Titel: I Would Die For You Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: http://www.livejournal.com/users/kimerascall/ Original FSK: ab 16 Kategorie: Phantastik Erstellt: 17.09.2001 Disclaimer: "Crush" gehört Garbage. Alles andere ist absolut frei erfunden! ^_~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ ~|~ I Would Die For You Kapitel 1 - Des Wahnsinns fette Beute? Milo strich sich über die feuchten dunkelbraunen Locken, wickelte sich das Handtuch geistesabwesend um die Hüften, obwohl er das Badezimmer ganz für sich allein hatte. Dampf verdichtete die Luft, benetzte die Kacheln und beschlug den Spiegelschrank. Mit der flachen Hand wischte er über die matte Fläche, blinzelte Wassertropfen von seinen langen Wimpern. Und stutzte. Für einen Sekundenbruchteil, gerade so lange, wie ein Wimpernaufschlag andauerte, meinte er, in dem winzigen Ausschnitt, der tatsächlich eine Reflektion wiedergab, ein anderes Gesicht zu sehen, weicher, in feinerer Komplexion. Doch als er die schwarzen Augen fokussierte, konnte er nur sein eigenes Gesicht wahrnehmen: markante Wangenknochen, leicht schräg stehende Mandelaugen, Sommersprossen wie Streusel. Einen, nach seinem Empfinden zu weichen Mund mit zärtlich geschwungenen Lippen. Exotisch, aber irgendwie unfertig... Er streckte sich übellaunig die Zunge heraus und massierte mit den Fingerspitzen seine Schläfen. »Schon wieder Kopfschmerzen.« Automatisch tasteten seine Fingerspitzen über den minimalen Wulst, den die lange Narbe an seinem Oberkopf bildete. Zwar verbargen seine dichten Locken in ihrem Ungestüm alle sichtbaren Spuren, aber man konnte die eigenen Wunden nicht übersehen oder gar vergessen. »Obwohl...« Milo stieß ein gereiztes Knurren aus, klatschte sich mit beiden offenen Handflächen auf die Wangen. »Denk nicht daran!! Alles nur Einbildung.« ~|~ "Na, Sohn, viel Arbeit heute gehabt?" Milos Vater, ein untersetzter Mann in seinen Vierzigern, etwas behäbig in Körper und Geist, lächelte seinen Sohn unsicher an. Milo drückte die Zunge gegen den Gaumen, forcierte ein schiefes Grinsen in seine Gesichtszüge. "Geht schon, Paps", murmelte er betont fröhlich, aber den schrillen Unterton wie eine abstehende Kante an den Konsonanten konnte man kaum missverstehen. "Gut, gut!" Ein weiteres unbeholfenes Lächeln, dann wandte sich sein Vater wieder dem Fernsehbild zu, mit herabhängenden Schultern und schütter werdendem Haar. Milo entnahm der dekorativen Obstschale einen Apfel, rieb ihn an der Jogginghose ab, obgleich die dicke Haut des Obstes bereits glänzte wie poliert. "Ich mach' noch ein paar Aufgaben", verkündete er leise, tätschelte seinem Vater nach kurzem Zögern eine Schulter und verließ das Wohnzimmer mit einem Anflug von Melancholie. Gedankenverloren senkte er die Zähne in die rot-golden schimmernde Schale, lutschte den hervorquellenden Fruchtsaft unterdrückt schmatzend ab, um dann abrupt stehen zu bleiben. Seine Hand, den Apfel verkrampft umfassend, glitt in Zeitlupe herab. Ungläubig fokussierten seine Augen, starr und weit aufgerissen zugleich, das Kernobst. Ein Gerinnsel aus Fruchtsaft und Speichel sickerte ungehindert seine Mundwinkel herab, während ein dezentes Beben seinen Körper erschütterte. ~|~ »Heute ist es wieder passiert... ich ging hinunter, nur mal nach Vater sehen, und irgendwie... hat es mich überrumpelt. Ich habe tatsächlich in einen Apfel gebissen... ohne es zu merken!! Morgen werde ich wieder an den Gelenken diese ekelhaft juckenden Pusteln haben. Wieso tut es das?!« Milo klappte wütend das einfache Schreibheft zu. Trommelte mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte, das Kinn in die freie Hand gestützt. "Verdammt, ich klinge wie ein Verrückter! Wenn jemand das liest, lacht er sich kaputt und schenkt mir eine kleidsame Zwangsjacke!" Mit ätzendem Spott vertrieb Milo energisch die verwirrenden Gedanken, rieb sich dann über die Augen. Sie brannten ausgetrocknet, erschöpft, wie sein ganzer Körper nach einem langen Tag, schrien nach einer Pause, nach Schlaf. Langsam versetzte Milo seinen Drehstuhl in eine sanfte 180° Kreisbewegung, musterte sehnsüchtig und gequält zugleich sein Nachtlager. Ein großes Kissen residierte erhaben auf mehreren Decken, die sich tief in dem ausladenden Bauch einer stabilen Hängematte aus reißfesten Kunststofffasern verbargen. An der Decke verliefen noch immer die Schienen mit den Flaschenzügen und Metallösen, die seine mobile Schlafstätte durch den Raum manövrieren konnten. Durch ein ausgeklügeltes, statisch austariertes System war sein Gewicht kein Problem für die dünnen Stahltrossen, die die Hängematte hielten. Ein wahres Meisterwerk, das sein Vater mit Arbeitskollegen an der Zimmerdecke montiert hatten, selbst entworfen, errechnet und zusammengebaut mittels Großeinkauf bei einem Baumarkt. Milo baumelte mit den Beinen, scharrte mit den Zehenspitzen über das Laminat. Manch einer würde wohl vor Freude jubilieren, wenn er nun in dieses Bett steigen konnte, vielleicht noch hinüber zu dem eine ganze Wandbreite einnehmenden Bücherregal getragen würde... aber Milo wollte nicht schlafen. Er würde es müssen, ganz zwangsläufig, weil seine Ratio ihn nachdrücklich darauf hinwies, dass er am nächsten Morgen konzentriert in der Berufsschule zu erscheinen hatte, dass er dringend eine Rast benötigte, Verantwortung trug... Aber seine Seele wand sich widerspenstig, wehleidig vor der Aussicht, träumen zu müssen. Milo fürchtete seine Träume. Er konnte sich nicht einmal mehr mit der vagen Hoffnung trösten, dass er sie am nächsten Morgen vergessen haben würde. Denn das tat er nie. ~|~ »milo« »Milo« »MILO« Mit einem heiseren Schrei schreckte Milo aus klebrig-erstickendem Schlaf hoch, die Augen weit aufgerissen, das Herz rasend. Seine Brust schien zu bersten unter dem Drang, Luft in seine Lungen zu pumpen, sich dem Tremolo seines Pulses anzupassen. Heftig blinzelnd vertrieb Milo den schmierigen Film auf seinen Pupillen, erkannte die vertrauten Umrisse des Mobiliars in seinem Zimmer, das Zwielicht des spätsommerlichen Morgens. Er drehte den Kopf, kommentierte mit einem Ächzen das Schwanken der Hängematte, sah dann aus dem Fenster in den dicken Frühnebel heraus, noch schwärzlich getrübt. Wickelte sich langsam aus den Decken und entstieg vorsichtig seinem Nachtlager. Das Laminat war kühl unter seinen Fußsohlen, weckte ihn nachhaltiger aus der Semi-Trance seines Erwachens, als es eine kalte Dusche vermocht hätte. »Kälte ist gut«, befand Milo mit den ersten Schauern einer Gänsehaut, »sie lenkt die Wahrnehmung auf das Wesentliche.« Und das Wesentliche bestand im Augenblick darin, sich zu waschen, in der Küche das Frühstück hinunterzuschlingen, sich möglichst vollständig zu bekleiden und dann zur U-Bahn zu hetzen. Während er sich wusch, erteilte er sich im Geist eine Order nach der anderen, als habe er eine Maschine zu lenken, die ein Programm Befehlszeile für Befehlszeile, in ihrem Code abzulesen wünschte. Die Küche war unberührt und sauber, Ergebnis seiner abendlichen Reinigungsaktionen. Milo vermutete seinen Vater bereits unterwegs zu seinem Büro, wie immer mit nüchternem Magen und einer Thermoskanne stark koffeiniertem Kaffee an seiner Seite. Stille umfing Milo wie ein Seidenlaken, daunenweich und betörend glatt. Würde die Welt stillstehen, ganz ohne Menschen sein, konnte es sich nicht anders anfühlen. Milo schaufelte mit mäßiger Begeisterung Cornflakes in sich hinein, eine Gewohnheit aus praktischen Erwägungen, nicht etwa dem Genuss oder geschmacklicher Vorlieben entsprungen. Als er seine Schüssel in die Spüle stellen wollte, blitzte das Abtropfaluminium ihm entgegen. Seine freie Linke fuhr hoch, um Haare aus den Augen zu streichen.... »Aber...!!!« Milo zuckte zurück, torkelte wenige Schritte, bis der Esstisch sich schmerzhaft und real in seine Oberschenkel eindrückte. Er biss die Zähne zusammen, stapfte grimmigen Blicks zur Spüle, ließ das Wasser in die Schale laufen. Seine Locken hingen niemals in seine Augen. ~|~ "Rüber, Mann!!" Milo dribbelte, aus den Augenwinkeln einen Mitschüler erspähend, setzte an, einen Pass zu schießen, als er heftig angerempelt wurde. Der Sportlehrer pfiff ab. "Strafstoß!" Milo massierte die malträtierte linke Körperhälfte, ging dann in die Knie, um die Ausführung zu beobachten, dankbar für die kurze Verschnaufpause. Der Schuss, um die ungünstige Entfernung zum gegnerischen Tor zu überbrücken, mit besonderer Kraft ausgeführt, feuerte gegen die Latte, um dann mit kaum vermindertem Drall in die entgegengesetzte Richtung auf das Feld zurückzufedern. Milo, bereit, den Ball abzufangen und wieder auf den Boden zu bringen, stürzte sich unerschrocken in den Nahkampf. Sein Gegner, fast einen Kopf größer und um einiges schwerer, versuchte, allein durch Körpermasse den erforderlichen Freiraum zu gewinnen, indem er mit ausgestellten Ellenbogen und breitem Kreuz gegen Milo anrückte. Milo schraubte sich in die Höhe, als der erste Abfangversuch eines Mitspielers den Ball in das Geschehen zurückholte, wollte mit der Brust den Ball wieder auf den Boden bannen. Den bedrohlichen Schatten des Riesen im Rücken und in Bedrängnis kämpfte Milo darum, den Ball unter Kontrolle zu bekommen, um ihn dann durch eine Lücke an einen freien Mitspieler weiterzuleiten. Im Gedränge umklammerte der Riese Milo schnaufend, was einen Reflex auslöste. Purer Instinkt lenkte Milos Hände auf den umklammernden Arm, setzten einen Schulterwurf an, um Sekunden später die Ausführung zu absolvieren. Mit einem Pfiff wurde das Spiel unterbrochen. Milo stand schwer atmend und vollkommen verunsichert, noch immer den Arm des Riesen haltend, der mit einem wehleidigen Grunzen vor ihm auf dem Hallenboden lag. "Was soll das werden?! Wir spielen hier Fußball und nicht Judo!! Auswechseln!" Milo reagierte nicht. Dann, als der Riese wütend seinen Arm freischüttelte, verließ die Trance Milo. Bebend schleppte er sich auf die Bank am Spielfeldrand, massierte sich die Schläfen. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, während ein bohrender Schmerz dahinter ihn marterte. Ein einziger Gedanke kreiste unaufhörlich durch seinen verwaisten Kopf. »Ich kann das nicht getan haben.« ~|~ Kurz nach drei Uhr war Milo endlich erlöst. Schwerfüßig schleppte er sich nach Hause, mit einem müden Seitenblick den Supermarkt streifend. Er musste heute noch Besorgungen machen, aber just in diesem Moment hatte er das Gefühl, nur noch mit letzter Kraft den heimatlichen Hafen ansteuern zu können. Nach dem vierten Versuch, seine zittrigen Finger mit dem Haustürschlüssel zu dirigieren, verschaffte er sich endlich Zutritt zu ihrem Reihenhaus. Die Tasche von der Schulter rutschen lassend torkelte er auf die schmale Stiege in das Obergeschoss zu, brach in die Knie, um sich dann auf allen Vieren in den ersten Stock zu schleppen. Vor seinen sich beschlagenden Augen tanzte wie ein hämischer Gruß der Umriss seiner Zimmertür, ein schier unerreichbares Ziel. Speichel benetzte seine Unterlippe, als er mit pfeifenden Atemzügen seinen kraftlosen Körper über den Boden in sein Zimmer schob. Dann kollabierte er auf dem kühlen Laminat. ~|~ »steh auf« »milo« »steh auf!« »milo? milo« »bitte...« »es tut mir leid« »milo« »milo?!« »Milo« »MILO!!« ~|~ Ein scharfer Schmerz fauchte durch Milos linken Arm, als er ihn in einem Reflex an den Leib ziehen wollte und den Türrahmen rammte. Nach dem dritten Versuch lag er endlich auf dem Rücken, visierte blinzelnd die Zimmerdecke an. Kontrollierte seine Atemzüge. Sein Zimmer. Kälte. Fußboden. Scheiße. Noch immer schien ein Übermaß an Speichelflüssigkeit in seinem Mund herumzuschwappen. Milo schluckte heftig und leicht angeekelt. Dann, in Zeitlupe und steif, setzte er sich langsam auf, lehnte sich an den Türrahmen an. Seine Glieder prickelten, als endlich Leben in sie zurückkehrte, das Rauschen des Pulses wieder Wärme in die ausgekühlten Körperpartien einflößte. Milo starrte auf den Fleck am Boden. »Widerlich!« Er hob die Armbanduhr vor die Augen und seufzte. Seine Ohnmacht hatte fast zwei Stunden angedauert. Er wusste, dass das nicht einfach ein Kreislaufkollaps gewesen war. Dennoch hatte er reichlich Erfahrung damit, plötzlich zusammenzubrechen. Umsichtig hangelte er sich auf die unsicheren Beine, durchquerte sein Zimmer, um sich aus der Cola-Flasche im Regal ein bereitstehendes Glas einzuschenken. Die Säure des Getränks ließ seine Kehle und seinen Magen protestierend aufheulen, aber er hoffte auf die belebende Wirkung von Koffein und Zucker. Während er Schluck für Schluck die selbstverordnete Medizin zu sich nahm, kratzte sein Arm an den juckenden Stellen in der Armbeuge. »Aufhören« Sein Arm fiel herab. Milo hustete erstickt, starrte ungläubig auf seinen Arm, der reglos und steif an seinem Körper anlag. »Was...?!« Er biss die Zähne zusammen. »Nein. Nein, nein, nein. Nein.« "Ich bin Milo Ramirez, 18 Jahre alt, wohne bei meinem Vater Reinhard Bäumler. Ich darf keine Äpfel oder Zitrusfrüchte essen, ich hatte vor einem Jahr einen Autounfall. Ich bin in der Berufsschule und hoffe, meine Ausbildung als Bürokaufmann im nächsten Jahr erfolgreich zu beenden." Milo räusperte sich, straffte seine Gestalt. "Ich weiß, wer ich bin." Er verschloss alle seine Sinne vor dem zweifelnden, hysterischen Unterton in seiner Stimme. ~|~ Milo umklammerte seine Knie und betrachtete die schillernden Schaumberge um sich herum. Das warme Wasser liebkoste ihn zärtlich bei der kleinsten Bewegung, eine tröstende Geste, wie er sich einredete. Natürlich brannten Knöchel, Kniekehlen und Armbeugen von der verflixten Apfelorgie, aber sein Gesicht war dieses Mal nicht von einer Spur Pusteln entstellt. Man war ja schon für kleine Gnaden dankbar. Um sich abzulenken, betrachtete er seine nackten Unterarme, zählte müßig die Sommersprossen und Leberflecken. »Wo ist eigentlich die Narbe, die ich...