Titel: Kämpe Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original Ikea-Challenge von Judy-chan FSK: ab 12 Kategorie: Romantik Erstellt: 27.01.2002 Disclaimer: IKEA hat alle Rechte an Kämpe; "Hope vol. 2" gehört Matthias Sayer, die Challenge hat Judy-chan ersonnen Anmerkung: die Bedingung Shounen Ai oder lemon/lime habe ich wohl nicht erfüllt, aber ich wage mich dennoch aus der Deckung ^^ [¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬][¬] Kämpe Ich lausche dem Regen. Millionen dickbauchige Tropfen stürzen sich auf der letzten Reise aus dem bleigrauen Firmament auf die aufgeweichte Erde hinab. Ihr stummer Tod ist eine einschläfernde, einlullende Symphonie, aufgeraut durch die Kollision mit Fensterglas und nackter Borke. Der eisige Januarwind, der die gesamte Nacht stürmte, in wilder Wut das Haus berannte, hat sich ebenso ermattet zur Ruhe begeben wie ich auch. Mit dem Unterschied, dass ich keineswegs eine bemerkenswerte körperliche Leistung erbracht habe, nein, ich habe diesen Samstag lediglich eingekauft, danach die Zeitung müßig durchgeblättert, belanglose Unterhaltung in der Flimmerkiste konsumiert. Nichts davon hat mich gezeichnet, sich mit Spuren in meiner Vita verewigt. Aber ich fühle auch keinerlei Veranlassung, diese apathische Seelenmüdigkeit abzuschütteln. Fünf Tage in der Woche, die Zeit zwischen Aufstehen und Heimkehr, gehöre ich fremden Menschen, erfülle ihre Erwartungen, verdiene mein tägliches Brot in der Versagung meiner eigenen Empfindungen. Teile mit ihnen die Luft, den engen Raum der öffentlichen Nahverkehrsmittel. Schließe mich dicht ab von ihren Gedanken, konserviere mich für die wenige Zeit, die mir allein bleibt. Und die ich nun, in gewohnter Weise, im Bett verbringe, von narkotischem Schlaf zu narkotischem Schlaf falle, fest eingewickelt bis zur Stirn in einer gewaltigen Decke, starr und steif wie jeher in Bauchlage. Ich will nicht mein warmes Nest verlassen, die schützende Dunkelheit, in die mich die Daunen hüllen, gegen die bleigraue Wand eines wolkenverhangenen Tages tauschen. Nein, meine Ewigkeit in zeitloser Stille genügt mir, die winzige Oase vor der alltäglichen Sklaverei der Gesellschaft. Tom muss gegangen sein, ich kann ihn nicht hören, habe aber keine Einschätzung, wann er wohl Türen schlagend unsere gemeinsame Wohnung verlassen hat. Vage treibt die Erinnerung durch die Steppdecke gedämpfter Vorwürfe an die Oberfläche meines trägen Bewusstseins, zu hartnäckig, um sie einfach wegzuschieben, zu verbannen in der Vergessenheit. Er kann nicht verstehen, wie ich mich fühle, und ich selbst bin unfähig, ihm begreiflich zu machen, was mich innerlich bewegt. Es eine Bewegung zu nennen, ist zugegebenermaßen verwegen, denn das Gegenteil ist der Fall. Wir sind so verschieden wie Tag und Nacht, mein Bruder und ich. Zwei Fremde unter einem Dach, ohne Hoffnung, einander emotional zu durchdringen. Seine Freunde geben sich die Klinke in die Hand, Freundinnen haben die Tendenz, sich im monatlichen Wechsel in heftigen Szenen zu trennen, ohne Spuren in seinem Leben zu hinterlassen, zu stark ist sein Wille. Wie ein Löwe prescht er in die bunte Vielfalt des Daseins, mutig bis rücksichtslos, nicht unterzukriegen, stolz und machtvoll in seiner Ausstrahlung, keinerlei Selbstzweifel unterworfen. Seine Natur gibt mir Rätsel auf, doch ich habe aufgegeben nachzuspüren, wie es wohl sein mag, in seinen Schuhen durch das Leben zu stürmen, ein Hurrikan ohne Erinnerung an die Verwüstungen, die sein Lauf hinterlässt. Wie immer schwieg ich auch heute, -war es Morgen?