Titel: Hunger Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Romantik Erstellt: 28.05.2001 Disclaimer: alles Meins. @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ @~@ Hunger Kapitel 1 - Einschlag Ich lag gerade bäuchlings auf meinem Bett, blätterte in meinem neuesten Schatz, noch von einem vagen Hochgefühl erfüllt, das sich immer einstellte, wenn ich aus der Leihbücherei zurückkehrte nach einem erfolgreichen Beutezug. Heute hatte ich meinen Rucksack mit mehreren schweren Bildbänden bis an die Belastungsgrenze der Nähte gefüllt, Jugendstil in Bildern, Jugendstil in Design und Jugendstil in kulturell unterschiedlichen Ausprägungen in der Welt. Ich arbeitete keinesfalls an einem Schulreferat zu dem Thema. Im Gegenteil, es war Freitagnachmittag, ich verbannte Schule und alle anderen Widrigkeiten meines Lebens aus meinen Gedanken. Vertieft in filigrane, florale Designs auf Postkarten träumte ich vor mich hin, brachte nur mühsam die Konzentration auf, die ich mir abverlangte. Zunächst wollte ich ganz sachlich, nüchtern bis zur Kälte, herausfiltern, was für einen Blick die Kunstschaffenden auf ihre Umwelt hatten, mit dem Wissen des geschichtlich-gesellschaftlichen Umbruchs im Hinterkopf, das ich mir angelesen hatte. Erst wenn ich sicher war, mit geschlossenen Augen die Details, winzige Unterschiede, summa summarum alles Bedeutsame verinnerlicht zu haben, gestattete ich mir die Bewunderung, das unreflektierte Versinken in diese Botschaften aus der Vergangenheit. Dieser Prozess war mir sakrosankt, stellte einen Höhepunkt der mir selbst gewählten Aufgaben dar, den ich ganz mit mir allein und nur für mich, ohne Publikum, genießen wollte, so intim und aufwühlend in seinen Konsequenzen. Darum kochte ich vor unterdrücktem Zorn, als meine Mutter in nach meiner Auffassung geradezu hysterischer Fröhlichkeit an die Tür klopfte, das Abendessen ankündigte. "Ich habe keinen Hunger!" Schrie ich den Musen von Mucha entgegen, die die Rückseite meiner Zimmertür verzierten. Ich wusste, dass mich das nicht retten würde. Mahlzeiten waren eine Pflichtveranstaltung, zumindest das Abendessen. Wie erwartet polterte nur wenige Augenblicke später mein Vater an die Tür. "Komm schon runter, Val, mach keine Zicken!" Ich hasste es!! Schon allein diese Wortwahl, Zicken!!! Zicken waren nach meiner bescheidenen, biologischen Grundbildung weibliche Tiere, wohingegen ich nun wirklich zu der männlichen Gattung meiner Spezies gehörte. Allerdings hatten mehrere Ausführungen zu diesem Thema meinen Vater nicht im Geringsten beeindruckt. Vielmehr schien es ihn köstlich zu amüsieren, dass mich seine unbedachte Verwendung von Metaphern in Rage brachte. "Ich sagte, ich habe keinen Hunger!!!" Brüllte ich aufgebracht. Die Vorfreude über die neue Lektüre war verflogen. Mehrfach rammte ich meine geballten Fäuste in das riesige Kissen, auf dem ich lag, schluckte Tränen der Frustration hinunter. Natürlich würde ich herunterkommen. Das tat ich immer. @~@ Trautes Familienglück am Abendbrottisch. Mir war speiübel. Mein Vater zersäbelte mit glitzernden Augen ein größeres Stück Schinken, die Fasern noch blutig rot, wie mir schien. Meine Mutter malmte mit Begeisterung auf einem Essig getränkten Salatblatt herum, ihre Lippen mit einem Gemisch aus Speichel und Dressing benetzt. Wie sich diese spitzen Zähne in Fleisch und Salat bohrten, wie Kiefer zuschnappten, zerfetzten, zu Brei vermanschten, gurgelnd herunterwürgten, die Brocken sich abzeichneten in der Kehle! Ich kam mir vor wie in einem surrealen Horrortrip: grotesk verzerrt die Büsten meiner Eltern, nur eine fleischliche Masse, die andere Massen verschlang, unter ekelerregender Geräuschkulisse, schmatzend, grunzend, wiederkäuend, schlürfend. Meine Kehle schnürte sich zu. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden, von einer grausigen Faszination gebannt. "Isch, Jung!" Brabbelte mein Vater, mit prallen Backen den Schinken vertilgend, die Augen noch immer in urzeitlicher Gier brennend. Ich schüttelte mich vor Widerwillen, schaffte es, mit einer Tasse gesüßtem Hagebuttentee diesem Massaker zu entgehen. Wussten sie denn nicht, wie abscheulich sie aussahen in ihrem maßlosem Hunger? Im Mittelalter warnten angesehene Geistliche vor der Gefahr des Lachens, verzerrte es doch die gottgegebenen Gesichter in diabolische Fratzen, gab die Schöpfung der Lächerlichkeit preis. Für mich traf diese Ansicht auf das Essen zu. Allein schon der Vorgang der Nahrungsaufnahme, dieses Reißen, Verschlingen, Malmen, ästhetisch abstoßend und ekelhaft!! Ich schlürfte meinen heißen Tee, kämpfte die Übelkeit und Schwäche nieder. Ich würde nichts essen. @~@ Jeden Abend derselbe Albtraum. Alles, was ich wahrnahm, war dieser abstoßende Fraß-Vorgang, wie das Äsen an Kadavern. Ich wusste, dass sie redeten, auch mit mir, aber ich nahm es nicht wahr, es drang nicht zu mir durch. Ich pflegte mich seit geraumer Zeit von Tee oder Gemüsesäften zu ernähren, gelegentlich den Luxus eines flüssigen Joghurts zulassend. Fleisch aß ich nicht mehr, Gebratenes oder Gebackenes widerten mich bereits durch den Geruch derartig an, dass ich fluchtartig die Küche verließ. Meine Eltern registrierten das nicht, oder sie wollten es nicht bemerken. Vor dem Frühstück drückte ich mich mit der Erklärung, ich könne so früh noch nichts Festes bei mir behalten. Mittags in der Schule entging ich jedweder Aufsicht. Nur die Abende gestalteten sich zu einer regelrechten Nagelprobe. Ich fühlte mich bei meinem strikten Vorhaben nicht seltsam oder ungewöhnlich. Mir war es eher unbegreiflich, warum die anderen sich so zustopften, als ob sie sich dessen nicht bewusst wären. »Aber ich will nicht ans Essen denken!« Ermahnte ich mich energisch. Ich streifte einen weiteren, dicken Pullover über, fiel auf mein Bett, drehte mich auf den Rücken, starrte an die Zimmerdecke. Die hatte ich mit schwarzem Tüll verkleidet, in das ich Pailletten, fluoreszierende Sterne, Bänder und Glaskugeln in Regenbogenfarben und anderen schillernden Krimskrams genäht und geklebt hatte. Für den Jugendstil fehlte mir nun die Lebensfreude, also drehte ich meine Anlage auf, Cool Jazz, löschte das Licht bis auf die Karusselllampe, die nun in die Dunkelheit die farbenprächtigen Töne einer Phantasie-Unterwasserlandschaft warf. Ich wusste: wenn die Kassette ihr Ende erreichte, würde ich tief schlafen. @~@ Das Wochenende verlief erfreulicher als gedacht: meine höchstwerten Eltern beschlossen am Samstagmorgen, dass sie entfernten Bekannten einen Besuch abstatten wollten, die sich statt eines Kindes lieber einen Teich mit unglaublich wertvollen, japanischen Karpfen, Koi, hielten. Was mich von dem Druck ihrer ständigen Aufmerksamkeit befreite. Ich streifte meine Lieblings-T-Shirts über, rollte mich in dem alten Rattan-Sofa auf unserer winzigen Veranda zusammen, studierte im Schein der Frühsommersonne meine Schätze. Ich fühlte mich in die hauchzarte Atmosphäre ein, die bei so vielen Zeichnungen und Accessoires des täglichen Lebens Pate gestanden hatte. Ich träumte von Gaudis Werken in Barcelona, verschlungenen Farben und Formen, die an einen riesigen Abenteuerspielplatz aus wilden Phantasien erinnerten. Es war ein herrliches Gefühl, zwischen Realität und Traum zu wechseln, zwischen Tag und Nacht, ohne Zeitgefühl, ohne Verpflichtung. Aber natürlich schwebte der Montag wie ein Menetekel über meinem Haupt. Ich konnte froh sein, wenn ich noch einen winzigen Rest dieser Magie hinüberrettete in die Tretmühle meines Schulalltages. @~@ Ich wusste nicht, welche grausame Fügung es bewirkt hatte, dass der Montag mit zwei Stunden Sport begann. Sport war eine der Qualen der Schulkarriere, auf die ich ohne einen Abschiedsgedanken verzichten konnte, hatte ich doch auch nie die Bedeutung dieser organisierten Körperverletzung verstanden. Unmotivierte Lehrkräfte trieben eine sehr heterogen zusammengesetzte Herde Jugendliche in einen mangelhaft gereinigten Stall, den man schmeichelhafter Weise als Turnhalle bezeichnete. Man kasperte sich mit geringem Erfolg durch Übungen zur Körperschädigung. Die renitente Horde wurde sich selbst überlassen, um in Eigenregie, das heißt in der populären Variante des Mobbings, Mannschaften für irgendein sinnentleertes Kampfspiel zusammenzustellen, dessen einzige Absicht die totale Demoralisierung des Gegners beinhaltete. Kurz gesagt, Sport konnte mir gestohlen bleiben. Ich folgte meinen Mitleidenden in das muffige Verlies, das sich Umkleide schimpfte. Mich fröstelte, sodass ich beide T-Shirts anließ, mich aber schweren Herzens von meinem Sweatshirt trennte. "He, Valerie, heute keinen Strip?" "Haha!" Echote ich kühl. "Wirklich originell. In deiner Nähe muss man ja aufpassen, dass einen kein Geistesblitz erschlägt." Martin, von sich selbst eingenommener, selbst ernannter Klassensprecher und Kotzbrocken außer Konkurrenz, schwang eine Faust in meine Richtung. Ich wusste, dass sein primitives Gebaren nur eine leere Drohung war. Er würde mich niemals schlagen, weil das ein Zeichen der Schwäche wäre. Schließlich vergriffen sich nur Weicheier an so mickrigen Typen wie mir, wie er nicht müde wurde, seiner desinteressierten Umwelt mitzuteilen. @~@ "He, Fab, dein Haargummi!" "Danke!" Ich drehte mich zu Martin um, der mir meinen Haargummi mit einer lässigen Geste zuschnippte. Erneut zog ich meine Haare durch das Band, verdrehte es energisch, um wenigstens die Illusion einer akkuraten Frisur zu erwecken. Ich mochte meine Haare, lang, dick und lackschwarz, aber ihre Glätte stellte eine echte Nervenprobe dar. Keine Spange, kein Gummi hielt auf die Dauer der Beanspruchung stand. Martin grinste mir zu, posierte spöttisch wie eine Primadonna vor dem Spiegel. Eine erbärmlich schlechte Kopie allerdings. Ich lachte trotzdem. Eigentlich kein übler Kerl. Ich konnte froh sein, dass ich so schnell in der Klassengemeinschaft integriert worden war, schließlich war ich mitten in der zweiten Hälfte der 12. Klasse dazugestoßen, weil mein Vater erneut beschlossen hatte, dass ein Umzug anstand. Mein Vater war in dieser Beziehung ein richtiger Vagabund, länger als drei Jahre hielten wir es nie an einem Ort aus. Anfangs machte mir das nichts aus, aber mittlerweile verabscheute ich seine Rastlosigkeit doch. Kaum hatte ich ein paar neue Freunde gefunden, wusste endlich, wo ein Supermarkt und der Video-Verleih war, da standen schon wieder die Umzugskisten im Flur. Ich protestierte, quengelte, heulte, bettelte, lief weg. Zog immer wieder mit, denn außer meinem Vater hatte ich niemanden mehr. Die Chance auf engere Bindungen ergab sich nie. Meine Mutter hatte ich nicht kennengelernt. Sie hatte sich verabschiedet, als mein Vater beschloss, in den Vereinigten Emiraten als Ingenieur an Rohrleitungen herumzubasteln. Mein Vater wartete nach seinen Erzählungen mit mir auf dem Flughafen, aber sie erschien nicht. Pragmatisch, wie er sich als Ingenieur selbst verstand, stieg er mit mir in das Flugzeug, brachte mich bei seinen Gastgebenden unter, wandte sich seiner Arbeit zu. Ihre letzte Nachricht an uns bestand in einer einfachen Postkarte, in der sie ankündigte, nach Frankreich gehen zu wollen. Ob sie jemals dort ankam, wussten wir beide nicht, denn sie meldete sich nie mehr. Ich war nicht sicher, ob meinen Vater das sonderlich traf, immerhin war ich damals gerade ein Jahr alt. Heute erinnerte er sich kaum noch an sie, als sei meine Mutter eine flüchtige Bekanntschaft gewesen, die man wie eine unangenehme Begegnung einfach abstreifen konnte. Ich fürchtete mich davor feststellen zu müssen, dass ich trotz all der Jahre eine ähnlich unwichtige Figur in seinem Leben war. Nun waren wir hier gestrandet, einer mittelgroßen Stadt im Herzen von Deutschland, damit er an einem außergewöhnlichen Projekt bei der Deutschen Bahn mitwirken konnte, das aber über die Planungsphase nicht hinausgekommen war. Mit der üblichen Effizienz hatte er eine Unterbringung organisiert, der Schulbehörde Dampf gemacht, damit die eine Klasse für mich fand, den Umzug koordiniert, mich damit in den Osterferien überrascht. Keine Zeit für lange Abschiede, ein paar eilige Postkarten mussten da genügen. Nun hausten wir in zwei möblierten Zimmern in einer ehemaligen Bahnbediensteten-Siedlung, im typischen Stil der Fünfziger Jahre erbaut. @~@ Martin rammte mir seinen Ellenbogen in die Seite. "He, Fürst der Finsternis, aufgewacht!" Ich zog eine bitterböse Grimasse, um ihm die Freude zu machen. Er hatte bei unserer ersten Begegnung vermutet, dass ich die sonnengebräunte Variante Graf Draculas verkörperte. Eine seltsame Vorstellung. Martin griente wie erwartet begeistert, rieb sich dann die Hände. "Völkerball ist angesagt!" @~@ Gott sei Dank hatte die Rennerei ein Ende! Ich schnappte nach Luft, ignorierte die gewohnten Flecken vor meinen Augen. Wenn ich meine Hände auf die Knie stützte, mich vorbeugte, würde sich das wieder geben. Einen Sturz fürchtete ich nicht, da sich nach den Ausführungen der Physik-Lehrkraft das subjektive Schwindelgefühl objektiv nicht bestätigten. Wie konnte ich die Gesetze der Physik anzweifeln? Gerade wurde die ermüdende Prozedur der Mannschaftsaufstellung veranstaltet, Beliebtheitswettbewerb und Konkurrenzkampf in einem Aufwasch. Ich machte es mir auf der Bank bequem in der sicheren Erwartung, als Ausschussmasse erst spät nach Debatten einer Partei zugeschoben zu werden. Völkerball war nach meiner Ansicht die Übernahme archaischer Kriegskünste in die heutige Zeit. Zwei sogenannte Völker prügelten sich mit Medizinbällen (wieso die tonnenschweren, unförmigen Klötze diese Bezeichnung trugen, war mir ein Rätsel) gegenseitig so zu, dass zum Schluss eine Partei nur noch aus dem Jenseits hinter der Markierung Schmähungen rufen konnte. Ich konnte es kaum erwarten. @~@ Ich liebte Völkerball, weil man sich dabei austoben konnte. Wenn das Feld sich leerte, hatte man freie Bahn, um den scharfen Bällen auszuweichen, die einfachen zu fangen. Mit taktischem Geschick konnte man die Gegenseite erheblich dezimieren, indem man eine im Wurf herausragende Person ins Jenseits befördern ließ, die dann die Pässe verwandelte. Ich bevorzugte das freie Feld, aber Martin stieß mich an. "Fab, jetzt, wo die Flaschen aus dem Weg sind, müssen wir die anderen abschießen!" Also ließ ich mich gehorsam in den Flug eines Balls fallen, wechselte in das Jenseits hinüber. Es war beschämend einfach, unsere Gegnerschaft auszudünnen. Einige Mitspielende hatten sichtbar keine Lust, warteten nur darauf, im Jenseits gelangweilt herumzustehen. Martin winkte mir nun von der anderen Seite zu. Er hatte ein paar andere auf unserem freien Feld zurückgelassen, die reaktionsschnell und wendig waren. Vor mir sprang ein sehr zierlicher Junge herum, fast zwei Köpfe kleiner, zu meiner Verwunderung nur darauf bedacht, nicht getroffen zu werden. Ich hatte nicht einmal gesehen, dass er einen Ball aufgesammelt oder gefangen hatte. Martin grinste mir über die Köpfe der anderen hinweg zu, feuerte einen blitzschnellen Gewaltschuss über das Feld. Die Menge spritzte auseinander, der Kleine wirbelte herum, aber das erwies sich als genau die falsche Reaktion. Ich hörte meinen eigenen Schrei, "Scheiße!", aber zu spät! Die schmächtige Gestalt wurde von dem Medizinball genau an der Schläfe getroffen, direkt in meine Arme katapultiert. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Seine Augen, schokoladenbraun und vor Schock weit aufgerissen, suchten in meinen nach Halt, einer Erklärung. Er erschlaffte plötzlich, bläulich feine Lider senkten sich herab. "Verdammte Scheiße!!" Obgleich er wohl nicht mal fünfzig Kilo wog, konnte ich ihn kaum festhalten. Statt eines festen Körpers erwischte ich bloß Lagen von Stoff übereinander. Kräftig zuzupacken fürchtete ich mich aus Angst, ihm wirklich wehzutun. Ein absurder Gedanke, war er doch bereits ohnmächtig. Jetzt fiel mir auch sein Name wieder ein, der nur sehr selten benutzt wurde: Valerius. Ich brach in die Knie, legte beide Hände um sein schmales Gesicht, das von einem fedrigen Haarschnitt eingerahmt wurde. "He, Kleiner, Val, wach bitte auf!" Raunte ich ihm zu, in der Hoffnung, dass er die Augen aufschlagen würde, mich für meine übertriebene Besorgnis verspottete. Er lag schwer auf meinen Oberschenkeln. Lediglich sein leichter Atem glitt über meinen Unterarm, verursachte eine Gänsehaut. Endlich kam auch der Sportlehrer. "Ich hole einen Krankenwagen, halte ihn solange aufrecht." Ich konnte es nicht fassen. Das war alles? "Halte ihn aufrecht?!" Verdammt nochmal, konnte er nicht Erste Hilfe leisten oder irgendetwas tun, damit dieser Junge die Augen öffnete?! Ich hatte nicht übel Lust, aufzuspringen, ihn anzubrüllen. Ich fühlte mich, als hätte ich noch niemals zuvor jemanden so spontan und abgrundtief gehasst. In diesem Augenblick stöhnte Valerius leise. Seine Hände wischten vage hoch, als wollten sie etwas abwehren, das jedoch längst eingeschlagen war. "Er lebt ja noch." Kommentierte Martin trocken. Ich war viel zu erleichtert, als dass ich darauf eingehen wollte. Stattdessen half ich Valerius vorsichtig in eine sitzende Position. "Val, wie fühlst du dich?" Er zuckte zusammen, so, als hätte ich ihm einen Schlag versetzt, zischte undeutlich etwas, das sich vermutlich auf meine geistreiche Frage bezog, presste beide Hände auf seine Schläfen, so fest, dass deutlich die Sehnen unter der bleichen Haut hervortraten. "Ich bring ihn in die Umkleide, da kann er sich auf die Bank legen." Verkündete ich, denn langsam machte mir das stumme Publikum, das eine regelrechte Mauer um uns bildete, zu schaffen. "Halte dich fest." Kommandierte ich ihn laut, schlang mir seine dünnen Arme um den Hals, stemmte ihn hoch. Wieder stöhnte er leise, legte behutsam, als wollte er mich nicht unnötig belasten, seinen Kopf auf meine Schulter. Ich erwartete eigentlich, dass er nun anfangen würde zu weinen, einfach, weil ich mir ein Übelkeit erregendes Schwindelgefühl und beschämende, körperliche Schwäche sowie einen gewaltigen Schreck ausmalte, aber er atmete lediglich konzentriert an meinem Hals weiter, eine gleichmäßige, flache Brise. Keine Tränen, kein Jammern, nichts. Das beruhigte mich nun überhaupt nicht. Die letzten Meter zur Bank stolperte ich ein wenig, wegen der ungewohnten