Titel: Hosen runter! Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Seifenoper Erstellt: 25.09.2008 Disclaimer: alles frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden, toten oder untoten Personen rein zufällig und nicht beabsichtigt. Das Filmzitat entstammt der Dirty Harry-Serie. :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P :P Hosen runter! Kapitel 1 - Eine exponierende Kettenreaktion Immer freitags wurde offenbar, dass die Vertretung des Staatlichen Schulamtes und das Direktorium samt und sonders Schergen der Unterwelt sein mussten. Selbstredend war die Schule, insbesondere die Turnhalle, ein Vorhof zur Hölle. Hier lernte man nicht fürs Leben, sondern fürs Ableben. Diese unerschütterliche Wahrheit des Daseins eröffnete sich Arminius auch in dem anbrechenden neuen Schuljahr angesichts des Stundenplans für den Freitag. Die infernalische Vorsehung hatte ihrer Schul-Exekutive eingegeben, nach einer Doppelstunde einschläfernder Geschichte zwei Stunden Mathematik den Folterdruck erhöhten. Daran schlossen sich mit peinigender Gründlichkeit zwei Stunden musikalischer Erziehung an. Wer noch in vergeblicher Hoffnung wie alle anderen dem Wochenende freudig strahlend entgegensah, wurde nach Langeweile, völliger Demoralisierung und quälender Tortur der Geschmacks- und Hörnerven final mit einer Doppelstunde sportlicher Aktivitäten zugrunde gerichtet. Maßgeblich beteiligt an diesem ultimativen Marterprogramm, das zweifellos der Inquisition eingefallen sein musste, waren die baulichen Gegebenheiten. Man begann in einem muffigen Kellerverschlag, der ehemals als Sprachlabor gedient hatte. Er zeichnete sich hauptsächlich durch elektrostatisch aufgeladene Bodenbehaarung aus. Sie sah wie tote Raupe aus, roch ebenso lieblich. Kaum den Katakomben der fortgeschrittenen Verwesung entschlüpft bot der Klassenraum keineswegs eine günstige Voraussetzung für die geistigen Anstrengungen, die die höhere Mathematik ihren widerwilligen Anwendenden abverlangte. Er lag idyllisch zwischen den Toiletten und dem Abluftschacht der Nachtspeicherheizungsanlage. Den Musiksaal fand man direkt unter dem Dach, wohlmeinend schallgedämmt, derart gründlich, dass es nicht einmal den Hauch von Zugluft gab. Er war ausgestattet mit aufmunternden, großen Fenstern, die einer vagen Suizidgefahr geschuldet nicht geöffnet werden konnten. Ein Treibhaus hätte keine höheren Temperaturen erreichen können. Von dem Odeur mangelnder Belüftung ganz zu schweigen. Die Krönung dieser Stätten der elaborierten Tortur im Banner des Bildungsauftrags stellte die in den späten Siebzigern errichtete Turnhalle dar. Gänzlich mit Holz verkleidet quoll nun bereits aus verschiedenen Löchern die unerfreulich stinkende Dämmmasse wie Fellknäuel hervor. Fenster hatte man unerreichbare Kilometer weg vom abgetretenen Hallenboden unter das Flachdach gesetzt. Damit konnte man möglichst zahlreiche Gerätschaften an den Wänden montieren. Der Hallenboden zeigte zwar noch rudimentäre Anzeichen von Parkett, war aber häufig geflickt worden, sodass man eher von einer pockennarbigen Ausstrahlung sprechen musste. All dies Ungemach an einem Freitag! Ja, an JEDEM Freitag, wenn all überall das Wochenende schon für eine entspannte Grundhaltung sorgte! »Muss mir niemand erklären, dass das Leben ungerecht und gemein ist.« Stellte Arminius resigniert fest. Dabei befand er sich nach eigener Einschätzung in einer recht komfortablen Lage. Er konnte mühelos mit offenen Augen schlafen, gleichzeitig gespannte Aufmerksamkeit suggerieren, was den Historien-Part des Unterrichts betraf. Mathematik lag ihm durchaus, solange man sich auf den greifbaren, nützlichen Pfaden bewegte. Musikalische Erziehung dagegen war ihm ein Graus. Nicht etwa, dass man gesungen hätte, oh nein! Instrumente erkennen, Partituren lesen, Musikgeschichte pauken, Aufnahmen vergleichen, Technik aller Art: hier setzte sich fort, was in den Morgenstunden gepeinigt hatte, nur ungleich lärmender. Rap-Stücke zu analysieren brachte ihm moderne Unterhaltungsmusik auch nicht näher, bestärkte ihn jedoch in seinem Abscheu. Niemals wäre er verrückt genug, ein Lieblingslied HIER vorzustellen, um es dann von einer Bande sezieren zu lassen, die eine Vorliebe für die sinnlose Aneinanderreihung von Schmäh- und Fäkalworten hatte! Man hätte aus diesem Ausbruch folgern können, dass Arminius sein Klassenkollegium, mit dem er seit der fünften Klasse auf vertrautem Fuß stand, nicht sonderlich schätzte. Tatsächlich hatte er nichts Besonderes gegen sie vorzubringen. Man kam miteinander aus, in einer unangestrengten Koexistenz. Er war eben, nicht zu seinem Leidwesen, analog, wo sie sich digital gebärdeten. Seine Vorlieben wichen von den propagierten der anderen ab. Mit aller Abgeklärtheit eines Sechzehnjährigen befand Arminius, dass er sich nicht dem Gruppendruck unterwerfen musste. Schließlich schwammen nur tote Fische mit dem Strom! Wenn man keinen Wert auf Popularität legte, konnte man auch allein mit sich selbst selig werden. Arminius bestätigte sich selbst ausgesprochen zufrieden, dass er der eigenen Gesellschaft nicht überdrüssig wurde. Wenn es ihm zu lästig war, sich mit den Ansprüchen seiner Umgebung zu befassen, driftete er ungeniert in Tagträume ab. Wie zum Beispiel in diesem Augenblick. Ohnehin, das stand fest, gab es nichts in der unmittelbaren Gegenwart, das seiner gesteigerten Aufmerksamkeit wert gewesen wäre. Klops, wie sie den Sportlehrer Kloppowski eingedenk seiner äquatorial stark expandierenden Körperform nannten, trötete Spucke-reich auf seiner Trillerpfeife. Das orderte das nächste Opfer mit Anwartschaft für blaue Flecken und Blamage in die Schranken. Die Schranken waren in diesem Fall ein altmodisches Sprungbrett mit lustvollem Stöhnen der Federn und ein abgenutztes "Pferd". Diesen Hindernisparcours galt es zu überwinden, ohne übermäßiger Selbstverstümmelung anheim zu fallen. Klops hielt viel von der traditionellen Körperertüchtigung: Stangen hochklettern, sich an Seilen herumhangeln, in den Ringen hängen, über Kästen und Pferde hinwegsetzen, Medizinbälle herumschleppen. All diese herrlichen Möglichkeiten, sich selbst zu lädieren zum fröhlichen Stakkato-Takt seiner vollgesabberten Trillerpfeife. Arminius zweifelte nicht daran, dass er das Genie seines untersetzten Sportlehrers nicht ausreichend zu würdigen wusste, verschwendete jedoch darauf keinen überzähligen Gedanken. Wenn er in der lässig choreographierten Reihe zur Bewerbung auf Hämatome stand, seinen Einsatz abwartete, schweiften seine Gedanken vollständig in andere Regionen ab. Die anderen begnügten sich nicht mit der inneren Emigration. Die aufgekratzteren, ohne Mobiltelefon rastlos, quatschten übertrieben laut und prahlerisch aufeinander ein, ersparten sich jedoch die Mühe, sich auch anzuhören. Weil ihre Hände unbeschäftigt waren, folgten sie einem archaischen Jungmännerritual: herumschubsen und derbe lachen. Die beklagenswert schlechte Koordination der jungen Generation zeigte hier ihre Auswirkungen. Hin und her, Stöße und Püffe gegen die Schultern, ein Tritt in eine zu gut gepolsterte Kehrseite, gestammelte Beleidigungen, die Vorstufe zu einer ungelenken Keilerei. Arminius hielt sich abseits in der Warteschlange für den Hindernisparcours, die Ohren auf Durchzug, die dunkelbraunen Augen mit den schwarzen Einsprengseln unfokussiert in die Ferne gerichtet. Viel zu spät bemerkte er die Sturzbewegung wie Dominosteine, eine Woge, die auf ihn zurollte. Der letzte in der Kette griff Arme rudernd nach jedem Strohhalm, um eine unsanfte Bodenberührung zu verhindern. Er bekam jedoch keinen Strohhalm zu fassen, sondern Arminius' Hosen. Die Schwerkraft reckte triumphierend ihr mächtiges Haupt. :P Arminius fing sich mit beiden Händen schmerzhaft an der Hallenwand ab, denn er hatte keine Möglichkeit, der Welle auszuweichen. Es knackte vernehmlich. Er griff in Splitter und die stahlwollige Füllung des altertümlichen Dämmmaterials. Schlimmer jedoch mutete ihn der unerwartet frische Luftzug um die Beine an, der spielerisch um seine Knie strich, unter sein T-Shirt wanderte. Bevor er noch einen wütenden Protest äußern konnte, bemerkte nach einem langen Augenblick der Stille ohne Herzschlag eine weibliche Stimme prustend. "Gottchen, wie NIEDLICH!" Augenblicklich sackte Arminius in die Hocke, verdeckte hastig seine Blöße, zerrte mit verzweifelter Entschlossenheit an seinen Hosen. Die unkleidsame Röte, die sein Gesicht, die Ohren, ja, sogar den Hals übergoss, war nicht zu verbergen. Plötzlich lachten alle um ihn herum, gewürzt von boshaften Bemerkungen, die sich noch übertrumpfen sollten. Immerhin waren hier gackernde Hennen und aufgeplusterte Junghähne vertreten! "Wächst der noch?" "Ist dein Papi Mikrobiologe?" "Das nennt man wohl Wurmfortsatz, wie?" "Was'n Hungerhaken!" "Schniedli!" "Ar-mini!" Hochrot stieß Arminius ein kraftloses Fauchen aus, rannte aus der Halle in die Umkleidekabine, wo er seine Schultasche schnappte, sich geistesgegenwärtig in eine Toilettenkabine einschloss. Wut brodelte hochexplosiv in seinem angespannten Körper, aber sein Verstand gewann die Oberhand, ermahnte ihn, jetzt bloß keine Dummheit zu begehen. Zum Beispiel Herumheulen. Oder sich erwischen zu lassen. Während er die Sporttasche in trauter Umarmung hielt, lauschte er in der heimeligen Atmosphäre einer uralten Toilette ohne Sitz oder Brille, dafür aber mit verdrahteter Papierrolle auf die Stampede. Sie kam, ein grollendes Trampeln, das Quietschen von Turnschuhsohlen, die abrupt gebremst wurden. Natürlich mussten sie erst in die Umkleide! Arminius umklammerte grimmig seine Tasche, erwog finstere Rache-Phantasien. Darin mochte man einen genüsslichen Augenblick schwelgen, doch die Vernunft vertrieb solche Anwandlungen energisch. Anderer Leute Mobiltelefone einer Schiffstaufe im Klosett zu unterziehen, das konnte nur negative Folgen haben. Vor allem finanzieller Natur, wenn man ans Taschengeld dachte. Tatsächlich hörte er neben den bereits bekannten Schmähungen das Knacken und Poltern der Kabinenwände, als sich seine wohlmeinenden Altersgenossen darum bemühten, ihm die berüchtigte Viertelstunde Ruhm anzutragen. Die Kameraaugen der Mobiltelefone konnten nichts Sensationelles einfangen, da halfen weder Bitten noch Drohungen. Arminius bleckte knurrend die Zunge. Er hegte nicht den geringsten Ehrgeiz, auf einer internationalen Videoplattform als Tipp des Tages angepriesen zu werden. Mit gar keinem Körperteil! Das Herannahen von Klops, der keine Lust hatte, einen Versicherungsbericht über Trümmer in der Toilette zu verfassen, machte der Belagerung ein Ende. Trotzdem wartete Arminius noch fünf Minuten, bevor er sich vorsichtig aus seinem stinkenden Gelass befreite. Das quäkende Signal läutete befreiend das Wochenende ein. Arminius war klug genug, dem Frieden nicht zu trauen. Er hatte schließlich eine jüngere Schwester, deshalb wusste er genau, wie seine Klassenkameraden tickten. Ruhm erntete nur der, der sich mit einer Heldentat hervortat, die man in Bild und Ton festgehalten hatte. Bloße Gerüchte im Stille Post-Verfahren per Mobiltelefon interessierten heute niemanden mehr! Da musste es schon ein Video sein, immer härter als der momentan hochgepuschte Vorgänger. Arminius wusste nicht, was gerade den größten Respekt einer Horde Gehirn-amputierter Unteraffen mit einem gefühlten Wortschatz unterhalb der Zimmertemperatur erweckte. ER wollte jedenfalls nicht für den nächsten Höhepunkt in ihrer armseligen Existenz sorgen! Misstrauisch und wachsam schlich er sich aus der Turnhalle. Wenn man ihm hier auflauerte, wäre der Lehrkraftparkplatz ein sicherer Zufluchtsort, wo man gezwungen war, ihn zu beschützen. Damit keine Beule in das schmucke Gefährt getrümmert wurde! Ein Schlachtplan musste her. Arminius kostete den Vorteil der Ortskenntnis aus. Er wohnte nur zehn Gehminuten von der Schule entfernt, kannte jeden Schleichweg. Erstens wusste man nie, wann man einen Geländevorteil nötig hatte, zweitens hätte Jack Cougar auch nicht anders gehandelt. Man kannte sein Revier oder kassierte eine blutige Schnauze. Einige Abkürzungen über Hinterhöfe und kleine Gärten später erreichte Arminius wohlbehalten das traute Heim. Auf der Türschwelle, drei Stufen oberhalb des Straßenniveaus, lauschte er auf Geräusche in dem schmalen Einfamilienhaus. Er hörte nichts. Aufatmend bewegte er sich in die Küche, wusch sich die Hände. Die Gunst der Stunde galt es zu nutzen! Deshalb hob er vorsichtig den Makkaroni-Auflauf mit zerlaufenem, goldgelben Käse aus dem Backofen, schaufelte sich eine großzügige Portion auf einen Teller, beobachtete ihn entspannt, während der in der Mikrowelle seine Runden drehte. Auflauf bedeutete, dass seine Mutter länger als gewöhnlich außer Haus war. Das bot den Vorteil, dass er in aller Ruhe gemütlich in seinem Zimmer essen konnte. Die Stille signalisierte, dass auch das Schwonster, sein Schwester-Monster, noch nicht eingetroffen war, um ihre Umgebung mit verbalem Dünnpfiff zu beschallen. Ausgestattet mit einer gedrehten Serviette aus Küchenpapier, Gabel und Löffel sowie einem großen Becher Sauermilch balancierte Arminius das Tablett mit seinem späten Mittagessen in sein Zimmer im ersten Stock. Er setzte die kostbare Ladung ab, schüttelte sich die Schultasche vom Kreuz, atmete tief durch. Etwas Tafelmusik gefällig? Um sich aufzumuntern, wählte er eine alte Aufnahme der ersten großen Bigbands aus, die fetzigen Swing zum Besten gaben. Das hob die Laune, entlockte ihm ein gelassenes Lächeln. Arminius war sich bewusst, dass er dem Zeitgeist nicht entsprach, sich nicht a la mode kleidete oder comme il faut benahm. Seine Wortwahl wurde als verschroben bis überkandidelt eingestuft, seine Vorlieben argwöhnisch beäugt, seine selbst gewählte Distanz kritisiert. Allerdings befand er selbst, dass es ihm freistand, wie er zu leben wünschte, solange damit keine Dritten belästigt wurden. Zumindest nicht über Gebühr. Er verspürte nicht das geringste Verlangen, sich dem Schwonster anzugleichen, mit einem quasi implantierten Mobiltelefon am Schädel herumzustolzieren, in einem Idioten-Steno Belanglosigkeiten durch die Gegend zu posaunen und das gesamte Leben zu einem Drama in Seifenopernqualität hochzustilisieren. Außerdem bekam man in ihrer Nähe den Eindruck, dass die Welt ein Gerichtssaal sei, in dem keine Aussage ohne eine unablässige Beeidung stehen konnte. Zusätzlich pflegte sie noch vorsätzliche Ignoranz, sonnte sich darin, wie bei einer erfolgreichen Lobotomie ihre Mängel als Glanzpunkte der Persönlichkeit herauszustreichen. Er war anders, was das Schwonster ihm übelnahm. Umgekehrt hielt er es genauso, begegnete ihr mit bissiger Herablassung. Sie hätte ja keine Idiotin sein müssen! Sein Interesse galt den Screwball-Comedies der dreißiger und vierziger Jahre. Er bewunderte den spritzigen Esprit, das souveräne Auftreten der Herren in perfekter Kleidung und die schöne, mal sportliche, mal elegante Erscheinung der Damen. Er mochte die Musik, die vor Lebenslust sprühte, feinsinnige, spöttische Texte unterstrich. Er las liebend gern Detektivromane aus dieser Zeit, wo sich die Gentlemen-Ermittler langsam in knallharte Spürnasen verwandelten. Vor allem beeindruckte ihn das Selbstverständnis der Damen und Herren. Selbstredend waren gutes Aussehen und Reichtum keine Schande oder hinderlich, aber entscheidend waren Geistesgegenwart, Schlagfertigkeit, vollendete Manieren und ein gewinnendes Auftreten. Man konnte mit Freund und Feind bissig-geistreiche Bemerkungen austauschen, ohne unnötige Temperamentsausbrüche. Haltung zählte, eine lässige Souveränität, die an Hybris grenzte. Alle waren ihre eigene Grenze. Die Damen gaben sich nicht geziert-hilflos, um sich an einen starken Arm zu klammern, sondern mussten selbst etwas auf dem Kasten haben. Die Herren hatten übertriebenes Balzgehabe nicht nötig, überzeugten durch Persönlichkeit und ein Selbstbewusstsein, das seine Stärke nicht daraus bezog, andere zu demütigen oder sich selbst aufzublasen. Wenn man ihm vorhielt, was sich historisch zu dieser Zeit zusammenbraute, wie unverständlich seine Vorliebe doch war, eine lächerliche Nostalgie, eine "gute, alte Zeit" dort zu sehen, wo es sie nie gegeben hatte, konterte Arminius mit dem Hinweis, dass er keineswegs verklärt wünschte, in einer anderen Zeit als der gegenwärtigen zu leben. Es war nicht das ECHTE Leben, das ihn faszinierte, sondern eine Vorstellung davon, wie es hätte sein können. Ein Ideal sozusagen. Alles hatte damit begonnen, dass er in der Stadtbücherei auf alte Hörspielkassetten gestoßen war, die alte Detektivromane aus der Zeit der Dreißiger vertonten. Nun reihten sich Aufnahmen in seinem Regal, daneben mitgenommene Bücher aus dem modernen Antiquariat und DVDs mit berühmten Screwball-Comedies, deren Dialoge er auswendig sprechen konnte. Wenn man ihn ließe, hätte er seine ganze Zeit lesend, lauschend, zuschauend und lachend verbringen können, in dieser illustren Gesellschaft. Doch das Schicksal gönnte ihm diesen Luxus nur selten. Ganz sicher nicht in diesem Augenblick. Ein heftiges Trommeln, das an GEZ-Eintreibung oder Steuerfahndung erinnerte, erschütterte das Türblatt. Arminius kannte nur eine Person, die diese Terrormethode perfekt beherrschte: seine Mutter. "Armin?! ARMIN! Ich weiß, dass du da bist! Du gehst zum Training, verstanden?! In fünf Minuten ist dein Geschirr unten und du bist auf dem Weg, klar?!" Arminius hatte nicht das mindeste Verlangen, ausgerechnet heute zum Fußballtraining zu gehen. Nicht eingedenk der Tatsache, dass die meisten seiner Mannschaftskollegen auch seine Mitschüler waren. Die noch darauf brannten, ihn in voller Schönheit und winziger Größe in Pixel zu bannen. Bevor er einen Protest wagen konnte, donnerte schon wieder das aufrührerische Klopfen am Türblatt. "Denk nicht mal im Traum daran, dich zu drücken! Wir bezahlen eine Menge Geld für dein Vergnügen! Der Jahresbeitrag ist horrend! Also keine Diskussionen. Setz dich in Marsch!" Im Schutz seines eigenen Zimmers streckte Arminius der Tür die Zunge raus. Er wollte nicht gehen! Andererseits hatte er lange Jahre Erfahrungen darin, mit seiner Mutter zu verhandeln, die ständig auf dem Kriegspfad zu sein schien. Es brachte schlichtweg kein besseres Ergebnis. Sie wiederholte einfach ihre Argumente in der Lautstärke mit dem Kommandoton eines wilhelminischen Feldwebels, bis man klein beigab, um sich wenigstens das Gehör zu erhalten. Für eine Sekunde schöpfte er boshaft Befriedigung daraus, welches Gesicht seine Mutter ziehen würde, wenn man ihr wohlmeinend das Beileid dazu aussprach, dass ihr Sohn ziemlich dürftig geraten war, im fortpflanzungstechnischen Gebiet. Beunruhigend war bloß, dass er keine Ahnung hatte, auf welche absurden Ideen sie noch kommen würde, wenn sie von der Eskapade in der Schule erfuhr. Mangels Alternativen zog sich Arminius zähneknirschend um, schulterte seine Sporttasche, versteckte hastig den Hüftbeutel, in dem er Ausweise und Geld aufbewahrte. Er hatte nicht die Absicht, zum Training zu gehen. Heute nicht. Es war ihm egal, ob der Trainer sein Schwänzen melden würde! Zumindest im Moment noch. Artig lieferte Arminius das benutzte Geschirr in der Küche ab, startete gehorsam Richtung Sportplatz. Bis er außer Sichtweite war. Es gab nur einen Ort, an dem er nicht mit unerfreulichen Begegnungen rechnen musste an einem sonnigen Freitagnachmittag: die Stadtbücherei. Hierhin würde sich garantiert niemand des Klassenkollegiums verirren! Also war er folgerichtig auch vor Attacken sicher. Arminius verstaute seine Sporttasche in den altmodischen Schließfächern am Eingang, begab sich in seine Lieblingsabteilung. Hier standen die Kriminalromane, nach Genre getrennt. Er kannte die Bände alle, viele waren wie alte Freunde für ihn, denen er immer mal wieder einen Besuch abstattete. Er wählte eine Kurzgeschichtensammlung aus, zückte den Ausweis zwecks Leihe, machte es sich mit ausgelöster Sporttasche auf dem Vorplatz bequem. Hier hatte man ein kleines Straßencafé eingerichtet, das von Wiedereingegliederten betreut wurde. Etwas abseits der Stühle und Tische gab es Holzbänke auf schweren Steinquadern, die zum Sonnenbad einluden, abgetrennt von der Straße durch Pflanzkübel mit Buchsbaumgewächsen. Arminius klappte eine einfache Sonnenbrille auf, expedierte sie auf seine vorwitzige Nase, vertiefte sich in den vertrauten Text. :P Gerade hatte sich Jack Cougar wider besseres Wissen von der undurchsichtigen, aber aufreizenden Meredith Mariniano in eine skurrile Suche nach einer vermissten Halbschwester verwickeln lassen, als ein Schatten Arminius unerfreulicherweise aus der Lektüre riss. Die Augen trotz Sonnenbrille ärgerlich zusammengekniffen funkelte er nach oben, um die uneingeladene Schattenspende zu verdampfen. Unglücklicherweise versagte sein Entmaterialisierungsbannblick auch bei diesem Einsatz kläglich. Der Titan, der vor ihm aus dem Boden wuchs, wich keinen Millimeter. Instinktiv rückte Arminius ein wenig zurück, vermutete blitzartig, dass er doch nicht allen Attacken aus dem Weg gegangen war. "Hej!" Begrüßte ihn der Riese freundlich. "Du bist Ernie, nicht wahr? Ist ja nett, ein bekanntes Gesicht zu treffen!" Mit dieser optimistischen Einstellung wurzelte der Hüne neben Arminius an, balancierte dabei einen gewaltigen Milchkaffee aus. Arminius identifizierte den aufdringlichen Störenfried seiner geliebten Lektüre als einen der Neuen, die in die Parallelklassen verteilt worden waren. Im letzten Jahr der Mittelstufe kam das durchaus öfter vor, vor allem bei Querversetzungen von Realschulen. Das wahrhaftig gigantische Exemplar neben ihm gehörte jedoch in eine ganz andere Kategorie, für die er sich niemals interessiert hätte, wäre das Schwonster nicht so unerträglich mitteilsam gewesen. Das also war der Quasi-Schwede, der tatsächlich keiner war, fließend Deutsch, Englisch, Schwedisch und Französisch sprach, sogar passabel auf Spanisch fluchen konnte. Bei diesen wundervollen Attributen handelte es sich jedoch nicht um die Aspekte, die ihn zum debilen Steno-Grunzen der Gehirn amputierten Hühnerclique des Schwonsters gemacht hatten. Nein, der verhinderte Schwede überragte ihn um mehr als einen Kopf, hatte die Figur eines Schwimmers, breite Schultern und schmale Hüften. Auf seinem Schädel wucherte eine unglaubliche Mähne sandfarbener Haare, die so dick und dicht beschaffen war, dass trotz Stufenschnitt wollige Strähnen eine Korona um das ebenmäßig-markante Gesicht bildeten. Kein Rastafari hätte mehr Furore machen können. Außerdem waren da noch die Augen: hell, fast durchscheinend und wasserklar, ein bemerkenswerter Kontrast zur dezent gebräunten Haut. Arminius verkehrte nicht mit seinesgleichen. Wer zum Objekt der Begierde in den dramaturgisch suboptimalen Seifenopern des banalen Daseins der weiblichen Jahrgänge wurde, der konnte unmöglich irgendein gemeinsames Interesse mit ihm teilen. "Gunnar." Erinnerte ihn der Pseudo-Schwede mit einer dunklen, sehr erwachsenen Stimme freundlich. "Ich glaube, wir haben zusammen Chemie." "Wirklich." Knurrte Arminius abweisend. Innerlich seufzend verabschiedete er sich von Jack Cougar, riskierte unverhohlen einen Blick auf seine Armbanduhr. Wenn er wirklich langsam schlenderte, könnte er seine Abwesenheit vom Training gut verschleiern. "Ah, warst du beim Sport?" Ein kantiges Kinn mit einem winzigen Grübchen wies auf Arminius' Tasche. "Gibt es denn hier in der Nähe einen Verein?" Ein betont entwaffnendes Grinsen brachte Arminius ein wenig aus der Fassung. Wann wollte dieser Gunnar mit den miesen Witzen auf seine Kosten beginnen? "Ich kenne mich noch nicht so gut aus." Plauderte der ungezwungen weiter, so, als kümmere es ihn gar nicht, dass sich sein Gesprächspartner in einen einsamen Monolithen der Versteinerung verwandelt hatte. "Als ich herausgefunden habe, wie nah die Bücherei an der Schule ist, habe ich gleich einen Ausweis beantragt." Informierte er Arminius unaufgefordert. Der studierte ihn mit gefurchter Stirn. Entweder war Gunnar, der gerade Milchkaffee in sich hineinschüttete, in die Sonne strahlte, absolut dickfellig und unsensibel. Oder er verfolgte so perfide Absichten, dass sie sich nicht einmal Arminius vorstellen konnte. Der konnte von sich behaupten, eine sehr abgründige Phantasie zu besitzen. "Ja, dann, man sieht sich." Verkündete Arminius deshalb aufgeräumt, schnappte sich sein Buch und die Sporttasche, betont außer Reichweite der zweifellos muskulösen Arme. Sein Scheiße-Detektor votierte eindeutig dafür, dass dieser Gunnar natürlich Bescheid wusste, glaubte, mit einer besonders heftigen Aktion die Anerkennung seiner neuen Mitschüler zu gewinnen. Darum galt es nun, möglichst hurtig das Hasenpanier zu bemühen, sich in Luft aufzulösen! "Ach, du musst schon los?" Sofort schraubte sich der Riese auch in die Höhe, schnappte die gewaltige Kaffeetasse. "Augenblick, ich begleite dich noch ein Stück!" »Na klar!« Arminius warf bösartige Blicke auf das breite Kreuz. »Ich bin ja auch so eine zarte Maid, dass du mich nach Hause eskortieren musst. Wo du dich doch gar nicht auskennst!« Das konnte nur eine Schutzbehauptung sein! Oder, weniger juristisch ausgedrückt, eine Lüge. Eigentlich hätte es Arminius ein Leichtes sein müssen, sich auf Französisch zu verabschieden, schließlich kannte er das Gelände, musste weder eine Kaffeetasse zurückgeben, noch ein imposantes Fahrrad freiketten. Doch Madame Fortuna war ernstlich schlecht gestimmt, hatte ihn offenkundig als Blitzableiter ausgewählt. Kaum hatte er den Fuß auf die Stufen gesetzt, die zum Straßenniveau herunterführten, quasi in den Startlöchern stehend, da hörte er lautstarke Spottgesänge. "Hey! Das ist unser Mini-Schniedel! Wohin geht's denn so eilig? Zum Yogi, damit er dir Gewichte anhängt?!" Die beiden Hackfressen, die sich Arminius näherten, waren als "Debiles Duo" verschrien. Sie waren gemein, brutal und verfügten nicht mal über Anflüge eines Gewissens. Wenn man in ihre Nähe kam, verspürte man den unwiderstehlichen Drang, sich sofort unter die Dusche zu stellen. Mit Kernseife, Chlor und Beize. Zum wiederholten Mal wünschte sich Arminius, er hätte einen dieser praktischen Kuhkiller, auch als Elektroschocker bekannt. Sie waren zwar verboten, aber die Gesetzgebung hatte wohl noch nicht die Bekanntschaft mit dem Debilen Duo gemacht. "Na, du Wurmfortsatz? Viel Luft in der Hose?" Ein schmieriges Grinsen glänzte unter kalten Augen mit dem klebrigen Gel auf den fettigen Haaren. "Bückst du dich auch eifrig? Musst ja deinen Arsch knackig halten, damit dich überhaupt einer bespringt!" Diese Rede war für die Verhältnisse der beiden Sendboten menschlichen Abschaums beinahe elaboriert! "Zeig doch mal her!" Rückten sie näher an Arminius heran, der geschützt hinter seiner Sonnenbrille gegen aufsteigende Panik ankämpfte, nach einem Fluchtweg fahndete. Den Quasi-Schweden auszutricksen war eine Sache, die beiden Kotzbrocken hier waren jedoch ein ganz anderes Kaliber. "Wenn du kleine, perverse Sau es vor der Klasse machen kannst, kriegen wir doch sicher ne hübsche Aufnahme, oder?" Es war kein bisschen komisch, wenn die beiden sich um eine verständliche Satzform bemühten. Arminius hasste ihr blödes Gelächter, ihre widerwärtigen Umgangsformen, ihren lächerlichen Stolz darauf, dass man sie überall mied. Eigentlich waren sie absolute Verlierer, trauriger Ausschuss der Menschheit. Wenn sie das bloß selbst begreifen würden! "Ah, du hast gewartet!" Gunnar rollte sein gewaltiges Fahrrad heran, lächelte Arminius so freundlich wie arglos an. Sein Erscheinen veränderte subtil die Gruppendynamik: das Debile Duo war aus dem Konzept gebracht, witterte aggressiv wie verhaltensgestörte Dobermänner. "Du hängst mit dem da ab?" Blubberte einer schließlich misstrauisch, beäugte Gunnar. Dessen Statur wirkte wie eine Ermahnung: ich könnte euch über sein! Das Debile Duo achtete sorgfältig darauf, immer die Überzahl zu stellen. Unterdessen hatte Arminius das Fortbewegungsmittel des freundlichen Riesen studiert. Es wirkte trotz des himmelblauen Anstrichs wie ein Beförderungsmittel der Zustelldienste, vorne mit einem enormen Korb, während hinten Satteltaschen Stauraum boten. Der Stützständer war doppelt ausgeführt. Arminius zweifelte nicht daran, dass dieses robuste Geschoss ordentlich Gewicht hatte. "Stehst auf Zwergenpimmel, wie?" Bollerte gerade die andere Hälfte des Duos tollkühn. "Macht dich geil, dasser wie'n verficktes Gör aussieht, hä?!" Die Stirn unter der sandfarbenen Mähne runzelte sich. "Da komme ich nicht mehr mit." Bekannte Gunnar offen. "Wovon sprichst du da?" »Beinahe oscarreif.« Gestand ihm Arminius ehrliche Anerkennung zu. Man hätte wirklich glauben können, dass der alte Schwede keine Ahnung von nichts hatte! »Aber Tuten und Blasen werden dir die beiden Schwachmaten sicher gleich erklären.