ihn gefüttert, gewindelt und versorgt, ihn hin und her getragen, wenn es ihm nicht gut ging, stundenlang. Ihm alles beigebracht, auf ihn aufgepasst, als sie einfach für eine Woche nach Mallorca geflogen sind. Vielleicht ist das so eine merkwürdige 'Menschen-Sache', aber..." Cornelius holte tief Luft, wandte den Kopf zu Junias. "Aber ich werde Ruru nicht aufgeben, um keinen Preis. Über meine Zukunft habe ich keine Illusionen, aber Ruru soll glücklich sein. Es gibt nicht den geringsten Grund, warum es ihm wie mir ergehen sollte." Er grimassierte gequält. "Ich habe mittlerweile begriffen, dass ich das nicht mehr allein schaffe, dass es Ruru nicht hilft, wenn ich mit meinen ganzen Komplexen und Problemen sein einziger Ansprechpartner bin. Dass er Bezugspersonen braucht, die nicht meinen Ballast mit sich schleppen, die ihm bessere Chancen eröffnen." Unwillkürlich ballte er die Fäuste, entspannte sie jedoch eilig wieder. "Außerdem bin ich mir nicht mehr so sicher." Cornelius würgte den bitteren Kloß im Hals entschieden herunter. "Damit, dass Ruru, dass er nicht doch Dinge für sich behält, um mich zu schützen." Er schnaubte erstickt. "Verrückt, oder?! Er ist gerade mal vier Jahre alt, aber möglicherweise so eingeschüchtert...!" Junias ergriff das Wort, ruhig, prüfend. "Wie kommst du darauf?" Was Cornelius knurren ließ, bevor er seufzte. "Die Sache mit dem Auto, zum Beispiel. Frau Kappel fragte mich abends direkt: ist Ruru unglaublich gewitzt oder schon geübt?" Mit der freien Hand rieb er sich die Stirn. "Oder beim Essen, die Geschichte über die Tiere, die er nicht essen möchte. Davon hat er nie was erwähnt. Aber ich musste vor ein paar Wochen in den Kindergarten. Unsere Mutter hatte die Anrufe verpasst, also haben sie mich her zitiert. Angeblich hätte er in die Milchkanne gespuckt. Ruru war völlig verstört und erzählte mir, es sei der Junge gewesen, der ihn 'verpetzt' hatte, dessen Mutter verlangte, dass man die Erziehungsberechtigten des 'Lügners' einbestellte." Cornelius ballte die freie Faust. "Die grässliche PERSON warf einen Blick auf mich, und schon war alles erklärt. Klar, ungebildete Unterschicht, Sozialtransfer-Dauer-Abonnenten, geborene Lügner. Und bei 'meinem Hintergrund'...!" Er lachte erstickt auf. "Tja, den würde ich auch mal gern erfahren!" Mit einem tiefen Atemzug löste er seine Faust wieder, streckte die Finger. "Ich habe Ruru geglaubt. Er spuckt nicht in Milchkannen. Er hat keinen Grund, mich anzulügen. Ruru ist nicht boshaft oder hinterhältig. Dieser verzogene Balg war es selbst, weil er von seinen Erzeugern abgeschaut hat, wie man 'Opfer' findet." Mutmaßte er mit mühsam kontrolliertem Grimm. "Nun denke ich, dass Ruru sich zurücknimmt, nicht will, dass ICH Ärger bekomme. DAS ist nicht in Ordnung." Erneut rieb er sich fahrig die Stirn. "Andererseits, wie soll ich ihm das erklären? Dass ich IMMER Ärger bekommen werde, dass das aber nicht seine Schuld ist, dass er sich nicht schämt? Ich will nicht, dass er sich mit Schmutz einreibt, um mir beizustehen. Es gibt keinen Grund, sich unbehaglich zu fühlen, weil er aussieht, wie er aussieht. Ruru soll frei sein, aufrecht, aufgeschlossen und mitfühlend." Cornelius seufzte laut, halb erstickt. "Oje, ich klinge wirklich wie ein alleinerziehender Vater, oder?" "Stimmt." Antwortete Junias prompt. "Ich halte es tatsächlich für notwendig, dass du dich zurücknimmst." Nach einem Augenblick der Verblüffung machte Cornelius sich aufgebracht los, stand auf. "Ich glaube nicht, dass du nachvollziehen kannst...!" Legte er los, doch wie zuvor, in einem Wimpernschlag, baute sich Junias direkt vor ihm auf. "Da bist du im Irrtum, Cornelius." Stellte er entschieden fest. "Ich weiß nicht, wie es ist, nichts über den eigenen Vater zu wissen? Ich habe keine Ahnung, wie man sich fühlt, wenn man sein Äußeres verbergen muss, um nicht aufzufallen, zur Zielscheibe zu werden?" Junias' burgunderrote Augen funkelten. "Ich weiß in der Tat nicht, wie es ist, einen kleinen Bruder zu haben, den man wie ein eigenes Kind liebt. Das bestreite ich nicht. Aber ich kenne den Druck, sich anpassen zu müssen, sich zu tarnen, immerzu. Selbstredend fällt mir das leichter, weil Lamia über Generationen darauf konditioniert sind, doch das bedeutet nicht, dass ich mir meiner Lage nicht bewusst bin." Cornelius feuerte heraus, bevor er seine Worte überdenken konnte. "Aber du 'tarnst' dich wohl kaum als Nicht-Biodeutscher!" Erschrocken über sich selbst erstarrte er. Junias neigte den Kopf ein wenig auf die Seite, stemmte die Hände in die schlanken Hüften. "Selbstverständlich nicht, denn ein Jäger darf nicht auffallen. Anderswo sähe es anders aus, ohne Zweifel. Ich kann mir nicht leisten, ungebührliche Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Du weißt ja, wo es ein 'faules Ei' gibt, gibt es mehr. Kein Lamia wäre sicher, wenn wir entdeckt würden." Die Fäuste entspannend reckte Cornelius das Kinn leicht. "Entschuldigung. Das war unangebracht. Es tut mir leid, dass ich meinen Frust an dir ausgelassen habe. Ehrlich gesagt wünsche ich keinem, in 'meiner Haut' stecken zu müssen." Schloss er bitter. Junias hob die Rechte, legte sie um Cornelius' Wange. "Schon wieder irrst du dich. ICH finde deine Haut sehr schön. Abgesehen von ihrem gemeingefährlich appetitlichen Geruch!" Schnaubte er, zwinkerte dann. "Schade, dass Menschen so beschränkte Sinne haben! Dann würden sie nicht auf Phänotypen reagieren, allein zum Kriterium machen, was ihre Augen sehen." Cornelius' Schultern sackten herunter. "Schätze, der Zug ist abgefahren. Wahrscheinlich bei den Affen, die vom Baum gefallen sind und nicht mehr rauf kamen." Grummelte er. Junias lachte leise, das Gesicht wie stets maskenhaft, hielt Cornelius' prüfendem Blick stand. "Sag mal?" Begann der, zögerte dann. "Bitte?" Sich der kalten Hand auf seiner Wange bewusst grimassierte Cornelius, nahm jedoch erneut Anlauf. "Also, du kannst menschliche Wahrnehmung täuschen, verstanden. Aber wie stellst du das bei Fotos an? Oder bei Videos?" Junias tippte ihm auf die Nasenspitze. "Gute Fragen!" Er zwinkerte erneut. "Ich habe eurer Mutter voraus, dass ich schon 'Makeup'-Artist bin." Nun konnte Cornelius eine gewisse Zitronensäure aus seiner Miene nicht verbannen. Junias nahm ihn bei der Hand, zog ihn aus dem Zimmer in sein eigenes. Er barg dort aus dem offenen Regal eine schlichte Schachtel. "Farbige Kontaktlinsen, ein Kompaktpuder, Ringelblumensalbe. Was ich nicht unter langen Ärmeln, Schals oder ähnlichem verbergen kann, bedecke ich mit dieser Mischung." Die Schachtel wieder verstauend setzte er seine Erläuterungen fort. "Ich achte auch auf Hinweise zu Kamera-Überwachung. Meistens sind die älteren Geräte nicht gerade 'farbecht'. Aber ich trainiere auch mein Gehör auf Aufzeichnungsgeräusche. Oder eher elektrische Ströme." Er seufzte, bot Cornelius an, auf dem Bett Platz zu nehmen. "Leider ist das gar nicht so einfach! Bisher ist es mir aber recht gut gelungen." Damit ließ er sich neben Cornelius auf die Matratze sinken, wippte leicht. "Was ist eigentlich mit anderen Verwandten?" Von dem Themenwechsel überrascht zögerte Cornelius einen Moment, bevor er etwas grimmig antwortete. "Die Eltern unserer Mutter sind, soweit ich weiß, geschieden. Mit einem 'Busch-Affen' ein Kind zu haben hat sie damals schon diskreditiert. Es gibt noch eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Mit der Schwester telefoniert sie hin und wieder mal, vom Bruder weiß ich gar nichts." Cornelius konzentrierte sich kurz auf seine Knie, bevor er wieder aufblickte. "Was die Familie ihres Ehemanns betrifft: keine Ahnung. Sie wollten die mal besuchen, Ruru präsentieren." Er knurrte. "Aber der 'Junge war gerade schwierig', da sind sie ohne ihn gefahren. Klar, wer will schon einen fiebernden Jungen mitnehmen, der zahnt und Schmerzen hat, sich aber nicht mitteilen kann!" Auf seine Fäuste blickend fuhr er fort. "Sie sind einfach weggefahren, also hab ich Ruru gewiegt, ihn getröstet, durch die Gegend getragen. Die Ratgeber haben nicht geholfen, aber eine alte Frau im Park. Die ist mit mir zur Apotheke, ein Hausmittel besorgen, das ich ihm auf das Zahnfleisch gerieben habe. Das hat gewirkt, glücklicherweise." Den Kopf zu Junias wendend ergänzte er leise. "Ich war Zwölf, verdammt. Verzweifelt und hilflos, weil ich Ruru nicht helfen konnte! Hatte Angst, dass jemand uns anzeigt, das Jugendamt holt. Das war großes Glück, damals. Ich weiß, dass es eine Menge Leute gibt, die 'farbenblind' sind! Bloß darf ich in prekären Situationen nicht auf die 'andere Sorte' stoßen." Er rieb sich über die Stirn. "Bis jetzt scheint die andere Verwandtschaft keinen großen Wert auf Ruru zu legen. Vielleicht sticht er als Trumpf auch noch nicht." Ergänzte er bissig. Junias nahm seine Hand, verschränkte ihre Finger. "Mittlerweile hoffe ich, dass Väter nicht so prägend sind." Cornelius studierte ihre Hände. "Den Erbsatz kann man ja nicht ändern, aber, verstehst du, bei DEM Vorbild...?!" Nein, keine Frage, er wollte nicht, dass Ruru seinem Erzeuger nacheiferte! Neben ihm lachte Junias leise. "Oh, ich kann dir folgen. In diesem speziellen Fall teile ich deine Auffassung uneingeschränkt! Außerdem gibt es viele Kinder, die ohne biologische Samenspender aufwachsen. Ich glaube, die direkten Beispiele sind sehr wichtig, die Bezugspersonen. Bei Ruru hast du gute Arbeit geleistet." Cornelius seufzte. "Bis zu einem gewissen Grad, ja. Aber ich habe ihm auch MEINE Macken, meine Vorstellungen, meine Hoffnungen übergestülpt. Das ist gar nicht gut. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass er Gartenarbeit und Pflanzen so liebt. Meine Blindheit hätte ihn eingeschränkt, ganz zu schweigen von meinen Komplexen. Ruru ist seine eigene Person. Wird allerhöchste Zeit, dass ich das auch begreife, mich zurücknehme." Neben ihm gluckste Junias leise, drückte gleichzeitig seine Hand. "Schon wieder klingst du wie ein alleinerziehender Vater!" Grollend erwiderte Cornelius den Händedruck. "Ich trage nun mal die Verantwortung! Große Klappe haben, aber keine Übersicht, DAS ist keine Option!" Junias lachte nun frei heraus. "Du erinnerst dich aber schon daran, dass du selbst noch ein Kind bist, ja?" Neckte er Cornelius herausfordernd. Der schnitt ihm eine Fratze. "Das ist mir durchaus bewusst! Nur kann ich mir das einfach nicht leisten. Wenn ich versage, dann...!" Abrupt unterbrach er sich. "Dann was?" Hakte Junias nach. Cornelius konzentrierte sich auf ihre verschränkten Hände, den Blick gesenkt. "Es gibt kein Backup. Wenn ER sich in Luft auflösen würde, wäre ich wirklich zufrieden. Das habe ich nie jemandem erzählt, weil ich wirklich darauf gehofft habe, dass ER abhaut. Dann könnten wir es schaffen. So wie vorher eben." Er flüsterte nur noch, beschämt, verlegen, aber auch wütend. "Ich habe jetzt nicht aktiv darauf hingearbeitet. Aber wenn man es objektiv betrachtet, habe ich IHN schon inkompetent dastehen lassen. Den 'besseren' Erwachsenen gemimt. Quasi in gewisser Weise intrigiert." Er umklammerte Junias' kalte Hand. "Bis jetzt hatte ich ja auch irgendwie alles geschafft, oder? Ohne Vater, ohne Verwandte. Nur, wenn das Jugendamt spitzkriegen würde..." Dann GÄBE es einen Grund, ihn aus der Familie zu entfernen. Weil er auf einen Keil gehofft hatte, den Ehemann-Störenfried-Quälgeist zu vertreiben. "Widerwärtig, oder? Und egoistisch, weil unsere Mutter allein wäre. Trotzdem habe ich gehofft...!" Junias drückte seine Hand. "JETZT klingst du wie ein Kind. Wie ein artiges, verzweifeltes, gar nicht sehr egoistisches Kind." Cornelius wandte den Kopf. Die burgunderroten Augen zwinkerten, während Junias' Miene keinen Ausdruck bot. "Etwas zu hoffen bedeutet, an eine bessere Zukunft zu glauben. Ohne Druckmittel zu bluffen, das zeichnet das Kind aus, das noch in dir steckt. Sich für etwas schämen, das Egoisten nicht mal wahrnehmen würden." Junias schüttelte leicht den Kopf. "Weißt du, nur ein Kind, das wie ein vernünftiger Erwachsener agieren will, hätte es so gemacht. Sich prügeln lassen, seine eigene Situation verschweigen, vor sich selbst kleinreden, um nach den 'Regeln' zu spielen." Er wandte sich Cornelius zu, legte ihm die freie Hand um die Wange. "Die meisten Erwachsenen haben bitter gelernt, dass 'Regeln' volatil sind, dass man gut daran tut, nicht nur auf ihre Wertigkeit zu hoffen, sondern sich auch anderer Mittel zu bedienen. Dass Vernunft und Fairness nicht genug sind, um sich zu behaupten." Cornelius schnaubte. "Also bin ich ein Dummkopf, weil ich...?!" Unvermittelt schnitt Junias ihm das Wort mit einem blitzschnellen Kuss ab. "Nein, bist du nicht, Cornelius. Entgegen deiner Entschlossenheit, für dich selbst auf nichts mehr zu hoffen, HOFFST du. Du hast nicht resigniert und ich bin froh darüber. Allerdings ist es zu riskant, in einem falschen Spiel mit offenen Karten ehrlich spielen zu wollen. Glücklicherweise hast du jetzt ja mich!" Auch wenn er es nicht sehen konnte, HÖRTE Cornelius das schelmische Grinsen überdeutlich. Er knurrte. "Danke auch! Jetzt komme ich mir richtig inkompetent vor." Auch wenn es ihn erleichterte, diese abgründigen Gedanken ausgesprochen, jemandem anvertraut zu haben und nicht verurteilt worden zu sein. Junias kicherte, raufte ungeniert durch die überlange Krause undefinierbarer Farbe. "Wüsste ich es nicht besser, würde ich annehmen, dass du nach Komplimenten angelst! Aber, nein, du HAST deine Sache gut gemacht. Ich MAG deine ehrliche Art, deine Ernsthaftigkeit! In einer besseren Welt müsste man wahrscheinlich nicht tricksen, täuschen und manipulieren." Er zwinkerte, tippte Cornelius auf die Nasenspitze. "Allerdings müssen wir aktuell mit der Welt vorlieb nehmen, in der wir leben und tun gut daran, all unsere Möglichkeiten zu nutzen." Cornelius seufzte, denn SEINE Kompetenzen waren bedauerlicherweise längst ausgereizt. Was nicht für seine Manieren galt. "Danke. Danke, dass du dir das alles angehört hast." Immerhin kein amüsantes oder schmeichelhaftes Sujet. Junias musterte ihn gewohnt unleserlich. "Du kannst mit mir über alles sprechen, Cornelius. Ich habe nicht die Absicht, mich überlegen zu geben oder nicht auf Augenhöhe sein zu wollen." Referenzierte er auf ihre gestrige Unterhaltung und Cornelius' Vorwürfe. Er erntete eine Grimasse. "Tja, ich bin nicht darin geübt, mich zu offenbaren. Oder auf Unterstützung zu bauen." Neckend tippte Junias ihm auf die Nasenspitze. "Das ist mir nicht entgangen. In diesem Aspekt wirst du dich umgewöhnen müssen." Er zwinkerte, zog Cornelius dann energisch auf die Beine. "Jetzt zeig mir mal die wahrscheinliche Route eurer Mutter. Ah, ein Zeitfenster wäre auch nett!" Cornelius folgte Junias zu dessen Schreibtisch, wo der tatsächlich einen gedruckten Stadtplan hervorkramte! Zur Ergänzung nannte er Junias auch die Mobilfunknummer seiner Mutter. Dabei bemerkte der einen ausgeblichenen Papierschnipsel, der in der schützenden Hülle steckte. "Was ist das?" Einen Augenblick zögernd zog Cornelius den mitgenommenen Ausschnitt heraus. "Das habe ich mal gefunden, als ich aufgeräumt habe. Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten, aber..." Er seufzte. "Es gab da eine Musiksendung in Amerika, 'Soul Train'. Der Produzent und Moderator hieß Don Cornelius. Hier wurde die gar nicht gezeigt und auch kurz nach meiner Geburt eingestellt, deshalb..." Cornelius verstaute den Schnipsel wieder. "Ich habe keine Ahnung, woher dieser Fetzen stammt. Nur dachte ich... also, ich bin ganz sicher kein Amerikaner. Und ob in meiner Geburtsurkunde der Name meines Vaters steht, weiß ich auch nicht. Es wäre ohnehin nur ein Name, ich habe keine Erinnerungen an ihn. Spielt auch keine Rolle, richtig, bloß..." Bloß konnte dieser Schnipsel ein Hinweis darauf sein, was seine Mutter bewogen hatte, ihm seinen Namen zu geben. Oder sich mit einem 'Busch-Affen' einzulassen. "Konntest du etwas in Erfahrung bringen?" Junias nahm seine Hand, wie es Cornelius erschien, tröstend. Er grimassierte, schüttelte den Kopf. "Nein. Das ist vermintes Gelände, Sperrgebiet. Ich HABE keinen Vater, es gibt keine Vorgeschichte und Punkt." Die Schultern lupfend ergänzte er leise. "Es würde ja auch nichts ändern, ich bin und bleibe ich selbst, eine ganz eigentümliche Mischung. Vielleicht ist es auch gut so, dass ich mich selbst erfinden muss, keinen weiteren Ballast mit mir schleppe. Illusionen führen einen ja manchmal in die Irre." Junias studierte ihn schweigend. Eilig wandte Cornelius sich ab, verstaute sein Mobiltelefon wieder. "Jetzt aber genug aus der Klamottenkiste! Schaffst du das morgen denn? Was ist mit dem Unterricht?" Immerhin sollten sie ja alle Portiönchen Unterricht vor Ort erhalten. "Kein Problem." Versicherte Junias, zwirbelte mit der freien Hand seine silbergrauen Locken, die ihm ins Gesicht fielen, was Cornelius zu einem weiteren Themenwechsel nutzte. "Sag mal, ich weiß, es ist unverschämt, aber wie kommt es, dass deine Frisur so adrett ist? Während wir anderen langsam verwildert ausschauen?" Junias warf ihm einen Seitenblick zu, gluckste dann. "Sag nur, in dir schlummert eine Unze Eitelkeit?" Neckte er Cornelius. Der raufte seine Krause. "Kann ich mir zwar nicht erlauben, aber irgendwie wird es lästig." Der alte Rasierer, den er benutzte, hatte unlängst den Geist aufgegeben. Andererseits, Geld für einen Frisör aufwenden, WENN diese wieder öffneten, stand auch nicht zu Gebot! Unterdessen zog Junias ihn zur Zimmertür. "Selbst ist der Lamia!" Verriet er Cornelius amüsiert, trat mit ihm hinaus, strebte die steile Stiege an. "Tatsächlich bin ich ziemlich geschickt, wie man sieht." "Und kein bisschen eingebildet." Murmelte Cornelius selbstmörderisch, Junias die Stufen hinab folgend. Der lachte, drückte ihm die Hand. "Übung macht den Meister, oh ungläubiger Thomas! Also, bist du mutig? Traust du dich?" Junias gab seine Hand frei, um vor der hinteren Milchglastür aus den leichten Schuhen zu schlüpfen. Cornelius ahnte, worauf diese Fragen hinausliefen, trotzdem folgte er Junias' Beispiel und ihm in das Badezimmer. Auch Junias operierte mit einem elektrischen Schneide- und Trimmgerät. "Bist du sicher? Meine Haare sind ziemlich störrisch." Wandte er ein. Auch war es ihm bisher nicht gelungen, richtige Pflegemittel zu eruieren, die er sich auch leisten konnte. Da blieb es eben beim Kahlschlag, zumindest bis zum Totalverlust des alten, gebrauchten Rasierapparats. Junias zwinkerte. "Falls es misslingen sollte, leihe ich mir Henks Rasierhobel aus und etwas Bohnerwachs!" Cornelius schnaubte, legte aber brav das Handtuch um seine Schultern, präsidierte auf dem Hocker. Er hatte ja nun wirklich nichts zu bestellen. Also, wie schlimm konnte es schon werden?! ~¢~ Kapitel 14 - Was wirklich wichtig ist "..." Cornelius starrte sein Spiegelbild ungläubig an. Ihm fehlten die Worte. "Ich erwähnte, dass ich recht geschickt bin, nicht wahr?" Neckte Junias ihn, fegte abgeschnittene Haare zusammen. "Ich muss nicht mal in den Spiegel schauen. Luzie lässt mich bloß aus erzieherischen Gründen nicht an ihre Mähne." Das veranlasste Cornelius, den Unterkiefer wieder zwischen den Knien hervorzuholen. "Erzieherische Gründe?" Wiederholte er perplex. "In der Tat." Lachte Junias. "Der Frisör hier an der Hauptstraße hat vor Jahren mal eine abschätzige Bemerkung über sie gemacht, so was in Richtung 'öko-alternative Kräuter-Hexe mit rotem Vogelnest auf dem Schädel'. Jetzt gibt sie ihm ständig Gelegenheit, an ihren Haaren zu verzweifeln. Wenn er es mal wieder vermurkst, wissen ja alle hier am Ort, WER da versagt hat." Junias zwinkerte. "Luzie ist herzensgut, aber man soll sie besser nicht verärgern." Eine sehr kreative Methode, sich subtil zu revanchieren, das konnte Cornelius nur bestätigen. Was ihn in die Gegenwart brachte. "Ah, danke schön, Junias. Vielen Dank!" Brachte er eilig hervor, immer noch irritiert von seinem Spiegelbild. Mit nun gepflegten Koteletten, geschickt gestuft und gebändigtem Wildwuchs wirkte er erwachsener. Oder akzentuierter. Als gäbe es einen eigenen Stil, eine eigene Linie. "Gern geschehen!" Antwortete Junias launig, der Stimme nach zu urteilen bestens aufgelegt. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, Ruru eilte hinein, um staunend stehen zu bleiben, trotz des offenkundigen Bedürfnisses. "Nelli!" Stellte er atemlos fest. "Na, möchtest du auch eine andere Frisur, Ruru? Natürlich nach dem Toilettengang." Bot Junias an. Ruru zögerte, nickte rasch. "Ich möchte doch lieber kein Pirat sein. Jetzt muss ich aber eilig!" Damit flitzte er zur Milchglastür mit Herzchen-Ausschnitt, verschwand dahinter. Junias prustete unterdrückt. Cornelius erhob sich vom Hocker. "Ich hoffe bloß, er will keine Glatze, weil Henk eine hat." Brummte er besorgt. Junias lachte ungeniert heraus. "Erinnerst du dich auch an den Burschen, der unlängst gesagt hat, sein kleiner Bruder habe eine eigene Persönlichkeit?" Durchaus. Um die merkliche Röte in seinen Wangen zu tarnen, attackierte Cornelius, indem er einen Arm um Junias schlang, die spottenden Lippen engagiert küsste. So spürte er auch Junias' Heiterkeit, eine Spur Sorge und auch Erleichterung. Er blinzelte in die burgunderroten Augen, gab Junias frei, als Ruru die Tür wieder entriegelte, brav zum Waschbecken wechselte. "Ich werde Henk kurz ausrichten, dass Junias dir die Haare schneidet, ja? Dann komme ich wieder, Ruru." Ruru, der sich unerschrocken genähert hatte, nickte artig, bestaunte ihn. "Das ist ganz toll, Nelli!" Lobte er, kletterte auf den Hocker. "Ich möchte bitte auch so fein aussehen." Instruierte er Junias, der salutierte, das Handtuch um Rurus schmächtige Schultern legte. "Ich werde mir die größte Mühe geben!" Versprach Junias, zwinkerte. Cornelius schickte sich drein, das Badezimmer zu verlassen, in seine Turnschuhe zu schlüpfen und nach Henk Ausschau zu halten. Na schön, wenn Ruru dieselbe "Frisur" wie Henk haben wollen sollte... Er lächelte in sich hinein, versonnen und verblüfft. Es schien ihm, als habe sich das quälende Korsett gesellschaftlicher Erwartungen und Notwendigkeiten ein wenig gelockert. Als sei unerwartet seine Zuversicht, die er längst verloren glaubte, zurückgekehrt. ~¢~ Ruru strahlte stolz am großen Tisch, unterhielt auf sanfte Nachfrage mit den Beobachtungen des Vormittags. Dazu präsentierte er keine Glatze, sondern eine windschnittige Kurzhaarfrisur, die dem überlangen Gefransel ein Ende bereitet hatte. Das Piratentuch, nun zur Bandana gefaltet, rahmte "Igelstacheln" ein. Cornelius bemerkte, wie schmal das Gesicht seines Halbbruders nun wirkte. Kein Vergleich mit den vielen moppeligen Kindern, die er vorher im Kindergarten registriert hatte, doch Ruru schien glücklich, lächelte trotz der noch immer sehr sichtbaren Kratzspuren sonnig in die Runde. Hier gab es so viel zu entdecken, zu sehen und zu tun! Henk drehte immer wieder die Schnurrbartenden ein, lauschte aufmerksam. Sein Wohlwollen ließ Ruru förmlich aufblühen, das konnte Cornelius unmissverständlich erkennen. Es verblüffte ihn einmal mehr, wie viel Vertrauen der ältere Mann in Rurus Fertigkeiten setzte. "Tja!" Junias tippte ihm unter dem Tisch gegen ein Knie. "Vom Garten-Virus ist noch niemand geheilt worden!" Ließ er Cornelius mit verschmitztem Tonfall eine allgemeine Redewendung wissen. Cornelius schmunzelte, nippte an seinem Wasserglas. Ruru war in einem Garten glücklich, nur das zählte für ihn! ~¢~ Matti schlenderte mit Angel an der Hand durch die Nachbarschaft, vornehmlich Grünanlagen wählend. An die Seitenblicke hatte er sich längst gewöhnt, weil der Mann an seiner Seite wie ein Model aussah. Tatsächlich hatte Angel in seiner Jugend als Model agiert, bewies einen untrüglichen Sinn für klassisch-legere Mode und verfügte noch immer über die atemberaubende Figur dafür. Kein Nerd in Motto-T-Shirts mit ausgeleierten Jeans oder ein Gorilla im Anzug, wie man klischeehaft in seiner Branche bei Beschäftigten erwartete! Interesse gab es noch immer, ihn für Agenturen anzuwerben, doch Angel lehnte höflich-konsequent ab. Wer ihm auf Tuchfühlung oder sogar darunter nahekommen durfte, wollte er allein bestimmen. Verständlicherweise. Seine Attraktivität war ihm Fluch und Segen zugleich. Kontrollierend warf Matti Blicke um sich, auch wenn sie hier nicht mehr allzu viel zu befürchten hatten. Sie waren bekannt, wohnten hier. Wer sie für das verachten wollte, was sie waren, tat das bereits oder ging ihnen aus dem Weg. "BlueMax hat mich gefragt, warum wir keine Kinder haben." Tat Angel unerwartet kund. Bevor Matti grinsend die Gelegenheit nutzen konnte, auf "Blümchen und Bienchen" hinzuweisen, ergänzte er versonnen. "Abgesehen von der Biologie. Wir könnten auch Väter sein." Matti erahnte, dass Angel etwas beschäftigte. "Nun, ich für meinen Fall kann kein Vater sein." Stellte er ungeniert fest. "Ich bin lieber Lehrer und entlasse die Kinder nach absehbarer Zeit in ihre eigene Verantwortung. Außerdem war es mir damals sehr ernst, als ich sagte, dass ich dich haben will." Er zwinkerte in die faszinierend grünen Katzenaugen seines Lebenspartners. Angel strich sich zögerlich eine entwischte, weißblonde Strähne hinters Ohr. "Ich glaube schon, dass du ein wunderbarer Vater wärst." Begann er, was Matti veranlasste, stehen zu bleiben, ein wenig auf die Seite zu treten, um andere Menschen nicht zu behindern. "Ich bin mir nicht sicher, dass ich alles abstreifen kann, was mich geprägt hat, Angel. Es war mühsam genug, eine friedliche Koexistenz mit meinem eigenen Vater zu etablieren." Er studierte die vertrauten, anmutigen Züge vor sich. "Ich lebe genau das Leben, das mir gefällt. Du schränkst mich in gar nichts ein." Angel fauchte ertappt, wich seinem Blick hastig aus. Matti lächelte, half mit der freien Hand, Strähnen einzufangen. "Hin und wieder ergibt selbst bei mir 1 und 1 zwei." Neckte er Angel zärtlich, der störrisch schmollte, um die eigene Verunsicherung zu kaschieren. "BlueMax wird sich damit abfinden müssen, dass Menschen auch komplex sein können." Damit nahm er gemächlich ihren Spaziergang wieder auf. Angel schwieg neben ihm, schien weniger verdrossen als gedankenverloren. "Und, was hast du ihm erklärt, unserem virtuellen Menschen-Forscher?" An seiner Seite bot Angel ihm das Profil, die Züge merklich angespannt. "Ich habe mich darauf beschränkt, dass wir mit unseren Eltern keine so positiven Erfahrungen gemacht haben." Unwillkürlich strich Matti mit dem Daumen über Angels Handrücken in seinem Zugriff. "Es besteht kein Grund, ihm alles zu erzählen, Angel, auch wenn er quasi ein Freund ist." Neben ihm seufzte Angel erstickt, grimassierte. "Gelegentlich schafft mich sein Fan-KI-tum wirklich!" Schnaubte er. Matti lachte sehr leise. "Es würde einem wirklich das Herz brechen, wenn er sich vor Enttäuschung abwendet, nicht wahr?" Angel presste die kirschroten Lippen zusammen, nickte bloß knapp. BlueMax WOLLTE Menschen verstehen. Angel war ihm gern behilflich, doch in diesem speziellen Aspekt wurde es zu persönlich. Zu schmerzhaft. Unversehens zog Matti ihn in eine tröstende Umarmung, gleichgültig für etwaiges Publikum. "In meinem Leben gibt es nicht so viele Gewissheiten, aber diese hier ist endgültig: wir beide gehören zusammen, Angel. Nichts kann das ersetzen, ganz gleich, ob es eine Erklärung gibt oder nicht." Wisperte er sanft. Er spürte Angels Fingerkuppen deutlich auf seinen Schulterblättern. Angel war zerbrechlicher, als es den Anschein hatte, wie er sehr wohl wusste. Erschöpft, aufgerieben von den letzten Wochen, ein leichtes Opfer der Risse, die kein Kitt der Welt zusammenfügen konnte. "Wollen wir heimgehen, hm? Ausgelüftet haben wir uns ja." Schlug er vor, hauchte einen Kuss auf Angels Schläfe. Der blinzelte, seufzte frustriert. "Eigentlich bin ich froh, dass wir keine Kinder haben." Ließ er Matti wissen, trotzig das Kinn reckend. "BlueMax löchert mich ja genauso!" Matti kämpfte mühsam ein Prusten herunter, schwenkte kompensierend ihre verschränkten Hände wild. "Denk nur, er braucht keinen Schlaf, wird nie erwachsen..." Angel fauchte ihn katzenhaft an, initiierte einen leichten Sprint. ~c~ Junias und Cornelius hatten Henk dabei geholfen, den Hängesessel im Garten zu montieren. Nun hielt Ruru dort Siesta, das Hasentuch in einer Hand, Rasputin an seiner Seite, der offenbar auch nicht auf seinen Stammplatz verzichten wollte. Vor dem Haus, neben der Werkstatt, kämpften Junias und Cornelius gerade mit Henks altem Fahrrad. Wenn Cornelius hier einzog, woran für Junias nicht die geringsten Zweifel bestanden, musste der schließlich zu seiner "Riesen"-Schule gelangen. Sein eigenes Fahrrad wurde gebraucht, der Bequemlichkeit halber. Luzies schied schon wegen der "Kindergröße" aus, weshalb sie sich nun damit abmühten, das betagte, eher schlichte Gefährt in einen brauchbaren Zustand zu versetzen. "Du hast doch schon mal auf einem Rad gesessen, oder?" Hakte Junias nach, die Kette bürstend. Cornelius, der nach den alten Bremsbelegen nun die beiden Reifen überprüfte, nickte. "Ist zwar eine Weile her, aber ich denke, ich schaffe das." Beschied er trocken. An seinem Gleichgewichtssinn gab es nichts auszusetzen. Wenn er es nicht übertrieb, sollte sich der Rest auch bewältigen lassen. "Wir brauchen dann noch eine Leuchtweste. Und einen Helm." Obwohl Cornelius keine Grimasse sehen konnte, hörte er sie heraus. "Trägst du deinen Helm denn?" Erkundigte er sich gedehnt. Statt einer Antwort bleckte Junias die Zunge. Cornelius grinste. "Sind wir ein klein wenig eitel?" Vermutete er herausfordernd. Junias schnaubte, wischte dabei durch seine silbergrauen Locken. "Wenn man schicke Hüte mit Sicherheitsvorkehrungen einführt, melde ich mich wieder." Versetzte er hochtrabend, richtete sich auf. "Und? Wagst du dich auf den Drahtesel?" Cornelius stellte das alte Fahrrad auf die Reifen, leicht ächzend. Kein Carbon- oder Alu-Leichtrahmen, das merkte man durchaus! Am Lenker fassend schob er das Rad vor und zurück. Also, Laufgeräusch der Reifen klang unauffällig, die Bremsbelege waren ausgetauscht. Sich Junias' prüfendem Blick bewusst schob er sich vor den Sattel, setzte einen Fuß auf die Pedale. Nicht zu viel Schwung beim Abstoßen, aber auch nicht zu wenig... Wacklig kam er in Gang, drehte eine bescheidene Runde. "Hmmm, ich glaube, wir müssen Lenker und Sattel noch ein bisschen verändern." Urteilte Junias ohne jeden Spott für die recht ungelenke Vorstellung. Geübt justierte er die Einstellungen, um sehr zufrieden zu nicken. "Perfekt. Jetzt waschen wir uns rasch, nehmen Wasser mit und fahren zu deiner Schule." Cornelius, der das Fahrrad auf dem Ständer aufgebockt hatte, warf ihm einen verblüfften Blick zu. "Was dachtest du denn?!" Demonstrativ schnalzte Junias mit der Zunge, schüttelte dabei mitleidig den Kopf. "Nur keine Müdigkeit vorschützen, Kamerad! Außerdem kannst du mir bei der Gelegenheit auch gleich noch die Route vorführen, die ich morgen nehmen muss." Cornelius seufzte. "Ich ahne schon die Hackordnung." Grummelte er. "Genau!" Bestätigte Junias, zog ihn an der Hand zum Hauseingang. "Deine Tage als unangefochtener Bestimmer sind vorbei!" Dabei klang er so amüsiert, dass Cornelius selbst ein Grinsen nicht unterdrücken konnte. ~c~ Angel tupfte sich mit dem feuchten Waschlappen ab, streifte einen hauchdünnen Mantel im Kimono-Stil über. Vintage-Mode, sozusagen, denn es handelte sich um ein Damenmodell, gebraucht erworben, nur mit Wasserdampf händisch zu reinigen. Doch die Farbe und die aufgestickten Blumen korrespondierten mit seinen Augen, was Matti Grund genug war, den Kauf zu tätigen, ihn damit zu überraschen. In mehr als einer Hinsicht präpariert verließ er ihr kleines Badezimmer. Matti verteilte gerade abgekühlten Tee auf zwei Gläser, reichte ihm lächelnd eins, tippte mit seinem dagegen, ein wortloser Toast. "Zu anstrengend?" Erkundigte er sich nach dem Resultat ihres Spaziergangs. Angel studierte die vertrauten Züge, die selbstsichere und gleichzeitig in sich ruhende Haltung. Da konnte man kaum glauben, wie viel Verzweiflung, Leidenschaft und Zorn unter der Oberfläche gebrodelt hatte. Ein Vulkan nahm sich dagegen harmlos aus! "Alles in Ordnung?" Sanft wurden ihm dezent feuchte Strähnen aus dem Gesicht gekämmt. Statt einer Antwort stellte Angel ihre Gläser ab, schlang die Arme um Mattis Nacken. "Verwöhn mich." Forderte er auf. In den Stahlaugen funkelte es. "Mit Vergnügen." Antwortete Matti rau, pflückte sanft die Arme von seinen Schultern, nahm Angels Hand. Ja, DAS war auch eines der Dinge, die Kinder im Alltag recht hinderlich erscheinen ließen! In ihrem Schlafzimmer, Angel stets an der Hand, reduzierte er die Lichteinstrahlung, schlug dann die Bettdecke zurück. Wie stets ließ er sich Zeit, Angel zu entkleiden, küsste ihn zärtlich auf jedes erreichbare Fleckchen, streichelte über die nackte Haut. Bei sich selbst ging er eher forsch zu Werk, um den Fluss nicht zu unterbrechen, eine innige Verbindung zu weben, einen Gleichklang herzustellen, einen gemeinsamen Rhythmus. Er liebte den herausfordernden Blick der Katzenaugen unter halb gesenkten Lidern, das vertraute Gefühl von Knochen und sehnigen Muskeln. Es gab keinen Grund zur Eile, ganz gleich, was seine Libido davon hielt. Sie hatten alle Zeit der Welt. Er wollte absolut sicher sein, dass Angel wusste, WER ihm in die Dunkelheit folgte. Nicht einen Wimpernschlag lang sollte er sich ausgeliefert, verlassen, einsam fühlen. ~¢~ Angel erwachte, wie sehr häufig, aus einer kurzen Ohnmacht. Ohne Panikattacke oder Verwirrung, weil es Matti auf unerklärliche Weise gelang, seine ständige Nähe selbst in der Finsternis spürbar zu machen. Der Sex mit ihm war IMMER intensiv, herausfordernd, alle Grenzen verwischend. Ohne Rücksichtslosigkeit, Gewalt oder Druck. Einfach, nun, keineswegs einfach, sondern Ergebnis eines jahrelangen Kampfsporttrainings mit speziellen Atemübungen, weil Matti ihn lieben wollte, ganz gleich, was er in jugendlicher Verzweiflung von vagabundierenden Hormonen, chemischen Lockstoffen oder ähnlichem geglaubt hatte. All das Unglück, ihn leidenschaftlich zu begehren, so, wie die anderen, umgewandelt in überwältigende Hingabe und Aufmerksamkeit. Angel kuschelte sich vertraut an eine muskulöse Seite, atmete tief durch. "Eigentlich lautete der Plan, dass du dich erholst." Bemerkte Matti sonor, die Hand auf seinem Brustkorb umschließend, die Fingerspitzen mit Küssen zierend. Mit einem leisen Lachen quittierte Angel diese Kritik, genoss schnurrend die andere Hand, die von seinem Nacken dem Rückgrat hinunter bis zum letzten Wirbel strich. "Ich bin eben eine kapriziöse Diva!" Behauptete er, schmuggelte ein schlankes Bein zwischen Mattis. "Uhuh...und wenn du DAS DA fortsetzt, muss ich schon wieder ein Zelt aufstellen." Warnte Matti, den Kopf drehend, um ihn auf die Stirn zu küssen. "Ich MAG deinen Enthusiasmus!" Gurrte Angel, bevor er seine Vorstellung kichernd abbrechen musste, sich löste, aufsetzte, rittlings auf Mattis Oberschenkeln Platz nahm. "Wenn es dir zu viel ist?" Bot er an, die vertrauten Hände umfassend. Matti gluckste, seufzte lächelnd. "Gerade unterminierst du erfolgreich meinen kläglichen Rest Zurückhaltung und Anstand, Angel. Wie soll ich deine Erholung unterstützen, wenn wir so ein Workout hinlegen?" Angel zwinkerte, drapierte Mattis Hände auf seinen eigenen Oberschenkeln. "Hattest du nicht gesagt, dass du mich für dich allein wolltest? Ich erinnere mich da ziemlich genau." Geübt forcierte Matti eine Blitzattacke, zog Angel an sich, rollte herum. "Wenn