Last, auch, weil das Adrenalin wegsackte, das mich so angetrieben hatte. Ich musste an mich halten, um ihn nicht unsanft auf die nackten Holzbalken sinken zu lassen. Noch immer waren seine Augen geschlossen, aber unter den dünnen Lidern zuckte es. Ich stopfte ihm so behutsam, wie es mir möglich war, meinen Wollpulli unter den Nacken. Der Sportlehrer hatte inzwischen endlich mal einen vernünftigen Einfall gehabt: er scheuchte die anderen aus der Umkleide, die uns wie bei einer Toten-Aufbahrung stumm belauerten. Nur Martin stand noch hinter mir, aber ich verspürte keine Lust, ihn anzusehen oder mit ihm zu sprechen. Vielleicht war es absolut 'uncool', Valerius die Hand zu halten oder sich vor Panik beinahe einzunässen, aber ich empfand es als noch viel schlimmer, dass er nun feixend hinter mir herumlungerte, auf eine Gelegenheit wartete, dumme Sprüche zu klopfen. Ich biss die Zähne zusammen, betrachtete weiter konzentriert Valerius. Sein Atem ging ganz rhythmisch, als schlafe er nur. Die zuckenden Augenpartien und der sich abzeichnende Bluterguss an der rechten Schläfe trieben mir Schweißperlen auf die Stirn. "Val, der Krankenwagen kommt sicher gleich. Soll ich dir was zusammenpacken? Oder jemanden anrufen?" Ich konnte schon einen leicht schrillen Ton in meiner Stimme vernehmen, aber es kümmerte mich nicht. "Val?" Ich wischte vorsichtig aschblonde Strähnen aus seiner Stirn, ertappte mich dabei, mechanisch immer wieder über seine kalte Haut zu streicheln. "Mann, Fab, mach wegen der Prinzessin nicht so einen Aufstand! Der simuliert doch bloß." Er hätte keinen schlechteren Augenblick wählen können, um auf meinen strapazierten Nerven herumzutrampeln. Noch ehe ich mich recht besinnen konnte, war ich hochgefahren, hatte ihm einen Stoß vor die Brust versetzt. "Halte bloß dein Maul und verpiss dich!! Du kotzt mich an mit deiner Aufschneiderei und deiner Macker-Haltung!!" Martin glotzte mich regelrecht an, so, als habe man ihm die Sicherungen rausgedreht, vollkommen perplex. "Was machst du mich an, du Spinner?! Ich kotze dich an?! Du kannst mich mal, du Arschloch!! Bleib bei deinem Dornröschen, ich verzieh mich!! Komm bloß nicht später angekrochen, klar?!" "Keine Sorge, von dir bin ich kuriert!" Martin rauschte ab, die Tür hinter sich zuknallend. Ich ging neben Valerius wieder in die Hocke, ausgepumpt von dem sinnlosen Streit. Warum musste das passieren? Als ich mich wieder Valerius' Gesicht zuwandte, bemerkte ich überrascht, dass er mich ansah. Ich bemühte mich um ein Grinsen, aber es musste wohl eine zerknitterte Fratze geworden sein, denn seine Augen kühlten merklich ab. "He, Val, ich..." "Ich heiße Valerius." Na toll. "Entschuldige, Val-erius, ich..." "Wenn du die Freundlichkeit hättest, deine Hand von meiner Stirn zu nehmen? Vielen Dank." Ich war zu überrumpelt, um etwas zu sagen. Na klasse, fein!! Warum traf es immer den Helfer? Weil er genau in der Mitte stand. Inzwischen versuchte Valerius, sich aufzusetzen. "Das ist keine gute Idee." Warf ich ein wenig spitz ein. Er biss förmlich die Kiefer ineinander, das Knirschen war abstoßend. Er saß aufrecht. @~@ In meinem Kopf übte eine Heavy Metal-Combo für ein Concerto furioso im Rahmen des bevorstehenden Armageddon. Zu den schwarzen Flecken in meiner Wahrnehmung fügten sich rote malerisch, was meine körperliche Befindlichkeit nicht gerade verbesserte. Durch diesen Schleier sah ich den Neuen neben mir auf dem Boden hocken. Seine fast asiatisch anmutenden Gesichtszüge waren angespannt. Besorgt musterte er mich. »Ist ein bisschen blass um die Nase.« Dachte ich hämisch. Ihn ignorierend machte ich mich an die Bestandsaufnahme. In einem Moment hetzte ich mir die Seele aus dem Leib in einem dieser dämlichen Akte der Körperertüchtigung, im nächsten fand ich mich in der stinkenden Umkleide auf einer Bank wieder, während die beiden Muskelprotze sich elaboriert die Freundschaft aufkündigten. Mit unangenehmer Deutlichkeit wurde mir bewusst, dass der Neue, Fabian, mir unablässig leicht über die Stirn gestrichen hatte. Ich konnte Körperkontakt noch nie besonders viel Positives abgewinnen, in ungebetener Form schon gar nicht. Jetzt kauerte er neben mir, starrte mich an, als erwarte er irgendein Zeichen. Ich hatte nicht die Absicht, mich wie eine Heulsuse aufzuführen. Ich hatte Schmerzen, keine Frage, aber das war meine Privatsache, kein öffentliches Schauspiel. Mit einiger Überwindung kam ich auf die Beine, mit der Zielsetzung, unseren Sportlehrer von einer Gratisfahrt ins Krankenhaus abzuhalten. Ich hatte nicht das geringste Bedürfnis, inspiziert, im Anschluss daran in die Obhut meiner lamentierenden Mutter übergeben zu werden. Hatte sie nicht heute wieder eine Sitzung in ihrem Ausschuss für atomwaffenfreie Zonen? Oder war es die Mütterkooperative zur selbstbestimmten, frühkindlichen Experimentierphase? Was ihr ehrenamtliches Engagement betraf, hatte meine Mutter die verheerenden Eigenschaften von Unkraut: sich wie eine Seuche verbreitend und nicht auszurotten. Ich bezweifelte auch stark, dass mir ihre Anwesenheit nützlich gewesen wäre. Eine Hand an der Wand entlangführend bewegte ich mich vorsichtig Richtung Tür. An dem Luftzug, der meine Hosenbeine umstrich, spürte ich, dass dieser Fabian ebenfalls aufgestanden war, mir nun folgte. Hatte er den Ball geworfen? Nein, nur Sekunden, bevor das Licht erloschen war, hatte ich ihn noch gesehen, ein Koloss, der mit vor Eifer geröteten Wangen nach dem Ball gestikulierte. Warum bemühte er sich dann um mich? Da er neu war, kannte er sich offenkundig nicht mit den hiesigen Gepflogenheiten aus: in einer Clique kümmerte man sich umeinander, ansonsten umging man einander weiträumig. Er stritt sich auch noch mit unserem ungekrönten Herrscher herum?! Entweder war er nicht besonders intelligent, oder aber er wollte sich zu den Ausgestoßenen gesellen. Ich beachtete ihn nicht weiter, öffnete die Tür, schwankte ein wenig unsicher auf den Korridor hinaus. Hinter meinen Schläfen ging das infernalische Gedröhn in eine neue Runde. Ich musste die Hände zu Fäusten ballen, um der Versuchung zu widerstehen, mir die Fingernägel in das Hirn zu rammen. Gleichzeitig stieg eine saure Welle meine Kehle hoch, die mich wünschen ließ, eine Cola zur Hand zu haben. "Es wäre wirklich besser, du würdest dich setzen." Soufflierte mir mein selbst ernannter Trabant, aber ich gab nicht auf. »Keine Schwäche.« @~@ Ihm entfuhr ein Geräusch wie ein gelangweilter Seufzer, seine Knie knickten ein. Geistesgegenwärtig preschte ich vor, fing seinen Sturz ab, bevor er auf die dunklen Fliesen schlagen konnte. Seine Augenlider flatterten wieder, ich konnte die langen Wimpern bewundern, die Schatten auf seine fahle Haut warfen. Zu meiner großen Erleichterung erklang aus der Ferne das Martinshorn. Mit nunmehr geübtem Schwung hob ich Valerius erneut auf meine Arme, transportierte ihn in die Umkleide zurück. Ich schlüpfte eilig in meine Kleidung, raffte alles zusammen, das ihm zu gehören schien. Was auch immer er sich bei dieser dummen Demonstration von Starrsinn gedacht hatte: es hatte mich nicht beeindruckt. @~@ Ich durfte tatsächlich im Krankenwagen mitfahren, was mich selbst am Meisten überraschte, hatte ich doch erwartet, Vorbehalten und Verboten trotzen zu müssen. Dafür saß ich nun in unbequemen Schalensitzen auf einem langen Flur, wartete. Endlich trat die Ärztin heraus, eine wieselflinke Schwester auf ihren Fersen. "...Beobachtung über Nacht. Holen Sie die Eltern herbei. Der Junge leidet unter einer massiven Mangelernährung..." Ich bemühte mich, mit dem faden Interieur zu verschmelzen, damit sie mich nicht bemerkten. Als niemand kehrtmachte, mich ansprach, atmete ich erleichtert aus. Ich hatte eine mittelschwere Gehirnerschütterung erwartet, aber keineswegs eine Bestätigung meines flüchtigen Eindrucks von Valerius' ausgemergeltem Körper. Meinen Rucksack aufnehmend erhob ich mich, betrat das Krankenzimmer. Das Bett an der Tür beherbergte einen Mann, der schnorchelnd vor sich hin schnarchte. Ein gewaltiger Gips umspannte die gesamte Länge seines rechten Beins. Auf Turnschuhspitzen huschte ich an ihm vorbei, einen Blick in Bett Nummer 2 werfend. Dort hatte sich noch kein neuer Bewohner eingefunden. Das dritte Bett, direkt an einem staubigen Fenster, musste das richtige sein. Tatsächlich lag Valerius darin, aber er hatte sich sehr verändert. In seinen üblichen bunten Kleidern, die einem Paradiesvogel zum Schmuck gereicht hätten, wirkte er eher unscheinbar als so furchtbar blass wie jetzt. Man hatte ihm einen dieser Krankenhauskittel übergestreift, der lose am Rücken zusammengebunden wurde, das verwaschene Weiß nur unwesentlich lebendiger als seine Haut. Die aschblonden Haare klebten in seiner Stirn, aus einem dürren Arm führte ein Katheter zu einem Beutel mit einer durchscheinenden Nährlösung. Ich konnte nicht glauben, dass er so schmal war. Zugegeben, mir kamen eine Menge meiner Mitmenschen schmächtig und zerbrechlich vor, einfach, weil ich sie überragte und dazu noch über eine recht solide Statur verfügte. Das hier war etwas ganz anderes. Unter der dünnen Haut konnte man genau den Verlauf der Adern sehen, sie grenzten sich betont von seinen Knochen ab. Er wirkte auf mich wie ein Hungeropfer im Anfangsstadium, so platt der Gedanke auch war. Ich bemerkte die Gänsehaut, die seine Arme hoch kroch. Natürlich, er musste ja nun frieren, nachdem er üblicherweise wohl mehrere Kleidungsschichten übereinander trug!! Ich ließ mich auf der Bettkante nieder, nahm seine Hände, die eine eisige Kühle ausstrahlten. Um seinen Kopf hatte man einen leichten Verband gewunden, der eine bläuliche Kühlkompresse an ihrem Platz hielt. Keine Reaktion, also begann ich, meinen Atem auf seine Handrücken zu hauchen, sie zu reiben. Diese Kälte war beängstigend. Sie schien selbst meine Haut durchdringen zu wollen. Fast besessen rieb ich die bleiche Haut aneinander, hoffte auf rote Flecken oder zumindest einen Temperaturanstieg. Stattdessen erwachte Valerius. @~@ Ich kam langsam wieder zu mir. Aus einem nichtssagenden Weiß lösten sich dunklere Punkte, die sich schlussendlich zu einer Gestalt zusammensetzten, die mir bekannt vorkam. Mehrfach blinzelnd versuchte ich, meine Wahrnehmung zu schärfen, das betäubende Brummen in meinem Kopf zu ignorieren. Wer hätte das gedacht, der Neue! Klebrig wie eine Klette hatte er schon wieder meine Hände in seinem Zugriff. In seinen Augen, wie ich erst jetzt feststellte, ein beeindruckendes Lapislazuli, das einen aparten Kontrast zu der von Natur aus warmen Hautfarbe bildete, funkelte Entschlossenheit. Ich würde mich weder von seinem Willen, noch von seiner Körpergröße einschüchtern lassen! Ich entzog ihm energisch meine Hände, bemühte mich, die Ellenbogen zu Hilfe nehmend, eine aufsitzende Haltung zu erreichen. Mein Kopf schwindelte noch leicht, aber ich duldete keine weiteren Nachlässigkeiten. "Du solltest es nicht übertreiben!" Warnte Fabian mich. Ich schnitt ihm eine hochmütige Grimasse, die nun wirklich nicht missverstanden werden konnte. Ein leichter Luftzug ließ mich frösteln, was mir nun meine Umgebung und meine Aufmachung deutlich zur Kenntnis brachten. Man hatte mich in einen Kittel gesteckt und im Krankenhaus aufgebahrt?! Was sollte dieser lästige Schlauch in meinem Arm? Ganz gleich, was sie sich gedacht hatten, ICH gedachte, mich nicht weiter hier aufzuhalten. Der Geruch von Desinfektionsmitteln, dieser schwindsüchtige Kittel und die Beaufsichtigung waren nichts, mit dem ich mich in meinem angeschlagenen Zustand herumplagen wollte. "Valerius, bleib liegen!" Ich fauchte ihn an, als er versuchte, mich wieder auf das ungemütlich weiche Lager zu drücken. "Verdammt, Hände weg!!" Meine Stimme krächzte und kollerte wie ein altes Ofenrohr, wirklich charmant. Er wich zurück, als hätte ich ihn körperlich attackiert, aber seine Augen, ein wenig exotisch in diesem offenen Gesicht, funkelten verärgert. "Die Ärztin hat gesagt, du musst zur Beobachtung über Nacht bleiben, also spare dir den Aufstand. Außerdem leidest du unter einer Mangelernährung!" Ich erstarrte. Das war selbstredend Unsinn, ich war nicht mangelernährt, wie man sehen konnte. Ich aß zwar nichts, aber ich achtete auf eine ordentliche Nahrungszufuhr. Ich kannte mich sicher besser in den Bereichen der Lebensmittelchemie aus als diese so genannte Ärztin. Immerhin hielt ich meine Askese bereits seit geraumer Zeit durch. Allerdings konnte diese Ausführung bedeuten, dass sie meine Eltern einbestellen wollte. Auf diesen Stress konnte ich dankend verzichten. Ich hatte meinen Bedarf an Larmoyanz und kleingeistigen Vorwürfen schon für Jahre in die Zukunft abgedeckt. Ein Nachschlag war wirklich nicht erforderlich. "Ich habe nicht die Absicht, hier zu bleiben. Mir ist vollkommen gleichgültig, was irgendwer zu irgendwem gesagt hat." Ich wollte ihn verletzen, damit er mich in Ruhe ließ. Außerdem behagte mir der Gedanken, mich vor ihm ankleiden zu müssen, überhaupt nicht. Er straffte die Schultern, eine rollende Geste wie bei einem Preisringer auf dem Jahrmarkt, mehr Show als Inhalt. "Du hast eine Gehirnerschütterung, ist dir das eigentlich klar?! Vorhin hast du es gerade mal bis in den Korridor geschafft, bevor du umgefallen bist. Was glaubst du, wie weit du jetzt kommst? Bis zur Tür? In den Flur?" Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, wie ich jetzt bemerkte, tatsächlich mit einem Stift aufgezeichnet. Ich war gegen meinen Willen von dieser Kunstfertigkeit beeindruckt und gefesselt. Wie oft begegnete man einem Jungen, der sich Augenbrauen aufmalte? "Hör mal, Boy George, du hast mir überhaupt keine Vorschriften zu machen. Ich tue, wie mir beliebt." Großspurig, arrogant, selbstherrlich: NUN musste er doch begreifen. @~@ Ich konnte nicht anders als ihn anstarren. Er sprühte vor Frechheit, obwohl sein Äußeres schon eine ungesunde, ätherische Qualität angenommen hatte. Nannte mich Boy George! In dem Funkeln in seinen Augen konnte ich trotz seiner hochmütigen Miene erkennen, dass er beabsichtigte, mich loszuwerden. So einfach wollte ich es ihm nicht machen. Sollte ich mich etwa vor diesem Dreikäsehoch, der nicht mehr als eine Handvoll Knochen war, verflüchtigen, seine spitze Zunge unkommentiert lassen? »Nein, mein Kleiner, da musst du mir schon anders beikommen! Subtile Anspielungen schlagen mich nicht in die Flucht!« Ich grinste, lehnte mich zurück. "He, sag bloß, du findest Boy George auch cool?" Ich belauerte ihn genau. So entging mir seine Sekunden währende Verwirrung nicht. »Ha! Gotcha!« Unter den klebrigen, aschblonden Strähnen legte sich seine Stirn kraus, während die Schokolade in seinen Augen zu Zartbitter gerann. "Ich finde den Typen total abartig!" Zischte er mich an. »Niedlich.« Dachte ich unwillkürlich. »Sogar seine Zähne sind klein!« Ich verschränkte gelassen meine Arme vor der Brust. "Willst du wissen, wieso ich mir die Augenbrauen aufmale?" Er giftete prompt zurück, unruhig hin und her rutschend. "Weil du ein perverser Spinner mit einem Hang zur kitschigen Selbstvermarktung bist?" Ich grinste, was seine Wut noch anheizte. Endlich bekamen die Wangen Farbe. "Na gut, wo du so interessiert bist, erzähle ich es dir." Er senkte den Kopf wie ein Stier vor dem Angriff. Es fehlte nicht viel, und er hätte sicherlich die Zähne gefletscht. Die Gelegenheit nutzend begann ich rasch. "Ich war mal mit ein paar Freunden campen. Abends hatten wir die Idee, uns Popcorn in einem Topf über dem Campingkocher zu machen. Also erhitzten wir Fett in dem Topf. Das mit dem Popcorn funktionierte ganz gut, aber schließlich wurde der Topf so heiß, dass wir ihn nicht mehr halten konnten. Andererseits war unser Hunger noch nicht gestillt, sodass eines der Kids auf den Gedanken kam, den Deckel zu heben, das Fett mit Wasser abzukühlen. Leider stand ich am Nächsten dran, wumms!!, ehe ich mich versehe, waren meine Augenbrauen Geschichte." Ich zwinkerte ihm zu, während sich seine Miene verschloss. Sie zeigte nicht mehr diese Aggressivität, sondern vielmehr eine gewisse Empathie, die ich erhofft hatte. Er wandte den Blick ab, grub die Fingernägel in die dünne Bettdecke. "Würdest du mich entschuldigen? Ich möchte mich anziehen und diese heiligen Hallen verlassen." Ich rutschte auf der Bettkante näher an seine Taille heran. "Ich werde mich keinen Millimeter rühren." Er fuhr herum, als habe ihn eine Tarantel gestochen. "Warum lässt du mich nicht in Ruhe?!" "Weil du Dummheiten machen würdest. Für heute ist schon genug passiert." "Was ich tue, geht dich gar nichts an!!" "Tja, da ich mich nicht rühren werde, kannst du gerne versuchen, mich aus deinen Angelegenheiten herauszuhalten." Ich bemühte mich, nicht nach Triumph zu klingen, sondern einfach nur felsenfest und barbarisch unbeugsam. Er knurrte vor Wut, ein so verzauberndes Geräusch, dass ich versucht war, ihn gleich einem Stoffbären an mich zu drücken. Stattdessen lächelte ich milde, befand, dass ich meine soeben entdeckte Mission nicht übel in Angriff nahm. @~@ Es war unglaublich. Dieser Pachyderme hockte noch immer auf der Bettkante, verhinderte durch sein Gewicht, dass ich die Bettdecke anheben konnte! Beschwatzte mich mit irrelevantem Unsinn, spielte sich als mein großer Bruder oder sonst irgendein unnötiges und nervtötendes Vorbild auf! Was mich zu einer Entscheidung zwang. Ich konnte mich auf der anderen Seite aus der Bettdecke winden, vor seinen Augen umkleiden. Fraglich war, ob er mich tatsächlich entkommen lassen würde. Es wäre sicher einfach für ihn, Alarm zu schlagen. Oder aber ich blieb zähneknirschend eine Nacht hier, schickte mich in das Unvermeidliche. »Nein!