« Arminius ballte grimmig die Fäuste. Er hatte keineswegs die Absicht, dieser zweifellos niveauvollen Unterhaltung beizuwohnen, deshalb nutzte er die Gunst des Augenblicks. Die Sporttasche auf den Rücken geschwungen stieß er den am Fuß der kleinen Treppe stehenden Gunnar heftig vor die Brust. Der verlor vor Überraschung das Gleichgewicht, taumelte mit seinem tapferen Ross, fiel schließlich auf die beiden Dorfdeppen. Augenzeuge war Arminius allerdings nicht, er lauschte bloß den Geräuschen, während er wie ein geölter Blitz das Weite suchte. :-P Eins musste man dem Fußballtraining lassen: es sorgte für einen schnellen Antritt. Wenn man keine lädierten Knöchel/Schienbeine/Riste haben wollte, konnte man auch mit beinahe tänzerischer Anmut ausweichen, über Hindernisse wie grätschende Beine hinwegsetzen. Selbst wenn Arminius kein begnadeter Fußballer war, in Sachen Training gab er sich alle Mühe. Deshalb erreichte er auch in einer beeindruckenden Zeit die elterliche Türschwelle, ausreichend in Schweiß gebadet, dass er sich über sein Erscheinungsbild keine Gedanken machen musste. Dieser Auftritt blieb unbemerkt, in der Küche dröhnte nämlich das Radio mit einer lebhaften Diskussion. Auf Zehenspitzen trippelte Arminius ins Badezimmer, entledigte sich der nassgeschwitzten Kleider, die er gleich hinter dem Bullauge der Waschmaschine deponierte. Unter dem warmen Wasserstrahl, auf "Sommerregen" eingestellt, seifte er sich gründlich ein, dachte nach. Von seiner Warte aus, er beugte sich ein wenig vor, beäugte sich kritisch, konnte er wirklich nicht über die spezifische Ausstattung klagen. Sie funktionierte. Er hatte sich seit Jahren an sie gewöhnt. Mehr gab es dazu nicht zu bemerken. Wenn diese blöde Sumpfkuh nicht versucht hätte, geistreich zu sein, wäre sein Alltag jetzt kein Desaster! "Ich bin vollkommen in Ordnung." Versicherte er sich selbst, entstieg der Dusche, frottierte sich energisch. Außerdem, was kümmerten ihn die Meinungen von irgendwelchem erfolgreichen Lobotomie-Klientel, dessen Horizont nicht über die Klingeltonwerbung hinausging? Ein Mann von Rang und Klasse strafte solche Unverschämtheiten mit Nichtachtung! :-p "Wieso muss ich mir von Frau Becker-Messer sagen lassen, dass du gestern nicht im Fußballtraining warst?!" Arminius kaute gründlich, denn er hielt es für schlechten Stil, mit vollem Mund zu sprechen. Dass das samstägliche Frühstück an der trauten Familientafel mit Ärger beginnen würde, hatte er schon vermutet, als er den verkniffenen Mund seiner Mutter registrierte, die betont knapp Konversation machte. Bevor er jedoch eine Erwiderung aussprechen konnte, schnitt ihm bereits die alte Platte das Wort ab. Sie begann mit der rhetorischen Frage, ob er überhaupt eine Vorstellung davon habe, wie teuer die Jahresbeiträge für den Verein wären? Wie lange man dafür arbeiten müsse? Welchen Verzicht man sich auferlege, damit er sich ein Vergnügen gönne? Wie immer rauschte der Vortrag an Arminius vorbei, der ihn im Schlaf hätte hersagen können. Natürlich hätte man kontern können, indem man den Verzicht anbot, um die Martyriums-Botschaft der treusorgenden Eltern zu untergraben, aber Arminius war klüger. Er hielt sich nicht für ein williges Opfer pubertärer Streitsucht. Gewiefte Taktik wählte die Schlachten selbst aus, schlug sich nicht auf verlorenem Posten herum. Er ging seit Jahren zum Fußballtraining, weil seit der Grundschule sämtliche Mitschüler in den Verein gingen. Weil sein Vater sich einen Fußball spielenden Sohn wünschte, denn sonst war man im Männerkreis der wochenendlichen Fernsehgucker unten durch. Hätte man ihm die Wahl gelassen, hätte Arminius durchaus auf das Training verzichten können, aber er war vernünftig genug, es als Wermutstropfen in seinem Alltag zu akzeptieren. Deshalb diskutierte er nicht, forcierte keinen Streit oder brachte Argumente vor, sondern wartete geduldig ab. Wenn der Vortrag sich lang genug hinzog, ausgeschmückt wurde, musste er sich wahrscheinlich nicht einmal mehr für seine Abwesenheit rechtfertigen. Sie ging einfach unter in dem Wortgeklingel. Seine Gelassenheit wurde herb enttäuscht, denn das Schwonster mischte sich ein. "Er hat geschwänzt, weil er n Perversling is!" Verkündete sie mit Abscheu in der heiseren Stimme, musterte ihn über den Tisch hinweg wie Ungeziefer. "Wegen seinem Scheiß-Mini-Pimmel dissen sie mich!" "Regina Martina Johanna!" Schmetterte Arminius' Mutter über den Tisch, sorgte dafür, dass den mit geschwisterlichem Hass aufgeladenen Blicken keine handfeste Keilerei folgte. "So redest du NICHT über deinen Bruder!" Die Zeitung raschelte, wurde höher gehoben. Wie immer in Zeiten der Krise war Arminius' Vater eine sichere Bank: er hielt sich heraus, suchte bei der erstbesten Gelegenheit das Weite. "Was hat das zu bedeuten? Ich verlange eine Erklärung!" Bellte seine Mutter in arktischen Tönen. Man spürte förmlich den Gefrierbrand im Gesicht. "Er hat vor allen seinen Schwanz rausgeholt!" Kreischte das Schwonster schrill. "Das ist so was von pervers!" "Was für ein Unsinn!" Wischte seine Mutter diese Behauptung kategorisch vom Tisch. "Warum sollte Armin so etwas tun?" "Aber es ist wahr!" In ihrem Kampf um Anerkennung vergaß Arminius' Schwester ihre übliche Diktion zwischen Kauderwelsch-Steno und Gossen-Rap. "Er hat die Hosen runtergelassen! Beim Sport!" Arminius schaltete sich mit tödlicher Ruhe ein. "Ich habe NICHT die Hosen heruntergelassen und mich unsittlich entblößt." "Natürlich hast du das nicht!" Pflichtete ihm seine Mutter bei, die eine Entgegnung des Schwonsters herrisch abschnitt. "Es handelte sich lediglich um eine Verkettung unglücklicher Umstände." Fuhr er innerlich grinsend fort. Das Schwonster würde sich garantiert Hausarrest einhandeln! "Ach, Scheiße, lüg doch nicht! Warum muss ich mit so nem ätzenden Freak verwandt sein?!" "Du kannst dich gern zur Adoption freigeben." Knurrte Arminius zurück. "Aber mit deinem IQ würden sich selbst die Amöben unterfordert fühlen!" "R-U-H-E!" Schmetterte seine Mutter im Wohlklang des geübten Kasernenhoftons eines Preußischen Oberfeldmarschalls. Während er darauf wartete, dass das klingelnde Geräusch sich aus seinem Innenohr verabschiedete, funkelte er rachsüchtig über den Tisch. Er würde sich revanchieren. SO LÄSSIG bleiben, bis die hohle Nuss, die aufgrund eines kosmischen Irrtums in seine Familie geboren worden war, austickte und sich Hausarrest einhandelte! "Was hat es mit dieser 'Verkettung unglücklicher Umstände' auf sich?" Hakte inzwischen die mütterliche Obrigkeit inquisitorisch nach. "Lediglich ein kleiner Unfall beim Sport." Gab sich Arminius auskunftsresistent, lieferte das Stichwort für die nächste Attacke quer über die Marmelade hinweg. "Logo, für n 'großen' Unfall reicht's bei dir ja nich!" Versetzte das Schwonster giftig. "Woher du nur wieder so gut unterrichtet bist?!" Lästerte Arminius provozierend. "Wie kannst du das beurteilen?" "Weil alle dich gesehen haben, du Arsch! Vor allen hast du deine beschissene Show abgezogen! Du bist so scheiße abartig!" Der Rest der Beweisführung mit Schwenk auf persönliche Charaktereigentümlichkeiten ging unter, da eine flache Hand die Tischplatte mit Überschallgeschwindigkeit traf, einen entsprechenden Knall auslöste. Arminius' Mutter ähnelte der Königin aus >Alien<. "Du gehst sofort auf dein Zimmer, Regina Martina Johanna. Das Wochenende ist für dich gestrichen!" Zeternd und fluchend versuchte das Schwonster, die diabolische Tyrannei und diktatorische Ungerechtigkeit ihrer Erzeugerin verbal zu bekämpfen. Arminius lehnte sich bequem zurück, überdachte die Option, sich noch ein weiteres Knäckebrot mit Magerquark zu gönnen. Nichts konnte so süß munden wie eine erfolgreiche Rache! Die Gegenwart holte ihn jedoch wieder ein, denn nun war er gehalten, die Abläufe, die zu seiner unfreiwilligen Aktpose geführt hatten, in kurzen Worten zu beschreiben. "Was für eine lächerliche Geschichte!" Bemerkte seine Mutter verächtlich. "Viel Lärm um nichts. Für dich nicht der geringste Anlass, nicht zum Training zu gehen!" Diese Behauptung ließ Arminius unkommentiert. Es hatte keinen Sinn, die logische Konsequenz seines Handelns zu erklären. In Augenblicken wie diesen fragte er sich, wie es Eltern überhaupt gelang, allein in der Welt zu bestehen. Sie hatten so viel Ahnung wie frisch geschlüpfte Kaulquappen. Er wurde von der Tafel damit entlassen, als Sühne für seine dekadente Faulheit die Garage aufzuräumen und zu kehren. Nicht gerade die schönste Aufgabe an einem strahlend sonnigen Spätsommertag, aber Arminius führte sich die positiven Aspekte vor Augen. Wenn man körperliche, eintönige Handgriffe vollführte, waren die Gedanken frei, konnten umherwandern, sich in verrückte Phantasien versteigen. Kino im Kopf und Schwielen an den Händen, das war nicht unbedingt eine schlechte Freizeitbeschäftigung. :-P Während Arminius sich hingebungsvoll und guten Mutes seiner Aufgabe widmete, in das Chaos vorzudringen, wieder eine Garage daraus zu gestalten, zeigte sich, dass die Familie die Folgen der "Verkettung unglücklicher Umstände", die in Arminius' Wäsche geankert hatte, unterschätzte. Zunächst waren es bloß lächerliche Anrufe, die der Blechknecht mit professioneller Kühle aufzeichnete. Mit der samstäglichen Post entleerte sich auch eine Flut albernster Sendungen, die ihrerseits erklärten, warum der Anrufbeantworter Ziel von Verbal-Erotik und Keuch-Attacken war. Herbeizitiert nickte Arminius bloß gravitätisch, pflichtete der bissigen Einschätzung seiner Mutter bei, dass der Faxen genug sei. Wer die Adresse und Telefonnummer ihrer Familie in einem Internetforum für Homosexuelle mit einem lächerlichen Kontaktgesuch angab, das außerdem noch vor Schreibfehlern strotzte, der würde gleich einen Vorgeschmack auf die Verdammnis kennenlernen! Innerlich grinste Arminius wie ein Honigkuchenpferd. Wer auch immer sich den Blödsinn ausgedacht hatte, würde feststellen, dass seine Mutter viel mit Piranhas gemein hatte: sie ließ gerade mal die Knochen übrig. Während sie nun seinen Vater dazu zwang, seine Gedanken von den samstäglichen Fußballspielen abzuwenden, die er in einem Sportlokal mit seinen Bekannten konsumieren wollte, verabschiedete er seine Eltern, die mit dem Beweismaterial die nächste Polizeiwache aufsuchen wollten. Es kümmerte ihn auch nicht, dass das Schwonster die Gelegenheit nutzte, sich abzuseilen. Eine dämliche Trotzreaktion, denn wenn sie nicht beim Mittagessen erschien, würde der Strafrahmen sich erheblich erweitern. »Zum Beispiel durch die Konfiszierung ihres verdammten Mobiltelefons!« Feixte er, schwang schwungvoll sein Kehrgerät. :-P Wie vorhergesagt traf die Familie zum Mittagessen wieder zusammen. Danach verzog sich Arminius' Vater eilig in das Sportlokal, außer Reichweite seiner besseren Hälfte, die auf dem Kriegspfad paradierte. Arminius hielt eine kurze Siesta ab, denn die Nacht würde noch lang werden. :-P Gegen elf Uhr hatte sich die Dämmerung endlich in nächtliche Finsternis verwandelt. Geübt kletterte Arminius aus seinem Fenster auf das Dach. Er richtete sich häuslich auf dem kleinen Podest ein, das man auf den Dachfirst gesetzt hatte, um Technik- und Kaminpflegearbeiten zu erleichtern. Warm in einen dunklen Pullover eingehüllt, eine Thermoskanne Tee und eine Packung trockener Vollkornkekse neben sich wartete er geduldig. Zum Abendessen hatte ihnen das zuständige Revier mitgeteilt, dass man aufgrund der Anzeige einen erfolgreichen Abschluss der Ermittlungen melden konnte. Die speziell eingerichtete Eingreiftruppe für Internetkriminalität und das fortgesetzte, hartnäckige Nachstellen, neudeutsch Stalking genannt, konnte mühelos die Foren-Betreibenden um die Internetadresse des Absenders der Kontaktanzeige erleichtern. Die Anzeige, deren dilettantischer Abdruck in ihrem Briefkasten gelegen hatte, war bereits gelöscht worden. Über das Unternehmen zum Internet-Anschlusses hatte man ebenso rasch die Vertragspartei identifiziert. An einem Abendbrottisch in der Nachbarschaft war es zweifellos gar nicht mehr amüsant zugegangen! Für Arminius war das ein erstaunlicher Erfolg, denn es würde andere Wirrköpfe davon abhalten, ähnlich halbgare Ideen zu verfolgen. Um aber JEDER weiteren Aktion den Riegel vorzuschieben, hockte er hier in seinem Adlerhorst, getreu an seiner Seite der Feldstecher seines Namenspatrons. Der bekleidete die wenig schmeichelhafte Position, der ältere Bruder seiner Mutter zu sein, hauptberuflich aber ein Hallodri, Prasser, Heiratsschwindler und Eckensteher. Allen war schleierhaft, warum seine Mutter ihren unsäglichen Bruder stets verteidigte, einen undefinierbaren schlechten Einfluss für dessen Eskapaden verantwortlich machte. Arminius verdankte dieser Verbundenheit auch seinen Namen, zumindest zu einem großen Teil. Einmal jedoch hatte sein Vater den Aufstand geprobt, aus "Armin" wenigstens "Arminius" gemacht, damit sein armer Sohn eine Chance hatte. Im Kindergarten war schnell aus "Armi" dank des äußerst subversiven Einflusses der Sesamstraße "Ernie" geworden. Arminius hatte sich an "Ernie" gewöhnt, schließlich konnte es durchaus Schlimmeres geben. Er knusperte einen weiteren Keks, harrte der Dinge, die da ganz bestimmt kommen würden. :-P Kurz nach Zwei, als es sich Arminius nach einem flotten Abstecher zur Toilette, dem Tee geschuldet, wieder gemütlich in seinem Ausguck gemacht hatte, erspähte er durch den Feldstecher zwei Gestalten. Bestätigt grinste er breit, folgte mit dem Fokus den beiden Figuren. Unter einer Straßenlaterne identifizierte er sie erwartungsgemäß als das Debile Duo. Obschon es recht verwunderlich war, woher seine Klassenkameraden einschlägige Erotik-Seiten für Erwachsene mit sexueller Neigung zum eigenen Geschlecht kannten, bewiesen ihm diese beiden geistigen Einzeller, dass es Gewissheiten im Leben gab. Sie mochten nicht clever genug sein, um sich so etwas wie die Kontaktanzeige im Internet auszudenken, aber in anderer Hinsicht hatten sie zweifellos ein Repertoire an widerwärtigen Streichen in petto. Während er verächtlich über ihre Bekleidung schmunzelte, Kapuzenpullover einer Marke mit einem Kampfhund als Signet, rüstete er sich für den Guerillakampf. Wirklich harte Kerle hatten es nicht nötig, sich quasi ein Umhängeschild zu verpassen, damit auch alle erkannten, wie hart sie waren! Arminius beugte sich vor, beobachtete, wie die beiden in Plastiktüten etwas transportierten, das sie weit von sich gestreckt hielten. »Vermutlich wollen sie uns Exkremente an die Wände schmieren und in den Briefkasten stecken!« Mit grimmiger Vorfreude justierte Arminius die selbstgefertigte Schleuder, legte Munition zur Rechten und die Zwille zur Linken bereit. Zwei Vorteile sprachen für ihn: erstens war er schwindelfrei, konnte sich unbeeinträchtigt auf dem Dach bewegen. Zweitens hatte er einen ganzen Tag in der Garage verbracht, um die Theorie jahrelanger Lektüre in die Praxis umzusetzen. Die aufmerksame Lektüre der Detektiv- und Kriminalgeschichten sowie der Komödien konnte viel lehren, besonders über die Gefährlichkeit eines normalen Haushalts. Arminius beabsichtigte, diese Tatsache auch die beiden Tröpfe zwei Stockwerke unter sich zu nahezubringen! Bevor sie ausholen konnten, um den ersten Beutel gegen die Hauswand zu schleudern, ließ er den ersten Ballon fliegen, lud gewandt nach, zielte und feuerte frisch von der Leber weg. Volltreffer! Die Ballons zerplatzten bei Kontakt, schütteten eine übelriechende Flüssigkeit, die mit alten Farbresten und einem Lösungsmittel versetzt war, über die Zielzone aus. Kreischend versuchten sich die beiden verhinderten Dreckschleudern in Sicherheit zu bringen, doch neben der Schleuder hatte Arminius zu diesem Zweck auch die kleinere Zwille bei der Hand. Er richtete sich auf, spannte wie ein Bogenschütze den massiven Gummi, jagte einen Schauer an kleineren Ballons vom Dach. Seiner Einschätzung entsprechend nahmen die beiden Strohköpfe von ihrem Plan Abstand, wollten sich stinkend, mit Farbe beschmiert und tropfnass verabsentieren. Doch das wäre zu einfach, befand Arminius, der genau wusste, wie weit er mit seinen beiden Geschossträgern reichen konnte. Deshalb wählte er sich ein anderes Ziel für seine finalen Schüsse. In der Straße, in der sie wohnten, hatte man Einfamilienreihenhäuser aneinandergesetzt, als man noch von Nierentischen und Connie Francis schwärmte. Demzufolge gab es kaum Garagen oder überdachte Abstellplätze. Man musste Glück haben wie seine eigene Familie, die einen alten Schuppen hinter dem Haus abgerissen hatten, um die Garage zu errichten. Viele andere mussten ihr geliebtes, kostspieliges, teures "Kind" auf der Straße spielen lassen. Sie waren dementsprechend empfindlich, wenn es um Beschädigungen oder gar Einbruchsversuche ging. Arminius nahm zwei Autos ins Visier, deren Besitzer nicht nur als cholerisch, sondern auch als manisch paranoid galten. Er traf nacheinander punktgenau die neuralgischen Stellen an der Karosserie, die mit dem Alarmauslösesystem verbunden waren. Eine infernalische Kakophonie setzte ein, die selbst das Einstürzen der Mauern von Jericho und die Posaunen zum Jüngsten Gericht verblassen ließ. Lichter blinkten wie bei einem UFO-Angriff, es jaulte, jammerte, dröhnte und quiekte zum Steinerweichen. Das Debile Duo gab Fersengeld, als sei der Gehörnte persönlich hinter ihnen her. Während überall Lichter angeschaltet wurden, die Nachbarschaft sich auf der Straße versammelte, um über die akustische Kriegserklärung zu debattieren, kletterte Arminius ungesehen vom Dach in sein Zimmer zurück. Höchst zufrieden kuschelte er sich in die warme Umarmung seiner Steppdecke, fiel in süße Träume. :-P Kapitel 2 - Die Nachwehen des kurzen Ruhms Auch beim Frühstück am Sonntagmorgen war die nächtliche Attacke auf die trügerische Sicherheit und wohlgeratene Ordnung ihrer Nachbarschaft noch Thema. Das Schwonster schmollte, weil sie die Aufregung glatt verschlafen hatte, sein Vater wirkte gequält, denn man hatte ihn in einem entsetzlich peinlichen Bademantel genötigt, vor die Tür zu treten. Er sollte die drohende Gefahr für seine Familie erkunden. Arminius lauschte den Erkenntnissen, die auf der widersprüchlichen Einschätzung der Nachbarschaft beruhten, mit vorbildlicher Ergriffenheit. Innerlich steppte er vor Begeisterung. Wenn er nun noch beiläufig in der Schule fallen ließ, dass die Nachbarschaft sich mit Alarmanlagen und Bewegungsmeldern ausgerüstet hatte, würde man wohl davon absehen, dem trauten Heim noch so einen widerlichen Streich spielen zu wollen! Deshalb konnte er sich auch im Schatten in einer Hängematte seiner geliebten Lektüre widmen. Man lernte doch sehr viel aus Büchern, keine Frage! :-P Mit erstaunlicher Zuversicht begegnete Arminius dem Montag. Tatsächlich verhielt man sich ihm gegenüber ein wenig reserviert. Die dämlichen Scherze bezüglich seines primären Geschlechtsorgans reduzierten sich auf einige halblaut gemurmelte Bemerkungen. Überhaupt, gab es kein anderes Thema? Sehr zufrieden mit seinem Erfolg marschierte Arminius auch am späten Nachmittag zum ersten Fußballtraining der Woche. Für ihn galt wie für einige andere, dass der Verein seiner sozialisierenden Aufgabe nachkam. Sie sollten bloß die Bank warmhalten. Wenn sie tatsächlich einmal aufs Feld geschickt wurden, nur, um die gegnerische Partei zu behindern. Auf gar keinen Fall durften sie den Ball länger als einen Wimpernschlag am Fuß führen! Arminius nahm es seinem Vater nicht weiter übel, dass er ebenso wenig wie sein werter Erzeuger ein begnadeter Ballkünstler war. Es machte ihm auch nichts aus, die Bank zu drücken oder als Zählpersonal auf dem Feld herumzuirren. Eigentlich interessierte er sich ja auch gar nicht für Fußball, sah sich nie ein Spiel im Fernsehen an. Was kümmerten ihn die Resultate anderer Spieler? Im Leben musste man sich manchmal eben bewegen, irgendeinen Sport betreiben, also tummelte er sich hier. Tennis war zu teuer, Golf ebenso und für Basketball war er zu klein geraten. Er trainierte eifrig mit, wich heimtückischen Ellenbogenstößen oder Tritten aus. Es hatte sich herumgesprochen, dass einer ihrer Mitspieler aufgrund der Internetaktion mit der Kontaktanzeige von seinen Eltern heftig sanktioniert worden war. Man verriet keine Kameraden! Arminius hasste diesen Kadavergehorsam, der sich nun sein Ventil suchte, indem er ihn zur Zielscheibe von Attacken machte. Wahrscheinlich, das gab er gerne zu, war er einfach kein Teamspieler, wenn es damit einherging, dass das eigene Gehirn aus- und mit anderen gleichgeschaltet wurde. Allerdings lief er keine Gefahr, wenn der Trainer sie im Auge behielt. Bei der vorherrschenden, schwülen Hitze wie die Hasen über den Platz gehetzt zu werden, musste wohl alle an ihre Grenzen treiben, dachte Arminius. Er hatte sich gerade mit einiger Mühe das schweißnasse Trikot vom Leib gepellt, als ihn vier Mitspieler umringten. "Was gibt's?" Erkundigte er sich betont gelangweilt, fischte mit der freien Hand nach den Griffen seiner Sporttasche. Wenn er sich richtig erinnerte, lag die Wasserflasche vorne, selbstredend aus Glas, weil seine Mutter die Umwelt vor Plastikmüll schützen wollte. Man musste sie bloß wie eine Ramme schwingen, mit der anderen Hand die Stollenschuhe... "Hej! Ernie!" Unisono blickten sie alle zur offenen Tür der Umkleide, die unerwartet von einer großen Gestalt ausgefüllt wurde. "Oh, seid ihr auch hier? Ich dachte, ich schaue mal vorbei, ob Fußball was für mich ist..." Unter der sandfarbenen Mähne warf sich die Stirn in bedenkliche Falten. "Sagt mal, störe ich bei irgendwas?" Arminius wusste, dass die Vier ganz sicher kein Publikum wünschten, nutzte die Gelegenheit. "Bei was sollst du schon stören?" Brummte er betont gleichgültig, rieb sich mit den Handtuch trocken. "Ach, dachte nur." Der Quasi-Schwede paradierte munter in die Umkleide. "Sah irgendwie nach einer intimen Unterhaltung aus." Sofort schwoll ein Protestchor an, einer bekam sogar rote Ohren. Die Dementi waren unverständlich, keineswegs aber das hastige Auseinanderdriften der Kameraden. "Ah, habe ich wieder ein falsches Wort gewählt?" Gunnar rieb sich durch die wilde Mähne, die wie statisch aufgeladen knisterte. "Habe wohl doch so Einiges vergessen." Grinste er Arminius freimütig an. Der konnte dem bezeichnenden Blick aus den wasserklaren, hellen Augen nicht ausweichen. Er erinnerte sich plötzlich daran, dass er Gunnar am Freitag dem Debilen Duo samt Fahrrad vorgeworfen hatte. Eilig senkte er den Kopf, fischte ein sauberes Hemd aus seiner Tasche, streifte es über, räumte seine Habseligkeiten ein. "Ist das nett hier, Fußball spielen?" Erkundigte sich Gunnar unvermindert leutselig, sank neben ihm auf die Bank. "Geht so." Knurrte Arminius wachsam. Sein Puls raste, sein Kopf glühte unter der Anstrengung, sich eine Fluchtmöglichkeit zu suchen. Aus der Umkleidekabine gab es nur einen Ausgang, ein langer Weg führte bis zur Straße. Erst danach konnte er flüchten. Wobei er chancenlos war, wenn der alte Schwede mit seinem Stahlross vorfuhr. "Muss Spaß machen, den ganzen Tag mit seinen Freunden zu verbringen." Stellte Gunnar leichthin fest. Ganz gegen seinen Willen warf ihm Arminius einen langen Blick zu, studierte das Profil des Riesen eindringlich. Ihm drängte sich der Eindruck auf, dass Gunnar durchaus kein Blödmann war, eher viel zu aufmerksam. Langsam ließ er sich wieder auf der Bank nieder, zog den Reißverschluss seiner Sporttasche zu. Widerwillig musste er anerkennen, dass dieser Gunnar Charakter zeigte. "Wenn du Freunde gewinnen willst, solltest du nicht für mich Partei ergreifen." Formulierte er bedächtig, den Blick stur geradeaus gerichtet. Einen Moment lang blieb es still. Er hörte Gunnar leise lachen, ein tiefes Vibrato, samtig-dunkel, sehr erwachsen und kernig. "Kann schon sein." Bekannte Gunnar lächelnd, legte eine Hand auf Arminius' Schulter. "Möglich wär's." Der wollte sie schon eilig abschütteln, bereute seinen Anflug von Großmut bereits, doch Gunnar hatte sich zum Marsch umgedreht, wandte sich im Türrahmen über die Schulter an ihn. "Na, wollen wir nicht endlich gehen?" :-P Von zwiespältigen Gefühlen in Beschlag genommen zottelte Arminius neben Gunnar und dessen Fahrrad her. Eigentlich, zumindest dem ersten Eindruck nach, wäre dieser Quasi-Schwede schon ganz erträglich gewesen, als Kumpel akzeptabel. Andererseits war Arminius nicht in einer Kiste hinter dem Mond aufgewachsen oder lebte in einer Seifenoper, die grundsätzlich den naturwissenschaftlichen Gesetzen und dem "gesunden" Menschenverstand zuwiderlief. Es gab praktisch keinen einzigen vernünftigen Grund, warum sich jemand wie Gunnar ausgerechnet mit ihm anfreunden sollte. Der hatte sich bis jetzt nicht mehr geäußert, sondern schlenderte gemütlich neben ihm her, balancierte sein Velo aus. "Sag mal, gibt es hier auch ein Freibad?" Meldete er sich endlich zu Wort. "Ich war in Schweden im Sommer ständig im Wasser, mit dem Fahrrad unterwegs. Wäre ganz schön, wenn man die Wärme noch ein wenig nutzen könnte." Arminius nagte unbewusst an der Innenseite seiner rechten Wange. Er hatte eine gewisse Vorstellung, wie diese Unterhaltung verlaufen würde, wenn er wider besseres Wissen Reste seiner Manieren hervorkehrte. Er seufzte leise. "Das Freibad ist beim Industriepark." "Ah, wirklich? Wollen wir da vielleicht am Samstag hingehen?" Gunnar strahlte auf ihn herunter, ähnelte einem begeisterten Löwenzahn in voller Blüte. "Sicher, warum nicht." Gab sich Arminius geschlagen. Er betete eindringlich für das pünktliche Einsetzen der nächsten Sintflut. :-P "Das IST lächerlich!" Mit dieser Meinung, darüber hatte ihn das Schwonster in Kenntnis gesetzt, stand Arminius nicht allein. Wie auch immer Gunnar es anstellte: er fand jeden Tag einen Vorwand, ihm "zufällig" zu begegnen, sich wie eine Klette an ihn zu hängen. Alle anderen hätte sich wohl geschmeichelt gefühlt, aber Arminius wurde zunehmend nervös. Er zweifelte nicht daran, dass er in Kürze diverse Neurosen entwickeln würde. Gunnar WAR ein liebenswerter Kerl, ohne Frage. Er konnte zuhören, redete wie ein normaler Mensch, hatte nie schlechte Laune. Er nahm das Leben scheinbar gelassen hin, konnte immer noch etwas Positives entdecken. GERADE DESHALB jagte er Arminius Angst ein. Was wollte so jemand von ihm?! Es konnte bestimmt kein Mangel an Anerkennung oder Freundschaftsanersuchen sein! Beinahe ständig entourierte ihn ein weiblicher Mob von Fans, der in wüste Keilereien verfiel, wenn eine unter ihnen verdächtig war, sich einen unfairen Vorteil zu erschleichen. Folgerichtig verfügte Gunnar auch über einige "Kumpels", die seine Nähe suchten, weil sie hofften, bei den "Groupies" zum Zug kommen zu können. Arminius wollte dem gefährlichen Charme des Quasi-Schweden nicht verfallen. Dabei bemerkte er, dass Gunnar nur selten über seine Familie sprach. Freimütig erzählte der von Schweden, von Besuchen in Frankreich, von einem Urlaubsaufenthalt in Kanada, den Abstechern nach Dänemark, Finnland und Norwegen. Aber die intimen, privaten Details behielt er für sich, zeichnete sich als ein Meister des subtilen Themenwechsels aus. »Dass er mich nicht ausquetscht, macht es nicht besser.« Stellte Arminius verwirrt fest. Nein, die beiden Tage, die sie gemeinsam in der Stadtbücherei ausklingen ließen, waren wirklich amüsant gewesen. Obwohl Arminius darauf gewartet hatte, dass ihn Gunnar zum Gespött machte, indem er überall verbreitete, welche Art Lektüre der bevorzugte, wurde er zu seiner Überraschung enttäuscht. Wie seltsam auch, dass Gunnar ihn nie wegen dieser dämlichen Aktionen am vergangenen Freitag ansprach! Sich nicht mal darüber beklagte, dass er ihn umgestoßen hatte. Durchaus unruhig sah Arminius der nächsten Sportstunde entgegen. Klops, der über den Flurfunk von den Ereignissen des Wochenendes erfahren, zudem Arminius' Mutter bei einem Elternabend erlebt hatte, zeigte Härte. Die Trillerpfeife rief streng zur Ordnung. Wer sich weigerte, wurde zum Besuch bei der Schulleitung avisiert. Nachdem die ersten beiden Missetäter, die nicht zur Strafe für ihre Hampeleien an einem Tau Richtung Decke klettern wollten, auf diese Art vom Unterricht "befreit" worden waren, zeigte sich niemand mehr willig, einen Eintrag im Zeugnis und einen Auftritt der Eltern bei der Schulleitung zu riskieren. Klops war fair, aber strikt. Er ließ auch die Umkleidekabine nicht aus den Augen, expedierte alle bis zum Schultor hinaus. Wenn sie sich jetzt gegenseitig an die Kehle gehen wollten, wäre das nicht mehr seine Angelegenheit. Arminius wusste, dass man ihm diese neue Strenge anlastete. Aber es war schwer, jemanden zu schneiden und auszugrenzen, wenn man sich so gern dem neuen Mädchenschwarm Gunnar anschließen wollte. Von anderen Mobbing-Versuchen ganz zu schweigen, da man ja damit rechnen musste, mit unangenehmen Konsequenzen konfrontiert zu werden. Gunnar schob sein schweres Stahlross neben Arminius her, plauderte munter über den Schultag, erkundigte sich nach ihrer Verabredung für morgen. Die hatte Arminius verzweifelt zu verdrängen versucht. Er hatte für das Freibad mit den ganzen herumblödelnden Primaten und zickigen Amateur-Diven gar nichts übrig. Außerdem langweilte er sich rasch, wenn der Zeitvertreib bloß im Selbstgrillen und gelegentlichen Stehbad in der verchlorten Pfütze bestand. Andererseits hatte er Gunnar praktisch versprochen, ihn zu begleiten. Er konnte nur von seinem Wort zurücktreten, wenn Gunnar selbst das Angebot zurückzog. Schließlich war es Ehrensache, zu seinem Wort zu stehen! Also schwieg er verbissen, fragte sich, wie er den unerträglich freundlichen Quasi-Schweden dazu bewegen konnte, sich von ihm abzuwenden. Dummerweise ließ ihn sein Einfallsreichtum im Stich. An der Straßenkreuzung, wo sich ihre Wege gewöhnlich trennten, murmelte er einen unverbindlichen Gruß, marschierte entschlossen los, um sich bei der nächsten Gelegenheit in die Hecken zu schlagen. Er hatte sich nicht getäuscht: einige rachsüchtige Mitschüler WAREN ihm gefolgt. Nun rannten sie los, weil sie nicht mehr wussten, welche Richtung er gewählt hatte. »Toll!« Grummelte Arminius, schlängelte sich an Müllcontainern vorbei und durch spärliche Hecken, überquerte einen vernachlässigten Spielplatz. Wenn sich nicht bald eine andere Sensation auftat, würde man ihm noch Wochen zusetzen! Mochten andere auch auf die berüchtigten 15 Minuten Ruhm abzielen, IHM wäre es sehr genehm gewesen, weiterhin ein anonymer Bestandteil der Bevölkerung zu bleiben, vor allem aber der Schulgemeinschaft. Es hob seine Laune auch nicht, dass er eine Nachricht seiner Mutter an der Kühlschranktür vorfand, die ihn anwies, erstens zum Fußballtraining zu gehen, zweitens einer Unterhaltung am Abendbrottisch beizuwohnen. Seufzend schleuderte Arminius seine Sportbekleidung mit mehr Verve als notwendig in die Wäschetrommel, klopfte mit den Fingerkuppen auf der Abdeckung einen flotten Rhythmus. Seit dem Auftritt von Gunnar am Montag ließen ihn auch seine Mannschaftskollegen in Ruhe. Theoretisch müsste er nicht überbesorgt zum Training schleichen. Andererseits war er eingefleischter Realist. Sie warteten vielleicht bloß auf die beste Chance, ihm eine Abreibung zu verpassen. Er konnte sich ja nicht mit dem Status eines wichtigen Spielers schmücken, war austauschbar. Gedankenverloren mümmelte er den rasch zusammengeworfenen Salat, fragte sich, warum seine Mutter das Baguette förmlich zerwürfelt hatte. Es musste wohl jeden nervös machen, der sie mit dem großen Brotmesser in der Hand sah, wenn sie mit starrem Blick einen hilflosen Brotlaib in Augenschein nahm. »Verborgene Abgründe.« Resignierte Arminius, verstaute das Geschirr in der Spülmaschine. Er erwog, sich mit Knoblauchzehen einzureiben. Das könnte nicht nur Vampire, sondern auch potentielle Angreifer fernhalten. :-P Das Training verlief wie immer unter den Argusaugen ihres Einpeitschers, der mit seinen Überlegungen bereits beim Stadtvergleich der Jugend-Fußballmannschaften weilte. Arminius strengte sich an, äußerst aufmerksam zu sein, besonders wendig, im Antritt blitzartig flink. Er war demzufolge völlig erledigt, als er körperlich unversehrt in die Kabine schlappte. Gewarnt von der Szene am Montag platzierte er seine Sporttasche wie eine Barrikade vor sich, die schwere Glasflasche in der Front verstaut, die Fußballschuhe aneinander gebunden, damit man sie besser schwingen konnte. Nachlässig, die müden Augen wachsam auf seine Umgebung gerichtet, trocknete er sich den Schweiß vom Körper, streifte ein anderes T-Shirt über, erhob sich, um sein Eigentum einzusammeln. "Was denn, Stummelschwanz, trauste dich nicht unter die Dusche?" Wurde er gehässig angeblökt. "Hast wohl Angst, dass du dich bücken musst, was?" Boshaftes Gelächter, während einige andere rasch das Weite suchten. Arminius umklammerte die Henkel seiner Sporttasche entschlossen. "Warum soll ich in der Bruchbude hier duschen, wenn ich in Nullkommanichts zu Hause bin?" Fauchte er frostig. Tatsächlich mochte er die Duschen hier nicht besonders, vor allem nicht, nachdem ihm seine treusorgende Mutter einen Artikel über all die hübschen Souvenirs in die Hand gedrückt hatte. Vor allem Fußpilz löste bei ihm Ekel aus. "Denk bloß nich, dass einer auf dich scharf is!" Der ölige Stürmer stieß ihn gegen die Schulter. "Erpel-Schniedel! Mickerling! Schwanzamputierter!" Jeder schien den anderen mit schmeichelhaften Komplimenten noch übertreffen zu wollen. Mit ausgefahrenen Ellenbogen bahnte sich Arminius den Weg zur Tür, stieg gelenkig über "zufällig" ausgestellte Füße. Sein Instinkt stieß plötzlich einen Warnruf aus. Reflexartig zuckte er zurück. Keinen Augenblick zu früh: draußen platschte ein Eimer Flüssigkeit auf die Türschwelle. Es stank unvermittelt nach Urin. Arminius wandte sich um, funkelte seine Kameraden an. "Ihr seid so erbärmlich." Zischte er leise, holte zwei Schritte Anlauf, um über die stinkende Brühe hinwegzusetzen. Dass die Wegelagerer sich nun auf ihn stürzen würden, erwartete er durchaus, schaltete schnell: er griff im Laufen in seine Tasche, zerrte an einem Sicherungsband. Sofort jaulte ein Personenalarm auf, der mit dieser Dezibelstärke nur im Land des unbegrenzten Konsumrausches käuflich zu erwerben war. Deshalb gab es auch augenblicklich ein Publikum, darunter der aufgeschreckte Trainer, was die Hetzjagd beendete. »So geht's nicht weiter.