jetzt hier Jahreszahlen genannt werden, ist meine Eitelkeit pikiert." Warnte er vor, ließ sich von der eleganten Hand an seinem Hinterkopf tiefer dirigieren, erwiderte Angels engagierten Kuss. "Schön, du hast recht, ich will!" Wisperte er rau, studierte die grünen Katzenaugen. "Aber ich werde sanft sein." Forsche Attacken wie in ihrer Sturm- und Drangzeit lockten ihn nicht mehr. Eine Hand klapste sein knackiges Hinterteil neckend. "Frisch ans Werk, bevor ich hier noch schneller roste!" Tadelte Angel, prustete, als Matti das tätowierte Efeublatt auf seinem Brustkorb mit grollendem Blubbern ansaugte. Zu seinem Leidwesen war er kitzelig, sodass diese profane Kritik an Mattis Anflug von Romantik prompt geahndet wurde. Er verstrubbelte die schwarzen Stacheln, lenkte Mattis Aufmerksamkeit auf sich, lächelte verschwörerisch, erntete ein schiefes Grinsen. Nun gut, Romantik war nicht ihr Thema, dann doch lieber freches Flirten, Necken und ernsthaftes Lieben! ~¢~ Cornelius kannte den Weg durchaus, aber mit dem Fahrrad musste er sich trotzdem orientieren, denn es galt, nach Radwegen zu schauen oder doch die Straße zu nutzen. Außerdem konnte er nicht negieren, dass ihm die Übung abging. Glücklicherweise trug zumindest für ihn Junias' Miene keinen Spott über die bescheidene Leistung. Selbstverständlich war das gesamte Gelände abgesperrt, zusätzlich zu den Zäunen und Gittern noch Flatterband. "Ist wirklich ein sehr großes Areal." Stellte Junias fest, der sein Fahrrad schob, sich aufmerksam umsah. "Wo bist du vorher auf die Schule gegangen?" Erkundigte sich Cornelius. "Nach der Grundschule? Auf das altsprachliche Gymnasium. Aber ich bin zur Oberstufe gewechselt, um mich zu spezialisieren." Antwortete Junias, blickte ihn prüfend an. "Dann kennst du Herrn Fermont?" Stutzte Cornelius. In Junias' Stimme hörte er ein Lachen. "Nun, nicht so gut wie andere, ich hatte keinen Unterricht bei ihm. Aber er und sein Engel sind natürlich berühmt." Auf Cornelius' Stirnrunzeln hin erläuterte er seine Anmerkung. "Der Mann von Herrn Fermont wird 'Angel' genannt. Ungeheuer attraktiv, Mathematiker, arbeitet hier an der Uni. Wenn die beiden in Erscheinung treten, drehen sich alle nach ihnen um." Das erinnerte Cornelius auch an Rurus Begeisterung, nicht nur dem Umhängebeutel und dem Picker geschuldet. "Er kümmert sich um eure Betreuung, richtig?" Junias zwinkerte. "Ein guter Mann. Nein, zwei gute Männer. Viel Tiefe." "Ich verstehe nicht...?" Hakte Cornelius verwirrt nach, denn ohne Mimik erklärte sich ihm dieser letzte Part gar nicht. "Oh, nur eine Angewohnheit meiner Art. Es bedeutet eine komplexe Biographie. Ein Hinweis, vorsichtig zu sein." Junias wischte sich durch die silbergrauen Locken. "Manche Menschen sind erstaunlich aufmerksam. Das kann gefährlich werden." "Also keine Quelle für Naschkatzen?" Eruierte Cornelius, nach seiner Wasserflasche angelnd. An seiner Seite lachte Junias leise. "Nein, da ziehe ich die simpleren Gemüter vor." Er wandte sich vom Schulkomplex ab. "Lass uns jetzt die Strecke von morgen simulieren. Wir sollten uns auch schon auf den Rückweg machen, bevor wir vermisst werden." Gehorsam stieg Cornelius wieder in die Pedalen, rollte voran. Er registrierte, dass es ihn störte, nicht zu "spüren", was Junias bewegte. Außerdem... Als sie an der großen Kreuzung auf eine grüne Ampelphase warten mussten, äußerte er sich. "Sag mal, was ist eigentlich mit deinen Klassenkameraden? Für einen sehr menschenbezogenen Lamia scheint mir recht wenig Kontakt zu bestehen?" Junias warf ihm aus den burgunderroten Augen einen strengen Blick zu, vermutete Cornelius. "Und schon wieder dieser Argwohn!" Tadelte seine Stimme, während die Miene gewohnt ausdruckslos blieb. "Zugegeben, wir vermissen uns jetzt nicht über Gebühr. Die meisten tauschen sich fortwährend elektronisch aus. Ich bin da eher zurückhaltend, kann auch nicht so viel Substantielles beitragen. Glotz-Marathon irgendwelcher Serien zählt schlicht nicht zu meinen Interessen." Cornelius, der in die Pedale treten musste, um Junias zu folgen, kontemplierte diese Einlassung. Dass "Selfies" nicht Junias' Forte waren, aus verständlichen Gründen, konnte er nachvollziehen, aber die üblichen Nachrichten tippen, das sollte nicht zu schwierig sein. Außer, man hegte den entschiedenen Anspruch, auch etwas von Bedeutung mitteilen zu wollen. "Und was ist mit dir?" Retournierte Junias, am Kreisel absteigend. Hier wurde es nach dem Abbiegen in die Stichstraße zum Feldweg ein wenig zu eng, wenn ihnen auch noch ein Auto entgegenkam. Cornelius balancierte Henks Fahrrad aus. "Ich hab mich auf Ruru konzentriert. Sofort nach dem Unterricht nach Hause, kein Verein, kein Club, keine Arbeitsgemeinschaft. Also gestalten sich meine Interessen auch anders als die der meisten anderen." "Da haben sich ja zwei Gesellschaftslöwen gefunden!" Zog Junias lachend ein Fazit, zwinkerte. Cornelius lächelte entwaffnet. Über ihnen ertönte ein munterer Ruf. "Nelli! Juni! Es gibt Kekse und Apfelspritz!" Obwohl er es nicht sehen konnte, goutierte Cornelius glucksend Junias' entgeisterten Blick. ~¢~ Wie am Vortag schon war Ruru gegen Abend völlig erschlagen. Er hatte mit Henk gearbeitet, eine neue Frisur bekommen, Luzie tatkräftig beim Anrühren von Beton für ein Vogelbad geholfen und noch viel mehr...! Nun hing er Cornelius spannungslos um den Hals. Geübt balancierte der seinen kleinen Halbbruder aus, verzichtete auf das Angebot, das Fahrrad doch mitzunehmen. So weit war der Weg von Frau Kappel aus zur Schule nicht. Die dauerte ja bloß vier Stunden. Viel mehr Gedanken hingen an Junias' Mission und der Frage, was mit Ruru geschehen sollte, denn er wollte Frau Kappel eigentlich nicht die Betreuung aufnötigen. Junias begleitete ihn, einen Kuchen im Glas apportierend. Kleine Gaben erhielten schließlich die Freundschaft. Frau Kappel war als Verbündete gern gesehen. "Nun schau nicht so zerknittert drein, Cornelius. Ich schaffe das schon. Denk lieber dran, dich überall artig vorzustellen, weil dich keiner mehr erkennt." Neckte ihn Junias aufmunternd. Cornelius schnitt ihm eine Grimasse. "Ich hab nur Angst, dass es zu spät ist. Dass irgendwer schon eine Entscheidung getroffen hat. Ruru ist so glücklich." Automatisch streichelte er über den schmächtigen Rücken. "Das wird schon werden, glaub mir. Es ist absolut unmöglich, einen Gärtner von Gärten fernzuhalten! Da spreche ich aus Erfahrung. Der kleine Bursche hat schon seinen Weg eingeschlagen." Cornelius zog das in Zweifel, denn immerhin war Ruru gerade erst vier Jahre alt. Andererseits konnte er nicht bestreiten, dass es wohl eine magische Anziehungskraft gab. "Hab mal Vertrauen, ja?! Auch wenn ich keine Unterhose über Strumpfhosen trage und so einen hinderlichen Umhang, kann ich trotzdem locker mit diesen Helden-Figuren mithalten!" Behauptete Junias theatralisch, warf sich in Pose. Vage fühlte sich Cornelius an Superman erinnert. Oder den sterbenden Schwan. "Banause!" Quittierte Junias die Manöverkritik an seinem Auftritt, reckte das Kinn und paradierte einen Schritt VOR Cornelius. Der unterdrückte ein Prusten. Es schien ihm durchaus, als bemühte sich Junias, ihre "optische" Barriere zu überwinden. Möglicherweise fühlte der sich doch ein wenig einsam? Hatte die "menschliche Gesellschaft" auf ihn abgefärbt? ~¢~ Frau Kappel bewunderte die "flotten Frisuren", erklärte, sie habe selbstredend gar keine Bedenken, Ruru zu beschäftigen. Überhaupt sei das ein ganz liebenswertes Kerlchen, gar nicht anstrengend! Cornelius konnte da nicht widersprechen, denn sie teilte damit seine Auffassung seines Bruders uneingeschränkt. Trotzdem hatte er Mühe, an diesem Sonntag in den Schlaf zu finden. Wenn es Junias doch nur gelänge...! ~¢~ Kapitel 15 - Von Minzen und der Bedeutung von Botanisch Ruru beobachtete artig mit Frau Kappel, wie Cornelius eiligen Schritts davon strebte. Zwar war die Zeit großzügig geplant, doch man konnte nicht sicher sein, was sie erwartete. Es hieß, man habe extra Areale mit Farbe markiert, wo die aufgeteilten Klassen separiert in züchtigem Abstand warten sollten. Keine Umarmungen, keine Zappeleien, alles adrett auf größtmöglichem Abstand. Selbstverständlich mit Maskierung! Ruru verstand die Notwendigkeit, wieder in die Schule zu müssen, auch wenn er sich durch die "Corona-Ferien" sehr daran gewöhnt hatte, den Tag mit Nelli zu verbringen. Aber er hatte versichert, verständig zu sein und Geduld zu haben, selbst wenn das so ganz und gar nicht leicht erschien! Frau Kappel konnte das nachfühlen, weshalb sie seine Assistenz erbat, sich Proviant für einen kleinen Ausflug zusammenzustellen. Unternehmungslustig rückte Ruru heran, votierte, dass man auch einen Kuchen im Glas mitnehmen konnte. Immerhin konnte er dank Nelli mit Expertise aufwarten, selbst wenn ihm das Wort fremd war. Frau Kappel erläuterte den Begriff, rüstete sich für einen Spaziergang, der, rein zufällig, über die große Kreuzung führte, zum Kreisel. Ungläubig blinzelte Ruru immer wieder hoch, auch wenn er wohlerzogen an der Hand blieb. "Na, ich habe so ein Gefühl, als müsste ich mir unbedingt mal diesen Garten ansehen." Stellte Frau Kappel mit Nachdruck fest. "Da habe ich mal angeläutet, ob vielleicht Besuch willkommen ist." Ruru strahlte hocherfreut. Am "Gartentor" wartete Henk höchstselbst, empfing Frau Kappel, sich mit einem schlichten Tuch maskierend. Sie grinste breit, bevor sie ihrerseits den "Schnodderlappes" justierte. "Jetzt bin ich mal sehr gespannt!" Verkündete sie verschmitzt, streifte ihre Sandalen ab. ~¢~ Henk schätzte Frau Kappel sehr: eine aufgeweckte Dame, die offenkundig verstand, was Ruru beglückte. Dass sie sich auch blendend mit Luzie verstand, überraschte ihn keineswegs. Seine Frau war stets aufgeschlossen, zugewandt, von entwaffnender Herzlichkeit. Nach einem spontanen Mittagessen bot er an, Ruru weiter in der Obhut zu behalten. Frau Kappel wollte zurück, immerhin sollte Cornelius nach seiner Stippvisite in der Schule keinen Schreck bekommen, wenn die Wohnung leer war. Sie hielt es für einen großartigen Plan, dass Ruru den Nachmittag hier verbrachte. Nach ihrer Einschätzung würde Cornelius ohnehin nach einem höflich verzehrten Mittagessen sofort aufbrechen. Die beiden Jungs waren ja unzertrennlich! Luzie schmunzelte, brachte Frau Kappel im besten Einvernehmen bis zum Ende der Stichstraße, wieselte eilig zu "ihrem Zeitfenster". Die Arbeit rief, wollte sich nicht abschieben lassen! Ruru half ganz selbstverständlich dabei, den Tisch abzudecken, wienerte auch energisch das Geschirr trocken. "Ich kann helfen, Henk! Ich bin nützlich!" Versicherte er nachdrücklich. Henk strich behutsam über die wilden Igelstacheln. Wer hatte dem kleinen Kerl das Gegenteil suggeriert? "Ich sehe, dass du sehr emsig bist. Ich könnte schon mehr Hilfe brauchen." Ruru nickte hastig. "Ich helfe dir, Henk! Ich passe auch gut auf!" Henk rollte eine Schnurrbartspitze ein. "Dann werde ich uns mal ein Taxi rufen." Verkündete er mit sonorer Stimme. ~¢~ Theophilanu warf einen ungläubigen Blick auf seine Passagiere in spe: Henk, so gewohnt dünn, groß und steif, mit Sonnenhut, in altmodisch hochbündiger Hose und Poloshirt, aber an seiner Hand ein schmächtiges Kind in Jeans mit Hochwasser und einem ausgebleichten T-Shirt?! Nun, das erklärte die Bitte, einen Kindersitz zu apportieren. Er entstieg seinem Taxi, tippte sich grüßend an die Schläfe. "Mein Freund Henk, guten Tag! Und wer bist du, kleiner Mann?" Das Kind zupfte kurz den Latz tiefer, um ein Gesicht zu präsentieren, reichlich verschrammt, musste Theophilanu feststellen. "Hallo. Ich heiße Ruru." "Hallo, Ruru. Mich rufen alle Theo. Na, dann hole ich mal den Kindersitz aus dem Kofferraum." Vage erinnerte er sich, dass ein Jugendlicher mit recht auffälligem Erscheinungsbild das aktuelle "Pflegekind" war, doch dieser Hosenmatz? Der wartete brav, bis der Sitz auf der Rückbank montiert war. "Kommst du damit zurecht?" Henk, der üblicherweise neben ihm vorne saß, klappte sich steif zusammen, die Rückbank zu entern. "Ja, das schaffe ich." Versicherte das Kind entschlossen. "Danke schön, Herr Theo." Theophilanu grinste, tippte sich erneut grüßend an die Schläfe, bevor er vorne einstieg. Na, das war ja eine interessante Gesellschaft, die er da beförderte! ~¢~ Henk hätte andere Kinder nicht ohne Weiteres mitgenommen. Eine Spezialgärtnerei war kein Spielplatz, Fachgespräche von Erwachsenen selten von Interesse, aber Ruru gehörte nicht in diese Kategorie. Als "Assistent" vorgestellt blieb er brav an seiner Seite, betrachtete sehr interessiert das Angebot, über das verhandelt wurde. Mit der Aussicht, viel mehr Zeit zu Hause verbringen zu müssen, betrachteten manche Garten oder Balkon mit Verdruss. Da konnten nur noch Profis helfen! Henk war sich für solche "Klein-Aufträge" nicht zu schade. Er berechnete seine Arbeitszeit transparent, legte offen, wie er vorzugehen pflegte. Wenn er etwas empfahl, sollte das durchaus für fünf, sechs Jahre Bestand haben. Er suchte Pflanzen aus, die man nicht unbedingt im normalen Garten-Center bekam, weshalb er nun sondierte, was sich für die speziellen Zwecke seines aktuellen Auftrags eignete. Ruru staunte, inspizierte die Zuchttöpfe, strich sanft über die "haarigen" Blättchen, strahlte über die ätherischen Öle, die an seinen Fingern hafteten. "Ei, des is ma n goldisches Kerlsche!" Nervös rückte Ruru näher an Henk heran, der ihm die Hand auf die Schultern legte. "Ruru, mein Assistent." Stellte er vor, nickte zur "besseren Hälfte" seines Kollegen und Züchters herunter. "Ach Gottsche, wie herzisch! Isch geh grad, dann trink mer was! Des is ja schon e Hitz!" Besorgt schob sich ein kleines Händchen in seine große Hand. "Hab ich was angestellt?!" Bange blickte Ruru zu ihm auf, halb verdeckt durch den Latz. Henk schmunzelte, denn offenbar war Ruru noch nicht sonderlich mit Dialekten vertraut. "Nein, Ruru. Du gefällst ihr und sie lädt uns ein, etwas zu trinken." Übersetzte er beruhigend. "Oh." Bekundete Ruru erleichtert, die schmalen Schultern sackten merklich herab. Als Henk sich wieder seinem Geschäftspartner zuwandte, zwinkerte der amüsiert. "Herr Assistent, lass uns vorher noch mal die Tagetes... Studentenblumen anschauen. Ich hab da ein paar sehr interessante Sorten." Ruru nickte entschlossen. "Ich werde gut aufpassen! Die Spanischen Schnecken sollen nicht alles wegessen. Ein Zaun aus Blumen ist wichtig." Dozierte er konzentriert. Außerdem konnte man die Schnecken rausklauben, wenn sie vollgefressen waren! Henk drehte ein Schnurrbartende ein, genoss die Verblüffung des anderen Mannes. Ja, in Ruru steckte ein richtiger Gärtner! ~¢~ Cornelius musste eingestehen, dass Junias durchaus treffend geurteilt hatte: man beäugte ihn erstaunt. Was so ein Haarschnitt ausmachen konnte! Aber die Distanzregeln sorgten dafür, dass keine richtigen Unterhaltungen in Gang kamen. Zudem richtete sich alle Anstrengung darauf, irgendwie Lernstoff zusammenzustellen und Quellen aufzutun. Nach dem komprimierten Unterricht wurde er von seiner Klassenlehrerin beiseite genommen: das staatliche Schulamt hatte die Schule informiert über "Vorkommnisse". So sah sich Cornelius aufgefordert, die aktuelle Situation zu erläutern, auf die Betreuung von Herrn Fermont hinzuweisen, der den unschönen "Prozess" bisher begleitet hatte. Allerdings stand die finale Entscheidung ja noch immer aus. Zumindest befand er sich an einem Ort, wo er erreichbar war und auch lernen konnte. Das bedeutete schließlich schon eine gewisse Erleichterung. Eilig strebte er zurück in das Neubauviertel. Immerhin wartete ja Ruru auf ihn! Möglicherweise konnte Junias auch eine Einschätzung geben! ~¢~ "Hier, Ruru, nimm die Ananasminze mit, ja? Der letzte Kunde hat alle mitgenommen bis auf die hier, hat nicht mehr auf den Hänger gepasst." Überrascht nahm Ruru ein Pflanztöpfchen entgegen. "Für mich?" Erkundigte er sich erstaunt. "Aber ja! Sieh mal, alle anderen Ananasminzen sind weg, die Pflanze hier ist ganz allein übrig. Da wäre es besser, jemand achtet auf sie, dass sie auch wächst." Das klang nach einer bedeutenden Aufgabe. Ruru verspürte auch Mitgefühl mit der armen Minze. Die meisten Pflanzen mochten Gesellschaft von Familienangehörigen. Allein sein war nicht schön. "Ich kann das. Danke schön." Nickte er deshalb entschlossen hoch, den Topf behutsam umfassend. Nur dünner Kunststoff, da musste man vorsichtig sein, dass man die feinen Wurzeln nicht versehentlich zerdrückte! Henk schmunzelte in seinen Bart, was hinter dem maskierenden Tuch verborgen blieb. Ruru hatte das Gärtner-Ehepaar merklich beeindruckt. Pflanzen gehörten zu den wenigen Dingen, die man teilen konnte, um sie so zu vermehren! Theophilanu, der sie wie gebeten wieder abholte, grinste breit. Nicht nur, dass Ruru Henk beim Anschnallen half, auch die Pflanze wurde wie eine Kostbarkeit hochkonzentriert balanciert. Ein drolliges Kerlchen! Zum Dank überreichte Ruru ihm noch mit großem Ernst ein Blättchen. "Sie duftet nicht nur prima, sie schmeckt auch." Verkündete er. Henk beglich auch die Rückfahrt, erwiderte das Zwinkern. "Den kleinen Mann werde ich mir merken." Stellte Theophilanu fest. Den Kindersitz würde er jedenfalls in Reichweite aufbewahren, es sah nämlich sehr danach aus, als würde sein Stammkunde nun öfter in Begleitung reisen! ~¢~ Etwas atemlos traf Cornelius bei Henk und Luzie ein, Rurus Hasentuch eingesteckt. Dass der ohne mit Frau Kappel losgezogen war, erstaunte ihn. Oder hatte sie ihm gleich zu Anfang verraten, was sie ausgeheckt hatte?! Ruru leistete Henk in der "Werkstatt" Gesellschaft, damit sie nicht nur den Auftrag fertigstellen konnten, sondern auch die Ananasminze studieren. Sollte man sie schon umtopfen? Wie war ihr die Autofahrt bekommen? Gab es Zeichen von Schädlingen oder Pilzen? "Oh, hallo, Nelli!" Strahlte Ruru ihm munter entgegen, obwohl der Mittagsschlaf ja ausgefallen war. "Schau mal, ich habe eine Ananasminze bekommen! Gerade gucken wir nach, ob es ihr auch gut geht. Sie ist ganz allein nicht mitgenommen worden." Cornelius warf Henk einen entschuldigenden Blick zu. "Es war keine Absicht, bei der Arbeit zu stören..." "Nicht doch." Entgegnete Henk ihm sonor, die große Lupe auf ihren Platz legend. "Ich habe Ruru als Assistent mitgenommen. Man muss auf die kleinen Dinge achten. Das ist nicht so einfach, wenn man sich nicht richtig bücken kann." Besorgt streckte Ruru ihm die Ananasminze hin. "Sie riecht lecker, Nelli. Ich hab geholfen und war brav." Getroffen streichelte Cornelius über die Igelstacheln. "Das warst du bestimmt. Ich hab mich nur erschrocken, weil ich dachte, du wärst bei Frau Kappel." Er atmete tief durch. "Kann deine Pflanze denn hier bleiben? Muss sie nach draußen? Oder braucht sie einen richtigen Topf?" Sofort richtete Ruru seinen Blick auf Henk, die finale Instanz. "Erst mal bleibt sie hier drin, zum Aufpäppeln. Dann schauen wir mal, wo ein guter Platz im Garten ist. Minzen sind nicht gern allein." Gab der einen Plan bekannt. Nachdem dieses sehr wichtige Sujet geklärt war, schob Ruru seine Hand in Cornelius'. "Hast du viel gelernt in der Schule?" Erkundigte er sich aufmerksam. Cornelius glaubte, ein Glucksen von Henk zu hören, weil Ruru so ernst klang. "Nicht sonderlich viel. Wir haben eher Aufgaben erteilt bekommen...es ist ein bisschen schwierig." Diese Antwort schien Ruru bereits zu genügen, der ihm aus der Werkstatt in die Wohnküche folgte, wo Luzie gerade Tee ausschenkte, denn auch Junias hatte sich eingefunden. "Prima, da sind wir ja alle zusammen!" Verkündete sie gut gelaunt. "Und, wie war die Schule?" Cornelius und Junias wechselten einen bezeichnenden Blick. "Eher ein tapferer Versuch, das Chaos einzukreisen." Lautete Junias' Replik, der auch gleich einen Themenwechsel ansteuerte. "Ich hab gehört, dass du einen neuen, grünen Freund hast, Ruru." Ruru, der gerade an seinem Glas genippt hatte, nickte eifrig. "Eine Ananasminze! Sie darf in der Werkstatt wohnen, bis sie groß und kräftig ist." "Oh, Minzen habe ich sehr gern! Die duften und sind lecker bei Süßspeisen und im Tee." Teilte Luzie sein Engagement, offerierte aus Junias' "Back-Orgie" noch einige Cracker. Cornelius bemerkte Rurus unerwartet kritischen Blick, der jedoch nicht mit dem Gebäck in Zusammenhang stand. "Nelli, ist Botanisch schwer zu lernen?" Sich dreier äußerst amüsierter Augenpaare bewusst richtete sich Cornelius entschieden auf. "Also, Botanisch ist keine Sprache, Ruru. Aber man verwendet lateinische Begriffe." "Kannst du das denn?" Erkundigte sich Ruru gebannt. Die Bildungslücke eingestehend schüttelte Cornelius den Kopf. "Nein, leider. Man kann es aber lernen, auch wenn Latein heute nicht mehr gesprochen wird. Ist das dir denn sehr wichtig?" Immerhin kamen sie auch so zurecht, oder? Ruru seufzte kläglich. "Die Pflanzen haben botanische Namen, Nelli. Wenn ich die vergesse, weiß ich gar nicht Bescheid, weil ich nicht lesen kann! Ich glaube, ich kann mir nicht so ganz alles merken." Unwillkürlich schlang Cornelius tröstend einen Arm um seinen kleinen Halbbruder. "Schreiben und Lesen lernst du in der Schule, keine Angst, Ruru. Wir können vorher auch ein wenig üben, wenn du magst. Das klappt bestimmt! Selbst wenn du mal einen Namen nicht weißt, ist das nicht so schlimm, oder? Die Pflanzen geben dir Hinweise, wie es ihnen geht, richtig?" Wenigstens nahm Cornelius das an, der auf unbekanntem Terrain mächtig ins Schwimmen geriet. Ruru kontemplierte diese Argumente, sich der Spannung am Tisch gar nicht bewusst, weil es schlichtweg verblüffend war, diese Konzentrationsleistung bei einem Vierjährigen zu verfolgen. "Ich kann hinschauen. Und wenn ich vorsichtig bin, gehen sie auch nicht leicht kaputt." Stellte Ruru für sich selbst fest, warf einen fragenden Blick zu Henk. Der stellte das Schnurrbartenden-Zwirbeln ein. "Das ist richtig, Ruru. Schauen, riechen, fühlen. Alles kommt und geht mit der Zeit." Seine sonore Stimme beruhigte Ruru, der sich enger an Cornelius schmiegte, vermutlich langsam die Hasenpower-Reserven des Tages aufbrauchte. Luzie intervenierte mit einem Keks, den sie Ruru reichte. "Nun, was wollen wir morgen anstellen, hm?" ~¢~ "Hat es geklappt?" Platzte Cornelius heraus, als Junias sie wie die Tage zuvor auf dem Heimweg begleitete. Da Ruru auf seinem Arm schlief, waren keine gefährlichen Ohrenzeugen zu befürchten. "Das werden wir sehen." Antwortete Junias selbstsicher, gewohnt unleserlich in der Mimik. Diese nonchalante Feststellung entlockte Cornelius ein unwilliges Grummeln. "Entspann dich, Kamerad, bis jetzt ist alles gut gegangen." Neckte Junias ihn mit aufreizender Tonlage, was Cornelius nicht negieren konnte, denn noch immer gab es keine Entscheidung. Oder hatte sie ihn bloß noch nicht erreicht? "Hör bitte auch auf, dauernd von 'Umständen' zu sprechen, dich zu entschuldigen. Der kleine Kerl denkt sonst noch, er wäre uns lästig." Tadelte Junias unverbrämt. Geübt darin, heftige Repliken herunterzuschlucken, schwieg Cornelius, auch wenn ihm Röte in die Wangen stieg. Konnte Junias recht haben? Begriff sich Ruru wirklich als Störung? Aber man konnte nun mal nicht so einfach die Kinder... "Ah? Merkst du es selbst?" Junias zwinkerte. "Eltern-Modus ausschalten, Cornelius. Wenn du dir Gedanken machen willst, dann über den Kindergarten. Die Strecke ist ziemlich weit. Es kann sein, dass man Ruru umquartiert. Im Neubauviertel und im alten Stadtteil gibt es Kindergärten. Wird ihm ein Wechsel sehr zusetzen?" Automatisch streichelte Cornelius über den schmächtigen Rücken seines kleinen Halbbruders. Direkte Freundschaften hatte Ruru seines Wissens nicht geschlossen. Nach dem Ärger wegen der Milchkanne schien auch eine gewisse Vorsicht geboten. "Ich weiß es nicht." Bekannte er schließlich grimmig. Er konnte nur hoffen, dass nach all den Zumutungen noch genug Hasenpower vorhanden war, sich auch dieser Veränderung mutig zu stellen. "Nun, das werden wir eben sehen." Schloss Junias pragmatisch. "Außerdem scheint es viel wesentlicher zu sein, Botanisch zu lernen." Cornelius hörte das GRINSEN! Beinahe war er versucht, eine flammende Rede zur ausgesprochen bemerkenswerten Auffassungsgabe seines Bruders zu halten, was vermutlich GENAU zu Junias' Plänen passte! Weshalb er entschied, diese Herausforderung mit hoheitsvollem Schweigen zu quittieren. "Er ist ziemlich clever, soweit ich als Lamia das beurteilen kann." Bemerkte Junias nachdenklich. Cornelius wandte überrascht den Kopf, nicht, dass er Junias etwas hätte von der maskenhaften Mimik ablesen können. "Ich würde ja versuchen, ihm im Waldkindergarten einen Platz zu verschaffen, aber die haben einen Aufnahmestopp. So müssen wir vorerst das gewöhnliche Angebot akzeptieren." Auf Cornelius' kritischen Blick hin schnaubte Junias. "Wir haben einen Pakt! Ich beabsichtigte durchaus, mich ordentlich einzubringen. Es ist absolut rational, erkanntes Potential und Talent zu unterstützen!" Versetzte er schnippisch. Cornelius unterdrückte ein Glucksen. "Verzeihung. Mir war deine besondere 'Menschenaffinität' temporär entfallen." Feuerte er unerschrocken zurück. Prompt bleckte Junias die Zunge, setzte sich an die Spitze ihres kleinen Zugs, das Kinn demonstrativ gereckt. Über diese Vorstellung schmunzelnd fragte sich Cornelius, wie es für Junias war. Musste der sich anstrengen, menschlich-gesellschaftliche Gepflogenheiten zu kopieren? Oder fiel es ihm gar nicht so schwer, sich anzupassen? Machte er sich über Ruru Gedanken, weil der Pakt ihn verpflichtete? Gab es eine Verbundenheit aus Sympathie? Handelte er im Bewusstsein dieser unsichtbaren Waage, die Beziehungen tarierte? Darauf konnte er noch keine Antwort finden. ~¢~ Kapitel 16 - Die Wahrheit. Möglicherweise. Vereinbart war, dass Cornelius am Morgen mit Ruru zu Henk, Luzie und Junias kam. Dort konnte man schließlich gemeinsam die Hausarbeiten erledigen, war erreichbar und die Betreuung der Ananasminze gesichert. Dieser Plan wurde jedoch bereits beim Frühstück torpediert: kurzfristig hatte man einen Sitzungssaal freigeräumt, konnte nun mit Cornelius, dem gesetzlichen Vormund und dem Jugendamt besprechen, was zu tun sei. Immerhin gäbe es ja da diese widersprüchlichen Protokolle! Selbstverständlich handele es sich um ein Gespräch, keine Anhörung. Cornelius war hin und her gerissen. Wenn er diesen Termin wahrnahm, konnte er seine Sicht ausführlich darstellen. Andererseits ruinierte es die Pläne, und Ruru...! Frau Kappel klopfte ihm über dem Frühstückstisch auf die Schulter. "Nun mal keine Aufregung. Erst mal suchen wir den Weg raus, damit du richtig und pünktlich ankommst. Ich frage an, ob Junias sich die Füße vertreten und Ruru abholen will. Sonst laufe ich eben mit dir, Ruru, hm? Das kriegen wir hin." Ruru, der besorgt das Mienenspiel seines Bruders verfolgt hatte, nickte hastig, nach seinem Hasentuch greifend. "Ich kann das. Den Weg weiß ich. Keine Angst, Nelli." Beteuerte er aufmunternd, doch die kleine Falte zwischen den Augenbrauen verriet ihn. Cornelius zwang sich zu einem Lächeln. "Danke schön. Bestimmt dauert es auch nicht lange." Zumindest hoffte er das. ~¢~ Junias erschien ohne große Anstrengung, plauderte über den Gartenzaun hinweg mit Adam, der sich ein wenig langweilte. Von Cornelius hatte er "quasi nur die Rücklichter" gesehen, weil der recht eilig aufgebrochen war. Frau Kappel brachte Ruru, gewohnt ausgerüstet, zur Haustür. "Oha, heute mit Hackenporsche?" Verwies sie auf Junias' "Begleiter", einem Einkaufstrolley mit größerem Fassungsvermögen. "Ich dachte mir, wir können gleich die Gelegenheit nutzen. Der Supermarkt liegt ja auf dem Weg." Junias streckte Ruru die Hand hin. "Lass uns mal losgehen, Ruru. Keine Sorge wegen deiner Pflanze. Henk hat heute Morgen schon extra nach ihr geschaut." Ruru nickte scheu, bevor er sich von Adam und Frau Kappel verabschiedete. Er nahm auch tapfer die kalte Hand, die ihn doch an die ominöse Eiskönigin erinnerte. Allerdings konnte die nicht echt sein, davon war er überzeugt. "Gehst du mit Cornelius oft einkaufen?" Nahm Junias den Gesprächsfaden auf. "Für Zuhause." Bestätigte Ruru befangen. "Wir wechseln uns ab, wer gerade Zeit hat. Mach dir keine Sorgen wegen des Termins. Cornelius schafft das schon." Stumm nickte Ruru, das Hasentuch fest im Griff. "Erzähl mir ein bisschen was von Matti und Angel. Die waren nett, oder?" Versuchte es Junias mit einem anderen Thema. Er wollte nicht ohne Not auf "botanisches Gelände" zurückgreifen, denn an ihm war auch kein Gärtner verlorengegangen. "Angel hat mir einen Picker geschenkt und seine Brotdose geliehen. Er hat nicht geschimpft, weil ich nicht gleich viel Hunger hatte." Ließ Ruru ihn wissen, drehte sich halb, damit er den Rucksackbeutel mit Universitätsaufdruck inspizieren konnte. "Den hat Angel mir gegeben, als Austausch für die Plastiktüte. An der Universität bekommt man die im ersten Jahr. Man muss sehr klug sein, um dort zu arbeiten, oder?" Hin und wieder schien das zumindest nicht schädlich zu sein, doch Junias verkniff sich Ironie. "Ich kann mir vorstellen, dass er sehr klug ist. Und gastfreundlich, wenn du bei ihnen übernachtet hast." Ein wenig zutraulicher nickte Ruru eifrig. "Es war schön. Ich habe gebadet. Ich durfte im großen Bett schlafen. Sie haben sich wirklich lieb, das hat mir gefallen." Zog Ruru ein Resümee. Junias schmunzelte, balancierte den Einkaufstrolley geübt aus. "Das hört sich gut an. Ah, und da sind wir auch gleich. So, jetzt erst mal maskieren!" ~¢~ Man musste klingeln. Und warten. Nach einigem verdächtig statischen Knistern rammte ein schmächtiger Mann ärgerlich die Tür auf. "Dieser nutzlose Technik-Quark! Guten Morgen, sag mir deinen Namen und ich schaue mal nach, wer oben noch lebt." Perplex ob dieser grantigen Ansage stellte Cornelius sich vor, musste vor der Tür warten, während der Sicherheitsmitarbeiter offenbar zu Fuß das Gebäude abklapperte. Erstaunliche fünf Minuten später bekam er doch eine Führung, allerdings ordnungsgemäß auf Abstand, wurde in einen Sitzungssaal geleitet, der "Durchzug" zum Programm hatte. Sämtliche Fenster waren so verkeilt, dass es pfiff und wehte. Zum Ausgleich hatte man kreativ mit Flatterband und Stühlen einen Parcours geschaffen, die Namensschilder mit schweren Keramikbechern auf die Tische gepinnt. Ein rascher Blick verriet Cornelius, der sich an seinen Platz setzte, dem Wind trotzte, dass es zwei weitere Ankömmlinge abzuwarten galt: Frau Yilderim vom Jugendamt und, man konnte das Schnaufen trotz Durchzug hören, Herrn Knauf, seines sehr mächtigen, quasi kubischen Zeichens nach sein gesetzlicher Vormund von staatlicher Seite. Oder stattlicher Seite, wenn man Kalauer goutierte. Da Händeschütteln selbstredend indiskutabel war, lupfte Cornelius lediglich grüßend die Hand. Gehandicapt durch Masken, Durchzug und Mitschreiben, musste er, mit Wiederholungen, der schlechten Verständigung geschuldet, von der letzten Woche berichten. Anschließend auch von der Zeit davor, denn aus unerfindlichen Gründen hatten sich in seiner eilig ausgedruckten Akte Eintragungen gefunden, die man vorher gar nicht bemerkt hatte. ~¢~ Junias pilotierte den mit Einkaufstrolley behangenen Wagen geübt, ging zielgerichtet alle Regale ab, nicht zu rasch, damit Ruru nicht ins Stolpern kam, der nervös sein Hasentuch beklammerte, unbehaglich das Füllen des offenen Gitterkäfigs auf Rollen verfolgte. "Möchtest du lieber im Wagen sitzen?" Erkundigte sich Junias, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Ruru schüttelte rasch den Kopf. Weil sie gerade in einen anderen Gang einbiegen wollten, aus dem sich ein anderer Wagen schob, erntete Ruru einen giftigen Blick. Eilig rückte er noch enger an Junias heran. Der funkelte frostig der kräftigen, älteren Frau ins Gesicht. "Wir werden den Rest des Tages in uns gehen und uns fragen, was WIR an Ungemach verbreiten." Zischte er kaum hörbar. Wie aufgezogen eierte sie davon, etwas steif in ihrem Staksen. "Worüber machst du dir Gedanken, Ruru? Gibt es etwas, was du gern haben möchtest?" Junias hatte noch nie mobile Kleinkinder erlebt, die nicht neugierig in die Regale späten, die verlockend bunten Verpackungen anstrebten. Ruru hingegen ignorierte die Versuchung standhaft. "Nelli zählt immer mit." Murmelte er schließlich, das Hasentuch drückend. "Hast du so viel Geld?" Nun begriff Junias: Ruru fürchtete, dass sie ihre Einkäufe nicht bezahlen konnten, war es nicht gewöhnt, so ungeniert den Wagen zu füllen. "Oh, ich zähle auch mit, Ruru. Geld habe ich, keine Sorge. Ich kaufe heute ein bisschen mehr auf einmal, weil man ja anstehen und warten muss. Da möchte ich nicht, dass Henk und Luzie sich plagen müssen." Erklärte er, zauberte ein Lächeln in seine Stimme. "Möchtest du etwas haben?" Eilig schüttelte Ruru den Kopf. Er wirkte so, als würde sich sein schmächtiger Körper erst wieder entspannen, wenn sie tatsächlich die Kassen hinter sich gebracht hatten. Junias ließ es dabei bewenden, denn Vertrauen musste man sich verdienen. Offenkundig hatte er diesen Status bei Ruru noch nicht erreicht! Ruru schien unterdessen etwas Anderes entdeckt zu haben. "Parkhilfe!" Stellte er leise fest, blickte zu Junias hoch, ob der auch ohne "Fingerzeig" begriff, denn Nelli hatte ihm erklärt, dass es nicht sehr höflich war, mit dem Zeigefinger etwas auszudeuten. Wenn schon, wäre die offene Hand ein wenig besser. "Parkhilfe?" Echote Junias, beugte sich herunter, erkannte auf mittlerer Höhe des Regals tatsächlich einen Aufkleber, der technischen Hilfsgeräten signalisierte, wo sich der Streifen am Boden befand, um den richtigen Abstand einzuhalten. "Adam hat erzählt, dass seine Freunde die aufkleben durften, für Blinde. Aber ein schlaues Gerät für den Wagen gibt es noch nicht." Brachte Ruru Junias auf den neuesten Stand. "Oh, jetzt verstehe ich! Gut mitgedacht. Tja, das ist wirklich nicht so einfach. Leichter wären wahrscheinlich rundum Stoßfänger wie beim Autoscooter und Stromschleifen im Boden." Ruru blickte ihn verwirrt an. "Ah, du kennst keine Autoscooter, oder? Die gibt es manchmal auf Jahrmärkten und bei großen Festen." Dem Blick nach zu urteilen Erfahrungen, die Ruru bisher noch nicht gemacht hatte. "Im Boden verlegt man Schleifen, die Strom führen und Magnetfelder erzeugen. Oben können kleine Autos ohne Dach herumfahren. Die haben rundherum Stoßstangen, wie beim Auto, nur tiefer. Weil der Spaß darin besteht, gegen andere Scooter zu rammen." Wenn man das als amüsant empfand. Die kleine Falte zwischen Rurus Augenbrauen verriet, dass er die Sinnhaftigkeit anzweifelte. Junias bemühte sich um ein Grinsen. "Ist auch nicht so wichtig, Ruru. So, wir müssen aufrücken. Kannst du mir gleich helfen? Ich räume nämlich die Sachen immer erst noch mal in den Wagen, wenn sie übers Band gelaufen sind." Artig nickte Ruru, schob sich auch unaufgefordert vor den Wagen. Er war zu klein, um hineingreifen zu können, verhinderte aber entschieden ein Ausbüchsen. Junias bezahlte, steuerte eine der Servicebuchten an, um dort strategisch den Einkaufstrolley zu füllen. Einen weiteren Beutel streifte er auf seinen Rücken. "So, Ruru, wir haben noch Geld übrig. Was meinst du, wollen wir bei der Bäckerei reinschauen? Die haben Laugengebäck, ganz frisch." Ruru zögerte. "Ich könnte vielleicht ein Brötchen nehmen und für Nelli die Hälfte aufheben." Optionierte er prüfend. "Oder wir kaufen für jeden eine eigene Brezel. Ganz frisch. Was meinst du?" Es duftete tatsächlich verführerisch, Junias konnte den Frischegrad riechen. Selbstredend