Titel: Trick 17 mit Anfassen Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Romantik Erstellt: 16.05.2017 Disclaimer: Ikea-Challenge von Judy-chan; Ikea ist eine schwedische Möbelmarke, alle Rechte vorbehalten. Mein Trick 17: Fensterleder, Schrubberstiel, Malerkrepp und Zahnseide. kimera vs. Stolmen 2:0 ^_~ ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* ---* Trick 17 mit Anfassen "Arsch!" Murmelte Sofian und kurbelte entschlossen weiter, auch wenn er bereits Blasen zwischen Daumen und Zeigefinger spürte. "Egoistischer, eingebildeter, schwanzgesteuerter Arsch!" Die ineinander gedrehten Schrauben trennten sich und kullerten selbstverständlich in unterschiedliche Richtungen davon. "Scheiße, Scheiße, Scheiße!" Intonierte Sofian, wischte sich mit dem staubigen Handrücken über die Stirn, was seiner Erscheinung nicht gerade gut tat. Er atmete tief durch, ließ sich von den Knien auf die Hacken sinken. Um die Katastrophe nicht überambitioniert zu perfektionieren, verstaute er den magischen Zauberstab des Ikea-Paralleluniversums, den Inbusschlüssel, in einer Cargotasche. Fehlte gerade noch, dass das Mistding ihm auch noch abhanden kam! Wenn es schon für seine zahlreichen Schrunden verantwortlich war! Sofian vermied einen Panoramablick über das Schlachtfeld seines untergegangenen Traums und widmete sich mit grimmiger Entschlossenheit seinem aktuellen Trauma. Er sammelte also die flüchtigen Schrauben ein, drehte sie sorgsam zusammen und deponierte sie zu ihren Geschwistern in einer großen Pappschachtel. Er kroch gerade, unkleidsam den Allerwertesten in die Höhe streckend wie die Ente beim Gründeln, unter die Spüle, als mit munterem Glockenspielklingeln die Glastür aufgestoßen wurde und ein Schwall eiskalter Januarluft eindrang. "Guten Morgen...nanu?" Sich den Hinterkopf reibend, wo Kopftuch und darunter befindliche "Putzwolle" den Kontakt mit dem Spülbecken unangenehm hart gesucht hatten, tauchte Sofian über der Theke auf. "Wir haben geschlossen." Wies er auf das hin, was eigentlich jedem erkenntlich sein sollte, denn die beiden Schaufenster waren bereits mit Zeitungsseiten großflächig abgedeckt und in der Tür baumelte, nun hektisch schaukelnd, ein Pappschild mit entsprechender Botschaft. "Geschlossen? Noch? Wieso?" Sofian musterte den offenbar nicht ganz auf der Höhe befindlichen Gast. Der kam häufiger und ähnelte dabei einem Zombie, wirre Haare, zerdrückte Schichten von Freizeitkleidung, riesige Beanie-Mütze und Sonnenbrille. Diese wurde nun auf den Wollberg hochgeschraubt und enthüllte tief umschattete, blaugraue Augen mit roten Einschlüssen. Um die Mundwinkel blätterte die Haut rau ab, während die Nasenspitze dem Januarfrost geschuldet wie Rudolfs Markenzeichen leuchtete. "Ihr renoviert doch sicher nur, oder?" So viel verzweifelte Hoffnung rührte selbst den konsternierten Sofian an, dessen Laune sich seit einiger Zeit nicht mehr über Kniekehlenhöhe gehoben hatte. "Nein, wir machen dicht. ICH mache dicht. Endgültig." Der übernächtigte Wiedergänger offenbarte ungefiltertes Entsetzen. "Aber...wieso?! Es ist doch immer voll! Und euer Kaffee...!! Oh, dieser Kaffee!!" Das klang so sehnsüchtig-anbetend, dass Sofian grimassierte. "Tja, die Kurzfassung lautet: mein Geschäftspartner ist kurzfristig ausgestiegen, und allein kann ich den Laden nicht stemmen." Sein Gegenüber winselte vernehmlich auf. "Das ist ja furchtbar!" Über dieses Stadium war Sofian längst hinaus, von Unglauben über Entsetzen zu Wut, Vorwürfen und nunmehr stillem Zorn. Aber er war auch Realist. Und der konnte nicht ignorieren, dass das Leben weitergehen musste. Weshalb er nun den Laden ausräumte, um ihn besenrein zu übergeben. Tja, aus der Traum! "Aber.. du machst doch weiter, oder? Richtig?!" Sofian hatte selten Zeit, sich länger mit seinen Gästen zu unterhalten, er wirbelte meist wie ein Derwisch umeinander, servieren, Geschirr einsammeln, kassieren, Stullen schmieren, Nachschub präparieren... Und natürlich Kaffee rösten, mahlen und aufbrühen. Wie bei Oma. Deshalb wusste er über seinen unerwarteten Besucher nur, dass dieser Kaffee wie Aqua vita schluckte und am Liebsten Vollkornbrötchen mit Wiesenhonig vertilgte. "Sorry, aber das ist erstmal das Ende der Fahnenstange für mich." Knurrte Sofian. "Nein! Das geht doch nicht! Ich lebe quasi von eurem Angebot!" Jammerte der Zombie verzweifelt, in fast kindlicher Hilflosigkeit. Da musste man WIRKLICH mal tief Luft holen! Aber Sofian konnte sich nicht zu einer zynischen Bemerkung hinreißen, denn die herabgesackten Schultern, der tieftraurige, verwirrte Blick... als würde man einen Welpen treten! Er seufzte also und gestikulierte zur tiefen Fensterbank, wo eine gewaltige Thermoskanne thronte. "Bedien dich. Einen Becher findest du da im Karton." Offerierte Sofian. "...danke. Wirklich, danke schön!" Man schlurfte vorsichtig durch den Hindernisparcours der Auflösungserscheinungen, angelte einen Becher heraus und bediente überraschend unfallfrei den Hahn der Thermoskanne. Ein genießerisches Stöhnen folgte dem ersten Schluck. "Ooooooh, das tut so gut!" Stöhnte der Untote wiederbelebt. Sofian lächelte versonnen, wandte sich dann wieder seinen