« Arminius reduzierte seine Fluchtgeschwindigkeit erst, als er wieder auf der Straße war. Auch wenn es nach Feigheit aussah, so konnte man unter diesen Umständen kaum erwarten, dass er in dieser Mannschaft weiter auflief. Nun gut, auf der Bank Platz nahm. Mit welcher Strategie würde er seine Mutter zum Einlenken in das einzig Vernünftige bewegen können? Wäre es vielleicht erfolgversprechend, den Trainer einzuspannen? An diesem frühen Abend begnügte sich Arminius nicht mit einer Dusche, nein, er gönnte sich ein luxuriöses Schaumbad, streichelte seinen derart verleumdeten Körperteil aufmunternd. Sie waren ein Team und als solches vollkommen in Ordnung! :-P Mit trübem Blick beäugte Arminius den Himmel, der wolkenfrei blau zurückstrahlte, noch extrem nach Sommer aussah. Eingedenk seiner unfreiwilligen Verabredung kroch er leidgeprüft im Pyjama zum Frühstückstisch. Welche Krankheit konnte man sich spontan zuziehen? Seine Gedanken wurden jedoch rasch in ganz andere Bahnen gelenkt. Das für den gestrigen Abend angedrohte Gespräch war durch einen unerwarteten Migräneanfall seiner Mutter ausgefallen. Diese Migräne zeigte sich gelegentlich, mündete in einer Pralinen- und schnulzige Liebesfilm-Konsum-Orgie. Am Morgen stand der Piranha vor ihnen, mit enormen Anteilen von T-Rex. Irgend etwas musste seiner Mutter die Laune extrem verdorben haben. Sie hatte die "Migräne" genutzt, um sich gegen die gesamte Menschheit in Stellung zu bringen. Ein roter Knopf in Reichweite hätte schon längst die gesamte Erde pulverisiert. Ihre mörderische Stimmung sorgte üblicherweise dafür, dass wirklich ALLE Familienangehörigen, die es vorzogen, noch einige Zeit über dem Rasen zu atmen, sich ein Betätigungsfeld WEIT WEG von ihr suchten. Möglichst unerreichbar, ohne Telefonanschluss und nicht auf diesem Planeten. Am Frühstückstisch war Entkommen jedoch aussichtslos. "Es ist eine Verschwörung." Stellte sie dementsprechend ohne Einleitung fest. Augenbrauen wanderten in die Höhe. Ein zu allem entschlossener Blick richtete sich auf Arminius. Der schrumpfte unmerklich ein wenig in sich zusammen. "Mir wurde gestern Mitgefühl ausgesprochen, weil mein Sohn behindert ist!" Verkündete sie wutschnaubend. "Eine Frechheit! Noch anzudeuten, er sei minderbestückt! Dem dämlichen Weibsbild habe ich aber einen Einlauf verpasst!" "Wieso? Die hat doch recht!" Das Schwonster rührte selbstmörderisch in ihrem Joghurt herum, war mal wieder auf Diät. Ein bösartiger Blick traf sie. "MEIN Sohn, DEIN Bruder, ist nicht behindert. Es ist blanker Unsinn zu behaupten, ihm würde IRGENDETWAS mangeln!" Versetzte Arminius' Mutter frostig. "Stimmt!" Giftete das Schwonster aggressiv vom Hunger zurück. "Der braucht seinen Miniaturschwanz ja auch gar nicht!" Es wurde sehr still. Nicht mal die chinesische Mauer der Zeitung zuckte. "Fein." Arminius' Mutter säuselte wie ein Windhauch. Der trug allerdings die Pest mit sich. "Wo wir gerade beim Thema sind, bin ich überzeugt, dass du dein Mobiltelefon auch für eine Weile nicht brauchen wirst." Das Schwonster zeigte eine erstaunliche gelbe Farbe. Sie protestierte heftig, doch die Aussicht, entweder das Telefon auszuhändigen oder aber den Vertrag, der auf ihre Eltern lief, gleich zu kündigen, ließ sie einknicken. Um das Telefon erleichtert hockte sie nun hasserfüllt schniefend Arminius gegenüber, der zutreffend vermutete, dass das Ärgste noch nicht überstanden war. "Wir werden diesem lächerlichen Unsinn ein Ende bereiten." Arminius war nun im Visier. "Ich habe für Mittwoch einen Termin bei einem Urologen vereinbart." Der war vor den Kopf geschlagen, stammelte vor Überraschung. "Aber ich brauche keinen Arzt!" Das Schwonster streckte ihm die Zunge raus. "Wir werden das professionell angehen." Er hätte auch gegen eine Wand sprechen können. "Der Arzt wird dich untersuchen und bestätigen, dass alles in Ordnung ist. Damit wäre das Thema gegessen." Arminius nahm einen neuen Anlauf, nachdem er sich heftig in den Arm gekniffen hatte, der Traum sich als Albtraum erwies, der einfach nicht weichen wollte. "Mit mir IST alles in Ordnung! Dafür brauche ich keinen Arzt. Das wäre doch rausgeschmissenes Geld!" Setzte er den letzten Trumpf wagemutig ein. "Ach, Unsinn!" Ein aufmunterndes Tätscheln pulverisierte Arminius' Hoffnungen. "Für meinen Sohn und seine Gesundheit ist nichts zu teuer." "Ach ja? Dann will ich ne Therapie!" Mischte sich das Schwonster ein. "Ich bin mit DEM verwandt! Das ist ein totales Trauma!" "Wozu denn? Du quatschst doch ständig Dünnpfiff ins Telefon!" Giftete Arminius wütend zurück, der von Psychologie und Therapie gar nichts hielt, es zudem ebenfalls als Zumutung empfand, mit so einer oberflächlichen, eitlen, dummen Kuh verwandt zu sein. Bevor sich eine Neuauflage der Völkerschlacht ereignen konnte, erhob sich Arminius' Vater abrupt, grummelte Unverständliches, verließ die Tafel. "Ihr habt euren Vater gehört!" Verkündete Arminius' Mutter knapp. "Zum Thema ist alles gesagt." Arminius wäre noch eine Menge eingefallen, aber es sah nicht so aus, als wäre er in der Lage, diese unsägliche Schmach abzuwenden. Voller Grausen kroch er in sein Bett, zog sich die Decke über den Kopf. :-P Gerade, als er selig eingedöst war, hinüber dämmern wollte in die tröstliche Umarmung von Morpheus, trommelte es an seinem Türblatt, das vor Angst wie Espenlaub zitterte. Arminius saß aufrecht, bevor er überhaupt wieder wach war, ein konditionierter Reflex. "Bin gleich da." Er hielt die Hände artig über der Bettdecke, murmelte automatisch. Seine Mutter hatte ein Klopfen perfektioniert, das nur deshalb nicht beim SEK zum Einsatz kam, weil das nicht gezwungen war, das Eindringen anzumelden. Während er sein Herz mit der Rechten in den Brustkorb zurückschob, wo es panisch auszubüchsen drohte, orientierte er sich. "Armin! Dein Freund wartet unten!" Erinnerte ihn der wilhelminischen Feldwebel der Familie an den mit dem Trommelwirbel verbundenen Anlass. »Oh nein!« Stöhnte Arminius stumm, presste das Gesicht in die Hände. »Hört das denn nie auf?!« Ohne aufmunternde Paranoia konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass er heimgesucht wurde. Jedem Übel schien noch eine Steigerung zu folgen! Schicksalsergeben schwang er die Beine über die Bettkante, zockelte zu seinem Kleiderschrank, überlegte halbwach angestrengt, welche Bekleidung dem Anlass entsprechen würde. Ob es grundsätzlich opportun war, den Pyjama abzustreifen, der doch so gemütlich zum kuscheligen Schlaf einlud. "Freibad." Murmelte Arminius schließlich erschauernd. Keine lohnenswerte Aussicht, sich überhaupt zu bewegen. Andererseits konnte er genau abschätzen, wann der nächste Trommelwirbel seine bemitleidenswerte Zimmertür zum Beben bringen würde. Notgedrungen stopfte er diverse Habseligkeiten in eine Tasche, ging auf Expedition in die verborgenen Tiefen seiner Kleiderhöhle, um eine Badehose aufzuspüren, die vor einigen Jahrtausenden dort eingelagert worden war. Leidlich und hochgeschlossen eingekleidet für einen hitzigen Spätsommertag flanierte er betont gleichmütig ins Badezimmer, um sich mit Duschgel und Sonnenöl einzudecken. Als er das affektierte Lachen des Schwonsters hörte, schluckte Arminius Galle hinunter. Die Sumpfkuh würde wahrscheinlich im Augenblick gerade die Konversation vom Frühstückstisch wiederholen, jede einzelne Peinlichkeit in seinem Leben als Aufhänger benutzen, um mit Gunnar anzubändeln. »Bänder wird er brauchen, wenn er auf diese stumpfsinnige Barbie-Kopie hereinfällt!« Knirschte Arminius mit den Zähnen. »Vor allem die hintenrum an der Zwangsjacke!« Da ihm in einem Moment der Klarsichtigkeit eine Vision des Freibadbesuchs zuteil wurde, schleuderte er seine Tasche in den Flur, stapfte noch mal hoch in sein Sanktuarium, um sich mit ausreichend Lesefutter zu versorgen. Übellaunig betrat er schließlich die Küche, wo Gunnar wie ein alter Bekannter platziert worden war. Das Schwonster hing förmlich an seinen Lippen, zupfte an einem Ausschnitt herum, der nichts enthüllte, was irgendwie bemerkens- oder sehenswert war! »Sumpfkuh.« Formulierten Arminius' Lippen verächtlich, aber lautlos. Eigentlich wollte er sich bloß eine Flasche Wasser holen, um wenigstens nicht in der Wüste des Körperkults zu verdörren, doch das Gefummel am Küchentisch bremste ihn abrupt. "Hey!" Brüllte er alarmiert, langte blitzartig über die Tischplatte, brachte das Mobiltelefon in seinen Besitz. "Du sollst die Finger davon lassen!" "Was geht dich das an, oh großer Schwanzloser?!" Fauchte das Schwonster, fiel aus der Rolle. Gunnar blickte mit mildem Amüsement vom einem zum anderen, erwartete nonchalant eine Erklärung. Die musste wohl oder übel präsentiert werden, das sah Arminius ein. Er verzichtete darauf, dem Schwonster kampflos die Plattform der Selbstdarstellung zu überlassen. "Unsere Mutter hat ihr Telefon kassiert, damit sie nicht andere zu Tode langweilt mit dem Quatsch, den sie mit jedem Atemzug absondert!" Zischte er hitzig, funkelte in die Augen, die seinen eigenen so ähnlich waren. "Ich hab's mir bloß angeguckt!" Versetzte das Schwonster, offenkundig rechtzeitig daran erinnert, dass sie ja eigentlich Gunnar becircen wollte, der bestimmt keinen Wert auf eine streitsüchtige Zicke legte. "Ach was!" Versetzte Arminius vernichtet, warf einen knappen Blick auf das Gerät, das nach seinem Eindruck weder besonders wertvoll noch modern war. "Du guckst doch wie eine Kleptomanin!" "Wirf nich mit Schimpfwörtern um dich!" Wies ihn das Schwonster zurecht. "Du bist so n Proletarier!" "Keine Frage, da muss ich dir beipflichten." Wechselte Arminius in honigsüßen Tonfall. "Aber wir können angesichts der Französischen Revolution ja auch nicht mehr alle von Adel sein." Diese Spitze ging ins Leere, aber das war nun auch bedeutungslos, denn er übergab Gunnar das Telefon wieder. "Ein kostenloser Rat!" Schnurrte er. "Lass nie eine der Harpyien an deine Wertsachen. Die sind nicht nur diebisch wie Elstern, sondern genauso geschwätzig." Gunnar zwinkerte bloß, doch Arminius hatte den Eindruck, dass die wasserklaren Augen ihn aufmerksam studierten. Hastig wandte er sich zum Kühlschrank um. Natürlich hatte die blöde Kuh ihm von der Urologen-Geschichte erzählt! Während er die Flasche herausholte, kam ihm eine positive Wendung in den Sinn: könnte man Gunnar wohl bewegen angesichts dieser Konstellation, von seiner Einladung zurückzutreten? Als er sich entschlossen umwandte, um subtil anzudeuten, dass man vielleicht doch auf den Freibadbesuch verzichten könnte, hatte das Schwonster bereits eine lackierte Kralle in Gunnars sandfarbene Mähne geschoben, himmelte ihn Wimpern flatternd an. Es wirkte auf Arminius, als wolle sie ein flackerndes Testbild imitieren. Angewidert verzog er die Miene. Das Schwonster war derartig degoutant, dass man sich fragen musste, in welchem Vorleben man sich diese Strafe verdient hatte. "Nun, wenn du mitkommen möchtest..." Gunnar erhob sich geschmeidig, um der Hand in seinen Haaren zu entschlüpfen, lächelte so leutselig wie immer. "Wir sollten aber gleich aufbrechen." "Ich bin SOFORT fertig!" Das Schwonster fegte quiekend zur Tür hinaus. Arminius sonderte Brechgeräusche ab. "Du kennst wohl niemanden, der die Irre adoptieren würde?" Erkundigte er sich vorgeblich hoffnungsvoll, im Tonfall aber bitter bei Gunnar, der bloß feixte. "Darf ich mein Fahrrad bei euch auf das Grundstück stellen?" Fragte der stattdessen höflich. "Sicher doch." Arminius pflückte eine Kappe mit einem besonders großen Schirm von der Garderobe, justierte die Sonnenbrille im Pilotenstil. Er hätte sich gewünscht, dass man wie früher die eleganten Strohhüte hätte tragen können. Nicht etwa die Kreissägen, nein, die luftigen Äquivalenten der Borsalinos. Da das aber nicht anging, musste er sich mit der amerikanischen Sportbekleidung begnügen, um der Sonne Paroli zu bieten. Gunnar dagegen, den er beobachtete, als das Stahlross versetzt wurde, gab mal wieder die typische Augenweide. Man musste neidlos anerkennen, dass er mit seiner Statur und der lässigen Haltung durchaus prädestiniert war, derart aufzutreten. Ein doppelgeripptes Muskelshirt bedeckte den Oberkörper, umspielt von einem dezent gemusterten, offenen Hawaiihemd. Darunter hüllten unifarbene Bermudas die muskulösen Beine ein. Sandalen bewiesen dem Betrachter, dass Gunnar gewöhnt war, barfuß in der Sonne herumzulaufen, denn es zeigten sich keine knöchelhohen Demarkationslinien für Socken. Gunnar fischte seine Sonnenbrille aus dem einfachen Stoffbeutel, den er sich über die Schulter schwang, ein reflektierendes, futuristisches Modell, das seine markanten Gesichtszüge betonte. "Ich wette, die hohle Nuss hat von deinem Telefon aus eine Nachricht an die dümmste ihrer Hühnerclique geschickt." Arminius wollte sich nicht beim Starren ertappen lassen. "In Kürze hast du einen Harem aus irren Tussis um dich." "Meinst du?" Obwohl die verglaste Sonnenbrille nichts verriet, gewann Arminius den Eindruck, dass Gunnar sein Telefon ein wenig ratlos studierte. "Ehrlich gesagt kenne ich mich mit dem Ding nicht gut aus." Er lupfte mit einem frechen Grinsen die Schultern. "Oh, keine Sorge, meine debile Schwester wird dir sicher LIEBEND gern jede Funktion einzeln erklären!" Versetzte Arminius giftig. "Wenn ihr dann noch eure Klingeltöne austauscht, kann man praktisch das Aufgebot bestellen." Gunnar legte den Kopf schief, rieb sich über das Grübchen in seinem Kinn, bevor er bedächtig antwortete. "Ich dachte, man hätte vor einigen Jahren das Aufgebot abgeschafft?" Diese Reaktion brachte Arminius derart aus der Fassung, dass ihm der Mund offenstand. "Stimmt's nicht?" Erkundigte sich der Quasi-Schwede freundlich, streckte ungehindert einen Arm aus, um mit einem Finger Arminius' Kinnlade wieder einzuhaken, die sich schon häuslich zwischen dessen Knien einzurichten drohte. In diesen kritischen Moment, der Arminius erneut zweifeln ließ, wer sich genau hinter der Maske des unbedarften, grundsätzlich jovialen Quasi-Schweden versteckte, platzte das Schwonster. "Sorry, ich habe dafür noch was mitgebracht!" Flötete sie schrill, schwenkte eine große Wassermelone. "Hast du auch eine Machete mitgebracht, oder sollen wir alle die Hauer reinschlagen?" Knurrte Arminius, der seine Sprache wiedergefunden hatte. Er zweifelte nicht daran, dass seine Mutter nicht um Erlaubnis gebeten worden war, bevor die gewaltige Kugel konfisziert wurde. Das Schwonster bekam einen roten Kopf vor Wut, schleuderte in einer zickig wirkenden Pose die stundenlang bearbeiteten Haarsträhnen auf den Rücken. "Warum machst du dich nicht nützlich und explodierst?!" "Wäre eine Verschwendung neben einem Schwarzen Loch wie dir." Entgegnete Arminius ausgesucht liebenswürdig. Gunnar streckte die Hand aus. "Darf ich die Wassermelone übernehmen? Ich glaube, mit meinem Taschenmesser bekommen wir das schon hin." "Oh, geil!" Strahlte das falsche Biest von Schwonster, während sie einen vernichtenden, Kajal beschwerten Blick auf Arminius warf. "Obwohl die Missgeburt da am wenigsten zu tragen hat. Gell, Mikrobenschwanz?" "Der Mikrokosmos deines Intellekts wäre selbst für eine Eintagsfliege Grund genug, sich gleich umzubringen!" Revanchierte sich Arminius zornig, übernahm die Führung ihrer kleinen Gruppe, begleitet von dem unsäglich blöden Geschnatter, mit dem das Schwonster Gunnar belagerte. :-P Seit Arminius' letztem Besuch im Freibad hatte sich Einiges getan. An der Pforte vor dem Drehkreuz stand ein bulliger Mann, der als Statist in einem Schwarzenegger-Film hätte auftreten können. Er kontrollierte das Gepäck, musterte die Gesichter streng, schwenkte eine eingeschweißte Übersicht von Personen, die non grata waren. Ein großes Schild informierte den Besuch darüber, dass sich die Geschäftsführung vorbehielt, den Zugang zu verweigern, Hausverbote auszusprechen und Gepäck zu durchsuchen. Zum besseren Schutz liefen auf dem großen Gelände zwei Patrouillen mit Hunden auf und ab. "Ich wette, das gab's in Schweden nicht." Murmelte Arminius, fragte sich insgeheim, ob das Debile Duo hier Zutrittsverbot hatte. Gunnar versicherte dem Zerberus, dass die Melone keine Schlagwaffe sondern Proviant war. Erlaubt, da kein Obst auf dem Gelände angeboten wurde. Er werde sich beim Bademeister melden, um vor dessen Argusaugen die potentielle "Waffe" in ihre Bestandteile zu zerlegen. Der Bullige teilte diese Absprache über Funk mit, verzog für einen Moment das finstere Gesicht zu einem freundlichen Grinsen. Arminius staunte, wie Gunnars Charme selbst auf die größten Kröten wirkte. Dabei war der Quasi-Schwede nie servil oder übertrieben freundlich. Nachdem sie die kritische Passage am Eingang genommen hatten, schlenderten sie über das Gelände. Gunnar meldete sich artig beim Bademeister des großen Beckens mit den Sprungtürmen, zückte zur Faszination einiger Flaneure ein Schweizer Fahrtenmesser, stach die Melone geübt ab. Großzügig reichte er dem Bademeister einen Trümmerbruch aus der Wassermelone, plauderte unbeschwert. Um was es ging, konnte Arminius nicht hören, der klebrige Hände vom Fruchtwasser der Melone widerlich fand, sich lieber umsah, um einen schattigen Platz zu finden. Wenn die blöden Zicken eintrafen, würden sie ohnehin Gunnar belagern, sodass er sich in aller Ruhe seiner Lektüre widmen konnte, um nicht vor Langeweile einzugehen! Als Gunnar sich zu ihnen gesellte, lobte er den ausgewählten Platz im Schatten eines großen Eichenbaums, streifte ohne Federlesen Hemd, Muskelshirt und Bermudas ab. "Du bist echt wie'n Wikinger!" Quäkte das Schwonster begeistert. Gunnar hatte temporär die Sonnenbrille in seiner Mähne verheddert, warf ihr einen verwirrten Blick zu. "Du meinst, ich plündere Küstendörfer aus und entdecke Amerika?" "Hä?!" Das Schwonster imitierte seinen Ausdruck ebenso ratlos. Arminius konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, legte sich ein Handtuch über die Schultern, kreuzte die Beine, die er in einer 7/8-lange Stoffhose gekleidet hatte. Er wollte lieber gleich seinem liebsten Zeitvertreib frönen. "Ah!" Unerwartet verschwand das Handtuch in andere Höhen. "Gehen wir gleich zu den Duschen, bevor das Gedränge zu groß wird." Gunnar lächelte auf ihn herab, wie immer arglos. Bevor Arminius erklären konnte, dass er nicht die Absicht hatte, sich hier in die Fluten zu werfen, auch wenn es vielleicht nicht mehr eine verchlorte Brühe mit Abwasserqualität war, hatte Gunnar das Schwonster adressiert. "Wärst du so nett, einen Augenblick auf unsere Sachen aufzupassen? Ich könnte dich danach mit Sonnenöl einreiben." »WÜRG!« Arminius kam auf die Beine. »BRECHREIZ!« Natürlich war es eine clevere Taktik, um das Schwonster erst mal zu beschäftigen, aber so verdammt DURCHSICHTIG, dass es an eine Beleidigung grenzte! "Logo, ich warte hier auf dich!" Flötete das Schwonster jedoch hingerissen, vergaß sogar, in ihren Steno-Kauderwelsch zu verfallen. Gezwungenermaßen pellte sich Arminius aus seinem T-Shirt, kletterte umsichtig aus seiner Hose. Die alte Badehose, ein unsäglich kariertes Modell mit knielangen, weiten Hosenbeinen, war so stramm um seine Taille geknotet, dass sie ihn einschnürte. Aber wenigstens lief er nicht Gefahr, von irgendeinem Spaßvogel entblößt zu werden. DARAUF kam es ihm an! Gunnar zwinkerte. "Eine Abkühlung wäre jetzt genau richtig." Arminius seufzte, schnappte sich sein Handtuch, denn er wollte sich nicht wie ein junger Hund schütteln müssen. "Zum Beispiel ein spontaner Platzregen." Tatsächlich waren die offenen Duschen noch nicht allzu begehrt. Dafür bemerkte er aber in kürzester Zeit, welche Aufmerksamkeit Gunnar auf sich zog, der sich nicht etwa ungebührlich in den Vordergrund spielte oder in Posen warf, wie ein Pfau herumstolzierte und pubertäres Balzverhalten demonstrierte! Sondern gewohnt höflich und freundlich ein Lächeln erwiderte, während er Arminius versicherte, wie nett es sei, mal wieder schwimmen gehen zu können. "Heimweh?" Das rutschte Arminius raus, bevor er sich selbst bremsen konnte. Warum zum Teufel musste er so etwas Persönliches fragen?! Wie aufdringlich war das denn?! "Ach, eher Nostalgie." Gunnar lächelte, fing Wasser in seinen aufgefächerten Händen, verteilte es zum Eingewöhnen über seine muskulöse Brustpartie. "Meine Heimat ist jetzt hier." Arminius schluckte, weil ihm die Antwort so vernünftig und nachsichtig mit seiner ungebührlichen Neugierde vorkam, dass er beschämt war. Um weiteren konversationstechnischen Untiefen zu entgehen, stellte er sich mit zusammengebissenen Zähnen und zugekniffenen Augen unter die Brause, die Hände zu Fäusten geballt, damit sie nicht etwa verräterisch nach dem Hosenbund greifen konnten. Ausreichend nass frottierte er sich die Haare, trat von der Duschsäule zurück. Gunnars nasse Mähne hatte nur wenig von ihrem Korona-Erscheinungsbild eingebüßt, der gesamte Rest sah jedoch so aus, wie man sich einen Modellathleten vorstellte. Unversehens fühlte sich Arminius an einen der ersten Tarzan-Verfilmungen erinnert, in denen ein amerikanischer Schwimmstar namens Johnny Weißmüller die Titel gebende Hauptrolle übernommen hatte. Zwar war Gunnar noch schlanker in den Hüften, aber über die Zeit würde er sicher die Silhouette des berühmten Schwimmers erreichen. Außerdem trug er so genannte Trunks, Badehosen mit geradem Beinausschnitt, die fast anachronistisch wirkten. "Sag, willst du sehen, wie ich springe?" Erkundigte der sich gerade bei ihm, beendete so unbewusst die Reminiszenzen an vergangene Idole. "Ich würde es dir gern zeigen." "Sicher, nur zu." Antwortete Arminius betont gleichmütig, wollte sich nicht anmerken lassen, dass er verwirrt war. Warum hängte sich ein Kerl, der wie Gunnar aussah, einen so gutmütigen Charakter zu haben schien, ausgerechnet an einen derartigen Durchschnittstypen wie ihn? Von dem man überdies behauptete, ihm mangele es an männlicher Ausstattung?! Wobei ausnahmsweise nicht der magere Flaum in seinem Gesicht gemeint war. Er schlenderte eingewickelt in sein Handtuch zu den vereinsamten Starterblocks, ließ sich dort nieder, während Gunnar die Freundschaft mit dem Bademeister erneuerte. Der hakte das Verbotsschild am Fuß der Leiter des Sprungturms ab, gestattete, dass Gunnar einen Sprung wagte. Gunnar wieselte flink wie ein Affe die Sprossen hoch, ohne dabei das Geländer in Anspruch zu nehmen. Nein, er nutzte grundsätzlich die Holmen zum Aufstieg, was Arminius bemerkenswert fand. Ohne Anzeichen von Schwindel oder Unsicherheit betrat Gunnar das Sprungbrett, überzeugte sich, dass er niemandem eine unangenehme Überraschung bereiten konnte, federte leicht ab, drehte zwei enge Schrauben, bevor er mit dem Kopf voran wie ein Pfeil ins Wasser eintauchte. Arminius blinzelte, keuchte, als er bemerkte, dass er vor Spannung die Luft angehalten hatte. Hinter ihm brandete spontaner Beifall auf, während sich Gunnar bereits neben ihm aus dem Wasser stemmte, scheinbar ohne jede Mühe. Beinahe erwartete Arminius, dass der Quasi-Schwede sich nun wie ein Zottelbär schütteln würde, doch Gunnar wrang sich bloß mit beiden Händen die ungebärdigen Strähnen seiner Mähne aus. "Danke, dass du mir zugesehen hast." Richtete er gewohnt freundlich das Wort an Arminius, der sich eilig erhob, das Handtuch um seine Schultern wie einen Poncho drapierte. "Das war wirklich beeindruckend." Klaubte er einen Satz aus Bruchstücken zusammen, die in seinem Kopf herumschwirrten. Es war ihm durchaus peinlich, dass er Gunnar als Muskeln-starrenden Klotz betrachtet hatte. Der hatte ihm gerade beiläufig bewiesen, dass die Muskeln nicht durch Steroide futtern und in Studios unter diversen Folterapparaten herumliegen entstanden waren. Jeder Zoll kündete von großer Körperbeherrschung und einer natürlichen Anmut, die Gunnars ungezwungenem Gebaren entsprach. Dagegen konnte man schlichtweg nicht anstinken. Nicht mal, wenn man nicht gerade als genital unterentwickelt ausgestoßen worden wäre. Während Arminius keinen Schritt weiterkam, was seine Überlegungen betraf, wieso sich jemand wie Gunnar ausgerechnet mit ihm anfreunden wollte, konnte der ihm kaum Richtung Lagerplatz folgen. Immer wieder wurde er auf seinen Sprung angesprochen, um ein da capo gebeten. Gunnar bedankte sich artig für die Komplimente und die ihm erwiesene Aufmerksamkeit, lehnte jedoch eine Neuauflage sanft ab. Eine Ausnahme, die ihm der Bademeister gestattet hatte, doch wenn es sich wie jetzt rasch füllte, wäre es viel zu gefährlich, erneut zu springen. Zudem sei es unfair, wenn die Neuankömmlinge seinetwegen warten müssten, bis das große Becken fürs Vergnügen freigeben würde! Arminius seufzte hörbar, als er nicht nur das Schwonster erblickte, sondern drei weitere Mutantinnen vom Planeten "Sprechendes Gemüse". Sie beachteten ihn jedoch überhaupt nicht, er flog sozusagen unterhalb ihres Radars. Stattdessen stürzte sich das weibliche Hyänenrudel direkt auf Gunnar, kommentierte in übertriebenen Ausrufen, die sich durch einen bedauerlichen Mangel an Wortwahl auszeichneten, seinen Auftritt. Eine war sogar so frech, seine Muskeln betasten zu wollen, kombiniert mit einem Augenaufschlag, bei dem man geneigt war, medizinische Assistenz wegen nervöser Zuckungen zu konsultieren. »Widerlich!« Angeekelt wandte sich Arminius ab. Ein richtiger Freund wäre Gunnar sicherlich zur Hilfe geeilt, doch er befand, dass der Quasi-Schwede durchaus fähig war, sich die Harpyien vom Leib zu halten. Indem er beispielsweise versprach, das zukünftige Grillgut einzuölen, weshalb sich plötzlich vier Rollmöpse brav auf dem Rasen ausstreckten. Ohnehin unbeachtet, damit praktisch nicht existent kehrte Arminius dem Trauerspiel den Rücken zu, schlug sein Buch auf. Es handelte sich um einen Sammelband, der sämtliche Abenteuer des Weltraumhändlers Vincent Valentine umfasste. Arminius gefiel die souveräne, stets höfliche Art, mit der Vincent Valentine seine skurrile Mannschaft subtil lenkte, sich elegant aus den Schwierigkeiten seines Geschäfts befreite. Außerdem bot die Lektüre einen Blick auf die verzweifelt-besorgte Atmosphäre, in der die Erzählungen entstanden waren. Auf der Schwelle eines Zweiten Weltkriegs, der möglicherweise die gesamte Welt zerstören konnte, kehrte der Verfasser den verbreiteten Abenteurern und Glücksrittern der Fortsetzungsgeschichten den Rücken, erschuf einen Helden, der beinahe feminin wirkte, weil er nicht mit Muskeln und Waffengewalt Lösungen suchte, sondern durch List, Verhandlungsgeschick und eine gewisse Melancholie angesichts der Endlichkeit im Vergleich mit der unendlichen Ewigkeit des Weltraums. Ein Stück Melone erschien in seinem Gesichtskreis, verdrängte Vincent Valentines erschütternde Reise durch das Trümmerfeld, das einstmals die Erde geformt hatte. "Bitte." Gunnar lächelte, offenkundig mit dem Einölen der Sardinen fertig. "Ich gehe mir jetzt erst mal die Hände waschen." Wortlos nickte Arminius. Wenn Gunnar schlau war, verzog er sich für mindestens eine Stunde, um seine Ruhe zu haben. Die hätte Arminius auch gern genossen. Kaum hatte sich Gunnar außer Hörweite entfernt, erging sich das Damenquartett in detaillierter Erörterung seiner Qualitäten. »Ekelhaft!« Arminius hätte sich am Liebsten mit Ohropax die Gehörgänge verplombt, um nicht vollends beraubt aller Illusionen eine grundsätzliche Abneigung gegen die weibliche Bevölkerung zu entwickeln. Leider fehlte dieses wichtige Utensil für den gesellschaftlichen Frieden. Unter dem Vorwand, der Sonne ausweichen zu wollen, raffte er seine Habseligkeiten zusammen, um sich im Schattenwurf der Eiche ein wenig zu entfernen. Mochte das dämliche Hühnerpack doch als Grillkohle enden! Vincent Valentine hatte gerade durch die Lichtübertragung im Weltraum einen Blick in die verlorene Existenz eines hochentwickelten, humanoiden Volks geworfen, was Arminius als eine Anspielung auf das sagenhafte Atlantis einordnete, als Gunnar nonchalant zurückkehrte. Das Grillgut hatte ihn nicht bemerkt, weil er sich angeschlichen und lautlos bewegt hatte. Mit einem Finger vor den Lippen und einem verschwörerischen Grinsen forderte er Arminius auf, seine Rückkehr ebenso vertraulich zu behandeln. Er präsentierte in der anderen Hand zwei Eispackungen, eine beliebte Sorte mit drei Geschmacksrichtungen in einer quaderförmigen Waffel. "Danke schön." Formulierte Arminius lautlos, bevor er bemerkte, dass ihm Röte in die Wangen geschossen war. Wieso war Gunnar bloß ständig so aufmerksam?! Der kopierte seine Haltung im Schneidersitz, leckte mit Hingabe überschüssige Eiskrem auf. Aufmerksam produzierte Arminius Papiertaschentücher, damit die klebrigen Finger gereinigt werden konnten. Gunnar streckte sich neben ihm aus, lupfte ihm frech die Kappe vom Kopf, um den Schirm selbst so zu platzieren, das der seine Augen verdeckte. Zu Arminius' Erstaunen schlief der Quasi-Schwede mühelos neben ihm ein. "Ich bin wirklich hier im falschen Film!" Schüttelte er den Kopf, vertiefte sich wieder in Vincent Valentines Abenteuer. :-P Das Grillgut zeigte erste Anzeichen von Unruhe. Gunnar, der aus seiner Siesta erwachte, verhinderte einen Zickenkrieg, indem er die charmanten Damen bat, ob sie nicht mal beim Bademeister eruieren konnten, wie es um einen Ball bestellt war. Es wäre doch nett, das improvisierte Feld mit dem Netz zu nutzen, oder nicht? Einhellig war sich die Damenriege einig, dass das ein krass/endgeiler Vorschlag sei, entfernte sich, um den bemitleidenswerten Bademeister zu belagern. "Komm!" Gunnar wischte Arminius ungezwungen das als Sonnenschutz dienende Handtuch von den Schultern. "Lass uns ein paar Bahnen ziehen!" Der überlegte hastig eine Ausrede. "Wir können unsere Sachen aber nicht ohne Aufsicht lassen! Wenn du möchtest, dann geh ruhig, ich passe auf!" "Ganz allein, ohne dich?" Gunnar zog eine Schnute. "Das ist doch langweilig." "Ist es das?" Entgegnete Arminius spitz, der mittlerweile vermutete, dass Gunnar ihn vielleicht als so eine Art Gegenentwurf mitschleppte. Sozusagen die andere Seite der Medaille, damit er noch mehr glänzen konnte. Welche Erklärung gäbe es wohl sonst? Sie wurden in ihrem stummen Duell der forschenden Blicke unterbrochen, als unerwartet zeitig das Hyänenrudel zurückkehrte. Erfolgreich. Arminius hatte nicht die Absicht, sich an dem Spiel zu beteiligen. Gunnars diplomatische Fähigkeiten zogen ihn mal wieder gegen seinen erklärten Willen in den Strudel der Ereignisse. Weil keines der eifersüchtigen Hühner, die sich ja, ach!, so zugetan waren, verzichten wollte, verkündete Gunnar kurzerhand, sie würden eben Jungs gegen Mädchen spielen! Ausgerüstet mit seinem T-Shirt, Sonnenbrille und Kappe konnte Arminius sich nicht länger drücken, nachdem man auch die Habseligkeiten in seine Sichtweite geräumt hatte. Zähneknirschend machte er sich auf entsetzliche Langeweile und schmerzende Handgelenke gefasst. Der geliehene Ball zeigte allerdings bedauerliche Erschlaffungsanzeichen, prallte nicht besonders schwungvoll ab, schien mehr für Rasengolf von chronisch Ungelenken geeignet. Das beschäftigte ihn viel weniger als die Erkenntnis, dass Gunnar zielgerichtet den Ball dorthin spielte, wo sich mindestens zwei der Harpyien in die Haare bekamen. Zeternd, einander beschimpfend blieb der arme Ball unbeachtet, bis sich ein zerbrechlicher Burgfrieden gefunden hatte, um bei der nächsten, geschickt platzierten Abgabe den nächsten Streit auszulösen. Arminius riskierte immer wieder einen Seitenblick auf seinem Spielgefährten. Dem markanten Profil hinter der sandfarbenen Mähne war nicht abzulesen, ob Gunnar tatsächlich mit Absicht so handelte. Oder warum. Verständlich erschien es Arminius natürlich schon, dass niemand sich so ein Rudel ausgeflippter, überkandidelter Hohlbirnen an die Fersen heften wollte. Andererseits hätten sich die meisten ihrer Klassenkameraden um so einen Harem gerissen, weil Groupies definitiv den gesellschaftlichen Wert steigerten. War Gunnar das gleichgültig? Eine halbe Stunde Schmierentheater genügte, um bei den weiblichen Darstellerinnen auf der Bühne des Lebens das Gefühl durchzusetzen, dass sie von Volleyball genug hatten. Erstens ruinierte es Haare und Nägel, zweitens musste man ständig den Sitz von Bikini und Badeanzug überprüfen. Atemlos, schwitzend, erhitzt herumhopsen, nein, das versaute wirklich jedes Image! "Machen wir einfach noch ein wenig Pause." Zeigte sich Gunnar verständig, packte Arminius einfach am Handgelenk. "Gehen wir den Ball zurückgeben." Er hatte immerhin sein Schweizer Fahrtenmesser als Pfand da gelassen. Arminius machte sich rasch los. "Schon gut, ich komme ja!" Knurrte er verlegen. Niemand musste ihn am Händchen führen, so alt war er noch nicht! Allerdings unternahm Gunnar keine Anstalten, im Austausch gegen den luftarmen Ball sein Messer einzukassieren, sondern vereinbarte die Abholung für später. Er wollte nur ein paar Runden ziehen. Mit Arminius. "Schau mal, gerade ist wenig los!" Was wenig verwunderte, da einige sich schon dem Mittagessen zuwandten. "Aber wo soll ich meine Sachen hinlegen? Ich habe mein Handtuch nicht mitgenommen." In Arminius' Stimme schwang der Vorwurf, dass man ihn nicht entsprechend instruiert hatte. Er wollte nämlich gar nicht in die pisswarme Brühe steigen! "Leg sie einfach hier ab, zu meinen Sachen." Gunnar deponierte lässig seine Sonnenbrille, das einzige Accessoire, das abgesehen von den Badehosen seine Gestalt bekleidete. Die wasserklaren Augen blieben auf Arminius gerichtet, der zutreffend vermutete, dass er herausgefordert wurde. "Fein!" Knurrte er bissig, pellte T-Shirt und Hose vom Leib, entfernte seine Sonnenbrille und die Kappe. "Jetzt zufrieden?" "Beinahe." Lächelte Gunnar, schloss seine Hand mit eisernem Griff um Arminius' Handgelenk, der ihm folgen musste, wollte er sich nicht vor allen Leuten lächerlich machen, indem er protestierte, die Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Notgedrungen, da er an seinem Arm hing, stolperte er hinter Gunnar die wenigen Stufen hinab, die ins Becken führten, wurde freigelassen, damit er sich hinter dem Quasi-Schweden mit einigen Schwimmzügen der Abgrenzung zum Tiefbecken nähern konnte. Unterhalb der treibenden Kugelketten hindurch reihten sie sich in die Bahnen ziehenden Schwimmenden ein, überwacht durch einen aufmerksamen Bademeister. Hier ging es wie auf der Autobahn zu: schnurgerade, immer mit dem richtigen Abstand zu den Gliedern in der Kette. Bloß nicht drängeln! Arminius gab nach sechs Runden auf, hangelte sich eine Leiter hoch, sammelte ihre Habseligkeiten ein, bevor er tropfnass am Beckenrand Platz nahm, Gunnar beobachtete. Der schwamm erst mit gebremstem Schaum, um mit eleganten Zügen durchzustarten, auf einer gerade freigewordenen Bahn für die ambitionierten Laien. »Vielleicht ist es kein bloßes Schwimmen, sondern ein Freischwimmen.