« Ich grub die Fingernägel tief in meine Handflächen, suchte die dort vorgeblich vorhandenen Akupressur-Punkte, atmete tief durch. Kampflos würde ich mich nicht in die Hände des Schicksals geben! Mit energischem Schwung schleuderte ich die nutzlos dünne Decke von meinen Beinen, steuerte mit ihnen den Bettrand an. Nun erst wurde mir bewusst, wie schwächlich und verloren sie wirkten in diesem unförmigen Bett. Das war schließlich nur eine Frage der Wahrnehmung, nicht wahr? Ich rutschte an der Kante entlang dem Boden entgegen, unangenehm kalt unter meinen nackten Fußsohlen, stemmte mich in die Höhe. Na bitte, es ging doch! Ich sparte mir einen triumphierenden Blick, sondern konzentrierte mich auf das Wesentliche: der Katheter musste entfernt werden. Allein die Frage, wie das möglichst schmerzlos und ohne größere Verunreinigungen bewerkstelligen? @~@ Ich war baff. Der kleine Kerl stand tatsächlich, das unförmige Kittelhemd umschmeichelte seine fragile Gestalt. Ob er wohl wusste, dass ich einen ungehinderten Einblick auf seine Kehrseite hatte? Ich blinzelte heftig, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, denn im nächsten Augenblick machte er Anstalten, sich ohne viel Federlesens den Katheter aus dem Arm zu ziehen. Vielleicht funktionierte das in Filmen so, aber in der Realität konnte man sich damit erheblichen Ärger einhandeln. "Nicht!" Ich rollte elegant, als gehörte das zu meinem täglichen Gymnastikprogramm, über das Bett hinweg, umklammerte unmissverständlich seine zarten Handgelenke. In seinen Augen glühte Zorn, aber ich ignorierte das geflissentlich. "Wenn du mir versprichst, dass du mich als Begleiter bis morgen Früh akzeptierst, helfe ich dir dabei, den Katheter loszuwerden." Eine fein gezogene Augenbraue schraubte sich in die Höhe, Skepsis in ihrer Reinform. "Woher solltest du das können?" Ich wich seinem Blick nicht aus, sondern starrte ohne zu zwinkern zurück. "Ich war mal bei den Pfadfindern. Da lernt man Erste Hilfe." Ich verschwieg uneigennützig, dass ich den Kurs nur für eine unwesentliche Zeit besucht hatte. Außer dem Anlegen von Verbänden hatte ich nicht wirklich gelernt, was Erste Hilfe ausmachte. Zudem war es schon Ewigkeiten her. Er wog die Vor- und Nachteile sorgfältig ab, so viel konnte ich in seinen Augen lesen, streckte mir demonstrativ seinen mageren Arm hin. "Los, Dr. Frankenstein, ich bin auf die Ergebnisse Ihrer Forschung wirklich gespannt." Ich konnte nicht glauben, dass ein so schmächtiges Kerlchen so viel Zynismus in seine Stimme legen konnte. "Erst will ich dein Wort." Gereizt kniff er die Augen zu Schlitzen, nickte aber. "Du hast mein Wort. Bis morgen Früh." Ich lächelte ihm zu, aber eigentlich wollte ich mich selbst damit aufmuntern. Zu meinem unverschämten Glück fanden sich Pflaster, Druckverbandszeug und auch Desinfektionsmittel im Nachtschränkchen, vorausschauend von einer ordnungsliebenden Hand verstaut. Erstaunlicherweise konnte ich Valerius von seinem ungeliebten Tropf befreien, ohne dass sich eine Katastrophe entwickelte. Mit seltsam unpassend wirkender Würde hielt er sich nun den Kittel am Rücken zusammen, stolzierte an mir vorbei, öffnete einen schmalen Schrank in der Erwartung, dort seine Habseligkeiten vorzufinden. Ich konnte es nicht fassen: drei T-Shirts, zwei Paar Socken, ein Sweatshirt, dazu eine Windjacke, eine lange Unterhose und eine dicke Jeans? Er warf sich alles über den Arm, ignorierte die Kittelöffnung, schloss sich im Badezimmer ein. Ich war froh, dass ich noch immer saß. Valerius war der zerbrechlichste Junge, den ich jemals zuvor gesehen hatte. Mich wunderte nun die verhaltene Wut der Ärztin nicht mehr. Wenn er nicht einen so unbezwingbaren Willen gehabt hätte, wäre es ihm unmöglich gewesen, sich aufrecht zu halten. Einen Augenblick nur hatte ich ihn so sehen können, wie er sich selbst geschaffen hatte: ein wandelndes Skelett, nichts als scharfe Knochen und papierdünne Haut. Schrecklich. Ich fragte mich betäubt, ob er vielleicht krank war. Aber das hätte man doch sicherlich sofort festgestellt, oder nicht? Ich versuchte mir in Erinnerung zu rufen, was Valerius üblicherweise zu sich nahm, doch zu meiner Schande musste ich mir eingestehen, dass ich keine Ahnung hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals in der Mittagspause in der Cafeteria gesehen zu haben. @~@ Es gestaltete sich erheblich anstrengender als gedacht, die Kleidung wieder überzustreifen. Ich musste mehrfach pausieren, weil die Anzeichen einer Ohnmacht mich zu übermannen drohten. Schließlich befand ich mich wieder in einem präsentablen Zustand. Hastig ging ich in Gedanken meine Barschaft durch. Nach eingehender Kalkulation sollte eine Taxifahrt in Begleitung finanzierbar sein. Ich konnte mich zwar noch immer nicht mit dem Gedanken anfreunden, diesen aufdringlichen Koloss bis zum nächsten Morgen in meiner Nähe zu haben, aber ich war entschlossen, mein Wort zu halten. Tief einatmend öffnete ich die Tür, kehrte in das Zimmer zurück. @~@ Als Valerius das winzige Bad wieder verließ, erkannte ich zum ersten Mal sein Geschick in der Täuschung. Er war ein Meister der Illusion, ein wandelndes Trompe d'oeil. In den prächtigen Farben, mehreren Schichten sich untereinander aufplusterndem Stoff und der selbstsicheren Pose wirkte er wie ein anderer Mensch. Man musste schon sehr genau hinsehen, um die Anzeichen für seine tatsächliche Gestalt zu erkennen: die zarten Handgelenke, die Schatten unter den Wangenknochen, die Sehnen in seinem Hals. Das ungeduldige Tippen seines Schnallenschuhs auf dem Boden brachte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. "Nun?!" Eine Aufforderung, begleitet von einem Lupfen der Augenbraue, die dem Sonnenkönig würdig gewesen wäre. Ich fragte mich, wer Valerius wirklich war. @~@ Kapitel 2 - Hausbesuch Es kein besonders schwieriges Unterfangen, aus dem Krankenhaus zu entwischen. Ich gestattete mir keinerlei Besorgnis hinsichtlich der Reaktion der zuständigen Personen. Damit würde ich mich befassen, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. Nun galt es, die nähere Zukunft in Augenschein zu nehmen. Ich musste für Fabian eine Unterbringungsmöglichkeit finden, die meinen ehrenwerten Erzeugern nicht im höchsten Grad verdächtig vorkam. Ich hatte noch nie Gäste mitgebracht, insbesondere nicht für eine Übernachtung. Daher sollte dieser Umstand allein sie schon misstrauisch stimmen. Was natürlich die Alternative aufwarf, ihn in meinem eigenen Zimmer zu verbergen, einfach abzuwarten. Möglicherweise würde sich das Schicksal gnädig erweisen, mir weitere Peinlichkeiten ersparen. Seinen gewaltigen Schatten im Nacken schloss ich die Haustür auf, mit plötzlicher Gewissheit, dass es mir unangenehm war, einen Fremden mit in mein Zimmer nehmen zu müssen. Der konnte doch aus all den Details Rückschlüsse auf meine Persönlichkeit ziehen. Aber es war zu spät, sich mit Vorwürfen und Kleinlichkeiten aufzuhalten. @~@ Valerius' Elternhaus gefiel mir auf Anhieb. Es war eines dieser Fertig-Reihenhäuschen, schmal, aber mit einem Streifen Grün und einer angesetzten Garage. Ob es wohl eine Veranda gab? Neugierig folgte ich ihm hinein in das schattige Innere. Gleich neben der Tür, die mit seltsamen Symbolen geschmückt war, führte eine steile Stiege unter das Dachgeschoss. Die Diele war ebenso schmal, mit einem abgetretenen Läufer ausgelegt, der deutlich die Sprache eines Kreativkurses trug, vermutlich >Flickenteppiche aus altem Stoff<. "Möchtest du dich umsehen?" Im Tonfall ungewohnt umgänglich machte ich von diesem unerwarteten Angebot natürlich Gebrauch. Ich war fast unanständig verrückt nach anderen Haushalten, Häusern oder Wohnungen, in denen tatsächlich gelebt wurde, die Spuren der Behausung zeigten. Wissbegierig streifte ich die Diele hinunter. Die erste Tür linker Hand führte in eine Küche mit einem herrlichen alten Buffet, davor in ebenso dunklem Holz ein gewaltiger Tisch, um den sich Stühle scharten. Ich konnte nicht anders, ich musste diese Küche sehen! Sie war eine kunterbunte Mischung aus Technik und Tradition. Neben den alten Möbeln fanden sich Elektroherd, Mikrowelle und Spülmaschine. An einem verchromten Gitter hingen Utensilien, Töpfe und Pfannen. Der Kühlschrank thronte im Schatten des Buffets, dezent mit einer dunklem Holz nachempfundenen Klebefolie bedeckt. Es juckte mich in den Fingern, Laden und Klappen zu öffnen, um ihnen ihre verborgenen Geheimnisse zu entlocken. Wie sicherlich meinen Worten zu entnehmen ist, liebte ich das Kochen über alles, sogar noch mehr als Sport. Da mein Vater in dieser Hinsicht weder Begeisterung, noch Interesse zeigte, waren unsere unterschiedlichen Behausungen nicht auf meine Wünsche ausgerichtet. So schlich ich mich mit Begeisterung in die Küchen meiner neuen Freunde und Bekannten, bat darum, dort meine Fähigkeiten auf die Probe stellen zu dürfen. Valerius war auf der Türschwelle stehen geblieben, als sei ihm in der Küche nicht ganz wohl. Was mich nicht sonderlich überraschte. Er wirkte noch blasser als gewöhnlich, sodass ich mich zusammennahm, gehorsam wieder die Besichtigungstour durch das Haus fortsetzte. Die Diele führte in einen großen Raum, der eine Kombination aus Essecke und Wohnzimmer darstellte. Vor der angelehnten Glastür erstreckte sich tatsächlich eine winzige Veranda. Ein gemütliches Sofa wartete unter einer Glasfront auf sonnenhungrigen Besuch. Ich erkundete wissbegierig den Raum: dunkel gebeizte Möbel, weitere Produkte aus verschiedenen Kreativkursen, dazu ein gewaltiges Fernsehgerät in einer HiFi-Landschaft. Ich pirschte mich an die Glastür heran, um einen Blick in den angeschlossenen, kleinen Garten zu werfen. Man hatte sich an einem kunstvollen Rasen versucht, allein, die Natur hatte sich nicht ins Handwerk pfuschen lassen, verschiedene bunte Wildblumen und auch Unkraut eingestreut. Zur Abgrenzung gegen die Nachbargrundstücke waren rund um die Jägerzäune Obststräucher gepflanzt worden, die mir aber nicht den Eindruck erweckten, auch fruchttragend zu sein. Dennoch wirkte dieses farbenprächtige Mosaik sehr einladend. Valerius lehnte sich nun an den Türrahmen, distanziert wie ein Forscher, der sein Versuchsobjekt einen Hindernisparcours absolvieren ließ, seine Reaktionen beobachtete. Vielleicht war es auch nur die wachsende, körperliche Schwäche, die ihn so unbewegt und gleichgültig erscheinen ließ. Ich lächelte ihn aufmunternd an, löste mich aus dem verlockenden Bann, folgte ihm dann die Stiegen hinauf. Wie ich vermutet hatte, befanden sich im Obergeschoss über der Küche das Badezimmer, das Schlafzimmer seiner Eltern und schließlich auch Valerius' Zimmer. Auf das war ich besonders gespannt. @~@ Langsam spürte ich bleischwere Mattigkeit durch meine Adern rieseln wie einen eisigen Schauer. Fabian inspizierte noch immer unser Haus, als sei es etwas Ungewöhnliches, Bemerkenswertes, nicht nur die Verkörperung der Banalität und Durchschnittlichkeit der Bewohnenden. In der gastgebenden Pflicht lag es nun eigentlich, die eigene Behausung sozusagen als Höhepunkt dieses Exkurses in die Mittelklasse zu präsentieren, anschließend zu Verdauungszwecken einen Aperitif anzubieten, aber ich fühlte mich nicht mehr zu prätentiösen Gesten aufgelegt. Ich wünschte mich vielmehr in Morpheus' Arme, allein, unbeachtet und meiner Selbst sicher. Unglücklicherweise ließ die Situation dies nicht zu, was mich nicht wenig enervierte. Ich schickte mich in das Unvermeidliche, stieß meine Zimmertür auf, bereit, eine minimal abfällige Geste zur Reduzierung meiner Frustration zu nutzen. @~@ Endlich erreichten wir Valerius' Zimmer. Es unterschied sich sehr von anderen Zimmern, die ich bisher zu Gesicht bekommen hatte. Das waren im Laufe der Jahre nicht gerade wenige gewesen. Ich hatte auch nicht angenommen, dass so ein seltsamer Bursche wie er ein ganz durchschnittliches Zimmer bewohnte. Direkt unter einem durch die Dachschräge gekippten Fenster befand sich ein Bett, das in seinen Ausmaßen für zwei Personen reichte. Es verschwand fast völlig unter diversen Kissen, die alle Farben des Regenbogens repräsentierten. Die Tagesdecke war aus unzähligen, bunten Flicken zusammengesetzt, Patchwork für Langmütige. Neben der Tür befand sich anstelle eines massiven Kleiderschrankes eine fahrbare Garderobenstange, von der verschiedene Aufbewahrungscontainer und Stoffsäcke herunterhingen. Die übrigen Wände stellten Regalen zu, vor denen durchscheinende Stoffbahnen mit farbenprächtigen Bildern hingen. Die Zimmerdecke erst!! Schwarzer Tüll, durchsetzt mit allem möglichen Glitzerkram! Ich war von dem Kaleidoskop dieses Zimmers förmlich erschlagen. Valerius schlich an mir vorbei, setzte sich auf die äußerste Kante seines Bettes, optisch darin aufgehend wie ein weiteres Kissen. Allerdings nicht unbedingt das größte. "Wow, echt Wahnsinn, dein Zimmer!!" Ich trat näher an die verhangenen Regale heran, schob vorsichtig die Motive beiseite, um einen Blick auf die Buchrücken zu werfen. "Lass das bitte." Wie aus dem Boden gewachsen tauchte er plötzlich neben mir auf, um mit entschiedener Geste wieder den Vorhang zuzuziehen. "'Tschuldigung." Murmelte ich perplex, auf unbestimmte Weise getroffen von diesem Tadel. Valerius warf mir aus seinen schokoladenbraunen Augen noch einen warnenden Blick zu, ließ sich wieder auf die Bettkante sacken. An den dunklen Ringen unter seinen Augen konnte ich erkennen, dass er sehr erschöpft sein musste, es aber offensichtlich nicht eingestehen wollte. Noch bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, wie ich mich ihm gegenüber verhalten wollte, grollte mein Magen ohrenbetäubend. @~@ Mir ging seine Anwesenheit schon jetzt derart gegen den Strich, dass ich ihn am Liebsten zum Teufel gejagt hätte. Dieses begeisterte Glühen in seinem Gesicht, diese Neugier, mit der er jeden Winkel zu erkunden suchte! All das widerte mich an. Mein Schädel ging in die Endausscheidung des Ragnarök. Ich wollte mich nicht länger quälen müssen, indem ich den Schein wahrte. Ohnehin war es längst nicht mehr als eine sinnentleerte Geste, denn er hatte mich nun schon bewusstlos und nackt gesehen. Gerade, als ich der Versuchung, mich embryonal zusammenzurollen, nicht mehr widerstehen konnte, knurrte sein Magen vernehmlich. In seine Wangen stieg eine leichte Röte, während er mir unbekümmert zugrinste, mit den Schultern zuckte. Richtig, es war Mittagszeit. So ein Koloss musste sich sicher eine ganze Ladung an Fressalien einfüllen, um die Betriebsbereitschaft zu erhalten. Konnte ich ihn wohl auf diese Weise loswerden? @~@ Valerius musterte mich so rätselhaft wie ein Sphinx, aber ich hatte schon eine Vermutung, auf was seine Gedanken hinausliefen, nämlich, wie er mich vertreiben konnte, ohne sein Wort zu brechen oder das Gesicht zu verlieren. Allerdings hatte ich nicht vor, ihn einfach aus meiner Gewalt zu entlassen. Jetzt würde er ein wenig Demut zu lernen haben als Ausgleich für seine Gemeinheiten heute! Es war zwar eine schäbige Einstellung, andererseits aber wollte ich die Gelegenheit, ihn kennenzulernen, nicht so einfach verstreichen lassen. @~@ Sein spontanes Feixen bewies mir nur zu deutlich, dass ihm meine Absichten nicht verborgen geblieben waren. Er verschränkte die Arme vor der Brust, sah mich aus seinen Lapislazuli-Augen verschmitzt an, wusste er doch, dass ich mich in einem selbst gewählten Dilemma befand. Ich bohrte die Fingernägel tief in meine Handflächen, saugte den Schmerz auf, damit er mich reinigte, meine Gedanken klärte. Nur ein paar Stunden, was war das schon? Ich hatte schon ganz andere Plagen ertragen, da würde ich auch diese überstehen! @~@ Valerius presste erneut auf diese anrührend trotzige Art die Kieferknochen auf einander. Wieder zeichneten sich Sehnen in seinem Gesicht ab, während sich die Schokolade in herb-bitter verwandelte. "Wenn du möchtest, kannst du dir gern in unserer Küche etwas zu essen machen." Er würgte so angeekelt an den Worten, dass es mich schauderte. Ich gab vor, es nicht bemerkt zu haben. "Okay, ich mache uns was! Fein! Was willst du essen?" Sagte man nicht, dass braune Augen nicht kalt wirken könnten? In Valerius' Fall stimmte diese Behauptung nicht, denn mich traf ein Eisregen. "Vielen Dank, aber ich habe keinen Hunger." Auf diese Antwort hätte ich wetten können. Ich zwinkerte ihm altklug zu. "Der Appetit kommt beim Essen, wirst schon sehen." Bevor er mich in eine Eissäule verwandeln konnte, polterte ich die steile Stiege hinab. »Ein komisches Kerlchen!« @~@ Ich rammte meine Fäuste fest in mein Lieblingskissen, schluckte einen sauren Kloß der Empörung und Demütigung herunter. »Dieser Scheißkerl!! Besserwisserischer, aufgequollener, ignoranter Muskelprotz!!« Erschöpft ließ ich mich rücklings auf mein Kissenmeer sinken, legte einen Arm schwer über meine Augen, um sie daran zu hindern, verräterische Spuren abzusondern. Vielleicht hatte ich ja Glück? Dieses Ekel könnte sich selbst mit dem elektrischen Küchenmesser aus dem Verkehr ziehen? Mit einer Hand tastete ich nach der Fernbedienung, aktivierte meine Anlage. Könnte ich doch nur in einem Schwarzen Loch verschwinden, von all diesen unbedeutenden Ärgernissen für immer entfernt! @~@ Wie immer verschaffte ich mir zunächst einen Überblick über die Vorräte, was mich hier nun wirklich beeindruckte. Valerius' Eltern verstanden es offensichtlich, es sich gutgehen zu lassen: so viele Delikatessen hatte ich nur selten vorgefunden. Ich befahl meinem grollenden Magen, sich zu gedulden, sinnierte über die geradezu überwältigenden Möglichkeiten, die sich mir hier anboten. Eins war mir aber schon in dem Augenblick klar geworden, als ich Valerius so schwach und schmal in diesem Krankenbett gesehen hatte: ich wollte ihn zum Essen bringen. Vielleicht ein wenig blauäugig für einen Fremden, den er offenkundig nicht ausstehen konnte, aber ich ging keiner Herausforderung aus dem Weg, wenn sich eine Siegeschance abzeichnete. Sein Stolz und sein Ehrencodex würden mir zuarbeiten, wenn ich es geschickt anstellte. Außerdem gestand ich mir ein, dass ich seine Freundschaft gewinnen wollte, denn ich war noch nie zuvor einem Menschen wie ihm begegnet. @~@ Ich erwachte, als ein dichter, aufdringlicher Geruch meine Sinne in Beschlag nahm. Mein Kopf dröhnte nun in einem gleichbleibend aufreibenden Rhythmus, dennoch war ich entschlossen, solchen Widrigkeiten keine Gewalt über mich zu geben. Ich stützte mich auf einem Ellenbogen auf, lauschte einer Geräuschkulisse, die mich unmissverständlich daran erinnerte, dass ich nicht in süßer Abgeschiedenheit meinen Träumen nachhängen konnte. Der aufdringliche Koloss tobte der Kakophonie nach zu urteilen in der Küche herum. Hoffentlich hielt sich die Verwüstung in bewältigbaren Grenzen! Es würde schon lästig genug fallen, meinen ehrenwerten Ahnen verständlich zu machen, aus welchem Grund ich Besuch hatte. Behutsam belastete ich meine Beine, schraubte mich in die Höhe, registrierte erfreut, dass sich keine farbenprächtigen Flecken vor meinen Augen tummelten. Getreu meiner Maxime, zu ignorieren, was sich nicht meinem Willen fügte, bannte ich Befürchtungen bezüglich meines Zustandes in einen fernen Winkel meines Bewusstseins. Großer Gott, was roch denn da so aufdringlich wie billiges Rasierwasser?! Ungnädig gesonnen schwankte ich die Treppe hinab, eine Hand vor den Mund gepresst, um die Übelkeit in Schach zu halten, die meinen revoltierenden Magen ergriffen hatte. @~@ Zufrieden betrachtete ich mein Werk. Eine Gemüse-Lasagne, mit Oliven, Schafskäse, Spinatblättern, und diesem und jenem, das ich der gewaltigen Speisekammer entlockt hatte. Ich sog genießerisch den appetitlichen Geruch von würzigen Kräutern ein, der sich mit dem Aroma des geschmolzenen Käse vermischte. Mein Magen überstimmte lautstark alle Vorbehalte, noch länger an mich zu halten. Ich fragte mich, ob ich ein Tablett bestücken, ihm das Essen ans Bett servieren sollte. Ginge es nach mir, so hätte ich eine Picknickdecke auf der Mini-Wiese ausgebreitet und dort im Sonnenschein getafelt, am Liebsten mit einer Apfelschorle und einem Tiramisu zum Nachtisch. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob das nicht ein wenig zu anmaßend gewesen wäre. Gerade, als ich mich auf die Suche nach Geschirr begeben wollte, entdeckte ich Valerius in der Tür. @~@ Ich hatte Mühe, meinen Ekel hinunterzuschlucken, als ich mich schließlich energisch der Quelle dieser Qual für alle Riechorgane näherte. Fabian hantierte mit dem Air eines Fanatikers in unserer Küche herum, klapperte mit Geschirr, kramte in der Besteckschublade. Auf dem großen Esstisch, der ungezählte Varianten an Gesprächsrunden, kontemplativer Versenkung und Debatten gesehen hatte, dampfte in einer Auflaufform etwas Käsebedecktes vor sich hin. Mir schnürte sich die Kehle zu. Was für eine unglaubliche Freiheit sich dieser aufdringliche Kotzbrocken herausnahm!! Diesen Gestank würde ich erst nach mehrstündigem Durchlüften wieder aus dem Haus treiben können! @~@ Wenn ich geglaubt hatte, dass diesen verdrießlichen Winzling eine Stunde Schlaf milde gestimmt hätte, so wurde ich nun eines Besseren belehrt. Seine Augen waren so schwarz wie die Gewitterwolke, die über seinem aschblonden Schopf schwebte. Hätten Blicke töten können, wäre ich schon in die ewigen Jagdgründe eingegangen. Aber was hatte ich auch erwartet?! Ich würde mich nicht von so einem Handvoll Hühnerknochen ins Bockshorn jagen lassen. Dazu müsste er erst mal auf Augenhöhe wachsen. Ich stemmte die Hände in die Hüften, grinste breit. "He, genau richtig zum Essen! Wo darf ich servieren, Valerius?" Seine Hand presste sich noch fester auf das schmale Gesicht, während die Augenbrauen sich bedrohlich zusammenzogen. "Dieser~dieser Geruch ist einfach abscheulich!!" Ich befreite mich von der Küchenschürze, hängte sie wieder ordentlich an den vorgesehenen Haken. "Oh Mann, das klingt, als sei nicht nur dein Kopf beschädigt worden, sondern auch dein Geschmackssinn." "Meine Geschmacksnerven..." Er würgte leicht. "...sind vollkommen unbeeinträchtigt! Allerdings... könnte ...dieser Geruch..." Er rang nach Luft. "...sie in Mitleidenschaft ziehen!" Ich winkte mit einer gezierten Geste ab. "Oh, du Scherzkeks! Aber nun lass uns erst mal Essen fassen! Dein Zimmer oder hier oder im Wohnzimmer oder wo?" Als ich sein Zimmer vorschlug, traten ihm vor Entsetzen fast die Augen aus dem Kopf, was mich zu einem Kichern reizte. Er torkelte ein paar Schritte zurück auf die Diele, nun die zweite Hand gegen seinen Bauch gepresst, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in einen kleinen Verschlag unterhalb der Stiege. "Verdammt!" Stank es wirklich? War ihm davon so übel, dass er sich übergeben musste? Ich hetzte hinter ihm her, in die winzige Ein-Mann-Zelle, die eine Toilette und ein zwergenhaftes Waschbecken enthielt. Valerius war auf die Knie gesunken, wiegte sich stumm vor der hochgeklappten Brille hin und her. Ich stürzte in die Küche, befeuchtete ein Handtuch, kehrte zu ihm zurück. In der schmalen Türöffnung war nicht ausreichend Platz für uns beide, also kniete ich mich hinter ihn, fing seinen zitternden Oberkörper ein, tupfte sein Gesicht mit dem Handtuch ab. Zu meiner Verwunderung wehrte er sich nicht, zu stark hielten ihn die konvulsivischen Zuckungen seines schmächtigen Körpers gefangen. Ich war nicht sicher, ob das nun Spätfolgen seines Unfalls oder aber Auswirkungen seiner Mangelernährung waren, fühlte mich erneut so hilflos wie in jenen Augenblicken, als er reglos in meinen Armen gelegen hatte. "Val, Kleiner, soll ich Hilfe rufen? Was ist mit dir los?" Er schluckte heftig, ob trocken oder Galle, konnte ich nicht bestimmen, räusperte sich. "Nenn mich nicht Val!!" Wenn das nicht typisch war!! Natürlich musste er zuerst beckmässern!! Ich fragte mich, warum ich Martin einen Macker genannt hatte, wenn dieses winzige Etwas sich so aufführte. Die beiden nahmen sich wirklich nicht viel. "Wie auch immer, was ist los mit dir?!" Ich wollte 'cool', nur eine Spur verärgert klingen, aber das Resultat war ein leicht panisches Quengeln. Er schüttelte mich indigniert ab, zog sich am Waschbecken wieder in die Höhe. "Dieser Fraß dreht mir den Magen um, du Schnellmerker!" Ich schoss ebenfalls hoch, nicht bereit, mich auf seine Spielchen einzulassen. "Dir ist schlecht, weil du nichts gegessen hast, das ist es! Dieser 'Fraß' ist eines meiner Lieblingsgerichte, es riecht sehr lecker, ist nahrhaft und fleischlos. Sogar jemand wie du kann es essen ohne moralische Bedenken." @~@ Hatte ich richtig gehört? Sah mich dieser blöde Kerl für einen verkappten Moralisten an, der keine Tiere aß, weil er sie für seine Brüder im Geiste hielt? Ich war nun wirklich nicht so vermessen, mich hinter einer solch hanebüchenen, pathetischen Erklärung zu verschanzen. Gerade unsere "Brüder im Geiste" kannten das Gesetz: Fressen und gefressen werden. Was zählte, war die Position in der Nahrungskette. Nun war es wohl an der Zeit, Konsequenzen zu ziehen, den eigenen Standpunkt unmissverständlich klar zu machen. Ich würde ihn rausschmeißen. @~@ An seinem höhnischen Gesichtsausdruck konnte ich ablesen, dass ich mit der üblichen vegetarischen 'Variante' daneben gelangt hatte. So, wie er nun die schmächtigen Schultern unter diesen Stoffschichten anspannte, bereitete er sich auf das ultimative Kräftemessen vor. Wenn ich ihm nicht mit einem Angriff zuvorkam, würde er mich sicher an die Luft setzen. "Ich werde mal in der Küche aufdecken. Habt ihr zufällig Apfelschorle?" Lässig schlug ich mir das Handtuch über eine Schulter, stolzierte ausladend wie ein Pfau wieder zurück in die heiligen Hallen der Cuisine. Ich hätte eine Menge für einen Rückspiegel gegeben, denn ich war mir sicher, dass Valerius in seinem Zorn einen grandiosen Anblick bot. @~@ Ich musste mehrfach tief durchatmen, bevor ich es wagen konnte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. »Dieser aufgeblasene, wichtigtuerische...!!« Trampelte mit dem Zartgefühl eines Rhinozerosses auf der Flucht auf meiner angegriffenen Gesundheit herum, nistete sich ungebeten hier ein! Ich schwankte zwischen dem Exil in meinem Zimmer oder der erneuten Konfrontation in der Küche, wo sich das Terrain aber zu meinen Ungunsten verhielt. In diesem Augenblick trällerte das Telefon. Mein Herz verfehlte einen Schlag, denn ich hegte die Befürchtung, dass man mittlerweile meine Absenz bemerkt hatte, Erklärungen einforderte. Ich schleppte mich zu den Stiegen, die Augen starr geradeaus, um mich nicht zu einem Blick in die Küche verführen zu lassen. Auf die unterste Stiege gleitend lauschte ich dem neutralen Ansagetext unseres elektronischen Knechts. Meine Instinkte hatten mich nicht betrogen: eine ziemlich harsch klingende Frauenstimme bat baldmöglich um Rückruf, da es entsprechend den Klinikstatuten nicht gestattet war, sich ohne die ausdrückliche Genehmigung des behandelnden Arztes zu entfernen. Wie sollte ich diesen Vorwurf entkräften? Während ich noch verschiedene Optionen erwog, spürte ich seine Blicke auf mir ruhen. Wollte er nicht endlich seine gewaltigen Hauer in diesen stinkenden Sud schlagen, sich sabbernd und schmatzend vollstopfen? Brüsk wandte ich ihm den Rücken zu. Sollte es wirklich erforderlich werden, dass ich ihn an die Grundregeln der Höflichkeit gemahnen musste?! Beiläufig registrierte ich, dass sich eine weitere Nachricht auf dem Band befand. Ich nahm den Hörer ab, ließ beide Meldungen Revue passieren. Unvermutet lächelte mir Göttin Fortuna zu, denn meine Eltern wiesen mich in der üblich konfusen, von unverständlichen Befürchtungen durchsetzten Mitteilung darauf hin, dass sie heute bei Bekannten zu nächtigen gedachten. Diese unerwartete Fügung des Schicksals gewährte mir willkommenen Aufschub, konnte ich doch nun die Situation zu meinen Gunsten gestalten. Den Blick in den Garderobenspiegel versenkend lächelte ich mir grimmig zu. »Showtime.« @~@ Normalerweise hätte ich die Küchentür hinter mir geschlossen, um Valerius ungestört telefonieren zu lassen, aber ich wollte sichergehen, dass er nicht umfiel oder eine andere Dummheit beging. Er kehrte mir demonstrativ den Rücken zu, hörte erneut den Anrufbeantworter ab, der seine neueste Mitteilung in die Diele hinausposaunt hatte. Ich war überrascht, dass sie bereits nach einer Stunde unser Fehlen bemerkt hatten. Nun brannte ich darauf zu erfahren, wie Valerius sich aus dieser Klemme herausmanövrieren wollte. @~@ Befriedigt legte ich den Hörer butterweich auf die Gabel. Mit der adäquaten Mischung aus Halbwahrheiten, Lügen und Phantasien darüber, was die gestrenge Dame am anderen Ende der Leitung zu hören wünschte, hatte ich ernsthafte Konflikte abgewendet. Wenn ich nun noch die passende Geschichte für meine verehrten Ahnen zurechtlegte, ersparte ich mir endlose Debatten und der Versicherung der Schule eine Menge Geld. Im Spiegel reflektierte sich Fabians Erscheinung. In seinem Gesicht stand eine respektvolle Fassungslosigkeit. Typisch für diese Muskelmänner! Nur, weil man körperlich nicht zu übertriebener Dreidimensionalität neigte, ging dies doch nicht mit geistiger Umnachtung einher! Nach diesem Punktsieg fühlte ich mich gestärkt genug, auch meinem unbequemen Quälgeist die Tür zu weisen, aber selbiger hatte sich schon wieder in die Küche verflüchtigt. @~@ Ich konnte es immer noch nicht ganz fassen, kniff mich unauffällig in den Oberschenkel. Hätte ich nicht hinter ihm gestanden, ihn gesehen, dieses mutwillige Glitzern in seinen Nougat-Augen, wäre ich ebenso auf sein Lügenmärchen hereingefallen wie die Person am anderen Ende der Leitung. Einfach unglaublich! Auch ein bisschen unheimlich, denn nun schillerte Valerius in meinen Augen nicht nur in Regenbogenfarben, sondern auch in nachtschwarzen Tönen der Schatten. Noch völlig mitgenommen von dieser Glanzleistung an Verstellung schenkte ich Apfelschorle in zwei Gläser aus. Gedanklich resümierte ich die letzten Minuten, fragte mich unsicher, welchen Valerius ich eigentlich kennenzulernen hoffte. Im Unterricht, der bislang einzigen Basis unserer Begegnungen, zeigte er sich ernsthaft, kenntnisreich, von einem nur unwesentlich verhohlenem, ätzenden Zynismus. Freunde schien er nicht zu haben, zumindest waren mir keine vertraulichen Gespräche mit anderen aufgefallen. Dass er sich selbst vergaß, hitzig wurde, erlebte ich heute zum ersten Mal. Dieses Aufblitzen von Temperament, das er offenkundig sonst tief in sich verschlossen hielt. Ich war fasziniert von seiner Wandlungsfähigkeit, fürchtete mich aber ein wenig vor den Ursachen. Verhielt es sich mit seinen Gefühlen ebenso wie mit seiner strahlend bunten Bekleidung? Befand sich unter diesem arroganten Gehabe eine ausgehungerte Seele, die durch einen starken Willen beherrscht wurde? Wie dem auch sei, ich wollte es wissen. Wenn ich es mir schon zur Mission machte, ihn zum Essen zu verführen, wollte ich auch sein wahres Ich, seine Gefühle hervorlocken. Ich stellte die Gläser auf den Tisch, verteilte Besteck und Servietten, suchte zwei Teller heraus. Die massive Auflaufform platzierte ich dazwischen auf einem Korkuntersetzer, der wie handgefertigt wirkte, wenn auch mit wenig Geschick. "Komm rein und setz dich, ich verteile gleich mal den Auflauf." Plapperte ich unbekümmert weiter, ignorierte seine glühenden Blicke in meinem Rücken geflissentlich, entschlossen, mich nur durch körperliche Gewaltanwendung vor dem nächsten Morgen von ihm zu trennen. @~@ Er wuselte in unserer Küche herum, als sei das sein angestammtes Herrschergebiet. Noch immer hielt sich der Gestank dieses unbeschreiblichen Matsches hartnäckig in der Luft, verseuchte meine Wahrnehmung. Mein Magen meldete erneut verstärkten Protest, aber ich ließ mich nun nicht mehr einschüchtern. Auf dem Tisch erspähte ich zwei Gläser, mit sprudelnder, goldgelber Flüssigkeit gefüllt. Ich klappte trotzig auf meinem Stuhl zusammen, ertränkte die aufsteigende Galle, von unbändiger Wut auf diesen Eindringling in meiner Hemisphäre erfüllt. Er setzte sich zu mir, langte nach einem Schöpflöffel, hob den Teller an, den er mir zugedacht hatte. "Ich werde keinen einzigen Bissen von diesem Schweinefutter zu mir nehmen!" Informierte ich ihn hoheitsvoll. Er zwinkerte mit seinen Lapislazuli-Augen, klatschte einen Löffel voll dieses schleimigen, stinkenden Gemisches auf den Teller, stellte ihn demonstrativ vor mir ab. @~@ Ich teilte behutsam die Pasta-Platten, schöpfte eine Ecke ab, ließ sie langsam auf seinen Teller gleiten. Es sah richtig malerisch aus auf dem weißen Porzellan: goldgelber Käse, die schwarzen Oliven, die unternehmungslustig zwischen den Nudelplatten hervorlugten, liebevoll umschmeichelt von dem herzhaften Grün des Spinats. Zur Abrundung die unschuldige Blässe des Schafskäses, die sich in das saftige Grün mischte. Schon von diesem Anblick berauscht schlug mein Magen Purzelbäume in freudiger Erwartung. Noch bevor mich seine hämischen Worte erreichten, wusste ich, dass er nicht die Absicht hatte, meine Kochkünste zu würdigen, keinen Bissen nehmen wollte. Sein schmächtiger Körper verspannte sich völlig, alle Sinne auf Alarm, wie mir schien. Ich ignorierte seine Provokation mit einem nachsichtigen Schmunzeln, das man kleinen, störrischen Kindern schenkt, weil die einfach noch nicht wissen, was gut für sie ist. Mir selbst gedachte ich zwei Ecken zu, setzte mich bequem hin, wünschte ihm einen guten Appetit. Seine Schokoladenaugen versprühten puren Hass, während er sich an seinem Glas festhielt. Ich kostete genießerisch einen Happen, schwelgte in der Mischung aus säuerlichem Schafskäse und würzigem Spinat mit einem Hauch an schwarzem Pfeffer. »Köstlich!« Auch wenn ich mich zum ersten Mal in dieser Küche an einem Gericht versucht hatte, so war es mir doch gut gelungen. Ich kaute bedächtig auf der Nudelplatte herum, genau die richtige Beschaffenheit, al dente, nicht matschig oder gar verkocht. Seine Augen folgten wie verzaubert jeder einzelnen meiner Regungen, als habe er noch nie zuvor einem anderen Menschen beim Essen zugesehen. Üblicherweise störte mich das nicht im Geringsten, aber seine konzentrierte Fixierung auf mein Gesicht und meinen Hals verunsicherte mich nun doch. Weiterhin hielt er sich mit einer Hand an seinem Glas fest, während die andere sich wie ein Siegel auf seinen Mund legte, wie eine Ermahnung an ein Verbot, das unbedingt zu wahren sei. @~@ Während mir langsam der widerliche Gestank in die Augen stieg, sie wässerte, konnte ich meinen Blick nicht von seinem Mund abwenden. Mit einem fast lüsternen Grinsen schob er sich den Löffel über die Lippe, die obere sog den schleimigen Brei von der bis dato jungfräulichen Oberfläche des Löffels. Sein Mund schloss sich, um mit rotierenden Kiefern auf dem Speisebrei herum zu malmen. Endlich stellte er das Wiederkäuen ein, die traurigen Reste wanderten seine Kehle hinab, den Adamsapfel zum Hüpfen bringend. Ich suchte den gewohnten Stich des Ekels in meiner Seite, die aufsteigende Übelkeit angesichts dieses abstoßenden Gebärdens, aber zu meiner Verwunderung verspürte ich nur noch eine abgründige, erschöpfende Mattigkeit. Alles, was ich mir ersehnte, waren ein Bett und traumlose Vergessenheit. Flucht, so erschien es mir, war angesichts der Grausamkeit meiner Umwelt nicht mehr eine indiskutable Feigheit, sondern akzeptable Reaktion auf unerträgliche Folter. Zudem drohte mein Schädel unter dem beständigen Pochen zu zerbersten. Ich wagte nicht, die Hand auf die geschwollene Stelle zu legen, um zu prüfen, ob eine stark erhöhte Temperatur auf den Heilungsprozess der Verletzung hinwies. @~@ Gerade vertilgte ich einen weiteren Bissen, als sich Valerius an die Schläfe fasste, aber noch vor Hautkontakt mit der angeschwollenen Stelle die Finger abbremste. Eilig schluckte ich die köstliche Mischung herunter, sprang auf. Mir war so, als hätte ich ein geeignetes Kühlmittel im Eisfach des Kühlschranks auf meinem Stöberzug durch dieses Königreich erblickt. Ich fischte das Objekt aus den Untiefen der arktischen Unterbringung, wickelte es in ein flauschiges Küchenhandtuch, reichte es zu Prinz Eisenherz über den Tisch. "Hier, das kühlt!" Bemerkte ich aufmunternd, aber statt eines beherzten Zupackens musterten mich seine Augen nur misstrauisch, ein wenig feucht. Das traf mich doch, denn ich war nicht sicher, dass es nur der Abscheu vor dem Aroma meines Auflaufs war, nicht doch eine Auswirkung der Schmerzen. "Was soll das denn darstellen?" Fauchte er aggressiv. Ich beherrschte mich mustergültig, lächelte ihn nachsichtig an. "Das ist eine Packung Zitronensoße, sicher nicht mehr unbedingt bekömmlich, aber für unsere Zwecke geeignet." Gestikulierte ich mit meinem Kühlverband. @~@ Er war einfach unausstehlich!! Servil, übertrieben freundlich, so 'bekömmlich' wie ein Germknödel! Ich brauchte seine Aufmerksamkeit nicht, ich brauchte ihn nicht! Wieso hatte ich mir nur diesen Augenblick der Schwäche gestattet, um aus dem Krankenhaus zu entfliehen? Wegen eines lächerlichen Katheters, der sich bei unsachgemäßer Entfernung möglicherweise zu einer infizierten Wunde ausweiten konnte? Feige, erbärmlich und verachtenswert. Sollte ich nun erneut einer solchen Schwäche Vorschub leisten? Nein, ausgeschlossen. @~@ "Ich will das nicht." Valerius musste es wirklich nicht gut gehen. Er verzichtete auf den pointierten Sarkasmus, beschränkte sich auf den Starrsinn eines Kleinkindes. Ich fragte mich, was ich tun konnte, um ihm zu helfen. Ich beabsichtigte zwar, ihn ein wenig zu reizen, aber unangemessene Quälerei war nicht mein Stil. Ich fürchtete, er würde diese Aufgabe zweifellos sehr viel besser übernehmen können als ich. "Die Schwellung muss gekühlt werden. Entweder du legst Eis drauf, oder ich rufe bei der Klinik an." @~@ Ich hatte Lust, ihn zu strangulieren. Eine Wäscheleine vor seiner Kehle zu verdrehen und so lange zu ziehen, bis er nicht mehr als ein lästiger Ex-Klassenkamerad war! Nicht nur, dass er mir seinen Fraß eintrichtern wollte, mir diesen unsäglichen Gestank zumutete, nein, nun griff dieser grinsende Kotzbrocken sogar zum feigen Mittel der Erpressung! Würde er die Beherrschung verlieren, gehen, wenn ich ihn reizte? Eine kurze Reminiszenz an den vergangenen Vormittag ließ mir eine solche Vorgehensweise als wenig erfolgversprechend erscheinen. Was konnte ich tun? Ihn mit Schmeichelei einwickeln oder klein beigeben? Katzbuckeln und seine unverschämte Einmischung in mein Leben noch bestärken? @~@ Ich konnte sehen, wie es in ihm arbeitete, dunkle Schatten über das warme Nougat seiner Augen zogen. Fiebrig einen Ausweg suchten, der ihm gestattete, ein Mindestmaß an Würde zu bewahren. Ich drängte ihn nicht, sondern verzehrte gemütlich die Reste auf meinem Teller. Ich liebäugelte mit einem Nachschlag, konnte nicht sicher sein, in der nächsten Zeit erneut Gelegenheit für ein lukullisches Vergnügen zu haben. Im selben Augenblick, in dem ich den Schöpflöffel in die nachgiebige Flanke meines Kunstwerkes bohrte, grapschte er über den Tisch, angelte sich das Handtuch mit der antiken Zitronensoße heran. Mit abgewandtem Gesicht drückte er sich die Packung auf die Schläfe, ein kindliches Schmollen in den Zügen, das mich anrührte. Wie viel war echt, wie viel Kalkül? @~@ Ich kam nicht umhin, seine Findigkeit zu bewundern. »Vermutlich lernt man so etwas bei den Pfadfindern!