-, zu seinen Vorwürfen, mich endlich einmal aufzuraffen, unter Menschen zu gehen. Was sollte ich wohl auch entgegnen? Ich fühlte mich nicht wohl unter seinen Freunden, ein stärkeres Gefühl der Einsamkeit, der Isolation gab es nie, als unter anderen Menschen zu sein. Wenn ich dieser Fremdheit entgehen wollte, schloss ich mich mit mir selbst ein, lauschte auf meine eigenen Herztöne, dem Rhythmus meines Lebens. Starrte in den Himmel, folgte den regenschweren Wolken, verlor die Gedanken, nur noch Sinne direkt an das Herz. Freiheit aus der Gewalt der Gedankenmaschine. Keine unerwünschten Informationen prasselten auf mich ein, keine Anstrengung zur Konversation wurde mir abgefordert. Ungefiltert, unzensiert, ohne Analyse wollte ich mich hingeben, was immer mir begegnete. Doch wer kann sich diese Unschuld erlauben unter anderen Menschen?! Genug. Er ist gegangen, mein Sonntag gehört mir, und ich werde in die Tiefe der nachtschwarzen Vergessenheit versinken, die meine Träume für mich bereithält. [¬] Das Geräusch ist aufdringlich laut. Zerreißt den dichten Schleier der Ruhe, die mich umhüllt. Ich balle die Fäuste eng an meinen Hüften, werfe unwillig den Kopf auf die andere Seite. Ich werde keinesfalls meinen wärmenden Kokon verlassen. Ganz gleich, was es ist. Ich erwarte niemanden. [¬] Kaum habe ich mich in die betäubende Dunkelheit geflüchtet, fließt die bleierne Müdigkeit wie schweres Gift durch meine Adern, lähmt meinen Willen, da klingelt es erneut. Meine verklebten Lider leisten Widerstand, als ich schildkrötengleich einen Ausfall aus meiner Zuflucht wage, zu benebelt, um den Störenfried zu verfluchen, der offenkundig weder über Verstand noch Manieren verfügen muss. Wenn doch niemand zur Tür geht, sollte man doch meinen, würde der Foltermeister meiner pochenden Schläfen begreifen, dass entweder niemand zu Hause war, oder aber man nicht gestört zu werden wünschte! Außerdem stellte es doch in der heutigen Zeit keinerlei Schwierigkeit dar, den Besuch vorab telefonisch zu avisieren!! »Hau ab«, fauche ich in die Matratze, »es ist erst ein Uhr!!« Stille senkt sich wieder, lindert den Schmerz, den der brutale Einbruch in meine Idylle hervorgerufen hat. Ich rolle mich auf die Seite, die Arme schützend um meine Brust geschlungen, leere mein Bewusstsein. Keine Bilder, keine Gefühle, keine Gedanken, nur Zeitlosigkeit, Vergessen. Es klingelt erneut. Dieses Mal scheint der Aggressor Gefallen an dem schrillen Ton gefunden zu haben, oder aber sein Finger ist mit dem Rufknopf verschmolzen. Mit einem unterdrückten Wutschrei schleudere ich meine wärmende Oase von mir, fröstele sofort unter der Raumtemperatur. Blind, aber entschlossen, dem ungehörigen Dieb meiner kostbaren Freizeit die Leviten zu lesen, streife ich einen ausgeleierten Jogginganzug über, torkele mit langsam erwachendem Kreislauf zur Wohnungstür, schiele durch den Türspion. Nach zweimaligen Blinzeln versichere ich mir selbst, dass ich nicht unter höllischen Halluzinationen leide. Auf unserer Schmutzfangmatte steht ein Mann, der dem Kintopp entsprungen sein könnte, namentlich "Matrix". Vollkommen in Schwarz gekleidet, der hochgeschlitzte Ledermantel von Regentropfen spärlich beglänzt, eine hautenge Lederhose, darunter Arbeitsstiefel, auf Hochglanz poliert. Und unter der wild in alle Himmelsrichtungen stachelnden Frisur verhindert eine futuristische Sonnenbrille den Blick in die Augen des Störenfrieds. »So sieht nur jemand aus, den mein Bruder anschleppen könnte!!« "Was ist?!", fauche ich schlafesrau durch das verstärkte Türblatt. Ein aufmunterndes Grinsen wärmt die feuchten, gefrorenen Lippen. "Hi, darf ich reinkommen?" Ich schüttele stumm den Kopf, »was für eine Idiotie!! Für wen hält sich dieser seltsame Kerl?!