Dekonstruktionsarbeiten zu. "...sollte man das nicht lieber zu zweit machen?" Erkundigte sich sein Besucher nach einer Weile. "Tja, mein Kompagnon ist nicht hier, also muss ich das wohl allein hinkriegen!" Knurrte Sofian und rang entschlossen mit einer Pressspannplatte. Jetzt bloß nicht die verdammten Teleskopstangen ins Trudeln bringen! Und wieso saßen diese verdammten Schellen so fest?! "...wenn du magst, kann ich dir ja helfen?" Sofian, erneut auf den Knien, wieder den verwünschten Schrauben auf der Spur, richtete sich auf und drehte sich halb, den Ex-Zombie in Augenschein nehmend. "Musst du denn nicht arbeiten?" Erkundigte er sich argwöhnisch. "Nein, ich meine, das habe ich schon." Der Fremde setzte den Becher artig ab. "Ich arbeite meist nachts. Selbständiger IT-Programmierer, Moment!" Und schon wurde aus den knietiefen Taschen des verschlissenen Anoraks eine Visitenkarte produziert und höflich überreicht. "Raphael Rubio Reuters. Raffa reicht." Der unerwartete Helfer lächelte gewinnend. Sofian nahm die Visitenkarte entgegen und studierte die Offerten. "Ich betreue hauptsächlich kleine Unternehmen, kümmere mich um ihre Software, halte alles am Laufen. Patches, Updates und Programmierung laufen meistens nach den Bürostunden, also nachts und am Wochenende." "Dann solltest du dich jetzt eigentlich aufs Ohr hauen, oder nicht?" Raphael schüttelte eifrig den Kopf. "Oh nein, um die Zeit komme ich doch immer zu euch, Kaffee trinken und frühstücken! Da kann ich noch nicht gleich schlafen, da muss ich erst mal wieder Mensch werden!" Sein glückseliges Strahlen verabschiedete sich jedoch rapide, als ihm aufging, dass dieses morgendliche Elysium nach vollbrachter Arbeitsnacht nicht mehr erreichbar war. Unterdessen erwog Sofian unschlüssig das Angebot. Er KONNTE wirklich Unterstützung gebrauchen. Andererseits kannte er diesen Typen gar nicht, und der vergrößerte vielleicht sogar noch das Chaos. "Ich kann dir aber nur Kaffee und die Hälfte meines Proviants anbieten." Gab er schließlich nach. "Prima! Fein! Dann häng ich mich gerade mal auf und stehe dir zur Verfügung!" Diensteifrig pellte sich Raphael aus dem überdimensionierten Anorak, deponierte diesen zusammengerollt bei der Thermoskanne und krempelte sich die Ärmel hoch. Karierte Flanellhemdärmel über einem Kapuzensweatshirt und ausgebeulten, grauen Jogginghosen. »Irgendwie sehr nerdig.« Dachte Sofian, setzte aber sein Servicelächeln auf. "Im Moment versuche ich, dieses verdammte Regal-System auseinanderzunehmen." Erläuterte er. "Und zwar mit diesem vermaledeiten Dings hier!" "Ah, kenne ich!" Nickte Raphael verständnisvoll. "Soll ich mal kurbeln und du hältst fest? Genug Blasen hast du ja schon." Sofian, der seine Sammlung nicht noch vergrößern wollte, überließ die Arbeit seinem neuen Helfer. Der stellte sich keineswegs ungeschickt an, sondern mit effizienten Einsatz und ohne jedes Fluchen oder Anzeichen von nachlassender Geduld. Dafür benötigte er jedoch einen steten Zufluss von Kaffee, den er hingerissen zu verkosten pflegte. »Kaffeejunkie!« Schmunzelte Sofian, und ehe er sich versah, hatte er Raphael die lange Version des noch immer andauernden Albtraums anvertraut. Dass nämlich Torben (ehemaliger Geschäftspartner, Tischtennis-Sportkamerad, ARSCH!!) eine Art von vorzeitiger Midlife-Crisis durchlebte. Weil seine dämliche Freundin, mit ihren 21 Jahren immer noch total planlos, plötzlich beschlossen hatte, als Aupair nach Neuseeland zu gehen. Und er, der alte Depp mit seinen 35 Jahren dort noch mal ganz was Neues anfangen wollte. Weshalb die zwei Schwachmaten kurzerhand nach der Zusage für die Traumtänzerin all ihr Zeug verkauft und die gemeinsame Wohnung gekündigt hatten. Um am anderen Ende der Welt sich selbst oder ihren Verstand (wieder)zufinden! Und er, der hier fünf Jahre lang endlich den eigenen Laden, ihre gemeinsame Existenz, "Futtern wie bei Muttern", mit Herzblut, Schweiß, Engagement und nahezu ohne Freizeit betrieben hatte, stand nun vor den traurigen Überresten seines Traums. "Weil ich eben keine Freundin habe, da verstehe ich das nicht!" Wiederholte Sofian gerade ätzend das vernichtende Urteil von Torben (egoistischer Scheißkerl!). "Da bin ich auf mein kleines, unbedeutendes Blickfeld beschränkt!" Raphael gab ein mitfühlendes Seufzen von sich, während er unbeirrt Schrauben und Schellen trennte, sortierte und Einlegebretter stapelte. "Konntest du keinen neuen Partner finden?" Nun seufzte Sofian bis zu den Fußsohlen. "Ich hab's versucht, wirklich! Aber wenn ich den Leuten von meinen Arbeitszeiten erzählt habe, dazu Frischwaren abholen vom Großmarkt, Teigruhe für die Brötchen und Brote, Abrechnung, den ganzen Papierkram... Da waren sie dann schneller weg, als ich mich umgucken konnte." Er schnaubte verbittert. "Jetzt kann ich bloß noch zusammenpacken. Und hoffen, dass der Verkauf alle Außenstände abdeckt." Verdrießlich konsultierte Sofian seine altmodische Armbanduhr. "Na ja, wenigstens für die Maschinen und die Möbel habe ich schon Käufer. Für das Geschirr und Besteck wollte sich noch jemand melden." Raphael schwieg bekümmert und arbeitete still weiter. Weil der Zeitpunkt zur Abholung der Küchengeräte und