hatte er auch schon Zuhause Laugengebäck fabriziert, doch wirtschaftlicher war es hier wegen der Mengen. Zudem schmeckte es nur frisch richtig gut, das musste man zugeben. Er orderte die fünf Brezeln, reichte die Tüte an Ruru weiter, der sie recht ehrfürchtig apportierte. "Wollen wir eine kleine Pause einlegen?" Erinnerte sich Junias an Cornelius' Schilderungen. Nach dem Einkauf ein kleines Picknick zur Stärkung! Er suchte eine Parkbank ohne Lehnen auf, die noch nicht in Beschlag genommen wurde. Ruru nahm neben ihm Platz. "Ah, hier habe ich zwei Stofftücher, eins für dich, eins für mich. Hast du deine Wasserflasche mit?" Ruru nickte eifrig, entschlüpfte dem Umhängebeutel, präsentierte seine Ausrüstung. Eine Stoffserviette zum Anfassen der Brezeln war ihm neu. "Na, die kann man waschen. So eine Papierserviette reißt ja schnell. Man wirft sie gleich weg." Erklärte Junias das Konzept, biss einladend in seine Brezel. Ruru folgte seinem Beispiel, mümmelte entschlossen. Das forderte Konzentration, hinderte an müßigen Gesprächen. "Gut, hm?" Schloss Junias ihre kurze Einkehr ab, zwinkerte. "Sehr lecker." Bestätigte Ruru, spülte mit Wasser nach, wische sich sorgsam die Hände ab. "Vermisst du dein Zuhause?" Ging Junias entschlossen ans Werk. Ruru sortierte den Inhalt seines Beutels, schüttelte den Kopf. "Du bist lieber bei Nelli, hm?" Präsentierte Junias eine weitere Vorlage. Glücklicherweise zündete der Bruder-Effekt. "Nelli ist immer lieb und schimpft nie. Er weiß gut Bescheid und hat viele Ideen. Wir sind die allerallerallerbesten Brüder!" Verkündete Ruru mit allem Nachdruck seiner schmächtigen Gestalt. "Das denke ich mir. Deshalb bist du ihm ja auch gefolgt, nicht wahr?" Erwartungsgemäß wurde das Hasentuch beklammert. "Nelli war nicht unartig." Murmelte Ruru mit hochgezogenen Schultern, den Blick gesenkt. "Du meinst letzten Montag, hm? Als er im Bad die Wäsche abhängen wollte." Hakte Junias nach. Neben ihm wurde Ruru bleich, presste die Lippen dünn aufeinander. "Du konntest nicht weglaufen und auch nicht unter euer Bett kriechen. Also hat Nelli dich ins Bad geschoben und die Tür blockiert." Bohrte Junias erbarmungslos nach. Ruru rollte sich ein, während Tränen aus seinen Augen quollen, auf die ausgewaschenen Hosenbeine tropften. "Du hast gehört, was passiert ist, hm? Die gemeinen Worte, die Prügel. Bis es still war." Nun schluchzte Ruru kläglich. Junias beugte sich herüber, fädelte mühelos unter die verkrampften Ärmchen, hob Ruru hoch. Nein, er hatte keine Übung mit kleinen Kindern, aber Ruru wog für ihn fast nichts und litt elendig! Er strich mit einer kalten Hand über den verkrümmten Rücken. "Du warst nicht unartig. Es war nicht deine Schuld. Du bist nicht böse oder ungezogen." Raunte er sanft in die erstickten Schluchzer an seiner Schulter. "Hab keine Angst mehr. Wir beide passen auf Nelli auf. Er ist der allerallerallerbeste Bruder der Welt. Und er sieht sehr attraktiv aus. Wer das nicht erkennt, ist bloß neidisch." Junias wiederholte seine Worte noch mal, lauschte auf das Schniefen. "Möchtest du heruntergelassen werden?" Erkundigte er sich nach einer Weile. "Ja, bitte." Krächzte Ruru, krabbelte neben ihn auf die Bank. Seine Augen waren rotgerändert und leicht verquollen. "Leihst du mir noch mal deine Wasserflasche?" Nachdem Ruru sie ihm ausgehändigt hatte, befeuchtete Junias ein weiteres Stofftaschentuch, tupfte damit behutsam über Rurus Gesicht. "So ist es besser, oder? Wie geht es dir?" Ruru runzelte die Stirn. "Ein bisschen durcheinander." Konstatierte er, rollte mit den Schultern, wie Cornelius es hin und wieder zu tun pflegte. "Können wir jetzt gehen? Ich möchte viel helfen, ich schaff das." Lächelnd erhob sich Junias, nahm den Einkaufstrolley und auch Rurus Hand. "Ich bin gar nicht ungezogen." Ließ der ihn entschieden wissen. "Aber es gibt ungezogene Leute, mit denen ich lieber nicht zusammen sein mag." ~¢~ Cornelius begab sich auf direktem Weg zu seinen potentiellen Pflegeeltern. Zumindest hatte man erkennen lassen, dass es mehr als wahrscheinlich war, ihn dort unterzubringen. Allzu viele Alternativen boten sich nicht an. Diese Pflegeeltern waren zudem erfahren. Zusätzlich stellte sich prominent die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Ehemanns seiner Mutter, wie man ein wenig verklausuliert formulierte. Man wolle sich in jedem Fall bemühen, die Situation schnellstmöglich zu entschärfen! Cornelius konnte aus diesem Gespräch nicht erkennen, welchen Erfolg Junias gehabt haben könnte, ob es schon Kontakte mit seiner Mutter gab. Es erleichterte ihn, dass man nicht kategorisch darauf bestand, Ruru zurückzubringen oder ihm unterstellte, er benutze seinen kleinen Bruder, um gegen dessen Vater zu opponieren. "Du hättest das Rad mitnehmen sollen." Erschreckte Junias ihn, der förmlich aus der grünen Hecke wuchs. Cornelius keuchte, wäre beinahe ins abgesackte Straßenbett gestolpert, doch vorausschauend und enervierend mühelos fischte Junias ihn mit einer Hand ab. "Was ist denn los, hast du einen Geist gesehen?" Hörte er Junias' breites Feixen in dessen Stimme. "Hast du in den Spiegel gesehen?" Feuerte Cornelius undiplomatisch zurück. Junias lachte. "Oho, auf Krawall gebürstet? Und ich nahm an, das Gespräch wäre gut verlaufen." "Ist es auch!" Cornelius, weiterhin an einer Hand gekapert, atmete tief durch. "Aber ich weiß immer noch nicht, was aus Ruru wird! Das zermürbt mich eben! Du solltest nicht hier wie eine Vogelscheuche in der Hecke herumlungern!" Hielt er Junias empört vor. "Herrjemine, da wird es wohl nichts mit dem Tanz in den Mai morgen Abend!" Trällerte Junias herausfordernd, zog ihn dabei ohne Federlesen auf der Stichstraße Richtung Haus, nicht etwa durch den Garten. Was es Cornelius gestattete, sich ein wenig zu fassen. "Ich war übrigens mit Ruru einkaufen. Wir haben uns ein wenig über letzten Montag unterhalten." Cornelius blieb abrupt stehen, starrte in Junias' maskenhaftes Gesicht, der gar nicht mehr provozierend-amüsiert klang. "Deine Vermutung stimmt: er HAT sich die Schuld gegeben. Er ist schon vorher unter euer Bett geflüchtet. Zudem hätte er wohl über die Zeit ein Trauma entwickelt, im Bad eingeschlossen zu sein und zuzuhören, wie du zusammengeschlagen wirst, bis es keinen Laut mehr gibt." Cornelius spürte, wie ihm schlagartig sämtliche Wärme aus den Gliedern fuhr. Die burgrunderroten Augen hielten ihn jedoch gebannt. "Ein kluger, kleiner Kerl, der seinem großen Bruder nacheifert. Lieber schweigt, um ihn nicht in Schwierigkeiten zu bringen." Junias legte den Kopf leicht schief. "Ich konnte ein wenig helfen. Aber die Zweifel verschwinden nicht mehr. Man muss sie kontern, mit positiven Beispielen in Schach halten. Eine dauerhafte Aufgabe." Er reduzierte die Distanz, bis er direkt vor Cornelius stehen blieb. "Das bedeutet, dass du dich auch wehren musst. Kein 'Schmutzfleck' mehr akzeptieren, nicht deine Existenz auf das Wohlergehen deines Bruders reduzieren. DIE Last kann und soll er nicht schultern." Cornelius zuckte zurück, als hätte Junias ihn geohrfeigt. Tatsächlich waren dessen Worte eine harsche Ansage, allerdings auch gerechtfertigt, wie er eingestehen musste. "Das~das werde ich nicht mehr tun!" Stammelte er, wacklig auf den Beinen. "Gut." Beschied Junias knapp, zog ihn entschlossen zum Haus. "Jetzt machen wir uns besser an unsere Heimarbeiten. Ruru geht nämlich schon die ganze Zeit Henk zur Hand und lässt uns wie Faultiere aussehen!" ~¢~ Cornelius beobachtete Ruru beim gemeinsamen Mittagessen. Der schien munter, berichtete ausführlich zu seinen neuen Erkenntnissen, denn im Garten gab es immer etwas zu lernen! Zudem berappelte sich seine Ananasminze, die ja ein wenig kümmerlich gewirkt hatte, doch jetzt hingen die feinen Blättchen ein wenig höher, so, als hätte sie sich geschüttelt und entschlossen, richtig kräftig zu wachsen! Den Einkauf handelte er in Bezug auf die sehr leckere Brezel und die Aufkleber ab. Kein Wort ließ erkennen, dass Junias mit ihm ein aufwühlendes Gespräch geführt hatte. Cornelius seinerseits blieb bei Details sparsam, gab lediglich das Resultat der Unterredung bekannt. Man erwarte, dass er in Bälde hierher umsiedeln könne, in Anbetracht aller Umstände. Alles Weitere befände sich noch in Klärung, was Ruru betraf, der ihn besorgt betrachtete. "Niemand hat etwas davon gesagt, dass wir getrennt werden." Versicherte Cornelius, das eigene, hohle Gefühl energisch unterdrückend. Es zermürbte ihn nicht zu wissen, ob Junias' Einsatz am vorhergehenden Tag Erfolge zeitigte oder überhaupt eine Wirkung hatte. "Dauert eben alles im Moment ein wenig länger und wir haben ja eine kurze Woche." Tröstete Luzie ihn aufmunternd. Man musste sich einfach auf die positiven Aspekte konzentrieren! Das gelang Cornelius jedoch besser, wenn er etwas Konkretes zu tun hatte. Zwar waren seine "Heimarbeiten" noch nicht vollends erledigt, doch er wollte lieber zunächst beim Abspülen des Geschirrs helfen. Eine Siesta für Ruru wäre bestimmt auch nicht verkehrt. Das konnte Cornelius jedoch Henk überlassen, der ein wachsames Auge auf seinen "Assistenten" hatte. Selbst wenn Cornelius sich dazu zwingen musste: Ruru war längst nicht mehr mit seiner ständigen Beaufsichtigung gedient. Ein wenig frustriert über die eigene Unbeweglichkeit in Sachen Selbstmanagement ignorierte er standhaft Junias' geschmeidige Fortschritte, der in flüssiger Mühelosigkeit seine Aufgaben absolvierte. "Na schön, wollen wir deine Zucht grimmiger Unmutsfalten unterbrechen und uns die Beine vertreten?" Bot er mit einem Schmunzeln in der Stimme an. Cornelius grimassierte. "Ja, ja, das muss der Entzug sein!" Spöttelte Junias herausfordernd, wischte durch seine silbergrauen Locken. "Ich bin eben nicht an so viel Muße gewöhnt." Versetzte Cornelius grummelnd, erhob sich aber. Bewegung half vielleicht, sich abzulenken! "Oh, du wirst schon deinen Anteil an Hausarbeiten bekommen, keine Sorge!" Hörte er Junias grinsen. Cornelius seufzte. Gegen Junias war wohl im Moment einfach kein Ankommen! ~¢~ "Nun, raus damit!" Forderte Junias ihn auf, nachdem sie bereits zehn Minuten schweigend in gewissem Abstand nebeneinanderher geschlendert waren. Cornelius studierte die burgrunderroten Augen fragend. "Meine Güte, willst du mich nicht lektionieren?! Weil ich mich eingemischt habe und Ruru beeinflusst?!" Wenigstens die Stimme verriet eine gewisse Ungeduld, die Junias' Züge nicht offenbarten. "Das wäre unsinnig. Es scheint Ruru geholfen zu haben, oder nicht? Wenn er nicht mit mir darüber sprechen will." Junias schnaubte, wischte sich durch die silbergrauen Locken. "Dein Unterhaltungswert lässt erheblich zu wünschen übrig! Kannst du nicht wenigstens hin und wieder mal aus dem Anzug springen?!" Cornelius lupfte eine Augenbraue. Versuchte Junias, ihn aufzustacheln, damit er Dampf abließ? Agierte er zu kontrolliert, zu passiv, zu ausweichend, Gewohnheit und Selbstschutz verpflichtet? "Ich bin jedenfalls nicht wütend, weil du mir hilfst." Stellte er klar. "Muss ich mich denn aufregen? Ehrlich gesagt wäre es mir lieber, wenn ich mal friedliche Zeiten hätte." Vor ihm stemmte Junias die Hände in die Hüften. "Ehrlich gesagt wäre es MIR lieber, du würdest nicht so ach vernünftig tun! Das nervt! Du bist kein Roboter, also hör auf, so einen Vorzeige-Saubermann zu markieren!" Cornelius spürte, wie sich seine Fäuste ballten, noch bevor er diesen verräterischen Impuls kontrollieren konnte. Vorzeige-Saubermann?! Er, der "Schmutzfleck"?! Ärgerlicherweise konnte er Junias einfach nicht ansehen, was der beabsichtigte! So konnte man als "eingeschränkter Mensch" gar nicht einschätzen... Unversehens schnellte er vor, schlang einen Arm um Junias' Hüfte, fing dessen Arm ab, überbrückte die handbreite Distanz ihrer Körpergröße, küsste ihn stürmisch. Vernünftig wäre ein ruhiges Gespräch gewesen. Oder das mühelose Ausweichen aufgrund überlegener Reflexe. So spürte er plötzlich Erleichterung, Sorge, Ungeduld, Verunsicherung... "Tut mir leid." Raunte er leise an den nicht mehr ganz so kalten, mit seinem Speichel benetzten Lippen. "Ich bin zu geübt im Weglaufen, während du deinem Territorium treu bleibst." Junias schlug ihm mit der freien Faust leicht gegen die Schulter. "..." Langsam löste Cornelius seinen festen Griff, nahm jedoch Junias' kalte Hand. "Wir werden das wohl ausknobeln müssen." Stellte er fest, einen Seitenblick riskierend. "Ich hab nämlich den Eindruck, dass diese 'Regeln' nicht so wasserdicht sind, wie es den Anschein hat." Er registrierte das minimale Zucken der kalten Hand. "Eigentlich auch logisch, wenn ihr alle Abstand haltet. Wenn man immer nur von einer Person angeleitet wird, die nur das weitergeben kann, was sie selbst gelernt hat." Wagte er sich an Analysen. Eine Weile liefen sie so nebeneinander, dem Wirtschaftsweg einfach folgend. Wir können nichts dafür." Murmelte Junias schließlich, dessen aufgewühlte Stimmung er noch ein wenig "riechen" konnte. "Einmal, auf Klassenfahrt, habe ich einen anderen gespürt. Ich wurde nervös, zappelig, unruhig, obwohl ich ja nur auf Besuch war! Als würde es einen am ganzen Körper jucken!" Er schnaubte. "Ein digitales Mitglieder-Magazin können wir wohl auch nicht auflegen! Außerdem, bis jetzt...!", brach er ab. Cornelius schenkte ihm einen mitfühlenden Blick. "Du meinst, bis zu meinem Erscheinen hattest du auch gar keine Schwierigkeiten." Soufflierte er sanft. Abrupt drehte Junias den Kopf weg. "Ich weiß, dass ich gar nichts im Griff habe. Das wollte ich mir bloß einreden, um nicht einzuknicken. Deshalb geht es uns ähnlich, Junias: alles ist durcheinander, verwirrend und ohne Navigationsgerät." Bestätigte Cornelius, gab Junias' kalte Hand nicht frei. Im Grunde hatten sie dasselbe Problem: sich tarnen, verstecken müssen, mit zehn Jahren einen gewaltigen Umbruch zu erleben. Jetzt schien zu den Ausgangsschwierigkeiten auch noch unerwartet Treibsand hinzuzukommen, denn was bedeutete das "Kleingedruckte" ihres Pakts, das eigentlich nicht enthalten war, sich selbstherrlich eingeladen hatte?! "Ich verstehe es nicht." Junias seufzte, klang bedrückend kläglich. "Hat sie es mir nur verschwiegen oder selbst nicht gewusst? Welche Regeln treffen denn nun zu? Menschen sind Nahrung und Unterhaltung, aber gefährlich, wenn sie das Geheimnis entdecken sollten." Die selbstsichere Souveränität schien ihn gänzlich verlassen zu haben. Cornelius erinnerte sich an den Vortrag zum "Bedürfnis" menschlicher Nähe und körperlichen Kontakts. Nun, Ruru half es, wenn er ihn in den Arm nahm, Beistand zusicherte. Es konnte ja nicht schaden zu erproben, ob Junias menschlich genug geprägt war, zumindest ein wenig Trost daraus zu schöpfen, oder?! Weshalb er eine halbe Drehung initiierte, Junias in seine Arme zog. "Wir helfen uns gegenseitig." Schlug er leise vor, registrierte erleichtert, dass Junias zumindest wusste, wie man eine Umarmung erwiderte. "Außerdem bist du klug. Wir finden zusammen heraus, welche Regeln richtig sind." An seiner Schulter lachte Junias erstickt auf. "Verflixt vernünftig!" Tadelte er, atmete aber tief durch. "Ist lange her, dass ich solche Angst hatte." Cornelius verstärkte für einen Moment ihre Umarmung. Wenn man es genau nahm, gab es gar keine großen Unterschiede zwischen ihnen, ganz gleich, ob Lamia oder Mensch, ob 17 oder 15, ob Einzelkind oder großer Bruder. "Wir stehen zusammen." Wisperte er entschieden. ~¢~ Kapitel 17 - Volle Köpfe, volle Herzen Nicht mal das leise Drehen des Schlüssels in der Tür weckte ihn, erst Linus' besorgte Nachfrage, der auf der Bettkante saß, tief heruntergebeugt, ihm über Stirn und Wange strich. "Oh! Oh!" Reagierte Silvain gewohnt kurzsichtig ohne Brille und dezent desorientiert. "Ich bin wohl eingenickt..." Eilig versuchte er, sich aufzusetzen, doch seine dünnen Arme knickten ein. "Was ist los? Ist dir übel? Schwindlig?" Die Friesen-blauen Augen funkelten entschlossen, aber auch erschrocken. Silvain sondierte die eigene Situation, konnte gerade noch einen verräterischen Arm hochreißen, um in die Beuge zu niesen. "Ooh." Konstatierte er verlegen, blinzelte zu Linus hoch. "Ich hab mich wohl verkühlt." Wagte er beschämt eine Diagnose, denn eigentlich sollte er ja in der Zeit, in der Linus den Unterricht am Nachmittag absaß, höchst aktiv für die Nachbarschaft tätig werden. "Oje." Murmelte er geknickt. Hatte er denn tatsächlich nach dem Heimkommen von der frühen Unterrichtsschicht durchgeschlafen?! Über ihm atmete Linus erleichtert aus. "Für einen Moment dachte ich schon..." Seine Hände gruben sich in die Bettdecke. "Das tut mir leid! Du hast nicht auf mich gewartet, oder?" Sich über die Seite hochrappelnd vermutete Silvain, dass genau DAS doch geschehen war, einfach aus Gewohnheit, weil sie jede Möglichkeit nutzten, sich Gesellschaft zu leisten. "Entschuldigung! Ich wollte dir keine Angst machen, wirklich!" Beteuerte er getroffen, haschte nach den kräftigen Händen. Linus schnaubte. "Deine Hände sind so kalt wie deine Nasenspitze, während deine Stirn glüht. Was hilft dir denn bei Erkältungen am Besten? Ich meine, außer Tiefschlaf?" Der Ironie seiner Worte fehlte die Schärfe durch das neckende Zwinkern. "Nun, Tee. Meistens." Wisperte Silvain geknickt, der sich einmal mehr als konditionell unterbestückt tadelte, doch Linus unterlief diesen Anfall von niederschmetternder Selbstkritik, zog ihn in die muskulösen Arme, an seine breite Brustpartie, die verschwenderisch Wärme verströmte. "Ich bin bloß froh, dass du hier warst und bist. Wenn du draußen irgendwo umfällst...!" Silvain spürte ein wenig mehr Druck um seine schmale, sehnige Gestalt. Ja, man würde höchstens seine Eltern informieren, nicht aber Linus. Der hatte ja weiterhin weder Telefon noch Internetanschluss. "Es tut mir so leid, Linus! Ich werde aufpassen, versprochen!" Immerhin verhielt es sich ja nicht so, als könne er sich nicht angemessen ankleiden! Linus' Hand kraulte durch die überlangen Strähnen am Hinterkopf. "Ich weiß, Silvain. Ich hätte genauso achtgeben müssen. Ich möchte nur nicht, dass unser Zusammenleben scheitert." Dass er einen Grund dafür lieferte, Silvains Eltern zu energischen Gegenmaßnahmen zu veranlassen. In seinen Armen wand Silvain sich, bis sie einander ansehen konnten. "Ganz bestimmt werde ich nicht~werde ich nicht... hapschüüü!" Erneut bepflasterte Silvain seine Ellenbeuge. Linus schmunzelte. "Klingt nach einem energischen Arbeitsauftrag! Tee lautet die Losung, irgendwelche Präferenzen?" Entschieden zog er die Decke höher, federte von der Matratze. "Die Order lautet, dass du unser Lager bewachst, während ich den Medizinmann mime." Wies er in gespielter Strenge an, glaubwürdig von seiner "Wikinger"-Maske unterstützt, die regelmäßig Gegner bei Hockeyspielen verschreckte. Silvain schniefte kläglich, blinzelte kurzsichtig zu ihm hoch. "Ich denke, meinen Teil kann ich absolvieren." Krächzte er. Linus lachte rau auf, streifte sich rasch seine Jacke ab, operierte mit seinen bescheidenen Möglichkeiten. Einige Minuten später servierte er Tee, eine Glasflasche mit Handtuchkleid und sich selbst plus ein abgegriffenes Buch. "Oohh...danke!" Silvain nippte vorsichtig, schmiegte sich an seine Seite. Linus justierte die improvisierte Wärmflasche, blätterte auf. "'Ernst sein ist alles', von Oscar Wilde." ~¢~ "Das würde ich so nicht abgeben." Tat Junias kund, über Cornelius' Schulter spähend. Der hatte sich nach ihrem Spaziergang wieder den eigenen Aufgaben gewidmet, mit einem Ohr nach draußen, wo Ruru mit Henk eifrig im Garten agierte. "Wieso nicht?" Hielt Cornelius inne, der seine Aufgaben eher flott zu erledigen trachtete. Oder nebenher, weil noch der Haushalt zu machen war oder Ruru sich nicht langweilen sollte. Statt einer Antwort nahm Junias das Blatt hoch, eng beschrieben, da Cornelius auch in dieser Hinsicht sparsam war. Radierte prompt Zweidrittel der Eintragungen aus! "Du bist nicht bei der Sache, deshalb läuft hier alles auseinander und durcheinander." Cornelius seufzte grimmig. "He!" Zupfte Junias ihn doch glatt an einem Ohr! "Ab jetzt keine 'Elternzeit' mehr nach der Schule, verstanden? Beim Ganztagsunterricht kannst du Ruru auch nicht ständig versorgen." "Weiß ich selbst!" Grollte Cornelius getroffen. "Aber ich bin nun mal nicht so klug!" Setzte er an, denn Mathematik mäanderte in Gebiete, die ihm häufig gar nichts sagten! "Sagt wer?! Wie dem auch sei, wenn du ein vorbildlicher großer Bruder sein willst, bleib bei der Sache." Triezte Junias unnachgiebig. "Ach, aber vorhin sollte ich doch nicht so ein Vorzeige-Saubermann sein!" Rebellierte Cornelius verärgert. "Das sind zwei Paar Schuhe. Lauf nicht weg oder versteck dich hinter Meinungen, die Leute von dir haben, die nach der Schale urteilen!" Feuerte Junias scharf zurück. Die Fäuste ballend schluckte Cornelius eine zornige Replik herunter. Ja, andere Leute hielten ihn für eher mittelmäßig, aber das konnte ja wohl auch zutreffen, oder?! Außerdem, ein wenig mehr Verständnis für seine gerade doch sehr anstrengende Lage...! "Eben." Raunte Junias kaum hörbar. "Erweck nicht mit nachlassenden Leistungen den Eindruck, du wärst woanders besser aufgehoben." Nur Junias' geballte Faust verriet Cornelius, dass diese Lektion arrogant und gefühllos erscheinen konnte. Es aber nicht war, weil Junias verunsichert genug nicht felsenfest überzeugt war, alle Hindernisse aus dem Weg räumen zu können. Wortlos wandte sich Cornelius erneut der Aufgabenstellung zu. ~¢~ "Tschüss, Henk, tschüss, Luzie! Ich werde morgen wieder ganz viel helfen!" Versprach Ruru an Cornelius' Hand, denn die Siesta ließ noch genug Hasenpower für den Rückweg übrig. Oder zumindest eine Teilstrecke. Junias schlenderte neben ihnen her, als sei das Gewohnheitsrecht. "Du könntest das Fahrrad nehmen." Nörgelte er. Cornelius schüttelte den Kopf. "Das ist mir zu gefährlich. Ich weiß auch nicht, wo ich es abstellen darf." Er wollte nicht, dass Ruru auf dem Gepäckträger herumrutschte, vom Sattel ganz zu schweigen! "Außerdem ist morgen kein Unterricht angesetzt und Bewegung gesund." Dozierte er ebenso provozierend. Ruru, der zwischen ihnen lief, haschte nach Junias' Hand. "Nelli, Juni, nicht streiten, ja?" Verhandelte er unbehaglich, von einem zum anderen blickend. Cornelius seufzte, rollte mit den Schultern, die noch breiter werden konnten. "Du hast recht, Ruru. Ich glaube, meine Hasenpower muss aufgefrischt werden." Auffordernd blickte er zu Junias hinüber. Der schnaubte theatralisch. "Na schön, na schön! Wir streiten nicht. Wahrscheinlich hätte ich an der Vanilleblume vorbeigehen sollen, das hebt die Stimmung!" Seine Bemerkung fiel bei Ruru auf fruchtbaren Boden. "Vielleicht kannst du ein Blatt abnehmen, es unter das Kopfkissen legen? Oder eher ein Tuch? Ein Kopfkissen könnte zu dick sein." Erwog er sehr ernsthaft. Junias und Cornelius wechselten Blicke. »Das hast du davon!« Stellte Cornelius grinsend fest. »Ich werde mich NICHT streiten!« Schienen die burgunderroten Augen, leicht zusammengekniffen, zu retournieren. "Du könntest auch einen Kakao trinken." Erreichte Ruru nun den Endpunkt seiner hilfreichen Empfehlungen. "Dann bist du wieder fröhlich, Juni." Entschieden zupfte er an der kalten Hand. Junias gab sich geschlagen. "Ja, das sollte ich wohl tun, Ruru. Wahrscheinlich braucht meine Hasenpower auch Nachschub." Dabei vermied er strikt jeden Seitenblick auf Cornelius, der mannhaft sein Grinsen bezähmte. ~¢~ Silvain kämpfte sich hoch, als Linus mit dem Walkie Talkie aus dem Bad trat "Entschuldige, habe ich dich geweckt?" Linus war mit zwei großen Schritten an seiner Seite, reichte ihm die Brille. "Deine Abwesenheit." Blinzelte Silvain, lächelte schüchtern. Tatsächlich hatte er nicht mitbekommen, warum Linus aufgestanden war, doch ohne ihn fühlte sich das Bett zu leer an! "Wie geht's dir denn?" Linus streichelte ihm über die Wangen, musterte ihn prüfend. "Schon besser." Urteilte Silvain optimistisch, justierte die Brille auf den Nasenrücken. "Musst du noch mal weg? Soll ich mitkommen?" Die Bettdecke zurecht zupfend antwortete Linus, noch in schlichten Boxershorts. "Ad 1) ja, und ad 2) sicher nicht, solange du erkältet bist. Drei Straßen weiter sind wohl Batterien in den Rauchmeldern am Ende. Es piept ständig, aber der Vermieter kann niemanden mehr rausschicken und die Omas sollten nicht auf Leitern herumkraxeln." Verständig nickend hob Silvain die Rechte, um über Linus' Wange zu streicheln. "Das ist sehr nett, dass du hilfst! Ich bin da wirklich nicht nützlich, mit meiner Höhenangst." Linus gluckste rau, beugte sich vor, küsste ihn auf die Lippen. "Mein Gardemaß muss ja auch mal Vorteile bringen, nicht wahr? Tut mir leid, dass ich dich allein lasse, aber ich beeile mich auch." Silvain, der nun auch noch ein aufgeklopftes Kissen bekam, haschte nach einer kraftvollen Hand. "Danke schön, Linus. Ich halte einfach das Bett warm, ja?" Zwinkerte er, mit Brille sehr viel besser orientiert. Das entlockte Linus ein zärtliches Lächeln. Nach einem weiteren, ausgedehnten Kuss kam er auf die Beine, streifte sich rasch Sweatshirt und Jeans über. Silvain signalisierte ungeübt beide Daumen hoch, was ihm ein neckisches Luftküsschen einbrachte, bevor Linus gewohnt energisch der nächsten Mission in Sachen Nachbarschaftshilfe zustrebte. Lächelnd fischte Silvain nach ihrer Lektüre. Weit waren sie nicht gekommen, wie das eingelegte Lesezeichen verriet, aber seine Erkältung schien bereits den Rückzug anzutreten, denn sein Verstand wirkte aufgeräumt und klar. Da konnte er auch aufstehen, Tee aufsetzen und die Masken heiß abbrühen! Brav eingemummelt kam er den selbstgewählten Aufgaben nach. Dabei erinnerte er sich an die verschmitzte Offenbarung des Verbindungslehrers, Herrn Fermont, der seit der Oberstufe mit seinem Lebensgefährten zusammen war! So betrachtet schien es gar nicht unmöglich, dass eine erste Liebe auch anhielt, wenn man sich anstrengte, selbstverständlich. Entschieden bugsierte er seine vagabundierende Brille höher. Leseratten waren sie beide, wenn auch nur einer offiziell. Zu einem "Wikinger" würde es für ihn wohl nicht mehr reichen, was die Statur betraf, aber eine größere körperliche Belastbarkeit sollte sich irgendwie bewerkstelligen lassen! Während der Tee zog, dachte Silvain angestrengt darüber nach, welche Sportart ihm liegen könnte. ~¢~ "Ist dein Kopf voll?" Machte sich Ruru bemerkbar, äugte zu ihm auf. Cornelius grimassierte gequält. "Ja, leider. Ich bin heute nicht sehr unterhaltsam, hm?" Ruru drückte ihm die Hand. "Heute war viel los." Bemerkte er nachsichtig, schielte zu ihm hoch. "Junis Kopf war auch voll." Schob er eine Einschätzung nach, denn tatsächlich hatte Junias sich an der Kreuzung verabschiedet. "Sind die Aufgaben schwer?" Hakte er nach, zu Cornelius hoch blickend. Cornelius schaltete mit Verspätung, wedelte mit der freien Hand. "So mittel. Aber ich habe Fehler gemacht und musste noch mal anfangen." Ruru zog die kleine Falte zwischen die Augenbrauen. "Wir haben aber nicht gestört? Henk sagt, bei Schularbeiten nicht unterbrechen und nicht zu laut sein." Das entlockte Cornelius ein Auflachen. "Nein, Ruru, niemand hat mich gestört! Ich hab mich selbst gestört, weil ich mich nicht richtig konzentriert habe." Gespannt wartete er auf die nächste Einlassung, denn Ruru hatte mit dem Kapitel noch nicht abgeschlossen. "Wir könnten kleine Pflanzen in Töpfen auf die Schreibtische stellen. Mit feinem Duft. Gegen den vollen Kopf und die trübe Laune." Schlug er nach einigem Grübeln ernst vor. Cornelius blieb stehen, ging leicht in die Hocke, hob sich Ruru auf den Arm. "Ich kann noch laufen, Nelli." Wies der auf einen wichtigen Aspekt hin. "Ja, aber so kann ich mich richtig mit dir unterhalten, auf gleicher Höhe." Konterte Cornelius, rieb seine Nasenspitze an Rurus, die weniger Schrammenspuren aufwies als am Vortag. Der kicherte, schlang ihm die dünnen Arme um den Nacken. "Ich glaube, mir hat auch eine Hasenpower-Umarmung gefehlt." Vertraute Cornelius Ruru an, kuschelte ungeniert. Unerfreulicherweise schien mehr an Junias' Urteil dran zu sein, als er wahrhaben wollte: Entzugserscheinungen! "Alles in allem war heute doch ein schöner Tag, richtig?" Ruru nickte entschieden, legte vertraut den Kopf auf Cornelius' Schulter. "Morgen fragen wir Henk, was er über die Duftpflanzen-Idee denkt, ja?" "Ja!" Bekräftigte Ruru, kicherte leise. Als Cornelius das Wohnhaus von Frau Kappel erreichte, schlief Ruru auf seinem Arm. ~¢~ "Da bin ich wieder, hat leider länger gedauert." Linus ließ sich herein, streifte sogleich Schuhe und Jacke ab. "Hmm, was duftet hier?" Silvain, der es sich im Bett bequem gemacht hatte, kämpfte mit der Decke, um aufzustehen. Aus unerfindlichen Gründen hatte er sich verheddert... "Sitzengeblieben!" Kommandierte Linus im Wikinger-Walhalla-Tonfall, beugte sich rasch herunter, küsste Silvain ausgleichend, der anschließend die abtrünnige Brille justierte. "Schön, dass du wieder da bist! Ich hab Tee gemacht, das könnte den Geruch erklären." Erläuterte er, äugte neugierig auf ein Päckchen in Küchenkrepp. "Tee? Prima!" Linus klappte hoch, wandte sich seinem bescheidenen Hausstand zu, las zwei Teller auf. "Als ich endlich mit allen Rauchmeldern durch war, haben mir die Omas ein Abendbrot mitgegeben: Toastbrot mit Krautsalat und zwei Nusswaffeln. Die sind vom Morgen und etwas trocken, aber ich hab ja noch alle Zähne." Er zwinkerte Silvain zu, der keinen Zweifel hegte, dass Linus sich sehr viel diplomatischer verhalten hatte. Die meist älteren Leute wollten sich im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten erkenntlich zeigen, nicht bittstellen müssen. Bei Linus konnte man uneingeschränkt Verständnis dafür voraussetzen. "Oh, wie nett! Ich hab deine Teetasse hier schon aufgestellt." Silvain klappte unter der Decke, die sich etwas ziviler zeigte, die Beine zum Schneidersitz zusammen. "Danke schön!" Nahm er seinen Anteil entgegen, reichte Linus dafür dessen rasch aufgefüllten Teebecher. Dekadent, im Bett zu tafeln, doch Silvain ahnte, dass eine Diskussion fruchtlos wäre: er galt immer noch als erholungsbedürftig. Sie bissen in die Doppeldecker, kauten gründlich. Die Kombination war nicht zu verachten, außerdem tropfte keine überzuckerte Soße herunter! Ganz zu schweigen von Silvains Verzicht auf tierische Produkte, der "Burger" traditioneller Variante lieber nicht verzehrte. Sich die Mundwinkel leckend bat er um Linus' Expertise. "Weil es mir schon wieder gut geht, habe ich nachgedacht, benötige aber Hilfe. Kennst du eine Sportart, bei der man nicht schnell reagieren muss, nicht in die Höhe steigen oder Bälle treffen?" Schach mochte olympisch sein, aber ähnelte doch ZU sehr seiner Lieblingsbeschäftigung, nämlich sitzen und lesen! Linus stutzte, warf ihm aus Friesen-blauen Augen einen inquisitorischen Blick zu. "Darf ich fragen, in welchem Zusammenhang diese Überlegungen stehen?" Erkundigte er sich ruhig mit seiner rauen Stimme, aber pointiert. Silvain, der die harte Nusswaffel vorsichtig portionierte, um kleine Brocken kauen zu können, nickte rasch. "Nun, ich erinnerte mich an die Aussage von Herrn Fermont, dass er schon seit der Oberstufe mit seiner großen Liebe zusammen ist. Ich dachte, dass wir beide gern lesen, was eine wichtige Gemeinsamkeit ist, nicht wahr? Ich meine, gemeinsame Interessen. Findest du 'geteilt' in diesem Zusammenhang nicht etwas unpassend?" Er runzelte die Stirn, bugsierte seine Brille höher. "Einerlei! Wenn Gemeinsamkeiten wichtig sind, ist es nur notwendig, dass ich mich auch entsprechend aufstelle, nicht? Hockey scheidet da aus, deshalb bemühe ich mich, einen Sport zu finden, der meine Kondition verbessert. Nur ist das recht knifflig, unter den gegebenen Einschränkungen. Also, mit Mini-Golf habe ich es mal versucht, jedoch... Denkst du, Schattenboxen wäre eine Idee? Da bewegt man sich langsam, oder?" Hilfesuchend blickte er in die Friesen-blauen Augen. Um Linus' Mund zuckte es verdächtig. "Erinnere ich mich falsch, oder sagtest du mir nicht unlängst, dass dein Körper sich noch sortieren muss? Du bist vielleicht noch nicht ausgewachsen, Silvain, oder? In Anbetracht aller Umstände habe ich an deiner Kondition gar nichts zu bemängeln." Übte der sehr zartfühlende Kritik. Silvain seufzte. "Den Eindruck hatte ich auch, ich meine, wegen meiner unsortierten Gliedmaßen und meiner Ungeschicklichkeit. Aber möglicherweise bleibt das so. Es ist doch unfair, wenn wir meine Lieblingsbeschäftigung teilen, aber...!" Linus kürzte diesen Gedankengang mit einem Kuss ab, leckte Silvain über die Mundwinkel, wo sich Spuren der Schokoladenglasur niedergelassen hatten. "Mein Bewegungsdrang gründet nicht auf einer übermäßigen Liebhaberei, Silvain. Freud hätte sicher etwas zu sublimiertem Eskapismus zu bemerken, aber das können wir uns sparen. MEINE Lieblingsbeschäftigung ist es, mit dir Zeit zu verbringen. Wobei wir uns durchaus gemeinsam bewegen, auch wenn olympische Ehren eher elysischen Höhen weichen müssen." Er lächelte spitzbübisch, als sich Silvains magere Wangen merklich röteten. "Selbstredend bin ich zu einer ausführlichen Demonstration bereit, wenn wir das Geschirr exiliert haben." ~¢~ Kapitel 18 - Die Konferenz "Entschuldigt mich, ja?" Frau Kappel erhob sich von der Frühstückstafel, um dem Läuten des Telefons abzuhelfen. Ruru, der brav seine klein geschnittenen Stückchen Brot mit Aufstrich verzehrte, warf Cornelius einen irritierten Blick zu. Der registrierte, dass er wohl sichtbar zusammengezuckt sein musste. Trotz der guten Nachricht am Vortag hatte er nicht sonderlich erholsam genächtigt. Wenn man nun seinen Umzug ansetzte, aber nicht zu Ruru entscheiden wollte...! Außerdem drehten sich seine Gedanken auch um Junias, der, offenkundig aus dem Konzept gebracht, einfach nicht erkennen ließ, was EXAKT ihn so verstörte! Wobei Cornelius nicht mal sicher sein konnte, dass Junias selbst schon die Ursache ermittelt hatte. "Jungs, wir haben eine Konferenz!" Sprudelte Frau Kappel hervor, sichtlich aufgeregt. "Ihr könnt noch nicht losziehen, leider, denn um zehn Uhr soll es rund gehen! Oje, hoffentlich klappt das auch! Ich hatte noch nie eine Videokonferenz mit mehreren Personen!" Sie schwirrte eilig zu ihrem Computer, platzierte Zubehör, stemmte die Hände in die Hüften. "Verflixt noch eins, wie hänge ich das alles dran?!" Cornelius entschied, Details zu erfragen, weil ihm sein Herzschlag in den Ohren dröhnte. "Entschuldigung, Frau Kappel, aber was bedeutet 'wir'?" Sie kramte in einer bunt beklebten Schachtel herum. "Oh, Verzeihung, ich hab die Hälfte ausgelassen, nicht wahr?! Also, wir sitzen hier, eure Pflegeeltern bei sich und jemand vom Familiengericht. Oh, und eure Mutter scheint sich beim Jugendamt eingefunden zu haben!" ~¢~ Glücklicherweise hinderte Junias sein spezialisiertes Interesse nicht an praktischen Erkenntnissen mit Hardware. Frau Kappels "Zubehör"-Kiste bot genug Möglichkeiten, Bild und Ton mit dem Computer zu verbinden, auch ohne Headset, das sie üblicherweise zu Video-Telefonaten nach Übersee nutzte. Cornelius hatte sich und Ruru im Rahmen ihrer Möglichkeiten herausgeputzt: einen guten Eindruck machen, verlässlich wirken, solide! Ruru saß auf seinem Schoß, umklammerte das Hasentuch. Cornelius' Anspannung färbte ab, wie ihm bewusst war, doch er konnte sich nicht einfach "locker machen". Nach einigen Augenblicken Startschwierigkeiten gelang es tatsächlich, alle Teilnehmenden in die virtuelle Konferenz einzubinden. Nicht gerade ein optischer oder akustischer Genuss wie bei Studioaufnahmen, doch man musste sich bescheiden, das angemeldete Zeitfenster beim Dienstleister auch nutzen! Nach den Präliminarien, die Angaben zu allen Personen enthielten, ging es auch gleich zur Sache: Cornelius' Aufnahme zur Pflege für mindestens ein halbes Jahr bei Henk und Luzie war abgesegnet, die Bescheide erstellt, staatlicher Vormund und mütterliche Erziehungsberechtigte hatten auf ihr Widerspruchsrecht verzichtet. Pünktlich zum nächsten Tag, dem ersten Mai, sollte der Vollzug, sprich die Umsetzung erfolgen. Leider, man bedaure sehr, müsse etwa bis Mitte des Monats gerechnet werden, bevor die Umsteuerung der staatlichen Leistungen... Henk und Luzie nickten bloß, sie schienen erfahren mit den "langsamen Mühlen" der Transferleistungserbringer. Punkt zwei, Inobhutnahme des jüngeren Bruders Sigur: man würde gern die unterschiedlichen Positionen... "Oh, hallo, ah, da würde ich gerade einhaken!" Cornelius hielt die Luft an. "Ich hab schon mit, ah, Yilderim, richtig? Klar, prima, mein Gedächtnis, echt! Also, mit Frau Yilderim gesprochen, vorhin. Und gestern. Also, ich hab nichts dagegen, ich meine, dass Ruru bei Conny bleibt!" Das perplexe Schnaufen mehrere Personen klang wie statisches Geknatter. "Gerad läuft es irgendwie total krass! Mit meinem Mann, und so! Der redet total abgedreht...uh, ich darf das sagen, oder?" Ihr aufwändig geschminkter Blick wandte sich Frau Yilderim zu, die man gerade nicht im Bild sah. "Ich mein, wenn man den anspricht, sagt der: 'Entschuldigung, ich bin ein Arschloch und brauche eine Therapie!' Sorry, aber GENAUSO läuft es! Und ich denk mir, vielleicht wär ne Therapie echt gut! Überhaupt muss ich auch mal an mich denken, mich auf die Reihe kriegen! Ich mein, Conny, du passt ja auf Ruru auf, okay? Dann kann ich wieder n Job kriegen und wenn ich n Job hab, ne Umschulung! Eigentlich könnt ich nämlich Makeup-Artist sein, wissen Sie?" Cornelius atmete tief durch. Inzwischen versuchte Frau Yilderim, die Situation aufzuklären. "Es stimmt, dass wir über Optionen gesprochen hatten." Setzte sie an, um das Familiengericht nicht in Harnisch zu bringen, die von dieser Entwicklung überrumpelt wurden. "Genau, echt, das war wirklich korrekt! Ich hab deshalb auch die beiden Zettel, na, diese Dinger hier mit, schon unterschrieben! Ich mein, kein Problem, wir können uns ja mal treffen und so. Also, wenn das wegen dem Corona-Ding-Lockdown geht!" Ihre Bildübertragung wurde unterbrochen, während das Kamerabild für einen Moment exquisit gestaltete Fingernägelaufsätze und Papier einfing. "Ja, aber..." "Find ich genial, dass Sie Platz haben! Ruru und Conny sind nicht verwöhnt, oder so. Ich kann mich echt drauf verlassen, dass die nix anstellen, klauen oder kiffen, oder so. He, Ruru, hast du dich gekratzt? Conny, du cremst ihm das ein, ja?" Cornelius nickte, weil er seiner Stimme nicht traute. "Wir nehmen Cornelius und Ruru sehr gern bei uns auf." Mischte Luzie sich ein, ein verräterisches Zucken des Amüsements um ihre Mundwinkel. Beim Familiengericht hörte man ein scharfes Zischen, da verabschiedete sich unerwartet die Verbindung. "Hoppla." Kommentierte Frau Kappel, die bisher eisern geschwiegen hatte. Frau Yilderim wirkte hilflos, tippte auf dem eilig organisierten Laptop herum. "Da scheint etwas abgestürzt zu sein. Warten wir doch einen Moment, bitte?" "Is wahrscheinlich so ne Überlastung. He, Conny, ruf mich an, wenn du für Ruru Zeug abholen willst, ja? Könnte sein, dass ich gleich nen Job bekomme! Und irgendwie wär's, glaub ich, besser, wenn wir uns allein treffen." Dabei zwinkerte sie verschwörerisch mit unnatürlich dichten, sehr langen Wimpern. "Natürlich, ich rufe vorher an." Brachte Cornelius hervor. "Okay, gebongt! Ruru, du hörst auf Conny, ja? Keinen Ärger machen." Ruru drückte sein Hasentuch. "Nein, Mama, ich bin brav und höre auf Nelli." Versprach er eilig. "Cool! Dann können wir Schluss machen, oder? Zieht hier nämlich total..." Damit fiel auch die Übertragung aus den Räumen des Jugendamtes aus. "Hoppla." Wiederholte Frau Kappel gedehnt. "Ich nehme mal an, wir fliegen auch gleich raus, weil unsere Gastgeber nicht mehr eingewählt sind." Vermutete Luzie, während Henk neben ihr die Schnurrbartenden zwirbelte. "Wollt ihr heute einziehen, Jungs? Ich würde Junias losschicken, damit er euch hilft. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Frau Kappel?" Frau Kappel zwinkerte. "Ich werde die Gesellschaft zwar vermissen, aber wir sollten diese glückliche Fügung nutzen. Außerdem funktioniert zumindest zwischen uns die normale Kommunikation." Fügte sie trocken an. Luzie lachte ungeniert auf, bot den Hasenpower-Gruß. "Bis später, ihr Lieben!" Nacheinander loggten sie sich aus. Cornelius holte tief Luft, registrierte, dass er völlig verkrampft vor Anspannung war, keine klare Sicht mehr hatte. "Alles gut, Nelli, alles gut!" Tröstete Ruru ihn, der sich auf seinem Schoß herumgedreht hatte, nun dort kniete, ihn umarmte. "...ja." Wisperte Cornelius erstickt. "Alles ist gut." ~¢~ Sie hatten kaum das Packen abgeschlossen, da stand auch schon Junias vor dem Haus, mit seinem Fahrrad, bereit und willens, dort die Lasten aufzuladen. Der Abschied verlief herzlich. Frau Kappel sicherte ihre weitere Unterstützung zu, sollte diese erforderlich werden. Adam, den die Geräusche neugierig gemacht hatten, bekundete sein Bedauern. Jetzt müsse er sich wieder mit sich selbst amüsieren, was sehr langweilig sei! Cornelius versprach, sich digital zu melden, um ein wenig Unterhaltungswert aufrechtzuerhalten, was das breite Grinsen auf Adams Gesicht wieder hervorlockte. "Danke, das ist super! Je mehr Freunde im echten Leben, umso besser!" Betonte er, flankierte Frau Kappel, die ihnen hinterher winkte, bis sie das Ende der Straße erreicht hatten. Junias blieb erstaunlich wortkarg, balancierte das Fahrrad aus, auf dem er Cornelius' Sporttasche und Rurus Kindertrolley transportierte. Rucksack und Umhängebeutel trugen ihre Eigentümer selbst. Cornelius war sich nicht sicher, ob er sich vor Ruru bei Junias bedanken sollte. Sein kleiner Bruder schien allzu aufgeweckt, Dinge aufzuschnappen, die man nicht leicht würde erklären können. "Hast du die Videokonferenz auch verfolgt?" Riskierte er deshalb vorsichtig einen Einstieg. "Aus dem Hintergrund, falls es an unserem Ende technische Probleme geben sollte." Cornelius blieb beim Thema. "Wenn ich das richtig verstanden habe, bleiben Ruru und ich erst mal für ein halbes Jahr zur Pflege." "Würde ich auch annehmen." Kommentierte Junias knapp. "Magst du uns lieber nicht da haben?" Wagte sich Ruru tollkühn aus der Deckung. Das veranlasste Junias, ihm tatsächlich ins Gesicht zu sehen. "Doch, natürlich möchte ich, dass ihr bei uns lebt!" "Dann ist dein Kopf immer noch voll, wie gestern?" Eruierte Ruru unerschrocken die Ursache der bescheidenen Stimmung. Junias hielt an der Kreuzung an. "Das auch. Aber ich muss mich gerade zwingen, höflich zu sein, und das ist wirklich anstrengend." Cornelius runzelte die Stirn. "Also, uns gegenüber..." "Herrjemine, ich KANN nicht länger schweigen! Ist das eine hohle Nuss! Hübsch, ja, aber HOHL!" Fauchte Junias, atmete tief durch, als entweiche ihm erheblicher Druck. Rurus fragenden Blick spürend grimassierte Cornelius beschwichtigend. "Das nehmen wir zur Kenntnis, und jetzt geht es dir besser, oder?" Schnaubend funkelte der ihn aus burgunderroten Augen an. "Graduell!" Damit beschleunigte er, um vor ihnen einen Weg zu bahnen. "Warum ist er so böse?" Erkundigte sich Ruru gedämpft. Cornelius zog eine Grimasse, beugte sich herunter, nahm Ruru auf den Arm. "Also, ich glaube, er ist ein bisschen unleidlich. Am Besten, wir lassen ihn etwas in Ruhe, damit er sich besinnen kann." Ruru erwog diesen Vorschlag. Bevor Cornelius erleichtert ein anderes Sujet ansprechen konnte, hakte er nach. "Wer ist eine hohle Nuss, Nelli?" Unbehaglich erinnerte sich Cornelius daran, dass er seinen kleinen Bruder nicht belügen wollte. "Ähem, das war nicht so gemeint, Ruru." Aber der prüfende Blick ließ nicht locker. "Ich glaube...vielleicht...hat ihm nicht gefallen, was Mama gesagt hat." Gab sich Cornelius geschlagen. Ruru runzelte die Stirn. "Es ist nicht nett, so was über Mama zu sagen!" Stellte er empört fest. Hin und her gerissen sah sich Cornelius genötigt, für Junias' Ausbruch ein Argument zu liefern. "Vielleicht fand er nicht richtig, dass sie nicht viel zu den Schrammen gesagt hat, Ruru. So könntest du dich gar nicht kratzen." Sie erreichten bereits den Kreisel, Junias weiterhin vorneweg, mit dem Fahrrad ihr Gepäck transportierend. Angespannt wartete Cornelius auf Rurus Urteil. Er spürte, wie sein kleiner Halbbruder die Lage überdachte, final beide dünnen Arme um seinen Nacken schlang, sich anschmiegte. Cornelius seufzte lautlos. "Sie meint es nicht böse, Ruru. Manchmal verliert sie einfach die Übersicht." Tröstete er hilflos. Er vermutete stark, dass Junias ihm zu diesem Thema auch noch Einiges zu sagen wünschte. ~¢~ Ruru hielt es sehr vorbildlich aus, "sein" Bett in ihrem neuen Zimmer auszuwählen, im Badezimmer seine Habseligkeiten zu deponieren. Henk hatte vorausschauend einen leichten Schemel organisiert, damit er Toilette und Waschbecken ohne Verrenkungen nutzen konnte. Danach ließ Cornelius ihn von der Kette des Anstands. Eilig stürzte Ruru prompt an Henks Seite, wollte erst nach seiner Ananasminze sehen, aber ganz unbedingt noch vor dem Mittagessen in den Garten! Luzie schloss sich Cornelius an, der entschied, ihre Sachen zu verstauen. Allzu zeitig wollte er Junias nicht Gelegenheit geben, die unerfreuliche Laune auszutoben. "Na, das bekommen wir alles bestimmt unter, ist ja nicht so viel." Stellte Luzie fest, die energisch ihren "Schnodderlappes" in eine Kittelschürzentasche verbannt hatte. EIN Haushalt! Cornelius nickte langsam. "Ruru hat nicht so viel eingepackt." Wies er auf den lädierten Kindertrolley. "Lohnt es sich, den Rest bei eurer Mutter rasch abzuholen? Wenn nicht gerade 'unpassende Begegnungen' anstehen?" Luzie kam ungeniert zum Kern. Etwas unbehaglich rollte Cornelius mit den Schultern. "So viel ist es nicht, möglicherweise eher Tauschware." "Was ist mit Spielsachen? Das stört uns nicht, wirklich, hab keine Hemmungen!" "Also..." Aber es half nichts, man musste in den essigsauren Apfel beißen! "Wir haben keine Spielsachen. Zuhause, meine ich. Ruru hat das Hasentuch. Sonst basteln wir ein bisschen was, wenn wir unterwegs sind." Sich die sehr wirren Locken raufend schnalzte Luzie mit der Zunge. "Herrjemine, da hab ich dich ganz schön in Verlegenheit gebracht! Das tut mir leid, Cornelius. Da wollen wir uns mal beizeiten zusammensetzen und schauen, was Ruru so braucht, ja? Flohmärkte wird es wohl eine Weile nicht geben, aber Tauschbörsen im Internet! Leider haben wir gar keine Reserve für so kleine Jungs." Sie zwinkerte aufmunternd, um ihn aufzuheitern. Cornelius nickte rasch. "Ich habe auch ein paar Mitschüler mit jüngeren Geschwistern. Wir tauschen uns manchmal aus, da könnte ich auch Tipps bekommen." "Das wird schon!" Klopfte Luzie ihm aufmunternd auf die Schulter, sich dabei auf die Zehenspitzen stellend. "Möchtest du noch einen Augenblick hier bleiben? Ich gehe schon mal runter, nach unserem Mittagessen sehen." Dankbar nickte Cornelius, trat dann ans Fenster ihres neuen, gelb-grünen Zimmers, atmete noch mal tief durch. Ihm war fast schwindelig vor Erleichterung, dass sie jetzt zusammen tatsächlich hier waren. Natürlich nur auf Zeit, richtig, doch der Anfang war geschafft! Er fuhr erschrocken herum, als die Tür ins Schloss fiel. Junias funkelte ihn an, wirkte bis in die silbergrauen Lockenspitzen aufgeladen. "Danke. Danke, dass du das..." Setzte Cornelius eilig an. "Erinnerst du dich?! Am Besten funktioniert es mit Anregungen, die dem eigenen Interesse entsprechen?!" Zischte Junias frostig. Cornelius' Schultern sackten herab. "Ja, richtig, aber, weißt du..." Versuchte er es erneut. "Ich hätte ihr beinahe ein OHR zuhalten müssen, damit sie es begreift!" Fauchte Junias, hielt energisch auf ihn zu. "Also, sie macht das ja nicht absichtlich." Bemühte sich Cornelius um eine Verteidigung. Er erinnerte sich AUCH daran, Junias auf gewisse Hindernisse bei der Kommunikation hingewiesen zu haben! "Hör auf, diese beiden geistigen Einzeller zu verteidigen!" Herrschte ihn Junias aufgebracht an. "Alles haben sie DIR überlassen, du musstest der Erwachsene sein!" Cornelius zuckte unwillkürlich zurück, konnte Junias' Empörung nicht nachvollziehen. Außerdem erschien es ihm seltsam, dass ein Lamia, der mit zehn Jahren allein zurechtkommen musste, nun...! Plötzlich kam ihm ein Gedanke: war Junias "unterversorgt", zusätzlich noch überfordert mit unerwartet heftiger Parteinahme? Der schnaubte gerade, mutmaßlich weitere Ausführungen im Anschlag. Vorschnellend zog Cornelius ihn in die Arme, hielt ihn sehr fest umschlungen. "Danke, Junias, vielen Dank! Ohne dich hätte es nicht funktioniert!" Lieferte er Steilvorlagen, hoffte, dass "sein verführerischer Duft" auch Wirkung tat. "PAH!" Fauchte es an seinem Ohr, nicht Wimpernschläge später, spürte er erst kalte Lippen, anschließend einen leichten Druck an der Halsbeuge. Nach der "Blutspende" wollte Junias sich losmachen, aber Cornelius gab nur so weit nach, wie er die richtige Distanz fand, Junias' kalte Lippen anzusteuern. Der hätte ihn natürlich mühelos wegstoßen, sich befreien können. Nichts dergleichen geschah, dafür "spürte" Cornelius eine Ausweitung seiner Sinne. Empörung, Verunsicherung, Ratlosigkeit, Verlangen: ein wildes Durcheinander nicht sonderlich zahmer Empfindungen. Kein Wunder, dass Junias so durch den Wind war! "Das sollte nicht passieren!" Schimpfte der leise an seinem Hals. "Es ist gefährlich, und ich kann es nicht kontrollieren, und ich bin wütend!" Klopfte er mit beiden Fäusten gegen Cornelius' Oberarme, jedoch zurückgenommen. "Tut mir leid." Raunte Cornelius, wartete auf den Moment, wo Junias ihm endlich ins Gesicht sah. "Zusammen schaffen wir das, ganz sicher." "Aha?! Wenn du mir jetzt noch erzählst, ich sollte literweise Baldriantee schlürfen...!" Ein Grinsen unterdrückend schüttelte Cornelius den Kopf. "Das hilft gegen Verliebtsein nicht." ~¢~ "Ich werde mich ein wenig hinlegen. Die Witterung scheint mir nicht zu bekommen." Murmelte Junias, der beim Mittagessen sehr zurückhaltend war, sich auch nicht am Gespräch beteiligte. Cornelius seufzte stumm. Nachdem Junias ihn mehr als schwungvoll zurückgestoßen hatte, konnte man keine vertrauliche Unterhaltung führen. Zugegeben, es kam nicht gerade einem Kompliment gleich, so heftig zurückgewiesen zu werden, doch wenigstens hatte das Bett ihn abgefangen. Er konnte noch einen Hauch Verstörung "spüren". Er entschied, seine Kontakte zu aktualisieren, den Rest seiner Hausaufgaben zu erledigen, sich an eine Routine in diesem Haus zu gewöhnen. Ruru hielt Siesta, wich anschließend Henk nicht von der Seite. Sie wirkten auf verblüffende Weise wie ein eingespieltes Team. Luzie, die ihrem Beruf nachging, lachte auf Cornelius' beeindruckten Blick hin. "'Botanisch', das hat Ruru richtig erkannt! Gärtner unter sich haben so ihre Geheimsprache, selbst wenn sie gar nichts sagen, über Stunden nicht. Mach dir keine Gedanken, Cornelius, die sind in ihrem Element. Wir bekommen anschließend die leckeren Ergebnisse!" Zwinkerte sie ihm schelmisch zu. Das musste er ohne beschämende Anfälle von Eifersucht anerkennen. Was aber sollte er nun mit sich anfangen? Flucht in Haushaltsarbeiten fiel aus. Was tat man so, wenn man Freizeit hatte? Vielleicht etwas lesen? Ein wenig linkisch studierte er das Angebot der Regale, zog vorsichtig ein mitgenommenes Märchenbuch heraus. Richtig, er war Ruru ja die Geschichte vom gestiefelten Kater schuldig geblieben! "Darf ich mir das Buch hier ausleihen?" Erkundigte er sich bei Luzie. "Oh, natürlich, du darfst dir jedes Buch hier ausleihen, nur zu. 'Denn zum Lesen sind sie da', ist unser Motto!" Lachte sie, verwies auf ein kleines, verziertes Brettchen am Kopfende eines der Regale. Cornelius nickte, bedankte sich und entschied, im Baumhaus der Lektüre zu frönen. ~¢~ Als Cornelius das Baumhaus erklettert hatte, stutzte er. Junias warf ihm einen burgunderroten Blick zu, schnaubte. "Tut mir leid, ich dachte, du wärst in deinem Zimmer." Begann Cornelius. "War ich auch. Aber dann hat mir jemand eine Vanilleblume im Topf vor die Tür gestellt!" Grollte Junias, sich von ihm abwendend. "Er hat es nur gut gemeint." Wagte Cornelius eine Vermutung, wer der Wohltäter wohl gewesen sein könnte. "Weiß ich selbst!" Fauchte Junias, presste die Fäuste gegen die Schläfen. Ratlos ging Cornelius in sicherer Entfernung in die Hocke. "Ich will, dass das aufhört." Murmelte Junias. "Kann ich etwas tun? Wenn du mir erklärst..." "Verdammt, Cornelius! Ich KANN das nicht erklären!" Zischte Junias ihm ins Gesicht. Üblicherweise hätte so eine Reaktion einen indignierten Rückzug mit sich gebracht, doch Cornelius hörte die Verzweiflung in Junias' Stimme. Keine Spur mehr seiner souveränen Selbstsicherheit. "Warum sollten Lamia sich nicht in Menschen verlieben können? Was trennt uns denn schon?" Junias funkelte ihn an, tatsächlich Tränen in den burgunderroten Augen. "Ach, und ist es vorbei, zieht Mensch weiter, kein Problem! Aber was, wenn ich keinen Ersatz finde?! Wenn es danach nicht mehr passt, wenn ich daran verrecke?! Du hast überhaupt keine Ahnung!" Cornelius starrte ihn verblüfft an. "Du meinst, es gibt eine eindeutige Prägung?! Aber das ist doch bloß Blut, ich meine...?!" Stotterte er verwirrt. "Fühlt sich aber NICHT danach an!" Schniefte Junias empört, wischte sich wütend mit dem Handrücken über die Augen. "Hoppla." Kopierte Cornelius in ungewollter Komik Frau Kappels Ausspruch. Er ließ sich neben Junias nieder, das Buch ablegend. "Vielleicht ist es ja hormonell bedingt? So schnell gehe ich nicht weg." Wagte er einen neuen Anlauf. "Davon war nie die Rede! So was sollte nicht passieren! Überhaupt, dass ich es nicht rückgängig machen kann!" Beschwerte sich Junias unleidlich, schnüffelnd. "Kann sein, dass deine Mutter darüber nicht Bescheid wusste, weil niemand ihr etwas gesagt hat." Voluntierte Cornelius hilflos. "Ich muss das irgendwie unter Kontrolle bekommen." Flüsterte Junias neben ihm, als habe er gar nicht zugehört. "Könnte auch Stress sein." Versuchte es Cornelius mit einem weiteren Testballon, ob Junias ihn noch wahrnahm oder schon wieder in sein Elend abgedriftet war. "Nein, die Indizien sprechen dagegen." Antwortete Junias ihm überraschend, sich fahrig durch die silbergrauen Locken streichend. "Am Montag, nach meiner Mission bin ich zufällig einer ehemaligen Mitschülerin begegnet, die ihren Hund ausführte. Das wäre eine gute Gelegenheit, nicht das erste Mal, aber ich spürte bloß Unlust. Als ob ich nur noch Appetit auf diesen Rausch hätte." Ihn schauderte es merklich. "Rausch? Wirkt mein Blut wie eine Droge?!" Erkundigte sich Cornelius irritiert, erntete dafür einen Ellenbogenstoß in die Seite. "DAS sollte auch nicht so sein! Vorher ist das nie...! Und es beeinflusst mich, und ich werde ganz wirr!" Beklagte sich Junias aufgebracht, wandte sich zu ihm um. "Ich WEISS, dass ich mich verstecken und aufpassen muss! Aber das klappt nicht richtig, weil.. oh, verdammt! Ich werde wütend und ungeduldig und unbeherrscht...!" DAS konnte Cornelius kaum übersehen, doch Junias schien nun sämtliche Schleusentore zu öffnen. "Ich hab sie gefragt! Nach deinem Vater, deinem Namen! Aber sie ist HOHL! Verdrängt, vergessen, weggezaubert: ihr Kopf ist LEER! Stattdessen dieser ganze Makeup-Artist-Mist! Ganz zu schweigen von diesem primitiven, verklemmten, minderbemittelten, erbärmlichen Wicht von Ehemann! Es ist ein WUNDER, wie bei solch verkorkstem Ausgangsmaterial jemand wie Ruru entstehen konnte!" Explodierte er neben Cornelius, die Fäuste geballt. Cornelius umschloss sie mit seinen Händen. "Junias, ich weiß, dass sie nicht besonders klug ist. Nur, bitte, wiederhole das nicht vor Ruru, ja? Er kommt schon von selbst dahinter, ohne in noch mehr Loyalitätskonflikte zu geraten." Junias schnaubte wie unter Dampf. "Schön, bitte sehr! Darf ich es trotzdem erbärmlich finden?! Wütend sein, weil ich es scherzhaft meinte und du TATSÄCHLICH alleinerziehender Vater bist?! All dieser MIST! Mein Kopf dröhnt davon, und ich kann mich nicht beruhigen...!" Cornelius wechselte entschlossen in eine Umarmung, zog sich Junias auf die Oberschenkel. Der schimpfte, schluchzte, hielt ihn jedoch ebenso umklammert. Konnte es sein, dass aus unerfindlichen Gründen mit der "Blutspende" mehr übertragen wurde? Unterdrückte Gefühle, wirkmächtige Hormone, andere chemische Botenstoffe? Jedenfalls konnte er Junias' Angst nun besser nachvollziehen. Für den musste es sich ja so anfühlen, als wäre alles außer Rand und Band, ohne Absicherung. Seinetwegen. "Ich geh nicht weg, Junias. Ab jetzt ist mein Leben wieder geregelter. Gemeinsam finden wir heraus, wie wir damit umgehen, in Ordnung? Vielleicht hilft ja eine Ernährungsumstellung?" An seinem Hals gluckste Junias erstickt. "Du bist schon wieder so enervierend vernünftig und erwachsen!" Grummelte er, atmete tief durch. "Ich komme mir vor wie ein Zombie! Fremdgesteuert und ausgelaugt und...verdammt!" Cornelius löste einen Arm, um über Junias' Rücken zu streichen, eine hilflose Geste. "Du glaubst, das kommt alles über mein Blut?" Gar kein schmeichelhafter Gedanke! Junias schnaubte. "Mir fällt keine andere Erklärung ein. Ich will nicht SO sein, doch ich kann mich nicht einfangen!" Cornelius arrangierte sich, bis er Junias Blickkontakt aufnötigen konnte. "Lass uns versuchen, ob es besser wird, wenn wir teilen." "Teilen? Wie meinst du..." Um Diskussionen abzukürzen küsste Cornelius Junias ausdauernd, umschmeichelte dessen kalte Zunge. Erneut "spürte" er das aufgewühlte, zerrüttete Nervenkostüm, aber auch Verlangen, um nicht zu sagen Lust und Begierde. Nun, das konnte kaum überraschen, immerhin waren sie beide jung, in guter Verfassung... Bevor unvermeidliche Kompensationshandlungen notwendig wurden, stemmte Junias ihm die Hände gegen den Brustkorb. Sich die Lippen leckend erwartete Cornelius die nächste Standpauke. "Du bist viel zu geübt! Macht dir DAS gar nichts aus?!" Junias wirkte jedoch nicht so aufgebracht wie zuvor, eher planlos und verlegen. "Dich küssen? Weil wir beide Jungs sind?" Mit einem schiefen Lächeln quittierte Cornelius diese Aspekte. "Möglicherweise sollte es mir was ausmachen, tut es aber nicht. Kann ja sein, dass DU umgekehrt auch auf mich einwirkst, oder?" "Ich?!" Empörte sich Junias. "Ich HAB dir schon gesagt, dass ich dich nicht beeinflussen kann! Das geht nicht mehr!" Bevor er eine weitere Tirade abfeuern konnte, merklich wieder in Harnisch gebracht, lachte Cornelius entwaffnend auf. "Damit meinte ich eigentlich nicht deine besonderen Fähigkeiten, sondern schlicht die Biologie, wie bei Menschen eben. Wenn man sich riechen und schmecken kann." Nicht nur sprichwörtlich, auch wenn er Kannibalismus kategorisch ausschloss. Junias blickte ihn an, eine Ahnung von Unbehagen verströmend. "Also, das sollte gar nicht funktionieren." Murmelte er schließlich. "Oder nur nicht bis zum Beweis des Gegenteils." Spornte Cornelius mit naturwissenschaftlichem Grundsatz an. Seufzend sackte Junias in sich zusammen, lehnte sich auf Cornelius. "Alles ist so gruselig durcheinander!" Jammerte er unleidlich. Die Arme um ihn schließend tröstete Cornelius mitfühlend. "Nur im Augenblick. Wir entwirren das schon." Er verspürte eine ermutigende Zuversicht. Wenn es Liebe sein sollte, körperliche Anziehungskraft, ließe sich das schon auf die Reihe kriegen! Andere schafften das auch! ~¢~ Kapitel 19 - Miese Märchen und lausige Legenden Seine Intervention zeigte bis nach dem Abendessen Erfolg: Junias wirkte zwar noch mitgenommen, aber nicht mehr so vergrätzt wie zuvor. Cornelius befand, es ginge auf die Schlafenszeit für Ruru zu. Der spektakelte nicht, sondern ging brav zur Toilette, putzte sich die Zähne, schlüpfte in ein ausgeleiertes T-Shirt und Leggings. Vorsichtshalber hatte Cornelius ein altes Handtuch und die Mülltüte unter das Bettlaken platziert. So viel Aufregung und Neues, da konnte schon mal ein Malheur auftreten. "Ich hab mir unten ein Buch geliehen, da ist auch die Geschichte vom gestiefelten Kater enthalten." Kündigte er an, setzte sich neben Ruru, legte den Arm um ihn. Nachdem er jedoch die Hälfte der spärlichen Zeilen absolviert hatte, signalisierte Ruru eindeutig Unmut. Zunächst mal die Sache mit den Handschuhen! Was waren denn DAS für seltsame Ideen, aus einer Katze Handschuhe machen zu wollen?! Und dann war das gar keine richtige Katze! Die wäre ohnehin weggelaufen. Außerdem erschloss sich ihm überhaupt nicht, warum sie dem jüngsten Sohn half, so, als könne der absolut gar nichts selbst. Cornelius kapitulierte. "Also...oh, wie wäre es damit? Hans und die Bohnenranke?" Zumindest die erste Illustration schien eher in Rurus Interessenfeld zu fallen. Leider erlitt Cornelius auch mit diesem Märchen Schiffbruch, weil dieser Hans auch nicht klug war, die Bohnenranke kaum vorkam und nur Steighilfe war, um einen Riesen zu beklauen und abzumurksen. Wobei auch noch die Bohnenranke dran glauben musste! "Aber das ist alles nicht richtig!" Empörte sich Ruru, zwar müde, aber rechtschaffen enttäuscht. "Die Bohnenranke kann gar nicht einfach so hochwachsen! Wo ist das Gerüst? Wieso stiehlt dieser Hans Goldmünzen von einem Riesen?! Die müssten riesig groß sein, oder? Wie hat er sie dann getragen? Stehlen ist außerdem nicht richtig." Cornelius nickte, denn er konnte Ruru kaum widersprechen. "Stimmt, das ist alles sehr undurchsichtig." "Das sind keine Leute, die ich mag. Stehlen und dabei helfen und nur gemeine Sachen machen!" Entschieden klappte Cornelius das Märchenbuch zu. "Du hast recht, Ruru. Ich laufe rasch runter und leihe ein anderes Buch." Vertröstete er Ruru, flitzte die Stiege herunter und betrat, nach leichtem Klopfen, die Wohnküche. Henk saß an seinem eher kantigen Schreibtisch, während Luzie über einem großem Tablett mit Essstäbchen Keramikscherben sortierte. "Entschuldigung, ich brauche ein anderes Buch." Läutete Cornelius sein Entree ein, da sie sich eigentlich schon für die Nacht verabschiedet hatten. "Oh, mag Ruru keine Märchen? Zu Prinzessinnen-lastig?" Luzie zwinkerte, was Cornelius einlud, seine missglückten Vortragsversuche zu beichten. Vom Schreibtisch her hörte er Henk leise lachen. Besonders Rurus Empörung über die vollkommen unrealistischen Wachstumsbedingungen für die Bohnenranke schien ihn prächtig zu unterhalten. Er trat an die gewaltige Regalwand, wählte geübt einen kleineren Band aus. Ein Sachbuch. Über Gemüseanbau. "Das könnte vielleicht seinem Geschmack entsprechen." Überreichte er Cornelius den Band, ein Schnurrbartende zwirbelnd, die Augen amüsiert funkelnd. "Hast du ihm jeden Abend was vorgelesen?" Luzie fand das vorbildlich. Erneut sah sich Cornelius zu einer Korrektur gezwungen. "Nein, eher selten. Meist haben wir uns über den Tag unterhalten, bis er eingeschlafen ist. Zu Hause habe ich nur hin und wieder Schulbücher gehabt. Die Magazine unserer Mutter waren nicht so fesselnd." Luzie gluckste. "Das kann ich mir vorstellen. Da wünsche ich gutes Gelingen, Cornelius. Ich habe so das Gefühl, dass 'Botanisch' Ruru durchaus zum Lesen verleiten wird." Den Eindruck pflegte Cornelius auch, als er die Stiege erklomm. Ruru blieb entschlossen am Ball, wenn ihn etwas interessierte. Den erneuten Anlauf wagend ließ er sich auf Rurus Bett nieder, hob den Arm, damit der sich ankuscheln konnte. "Henk hat mir dieses Buch empfohlen. Es geht um Gemüseanbau, wie hier im Garten." Er blätterte auf. "Was meinst du, wollen wir uns heute das Kapitel über die Bohnen ansehen?" Das sollte hoffentlich die Scharte des Märchens ausmerzen. ~¢~ Cornelius blieb noch eine Weile auf Rurus Bettkante sitzen, wartete, bis der auch wirklich tief schlief. Das machte ihm nichts aus, entsprach ihrer Gewohnheit. Zudem hatte er das Zimmer nicht vollends verdunkelt, damit Ruru sich orientieren konnte. Er erhob sich, verließ leise ihr Zimmer, klopfte behutsam an das benachbarte Türblatt. "Komm rein." Hörte er Junias' gedämpfte Aufforderung. "Wie geht es dir?" Erkundigte Cornelius sich, lehnte die Tür nur an, falls Ruru unerwartet aufwachen sollte. Junias seufzte. "Ich kann nicht schlafen. Mein Schädel brummt. Die Gesamtsituation ist EXTREM unbefriedigend." Endete er mit einem recht giftigen Urteil. Cornelius lud sich auf die Bettkante ein, nahm Platz. "Danke, dass du die Vanilleblume rein genommen hast." So konnte Ruru seinen Beitrag gewürdigt fühlen. Den Kopf in den Nacken legend schnaubte Junias. Cornelius studierte ihn schweigend. "Was?" Grummelte Junias schließlich, richtete die burgunderroten Augen auf ihn. "Willst du mit mir gehen?" Junias blinzelte, die Mimik unleserlich, doch in der Gestik unmissverständlich: er rammte die Hände flach auf die Matratze. "Ist das wieder einer deiner Anflüge von überzogenem Verantwortungsbewusstsein?! Bin ich nicht schon durch den Wind genug?" Ätzte er herausfordernd. Cornelius kaperte eine der kalten Hände. "Zu einem Teil BIN ich verantwortlich, aber die Mehrheit der anderen Teile findet, dass es DIE Lösung ist. Wir haben einen Pakt, oder nicht? Zumindest auf meiner Seite stimmt die Biochemie. Ich mag dich. Jetzt darfst du deine Argumente anbringen." "Oh, großzügig, danke!" Fauchte Junias, quetschte Cornelius die Hand. "MEINE Biochemie hat aber offenbar eine Macke! Ich kann gar nicht verliebt sein! Das ist irrational, unlogisch, potentiell gefährlich, von wahnhaftem Erleben begleitet." Zählte er aufgebracht auf. Cornelius neben ihm seufzte beipflichtend. "Ja, da gebe ich dir recht. Allerdings fühle ich mich gerade nicht verrückt oder so überdreht, wie man das in Filmen sieht. Das könnten allerdings auch bloß Erfindungen sein." Junias presste die Lippen aufeinander, wandte den Kopf ab. "Was soll das überhaupt bringen, miteinander gehen?" Cornelius lächelte, strich mit der freien Hand über ihre klammernden, wettstreitenden Hände. "Na ja, ich könnte dich anfassen, wenn mir danach ist, unsere Gefühle synchronisieren oder erden, wenn wir 'durch den Wind sind.' Du könntest Vertrauen in mich aufbauen." "Pah! Du willst mir bloß an die Wäsche!" Behauptete Junias streitlustig. "Das auch." Gab Cornelius ungeniert zu. Warum etwas leugnen, was sich höchstens mit Pluderhosen tarnen ließ? "Aber ich bin ein Lamia!" Protestierte Junias, ihn endlich wieder adressierend, die freie Hand zur Faust geballt. "Das sehe ich." Nickte Cornelius. "Ich bin pragmatisch. Wir müssen unsere Beziehung ja nicht plakatieren. Außerdem lernen wir uns auch gerade erst näher kennen. Trotzdem, was spricht dagegen?" Junias schnappte nach Luft, im Begriff, eine ganze Tirade samt Fußnoten herauszufeuern, sackte jedoch bloß wort- und mutlos in sich zusammen. Ja, in Anbetracht der Selbstbeschreibung des einsamen Jägers auf der steten Pirsch schien es unmöglich, das potentielle "Mahl" als gleichwertigen Gegenüber anzusehen, wenn man "Nahrungsketten" hierarchisch dachte. Doch dieser Standpunkt war längst überholt, da unvollständig und von nicht-wissenschaftlichen Scheuklappen eingeschränkt. "Lass es uns versuchen, Junias. Schritt für Schritt." Erwartungsvoll blickte Cornelius auf die silbergrauen Locken, da Junias den Kopf gesenkt hielt. "Du machst dir KEINE Vorstellungen davon, wie es mich nervt, dass du so erwachsen agierst!" Knurrte es unter dem Lockenvorhang hervor. Diese Beschwerde löste bei Cornelius ein erleichtertes Auflachen aus. "Doch, ich kann es mir vorstellen, wirklich! Nur habe ich andere Reaktionen schon vor einer ganzen Weile verlernt. Du könntest mir dabei helfen, sie wiederzufinden." Junias schnaubte, hob dann den Kopf an. "Hab ich eine Wahl?" Seufzte er müde, die Schultern herabsinkend. Cornelius verspürte eine Welle von Mitgefühl. Unbeabsichtigt hatte er Junias' gesamtes Welt- und Selbstbild erschüttert. "Du kannst in Ruhe darüber nachdenken. Damit du schlafen kannst, bin ich hier." "Sag nicht, du willst mir auch was vorlesen!" Hörte er Junias' matten Spott. "Nein." Schmunzelte Cornelius, der seine Quote bei der Lektüre nicht ohne Not verschlechtern wollte. "Aber wir könnten dort weitermachen, wo wir heute Nachmittag aufgehört haben." Schlug er lächelnd vor. Hier war es auch etwas gemütlicher als auf den Sisalkissen im Baumhaus. ~¢~ "Wie bitte?!" Junias starrte ihn an, die Stimme entgeistert, die Mimik gewohnt ausdruckslos. "Nur, weil ich keine Migräne bekommen kann...!" Legte er los, ein altes Klischee bedienend. Cornelius drückte seine kalte Hand. "Bist du sicher?" "Sicher bin ich sicher!" Fauchte Junias, rieb sich mit der freien Hand die Nasenwurzel. "Ich werde NIE krank! Das ist gar nicht vorgesehen!" Aber er fühlte sich, auch wenn Cornelius es nicht direkt sehen konnte, wohl gerade äußerst bescheiden. Und darob erschrocken. "Hmm, vielleicht hilft eine Massage. Streck dich aus, ja?" Erhob Cornelius sich, gab Junias' Hand frei. Dessen burgunderrote Augen wirkten trüb, aber durch die zusammengezogenen Augenbrauen grimmig. "Was GENAU beabsichtigst du damit?!" Sich die eigenen Hände dehnend, zwecks Wärmeenergie reibend lächelte Cornelius. "Massage. Ganz vorsichtig, in Ordnung? Kopf und Schultern. Keine Sorge, ich bin recht geübt." "Ach ja?! Darf man fragen, woher diese Expertise stammt?!" Junias saß noch immer, funkelte zu ihm auf. "Angewandte Praxis 'Babymassage für Eltern'." Antwortete Cornelius, rollte seine breiten Schultern aus. "Ausstrecken, bitte." Widerwillig folgte Junias seiner Aufforderung, ballte die Fäuste. "Augen zu und langsam atmen. Tief, bis in die Zehen." "Da hab ich keine Lungen!" Grollte Junias aufgebracht, senkte aber die Lider. Am Kopfende des Betts Platz nehmend schob Cornelius vorsichtig eine Hand unter Junias' Genick. Nur leicht überstrecken... Und sich in Geduld üben, in Anbetracht der völlig verkrampften Schultern! Mit den Fingerspitzen begann er sanft, über Junias' Gesicht zu streichen. "Nicht die Luft anhalten, bitte." Korrigierte er sanft. "Ursächlich war eigentlich die Krankenkasse, weißt du? Na ja, eher die Konditionen, die Leistungen, die man selbst zahlen muss." Cornelius registrierte ein leichtes Nachlassen der Verspannung in Junias' Genick. Das spornte ihn an, seine Bemühungen fortzusetzen. "Tatsächlich ging schon vorher Einiges schief. Eigentlich sollte es so wie im Bilderbuch, na ja, eher im Film laufen: Mama und Papa im Kreissaal, alle sind glücklich und gerührt." Er seufzte leise, kämmte kurz durch Junias' silbergraue Locken, bevor er die Kiefersehnen ansteuerte. "Ich war technisch gesprochen zwar dabei, aber meine Geburt war wohl 'natürlich'. Bei Ruru wurde ein Kaiserschnitt vorgesehen, alles ordentlich mit Termin, weniger Umstände. Der werdende Vater bekam aber einen Auftrag und sagte zu, wollte bei der 'Schnippelei' nicht dabei sein, wozu auch? Unsere Mutter bekam einen Anfall, einen richtigen Heulkrampf. Ich wusste gar nicht, was ich tun sollte. Außerdem musste ich in die Schule gehen. 