« "Tom ist nicht da." Der Fremde stellt seinen, natürlich in schwarzem Stoff gehaltenen, Rucksack auf den Boden, legt beide Hände auf die andere Seite der Tür, was mich unwillkürlich zurückzucken lässt. "Er hat mir erlaubt, hier zu übernachten." "Davon weiß ich nichts", bescheide ich barsch, nunmehr verärgert, dass meine Ruhe dahin ist, würde ich mir doch den Kopf über diesen Unbekannten zerbrechen, unbeabsichtigt, aber unvermeidlich. Die Gedankenmaschine hat ihre Chance ergriffen. "Wann kommt er denn wieder?", die gelassene Stimme zittert ein wenig. Friert ihr Besitzer, oder fürchtet er, seines Unterschlupfs verlustig gegangen zu sein? "Keine Ahnung. Ruf ihn doch an!" Mit dieser letzten Gemeinheit verlasse ich meine Position an der Tür, strebe dem gemeinsamen Badezimmer zu, mir die Reste des Schlafes aus dem Gesicht zu waschen. Es klopft. »Ich lasse ihn nicht rein!! Das hier ist mein Wochenende, mein Haus!! Ich habe ihn nicht eingeladen, er ist nicht mein Gast, ich will mich nicht um ihn kümmern!!« Energisch frottiere ich meine winterblasse Haut. Wir hatten eine Abmachung getroffen. Tom würde mich nicht mit seinen Freunden belasten, und ich würde es ihm ersparen, sich mit meinen Besuchern herumschlagen zu müssen. Nicht dass ich jemals welche gehabt hatte. Ein weiterer Streitpunkt zwischen uns, ich ließ mich jedoch nicht erweichen, wollte nicht, dass jemand meine andere, wahre Seite kennenlernte. Es gab niemanden auf der Welt, mit dem ich solche Intimität zu teilen wünschte, vor allem, weil ich befürchtete, dass man mich dem Spott preisgeben würde, Vertrauen mit Verrat vergolten wurde. Er klopft erneut. »Vergiss es!! Ich werde mich nicht einwickeln lassen wie die armen, alten Leute, die man so lange bearbeitet, bis sie mit bangem Herzen ihre Pforten öffnen!!« Ich wechsele zur Küche hinüber, räume geräuschlos die Spülmaschine ein, programmiere die Reinigungsoptionen. Er klopft, nun zaghaft. "Alex, ich habe eine SMS von Tom. Bitte, er erlaubt mir, in seinem Zimmer zu übernachten!" Ich schaudere, eine Ganzkörpergänsehaut, die selbst meine flusigen Haare aufrichtet. »Er kennt meinen Namen. Wenn er die Wahrheit spricht...« Fieberhaft gehe ich meine spärlichen Kenntnisse über Mobiltelefone und diese Kurznachrichten durch. Konnte man sie fälschen?! »Du wirst paranoid«, Toms joviale Stimme drängt sich in mein Bewusstsein. Mit einem resignierten Seufzer und dem festen Entschluss, ihn nicht besser als ein beliebiges Möbelstück zu behandeln, entriegele ich langsam die Tür, lasse aber die schwere Kette in ihrem Haken ruhen. "Zeig sie mir", zische ich kurzangebunden. Eine helle, mit einem ungewöhnlich ineinander verschlungenen Ring aus schwarzem Metall geschmückte Hand reicht ein winzig anmutendes Telefon durch den Spalt hinein. Mit spitzen Fingern nehme ich es entgegen, studiere durch die fleckigen Brillengläser die spärliche Botschaft. [Alex, lass D. rein. Tom.] »Wer ist dieser D.?!« "Tritt zurück", brumme ich ungnädig, schlage lauter als notwendig die Tür zu, hake die Sicherheitskette aus. Und öffne wieder, mit ausgestreckter Hand das Telefon an seinen Besitzer zurückgebend. "Füße abtreten", kommandiere ich, wende ihm den Rücken zu, suche den Schlüssel zu meiner Zimmertür. "Okay, vielen Dank, Alex!", die fröhliche Stimme reizt meine Nerven, zu laut zerreißt sie die geliebte Stille. Mit spitzem Finger weise ich auf Toms Zimmertür, "das ist Toms Reich, mach, was du willst, aber lass mich in Ruhe!" Und schließe mich in meinem Zimmer ein. [¬] »Mir ist gleich, was dieser Kerl treibt. Er wollte ihn haben, soll er mit dem Ergebnis leben.