Maschinen näher kam, entschied Sofian, besser einen direkten Weg vom Eingang zur Küche zu bahnen. Deshalb stapelte er Umzugskisten an den kahlen Wänden, rangierte gestapelte Bretter und Schubladenwürfel. Besonders hinderlich schienen ihm die Teleskopstangen, die das gesamte Stolmen-System von Ikea zwischen Himmel und Erde respektive Zimmerdecke und Fliesenboden trugen. Bevor er sich versah, war es beim Einschrauben auch schon geschehen: die schmalere Stange rutschte tief in die breitere hinein! Mit einem unflätigen Fluch drehte Sofian eilig die Teleskopstange herum, schüttelte, rüttelte, trommelte und klopfte auf das breitere Ende. Ohne Erfolg. "Oh verdammt, verdammt, verdammt!!" Er hatte zugesagt, die gesamte Anlage diverser Stangen, Bretter, Schubladenwürfel, Manschetten, Schellen, Schrauben und Haken zu übergeben, nur leichte Gebrauchsspuren, aber gut erhalten und komplett verwendbar. Das Geld war schon fest eingeplant. "Rein gerutscht?" Raphael baute sich vorsichtig neben Sofian auf, studierte dessen aufgelöst-frustrierte Erscheinung und das Corpus delicti. "Es kommt nicht raus! Was mach ich denn jetzt?! Scheiße!" Tobte Sofian sich aus, rupfte sich sogar das Kopftuch von den wirren Locken. Ohne einen Kommentar begab sich Raphael in die kleine Küche, sah sich um, einen konzentrierten Blick aufgesetzt. Sofian riss unterdessen die Glastür auf, marschierte auf dem Trottoir trotz der vorherrschenden Januarkälte auf und ab, um seine Fassung wiederzugewinnen. Oder um auch bloß sein Mütchen abzukühlen. Als er wieder eintrat, äugte Raphael gerade konzentriert in das offene Ende der Teleskopstange. "Ich glaube, das könnte funktionieren." Bemerkte er leise, beinahe zu sich selbst. Dann drehte er Sofians Schrubber den Kopf ab, wickelte ein kombiniertes Trocken-/Fensterleder auf links um den Stiel, verklebte die Tuchrolle eng... und stopfte sie wie ein Kanonier in den offenen Lauf. Anschließend kurbelte er energisch entgegen dem Uhrzeigersinn. Aus dem Rohr ertönte ein Quietschen, weil sich das Fensterleder aufreizend am Metall rieb. Sofian verfolgte diese Anstrengung mit Verblüffung. "Ah!" Stellte Raphael schließlich erfreut fest, denn die Aktion zeitigte Erfolg: aus der Teleskopstange, traut angeschmiegt an Stiel und Fensterleder, rollte die schmalere der beiden Stangen. "Wahnsinn.." Kommentierte Sofian erst ungläubig, dann euphorisch. "Echt, Wahnsinn!! Genial! Raffa, du bist ein Held!" "Nicht doch." Wehrte dieser sichtlich verlegen, aber auch geschmeichelt ab. "War nur Trick 17 mit Anfassen." Was Sofian nicht davon abhielt, ihm begeistert die Schultern zu klopfen. "Danke, Mann! Ehrlich, ich wäre da nie draufgekommen!" "Nur weil du dich um so viele andere Dinge kümmern musst." Behauptete Raphael großzügig, zwinkerte. "Dann lass uns den Sack jetzt auch zumachen." Und damit zerlegten sie rasch noch die übrigen Bestandteile des Stolmen-Systems, die den Verkaufs- und Gastraum beherrscht hatten. ---* "Und was tust du jetzt?" Raphael hatte es sich nicht nehmen lassen, Sofian den gesamten Tag Gesellschaft zu leisten. Sie warteten im geleerten Laden auf die Mitarbeiterin der Vermietungsgesellschaft. Ohne die Küchengeräte und Maschinen, die Einrichtungsgegenstände, ja, sogar die Umzugskisten mit Geschirr und Besteck, wirkte der Raum viel größer als gewohnt und hallte nach. Draußen nieselte es eisig. Sofian seufzte. "Tja, zurück zu den Wurzeln, vermutlich." Brummte er. "Systemgastronomie. Da habe ich angefangen, hatte sogar eine Leitungsfunktion in einer Filiale. Aber ich wollte eben was Eigenes..." Und es hatte ja funktioniert! Der richtige Standort, das passende Angebot, Laufkundschaft und dann sogar Stammkunden! Er drehte den Inbusschlüssel zwischen den Fingern. "Dann hast du schon einen Job?" Fragte Raphael vorsichtig nach, ihn besorgt betrachtend. Die Schultern kreisend, um sie zu lockern, schnaubte Sofian. "Nein, aber ich marschiere gleich morgen los zum Jobcenter. Es musste ja alles so fix gehen..." Wieder verfinsterte sich seine Miene gewittrig, die schwarzen Augen sengten förmlich Löcher in die Fliesen. Wenn Torben, dieser ARSCH!, nicht so spät mit der Sprache herausgerückt wäre... aber es half ja nichts. Torben mochte keinen Streit, der war so unproduktiv! Da stellte man seine Mitmenschen eben lieber gleich vor vollendete Tatsachen und empfahl ihnen, die Lage mal aus anderer Sicht zu betrachten! Wenn er nur daran dachte, ballte er automatisch die Fäuste. "Es wundert mich ein wenig..." Raphael zögerte. "Ich meine, dass du keine Helfer hattest...?" "Wollte ich nicht!" Bellte Sofian grimmig zurück. Aber das war nur die halbe Wahrheit. Hauptsächlich hatte er sich geschämt. Und geärgert. Und zurückgezogen. Jede Andeutung von Sorge giftig mit einer Abfuhr versehen. Er legte den Kopf in den Nacken, es knackte vernehmlich. Die Augen geschlossen murmelte er. "Mein Vater hat mich vor dem Idioten gewarnt. 