« Erwog Arminius, durchaus ermüdet von der ungewohnten Anstrengung. »Ein temporäres Abtauchen und Abstreifen davon, ein "Wikinger" zu sein.« Was wusste er schon von Gunnars Gefühlen, in einer neuen Stadt in einer neuen Schule nach Jahren im Ausland? Versonnen verfolgte er die Bahnen des sandfarbenen Schopfes. »Vielleicht tue ich ihm unrecht?« Sinnierte er. »Könnte sein, dass er wirklich nicht wie der Durchschnitt der anderen Idioten ist, deshalb jemanden sucht, mit dem man sich vernünftig unterhalten kann.« Eine Viertelstunde später entstieg auch Gunnar den Fluten, lächelte ihn gewohnt freundschaftlich an, bedankte sich, dass Arminius so nett gewesen war, ihre Sachen in Verwahrung zu nehmen. "Keine große Sache." Wies Arminius eilig jedes Aufheben von sich. Tollkühn sondierte er die Möglichkeiten einer alternativen Freizeitgestaltung. "Sag mal, besteht die Chance, dass wir uns hier abseilen können? Ich würde gern zu Hause essen." "Ah, daran habe ich gar nicht gedacht!" Gunnar rieb sich das Grübchen im Kinn. "Das stimmt natürlich. Es ist ja bald Mittag." Damit schien alles abgemacht, denn an ihrem Lagerplatz informierte er die matten Hyänen, dass sie aufzubrechen gedachten. Die protestierten zwar, weil sie selbst viel zu träge waren, um jetzt schon zu gehen, wenn sich gerade erst das Publikum für ihre Attraktivität einstellte, doch Gunnar war nicht zu einer Änderung seiner Absichten zu bewegen. So zog er mit Arminius, ihrem Gepäck und dem überreichten Fahrtenmesser, begleitet von guten Wünschen des Bademeisters, der Gunnar offenkundig schon ins Herz geschlossen hatte, von dannen. "Sag mal, warum rufen dich alle Ernie?" Erkundigte er sich auf ihrem Heimweg interessiert. Arminius, den es erleichterte, dass bisher noch kein Wort zu Urologen und/oder anderen Peinlichkeiten gefallen war, lieferte Gunnar die gewohnte Erklärung. Gerade, als Gunnar ihm anvertraute, dass er eine Schwäche für Oscar in der Mülltonne gehabt habe, weil der so frech und übellaunig gewesen sei, trafen sie auf einige Klassenkameraden. Sie musterten Gunnars Erscheinung. Und Arminius, der förmlich sehen konnte, wie sich die Rädchen in den Köpfen drehten. Es stieg metaphorisch Rauch von der Anstrengung auf, sich eine Meinung zu bilden, was dieser Auftritt zu bedeuten hatte. Einer platzte schließlich mit der entscheidenden Frage heraus. "Mann, Gun, warum ziehst du mit dem Schwanzlosen durch die Gegend?! Das ist doch echt krank!" Gunnar warf die Stirn in nachdenkliche Falten. "Ich verstehe nicht, was du meinst. Erkläre es mir bitte." Das sorgte für eine verwirrte Stille, weil sich wirklich niemand vorstellen konnte, dass dem neuen Mädchenschwarm DAS Ereignis der letzten Wochen entgangen war. Andererseits schien seine Frage so höflich und aufrichtig, ohne jeden Anflug von Ironie, dass niemand sich hundertprozentig sicher sein konnte. "Na schön, was sagst du denn zu seinem Schniedel? Wie lautet dein Urteil?" Man musste sich einfach verbünden! So doof war Gun doch nicht! Arminius hielt wie alle anderen die Luft an, unwillkürlich. Hier zeigte sich der Scheideweg, ob sie Freunde wurden oder bloß Gegner in spe. "Ah!" Antwortete Gunnar schließlich, seine nachdenkliche Miene hellte sich auf. "Handlich." Es wurde schlagartig still. Arminius spürte, wie ihm das Blut mit solcher Macht in den Kopf schoss, dass er es für einen Moment in seinen Ohren pulsieren hörte. "Sagt man das nicht so?" Nur gedämpft drang Gunnars Stimme an sein Ohr. "Wenn etwas gut in der Hand liegt?" Mit einem erstickten Laut stieß er Gunnar heftig vor die Brust, sodass der einen anderen streifte, Dynamik in die Gruppe kam. Arminius kümmerte sich jedoch um gar nichts, sondern legte einen rekordverdächtigen Sprint hin. Lediglich kurz von der Haustür gebremst erreichte er sein Zimmer, schloss sich ein, zog sich die Decke über den Kopf. Von allen Gemeinheiten, die er seit dem verhängnisvollen Freitag hatte über sich ergehen lassen müssen, erschien ihm diese als die niederträchtigste. :-P Kapitel 3 - Beutezug auf Wikinger-Art "Ich weiß wirklich nicht, woher Armin diese Zerstreutheit hat!" Begleitete das infernalische Trommelfeuer am Türblatt. "Armin! Mach gefälligst auf und gib Gunnar seine Sachen, du Schussel!" »Lügner!« Fauchte Arminius erstickt, denn er war sich absolut sicher, dass er nichts eingesteckt hatte, das ihm nicht gehörte. Ergo musste es ein Vorwand sein, um ihn noch mal zu quälen! Wütend warf er die Decke von sich, wischte sich durch die noch feuchten Haare, atmete energisch durch. Er würde auf gar keinen Fall ein verrückter Einsiedler werden, der sich in seiner verwanzten Bude vergrub, nur bei Nacht vor die Tür kam! Bloß weil irgendeine zimtzickige Blödiane und ein bodenlos verabscheuenswerter Quasi-Schwede ihn vor aller Welt diffamiert hatten! »Dazu braucht es nämlich Computerkenntnisse und einen gepflegten Mangel an Hygieneempfinden!« Knurrte er sich selbst an. Wenn es aber außer Frage stand, zu einem Nerd zu werden (er konnte gerade mal Büroprogramme bedienen, wollte ansonsten nichts mit Computerspielereien zu tun haben!), musste er den Harnisch anlegen, das Visier senken, todesmutig zum Angriff schreiten! Deshalb öffnete er auch seine Zimmertür, bevor erneut der familieneigene Feldwebel seinen Warnruf quer durch die Nachbarschaft trompeten konnte. Wütend und betont verächtlich funkelte er zu Gunnar hoch, bevor er besonders langsam den Zugang zu seinem Zimmer freigab. Gunnar murmelte ungewohnt leise einen Dank, ging artig in das Dachzimmer hinein. Hinter ihm schloss Arminius die Tür. Er hatte keine Absicht, auch noch Lauschende einzuladen, wenn er Gunnar in jedem Detail auseinandersetzte, was für eine niedere Existenz der war, sogar noch unter Urschleim rangierte! Bevor er den ersten Ton seiner Anklage über die Lippen bringen konnte, kam ihm Gunnar zuvor. "Bitte, wenn ich dich gekränkt habe, tut es mir ehrlich leid. Das war bestimmt nicht meine Absicht!" "Ah nein?!" Aus dem Konzept gebracht, das eigentlich eine frostige Ansprache vorsah, fauchte Arminius sofort los, ganzkörperlich angespannt vor Wut. "Warum hast du überhaupt was gesagt?! Was geht dich das an?! Nichts!" "Sie haben nach meiner Meinung gefragt." Gunnar hob beschwichtigend die Hände. Das traf zweifellos zu, aber Arminius war alles andere als in einer großmütigen Stimmung. "Wie kannst du dir eine Meinung anmaßen?! Du weißt von gar nichts! Ausgerechnet so etwas zu sagen!" "Ich habe ein falsches Wort gewählt." Bereitwillig gab Gunnar nach, vielleicht um des lieben Friedens Willen. Arminius tobte bereits oberhalb jeder Hutschnur. "Jetzt tu nicht so scheinheilig, als hättest du Sprachprobleme! Ausgerechnet du, das große Genie!" Spuckte er giftig die Silben aus. "Du verstehst sehr gut, was andere sagen! Ich bin nicht halb so dämlich, wie du meinst!" "Ich halte dich nicht für dämlich." Stellte Gunnar, bar seines üblichen Lächelns, fest. "Lass den Scheiß! Wenn ich Schmierenkomödien sehen will, halte ich mich für fünf Minuten in der Nähe des Schwonsters auf! Da kann ich locker kotzen!" In voller Fahrt kannte Arminius kein Halten mehr. Er WOLLTE ein Geständnis forcieren, zurückschlagen, die erlittene Kränkung rächen. Gunnar kam ihm gerade im falschen Moment zur rechten Gelegenheit. "Was hätte ich sagen sollen?" Der zeigte allerdings keine Bereitschaft, einfach einzuknicken oder ihn stehen zu lassen. "Gar nichts! Mit mir ist ALLES IN ORDNUNG!" Brüllte Arminius, der viel zu spät begriff, dass er sich gerade selbst ins Knie geschossen hatte. "Aber ich hätte doch unmöglich sagen können, dass ich deinen Penis vollkommen in Ordnung finde!" Antwortete Gunnar ihm postwendend mit vorwurfsvollem Ton. "Das geht nun wirklich zu weit." Arminius schnappte nach Luft und nach Worten. Er hätte liebend gern eine feurige Replik abgeschossen, um Gunnar endgültig niederzuschmettern, der überhaupt nichts ernst zu nehmen schien, doch ihm mangelte es beklagenswerter Weise am nötigen Geistesblitz. Der schlug stattdessen feinfühlig bei Gunnar ein. "Das geht so nicht weiter." Stellte der souverän fest. "Wir müssen den Fakten ins Auge sehen." Damit begann er vor Arminius' fassungslosem Starren, sich seiner Kleider methodisch zu entledigen. "Moment mal!" Erwachte der endlich aus seiner Überraschung. "Was glaubst du, was du da tust?!" Gunnar legte den Kopf schief, begünstigt durch die feuchte Mähne, die sich artig senkte. "Ich würde sagen, dass ich mich ausziehe." Das formulierte er so bedächtig, als müsse er Offenkundiges einem geistig schwer benachteiligten Einzeller erklären. "Das kann ich sehen!" Zischte Arminius heftig, lief zu seiner gesteigerten Wut auch noch rot an. "Was soll der Unsinn?!" "Ich halte es für gerecht." Erwiderte Gunnar unbeeindruckt, einigermaßen streng. "Es wäre nicht fair, von dir allein zu erwarten, dich zu entblößen." Er stand ohne ein Feigenblatt vor Arminius, der schlagartig Herzklopfen vor Nervosität bekam. "Bleib da stehen!" Wies er Gunnar fast hysterisch mit schriller Stimme an. Gunnar wurzelte gehorsam, ließ die Arme locker herunterhängen, verbarg nichts. »Andererseits: ER ist ja auch makellos!« Arminius hasste seine panische Aufregung. Mit seinem Urteil meinte er nicht etwa Übereinstimmungen mit dem herrschenden Schönheitsideal, sondern die Gesamtkomposition, die gelassen vor ihm stand, hundertprozentig sie selbst war. Keine Kopie, die künstlich Posen bemühen musste. Grimmig funkelte er in die wasserklaren Augen. Es war ein Duell, ironischerweise um 12 Uhr mittags, definitiv klassisch. Arminius konnte nicht kneifen, wenn er sich selbst nicht verraten wollte. Er senkte knurrend den Kopf, öffnete seine Stoffhose, kämpfte mit dem hartnäckigen Knoten der Badebermudas, bis auch sie auf seine Knöchel sauste. Den Blick fest auf einen Punkt vor sich gerichtet lupfte er sein T-Shirt, zählte lautlos bis Zehn, bedeckte sich wieder. "Die Show ist vorbei!" Ohne Gunnar einen Blick zu gönnen ging er in die Knie, um sich wieder anzuziehen. "Armin!" Schmetterte es das Treppenhaus hoch. "Komm mit deinem Freund zum Essen runter!" Das war weniger eine Einladung als ein Befehl. Hastig sah Arminius Gunnar an. "Schnell doch, zieh dich wieder an! Wer weiß, was sie sonst denkt!" Gunnar grinste amüsiert. "Was sollte deine Mutter denken? Ist doch alles in Ordnung mit dir." "Das ist nicht witzig!" Protestierte Arminius, konnte sich aber dem gewinnenden Feixen nicht entziehen. Er lächelte schief. "Du bist schon ne Marke." Geziemend verhüllt zögerte Gunnar. "Was bedeutet das denn?" "Ein komischer Vogel." Übersetzte Arminius großzügig. "Hoffentlich hast du Hunger." "Ganz bestimmt." Gunnar zwinkerte. Erst als sie sich gerade an den Küchentisch setzten, lehnte er sich zu Arminius hinüber und wisperte. "'Handlich' war doch richtig." Arminius hustete dunkelrot verdünnten Sirup, musste sich eine Ermahnung seiner Mutter gefallen lassen, die über die Unarten des Schlingens und der Gier referierte. :-p Zu Arminius' Überraschung, der sich mal wieder mit aller Deutlichkeit erinnert sah, warum man auf GAR KEINEN FALL Freunde zum Mittagessen mit den eigenen Eltern einlud, zeigte sich Gunnar dieser Herausforderung gewachsen. Er blieb höflich, geduldig und diplomatisch, während Arminius selbst seine Lippen zerbiss, weil ihm wütende Kommentare über die mangelnde Diskretion seiner Mutter entwischen wollten. Die horchte nicht nur Gunnar zu seinen Freizeitbeschäftigungen und Zukunftsplänen aus. Sie dozierte aufzehrend ausschweifend von ihren eigenen Vorstellungen über Arminius' weiteren Lebensweg! Außerdem eröffnete ihm nahezu alles, was man ihr seit dem lächerlichen Unfall in der Sportstunde zugetragen hatte. »Verräter!« Formulierte Arminius lautlos über den Tisch, als Gunnar sanft der Auffassung seiner Mutter beipflichtete, ein Besuch beim Urologen könne nur hilfreich sein. Gunnar lächelte bloß. In den wasserklaren Augen tanzte das amüsierte Glitzern, das Arminius viel zu verschwörerisch fand. Gemeinsam beluden sie nach dem Essen die Spülmaschine, verabschiedeten sich eiligst in Arminius' Zimmer. "Was für ein Albtraum!" Knurrte Arminius erledigt. Er musste hoffen, dass seine Mutter für einen Tag genug Informationen aus Gunnar erpresst hatte, um sie jetzt in Ruhe zu lassen. Ruhe hätte er auch vorgezogen. Die ungewohnte Aktivität im Freibad und der anschließende Streit hatten ihn ermüdet. Andererseits konnte man kaum ein Nickerchen einlegen, solange noch ein Gast anwesend war. "Ihre Idee mit dem Urologen gut zu finden, also, das ist richtig niederträchtig von dir!" Konzentrierte er seine matten Geister lieber auf seine Empörung. Das hielt, zumindest vorläufig, wach. "Ich glaube schon, dass es ein guter Einfall ist. Deine Mutter wird danach bestimmt vollkommen entspannt sein." Gunnar wandte sich vom Studium der Buchrücken ab, kämmte trockene Strähnen unsortiert aus dem Blick. "Wag es ja nicht, jetzt zu sagen, dass mit mir ja alles in Ordnung ist! Ich kann SEHEN, wie du das denkst!!" Drohte ihm Arminius aufbrausend. Gunnar lachte, ein sonores, tiefes Vibrieren, ein aufreizender Bass. "Du musst nicht vor irgend so einem Medizinmann nackig herumstehen, dich befingern lassen!" Arminius schauderte sichtbar. Er hatte keine genaue Vorstellung davon, was ihn erwartete, aber er kombinierte Darmspiegelung mit Zentimetermaß und Katheter-Einsatz. Sprichwörtlich ein GAU. "Du könntest ihm einfach sagen, warum du gekommen bist. Er versteht es bestimmt. Du hast ja kein Problem." Offerierte Gunnar seinen Rat. "Ha!" Schnaubte Arminius, sackte auf sein Bett, ließ sich hintenüber auf die Matratze kippen. "Ich fühle mich normal, aber dafür spinnen alle anderen! Also bin ICH das Problem, weil ich in der Minderheit bin!" Die Matratze senkte sich geduldig, als Gunnar neben ihm Platz nahm. "Was willst du denn unternehmen?" Erkundigte er sich interessiert. "Pffffff!" Arminius imitierte einen geplatzten Luftballon. "Ich habe nicht die geringste Ahnung! Wie soll man beweisen, dass man 'seinen Mann stehen kann'?" Er grunzte verächtlich. "Jede Beweisführung in der Hinsicht wäre mindestens eine Erregung öffentlichen Ärgernisses, wenn nicht sogar sexuelle Belästigung." Er seufzte, drehte den Kopf auf die Seite, von Gunnar weg. »Entweder kann ich ihm nun alles anvertrauen oder aber mich ausschweigen, allein kämpfen.« Dachte er müde. Wie auch immer er das "Kämpfen" anstellen sollte. Arminius entschied sich für die erste Option. Selbst wenn Gunnar ihn hintergehen würde, konnte es nicht mehr schlimmer kommen. Hoffte er. "Ich vermeide es, in der Schule oder beim Training zur Toilette zu gehen. Wenn ich muss, schließe ich mich in eine Kabine ein, kontrolliere zuerst, ob nicht irgendwo jemand mit einem Handy Aufnahmen machen kann." Leise ergänzte er. "Beim letzten Training wollten sie Pisse über mir ausgießen. Sie glauben, dass ich nicht mit ihnen dusche, weil ich schwul bin. Der Versuchung nicht widerstehen kann!" Empört von dieser Ungerechtigkeit setzte er sich abrupt auf, funkelte Gunnar an. "Ist das nicht absolut unglaublich?! Ich kenne diese Doofbacken seit Jahren, ich HABE sie bereits zigmal nackt gesehen. Ehrlich, DAS ist wirklich kein lohnenswerter Anblick! Verdammt eingebildet, die Idioten!" Gunnar schmunzelte neben ihm, kämmte sich müßig durch seine sandfarbene Mähne, die gewohnt wild plusterte. "Also würdest du nicht schwul werden? Nicht mal für, sagen wir Johnny Depp? Brad Pitt? Oder diesen Elfen-Burschen, Orlando wieauchimmer?" Neckte er Arminius keck. "WIE bitte?!" Arminius war in Harnisch, sprang auf die Beine. "Für diesen Bloom-Knilch?! Diesen entsetzlich öden Gesichtsvermieter?!" Als er Gunnars Lachen hörte, köstlich melodisch und ungezwungen, ergänzte er mit betonter Würde. "Ich würde für gar niemanden schwul werden. Das steht überhaupt nicht zur Debatte!" Zwinkernd bekundete Gunnar. "Das musst du ihnen bloß sagen." "Toll! Die glauben mir das auch unversehens, oder wie?! Nachdem sie mich seit Jahren kennen und gesehen haben, halten sie auch den Quatsch, den diese sumpfhirnige Bracklabbe ausgeblubbert hat, für wahr!" Arminius stemmte die Hände in die Hüften. Der Quasi-Schwede prustete, konnte kaum eine nachdenkliche Miene aufsetzen, um Arminius zu versichern, dass dieses Argument tatsächlich stichhaltig war. "Ach, genug von dem Thema!" Brummte Arminius plötzlich, der leidigen Streitereien müde, sackte neben Gunnar auf sein Bett, starrte gedankenverloren vor sich hin. Wie sollte er seinen Gast unterhalten? Arminius war Gesellschaft nicht gewöhnt. Er genoss üblicherweise seine Freizeit am Wochenende, wenn er nicht zur Hausarbeit eingespannt wurde, mit dem Konsum von Büchern oder Filmen. Andererseits war damit zu rechnen, dass seine Mutter sich in Kürze wieder mal sehen lassen würde, um nachzuschauen, ob sie auch artig "spielten". "Hier können wir nicht bleiben!" Stellte Arminius laut fest, sprang auf die Beine, wandte sich zu Gunnar um. "Sag mal, du hast doch kein Problem damit, ein bisschen schmutzig zu werden, oder?" :-P Gunnar verfolgte interessiert, wie Arminius einen Rucksack füllte, indem er stirnrunzelnd einige auserwählte Bücher aus seinem Regal zupfte, sich mit Baseballkappe und Sonnenbrille ausrüstete, bevor er sehr behutsam die Zimmertür öffnete. Er bedeutete Gunnar verschwörerisch, keinen Mucks zu machen, während er angestrengt lauschte. Irgendwo sprach jemand. "Fix!" Flüsterte Arminius drängend, huschte voran die Treppe hinab, flitzte in die Küche, räuberte sich durch Schränke und Kühlschrank. Er schob Gunnar, der dieser Aktion belustigt gefolgt war, eilig aus der Tür hinaus. "Nichts wie weg!" Brummte Arminius, winkte Gunnar, sich ihm anzuschließen. Zunächst gingen sie lediglich die Straße entlang, bis Arminius in eine reine Fußgängerpassage zwischen engen Häuserreihen abbog. An ihrem Ende schlossen sich weitere Straßenzüge an, sie waren jedoch nicht so wohlgeordnet und übersichtlich. Gunnar verzichtete auf Fragen, obwohl er neugierig darauf war, was ihm wohl geboten werden sollte. Er erkannte jedoch, dass Arminius sich ziemlich gut auskannte, mit traumwandlerischer Sicherheit marschierte. Nicht, ohne sich davon zu überzeugen, dass ihnen niemand auflauerte. Das war in gewisser Weise bedrückend. Eine winzige, beinahe versteckte Seitengasse öffnete sich zur Linken. "Jetzt könnte es ein wenig knifflig werden." Arminius wandte sich zu Gunnar um, wies auf einen schlappen Maschendrahtzaun hin. Entschlossen schob er sich die Kappe in den Nacken, stemmte die Schuhspitzen in die einzelnen Maschen, hangelte sich am Zaun hoch. Dort stand er schwankend auf dem dünnen Draht, eine Hand auf der angrenzenden Häuserwand. Er setzte mit einem großen, wagemutigen Schritt in die Höhe auf die Brandmauer über. Sie schien der einzige Überrest des ehemaligen Wohngebäudes zu sein, ragte als Solitär für einen guten Meter frei ins Gelände, bis sich das nächste Gemäuer, ein zusammengestürzter Backsteinbau, anschloss. Arminius griff in das widerstandsfähige Efeu, das über die Ruine wucherte, ließ sich auf das verwilderte Gelände hinab. Gunnar heftete sich an seine Fersen, einem solchen Abenteuerparcours durchaus nicht abgeneigt. Sein furchtloser Anführer durch den urbanen Dschungel mit fast mannshohen Gräsern und Gewächsen schlug sich unbekümmert auf einen gewaltigen Schatten zu, der eine sehr erquickliche Kühlung bereitete. Die Weide musste schon sehr alt sein, auf einem ausreichend feuchten Untergrund stehen, um diese Pracht zu bewahren. "Schön." Stellte Gunnar andächtig fest, als Arminius ihm seinen heimlichen Rastplatz präsentierte. Der Baum bot nicht nur Schatten und Abgeschiedenheit, sondern auch sehr tiefe, massive Äste. Zweifellos bequem. "Also, du hast die Wahl. Wir haben Bücher, Futter, Handtücher..."" Arminius nahm den Rucksack ab. "Wirklich schön." Gunnar lächelte. "Ich möchte bitte das hier ausleihen." Damit nahm er Arminius die Kappe vom Kopf, wählte sich einen tiefhängenden Ast, streckte sich bequem auf ihm aus, die Arme unter dem Kopf gekreuzt, die Augen beschirmt von Arminius' Kappe. "Komischer Vogel." Murmelte der, fasziniert davon, dass der Quasi-Schwede wirklich in jeder Situation schlafen konnte. :-P Nach zwei Stunden, die Arminius in der Gesellschaft eines weiteren Gentleman-Detektivs verbracht hatte, musste er sich dem Durst geschlagen geben. Er rollte sich von seinem gemütlichen Ast herunter, absolvierte ein paar Kniebeugen, entschied, dass ein Picknick angezeigt war. Deshalb hatte er auch keine Skrupel, Gunnar an der Schulter leicht zu schütteln. Ein dunkles Brummen ertönte, der Quasi-Schwede lupfte selbst die improvisierte Verdunkelung, setzte sich auf. "Picknick." Deutete Arminius mit dem Daumen über der Schulter an. "Fein." Bekundete Gunnar ebenso direkt seine Zustimmung, half, ein wenig Gras niederzutreten, damit sie sich setzen konnten. Beide grinsten, als sie sich ihre Zungen präsentierten, von einem Traubensaftgemisch eingefärbt. "Kommst du oft hierher?" Nahm Gunnar den Gesprächsfaden wieder auf, kaute geduldig auf einer harten Waffel herum. "Manchmal." Arminius pellte konzentriert seine Banane. "Natürlich ist es verboten, aber hier sucht mich niemand. Ich habe meine Ruhe." Unwillkürlich blickte er streng in die wasserklaren Augen, ob sich Gunnar wohl ein wenig wünschenswertes Bild von ihm machte. Der nickte jedoch bloß kauend. "Ich wette, dass du einer von diesen Sport-Assen bist. Ständig auf Achse, Rad fahren, Schwimmen, Turmspringen." Provozierte er seinen Mit-Abenteurer. Gunnar zwinkerte. "Du bist sicher einer dieser arroganten Bücherwürmer, altklug, ichbezogen und unbeliebt." Arminius funkelte ihn an. "Ich SPIELE Fußball!" Sein Gegenüber lachte, die sonoren, warmen Vibrationen eines erwachsenen Basses. "Du weißt, dass ich sogar Bücher ohne Bilder handhaben kann." "Aber herumlaufen tust du wie der typische Macho-Playboy! Fehlen bloß das Goldgeschmeide und die Föhn-Welle!" Bissig, wenn auch heimlich amüsiert erwiderte Arminius das Feuer. "Ach ja?" Gunnar zwinkerte, bevor er gedehnt fortfuhr. "Entschuldige, ich vergaß doch glatt, dass du nicht schwul werden willst. Bin ich eine große Versuchung?" Säuselte er zuckersüß. Schlagartig wich Arminius die Farbe aus dem Gesicht. Er spürte förmlich, wie ihm trotz der Spätsommerhitze kalt wurde. Er hatte nicht erwartet, dass Gunnar so treffsicher und gnadenlos zurückschlagen würde, aus der Frotzelei tatsächlich ein Gefecht entstand. Völlig entgeistert starrte er ihn an, fand keine Worte. Er fühlte sich allerdings an die Begebenheit mit der 'Meinungsumfrage' zu seiner körperlichen Ausstattung erinnert. Zu seiner Überraschung wandte Gunnar den Kopf, starrte zur Seite, die Lippen fest aufeinander gepresst. "Bitte entschuldige. Ich hätte das nicht sagen sollen. Es tut mir leid." Seine Stimme klang leise, rau. Arminius schwieg, befahl seinem Puls, sich endlich zu beruhigen und seinem Kreislauf, die temporäre Eiszeit zu vertreiben. "Ich habe nicht angenommen, dass es dir so viel ausmacht. Ich hatte den Eindruck, dass für dich dein gutes Aussehen ganz normal ist." Antwortete er bedächtig, studierte angestrengt die Grashalme vor sich. "Gefalle ich dir also doch?" Gunnars Worte wollten kokettieren, aber sein Tonfall schwankte, wirkte unsicher, nicht ganz Scherz, aber auch nicht zu ernst. "Ist wahrscheinlich bloß Neid." Analysierte Arminius mutig, spürte Röte auf seinen Wangen. "Aber ich würde trotzdem nicht mit dir tauschen wollen." "Ich bin also Mangel-behaftet in deinen Augen?" Gunnar studierte ihn konzentriert, ohne sein langmütiges Lächeln. "'Mangel-behaftet', also ehrlich! Du hörst dich an wie ein Warentester!" Arminius schnaubte. "Nein! Ich finde, du bist in Ordnung, klar?! Bloß würde es mich grausen, ständig eine Horde lechzender Harpyien auf den Fersen zu haben, ständig Sport treiben zu müssen!" Ergänzte er aufbrausend. Gunnar lächelte wieder. Arminius erschreckte sich selbst, als ihm ein leiser Seufzer der Erleichterung entfuhr. Warum wollte er sich nicht mit Gunnar streiten? Zumindest nicht so richtig, an die Substanz gehend? "Wenn ich mich bewege, ist das für dich vielleicht so, wenn du in Ruhe lesen kannst." Gunnar brach die letzte Waffel in zwei Hälften, überreichte eine davon Arminius, der das beiläufige Friedensangebot sehr wohl erkannte. Die wasserklaren Augen dunkelten ein wenig nach, die Strahlkraft des Lächelns reduzierte sich. "Wir brauchen es beide." :-P Arminius führte Gunnar wieder zu seinem Elternhaus zurück, bevor die Kaffeekränzchen-Ausflüge den Heimweg antraten. Er wollte nicht unbedingt, dass seine Mutter von diesem Abenteuer erfuhr. Auf dem Rückweg schwiegen sie beide, aber es war kein spannungsgeladenes, sondern nachdenkliches Verharren in Stille. Keiner wollte einem Klischee entsprechen, musste doch anerkennen, dass es gewisse Aspekte gab, die GENAU in das Rollenbild passten. Arminius entschied strikt für sich, dass er als er selbst wahrgenommen werden wollte, nicht als Vertreter irgendeiner Mode oder Gruppierung. Wie es schien, hegte Gunnar dieselbe Vorstellung. Vor dem Haus half er ihm, das große Stahlross zu entketten, um es zum Trottoir zu schieben. "Ganz schön schwer!" Bemerkte Arminius, notierte sich, dass dieses Ungetüm weniger ein Fortbewegungsmittel als ein rollendes Sportstudio war. "Ah, ich glaube, da hakt was!" Gunnar ging in die Knie, beäugte die Kette. "Bitte, kannst du es mal einen Moment halten, Ernie?" Bereitwillig stützte Arminius den 'Mordstrümmer', wie er das Fahrrad taufte. Er kannte sich nicht mit Fahrrädern aus, hatte sich sogar entschieden geweigert, sich ein solches zum Geburtstag schenken zu lassen. Wozu auch? Er hatte erstens Beine, die nicht gestohlen oder demoliert werden konnten. Zweitens konnte er an Automaten Tickets flippern, wenn ihm die Strecke zu weit war. Außerdem hatte das Gehen den Vorteil, dass man sich nicht ständig auf den Verkehr konzentrieren musste. Man ambulierte, ließ die Gedanken frei herumstreifen, wie es ihnen gefiel! Gunnar richtete sich auf, wühlte nachdenklich durch seine sandfarbene Mähne. "Was stimmt denn nicht?" Arminius schielte ratlos zur Kette. "Brauchst du vielleicht Öl?" Weiter kam er nicht, denn Gunnar beugte sich in einer einzigen, raubtierhaft flinken Bewegung vor, fasste ihn unters Kinn, küsste ihn mit leicht geöffneten Lippen auf den Mund. Er zog sich zurück, lächelte und wisperte warm. "Danke schön." Arminius starrte immer noch wie vor den Kopf geschlagen auf Gunnars Rücken, als der schon längst sein Fahrrad aus tauben Händen gerettet, sich elegant auf das Gefährt geschwungen hatte. :-P »Sei kein Idiot!« Ermahnte sich Arminius. Aber er konnte, auch am Sonntagnachmittag, in seinem Zimmer auf seinem Bett residierend, den Kuss nicht vergessen. Seinen ersten Kuss. »Obwohl ICH ja nicht geküsst habe!« Versuchte er vor sich selbst zurückzurudern. Außerdem machten sich ja wohl nur Mädchen etwas aus 'ersten' Malen! Warum, darüber zerbrach er sich nach einer unruhigen Nacht mit steigender Verzweiflung den Kopf, warum hatte Gunnar ihn geküsst? Was sollte das bedeuten?! Vergeblich bemühte sich Arminius um eine rationale Erklärung. Zum Beispiel ein Scherz, um ihn zu provozieren. Immerhin hatte er Gunnar ja direkt gesagt, dass er nicht schwul war, es auch nicht werden wollte! Nicht mal für Johnny Depp. Oder sonst irgendwen! Oder es könnte die Vergeltung für die "Macho-Playboy mit Föhn-Welle"-Beschreibung gewesen sein. Obwohl Gunnar eigentlich keinen nachtragenden Eindruck auf ihn gemacht hatte. Im schlimmsten Falle... Arminius rieb sich mit beiden Händen so heftig über das Gesicht, dass die Haut sich rötete, brannte. Was sollte er tun, wenn der manchmal ziemlich undurchsichtige Gunnar sich in ihn verguckt hatte?! Der Gedanke machte ihm Angst, verknotete sich zu einem harten Ball in seinem Magen. Er mochte Gunnar, der so erfrischend anders war. Es machte Spaß, mit ihm in die Bücherei zu gehen, sich zu unterhalten. Aber wie sollte er nun mit ihm umgehen? Wenn er gern ein Freund bleiben wollte, aber nicht DIESE Art Freund? "Das kann ich nicht!" Murmelte Arminius laut. Er meinte damit den Vorschlag seiner inneren Stimme, Gunnar doch direkt zu fragen, ob DER vielleicht schwul sei. So etwas war Arminius viel zu peinlich. Wenn Gunnar es lachend bestritt, stand er selbst da als einer, der sich für unwiderstehlich hielt, zu dumm war, um einen Scherz zu begreifen. Wenn Arminius eins hasste, war es, sich vor Publikum zum Narren zu machen. Etwas Persönliches von sich zu enthüllen, sich eine Blöße zu geben, anschließend dafür heftig bestraft zu werden. Da hielt er mit seiner Meinung und seinen Gefühlen doch lieber hinter dem Berg, verschanzte sich hinter Zynismus, bewahrte Distanz. "Ich werde es einfach nicht thematisieren!" Entschloss er sich schließlich ermattet von der Grübelei. "Schwamm drüber, vergeben und vergessen." :-P Trotz des tollkühnen Entschlusses, einfach mit seinem Leben so fortzufahren, als habe dieser kritische Augenblick nie stattgefunden, bewegte sich Arminius am Montag verstohlen wie ein Dieb durch die Schule. Sie hatten zum Wochenbeginn keinen Chemie-Unterricht, das war bereits eine Erleichterung. Nun musste er bloß darauf achten, Gunnar nicht über den Weg zu laufen! Obwohl der in der Schule nie besondere Anstrengungen unternommen hatte, seine Gesellschaft zu suchen. An diesem Morgen kam Arminius auch der Umstand zupass, dass das Schwonster und die Clique der hühnerhirnigen Harpyien sich mit ihrem Erfolg am Samstag selbst beweihräuchert hatten. So war rasch bekannt, dass der Sonnyboy "Gun" nicht nur blendend aussah, sondern auf dem Sprungbrett eine herausragende Figur machte. Deshalb drängten sich nun Männlein und Weiblein um ihn, alle wollten im Kielwasser einer so berühmten Person schwimmen. »Sieht vor lauter 'Freunden' das Haifischbecken nicht mehr!« Bemerkte Arminius ein wenig gehässig. Ihn persönlich hätte so ein aufdringlicher Zirkus bereits dazu veranlasst, wild um sich zu schlagen und zu treten! Für den Moment begrüßte er die Aufregung um Gunnar. Der würde gar nicht zu ihm durchdringen, ihn nicht mal sehen können! »Also, WENN er wirklich SO tickt, dann findet er doch sicher auf diese Weise auch Anschluss.« Wisperte eine verräterische, feige Stimme in seinem Ohr beharrlich. Arminius verzichtete auf die trügerische Erörterung, welcher der unter statistischen Grundsätzen ermittelte, gleichgeschlechtlich orientierte Mitschüler sein Geheimnis vor anderen verbarg. Seiner Überzeugung nach grenzte es an Wahnsinn, sich in diesem Alter vor den mitleidlosen Augen von Gleichaltrigen zu erkennen zu geben. Eine solche Orientierung, woher ihr Ursprung auch stammen mochte, konnte man sich nur leisten, wenn man bereits ein V.I.P. oder ein berühmter Künstler/Star war. Jugendliche in seinem Alter in dieser Gesellschaft, davon wich Arminius nicht um einen Iota, hätten die Inquisition des Mittelalters mit ihren psychischen Grausamkeiten noch das Fürchten gelehrt. »Aber das ist nicht dein Problem, wird auch NIE dein Problem sein!