« Seine Augen weiteten sich erneut. »Moment mal... ich bin niemals Wellenreiten gewesen!! Und ich hatte niemals eine Narbe...« Heftig schraubte er sich in die Höhe, hinterließ ein aufgepeitschtes Wellenmeer. Trotz des Dampfes um ihn herum, der sich in Kondenstropfen an den Kacheln niederschlug, fror er erbärmlich, bis ins Mark hinein. »Schon wieder!!« Mit hektischer Ungelenkigkeit kletterte er über den Wannenrand, angelte sein Handtuch von der Stange und frottierte sich energisch. Woher kam dieser Unsinn?! »Ich bin NICHT verrückt.« Milo kämpfte die aufsteigende Panik hinunter. Das Bad, das ihn entspannen und seine verkrampften Muskeln lockern sollte, war vergebene Liebesmüh geworden, er versteifte schon wieder. Erschöpfung ließ ihn übellaunig die Zimmertür hinter sich zuschlagen. »Warum muss ich mich ständig kontrollieren?! Jedes verdammte Mal, wenn ich denke, ich könnte mich ein wenig gehen lassen, passiert so etwas!!« Er stieg in einen Pyjama, sammelte das Handtuch vom Boden und hängte es über eine Stuhllehne. "Ich wasche erst morgen!", verkündete er trotzig in die Stille, die das ganze Haus umfing. Mit Hausarbeiten bewaffnet machte er es sich in seiner Hängematte bequem, eingemummelt wie ein Eskimo in einem Biwak. Zunächst ließ es sich auch vielversprechend an: rasch und flüssig absolvierte er den Kaufmännischen Teil, stellte seine Bilanz auf, kommentierte mehrere Auszüge aus der Theorie der Personalsachbearbeitung und Budgetierung. Aber als er sich über die Abzüge eines Fachtextes zum Thema der Kosten-Leistungsrechnung beugte, das Englisch-Lexikon parat, schweiften seine Gedanken ab. »Vielleicht... Aber nein. Und wenn es die einzige Chance ist? Vergiss es!!« Mit einem Seufzer legte er Notizbuch und Dokumente beiseite. Ja, er war in psychiatrischer Behandlung gewesen, so wie jedes Unfallopfer mit einem Trauma. Natürlich war es ihm wie eine Zeitverschwendung vorgekommen, denn er konnte sich ja selbstredend an nichts erinnern, was sollte ihn da also traumatisiert haben?! Andererseits... andererseits waren da Erlebnisse gewesen... Erkenntnisse... die es ratsam erscheinen ließen, auf den verordneten Therapeuten einzugehen. Das Ergebnis eines Kommunikationsversuchs war ebenso ernüchternd, wie es Milos Zynismus zuträglich war: der Therapeut hatte eine Art des wahllosen Konsens und grenzenlosen Verständnisses an den Tag gelegt, die Milo bis zur Übelkeit gereizt hatte. Vielleicht war das auch ein Teil einer Konfrontationstherapie?! Dass man von dieser Person so lange mit Gegenfragen und Befindlichkeitsmutmaßungen unter Druck gesetzt wurde, bis einem der letzte Nervenstrang riss, und man explodierte. Nun, Milo hatte das Spielchen, so es denn eines war, nicht fortgeführt. Er hatte auf jede Gegenfrage ebenfalls mit einer weiteren reagiert und gemauert, bis die Therapie im gegenseitigen Einvernehmen und unter Einbeziehung der erheblichen Kosten beendet wurde. An den Unfall zu denken bereitete ihm wenig Schwierigkeiten. Sein Vater hatte einen späten Geschäftstermin gehabt, die Restauration eines alten Wasserwerkes, um dessen Nutzung als Kultur- und Begegnungsstätte voranzutreiben. Nun waren sie nach einer Besichtigungstour, die Milo vollkommen in den Bann geschlagen hatte, auf dem Heimweg. Regennasse, herbstlich mit Blättern bedeckte Straßen, kurz vor Mitternacht. Er war auf dem Beifahrersitz einfach eingeschlafen, hatte von sich spiegelndem Wasser, verzierten Kacheln, Jugendstil-Mustern und dem Echo in den bogenförmigen Katakomben geträumt. Aufgewacht war er vier Wochen später in einem weiß getünchten Zimmer, mit einem Verband und einer Halskrause, Schürfwunden und Prellungen am ganzen Leib. Sein Vater hatte ihm nach und nach von dem Unfall erzählt, auf seine hilflos-umständliche Art, die ihn immer überkam, wenn er mit seinem Sohn zu reden hatte. Obwohl sie das Tempo nicht überschritten hatten, hatten sich in einer Kuhle an einer Senke derartig faulige Blätter und Regenwasser vermischt, dass der schmierige Film das Auto steuerungsunfähig auf die Gegenspur geschleudert hatte. Unglückseligerweise hatte es dort einen anderen Wagen gerammt. Der zweite Wagen war von der Straße abgekommen und mit einem alten Baum kollidiert. Während Milos Vater blutüberströmt per Mobiltelefon um Hilfe rief, hatte er selbst einen Schädelbruch durch starkes Geäst erlitten, das das Seitenfenster glatt durchschlagen hatte und den Wagen zerdrückt. Auch der andere Wagen hatte einen Totalschaden erlitten, war durch den Aufprall in zwei Teile gerissen worden, in denen ein Junge an inneren Blutungen langsam starb. Die Eltern, schwer verletzt, konnten keine Hilfe leisten, die Schwester des Jungen, an seine Seite gefesselt, schrie ununterbrochen. Selbst die Rettungskräfte konnten sie nicht zum Verstummen bringen. Milo schauderte erneut unter dem Blick, den sein Vater ihm zugeworfen hatte, als er von diesem Teil des Unfallgeschehens sprach. Die Wehklage des Mädchens war so hasserfüllt und herzzerreißend gewesen, dass er noch immer nachts unter ihrem Schrei aus dem Schlaf hochschreckte, hatte sein Vater ihm bleich gestanden. Und das, obwohl sie derlei intime Gedanken immer voreinander verbargen. ~|~ Obwohl er den Tod des Jungen bedauert hatte, aus einer sehr distanzierten Ferne, wollte Milo keine weiteren Details erfahren. Er hatte überlebt, und das hatte ihm alles abverlangt, was er jemals gewesen war. Denn er war keineswegs aufgewacht und hatte sich locker-leicht von seinem Krankenbett erhoben. Im Gegenteil hatte er fast einen weiteren Monat bewegungslos dort verbracht, unfähig, wieder die Kontrolle über seinen Körper zurückzuerobern. Dann, als wäre ein Knoten geplatzt, hatte sich sein Gehirn erholt, als habe es nur einer Auszeit bedurft, um wieder zurückzufinden. Danach, als sich die Muskeln wieder an ihre Arbeit gewöhnt hatten, bestand er darauf, auf dem schnellsten Weg von diesem fremdbestimmten Tagesablauf entfernt zu werden. Er hatte keine Zeugen gewünscht bei der Feststellung, dass er nicht mehr wusste, wer er war. Dabei hatte es harmlos begonnen, lediglich die üblichen Fragen nach Geburtsdatum und Wohnort, Familie und Hobbys. Einfache Fragen. Und er hatte sie spontan beantwortet, gedankenlos, ein wenig gelangweilt sogar. Problematisch gestaltete es sich lediglich, als keine der Antworten auf seine Biographie zutraf. ~|~ Milo kuschelte sich tiefer in seine Decken. Disziplin und unablässige Konzentration. Seine Waffen gegen den unsichtbaren Feind, der irgendwo in seinem Kopf lauerte. Mehrfach hatte er sich durch den Kernspintomografen schleusen lassen, organisch war er gesund. Aber der Unfall hatte ihn getroffen, an einer Stelle, die unerreichbar schien und ihn unablässig quälte. Diese Stimme, die in seinem Unterbewusstsein nach ihm rief, sich in sein Leben drängte. Körperlos in seinen Träumen vagabundierte. Und nun langsam, aber mit steigernder Sicherheit seinen Körper okkupierte. ~|~ Dunkelheit. Wild verschlungene Muster aus Schwärze, Chaosgeknäuel, irrsinniges Labyrinth. Erschöpfung. Präsenz. Fremd. Vertraut. »milo« Herzrasen, flimmernder Puls. Lebendig gewordene Dornenranken aus undurchdringlichem Pech, erstickend, bedrohlich. Stummer Schrei. Ranken wie Bleibänder, luftabschnürend, alle Sicht verdeckend. Kein Boden mehr. Fauliger Sumpf aus lichtloser Schwärze, einsaugend. Ihn einsaugend. Kampf. Verzweiflung. Und Untergang. ~|~ Milo erwachte mit einem Angstschrei. Sein Pyjama war schweißnass, klebte an seiner Haut, die dunklen Locken ringelten sich feucht. Das Herz trommelte förmlich gegen seinen Brustkorb, als wollte es sein Heil in der Flucht suchen. Sein Mund war ausgetrocknet, die Kehle rau, als habe er stundenlang um Hilfe geschrien. Vergeblich. "Nur ein Traum, nur ein Traum", flüsterte er heiser in die morgendliche Stille, schlang die Arme beschützend um sich selbst. Hier war nichts, was ihn bedrohen konnte, kein Mensch, der ihm Übles wollte. »Nein.« "Das Monster ist in mir", wimmerte Milo leise, zog die Knie an die Stirn und weinte vor Erschöpfung. ~|~ "Wir schließen in einer Viertelstunde!", durchbrach das sphärische Knistern eines Lautsprechers Milos Konzentration. Er blickte auf, blinzelte, um die angestrengten Augen zu befeuchten und realisierte, dass es draußen bereits dämmerte. Mit einem Seufzer schob er den Stuhl zurück und erhob sich, klappte die Bücher zu, stapelte sie transportfähig und suchte nach seinem Leseausweis. Minuten später, nun mit Rucksack und Leinentasche bewaffnet, verließ er die öffentliche Bibliothek. Während sein Körper in scheinbar heute ungestörter Automatik den Heimweg ansteuerte, kreisten seine Gedanken unablässig über den verschiedenen Erkenntnissen und wissenschaftlichen Abhandlungen, die er in den vergangenen drei Stunden in sich aufgesogen hatte. Die Medizin fand offenkundig nicht gerade viele Beispiele für einen so speziellen Fall wie den seinen. Er hatte sich mit der Erkrankung der Schizophrenie beschäftigt, im Rahmen seines laienhaften Wissens, nach genauerer Betrachtung aber die Stichhaltigkeit einer solchen Vermutung auf seinen Fall verneint. Er war nicht in einem solchen Maße traumatisiert, dass er zu seiner seelischen Stabilität weitere Persönlichkeiten ausprägen musste. Man hatte schließlich auch keine ungewöhnliche Aktivität in seinem Gehirn festgestellt, die auf eine organische Ursache der Schizophrenie, beziehungsweise auf einen Verdacht der solchen, Hinweise gab. Die Artikel und Aufsätze über Unfallfolgen bei Schädelbruch und Hirnverletzungen hatten keine Erwähnung über einen gleich gelagerten Fall beinhaltet. Kurz und gut, oder auch nicht, wie Milo zynisch bemerkte, das Ergebnis in medizinischer Hinsicht war ernüchternd. Blieb ihm nur noch, trotz Widerstreben, die metaphysische Sparte. Dabei verstand er sich keineswegs als religiöser Mensch. Er glaubte nicht an ein überirdisches Gottwesen, das Geschicke lenkte oder das Universum geschaffen hatte. Nach seiner bescheidenen Meinung war alles ein kosmischer Zufall, und wer Sinn darin suchte, verpasste den ganz speziellen Humor jedweder Existenz: begriff man, was man war, hatte man verloren. Als Sohn eines Ingenieurs aber fühlte er sich verpflichtet, auch den nicht-wissenschaftlichen Theorien mit Respekt und Skepsis zugleich zu begegnen. Es gab nichts zu fürchten, also konnte er ruhigen Gewissens die Ergebnisse bewerten. Besessenheit hatte sich als Ursache für seine Symptome durchaus angeboten. Allerdings ging die beschriebene Form der Besessenheit, von der katholisch geprägten Form der Teufelsaustreibung über Massen-Selbst-Hypnose bei Sekten bis zu den Voodoo-Ritualen immer in eine Richtung: der fremde Einfluss versuchte, den Wirt zu kontrollieren. Und zu vernichten, wenn er ihm lästig wurde oder seine Aufgabe erfüllt hatte. Wissenschaftliche Erkundungen auf diesem Gebiet hatten in der Regel der beschriebenen Fälle festgestellt, dass sich die Personen in psychischen Ausnahmesituationen befunden hatten. Zum Selbstschutz in eine fremde Geistesform geschlüpft waren, sich selbst getäuscht hatten, gelegentlich sogar so gut, dass ihr Unterbewusstsein das entsprechende Gerüst bereitstellte, um die Illusion zu perfektionieren. Milo wich im letzten Augenblick einer Laterne aus und schreckte aus seinen Grübeleien hoch. Kernfragen blieben demnach folgende: a) wollte er etwas, das in seiner gegenwärtigen Persönlichkeit unerreichbar schien, so fern, dass er ein zweites Ich kreieren musste? b) wollte das zweite Ich ihm schaden? Milo erreichte das kleine Reihenhaus, das in Dunkelheit lag, was gleichbedeutend damit war, dass sein Vater noch nicht nach Hause gekommen war. Er schlüpfte hinein, brachte seine Taschen nach oben, kehrte dann in die Küche ein, um seinen nun rebellierenden Magen zu besänftigen. Während er in der Tiefkühlabteilung des gewaltigen Kühlschranks nach etwas Pasta-Ähnlichem suchte, drifteten seine Gedanken wieder ab. Nein, er konnte sich, zumindest im wachen Zustand, keines Wunsches entsinnen, der eine derartige Macht auf ihn ausüben konnte. Sein Leben war banal, aber zufriedenstellend. Er hatte keine großen Erwartungen an sich selbst, lebte in der Gegenwart. Wenn a) nicht zutraf, wie verhielt es sich mit b)? Wollte das Fremde in ihm ihm selbst schaden? Sein Instinkt meldete eine zögerliche Verneinung. Zwar erschöpfte er sich immer bis an die Grenzen des Erträglichen, wenn sein Körper fremdbestimmt gelenkt wurde, allerdings hatte es mehrfach Schaden verhindert, so viel musste er zugeben. Dennoch schien das andere Ich, wenn es denn ein solches war, nicht omnipotent zu sein. Eher wie ein Anfänger, der mühsam lernen musste, eine Maschine zu beherrschen und im Vorbeigehen noch die lebensnotwendigen Informationen aufzuschnappen. Konnte denn ein zweites Ich nicht auf den Wissensstand des ersten zurückgreifen? "Uuuuhhh", stöhnte Milo unterdrückt, als ihm die unwissenschaftlichen Überlegungen steuerlos davontrieben in ein Meer aus phantastischen Vorstellungen. Er entpackte eine Tiefkühllasagne, platzierte sie auf ein Backblech und belud den Umluftofen. "Und jetzt werde ich Wäsche machen!", verkündete er laut, als könnte die Absichtserklärung seine davongaloppierenden Gedankengänge bremsen oder den fremden Einfluss in den Senkel stellen. Milo sortierte mit verbissener Miene die Schmutzwäsche, stopfte die Trommel der Maschine bis zur Belastungsgrenze voll. Nun gut, möglicherweise war er ja besessen... aber dann nicht im klassischen Sinne. »Ganz gleich«, wies er sich