'Unsicherer Kantonist', woraufhin ich Schlaumeier gesagt habe, dass der Idiot gar kein Schweizer ist. Also wollte ich auch nicht zu Kreuze kriechen, als hier alles um mich herum detoniert ist." Und frühere Freunde anzurufen, die er vor lauter Arbeit vernachlässigt hatte, das verbot er sich selbst. Man hatte ja auch seinen Stolz! Schön blöd. Sofian wich dem bekümmerten Blick aus blaugrauen Augen aus. Zu seiner Rettung klopfte es vernehmlich an die verklebte Glastür. Eine Silhouette prügelte förmlich Tropfen von ihrem Schirm, wie ein Scherenschnitt von der Straßenlaterne auf die Zeitungsbahnen geworfen. "Augenblick!" Sich erhebend raffte Sofian auch seine Jacke. Würde hoffentlich schnell gehen, die Übergabe. Raphael folgte seinem Beispiel, schlüpfte in seinen Anorak. Die kräftige Dame, einen Mitarbeiterausweis präsentierend, schniefte erkältet, tippelte eilig durch die Küche, blickte sich um und schoss Fotos. Unterdessen räumte Sofian seine Kiste mit Halbseligkeiten aufs Trottoir, wartete geduldig. Autogramm gegen Schlüssel, kurzes Nicken, kein Händedruck (Ansteckungsgefahr, Verzeihung), Abschiedsgruß, schon hoppelte sie von hinnen. Zu einem Kleinwagen mit Aufdruck, vermutlich dem Feierabend und einer heißen Wanne entgegen. Raphael nahm einen Teil der Putzutensilien, folgte Sofian zu dessen Gefährt, einem zweitürigen Kleinstwagen-Veteranen koreanischer Herkunft. "Danke. Danke für alles heute, Raffa!" Streckte dieser ihm die Rechte entgegen. "Gern geschehen. Und ich wünsch dir schnell einen guten, neuen Job." Raphael seufzte. "Und, falls du doch wieder einen Laden aufmachst...?!" "Hab ich ja deine Nummer!" Sofian lächelte, über sich selbst erstaunt, denn eigentlich hatte er erwartet, sich nur noch beschissen zu fühlen. "Aber rechne lieber nicht in allzu naher Zukunft damit." "Ich gebe die Hoffnung nicht auf!" Versicherte Raphael entschieden. Sofian lachte und kletterte, sich zusammenfaltend, hinter das Steuer. "Gute Nacht, Raffa!" "Gute Nacht, Sofian. Mach's gut!" Und tatsächlich winkte Raphael ihm nach, bis er aus dessen Gesichtsfeld verschwunden war, was eine seltsame Melancholie bei Sofian auslöste. ---* "Hören Sie mal, das geht aber nicht!" Sofian blickte überrascht auf, denn üblicherweise wurden seine Kreise (und die seiner Helferinnen) selten bei der Vorbereitung der Mittagsmahlzeiten am Morgen gestört. "Schulfremde haben hier keinen Zutritt!" "Das ist mir bewusst, aber ich möchte auch gar nicht in die Schule, sondern in die Mensa! Bitte, da arbeitet ein Freund von mir, Sofian!" "...das ist doch... ach du Schande!" Sofian verließ seinen Posten, eilte um die Ausgabetheke herum, wo im Vorraum zum einstöckigen Mensagebäude eine Menschentraube den Zutritt blockierte. "Sofian!" Hocherfreut strahlte Raphael ihn an, wie gewohnt übernächtigt, Herr der Augenringe und Schattenwürfe. "Was ist denn hier los?!" Im strammen Schritt näherte sich auch die Rektorin, Frau Mierlich. "Schulfremde haben keinen Zutritt!" Wiederholte Herr Fausten, seines Zeichens Lehrer für Deutsch, Englisch und Mathematik der Mittelstufe. "Verzeihung, wirklich!" Gewohnt aufgelöst verteilte Raphael eilig Visitenkarten. "Ich möchte ja auch gar nicht in die Schule, wie ich schon versucht habe zu erläutern! Aber Sofian ist hier, und ich kann ohne seinen Kaffee einfach nicht richtig arbeiten!" Nun richteten sich alle Augen auf Sofian. Der sich um sein bestes Servicelächeln bemühte. Seit zwei Monaten arbeitete er schon für einen Caterer hier als Leiter der Schulmensa und wollte wirklich nicht seine halbjährige Probezeit durch Ärger mit der Schulleitung gefährden. "Kaffee? Was für Kaffee?!" Mindestens vier Augenpaare stierten ihn nun begierig an. Frau Mierlich drängte sich souverän in die Front. "Sie sind mit Herrn... Reuters..." Sie lugte über den Brillenrand auf die Visitenkarte. "...bekannt?" "Ja." Sofian bleckte die Zähne. "Er war Stammkunde in meinem ehemaligen Laden..." "Oh, Sie hatten ein eigenes Geschäft? Ein Café vielleicht?!" Sofian wurde bewusst, dass bald die erste Schulstunde beginnen würde. Wer sich hier draußen sammelte, litt entweder unter Entzugserscheinung bezüglich Nikotin... Oder wollte dem alltäglichen Schulirrsinn nur in letzter Minute das Haupt beugen. "Nur ein kleiner Laden, Frühstück- und Mittagstisch, Kleinigkeiten." Er fasste Raphael am Arm. "Und hier bin ich für die Mittagsspeise der Schüler verantwortlich, klar?!" "Du brühst keinen Kaffee auf?!" Fassungslosigkeit tränkte Raphaels entsetzten Ausruf. "Ich-hätte-mich-gemeldet!" Zischte Sofian. "Bitte, geh jetzt, ja?" "Aber... aber Sie trinken doch gern Kaffee, oder? So richtigen, frisch geröstet und gemahlen, original Filterkaffee!" Raphael gab nicht auf, sah sich nach Verbündeten suchend im Kreis um. "Windelkaffee! Gefärbtes Spülwasser!" Echote ihm verbittert entgegen. "Es spricht nichts gegen eine schöne Tasse Tee am Morgen." Warf Herr Fausten ein. Er erntete, ohne dies richtig zu registrieren, scheele Seitenblicke. "Ich erinnere mich, dass die Schulelternvertreterin etwas von 'ungeklärter Abwasserbrühe mit Sockensumpfgeschmack' äußerte." Ergänzte Frau Mierlich, die eingehend die Visitenkarte, dann Raphaels übernächtigte Erscheinung in Jeans, Kapuzensweatshirt und Anglerweste studierte. "Das ist doch kein Kaffee!" Empörte der sich inzwischen erschüttert. "Nun, im Staatlichen Schulamt ist man wohl dieser Meinung, deshalb hat man uns einen solchen... Automaten hingestellt." Frau Mierlich setzte