« Wies er sich selbst zurecht, vertrieb entschlossen die Gänsehaut. Selbst die Mittagspause verlief ungestört, sodass sich Arminius langsam entspannte. Vielleicht war alles doch nur ein Fiebertraum gewesen, eine Nachwirkung von zu viel Chlor und Sonnenschein? Nach der Schule stand das Montagstraining an. Arminius lief verhaltener, zögerlicher als sonst, umklammerte die Tragegriffe seiner Sporttasche mit nassen Handflächen. Was würde ihn dieses Mal erwarten? Noch ein Hinterhalt? Beklommen, mit unregelmäßigem, fliehenden Puls näherte er sich dem Sportgelände. Aber er durfte nicht kneifen, nicht zögern! Sonst wäre er bis zum Ende der Schulzeit ein leichtes Opfer. Wachsam, angespannt wie der sprichwörtliche Flitzebogen marschierte er den Weg zum Gebäude hinunter. Bevor er jedoch eintreten konnte, löste sich aus dem Hausschatten die Gestalt des Trainers. Unwillkürlich wich Arminius zurück, ein Reflex, da er von der Sonne geblendet wurde, deshalb im Nachteil war. "Wir müssen uns unterhalten." Eine Hand fasste ihn leicht beim Oberarm. Für einen Augenblick herrschte in Arminius' Kopf völlige Leere. Jeder Gedanke schien verloren. »Ah!« Dachte er schließlich. :-P Das Gespräch, abseits des Platzes geführt, um vor einem Lauschangriff sicher zu sein, nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Arminius sollte die Mannschaft verlassen. Obwohl der sich zwang, gegen diese befürchtete, nun eingetretene Gemeinheit kühl und souverän vorzugehen, stand er auf verlorenem Posten. Wie konnte man beweisen, dass man nicht schwul war? Musste man behangen sein wie ein Gaul, um als männlich zu gelten? Für den Trainer waren zwei Aspekte ausschlaggebend: der Zusammenhalt der Mannschaft und die Tatsache, dass Arminius einen ihrer wertvollsten Mitspieler gestoßen hatte. Dass er sich nur verteidigt hatte gegen die heimtückischen Quälereien, wog seine Schuld nicht auf. Natürlich würde ihn niemand aus der Mannschaft expedieren aufgrund seiner sexuellen Orientierung! Die ja im Übrigen, wie er selbst sagte, durchweg der Mehrheit entsprach. Arminius quittierte die Entscheidung schließlich eiskalt mit der Bemerkung, dass er für heute gehen werde, aber erwarte, dass der Trainer seinen Eltern auseinandersetzte, warum ihr Sohn ausgeschlossen wurde. Er wäre auch noch die Angelegenheit mit dem Mitgliedsbeitrag zu klären. Obwohl er wusste, dass zumindest der letzte Punkt kaum Aussichten auf Erfolg hatte, befriedigte ihn das Zucken in der Mimik seines langjährigen Trainers, als er seine Mutter erwähnte. Der Mann fürchtete engagierte Mütter. »Dazu hast du auch allen Grund!« Dachte Arminius grimmig, während er mit sehr viel flotterem Schritt zurück zur Hauptstraße marschierte. Wie sollte er das seinen Eltern erklären?! Seine Mutter, da bestand kein Zweifel, würde mit tödlicher Präzision sämtliche Kanonen auffahren, um in moralischer Hinsicht ohne Rücksicht auf Verluste einen Sieg zu erringen. Das bedeutete in der Regel, dass metaphorisch gesprochen nicht nur der Boden verbrannte Erde war, sondern gesalzen und verseucht. Ob es seinem Vater etwas ausmachte? Würde der jetzt geschnitten werden von all den anderen mittelalten Figuren, die sich in der Sportgaststätte trafen, auf einen großen Bildschirm starrten? Oder würden sie Mitleid haben, weil sein einziger Sohn ein schwuler Verlierer war, der nicht mal mehr Fußball spielte? Arminius hielt verblüfft inne, als er registrierte, wohin ihn seine Füße, auf Autopilot geschaltet, getragen hatten: zur Stadtbücherei. Aber dieses Mal hatte er keinen Ausweis mit, wollte auch gar nicht schmökern. Matt ließ er sich auf eine Steinbank sinken, starrte einfach ins Leere. Nun hatte er nicht nur innerliche Freiheit, sondern unfreiwillig auch das äußerliche Pendant dazu gewonnen. Er war frei. Vogelfrei. Geächtet und ausgestoßen. Jetzt, so ärgerlich es war, begann er doch tatsächlich, das Fußballspiel zu vermissen. Nicht das Spiel mit anderen, gegen aggressive, foulende Spieler, sondern die Leichtigkeit, mit einem Ball am Fuß über ein Feld zu setzen, rechts und links an Hindernissen mit der Eleganz eines Slalomfahrers vorbei zu preschen. Er blinzelte, als über seinem Schoß ein gewaltiger Becher mit einer dezent grünlich getönten Milchschaumhaube schwebte. Er kannte die Hand, kraftvoll, leicht gebräunt, die goldenen Härchen auf dem muskulösen, aber nicht aufgequollenen Unterarm. Langsam hob er den Kopf, blinzelte mit einem zugekniffenen Auge nach oben. Gunnar. Der blickte mit einem ernsten Lächeln auf ihn herab, apportierte in der anderen Hand den Doppelgänger des großen Bechers, den er Arminius hinstreckte. In Zeitlupe, weil es so unwirklich schien, ausgerechnet Gunnar in ausgerechnet diesem Moment an diesem Ort zu treffen, hob Arminius beide Arme, umfasste den Becher so verkrampft, als könne er ihn gleich ungeschickt fallen lassen. Gunnar nahm wortlos neben ihm auf der Bank Platz. Methodisch vernichteten sie in betäubendem Schweigen die Pfefferminz-Eiskaffee-Kreation, kauten bedächtig die Schokostreusel. :-P Der trügerische Frieden hielt nicht lange vor. Gunnar hatte gerade die Becher zurückgegeben, als er bereits seinen Namen, vielmehr die verkürzte Version, über die Straße schallen hörte. Diese Damenriege, die da nun winkte, war älter, unterschied sich aber nicht wesentlich vom Hyänenrudel am vergangenen Samstag. Alle trugen die aktuellen Waren einer international bekannten Modekette für junge Wegwerfmode aus dem hohen Norden, dazu überdimensionierte Sonnenbrillen, die Puschkin vor Neid hätten erblassen lassen. Sie schwenkten am Unterarm lächerliche Täschchen in grell gefärbtem Lederimitat. Arminius sah kurz in die wasserklaren Augen, sammelte seine Trainingstasche auf, wollte verschwinden. Wenn er jetzt mit Gunnar allein gewesen wäre, ein paar Schritte in die gleiche Richtung unternommen hätte, wäre ihm wahrscheinlich eine bittere Anklage gegen die Welt allgemein und gegen die Ungerechtigkeit seiner jahrelangen Mitspieler über die Lippen gekommen. Doch in dieser Atmosphäre, wo er entweder ignoriert oder als die momentan größte Witzfigur der Schule betrachtet werden würde, schnürte sich ihm die Kehle zu. Jetzt wollte er bloß allein sein, sich irgendwohin zurückziehen, wo er in seinem eigenen Tempo die Ereignisse bewerten, mit ihnen abschließen konnte. "Komm schnell!" Unerwartet energisch zerrte Gunnar ihn am Handgelenk zum anderen Ende des Plateaus, stieg rasch über die Zierbüsche, sprang vom Absatz direkt auf das Trottoir darunter. Wohl oder übel, da sein Handgelenk in Geiselhaft genommen worden war, musste ihm Arminius folgen. Er kam überraschend frei. Gunnar benötigte beide Hände, um in Windeseile das mächtige Stahlross von seinen Kettengliedern zu befreien, von der Stütze zu hieven und eine Richtung einzuschlagen. "Hinten rauf!" Kommandierte er Arminius, der gleichgültig wirkte, sich aber die Tasche mit dem Trageriemen quer über die Brust gehangen hatte. "Los doch!" War es das zornige Blitzen in den wasserklaren Augen? Die raue Stimme mit dem groben Befehl? Arminius hätte es nicht zu entscheiden vermocht, es spielte aber auch keine Rolle mehr: geschlagen von einem aufreibenden, frustrierenden und quälenden Tag kletterte er auf den Gepäckträger, ließ die Beine über den leeren Seitentaschen baumeln. Beinahe kam er sich wie ein Cowboy auf einem schwerfälligen Gaul vor. Da stemmte sich Gunnar in die Pedalen, legte Tempo vor. Unwillkürlich umklammerte Arminius dessen Taille, verspannte sich. Gunnar sah kräftig aus, kein Wunder, bei so vielen Muskeln, aber die unmittelbare Wirkung dieser Kraft zu erfahren, das war ein ganz anderes Erlebnis. Wie ein Pfeil glitten sie dahin, Gunnar stand in den Pedalen, beugte sich tief über den Lenker, beförderte sie trotz des erheblichen Gewichtes mit unglaublichem Tempo. Arminius ignorierte das schrille Geschrei hinter ihnen, verbannte etwaige angewiderte Blicke. Er schlang die Arme fester um Gunnars Taille, ohne ihn jedoch bei der anstrengenden Arbeit zu behindern. Ein Handgelenk umklammernd war da noch genug Bewegungsspielraum. Die kühle Brise, die ihre Fahrt erzeugte, streichelte über sein Gesicht, verbündete sich mit der abnehmenden Sonnenwärme auf seiner Haut. Unwillkürlich ertappte er sich dabei, dass er laut jauchzte, als sie einen Hügel bergab brausten, hörte sich selbst auflachen. Gunnar selbst schien unermüdlich. Beinahe eine halbe Stunde lang chauffierte er seinen Sozius durch die Nebenstraßen. Sie bogen schließlich in die vertraute Adresse von Arminius' Quartier ein. Der spürte, wie sich seine Laune wieder den Zehen näherte. Er hatte Angst vor der Begegnung mit seinen Eltern. Klar war bloß, dass er den Rausschmiss irgendwie erwähnen musste. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er Entsprechendes formulieren konnte. Das Rad rollte zuverlässig, schnurgerade aus, bis sie den stählernen Zaun erreichten. Vor der Pforte kam es zum Stehen. Arminius löste seine Arme, kletterte etwas unbeholfen dank des recht o-beinigen Sitzes herunter. Auch Gunnar stieg aus den Pedalen, bockte seine treue Rosinante auf. "Hej." Wisperte er, studierte Arminius kritisch. "Selber hej." Murmelte der, wusste, dass er sich bedanken sollte. Dass er eine Erklärung schuldete. "Ich bin auf deiner Seite." Raunte der Quasi-Schwede in sonoren Vibrationen. Ohne sein Lächeln wirkte er auf Arminius älter, erwachsener und beängstigend entschlossen. Er konnte sich als Antwort lediglich zu einem schiefen Grinsen entschließen. "Du brauchst das nicht. Du brauchst SIE nicht." Stellte Gunnar leise, aber eindringlich fest. »Das sagt sich so einfach!« Schoss es Arminius durch den Kopf. Es wäre dumm, SIE und ihre Gerüchteküche zu unterschätzen. Für einen Augenblick glaubte er, dass Gunnar sich völlig verspannte, ein ungewohnter Zorn in dessen Mimik flackerte. Bevor er sich davon überzeugen konnte, hatte Gunnar sich vorgebeugt, ihn sanft auf die Stirn geküsst. "Bis morgen." Verabschiedete er sich ruhig, löste den Doppelständer, schwang sich anmutig auf das schwere Gefährt, radelte langsam davon. Arminius seufzte. Alles erschien ihm nun NOCH SCHLIMMER als zuvor. :-P Wie er seinen Eltern das neue Debakel erklären sollte, diese Frage erübrigte sich beim Eintreten über die heimische Schwelle von selbst. Seine Mutter empfing ihn noch im Flur, die Arme vor der Brust gekreuzt. Dazu zeigte ihr Gesicht, dass eine derartige Tiefdruckperiode mit Unwettergefahr bevorstand, dass Arminius schicksalsergeben ihr den Angriff überließ. "Hast du etwa schon wieder das Training geschwänzt?!" Eine gute Einleitung. Die ungerechtfertigte Beschuldigung ersparte ihm einfühlsame Worte für gequälte Elternseelen. Ebenso giftig fauchte er zurück. "Nein, im Gegenteil: man hat mich aus der Mannschaft geworfen!" Einander anblitzend konnte Arminius verfolgen, wie verschiedene Prozesse abliefen: eine Abwägung zwischen möglicher Schutzbehauptung (aka unverschämte Lüge) oder Vertrauen in seine Aussage. Diese Entscheidung wurde mit ausgefahrenen Ellenbogen verdrängt von der Frechheit, dass man IHREN Sohn, der seit Jahren eine maßgebliche Stütze in diesem heruntergekommenen Kickerverein war, so mir nichts dir nichts rauswarf. Der Mutter-/Killerinstinkt gewann haushoch. "Erzähl mir sofort, wie das gekommen ist!" Auch ohne den zupackenden Griff an seinem Oberarm wäre Arminius seiner Mutter in die Küche gefolgt. Er wollte, dass es den Verursachern seines Schmerzes genauso dreckig ging. Niemand hätte besser als seine Mutter die Aufgabe der Rächerin übernehmen können. :-P Eine Weile lauschte Arminius in der Küche den gedämpften Worten aus dem Wohnzimmer. Er konnte den Disput nicht verstehen, identifizierte die vorherrschende Stimmung jedoch mühelos. Seine Mutter war kämpferisch und rachsüchtig eingestellt, hatte nach seiner knappen Zusammenfassung der Ereignisse all die Argumente wiederholt, die er vor sich selbst bereits erwogen hatte. Sie war mit wehenden Fahnen, zornig geballten Fäusten zu seinem Vater ins Wohnzimmer gestürzt. Dem war die Abendunterhaltung ziemlich vergällt, vermutete Arminius, pickte in seinen Spaghetti herum, die er zum Seelentrost mit reichlich Tomatenketchup getränkt hatte. Er hielt seinen Vater nicht für feige, sondern eher für einen dieser harmoniebedürftigen Menschen, die Streitereien und lautstarke Auseinandersetzungen mieden, weil sie ihnen ein Gräuel waren. Das konnte er durchaus nachvollziehen. Er bemitleidete ihn, da der zweifellos gegen die wutschnaubende Empörung seiner eloquenten Frau den Kürzeren ziehen würde. »Doch zu welchem Zweck?« Fragte sich Arminius, spülte seinen Teller vor, schob ihn zu anderem Geschirr in die Gitter der Spülmaschine. Wenn sie den Trainer zur Schnecke machte, das würde sie als Löwenmutter ohne jeden Zweifel!, war er zwar gerächt, aber nichts sonst. Natürlich könnte sie auch über den Verband Krawall anzetteln, seine Wiederaufnahme in die Mannschaft forcieren, doch davon hielt Arminius gar nichts. Vielleicht würde man ihn vorher sogar wieder aufnehmen, mittrainieren lassen, aber unweigerlich würde er Statist auf der Bank sein, von allen geschnitten werden, bis er von selbst aufgab. »SO hänge ich ja gar nicht dran!« Seufzte er, holte sich aus seinem Zimmer einen frischen Pyjama, schlüpfte ins Badezimmer. Möglicherweise war dieser traurige Höhepunkt eines absolut dämlichen Missgeschicks ja auch die Gelegenheit, seinen Alltag zu verändern? »Jau!« Pflichtete er sich selbst bei. »Immer positiv denken, du Smiley, klar! Was ist, bitte schön, das Gute daran, von allen für einen schwulen Exhibitionisten gehalten zu werden?!« Er ließ trotzig Wasser in die Badewanne einlaufen, versetzte es mit duftendem Schaumbad. »Gar nichts!« Beantwortete er sich selbst die Frage. »Wenn man KEIN schwuler Exhibitionist ist, diese Aufregung nicht mal genießen kann!« Langsam, ob der Hitze ächzend, ließ er sich in das Badewasser einsinken. Arminius hielt sich selbst nicht für einen Einfaltspinsel, deshalb zog er die düstere Zukunft seiner Vorstellung auch nicht in Zweifel. Tatsache war doch, dass er noch drei Schuljahre zu absolvieren hatte, mehr oder weniger. So lange würde er hier wohnen, in dieses Gymnasium gehen, mit all diesen Leuten im Alltag zusammentreffen. Wenn er keinen Weg fand, sich zu arrangieren, wäre die Hölle ein gemütlicher Ausflugsort gegen das, was ihn erwartete. Schließlich verkörperte er das perfekte Feindbild: eine schwule Sau, auf die man auch mühelos weitere negative Aspekte projizieren konnte. Zum Beispiel seine recht guten Leistungen, die ihn zum Streber stempelten. Seine Unlust zu übertriebener sportlicher Betätigung. Seine Abneigung gegen wahlloses Fastfood-Stopfen. Seine konservativ-klassische Bekleidung. Wenn er darüber nachdachte, was in fortschreitendem Maße deprimierte, gab es eigentlich gar nichts, das seine Existenz gerechtfertigt hätte. Deshalb war es nicht unwahrscheinlich, dass er, je mehr Aufsehen erregt wurde, in kürzester Zeit zur Zielscheibe würde. Seufzend tauchte er unter, wischte sich mit beiden Händen über Gesicht und Kopf. "Nein!" Knurrte er energisch. Aufgeben kam nicht in Frage! Er hatte ein Recht auf Leben, auf Entfaltung, auf körperliche und seelische Unversehrtheit wie alle anderen in diesem Land auch. Eine kluge Strategie musste her, damit sich seine potentiellen Gegner nicht verbünden konnten! Während er diesen erfreulichen Entschluss fasste, hämmerte es heftig gegen die Badezimmertür. Das schrille Stimmchen des Schwonsters ertönte . "Du verblödeter Arsch, du versaust mit deinem Scheiß mein ganzes Leben!" Ein weiterer heftiger Faustschlag kontrapunktierte diese Behauptung. »Aha.« Arminius tauchte unter. »Die Botschaft hat wohl auch das liebe Schwesterlein erreicht! Jetzt wird sie wohl mal erwachsen werden müssen! Ein absolut erfreulicher Aspekt.« Bewertete der in geschwisterlicher Abneigung verbundene Bruder ungerührt. Seine Gedanken wanderten zum nächsten Schultag. Was würde ihn erwarten, wenn alle bereits Bescheid über den Rausschmiss wussten? Und Gunnar? Arminius blubberte gedankenverloren Blasen ins Wasser, bis er sich aufsetzte, über den Mund wischte. Würde Gunnar es wirklich riskieren, sich gegen alle zu stellen? Wo der doch ganz neu war? WENN Gunnar ihm die Treue hielt, dann... Arminius tauchte unter, doch das Blut schoss ihm unverdrossen in die Wangen. Sein Verstand ließ sich ebenfalls nicht ertränken. Wenn Gunnar sich für ihn einsetzte, würde er verpflichtet sein, ihm auch einen Gefallen zu erweisen. Um es diplomatisch auszudrücken. Seine Gedanken schweiften ab. Zu Gunnars Kuss. Eigentlich Küsse, wenn man den auf die Stirn von vorhin mitzählte. »Wenn er nun...?!« Arminius wagte nicht einmal, die Worte zu denken. »So schlimm kann es nicht sein!« Tapfer ballte er die Fäuste. »Neee, sicher nich!« Bestätigte ihm sarkastisch seine innere Stimme. »Wir haben auch gleich den Beweis geliefert für all die Behauptungen, die gerade kursieren!« »Abgesehen von der Exhibitionisten-Geschichte! So viel Zeit muss sein!« Korrigierte Arminius sich ärgerlich. »Außerdem habe ich ihm mehrfach gesagt, dass ich nicht schwul bin oder werden will!« Suchte er nach Boden unter den Füßen. »Ha! Beeindruckend!« Sein innerer Widerpart kreuzte die Arme vor der Brust, grinste diabolisch. »Ich bin sicher, er hat auch kein Problem damit, wenn du 'oh bitte, nein!' stöhnst, wenn er dich rektal beglückt!« »Das tut er NICHT!« Nunmehr puterrot, als hätte er sich eine Finnische Sauna zugemutet, tauchte Arminius erneut unter die Wasseroberfläche ab. Entkommen konnte er sich selbst auf diese Weise nicht. Er hatte Angst davor, dass Gunnar einfordern konnte, was er selbst vermutete. Zugegeben, gegen den Kuss hätte er sich wehren müssen, mit aller Kraft! Aber dazu war er, absolut unerfahren und völlig überrumpelt, einfach nicht fähig gewesen. Niemals hätte er vermutet, dass irgendjemand ihn im Licht einer sexuellen Attraktivität betrachtete. Am wenigsten ein so gut aussehender, populärer Typ wie Gunnar. »Denk mal an das 'handlich'!« Mischte sich seine innere Stimme erneut süffisant ein. Sie hatte recht, was Arminius nicht zugestehen wollte. »'Liegt gut in der Hand'!« Wiederholte der advocatus diaboli gnadenlos. »Gibt einem doch zu denken, oder nicht?« Selbstredend hatte Arminius ausschließlich angenommen, dass mit dieser Einschätzung keine andere als seine eigene Hand gemeint war. »NaTÜÜÜÜÜRLICH!« Säuselte seine innere Stimme boshaft. Eingedenk Gunnars Verhalten konnte Arminius dem Ansturm der Gegenargumente kein Contra geben. Vielleicht war Gunnar nur vorsichtig, wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, ihm aber trotzdem, durch die Blume sozusagen, zu verstehen geben, dass er DIESE gewissen Absichten verfolgte. Arminius ließ die Arme ins Badewasser gleiten, lehnte sich zurück, studierte die Zimmerdecke. »Was tun?« Gab es, abgesehen von seiner realen Angst, penetriert zu werden, einen anderen, gewichtigen Grund, diesen Sechser im Lotto abzulehnen? »Ha!« Ein stummes Auflachen ging der Erkenntnis voraus. Er selbst hatte wahrscheinlich die meisten Gunstbezeugungen von Gunnar erhalten, auf die seine Groupies begierig schielten. Was würde wohl das Schwonster sagen, wenn sie wüsste, dass ausgerechnet ihr Idol ihren unsäglichen Bruder geküsst hatte? Er schloss die Augen, überprüfte mit leicht geröteten Wangen, ob Gunnars Einschätzung der 'Handlichkeit' zutraf. Warum aufhören, wenn es schön wurde, nach SO EINEM Tag?! :-P Mit einer gewissen Vorsicht näherte sich Arminius dem Schuleingang. Er rechnete zwar nicht mit Hinterhalten, weil es unerwartet kalt war, regnete, aber ein Risiko wollte er nicht eingehen. "Hej, Ernie!" Hörte er hinter sich Gunnars tiefe, angenehme Stimme. Das Stahlross raste bereits heran, verlor den Reiter, der elegant absprang. "Hej." Murmelte Arminius, konzentrierte sich auf die Regentropfen, die wie Perlen in der sandfarbenen Mähne glitzerten. Er hatte das Gefühl, dass eine Stecknadel ein Echo bis Australien ausgelöst hätte, wenn sie gefallen wäre. "Geh mit mir nachher in die Bücherei, ja?" Gunnar wischte sich, vergeblich, mit der Linken durch die widerspenstigen Strähnen, ähnelte mehr als sonst einem Wikinger aus Nebelschwaden. "Ich muss so viel aufholen! Bitte, ja?!" Der patentierte, schmelzende Hundeblick hätte Steine erweichen können. Das Glitzern in den wasserklaren Augen verriet Arminius, dass Gunnar diese Scharade spielte, um seine wahren Absichten zu verschleiern. "Gern. Treffen wir uns später hier, in Ordnung?" Wiederholte Arminius laut. "Fein!" Schnurrte Gunnar sonor, zwinkerte, als um sie herum vernehmliches Getuschel einsetzte. "Bis dann." Arminius nickte bloß, straffte seine Gestalt, stellte die Schultern aus. Wahrscheinlich würden nun all die selbst ernannten Retter und Aufklärer Gunnar belagern, um ihm zu erzählen, warum er auf gar keinen Fall mit SO EINEM reden sollte, doch das kümmerte Arminius nicht. Plötzlich, ihm stockte fast der Atem, war er mit absoluter Sicherheit davon überzeugt, dass sich Gunnar nichts, von niemandem, ausreden lassen würde. Er schien keine Angst davor zu haben, wie die Konsequenzen aussehen würden. Hielt sich der Quasi-Schwede für unantastbar? »Nein.« Arminius trollte sich mit den anderen zu den Unterrichtsräumen. »Gunnar ist nicht eingebildet. Ob er aber alles wirklich ernst nimmt?« :-P Gunnars Reaktion sorgte zumindest dafür, dass Arminius den Schultag ohne weitere Blessuren überstand. Man beäugte ihn zwar wie ein potentiell gefährliches Tier, wahrte Distanz, aber das erschien ihm noch besser als irgendwelche Attacken. In der Mittagspause konnte Gunnar sich nicht zu ihm setzen, da der Quasi-Schwede noch immer umschwirrt wurde. Offenkundig kreidete man ihm sein unverändert herzliches Gebaren gegenüber einem Paria nicht an. Nach Unterrichtsende zockelte Arminius langsam zum Ausgang. Er sah sich schon Auseinandersetzungen ausgeliefert, weil die Entourage ihren Liebling bestimmt nicht kampflos an eine niedere Lebensform wie ihn verlieren wollte. In der Tat gruppierte sich in loser Choreographie eine Schar um Gunnar, der seinen Drahtesel stützte, gutmütig lauschte, keine Anstalten unternahm, sich zu verabschieden. Zögerlich näherte sich Arminius dem Haufen, der zweifelsohne in Kürze zu einem lynchenden Mob auflaufen würde. "Hej! Ernie, da bist du ja!" Gunnar benutzte sein Fahrrad wie eine Ramme. "So, ich mache mich mal auf den Weg! Kommt gut heim!" Wünschte er jovial, beschlagnahmte ohne Vorwarnung Arminius' Rucksack, pflanzte ihn vorne in den großen Korb zu seiner eigenen Tasche. Arminius spürte, wie ihm unerwünschte Assoziationen das Blut in die Wangen trieb. War es nicht früher üblich, dass der Junge für seinen Schwarm die Schulbücher trug? "Spring hinten auf!" Raunte ihm Gunnar zu, offenkundig auch noch bereit, mit seinem Schwarm durchzubrennen. Nun bemerkte Arminius, dass die Packtaschen einen seltsamen Buckel erhalten hatten, der verdächtig nach einem untergelegten, verborgenen Kissen aussah. »Herr im Himmel!« Fluchte er lautlos, kletterte gehorsam auf den Gepäckträger, als Gunnar sich bereit machte, kräftig in die Pedalen zu treten. Schmähworte flogen hinter ihnen her, alle an Arminius gerichtet, weil "die faule Sau sich eingeschleimt hatte!" Ihnen Gunnar entzog! Trotzig verschränkte Arminius die Arme um Gunnars Taille, hielt sein Handgelenk fest. Das war nicht so intim wie eine klammernde Umarmung, aber es rangierte WEIT über den verkrampften Versuchen, sich irgendwo am Gestänge des Sattels festzuhalten. Ihn erschreckte seine Bereitschaft, aus lauter Frustration genau DAS zu tun, wovon ihn alle abhalten wollten. Was Gunnar vielleicht von ihm erhoffte. :-P In der Stadtbücherei waren sie nicht allein, aber von Gunnars Anhängerschaft befreit. Tatsächlich wollte der Quasi-Schwede mit Arminius lernen! Der, von einem schlechten Gewissen ob seiner Motive geplagt, war nur allzu eifrig, die Regale abzugrasen, sich mit Gunnar an einen Arbeitstisch zurückzuziehen. Draußen ging ein Platzregen nieder, während sie gemeinsam Hausaufgaben lösten, in gedämpftem Flüsterton ausschließlich Thematisches besprachen. Nach einem Blick auf die Uhrzeit entschied sich Arminius, dass er nicht noch mehr Ungemach auf sich ziehen wollte, indem er zu spät nach Hause kam. "Ich helfe dir." Bereitwillig sammelte Gunnar ebenfalls Leihbücher ein. Anstatt sie entsprechend Arminius' Erwartungen unabhängig in die Regale einzustellen, folgte er ihm wie ein Schatten, reichte artig die Folianten an. Arminius füllte die letzte Lücke, spürte unerwartet unmittelbar hinter sich Gunnars Präsenz. Oder war es sogar dessen Körperwärme? Er zögerte nervös, verwünschte seinen rapide aufgaloppiernden Pulsschlag, klammerte mit einer Hand das stählerne Regalbrett. "Willst du, dass ich dich morgen begleite?" Flüsterte Gunnar ihm ins Ohr, blies seinen Atem über Arminius' Schulter, der prompt eine Gänsehaut bekam. Er fürchtete, der rote Ausschlag der Verlegenheit würde vom Scheitel bis zu den Zehen reichen. Sein Verstand strengte sich an, die hektisch verstreuten Gruppen der Gehirnzellen zu sammeln, um die Botschaft zu dechiffrieren. »Morgen? Begleiten?« Es dämmerte ihm, dass für den Mittwoch, also morgen, auch noch der grauenvolle Arztbesuch terminiert worden war. Ruckartig schnellte ob der Erkenntnis sein Kopf hoch, entschlüpfte ihm ein "oh!" Hastig drehte er sich um, auf der Suche nach einer höflichen Absage. Die Vorstellung, dass er mit einem FREUND bei einem Urologen eine derart peinliche Untersuchung absolvierte, war schlichtweg atemberaubend. Da könnte man ja gleich Händchen haltend in der Schule aufmarschieren! Lässig stützte sich Gunnar mit beiden Armen am Regal ab. Dass Arminius sich dazwischen befand, schmerzhaft das Rückgrat gegen den Stahl presste, konnte ja nur ein Zufall sein. "Ich verstehe." Lächelte er in Arminius' erhitztes Gesicht, zog sich so gelassen zurück, als hätte er nicht gerade eine Abfuhr erlitten. Arminius taumelte ein wenig, einer Panik nahe. Er verabscheute die eigene Feigheit, umso mehr noch, weil Gunnar so nachsichtig mit ihm war, ihn so verständnisvoll betrachtete. Hastig schob er sich an ihm vorbei, stürmte zu ihrem Platz, um seine Habseligkeiten in den Rucksack zu schieben, ohne Rücksicht auf Ordnung oder Platz. Wortlos trat Gunnar an den Tisch, sammelte ebenfalls sein Eigentum ein und verstaute es. Als sie schweigend in den Windfang traten, regnete es noch immer, allerdings weniger dicht. Dafür hatten die Böen aufgefrischt. Stumm betrachteten sie die dräuenden Wolken. "Wenn du losfährst, kommst du trocken heim." Hustend räusperte sich Arminius, beschämt von seiner kieksenden Stimme. Er indizierte, dass Gunnar ihn nicht begleitete, bis sich ihre Wege trennten. "Das ist schon möglich." Erwiderte der Quasi-Schwede gedehnt. "Meinetwegen musst du nicht nass werden!" Insistierte Arminius hilflos. Gunnar warf ihm ein merkwürdiges Lächeln zu. "Ich dachte mir, dass du das sagen würdest." Antwortete er in seinem gewohnt liebenswürdigen Ton. Arminius wusste sich nun keinen Rat mehr. Außerdem packte ihn die Angst mit einer eisigen Klaue, drückte ihm die Luft ab. Gunnar durchschaute ihn, davon war er überzeugt. Seine Feigheit, die stieß ihn selbst ab, musste ihn ja geradezu wie ein Pesthauch umgeben, zum Erbarmen stinken! In die Enge getrieben drückte er einfach die Tür auf, hielt den Kopf gesenkt, marschierte entschlossen los. Die eiskalten Hände in den Hosentaschen vergraben, die Schultern fast bis unter die Ohrläppchen gezogen setzte er einen Fuß vor den anderen, den Blick auf das Gehwegpflaster gerichtet, als könne er dort sein Heil finden. Vage hörte er die leisen Umdrehungsgeräusche des Fahrrads hinter sich. Es regnete nun stärker, perfide, frostige Nadelstiche röteten jedes erreichbare Stückchen Haut. Am Liebsten hätte Arminius sich umgewandt, Gunnar angeschrien, warum der hinter ihm herlaufe, mit einem winzigen Abstand, wo der doch längst trocken zu Hause sein könnte, wenn er sein Fahrrad nicht als Gehhilfe benutzen würde! Aber er sagte nichts, wagte nicht einmal einen verstohlenen Schulterblick. Als er die Kreuzung erreichte, an der sich ihre Wege normalerweise trennte, blieb er, bereits bis auf die Haut durchnässt, so lange stehen, bis Gunnar zu ihm aufgeschlossen hatte. Der unternahm keinerlei Anstalten, ihn zu verlassen. Endlich, resignierend, löste Arminius seine Augen von dem faszinierenden Anblick seiner besudelten Schuhspitzen, blinzelte Wassertropfen aus den Wimpern. Er fixierte die wasserklaren, hellen Augen des Quasi-Schweden. Wieso gab der verdammte Kerl nicht einfach auf, sondern studierte ihn mit einer unergründlichen Miene?! Arminius streckte die Waffen, ließ den Kopf hängen. "Bis morgen dann." Murmelte er gepresst, zirkelte seine Schritte exakt um Gunnar herum, schlurfte weiter. "Bis morgen." Hörte er die Erwiderung, kühl, überdeutlich akzentuiert. Morgen, davon war Arminius überzeugt, hätte er überhaupt keinen Freund mehr in der Schule. :-P Kapitel 4 - Konfrontation Vermummt mit einem dicken Schal und einer vorgeblichen Erkältung verschanzte sich Arminius am nächsten Tag hinter Büchern. Niemand war so unhöflich, einen öden Bücherwurm anzusprechen! Auch Gunnar zeigte sich nicht, aber Arminius strengte sich auch an, ihm nicht zufällig zu begegnen. Für die letzte Unterrichtsstunde besaß er eine Entschuldigung seiner Mutter, damit sie rechtzeitig den gefürchteten Termin bei dem Urologen einhielten. Als er dem Lehrer den gefalteten Zettel hinstreckte, bereits zum Aufbruch bereit, zischte irgendjemand vernehmlich. "Jetzt geht er zum Schwanzdoktor! Ob der die passende Lupe hat?" Alle lachten. Arminius lief dunkelrot an, nur dadurch vor den gehässigen Blicken geschützt, dass der Schal ihn bis zur Nasenspitze verbarg. Wer hatte das verraten?! Ein Tumult brach aus, weil alle mit Spottnamen für Arminius die anderen übertönen wollten. Es wäre praktisch gewesen, einen Basiliskenblick in petto zu haben, mit dem man die ganze Runde zum Schweigen bringen könnte, Versteinert in ihrer geifernden Gier, ihn zur Strecke zu bringen! Aber Arminius hatte diesen einschüchternden Blick nicht von seiner Mutter geerbt. Er floh deshalb einfach mit gesenktem Haupt aus dem Raum. :-P Elend und bleich hockte Arminius krumm auf dem Stuhl im Wartezimmer, ganz vorne auf der Kante. Seine Hände, ineinander verkeilt, zuckten immer wieder unkontrolliert. Er HASSTE es, hier zu sein. Seine Mutter war die einzige Frau im Wartezimmer. Ihr durchdringender Blick, jeden in der Luft zu zerfetzen, der auch nur ein Augenbrauenzucken in Richtung ihres Sohnes offenbarte, half der angespannten Atmosphäre nicht im Geringsten. Natürlich marschierte sie auch, als sei es das Normalste der Welt, mit der mangelnden Sensibilität aller Mütter mit ihm in das Behandlungszimmer. Windeln wechseln war offenkundig die Berechtigung dafür, dass sie in ALLE Geheimnisse ihres Sohnes eingeweiht zu werden erwartete. Schamgefühle einer Mutter gegenüber mussten ihr lachhaft erscheinen. Arminius brachte überhaupt kein Wort mehr hervor, während seine Mutter schwadronierte. Ihm war innerlich so kalt, als hätte er sich einen privaten atomaren Winter zugezogen. Das war keineswegs abwegig, betrachtete man den Super-GAU, der sein Leben erschüttert hatte. Teilnahmsvoll lauschte der ältere Mann der Eloge, die ihm aufgenötigt wurde. Zum höchsten Erstaunen seiner Mutter expedierte er sie ins Wartezimmer zurück, um sich allein mit Arminius zu beschäftigen. Der kauerte im Besucherstuhl vor dem Schreibtisch, fragte sich zynisch, ob es noch etwas zu finden gab, weil sich nicht nur seine Innereien zusammenkrümmten. "Denkst du, dass mit dir etwas nicht in Ordnung ist?" Unerwartet direkt sah er sich dieser Frage ausgeliefert. "Nein." Krächzte Arminius kehlig. Er fuhr heftig auf. "Es ist alles in Ordnung mit mir! Sie macht es nur schlimmer, weil sie mir zu helfen versucht!" Entsetzt über den Verrat errötete er, senkte den Kopf über seine verkrampften Hände. "Ich glaube, in diesem Fall kann eine zweite Meinung den Rücken stärken. Da du jetzt hier bist, überzeugen wir uns einfach." Der Arzt schob ihm eine kleine Schale mit Halsbonbons zu. Arminius, der verlegen an der Verpackung herumnestelte, blickte panisch auf. Kamen jetzt spitze Instrumente? Einläufe?! Schlimmeres? "Keine Angst." Das Lächeln zauberte unzählige Falten in das Gesicht. "Es wird keine spitzen Instrumente, Schläuche oder andere Dinge geben. Nur dich, mich und meine Erfahrung." Tatsächlich kamen noch ein paar Einweghandschuhe dazu, aber gerade die sachliche Erklärung, die ihm während der Untersuchung zuteil wurde, jedes Intime entschieden verdrängte, lenkte Arminius ausreichend ab. Das Resultat entsprach seinen eigenen