stumm zurecht, von Importanz war lediglich die Wiederherstellung seines alten Zustands. Und, rein analytisch gesehen, musste er sich dazu herablassen, sämtliche Anhaltspunkte über das vorgebliche zweite Ich zu sammeln, zu notieren und zu entschlüsseln. Und dann den Eindringling zu vertreiben. ~|~ Milo balancierte einen Teller mit dampfender Lasagne in sein Zimmer, nahm an seinem Schreibtisch Platz und klappte einen Aktenordner auf. Der Papierbogen elektrisierte seine Fingerspitzen, als er über die grobe Struktur fuhr. Das andere Ich hatte ihn ausgefüllt... vielmehr aufdiktiert, da seine Hand nicht gehorchen wollte. In Blockbuchstaben fanden sich dort kurzgefasst die Eckpunkte einer Lebensgeschichte. Nur, dass es sich nicht um seine eigene handelte. Wie präzise konnte man in so kurzer Zeit eine andere Persönlichkeit herausbilden? Einen komplett abweichenden Lebenslauf konstruieren, der sich so tief einprägte, dass man ihn auf Kommando ohne weitere Überlegung heraussprudelte? »Der andere«, wie Milo ihn in seinen Gedanken nannte, war in München geboren, knapp zwei Monate älter. Milo stutzte... nun, jemand hatte gewisse Daten wie Adresse und Namen zuvor eingedruckt, offensichtlich, um Zeit zu sparen. Die handschriftlichen Ergänzungen waren nicht gerade weit gedrungen, nun kam die Sparte Familie.... durchgestrichen? Erste Unsicherheit beim Anderen? Hobbys....irrelevante Frage, vermutlich nur zur Entspannung eingestreut....das Übliche, Lesen, Fernsehen, Musik hören, Freunde treffen... Wellenreiten?? Judo?? Milo starrte auf die Buchstaben, bis sie vor seinen Augen zu einem irrwitzigen Reigen verschmolzen. "Ha! Ich war nie Wellenreiten, und Judo kann ich überhaupt nicht!" Milo griff mit grimmiger Miene zu seinem Teller, schaufelte energisch Pasta in sich hinein, bemühte sich, für Augenblicke jede weitere Überlegung hintanzustellen. Die Aufzeichnungen brachen danach ab... war er damals zusammengebrochen? Milo konnte sich nicht mehr entsinnen. Mit gestärktem Selbstvertrauen, sozusagen auf der Spur des Anderen, hob er das Dokument vor die Augen, ans Licht. Familie....ausgestrichen, aber nicht endgültig unleserlich... Eltern, na, die hatte wohl jeder....Schwester?! Milo legte das Blatt langsam ab. Ein Zittern lief durch seinen Körper, steigerte sich in Intensität, bis er nur mühsam den Sturz vom Stuhl verhindern konnte. Er hatte keine Geschwister. Aber der Andere. ~|~ Milo spülte das Geschirr ab, kämpfte gegen übermächtige Müdigkeit an. Hatte er sich zu viel zugemutet? Sein Kopf schien bleischwer und leer zugleich, als habe sich eine Nebelwolke ausgebreitet und in erstickender Grenzenlosigkeit jeden Gedanken eingefroren. Milo sehnte sich nach Schlaf. ~|~ »milo« »Milo?« »bitte« »hilf mir« »milo« »bitte« ~|~ »Träume ich? Dunkel hier. Eine Treppe. Hohe Stufen. Endlos. Eine Tür. Immer weiter. Stufe. Stufe. Die Tür. Entfernt. Noch immer. Ich - muss - zu - ihr. Schlüssel - zur - Erkenntnis - Da da ist jemand. Hinter mir. Nicht umdrehen. Nicht umdrehen. Nichtumdrehen. Lauf'. Lauf'! Lauf!Lauf!Lauf!Lauf!Lauf!Lauf!Lauf!Lauf! Oh Gott!! Nicht umdrehen. Nicht umdrehen.Nicht umdrehen.Nicht umdrehen.Nicht umdrehen. Neeeeeeiiiiiinnnnnn!!« ~|~ Milo blinzelte narkotisiert, starrte in eine unscharfe Masse, die sich erst langsam präzisierte, zu erkennbaren Eindrücken wurde. "Paps?", murmelte Milo mit schwerer Zunge. "Junge, was ist denn los mit dir?! Du hast geschrien, als sei dir der Teufel auf den Fersen!!" Milo bemerkte angstvolle Schleier in den Augen seines Vaters, spürte nun den festen Griff um seine Schulter. "Entschuldige... nur ein Traum." Milo stemmte sich ungelenk hoch, schloss gepeinigt die Augen, als die Hängematte seine Anstrengung mit einem erregten Schwanken quittierte. "Ich habe dir Frühstück gemacht, Milo." »Warum ist er so bleich? Ich muss ja geschrien haben wie ein Banshee.« "Aber nun muss ich weg, leider. Kannst du heute zur Berufsschule, oder soll ich Bescheid sagen, dass...?" "Nein, nein, Paps, schon okay!" Milo zwinkerte und zauberte mit eiserner Disziplin ein aufmunterndes Grinsen in sein Gesicht. "War nur ein Traum, der ist jetzt vorbei. Mach dir keine Sorgen! Und danke für das Frühstück." Milos Vater richtete sich auf, strich hauchzart über dessen Locken und nickte wortlos. Als er in der Tür noch einmal zögerte, sich dann aber nicht umdrehte, wusste Milo mit Sicherheit, dass sein Vater sich sorgte. Und dass er ihm Angst gemacht hatte. ~|~ Milo betrat die kleine Bibliothek, lieh sich ein Telefonbuch, blätterte konzentriert durch die Seiten. Fand die gesuchte Eintragung. Sein Magen rebellierte leicht. Natürlich war es absurd. Aber er wollte sich Gewissheit verschaffen. ~|~ Kapitel 2 - Eine gefährliche Suche Regen peitschte durch die Straßen, als Milo aus dem Bus stieg. Eisige Tropfen durchnässten sein bloßes Haupt, kühlten ihn aus. Seine Schritte waren unsicher, widerstrebend, und er musste energisch kämpfen, jede Sekunde aufmerksam sein, um den Anderen zu überlisten, der offenkundig versuchte, ihn von seinem Tun abzuhalten. Nur noch wenige Meter. Der Weg war vertraut, wie eine langjährige Gewohnheit. Und dennoch war Milo noch nie hier gewesen. Er erspähte das Türschild auf der Klingelleiste eines Mehrfamilienhauses. Musste die andere Hand zur Hilfe nehmen, sein Handgelenk fest umklammern, um endlich den Knopf eindrücken zu können. Vor Erschöpfung keuchend lehnte er sich gegen die Eingangstür, wartete auf das erlösende Summen. Starrte hypnotisiert auf den Namen, in geschwungenen Buchstaben. Bekannt-fremd. Schauer rieselten durch seinen Körper. Plötzlich gab die Tür nach, als eine ältere Frau hinaustreten wollte. Sie zuckte erschrocken zurück, im gleichen Maße, wie Milo wieder auf den Gehsteig stolperte. "E--entschuldigen Sie bitte, ich wollte zu Metternichs", stammelte Milo mit klappernden Zähnen. Die Frau musterte ihn streng, verschlossen. "Sind nicht da." Milo wischte sich Regenwasser von der Stirn, seine Schultern sackten herab, Erleichterung durchspülte seinen Leib. »Na warte!« "So ein Pech! Ich wollte mich bei ihnen melden, war ein Jahr im Ausland..." Die Frau zog nachdrücklich die Tür hinter sich ins Schloss. Warf einen missbilligenden Blick auf seine schlotternde, tropfnasse Gestalt. "Sind Sie Italiener?" Milo unterdrückte ein verärgertes Knurren. "Nein, Deutscher", gab er mit falschem Lächeln zurück. Die Frau zuckte mit den Achseln, ein aussagekräftigerer Gestus als jede verbale Replik. "Versuchen Sie es mal auf dem Hauptfriedhof", zischte sie eisig, um dann an ihm vorbeizurauschen. ~|~ Milo ließ sich aufstöhnend vor Genuss langsam in das seifige Wasser sinken. »Wärme. Endlich.« Nass bis auf die Haut und vollkommen verkühlt hatte er den ersten Abstecher in die finsteren Abgründe des zweiten Ichs abgeschlossen, nun erschöpft und ausgelaugt. Ein heißes Bad, und dann Nachtruhe. ~|~ »milo« »milo!« »bitte« »hilf mir« »milo« »bekämpfe mich nicht« »bitte« »milo« »lass mich leben« »milo« ~|~ »Diese Stimme.« Milo schlug langsam, widerwillig die Augen auf, visierte die Zimmerdecke an. »Sanft, schüchtern.« Milo lauschte auf seinen eigenen Herzschlag. Gelassen, rhythmisch, ruhig. Kein Albtraum in dieser Nacht. Keine Schmerzen in seinen Gliedern. Im Gegenteil, er fühlte sich erholt und energiegeladen. Wie seltsam. Und wie ungewohnt. ~|~ "Verrückter Tag", murmelte Milo, als er bereits kurz nach der Mittagszeit in das Wochenende entlassen wurde, durch den Ausfall mehrerer Stunden Wirtschaftslehre in gehobene Stimmung versetzt. Der Himmel war klar, herbstliche Kühle dämpfte die Strahlungsintensität der ungetrübten Sonne. In der Luft lag ein würziger Duft, nach Ernte, nach dem letzten Aufbäumen der Natur vor dem tiefen Schlaf des Winters. Milo konsultierte den Fahrplan, lehnte sich dann gedankenversunken an das Wartehäuschen an. Vor seinen Augen glitten die Autos über die Straße, endloser, sich drängelnder Strom an spiegelnden Scheiben und buntem Blech. Während er entspannte, von der Realität einen Schritt zurücktrat, verharrte sein Blick müßig auf dem Autoscheiben-Film. Wie ein altertümlicher Cinematograph, der bei steigender Geschwindigkeit tatsächlich eine Reflexion zurücksandte, nicht nur in flüchtiger Statik verharrte. Glatte, braune Haare, die ungeschnitten bis zur Nasenspitze reichten, helle Haut, eine schmächtige Gestalt, ein flehender Mund... Milo blinzelte, fokussierte seinen Blick. Die Gestalt verschmolz mit seiner eigenen, wurde ausradiert, nicht, ohne bittend die Hände auszustrecken. Seine eigenen Hände kopierten die Geste ohne Milos Willen. Hastig, errötend presste er sie wieder an den Leib. Sein Herz raste. »Bist du das?« ~|~ Milo studierte zitternd den Wegweiser auf der Tafel. Er musste sich mit beiden Armen umschlingen, um das Beben zu unterdrücken. Da, Südsektor... da mussten die frischen Gräber sein.... Milo konzentrierte sich auf jeden Schritt, zu seiner Überraschung ließ der Widerwille aber auf sich warten. Hatte der Andere sich zurückgezogen? Er ging die Randeinfassungen ab, las die Sterbedaten, fand endlich eine schier endlose Reihe, die in den fraglichen Zeitraum einzuordnen war. Seine Schuhsohlen knirschten auf dem Kies, auffrischender Wind verwirbelte welkes Laub, versetzte die großen Nadelbäume mit ihren schweren Ästen in ächzende Bewegung. Ein grauer Monolith. Milo blieb stehen. Ballte die Fäuste in den Manteltaschen, zog die Schultern noch höher, um das Kinn in dem wärmenden Schutz des hochgeschlagenen Kragens zu bergen. Severin Metternich. Geliebter Sohn und Bruder. Ein Bild verblasste langsam hinter einer eingesetzten, durchsichtigen Front. Milo ging langsam in die Hocke, stützte eine nackte Hand an der eisig-kalten Steinfront ab. Braune, glatte Haare, ordentlich gescheitelt, helle Haut, ebenmäßige Gesichtszüge, eine Stupsnase unter melancholischen Augen. "Du... bist es." ~|~ Ein Rabe schoss mit gequält heiserem Alarmruf tief über die Reihen der Gedenksteine hinweg, riss Milo aus seiner Versunkenheit. So still. Nur das unablässige Rauschen der Blätter wie ein stürmisch murmelndes Meer. Er fühlte die eisigen Nadelstiche der einsetzenden Kälte nicht. Schweigen in seinem Kopf. So blank, so einsam. ~|~ "Wer bist du?!" Milo fuhr zusammen und musste sich mit aller Kraft an dem Grabstein festhalten, um nicht Kopf voran umzukippen. Erschrocken wandte er sich herum, die Sprecherin mit der scharfen, hart akzentuierten Stimme zu finden. Eine junge Frau stand vor ihm, eine Hand auf die Hüfte gestützt. Die in Stummfilm-Manier stark dunkel geschminkten Augen funkelten ungemütlich. Ein Pagenschnitt aus den Dreißiger Jahren ließ sie in der Kombination mit dem Makeup sehr viel älter wirken, als sie nach Milos instinktiver Einschätzung war. Zu seiner Verblüffung und aufsteigenden Panik begann sein Körper zu zittern, sich selbst aufzurichten und zurückzuweichen, verkrampft, ängstlich. Eine Welle der Übelkeit brandete in seinem Körper hoch. Nur mühsam konnte er die bittere Galle herunterzwingen. "Was ist?! Zunge verschluckt, oder wie?" Unter dem Trenchcoat in Champagnerfarben tippte ein extravaganter Pump ungeduldig auf den Kies. Dann verengten sich die dunklen Augen, ein Blitz der Erkenntnis fuhr wie ein Gewitterleuchten über die maskenhaft gespannten Züge. "Moment mal!! Du bist doch der Andere!" Milo stieß ein ersticktes Wimmern aus, bevor er die Kontrolle über sich erringen konnte, wich einen weiteren Schritt zurück. Der Andere?! Was meinte sie damit?! Wusste sie etwa..?! Milo machte kehrt, als seine Gedanken sich von einer Springflut an Entsetzen überwältigt sahen, die nur noch einen Trieb kannten: Flucht. ~|~ Milo wagte nicht, in die Gesichter der anderen Businsassen zu sehen, aus Angst, dass sich in diesen seine abgerissene Gestalt abzeichnete. Schweißnass, außer Atem und totenbleich musste er wie sein eigener Tod aussehen. Nur noch nach Hause. Weg. »Wenn ich doch nur wirklich fliehen könnte!!« ~|~ Milo stieg vorsichtig über den Rand der Badewanne, angelte sich ein Handtuch herbei, um sich beharrlich abzutrocknen. Mittlerweile hatte sich sein Herzschlag wieder beruhigt, waren die schubweisen Schweißausbrüche eine abstoßende Erinnerung, die er aus seinem Kurzzeitgedächtnis strich. Er atmete tief das künstliche Aroma von Kamille ein. Sollte es nicht die Nerven beruhigen? Nun, Ruhe würde er brauchen, so viel war sicher. Auch erfrischt und aufgewärmt hatte er keinerlei Veranlassung, sich Illusionen über seine körperliche Kondition zu machen. Er war vollkommen zerschlagen. So konnte es nicht weitergehen. Um einer Konfrontation diesen Ausmaßes gegenüberzutreten, sollte man eigentlich körperlich und geistig auf der Höhe der Leistungsfähigkeit sein. Andererseits hatte er keine Wahl. Nach seinem Empfinden würde er mit jedem Tag und jeder Nacht, die er ängstlich hinausschob, schwächer und nachgiebiger werden. Und er wollte nicht kampflos untergehen! Milo trat vor den beschlagenen Spiegel, verdrängte energisch den hysterischen Anflug von Gelächter angesichts der Lächerlichkeit der Situation. Er schlug die Augen auf und musterte sein Gesicht. "Ich weiß, wer du bist." Sein Spiegelbild blieb unverändert. "Ich habe keine Vorstellung, wie du das geschafft hast... aber ich werde mich nicht vertreiben lassen." Milo bemerkte, wie sein Kinn sich straffte, nach vorne streckte. Noch immer änderte sich nichts. "Ich kenne deinen Namen." Ein Zucken an seinem Auge, ein Tic, der sich rasch wieder verflüchtigte. "Severin Metternich." ~|~ Milo starrte sich finster an. Seine Augen sprühten förmlich Funkeln. Nichts geschah. »du bist zu stark« Milo jagte ein Schauer über den Rücken, stellte die flaumigen Haare in seinem Nacken auf. "Bist... bist du in meinem Kopf?!" Milos Stimme kippte, wie das seit dem Stimmbruch nur noch sehr selten vorkam. »du kannst mich wohl da hören« Milo umklammerte mit beiden Händen den Rand des Waschbeckens, so fest, dass sich die Knöchel hell unter seiner Haut abzeichneten. "Wie... machst du das?! Was willst du?!!!" Seine Stimme wurde ungewollt aggressiv, was einen weiteren eisigen Ausläufer über seine Haut jagte. Es war beängstigend, wenn sein eigener Körper so zweideutig reagierte, versuchte, die Reaktionen zweier 'Herren' auszuführen. "Verdammt, verschwinde aus mir!!", verlor Milo kreischend seine Haltung, spuckte förmlich in seine Reflexion. »bitte« Milo presste in verzweifelter Geste die Hände auf die Ohren, als könnte er damit die Worte ausschalten. Das lief nicht gut. Gar nicht gut. Nicht gut. Sein Herz raste bereits, als wollte es zerspringen. Milo kniff die Augen zu, sackte in sich zusammen, ein winselndes Bündel auf einem feuchten Läufer. "Gehweggehweggehweggehweg", wimmerte er schrill, als seine Arme ein Eigenleben entwickelten, sich um seinen Oberkörper schlangen und über seinen verkrümmten Rücken mit den Fingerspitzen strichen. »milo« »milo« "Neeiiinnn!!" »bitte« »milo« Milo konnte es nicht länger ertragen, wie viel Macht der Andere bereits über seinen Leib gewonnen hatte, wie hilflos er war. Schwankend kämpfte er sich auf die Beine, opponierte gegen die fremde Gewalt, die seine Arme hielt, verlor mit rapide absackendem Kreislauf das Gleichgewicht und schlug hart am Waschbeckenrand auf. ~|~ Schwärze. Schmerz. Pochend. Lästig. So beharrlich. »milo« >Nein.