eindrucksvolle Gesprächspausen, um dem Zuhörer die Schimpfworte der eigenen Wahl zwecks Ergänzung zu überlassen, wie Sofian bereits wusste. "Furchtbar!" Bekundete Raphael wie ein echter Kaffeeliebhaber mitfühlend. "Und so können Sie arbeiten?!" Was, den Mienen mehrheitlich zu entnehmen war, eindeutig einen Teil der Alimentation als Schmerzensgeld auswies. "Sofian macht einen perfekten Kaffee!" Schwärmte Raphael unterdessen. "Und der Duft! Wenn ich nach einer harten Arbeitsnacht morgens zu ihm in den Laden gekommen bin, gab es sofort diesen himmlischen Kaffee! Und dann, Honigbrötchen! Mhhhhmmmmm!" Mindestens vier Umstehende schluckten sichtlich. "Du könntest hier doch sicher auch Kaffee machen, oder? Ich meine, im Ausschank, für die Erwachsenen?" Warf Raphael flehend die Angel aus. "Aber Schulfremde haben hier keinen Zutritt." Brachte sich Herr Fausten in Erinnerung, der das Gespräch in gefährliche, esoterische Abgründe abschweifen sah. Kaffee, du liebe Güte, was für ein Aufstand! Raphael wandte sich direkt an Frau Mierlich. "Sie haben doch sicher einen Computerclub, oder? Und einen Schulverein, nicht wahr? Ich könnte Ihre Computer betreuen, kostenlos! Dann wäre ich kein Schulfremder und könnte in die Mensa kommen, um Sofians Kaffee zu trinken, richtig?!" In Hochgeschwindigkeit sprudelte er seine Offerte heraus, dabei bekräftigend nickend, als sei es möglich, durch positive Gestik bereits die Entscheidungsfindung zu seinen Gunsten abzuschließen. "Sie sind Programmierer, Herr Reuters?" Frau Mierlich bewegte sich mit der Unaufhaltsamkeit eines Eisbergs in die Schifffahrtsroute. "Verstehen Sie zufällig etwas von Bibliotheksprogrammen?" "Kommt auf die Architektur an." Raphael wechselte in den Geschäftsmodus. "Lassen Sie mich einen Blick auf Ihr Programm werfen." "Aber Frau Mierlich..." Herr Fausten wollte ein weiteres Innuendo einleiten, doch die Rektorin wusste, dass aus einem Leerkörper nur ein Lehrkörper wurde, wenn die Kaffeeversorgung gewährleistet wurde. "Herr Reuters hat sich liebenswürdigerweise bereit erklärt, unsere Schule im Bereich EDV zu unterstützen." Verkündete sie. "Also ist er kein Schulfremder. Und im Übrigen halte ich eine Alternative zu dem... Automatengetränk durchaus für bedenkenswert. Sofian, wenn Sie ein entsprechendes Angebot, selbstverständlich gegen Barkasse, zur Verfügung stellen könnten..." Sofian unterdrückte ein Grimassieren. "Das wird sich wohl einrichten lassen. Wir müssten allerdings eine Maschine dafür mieten. Wenn es Ihnen recht ist, lege ich Ihnen den Kostenplan heute Mittag vor." "Wunderbar. Herr Reuters, wenn Sie mich jetzt begleiten möchten..." "Aber Frau Mierlich! Die Anweisungen des Staatlichen Schulamtes!" Herr Fausten gab nicht auf. "Ah, Sie meinen die E-Mail-Anhänge, die wir nicht öffnen können, wegen unserer ...Computer-Probleme?" Mit der Säure in ihren Worten hätte man ein Kupferdach abbeizen können. "Wir kennen keine Referenzen!" Ließ Herr Fausten wissen. "Auf meiner Firmenseite im Internet habe ich eine entsprechende Liste zum Herunterladen." Mischte sich Raphael ein. "Vortrefflich. Leider gibt es immer wieder Probleme beim Verbindungsaufbau." Schnurrte Frau Mierlich zuckersüß. "Daher werden wir uns einfach auf Ihre Expertise verlassen." Herr Fausten holte Luft. Frau Mierlich äugte über den Brillenrand wie ein Basilisk. "Wenn Herr Reuters dieses... Bibliotheksprogramm zur Funktionstüchtigkeit dressiert, kann er hier ein und aus gehen, wie es ihm beliebt. Und jetzt begeben Sie sich bitte zu Ihren Klassen!" Beschwingt heftete sich Raphael an die Turnschuhfersen der Rektorin, während Sofian ein tiefes Seufzen entfuhr. Da ahnte er noch nicht, dass Raphael den Abstecher ins Lehrerzimmer dazu nutzte, das Loblied auf seinen Kaffee zu singen. Die halbe Speisekarte herunterzubeten und darüber hinaus noch zu schildern, wie entsetzlich die eigenen Fehlversuche geendet hatten, sich selbst diesen perfekten Kaffee zuzubereiten! ---* "Also, wenn du magst, ich meine, du musst nicht!" Haspelte Raphael sichtlich nervös, nippte dann jedoch an seinem Kaffee, Himmelsgebräu!, und lächelte beseelt vor sich hin. Sofian hatte sich, ebenso wie seine "Kitchen-Crew", bereits daran gewöhnt, dass Raphael jeden Morgen pünktlich zur zweiten Stunde eintraf. Um in der noch leeren Mensa am Lehrertisch vergnügt vor sich hin zu frühstücken. Und nicht nur er allein, nein, der ehrenamtliche Schulverein hatte unerwartet großen Zulauf erhalten. Diverse ehemalige Stammkunden schlugen ebenfalls auf, um im Austausch gegen Kaffee und belegte Brötchen, Brote oder süße Stückchen Bares zu überreichen und Hilfestellungen zu leisten. Der Schulgarten, ein trauriges Geviert, prangte neuerdings mit hübscher Einzäunung und Wildwiesenblumen. Die Solaranlage funkelte hochglanzpoliert. Die Toilettenanlagen, ein anrüchiges Trauerspiel, waren dank eines ganzen Handwerkertrupps mit Kaffee-Enthusiasmus auf Vordermann gebracht worden. Herr Fausten sagte gar nichts mehr dazu, sondern nuckelte an seinem Kaffee. Weil der Mensch ja nicht von Malventee allein leben konnte! "Ich komm gern mit." Antwortete Sofian. Warum auch nicht? Er hatte Glück gehabt, gleich nach dem Ende