« Dachte ich ein wenig boshaft, aber ich wusste es besser. Er war ein umgänglicher, freundlicher, harmloser Koloss, ich das kleine, ungebärdige Rumpelstilzchen, das man am Besten in den Brunnen versenkte hätte mit einem Paar aparter Zementschuhe an den Füßen. Eigentlich sollte es mich kaltlassen, was er für einen Eindruck von mir gewann, aber wie immer spielte mir ein Minimum an Erziehung und Moralcodex einen Streich. Vielleicht war es aber auch die wieder einsetzende, bleischwere Müdigkeit, die mich schwächte. Ich erhob mich langsam, visierte mit meiner Kühlpackung die Tür an, verschwommene Schwärze im Blick. @~@ Valerius schraubte sich mit der Langsamkeit eines Greises in die Höhe, ein paar wackelige Schritte Richtung Ausgang folgten. Noch ehe ich mich entschließen konnte, hatte mein Körper das Regiment übernommen, sprang auf, umfing seine schwankende Gestalt. Glücklicherweise verlor er nicht sofort das Bewusstsein, was es mir sicherlich erschwert hätte, ihn im Sturz aufzufangen. Er stöhnte leise, fast resigniert, sackte in meinen Armen zusammen. Ich verfluchte in heilloser Panik meinen Entschluss, ihm aus dem Krankenhaus zu helfen. Dort hätte man sicher seine Gesundheit besser überwacht, als ich es hier konnte. Wenn er nun verborgene Schädelverletzungen hatte? Nun war es an mir, mich wie ein kleines Kind an ihn zu klammern, die Augen vor der eigenen Verantwortung und Schuld zu schließen. Was sollte ich nur tun?! @~@ "Bitte bring mich ins Bett." Ich flüsterte die Worte, die sich nur schwerfällig über meine Zunge ergossen, widerwillig meinem Kommando folgten. Plötzlich fürchtete ich die Schwärze, mein Herz raste, wollte zerspringen vor Angst. @~@ Hatte er mich tatsächlich um Hilfe gebeten? Seine Arme umschlangen meinen Nacken mit der gleichen Verzweiflung wie ich seinen schmächtigen Leib. »Oh Gott, tu doch was!« Schrie ich mich an, aber mein Verstand hatte mich verlassen. So blieb mir nichts weiter zu tun, als ihn auf die Arme zu nehmen, bedächtig die Stiege hinauf in sein Zimmer zu transportieren. @~@ Auch durch geschlossene Augen konnte ich ihn wahrnehmen: seine Besorgnis, seine Stärke, die Wärme, die sein Körper so verschwenderisch verströmte, den Geruch der Speise, die ihm anhaftete. Ich hörte die heiseren Stoßgebete, die er unbewusst vor sich hin murmelte, sein Atem eine leuchtende Brise über meinen kalten Wangen. Ich wollte nicht in die Schwärze versinken!! @~@ Er klammerte sich an mich, voller Vertrauen und Angst. Ich konnte seine aufgeregten Herzschläge spüren, verzweifelte an meiner Unfähigkeit, ihm so beizustehen, wie er es sich ersehnte. »Bitte, lieber Gott, lass mich das Richtige tun! Maria, Mutter Gottes, steh uns bei!« Sein Zimmer erreicht ließ ich ihn behutsam auf das Bett sinken, das mehr denn je einem Wolkenverband aus bunten Kissen ähnelte. Unter seinen Augenlidern zuckte es wieder, seine Fingernägel bohrten sich in mein T-Shirt, wollten nicht lockerlassen. Fremdartige Musik wehte in meine Gedanken, untermalte meine Panik, eine wehklagende, elektrische Gitarre, dumpfe Trommelschläge, beschwörend wie bei einer Geisteraustreibung. Eiskalte Schauer streiften über meinen Rücken. Völlig kopflos warf ich mich in das Kissenheer, drückte ihn eng an mich. @~@ Schwindel. Eine ungewohnte Wärme. Finger auf meiner nackten Haut, sich ihren Weg bahnend unter den Lagen von knisternd-kühlem Stoff. Atem, der durch meine Haare strich. Herzschläge an meinem Ohr, beständig, betäubend. Es wurde Nacht. @~@ Kapitel 3 - Enthüllung Ich musste eingeschlafen sein, von einem Augenblick auf den anderen. Oder zumindest kam es mir so vor. Eine Weile verständnislos an die Tüll bewehrte Zimmerdecke starrend versuchte ich mich zu orientieren. Eine Übung, die ich mir durch die zahlreichen Ortswechsel zur Gewohnheit gemacht hatte. Als ich den Kopf drehte, um mich langsam wieder in meinem Wachzustand einzufinden, entdeckte ich Valerius, an meine rechte Seite geschmiegt. Oder hatte ich ihn an mich gepresst? Ich hielt letzteres nicht für unwahrscheinlich, da sich meine Finger unter seine unzähligen T-Shirts verirrt hatten, auf der nackten Haut ruhten. "Valerius?" Wisperte ich vorsichtig. Mit einem plötzlichen Schwall überfielen mich die Erinnerungen an unser Beisammensein in der Küche. Behutsam ließ ich ihn von meinem Arm gleiten, beugte mich über seine reglose Gestalt, wischte aschblonde Strähnen aus seinem bleichen Gesicht. Die Schwellung hatte sich noch potenziert, färbte sich langsam blau. Unwillkürlich biss ich mir in die Lippe. Wenn es nur halb so schmerzhaft war, wie es aussah, musste der kleine Kerl Höllenqualen durchleiden. Wieso war er so still? Schlief er, oder...? In meiner Sorge legte ich ein Ohr auf seinen flachen Brustkorb, zählte die Schläge, fing seinen schwachen Atem mit meiner Handfläche ein. Noch immer lief im Hintergrund dieser gespenstische Soundtrack. Jetzt erkannte ich ihn auch, Neil Youngs Musik zu Jim Jarmuschs Film >Dead Man<. Wie konnte er sich so was nur anhören? Es war mir unerträglich, einen klaren Kopf zu bewahren mit dieser Totenklage in meinem Ohr. Ich spähte die Bettkante entlang nach den Ursprüngen der Musik, fand endlich gut verborgen seine Anlage. Erleichtert von der schlagartig einsetzenden Stille seufzte ich laut, wandte mich wieder Valerius zu, musterte ihn unentschlossen. Ich war nicht sicher, ob es eine unnötige Grausamkeit darstellte, ihn aufwecken zu wollen, um herauszufinden, ob es ihm besser ginge. Ich gab mich damit zufrieden, dass er atmete. Ich beschloss, mir die Gelegenheit nicht entgehen zu lassen, einen Blick unter die herrlichen Stofftücher zu werfen. Die Motive waren mir als solche nicht vertraut, die Technik aber bekannt. Nun gut, ich konnte kaum behaupten, in Bereich von Kunst ein Kenner zu sein, also war es sicherlich keine Überraschung, dass ich mit Ignoranz glänzte. Ich schob einen Paradiesvogel, von ornamentaler Flora umgeben, beiseite, betrachtete die Buchrücken, deren Erkundung er mir nicht gestattet hatte. Erstaunlicherweise handelte es sich um Photoalben. Auf den Rücken waren mit einer beeindruckend präzisen Handschrift Namen von Personen aufgeführt, dazu Daten und weitere Stichworte. Ein Album trug den Titel >Alphonse Mucha (1860-1939)<. Darunter stand erläuternd >Jugendstil, Four Seasons<. Das rief eine unbestimmte Erinnerung in mir hoch, die ich aber noch nicht platzieren konnte, bis mein Blick versunken durch den Raum schweifte und die Rückseite der Zimmertür streifte. Tatsächlich, vier leicht bekleidete Grazien in filigranen Rahmen, das konnten nur die vier Jahreszeiten sein!! Ich trat mit dem schweren Album an die farbenprächtige Reproduktion heran. Der arrogante, unnahbare Valerius, scheinbar sich selbst völlig genügend, interessierte sich für den Jugendstil? Hatte er eine verborgene, romantische Seele? Einen prüfenden Blick auf die dahin gestreckte Gestalt geworfen nahm ich mir vor, tiefer in sein geheimes Reich einzudringen, es zu ergründen. »Welche Leidenschaft lässt dein Herz schneller schlagen?« Möglicherweise brachte mich eines dieser Alben auf die richtige Fährte. Ich angelte mir aus dem überreichen Vorrat zwei ausreichend ausladende Kissen, lehnte eines gegen das Regal, machte es mir auf dem anderen bequem. Ich strich über den kunstledernen Einband in klassischem Grün, atmete tief ein, schlug das Album auf. Die Innenseite empfing mich mit einer Postkarte, auf der eine weitere Frauengestalt zu erkennen war, in Tücher gehüllt. >Danse, Alphonse Mucha<. Also ein weiteres Werk des mir gänzlich unbekannten Künstlers. In der gestochen scharfen Handschrift, die Valerius so von allen anderen Schülern hervorhob, folgte eine Textpassage. [Jugendstil nach der Münchner Zeitschrift "Die Jugend", zeitlich anzusiedeln zwischen 1890 und 1910, in Österreich unter dem Begriff "Sezessionsstil", in Italien "Stile Floreale" oder "Stile Liberty" und in Spanien "Modernismo" oder "Modernista" vertreten. - Der eigentliche Begriff "Art Nouveau" wurde in Paris geprägt. - Dieser Zeitabschnitt wird meist als Fin-de-Siecle oder Belle Epoque bezeichnet. - Beinhaltet einen Dekostil mit langen, geschwungenen Linien, oft mit stilisierten Blumenmotiven, Weinranken, Insektenflügeln und anderen, der Natur entliehenen Objekten. Einerseits waren die Linien elegant und graziös, andererseits kraftvoll und gleichmäßig. Das Ornament steht hier im Vordergrund, überwuchert den Inhalt, der sich dem Ornament unterwirft. - In der Grafik sind die Form, Farbe und Struktur den geschwungenen Linien untergeordnet, sind also das alles dominierende Element. - Fand seinen Niederschlag in Architektur, Inneneinrichtung, Schmuck- und Glasdesign, Plakaten und Illustrationen.=> - Inspiration auch durch Japandrucke "ukiyo-e". => - In der Architektur großzügige Verwendung von Materialien wie Stahl, Glas, Keramik und (Backstein-)Mauerwerk. Bekannte Künstler: - Charles Rennie Mackintosh, Malerei - Henry van der Velde und Victor Horta - Hector Guimard, Architekt - Louis Comfort Tiffany ,Glasarbeiten - Louis Majorelle, Möbeldesigner - Louis Henry Sullivan, Architekt] Verwirrt betrachtete ich die Verweise in den knappen Erläuterungen. Es folgten wieder Bilder von Mucha, die nach den Untertiteln aus dem Katalog eines ihm in Prag gewidmeten Museums entnommen waren, Werbeblätter, Reklame. Dazwischen Bildkompositionen, die mich stark an prachtvolle Kirchenfenster erinnerten. Valerius hatte wohl eine Schwäche für diesen Künstler, doch halt! Was sich für mich wie eine Art Fan-Album dieses Künstlers ausgenommen hatte, änderte sich nun in eine profunde Werkstudie, die mich an die Skizzen von Leonardo da Vinci erinnerte. Die gleichen Motive wie zuvor, allerdings frei Hand gezeichnet, mit einer Vielzahl von Erläuterungen umgeben: Lichteinfall, Dimension, Perspektive, Gesamtkomposition, Farbwahl, Technik, Material, Schriftgröße, und so weiter. Es war eine Explosion an Hinweisen und Studien. Dazwischen verirrten sich persönliche Notizen, Gedankenstützen, Vermutungen zu den Emotionen, die der Künstler wohl zu erwecken beabsichtigt hatte. Gegen meinen Willen fasziniert folgte ich diesem systematischen Sezieren der einzelnen Bilder. Es war, als betrachte man ein Wunder, da raubte einem jemand alle Empfindungen durch die klinisch-kalte Entschlüsselung der mystischen Botschaft. Ich klappte das Album zu, wählte das benachbarte aus dem Regal, schlug es wahllos auf. [Klimts Werk lebt aus Spannung zwischen Figur und dekorativem Ornament, oft unauflösliche Verbindung wie in "Der Kuss" (1908, Wien, Österreichische Galerie) oder "Salome (Judith II)" (1909, Venedig, Gallerie Internazionale d'Arte Moderna); aus der Kombination von Elementen des Symbolismus und Jugendstils mit surrealen Komponenten. Starke Flächigkeit; ornamentale und figurale Motive auf einer Bildebene vereint. Klimts Frauenfiguren: dekadent-morbide Erotik.] Das weltbekannte Kuss-Bild wurde auch hier von Valerius in seine Einzelteile zerlegt, heruntergebrochen zu einem Mosaik aus winzigsten Komponenten. Ich stellte das Album zurück, inspizierte die Regalwand systematisch. Romantik und Valerius, wie konnte ich nur einen Moment lang diese konträren Begriffswelten zusammenführen?! Band an Band schmiegten sich Alben, Fachliteratur, Kataloge. Das Spektrum reichte von Ikonenmalerei über Felsmalerei der Frühzeit bis zur Pop Art. Ich verspürte keinen Drang mehr, durch die Seiten zu streichen, verstreute Indizien auf Valerius' Charakter aufzulesen. Konnte man wirklich ein Bild, eine Pflanze, ein Gebäude mit Wohlgefallen betrachten, es gleichzeitig in seine Stücke zerlegen, kategorisieren?! Wonach suchte Valerius? Plötzlich überfiel mich eine Gänsehaut, Vorbote von einer vagen Enttäuschung. Da Valerius noch immer tief zu schlafen schien, verließ ich lautlos sein Zimmer, in der Absicht, das Geschirr per Hand abzuspülen. Diese Beschäftigung hatte auf mich die Wirkung einer meditativen Übung. Es gab so Einiges, das ich zu erwägen hatte. @~@ Schmerzen. Hartnäckige, trommelnde, erbarmungslose Schmerzen. Ich hatte nicht übel Lust zurückzuschlagen, aber der kindische Gedanke verflog augenblicklich, als ich versuchte, meinen Oberkörper aufzurichten. Leichte Übelkeit und eine ausgetrocknete Kehle dämpften meinen Zorn über diese Schwäche meines Willens auf ein erträgliches Niveau. Die überlangen Strähnen, längst nicht mehr in eine ansprechende Fasson zu bringen, verwirrten sich in meinen Wimpern. Ungeduldig meine Sicht freigelegt erstarrte ich: ein Vorhang war zurückgeschlagen! »Fabian!« Mein Zimmer war verlassen, keine Spur von dem unverschämten Frevler an meiner Privatsphäre. Angestrengt lauschte ich auf Geräusche, erkannte das leise Klappern von Geschirr, gedämpft durch die Wände und behutsamen Umgang. Mühsam die Übelkeit herunterschluckend stemmte ich mich von der Matratze, schwankte mit ausgestreckten Armen Halt suchend zur Tür. Er hatte meine Notlage ausgenutzt, um mich auszuspionieren! Das würde ich nicht durchgehen lassen! @~@ Ich bettete die Reste meines Auflaufs auf einen Teller, den man gefahrlos im Ofen aufwärmen konnte. Wenn Valerius eine Schwäche für Kunst hatte, konnte man das mit meiner Hingabe zum Kochen und natürlich Essen vergleichen? Hatte ich jemals versucht, dieser Zuneigung auf den Grund zu gehen oder alle Speisen in ihre Komposita zu zerstückeln? Betrachtete man es von dieser Warte aus, war sein Streben nicht mehr so monströs, wie es mir noch Minuten zuvor aufgestoßen war. Interessierte ich mich denn nicht auch für Rezepturen, die Wirkung bestimmter Ingredienzien auf das Gesamtergebnis?! Was ich damit zu erreichen suchte, war offensichtlich, zumindest für mich: ich wollte mit der perfekten Speise zur passenden Gelegenheit oder Stimmungslage glänzen. Allerdings konnte ich nicht für mich in Anspruch nehmen, jemals so theoretisch und systematisch vorgegangen zu sein. @~@ Nie war mir unsere Stiege so steil, so trügerisch vorgekommen. Unter meinen unsicheren Tritten schienen sich die Stufen willkürlich zu verändern, ihre Festigkeit zu verlieren. Die Zähne aufeinander beißend kämpfte ich mich in das Erdgeschoss herunter, folgte einem melodischen Summton, der aber in meinem aufgewühlten Zustand nur die letzte Zumutung an einem endlos grauenhaften Tag darstellte. Er stand vor dem Ausgussbecken, drehte spielerisch das Handtuch an den Zipfeln ineinander, um dann das Manöver zu wiederholen, dieses Mal allerdings zum Auseinanderwickeln. »Selbstzufriedener, nervtötender, pietätloser Mistkerl!!