< >Neinneinneinneinneinnein.< »milo« »bitte« >Lass mich in Ruhe!!< »ich will dir nichts tun« >Ach Scheiße, deswegen geht's mir wohl so glänzend!< »ich...« »ich habe das nicht gewollt« »verzeih mir« >Hau ab!< >Verschwinde!!< >Ich will dich nicht haben!! Geh weg!!< »bitte« »milo« »bitte hilf mir« >Du bist tot!! Tot, kapierst DU das?!!!< >Ich hab heute vor deinem Grab gestanden!!!< >Verschwinde endlich!!!< »milo« »milo« >Geh weg... bitte...< »hilf mir« >Ist dir klar, dass du mich umbringst?!< >Ist das deine beschissene Rache, ja?!!< »milo« "Milo!!" Milo schlug die Augen auf. "Paps?", murmelte er mit belegter Stimme, kindlich hell. Sein Vater hatte bereits einen Arm unter den nackten Oberkörper seines Sohnes geschoben und richtete Milo vorsichtig und sehr langsam in eine sitzende Position. "Junge, was machst du nur für Sachen?! Eine Beule wie ein Hühnerei an der Stirn." Die große Hand seines Vaters strich hauchzart über die zum Zerreißen gespannte Haut über der Schwellung. "Autsch", wimmerte Milo kläglich, suchte vergeblich nach seiner stoischen Haltung. "Wenn du nicht die Tür offen gelassen hättest, hätte ich sogar noch das Schloss aufbrechen müssen", flüchtete sich sein Vater in Nebensächlichkeiten. Gemeinsam kamen sie wieder auf die Beine. Milo fühlte sich so unsicher, so schwach, dass er Hilfe suchend die Arme um den Nacken seines Vaters schlang und sich an ihm festhielt. Der, erschrocken und verlegen, tätschelte unbeholfen Milos bloßen Rücken und wiegte ihn leicht. "Milo, Kleiner, was ist bloß los?" Selbst die Stimme seines Vaters klang nun kleinmütig und wehklagend. Sie weckte Milos Beschützerinstinkt, wie immer, wenn er seinen Vater in der Verlorenheit seiner eigenen technischen Welt fand, die so wenig Kontakt mit der zwischenmenschlichen Sphäre hatte. "Eine Erkältung sicher, nichts Besonderes", log er ohne Bedenken, "ich werde mich gleich ins Bett legen, und dann werde ich mich über das Wochenende ein wenig schonen." »Und den Teufel austreiben«, schwor er finster. ~|~ Milo erwachte vom beständigen Schlagen der Äste gegen die Hauswand. Im Zwielicht erkannte er, dass sich offenkundig ein Tief über ihren Köpfen austobte. Windstoßartig klatschte die Regengischt an die Fensterscheibe. Es schien, als habe sich der Himmel sehr niedrig über den Häusern eingenistet. »Kein Wunder, dass die Germanen glaubten, der Himmel würde ihnen auf den Kopf fallen«, trieb ein trockener Kommentar ziellos durch seine trägen Gedanken. Langsam wickelte sich Milo aus einer Schicht Decken, behielt wie ein Indianer aber eine als Wärmeschild gegen die frostige Atmosphäre seines Zimmers. Es war still. Milo schwang die Beine aus der Hängematte, schlüpfte in ein paar Thermosocken und trippelte zum Fenster hinüber. Toll... kurz vor Elf am Samstag, und das Wetter knapp vor Sintflut. Als er sich herumwandte, fiel sein Blick auf den Schreibtisch. Sein Notizheft lag aufgeschlagen, ein Kugelschreiber daneben. Milo runzelte die Stirn. "Tsstss... jetzt werde ich auch noch unordentlich..." Seine Stimme verlor sich in einem Krächzer. Er hatte die Rechte ausgestreckt, um Ordnung zu schaffen, als er auf dem Mittelfinger die unverkennbare, schwarze Spur eines billigen Kugelschreibers, der leckte, fand. Milo erstarrte. Dann verfinsterte sich seine Miene. Mit abgezirkelten, genau vorausgesagten Bewegungen nahm er auf seinem Bürostuhl Platz. Richtete den Blick auf sein Notizbuch. Nicht seine Handschrift. Überhaupt keine ihm bekannte Handschrift. »Ruhig bleiben«, wies er das Adrenalin an, das sich bereits in seinem Blutkreislauf austobte. Er blätterte soweit zurück, bis er die letzten Notizen seiner eigenen Handschrift fand, gerade Lettern, präzise und gleichförmig. Die fremde Handschrift war runder, wirkte fast weiblich, die Buchstaben legten sich kursiv auf die rechte Seite. "Dieser Mistkerl", fluchte Milo und unterdrückte jeden Anflug von Anerkennung. [Hallo Milo Du hast recht, ich bin Severin. Bitte... sei mir nicht böse!! Ich will dir nichts antun!! Es ist so schwer zu beschreiben, was ich bin... ich weiß es selbst nicht. Du magst mich nicht, und ich verstehe das. Ich wäre auch sauer. Als der Unfall passierte...da wusste ich, dass ich sterben musste. Ich wollte nicht. Ich wollte leben, um jeden Preis! Es tat so weh... ich konnte nichts tun. Nur zusehen, wie das Blut aus mir herausströmte.] Milo strich über das Papier, das sich wellte. Tränen? Hatte Severin mit Milos Körper geweint? Ein Schauder lief durch seine Glieder. [Als ich wieder zu mir kam, war alles fremd. Ich konnte mich nicht bewegen... egal, was ich auch tat. Bis ich bemerkte, dass ich gar nicht in meinem Körper war. Seltsame Unterbrechungen in meiner Wahrnehmung verwirrten mich vollends. Dann endlich begriff ich... nicht mein Körper, sondern ein fremder Körper mit einem eigenen Geist. Und als ich das verstand, konnte ich mich langsam mit dir, mit allem anfreunden. Ich lebte schließlich. Und ich lebe noch. Kann durch deine Augen sehen, teile deinen Alltag mit dir.] Milo klappte entsetzt das Heft zu, starrte bleich in das Spiegelbild der Fensterscheibe. »Wenn er auch noch meine Gedanken liest...« Er ballte die Fäuste, zerbrach unabsichtlich die Kunststoffhülle des Kugelschreibers. »Dieser Scheißkerl!!« Wut brodelte in ihm auf, willkommen, herbeigesehnt, denn sie verlieh ihm endlich Widerstandskraft. »Er benutzt meinen Körper, schleppt ihn, während ich schlafe, hierher und krakelt mein Heft voll!! Versucht doch allen Ernstes, mich zu überzeugen, dass er mit der Teilnahme an meinem Alltag, was auch immer dieser ist, zufrieden ist!! Aber meine Glieder kontrollieren wollen!! Bastard!! Lügner!! Kannst du Gedanken lesen?! Ja?! Dann lies jetzt mal genau mit: Ich werde dich töten!!« ~|~ Befreit blätterte Milo wieder im Notizbuch. Der Andere...»Severin... meine Güte, was für ein pompöser Name!!«, hatte sich bis jetzt nicht mehr gerührt. »Umso besser.« [Ich will dir nicht schaden. Ich habe begriffen, dass es deinen Körper überanstrengt, wenn ich mich in ihm zu bewegen versuche. Bitte, Milo... kannst du mir eine Chance geben? Mich als so etwas wie einen Schutzengel betrachten? Oder eine zweite Stimme? Ich will leben. Bitte.] Milo verzog die Lippen zu einem frostigen Lächeln. "Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast, aber DU hast angefangen. Bist einfach in meinen Körper gekrochen, als ich wehrlos war. Hast dich ungefragt eingenistet und versuchst nun, mich weich zu kochen. Vielleicht so lange, bis ich aufgebe und du meinen Leib übernehmen kannst?!« Milo erhob sich kontrolliert. "Aber das lasse ich nicht zu." ~|~ Den gesamten Tag über war Milo mit sich allein, keine fremde Präsenz, keine unerwarteten Spiegelbilder, keine Bewegungen, die nicht nach seinem Willen geschahen. Eine vorsichtige Vorfreude tränkte seine wunde Seele wie Balsam, beruhigte seine ärgsten Befürchtungen. »Je stärker mein Wille ist, desto schwieriger sollte es für ihn sein, mich zu übertölpeln!« Er aß zu Abend, plauderte mit seinem Vater über ein neues Projekt, zeigte sich gebührend interessiert, um alle Sorgen seines Vaters um seinen Gesundheitszustand zu zerstreuen. Zog sich dann in sein Zimmer zurück, um noch ein wenig zu schmökern. Aber seine Gedanken wurden träger, bleiern, lediglich sein Körper schien zu bersten vor ungenutzter Energie. Also legte er Musik auf, leise, träumerische Melodien, löschte das Licht und verfolgte die Schattenspiele der sich unter Böen wiegenden Bäume vor seinem Fenster. Langsam überwand Morpheus Milos letzte Reserven. ~|~ Eine Treppe. Schon wieder. Die Stufen nicht mehr so steil. Die Tür. Licht, einen Spaltbreit. Öffnet sich. Dunkelheit. Ein Schatten. Nähert sich. Unbehagen. Grau. Helleres Grau. Details. Severin. Spricht. Kein Laut. Seine Hände. Halten meine. Tränen. Warum? Eine Gestalt. Hinter seiner Schulter. Kommt heran. Umschlingt Severin. Spürt er nicht? Kein Laut. Gräbt unzählige Dornen in seine Haut. Aufhören. Ranken ziehen sich zu. Schwarzes Blut. Tränen. Nicht! Seine Hände. Entgleiten. Severin. Nein!! ~|~ Milo schreckte hoch. In seinem Zimmer herrschte noch Dunkelheit. Sein Herz schlug Kapriolen, beruhigte sich aber recht schnell. Milo kontrollierte seine Lage. Er war sich sicher, nicht aufgestanden zu sein. »Verdammter Traum!« Wenn es einer war. Trieb sich Severin nun auf diese Weise in seinem Kopf herum?! "Lass mich bloß in Ruhe schlafen!", fauchte Milo heiser. »ich habe nichts getan« Milo zuckte zusammen, schreckensbleich. Eisstücke trieben in seinem Blutkreislauf. "Du...DU bist noch da?" »ja« Milo zog die Decke bis unter sein Kinn, rollte sich zusammen. "Was willst du?" »du warst so beunruhigt« »ich war besorgt« "Ach was!! Du bist doch daran schuld!! Mir diese verfluchten Träume schicken!!" »ich.... ich kann nicht in deine träume eindringen« »Kannst du meine Gedanken lesen?« Stille. "Kannst du meine Gedanken lesen?!" »nein« »hast du deshalb angst vor mir?« Milo umklammerte seine angezogenen Beine. "Wie würdest DU dich fühlen, wenn jemand in dir herumspukt?! Ich habe schon genug mit mir zu tun, da kann ich Gesellschaft nicht brauchen!", fauchte er in die Dunkelheit. »es tut mir leid« "Toll, soll ich mir das rahmen lassen, oder wie?!" »bitte hasse mich nicht« "Bist du vorher auch so eine hinterhältige Heulsuse gewesen?", reizte Milo weiter, setzte in seiner Furcht auf Angriff, ohne Rücksicht auf Verluste. Dieses Mal folgte nicht sogleich eine Reaktion. "Überhaupt... Severin... was ist das für ein altklunkriger Name?" »meine eltern haben ihn mir gegeben« »er sollte etwas besonderes sein« "Jetzt bist du was Besonderes, ein Parasit!!", raunzte Milo maliziös. »milo« »milo« "Was?!!!" »ich hatte angst« "Das ist echt nicht mein Problem, klar?!" Ein leichtes Beben erschütterte Milos Brust, prickelte in seinem Zwerchfell. »wenn ich dich nicht kennen würde, wäre ich richtig erschrocken« »ich bin froh, bei dir zu sein« "Was?! Du blöder Kerl, es ist mir todernst!!" Wieder diese sanften Vibrationen, wie ein innerliches Lachen. »du bist so stark und unabhängig« »das ist schön« »ich bin in sicherheit« Milo entknotete seine Glieder, weil sein Rücken wütend protestierte angesichts der verkrampften Haltung. "Was soll der Unsinn?! Du bist tot!! Wer sollte dir da noch was wollen!" »du hast recht« »aber ich träume noch immer« "Ist mir egal", knurrte Milo ungehalten, nun hellwach, und nicht sonderlich darüber erfreut. Er verbat sich jeden Gedanken darüber, wie absurd es war, sich mit einem einsamen Zimmer zu unterhalten und nur in einem Teil seine Kopfes die Antworten eines toten, jungen Mannes zu fühlen. »milo« »halte dich von amaryllis fern« "Was soll ich mit Blumen?!" »amaryllis ist meine schwester« "Ich kenne sie nicht!" »sie war auf dem friedhof« Milo erschauerte. "Oh ja, danke, dass du mich zum Idioten gemacht hast!! Und dann im Bad, da habe ich mir fast den Schädel eingeschlagen!! Vielen Dank auch!", ätzte Milo beißend. »ich« »milo« "Was denn, du Nervensäge?!" »ich hatte angst« "Vor was denn? Denkst du, dass sie dich durch mich hindurchsieht, oder was?! Ich lande wahrscheinlich deinetwegen in der Klapsmühle!" Milo drehte sich unwillig auf die andere Seite, wartete auf eine Replik. Aber die blieb aus. Beunruhigt gegen seine absolute Überzeugung kaute er auf einem Daumen herum und runzelte verärgert die Stirn. »Ich frage nicht. Nein. Keine Chance.