« Ich drehe mich auf die andere Seite, spüre das schleichende Gift der Müdigkeit in meinen Adern. Süchtig nach Schlaf, Schlaf, der weiteren Schlaf nach sich zieht, eine endlose Kette betäubender Vergessenheit. Es klopft. Diesmal an meiner Zimmertür. Mir entschlüpft ein gequältes Stöhnen, unverhältnismäßig laut in der Stille, was Röte in meine Wangen treibt. »Was habe ich verbrochen, dass man mir nicht einmal mehr diese letzte Zuflucht gestattet?! Warum will mich das Leben nicht endlich in der bleiernen Routine versinken lassen?! Mich meiner Hoffnungslosigkeit ausliefern, das letzte Licht mit einem erstickten Aufflackern verlöschen lassen?!« "Alex?" Ich hasse seine Stimme, so rücksichtsvoll, so geduldig. Mühsam stemme ich mich aufrecht, zerre grob Sweatshirt und Hose heran, verwünsche meine tauben Glieder, die blitzenden Flecken vor der Schwärze meiner Augen. Mein Kreislauf ist nicht geschaffen, mit diesen ständigen Wechseln zwischen Ruhe und Bewegung zu kooperieren. Ich schleppe mich im trüben Licht des nachdunkelnden Nachmittags zu meiner Zimmertür, schließe sie auf. Er steht vor mir, nun barfuß, in T-Shirt und Lederhose, die Sonnenbrille ruht in den stachligen Fransen auf seinem Oberkopf, gibt ihr Geheimnis preis. Dunkelblaue Augen, mit einer Strahlkraft, die in ihrer Umgebung aus heller Haut und schwarzem Haar blendend wirkt. "Entschuldige, aber kannst du mir sagen, wo Tom den Inbusschlüssel hingepackt hat?" Seine Mundwinkel zieren Grübchen, die ihm etwas Versöhnlich-Schelmisches geben. Ich blinzele heftig, versuche, den Sinn seiner Frage zu enträtseln. "Inbusschlüssel?", konzentriere ich mich auf den herausgefilterten Part, der mir den größten Anteil an Kopfzerbrechen bereitet. "Oh", seine Hände gleiten malerisch durch die Luft, "das gebogene Ding für die IKEA-Möbel!" "IKEA-Möbel?", echoe ich ohne Verstand. Verlegen nestelt er nun an einem Anhänger, der in einer engen Lederschlinge um seinen Hals befestigt ist, einen polierten Stein, der mich an die Schwärze von Espresso erinnert. "Ich wollte mich nützlich machen und das kleine Regal zusammenbauen..." Seine Stimme versinkt in einem verschmitzten Lächeln, dann hebt er die Hand, um sie zu meinem Kopf zu führen. Mit einem erschreckten Laut weiche ich hastig zurück, stolpere in der Rückwärtsbewegung über die dort deponierten Straßenschuhe und verliere das Gleichgewicht. Bevor ich der Länge nach hinschlagen kann, zieht er mich mit beherztem Griff um den Ellenbogen aus der gefährlich trudelnden Lage und lenkt meine Fallrichtung gegen die Säule, sodass diese mich bremst. "Ich wollte dich nicht erschrecken!", seine Augen beschlagen besorgt, "da war nur eine Daune... in deinem Haar", er tippt sich selbst an die rechte Schläfe. Ich taste blind und spiegelverkehrt nach meiner Seite, finde die Feder, dann trifft mich der Schreck verspätet, treibt mir brennende Röte in das Gesicht, erweicht meine Knie. Wie entsetzlich beschämend, vor einem Fremden so zu reagieren!! Abrupt wische ich an ihm vorbei, husche in die Küche, knalle den Werkzeugkasten auf die winzige Anrichte und fliehe in mein Zimmer. Mein Herz rast, Sternregen vernebelt meine Sicht. Was mochte er nun denken?! Was würde Tom wohl sagen?! Ich hasse diesen D., ich hasse mich selbst. Will nur noch in betäubenden Schlaf versinken. [¬] Jemand ist da. Mein Puls explodiert ohne Vorwarnung, prescht in heilloser Flucht, unempfänglich für meine Versicherung, dass wir in Sicherheit sind, in unserem daunenweichen, wärmenden Kokon. Dann erstarre ich, trotz benebeltem Verstand. Eine Hand rinnt hauchzart, wie ein Wassertropfen an einer Glasscheibe, über meinen Rücken. Ich bin nicht allein. »Das kann nicht sein. Muss ein Traum...