'Ging mich ja nichts an', lautete SEIN Urteil." Cornelius atmete tief durch. "Ich könnte nicht mal unter Todesdrohung sagen, um was es damals im Unterricht ging. Direkt nach der letzten Stunde bin ich mit meinem frischen Schülerausweis losgerannt, durfte in die Entbindungsstation, was eigentlich kein gutes Zeichen ist. Aber kein Wunder, unsere Mutter war aufgelöst, ihr ging es schlecht, der Gatte war lieber arbeiten! Sie heulte, war wütend, weil es doch nicht ganz so komplikationsfrei abgelaufen war... Und drückte mir Ruru in den Arm." Er lächelte, beugte sich tiefer, um Junias' Schlüsselbeine in Angriff zu nehmen. "Ich dachte immer, Babys wären so wie in der Werbung, knuffig und proper. Ruru kam mir so winzig vor! Das Gesicht zerknittert vor Anstrengung. Er winselte so leise, ohne Pause, da wurde mir ganz anders. Ich dachte, ich halte ihn vielleicht falsch. Eine der Pflegerinnen hatte wohl Mitleid, nachdem man schon über uns getuschelt hatte. Sie erklärte mir, dass er vom Stress der Geburt total verspannt sei. Osteopathie könnte helfen, aber nach einem Blick in die Unterlagen stellte sich heraus, dass die Kasse diese Kosten nicht übernimmt. Würde sich ja auswachsen." Cornelius schnaubte, massierte gegen die Widerstände in den verkrampften Schulterpartien an. "Weißt du, bei den anderen Babys, da zogen die Familien auf, Luftballons, Kuscheltiere, lauter strahlende Menschen, winzige Strampler und Söckchen und Mützchen." Er schluckte entschieden den Kloß im Hals herunter. "Ruru hatte gar nichts davon, konnte wegen der Verspannungen den Kopf nicht richtig heben. Das war nicht fair. So sollte es einfach nicht sein." Cornelius beugte sich vor, hob Junias' Arme nacheinander nach oben, legte sie in leichtem Bogen überkopf ab. "Als ich zum Ende der Besuchszeit ging, hab ich ihn wenigstens nicht mehr wie ein rohes Ei getragen. Bin zur Stadtbibliothek gerannt, weil ich wusste, dass die bis 20 Uhr geöffnet haben. Die Leiterin dort war nett, hörte sich mein Gestammel an, suchte mit mir ein Buch über Babymassagen. Sie hat sogar das Geld für die Kopien bezahlt, unter der Bedingung, dass ich Ruru mal mitbringe." Er lächelte, strich nacheinander über Junias' Arme. "Ab diesem Abend war ich einfach in diesem Momentum, wo IMMER irgendwas zu erledigen ist, improvisiert werden muss. Das hört nicht auf, weißt du? Weil man immer denkt, 'der kleine Kerl soll es besser haben!' Andere Kinder haben's auch gut, also ist DAS die Messlatte." Cornelius erhob sich, wechselte zur Bettkante. "Darf ich dir das Hemd ausziehen? Geht ohne leichter." Erkundigte er sich. Junias grummelte, schlug die Augen auf, stemmte sich hoch, streifte sich sein loses Leinenhemd über den Kopf, ließ es neben das Bett sinken. "Ich will das überhaupt nicht wissen!" Unterrichtete er Cornelius grimmig. "Ich will nicht wissen, warum Ruru keine Ahnung hat, was Autoscooter sind! Oder warum er kein Spielzeug eingepackt hat! Wieso er das einzige Kind im Supermarkt ist, das nicht quengelt, Süßigkeiten haben will oder irgendwelchen Plastikkleinkram!" Unvermittelt packte er Cornelius am Sweatshirt. "Weißt du, warum?! Weil ich friedliebend, selbstbeherrscht und vernünftig bin! Weil mein Motto lautet, 'don't get mad, get even!'" Er fauchte zornig. "Außerdem ich hab diesen impertinenten, verblödeten, aufgeblasenen Kleingeist NUR in den Container befördert, weil ER angefangen hat!" Cornelius hatte, nach dem Überraschungsmoment, Mühe, nicht aufzulachen, auch wenn Junias' aufgebrachte Verzweiflung sicher nicht komisch anmutete. Er legte eine Hand auf Junias' kalte Wange, küsste dessen Lippen. Junias zitterte. Cornelius schlang die Arme um ihn, zog ihn an sich. "Jetzt wird alles besser. Du musst nicht mehr an meiner Stelle wütend sein." Prompt schlug ihm Junias auf den Rücken. "Wieso sollte ich an deiner Stelle wütend sein?! Das ist unlogisch! So funktioniert das nicht!" Er schluchzte an Cornelius' Schulter. "Mir platzt noch der Schädel! Das KANN doch alles nicht sein..!" Besorgt wiegte Cornelius ihn, denn EIGENTLICH bewältigte er all die Ungerechtigkeiten und Zumutungen... Oder?! "Denkst du, dass es von mir ausgeht?" Erkundigte er sich unbehaglich. Dass er, wie seine Mutter, die unerfreulichen, kaum erträglichen Dinge verdrängt hatte, gut genug, sie scheinbar zu "vergessen"? "Das ist zwar äußerst unwahrscheinlich, aber..." Schniefte Junias, lachte erstickt auf. "Um Sir Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes zu zitieren: 'When you have excluded the impossible, whatever remains, however improbable, must be the truth.' Wenn man mal alles zusammenfasst..." Cornelius kreiste massierend über Junias' Rücken. "Wie stelle ich das ab? Wieso merke ich das selbst nicht?" Wie konnte es sein, dass SEINE streng kontrollierten Gefühle auf Junias übersprangen?! "Wir stecken SO WAS von in der Klemme." Knurrte Junias müde, richtete sich auf, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. "Ich brauche deine Blutspende. Die füttert mich mit DEINEN Emotionen. Die Demarkationslinie ist definitiv übersprungen worden." Cornelius studierte ihn besorgt. Junias wandte sich ab, doch erneut glitzerten Tränen in seinen burgunderroten Augen. "Verdammt noch mal! Ich kann doch sonst alles kontrollieren." Wisperte er gequält. "Tut mir leid." Brachte Cornelius getroffen hervor. Wenn es SEINE Gefühle waren, dann stimmte seine Diagnose mit dem "Verliebtsein" wohl auch nicht, oder? Vielmehr musste man von unangenehmen Nebenwirkungen einer hässlichen Abhängigkeit ausgehen! Junias schnüffelte, schnaubte frustriert. "Es ist ja nicht deine Schuld. Mir kommt es nur so vor, als wäre ich nicht mehr ich, oder zumindest NUR ich, sondern wie bei Dr. Banner und Hulk oder dem literarischen Vorbild, Dr. Jekyll und Mr. Hyde." Cornelius runzelte die Stirn. "Das ist jetzt nicht gerade schmeichelhaft." Stellte er fest, auch wenn er sich eingestehen musste, dass Junias' vornehmlich seine weniger edlen Gefühle "übernahm". Junias gluckste leise. "Da sind wir ja einer Meinung." Neckte er Cornelius, um anschließend zu seufzen. "Ich bin so müde. Ich würde wirklich gern mal für eine Weile diesen Tumult in meinem Schädel ausknipsen." Cornelius strich ihm noch einige Augenblicke sanft über den Rücken. "Na ja, eine Methode könnten wir erproben. Da sollen sich so ziemlich alle kohärenten Gedankenprozesse verabschieden." Junias richtete sich in seiner Umarmung auf. "Reden wir von 'du denkst immer nur an das Eine'?" Erkundigte er sich gedehnt. Cornelius beugte sich vor, küsste ihn auf die spöttisch geschürzten Lippen. Irgendeine Volksweisheit musste ja mal stimmen, oder?! ~¢~ Junias "fühlte sich nervös an", konstatierte Cornelius ernüchtert, deshalb studierte er die burgunderroten Augen fragend. "Schön. Es wird mich ja nicht umbringen." Brummte der gerade, rieb sich wieder eine Schläfe. "Aber was ist mit Ruru? Wenn der Hosenmatz aufwacht..." Cornelius streifte sich sein Sweatshirt über den Kopf. "Ich bin vielleicht gerade auf der Toilette oder in der Küche, einen Schluck Wasser trinken. Ruru IST sehr verständig. Mein 'Mutter-Radar' funktioniert auch noch. Da hörst du durch Wände, glaub mir." Auch wenn sie quasi seit Rurus "Umzug" von der Neugeborenenstation ein Zimmer geteilt hatten. "Was genau tust DU da gerade?" Junias wich ein wenig zurück. Cornelius erhob sich, um auch seine Jeans abzustreifen. "Mich ausziehen. Vermutlich wird mir warm. Außerdem ist so viel Stoff hinderlich." Beschied er aufgeräumt. Nun klebte Junias förmlich am Kopfende des Betts. "Du hast hoffentlich nicht vor, irgendwelche Attacken auf meine Unschuld zu lancieren, oder?!" Es klang jedoch gar nicht so ironisch und selbstsicher, wie Junias vermutlich beabsichtigt hatte. Sich durch die jüngst coiffierte Krause streichend, nunmehr nur noch im Herrenslip vom Wühltisch, seufzte Cornelius. "Küssen und Hand anlegen, mehr nicht, Junias. Für alles andere müsste man sich wohl vielmehr vorbereiten, zumindest nehme ich das an. Ich bin nicht sicher, dass das ohne Kalamitäten abläuft." Junias starrte ihn schweigend an. "Wir können das Licht dämpfen. Ist das besser?" Cornelius achtete darauf, seine Stimme neutral zu halten. Ja, er sah nun mal bunt-scheckig aus, aber wenigstens FÜHLTE sich seine Haut "normal" an. Vermutete er. "Bitte. Aber kein dämlicher Scherz über Migräne." Murmelte Junias, massierte sich die Nasenwurzel. "Ich trage nicht umsonst häufig getönte Gläser. Nur haben mir bisher die Augen nicht gebrannt!" Knurrte er grimmig, schwang die Beine über das Bett, erhob sich, um ebenfalls bis auf die Unterhose seine makellos weiße Gestalt freizulegen. Unterdessen reduzierte Cornelius die Lichtquellen, Deckenleuchte aus, nur noch eine LED-Laterne mit Luzies künstlerischer Ergänzung glomm. Cornelius streckte ihm die Hand entgegen. "Darf ich bitten?" Er erntete ein Fauchen und eine kalte Hand. "Das ist SO KITSCHIG! 'Tanz in den Mai', wie?! Aber ich bin nicht verliebt, klar?! Das ist in unserem Programmcode gestrichen!" Schimpfte Junias unterdrückt, legte eine kalte Hand auf Cornelius' Schulter. Der hielt ihn locker umschlungen, die andere Hand umschlossen. Allerdings hatte er noch nie getanzt, deshalb keine Vorstellung, wie es nun weiterging. Unversehens übernahm Junias diesen Part, bewegte sie sparsam. "Ich kann nicht GLAUBEN, dass ich das hier tue! Vielleicht halluziniere ich nur sehr lebhaft." Grollte er, Cornelius' Blick ausweichend. "Sag mal, wie machst du das sonst, das Ergattern der Blutspende?" Warf sich Junias an jeden Hals? Grummelnd lupfte Junias ihre verschränkten Hände. "Anquatschen, einlullen, Handy-freie Pfote schnappen, und zack!" Demonstrierte er. Cornelius registrierte lediglich kurz die kalten Lippen, einen gewissen Druck, da hatte Junias sich schon wieder aufgerichtet, wirkte völlig unbeteiligt. "Wow, rasant! Aber bei mir..." "Ich WEISS! Ich will nicht darüber reden!" Fauchte Junias, holte tief Luft, ließ sie wie aus einem weit geöffneten Ventil zischend entweichen. Spontan entschloss sich Cornelius für die "Stehtanz"-Variante, umschlang Junias einfach, hielt ihn in eine warme Umarmung gezogen. Es schauderte ihn nur kurz ob der kalten Hautpartien. Entschlossen benetzte er Junias' Wange, die Schläfe, die Kieferpartie und das Ohrläppchen mit Küssen. Biologische Prozesse HATTEN funktioniert! Wenn es nicht Junias' Begeisterung geschuldet war, musste er wohl selbst ausgesprochen angetan von ihm sein! Möglicherweise hatte das überhaupt nichts mit Liebe zu tun, aber die schien ohnehin volatil, nicht greifbar, ein Chamäleon zu sein. Also konnte er dem folgen, was bei anderen Säugetieren unter Instinkt lief und beim verbeulten, abgestürzten, semi-integrierten Affen der "Homo"-Gattung unter "Versuch und Irrtum bei der Balz". ~¢~ Junias schien nicht abgeneigt, sich liebkosen zu lassen, auch ausgeweiteter als beim ersten Mal. Cornelius fand die kühle, sehr glatte Haut gar nicht unangenehm. Wenn er Junias ausdauernd feucht küsste, riss auch seine "Antennenverbindung" nicht ab. Seine Wahrnehmung schärfte sich, ließ ihn wittern und mutmaßen, wie er der Lust Taten folgen lassen konnte. Was Junias jedoch zu verärgern schien, war die eingekeilte Lage unter ihm, sodass regelmäßig eine Rolle angestoßen wurde, um die Verhältnisse zu ordnen! Cornelius kümmerte es nicht sonderlich, solange er neuralgische Partien in Reichweite hatte. Außerdem verspürte er mächtigen "Appetit": wenn sein Blut Junias berauschte, lief es für seinen Part auf ihre Interaktion hinaus. Er konnte nicht oft genug die kühle Zunge umschmeicheln, über den sehnigen, kalten Leib gleiten, ihre Erektionen massieren. Kein Vergleich mit dem raschen, geschäftsmäßigen Solo im Bad! Hier wollte er immer noch mehr herauskitzeln, noch eine Unze Ausdauer, um die Erwartung bis ins Unermessliche zu steigern! Bis es sich nicht mehr aushalten ließ, sie in Ekstase explodierten, der Druck und andere Zeugnisse sich Bahn brachen. Die ungewohnte Betätigung im Clinch mit nur wenigen Unterbrechungen zwecks Zwischenreinigung forderte ihren Tribut, sodass Cornelius aus einem satten Dösen aufwachte, im glimmenden LED-Licht die Silhouette an seiner Seite studierte. Ruhige, tiefe Atemzüge. Junias schlief. Sehr vorsichtig sortierte er seine Gliedmaßen, entstieg dem Bett. Er sammelte seine Kleider ein, warf sie rasch über. Zwar schien es unwahrscheinlich, dass Ruru erwachte, aber er wollte nicht ohne ein Fädchen am Leib angetroffen werden. Unbekleidet die Stiege hinunter zu turnen, um zur Toilette oder in die Küche zu marschieren, das wäre rücksichtslos und unwahrscheinlich. Behutsam zog er Junias' Zimmertür hinter sich zu, sockte geräuschlos in sein neues Zimmer. Auch hier lauschte er auf Atemzüge. Ruru schlief offenkundig auch tief und fest. Erleichtert kleidete er sich im Dunkeln um, schlüpfte unter die Decke. Mit einem Anflug von Scham registrierend, wie befriedigt er sich fühlte. Da wollte man sich das Einschlafen nicht mit der Frage vergällen, wer wem nun welche Gefühle entgegenbrachte! ~¢~ Kapitel 20 - Gaben und Hobbys Beim Frühstück wirkte Junias wesentlich aufgeräumter und zugänglicher als am vorhergehenden Nachmittag. Ruru, der eine sehr geruhsame Nacht ohne Malheur in seinem neuem Heim verbracht hatte, wollte sehr gern unbedingt Henk helfen! Nachdem man bereits VOR dem Frühstück die "Kinderstube" in der Werkstatt aufgesucht hatte. "Gärtner!" Kommentierte Luzie grinsend. Die beiden boten wirklich ein ungewöhnliches Bild: der dünne, durch sein Korsett steif aufgerichtete, großgewachsene Henk und Ruru daneben, gerade bis an die Hüfte reichend, aber sie funktionierten wie ein Räderwerk. Ruru übernahm bereitwillig alles an Arbeiten, was sich unterhalb von Henks Hüfte abspielte. Man besprach sich ruhig, hin und wieder gluckste Ruru amüsiert, hopste vor Begeisterung von einem Bein auf das andere. Das Hasentuch blieb in der Wäscheklammer, keine Notwendigkeit, sich einer seelischen Stütze zu bedienen. Cornelius wandte sich an Luzie. "Kann ich mich nützlich machen? Wäsche oder Putzen?" Luzie stemmte die Hände in die Hüften, wirkte nun gänzlich wie eine putzmuntere Kugel. "Liebe Güte, MAGST du etwa Haushaltsarbeiten?!" Die Schulter rollend sah sich Cornelius zu einem Geständnis genötigt. "Nun, mögen nicht unbedingt, aber das ist es, was ich sonst mache, wenn ich nicht mit Ruru unterwegs bin. Ich habe die Schulaufgaben schon erledigt, deshalb sollte ich mich nützlich machen." "Hörst du das, Junias?! Wir werden ihn verstecken müssen, damit uns keine Verehrerinnen das Haus stürmen!" Stellte Luzie belustigt fest. "In der Tat, ein rares Exemplar der männlichen Ausgabe dieser Spezies." Pflichtete Junias ihr spöttisch bei, setzte sich eine Sonnenbrille mit violett getönten Gläsern auf die Nase. Während des Frühstücks hatte er sie höflich auf seine silbergrauen Locken gelupft. "Wenn du magst, kann ich dir unsere Waschmaschine erklären. Für eine Ladung reicht es schon. Du hättest viel geschafft, wenn du auch noch die Wäschespinne bestückst." Cornelius nickte, denn er WOLLTE etwas tun, um sich nicht so erbärmlich ideenlos zu fühlen, was zukünftige Freizeit betraf. Was GENAU machten eigentlich seine Klassenkameraden, wenn sie "nichts" zu erledigen hatten? Junias zupfte ihn am T-Shirt. "Komm, ich stell dir unseren Oldtimer vor." In der Tat handelte es sich um die Industrieausgabe einer Waschmaschine mit sehr reduzierter Auswahl an Waschprogrammen und einigen "Tics", die man überlisten musste. Andererseits funktionierte das betagte Modell mit "Grauwasser" aus Dusche und Badewanne! "Wir haben Filter im Zulauf, also keine Sorge. Außerdem übertreiben wir es auch nicht bei den Badezusätzen. So sparen wir Trinkwasser ein." Was die etwas ungewöhnliche Konstruktion von Ablaufrohren erklärte. "Wenn du nicht als Hauswirtschafter reüssieren willst, solltest du dir Gedanken über ein Hobby machen." Neckte Junias ihn. "Sieht so aus." Gab Cornelius zu, rollte die Schultern, die noch breiter werden konnten. "Mir fiel gerade auf, dass ich keine Ahnung habe, was andere so tun. Schon seltsam." "Oje!" Junias lachte. "Wahrscheinlich wirst du Trübsal blasen, nun, da Elternpflichten entfallen! Blues für Stroh-Eltern!" Gutmütig nahm Cornelius die kleinen Spitzen hin, prägte sich die Startsequenzen der Waschmaschine ein. "Ich bin froh, dass es dir schon wieder besser geht." Wechselte er das Thema. Junias seufzte. "Schon tangieren wir meine Unzulänglichkeiten. Ich versuche angestrengt, nicht darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll." Er zog Cornelius an der Hand aus dem Haus, nur wenige Schritte bis zur Wäschespinne, die er aufkurbelte. "Ich dachte, ich sollte mir eine Liste anlegen. These, Praxistest, Ergebnis." In Junias' Stimme glaubte Cornelius eine Grimasse zu hören. "Es kann ja nicht ALLES falsch sein. Einiges hat wie gelernt funktioniert." Er raufte sich kurz durch die silbergrauen Locken. "Ausgenommen du." Cornelius nickte mitfühlend, registrierte durchaus, dass Junias ihn immer noch an der Hand hielt, obwohl nicht die Gefahr drohte, dass er sich verirrte oder sein Handbreit Größenvorteil nicht ins Gewicht fiel. Aber auch Junias schien diese Geste zu bewerten, blickte auf ihre verschränkten Hände, seufzte frustriert. "Irgendwas in meinem Blinden Fleck will dich offenbar UNBEDINGT in Beschlag nehmen." Grummelte er. Cornelius entschlüpfte ein Auflachen, räusperte sich. "Meine Unterstellung, dass du verliebt seist, nehme ich zurück, Junias. Mir war nicht klar, dass es nicht nur Blut gegen schärfere Instinkte gibt. Ich glaube, dass ich die Gefühle, meine Gefühle, die ich offenbar so gut negiert habe, dass sie mir selbst entfallen sind, besser handhaben werde. Vielleicht ist es ganz gut, dass ich nicht in Arbeit flüchten kann." Junias schnaubte. "Schon wieder dieser vernünftige Solo-Papa!" Er seufzte aber. "Warum stört mich als rationalen Lamia vernünftiges Verhalten bei einem menschlichen Teenager?!" Cornelius kämpfte mit Amüsement. Auf sehr pointierte Weise konnte Junias humorvoll und sarkastisch klingen. "Was sind denn deine Hobbys?" Erkundigte er sich, um Junias nicht unnötig zuzusetzen. "Na, Haushaltsarbeiten nicht gerade." Antwortete Junias, eine Augenbraue in die silbergrauen Locken lupfend. "Aber keine Sorge, du bekommst schon einen angemessenen Anteil. Wir haben einen Monatsplan, wechseln uns ab. Uns stört auch kein Töpfeklappern, wenn du Koch-Dienst hast." Bemerkte er spöttisch, blickte einen Moment in den Garten. "Hobbys, na ja, ich lese viele Fachartikel zu meinem Steckenpferd. Wie man versucht, ein komplexes Geschehen annäherungsweise darzustellen, um Berechnungsmodelle zu qualifizieren. Umgebungsvariablen, Einschränkungen, theoretische Konzepte, das ist für mich interessant, macht einen aber nicht unbedingt populär." Cornelius registrierte die ironische Spitze. "Also hast du keine engen Freunde in deiner Schule?" Junias wandte ihm wieder den Kopf zu, das Gesicht gewohnt maskenhaft. Nur seine Stimme verriet sein Amüsement. "Nein, werter Pflegebruder, denn, falls es dir entgangen sein sollte, bin ich a) zu auffällig und b) zu vorsichtig." Irritiert hakte Cornelius nach. "Aber du kannst doch die Wahrnehmung beeinflussen, oder? Wieso..?" Junias lachte. "Dir ist aber schon aufgefallen, dass es nicht so viele Jungs in meinem Alter mit silbergrauen Locken gibt, die KEINE Jeans und T-Shirts tragen?" Erkundigte er sich spöttisch, was für Cornelius nicht von besonderer Priorität war. "Herrjemine, du bist WIRKLICH zu lange alleinerziehender Vater gewesen! Wenn der Typ sich die Haare färbt, wohlgemerkt kein Bundeskanzler ist, fehlen als Nächstes nur noch lackierte Fingernägel! Der verbringt zu viel Zeit damit, um sich selbst zu kreisen, Selfies zu schießen und sich zu promoten. Mit so nem Typen will man auch nicht gesehen werden, das könnte zu falschen Schlüssen führen." Cornelius runzelte die Stirn. "Das ist doch aber unlogisch, weil du keine Selfies machst, oder? Außerdem wäre es doch GERADE interessant, wenn ein Freund nicht wie eine Drohne in der Masse verschwindet!" Junias musterte ihn, hörbar an einem Glucksen schluckend. "JETZT sind wir bei der Frage, warum DU noch nicht gekapert worden bist. An Engagement mangelt es ja nicht, wie wir uns beide erinnern können." Überrumpelt starrte Cornelius Junias an. "Aber...also..." Mit einem Lachen quittierte Junias diese Reaktion. "Nein, selbstredend würdest DU dich nicht als Objekt besonderen Interesses einordnen! Obwohl du alle optischen Voraussetzungen mitbringst. Wir haben jedoch beide gemeinsam, dass wir uns bedeckt halten müssen." Er senkte den Blick auf ihre noch immer verschränkten Hände. "Es ist immer eine Gratwanderung, Cornelius, meine 'special features' nicht hervorstechen zu lassen, nicht zu schnell, zu stark, zu instinktsicher aufzutreten. Oberste Regel: nie die Kontrolle verlieren. Ich muss IMMER, ausnahmslos richtig reagieren. Die anderen brauchen bloß EINE Chance, mich zu ertappen." Er hob den Kopf wieder, die burgunderroten Augen hinter den Brillengläsern versteckt. "Deshalb macht mir das hier wirklich Angst." Ihre verschränkten Hände leicht anhebend schauderte er. Cornelius verstärkte kurz den Druck auf die kalte Hand in seiner. "Wieso zieht es uns trotzdem zueinander?" Stellte er die kritische Frage laut. Junias zog merklich die Schultern höher, als wolle er sich vor einer Attacke schützend einrollen. "Ich weiß es nicht." Wisperte er schließlich kaum hörbar. Impulsiv, was er sich selten durchgehen ließ, reduzierte Cornelius die Distanz, küsste Junias' kalte Lippen, bis der nachgab, sie teilte, Cornelius' Zunge ein Durchschlüpfen gewährte. Cornelius spürte Junias' Beklommenheit, die fehlende Orientierung in einer Welt, die sich gänzlich unerwartet seiner Kontrolle entzog. Eine Situation, die er nur allzu gut kannte. Doch, DAS wollte er transportieren, sie hatten es geschafft! Ruru war nun mit ihm in Sicherheit, an einem schönen Ort, raus aus dem Strudel von Sorgen, Missachtung, Drohungen, Flucht und unterdrückten Gefühlen! Folglich musste sich auch ihre "Verbindung" zu etwas Positiven wandeln lassen! "Ich weiß nicht, ob mir diese Hormon-getriebene Freizeitgestaltung gefällt." Murmelte Junias an seinem Ohr, seufzend. Cornelius grimassierte spontan, denn ein Kompliment ließ sich da keineswegs heraushören. "Wenn du mir Hinweise gibst, was dir besser gefällt?" Immerhin hatte er keine Übung oder große Vorerfahrungen! Junias seufzte. "Ich meinte NICHT die technische Ausführung! Sondern den Umstand, dass wir... eigentlich anlasslos..." Er brach ab, die Schultern sackten tiefer. In gewisser Weise mochte man eine gewisse Leichtfertigkeit, vielleicht sogar Frivolität erkennen. Cornelius suchte den Abstand, der ihm ermöglichte, die getönten Brillengläser in den Fokus zu nehmen. "Wir schaden ja niemandem, oder? Ich glaube, es ist gar nicht schlecht, wenn wir unsere Emotionen auf diese Weise ausbalancieren. Bedeutet das denn nicht auch mehr Kontrolle über die Lage?" Warb er für eine positive Sichtweise ihres physischen Engagements. Dank ihrer Küsse spürte er Junias' Skepsis. "Außerdem hast du selbst gesagt, dass Lamia den intimen Austausch mit Menschen als 'Unterhaltung' pflegen. So besonders ist das also gar nicht. Ich verspreche dir, dass ich ein 'Nein' als 'Nein' behandle." Plädierte er engagiert. Junias löste die freie Hand, die unversehens auf Cornelius' Oberarm geruht hatte, um die Sonnenbrille auf seinen Lockenschopf zu schieben, sich die Nasenwurzel zu massieren. "Wenn ich kein 'Nein' mehr zustande bringe? Wenn ich dir einfach nicht widerstehen kann?!" Er funkelte Cornelius aus burgunderroten Augen an. "Vielleicht ist das für S/M-Begeisterte oder Geschichten ein vorteilhaftes Arrangement, aber MIR GRAUST es davor!" Energisch entzog er Cornelius seine Hand. Bevor Cornelius ihm versichern konnte, dass er nicht beabsichtigte, irgendwelche "Vorteile" auszunutzen zu wollen, wandte Junias sich abrupt ab. "Ich komme zurück, wenn die Waschmaschine fertig ist." Versetzte er, entfernte sich mit schnellen Schritten. Unbehaglich rollte Cornelius mit den Schultern, schüttelte seine Arme frei. Er "ahnte" Junias' nagende Sorge mit abklingender Verschärfung seiner Sinne. Unvermutet kam ihm Frau Kappels' Sprachbild in den Sinn, von den "kuschelnden Stachelschweinchen". Sollte seine Strategie nun auf "Vorsicht" und "großzügige Ausweichräume" lauten? Doch wie sollte man das anstellen, wenn man sich auf das "Home" beschränken musste? Seufzend entschied Cornelius, zurück in die Wohnküche zu gehen, sich mit dem "Arbeitsverteilungsplan" vertraut zu machen. Auch wenn er und Ruru dort noch keine Rolle spielten, wollte er herausfinden, was es hier zu tun gab. Wie viel "Freizeit" er zu überbrücken hatte. ~¢~ Wie erwartet waren Henk und Luzie im Laufe ihrer Pflegeeltern-Tätigkeit gut vorbereitet: es gab eine Übersichtstafel über zu erledigende Arbeiten und ein Board, wo die aktuelle Zuständigkeit zugeordnet wurde. Cornelius sah sich keinerlei besonderen Herausforderungen gegenüber, sah man mal vom Kochen ab. Er war sich ganz und gar nicht sicher, ob er "normalen" Ansprüchen genügen konnte! Glücklicherweise beherbergte das Regal-Sortiment der "Lies mich, dafür bin ich da!"-Bücher auch Bände mit Kochrezepten, aus denen zahlreiche bunte Markierungsstreifen hervorlugten, zumindest potentielle Erfolgskandidaten für Versuche ausdeuteten. Er studierte eingehender die Lektüre, die hier so offenherzig angeboten wurde. Ah! Sein geübter Blick fand natürlich die Ratgeber. Erziehungsratgeber kannte er selbst zur Genüge. Er suchte andere Anleitung: Begleitung in der Pubertät, Konflikte wertschätzend führen, aber wo gab es Hinweise, wie man sich Hobbys zulegte?! Oder wie man herausfand, wie man zu jemandem stand, der einem Blut ableckte, kein Mensch war? Cornelius zog die Augenbrauen zusammen, fischte ein Kompendium zur "Hausapotheke" heraus, schlug erst das Schlagwortverzeichnis auf, danach die entsprechenden Seiten. Wenn Junias einen Bestandteil seines Blutes benötigte, oder vielmehr menschlichen Bluts, hatte das doch zunächst keine Auswirkungen auf seine Emotionen, grübelte Cornelius. Denn sonst wäre ihm zweifelsohne früher aufgefallen, dass sich da mehr "einschlich" als geplant. Was zu einem sehr "pubertären" Problem führte, einer vagen Erinnerung an den Biologie-Unterricht, Sektion "Fortpflanzung, Säugetier, Gattung homo". Richtig, da ging es um Hormone und Duftstoffe, biochemische Kommunikation. Wenn olfaktorische Rezeptoren angesprochen wurden, ihre Analyse elektrische Botschaften über die Nerven ins Verarbeitungszentrum sandten, wanderten seine eigenen, in Duftstoff umgewandelten Gefühle über Junias' feines Näschen in dessen Gehirn. Wurden dort fälschlich als "eigene" Gefühle verarbeitet. Zumindest könnte man die These aufstellen. Wie hatte ihm Adam das noch mit der VR erklärt? Beinahe echt, bis man aufs Klo musste oder wenn man Pflaumenmus liebte. Cornelius klappte das Buch zu, schob es wieder ins Regal. Wenn hypothetisch anzunehmen war, dass seine Gefühle über seinen Körpergeruch invasiv die "Demarkationslinie" übertraten... Mussten sie bloß noch das passende "Pflaumenmus" finden, um die Fehlinterpretation auszukontern! ~¢~ Junias, der sich wie versprochen wieder eingefunden hatte, um mit Cornelius die Waschmaschine zu leeren, schwieg, hängte dabei sehr geübt Wäschestücke auf die Spinne und über Bügel auf eine Wäschestange. "Jetzt suchen wir MEIN 'Pflaumenmus'?" Fasste er Cornelius' optimistisch vorgetragene Indizienkette zusammen. "Ja! Was nicht heißt, dass ich nicht eine Ernährungsumstellung in Erwägung ziehen würde!" Betonte der gut gelaunt. "Nur dauert das eine Weile. Wir können auch nicht sicher sein, was EXAKT hilfreich ist. Eventuell käme es auch einer Mangelernährung gleich." Schränkte er aber vernünftig ein. Ernährung war nicht nur ein streitbares Sujet, sondern auch ein komplexes. Zu viele Faktoren griffen da ineinander, beeinflussten sich gegenseitig. Junias wühlte sich durch seine silbergrauen Locken. "Nehmen wir mal an, es würde funktionieren: wie soll ich die Übertragung der 'Botschaft' stoppen? Mich dauernd kneifen? Ein Riechfläschchen apportieren?" Cornelius entschied, den ironischen Tonfall zu ignorieren, sondern sachlich zu argumentieren. "Ein Riechfläschchen ist ein guter Ansatz. Wenn wir japanisches Minzöl nehmen, das überdeckt ja eine Menge, oder nicht? Außerdem wäre es auch nur im Einsatz, wenn wir uns sehr nahe kommen. Im Moment beeinflusse ich dich ja nicht, oder?" "Bist du sicher?" Grummelte Junias zurück, stellte den Wäschekorb hochkant unter die beladene Wäschespinne. Cornelius rollte die Schultern. "Was fühle ich denn gerade?" Das müsste Junias ja, wenn sie sich bereits auf dieser Distanz im Austausch befinden, genau bestimmen können. Dessen Frustration konnte wohl kaum von IHM ausgehen, weil er gerade optimistisch auf eine Lösung hinarbeitete! "Du bist dezent ungehalten über meine Skepsis, aber absolut entschlossen, das nicht ruchbar werden zu lassen. Wie im Ratgeber für Erziehung bleibst du sachlich, achtest auf deine Tonlage, sendest nur Ich-Botschaften. Dass ich dir mit meinem nicht hilfreichen Sarkasmus schwer auf den Keks gehe, wird NICHT Thema sein." Junias seufzte, lupfte dann die Sonnenbrille mit den getönten Gläsern auf seinen Schopf. "So einfach funktioniert das nicht, Cornelius. Ich kann sehr gut Körpersprache entschlüsseln und ich bin Menschen-geprägt. Aber du hast zumindest teilweise recht: deine Begeisterung dringt bei mir gerade nicht durch." Er hob die Hand, bevor Cornelius eine Erwiderung anbringen konnte. "Ja, das ist ein wertvoller Hinweis, und ebenfalls ja, ich könnte mehr Engagement einbringen." Die burgunderroten Augen rollten, was den Eindruck von Frustration nährte. "Im Moment kämpfe ich einfach darum zu akzeptieren, dass ich die Kontrolle verloren habe. Dass ich darauf vertrauen muss, dass ein Mensch mich und mein Geheimnis schützt." Er versteckte sich wieder hinter der Sonnenbrille. "Ich bin abhängig und muss mich unterordnen. Nicht gerade etwas, womit sich Lamia leichttun." Cornelius intervenierte. "Ich habe nicht die geringste Absicht, dir was zu tun oder dich zu drangsalieren!" Versicherte er nachdrücklich. "Ja, das ist zumindest ein Trost." Murmelte Junias grimmig. "Nur, verstehst du, es fühlt sich fast noch schlimmer an, als in das Revier eines anderen Lamia einzudringen. Es setzt mir zu. Ich hab mir das durch mangelnde Vorsicht selbst eingebrockt. Ich komme nur mit den Konsequenzen nicht klar." Betroffen schwieg Cornelius, sein Optimismus verpuffte. Junias wandte sich von ihm ab. "Du trägst keine Schuld, also nimm das nicht auch noch auf deinen nicht vorhandenen Buckel. Möglicherweise sollte ich mir ein Riechfläschchen zulegen. Jetzt entschuldige mich bitte. Ich brauche eine Pause, bevor mein Schädel explodiert." ~¢~ Cornelius entschied, dass er jetzt definitiv eine "Portion" Ruru brauchte. Deshalb wechselte er zum Garten, folgte den kurvenreichen Pfaden. Ruru und Henk inspizierten gerade einen mit unterschiedlichem Grün bewachsenen Wall. Cornelius konnte gar nichts identifizieren, stellte sich aber dazu, bekam Rurus Hand zu fassen. Der blickte kurz zu ihm auf, grinste verschwörerisch und schob seine andere Hand in Henks. Die beiden schienen keine Verärgerung darüber zu empfinden, dass er sich ihnen anschloss, mittat, auf genaue Anweisungen agierte. Nach einer Weile fühlte Cornelius sich wirklich besser, geerdeter. Junias' Aufforderung, sich nicht selbst einen Anteil am Schlamassel zuzuschreiben, konnte er nicht einfach befolgen. Verantwortung zu scheuen, wenn man beteiligt war, das gehörte sich einfach nicht! Ruru arbeitete emsig, ohne Berührungsängste. Schmutzige Hände, freche Insekten, anhängliche Ranken oder Blätter: nichts konvenierte ihn. Zwar waren manche Gartengeräte sichtlich nicht für seine kleinen Hände geschaffen, aber Henk wusste immer einen Ausweg, rollte und zwirbelte die Schnurrbartenden, was Cornelius längst als ein Zeichen von Zufriedenheit und Stolz auf seinen Assistenten ausgemacht hatte. "Das macht viel Spaß, oder?" Ruru strahlte ihn an. Cornelius erwiderte das Grinsen. "Stimmt, aber ich bin leider nicht so begabt wie du, Ruru." Das brachte ihm die kleine Falte des Nachdenkens zwischen den Augenbrauen ein. "Was heißt 'begabt'?" Erkundigte sich Ruru mit einer gewissen Besorgnis in der Stimme. "Also, Gaben sind besondere Fähigkeiten, ein Gespür, einen sehr guten Blick für bestimmte Dinge. Alle Menschen haben unterschiedliche Gaben, in denen sie besonders gut sind. Ich erkenne, dass du sehr gut mit Pflanzen und einem Garten umgehen kannst. Dafür bist du 'begabt', Ruru." Erläuterte Cornelius, vor seinem kleinen Bruder in die Hocke gehend. "Natürlich kann man auch mehrere Gaben haben. Üben muss man auch, ohne Fleiß keinen Preis." Ergänzte er mit einem Zwinkern. Ruru nickte beifällig. "Was sind deine Gaben, Nelli?" Die Frage, die Cornelius gefürchtet hatte, aber sich nicht vermeiden ließ. "Tja, das weiß ich nicht, Ruru. Ich glaube, ich muss noch länger suchen, bis ich sie finde." Bemühte Cornelius sich um ein Lächeln. Ruru half ihm in brüderlicher Solidarität beim Grübeln. "Also, du kannst lesen und schreiben und rechnen, Nelli. Vielleicht könntest du mir auch helfen, wegen der Tigerschnecke? Ich weiß nicht, ob man die züchten kann." Den Plan eines Tigerschnecken-Verleihs zum Kampf gegen die gemeine Spanische Nacktschnecke schien er noch nicht ad acta gelegt zu haben. "Ich helfe dir, darüber nachzuforschen, Ruru, aber so als Tierzüchter tauge ich wohl nichts. Dafür muss man viel Umgang mit verschiedenen Tieren haben." Relativierte er die Idee, über eine Gabe für andere Lebewesen zu verfügen. Ruru umarmte ihn spontan. "Das ist nicht schlimm, Nelli! Ich mag dich. Du bist für MICH begabt! Überhaupt, ich glaube, ich möchte doch keine Insekten essen. Die kann man nämlich auch züchten. Aber Käfer, die so stinken, schmecken bestimmt nicht!" Lautete seine entschiedene Einschätzung. Cornelius lachte leise, hielt Ruru vertraut im Arm. "Da hast du bestimmt recht. Man kann auch nur ein paar bestimmte Insekten essen, soviel ich weiß. Da bleiben wir doch erst mal lieber bei Pflanzen, hm?" Ruru nickte sehr ernst, lehnte die Stirn an seine. "Nicht traurig sein, Nelli. Deine Gabe ist bestimmt ganz toll! Die finden wir." Daran hatte er nicht den geringsten Zweifel. ~¢~ Junias ließ sich erst zum gemeinsamen Mittagessen wieder blicken. Cornelius verwünschte den Umstand, dass er Junias einfach nicht ansehen konnte, wie der sich fühlte. Aber vermutlich erging es den anderen nicht besser, wenn Junias ihre Wahrnehmung manipulierte. Nach dem Essen folgte Ruru Henk wieder nach draußen, um im Hängesessel mit Rasputin eine Siesta einzulegen. Das bot Henk die Möglichkeit, sich Anfragen und Angeboten zu widmen. Mit Schreib- und Recherchearbeiten wollte er Ruru nicht langweilen, der ihm so wacker zur Seite stand, bis die Hasenpower aufgeladen werden musste. Cornelius entschied, mit Luzie über die Verteilung seines Anteils an Haushaltsarbeiten zu sprechen. Immerhin hatten die anderen den Monat bereits "verplant". Luzie nahm mit ihm am großen Tisch Platz, den Plan abgehängt und ausgebreitet. Bei einem Glas Zitronenmelisse-Aufguss diskutierten sie die Möglichkeiten. Pflichtbewusst wies Cornelius auch daraufhin, dass seine Eignung als Koch mangels Möglichkeiten zu wünschen übrig ließ. "Oh, das bekommen wir schon hin, Cornelius. Wir arbeiten einfach im Team. Ein paar Grundfertigkeiten lassen sich einüben, dann wird das klappen." Sie zwinkerte ihm zu. "Die wenigsten Jungs, die wir hier hatten, konnten außer dem Kühlschrank was bedienen. Du bist da recht fortgeschritten. Aber es lohnt sich und macht häufig auch viel