« "Severin?" »tut mir leid« "Was ist es denn dieses Mal?", hänselte Milo mit verdrehten Augen. »sie macht mir angst« "Deine Schwester? Okay, ihr Makeup ist stark gewöhnungsbedürftig..." Eine Gänsehaut überzog Milos Leib wie Raureif. "Was..?!" »entschuldige« "Hör auf damit!!" Milos Leib zuckte, Tränen wellten in seinen Augen auf, gequältes Schluchzen trieb bittere Galle seine Kehle hinauf. Gleichzeitig lief haltlose Panik über den Kontrollverlust in seinen erfrierenden Adern Amok. »milo« »bitte« "Was?!", kreischte Milo hysterisch, versuchte, seine Arme zu überreden, anstatt einander zu umklammern, die feuchten Spuren von seinen Wangen zu wischen. Aber es schien unmöglich, die starken Emotionen, die Severin durch seinen Körper jagte, abzuschneiden. Jede Gegenwehr lähmte ihn, erschöpfte ihn noch stärker. Krämpfe der überanstrengten Muskelstränge erschütterten Milos Körper, wie eine Marionette unter Blitzschlag. Mit einem Ächzen verlor Milo das Bewusstsein. ~|~ Kapitel 3 - Arrangements "Junge?" Milo schlug die Augen auf, blinzelte in das trübe Licht des Morgens. "Paps, guten Morgen", murmelte er verschlafen. "Morgen ist gut, Milo, es ist gleich elf Uhr. Ich muss noch mal weg, darum habe ich dich geweckt. Kommst du allein zurecht?" Milo nickte, auch wenn vor seinen Augen alles verschwamm. "Klar, Paps", brummte er mit betäubter Zunge. Ein warmer Händedruck auf seine Schulter, ein Luftzug. Und Milo war wieder allein. ~|~ »milo?« »Oh nein!« »Milo?« "Ja?!" »geht es dir gut?« "Danke der Nachfrage, Parasit! Du hast daran allerdings keinen Anteil!" »es tut mir leid« "Erzähl mir mal was, was ich noch nicht weiß", knarzte Milo ungnädig. Eine fremde Wärme stieg in seinem Leib hoch. Was...war das? »ich bin froh, dass es dir gut geht« "Du meinst, du bist froh, dass es meinem Körper gut geht", korrigierte Milo spitz. »nein« »ich meine dich« »milo« »körper und geist« "Quatsch!", schnitt Milo ungnädig und brüsk die Kommunikation ab. »was kann ich tun, damit du mir glaubst?« "Abhauen!", zischte Milo aufbrausend. Dabei wunderte er sich über sich selbst. Üblicherweise war er für seine Ruhe, seine gelassene Haltung bekannt, stoisch die Contenance zu bewahren, ganz gleich, was der Tag ihm bot. Aber nun schien es unmöglich, seine Emotionen zu verbergen. Nicht einmal der übliche Filter angesichts gesellschaftlicher Regeln und Konventionen sprang zu seiner Ehrenrettung ein. »willst du wirklich, dass ich sterbe?« »ist das die einzige möglichkeit?« "Idiot", knurrte Milo, setzte sich auf. Regen. Langsam reizte ihn selbst das Wetter. "Du bist schon tot, wie willst du noch sterben?" »ich weiß nicht« »aber es ist sicher möglich« »wenn ich meinen lebenswillen aufgebe« "Oh, klar, und dann kannst du mir das auch noch in die Schuhe schieben!", fauchte Milo irrational zurück. Eine leichte, warme Welle flutete durch seinen Leib. Severin lachte mit seinem Körper. »du bist wirklich sehr nett« "Und du vollkommen irre, wenn du das glaubst!!" Wieder eine sanfte Woge. »ich glaube nicht« »ich fühle« »milo« Milo knurrte unartikuliert, entstieg seiner Hängematte und trottete zum Fenster. "Ich.. ich will dich sehen, wenn ich schon mit dir rede!" »wirklich?« "Nein, ich langweile mich bloß!", zischte Milo mit vor der Brust verschränkten Armen. »entspannen« "Was?" »du musst dich entspannen« »dann kann ich es versuchen« Milo verlagerte sein Gewicht unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, schloss dann die Augen, versuchte, sich zu beruhigen. »milo« Milo schlug die Augen auf, blinzelte erneut einen schmierigen Film weg. Im Fenster stand ihm Severin gegenüber. Milo verspannte sich. Das Bild verlor an Schärfe. Je stärker sich Milo konzentrierte, umso rascher drang seine eigene Reflexion hindurch. Hastig senkte er die Lider erneut. Wagte einen zweiten Anlauf. Und wieder, vage, verschwommen stand Severin ihm gegenüber, zerbrechlich, aber sehr viel lebendiger als auf dem Photo. »hi« Milo öffnete den Mund, aber kein Laut wollte entweichen. »bin ich so schrecklich?« Milo schnappte nach Luft, gebot seinem galoppierenden Herzschlag Einhalt. "Du siehst anders aus als auf dem Bild", stellte er steif fest. »es ist älter« »ich war zurechtgemacht« Milo betrachtete das Abbild. "Wie kommt es, dass ich dich sehen kann?" »ich glaube, es ist meine erinnerung« »wie ich mich sah« "Du kannst deine Erinnerungen für mich projizieren?" »ich denke schon« Stumm starrte Milo auf die Reflektion. Er konnte spüren, welche Anstrengung es seinem Körper abverlangte, selbst in Ruhe gleich zweien 'Herren' zu gehorchen. »milo« »möchtest du etwas aus meinen erinnerungen sehen?« Milo zuckte mit den Schultern, verwischte das Bild. "Warum nicht?! Ich habe ohnehin nichts Besseres vor, kann ich mir auch Gehirn-Kino gönnen." Milo kehrte zu seinem Nachtlager zurück, rollte sich gemütlich ein und schloss die Augen. ~|~ Ein älteres Ehepaar auf einer Terrasse, beim Kaffeetrinken. »meine Eltern« Viel Grün. Niedrige Perspektive. Ein bunter Ball. Ein anderes Kind. In einem Kleid. Herausgeputzt. Wütend. Hob die Hand zum Schlag. »meine schwester« »amaryllis« Die Szene wechselte. Ein Schulhof. Gruppen von Menschen, gesichtslos, konturlos. Plötzlich ein Ruck, wie ein Stoß. Gegenbewegung. »sie waren gemein« »weil ich so schwach war« Blut in einem schmutzigen Waschbecken. Zitternde Hände. Schmal, feingliedrig. Dreckige Kacheln. Gesprungener Spiegel. Ein Gesicht. Severin. »ich habe es nie begriffen« »warum ich eine bedrohung war« »ich habe ihnen nie etwas getan« Das Bild verschwand, löste sich in Dunkelheit, als Milo, von seltsamen Empfindungen aus der Trance gerissen, wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte. »milo« Milos Herz klopfte heftig, seine Lippen waren zu einem harten Strich marginalisiert. »milo?« "Lass mich in Ruhe", flüsterte Milo rau, drehte sich auf die Seite und suchte sein Heil im Schlaf. ~|~ Gedankenverloren wanderte Milo durch den nächsten Tag, absolvierte beiläufig den Unterricht. Wenn Severin da war, was Milo nicht länger bezweifelte, so verhielt er sich vollkommen ruhig, als fühlte er, dass Milo eine Auszeit benötigte. »Wahrscheinlich fühlt er es sogar«, sinnierte Milo verunsichert, »er lebt in meinem Körper, er lacht mit ihm, weint mit ihm. Unheimlich.« Aber bei weitem nicht mehr so entsetzlich, wie es sich zuvor dargestellt hatte. Die Frage war, was sollte er nun tun? Konnte er bis an das Ende seines Lebens mit einer zweiten Persönlichkeit leben? Würden sie überhaupt miteinander auskommen? Immerhin kannte er diesen Severin nicht. »Die Chancen stehen besser, wenn ich verrückt werde«, tröstete sich Milo zynisch. Nun, er wollte sich nicht kopfscheu machen, es galt, einen Schritt nach dem anderen zu bewältigen, die Lage gründlich zu analysieren. Er kannte Severin nicht? Nun, dann musste der eben aus dem Nähkästchen plaudern, wenn sie nun schon seit fast einem Jahr die intimen Details von Milos Leben teilten. Allerdings musste er zu diesem Unterfangen in der sicheren Obhut seines Zimmers sein, unbeobachtet bei scheinbaren Selbstgesprächen und erschöpfungsbedingten Kreislaufabsackern. ~|~ Milo betrat die Küche, von seinem in der letzten Zeit ständig wachsenden Appetit nicht übermäßig überrascht, denn mittlerweile war er sich der Auswirkungen ihrer gemeinsamen Unterhaltungen auf seinen Körper mehr als bewusst. Er öffnete den Kühlschrank, betrachtete die spärliche Auswahl. Inspizierte kritisch eine Packung geraspelten Käses, die sich bereits in bedenklicher Nähe des Ablaufs der Haltbarkeit befand. »käsemakkaroni« "Bitte?", stutzte Milo überrumpelt. »ich würde gerne käsemakkaroni essen« »wenn du nichts dagegen hast« "Severin?", versicherte sich Milo, warf einen misstrauischen Blick auf seinen Magen, der unschuldig, aber verlangend knurrte. Wieder durchlief eine warme Vibration Milos Leib, prickelte an den Nervenenden. »ja« Severin lachte, und Milo schwankte zwischen Empörung und Sympathie. "Toll", kommentierte er bärbeißig, "und ich werde wohl gar nicht gefragt, oder wie? Wenn du dich mit meinem Magen verbündest, werde ich extrem sauer, klar?!!" Erneut brandete eine glühende Woge durch Milos Leib, erhitzte sein Blut. »keine angst« »ich hätte verzichtet, wenn du nicht magst« »ich will dir nicht schaden« "Ist auch besser so", knurrte Milo ungnädig, nahm die Packung aus dem Fach und schlug den Kühlschrank zu. "Und wie geht's weiter, Maitre de cuisine? Ich habe nämlich noch nie Käsemakkaroni gemacht!" Verblüffung und ein Anflug von Scham lieferten sich sekundenlang einen Wettstreit in Milos emotionalem Körperzustand. »kein problem« »ich sage dir, was wir tun müssen« »danke« "Wehe, wenn das Zeug nicht schmeckt", brummte Milo im Rückzugsgefecht, während er einen Topf aufsetzte, um Wasser zu erhitzen. Gemeinsam fanden sie ein paar geeignete Nudeln, die sie in das kochende Wasser warfen, wobei Severin Milo erläuterte, warum es vorteilhafter war, die Nudeln in das sprudelnde Wasser zu versenken, anstatt sie mit dem Wasser zu erwärmen. Milos Kopf schmerzte bereits leicht. Trotz der zwangsläufigen Selbstversorgerschaft, die er seit Jahren betrieb, war er selten über einfache Tiefkühlkost hinausgekommen. Ohne weitere Absprache, in stillem Einvernehmen, das sie beide ihr gemeinsames Gesicht wahren ließ, übernahm Severin umsichtig die Steuerung von Milos Körper. Um endlich die Nudeln in eine Auflaufform zu bugsieren und mit einer selbst kreierten Käse-Sahne-Sauce zu bedecken. Die Käsemakkaroni in den Ofen verbracht schleppte sich Milo matt zu einem Küchenstuhl, legte die Unterarme flach auf den Kunststoffüberzug und ließ den Kopf sinken. »alles in ordnung?« "Fertig", murmelte Milo schwach. »soll ich dich allein lassen?« "Zeig.. zeig' mir ... etwas von deiner Vergangenheit...", wisperte Milo mit geschlossenen Augen. »was möchtest du wissen?« Milo stöhnte leicht verärgert auf. "Wellenreiten", knurrte er mit schwerer Zunge, bereits in einen erschöpften Halbschlaf gleitend. »wellenreiten« Vor Milos gesenkten Lidern verdrängte eine blaue, Spritzwasser versprühende Woge die erdrückende Schwärze. Das Wasser wandelte sich, sonnenglitzernd, kristallklar, umspülte ihn. Wellenförmige Glücksgefühle fluteten seinen Körper und seine Seele. Durch Severins Augen und Erinnerung sah er neben sich auf den Wellenkämmen ein wild gefärbtes Surfboard treiben. Einen Ruck später war er über dem Wasser, am unteren Rand seiner Wahrnehmung tanzte das Board angriffslustig, während seine Augen von einem strahlend blauen, endlosen Horizont überwältigt wurden. Dann rollte ein Wellenkamm heran. Adrenalin schoss durch seine Adern, ein Jauchzen erwartungsvoller Vorfreude jubilierte in seiner Kehle, bevor er mit der Welle reiste, dann das Board in den entstehenden Tunnel trieb. Die Sonne verschwand hinter einer wahren Wand saphirgrünen Wassers, das nun Himmel und Erde zugleich bildete. Immer schneller drehte sich diese kleine Welt, schoss das Board flüchtend im Tunnel dahin. Milo hatte das Gefühl, vor Aufregung und Euphorie ohnmächtig zu werden, aber Severin leitete ihn weiter durch seine Erinnerungen. Aus dem Tunnel hinaus raste das Board in die Sonne, alles unwirklich hell und gleißend, die Woge verlor sich, bremste den Schwung sanft ab. Der Horizont schwankte leicht, synchron mit den sich kräuselnden Wellen, dann fand sich Milo inmitten der kristallklaren See wieder, tauchte unter, machte kehrt und durchbrach den Wasserfilm spritzend und prustend. Ein paar Armschwünge später lehnte er sich an das Board, schob sich an die breitere Heckseite, um von dort mit Severins Körper flach über die polierte und gewachste Oberfläche zu gleiten und sich dann rittlings aufzusetzen. Ein Seufzer des Wohlbehagens entfuhr ihm, dann rollte eine Erschütterung prickelnd und ekstatisch durch Milos Leib. Severin sprudelte über vor Freude und Begeisterung, berauschte sich an einer Erinnerung, die so stark und mächtig war, dass sie ihn noch immer in ihrem Bann hielt, auch wenn er nie wieder Wellenreiten würde. Oder doch? Im Überschwang der geteilten Emotionen war Milo bereit, sich die Kenntnisse anzueignen, um diese Emotionen erneut zu erleben, für Severin und auch für sich selbst. »aufwachen« "Hmmm?!", brummte Milo unwillig, als sich wie ein Schemen die paradiesische Umgebung auflöste. »du musst den ofen ausstellen« »die makkaroni vertrocknen sonst« Milo knurrte müde, stemmte sich behäbig und noch traumschwanger hoch, wurde aber abrupt gebremst, noch bevor er unbedachterweise den Ofen berühren konnte. »handschuhe« "Umpf", Milo versuchte energisch, die Schläfrigkeit abzuschütteln, angelte die selten genutzten Handschuhe vom Haken. Dann öffnete er behutsam die Ofenklappe, schnupperte genießerisch den würzigen Duft, der ihm siedend entgegenstieg. Sofort meldete sein Magen auch wieder Besitzansprüche an, das Wasser lief Milo im Mund zusammen. War das nun sein Impuls oder Severins? Es spielte keine Rolle mehr. ~|~ Mit einem zufriedenen Schnurren warf sich Milo rücklings auf seine Hängematte, schaukelte behaglich hin und her. »dein zimmer ist schön« Milo lachte gut gelaunt. "Ja, es ist zumindest einzigartig, was seine spezielle Ausstattung betrifft." »diese schienen« »wozu dienen sie?« Milo verstummte, fixierte seinen Blick an die Zimmerdecke. "Wenn ich die Augen schließe und mich konzentriere, kannst du dann auch meine Erinnerungen sehen?" Stille, vermischt mit Unsicherheit. »es könnte funktionieren« »wenn du dich stark konzentrierst« »aber ich will dich nicht erschöpfen« Milo legte die Arme kreuzweise unter den eigenen Kopf. "Wann genau bist du erwacht?", wollte er wissen. »erwacht?« »ah... du meinst, wann ich durch deine augen meine umgebung wahrgenommen habe?