« Träume konnten schließlich so lebhaft sein, dass man noch im Aufwachprozess glaubte, sie seien wahr! Die Hand hält über meinem Herz inne, strahlt radial ihre Hitze aus, stärker, als mein eigener Kokon es vermag. Angstvoll und in Zeitlupe wende ich meinen Kopf, die Hände neben meinen Hüften geballt, die Fingernägel tief in die Ballen gepresst. Es dämmert bereits, das fahle Leuchten der Straßenlaterne dringt nur unwesentlich in mein Zimmer. Doch ich erkenne in der Silhouette Stacheln neben mir. Atem, der pfefferminzgetränkt die winzigen Flusen auf dem gewebten Laken streichelt. Mein Herzschlag setzt aus. »Wie... wie kann er es wagen?!« Tränen treten in meine Augen. »Entweiht meine Zuflucht, drängt sich mir auf.« Nie wieder würde ich hier sicher schlafen können! Ich hatte ihm nichts getan und dennoch wurde mir eine derart vernichtende Niederlage beschert! Hier war meine letzte Bastion gefallen, die einzige Oase, in der ich ich selbst sein konnte, nicht Alex Morgenstern, das unbekannte Wesen, dem man unter diesen Namen wochentags begegnete. Mit mir allein, aber doch frei, auf minimalstem Nenner. Ich befreie mich behutsam, zittrig aus der Decke, die er ebenso unbekümmert um sich geschlungen hat, taste mich zur Tür. Wanke tränenblind in das Badezimmer, riegele mich ein, kauere mich auf den hochflorigen Läufer und ersticke mühsam meine aufwallenden Schluchzer. »Er hat sich sicher nichts dabei gedacht. Möglicherweise gilt das unter normalen Menschen als Scherz?! Es ist doch nichts weiter passiert, warum sich also belasten?! Wenn du genauso kühl und sachlich wie sonst reagierst, wird niemand Aufhebens machen!!« Aber ich kann nicht, ganz gleich, was die Gedankenmaschine auch offeriert, mein Leib will nicht aufhören zu zittern. »Warum?! Warum hat er das getan?!« Ich war es nicht gewöhnt, dass man mir zu nahe kam, meine persönliche Sphäre ignorierte, hatte das niemals ertragen können. »Neurotisch«, hatte Tom konstatiert und die Achseln gezuckt. Aber selbst er, der ungeniert Körpernähe annahm und suchte, hatte niemals versucht, mir die seine aufzuzwingen. "Alex?" Unerwünscht, nein, sogar verflucht, drängt sich die sanfte Stimme besorgt in mein Bewusstsein. Außerstande zu antworten, denn der Kloß in meiner Kehle erstickt mich förmlich, presse ich die Hände auf die Ohren. »Verdammt, das ist das Badezimmer!!« Wohin sollte man sich denn noch flüchten, wenn man allein zu sein wünschte?! Ich zwinge mich schließlich, aufzustehen und Leitungswasser in kleinen Schlucken zu trinken. Mein eigenes Spiegelbild ekelt mich an, der Tod ohne Schlappen. In dünnem T-Shirt mit Löchern und Boxershorts aus dem Schlussverkauf. Musik erklingt, Reggae. »Er muss in Toms Zimmer sein.« Blitzschnell entriegele ich die Tür, beabsichtige, in meinem Zimmer Zuflucht zu suchen, ganz gleich, wie entweiht es sein mag. Ich kann es dort eine Weile aushalten, belagerungszustandserprobt. Doch ich habe in meiner wilden Hoffnung die Rechnung ohne den Usurpator gemacht, der unerwartet in meinem Fluchtweg erscheint, frontal mit mir zusammenprallt. Und dieses Mal fängt er nicht nur einen Ellenbogen, nein, sein Griff umfasst meine Hüften sicher, ungeachtet meines Gewichtes, das seinen Brustkorb eindrücken muss. Nicht einmal atemlos schenkt er mir ein freundliches Grinsen. "Übrigens, ich bin Dariusz." »Dariusz, Darius, lateinisch, etwas wagen?