Titel: Jungfern-Meister Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Ereignis: Valentinstag 2019 Erstellt: 12.02.2019 Disclaimer: alles Meins, so nicht anders erwähnt! - "Felice" ist in "Ugly" anzutreffen. - Die "Hinagikus" haben ihre eigene Serie, die Wirkung von "The great wave" wird in "Vermisst" beschrieben. - Frau Oogata treibt ihr Unwesen auch in "Selbst gemacht" und "Selbst gefunden" - "Minnie Mouse" sowie "Lilo und Stitch" gehören als Figuren ins Disney-Imperium ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* ~+~+~* Jungfern-Meister Kapitel 1 Das Glockenspiel zeigte das Unterrichtsende an. Sofort wurde es auf den Gängen lebendig, schwirrten Stimmen, hörte man das Schlurfen der Schulschlappen. Chiharu begab sich ebenfalls hinunter zum Eingang, wo die Reihen der Schließfächer die Gruppen der munter Schwatzenden trennten. Mit den individuellen Schulnummern außen gekennzeichnet, farblich markiert warteten dort die Habseligkeiten, die nicht in der Unterrichtszeit die Klassenräume bevölkern durften. Ohne große Eile reihte Chiharu sich ein, bis er ungehindert an sein Schließfach kam. Er öffnete es, angelte sein Mobiltelefon aus dem rechten Slipper, setzte beide Schuhe vor sich ab. Er schlüpfte aus den Schlappen in die Slipper, während er gleichzeitig sein Mobiltelefon auf neue Nachrichten hin inspizierte. Gelegentlich fanden sich dort nämlich Aufträge seiner Eltern, zum Beispiel noch rasch etwas von der Reinigung abzuholen oder etwas zu besorgen. Da Chiharu bei keinem Schulclub Mitglied war, sich höchstens zum Lesen hin und wieder in die Bibliothek zurückzog, verfügte er über ausreichend freie Zeit. Auch eine Paukschule blieb ihm erspart, da er auf eine Schule ging, die ein Stufenmodell verfolgte. Ohnehin, er war sich des Luxus durchaus bewusst, neigten seine Eltern nicht dazu, ihn unter Druck zu setzen, stets die allerbesten Noten vorweisen zu müssen. Das war mutmaßlich auch darin begründet, dass sie ihr eigenes Leben führten: beide voll berufstätig, getrennte Freundes- und Bekanntenkreise, separierte Freizeitunternehmungen. Hin und wieder traf man sich mal zu Hause, in der kleinen Mietwohnung. Wenn man nicht woanders übernachtete, weil es spät geworden war, oder man nach der Arbeit noch etwas unternommen hatte. Die Uedas entsprachen eben nicht dem traditionellen Familienbild, sondern der modernen Variante, bei der beide viel arbeiteten, es sich auch mal gutgehen ließen, nicht zwingend gemeinsam. Wichtige Familienveranstaltungen mussten deshalb mit den Terminkalendern abgestimmt werden. Chiharu kannte diesen Zustand seit der Grundschule. Für ihn stellte diese familiäre Konstellation die Norm dar. Selten traf er morgens oder abends auf seine Eltern, meist frühstückte er in einem Bahnhofsimbiss. Abends, wenn er noch Hunger verspürte, besuchte er eine Filiale der zahlreichen Restaurantketten. Die winzige Küchennische wurde lediglich durch einen Kaffeevollautomaten behaust. Das ging auch schnell, Tee wurde ja täglich schon genug konsumiert! Chiharu erhielt ein monatliches Budget, von dem er seine Aufwendungen zu bestreiten hatte, dazu hin und wieder Besorgungen, die seine Eltern nicht nebenher pünktlich selbst erledigen konnten. Er wollte gerade Faltschirm und Stoffbeutel zu seiner Umhängetasche packen, als sein Mobiltelefon eine Nachricht signalisierte. Die fransig geschnittenen Ponysträhnen hochgeblasen zog er die Nase kraus, justierte seine schlichte Kunststoffbrille. Er lächelte über die Botschaft. Es sah so aus, als wäre einmal mehr seine Expertise gefragt. ~+~+~* Angefangen hatte es im Sommer seines vierzehnten Lebensjahrs. Die Sommerferien stellten für seine Eltern längst keine Herausforderung an eine angemessene Betreuung mehr dar. Der Junge musste selbstverständlich untergebracht werden. Auch wenn sie sich nicht sorgten, er könne die Wohnung verwüsten oder ähnlichen Unsinn anstellen, so ohne Aufsicht. Allerdings las man ja ständig, dass das gesamte Schulwissen sich verabschiedete, wenn man in der Sommerpause nur dem Vergnügen nachging, nichts auffrischte. Diese Angst schien auch die Lehrkräfte zu verfolgen. Deshalb galt es immer Aufgaben über die Ferienzeit zu erledigen. Außerdem wurden diverse Aktivitäten angeboten, nicht nur in den Schulclubs. Niemand sollte gezwungen sein, sich einfach nur selbst beschäftigen zu müssen oder gar fern von allem Alltag zu erholen! Chiharu hatte sich für "Naturkunde"-Exkursionen entschieden. Die Unkosten hielten sich in Grenzen, auch der Zeitaufwand. Er konnte also immer noch lesen, in den Tag hinein träumen oder ohne festes Ziel gemächlich spazieren gehen. Einen Strich durch die Rechnung seiner Planung machte ein Treppensturz des Exkursionsleiters, der verständlicherweise nicht seine Aufgabe erfüllen konnte. Schneller Ersatz fand sich nicht, sodass Chiharu spontan entschied, am nächsten Morgen in der angenehm klimatisierten Frühe das Dach aufzusuchen, genauer gesagt das mit Kübeln und Sitzgelegenheiten ausgerüstete Flachdach eines Nachbargebäudes. Dort lief das traditionelle Frühsportprogramm aus dem Radio. Man bewegte sich diszipliniert bei Rumpfbeugen, Hampelmann und anderen Übungen. So empfand man sich selbst gleich als produktiv, bewies sich als braver Bürger und rücksichtsvoller Teilhaber der Gesellschaft! Gesundheit erhalten ist schließlich ein wichtiges Gebot! Chiharu kam mit einer jungen Frau ins Gespräch, so, wie ihm das eigentlich stets gelang, mit einem Lächeln, zugewandt, aufgeschlossen, höflich. Außerdem waren sie an diesem Morgen die einzigen Teilnehmenden jenseits des Renteneintrittsalters. Man tauschte sich ein wenig aus, über den geplatzten Naturkunde-Kurs und die mangelnden Möglichkeiten, Zeichen- und Kalligraphie-Unterricht geben zu können. Sonoko Mitsuno war mit einem Studienkollegen verheiratet, noch kinderlos. Sie fühlte sich nach drei Jahren immer noch nicht richtig angekommen in der Stadt oder dem Wohnviertel. Sie wollte gern unterrichten, doch schien es aussichtslos, bezahlbare Räumlichkeiten zu finden. Außerdem sah sie ihren Ehemann selten, der viel zu arbeiten, auch noch zu reisen hatte, in seiner Arbeit aufging, was sie durchaus freute, weil er selbst sich anerkannt fühlte. Bloß. Chiharu erkannte durchaus die Zeichen. Man hatte sich nicht zu beklagen, den Egoismus einzuhegen. Dennoch verspürte man eine gewisse Isolation, Einsamkeit. Wenn man nicht daran gewöhnt war, so wie er selbst in langer Erfahrung, mochte man sich hin und wieder ein wenig unleidlich fühlen, ohne dass jemand da war, der dies bemerkte. Chiharu leistete der Einladung Folge, Sonoko zu besuchen. Man unterhielt sich, lachte über Chiharus mangelndes Zeichentalent, leistete einander Gesellschaft. Für ihn stellte es sich auch nicht herausfordernd dar, Modell zu sitzen. Warum auch nicht? Dass er lediglich die Unterhose trug, kümmerte Chiharu nicht sonderlich. Vielleicht lag es daran, dass er keinen Sport betrieb (den Schulsport ausgenommen). Er anerkannte selbst, dass er kein besonderes Körperbewusstsein vorweisen konnte, schenkte seinem Erscheinungsbild ebenso wenig Beachtung wie andere das taten. Höfliche Rücksichtnahme, keine Eitelkeiten, keine Komplexe. Hätte man ihm damals gesagt, dass seine Selbstwahrnehmung zu wünschen übrig ließ, hätte Chiharu wohl artig beigepflichtet, ohne diesen Gedanken auch nur einen Augenblick weiterzuverfolgen. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie nicht am Morgen ein Schauer überrascht hätte. Wenn Sonoko ihn nicht direkt mit in ihre Wohnung genommen hätte. Wenn sie, die beiden Fremden, die einander nur der äußeren Erscheinung nach kannten, nicht so aufgeputscht gewesen wären, nass, frierend, lachend über das derangierte Auftreten. Eine besondere Energie entlud sich in der gepressten Luft. Es begann gemeinsam in der engen Dusche und fand im Semi-Doppelbett seine Fortsetzung. ~+~+~* Chiharu kannte Körperkontakt hauptsächlich so wie viele andere auch: uneingeladen, unkommentiert in öffentlichen Verkehrsmitteln. Man ignorierte diese unvermeidliche Berührung unbekannter Personen, schuf sich selbst eine Wahrnehmungsblase, die suggerierte, dass die gebotene gesellschaftliche Distanz bestand, psychisch zumindest. Selbst wenn man wie die Ölsardinen in der Dose zusammengequetscht wurde, kaum noch atmen konnte. Einem anderen Menschen freiwillig, aus eigenem Entschluss, so nahe zu kommen, diese Person zu "adressieren": für Chiharu ein Novum. Allerdings verfügten wohl wenige seiner Altersgenossen schon über solche Erfahrungen. Chiharu ließ sich anleiten, ganz selbstverständlich. Man folgte brav den älteren, erfahreneren Personen. Außerdem war er sehr willig, diese neuen Erkenntnisse zu erlangen. Einen Treuebruch, einen Betrug hätte er darin nicht erkannt. Wen könnte er schon bedrohen oder gar ausstechen?! Ja, er fühlte sich Sonoko Mitsuno verbunden, auf eine angenehme, fröhliche, beschwingte Weise. Für ihre Gunst war er sehr dankbar, deshalb eifrig bestrebt, seinen Part zu erfüllen, sich gelehrig zu zeigen. Genau zu memorieren, was gewünscht und erwartet wurde. All die Mysterien und Geheimnisse zu würdigen, die ihm über das weibliche Wesen anvertraut wurden. Was ihm sehr gefiel, so geadelt und geehrt zu werden, als Eingeweihter! Ja, ganz unverbrämt: sie schliefen miteinander, pflegten körperlichen Austausch. Der Sex entspannte, hob ihre Laune, brachte Abwechslung. Chiharu wartete stets auf die Einladung, forcierte nichts, erlag keinem Überschwang. Ungezwungen, ohne Verpflichtung, abseits von gesellschaftlichen Erwartungen verliefen ihre Begegnungen, wie in einer anderen Dimension, einem abgetrennten Kokon, der nur für den Augenblick existierte. Wie bei einer schillernden Seifenblase elastisch und dennoch fragil in der Balance, ohne Einfluss auf den Alltag. Die Welt jenseits des transparenten Films, der sie nur für kostbare, beschwingte Momente einschloss, war nicht mehr als ein flüchtiger Traum, eine Phantasie. Allerdings, darin waren sie sich auch einig: so etwas wie Liebe, eine tiefe, emotionale Verbundenheit, die keimte nicht auf. Mit dem Ende der Sommerferien würde auch das Ende ihrer ungewöhnlichen Beziehung einhergehen. ~+~+~* Eigentlich entsprach es wohl dem vermeintlichen und feuchten Traum eines jeden Heranwachsenden, wie selbst im Kintopp gezeigt: Junge lernt durch erfahrene Frau die Sexualität richtig kennen. Chiharu behielt seine Erfahrung dieses ungewöhnlichen Sommers für sich. Wem hätte er sich auch anvertrauen sollen? Zu seinen Mitschülern pflegte er zwar ein kameradschaftliches Verhältnis, doch "persönlich" oder intim wurde es nie. Wer hätte es wohl verstanden, diese Magie einer Verzauberung? Ohne Gedanken an gestern oder morgen, gegen die Konventionen und Gepflogenheiten, trotz der unbestritten physischen Komponente schwebend, losgelöst, so leicht wie ein Seidentuch im Wind? Nichts, was mit dem Schulalltag eine gemeinsame Schnittmenge aufweisen konnte. Außerdem war es vorbei, eine schöne Episode, aber beendet. Sentimentalität wurde in seiner Familie nicht goutiert, deshalb neigte Chiharu auch nicht dazu. Vorbei war vorbei. Das Leben ging weiter, ein steter Fluss, der hier und dort mäanderte, doch niemals zurückströmte. Fühlte Chiharu sich nun anders? Nun, um gewisse Erkenntnisse bereichert, das zweifellos. Hatten sich seine Persönlichkeit, sein Charakter gewandelt? Das schien ihm nicht der Fall zu sein. Nicht mal seine körperliche Selbstwahrnehmung prägte sich ob dieser Erfahrung stärker aus, doch darüber machte er sich keine intensiven Gedanken. Der straff getaktete Alltag hatte ihn wieder. Er ließ sich davontreiben, nicht mehr als ein weiteres Zahnrädchen in einem gewaltigen Getriebe, bewegt und eingebunden, geerdet und fest justiert. ~+~+~* Zu seiner Überraschung brachte diese kurze Affäre, die er als Teil seiner Memoiren abgehakt glaubte, ihm eine ungewöhnliche Offerte ein: er wurde nämlich nach Unterrichtsende im Spätsommer von einer jungen Frau in modischer Aufmachung angesprochen. Sie suchte nicht etwa nach einem Mitschüler, einer Lehrkraft oder hatte sich verirrt, nein, ER war gemeint! Nach einer Umkreissuche, wegen des Emblems der Schule, welches unter anderem auch auf der Trainingsjacke aufgenäht war, die er getragen hatte. Die auf dem winzigen Balkon gehangen hatte. Während Chiharu noch verwirrt zu folgen versuchte, neugierig, aber distanziert beäugt von ebenfalls aufbrechenden Mitschülern, wurde ihm sehr gedämpft das entscheidende Detail anvertraut: der Vorhang war nicht zugezogen gewesen. Sodass man, oder vielmehr frau, gegenüber, im höheren Geschoss, einen gewissen Einblick gehabt hatte. Chiharu erwog, sich aufs Geratewohl zu entschuldigen. Zugegeben, man musste nicht in fremde Wohnungen schauen, andererseits ließ die enge Bebauung auch nicht viel Alternativen übrig. Eine Bitte um Nachsicht stand jedoch nicht im Fokus der jungen Frau. Sie, Studentin, wollte schlichtweg eruieren, ob das, was die Nachbarin so erblühen ließ, auch für sie in Frage käme. Die Lippen pressten sich dünn aufeinander. Ihr Freund befleißige sich lediglich der Zockerei, sei für ihre Bedürfnisse vollkommen unempfänglich. Übertriebene Rücksichtnahme auf irgendwelche Befindlichkeiten sei daher nicht angezeigt. Wenn er also Interesse und Freizeit habe, sich entsprechend zu engagieren, wäre sie sehr angetan! Keine Frage, sein Gegenüber wusste genau, was sie wollte. Chiharu war durchaus überrumpelt. Andererseits gab es keinen Grund, einfach abzulehnen. Immerhin hatte sie ein sehr angenehmes Erscheinungsbild, bewies Humor und verlangte nun wirklich nichts Weltbewegendes, nicht wahr?! So tauschte man Nummern aus, beschloss, zunächst mal ein ausführlicheres Gespräch zu führen. Danach könne immer noch eine Entscheidung getroffen werden. ~+~+~* Vermutlich hätte man intensiv und konsequent nachdenken müssen, alle potentiellen Folgen in ihrer Bedeutung ausloten sollen. Chiharu befand jedoch schlicht, dass es keinen Grund gab, sich zu verweigern. Wie man es ihm bereits im Kindergarten beigebracht hatte, um die gesellschaftliche Harmonie zu wahren, achtete er auf positive Aspekte beim Gegenüber. Es gab IMMER etwas zu mögen, zu sympathisieren! Die Direktheit der Studentin schien ihm erfrischend, ihre beklagte Vernachlässigung erweckte sein Mitgefühl. Wortreich, was ihm einen gewissen Leidensdruck offenbarte, bezog sie ihn auch in ihre Gedankengänge ein. Selbstverständlich hatte sie mehr oder weniger subtil versucht, das heikle Sujet mit ihrem Boyfriend zu thematisieren. Der war jedoch entweder zu ausgelaugt oder noch geistig auf irgendeinem Zocker-Level involviert, um mehr als einen trüben, blutunterlaufenen Blick zu riskieren. Überhaupt, die Anstrengung! Ihn zwackte es ständig im Nacken, auch das Kreuz war ein Kreuz! Was sollte man davon nun halten?! Akrobatische Leistungen waren ganz und gar nicht angefragt worden! Trotzdem, da wurde man so schnöde, beiläufig abgewiesen! Selbst ist die moderne Frau! Warum sich selbst nicht etwas gönnen? Allerdings, die elektrisch betriebenen Spielzeuge erschienen ihr nun mal fad, weil es ja gar nicht darum ging. Bloß, nun ja, da wurde auch nur ein relativ abgegrenztes Areal bedient! Man hätte auch in eine Host-Bar gehen können. Gerüchteweise ließen sich die Herren, die dort als Gesellschafter gegen Geld und Alkoholkonsum aufwarteten, auch zu außerbetrieblichen Sonderdienstleistungen überreden. Da wurde Chiharu konspirativ vorgebeugt adressiert: die Unsummen, die da verlangt wurden! So etwas konnte sie sich als Studentin kaum leisten! Immerhin war es schon ärgerlich genug, dass ihre ehemalige Mitbewohnerin sie Knall auf Fall hatte sitzen lassen, um zurück zu ihren Eltern zu ziehen, weil sie sich zu elend fühlte nach der Trennung von ihrem Freund, der ohnehin eine Flachpfeife gewesen war! Chiharu lauschte aufmerksam und interessiert. Er signalisierte Mitgefühl und Verständnis für die prekäre Lage, in der sich die junge Frau befand. Durchaus nachvollziehbar, dass sie sich ein wenig Erleichterung und Entspannung verschaffen wollte. Was kostete ihn schon ein wenig Zeit und körperliches Engagement? Ohne größere Bedenken ließ er sich auf das Arrangement ein, erprobte mit munterer Neugier seine Erfahrungen als Eingeweihter, was gut angenommen wurde. Ein unkomplizierter Austausch, beinahe schon freundschaftlich, leichthin und fröhlich. Es hatte natürlich nichts zu bedeuten, darüber war Chiharu sich im Klaren, auch einig mit seiner Freizeit-Kameradin. Beinahe, auch wenn er dies nicht ausgesprochen hätte, erinnerte ihre Vereinbarung an die Tennisclub-Mitglieder in der Schule. Man traf sich nach Termin, tobte sich aus und ging dann erfrischt auseinander, also gab es keinen Anlass zur Klage. Herbst und Winter vergingen auf diese Weise mit gelegentlichen Treffen. Mit den anstehenden Abschlussprüfungen und dem Ende des Schuljahrs im Frühling endete auch ihr Arrangement. Man mussste arbeiten, dazu umziehen und wollte überhaupt richtig durchstarten! Ein Impuls, für den Chiharu vollstes Verständnis bekundete. So konnte man sich die Hände schütteln, für die Zukunft das Beste wünschen. ~+~+~* Chiharu erwartete nicht, von den Begleitumständen seines Engagements eingeholt zu werden. Schließlich hatte er niemanden inkommodiert. Allerdings jedoch, ohne dies beabsichtigt oder geplant zu haben, Eindruck hinterlassen. Zu Beginn des neuen Schuljahrs, Anfang April fand er eine gänzlich unbekannte Nummer mit Nachricht auf seinem Mobiltelefon. Eine Bitte, einem Treffen zuzustimmen, auf Empfehlung (sonst wäre ja auch die Nummer nicht weitergegeben worden), um ein heikles, persönliches Problem in Wohlgefallen aufzulösen. ~+~+~* Chiharu hatte der Einladung Folge geleistet. Wenn es in seinem Einflussbereich lag, wäre er durchaus bereit, Hilfe zu leisten. Wer würde sich auch ohne Not verweigern? Er traf auf eine Oberschülerin, die sich im Vorbereitungs- und Prüfungsstress befand. Sie vertraute ihm an, dass ihr gerade alles zu viel werde, weil, nun ja, auch eine als persönliche Unzulänglichkeit empfundene Disposition ihr zu schaffen machte. Was ohne Assistenz nicht möglich war, allerdings nach Möglichkeit einer erfahrenen, einfühlsamen und geschickten Hilfeleistung. Deshalb kam er als entsprechender Leistungsträger ins Spiel, empfohlen durch eine gemeinsame Freundin. Chiharu lauschte ebenso aufmerksam wie empathisch. All der Druck, die Erwartungen, dieser Stress, dazu noch Sorgen und Ängste: kein Wunder, dass sie sich einem Zusammenbruch nahe wähnte! Das konnte man verhindern, indem man einzelne Schwierigkeiten separierte und gezielt anging! Selbstverständlich war ihm bekannt, dass Defloration schmerzhaft bis traumatisch verlaufen konnte. Eine Erfahrung, die es zu vermeiden galt, auch mit Rücksicht auf die Tatsache, dass man diese große Verantwortung nicht gerade einem Novizen oder einem innig geliebten Menschen aufbürden wollte! Zudem musste man die männliche Disposition einbeziehen, die möglicherweise auch mit Befürchtungen und Zweifeln belastet war. In der Folge vielleicht nicht den gewünschten "Einsatz" bringen konnte. Was gleich zwei Personen inkommodierte! Da wäre es doch besser, zumindest eine Person in der Paarung verfügte über eine gewisse Erfahrung und Selbstsicherheit, nicht wahr? Der Druck nähme ab, wenn nicht auch noch die blutigen Ouvertüren in die Orchestrierung einbezogen werden müssten! Verständig signalisierte er uneingeschränkte Zustimmung zu diesen logischen Schlüssen. Er konnte diesbezüglich keine einschlägigen Erfahrungen aufbieten, das hinderte aber ihn nicht, diese Gefälligkeit zu erweisen! Mitleidig sicherte Chiharu also zu, zumindest dem einen Aspekt seine volle Aufmerksamkeit und Hingabe zu widmen. Entsprechende Lektüre und bereits vorhandene, praktische Fertigkeiten sollten die Premierenhürde nicht unüberwindbar gestalten! Chiharu konsultierte deshalb artig erreichbare Quellen und Ratgeber, konspirierte aufgeschlossen über Ort und Zeit, Präferenzen und Details. Auch wenn es ihm etwas schofel vorkam, überließ er der Dame die Wahl der notwendigen Utensilien. Die Geschmäcker waren schließlich verschieden! Generalstabsmäßig vorbereitet, mental gefasst, frisch geduscht, die Nägel getrimmt, die Zähne blitzblank, begab sich Chiharu an diese neue Unternehmung. Jetzt konnte er beweisen, dass er zu recht als Geheimnisträger der holden Weiblichkeit eingeweiht worden war! ~+~+~* Auch wenn es ihn selbst hin und wieder verblüffte, da er doch so gar nicht sport-affin war: Beweglichkeit und leidliche Körperbeherrschung konnte er aufbieten. Sich zurücknehmen, wenn es angezeigt war, Körpersprache beachten und entsprechend reagieren. Zugewandt und aufmerksam sein, mit Höflichkeit und Humor das Eis brechen, Verlegenheit verabschieden. Es gab immer etwas zu loben, zu mögen, anzuerkennen. Nach dieser Premiere, die Befürchtungen, Sorgen, Ängsten und Komplexen den Giftstachel zog, fühlte Chiharu sich durchaus geadelt. Er war seiner großen Verantwortung gerecht geworden. Das heikle "Erste Mal" war überstanden, ohne bleibende Verletzungen, unerfreuliche Begleitumstände oder weiterem Stress. Vielmehr hatte er sich ausgezeichnet, so umsichtig und geschickt agiert zu haben, dass frau des Lobes nicht müde wurde. Geschmeichelt freute sich Chiharu still und heimlich über diese Anerkennung. Selbstredend konnte man darüber nicht sprechen. Ohnehin hatte er strikte Diskretion versprochen, was umgekehrt nicht ganz eingehalten wurde. Zu seiner Verblüffung (auch ein wenig seinem Stolz) wurde er "weiterempfohlen", um einen als Missstand eingeschätzten Befund zu beheben. Man hätte beinahe schon von einem Hobby sprechen können, hätte Chiharu vertrautes Publikum gehabt. So behielt er für sich, was er hin und wieder nach einem einführenden Gespräch in fremden Mädchenzimmern vollbrachte. ~+~+~* Routine konnte man es nicht nennen, aber zumindest ein gewisses, tradiertes Vorgehen. Grundsätzlich pflegte Chiharu immer ein Gespräch zu führen, um das Eis zu brechen, ein Gespür zu entwickeln, die richtige Atmosphäre zu schaffen. Es war doch wichtig, sich über einige Details zu einigen, oder nicht? Wohlfühlen, das war das Stichwort! Was wurde zum Beispiel gewünscht: nur Hände oder auch Lippen, vielleicht Zunge auf der Haut? Geschmack und Geruch, also Deodorant, Kondom, Creme, Zahnpasta? Vielleicht dezente Hintergrundmusik? Pflegetücher, Feuchttücher, Stoff oder Papier? Bett oder Futon? Vorhänge? Beleuchtung? All diese Kleinigkeiten bemühte er sich beiläufig auszuloten, nebenbei Präferenzen zu erfragen, Gemeinsamkeiten zu finden. Sympathie verspürte er immer, wenn es eine Basis gab, sei es ein aktueller Musiktitel, ein TV-Drama oder eine gerade angesagte Leckerei. Wenn das Gespräch endete, mit positiven Schlussakkord, fühlte er sich beschwingt, seine Aufgabe in Angriff zu nehmen, sich selbst ordnungsgemäß zu präparieren, sauber, gepflegt, gestutzt. Frische Leibwäsche, keine Schwielen an den Fingerkuppen, die Nägel gefeilt. In Aufnahmebereitschaft, um zu eruieren, welche Berührungen gestattet wurden, was sich hin und wieder im Laufe des Geschehens durchaus änderte. Da durfte er doch über Haare streichen, Küsse auftupfen, mit der Zungenspitze elegante Linien nachzeichnen, gelegentlich seine Fertigkeiten beim "French kissing" auffrischen. Chiharu fühlte sich positiv animiert, wenn er aufbrach, in freudiger Erwartung, nicht nervös oder verunsichert. Es erfüllte ihn mit Stolz, welche Mühe sich seine Gastgeberinnen gaben: die Nägel wurden manikürt, ganz neue Wäsche gekauft, das Bett vorbereitet, manchmal eigens Kerzen aufgestellt, leise Musik gespielt. Tücher lagen in Griffweite, auch Süßigkeiten oder Tee. Die Mutigen erwarben selbst die Kondome, während Chiharu als Ehrenmann Reserven und Gleitgel vorhielt, falls er ein wenig nachhelfen musste, die gezielte Liebkosung nicht ausreichend Effekt zeigte. Chiharu zählte nicht mit, führte keine Liste, schlug keine Kerben, triumphierte, stolzierte, blies sein Ego auf. Nein, diese Abwechslungen im Alltag schlugen schlicht farbige Funken ins graue Allerlei, erfüllten ihn mit Stolz auf den Wagemut seiner Partnerinnen, die sich alle von einer vermeintlichen Last befreit fühlten. Wenn man sich verabschiedete, sie glücklich waren, sich mit einem anderen Selbstbewusstsein aufrichteten, empfand er die Bestätigung, seine Rolle erfolgreich gespielt, einen Beitrag zum Wohlbefinden geleistet zu haben. Sie waren alle unterschiedlich, seine Auftraggeberinnen, doch ohne Zweifel liebenswert. Nie verfehlte Chiharu sein Ziel, an ihnen etwas zu entdecken, das sie verband, ihn anzog. Er plauderte gewohnt unverfänglich, um ihre vollkommen verständliche Nervosität und Befangenheit zu vertreiben, machte Komplimente, beiläufig, nicht übertrieben, immer ehrlich, bedankte sich für die Mühen. Wenn es ihm gelang, sie zum Lachen zu bringen, wusste er sich auf dem erfolgversprechenden Weg. Keine hatte ihn je versetzt, einen Rückzieher gemacht. Da musste er ja wohl ihre Entschlossenheit gebührend würdigen! Konsequenzen fürchtete Chiharu nicht. Keines der Mädchen offenbarte Anzeichen von Verliebtheit. Vielmehr schien es sogar ausgeschlossen. Sie hätten ihn wohl kaum ausgewählt für die Premiere, nicht wahr, wenn es lediglich um die technische Präparation für die wirklich bedeutsamen, wesentlichen Begegnungen ging? Zudem kannte man sich ja gar nicht, zumindest nicht über eine gesellschaftlich-höflich-aufgeschlossene Distanz hinweg. Chiharu konnte nicht sagen, dass ihm diese Konstellation nicht behagte. Ihm wurde ja nicht mehr abverlangt, als er ohne größere Mühe zu investieren bereit war. Er hatte jedenfalls nach eigener Anschauung gewiss keinen Grund zu klagen. ~+~+~* Seine gelegentliche Freizeitbeschäftigung war auch nach mehr als zwei Jahren nicht aufgeflogen. Zwar gab es einen kurzen, spannungsreichen Moment zu Beginn des laufenden Schuljahrs im Frühling, als ihn sein Klassenlehrer zum Gespräch bestellte, doch klärte sich dies schnell auf: wegen der Brille und der Haare. Diesbezüglich konnte Chiharu rasch Entwarnung geben. Seine alte Brille hatte mehr und mehr der Schutzlackierung verloren, was besonders bei Hautkontakt zu Reibung führte. Er entschloss sich, eine neue Brille, auch mit etwas veränderter Gläserstärke, zu erwerben. Die engagierte Beratung resultierte in dem neuen Kunststoffmodell, das sehr viel moderner und eleganter als die Vorgängervariante ausfiel. Sie war nicht etwa einer plötzlich entdeckten Eitelkeit oder der Schulkarriere feindlichen Anwandlungen geschuldet. Die monierte Frisur wiederum verdankte er der Bitte eines Nachwuchsfriseurs, der im Salon des Vaters seinen Einstand beging, ein Modell suchte. Chiharus Haarschnitt, die glatten, schweren Strähnen um das Gesicht ohne große Anstrengungen zu arrangieren, entsprach einem langweiligen Durchschnitt. Der Junior nun pflegte andere Vorstellungen, legte Chiharus Nacken und Ohren frei, um eine anmutige Linie zu kreieren. Die schweren Strähnen am Oberkopf wurden fedrig gestuft, um Leichtigkeit in den Schopf zu bringen. Das Resultat betonte Chiharus aparte Gesichtszüge, wirkte sehr modisch und doch stilsicher. Chiharu, der keinen Anlass gesehen hatte, sich der Bitte des angehenden Friseurs zu verweigern, vertraute er sich doch seit Jahren dessen Vater an, mochte sein Spiegelbild durchaus. Größere Mühen verlangte es ihm auch nicht ab, die neue Frisur zu hegen. Hin und wieder registrierte er durchaus, dass man sich nach ihm umsah, aber das schrieb er allein der exzellenten Beratung und Fingerfertigkeit von Optiker und Friseur zu. Zudem trug er ja stets schlichte Bekleidung mit Schulemblem auf den Jacken. Da konnte niemand ihn für etwas anderes halten, als er war. Daran hatten auch die mehreren Zentimeter Wachstums nichts geändert. Stets wiesen ihn seine Eltern (schriftlich) ausdrücklich an, neutrale Kleider zu bevorzugen, weiße Hemden, marineblaue Stoffhosen, gleichfarbige Pullover. Praktischerweise konnte man diese Stücke auch in der Freizeit tragen, was Aufwand, Anzahl und Stauraum erheblich reduzierte. Dieser Argumentation hatte Chiharu schlichtweg nichts entgegenzusetzen. Zudem entsprach es ja dem neuen Trend, sein Leben "aufzuräumen", "Ballast abzuwerfen", "Weniges wertzuschätzen"! Die Zeitschriften, die seine Mutter zu diesem Thema konsultierte, las er ebenfalls durch. So wie er fast alles in Augenschein nahm, dass die Eltern beschäftigte, das sie in der Wohnung wie bei einer Schnitzeljagd zurückließen. Damit konnte er sich zumindest hin und wieder ein Bild davon machen, was seine beiden Mitwohnenden umtrieb. Allerdings musste man auch zugestehen, dass ihm dieser "Gesinnungswandel" nicht sonderlich schwerfiel. Da er ja für sich selbst verantwortlich wirtschaften musste, fanden sich keine Unmengen an Besitztümern. Lesen konnte er in der Bibliothek, ohne die Bücher zu besitzen. Musikhören funktionierte ohne Tonträger, wenn man einen entsprechenden Dienst bezahlte. Für TV-Dramen hatte er selten Zeit. Sportübertragungen oder Spielshows interessierten ihn nicht. Einen Computer hielten seine Eltern für Geldverschwendung, da es sie in der Schule gab, er dort ohnehin die meiste Zeit verbrachte. Spielzeug oder Spielkonsolen? Nun ja, sicherlich nett, aber zu Hause, allein? Doch wohl eher überflüssig! Außerdem, alles, was man besaß, musste man auch pflegen, reinigen, warten, mit Sorgfalt behandeln! Das kostete ja auch Zeit. Chiharu folgte verständig diesen Argumenten, beschränkte seine Bedürfnisse ohne große Anstrengung auf das Wesentliche. Das ihn, hätte er Gelegenheit gehabt, sich mit seinen Altersgenossen auszutauschen, doch ein wenig kurios wirken ließ. Selbst dieser kritischen Haltung wäre er mit einem ungezwungenen Lächeln begegnet. Schließlich hatte jeder das Recht auf eine eigene Meinung. Sich auszutauschen, das war doch nett! ~+~+~* Chiharu faltete die Strickjacke ordentlich, hängte sie sich über einen Arm, während er nach dem offiziellen Unterrichtsende gemächlich zu den Schließfächern marschierte. Morgens wehte vom Meer her noch eine angenehm-frische Brise, bevor es im Laufe des Tages drückend heiß wurde. Selbstverständlich verfügte auch das Schulgebäude über eine Klimatisierung, jedoch eher in spartanischer Ausgestaltung: langsam kreiselnde Ventilatoren bemühten sich, gekühlte Luft zu verteilen. Wassergekühlte Decken, Wärmetauscher, Geothermie, "atmende" Wände, Begrünung?! Schöne Konzepte, zweifelsohne, doch nicht finanzierbar. Man hätte auch das gesamte Gebäude abtragen müssen, das seine vorgeschriebene Lebensdauer von vierzig Jahren noch nicht erreicht hatte. So hieß es eben, sich wappnen und gegen die Trägheit der hohen Temperaturen ankämpfen! Wie gewohnt fischte Chiharu sein Mobiltelefon aus den Slippern ab, bevor er die Schulschlappen gegen sie eintauschte: kein Auftrag seiner Eltern, auch keine Nachricht. In der letzten Zeit hatten sie darauf verzichtet, ihn zu informieren, wenn sie auswärtig übernachteten oder es sehr viel länger dauerte. Lediglich Wetterwarnungen oder bemerkenswertere Erdstöße sorgten für eine temporäre Abkehr von dieser Haltung. Schließlich war er ja alt genug und tagsüber in der Verantwortung der Schule, nicht wahr? Eine weitere Nachricht materialisierte sich auf dem Bildschirm. Chiharu lächelte erfreut: mal wieder eine Bitte, ihn zu treffen, vertraulich und diskret, auf Empfehlung. Er bestätigte den vorgeschlagenen Rendezvous-Punkt. Wer mochte sich wohl hinter T. I. verbergen? ~+~+~* Für die Gesprächstreffen schlugen sie meisten einen belebten Ort vor. Allerdings gehörte der nicht zu ihrem gewohnten Umfeld, um die Gefahr zu verringern, von Bekannten, Freunden, Kollegen oder gar Familienangehörigen zufällig entdeckt zu werden, eine Erklärung abgeben zu müssen. Zumeist ein Bahnhof abseits von Wohnung, Schule oder regelmäßigem Aufenthaltsort, wo man scheinbar zufällig schlendern konnte, in einer Restaurant-Filiale einkehren, in der wuseligen Menge einfach verschwand. Chiharu orientierte sich immer artig, bevor er loszog: wie kam man hin, was wurde vor Ort geboten, wie viel Zeit beanspruchte der Transfer. Nie wäre ihm in den Sinn gekommen, sich etwa salopp zu kleiden, sich zu verspäten oder anders als aufgeschlossen und interessiert aufzutreten. Deshalb überraschte es ihn, dass T. I. ihn am Eingang eines kleinen, ummauerten Parks zu treffen wünschte, der zu einem Schrein-/Tempel-Gelände gehörte. Eine nicht ganz ungewöhnliche Nachbarschaft, obwohl es sich um zwei unterschiedliche Weltanschauungen handelte. Freies Bauland war rar, man rückte nahe an die Bahnhofsstationen heran. Die zwei Institutionen taten gut daran, sich zu verbünden, um Begehrlichkeiten abzuweisen. Nicht, dass man Grünanlagen nicht zu schätzen wusste, im Gegenteil, aber es ging ja auch ein wenig kleiner, nicht wahr? Ein Bonsai war schließlich auch immer noch ein Baum, wenn auch sehr reduziert. Hier setzte allerdings die umschließende Mauer eine feste Grenze, vom Alter der Parkanlage bekräftigt. Da traute man sich dann doch nicht so unbefangen, Ansprüche zu erheben. Einerlei, für Chiharu stellte der Treffpunkt keine Einschränkung dar. Im Gegenteil, es wäre bestimmt sogar angenehm, im Freien, doch wohltemperiert durch den Schatten der Bäume flanieren zu können! Wie stets bekleidete er sich zurückhaltend-schlicht, kontrollierte sein adrettes Erscheinungsbild: Haare gekämmt, Zähne geputzt, deodoriert, Hände gepflegt? Die Kunststoffbrille mit einer Sonnenbrille tauschend hängte er sich seine Schultasche als Erkennungszeichen um (obwohl keine Zweifel bestehen konnten, da man ja IHN adressiert hatte). Eingesteckt waren eine kleine Flasche Wasser (man wollte ja nicht gleich zum Automaten eilen müssen, weil die Hitze den Durst anfeuerte), ein sauberes Taschentuch, Brille, Kartenetui, Börse, Schlüssel, Mobiltelefon und Notizbuch samt Stift, damit er auf dem Heimweg nicht vergaß, was für das finale Rendezvous wichtig war. Eine Viertelstunde zu früh erreichte er das Eingangstor, schlicht gehalten inmitten der umlaufenden Mauer. Dort befanden sich auch andere, flanierten, warteten, besuchten das Gelände. Chiharu blickte sich um, suchte nach bekannten Gesichtern. Er fand keine, was die Diskretion erleichtern würde. Nun musste er wohl warten, dass man ihn ansprach. Nicht wenige Augenblicke später baute sich vor ihm ein Jugendlicher auf, der tatsächlich, obwohl keine Festivität anstand, eine sommerliche Yukata und Strohsandalen trug! Chiharu blinzelte hinter seiner Sonnenbrille überrascht. Sein Gegenüber, nur wenig kleiner als er selbst mit seinen 1,85m, schob sich die futuristisch gestaltete, abgerundete, gänzlich geschlossene Sonnenbrille auf den gestutzten Schopf. "Hallo. Ich bin Takafumi Iiyama. Wir sind verabredet." ~+~+~* Chiharu neigte nicht zum Misstrauen. Die Vorstellung, man wolle gezielt IHM Böses, kam ihm gar nicht in den Sinn, weil sie viel zu abwegig war. Er war doch nichts Besonderes, Bedeutendes, also, wie könnte er da gezielter Missetaten Opfer werden? Zudem bemühte er sich doch stets und ständig, freundlich, zuvorkommend und zugänglich zu sein! Deshalb vermutete er auch hinter dieser unerwarteten Entwicklung keinen Racheakt oder eine Erpressung oder Ähnliches. "Ah, hallo. Sag mal, gehst du nicht auch auf meine Schule?" Stutzte Chiharu, entledigte sich ebenfalls höflich der Sonnenbrille, auch wenn seine Sicht nun beeinträchtigt war. "Eine Stufe drunter." Bestätigte Takafumi. "Du kannst übrigens wieder die Brille aufsetzen. Siehst doch schlecht, oder?" Chiharu bedankte sich automatisch, während er gleichzeitig mit Verwirrung rang. Wenn Takafumi Iiyama eine Stufe unter ihm in die Schule ging, war er selbst der Sempai, der Rangältere. Allerdings sprach Takafumi ihn nicht so an, sondern direkt und vertraulich wie einen Gleichgestellten. "Los, gehen wir rein, da ist es etwas kühler." Gab der auch prompt die Marschrichtung vor. Die Sonnenbrille justiert begab sich Chiharu auf seine Fährte. Das versprach ja, ein interessantes Gespräch zu werden! Um den Einstig zu erleichtern, aber auch, um seine Verlegenheit zu überwinden, weil er einen Schulkameraden in dieser Aufmachung schlichtweg nicht erkannt hatte, begann Chiharu mit einem Kompliment. "Vielen Dank für die Einladung, Iiyama. Das hier ist ein wirklich schöner Park, so angenehm bei der Hitze." "Ich bin hier ziemlich oft, weil ein Teil meiner Familie den Schrein hier mitbetreut. Nenn mich übrigens Takafumi, das machen alle so." Chiharu unterdrückte sein Erstaunen. Wirklich, wie einen Sempai behandelte man ihn hier nun gar nicht! Aber vielleicht war Takafumi ja auch nervös oder ein wenig rebellisch außerhalb der Hackordnung der Schule. Man musste das Positive in den Vordergrund rücken, durfte sich nicht durch Kleinigkeiten aus der Balance bringen lassen! "Deine Familie betreut den Schrein hier? Lebst du dann auch auf einem Schrein-Gelände?" Interesse zeigen baute Beziehungen auf. Takafumi, in dessen Obi hinten tatsächlich ein altmodischer Rundfächer mit Koi-Motiven steckte, warf Chiharu einen kurzen Blick über die Schulter zu. "Nein, ich wohne bei meinem Onkel in einem ganz normalen Appartement." Chiharu registrierte eine gewisse Anspannung, votierte dafür, die familiären Hintergründe besser erst mal nicht anzurühren. Also ein anderes Sujet aufwerfen, um Sympathien auszuloten. "Entschuldige, dass ich dich nicht erkannt habe. Eine Yukata verändert das Erscheinungsbild enorm, findest du nicht?" "Tja, man muss sich eben die Mühe machen und die Leute genau anschauen. Darauf haben nicht alle Lust." Ach herrje! Auch der zweite Anlauf schien nicht gerade für Wohlwollen bei seinem Begleiter zu sorgen! War Takafumi immer noch verschnupft, nicht gleich erkannt worden zu sein? "Du siehst jedenfalls sehr elegant aus." Komplimentierte Chiharu entschlossen. Er konnte nachvollziehen, dass es wurmte, wenn man nicht wahrgenommen wurde. Zudem gestand man Kohai und Jüngeren das Recht zu, etwas verwöhnt zu agieren, länger zu schmollen. Takafumi blieb stehen, wandte sich direkt Chiharu zu. "Es ist nicht nötig, dass wir Banalitäten austauschen. Ich hab dich hergebeten, weil ich will, dass du mich entjungferst. Das ist alles." ~+~+~* Kapitel 2 Chiharu starrte verblüfft in das ruhige Gesicht, allerdings erheblich behindert durch die futuristische Sonnenbrille, die den Blick in die schwarzen Augen verhinderte. Ihm fehlten die Worte. Selbstredend hätte man vom ersten Moment der Erkenntnis, dass T. I. ein Junge war, gewisse Gedanken verfolgen müssen, aber wie gewohnt hatte Chiharu sich einfach treiben lassen, verfolgt, wie die Situation sich entwickelte. Jetzt fühlte er sich überrumpelt. "Das ist doch deine Spezialität, oder? Du bist Experte fürs Erste Mal." Betonte Takafumi, die Arme vor dem Brustkorb kreuzend. Chiharu sammelte sich, straffte seine Gestalt. "Ganz so verhält es sich nicht." Er wollte sich keineswegs in den Vordergrund spielen, vorgeben, über eine Könnerschaft zu verfügen, die alle anderen in Schatten stellte. Das wäre nicht nur vermessen, sondern ausgesprochen ungezogen! Takafumi hielt sich nicht mit dem feineren Detail auf. "Oder weißt du nicht, wie man's bei Männern macht?" Es schwang eine Mischung aus Unglauben und aufkeimender Ungeduld mit. "Doch, eine gewisse Vorstellung..." Die erkennbaren Gesichtszüge prägten sich grimmiger ein. "Ach, du hast wohl Vorurteile, wie?! Diskriminierst du mich, weil ich ein Kerl bin?! Wie unfair!" Chiharu hob automatisch in einer beschwichtigenden Geste die Hände. "Das ist gar nicht meine Absicht..." "Denkst du, dass nur Mädchen beim Ersten Mal Rücksicht verdienen, während Typen wie ich besser gar keine Ansprüche stellen, ja?!" Unwillkürlich wich Chiharu einige Schritte zurück, weil ihn die leise, aber erboste Rede verschreckte. "Bitte, Augenblick..." Takafumi setzte nach, packte die Knopfleiste von Chiharus kurzärmligem Hemd mit der Rechten. "Feierst dich für deine Leistungen, aber wenn's ein bisschen anspruchsvoller wird, ziehst du den Schwanz ein!" Chiharu hob die Hände noch höher, hilflos, weil er noch nie körperlich angegangen worden war. "Jetzt warte doch bitte mal einen Moment!" Versuchte er verzweifelt, sich Gehör zu verschaffen. "Auf was denn?! Dass du mir mit falschem Lächeln erklärst, warum dein Service mich diskriminiert?! Dass ich dich anekle?!" Takafumi zischte die Silben leise, gallenbitter und präzise. Kein wütendes Gebrüll hätte Chiharu stärker ängstigen können. Was sollte er tun? Wie zu Wort kommen, wie Frieden stiften? Die Situation beruhigen? "Bitte, lass mich doch mal ausreden!" Haspelte er eilig dazwischen, bevor Takafumi ihm eine weitere Salve Vorwürfe verpassen konnte. "Aber bitte schön! Nur zu! Sprich dich aus, gern doch! Schone mich nicht, lass mich alles hören!" Takafumi gab Chiharus Hemd frei, kreuzte demonstrativ die Arme vor dem Brustkorb, ein Bollwerk der Ablehnung. Verunsichert korrigierte Chiharu zuerst den Sitz seiner Oberbekleidung, atmete tief durch. Immer gelassen und positiv bleiben! Anhaltende Verärgerung stellte lediglich eine beklagenswerte Unbeweglichkeit des eigenen Standpunkts dar! "Zunächst mal tut es mir leid, dass ich dich aufgebracht habe. Das ist wirklich nicht meine Absicht." Eine Ouvertüre, die sich bisher bewährt hatte. "Ich bin ein bisschen überrascht, habe mir deshalb noch keine Gedanken gemacht." Ich-Botschaften halfen, die Wogen zu glätten. Ehrliche Bekenntnisse der eigenen Empfindung, gedämpft auf das gesellschaftlich akzeptable Maß, sorgten für eine solide Basis. "Es würde mir daher sehr helfen, wenn wir uns darüber austauschen können, was ich für dich tun kann." Immer noch Ich-Botschaften, neutral formulierte Bitte um Beistand, ruhiger Tonfall: Befriedung der Lage. Chiharu hielt sich artig und versiert an diese Vorgaben, in jahrelanger, praktischer Übung und durch Erziehung eingeprägt. Takafumi schnaubte. "Ich habe nicht erwartet, dass eine akademische Abhandlung notwendig wird!" Ätzte er provozierend. "Wenn es dir HILFT: dein Schwanz soll meinen Arsch einweihen. Ist das präzise genug für dich?!" Mit der Säure in seinem Ton hätte man Stahlträger durchlöchern können. Das entging Chiharu bei allem antrainierten Wohlwollen nicht. Er runzelte die Stirn, was die fransig gestutzten Strähnen nicht gänzlich maskieren konnten. "Bitte sieh es mir nach, aber ich habe den Eindruck, dass ich bei dir nicht wohlgelitten bin. Warum möchtest du mir dennoch so eine große Verantwortung übertragen?" Immer bei Ich-Botschaften bleiben, keine Vorwürfe erheben, keine Allgemeinplätze formulieren! Ihm gegenüber knurrte Takafumi vernehmlich, nicht im Geringsten verlegen oder versöhnlich. "Ob ich dich leiden kann oder nicht, ist doch völlig egal! Hauptsache, es funktioniert! Oder warst du etwa in deine weibliche Kundschaft jedes Mal verknallt?!" Fast schon gehässig feuerte er die letzte Phrase ab. In die Enge getrieben und unbehaglich fahndete Chiharu nach einem Stofftaschentuch, tupfte sich Nacken und Stirn ab. "Ich will nicht behaupten, dass man verliebt sein muss." Murmelte er unter dem gefühlten Starren der futuristischen Sonnenbrille. "Aber ohne jede Sympathie..." "Ah, bin ich dir nicht sympathisch genug?! Steht Deiner nicht wie eine Eins beim Anblick meines knackigen Arschs?!" Takafumi packte Chiharus freie Linke, zwang sie, seine Pobacke zu berühren. "Ausgeprägt haarig ist er nicht." Beruhigte er in bissigem Tonfall. "Wenn du es auf allen Vieren machst, ist der Unterschied zu deinen Klientinnen ja wohl nicht groß!" Chiharu zuckte zurück, als habe er sich verbrannt, weil eine solche Geste mindestens als sexuelle Belästigung einzustufen war. Allerdings konnte er dem Schraubzwingengriff nicht entwischen oder eine größere Distanz zwischen sie bringen. "Verschwende deine Kraft nicht!" Riet ihm Takafumi, einen amüsierten Zug um die Mundwinkel. "Ich mache seit meinem dritten Lebensjahr Karate." Was den durchaus imponierenden Körperbau erklärte, den die Yukata vorteilhaft in Szene setzte. "Aber warum ich?!" Platzte es schließlich aus Chiharu heraus, der seine Nerven einfach nicht mehr beruhigen konnte. Die goutierten die angespannte Atmosphäre gar nicht. "Es gibt bestimmt andere..." Nun grinste Takafumi tatsächlich, wie Chiharu empfand, sogar diabolisch. "Die Mädels machen's doch beim ersten Mal auch nicht mit ihrem Schwarm, oder? Warum sollte ich es anders halten?" Chiharu klappte die Kinnlade herunter. Er wollte Widerspruch formulieren, Protest anmelden, doch fehlten ihm schlichtweg die schlagenden Argumente! Was für die Mädchen galt, konnte er ja wohl kaum für die Jungen in Abrede stellen! "Komm jetzt!" Takafumi zog ihn am Handgelenk einfach hinter sich her. "Du weißt, was ich will, also müssen wir nicht mehr herumquatschen." Überrumpelt stolperte Chiharu einige Meter hinter Takafumi her, der dem Ausgang des Parks entgegen strebte. Er stemmte die Schulslipper in den Boden, bremste taumelnd ab. "Du willst doch nicht jetzt...?!" Über die Schulter warf Takafumi ihm einen verärgerten Blick zu. "Natürlich jetzt. Du wolltest wissen, was du tun kannst: das habe ich dir gesagt. Also bringen wir es jetzt hinter uns. Worauf noch warten?!" Mit einem Ruck zerrte er Chiharu weiter, der um die Balance ringen musste, weil die Slipper nicht für solche Manöver ausgelegt waren. "Aber ich bin nicht vorbereitet!" Protestierte er unbehaglich. Takafumi lachte kurz auf, schnaubte. "Ehrlich, großer Meister, das, auf das es ankommt, ist immer mit dabei. Ich werd mich schon bedienen, keine Angst." Damit beschleunigte er seine Schritte trotz der Strohsandalen, sodass Chiharu damit ausgelastet war, nicht aufs Pflaster zu schlagen und mit trockener Kehle in Hustenanfälle auszubrechen. ~+~+~* Das lief aus dem Ruder, gewaltig sogar. Chiharu hustete, aber im Sturmschritt konnte er nicht nach seiner Tasche greifen, die Wasserflasche hervorholen. Versuchte er auch nur, das Tempo abzubremsen, zog Takafumi mit einem Extra-Ruck an seinem malträtierten Handgelenk. Sich losreißen und fliehen? Aussichtslos. Keuchend und stolpernd war Chiharu schon dafür dankbar, dass sie nach zwanzig Minuten durch die brütende Hitze endlich eine Pause vor einem Appartementgebäude einlegten. Im Erdgeschoss befand sich eine Akupressur- und Massage-Praxis, darüber Übungsräumlichkeiten für Kampfsportarten. Appartements unterschiedlicher Größe und mit versetztem Zuschnitt schlossen sich an. Takafumi nutzte eine Schlüsselkarte, um bei den Aufzügen die Vorzugsfahrt anzufordern. Bevor Chiharu auch nur in Erwägung ziehen konnte, sich loszumachen, stieß er ihn in die Aufzugkabine, blockierte die Türen. Chiharu stützte sich an einer Wand ab, hustete in seine Armbeuge. Er fühlte sich fürchterlich, verschwitzt und derangiert. Außerdem pochte es hinter seinen Schläfen, weil ihm der rapide Marsch durch die Hitze gar nicht wohlgetan hatte. Die Umhängetasche von einer Schulter gleitend wollte er nach der Wasserflasche kramen, doch Takafumi kam ihm zuvor, riss die beiden Henkel von Chiharus Arm, kaperte die Tasche. "Abhauen is nich!" Verkündete er entschieden, packte Chiharus Gürtelschnalle, zerrte ihn, als der Aufzug sie freigab, einen dezent beleuchteten Gang hinunter, zu einer der diskret bezeichneten Appartementtüren. Er öffnete mit der Schlüsselkarte, schleuderte Chiharu herum, der sich gerade noch vor der Sturzkante abfangen konnte, die das Appartement selbst vom Eingang trennte. Wo man gefälligst ohne schmutziges Schuhwerk und Regenschirm sein Entree machte! Takafumi löste behände die Strohsandalen, packte Chiharus rechten Knöchel, um dessen Aufrappeln zu bremsen, streifte die Schulslipper ab, die er achtlos mit nackten Füßen beiseite schob, vor ein kleines, offenes Schuhregal. "Los, komm hoch. Hier lass ich mich nich besteigen." Eine Absicht, die Chiharu entfernter lag als die Distanz zum Mond. "Das geht nicht!" Protestierte er, umklammerte das Handgelenk, das erneut seine Knopfleiste in Brusthöhe gepackt hatte. "Sag ich ja." Konterte Takafumi ungerührt, schob eine Tür beiseite, um in ein kleines Zimmer zu treten. Auf dem Boden lag ausgerollt ein Futon mit Strandhandtuchauflage. Ansonsten fand sich außer einem Wetterpüppchen am Fenster nur eine kleine Stofftasche. Alles Übrige schien in die Wandschränke hinter den Schiebetüren verstaut zu sein. "Ta~da, dein Einsatzort!" Takafumi gab Chiharus Hemd frei, ließ gleichzeitig lässig ein Bambusrollo vor dem Fenster herunter, stellte die Streben quer, um gefiltertes Licht einzulassen. Eine diffuse Atmosphäre entstand. Chiharu, der die Gelegenheit hätte nutzen können, sich eilig zu verabsentieren, kämpfte mit einem Hustenanfall. "Netter Versuch." Kommentierte Takafumi spöttisch, entzog seinem Obi den Fächer, löste eine kleine Gürteltasche, ließ die Yukata sinken. Nun trug er nicht mehr als die Sonnenbrille und eine Unterhose. "Na los, zieh dich schon aus!" Forderte er Chiharu auf, fädelte die Yukata samt dem Obi auf einen schlichten Kleiderbügel. Ein Ansinnen, dem Chiharu ganz sicher nicht zu entsprechen wünschte. Außerdem schmerzte ihm die Kehle vor Trockenheit, von seinem Kopf ganz zu schweigen. Er räusperte sich. "Bitte, ich muss etwas trinken." Die Sonnenbrille auf den Kleiderbügel zur kleinen Tasche gehangen schnaubte Takafumi übertrieben. "Meine Güte, was ein Aufstand! Sake oder Pflaumenwein?" Chiharu, der die Sonnenbrille absetzte, um sich die verschmierten Augenlider zu reiben, starrte kurzsichtig und verwirrt zu ihm herüber. "Wenn du Bier willst, hast du Pech." Versetzte Takafumi mitleidlos. "Mein Onkel hat den Flaschenbestand genau im Auge." Dosenbier überwand die Schwelle dieses Haushalts nicht! Hilflos blinzelte Chiharu. Wirklich, er benötigte dringend seine Umhängetasche, die Takafumi im Eingangsbereich deponiert hatte! "Das ist ein Missverständnis." Begann er. "Dass du dir einen antütern musst, um mich zu ficken? Gut, da können wir ja gleich loslegen." Chiharu, den Takafumis Aggression einschüchterte, wich instinktiv einige Schritte zurück. Er konnte ihn überhaupt nicht einschätzen! Was war ernst gemeint, was ironisch, wann nahm er ihn auf die Rolle?! "Entschuldige, aber ich bin total verschwitzt." Verhandelte Chiharu, die Schiebetür vage hinter sich vermutend. Könnte er sich irgendwie herausreden? Zumindest einen Aufschub musste er vereinbaren, damit er sich sammeln konnte! "Na und?!" Takafumi attackierte blitzartig, griff nach der Gürtelschnalle, schnippte mit der freien Hand die oberen Knöpfe des Hemds auf. Er zog es sofort herunter, sodass es auf halber Höhe der Ellenbogen wie eine Fessel um Chiharus Oberkörper saß, ihn an Abwehrhandlungen hinderte. "Wirklich, ich muss mich frischmachen!" "Du schwitzt doch eh gleich, also sei pflegeleicht und umweltfreundlich! Wassersparen, klar?!" Das Hemd vorne gepackt, wo er den Stoff noch enger raffen konnte, löste Takafumi geschäftig die Gürtelschnalle, zerrte Chiharu die Hose herunter. Der geriet nun tatsächlich in Panik, heillos mit der Situation überfordert. Er ließ seine Sonnenbrille fallen, versuchte, die Handflächen gegen Takafumis Front zu stoßen. Ohne nennenswerten Effekt. "Jetzt zier dich nicht so! Du ziehst ja wohl nicht zum ersten Mal blank." Tadelte Takafumi ihn streng, packte ein Handgelenk, damit er auch die übrigen Knöpfe des Hemds lösen konnte. Chiharu ballte die freie Faust, schlug damit gegen Takafumis Oberarm, in höchster Not, ziemlich zaghaft, da es sich um eine Premiere handelte. Takafumi knurrte zornig. Bevor Chiharu erneut seine Bitte formulieren konnte, musste er wieder husten, weil die eingesogene Luft seine raue Kehle reizte. Unvermittelt packte Takafumi ihn mit der freien Hand im Nacken, zwang ihm einen offenen Kuss auf, was Chiharu vollkommen überrumpelte. Er konnte sich nicht verweigern, schluckte nun auch noch großzügig offerierten, fremden Speichel! Als Takafumi endlich seinen Nacken aus dem stählernen Griff freigab, taumelte Chiharu verstört zurück, nicht weit, denn Takafumi gab sein gekapertes Handgelenk selbstredend nicht frei. Der funkelte ihn aus nächster Distanz an. "Wenn du nichts Hochprozentiges brauchst, kommen wir endlich zur Sache!" "Ich-ich kann das so nicht!" Schrillte Chiharu, dem ein eisiger Schauder über den nackten Rücken lief. Hatte dieser Iiyama noch nie davon gehört, dass die Atmosphäre stimmig sein musste?! So durcheinander und eingeschüchtert, dazu noch malträtiert konnte er unmöglich die notwendige physische Einsatzfähigkeit an den Tag legen! "Fein!" Konstatierte der gerade eingeschnappt. "Selbst ist der Mann!" Unversehens wirbelte er Chiharu mit einem Ruck um die eigene Achse, verdrehte dessen Arm dabei, ohne ihn freizugeben. Schneller als jede Gegenwehr hatte er mit dem Stoff-Obi vom Kleiderbügel Chiharus Unterarme fest aneinander gewickelt. "Was~was tust du denn da?!" Alarmiert, aber viel zu spät legte Chiharu Protest ein. "Mich bedienen. Hab ich dir doch schon vorhin gesagt." Antwortete Takafumi knapp, vernehmlich ungeduldig. Er stieß Chiharu auf den Futon, verhinderte aber ein allzu hartes Aufschlagen, drehte ihn auf die Seite, die Beine zwischen seinen eigenen eingeklemmt, um Chiharu auch noch Socken und Unterhose abzustreifen. "Bitte!" Der plädierte nun eindringlicher. "Bitte, Takafumi, lass uns darüber sprechen, ja? Ich kann nicht..." "Darum kümmere ich mich schon." Versetzte der unbeeindruckt, angelte die Stofftasche heran, richtete sich auf Chiharus Oberschenkeln ein. Das entlockte Chiharu ein Ächzen, denn er konnte sich mit den verbundenen Armen kaum aufstützen. Nacken und Schultern schmerzten bereits merklich. "Bitte, binde mich los, ja? Es tut weh!" Chiharu äugte nervös auf den Stoffbeutel, dem Gleitgel und Kondome entnommen wurden. Takafumi lupfte eine Augenbraue, lachte spöttisch auf. "Na klar, damit du dich feige aus der Affäre ziehen kannst, wie? Vergiss es." Chiharu zitterte in der unbequemen Haltung, überdachte fieberhaft seine Möglichkeiten: die andere Seite Gesicht wahren lassen, Kompromissbereitschaft signalisieren, Verantwortung übernehmen! "Ich verspreche, dass ich nicht weglaufe. Bitte, binde mich los, ja?" Takafumi, der sich gerade die eigene Unterhose abstreifte, eine Hand sichernd auf Chiharus Becken, grummelte betont enerviert. "Mann, bist du eine Memme. Machst keinen Sport, was?" Chiharu empfand den Vorwurf als etwas ungerecht. Andererseits räumte er Takafumi Kredit ein, denn vielleicht hatten trainierte Sportler mit dieser Stützhaltung tatsächlich keine Schwierigkeiten. "Ich bin eher unsportlich." Pflichtete er deshalb artig bei, hoffte auf Wohlwollen, auch wenn er vermutete, dass die nächste Auseinandersetzung sich gleich anschließen würde. Wie sollte er seinen Beitrag leisten unter diesem Druck?! "Pah!" Ruckartig, recht grob wurde Chiharu auf den Bauch gedreht, endlich die Unterarme aus der Fesselung befreit. Wie eine Frühlingsrolle wieder auf den Rücken befördert richtete sich Takafumi ungeniert erneut auf seinen Oberschenkeln ein. "Hmm!" Bekundete er kritisch. "Gut, dass dein Schwanz nicht so enorm groß ist. Wäre sonst knifflig." Nicht gerade die Art von Kompliment, die Selbstvertrauen beförderte. Chiharu, der blinzelte, sich um eine schärfere Sicht ohne Brille bemühte, fragte sich erneut, ob diese aggressive Einstellung beabsichtigt war, ob Takafumi ihn beleidigen und verletzen wollte, das zu erwartende Versagen provozieren, um ihn zu demütigen und zu verunsichern. Er zuckte zusammen, als Takafumi prüfend zugriff, wie eine skeptische Hausfrau beim frühabendlichen Sonderangebot die ausgestellte Ware auf Frische und Beschaffenheit erprobte. "Wer hat dir eigentlich erzählt...?" Um sich abzulenken wollte Chiharu zumindest eines der Rätsel gelöst wissen. Takafumi lachte kurz auf, ließ jedoch nicht davon ab, Chiharus Penis mit der Rechten zu umschließen, mit dem Daumen gegen die Spitze zu drücken. "Was denn, glaubst du, es handelt sich um Geheimwissen? Ist ja putzig!" Verstört stützte sich Chiharu auf die Ellen auf, ignorierte seine protestierenden Schultern. "Aber...?!" Begann er, um mit einem Winseln abzubrechen, weil Takafumi zupackte, als wolle er durch Reibung ein Lagerfeuer entfachen, hatte sich lediglich das falsche Material ausgesucht. Konzentriert auf seine Aufgabe schnaubte der mitleidig. "Mann, schnallst du es nicht? Die meisten haben schon von deinem kleinen Hobby gehört. Du bekommst bloß keinen Ärger, weil alle wissen, dass du nicht mehr als ein Einweg-Vibrator bist." ~+~+~* Nach einigen Herzschlägen, die die Zeit ungläubiger Verblüffung abzählten, knickten Chiharu die Arme ein, prallte er auf den Futon unter sich. "Einweg-Vibrator?" Wiederholte er fassungslos. Das~das konnte doch nicht wahr sein! "Jetzt tu nicht so überrascht!" Tadelte Takafumi ihn, schnalzte mit der Zunge. "Alle wissen, dass du total oberflächlich bist, keinen Funken Charakterstärke hast." Ungläubig starrte Chiharu blicklos an die entfernte Zimmerdecke, die abgesehen von einer Lampe mit Zugkordel keine Ablenkung anbot. Nein. Nein, er wollte das nicht glauben. Es konnte gar nicht sein. Er hielt sich an die gesellschaftlichen Regeln, war aufgeschlossen, höflich und freundlich, immer bemüht, das Beste in einer Situation zu sehen und aus ihr zu machen. Einfach ausgeschlossen, dass er SO auf andere wirkte! Wenn man gern behilflich war, zugewandt und aufmerksam, konnte man doch keine Charakterstärke vermissen lassen! Das wäre ja wohl unlogisch, denn dann wären die Umgangsformen ja nachteilig und nicht akzeptiert! "He, konzentrier dich mal ein bisschen, ja?! Ziemlich unhöflich, hier einen auf toten Thunfisch zu machen!" Takafumi kauerte über ihm wie ein drohendes Fanal, grimmig dreinblickend. Für einen Augenblick wäre Chiharu eine gepfefferte Replik herausgeplatzt, doch er beherrschte sich gewohnt geübt, atmete erst mal tief durch. Bevor man dem ersten Impuls zum Opfer fiel, sagte, was man später bereute, sollte man drei Mal durchatmen, hieß es. Außerdem enthielt man sich unnötiger Vorwürfe. "Ehrlich gesagt schüchtert mich dein Vorgehen ziemlich ein." Das war die mildeste Version, die Chiharu in den Sinn kam. "Was hast du denn erwartet? Dass ich dir den Hof mache, Süßholz rasple, damit du dich herablässt, meinen Arsch einzuweihen?!" Jede Silbe strotzte vor Rasierklingen. Chiharu atmete automatisch tief durch. Ohne Geduld konnte man keine Einigung erzielen. Man musste auch die Standpunkte der anderen Seite anerkennen, obwohl ihm langsam erhebliche Zweifel kamen, dass Takafumi nervös oder schüchtern war und dies durch Rebellion zu kaschieren versuchte. "Für mich ist eine entspannte, positive Atmosphäre schon wichtig..." "Gott, kriegst du ihn nur hoch, wenn ich dir's besorge?! Verdammt lästig!" Bevor Chiharu diese erneute Fehlinterpretation seiner Äußerung korrigieren konnte, warf Takafumi seinen Schatten über ihn, packte sein Kinn, verpasste