« Milo nickte langsam. »du warst den ersten tag wach in der klinik« »so erschöpft, aber noch nicht im schlaf« Das war nach Milos Einschätzung etwa ein Dreivierteljahr her. »vorher warst du zu stark« »ich konnte nicht lange bewusst bleiben« Milo schloss die Augen, beruhigte seine Atemzüge und versank in den Tiefen unangenehmer Erinnerungen. Vor seinem inneren Auge fokussierte er das Zimmer im Krankenhaus, seinen Körper, der wie eine zerschlagene Puppe unbeweglich auf der Matratze dahingestreckt lag. Die vergeblichen Versuche, Leben in blockierte Muskeln zu zwingen. Dann der überwältigende Augenblick, als Milos Körper wieder Gehorsam zeigte. Quälende Stunden auf der Rehabilitationsstation, eine fortgesetzte Folter, die der wachsenden Unlust, in der Klinik zu bleiben, kaum nachstand. Heimkehr. Das Zimmer. Milos Vater, der in Stolz förmlich erstrahlend mit einer Fernbedienung das fremdartige Schienensystem demonstrierte. Die Hängematte, die lautlos durch den Raum glitt, ihren Insassen widerspruchslos vom Fenster zum Kleiderschrank und Regal bewegte. Halteriemen und Holme, die mittlerweile abmontiert waren, unterstützen die Trainingseinheiten. »du warst sehr tapfer« Milo zuckte leicht. Er hatte sich beinahe selbst verloren, und Severins Einwurf holte ihn in die Gegenwart zurück. "Was für eine Wahl hatte ich schon?!", konterte er trocken. Für eine Weile blieb es in Milos Innerem still, aber er konnte Severin spüren, eine intime Wärme, die ihn seltsam berührte. Fühlte Severin sich so? Oder war es etwas, das entstand, wenn sie einander Gesellschaft leisteten? »ich möchte dein freund sein« Milo schnappte überrascht nach Luft. Ungeachtet der schlichten Worte wurde er förmlich von einer Woge ungestümen, hitzigen Temperaments hinweggespült, die verlangend und verzehrend gegen seine Nervenenden klatschte und sich selbst aufpeitschte, ohne an Vehemenz zu verlieren. »ich möchte so stark sein wie du« »so unabhängig« Milo schnalzte nachsichtig mit der Zunge. "Ich bin nicht besonders stark und unabhängig schon gar nicht, oder was glaubst du, warum ich all diese Hilfskonstruktionen benötigt habe?!" »du willst mich missverstehen« Milo knurrte als Antwort nur... aber Severin hatte ins Schwarze getroffen. »fühlst du dich niemals einsam?« »wie ein fremder in deinem eigenen leben?« "Oh, jetzt, da du es erwähnst, ist mir im Laufe der letzten Wochen durchaus gelegentlich der Gedanke gekommen", gab Milo sarkastisch zurück. Für Sekundenbruchteile füllte ein bitterer Geschmack Milos Mund, dann verschwand er. Und hinterließ eine so endgültige Stille, dass Milo schauderte. ~|~ Milo absolvierte seine Aufgaben gewissenhaft und akribisch. »Ich werde nicht fragen. Wenn er dermaßen empfindlich ist. Heulsuse. Kein Wunder, dass sie ihn für das geborene Opfer hielten. Würde sich wohl noch für seinen eigenen Schatten entschuldigen. Nun, ich brauche ihn nicht.« Milos Gesichtszüge verhärteten sich. »Ich komme sehr gut mit mir allein zurecht.« ~|~ Das Meer. Ein wogender, seidiger Teppich aus türkisfarbenem Wasser. Warm, zärtlich, geschmeidig. Überall um mich herum. Lichter tanzen mit Sonnenstrahlen. So geborgen. Und frei in meiner Bewegung. Voller Kraft. Reise mit den Wellen pfeilschnell. Pflüge die schäumenden Kronen. Immer schneller. Ungebremst, furchtlos. Geliebt. ~|~ Milo räkelte sich genießerisch, einen nachsichtigen Blick auf den Funkwecker werfend. Trotz dessen Alarmsignal war sein Erwachen gleitend, behutsam gewesen, kein Hochschrecken, wie in der letzten Zeit so häufig. Noch immer geisterte das fabelhafte Blau des Traummeeres in allen Nuancen durch seinen Geist, schmeckte er Salz auf seinen Lippen. »Salz?« Milos Hand glitt fahrig und verunsichert über sein Gesicht, ertastete klebrige Spuren. Hatte... er geweint? Im Schlaf? Oder...hatte Severin während seines Schlafes seinem Kummer freien Lauf gelassen? Die schwebende, federleichte Stimmung verschwand rasch. Milo zerwühlte sich die Locken, wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. "Severin?" Aber er erhielt keine Antwort. ~|~ Milo stützte den Kopf schwer auf eine Hand. Unangekündigte Leistungsprüfungen, Tests... er fühlte sich, als müsse sein Schädel unter der Belastung zerspringen. Nachdem er erfolgreich die Panik niedergekämpft hatte, musste er nun seine Gedanken sammeln, um den Fragestellungen folgen zu können, ungeachtet der Migräne und seiner Müdigkeit. Als er den Stift ansetzte, stockte seine Hand plötzlich, wies auf eine andere Möglichkeit. »Severin?« Aber er konnte unmöglich laut sprechen.... und Notizen machen?! Unmöglich, so viel Zeit hatte er nicht!! Zögerlich entschloss Milo sich für die andere Lösung. Und dann, wenn er zögerte, nur einen Impuls später, half Severin aus, selbst ausführlichere Antworten diktierte er Milos Hand. Milo fragte sich einen Augenblick mit bleischwerem Kopf, was wohl der Dozent von diesen sehr seltsamen Abweichungen in der Handschrift halten würde, verwarf aber alle Befürchtungen als momentan zweitrangig. Am Ende seiner Kräfte brachte er die letzte Unterrichtsstunde hinter sich. Ein Blick in eine gläserne Front bestätigte ihm seine schlimmsten Befürchtungen: er sah aus wie ein Zombie, nur nicht ganz so gesund. »Nach Hause... ich muss nach Hause.« Milo konnte sich kaum auf den Weg besinnen, driftete immer wieder weg. Severin hatte nun offenkundig das Ruder übernommen, dirigierte den ausgelaugten Körper auf heimatlicher Route. Als Milo die U-Bahn verließ, rann ein dünner, aber stetiger Blutstrom aus seinen Nasenlöchern. Panik jagte flüchtige Schauer über seinen bereits mit Schüttelfrost geplagten Leib. »Nicht gut... nein, gar nicht gut.« Seine Sicht trübte sich immer stärker, diffus unter schwarzen Flecken, während sich Nebel über seine Wahrnehmung legte. »milo« »milo« »durchhalten« »bitte« »MILO« ~|~ "Können Sie mich verstehen?" Milo blinzelte, versuchte, eine aufdringliche Hand von seiner Schulter zu scheuchen. Vergebens. Mit flatternden Lidern bemühte er sich, den Störenfried ins Visier zu nehmen. Ein flächiges Gesicht mit fleischiger Nase, weißer Kittel mit einer Warnweste in Signalfarben. Sanitäter. »milo?« "Ich bin okay", gurgelte Milo ächzend, Speichel schluckend. Fremde Hände mit sicherem Griff hoben seinen Oberkörper an. »Scheiße... ich bin auf dem Bürgersteig zusammengeklappt«, resümierte Milo in Bestürzung und Scham. »milo« Eine Welle der Erleichterung wärmte Milo wie eine warme Decke. Severins Gefühle. "Ich bin in Ordnung", wiederholte Milo nun nachdrücklich, was ihm aber nicht erlaubte, sich zu erheben. "Wir werden Sie zur Sicherheit in die Klinik bringen", erklärte der Weißkittel unbeeindruckt. "Aber ich fühle mich schon besser!", protestierte Milo mit kaum unterdrückter Missbilligung. "Ich habe heute nur zu viel Prüfungsstress gehabt, das ist alles! Ich will nicht in die Klinik!!" Der Sanitäter funkelte ihn an. "Jetzt hör mal zu, Junge, niemand, der zwanzig Minuten völlig weggetreten auf dem Trottoir liegt, ist in Ordnung! Wenn du dir irgendwas reingepfiffen hast, dann hättest du das zu Hause genießen sollen. Wir werden dich jetzt in der Klinik zur Beobachtung einliefern." Milo fauchte guttural, fühlte sich plötzlich bedroht, schlug um sich, um die Sanitäter auf Abstand zu halten. "Mir geht es gut, habe ich gesagt, und ich werde nicht mitgehen!!" "Verdammt, Manne, auf was ist der Typ?" "Keine Ahnung, aber der sieht doch schon aus wie gestorben, vielleicht Crack." Milo zog die Beine an, war aber zu schwach, um auf die Füße zu kommen. "Ich habe gesagt, dass ich okay bin!! Und ich habe nicht irgendwas genommen!!" "Wir müssen ihn fixieren, damit er transportfähig ist!" "Nein, das ist Sache der Polizei! Ich werde mich doch nicht mit dem kleinen Punk hier prügeln!" »kein krankenhaus« »bitte nicht« Milo presste die Hände auf die Ohren. "Verdammt, sei ruhig, ich habe schon genug Ärger!!" Aber Severins Furcht potenzierte sich, vermischte sich zu einem unerträglichen Cocktail mit Milos eigener Angst, der Wut und Panik. Sein Leib, hin und her gerissen, gab auf. Milo kollabierte erneut. ~|~ Komische Geräusche. »krankenhaus« "Ohhhh", stöhnte Milo leise. »entschuldige« Ein vages, scheues Blinzeln ergab eine steril weiße Zimmerdecke. Ein Anblick, den Milo aus tiefstem Herzen zu verabscheuen gelernt hatte. "Scheiße", wimmerte er erstickt, versuchte, sich auf eine Seite zu drehen. Doch weit kam er in seinem Bemühen nicht: Fixierbänder verhinderten größeren Bewegungsdrang. "Was...?!", protestierte Milo heiser, zwinkerte heftig, um einen klebrigen Film von seinen Augen zu entfernen. Als sich seine Sicht endlich klärte, erkannte er den Anlass für diese Sicherheitsvorkehrungen: in seinem linken Arm saß eine Kanüle, während an Kopf und Brust verschiedene Membranen mit Drahtzuleitungen befestigt waren. Die trotz niedrigem Lautstärkepegel aufdringlichen Kontrollgeräusche zeichneten in angegliederten Maschinen offenkundig seine Werte auf. "Großartig", stöhnte Milo unterdrückt. Dabei hatte der Tag vielversprechend angefangen! Es hatte ihm, auch wenn er sich dies nur ungern eingestand, geholfen, dass Severin in der Prüfung bei ihm war, ihn an die Dinge erinnerte, die er sicherlich nicht so einfach aus seinem Gedächtnis aktiviert hätte. Was zum desaströsen Abschluss des Tags führte, Kollaps coram publico, renitentes Gebaren gegenüber Sanitätern mit finalem Aufenthalt in einer Klinik. »Paps wird der Schlag treffen«, konstatierte Milo säuerlich, dann wurde seine Verärgerung von Sorge verdrängt. Sie hatten gewiss schon seinen Vater informiert, immerhin trug er seit dem Unfall eine entsprechende Karte und einen Organspenderausweis stets bei sich. »milo?« "Ich bin hier und okay", wisperte Milo kaum hörbar. Severins Stimme in seinem Kopf klang furchtsam und dünn. »ich will nicht hier bleiben« "Fein. Dann reiße ich mich mal eben los und spaziere hier aus", fauchte Milo unterdrückt. »milo« Wieder ein feuchter Film auf Milos Augen, seine Kehle schnürte sich zu, erstickendes Schluchzen schob sich seine Brust hinauf. "Verdammt!" Severin weinte aus Angst. Milo kämpfte so vorsichtig und nachdrücklich, wie es ihm möglich war, versuchte, den Gefühlsausbruch von Severin einzusperren, von seinem Körper abzutrennen. "Du musst sofort aufhören!", flüsterte er angespannt, als sich bereits die ersten Anzeichen der totalen Erschöpfung mit schwarzen Punkten vor seinen Augen bemerkbar machten. »milo« »nicht hier bleiben« Severin flehte nun in Milos Innerem, verzweifelt und resignierend zugleich. Milo gab seine Anstrengungen auf, den eigenen Körper lenken zu wollen, konzentrierte sich stattdessen darauf, beruhigende Bilder aus seiner Erinnerung zu projizieren. Der Besuch seines Vaters an seinem Krankenbett. Die ersten Schritte nach dem Unfall. Heimlich eingeschmuggelte Schokolade. Sonnenschein durch das Fenster. Milo fühlte, wie Severin sich langsam einfangen ließ, verstärkte seine Bemühungen, nicht nur die Bilder zu teilen, sondern auch den Widerhall der Empfindungen, die ihn durchliefen. Wärme breitete sich in Milos Körper aus, tröstlich und tröstend in demselben Maß. "Keine Angst", summte Milo leise, "ich bin hier und beschütze dich." »werden sie etwas merken?« Milo runzelte die Stirn. "Bemerken?" »diese maschinen« »sie zeichnen werte aus deinem körper auf« »erhöhte aktivität der gehirnwellen?« Milo kommandierte einen Arm an seine Stirn, wischte ungelenk über sein Gesicht. "Keine Membranen", meldete er, während sein Arm wie ein Fallbeil auf das Laken herabfiel. Erleichterung flutete seine Nerven, entzündete prickelnde Flammenherde an den Fingerspitzen. "Warum hast du solche Angst vor Krankenhäusern?", brach aus Milo ungeachtet taktischer Unüberlegtheit die Frage heraus. Sofort folgte ein eisiger Schauder. »schlechte erfahrungen« "Zeig sie mir!", wies Milo an, weigerte sich, über den Ursprung seines Wissensdrangs Erkundigungen anzustellen. »bist du sicher?« Milo knurrte gereizt. "Hey, schon vergessen, wir sind auf Gedeih und Verderb aneinander gefesselt, also ist es wohl klüger, dass wir unsere Schwächen kennen, oder?!" Ein warme Woge schmiegte sich an Milos Nervenbahnen, wie ein Meer an Daunen, sonnengetränkt. Milo keuchte vor Wohlbehagen auf. Dann schickte Severin seiner Erinnerungen. ~|~ Ein kleiner, knochiger Arm mit riesigem Gips. Schmerz und Unverständnis. Schnitt. Eine Gartenlaube, riesig. Eine seltsame Flasche. Übelkeit. Ersticken. Schlauch. Bedrohlich. Schaum. Wellen von Krämpfen. Wundgerissener Hals. Weiße, gesichtslose Menschen. Allein unter Fremden. Angst. Todesangst. Schnitt. Ein großer Spielplatz. Eine sehr hohe, kurvenreiche Rutschbahn. Hochgefühl. Schnelligkeit. Eine steile Leiter. Streit. Gerangel. Hände. Arme. Ellenbogen. Stoß. Blut. Auf einem zitronengelben T-Shirt. Braun-fleckig. Schwindel. Kinderhände, blutverschmiert. "Aufhören!" Milo wimmerte, presste ungeachtet der Sinnlosigkeit die Hände vors Gesicht. »milo?« Ihr gemeinsamer Körper ächzte unter der Anspannung, erstarrt unter dem konservierten Leid. »milo?« #Sind das alles deine Erinnerungen?# #Wieso sind dir so viele schreckliche Dinge zugestoßen?!# »ich bin der jüngere« Milo zuckte zusammen. Er war sich sicher, sein Entsetzen über diese Bilder nicht verbal in Worte gefasst zu haben, nur in seinen Gedanken hatten sie vehement aufgeschrien. #Du... du kannst doch meine Gedanken lesen!!# »nein« »nur, wenn dich deine gefühle überwältigen« »gelingt es mir immer besser, dich zu verstehen« Milo zitterte unkontrolliert. #Was soll das bedeuten, 'du bist der Jüngere'?!# »ich bin ein zwilling« »meine schwester ist drei stunden älter« #Was hat sie damit zu tun?!# Schweigen füllte Milos vereisten Körper aus. #Severin?# »sie ist es gewesen« #WAS?!!# »wenn sie wütend ist, passieren diese dinge« Severins Stimme in Milos Innerem war emotionslos, flach geworden. »manchmal will sie auch nur sehen, was herauskommt« »aktion und reaktion« Milo würgte vor Ekel. #DU willst mir sagen, sie war das alles?! Sie hat dir den Arm gebrochen, dir das Pflanzenschutzmittel gegeben, dich von der Rutsche gestoßen?!# »exakt« In Milos Leib herrschte nun der atomare Winter. #WARUM??