Spaß." Cornelius nickte aufmerksam. "Konnte Junias denn schon kochen?" Die Frage war heraus, bevor er sich bremsen konnte. Luzie lachte. "Hat er dich etwa aufgezogen? Ja, Junias beherrschte schon viele Fertigkeiten, war geübt darin, sich selbst etwas zuzubereiten. Ziemlich vorausschauend von seiner Mutter." Sie schmunzelte versonnen. "In der ersten Zeit fühlte es sich fast so an, als würden wir eine WG bilden und hätten nicht ein Kind bei uns aufgenommen, das plötzlich allein auf der Welt stand." Cornelius entschied, sich für seine Neugierde zu entschuldigen. "Tut mir leid, ich hätte nicht nachfragen sollen." Luzie überwand die Distanz, drückte seine Hand. "In gewisser Weise seid ihr euch ähnlich, Cornelius. Zu erwachsen, zu vernünftig für Jungs. Oder Jugendliche in eurem Alter. Das ist zwar praktisch, wenn man eine WG bildet, aber nicht Mittelpunkt der Pflegschaft." Sie zwinkerte, um dann ernst zu werden. "Da ist es auch wichtig, sich als Person anzunehmen, mit all den Gefühlen und Verletzungen, die man erlitten hat. Einen Weg zu finden, um sich selbst immer wieder aufzufangen, wenn es nicht gut läuft." Luzie drückte seine Hand kurz. "Henk vergleicht das mit einem Baum, den man verpflanzt. Der hat Stress, neue Erde, neue Umgebung, neue Biosphäre. Man muss ihn gießen, vor der Witterung und Konkurrenzkräutern schützen, Wühlmäuse fernhalten. Aber wenn man das alles macht, sich Mühe gibt, entwickelt dieser Baum viele Wurzeln, bietet anderen Lebewesen Nahrung, Raum, Zuflucht und lässt sich sogar umarmen." Unwillkürlich musste Cornelius grinsen. "So ein Baum kann schon Einiges aushalten, mit vielen, gut entwickelten Wurzeln und in einer Gemeinschaft, in der man sich hilft." Luzie gab seine Hand frei, nahm den Plan, erhob sich. "Es ist in Ordnung, seine Gefühle zu zeigen, Cornelius, sich verletzt zu fühlen oder auch mal albern zu sein. Hier ist es nicht wie Zuhause, gar keine Frage. Das eröffnet aber auch die Möglichkeit, selbst nicht wie Zuhause zu sein, sondern herauszufinden, wer man selbst ist und sein möchte." ~¢~ Cornelius, sich selbst überlassen, denn es war ja Feiertag, der zwar "Tag der Arbeit" hieß, aber nicht dazu genutzt werden musste, dachte nach. Zu erledigen gab es aktuell eigentlich nichts. Das verstohlene Konsultieren seines Handys brachte lediglich eine statistische Umfrage, was Jugendliche so gern taten, doch Cornelius konnte mit praktischen Konsequenzen nicht warmwerden. Zeit und Geld verschwenden, um endlos Videos zu betrachten? Schwatzen über Nichtigkeiten mit Klassenkameraden, mit denen er sonst nur "sachdienliche" Informationen austauschte? Selbst vor einer Videokamera irgendwelche Botschaften (die er nicht hatte) produzieren? Cornelius seufzte unterdrückt. DAS konnte man getrost abhaken. Der Zeitpunkt, sich für einen Mannschaftssport zu interessieren, schien auch denkbar ungünstig. Steckenpferde konnte er nicht vorweisen, besondere Bastelfähigkeiten hatte er bei sich selbst auch noch nicht festgestellt. Handwerkliches Tun verlangte nach Werkzeug, Handarbeiten ebenso. "Ich bin ein elender Langweiler." Fasste er ohne Beschönigung die Analyseergebnisse zusammen. Vielleicht sollte er die Gelegenheit nutzen, etwas zu lesen? Weiterbildung, Nachholbedarf, Verbesserung des eigenen Notenschnitts... Nur, dass ihm so gar nicht danach war, irgendwo zu sitzen. "Das führt zu nichts!" Ermahnte er sich selbst, löste sich nach dem dritten, eher unmutigen Gang entlang des gut bestückten Regals. Wenn er sich nützlich machen wollte, sollte er hoch gehen, Rurus spärliche Garderobe durchsehen, überlegen, wie Ergänzungsbedarf requiriert werden konnte. Entschieden erklomm er die Stiege, betrat leise ihr Zimmer, um Junias nicht zu stören, nahm die Rückseite eines Flugblatts für Umzüge, um sich Notizen zu machen. Nicht ganz "Zero Waste", aber ziemlich nahe dran, wenn man aus der Not heraus erfinderisch sein musste. Prüfend legte er das spärliche Sortiment aus, ging in Gedanken durch, was möglicherweise noch Zuhause, nein, bei ihrer Mutter, vorhanden war. Im Fazit konkludierte er, dass ein rascher Austausch nicht drängte, denn das Reservoir blieb ebenso in Kürze zu knapp, zu fadenscheinig und wahrscheinlich im Saisonablauf abgeschrieben. Gewissenhaft notierte er, was Ruru benötigen würde, schätzte geübt die Kleidergröße ab. Ob man mit Kindergeld und Online-Flohmärkten den Bedarf decken konnte? Wie lange würde es überhaupt dauern, bis Henk und Luzie die erste Zahlung bekamen? Dass es Rurus Vater die nicht vorhandene Hutschnur hochtreiben würde, den Unterhalt für Ruru erstatten zu müssen, stand außer Zweifel, aber wenn der seine Arbeit verlieren würde, bliebe sowieso nicht viel übrig, oder? Cornelius, der auf und ab gesockt war, ließ sich auf seinem Bett nieder. Strategisch vorgehen, Bedürfnisse priorisieren... Cornelius grimassierte. Schon wieder im alleinerziehenden Vater-Modus! Er erhob sich, durchquerte das Zimmer, blickte aus dem Fenster hinaus ins Grüne. Wie sollte er das bloß anstellen? All seine Gedanken kreisten ständig um Ruru. Dass er einen Teil der Verantwortung abgeben musste, WAR eine gute Sache, wenn man die Resultate der letzten vierzehn Tage ins Kalkül zog. Da hatte er wahrlich kein gutes Bild abgegeben, war mit seinem Latein am Ende gewesen! Doch was sollte er sonst tun? Sinnstiftend, das wäre ihm schon wichtig, möglicherweise mit einem Fingerzeig, ob sich nicht irgendwo ein Funken Talent versteckte. Er wandte sich um, räumte Rurus Kleidung ordentlich ein, deponierte seine Notizen bei seinen spärlichen Schulsachen. Ein Spaziergang, genau, das lüftete den Kopf durch! Wenn er zurückkam, könnte auch ein Teil der Wäsche schon getrocknet sein. Grimassierend verabschiedete sich Cornelius von der Vorstellung, er könne sich schnell in einen "normalen" Jugendlichen verwandeln. Dafür regierte sein innerer "Hauswirtschaftler" viel zu selbstverständlich in seine Entscheidungen hinein! ~¢~ Als er auf den Flur trat, wich er rasch zurück, da Junias auch auf der eigenen Türschwelle innehielt. "Oh, tut mir leid, hab ich dich gestört?" Erkundigte sich Cornelius, auf Abstand bedacht. "Wollte mir bloß Wasser holen." Krächzte Junias, lehnte im Türbogen. Seinem Gesichtsausdruck konnte man wie gewohnt nichts entnehmen, aber er klang, als krieche er auf dem Zahnfleisch, urteilte Cornelius besorgt. "Das kann ich machen? Geht es dir nicht gut?" Oder aus welchem Grund klammerte sich Junias an den Türbogen? "...schwindlig..." Bevor er zusammensacken konnte, hatte Cornelius impulsiv die Distanz überwunden, stoppte den Fall. So kauerten sie beide in der Türöffnung, Junias leicht japsend. "Brauchst du eine Blutspende?" Cornelius, der Junias unter die Arme gefasst hielt, lehnte ihn in bequeme Stanzreichweite seiner Kehle, aber Junias hing wie ein Schluck Wasser in der Kurve an ihm. Ein vernünftiger Mensch würde... Junias' Nacken dirigierend küsste Cornelius die kalten Lippen, tauschte ungeniert Speichel aus, registrierte einen aufgaloppierenden Herzschlag, hastige Atemzüge. Und eine kalte Hand auf seiner Wange. Er hatte das "Gefühl", als würde Junias gern losheulen, doch außer einem gequälten Winseln fehlte ihm wohl auch die Kraft, sich gegen etwas zu wehren, das ihm über war. Ihn selbst erfüllten Mitgefühl, eine Spur Verantwortungsbewusstsein, vor allem aber Lust. Primitive Wollust. Ganz und gar nicht schmeichelhaft, vielmehr rücksichtslos, egoistisch, unangebracht... Cornelius würgte den inneren Kreuzzug energisch ab. Wenn er die eigenen Gefühle ständig negierte, bis sie wie bei seiner Mutter im scheinbaren Nirwana verschwanden, machte er es doch nur schlimmer. Dann explodierten sie durch Junias, der absolut gar keine Schuld daran trug! "Es hilft beim Erholen." Murmelte er entschlossen, fasste Junias eng unter. "Kannst du aufstehen?" Mühsam gelang es ihm, sie beide auszubalancieren, doch bis zu Junias' Bett war es ja nicht weit. Nachdem er ihn dort abgelegt hatte, schloss er die Zimmertür, verdunkelte den Raum, entkleidete sich flink, bevor er Junias behutsam entblätterte. Der keuchte leise, von Schaudern durchmessen, einen Unterarm über die Augen gelegt. "Alles wird gut, Junias." Wisperte Cornelius, streichelte die silbergrauen Locken, bevor er sich halb neben, halb über Junias einrichtete. "Lass dich fallen, kämpf nicht dagegen an. Teile meine Begeisterung für dich." Zugegeben, ein wenig geschmacklos, die letzte Aufforderung! Doch Cornelius war entschlossen, der bitteren Note der Verzweiflung viel Positives entgegenzusetzen, denn er mochte Junias. Seine Hormone goutierten dessen Pendants offenkundig mit "Standing Ovations"! Genau, vernünftig war, nicht zu negieren, was sie verband! Und waren Lamia nun rationale Wesen, oder nicht?! Von ihm, als notorischem Vernunftler mal ganz zu schweigen! ~¢~ Kapitel 21 - Scherben Cornelius richtete sich langsam auf, behutsam einen Arm unter Junias' Nacken einziehend, der prickelte, von gewissen Taubheitsgefühlen erfüllt. Junias selbst schlief tief und fest. Eine vage Ahnung von Erholung, testierte Cornelius erleichtert. Es gab nichts zu deuteln: Sex zählte zu den unbestrittenen Übereinstimmungen zwischen ihnen, auch wenn Cornelius sich dabei ertappte, mehr, nun ja, Techniken und Praktiken für überlegenswert zu halten. Unwillkürlich grimassierte er. Zu den Jugendlichen, die mit Pornos vertraut waren, zählte er ganz gewiss nicht. Ob die hilfreich wären, Junias zu vermitteln, dass zumindest diese gemeinschaftliche Beschäftigung unkritisch bis angenehm sei, war auch nicht gesichert. Allerdings musste man für Sex nicht verliebt sein, was möglicherweise ein nützliches Argument darstellte. Wenn Lamia sich nicht in Menschen verliebten. Er entstieg Junias' Bett, zog sich rasch an. Lautlos verließ er Junias' abgedunkeltes Zimmer, schloss die Tür hinter sich. Der Spaziergang sollte besser kurz sein. Auf dem Weg würde er die Papiertaschentücher entsorgen, sich dabei Gedanken machen, wie er Junias überzeugte, dass sie als Paar besser gegen die Phänomene ihrer Biologie gewappnet waren. ~¢~ Junias erschien zum verspäteten Kaffee, knabberte einige der selbstgebackenen Kekse. Er ließ sich nicht anmerken, wie es ihm ging, gab sich aufmerksam, was den geänderten Plan betraf, sagte auch zu, beim Tigerschnecken-Forschen mitzuhelfen. Im Internet würde sich bestimmt etwas Hilfreiches zur Zoologie finden lassen. Wenn Tigerschnecken eher einzelgängerisch agierten und sogar Artgenossen verputzten, würde eine Zucht wohl ziemlich aufwändig werden. "Aber wir können sie ja in den Garten locken." Tröstete Henk, der selbst Nützlinge nachzog, gute Bedingungen für ihr Gedeihen förderte. "Ja, wenn du Gemüse und Salat lieber selbst isst, werden wir den Bestand verteidigen." Neckte Junias Ruru. Der nickte entschieden. "Ich finde, die sollen lieber in den Wiesen draußen bleiben, Juni. Da stören sie mich nicht." Cornelius lächelte Ruru ermutigend zu, der so eine entschlossene Meinung äußerte. Die Hasenpower-Siesta tat ihm sichtlich gut. "Im Herbst können wir Tagetes-Samen ernten, Ruru. Da haben wir für das nächste Jahr Aussaat für lebende Schneckenzäune." Versprach Henk wohlwollend, eine Schnurrbartspitze einrollend. Eine Aussicht, die Ruru förmlich erstrahlen ließ. Darauf konnte man auch noch einen Keks in Angriff nehmen! ~¢~ "Komm bitte mit hoch." Bevor Cornelius noch in Erwägung ziehen konnte, womit er sich bis zum Abend beschäftigte, da entgegen der Erwartung die Wäsche noch geflaggt bleiben musste, zog Junias ihn mit, fasste sogar seine Hand, um die Treppe zu erklimmen. "Du hast uns angeführt!" Stellte Cornelius ernüchtert fest, denn Junias zog sich am Geländer hoch, wirkte gar nicht so sicher auf den Beinen. "Hilf mir." Eilig fasste er Junias unter, bugsierte ihn in einem wackligen Pas des deux in dessen Zimmer. "...bitte..." Aber auch ohne explizite Anweisungen fing Cornelius die Botschaft auf. Er half Junias auf dessen Bett, schloss die Tür hinter sich, entkleidete sich erneut. "Weißt du übrigens, dass es ein Gebot der Vernunft ist? Wenn unsere Biologie befriedigt ist, geht es uns bestimmt besser." Junias lachte kurz auf, hatte Mühe, sich aufzusetzen, um das Hemd über den Kopf zu streifen. "Du vergisst den Rausch." Murmelte er matt, rang mit seiner Hose. Cornelius griff ein, stupste Junias sanft auf die Matratze. "Ich bin dabei, Junias, also entfällt DER mir sicher nicht." Konterte er mit Nachdruck, sortierte rasch ihre Kleider beiseite, beugte sich anschließend über Junias. "Mir gefällt das sehr." Raunte er, küsste Junias' kalte Lippen engagiert. "Entdeckst du gerade ein neues Hobby?" Junias klang fast so spöttisch wie sonst, doch Cornelius entging die Erschöpfung keineswegs. Der Lamia hatte sich in einem aussichtslosen Kampf fast aufgerieben. "Ich dachte schon, Teamsport wäre gerade ein aussichtsloses Unterfangen." Retournierte Cornelius hochgestimmt, weil seine Hormone schon feierten. Müde lachend schlang Junias ihm die Arme um den Nacken. "Hilf mir einfach." Cornelius, der keinen Meistertitel anstrebte, aber Übung für notwendig hielt, befleißigte sich emsig, dieser Bitte nachzukommen. ~¢~ Ein wenig fühlte sich Cornelius doch wie ein Gigolo, als er erneut aus Junias' Zimmer schlich. Der war nach der ersten Runde Vollkontaktsport, horizontal, in sich zusammengesackt, eingeschlafen. Was Cornelius jedoch zu denken gab, war der Umstand, dass er zu keiner Blutspende aufgefordert worden war. Überhaupt, wenn man es überdachte: wie oft brauchte Junias diese milde Gabe? Wie hatte der sich beholfen, als Ende März von jetzt auf gleich alle Schulen geschlossen wurden? Möglicherweise nahm sich dieser "Bedarf" sehr viel geringer aus als die andere 'Komponente'. Wobei Cornelius sich eingestand, dass er keine Einwände hatte. Frivol, tendenziell dekadent, aber in ihrem Alter vielleicht nicht völlig zu verurteilen. Selbst die Kälte von Junias' Haut, ihre Glätte und Makellosigkeit störte ihn nicht mehr. "Dr. Jekyll und Mr. Hyde." Murmelte er, denn sich so der Begierde hinzugeben, also, das war das komplette Gegenteil von Vernunft, oder? Um das Ungleichgewicht zu korrigieren, begab er sich erst zur Wäschespinne, um schon Einiges einzusammeln. In der Wohnküche, wo er faltete, mit einer Unterlage auf dem großen Tisch bügelte, lauschte er gedämpft den Nachrichten. Hier, in dieser entspannten, grünen Atmosphäre konnte man glatt vergessen, dass Ausnahmezustand herrschte, wenn auch keineswegs die juristisch korrekte Entsprechung. Ob man sich doch mal mit Vorratshaltung und Biwak-Strategien befassen sollte? Da er sich vage erinnerte, ein recht betagtes Buch für die kluge Haushaltsbewirtschaftung im Regal erspäht zu haben, ging er auf die Suche, studierte den Inhalt, während er die Wäsche abwickelte, für das Abendbrot den Tisch deckte. ~¢~ "Luzie, ich glaube, da ist etwas Beton im Haar?" Bemerkte Cornelius nach kurzem Zögern, als Luzie sich zu ihm gesellte, Pfefferminztee aufbrühen wollte. "Wirklich?! Ach du meine Güte!" Sie tastete in ihrem wilden Lockenwust herum, in komischer Verzweiflung. "Oh, verflixt, ich hätte mir doch das Kopftuch umbinden sollen!" Ruru, der mit Henk eingetroffen war, auf einem Stuhl kniete, um sorgsam dünne Schnittlauchhalme zu zerteilen, inspizierte ebenfalls das Panorama. "Ja, Luzie, ich seh auch graue Klümpchen." Sprang er Cornelius zur Seite. "Kann man die auskämmen?" Zweifelte Cornelius, der mit Beton eine gewisse Permanent-Härte verband. Luzie grimassierte grämlich. "Verflixt aber auch! Wenn ich nächste Woche beim Frisör mit Beton erscheine, wird der mich raussetzen!" Und der regelmäßigen Lektion entwischen! "Ich kann die rausschneiden. Mit einer nicht spitzen Schere." Bot Ruru an, zog sein Hasentuch aus der Wäscheklammer, offerierte es Luzie. Die nahm das Trostpflaster, knuddelte das Hasentuch demonstrativ. "Oh, würdest du das machen, Ruru? Das wäre prima! Ich mag es nämlich nicht, wenn ich den Termin verpasse." Entschieden nickte Ruru, verstaute sein Hasentuch wieder. "Ich kann das! Im Kindergarten war ich ziemlich gut beim Ausschneiden für Fenstersterne." "Prima! Aufsteigen und festhalten!" Sie baute sich mit dem Rücken zu Ruru auf, legte sich dessen Ärmchen um den Hals, sicherte sie vorne, beugte sich leicht. "Los geht's! Hucke-Pack, Hucke-Pack! So ziehen wir, Zick-Zack, Zick-Zack!" Ruru quietschte vor Vergnügen, während Henk ihnen die Türen öffnete, sie zum Badezimmer begleitete. Cornelius lächelte. Er war froh, dass er keinen Stich von Eifersucht verspürte. Ruru tat menschliche Wärme gut, das konnte jeder sehen! "Was ist da los?" Junias kam vom Garten herein, die restlichen Wäsche-Nachzügler über einem Arm. "Ruru schneidet Luzie Betonstückchen aus den Locken." Erklärte Cornelius, betrachtete Junias prüfend, was nicht viel half, leider. Dem entging die Musterung selbstredend nicht. "Mir geht's schon besser." Brummte er, wie es Cornelius erschien, ein wenig widerwillig, widmete sich der Wäsche. "Schön, ich bewähre mich wenigstens als Schlafmittel." Lockte Cornelius herausfordernd. Junias seufzte. "Ich gebe mir Mühe. Vernunft reicht da nicht immer aus, um sofort alles umzureißen, was mich bisher ausgemacht hat." Cornelius intervenierte eilig. "Ich möchte dich gar nicht verändern..." "Tja, der Zug ist abgefahren, denn zurück kann ich nicht mehr." Junias schnaubte frustriert. "Ich dachte immer, dass Pubertät für Menschen höllisch sein muss, Mutation am laufenden Band! Wie gut, dass Lamia diese Probleme nicht haben!" Cornelius überwand die Distanz, wich den Händen aus, die ihn aufhalten sollten, umarmte Junias. "Wir kriegen das hin, bestimmt. Gemeinsam lassen wir uns was einfallen." Junias grummelte grollend an seiner Halsbeuge. "Jetzt verstehe ich, warum Ruru so an dir hängt! Reichlich perfid. Nicht mal jammern und ätzen darf ich noch!" Glucksend strich Cornelius über den leicht verspannten Rücken. "Tja, ich hab noch nicht herausgefunden, wie ich den 'Eltern-Modus' ausknipsen kann." Neckte er Junias, küsste sanft eine kalte Wange. "....nein...ich sag jetzt nichts." Entschied Junias, ihn aus burgunderroten Augen inspizierend, aber Cornelius ahnte durchaus, dass Junias nicht noch einen Satz "Eltern" benötigte. In der Kürze der Zeit enge Freunde zu werden, das Ziel war noch nicht erreicht. »Doch wie fand man heraus, wie man ein aufmerksamer Liebhaber wurde?« Fragte sich Cornelius, wich dem sezierenden Blick nicht aus. ~¢~ Dank Rurus unerschrockener Operation mit einer Bastelschere zeigte sich Luzie beim Abendessen "beton-befreit". Ruru kicherte mit ihr, unterhielt sich blendend. Dass Henk ihm anschließend ein Kapitel aus dem Buch zum Gemüseanbau vorlas, einander gekuschelt auf dem großen Sofa, stimmte ihn förmlich selig. Cornelius half wie gewohnt beim Zähneputzen und Umziehen, brachte Ruru in ihr Zimmer. Er ließ sich geduldig alles berichten, was Ruru an diesem Tag besonders in Erinnerung war, bis der Wortfluss versiegte und er einschlief. Behutsam lehnte er die Tür an, kehrte in die Wohnküche zurück. An Luzies Arbeitsplatz durfte er sein elektronisches Postfach abfragen. Tatsächlich. Reichlich spät Aufgaben für den nächsten Tag, Freitag. Kein Präsenzunterricht, dafür der Hinweis, wie gewohnt spätnachmittags die Pläne für die nächste Woche zu versenden, weil man eben notgedrungen die Anweisungen der Landesregierung abwarten musste. Das entsprechende Gremium setzte sich frühestens ab 15 Uhr zusammen. "Möchtest du die Aufgaben ausdrucken?" Bot Luzie an, die mit Henk die Nachrichten im Radio verfolgt hatte. "Danke, ich schreibe mir lieber das Wesentliche gleich auf." Nur befanden sich seine Schulsachen ja oben. Zwinkernd reichte ihm Luzie einen Collegeblock. "Bedien dich, Cornelius, aber nicht vergessen, das sind die Aufgaben für morgen, nicht für den Feiertagsabend." Gehorsam nickte Cornelius, denn er hegte keine Absicht, sich jetzt noch mit den Details zu beschäftigen. Rasch loggte er sich anschließend aus, wechselte zur Regalwand hinüber. Taschenbücher, kitschige Aufdrucke, Stempel "Mängelexemplar", etwas zerfleddert. Die Cover verrieten schon im Wesentlichen die Handlungsstränge oder -fädchen: "Leidenschaftliche Romanze mit Hindernissen!" Nichts, das zuvor Cornelius' Interesse geweckt hätte oder ihm bei seiner Mutter über den Weg gelaufen wäre. Sie las allerdings ungern, bevorzugte entsprechende Serien und Filme. Er wählte einen kürzeren Band aus, ließ sich am Küchentisch nieder. Wenn man querlas, so seine Theorie, sollte es möglich sein, Handlungsempfehlungen zu extrahieren. Da es sich hier um eine Version für "Erwachsene" handelte, hoffte er auch auf gewisse Details in technischer Hinsicht. So groß konnten die Unterschiede ja nicht sein! ~¢~ Etwas befremdet und ernüchtert begab sich Cornelius nach seiner Hygiene-Session nach oben. Zugegeben, die kitschig-überdrehte Handlung war definitiv Geschmackssache, aber für die übrige Recherche: stereotyp. Er vermutete fast, dass man mit Textbaustein-Versatzstücken operierte, was ihn wieder in die Startblöcke verbannte. Leise klopfte er an Junias' Zimmertür. "Komm rein." Junias saß auf seinem Bett, las auf einem elektronischen Lesegerät, deaktivierte es jedoch, verbannte es auf den Schreibtisch. "Ich wollte nachsehen, ob du heute schlafen kannst." Erklärte Cornelius seine Stippvisite. Auffordernd klopfte Junias neben sich auf die Matratze, in Schlagdistanz quasi, was ihr "Duft-Problem" betraf. Dennoch nahm Cornelius Platz. "Nervt es dich?" "Mich?!" Erstaunt wandte Cornelius den Kopf. Junias schnaubte, legte sich die Hände vors Gesicht. "Oh, ich vergaß, du bist ja noch im 'Kümmer-Modus'!" Einerseits korrekt, andererseits aber auch ein klein wenig ungezogen, weshalb Cornelius entschieden die kalten Hände abpflückte, einkassierte. "Ja, ich hab nun mal dieses Helfersyndrom bei Personen, die mir sehr nahe stehen. Aber das hier mit uns ist anders! Nein, es nervt mich nicht, weil es mir sehr gefällt, mit dir intim zu werden. Kannst du mir folgen?!" Antwortete er Junias dezidiert, etwas ungehalten. Was ihm im selben Augenblick erschreckte, weil sich so ein Ausbruch nie auszahlte. Junias gluckste, blinzelte. "Ja, ich werde dir gleich wie eine Gottesanbeterin den Schädel abbeißen. Es ist unvernünftig, aber MICH nervt es, mein Problem nicht selbst lösen zu können." Cornelius rollte die Schultern, bevor er seine Courage in die Waage warf. "Wenn wir es nicht als Problem, sondern als Chance sehen?" Bevor Junias ansetzen konnte, ihm spöttisch vorzuhalten, dass die Lektüre von zu vielen Ratgebern ihm schadete, fuhr er fort. "Ich mag dich. Ich mag es, Sex mit dir zu haben. Dafür musst du dich nicht verlieben. Reicht es nicht, wenn wir einfach für diese Zeitspanne MEINE Gefühle teilen?" Junias wandte den Kopf ab. "Klingt vernünftig und rational. Aber DU hast die Kontrolle. DAS setzt mir zu. Meine Instinkte spielen einfach verrückt, ich will wegrennen und gleichzeitig nachgeben. Das hat nichts mit Verstand zu tun." Er blickte Cornelius wieder an. "Menschen haben kaum noch Instinkte, deshalb kannst du das vielleicht nicht nachvollziehen. Sich ausliefern, das dreht bei mir alles auf links!" Cornelius gab jedoch nicht so leicht auf. "Aber wenn sich zwei Lamia begehren, liefern sie sich doch aus, oder nicht?" Sonst säße, glaubte man zumindest den Erzählungen, dieser Lamia ja nicht hier, drückte unbewusst seine Hände! "Na ja, schon, doch das sind ja andere Umstände." Relativierte Junias irritiert. "Trotzdem ist das Konzept nicht völlig fremd, sich temporär anzuvertrauen, Kontrolle abzugeben." Setzte Cornelius gründlich einen Haken. "Schön. Wir müssen eben zusehen, wie wir mich Lamia-prägen. Bei dir funktioniert die Menschen-Prägung ja auch." ~¢~ "Wie soll das denn funktionieren?" Ließ Junias endlich seine Skepsis heraus. Cornelius buchte das als Erfolg. "Also, wenn MEINE Gefühle übertragen werden, haben wir eine Verbindung, richtig? Warum soll die nur in eine Richtung arbeiten? Ich meine, wenn wir uns küssen, schärfen sich meine Sinne. Folglich muss es möglich sein, mich zumindest zeitweise umzupolen." Was ihn keineswegs erschreckte, mit dem Ansichtsexemplar hier vor sich. Junias lachte erstickt auf, ungläubig aber auch verunsichert. "Möglicherweise sind Menschen einfach kontaminierend?" Schnaubte er grimmig. "Und invasiv, ganz sicher. Hast du es denn schon mal versucht? Nicht tarnen, anpassen, sondern umgekehrt erobern, erkunden?" Schließlich agierten Lamia zwar als Jäger, aber der verborgenen, heimlichen, vorsichtigen Variante. Junias stand der Mund offen. "...ich soll...ich soll dich attackieren?!" "Nicht unbedingt körperlich, aber mit deinen Gefühlen und Bedürfnissen." Nickte Cornelius unbeeindruckt. Es gehörten zwei zum Tango. Was er aus der Romanze mitgenommen hatte, schien ihm zu einseitig. "..aber...ich...ich weiß nicht, wie das geht! Das ist auch gar nicht unsere Art! Und..." Cornelius drückte sanft die kalten Hände. "Dein Körper reagiert trotzdem wie meiner. Gefällt dir das nicht? Willst du das nicht, selbst wenn es für die Nachtruhe nicht nötig wäre?" Junias stammelte unzusammenhängende Silben, das Gesicht unbewegt, was einen seltsamen Kontrast ausmachte, doch Cornelius registrierte, dass er sich auf andere Zeichen konzentrierte. So ganz unleserlich war Junias demnach doch nicht. "Oh, jetzt bekomme ich wieder Kopfschmerzen! Das~das ist alles durcheinander!" Beklagte sich Junias, entzog ihm die kalten Hände. "Nun gut." Stellte Cornelius fest. So schnell konnte man das Problem wohl kaum lösen. Deshalb griff er auf die bewährte Variante zurück. Kontaminierend Junias eine Mütze voll Schlaf zu verschaffen, auch wenn er sich ein wenig langweilig bei der Methodik vorkam! ~¢~ Der Morgen begann keineswegs so harmonisch, wie der Abend abgeschlossen hatte. Beim Tischabdecken nach dem Frühstück rutschte Ruru der irdene Kaffeebecher von Henk aus den Händen. Er zerschellte auf dem Boden. Ebenso schlagartig wurde Ruru kreidebleich, bevor er in Tränen ausbrach. "Oh, nicht doch, Ruru, in diesem Haus bringen Scherben kein Unglück!" Cornelius, der hochgeschossen war, wurde durch Junias' eisernen Handgriff gebremst. Luzie beugte sich herunter, um Ruru zu umarmen, der vor Entsetzen japste. Sie lupfte ihn an. Henk, der sich erhoben hatte, pflückte Ruru steif aus ihren Armen. "Nicht schlimm, nicht schlimm." Klopfte er Ruru sanft auf den Rücken. "Einige Scherben nimmt Luzie, einige nehmen wir für unsere Töpfe. Ich kann aus anderen Bechern Kaffee trinken." Ruru schluchzte untröstlich, stammelte Entschuldigungen. Henk bugsierte ihn aus dem Haus, in den Garten, während Junias endlich Cornelius freigab. "Ah, kannst du mir gerade die Kehrgarnitur reichen? Danke! Dann wollen wir mal." Luzie beäugte das Kehrgut, sortierte durch. "Weniger zu spülen, auch nicht schlecht. Junias, schau mal, im Schrank oben steht bestimmt noch ein Becher. Den wasche ich lieber aus, bevor Henk seinen Kaffee draus trinkt." Sie zwinkerte. "Nur keine Sorge, Cornelius, es ist bloß ein Becher. Ich hab eine Menge in meinem Leben zerdeppert. Ruru wird sich schon wieder beruhigen." Mühsam nickte Cornelius, dessen Impuls sofort gewesen war, Ruru beizuspringen. Verständlich, aber nicht hilfreich, wenn sie sich hier integrieren wollten. "Lass uns das Abspülen übernehmen, Luzie. Du kannst schon mal die Ausbeute verteilen." Schlug Junias vor. Luzie nickte, klopfte ihm auf den Unterarm. "Danke schön, Jungs, gute Idee!" Kaum hatte sie munter und energiegeladen das Kehrgut aus der Wohnküche transportiert, zischte Junias. "Ich weiß, du bist ärgerlich, aber Ruru soll doch Eltern haben, oder?!" Cornelius atmete tief durch. "Ich bin nicht ärgerlich, denn ich weiß das selbst. Mein Instinkt ist eben schneller." Neben ihm knurrte Junias. "Belüge dich bitte nicht selbst! Nur, weil du bestimmte Emotionen als unfein empfindest, sind sie nicht verschwunden. ICH habe nämlich keine Lust, ärgerlich zu sein." Cornelius, der sich ein Geschirrtuch vom Haken nahm, konnte eine Replik nicht unterlassen. "Ach, und es kann nicht sein, dass du aus anderen Gründen ärgerlich bist?" Junias fegte herum, funkelte ihn aus burgunderroten Augen an. "Was nicht heißt, dass ich Lust darauf habe!" Grimmig stippte er einen Lappen ins heiße Wasser, polierte unversehrtes Geschirr. "Du hast gestern gesagt, dass wir die umgekehrte Richtung erproben wollen, oder nicht?! Aber du hast wieder alles an dich gerissen!" Wütend presste er die Lippen zusammen, planschte energischer. Cornelius konnte den Vorwurf nicht negieren. "Stimmt, weil ich dachte, dass du nicht die Initiative ergreifen würdest. Es ist vermutlich einfallslos, aber ich habe nicht so viel Erfahrung. Die Lektüre aus den kitschigen Romanzen war auch nicht hilfreich." Konterte er entschieden. Erneut rotierte Junias. "Aha! Woher soll ich Erfahrung haben?! Damit du gleich Bescheid weißt: ich will da unten nicht abgeleckt werden oder mir was reinstecken lassen!" Nach einigen Atemzügen fühlte sich die heftige Röte in Cornelius' Wangen nicht mehr wie Fleckfieber an. "Das~das war nicht meine Absicht. Das würde doch Zubehör und Vorbereitung verlangen, richtig?" "Will ich nicht wissen!" Fauchte Junias, klatschte den Spüllappen ins Wasser, dass es spritzte. "Ich MAG das nicht! Ich will nicht die Kontrolle verlieren! Was soll mich denn aufhalten, wenn ich loslege, hm?! Du denkst ja wohl nicht, du könntest mir was entgegensetzen!" Cornelius runzelte die Stirn. "Also, einige deiner Methoden funktionieren bei mir ja nicht mehr..." Für hemmungslos gewalttätig hielt er Junias nun wirklich nicht. Außerdem ging es ja auch eher um andere Leidenschaften. "Verdammt, du bist so stur! Das macht mich noch wahnsinnig!" Schäumte Junias figurativ, ballte die Fäuste. Er zerdrückte dabei einen Keramikteller, der eigentlich bloß abgewischt werden sollte. ~¢~ Kapitel 22 - Nackige Dinosaurier "Ich sehe nur Abschürfungen, die geblutet haben. Da muss nichts genäht werden." Luzie, die Ruhe selbst, wickelte einen leichten Verband um Junias' Rechte. "Aber so langsam erkenne ich die Vorteile einer Geschirrspülmaschine." Sie zwinkerte, um sie aufzuheitern. "Der hatte wahrscheinlich schon einen Sprung." Mutmaßte Henk gelassen, drückte Junias kurz eine Schulter. "Lass es langsam angehen, die Aufgaben laufen nicht weg." Junias nickte stumm. "Was meinst du, Ruru, ob deine Ananasminze uns ein paar Blättchen geben würde? Da setze ich einen Tee an." Mit einer Aufgabe betraut, an Henks großer Hand schien Ruru sein Mäuseloch verlassen zu wollen. "Ich schau mal nach." Versprach er, äugte kläglich zu Henk hoch. Der zwinkerte aufmunternd. "Wir schauen gemeinsam, was heute im Garten zu tun ist. Vielleicht ist der grüne Spargel schon groß genug für eine kleine Ernte." Luzie verstaute das Verbandszeug in einem recht altmodischen Alu-Koffer. "Das ist bald verheilt, Junias." Sie umarmte ihn kurz, wuschelte ungeniert durch seine silbergrauen Locken. "Ja, danke. Ich gehe nach oben, mir etwas anderes anziehen." Die Blutspritzer sollte man besser rasch in kaltem Wasser entfernen. "Darf ich dir helfen?" Cornelius meldete sich zu Wort. Er spürte, dass Junias ablehnen wollte, auch wenn er nichts von dessen Miene ablesen konnte. "Oh, gute Idee, Cornelius! Schone deine Rechte ein Weilchen, Junias. Gegen Mittag sehen wir mal nach, wie es sich entwickelt hat." Solcherart aufgefordert konnte Junias Cornelius' Assistenz nicht ablehnen. Was nicht hieß, dass er mit ihm Worte zu wechseln wünschte! Cornelius akzeptierte das Schweigegebot, denn er fühlte sich anteilig verantwortlich. Wenn~wenn Junias doch nicht so hasenfüßig wäre! Immer vom Schlimmsten ausgehend, sich nichts zutrauend, seine Lamia-sind-so-Festung nicht verlassend! Seinen Groll konnte er jedoch nicht offenbaren, denn das führte nur zu weiterer Ablehnung, vermutete er zumindest. "Jetzt stell dir vor, das wäre deine Hand gewesen." Wisperte Junias, als er ihm mit einem weiten Hemd half. "DU willst, dass ich offensiv bin?! Bei meinen Fähigkeiten und Kräften ist das viel zu riskant." Überrumpelt schob Cornelius seine Empfindlichkeiten beiseite. "Woher willst du wissen, dass du mich verletzt? Wie kannst du so sicher sein, dass deine Leidenschaft darauf hinausläuft?" Junias fauchte. "Aber du bist kein Lamia! Ein Lamia könnte blitzschnell reagieren, wäre genauso stark...!" Cornelius unterbrach ihn energisch. "Wir reden hier doch nicht von einem Ringkampf! Ist DAS deine Wahrnehmung von meinen Gefühlen?! Dass ich dich bezwingen und unterdrücken will?!" Das konnte Junias doch nicht wirklich annehmen?! "Noch nicht, aber das Animalische kommt noch! Du fängst doch gerade erst an, und wenn du Blut gerochen hast...!" Junias ballte die Fäuste, was für seine Rechte kein besonders gescheiter Zug war. Er zischte leise. Cornelius hingegen registrierte einen Blitz der Erkenntnis. "Also, Blut ist gerade nicht unser Thema." Stellte er ruhig fest. "Darf ich mal fragen, was du erwartest, dass ich mit dir anstelle? Wenn ich meine inneren Bestien von der Kette gelassen habe?" Ergänzte er durchaus bissig, provozierend. "Ich bin nicht blöd! Aber ich will das nicht! Kommt nicht in Frage!" Junias schüttelte heftig den Kopf, verschränkte die Arme vor der Brust. Was auf Cornelius jedoch eher wirkte, als wolle der sich schützen, eine Barriere aufbauen. Er riskierte einen Schuss ins Blaue. "Kann es sein, dass du Pornos gesehen hast und mir um Welten in Sachen angewandte Körperrhythmik voraus bist?" ~¢~ Etwas steif nahm Henk neben Ruru auf der verwitterten Gartenbank Platz, kaute auf seinem Anteil an Sauerampfer. Der wuchs üppig im Schattenbereich, wo es auch ein wenig bodenfeucht war. Ruru kauerte noch immer kläglich neben ihm, die nackten Füße weit vom Boden weg. "Ich bin nicht böse auf dich, Ruru." Versicherte Henk, legte einen Arm um die schmächtigen Schultern. "War nur ein Becher, aus dem ich gerade getrunken habe. Gab schon viele Becher, manche sind verloren gegangen, andere kaputt." Ruru, ohne Hasentuch, beklammerte den Saum seines verwaschenen T-Shirts. "Aber es war dein Becher." Murmelte er unglücklich. "Hast es doch nicht absichtlich getan. Kleine Missgeschicke passieren jedem, das ist normal." Beruhigte Henk mit seiner sonoren Stimme. "Denk mal, jetzt wird was anderes draus. Luzie bastelt gern, wir nehmen die Reste für die Abzugslöcher in den Töpfen. Darüber wachsen ganz unterschiedliche Pflanzen. Irgendwann sind alle Scherben zerbröselt, da wird wieder was Neues draus." Er registrierte den zögerlichen Blick zu ihm hoch. "Ist so, dass nichts Neues entsteht, wenn sich nicht was ändert. Wenn ein Baum vom Blitz getroffen wird, abstirbt, entstehen viele andere Pflanzen, Pilze und Lebewesen." Henk zwirbelte ein Schnurrbartende. "Ohne einen großen Padauz gäbe es nicht mal Menschen." Nun hatte er Rurus Aufmerksamkeit, der schüchtern an seiner Seite lehnte, was nicht sonderlich angenehm sein musste eingedenk seines Stützkorsetts. "Ist schon mächtig lange her, da sah es hier auf der Erde ganz anders aus. Da waren riesige Dinosaurier unterwegs. Stell dir vor, mindestens dreimal so hoch wie unser Haus!" Rurus Hände krampften nicht mehr so unruhig im T-Shirt-Saum. "Die gibt es aber nicht mehr, oder?" Stellte er schüchtern fest. "Genau! Auf der anderen Seite ist ein großer Brocken aus dem Weltall eingeschlagen. Das hat alles verändert. Vorher hätten Menschen gar nicht leben können, weil die Luft und die ganze Vegetation anders war. Die Pflanzen waren alle anders, nicht so variantenreich wie heute. Erinnerst du dich an den