ihm einen weiteren, ausgiebigen, explorierenden Kuss. Gleichzeitig glitt seine freie Hand über Chiharus Brustkorb, kraulte mit der Daumenkuppe eine Brustwarze. Dabei beließ er es aber beileibe nicht! Auf Chiharu ausgestreckt brachte er die volle Länge ihrer nackten Körper in intimsten Kontakt, glitt forschend mit beiden Händen über Chiharus Glieder, setzte Zunge und Zähne an dessen Schlüsselbeinen und bei den Brustwarzen ein. Nicht unbedingt etwas Neues für Chiharu, auch wenn die Debütantinnen ihn diesbezüglich nicht beehrt hatten. Nur Sonoko und ihre Nachbarin verfügten über das notwendige Selbstbewusstsein, sich an ihm schadlos zu halten. Nun auch Takafumi, der entgegen seiner groben Reden und betont skeptischen Haltung nicht brutal mit ihm umsprang, sondern so agierte, wie Chiharu es auch selbst zu tun pflegte. Allerdings nicht so darauf bedacht, Präferenzen intuitiv zu erahnen, sondern selbstsicher und zielgerichtet. Chiharu reagierte entsprechend, spiegelte die Erregung seines Partners, der sich schließlich zufrieden löste, aufsetzte, mit einem beifälligen Schnalzen Chiharus Erektion verpackte. "Kommen wir mal zur Sache!" Unversehens wurden Chiharu zwei Kondome in die Hand gedrückt. "Da, eins für vorne und eins für hinten. Mach dich nützlich." Chiharu runzelte die verschwitzte Stirn unter den fransigen Ponysträhnen. Warum musste Takafumi bloß ständig so unhöflich auftreten? Dennoch rollte er ein Kondom über den stolz in die Landschaft ragenden Penis ab. Takafumi kehrte ihm die Kehrseite zu. "Keine Sorge, hab mir den Arsch gründlich ausgespült." Ließ er Chiharu wissen. Der empfand es nicht gerade als zuvorkommend, so unvermittelt mit den Bodenständigkeiten im wahrsten Sinne des Wortes konfrontiert zu werden. Bisher hatte ihm niemand zugemutet, Kehrseiten aus nächster Nähe in Augenschein nehmen zu müssen, von Explorationen ganz zu schweigen. Er bevorzugte es, in die Gesichter seiner Bettgenossen sehen zu können. Geschickte Finger fanden auch ohne optische Anweisungen ihren Weg. Einen Rückzieher wollte er nun aber auch nicht mehr machen. Pflichtschuldig rollte er also das Kondom über einem Finger ab, salbte mit Gleitgel großzügig die Oberfläche. Er stöhnte auf, weil Takafumi natürlich nicht stillhielt, sondern sich mit Chiharus aktuell hervorragender Eigenschaft befasste, wobei er nicht die Hände einsetzte. Die Lippen aufeinander pressend, um keinen Laut entschlüpfen zu lassen, wappnete sich Chiharu für die anstehende Aufgabe. Nach dem ersten Reflex konnte er kurzsichtig verfolgen, wie Takafumi seine Muskeln kontrolliert entspannte, seinen Stand auf allen Vieren verbreitete. "Kannst ruhig meine Eier kraulen!" Lud er Chiharu frech ein, der schon alle Entschlossenheit requirieren musste, sich dieser Aufgabe zu widmen. Schließlich waren Frauen an der neuralgischen Stelle, die er zu bedienen hatte, anders gebaut! Auch wenn Takafumi ihn ständig verärgerte, verbot es sich jedoch, darauf mit körperlicher Rache zu antworten. Also musste er sich von vorsätzlichen Ungeschicklichkeiten distanzieren. Chiharu schloss die Augen, weil das ihm eine probate Erleichterung darstellte. Zwei Finger, den Muskelring überwindend, dazu mit der anderen Hand die geforderte Liebkosung anbringend. Er atmete gepresst, weil Takafumi offenkundig entschlossen war, das Aroma des Kondoms von seiner Erektion abzulutschen! Chiharu zuckte, hätte am Liebsten die Beine angewinkelt, doch Takafumis Hände auf seinen Oberschenkeln hinderten ihn. Überhaupt, dieser Bursche war allzu gelenkig! In verzweifelter Konzentration führte Chiharu nach erneuter Einbalsamierung drei Finger ein, die das Kondom nun stärker auf Spannung brachten. Inzwischen wollte er bloß diese ganze Aktion zum Abschluss bringen! Sein Unterleib schmerzte von der Anstrengung, sich zurückzunehmen. Vage wanderte durch seinen Kopf die Vorstellung, dass es galt, einen Punkt der Prostata zu treffen. Ähnlich dem geheimnisvollen G-Punkt, oder?! Aber er hatte ja keine Recherche anstellen können, war vollkommen überrumpelt worden! "Wird...das jetzt mal...was?!" Ermahnte ihn auch prompt Takafumi, etwas schwerer atmend. Chiharu setzte zu einer Entschuldigung an, da wandte sich Takafumi halb herum, griff nach hinten, umklammerte Chiharus Hand. "Echt! Alles~muss~man~selbst~machen!" Mit dieser hervorgestoßenen Klage dirigierte Takafumi Chiharus Hand selbst, bewegte die Hüften. Er stöhnte vernehmlich, was Chiharu zusammenzucken ließ, entzog dessen Finger seiner Kehrseite. Atmete tief durch. Über die Schulter adressierte er Chiharu. "Okay, jetzt komm hoch, schieb mir deinen Schwanz rein." Auf allen Vieren, von hinten? Chiharu benötigte einige Augenblicke, um sich zu sortieren, zog die Beine an, rappelte sich mühsam auf. "Bisschen schneller, ja?" Chiharu bepflasterte seine eigene Erektion, die schmerzhaft pochte, mit einer gründlichen Schicht Gleitgel, zwang sich, NICHT darüber zu sinnieren, ob auch Takafumi ihn gerade wie einen Einweg-Vibrator behandelte. Sonst würde er hier versagen, keine Frage. Die Lippen aufeinander pressend schluckte er einen bitteren Geschmack herunter, verschaffte sich mit gespreizten Fingern Zugang zu Takafumis Unterleib. Der kommandierte, natürlich. "Hmmm...tiefer!" Was Chiharu vorsichtig zu bewerkstelligen versuchte, während er sich auf den Knien ausbalancierte. Ein seltsames Gefühl, heiß, eng umschlossen, aber irgendwie anders. "Ach, verdammt!" Fluchte Takafumi, kippte selbst das Becken, schwang die Hüften nach hinten, trieb Chiharus Erektion in seinen Körper. Der spürte, wie ihn trotz der unmissverständlichen Erregung ein eiskalter Schauer überlief. Einweg-Vibrator... ~+~+~* Stumm hockte Chiharu nach vollbrachtem Akt auf seinen Hacken, wartete mit leerem Blick, dass sich Atmung und Pulsschlag normalisierten. Er fühlte sich leer, wie ausgesaugt. Natürlich war nichts dagegen einzuwenden, dass Takafumi die Führung übernahm, immerhin befand der sich in sehr delikater Position. Es ging ja in der Hauptsache um dessen Disposition. Deshalb war es jetzt wohl angezeigt, sich wieder salonfein zu machen, das Appartement zu verlassen, seiner Schuldigkeit ledig zu sein. Aber Chiharu verspürte kein Vertrauen in seine eigenen Glieder, dass er sich erheben, rasch duschen, sich ankleiden und hocherhobenen Hauptes nach Hause zurückkehren konnte. Er zuckte zusammen, als Takafumi ihn unerwartet am Kinn packte. "Was ist los? Hat mein knackiger Arsch dir die Sprache verschlagen?" Dabei funkelte er Chiharu herausfordernd an, aus direkter Nähe, schon von Kondom befreit, wahrscheinlich auch die Kehrseite abgewischt. Hastig straffte Chiharu sich, zwang einen neutralen Ausdruck auf sein Gesicht. "Entschuldigung. Darf ich vielleicht noch rasch duschen, bevor ich gehe?" Takafumi schnaubte, legte den Kopf schief, einzelne Tropfen in den dicht, kurz gestutzten Haaren glitzernd. "Kannst du überhaupt schon stehen? Siehst ziemlich angezählt aus. Keine Kondition, was? Na ja, muss ja immer nur für einen Durchgang reichen!" Chiharu presste die Lippen fest aufeinander. Auf jede Provokation einsteigen, das half niemandem. Lieber auf das Wesentliche, auf die Fakten konzentrieren! Das konnte nur bedeuten: diese unerfreuliche Episode so schnell wie möglich hinter sich lassen. "Ich mache mich nur rasch frisch." Bevor er sich wacklig auf die Beine stellen konnte, hatte Takafumi ihn schon mit einer leichten Hebelübung rücklings auf den Futon befördert, zupfte das Strandlaken zurecht, drückte Chiharu an den Schultern herunter, beugte sich über ihn. "Warum revanchiere ich mich nicht rasch, pflücke DEIN Blümchen, hm? Mein Schwanz ist noch nicht ausgelastet." Chiharu schnappte nach Luft. Was sollte das heißen?! Er war sich ziemlich sicher, dass er Takafumi ausreichend bedient hatte, dass...! "Ich mach's auch von vorn, weil du ja so'n verkappter Romantiker bist." Hastig stemmte Chiharu die Handflächen gegen Takafumis muskulös-sehnige Brust. "Nein, danke, ich möchte jetzt lieber gehen!" "Macht mir gar keine Umstände!" Versicherte Takafumi über ihm breit grinsend. "Dauert auch nicht lange." "Wirklich!" Protestierte Chiharu in wachsender Panik, dem aufging, dass Takafumi ihn nicht verspottete, sondern ernsthafte Absichten verfolgte. "Ich bin gar nicht präpariert!" "Stört mich nicht." Bekundete der aufgeräumt. "Wir haben genug Material hier. Ne Spülung kann ich dir später unter der Dusche verpassen." Nun verlegte sich Chiharu aufs Zappeln und Herumwinden, sich aus dem Zugriff der scheinbar tonnenschweren Hände zu befreien, die seine Schultern in den Futon nagelten. Kein taktisch kluger Zug. Sobald er sich halb auf die Seite gerangelt hatte, gab Takafumi überraschend nach, um Chiharu in Bauchlage zu befördern, was wirkungsvolle Gegenwehr nun nahezu ausschloss. "Wir können's auch so treiben." Versicherte er Chiharu aufreizend, setzte sich auf dessen Oberschenkel, angelte nach Kondom und Gleitmittel. Chiharu versuchte vergeblich, sich hoch zu stemmen, rang nach Luft, protestierte. "Bitte, ich möchte das nicht! Lass mich gehen, Takafumi!" "No can do." Raunte der ihm in den Nacken, mit beiden Händen und ausgestellten Fingern dessen Rücken bestreichend, von den Schulterblättern bis zu den Pobacken. "Ist doch keine große Sache." Ergänzte er geschäftig. "Du pflückst Meins, ich pflück Deins, faire Angelegenheit." "Bitte!" Chiharu wand sich mit wachsender Verzweiflung. "Ich möchte gehen!" Er zuckte zusammen, als Takafumi kräftig seine Pobacken massierte, die Fingerkuppen fest eindrückte. "Du lehnst bloß ab, weil ICH's bin!" Behauptete Takafumi grimmig. "Ziemlich fies, findest du nicht?! Dabei machst du doch sonst alles, worum man dich bittet!" Chiharu verdrehte den Kopf, um Einspruch einzulegen. "Das stimmt nicht! Mir ist das unangenehm, nicht deinetwegen. Bitte, ich habe genug, also..." "Aber ICH nicht!" Zischte Takafumi, beugte sich tief über ihn. "Hab ich mal erwähnt, dass der Liebhaber meines Onkels unten die Praxis betreibt? Ich lerne bei ihm, obwohl ich ja noch ein Anfänger bin." Er drückte die Fingerkuppen in Chiharus Nackenmuskulatur, was diesem ein Aufstöhnen entlockte. Kein Wunder, dass dort alles verhärtet war, nach dieser unerwarteten Entwicklung heute! "Gibt ein paar Punkte, die kann man deaktivieren, Muskeln zeitweise ausschalten. Hast das sicher schon mal gesehen." Chiharu erstarrte. Wollte Takafumi ihn etwa bewegungsunfähig machen?! "Was habe ich dir getan? Wenn ich dich beleidigt habe...?!" Verzweifelt plädierte er auf Gnade, auf seine Unversehrtheit. Warum behandelte Takafumi ihn so unerbittlich und rücksichtslos? "Jetzt sag bloß, du wolltest dich aufsparen für deinen Märchenprinzen?" Takafumi klang amüsiert, erprobte mit einer Fingerkuppe Chiharus Rektum. Der schluchzte auf, wand sich hilflos, ballte die Fäuste. Takafumis Gewicht auf seinen Oberschenkeln verlagerte sich nach vorne. "Vorschlag!" Raunte der ihm kehlig in den Nacken. "Du lässt dich von mir vernaschen, ich verwöhne dich anschließend mit einer Deluxe-Massage." "...warum... warum ich?" Chiharu schniefte gegen Tränen der Hilflosigkeit an. Wieso hatte er solche Grausamkeit auszuhalten? Takafumi presste heiße Lippen in seinen Nacken. "Schätze, ich hab einfach Lust auf dich." Ließ er sich nicht in die Karten schauen. Ein Zittern durchlief Chiharu. Wenn er nachgab, könnte er wahrscheinlich größere Schmerzen und Demütigungen vermeiden, oder nicht? Was war die Alternative? Takafumi ließ nicht erkennen, dass er seiner Bitte entsprechen, ihn gehen lassen würde. "Also?" Eine Hand griff ungeniert um Chiharus Hüfte nach dessen Penis. Ein Winseln unterdrückend flüsterte der geschlagen. "Ich akzeptiere." ~+~+~* "Also, mal ernsthaft, Kamerad, so stehst du zu deinem Wort? Oder eher nicht." Tadelte Takafumi nicht wenig später. Chiharu, auf alle Viere hoch gezwungen, rollte unwillkürlich die Schultern hoch, zog den Kopf ein. Schildkrötentaktik half nicht, wenn man keinen Panzer vorzuweisen hatte. "Entschuldigung." Murmelte Chiharu, presste die Lippen wieder aufeinander. Eigentlich wollte er durchaus kooperieren, um schnellstmöglich aufbrechen zu können, all dies hinter sich zu lassen, zu vergessen. Nichts weiter als ein Missverständnis! Aber in seinem Kopf echote noch immer das abschätzige Urteil, er sei ein "Einweg-Vibrator." Es konnte nicht stimmen, verunsicherte ihn jedoch nachhaltig, weil ein leiser Zweifel sich nicht abstreifen ließ, hartnäckig darauf beharrte, die Situation erneut zu bewerten! Dabei wusste Chiharu doch, dass aus rationalen Gründen gar nichts zu verurteilen war. Hatte er nicht bloß Hilfeersuchen entsprochen? Niemandem geschadet, Diskretion gewahrt? Warum also...?! Wieso hatte niemand ihm gegenüber jemals etwas angedeutet? In diesem Innuendo fiel Konzentration selbstredend schwer. Deshalb baute er auch die falsche Art von Spannung auf, verkrampfte sich, was dem Fortgang der Ereignisse naturgemäß nachhaltig hinderlich war. "Echt, für so nen pseudo-altruistischen Wohltäter bist du echt n Mimöschen!" Ließ Takafumi ihn spottend wissen, griff erneut zu, massierte Chiharus Penis. Chiharu unterdrückte ein Winseln, nicht etwa, weil Takafumi ihm Schmerzen zufügte, nein, der wusste durchaus, was er tat. Übung konnte man wohl keinem in der Pubertät recht fortgeschrittenen Jugendlichen absprechen. "Komm schon, du Jungfern-Beglücker, stell dir vor, wie geil es dich machen wird, auf meinem Schwanz zu reiten!" Hätte Chiharu sich einschlägig informieren können, wäre ihm zweifelsohne "uh, Porno, aber unterste Schublade" in den Sinn gekommen. Mangels Erfahrungen und Konsum reagierte er spontan nicht mit gespielter Begeisterung, sondern schauderte merklich, die Augen zukneifend, als könne er auf diese Weise dem drohenden Unheil entwischen. "Tja, in dem Fall muss ich wohl doch was ausknipsen!" Signalisierte Takafumi unbeeindruckt mangelnde Geduld mit den Fortschritten. "Bitte! Ich bemühe mich, wirklich!" Versprach Chiharu aufgeschreckt. Wie eine Puppe behandelt zu werden, gar wie eine "Erleichterungsanstalt", das grauste ihn, weil es noch schlimmer als "Einweg-Vibrator" einzustufen war. "Mag ja sein, aber das führt zu nichts." Konterte Takafumi entschieden. "Ich~ich präpariere mich selbst, ja?" Verhandelte Chiharu, verdrehte den Kopf schmerzhaft. Die kritische Augenbraue lupfte sich von selbst Richtung Haaransatz. "Da hege ich Zweifel." Kommentierte Takafumi knapp. "Du wirkst arg ungelenkig. Bei deinem Gejammer dauert es ewig!" Er verstärkte den Griff um Chiharus Penis. "Schätze, ich muss andere Saiten aufziehen!" Damit angelte er nach dem Stoffbeutel. ~+~+~* "Hast du die Regeln verstanden?" Chiharu, steif wie ein Brett, nickte minimal. Eine Schlinge schmiegte sich trügerisch harmlos um seine Kehle. Entfernte er sich jedoch zu weit von Takafumi, der ebenfalls eine Schlinge trug, die sich an seiner fortsetzte, würde er sich die Luft abquetschen. "Näher heran." Kommandierte der ihn auf seine Oberschenkel. Auf dem Futon kniend rutschte Chiharu etwas näher heran, nahm die Spannung aus dem dünnen Strick. Er musste die Beine spreizen, weil Takafumi sich recht bequem in einem lockeren Schneidersitz eingerichtet hatte, klaglos das Gewicht auf seinen Beinen akzeptierte. "Also, an die Arbeit!" Verkündete Takafumi aufgeräumt. Er legte die Linke in Chiharus verspannten Nacken, drängte ihn zu offenherzigen, sehr engagierten Küssen, während die Rechte, die zwei Fingerkuppen eingetütet und balsamiert, Chiharus Rektum attackierten. Ausweichen unmöglich, jede unpassende Bewegung rief die Schlinge auf den Plan. Außerdem schien Takafumi auch nicht gewillt, Nachsicht oder Gnade walten zu lassen. Die Augen beschlagen hatte Chiharu schon Mühe, hin und wieder nach Luft zu schnappen, bevor ihm erneut die Lippen versiegelt wurden. Seine Beine zitterten, seine Arme bebten auf Takafumis Schultern. Die forschen Finger spielten mit dem verkrampften Muskelring, neckten, rieben, erprobten den Widerstand, ließen weder nach, noch locker. Chiharu schwindelte schon, die Glieder von Schockstarre zu Pudding-Qualität wandelnd. Außerdem vagabundierte Takafumis Linke zielgerichtet zu neuralgischen Stellen, Brustwarzen, kurzen Rippen, knorpeligem Rückgrat, spürte Druckpunkte auf, deren Existenz Chiharu nicht bekannt war, zog faktisch alle Register. Der körperliche Widerstand schwand, der Erschöpfung geschuldet, aber auch der geistigen Ermattung, weil Chiharu sich einfach keinen Reim machen konnte, durcheinander blieb. Kaum hatte Takafumi ihm eine unmissverständliche, reflexartige, vernehmliche Reaktion entlockt, die Wünschelrutengänger auf DIE QUELLE aufmerksam machten, kannte er keine Bremsen mehr. Er attackierte Chiharu so zielgerichtet, umklammerte ihn gleichzeitig, unterlief Ausbruchversuche, dass manuell die Festung fiel. Außerdem sie beide rücklings auf die Matte. ~+~+~* Chiharu bekam keine Gelegenheit, Hoffnung zu schöpfen, weil er brav sein Kondom gefüllt hatte oder Takafumi ihm die Schlinge vom Hals zog. "So, jetzt bin ich dran!" Trällerte der merklich aufgeputscht. Er drängte den angezählten Chiharu zu einer halben Rückwärtsrolle, schnurrte rollig, Chiharus Oberschenkel im festen Griff. Der versuchte zwar, die Handflächen gegen den muskulösen Brustkorb zu pressen, Distanz zu schaffen, doch vergeblich. "... bitte...nicht... gerade..." "Ja, aber was glaubst du, wie phantastisch du dich fühlen wirst bei Runde Zwei!" Kündigte er Chiharu ungeniert an. Außerdem zählten Finger ja wohl nicht! Für Chiharu, der verzweifelt nach einem Halt suchte, an den er sich klammern konnte, keine Ausweichmöglichkeiten hatte, erwies sich Takafumis Einsatzfreude als zu viel. Gezielte Stöße, sich steigernder Rhythmus, immer wieder DIE eine Stelle treffend, viel zu geübt für einen Amateur! In allzu kurzer Zeit erreichte Chiharu zum zweiten Mal einen Höhepunkt. Unkontrolliert zuckten seine Glieder, sein ganzer Körper tanzte konvulsivisch, verweigerte Gehorsam und Schicklichkeit. Weil er sich selbst, zwar etwas unscharf, doch unmissverständlich wie eine unter Strom gesetzte Flickenpuppe herumzappeln sah, schaltete sein Bewusstsein mit einem gequälten Schluchzen temporär alle Lichter aus. ~+~+~* Chiharu blinzelte, ohne Brille gehandicapt, die Zimmerdecke an. Etwas war faul im Staate Dänemark, das ging ihm trotz der profunden Verwirrung glasklar durch den Kopf. "Das is ne Überraschung!" Stellte Takafumi neben ihm deutlich aufgeräumt fest. "Hätte nicht gedacht, dass du beim ersten Mal so abgehst. Könntest dir ein neues Hobby zulegen." Die Worte klangen boshafter, als sie ausgesprochen wurden. Chiharu wandte den Kopf. Noch immer spürte er eine merkwürdige, bisher ungekannte Hitzewelle in seinem Körper, als hätte man sämtliche Nervenenden in Brand gesetzt. Takafumi neben ihm musterte ihn. "Eigentlich wollte ich dich in die Praxis runter schaffen, aber so, wie du gerade dreinschaust, zieht das bloß Ärger an." "Ich verstehe nicht?" Kommentierte Chiharu, noch immer seltsam benommen und hellwach zugleich. Über Takafumis Gesicht huschte ein lausbübisches Grinsen. Das erste Mal seit ihrer Begegnung, dass er nicht grimmig, aggressiv oder selbstherrlich wirkte. "Du siehst aus wie einer, der es gerade so richtig besorgt bekommen hat, für ne Zusatzrunde bereit ist." Dolmetschte er feixend. Chiharu äußerte "ehrlich?!" nicht, aber es stand ihm wohl auch so im Gesicht. Beiläufig tätschelte Takafumi ihm die nackte Schulter. "Ich mach mich mal frisch, hole Massageöl." Für Chiharu eigentlich die Gelegenheit, das Weite zu suchen. Das kam ihm jedoch nur flüchtig, sich dann verflüchtigend, in den Sinn, weil so langsam sein Verstand die ersten Raketenstufen zündete. - Punkt 1: Takafumi hatte bereits sexuelle Erfahrungen. Und das nicht zu knapp! - Punkt 2: der wusste ziemlich gut darüber Bescheid, wie Sex zwischen Jungs, Männern funktionierte. - Punkt 3: aus irgend einem Grund wollte er wissen, wie es auf der empfangenden Seite zuging. Doch warum hatte er sich dann Chiharus bedient? Vielleicht, weil er ihn so gar nicht mochte, sogar verachtete? Mühsam stemmte Chiharu sich in eine sitzende Haltung. Das unbekannte, aber mächtige Gefühl, das noch immer in ihm pulsierte, bereitete ihm gewisse Sorgen. War das noch normal? Immerhin hatte er ja lediglich größere Komplikationen vermeiden wollen. Er entdeckte seine Brille, sorgte für klare Konturen. Weil sich die Gelegenheit bot, er ja die Massage bestätigt hatte, studierte er Takafumis Ausstattung und den Inhalt des Stoffbeutels, mit großem Interesse. Was ihn daran erinnerte, dass der recht ärgerlich auf ihn reagiert hatte, die Frage aufwarf, wie es mit der Etikette bei nicht gemischten Paarungen stand. Möglicherweise, Chiharu wischte sich durch die feuchten Ponysträhnen, hatte er unwissentlich gegen die Regeln verstoßen. Wie ärgerlich, dass seine Tasche noch im Vorraum stand! Sonst hätte er sich seine Fragen aufnotieren können, um keine zu vergessen. Da schritt seine Prägung wieder ein: hier und jetzt konnte er seinen Horizont erweitern, lernen! Verhindern, dass er noch einmal unabsichtlich beleidigend agierte! Als Takafumi in einer Kombination aus wadenlanger Stoffhose und Kimonohemd tatendurstig sein Zimmer betrat, hockte Chiharu in formeller Pose vor ihm, verneigte sich höflich. "Bitte, kannst du mir alles über Sex zwischen Männern beibringen?" ~+~+~* "Ich habe ein Monster erschaffen!" Knurrte Takafumi übellaunig, während er, quasi in Notwehr, die versprochene Einbalsamierung verabreichte. Nur so schien es möglich, Chiharu auszubremsen. "Ich entschuldige mich, wenn ich die Etikette verletzt habe!" Wiederholte der erneut, ein wenig gedämpft durch die Bauchlage. "Ja, ja, spar's dir, ich hab's schon die ersten 100 Mal verstanden!" Grollte Takafumi unleidlich. "Komm jetzt bloß nicht auf blöde Ideen, klar? Dein Engagement war nicht gerade Oscar-reif!" Die Breitseite verfehlte jedoch, wie schon zuvor, ihre Wirkung gänzlich, weil Chiharu verständig beipflichtete. "Ja, das bedaure ich sehr. Ohne Vorbereitung und ausreichendes Training..." "Halt die Klappe, ja?! Du machst mich echt irre mit deiner Einschmeichelei!" Prompt setzte der nächste Reflex ein: sich zu entschuldigen für ein aus Unkenntnis hervorgerufenes Missverständnis. "Schnauze!" Bremste Takafumi bellend jede Äußerung aus, angelte nach seinem Obi. "Oder ich kneble dich, klar?!" Was zumindest eine direkte Replik verhinderte. "Bleib bei deinen Mädels, Kumpel. Das hier ist nicht dein Spielfeld." Warnte Takafumi energisch, walkte dynamisch den ausgestreckten Leib durch. Warum hatte er bloß, zugegeben frustriert, diesen Einfaltspinsel benutzt?! Als hätte er nicht bereits genug Ärger und Enttäuschung zu kompensieren! ~+~+~* Chiharu genoss die Massage, eine Premiere, so ein Luxus! Er dachte nach. Augenblicklich schien sich die Missstimmung nicht beheben zu lassen, was ihm den Gedanken eingab, dass Takafumi aus anderen Gründen so übel gelaunt war. Deshalb zog er sich brav schweigend darauf zurück, die letzten Ereignisse zu analysieren. Ganz offenkundig war sein Gastgeber und Amateur-Masseur erfahren darin, Sex zu haben, in der "dominierenden" Version. An sich schon verblüffend, denn so aktiv hatte Chiharu seine jüngeren Mitschüler gar nicht eingeschätzt. Aus irgendeinem Grund wollte Takafumi wissen, wie es sich "andersrum" verhielt. Hmmm. Möglicherweise liebte er einen anderen Jungen, der wie er die dominierende Rolle vorzog? Erwog er nun, aus Liebe die Position aufzugeben, wollte sich aber nicht gänzlich unbewandert zeigen? Chiharu konnte dies nur mit einem (stummen) Ächzen der hingerissenen Hingabe kommentieren. Wie romantisch! Wie mutig! Wie verständlich! Klar, von diesem Standpunkt aus musste sein Verhalten nicht gerade aufbauend gewirkt haben. Das ließ Chiharu auf die eigene Situation blicken (auch wenn er weiterhin auf eine unifarbene Matte starrte). Nein, seinem (offenbar nicht mehr so heimlichen) Ruf als Jungfern-Meister war er nicht gerecht geworden. Umgekehrt jedoch, du liebe Güte! Mehr als nachvollziehbar, dass Takafumi die Premiere nicht bei seinem Schwarm vollziehen wollte! Was für Emotionen, Empfindungen, Reaktionen! Chiharu, der sich noch nie verliebt hatte, resümierte für sich selbst, dass der Sex bis dahin angenehm gewesen war, schon recht fein, durchaus, ABER DAS hier war eine ganz andere Liga! Jedenfalls, das leugnete er nicht, verlangte es ihn nach einer Wiederholung. Gut, Takafumi schien sich dafür nicht zur Verfügung stellen zu wollen, das konnte man nicht negieren. Chiharu gebrach es offenbar an den speziellen Umgangsformen für dieses delikate Sujet. Das bedeute in der Konsequenz, dass er recherchieren und üben musste! Vor allem aber mit gespitzten Ohren und messerscharfem Blick jeden Hinweis mitnehmen, den Takafumi beiläufig (unbeabsichtigt) gab. Den "Einweg-Vibrator" vergaß Chiharu über dieses "neue Hobby" vollkommen. ~+~+~* Kapitel 3 Eines wurde Chiharu unmissverständlich signalisiert: Takafumi Iiyama kannte ihn nicht! Diese außerschulische Eskapade war abgeschlossen, kein weiterer Kontakt gewünscht. Zog man ins Kalkül, dass Takafumi wahrscheinlich unglücklich verliebt war, tapfer die Hindernisse zu überwinden suchte, hatte Chiharu vollkommenes Verständnis! Außerdem galt für ihn weiterhin das Gebot der Diskretion. Zudem musste er sich für alle Eventualitäten gebührend präparieren. Die Recherche-Möglichkeiten nahmen sich begrenzt aus, gesundheitliche Hinweise und grafische Fiktion ausgenommen. Niemand schien die Etikette porträtieren zu wollen! Wie herausfordernd! Außerdem musste das physische Repertoire erweitert werden, Training, was in der Konsequenz adäquater Hilfsmittel bedurfte. Einige hatte er bei Takafumi ja erspähen und später im Einsatz kennen lernen können: die Ausrüstung war aufzustocken. Erwachsene Personen hatten es diesbezüglich sehr viel kommoder. Chiharu befand jedoch, wie man es ihm nachdrücklich anerzogen hatte, dass ein Problem einen Ansporn darstellte. Mit positivem Denken konnte man alles bewältigen! Deshalb dachte er tatsächlich sehr gründlich und optimistisch nach. Ihm kam eine Eingebung, die für alle Seiten befriedigend sein musste! In der Folge suchte er, brav und wohlerzogen, ein Sanitätsgeschäft auf, wo man allerlei Hilfsmittel für Rekonvaleszenten vorhielt. Ob die Verkäuferin vermutete, er besorge etwas für betagte Verwandte? In jedem Fall stieß Chiharu auf keinerlei Hindernisse, ein Klistier und Übungsgeräte für muskuläre Verstärkung bei Inkontinenz zu erwerben. Solcherart ausgerüstet begann Chiharu sein körperliches Training. Danach suchte er nach einer Möglichkeit, sein "Angebot" zum Einsatz zu bringen. ~+~+~* Chiharu überprüfte wie gewohnt sein Erscheinungsbild. Er pflegte sich selbstverständlich, hatte sich auch angewöhnt, gewisse Intimbereiche zu rasieren. Trotzdem fühlte er sich ein wenig unsicher. Die Hinweise, die er dem Internet bei seinen Recherchen entnommen hatte, waren nicht stringent. Offenbar gab es verschiedene, sich teils widersprechende Erwartungen an die Sexualpartner! Noch immer erschloss sich ihm der "Code" nicht zweifelsfrei. Es gab "nekos" und "tachis", was die Rollenverteilung beim Analsex betraf, wenn er sich nicht irrte. Aber dann spielten auch noch äußeres Erscheinungsbild und "Charakter" ("Geschmacksrichtung") eine wesentliche Rolle. Was sich nicht trivial ausnahm, wenn man den Kontakt anbahnte! Ein ganzes Spektrum fächerte sich auf. Prinzen, Schuljungs, Mädchen- oder Frauen-Kostüme, S/M, Leder, Fetisch, Plüsch, Federn, "Tsundere", "Sklave/Meister", "Herr/Diener"... Chiharu schwirrte zwischenzeitlich der Kopf. Was für ihn außer Frage stand: sein äußeres Erscheinungsbild erheblich verändern. Aufwändige Kostümierungen mussten verwahrt und auch erklärt werden, ebenso alles, das sich nicht diskret in einem Karton deponieren ließ. Ihm schien es nicht erfolgreich, eine andere Person vorzugeben als die, die er eben war. Zudem, ungeachtet seines engagierten Trainings bis dato vernachlässigter Muskeln, sehnte er sich nach einer persönlichen Aufwartung. Hier stellte sich ein Problem, dessen Lösung er auch noch auf der Spur war. Wie sollte er einen Partner finden? Selbstverständlich, im Netz konnte man Kontakte knüpfen, doch wer war hier wirklich "echt"? Außerdem mussten häufig Minderjährige draußen bleiben. Das verstand Chiharu durchaus, unterstützte es , selbst wenn es ihm gerade ein wenig lästig war. Auch in diesem Fall würde sich, davon war er überzeugt, ein gangbarer Weg finden, so wie bei all den anderen Herausforderungen, die er erfolgreich gemeistert hatte! Chiharu konzentrierte sich auf das Naheliegende, Takafumi Iiyama, der zweifelsohne schon Erfahrungen hatte. Was die Frage aufwarf, wie er diese bekommen hatte. Gut, es gab da die gesellschaftliche Situation, Schule und Sport. Also, ältere Schüler? Sportkameraden aus dem Dojo? Für Chiharu keine Option. Hm, was war mit der räumlichen Komponente? Die Wohnung kannte er. Es gab den Schrein auf dem Parkgelände. Der Park war relativ klein, sehr gut besucht. Was blieb übrig, um eine Beziehung anzubahnen? Chiharu strahlte, als ihm endlich der Geistesblitz kam. Genau! Was stellte überall das Zentrum der gesellschaftlichen Begegnungen dar? Der Bahnhof! Hochgestimmt rief er sich rasch die vereinfachten Pläne auf. Endlich würde er vorankommen, seinem Alltagsgrau wieder bunte Funken hinzufügen können! ~+~+~* Ein Bahnhof war nicht simpel ein Gebäude mit Gleisen und Umstiegsmöglichkeiten. Nein, ein Bahnhof entsprach einer kleinen Stadt ohne Wohnungen. Pro Himmelsrichtung gab es mindestens einen Ausgang, mehrere Ebenen, unzählige Geschäfte, die Waren und Dienstleistungen aller Art anboten. Bis auf "Wohnen" konnte man in einem Bahnhof quasi seine ganzen Bedürfnisse stillen. Sogar einige Institutionen unterhielten hier kleine Außenstellen oder wenigstens Schalter! Bahnhöfe bildeten die gesellschaftlichen Zentren. Man kam nicht nur an oder fuhr ab, sondern speiste, kaufte ein, erledigte Verpflichtungen, arbeitete, verbrachte hier seine Freizeit. Amüsement wurde durchaus geboten, Spielcenter, Aquarien, Kinos, Karaoke, Diskotheken, neben allen Varianten des leiblichen Wohls und des Fensterbummelns. Dazu gab es ausgeklügelte Streckenführungssysteme durch die verschiedenen Ebenen, unter Beachtung der Sicherheit, selbstverständlich. Rollsteige, wo man keine Rolltreppen einsetzen musste, Aufzüge, Sicherheitsschleusen, Informationssysteme, weil ein Bahnhof quasi einen Lebensmittelpunkt darstellte (man fand sogar Kindertagesstätten und Horte), auch sanitäre Einrichtungen, immer in der Umsetzung der neuesten Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung. So viele Personen, die geführt werden mussten, unter Berücksichtigung von Erdbeben, Taifunen und den ganz normalen Wagnissen des Alltags, verlangten die höchsten Maßstäbe! In den Bahnhöfen gab es nicht nur schlichte Waschräume mit Toiletten, nein! Zunächst sorgte man für zahlreiche Schließfächer und Spinde. Von der Arbeit kommend musste man im Bahnhof ja Freizeitkleidung und -ausrüstung deponieren können. Dafür würde man doch nicht nach Hause fahren, wo "nach Hause" in einfacher Strecke häufig mehr als zwei Stunden in Anspruch nahm! Die Rechtsgebung hatte sich geändert, weshalb schlichte Waschräume nicht mehr genügten. Uni-Sex-Bereiche zum Händewaschen, ausreichend breite Toilettenkabinen für gehandicapte Personen, abgetrennt die stehend zu nutzenden Urinale. Die Stillräume, gemeinsame Räumlichkeiten fürs Wickeln und Flaschenfüttern des Nachwuchses. Dazu gesonderte Angebote für Miet-Handtücher, -Yukata und -Duschkabinen, damit man sich nach getaner Arbeit, beim Zwischenaufenthalt oder auch vor einer weiteren Schicht erfrischen konnte. Ein Bahnhof befand sich im ständigen Wandel der Umrüstung, war nie fertiggestellt. Jede Person in der Nähe eines Bahnhofs verfügte über einen elektronischen Kontakt, damit man sich vorab auf den neuesten Stand bringen konnte, was die Wege und Dienste betraf, ergänzend zu den Informationssystemen vor Ort. Selbstverständlich verfügte Chiharu auch über eine entsprechende Applikation auf seinem Mobiltelefon. Ein Bahnhof stellte also den größten Rendezvous-Treffpunkt dar. Bis dato unbekannte Personen, die man kennen zu lernen beabsichtigte, konnte man nicht "einfach so aufgabeln", zumindest nicht in der Intention, die Chiharu hegte. Es ging ja nicht um einen unverbindlichen Flirt, vielleicht ein bisschen Amüsement im Spielcenter oder beim Karaoke. Chiharu erwog die Möglichkeiten. Als (recht) aufgeklärtem Jugendlichen war ihm bewusst, dass es neben "Hosts" auch professionelle "Kurzzeit-Gesellschafter" gab, mit denen man nicht einen Abend verbringen und überteuerte Getränke konsumieren musste: Prostituierte für "schnelle Nummern". Doch wo fand man verschwiegene Ecken? Selbstverständlich wurden mittlerweile alle Bereiche des Bahnhofs überwacht, auch die sanitären Einrichtungen, dort, der Diskretion geschuldet, über die "Fußbereiche", wie er nachgelesen hatte. Elektronische Bewegungsmelder zählten automatisch in Knöchelhöhe Extremitäten, machten nur menschliches Personal aufmerksam, wenn mehr als zwei Knöchel eine Kabine betraten. Rollstuhlfahrende, Eltern mit kleinen Kindern, da wurde dann grünes Licht gegeben, sprich, die Überwachung auf das Normallevel heruntergestuft. Vier Beine (es gab tatsächlich Leute, die die Mietduschen für ihre vierbeinigen Lieblinge nutzen wollten, was untersagt war) kamen nicht durch. Ausnahmen nur bei Hilfspersonen, die gebeten wurden, sich vorher kurz bei der optischen Überwachung anzumelden. Schließlich wollte man auf diese Art "unerwünschten" Nutzungen der Kabinen (sei es Dusche oder Toilette) einen Riegel vorschieben. Außerdem wurde ein Zeitlimit gesetzt, je nach Art des Angebotes, damit niemand unbemerkt in Dusch- oder Toilettenkabine einschlief oder gesundheitlich in Kalamitäten geriet, ohne dass man es merkte. Nicht alle Räume an den Ausgängen des Bahnhofs waren bereits entsprechend umgebaut. Chiharu erkannte das beim Blick auf die "alten" Waschräume, noch simpel nach Männlein und Weiblein getrennt. Hier wurde eigens darauf hingewiesen, dass gehandicapte Personen eventuell Schwierigkeiten haben konnten, dass Pissoirs vorhanden waren (für schamhafte Personen vielleicht inakzeptabel auf dem Weg zu den Toilettenkabinen), dass nicht in unmittelbarer Nähe Mietduschen angeboten wurden, sondern man bitte der Streckenführung folgte, bis das neue Angebot erreicht war. Dass die Ausrüstung eher rustikal zu nennen war, wenig Anschlüsse für elektrische Geräte vor den Waschbecken, dazu noch vereinzelt "Hock-Klos", also Trittsteine plus Loch. Im Prinzip, konkludierte Chiharu erfreut, eine interessante Möglichkeit, unkompliziert ein Stelldichein zu realisieren. Allerdings musste er diese Eingebung in der Realität einer Prüfung unterziehen. Neben den gewohnten Vorbereitungen, etwas mehr Rüstzeug als zuvor, waren darüber hinaus Vorkehrungen zu treffen. Mochte der Aufenthalt in einem Bahnhof auch eigentlich über jede Rechtfertigung erhaben sein, so galt es doch, einige Umstände zu bedenken. Zunächst seine Jacke mit dem Schulemblem: besser ausziehen oder abdecken. Man musste sich ja nicht sofort dekuvrieren, nicht wahr? Die marineblaue Farbe in Kombination mit weißem Hemd wurde von vielen Einrichtungen gewählt, sodass er nicht gleich einzuschätzen war. Warum diese Vorsicht? Wegen der "Tugendwächter", selbst ernanntem "Aufsichtspersonal" über die Einhaltung dessen, was sie als "öffentliche, gesellschaftliche Moral" verstanden. Immer auf der Lauer nach Schulschwänzerei, Leuten, die aus der Reihe tanzten, sich nicht an die Regeln, gesetzliche oder auch nur mehrheitlich geübte, hielten. Dazu hegten sie auch Vorstellungen, wo Jugendliche sich aufzuhalten hatten oder nicht, ganz gleich, ob das Gesetz dies zuließ. Bei vermeintlichen Verfehlungen spielten sie sich auf, kontaktierten die jeweilige Schule und die Klassenleitung. Der Nagel, der hervorsteht, muss eingeschlagen werden! Was besonders bei Jugendlichen gut funktionierte, die ohnehin wenig Selbstbewusstsein hatten, so völlig eingeschüchtert wurden. Chiharu entzog sich der Notwendigkeit, über "Tugendwächter" zu urteilen. Er nahm ihre Existenz als gegeben hin, als eine Herausforderung, der es zu begegnen galt. Zum Beispiel, indem man vorausschauend eine Einkaufsliste präparierte, die den Besuch von Geschäften im Bahnhof rechtfertigte. Wenn er nun beispielsweise nach Schulschluss den Waschraum im Bahnhof aufsuchte, wäre er wegen des Aufenthalts dort nicht zu belangen! Als weitere Komplikation waren die "Professionellen" zu berücksichtigen. Für Chiharu bedeutete es, sich ein striktes Zeitfenster zu setzen, längstens bis 21:30 Uhr, dann war Schluss. Er wollte seine gelegentliche Bereitschaft zu kostenfreiem Engagement nicht schädigend gegen andere einsetzen. Zufriedengestellt mit all seinen Überlegungen schob Chiharu auch die Bedenken hinsichtlich des "Codes" beiseite. Bei nächster Gelegenheit wollte er den ersten Anlauf unternehmen, seine Theorie in der Praxis zu überprüfen! ~+~+~* Gut präpariert, im wahrsten Sinne des Wortes und der Schultoilette, machte sich Chiharu an einem Samstag nach der Schule auf den Weg. Er hatte die Jacke mit dem Schulemblem abgestreift, einen neutralen Pullover über das Hemd gezogen. In der Tasche führte er neben den unverzichtbaren Hilfsmitteln die "Einkaufsliste" mit, falls man ihn anhalten sollte. Mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen betrat er den ältesten Waschraum, den einzigen, der noch nicht umgebaut worden, sondern ausschließlich Angehörige des männlichen Geschlechts gewidmet war. Er begab sich den langen Gang entlang der Pissoirs und Waschbecken zu den Kabinen, stellte seine Schultasche brav ab, wusch sich die Hände, dabei interessiert über die Spiegelflächen seine Nachbarschaft betrachtend. Blickkontakt aufnehmen schien die beste Option, sich bekannt zu machen, vermutete Chiharu. Zwei Becken weiter operierte ein Mann Mitte bis Ende Zwanzig im (gar nicht existenten) Multitasking-Modus, putzte sich die Zähne, summte dabei, tippte immer wieder auf dem Display eines Tablets. Das hatte erstaunliche "Schutzkanten", die vermutlich jeden Purzelbaum überstanden. Neugierig studierte Chiharu das Gerät, während sein Besitzer auch noch Kniebeugen absolvierte, definitiv gut gelaunt. Chiharu versuchte, die mit einem Firmenlogo versehene, leichte Jacke zu identifizieren. Unterdessen schloss man die Zahnreinigung ab, stellte auch das muntere Begleitsummen ein. "Ah, auffälliges Design, nicht wahr?" Ergriff der Mann das Wort, mutmaßlich nicht beleidigt ob der neugierigen Musterung aus der Halbdistanz. "Verzeihen Sie, aber so etwas habe ich noch nicht gesehen." Bekannte Chiharu, der diesen Gesprächseinstieg schon mal als vielversprechend einordnete. Der Unbekannte hob das Tablet mit den bemerkenswerten Stoßkanten hoch, lud gestisch ein, sich zu nähern. "Es ist wohl eine Sonderanfertigung, aber Genaueres weiß ich leider auch nicht. Firmeneigentum." Er lächelte Chiharu an, ein aufgeschlossenes Mienenspiel, dezent dunklerer Hautton, der von einer Herkunft nahe dem Äquator kündete. "Aber wat mutt, dat mutt! Immerhin arbeite ich als Sicherheitsexperte." Grinsend deutete er auf das Firmenlogo. Chiharu lächelte erfreut über diese Gesprächsbereitschaft. "Und du? Verabredet mit Freunden? Oder auf dem Sprung, den Zug nicht zu verpassen?" Erkundigte sich der Fremde launig, verstaute auch das Tablet in einem stabilen Rollkoffer. "Eigentlich hoffe ich auf ein wenig Gesellschaft." Bekannte Chiharu entschlossen. Nun konnte er definitiv Aufmerksamkeit auf sich verbuchen. "Tatsächlich? Schwebt dir eine bestimmte Gesellschaft vor?" Jetzt kam der knifflige Teil! "Ich bin zum ersten Mal hier, deshalb kenne ich die Etikette nicht. Ich würde gern einen Katzenliebhaber treffen." Der Mann blinzelte verblüfft. Ein amüsiertes Lächeln zeichnete sich auf seinen freundlichen Zügen ab. "Oh, jetzt verstehe ich!" "Verzeihung, wenn ich mich falsch ausgedrückt habe." Beugte Chiharu brav vor, denn er HATTE ja nach seinen verwirrenden Recherchen aufgesteckt, was die Codes betraf. "Nein, nein, schon richtig und sehr diplomatisch! Hast du denn schon Erfahrung als Katze?" Das hörte sich doch ganz nach einem Treffer an! Chiharu nickte eifrig, wenn auch nicht zu beflissen, um keine Indiskretion zu begehen. "Jawohl, die habe ich. Ich bin auch schon vorbereitet." Der Fremde lachte auf, keineswegs spöttisch oder gönnerhaft, vielmehr fast lobend für Chiharus sorgsam konzipierten Auftritt. Er hob die Rechte, strich hauchzart, nicht mehr als eine Ahnung, über Chiharus Wange. "Nun, ich bin interessiert, dir Gesellschaft zu leisten. Wenn du magst." "Ja, bitte! Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mir Ihre Zeit widmen!" Strahlte Chiharu begeistert. "Wollen wir? Ich bin übrigens Kurumi. Verrätst du mir deinen Vornamen?" "Sehr erfreut. Ich heiße Chiharu." Antwortete Chiharu, der sich nicht mal einen Tarnnamen ausgedacht hatte. Allerdings, so argumentierte er vor sich selbst, war er ja weder Profi noch Künstler oder Idol! Der Mann namens Kurumi sammelte seinen Rollkoffer ein, schob ihn nach hinten, in die letzte Kabine, die für die altmodischen "Hocker". Chiharu folgte ihm rasch, vorfreudig erregt. Endlich würde er ein zweites Mal erleben! Hinter ihm verschloss Kurumi die Kabine, parkte den Rollkoffer unter dem Riegel, streifte sich die Jacke ab, öffnete das Hemd und ließ die Hosen herunter. "Bewegungsfreiheit!" Zwinkerte er Chiharu zu, sprach gedämpft. Der lächelte, folgte dem Beispiel, schälte sich auch gleich die Unterhose mit herunter. "Darf ich?" Wie eine Aufforderung zum Tanz, doch Kurumi intendierte, mit den Handflächen über Chiharus nackte Haut zu gleiten. Was dem gefiel, denn der Mann vor ihm verströmte hormonelle Anziehungskraft! Sehnig-straffe Gestalt, nicht zu muskulös, offenbar auch angetan von Chiharus Erscheinung, der positive Rezensionen seiner Selbst sehr goutierte. Er rückte näher heran, deutete auf Kurumis Schritt. "Ist es gestattet?" Nach einem amüsierten Nicken ging Chiharu auf Exkursion. Keine gestutzte Schambehaarung, die Kronjuwelen samt Zepter vollzählig und äußert willig, sehr warm und anschmiegsam, mit einem pochenden Pulsschlag, der Chiharu ebenso erregte. Er mochte das Gefühl, eine fremde Erektion liebkosen zu können wie ein verhätscheltes Schoßtierchen! Deren Besitzer sich mit fliehendem Atem bei ihm erkundigte. "Hast du das Gleitmittel?" "In meiner Tasche, der Stoffbeutel." Raunte Chiharu begehrlich an einer Halsbeuge, roch den Duft der sexuellen Erregung. Ja, bis jetzt eine perfekte Wahl! Kurumi steuerte die neuralgischen Punkte an, die Chiharu rollig machten, um im Katzen-Bild zu bleiben. "Ah, das sind gute Gummis! Drehst du dich bitte herum?" Ohne Zögern rotierte Chiharu, lehnte sich mit den Ellen an die Wand, vorgebeugt. Er seufzte leise, als Finger in Kondommantel mit Gleitgel seinen Körper invahierten. In seinem Magen schlugen die Hormone Purzelbäume der Vorfreude. Die Lippen auf einen Unterarm pressend antwortete Chiharu den Eindringlingen, quetschte sie rhythmisch, zog sie damit unwillkürlich tiefer. Hinter ihm keuchte Kurumi guttural. "Okay, bist du bereit, mein wildes Kätzchen?" Chiharu kicherte, miaute gedämpft. Oh, und WIE er wollte! Endlich, nach der Durststrecke seit Takafumis Aktion konnte er sich die Bestätigung verschaffen, dass er ein veritabel bemerkenswertes Hobby gefunden hatte! ~+~+~* Nein, es war keine Eintagsfliege gewesen, konstatierte Chiharu mit glühendem Unterleib, entflammten Nerven und einem ekstatischen Hochgefühl. Er konnte mühelos den richtigen, den perfekten Winkel ansteuern. Eine Kettenreaktion setzte schlicht ihren Gang fort. Jeder Stoß wurde beantwortet, so, als habe sein Körper nach einem Winterschlaf ENDLICH die einzig bedeutende Sportart für sich entdeckt. Seine Sehnen und Muskeln massierten, molken förmlich den eingeladenen Besucher! Chiharu liebte diese Steigerung seiner Lust bis zur Explosion. "Wow, ich hab glatt weiche Knie." Stellte Kurumi neben ihm mit rauer Stimme fest, sich ebenfalls an die Wand lehnend, breit grinsend, dezent in einen Wasserfilm gehüllt. "Herzlichen Dank, Kamerad Kater! Das war ein ausgezeichnetes Mahl!" Chiharu lächelte mit rosig überhauchten Wangen. "Ich habe Ihnen zu danken! Ich fühle mich einfach prächtig!" Kurumi grinste, tippte Chiharu neckend auf die Nasenspitze. "Ja, sogar deine Brille ist ein wenig angelaufen!" Mit weniger eiligem Atem entfernten sie die gefüllten Kondome, wischte sich Chiharu Schritt und After. "Entschuldigung, ob Sie mir wohl sagen können...ich wüsste gern, wie ich... andere Katzenliebhaber erkenne. Ich verstehe die Codes nicht richtig." Nutzte Chiharu die gelöste Stimmung. Sich ankleidend zog Kurumi dezente Falten auf der Stirn. "Tja, das ist wahrscheinlich nicht so einfach. Meistens sprechen sie die Katzen an, geben sich dominant. Die alten Regeln oder eher Klischees, ziehen heute nicht mehr so. Ich glaube, das Beste ist, einfach im Gespräch zu klären, was man tun möchte." Chiharu verneigte sich brav für diese Empfehlung, auch wenn die Hinweise ihm nicht sonderlich halfen. Es musste ja erst mal zu einem Gespräch kommen! "Sorry, dass ich dir da nicht viel sagen kann!" Ahnte der ältere Mann Chiharus Gedanken, der eilig zu einer Entschuldigung ansetzte, um nicht beleidigend zu wirken. Prompt tippte ihm Kurumi auf die Nasenspitze. "Schon in Ordnung, Chiharu. Mir ist auch noch keine perfekte Anleitung begegnet. Ich finde, mit etwas Improvisation kann man sich auch gut schlagen. Bei uns hat's ja geklappt!" Zwinkerte er, sammelte ganz selbstverständlich den verräterischen Abfall ein, diesen draußen zu entsorgen. Hände waschen, nacheinander den Gang entlang zockeln, sich draußen bester Laune voneinander verabschieden. Während Kurumi zu den Schließfächern abbog, vermutlich den Rollkoffer dort verstaute, schulterte Chiharu seine Tasche. Noch immer prickelte dieses Sucht erregende Gefühl in seinem gesamten Körper. Keine Frage, dass er eine Wiederholung wollte! ~+~+~* Eine Woche später rüstete sich Chiharu erneut für einen hoffentlich erfolgreichen Abstecher in den Bahnhof. Der Sex mit dem Fremden hatte ihm einfach gut getan, die ganze Woche seine Laune gehoben. Ab der Wochenmitte trug schon die Vorfreude ihren Teil dazu bei, weil er sich selbst versprochen hatte, einmal die Woche sein Glück zu versuchen. Chiharu verschwendete keinen Gedanken mehr an Takafumis konsequentes Übersehen seiner Person oder die Behauptung, man hielte ihn allgemein für einen "Einweg-Vibrator". Nein, er hatte hier ein Betätigungsfeld gefunden, das ihn herausforderte, Körper und Geist ansprach! Zudem fand er, dass er sich zunehmend pfiffig diesem Unternehmen stellte! Wie eine Woche zuvor schlenderte Chiharu den Gang entlang zu den hinteren Waschbecken, drapierte seine Tasche auf der schlichten, schmalen Ablage, blickte während des gemütlichen Händewaschens um sich. Ein sehr eleganter, nicht allzu groß gewachsener, schlanker Mann in einem dreiteiligen Anzug unter einem Halbmantel näherte sich, Borsalino mit auffällig gewebtem Band, Einstecktuch und Schal. Eine außergewöhnliche Erscheinung! Er platzierte sich neben Chiharu, weil die übrigen Becken besetzt waren, streifte sich blütenreine Handschuhe von wohlgeformten Händen, wählte eine eigene Waschcreme und ein eigenes Handtuch aus seiner Tasche aus. Chiharu studierte neugierig den Webstoff: einfarbig mit einem diskreten Muster, eine Ahnung von Glanz, ein makelloses Aquamarin, sehr kostspielig vermutlich! "Gefällt dir der Stoff?" Eine angenehme Stimme, ein nachsichtiges Lächeln. "Verzeihen Sie, dass ich so unhöflich starre. Es ist wirklich eine faszinierende Farbe. Auch das Muster." Sich brav verbeugend warb Chiharu um Sympathie, ein wenig eingeschüchtert. Dieser Mann undefinierbaren Alters musste sehr wohlhabend sein, bei der geschmackvollen Bekleidung und diesen gepflegten Händen! "Wie nett von dir, das zu sagen! Tatsächlich stelle ich diesen Webstoff selbst her. Du bist ein Hanshin Tigers-Fan?" Chiharu lächelte. Der Anhänger an seiner Tasche zahlte sich schon aus. "Eigentlich habe ich ihn wegen der Katze gewählt. Ich hoffe, andere Katzen-Fans zu treffen." Der elegante Mann beugte sich näher, studierte den Anhänger. "Hmmm, ja, stimmt, er entspricht nicht dem klassischen Emblem. Da sieht man mal wieder, wie vorschnell man urteilen kann! Schwarz-weiß gestreift, Tiger, schon denke ich an Baseball!" Er zwinkerte Chiharu charmant zu. "Glaubst du denn hier auf Katzen-Fans zu treffen?" Chiharu entschied, aufs Ganze zu gehen. "Das ist mir schon mal gelungen. Wir haben uns privat sehr erfüllend ausgetauscht." Wies er mit einem angedeuteten Nicken Richtung Kabinen. Sein Waschbecken-Nachbar richtete sich auf, betrachtete ihn versonnen. "Was für eine reizvolle Perspektive. Ich wäre einem Austausch auch zugeneigt." Chiharu strahlte spontan, seine Vorfreude gewann die Überhand. Ganz gleich, ob das taktisch klug war oder den gesellschaftlichen Umgangsformen entsprach. "Möchten Sie mich nehmen? Das wäre wundervoll." Präzisierte er in Erinnerung an die Hinweise der Vorwoche, hielt die Stimme brav gesenkt. Der elegante Herr schmunzelte. "Schmeicheleien bringen dich bei mir tatsächlich weiter, mein Lieber. Ich kann nur hoffen, deinen Erwartungen gerecht zu werden." Solcherart wohlwollend geneckt verbeugte sich Chiharu rasch. "Bitte, darf ich voraus gehen?" "Sehr gern. Ich folge dir auf dem Fuße, mein Lieber." Versicherte der gerade mittelgroße Mann mit Grandezza, sammelte seine Habseligkeiten ein, ohne die Handschuhe wieder überzustreifen. ~+~+~* Routine konnte man es noch nicht nennen, aber im geschmeidigen Entblößen zeigte Chiharu Übung. Wie in der Vorwoche wurde ihm gestattet, aufstrebende Erektionen in Kontakt zu bringen, während der elegante Mann, dessen Alter Chiharu nicht einschätzen konnte, mit den Fingerkuppen auf Wanderschaft ging. Was bei Chiharu ein statisches Aufladen auslöste, als könne ihn dieser simple Kontakt elektrifizieren! Keine Massage, kein Verharren, nein, eine Art Kartografieren, gleitend, ohne Druck auf die Haut, ohne Eile. Ihre gegenseitigen Aufmerksamkeiten zeitigten bald unverkennbare Resultate. Chiharu wollte, wie er es unverblümt ausgesprochen hatte, genommen werden, mit Schwung, variabel in der Frequenz, aber so, dass die Kettenreaktion unaufhaltsam befeuert wurde. Er presste den Mund auf den Unterarm, um sich nicht anderweitig knebeln zu müssen. Die anfängliche Vorsicht des älteren Mannes reduzierte sich mit der Erkenntnis, dass Chiharu willig und erfahren war. Man konnte sich also, zumindest im Rahmen der Örtlichkeit und Stellung, ungeniert austoben. Chiharu konterte mit gegengleicher Begeisterung, zögerte die Erlösung so lange heraus, bis er Sterne sah, glaubte zu detonieren. Er kam wirklich, so heftig und lustvoll wie in der Woche davor. ~+~+~* "Ich weiß, ein grässliches Klischee, Sugar-Daddy!" Verdrehte der elegante Herr ausdrucksstark die Augen. Das hielt ihn nicht davon ab, mit Chiharu zum Ausklang ihres Katzen-Fan-Austauschs einen Parfait zu löffeln: sahniges Eis aus Nussmus, saisonales Obst, Kekskrümel und Karamellsirup. Chiharu grinste beifällig über die Anspielung. Er hatte sich schon wiederholt bedankt, was genauso oft zurückgewiesen wurde. Dem eleganten Mann bereitete es Vergnügen, sich etwas Unvernünftiges zu gönnen. Sex mit einem Oberschüler, danach eine süße Kalorienbombe, um präzise zu sein. Für Chiharu jedoch der perfekte Ausklang eines perfekten Unternehmens! ~+~+~* Chiharu verspürte, obwohl er brav darüber nachsann, keinen Anflug von Bedenken ob seines Hobbys. Erstens hatte es bis jetzt ausnahmslos für Vergnügen der beteiligten Parteien gesorgt. Zweitens war niemand belästigt worden. Drittens schien es durchaus dem üblichen Vorgehen zu entsprechen oder zumindest dem, was seine Recherchen ergeben hatten. Offenbar galt es als üblich, sich als männliche Person bei gleichgeschlechtlicher Begeisterung vielfältig zu tummeln. Zugegeben, bei Frauen als Partnerin hätte man wahlweise als Playboy, Chauvinist oder toller Hecht gegolten. Diese Einschränkungen schienen hier nicht zu gelten, glaubte Chiharu. Er kalkulierte artig ein, möglicherweise nicht gänzlich im Bilde zu sein. Doch Fehler oder Unvollkommenheiten konnte man schließlich korrigieren, wenn sie zutage traten, nicht wahr? Überhaupt verfestigte sich bei ihm die Überzeugung, dass die Welt eine andere wäre, wenn jede Person genau den Sex bekäme, den sie wolle, wünsche und brauche. Ihm selbst zum Beispiel ging es prächtig, er fühlte sich vorfreudig und zufrieden, gut gelaunt. Kleine Nickeligkeiten des Alltags bekümmerten ihn nicht, er ließ sich die Petersilie einfach nicht verhageln. Gleichzeitig hielt er sich auch zu Realismus an. Es konnte nicht jeder Ausflug in den Waschraum Erfolg zeitigen. Man durfte nicht geknickt sein, sondern musste sich die bisherigen, ausgesprochen befriedigenden Begegnungen vor Augen führen. Selbstverständlichkeiten in dieser Hinsicht gab es nicht! Nachlässigkeiten ließ Chiharu sich selbst auch nicht durchgehen. Er widmete der Schule und ihren Anforderungen dieselbe Aufmerksamkeit wie zuvor, pflegte sich weiterhin sorgfältig, orientierte sich an seinen festgesteckten Grundsätzen. Schließlich wollte er unnötigen Ärger vermeiden! So ganz einfach gestaltete es sich am folgenden Samstag jedoch nicht. Ein kurzer, unangekündigter Wolkenbruch sorgte dafür, dass sich Chiharu die schuleigene Regenjacke überstreifen musste, am Emblem kenntlich. Leider wies sie sonst keine Vorteile auf. Nicht mal die winzigste Wassersäule als Gradmesser ihrer Widerstandsfähigkeit wurde gemeistert, sodass Chiharu durchnässt den Waschraum erreichte. Wenigstens seine gewohnte Tasche ließ sich nicht so leicht unter Wasser setzen! Seufzend trocknete Chiharu nach dem Blindflug in den hinteren Bereich des Waschraums erst mal die Brillengläser, pellte sich die unerfreulich anhängliche, aber nutzlose Regenjacke vom Leib. Ein kleines Handtuch trug er immer bei sich, wie die meisten anderen wenigstens ein Stofftaschentuch. Gesicht abgetupft, die Haare leidlich am Tropfen gehindert, aber das Schulhemd klamm, nun wirklich nicht einladend! Er zupfte am Stoff, ein wenig ratlos. Sollte er das Hemd abstreifen, aufhängen und sich erst mal abtrocknen? Ein überformatiger Schatten reduzierte die Lichtausbeute. Neben ihm platzierte sich ein groß gewachsener Mann von imponierender Gestalt, in der traditionellen Aufmachung der Arbeiter, ausgestellte Hosen, ärmelloses Hemd, darüber ein Happi mit Aufdruck. Noch beeindruckender jedoch nahm sich der "Munitionsgürtel" aus, vollgepackt, offenbar sehr schwer. Nach einem prüfenden Blick entschied der Mann mit dem gepflegten Vollbart, den Gürtel lieber auf den Boden sinken zu lassen. Die Ablagekonsole wirkte nicht allzu vertrauenerweckend, was ihre Tragkraft betraf. Ohne Scheu streifte der Hüne den Happi ab, wrang ihn über dem Waschbecken aus. Auch das Unterhemd, altmodisch doppelgerippt, erlitt die gleiche Behandlung. Chiharu starrte, ohne das verhindern zu können. Der Handwerker (über die Profession konnte er sich noch kein eindeutiges Bild machen) präsentierte einen Körper, der Herkulesstatuen in den Schatten stellte. Er wandte sich zu ihm herum, denn die Spiegel waren nicht beschämt angelaufen. "Na, auch in den Regen geraten, Junior?" Eilig blinzelte Chiharu, erwiderte das wissende Grinsen entschuldigend. "Ja, das stimmt. Ich bin mir bloß nicht sicher, ob es etwas bringt, das Hemd auch auszuwringen." Der Handwerker fasste prüfend die Knopfleiste. "Tja, wenn du meinen Rat willst, solltest du es tun. Kannst dir leicht ne Erkältung einfangen. Der Stoff hält offenbar gut das Wasser." Mit so einer Empfehlung ausgerüstet folgte Chiharu dem Hinweis. Allerdings überließ er sonst einem Trockner die Arbeit, sodass er nicht recht wusste, wie genau er vorgehen sollte. "Ah, ich mach das gerade. Am Besten rollen, erst die Ärmel einklappen, auf Hälfte falten, einrollen. Gibt so weniger Knickfalten und Stoffbrüche." Unaufgefordert übernahm der Handwerker die Handreichungen. "Vielen Dank! Das ist sehr zuvorkommend von Ihnen!" Strahlte Chiharu, wienerte sich selbst rasch über den Oberkörper. "Man lebt und lernt, Junior. Für ein Date wirst du dich aber wohl umziehen müssen." Grinste der Vollbart gutmütig. In diesem Augenblick summte etwas. Grummelnd wurde der Gürtel aufgeklaubt, geübt erleichtert um eine schlichte Lesebrille und ein Mobiltelefon, das in den großen Händen sehr winzig wirkte. Höflich wandte sich der Riese ab, nahm das Gespräch entgegen. Seine volltönende, sehr sonore Stimme erklang auch manierlich gedämpft. Chiharu entrollte nach mehreren Pressungen seine Hemd-Rolle. Ganz richtig, so ungebügelt konnte man sich kein Rendezvous leisten! Andererseits... Er warf einen Blick auf den Hünen und den Gürtel. Der hatte unterdessen das kurze Gespräch beendet. "Verzeihung, aber müssen Sie den Gürtel die ganze Zeit tragen? Ist der nicht sehr schwer?" Ohne Umschweife nahm der Riese Chiharus Rechte, drückte ein Ende des Gürtels hinein. Dem zog es beinahe den Arm auf die Füße! Glücklicherweise fing der Handwerker reaktionsschnell sein Utensil ab, lachte. "Alles eine Frage der Übung, Kamerad. Ich könnte beispielsweise nicht den ganzen Tag stillsitzen und pauken." Chiharu lächelte, seufzte. "Ja, das fällt mir auch hin und wieder schwer. Ein körperlicher Ausgleich ist da sehr wichtig." "Stimmt. Welchen Sport betreibst du?" Man verstaute Mobiltelefon und Lesebrille. Chiharu riskierte sein Glück. "Ich mache es wie eine Katze. Recken, strecken, beugen, katzbuckeln." Dabei blickte er direkt hoch in die dunklen Augen. "So, so." Kommentierte der Handwerker, strich sich über den Vollbart, beugte sich vor, raunte an Chiharus Ohr. "Sag mal, Junior, versuchst du gerade, mich anzugraben?" Die Annäherung nutzend antwortete Chiharu unerschrocken. "Ja. Sind Sie interessiert?" Der Riese richtete sich auf, betrachtete ihn prüfend. "Ich nehme an, dass du als Katze schon Übung hast, beim Recken und Strecken?" Erkundigte er sich gedehnt. Chiharu lächelte. "Die habe ich. Ich bin allerdings stets gewillt, meinen Horizont zu erweitern." Wieder beugte sich der Hüne herunter. "Um deinen Horizont mache ich mir weniger Sorgen, Katerchen. Ich bin untenrum auch ziemlich mächtig ausgestattet." Die Andeutung verstand Chiharu durchaus. "Ein Versuch ist es immer wert, finde ich." Der Handwerker richtete sich auf, verstrubbelte Chiharus ohnehin verwirrte Mähne. "Soll niemand sagen, ich wäre nicht behilflich, wenn es darauf ankommt." Er nahm seine Habseligkeiten an sich, nickte zu den Kabinen, was Chiharu bestätigte, dass der Riese mit den Gepflogenheiten