# Milo versuchte, sich zusammenzurollen, aber die elastischen Befestigungen hielten ihn flach ausgestreckt. »sie liebt die macht« »macht über andere zu haben« »grenzen sind für sie nur eine herausforderung« "Ich will das nicht verstehen!", krächzte Milo, als Severin nicht länger fähig war, die eigenen Gefühle zurückzuhalten, die nun mit Gewalt Milos bereits geforderten Leib überrannten. Es wurde schwarz. ~|~ Dunkelheit. Lebendige Schwärze. Gewimmel. Verdrehte, schlangenförmige Körper. Aufsaugend. Klebrig wie Pech. Flucht. Treppenstufen. Schwerelos im Raum. Panik. Eine Tür? Lichtschimmer. Blick zurück, Abgrund ohne Boden. Die Tür. Hoffnungsfluchtpunkt. Schneller. Schnellerlaufen. Türknauf. Licht. Gleißend. Ein Schrei. ~|~ "Guten Morgen!" Milo schnappte nach Luft, als die Stationsschwester den Vorhang vom Fenster zog, in ihrem Schlepptau frische Luft, Arbeitsdrang, Geschäftigkeit. Realität. "Morgen", knurrte Milo heiser, wollte sich auf das Adjektiv noch nicht festlegen. "Was muss ich tun, um hier rauszukommen?", fügte er grollend hinterher. "Auf die Visite warten", war die knappe Replik, bevor die Frau ihn ohne Blickkontakt allein ließ. #Severin?# »ich bin da« Milo seufzte erleichtert auf. So ungewöhnlich ihm selbst das erschien, er war froh, nicht gänzlich vereinsamt diesen bevorstehenden Kampf bewältigen zu müssen. »Merkwürdig, wie schnell man sich an einen anderen Menschen gewöhnt...« »wie geht es dir?« Milo kicherte unterdrückt. #Also, das kannst du doch wohl fühlen, oder?# Ein warmes Glühen breitete sich in Milos Brust aus. »ich wollte nur sichergehen« "Ich habe Hunger", stellte Milo kritisch fest. »ich auch« Ein Kichern prickelte durch Milos Leib. Milo lachte nun laut, für sie beide, was die Spannung ein wenig lockerte. »tut mir leid wegen der bilder« Milo schloss die Augen, löste seine Glieder, soweit sich das als möglich erwies. #Deine Schwester ist also machtbesessen?# »meine eltern konnten ihr keine grenzen setzen« #Hast du dich jemals gegen sie gewehrt?# »ich habe es versucht« »aber sie ist... wie eine naturgewalt« »kaum möglich, ihr zu entkommen« Ein fremdes Gefühl durchwehte Milo. Selbstekel, Scham, Schuldgefühle. Er schüttelte sich unbehaglich. »milo?« #Hm?# »geh ihr aus dem weg« »bitte« #Hast du etwa Angst, sie könnte mich überwältigen?# »ich kann sie nicht in meiner nähe ertragen« »ich würde dich schwächen« »ich will nicht, dass sie dir etwas antut« Milo zitterte unter Raureif, der seinen Körper wie eine unsichtbare Puderzuckerschicht bestäubte. #Warum sollte sie etwas Derartiges tun?# Severin blieb ihm lange die Antwort schuldig, zog sich zurück aus Milos Empfinden, sodass der sich verlassen vorkam. »es gibt dinge, die du nicht weißt« #Dann erzähl sie mir!# »ich kann nicht« #Warum nicht?!# Wieder diese seltsame Gefühlsmischung, die Galle hochsteigen ließ. #Du hast kein Vertrauen zu mir# Milo wollte das Geständnis erpressen, begreifen, was Severin seinem Leib zumutete. »verzeih mir« Milo grunzte etwas, beschloss aber im Stillen, dass er die Antwort hervorlocken wollte und sei es mit einer Konfrontation mit Amaryllis. ~|~ Zu Milos Befreiung erschien der aufsichtsführende Arzt zeitig, übermüdet, erteilte die Erlaubnis, dass Milo entlassen werden konnte, murmelte etwas von chronischem Erschöpfungszustand, der mit dem Hausarzt abgeklärt werden müsste. Milo registrierte dies beiläufig, verdrängte es aber. Im Übrigen herrschte ohnehin Aufregung: die Betten wurden für Noteinweisungen benötigt, da konnten solche möglichen Drogenmissbräuche (oder auch nicht) keine Priorität haben. Mit einem verärgerten Grummeln hinterließ er seine persönlichen Daten, probte im Geiste schon Rechtfertigungsversuche vor seinem Vater. Das würde eine ganz schöne Stange Geld kosten.... Severin verhielt sich still. Er regte sich erst, als Milo an der Bushaltestelle die Muße fand, die eigene Gestalt in einer Scheibe zu betrachten. Eingetrocknete Blutflecken verunzierten die Jacke, die Locken waren ungekämmt und wirr, was Milo das Aussehen eines zerrupften Kuscheltiers verlieh. Ansonsten war er überaus bleich und abgemagert, dunkle Schatten unter Augen und Wangenknochen. #Wirklich attraktiv, was?# »in meinen augen immer« Zu seiner größten Scham stieg Milo Farbe in die Wangen. #Blödmann!# Ein sanftes Kichern prickelte in Milos Körper, hinterließ eine gemütliche Wärmeaura. Milo konnte das Grinsen nicht aus seinen fahlen Gesichtszügen wischen. ~|~ "Puha!! Wie gut, dass Paps nicht hier war!" Milo entstieg der Dusche, frottierte energisch seine langen Glieder. Dann schlüpfte er in einen flauschigen Jogginganzug. "Und jetzt endlich was essen!!" »au ja!« "Du bist heute mal still!!" Milo grinste breit, als Severin seinen Magen aus Protest laut aufheulen ließ. "Hmmm...Fischstäbchen, Spinat, klasse....dazu Pommes und Spiegelei!" »milo!« »du willst doch nicht etwa dieses zeug essen?« Milos Augenbraue wanderte mokierend in die Höhe. "Doch, Severin, genau das werde ich!! Mir ist danach, also, entweder du passt dich an, oder du wanderst aus!" »tyrann« "Verzogener Bengel." »ekelpaket« "Bourgeois!" »müllschlucker« "Usurpator!" »das ist gemein« Milo fuhr sich unbewusst über den flachen Bauch. "Hey, sei nicht so empfindlich!", tröstete er spöttisch, als könne er Severin damit direkt erreichen. »du magst mich« "Keine Spur!" Wieder wirbelte eine knisternde Seidenwolke aus Gelächter durch Milos Leib. »ich mag dich auch« »sehr« Milo pfiff laut vor sich hin, um die freudige Röte in seinen Wangen zu überspielen. Eine gute Stunde später saß er vor seinem Menü. Auf einem großen Teller bildeten Pommes frites einen Staudamm zum Spinatteich, dessen Krönung ein Spiegelei bildete. Jenseits des Stauwerks lagen Fischstäbchen in ihrem Ketchup-Blut. »ich kann nicht glauben, dass dir so was schmeckt« Milo verzichtete auf eine Antwort, da er sich auf die erste Attacke auf sein Kunstwerk konzentrierte. Und Severin sich einen Spaß daraus machte, seine Finger für Sekundenbruchteile zu korrigieren, sodass bald Ketchup und Spinatreste Milos Gesicht verzierten. Milo, dessen stoische Geduld sich langsam wieder an ihren Ruf erinnerte, nahm diese kindlichen Eskapaden mit Gelassenheit hin. Nach diesem opulenten Mahl fühlten sie sich beide erschöpft, was allerdings nichts daran änderte, dass Milo darauf beharrte, zuerst müsste das Haus noch in Ordnung gebracht werden. Also wurde Geschirr gespült, das Bad gereinigt und gestaubsaugt. Endlich konnten sie auf das Hängemattenlager sinken. »ich bin so müde« "Ich auch", lachte Milo leise. »dann lass uns von schönen dingen träumen« #Wellenreiten# »einverstanden« ~|~ Milo schreckte aus dem Halbschlaf hoch, aufgewühlt von Angst und Schmerz. "Severin?" Schauder rauschten wie die wilde Jagd über Milos Körper, hinterließen eisige Spuren auf seiner wehrlosen Haut. "Severin?! Antworte mir!" »ein albtraum« »entschuldige« Milo schwieg eine Weile, suchte, seinen Herzschlag zu besänftigen. #Wovon hast du geträumt?# »dingen aus der vergangenheit« #Erzähl mir deinen Traum# »das kann ich nicht« #Genierst du dich? Was soll ich da sagen?!# »es ist sehr schlimm« #Ich bin hart im Nehmen# »du würdest dich vor mir ekeln« »mich verachten« "Unsinn!!" Milo schüttelte zornig seine Glieder aus, sortierte die Decken, um dann wieder ein wenig kulanter auf die Matratze zurückzusinken. #Ich will dir helfen. Ich beschütze dich.# Tränen quollen aus Milos Augen, kristallklar und schwermütig. »es geht nicht« "Es hat mit Amaryllis zu tun, oder? Soll ich gehen und sie fragen?!" Entsetzen und blindwütige Panik entzündeten eisige Eruptionsfelder in Milos Leib. "Was ist, Severin?! Soll ich das tun?" »NEIN!« #Also habe ich recht, nicht wahr?# »bitte« »bitte« »milo« »verlang mir das nicht ab« #Sich zu fürchten, gibt dem Feind Gewalt über dich# »ich fliehe lieber« #Aber ICH werde mich nicht einschüchtern lassen. Du hast die Wahl.# Nacheinander schlugen Wogen an Angst und Scham in Milo hoch, ebbten dann allmählich in ihrer Vehemenz ab. »du bist sicher?« #Vollkommen# »versprich mir etwas« »eine zweite chance« #Zweite Chance?# »danach« »also?« #Ich verspreche es.# »ich mag dich wirklich sehr« Dann füllten fremde Bilder und Emotionen Milos Wahrnehmung bis an seine Belastungsgrenze. ~|~ Müdigkeit. Blinzeln. Vage Umrisse. Verdichten sich zu einem Zimmer. Bekannt. Severins Zimmer. Jemand war in der Nähe. Kommt in den Fokus. Angst und Unsicherheit. Eine junge Frau. Amaryllis. In einem schwarzen Seidenkimono. Die Haare, unwirklich dunkel, hochgesteckt. Wie Spikes starrten Essstäbchen aus dem Dutt. Der Mund scharlachrot wie eine offene Wunde. Eiseskälte im Blick. Hunger. Boshaftes Funkeln wie eine brennende Lunte. Angst rieselte durch den Körper. Scham. Eine Stimme, messerscharf, gespickt mit Dornen. »Na, Sev, was haben wir denn hier?« Maliziöses Lachen, mitleidlos. Eine Hand auf dem Schritt. Selbstekel und Erregung zugleich. Feuer auf den Wangen. »So ein böser Junge, schläft nackt!« Atem in dem Gesicht. Heisere Stimme. »Weißt du nicht, dass das eine Sünde ist?« Schweißausbrüche. Schuldgefühl. Lange harte Fingernägel auf der nackten Haut. Entschlossener Griff. Ächzen. Explosion in den Augen. »Was haben wir denn da?!« Atemloses Entsetzen. Daumen reizt die empfindliche Spitze. Gurren. »Na, der kleine Sev hat wohl spannende Träume?« Lachen wie ein Eishagel. »Kleine Jungfrau, willst du es mir nicht besorgen?« Gnadenlos. Will das nicht. Aber der Körper widerlegt mich. »Schlag die Decke zurück.« Kopfschütteln. Die scharlachroten Lippen ein Strich. Die Decke fliegt. Schutzlos. Ausgeliefert. »Nimm den Gummi, na los!« Finger zittern. Ungeduldiges Knurren. Geübte Gesten. Schmerz und Erregung. »Küss mich! Aber richtig!« Ekel. Ihr Gesicht zu nahe. Verschwimmt vor den Augen. Galle steigt hoch. Ihr Gewicht auf mir. Fingernägel graben sich in meine Handgelenke. Sie glüht. Und sprüht Eisschauer. »Na los, benutz deine Hände, Sev!« Will nicht. Geh runter. Bitte, lieber Gott. Steif vor Angst. Eltern. Eine Tür weiter nur. Benutzt mich. In ihrem Körper. Weiß, dass ich meinem Körper unterlegen bin. Spüre sie. Übelkeit. Sie stöhnt. Bewegt sich schlangenhaft. Aber ihre Augen bleiben arktisch. Hat sie kein Gewissen? Mein Körper zuckt willenlos. Ich.. ~|~ "Aufhören", winselte Milo tonlos. Er fühlte sich leer und beschmutzt. Aber die Bilder ließen sich nicht aus seinem Gedächtnis verbannen, drängten sich unerwünscht auf. Ein Vampir in Mädchengestalt, liebesunfähig, grausam und despotisch. #Bist du da, Severin?# Milo suchte nach dem schon gewohnten Echo von Severins Gedanken und Gefühlen in sich, aber sein Herz blieb einsam. "Severin? Verdammt, sag was!" »du hasst mich« "Quatsch!" »nein« »ich fühle es« Milo fauchte förmlich. "Das sind DEINE Gefühle, Severin!! Du hasst dich selbst!! Ich komme doch gar nicht zu dir durch!" Milo zog die Beine an und schlang die Arme um sich, entschlossen, die Alleinherrschaft zu nutzen, um seinen Körper aufzuwärmen. "Du hast wirklich mit deiner Schwester Sex gehabt?" Stille. Milo kaute nachdenklich an seinem Daumen. "Sie ist echt ein Miststück." Keine Reaktion, kein Widerhall. "War es das einzige Mal?" »nein« "Scheiße", murmelte Milo mitfühlend, tröstend. »du hast recht« Fühlte Milo ein sanftes Prickeln? "So habe ich das nicht gemeint", knurrte Milo verlegen. »ich weiß« »danke« #Ich hasse dich nicht# »nein« »ich verachte mich selbst« »meine schwäche« »dir wäre so etwas niemals passiert« "Könnte daran liegen, dass ich ein Einzelkind bin", kalauerte Milo hilflos. Ein bitteres Lachen brannte in seiner Kehle. »wenn ich nur in ihre nähe komme« »bin ich wie paralysiert« »sie kennt mich besser, als ich mich selbst« "Das glaube ich nicht", knurrte Milo rau, "denn sie weiß nicht, dass du mich nun an deiner Seite hast." »du willst mir helfen?« "Klar, Caballero!" »warum?« #Sie ist ein Ungeheuer# »vielleicht ist sie nur so, weil wir ihr nicht Paroli geboten haben« "Unsinn!", kollerte Milo ungnädig. "Sie hat ja wohl inzwischen gesehen, dass es auch anders geht, oder? Wenn sie sich also weiterhin so verhält, dann ist es ihre Schuld und Verantwortung!" »milo?« #Hm?# »ich bin froh, dass du da bist« Milo kicherte leise. "Ich bin auch froh, dass ich da bin", scherzte er leise. »wenn du es wünschst, werde ich gehen« »wann immer« "Wie... wie kommst du denn jetzt darauf?" »ich mag dich sehr« "Na schön", Milo spürte Fieber in seinen Wangen, "und zum Dank willst du dich einfach verdrücken, oder wie? Ist mir ja eine schöne Freundschaft!" Milo drehte sich unwillig auf die andere Seite. #Du sollst deinen Wert nicht so geringschätzen, klar?! Denn dann reduzierst du auch meine Urteilsfähigkeit!# »entschuldige« "Und du tust es schon wieder!! Sei nicht so grässlich nett!!" Eine winzige, kribbelnde Explosion in der Magengegend. »verzeihung« »ich werde mich um besserung bemühen« "Will ich auch hoffen, du Plüschohr!" »plüschohr?« Milos Wangen glühten. #Ein Scherz# »das ist süß« "Hey, benutze in meiner Gegenwart nicht das S-Wort, klar?!" »verzeihung« Eine wahre Ameisenarmee wanderte funkenschlagend durch Milos Körper. "Plüschohr!" »milo« "Hm?" »lass uns schlafen« "kay", murmelte Milo, bemerkte nun erst richtig, dass seine Glieder bereits bleischwer wurden. #Schlaf gut# »ich werde von dir träumen« ~|~ Kapitel 4 - Ich sterbe für dich Milo dämmerte langsam in den neuen Morgen hinein. »Sonntag«, stellte sein Kopf beruhigt fest, um das Signal für eine ausgedehntere Siesta zu geben. Plötzlich krabbelte seine Rechte langsam über seine Brust, die Fingerspitzen tanzten zärtlich über seine linke Wange. "Wa...?!" Seine Linke streifte müßig über die Knopfleiste seines Pyjamas, öffnete die Verschlüsse in spielerischer Leichtigkeit. #Severin?!# »guten morgen, milo« »weißt du, dass mich dein name an honig erinnert?