Empfindungen: er war für sein Alter, seine Statur und seinen Entwicklungsstand vollkommen normal und gesund. Aber wer würde das nicht behaupten, wenn man sich gegen die Gerüchte verteidigen wollte? :-P Arminius stellte sich auf einen gesteigerten Spießrutenlauf ein. Er wurde nicht enttäuscht. Er hätte vermutlich wie Moses das Wasser teilen können, weil wirklich alle ihm geflissentlich aus dem Weg gingen, mit einer Miene, die auf ekliges Getier in Sichtweite schließen ließ. So wunderte er sich auch nicht, als er im großen Auditorium keinen Sitzplatz mehr fand, weil alle schon belegt/reserviert waren. Er suchte sich auf der Fensterbank ein kaltes Eckchen, starrte trübsinnig in die Tiefe. Man hatte, um einen übergreifenden Unterricht zu gestalten, einfach Chemie und Biologie an diesem Tag zusammengelegt. Es nahmen hier darum zwei volle Kurse Platz. Zweck der Übung war eine Demonstration mit Experimenten, alles im Sinne der zukünftig wissenschaftlich Forschenden. Überfischung der Meere, Qualität unserer Nahrungsmittel, Kontrollverfahren und nebenbei noch Erkenntnisse zur Anatomie, das alles sollte vermittelt werden. Wozu hatte man über den Förderverein die teure Ausstattung gekauft, wenn nicht die Kamera aufzeichnete, was auf der großen Videoleinwand abgebildet wurde?! Einen Block auf den Knien wartete Arminius, Beine baumelnd, auf die da stattzufindenden Ereignisse. Gesucht wurde eine freiwillige Person, die beim ersten Experiment assistieren sollte. Es handelte es sich allerdings um das Zerlegen eines am Vormittag käuflich erworbenen Speisefisches. Deshalb war der Andrang geradezu überwältigend. "Ich mache es." Meldete sich zu aller Verwunderung Gunnar, der auf mittlerer Höhe im Auditorium Platz genommen hatte. Unbeeindruckt vom ansteigenden Geräuschpegel stieg er die Stufen hinab, baute sich hinter dem Experimentiertisch auf, erkundigte sich höflich, wie seine Aufgabe aussehen sollte. Resigniert wurde er mit der Frage konfrontiert, ob er überhaupt schon einmal einen Fisch aufgeschnitten habe. Gunnar lächelte, antwortete jovial wie höflich. "Selbstverständlich. Gerade bei grätenreichen Fischen lohnt sich das." Einige lachten, unterstellten einen frechen Scherz. Gunnar krempelte einfach die Ärmel hoch, prüfte das Messer behutsam an seinem Daumen, dirigierte das Kameraauge, legte los. Dass er Übung im Ausnehmen von Fischen hatte, konnten alle mühelos erkennen. Fürbass erstaunt vom Biologielehrer aufgefordert erläuterte er auch liebenswürdig, was er da gerade freilegte, wo er schnitt und worauf zu achten sei, wenn man das Zuhause wiederholen wolle. Ihm selbst, plauderte er beschwingt, als fordere ihm die Aktion keine besondere Konzentration ab, habe ein alter Nachbar das Ausnehmen von Fischen beigebracht. Eine praktische Lebenserfahrung, wenn man Glück beim Angeln habe. So ein fangfrischer Fisch, gesäubert und bearbeitet, geröstet am Feuer oder geräuchert, das sei eine richtig feine Sache, sehr delikat. Unruhe breitete sich aus. Schließlich fragte ein Mädchen direkt, Abscheu und Ekel in der Stimme, ob er denn kein schlechtes Gewissen dabei habe, ein Tier zu töten?! Gunnar, der in Schälchen sortierte, was einmal zu einem Fisch gehört hatte, runzelte grübelnd die Stirn. Er entgegnete entspannt, dass er keineswegs ein schlechtes Gewissen habe. Seiner Auffassung nach solle man nicht ohne Not töten und Respekt vor dem Leben haben. Deshalb freue er sich auch immer über Fangglück, verzehre so einen Fisch mit großem Vergnügen. Die Reste bekämen die Katze und die Vögel. So sei allen gedient. Die Front der Tierfreunde schnaubte empört ob dieser bereitwilligen Mordlust. Unten, den Fisch säuberlich zerteilt, polierte Gunnar sorgfältig das Messer. "Ich würde meinen, dass niemand vom Hund oder von der Katze erwartet, dass sie nur von Pflanzen leben. Ich glaube nicht, dass eine Katze ein schlechtes Gewissen hat, wenn sie eine Maus verspeist. Wenn wir uns Tiere halten, müssen wir sie auch versorgen. In den Dosen und Schachteln ist ja nichts anderes drin als totes Tier." Plauderte er gelassen. Mit dieser konsequenten, vernünftigen Haltung bar jeder politischen Korrektheit zerkratzte er einmal mehr den Glorienschein, den man ihm unaufgefordert verliehen hatte. :-P Es überraschte Arminius nicht, dass Gunnar ohne große Entourage sein Fahrrad freikettete. Niemand wollte sich den Spiegel vorhalten lassen. Der da verkündete, dass man sich nur dann an hehre, oft realitätsfremde Grundsätze hielt, wenn sie einem selbst nicht unbequem wurden. "Heute beißen sie wohl nicht?" Versuchte sich Arminius nervös an einem doppeldeutigen Scherz, räusperte sich krächzend. Gunnar warf ihm einen knappen Blick zu, entgegnete kühl. "Vielleicht haben sie Manschetten, weil ich sie filetieren kann." "Ja, das ist sicher nützlich." Murmelte Arminius, der an der Abfuhr zu knabbern hatte. "Mein Nachbar will mir auch zeigen, wie man Tauben den Hals umdreht. Die sollen ziemlich lecker sein, wenn man das Fleisch einlegt." Ergänzte Gunnar lauernd. Arminius nagte an seiner Unterlippe, musterte Gunnar verunsichert. War das ein Scherz? Oder stimmte es sogar? Der blieb stehen, betrachtete ihn ebenso eingehend. "Er hat eine kleine Voliere." Brach der Quasi-Schwede schließlich gnädig die lähmende Stille. "Sonntagmorgens helfe ich ihm beim Zeitungsaustragen. Danach macht er für uns Omelett mit Taubeneiern und eingelegtem Gemüse." Herausfordernd, das Kinn mit dem Grübchen hochgereckt, fügte er an. "Manchmal dreht er einer Taube den Hals rum und isst sie. Scheint mir ebenfalls eine 'nützliche' Fähigkeit zu sein, die ich lernen kann." Arminius verzichtete darauf, sich noch tiefer in Ungnade zu bringen, da wohl jedes weitere Wort auf die Goldwaage gelegt werden würde. Müde stapfte er los, mit sich selbst hadernd. Hätte er das nicht besser wissen müssen?! "Und? Was sagt der Medizinmann?" Gunnar pedalierte neben ihm unangestrengt. Wütend verzog Arminius das Gesicht "Was schon?! Mit mir ist alles in Ordnung! Nicht, dass das irgendeine Rolle spielt!" Fauchte er giftig zurück, schritt schneller aus. Unmöglich jedoch, dem Fahrrad zu entkommen, selbst wenn ihm die Zunge nicht wie Schmirgelpapier am Rachen klebte! Gunnar schlug direkt vor ihm den Lenker ein, blockierte den Gehweg. "Hören wir auf damit." Seine wasserklaren Augen wirkten ernst wie seine Miene. Arminius wandte den Kopf ab, streckte eine Hand aus. Na prima, jetzt fing es auch noch an zu nieseln! Wo war der verdammte Spätsommer?! Er zuckte zusammen, als Gunnar sein Handgelenk ziemlich hart packte, ihn zu sich heran zerrte. "Steig auf." Kommandierte er leise, aber herrisch, die Augenbrauen ärgerlich zusammengezogen. Unwillkürlich war Arminius versucht, sich loszureißen, Fersengeld zu geben, einfach deshalb, weil er es nicht ausstehen konnte, wenn ihn jemand herumschubste. Stattdessen zischte er bitter zurück. "Du machst alles noch schlimmer!" Zu den verärgerten Augenbrauen gesellte sich nun ein dünner, farblos zusammengepresster Mund, der gewaltsam daran gehindert wurde, eine ebenso heftige Antwort zu formulieren. Gunnar gewann den inneren Kampf, gab allerdings kein trügerisches Lächeln vor, sondern wisperte angespannt. "Komm schon." Ein lächerliches, anstrengendes Patt. Arminius schüttelte sein Handgelenk frei, stieg unter Gunnars kritischem Blick auf den Gepäckträger. Wie gewohnt kreuzte er die Arme vor Gunnars Taille, schüttelte die lästigen Regentropfen ab. Der Quasi-Schwede trat kräftig in die Pedalen. Er sagte nicht, wohin die Reise ging, aber Arminius kümmerte sich nicht darum. Er war bloß müde, erschöpft davon, diesem ganzen Druck standzuhalten. Da schien ihm der auffrischende Wind mit dem Regen beinahe eine Erleichterung. Sie verließen vertraute Straßenzüge, näherten sich dem Freibad am Industriepark. Gunnar steuerte die überdachten Fahrradparkplätze an. Es war wenig Betrieb, da die Witterung bereits die gesamte Woche auf Herbst geschaltet hatte. Ungelenk und frierend taumelte Arminius vom Gepäckträger, umklammerte die Gurte seines Rucksacks. Was wollte Gunnar hier? Der hängte sich seine Schultasche quer über die Brust, ging in die Hocke, um die verschiedenen Sicherheitsvorkehrungen für seine stählerne Rosinante zu treffen. Wortlos schnappte er sich Arminius' Linke, marschierte auf den gekiesten Weg, der in das Wäldchen führte. Eine Querstange hinderte Autos daran, in die von Laubbäumen umgebene Schneise einzudringen, wo sich ein stationärer Grillplatz verbarg. Eine kleine Gruppe ermatteter Mütter mit kreischenden oder quäkendem Nachwuchs kam ihnen entgegen. Sie waren offenkundig zu okkupiert, um neugierig auf die Händchen haltenden Jugendlichen zu blicken. Arminius kümmerte sich nicht mehr um den Schein. Er fror erbärmlich, stolperte ein ums andere Mal über seine eigenen Füße. Gunnars warme Rechte war da eine willkommene Abwechslung von der trostlosen Gesamtsituation! Selbst unter dem Blätterdach ließ der Regen kaum nach, sodass Gunnar in einen Laufschritt fiel, um den großen Pavillon zu erreichen, der den Grillplatz dominierte. Sie waren hier, nahm man den angeschlossenen Kinderspielplatz in Augenschein, vollkommen allein. Die Schultasche wurde auf einer mit lächerlichen Botschaften verunzierten Holzbank abgelegt. Gunnar wickelte Arminius unter einigen Anstrengungen aus den Tragegurten des Rucksacks. Bevor der protestieren konnte, hatte er nicht nur die eigene Regenjacke geöffnet, sondern zog auch den Reißverschluss von Arminius' durchweichter Daunenjacke herunter, zog ihn stumm in seine Arme. Die Wange auf dem etwas verfilzten Wollpullover abgelegt schlang Arminius die Arme um Gunnars schlanke Taille, schloss die Augen. Die Wärme, die der Quasi-Schwede verströmte, war so köstlich, so tröstlich, dass ihm die Knie beinahe weich wurden. Die Rechte kraulte nun sanft seinen Nacken, streichelte über seine nassen Haare. Unter Auferbieten aller Selbstbeherrschung schluckte Arminius aufsteigende Tränen herunter. Er hätte selbst nie geglaubt, dass ihm eine Umarmung so gut tun würde. Oder das man im fortgeschrittenen Alter von 16 Jahren noch so anlehnungsbedürftig war. Gunnar schwieg die ganze Zeit über. Auch, als er Arminius langsam losließ, zur Bank führte, ihm statt der schweren, aufgequollenen Daunenjacke die eigene Regenjacke um die Schultern legte. Arminius fühlte sich wie in einem leichten Fieber. Woher sollte plötzlich die Wärme kommen, die ihn schwindelig machte? Er lehnte sich an Gunnars starke Schulter, die so gar nichts erschüttern konnte, lauschte auf dessen leise, dunkle Stimme, die eine fremde Melodie summte. :-P Arminius hatte es gar nicht bemerkt, aber er musste unversehens Gunnar auf den Schoß gekippt, dort eingeschlafen sein. Wie sonst hätte er mit dem verklebten Blick auf das hölzerne Dach des Pavillons erwachen können? Gunnar lächelte wieder, was Arminius unwillkürlich erleichterte, half ihm nachsichtig beim Aufsetzen. "Wir sollten langsam aufbrechen. Es dämmert schon." Auch seine sonore Stimme klang wieder so liebenswürdig wie gewohnt. Arminius rieb sich mit beiden Händen heftig über das Gesicht. Irgendwie wollte er einfach nicht richtig wach werden! Seine Hände wurden abgepflückt. Gunnar küsste ihn sanft auf die Stirn. "Ich glaube, du hast erhöhte Temperatur. Wenn du zu Hause bist, nimmst du am Besten ein heißes Bad." Verkündete er nachdenklich. "Solange es keine kalte Dusche sein muss." Murmelte Arminius, der sich leicht benommen fühlte. "Das könnte noch kommen." Erwiderte Gunnar leise, drängte ihn unversehens gegen eine der mächtigen Säulen. Blinzelnd bemühte sich Arminius, eine Reaktion zu koordinieren, aber seine Füße beschwerten sich, dass sie die Zehen nicht mehr spüren konnten. Seine Wimpern klebten aneinander, seine Hände waren eiskalt. Dafür lief ihm Schweiß den Rücken hinunter. Grundsätzlich schien jeder Körperteil bloß darauf bedacht, sich zu beklagen. In seinem Kopf herrschte deshalb ein neuronales Chaos, das sich nicht um solche Kleinigkeiten wie eine Säule im Rücken, zwei große, warme Hände um die Kieferknochen und einen Gunnar kümmern konnte, der ihn küsste. Arminius grub die Fingernägel in das aufwändige Strickmuster des Pullovers, rang nach Luft, keuchte, als er von Gunnars Becken gegen die Säule gepresst wurde. Das war kein Kuss mehr, das war ein oraler Beischlaf! Viel zu spät erwachte sein Gehirn zum Protest, weil SO ETWAS noch nie in seinem Erleben kartographiert worden war. Es schien, als würden diese Erfahrungen zukünftig verstärkt seine Nervenzellen prägen. Mangels Vergleichsmöglichkeiten konnte Arminius nicht bestimmen, ob Gunnar ein wenig zu gierig vorging oder sich durchaus im normalen Rahmen bewegte. Vielmehr sprang sein Instinkt ein, der mithalten wollte, der nicht nur Speichel schluckte, sondern ebenso austeilte. Aber dazu fehlte Arminius schließlich doch das Durchhaltevermögen. Keuchend, unsicher auf den Beinen drehte er den Kopf weg, spürte, wie im kalten Luftzug Speichel auf seinen Lippen, seinem Kiefer, seinem Kinn trocknete. Ihm war schwindelig, subäquatorial hatten sich Empfindungen eingestellt, die ihn in Panik versetzten. Gunnar küsste ihn sanft auf die Schläfe, wischte mit dem Daumen über seine Lippen. "Ich bin zu schnell." Murmelte er bedauernd, schlang die Arme um Arminius' Mitte, der sich dankbar anlehnte, wünschte, dass sein Herz nicht so pochen würde, als stünde sein Ableben mittels Infarkt unmittelbar bevor. Sie blieben eine Weile so stehen, während es rapide dunkel wurde. Arminius schob sich schließlich bedauernd gegen die Säule, vermied mit hochroten Wangen einen Blick in die wasserklaren, viel zu scharfsichtigen Augen, wisperte verlegen. "Es geht wieder." Er erhob allerdings keinen Protest, als sich Gunnar zusätzlich zur eigenen Schultasche auch noch seinen Rucksack auflud, ihn bei der Hand nahm, führte. Auf dem Kiesweg gab es keine Beleuchtung. Das dichte Blätterdach verhinderte, dass das versiegende Tageslicht ihnen den Weg wies. Gunnar jedoch ging zielsicher, folgte der Kiesschlange bis zu den Lichtern des Freibades. Sein Fahrrad stand verlassen und allein in der Reihe, aber Arminius war sehr erleichtert, es zu erblicken. In seinem Kopf schwappte noch immer ein sämiger Brei, der jeden klaren Gedanken verkleisterte. Ein heißes Bad und sein Bett, kuschlig warm eingepackt, das wäre herrlich! "Halte dich gut fest, ja?" Gunnar strich ihm besorgt über die Hände. "Sag mir, wenn dir schwindelig wird!" "HmmHmmm." Brummte Arminius müde, lehnte sich, gegen sittliche Empfindungen nunmehr taub, an Gunnars Rücken an. Er war erkältet, ja, das musste es sein! :-P Es regnete schon wieder, als Gunnar vor dem Tor hielt, beide Füße fest auf das Trottoir stemmte, sich halb umdrehte. "Ernie." Klang seine Stimme wirklich zärtlich? "Ernie, wach auf. Du bist zu Hause." Auf Autopilot geschaltet gelang es Arminius sogar, sich unfallfrei vom Gepäckträger zu schwingen. Auch wenn er drei Schritte zur Seite stolperte, beinahe in die Gosse getreten wäre, hätte Gunnar ihn nicht am Ärmel gepackt. "Ja, danke schön." Spulte Arminius mit halb gesenkten Lidern eine Höflichkeitsfloskel ab, verfehlte die Klinke des Tors beim ersten Versuch. Er hing wie ein Schluck Wasser in der Kurve an den stählernen Streben. Gunnar lachte leise, bockte sein Fahrrad auf den stabilen Doppelständer auf, fasste Arminius um die Taille. "Ich bringe dich rauf. Aber dann musst du es allein schaffen, ja?" Verkündete er sanft. "HmmHmm." Brummte Arminius, der sich bereits in seinem Bett wähnte. Er kam allerdings partiell zu sich, als Gunnar ihn auf der Türschwelle intensiv wach küsste. Zum ersten Mal bemerkte er, dass Gunnar tatsächlich gerötete Wangen hatte. Das setzte ihn derart in Erstaunen, dass er mit herabgesackten Kiefer in das markante Gesicht starrte. "Du musst jetzt hineingehen. Bis morgen dann, ja?" Erinnerte ihn Gunnar leise, zwinkerte. "Bis morgen." Wiederholte Arminius. Er kam erst wieder zu sich, als sein Vater ärgerlich in den Flur trat, schnauzte, er möge nicht den Weltraum heizen, sondern endlich ins Haus kommen. :-P Nach einem heißen Bad, einer aufgedrängten Lösung mit diversen Erkältungspräparaten und einem tiefen Schlaf fühlte sich Arminius am Freitag erstaunlich erholt. Er wurde blitzartig von den Erinnerungen an den Vortag heimgesucht. Das heiß-kalte Gefühl, das ihn durchlief, war weniger beängstigend als köstlich erregend. Verlockend sogar. Er schaufelte zur Tarnung gewohnt eilig seine Frühstücksflocken in sich hinein. »Was wäre, wenn Gunnar wirklich in mich verknallt wäre?« »Dann wird alles noch schlimmer!« Jammerte eine feige Stimme in seinem Inneren. Er müsste zwangsläufig schwul sein/werden! Zum gesamten Ärger der letzten Wochen käme auch noch eine lebenslange Stigmatisierung hinzu. »Ach, Schnauze!« Brüllte sein Stolz empört, begleitet von seinem Eigensinn. »Was geht andere an, was ich tue?! Die sind doch bloß neidisch, weil ausgerechnet so eine Type wie ich bei so einem Überflieger wie ihm gelandet ist!« »Ha!« Verteidigte sich seine Feigheit giftig, unterstützt von seiner Scham. »Wollen wir doch mal sehen, ob du noch so eine große Klappe hast, wenn's um Sex geht!« Arminius verschluckte sich, hustete Getreideflocken über den Tisch. Mit vorwurfsvollem Blick polierte seine Mutter die Tischplatte, wies ihn an, gefälligst aufrecht zu sitzen, ordentlich zu kauen und nicht zu schlingen wie ein Schwein am Trog! :-P Nervös näherte sich Arminius dem Schulgelände. Ob Gunnar wohl so tollkühn wäre, auch in der Schule zu erkennen zu geben, dass er ihn mochte? Wollte er vielleicht sogar Händchen halten oder ihn küssen?! »Bloß nicht!« Dachte Arminius panisch, spürte, wie ihn am ganzen Leib eine Gänsehaut überlief. Er war gern mit Gunnar allein. Gestern, ja, also gestern, nein, da half kein Selbstbetrug: es hatte ihm gefallen. Es war vielleicht beängstigend gewesen, wie sehr der Körper die Regie übernahm, welche Laute man produzierte, aber grundsätzlich gab es keinen Grund zur Klage. Vor anderen Leuten demonstrieren, wie sehr man sich mochte, indem man öffentlich Mandeln massierte oder sich betatschte, als wäre man im eigenen Schlafzimmer, das stieß Arminius sauer auf. Unabhängig von der Zusammensetzung der Paarung. Schließlich waren nicht alle voyeuristisch veranlagt! "Hej, Ernie!" Platzte Gunnar in seine Überlegungen, sorgte dafür, dass Arminius stolperte, nach einer Stütze hangelte, um nicht zu stürzen. Er schürfte sich die Handfläche an einer vorgehangenen Steinplatte auf. "Verdammter Mist!" Fluchte Arminius, inspizierte die Wunden, tauchte in seiner Hosentasche nach einem Papiertaschentuch. "Ich habe dich nicht erschrecken wollen!" Versicherte ihm Gunnar, der eilends zu ihm getreten war, lächelte verlegen. "Weiß ich doch!" Knurrte Arminius, ärgerlich über sich selbst. Warum anderen die Mühe überlassen, wenn man sich auch ganz allein zum Idioten machen konnte?! Gunnar umfasste Arminius' aufgeschürfte Hand behutsam. Er spuckte auf die lädierte Handfläche! Arminius erstarrte fassungslos. "So, gleich erledigt!" Verkündete Gunnar aufgeräumt, verteilte seinen Speichel über die Kratzwunden, wischte mit dem Taschentuch nach, begutachtete zufrieden seine Erste Hilfe-Maßnahme. "So was kannst du doch nicht machen!" Krächzte Arminius endlich, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. "Nein?" Gunnar runzelte in liebenswürdiger Weise die Stirn. "Es desinfiziert aber. Habe ich bei den Pfadfindern gelernt." Wieder konzentrierte Arminius seinen Blick hart auf die wasserklaren Augen. "Das habe ich nicht gemeint!" Versetzte er schließlich streng. Beinahe wäre ihm das neckende Glitzern entgangen, aber er hatte aufgepasst! Inzwischen hatten sie auch Publikum. "Du hast sicher recht." Schnurrte Gunnar vernehmlich, so jovial wie gewohnt. "Ich glaube, ich muss noch eine Menge lernen. So viele Missverständnisse!" Arminius brachte eilends seine Hand in Sicherheit, konnte sich aber eines schiefen Grinsens nicht erwehren. "Aufschneider!" Zischte er Gunnar zu, rüstete sich zum Unterrichtsbeginn. Hinter sich hörte er das inzwischen leidlich vertraute Murmeln, als einige ihrer 'Pflicht' nachkamen, Gunnar aufforderten, sich doch nicht mit SO EINEM abzugeben. Er sei einfach zu nett! »Wenn ihr wüsstet!« Dachte Arminius zynisch. Er hätte, zumindest in diesem einen Moment, gar nichts dagegen gehabt, dass Gunnar SEINE Mandeln polierte! :-P Wie jeden Freitag stand vor Schulschluss der unvermeidliche Doppelblock Sport bei 'Klops' auf dem Plan. Der Auftritt seiner Mutter zeigte auch hier Wirkung, denn Arminius musste aufpassen wie ein Luchs, um nicht 'versehentlich' angerempelt, umgestoßen, getreten oder auf andere Art gefoult zu werden. Er war schweißgebadet, als er in die Umkleide zurückkehrte. Dort stellte er fest, dass irgendjemand seine Kleider in einen Mülleimer gestopft und ihn mit Wasser gefüllt hatte. Arminius entfuhr vor schierem Zorn ein hilfloser Aufschrei, aber mehr als die Kleidungsstücke auswringen konnte er nicht. Ein blöder Scherz zu viel: Arminius stürzte sich blind vor Wut auf seinen Klassenkameraden. Ineinander verkeilt gingen sie zu Boden, was 'Klops' auf den Plan rief, der in die Umkleide donnerte wie ein Panzer, beide Kontrahenten voneinander trennte. Außer sich vor Empörung sprudelte Arminius die Klage heraus, wies auf seine triefend nasse Kleidung. Wie sollte er jetzt nach Hause gehen?! Im Sporttrikot?! Für 'Klops' jedenfalls war 'der Drops gelutscht', er hatte endgültig und final von dieser ganzen 'Mobberei' die Nase voll. Er verhängte Schularrest. Wenn sich die Verantwortlichen für die getauften Kleidungsstücke nicht sofort zu erkennen geben würden, blieben sie eben alle bis 18:00 Uhr hier. Ihre Eltern würden alle, ohne Ausnahme, vor die Schulleitung geladen. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sich die Verschwörer meldeten. Hunger, spätere Verabredungen und das vage Gefühl, ungerechtfertigt bestraft zu werden dafür, dass sie der 'schwulen Sau' mal die Arroganz heimgezahlt hatten, sorgten für das Geständnis. Arminius wusste, dass ihn Ärger wegen der Prügelei erwartete, aber das war ihm gleich. Inzwischen war seine schweißnasse Sportbekleidung getrocknet, fühlte sich ekelhaft auf der Haut an. Außerdem zweifelte Arminius nicht daran, dass er bestimmt schon roch. Obwohl er ein Deodorant benutzte. Wer hätte ihm helfen können? Seine Mutter war nicht zu erreichen, das Schwonster längst ins Wochenende aufgebrochen. Unerwartet erschien Gunnar in der Umkleide. Er hatte Einkaufstüten in einer Hand, war ziemlich nass, weil es stark regnete. "Was ist passiert?" Sofort näherte er sich Arminius, musterte ihn besorgt, sank auf die Bank. Arminius wies stumm auf den traurigen Haufen tropfender Kleider, zuckte mit den Schultern. Immerhin wartete 'Klops' ja darauf, dass er endlich die Umkleide verließ, sich trollte. "Warte auf mich!" Kurzentschlossen verteilte Gunnar seine Einkäufe um, sodass eine Tüte frei war, Arminius' tropfnasse Kleidung aufzunehmen. Er eilte davon. Klops und Arminius tauschten einen ratlosen Blick aus. »Wie lange es wohl dauert, bis er mir die Schuld zuweist?« Grübelte Arminius geknickt. Auch Lehrkräfte waren ja nicht vollkommen weltfremd. Es war ja auch leichter, mit einer zufriedenen Mehrheit auszukommen, als sich ausgerechnet vor EINEN WIE IHN zu stellen. Vor der Umkleide ertönte Rosinantes selten genutzte Klingel. Arminius erhob sich, trat vor die Tür. Die Satteltaschen prallgefüllt wartete Gunnar auf ihn, in der Hand ein durchscheinendes, bis vor wenigen Augenblicken zu einem kompakten Paket zusammengerolltes Regencape. Er lächelte Arminius aufmunternd an, stülpte ihm das Cape über, nickte zufrieden. "Spring auf!" Wies er einladend auf sein treues Stahlross. Arminius leistete der Aufforderung Folge, leidlich geschützt durch den Plastikstoff, um die Knie abwärts aber frierend. "Ein schönes Wochenende, Herr Kloppowski!" Wünschte Gunnar höflich, stemmte sich in die Pedalen. Dieses Mal konnte er nicht im Sattel bleiben, zusätzlich zu Arminius' Gewicht mussten auch die Einkäufe bewegt werden. Als sie das Schulgelände verließen, durch den Regen fuhren, eine tiefhängende Wolkendecke über sich, Wasser auf den Straßen stehend, bemerkte Arminius erst nach einigen trübseligen Augenblicken, dass Gunnar nicht den vertrauten Heimweg einschlug. »Wohin fahren wir?!« :-P Die Siedlung war alt, zu den Zeiten gebaut worden, als sämtliche öffentlichen Einrichtungen noch fest in der Hand des Staats waren. Ob Bergarbeiter-, Postler- oder Eisenbahnersiedlung: immer ähnelten sich die Häusergruppen. Kleine, enge, zweigeschossige Häuser, meist aus regionalem Gestein gebaut, mit einem Handtuch-schmalen Garten dahinter. Vereinzelt ging man in späteren Jahren dazu über, die alten Häuser einzureißen, um Solitäre dazwischen zu setzen. Es gab auch noch die großen Stadthäuser aus der Gründerzeit des Bürgertums, die einstmals von großen Park- und Gartenanlagen umgeben waren. Man hatte sie nun aber für den Siedlungsbau eingezogen, sodass sich unversehens ein hoher, eleganter Altbau zwischen den alten Einfamilienhäuschen fand. Ein solcher Altbau, nunmehr in verschiedene Parteien aufgeteilt, war Gunnars Ziel. Er hielt vor der Pforte an, bat Arminius abzusteigen, weil der sich sonst zwischen den alten Pfeilern die Knie aufgeschürft hätte. Er dirigierte sein Rad durch den engen Zugang. "Du wohnst hier?!" Entfuhr es Arminius unversehens, bevor er sich selbst auf die Zunge beißen konnte. Gunnar lächelte, sparte sich aber jeden Kommentar. Er flöhte erst jede Packtasche und den Korb, bevor das Fahrrad unter einem ehemaligen Laubengang postiert, angekettet wurde. "Ich helfe dir tragen!" Meldete sich Arminius eilig, um seine Scharte wettzumachen. Schließlich durfte er die Tüte mit seinen eigenen Kleidern übernehmen. Sie stiegen in einem verwinkelten Treppenhaus über das Hochparterre in den zweiten Stock. Ein handgefertigtes Türschild erklärte, das hier Henrike und Gunnar wohnten. Gunnar entriegelte die Türschlösser, trat sich sorgfältig die Schuhe ab, marschierte in den winzigen Vorraum, der hauptsächlich von Regalen aller Art dominiert wurde. Ein Lappen lag bereits vor einem offenen Schuhregal, wartete auf nasses Schuhwerk. Ein wenig eingeschüchtert schlüpfte Arminius aus seinen Schuhen, sah sich um. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er kaum etwas über Gunnars Familie erfahren hatte, obwohl sie einander nun schon eine Weile kannten. "Das Bad ist hier." Gunnar tippte auf eine Tür. "Nimm dir den Bademantel, ja? Ich werde mal schauen, was ich mit deinen Kleidern anfangen kann!" Damit verschwand er geschäftig hinter einem Perlenvorhang, der mutmaßlich die Küche abtrennte. Arminius schickte sich drein, betrat das Badezimmer. Es wirkte auf ihn ziemlich altmodisch mit den Leitungsrohren, die über dem Putz verliefen, den alten Kacheln auf den Boden, die winzige Schildplatten bildeten und dem schmalen, geteilten Doppelfenster. Doch die Moderne hatte bereits Einzug gehalten, denn auf den gekachelten Boden hatte man eine Duschkabine aufgesetzt. Das Waschbecken stand den Fliesen in einer massiv kubischen Form vor. Verlegen zupfte Arminius ein Handtuch aus einem hölzernen Regal, das mit einem Keil in eine aufrechte Position gebracht worden war. Er hängte es an die äußere Stange der Duschkabine, achtete darauf, den dort befindlichen Kunststoffstuhl nicht anzustoßen, zog sich linkisch aus. Die Sportbekleidung wanderte mit dem Regencape auf die Kacheln vor die Duschkabine. Arminius stellte sich der Herausforderung, mit den klobigen Armaturen zu kämpfen, dem unverschämt ächzenden Spender etwas Duschgel zu entlocken. Aufgewärmt, deutlich erfrischt und erleichtert, dass er sich nichts zu schulden hatte kommen lassen, kletterte er aus der Kabine, frottierte sich eifrig, kramte aus der Sporttasche seinen Deodorant. Der einfache Spiegel, Baumarkteinheitsware, war mit allerlei Meeresgetier beklebt worden und nun beschlagen. Also wickelte sich Arminius in den dunkelblauen Bademantel (das rosafarbene Ungetüm mit Kapuze und Stickereien musste ja wohl Gunnars Mutter gehören!), rang mit den Fenstergriffen. Einen mühsam errungenen Sieg später kämmte er sich vor dem Spiegel, wandte sich den gegenwärtigen Problemen zu. Zum Beispiel der Frage, wo Gunnars Mutter gerade war. Warum sie nur zu zweit hier lebten. Was er jetzt tun sollte, ganz ohne Wäsche. "Hilft nichts!" Rief er sich selbst zur Ordnung, sammelte seine Sachen ein. Er warf einen kontrollierenden Blick um sich, ob er nicht etwa das Badezimmer als ein Schlachtfeld hinterließ, trat tapfer auf den Flur. Gunnar erwartete ihn bereits in der Küche, streckte die Hände besitzergreifend nach dem Paket Sportbekleidung aus. "Prima, ich wasche sie mit deinen anderen Sachen! Das Handtuch kannst du mir auch geben." Verkündete er aufgeräumt, bestückte das Bullauge einer Waschmaschine, die sich einreihte mit anderen klobigen Küchengeräten. Auch hier war bis unter die hohe Zimmerdecke des Altbaus eine Front aus Regalen und Schränken entstanden, die den ohnehin nicht großen Raum schmaler, bedrängender wirken ließen. Vor dem Fenster stand ein kleiner Tisch mit zwei Klappstühlen. Auf der Anrichte neben der Spüle wartete eine zugedeckte Schüssel. "Abendessen." Erklärte Gunnar ungewohnt einsilbig, musterte Arminius, der verlegen von einem nackten Fuß auf den anderen stapfte. "Komm." Murmelte er, nahm Arminius bei der Hand, zog ihn hinter sich her auf eine weitere Tür zu, die aus unerfindlichen Gründen in einer Melange aus grün und gelb gestrichen worden war. Gunnars Zimmer war winzig, zumindest kleiner, als Arminius erwartet hatte. Seltsamerweise, das hielt er sich vor, hatte er vermutet, dass Gunnar so wie in den Katalogwelten eines bekannten schwedischen Möbelherstellers wohnte, also in hellen Räumen mit einem skandinavischen Chic. Nichts hatte ihn darauf vorbereitet, dass Gunnars Zimmer eher dem Deck eines Piratenschiffs ähnelte. Bis unter die Zimmerdecke türmte sich in einer Ecke ein Hochbett, unter dem ein Schrank thronte, der nur aus Klappfächern und Schubladen zu bestehen schien. Vor dem Fenster stand ein schmaler, einfacher Tisch mit einem Hocker, wohl der Platz für die Hausaufgaben. Gegenüber der Hochbett-Schrankfront hing ein schwerer Vorhang, wie bei einer Theaterbühne, dunkler Samt. Unwillkürlich fasste Arminius mit der freien Hand zu, zupfte neugierig an dem massiven Stoff. Die Wand dahinter war grob verputzt und absolut unansehnlich. "Meine Güte!" Rutschte ihm fassungslos heraus, bevor er einen bangen Blick in die wasserklaren Augen warf, vor Scham errötete. Gunnar lächelte. "Ich weiß." Plauderte er leichthin, zog Arminius zum Fenster. "Scheußlich. Aber die Renovierung der maroden Substanz ist zu teuer für unser Budget." Arminius spürte, wie seine Wangen richtig Feuer fingen, sich klammer Schweiß auf seinen Handflächen bildete. Obwohl Gunnars Stimme gleichmütig klang, seine Worte keine Spitze zu tragen schienen, genierte er sich für sich selbst, konnte aber keine Entschuldigung hervorbringen. Das hätte es ja vielleicht NOCH SCHLIMMER machen können! "Da! Das ist Werbolds Taubenhaus." Gunnar tippte an die innere der doppelglasigen Fensterscheiben. Der besagte Verschlag, mit der Bezeichnung 'Voliere' eher noch geschmeichelt, stand in einem der Handtuchhintergärten der kleinen Reihenhäuser. "Nett." Murmelte Arminius verzweifelt, weil er gar nicht mehr wusste, wie er sich aus der Gefahrenzone bewegen sollte. Fettnäpfchen zogen ihn hier magisch an, das spürte er. Gunnar lachte leise, streichelte Arminius, der sich vorsichtig nach ihm umdrehte, mit der freien Hand über die Wange. "Ich bin nicht beleidigt. Keine Angst." Versicherte er sanft. Entschuldigend und verlegen zuckte Arminius mit den Schultern, bemühte sich um ein schiefes Grinsen. In den wasserklaren, hellen Augen funkelte etwas, das ihn verwirrte, auch daran erinnerte, dass er hier bloß in einen fremden Bademantel gehüllt stand. Gunnar beugte sich vor, raunte Arminius zu. "Na los, steig hinauf!" Der blinzelte. Sein Verstand verpasste seinem Hintern einen imaginären Tritt. »Genau, die Leiter!« Verdrehte seine innere Stimme die Augen. »Was bist du, ein Mondkalb?!