der Örtlichkeit vertraut war. Rasch sammelte er Hemd-Rolle, Regenjacke und seine Tasche ein, folgte seinem Partner in spe. Der deponierte zunächst in aller Ruhe ihre feuchten Kleider und die Accessoires, ließ, in Unterhose, keinen Zweifel daran, dass er nicht übertrieben hatte. Das Gemächt WAR beeindruckend, entsprach im Verhältnis der grandiosen Physis. Außerdem schien es für ihn keine Besonderheit zu sein, bei den Vorbereitungen zu assistieren. "Das sage ich dir gleich, Junior: wenn ich das Gefühl habe, es geht nicht, lassen wir es." Chiharu, der noch nie so einen groß gewachsenen oder muskelbepackten Partner gehabt hatte, nickte brav. Allerdings prickelte und bizzelte es schon statisch aufgeladen in seinem gesamten Körper. Wie würde es sich wohl anfühlen, DIESE Erektion in sich zu spüren? Quasi ein Kanonenrohr! Der Handwerker ging geduldig, behutsam vor, liebkoste mit den gewaltigen Händen Chiharus nackten Leib, teilte die zurückkehrende Hitze mit ihm. Chiharu keuchte, wich aber nicht oder verkrampfte sich. Die ihn invahierende Erektion war enorm dimensioniert, gleichzeitig beglückend und so heiß glühend! Von der anderen Hand befeuert kam er schneller als der Handwerker hinter sich, der sich nicht darauf verlassen wollte, allein anal Vergnügen zu bereiten. Vor ihm, halb an die Wand gelehnt, genoss Chiharu ungeniert die Hitze der Muskelpakete an seinem Rücken und der Kehrseite. Die kräftigen Arme, die ihn umschlangen, gaben Halt, stellten ebenfalls eine sehr kommode Wärmequelle dar. Gelöst lehnten sie beide an der Wand, atmeten langsamer, nur in Schuhen und Strümpfen, aber nicht frierend. Der Handwerker hob seine gewaltige Linke, streichelte Chiharu über die Wange. "Was meinst du, wollen wir noch eine Runde einlegen? Hast du es mal von vorn gemacht?" Nun, im Stehen sicher noch nicht, aber Chiharu nickte schon willig, bevor er sich Sorgen machen konnte. Er vertraute dem Riesen, der etwas Brüderliches, Fürsorgliches ausstrahlte, wie der "Vater der Kompanie" wirkte. "Na schön. Leg die Arme um meinen Nacken, ja? Wir gehen's mit Gefühl an." Das brachte es mit sich, dass der Riese ohne Hemmungen mit dem Gleitstick bei Chiharu vorstellig wurde, sich dessen linkes Bein um die Hüfte legte. "So ist gut. Oben festhalten, unten bin ich zuständig. Immer aus den Knien heraus, nie durchdrücken." Das klang eher nach einer Gymnastikanweisung, doch Chiharu brachte sein amüsiertes Kichern rasch unter Kontrolle. Ein Problem stellte sich aber: wenn er von hinten genommen wurde, konnte er unwillkürliche Lustlaute durch den angelehnten Arm ersticken. Wie sollte er hier...? Der Handwerker löste das Dilemma mit derselben Beiläufigkeit wie zuvor, legte eine Hand in Chiharus Nacken, dirigierte dessen Kopf in seine Halsbeuge. "Aber nicht beißen, ja?" "Werde ich nicht." Versprach Chiharu grinsend, presste die Lippen auf die kräftigen Sehnen. Er stöhnte vor Lust auf, als sich die imposante Erektion verpackt und eingeölt erneut den Weg in seinen Körper bahnte. Untergefasst von dem Riesen suchte Chiharu nach dem perfekten Winkel, der ihn immer zur Ekstase brachte. Irgendwie anders, aber ganz sicher nicht übel! Eher ein Wippen, ein Pulsieren, sich nie gänzlich entfernend. Er schloss die Augen, keuchte auf die warme, fremde Hautpartie. "Etwas Geduld, Katerchen." Verlangte der Hüne mit seiner sonoren Stimme, justierte seine Haltung, den Stand, die Position, legte richtig los. ~+~+~* Bei einem Boxer hätte man zutreffend von "in den Seilen hängen" gesprochen, wobei Chiharu weniger k. o. gegangen war, als die zweite, sehr er- und ausfüllende Runde bis zur Neige genoss. Er liebte diesen Augenblick, wenn keine bewusste Kontrolle mehr seinen Körper steuerte, wenn der "Punkt ohne Wiederkehr" vorbeifegte, kein Anhalten, kein Bremsen mehr möglich war, wenn die Ereignisse IHN mitrissen, er nicht eingreifen konnte. Der Handwerker, der an der Wand lehnte, Chiharu als Klammeräffchen vor dem Leib, ebenfalls stützend, schnaufte durch. "Mann, Mann, Mann, hast du auch gerade die Engellein singen hören?" Erkundigte er sich humorvoll. Chiharu kicherte atemlos, schmiegte sich an den muskelbepackten Torso. Das fühlte sich einfach prächtig an, warm, geschmeidig, grifffest, vertrauenerweckend! "Was meinst du, kannst du stehen?" Der Frage folgte die Probe aufs Exempel. Auch wenn ihm die Knie weich schienen, hielt sich Chiharu aufrecht, lächelte beglückt hoch in das vollbärtige Gesicht. Der Handwerker grinste. "Junior, ich muss wohl ne ordentliche Leistung abgeliefert haben, wenn du so strahlst." "Vielen Dank! Tatsächlich könnte ich auf Wolken schweben!" Ließ Chiharu entschlüpfen, durch die vertraute, direkte Ansprache ermutigt. Ein sonores, volltönendes Lachen kommentierte seine schwelgerische Einlassung. "Na schön." Eine große Hand testete Chiharus Stirn-Temperatur, streifte über sein verlängertes Rückgrat, massierte kurz die Pobacken. "Fieber scheinst du nicht zu haben. Was ist unten? Schmerzen? Bauchgrimmen?" Hingerissen schüttelte Chiharu verneinend den Kopf. Noch wollte er die Arme nicht von dem muskulösen Nacken sinken lassen. Der Handwerker lächelte amüsiert. "Trotzdem wirst du dich jetzt umdrehen, Katerchen, klar? Damit ich die Spuren beseitigen kann." Dieses Angebot kam unerwartet, doch Chiharu ließ es sich gern gefallen. Die Aufmerksamkeit, so geschäftig und gleichzeitig wohlwollend-behutsam schmeichelte ihm sehr. "Gut, jetzt machen wir uns mal lieber wieder salonfein. Hast du danach noch was vor?" Chiharu, der mit verträumtem Ausdruck sein Hemd knöpfte, merkte auf. "Nein, ich wollte bloß den Heimweg antreten. Und jetzt beschwingt und trocken!" Zwinkerte er vertraulich, konnte der euphorischen Stimmung nicht gänzlich entsagen. Über ihm feixte der Hüne. "Was hältst du von einer heißen Suppe? Ich kenne hier einen guten Laden, einfach, aber sehr lecker. Ein paar Kalorien auffüllen, das haben wir uns auch verdient, oder nicht?" Chiharu strahlte hoch, hauchte spontan einen Kuss auf die Halsbeuge, die ihn so angenehm beherbergt hatte. "Das klingt wunderbar! Vielen Dank, wirklich, vielen herzlichen Dank!" Sein Haare verstrubbelte erneut unter einer großen Hand. "Junior, ich sehe, du bist ganz richtig geraten! Immer die wesentlichen Dinge des Daseins mit Priorität behandeln!" Lachte der Handwerker mit seiner tiefen, sonoren Stimme. Essen, schlafen, lieben! ~+~+~* Auch dieses Mal konnte Chiharu einen perfekten Samstagabend für sich verbuchen. Zudem entkam er in Begleitung des hünenhaften Handwerkers auch den notorischen Nachstellungen der selbst ernannten "Tugendwächter", die ebenfalls vor dem Guss in den Bahnhof geflüchtet waren, dort auf "Sünder" lauerten. Einfach wurde es ihnen aber nicht gemacht, wie er im Vorbeischlüpfen registrierte: drei Schulmädchen abzukanzeln, deren verordnete Röcke nicht tief genug bis an die Knie reichten, rief eine junge Frau auf den Plan, die den zwei dunkel gekleideten, essigsauren Moralaposteln lautstark und sarkastisch Konter gab. Das sah man nicht alle Tage in einer stets auf Harmonie bedachten Gesellschaft! Doch die Zeiten änderten sich, die junge Generation ließ sich nicht mehr kritiklos alles sagen, wollte nicht um jeden Preis angepasst sein, nicht auffallen, in der Herde mitlaufen. Nicht jeder herausstehende Nagel gab dem Hammer nach, sondern reagierte mitunter mit Stromstößen. Der Bahnhof bildete eben den aktuellen Mikrokosmos der Gesellschaft! Gut gerüstet schien es Chiharu, als könne sein Hobby noch eine ganze Weile in dieser Form gepflegt werden. Ein Aspekt der modernen Gesellschaft jedoch entging ihm, auch aufgrund seines Alters: die reale Welt spiegelte sich nämlich durchaus in einer virtuellen. Dort, in versteckten, verborgenen Winkeln, wo man nach Gleichgesinnten suchte, wurde er gerade zu einer urbanen Legende. ~+~+~* Kapitel 4 "Ist mir doch schnurz!" "Nein, selbstverständlich bin ICH das nicht!" "Herrgott, Aoki, dann geh hin und schau nach!" "Nein, ich habe keine beschissene Laune! Das ist ein Charakterzug." "Jajaja, von mir aus. Bis dann!" Ärgerlich unterbrach Takafumi die Verbindung. Als ob er sich im alten Waschraum am Bahnhof herumtreiben müsste! Wirklich, auf die blödesten Ideen kam sein Cousin Aoki! Allerdings reduzierte "Cousin" die sehr weitläufigen und verschlungenen Äste des Stammbaums erheblich. Nicht, dass er Aoki nicht mochte. Der war, für einen Verwandten, ganz in Ordnung, suchte seine Nähe vermutlich nur deshalb, weil sie eine Gemeinsamkeit hatten. Doch damit wollte Takafumi sich nicht aufhalten. Er war spät dran. DAS würde ihm die ganze Woche vergällen! ~+~+~* Gerade noch rechtzeitig schlüpfte er in den schmalen Behandlungsraum, eilig in die Arbeitskleidung seines "Onkels" gewandet. Tatsächlich handelte es sich nicht um einen Blutsverwandten, sondern um den Liebhaber und Lebenspartner seines Onkels mütterlicherseits, einen hünenhaften Mann, der auf Hawaii aufgewachsen war, mit geduldigem, einfühlsamen Naturell und einer sehr gelassenen Lebenseinstellung. Weil er der Überzeugung war, dass Farbe einen erheblichen Einfluss auf die Stimmung hatte, war die Arbeitskleidung flamingo-rosa gehalten, leichte, gebundene Hosen und ein kurzer Kittel im Kimono-Hemdstil, rechts und links gebunden. "Ah, Takafumi." Wurde er sonor begrüßt. Sich nur rasch verneigend warf Takafumi einen eiligen Blick auf die Massagebank, suchte nach neuen Spuren von Verletzungen, äußeren und inneren. "Guten Tag, Takafumi." "Guten Tag, Sawa-sempai." Eine heisere, leise Stimme, eine eigentlich hochgewachsene Gestalt, fast 1,90m. Takafumi straffte seine Gestalt, bevor er näher kam, aber der Onkel hatte bereits ein leichtes Tuch über den Kopf gebreitet. "Wir wollen mit dem rechten Bein beginnen." ~+~+~* Takafumi wartete nur ein kurzes Nicken ab. Er nahm unter dem leichten Tuch für den Leib den rechten Arm in seine Behandlung. Er lernte noch, natürlich, doch sein "Onkel" hatte ihm versichert, über Talent zu verfügen, um ebenfalls Masseur zu werden, vielleicht sogar das Repertoire zu erweitern. Wie er das selbst getan hatte, mit Geduld und Einfühlungsvermögen, obwohl man ihm noch immer mit Argwohn begegnete. Zunächst, weil man ihn lange für stupide gehalten hatte. Sein Hörvermögen auf beiden Ohren war von Geburt an gering, Hörgeräte teuer und klobig, nicht immer gut angepasst. Außerdem diese massige Gestalt! Dabei benötigte man Kondition und Beweglichkeit, um seinen Beruf auszuüben. Nicht zu vergessen kaum Berührungsängste und eine große Empathie. Männer lehnten es häufig ab, sich von ihm behandeln zu lassen, dem Perversen, dem Sodomiten! Wer jedoch mit Schmerzen kam, zur Rehabilitation, nicht ein noch aus wusste, der kümmerte sich nicht um derlei Veranlagungen. Nicht die Frauen, nicht die Mütter mit leidenden Säuglingen und Kindern, nicht die Gehandicapten. Die Praxis war bekannt, hatte einen sehr guten Ruf. Mit ihm arbeiteten zwei Frauen und ein älterer Mann. Für sie alle war er ein Gemütsmensch, mit magischen Händen. Wenn er sich mit dem (nicht mehr ganz so) jungen Karate-Meister aus dem Schrein zusammengetan hatte, was spielte das schon für eine Rolle? Der hatte sich nie für Frauen interessiert, das wusste man ja schließlich. Dass sie sich um den Neffen kümmerten, zeigte doch, dass sie gute Mitmenschen waren! Takafumi verachtete Leute, die seinen Onkeln abschätzig begegneten. Die beiden agierten als eingespieltes Team. Nie konnte man seinen strengen Onkel so entspannt erleben wie mit seinem Lebenspartner. Die steifen, korsettierenden Regeln des Dojo, des Schreins, der Dynastie verschwanden. Sie lachten, alberten miteinander, steckten die Köpfe zusammen, diskutierten, neckten sich. Verblüffend eigentlich, dass zwei Alpha-Tiere einen Weg gefunden hatten, zusammen als Paar zu leben! Insbesondere, wie Takafumi fand, nachdem er nun beide physischen Seiten erprobt hatte, was ihn in die Gegenwart zurückbrachte. Auf dem rechten Arm keine Schrammen, Schwielen an der Hand, von der Krücke, noch immer Muskeln und Sehnen definiert, aber er zweifelte nicht daran, dass der Titel-bewehrte Judoka Tomoyasu Sawa weiter abmagerte. Takafumi wechselte die Seite. Am linken Arm konnte er die Spuren vom Sturz noch erkennen, die er in der letzten Woche entgegen höflichen Protests behandelt hatte. Sawa-sempai war nicht einfach gefallen, sondern umgerempelt worden, zu langsam für die Drängler im Bahnhofsgebäude, wo der sich zweifelsohne schon zurückhaltend an der Wand entlang bewegte, still, in sich gekehrt, eisern höflich. Takafumi verlangte es danach, das dünne Tuch über dem Gesicht zu lüften, nach weiteren feinen Linien in den asketischen Zügen zu suchen. Es hieß, Tomoyasu Sawa habe früher sehr auf sein Gewicht achten müssen, um die gewählte Klasse zu halten. Von Natur aus breitschultrig, kraftvoll, in perfekter Abstimmung für Judo gebaut, ein Champion, würde seine neue Universität in allen anstehenden Wettkämpfen, sogar der Olympiade vielleicht, herausragend vertreten! Darüber hinaus bescheiden, geerdet, einfache Familie, zwei sehr viel jüngere Geschwister, noch zu Hause lebend. Überließ ganz selbstverständlich alle Auszeichnungen seiner Schule, hatte Werbeverträge mit örtlichen Firmen als kleine Sponsoren. Was würde erst die geplante Zusammenarbeit mit einem Sportartikelhersteller einbringen? Dazu kam es jedoch nicht. Ein Augenblick genügte, ein schicksalhaftes Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Faktoren. Danach waren alle Träume ausgeträumt, die vielversprechende Zukunft Vergangenheit. Takafumi bewegte jeden Finger umsichtig. Wie kalt die Hand sich in seinen eigenen anfühlte! Aufpeitschender Regen, Ausläufer eines Taifuns. Eine heftige Böe, ein wegschleuderndes Motorrad. Ein Passant auf dem Gehweg, den Regenschirm mühsam vor den Kopf haltend. Der angehende Anwärter auf den nächsten Titel bei den Studenten, Tomoyasu Sawa, hatte keine Chance. ~+~+~* Takafumi ballte grimmig die Fäuste, die Hand seines Onkels auf der Schulter. Wie immer bewegte sich Tomoyasu Sawa langsam, aufgerichtet, vom Gebäude weg, an der Seite, ausweichend, den Kopf gesenkt, balancierte sich stetig aus auf den beiden Krücken. Man hatte einen Rollator vorgeschlagen, doch die waren nicht auf Personen mit 1,90m Gardemaß ausgerichtet. Für eine Sonderanfertigung fehlte das Geld. Die Versicherung wollte keine Rente leisten, immerhin zählte Tomoyasu gerade 21 Jahre. Nein, lieber eine Ausbildung finanzieren, für Behinderte. Sie wären ihrer Verpflichtungen ledig. Büroarbeit am Computer, Software-Betreuung und -Entwicklung. Im Sitzen stehe er anderen Menschen nicht nach, ganz dumm sei er ja auch nicht! Mit eiserner Disziplin, als Judoka von Kindesbeinen an gewöhnt, kämpfte sich der ehemalige Hoffnungsträger aus dem temporär eingesetzten Rollstuhl zurück auf die Beine. Man hatte sich bemüht, um die gebrochenen Beine, die Hüftknochen, das beschädigte Becken. Nach zwei Jahren konnte sich jedoch niemand mehr etwas vormachen: ein flüssiges Laufen, in die Hocke oder in die Knie gehen, das stand außer Frage. Man hielt den Status quo, reduzierte die Schmerzen, Massage/Krankengymnastik, eigene Übungen, Stützen an den Beinen, das blieb übrig. Eine Existenz am Rande der Gesellschaft, ein fast verstummter, appetitloser, unerbittlich höflicher, junger Mann, dessen Zukunft keine mehr war. ~+~+~* Tomoyasu folgte Takafumi langsam in den schmalen Behandlungsraum. Der war anders ausgerüstet als der größere Raum mit den Liegen, die man durch Vorhänge und Raumteiler separierte. Hier gab es neben dem Paravent zum Entkleiden über der sehr stabilen, höhenverstellbaren Massageliege auch Hilfsmittel an der Decke: Flaschenzüge auf Schienen mit Greifschlaufen, für einfache Sitzgeschirre und weitere Apparaturen. Der Raum für die Reha-Patienten, nicht nur zur Behandlung, sondern auch zur Erprobung der Bewältigung eines neuen Alltags: wie man in eine Wanne kam, auf die Toilette, ins Bett. Bewegungsabläufe neu erlernen oder wieder einüben. Tomoyasu hatte den gewohnten Rhythmus seiner Behandlungen unterbrechen müssen. Ein Leistungstest, nach der täglichen Ausbildung und Schulung. Deshalb akzeptierte er dankbar das Angebot am Sonntagmorgen. Unbeholfen tappte er hinter den Paravent, stellte die Krücken vorsichtig ab, sich an die Wand lehnend. Manchmal, wenn er zu erschöpft war, konnte er nicht mal mehr aus eigener Kraft aufrecht stehen. Jetzt verzweifelte er stumm an seinem durchnässten Schopf. Der Regenguss hatte ihn erwischt, nachdem die Kapuze von seinem Kopf gewischt worden war. Für jeden anderen keine große Mühe, sie zurecht zu ziehen. Er hätte jedoch eine Krücke fahren lassen müssen, auf schlüpfrigem Grund. Also lieber nass als gestürzt. Hätte er sich die Haare wie früher kurz trimmen lassen! Doch Frisierstühle waren eng, ihm schliefen häufig die Beine ein, zu gefährlich. Die Mutter bitten, die ohnehin keine Zeit hatte? Für den Rasierer jedenfalls waren sie schon zu lang. Tomoyasu rang mühsam mit der angeschmiegten Regenjacke, pellte sie endlich herunter, löste sich aus dem Hemd. Die Hose, die Socken: ein Balanceakt, genau zu überlegen. Mittlerweile genügte es wenigstens, den Gürtel zu lösen. Die Hose fiel ihm von allein auf die Knöchel. Da musste man sich nur bücken. Oder wie er selbst mühsam an der Wand abstützend mit dem mageren Hintern eine Sitzgelegenheit anzielen, nach vorne klappen, die Fesseln um die Knöchel samt Socken herunterziehen, sich erneut nach oben kämpfen, an der Wand oder auf den Krücken. Ein Leben in Zeitlupe, jeden kleinen Vorgang bedenkend. Takafumi wartete bereits mit einem Handtuch für den tropfnassen Schopf. "Ich entschuldige mich für die Umstände. Vielen Dank für die Nachsicht." Er senkte den Kopf, sich bewusst, dass er auch den Oberkörper... doch die Höflichkeit blieb geschuldet, da er umzufallen fürchtete. "Es sind keine Umstände, Sawa-sempai. Bitte!" Langsam, mit einer Hand die Liege umklammert, den anderen Arm zur Sicherheit ausgestreckt, setzte Tomoyasu sich, wahrte eisern die Disziplin. Ein flamingo-farbenes Handtuch trocknete behutsam, aber effizient seine nassen Strähnen. Takafumi stützte ihn, sich flach auf den Rücken abzulegen. Tomoyasu schloss die Augen. In seinem Elend hätte er sie vorzugsweise nicht mehr öffnen müssen wollen. ~+~+~* Takafumi erprobte die Lage des Stützkissens unter dem Nacken. "Ich beginne mit einer leichten Massage." Kündigte er an, verteilte ein mildes Öl auf seinen Handflächen. Ein Arm, von den Fingerspitzen bis zu den Schulterblättern, ein Bein, die empfindlichen Fußsohlen bis zum Oberschenkel. Wechselseitig die anderen Körperglieder. Leichte Rolle auf den Bauch, ohne jede Mühe durch Tomoyasu zu absolvieren. Die Beweglichkeit seines Oberkörpers blieb. Aber wie mager war er geworden, zeichneten sich die Rippenbögen am Brustkorb deutlich ab! Takafumi erkletterte geübt die Liege, arbeitete auf Knien vom Nacken herunter, drehte sich, schob die Unterhose tiefer, um von den unteren Lenden hinab die ehemals so knackigen Pobacken zu massieren. Es hieß, Tomoyasu habe keinen Appetit mehr. Sicher, weniger Gewicht entlastete auch die Beine und Gelenke, doch es ging auch notwendige Muskelmasse verloren! Außerdem, das Idealgewicht, um das er sich vorher aktiv hatte bemühen müssen, unterbot er jetzt mühelos. Takafumi rutschte von der Liege, signalisierte Tomoyasu, sich herumzudrehen. Bevor der jedoch den Sitz der Unterhose wieder korrigieren konnte, fing er beide Handgelenke ein, band die Greifschlaufen fest genug, dass Tomoyasu sich nicht herauswinden konnte. "Aber...?" Er schob einen Beißkeil zwischen Tomoyasus Kiefer, justierte ihn mit einem dünnen Band, schlüpfte aus Arbeitskittel und -hose, bevor er nackt die Liege bestieg. "Ich hab die Schnauze voll, sempai. Ich weiß, was da vorgeht." Er tippte auf die von langen Strähnen befreite Stirn. "Dieser ganze Samurai-Judo-Meister-Quatsch von aufopfernder Selbstdisziplin, von der eitlen Nichtigkeit des eigenen Werts, der kurzen Blüte der Kirsche, blablaba!" Ätzte er grimmig, beugte sich vor. "Die ganze Chose von 'ich bin nichts mehr wert, nur noch eine Last, eine Bürde für meine armen Eltern, ein Nichtsnutz, ein Versager, eine einzige Enttäuschung'! Dass die ganzen Anstrengungen sich nicht lohnen, es nie mehr besser wird, keine Zukunft gibt, bloß Schmerzen und Elend. Aber die Ehre gebietet, in Selbstverachtung bis zum bitteren Ende auszuharren, keinen Mucks von sich zu geben! Auch wenn man täglich mindestens einmal kontempliert, sich an den nächsten verdammten Kirschbaum zu hängen." Takafumi klemmte die Nasenspitze zwischen zwei Fingern ein, achtete aber darauf, die Luftzufuhr nicht zu behindern. "Ja, verdammt, es IST scheiße, was dir passiert ist, sempai! Wenn ich an irgendwelche Götter glauben würde, träte ich ihnen in den Arsch, bis ich oben rauskomme!" Er schnaubte aufgebracht durch. "Leider sieht es in der Hinsicht schlecht aus. So, wie du die ganze letzte Zeit! Deshalb reicht's mir jetzt. Ich lass nicht zu, dass du vor die Hunde gehst und denkst, 'die Sache ist gelaufen, ich verabschiede mich!' Kommt nicht in die Tüte! Du hast EINE Party gerockt, und wie! Die ist vorbei, also ziehen wir los, zur nächsten! Vergiss den ganzen Dojo-Scheiß!" Damit lehnte er sich zur Seite, fischte ein Stoffbündel ab, das er vorbereitet und unter der Liege deponiert hatte. "Übrigens solltest du wissen, dass ICH den Termin erfunden habe. Die Praxis ist bis zum Nachmittag geschlossen." Takafumi streifte die Unterhose geübt Richtung Fußknöchel. Ausbruchsversuche von Seiten Tomoyasus befürchtete er nicht, weil der sich ohne die hochgebundenen Arme nicht ausreichend abstützen konnte. "Hat auch keinen Sinn, an meine besseren Eigenschaften zu appellieren. Oder mein Gewissen." Er beugte sich vor, küsste Tomoyasus Stirn grinsend. "Hab ich nämlich nicht." ~+~+~* Eigentlich war Takafumi sehr zufrieden mit sich. Seine gezielten Streicheleinheiten, der Kontakt mit seiner nackten Haut: Tomoyasu reagierte sichtlich auf ihn, atmete heftig, zuckte unwillkürlich. Selbst die Körpertemperatur stieg erfreulich an. Bloß, verflucht noch mal! Wie schwierig konnte es denn sein, sich diesen aufmerksam aufgerichteten Schwanz in den Hintern zu schieben?! DAS hatte er sich sehr viel leichter vorgestellt! Tomoyasu konnte ihm keine Stütze bieten, keine angewinkelten Beine beispielsweise. Hocken, fingern, konzentriert ansteuern, dann...! Takafumi rang zornig nach Luft. Er WAR geil, so, dass es schon unangenehm wurde, sein eigener Schwanz pochte ärgerlich. Nur kam er einfach nicht dazu, ordentlich einzulochen! Wo er doch schon alles vorbereitet hatte, es glitschte! "Scheiße! Verdammt, verdammt, verdammt!" Brüllte er enragiert, in der Sicherheit, dass niemand sie hören konnte, kauerte auf allen Vieren über Tomoyasu. Vielleicht mit den Hintern zugekehrt? Obwohl er das nicht wollte, weil er ja sehen MUSSTE, wie es Tomoyasu gefiel! Der keuchte pfeifend, immer noch geknebelt. "Verdammt!" Schimpfte Takafumi, zerrte das Band herunter, fischte den speichelnassen Beißkeil heraus. Prompt hustete und ächzte Tomoyasu erbärmlich. "He, he, alles gut!" Umfasste Takafumi spontan dessen Kopf, küsste ihn, erst tröstend, dann leidenschaftlicher, gieriger, ausgiebig und gründlich. Als er sich widerwillig zurückzog, glänzten die schwarzen Augen von Tränen poliert. Takafumi lehnte die Stirn an die des Älteren. "Ich werd dir nicht wehtun, versprochen! Du kommst in mir und gehst so richtig ab, ja?" Tomoyasu stöhnte leise. "Was ist? Sempai, sag's mir, ja? Bitte!" Alarmiert kämmte Takafumi durch die langen Strähnen. "...meine Arme...schlafen ein..." "Verdammt! Sekunde!" Richtete sich Takafumi eilig auf, löste in Blitzgeschwindigkeit die engen Schlaufen, massierte nacheinander Hände und Arme, legte sie schließlich neben dem ausgestreckten Körper ab, seufzte. "Ich bin immer noch geil, sempai. Ob wir es mal im Sitzen versuchen?" "Wie machst du es sonst?" Takafumi ließ sich auf Tomoyasus Oberschenkel zurücksinken. "Na ja, ehrlich, normalerweise loche ich ein. Darin bin ich ziemlich geübt. Umgekehrt hab ich es nur ein Mal gemacht, das lief nur so lala. Aber das ist ja wurscht, wenn's um dich geht. Du sollst dich genial fühlen und so richtig abgehen!" Er klapste sich selbst demonstrativ auf die gelupfte Kehrseite. "Knackig, eng, gut präpariert, da bleiben keine Wünsche offen!" Deklarierte er marktschreierisch engagiert. Tomoyasu unter ihm blinzelte. Perlen lösten sich, glitten über seine Augenwinkel herunter. "He." Takafumi beugte sich vor, leckte sie mit der Zungenspitze ab, spürte zu seiner Verblüffung plötzlich Arme um die Schultern, die ihn unerbittlich herunterzogen. "Mach es so, wie du es gewohnt bist." Ungeachtet seines fehlenden Gewissens fühlte sich Takafumi genötigt, Warnhinweise auszusprechen. "Sempai, das würde bedeuten..." An seinem Ohr erklang ein gequältes, heiseres Auflachen. "So oder so ist es mein Erstes Mal. Wie eben mein erster Kuss." Takafumi hätte sich verblüfft aufgesetzt, doch die Muskelkraft in den Armen hatte Tomoyasu noch nicht verloren. So gab er keinen Millimeter nach. "Möchtest du mehr? Mehr Küsse?" Nicht mehr als ein Hauch als Antwort, für Takafumi mehr als genügend. Er drehte den Kopf leicht, ließ sich gewiss nicht lumpen! ~+~+~* Das Vorgehen verlangte gelenkige Geschmeidigkeit. Takafumi wollte der Arme um seine Schultern nicht verlustig gehen, aber auch die Präparationen ordentlich vornehmen. Deshalb hatte er Tomoyasus Beine an den Knien mit Schlaufen gelupft. Der Winkel des Eindringens war schließlich entscheidend! Allein die Sorge um Tomoyasu verhinderte, dass es vorzeitig zu einer Explosion seines unablässig pochenden Schwanzes kam! "Es geht los, sempai." Kündigte er an, küsste kurz die speichelfeuchten Lippen. Attraktive Röte zeichnete das asketische Gesicht des Älteren. Takafumi hob die Hüften an, drang mit zischenden Atemzügen mühevoll langsam vor. Nur nicht übertreiben, nur nicht zu schnell vorgehen, immerhin konnte Tomoyasu ihm nicht assistieren! Er lauschte auf das erstickte Stöhnen. Finger drückten sich in seine Schultern. Wenn sie sich entspannten, arbeitete er sich weiter vor. So vorsichtig war er noch nie vorgegangen. Er schwitzte heftig, rang nach Luft, als er entschied, dass sie sich nun erst mal an die direkte Verbindung gewöhnen mussten. Da glitten Tomoyasus Hände von seinen Schultern, umklammerten seine Ellenbogen. "Weiter...bitte...weiter..." Takafumi lächelte erhitzt. "Ist mir ein Vergnügen, sempai. Ich liebe dich, übrigens." Er rollte sich zusammen, um gleichzeitig Schwung aufnehmen, dabei Tomoyasu küssen zu können. Der ließ ihn nicht los, rang schluchzend nach Luft, gab nicht nach. Takafumi löste eine Hand, um Tomoyasus Glied zu umfassen. Nur mit Übung zu koordinieren! Aber er stand im Wort, dass Tomoyasu sich genial und galaktisch fühlen würde, also warf er alles an Expertise, Erfahrung und Hingabe in die Waagschale. ~+~+~* Takafumi tupfte die Haut trocken, streichelte über die noch zitternden Sehnen in den abgemagerten Beinen. Er half Tomoyasu, sich aufzusetzen, legte ihm ein Handtuch um die Schultern, ließ sich neben ihm auf der Liege nieder, kaperte selbstherrlich eine Hand, umschloss sie. "Mit mehr Übung wird es noch besser, sempai. Wir können auch andere Stellungen ausprobieren, weißt du? Man muss immer ein bisschen tüfteln, bis es wie geschmiert läuft." Tomoyasu lehnte sich an seine Seite. "Warum hast du das getan?" Beifällig nickte Takafumi, drückte die Hand aufmunternd. "Sehr gute Frage! Also, das könnte ein bisschen dauern! Willst du dich anziehen, damit dir nicht kalt wird?" "Ich würde mich gern frisch machen." "Klar! Gehen wir unter die Dusche. Halt dich an mir fest, ja, sempai?" Geschickt stützte Takafumi den Älteren ab, schlang ihm ungeniert einen Arm um die Taille. "Wir müssen gerade über den Flur, da ist der Personalbereich." Geduldig, ohne Eile durchquerte er mit Tomoyasu die Praxis, den kleinen Personalraum mit den Spinden. Sie suchten spartanische Dusche auf. "Geht es? Ich hole gerade unsere Kleider, okay?" Damit wischte Takafumi munter heraus, sammelte ihre Bekleidung ein, flitzte fröhlich zurück. Tomoyasu wartete, mit einer Hand an der Wand abgestützt. Ohne Hemmungen legte Takafumi sich Tomoyasus Arme auf die Schultern, grinste gut gelaunt, die knapp fünf Zentimeter Größenunterschied überbrückend, wenn Tomoyasu sich denn aufrecht hielt. Er angelte nach dem Brausekopf am Schlauch, kontrollierte erst die Temperatur, bündelte den Strahl auf ein luftiges Sprudeln. Tomoyasu gewährte ihm widerspruchslos alle Handreichungen, das Einseifen und auch Abtrocknen, ließ sich beim Anziehen helfen. Takafumi nahm ihn erneut bei der Hand. "Geht es so? Bis ins Büro?" Die halbe Strecke gelang Tomoyasu, da taumelte er zur Wand hin. Prompt griff Takafumi zu, balancierte ihn aus, umschlang die schlanke Taille. So erreichten sie das kleine Büro hinter der Anmeldung. Auf dem Bürodrehstuhl konnte Tomoyasu durchatmen. Takafumi hockte sich mit einer Pobacke auf den Schreibtisch, strich sich über die kurzgeschnittenen Haare. "Also, ich war ein Fanboy von dir, sempai. Ungefähr zwei Monate, allerdings, dann hat mich die Pubertät erwischt." Er grinste schief. "Ich hoffe, das graust dich jetzt nicht zu sehr, aber du bist total mein Typ. Groß, trainiert, knackig, da steht ER stramm!" Tomoyasu blickte auf, ein winziges Lächeln auf den Lippen. "Bitte fahr fort, Takafumi." Der strahlte wie ein Kronleuchter. "Gut, mir war schon klar, dass ich erst mal keine Chance habe, weil a) ungeübt und b) ein bisschen arg jung. Außerdem warst du ja enorm ausgelastet, Prüfungen, Training, Wettkämpfe und so weiter! Da musste ich mich schon mausern, aber gewaltig!" Takafumi rutschte auf der Schreibtischplatte umher, senkte den Blick für einen Moment. "Na schön, anfangs dachte ich, ich bin bloß notorisch geil. Nicht, nun ja, persönlich. Kann man ja auch kompensieren, Karate, Ein-Hand-Hobeln." Er seufzte sanft. "Da habe ich die Sache mit den Fischen gesehen." Tomoyasu erstarrte. "Ich hab dich jetzt nicht gestalkt oder so. Ich wollte bloß ein Autogramm auf dieses Werbeplakat haben, hier, vom Gemüsehändler. Weil ich aber gerade mal wieder Krach mit meinen Alten hatte, war ich zu spät, hatte deinen Wettkampf verpasst. Da dachte ich mir eben, ich lauf dir so nach! Ich klebte an deinen Hacken, wollte nen günstigen Moment abpassen. Hab gesehen, wie du bei dem alten Stinker eingebrochen bist, um die Fische zu klauen." Nun hob Takafumi den Kopf, schmunzelnd. "DA wusste ich, auf einmal, wie bei nem Volltreffer: ich liebe den Burschen! Der isses! Gar kein Zweifel." Die Finger in die Sitzfläche des Bürodrehstuhls grabend sammelte Tomoyasu sich. "Das kann ich erklären! Ich wollte nur...!" "Die Fische retten, war mir schon klar." Grinste Takafumi sonnig, beugte sich vor, eine von Sorgen gefurchte Stirn küssend. "Du... hast nichts...gesagt." "Dich verpfiffen?! ICH?! Nie im Leben! Ich hätte dir applaudiert, wenn es nicht Aufmerksamkeit auf uns gezogen hätte!" Deklamierte Takafumi aufgekratzt. Tomoyasu betrachtete ihn hilflos. "Hab ich schon erwähnt, oder? Kein Gewissen! Ich gelte als Oni oder Dämon, jedenfalls als superschlechter Einfluss! Meine Großmutter sagt immer, wenn sie mich vom Schrein-Gelände jagen, ist schon die Hälfte der spirituellen Reinigung erledigt." Verkündete Takafumi aufgeräumt. "Du bist kein Dämon. Oder ein schlechter Mensch." Widersprach Tomoyasu zögernd, was Takafumi ein Grinsen entlockte. "Kommt immer auf die Position an, schätze ich. Juckt mich aber auch nicht. Ich hab's nicht mit Göttern oder anderem Gelump. Ich lass mich nicht knechten, runterputzen oder demütigen, damit andere nen Lenz schieben können, es hübsch bequem haben!" Knurrte er mit wildem Augenrollen. "Außerdem weiß ich, dass du die Fische gerettet hast, ins Aquarium bei dieser Pflegeeinrichtung mit dem Kinderhort. Von meiner Seite: alle Daumen hoch!" Tomoyasu blickte zur Seite. "Es stimmt, dass ich eingebrochen bin. Die Tür war nicht verschlossen, dennoch... Ich hatte ihm mehrfach angeboten, ein anderes Aquarium zu besorgen, es zu putzen, mich darum zu kümmern, dass wenigstens einige der Fische woanders unterkommen. Er hat abgelehnt, mich ausgelacht. Er WOLLTE sie quälen. Zusehen, wie sie sich im Stress beißen, sie ständig aufscheuchen. Das ist nicht in Ordnung. Man darf Tiere nicht so behandeln, wenn man sie ihrer Freiheit beraubt. Es ist nicht RICHTIG." Takafumi beugte sich vor, umfasste Tomoyasus Kopf sanft, küsste ihn, zwinkerte. "He, ich weiß, dass du ein Tierfreund bist, sempai! Umgekehrt scheinen dich die Viecher auch zu mögen." Der Ältere blinzelte, ein wenig verlegen. "Weißt du, er hat mal eine Geldbuße bezahlen müssen, weil er einen kleinen Hund totgetreten hat. Das sagte mir der Polizist im Koban, als ich ihn fragte, was man tun könnte. Die ganze Nachbarschaft sah das Glas ja." Takafumi glitt von der Schreibtischkante, richtete sich rittlings auf Tomoyasus Oberschenkeln ein, legte ihm die Arme um den Nacken. "Das wusste ich nicht. Aber mir hat genügt zu sehen, was du getan hast. Gegen all die properen Regeln anzugehen, um ein paar Fische zu retten, obwohl das gegen den Kodex verstößt, dich in größte Schwierigkeiten bringt. Ich weiß Bescheid über all den Samurai-Dojo-Scheiß, Ehre über alles, immer steife Oberlippe, nie aus der Rolle fallen, den ganzen Kram. Nichts davon sanktioniert das Klauen von ein paar armen, misshandelten Viechern, die nicht mal niedlich sind." Führte er ernst, sehr pointiert aus. Bevor Tomoyasu etwas erwidern konnte, tippte er ihm mit einem Zeigefinger auf die Lippen. "Da habe ich angefangen, dich zu lieben, für die Person, die du wirklich bist, ohne den Kampfanzug und all die Manierismen. Ich hab rumgevögelt, das stimmt, weil ich es brauche, nicht ausschwitzen kann. Eigentlich wollte ich auch warten, bis ich ein halbwegs brauchbarer Zeitgenosse bin, bevor ich vor dir die Hosen runterlasse. Aber dann kam der Unfall. Ich hab bemerkt, wie du dich langsam aufgegeben hast. So, und da dachte ich, 'scheiß auf seine Würde und Selbstbestimmung!' Ich lass nicht zu, dass du kaputt gehst! Ich bin noch kein vorzeigbarer Kerl, aber ich habe die Ausbildung bei meinem Onkel sicher! Ich bin körperlich verdammt belastbar, flexibel, regelmäßig geil, pflege keine teuren Hobbys und liebe dich seit drei Jahren! Keine verdammte Chance in der Hölle, dass ich DICH aufgebe wegen blöder Ehrpusseligkeit, läppischen Werteinstufungen oder deiner persönlichen Eitelkeit!" Schloss er feurig seine Ansprache ab, funkelte Tomoyasu an. Der starrte ihn fassungslos an. Takafumi zuckte beiläufig mit den Schultern. "Ich hab im Dojo Sprechverbot." Erklärte er unaufgeregt. Karate trainierte er selbstverständlich weiterhin auf hohem Niveau bei seinem Onkel, studierte den Älteren nachsichtig. "Ja, gut, du könntest es bestimmt pflegeleichter treffen, aber ich verfüge auch über Qualitäten. Wenn ich lange genug suche." Zwinkerte er herausfordernd. Tomoyasu wandte den Kopf ab. "Das... es gibt...Gründe, warum ich... warum wir..." Er brach ab. Takafumi küsste eine zugewandte Wange. "He, sempai, ich habe dir gerade eine Liebeserklärung und einen Antrag gemacht, ja? Wenn's Konkurrenz gibt, blas ich die weg. Wenn nicht, gib MIR die Chance! Lass uns zusammen die Party rocken, okay?" Tomoyasu ächzte, hob die Hände, rieb sich die Schläfen. "Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Das ist alles zu viel!" Weshalb Takafumi sich eingeladen fühlte, Tomoyasus Kopf zu umfassen, ihn leidenschaftlich zu küssen. Eine dringend angezeigte Atempause nutzte er für einen Appell. "Denk nicht nach, sempai! Vertrau dich mir an. Ich lass dich nicht im Stich. Ich geb dich nicht auf." Tomoyasu keuchte schließlich seine Zustimmung, sonst wäre er wohl unter den Schreibtisch gerutscht, weil Takafumi einfach die bessere Taktik mit Verve verfolgte! ~+~+~* Kapitel 5 Takafumi empfand eine nicht zu unterschätzende Erleichterung. Endlich musste er nicht mehr an sich halten, wenn er Tomoyasu sah. Zugegeben, man hätte die Anzahl der Enthüllungen ein wenig geschickter dosieren können, aber mit einem Eimer hielt man ja auch keinen Wasserfall mit Dammbruchqualitäten auf, oder?! Zumindest sein Onkel schien keinen Verdacht zu schöpfen, als er wie gewohnt bei der wöchentlichen Massage erschien. Tomoyasu warf ihm hingegen, noch ohne Tuch über dem Gesicht, einen erschrockenen Blick zu, ballte die Fäuste. "Takafumi, sei so nett, die Handtücher und Auflagen aus dem Lager aufzustocken. Bitte." Für den sanftmütigen Onkel eine sehr eindringliche Aufforderung, sich zu verflüchtigen. Betroffen grummelte Takafumi eine Bestätigung, marschierte wie aufgezogen hinaus. ~+~+~* Tomoyasu schleppte sich erschöpft auf den Krücken zum Ausgang der Praxis. Die Massagen kosteten ihn Kraft, weil er ja auch mitarbeiten musste, Krankengymnastik eben. Außerdem hatte er schon eine zehrende Wochenhälfte hinter sich, in einer Ausbildung, die ihn spüren ließ, dass man sie nicht für vollwertige Beschäftigte hielt, ganz gleich, welche körperliche Beeinträchtigung sie in welchem Grad vorweisen konnten. Sie würden als Quoten-Beschäftigte geführt werden, um sich Geldbußen zu ersparen, aber inoffiziell als Ballast gelten. Kaum hatte sich die automatische Tür hinter ihm geschlossen, stand er im Geschossflur, lauerte Takafumi ihm auf. "Lehnst du mich wirklich ab? Lass uns oben sprechen!" Bevor Tomoyasu reagieren konnte, entzog Takafumi ihm die Krücken. "Häng dich ein, sempai." Damit stellte er einen Ellenbogen aus, zum Aufzug hin blickend. Tomoyasu atmete tief durch, bevor er der energischen Aufforderung nachkam. ~+~+~* "Hier, halt dich an meinen Schultern fest. Wir gehen gemeinsam in die Knie." Takafumi assistierte geübt, bis Tomoyasu tatsächlich auf den ausgelegten Sitzkissen, drei übereinander, saß. Es hatte den Älteren Überwindung gekostet. Seine Knie arbeiteten keineswegs verlässlich, er fühlte sich wie eine Seekuh an Land, massig, unbeweglich, plump. Wenn er sich mühevoll zu erheben versuchte, sich seitlich an eine Wand lehnen musste, die Knie festhalten: einfach erbärmlich. Die Stützen, die er tagsüber trug, fingen abrupte Bewegungen ab, um gefährliche Stürze zu verhindern. Gleichzeitig hinderten sie aber auch daran, allzu schnell wieder "aus dem Knie" zu kommen. Ging er zur Massage, ließ er sie weg, eine Auflage der Krankengymnastik. Takafumi hockte sich auf die Tatami-Matten seines kargen Zimmers. "Also, was ist los? Darf ich dich jetzt nicht mehr anfassen? Ekelst du dich?" Tomoyasu strich über seine noch immer zitternden Oberschenkel. So schwach, so klapprig, kein Vergleich zum mehrjährigen Titelträger! Er atmete tief durch. "Ich kann nicht erlauben, dass du mich anfasst. Während der Massage." "Warum?! Am Sonntag hattest du noch keine Probleme! Ich KANN das, mein Onkel würde nie zulassen, dass ich herumpfusche!" Nun konnte Tomoyasu nicht anders als leise lachen, was Takafumi noch stärker aufbrachte. "Sempai! Das ist nicht fair...!" "Pscht!" Gebot Tomoyasu, der allzu deutlich nachvollziehen konnte, warum man Takafumi im Dojo Redeverbot erteilt hatte. Aufbrausend, temperamentvoll, spitzzüngig bis explizit! "Takafumi, lass mich bitte auch mal was sagen, ja?" Grummelnd verschränkte der daraufhin die Arme vor der Brust, funkelte mühsam gebändigt. "Ich kann keine Massage von dir zulassen, weil ich mich sehr deutlich entsinne, was DANACH passiert ist. Ein Teil von mir ist zwar stark lädiert worden, aber DIESES Organ funktioniert. Auch wenn es im Winterschlaf lag." Umschrieb er höflich, aber dezidiert die Situation. Takafumi litt nicht unter dieser manierlichen Zurückhaltung. "Oh, du denkst, du wirst hart, wenn ich dich massiere? He, das ist kein Problem!" "Pscht." Tomoyasu tippte Takafumi leicht mit der Fingerspitze auf die Lippen. "Ich weiß, dass es bei Körperkontakt nicht ungewöhnlich ist, Takafumi, aber DU bist nun mal nicht irgendwer. Es wäre mir außerordentlich peinlich, wenn dein Onkel registriert, wie meine...mein Befinden ist." Ärgerlicherweise schoss ihm Farbe in die noch immer asketisch mageren Wangen. Ihm gegenüber studierte Takafumi die vertrauten Züge, die Reaktionen, nahm Tomoyasus Hände von den Oberschenkeln, hielt sie locker in den eigenen. "Also liebst du mich auch, oder? Und wir sind zusammen, richtig?" Tomoyasu zögerte, verspannte sich leicht. "Ich weiß es noch nicht, weil ich noch so wenig über dich weiß. Es wäre fahrlässig, leichtfertig deine Gefühle auszunutzen." Takafumi schoss vor, küsste Tomoyasu auf den Mund. "Lern mich kennen! Ich werde ein offenes Buch sein! Explizite Inhalte eingeschlossen!" Strahlte er Tomoyasu gewinnend an. "Zum Beispiel können wir mit Sex anfangen! Da muss ich auch von dir noch mehr erfahren, auf was du richtig abfährst!" Mit einem Ruck entzog ihm Tomoyasu die Hände. "Das geht nicht!" Einen deutlich gehetzten Ausdruck auf seinem sonst so stoisch-beherrscht wirkenden, abgemagerten Gesicht. "Was?! Wieso?! Weil ich zu jung bin? Andere gevögelt habe?!" Sofort setzte Takafumi nach, brachte Tomoyasu beinahe aus dem Gleichgewicht. "Nicht deshalb!" Zum ersten Mal wich Tomoyasu nicht zurück, sondern weckte seinen eingeschläferten Kampfgeist auf. "Es liegt nicht an dir! Ja, du bist minderjährig, was mir Kopfzerbrechen bereitet, aber das ist nicht der Grund!" Er atmete tief durch, umklammerte Takafumis Handgelenke. Der hatte ihn unversehens bei den Schultern gepackt. Nein, wirklich, im Alter trennte sie die Spanne von fast sechs Jahren, aber körperlich konnten sie, wenn er sich zusammenriss, einander durchaus das Wasser reichen! "Ich schäme mich, das zu wiederholen, aber ich habe keine Erfahrung mit Sex. Oder mit Küssen. Ein Teil von mir, jenseits der Hüften, kann das alles noch nicht kompensieren. Mir fällt das Laufen schon so schwer, aber am Sonntag musste ich mir ein Taxi rufen. Die fahren aber nicht gerne Krüppel mit Krücken." Etwas erschrocken über seine harten Worte hielt Tomoyasu inne, registrierte, dass er so schnell atmete, als habe er einen Sprint absolviert, obwohl früher seine Selbstbeherrschung herausragend gewesen war. Takafumi beäugte ihn konsterniert. "Warum hast du mich dich nicht begleiten lassen? Du hast wohl extra abgewartet, dass ich dich nicht sehe, bevor du das Taxi geordert hast, wie?!" Tomoyasu seufzte, die Schultern sackten tiefer. Er gab Takafumis Handgelenke frei. "Ich hab mich überfahren gefühlt, wollte den Kopf frei bekommen, frische Luft. Aber es ist nicht wie früher, ein Gang um den Block, am Kanal joggen. Nur hin und wieder vergesse ich, dass ich..." Er senkte den Blick. Takafumi nutzte die Freiheit seiner Handgelenke, die Arme um Tomoyasus Nacken zu schlingen, ihn an sich zu ziehen. "He, sempai, entschuldige, ja? Ich hab immer Muffensausen, dass du dich doch an den Scheiß-Ehren-Kodex hältst. Ich bin vielleicht ein Oni, ein Dämon, ein abschreckendes Beispiel, aber du kannst dich auf mich verlassen, okay? Vertrau dich mir an, bitte. Ich werde dich nicht unterbuttern oder ausnutzen oder bloß tolerieren!" Tomoyasu zuckte bei diesen Wirkungstreffern zusammen, ganz unwillkürlich. "An deinem Taktgefühl könntest du noch ein wenig feilen." Bemerkte er leise, mit einem nachsichtigen Schmunzeln, richtete sich auf. "Du bist kein Oni oder Dämon. Das kommt mir wie eine Ausrede vor, aggressiv andere vor den Kopf zu stoßen, bevor sie es bei dir tun." Takafumi grinste schief, hielt die Umarmung locker aufrecht. "Maßregelst du mich gerade, sempai?" "Funktioniert es?" Anstelle einer Antwort küsste Takafumi die tadelnden Lippen verschmitzt, lehnte die Stirn an. "Ich liebe dich. Es tut mir leid, dass ich so aufbrausend bin, dir gegenüber." Bei anderen hielt er Rücksichtnahme jedoch nicht für dringend angezeigt. Oder ganz ausgeschlossen, wenn er sie partout nicht ausstehen konnte! Tomoyasu hob die Hand, kniff ihn sehr sanft in die Nasenspitze. Das erste Mal, dass er agierte, nicht reagierte, Takafumi aus eigenem Antrieb berührte. "Können wir uns schreiben? Nicht viel, aber als Anfang, um uns kennenzulernen?" Takafumi nickte eifrig. "Klar! Perfekt! Wir können auch Telefon-Sex haben! Ist ne Premiere für mich!" Tomoyasu rollte die Augen. Das erste Mal, dass Takafumi erlebte, welche "Freiheiten" sich der stets disziplinierte Judoka nahm. "Takafumi, ich teile mir mit meinen beiden Geschwistern ein Zimmer. Diese Premiere wird bis auf Weiteres verschoben werden müssen." Eigentlich erwartete er nun enttäuschtes Schmollen, eine direkte Reaktion wie bei einem Kind. Takafumi jedoch widerlegte seine Erwartungen, grinste, küsste ihn zärtlich. "Na, ich kann auch verzichten, wenn es bedeutet, dass wir zusammen leben. Ist nämlich meine Absicht, weißt du? Sobald genug Kröten zusammen sind." Nun zögerte Tomoyasu. Seine Zukunftsaussichten waren alles andere als rosig, selbst wenn man den rapiden Bevölkerungsrückgang ins Kalkül zog. "He!" Wurde seine Nasenspitze eingeklemmt. "Ich sehe dich denken, sempai! Mach dir keinen Stress, wir finden eine Lösung, klar? Bange machen gilt nicht. Im Moment treffen wir uns einfach hier. Passt schon!" Gegen Takafumis unbeirrbare Überzeugung schien es kein Rezept zu geben. In diesem Augenblick gurgelte Tomoyasus Gürteltasche gedämpft. Er nutzte sie zur Aufbewahrung der Dinge, die man schnell zur Hand haben musste. Bei einem Rucksack dauerte es wegen der Krücken zu lange. Umhängetaschen kamen aufgrund der Balance nicht in Frage. "Oh! Das wird meine Schwester sein!" Takafumi angelte die Gürteltasche mühelos heran, überreichte sie ihrem Besitzer, der eilig nach dem Mobiltelefon fahndete. "Sie machen sich Sorgen, wenn ich zu lange brauche. Wegen des Unfalls." Hastig tippte Tomoyasu eine Replik. Takafumi seufzte vernehmlich. "Tja, aus einer schnellen Nummer wird wohl nichts, hm? Wobei das sowieso nur ohne Andocken fix klappt." Tomoyasu blickte ihn sichtlich nervös an, was ihm einen schelmischen Kuss einbrachte. "Schön, sempai, ich helfe dir jetzt hoch. Wir spazieren gemütlich zu dir." Bevor Tomoyasu höflichen Protest anmelden konnte, tippte ihn ein gebieterischer Zeigefinger auf die Nasenspitze. "Das gehört zum Kennenlernen und Pärchen-Dasein, sempai! Hin und wieder musst du dich mit mir in der Öffentlichkeit zeigen." Er grinste spitzbübisch. Der Ältere schmunzelte. "Vielen Dank, Takafumi. Ich freue mich über deine Begleitung." Sehr höflich, sehr förmlich. Nun ja, so ganz konnte man eben den Verhaltenskodex der Kampfsportler nicht einfach abstreifen! ~+~+~* Takafumi weigerte sich lockerzulassen. Weil er drei Jahre ausgehalten hatte. Weil Tomoyasu einfach herzallerliebst war! Noch nie ein richtiges Date hatte! Immer nur Schule und Trainieren und Wettkämpfe, Disziplin und Fleiß, stete Kontrolle. Natürlich musste man es langsam angehen. Etwas. Mit knirschenden Zähnen. Da waren auch noch die Umstände: wenig Zeit, kaum Privatsphäre, die Einschränkungen durch die Behinderung, die schon beinahe unheimliche Anziehungskraft auf Tiere! Selbst der neurotische Kläffer aus dem 14. Stock sprang Tomoyasu nicht einfach an, wie er es sonst zu tun pflegte. "Das müssen Pheromone sein. Irgendwas in der Art." Grummelte Takafumi, hielt den Älteren einfach untergehakt. Er hatte als Ziel ein kleineres Riesenrad ausgewählt, nicht zu weit entfernt mit der Bahn, kein allzu großer Rummel. Ziemlich kitschig, jaja. Nun, wenn nicht Nadeshiko und Umenosuke dabei wären, die acht- und sechsjährigen Geschwister. Sie benahmen sich sehr artig, stellten keine Ansprüche, trugen beide einen eigenen Rucksack mit Verpflegung. Sie beäugten ihren sehr großen Bruder immer wieder aufmerksam, was Takafumi bedeutete, wie sehr der schwere Unfall sie auch betroffen hatte. Tja, also, da gingen sie eben zu viert! So lohnte sich auch die langsame Gondelfahrt, nicht wahr? Sie richteten ein kleines Picknick aus, während die Geschwister sich beim Toben auf Spielgeräten verausgabten. "Ich weiß, es ist kein Date. Aber ich konnte sie nicht zurücklassen." Plädierte Tomoyasu leise. Takafumi grinste, kämmte einige Strähnen aus dem besorgten Gesicht. "Sempai, das ist schon in Ordnung. Sind nette, kleine Fratzen, deine Geschwister! An die vielen Viecher gewöhne ich mich auch irgendwann. Ich hab Spaß. Was ist mit dir?" Tomoyasu lächelte versonnen. "Es ist erstaunlich. Ich hatte früher nie das Gefühl, etwas zu versäumen, doch jetzt merke ich, dass ich mich geirrt habe. Zeit zum Durchatmen zu haben, Zeit mit wichtigen Menschen zu verbringen, das ist sehr angenehm." Takafumi winselte knurrend. "Verdammt! Jetzt würde ich dich gern so richtig abknutschen, aber ich reiße mich am Riemen. Ich bin SEHR artig." Auch wenn seine Grimasse von den erheblichen Anstrengungen kündete, sich an dieses Gebot zu halten. Der Ältere lachte leise, nippte an einem Becher Tee, den er Takafumi reichte. "Indirekter Kuss, hm?" Versöhnt feixte Takafumi. Verflixt, wie er Tomoyasu liebte! ~+~+~* Takafumi fand, dass es eine tolle erste Verabredung gewesen war, vor allem, wenn er daran dachte, wie Tomoyasu lächeln konnte. DAS war im Dojo streng untersagt. Emotionen mussten ausnahmslos verborgen werden, das Gesicht eine Maske, ein unveränderliches Pokerface. Tomoyasu strahlte, wenn er zusah, wie Takafumi mühelos die Geschwister "fliegen" ließ, wild herumkreiselte, sie hochwarf. Das glückselige Kreischen der Kleinen zauberte ihm einen Glanz auf die noch immer asketischen Gesichtszüge, der die Sonne ersetzen konnte. Takafumi hatte es, nach eigener Einschätzung, nicht so mit kleinen Kindern, doch die hier schienen eine Ausnahme darzustellen. Er mochte sie. Er würde sich ohnehin an sie gewöhnen müssen, weil sie ja Tomoyasus Geschwister waren, richtig? Quasi Familie. In spe. Zurück ging es langsam, Nadeshiko an Tomoyasus Hand, der nur eine Krücke benutzte. Auf Takafumis Rücken hing Umenosuke wie ein Klammeräffchen, erschöpft durch die ganze Aufregung. Im Bahnhof hielten sie sich auf der Seite, nicht im besonders geschäftigen "Mittelstrom" der Reisenden. Trotzdem rempelte man Tomoyasu an, der Nadeshiko abschirmte, an der Wand laufen ließ. "He, pass auf, Krüppel!" Bevor Tomoyasu reagieren konnte, sich abfangen, wuchs Takafumi aus dem Boden, riss sein Mobiltelefon hoch. "Ah, bitte mal recht freundlich, du Arsch, du bist live auf Sendung! Samt deiner beiden Buchstützen! Na, tolles Image für deine Firma, am Sonntag stockbesoffen Passanten angreifen, Kinder belästigen! Uh, und hier haben wir auch gleich noch das Namensschild! Prima, kannst gleich noch deinen Boss grüßen. So ne Imagebildung macht sich bestimmt gut auf der Karriereleiter." Mit der anderen Hand packte er die gelockerte Krawatte, zischte kaum hörbar. "Wenn die Kinder nicht wären, du Sackgesicht, würde ich mit dir den Boden aufwischen. Also pack deine versoffenen Kumpane und verpfeif dich, aber pronto!" Damit stieß er den Mann demonstrativ von sich. Diese Aktion hatte schon Aufmerksamkeit auf sie gezogen, obwohl Angetrunkene am Abend im Bahnhof nicht ungewöhnlich waren. Niemand wollte sich jedoch in Streitigkeiten oder Handgreiflichkeiten einmischen, vor allem nicht, wenn es sich um recht große Männer handelte. Tomoyasu fasste nach Takafumis Hand. "Lass uns gehen, bitte." Der starrte die drei Betrunkenen nieder, die noch zu sortieren suchten, in welche Richtung sie davontaumeln sollten. Umenosuke klammerte stärker an Takafumis Hals. "He, kleiner Mann, willst du nach vorne, ja?" Ohne größere Umstände bugsierte Takafumi den sechsjährigen Jungen nach vorne, fasste ihn geübt unter. "So, weiter geht's! Wir lassen uns den tollen Tag nicht verderben, richtig? Da wirst du morgen ordentlich was zu erzählen haben, oder, Prinzessin? Gleich mit drei Verehrern auf einmal ausgegangen!" Nadeshiko, die Tomoyasus Taille bange umschlungen hatte, lächelte zögerlich. "Ich glaube, dass ich Brüder nicht mitzählen darf. Oder?" Takafumi grinste breit. "Oh, das musst du nicht erwähnen! Da gibt's nämlich ein Sprichwort: der Kenner genießt und schweigt!" Prüfend äugte sie zu Tomoyasu hoch, als letzte Instanz. Der zwinkerte. "Immerhin ist Takafumi noch übrig, wenn du uns zwei abziehst." "Genau! Ich bin ziemlich prächtig, so alles in allem!" Prahlte der übertrieben, schwenkte nach links und rechts aus, was Umenosuke glucksen ließ. "Bloß ein Manko habe ich!" Ließ er lamentierend den Kopf hängen, sich der Aufmerksamkeit aller drei Geschwister bei seiner Vorstellung gewiss. "Ich kann so überhaupt nicht kochen! Wahrscheinlich werde ich mal verhungern!" Nadeshiko drehte sich im Laufen halb herum, wieder eine Hand von Tomoyasu haltend. "Hast du das nicht in der Schule gelernt?" Berechtigte Frage. Entsprechende Lehrpläne sahen gewisse Lektionen verpflichtend vor. Takafumi schnaubte. "Ich bin amtierender Titelträger von 'Beinahe hätte man's essen können'! Irgendwas ging immer schief!" Beklagte er sich jammervoll. "Oje." Bekundete Nadeshiko mitfühlend, merklich grübelnd, wie man dieser Misere wohl abhelfen könnte. "Also, wenn du Hunger hast, kannst du zu uns kommen. Zusammen kochen, das schaffen wir!" Bot sie eine Lösung an. Takafumi grinste breit. "Das sollten wir mal probieren, oder? Wenn wir mal Zeit haben?" Erneut äugte Nadeshiko zu Tomoyasu hoch, der Autorität. Der schmunzelte. "Das lässt sich bestimmt einrichten. Hast du schon eine Idee, was wir machen könnten?" Nadeshiko stellte prompt sehr konzentriert Menüvorschläge auf: was sie schon mal gelernt hatte, was lecker war, was einfach und was schwierig zu bewerkstelligen. Umenosuke brachte sich auch ein, damit seine Leibspeisen nicht vernachlässigt wurden. Über diesen Diskurs erreichten sie gemächlich das Wohnhaus, wo man die beiden Kinder erfreut empfing ob der guten Laune trotz eines langen Tages. Tomoyasu wandte sich Takafumi zu, der ihm eilig, flüsternd zuvorkam. "Entschuldige wegen vorhin, ja? Vor den Kindern prügel ich mich nicht herum. Ich hab bloß eine Affenarsch-Allergie. Die bricht spontan aus." Entschieden ein Glucksen unterdrückend antwortete Tomoyasu trocken. "Wie gut, dass diese Allergieauslöser nicht bemerkt haben, dass dein Akku leer war." Takafumi zuckte feixend mit den Schultern, umarmte Tomoyasu ungezwungen. "Danke, sempai. Das war ein tolles erstes Date." Tomoyasu stützte sich auf ihn, einmal mehr die Krücken verwünschend, die eine richtige Umarmung behinderten. "Ich danke dir, Takafumi. So viel Spaß wie heute hatte ich, hatten wir alle sehr lange nicht mehr." Grinsend zwinkerte Takafumi ihm zu. "Na, warte mal ab, wenn wir unser Koch-Date haben! Das wird besser als jede Spiel-Show!" Provozierte er den Älteren, aber Tomoyasu lächelte bloß, ein wenig erschöpft. "Auch darauf freue ich mich sehr. Bitte schreib mir weiterhin, ja?" Widerwillig löste Takafumi die Umarmung, salutierte zackig. "Selbstverständlich! Du kommst am Donnerstag, ja?" Dem gewohnten Massagetermin. "Das werde ich." Versprach Tomoyasu, sich durchaus des forschenden Blicks bewusst, der so viel mehr Kontext enthielt. "Dann grüß deine Eltern, sempai. Gute Nacht." "Gute Nacht, Takafumi. Komm sicher nach Hause." Tomoyasu wartete, bis Takafumi langsam außer Sicht geriet, der sich immer wieder nach ihm umdrehte. Erst danach nahm er den Aufstieg über die Außentreppen in Angriff. ~+~+~* Takafumi fieberte dem Donnerstag entgegen. Die losen Kontakte, die er zuvor gepflegt hatte, um Sexpartner zu finden, löschte er rigoros. Es hätte ohnehin nicht viel gebracht, sie waren schließlich nicht Tomoyasu! Wenn man erst mal den Richtigen vernascht hatte, wollte man nicht mehr auf Placebos zurückgreifen, die konnten nur enttäuschen. Wie vereinbart enthielt er sich der assistierenden Massage, half bei den anderen aus, indem er Handtücher und Auflagen nachfüllte, im Büro assistierte, am Empfang grüßte. Da, endlich, konnte er Tomoyasu an die Hand nehmen! Der Aufzug wurde schon von anderen genutzt, sodass man sich bescheiden musste, aber...! Kaum die Wohnungseingangstür geschlossen wirbelte er Tomoyasu herum, küsste ihn sturmreif. Sicher eine Wand in dessen Rücken wissend, ihn geschickt stützend konnte ja nichts Schlimmes passieren! Bis auf die Hand, die schließlich hinten an seinem Arbeitskittel nachdrücklich zerrte, eine Pause verlangte. "Takafumi!" Ächzte Tomoyasu, merklich errötet, außer Atem. "Tschuldige, sempai! Ich bin SOOOOO am Limit!" Bekannte Takafumi ungeniert. "Lass mich wenigstens mal reinkommen. Die Schuhe..." Bevor Tomoyasu sich eine kleine Unterbrechung aushandeln konnte, hatte Takafumi zugefasst, Füße nacheinander gelupft, die einfachen College-Slipper abgestreift. Nun drehte er Tomoyasu auch gleich noch selbstherrlich, pellte ihn aus der Regenjacke, fasste ihn um die Hüfte, hob ihn an. "Festhalten, sempai!" Was blieb Tomoyasu übrig, der unversehens seiner Krücken verlustig ging?! Einige große Schritte weiter in Takafumis Zimmer wartete bereits die ausgelegte Futon-Matratze mit Auflage. Ohne erhebliche Mühe nutzte der trainierte Abrollreflexe, ließ Tomoyasu sinken, machte sich auch sofort über ihn her, den lästigen Anzug und das Hemd abzustreifen. "Das kann ich selbst! Nicht so schnell!" Proteste blieben ungehört. Takafumi agierte wie ein Derwisch auf höchster Umdrehung: Tür blockieren, Anzug und Hemd auf Bügel an Knopfgarderobenleiste hängen, selbst blank ziehen, womit er Tomoyasu den Grad des Notstandes enthüllte, der prompt keuchte. "Ich bin noch nicht so weit!" "Aber gleich." Kündigte Takafumi an, angelte aus seinem Fundus den Stick mit dem Gleitmittel heran. Tomoyasu versuchte, sich hochzustemmen, wurde jedoch erneut ausgekontert, auf den Bauch dirigiert, ein Bein angewinkelt. Takafumi blockierte es, kauerte sich über Tomoyasus ausgestrecktes Bein. "Vertrau mir, sempai! Ich hab eine Stellung gefunden, die wir testen müssen!" "Ich bin nicht sicher...!" Jede Äußerung hätte zum Verlust der Zungenspitze geführt, das wurde Tomoyasu rasch klar, denn Takafumi ölte nicht nur den rektalen Ausgang geübt, sondern massierte auch die schüchterne Erektion zu beeindruckenden Ausmaßen. Die Fäuste geballt, zischend durch die Zähne atmend gab Tomoyasu fruchtlosen Widerstand auf, ließ sich in eine stabile Seitenlage drehen, damit ein Kondom übergestreift werden konnte. Einen Blick auf Takafumis Körpermitte verbat er sich, um nicht nervös zu werden, sich zu verkrampfen. Der hatte ordentlich was zu bieten und zu verpacken! "So, ich schlüpfe hinter dich, ziehe dich auf mich, ja, sempai? Du kannst dich überkopf festhalten." Teilte Takafumi angestrengt mit, weil er sich kaum noch beherrschen konnte. Aber er musste, bis Tomoyasu ihm quasi zerfloss, damit es richtig funktionierte! Wenn er sich langsam in dessen Körper schob, Hüfte und Beine dirigierte, die nicht mehr brav dem Älteren gehorchten, der wie empfohlen überkopf erst die Matratze beklammerte, einen Arm entbehrte, nach Takafumis Armen griff. Die Gelegenheit, die