seiner Selbständigkeit wieder branchennahe Arbeit zu finden. Konnte nicht seine ganze, vollkommen ungewohnte Freizeit damit verbringen, Wochenendkurse zu besuchen oder das Angebot in den Foodtrucks zu begutachten, ob sich Nachahmenswertes fand! Keine alten Freunde mehr, keine Hobbys, dafür mehr Zeit als gewohnt, da fiel ihm selbst in seinem Einzimmerappartement die Decke auf den Kopf! "Das wird ganz nett, bestimmt! Und am nächsten Tag haben wir ja frei." Leistete Raphael weiter Überzeugungsarbeit. "Ich meine, ich zumindest bis etwa gegen Mittag, dann muss ich wieder ran, aber..." "He." Sofian schenkte Kaffee nach. "Ich hab schon ja gesagt, Raffa." "Oh, richtig! Stimmt!" Die blaugrauen Augen blinzelten müde. "Ich freu mich! Danke!" Sofian grinste und tätschelte den wirren Schopf. In diesem Augenblick erhob sich Herr Fausten, der dem Lehrerzimmer entflohen war, um ohne spöttische Blicke zu so früher Stunde einem Erdbeerkremtörtchen den Garaus zu machen. Er wurzelte neben Raphael an und schob brüsk eine Visitenkarte vor ihn und den geliebten Kaffeebecher. "Um meines Seelenfriedens Willen und der geistigen Gesundheit aller Zivilisation liebenden Mitmenschen, junger Mann: gehen Sie zum Friseur! Dieses Krähennest ist eine ästhetische Zumutung!" Raphael blickte auf, lächelte unbeeindruckt, freundlich. "Oh, vielen Dank, Herr Fausten! Ich krieg das irgendwie nicht so richtig auf die Reihe, das stimmt. Und diese Mondscheintermine sind mir irgendwie unheimlich." "Völliger Humbug, das. Hier, sehr gutes Team, flott, anständige Preise, kein Chichi. So, nun muss ich aber!" Hinter seiner Theke schüttelte Sofian den Kopf. Ihn hätte so eine Bemerkung ja auf die Palme gebracht, aber Raphael tickte einfach anders, das hatte er schon öfter festgestellt. Andererseits bot seine eigene Frisur, Locken oben, ringsherum mit dem Langhaarschneider sorgsam getrimmt, damit das Plastikhäubchen oder das Kopftuch ordentlich saß, keinen Anlass zur Kritik. Er hätte auch jederzeit die Hände vorzeigen können, mit säuberlich gestutzten Fingernägeln. Raphael lächelte in seine Richtung, kindlich die Augen reibend, einen Kaffeebecher zum Transport bereit. An Freitagen erschien er sogar mit einer großen Thermoskanne und einer Kühltasche, damit er das Wochenende überbrücken konnte! Wortlos füllte Sofian den Kaffeebecher auf und schraubte ihn ordentlich zu. "Los, Raffa, heim, Schäfchen zählen!" Neckte er ihn. "Is recht, mach ich." Antwortete der brav, zockelte schließlich, den Thermosbecher in trauter Umarmung, nach einem artigen Gruß an die gesamte Crew, von hinnen. Sofian schmunzelte und fragte sich, wie diese "After Work-Schiffsparty" mit Raphaels Freunden wohl verlaufen würde. ---* "Hallo! Da seid ihr ja!" Raphael ruderte ungewohnt extrovertiert mit den Armen, um über die fröhliche, bunt gemischte Menschenmenge auf dem Oberdeck seinen Freunden zu signalisieren. Gemeinschaftlich schlängelte-schmiegte-schob-schmuggelte man sich in eine gemeinsame Runde. Sofian war überrascht, denn er hatte vermutet, dass Raphaels Freunde ebenfalls einen, nun, etwas "nerdigen" Anstrich haben würden. Das war allerdings keineswegs zu beobachten! "Holger, freut mich!" Schon packte ein Hüne Sofians Rechte, sprengte dabei fast seinen Anzug, der ganz sicher nicht von der Stange sein konnte. "So, das ist Claudia, der Zauselbart dort ist Moussa und unser Macho-Mann heißt Falk!" Hände wurden geschüttelt, man klopfte ihm sogar auf die Schulter, voller Anerkennung. "Du bist also Raffas neuer Freund! Find ich ja klasse!" Claudia, eine Elfe im Hängerchen, strahlte ihn an. "Nein, ich meine, das ist ein Missverständnis!" Hummerrot schob sich Raphael dazwischen. "Sofian ist der Kaffee-Künstler, von dem ich euch erzählt habe!" "Echt jetzt?" Der besagte Macho-Mann Falk, Jeans und Doppelrippunterhemd zu einfachen Slippern, staunte Sofian ungeniert an. "Wirst du wieder einen eigenen Laden aufmachen?! Raffa kann ja morgens in eine Schule einfallen, aber bei mir passt das zeitlich einfach gar nicht!" Derart belagert hob Sofian beide Hände in befriedender Gestik. "Okay, okay! Nein, im Moment muss ich erstmal meine Probezeit überstehen, damit ich den Job bei der Schulmensa behalten kann. Ich würde schon wieder gern einen eigenen Laden haben, aber da muss alles passen. Und allein klappt das auf keinen Fall!" "Das heißt jetzt aber nicht, dass du es aufgegeben hast!" Deutete "Zauselbart" Moussa seine Einlassung kritisch. "Find ich gut, Sofian! Gäbe es das Deli bei mir um die Ecke nicht, würde ich glatt verhungern." Dabei strich er über eine nicht vorhandene Leibesmitte. "Da staunste, wie?" Claudia stieß Sofian ungeniert in die Seite. "Unser Moussa sieht zwar aus wie ein Hipster, aber er ist kulinarisch definitiv suboptimal begabt!" Moussa grinste. "Dafür bin ich begeisterter Esser." Konterte er würdevoll. "Das ist eine oft unterschätzte Qualität!" Die anderen lachten mit, dann stießen alle an. Das Gespräch plätscherte munter weiter, und Sofian erfuhr in dessen Verlauf, dass - der hünenhafte Holger von Beruf Augenoptiker war, - Claudia als Klimatechnikerin ständig auf Achse im Stadtgebiet arbeitete, - der spindeldürre Moussa bei der