« Um sich selbst zu beweisen, dass er nicht zu lunarem Rindvieh gehörte, kletterte Arminius artig die Leiter hinauf unter die Zimmerdecke. Wenn man aufrecht saß, schien es ganz bequem zu sein, dieses Plateau mit der imposanten Matratze, aber er wollte lieber nicht wissen, wie abenteuerlich es war, das Bett auch zu beziehen! Übermütig, zum Teil, um die Anspannung abzuschütteln, plumpste er betont schwer auf die Matratze, klopfte mit den nackten Fersen auf die Polsterung. "Ist das auch sicher montiert?" Hörte er sich misstrauisch angesichts der versteckten Wand fragen. "Ja, sehr sicher!" Gunnar ließ sich neben ihm auf die Matratze fallen, drehte sich dann auf die Seite, den Ellenbogen aufgestützt, den Kopf in die Handfläche gelegt. "Nun, was magst du wissen?" Erkundigte er sich schelmisch. Arminius zögerte, hasste die Röte in seinen Wangen. Hastig, um seine Verlegenheit zu überspielen, feuerte er irgendeine Frage heraus. "Wo ist deine Mutter denn jetzt gerade?" "Sie arbeitet. Sie hat Schichtdienst im Krankenhaus." Gunnar ließ die freie Hand über den gesäumten Rand des Bademantels gleiten. "Oh." Murmelte Arminius. Das erklärte, neben dem beklemmend engen Zustand der Wohnung, warum Gunnar selten zu Hause war. "Hat sie~hat sie in Schweden auch im Krankenhaus gearbeitet?" Hasardierte er hastig, hoffte, dass Gunnar nicht bemerkte, dass der flauschige Stoff des Bademantels keineswegs ausreichte, seine Liebkosungen abzudämpfen. "Ja." Gunnar studierte ihn, noch immer mit diesem rätselhaft intensiven Blick, seines gewohnt jovialen Lächelns verlustig. "Mein Vater ist nicht mitgekommen. Er ist Vermessungsingenieur." Ergänzte er leichthin. Für Arminius übersetzte sich das so, als wäre der Aufenthalt hier bloß ein Zwischenspiel, bevor es zurück nach Schweden ging, was ihn unerwartet erschreckte. "Dann gehst du wieder zurück?" Rutschte ihm heraus, bevor er sich fassen konnte. Gunnar runzelte mit leichter Verzögerung die Stirn. "Zurück? Ach, du meinst, nach Schweden?" Ein dünnes Lächeln irrlichterte um seine Mundwinkel. "Nein, das ist nicht vorgesehen." Er zwinkerte, gewohnt spitzbübisch. "Würdest du mich denn vermissen?" "Keine Spur!" Schnaubte Arminius wie aus der Pistole geschossen, kehrte Gunnar betont den Rücken zu, drehte sich auf die Seite. Einen Moment später schmiegte sich Gunnar an ihn, legte ihm den linken Arm um die Taille, zunächst noch ruhig. "Weißt du, wahrscheinlich werden sich meine Eltern scheiden lassen." Raunte er in Arminius' Nacken, der verzweifelt seinem Pulsschlag unmögliche Versprechungen machte, damit der sich SOFORT wieder kontrollierte. "...oh..." Murmelte Arminius betreten, bedauerte, dass diese mutmaßlich traurige Aussicht auf ihn leider nicht die Wirkung einer kalten Dusche ausübte. Daran konnte allerdings auch Gunnars Linke beteiligt sein, die sich unter den Stoff des Bademantels geschoben hatte, nun über seinen Brustkorb wanderte. "Was tust du da?!" Quietschte er entsprechend verlegen. "Prüfen, ob du dich ordentlich abgetrocknet hast." Schnurrte Gunnar amüsiert an seinem Nacken. "Das ist wirklich nicht nötig, ich..." Weiter kam Arminius nicht, denn die Linke hatte sich über seinen Bauch so rasch tiefer gearbeitet, dass ihm ein lautes Stöhnen entfuhr. Hochnotpeinlich berührt schoss er in die Höhe, beide Hände reflexartig auf den Mund gepresst. Lässig setzte sich Gunnar neben ihm auf, streifte sich einfach seinen Pullover und das zerknitterte T-Shirt über den Kopf, wobei er seine sandfarbene Mähne vollends verwirrte. Er öffnete seine Hose, schlängelte sich hinaus, rollte auch die Socken ab und beförderte sämtliche Kleidungsstücke über die Reling in die Tiefe. Sanft legte er eine Hand auf Arminius' Wange, der nicht wagte, sich zu ihm zu drehen. "Jetzt ist es doch fair, oder?" Raunte er vertraulich. "Ich habe nicht mal nur die Socke zurückbehalten." »Statt der Unterhose.« Ergänzte Arminius' Verstand automatisch die subtile Andeutung. Schließlich wandte Arminius den Kopf, blickte in die wasserklaren Augen. Gunnar wirkte so ernst, gleichzeitig merkwürdig schutzbedürftig. »Lächerlich!« Schnaubte seine innere Stimme. »Der ist größer und stärker als du! Muss nicht halbnackt in einer fremden Wohnung ausharren, bis die Wäsche trocken ist!« Arminius hob schüchtern eine Hand, verdrängte besonders wollige Strähnen aus Gunnars Gesicht. »Ich glaube, dass er mich wirklich mag.« Stellte er fest. Das rührte ihn so sehr, dass er es tollkühn wagte, Gunnar zuerst zu küssen. :-P Wie es dazu kam, das konnte Arminius sich nicht erklären. Aber irgendwann während ihren Küssen, den Wanderschaften ihrer Hände, war nicht nur Gunnars letztes Feigenblatt wundersamerweise verloren gegangen, sondern der Bademantel offen auf seine Ellenbogen gerutscht. Vielleicht, weil Gunnar ja frieren musste, so ganz nackt! Andererseits verdrängte das unbekannte, übermächtige Fieber, das Arminius befallen hatte, allzu tiefschürfende Erwägungen. Die Arme um Gunnars Nacken geschlungen, die Hände in dessen zotteliger Mähne gefangen hockte er halb auf dessen Oberschenkel, die Knie in die Matratze gebohrt. Er konnte nicht aufhören, Gunnar zu küssen! Wie eine Sucht musste er einfach weitermachen, selbst wenn ihm schwindelig war, er keuchend nach Luft japste! Gunnars Hände hielten sich dagegen nicht in seinen Haaren auf. Unter dem Stoff wanderten sie umher, massierten so kraftvoll seine Pobacken, dass er sich selbst versehentlich auf die Zunge biss, kraulten ihn im Nacken, bevor sie über seine Oberschenkel streiften. Jede Spur löste prickelnde Sensationen aus, explodierte in seiner Magengrube. Dabei waren Gunnars Hände so herrlich warm, so geschmeidig! Arminius blinzelte Tränen aus den Augen, die sich eingeschlichen hatten, seufzte immer wieder vor Genuss. Er protestierte auch nicht, als Gunnar ihn mit seinen Händen unter den Oberschenkeln auf die Knie dirigierte, um ihm über das Brustbein zu lecken, an seinem Schlüsselbein zu lutschen. Das war jedoch noch gar nichts gegen seine nächste Aktion! Hatte Arminius Brustwarzen bisher bei Männern lediglich als evolutionäres Überbleibsel ohne Zweck kategorisiert, durchfuhr ihn ein gleißender Blitz bis in die Zehenspitzen, als sich Gunnar an seiner linken Brust gütlich tat. Hörte der eigentlich das Trommeln nicht?! In Arminius' Ohren rauschte es wie bei den Niagarafällen, aber er konnte nicht aufhören, sich nicht von Gunnar lösen. Stattdessen stützte er sich auf die breiten Schultern, keuchte in die wirre Mähne, hoffte, dass ihn kein Unglück ereilte. Das sich etwas unterhalb bemerkbar machte. Unversehens fasste Gunnar ihn um die Hüften, wirbelte ihn wie beim Kampfsport auf den Rücken, kauerte sich schon wieder über ihn, während Arminius noch vor Überraschung keuchte. Das war viel zu gut, was Gunnar da tat! Schlimmer noch! So, wie der sich zwischen seine Beine drängte, konnte Arminius sie nicht einmal zusammenkneifen, um zu verhindern, dass das geschmähte Objekt der Sensationsgier den Beweis antrat, dass es keineswegs Mangel-behaftet war. Er wusste sich nicht anders zu helfen, als beide Hände auf seinen Mund zu pressen, die Zehen einzurollen, die Fersen in die Matratze zu bohren und die Augen zuzukneifen, während ihm Tränen über die Augenwinkel hinunterrollten. Plötzlich löste sich Gunnars Körperwärme von seiner Brust, spürte er dessen Zungenspitze, die die salzige Spur tilgte, was ihm eine kleine Verschnaufpause verschaffte. Nicht genug natürlich, um zu verbergen, dass er sehr erregt war. Gunnar stahl ihm die Hände glatt vom Mund weg, fädelte seine Finger zwischen Arminius', um sich mit müheloser Kraft und Muskelspiel herunterzulassen, ihn erneut leidenschaftlich zu küssen. Arminius wand sich verzweifelt, er wollte auf gar keinen Fall jetzt die Beherrschung verlieren! Doch zu spät. Kaum senkte sich Gunnars Becken wieder zwischen seine aufgestellten Oberschenkel, touchierte dessen gestählter Bauch Arminius' momentan empfindlichsten Körperteil, entlud sich die aufgestaute Erregung mit einer Detonation. Glühend heiß spritzte sein Erguss auf Gunnars Bauchdecke, traf ihn aber auch selbst. Arminius stieß einen gequälten Ton der Scham aus, kämpfte gegen Tränen der Demütigung an. Womit er nicht einmal in verwegensten Träumen gerechnet hätte, lenkte ihn allerdings ab: Gunnar stieß wie ein Adler herab, küsste ihn derart gierig, dass er sich die Zunge an einem spitzen Backenzahn aufriss. Während seine Rechte aus Arminius' Hand entwischte, über dessen Erguss auf dem eigenen Bauch fuhr, die eigene Erektion umschloss. Die Kniescheiben in die Matratze gepresst bog sich unwillkürlich sein Rückgrat durch, als er selbst, wackelig auf eine Hand gestützt, die beinahe Arminius' zerquetschte, etwas zielgerichteter zum Erguss kam. Seinerseits für eine glühende, feuchte Spur bis zu Arminius' Hals sorgte. Er ließ sich selig seufzend einfach auf Arminius sinken, der zum zweiten Mal innerhalb von Augenblicken Sternchen sah. :-P Glücklicherweise hatte Gunnar, selbst in postkoitaler Erfüllung, ein Einsehen für die Bedürfnisse seines Freundes, der unerwartet in das Novizenstadium übergetreten war. Er rollte sich auf den Rücken, seufzte noch einmal profund. Er tastete nach Arminius' Hand, hielt sie fest, streichelte mit dem Daumen beharrlich über dessen Handrücken. Arminius schniefte verhalten, wischte sich wütend mit dem Handballen über die Augenwinkel. Aber er war zu erschöpft, von bis dato unbekannten Emotionen überwältigt, um sich lange selbst zu zürnen. Warmer Atem auf seiner Wange verriet ihm, dass Gunnar den Kopf gewandt hatte, ihn ansah. "Ich mag dich sehr, Ernie." Raunte er sehr leise, ein wenig heiser. "Das habe ich gemerkt." Murmelte Arminius verlegen, überwand seinen lästigen Stolz, drehte ebenfalls den Kopf. Na gut, sah er eben idiotisch aus mit Karnickelaugen und rotem Kopf! JETZT war es sowieso zu spät, um bei Gunnar sein Image aufzupolieren. Gunnar grinste, rollte sich auf die Seite, recht schwankend, da er Arminius' Hand nicht loslassen wollte, tippte ihm mit der freien Hand auf die Nasenspitze. "Du hast mich aber auch ziemlich gern." Behauptete er. Er musste nicht mal südlich schielen, um die subtile Botschaft zu unterstreichen. Arminius legte den Unterarm über die Augen. "Das vorhin tut mir leid." »Piepsig klinge ich auch noch!« Seufzte sein Stolz, der sich für einen frühzeitigen Winterschlaf entschied. Unerwartet schmiegte sich Gunnar an ihn, drehte ihn damit wieder auf den Rücken, kuschelte, augenscheinlich unempfänglich für die Spuren auf ihren Fronten. "Weißt du, was mir an dir besonders gefällt?" Brummte er sonor und zufrieden von Arminius' Brustkorb nach oben. Der kraulte vorsichtig durch die wüste Mähne und murmelte. "Mein Ruf als gefährlicher Exhibitionist?" Gunnar lachte. Die Vibrationen liefen auch durch Arminius' Körper, konnten nicht weniger köstlich sein als das Schnurren einer Katze. "Ja, das hat auch was." Schmunzelte der Quasi-Schwede amüsiert. Er hob den Kopf an, um einen Kuss auf Arminius' Brustwarze zu drücken. "Ich mag deine Augen." Verkündete er. "Die sind so warmherzig. Das hat mir sofort gefallen, als ich dich gesehen habe." "Oh!" Entfuhr es Arminius entgeistert. Dass er warmherzig sein sollte, hatte ihm bisher noch niemand unterstellt. "Ich mag deine Haare." Bequemte er sich zu einem Zugeständnis. Zum Beweis zupfte er an den verzauselten Strähnen. "Die sind definitiv einmalig. So richtig Wikinger-typisch!" Neckte er Gunnar. Der verpasste ihm, trotz des energischen Ziepens an besagter Kopfzier, einen deutlichen Knutschfleck unterhalb des Schlüsselbeins. "Bin kein Wikinger. Und auch kein Schwede!" Stellte er richtig. "Wer weiß? Angesichts der Völkerwanderung könnten wir alle Wikinger sein." Arminius rächte sich mit einem geflochtenen Zopf. "Ich darf bloß nicht kahl werden! Sonst habe ich keine Chance mehr bei dir." Gunnar rieb die Wange über Arminius' Brustbein. "Vielleicht finde ich ja noch irgendwas anderes, was ich an dir mag." Entgegnete der gedehnt, verschränkte die Arme unter dem Hinterkopf. Wieder lachte Gunnar, so befreit, dass Arminius der Unterschied zu dessen gewohnt liebenswürdigem Umgangston deutlich wurde. Dieses Lachen hier kam jedenfalls aus großen Tiefen, sprudelte vor Vergnügen über, war beschwingt von Lebenslust. Nicht die gebremste Variante, die er in Gesellschaft zu hören bekam. "Mir haben auch deine Hände gefallen." Vertraute ihm Gunnar an. "Komisch, darauf schaue ich immer, wenn ich jemanden sehe." Arminius befreite seine Hände unter seinem Kopf, hob sie vor die Augen, studierte sie argwöhnisch. Sie waren nicht feingliedrig oder elegant, ja, überhaupt nicht bemerkenswert, fand er selbst. Gunnar setzte sich auf, kniete sich neben ihn. "Die gefallen mir wirklich gut." Raunte er Arminius zu, der prompt rot anlief, zu seiner Verteidigung schnaubte. "Na toll, und meine inneren Werte fallen wohl gar nicht ins Gewicht, oder wie?" Dafür wurde er hingebungsvoll geküsst, bis sich seine Arme auf unerklärliche Weise um Gunnars Nacken gelegt hatten, seine Hände dessen Hinterkopf streichelten, er mehr als willig war, ihn wieder auf sich zu ziehen. Zum Henker mit dem Gewicht! "Weißt du was?" Gunnar beugte sich ein wenig tiefer, flüsterte schelmisch in Arminius' Ohr, nachdem er dessen Hals ausgiebig abgeleckt hatte. "Gerade ist mir noch etwas aufgefallen, was ich an dir mag: du lächelst, wenn du kommst." ".....!!!!" :-P Kapitel 5 - Volle Kraft voraus! Obwohl Arminius diese letzte Enthüllung so peinlich war, dass er tatsächlich mit seinem Gastgeber zu raufen begann, eine recht einseitige Angelegenheit, da Gunnar schnell herausfand, wie kitzlig er war, kuschelte er doch bereitwillig mit ihm, als Gunnar sich ergab. Dafür wurde es im Zimmer sehr schnell dunkel. Um den Peinlichkeiten die Krone aufzusetzen, knurrte auch noch Arminius' Magen vernehmlich. Sein Besitzer stöhnte gedemütigt und jammerte laut. "Ich kann wirklich NIRGENDWO mit mir hingehen!" Gunnar lachte wieder, setzte sich dann auf, kramte an der Reling herum, bis er ein Paket Papiertaschentücher aufgestöbert hatte. Ohne falsche Scham spuckte er Arminius einfach auf den Bauch, begann ihn von den Spuren ihrer gegenseitigen Zuneigung zu befreien. Arminius selbst zögerte, blickte auf Gunnar herunter, der sich lässig ausgestreckt hatte, ihn im Schein einer kleinen Klemmleuchte erwartungsvoll anzwinkerte. "Wahrscheinlich sabbere ich bloß. Die Lamas waren in meiner Ahnenreihe nicht reichlich vertreten." Murmelte Arminius. "Kein Wunder, dass sie dich aus der Fußballmannschaft geschmissen haben!" Gunnar forderte ihn frech heraus. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Arminius sicher wie eine Muschel dicht gemacht, sich in eisige Höflichkeit geflüchtet. Jetzt lächelte er bloß ein wenig geknickt. Gunnar setzte sich auf, streichelte ihm über die Wange, plötzlich ernst und auch zerknirscht. "Hör mal, das war gemein von mir. Entschuldige bitte." "Ach was! Vielleicht ist es Zeit, endlich mal was anderes zu machen." Winkte Arminius ab, spuckte nach bestem Vermögen in ein Taschentuch. Er hob den Kopf an, überließ seinen Händen die Reinigung von Gunnars Leib, den er wieder auf die Matratze gedrückt hatte. "Ich meine, ich habe nicht mal Fußballspiele im Fernsehen angeschaut! Eigentlich interessiert mich das nämlich nicht sonderlich." Obwohl er schwieg, konnte Arminius in Gunnars Miene lesen, dass der nicht gänzlich überzeugt war, sich Vergebung verdient zu haben. "Es ist in Ordnung." Formulierte er also, beugte sich herunter und küsste ihn lange. "Es macht mir nichts aus, dass ich weder spucken noch gut Fußball spielen kann." Er wich zurück, damit Gunnar sich wieder aufsetzen konnte, bemühte sich, den Bademantel irgendwie züchtig zu arrangieren. "Lass uns duschen gehen!" Gunnar wandte sich der Leiter zu, kletterte behände hinab. Arminius folgte ihm, kaum überrascht, dass Gunnar unten wartete, um ihn auch sicher in Empfang zu nehmen. Diese galante Fürsorge gefiel ihm wirklich sehr. "Ich kann überhaupt nicht zeichnen." Sagte Gunnar plötzlich, drehte sich in der Tür um. "Total unfähig. Die Schande des gesamten Kindergartens." Obwohl Arminius sich kräftig kniff, konnte er das Prusten nicht zurückhalten, musste sich sogar an Gunnars Schulter aufstützen, weil ihm der Bauch vor Lachen wehtat. Gunnars Mienenspiel war wirklich eine gefährliche Geheimwaffe! :-P Im Badezimmer zögerte Arminius, während Gunnar Handtücher hervorholte, sich kurz entschuldigte, um nach der Waschmaschine zu sehen. Er kehrte mit einem Arm voll Bekleidung zurück, die er auf jeder freien Fläche drapierte. "Deine Sachen sind noch nicht trocken. Aber ich glaube, das müsste dir passen." Erklärte er das Unübersehbare. "Danke." Murmelte Arminius, der ein wenig eingeschüchtert von Gunnars ungezwungenem Auftreten im Adamskostüm war. "Puh! Langsam wird mir doch kalt!" Gunnar drängte ihn in die Kabine, nachdem er den Stuhl expediert hatte. Er drehte die Brause auf, schob Arminius zuerst gastfreundlich unter den warmen Strahl, bevor sie die Plätze tauschten, versorgte sich mit Duschgel. "Dreh dich um, ich wasche dir den Rücken!" Kommandierte er fröhlich. Mit Herzklopfen kam Arminius der Aufforderung nach. »Wie kann das sein?!« Verwünschte er beschämt seinen jugendlichen Enthusiasmus, der aus unerfindlichen Gründen Anstalten zeigte, erneut einen Salut abzuschießen. Gunnar schien das gar nicht zu bemerken, massierte ihm gründlich den Rücken, die Kehrseite, sogar die Beine bis zu den Waden. Bevor Arminius sich umdrehen und die Gefälligkeit erwidern konnte, zog er ihn an sich, fädelte die Arme unter Arminius' Achseln hindurch, rieb synchron dessen Front ein. Arminius biss sich zwar auf die Lippen, doch das Stöhnen konnte er nicht unterdrücken. "Bitte! Nur ein bisschen!" Hörte er Gunnar an seinem Ohr raunen. Wer hätte widerstehen können? Die zittrigen Arme gegen die Fliesen gestützt ließ sich Arminius also in dieser engen Umarmung einseifen, keuchte wie eine Dampflok in den Duschdunst. Er war sich sehr bewusst, was genau da über seine Kehrseite rieb, sich zwischen die Pofalte drängte. Andererseits war das nur fair, denn Gunnars Rechte löste eine unendliche Abfolge von Explosionen vor seinen Augen und in seinem Magen aus, während die Linke sein Kinn hielt, ihre Küsse unterstützte. Auch dieses Mal war Arminius zuerst am Ende seiner Beherrschung, taumelte nach vorne, fing sich gerade noch mit den Ellen ab, bevor er mit der Nase hart auf die Fliesen aufgesetzt hätte. Er registrierte kaum, dass die heftigen Kontraktionen auch seine durchaus knackig geformte Kehrseite einbezogen, die ihrerseits genau mit Gunnars Erwartungen konspirierte. Der drehte Arminius hechelnd herum, umarmte ihn, lehnte sich mit ihm so lange an der Wand an, bis sie beide wieder einigermaßen zu Atem gekommen waren. "Ich würde nie etwas tun, das du nicht willst!" Stieß Gunnar an Arminius' Ohr hervor, der viel zu benommen war, um sich in einer Gefahr zu wähnen. "Pudding. Meine Knie...wie Pudding...Wackel~Wackelpudding!" Brabbelte er stattdessen, kicherte überdreht. Gunnar lachte, ebenfalls ein wenig hysterisch, hielt Arminius fest in seinen Armen, während die Dusche sie sauber spülte. :-P In Gunnars Kleider gehüllt, die gar nicht so schlecht passten, schickte sich Arminius in das Unvermeidliche: die Heimkehr. Da der gewohnte Transport ohnehin nicht gerade zur Konversation einlud, konnte er seine durcheinanderwirbelnden Gedanken auch nicht mit Gunnar teilen, der kräftig in die Pedalen stieg. Langsam setzte sich in Arminius' Kopf die Erkenntnis fest, dass er eine Grenze, die er unbewusst selbst gezogen hatte, überschritt. Für Sex hatte er sich noch NIE interessiert, jedenfalls nicht so wie die anderen. Oder zumindest wie sie es vorgaben. Manche Mädchen mochte er, aber bisher hatte ihn noch nie das Verlangen überwältigt, eins zu küssen. Geschweige denn einen anderen Jungen! Nun, angeschmiegt an Gunnars breiten Rücken, konnte er sich wie James Bond fühlen: sag NIEMALS nie! Im Augenblick registrierte er in sich die Bereitschaft, noch mehr zu wagen, wenn Gunnar bei ihm war. Dass man so schnell felsenfeste Grundsätze über den Haufen werfen konnte, bot durchaus einen gewissen Schrecken. »Der mir egal ist!« Arminius rieb die Wange über dem Stoff der Regenjacke, nur minimal von Gunnar getrennt. »Ich bin wenigstens nicht feige!« Stellte er sich, ein klein wenig stolz, ein Zeugnis aus. Er war über seinen Schatten, die unsichtbare Grenze gesprungen. Das wog die schlechte Meinung auf, die er in der letzten Zeit von seinem eigenen Mut gehabt hatte. Seufzend bemerkte er die vertraute Silhouette des Einfamilienhauses. Er wollte nicht absteigen, sich wieder dem unsäglichen Kleinkrieg widmen müssen! Lieber umdrehen, zurück in die vollgestopfte Altbauwohnung, nur sie beide, von der Welt abgeschieden! "Können wir uns morgen treffen?" Sprudelte er heraus, kaum dass Gunnar seine Rosinante aufgebockt hatte. "Wäscheaustausch und so!" Schob er eilig hinterher, um nicht wie ein liebeskranker Idiot zu klingen. Gunnar schmunzelte, wirkte aber zögerlich. "Ich weiß nicht, ob das klappt. Meine Mutter hat morgen frei, weißt du, und, na ja..." Hilflos zuckte er mit den Achseln. "Oh, das verstehe ich natürlich!" Befleißigte sich Arminius einer Beschwichtigungsfloskel, auch wenn er enttäuscht war. SO schnell wollte er den Alltag nicht zurückbekommen! "Verdammt! Jetzt könnte ich so ein dämliches Handy wie das vom Schwonster brauchen!" Murmelte er, die Hände in die Hosentaschen vergraben. Im Licht der Straßenlaterne lupfte Gunnar fragend eine Augenbraue. "Meine Schwester, das Monster." Übersetzte Arminius die Verkürzung, zwang sich zu einer unbekümmerten Miene. "Dann sehen wir uns am Montag, ja?" "Ganz bestimmt!" Versprach Gunnar feierlich, küsste Arminius auf die Stirn. "Danke, Ernie." Arminius lief rot an, murmelte Unverständliches. Er wich nicht von der Pforte, bis Gunnar am anderen Ende der Straße abbog, außerhalb seines Sichtfeldes verschwand. Arminius drehte um, blickte an der vertrauten Front hoch, atmete tief durch. Nun musste er wohl ins Gefecht! :-P Hausarrest lautete das Verdikt, aber Arminius störte das nicht sonderlich. Es regnete in Strömen, der Weltuntergang schien bevorzustehen. Man achtete bloß noch darauf, ob die Tiere schon paarweise liefen. Was hätte ihn auch nach draußen locken sollen außer einem Stelldichein mit Gunnar? Da sich das aber nicht anbot, lag er auf seinem Bett, studierte geistesabwesend die Zimmerdecke. Vorm Familiengericht hatte es sich weder gut ausgenommen, dass er zu spät nach Hause gekommen war, noch die fehlende Nachricht, wo er sich herumgetrieben hatte. Dazu natürlich Klops' Botschaft an alle Eltern, als Warnschuss vor den Bug. Die Prügelei war auch nicht wohlwollend aufgenommen worden, obwohl er eine gewisse Milde registriert hatte aufgrund der vollkommen ertränkten Kleider. Leider ging seiner späten Heimkehr ein Telefonat mit dem Fußballverein voraus, das nicht dazu geeignet gewesen war, seine Mutter in Hochstimmung zu versetzen. Sie hatte sich gezwungen gesehen, mit der Presse zu drohen, was offenkundig seinem Vater gar nicht gefallen hatte. Schließlich wollten sie hier ja nicht wegziehen müssen, weil man sie überall schnitt! Zu allem Überfluss hatte das Schwonster noch weinerlich beklagt, wie mies es ihr ergehe, weil niemand sich um sie sorge, obwohl sie doch das 'totale Opfer' der Affäre sei. Arminius, ein wenig erschöpft von den Ereignissen, hatte nicht die gewünschte Reue mit Zerknirschung demonstriert, sondern war einfach müde und gleichgültig gewesen. Der blöde Zank rangierte auf seiner Prioritätenliste momentan ganz weit hinten. Die wichtigste, höchste, einzige Position nahm Gunnar ein. Außerdem die tausend Fragen, Unsicherheiten, gegensätzlichen Vermutungen, die es ausgelöst hatte, ihm sehr intim näher gekommen zu sein. Die meisten offenen Fragen konnte Arminius sich nicht beantworten. Alles, was Gunnar betraf, schien plötzlich fragil und unwirklich. Wie ein herrlicher Traum, der unter dem harten Licht der Realität verblasste, bis er zu einer fadenscheinigen Erinnerung wurde. Arminius hätte gern Trost und Rat in seinen Büchern gesucht, doch zum ersten Mal wurde ihm schmerzlich bewusst, dass seine Helden ihm nicht helfen konnten. Sie blieben stets allein. Von sich hatte er immer dasselbe angenommen. :-P Nachdem er das Wochenende mangels Alternativen zum ausgiebigen Schlafen genutzt hatte, sah Arminius der neuen Woche zwar hellwach, aber mit ausgesprochen gemischten Gefühlen entgegen. Seine Mutter, Rächerin der Enterbten, Witwen, Waisen, Straßenverkehr kreuzenden Kröten und mutmaßlich exhibitionistisch veranlagten Quasi-Schwulen, hatte eine Aussprache erreicht, an der sich ein Funktionär des Vereins und der Trainer beteiligen sollten. Sie war zeitgleich mit dem Montagstraining angesetzt, im Vereinshaus, sodass die Hoffnung auf ein nachmittägliches Treffen mit Gunnar zerstob. Aber wenigstens in den Pausen wollte er Gunnar sehen! Streng kontrollierte Arminius sich auf irgendwelches diffuses Gehabe, das nach 'bescheuert verliebt' aussah, bemühte sich, wie der 'alte Kumpel' aufzutreten. Zu einer Feuerprobe seiner gestählten Selbstbeherrschung kam es jedoch nicht, weil Gunnar gar keine Chance hatte, sich vertraulich mit ihm zu unterhalten. Unversehens wurde er entouriert, weggezogen, damit er ja nicht in die Gefahr geriet, Arminius zu nahe zu kommen. "Seine Mutter verklagt nämlich alle, die ihn auch nur von der Seite angucken!" Diese Botschaft verbreiteten vor allem die Mitglieder seiner Fußballmannschaft und die Sportskanonen, die am Freitag von ihren Eltern einige peinliche Fragen gestellt bekommen hatten. Blass, aber fest entschlossen, sich nicht den Schneid abkaufen zu lassen, ignorierte Arminius die Tatsache, dass man ihn überall schnitt, niemand mit ihm sprach. Oder ihm die Kopien weiterreichte, zuhörte, wenn er im Unterricht etwas sagte. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt, Arminius nach Schulschluss mit den Nerven zu Fuß. Jetzt noch eine Diskussion über verschüttete Milch im Verein führen? Zu welchem Zweck denn?! Aber auskneifen konnte er nicht, da seine Mutter ihn für alle unübersehbar am Schultor abholte. »Vielleicht habe ich ja Glück! Und die Erde tut sich unerwartet auf.« Dachte er zynisch. Beim alten Luzifer wäre es sicherlich erträglicher als in der Schulhölle. :-P Die Diskussion im Vereinshaus endete mit einem Unentschieden. Für die Heimmannschaft erreichten die beiden Vertreter des Vereins, dass sie den Unruheherd Arminius los waren. Für die Gäste setzte Arminius' Mutter eine Entschuldigung und die Rückzahlung des geleisteten Beitrags durch. Während sie beim Abendessen minutiös ihren Erfolg schilderte und Arminius ermahnte, sich schleunigst etwas anderes zur körperlichen Ertüchtigung zu suchen, damit er nicht zu einem fetten, unbeweglichen Stubenhocker verkomme, arbeitete es offenkundig im Schwonster. Schließlich konnte das Zappeln, Tellerdrehen und Haarezwirbeln nicht länger die innere Erregung kanalisieren. "He, womit erpresst du Gun, hä?" Arminius übersetzte die Worte, identifizierte die Botschaft, konnte sie trotzdem nicht begreifen. "Wieso sollte ich ihn erpressen?" Erkundigte er sich misstrauisch. "Na, weil der noch mit dir rumhängt! Das ist doch nich normal! Versteh überhaupt nich, wieso der dich mag!" Das Schwonster hatte sichtlich an diesem Phänomen zu knabbern. "Hat er das gesagt? Dass er mich mag?" Arminius gönnte sich ein wenig Eitelkeit. "Pah, dazu kannste ihn ja nur gezwungen haben! Echt Kacke, so was!" Verkündete sie mit vernichtendem Blick unter zentnerschwer getuschten Wimpern, um sich erneut an die Nabelschnur ihres Mobiltelefons anzudocken. Arminius dagegen lächelte stillvergnügt vor sich hin, verabschiedete sich in sein Zimmer. Wenigstens auf Gunnar konnte er bauen. :-P An Gunnar heranzukommen stellte sich als wirklich schwierig heraus. Am nächsten Tag wollte Arminius mit ihm wie gewohnt in der Stadtbücherei lernen, doch ihm kam ein Projekt dazwischen. Nicht etwa ein eigenes, nein, Gunnar hatte mit einem Klassenkameraden einen Vortrag zu halten. Die Zusammenfassung, verschiedene Folien und grafische Darstellungen sollten mit dem Computer erstellt werden. Aber Gunnar hatte keinen Computer, war deshalb gezwungen, sich mit seinem Partner zu treffen, um bei ihm zu Hause die Arbeit abzuschließen. Mit schiefem Grinsen zwang sich Arminius zum Optimismus, hielt sich an Gunnars Hand aufrecht, die ihm vertraulich über den Kopf gestrichen hatte. Dieser zerbrechliche Hoffnungsstrang faserte allerdings rapide aus, als auch am nächsten Tag ein Treffen torpediert wurde. Gunnar musste unbedingt zu einer Geburtstagsfeier gehen, weshalb man ihn gar nicht aus den Augen ließ, damit er auch nicht ausrücken konnte. Arminius biss die Zähne zusammen, vertiefte sich zwangsweise in seine Hausaufgaben. Trotzdem war er wütend. Wieso akzeptierte Gunnar so leichthin, dass sie sich nicht treffen konnten?! War es ihm egal? Hatte er schon bekommen, was er wollte? Oder wurde es ihm zu viel, sich mit jemandem abzugeben, den alle anderen ausgrenzten? Diese Mischung aus Enttäuschung und wachsendem Misstrauen brodelte in ihm, zog seine Mundwinkel herab, vergällte ihm jeden Augenblick. »Wir können das Spiel beide betreiben!« Entschloss er sich rachsüchtig. Deshalb packte er Gunnars Kleidung, frisch gewaschen und gebügelt, in eine große Stofftasche, wartete, ungerührt von den feindseligen Blicken, am Donnerstagmorgen am Fahrradständer auf dessen Eintreffen. "Hej, Ernie! Guten Morgen!" Gunnars fröhliche Begrüßung bedrohte sein Vorhaben gefährlich, aber Arminius rief sich selbst zur Ordnung. Betont kühl überreichte er die Stofftasche mit einem förmlichen Dank, wandte sich abrupt ab. "Warte einen Augenblick! Sehen wir uns heute Nachmittag? Stadtbücherei?" Gunnar hantierte eilig an den Sicherheitsvorrichtungen. "Tut mir leid, ich habe etwas anderes vor." Wies ihn Arminius schroff ab, zeigte demonstrativ die kalte Schulter, marschierte rasch zum Schulgebäude. Er konnte sich darauf verlassen, dass die sensationshungrige Meute Gunnar schon aufhalten würde. Bestimmt konnte der sich vor Angeboten, mit ihm in die Stadtbücherei zu gehen, kaum retten! Verbittert über den schnellen Erfolg seines Plans knirschte Arminius mit den Zähnen, schmeckte Galle auf seiner Zunge. :-P Natürlich hatte Arminius für den Nachmittag keine dringenderen Termine als im Selbstmitleid suhlen, hoffnungslosen Rache-Phantasien für den erlittenen Verrat frönen und Socken zusammenrollen. Aber das ging niemanden etwas an! Mit der Unsichtbarkeit eines Paria machte er sich unbehelligt auf den Heimweg. Er war zu einem Objekt der Verachtung verkommen, das man nicht mal belästigte oder aufmischen wollte. »Auch egal!