«, spekuliert mein Gehirn ungefragt, während ich gelähmt in seiner Umarmung erstarre. All meine Rachepläne verdunsten, mein Kopf ist leergefegt, die einzige, verbliebene Nachricht dreht sich um die Spekulation hinsichtlich der Bedeutung seines Namens. "Alles okay?" Ohne meine Reaktion abzuwarten, gibt er mich frei, dirigiert mich aber mittels Hand auf meiner Schulter in Toms Zimmer. Wo sich statt der braunen Kartonagen nun ein halbhohes Holzregal befindet, die quadratischen Klapptüren passend zu der übrigen Ausstattung in Feuerwehrrot und Lackschwarz. "Kämpe, IKEA", erläutert Dariusz beiläufig, umfängt dann meine Rechte mit beiden Händen, platziert den Inbusschlüssel auf meine zitternde Handfläche, um behutsam meine Finger darum zu biegen, als habe er mir einen kostbaren Schatz anvertraut. "Sag mal, hast du was dagegen, wenn ich eine Pizza bestelle? Und wir einen Film gucken?" Ich starre noch immer auf meine verloren ausgestreckte Rechte, stocksteif, schockgefroren. Sehne mich nach dem Schrei der Banshees, will dieses gläserne Gefängnis sprengen, das mich umgibt. Mit dem Wind um die Wette fliehen, in seinem eisigen Odem das letzte Quäntchen an Gefühl abstreifen. Und endlich mit den vergessenen Drachen in ewigen Schlaf fallen, dieser Sorgen verlustig. Doch es ist mir keine Ausflucht vergönnt. Durch einen Nebel lausche ich den präzisen Anweisungen, die Dariusz dem Lieferanten gibt, antworte mechanisch auf seine Frage nach unserer Adresse. »Bemerkt er meinen Zustand nicht??« Er wirbelt um mich herum, sammelt die Kartonage ein, erklärt, diese zu den Mülltonnen zu bringen, wenn die Pizza angeliefert würde, erkundigt sich nach meinem Wunschfilm, sinniert über die Bedeutung des Wortes Kämpe. Wie aufgezogen plappert mein losgelöster Verstand, "Kämpe, ein altertümlicher Ausdruck für Kämpfer, bezeichnet heute lyrisch in der Hauptsache Ritter." Seine dunkelblauen Augen staunen interessiert, loben mich, ignorieren aber meine statueske Haltung. Ein eisiger Schauer lässt mich frösteln. Ich spüre förmlich die Schwärze im Augenwinkel, die sich meiner bemächtigen wird, denn mein Kreislauf scheint missverständlich anzunehmen, ich läge bereits wieder bequem in meinem Bett. Doch ich hege umsonst Befürchtungen, meine Lähmung würde mir nun auch noch eine beschämende Ohnmacht aufnötigen, denn ungefragt wickelt er meine Decke um mich. Packt mich wie ein übermüdetes Kind auf Toms breites Sofa und geht vor mir in die Hocke, streichelt meine verkrampfte Hand. Es klingelt. Mit einem bedauernden Schulterzucken lässt er mich zurück, antwortet durch die Gegensprechanlage, verschwindet dann mit den Kartons. Ich versacke in einem Schwarzen Loch, komme erst wieder zu mir, als der durchdringende Geruch von Fett meine Nerven reizt. Dariusz zerrt sich gerade sein T-Shirt über die abstehende Mähne, von seiner Lederhose perlen Wassertropfen. Trotz großer Scham kann ich meinen Blick nicht abwenden, als er diese aufknöpft, sich aus der engen Hülle schlängelt. Und nun, fast völlig entblößt, vor mir im Zimmer auf und nieder geht, die Pizza kontrolliert, Servietten holt, eine Flasche Cola, ein Video einlegt, startet und endlich vor mir in die Hocke geht. "Eine gute Idee, bei diesem scheußlichen Wetter sollte man sich einigeln", lächelt er, "darf ich bei dir unterkriechen?" Ich blinzele. Seine Augen in ihrem strahlenden Dunkelblau scheinen zu expandieren, übergroß verdrängen sie jede andere Wahrnehmung, füllen meinen Horizont aus. Willenlos sackt ein Deckenzipfel aus meinen Fingern, was er als Einladung versteht, sich an mich schmiegt, unempfänglich für meinen gefühllosen Leib, dann nach der Pizza angelt, ein Teil zusammenrollt und in meine erstarrten Finger drückt. Seine Wahl hinsichtlich des Films war auf "Some like it hot" gefallen, einer meiner Favoriten, daher auch im Original vorhanden. Ausgelassen lacht er neben mir, seine warme Stimme vibriert in seinem ganzen Körper, erschüttert auch mich. Unwillkürlich lasse ich mich mitreißen, vergesse mich sogar so weit selbst, dass ich einzelne Sätze mitspreche. Als mir sein verblüfftes Staunen bewusst wird, kauere ich mich zusammen, schrumpfe, wünsche mich in das Bermuda-Dreieck. »Nur Verrückte oder Vereinsamte reden mit sich selbst, das weiß jedes Kind.