Fersen in die Matratze zu stemmen, die Muskeln anzuspannen, zu stoßen, horizontal, während ein Arm jede Flucht bremste, mit der freien Hand die stolze Erektion zu massieren. Ein Strom unartikulierter Äußerungen entfloh heiser Tomoyasus Kehle. Der drehte den Kopf, wand sich auf dem gleichgroß gewachsenen Partner, verlor rasch die disziplinierte Kontrolle über den eigenen Körper. Spasmen jagten durch Muskeln und Sehnen. Takafumi genoss jede Sekunde, die Last auf seinem Körper, die raue Melodie in seinen Ohren, die Hand, die sich um sein Handgelenk krampfte. DAS funktionierte verdammt gut! ~+~+~* Tomoyasu visierte blinzelnd die Zimmerdecke an. Er fühlte sich seltsam zerschlagen und erfüllt zugleich. Tonnenschwer und luftig leicht, als könne er mühelos schweben! "Sempai? Alles okay?" Takafumi beugte sich über ihn, kämmte ihm Strähnen aus dem Gesicht, erneut unternehmungslustig, aber auch aufmerksam. Man sollte sich schämen, aber Tomoyasu konnte das Lächeln nicht unterdrücken. Über ihm strahlte Takafumi. "Hat gut geklappt, oder? Was ist mit deinen Beinen?" Tomoyasu bewegte probeweise die Zehen, versuchte, sich auf die Seite rollend die Knie langsam einzudrücken. Nun, es ging so, wie man es nach einem langen Arbeitstag und der Massage ohne Stützen erwarten konnte, aber nicht so, dass er befürchten musste, sich nicht auf den Beinen halten zu können. Takafumi streichelte ihm über den Rücken, die Seite, küsste ihn auf die Wange. "Sempai, können wir's noch mal machen? Meiner steht schon wieder stramm." Tomoyasu rollte auf den Rücken, ächzte unterdrückt, aber der flehentlich-verlangende Blick verfehlte seine Wirkung nicht. Außerdem wollte er sich noch nicht hochkämpfen müssen, sich reinigen (besonders an einer gewissen Stelle...) und... "Wie?" Takafumi grinste. "Ich will dich ansehen können. Ist es okay, wenn ich mir deine Beine auf die Schultern lege?" Eine Augenbraue lupfend erwog Tomoyasu diese Option. "Funktioniert das denn?" Statt einer Antwort schoss Takafumi auf ihn herab, küsste ihn stürmisch. "Das finden wir gleich raus, sempai!" ~+~+~* Es war das knappe Klopfen, das Tomoyasu in die Gegenwart zurückholte. "Sawa-kun? Takafumi? Essen ist bald fertig. Wenn ihr unter die Dusche wollt, dann fix!" Nicht mal, wenn er gewollt hätte, wäre es Tomoyasu möglich gewesen, alarmiert in die Senkrechte hochzuklappen. "Ist gut!" Antwortete Takafumi nach einer Schrecksekunde. In dessen Armen er lag. "Tschuldige, sempai. Ich hab's wohl ein wenig übertrieben." Ein Kuss landete auf Tomoyasus Wange. Oh. Oh! Er musste wohl ohnmächtig geworden sein! Wie viel Zeit war vergangen?! Vage erinnerte er sich noch an Takafumis erregt-beseeltes Gesicht über sich, während sie ausgesprochen dynamisch...! "Kannst du dich aufsetzen?" Das zumindest ließ sich, wenn auch wacklig, bewerkstelligen. "Was tun wir jetzt?" Hörte Tomoyasu sich selbst verschreckt wispern. Takafumi grinste schief, kämmte ihm das Gesicht frei. "Aufstehen, duschen, anziehen, bevor das Essen kalt wird?" Er seufzte. "Scheinbar war die letzte Übungsstunde schneller vorbei als sonst. Na ja, kein Beinbruch." DAS sah Tomoyasu ganz anders, bloß änderte es die Situation nicht. "Komm, ich helfe dir. Stellen wir mal fest, was deine Beine machen." Tomoyasu rang mit sich, der Gravitation und der Balance. Besonders in seiner Mitte registrierte er Phantomgefühle, so, als wäre da noch ein pulsierender, heißer Geigerzähler am Werk! Takafumi half ihm, in eine Yukata einzufädeln, warf sich selbst ein Pendant über. "Dusche, danach essen. Deine Kleider kannst du später wieder anziehen." "Ausgeschlossen! Ich kann doch nicht so informell...!" Takafumi öffnete bereits die Zimmertür. "Sempai, bitte komm, ja? Meine Onkel sind besonders verträglich, wenn sie sich satt gefuttert haben." Durchatmend schleppte sich Tomoyasu ohne Stütze bis zur Tür, eine Hand nach Takafumi ausgestreckt. Er war nicht in einer Position zu streiten. Wirklich, was für ein Schlamassel! ~+~+~* "Ich bitte um Ihre Nachsicht! Bitte verzeihen Sie meinen ungebührlichen Auftritt!" Tomoyasu bemühte sich, so weit nach vorne zu klappen, wie es sein Zustand zuließ. In Yukata, ohne Leibwäsche, vor der Familie seines minderjährigen Liebhabers. "Ah, Sawa-kun! Bitte setz dich hierher, ja?" Der Onkel aus Hawaii offerierte einen stapelbaren Barhocker. "Kannst ihn sicher Tomoyasu nennen. Gehört ja zur Familie." "Worauf du Gift nehmen kannst, Onkelchen!" "Nenn mich nicht Onkelchen, du Wechselbalg!" "FRIEDEN!" Donnerte der Gemütsmensch imperativ dazwischen, während Tomoyasu immer noch hilflos im Türsturz stand. "Komm, sempai." Takafumi zog ihn einfach mit dem Arm um die Hüften zum winzigen Küchentresen, wo man sich zu viert quetschte, da eigentlich nur zwei Personen vorgesehen waren. "Bitte gewähren Sie mir wohlwollend die Gunst, Takafumi treffen zu können." Nahm Tomoyasu einen weiteren Anlauf. "Sag nicht, er hätte dir eine Wahl gelassen?" "He, stell mich nicht als Mistbock hin, Onkelchen!" "Pah! Ich kenn deine Sturheit, Neffe!" Tomoyasu wusste gar nicht, wo er hinsehen sollte. Oder wie er bloß diese heikle Situation meistern konnte. "Trinkst du Tee, Tomoyasu? Oder lieber etwas anderes?" Hilflos blickte er in die Augen seines Masseurs und Therapeuten, während die blutsverwandten Familienmitglieder sich zankten, wer hier sturer und eigensinniger und egozentrischer war. "Wenn es keine Mühe bereitet, nehme ich gern Tee. Vielen Dank." "Gern geschehen. Wenn ihr zwei nicht gleich Frieden haltet, esst ihr getrennt in euren Zimmern!" Erstaunlicherweise sorgte dieser Appell tatsächlich für Ruhe, auch, weil vier groß gewachsene Männer sich koordinieren mussten, um in der Enge ordentlich zulangen zu können. Ein Anlauf, beim Abwasch und Aufräumen zu helfen, wurde im Ansatz erstickt. "Neffe, bring deinen Freund nach Hause. Es soll auffrischen. Hast du überhaupt alle Aufgaben erledigt?" "Ja~ha! Wir sind ja schon weg, Onkelchen!" Tomoyasu gelang es gerade noch, einen Dank zu stammeln, da bugsierte Takafumi ihn schon wieder in sein Zimmer, assistierte beim Anziehen, streifte sich selbst eilig etwas über, küsste Tomoyasu zärtlich. "Sempai, es ist alles in Ordnung. Da ich stur BIN, waren sie schon vorgewarnt. Drei Jahre lang." Grinste er frech. Tomoyasu seufzte hilflos. "Ich weiß nicht, wie ich das alles..." "Wir haben unsere eigenen Regeln, sempai. Außerdem sind meine Onkel ja nicht von der Welt. Die waren auch mal jung, knackig und rattig!" Prompt lief Tomoyasu dunkelrot an. Feixend hakte sich Takafumi bei ihm ein, den beabsichtigten Erfolg erzielt. "Jetzt machen wir uns besser auf die Socken! Und, was unternehmen wir am Sonntag? Pärchen-Date?" Tomoyasu ächzte. ~+~+~* Takafumi fühlte sich nicht "gemeistert", aber durchaus willens, sich für Tomoyasu zu mäßigen. Da konnte er den Beobachtungen seiner Onkel nicht widersprechen. Bei der Aussicht, regelmäßig Sex mit seinem festen Freund haben zu können, hob sich auch seine Laune merklich. Nun spielte ihm jedoch das Wetter einen Streich: es regnete heftig. Man könnte ins Kino gehen, bloß schied das wegen der engen Sitze und der anstrengenden Ruhehaltung der Beine aus. Im Spielcenter war es zu rummelig. Karaoke vielleicht? Umenosuke hatte sich auch noch erkältet, bittere Tränen vergossen in der Angst, man könne ohne ihn kochen wollen! Takafumi umklammerte sein Telefon. "Sempai? Ich hol dich ab. Warte auf mich." Miese Witterung, hinderliche Umstände?! HA! Einen Oni/Dämon hielt das doch nicht auf! ~+~+~* Tomoyasu traute seinen Augen nicht. Vor dem Haus wartete eine moderne Fahrrad-Rikscha, offenkundig ausgeliehen, ihn trocken zu kutschieren, mit Takafumi an der Pedale. "Oh, ah, bin ich passend angezogen?" Erkundigte er sich zweifelnd. Takafumi hatte ihm nichts verraten. So trug er lediglich unter der Regenjacke einen schlichten Jogginganzug aus alten Tagen, als er sich noch mühelos und geschmeidig bewegen konnte. "Perfekt! Steig ein, Sempai, ja?" Takafumi wirkte äußerst entschlossen. Brav nickend verstaute Tomoyasu die obligatorischen Krücken, kletterte sehr vorsichtig auf die Sitzbank. ~+~+~* Tomoyasu betrat langsam die Praxis, Sonntagvormittag geschlossen. Im Reha-Raum warf eine bemalte Glaskugel um ein Teelicht bunte, fröhliche Farben an die Wände. Gestapelte Schachteln, mit Gurten und Bändern gesichert, versprachen ein Picknick. Die Massageliege war mit einem bunten Strandlaken abgedeckt. Auf der Seite warteten Sitzkissen und eine große Decke. "Ich bin jetzt nicht so der Romantiker." Erläuterte Takafumi schlicht. "So ziemlich alles, was ich bei dem Wetter mit dir unternehmen will, ist hier versammelt. Ach, das Essen hat mein Onkel zubereitet, also keine Angst, dass du dir was einfängst." Tomoyasu lachte leise. "Das ist sehr schön. Vielen Dank, Takafumi." Der nahm ihn bei beiden Händen. "Darf ich vorab was tun?" Amüsiert nickte Tomoyasu, der schon eine gewisse Ahnung hatte. Prompt zupfte ihm Takafumi die Haarklammern aus dem Schopf. "Ich weiß, du liebst die Kleinen, aber BITTE BITTE BITTE lass sie nicht mit deinen Haaren herumspielen! Was ist das, ein Häschen?! Wirklich, das passt gar nicht zu dir!" Lamentierte Takafumi, kritisch beäugend, dass er kein Instrument zur Striegelung von Strähnen übersehen hatte. "Ist es jetzt besser?" Erkundigte Tomoyasu sich mitfühlend. "Sehr!" Trompetete Takafumi erleichtert. "Ich sollte wohl endlich einen Friseurtermin machen." "Du kannst sie auch wachsen lassen. Bloß keine Mädchen-Haarspangen, bitte!" Plädierte Takafumi quengelig. Tomoyasu lachte, lehnte die Stirn an Takafumis. "Na schön. Wie soll ich die Party rocken, von der du gesprochen hast?" Takafumi grinste. "Weißt du, auf MEINER Party gibt es keinen Dresscode. Nicht mal ein Dress." "Hm, da bin ich wohl doch falsch ausstaffiert." Neckte Tomoyasu. "Total overdressed!" Bestätigte Takafumi herausfordernd. "Lass mich dir helfen, sempai. Das haben wir gleich!" Nun hob Tomoyasu einen Finger, legte ihn auf Takafumis Lippen, bevor der ihn flink ausziehen konnte. "Nicht mehr sempai, Takafumi. Sag Yasu zu mir, bitte." Der Jüngere ließ sich daraufhin mit dem Entkleiden sehr viel Zeit, weil er jeden einzelnen Fleck, der ihm so vertraulich, so intim zugesprochen worden war, siegeln wollte. Kuss um Kuss um Kuss. ~+~+~* Kapitel 6 »Irgendwie klebrig!« Konstatierte Makio Hosoda, zog seinen Reisekoffer hinter sich her in den betagten Waschraum, vorbei an den Pissoirs. Ärgerlich, dass er seine feinen Stoffhandschuhe nicht nach der Mahlzeit im Zug wieder übergezogen hatte! Er trug häufig Handschuhe, aus unterschiedlichen Fabrikaten. Manche behaupteten, aus reiner Eitelkeit, weil Hände das wahre Alter verrieten, nicht geliftet oder mit Gift gestrafft werden konnten. Andere glaubten, es hinge mit den von ihm bevorzugten dreiteiligen Anzügen zusammen, plus Einstecktuch und Schal statt Krawatte. Passende Handschuhe und Strümpfe mussten sein! Hosada erkannte durchaus eine gewisse Eitelkeit an. Nicht zu unrecht, denn er sah nun wirklich sehr viel jünger als seine schon 54 Jahre aus. Wenn man allerdings über 100 Jahre alt werden konnte, musste man nicht schon zur Lebensmitte anfangen zu verwittern, oder? Tatsächlich schrieb er sich Effizienz zu. Er pflegte einen bestimmten Stil, schon seit Jahren, der ihm sehr gut zur schlanken, mittelgroßen Figur stand. Klebrige Schwüle oder Hitze, direkte Sonneneinstrahlung vermied er tunlichst. Nicht ganz einfach bei den geographischen Gegebenheiten. Er bevorzugte, auch aus beruflichen Gründen, hohe Qualität bei der Auswahl seiner Stoffe, Farben und Schnitte. So konnte eine Garderobe lange Zeit überdauern. Die Handschuhe waren dem Umstand geschuldet, dass er Stoffe fühlen, berühren, wahrnehmen musste, nicht nur mit Augen und Nase! Außerdem mochte er einen frischen, sauberen Händedruck. Deshalb schien es ihm jetzt dringlich, auf der letzten Etappe doch die Hände ausgiebig zu waschen. Desinfektionsmittel hielt er für übertrieben, aber eine milde Seifencreme für erforderlich. Er stoppte vor dem breiten Waschbecken, entnahm seinem Reisekoffer eine kleine Stofftasche. Eigene Seifencreme in einer kleinen Glasflasche, eigenes kleines Handtuch, selbst war der Mann! Im Spiegel überprüfte er sein Erscheinungsbild. Ja, der Borsalino saß gut, das Nahtband passte! Kein Original, sondern eine eigene Fabrikation! Werbung, wenn man so wollte. Hosoda hatte sich in geduldiger Arbeit, mit Sachkenntnis und technischem Geschick ein Geschäft aufgebaut, das Obi und Kimono-Stoffe webte, aus unterschiedlichen Materialien, edel, in kleiner Stückzahl, so kunstfertig, dass einige seiner Obi bereits in großen Museen ausgestellt wurden. Dabei bediente er sich durchaus modernster Technik. Entwürfe am Computer, Webmaschinen, allerdings nicht die geradezu grob wirkenden Apparaturen für konventionelle Stoffe aus schlichtem Baumwollfaden oder Kunstfasermischungen. HIER konnte kleinteilig mit sehr unterschiedlichen Ausgangsmaterialien gearbeitet werden, wie man es früher per Hand oder auf den ersten Webstühlen gemacht hatte. Dazu orientierte er sich nicht nur an klassischen Mustern, sondern variierte nach Saison, Angelegenheit, Gestalt, Alter, Besonderheiten... Für seine Familie eine erhebliche Blamage, hatten sie ihn doch ausgestoßen, den unangepassten, allzu selbstbewussten zweiten Sohn, der mit der Tradition brach! Tatsächlich hielt Hosoda nichts von Stillstand. Das war nicht gleichbedeutend damit, die alten Stoffe nicht wertzuschätzen! Im Gegenteil. Mittellos an die Luft gesetzt begann er ganz klein und bescheiden damit, aus Haushaltsauflösungen Obi und Kimono-Stoffe zu erwerben, per Hand und Nähmaschine umzuarbeiten, aufzuwerten, ins Ausland zu verkaufen. Wo man einen Kimono nicht tragen wollte (im Alltag ausgesprochen unpraktisch), aber Qualität erkannte. Taschen, Krawatten, Schals, offene Jacken... Hosoda war findig, fleißig und umtriebig, sich nicht zu schade, eifrig Englisch zu lernen, die internationale Verkaufssprache, Modeschöpfende zu kontaktieren, um bekannt zu werden, jeden Yen wieder in sein Geschäft zu investieren, bis er sich bessere Maschinen leisten konnte, teure Stoffe, Beschäftigte. Man machte sich natürlich nicht nur Freunde, selbstredend, doch Hosoda lebte für sein Unternehmen, die Freude an Webstoffen, an Herausforderungen, an neuen Mustern und Entwürfen! Nur hin und wieder gönnte er sich eine kleine persönliche Schwäche. Allerdings nicht an diesem Abend. Er wollte nach Hause, Wäsche wechseln, gleich weiterarbeiten, seine Ideen vom Notizbuch übertragen! Außerdem, zu dieser Uhrzeit wäre es wohl auch ein Wunder, wieder so einen adretten Oberschüler anzutreffen... Nebenan krachte es unvermittelt, Metall schabte über Porzellan. Hosoda wandte sich geschmeidig zur Seite. Martialisch beringte Finger pressten sich ans Porzellan. Neben ihm beugte sich ein junger Mann tief über das Becken, mindestens zwei Köpfe größer, bodenlanger, schwarzer Mantel, seltsame Frisur, gespickte Ohrmuschel, violette, filzige Haarspitzen, ächzte erbärmlich, spuckte aus, ging langsam in die Knie, noch immer das Porzellan beklammert. Hosoda verstaute ohne Hast seine Reisetasche im Koffer. "Brauchst du Hilfe?" Erkundigte er sich gelassen. "Ja." Eine aufgeraute Stimme. "Ich werde das Sicherheitspersonal informieren." Kündigte Hosoda an. In diesem Augenblick ließen die Hände das Becken fahren, kippte ihm der junge Mann förmlich auf die Füße. Hosoda ging in die Hocke, strich nach einigen Augenblicken die schwarzen, verklebten Strähnen mit ihren filzigen, violetten Spitzen aus dem Gesicht. Zumindest vermutete er das. Farbenprächtiges, aber offenbar nicht wasserfestes Makeup verhinderte, dass man individuelle Züge ausmachte. Aber er registrierte Pulsschläge an der Kehle und auch Atemzüge. Aus seiner Umhängetasche angelte Hosoda ein kleines Fläschchen mit Menthol-Ölen, schraubte die Verschlusskappe ab. Er ließ das Fläschchen unter sich eilig blähenden Nasenflügeln wandern. So kam auch wieder Leben in die gruselige Gestalt. "Kannst du meine Finger erkennen? Ja? Wie viele Finger?" "Zwei." Hosoda verstaute seinen kleinen Helfer wieder. "Hast du getrunken? Oder brauchst du Medikamente?" "Bier." "Ah. Wie viel hast du denn getrunken?" "Zwei~zwei Dosen." Hosoda lupfte kritisch eine Augenbraue. "Und nichts anderes?" "...nein...es ist aus..." DIESE Äußerung kam Hosoda bekannt vor. Auf den Weg wollte er sich allerdings nicht begeben. "Wie heißt du?" "...Seiji..." "Fein, Seiji. Ich werde dir jetzt helfen, dass du dich aufsetzen kannst, in Ordnung?" "...ja.." Obwohl er nur mittelgroß gewachsen, eher sehnig gebaut war, konnte Hosoda durchaus Kräfte freisetzen. So hievte er auch den jungen Mann in eine Position, in der man sich nicht mehr mit dem Fußboden unterhalten musste. "Seiji, kann ich jemandem Bescheid sagen, damit du hier abgeholt wirst?" "...nein..." "Wo wohnst du? Da können wir dir ein Taxi rufen?" Die vollkommen bestückten Finger wurden vor das verschmierte Gesicht gezogen. "...rausgeworfen.." Hosoda richtete sich auf, wollte keine unnötigen Falten in seine Hosenbeine prägen. Himmel, das wurde ja immer unerfreulicher! "Hier kannst du nicht bleiben, Seiji. Wie wäre es mit einem Kapsel-Hotel?" Wobei sie vorher unbedingt das Gesicht freilegen und das Betriebssystem auf Touren bringen mussten! "...kein Geld..." Außerdem das mühsam mit einer Hand aus dem Mantel produzierte Mobiltelefon ohne Saft. "Seiji, wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?" Eigentlich sollte er sich nun wirklich nicht mit diesem Häuflein Elend... Aber Hosoda hatte sich vor langer Zeit ja auch mal in einer prekären Situation befunden. "...ähem...gestern?" Hasardierte die aufgeraute Stimme hilflos. Hosoda streifte sich seinen leichten Mantel und die Anzugjacke ab, krempelte sorgsam die Ärmel seines Hemdes hoch. "Bevor wir etwas essen können, müssen wir dich herrichten Seiji. Dein Makeup hat gelitten." Oder stellte zumindest eine sehr unkleidsame Maskierung dar. Aus seinem Reisegepäck entführte er Kosmetiktücher und ein Pflegeöl. Ohne große Umstände drückte er Seiji den Kopf in den Nacken. Er balsamierte das Gesicht, trug die grässlichen Farbschichten geduldig ab, was das Gesamtbild ein wenig verbesserte. Bis auf die umschatteten Augenhöhlen, gerötete Augen und eingerissene Mundwinkel. Eine kurze Taschenfahndung beförderte einige Pfefferminz-Dragees zum Vorschein. "Kauen. Danach finden wir heraus, ob du stehen kannst." Erstaunlicherweise kam Seiji in die Senkrechte, wenn auch wacklig, keuchend. "Einen Moment." Hosoda bekleidete sich wieder artig, verstaute seine Habseligkeiten im Reisegepäck. "Wenn ich mich recht entsinne, ist einige Meter weiter ein Familienrestaurant angesiedelt." Seiji taumelte hinter ihm her, haschte nach dem Zipfel des Mantels, wie ein Kind nach den Rockschößen der Mutter. Hosoda seufzte innerlich. Zum Arbeiten würde er so schnell wohl nicht kommen! ~+~+~* Ein wenig Aufsehen erregten sie schon, der martialisch ausstaffierte, groß gewachsene, junge Mann mit der merkwürdigen Frisur, er selbst, elegant in klassischer Gewandung. Hosoda bestellte sich ein Kaffee-Mischgetränk, für seinen Begleiter ein üppiges Menü. Der speiste zumindest artig, da konnte man keine Klage erheben. "Erzähl mir, was geschehen ist, Seiji." Immerhin konnte er "das Findelkind" wohl kaum sich selbst überlassen. Seiji stützte den Kopf in die Hände. "Ich wollte sie fragen, da sagt sie, sie macht Schluss. Liebt einen anderen. Schon längst." Hosoda kannte solche Geschichten. "Das ist ein schwerer Schlag. Muss man erst mal verdauen." Bekundete er reduziertes Mitgefühl. Ihm gegenüber ächzte man gequält. "Der andere ist mein Freund. Unser Bandleader." Solche Konstellationen gab es auch. "Ach du Schande." Man wischte über die schon entzündeten Augen. "Raus aus der Wohnung. Raus aus der Band. Alles aus." Hosoda hoffte, eine tränenreiche Szene vermeiden zu können. "Du bist also Musiker? Was spielst du?" Seiji schniefte unterdrückt. "Bassist. Hintergrundgesang." Die Stirn runzelnd hakte Hosoda nach. "Kommst du von einem Auftritt? Wo ist deine Gitarre?" Ächzen. Schniefen. "Wollte zum Auftritt. Neuer Vertrag möglich. Aber ich war raus. Die Instrumente gehören der Band." Mit derlei Angelegenheiten hingegen fühlte Hosoda sich nicht vertraut. "Also haben sie dich abserviert und ohne dich gespielt?!" Seiji nickte knapp, hob den Blick nicht von der Tischplatte. "Wo kannst du für den Moment unterschlüpfen? Was ist mit Freunden? Deiner Familie?" Wieder Augenwischen. "Da gibt es niemanden." Hosoda schnaubte. "Also keine Arbeit, kein Dach über dem Kopf, kein Einkommen?" Fasste er die Lage zusammen. "Ich schulde Ihnen das Essen, Herr..?" "Hosoda, Makio Hosoda. Schon gut, du bist eingeladen." Seiji blickte ihn an. "Ich kann Ihnen einen blasen." Hosoda lupfte eine Augenbraue. "Tatsächlich? Hast du Übung?" Die Schultern zuckten. "Ist schon länger her." "Aha. Was würdest du für eine Dusche und ein Bett tun?" "Was verlangen Sie?" Hosoda studierte die verheerte Gestalt. "Bist du schon mal genommen worden?" "Ist auch schon länger her." Hosoda streckte die Hand über den Tisch aus. "Gib mir deine, bitte." Zahlreiche Ringe, Schwielen, zittrig. "Wie alt bist du, Seiji?" "27." Ach du Güte, halb so alt! Aber wenigstens nicht minderjährig. Hosoda hielt die Hand in seiner eigenen, sehr gepflegten. "Wir sollten uns auf den Weg machen. Willst du?" Seiji erhob sich langsam. "Ja. Danke, Herr Hosoda." Der sammelte seinen Reisekoffer ein, lächelte hoch. "Es ist nicht alles aus, Seiji. Lediglich eine kurze Pause." ~+~+~* Hosodas Wohnung entsprach seinem Auftreten, elegant, klassisch, aufgeräumt, effizient, wenige farbliche Akzente, aus den Stoffen, die er selbst webte. Einmal die Woche wurde geputzt, lediglich das Büro blieb tabu. Dort arbeitete er nach seinem eigenen kreativen Konzept. "Bitte tritt ein, Seiji. Das Badezimmer ist hinter der zweiten Tür links. Wenn du deine Kleider ablegst, wasche ich sie mit." Artig bedankte Seiji sich, schlüpfte aus halbhohen Stiefeln mit allerlei Metallbehang. Hosoda nutzte die Gelegenheit, seinen Koffer auszupacken. Schmutzwäsche aussortieren, in eine leichte Hose und ein Hemd im Kimono-Stil schlüpfen, Nachrichten überprüfen, sich auf den neuesten Stand bringen, sich höflich bemerkbar machen, bevor er das Badezimmer betrat. In einem gewebten Korb lag gefaltet Seijis Bekleidung, alles schwarz, noch mehr Metall am Gürtel und einem verfilzten Dreiecksschal, abgetragen, fast schon fadenscheinig, schlechte Qualität, die Sorte Stoff, die man zum Selbstbedrucken verramschte. "Tsktsk!" Stellte Hosoda fest, beauftragte die Waschmaschine, brav ihrer Aufgabe nachzukommen. Er legte eine Yukata aus. Sein Blick fiel auf den restlichen Inhalt der Hosentaschen, das Mobiltelefon, ein altmodischer Schlüsselbund und mindestens ein Kilo "Eisenwaren" aller Art: Ringe, Stecker, Armbänder, Gürtel, auch nicht von sonderlich überzeugender Qualität. Es wäre spannend zu sehen, wer sich unter all dem Metall verbarg. Armer Kerl! Damit verließ er das Badezimmer, wechselte in sein Büro. Es gab viel zu tun! ~+~+~* Seiji klopfte höflich an den Türrahmen. "Ah!" Merkte Hosoda beiläufig auf, seinen Schreibtisch unablässig umkreiselnd. Er saß selten auf dem schlichten Kugelsitzhocker. "Ich habe mir erlaubt, dein Telefon an die Strippe zu hängen. Glücklicherweise passt der Adapter." "Vielen Dank." Hosoda fächerte durch sein Notizbuch. "Wenn du Durst hast, schau bitte in der Küchenzeile nach. Der Kühlschrank ist allerdings leer, weil ich verreist war." "Danke." Eine grimmige Falte zwischen den Augenbrauen inspizierte Hosoda seine Schreibtischlandschaft. Da musste doch...! Heureka! Erfreut zupfte er das gesuchte Pappstückchen unter einem Stapel dünner Mappen hervor. "..." Endlich blickte er auf. Trotz Arbeitsmodus nahm es sich sehr unhöflich aus, seinen Gast nicht ausreichend zu beachten. "...hui." Stellte er fest, näherte sich Seiji, der noch immer im Türsturz wartete. "So siehst du also aus, wenn die Metallaltwaren entfernt sind!" Und die Haare von ihrer merkwürdigen Frisur befreit waren, zumindest bis zu den violetten Spitzen: ein überschlanker, sehr großer, junger Mann mit heller Haut und gleichmäßigen Gesichtszügen, blinzelnd. "Hmm, brauchst du vielleicht eine Brille?" Ungeniert rückte Hosoda näher, griff frech zu, kämmte schwarze Strähnen hinter die Ohrmuscheln. Seiji seufzte leise. "Bei Auftritten trage ich Einweglinsen. Die mussten jetzt raus." "Aha. Ich fürchte, Augentropfen habe ich nicht. Geht es auch so?" Ein bitteres Lächeln huschte über Seijis Lippen. "Im Moment vermisse ich klare Sicht nicht sonderlich." Hosoda lachte, tätschelte eine knochige Schulter. Wirklich, wenn der Junge stand, überragte er ihn fast um zwei Köpfe! "Da kümmern wir uns um dieses Detail später. Ich weiß, es ist sehr unhöflich, aber ich muss dringend arbeiten, Seiji. Warum legst du dich nicht hin? Das Schlafzimmer ist direkt nebenan, die Tür gegenüber dem Badezimmer." Der jüngere Mann zögerte. "Wenn ich mich hinlege, schlafe ich ein." "Oh, keine Sorge, ich werde dich wecken." Versicherte Hosoda leichthin, der sich durchaus an das Angebot erinnerte, die Gegenleistung für Speise, Übernachtung und Dusche. "Ab mit dir!" Klapste er Seiji frech auf eine magere Pobacke, wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er hatte viel zu tun und wollte nichts von seinen Eingebungen vergessen! ~+~+~* Der Schaffensdrang hielt ungebremst zwei Stunden an. Anschließend fühlte sich Hosoda auf der Höhe der Zeit, zufrieden, eine Pause einzulegen. Üblicherweise hätte er sich nun darüber Sorgen machen müssen, einen vollkommen Fremden in seine Wohnung gebracht zu haben, den er nicht kannte, dessen Hintergrund unbestätigt war, dazu noch jünger... Seiji schlief tief und fest in dem großen Bett. Hosoda legte Wert auf Bequemlichkeit, verzichtete prinzipiell auf den traditionellen Futon. Der musste ja täglich gelüftet werden, geklopft, bewegt: dafür hatte er keine Zeit. Außerdem bereitete es ihm großes Vergnügen, mit einer halben Rolle aus dem Bett schon auf den Beinen zu stehen! Im Schlaf entspannten sich die gezeichneten Züge des jüngeren Mannes, wirkten verletzlicher. Sollte man seine Geschichte anzweifeln? Handelte es sich um eine Honigtopf-Falle? Hosoda, der unwillkürlich auf Hände achtete, glaubte nicht daran, denn es GAB kennzeichnende Schwielen an den Fingern. Auch wenn man mit Plektrum spielte, wie er wusste, so hätte ein Callboy nie zugelassen, so markierte Fingerkuppen zu präsentieren! Er schlüpfte unter die große Decke. Es reichte aus, sich später Gedanken darüber zu machen, was er mit Seiji anfangen wollte. ~+~+~* "Entschuldigung! Ich habe verschlafen!" Die Haare noch aufgeladen und wirr steckte Seiji den Kopf zum Büro rein. "Ah, guten Morgen, Seiji." Hosoda kreiselte bereits seit einer Stunde um seinen Schreibtisch. "Nimm dir einen Kaffee, ja? Ist bloß Instant, aber sehr praktisch in der Vorratshaltung." "Ich weiß nicht, ob ich den vertrage." Murmelte Seiji. Hosoda blickte auf. "Hmm, es müsste auch Tee in Beuteln da sein. Schau mal, ob etwas dabei ist. Das Frühstück müssen wir ein wenig aufschieben, ich habe gleich noch eine Telefonkonferenz." Kündigte er an, bereits wieder auf seine Arbeit konzentriert. Etwas verdattert kam Seiji der Aufforderung nach, brühte sich einen Tee, zögerte, wieder das Büro zu betreten. Hosoda beugte sich über den Lautsprecher des Telefonapparates, dozierte engagiert. Nachdem das Gespräch beendet war, sortierte er rasch Unterlagen in eine Mappe, versiegelte sie. "Ah, komm ruhig rein, bitte! Wenn ich arbeite, renne ich meist herum, das ist für die anderen gewöhnungsbedürftig." Seiji apportierte seinen Teebecher. "Darf ich fragen, was für einer Arbeit Sie nachgehen, Herr Hosoda?" "Ach, wie nachlässig von mir, habe ich gestern nicht erwähnt, richtig?" Hosoda winkte Seiji munter heran. "Mein Unternehmen stellt Webstoffe her, siehst du, wie diese hier auf den Musterkarten. Wir machen eigene Entwürfe für die Gestaltung. Wir haben auch eine kleine, aber feine Kollektion an Kleidungs- und Gebrauchsstücken. Auch Maßanfertigung, wenn gewünscht." Unaufgefordert okkupierte er Seijis freie Hand, führte sie über die Stoffbeispiele. "Spürst du das? Dicht gewebt, aber ganz fein im Kontakt! Oder hier, ein eingewebtes Emblem! Sieh mal den Unterschied zu deinem T-Shirt hier!" Zupfte er den Bund aus der Hose. "Industrieware, Baumwollgemisch, eingefärbt, schlechte Qualität. Da, siehst du die Unterschiede im Fabrikat? Dieser Stoff ist Ramsch, bald kaputt. Reibung, Waschen, in knapp einem Jahr vermutlich nicht mal mehr als Putzlumpen zu nutzen. Was für eine Verschwendung!" Hosoda kam nun in Fahrt. Diesen Vortrag hielt er recht häufig, vor allem dann, wenn man sich über hohe Preise beklagte. "Wusstest du, dass für Kleidung zumeist Baumwolle oder Kunstfasergemische verwendet wird? Baumwolle ist im Anbau sehr kostspielig, zumindest für die Umwelt! Monokulturen müssen gespritzt werden, dazu werden Unmengen Wasser benötigt. Die meisten Kunstfasern werden aus Erdöl gewonnen, bekanntlich ein endlicher Rohstoff. Trotzdem stellt man derart schlechte Stoffe daraus her!" Seiji wurde am T-Shirt-Zipfel weitergezogen, zum Schreibtisch, wo Muster-Ordner vor ihm ausgelegt wurden. "Nun sieh dir diese Muster an! Erstmal die unterschiedlichen Fasern, die wir verwenden. Rund um den Globus haben die Menschen, zumindest in den gemäßigten Klimazonen, schon immer Naturfasern für ihre Kleidung verwendet und zwar aus den Pflanzen, die vor Ort gedeihen! Es ist also nicht nötig, ganze Landschaften in Wüsteneien und Einöden für Baumwolle zu verwandeln! Der Rohstoff oder auch die Stoffballen müssen nicht aufwendig um die Welt verschifft werden. Zugegeben, wir müssen hier und da die Verarbeitungsmethoden verbessern, aber das ist keine unüberwindbare Herausforderung!" Bevor Seiji etwas kommentieren konnte, ging der Vortrag weiter. "Zudem kommt es wesentlich auf die Herstellung des Stoffes an! Betrachte mal den für dein T-Shirt! Klassisch, Längsfäden, darüber Querfäden versetzt, wechselseitig oben oder unten durchgezogen. Nun aber dieses Stück hier! Dünn und doch sehr strapazierfähig, mit Knotentechnik, sogar wasserabweisend OHNE Imprägnierung! Das hier ist auch ein Prachtstück, findest du nicht? Ein eingewebtes Muster! Normalerweise, wenn die Farbe nicht nachträglich aufgespritzt wird, wird gestickt oder eine Applikation aufgenäht oder -geklebt. Dann wird diese Stoffpassage aber schwerer, ragt heraus! Stickfäden können zerrissen werden, wenn man hängen bleibt. Ein Muster, das eingewebt ist, in derselben Farbe, wirkt edel, trägt nicht auf, bleibt so lange so hochwertig wie der übrige Stoff! Selbstverständlich gibt es auch farbige Varianten, wenn das gewünscht ist. Oder hier, unterschiedliche Materialien! Das findest du nicht bei der Industrieware!" Hosoda wechselte die Mappe. "Natürlich ist es teurer, wenn man keine Millionen Meter an Stoffbahn erzeugt, passend einfärbt oder besprüht. Aber sieh dir das an, Seiji: diese gewebten Stoffe, in unterschiedlichem Design, halten sehr, sehr lange. Qualität zahlt sich aus. Ein Kleidungsstück, das wir herstellen, kann wie ein traditioneller Kimono über Generationen vererbt werden. Es ist hochwertig, kann der jeweiligen Gestalt angepasst werden und sogar ausgebessert. Wenn man den tatsächlichen Preis für diese Wegwerfstoffe samt der Umweltschäden und der eigentlich fälligen Arbeitskosten entrichten würde! Nicht zu vergessen die Häufigkeit, mit der die Wegwerfklamotten ersetzt werden müssen! Nun, wenn man dies mal addiert, ist eine Hose, maßgefertigt, aus unseren Webstoffen, eine sehr erschwingliche Angelegenheit." Ohne einen Einwurf abzuwarten präsentierte Hosoda die Kollektion. "Natürlich ist mir bewusst, dass Kimonos, traditionell bei besonderen Angelegenheiten immer noch die erste Wahl!, im Alltag nicht praktisch sind. Heute müssen wir uns schnell bewegen, bei unterschiedlicher Witterung. Wir haben daher eine klassische Kollektion mit zeitlosen Schnitten aufgelegt, für den Alltag, im Büro oder privat. Hemd, Hose, Jacke, Weste, Bluse, Rock, Kleid, Mantel. Kann individuell angepasst werden, ergänzt durch unsere bewährten Accessoires, Tücher, Taschen, Schals. Eine passende Garderobe für jede Jahreszeit. Keine überquellenden Berge ungeliebter Kleidungsstücke mehr, sondern Übersicht und Eleganz!" Strahlte Hosoda in Sendungsbewusstsein hoch zu Seiji. Der blinzelte kurzsichtig und hilflos. "Das sind wirklich~wirklich sehr schöne Stoffe." Murmelte er schließlich erschlagen. Hosoda schmunzelte erst, lachte frei heraus. "Ah, Verzeihung, da geht es mal wieder mit mir durch! Mein Lieblingsthema. Für den Moment ist ein Päuschen zum Frühstücken angezeigt. Ich lege Wert auf regelmäßige Mahlzeiten." Rasch klappte er die Alben und Ordner zu, sortierte die Schreibtischlandschaft. "Wenn du einen Augenblick wartest, ziehe ich mich um und wir gehen." Seiji zögerte. "Aber... ich habe noch nicht..." "Darüber sprechen wir beim Frühstück, ja? Oh, ich muss mich sputen!" Schon flitzte Hosoda aufgekratzt an Seiji vorbei ins Schlafzimmer. ~+~+~* "Ich esse meist aushäusig, Fertigprodukte sind nicht nach meinem Geschmack. Kochen, wenn ich schon Hunger habe? Oje!" Hosoda teilte geschickt einen Pfannkuchen, zog ihn durch eine süßsaure Soße. Er mochte diese Mischung, der Pfannkuchenteig war aus Gewürzen und "herzhaften" Getreidesorten hergestellt. Sehr praktisch, dass man sich in Sachen Speisen international zeigte! Karge Mönchskost zum Beispiel lockte ihn gar nicht! Seiji hatte die traditionell-japanische Variante gewählt, Reis-Omelette, mariniertes Pickgut unterschiedlicher Geschmacksrichtungen. Er wirkte in sich gekehrt, halb unter seiner Mähne verborgen. Die dringend der Pflege bedurfte, wie Hosoda fand. Ohne den ganzen Schmuck kam ihm der junge Mann keineswegs mehr glamourös oder rockig-rebellisch vor. "Was wirst du jetzt tun, Seiji? Schon eine Idee?" Die knochigen Schultern sackten prompt tiefer. "Ich sollte wohl meine Sachen holen, bevor sie im Müll landen." Murmelte er, stützte wieder den Kopf in die Hände. Hosoda betrachtete ihn mitleidig. "Du hast sie wohl sehr geliebt, deine Freundin, hm?" Seiji seufzte, lehnte sich zurück, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen immer noch geschlossen. "Ich weiß nicht. Wir sind...waren...fünf Jahre zusammen. Vielleicht habe ich mich einfach daran gewöhnt." Er atmete zischend aus. "Irgendwie schwimme ich immer nur mit, lasse mich treiben, habe keinen Ehrgeiz, kein Ziel vor Augen." Hosoda studierte den halb so alten Mann versonnen. "Klingt für mich, erlaube mir die Freiheit, als hättest du nicht zum ersten Mal diesen Vorwurf gehört." Seiji seufzte, setzte sich gerade hin, wich Hosodas Blick jedoch aus. "Meine Leute~meine Familie hat dasselbe gesagt. Musikstudium ist Zeitverschwendung, wenn man nur Durchschnitt ist. Als Musiker arbeiten, das führt zu nichts. Jobben bringt einen nicht weiter. Keinen Plan haben." Er brach ab. "Also kannst du von ihnen wohl keine Hilfe erwarten, hm?" Explorierte Hosoda die Möglichkeiten, verzehrte dabei seinen letzten Pfannkuchen. "Nein. Das ist schon lange vorbei. In ihren Augen verplempere ich mein Leben." Antwortete Seiji ohne Groll. "Ich bin mit dem Musik-Business nicht vertraut, aber ich nehme an, dass Hilfe von anderen Band-Mitgliedern...?" Seiji lächelte matt. "Es ist ein bisschen so wie bei einem Club oder einer Gang: wenn der Anführer sagt, dass du raus bist, gilt das für alle. Keiner möchte der nächste sein, der fliegt. Pech ist ansteckend." Hosoda stapelte geschäftig ihr benutztes Geschirr. "Was für Möglichkeiten hast du denn, ein Einkommen zu erzielen?" Wieder stützte Seiji den Kopf in die Hände. "...ich werde...nach Jobs suchen müssen. Irgendwo..." Was sich ohne eine feste Anschrift ausgesprochen schwierig gestaltete. "Also, wenn du interessiert bist, hätte ich schon einen ersten Auftrag. Kannst du diese Mappe hier an die Adresse liefern? Persönlich, bitte. Es ist wichtig. Auf dem Rückweg suchst du deine Sachen zusammen. Ich habe zwar seit meiner Jugend allein gelebt, aber nach Schilderungen reduziert sich bei einer Trennung der Besitz erheblich. Vieles, von dem man dachte, es gehöre einem, erweist sich als nicht mehr zugängliches Gemeingut." Hosoda erhob sich, reichte Seiji eine Skizze auf einem Notizblatt, präsentierte die Mappe. "Nun, Interesse?" Seiji blickte ihn kurzsichtig, aber verblüfft an. "Ich mache das gern. Aber meine Sachen...?" "Darüber sprechen wir, wenn du zurück bist. Entschuldige mich bitte, ich hab GERADE eine Eingebung, die ich am Computer testen muss! Also, die Mappe abgeben, persönlich, ich kündige dich an. Anschließend holst du deine Sachen. Später einfach klingeln oder klopfen. Ich bin manchmal ein wenig taub auf den Ohren, wenn ich arbeite. So, bis später!" Klapste Hosoda Seiji aufmunternd auf eine knochige Schulter, eilte geschmeidig davon, in Gedanken schon weit entfernt. ~+~+~* Hosoda tüftelte am Computer. Selbstredend nutzte er Webmaschinen, doch nicht die konventionellen, die konnten seinen Ansprüchen gar nicht gerecht werden, waren jedoch auch nicht dafür ausgelegt. Er hatte eigene Konstruktionen und Verbesserungen über die Jahre umgesetzt, ging auf Messen, um sich über die neueste Roboter- und Automationstechnik auf dem Laufenden zu halten. Man musste so ehrlich sein und festhalten, dass Handarbeit teuer war, außerdem auch nicht gerade gesundheitsförderlich. Abrieb, Feinstäube, monotone Tätigkeiten im Akkord, ungesunde Haltung... Maschinen musste man auch pflegen, durchaus! Aber sie litten sehr viel weniger als Menschen unter den Umständen der Fabrikation von Stoffen. Echte Kunsthandwerkende weigerten sich häufig, mit ihm zusammenzuarbeiten, aus Prinzip oder unter dem Druck der Familie und der Branche. Hosoda, ganz Selfmademan, erschloss sich die notwendigen Fertigkeiten, bastelte an den Maschinen mit der Hilfe von Personen mit Automationsexpertise, stellte ihnen die Webtechniken vor. Diese technisch Spezialisierten hatten keine Berührungsängste. Hosoda bevorzugte Tüftelnde wie er selbst. Die modernen Kommunikationsformen erlaubten es auch, nicht alle an einem Ort versammeln zu müssen. Sein bester Ingenieur hauste im hohen Norden, recht abgeschieden und bescheiden. Die Webmaschinen standen auf dem Land, Maßschneidereien verteilten sich über die Provinzen. Deshalb reiste er auch häufig, stellte den persönlichen Kontakt her, pflegte Verbindungen. Wichtige Dinge wie Konstruktionspläne oder Entwürfe für Designs vertraute er allerdings nur Kurierdiensten an. Schließlich hatte das Internet ja Postkarten-Qualität! Auch wenn er delegieren konnte, behielt sich Hosoda das Recht vor, über alles informiert zu werden. Vertrieb, Verkauf, Kundenkontakt, Entwicklung, Herstellung, Präsentation: Bescheid wissen wollte er, auch wenn er die Aufgaben auf seine Beschäftigten verteilte. Die es durchaus schätzten, nicht in die Metropole pendeln zu müssen, deren Lebenshaltungskosten immens waren. Hosoda sprang auf. Schon da! Eifrig studierte er die Änderungsvorschläge, die ganz altmodisch über Fax kamen. Stichworte, grobe Skizzen. Man wusste ja nie... und die Konkurrenz schlief nicht! Perfekt! Er kombinierte die Vorschläge, speicherte den Entwurf auf einem Datenträger, suchte rasch in seinem Adressbuch, verifizierte die Aktualität der Adresse und kontaktierte eine Disponentin. "Wunderbar! Ich bin in einer Stunde bei Ihnen!" Rasch stellte er seine Unterlagen zusammen. Ah, richtig! Seiji! Darum würde er sich später bemühen. Eine Nachricht aufs Telefon und bei der Pforte musste einstweilen genügen! ~+~+~* Es hatte doch etwas mehr Zeit beansprucht als erwartet: der 3-D-Ausdruck des Prototypen, ein kurzer Austausch über die zu verwendenden Komponenten, der Versand des Prototypen über einen Kurierdienst an seinen Techniker. Unterdessen fasste er in einer kleinen Nudelküche eine Mahlzeit, kombiniert mit einer telefonischen Diskussion. Anschließend das Weiterleiten des maßgefertigten Prototypen nach einem Ersttest an den Maschinenpark. Dort würde er erst am nächsten Tag eintreffen, aber man konnte schon vorab Laufzeiten disponieren. Für den Umbau und den Test musste schließlich an einem Webstuhl Stillstand eingeplant werden. Zwischendrin die täglichen Wasserstandsmeldungen, die Hosoda eben wichtig waren. So kehrte er erst spät zurück, ausgerüstet mit zwei Bento-Boxen. Als er seine Wohnung betrat, empfing ihn ein ungewöhnlicher Soundtrack, sonor, aber nicht dumpf, Basstöne, in einer anregenden Melodie. Hosoda schlüpfte aus den Schuhen, hängte den leichten Mantel auf, setzte den Hut ab. Er ließ die Bento-Boxen auf einem eingeschnürten, sehr lädierten Reisekoffer stehen. Im Wohnraum mit der Küchenzeile brannte kein Licht, lediglich die zurückgezogenen Vorhänge ließen eine Orientierung zu. Seiji zupfte die Saiten, um einen Kontrabass förmlich gewunden, der Oberkörper nackt, lediglich eine schlabbrige Jogginghose tragend, offenbar vollkommen versunken in die Musik. Als Hosoda weiter in den Raum trat, schreckte er auf, brach ab. "Oh, Entschuldigung.." "Ich wollte dich nicht unterbrechen. Es hat leider alles länger gedauert." Hosoda betrachtete den mageren Mann und das mitgenommene Musikinstrument: Schrammen, Kratzer, das Stützbrett an einem fusseligen Faden. "Ist das dein eigenes Instrument?" Seiji kämmte sich nasse Strähnen aus dem Gesicht. "Es ist nichts Besonderes, nicht wertvoll, aber ich mag den Klang." Für einen Augenblick schien er noch länger in der fast intimen Umarmung des Kontrabasses zu versinken, bevor er sich straffte, löste. "Wegen meiner Sachen..." "Oh, ist das bloß dieser kreativ eingekordelte Koffer? Ah, da steht unser Abendessen drauf. Wenn du magst, selbstredend. Ich lege ab, danach können wir essen und uns unterhalten, ja?" Hosoda lächelte, wieselte in sein Schlafzimmer. Eigentlich passte es nicht zu einem 27-jährigen Mann, aber Seiji wirkte anrührend, wie er sich um den Kontrabass wand, ganz und gar in seiner eigenen Welt! Als Hosoda in den Wohnraum zurückkehrte, brannte über der Küchenzeile Licht. Seiji hatte die Boxen verteilt, zudem ein anderes, fadenscheiniges T-Shirt übergestreift. "Ich hatte mir den Bass einer Band anders vorgestellt." Brach Hosoda das Eis, setzte Teewasser auf. Seiji blinzelte überrascht. "Oh, ach so. Ja, bei elektrischen Instrumenten braucht man keinen so großen Resonanzraum." "Du hast mit dem Kontrabass angefangen, damals?" Hosoda bot die Auswahl seiner Teebeutel an, damit Seiji einen Kandidaten herauspicken konnte. Seiji stellte Teebecher auf. "Na ja, eigentlich wollte ich ans Schlagzeug. Aber ein anderer Junge hatte schlagkräftigere Argumente." Sie wünschten einander einen guten Appetit. Allerdings war Hosodas Wissensdurst noch nicht gestillt. "Gibt es denn Unterschiede zwischen, nun, dem Spielen von Gitarre oder Bass oder Violine?" Der jüngere Mann lächelte. "Eine Gitarre wird üblicherweise nicht mit einem Bogen gespielt. Aber man kann alle Saiten zupfen, streichen oder auch schlagen. Je nach Größe muss man das Instrument auch anders halten, also ändert sich auch die Anforderung an Beweglichkeit und Kraft. Es gibt eine unterschiedliche Anzahl an Saiten, wie sie gestimmt sind oder eingestellt werden können." Hosoda beäugte Seijis Finger. "Das kannst du alles? Ich meine, musizieren auf all diesen Instrumenten?" Nun konnte Seiji ein Lachen nicht mehr unterdrücken. "Sagen wir mal, ich könnte Töne erzeugen. Aber um wirklich flüssig spielen zu können, muss man sehr viel üben, sich spezialisieren. Die Details machen es aus, Haltung der Handgelenke, Körperhaltung, da verlangt jedes Instrument ganz eigene Anstrengungen." Hosoda grübelte. "Du hast das studiert, richtig? Mit Abschluss?" Seiji schmunzelte jungenhaft. "Ja, ich habe einen Abschluss, mit dem Kontrabass, moderne Musik, Spezialgebiet Jazz." Er seufzte leise, melancholisch. "Aber ich bin nun mal ein gewöhnlicher Typ, kein Genie, kein Liedermacher oder Arrangeur. Ich übe fleißig, ich stimme mich brav mit dem Schlagzeug ab, ich bin pünktlich, quasi ein kleiner Angestellter im Musik-Business, nur ohne Festanstellung und Sicherheiten." Hosoda kontemplierte diese für ihn unbekannte Welt. Neben ihm auf dem Klapphocker für den Bartresen rollte Seiji seine hochgewachsene Gestalt ein. "Es ist das Einzige, was ich kann." An seiner Seite lupfte Hosoda eine Augenbraue. "Sagtest du nicht, dass du auch singst?" "Background-Vocals. Ich habe nur eine Grundausbildung, das reicht für Amateur-Chöre. Ohne große Anforderungen." "Hm!" Stellte Hosoda fest, nippte an seinem Teebecher. "Wie hast du deinen Lebensunterhalt bestritten? Alles über die Band?" Diese Musik-Welt verwirrte ihn noch immer, er wollte sie ergründen. "Hauptsächlich. Die Band ist bei einer Agentur unter Vertrag, das heißt, die haben uns Konzerttermine organisiert. Ich hatte noch ein paar Gigs in Studios, bei Aufnahmen, als Verstärkung. Hilfsjobs als Roadie, Bühnenaufbau, Instrumentenpflege. Ich hab auch Taschentücher verteilt, Werbe-Jobs." Seiji stützte wieder den Kopf in die Hände. "Die Konkurrenz ist groß. Ohne Label-Vertrag ist es schwierig. Außerdem kann man heute so viel am Computer machen. Nur Live-Gigs bringen noch was ein, aber die Veranstalter wollen auch ihren Anteil. Ohne Werbung, ohne Touren, ohne Unterstützung kommt man über ein bestimmtes Niveau nicht hinaus." Hosoda entschied, jetzt zuzuschlagen. "Das Niveau könnte für deine Ex-Band jetzt mit einem Vertrag erreicht werden?" Seiji atmete mehrmals vernehmlich durch. "Schätze, dass das möglich ist. Steht wohl noch nicht fest." Er wisperte noch leiser. "Ich hab's eben einfach nicht drauf." Hosoda erhob sich, fahndete in einem Schrank nach seinem eisernen Vorrat: Sake. Er temperierte den Inhalt konzentriert, schenkte zwei Fingerhüte voll aus. "Ähem, ich vertrag leider nicht viel." Bekannte Seiji das, was Hosoda schon nach den zwei Dosen Bier vermutet hatte. "Kampai!" Forderte er entschieden auf. Da konnte Seiji keinen Rückzieher machen. Er erwiderte den Toast, nippte vorsichtig. "Kommen wir zur Sache!" Gab sich Hosoda aufgeräumt. "Als Kurier hast du dich bewährt, um mal zu beginnen. Im Musik-Business kenne ich mich nicht aus. Sexsklaven sind heutzutage nicht mehr en vogue. Lustknabe würde mir gefallen, doch für einen Knaben bist du ein wenig zu groß geraten. Wie wäre also Folgendes: bist du wieder auf eigenen Füßen stehen kannst, wohnst du hier. Du kannst dich nach neuen Engagements, Gigs, Jobs, wie auch immer umsehen. Als Gegenleistung für Verpflegung und Unterkunft übernimmst du Haushaltstätigkeiten. Keine Sorge, einmal die Woche kommt eine Reinigungskraft. Aber wenn du kochen kannst, die Wäsche übernimmst, mir hin und wieder assistierst, wäre schon viel gewonnen." Seiji spitzte hinter den Händen hervor. "Und...der Sex?" Hosoda schmunzelte. Trotz allen Kummers und Verzweiflung funktionierte Seijis Verstand noch. "Ich bin definitiv ein Tachi. Verstehst du, was das bedeutet?" Seiji nickte langsam. Hosoda tippte eine Summe in Yen in sein Mobiltelefon. "Das sind Zweidrittel der Summe der professionellen Callboys, die ich mir hin und wieder gönne. Die zahle ich dir, wenn wir beide Lust haben, es tun wollen. Haushaltsgeld bekommst du natürlich extra, keine Sorge deswegen." Seiji zögerte. "Ich bin wahrscheinlich nicht so gut. Zweidrittel sind zu viel." Hosoda lächelte, kämmte unaufgefordert klebrige Strähnen hinter die Ohrmuscheln. "Das sollten wir vielleicht erst mal herausfinden, meinst du nicht?" Er rutschte geschmeidig vom Hocker herunter. "Nun muss ich aber noch an die Arbeit. Denk über mein Angebot nach, ja?" Damit ließ er Seiji allein, verschwand in seinem Büro. ~+~+~* Kapitel 7 Wenige Augenblicke später vernahm Hosoda gedämpfte Musik, lächelte unwillkürlich. Offensichtlich flüchtete sich Seiji in die Umarmung seiner großen Liebe, tauchte erst mal ab. Das konnte er nachvollziehen, erstaunte sich selbst aber durch seine spontane Entscheidung. Obwohl er es sich vorgenommen hatte, gründlich das weitere Vorgehen zu überdenken, unterließ er es, weil so viel anderes an diesem Tag seine Aufmerksamkeit gefordert hatte. Er hatte ohne Vorbereitung eine Offerte ausgesprochen, die er eigentlich revidieren sollte, denn er war es nun wirklich nicht gewöhnt, sein privates Reich zu teilen. Geschweige denn, sich auf intimer Ebene länger als für den jeweiligen Akt notwendig auszutauschen. Kurios! Andererseits bestand immer noch die Möglichkeit, dass Seiji die Beischlaf-Option ablehnte, kurzzeitig die Möglichkeit von Nahrung und Obdach in Anspruch nahm, rasch etwas Besseres auftat, sich verabschiedete. Möglicherweise nicht ganz so schnell, bedachte man die Einkommenssituation. Allerdings, recht manierlich anzuschauen, offenkundig pflegeleicht, anspruchslos, aus Gewohnheit treu: da könnte sich schon eine neue Freundin finden. Wie auch immer, die Initiative lag bei Seiji. Jetzt galt es, sich den eigenen Aufgaben zu widmen! ~+~+~* Als Hosoda hinter vorgehaltener Hand gähnend sein Büro verließ, stutzte er. Im Wohnbereich brannte kein Licht, aber er konnte den Schattenwurf des Kontrabass ausmachen, den Seiji umschlungen hielt, auf dem schmalen Sofa kauernd. Gute Güte, schlief der Bursche etwa in dieser Haltung?! Hosoda sockte lautlos hinein, um sich von seiner Theorie zu überzeugen. Tatsächlich! "Seiji, komm, leg dich ins Bett, wenn du müde bist." Rüttelte er sanft eine knochige Schulter. Er beobachtete amüsiert, wie der jüngere Mann benommen den Kontrabass behutsam auf das Sofa legte. "Ich wollte... wollte..." Schon taumelte er, weshalb Hosoda versichernd eine Hand packte. "Ins Bett, schlafen." Legte er imperativ fest, zuckelte entschlossen mit seinem Anhänger ins Schlafzimmer, schlug die Bettdecke zurück, bugsierte den großgewachsenen Mann darunter. Seiji rührte sich nicht mehr. Schmunzelnd verabschiedete Hosoda sich auf eine Katzenwäsche ins Badezimmer. Anrührend, gar keine Frage! ~+~+~* Hosoda ließ Seiji schlafen, sammelte seine "Arbeitskleidung" ein, wieselte ins Badezimmer. Mit einem Becher Kaffee konnte er mindestens eine Stunde im Büro arbeiten, neue Termine anberaumen. Die erste Rückmeldung stand zu erwarten, ob der Einbau des Prototyps in die Webmaschine gelungen war. Endlich, der Testlauf! Das stimmte ihn kribbelig vor Vorfreude. Jedes Mal, wenn er eine weitere Möglichkeit fand, seine Webmaschinen zu verbessern, ihre Einsatzvarianten zu erweitern, freute er sich wie ein Schneekönig. Wenn es funktionierte, würden sich neue Stoffe weben lassen, die neue, andere Designs nach sich zogen! Neue Angebote für potentielle Kundschaft, eine neue Tournee durch seine verteilten Außenstationen! Also, langweilig würde es ihm nie werden! Die Wartezeit wollte genutzt werden. Meldungen trudelten ein, Berichte, die gelesen werden wollten. Als Seiji leise klopfte, hatte Hosoda schon den ersten Schwung seiner täglichen Ladung absolviert. "Guten Morgen. Entschuldigung, ich habe verschlafen." "Guten Morgen, Seiji! Du hattest Ruhe nötig, gräm dich deshalb nicht. Gehen wir frühstücken? Begleitest du mich als Teilzeit-Assistent im häuslichen Bereich?" Seiji blinzelte, lächelte scheu. "Ja, gern. Ich bin gleich fertig." Hosoda nickte. "Sehr schön. Allerdings muss ich auch ins Schlafzimmer, mich umziehen. Wenn es dich nicht stört?" Überrumpelt wandte sich Seiji im Stichflur um. "Stören? Oh nein, sicher nicht. Ich bin nicht sonderlich vorzeigbar." "Sagt wer?" Erkundigte sich Hosoda, wählte aus dem Wandschrank einen Anzug und die farblich passenden Accessoires aus. "Hm, alle, die ich näher kenne?" Grübelte Seiji, wechselte in enge schwarze Jeans, einen ausgeleierten Kapuzenpullover mit Motivdruck, fahndete in einem abgenutzten Rucksack mit nur noch einem intakten Tragegurt, seufzte. "Stimmt was nicht?" Hosoda blickte über eine Schulter des kauernden Mannes. Das konnte man wohl sagen: die Brille, ein selbstredend schwarz gehaltenes Kunststoffgestell, hatte auch die Scheidung vollzogen. Genau in der Mitte, durch den Steg. "Wie ist das passiert?" "Hammer. Das spitze Ende. Sie, meine Ex, war sauer, weil ich, na ja, einfach nicht schnell geschaltet habe, dass Schluss ist." "Ohne Brille siehst du schneller klar, verstehe. Interessante Logik." Kommentierte Hosoda trocken. "Ich glaube nicht, dass sich da was retten lässt. Stimmt die Stärke der Gläser noch?" Seiji schraubte sich langsam hoch. "Ich denke schon." Hosoda packte die Brille in seine Umhängetasche, kontrollierte noch einmal den Inhalt. "Wir gehen jetzt los. Kannst du deine Haare vielleicht bändigen?" Er zog Seiji am Handgelenk hinter sich her. "Die haben sich wohl aufgeladen, als du diesen Pullover übergestreift hast." Im Badezimmer betrachtete sich Seiji im Spiegel seufzend, wischte über seine langen Strähnen. Das zeitigte nicht sonderlich viel Erfolg. "Ah, ich denke, wir werden uns so behelfen!" Hosoda eilte in sein Büro, wandte sich einer altmodischen Kommode zu, entzog einer Schublade ein gewebtes Tuch in einem schlichten, gedämpften Grün mit Ginkgo-Blättern, ein Muster für hochwertige Furoshiki, in die man kostspielige Geschenke einschlagen konnte, ganz traditionell. Er kehrte zu Seiji zurück, der mutlos mit befeuchteten Fingern agierte. "Setz dich bitte, ja? So, lass uns es so versuchen!" Adaptierte Hosoda sein Muster als Kopftuch, fing die Strähnen mit einem zweiten Knoten im Nacken als Zopf ein. "Gelungen, würde ich sagen! Ich habe großen Appetit, höre ein kontinentales Frühstück nach mir rufen!" Seiji, in seinen bodenlangen Mantel schlüpfend, lachte leise. "Vielen Dank, Herr Hosoda." "Oh, immer gern! Bin übrigens ein sehr beliebter Chef! Sagt man mir immer." Zwinkerte Hosoda nach oben, marschierte zur Wohnungstür. Er fand, dass er sich jetzt eine erste Mahlzeit redlich verdient hatte. ~+~+~* Nach dem Frühstück erteilte Hosoda als Chef Order: erstens, das Haushaltsgeld für Besorgungen; zweitens, Marsch zu einem Optik-Geschäft, die Brille zu ersetzen; drittens, Aufsuchen eines Frisiersalons, um die haarige Filz- und Färbekatastrophe zu beenden; viertens, etwas zum Mittagessen mitbringen; fünftens, den Ersatzschlüssel nicht verlieren, nicht aus der Hand geben. Solcherart lektioniert durfte sich Seiji als Teilzeit-Assistent im häuslichen Bereich bewähren, während Hosoda energiegeladen seine Basis ansteuerte, immer wieder um seinen Schreibtisch kreiselte. Es gab VIEL zu tun! ~+~+~* Hosoda blickte auf, als Seiji am Türsturz klopfte, ausgerüstet mit einem Becher Tee. "Ist das in Ordnung? Ich wollte nicht stören." "Wunderbar! Lass dich anschauen!" Hosoda umrundete zum ungezählten Mal seinen Schreibtisch, studierte Seijis Erscheinungsbild, der ein wenig nervös den Teebecher apportierte. Die neue Brille zeigte sich als schwarz lackiertes Metall, dünne Stege und Rahmen, sehr unauffällig, allerdings in der Form so geschickt ausgesucht, dass die Ebenmäßigkeit der Züge betont wurde. "Ah, wegen meiner Haare..." Sie waren rigoros gestutzt worden. Ein populärer Undercut begleitete einen dezenten Stachellook. "Hmm, das Totholz abgesäbelt, wie?" Vermutete Hosoda amüsiert, wuschelte frech durch die schwarzen Stacheln. Schon viel besser! "Sie wachsen ja wieder!" Tröstete er, in der Annahme, dass man mit einer recht zivil wirkenden Frisur in der Musik-Branche keinen Staat machen konnte. Seiji lächelte schüchtern. "Das weiß ich, aber ich habe noch nie so viel Geld beim Friseur ausgegeben und es war nicht mal mein Eigenes." "Oh, brauchst du mehr Haushaltsgeld? Das ist kein Problem." "Nicht doch!" Unwillkürlich fasste Seiji nach Hosodas Händen, der schon nach seiner Umhängetasche griff, das Portemonnaie zücken wollte. "Ich habe noch genug Geld, wirklich! Ich komme mir nur dekadent vor." Hosoda blickte hoch, betrachtete das äußerst verlegen wirkende Gesicht des jüngeren Mannes. "Also, ich begrüße deine Frisur außerordentlich. Ein schöner Anblick, damit jeden Yen wert. Sag mal, rieche ich da Essen?" Prompt erlöste seine Frage Seiji aus der Zwickmühle. "Richtig! Ich habe etwas zu essen gemacht, na ja, nur einfache Hausmannskost, aber, so als erster Versuch?" Nun wurde seine Hand gekapert. "Wirklich? Oh, grandios! Stell den Tee gar nicht erst ab, ja? Ich könnte einen Bären verschlingen!" "Der war leider nicht im Angebot." Hosoda lachte, drückte die große Hand versichernd. Ihm schien dieses Arrangement sehr vorteilhaft! ~+~+~* Entgegen der Behauptung, er habe ES einfach nicht drauf, zeigte sich, dass Seiji Qualitäten hatte. Sorgfältig wurde jeder Ausgabeposten abgerechnet und belegt. Zum schlichten Geschirr (in der Regel paarweise von Hosoda gekauft) hatte er auch die Ausstattung ergänzt. Wasser- und Reiskocher sowie Mikrowelle gab es zwar, doch Pfannen und Töpfe? Er konnte einfache Mahlzeiten zubereiten, benötigte keine Beaufsichtigung bei der Wäsche, reinigte das Geschirr und die Kochnische, wischte mit einem Mopp über die Böden, lüftete und klopfte die Bettwaren. Wenn man ihn bat, übernahm er nicht nur die Besorgungen, sondern auch Kurierdienste. Außerdem spielte er seinen geliebten Kontrabass, sogar ohne dämpfendes Zelttuch. SO dünn waren die Wände keineswegs! Manchmal spielte er bis zur totalen Erschöpfung, im Dunkeln, in seinen abgetragenen Jogginghosen. Vor allen nach erneuten Absagen. Hosoda schenkte sich einen stark verwässerten Whiskey aus, ließ sich auf dem Sofa nieder. "...oh...bin ich zu laut?" "Spiel ruhig weiter, Seiji. Ich höre nur ein wenig zu." Im Dunkeln, an seinem bauchigen Glas nippend, kontemplierte Hosoda die Lage. Seit drei Wochen teilten sie sich seine Wohnung und den Alltag. Seiji war unkompliziert, aufmerksam, was seine Aufgaben betraf, aber Hosoda konnte durchaus verstehen, was die unbekannte Ex-Freundin enerviert hatte: dass Seiji so genügsam war, so versunken in eine Welt, die nur ihn und den Kontrabass enthielt. Selbst wenn man die Musik hörte, blieb doch der Eindruck, dass es mehr gab, eine Intimität, die dem Publikum nicht zuteil wurde. Gegen die schlichten Freuden des Daseins gab es nichts zu sagen, das bekannte auch Hosoda. Wenn ER mit den gepflegten Händen über Stoffe strich, war ER in seiner höchst privaten Welt. Nur konnte man sich schon ein wenig vernachlässigt fühlen, obwohl er diesbezüglich keine Ansprüche anzumelden hatte, ja, ja! Eine letzte Note verklang sonor. Man wusste nicht zu sagen, ob Seiji den Kontrabass stützte oder der ihn. "Ich habe keinen Erfolg. Selbst der Supermarkt will mich nicht nehmen." Hosoda leerte langsam sein Glas. "Warum nicht? Wenn ich fragen darf." Seiji umklammerte den Kontrabass. "Zu alt. Sie nehmen lieber Studierende. Instrumentalisten wollen sie nicht, falls ich mir die Hände verletze wegen der Versicherung." "Was ist mit den Studioaufnahmen?" "Nur Absagen. Computer sind billiger. Man kann Aufnahmen beliebig arrangieren. Ohne eigenes Instrument..." Ein klägliches Ächzen schloss sich an. Hosoda erhob sich, trat zu Seiji. "Ich schlage vor, du trennst dich für heute von deiner ersten Liebe. Ich lasse dir ein Bad ein, ja? Morgen ist auch noch ein Tag." Er klopfte sanft auf eine knochige Schulter. "Leg deine Herzdame schlafen, hm?" Damit verließ er den Wohnbereich. Seiji richtete sich langsam auf, blickte ihm perplex nach. ~+~+~* "Darf ich eintreten?" Machte sich Hosoda bemerkbar, klopfte an die Schiebetür zum Nassbereich. "Ja. Natürlich." Seiji saß in der tiefen Wanne, die Knie angezogen. Er blinzelte, denn die Brille ruhte auf der Ablage. Hosoda ließ sich auf dem Wannenrand nieder. "Wie geht es dir?" Überrascht blickte Seiji zu ihm auf. "Es ist alles in Ordnung. Ich kann arbeiten!" Was Hosoda ein Lachen entlockte. "Das glaube ich dir. Lass dich nicht unterkriegen, Seiji. Es kommen auch wieder einfachere Zeiten." Artig nickte der Jüngere. Hosoda raufte ihm prompt die Haare. "Etwas mehr Enthusiasmus, bitte! Du kannst einem nicht mehr ganz so neuen Mann ruhig glauben!" Seiji grimassierte zurückhaltend. "So viel älter sind Sie bestimmt nicht, Herr Hosoda." Spitzbübisch grinsend beugte sich Hosoda zu ihm herunter. "Mein lieber Teilzeit-Assistent, ich habe mich gut gehalten! Tatsächlich bin ich aber doppelt so alt wie du!" Amüsiert verfolgte er, wie Seiji erst rechnete, ungläubig zu ihm hoch sah, inklusive herunter sackender Kinnlade, die er nicht rasch genug lupfte, um seine Verblüffung zu kaschieren. "Ist das wahr?" Erneut wuschelte Hosoda die wilden Stacheln. Einfach zu verlockend, dieses Gefühl! "Soll ich dir meinen Ausweis zeigen, hm?" "Nein. Nein! Verzeihung, das war unhöflich von mir." Stammelte Seiji ertappt, brachte Hosoda erneut ob der Verlegenheit auf den ebenmäßigen Zügen zum Lachen. "Schon gut, ich fühle mich geschmeichelt, wenn du mich jünger schätzt! Das pinselt meine Eitelkeit gewaltig." Nun blinzelte Seiji noch hilfloser. Mannhaft ein Kichern unterdrückend tippte Hosoda ihm auf die Nasenspitze. "Eigentlich bin ich hier, um mit dir etwas zu besprechen. Ich muss für drei Tage verreisen, in die Außenstellen meines Unternehmens, quasi eine Rundreise. Wenn du keine Termine hast, willst du mich begleiten? Allerdings müsste der Kontrabass hierbleiben, fürchte ich." Seiji zögerte. "Aber ist das nicht teurer, als mich hier zu lassen? Mit halbem Haushaltsgeld?" Hosoda grinste anerkennend. "Glücklicherweise habe ich dich nicht als Buchhalter angeheuert, sondern als Teilzeit-Assistent! Es würde den 'häuslichen Bereich' zwar etwas strapazieren, aber ein bisschen Abwechslung von der Stadt kann nicht schaden, oder?" Er zwinkerte, konnte in Seijis Gesicht lesen, dass die Entscheidung eigentlich schon gefallen war. "Überleg es dir. Ich bin noch einen Moment im Büro. Ach, lass das Wasser noch nicht ab." Damit empfahl sich Hosoda zurück an die Arbeit, in der Gewissheit, seinem Teilzeit-Assistenten genug Stoff zum Nachdenken gegeben zu haben. ~+~+~* Als Hosoda das Badezimmer verließ, rechnete er damit, von Seiji gestellt zu werden. Er hatte ihm ja Einiges zugemutet. Doch Seiji schien aufgesteckt zu haben, schlief trotz des in den Rücken gestopften Kissens bereits, auf die Seite gesunken, noch die Brille auf der Nase, glücklicherweise ein flexibles Modell. Lächelnd pflückte Hosoda behutsam das Nasenfahrrad von selbiger, brachte es in Sicherheit, zupfte die gemeinsame, große Bettdecke über sie beide. Es schien ihm, als stolpere Seiji durch eine ihn befremdliche Welt, hangle sich bemüht an Anforderungen weiter. Nur wenn er musizierte, ging ihm das stets "Bemühte" ab. Tja, die Welt war bunt und variantenreich, nicht wahr? Wie langweilig wäre es, wenn alle sich konform und gleich verhalten würden? ~+~+~* Hosoda hatte gerade erst wenige Minuten das Umkreisen seines Schreibtisches aufgenommen, als Seiji herbeieilte. "Guten Morgen! Ich mache gleich Frühstück, sofort! Ich möchte bitte mitfahren. Wenn es keine Mühe macht." Amüsiert über diesen hastigen Tatendrang schmunzelte Hosoda. "Guten Morgen! Das freut mich alles sehr, aber ich schlage vor, dass du erst deine Brille aufsetzt, vielleicht an einem Kamm vorbeigehst." Alarmiert flogen Seijis Hände hoch, verwirrten die Stacheln jedoch noch schlimmer. "Verzeihung...ich~ich bin sofort fertig!" Machte er rasch kehrt. Hosoda konnte nicht mehr länger an sich halten, prustete los. Einfach anrührend, dieser Bursche! ~+~+~* "Seiji, das war wirklich sehr lecker! Ich werde wohl zulegen, wenn du für jede Mahlzeit zuständig bist." Hosoda blickte prüfend an sich herab. "Oh. Ich kann einen Ernährungsratgeber kaufen! Mit Rezepten!" Antwortete Seiji überrumpelt, beäugte misstrauisch die geleerten Schüsseln. Hatte er da etwas Ungesundes, Nachteiliges serviert, ohne es zu bemerken?! "Wahrscheinlich muss ich mich bloß mehr bewegen! Man soll zwar aufhören, wenn es am Besten ist, aber die Kunst beherrsche ich wohl nicht." Tröstete Hosoda den jüngeren Mann neckend. "Kommen wir aber jetzt zu etwas Wichtigem: du musst mich zur Maßschneiderei begleiten." "Gern." Nickte Seiji artig, wieder ganz Teilzeit-Assistent. Da ahnte er noch nicht, dass dieser Termin IHM und SEINER Aufmachen galt! ~+~+~* So oft Hosoda auch mit den Zügen reiste, er würde nicht schläfrig, das klappte einfach nicht. Bei Flugreisen rätselhafter Weise schon. Deshalb nahm er es nicht krumm, dass Seiji vergeblich gegen herabsinkende Lider ankämpfte. Hosoda hatte für seinen Assistenten eine schlichte Garderobe ausgesucht, davon profitierend, dass Seiji sehr groß, aber auch sehr schlank war. So konnte man aus den Modellen etwas auswählen, die die Unternehmen mit seinen Webstoffen vertrieben, quasi vom Mannequin oder Kleiderbügel weg, leicht abgeändert in den tatsächlichen Gebrauch: eine gerade geschnittene, schwarze Hose zu einem cremeweißen Hemd und einem Sakko in Mahagoni, dazu eine Weste mit sehr prächtigem Musterbesatz an der Front. Trotz des alten Mantels zog Seiji so natürlich Aufmerksamkeit auf sich, was ihn merklich irritierte und Hosoda darob amüsierte. Also wirklich, welcher Musiker einer Punk-Band war vor Publikum schüchtern?! Bis jetzt zumindest ließ es sich gut an! ~+~+~* »Entzugserscheinungen.