« Meine Kehle war ausgetrocknet, meine Mundhöhle wurde taub, narkotisiert von der gleichen Wolke Übelkeit, die auch meine Gedanken vernebelte. Nicht länger fähig, eine wütende Anklage hervorzubringen, schleppte ich mich in seinen Dunstkreis. Wo der Worte genug gewechselt, lasst Taten euer Fürsprecher sein! Meine Fingernägel gruben sich in den Ärmel seines T-Shirts. Weit ausholend ohrfeigte ich ihn mit all meiner verbliebenen Kraft. @~@ In einem Augenblick friedlich in meinem Element, in der nächsten Minute explodierte Schmerz vor meinen Augen und in meiner rechten Gesichtshälfte. Vor Überraschung taumelnd fing ich mich erst am Spülbecken wieder, blickte entgeistert in Valerius' Gesicht. Er war totenbleich, die köstlich-braunen Augen flackerten fiebrig, ein arktisches Lächeln lauerte in seinen gefletschten Zähnen. Es wirkte so unpassend auf mich wie ein Kuscheltier mit einer Kettensäge, raubte das Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit der Dinge. Vielleicht aber war ich auch einfach nur zu naiv. Blinzelnd musterte ich ihn, wie er zitternd vor mir stand, seine ganze schmächtige Gestalt erschauernd. Schuldgefühl stieg in mir auf, denn ich hatte ja entgegen seinem ausdrücklichen Wunsch in seinem Regal gewildert, vermutlich meine Schandtat nicht ausreichend verborgen. "Scheißkerl." Brabbelte er lallend, bevor seine Augen ihren unwirklichen Glanz verloren, er unkontrolliert nach vorne taumelte. Erneut musste ich seinen Sturz bremsen, schon eine vertraute Übung auf dem besten Wege zur einer Angewohnheit. "Tut mir leid." Murmelte ich kleinlaut in seinen wirren Schopf, ließ meine Hände über seine Ärmel gleiten, packte seine schmalen Handgelenke, legte sie um meinen Nacken in der Hoffnung, dass er noch genug Reflexe besaß, um meine Absicht zu erkennen. Tatsächlich straffte er sich, schlang die Arme fest um meinen Hals, unterstützte mich in meinem Bemühen, ihn auf die Arme zu nehmen. "Scheißkerl." Hauchte er kaum hörbar. Sein Kopf sank schwer gegen meine Schulter. @~@ Mit jedem Mal schien ich mehr Sicherheit zu gewinnen, sodass ich Valerius rasch wieder in sein breites Bett zwischen die Kissen gelegt hatte. Einen Arm über die Augen platziert ruhte er still, nur sein flacher, hastiger Atem verriet, dass er weder schlief, noch bewusstlos war. "Hör mal, ich glaube, wir sollten wirklich einen Arzt holen! Du bist schon zum dritten Mal umgefallen!" "Nein!!" Seine Stimme war kategorisch, zornig und endgültig. Ich nahm neben ihm Platz, betrachtete sein angestrengtes Gesicht, die zusammengepressten Lippen. "Was soll ich tun? Denkst du, eine Aspirin würde dir helfen? Oder vielleicht doch etwas zu essen?" Valerius würdigte mich keiner Antwort, sondern drehte sich auf die Seite, kehrte mir den Rücken zu. "Wenn ich nicht wüsste, dass du auch unter normalen Umständen ein arrogantes Ekel bist, wäre ich jetzt überzeugt, dass dein Schädel nicht so hart ist, wie man glauben möchte." Ich erhob mich schwungvoll, verließ das Zimmer. @~@ Ich hätte heulen und toben können vor Wut und Frustration. Ausgerechnet vor diesem spatzenhirnigen Koloss musste ich mir solche Blößen geben!! Der schleppte mich auch noch wie ein Jungfräulein durch die Gegend! Eine Schmach ohne Beispiel. Ich brauchte keinen Helden, keinen besserwisserischen Aufpasser, der mich ständig verhätschelte!! »Wenn mein Kopf nur nicht so enervierend alle Aufmerksamkeit auf sich fokussieren würde! Ja, verschwinde, lass mich endlich allein!! Mistkerl...« @~@ Die Hausapotheke im Spiegelschrank des Badezimmers war wirklich mehr als üppig ausgestattet. Ich fand eine Dose mit Aspirin, entnahm zwei lösliche Tabletten, ging in die Küche hinunter. Wenn ich mich nicht sehr irrte, hatte ich eine Flasche mit Orangensaft unter den Vorräten erspäht, natürlich ohne Fruchtfleisch. Ich füllte ein Glas zur Hälfte, ließ die Tabletten hineingleiten, wartete das Sprudelbad ab, um mit Saft nachzuschenken. Von den spärlichen Gelegenheiten, in denen ich zu ausgiebigem Alkoholgenuss zum Opfer gefallen war, hatte sich mir diese Methode als erfolgversprechend herauskristallisiert. Meine lädierte Wange prickelte noch leicht unter seiner unerwartet kräftigen Handschrift, aber ich trug ihm nichts nach. Es schien mir doch nun ein Ausgleich geschaffen zwischen meiner Neugier und seiner Verärgerung. Fragte sich nur, ob auch Valerius meine Ansicht teilte. @~@ ... er ist wieder da.... ..... geh weg..... @~@ Valerius lag nun wieder flach auf dem Rücken, ein farbenprächtiger Ärmel, aus dem zwei weitere hervorlugten, bedeckte die Augen. "Ich bringe dir was zu trinken gegen die Kopfschmerzen." Wisperte ich behutsam, als habe er tatsächlich einen Kater. Als ich vorsichtig auf der Matratze Platz nahm, erkannte ich feuchte Spuren auf seinen Wangen. Weinte er? Hilflos betrachtete ich seine schmächtige Brust, die sich unter hastigen Atemzügen hob und senkte. Valerius war stolz, also musste es ihm unangenehm sein, dass ich ihn so sah. Eine Erwähnung des Offensichtlichen würde ihn sicher noch schlimmer verletzen. Einfach darüber hinweggehen, es zu ignorieren, schien mir eine rohe Gefühllosigkeit darzustellen, die er wohl zur Genüge kannte. "Kannst du dich aufsetzen?" Wie feige ich doch war, konnte ihn nicht einmal nach seinem Befinden fragen. "Geh weg." "Nein, das werde ich nicht tun. Wir haben eine Abmachung." Seine Lippen wurden schmal, das Blut aus ihnen herausgepresst. "Ich werde dir aufhelfen." Nicht ganz unerwartet schlug seine freie Hand nach mir, aber so fahrig und ungezielt, dass es mir ein Leichtes war, darunter wegzutauchen, ihn gleichzeitig unter den knochigen Schultern hochzuziehen. Demonstrativ den Arm um seine Schultern gelegt setzte ich das Glas an seine Lippen. "Das ist Orangensaft. Der hilft dir bestimmt." "Was bist du, eine verblödete Krankenschwester?! Hau endlich ab!" Valerius drehte den Kopf weg, stieß mich aber trotz seiner harschen Worte weder an, noch schlug er um sich. Ein Akt pro forma, um den Status zu wahren. Wenn er den Orangensaft trank, änderte das gar nichts daran, dass er mich nicht ausstehen konnte. Mit dieser Performance konnte ich leben. @~@ Ich musste das Glas tatsächlich mit beiden Händen umfassen, um es halten zu können. Zitternd und unsicher wie ein Greis!! Ich hasste mich für diese Schwäche. Wieso gehorchte das Fleisch nicht dem Geist?! War mein Willen nicht überwältigend genug?! Hastig schluckend bemerkte ich erst nach einigen Augenblicken, dass das Gebräu einen seltsam staubigen Belag auf meiner Zunge hinterließ, nicht nur Zucker und Säure. "Was hast du da reingemischt?!" @~@ Seine großen Nougat-Augen waren stumpf, blaue Schatten verwandelten ihn in eine ätherische Gestalt aus einem Stummfilm. "Aspirin." Gab ich betont beherrscht zurück, wider Willen gefangen von der Aussicht, in ein Drama verwickelt zu werden. Valerius explodierte nicht etwa oder fluchte ungehemmt, nein, er verharrte neben mir, starrte ins Leere, als sei er eine Marionette, der man die Fäden durchgetrennt hatte. @~@ Der Orangensaft fing sogleich in meinem Magen zu brodeln an, hinterließ ein brennendes Gefühl. Normalerweise streckte ich Fruchtsäfte mit Mineralwasser, weil die Säure mir zu sehr zusetzte. Seltsamerweise waren die pochenden Kopfschmerzen hinter einem Bleiband verschwunden, das sich um meine Stirn gelegt hatte. Nicht einmal das Glühen der Schwellung durchdrang diesen Panzer. Ich verabscheute meinen Körper, diese Chemie-Fabrik, die mich unermüdlich mit ihren Ansprüchen belästigte. Schlaf. Das war meine Zuflucht. Sollte mein Körper seine Zwistigkeiten allein ausfechten, ich wollte nicht mehr daran teilhaben. @~@ Valerius schloss die Augen, sackte schwer gegen meine Seite. Ich entzog behutsam seinen erschlaffenden Händen das leere Glas, ließ ihn auf die Matratze gleiten. Es war sicherlich eine gute Entscheidung, einzuschlafen, dem Körper die Zeit zur Heilung zu gönnen. Valerius zog die Knie fast unter das Kinn, die schmächtigen Arme vor die Brust gezogen wie ein Fötus. »Armes, halsstarriges Kerlchen!« Ich zupfte vorsichtig die Decke unter ihm hervor, um ihn darin warm einzuwickeln. Mir wäre die Hitze ja unerträglich vorgekommen, aber er war krank, ohnehin körperlich nicht gerade robust. Wie aber sollte ich mich nun beschäftigen? Noch einen Blick in das Regal werfen, da ich ohnehin schon die geballte Ladung seiner Enttäuschung und Wut abgefangen hatte? Ich schlenderte zu einem Stoffverschlag, der ein Universum darstellte, zweidimensional wie die Abbildungen auf Spielkarten, doch strahlend in den prächtigen Farben der Sonnennebel, Gestirne und Symbole, die sich spiralförmig ausbreiteten. Hinter diesem Vorhang fanden sich die Materialien, die Valerius für seine Werke benötigte: Papier, Schneidewerkzeuge, Farben, Stifte, Leim, Folie und Schablonen. Ich fühlte mich, als hätte ich einen geheimen Schatz aufgestöbert, wühlte in den einzelnen Truhen. Besonders die unterschiedlich gestalteten Schablonen faszinierten mich. Da waren Buchstaben zu finden, andere bestanden aus seltsamen Rundungen und Formen, deren Zweck mir nicht ganz einsichtig war. Auch hier lagerte ein schweres Album. »Kein Titel? Vielleicht das neueste Werk...« Ich wandte mich zu Valerius um, der sich offenbar ein wenig entspannt hatte, fest in die Decke eingemummelt schlief. Das Album unter dem Arm bestieg ich von der anderen Seite das Bett, das nach meiner Ansicht genug Platz für zwei Personen bot, legte mich bäuchlings neben Valerius, schlug das Album auf. @~@ »Unglaublich!!« Mehr als eine Stunde war vergangen, aber ich hatte es nicht registriert, so gefesselt war ich von Valerius' Werk. Es begann mit einer Zeichnung eines Luftschiffes mit einer venezianischen Gondel darunter, das zu einem gigantischen Mond flog über eine phantastische Landschaft. Ich erinnerte mich an Werkausgaben von Jules Vernes Geschichten, in denen sich Zeichnungen mit ähnlichen Motiven und Stil befanden. Ich wanderte mit dem unsichtbaren Führer durch seltsame Orte und Zeiten, wie Alice im Wunderland, nur auf einem sehr surrealen, halluzinogenen Trip. Es fanden sich Reminiszenzen von Dali, Ikonenmalerei, aber ohne religiöse Bezüge, wieder Kohlezeichnungen und handschriftliche Anmerkungen. Eine Expedition durch Valerius' Träume, festgehalten von einem begeisterten, nicht minder begabtem Abenteurer. Gleichzeitig ein äußerst elaborierter Exkurs durch die Kunstgeschichte. Inhaltlich drehte es sich um das Darstellung und Erzeugen von Gefühlen, abstrakten Begriffen, Vorstellungen in Bildern und Schriftzeichen, selbst Kanji fehlten nicht. Ich warf einen Blick auf Valerius' ruhendes Gesicht, fahl, voller Schatten, mit einer hässlichen Schwellung in sich rötender Farbe. »Warum ist es dir so wichtig, diese Gleichung zu lösen?« @~@ Ich erwachte mit einem Gefühl der Spannung meiner Gesichtshaut, Folge der Schwellung, wie mir unangenehm in Erinnerung kam. Behutsam drehte ich mich auf die Seite, die Ellenbogen als Stütze verwendend, um mich aufzusetzen. Neben mir lag mein Traum-Album, aufgeschlagen auf verdrehtem Laken, das die Umrisse einer zweiten Person trug. »Er...« Er hatte darin gelesen?! Ich schoss in die Höhe, was die Schwellung wieder zu einem anregenden Pochen animierte. Die Augen fest geschlossen, auf meine Atmung konzentriert erwog ich die Situation. Niemand außer mir hatte dieses Album jemals zu Gesicht bekommen. Ich sollte mich beschmutzt, entblößt fühlen, aber das einzige, was mich erfüllte, war eine profunde Erleichterung. Diese Emotion versetzte mich in Wut und Erstaunen. Er hatte sich mir aufgedrängt, mein Leben mit der Eleganz eines Bulldozers invahiert, und ich fühlte Erleichterung?! Seit seinem Eintritt in meine Klasse hatte ich keine zwei Worte mit ihm gewechselt, ihn nicht beachtet oder gar als etwas Besonderes angesehen. Nun, innerhalb eines Tages..?! "Vielleicht hat mich der Medizinball doch härter getroffen, als ich angenommen habe." Murmelte ich zynisch, aber es war lediglich ein Feigenblatt, um meine Verwirrung zu kleiden. War denn irgendetwas Bemerkenswertes an Fabian? Überhaupt, wo steckte er nun schon wieder?! Durchstöberte er gerade die Sockenschublade meiner Eltern?! Mit grimmigem Schwung stieß ich mich von meinem Bett ab, ballte die Fäuste, in der Absicht, diesen Auftritt sehr viel effektvoller als den letzten zu gestalten. @~@ Ich schälte die Orange, brühte das Fleisch kurz über dem heißen Dampf des altmodisch wirkenden Wasserkessels, um dann die Haut leichter ablösen zu können. Ein Obstsalat war an so einem warmen Abend genau richtig. Dazu noch einen anregenden Tee? Vielleicht konnte ich es mir auf der Veranda gemütlich machen, während Valerius schlief. Bananen zerteilend versuchte ich durch die Beschäftigung meiner Hände wieder Ruhe in den Sturm in meinen Gedanken zu bringen. Gefangen von Valerius' Streben, diesen Traumbildern, die direkt mein Herz und meine Sinne ansprachen, fühlte ich mich von ihm unmissverständlich angezogen. So vieles in jedem Bild, das mir vertraut erschien. Als habe er in meine Seele geblickt, die Erinnerungen absorbiert. Oder machte ich mir etwas vor, empfanden alle Menschen ähnlich, träumten ähnlich? Spielte mir nur meine Eitelkeit den Streich, mich ihm nahe zu fühlen? »Es sei, wie es sei.« Ich teilte einen Apfel in feine Stifte. Einer anderen Sache war ich mir hingegen sicher: Valerius gefiel mir trotz seiner Blässe, seines ausgemergelten Körpers. Diese Feststellung war nicht unbedingt eine Überraschung. Ich hatte schon vor einiger Zeit bemerkt, dass mich nicht nur Mädchen auf körperlicher Ebene ansprachen, aber es war niemals zu dem letzten Schritt gekommen. Nichts außer Gedankenspielen und der Einrede, es als guter Freund besser zu treffen als als abgewiesener Liebhaber. Außerdem verhinderten meine Lebensumstände sowie meine Neigung zu zeitraubendem Genuss Feldforschungen in dieser Hinsicht. Die Sanduhr kontrolliert suchte ich Teetassen, schwankte noch, ob ich Zuckerstücke oder aber einen Schuss Sahne zum Tee servieren sollte. Der Obstsalat war soweit ansprechend angerichtet. Es fehlten zum himmlischen Geschmack nur Pistazien, aber die hatte ich nicht vorgefunden. Also musste es bei gutem Willen bleiben. Als ich mich herumdrehte, um ein Tablett aus dem massiven Buffet zu zaubern, stand Valerius auf der Türschwelle. @~@ Lautlos hatte ich mich unserer Küche genähert, getarnt von Geschirrklappern und einem sanften Summen, das Fabian, wie ich mich erinnerte, auch bei unserer letzten Begegnung vermutlich unbewusst von sich gab. Er schien in seiner Arbeit so versunken, dass er mich nicht bemerkte. Das gab mir die Gelegenheit, ihn nun zum ersten Mal eingehend in Augenschein zu nehmen. Sein warmer Hautton war nicht das Ergebnis ausgedehnter Sonnenbäder, sondern natürlichen Ursprungs, bildete einen exotischen Kontrast zu seinen Lapislazuli-Augen. Die schweren, schwarzen Haare hatten sich in dicken Strähnen aus dem Zopf gelöst, umrahmten sein Gesicht, das mich seltsamerweise an einen Indianer denken ließ. Wadenlange, weit geschnittene Hosen und ein T-Shirt in erschlagendem Feuerrot schmeichelten seiner kräftigen Figur. Mit dem breiten Schultern und den schmalen Hüften erinnerte er an einen Footballer ohne die Schutzausrüstung. War er schon immer barfuß aufgetreten? Seine Bewegungen waren so rund und geschmeidig, als bestimme ihn ein besonderer Rhythmus, eine Melodie, zu der nur er tanzen konnte, vibrierend, lebendig, voller Feuer. Instinktiv zog ich mich in die Diele zurück, als hätte ich mich an seiner Ausstrahlung verbrannt, die unsere Pseudo-Küche von einem Ort der Folter in ein Willkommen heißendes Reich der Sinne verwandelt hatte. »Wenn du ihn an dich heranlässt, wird er dich anstecken!« Warnte mich mein Verstand eingeschüchtert. Aber ich bezweifelte, dass es noch einen Weg zurück gab. Er hatte schon zu viel von mir gesehen und erfahren. In den Lapislazuli-Augen mit ihren schwarzen Wimpern lauerte auch ein geduldiger Jäger. @~@ "Oh, du bist ja schon wieder munter! Wie geht's dir?" Valerius wich meinem Blick aus, wählte einen Stuhl, ließ sich darauf sinken. Ich plapperte weiter, um die Stille zu vertreiben, die er in seinem Gefolge mitgebracht hatte. "Ich hoffe, die Aspirin haben geholfen?!" Valerius hatte die schlanken Finger im Schoß gefaltet, starrte auf die Tischplatte. "Ich hatte Hunger, da habe ich einen kleinen Obstsalat gemacht. Wenn du magst, können wir gleich essen! Ach ja, Tee habe ich auch gemacht. Möchtest du lieber Zucker oder Sahne dazu?" "Tee muss pur sein." Das Gesicht steinern wies er mich monoton zurecht, aber er sprach zumindest wieder mit mir. Ich war auch einer Ohrfeige zur Begrüßung entkommen. "Ich sehe das anders." Ich verteilte dünne Kunststoffschälchen auf dem Tisch, garnierte den Obstsalat mit entsprechendem Besteck, kontrollierte die Sanduhr. "Man muss die Gerbstoffe und die Säure binden. Deswegen ist Tee pur nicht immer eine gute Wahl. Bei dem hier zum Beispiel, stark und mit Koffein, wäre es besser, Zucker oder auch Sahne hinzuzufügen. Da liefert sich das Gemisch keinen Kampf mit der Magensäure." Bei dem Wort "Magensäure" zuckte er kurz zusammen, als hätte ich eine offene Wunde berührt. In Antwort auf meine Ansprache schob er das leere Schälchen weit von sich. "Wieso Koffein? Ist es nicht Tein?" Ich reichte ihm einen Löffel, den er automatisch annahm, doch mein Lächeln ging ins Leere, da er weiterhin hartnäckig den Augenkontakt mit mir verweigerte. "Nein, Tein ist nicht der Auslöser, aber das hat man auch erst seit kurzem herausgefunden." Ich verteilte zwei Löffel voll Obstsalat in jedes Schälchen. Valerius schreckte hoch, als habe ich ihn aus Gedanken gerissen, die nichts mit unserer schwerfälligen Konversation zu tun hatten. "Ich will aber nichts!" Seine Nougat-Augen funkelten mich an, empört über meine Überrumpelungstaktik. Ich wählte den Platz ihm gegenüber, lächelte. @~@ Verdammt, ich hatte mich schon wieder in Träumen und Gedanken verloren! Dieser unverschämte Flegel hatte nicht die Höflichkeit besessen, darüber hinwegzusehen, sondern mir ein Schälchen mit seinem Futter gefüllt. Farbenprächtig, aber ich würde nichts essen. Nun grinste er mich an, milde, nachsichtig, als sei ich nur ein störrisches Gör!! "Wusstest du, dass Bananen eigentlich Beeren sind? Zumindest gehören sie zu dieser Gattung." Ich kreuzte die Arme von der Brust, Abwehr, die auch dieser Trampel nicht missverstehen konnte, schwieg ihn an. Sollte er nur weiter so unbeholfen vor sich hin plappern, Belanglosigkeiten absondern! Er sammelte mit dem Löffel eine Erdbeere auf, führte sie an die Nase, schnupperte daran. "Weißt du, wie Erdbeeren riechen?" @~@ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, die vertraute Maske der herrischen Arroganz paarte sich mit seinem herablassenden Tonfall. "Was für eine geistreiche Frage! Ekelerregend süß natürlich!" Ich schmunzelte über seinen Trotz, der hinter dieser Verkleidung hervorlugte. "Nein, das tun sie nicht." Kommentierte ich sanftmütig, liebkoste die vereinsamte Erdbeere mit der Zunge. Wieder klebte sein Blick förmlich an jeder meiner Bewegungen, als hätte ich einen Bannzauber auf ihn gelegt. "Warum probierst du es nicht mal?" Sein grimmiger Blick kündigte Widerstand an. Mit unverhohlenem Abscheu fischte er eine geteilte Erdbeere aus seinem Schälchen, führte sie an seine Nase, nahm die Witterung auf. Als ich die Verblüffung in seinem Gesicht für einen Wimpernschlag aufblitzen sah, musste ich ein erfreutes Lachen herunterschlucken, das sich sprudelnd den Weg nach oben bahnte. "Wasser, frisches Grün und ein wenig sauer. Süß sind sie nur überreif oder entsprechend gezuckert." Valerius ließ verärgert den Löffel in das Schälchen sinken. Ich erhob mich, um die Teebeutel aus der irdenen Kanne zu befreien, die Teetassen aufzustellen. "Wie lautet deine Wahl?" Valerius blinzelte verwirrt, die Augen übergroß in seinem von Askese spitzen Gesicht. "Sahne oder Zucker?" Half ich ihm auf die Sprünge, mit Sorge und Entschlossenheit erfüllt bei seinem Anblick. Konnte ich ihn wirklich nicht überzeugen, wieder zu essen? Aß er denn gar nichts mehr? @~@ Ich hasste seine Nachsicht, seine Geduld, seine unveränderte Freundlichkeit. Er vermittelte mir auf diese Weise, dass ich nicht mal den Bodensatz einer schlecht aufgebrühten Tasse Tee wert war. »Verdammt!!