« "Du magst den Film wohl sehr?", seine Hand zerrauft zärtlich meine Haare. "Nobody's perfect", entweicht mir, bevor ich meiner Zunge Einhalt gebieten kann, das verräterische Credo des Films heraussprudele. "Ein gutes Motto", bestätigt Dariusz, hebt mit der minimalsten aller Bewegungen mein Kinn an und küsst mich. Ich halte ihm stand, starre ungläubig in die dunkelblauen Augen, die mir sanft zuzwinkern. "Darf ich...?", seine Frage wirkt seltsam altmodisch und doch rührt sie einen verschütteten Teil meines versteinerten Herzens. Ich blinzele betäubt, schließe ergeben die Augen, seelenmüde. »Wenn er mich als das erkennt, was ich bin, den Kern meines Seins, wird er verschwinden. Warum hoffen?« Aber in diesem Augenblick kann ich vergessen, wie es sein wird, ausblenden, was unausweichlich kommen wird. Nur fühlen, die Aufrichtigkeit seines Interesses, die so liebevoll meine Einsamkeit zu überwinden sucht. Ich gebe ihm eine Kostprobe meiner Zungenfertigkeit, was er mit rührendem Enthusiasmus belohnt, mich in seine Arme zieht, streichelt und mit feuchten Küssen benetzt. Wie Regentropfen an Fensterglas. [¬] Er unternahm in dieser Nacht, in der wir mein Bett teilten, keinerlei Anstalten, sich mir aufzudrängen, mich mit unerwünschter Intimität zu bedrohen. Als spürte er, dass ich mich fürchtete, so rasch sämtliche meiner Gewohnheiten zu vernachlässigen. Dennoch entlockten seine einfühlsamen Hände, seine unerschrockene Neugier auf meine unzulängliche, körperliche Hülle, seine versöhnlichen Küsse mir das Verlangen, ihm zu vertrauen. Mich seiner Erfahrung hinzugeben. Mit dem beängstigenden Gedanken, dass sich am nächsten Morgen der graue Alltag dieser zart aufkeimende Hoffnung bemächtigen würde, um sie mit kalter Grausamkeit nüchtern zu sezieren, wickelte ich mich enger in seinen Arm. [¬] "Alex?" Ich reiche ungefragt die Kaffeekanne weiter, erwarte klopfenden Herzens den Gnadenstoß, der mir droht. "Ich muss dir etwas sagen..." Ich lächele unwillkürlich geisterhaft, eine Angewohnheit, die mich selbst verärgert. Was für eine erbärmliche Schwäche, misshandelt zu werden und dies mit einem Lachen zu quittieren!! »Ja, sprich es ruhig aus. Ich bin dir nicht böse. Es ist eine Erleichterung. Ich weiß schließlich, wer ich bin. In den Augen jedes anderen Menschen. Ist schon okay.« Seine dunkelblauen Augen heischen um Verständnis, das ich wie eine Droge verströme. Er war immerhin freundlicher und fürsorglicher als die meisten anderen Menschen, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin. "Ich... ich bin nicht hier, weil ich rausgeflogen bin, oder so." »Das... ist unerwartet.« Ich lutsche verwirrt an meiner Brötchenhälfte. Dariusz malt mit der Fingerspitze auf der Plastikdecke, verwirbelt die dunklen Ringe, die der Kaffee hinterlassen hat. "Ich habe Tom gefragt...", er verliert sich, fährt durch die schwarzen Stacheln, Inbegriff der Verlegenheit. "Warte mal eben...", er springt auf, eilt in den Flur, zerrt an seinem Ledermantel herum. Seine Wangen sind gerötet, mein Herz krampft sich zusammen. »Ruhig«, ermahne ich mich, warum sollte er auch wie ein Ungeheuer aussehen?! »Nur weil er ein normaler Mensch mit normalen Erwartungen ist?!