Flugüberwachung Schichtdienst leistete und - Macho-Mann Falk als Buchhändler dem Ressort Kinder- und Jugendbücher einer großen Filialkette vorstand. Während Claudia und Raphael flüssigen Nachschub besorgten, erkundigte Sofian sich danach, was diese so unterschiedlichen Personen zusammengebracht hatte. "Oh, Brettspiele." Moussa grinste. "Ganz analog." "Jau!" Erläuterte Holger. "Einmal im Monat treffen wir uns und lassen die Würfel rollen. Kennengelernt haben wir uns bei einem Spieleabend in Falks Filiale." "Stimmt. Ist jetzt fast vier Jahre her." Nickte der Macho-Mann. "Seitdem gibt es eine Menge Freizeitspieler wie uns. Wir stellen regelmäßig die neuesten Spiele vor, da bin ich also auch immer am Ball." "Apropos am Ball!" Moussa tippte sich an die eigene Nasenspitze. "Ich dachte wirklich, dass du Raffas neuer Freund bist! Warum sonst hätte er sich herausputzen sollen, mit Kurzhaarfrisur und schicken Klamotten?!" Bevor Sofian klarstellen konnte, dass er keinerlei Einfluss auf Raphael hatte, nun, abgesehen natürlich von dessen Ernährungsgewohnheiten, mischte sich Holger ein. "Verdammt schade! Raffa ist eine liebe Seele, und das meine ich ohne jede Ironie! Er hat einen festen Freund mehr als verdient!" "Vor allem nach Pest-Pjotr! Brrr, das war ein Kotzbrocken vor dem Herren!" "An den wären nicht mal Kloakentierchen rangegangen, und, glaub mir, die sind nicht wählerisch!" "Ein absolut mieser Drecksack, hat Raffa ausgenutzt und gegängelt! Der Schmierlappen hatte dann noch die Unverschämtheit, Raffa abzuservieren, weil er ihn langweile!" Sofian zog die Augenbrauen zusammen vor so viel zornigem Ingrimm. Offenbar hatte dieser Pjotr erheblichen Flurschaden hinterlassen. Zu seiner Rettung trudelten Claudia und Raphael wieder ein, die erfolgreich Flüssignahrung ergattert hatten. Die Musik drehte auf, die Sonne ging unter, auf den kleinen Wellen tanzten die bunten Lichter der Gebäude und Verkehrseinrichtungen beider Ufer. Sofian ließ sich mitziehen, hopste unbeschwert wie die anderen zur Musik und schnitt im Wettbewerb freche Grimassen. So unbeschwert und beschwingt hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt! ---* Es ging langsam auf Mitternacht zu, als sie sich am Pier trennten. Claudia, Holger und Falk teilten sich ein Taxi, Moussa stieg in die S-Bahn und Sofian wartete mit Raphael auf den Bus. "Das war wirklich ein toller Abend. Danke, dass du mich eingeladen hast, Raffa." Sofian lächelte aufgekratzt. "Freut mich." Auch Raphael wirkte glücklich, bevor er etwas verlegen ergänzte. "Bitte entschuldige das Missverständnis mit dem...Freund. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen." "Warum sollte ich verlegen sein?" Sofian empfand Raphaels Entschuldigung als bedrückend, so, als glaube dieser, es sei unverschämt und vermessen, ihn in einem solchen Licht zu sehen. Diese Ahnung erwies sich als zutreffend, da Raphael lediglich mit den herabhängenden Schultern zuckte, seinem Blick auswich. Also wechselte Sofian das Thema. "Und du musst tatsächlich ab morgen Mittag schon wieder vor dem Computer hocken?" "Ja, an Feiertagen kann ich über den Fernzugriff das ein oder andere erledigen, das normalerweise nur außerhalb des Betriebs möglich ist. Und nachts laufen eben auch viele Routinen, da muss ich mir dann immer Zeitfenster freischaufeln." Erläuterte Raphael, erschreckend dankbar für diese Hilfestellung. Der Bus erreichte ihre Haltestelle, es waren zahlreiche Plätze besetzt, sodass sie sich in der Mitte an die Haltestange stellten. Die Atmosphäre lud nicht gerade zu einem Gespräch ein, die meisten anderen Fahrgäste wirkten erschöpft und in sich gekehrt. Sollte ihr Abend etwa so ausklingen, ein eiliger Gruß, raus gesprungen, das war's?! Spontan folgte Sofian einfach Raphael, der zu verblüfft war, um in der geöffneten Tür den Abschied zu formulieren. "Den Rest kann ich auch laufen." Erklärte er leichthin. "Jetzt will ich wirklich mal sehen, wie du so haust! Irgendwie stelle ich mir da eine Art Batman-Höhle vor, alles dunkel, nur diese kleinen Lämpchen und Bildschirme." Neckte er Raphael. "Also..." Stammelte der. "Na ja, da wirst du aber enttäuscht sein. Es ist eher...langweilig." Der Begriff weckte bei Sofian Erinnerungen an die wütenden Erzählungen der Freunde über Pest-Pjotrs vernichtendes Urteil über Raphael. "Du willst mich bloß abwimmeln, weil du nicht aufgeräumt hast, wie?" Grinste er herausfordernd. "Nein, gar nicht, ich freue mich, wenn du mitkommst!" Erneut fand sich Raphael überrumpelt, tappte verwirrt neben Sofian her. Zwinkernd wandte der sich ihm zu. "Du wirst aber schon die Marschrichtung vorgeben müssen, Raffa, sonst irren wir hier länger herum." "Oh... sicher. Selbstverständlich." Ein vorsichtiges Lächeln huschte über Raphaels Gesicht. Tatsächlich benötigten sie keine zehn Minuten, das Mehrfamilienhaus zu erreichen, in dem Raphael eine Zweizimmerwohnung gemietet hatte. Sofian sah sich neugierig um, aber in der Tat wurde keine Batman-Höhle geboten oder sonst ein "Nerd"-Klischee bedient. Im kleinen Büro fand sich eine ganz gewöhnliche Ausstattung, zwei große Bildschirme, Rechner, ein Multifunktionsgerät, offene Regale mit säuberlich beschrifteten Ordnern, alles aufgeräumt und ohne überflüssigen Schnickschnack. Im Wohnzimmer gab es einen bescheidenen Alkoven, mit einem Holzperlenvorhang abgetrennt, wo ein Bett mit Tagesdecke wartete. Die Küche erwies sich als Ein-Mann-Zelle, sehr klein, praktisch, für Minimalisten geeignet. Im Badezimmer wartete eine Dusche mit Sitzgelegenheit, von Toilette und Waschbecken durch halbhohe Trennwände im Milchglasdekor separiert. "Sag bloß, du hast auch keine Zeit, um so richtig Unordnung und Chaos zu machen?" Erkundigte sich Sofian scherzhaft. Raphael, der nervös hinter ihm her getrippelt war, lächelte schief. "Ich sagte ja, es ist langweilig." Murmelte er hilflos. "Finde ich nicht!" Widersprach Sofian entschieden. "Wie heißt das bei der EDV? 