« Behauptete Arminius trotzig, sinnierte über die Chancen, seinen Schulabschluss irgendwo anders zu machen. Würden sich seine Eltern überzeugen lassen, dass ein Schulwechsel die einzige Alternative darstellte? Unversehens hörte er hinter sich Rascheln und Knacken. Es kam von einem halbwegs legalen Pfad, den er selbst manchmal als Abkürzung benutzte. Allerdings nicht, wenn es geregnet hatte. Heraus preschte, außer Atem, bis zu den Knien mit Schlamm bespritzt, im Gesicht gerötet, die sandfarbene Mähne mit Blättern verziert, Gunnar. Keuchend brachte er kein Wort heraus, stützte sich vorgebeugt auf die Oberschenkel, aber die wasserklaren Augen beschworen Arminius förmlich, ihn nicht einfach stehen zu lassen. "Was willst du?! Ich hab dir gesagt, dass ich keine Zeit hab, klaro?!" Reagierte er mit einem schrillen Ausruf. Gunnar richtete sich auf, hielt auf Arminius zu. Der bekam es mit der Angst zu tun, drehte sich auf dem Absatz herum, rannte los. Da Gunnar mit der Stofftasche beladen war, die er zusätzlich zu seiner Schultasche apportierte, konnte er Arminius nicht so leicht einholen. Der verwünschte das schwankende Gewicht seines Rucksacks, umklammerte die Tragegurte, beschleunigte. Wenn Gunnar ihn jetzt stellte, würde er unter Garantie weich werden! Nach dem gemeinen Spiel war das das Letzte, was er wollte! Glücklich erreichte er die Pforte, stürzte hindurch, schlug sie klappernd ins Schloss. Er lehnte sich mit aller Kraft dagegen. Auf der anderen Seite rüttelte Gunnar gegen die Verstrebung. "Bitte, Ernie, lass mich rein!" "Verschwinde! Hau ab zu deinen tollen Freunden!" Arminius warf all sein Gewicht in die Waagschale, stemmte die Fersen in die Platten des Gehwegs. Das Klappern der gequälten Pforte verstummte. Bevor Arminius misstrauisch über die Schulter blicken konnte, flog über seinen Kopf die Stofftasche durch die Luft, landete punktgenau in einer abfedernden Hecke. Er fegte herum, bemerkte, dass sich Gunnar hoch auf den stählernen Zaun stemmte, im Begriff war, das trennende Hindernis zu überwinden. "Verdammt!" Schnaubte er ohne Nachzudenken, stieß sich vom verlorenen Posten an der Pforte ab, rannte zur kleinen Treppe, die der Haustür vorstand. Gunnar erwischte ihn wie ein Stürmer bei den Hüften, riss ihn in einer kreiselnden Bewegung rücklings von der Stufe herunter und katapultierte sich mit ihm in den Liguster. Der knackte und knirschte gepeinigt, um mit aller Elastizität das fremde Knäuel wieder auszuspeien. Obwohl Arminius wie ein Fisch zappelte, konnte er sich nicht aus Gunnars erstickender Umarmung befreien. Die Arme an den Leib gepresst war er gefangen, atemlos vor Wut und Schreck über diese halsbrecherische Attacke. Gunnar hatte den Kopf eingerollt wie eine Schildkröte, ließ in seiner stählernen Umklammerung keinen Iota nach. Schließlich gab Arminius das fruchtlose Zappeln und Zetern auf. Er funkelte wütend, als Gunnar endlich den Kopf anhob, ihn ansah. "Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?!" Eine Antwort bekam er nicht, dafür konnte er seine Arme lösen, ohne auf Widerstand zu stoßen. Gunnar fädelte einfach unter seinen Achseln hindurch, schmiegte sich an, presste die Stirn in Arminius' Halsbeuge. Der war perplex, stand stocksteif da, wusste nicht weiter. Wenn Gunnar sich wortreich gerechtfertigt hätte oder ihm gar Vorwürfe gemacht, hätte er mit fliegenden Fahnen einen Streit vom Zaun brechen können! Aber so an ihm zu hängen, sich wie ein Ertrinkender festzuhalten... Arminius' Reflex gewann die Oberhand: er schlang die Arme um Gunnar, kraulte dessen Nacken, pflückte verirrtes Grünzeug aus der wilden Mähne. Was sollte er bloß von dieser Reaktion halten? Theatralisches Spiel oder verzweifelter Ernst? :-P "Ich will nicht mit dir streiten." Hörte er endlich an seiner Halsbeuge. Das klang nach Gunnar und auch wieder nicht. Zwar hatte der Quasi-Schwede kein Problem damit, furchtbar peinliche Wahrheiten auszusprechen, weshalb diese Worte von ihm stammen konnten, aber selten klang eine üblicherweise sonore, ruhige Stimme so dünn und kindlich. Arminius seufzte. Wenn das eine Finte war, dann war sie gut. Um nicht zu sagen: erfolgreich. "Ich will mich auch nicht streiten." Brummte er verlegen, streichelte in groben Schwüngen über Gunnars gekrümmten Rücken. "Komm. Gehen wir lieber rein, bevor die Nachbarschaft sich noch die Hälse verrenkt." Schob er ihn behutsam von sich. Gunnar musterte ihn zwar so besorgt, als schwele noch immer ein Streit zwischen ihnen, doch er leistete der Aufforderung Folge. Er fischte die Stofftasche aus dem Gebüsch, stieg hinter Arminius die kleine Treppe hinauf. Der lauschte erst mal, ob sich irgendwo seine Familienangehörigen verborgen hielten. Doch niemand war anwesend, was seine Schultern erleichtert auf Normalniveau sinken ließ. "Entschuldigung?" Machte sich hinter ihm Gunnar bemerkbar. Er stand noch immer auf der Fußmatte. "Ja, was... oh!" Stellte Arminius treffend fest. Die Tour de force durch die geheime Passage hatte ihren Tribut gefordert. SO konnte er Gunnar nicht hinein marschieren lassen. "In Ordnung! Bleib da stehen! Ich hole...Sekunde mal!" Arminius hob die Hand gebieterisch, flitzte los, um Putzlappen zu holen, auf die man sich stellen konnte, Lappen für die Schuhe, eine Kleiderbürste für den Rest und eine kleine Plastikwanne für die beschmutzten Hosen. "Wie praktisch, dass du deine Ersatzhosen gleich dabei hast." Spielte er auf den Inhalt der Stofftasche an. "Allerdings sollten wir aus dem Kleidertausch keine Gewohnheit werden lassen. Sonst gelte ich bald nicht nur als gefährlicher Exhibitionist mit schwulen Tendenzen, sondern auch noch als ungeübter Transvestit." Ergänzte er säuerlich. Gunnar schmunzelte stumm, befreite sich von seinen Schlamm-getränkten Schuhen, den nassen Socken und den beschmutzten Hosen. Barfuß durfte er das Haus betreten, von Arminius angesichts der Feuchtigkeit auf den Beinen ins Bad gedrängt, damit er sich waschen und abtrocknen konnte, bevor er seine Ersatzwäsche überstreifte. Unterdessen reinigte Arminius wieselflink die Schuhe, stopfte sie mit Zeitungspapier aus, stellte sie in den Heizungskeller. Anschließend vertraute er der Waschmaschine in Blitzgang die Hosen und Socken an. Ein wenig verlegen wartete Gunnar im Flur auf ihn. "Herrje, du stehst herum wie ein Storch im Salat! Sei nicht so förmlich, sonst werde ich nervös. So, setz dich!" Knurrte Arminius betont grob, zerrte Gunnar am Ärmel in die Küche. Artig nahm Gunnar Platz und beobachtete, wie Arminius aufgedreht wie ein Derwisch durch die Küche wirbelte. Ihn trieb eine Gewissheit um, die sich durch zahllose größere und kleinere Kalamitäten als Tatsache erwiesen hatte: in seelischer Not bedurfte es Leibspeisen, die die Scherben kitteten. Zu seinen persönlichen Favoriten gehörte sein privater Zaubertrank, der aus einem abenteuerlichen Mix verschiedener Instant-Pulver bestand. Der wurden durchgeschüttelt, in Milch ertränkt, schwindelig gerührt und in der Mikrowelle gegrillt. Dazu servierte er trockene Haferkekse, die man nach Lust und Laune mit Apfelmus bestreichen konnte. Gunnar probierte tapfer diese merkwürdige Variante von 'soul food', Speis und Trank, die Leib und Seele zusammenhalten sollten. "Ganichschoübl." Nuschelte Arminius unmanierlich, da mit vollem Mund kauend, beobachtete kritisch, ob sein Gast auch ordentlich mithielt. Gunnar lächelte, nickte, ebenfalls die Backen ausgepolstert. Jetzt, so schien es Arminius, war das unausgesprochene Zerwürfnis vom Tisch. Aber wie lange würde der Burgfrieden halten, wenn sie nicht allein miteinander waren? Hastig sammelte er das benutzte Geschirr ein, füllte die Geschirrspülmaschine. Über so etwas wollte er im Augenblick ganz sicher nicht sinnieren! Als er sich aufrichtete, den Deckel des Geräts zuklappte, stand Gunnar hinter ihm, schmiegte sich an seinen Rücken. Arminius stützte die Hände auf der Arbeitsfläche auf, schloss für einen Moment die Augen. Wie komisch, dass man jahrelang jeden Körperkontakt kategorisch ablehnte, NUN bemerkte, wie sehr man sich denselben von bestimmten Personen wünschte! »Sag niemals nie!« Verspottete er sich selbst, drehte sich unerbittlich in Gunnars Umarmung, bis er ihm direkt gegenüberstand. Der lächelte zögerlich, ungewohnt verunsichert. »Ach, verdammt! Schluss mit der Ziererei!« Knurrte Arminius innerlich frustriert. Er packte Gunnars Gürtel an dessen Rückseite, ging auf die Zehenspitzen, landete einen Volltreffer auf dessen Lippen. Danach wurde das Leben viel aufregender, bunter und unkomplizierter. :-P Hand in Hand verließen sie, die Wangen leicht gerötet, die Lippen noch prickelnd von unzähligen Küssen, elektrisch aufgeladen vor Spannung, die Küche, um in Arminius' Zimmer einzukehren. Als der gerade die Tür abschloss, um vor jeder Art von Überfall gefeit zu sein, muckste sich Gunnar endlich. "Denkst du auch, dass ich alles zu leicht nehme?" Perplex blinzelte Arminius, wandte sich seinem Gast zu, der ihn so fragend ansah, dass ihn eine Gänsehaut überlief. Er zögerte, versuchte, seine Antwort genau abzuwägen, eine Balance zu finden, die seiner Meinung gerecht wurde. Dieser Prozess endete in einem kläglichen "ich weiß es nicht." Gunnar ließ den Kopf hängen. Um die Stimmung wieder zu heben, ein gänzlich anderes Thema zu finden, öffnete Arminius sein Fenster, prüfte die Lage, winkte Gunnar zu sich heran. "Komm, ich zeig dir was!" Damit lockte er ihn auf seinen Adlerhorst auf dem Dach. Zu zweit nebeneinander auf dem winzigen Plateau zu sitzen, erforderte eine gewisse Koordination, aber schließlich hatten sie sich eingerichtet. "Aha! Daher kamen also die Farbbeutel." Stellte Gunnar nach einem gründlichen Panoramablick fest. Arminius kicherte geschmeichelt. "Gute Idee, oder?" "Ein hervorragender Einfall." Lobte Gunnar brav. In seinem Profil konnte Arminius jedoch lesen, dass der Quasi-Schwede ganz woanders weilte. »Hrmpf! Die Ablenkung hat wohl nicht gefruchtet!« Knurrte er innerlich halb resignierend, halb ärgerlich. Neben ihm nahm Gunnar die Unterarme vom abstützenden Gestänge, schob seine Hand in Arminius', verflocht ihre Finger. "Ich möchte dir etwas erzählen." Sagte er leise, das Gesicht ernst, die wasserklaren Augen auf die Ferne fixiert. Arminius an seiner Seite ahnte schon, dass es kein angenehmes Sujet sein würde, bemühte sich aber um aufmerksame Zurückhaltung. :-P "Ich möchte dir gerne von meinem Bruder erzählen. Er hieß Gustav. Ich habe ihn immer nur Guus genannt. Als wir geboren wurden, war ich der Erste. Nach zwei Stunden kam auch Guus auf die Welt. Wir sind eineiige Zwillinge, aber das hat mir nie jemand geglaubt. Schon vor der Geburt gab es Komplikationen. Ich war kerngesund, Guus viel zu klein und auf einer Körperseite spastisch gelähmt. Komisch, nicht wahr? Eigentlich sollten eineiige Zwillinge doch alles teilen! Das habe ich zumindest immer geglaubt. Weil Guus länger im Krankenhaus bleiben musste, fing er sich kurz nach der Geburt auch noch eine Lungenentzündung ein. Das war der Auftakt für unzählige Krankheiten. Egal, was gerade in der Luft lag, Guus bekam es. Meine Eltern waren häufiger im Krankenhaus als Zuhause. Mir dagegen ging es immer gut. Ich habe nie irgendwas abbekommen. Als Guus dann endlich länger zu Hause war, habe ich mich sehr gefreut. Weil wir ja Zwillinge sind und die zusammengehören. Ich konnte ziemlich schnell laufen, habe allen möglichen Unsinn angestellt. Guus hat nie laufen gelernt. Dafür hat uns ein Nachbar einen Puppenwagen umgebaut, damit Guus von mir herumgefahren werden konnte. Es musste ihn bloß jemand hineinheben. Wir haben damals bei meinen Großeltern im Elsass gewohnt, damit sie auf mich achtgeben konnten, während meine Eltern mit Guus im Krankenhaus waren. Ich durfte immer draußen spielen, im großen Garten. Es gab sogar einen kleinen Bach, den man stauen konnte. Ich wollte mit Guus spielen. Er hat immer zugehört, wenn ich ihm etwas erzählt habe, deshalb wollte ich, dass er bei mir ist, nicht bloß im Haus bleibt. Also habe ich ihn hochgehoben und getragen. In den Wagen konnte ich ihn aber nicht heben, dazu war ich nicht groß genug. Vor dem Haus bin ich dann weggerutscht und hingefallen. Mir ist natürlich nichts passiert, nicht mal ein Kratzer, aber Guus habe ich den Arm gebrochen, der nicht gelähmt war. Trotzdem war Guus mir nie böse. Er hat immer gelacht und so gut es ging mitgespielt. Ich sollte in den Kindergarten gehen, ohne Guus, weil sie keinen Platz für einen Behinderten hatten. Ich habe geheult und geschrien, weil ich nicht ohne meinen Zwilling hingehen wollte. Mir hat ohnehin niemand geglaubt, dass wir Zwillinge sind, deshalb war ich furchtbar wütend. Weil ich mich so aufgeregt habe, hat Guus mitgeschrien und hohes Fieber bekommen. Er musste ins Krankenhaus, und ich bin in den Kindergarten gegangen, weil es meine Schuld war, dass er schon wieder ins Krankenhaus musste. Da konnte ich ihm immer nur zeigen, was ich an diesen Tagen gemacht habe. Ihn im Wagen einfach mal mitzunehmen, das habe ich mich nicht mehr getraut. Als wir fast vier Jahre alt waren, hat Guus dann einen Schlaganfall erlitten. Damals konnte man sich nicht vorstellen, dass so etwas auch Kindern passiert, deshalb hat es lange gedauert, bis man die Ursache herausbekommen hat. Danach konnte er nur noch liegen, die eine Hälfte von ihm taub, die andere spastisch gelähmt. Langsam ging es ihm immer schlechter. Weißt du, es sah aus, als wäre er es einfach müde, ständig krank zu sein. Ich wollte das nicht sehen. Ich habe ihm versprochen, dass ich für ihn ein gläsernes Auto baue. Ich fahre mit ihm durch die Gegend. Wir sind immer zusammen, wie richtige Zwillinge, teilen alles. Er müsste auch nicht mehr krank sein, um mich zu schützen, ich würde mit ihm tauschen. Genutzt hat es nichts. Um mich abzulenken, wollten die Nachbarn für mich eine Geburtstagsfeier organisieren, aber ich habe abgelehnt, weil ich ja erst Geburtstag feiern kann, wenn Guus auch wieder da ist. Ein Zwilling hat ja nicht allein Geburtstag! Aber Guus ist nicht wiedergekommen. Ich habe den ganzen Tag am Fenster gesessen, auf die Auffahrt gestarrt, damit ich ganz sicher nicht verpasse, wenn meine Eltern mit dem Auto zurückkommen und Guus herausheben. Am Abend hat mir mein Großvater dann gesagt, dass Guus in den Himmel gegangen ist. Natürlich war das nicht wahr, weil Guus ja gar nicht laufen konnte und ich den Wagen im Flur stehen gesehen habe. Außerdem könnte Guus ja gar nicht ohne mich gehen, weil wir ja zusammengehören. Ich habe ihm gesagt, dass ich solche Lügen nicht hören will. Da hat er mich verdroschen, das erste und einzige Mal. Danach musste ich einen Anzug tragen, an seiner Hand in eine Kapelle gehen, wo viele Leute in den Bänken knieten. Guus lag in einem kleinen Sarg, wie Schneewittchen. Aber es gab keine Zwerge und keinen Prinzen. Mein Großvater sagte mir, dass ich mich jetzt von Guus verabschieden muss. Wir könnten nicht mehr zusammen sein. Ich habe es nicht wirklich verstanden, aber ich habe furchtbar geweint. Weil ich kein Zwilling mehr war, sondern ganz allein." :-P Gunnar weinte. Schluchzend, mit zuckenden Schultern wie ein Kind. Arminius würgte an einem dicken Kloß des Mitgefühls, wischte sich über die Augen. Er konnte sich auf dem Adlerhost kaum drehen, so eng war es, doch mit zusammengebissenen Zähnen verrenkte er sein Rückgrat, bis er mit der freien Hand nach Gunnars Schulter haschen und ihn an sich ziehen konnte. Der löste ihre Hände voneinander, klammerte sich an ihn, schier untröstlich. Eine lange Zeit ließ Arminius ihn weinen, streichelte über den gekrümmten Rücken, wiegte ihn vorsichtig. Was musste das für ein Schmerz sein, der all die Jahre in ihm saß, nicht auflodern durfte? Wenn man sich dann noch für einen Verräter hielt, dem es immer besser als dem Bruder ging! Der quasi alles Übel auf sich genommen hatte, damit man selbst ungeschoren davonkam! Denn das glaubte Arminius aus Gunnars Worten herauszuhören. "Es tut mir leid um deinen Bruder." Krächzte er schließlich bedrückt. Gunnar schniefte, richtete sich auf, fuhr sich ungelenk mit den Händen über das Gesicht. Nun sah er nicht mehr sonderlich attraktiv aus mit dem rotgeränderten Augen, den wund gebissenen Lippen und den Tränenspuren auf dem Gesicht. "Ich wollte dich nicht vollheulen." Erklärte er gepresst, zupfte verlegen an Arminius' Sweatshirt. Das war auf einer Schulter deutlich dunkler, weil nass. "Das macht nichts." Arminius nagte unbewusst an seiner Unterlippe, bevor er damit begann, Gunnars wirre Strähnen zu striegeln. Der murmelte kaum hörbar. "Ich KANN manchmal einfach nicht allein sein." Arminius streichelte mit den Fingerknöcheln sehr vorsichtig über die geröteten Wangen, seufzte bekümmert. "Das verstehe ich." Ihm selbst hatte es nie Probleme bereitet, in der eigenen Gesellschaft zu sein, aber er war nicht Gunnar. Vielleicht war es für Zwillinge tatsächlich so, dass sie ohne den anderen nicht vollständig waren, einen blinden Fleck spürten, der sie quälte. »Da ist noch die Sache mit seinem Vater! Mal abgesehen von der neuen Schule, der neuen Stadt und all den anderen Problemen.« Erinnerte ihn sein Verstand unbehaglich, der sich nicht gern in spekulative, emotionale Sphären verirrte. "Weißt du, Guus ist mein Vorbild." Energisch rieb sich Gunnar mit dem Ärmel über das Gesicht, setzte eine konzentrierte Miene auf. "Er hat immer gelacht, das Leben nicht so schwer genommen, obwohl es ihm so schlecht ging." Er schluckte, räusperte sich. "Ich strenge mich auch an, nichts zu schwer zu nehmen, weil es oft viel schlimmere Dinge gibt, gegen die man machtlos ist." Er legte eine Hand auf Arminius' Wange. "Aber das bedeutet nicht, dass ich nichts ernst nehme!" Arminius warf die Stirn in konzentrierte Falten. "Wer hat dir das denn vorgehalten?" Gunnars Schultern sackten tiefer, sein Blick wanderte von Arminius weg in die Ferne. "In der Schule..." Aber Gunnar musste den Satz gar nicht vollenden, der so verräterisch in der Luft hing. Selbstverständlich hatten die anderen ihn gewarnt. Nicht nur vor Arminius, sondern auch davor, was ihm passieren würde, wenn er sich weiterhin mit einem Paria solidarisierte. Nun schnaubte Arminius verächtlich. "Mal ehrlich, gibst du irgendwas auf deren Meinung? Darf ich dich mit einem meiner Lieblings-Filmzitate bekannt machen: Meinungen sind wie Arschlöcher. Jeder hat eines." Auf Gunnars Gesicht nistete sich ein schiefes Grinsen ein. "Es ist gut, dass du da bist." Stellte er schlicht fest. Arminius spürte, wie ihm Farbe in die Wangen stieg. Musste Gunnar gerade jetzt so entwaffnend ehrlich sein, wo er ein Ventil gefunden hatte, um seine Verstörung in Wut umzuwandeln?! Schwungvoll stemmte er sich hoch. "Komm! Lass uns was trinken! Ich brauche Zucker und Schokolade und jede Menge Kalorien!" Gebot er Gunnar diktatorisch. Diesem Kampfruf musste Gunnar Folge leisten, doch er durfte sich diskret verabschieden, um einen Abstecher ins Badezimmer zu unternehmen. In der Küche lenkte Arminius sich mit der Zubereitung seines Zaubertranks von unsortiert herumschwirrenden Gedanken ab. Während er geistesabwesend durch die Trennscheibe zusah, wie sich die beiden großen Henkelbecher auf dem Teller in der Mikrowelle langsam drehten, rekapitulierte er die Erkenntnisse dieses unerwartet ereignisreichen Tages. - Der strahlende Superman Gunnar war einmal ein Zwilling gewesen. - Gunnar fühlte sich einsam. - Familiäre Probleme jetzt und Guus für immer. Außerdem erwies sich der souveräne Strahlemann als anlehnungsbedürftig, gar nicht so selbstbewusst, wie es den Anschein hatte. »Er ist genauso dran wie ich!« Stellte Arminius mit einiger Verblüffung fest. Noch nicht erwachsen, aber auch kein Kind mehr, zwischen allen Stühlen, fest entschlossen, nicht kleinkariert zu sein und Vorurteile zu pflegen, gleichzeitig aber ängstlich, wie weit der eigene Mut wirklich reichte. Überrascht schreckte er zusammen, als Gunnar sich von hinten an ihn schmiegte, die Arme vor seiner Brust kreuzte, ihn auf den Nacken küsste. "Woran denkst du?" Erkundigte sich Gunnar interessiert. Er hatte Gelegenheit gehabt, eine ganze Minute lang im Türrahmen zu stehen, Arminius zu beobachten, ohne dass der ihn überhaupt bemerkt hatte. Arminius drehte sich in der inzwischen lockeren Umärmelung, betrachtete Gunnars Gesicht eingehend. Es sah nun frischer aus, befreit von den Spuren des Kummers. "Du wirst dich entscheiden müssen." Beantwortete er endlich die offene Frage mit leiser Stimme. Gunnar lehnte sich vor, damit sich ihre Stirn berühren konnte. "Ich habe mich entschieden." Gab er ein wenig rau zurück, begann damit, über Arminius' Arme zu streichen, rauf und runter. Der zog verlegen eine Grimasse. "Ich begreife zwar nicht, warum ausgerechnet ich der Glückliche bin, aber ich bin froh." "Weil ich dich mag." Gunnar schob ihre Hände ineinander, drückte sie. "Das ist eine Tatsache." Ergänzte er schlicht. "Werde dich dran erinnern, wenn wir uns mal in der Wolle haben!" Knurrte Arminius beschämt, stellte sich auf die Zehenspitzen, um auf gleicher Höhe einen Kuss auszutauschen. Der sonnte sich bald in zahlreicher, sich in Intensität steigernder Gesellschaft anderer Liebkosungen, bis das aufdringliche Lärmen der Mikrowelle sie atemlos innehalten ließ. Schmunzelnd gab Gunnar Arminius' Hände frei, damit der den Flüssigkeitsnachschub bergen und servieren konnte. Sie stießen ihre Henkelbecher mit einem dumpfen Laut aneinander, tranken den ersten großen Schluck schweigend, seufzten unisono, als konzentrierter Zucker in ihrem Kopf explodierte. Plötzlich schnippte Arminius mit den Fingern. "Genau, das ist es!" Die Erkenntnis erstrahlte in seinem Gesicht, seine Augen glitzerten engagiert. "Was ist was? Darf ich es erfahren?" Gunnar zwinkerte. "Sicher!" Arminius kletterte vor Eifer auf den Stuhl, kniete sich hin, lehnte sich auf den Tisch. "Die ganze Zeit habe ich darüber nachgedacht, was fehlt. JETZT weiß ich es!" "Aha." Nickte Gunnar erwartungsvoll. "Wusstest du, dass sie dich ständig 'Gun' nennen? Was ist das denn bitte schön für ein blöder Spitzname?!" Arminius verzog das Gesicht zu einer abschätzigen Grimasse. Er eiferte sich, gestikulierte schwungvoll. "Wir zwei, das wären dann Guns and Arms, so richtig militaristisch! Einfach bescheuert!" Gunnar stützte das Kinn in eine Hand, lauschte hingerissen dem ereifernden Vortrag. Arminius gab sich so oft reserviert und zynisch, dass er es sehr genoss, ihn hier in voller Fahrt beobachten zu können. "Also habe ich beschlossen, dass du einen Spitznamen bekommst!" Verkündete der gerade triumphierend. Gunnar wartete geduldig die Auflösung ab, denn es schien ihm, als säße Arminius geradezu auf einem Ameisenhaufen, so unruhig und erwartungsvoll zappelte er auf seinem Stuhl hin und her. Schließlich erbarmte der sich, trompetete selbstsicher. "Flausch." "Flausch?" Echote Gunnar fragend. "Genau! Ab sofort ist das dein Spitzname!" Arminius besann sich, nahm wieder manierlich auf seinem Stuhl Platz, langte über den Tisch, streichelte Gunnars wilde Mähne. "Weil du so flauschig bist, nenne ich dich Flausch!" "Flausch." Wiederholte Gunnar bedächtig, als müsse er erst den Geschmack und Klang prüfen. "Flausch..." "Will ja nicht, dass du mich irgendwann fragst, ob du mein Bert sein darfst!" Verteidigend kreuzte Arminius die Arme vor der Brust. Das brachte Gunnar zum Lachen. Arminius grinste erleichtert. Die ganze Zeit schon hatte er gehofft, dieses tiefe, angenehm vibrierende Gelächter erneut zu hören. "Darf ich wenigstens dein Flausch sein?" Erkundigte sich Gunnar neckend, als er seines Amüsements wieder Herr geworden war. "Du darfst. Ernie und Flausch hat Niveau!" Gebot Arminius majestätisch. Gunnar grinste breit, verzichtete großmütig darauf, Arminius zu enthüllen, dass er dessen schrägen Humor sehr zu schätzen wusste. Verschwörerisch zwinkerten sie einander zu, um sich mit reduzierter Strahlkraft anzusehen, jeder ein federleichtes Lächeln auf den Lippen. Ein zauberhafter, ungestörter und unbeschwerter Augenblick, in dem wirklich alles in Ordnung war. Arminius' Herz randalierte in seiner Brust, in seinem Magen steppten unzählige Ameisen die Chorusline. »Verliebt! Ich bin tatsächlich verliebt.« Diagnostizierte sein Verstand betäubt. Den magischen Moment wortlosen und umso innigeren Verständnisses störte ein ärgerliches Kratzen im Türschloss, gefolgt von einer schrillen Dauerdebatte, die unverständlich, aber kaum zu überhören in ihre Idylle einbrach. "Uuhhhh! Auftritt des Schwonsters!" Stöhnte Arminius vernehmlich. Gunnar biss sich auf die Lippe, um nicht zu prusten angesichts der gequälten Miene, die ihm geboten wurde. Arminius' Schwester hatte eigentlich beabsichtigt, an der Küche vorbei zu spazieren, weil sie sich noch nicht daran gewöhnt hatte, dass ihr intensiv verabscheuter Bruder zu dieser Uhrzeit ebenfalls im trauten Heim/Kampfschauplatz weilte. Sie rollte mit den Augen, als sie ihn sah, wollte weiter paradieren, ohne auch nur einmal das Mobiltelefon vom Ohr zu nehmen, stutzte. Marschierte drei Schritte rückwärts und spähte erneut in die Küche. Arminius hatte in Duldermiene das Kinn in eine Hand gestützt, warf Gunnar einen bezeichnenden Blick zu. Es stand Theatralik zu erwarten. "Warte mal eben!" Hängte sie unhöflich ihren Gesprächspartner ab, obwohl bezweifelt werden musste, dass sie einander überhaupt jemals wirklich Gehör schenkten, baute sich vor Gunnar auf. "Was TUST du hier?!" Herrschte sie ihn streng an. "Hallo. Dein Bruder war so liebenswürdig, mich einzuladen." Gunnar blieb ganz Gentleman. Sie wischte mit einer affektierten Bewegung seine Erklärung weg. "Scheiße, Gun, du kannst doch nicht mit dem da herumziehen! Was findste bloß an dem?!" Gunnars Augenbrauen zuckten, in den wasserklaren, hellen Augen blitzte es. Arminius kannte ihn gut genug, um diese Mimik zu dechiffrieren: Gunnar wurde wütend. "Ich mag deinen Bruder." Stellte er betont fest, setzte jede einzelne Silbe deutlich ab, als müsse er Begriffsstutzigen die Leviten lesen. "WAS?! Verarsch mich doch nich! Wenn du mit dem rumziehst, ist dein Image verkackt!" Das Schwonster ließ den Kiefer zwischen die Knie fallen. Arminius hob sein Kinn nun auf beide Hände, strahlte zuckersüß zum allerliebsten Schwesterlein, blinkerte mit den Wimpern. Hach, das ging doch runter wie Öl! Gunnar dagegen lehnte sich leicht in seinem Stuhl zurück, studierte sie vorgeblich nachdenklich. Er formulierte bedächtig. "Es schadet also meinem Image, wenn ich deinen Bruder mag und mit ihm meine Zeit verbringe?" "Hastes gecheckt?" Das Schwonster setzte ein siegessicheres Grinsen auf. Gunnar legte beide Unterarme flach auf den Tisch, saß aufrecht und konzentriert, als habe er eine Partie Patience vor sich liegen. "Mir haben eine Menge Leute in der letzten Zeit erklärt, ich sei merkwürdig. Weil ich jemanden mag, der in ganzen Sätzen sprechen kann, sich nicht am Klatsch beteiligt und seinen Kopf nicht nur auf den Schultern trägt, damit es nicht in den Hals regnet." Er blickte auf, mit einer Art des Lächelns, das eher an den Weißen Hai erinnerte, der Badehosen voraus sichtete. "Ich ziehe die Gesellschaft deines Bruders allen anderen Leuten vor, denen ich hier begegnet bin." »Bumms! Das saß! Volltreffer!« Freute sich Arminius. Denn nicht einmal die zentimeterdicke Schminkschicht konnte verbergen, dass das Schwonster rot anlief. Die Abfuhr hatte wirklich Tiefschlagqualitäten. "Du bist voll bizarr, du Arsch!" Fauchte sie heftig, drehte sich auf dem Absatz um, der belastet knirschte und rauschte hinaus. Arminius und Gunnar tauschten einen knappen Seitenblick aus, zwinkerten, rollten die Lippen ein, pressten sie fest gegeneinander. Sie brachen unisono in eruptives Gelächter aus, das von den Wänden widerhallte. Mit dem kleinen Finger wischte sich Gunnar die Augenwinkel, raunte geheimnistuerisch. "Ist 'bizarr' besser als 'merkwürdig'?" Arminius grinste so breit, dass seine Backenzähne vollständig das Licht der Welt genießen konnten. "Ich wette, dass sie gleich alles weiterquatscht. Wahrscheinlich darf ich dir schon zum neuen Status als Paria gratulieren." Reduzierte er sein Gebissblecken auf den normalen Zustand. Gleichmütig zuckte Gunnar mit den Schultern, leerte seinen Becher. "Nimm's mir bitte nicht übel, aber deine Schwester ist eine hohle Nuss." Spontan sprang Arminius auf, um Gunnar stürmisch zu umarmen. "Endlich! Endlich ein Gleichgesinnter!" Trällerte er. Sein Bruder im Geiste, was das Schwonster betraf, nutzte die Gelegenheit, ihn auf seinen Schoß zu ziehen, die Reste des Zaubertranks oral zu teilen. Arminius schlang die Arme um Gunnars Nacken, erwiderte jeden Kuss hingebungsvoll. Wenn die blöde Kuh sie sah, war ihm das auch gleich! Die Stirn aneinander gelegt duellierten sich ihre Nasenspitzen, bis Gunnar bedauernd seufzte. "Ernie, bitte sei nicht sauer, aber ich muss langsam los. Meine Mutter ist heute zu Hause." "Ach was! Ich habe glatt die Zeit vergessen!" Arminius erhob sich widerstrebend, aber artig. Es wäre auch nicht tunlich, wenn sie noch auf diese Weise Zwiesprache hielten, wenn seine Eltern einträfen. SOOOO weit war er doch noch nicht. "Gehen wir dein Fahrrad holen." Schlug er vor, in der sicheren Erwartung, dass Gunnar wie üblich den Rücktransport übernehmen würde. Der lachte, ließ sich auf die Beine ziehen, flüsterte Arminius zu. "Noch etwas, was ich sehr an dir mag: kein Fahrrad!" "Ja! Du kannst immer mit deinen gestählten Muskeln glänzen, während ich als kleiner, dicker Mops ende!" Missverstand Arminius absichtlich die Intentionen. Gunnar lachte unbekümmert. "Anders wäre es schlimmer! Wenn du dich nicht mehr an mich lehnst und festhältst, wenn wir unterwegs sind." "Egoist!" Schnaubte Arminius errötend, der keineswegs die Absicht hegte, sich selbst als Pedaleur zu betätigen. "Sag lieber 'kleiner, dicker Mops-Liebhaber'!" Schnurrte Gunnar keck, fing ihn in seinen Armen ein. "Böser Flausch!" Murmelte Arminius, der sich für seine eigenen Begriffe viel zu schnell an die kraftvollen Arme gewöhnte, die ihn so warm und sicher hielten. Am Liebsten hätte er Gunnar jetzt hoch in sein Zimmer gescheucht, ihn ins Bett befohlen, sich in dessen Arme gerollt, die Finger in dessen wüster Wikingermähne vergraben. Frustriert knurrte er laut. Es half ja nichts, die Zeit wurde knapp! "Schwingen wir die Hufe!" Schickte er sich drein, dippte ein tröstendes Küsschen auf Gunnars Lippen. "Komm schon, Flausch!" Vor ihrem Aufbruch deponierten sie Gunnars Schultasche und den Stoffbeutel mit der reduzierten Ladung neben dem Eingang. Sie marschierten los in die Dämmerung. Es nieselte dezent, beinahe unaufdringlich, doch die Feuchtigkeit war ein guter Grund, die Hände zusammen in Arminius' Jackentasche zu schieben. Sie gingen schweigend nebeneinander her, aber es war keine gezwungene Stille. Jeder erlaubte dem anderen freimütig ein wenig Einkehr, um die Ereignisse des Tages zu verdauen. Am Fahrradständer der Schule wartete Gunnars Stahlross geduldig. Die Befreiungsaktion musste allerdings warten, weil der Quasi-Schwede Arminius gegen eine der Stützstreben dirigierte, küsste. Keineswegs geniert und ziemlich intensiv. Außer Atem, nur aufgehalten von der rapiden Entwicklung südlich des Gürteläquators trennten sie sich schließlich von einander, aber gerade nur so weit, dass sie noch ihre Fingerspitzen fassen konnten. "Hast du morgen schon was vor?" Keuchte Gunnar drängend, im Licht der Straßenbeleuchtung erkennbar errötet. "Nein!" Arminius schüttelte ebenso eilig den Kopf, flüsterte. "Frag mich, ob ich morgen bei dir übernachten will!" Gunnar stutzte. Ein verwegen-linkisches Lächeln schlich sich in seine Züge. "Möchtest du morgen bei mir übernachten?" Gab er eifrig den Papageien. "Und ob!" Krähte Arminius mit großem Enthusiasmus, der jedoch nicht über seine Verlegenheit hinwegtäuschen konnte. Sie lachten unisono auf, ein wenig überdreht, streiften die hormonell bedingte Nervosität wieder ab, stiegen wie gewohnt auf das Fahrrad. Arminius schmiegte sich vertraut an Gunnars Rücken, atmete die frische Herbstluft tief ein. Er hätte ewig so dahinrollen können, während die Brise ihm die geröteten Wangen kühlte! Allzu rasch jedoch kam das vertraute Heim in den Fokus. Arminius vermutete seine Eltern in der Küche. Er beschloss, sich jedweder Konfrontation zu entziehen, die den armen Gunnar auch noch einbezog. Er legte einen Finger beschwörend auf die Lippen, trippelte auf Zehenspitzen die kleine Vortreppe hoch, öffnete lautlos die Haustür. Er angelte eilig die beiden Taschen heran, machte kehrt. Gunnar wartete geduldig, ein amüsiertes Lächeln auf dem markanten Gesicht. Fachkundig belud Arminius Korb und Packtaschen, schnappte Gunnar bei den Jackenaufschlägen, zog ihn zu einem sanften Kuss heran. Sie blinzelten einander zu. "Bis morgen dann, Ernie." Raunte Gunnar zärtlich. "Bis morgen, Flausch." Entgegnete Arminius leise. Zögerlich, aber schicksalsergeben tat er einen Schritt zurück. Gunnar lächelte ihm versöhnlich zu, löste die doppelte Stütze. "He!" Wisperte Arminius. "Ja?" Gunnar drehte den Kopf zu ihm herum, noch immer schmunzelnd. Arminius wusste bestimmt nicht, dass man seinem Gesicht allzu leicht die Emotionen ablesen konnte. Im Augenblick jedoch wirkte es betont spitzbübisch. Genau wie der Besitzer, der vorschnellte, Gunnar die Arme um den Hals schlang, in ein Ohr flüsterte. "Nur für dich würde ich schwul werden!" Ebenso blitzartig zog sich Arminius zurück, wischte die kleine Vortreppe hinauf. Gunnars Lachen tanzte wie elektrische Funken auf seinem gesamten Körper. Über die Schulter blickte Arminius sich um, fing die Kusshand auf, die Gunnar ihm zuwarf, bevor der kräftig in die Pedalen trat. Geräuschlos schlüpfte Arminius ins Haus. Er musste sich mit weichen Knien doch an die Haustür lehnen, einen irrwitzigen Drang zu sinnlosem Herumkichern niederringen. Jetzt hatte er doch glatt schon wieder die Hosen runtergelassen! Doch dieses Mal bereute er es kein bisschen! :-P ENDE :-P ~~> Fortsetzung in "Sternschnuppen" Vielen Dank fürs Lesen! kimera ^_^