« »goldenen, sonnengetauften honig« »miel... milo« Milo keuchte, als seine Hände losgelöst seinen Brustkorb überquerten, Kreise zogen. Seine Haut prickelte wie entflammt. Obwohl er wusste, es sehen konnte, dass er sich selbst berührte, fühlte es sich an, als liebkose ihn ein anderer. Weil Severin seine Bewegungen koordinierte. Ihn streichelte. Wärme und Erregung entzündeten sich in Milos Magen, ein Flächenbrand, der seinen gesamten Körper erfasste. Ohne sich dessen bewusst zu werden, bewegte er sich vage, entspannte sich scheinbar, schnurrte guttural. Seine Gefühle sammelten sich zu einer Explosion, sein Atem floh kochend heiß über die glühende Haut. Severin lenkte seinen Körper mit Geschick, umfing zärtlich Milos Erektion, reizte, lockte, belohnte. Die Linke zuckte hoch, zeichnete die Linien nach, exotische Kurven im Gesicht, den anmutigen Schwung der Lippen, das unverhohlene Feuer in jedem Atemzug. Liebkoste die zarte Haut, benetzte sie mit Speichel, küsste die erobernden Fingerspitzen, saugte prickelnd das Blut in die Nervenenden. Milo wimmerte in Wohlbehagen. Seine Sinne standen lichterloh in Flammen, als sie gleichzeitig von widersprüchlichen Emotionen überflutet wurden: Hingabe, Verlangen, Ekstase, Verführung, Mutwillen,... Liebe? Milo sah Sterne, fühlte Severin wie sich selbst, vollkommen berauscht stöhnte er heiser und ließ endlich seine Barrikaden fallen. Keuchte erschöpft, ermattet. Feuchtigkeit auf der Haut wie ein schimmernder Seidenfilm, an seiner Hand noch heiß. #Lieber Gott...# »plüschohr... gefiel... mir... besser...« #Warum... warum hast du das getan?# »hat es dir gefallen?« #Blöde Frage# Ein Knurren in absoluter Verlegenheit, aber zärtlich. »ich« »milo« #Hm?# »ach...« #Was ist los?# Beunruhigung trübte Milos sanftes Nachglühen. #Plüschohr? Rede mit mir, bitte!# »milo« #Ja?# »ich liebe dich« ~|~ Milos Herzschlag nahm seinen rasenden Takt wieder in Angriff. Chaotisch wirbelten seine Gedanken durcheinander. Selbst wenn er das wünschte, so konnte er Severins Äußerung nicht missverstehen. »Ruhe bewahren!« »ich bin ruhig« Klang das bitter? Er hatte das nicht laut denken wollen, aber mittlerweile war jede emotionale Gedankenausprägung zwischen ihnen nicht mehr verschlüsselt. "So meinte ich das nicht, ich bin nur... überrascht." »hat es dir gefallen?« #.... ja....# »und glaubst du mir?« #Ja.# »danke« "Severin... darf ich dich etwas Persönliches fragen?" Ein kurzes Kribbeln. »du bist so förmlich, miel-milo« »du kannst mich nun alles fragen« "Ja... ähm... also..." »du kannst es auch denken, wenn es dir leichter fällt« "Ich will es aussprechen. Okay", Milo holte tief Luft, "also, bist du schwul?" »nicht praktizierend« Milo musste entgegen seiner Absicht, ernst und zurückhaltend zu bleiben, kichern. "Und was war das eben?" Auch Severin löste einen Trommelwirbel auf Milos Endorphine aus. »mein erstes mal?« "Also... stehst du auf Jungs..." »aus meinem gefühl heraus ja« #Das könnte ein Problem werden...# »keine angst, ich komme dir nicht in die quere« "So habe ich das nicht gemeint, immerhin... sind die Gelegenheiten nicht gerade überwältigend." »du hast keine freundin« #Nie gehabt# »warum nicht?« Milo seufzte. "Ich glaube, ich bin nicht besonders zutraulich... oder emotional." »du irrst dich« "Umpf", kommentierte Milo verlegen. Dann erhob er sich entschlossen, aufgewärmt durch das intime Intermezzo mit Severin. "Dusche und Frühstück, das ist der Schlachtplan heute!" »ich folge dir, miel-milo« "Plüschohr!" Beide kicherten überdreht. ~|~ Milo malte Buchstaben auf sein Arbeitsblatt, während er geistesabwesend einem Vortrag lauschte. #Willst du deine Eltern wiedersehen?# Severin meldete sich verhalten, unsicher, wie ein Strohfeuer, flackernd, zuckend. »ich weiß nicht« »es würde vielleicht zu viel« »für uns beide« #Ich würde es riskieren# »es ist gefährlich« »wegen amaryllis« Milo versteifte sich. #Ich halte mir das Biest schon vom Leib.# ~|~ Milo schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch, vergrub die Hände in den Manteltaschen. Es war nur eine kurze Fahrt bis zu Severins Elternhaus, und solange seine Entschlossenheit nicht wankte, wollte er Severin diese Freude machen. Was Amaryllis betraf, zwang er sich, nicht den kleinsten Hinweis auf Sorge an die Oberfläche durchdringen zu lassen. Denn es war kaum mehr möglich, eine Unterscheidung zwischen ihren Emotionen zu treffen. ~|~ Milo setzte sich auf eine niedrige Gartenmauer dem Haus gegenüber. Nach Severins Informationen, die wie Funken in seinem Kopf aufglühten, arbeitete sein Vater in einer Kanzlei in der Nähe und musste bald nach Hause kommen. Severins Mutter würde, wie jeden Tag, heraustreten, und an der Ecke auf ihren Mann warten. Eine Geste, die Severin anzurühren schien in der Erinnerung, so romantisch, wie er sie empfand, insbesondere in ihrem Alter. Aber sie stand nicht da. Vielleicht war es noch zu früh? Milo warf einen Blick hoch auf die Fensterfront. Oder war es Severin, der beunruhigt Ausschau hielt? »wenn sie uns hier findet« Milo strich mit den Handflächen über seine Oberschenkel. #Keine Angst, sie wird nur mich sehen.# »aber was wird sie wohl denken?« »sie hat dich immerhin erkannt« Milo verzog das Gesicht abschätzig, um die Übelkeit in seiner Magengegend zu kontrahieren. #Vermutlich hält sie mich für einen perversen Spinner.# »du darfst sie nicht unterschätzen!« #Keine Angst, das tue ich nicht!# In Milos Miene froren die Gesichtszüge ein. ~|~ »er kommt nicht« #Nur Geduld, Plüschohr.# "HEY!" Milo schreckte zusammen, zu sehr hatte er sich auf die Straßenecke konzentriert. Aber ohne aufsehen zu müssen, hatte er die scharfe Stimme sofort wiedererkannt. "Ja?", fauchte er zurück, ballte in den Manteltaschen die Fäuste. Amaryllis stand direkt vor ihm, die Hände in die Hüften gestützt, einen leichten Mantel in Khakifarben übergestreift. "Was treibst du hier?! Und glaub nur nicht, ich hätte dich nicht erkannt!!" Milo erhob sich, um den Größenunterschied zumindest zu seinem Vorteil zu nutzen. "Zu deiner Information, dies ist eine öffentliche Straße, ich kann mich also hier aufhalten, so lange ich will. Und dir bin ich schon gar keine Rechenschaft schuldig!!" Milo stutzte... waren das seine Worte?! Amaryllis funkelte zornig, aber auch anerkennend. Es war ein eisiger Strahl, der Milo in seinen Bann schlug. "Lass mich raten: du willst dir nur mal ansehen, wer euch damals durch die Lappen gegangen ist, richtig?" Milo schnaubte vor Empörung. "Jetzt mach mal einen Punkt! Es war ein Unfall, klar?! Und dass dein Bruder gestorben ist, tut mir leid!" Amaryllis lachte, abgehackt, knapp, ohne die winzigste Spur von Amüsement. "Du glaubst gar nicht, wie leid dir das tun wird...", flüsterte sie rau. Milo zuckte zurück, aber es war zu spät. Amaryllis drückte ihm einen harten Gegenstand in die Seite. "Was... soll das?!" Sie lächelte wie ein Sphinx, mystisch und rätselhaft. "Komm doch rein, Milo Ramirez. Ich bin wirklich froh, dass du hier aufkreuzt... sie wollten mir damals deine Adresse einfach nicht geben." Amaryllis zupfte an seinem Ärmel, fast spielerisch, aber sie täuschte ihn nicht. Es war tödlicher Ernst. "Sieh mal, Milo-Schatz, das hier ist ein nettes, kleines Ding, man nennt es auch Elektroschocker... wenn du mich nicht begleitest, muss ich dir leider eine Dosis verpassen... und während du dann zu meinen Füßen sabbernd zuckst, rufe ich die Polizei, die ein paar wirklich hübsche Dinge in deinen Taschen finden wird." Amaryllis beugte sich näher heran. "Du weißt schon, Süßigkeiten für Erwachsene..." Milo bewegte sich wie ein Roboter an ihrer Seite, verbiss sich den Schmerz über ihren stählernen Griff. In seinem Inneren lief Severin beinahe Amok, Wogen an Panik und Entsetzen, hilfloser Wut brandeten in ihm auf. Aber Milo unterdrückte ihn mit aller Gewalt. Wenn er nun die Nerven verlor, hätte diese Wahnsinnige gewonnen. "Also, ich muss dir gestehen, ich war wirklich außer mir, als Sev-Schatz gestorben ist... immerhin war er mein Bruder", plauderte Amaryllis ungehindert weiter, während sie in den dritten Stock stiegen. "Darauf wette ich", knurrte Milo kalt, die Augen auf den Elektroschocker gerichtet. Wie gefährlich war dieses Ding?! "Mein armer, kleiner Bruder... und meine armen, alten Eltern", ihre Stimme spottete mitleidlos. "Sie haben das Unglück nie überwunden... jetzt sind sie ja glücklich vereint." Milo bremste... nein, es war Severin, der wie erstarrt anhielt. "Was...?!", wisperte er tonlos. Amaryllis lächelte breit, ohne Gefühl, während sie mühelos die Wohnungstür aufschloss, die andere Hand fest auf dem Auslöser des Elektroschockers. "Warum kommst du nicht herein und ich erzähle es dir?", lockte sie aufreizend. Milo konnte nicht anders, seine Glieder bezogen sich mit Raureif, aber Severin lenkte seine Schritte in seltsam vertraute Räumlichkeiten. "Oh, mein Vater musste seit einer Weile Medikamente wegen seines Bluthochdrucks nehmen...und anstrengende Autofahrten... die sind natürlich nach diesem Verlust besonders belastend. Da hat sich die Tragödie leider wiederholt..." "Du hast das getan, Amari..." Amaryllis blinzelte, rückte noch näher an Milo heran. Kniff die Augen zusammen. "Dieser Name... woher hast du den?!" Milo torkelte zurück, versuchte, Severins Trauer zu verdrängen, aber vergeblich. Er verlor die Kontrolle über seinen Körper. "Wie konntest du nur?!" Amaryllis hob den Schocker an. "Sag mal.... irgendwas Faules geht hier vor..." Angst wallte in Milo auf, er zitterte, fühlte die Farbe aus seinem Gesicht weichen. #Severin, bitte, nicht die Nerven verlieren!# »milo« Milo spürte die Tränen, den Schmerz, die lähmende Verzweiflung. #Plüschohr...# Amaryllis zog seine Aufmerksamkeit wieder auf sich, das maskenhaft geschminkte Gesicht eine wütende Fratze. "Los, du Spinner, sag mir, was hier vor sich geht!!" Ihre Stimme gellte unangenehm in Milos Ohren, seine Augen klebten auf dem matten Schwarz des mörderischen Geräts. Plötzlich funkte ein riskanter Plan in seinem Geist auf. Seine Gefühle suchten Severins Echo. Fanden wilde Zustimmung, tränenschwanger, aber ohne Reue. "Sag was, du Blödmann, oder ich grille dich gleich hier!" Amaryllis grub eine Hand mit schwarz lackierten Fingernägeln in Milos Hemd. "Und versuch keinen Scheiß, ich kann Judo!" Milos Gesicht verzog sich zu einem wahnwitzigen Grinsen. "Ich auch", wisperte er hauchzart. ~|~ Sie schrie nicht einmal, obwohl sie erkennen musste, dass Milo ihr an Stärke und Entschlossenheit nicht nachstand. Aber Milo hatte Severin bei sich, der in Verzweiflung und Schmerz ungeahnte Kräfte entwickelte, es nicht mehr ertragen konnte, einzustecken. Amaryllis betätigte mit Zähnefletschen den Auslöser, aber Milo bog ihr das Handgelenk Sekundenbruchteile vorher um. Die Gummisohlen seiner Turnschuhe erdeten den Schock ausreichend, um ihn lediglich gegen eine Wand im Flur zu schleudern. Amaryllis zuckte auf dem Boden in Spasmen, die Augen verdreht, ohne Bewusstsein. Und Milo rutschte in plötzlicher Einsamkeit auf den Boden. ~|~ Vorsichtig näherte er sich dem reglosen Leib. Studierte die Züge, ruhig und glatt. Lauschte auf den Herzschlag, der sich langsam stabilisierte. Atem, der floh. Milo fror entsetzlich. ~|~ Die Augenlider mit dem schweren Pflaumenblau flatterten. Der Blick, noch unfokussiert, streifte die Flurdecke. Milo schob den Arm tiefer, um die zarte Gestalt aufzurichten. Er fürchtete sich vor der ersten bewussten Reaktion. Der trübe Blick schärfte sich, wurde klar. Sah Milo unverwandt an. ~|~ "Bist du sicher, dass du dein Eis noch willst?" Milo hob den Arm hoch, streckte das Objekt der Begierde außer Reichweite der jungen Frau mit den stufig geschnittenen, dunkelbraunen Haaren. "Miel-Milo", bettelte sie auf Zehenspitzen, in den Augen sprudelte spritzend Vergnügen. "Okay", Milo legte sanft den Arm um die Taille, streichelte den Samt des Winterkleides, "Plüschohr, tauschen wir." Amaryllis schlang die Arme um Milos Nacken, presste sich eng an ihn. "Zimtküsse gegen Erdbeereis?", lockte sie mit lasziver Stimme. Milo lächelte, küsste sie dann liebevoll. In den schönen Augen glühte eine Leidenschaft, die nur ihm galt, tanzten Gedankenimpulse, die ihm so vertraut wie die eigenen waren. Alles zu wagen und alles zu gewinnen, war wie Erdbeereis im Winter. Nur den wahrhaft Liebenden vorbehalten. ~|~ "Crush" I would die for you I would die for you I've been dying just to feel you by my side To know that you're mine I will cry for you I will cry for you I will wash away your pain with all my tears And drown your fear I will pray for you I will pray for you I will sell my soul for something pure and true Someone like you See your face every place that I walk in Hear your voice every time I am talking You will believe in me And I will never be ignored I will burn for you Feel pain for you I will twist the knife and bleed my aching heart I'll tear it apart I will lie for you I can steal for you I will crawl on hands and knees until you see You're just like me Violate all my love that I'm missing Throw away all the pain that I'm living You will believe in me And I can never be ignored I would die for you I would kill for you I will steal for you I'd do time for you I would wait for you I'd make room for you I'd sail ships for you To be close to you To be a part of you 'Cause I believe in you I believe in you I would die for you. ~|~ ENDE ~|~ Danke fürs Lesen! kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Tjaha.... sehr seltsame Geschichte, von einem musikalischen Geschenk entzündet. Wenn man an Goethe denkt, die "zwei Seelen in einer Brust" schien dies doch eine Herausforderung, dem Begriff "self-abuse" eine freundliche Wendung abzugewinnen. ^_^ Wie man zweifellos bemerkt, brauche ich ein wenig "angst" zwischendurch, um dann ganz heimlich "sap" einbauen zu dürfen... und Erdbeereis ^_~