Schachtelhalm, hinten, beim Zaun? So ähnlich waren die damals, nur riesig groß." Ruru erwog die Stichhaltigkeit dieses Vergleichs. Zugegeben, ein Becher konnte da nicht mithalten! "Ich hab noch nie echte Dinosaurier gesehen." Bekannte er verlegen. Henk schmunzelte in seinen prächtigen Vollbart. "Oh, das glaub ich schon! Ist nämlich so, dass Vögel den Dinosauriern in vielen Dingen ähneln. Sind quasi die Nachfolger." Er blickte zu Ruru hinunter, der ihn verblüfft anstaunte. "Ja, das soll man nicht annehmen, hm? Ich meine, ich könnte mir jetzt keine Ente vorstellen, die dreimal so groß ist wie unser Haus." Nickte Henk gelassen. Unwillkürlich warf Ruru einen Blick in die Richtung des Hauses. "Wenn man so einen nackigen Dinosaurier mit einem nackigen Vogel vergleicht, das ist schon verblüffend. Spannende Sache." Ruru drückte den T-Shirt-Stoff. "Ein nackiger Dinosaurier?" "Hm~Hm. Nur die Knochen. Meist ist ja alles andere über die Zeit aufgelöst, wie beim abgestorbenen Baum. Gibt ein Museum, da kann man die anschauen, mit riesigen Hallen. Dinosaurier an Land, im Wasser und sogar fliegende Dinosaurier." "Oh." Schmunzelnd drückte Henk sanft eine kleine Schulter. "Können wir mal hinfahren. Wenn das Virus weg ist." Ruru zögerte. "Ist es weit?" "Nicht so weit. Ein bisschen was kann man auch im Internet anschauen. Ist aber nicht dasselbe." Fand Henk, denn irgendwie wirkte für ihn das Bildmaterial nicht so real wie das Erlebnis vor Ort. "Haben wir so viel Geld?" Piepste Ruru merklich nervös. Henk kraulte den zarten Nacken sanft. "Aber ja. Wir fahren hin und schauen uns die Dinosaurier an. Dann sind wir bestimmt froh, dass die nicht mehr herumlaufen." Ruru kuschelte sich an, wagte sogar, ein wenig die Beine zu baumeln. "Ich bin jetzt schon froh. Wenn die Ente nämlich so-so-so groß ist..." Demonstrierte er die gewaltigen Dimensionen, blickte zu Henk auf. "...wie groß wären dann die gemeinen Schnecken?!" Nach einem Augenblick der Verblüffung brach Henk in schallendes Gelächter aus. ~¢~ "Das kommt nicht in Frage! Ich WILL das nicht!" Fauchte Junias, wollte sich an Cornelius Richtung Zimmertür vorbeischieben. Der wirbelte herum, schlang die Arme um Junias' Oberkörper. "Wovor hast du solche Angst?" Blieb er eisern bei der Sache. In der komplizierten Situation konnte er zumindest eine Gewissheit verbuchen: Junias fürchtete sich. "Oh, du meinst neben Entdeckung, Ausgrenzung und Schlimmerem?!" Ätzte der gerade, doch Cornelius registrierte, dass seine Nähe, sein Körpergeruch bereits wirkten. "Du hast mich zuerst geküsst." Erinnerte er ruhig. "Nimmst immer wieder meine Hand." Junias schwieg verbissen. "Lamia haben's nicht so mit dem menschlichen Bedürfnis nach Kontakt, stimmt das nicht? Aber ich bin die Ausnahme. Es ist nicht bloß einseitig. Ich habe versprochen, dir nichts anzutun. Ich komme mir einfallslos vor, aber jetzt habe ich den Eindruck, dass MEINE Einfälle nicht das Problem sind. Verrate mir bitte, was los ist." Junias reckte das Kinn, presste die Lippen betont aufeinander. Man hätte sich ärgern können, aber Cornelius empfand Mitgefühl. Von dem selbstsicher-auftrumpfenden, gewandten, ja, mondänen Jugendlichen blieb nichts mehr als eine Fassade übrig, hinter der Junias sich zu verstecken pflegte, in ständiger Angst, durch einen fatalen Fehler seine Andersartigkeit zu verraten. Wobei diese Cornelius gar nicht mehr sonderlich bemerkenswert erschien. Nun, zugegeben, bei manchen Sportarten wäre es ein unfairer Vorteil, doch den schien Junias proaktiv schon gar nicht erst in Erwägung zu ziehen! Er betupfte Nacken und Wange mit Küssen. "Ich kann's nicht besser machen, wenn du mir keine Hinweise gibst." Bemerkte er leise, setzte auf die Wirkung, die er gar nicht wissentlich beeinflussen konnte. Junias schnaubte, aber er konnte wohl kaum ewig die Luft anhalten. Cornelius konstatierte: es schien ihm gar nicht in den Sinn zu kommen, sich mit Gewalt freizumachen. "Ich will das nicht tun. Auch nicht mit mir machen lassen." Murmelte Junias schließlich. Cornelius wartete geduldig, signalisierte, dass er dieses Sujet nicht aufgeben würde. Prompt seufzte Junias ungehalten. "Na schön! Auf der Schule ist so ein geltungssüchtiger Blödmann, die Sorte, die irgendjemanden zum Piesacken braucht. Ich falle auf, also bin ich arrogant, eitel und verkappt schwul. Ich hab ihn ignoriert, weil ich seine Dummheit als langweilig empfand." Er atmete tief durch. "Über Messenger wollte er mich mobben. Ich hab nicht reagiert, war mir zu dumm. Da hat er Videos geschickt." Cornelius merkte, wie sich Junias verkrampfte, die Schultern hochzog. "Das war abstoßend! Mir ist menschliches Kopulationsverhalten vollkommen gleich. Nicht MEINE Baustelle! Ich finde es widerlich! So was tue ich nicht!" Die erneut geballten Fäuste lösten ein unterdrücktes, zähneknirschendes Winseln aus. "Wie hast du reagiert?" Erkundigte sich Cornelius sanft. Junias knurrte. "Ich hab seine Nachrichten an seinen Vater umgeleitet. Da war schnell Schluss. Allerdings halten die meisten jetzt großen Abstand zu mir: wer das Schulhof-Großmaul in die Schranken weist, ist gefährlich." Was Cornelius nun auch erklärte, warum der sich jovial gebende Junias so wenig Kontakte mit seinen Mitschülern hatte. Nicht nur der Schulwechsel trug daran Schuld. "Sehr nachsichtig von dir." Urteilte er laut. Rurus Vater hatte einen Ausflug in einen Müllcontainer unternommen. "Der hat mich angegriffen!" Schimpfte Junias empört, wandte sich in Cornelius' Umklammerung herum. "Ich lass mich doch nicht einfach so angrabschen!" "Da bin ich absolut auf deiner Seite." Seufzte Cornelius mit schiefem Grinsen, da ER mehr als einmal die "Handschrift" von Rurus Vater zu spüren bekommen hatte. Er studierte die burgunderroten Augen. Prompt drehte Junias den Kopf, präsentierte sein Profil. "Ich verspreche, dass ich weder Anal- noch Oralsex praktiziere." Kam Cornelius entschlossen auf ihr Thema zurück. Junias schwieg beharrlich. "Aber Küssen und, nun ja, Petting ist doch erlaubt, oder?" Man ließ sich auf keine Äußerung ein. Cornelius seufzte betont. "Hör mal, Junias, ich weiß zwar, dass man sich um erogene Zonen bemühen sollte, aber so einfach ist das nicht. Findest du, dass ich deine Brustwarzen kneifen sollte?" "Wie?! Nein! Untersteh dich!" Fauchte Junias, rammte ihm die Linke geballt gegen die Schulter. "Schön, kam mir auch nicht wie eine gute Idee vor." Pflichtete Cornelius ihm amüsiert bei. "Leider wurde es etwas unpräzise, aber ich glaube, der Held lutschte auch an Zehen." Junias' maskenhaft-ausdruckslose Miene kontrastierte erheblich zu seiner verbalen Entrüstung. "An den Zehen lutschen?! Igitt! Überhaupt, wieso willst du mich ablecken?!" Nun konnte Cornelius nicht mehr länger an sich halten, lachte. "Ich versuche bloß mit deiner Methode zum Erfolg zu kommen: Theorie, Praxistest, Ergebnis." "Mit grauenvollen Kitschromanen?!" Feuerte Junias aufgebracht zurück. "Mir hat niemand Pornos geschickt." Bestätigte Cornelius pointiert. Abrupt kehrte Junias ihm wieder das Profil zu. "Du hast nicht mit Henk und Luzie darüber gesprochen?" "Pff!" Junias blickte stur zur Seite. Aber da er noch immer Cornelius zugewandt stand, konnte der ihn mit Küssen auf Schläfe und Wange betupfen. "Ich will keinen Ärger machen. Ich bin nicht hier, um sie zu belasten. Es ist schon unfair genug, ihnen nicht zu sagen, was ich bin. Dass ich über meine Umstände gelogen habe." Cornelius verstärkte seinen Griff, um eine Umarmung zu initiieren. Dafür, dass Lamia Menschen als Nahrungsquelle, Unterhaltung und Beute betrachteten, eine verblüffende Rücksichtnahme. WENN man der Theorie glaubte. "Weißt du, was ich denke? Und ich meine nicht meine Gefühle." Unterband er gleich spitze Retourkutschen. "Bin ich Gedankenleser?!" Grollte Junias, seinem Blick ausweichend. "Ich denke, dass Lamia gar keine einsamen Jäger sind. Vielleicht könnt ihr es nicht miteinander aushalten, aber allein sein ist bestimmt nicht das Idealziel. Ihr braucht Gesellschaft, Gemeinschaft, Vertrauen und Nähe wie alle anderen auch. Die Unterschiede zwischen uns sind marginal." "Pff!" Kommentierte Junias. "Ich denke, dass du dein Leben bisher in Angst verbracht hast. Verständlich. Ich kann dir folgen, denn mir ging es ja auch nicht anders. Da klammert man sich eben an das bisschen Kontrolle, das man hat. Und dann begegnen wir uns." Cornelius holte tief Luft. "Den ganzen Kitsch beiseite lassend: wir SIND voneinander angezogen. Der Pakt ist bloß die Tünche, oder nicht? Mit meiner nüchternen Bruderkomplex-Ersatzeltern-Attitüde bin ich vermutlich gar nicht geeicht, um mich zu verlieben. Aber ich mag dich sehr. Ich will dir nahe sein. Wenn du den Mut findest, mir auf dieser Ebene auch entgegenzukommen, spielen vielleicht deine Instinkte nicht mehr verrückt. Wenn Lamia keine Menschen lieben, betrachte mich als dein Ehren-Lamia. Das ist die Theorie, die ich in der Praxis testen will." ~¢~ Für eine Weile blieb Junias ruhig. Cornelius wartete geduldig. Vernunftgründe hatte er ausreichend geliefert, Zusicherungen geleistet, doch hier ging es um Mut. Um den Mut, ein erhebliches Risiko einzugehen. "Du testest schon." Murmelte Junias an seiner Schulter. Ein Glucksen unterdrückend antwortete Cornelius. "Dem Enthusiasmus geschuldet. Bitte übersieh es einfach." Junias grummelte. "Schwerlich möglich, es ist doch prominent, um nicht zu sagen hervorstechend." Lachend gab Cornelius ihn aus der Umarmung frei. "Ich bemühe mich, das Problem zu lösen." "Bei unserem Glück eierst du die Treppe runter, brichst dir den Hals." Grollte Junias. Cornelius streckte ihm die Hand hin. "Wir könnten es gemeinsam beheben." "Ich bin invalide!" Lupfte Junias seine Linke, funkelte ihn an. "Und ziemlich ängstlich." Kommentierte Cornelius daraufhin treffend. "Außerdem ist helllichter Tag und du hast Schulaufgaben!" Bellte Junias, merklich im Rückzugsgefecht, was Cornelius veranlasste, auf ihn zuzugehen. Junias widerstand der impulsiven Eingebung, ihren Abstand durch Zurückweichen zu erneuern. "Bitte küss mich." Forderte Cornelius, strich sanft über die kalten, zur Abwehr erhobenen Hände. "Warum sollte ich?! Gerade ist mir so gar nicht danach!" Proteste abkürzend kaperte Cornelius die Initiative, küsste Junias. "Wenn du wütend bist, kehre die Leitung um." Raunte er Junias zu. "Ich hab gesagt, das geht nicht!" Wich Junias seinem Blick aus, wollte nun doch zappelig entwischen. Cornelius drapierte sich mit bestimmtem Griff die Arme um den Nacken. "Wenn du nicht wütend bist, lass mich wissen, wie du dich fühlst." Forderte er Junias auf, dessen Hüften umschlingend. Er ahnte vage dessen Angst. "Mach die Augen zu. Stell dir einen Ehren-Lamia vor." Bot er als Alternative an. "Quatsch, ich weiß doch, dass du es bist!" Schimpfte Junias, schniefte. "Mein Kopf tut schon wieder weh!" "Stell dir vor, dass du mich küssen willst. Dass du ein furchtloser Jäger bist und deine Beute in Reichweite hast." Natürlich forderte das erneuten Protest heraus, den Cornelius abkürzte, Junias leidenschaftlich küsste, die kalte Zunge umschmeichelte, die Stirn an die silbergrauen Locken lehnte, um Luft zu holen. "Es wird nichts Schlimmes passieren." Raunte er Junias zu, der tatsächlich die Augen zukniff. Angst. Immer noch. Aber auch ein gewisser Anteil an Begehren, meldeten Cornelius' geschärfte Sinne. Dabei handelte sich doch um keine Premiere! Andererseits hatte sich Junias vielleicht bisher auch nicht voll eingelassen, sondern bloß in größter Erschöpfung nachgegeben. Da konnte man eigentlich nur hoffen, dass die eigene Lust ein gegengleiches Echo erzeugte. Weil Cornelius merklich die Hose kniff, ging er in die Vorlage. Küssen und Handanlegen waren ja nicht verboten! ~¢~ "Du hast schon wieder angefangen." Grollte Junias, als sie schon einige hundert Meter dem Feldweg folgten. Cornelius, der die kalte Rechte in seiner Hand hielt, konnte das kaum leugnen. "Ja, stimmt. Ist schwierig, dein Typ zu sein und gleichzeitig zurückgewiesen zu werden." Junias schnaubte, legte jedoch keinen Widerspruch ein. Cornelius ließ es erst mal damit auf sich beruhen. Immerhin war er nicht gezwungen gewesen, die Treppe hinunter zu hoppeln, um sich im Badezimmer hinter dem Herzchen-Abteil Abhilfe zu verschaffen. Man musste Junias auch zugute halten, dass er immer noch orientierungslos herumtappte und kein "Ehren-Lamia" war! Vernunft, das lag ihm, aber vielleicht fehlte ja etwas Anderes, Entscheidendes? Wenn er sich richtig entsann, hatte er bei seiner Ratgeber-Studie auch weniger auf Pärchen-Beziehungen geachtet: Kinder-Eltern, Geschwister, Patchwork. Möglicherweise fehlte da ein erhebliches Element! Konzentriert durchforstete er seinen Fundus an gesellschaftlicher Bildung: Erzählungen, Filme, sogar Magazinstrecken seiner Mutter. Wo verbarg sich dieses Element?! Biochemie, schön und gut, aber da musste doch etwas Greifbares sein! Eine Art Verzauberung? Was ihm, in nächsten Augenblick, überhaupt keine gute Argumentationsbasis bei einem Lamia erschien. Das klang nämlich verdächtig nach Manipulation der Wahrnehmung, kurzzeitig. Ein Ablenkungsmanöver zwecks Blutspende. "Da kommt ein Traktor." Riss Junias ihn aus seinen Gedanken, zog ihn auf die Seite. Nachdem das Gefährt an ihnen vorbeigezogen war, brach es aus Cornelius heraus. "Ich verstehe es auch nicht! Egal, wie sehr ich mir den Kopf zerbreche! Können wir uns nicht darauf einigen, dass wir unsere Biochemie pflegen, sonst einfach umgänglich miteinander sind?" Junias, hinter der Sonnenbrille abgeschirmt, wandte sich ihm zu. "Ich verspreche auch, dass ich meine Gefühle nicht mehr einfach wegdrücke, wobei es mir jetzt schon viel besser geht. Und, was meinst du?" Junias zögerte. Während er mutmaßlich an einer Antwort feilte, lärmte Cornelius' Handy. "Entschuldige, das ist die Nummer meiner Mutter." Junias entzog ihm seine Hand, trat einige Schritte beiseite, kehrte ihm den Rücken zu. Seufzend, zugleich besorgt nahm Cornelius den Anruf an. ~¢~ Kapitel 23 - Freistrampeln Junias bestand darauf, ihn zu begleiten. Diskussion ausgeschlossen. Um vor Luzie keinen Streit vom Zaun zu brechen, akzeptierte Cornelius die Offerte, deponierte Stofftaschen auf Henks Fahrrad-Gepäckträger. Zügig absolvierten sie die Strecke, die Cornelius nun vertrauter wurde, was die Drahtesel-Spur betraf. Sie stellten die Räder vor dem Haus ab. Bevor Cornelius bitten konnte, doch lieber unten zu warten, stand Junias bereits vor dem Klingelbrett, drückte den Knopf. "Mama? Ich bin's." Seufzend ging Cornelius voraus, spürte, wie sich Verspannungen in seine Glieder schlichen, mit jeder Stufe nach oben. "Ah, Conny, super, ich hab die Taschen vergessen!" Gewohnt sprunghaft empfing ihn seine Mutter, winkte ihn herein. "Ich wollte meine Sommer-Klamotten durchsehen, da passte es gerade!" An derlei Spontan-Aktionen war Cornelius hinlänglich gewöhnt. "Mama, das ist Junias, mein Pflegebruder." Bewies er leidgeprüft Manieren. "Oh, süß, hi! Wahnsinnsfarbe, sieht total echt aus." Cornelius hoffte, dass Junias nicht grimassierte, denn sie dachte sich nichts bei solchen Anmerkungen. "Lass mich alles gleich einpacken. Du hast sicher noch was zu tun." Lenkte er ab, versuchte, das Chaos in der Wohnung zu ignorieren. Nein, Haushaltsarbeiten waren seine Domäne gewesen, weshalb eine gewisse Vernachlässigung nicht unerwartet kam. Rasch füllte er die mitgebrachten Taschen. Ohnehin gab es wenig, und das war dann auch häufig schon zu klein. "Was will'n der hier?!" Cornelius wandte sich herum. Mutmaßlich aus dem Reich der Komatösen aufgewacht stand Rurus Vater in der Tür. "Na, Kleidung mitnehmen." Zwitscherte seine Mutter unbeeindruckt, verteilte auf dem freien Platz luftige Sommerkleidchen zur Inspektion. "Ist noch Kaffee in der Kanne." Ließ sie verlauten, bereits absorbiert von schwierigen Erwägungen modischer Aktualität. "Zieh keine Grimasse, du kleiner Scheißer!" Das galt offenbar Junias, der höflich die Sonnenbrille vor dem Eintritt in die Wohnung auf seine Locken gelupft hatte. "Wir gehen gleich." Bemühte sich Cornelius um einen konzilianten Tonfall. "Du haust JETZT ab! Ist MEIN Haus! Nimm die Schwuchtel gleich mit!" Da Junias ihm näher stand, galt die ungelenke Attacke, ein grobes Schubsen ihm. Cornelius, der mehr als einmal der lächerlichen Links-Rechts-Antäuschung begegnet war, wirbelte vor Junias, fing die Fäuste ab. Er schleuderte Rurus Vater mit aller Kraft in die Sofa-Landschaft, die über das Laminat rutschte, stellte seine Schultern aus, die noch breiter werden konnten. "Das reicht jetzt. Hände weg von Junias." Beschied er grimmig, las die Taschen auf. "Bis dann, Mama." Damit dirigierte er Junias vor die Wohnungstür, zog sie hinter sich ins Schloss. "Ich brauche dringend frische Luft." ~¢~ "Können wir anhalten?" Hörte Cornelius hinter sich. Überrascht bremste er, lenkte sein Fahrrad zur Seite, wo eine niedrige Mauer Häuserzeilen vom Gehweg trennte. Junias schob sein Rad neben ihn. "Meine Hand tut weh." Nicht nur das, der Verband hatte sich merklich mit Blut getränkt. "Oh, verflixt, wie ist das denn passiert?!" Cornelius fischte rasch Papiertaschentücher heraus, tupfte den Verbandsstoff trocken genug, um die Wunde zu inspizieren. Er bog behutsam Junias' Finger Richtung Handteller. Unter den gepflegten Fingernägeln trocknete Blut. "Das tut mir leid. Du hast so nahe bei mir gestanden." Schlussfolgerte Cornelius betreten. Seine Wut musste auf Junias übergesprungen sein, der so fest die Fäuste geballt hatte! "Blöd!" Seufzte er selbstkritisch. "Du hättest bestimmt locker ausweichen können, aber ich..." Er rollte die Schultern. "Na ja, es HAT gut getan, ihm ein Mal richtig Kontra zu geben. Obwohl er so ein erbärmlicher Wicht ist." Vorsichtig wischte er über die blutigen Spuren. "Das war sehr galant." In Junias' Stimme klang ein Lächeln mit. Cornelius grimassierte. "Impulsiv, würde ich sagen. Andererseits, der nächste Müllcontainer ist drei Geschosse tiefer." Junias lachte leise, entzog Cornelius seine lädierte Linke. "Du hast recht, normalerweise weiche ich aus. Nur wenn man mich gegen meinen Willen anfasst, dann..." Er atmete tief durch. "Ich mag das nicht. Ganz und gar nicht. Da kann ich meine Impulse nicht unterdrücken." Tröstend legte Cornelius ihm einen Arm um die Schultern. "Weißt du, ich werde NIE kritisieren, dass er im Müllcontainer gelandet ist." Er beugte sich vor, küsste Junias sanft auf die Schläfe. "Ich bin wirklich sehr froh, dass ich dich anfassen darf." ~¢~ Luzie ordnete an, dass Cornelius sich seinen Hausaufgaben widmete und Junias die Linke nicht belastete, sondern herausfand, wie weit er mit diesem komischen Sprachassistenten kam. Was offenbar eine Grimasse auslöste, die Cornelius nicht erkennen konnte, nur Luzie, die Widerspruch ahnte, grimassierte entschlossen zurück. "Wir werden nicht mit Stäbchen essen, Junias. Wenn ich nicht alles zusammenmixen soll.." Junias gab sich geschlagen, denn wie ein Zahnloser Astronautennahrung püriert heruntermümmeln: igitt! "Ist alles gut gegangen?" Cornelius, der mit den Taschen nach oben, an seine Aufgaben gehen wollte, wandte sich herum. Luzies forschendem Blick entging wohl wenig. "Unsere Mutter hat schon alles herausgesucht." Er lupfte die Taschen. "Das meiste davon ist leider schon ziemlich klein und als Tauschmaterial eher minderwertig." Die Schultern rollend seufzte Cornelius leise. "Ich weiß nicht, wann das mit dem Kindergeld klappt, aber Ruru braucht ein paar Sachen. Bieten können wir leider nicht viel. Ich kann auch nicht online einkaufen." Minderjährig, nicht solvent, mutmaßlich auch noch mit schlechtem Score... Mitfühlend winkte Luzie ihn zu sich, reckte sich, um auf seinen Oberarm zu klopfen. "Wir setzen uns zusammen. Wie ich dich einschätze, hast du längst eine Revision durchgeführt, hm? Was nicht passt, was Ruru nicht mehr tragen mag, lass gleich hier unten." Sie lächelte ihn aufmunternd an. "Es wird ein bisschen dauern, aber ich freue mich, wenn du uns einbeziehst, Cornelius. Wir teilen hier unser Leben, wir unterstützen uns gegenseitig. Du hast doch bestimmt schon genug mit dir allein ausgemacht, hm?" Ein sehr sanfter Tadel. Cornelius lächelte schief. "Es ist mir wohl zur zweiten Natur geworden. Aber ich bin wirklich froh, dass ich nicht mehr allein alles bewältigen muss." Luzie strich ihm kurz über den unteren Rücken. "Das ist prima. Nun verrate mir bitte noch, warum wir nicht schon in einer Backstube stehen, denn Junias entert IMMER den Backofen, wenn ihn was beschäftigt." ~¢~ Während Cornelius artig mit Luzie Rurus Kleidung auf verschiedene Stapel sortierte, berichtete er knapp, ließ dabei keineswegs die Auseinandersetzung mit Rurus Vater aus. "Wie denkst du darüber?" Erkundigte Luzie sich, die ihm aufmerksam zugehört hatte. Cornelius atmete tief durch. "Ich bin erleichtert, auch wenn es sicher nicht klug war, ihm zuvorzukommen. Aber wenigstens ein Mal, ein Mal hat er gemerkt, dass ich mich wehren kann." Luzie nickte. "Ich kann mir vorstellen, dass das eine enorme Befriedigung ist. Hat er auch wieder von seiner Therapie-Absicht gesprochen?" Grimassierend schüttelte Cornelius den Kopf. "Das nicht, aber wir haben auch keine Unterhaltung geführt. Außerdem war er gerade erst aufgestanden. Da ist er meistens nicht so momentan." Umschrieb er euphemistisch einen desolaten Zustand. "Verstehe. Wirkte Junias auf dich sehr erschrocken?" Überrascht wandte Cornelius sich Luzie zu. "Nein, erschrocken gar nicht." Er zögerte. "Eher solidarisch empört über diese Attacke." Prompt ballte Luzie demonstrativ die erhobenen Fäuste, nickte nachdrücklich. "Das ist auch ein Grund. Nur kann ich ihn mit seiner Linken hier nicht die Backbleche manövrieren lassen." Teig walken schien auch eher mühsam, nur mit einer Hand. "Wir streiten hier selten. Handgreiflich wird niemand. Das kann schon verstören. Junias neigt auch dazu, viel mit sich selbst auszumachen." Cornelius konnte nicht verhehlen, dass ihn Luzies scharfer Blick unvermutet traf. Offenbar hatten diese Pflegeeltern einfach andere Methoden entwickelt, Junias' Wohlergehen im Auge zu behalten. Möglicherweise würde sie seine "wahre Natur" auch kaum erschüttern. Luzie zwinkerte zu ihm hoch. "Ich hab ein bisschen Übung, Cornelius. Ich bin froh zu sehen, dass ihr beide euch gut versteht. So werden wir fünf eine prima Mannschaft!" Unwillkürlich musste Cornelius grinsen, denn es klang wie bei einem Fußballspiel im Kreis kurz vor dem Anpfiff. Er nickte, entschied, neben anderen, ausgesonderten Kleidern auch seine Schulsachen von oben zu holen. Er machte es sich draußen gemütlich, um an die Arbeit zu gehen. Ruru, der ihn bald entdeckte, flitzte immer wieder kurz zu ihm hin, präsentierte etwas, ließ sich knuddeln, bevor er wieder emsig als Assistent an Henks Seite zurückkehrte. Cornelius schmunzelte, fühlte sich zum ersten Mal im Freien nicht unter Druck, "Verstecken zu üben", in Bewegung bleiben zu müssen. Da konnte man sich sogar hochgestimmt den Hausaufgaben widmen! ~¢~ Cornelius übernahm nach dem Mittag den Abwasch. Luzie hatte für das Essen gesorgt, entweder vorausschauend oder sicherheitshalber den Ofen mit zwei Auflaufformen blockiert. Dass es nun mittags wieder etwas Warmes gab, schien Ruru auch zu erfreuen. Während Luzie sich eilig an ihr "Fenster" setzte, respektive den Schreibtisch und die Zugriffsmöglichkeit, wienerte Cornelius Geschirr. Er war froh, dass Junias auf Diskussionen verzichtete, tatsächlich seine Linke schonte. Oder aber auch dem Schädelbrummen nachgab. Währenddessen verdunkelte es sich merklich. Henk dirigierte Ruru ins Haus, denn Regen war sehr nützlich, aber man musste ja nicht direkt darunter stehen. So lauschte Ruru dem Klopfen auf Scheiben und Wände, rieb sich immer wieder die Augen. "Soll ich dir oben was vorlesen?" Bot Cornelius an, lupfte sich Ruru auf den Arm. Ein Mittagsschlaf war fällig. Obwohl die Wohnküche gemütlich war, wollte er Luzie nicht stören. Gemeinsam zogen sie hoch in ihr Zimmer, wo Cornelius die Vorhänge zuzog, sich neben Ruru auf dessen Bett ausstreckte, das favorisierte Buch über Gemüseanbau aufschlug. Es gab auch einen Abschnitt zu grünem Spargel, sodass er diesen auswählte. Untermalt vom Regen las er Ruru leise vor, bis der neben ihm eingeschlafen war. Er wartete noch einige Augenblicke, bevor er sich vorsichtig erhob, leise das Zimmer verließ. Auf dem Flur zögerte er. Junias war beim Mittagessen allzu handzahm gewesen. Ging es ihm wie am Vortag so schlecht? Andererseits schien es auch nicht hilfreich, wenn er ohne eine Lösung in dessen Nähe und Riechweite kam, weil Junias nun mal Angst vor dem Kontrollverlust hatte, sich "Wahrheiten" in Luft aufgelöst hatten. Trotzdem klopfte Cornelius an Junias' Zimmertür. Mehr als eine Absage konnte er sich ja wohl nicht einhandeln, oder? "Komm rein." Positiv überrascht betrat Cornelius Junias' Zimmer. Der deaktivierte gerade sein Lesegerät. "Sag nichts zu Luzie, ja? Dieser Sprachassistent hat mich enerviert." "Sprachassistent?" Cornelius hielt artig Abstand. "Ja, das ist so eine Hilfsfunktion, soll Texte vorlesen, damit man nicht hantieren muss." Seufzend rieb sich Junias über die Nasenwurzel. Er wedelte mit diesem ironischen Hinweis seine Linke. "Das klappt aber nur so lala, der Lesefluss ist grottig, der Rhythmus noch schlimmer. Meine Augen funktionieren ja, also quäle ich mich nicht mehr mit dem Murks herum." "Aha. Wenn ich dich bei deinen Hausaufgaben störe...?" Wollte sich Cornelius höflich-konziliant zeigen. "Hätte ich dich schon angeraunzt und vertrieben." Grollte Junias, ohne jede Mimik, ließ sich auf seinem Bett nieder. Er raufte sich die silbergrauen Locken. "Luzie weiß Bescheid, oder? Über unseren Ausflug zu deiner bemerkenswerten Familie." Man konnte die Säure nicht überhören, die in den Worten mitschwang. "Es hat wohl keinen Zweck, etwas zu verheimlichen. Wenn ER sich wieder zu einer Anzeige entschließen sollte." Cornelius blieb weiterhin neben der Tür stehen, hielt die Distanz artig ein. "Dumm genug wäre er vermutlich!" Schnaubte Junias. "Er hat dich nicht erkannt. Und seinen neuen Leitspruch gar nicht von sich gegeben." Hakte Cornelius nach. Junias schwieg, wandte den Kopf ab. "Meine Mutter hat dich auch wie einen Unbekannten behandelt." Gab Cornelius nicht auf, aber Junias schwieg eisern. "Dachtest du, dass würde auch bei mir so funktionieren? Der Pakt, die vierzehn Jahre Laufzeit, die Küsse, das Händchenhalten?" Das würde zumindest Junias' unbekümmertes Verhalten erklären. Bis zu dem Augenblick bei ihrem zweiten Spaziergang, als ihm aufging, dass seine Fähigkeiten nicht mehr griffen. Man konnte nicht einfach, wie bei der kleinen "Blutspende", alles aus dem fremden Gedächtnis radieren. "Darüber habe ich wirklich noch nicht nachgedacht. Aber nur so klappt es, oder nicht?" Ungeduldig studierte er Junias, der sich nicht äußerte, nur die Hand hob. Mit drei großen Schritten näherte sich Cornelius dem Bett, setzte sich uneingeladen auf die Kante. Junias' Hand verteilte bloß die Tränenspuren, die über sein makellos weißes Gesicht rannen. "Tut mir leid." Murmelte Cornelius hilflos, denn zunächst hatte Junias doch gewohnt bärbeißig gewirkt! "Kann ich irgendwas tun? Oder soll ich verschwinden?" Er fahndete nach einem Papiertaschentuch in seiner Hosentasche, reichte es Junias, der mit der Rechten die Faltung aufschüttelte, sich grob über das Gesicht wischte, schniefte und die Beine vor den Leib zog. Ihn endlich wieder ansah, die burgunderroten Augen erneut schwimmend. Cornelius hielt das nicht länger aus. Er kam auf die Knie, schlang die Arme um Junias' Schultern. "Bitte, lass mich helfen, ja? Irgendwie schaffen wir das!" Auch wenn er nicht genau wusste, WAS sie bewältigen sollten. Nach einigen, recht unbequemen Augenblicken, klappte Junias seine Beine herunter, die wie eine Palisade gewirkt hatten, schob Cornelius behutsam mit der Rechten von sich, blinzelte und räusperte sich. "Es gibt da eine Lüge, eine Lüge von Menschen, um uns zu täuschen. Es ist möglich, dass manche Menschen anders sind. Es ist wahr, dass diese Menschen Macht über uns gewinnen, uns unterwerfen, benutzen, abhängig machen. Dass sie das in falsche Reden hüllen, Freundschaft und Liebe und Familie anführen. Das ist eine große Lüge. Am Ende sind Menschen Menschen. Deshalb muss man vorsichtig sein, immer auf der Hut vor der Lüge." Cornelius spürte, wie ihm die Kinnlade herabsackte. Junias blinzelte weitere Tränen in seine farblosen Wimpern. "Ich hab es versprochen. Ich hab es meiner Mutter versprochen." "Aber du WARST vorsichtig!" Löste sich Cornelius energisch aus seiner Verblüffung. "Wir erzählen niemandem was! Hier gibt es keine anderen Lamia, oder?! Niemand wird etwas bemerken!" Impulsiv fasste er Junias' kalte Rechte. "Ich bin möglicherweise, nun, wahrscheinlich, einer von diesen anderen Menschen! Aber das bedeutet nicht, dass ich dir was tun will! Oder dich verraten! Wir haben es doch besprochen, nicht wahr? Wir passen aufeinander auf!" Junias weinte weiter, wirkte erschreckend kläglich und elend. In der Folge reagierte Cornelius so, wie er das bei Ruru getan hätte: umarmen, festhalten, Trost spenden. Der scharfzüngige, kluge, starke, beinahe übermächtige Junias war kein geschmeidiger Jäger, sondern auf sich gestellt ohne genaue Vorstellung, WAS er war, mit Regeln, die sich gerade in Luft auflösten. Ängstlich, unglücklich über den Wortbruch, ratlos und ohne Fluchtmöglichkeit. DAS kam Cornelius sehr vertraut vor, nur, dass er selbst Ruru hatte, andere Menschen, die halfen, die nicht wegsahen, ihm Zuversicht vermittelten. Junias durfte sich hingegen nicht trauen, vor allem nicht anver-trauen. Nicht mal Henk und Luzie. Seine "Offenbarungen" waren nur erfolgt, weil er glaubte, sie wie gewohnt spurlos aus dem Gedächtnis tilgen zu können. Cornelius wiegte Junias leicht, strich über die verkrampften Schultern. "Hör mal, Junias, das ist doch nicht so schlimm. Du hast doch selbst gesagt, manche deiner Beeinflussungen halten nicht lange vor, oder? Wir können immer wieder mal versuchen, ob bei mir nicht doch was klappt! Außerdem mag ich dich sehr, da werde ich dich doch nicht drangsalieren!" So langsam rutschten die Puzzleteile in die richtige Anordnung. "Es ist auch keine Lüge, dass wir jetzt eine Familie sind. Henk und Luzie waren schon die ganze Zeit deine Familie. Du musst dich auch nicht anfassen lassen, wenn du nicht willst. Das ist völlig in Ordnung. Ich mag ja körperliche Attacken auch nicht!" Cornelius vermutete auch stark, dass Junias weniger in Zorn als in aus Angst geborener Verzweiflung gehandelt hatte, es nicht gewöhnt war, angegangen zu werden und vielleicht noch seine niedrige Körpertemperatur zu enthüllen. "Vergiss auch die Pornos und diesen ganzen Quatsch! Ich WERDE das nicht tun. Ganz sicher lasse ich auch nicht zu, dass irgendwer dir so was antut!" Ganz gleich, ob Lamia es gewohnt waren, auf Distanz zu bleiben: es musste belastend sein, immer auf Abstand zu gehen, weil zu befürchten stand, sich zu verraten. Cornelius seufzte vernehmlich. "Ich merke gerade, dass ich wieder in den Eltern-Modus rutsche! Trotzdem. Bitte sei nicht so verzweifelt, Junias. Ich bin auf deiner Seite, ich verrate dich nicht und ich tu dir auch nichts." Sanft klopfte er auf Junias' Rücken. "Ich könnte ja Ruru in den Zeugenstand rufen, um meinen Leumund aufzubessern?" An seiner Schulter schnaubte Junias erstickt, richtete sich auf, das maskenhafte Gesicht nass, die burgunderroten Augen poliert. "Wie willst du es aufhalten? Dass deine Emotionen mich beeinflussen?" Cornelius nickte nachdenklich. "Ja, das ist noch eine offene Flanke, stimmt. Ich fand die Idee mit den Duftstoffen schon mal nicht schlecht. Wir müssen auch deine Kopfschmerzen in den Griff kriegen." Junias seufzte matt, aber Cornelius war nicht bereit aufzustecken, denn er hatte schließlich behauptet, im Alltag pragmatisch und recht anstellig zu sein, oder nicht?! "Wir könnten es mit Yoga versuchen. Oder Meditation. Ich meine, wenn unser Gemüt ruhig ist, springt nichts über, deine Instinkte halten die Füße still." Außerdem hieß es doch gerade, man solle die zwangsweise vorhandene "Freizeit" sinnvoll nutzen! "Ich erinnere mich gelesen zu haben, dass Atemübungen hilfreich sind. wir müssen uns nicht verknoten, denn bei Yoga habe ich doch so meine Zweifel." Ergänzte er, bereits auf Betriebstemperatur, sich passende Ratgeber zu suchen und Wesentliches zu extrahieren. Junias neben ihm lachte erstickt auf, schniefte. "Du bist wohl gar nicht kleinzukriegen, wie?" Cornelius strich über eine kalte Wange. "Im Gegenteil, oft war es wirklich knapp." Er grimassierte schief. "Aber es gab und gibt immer jemanden, den ich nicht hängen lassen kann. Ich schätze, das ist es, was mich umtreibt und ausmacht. So weit, mich selbst an die Spitze zu setzen, bin ich noch nicht." Zwinkerte er herausfordernd, nahm Junias' Hände. "Lass es uns versuchen, ja? Wir haben doch Ideen, Duft, Entspannungsübungen und unser Versprechen. Einverstanden?" Junias seufzte, wirkte schmächtiger, zerbrechlicher trotz der Perfektion seines Erscheinungsbilds. "Einverstanden." Lächelnd schüttelte Cornelius sehr behutsam ihre Hände. "Gut. Lass uns runter gehen, ja? Einen Tee oder Kakao trinken." Entschieden entzog ihm Junias seine Hände, sortierte sich die silbergrauen Locken. "Vorher sollten wir uns aber umziehen und frisch machen." Murmelte er, klang verlegen. Cornelius lachte, erhob sich, streckte ihm eine Hand hin. "Stimmt. Ich fürchte, du wirst später auch helfen müssen, nackige Dinosaurier zu besichtigen." Sich abwendend, um das feuchte Hemd abzustreifen, grummelte Junias. "Solange ich keine nackigen Vögel zum Vergleich auftreiben muss!" "Nur, wenn sie von alleine tot sind und bereits gestrippt." Versetzte Cornelius launig, sehr erleichtert, dass Junias sich wieder berappelte. Rurus Konditionen waren schließlich bekannt. "Ich brauche SO WAS von Keksen und Kakao!" ~¢~ Luzie störte sich nicht an den Vorbereitungen für die Kaffee/Kakao/Keks-Pause, sondern winkte nur munter. Cornelius deckte, nötigte Junias, brav Platz zu nehmen, die Linke zu schonen. Er studierte auch ungeniert die Schatztruhe des Regals: Atemübungen, das wäre nicht schlecht, sich entspannen. Er vermutete, dass Junias gerne grimassiert hätte, sich aber artig hinter seinem Kakaobecher versteckte. Er erstieg die Treppe, um nach Ruru zu sehen. Der schnupperte den verlockenden Duft, versprach, leise zu sein, damit Luzies Arbeit nicht gestört wurde. Cornelius betrachtete ihn stolz. Ruru musste man nicht umständlich dazu bewegen, sich in Geduld zu üben, weil er nicht sofort und gleich die Dinosaurier besichtigen konnte. Ihm war auch einsichtig, dass die unsichtbare Leitung nach draußen wie beim Wasserhahn nicht überlastet werden durfte. Während der Regen allmählich nachließ, leistete er Junias Gesellschaft, der für ihn gedämpft aus einem Gesichtsbuch die Theorien zur Entstehung der Erde erklärte. Keine ganz leichte Kost, bei so vielen Zeitaltern und unvorstellbaren Zeitspannen! Ruru runzelte schließlich die Stirn. "Wenn Vögel aus Dinosauriern entstanden sind, was waren dann Schnecken vorher?" Junias seufzte. "Irgendwie überrascht es mich gar nicht, dass sich DIESE Frage stellt. Ich beginne jetzt auch, eine Schnecken-Aversion zu entwickeln." Ruru studierte ihn verwirrt. "Was ist eine A-Version, Juni?" An seinem Kakao nippend schien Junias den Kosenamen zu verdauen. "Ein anderes Wort für Abneigung." "Ich mag manche Schnecken auch nicht!" Verkündete Ruru