« Nun usurpierte er schon meine Gedanken! Drehte sich denn alles im Leben nur um Essen?! Ich wollte mich diesem Druck entziehen, aber seine Wärme war einlullend wie ein Schlaflied. Sie raubte mir den Willen, ihm den Rücken zuzukehren, meine Mauern wieder aufzubauen, die er so leichtfertig eingerissen hatte. Vielleicht wäre eine heiße Tasse Tee genau der Balsam, dessen ich nun bedurfte. @~@ "Also, ich werde Sahne nehmen." Gab ich das Stichwort aus, schenkte die sprudelnde Flüssigkeit aus, krönte sie mit einem Häubchen aus einer Dose Schlagsahne. Vielleicht nicht stilvoll, aber lecker. "Du auch?" Das minimale Nicken, das ich an diesem Tag zu Gesicht bekam, ließ mich die Prozedur wiederholen. Ich reichte ihm seine Tasse an, nahm wieder Platz, einen Schluck Tee. Ich löffelte genießerisch in meinem Schälchen herum, lutschte genüsslich Apfelstifte und Orangen. Valerius verfolgte mich weiter, vergaß die Tasse in seinen Händen. @~@ Ich konnte mich nicht abwenden. Schon immer hatte mich der Anblick meiner Eltern bei jeder verordneten Mahlzeit mit ihrer Gier, diesem urzeitlichen Geräuschpegel und der unziemlichen Hast angeekelt. Es war so abstoßend, animalisch, triebhaft. Aber bei Fabian kamen mir diese Empfindungen der Übelkeit nicht. Stattdessen fühlte ich einen glühenden Ball in meinem Unterleib, der brennend seine Strahlen durch jede Nervenbahn sandte, mich in ein Stadium der fiebrigen Erregung versetzte. Wie seine Lippen jeden Happen liebkosten, seine Zungenspitze Fruchtsaft auffing, seine Zähne die Bissen akkurat teilten! Wie viel Zeit er sich ließ, als wolle er alles an Aroma, das geboten werden konnte, erschmecken! Sein Gesicht verzerrte sich nicht zu einer Fratze der Wollust und Völlerei, sondern behielt seinen heiteren, offenen Ausdruck. »Kann man sich so leicht verlieben?« Ich erschrak bei diesem ungebetenen Gedanken, der sich plötzlich aus den Untiefen des Wirbelsturms in meinen Kopf materialisierte. »Nein!!« Das durfte nicht sein, niemals! @~@ Gerade, als ich das letzte Stück Orange aufnahm, entglitt Valerius die Teetasse, zerschellte splitternd auf den Fliesen. Er schien ebenso erschrocken wie ich, die köstlichen Augen geweitet, die Hände zitternd. "Alles okay? Ich hole einen Lappen!" Ich schraubte mich in die Höhe, wechselte zur Küchenzeile, nahm einen der dort stationierten Lappen auf. Valerius stand noch immer in beunruhigender Trance neben seinem Stuhl, als ich mich auf die Knie begab, Scherben aufsammelte, während sich der Lappen mit Tee vollsaugte. Die traurigen Reste in den Abfallbehälter entsorgend kehrte ich zum Tisch zurück, berührte behutsam seinen Arm. "Valerius?" @~@ Was~was geschah mir hier? Fabian stand plötzlich zu nahe an meiner Seite, zu mir geneigt, die Lapislazuli-Augen schwebten direkt vor meinem Gesicht. »Weg!!« Ich stieß mich hastig von ihm ab, stolperte in meinem Rückwärtsdrang, als ich mit dem Stuhl kollidierte. @~@ Valerius zuckte vor mir zurück, als hätte ich ihn verbrannt mit meiner flüchtigen Geste. Da er auf die räumlichen Gegebenheiten keinerlei Rücksicht nahm, brachte ihn sein eigener Stuhl zu Fall. Geistesgegenwärtig preschte ich vor, bekam glücklicherweise sein Handgelenk zu fassen, konnte das Schlimmste verhindern. Die Zähne zusammenbeißend fauchte er mich an, die Fingernägel seiner freien Hand in meinen Arm grabend. "Lass los!!" Ein wenig perplex ob seiner Aggressivität gab ich sein Handgelenk frei. "Tut mir leid, ich wollte nur..." "Interessiert mich nicht!!" Mit brüskem Schwung kehrte er mir den Rücken zu, verließ die Küche. @~@ Ich schaffte den Aufstieg bis zu meinem Zimmer allein durch Willenskraft, aber auf der letzten Stufe verließen mich meine Kräfte vollends. Zusammensinkend wie ein Häufchen Elend kauerte ich mich auf den Flur, verwünschte stumm meine zitternden Glieder. »Die Ruhe bewahren!« Ermahnte ich mich verzweifelt. Es galt, diese Nacht zu überstehen. Danach könnte alles wieder wie immer sein! Bei dem Gedanken an die Nacht überlief es mich heiß und kalt. Fabian musste untergebracht werden, das Sofa im Wohnzimmer mit Bettzeug ausgestattet. Eine weite Hose und ein Hemd meines Vaters, und das Problem wäre aus der Welt geschafft! Mich am Geländer in die Höhe ziehend schleppte ich mich mit einer aussichtsreichen Perspektive in mein Zimmer. @~@ Gedankenverloren verkostete ich Valerius' unberührten Obstsalat, ging noch einmal die letzten Ereignisse durch. Was hatte ich falsch gemacht? Er hatte sich so erschreckt, dass ihm die Teetasse entglitten war. Als ich ihn berührt hatte, war er von mir gewichen, als hätte ich Aussatz. Nach allen Erfahrungen des heutigen Tages war mir nicht entgangen, dass Valerius Körperkontakt nicht duldete, immer einen großen Abstand zu seinem Gegenüber wahrte. Vielleicht hatte ich ihn in seiner persönlichen Sphäre so bedrängt, dass er sich mit einem Befreiungsschlag Luft verschaffen musste? Aber das erklärte seinen Schrecken noch nicht. Seufzend wischte ich die Schälchen aus, nahm eine weitere Teetasse aus dem Buffet. Es war noch reichlich Tee vorhanden. Wir konnten ihn beide gebrauchen. @~@ Von einer gewissen Ratlosigkeit befallen inspizierte ich den Kleiderschrank meiner Eltern. Fand sich denn hier nicht eine einzige Jogginghose oder dergleichen, das ich unauffällig borgen konnte, um meinen ungebetenen Gast einzukleiden? Endlich stöberte ich eine mausgraue Scheußlichkeit auf, in einem Anfall von jugendlicher Verblendung gekauft. Abgeschnittene Beine, Kordelzug statt eines elastischen Hosenbundes: mir schien, dass ich meinen Vater noch nie in diesem Aufzug gesehen hatte. Was bedeutete, dass er das Fehlen nicht bei seiner morgigen Rückkehr bemerken würde. @~@ Ich balancierte auf einem Tablett die Tassen und die Kanne ins Obergeschoss, die Sprühdose mit der Schlagsahne flankierend. In Valerius' Zimmer brannte eine gedämpfte Lampe über der Regalwand. Eine weitere, sehr viel hellere Stehlampe am Kopfende des Bettes warf Schatten in die Kissenlandschaft. Ich setzte in Ermangelung eines Tisches das Tablett auf dem Teppich ab, sah mich verwirrt um. Möglicherweise war er ja im Badezimmer, aber hatte ich nicht diese Tür passiert? »Abwarten und Tee trinken.« Grinste ich meinem verzerrten Spiegelbild auf dem Tablettboden zu, machte es mir auf dem Bett gemütlich, verbannte ein paar der unzähligen Kissen auf den Boden. @~@ Natürlich! Mein Glück! Fabian lag erneut in meinem Bett, bäuchlings, die Beine angewinkelt, blätterte in meinem Traum-Album. Auf dem Teppich dampften zwei Teetassen mit einer sich auflösenden Sahnehaube still vor sich hin. Vor Enttäuschung entglitten mir fast die Jogginghose und ein unförmiges T-Shirt. So, wie sich dieser Kerl hier eingerichtet hatte, würde es nicht so einfach vonstatten gehen, ihn in das Wohnzimmer hinunter zu komplimentieren. @~@ "Oh, Valerius, habe dich gar nicht gehört!" Er stand mit verdrießlicher Miene in der Tür, die Augen wanderten zwischen seinem Bett und den Teetassen hin und her. Über dem Arm trug er irgendwelche Kleidungsstücke. Ich setzte mich auf, strich mir Strähnen aus dem Gesicht. "Mir ist eingefallen, dass wir morgen doch eine Geschichtsklausur schreiben! Kannst du mit mir noch mal die wichtigsten Punkte durchgehen?" Er seufzte, verdrehte die Augen übertrieben, stapelte seine Last säuberlich neben dem Bett. Mit geübtem Griff zog er das Geschichtsbuch aus dem Regal, schleuderte es mir zu, streckte mit vorwurfsvollem Gesicht die Hand aus, die Unterlippe leicht vorgeschoben, einem Schmollen nicht unähnlich. Leicht verwirrt starrte ich in seine tiefen Augen, Schokolade in ihrer Vollendung, dann begriff ich. Hastig langte ich hinter mich, reichte ich ihm das Album, senkte verlegen den Blick in der Gewissheit, dass ein idiotisches Grinsen mein Gesicht verunzierte. Er presste das Album vor seine schmächtige Gestalt wie einen Schatz, schlang beide Arme wie zum Schutz darum, verstaute es sorgfältig an seinem Platz inmitten seiner Zeichenmaterialien. Ich nahm einen Schluck Tee, machte es mir wieder gemütlich, schlug das Lehrbuch auf. @~@ »Wenigstens hat er den Anstand, keine unglaubwürdige Entschuldigung zu stammeln,« Grollte ich insgeheim. Nun lag er bereits hingegossen in meinem Bett, die Teetasse balancierend, während er Seiten umblätterte. Was erwartete er nun?! Sollte ich mich etwa neben ihn legen? Ein Vertriebener in meinem eigenen Bett, meinem eigenen Zimmer?! Nein. @~@ "Ich bin müde." Valerius stand neben mir, reichte mir demonstrativ mit steil ausgestreckten Armen die Kleidungsstücke, die er mitgebracht hatte. Ich setzte mich auf, nahm sie ein wenig ratlos entgegen. "Danke, aber.." "Von meinem Vater, selbstverständlich frisch gewaschen. Ich werde dir im Wohnzimmer die Couch beziehen. Wir haben nicht oft Gäste." Er spulte seine Worte im Telegrammstil herunter, unbewegt, monoton. "Okay." Murmelte ich, die elegante Variante eines Rauswurfs verdauend. "Wenn du mich nun freundlichst entschuldigen würdest?!" Unter seinem eisigen Blick erhob ich mich, verließ von vager Enttäuschung erfüllt das Zimmer. @~@ Hastig schlüpfte ich in meinen Pyjama, streifte die dicken Socken über. Es war unerwartet unkompliziert gewesen, ihn zu vertreiben. Im Erdgeschoss war er ausreichend entfernt, um mir eine ruhige Nacht zu bescheren. Ich weigerte mich, einen Gedanken an die verstörenden Empfindungen in der Küche zu verschwenden. Es hatte sicherlich nur an meiner Verletzung gelegen. Halluzinationen, Hirngespinste! @~@ Ich wechselte in das Badezimmer hinüber, zog mich rasch aus. Die Jogginghose passte ganz gut, auch wenn ich mich fragte, zu welchem Zweck Valerius' Vater sie wohl erworben hatte. Das T-Shirt wies ich nach kurzer Erwägung zurück. Ich war zuversichtlich, in der Nacht angesichts der lauen Temperaturen nicht zu frieren. Ich verteilte ein wenig Zahnpasta auf meinem Zeigefinger, führte eine provisorische Reinigung durch, entschloss mich, samt meinen abgelegten Kleidern Valerius zu Hilfe zu kommen. @~@ Vor Schreck touchierte ich die Wand, als Fabian unvermutet aus unserem Badezimmer trat, nur unwesentlich bekleidet. "Okay, sag mir einfach...." Er verstummte effektvoll, ein wildes, nur mühsam gezähmtes Grinsen in seinem Gesicht. "Was ist?!" Fauchte ich erbost, schon die Ursache seiner plötzlichen Erheiterung vermutend. "Du siehst wirklich niedlich aus in diesem Schlafanzug." Wie konnte er es wagen?! Trat auf wie ein Gammler oder ein öliger Gigolo auf Eroberungszug, und wagte solche Äußerungen?! "Zu deiner Information, dies ist ein Pyjama aus Satin, ein Kleidungsstück, das jeder Mann mit ein wenig Stil trägt." @~@ Ich konnte ob seines indignierten Gesichtes mein Vergnügen nicht länger unterdrücken. Sprudelnd brach das Lachen tief aus meinem Bauch hoch und erschütterte mich. Unfähig, diesem Ansturm Einhalt zu gebieten, hob ich hilflos die Hände, eine Geste der Entschuldigung, aber Valerius war zu aufgebracht, um Nachsicht zu üben. Mit dem Air eines kultivierten Gentleman, der sich mit den Unbillen der Ignoranz seiner Mitmenschen konfrontiert sieht, stolzierte er hocherhobenen Hauptes die Stiege hinunter. In seiner betonten Würde lag so viel Komik versteckt, dass mir das Zwerchfell schmerzte vor Lachen. Er konnte unmöglich so leblos und steif sein, wie er sich gab! @~@ Ich hoffte, dass sein hyänenartiges Gewiehere ihm die Magenwände zerfetzte. Für ihn war es nur zu passend, seine Muskeln und seine Figur halbnackt zu präsentieren, auch wenn hier kaum ein entsprechendes Publikum seiner harrte, aber ein solcher Aufzug war mir verwehrt. Man musste eben seinem Typ gerecht werden, um sich wenigstens einen Rest an Selbstachtung und Würde zu bewahren. Kein Anlass, sich derart gehen zu lassen! Er lachte noch immer so unbändig, dass er kaum die Treppe unfallfrei überwinden konnte. »Blöder Kerl!« @~@ Valerius zürnte mir offenkundig. Er kehrte mir demonstrativ nur den Rücken zu, angelte auf Zehenspitzen, die zu meiner Verwunderung in dicken Socken steckten, in einem hohen Schrank nach Bettzeug. Ich trat hinter ihm, um behilflich zu sein, aber unerwartet kräftig rammte er mir seinen spitzen Ellenbogen in die Seite. "Mach Platz!" Zischte er verstimmt, umklammerte die Ladung, die ihm aus den Untiefen des Schranks entgegen gequollen war, entfaltete das Bettlaken. Ich versuchte erneut, ihm zur Hand zu gehen, indem ich ein Ende nahm, langsam rückwärts zum Fußende der Couch wechselte. Um das Laken auszubreiten, zog ich an meinem Ende, aber zu kräftig, denn Valerius wurde nach vorne katapultiert, über die Armlehne hinweg. Meine Ungeschicklichkeit verwünschend ließ ich das Laken fahren, half ihm hoch, stammelte eine Entschuldigung. Ich erwartete eine Standpauke, eine ironische Bemerkung, Verachtung, Zorn, aber Valerius verblüffte mich vollkommen. Seine Nougat-Augen funkelten, als er leise, ein wenig müde, "Idiot" flüsterte, während ein scheues Lächeln über seine Lippen floh. @~@ Fabians Gesichtsausdruck glich diesen ganzen verkorksten Tag aus, so perplex und ergriffen zugleich, dass ich auch jetzt, sicher in meinem Bett, ein Kichern nicht unterdrücken konnte. »Dummer, tollpatschiger Riese, du hast wohl wirklich eine Schwäche für mich?!« Dieser Gedanke erfüllte mich mit so viel Vergnügen, dass ich glücklich in tiefen Schlaf sank, voller Erwartung die Träume herbeisehnte, die mir in der Dunkelheit auflauerten. @~@ Einen Arm unter meinen Kopf schiebend betrachtete ich die Zimmerdecke, so kahl und öde ohne Valerius' Sternenhimmel. Er hatte gelächelt. Mein Herz jubilierte und sang. @~@ Kapitel 4 - Appetit Das energische Piepen meines Weckers riss mich unsanft aus verwirrenden Träumen, die ein vages Gefühl von gespannter Erwartung in mir entflammten. Ein Versprechen auf entscheidende Veränderungen in meinem Leben, oder war es nur eine Unruhe nach zu viel Fruchtsäure in meinem Magen? Die Beine über die Bettkante schwenkend ermahnte ich mich zur Vorsicht und Besonnenheit. Heute konnte ich mich nicht mehr auf verletzungsbedingte Desorientierung berufen. Eilig ein paar Kleidungsstücke aus meinem Fundus gewählt hielt ich auf das Badezimmer zu. Verschiedene Blautöne unterstrichen meine Absicht, zurückhaltend und gelassen zu bleiben. Außerdem harmonisierten sie noch ironischerweise mit dem Veilchen, das meine rechte Gesichtshälfte einnahm. In dieser Rüstung aus Vorsätzen und Zynismus stieg ich hinunter, bereit, Dornröschen aus seinem Schlaf zu befreien, wenn auch sicherlich nicht mit der märchenhaften Methodik. Lautlos betrat ich unser Wohnzimmer, warf einen zögerlichen Blick auf Fabian, der, der Decke im Verlauf seines wohl unruhigen Schlafes verlustig gegangen, auf dem Rücken ruhte, leise schnarchte. Er wirkte nun noch stärker als am Abend zuvor wie ein Indianer, mit diesen aparten Gesichtszügen in der warmen Hautfarbe und den schwarzen Haaren, die seinen Kopf einrahmten wie seidige Wellen. Plötzlich überkam mich Unsicherheit und Furcht. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie ich ihn wecken sollte. Burschikos wäre wohl ein nasser Waschlappen auf das Gesicht, aber das erschien mir plump und gedankenlos. Sollte ich leise seinen Namen rufen? Würde das nicht ängstlich wirken? Es wäre genau die Entsprechung zu meinen ungeordneten Gefühlen. So eine offensichtliche Enthüllung galt es zu vermeiden! Ich atmete tief ein, legte meine Hand sanft auf seine nackte Brust. @~@ Ich befand mich in einem köstlichen Paradies aus tiefbrauner Schokolade, einem Wirbel, dessen Sog mich immer tiefer in sein Herz zog. Obgleich mein Herz vor Unruhe zu zerspringen drohte, wollte ich nicht mit kräftigen Schwimmzügen aus seiner gefährlichen Umarmung entfliehen, sondern ließ mich bereitwillig tragen, gespannt auf das Innere dieses unendlichen Meeres aus Schokolade. Was würde wohl hinter dem dunklen Kern liegen? @~@ Noch bevor ich ein Wort über die Lippen bringen konnte, richtete sich Fabian kerzengerade, blitzschnell auf, in seinen Zügen noch ein wissbegieriges Leuchten, das unmöglich mir gelten konnte. Ich konnte durch würdeloses Herumangeln in der Luft einen Sturz auf den niedrigen Couchtisch vermeiden, ein paar saftige Flüche ausstoßend, die meinem Erschrecken seine Spitze nahmen. @~@ Vom Schokoladenmeer zu Valerius' Nougat-Augen war es nur eine Sekunde, die ich in völliger Verblüffung verstreichen ließ. Ganz in fließend kühlem Blau gekleidet taumelte er aus meiner Nähe, sonderte Verwünschungen ab, die ich nie erwartet hätte von ihm zu hören. Offenkundig hatte ich erneut mein Talent bewiesen, ihn zu Fall zu bringen. Verärgert stemmte er die feingliedrigen Hände in die schmächtigen Hüften, funkelte mich vorwurfsvoll an. Ich schenkte ihm ein schwaches Lächeln, kehrte langsam wieder in die Realität zurück, in der sich die Umstände gegen mich verschworen hatten. "Es ist Zeit, in den alltäglichen Horror der Miss-Bildung und organisierten Verblödung zurückzukehren." Ätzte er mit einer Fratze, die in ihrer gelangweilten Arroganz Oscar-würdig war. Ich erhob mich, strich mir lose Strähnen aus den Augen. "Ich nehme mal an, Frühstück ist nicht deine Sache, was?" Valerius warf mir einen letzten Blick zu, der einem Basilisk Stoff für Albträume geboten hätte. @~@ Zwei Tage waren vergangen, in denen Fabian immer wieder meine Gesellschaft suchte, ich ihn mit regelmäßiger Grausamkeit zurückwies. Sein Interesse schmeichelte mir, ließ mich von einer Freundschaft träumen. Solche Phantasien waren nichts als müßige Delirien, die im Tageslicht zu einem fahlen Schatten zerrannen! Ich konnte nicht glauben, dass er aufrichtig war, wo er doch mit seinem gewinnenden Wesen die freie Auswahl unter meinen Mitschülern hatte. Selbst der unsägliche Martin hatte seinen Groll vergessen, alberte mit Fabian herum, als sei nie etwas vorgefallen. Was mich noch mehr in meiner Meinung bestärkte, dass Martin ein rückgratloser Prolet war! @~@ Valerius verfiel wieder in sein altes Verhaltensmuster des zynischen, altklugen Beobachters, der sich nicht mit den Niederungen des Lebens herumschlagen wollte, sondern in seinem Elfenbeinturm residierte, dort auch die Exklusivität seiner Einsamkeit sicherte. Ich gab jedoch nicht klein bei, meinen Schwur noch im Gedächtnis, dass ich ihn wieder zum Essen überreden wollte. Auch die Bilder aus seinem Album hatten sich in meinen Träumen festgesetzt, geisterten gaukelnd durch meine Nächte. Seine Nougat-Augen raubten mir die Ruhe. @~@ Das Angebot war zu verführerisch, als dass sich mein Kurs nicht darauf eingelassen hätte: eine Arbeit würde entfallen, wenn wir Referate zu gegebenen Themen vortragen würden. "Die Bedeutung internationaler Verträge nach dem 2. Weltkrieg." Nicht gerade ein schlafraubender Reißer, aber ich konnte mich vage an ein Buch erinnern, das mir bei einem Streifzug durch die Bibliothek ins Auge gesprungen war. Als ich mich meldete, schnellte Fabians Arm in die Höhe. Sogleich sprudelte er hervor, eben dieses Thema auch zu favorisieren. Ein so durchsichtiges Manöver, aber weder der Lehrer noch ich erhoben Einwände. @~@ Er hatte mich nicht ausgeschlossen, was ich als ein Friedensangebot wertete. Ein gemeinsames Referat bedeute gemeinsame Zeit. Ich hatte das Bedürfnis, eine Schokoladenmousse mit Vanillesoße und selbstgebackenen Kipferln zu erschaffen. @~@ Ich lud Fabian zu mir ein, da nach seinen vagen Erklärungen die eigene Wohnung kaum Platz zu ungestörtem Arbeiten bot. Er wirkte ein wenig mitgenommen auf mich, die Lapislazuli-Augen trugen Staub, sein Lächeln war ausgefranst. Gegen meinen erklärten Willen machte ich mir Sorgen um ihn, aber meine Arroganz verbat mir, ihn zu befragen. Wir verfassten mit stoischer Gründlichkeit unter unbehaglichem Schweigen konzentriert unser Referat. Dabei konnte er mehrfach ein Gähnen kaum unterdrücken, verlor zunehmend den Faden in unserer Strukturierung der Fakten. Schließlich konnte ich nicht mehr länger seine Erschöpfung tolerieren. Auch Selbstherrlichkeit kannte die Grenzen des Anstands. @~@ "Warum legst du dich nicht ein wenig hin?" Seine Offerte kam so überraschend, dass ich glaubte, meine Müdigkeit habe mir einen Streich gespielt. Bevor er verstimmt seine Worte wiederholen musste, nickte ich, wechselte vom Boden in sein Bett, zwischen die zahllosen Kissen. »Nur einen winzigen Augenblick... ein wenig Erholung...