« Dariusz kehrt zurück, nimmt wieder Platz. Ein Polaroid gleitet über den Tisch, verliert den Schwung vor meinem Teller. Ich stelle betäubt das Kauen ein, mit der benebelten Langsamkeit eines Wiederkäuers, zu viel Zeit von Auge zu Gehirn. Ich bin es und bin es doch nicht. Gerötete Wangen, verletzlich, die Haare im Schlaf kindlich verstrubbelt, die Lippen leicht geöffnet. Schutzlos dem voyeuristischen Blick des Betrachters ausgeliefert. »Tom muss sich unbemerkt in mein Zimmer geschlichen haben...« Dariusz' Stimme zieht mich an die Oberfläche der Realität zurück. "... ich habe es gesehen und wollte dich unbedingt kennenlernen. Also habe ich ihm versprochen, ich baue sein Regal, wenn er mich mit dir allein lässt..." Er kann mir nicht in die Augen sehen, seine Finger nesteln an dem schwarzen Ring herum. "Versteh mich richtig, eigentlich war es ein Scherz, ich meine, das mit dem Regal, ich dachte nicht... ich hätte sowieso geholfen..." Er verhaspelt sich, seine Augen flehen mich an, ihm Gnade zu erweisen. Ich kann nicht länger meine eigene Verletzlichkeit auf dem Bild ertragen, will nicht wissen, welch trügerische Sicherheit meine Alltagsmaske mir bietet, springe auf, will der Situation entfliehen. Eine Melodie drängt sich unerwünscht in mein Bewusstsein, dann umfangen mich seine Arme, halten mich fest. Seine Lippen an meinen Ohr wispern flehentlich, "bitte..." »Was ersehnt er sich, welche Gunst soll ich ihm gewähren?! Hat er nicht schon alles erlangt, was ich zu geben vermag?« Ich will diesen Song nicht hören, seine Wärme auf meinem Leib nicht spüren, brauche die Kälte, die Stille, um mich zu retten! Die eisigen Gefilde meines Käfigs, um wieder aufzubauen, was er niedergerissen hat mit seiner samtigen Stimme, seinen zärtlichen Gesten. "Liebe mich!" Ist es mein Herz, das schreit?! Oder sind das seine Worte, verzweifelt an meinem Nacken hervorgestoßen?! Ich bin gefangen, schwindlig in einem Reigen aus Verlangen, wilder Hoffnung, Müdigkeit, aufbrandendem Hunger nach Leben, rauschhaft überspült es mich, beraubt mich meines Verstandes. Seine Wangen umfassend küsse ich ihn mitleidlos, lasse mich treiben. Und mit jeder Liebkosung, die wir einander schenken, verdränge ich die Zweifel. Vielleicht werden sie zurückkehren, wenn ich wehrlos, schwach, vergiftet bin. Vielleicht werde ich eine Antwort gefunden haben und sie vernichten. »Vielleicht bist du meine schimmernde Wehr, mein Panzer gegen die erstickende Leblosigkeit des Alltags.« [¬] Hope, Vol.2, Apocalyptica feat. Matthias Sayer of Farmer Boys hope is beauty personified at her feet, the world hypnotized a million flashes a million smiles and the longest mile but in this heart of darkness our hope lies lost and torn all fame like love is fleeting when there's no hope anymore pain and glory hand in hand a sacrifice the highest price like the poison in her arm like a whisper, she was gone like when angels fall and in this heart of darkness our hope lies on the floor all love like fame is fleeting when there's no hope anymore like the poison in her arm like a whisper, she was gone like an angel angels fall [¬] ENDE [¬] Danke fürs Lesen! kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Beitrag Nummer 2 zu Judy-chans Ikea-Challenge, Shounen Ai oder lime, Ikea, Inbusschlüssel, Streit, Januar... genau ein Jahr später. Diese Geschichte ist inspiriert durch "Hope 2" von Apocalyptica, das ich sehr oft hörte und eine Lieblingsbeschäftigung, nämlich dem langen Schlafen ^_~ Das Echo auf diesen Beitrag war beeindruckend, offenkundig haben sich viele Leser mit Alex, dem Erzähler, identifiziert und kennen diese Selbstisolierung, die nur unter Anstrengung zu überwinden ist. Jemand wie Dariusz existiert eigentlich nur in Träumen, aber diese kann man ja auch leben ^_^