verständnisvoll und solidarisch. "Wenn jetzt Enten so groß sind..." Maß er von Tischplatte bis halbe Höhe ab. "...vorher so-so-so-so riesig waren..." Cornelius unterdrückte mannhaft ein Grinsen. "...dann waren Schnecken doch auch ganz-ganz-ganz groß." Logische Schlussfolgerung, zumindest mit spärlichen Informationen. Junias raufte sich kurz die Locken, erhob sich, um ein anderes Buch zu holen, zu blättern, schließlich auf ein Bild zu tippen. "Siehst du die hier, Ruru? Erinnert ein bisschen an Schneckenhäuser, oder?" Zum Vergleich legte er seinen Arm auf den Tisch. "Also, das sind die uralten Ammoniten, die längst ausgestorben sind. Man weiß nur ein bisschen was, weil ihre Gehäuse gefunden wurden. Wenn die überlebt hätten, wären die vielleicht nur so groß wie Schnecken mit Häusern. Aber von Weichtieren bleibt eben nichts übrig, die haben keine Knochen. Man weiß ja auch nicht alles über die unterschiedlichen Pflanzen, die es gab. Die zerfallen ja, richtig? Also, wenn man sich das mal überlegt: wenn es die Pflanzen nicht gab, die Schnecken heute essen, gab es damals vielleicht auch keine Schnecken. Nur: das weiß man nicht. Ohne Zeitmaschine kriegt man das wohl kaum verlässlich heraus." Nach dieser praktischen Demonstration zur Beendigung der Frage nach der GIGANTISCHEN UR-SCHNECKE klappte Junias entschieden das Buch zu. Cornelius wandte sich rasch ab, denn er ahnte, was kam. "Juni, was ist eine Zeitmaschine? Eine Uhr?" Ruru war wissbegierig, aber keiner der quengeligen Plagegeister, die fortwährend "warum? warum?" anbrachten, ohne je eine Antwort kontempliert zu haben. Zudem stellte es einen großen Vertrauensbeweis dar, dass Ruru Junias fragte. Wer dessen Vater kannte, wusste darum. "Nein, eine Zeitmaschine ist keine Uhr. Tatsächlich gibt es gar keine Zeitmaschinen. Das ist lediglich eine Vorstellung, eine Idee. Wenn man eine Maschine hätte, mit der man durch die Zeit reisen könnte. Allerdings ist das physikalisch unmöglich, deshalb muss man sich behelfen, wenn man etwas über die Vergangenheit herausfinden will. Und manchmal irrt man sich." Tapfer leistete Junias Aufklärungshilfe, auch wenn Cornelius eine gewisse Verzweiflung spürte. "Eine Zeitmaschine ist also gar nicht echt?" Ruru klang verwirrt. Cornelius entschied zu intervenieren. "Stimmt, es gibt keine echte Maschine. Das ist so ein bisschen wie mit dem gestiefelten Kater, weißt du?" Ruru leckte sich konzentriert Reste von Kakao aus den Mundwinkeln. "Ach so. Das ist ganz schön durcheinander, Nelli." Lautete sein Fazit. Cornelius grinste, er konnte gar nicht anders. "Wenigstens können wir sicher sein, dass hier keine Riesenschnecken herumschleimen und den Salat wegfressen." Bog er geschmeidig auf den wesentlichen Aspekt der Überlegungen ein. Ruru nickte entschieden. "Das stimmt. Wollen wir mal nachsehen? Der Regen hat ja aufgehört?" Alle wussten, dass die miesen Schleimlinge nur darauf warteten, sich feucht-glibbernd anzuschleichen, um die Beete zu invahieren! ~¢~ Nachdem Cornelius barfuß, die Hosen hochgekrempelt, mit Ruru gründlich den Garten inspiziert hatte, war von Junias in der Wohnküche nichts mehr zu sehen. Nun, Ruhe und eine Auszeit waren ihm zu gönnen, gar kein Zweifel! Henk ließ sich auch gern helfen, den Niederschlagsmesser zu kontrollieren, einzelne Stauden aufzurichten. Zu den umliegenden Wiesen und Grundstücken verteilte er strategisch geübt schlichte Holzbretter. Wenn die Sonne hervorkam, den Boden trocknete, würden sich die Weichtiere darunter sammeln. Man konnte sie dort abpflücken, in großer Entfernung aussetzen. So verging die Zeit bis zum Abendessen wie im Flug. Auch Junias fand sich wieder ein, erklärte, nach dem Essen den virtuellen Rundgang im Museum einzurichten. Ein wenig Bastelei war vonnöten, um das Signal auf den nicht mehr ganz so neuen, sehr bescheiden dimensionierten Flachbildfernseher zu leiten. Ruru, der zwischen Henk und Luzie auf dem Sofa saß, knuddelte vor Spannung sein Hasentuch. Lauter nackige Dinosaurier! Ein bisschen erinnerten die schon an die Gerippe von Grillhähnchen... Cornelius, der sich im Hintergrund hielt, fragte sich, ob Ruru nun auch vom "Dino-Fieber" angesteckt war. Das hielt meist bis in die Grundschule vor. Riesen-Enten wurden nicht gezeigt, aber der gewaltig dimensionierte Vorgänger eines Schnabeltiers. Als Zeichnung, denn an einem Stück gefunden hatte man nur wenige Knochen. Beeindruckt, aber auch reserviert summierte Ruru diesen virtuellen Spaziergang. "Das ist ziemlich durcheinander, oder? Da fehlt ja so viel und den Rest denkt man sich aus! Also, ich mag lieber, wenn alle Teile da sind, wie beim Puzzle." Cornelius schmunzelte. "Ja, da muss man schon eine spezielle Gabe haben, dass man aus den paar Teilen so viel erkennt. Möchtest du, dass ich dir vor dem Einschlafen noch etwas vorlese?" Ruru wollte das ganz unbedingt sehr! Denn er sorgte sich darum, dass seine Minze vielleicht ein wenig einsam sein könnte. ~¢~ Da Cornelius noch nicht müde war, erwog er, bei Junias reinzuschauen. Das Kapitel über die Minzen lud nämlich dazu ein, sich über unterschiedliche Düfte auszutauschen. Zudem war er ja nun wirklich noch Unterstützung schuldig geblieben, deshalb klopfte er vorsichtig. "Komm rein." Antwortete ihm Junias, beruhigend aufgeräumt, traute man seiner Stimme. Als er sich umwandte, die Tür schließend, hielt ihm Junias die Hand hin. "Darf ich bitten?" Verblüfft griff Cornelius zu, nahm dann sehr gedämpft Musik wahr. "Ein Walzer. Ich führe." Bestimmte Junias, initiierte eine enge Drehung. Zu viel Schwung konnten sie kaum aufnehmen, denn ihre Fläche war begrenzt, doch Cornelius genoss die sichere Führung, nachdem er seine Füße einigermaßen sortiert hatte. "Danke schön." Versetzte Junias mit einem anmutigen Nicken, als die Musik endete, kehrte sich zu seinem Schreibtisch um, das entsprechende Abspielmedium zu deaktivieren. "Ich habe einen Tanzkurs besucht, die klassische Variante. Wie die anderen damals in meiner Stufe." Er reduzierte die Beleuchtung, gestikulierte, auf seinem Bett Platz zu nehmen. Dort ließ er sich neben Cornelius nieder, der gespannt auf weitere Erläuterungen wartete, die förmlich greifbar in der Luft hingen. "Anpassung, könnte man meinen. Aber niemand wird heute auf der Straße zum Tänzchen aufgefordert, oder?" Junias wickelte vorsichtig seine Linke aus, erprobte im gedämpften Licht die Sehnen. "Ich hatte Spaß. Keine Abneigung, kein Widerwillen, obwohl man sich dort nahekommt." Ein Seitenblick streifte Cornelius. "Anpassung ist lebenswichtig, aus der Reihe tanzen gefährlich. Immer rational sein, ganz von selbst." Er zupfte an seinen Locken. "Meine Mutter hat sie immer gefärbt, stank fürchterlich. Zur Sicherheit, falls irgendwer nicht auf die Täuschung hereinfiel." Er legte beide Hände in den Schoß, ganz ruhig und offen. "Ich hab sie nicht mehr gefärbt, weil mir meine Haarfarbe gefällt. Das ist unvernünftig, fast schon irrational. Ich MAG Henk und Luzie. Es macht mir nichts aus, zusammenzuleben, mich auf sie zu verlassen." Langsam schob er seine kalte Rechte in Cornelius' Linke. "Dabei ist es gefährlich: nie krank werden, nie zur Zahnmedizin müssen, nie röntgen lassen, nie überprüfen, warum die Körpertemperatur so niedrig ist. Immer gleich jede Idee in diese Richtung löschen!" Cornelius drückte behutsam seine Hand. "Ich habe vorhin nachgedacht." In seiner Stimme war eine Grimasse zu hören. "Zugegeben, nach diesen Atemübungen. Wie ich mich fühle. Und warum." Junias atmete tief durch. "Wenn ich tatsächlich diesen Kontrollzwang hätte, wären viele Dinge gar nicht möglich gewesen. Als du vorhin sagtest, dass Lamia untereinander ja auch mal die Kontrolle aufgeben müssten, Nähe zulassen, da dachte ich, dass das stimmt. Instinkte erklären aber doch nicht alles. Paarungszeit und zack, Fortpflanzung, danach bloß wieder Abstand. Wenn wir doch eigentlich immer allein in unserem Territorium bleiben." Er zupfte nervös mit der Linken an einer Locke. "Ich weiß nichts über meinen Vater. Meine Mutter sagte mir immer, ich sei sehr 'Menschen-geprägt', damit ich mich besonders gut tarnen könnte." Cornelius spürte einen merklichen Druck auf ihre verschränkten Hände. "Was ist, wenn das bloß eine halbe Wahrheit ist? Wenn ich nicht 'Menschen-geprägt' bin, sondern auch menschlich? Meine Sturheit bezüglich meiner Haare wäre verständlich, nicht irrational. Es wäre nicht so seltsam, freiwillig einen Tanzkurs zu machen, Henk und Luzie nicht verlassen zu wollen." Eine Träne glitt über seine makellose Wange. "Es gäbe keine überspringenden Gefühle, sondern MEINE Gefühle, meine Wut, mein Wunsch, dir nahe zu sein. Kein verdrehter Reflex, deine Hand zu nehmen, dich zu küssen." Er schniefte, ein Lachen in der Stimme. "Obwohl du wirklich gemeingefährlich gut riechst!" Ein weiterer Seitenblick streifte Cornelius. "Als ich so weit war, brav rational und logisch diese These verfolgend, wurde es ganz still in meinem Kopf. Die ganzen 'ich darf nicht, das geht nicht, das ist unmöglich, ein Lamia tut das nicht'-Mahnungen fielen weg. Aber ich verstehe jetzt auch die Lüge." Er seufzte. "Wenn ich mein Kind schützen wollte, das in keiner Welt richtig Zuhause ist, würde ich als Lamia auch einen Gebots-Zaun aufstellen. Artig befolgt sollte nichts passieren. Nur, na ja, Menschen ticken nicht rational. Ein Schlupfloch findet sich immer." Cornelius verdaute schweigend diese Enthüllung. Welche Konsequenzen ergaben sich daraus? "Willst du deine Mutter fragen?" Das könnte die Unsicherheit beenden, ob die These zutraf. Junias lehnte sich leicht an seine Seite. "Das geht nicht. Sie ist untergetaucht, hat ihre Spuren verwischt. Darin sind wir gut, na ja, die richtigen Lamia. In meiner Geburtsurkunde steht auch kein zweiter Eintrag. Da haben wir eine Gemeinsamkeit." Cornelius wollte nicht bei so einer traurigen Note stehenbleiben. "Aber Regeln hin oder her: sie hat sich um dich gesorgt, das in ihren Augen Beste für dich gewollt. Sie hat DICH gewollt, und das ist kein Pappenstiel, glaub mir, ich WAR auf der Entbindungsstation! Außerdem erkennen Lamia doch Menschen, nicht wahr? Sie wusste, was sie tat, was sie wollte. Du bist ganz sicher kein Zu- oder Unfall! Deine besonderen Fähigkeiten funktionieren doch auch richtig gut, oder nicht? Du gehst besonnen damit um, hinterlässt keine Spuren." Junias schnaubte. "Nur bei dir habe ich kläglich versagt! Da klappt so gar nichts!" Seine Frustration entlockte Cornelius ein Lachen. Vielleicht wäre das auch gar nicht so gut, denn eigentlich mögen wir uns sehr, Junias. Möglicherweise kommt das zwischen Lamia und Menschen auch häufiger vor. Ich würde es sehr bedauern, wenn es dich nicht gäbe." Schloss er sanft, drückte ihre verschränkten Hände. "Du argumentierst perfid vernünftig." Murmelte Junias neben ihm, erwiderte den Händedruck. "Wenn ich tatsächlich ein halber Mensch bin, muss ich wohl doch eine Menge lernen. All das Zeug, was rationalen Lamia gar nicht unterkommt." Cornelius lachte, wandte den Kopf, küsste Junias auf die kalte Wange. "Das schaffen wir bestimmt! Mit mir als Beispielexemplar für einen pubertierenden Teenager!" Junias gluckste, seufzte leise. "Aber im Schritttempo, ja? So ganz will ich die Kontrolle nicht abgeben." Schmunzelnd drückte Cornelius die kalte Hand. Schritttempo erschien ihm genau richtig, um in ihr neues Leben einzusteigen! ~¢~ Es war ein ungewöhnlicher Abend gewesen, im Halbdunkel auf Junias' Bett zu sitzen, seine kalte Hand zu halten, sich anzulehnen. Ihre gemeinsamen Tage Revue passieren zu lassen, alles zu überdenken. Jeder für sich, schweigend, doch ohne Anstrengung oder in heftigem Aufruhr. Wenn die Hypothese zutraf, dann GAB es eine Mensch-Lamia-Beziehung vor ihnen, mit einem Kind ohne Vater. Möglicherweise auch ein Aspekt für die harsche Warnung und die "Lüge". Aber Junias' Mutter hatte sich um ihn gekümmert, ihn angeleitet und ihn vorbereitet. Das tat man nicht, wenn man keine Gefühle entwickelt hatte. Cornelius fragte sich, ob Junias' Mutter wohl ähnliche Gedanken gewälzt hatte wie er: dass es viele "farbenblinde" Menschen gab, aber nur weniger von der anderen Sorte bedurfte, um einen in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen, weil man aussah, wie man aussah. Wenn herauskäme, was Junias' Besonderheiten sonst noch ausmachten... Verständlich, ihm ein Korsett aus Regeln zu verpassen, das ihn beschützen sollte. Andererseits hatten Menschen nun mal Bedürfnisse, nach Gemeinschaft, nach Akzeptanz, nach Anerkennung. Auch nach Nähe. Sich Erleichterung zu verschaffen, indem man mit Klassenkameraden etwas unternahm, tanzen ging, konnte man unter "Anpassung" buchen und gleichzeitig geschickt "löschen". Doch Junias konnte keine Gedanken lesen, sodass immer ein Risiko mitschwang. Etwas hatte sich eingeschlichen: Neugierde, Interesse und ein fatal appetitlicher Geruch. Ob Junias' Mutter etwas Vergleichbares erlebt hatte? Das drängende Gefühl verspürte, DIESE Gelegenheit um keinen Preis auslassen zu können? Reingezogen zu werden in eine Situation, die jeder gewohnten Kontrolle entglitt? Cornelius registrierte großes Mitgefühl, einen Kloß in seinem Hals und die leidige Feststellung, dass sein Helfersyndrom ansprang. Natürlich war es KEIN Verbrechen, nicht 100 % Mensch zu sein! Niemand sollte ein gehetztes, getriebenes Leben in Angst führen müssen, weil die Optik nicht dem "Durchschnitt" entsprach. Zudem, das wog für Cornelius Tonnen, war Junias nicht von seinem Angebot zurückgetreten, obwohl er erkannt hatte, dass etwas nicht stimmte, er nicht wie gewohnt agieren konnte. Er hatte geholfen, sein Wort gehalten, Ruru ein neues, gutes Leben verschafft, sogar versucht herauszufinden, wer der "Busch-Affe" gewesen sein könnte. Als Cornelius merkte, dass Junias schwerer an seiner Schulter lehnte, mutmaßlich Schlaf ansteuerte, löste er sich behutsam, küsste sanft die kalten Lippen und wünschte angenehme Träume. Selbst nun, am Morgen, kam ihm das keineswegs seltsam vor. Weil er Junias mochte, sogar sehr. Wenn sie sich freistrampeln mussten, doch am Liebsten mit einem Freund, dem man vertrauen konnte! ~¢~ Kapitel 24 - Hasenpower Cornelius ließ Ruru nach der morgendlichen Hygiene zu Henk entwischen. Immerhin musste ganz dringend die Ananasminze inspiziert werden und auch wegen des Regens nach Spanischen Wegschnecken gesucht! Falls nicht genug Tigerschnecken die Fährten aufnahmen... Cornelius gesellte sich zu Junias, der "Dienst" hatte, den Tisch deckte. "Guten Morgen. Können wir heute ein Team bilden? Meine Kochfertigkeiten sind ja noch nicht ausgereift für anspruchsvolles Publikum." Scherzte er, zwinkerte Junias zu. "Wunderbar, ich wollte schon immer als Smutje einen Küchenjungen herumscheuchen!" In Junias' Stimme klang spitzbübisches Amüsement. In seiner Linken klebte noch ein schützendes Pflaster, doch das schien ihn nicht behindern. Da Luzie zu ihnen kam, besprachen sie, was es zu Mittag geben sollte, um das Ausmaß an Vorbereitungen abschätzen zu können. Mit Henk und Ruru war die morgendliche Runde komplettiert. Selbstredend drehte sich das Bulletin um den Zustand des Gartens und besonders bedeutende Entdeckungen. Luzie teilte ebenfalls ihre Pläne mit: alle mochten sich doch ein wenig im Bad eilen, weil sie Putzdienst hatte, danach UNBEDINGT telefonieren musste, im vorgegebenen Zeitfenster, wie auf dem Aushang beschrieben, wegen ihrer geliebten Massage. Ein strenges Hygienekonzept ließ nun diesen Luxus wieder zu, allerdings entzerrt, getrennte Wege, "Schnodderlappes"-Pflicht... Eine medizinische Indikation konnte sie nicht vorweisen, aber regelmäßig viel mehr Energie, wenn sie durchgewalkt und mit heißen Steinen "beschwert" worden war. Deshalb durfte sie die Zeitspanne keinesfalls verpassen! Die Herren an der Tafelrunde äußerten Verständnis und Kooperationsbereitschaft. Junias und Cornelius bereiteten anschließend Gemüse und eine sämige Brühe vor. Mit Trockennudeln, die man rasch zubereiten konnte, ein schnelles und leckeres Essen! "Bist du mit deinen Hausaufgaben durch?" Erkundigte sich Junias, während sie aufräumten, gespültes Geschirr verstauten. Cornelius nickte, korrigierte sich aber. "Zumindest mit dem Teil, der für gestern vorgesehen war. Wenn gestern Abend noch mehr reingekommen ist, nein. Ich habe mir den Plan auch noch nicht angesehen." Wann nämlich in der nächsten Woche "Präsenz" angezeigt war. "Gehen wir rasch hoch, greifen mit meinem Lesegerät zu. Da finden wir zumindest raus, ob es sich lohnt, hier die Zelte aufzuschlagen." Neckte ihn Junias, wirkte sehr viel entspannter als die Tage zuvor. Weil er sich endlich erlaubte, "menschlich" zu sein? Cornelius nahm die Offerte an, ließ sich von Junias auch erklären, wie man das eigene Postfach ansteuerte. Der Plan fehlte, selbstredend. Sonntagabend war schließlich noch früh genug für die leidgeprüften Eltern! Auch weitere Aufgaben konnte er nicht entdecken, dafür jedoch eine Nachricht von Adam, der sich dafür interessierte, wie es ihnen nach dem Umzug ergangen sei. "Willst du ihn anrufen? Ich sehe unterdessen mal nach der kleinen Digitalkamera unten." Stellte Junias in Aussicht, sich höflich zurückziehend. Eine entsprechende Notwendigkeit empfand Cornelius zwar nicht, aber er wollte die galante Geste auch nicht torpedieren. Tatsächlich war Adam "auf Empfang", freute sich über einen kurzen Schwatz. Er erkundigte sich auch nach Ruru und dem Ersatz für die verschwundenen Plastikgaloschen. Selbstgefertigte Sandalen mochten eine feine Sache sein, aber ein zweites Paar Schuhe wäre wohl nicht zu verachten! So kam Cornelius auch auf ihr anstehendes Projekt zu sprechen, nämlich das Ablichten noch brauchbarer Tauschobjekte, um Rurus Garderobe aufzustocken. Auch hier zeigte sich Adam umtriebig. Um sich nicht "mopsig" zu fühlen, hatte er mit einigen anderen bereits über einen "Tauschzirkel" gebrütet. Sie mussten ja schon improvisieren, was Schularbeiten und Kontakte betraf! Die üblichen Varianten, gemeinsam in Gruppen den Schulweg zu bestreiten, fiel ja auch flach, "Versammlungsverbot"! Nur war das stets ihre Methode gewesen, sicher zur Schule zu gelangen, selbst wenn man eingeschränkt war. Sie hatten schon an "Kettengeschichten" per E-Mail-Weiterleitung gearbeitet (allerdings hatten die professionellen Assistenzsysteme eine besser Vorlesequalität), nacheinander Musik gemacht und die einzelnen Parts zusammengebastelt (mit ein wenig Hilfe...). "Klamottentausch", dafür gab es schon eine gewisse Lösung, allerdings nicht nur für Klamotten. In einer Garage hatte man bereits seit längerem eine "Tauschbörse" eingerichtet. Die lief so, dass man mitteilte, was man hatte und was man suchte. Das, was gebraucht werden konnte, brachte man dann vorbei (jetzt mit Sicherheitsabstand). Anschließend kam eine Nachricht, sich abzuholen (jetzt auch mit Sicherheitsabstand), was den eigenen Wünschen entsprach. Das klappte ziemlich gut, vor allem bei Büchern oder Spielsachen, hin und wieder auch Küchengerät oder Sportartikeln. Kleidungsstücke waren bisher nicht so stark vertreten, sah man mal von Spezialbekleidung oder entsprechenden Hilfsmitteln ab. Während eifrige Bastelfreunde den Online-Kreisel betreuten, kümmerte sich vor Ort die Großmutter um die "Pakete." Sie hatte zuvor Jahrzehnte einen kleinen Gemischtwarenladen geführt, schien auch "Mopsigkeit" zu fürchten. Obwohl ihre Enkel längst die Schule verlassen hatten, führte sie, von der IT-AG betreut, die "Börse" weiter. So kam sie "unter Leute", es gab etwas Sinnvolles zu tun und technisch gesehen konnte sie mit den "Digital-Naiven" mithalten! Cornelius hörte Adams Grinsen, der ihm werbend die Hintergründe schilderte. "Wenn es noch tragbar ist, können wir es bestimmt brauchen. Mach am Besten eine Liste und schick sie mir. Ich kümmere mich um den Rest. Du bekommst anschließend eine Nachricht." Hochgestimmt sagte Cornelius zu, sich sofort an die Arbeit zu machen. Mit Luzie hatte er ja bereits vorsortiert, sodass es nun nur noch daran ging, die Liste zu verfassen und ein "Wunschkonzert" abzugeben. Als er sich zu Junias in die Wohnküche gesellte, hatte der schon losgelegt. "Müssen wir alles einzeln ablichten oder reicht eine Panoramaaufnahme?" Cornelius gab die Details weiter, suchte nach einem Stück Papier. "Ah~ah! Willst du die Arbeit doppelt machen? Schreib es gleich in eine Text-Datei, die wir per E-Mail verschicken." Bremste Junias entschieden. Seufzend plagte sich Cornelius mit der virtuellen Tastatur, denn er war nicht an Textnachrichten gewöhnt. Andere Daumen nagelten förmlich die Zeichen in Sekundenbruchteilen in die Felder: er tippte mühsam. Junias beobachtete ihn schweigend. "Soll ich nicht besser meinen Laptop holen?" Bemerkte er schließlich höflich. Cornelius schnitt ihm eine Grimasse. "Ich bin langsam, aber ich komme auch über die Ziellinie! Noch weniger passen können die Sachen in der Zwischenzeit auch nicht." Versetzte er hoheitsvoll. Neben ihm lachte Junias. "Na schön, es sind deine verrenkten Daumen! Soll ich Ruru mal kurz entführen? Oder kennst du seine Kleidergröße?" Selbstverständlich musste Cornelius DA keine Hilfe in Anspruch nehmen! Zu allem entschlossen waren endlich alle Informationen untergebracht, die E-Mail versendet, was bedeutete, die Kleidungsstücke wieder ordentlich zusammenzulegen und zu falten. Überraschend schnell kam auch eine Antwort von Adam: nahezu alles wurde akzeptiert. Weil gerade wenig los war, sollten sie doch die Bündel packen und vorbeibringen. Wegbeschreibung bei ihm, damit er mal andere Gesichter sähe! "Ich werde mal nach Ruru schauen. Vielleicht möchte er mitkommen und Adam wiedersehen." Junias nickte, schnürte die Bündel, um sie in eine leichte Tragetasche umzusiedeln. Unterdessen begab sich Cornelius im Garten auf die Suche nach den beiden Gärtnern. Ohne Erfolg. Schließlich wandte er sich an Luzie, die im Badezimmer wirbelte, kritisch die Uhrzeit im Blick. "Ah, die sind losgezogen, zu einem Nachbarn! Gartenenthusiast, aber zehn schwarze Daumen! Der ist ein guter Stammkunde von Henk. Seine Frau macht prima Kompott. Das elektrische Schaf hätte gestern einen Rappel bekommen." Auf Cornelius' besorgten Blick hin zwinkerte sie. "Keine Angst, Cornelius, Henk passt schon auf, dass Ruru dem Mähroboter nicht zu nahe kommt. Ich vermute, als Assistent fühlt er sich zuständig für alles bis unter die Knie." Grinste sie. Cornelius mutmaßte, dass "elektrisches Schaf" auch die Neugierde angestachelt haben musste. Aber es half nichts, sie wollten die zugesagte Abgabe einhalten, nicht zu spät das Mittagessen zubereiten, deshalb kehrte er ohne Ruru in die Wohnküche zurück, wo Junias bereits mit Sonnenbrille und Gepäck wartete. "Nanu, hat Ruru keine Lust? Oder ist doch die Schleimige Armada eingefallen und Sir Ruru verteidigt heldenhaft den Salat?" Scherzte Junias. "Nein, dieses Mal handelt es sich um ein arbeitsunwilliges, elektrisches Schaf." Cornelius zwinkerte, beäugte die Tasche und Junias' Linke. "Mit dem Rad wären wir schneller, aber Laufen verschafft uns länger Bewegung." Argumentierte er zartfühlend, etwaige unfreiwillige Blutspenden ins das leichte Pflaster präventiv zu vermeiden. Junias lachte, wedelte mit der Linken, denn derart SUBTILE Botschaften konnten ihn nicht täuschen. "Wir können durchaus laufen. Da entfällt auch der Streit, wer das schwerere Bündel auf dem Gepäckträger balanciert." Cornelius grinste, nahm einen Griff der großen Tasche. "Sehr weise. Gelegenheiten zu Ruhm und Ehre sollten immer ausgeglichen verteilt sein." Mit einem frechen Schnauben fasste Junias den zweiten Griff. Einmütig zockelten sie die ein wenig belebteren Gassen entlang Richtung Kreuzung. Kurzurlaube oder verlängerte Wochenenden außerhalb entfielen, das Einkaufen dauerte durch die Begrenzungen länger, da waren viele, hübsch solitär oder maximal zu zweit, unterwegs, sich einzudecken, wenn auch nicht mehr in Unmengen mit Hygienepapieren oder Nudeln. "Was ist eigentlich mit deiner Garderobe?" Erkundigte sich Junias, als sie an der großen Kreuzung auf Grün warteten. Cornelius rollte kurz die Schultern, die noch breiter werden konnten. "Oh, ich hab genug. Quasi die Norm für eine Capsule Wardrobe, drei Farben, keine Muster. Ich wachse ja nicht mehr so schnell wie Ruru. Das passt schon." Junias lupfte eine silbergraue Augenbraue, setzte sich aber synchron in Marsch. "Sehr löblich, deine spartanische Haltung. Aber erwarte bloß nicht von mir, dass ich mich da anschließe!" Kommentierte er dezent bissig. "Ich bin ein sehr williges Konsumopfer! Drei Hemden, drei Hosen, sechs Paar Socken und Unterhosen, das genügt mir nicht." Cornelius lachte. "Also, etwas mehr ist es bei mir schon. Ich würde dich bestimmt auch nicht zu irgendwas nötigen. Ich hab es bloß ein wenig leichter: keine Gelegenheiten, sich herauszuputzen, wenig Geld und selbst schon großflächige 'Musterung' vorhanden." Er spürte den Seitenblick. "Ich MAG deine 'Musterung', Cornelius." Der ahnte in der Stimme einen gewissen Tadel. "Na, ich hab mich auch daran gewöhnt. Aber stell dir mal vor, ich würde jetzt karierte Hosen tragen, ein längs gestreiftes Hemd und noch eine Weste mit Fischgrätmuster." Er schauderte selbst bei der Vorstellung. "Also, das IST ein Argument." Gestand Junias großzügig zu, ein merkliches Grinsen in seiner Stimme. "Allerdings würde selbst ich SO eine Kombination nicht anziehen." Cornelius nickte übertrieben beifällig, bevor er Junias zugrinste. "Ich werde aber darauf achten, dass ich ordentlich und gepflegt aussehe, besonders mit meiner neuen Frisur. Es gab da nämlich einen Ratgeber, damit man nicht gleich..." "Oh, stopp!" Intervenierte Junias theatralisch. "Ich dachte ja, du hättest keine Hobbys, aber DAS hier fällt mindestens darunter!" Cornelius feixte, versuchte gar nicht erst, den Gekränkten zu mimen. "Erstaunt dich das wirklich? Immerhin hatte ich nicht gerade viele Quellen zur direkten Nachfrage." Neckte er Junias, der sich ja über die Qualitäten seiner Mutter beklagt hatte. In dessen Stimme hörte er ein Schmollen. "Reichlich ungezogen, mir mein eigenes Urteil vorzuhalten, um treffend zu argumentieren." Amüsiert schwenkte Cornelius die Tasche leicht, was Junias einlud, es ihm gleichzutun. "Na schön, ich werde mich nicht mehr beklagen. Wie hieß es noch in 'Ein idealer Gatte''? 'Gute Ratschläge sollte man immer weitergeben. Es ist das Einzige, was man mit ihnen tun kann. Für einen selbst sind sie nie zu gebrauchen'." Ließ Junias ihn spitzbübisch wissen, schwenkte im Takt ausgelassen mit. Entsprechend einvernehmlich und guter Laune erreichten sie auch Adam, der bereits vor dem Haus im artigem Sicherheitsabstand wartete. "Nanu, heute ohne Ruru?" Bemerkte er sofort erstaunt. Ohne Junias' bezeichnenden Blick zu kommentieren, der höflich mit der Linken die Sonnenbrille auf seine Locken gehoben hatte, antwortete Cornelius. "Ja, da war ein arbeitsscheues, elektrisches Schaf schneller." Dies musste selbstredend erklärt werden, auch ein wenig lauter, da Frau Kappel von oben grüßte. Versammlungen mit mehr als drei Personen blieben untersagt, in den Garten konnte Adam sie auch nicht einladen, denn da hatte der Regen vom Vortag Spuren hinterlassen, die seine Eltern gerade zu beseitigen suchten. Mit der Zusage, sich am "Informationsaustausch" zu beteiligen entließ er sie munter zur "Garagen-Börse". "Ich glaube, das ist eine gute Gelegenheit." Ließ Cornelius verlauten. "Ich meine, sich diesem lockeren, großen Freundeskreis anzuschließen. Wenn deine Klassenkameraden wegen des Großmauls vorsichtig sind, können wir uns hier neu einbringen. Er kennt Leute an meiner Schule und an deiner ehemaligen. Außerdem noch seine Schulfreunde auf der privaten, integrativen. Das hört sich für mich nach einer prima Chance an." Junias schnaubte neben ihm. "Ich ahnte schon, dass du das sagst! Das ist SOOOOO vernünftig!" Cornelius grinste. "Da kann nur ein klitzekleiner, rebellischer Teil von dir Einwände hegen." Schlussfolgerte er neckend. Junias streckte ihm die Zunge heraus, reckte das Kinn störrisch. Schmunzelnd steuerte Cornelius ein Mehrfamilienhaus an, das eine separate Garage mit buntem Schild benachbarte. Den Anweisungen, die ein Holzschild mit eingebrannten Lettern erteilte, leisteten sie Folge, deponierten artig die gebündelten Kleider in einen großen Weidekorb, zogen aus einem umfunktionierten Briefkasten eine Holzziffer, die sie zwischen die Henkel zurrten. Da öffnete sich die Haustür des Mehrfamilienhauses. Eine ältere Frau mit zwei Walking-Stäben hielt auf sie zu. Cornelius und Junias grüßten höflich, während ein Mundschutz justiert wurde. Die ältere Frau grüßte ebenfalls, fischte aus ihrer Umhängetasche eine Fernbedienung, öffnete das Garagentor. Auf engstem Raum in offenen Regalen stapelten sich dort allerlei Waren und Güter. "Soll ich den Korb nicht besser rein tragen?" Erkundigte sich Cornelius, denn bis die "Großmutter" die Sackkarre beladen hatte, wäre er rasch dreimal den Weg gegangen. "Nimm n Latz, bittschön, dann gern aufi! Den Karrn hats zerlegt, a Schand!" Seine Maske aufsetzend nahm Cornelius den Weidenkorb, folgte im artigen Abstand, deponierte auch selbst die Bündel. "Danke schön. Sollen wir den Korb vielleicht irgendwo drauf setzen? Wie wäre es mit dem Hund da? Mit ein paar Gepäckgurten säße der Korb sicher?" Fragte er nach, denn es schien doch sehr unpraktisch, einfach wieder den leeren Korb hinauszutragen. "Geh her, des machmer!" Junias, der artig Abstand gehalten hatte, fühlte sich eingeladen, sodass sie als Team unter Aufsicht arbeiteten, dem Weidenkorb einen rollenden Unterbau verschafften. Sie bedankten sich noch mal, verabschiedeten sich. Vielleicht trauten sich ja andere wieder hierher und jemand hatte Kleidung in Rurus Größe übrig! Die Tasche faltend transportierte Cornelius sie in einer Hand. "Das hat gut geklappt, oder? Spät dran sind wir auch nicht." Junias, der neben ihm spazierte, schob die kalte Rechte in seine Hand. "Darf ich mal was fragen?" Wagte Cornelius einen ersten Anlauf. Neben ihm grummelte Junias kritische Töne. "Also, warum hat Rurus Vater seinen 'Leitspruch' nicht von sich gegeben? Hat die Wirkung nicht angehalten?" Diese Fragen waren vom Vortag noch unbeantwortet. Junias reckte das Kinn. "Staune und lerne, Dr. Watson, staune und lerne!" Dozierte er mit aufgeblasener Arroganz, sogar den Kopf werfend, damit die Locken filmreif aufflogen. "Es wäre doch ziemlich auffällig, wenn er ständig sein neues Motto wiederholen würde, oder nicht? Tatsächlich sinnvoll ist es, es gegenüber den Institutionen rauszuplärren, wo es von Bedeutung ist, zum Beispiel bei der Polizei, beim Familiengericht oder beim Jugendamt. Bei Behörden, um die große Klammer zu ziehen. Die würden daraus Schlüsse ziehen, nämlich entweder 'Schutzbehauptung' oder 'Handlungsbedarf'. Dass seine Glaubwürdigkeit miserabel ist, hat er aber selbst zu verantworten!" Betonte er final feurig, gar nicht mehr selbstherrlich-professoral. Cornelius nickte. "Stimmt, sehr clever. Das hatte ich gar nicht so im Blick." "Der falsche Ratgeber." Mutmaßte Junias provozierend, schwenkte ihre verschränkten Hände schwungvoll und ausgelassen. Lachend schickte Cornelius sich drein. Tatsächlich hatte er keine explizite Vorstellung, wie Junias das anstellte, ob das Hypnose oder etwas anderes war. Wichtig blieb, dass es funktioniert hatte! "Darf ich noch was fragen?" Nun raste ihm doch ein wenig der Puls. Junias stöhnte. "Und ich dachte, die gigantische Ur-Schnecke wäre die schlimmste Herausforderung gewesen!" Jammerte er theatralisch. "Ruru wollte dich nicht nerven." Sprang Cornelius' Bruder-Reflex an, bevor er sich bremsen konnte. Die Sonnenbrille mit der Linken auf die Locken lupfend wandte Junias ihm den Kopf zu. "Damit wir uns nicht missverstehen, Cornelius: ich mag Ruru. Mir hat die Aktion mit dem SUV sehr imponiert. Der kleine Bursche ist klug und mutig. Ich hatte noch nie Geschwister, aber Ruru ist Spitzenkandidat für die Änderung dieses Zustands. Bloß bin ich es eben deshalb nicht gewöhnt, hin und wieder recht dummbatzig aus der Wäsche zu schauen." Zuckte er betont nonchalant mit den Schultern. Cornelius lächelte. "Das hilft, glaub mir, extrem dabei, die Bodenhaftung nicht zu verlieren." "Oh, schön zu wissen, Karma-Aufpolieren schadet schließlich nie." Bemerkte Junias hoheitsvoll, zwinkerte. "Und, wie lautet denn nun die bedeutungsvolle Frage?" Cornelius blieb stehen, holte tief Luft. "Junias, willst du mit mir gehen?" Junias, der ebenfalls angehalten hatte, lupfte eine silbergraue Augenbraue. "Hast du mich das nicht schon mal gefragt?" "Stimmt. Mich würde die Antwort darauf brennend interessieren." Atmete Cornelius aus, registrierte die Anspannung in seinen Gliedern. "Hmmm...willst du denn mit mir gehen?" Junias' Mimik war wie gewohnt nichts anzumerken, die Stimme klang ärgerlich neutral. "Ja, unbedingt!" Betonte Cornelius, drückte ihre verschränkten Hände verschwörerisch. "Selbst wenn ich diese Praktiken nicht gestatte?" Lächelnd nickte Cornelius. "Das ist für mich keine Einschränkung, Junias. Ich rede hier nicht wieder wie der rationale Solo-Papa mit Helfersyndrom. Ich möchte mit dir zusammen sein, weil ich dich mag und dich küssen möchte, mit dir lachen, mich kabbeln und herausfinden, wer ich eigentlich bin, wenn ich nicht als Eltern/großer Bruder auflaufe." Junias legte den Kopf schief. "Ist das nicht bemerkenswert irrational? Ich bin kein Ratgeber, kein durchschnittlich menschlicher Teenager, habe ein Identitätsdefizit..." "Irrational, aber konsequent." Cornelius merkte, dass er sogar auf die Zehenspitzen wippte! "Ich bin nahezu sicher, dass das verboten ist. Sein sollte." Grübelte Junias ohne sichtbare Gemütsregung. "Ja, vermutlich sollte man es besser lassen, wenn man ständig irgendwelche Leute küsst, grundsätzlich alles mag, was einem begegnet." Pflichtete ihm Cornelius kribbelig bei. "...komisch." "Komisch?" Wiederholte er Junias' kurzen Ausspruch. "Ja, nicht mal ein Anflug von Kopfschmerzen." Cornelius rückte näher heran, ließ Junias' kalte Hand nicht los. "Bitte?" Drängte er, registrierte eine provozierend gelupfte, silbergraue Augenbraue. "Du läufst nicht herum, magst wahllos alle und küsst durch die Gegend?" Junias' Stimme klang so streng wie die eines Schulmeisters von Preußens Gnaden. "Absolut nicht." Versicherte Cornelius, unterdrückte ein aufgekratztes Lachen. "Dann geh mit mir." Wisperte Junias, zwinkerte spitzbübisch. Aber Cornelius wertete die Zustimmung, Junias' Linke, die immer wieder nervös den Hosenstoff geknittert hatte, das Blinzeln der farblosen Wimpern. "Danke schön." Flüsterte er, beugte sich vor, küsste Junias zärtlich. Wenn man genau hinsah, konnte man dessen Stimmung durchaus entschlüsseln. Es hatte etwas zu bedeuten, wie sehr es ihm gefiel, Junias zu liebkosen! Außerdem musste man seinen eigenen, "köstlichen" Geruch auch als bedeutungsvolles Indiz aufführen! "Jetzt musst du mir helfen, Küchenjunge!" Versetzte Junias fröhlich, mit der Linken auf Cornelius' Nasenspitze tippend. "Aye, aye, Smutje! Was steht an?" Spielte Cornelius mit, ließ sich sogar ziehen, weil Junias beschleunigte. Der wandte sich lachend zu ihm um. "Na, was denkst du denn?! Wir werden Fruchtsaft-Gummi-Power-Hasen gießen!" Mit der freien Linken entbot er den Gruß, stürmte der heimischen Wohnküche entgegen. Cornelius stimmte in sein Lachen ein, galoppierte ebenfalls auf. Nein, das war auch noch nicht das Ende...aber der perfekte Anfang für etwas Wunderbares! Hasenpower! ~¢~ Danke fürs Lesen! kimera