« Aber ich wollte nicht in Morpheus' Arme fliehen, bevor ich ihm gestand, was mich derart mitnahm. @~@ Ihm betont keine Beachtung schenkend erwog ich Formulierungen, als seine Stimme rau die Stille durchbrach. "Tut mir leid, Valerius. Ich habe gestern nicht schlafen können, weil mein Vater angekündigt hat, dass er im Sommer nach Spanien gehen wird. Ein neuer Auftrag." Die Blätter entglitten meinen tauben Händen, mein Herz verfehlte seinen Takt. Er würde also wieder aus meinem Leben verschwinden? Ungerechter Zorn folgte auf den Schock der Ankündigung. "Tja, so wirst du dein Spanisch verbessern können, nicht wahr?" @~@ War es Einbildung, oder schwang in Valerius' spöttischem Tonfall Enttäuschung mit?! Bedeutete meine Anwesenheit ihm etwas? Ich brachte nicht den Mut auf, eine Antwort auf diese Frage zu erzwingen, sondern verbarg mich vor aller Welt in traumloser Dunkelheit. @~@ Ich hatte den Text ausgefeilt, Einteilungen vorgenommen, wer welche Passage vortragen sollte, kurzum, die Arbeit war vollbracht. Nun wusste ich nicht, was ich tun sollte. Fabian schlief noch immer, auf dem Rücken, beinahe lautlos, sein offenes Lächeln hatte sich aus seinem Gesicht verflüchtigt. Mir wurde bewusst, wie sehr ich mich an dieses sanfte Strahlen gewöhnt hatte, seine plötzlich hervorsprudelnde Fröhlichkeit, diese sonnige Laune, die ihn nie zu verlassen schien. Ich wollte sie zurückgewinnen!! Ganz egoistisch und selbstherrlich natürlich. Eine irrwitzige Idee geisterte durch meine müßigen Gedanken, als ich den Blick durch mein Zimmer schweifen ließ. @~@ Zufrieden betrachtete ich mein Werk, schob die Palette mit den Klecksen an Ölfarbe beiseite. Die Pinsel behutsam in Reinigungsflüssigkeit gesenkt konnte ich ein leises Kichern nicht unterdrücken. Wenn Fabian einem Spiegel begegnete, würde er eine Überraschung erleben. @~@ Ich erwachte erholt, räkelte mich genießerisch in Valerius' breitem Bett. Hier war Schlaf so wohltuend wie nirgends zuvor. Beim Erwachen brauchte ich nicht die antrainierte Orientierungsphase zu durchlaufen. Ich setzte mich auf, suchte nach Valerius, aber außer einem leichten Geruch nach Ölfarbe war das Zimmer verlassen. Bereit, mich den Herausforderungen zu stellen, die mir der gestrige Abend auferlegt hatte, erhob ich mich, nahm Valerius' Fährte auf. @~@ Fabian war endlich wieder in das Reich der Lebenden zurückgekehrt, stolperte nun mit offenen, ungebändigten Haaren in die Küche, wo ich mich an einem Glas Milch festhielt. Es vertrieb den schweren Geruch der Ölfarbe und den chemischen Geschmack von meinen Lippen. Als er mir sein Lächeln schenkte, so erfreut, mich gefunden zu haben, musste ich hinter vorgehaltener Hand lachen. Mein Werk übertraf meine kühnsten Erwartungen. @~@ Valerius lachte. Ich kannte den Grund nicht, aber das schien mir auch nebensächlich angesichts dieser Premiere. Sein Lachen war hell und so spritzig-vergnügt wie das eines Kindes. Wenn ich einen Weg fand, es zu beschwören, so würde ich ihn nicht mehr verlassen! @~@ Mein Lachen infizierte ihn, auch wenn mir in diesem Augenblick klar wurde, dass er noch nicht herausgefunden hatte, was mein Amüsement bewirkte. Kopf und Herz so leicht und überschwänglich, dass ich alle Vorsicht fahren ließ, mein Bubenstück zu krönen: ich reichte ihm eine polierte Platte, die vom Vorabend noch auf der Anrichte lehnte. @~@ Überrascht wechselte ich von diesen glänzenden Schokoladen-Augen zu der spiegelnden Unterseite einer Vorlegeplatte, stutzte. Sollte das mein Gesicht sein?! Jetzt erklärte sich auch der Geruch nach Ölfarbe. Valerius hatte meinen komatösen Schlaf genutzt, um mein Gesicht zu verzieren. Um meinen Haaransatz wanden sich grüne Ranken mit goldenen Dornen, auf meiner Stirn strahlte eine Sonne, während mein Kinn einem Halbmond Zuflucht bot. Meine Wangenknochen brannten in glühenden Flammen wie die Lohe eines Feuerspuckers. Allein meine Nase war verschont geblieben von diesem Streifzug durch den Farbkasten. "Wow..." Seufzte ich elaboriert, grimassierte ungläubig. Ich bemerkte, dass selbst meine Augenlider eine Veränderung erfahren hatten, doch ein simples Blinzeln konnte mir nicht die ganze Schönheit und Perfektion seiner Kunst präsentieren. @~@ Als er sich zu mir umwandte, mit den Augenlidern zwinkerte, verstand ich seine Frage sofort. "Kleine Sterne." Gab ich zu, nun verlegen angesichts der Intimität, die ich in meinem Anfall kreativer Tollkühnheit verdrängt hatte. "Während ich geschlafen habe?!" In seinem Tonfall schwang so viel aufrichtige und atemlose Bewunderung mit, dass ich mich vor Scham wand. Plötzlich blitzten die Lapislazuli-Augen bedrohlich auf, die sternenbedeckten Augenlider senkten sich auf Halbmast, während Fabian die Schultern kreisen ließ. "Das fordert eine Revanche!" @~@ Als Valerius meine teuflische Absicht erkannte, war er schon hoffnungslos verloren. Ich hatte ihn bereits gegen die Anrichte gedrängt. Ich fand Angst in seinen Zügen, was mich beschämte, denn ich hatte nicht die Intention, ihm etwas anzutun, lediglich endlich zu vollbringen, was ich mir geschworen hatte. Jetzt, da meine Zeit mit schmerzlicher Eile ablief. Das Geschirrhandtuch zu einem engen Strick verdreht fing ich mit einer Hand seine schmalen Handgelenke ein, verband sie hinter seinem Rücken. Viel zu überrascht von meiner Unverschämtheit, so einfach seine körperliche Integrität zu verletzen, leistete er keinen bemerkenswerten Widerstand. Ich hob ihn an seinem zerbrechlichen Hüften auf die Küchenzeile neben der Spüle, funkelte ihn an. @~@ »Er...Er...« Ich muss mich wehren!! @~@ "Was soll das?!" Endlich erwachte Valerius aus seiner Trance, zischte mich mit einem mühsam gewahrten Anschein von Indignation an. Lächelnd zerteilte ich einen rotwangigen Apfel, entfernte behände das Kerngehäuse, viertelte ihn. Ich schob Valerius ein Stück in den Mund. Er verstand nicht, aber nun dämmerte ihm langsam, dass ich mit Heimtücke meinen Willen bekommen würde. @~@ Ich hatte das Bedürfnis, meine geistige Unbeweglichkeit und seine ungehobelte Grobheit laut zu verwünschen. Allein, diese Möglichkeit hatte er mir durch seinen perfiden Gauklertrick geraubt! Das Apfelstück, das in märchenhafter Ironie zwischen meinen Kiefern klemmte, konnte ich nicht ausspucken, es war zu groß. Wollte ich es entfernen, musste ich es zerbeißen und kauen. Essen. @~@ Als ihm klar wurde, dass ich diesen Knebel mit Bedacht gewählt hatte trotz meiner Überraschung, trafen mich hasserfüllte Blicke wie ein Sperrfeuer. Seine trotzige Würde verbat ihm jedoch einen halbherzigen Fluchtversuch. So strafte er mich mit seiner Verachtung. Ich war nicht umsonst ein begeisterter Koch, Improvisation mein alltägliches Brot! Ich suchte mir aus den Schränken verschiedene Utensilien, um Valerius meine Referenz für sein Kunstwerk zu erweisen. @~@ Mir graute in Erwartung dessen, was Fabian sich ersonnen hatte. Vor ihm drängten sich Paste aus Tomatenmark, Senf, Schlagsahne in einer Sprühflasche, und aus dem geheimen Depot meines Vaters ein Glas mit Nougatcreme und ein Tiegel mit Gelee Royale. Aus der Besteckschublade zog er ein scharfes Steakmesser mit einer nadelspitzen Klinge. Ich schloss die Augen, zu entsetzt, um dem Horrorfilm, der sich in meiner blühenden Phantasie abspielte, standzuhalten. @~@ Nachdem ich meine Zutaten für einen Exorzismus a la Cuisine auf die Anrichte platziert hatte, schob ich mich zwischen seine dünnen Beine, die stocksteif von der Theke baumelten. Auch mit Abstand konnte ich seine hastigen Atemzüge erkennen. Unter den geschlossenen, bläulichen Lidern zuckte es nervös. Ich beugte mich vor, wisperte leise in sein Ohr. "Keine Angst, vertraue mir einfach." Erschauernd verspannte er sich völlig, würdigte mich keines Blickes. Vorsichtig strich ich aschblonde Strähnen aus der Stirn, bedauerte ihn für die pergamentartige Beschaffenheit seiner Haut. Das Messer in die Tomatenpaste getaucht verteilte ich behutsam rote Streifen auf seiner Stirn direkt über seiner Stirnwurzel. Valerius zitterte nun heftig, ob es nun an der Kälte des Stahls lag oder an der Schärfe der Klinge, war ich nicht sicher. "Ich bin vorsichtig." Versicherte ich ihm leise, zeichnete mit Senf seine Wangenbögen nach. Das spitze Kinn verzierte ich mit süß duftender Schokolade, die niedliche Stupsnase krönte ein Sahnehäubchen. Zum gebührenden Abschluss verteilte ich behutsam das Gelee Royale auf seinen bebenden Lippen. "Fertig." Flüsterte ich lächelnd, hielt ihm die Polierplatte unter die Augen, aber er öffnete sie nicht. @~@ Mein Gesicht musste in Flammen stehen. Zumindest brannte jede einzelne Zelle in meiner Vorstellung. Heiß und kalt, sein grausames Spiel. Stahl und Schärfe, kühle, besänftigende Labsal, die sich langsam auf meiner Haut erhitzte. Verwirrende Eindrücke, Gerüche, Emotionen, vermischt zu einem Potpourri an Gefühlen, derer ich nicht mehr Herr wurde. »Zu stark, zu überwältigend.« @~@ "Valerius?" Besorgt schob ich eine Hand in seinen Nacken, bewegte ihn, mir sein Gesicht zuzuwenden. Stille Tränen rannen über seine Wangen, trafen mich bis ins Mark. Ich hatte niemals beabsichtigt, ihn zu demütigen oder zu quälen. "Entschuldige, es tut mir so leid, ein dummer Scherz..." Er öffnete seine Augen, Zartbitter mit Glasur. Für eine Ewigkeit verharrten wir eingefroren in einer anderen Welt. Er zerbiss geräuschvoll den Apfel, kaute langsam und schluckte. @~@ Ich hatte es getan. Meinen Schwur gebrochen. Verloren. Dennoch fühlte ich mich nicht besiegt. Eine Niederlage schmeckte doch nicht köstlich süß und sauer zugleich? @~@ Als sich in seinen Mundwinkeln ein Lächeln verirrte, hätte ich vor Erleichterung laut singen und tanzen können. Ich rührte keinen Muskel, verfolgte stumm das Wunder, das sich vor meinen Augen abspielte. Wie Valerius zögerlich seine Lippen benetzte, seine Zungenspitze schüchtern vom Gelee Royale kostete, kühner die Lippen nach innen wandte, um auch die Reste zu naschen. @~@ Fabian grinste erleichtert, hielt mir die Vorlegeplatte vor das Gesicht. Ich beugte mich zu ihm, reizte ihn spielerisch. "Die Sahne zerläuft." Fabian hatte noch immer seine Hand in meinem Nacken, strich mit dem Daumen träumerisch sanft über mein Ohrläppchen. Seine Lapislazuli-Augen funkelten auch ohne die aufgezeichneten Sterne wie der Nachthimmel. "Eine Schande." Raunte er heiser, nahm mit seiner Zungenspitze die weiche Creme auf. @~@ Genießerisch leckte ich die Sahne von seiner Nase, während seine schnellen Atemzüge den Ausschnitt meines T-Shirts wärmten, meine Haut zum Prickeln brachten. "Na, Frieden?" Er lächelte scheu, seine glühenden Wangen erblühten unter meiner Aufmerksamkeit. So schön, so unschuldig, so verführerisch: ich konnte nicht länger widerstehen, ließ meine Zunge über seine Wange gleiten, benetzte meine Lippen mit Senf, küsste Muster in das Tomatenmark auf seiner Stirn. Seine Nase liebkoste meine Nasenspitze, forderte mich heraus. "Kosten?" Raunte ich atemlos, zeichnete seine Lippen mit meiner Zunge nach, hinterließ eine süß-saure Spur. @~@ Meine Lippen brannten unter dem Senf, kühlten sich unter dem konzentrierten Geschmack sonnig-süßer Tomaten. Gemischt mit dem säuerlichen Geschmack des Apfels sprangen alle meine lange vernachlässigten Sinne in Bereitschaft. Sie hungerten nach neuen Eindrücken. "Schokolade?" Wisperte ich flehend. @~@ Meine Zunge streichelte sein spitzes Kinn, meine Lippen fingen den süßen Schmelz des Nougat ein. So nahe wir einander waren, konnte ich seinen trommelnden Herzschlag wie den eigenen fühlen, die Erwartung, die uns beide gefangen hielt. Ich bot ihm meine Lippen zum Kuss. @~@ Prickelnd, süß, zärtlich, überwältigend liebkosten mich seine Lippen, streichelte seine Zunge meine aromatisierte Haut. Es war nicht genug, besänftigte meinen Hunger bei weitem nicht! @~@ Er schmeckte so berauschend wie ein Champagner-Trüffel, luftig-leicht wie ein Karamell-Mousse und würzig wie chinesische Fischsauce auf Frühlingsrollen. Verlangte nach mehr! @~@ Mich unablässig küssend befreite Fabian mich von seiner Fessel, zog mich an sich, hielt mich in seinen Armen gefangen. Ich vergaß alle Bedenken, alle Ängste, all meinen Trotz. Gab mich seinem Genuss hin. @~@ So einzigartig wie ein Soufflee, das dem Ofen entnommen noch immer seine perfekte Form bewahrte, erschien mir das Wunder, das wir gemeinsam bewirkt hatten. In diesem Augenblick traf ich meine Wahl. @~@ Ungeduldig starrte ich auf die altmodische Uhr, versuchte, mit einem becircenden Blick ihr eine Beschleunigung abzuschmeicheln, aber unbeeindruckt von meinem Flehen verharrte sie in halsstarriger Präzision, während ich über die Köpfe der vorbeieilenden Menschen hinwegspähte. In drei Minuten müsste sein Zug einlaufen, sein aschblondes Haupt sich unter die Menschen mischen. Ich konnte ein zärtliches Lächeln nicht aus meinen Zügen bannen, malte mir im Geiste aus, was ich ihm heute Abend mit dem Inhalt meiner Einkaufstüte zaubern würde. Und das Lunchpaket, das ihn morgen an mich binden sollte. @~@ Die Luft war schwer von billigem Parfüm und Schweiß, drangvolle Enge wie immer um die Uhrzeit, Rushhour. Ich schulterte die Mappe mit meinen Zeichnungen, Hausaufgaben sozusagen. Obwohl die Umstände so bedrückend waren, verspürte ich nur Freude. Ich wusste, er wartete nun schon ungeduldig an der Unterführung, erwiderte mechanisch das interessierte Lächeln der Leute, in der Hand wie immer einen Beutel mit Schätzen, die er für uns mundgerecht zubereiten wollte. Die schwarzen Haare waren sicher ihrer Fessel entflohen, bildeten einen seidigen Fluss auf seine Schultern, während er selbst den Feierabend von seiner anstrengenden Arbeit in der Kundenberatung mit dem Öffnen der beiden Kragenknöpfe seines Hemds eingeleitet hatte. Direkt zwischen seinen Schlüsselbeinen ruhte der Anhänger, den ich ihm zum Geschenk gemacht hatte, unsere Initialen in einer Art Möbius-Gesetzmäßigkeit verbunden. Meine erste Gratifikation steckte in dem eingravierten Goldanhänger. Und ein Traum, der mich in einer ganz bestimmten Nacht besucht hatte. Mein wunderschöner, Lapislazuli-äugiger Indianer! @~@ Die unförmige Mappe ragte über die Köpfe hinaus, sodass ich Valerius leichter erspähte, seine schlanke Gestalt mit den rosig überhauchten Wangen. Die Nougat-Augen hinter runden Brillengläsern brannten in köstlichem Feuer, das mir allein galt. Ich stemmte mich dem Strom entgegen, stand ihm gegenüber. Wie jeden Werktag tauschten wir in stiller Übereinkunft unser Gepäck, ich nahm die Mappe, während er sich der Einkaufstüte annahm. Seine kühlen, feingliedrigen Finger streiften liebevoll über meine Haut. Gemeinsam schlenderten wir unserem winzigen Appartement entgegen, wo ein überbreites Bett mit einem Kissenmeer und eine große Küche unserer harrten. @~@ ENDE @~@ Danke fürs Lesen ^_^ kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Diese Erzählung entstand aus einer Begeisterung für den Jugendstil in seiner variantenreichen Ausprägung und dem philosophischem Konzept dahinter, ebenso meiner Begeisterung für leibliche Genüsse ^_~ Ich war mir bewusst, dass man Val nicht gerade mit Sympathie empfangen würde, einen Zyniker, der nur auf seinen Verstand vertraute, das komplette Gegenteil zu Fabian bildet, der keinerlei Hehl aus seinen Leidenschaften macht. Unerwarteterweise hatte jedoch auch Val Fans und Gleichgesinnte, die ihm weder seine ätzende Art, noch seine willensstarke Verweigerungshaltung und Sehnsucht nach Klarheit und Übersichtlichkeit übelnahmen, was mich sehr gefreut hat. Ich mag das Kerlchen nämlich sehr. ^_^ Um Unklarheiten zu beseitigen, die mittels Fragen an mich herangetragen wurden: ich leide nicht unter einer Essstörung, auch wenn man meine "Nahrungsmittelkreationen" des Öfteren mit diesem Prädikat bedacht hat ^_~ Ich rate allen, die sich angesprochen fühlen, auch weiterhin dazu, professionelle Hilfe zu suchen.