« Konstatierte Hosoda mit mühsam gewahrter Haltung. Seiji hatte sich nach braver Einholung der Erlaubnis die Ohren zugedübelt: Musik hören. Dabei zuckten seine Finger, als könne er die Saiten greifen. Ein ungewohnter Anflug von Zärtlichkeit wallte in Hosoda auf, der sich gegen solche Anwandlungen gefeit glaubte. Bei einer Violine oder einer Ukulele hätte er sicher nichts gesagt, aber ein Kontrabass war einfach zu groß! Ob es wohl irgendetwas Kleineres gab, das Ersatz versprach? ~+~+~* "Ah, Seiji, das wird hier ein wenig länger dauern. Kannst du mal bei dieser Adresse das Angebot sondieren?" Hosoda reichte einen Notizzettel weiter, schob seinen Teilzeit-Assistenten förmlich zur Werkhalle hinaus. Seiji hatte so artig seinen Job erfüllt, dass eine Belohnung angezeigt war! ~+~+~* Er konnte schon von der Kreuzung die Musik hören. Die große Musikhandlung befand sich an einer Ausfallstraße, war im Umkreis weit und breit ohne Konkurrenz. Nur deshalb konnte sie wohl in der tiefen Provinz überleben. Jam-Session, das musste es sein, oder? Vage erinnerte sich Hosoda, diesen Begriff für ein spontanes Zusammenspielen von Musizierenden gehört zu haben. Vor dem Eingang blieb Publikum stehen, lauschte. Wagemutigere betraten das Gebäude. Keyboard, Bass und Trompete. Hosoda marschierte selbstbewusst hinein, suchte sich einen Platz unter dem Auditorium. Ja, die Unterschiede fielen nun auch ihm ins Auge. Der E-Bass verlangte kein Bodenbrett, war viel kleiner, flacher. Seiji lächelte beseelt, registrierte seine Umgebung bis auf die beiden Mit-Musizierenden kaum. Das Trio unterhielt das Publikum so lange, bis eine aufgebrachte Mutter den Laden stürmte, was die Trompete mit einem Quietschlaut zum Verstummen brachte. Offenkundig wurde der Sohnemann bei der Nachhilfe vermisst, was die liebende Mutter in Harnisch brachte. Vermutlich nicht zum ersten Mal, dem brüsken Tadel zu entnehmen. Man zerrte den Filius energisch zum Ausgang, mit der Androhung, dass die verdammte Tröte weggeschlossen werde! Seiji seufzte, der ältere Mann am Keyboard erhob sich, die Halbbrille einsteckend. Artig erstattete Seiji den E-Bass zurück. "Oh, Herr Hosoda!" Erschreckte er, fahndete nach seinem Mobiltelefon, offenbar die Uhrzeit zu ermitteln. "Was hältst du vom Angebot?" Neckte Hosoda ihn. Verwirrt blinzelte Seiji trotz Brille. "Gibt es etwas mit Saiten, dass du gern spielen möchtest? Das mobiler als der Kontrabass ist?" Präzisierte Hosoda seine Frage. "...oh... deshalb..." Seiji wischte sich nervös über die Stacheln. "Sehen Sie, Herr Hosoda...uh, vielen Dank für diese Freizeit, wirklich! Aber..." "Aber?" Hosoda hakte sich ungeniert ein, drehte sich einmal um die eigene Achse, inspizierte das Panorama. "Die akustischen Instrumente mit Saiten sind schon größer als eine Handtasche. Für die elektrischen Instrumente benötigt man Strom, Verstärker und weiteres Zubehör." Hosoda seufzte gequält. "Was ist mit einer Maultrommel? Die hat doch Saiten und ist klein, oder?" Er fing Seijis fassungslosen Blick auf. Offenkundig zählten Maultrommeln nicht zu akzeptablen Musikinstrumenten. Da kicherte Seiji beinahe kindlich. "Also, nein, eine Maultrommel hat keine Saiten. Ich glaube, Sie meinen ein Kinderspielzeug, eine Art Leier, wo man den Mund als Resonanzraum nutzt. Das ist eher nicht so mein Fall, aber danke, dass Sie sich so viele Gedanken gemacht haben." Hosoda zog die Stirn in Falten. "Tja, ich gestehe, ich bin ratlos. Was können wir nun unternehmen?" Seiji dirigierte Hosoda Richtung Ausgang, wo sich die Menge langsam verlief. "Es ist schon in Ordnung, Herr Hosoda. Ich bin ein Gewohnheitsmensch, fürchte ich. Da muss ich mich mehr anstrengen." Er lupfte verlegen die Schultern. "Ich hoffe, Sie sind meinetwegen nicht unter Termindruck geraten?" Hosoda schmunzelte über den durchsichtigen Versuch, ihn vom Thema abzulenken. "Nein, es ist alles erledigt. Wir müssen nur noch unser Reisegepäck abholen und in die Bahn steigen." Mit einem Seitenblick registrierte er, dass Seiji erleichtert schien, ein wenig gedankenverloren. ~+~+~* "Da kann man nichts machen." Stellte Hosoda fest. Wenn die Bahnverbindungen unterbrochen werden mussten, weil der nationale Wetterdienst einen heftigen Sturm ankündigte, half kein Lamentieren. Man wollte es den Hilfskräften ja auch nicht schwieriger als ohnehin machen. "Lass uns nach einer Unterkunft für die Nacht suchen, Seiji." Hosoda schnürte dynamisch zum Ausgang der Bahnstation, an der sie hatten umsteigen sollen. Wenn viele Reisende und Pendelnde hier strandeten, sollte man sich ranhalten! ~+~+~* Hosoda überließ Seiji die Verhandlungen an der Rezeption, um die Gunst der noch nicht unterbrochenen Verbindungen zu nutzen. Was man gleich erledigen konnte, sollte man auch machen! Außerdem galt es die täglichen Reports durchzusehen. Seine Beschäftigten sollten nicht warten müssen, weil er geographisch eingeschränkt war! Als er sich gerade mit Notizbuch und Laptop in der Lounge niederlassen wollte, fiel sein Blick auf einen jungen Mann, in geschmackvoll-eleganter Aufmachung, hochpreisig. Ein Zwinkern. Hosoda lächelte freundlich. "Guten Abend. So sieht man sich wieder. Sind Sie auch temporär gestrandet?" "Guten Abend. Stimmt, ich sollte eigentlich auch schon auf dem Heimweg sein." Ein samtiges Lachen. "Ist der Aufenthalt hier schon privat?" Hosoda schmunzelte. "Halb-halb. Ich habe noch Arbeit im Gepäck." Sein Gegenüber strich mit einem manikürten Finger über den Laptop, langsam, lasziv. "Zu viel Arbeit ist nicht gesund, höre ich immer wieder. Ich könnte Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten." "Das ist sehr reizvoll, aber..." "Oh, ich sehe schon!" Ein amüsiertes Lächeln huschte über das äußerst attraktive Gesicht des jungen Mannes. "Wie ungezogen von mir, wo Sie in Begleitung sind!" Hosoda erwiderte das freche Zwinkern mit spitzbübischen Grinsen. "Der junge Mann an der Rezeption ist mein Assistent. Aber ich muss tatsächlich ablehnen." Eine leichte Verneigung. "Wie bedauerlich. Doch die Welt ist klein, man sieht sich bestimmt wieder." Schmunzelnd nickte Hosoda. "Gib auf dich acht, mein Lieber." "Das werde ich. Bitte entschuldigen Sie mich bei Ihrem Assistenten." Ein weiteres kurzes Verneigen in Richtung des Empfangs. Mit der Eleganz einer Primaballerina wandte sich der junge Mann um, hielt gemächlich auf die angeschlossene Bar zu. Hosoda wartete geduldig, bis Seiji sich herantraute. "Entschuldigung, ich wollte Ihre Unterhaltung nicht stören." "Das hast du nicht. Kommen wir hier unter?" Seiji wirkte betreten, verlegen und verunsichert. "Es gab leider nur noch ein Zimmer mit einem Semi-Doppelbett. Verzeihung." "Nicht doch!" Winkte Hosoda erleichtert ab. "Es sind mehr Leute hier hängen geblieben als gedacht! Ich bin froh, nicht in einem Sessel schlafen zu müssen." "Ähem, ich kann hier unten warten. Wenn Sie..." Seiji zögerte, blickte hastig zur Bar rüber. Hosoda klopfte auffordernd auf das freie Sitzpolster neben sich, wartete, bis der jüngere Mann seine große Gestalt entsprechend zusammengeklappt hatte. "Ich werde dir nichts vormachen, Seiji. Der junge Mann eben ist eine der privaten Vergnügungen, die ich mir hin und wieder gönne. Aber nicht während der Arbeit und nicht in Begleitung." Erklärte Hosoda gelassen. Seiji senkte den Kopf, legte die Hände auf die Oberschenkel. "Es tut mir leid, wenn ich ihn vertrieben habe. Wirklich, es macht mir nichts aus! Immerhin haben Sie ja..." Hosoda unterbrach das Gestammel mit einem tiefen Seufzer. "Ich muss wohl wirklich auf dem letzten Loch pfeifen, wie? Gleich zwei junge Grashüpfer, die um meine Moral besorgt sind!" Perplex wandte Seiji ihm den Kopf zu, starrte ihn an, was Hosoda zu einem amüsierten Kichern reizte. "Seiji, ich bin durchaus ein Genussmensch, allerdings mit Prioritäten. Die sehen jetzt vor, noch Einiges zu erledigen. Zweifellos habe ich in einer Stunde spätestens Hunger, deshalb würde ich dich bitten herauszufinden, wo wir etwas essen können. Wenn das Zimmer fertig ist, könntest du auch unser Reisegepäck abstellen." Derart mit Aufgaben betraut konnte Seiji nicht anders als aufstehen, artig nicken, sich zur Rezeption zu begeben. Hosoda schmunzelte. Wirklich, ein lieber Kerl, dieser Musikus! ~+~+~* Kapitel 8 Hosoda studierte befriedigt die Stoffproben, die er mit der neuesten Ergänzung der Maschinen hatte weben lassen. Nein, so was konnte keine Konkurrenz anbieten! Der Kurierdienst hatte keine fünf Minuten vorher geläutet, die Expresssendung ausgehändigt. Sofort wirbelte er um seinen Schreibtisch herum, gab grünes Licht, um Stoffballen zu weben, nach den bereits vereinbarten Vorgaben. Notizen an Vertrieb und Buchhaltung, Avis an die Maßschneidereien bei den Webmaschinen! Einfach wunderbar! Das musste gefeiert werden! "Seiji?!" "Ja, Herr Hosoda?" Seiji eilte herbei, offenbar beim Wäschefalten gestört, denn er apportierte selbstvergessen noch ein Hemd. "Es ist gelungen! Deshalb sollten wir diesen Erfolg genießen! Was meinst du, Sushi? Oder etwas Anderes?" Überrumpelt zögerte Seiji. "Ich weiß nicht, ob so kurzfristig...meistens braucht man eine Reservierung...?" Hosoda lachte. "Stimmt, für einen Gourmet-Tempel wird es wohl nicht reichen! Gehen wir simpel nach Geschmack und Appetit! Worauf hast du Lust, hm?" Nun wirkte der jüngere Mann noch bedrängter. "Äh, es ist doch Ihre Leistung, Herr Hosoda, darum sollten Sie die Auswahl treffen." "Schon richtig, aber überleg mal, was du gern probieren möchtest, hm? Gibt's da nicht was?" Jetzt wirkte Seiji richtig panisch, die Brille rutschte nach vorne, er blinzelte heftig. "Na komm, was ist dir spontan vor Augen, hm?" Gab Hosoda sehr amüsiert keinen Millimeter nach. "Ver-Vergnügungspark!?" Rapide schoss Seiji das Blut in die Wangen. Hosoda studierte ihn bedächtig. "Die Auswahl an Speisen ist dort nicht schlecht. Welchen würdest du vorschlagen?" Entsetzen zeichnete noch immer Seijis Miene. "Das~ich meine das nicht ernst! Das geht ja auch nicht, zwei Männer!" Sich auf die Schreibtischkante lehnend verschränkte Hosoda die Arme vor der Brust. "Ich bin lange nicht mehr in einem Vergnügungspark gewesen. Mir gefällt die Idee! Lass uns gleich herausfinden, welchen wir beehren werden!" Drehte er sich geschäftig um, das allwissende Netz zu befragen. "Wirklich, Herr Hosoda, ich habe nur dahergeredet!" "Seiji!" Adressierte Hosoda ihn über die Schulter. "Sei nicht so bange, ja? Ich werde die ganze Zeit bei dir sein! Was für einen Themenpark wollen wir uns ansehen, Häschen? Regenbogen? Hm..." Hosoda grinste ungeniert in sich hinein, als er Seiji hinter sich leise winseln hörte. ~+~+~* Hosoda war sich selbstverständlich bewusst, dass er mit seinem eleganten, dreiteiligen Anzug und dem Kurzmantel auffiel. Zu seiner Befriedigung hatte Seiji sich entschlossen, seinem Beispiel zu folgen, nicht in den abgetragenen Alt-Klamotten aufzulaufen, auch wenn er noch immer unbehaglich um sich blickte. Am helllichten Tag, zwei Männer, unter der Woche, in einem Vergnügungspark! Hosoda plagte sich nicht allzu sehr mit Mitleid. Für die, die möglicherweise kariert guckten, würden sie ein gar nicht so seltenes Bild abliefern! Ein exzentrischer Chef, der seinen armen Untergebenen zu solchen Albernheiten mitschleifte. Wenigstens waren sie beide nüchtern! Ihn focht das gar nicht an. Er bezahlte beschwingt die Tickets, orientierte sich an einem Plan. Den konnte man ganz altmodisch als Faltblatt erhalten oder sich auf das Smartphone laden. Ihm war nach Papier. Das bedeutete auch, bis das Papier zerfaserte, eine Erinnerung. Es war wirklich sehr lange her, dass er ein solches Vergnügungsangebot genutzt hatte! "Oh, lass uns gleich den Freifall-Turm ausprobieren!" Zog er Seiji am Handgelenk hinter sich her. Dort musste man nicht zu lange anstehen, da die vorgelagerte Achterbahn (wobei sie mehr Drehungen aufwies) den unternehmungslustigen Besuch abfing. Im Turm wurde man ringförmig fest angeschnallt mit großen Bügeln. Es ging gemächlich aufwärts, während auf den Innenwänden des Turms Bilder projiziert wurden, die an einen Weltraumflug erinnerten, ein träges Dahintreiben. Oben angekommen hörte man den Countdown. Abgezählt wurde die sehr kurze Frist, bis es zum Touchdown mit dem Lander auf einer Planetenoberfläche kam. Also heftig einsetzende Gravitationskraft zu erwarten stand! Man plumpste scheinbar ungebremst einen rötlich eingefärbten Schlaglochfeld entgegen! Die Weltraum-Reisenden kreischten, umklammerten die Sicherungsbügel. Kurz vor dem unvermeidlichen Aufprall bremste man, setzte sanft auf dem Boden auf. Hosoda lachte heraus. Diese Katharsis, sich mal ungestraft die Lunge herausbrüllen zu können, hatte etwas sehr Befreiendes. Seiji hingegen taumelte zittrig und käseweiß neben ihm. "Schön festhalten." Bot Hosoda sich als Stütze an, steuerte zum Planetarium. Da gab es nach seiner Erwartung bequeme Sitzgelegenheiten. Sein jüngerer Begleiter konnte sich etwas fassen. In der gewölbten Kuppel spielte sich über ihren Köpfen der Nachthimmel ab. Eine angenehme Stimme begleitete die Inszenierung von Sternkonstellationen, vom Aufbau des Weltalls, der Milchstraße. Kichern und Flüstern signalisierte Hosoda, dass das Planetarium hauptsächlich aufgesucht wurde, weil es intime Dunkelheit bot. Nachdem sie die sich wiederholende Vorführung verlassen hatten, dirigierte er Seiji weiter. Ah! Das musste natürlich sein! Prompt erstand Hosoda für sich selbst einen Haarreif mit stilisierten Antennen, giftgrün bemalten Tischtennisbällen am Ende von Sprungfedern. Seiji, der weniger käsig als hilflos-verlegen dreinblickte, bekam ein Stirnband: das All erwartet uns! "Käsekuchen!" Trompetete Hosoda, bestand auf einen Schnappschuss in dieser Ausstaffierung, versandte das Bild höchst zufrieden. Untertitel: der Chef ist immer auf Empfang für neue Ideen! Seiji blinzelte nervös zu ihm herunter. "Nun sollten wir was essen!" Entschied Hosoda geschäftig. So viel Bildung und Amüsement kitzelte seinen Appetit. Die angebotene Astro-Kost (pürierte Speisen in Quetschbeuteln) missfiel ihm. Nein, lieber eine Mond-Pizza! Flacher Hefeteig nach italienischer Art, belegt mit verschiedenen Gemüsen, Pilzen und Pasten, frisch gebacken! Dazu ein mit Fruchtsirup aromatisiertes Wasser, aber bitte ohne alberne Glucker-Halme. Hosoda speiste gut gelaunt, studierte dabei unauffällig seinen jüngeren Assistenten, der nicht mehr so verschreckt wirkte, sondern erleichtert registrierte, dass auch andere hier aßen, Pensionierte, Geschäftsleute. Wieso auch nicht? Tagsüber gab es für die Attraktionen reduzierte Preise, wochentags ohnehin, nicht nur eine Pärchen-Veranstaltung für junge Leute! Ein Softeis leckend (gruselig bunt eingefärbt) spazierten sie über das Gelände. Natürlich existierte der obligatorische "Liebestunnel". Man stieg in kleine Paar-Fuhrwerke, die auf schmalen Schienen durch ein Gebäude geführt wurden. An den Wänden konnte man Projektionen sehen, Hologramme bauten sich auf: Planeten, Sterne, Supernovae, Schwarze Löcher, Weiße Riesen, Rote Zwerge. Dazu Sphärenmusik, Raumschiffe, Weltraumstationen, Weltraumaufzüge von Planeten und natürlich Aliens, Außerirdische jeglicher Variante, nicht holographisch, sondern als kostümierte Marionetten, die für ein wenig Grusel sorgen sollten, falls die Pärchen sich mal auf etwas anderes als den jeweiligen Gegenpart konzentrierten. "Im Weltraum gibt es keine Musik." Stellte Seiji plötzlich fest. "Tatsächlich? Kein Laut? Oh." Staunte Hosoda. Gerade wurde ihnen vorgeführt, wie ein erloschener Stern in ein Schwarzes Loch gezogen wurde, am Ereignishorizont seine Form verlor, scheinbar unendlich gedehnt. Einstmals größer als die irdische Sonne! So gewaltig, und doch hörte niemand dieses Ende, diesen Tod. Natürlich, es gab Wellen, Teilchenstrahlung, aber nein, keine Musik. Impulsiv fasste Hosoda nach Seijis Hand. Getrennt durch die Handschuhe konnte es nicht ZU unangenehm persönlich werden, aber er verspürte den heftigen Drang, ihn trösten zu wollen. Zögerlich schlossen sich dessen Finger um Hosodas Hand. Hier, im Dunkeln, konnte man sie ohnehin nicht sehen, doch plötzlich schien es unabdingbar, sich zu versichern, nicht allein zu sein, nicht lautlos zu verschwinden wie dieser ehemals gewaltige Stern. ~+~+~* Hosoda störte sich nicht an der Musik. Meist nahm er sie gar nicht bewusst wahr, wenn er in seinem Büro um den Schreibtisch kreiselte, organisierte, telefonierte, durchlas, besprach, skizzierte. Aber er bemerkte sehr wohl, wenn sie aussetzte, was sie in den letzten Tagen kaum getan hatte. Ganz gleich, wie lange er auch arbeitete: Seiji spielte immer, den Kontrabass umschlungen wie die einzige Bake in stürmischer See. Im Dunkeln. Hosoda ließ seine Arbeit ruhen, wechselte in den unbeleuchteten Wohnbereich. Seiji erzeugte erdige, tiefe, sonore Tonabfolgen, nutzte nur selten einen Bogen für Melodien, zupfte oder schlug die Saiten an. Nun, verzögert, hob er den Kopf. Ob er zuvor mit geschlossenen Augen gespielt hatte, konnte Hosoda nicht ausmachen. "Es hat nicht geklappt?" Erkundigte er sich sanft. Seiji seufzte mutlos. "Sie haben einen Amateur ausgewählt, aus einem Freizeit-Orchester. Das ist günstiger." "Hm." Konstatierte Hosoda, wandte sich der Küchenzeile zu, aktivierte die indirekt ausgerichteten Strahler. Ihm war nach einem kräftigen Tee mit "Stroh"-Note. Seiji umschlang den Kontrabass, gewohnt oben ohne, lediglich mit seinen alten Jogginghosen bekleidet. Er blickte auf, als Hosoda ihm einen Teebecher unter die Nase hielt. "Leg eine Pause ein, ja? Setz dich zu mir." Zögerlich löste er sich aus der Umarmung des Musikinstruments, stützte es sorgfältig ab, angelte nach einem Handtuch. Er tupfte sich ab, legte es um den Hals. Hosoda residierte auf dem Sofa, atmete genießerisch den strengen Geruch des "Heu"-Tees ein. "Ich habe nachgedacht." Verkündete er. Alarmiert richtete sich Seiji neben ihm auf. "Ich sehe durchaus, wie sehr du dich bemühst, Seiji. Wir sollten Alternativen in Erwägung ziehen." Neben ihm sackten knochige Schultern tiefer. "Ah, ich bin..im Weg...ja, das verstehe ich..." Hosoda stellte erst seinen Teebecher ab, klopfte auf Seijis Oberschenkel. "Ich dachte mir schon, dass DAS dein erster Beitrag sein wird!" Tadelte er vorgeblich streng, um ungeniert zuzufassen, Seijis Kopf zu lupfen, Blickkontakt herzustellen. "Du bist mir nicht im Weg, Seiji. Verstanden? Ich würde es dich direkt, im Klartext wissen lassen. Nein, tatsächlich, ganz gegen meine Erwartungen, macht es mir Spaß, einen Teilzeit-Assistenten im häuslichen Bereich zu haben. Aber darum geht es nicht. Wir haben uns darauf konzentriert, dass du Aufnahmen bekommst, Engagements und jobbst. Bisher mit durchwachsenem Erfolg, das muss man zugeben. Deshalb glaube ich, es ist angezeigt, die Perspektive zu verändern." Unbeirrt zwang er Seiji, ihn anzusehen. "Du liebst es zu musizieren. Schön. Du hast auch einen entsprechenden Abschluss. Korrekt? Wie wäre es, wenn du unterrichtest? Oder in die Musiktherapie gehst? Es gibt bestimmt mehr Möglichkeiten, als mir einfallen, ich bin ja nicht vom Fach! Warum nutzen wir nicht die Expertise einer Jobagentur, lassen uns beraten?" Seiji blinzelte nervös. "Das klingt gut, bestimmt, Herr Hosoda. Allerdings wird bestimmt eine Ausbildung verlangt." "Dann machst du die eben!" Legte Hosoda aufgeräumt fest. Den nächsten Einwand erwartete er selbstverständlich auch. "Das ist schwierig, weil ich mir das nicht leisten kann." Wisperte Seiji mit einem kläglichen Lächeln. "Darüber mach dir keine Gedanken. Erst loten wir aus, welche Möglichkeiten sich anbieten! Vielleicht gibt es etwas darunter, das dir sogar sehr liegt! Du hast viele Qualitäten, die schlichtweg noch keine Berücksichtigung gefunden haben!" Zeigte sich Hosoda überzeugt, in vollem Elan. Seiji seufzte, wich seinem Blick aus. "Das mag sein, aber warum tun Sie das? Ich bereite Ihnen so viel Mühe und Kosten." Hosoda lächelte nachsichtig, wuschelte frech durch die jüngst wieder gestutzten Stacheln. "Weil ich der Chef bin, selbstverständlich! Sieh es mir nach, aber als nicht mehr neuer Mann halte ich an den Traditionen fest, kümmere mich um all meine Beschäftigten wie um eine Familie. Nur gemeinsam können wir stets unser Bestes geben, nicht wahr?" Er klopfte Seiji auf die Schulter. "Außerdem bin ich notorisch neugierig! Ich will einfach wissen, was du noch so drauf hast! Du weißt doch, was alten Leuten neben Essen am Liebsten ist: sich bei den Jüngeren einmischen!" Mit herausforderndem Grinsen entlockte er Seiji schließlich ein schiefes Lächeln. "So ist es schon besser! Morgen machst du einfach einen Termin aus. Wir sehen mal, wie es weitergeht!" ~+~+~* "Ich bin wieder da, Herr Hosoda." Meldete sich Seiji höflich an der Tür zum Büro. "Oh! Wie ist es gelaufen? Hast du ein Angebot bekommen?! Ich will alles wissen!" Hosoda pirouettierte förmlich, überraschte Seiji damit, der sich schon wieder entfernen wollte. "Aber Sie arbeiten doch gerade." Wies er auf einen wesentlichen Punkt hin. Wenn sein Arbeitgeber sich nämlich in größerer Geschwindigkeit rotierend um den Schreibtisch bewegte, war Vorsicht angesagt. Nicht prioritäre Angelegenheiten mussten warten! Hosoda lupfte eine Augenbraue. "Erlaube mal, denkst du, ich halte bis später durch, wo ich so neugierig bin?!" Beklagte er eine mangelnde Urteilsfähigkeit bei seinem Teilzeit-Assistenten im häuslichen Bereich. Seiji blinzelte hinter den Brillengläsern verlegen. "Ich könnte Tee aufsetzen und dabei erzählen?" Bot er konziliant an. "Wunderbar! Bin gleich bei dir!" Flink aktivierte Hosoda seine "digitalen Vertreter", kletterte auf einen Barhocker, höchst gespannt, was ihn noch jünger wirken ließ, als es ohnehin den Anschein hatte. "Mir wurde empfohlen, praktische Erfahrungen zu sammeln, um zu schauen, ob ich mit Menschen gut umgehen kann." Seiji setzte den Wasserkocher auf. "Es gibt die Möglichkeit, bei einer Musik-Pädagogin eine Art Praktikum zu machen. Sie besucht Kindergärten und Vorschuleinrichtungen. Mehr als ein Taschengeld zum Auslagenersatz ist allerdings nicht möglich. Ich habe den Bewerbungsbogen hier, um mich vorstellen zu können." Hosoda nahm das Dokument entgegen, studierte es, sprang auf, um Schreibunterlage und Stift zu holen. "Ich ertränke die Teebeutel, du schreibst. Wir faxen gleich!" Verkündete er schwungvoll. Artig nahm Seiji Platz, zögerte. "Ich soll eine Adresse angeben..." "Diese hier, selbstverständlich!" Ordnete Hosoda an. Er verstand durchaus die Zweifel, wischte sie jedoch gnadenlos beiseite. Sie kamen gut miteinander aus, er wollte vermeiden, dass Seiji sich erneut selbst verunsicherte, weil er glaubte, rasch "abgewickelt" werden zu müssen. Sorgsam setzte Seiji die Zeichen, fasste seine Biographie rasch zusammen. "Stempel nicht vergessen!" Ermahnte Hosoda, fischte Teebeutel heraus, übernahm die Korrekturlesung. Er hopste aufgekratzt zu seinem Büro, um das Faxgerät zu füttern. "Oh, ich habe ein gutes Gefühl! Das wird eine spannende Erfahrung, Seiji!" Der jüngere Mann lächelte, nippte an seinem Teebecher. An diesem Abend tanzte und swingte der Kontrabass förmlich. ~+~+~* Hosoda wirbelte um seinen Schreibtisch, konzentriert, grimmig. Herrje, konnte das wirklich Materialermüdung sein? Oder doch ein nicht erkannter Konstruktionsfehler? Der Ingenieur grübelte, die Webmaschinen wickelten andere Aufträge ab, der Vertrieb disponierte auf seine Hinweise hin um, in der Buchhaltung lieferte man Prognosen. Noch bahnte sich keine Lawine an Unerfreulichkeiten an, aber man konnte sie schon ahnen. Wenn man das Problem nicht entdeckte und löste, selbstverständlich. Rasch packte er sein Reisegepäck zusammen: Zugkarte organisieren, Unterbringung vor Ort avisieren. Er sandte Seiji eine Nachricht. [Seiji, ich muss leider schnell verreisen. Das Haushaltsgeld liegt auf dem Tresen. Ich melde mich bei dir, wenn ich weiß, wie lange es dauert. Halt die Ohren steif bei den Kurzen! H.] ~+~+~* Selbst während der Reisezeit arbeitete Hosoda mit seinen verteilten Beschäftigen an der Fehleranalyse, damit man das Problem einkreisen konnte. Vielleicht musste man mehrere Komponenten austauschen? Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um das zu lösende Problem. Außerdem musste er ja auch den normalen Geschäftsbetrieb am Laufen halten. So konnte er nur hoffen, dass Seiji auch nach zwei Monaten noch Freude an seinem Praktikum hatte. ~+~+~* Es überraschte Hosoda, dass er bei seiner Rückkehr am Bahnhof tatsächlich von Seiji abgeholt wurde. "Oh, nanu? Wie nett!" Seiji verneigte sich höflich, ganz der Assistent. "Willkommen zurück, Herr Hosoda! Ich freue mich, dass der Fehler gefunden wurde. Darf ich den Rollkoffer nehmen?" Er durfte, denn Hosoda klappte seufzend den Regenschirm auf. "So warm! Puh! Ohne Klimaanlagen könnte man es in dieser Stadt unmöglich aushalten!" Hosoda zögerte. Liebe Güte, wie sollten sie sich einen Regenschirm teilen, wenn zwei Häupter Größenunterschied zu bedenken waren? Energisch streckte er den Arm hoch wie die Freiheitsstatue. "Das ist nicht nötig!" Beeilte sich Seiji zu versichern. "Willst du etwa nass werden?" Seiji nickte knapp. "Es ist ja recht warm. Ich habe nichts dagegen." Hosoda lupfte eine Augenbraue, schickte sich aber drein. Er hegte das unangenehme Gefühl, dass etwas aus dem Lot geraten war. ~+~+~* Hosoda schlüpfte aus seinen Schuhen, stellte den Schirm in die Abtropfschale. "Geh bitte voraus ins Badezimmer, Seiji, lass die Wanne volllaufen." In der Zwischenzeit wollte er die Schmutzwäsche der Waschmaschine anvertrauen, aktuelle Bekleidung inkludiert. Der Regen kam nicht nur von oben, stürmische Böen hatten ihn bis an die Knie durchnässt! Er legte sich eine neue Garnitur hin, seifte sich gründlich ein, während die Wanne das Wasser aufheizte. Er stieg hinein, seufzte vor Genuss auf. Ein wenig verspannt hatte ihn das Sitzen im Zug schon, obwohl man ja froh sein musste, nicht wie in den Pendelzügen eingepfercht zu stehen. Seiji klopfte höflich, noch den Handtuchturban tragend. "Komm herein!" "Herr Hosoda, möchten Sie etwas essen? Ich mache schnell.." Hosoda klopfte auf den Wannenrand. Er genierte sich nicht. Ohnehin hatte er sich an Seijis Gegenwart gewöhnt, der ihn unbehaglich ansah, aber artig der Aufforderung folgte. "Bitte erzähl mir, was passiert ist." Prompt rollte sich der jüngere Mann zusammen, umklammerte nervös die eigenen Hände. "Seiji?" Hosoda studierte die groß gewachsene, aber dünne Gestalt, biegsam wie Bambus. Innerlich kam sie ihm sehr viel zerbrechlicher als dieser vor. "Das Praktikum wurde vorzeitig beendet." "Wann?" "Gestern. Aber ich wollte Sie nicht während der Arbeit behelligen." Wenigstens, dafür musste man dankbar sein, saß der Kopf nicht schon wieder in den aufgestützten Händen! "Hmmm, welche Gründe wurden dir genannt?" Seiji rollte sich noch ein wenig stärker zusammen, so, als bestehe sein Rückgrat nur aus Gummi. "Dass ich mich zwar bemühe, aber im Umgang mit den Kindern zu gehemmt bin, zu introvertiert. Ich solle mir überlegen, ob ich wirklich so eng mit Menschen arbeiten wolle. Das verlange aktive Annäherung. Außerdem gebe es bereits eine weitere Interessierte an einem Praktikum mit mehr Erfahrung im Betreuungsbereich." Nun stützte er doch den Kopf in die Hände. Hosoda studierte das Bild noch einen Augenblick länger. "Tja, das klingt für mich jetzt aber nicht sonderlich dramatisch." Verkündete er betont nüchtern und aufgeräumt. "Gut ist doch, dass wir jetzt wissen, was diese Pädagogin denkt. Teilst du ihre Auffassung?" Akribisch beäugte er jeden Muskel, jedes Zucken. Seiji verspannte sich erst, seufzte. "Ich denke, dass sie recht hat." Murmelte er geschlagen. "Es können nicht alle die gleiche Natur haben, nicht wahr? Wir streichen eben Tätigkeiten, die eine extrovertierte Persönlichkeit verlangen, von der Liste! Damit wärst du ja auch nicht glücklich, wenn's dir nicht liegt. Erinnere ich mich richtig, gab's da nicht auch einen Test bei dieser Agentur? Den sollten wir nun in Erwägung ziehen!" Hosoda stemmte sich aus dem heißen Wasser, geschmeidig und tatendurstig. "Lass den Kopf nicht hängen, Seiji! Apropos hängen, mein Magen orientiert sich gerade Richtung Zehen. Was meinst du, können wir gleich was essen? Ich könnte ein Pferd verschlingen!" Seiji zögerte, entrollte seine große Gestalt, blickte ihn an. Er erhob sich eilig, reichte ein Handtuch an, machte Platz, damit Hosoda der hohen Wanne entsteigen konnte. "Pferd kann ich nicht bieten, aber ich habe Dashi angesetzt und noch Gemüse. Wie wäre es mit einer Nudelsuppe?" "Hervorragend!" Trompetete Hosoda aufgekratzt, tupfte sich hochgestimmt ab. "Ich bitte um das Menü! Bevor die Arbeit uns wieder ruft!" ~+~+~* Ganz so einfach ließ sich dieser neuerliche Rückschlag natürlich nicht verdauen, auch wenn die Aussicht darauf, am nächsten Tag einen Eignungstest zu absolvieren, Seiji aufmuntern sollte. Hosoda merkte es am abendlichen Spiel. Ja, er ließ seine Arbeit sogar ruhen, um auf die Töne zu lauschen, schwermütig, dumpf, schleppend. Doch nicht nur das bereitete ihm Kopfzerbrechen. Auch der Umstand, dass er in der Nacht erwachte, um festzustellen, dass Seiji nicht neben ihm schlief, sondern, wie Hosoda auf Zehenspitzen eruierte, unter einem Tuch weiterspielte, so gedämpft, dass man kaum etwas vernehmen konnte. Hosoda konnte einmal mehr nur staunen, wie ein derart scheuer Mensch in einer Punkrockband agiert hatte. ~+~+~* Bevor die Ergebnisse des ausführlichen Eignungstests sie erreichten, gab es einen Hoffnungsschimmer am Horizont: man benötigte für eilige Aufnahmen einen Kontrabassisten! Das Instrument war mitzubringen, weil man so rasch kein anderes organisieren konnte. Die Erste Wahl rückte ihr eigenes nicht heraus. Verständlich, da es sich offenbar um ein hochwertiges Exemplar handelte. Seiji packte eilig zusammen, lächelnd, hochgestimmt. Vielleicht ergab sich ja doch was, wenn man vor Ort war! Er konnte sich präsentieren, fiel möglicherweise anderen auf, die sich erinnerten! Hosoda wünschte ihm gutes Gelingen, ermahnte ihn, nicht zu zögern, seine Anschrift als Kontakt zu nennen. Man musste nutzen, was man hatte, nicht wahr? ~+~+~* Hosoda arbeitete konzentriert, umkreiselte den Schreibtisch, las, telefonierte, prüfte, kalkulierte. Wenn er im Fluss war, verlor die Umgebung ihre Bedeutung für ihn. In diesem fast meditativen Zustand kamen ihm auch immer neue Eingebungen für Verbesserungen und Variationen des Angebots. Deshalb blinzelte er verdutzt, als das Telefon sich mit einer unbekannten Nummer bemerkbar machte. "Hallo, hier Präsident Hosoda, ja, das ist korrekt! Ja, genau, das ist mein persönlicher Teilzeit-Assistent. Was ist denn passiert? Ein Unfall? Ja, ich komme sofort. Bitte geben Sie mir Ihre genaue Adresse!" Hosoda vergaß den "Fluss", setzte seine digitalen Vertreter auf Bereitschaft, griff eilig nach seiner Umhängetasche. Der arme Seiji schien tatsächlich eine sehr klebrige Pechsträhne zu haben! ~+~+~* Hosoda meldete sich am Empfang an. Dort klappte bereits ein älteres Männchen hoch, überreichte ihm eine Visitenkarte: Vertreter des Hotels. Gegenseitige Verbeugung, Hosoda gab seine Visitenkarte heraus. Erneutes Verneigen des Männchens, kombiniert mit Entschuldigungen, der Versicherung, man werde für die entstandenen Schäden einstehen. Hosoda klappte auch notgedrungen nach vorne, beruhigte, man werde eine Einigung treffen, obwohl er noch keine exakte Vorstellung davon hatte, was genau geschehen war. Er bestätigte dem Männchen erneut, dass alle Kommunikation über sein Unternehmen laufen könne. Ja, man werde sich melden, ganz sicher. Endlich durfte er sich verabschieden, die Ambulanz aufsuchen. Erneutes Anmelden an dieser Rezeption, wo man ihn beiseite nahm, die nächste Visitenkarte studierte, nämlich auf Übereinstimmung mit der, die man bei Seiji gefunden hatte. "Was ist denn nun geschehen?" Hosoda kämpfte hart mit seiner besorgten Ungeduld. "Also, sehen Sie, es stürmt ja schon den ganzen Tag, nicht wahr? Bei der Bushaltestelle vor dem Hotel, da scheint sich wohl etwas von der Fassade gelöst zu haben. Eine Fahnenstange, wie ich gehört habe. Die hat es ohne Vorwarnung herausgerissen, mit einer Art Schleife, weil ein Verankerungsstahlseil hielt. Die Stange ist also bogenförmig heruntergesaust, an der Bushaltestelle, über den Gehweg. Wäre der Transportkasten nicht gewesen, hätte sie sich glatt durch den jungen Mann gebohrt!" ~+~+~* Das Bulletin las sich eigentlich recht erfreulich: außer Prellungen und Schürfwunden beim Sturz auf das Pflaster hatte Seiji keine Schäden davongetragen. Die kurzzeitige Bewusstlosigkeit resultierte aus dem heftigen Aufprall der Stange in Brusthöhe, die ihm schlicht den Atem ausgetrieben hatte. Das akute Problem bestand darin, dass er in einem Schockzustand verharrte. Man erhoffte sich nun, dass vertraute Personen halfen, den seelischen Druck ein wenig abzulassen. Hosoda beäugte den Schnappschuss der alarmierten Polizei. Immerhin konnte man nicht ausschließen, dass sich weitere Teile von der Fassade lösten! Der Transportkasten war eingedrückt, der Kontrabass darin konnte nicht besser aussehen. Seiji konnte wirklich großes Glück für sich verbuchen, dass beide den Aufprall wirksam gebremst hatten. Hosoda begriff auch, warum sein jüngerer Assistent dort wie paralysiert saß. Er konnte es an den mit Pflastern und Desinfektionsmittel behandelten Händen erkennen. Sie zuckten im Phantomspiel auf Saiten, die nicht mehr länger den Kontrabass bespannten. Er straffte sich entschlossen, durchquerte den Wartesaal, ließ sich auf den freien Platz neben Seiji nieder. "Seiji? Seiji, wie fühlst du dich?" Hinter den Brillengläsern konnte kein Erkennen notiert werden. Hosoda drehte sich leicht, umfasste dann die verarzteten Hände behutsam. Sie waren eisig kalt. "Seiji, begleitest du mich zurück ins Büro, bitte?" Hosoda verstärkte den Druck vorsichtig. "Kannst du aufstehen, Seiji?" Er erntete ein verzögertes Blinzeln. Wie aus einer tiefen Trance, schien Seiji ihn zu erkennen. "....Herr Hosoda?" "Hallo, Seiji. Ich bin gekommen, um dich abzuholen. Kannst du aufstehen?" Seiji zögerte. "Versuchen wir es mal, ja?" Hosoda erhob sich, ließ die kalten Hände jedoch nicht los. Mit einem Ruck organisierte Seiji seine Glieder, kam ungelenk auf die Beine, versuchte, seine Umgebung zu begreifen. "Augen auf mich!" Gebot Hosoda streng, schnarrend. Prompt zuckte der jüngere Mann zusammen, sah ihn an. "Lass uns gehen, Seiji. Alles in Ordnung." Eine lächerliche Lüge, doch Hosoda ging es einzig darum, bis zum Taxistand zu kommen. Es wäre leichter, Seijis Zusammenbruch in häuslicher Umgebung zu bewältigen. ~+~+~* Kapitel 9 Zu Hosodas Erleichterung bewegte sich Seiji mit der Grazie einer Aufziehpuppe steif, aber sicher, kletterte ins Taxi und auch wieder hinaus, ohne Assistenz. Er blieb ganz still, bleich, die Hände ruhig, erstarrt, im Schock. Hinter der Wohnungseingangstür atmete Hosoda tief durch. Bis hierhin hatten sie reüssiert, doch er wusste nicht, wie er mit so einer Situation umgehen sollte. Deshalb entschied er sich für die rustikale Methode. Erstmal musste Seiji ins Badezimmer, sich entblättern. Zum Glück, nun ja, relativ gesehen, hatte er für die Studioaufnahmen seine "alte" Aufmachung gewählt. Die konnte man wie Hosoda fand ohne Bedauern entsorgen: schmutzig, in Teilen zerrissen, ohnehin abgetragen und ausgebleicht. Er selbst wechselte eilig in seine "Arbeitskleidung", rollte Ärmel und Hosenbeine hoch, bestand darauf, Seiij behutsam einzuseifen und abzubrausen. Der blieb noch immer ganz still, ließ sich in eine Yukata wickeln, ins Schlafzimmer dirigieren. "Ich bin gleich zurück!" Versprach Hosoda, flitzte in sein Büro, um eine Wasserstandsmeldung an alle abzusetzen. Dass er für eine Weile nicht erreichbar sein würde, weil sein Assistent einen Unfall erlitten hatte, persönlicher Betreuung bedurfte. Er kehrte ins Schlafzimmer zurück, setzte sich neben Seiji, den er zum Ausstrecken genötigt hatte. "Seiji, wie fühlst du dich, hm?" Uneingeladen wuschelte er durch die Stacheln. "Geht schon." Das ermutigte an den kniffligen Teil zu gehen. "Wie sind die Aufnahmen gelaufen? Hat alles geklappt?" Seiji bemühte sich angestrengt um Erinnerung. "Lief gut. Wir waren schnell fertig. Es war allerdings auch nur eine Kleinigkeit." "Aha. Hast du Bekannte getroffen? Konntest du dich ein wenig unterhalten?" Die Grübelfalten vertieften sich. "Keine Bekannten, aber ich habe mich allen vorgestellt, und..." Sein Blick wanderte auf die Bettdecke. Er zog seine Arme hervor, betrachtete seine zuckenden Hände, schnappte nach Luft. Hosoda hingegen überwand die kurze Distanz, zog Seiji in seine Arme, der nach einem weiteren Augenblick zu schluchzen begann wie ein geprügeltes Tier in jämmerlichen Tönen. Ohne es verhindern zu können stiegen auch Hosoda Tränen in die Augen. Entschlossen wiegte er den jüngeren Mann. "Ist gut, Seiji, ist gut. Lass alles raus. Das ist nur der Schreck, alles in Ordnung." Es dauerte nach Hosodas Gefühl Ewigkeiten, bis Seiji die Kraft ausging, er nicht mehr weinen konnte, nur noch schniefend zitterte. "Ich weiß, Seiji, ich weiß. Ein übler Schreck. Aber das ist vorbei, hörst du? Du bist hier sicher." Tröstete Hosoda unermüdlich. Allerdings war er nicht überzeugt, die schlechte Nachricht adäquat überbringen zu können. Das erwies sich zunächst auch nicht als notwendig. Ausgepumpt von Schock und Kummer, schlief Seiji einfach ein. Das erlaubte es Hosoda, das durchtränkte Oberteil zu wechseln, rasch seine besorgten Beschäftigten auf den neuesten Stand zu bringen. ~+~+~* Faxe mit guten Wünschen und Bildern, digitale Nachrichten zur Aufmunterung, Grüße. Hosoda gruppierte sie um Seiji, der sich mühsam im Bett aufgerichtet hatte. "Alle sind sehr froh, dass du tüchtige Schutzengel hattest, Seiji." Summierte Hosoda das Fazit. Seiji nickte stumm. Fast schon befürchtet stützte er den Kopf in die Hände. Hosoda ließ nicht nicht abschrecken, kletterte über die Matratze, um selbstherrlich einen Arm um die knochigen Schultern zu legen. "Die Versicherung des Hotels, von dem diese Stange abgerissen ist, hat sich bei mir gemeldet. Sie wollen die Behandlungskosten ersetzen, also habe ich sie ans Krankenhaus verwiesen. Es geht noch um die Sachschäden. Ich denke, bei deinen Kleidern werden wir wohl auf Kompensation verzichten, weil der Zeitwert...nun ja." Hosoda drehte sich, wuschelte mit der freien Hand durch die wirren Stacheln. "Außerdem müssen wir den Bass anmelden. Seiji, war dein Bass versichert? Hast du Unterlagen zum Bass?" Seine Suche in Seijis Habseligkeiten hatte keinen Erfolg gezeitigt. "Seiji?" "Seiji, was kann ich tun, hm? Wie kann ich dir helfen?" Er konnte Seiji kein Wort entlocken. Also löste Hosoda seinen Arm, kam auf die Knie, drängte Seiji eine Umarmung auf, damit er über das eingerollte Rückgrat, den rasierten Nacken streicheln konnte, geduldig und ausdauernd. Ein Knurren störte schließlich diese fast kontemplative Handlung. "Herrje, entschuldige! Mein Magen hält nicht viel von Takt. Ich werde rasch rausgehen und...!" "...ich kann etwas machen." Hosoda zog sich ein wenig zurück, suchte Blickkontakt herzustellen. "Bist du sicher? Willst du nicht lieber ein wenig ausruhen?" Seiji entrollte sich, hob den Kopf aus den Händen, die Augen entzündet, das Gesicht noch immer bleich. "Reis-Omelette. Das mache ich. Mit Ketchup." Für Hosoda eine "Kinderspeise", aber er nickte bereitwillig. "Sehr guter Vorschlag! Ich helfe dir, ja?" Damit wollte er auch sicherstellen, dass Seiji sich nicht doch übernahm. ~+~+~* Zu Hosodas Erleichterung meisterte Seiji das Zubereiten der einfachen Mahlzeit problemlos. Er erhob auch keine Einwände, eine Tüte mit gewürzten Snacks, die man eigentlich zu einem Bier knabberte, zu öffnen. Zögerlich stellte sich wieder das Zittern der verarzteten Hände ein. Hosoda wandte sich herum, nahm sie in die eigenen. Er massierte sehr vorsichtig. Eigentlich unverschämt, gewiss nicht seine Forte, aber er wusste sich keinen anderen Rat. Es tat bereits das Zuschauen weh, weil die Finger im Phantomschmerz Saiten suchten, die sie nicht finden konnten. "Ist es sehr arg, Seiji? Wenn du Medikamente brauchst...?" Seiji hielt den Kopf gesenkt, wieder eingerollt in sich selbst. "Nein, danke schön. Es ist nicht so... arg..." Hosoda hielt die großen, teils verpflasterten Hände nun einfach. "Möchtest du dich vielleicht ein bisschen hinlegen?" "Der Abwasch..." "Darum kümmere ich mich schon, ist ja nicht viel!" Versicherte Hosoda aufmunternd. Wieder trat Stille ein. Was tun? "Ich bin sehr froh, dass du fast unversehrt davongekommen bist." Stellte Hosoda schließlich entschieden fest. Dass es auch schlimmer ausgehen konnte, wusste er. Jedes Jahr kamen mehrere Menschen bei Taifunen und Stürmen um, wurden von Bäumen oder Trümmern erschlagen. "Danke. Danke, dass Sie gekommen sind." Seijis heisere Stimme verlor sich. Er seufzte, rollte sich ein wenig auf, drückte das Rückgrat durch. "Der Bass~der Bass war nicht versichert. Ich habe ihn vor Ewigkeiten gebraucht gekauft." Es kostete ihn sichtlich Mühe, die Worte zu finden, die Fassung zu wahren. Hosoda drückte sehr behutsam die Hände in seiner Obhut. "Hilfst du mir morgen, die Schadensmeldung auszufüllen?" "Ja. Danke, Herr Hosoda." Von seinem Barhocker rutschend erhob sich Hosoda. "Ruh dich doch noch ein wenig aus, Seiji. Für den Augenblick ist alles getan." Zu seiner Erleichterung kam Seiji auch gehorsam auf die Beine, folgte seinem dringlichen Ratschlag, sich im Schlafzimmer erneut hinzulegen. Hosoda atmete tief durch. Während er rasch abspülte, überdachte er die Situation, marschierte in sein Büro. Nacharbeiten war angezeigt! ~+~+~* Hosoda erwachte, ohne sich erklären zu können, warum. Ein Geräusch? Oder gerade kein Geräusch? Das Bett war an seiner Seite leer. Alarmiert erhob er sich, wieselte eilig in den Wohnraum. Seiji kauerte auf dem Sofa, die Beine vor den Leib geklappt, mit den Armen umschlungen, ein kompaktes Paket. "Darf ich?" Ohne eine Antwort abzuwarten platzierte sich Hosoda neben ihn. Es war sehr still. Gedämpft klang die unermüdliche Stadt durch die Wände. Keine Uhr tickte vernehmlich die Zeit weg, weil Hosoda das nicht leiden konnte, entsprechende Geräte verbannte. "Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der zwei Maximen gelten: Webkunst und Tradition. Beide sind von vielen Regeln geprägt, die ausnahmslos und strikt befolgt werden müssen." Hosoda hielt im Halbdunkel die gepflegten Hände vor sich. "Ich habe mich von kleinauf für die Beschaffenheit von Stoffen interessiert, mir ganze Alben zusammengestellt mit kleinen Proben, damit ich sie studieren konnte, unter den Fingern blind ertasten, um was es sich handelt." Er lächelte versonnen. "Natürlich sind die anderen Sinne auch wichtig, einen Stoff zu erfassen, ihn zu sehen, zu hören, zu riechen. Aber an erster Stelle steht für mich der Kontakt mit meinen Fingerspitzen." Die Hände langsam zu Fäusten ballend, wieder öffnend fuhr er fort. "Jeder Stoff erzählt eine andere Geschichte in seiner Oberfläche, eine andere Emotion. Fein, zart, glatt oder rau, unregelmäßig, grob. Mit den Fingern sehe ich Empfindungen. Wenn es mir mal nicht gut ging, habe ich mich mit einem Album bei den Webstühlen versteckt, bin auf Reisen gegangen, Finger voraus." Hosoda seufzte betont. "Eine Angewohnheit, die ich heute noch habe. Ich MUSS einfach Stoffe berühren! Das kann einen ganz schön in die Bredouille bringen, sag ich dir! Ich war mal bei einer Modenschau, sehr hochpreisig, mit Künstlern. Einer hatte aus vielen Mosaiken eine Art Kleid zusammengesetzt, gepresster Seidenbast! Hätte keine Wäsche ausgehalten, aber ich war so neugierig, dass ich glatt zugefasst habe. Affront, Skandal!" Neben ihm merkte Seiji auf, erkennbar an dem dezenten Entrollen der großgewachsenen Gestalt. "Ich musste mich entschuldigen, großes Theater. Aber es ist einfach mit mir durchgegangen! Da habe ich mir angewöhnt, nahezu überall die Handschuhe anzubehalten, vor allem bei Präsentationen. Aber was für eine Verschwendung!" Deklamierte Hosoda dramatisch, schnaubte betont durch. "Es gibt eben Dinge, die lassen sich nicht ersetzen, die sind beinahe so wichtig wie atmen und essen. Ich BRAUCHE Stoffkontakt, besonders unsere wunderbaren, vielseitigen Webstoffe!" Sanft stippte er Seiji in die Seite. "Nur falls du dich fragen solltest, warum unsere Stoffalben so abgegriffen sind: meine Finger gehen noch heute täglich spazieren!" Schloss Hosoda verschmitzt seinen kleinen Vortrag ab. Er erhob sich dynamisch, drückte behutsam eine knochige Schulter. "Ich halte dir ein Eckchen warm, Seiji." Damit zog Hosoda sich ins Schlafzimmer zurück, überzeugt, sein Möglichstes zu nachtschlafender Zeit getan zu haben. ~+~+~* Hosoda hätte durchaus Verständnis dafür gehabt, dass Seiji länger schlief, doch der stand zum gewohnten Zeitpunkt auf, bereitete das Frühstück zu. Nichts an ihrem Tagesablauf wich von der eingespielten Routine ab, zumindest nicht bis nach dem Frühstück. Hosoda entschied, nach zweimaligem Kreiseln um seinen Schreibtisch, dass zuerst die Rückmeldung an die Versicherung erfolgen musste. Was weg war, war weg! Seiji diktierte ihm brav in das Formular (mehrseitig, mit diversen Detailfragen), was man zum Kontrabass ausführen konnte, dessen traurige Überreste noch immer bei der zuständigen Polizeiinspektion zu besichtigen waren. "Nun, das ist getan!" Dynamisch orchestrierte Hosoda sein übliches Tagwerk in einer weiteren Umdrehung. "Lass uns jetzt herausfinden, wo wir einen anderen Kontrabass finden!" Seiji, im Begriff, wie üblich ein wenig zu putzen und aufzuräumen, hielt abrupt inne, wandte sich herum. "Herr Hosoda, falls ein Schadenersatz gezahlt wird, reicht der kaum." Wagte er einen Einwand, etwas blasser als gewohnt blickend. Kein Wunder, nach dem Vortag und der kurzen Nachtruhe! Doch Hosoda spürte den unwiderstehlichen Drang, keine Konzessionen zu machen. "Spielt keine Rolle! Ich verzichte nicht auf meine abendliche musikalische Unterhaltung. Deine Finger wollen Saiten spüren, ergo muss ein anderer Kontrabass her. Selbstverständlich kein Ersatz, natürlich nicht, immerhin hast du diesen Bass so lange gespielt! Aber einen Nachfolger! Genau, einen Nachfolger benötigen wir." Er stemmte die Hände in die schlanken Hüften. "Ich erwarte deshalb unbedingt deine Unterstützung. Ich verstehe ja überhaupt nichts von Musikinstrumenten. Mir könnte man einen bemalten Schuhkarton mit Schnürsenkelbespannung andrehen und ich würde nichts merken!" Übertrieb Hosoda ein wenig. Nichtsdestotrotz funkelte er zu Seiji unerbittlich hoch. "Du weißt doch bestimmt, wo wir unsere Suche beginnen können, oder?" Seiji riskierte tapfer Einwände. "Herr Hosoda, ein Kontrabass ist wirklich..." "Aufgemerkt!" Betont trotzig, sehr ungebührlich stampfte Hosoda auf. "Ich BESTEHE darauf, umgehend einen anderen Kontrabass in meiner Wohnung zu haben! Als Teilzeit-Assistent im häuslichen Bereich verlange ich deine Sachkompetenz. Nach dem Preis frage ich nicht! Es handelt sich um eine Notwendigkeit!" Donnerte er befehlsgewohnt. Seiji zog die Schultern hoch, blinzelte verstört. "Also?! Der frühe Vogel fängt den Wurm!" Auffordernd deutete Hosoda auf seinen Laptop, der brav auf Abfragen zu Adressen wartete, damit man sich auch die Wegstrecke notieren konnte. Seiji ächzte geschlagen, zog sich brav einen Hocker heran, bevor er die Finger über die Tastatur wandern ließ. ~+~+~* Selbstredend hatte Hosoda eingeplant, dass man mehrere Stationen abklappern musste. Musikgeschäfte hatten ihn bisher nicht interessiert. Deshalb machte er sich über ihre Anzahl und Ansiedlung keine Vorstellung. Aber immerhin benötigten Musizierende ja Zubehör und Ersatzteile, richtig?! Wenn man in der (quasi) Provinz an einer Ausfallstraße ein Geschäft fand, sollte das in der Metropolregion ja wohl überhaupt keine Herausforderung darstellen! Seiji handelte ihn unterdessen herunter, es zunächst bei gebrauchten Instrumenten zu versuchen. "Nur zu, nur zu! Du musst es spielen, also suche dir den passenden Nachfolger aus!" Ermutigte ihn Hosoda, der erleichtert war, nicht über den Trennungsschmerz hinweg diktatorisch agieren zu müssen. Tatsächlich schien sich Seiji mit dem unvermeidlichen Totalverlust abgefunden zu haben. Oder die Fingerspitzen verlangten noch vehementer als Sentimentalität nach einem Betätigungsfeld! Im dritten ausgewählten Geschäft wurden sie fündig. Dieser Kontrabass ähnelte seinem Vorgänger, was die Optik betraf: mit deutlich erkennbaren Gebrauchsspuren aufwartend, und, ja, das gab man zu, die Resonanz des Korpus war ein winziges Bisschen speziell, für Kammerkonzerte ungeeignet. Nun mal zum Hausgebrauch bestimmt, handwerklich durchaus solide, nicht gedacht für Profis. Hosoda beobachtete Seiji, dessen Finger über die Saiten tanzten, zupften, während er lauschte, sich separierte von seiner Umwelt, der Zeit. Vielleicht übertrieb man nicht, wenn man von einer notwendigen "Seelenverwandtschaft" zwischen Musizierendem und Instrument sprach, handelte es sich nicht lediglich um ein gleichförmiges Werkzeug, das immer passte. Hosoda lächelte, als er die Entspannung in dem großgewachsenen, mageren Mann registrierte. Aha! Er baute sich spornstreichs vor Seiji auf, räusperte sich. "Sollen wir es noch als Geschenk einpacken lassen?" ~+~+~* Hosoda ging durchaus nicht fahrlässig mit seinen finanziellen Mitteln um. Immerhin trug er die Verantwortung für ein Unternehmen mit diversen Arbeitsplätzen, das noch mehr Menschen den Lebensunterhalt sicherte. Er investierte in Verbesserungen, seine Maschinen, das Knowhow, den Transfer von Wissen, die Sicherheit, den Komfort. Privat gönnte er sich hin und wieder kleine Extravaganzen jenseits der Vernunft. Deshalb zögerte er nicht, den ausgewiesenen Preis zu entrichten, samt Zubehör und kleinen Draufgaben. So oft verkaufte man nun auch keine Instrumente, selbst wenn es sich um Gebrauchte handelte! Seiji oblag es, den Kontrabass zu transportieren. Hosoda war verwundert, dass der jüngere Mann seinen neuen Bass nicht vor sich mit beiden Armen umschlungen transportierte, sondern artig in einem ebenfalls gebrauchten, aber gut erhaltenen Kasten auf dem Buckel. "Ist das auch wirklich in Ordnung?" Erkundigte er sich zum wiederholten Mal bei Hosoda, der es recht abenteuerlich fand, in dieser Konstellation einen Pendelzug zu nutzen. "Unbedingt! Ich habe mich an die Serenade gewöhnt, also kann ich jetzt wieder mit voller Kraft arbeiten!" Behauptete Hosoda kategorisch. Diplomatisch geschickt würde er vorgehen müssen, das Instrument dem jüngeren Mann zu übereignen. Seiji schien davon überzeugt, es nur leihweise spielen zu dürfen, da er es nicht auslösen konnte. Verstohlen lächelnd resümierte Hosoda, dass der größte Schock abgemildert war. Jetzt musste nur noch das Ergebnis des Eignungstests eintreffen! ~+~+~* "Nun ja." Stellte Hosoda fest, beäugte die mehrseitigen Ergebnisauswertungen und Schlussfolgerungen. Seiji hatte gewohnt artig seine Pflichten erfüllt, ein leichtes Abendessen zubereitet. Dass er sich noch nicht an seinen neuen-alten Kontrabass gesetzt hatte, grenzte an ein Wunder, änderte jedoch nichts an der eingerollten, unglücklich wirkenden Gestalt. Das Fazit der Auswertung stellte die Ursache dar: Zuarbeitung, höchstens mittlere Ebene bei Angestellten, besser kein ausgedehnter Kundschafts- oder Servicekontakt, keine Unterrichts- oder Lehrtätigkeit. Ohne handwerkliche Vorbildung, zudem körperlich nicht überall einsetzbar, da über dem aktuellen Durchschnitt groß. Das konnte einem schon aufs Gemüt schlagen. Seiji wirkte wie ein gescholtener Schüler. "Man soll sich nicht auf Papier allein verlassen. Das ist nur eine unvollständige Momentaufnahme." Urteilte Hosoda schließlich, schob das Papierbündel beiseite. "Ich habe gründlich nachgedacht." Eröffnete er seine Ansprache. Nun wirkte Seijis Gesicht noch blasser, obwohl das neue Instrument ihm wieder ein wenig mehr Farbe ins Gesicht gezaubert hatte. Hosoda seufzte innerlich. »Herrje, Seiji, ich werde dich nicht mit einem Tritt vor die Tür setzen! Warum nur glaubst du das?!