'What you get is what you see'? Ordentlich, strukturiert, einladend, freundlich. Gefällt mir!" Damit drohte er noch mit der allgegenwärtigen Daumen-hoch-Geste. Zögerlich lächelnd antwortete Raphael ihm. "Glaubst du, man wird sich in einer Generation noch erinnern, dass man so ursprünglich um eine Mitfahrtgelegenheit als Anhalter gebeten hat?" Sofian grinste, als er sich ausmalte, wie eine entsprechende Karikatur aussehen würde, der wütende Anhalter und der Fahrer, der sich von allen am Straßenrand "gelikt" wähnte! "Sag mal, bist du schon müde, oder können wir mal eins der Brettspiele ausprobieren, von denen ihr vorhin gesprochen habt?" Lud er sich ungeniert für eine längere Verweildauer ein. "Willst du wirklich? Ja? Schön, ich suche was raus, setz dich doch, bitte!" Schon strahlte Raphael wieder, wies mit dem Kinn auf ein schmuckloses Sofa mit Überdecke, während er bunte Pakete in seinem Regal studierte. »Er ist wirklich eine liebe Seele.« Dachte Sofian, während er seinen Gastgeber beobachtete. Nun, jetzt würde er mal herausfinden, ob sein Trick 17 hier mit Anfassen Erfolg hatte! ---* Raphael erwachte, weil ihn ein vorwitziger Sonnenstrahl an der Nasenspitze kitzelte. Er löste einen Arm unter der Decke, rieb sich die Augen... und hörte ein leises Brummeln neben sich, das eindeutig nicht von einem hummelfleißigen Insekt stammen konnte! Schlagartig rauschte Adrenalin durch Raphaels Kreislauf, der rapide die letzten Ereignisse zurückspulte... was die ihm zugekehrte, nackte Rückenpartie erklärte. Einen Blick unter die Decke riskierend bestätigte sich, dass er selbst auch ohne jedes Feigenblättchen lagerte. »Bloß keine Panik!« Ermahnte er sich, setzte sich sehr vorsichtig auf, um nicht durch eine ungeschickte Bewegung den mutmaßlich süßen Schläfer aus den Träumen zu reißen. Weil sich eine einmalige Gelegenheit bot, beugte sich Raphael über Sofian, betrachtete dessen entspanntes Gesicht, die wolligen Locken am Oberkopf, die kräftigen Schultern. "... und wir waren nicht mal betrunken." Murmelte er ungläubig. "Na, das ist aber ein Kompliment!" Ließ sich Sofians etwas raue Stimme vernehmen, dann rollte er sich rasch herum, keineswegs tief schlafend. "So war das nicht gemeint! Wirklich, ich bin bloß...!" Stammelte Raphael erschrocken, beinahe eingeschüchtert. Sofian setzte sich auf, hob die Rechte an, über Raphaels Wange streichelnd. "Also, wirst du mir jetzt sagen, dass du doch nur meinen Kaffee magst?" "Nein! Bestimmt nicht!" Raphael errötete, als er Sofians zufriedenes Grinsen registrierte. "Oh, das ist gemein!" Ja, ein klein wenig schon, gestand sich Sofian ein, griff aber beherzt zu, ließ sich mit Raphael auf den Rücken sinken, diesen fest umarmend. "...du hast mich reingelegt." Stellte Raphael leise fest, sich bequem einrichtend. Wie in der Nacht kuschelnd, was er sehr genossen hatte. "Nur meine Version von Trick 17 mit Anfassen." Lächelte Sofian, drückte einen Kuss auf Raphaels Stirn. "Dafür bringe ich dir nachher extra Kaffee, ja?" "Wirklich?!" Schnellte Raphael hoch, staunte ihn an. "Das würdest du tun?!" Sofian schmunzelte. "Verflixt, und ich dachte, mit dem Kaffee kriege ich dich ganz sicher rum!" Raphael, der neben ihm kniete, ließ sich langsam auf die Hacken sinken. "Du hattest mich schon beim ersten 'Guten Morgen', als ich in deinen Laden kam." Wisperte er leise. Unter ihm streckte Sofian beide Arme aus. "Dann habe ich großes Glück, dass du so viel Geduld mit mir hast." Antwortete er leise, zog Raphael fest an sich. "Lass uns noch ein Weilchen so bleiben, ja?" Bat er, die Decke um sie wickelnd, die lockende Sonne ignorierend. Sollten sie ruhig woanders zu Himmelfahrt oder Vatertag herumziehen, er jedenfalls wollte ihre Kuschelhöhle so schnell nicht gegen den Alltag eintauschen! Sie schmusten eine Weile unangestrengt, zärtlich, dann schlich sich ein verräterischer Gedanke ein. "Sag mal..." Sofian tippte auf Raphaels Nasenspitze. "Diese Einladung fürs Schiff, dazu deine Freunde...wie lange hast du das schon geplant, hm, Raffa?" Eine gewisse Röte färbte die Wangen dezent ein, dann zwinkerte Raphael. "Trick 17..." Sofian konnte nicht anders, als anerkennend zu lachen. Wie oft würde Trick 17 mit Anfassen bei ihnen noch zuschlagen? Einwände hatte er jedoch keine, im Gegenteil. Dieser Dreh verlieh seinem Leben erst den richtigen Geschmack! Wie ein perfekt aufgebrühter Kaffee am Morgen. ---* Ende ---* Vielen Dank fürs Lesen! kimera