« Aber er enthielt sich streng dieser Äußerung. "Ich bin der Auffassung, dass wir unsere Abmachung verändern müssen." Aha, noch käsiger! Liebe Güte! "Ich bin entschlossen, meine tägliche Arbeit zu verändern. Im Laufe der Zeit ist mein Unternehmen ja expandiert, aber ich habe immer alles allein verwaltet, Macht der Gewohnheit eben. Damit ist jetzt Schluss! Ich benötige für die Arbeit und den häuslichen Bereich einen Vollzeit-Assistenten! Außerdem zur Inspiration regelmäßige Vorträge auf dem Kontrabass. Über die Bezahlung und weitere Leistungen kann verhandelt werden. Sind dir irgendwelche Interessenten für diese verantwortungsvolle Aufgabe im Gedächtnis?!" Donnerte er in geschmeidiger Unerbittlichkeit einer Lawine heraus. Hinter den Brillengläsern weiteten sich Seijis Augen. "Keine Idee? Niemand Geeignetes?" Drängte Hosoda, betont das Kinn reckend, streng. "...ich...ich würde mich gern bewerben!" Stammelte Seiji schließlich nervös. "Perfekt!" Hosoda glitt geschmeidig vom Barhocker, marschierte in sein Büro, kehrte mit einem anderen gehefteten Papierbündel zurück. Er drückte es Seiji in die großen Hände. "Der Vertragsentwurf. Mit Erläuterungen. Die finale Fassung fertigen wir korrekt aus, wenn wir uns einig sind." Seijis Augen wanderten zwischen dem Papierbündel und Hosoda hin und her. Der tippte ihm frech auf die Nasenspitze. "Schlaf drüber, Seiji. Denk gründlich nach. Ich bin ein fairer, aber harter Verhandlungspartner, vergiss das nicht!" Warnte Hosoda schmunzelnd, spazierte höchst zufrieden mit sich selbst in sein Büro. ~+~+~* Hosoda hatte sich informiert, wie persönliche Assistenten oder Büroleitungen entlohnt werden. Bei kleineren Unternehmen selbstverständlich, nicht bei börsennotierten Aktienunternehmen oder gar globalen Multis! Für die Metropolregion auskömmlich, aber ohne Luxus, wenn man eine kleine Miete zu entrichten hatte, sprich, recht einfach lebte. Hosoda überprüfte die Konditionen und das Lohngefüge seiner übrigen Beschäftigten regelmäßig. Diese neue Position musste sich auch dort einordnen können. Außerdem gab es ja Arbeitszeiten und Urlaub zu bedenken. Er hatte sich an Seijis ständige Anwesenheit gewöhnt, auch das Arrangement in der Wohnung. Ein persönlicher Assistent war auch außerhalb der Geschäftszeiten verfügbar, residierte in Rufweite. Das würde wohl ein wenig schwierig werden. Deshalb musste er mit Seiji in Verhandlungen treten. Immerhin hatte der hier in ihrem gegenwärtigen Arrangement keine Privatsphäre, keine geregelte Freizeit! Man konnte nach einer Unterkunft in der Nähe suchen, feste Zeitblöcke vereinbaren... Ja, er würde sich umstellen müssen, einschränken, keine Frage! Andererseits wäre beispielsweise das hausgemachte Frühstück verzichtbar, wenn dafür Abendessen und Solo geboten wurden. Bei den Urlaubstagen ließe sich auch eine Lösung finden. All seine Ideen, seine Vorstellungen, Vor- und Nachteile fanden sich als Notizen auf dem Entwurf des Vertrags. Er wollte Seiji nicht ausbooten oder zwingen. Irgendwann würde der jüngere Mann auch wieder ein eigenes Leben führen wollen, jenseits der Arbeit! Zumindest keine Zweifel hegte Hosoda bezüglich der Bürotätigkeiten, ganz gleich, was der Eignungstest geurteilt hatte: Seiji war zuverlässig, sorgfältig, aufmerksam und verständig. Er konnte mit den technischen Gegebenheiten umgehen, hatte sich des Vertrauens als würdig erwiesen. Entertainer-Qualitäten erwartete Hosoda nicht. Deshalb kümmerte es ihn nicht, dass Seiji nicht extrovertiert auftrat oder mit der Servilität einer Arbeitsdrohne agierte. Außerdem galt es, den "häuslichen Faktor" einzubeziehen! Regelmäßige Mahlzeiten, einige Haushaltstätigkeiten, die er selbst nicht übernehmen musste, somit mehr Zeit hatte, sich um seine Lieblingsbeschäftigung zu kümmern! Hosoda umkreiselte seinen Schreibtisch gedankenvoll. Ja, da würde er sich wohl von einigen Extravaganzen wieder mit Bedauern verabschieden müssen! Wenn Seiji auszog, würde ihm tatsächlich etwas fehlen. Wie erstaunlich! Dabei hatte er doch mittlerweile die längste Periode seines Lebens allein gewohnt! ~+~+~* Hosoda wartete notgedrungen das Frühstück ab, rief sich in Erinnerung, dass er diesen Genuss (und Luxus), nicht mal die Wohnung verlassen zu müssen, in Kürze verabschieden würde. Er konnte sich nicht länger bremsen, auch, weil Seiji ihm immer wieder nervöse Seitenblicke zugeworfen hatte. "Was denkst du? Hast du schon Ideen, wie wir uns einigen?" Schoss Hosoda ungebremst auf sein Ziel zu, sich weit vorbeugend, was Seiji überrumpelt zurückweichen ließ. Ganz schön schreckhaft, der Bursche! "Ah, nun, also..." "Richtig! Genau! Augenblick!" Eifrig glitt Hosoda vom Barhocker, ganz in seiner temporären Rolle aufgehend. Er eilte in sein Büro, angelte sein Smartphone. "Die Arbeitszeiten! Herrje, sonst ist das ja kein Problem, nicht wahr, mit den anderen, aber.. Wo ist der blöde Knopf gleich?! Ah, hier!" Stolz präsentierte er eine Applikation, die als digitale Arbeitszeit-/Stechkarte fungierte. So konnte man die gesetzlich geregelten Ruhe- und Pausenzeiten nicht versäumen, brav die Zeit aufzeichnen. "Oh. Praktisch." Kommentierte Seiji, der die kurze Unterbrechung genutzt hatte, das Papierbündel auf den Tresen zu legen. "Eigentlich ist es ja nicht kompliziert!" Widersprach sich Hosoda aufgeräumt, auf dem Barhocker dynamisch reitend und hoppelnd. "Ich kenne die Regeln, werde sie alle beachten, selbstverständlich, man ist ja kein Sklavenhalter!" Er seufzte mitleidheischend. "Bloß alle anderen arbeiten bei mir recht autonom! Das passt schon, ist alles eingeübt. Wie stellt man das aber mit einem Vollzeit-Assistenten an, wenn Vollzeit ja nicht rund um die Uhr bedeutet?" Seiji beäugte ihn hilflos. Das erleichterte es Hosoda, seinen dezent erratischen Auftritt zu pflegen. "Aber der Luxus muss ja mal ein Ende haben! Oh, ich werde das häusliche Frühstück wirklich vermissen! Doch ein Arbeitstag ist ein Arbeitstag, gar keine Frage! Außerdem brauchen alle Erholungszeiten, ich ja auch. Wie sehen deine Gehaltsvorstellung aus, Seiji? Was meinst du dazu?" Gönnte er dem jüngeren Mann die Chance zu einem eigenen Beitrag. "Herr Hosoda." Man atmete tief durch. "Ich fürchte, dass da noch einige Fragen zu klären sind. Ich glaube, dass Unterkunft und Mahlzeiten abgerechnet werden müssen wegen der Besteuerung. Als geldwerter Vorteil." Murmelte Seiji Richtung Tresenplatte. "Verflixt, glaubst du das auch?" Hosoda seufzte bis in die Fußzehen. "Bisher bin ich immer 08/15 gefahren, hatte nie Probleme mit der Lohnbuchhaltung! Ich habe also keine Ahnung...oje...." Seiji blickte alarmiert herüber. Hosoda legte die sehr gepflegten Hände vors Gesicht, winselte. "Oje! Was für ein fürchterliches Geschick!" Jammerte er zum Steinerweichen. Bevor Seiji erschrocken vom Barhocker springen konnte, seufzte er tief, ließ Hände und Schultern sinken, zog eine höchst kummervolle Miene. "Oh grausames Pech! Ich werde zu Kreuze kriechen müssen! Hakku wird mich gnadenlos verspotten, lautstark auslachen!" Mitfühlend bot Seiji rasch Hilfe an. "Kann ich etwas tun?" "Oh, ganz reizend von dir! Aber nein! Es ist die Aufgabe des Chefs, sich zu exponieren und die Schmach zu ertragen!" Deklamierte Hosoda, ganz Diva, mit theatralischer Gestik. Seiji begriff gar nichts, verständlicherweise. "Aber es muss sein! Für die gute Sache! Immerhin kann Hakku den gesamten Vertrag abklopfen." Erneut seufzte Hosoda in dramatischer Verzweiflung. "Er wird sich lustig machen! Mir vorhalten, das falsche Konstrukt gewählt zu haben, oh ja! Wird mir sagen, ich sollte mich eher an Altenpflege orientieren, die letzte Betreuung auf dem kurzen Weg ins Nichts!" Betroffen studierte Seiji ihn, schien beinahe geneigt, ihm tröstend einen Arm um die Schultern legen zu wollen. Hosoda straffte seine elende Gestalt, ballte eine Faust, reckte sie hoch. "Doch ich werde mir keine Blöße geben, oh nein! Soll niemand behaupten, ich ließe mich auf schäbige Deals ein! Bis auf das letzte Komma werden wir korrekt und legal alle Hürden überwinden!" Er funkelte Seiji an, der die blitzartige Verwandlung verblüfft verfolgte. "Du denkst vielleicht, im Musik-Business ginge es hart zu, aber KEIN Vergleich zur Stoffweberei-Branche! Dagegen ist ein Haifischbecken ein gemütlicher Pool mit Sushi-Snacks am Stück! Alle belauern sich! Nur ein Fehltritt, und man ist bloßgestellt und auf ewig verbannt!" Seiji blinzelte mit offenem Mund. Hosoda zwinkerte, löste die Faust auf, tippte mit einem Zeigefinger unter Seijis Kinn. "Bist du trotzdem bereit, mir ins Abenteuer zu folgen?" Der jüngere Mann nickte hastig, noch immer perplex über die morgendliche Theatervorstellung. "Wunderbar! Ich werde gleich mit Hakku telefonieren, mich verspotten und dieses Vertragsproblem lösen lassen." Nun erhob sich auch Seiji. "Wenn Sie möchten, kann ich das übernehmen, wirklich! Es scheint ja unangenehm zu sein." Hosoda lachte amüsiert heraus, wuschelte auf Zehenspitzen durch Seijis Stacheln. "Nein, danke dir, aber Hakku muss ich mir schon selbst vorknöpfen! Wenn er mir arg zu aufsässig kommt, lasse ich dezent fallen, dass er in der letzten Zeit ein wenig zugelegt hat." Schon boshaft, durchaus, aber mit dem gleichaltrigen Haudegen juristischer Schlachtfelder verband ihn eine lange Freundschaft und ein gleichgelagertes, privates Interesse. "Außerdem noch eine Lektion in Chef-Management!" Tippte Hosoda Seiji keck auf die Nasenspitze. "Wenn der Alte wieder episch in faden Schwänken seiner Jugend schwelgt, gnadenlos übertreibt oder peinlich sentimental wird: bewundernd anstaunen! Am Besten übst du das mal in deiner Freizeit. Wenn wir das mit dieser App hier hinbekommen." Seiji lächelte schief. "Vielen Dank für den Hinweis, Herr Hosoda. Ich werde mich um einen entsprechenden Gesichtsausdruck bemühen." "So ist es recht!" Lobte Hosoda grinsend die erstaunlich schelmische Replik seines in Kürze Vollzeit-Assistenten. "Auf ans Werk!" ~+~+~* Nach einigen gegenseitigen spitzen Bemerkungen versprach Hakku, sich durch den Entwurf zu fräsen, wobei er nicht damit sparte, sich über Hosoda zu mokieren, der offenbar schon eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung benötigte! Natürlich würde es dazu nicht kommen, das wusste Hosoda. Seiji stand ein ganz normales Werktätigenleben zu, mit Feierabend, Freizeit, Urlaub, Privatsphäre. Es wäre schon eine glückliche Fügung, wenn man im näheren Umkreis eine akzeptable Unterkunft zur Miete finden würde! Hosoda musste Hakku auch zustimmen, was die persönliche Komponente betraf: unzweifelhaft WAR es erstaunlich, dass sie im Alltag so gut und harmonisch miteinander auskamen. Allerdings, das durfte man nicht außer acht lassen: Seiji befand sich in einer sehr prekären Lage. Da konnte man schon mal mehr schlucken und aushalten, als man üblicherweise akzeptierte, ohne zur Gegenwehr zu schreiten! Ja, Hosoda kannte sich gut genug, um zu wissen, dass er in der langen Zeit seines Einzelkämpfertums genug anstrengende Marotten versammelt hatte, die ihm ja aus Betriebsblindheit gar nicht sonderlich auffielen, weil er selbst sich so eingerichtet hatte! Es war müßig und auch teuer, sich allzu verbissen mit der Analyse aufzuhalten. Die Offerte war ausgesprochen. Jetzt hing es von Seiji ab, sogar recht rasch, unerwartet und dringlich! Hosoda schreckte Seiji am frühen Mittag auf, der gerade vom Einkauf frischer Lebensmittel zurückkehrte. "Seiji! Perfektes Timing! Verstau die Einkäufe gerade, schnapp dir deine Tasche! Du musst mich begleiten, es ist ein Notfall!" "Notfall?!" Erkundigte sich Seiji besorgt, während er schon emsig und systematisch die Stofftaschen leerte. Unterdessen stopfte Hosoda selbstherrlich in Seijis Umhängetasche einen nagelneuen Notizblock samt Stift. "Oh ja! Ein Modedesigner ist just aufgeschlagen, hat festgestellt, dass er unbedingt andere Stoffe benötigt! Gestern, am Besten! Leider ist er ungeheuer anstrengend, was in dieser Preisklasse mit 'exzentrisch' etikettiert wird. Er drapiert die Stoffe nicht wie andere über Mannequins, nein, es muss ein lebendiges Model sein!" Seiji nahm seine Umhängetasche entgegen, zögerte. "Es ist wohl besser, ich ziehe mich rasch um, oder? Als Assistent..." "Nein, nein, so ist es gerade richtig!" Behauptete Hosoda, drückte Seiji den bodenlangen Mantel in die Hand. "Geschwind, bevor der Herr Kreateur einen Koller austoben kann!" Zweifelnd blickte Seiji an sich herab. Er trug noch einen kläglichen Rest seiner früheren Kleider, bei Dunkelheit und schlechten Sichtverhältnissen gerade noch "Punkrock", bei Tageslicht bloß abgetragen, ausgeleiert, verblasst. Hosoda zog den jüngeren Mann entschieden am Ärmel hinter sich her. Nicht, weil er einen kreativen Koller fürchtete oder nicht hinlänglich gewöhnt war. Nein, er wollte Seiji nicht vorahnen lassen, WER das Model stellen würde. Und dass der Herr Kreateur gern ihm missfallende, sein Auge beleidigende Bekleidung zerfetzte. ~+~+~* Das Mittagessen war über die turbulente, laute, aufgedrehte Tour de force ausgefallen. Hosoda ließ sich nicht einschüchtern oder aus der Ruhe bringen, ganz gleich, wie exaltiert sich der Modedesigner aufführte: er diskutierte und feilschte mit Engelsgeduld. Endlich war der Begleittross samt überkandideltem Anführer verschwunden. Man rollte Stoffbahnen auf, verstaute sie in den Hochregalen eines ehemaligen Kimono-Geschäfts, atmete durch. Seiji kauerte, in seinen Mantel gewickelt, auf einem Drehhocker, durchaus noch schockiert, dass andere "Assistent" als Spielzeug begriffen, als Puppe, als Kleiderständer. Hosoda drückte ihm sanft eine Dose heiße Schokolade in die großen Hände. "Du warst sehr tapfer, Seiji. Vielen Dank." Wuschelte er aufmunternd durch die Stacheln. Er zwinkerte, pirouettierte. "Wie denkt ihr über ein gemeinsames Essen nach dieser harten Arbeit? Wollen wir was bringen lassen? Vorschläge?" Sofort hellten sich alle angestrengten Mienen auf, man strahlte. "Also, ich erwarte Vorschläge und Empfehlungen!" Hosoda ließ den Chef heraushängen, auch, weil sein Magen das Gleiche in Höhe der Knie tat. Jetzt hatten sie sich eine leckere Mahlzeit mehr als verdient! ~+~+~* "Er hat sie einfach zerrissen." Murmelte Seiji, betrachtete ratlos die Fetzen seiner ehemaligen Bekleidung. Im Mantel konnte man hier munter wie beim Picknick auf dem Boden speisen, aber so nach draußen...? Hosoda lächelte. "Das Gute an einem Stoffhersteller ist, dass er immer Präsentationsbeispiele im Lager hat." Mit denen man den eigenen Vollzeit-Assistenten angemessen ausstaffieren konnte. Noch besser, wenn die Maßschneiderinnen, mit Süßspeisen als Dessert entlohnt, darauf brannten, sich erkenntlich zu zeigen! ~+~+~* Kapitel 10 Auf Anraten Hakkus musste das Arbeitsverhältnis gewissen Regeln unterworfen werden. Erstens, die gesetzlichen Arbeitszeiten, Urlaubs- und Pausenansprüche waren gewissenhaft einzuhalten. Deshalb wurde die digitale "Stechuhr" unverzichtbarer Begleiter. Zweitens, solange Seiji bei Hosoda wohnte und aß, musste der geschätzte Wert in Abzug des kalkulierten Lohns gebracht werden. Drittens, die Versicherungspflichten waren einzuhalten. Viertens, die Tätigkeiten mussten so präzise wie möglich aufgeführt werden. Auch wenn es ihn davor grauste, jemandem erklären zu müssen, warum ein abendliches Kontrabass-Solo verpflichtend war! Fünftens würde er den neuen Assistenten gleich mal beschäftigen, nämlich seine gepfefferte Kostennote zu begleichen. Hosoda schmunzelte über Seijis verlegene Reaktion. "Sei froh, Seiji, dass er bloß affig-barsch ist. Du willst gar nicht wissen, wie er sich aufführt, wenn er flirtet." Er klopfte neben sich auf die Schreibtischkante. Seiji nahm artig Platz. "Wir haben noch nicht darüber gesprochen, aber in deiner Freizeit kannst du natürlich machen, was du willst. Wenn du fernsehen möchtest oder Musik machen, das ist kein Problem. Räumlich kann ich nicht viel ändern oder dir ein freies Zimmer anbauen, aber vielleicht finden wir ja bald ein Appartement für dich." Der jüngere Mann verspannte sich merklich. "Herr Hosoda, ich kann keine Kaution hinterlegen." "Wenn du etwas Gutes findest, sag es mir einfach. Wir überlegen, wie wir das deichseln. Es kann ja auch eine angemietete 'Firmenunterbringung' sein, nicht wahr?" Hosoda zwinkerte herausfordernd, obwohl er nicht glaubte, denselben Trick zweimal abziehen zu können. Inzwischen musste Seiji ja gedämmert sein, dass er nicht beabsichtigte, ohne zugehörigen Musiker einen Kontrabass zu beherbergen! "Vielen Dank, Herr Hosoda. Wirklich, vielen Dank!" Nun klappte Seiji doch nach vorne, so förmlich es ihm möglich war. Die richtige Höhe, ordentlich und mit beiden Händen durch die gestutzte Mähne zu raufen! "Das ist genug! Ich fühle mich ja jetzt schon wie Ende Vierzig! Mach es nicht noch schlimmer!" Kokettierte Hosoda herausfordernd mit jammerndem Diven-Tonfall. Seiji riskierte einen Blick hoch aus gebeugter Haltung, lächelte. "Darf ich Ihnen denn etwas vorspielen?" Dieses Angebot ließ Hosoda sich selbstredend nicht entgehen. ~+~+~* Eigentlich veränderte sich kaum etwas. Die Applikation musste gefüttert werden, um die Arbeitszeit zu überwachen, aber Hosoda kam weiterhin in den Genuss eines häuslichen Frühstücks, da Seiji keine Anstalten machte, sich eine eigene Unterkunft in der Nähe zu suchen. Folgerichtig bereitete er in seiner privaten Zeit das Frühstück zu, weiterhin für zwei Personen. Es wäre ja sonst albern gewesen, richtig? Hosoda war sich nicht völlig sicher, ob das Arbeitsrecht ihm nicht doch ein manipulatives Ausnutzen des jüngeren Mannes zur Last legen könnte. Andererseits konnte er sich auch nicht überwinden, lächerliche "Zäune" pro forma hochzuziehen. Seiji hätte es möglicherweise auch als Entzug des Vertrauens in seinen Charakter betrachtet! Nach und nach weitete Hosoda auch das Tätigkeitsfeld seines Vollzeit-Assistenten aus, bezog ihn in die Büroarbeit ein, die Terminkoordination, die Planungen, die Kontaktpflege und den Vertrieb. In seiner Freizeit schmökerte (wenn man das so nennen konnte) Seiji in Abhandlungen zur Vorzimmerarbeit. Selbstredend konnte man gegen Gebühren auch entsprechende Zertifikate erwerben, wenn man sich einem Test gestellt hatte. Die Prämien allerdings waren üppig, seine bezahlte Arbeitstätigkeit hingegen nahm ja gerade erst Schwung auf! Hosoda hingegen staunte über die Genügsamkeit des jüngeren Mannes. Keine Bücher, keine Tonträger, keine Fotoalben, nicht mal Hinweise auf die frühere Band! Selbst Notenblätter konnte man nirgends finden. Für ihn, den haptisch Begabten, ein Horror! Was konnte es einem schon geben, ständig über ein (nicht sonderlich hygienisches) Display zu wischen?! Man musste hören, riechen, schmecken, fühlen, mit allen Sinnen erfahren, was einen Stoff, ein Material ausmachte! Auch die Wertschätzung schien zu sinken, wenn alles sich nur noch auf Datensätze, auf Schaltsignale für den Stromfluss reduzierte! War etwas beliebig erreichbar, Nachschub oder Alternativen ständig verfügbar, wie konnte es dann noch den Air des Besonderen, des Herausragenden haben? Ja, das gestand sich Hosoda zu, mochte er auch äußerlich viel jünger wirken, in seinem Herzen blieb er in dieser Hinsicht altmodisch! Sicher, man musste keinem hemmungslosen Konsumrausch verfallen, aber ganz ohne eigene "Schätze", das war doch kein Leben! Verblüffender Weise bemühte Seiji für seine Soli keine Hilfsmittel, keine Notenblätter, keine Aufzeichnungsgeräte, nicht mal ein Metronom als unbestechlichen Taktgeber! Keine Brille, oftmals nur schlabbrige, abgenutzte Hosen und ein Handtuch um den Nacken. "Ich sehe die Musik, die ich spielen will. In meinen Fingern." Erläuterte Seiji Hosoda auf dessen neugierige Nachfrage. Nein, keine Notenblätter vor dem inneren Auge, nichts dergleichen. "Die Musik liegt einfach in der Luft. Ich muss nur spielen." Verlegen, beinahe hilflos wirkte der groß gewachsene, noch immer magere Mann. Gut, das erklärte auch, warum die Brille Pause hatte. Vor geschlossenen Augen benötigte man sie ohnehin nicht. "Aber in dem Geschäft damals, mit den anderen Musikern, wie klappt das Zusammenspiel ohne Noten?" Hosoda gab nicht auf, dieses Wunderland zumindest oberflächlich ergründen zu wollen. Seiji wischte sich kurz über die Stacheln, überlegte sichtlich, wie er formulieren sollte. "Ich denke, wir hören aufeinander. Diverse Standards kennen alle vom regelmäßigen Üben. Ich achte auf die Dynamik, die Anschläge bei Tasteninstrumenten, das taktgebende Fußtappen, den Atemrhythmus bei Bläsern." "Das funktioniert einfach so?! Ich meine, wenn man Musiker ist?! Erstaunlich! Nein, vielmehr noch, beeindruckend!" Verbalisierte Hosoda seine Bewunderung. Der jüngere Mann lächelte. "Ich glaube, es wäre nicht mehr ganz so beeindruckend, wenn Sie es sich wie bei Ihren Webmaschinen vorstellen. Die Arme, die Reiter, die Fadenführung, die Kämme, die Spulen, das ist ein ganzes Orchester. Wie gelingt es Ihnen, sie dazu zu bringen, so wunderschöne, unterschiedliche Stoffe zu fabrizieren?" Sich nachdenklich das Kinn zupfend nickte Hosoda. "Das ist ein gutes Argument. Mir kommt das gar nicht so besonders vor. Ich sehe genau, was zu tun ist, durch wen und wann, fertig!" Nun lachte Seiji leise. "Ich glaube, unsere Leidenschaften ähneln sich ziemlich, auch wenn der äußere Anschein etwas anderes vermuten lässt." Hosoda nickte gravitätisch, beugte sich vertraulich vor, wobei er auf die Zehenspitzen steigen musste, um die zwei Köpfe Distanz ein wenig zu verkürzen. "Aber ich fürchte, miteinander tauschen wäre keine erfolgversprechende Idee. Ich falle ja schon um, wenn ich den Kontrabass abstützen soll!" Ein klein wenig übertrieben. Seiji grinste schelmisch, beugte sich herunter, wisperte. "Lassen wir es besser so, wie es jetzt verteilt ist, hm?" "Den Gedanken unterstütze ich!" Donnerte Hosoda staatstragend. "Apropos Gedanken, denkst du auch, wir sollten mal wieder Bratreis essen?" Da Seiji inzwischen die kulinarischen Vorlieben seines Arbeit- und Wohnungsgebers kannte, nickte er lächelnd. "Wie wäre es heute Abend? Ich habe noch ein paar marinierte Gemüsescheiben." "Wundervoll! Da werde ich jetzt gleich den Turbo einlegen!" Versprach Hosoda aufgekratzt, stürzte sich gleich wieder auf seine Schreibtischzentrale. Den Bratreis würde er sich aber so was von verdienen! ~+~+~* Seiji ging selten aus, wie Hosoda feststellte. Mal, um sich Pflegemittel für den Kontrabass zu besorgen oder sich die Haare stutzen zu lassen, die nicht mehr genutzten Schmuckstücke loszuwerden. Dem nationalen Hobby "Shopping" schien er jedenfalls nicht verfallen zu sein. Ihn zogen auch die Spielcenter nicht an, mit ihren Automaten, Simulatoren und häufig Karaoke-Separees. Für Sport interessierte er sich nicht sonderlich. Wenn er nicht musizierte, las er sich in seine Tätigkeit ein. Hosoda konnte kaum glauben, es mit einen gewöhnlichen jungen Mann zu tun zu haben. Kein Spaß an Fernsehen oder Spielkonsolen (gut, letztere konnte er nicht aufbieten), kein süchtiges Begrapschen eines Smartphones! Allerdings, was konnten diese Optionen ihm schon bieten? Wenn er sich um den Kontrabass wickelte, mit vollem Körpereinsatz spielte, die Zeit vergaß, hatte er wohl genug Sport, Unterhaltung, Musik und Kreativität gehabt, wenn auch in einer sehr kleinen, exklusiven Welt. Hosoda konnte ihm diese Zurückgezogenheit nicht zum Vorwurf machen, da er selbst doch hauptsächlich berufsbezogene Kontakte pflegte, für diese die Wohnung verließ! Privat war er vorsichtig. Also hätte er bei einer Bemerkung zu Seijis Häuslichkeit jede Menge Steine ins Glashaus geschmissen! Umso unerwarteter traf es ihn, dass Seiji an einem Nachmittag um abendliche Demission bat. "Sicher, ganz recht! Natürlich kannst du gehen! Himmel, wann habe ich das letzte Mal auf dein Arbeitszeitkonto gesehen?!" Hosoda seufzte grimmig auf. "Wenn das so weitergeht, werde ich den Titel 'bester Chef' des Unternehmens verlieren!" Seiji beruhigte ihn schmunzelnd. "Dazu wird es nicht kommen. Ich achte auf das Zeitkontingent, versprochen, Herr Hosoda." "Puh! Ich fühle mich trotzdem latent inkompetent. Hakku wird mir wahrscheinlich demnächst Ginkgo-Extrakt schicken!" Eine Aussicht, die ihn sehr düster blicken ließ. Neben ihm lachte der jüngere Mann leise, zeigte sich gar nicht mehr so verschreckt wie anfangs. "Herr Hosoda, Sie werden immer der 'beste Chef' sein. Daran gibt es gar keinen Zweifel." Hosoda schnaubte, grinste hoch. "Ich sehe schon, das Chef-Management hat sich stark verbessert." Spielte er frech auf seine neckenden Anleitungen an. Seiji schmunzelte, zwinkerte. "Ich werde dich schmerzlich entbehren. Aber ohne Leiden keine Freude, nicht wahr?!" Seufzte Hosoda theatralisch, kopierte den sterbenden Schwan, wenn auch ohne Tütü. Erstaunlich, wie Seiji immer seinen Humorzipfel kitzelte! ~+~+~* Hosoda verhehlte nicht, dass er notorisch neugierig war. Zum einen gehörte es zur Profession, die immer wieder neue Sichtweisen erforderte, zum anderen brauchte man ja nicht mehr zu fragen, wenn man alles gewahr wurde, was einen interessierte! Seiji verabschiedete sich in Kleidern, die Hosoda ihm überlassen hatte, zeitlos elegant, auf den Träger zugeschnitten unter dem unvermeidlichen, bodenlangen Mantel. Hmmm, dachte Hosoda. Er ließ seine Arbeit im Stich, verbrachte eine aufreibende Viertelstunde damit, Details zu recherchieren. Angefangen mit der Ex-Band, die ja nun neu zusammengewürfelt worden war, über Konzertkalender, Erreichbarkeit von Veranstaltungsorten und die Übereinstimmung mit den Dimensionen. Das Ergebnis der wilden Jagd präsentierte sich Hosoda: Seiji besuchte mutmaßlich ein Konzert seiner ehemaligen Band. Hosoda empfand die kurze Aufnahme recht atonal, eher als Lärmbelästigung. Andererseits konnte er sich nicht als Connaisseur moderner Musik ausweisen. Vielleicht gehörte das Gedengel ja so! Er grübelte versonnen, durchaus abgelenkt von seiner Arbeit. Ob sie Seiji wohl wiedererkannten? Immerhin hatte der sich äußerlich in bemerkenswerter Weise verwandelt. Was tat er dort? Wovon wollte er sich überzeugen? Würde er verletzt werden, unglücklich sein, dem Musikerleben in einer Band den Rücken kehren zu müssen? Es kamen ja nicht mal mehr Anfragen, um kurzfristig bei Aufnahmen einzuspringen! Hosoda seufzte, richtete sich kerzengerade auf. "Nun ist es aber genug, alter Junge! Nimm dich zusammen, tu das, was du kannst! Alles andere wird sich finden oder von selbst erledigen." Mit diesem Befehl rief er sich zur Ordnung, ging wieder an die Arbeit. ~+~+~* Es war spät geworden, Hosoda schließlich ins Bett gestiegen. Im leichten Schlaf registrierte er jedoch die Rückkehr des verlorenen Assistenten. Er hörte leise den Kontrabass, traurige, schleppende Tonfolgen. Ein Requiem? Hosoda setzte sich auf, konzentrierte sich. Aus dem nun tragenden Melodiebogen in Moll spitzte ein anderer Rhythmus hervor, verabschiedete den streichenden Bogen, hüpfte mit zupfenden Fingern, mit leichten Schlägen, aufmüpfig, aufbegehrend, befreit, wirbelnd. Man fühlte sich unwillkürlich an Beerdigungsrituale im Süden der Vereinigten Staaten erinnert, wo man erst würdevoll den Leichenzug in einer Parade gestaltete. Auf ein Signal hin begann zu tanzen, zu johlen, zu feiern, nicht den Tod, sondern die Erinnerung an das Leben, die Freude, selbst noch feiern zu können und gleich den Anteil mitzuübernehmen, den die Verstorbenen innegehabt hatten. Ein Triumph über die Trauer, die Schwermut, die Verzweiflung des Unabänderlichen. Hosoda war alt genug, sich einer Eröffnungssequenz aus einem Spielfilm eines weltberühmten Agenten mit Lizenz zum Töten zu entsinnen. Er überlegte, ob er aufstehen sollte, zu Seiji gehen, direkt dessen treibender, wilder Musik lauschen sollte. Hosoda entschied sich dagegen. Wenn er mit seiner Vermutung richtig lag, schloss Seiji gerade einen Teil seines Lebens ab, eine höchst private Veranstaltung. Was Hosoda nicht hinderte, als "Zaungast" zuzuhören, bis ihn schließlich der Schlaf übermannte. ~+~+~* Hosoda beobachtete Seiji auf merkliche Zeichen der Veränderung. Sie zeigten sich, wenn auch nur sehr subtil. Seiji ließ sich nicht mehr so leicht verschrecken oder von Umständen einschüchtern. Er wirkte munterer, entspannter. Die unterschwellige Verzweiflung hatte sich aufgelöst. Was man nur begrüßen konnte! Hosoda ignorierte die regelmäßigen Sticheleien seines alten Freundes Hakku, der einfach nicht glauben wollte, dass diese kuriose Konstellation von Dauer war. Außerdem, wie schwer war es denn, in der Nähe eine halbwegs akzeptable Unterkunft aufzutun?! Hosoda wischte diese versteckte Anspielung vom Tisch. Im Umkreis einer Bahnstation waren Unterkünfte grundsätzlich teuer, selbst in schlichter Ausstattung, weil man dort ja alles vorfand, was das Leben lebenswert machte. Man musste schon einige Distanz aufweisen, um bessere und günstigere Konditionen zu finden, wenn man nicht über die Mittel verfügte, sich ein Appartement kaufen zu können. So gesehen war es wohl dem einigermaßen in der Materie verhafteten Publikum einsichtig, warum die Suche nicht von raschem Erfolg gekrönt war! Außerdem, das band er Hakku aber nicht auf die Nase, verspürten sie beide keine Eile, im Gegenteil. Das seltsame Arrangement, aus einer Laune heraus entstanden, bewährte sich vortrefflich im Alltag! Hosoda fühlte sich durchaus entlastet. Ein wenig beschämend, er verweichlichte wohl! Dennoch, er wollte diese Assistenz nicht mehr missen. ~+~+~* "Augenblick, Augenblick!" Hosoda kreiselte um den Schreibtisch, fahndete nach dem Ursprung des Brummens unter diversen Stapeln. Sein privates Telefon sonderte den Alarmruf ab. Man wünschte ein Gespräch. Hosoda wünschte, er fände das verflixte Telefon! Endlich hatte er es herausgewühlt. "Hallo, ich hier, wer dort? Ah! Wie geht es dir? Alles in Ordnung? Ja, ist schon eine Weile her, richtig, der Taifun! Damals im Hotel, genau. Tja, man kommt einfach zu nichts, das kennst du bestimmt auch! Hmmm, da kann ich dir nicht widersprechen, mein Lieber. Lass mich nachsehen, Augenblick bitte! Hmmm, ja, das lässt sich machen. Ah, warte bitte, ich notiere es mir lieber. Ja, ich freue mich auch. Pass gut auf dich auf, in Ordnung? Bis dahin!" Hosoda schob sein Telefon unter einen anderen Stapel, pinnte den Zettel an den langen Schwenkarm der Schreibtischlampe. Jetzt aber hurtig, hurtig! Er wollte ein lukratives Geschäft mit einem Filmausstatter abschließen, was enormes Werbepotential hatte, wenn der Film ein Erfolg würde! ~+~+~* Seiji hatte ihn ganz gelassen verabschiedet, Vorbereitungen für das Frühstück am nächsten Tag treffend. Ein vages Schuldgefühl drängelte sich Hosoda auf. Er vertrieb es mit einem energischen Klaps. Hin und wieder musste man sich kleine Extravaganzen gönnen, ein wenig unvernünftig sein. Was er nun mit tatkräftiger Unterstützung eines sehr kultivierten, jungen, attraktiven Mannes umzusetzen beabsichtigte! Sie trafen sich nicht in Absteigen oder drittklassigen Love Hotels, sondern in durchaus exklusiven Einrichtungen, diskret, sehr sauber, ohne Kitsch und Klimbim. Hier übernachteten auch Geschäftsleute, legten stundenweise Pausen zwischen Terminen oder Reisen ein. Die Leute, die eincheckten, trugen Anzüge oder Kostüme, klassisch, elegant, hin und wieder auch Designer-Mode, keine Bordsteinschwalben aus dem Rotlichtbezirk mit entsprechender Aufmachung. Hosoda meldete sich höflich und hochgestimmt an der Rezeption. Ja, eine Reservierung, er werde bereits erwartet. Geschmeidig begab sich Hosoda zum Aufzug, steuerte über den Flur lautlos dank Teppichflor das Zimmer an. Er klopfte artig, blickte erstaunt ein wenig höher als erwartet. "Bitte, kommen Sie doch herein, Herr Hosoda." ~+~+~* Hosoda ließ sich den leichten Mantel abnehmen, ließ sich, wie gestisch gebeten, auf einem freistehenden Sofa nieder. "Das ist eine Überraschung." Stellte er fest. Seiji, dezent nach Zahnpasta und Seife duftend, in eine hoteleigene Yukata gehüllt, nahm neben ihm Platz. "Bitte, verbringen Sie diesen Abend mit mir, Herr Hosoda." Hatte der jüngere Mann den Zettel entdeckt, gar, das Gespräch mitgehört? "Weißt du, ich bin heute aufgebrochen, um eine Weile unvernünftig zu sein." Wies Hosoda Seiji beherrscht auf die Konditionen hin. Sex mit seinem Vollzeit-Assistenten zu haben schien zu perfekt in die Kategorie "fatale Fehlentscheidung" zu fallen. Seiji nahm seine Hände, noch in Handschuhen, in die eigenen großen, wandte sich ihm zu. Er blickte eindringlich hinter den Brillengläsern. "Ich habe zwar keine Übung, aber ich bin groß, jünger und beweglich! Ich weiß, ich bin nicht so schön wie der junge Mann aus dem Hotel, aber ich bitte Sie, darüber hinwegzusehen. Ich lerne schnell. Präpariert bin ich auch!" Hosoda seufzte steinerweichend, verdrehte die Augen. "Hakku hat wohl nicht zufällig aus dem Nachtkästchen geplaudert, hm?! Er sollte dir wirklich nicht solche Geschichten erzählen." "Bitte! Können wir nicht beide an diesem Abend ein wenig unvernünftig sein?" Plädierte Seiji engagiert, hob Hosodas Hände vor die Brust. Er würde flehen und betteln, wenn es nötig wäre, glaubte Hosoda. Was er nicht zu gestatten erwog. "Hast du meine Verabredung abgesagt?" "Ja." Antwortete Seiji prompt, ohne Umschweife, sich vernichtender Kritik stellend. Hosoda studierte das vertraute Gesicht schweigend. "Das ist wohl wirklich nicht sonderlich vernünftig." Stellte er fest. Da er jedoch genau mit diesem Vorsatz aufgebrochen war, in Vorfreude, den auferlegten Zügeln für eine Zeit zu entschlüpfen, konnte er sich jetzt schlicht und einfach nicht energisch dazu anhalten, vernünftig zu sein! Er beugte sich vor, küsste Seiji leicht auf die Lippen. "Wir werden trotzdem ein wenig Vorsicht walten lassen, einverstanden?" Er hatte sich in Jahren an Profis gewöhnt, Seiji wiederum schien nur auf minimale Erfahrungen zurückgreifen zu können, oder in dieser Position vielleicht gar nicht. Bevor er rücksichtsvoll diese Untiefe ausloten konnte, erwiderte Seiji den Kuss, leidenschaftlich, aber auch dankbar und erleichtert, gab Hosodas Hände gar nicht mehr frei. Der lächelte schließlich, ein wenig außer Atem. "Das ist schon mal sehr vielversprechend. Ich bin froh, dass du kein Metallzeugs im Mund hast." Seiji lachte leise, küsste Hosoda auf die Stirn. "Ich musste mich nur äußerlich anpassen." Offenbarte er diese Leerstelle in der ehemals sehr martialischen Aufmachung. Hosoda erhob sich geschmeidig, noch immer seine Hände verpfändet. "Möchtest du mir beim Ablegen helfen?" ~+~+~* Hosoda hatte Seiji schon mehr als einmal unbekleidet gesehen. Trotzdem erstaunte es ihn, wie viel Kraft dieser groß gewachsene, aber magere Mann aufbieten konnte. Der lupfte ihn mühelos, setzte ihn sich auf die eigenen gekreuzten Beine, damit die Höhenabstimmung beim Küssen perfekt passte. Das entlockte Hosoda ein nur mühsam verstecktes Grinsen. Seiji küsste offenkundig gern, hingebungsvoll, auf einer großen Bandbreite von "hauchzärtlich" bis "orales Endspiel". Wie viel hatte die alte Plaudertasche Hakku herausgelassen? Hosoda bevorzugte wirklich sportliche, größere, jüngere Männer, die genau wussten, was sie wollten. Keine verschüchterten Bubis, die jammerten, sich schämten, ihre Lust negierten. Außerdem übernahm er immer die aktive Rolle. Wie variantenreich die Position war, hing nach Hosodas Auffassung von der Gelenkigkeit der Partner ab. Er musste nicht die japanische Variante des Kama Sutra, die 48 Hände, vollständig erproben, aber hin und wieder ein wenig gymnastische Abwechslung schadete ja auch nicht. Bei Seiji war er hingegen vorsichtig. Er hätte auch auf Analsex verzichten können, durchaus. Es ging ja darum, sich herausragend (nicht nur subäquatorial) zu fühlen. Seiji schien unerbittlich entschlossen, ihm alles zu bieten, was der Profi geleistet hätte. Naturgemäß wies seine magere Kehrseite nicht die geübte Bereitschaft auf, einen Gast zuzulassen. Auf allen Vieren, keuchend, bat Seiji trotzdem um Fortsetzung. "Ich wollte trainieren, aber so ein starres Ding..." Ihn schauderte merklich den gesamten, langen Körper hinunter. Hosoda kniete hinter ihm, streichelte abwechselnd über das knorpelige Rückgrat und den bereitwilligen Botschafter an der Front. Verflixt eng, meldete seine andere Hand. Er beugte sich herunter, küsste die Bandscheiben entlang. Gefährlich! Seiji hatte beabsichtigt, sich mit einem Dildo vorzubereiten? Das tat man doch aber nicht einfach so! Energisch verbannte Hosoda die Anflüge vernünftigen Denkens. Es würde ohnehin gerade jetzt nicht viel dabei herauskommen, da die Blutversorgung an tieferer Stelle virulenter war! "Ich wünschte, ich könnte Musik spielen. Wir hätten es wohl leichter." Raunte er sanft auf den sich verspannenden Leib. Seiji erstarrte abrupt, hob den Kopf rasch an. "Musik?" Wiederholte er heiser, von einer plötzlichen Erkenntnis überrollt. Ja, wäre es Musik, wüsste man~würde man den passenden Rhythmus...! Hosoda lachte leise, erleichtert in sich hinein, als Seijis Leib sich merklich geschmeidiger seinen Ministrationen öffnete. Immerhin konnte Seiji blind mit Fremden stundenlang improvisieren und Jam-Sessions abhalten! So ein kleines Intermezzo zum Duett sollte DA kein Problem darstellen! ~+~+~* Hosoda streichelte über den rasierten Hinterkopf, dessen Wange sich auf seinen Brustkorb schmiegte. Er unterdrückte ein Lächeln ob der angeklappten Beine aufgrund ihrer doch sehr unterschiedlichen Körpergröße. "Entschuldigung." Murmelte man auf sein Brustbein. Hosoda drückte sanft die Linke, die seine Rechte gekapert hatte. "Weißt du, Seiji, mit Hochleistungssport ist das so eine Sache: es sieht verflixt einfach aus, aber man vergisst dabei, wie viel Training und Erfahrung erforderlich ist." Er kraulte den Nacken des jüngeren Mannes. "Wenn ich mir hin und wieder mal etwas Unvernünftiges leiste, suche ich mir Profis aus. Sie sind in Übung, verfügen über große Körperbeherrschung, können auch ausgleichen, was ich nicht bieten kann. Sie kennen ihren eigenen Körper in- und auswendig. Für mich ist das eigentlich die Sünde 'Bequemlichkeit'. Ich muss nicht auf jedes Detail achten, mich zurücknehmen, über Gebühr anpassen. Wir besprechen knapp, was wir erwarten. Danach geht es los." Seiji rollte sich noch stärker zusammen. Ganz offenkundig glaubte er an eine vernichtende Kritik, die dieser allgemeinen Erläuterung innewohnte. Hosoda hegte nicht die Absicht, ihn in diesem Irrtum zu lassen. "Das ist quasi wie beim Zahnarzt oder beim Masseur: die Spezialisten übernehmen das Ruder." Er klopfte das knochige Rückgrat des jüngeren Mannes mit seinen Fingerknöcheln. "Ich wage mich jetzt mal sehr weit aus dem Fenster. Dieses 'lange her', von dem du damals gesprochen hast, da reden wir aber nicht von vollendeten Taten, richtig?" Ein kurzer Augenblick der Verspannung in dem langen, mageren Leib, der sich fast fötal zusammengefaltet hatte. "Mir wurde übel. Als ob ich mich übergeben müsste. Ich habe eine Erkältung vorgeschoben." Wisperte Seiji rau, aber tapfer auf seiner Brust. "HmmHmmm." Hosoda kraulte wieder den Nacken. "Ich habe in meinem nicht ganz so kurzen Leben die Erfahrung gemacht, dass man den eigenen Körper ziemlich gut kennen muss, damit es wirklich funktioniert. Selbst das hilft nicht immer, weil man sich ja verändert. Auf manche Dispositionen kommt man ohnehin erst, wenn andere sich beteiligen." Er streichelte den rasierten Hinterkopf aufmunternd. "Niemand kann sofort alles. Nicht alles funktioniert für alle, geschweige denn gut. Es gibt da immer noch dieses dämliche Klischee, dass man IHN reinstecken muss, um ein Mann zu sein. Oder, damit es Sex ist. Vollkommener Blödsinn!" Unerwartet entzog ihm Seiji die Hand, setzte sich auf, blinzelte, ohne Brille kurzsichtig, auf ihn herunter. "Aber...aber Sie mögen doch...!" Wies er hilflos-verzweifelt-geknickt auf eine in Erfahrung gebrachte Vorliebe hin. Hosoda hob die Arme an, legte die Hände um das schmale Gesicht. "Seiji, das ist ein persönliches Wohlfühlprogramm mit Zeitlimit gegen Entlohnung eines Profis. Auch wenn ich kategorisch unvernünftig sein möchte, so geschäftlich-distanziert kann es zwischen uns nicht werden." Der jüngere Mann zögerte, seufzte mit herabsackenden Schultern. "Vielleicht, wenn ich geübt hätte...?" Hosoda setzte sich nun ebenfalls auf, streichelte über die mageren Wangen. "Seiji, was hast DU beim Sex denn am Liebsten?" Eine ganz hinterhältige Frage, wie Hosoda durchaus wusste. Den perplexen Blick hatte er vorausgeahnt. "...oh...ich weiß nicht..." Seiji blickte noch belämmerter, noch hilfloser und kleinmütiger. "Also, ich würde sagen, dass Küssen schon mal recht oben auf der Liste ist, oder? Flirtest du gern? Oder benutzt du vulgäre Ausdrücke? Was ist mit Verkleidung? Rollenspielen? Bondage?" Half Hosoda lächelnd aus. Seiji starrte ihn bloß an. "Ich weiß nicht... ich glaube nicht..." Hosoda zupfte neckend an der Nasenspitze seines Vollzeit-Assistenten. "Es kann sein, dass du dich gar nicht so gut kennst, hm? Meistens fangen wir alle damit an, was wir NICHT mögen. Wir treffen andere und kommen uns in der Mitte entgegen." Er glitt elastisch von der luxuriös gepolsterten Matratze herunter, streckte Seiji die Hand hin. "Ich denke, wir sollten uns frisch machen, bevor wir aufbrechen. Kommst du?" Vertrauensvoll wie ein Kind ließ sich Seiji an die Hand nehmen. Hosoda, der durch manuelles Eingreifen den Fortgang positiv beschleunigt hatte, plante, sich erneut dieser Raffinesse zu bedienen. Lediglich der Größenunterschied war ein wenig lästig. Seiji müsste ihn eben auf den Schoß nehmen! ~+~+~* "Üblicherweise trennen sich die Wege hier." Stellte Hosoda in der Lobby klar. Seiji warf ihm einen derart entsetzten Blick zu, dass er sofort zwinkerte. "Ich lade mich selbst dazu ein, etwas wirklich~WIRKLICH Ungeheuerliches zu tun!" Er rückte vertraulich an Seiji heran, der sich sogar herunterbeugte, um nichts zu überhören. Hosoda wisperte verschwörerisch. "Seiji, hast du den Mut, dich tapfer dieser Herausforderung zu stellen?" Der jüngere Mann nickte blitzartig heftig. "Wunderbar! Vergiss nicht, jetzt sind tollkühne Entschlossenheit und extremes Selbstbewusstsein gefragt!" Mahnte Hosoda wichtigtuerisch, während er innerlich damit kämpfte, nicht aus der Rolle zu fallen. Er freute sich schon diebisch auf Seijis Miene! ~+~+~* "Ah, guten Abend! Wir hätten gern den Crêpe mit heißen Kirschen, Erdnusssplittern und Sahne. Und den mit Bananen, Vanilleeis und Schokolinsen! Nein, wir speisen hier. Bitte geben Sie mir eine Nummer, junge Dame. Ich danke Ihnen!" Hosoda promenierte selbstbewusst wie eine blaublütige Majestät zu einem freien Bistrotisch mit zwei Stühlen, nickte sparsam, aber wohlwollend in die Runde der verdutzten, kichernden, flüsternden Damenriegen. Seiji faltete sich artig auf das filigrane Stühlchen, noch immer sprachlos. Keine Frage, hier speisten keine MÄNNER! In höchster Not, wenn sie etwas auszubügeln hatten, bestellten sie etwas zum Mitnehmen, natürlich nicht für sich selbst! SÜSSE, GEBACKENE TEIGFLADEN! Mit SÜSSEN SOSSEN! Das Dekor in allen Abstufungen von Rosa gehalten! Da bekam man als Mann doch schon Augenkrebs! Hosoda kümmerte sich um derlei Petitessen überhaupt nicht. Wenn er unvernünftig war, wollte er anschließend mit sich selbst feiern! Üblicherweise ging ein kurzer, aber harter Kampf zwischen seinen beiden Favoriten damit einher. JETZT konnte er beide haben! Hälftig, natürlich, man hatte ja ein gewisses Quantum an Benimm trotz Unvernünftigkeitsgebot. "Du darfst dich nicht einschüchtern lassen, Seiji. Sonst schaffen wir es nicht lebend hinaus!" Zischelte er vertraulich über den kleinen Tisch hinweg. Der jüngere Mann blinzelte. Langsam zeichnete sich ein schiefes Lächeln auf seinem Gesicht ab. "Gehen Sie jedes Mal hierhin?" "Solange es dieses Etablissement schon gibt, ja, das tue ich. Oh, Augenblick, ich hole gerade die Teller ab!" Geschmeidig, aber ohne Eile und sehr souverän durchquerte Hosoda den Raum. Er nahm gegen die Nummer zum Tablett auch noch zwei gewaltige Becher heiße Schokolade mit einem Schuss Nussnougat-Karamell auf einem Sahnehäubchen mit. Als er bedächtig seinen Weg fand, hob sich die Geräuschkulisse dezent. Na, das war ja wie Applaus, oder nicht? Schmunzelnd stellte Hosoda das sündige Süß-Menü ab, ließ sich grazil nieder. Seiji schnupperte vorsichtig. "Und? Verlässt dich der Mut?" Neckte ihn Hosoda provozierend. Der jüngere Mann lächelte zum ersten Mal an diesem Abend ungezwungen. "Herr Hosoda, ich liebe Süßspeisen. Sind Sie sicher, dass wir teilen sollten?" ~+~+~* Nicht einsehbar für den Taxifahrer hielten sie auf der Rückbank Händchen wie zwei kindliche Verschwörer, die etwas ausgeheckt hatten, das ihnen dann auch noch grandios gelungen war! Seiji lächelte noch immer vor sich hin, ein wenig verträumt. Er hatte mit solcher Andacht gespeist und getrunken, dass Hosoda jeder Anflug von mildem Spott versiegte. Seit Seiji für die Mahlzeiten zuständig war, zeichneten die sich durch schlichte, aber gefällige Hausmannskost aus. Mit schmalem Geldbeutel realisiert, obwohl Hosoda üppig Wirtschaftsgeld austeilte. Aber Seiji pflegte zu sparen, wie die legendäre Hausfrau, Extravaganzen erst abzustimmen, bei Fleisch oder Fisch ausgesprochen pingelig zu sein. Dass man, bei knapper Kasse, sich so einen süßen Luxus gönnte, schien eher unwahrscheinlich zu sein. Deshalb hatte Hosoda nun mal wieder eine angenehme Überraschung erlebt! Es gab immer wieder etwas Neues zu entdecken! Während er nach ihrer Rückkehr ins Büro steuerte, sich auf den neuesten Stand zu bringen, schlüpfte Seiji in den "Musikus"-Aufzug, umarmte den Kontrabass, brachte den Bogen zum Einsatz. Hosoda lauschte den gebundenen Melodien, fröhlich, fast kindlich wirkend, die Ahnung eines Walzer-Taktes unterlegt. Natürlich würde er wieder vernünftig werden. Er müsste analysieren und bewerten, was dieser Abend bedeutete. Noch schlug nicht Mitternacht, die Kutsche wurde noch nicht zum Kürbis! ~+~+~* Die nächsten beiden Tage beschäftigten Hosoda mit unerwarteten Zusatzaufgaben. Eine Webmaschine war beschädigt worden, offenbar durch einen fehlerhaften Steuerprozess! Wie hatte sich der Fehler eingeschlichen, wenn zwischenzeitlich kein verändertes Programm aufgespielt worden war?! Hosoda beratschlagte sich per Telefon- und Videokonferenz, versuchte gleichzeitig, die entstehenden Engpässe umzuleiten. Außerdem hatte sich der kapriziöse Modeschöpfer gemeldet, um zu klagen: die bestellten Stoffbahnen mussten UNBEDINGT einen anderen Farbton bekommen, weil ein lächerlicher Gimpel von einem Möchtegern EXAKT diesen Farbton wählen wollte! Was Hosoda wie auch die Produktion vor Probleme stellte. Die Farbe musste ins Garn, VOR dem Weben. Man konnte nicht einfach, ohne Qualitätseinbußen, fertigen Webstoff "umfärben"! Was also tun? Auf Einhaltung des Kontrakts bestehen? Oder die Stoffbahnen abschreiben? Er bat Seiji, der ihn besorgt musterte ob der Rastelli-Aktionen, bei den Maßschneidereien durchzuklingeln. FALLS der Farbton Trend werden sollte (auch wenn ein lächerlicher Gimpel dies anregte), könnte man andere Interessierte finden? Oder gar selbst eine kleine Kollektion präsentieren, wenn nichts half? Immerhin konnten diese Stoffmengen nicht einfach eingelagert werden, zu wenig Platz und noch mehr verlorenes Kapital! Obwohl Hosoda sich bemühte, Seiji nicht mit der eigenen "Hochspannung" zu elektrisieren, reagierte der ähnlich fokussiert. Mit einer Maschine weniger musste noch mal die Stoffmenge fabriziert werden, während gleichzeitig das merkwürdige Fehlverhalten der Steuerung aufzuklären war. Seiji bekam schließlich Prokura für einen schlichten Happi, einfaches, aber raffiniertes Schnittmuster. Da der Webstoff sich sehr gut mit Industrienähmaschinen vertrug, konnte man schon die ersten Exemplare ablichten, in die winzigen Schaufenster stellen. Hosoda erleichterte dies ungemein. So konnten sie die Verluste kompensieren. Außerdem befanden sie sich dem Fehler auf der Spur, vermuteten einen Defekt auf der Platine. Bis zum Austausch und der Bestätigung musste er Geduld beweisen, weiter jonglieren mit Liefer- und Fertigstellungsterminen, Abrechnung, Vertrieb, unerlässlichen Behördennachfragen... Hätte ihm Seiji nicht immer wieder Getränke hingestellt und "Pick-Futter" ausgelegt, hätte er beides wohl sträflich vernachlässigt. Als er endlich die erlösende Rückmeldung bekam, dass die Webmaschine wieder tadellos funktionierte, konnte Hosoda dennoch nicht abschalten, auch wenn es spät war, er sich erholen musste. Aber er wollte eben auch noch den ganzen Rest an Schlamassel beheben, damit am nächsten Arbeitstag wieder alle Beschäftigten regulär loslegen konnten! Darum war man ja Chef! Es fiel ihm jedoch sehr schwer, sich zu konzentrieren. Endlich merkte er auf, lauschte, begab sich dann, weil kein vernünftiges Arbeiten möglich war, in den Wohnraum. Seiji setzte dem Kontrabass zu, in einer Art und Weise, wie Hosoda es noch nie gehört hatte. Als Seiji seine Gegenwart registrierte, brach er abrupt ab, stemmte den Kontrabass sogar von sich. "Was ist das?!" Erkundigte sich Hosoda beinahe benommen. "The great wave. Von den Hinagikus." Antwortete Seiji mit rauer Stimme. "Das darf man spielen?! Einfach so? Auf offener Bühne? Vor Leuten? Ohne Vorwarnung?" Hosoda plumpste auf sein Sofa. Welchen Charakter diese "große Woge" hatte, konnte niemand verkennen. Seiji blinzelte, wie immer ohne Brille. "Darf man. Allerdings wissen die Leute in der Regel, was sie erwartet." Als Leisetreter war diese Combo ganz sicher nicht unterwegs. "Entschuldigung. Wenn ich Sie gestört habe?" Hosoda zog eine Grimasse. "Stören würde ich nicht sagen, aber Arbeiten ist bei dieser Assoziation ganz sicher nicht möglich." Er seufzte, ließ sich tiefer in die Polster sacken. "Vielleicht sollte ich es gut sein lassen. Morgen ist ja auch noch ein Tag." Etwas wacklig kam Hosoda wieder auf die Beine. "Sie brauchen Erholung, Herr Hosoda." Stellte Seiji knapp fest. "Recht hast du! Wenn sich das Kopf-Karussell mit all den Gedanken noch aufhören würde zu drehen." Lächelte Hosoda matt, straffte sich. Haltung zeigen in jeder Lage, das gehörte zu seinem Selbstverständnis. Seiji setzte den Kontrabass in eine Stütze, folgte Hosoda wie ein Schatten. Der wollte natürlich zum Büro abbiegen, weil man ja noch dies zuklappen und da runterfahren.... Unerwartet fand Hosoda sich herumgewirbelt, gelupft wie ein Kind. "Schlafenszeit." Bestimmte Seiji streng. Schön, aber das würde nun mal nicht so einfach funktionieren... Hosoda hatte jedoch unterschätzt, dass "The great wave" ein Stück für Kenner und Könner war, mit beabsichtigten Nebenwirkungen. Mochte Seiji auch unerfahren in gewissen Aspekten sein: an Hosodas Front ließ er keine Wünsche offen. Der kam nicht mal dazu, Schäfchen zu zählen, sondern wechselte von elysischen Höhen gleich in Morpheus' Arme. ~+~+~* Ein Gespräch musste geführt werden. Hosoda konnte dies nicht länger hinauszögern. Vor allem nicht, wenn man (ungefragt) ausgeschlafen hatte, solitär noch das Bett hütete, während der Rest der Welt...! Dekadenz ist der letzte Schritt vor dem Abgrund des Untergangs! Doch für ein ernstes Gespräch bedurfte es nicht nur einer gründlichen Wäsche und der richtigen Wahl der Bekleidung, sondern auch der Energie. Die sein Magen durchaus verlangte, weil er sich unaufgefordert mit der Nase verbrüdert hatte, beide konspirierten. Es roch aber auch zu verlockend! "Guten Morgen." Setzte Hosoda an, sich der Küchenzeile nähernd. "Guten Morgen, Herr Hosoda." Seiji wandte sich zu ihm herum, mit den letzten Arbeitsschritten eines sehr üppigen Frühstücks befasst. "Es liegen keine akuten Aufgaben an." Beruhigte der jüngere Mann gelassen. "Vielen Dank. Es riecht so köstlich! Ich muss endlich ein wichtiges Thema..." Unerwartet fasste Seiji Hosoda unter den Achseln, hievte ihn auf den Tresen, schlang ihm sichernd die dünnen Arme mit den großen Händen um den Leib. "Herr Hosoda, ich liebe Sie. Bitte, lassen Sie mich mein Leben an Ihrer Seite verbringen." Hosoda benötigte tatsächlich mehrere Atemzüge, bis er sich wieder gesammelt hatte. "Seiji..." "Es ist nicht unvernünftig. Ich mag Ihren Elan, Ihre Dynamik, Ihre Herzlichkeit, Ihren Großmut. Sie beweisen jeden Tag Humor, bringen mich zum Lachen und Nachdenken. Sie sind der erste Mensch, der mich versteht, mir nicht das Gefühl gibt, nur ein Zuschauer zu sein. Ich liebe es, Sie zu küssen, Ihnen zuzuhören, wenn Sie über die Webtechniken und Stoffe sprechen. Das Vergnügen und den Appetit beim Essen. Wenn ich spiele, weiß ich, dass Sie mir zuhören, dass ich doch nicht allein in meiner Welt bin." Beendete der jüngere Mann sein Plädoyer. Hosoda holte Luft. "Ich weiß, ich entspreche nicht Ihrem Ideal-Partner, aber ich KANN das lernen! Ich bin fest entschlossen!" Mangels Alternativen hielt Hosoda Seiji nun den Mund mit beiden Händen zu. "Liebe Güte, Seiji, du kannst ja reden wie ein Wasserfall!" Seiji wartete geduldig, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet. "Herrje." Murmelte Hosoda, lächelte schief. Die üblichen Argumente, eine Beziehung abzuschmettern, dass man sich nicht kannte, das Zusammenleben vielleicht scheiterte, die konnte er wohl kaum ins Feld führen. Nicht mal den beträchtlichen Altersunterschied, denn Seiji wusste darum! Er seufzte, richtete sich kerzengerade auf, registrierte sofort die alerte Anspannung in dem groß gewachsenen, mageren Mann vor sich. "Ich muss dir gestehen, Seiji, ich weiß nicht, wie man eine Liebesbeziehung führt. Ich hatte nie eine. Als ich aufgewachsen bin, war eine Disposition wie meine undenkbar." Deshalb hatte er sich immer als Solitär betrachtet und eingerichtet. Langsam hob Hosoda die Hände von Seijis Lippen, legte sie in den Schoß. "Mögen Sie unser Zusammenleben?" Prüfte Seiji unbeeindruckt Konstellationen. "Ich hab es sehr gern, möchte es nicht mehr missen." Gestand Hosoda mit einem hilflosen Lächeln. "Der Unterschied besteht nur darin, dass ich jetzt im Bett zu Ihnen rüberrutschen kann. Ich kann Sie in den Arm nehmen und küssen, wenn uns beiden danach ist. Wenn Sie einen Profi aufsuchen möchten, werde ich mich nicht einmischen." Hosoda betrachtete Seiji prüfend. "Würdest du dich nicht verraten oder betrogen fühlen, Seiji?" Der jüngere Mann reckte das spitze Kinn entschlossen. "Nein. Sie gehen ja auch in den Frisiersalon oder die zahnmedizinische Praxis. Wenn ich bestimmte Bedürfnisse nicht stillen kann, werde ich mich nicht beklagen." Hosoda hob eine Hand, tippte ihm auf die Nasenspitze. "Du wirst dich auch nicht beklagen, wenn Hakku dich Boytoy tauft?" Seiji blieb so entschlossen und ernst wie zuvor. "Das ist nicht von Bedeutung. Sonst hätte er mich nicht gefragt, ob ich gleichgesinnte Brüder oder Freunde hätte." Nun konnte Hosoda sein Staunen nicht kaschieren. DAS hatte Hakku eingestanden?! Quasi...NEID?! "Bitte. Bitte, Herr Hosoda, denken Sie darüber nach." Selbstverständlich ein Affront für all die Anständigen, moralisch Integren! Wenn man so direkt darauf gestoßen wurde, konnte man es auch nicht ignorieren... Hosoda fasste die großen Hände, als sie höflich beiseite glitten, ihn freigaben. "Ich muss nicht nachdenken, Seiji. Lass uns zusammenbleiben. Bring mir bitte alles bei, was bei einer Liebesbeziehung wichtig ist, hm? Ich bin blutiger Anfänger!" Deklamierte er aufgekratzt. Seiji lächelte, half ihm schwungvoll vom Tresen auf den Barhocker, beugte sich vor, küsste ihn zärtlich. "Vielleicht sollten wir mit 'Liebe geht durch den Magen' anfangen." Hosoda lachte, nickte eifrig. Oh, er freute sich schon darauf, Hakku unter die Nase zu reiben, dass der Vertrag noch mal ganz umgeschrieben werden müsste! ~+~+~* Kapitel 11 Handa marschierte noch in vollem Ornat mit den bauchigen Hosenbeinen seiner traditionellen Arbeitskleidung in ausgebleichtem Indigo in den Waschraum. Es war schon sehr spät. Die letzten Züge wurden ausgerufen und angezeigt. Das kümmerte ihn nicht sonderlich. Er würde wie immer auf das klapprige Fahrrad an der Station draußen steigen, gemächlich der Pension entgegen pedalieren. Die anderen hatte er schon nach ihrer gemeinsamen Abendmahlzeit verabschiedet, damit sie sich in den winzigen Transporter quetschten. Er selbst kümmerte sich noch um den Papierkram, Stunden- und Lohnzettel, Materiallieferungen, Dokumentation des Fortschritts. Auch wenn sie standardisierte Häuser hochzogen, musste man sich penibel an die Vorschriften halten. Dieses Mal war leider kein schnuckliger Architekt involviert! Handa grinste unwillkürlich, strich sich beiläufig über seinen gepflegten Vollbart, der seine aparten Kiefer- und Wangenknochen noch betonte. Andererseits, gegen seine erste Liebe konnte wirklich keiner anstinken, das gebot die Fairness festzuhalten! Jetzt allerdings trieb ihn lediglich ein Übermaß an dünnem Tee an. Trotzdem ließ er probehalber den Blick durch den langgezogenen Waschraum schweifen. Einen hübschen Schüler würde er nicht finden, klare Sache. Dazu war es viel zu spät. Was hier verstohlen bis herausfordernd um sich blickte, verlangte Preise, die er sich nicht leisten konnte oder wollte, obwohl das Angebot sich schon erheblich ausgedünnt hatte. Die Gerüchte, dass man diesen alten Waschraum öfter kontrollierte, auch bald umbauen würde, schienen wohl zuzutreffen. Handa, das gewohnte Handtuch ungeniert um den Nacken geschlungen, die Handschuhe am breiten Gürtel verstaut, öffnete seine Hose, so weit, dass er bequem am Urinal der Natur ihren Tribut zollen konnte. Die verschlissene Jacke im Happi-Stil schwang offen über einem verwaschenen, ärmellosen Rippen-Top. Keine Frage, er verhehlte seine Profession nicht. Das erstickte die kostspieligen Offerten schon im Keim. "Das is mal n Knüppel!" Bemerkte eine raue Stimme neben ihm, vielmehr ein höflich unbemannt gelassenes Urinal weiter zu seiner Linken. Handa grinste. Yepp, er war schon recht beeindruckend bestückt, das fand er auch. Sein Nachbar, wachsbleich mit beinahe schwarzen Augenringen in olympischen Ausmaßen, einem Waschbär ähnlich, schwankte bedenklich. Betrunken? Handa verstaute sein imposantes Organ geübt, wandte sich seinem Nachbarn zu. Der kämpfte mit derselben Aufgabe, einhändig, da er sich mit der anderen krampfhaft abzustützen versuchte. Ein Anzug von der Stange schlingerte unkleidsam um einen sehnigen Mann mit ausgewachsenem Haarschnitt. "Alles in Ordnung, Kamerad?" Erkundigte sich Handa höflich. Attacken musste er selten fürchten. Er maß fast 1,90m, hatte sehr breite Schultern und Fäuste wie Dampfhämmer. "...verflixt..." Murmelte man taumelnd. "Brauchst du Hilfe?" Auch wenn es eine originelle Variante der Anmache wäre, hielt Handa sich artig zurück. Von Honigtopf-Fallen hatte er schon gehört: da klemmte man mit den Fingern als Samariter bei fremden Burschen im Hosenlatz, musste sich später als Belästiger mit Schweigegeld freikaufen. "...geht gleich wieder..." Klang aber nicht so. Handa beugte sich herunter, um an der ausgefransten Mähne vorbei nach einem Gesicht zu fahnden. Ein feiner Film Transpiration bedeckte das wächserne Gesicht, die hervorgestoßenen Atemzüge rochen nicht nach Alkohol, eher säuerlich, abgestanden. "Hast du vielleicht was nicht vertragen?" Handa hätte sich einfach abwenden können, selbstredend. Wozu gab es Sicherheitspersonal? Wer weiß, was mit diesem schlaffen Waschbär-Imitator nicht stimmte! Aber das entsprach nicht seinem Naturell. "...ich weiß nicht..." Unerwartet klärte sich für einige Wimpernschläge der schwimmende Blick aus den umschatteten Augen. Ein ohrenbetäubendes Grummeln mischte sich ein. "...oh..." Eindrucksvoll rollten die Augäpfel in den Hinterkopf, boten ein Netz rötlicher Adern. Handa fasste zu, bevor der Unbekannte sich unangekündigt auf die Fliesen legen konnte. ~+~+~* Handa bugsierte die einfache Kunststoffbrille wieder in eine seiner zahlreichen Munitionstaschen am Gürtel. Die Fältchen in seinen Augenwinkeln glätteten sich: das musste die Adresse sein! Ohne Mühe balancierte er das Klammeräffchen auf seinem Buckel aus, stapfte die Außentreppe hoch, zählte auf der sechsten Etage die schlichten Eingangstüren neben den Versorgungskästen ab. Er erprobte schließlich den Schlüssel, den er nach kurzer Fahndung durch die Besitztümer seines Trabanten sichergestellt hatte. Ein winziges, schlauchartiges Appartement, staubig nach Vernachlässigung müffelnd. Vorsichtig setzte Handa seine Last ab, schlüpfte aus seinem traditionellen Schlappen, Gummisohle und Tabi-Sockenähnlicher Aufbau. Die Kordel an der Deckenlampe ziehend inspizierte er das fremde Heim. Mehr Platz als in einem Kapsel-Hotel, ja, aber nicht gemütlicher. Handa ging in die Hocke, löste klobige Slipper, legte sich erneut dünne Arme um den Nacken. "Gleich ist es geschafft!" Verkündete er, zur allgemeinen Aufmunterung. Hinter der Nasszelle in einem Wandschrank ähnlichen Separee schloss sich eine Nische an, unten schmales Bett, darüber eine Stange, an der Kleidungsstücke baumelten, gegenüber eine Einzelkochplatte, ein Vogelbad von Spüle und Einbauschränkchen mit Schiebetüren. Handa legte seinen Trabanten auf dem schmalen Bett ab, rang den klemmenden Riegel des Schießschartenfensters nieder. Obwohl die Nachtluft nicht gerade viel kühler war, atmete er doch in tiefen Zügen durch. Eine Klimaanlage schien hier nicht zu arbeiten. Es roch wie in einem Mausoleum! Weil er schon stand, ging er systematisch jeden Schrank durch: armselig wäre ein Euphemismus gewesen. Handa ging neben dem schmalen Bett in die Hocke, studierte die klapprige Erscheinung. "Wie liest sich das? Momose?" Man zuckte zusammen. Bläuliche Lider kämpften gegen die Schwerkraft an. "Momose, ja?" Handa wollte sichergehen. "...ja?" "Ich bin Handa." Tippte er sich selbst auf die Nasenspitze. "Momose, wann hast du das letzte Mal was gegessen?" Die Lider senkten sich, der Kopf rollte auf die Seite. Nach einigen geduldig abgewarteten Augenblicken stemmte Handa sich hoch. "Tja." Stellte er ausschweifend fest. Momose wirkte nicht betrunken oder berauscht, aber definitiv nicht ganz bei sich. Das Rätsel konnte er jetzt nicht lösen, entschied Handa. Weil es spät oder beinahe schon früh war, schälte er Momose einfach aus Anzug, Hemd und Socken, stieg aus seinen eigenen Kleidern, machte es sich neben ihm auf dem schmalen Bett bequem. Ein höflicher Mensch hätte wohl den Boden gewählt, aber Handa wollte keine Staubmäuse inhalieren. Da war er eigen. ~+~+~* Handa hielt sich eigentlich für einen gemütlichen Zeitgenossen. Auf den unterschiedlichen Baustellen, mit diversen Kolonnen, lernte man Gelassenheit und Flexibilität. Aber wenn er etwas ganz und gar nicht verknusen konnte, waren es grässliche Alarmrufe. Von einem Augenblick auf den nächsten detonierte eine Kakophonie über ihm. Er klappte reflexartig in die Senkrechte. Im Zwielicht der schmutzigen Schießscharte erkannte er ungläubig, dass über ihm etwas zuckte. Sein Verstand knurrte mäßigend, bevor Panik sich über seinen breiten Rücken schleichen, eine Gänsehaut auslösen konnte. »So'n beschissener Klingelton mit Zappel-Modus im Jackett.« Neben ihm mischte sich ein gequältes Winseln in die schrille Disharmonie. Handa schlug mit einer Faust unter die Jackentasche, fing das Fallobst im Flug ab. Er deaktivierte das Telefon entschieden. Der Zombie an seiner Seite schien ihm keineswegs in der Lage, irgendwas erfolgreich zu absolvieren, ausgenommen wie ein Toter zu schlafen. Also musste, was auch immer diese geschmacklose Plärrerei ausgelöst hatte, warten. Außerdem ging es gerade mal auf vier Uhr zu! Ohne Gewissensbisse ob dieser selbstherrlichen Aktion streckte Handa sich wieder aus. ~+~+~* Fast drei Stunden später sah der Tag nach Handas Empfinden sehr viel besser aus. Zumindest gab es fließend Wasser in der Gruft! Nach Katzenwäsche und Einkleiden widmete Handa sich seinem Gastgeber. Der hielt sich das, was man üblicherweise mit Magen in Zusammenhang brachte. Bloß konnte man hier nur eine leere Senke erkennen. Ursächlich für die elende Haltung zeichnete selbstverständlich das deaktivierte Telefon. "Na schön, wie schlimm ist es denn?" Handa wischte durch die kärgliche Wäscheparade an der Stange. Gab es irgendwas, was nicht mal gelüftet oder gewaschen werden musste? Wann war der dürre Bursche das letzte Mal hier gewesen? Auf dem Bett wiegte man sich leise winselnd in Unterhosen, ein mageres Gespenst mit verwildertem Schopf, ein wenig "anrüchig". Handa fingerte auf seinem Munitionsgürtel sein eigenes Telefon, ein älteres Exemplar. Die einfache Kunststoffbrille justiert tippte er Ziffern ein, konferierte mit seinem Stellvertreter. Er beendete zufrieden das Gespräch, zupfte den Bettbezug vom Inlett, stopfte entschlossen Wäschestücke hinein. Er ließ gerade einen fadenscheinigen Jogginganzug übrig, der aussah, als sei er aus der Mittelstufe konserviert worden. "Momose, Hintern hoch und anziehen!" Sein röhrender Kommandoton beendete das klägliche Winseln. Unter diesem Schock stehend gelang es Handa auch, den mageren Mann anzukleiden. Er warf sich den prall gefüllten Bettbezug wie einen Sack über die Schulter, fasste stützend Momose unter. "Kopf hoch, Kumpel, das wird schon wieder." Neben ihm wimmerte man leise. ~+~+~* Halbe Sachen gingen ihm nicht durch. Handa hatte sich ein Bild davon gemacht, wie Momose hauste, wie vernachlässigt und ausgepumpt der war, im Prinzip in diesem Zustand zu nichts zu gebrauchen. Folglich erwiesen sich konzertierte Maßnahmen als notwendig. Wie die meisten Handwerker auf Montage kannte er Pensionen und Dienstleistungen, die man sich leisten konnte. Zum Beispiel kleine Badeeinrichtungen ohne Luxus oder Schnickschnack, keine Soap-Lands, dafür mit zusätzlichem Serviceangebot, nämlich Wäschewaschen, während man sich einseifte. Zwanzig Minuten lang im heißem, klaren Wasser ausruhen. Draußen kümmerte man sich um frische Wäsche, bügelte, händigte das aus, was nach Kurzwäsche und Trockner schon wieder manierlich gefaltet werden konnte. Für den Rest gab's einen Abholschein. Hatte man Muße, gab es um die Ecke bestimmt eine kleine Kneipe mit einfachen Speisen. Ungeniert steuerte Handa die nächstgelegene Einrichtung an, zumeist von resoluten Damen geführt. Momose stolperte neben ihm her, ließ sich widerstrebend von seinem Telefon separieren. Eingeseift ähnelte er eher einem Jugendlichen, so schmal und in sich gekehrt. Das konnte man von Handa nicht behaupten, der Schamhaftigkeit bezüglich der eigenen Person mit den Jahren gänzlich abgelegt hatte. Er zog Momose auch mit sich in das kleine Heißwasserbecken, nur von zwei alten Männern bereits besetzt, grüßte höflich in die Runde, ignorierte geübt die Blicke unter den Gürteläquator. Ja, da hing schon ein mächtiges Pfund! Aber er war jetzt nicht hier unterwegs, um die Besatzung zu beeindrucken, sondern genoss die entspannende Hitze in seinen Muskeln, beäugte Momose, damit der ihm nicht ohnmächtig abtauchte, vom Zombie zur Wasserleiche mutierte. Wacklig auf den Beinen folgte der ihm artig, seufzte unglücklich ob der Blitz-Reinigung. Ein Anzug blieb im Angebot, dazu ein Hemd, vermutlich bloß verstaubt, auch wenn selbst Handa die Ursache nicht verkennen konnte: das Ensemble beleidigte das Auge! Hahnentrittmuster, gewagt, ja, aber Dunkelgrün mit Aubergine?! Und das Hemd, kein Standardweiß, eher ein fahles Gelb? Dazu standen Momose auch die nassen Haare wild vom Schädel, hatten sich aufgedreht. Handa fahndete in seinem Taschenrefugium, fand ein Furoshiki, schlichtes Marineblau mit weißem Kranich-Druck, als Kopftuch sehr schmuck! "Jetzt gehen wir frühstücken. Ohne Mampf kein Dampf für den Kampf!" ~+~+~* Momose spürte eine seltsame Lähmung. Sollte er nicht in hysterischer Verzweiflung hektisch versuchen, die verlorene Zeit aufzuholen, sich bei allen untertänigst entschuldigen? Stattdessen saß er hier auf einem Hocker, Schulter an Schulter, schlürfte Nudelsuppe mit scharfen Einlagen! Vielleicht war er aber auch schon gefeuert? Der Gedanke löste eine besorgniserregende Erleichterung aus, die er eilig verbannte. "Entschuldigung." Adressierte er den bärtigen Riesen an seiner Seite. "Herr Handa, ich bitte für gestern um Verzeihung." Wobei er sich nicht mal mehr entsinnen konnte, was genau er alles angestellt hatte. "Handa reicht. Du hast mir gestern nicht geantwortet." Momose schrumpfte noch kleiner in sich zusammen. "Verzeihung! Ich kann mich nicht mehr entsinnen..." "Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?" Er zögerte, begriff, dass es sich wohl um die Frage vom Vortag handelte. "Ich~ich weiß es nicht mehr." Bekannte Momose schließlich beschämt. Neben ihm leerte man geübt die Schüssel, leckte sich die Lippen. "Dachte erst, du wärst angetrunken, im Waschraum. Hast mir aber ein feines Kompliment gemacht." Momose riskierte einen Seitenblick. In den Augenwinkeln prägten sich kleine Fältchen, die Mundwinkel im gestutzten Vollbart kringelten Schmunzel. Was hatte er da bloß entwischen lassen?! Du liebe Güte, er war doch nicht etwa anzüglich geworden?! Momose spürte, wie ihm das Blut in die Füße sackte, er beinahe vom Hocker kippte. Handa grinste ihn freigiebig an, schlang ihm stützend einen Arm um die verkrümmten Schultern. "Tja, Schmeichelei bringt dich bei mir tatsächlich weiter. Aber jetzt kümmern wir uns erst mal um dich." Momose schloss die Augen. Was hatte er da angestellt?! ~+~+~* Handa wusste, dass er eine Geschichte schuldig war: seiner Kolonne, die gern zu erfahren wünschte, warum ihr beeindruckender Polier nicht wie gewohnt auf der Matte stand, der Mannschaft präsidierte. Außerdem aushäusig genächtigt hatte, zu Fuß, ohne Fahrrad einmarschiert war! Handa entschied sich für die Variante "versteckte Kamera": dass er angesichts des gruseligen Erscheinungsbildes angenommen hatte, man wolle ihn auf die Rolle nehmen! Bei dem erbärmlichen Zustand seines neuen Bekannten, musste er sich ja wohl einbringen. Blumig, doch zutreffend umschrieb er die Lage, das dämliche Telefon, dessen unterschiedlich kreischende Kakophonie konditionierte Reflexe bei Momose auslösten. Deshalb war in dem Durcheinander irgendwie anstelle der Quittung für das frugale Frühstück der Abholschein für die Wäsche bei ihm gelandet. Man grinste. So eine Pechsträhne aber auch! Gut, keine saftige, aushäusige Episode, aber andererseits hielt sich Handa auch mit Details SEHR zurück, aber diese Pleiten, Pech und Pannen-Variante hörte sich auch kurzweilig an. Dass ihr Vorarbeiter und Boss eine mitfühlende Seele hatte, wussten sie alle nur zu gut. Handa rieb sich unterdessen den sehr gepflegten Bart am Kinn. Sie lagen gut in der Zeit, da konnte man schon die nächste Baustelle ins Auge fassen. Außerdem musste die Materialanlieferung terminiert werden. So trat die Wäscheabholung erst mal ins zweite Glied der Erledigungsliste zurück. ~+~+~* Auch wenn es sich undankbar, nicht manierlich ausnahm: Momose quittierte den Umstand mit Erleichterung, dass Handa ihn nicht zum Büro begleitet hatte. Nicht auszudenken, wenn er seinem Chef begegnet wäre! Er hätte sich erklären müssen, schlimmstenfalls ein Missverständnis im Keim ersticken!! In gewohnter Hektik, ohne Pause, organisierte Momose Abholung, Lieferung, Bezahlung, Abrechnung. Die unterschiedlichen Alarmtöne verstummten eigentlich selten länger als ein paar Sekunden. Ohne Tageslicht, in diesem Kellerverschlag, entfernte sich die Welt sehr weit von der eigenen Wahrnehmung. Deshalb überraschte es ihn auch vollkommen, plötzlich Handa hinter sich zu bemerken, beladen mit zwei Furoshiki, die dem glichen, das am Morgen seine nasse Mähne gebändigt hatte. "...oh...!" Krächzte er verschreckt, taumelte von seinem einfachen Hocker hoch. "Guten Abend." Der Riese füllte den kleinen Verschlag fast völlig aus, verdunkelte die einsame Deckenleuchte. "Deine Wäsche. Ich habe versehentlich die Quittung mit dem Abholschein vertauscht." Bevor Momose noch etwas äußern konnte, regte sich das Telefon. ~+~+~* Handa betrachtete gelassen die Lage. Das Türschloss, ein alberner Schnapper, hinderte ihn nicht am Eintritt. Eine Klingel mochte es wohl mal gegeben haben, denn gekappte Drähte wucherten aus einem Loch in der Verschalung. Hier also hauste der "Express Delivery Deluxe"; "Betreuung durch Spezialisten mit Universitätsabschluss." Das stellte man sich etwas anders vor. Nicht wie dieses fensterlose Loch im Keller, mit wackligem Tisch, Hocker, Computer und dauerlärmendem Telefon. Wenn er beide Ellenbogen abwinkelte, würde er in der Bude stecken bleiben! Momose agierte wie aufgezogen, auf die Klingeltöne konditioniert: Lieferung annehmen, Preis verhandeln, Boten beauftragen, feilschen. Was Handa, die Wäschepacken absetzend, registrierte, gefiel ihm nicht sonderlich. Offenbar betrieb der "Geschäftsführer" hier einen Kurierservice mit Ein-Mann-Selbstständigen, die wie auf dem Bazar heruntergehandelt wurden. Makler dieser "Transportbörse" war Momose, der schon wieder wirkte, als würde er gleich in den Seilen hängen. Die "Kartei" der Boten las sich exotisch, Einwanderer mit unsicherem Aufenthaltsstatus, Geringverdiener mit der Hoffnung auf ein karges Zubrot. Handa kannte sich auf Baustellen aus. Dort beschäftigte man auch gern ungelernte Hilfsarbeiter, die man ausbeuten konnte, sprachunkundig, fremd, ohne Lobby. Das gefiel ihm nicht. War es aber besser, die Verantwortlichen anzuzeigen, oder nahm man den Hilfsarbeitern jede Chance auf einen Lebensunterhalt und sie würden gleich abgeschoben? Keine einfache Sache. Er löste sich von der Wand, an die er sich gelehnt hatte, um über Momoses gebeugte Gestalt auf den Bildschirm zu blicken, verließ den Verschlag. Er stieg die Kellertreppe nach oben, orientierte sich kurz. Wenige Augenblicke später kehrte er mit zwei Dosen Miso-Suppe zurück. Dass Momose seine Abwesenheit bemerkt hatte, bezweifelte er. Ungeniert vertrieb er den "Tunnelblick" aus den tief umschatteten Augen, reichte die Dose weiter. "...danke... sehr." "Legst du das lästige Ding wenigstens beim Pinkeln aus der Hand?" Er deutete auf das Telefon. Momose schrumpfte in sich hinein. "Das geht nicht, weil ich ja keine Aufträge verlieren darf, wegen der Rezession." Sein Flüstern verlor sich beschämt. "Wie lange machst du diesen Job schon?" Handa nutzte die Gelegenheit, dass das dämliche Mistding nicht plärrte. An der Dose nippend, die Hände leicht zitternd, grübelte Momose kurz. "Während der Uni-Zeit habe ich angefangen." "Muss ja enorm viel einbringen. Oder Spaß machen." Gemein, diese Provokation, aber Handa fand, es sei ein Punkt zu setzen, unter das Ausrufezeichen. Ein leerer Blick streifte ihn. Momose seufzte leise. Bevor er sich jedoch zur Sache einlassen konnte, lärmte das Telefon schon wieder. Würde das etwa die ganze Nacht so gehen? Kein Wunder, dass der Bursche nicht nach Hause kam! Es waren, wie Handa scharf beobachtete, nicht jedes Mal Kundschaftsanrufe oder Kuriere, sondern Start- und Endsignale, Signale zum Inkasso über Direktkontakt, Ein- und Auschecken verfügbarer Kuriere. Wer dachte sich so was aus?! "Wann ist Betriebsschluss?" Momose, der gerade einen weiteren Transport gemakelt hatte, stierte ihn mit ausgetrockneten Augen an. "Feierabend?" Aber nicht mal dieser Versuch, die Frage umzuformulieren, führte zu keinem Ergebnis. »Ah«. Dachte Handa erbost. »Eines DIESER Arbeitsverhältnisse!« ~+~+~* Handa war schon immer schwul gewesen. Das musste man ihm nicht sagen, kam nicht mit einem Erweckungsmoment über ihn. Er wusste es schlicht, nahm diese Tatsache hin wie Augen- und Haarfarbe. Da konnte die Oma noch so engagiert Sutren zitieren! Er fand ihren Einsatz rührend, trug immer noch die Kette mit den Gebetsperlen um das linke Handgelenk. Erstens waren alle natürlich ein wenig besorgt. Andererseits, das zeichnete sich auch recht früh ab, neigten die meisten zu konzilianten Handlungen, wenn man sie mit Fäusten wie Schmiedehämmern und einer imponierenden Gestalt konfrontierte. Außerdem, sie kannten ihn alle seit der Geburt. Er war schon ein ganz patenter Typ, auch nicht auf den Kopf gefallen. Natürlich, darin waren sich auch die Damen einig, war es zweitens eine fürchterliche Verschwendung. Lecker anzuschauen, anstellig, höflich, humorvoll. Gerüchteweise DIESE Ausstattung! Handa war der perfekte Kumpel. Die Freunde kamen an erster Stelle, er kümmerte sich, wusste immer einen Ratschlag, entschärfte Streitigkeiten mit Humor und Finesse. Ihm konnte man ruhig das komplexe Denken überlassen! Weshalb sie ihm auch gefolgt waren. Drei aus seinem Heimatort arbeiteten noch immer in seiner Kolonne. Handa agierte als Anführer, ohne jemals diesen Status beansprucht zu haben. Sie mochten ihn. Tja, da hatte Handa eben eine Schwäche für Jungs! Juckte sie gar nicht, weil er seine Kumpels nie im Stich ließ. Wenn er also einen Herzbuben an Land zog, standen sie hinter ihm wie eine Eins! Natürlich NICHT anzüglich gemeint, klar?! Handa selbst wusste durchaus um seine Verantwortung, dass sie ihm vertrauten, ja, sogar ihm ihr Schicksal an-vertrauten, ihm folgten, viel auf sein Wort gaben. Da er von Kindesbeinen an in diese Aufgabe hineingewachsen war, empfand er sie nicht als Belastung. Allerdings empfanden andere es durchaus als hinderlich, gleich ein ganzes Rudel als Konkurrenz um Zeit und Aufmerksamkeit in Schach halten zu müssen. Auch die Berufstätigkeit auf wechselnden Baustellen half nicht gerade, enge Verbindungen zu schließen. Handa beließ es deshalb häufig bei erotischen Intermezzi. Gleichwohl achtete er darauf, dass seine Anhänger auch familiären Anschluss fanden, so sie dies wünschten. Stabile Verhältnisse erleichterten einfach den Alltag. Seine eigenen Vorlieben nahmen sich simpel aus: Handa mochte Jungs (keine Kinder oder Jugendlichen!), die wussten, was sie wollten, selbstbewusst, offen, direkt. Er hatte auch nichts gegen Altersgenossen einzuwenden, doch von denen gingen wenige auf die Pirsch oder verfügten über die freche Chuzpe, ihn anzusprechen. Somit, betrachtete man die Umstände, fiel Momose ganz sicher nicht in sein "Beuteschema". Eigentlich. Wenn man sich nicht entsann, wie sexy die raue Stimme seine Ausstattung komplimentiert hatte. Das ließ ihn einfach nicht los. Jetzt, wo er dieses Elends ansichtig war, sprang auch sein "Quasi-Boss"-Gen in die Bresche, jedoch mit gebremsten Schaum. "'Betreuung von Uni-Absolventen'?" Zitierte er deshalb die lächerliche Werbung. "Wer wäre das?" Momose hantierte synchron an Mobiltelefon und Computer, bevor er entschuldigend um die eigene Achse auf dem wackligen Hocker rotierte. "Nun, ich. Fürchte ich." Antwortete er kläglich. "Aha? Was für einen Abschluss hast du gemacht?" Nun schrumpfte Momose noch stärker in den grässlichen Anzug. "Kulturgeschichte. Mein Schwerpunkt waren Kamishibai. Das sind die Papiertafel-Aufführungen." Seine Stimme verlor sich in kaum vernehmbare Lautstärke. Handa glitt an der Wand herunter in die die Hocke. "Das musst du mir näher erklären." Forderte er interessiert auf. "Ich habe von Kamishibai keine Ahnung." Momose beäugte ihn mit tief umschatteten Augen nervös. "Diese Kunst ist nicht mehr sehr verbreitet. Im Kern dreht es sich um einen wandernden Vortragskünstler, der zu einer Papiertafel Geschichten erzählt. Märchen, volkstümliche Legenden." Er räusperte sich, ermutigt, dass das Publikum noch keine Anzeichen von Langeweile enthüllte. "Der Erzähler verdiente seinen Unterhalt durch den Verkauf von Süßigkeiten während seiner Vorführungen. Dabei handelt es sich nicht um ein typisch japanisches Phänomen." Ein besorgter Blick. "In Europa beispielsweise zogen ebenfalls Fahrende über Land, auch mit Bildtafeln ausgerüstet. Sie berichteten von wahren Begebenheiten, meist schauerlichen Ursprungs, Moritaten." Zeigte sich schon Überdruss? "Ich habe mich mit dem Bilddarstellungen beschäftigt, den Erzählungen, aber auch den soziokulturellen Aspekten, der Bedeutung, die auch heute noch besteht, in anderen Formen." Handa schien nicht ungeduldig oder vor Langeweile narkotisiert. "Zum Beispiel Kinoplakate oder Cover von Tonträgern. Wie komponiert man ein Bild, das die Geschichte illustriert, die man erzählt? Welche Komponenten werden wie arrangiert?" Mutig fuhr Momose fort. "Welche psychologische Wirkung hat die Erzählung als solche auf das versammelte Publikum? Welche Wirkung auf ihre Gemeinschaft? Was fehlt uns, wenn wir im Vergleich dazu im Kinosaal sitzen?" Hörte Handa ihm tatsächlich aufmerksam zu?! "Ich habe mich auch bemüht, so viele unterschiedliche Papierbilder wie möglich ausfindig zu machen. Allerdings sind viele im Laufe der Zeit verloren gegangen." Momose setzte eifrig fort. "Es ist übrigens erstaunlich, dass ein Rahmen genutzt wird, um die Bühne zu bilden. In Europa habe ich Beispiele für eingerollte Stoffbilder und Banner gefunden, die sich so leichter transportieren ließen." Er nickte Handa vertraulich zu. "Dementsprechend hätte man wie bei Rollbildern eigentlich auch eine platzsparende Variante wählen können, nicht wahr? Andererseits braucht eine Vorführung eine Bühne, einen festen Rahmen." Er seufzte. "Verzeihung, ich rede zu viel und langweile Sie." Handa richtete sich auf, schnappte ein knochiges Kinn mit seiner mächtigen Rechten. "Das stimmt nicht. Was du bis jetzt berichtet hast, macht mich wirklich neugierig. Ich würde gern mehr erfahren, Momose. Allerdings verstehe ich nicht, warum du HIER arbeitest?!" Denn mit dieser Vorbildung hätte man wirklich eine andere Wahl der Beschäftigung erwartet. Verlegen fixierte Momose den Blick auf die spitzen Knie. "Eine andere Arbeit zu finden war nicht so einfach. Ich wurde hier gebraucht, also..." Kein erlösendes Klingeln ersparte ihm diese Verlegenheit. Handa überschlug im Geist Zeitspannen. "Wie alt bist du?" Momose bekrallte das Terror-Telefon unbehaglich. "Nun, 27." Was eine steile Falte in Handas Stirn grub, während er geistesabwesend seinen sorgsam gepflegten Vollbart kraulte. "Drei Jahre jünger als ich. Sag mal, hast du versucht, im Kulturbereich einen Job zu finden? Oder der Forschung?" Momose seufzte, in sich eingerollt, dass man sich um die Stabilität seines Rückgrats sorgen musste. "Tja, also, mein Abschluss ist nicht gerade prädestiniert für eine Erwerbstätigkeit." Er räusperte sich beklommen. "Hier wurde ich gebraucht, weil die Geschäfte nicht so gut liefen. Es mussten Mitarbeiter freigesetzt werden. Ich konnte doch nicht einfach..." Hilflos drehte und wendete er das Telefon in den feingliedrigen Händen. »Aha.« Dachte Handa grimmig, aber nicht überrascht. Er kannte diese Art von Verhältnissen: emotionale Ausbeutung, wenig subtiler Druck, Erpressung. Wieder lärmte das lästige Gerät, wieder reagierte Momose wie aufgezogen. Handa erhob sich, spähte über den wirren Schopf auf den Monitor, stippte in die wirre Putzwolle, die aus seinem Furoshiki herausquoll. "Sag mal, was ist mit deinen Haaren los? Sind die immer so krisselig?" Momose, der nicht mal weggezuckt war, was Handa überraschte, zog die mageren Schultern hoch. Im spiegelnden Bildschirm äugte er verlegen nach oben. "Früher, da habe ich sie abrasiert, ganz kurz. Vorher hat meine Mutter ein Glätteisen benutzt. Sie sind irgendwie anarchistisch." Handa lachte spontan heraus. "Anarchistisch?" "So hat das mein Grundschullehrer genannt. Bevor ich sie abrasiert habe." Momose rieb sich die Augen mit den Handrücken ohne das vermaledeite Telefon für eine Sekunde abzulegen. Die tiefen Schatten unter den Augenhöhlen konnte man selbst in der Reflexion des Bildschirms erkennen. "Ich bin leider zuletzt nicht mehr dazu kommen, sie zu scheren." Handa zupfte ungeniert sein Furoshiki ab, wuschelte durch die ungebärdige Mähne. Er vermutete eine leichte Naturkrause, die allerdings dringend gepflegt werden musste. Das entlockte ihm ein Grinsen. Anarchie auf dem Schädel war doch ein guter Anfang! "Wir sollten was essen gehen, danach die Matratze abhorchen." Schlug er vor. Momose verdrehte den Kopf, starrte ihn fassungslos an. "Aber das geht nicht! Ich muss arbeiten!" Ihn schien seine Reaktion selbst zu erschrecken. Deshalb brach er spornstreichs in Entschuldigungen aus. "Verzeihung, ich meine, es ist sehr nett von Ihnen, wirklich, aber..." Handa lehnte sich auf den wackligen Tisch über Momose, die gewaltigen Fäuste aufgestützt. Er warf einen imponierenden Schatten. "Momo-chan, wenn ich die Grafik da richtig deute, gehen kaum noch Anrufe ein, also gehen wir jetzt was essen. Die Wäsche möchte auch nach Hause." Unter ihm kauerte man bänglich. "Außerdem müssen wir uns noch darüber unterhalten, was du mir gestern Nacht im Waschraum offenbart hast." ~+~+~* Kapitel 12 Momose hätte gern heulen mögen, aber das funktionierte bei seinen stets entzündeten, trockenen Augen ohne chemische Hilfe längst nicht mehr. Was würde der Boss sagen, wenn er jetzt ginge?! Man würde ihn feuern, rausschmeißen. Er würde auf der Straße landen, unweigerlich verhungern. Mit 27 Jahren gab es da berühmte Leidensgenossen, aber erstens war er nicht berühmt, zweitens notgedrungen abstinent! Bevor er mit wackligen Beinen auf dem Trottoir zusammensacken konnte, legte sich eine gewaltige Pranke auf seinen Nacken, warm, angenehm, selbstsicher, souverän. Dabei apportierte Handa noch die beiden Furoshiki mit seiner Wäsche, kümmerte sich nicht um teils scheele Blicke wegen seiner Aufmachung in der Arbeiter-Kluft! Der hatte bestimmt vor gar nichts Angst! Andererseits, so, wie er das verstanden hatte, arbeitete Handa auf Baustellen. Einer, der was drauf hatte, was konnte, sich nie unterkriegen ließ, weil er über Fähigkeiten verfügte, die nie aus der Mode kamen, während er selbst IMMER "nicht auf der Höhe der Zeit" war. Unversehens fand Momose sich auch auf einen kleinen Hocker unter der Markise eines schlichten Nudelstands platziert. Handa arrangierte die imposante Gestalt manierlich, orderte selbstbewusst. "Willst du ein Bier?" Eilig schüttelte Momose den Kopf. "Ich vertrage keinen Alkohol. Mein Magen..." Noch so eine Schande. "Also, ein Bier und einen Tee. Oolong?" Momose nickte verlegen, starrte verwirrt auf seine leeren Hände. Sie zuckten leicht, wie von einem Phantomschmerz geplagt. "Entzug, hm?" Der Riese neben ihm lächelte bis in die kleinen Fältchen der Augenwinkel. "Das gibt sich. Auszeiten sind wichtig." Theoretisch pflichtete Momose ihm ja bei, bloß praktisch... "Wie schlimm ist es, diesen Job zu verlieren?" Keine philosophische Frage. Momose stierte ins Ungefähre. Er hatte nie auf andere Weise seinen Lebensunterhalt bestritten. Jetzt, wo er so alt war, längst aus der Gruppe der Absolventen rausgefallen, aus denen sich die Firmen die besten abfischten, da...! Er öffnete den Mund, weil eine Antwort erwartet wurde, doch entschlüpfte ihm keine Silbe. Eigentlich sollte ihn Panik erfüllen, richtig?! Er sollte hysterisch sein, aber es schien, als breite sich eine große, betäubende Leere in ihm aus. Was wäre noch übrig, wenn er nicht arbeitete? Die Nudeln mit Einlagen kamen. Handa stupste ihn sanft mit einem Ellenbogen an. "Iss erst mal was, Momo-chan. Gut, dass du nicht rauchst, da kannst du noch alles schmecken." Wieder ein Lächeln mit Augenwinkel-Fältchen-Dekoration. Ratlos ergriff Momose die Essstäbchen. Ein würziger Duft stieg in seine Nase, beschlug seine trockenen Augen. Bevor sein Magen LAUTSTARK Besitzansprüche anmelden konnte, pickte Momose Nudeln auf, schlürfte sie geschickt ein. Es tat so gut, dass sein Blick verschwamm. ~+~+~* Handa beäugte seinen Sitznachbarn unauffällig, während sie die Schüsseln leerten. Sich in die Lebensführung eines erwachsenen Mannes einzumischen, das war ganz schön unverschämt, arrogant und selbstherrlich. Trotzdem. Er hatte den Eindruck, dass Momose sich nicht selbst aus dieser Situation heraustraute, über die Jahre so eingespannt und eingeschüchtert worden war, dass er wie mit Scheuklappen und Tunnelblick agierte. Aber das war ja kein Leben mehr! Allein schon wegen der anarchistischen Haare fühlte sich Handa herausgefordert, Hilfestellung zu leisten! Neben ihm, den schlichten Teebecher mit beiden Händen umfassend, sammelte sich Momose, leckte sich über die Lippen, nervös. "Ich bitte um Verzeihung, für das, was ich gestern Nacht...es tut mir wirklich sehr leid!" Er neigte hastig den Oberkörper. Handa studierte die magere Gestalt. "Du weißt nicht mehr, was du gemacht hast, oder?" Eine Falle, durchaus. Sein Sitznachbar schrumpfte in sich zusammen. Handa leerte die Neige seines Biers. "Ist wohl schon öfter passiert, hm?" Die nächste Fallgrube ausgehoben. "Ich~ich entschuldige mich! Wenn ich übermüdet bin, dann..." Handa unterdrückte ein mitfühlendes Lächeln. Besoffen oder berauscht stellten die Leute verrückte Sachen an, das wusste man ja, aber in Zustand der Übermüdung aus sich herauszugehen? Bemerkenswert. Er zahlte, bevor Momose protestieren konnte, sammelte die Wäschepakete auf, rüstete sich für den Aufbruch. "Erzähl mir davon. Wann ist es das erste Mal passiert?" Unverschämt neugierig, aber Handa wusste auch, dass Momose nicht ausbiegen konnte. Zudem hatte er den Eindruck, dass es wichtig war, diese Details zu erfahren. Momose schlich wie ein Häufchen Elend neben ihm her, praktisch nur Galoschen und grässlicher Anzug, sah man von dem anarchistischen Schopf ab. "Also, ich bin nicht sonderlich klug, deshalb musste ich sehr viel lernen für die Aufnahmeprüfungen. Mein Vater meinte, es sei lächerlich." Momose rang mit sich. "Ich dachte, ich könnte es schaffen, an die Universität. Deshalb...und da habe ich wohl einen Mitschüler genötigt. Zu sexuellen Handlungen an mir." Er räusperte sich, klang jedoch immer noch erstickt, kaum hörbar. "Das hat ihn so traumatisiert, dass er es dem Klassenlehrer und seinen Eltern gesagt hat. Ich habe alle sehr beschämt." Handa zog die Stirn kraus. Bevor er sich ein finales Urteil bilden wollte, hakte er nach. "Ist das an der Uni auch passiert? Da musstest du bestimmt auch viel lernen und dazu noch in diesem Laden arbeiten." Momose winselte unwillkürlich, krallte die Fingernägel in den Anzugstoff. "Ich wollte das nicht, wirklich nicht! Es tat mir so leid! Ich habe ja versucht, niemandem zu nahe zu kommen, aber..." "Kommilitone? Oder Professor?" Momose hätte metaphorisch unter jede Türschwelle gepasst. "Beides." Er klang elend, winzig klein. Handa blieb stehen. Flanierende waren gerade nicht in Sicht, da sie eine kleine Stichstraße benutzten, doch das hätte ihn auch nicht gekümmert. Er streckte die Rechte aus. Momose, der auf Schrittweite Distanz vor ihm stand, blinzelte verängstigt zu ihm hoch. Da griff er einfach zu, schlang die mächtigen Arme um die magere Gestalt, zog sie an sich, hielt sie fest. Handa raunte durch die anarchistische Mähne in ein Ohr. "Du hast nichts falsch gemacht, Momo-chan. Du bist in Ordnung. GANZ sicher." ~+~+~* Die Würfel waren längst gefallen, weshalb Handa sich nicht weiter mit Bedenken oder Skrupeln aufhielt. Er lud sich selbstherrlich in das staubige, muffige Appartement ein, stellte die Wäschepakte auf dem Bett ab. "Du hast sicher ein paar Papierbögen, oder? Und einen Rahmen?" Momose, der ihn nach der Umarmung mit der Vorsicht eines Alienforschers beäugt hatte, zögerte, nickte schließlich. "Prima! Ich bin wirklich neugierig, wie sie aussehen." Eine eindeutige Aufforderung. Während Momose nun eilig in einem zerkratzten Reisekoffer kramte, öffnete Handa die Knoten der Furoshiki, räumte die Wäsche auf die Stange oder stapelte sie in einem Stoffkasten. Wirklich, man konnte sich in diesem Loch kaum drehen, ohne mit etwas zu kollidieren! Seine Furoshiki verstauend plumpste er ungeniert auf das schmale Bett, klopfte auffordernd neben sich, damit Momose Platz nahm. Der balancierte schüchtern einen hölzernen Rahmen auf den dünnen Oberschenkeln. Behutsam fächerte er Papierbögen auf. "Es gibt nicht mehr viele Originale." Erläuterte er leise. "Sie sind verloren gegangen." Handa betrachtete die sehr unterschiedlich im Stil gehaltenen Papierbögen. Die Farben fehlten an einigen Stellen, waren verblasst, das dicke Papier brüchig. "Das müssen interessante Geschichten sein, denn ich erkenne gar nichts wieder." Bekannte er. Momose, der neben ihm etwas in sich eingesunken war, schreckte hoch. "Ohne Erläuterungen ist es auch nicht so einfach!" Sprang er hastig Handa bei, der gar keine so schlechte Meinung von sich hatte, diese Offerte mit Amüsement goutierte. "Hast du auch eigene Papierbögen angefertigt? Für die Geschichten, für die du keine Originale mehr gefunden hast?" Handa bewies sein übliches Geschick beim Herauslocken von besonderen Heimlichkeiten. Das versetzte seine Kameraden immer wieder in Erstaunen, stellte für ihn jedoch bloß angewandte Logik dar. Verlegen die Schultern hochziehend starrte Momose betont auf seine fadenscheinigen Socken. "Sie sind nicht ausgereift, nur beispielhaft, also, für den Aufbau und die Komposition." "Die würde ich auch gern sehen. Da kannst du die Originale auch wieder sicher verstauen." Momose erhob sich tatsächlich, angelte eine verstärkte Mappe heran, schlug sie auf. Entgegen seiner Einschränkungen fand Handa die Bilder imponierend, im Stil sehr variantenreich. "Meine Güte!" Bemerkte er beeindruckt. "Das hast du alles selbst gemalt? Du kannst ja eine ganze Woche ohne Pause erzählen, bei so vielen Bildern!" Neben ihm lächelte Momose bescheiden-schüchtern. "Weißt du was?" Handa reichte die Mappe mit einer respektvollen Verneigung zurück. "Du erzählst mir eine kurze Geschichte, ja? Als Begleiter für süße Träume." Womit er auch unmissverständlich signalisierte, erneut das schmale Bett okkupieren zu wollen. Momose starrte ihn aus tiefliegenden, umschatteten Augen ungläubig an. "Ist ja höchste Zeit für unser Schönheitsschläfchen, richtig? Morgen ist auch noch ein Tag." Handa grinste bis in die Augenwinkel. Nein, er würde Momose nicht vom Haken lassen. Aber nicht, weil er ihm Übles wollte oder dessen Gutmütigkeit ausnutzen. ~+~+~* Handa konnte sich der Aufmerksamkeit immer sicher sein, ohne sie forcieren zu müssen, weil er eben, wie er selbst resümierte, sich äußerte, wenn er etwas zu sagen hatte, nicht bloß, weil die Kaumuskeln Training brauchten oder er keine Stille ertragen konnte. Während sie ihre Mittagspause zügig abwickelten, lauschte ihm seine Kolonne aufmerksam. Nein, Kamishibai war ihnen kein Begriff. Funktionierte das heutzutage überhaupt noch, mit ein paar gezeichneten Bildern etwas erzählen, in einer Welt voller Schriftzeichen, Manga und allgegenwärtigem digitalen Rauschen? Handa klopfte sich kraftvoll auf die Oberschenkel, federte elastisch hoch. "Ihr habt ihn noch nicht erlebt, Kameraden. Das ist ausgesprochen fesselnd, sag ich euch." Keiner erdreistete sich scherzhaft einzuwerfen, dass er wohl deshalb nicht den Weg in die Pension gefunden habe, schon wieder nicht. "Vielleicht kann ich ihn ja überreden, euch mal eine Kostprobe zu liefern." Handa rieb seine großen Hände energisch. "Jetzt aber wieder flott ans Werk. Kommt die Materiallieferung schneller durch, geht's auch früher in den Feierabend!" ~+~+~* "Großer Bruder! Da ist jemand für dich!" Handa blickte über seine schlichte Lesebrille hinweg auf den bulligen, jungen Mann, der sogar den Schutzhelm abgenommen hatte. Lässig tippte er sich auf das eigene Pendant. "Danke, Kamerad, aber Sicherheit geht vor. Du musst nicht so förmlich sein." Nicht mal die Architekten wurden derart höflich im Verhalten adressiert. Wenn auch nicht verbal, um sich nicht gleich unbeliebt zu machen! Wenigstens, das hielt Handa sich zugute, wurde er nicht mit "Boss" oder "Chef" gerufen, was vielen unerfindlicher Weise immer auf der Zunge zu liegen schien. Er siegelte rasch den Empfang der Materialscheine, steckte Namenssiegel und Brille ein. Auf dem Bürgersteig, vor der Baustelle, direkt neben dem Kollegen, der für die Ein- und Ausfahrt zuständig war, schlotterte Momose. die anarchistische Mähne in alle Himmelsrichtungen abstehend, in sich gekrümmt, als habe man ihn geprügelt. "Momo-chan?" Handa nickte seinem Kollegen zu, der diskret etwas beiseite trat, lupfte den Helm vom Schädel. Momose hob nicht mal den Kopf, die Hände in den Jackensaum gekrallt. "Was ist geschehen, hm? Hat der Stinkstiefel dich gefeuert?" Schloss Handa ungeniert aus der Absenz des ständig plärrenden Terrorinstruments. Das klägliche Winseln konnte er kaum hören. "Hast du schon all deine Sachen mitgenommen? Letztes Gehalt?" Der zartgliedrige Mann zitterte nun merklich. Handa topfte den eigenen Helm auf, legte einen muskulösen Arm um die schmächtigen Schultern. "Das ist kein Unglück. Komm, erst mal bekommst du einen Tee gegen den Schreck." Damit dirigierte er Momose zum winzigen Pförtnerkabäuschen, notierte Momoses Anwesenheit, wählte einen Besucherhelm aus. Im Container für die Mannschaft, Pausenraum und Umkleidekabine zugleich, klappte er einen Stuhl für Momose auf, lotste ihn darauf, schenkte Tee aus, bugsierte die Tasse in die eiskalten, verkrampften Hände des jüngeren Mannes. Natürlich sorgte die Anwesenheit eines Besuchers und Handas Engagement sofort für Interesse. Da die Tür des Containers offen stand, war Momose somit auch quasi zur Besichtigung freigegeben! "Ist er das? Der Erzähler? Oh, geht's ihm nicht gut? Gefeuert? Aha. Nicht tragisch." Handa legte Momose auch noch seine alte Jacke im Happi-Stil um die magere Gestalt. "Ruh dich erst mal aus, Momo-chan. Nachher besprechen wir alles. Kein Grund zur Sorge." Damit drückte er aufmunternd eine vollkommen verspannte Schulter sanft, widmete sich wieder seinen anstehenden Aufgaben. Nicht ohne zu registrieren, dass jeder Gang zur mobilen Toilette seine Kollegen zu einer Stippvisite in den Container verleitete, wo sie dem winzigen Häufchen Elend versicherten, es bestehe nicht der geringste Anlass zu Trübsal, weil Handa nämlich, also der, der bringe alles in Ordnung, immer, astrein, tadellos! Handa schmunzelte in seinen gepflegten Bart. Auf die Jungs war eben Verlass! ~+~+~* Leidlich oberflächlich gereinigt, jedoch noch in traditioneller Arbeitsbekleidung, Handtücher um die Nacken geschlungen, machten sie sich auf den Weg. Die Leute beäugten sie immer ein wenig nervös, eine Gruppe großgewachsener, kräftiger Männer. Dabei nahmen sie nicht ungebührlich mehr Raum ein als andere. Sie wirkten jedoch wie eine Einheit, mit den schlichten, offenen Stoffjacken, die Schriftzeichen ihrer Brigade aufgemalt, schon verblassend. Handa bevorzugte einfache Geschäfte, Nudelsuppenläden, traditionelle Bars und Lokalitäten für die Arbeiterschaft. Dort bekamen sie keinen Ärger mit der Betriebsleitung, weil man sie potentiell für bedrohlich hielt. Allerdings, das fand Handa noch immer frappierend, gerierten sich seine Kameraden nicht in betrunkenem Zustand als Randalierer oder Pöbler. Überhaupt, darauf achteten sie alle, insbesondere auf die Kollegen selbst, schlug keiner unter der Woche über die Stränge und sonst auch nur in Ausnahmefällen jenseits der Verpflichtungen, ohne Schäden zu verursachen. Vielleicht sang man mal zu laut, lachte etwas zu dröhnend, tanzte und klatschte ein wenig stärker, aber seine Kameraden waren gute Männer, anständige Menschen. Nicht wie die armen Anzugdrohnen, die ihr Elend in Alkohol einlegten, aus der Rolle fielen! In der Nähe der Baustelle gab es noch ein etwas armseligeres Geviert, nicht mit viel Glas und Beton in die Höhe modernisiert, effizient jedes Eckchen Grund ausgenutzt, durch und durch optimiert. Die kleine Nudelbar in dem zweigeschossigen Haus war viel zu klein, um mehr als fünf kleine Sitzplätze vor der Theke bieten zu können. Also machte man es sich auf umgedrehten Getränkekästen und kleinen Hockern bequem, balancierte Suppenschüsseln auf dem Schoß, genoss ein kühles Bier aus der Flasche. Momose kauerte neben Handa, der die Order übernommen hatte, Geld in das Lädchen rein reichte und Schüsseln nach außen. Nachdem alle versorgt waren, die Nachbarschaft nicht in Schockstarre ob der Invasion ihres Viertels verfiel, konnte er sich seinem Schützling widmen, dem er bisher keine Silbe hatte entlocken können. Armer Kerl! Schockzustand, vermutlich, doch Handa wäre nicht Handa, wie seine neugierigen Kameraden sich zunickten, wenn der nicht flugs eine Idee hätte! Die hatte Handa selbstredend auch, allerdings verlangte sie, dass er erst mal in aller Ruhe seine Schüssel leerte. Das Geschirr brav gestapelt nach innen reichend, eine zweite Flasche Bier neben sich auf dem Boden, zückte er seine Lesebrille, spürte wie eine elektrische Aufladung in der Atmosphäre die Spannung. Er entfaltete eine alte Zeitung, spitzte in Gemütsruhe den Zimmermanns-Bleistift an, malte, in großer Konzentration, quer zu den gedruckten Schriftzeichen, Strichmännchen auf. "So!" Stellte Handa schließlich entschieden fest, richtete sich auf. Er erhob sich, um eine Runde Sake (kleine Schälchen) und einen Fingerhut Pflaumenwein zu ordern. Den Pflaumenwein, eher einem Likör von der Konsistenz ähnelnd, nötigte er Momose auf, der beinahe mit dem Büßerhaupt gesenkt auf den Knien kauerte. "Momo-chan." Adressierte er ungeniert seinen Schützling, legte einen muskelbepackten Arm um die mageren Schultern. "Ich möchte, dass du uns erzählst, was sich zugetragen hat. So, wie du mir gestern von Tora-san berichtet hast. Die Bühne wartet schon." Damit deutete er auf seine sehr rudimentäre Zeichnung über dem Drucksatz der alten Zeitung. Waschbärblick mit olympischen Ringen. Handa kraulte durch den anarchistischen Schopf. "Bitte sei so freundlich, ja?" ~+~+~* Handa hielt sich keineswegs für einen psychologisch begabten Zeitgenossen. Er pflegte aufgrund seiner Lebenserfahrung eine gewisse Einsicht in seine Mitmenschen. Momose anzuhalten, ihm einfach zu schildern, was sich ereignet hatte, das schien angesichts der Schockstarre keine so vielversprechende Idee. Andererseits erinnerte sich an den Vortrag des Vorabends. Über eine schlichte Zeichnung gebeugt hatte Momose zu erzählen begonnen. Darauf setzte Handa auch jetzt, auf den Vortragskünstler, von dem er gestern eine Ahnung erhascht hatte. Natürlich, seine ungelenken Figuren und das Ensemble in der Konstellation auf der Zeitungsseite waren mehr als dürftig. Trotzdem. Immerhin ging es um ein sehr altes Motiv: einen schlichten, ganz normalen Mann, ohne Superkräfte, ohne besondere Fähigkeiten, ohne Reichtum. Der keine Drachenprinzessin freien wollte, die Welt erobern, gegen mächtige Gegner kämpfen, nein. Einer wie sie, immer von einem Tag auf den nächsten lebend, sich abrackernd, das kleine Glück im Blick, unvermutet von den dämonischen Widrigkeiten des Schicksals gebeutelt, hin und her getrieben, gehetzt, in einer ständigen Tretmühle, ausgenutzt von denen, die sich über ihn erhoben wähnten, mit Einfluss, Reichtum, Verbindungen, Ambitionen, Ehrgeiz, besessen, fanatisch, unerbittlich. Versatzstücke musste es in vielen Erzählungen, Märchen, Mythen, Legenden geben! Vielleicht nicht in denen, die man sich bei Hofe erzählt hatte, zum Gruseln, zur Erziehung der Kinder, aber wenn sie sich unterhielten, die umherwandernden, einfachen Arbeiter und Handwerker, die kleinen Leute. Handa hielt Momose trotz ihrer recht kurzen Bekanntschaft keineswegs für einen Dummkopf, für jemanden, der die eigene Lage nicht überblickte. Aber für einen Menschen, den man systematisch eingeschüchtert und kleingemacht hatte, dessen Gutmütigkeit, Verantwortungsgefühl und Nachsicht man ausnutzte, sie als Idiotie klassifizierte. Er wollte, dass Momose sich selbst in dieser Geschichte vorstellte, als Titelfigur. Kein klassischer Held, nein, bloß der Protagonist seiner eigenen Biographie, der festsaß, unter der Knute dämonischer Ansprüche (Plärr-Handy) gebeugt wurde, ungerechtfertigt von mitleidlosen Göttern ausgestoßen. Sich nun wiederfand, allein, verlassen, ohne Einkünfte, bald ohne Obdach! Handa beobachtete seine Kollegen, lächelte dezent in seinen gepflegten Vollbart. Ja, ihnen erging es wie ihm! Einigen stand sogar der Mund offen. Aufmerksam, ja, gebannt lauschten sie Momose, dem Vortragskünstler, der sich selbst in der Schilderung zu vergessen schien, aufgerichtet trotz schlotterndem Anzug und wirrer Mähne erzählte. Von diesem Mann, der wie sie war, niemand Besonderes, nun übel in der Klemme steckte, der Verzweiflung nahe. "Aber das ist doch nicht das Ende, oder?!" Platzte schließlich einer erschüttert heraus. Handa erhob sich, präsentierte seine imponierende Gestalt, tippte auf der Zeitungsseite auf eine Gruppe von Strichmännchen. "Aber nein! Jetzt kommt diese Stelle hier! Wo das Abenteuer eine ganz neue Wendung nimmt!" Damit grinste er breit in die Runde, tippte erst sich auf die mächtige Brust, danach in die Runde. "JETZT erinnert sich unser Mann, dass er nicht allein ist, dass er einen Weg finden wird. Wie Tora-san!" Damit nickte er Momose zu, der verdattert zu ihm aufblickte. "Na los, Momo-chan! Erzähl doch, wie Tora-san damals dem geizigen Reishändler ein Schnippchen schlug!" ~+~+~* "Aus wie ein Licht." Handa ließ sich Momose auf den Rücken heben, richtete sich mühelos auf. Klar, stete Übermüdung, zwei Fingerhüte voll Pflaumenwein, Nudelsuppe und ein sehr ereignisreicher Tag! Da wunderte es ihn keineswegs, dass Momose einfach neben ihm zusammengesunken war. "Großer Bruder, denkst du, es war ein Trick?" Handa lächelte, aber in der Art, die ein Messer zwischen den Zähnen erwarten ließ, den Kurzhaarschnitt am Hals ansetzte. "Das Feuern? Tja, es wird nicht funktionieren." Weil sie alle keine Absicht hatten, Momose zurück zu dem dubiosen "Geschäftsführer" gehen zu lassen. Selbst ohne Kamishibai war dessen mitreißende Darbietung eines der Abenteuer des legendären Tora-san besser als jedes andere Abendprogramm! Die Verwandlung des schmächtigen Mannes lockte selbst Vorübergehende in die Gasse. Die Leitung des Nudelsuppenladens hatte Handa gebeten, wenn möglich noch öfter...? Umsatz konnte nicht verachtet werden, für den Herrn Erzähler gebe es alles gratis! Momose verkörperte förmlich die unterschiedlichen Protagonisten seiner Schilderungen. Seine Leidenschaft, zu unterhalten, zu erinnern, einzubinden, zu fesseln, appellierte direkt an die Emotionen seines Auditoriums. Ja, vielleicht kannten sie den Ausgang schon, die Archetypen, die ihnen vorgestellt wurden. Möglicherweise betraf sie die Problematik nicht direkt, doch... Momose zielte auf ihr Herz. Wer unterzog sich heute schon der Mühe, einen in eine andere Welt mitzunehmen, die allein in der eigenen Phantasie entstand? Nahezu alles musste man selbst leisten, die schlichten Bilder abstrahieren, sich selbst einfühlen. Eine Verschwendung, dieses Talent und auch das kulturelle Hintergrundwissen einfach untergehen zu lassen in einem grauenvollen Ausbeuterjob, der Momose auch noch zum Komplizen machte, ihn moralisch degenerierte, vergiftete! Nein. Da konnte man nicht beiseite treten, sich höflich zurückhalten. Was Handa auch nicht beabsichtigte, wie seine Brigade wohlwollend prognostiziere. Zunächst mal jedoch musste der vollkommen erledigte Momose sich erholen, damit er selbst wieder in der Lage war, eigene Entscheidungen treffen zu können. Nicht gejagt werden von drohender Obdach- und Erwerbslosigkeit, dem jämmerlichen Hungertod mit 27 Jahren! Außerdem hatte Handa noch eine Rechnung offen. ~+~+~* Momose erwachte am späten Nachmittag, zunächst erschrocken darüber, dass er offenbar erblindet war, sein Gehör komplett verloren hatte! Bis hektisches Befreien aus der Bettdecke ihm verriet, dass seine tastenden Finger Hilfsmittel detektierten. Nachdem er eine improvisierte Schlafmaske entfernt und sehr gründlich verplombte Gehörgänge befreit hatte, fand er auch die Nachricht. [Momo-chan, geh etwas essen und dann in dieses Badehaus. Hasane um die Ecke wird Dir die Haare schneiden. Hol mich danach an der Baustelle ab. Vergiss aber Deine Mappen nicht! Bis später, Handa] Momose blinzelte hilflos. Er sollte sich ganz und gar schrecklich fühlen! Als Versager, Verräter, nutzloser Ballast, überflüssige Existenz! Zumindest waren ihm am Vortag diese Einschätzungen an den Kopf geworfen worden. Tatsächlich verspürte er einen nagenden Hunger. Schon wieder! Er rappelte sich auf, schüttelte die Decke ab. Nein, in Verzweiflung verfallen, das durfte er nicht! Handa wäre enttäuscht, all die Vorbereitungen umsonst, die ganze Mühe! Ausgeschlossen. Energisch straffte er seine magere, vernachlässigte Gestalt. Anziehen, Mappen packen, Zettel einstecken und dann aber los! ~+~+~* Handa lächelte Kringel in seinen gepflegten Vollbart, als er zum Pförtnerhäuschen schnürte. Einen Appell an die benötigte Unterstützung würde Momo-chan unmöglich ignorieren können! Wer sich trotz aller Vorbehalte und grässlicher Erfahrungen doch ein Studium mit Abschluss erkämpfte, war nicht so einfach bereit, aufzustecken. "Guten Tag, Herr Handa! Ich bin zu früh, nicht wahr? Ich störe, oder?" Tapfer, aber nervös. "Handa genügt, Momo-chan." Er streckte eine Pranke aus, kraulte durch die gestutzten, nun sehr gepflegten Wellen der Naturkrause, noch immer anarchistisch abstehend, aber sehr viel appetitlicher anzuschauen. Momose erstarrte förmlich, blinzelte fassungslos. Klar, dass er hier einfach gekrault wurde, so vertraut wie~wie...ja, wie denn? Handa grinste Fältchen in die Augenwinkel. "Ein prächtiger Schopf! Komm, nimm dir den Helm, warte im Container. Die anderen freuen sich schon auf eine neue Geschichte." Momose zögerte, sorgsam den Kinngurt applizierend. "Aber wollen sie nicht lieber... nun, eine Sportübertragung sehen? Oder...?" Sichtlich grübelte er mit Anstrengung über das mediale Angebot nach. Verständlich, da er wohl in den letzten Jahren nur an den Bildschirm gekettet auf das lärmende Gedengel des plärrenden Telefons reagiert hatte. "Nicht da, wo wir uns es gemütlich machen. Außerdem sehen wir Sport lieber direkt an, weißt du?" Ungezwungen legte Handa eine große Hand auf den zarten Nacken in dem schlabbrig hängenden Anzug. "Heben wir uns das für den Sonntag auf. Sag mal, hast du auch Geschichten für Kinder in petto?" Momose, solcherart in Gedanken beschäftigt, sein Repertoire zu durchforsten, konnte guten Gewissens im Container geparkt werden. Handa schmunzelte, als er diesen verließ, weil er hinter sich Momose auf einem Hockerchen wusste, der konzentriert durch seine geöffneten Mappen blätterte. ~+~+~* Die Schüssel Nudeln ging wieder aufs Haus, weil Momose mit seiner Erzählung erneut viele Gäste angelockt hatte. Nun schmiedete man Pläne, während Momose, auf seine schmächtige Gestalt geschrumpft, eingeschüchtert lauschte. Erst mal sei er ja quasi Künstler, richtig? Wolle er auf eigenen Füßen stehen oder lieber anfangs eine Agentur suchen? Welche Bescheinigungen und Erlaubnisse müsste man da wohl vorweisen können? Künstlername? Werbung? Vorstellung bei Schulen oder Kindergärten? Wie viel konnte man an Gage verlangen? Auf alle Fälle müsste ein passendes Kostüm her! Wie sah es mit der Überbrückung aus? Hatte Momose Ersparnisse? Ganz wichtig sei, nicht die Krankenversicherungsbeiträge schuldig zu bleiben! Wie mobil sei er? Lohne es sich, das winzige Appartement zu halten? Nervös schielte Momose zu Handa hoch, der gemütlich neben ihm aufragte, aufmerksam die Hinweise notierte, bis er die Lesebrille final verstaute. "Das sind alles wertvolle Gedanken." Bestätigte er aufmunternd, zwinkerte Momose zu. "Wir zwei sollten jetzt die Köpfe zusammenstecken, richtig?" Momose spannte sich automatisch an. Er wusste sich mittlerweile gar keinen Reim mehr zu machen. Warum setzte sich Handa mit seiner gesamten Brigade so für einen arbeitslosen Fremden ein? Dabei hatte er ihn sogar ganz ungeheuerlich belästigt! Auch wenn sich Momose noch immer nicht entsinnen konnte, was genau er gesagt oder gar getan hatte. "Gehen wir in den kleinen Park, beim Schrein, ja? Schöne Atmosphäre, schöne Gedanken!" Schmunzelte Handa, schraubte sich dynamisch hoch. Eilig rappelte sich auch Momose auf. "Ich bin mir nicht sicher." Murmelte er scheu, umklammerte seine Mappen wie Schutzschilde vor der Brust. "Das geht uns allen so, Momo-chan. Deshalb probiert man sich ja aus. Wir haben jede Menge Anregungen!" Klopfte Handa auf eine der zahlreichen Taschen an seinem Gürtel, wo sich der gefaltete Notizzettel befand. "...und wenn ich... wieder versage?" Handa legte ihm ganz selbstverständlich einen muskelbepackten Arm um die schmalen Schultern. "Du hast bisher bei gar nichts versagt, Momo-chan. Hast du nicht deinen Abschluss gemacht? Hast du nicht deinen Lebensunterhalt allein verdient? Hast du nicht zwei Abende hintereinander viele Leute sehr gut unterhalten?" Momose starrte einige Augenblicke überrumpelt geradeaus. Eine große Hand verstrubbelte seine nunmehr gepflegte, anarchistische Frisur. "Hab ich recht oder hab ich recht, mein Freund?" Mit sonorem Lachen zog Handa Aufmerksamkeit auf sich, so gut gelaunt, imposant gebaut und aufrecht ausschreitend, in seiner traditionellen Arbeiterkluft mit dem umgehängten Happi. "Zuversicht, Momo-chan. So gehen wir immer vor, weißt du? Aus vielen einzelnen Teilen ein großes Ganzes erstellen." Wieder landete sein kraftvoller Arm auf Momoses Schultern. Handa schnupperte frische Abendluft, fühlte sich sehr beschwingt, Momose ebenfalls diese Stimmung zu verordnen! ~+~+~* Nachdem sie am Schrein mit Klatschen und Ziehen am Glockenstrang die Götter auf sich aufmerksam gemacht hatten, ließen sie sich auf den Stufen nieder. Nicht allzu viel Besuch fanden sich zu dieser Stunde, sodass sie niemandem im Weg waren. Momose studierte den aufgefalteten Zettel. Nun trugen die einzelnen Gedanken Ziffern, bildeten eine chronologische Reihenfolge. Aus einem ihm gänzlich unvertrauten Grund verspürte er tatsächlich Zuversicht! Als sei er selbst der Protagonist einer der kurzweiligen Erzählungen aus dem Milieu der "kleinen, einfachen Leute". Handa präsidierte aufrecht und imposant neben ihm, ließ nicht locker, die traurigen Details in Erfahrung zu bringen. Ausschließlich wöchentliche Auszahlung des wechselnden Gehalts, ein winziges Sümmchen Erspartes, eigentlich den Eltern zugedacht. Doch nach diesem Vorfall in der Schule... Das teure, ungenutzte Einzimmerappartement und die Sorge, von einem auf den anderen Tag ohne Mittel und Obdach dazustehen. Weil man ja zu nichts taugte! Ein gewisser Ingrimm prägte nun Handas Miene. Einige Leute hatten gezielt Momoses Selbstbild derartig torpediert, um ihn gefügig zu machen, ausbeuten zu können. Das konnte er nicht verknusen, oh nein! "Ich möchte dich bitten, über einige Dinge nachzudenken, Momo-chan. Wenn du ab morgen selbständiger Künstler bist, wirst du mobil sein müssen. Es wäre dir besser mit einem Spind gedient, oder? Wir sind ja auch häufig unterwegs, suchen uns eine bescheidene Pension aus. Was diese Woche betrifft, ist mit Geld zu rechnen? Oder wird der Herr Geschäftsführer dich erneut in seine dubiose Unternehmung pressen? Es mag dir schwierig erscheinen, besonders am Anfang, aber wir wandernden Gesellen finden unseren Weg, ob wir nun auf dem Bau arbeiten, im Handel oder als Dienstleister. Wenn du einen Anker brauchst, einen Hafen, eine Heimat: auch das findet sich. Verliere nicht den Mut, lebe jeden Augenblick." Handa schloss seinen Appell mit einem gravitätischen Nicken ab. Momose an seiner Seite rang sichtlich mit sich. "Ob ich wohl...ich weiß, es ist reichlich unverschämt, wenn ich nun darum bitte...?" "Soll ich dir beim Eingewöhnen helfen, Momo-chan?" Kürzte Handa schmunzelnd den Eiertanz um eine in seinen Augen nicht existierende Zumutung ab. "Mach ich gern. Außerdem haben wir da ja noch was zu klären, womit es mir aber nicht eilt." Kam er einem bänglichen Blick zuvor. "Wenn ich unverschämt war, ganz ungebührlich...?" Momose flehte förmlich um Nachsicht, nicht der souveräne Vortragskünstler, sondern vollkommen eingeschüchtert und ängstlich. Mit einem breiten Lächeln im gepflegten Vollbart kraulte Handa selbstherrlich durch die anarchistische Mähne des jüngeren Mannes. "Ganz im Gegenteil. Ein sachlich korrektes Kompliment, würde ich sagen." Dabei zwinkerte er, stellte die Beine ein wenig breiter aus, um die Zielrichtung anzudeuten. Momoses blasse Wangen färbten sich nach einigen Sekunden merklich dunkler. Hastig senkte er den Blick, zog die Schultern hoch. "Oh, das tut mir so leid! Wirklich, es wird nicht mehr vorkommen! Ich..." Handa spürte ein zartes Genick unter seiner großen Hand, als er Momoses Kopf dirigierte, ihm genüsslich das Wort abschnitt, gleichzeitig die Luftzufuhr blockierte und nach einer spielfreudigen Zunge fahndete. Diese hier jedoch schreckte ebenso zurück wie der schmächtige Mann, was den Kuss rasch beendete. "Oh, nicht schon wieder! Was habe ich nur angestellt?!" Brach klägliche Verzweiflung aus Momose heraus. Er schlug sich mit den kleinen Fäusten an die Schädelseiten. Gegen seine gewohnte Gemütsruhe registrierte Handa eine profunde Verärgerung. Deshalb fing er recht diktatorisch die Fäuste ein, blickte streng. "He, Kamerad. Du sprichst mir doch wohl nicht das Urteilsvermögen ab, selbst zu entscheiden, wen ich küssen mag, oder?" Grollte er sonor aus tiefster Magengrube. Momose äugte ängstlich hoch. "Außerdem gefiel mir dein Kompliment. Ich mag ehrliche Komplimente. Und ich flirte sehr gern." Nun sackte Momose die Kinnlade herab. "Es ist eine feine Sache, wenn man sich zusammentut, Spaß hat. Außerdem sehe ich nicht, dass DU irgendwen verhexen kannst." Handa holte zur Beweisführung aus. "Du bist weder Dämon noch Gespenst, richtig? Keine Heimtücke oder Hinterlist mit vergifteten Getränken oder Speisen in Sicht. Besondere magische Artikel kann ich an dir auch nicht erkennen! Vielleicht das grässliche Muster des Anzugs gestern, möglich. Also, WIE GENAU willst du mich gegen meinen Willen zu etwas verleiten, was ich freiwillig höchst bereitwillig zu unternehmen gestimmt bin?" Momose starrte ihn aus noch immer umschatteten Waschbäraugen ungläubig an. "Na?" Hakte Handa unbarmherzig nach. "Ich kann dich nicht hören!" Bollerte er streng. Das brachte endlich wieder Bewegung in Momoses erstarrte Gestalt: er krümmte sich bange zusammen. "Momo-chan." Sanft lupfte Handa mit dem gebogenen Zeigefinger ein spitzes Kinn, zwang Blickkontakt auf. "Es ist keineswegs absonderlich, dich anziehend und begehrenswert zu finden. Wenn du nicht nahe dem Tod durch Überarbeitung bist." Schränkte er mit einem Augenzwinkern ein. "Hab davor keine Angst. Wenn du diese Gefühle empfindest, lass sie zu. Das ist in Ordnung. DU bist in Ordnung." Handa war sich bewusst, diese Empfehlung schon einmal ausgesprochen zu haben. Nach seinem Urteil konnte Momose sie nicht oft genug hören, um die Scharte auszuwetzen, die andere gekerbt hatten. Langsam füllten sich die großen, von Erschöpfung geprägten Augen mit Tränen, glasklare Perlen, wie bei einem Kind. Selbstherrlich zog Handa Momose an seine sehr breite Brust, ließ sich das alte Doppelripphemd salzig tränken, streichelte durch den wirren Schopf, der geradezu einlud, ihn zu raufen. Nein, Momo-chan entsprach gar nicht seinem Typ, kein kecker, selbstbewusster Bursche, der sich vergnügen wollte! Trotzdem. Unter diesem geschmacklosen, schlotternden Anzug steckte ein Kämpfer, ein leidenschaftlicher Mensch, wie nicht nur die Vorträge und Erzählungen belegten. Man musste lediglich ein wenig behilflich sein, die störende Pelle des Drohnen-Alltags abzuwerfen. ER war ein sehr hilfsbereiter Zeitgenosse! ~+~+~* Momose sortierte seine Habseligkeiten. Bis zum Ende des geleisteten Mietzinses gab es keinen Anlass, das Appartement zu räumen. Seine Panik hatte sich jedoch verflüchtigt. Er verfügte über eine ganze Liste mit Pensionen und bescheidenen Schlafplätzen, hatte schon ein sicheres Spind am Bahnhof ausgemacht, seine Besitztümer zu verstauen, die sich gar nicht mehr so groß ausnahmen. Natürlich, die Kamishibai, sein Handwerkszeug! Bücher und Textsammlungen, Notizen, Ergebnisse seiner Lern- und Forschungstätigkeit, Papier und Farben. Von der Brigade hatte er gelernt, wie man mit leichtem Gepäck reiste: eine Garnitur Besteck (Stäbchen, Löffel, Messer, Gabel), zwei Schalen, eine Thermoskanne mit Schraubdeckelbecher, Zahnbürste und Paste. Auf eigenes Shampoo, Seife oder Duschgel konnte man verzichten, wenn man aushäusig entsprechende Etablissements aufsuchte. Wäsche zum Wechseln, Schlafsack als Luxus, falls man nicht mit dem Angebot von Kapsel oder Pension zufrieden war. Von den grässlichen Anzügen und Hemden sollte er sich wohl besser bis auf ein erträgliches Modell trennen. Wichtig jedoch: Regenschutz und gute Arbeitsbekleidung! Yukata stellte eine Pension ebenso wie Handtücher, mussten also nicht apportiert werden, ausgenommen die kleinen Modelle für den Schweiß. Auch ein Taschentuch musste sein, um zu beweisen, dass man Klasse hatte. Eigenes Rasierzeug und ein ordentlicher Kamm, ein sicherer, wasserfester Beutel für Dokumente, das Namenssiegel und wichtige Unterlagen. Kopien und Duplikate im Spind aufbewahren nicht vergessen! Momose fühlte sich nach diesen Instruktionen und einer konzertierten Aktion gewappnet. Er hatte außerdem, etwas nervös, ein eigenes Telefon mit Vertrag beschafft, damit man ihn erreichen und buchen konnte. Zunächst musste Mund zu Mund-Propaganda reichen, doch er plante schon, Flugzettel zu drucken. Er erhob sich, strich stolz über sein "Kostüm", schlichtes, mattes Schwarz, eine gerade geschnittene, leichte Hose, ein Trikot und ein Happi darüber. In ähnlicher Aufmachung sah man auch andere Künstler, die Bewegungsspielraum benötigten, hinter ihrer Kunst zurücktraten. Um den Kopf ein Tuch geschlungen, das seine anarchistische Mähne aus dem Gesicht hielt, jedoch nicht gänzlich bändigte. Ja, der Anfang würde wohl nicht einfach werden, doch für das Überleben hatte er auch noch in einem Supermarkt angeheuert. So konnte er sich auch wieder an den direkten Kontakt mit Menschen gewöhnen. Außerdem bot sich kostenloses Studienmaterial für seine Erzählungen! Momose lächelte schüchtern. Handa und den Kollegen hatte sein jüngster Auftritt sehr gefallen. Sie lobten sein Kostüm und seine Fähigkeit, durch Worte allein einen mitreißenden Sog zu erzeugen, der sie bis zum letzten Punkt gefangen nahm. Da konnte man den Mut nicht verlieren! ~+~+~* Häufig lohnte es sich nicht, zurück in ihren Heimatort zu fahren. Wenn der Sonntag arbeitsfrei war, suchte man sich Unterhaltung, mal im Badehaus richtig die Seele baumeln lassen, gemeinsam tafeln, oder eben, bei schönem Wetter, einfach Publikum sein bei Amateurveranstaltungen. Baseball bot sich an. Handa lud Momose ein. Der würde mit ihnen nun die gleiche Pension nutzen, am Abend, sozusagen als Werbung, beim Schrein eine kleine Vorstellung geben. Die Erlaubnis kam ohne größere Einschränkungen, da über drei Ecken Verwandte von Momoses Vortrag vor der Nudelküche erfahren hatten. So ein Schrein musste ja unterhalten werden, deshalb war es förderlich, Anziehungspunkte zu bieten. Momose durfte dafür schlichte Flugblätter auslegen, die auf sein Angebot hinwiesen. So wollten alle profitieren. Im Moment goutierten die Männer der Brigade jedoch wohlwollend, dass Handas Schützling nicht mehr einem Zombie ähnelte. Noch immer überschlank und blass hielt Momose sich aufrechter, lächelte, kaute gerade brav eine Teigtasche, die schwarzen Augen funkelten begeistert. Tatsächlich staunte Momose über das Tageslicht, das emsige Treiben auf dem Spielfeld und die angenehme Atmosphäre. Kein schriller Ton hielt ihn beständig zur Arbeit an, kein Kunstlicht trocknete seine schmerzenden Augen aus, kein nagender Hunger plagte ihn! Er konnte nach eigenem Bedürfnis die Toilette aufsuchen, sich strecken und recken, ohne etwas zu beschädigen! Im Hinterkopf nagte durchaus ein wenig Schuldbewusstsein, sich hier zu amüsieren, nicht gefälligst zu arbeiten, produktiv zu sein, sich zu knechten. Momose erteilte diesem Anflug eine schnöde Absage. Hatte Handa nicht recht? Erzählte er selbst nicht in seinen Geschichten davon? Dass man das Leben auch leben musste?! Nicht bloß ackern und sich plagen, auf die vage Hoffnung hin, irgendwann werde sich schon ein erlösender Augenblick finden, und dann?! Handa neben ihm lachte ebenfalls vergnügt, feuerte beide Mannschaften an. Ja, man sollte die guten Augenblicke feiern, damit man die harten, traurigen besser überstand! ~+~+~* Kapitel 13 "Also, ich finde, wir müssen was unternehmen." "Genau! Bloß...was?" "Ich hab eine Idee. Erinnert ihr euch, die Geschichte mit den Nachrichten?" "Schon, doch darauf fällt ja niemand mehr rein!" "Abwarten! Wir müssen nur die richtige Ansprache finden! Also, wer ist dabei?!" ~+~+~* Handa seufzte, verstaute seine Lesebrille am Gürtel. Es waren sehr harte zwei Wochen gewesen. Der neue Architekt erwies sich als unsicherer Stinkstiefel, der jede Abweichung vom geplanten Ablauf durch unheilvollen Aktionismus konterte. Dabei machte er es aus Unerfahrenheit noch schlimmer, polterte gegenüber den Arbeitern, was ganz und gar nicht gut ankam. Handa als Polier und Vorarbeiter vermittelte, holte sich seinen Anteil an Kritik ab, unterdrückte tapfer den Wunsch, selbst mal laut zu werden. Er brauchte etwas Entspannung. Deshalb hatte er auch den Hinweis auf einen Rabatt im Vergnügungsviertel für eine neue Bar zur Kenntnis genommen. Allerdings, seine Männer verfolgten andere Pläne, sodass er sich allein amüsieren konnte, wie sie ihm grinsend versichert hatten. De facto die Aufforderung, sich eine Auszeit unter Gleichgesinnten zu gönnen. Für einen Moment zögerte er, tastete nach seinem Telefon. Sollte er Momose kontaktieren, einladen? Sie hatten sich in der letzten Zeit kaum gesehen, nur hin und wieder Nachrichten ausgetauscht. Offenkundig verzeichnete Momose als Vortragskünstler schon erste Erfolge, wurde gebucht, war ständig auf Achse. Künstler arbeiteten ja nun mal antizyklisch, also dann, wenn die anderen frei hatten! Außerdem... Handa zog die große Hand zurück. Außerdem wollte er nichts erzwingen. Momo-chan fing ja gerade erst wieder an, Mensch zu sein! Da musste man nicht noch zusätzlichen Druck ausüben, die schwierige Angelegenheit körperlichen Austausches hinzufügen. Nun denn! Er verstaute den Coupon, marschierte zum Container hinüber. Mit seiner Arbeiterkluft konnte er wohl kaum hoffen, im Vergnügungsviertel vorgelassen zu werden. Deshalb warf er seine imponierende Gestalt in eine leichte Stoffhose, einen dünnen Pullover und ein Leinen-Sakko. Handa kam sich zwar "verkleidet" bis kostümiert vor in dieser Aufmachung, aber mit etwas Glück würde er sie nicht lange tragen. ~+~+~* Momose blinzelte irritiert an der Fassade hoch, las erneut gründlich die einzelnen Leuchtzeichen pro Etage. Also, die Adresse und die Wegbeschreibung stimmten, doch eine Bar?! Das musste sich um einen Irrtum handeln! Sollte man sich wirklich in einer Bar treffen, um ein Engagement zu verhandeln? Oder hatte er sich in der Uhrzeit geirrt? Es gab ja Bars, die tagsüber ein Café oder ein Bistro waren. "Momo-chan?" Momose fuhr erschrocken herum, ließ beinahe die kleine Mappe fallen, in der er minimierte Kamishibai als Ansichtsexemplare transportierte. Handa marschierte heran, ein Fels in der Passanten-Brandung. "Was tust du hier?" Im Augenblick vor allem staunen, denn SO hatte Momose Handa noch nie gesehen! Der schließlich amüsiert in seinen eigens gestutzten Vollbart lächelte. Ja, er machte schon was her in diesem Zivil-Kostüm! "Triffst du hier einen Auftraggeber? Das ist aber ungewöhnlich." Bemerkte Handa, um den Bann zu lösen. Momose erwachte aus seiner Versunkenheit, seufzte. "Ich fürchte, ich habe etwas missverstanden, dabei scheint alles seine Richtigkeit zu haben." "Darf ich?" Die Lesebrille aus der Sakko-Tasche geangelt verglich Handa ahnungsvoll die Notizen und seinen Coupon. "Mir schwant da was." Konstatierte er grummelnd. Momose blickte ihn aufmerksam an, was ihm einen Seufzer entlockte. "Ich fürchte, wir sind ausgetrickst worden, zu einem Rendezvous." "Oh!" Bemerkenswerte Röte färbte Momoses nicht mehr ganz so spitze Züge. "Nun!" Stellte Handa einen Arm angewinkelt aus. "Ich habe hier einen Coupon für die Bar. Wollen wir?" Sehr scheu hakte Momose sich ein, selbstverständlich nur, um nicht im Gewühl von Handa weggespült zu werden! ~+~+~* Eingedenk des Leichtmatrosen an seiner Seite, was Alkoholika betraf, orderte Handa nur bescheiden, brach das Eis gewohnt selbstsicher mit interessierten Fragen nach Momoses Karriere, nach den Vorkommnissen der letzten Zeit. Das lockte den Erzähler hervor, weshalb ihm sehr lebendig und eindrucksvoll geschildert wurde, wie Momose auf eigenen Beinen zu stehen beabsichtigte. Ihm schien es jedenfalls sehr viel besser zu gehen als bei ihrer ersten Begegnung. Allerdings, das stand auch fest, den ganzen Abend konnten sie hier nicht verbringen. "Wohin als nächstes?" Erkundigte er sich, fischte Momose ab, der durch seine Mappe gehandicapt schon wieder mitgerissen zu werden drohte. "Ich weiß nicht. Entschuldigung, ich gehe nicht so viel aus." DAS konnte Handa sich ohne Zweifel denken. "Möchtest du etwas essen?" Momose zögerte. Handa beugte sich herunter, wisperte. "Oder möchtest du gern vernascht werden?" Ein unmissverständlich nervöser Blick traf ihn aus den großen, schwarzen Augen. "Ich weiß nicht... möchten Sie vielleicht...?" "Du. Wir sind per Du, Momo-chan. Wenn es nach mir geht....!" Handa konnte, wenn er wollte, ausgesprochen lüstern aus dem Vollbart gieren. Etwas verspätet dechiffrierte Momose die nonverbale Botschaft, schnappte nach Luft. "Oh." "Möchtest du mir Gesellschaft leisten?" Momose blickte hastig unter sich. "Ich weiß nicht... ob ich..." Handa richtete sich auf, legte einen muskelbepackten Arm um die schmalen Schultern. "Wir sollten rausfinden, ob wir etwas finden, das uns beiden gefällt." Darauf warten, dass der verschüchterte Momose IHN ohne völlige Erschöpfung anbaggerte, DAS verlangte Handa schlichtweg zu viel an Durchhaltevermögen ab! ~+~+~* Man konnte sich schon deprimieren lassen davon, dass Momose noch nie ein Love Hotel betreten hatte, um die Häuser gezogen war, mit Freunden ausgegangen. In schierer Angst jeden Anflug persönlicher Annäherung unterlassen hatte. Handa wollte gar nicht erfahren, wie die Angelegenheiten an der Schule und der Universität verlaufen waren. Musste ja der Gipfel der Romantik sein, irgendwo in einem staubigen Eckchen hastig zur Sache zu kommen! Wobei es mit der Sache auch so eine Sache war! Zunächst mal hatte er selbstherrlich verkündet, dass sie sich ein heißes Bad gönnen würden, also einschäumen, abbrausen, rein in die durchsichtige Wanne. Momose kniff ständig die Augen zu. Handa seufzte. "Sag mal, Momo-chan, hast du solche Angst vor mir?" Das wollte er nicht glauben müssen. "Entschuldigung. Ich möchte nur nicht.. es ist unhöflich..." "Mir auf meinen prächtigen Schwanz zu starren? Nein, keineswegs. Ich bin das gewöhnt, stört mich gar nicht." Erriet Handa aufs Geratewohl eine Erklärung. Die schwarzen Augen blinzelten verunsichert. "Aber es ist ungezogen und belästigend." Warf Momose mit dünnem Stimmchen ein. Man glaubte kaum, dass derselbe Mann mit Verve Ansprachen mutiger Helden deklamieren konnte! "ICH fühle mich geschmeichelt, wenn du mich ansiehst. Überall. Also, nur zu! Immerhin halte ich mich bei dir auch nicht zurück." Konterte Handa aufgeräumt. Auch wenn, das musste man zugeben, das kauernde Häufchen nicht seinem Appetit entsprach. Handa zog die Jungs vor, die sich breitbeinig niederließen, die Arme auf den Beckenrund gelegt, präsentierten, was verkostet werden konnte! "...bei mir nicht zurück...?" Ungläubig starrte Momose an sich selbst herab, löste dafür sogar die Umklammerung der dünnen Beine vor der schmächtigen Brust. Handa lächelte aufmunternd. "Ich bin eben ein echter Kerl. Das heißt laut Volksmund, dass ich besser sehe als denke. Gedacht wird ohnehin zwischen den Beinen." Momose blinzelte errötend. "Das wage ich zu bezweifeln." Murmelte er tollkühn. Nun kräuselte ein freches Grinsen Handas Vollbart. "Sag mal, Momo-chan, was gefällt dir? Was magst du beim Sex?" Ein weiteres Mal hängte sich Momoses Kinnlade aus. "Sex?!" "HmmHmm. Nur keine Scheu, ich bin diskret." Neckte Handa schmunzelnd. Momose zog die Beine schützend vor den Leib, umklammerte sie wieder, senkte die Stirn auf die spitzen Kniescheiben. Ein Bild des Jammers, wie Handa befand. "Magst du Küssen?" Die schmächtigen Schultern zuckten. "Auf den Mund?" "..." "Momo-chan?" "..." "Möchtest du es mal versuchen? Mit mir?" Wieder zuckten die Schultern. Sehr, sehr, sehr vorsichtig blinzelte Momose über seine Kniescheiben. "Soll ich die Augen zumachen?" Handa senkte die Lider, schob die Hände unter sein knackiges Hinterteil, bot sich defensiv und zurückgenommen an. Er wartete geduldig und angespannt, ob Momose sich ein Herz fassen würde. Zittrige Hände legten sich auf seine imposanten Schultern. Momose hauchte ihm sehr behutsam einen Kuss auf die Lippen, mehr als züchtig, wischte eilig zurück in sein Winkelchen der großen Badewanne. Handa öffnete die Augen. "Mochtest du es?" Ein sehr schüchternes Zwinkern. "Darf ich dich jetzt küssen?" Momose blinzelte nervös. Handa streckte einladend eine Hand aus. "Kommst du zu mir? Bitte?" Nicht nett, so an Momoses Gutmütigkeit zu appellieren, wohl wissend, dass der Ablehnungen kaum formulieren konnte. Schließlich entfaltete Momose seine magere Gestalt, richtete sich auf, tapste ängstlich auf Handa zu, der seine zitternden Hände in die eigenen, großen nahm, einlud, sich rittlings auf seine kräftigen Oberschenkel niederzulassen. Momose wirkte zum Erbarmen eingeschüchtert. "Hab keine Angst vor mir, Momo-chan. Lass uns gemeinsam herausfinden, ob wir gern küssen, hm?" Dabei hatte er schon einige Expertise aufzubieten, in der Tat! Allerdings schien es Handa, als sei Momose nur selten oder bisher gar nicht geküsst worden. Was für eine Verschwendung! ~+~+~* "Geht es wieder? Oder ist dir immer noch schwindlig?" Handa wechselte ein kühlendes Tuch auf Momoses Stirn. Dessen schwarze Augen blinzelten, bis sich der Blick endlich wieder klärte. "gleich...Entschuldigung..." "Nicht doch. Ich habe mich hinreißen lassen." Versicherte Handa lächelnd, beugte sich herunter, küsste Momoses Nasenspitze. "Ich bin nämlich richtig vernarrt ins Küssen!" Dabei zwinkerte er frech. Momose kicherte leise. In eine Yukata eingewickelt lag er ausgestreckt auf dem breiten Bett. Zu lange in sehr heißem Wasser, das forderte Tribut ein, selbst wenn man sich nicht mit wachsender Leidenschaft küsste. Handa inspizierte das Angebot an Getränken, entschied sich schließlich, Tee aufzubrühen. Alkohol schied aus, den so genannten Lifestyle-Getränken misstraute er aus Prinzip. Wenn man schon nicht verstand, was AUF der Packung als Inhalt angegeben wurde, war höchste Vorsicht angezeigt! Während die Teeblätter in ihren Beuteln zogen, nahm er neben Momose auf dem Bett Platz. "Was wollen wir noch herausfinden? Hast du eine Idee?" Kleinmütig aufgeben kam für Handa jedenfalls nicht in Frage. Prompt drehte Momose sich auf die Seite, zog die Beine vor den Leib. Handa streichelte durch die anarchistische Mähne, sanft, beruhigend. Die kleinen Fäuste ballten sich vor dem abgewandten Gesicht auf der Matratze. "Eigentlich mochte ich es nicht." "Küssen?" "Nein, ich meine... damals... die anderen... Sachen..." "Dann werden wir die nicht machen." Momose atmete tief durch. "Das geht nicht. Weil... sonst...!" "Sonst hätte ich nichts davon? Weil du es mir schuldig bist?" Half Handa leise aus. Momose ballte sich noch stärker zu einem kompakten Paket zusammen, was Handa aufforderte, sich hinter ihm auszustrecken, einen Arm um das Päckchen Elend zu legen, sich das Zusammenzucken nicht zu Herzen zu nehmen. "So jemand bin ich nicht, Momo-chan. Ich dachte, das wüsstest du." "...aber... ich muss doch... es ist doch notwendig...!" "Was, hm? Sich aus einer vermeintlichen Verpflichtung heraus erkenntlich zeigen? Das mag für Fremde gelten, nicht jedoch für Freunde." Hinter ihm piepte die Teeuhr. Handa löste sich, entstieg dem Bett, um den Tee auf zwei Becher zu verteilen. Als er sich umwandte, kniete Momose auf der Matratze, blickte ängstlich zu ihm auf. Handa lächelte ruhig herunter. "Trinken wir erst mal was, in Ordnung? Danach erzählst du mir, was ich für dich tun kann." ~+~+~* Momose würgte an einem Dilemma. Er wollte schon gefällig sein, aber ihm schnürte sich die Kehle zu. "Was hast du schon ausprobiert? Was soll ich nicht tun, ist das einfacher zu erklären?" Er umklammerte seinen Teebecher verkrampft. Allein schon der Gedanke an Handas Ausstattung...! Handa, der viel geduldiger war...aber wie lange noch?! Eine große Hand massierte seinen verspannten Nacken. "Ich sage dir, was ich nicht tun werde. Mein prachtvoller Schwanz wandert weder hier noch hier rein." Er tippte mit der freien Hand erst auf Momoses Lippen, mit der anderen Hand, auf dessen magere Kehrseite. Ungläubig wandte Momose den Kopf, starrte ihn an. "Was mir außerordentlich gefallen würde, wären deine Hände auf meiner ausgedehnten Peripherie. Allerdings werde ich nicht gern gekniffen, das sag ich gleich. Oder gebissen und angekaut!" Momoses Kinnlade sackte tiefer. Wer machte denn so was?! "Würde dir das umgekehrt gefallen? Dass ich dich anfasse? Ohne Kneifen? Kein Beißen?" Zögerlich nickte Momose. Handas große, warme, ein wenig schwielige Hände fühlten sich stets sehr angenehm an. "Tut mir leid." Wisperte er beschämt. Zweifelsohne war Handa richtige Partner gewöhnt, die auch die anderen Dinge versiert vornahmen! Ein Zeigefinger hob Momoses Kinn an, Fältchen prägten sich in Handas Augenwinkeln. "Momo-chan, wenn wir ein Andock-Programm durchziehen würden, würde ich dir weh tun. Das stand nie zur Debatte, verstehst du? Ich hab sehr viel mehr Erfahrung. Daher kenne ich meine Grenzen. Und meine Maße." Zwinkerte er frech. "Wollen wir? Falls du Lust haben solltest, könntest du mir den Kauz kraulen, ja? Fühlt sich irgendwie verspannt an." Momose schmunzelte schüchtern. "Das schaffe ich." Versicherte er entschlossen. "Sehr verbunden!" Schnurrte Handa guttural, streckte sich bäuchlings aus, erwartete den ersten Hautkontakt. ~+~+~* Handa erwachte, weil der Alarm sie erinnerte, dass sie noch eine Viertelstunde hatten, bevor sie das Zimmer räumen mussten. Eine sehr gute Investition, wie Handa befand. Er richtete sich behutsam auf, damit Momose ihm nicht entglitt, der tatsächlich noch immer in seinen Armen schlummerte. Nein, wirklich nicht sein Typ, so zerbrechlich, verunsichert, bange. Und doch tapfer. Hatte nicht aufgesteckt, oh nein! Mit Geduld sein Prachtstück gestreichelt, bis die Fanfare geschmettert wurde! Dass ihn jemand wie ein rohes Ei behandelte, erlebte Handa wirklich selten. Oder sich so sehr dabei verausgabte, ihn zu liebkosen, dass er darüber erschöpft einschlief. Handa entschied, dass er es vorzog, nicht zu wissen, was seine Vorgänger mit Momose angestellt hatten, zumindest nicht im Detail. Seine Vermutungen reichten schon aus, ihm die Laune zu vergällen. Er hob Momose an, bugsierte ihn ins offene Bad. "Oh? Bin ich zu spät?!" Verschreckt merkte Momose auf. Handa grinste unwillkürlich. "Guten Morgen, Momo-chan. Wir müssen uns flott frisch machen, dann dieses Zimmer verlassen." "Oh! Richtig! Sofort...!" Bevor er seinem überforderten Kreislauf auf die Fliesen folgen konnte, griff Handa geschmeidig zu. "Langsam, Kamerad. Tief durchschnaufen. Ich brause dich ab, in Ordnung?" Da konnte Momose auch in der Hocke bleiben. Eilig erfrischt, rasch angekleidet verließen sie das Love Hotel, traten auf die Straße. Noch war es sehr früh, doch sie mussten ja ihre Termine einhalten! "Gehen wir frühstücken. Ich hab einen Bärenhunger!" Verkündete Handa ungeniert, legte einen muskelbepackten Arm um Momoses Schultern, die Mappe apportierend. "Oh...ist das denn möglich? Kommen...kommst du nicht zu spät?" Handa zwinkerte herunter. "Momo-chan, wenn meine Kameraden uns dieses Rendezvous verordnet haben, werden sie damit rechnen, dass wir ordentlich Kalorien nachzulegen haben." Momose errötete prompt. "Außerdem will ich mich noch nicht von dir trennen. So, was möchtest du essen?" Es dauerte noch einige Meter Gehweg, bis Momose zu einer Antwort fähig war. Ihm wurden die Knie ganz weich und von den Zehen bis zu den Ohren alles heiß, was ihn ausmachte! ~+~+~* Handa konnte seiner Brigade nicht zürnen. Sie konnten ja nicht ahnen, dass er Momo-chan zwar ganz schnucklig fand, aber eben geradezu einschüchternd zerbrechlich. Nicht gerade die Version, die er bei seinen kurzweiligen Spielgefährten bevorzugte. Andererseits hatte er den Abend und die Nacht genossen. Das gab den nötigen Auftrieb, um sich wieder mit voller Kraft den Baustellen und "Nicht-Boss"-Aufgaben zu widmen. Wie vereinbart informierte ihn Momose aber regelmäßig über seine Termine, wann man sich mal treffen konnte, zum Frühstücken oder in einem Badehaus. Nicht viel Zeit, selbstredend, aber die Gelegenheit, den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Außerdem musste das zarte Pflänzchen des eigenen Selbstbewusstseins auch noch ein wenig gehegt werden! Womit Handa jedoch nicht rechnete, war ein Hilferuf. Eigentlich hatte er das Telefon nur hervorgekramt, um den Papierkram abzuschließen. So aber eilte er unverrichteter Dinge zum Container hinüber. "Könnt ihr Lord Helmchen mitteilen, dass ich im Büro später weitermache?" Seine Kameraden merkten überrascht auf. "Großer Bruder, was ist denn los?" "Momo-chan steckt in Schwierigkeiten!" Damit marschierte Handa auch schon im Laufschritt los. ~+~+~* Eine dieser Bars in einer der etwas vernachlässigten Einkaufsmeilen. Handa ballte die Fäuste. Er schob sich die steile Treppe hinunter, den Einlassverwalter im Livree schlicht an die Wand, eine Faust wie einen Schmiedehammer präsentierend. An der Bar, entouriert von drei Gestalten in hässlichen Anzügen, kauerte Momose. "Guten Tag!" Dröhnte Handa röhrend. "Wer ist hier der Geschäftsführer?" Man wandte sich ihm zu. "Was willst du denn, hä?!" "Neu renovieren." Ätzte Handa zurück, rückte wie eine Ein-Mann-Armee vor. Das musste dieser schmierige Makler sein, der Momose unbedingt zur Unterschrift bewegen wollte, als Künstler in seiner "Agentur". Klar, DIE Sorte kannte Handa, die moderne Form des Sklavenhandels, beliebt bei Idols und "Talenten". "Mach dich vom Acker." Putzig. Mit Springmesser und behangen wie ein Pfingstochse. Sollte das einen Gangsta darstellen? Handa bremste nicht mal, weil es immer Typen gab, die glaubten, sich mit ihm messen zu müssen, die besoffen Krawall stifteten. Er hatte schon ganz andere Kaliber als diese Möchtegerns am Hosenboden vor die Tür gesetzt. Deshalb drehte er sich geübt mit der schwingenden Attacke, packte die Hand mit dem Messer, drückte ordentlich zu, während er mit dem anderen Ellenbogen eine Magengrube kontaktierte, schwungvoll. Kotzend und röchelnd schied Kandidat 1 aus. Handa funkelte ungemütlich auf die zwei verbliebenen Anzugträger herunter. "Verpfeift euch. Und haltet euch von Momo-chan fern." Leider keine schnellen Schüler. Handa ahnte schon das Blitzen der Klinge, rammte den Arm gleich gegen die Bar, was ihr besser bekam als den betroffenen Knochen. Kandidat 3 schubste Momose in seine Richtung. Tänzerisch elegant wirbelte Handa herum. Der eilig herbei geangelte Baseballschläger streifte ihn lediglich. Auch der zweite Schwinger maß lediglich die Distanz ab. "Tsktsk, auch noch unsportlich!" Kommentierte Handa grimmig die Situation. "Beiseite!" Hörte er Momose in seinem Windschatten, wich überrascht tatsächlich zur Seite, während Momose zu allem entschlossen eine ganze Ladung Löschschaum auf den Schläger versprühte. Ganz und gar nicht angenehm, vor allem, wenn man nicht ausreichend lange die Luft anhalten konnte! "Sehr gute Lösung!" Lobte Handa, fischte den Baseballschläger ab. "Nimm deine Sachen, ja? Lass uns gehen." Vor Adrenalin noch bebend sammelte Momose eilig seine Mappen ein, kletterte die Stiege hinauf. Handa schloss die Tür, verkeilte sie mit dem Baseballschläger. Würde eine ganze Weile dauern, bis der kostümierte Pinguin sie wieder öffnen könnte, schätzte er. Wahrscheinlich musste der Rahmen gelöst werden. "Vielen, vielen Dank! Ich wusste mir nicht mehr zu helfen!" Verneigte sich Momose an der Erdoberfläche vor ihm. "Keine große Sache, Momo-chan. Hätte nicht gedacht, dass der Kerl so hartnäckig ist." anda legte wie gewohnt einen muskelbepackten Arm um Momoses Schultern. "Bist du auch nicht verletzt? Wirst du meinetwegen Ärger bekommen?" Besorgt schielte Momose zu ihm hoch. "Iwo." Lächelte Handa Kringeln in seinen Vollbart. "Allerdings muss ich noch Papierkram im Büro abarbeiten. Was meinst du, wollen wir danach gemeinsam was essen? Oder hast du noch einen Termin?" Momose seufzte leise. "Eigentlich wäre das ein längerer Termin gewesen. Warum war ich nur nicht misstrauischer?! Aber ich hatte schon Vorabendtermine in einem Kinderhort, deshalb..." Handa drückte behutsam eine Schulter. "Haben sie dich vor einer solchen Einrichtung abgefangen?" Nun hing Momoses Kopf noch tiefer. "Betrachten wir die Figuren jetzt als vorgewarnt. So schnell werden die sich nicht mehr trauen." Außerdem ein Weilchen an den Folgen ihrer Angriffslust laborieren, wenn er sich ein Urteil erlaubte. "Danke, Handa. Vielen Dank." "Schon recht. Also, verstehe ich das richtig? Heute Abend bist du frei?" Momose spitzte scheu zu ihm hoch. "Ich könnte etwas zu essen besorgen?" "Ach, ich will nicht auf der Baustelle futtern! Nein, Kamerad, heute gönnen wir uns was ohne Staubzulage!" Grinste Handa herunter, raufte Momoses anarchistischen Schopf. Außerdem hätten sie wahrscheinlich Gesellschaft. Seine gesamte Brigade marschierte ihnen gerade entgegen! ~+~+~* "Begleite mich. Gönn dir ein bisschen Landleben." Handa äugte über seine Lesebrille hinweg zu Momose, der gerade hungrig Nudeln schlürfte. Ein Feiertag bot sich an, viele Institutionen hatten geschlossen. Momose zögerte, mümmelte hastig Nudelenden hoch. "Du hast keine Vorstellung, richtig?" "Aber der Supermarkt..." "Bist du nicht schon mehrfach als Vertretung eingesprungen? Jetzt sind mal andere dran." Handa war nicht gewillt, einfach aufzustecken. Die gesamte Mannschaft fuhr in die Heimat. Er fand, dass Momose etwas weniger Stadtluft ganz gut zu Gesicht stünde. "Aber ich würde bestimmt Umstände..." "Wem? Mir?" Die Lesebrille verstaut baute Handa sich zu seiner imponierenden Gestalt auf. "Momo-chan, ich wohne allein. Meine Mutter lüftet hin und wieder mal, wenn ich zu lange weg bin. Es wird keine Umstände geben, in Ordnung? Wann hast du das letzte Mal Urlaub gehabt?" Darauf wusste Momose keine Antwort zu geben. "Also, wir sind uns einig. Du musst auch nicht mehr mitnehmen als sonst, versprochen." Trotzdem wrang Momose nervös mit den Händen. "Wird man denn nicht denken, dass...?" Handa warf ihm einen überraschten Blick zu. "Oh, DAS macht dir Sorgen? Nein, kein Gedanke! Spielgefährten habe ich nur auf Montage. Außerdem bist du ja nicht nur mein Freund, sondern von allen. Die haben bloß entweder Familie oder zu wenig Platz." Momose schrumpfte noch ein wenig. "Entschuldigung, dass ich so anmaßend war..." "Nicht doch! Betriebsblindheit auf meiner Seite. Alles gut!" Verkündete Handa aufgeräumt, zauste Momoses anarchistischen Schopf ungeniert. ~+~+~* Kapitel 14 "Wieso habt ihr ihm Sake gegeben? Ich sagte doch, dass er nichts verträgt!" "Aber mein Junge, wo er doch so schön erzählt hat!" "Ein Tee hätte es auch getan!" "Wirklich, ich muss mich wundern! Soll er uns für knauserig halten?!" "Außerdem ist er zu dünn. Dünne Männer taugen nichts." "Oma, er hat lediglich einen sehr schnellen Stoffwechsel!" "Haha, das sagen sie alle! Brüderchen, hat sich dein Geschmack so geändert?!" "Momo-chan ist ein Freund, klar?!" "Klar, aber wie viele deiner Freunde nennst du 'chan', hm?" "Das ist ja wohl unsere Sache." "Genau. Er ist ja auch ziemlich schnuckelig..." "Aber zu dünn! Dünne Männer.." "Mama, ich bin alt genug, jetzt könnt ihr es mir doch sagen: bin ich adoptiert?" "Frecher Bengel! Na los, bring deinen Freund ins Bett. Aus wie ein Licht, das arme Kerlchen..." ~+~+~* Handa betrat sein kleines, eingeschossiges Häuschen seufzend, Momose mühelos auf dem Buckel apportierend. Dass der k.o. gegangen war, wunderte ihn kein bisschen. Zunächst mal hatte Momose entgegen ihrer Absprache im Supermarkt konsekutive Schichten übernommen, gerade mal drei Stunden geschlafen, bevor sie am Abend aufgebrochen waren. Da musste er natürlich seine Kunst präsentieren, das gesamte (sehr übersichtliche) Dorf war auf den Beinen. Immerhin kamen die Auswärtigen zurück, boten auch noch Unterhaltung! Und jetzt Sake! Ausgerechnet! Behutsam ließ er Momose auf sein großes Bett sinken. Der stöhnte leise, hielt sich den Kopf. "He, Kamerad. Was ist, hm?" Handa nahm Platz, kraulte behutsam die anarchistische Mähne. "Uhhh!" Winselte Momose, umklammerte Handas Hand. "Brauchst du eine Kopfschmerztablette? Wasser?" "...Wasser...bitte..." "Bekommst du." Sanft löste Handa seine Hand aus, erhob sich, holte ein Glas Wasser. Sehr vorsichtig lupfte er Momose, lehnte ihn an sich. "Ein Schluck nach dem anderen." Wies er Momose an, half beim Ansetzen des Glases. "Entschuldige meine Familie, Momo-chan. Die haben es bloß gut gemeint. Leider!" Momose sackte matt gegen ihn. "...schwindlig..." "Ich lege dich wieder flach ab, ja?" Weil er schon bei der Sache war, pellte er Momose auch aus seinen Kleidern, deckte ihn zu, bevor er die erste Runde durch sein kleines Heim auf Zehenspitzen drehte. ~+~+~* Momose blinzelte verwirrt. Natürlich war ihm Handas Gesicht vertraut, auch dessen imposante Gestalt. Aber...oh! Sie mussten sich wohl in dessen Heim auf dem Land befinden, richtig? So ganz konnte er seine Erinnerungen nicht sortieren. Irgendwann musste der Faden gerissen sein... Was ihm akut nicht half. Er musste eilig eine Toilette finden! Sehr zaghaft entzog er sich einer losen Umarmung, streifte die Decke ab, winselte lautlos. Konnte er es wagen, hier ohne Feigenblatt herumzuhuschen? Seine Schamhaftigkeit zog den Kürzeren, die Blase drängelte. Eilig wieselte Momose zur Schiebetür, beäugte den vorgelagerten Wohnraum mit Küchenzeile, wischte blank und bloß durch, wählte die erste Schiebetür neben dem Eingang. Glücklicherweise markiert durch überdimensionale Latschen! Hinein schlüpfend rettete Momose seine persönliche Welt und Würde, atmete erleichtert auf. So weit, so gut. Scheu spitzte er hinaus. Weiterhin keine Bewegung! Also brav aus den gewaltigen Latschen und die nächste Schiebetür erprobt. Das Badezimmer! Eine Katzenwäsche war mindestens fällig! Als er sich umsah, entdeckte er einen Teil seiner Habseligkeiten und ein gastfreundlich eigens herausgelegtes Handtuch. Also hatte Handa gestern Abend noch die Regie übernommen, während er seinen Rausch ausgeschlafen hatte?! Wie peinlich! Ob er auch noch etwas angestellt hatte?! Momose grübelte angestrengt, während er sich den unangenehmen Nachgeschmack von der Zunge schrubbte. Die Flüssignahrung war aber auch zu lecker gewesen! Süß und süffig und geschmeidig...! Herrje! Dass er es aber auch NIE lernte! Einen vergeblichen Versuch später, seine anarchistische Mähne zu bändigen, riskierte Momose den Ausfall. Rasch durch den Wohnraum und zügig ins Schlafzimmer! Wo Handa gemütlich präsidierte, ihn angrinste. "Guten Morgen. Was für ein Panorama!" Momose erstarrte, lief dunkelrot an, ging reflexartig in die Hocke. Handa lachte, klopfte auf die Matratze. "Komm, es ist zu frisch." Dass ein strafender Blick keinen Erfolg zeitigen würde, war Momose allzu bewusst, also beließ er es bei einem indignierten Schnauben, huschte eilig unter die gelupfte Decke. "Wie geht es dir? Alles in Ordnung?" Handa inspizierte ihn eingehend, gemütlich auf die Seite gerollt, den Kopf aufgestützt, was Momose Arges befürchten ließ. "Oh nein, habe ich etwas angestellt?! Das tut mir so leid! Ich wollte dich nicht blamieren!" "Pscht!" Kürzte Handa schmunzelnd die Panikattacke ab. "Du bist einfach vollkommen erledigt und selig eingeschlafen. Aber bei dem Sake weiß man nie, wie lange das vorhält." Vor Erleichterung ächzend ließ sich Momose auf die Matratze sinken. "Oh, Gott sei Dank! Ich dachte schon..." "Dass du mich ganz unzüchtig angemacht hättest?" Handa griente breit in seinen Vollbart. Momose errötete erneut heftig, wandte ihm eilig den Rücken zu. "Selbst wenn das passiert wäre oder passieren würde, Momo-chan, ich nehme es als Kompliment, weißt du doch!" Versicherte Handa gut gelaunt, setzte sich auf. "Jetzt, wo wir beide wach sind, schlage ich ein Frühstück vor. Wir sollten uns auch anziehen. Ich kann nämlich nicht ausschließen, dass meine Familie hier einmarschiert oder die Nachbarn. Die lieben Unterhaltung. Da hier der Empfang nicht so doll ist, sorgen sie selbst dafür." Erschrocken zupfte Momose die Decke bis zur Nasenspitze. Handa beugte sich über ihn, lächelte. "He, ich bin froh, dass du hier bist. Streck dich noch ein bisschen, ja? Ich sage Bescheid, wenn das Frühstück fertig ist." Damit verließ er pudelnackig und selbstbewusst das Schlafzimmer. Momose seufzte, rollte sich auf den Rücken. Er war sich nicht sicher, ob er froh sein sollte. ~+~+~* Nach dem Frühstück entschied Handa, seine Heimat ein wenig vorzustellen, auch wenn es regnete. Wofür gab es schließlich Gummistiefel und Capes? Tatsächlich bot die kleine Siedlung an einem Hang nicht besonders viel Bemerkenswertes. Ein wenig Landwirtschaft, Forst, Fischteiche, hauptsächlich aber Hügel, Täler und Serpentinen. Momose an der Hand geführt, weil dem die geliehenen Gummistiefel ein wenig zu groß waren, erklomm er ein Plateau, erklärte ihm die Aussicht, die sich oberhalb der Dunst- und Regenwolken bot. "Natürlich ist hier nur so viel los, wie wir selbst einbringen. Wenn man neue Leute kennenlernen will oder seinen Lebensunterhalt verdienen, muss man raus. Aber man kann wiederkommen. Meine Kameraden wohnen im Umkreis. Die Luft ist angenehm. Wir haben den Wald, die Berge, das Wasser. Auch wenn es merkwürdig ist, ich bin gern hier." Momose beäugte aufmerksam das Panorama. Man musste gut zu Fuß sein (und mit einer Bergziege verwandt), um hier zurechtzukommen. Trotzdem erschien ihm die Luft tatsächlich weicher, angenehmer, etwas anderes als der Beton- und Leuchtreklame-Dschungel, an den er sich gewöhnt hatte. Handa schnupperte unterdessen, prüfte die Windrichtung, wandte sich unternehmungslustig nach Momose um. "Oh, wir haben Glück! Komm, das muss ich dir zeigen!" Erneut an der Hand apportiert blieb Momose keine Wahl. Zwischen Laub- und wenigen Nadelbäumen ging es quer über einen Bergrücken. "Hörst du das?" Handa grinste vorfreudig in seinen gepflegten Vollbart. "Eine Quelle?" "So ähnlich!" Nicht wenige Augenblicke später stand Momose am Rand eines kleinen Kraters. Es dampfte und blubberte, eine Ahnung von Schwefel in der Luft. Handa strippte bereits ungeniert am Rand, beschwerte seine Kleider gegen die Windböen mit losen Steinen. "Das ist gefährlich." Mahnte Momose unbehaglich. "Kein bisschen! Das haben wir schon als Kinder gemacht. Man muss nur die richtige Windrichtung abwarten. Und natürlich hoffen, dass genug Wasser vorhanden ist." Handa wandte sich ihm zu. "Komm, Momo-chan, keine Angst. Es weht richtig schön, die Temperatur ist gerade richtig!" Momose zauderte noch einige Wimpernschläge länger, streifte sich ebenfalls eilig die Kleider ab, brachte Steine zum Einsatz und ließ sich über den Rand des Beckens helfen. "Und? Schön warm, oder? Richtig gemütlich!" Strahlte Handa. "Schon. Aber wir sollten nicht zu lange bleiben. Es könnten auch andere auf die Idee kommen." Eine Eingebung, die ihn unwillkürlich erschaudern ließ. "Kein Problem. Alles Natur! Da darf man ruhig hingucken!" Prahlte Handa frech, zwinkerte. Momose winselte, hielt sich demonstrativ die Augen zu. ~+~+~* "Nanu, dir fallen ja gleich die Augen zu? So ermüdet vom Essen?" Handa stützte Momose ab, der an seiner Seite lehnte. "Entschuldigung!" "Na, kein Wunder. Der ist ja zu dünn. Ich sag es euch, dünne Männer...!" "Schon gut, Oma. Wir haben einen sehr langen Spaziergang gemacht, das ist alles." "Stadt-Männer. Keine Kondition. Sieh dich vor, Junge!" "Ja, mache ich ständig. Komm, Momo-chan, ruh dich bei mir ein wenig aus." "Aber komm wieder, klar?! Drück dich nicht vorm Abspülen!" "Mama, kannst du sie nicht zu ihrem Mann schicken?" "Der ist nicht da!" "Eben!" "Hört auf, ihr beiden! Was soll dein Gast denn denken?!" "Der schläft doch. Außerdem ist er ja kein Gast, sondern der Boyfriend!" "Red kein Blech, Strohwitwe!" "Männer! Dünne Männer...!" ~+~+~* Handa atmete tief durch. Hin und wieder war ihm das Landleben, vor allem in Hinsicht auf seine Familie, doch zu anstrengend. Aber die Aufgekratztheit lag eben auch darin begründet, dass sie lange Perioden abwesend waren. Momose blinzelte erschöpft. Das heiße Bad, der lange Marsch, ein sehr üppiges Essen: sein Kreislauf konnte nicht alles auf einmal kompensieren. "Hol dir deine Mütze voll Schlaf, hm? Heute Abend wird es vermutlich noch mal rummelig." Handa legte ihm die Stirn frei, küsste sie neckend. Unerwartet lupfte Momose eine Hand, fasste seinen Nacken, erwiderte den Kuss, allerdings auf die Lippen. Er sackte spannungslos auf die Matratze. ~+~+~* "Die gesunde Landluft." "Genau." "Akklimatisierung. Braucht Zeit." Handa balancierte Momose vorsichtig aus. Sie saßen im Bus, am frühen Morgen nach einer kurzen Nacht. Am Vorabend ging es rüber ins Nachbardorf. Dort feierte man zusammen, Momose erzählte, man sang und tanzte und tafelte. Nun schlief der jüngere Mann erneut an seiner Seite. "Schade." "Ja." Handa blickte irritiert. Man räusperte sich verlegen. "Na, ihr wärt schon ein schönes Paar." "Aber...!" "Eben. Deshalb schade." ~+~+~* Handa massierte sich die Schläfen. Er brauchte mal wieder Sex, eine körperliche Abwechslung zur Arbeit, eine Auszeit vom Verstand. Wie lange war es eigentlich her, dass...ach du Schande! Klar, sie hatten ranklotzen müssen, so richtig! Lieferverzögerungen, Materialmängel, so viel war zum anderen gekommen. Er hatte seine Brigade verlässlich bei Laune gehalten, vermittelt, Anrufe oder Besuche zu Hause organisiert, damit die Moral hielt. Selbst Momose hatte er vernachlässigt, kaum Zeit gefunden, sich mal wieder wie früher zu treffen. Jetzt fühlte er sich einfach ausgepumpt, seelisch zumindest. Also umziehen, ohnehin der Letzte auf der Baustelle. Aber die Jungs hatten sich ihren Feierabend mehr als verdient! Wohin nun? Vergnügungsviertel, ja, keine Frage. Eine der Bars, wo man Kontakte anbahnen konnte... Handa schob sich langsam durch die Menge der Unternehmungslustigen, zumeist Männer. Koberer für die Läden, sehr attraktive (und für ihn definitiv zu teure) Gesellschafter, Dragqueens auf dem Weg zu ihren Auftritten. Handa beschleunigte. Er kannte diese anarchistische Mähne! "Was tust du hier?!" Wachsbleich vor Schreck starrte Momose zu ihm hoch, nicht in einem lächerlichen Anzug oder seinem Kostüm als Vortragskünstler, sondern ganz schlicht mit Jeans, Rollkragenpullover und einem leichten Anorak. "He, kein Streit, Kumpel! Gibt doch jede Menge hübscher Jungs hier!" Handa loderte mit feurigem Blick den ihm keineswegs nachstehenden Mann ins Gesicht. "Das ist MEIN Freund, klar?! Such dir wen anders!" "Is das so?" "He, wenn ihr zwei hier streitet, ruf ich die Bullen, klar? Zieht weiter, ihr haltet den Verkehr auf!" Schnarrte eine recht martialisch aussehende "Mama" grimmig, deren Ladenlokal sie gerade blockierten. "Komm, Momo-chan!" Selbstherrlich kaperte Handa eine kleine Hand, pflügte durch die Menge. Wie konnte der sich hier herumtreiben?! Da traf man auf die schrägsten Figuren! "Nicht so schnell, bitte! Meine Schuhe!" Plädierte Momose kläglich. Tatsächlich reduzierte Handa die Geschwindigkeit, begriff, dass er sich gerade absolut unmöglich verhalten hatte. Es jetzt NOCH SCHLIMMER machen würde, indem er ein vollautomatisiertes Love Hotel betrat. ~+~+~* Momose kauerte auf der Bettkante, wrang nervös die Hände. Handa atmete tief durch, registrierte den Kitsch-Albtraum, den er ausgewählt hatte. Bonbonfarbene Penisse überall! Klar, Themenzimmer, so lautete wohl die Werbung. Prost Mahlzeit! "Es tut mir leid. Ich hab mich wie ein Arsch aufgeführt." Eröffnete er die Ouvertüre zu einer fälligen Aussprache. "Sie haben es dir nicht gesagt?" Handa stutzte, ließ sich neben Momose auf die Matratze plumpsen, geschmackvoll mit einer Tagesdecke dekoriert, im Motiv des Zimmers. "Wer soll mir was gesagt haben?" "...oh." "Kein 'oh', bitte! Ich hab einen Triebstau, bin geistig völlig auf den Hund gekommen und gerade durch den Wind! Also, bitte, BITTE, Momo-chan, Klartext! Hab Mitleid mit einem alten Mann." "Bloß drei Jahre." "Das sind bei mir gerade Hundejahre. Mindestens!" Momose lächelte, verschränkte die Finger ineinander. "Die Brigade." Wisperte er. "Sie wissen, dass ich dich liebe." Momose seufzte traurig. "Ich wollte üben, nur für den Fall, dass... aber ich konnte nicht. Ich bin zu feige!" Handa wandte sich herum. "Du bist in das Viertel gegangen, weil du trainieren wolltest?! Verdammt, es ist nicht nötig, meinen Schwanz zu hofieren, klar?!" Aufgebracht sprang er auf die Beine, baute sich über Momose auf. "Ich hab dir gesagt, dass es okay ist, oder?! Du musst ihn nicht wegstecken können!" Den Kopf in den Nacken werfend funkelte Momose hoch, tränenblind. "Aber das ist es, was dir gefällt! Ich will dir nun mal gefallen! Also muss ich doch...irgendwie muss ich...!" Handa zerrte Momose energisch hoch, zog ihn an seine breite Brust, hielt ihn fest umschlungen. "Nicht so. Auf keinen Fall SO, hörst du? Sonst kommt wieder so ein Drecksack und...!" Und nutzte die Verzweiflung aus, die Momo-chan ausstrahlte. "Außerdem haben wir doch was vereinbart; dass wir gemeinsam rausfinden, was dir gefällt." Momose schnappte hastig nach Luft, denn Handa hielt ihn erstickend eng. "Das hat keinen Sinn, wenn es DIR nicht gefällt!" Kämpfte er verzweifelt auf verlorenem Posten. "Mir hat gefallen, was wir getan haben." Stellte Handa richtig, atmete tief durch, gab Momose überraschend frei. Er ließ sich rücklings auf die Matratze fallen. "Ich kann nicht nachdenken! Ehrlich, Momo-chan, die Sache ist kompliziert, aber im Moment kriege ich nichts auf die Reihe!" "Dann helfe ich dir." Entschied Momose, wischte sich mit den Handrücken über die Augen. Ein Triebstau verhinderte also klare Sicht?! Dem konnte abgeholfen werden! Wenn auch nur manuell, zu seinem Leidwesen. Handa wehrte ihn nicht ab, ließ sich die Hosen herabziehen, seine prächtige "Visitenkarte" engagiert massieren. Er kam mit einem erleichterten Aufstöhnen. Momoses Gesicht schwebte prüfend über ihm. "Ist es schon besser? Ich könnte vielleicht mit dem Mund..." Bevor diese zaghafte Offerte umgesetzt werden konnte, fing Handa den jüngeren Mann ein, hielt ihn fest auf sich gepresst. "Momo-chan, du bringst mich noch um! Ich will nicht, dass du etwas tust, was dir zuwider ist." "Es ist mir nicht zuwider. Ich schaff es bloß nicht, weil du einfach gigantisch bestückt bist." Wisperte Momose hochrot an seinem Hals. Handa kraulte ihm mit einer Hand über die anarchistische Mähne. "Es stimmt, dass ich gewisse Sex-Praktiken mag. Dass ich mir den Typus Mann suche, der genau dasselbe genießt. Aber das ist bloß Sex, Momo-chan. Das ist nichts, was bleibt." Momose grub die Fingernägel in den Stoff seines leichten Pullovers. "Ich möchte bleiben. Was soll ich tun? Bitte, ich werde es versuchen! Irgendwie wird es schon gehen!" "Was denn, während du vor Schmerzen heulst? Nein, keine Chance." Knurrte Handa kategorisch, seufzte. "Du kennst mich doch, Momo-chan. Ständig unterwegs, die Kameraden gehen vor. Das ist doch nicht, was du suchst!" Momose entwand sich energisch seiner Umarmung, setzte sich auf. "Ich bin nicht dumm, Handa. Ich weiß, wie dein Alltag aussieht und was dir wichtig ist. Trotzdem. Ich liebe dich. Ich will nicht aufgeben! Es muss eine Lösung existieren!" Wieder perlten ihm Tränen übers Gesicht, aber er ließ sie laufen. Handa stemmte sich auf die Ellen, setzte sich auf, die Hosen gänzlich abgestreift, entledigte sich auch seiner restlichen Bekleidung. "Ich werde nicht zulassen, dass du dir weh tust, klar? Aber wenn wir üben wollen, ist das jetzt die beste Gelegenheit." Verkündete er mit einem Funken Trotz. Langsam zeichnete sich auf Momoses mitgenommenen Gesichtszügen ein scheues Lächeln. "Das... danke! Ich werde mir allergrößte Mühe geben!" Handa fing ihn ein, platzierte ihn mühelos auf seinen nackten Oberschenkeln. "Du hast einen fürchterlichen Geschmack, weißt du? Es gibt so viele nette Jungs." Momose grinste ungeübt. "Ach ja? Und dein Geschmack? Dünne Männer..." "Pscht!" Lachte Handa leise, versiegelte Momose die Lippen, zog ihn in eine innige, versichernde Umarmung. Vielleicht war es doch höchste Zeit, sich auch auf einen besonderen Menschen einzulassen! ~+~+~* "Ist dir das Dekor aufgefallen?" Sie lagen nebeneinander, hielten sich an der Hand, studierten die dilettantisch mit Spiegelfolie verkleidete Zimmerdecke. Handa seufzte. "Nicht gleich. Sollte keine Anspielung sein. Das nächste Mal suchst du das Zimmer aus." Griff er berechtigter Kritik vor. Momose neben ihm lachte leise. "Ich war noch nie in einem Themenzimmer. Ein bisschen albern ist es schon. Oder?" Grummelnd antwortete Handa. "Da siehst du mal, wie groß der Notstand war! Ich find's hier nämlich grauslich!" Bonbonfarbene Penisse all überall! "Wir könnten dem vorbeugen, dem Notstand. Das ist ja auch gefährlich für die Gesundheit." Momoses schüchtern vorgetragenes Hilfsangebot ging unter, weil Handa herumrollte, sich nur leicht abstützte, bevor er sich über den jüngeren Mann hermachte, ihn küsste, begierig streichelte, sich schließlich aufsetzte, ihn auf den eigenen Schoß platzierte. "Du hast so recht, Momo-chan! Gesundheit ist das wichtigste Gut! Ich hab Oma versprochen, mich vorzusehen!" Grinste er leicht außer Atem. Momose lächelte ihn beglückt an. Diesen Moment störte gefühllos der Zimmeralarm. "Lass uns diesen Kitsch-Albtraum verlassen und etwas essen, ja?" Immerhin war die Nacht noch jung und JETZT funktionierte sein Verstand auch wieder! ~+~+~* Es WAR ein Rendezvous, vielleicht in einer etwas verdrehten Reihenfolge. Nach einem Imbiss hatten sie einen Vergnügungscenter betreten, auf Tanzflächen nach Anleitung herumgehopst, in einem Simulator ein Rennen gefahren, zwei gewaltige Eis-Früchte-Becher verdrückt. In einem Internet-Café mit Separees ein Nickerchen eingelegt, die ersten Pfannkuchen des Tages gekostet. Nun schlenderte Handa mit Momose an der Hand durch den sehr frühen Morgen. "Das war mein erstes Date." Wisperte der sehr leise. Handa schmunzelte in seinen Vollbart. "Meins auch." "Wirklich?!" Ungläubig äugte Momose zu ihm hoch, leicht zerzaust. "HmHm. Auf dem Land hatten wir solche Möglichkeiten nicht. Außerdem bin ich nicht gerade der romantische Typ. Ohne festen Partner würde es wohl auch keinen Spaß machen, nicht wahr?" Handa beugte sich hinab, küsste Momose leicht auf den vor Staunen geöffneten Mund. "Das bedeutet, dass wir noch Einiges vor uns haben. Riesenrad mit diesen Pärchen-Gondeln! In so ein Aquarium gehen. Bei der 'Ein gemeinsamer Spaghetti-Teller-Sache' bin ich mir aber nicht sicher. Könnte eine Legende sein!" Er nahm ihren Schlendergang wieder auf. "Außerdem bist du dran, das nächste Hotel auszusuchen, Momo-chan." "Ist das WIRKLICH in Ordnung?" "Sicher, gibt ja viele unterschiedliche Zimmer." Momose räusperte sich. "Ich meine, dass wir ein Paar sind. Obwohl ich..." Handa blieb stehen, fasste auch die andere kleine Hand. "He. Ich mag dich. Ich hab Spaß mit dir. Ich dreh durch bei der Vorstellung, dass irgendein Kerl dich in seine Finger bekommt. Also, was denkst du? Ist es dann nicht an mir, die Verantwortung zu übernehmen? Gleiche Rechte, gleiche Pflichten!" Er blickte ernst in die großen, schwarzen Augen. "Du hast mir vorhin gesagt, dass du weißt, worauf du dich einlässt. Genau dasselbe tue ich auch. So wie ich das sehe, starten wir beide als blutige Anfänger im Pärchen-Geschäft, daher können wir jede Hilfe brauchen, die wir kriegen können!" Sein betont kriegerischer Blick entlockte Momose ein erleichtertes Kichern. "Apropos kriegen, ich habe eine Idee!" Handa gab eine Hand frei, beschleunigte jedoch, zog Momose mit sich, bis sie beide galoppierten, in den Park einbogen, beim Schrein keuchend zum Stehen kamen. "Aha!" Triumphierend steuerte Handa das Sortiment an, das jeder Schrein in unterschiedlicher Konstellation anbot. Selbstverständlich konnte man auch Talismantäfelchen erwerben, für verschiedene Anwendungsgebiete. Fortschrittlich, wie die Schreine sein konnten, gab es auch einen kleinen Automaten. Schließlich konnte man zu jeder Tages- und Nachtzeit göttlichen/übernatürlichen/abergläubischen/spirituellen Beistands benötigen! An dem flipperte Handa zwei schlichte, rot gehaltene, geflochtene Bänder mit gepresstem Talismantäfelchen. Eines zurrte er an Momoses rechtem Handgelenk fest, der ihm geschickt den gleichen Dienst erwies. "So! Beistand hätten wir! Jedes Mal, wenn die Bänder verschlissen sind, prüfen wir, wie gut wir uns schlagen!" Strahlte Handa über seinen Einfall. Momose hielt sich an seinen Sakko-Aufschlägen fest, stemmte sich auf die Zehenspitzen, küsste ihn, so ausgiebig, dass Handa sich genötigt fand, ihm ebenfalls zu umschlingen, um nicht den Kontakt mit der Realität zu verlieren. ~+~+~* Als die Brigade eintraf, applaudierten sie spontan, weil ihr verlässlicher großer Bruder mit seinem Momo-chan auf der höchsten Plattform des Rohbaus residierte, Tee schlürfte und Schreinkekse knusperte. Arm in Arm, vorschriftsmäßig gesichert mit Gurten und behütet mit Helm. Na, wenn da das Schubsen, Tricksen und Ermutigen nicht geholfen hat! ~+~+~* Kapitel 15 Kurumi betrat wie gewohnt den Waschraum am alten Ost-Ausgang, noch nicht modernisiert, separiert nach Männlein und Weiblein. Ohne Wickeltisch, mit altmodischen Symbolen, zwar recht sauber, aber eben erheblich in die Jahre gekommen. Zwei der hintersten Kabinen hatten nicht mal Toilettenschüssel, sondern bloß die alte "Hock dich übers Loch"-Variante! Die Beleuchtung hatte sich im Laufe der Jahre reduziert, morgens ein recht angenehmes Zwielicht. Vor der Spiegelfront verfügte man über ausreichend Platz. Das schäbige Interieur schüchterte nicht zu sehr ein. Hier konnte man sich umziehen, rasch rasieren (nur mit Akku, mangels Steckdosen), Zähne putzen, ausgeh- oder büro-fertig machen. Und eben flüchtige Bekanntschaften schließen, in den freien Kabinen zur Sache kommen. Über die Lautsprecher dudelte hier noch Enka aus den frühen Sechzigern, als habe man vergessen, die entsprechende Anlage zu erneuern. Wer bloß pinkeln wollte, konnte das vorne an den Pissoirs tun. Dabei gab es keine Unterschiede, keine Klassen, Handwerker neben Monteur, Büro-Drohne oder Geschäftsführer: hier waren alle gleich, wieder auf ihre Grundbedürfnisse reduziert. Kurumi marschierte zum hinteren, schwach beleuchteten Teil durch, stellte seine kleine Reisetasche ab, wusch sich das Gesicht. »Schade!« Dachte er. So einen hübschen Oberschüler wie zuletzt, den hätte er jetzt schon gern nach einer langen Arbeitswoche getroffen. Dafür lohnte es sich auch, den Zug zu verpassen, den letzten Bus. Während er sich gelassen umblickte, konnte er nur "Konkurrenz" wahrnehmen, zumindest unter denen, die nicht in seliger Unkenntnis diesen Waschraum aufgesucht hatten, auch rasch wieder verließen. Kurumi wusste um gewisse "Codes". Er konnte recht treffsicher entschlüsseln, wer welche Vorlieben hatte. Hübsche Jungs, die sich penetrieren ließen, traten hier selten auf oder zu fortgeschrittener Stunde, mit hohen Preisen, wenn sie auf eigene Rechnung etwas schnell nebenher verdienen wollten. So gesehen war es damals ein Sechser im Lotto mit Zusatzzahl gewesen. Kurumi war auch durchaus bereit, für sein persönliches Vergnügen etwas zu zahlen! Allerdings erforderte solcher Luxus eine gewisse Organisation und ausreichend Zeit, weil er hier kein Appartement hatte. Unter der Woche nächtigte er in einem Kapsel-Hotel oder wenn es sich nicht vermeiden ließ auf einem Feldbett im Büro selbst. Wenn es sich nicht mal lohnte, den Weg zum Kapsel-Hotel zurückzulegen. Einen Sex-Partner, ein teures Stundenhotel-Zimmer buchen, alles zu koordinieren, sich vorher noch frisch zu machen, vielleicht etwas essen: schön und gut! Bloß fehlte ihm ein wenig die Romantik. Um alles perfekt zu organisieren, musste man generalstabsmäßig vorgehen, Unwägbarkeiten ausklammern, sich den romantischen Part flugs dazudenken. Wie himmlisch war es da gewesen, diesen Jungen zu treffen, fast wie ein Traum! Kurumi seufzte lächelnd in Erinnerung. So was passierte einem im echten Leben ja eher selten. Er strich durch seine elegante Naturwelle, zwinkerte sich im Spiegel verstohlen zu. Vielleicht würde er einen netten Gesprächspartner im Zug treffen. In diesem Augenblick schob sich ein Jugendlicher durch den Waschraum. Sofort veränderte sich die Atmosphäre, wovon ihr Verursacher nicht die geringste Ahnung hatte. Er trug noch eine Schuluniform, das hieß dunkle Hosen zu weißem Hemd und einen Pullunder mit V-Ausschnitt. Dabei telefonierte er leise. Oder zumindest lauschte er Anweisungen, den Kopf gesenkt, die glatten, schwarzen Haare in einen altmodischen Seitenscheitel gezwungen. Verstohlen studierte Kurumi seinen Waschbeckennachbarn: ein sehr blasses Gesicht, klassische, fast asketisch wirkende Züge, schmale, sehnige Silhouette, elegante Hände, manikürte Fingernägel, adrett, vornehm, fast adlig wirkend, und, wenn ihn sein Eindruck nicht trog, zutiefst unglücklich. Das Telefonat wurde beendet, der Jugendliche verneigte sich reflexartig, atmete hörbar aus. Er wollte die Umhängetasche absetzen, sie bekam auf der Kante das Übergewicht, fiel, sich natürlich überschlagend, herunter. "Verzeihung!" Eine dunkle Stimme, leise, während ihr Besitzer hastig abtauchte. Kurumi half beim Auflesen des Streuguts, lächelte gewinnend in das bleiche Gesicht. Aber dieser Junge hier war keine Beute, da konnten die Raubtiere noch so grollen. Er wirkte verängstigt und gestresst, nicht wie einer, der hierher kam, weil er von dem "anderen" Ruf dieses Waschraums gehört hatte. "Bitte entschuldigen Sie!" Noch einmal verneigte er sich vor Kurumi, die Schultern hochgezogen. "Alles in Ordnung!" Versicherte der aufmunternd. "Das ist mir auch schon passiert. Man täuscht sich manchmal über die Breite des Bords." Smalltalk, um den verschreckten Jungen zu trösten. Dabei fiel Kurumis Blick auf die Fahrkarte, altmodisch am Automaten gezogen. "Oh, wenn du den Zug nehmen willst, solltest du dich beeilen!" Empfahl er. Prompt wirkte das eigentlich einnehmende Gesicht noch fahler. "Ich muss den Zug auch erwischen." Bot Kurumi seine Hilfe mitleidig an. "Willst du dich anschließen?" "Das~das wäre überaus freundlich! Ich bin Ihnen sehr verpflichtet!" Haspelte sein Gegenüber verlegen und besorgt. "Keine große Sache." Beschwichtigte Kurumi, bemühte sich um Auflockerung. "Hast du alles? Wollen wir dann los?" ~+~+~* Sein nervöser Begleiter folgte ihm angespannt, ängstlich darauf bedacht, bloß nicht im gewohnten Gedränge den Anschluss zu verlieren. Kurumi empfand Mitgefühl. Das sah nicht gerade nach einer Vergnügungsreise aus. Außerdem war es schon recht spät am Samstagabend. Die Reinigungstruppe verließ rasch den Zug, der Zustieg wurde freigegeben. Kurumi pflügte voran, so zielstrebig wie alle Pendelnden, dirigierte den Jungen neben sich, verstaute ihr Gepäck überkopf. "So, das hätten wir geschafft. Darf ich mich vorstellen? Mifune, Kurumi Mifune." Der Junge, noch immer blass, wurde noch einen Grad fahler. "Oh, ich bitte um Verzeihung! Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Mifune. Mein Name ist Chiwa, Minoru Chiwa." Wieder eine formale Verbeugung. Kurumi unterdrückte einen Seufzer. Er hatte die Jüngeren ganz anders in Erinnerung, nicht so verkrampft und dressiert! "Freut mich sehr, Minoru. Auf eine gute Reise!" Beinahe provozierend streckte er ihm die Rechte hin. Sie wollte ergriffen und artig geschüttelt werden. Die zögerlich gewährte Rechte war kalt, zitterte unmerklich, ihr Druck zaghaft. Kurumi studierte die angespannten Züge, ohne die Hand freizugeben. "Sag mal, bist du krank? Deine Hand ist eisig!" Bediente er sich frech seines Altersvorsprungs, hob die Linke, um unter dem zum Scheitel geteilten Pony nach der Temperatur der Stirn zu fahnden. "Mir~mir geht es gut." "Wirklich?" Zweifelte Kurumi ungeniert, begann einfach, die kalte Hand zu reiben. "Erzähl doch mal, wohin fährst du? Besuchst du Verwandte?" Ziemlich aufdringlich und ungezogen, das war ihm durchaus bewusst. Bloß wollte er diesen verschreckten Jungen ein bisschen aufmuntern, dessen schwarze Augen von Kontaktlinsen gekrönt ihn jammervoll betrachteten. Der Kopf senkte sich, entfloh dem Blickkontakt. Kurumi ließ sich nicht beirren. Er fragte sich, warum ein Oberschüler sich die Fingernägel maniküren ließ. Wobei, das musste er zugeben, es wirklich sehr schöne, wohlgeformte Hände waren. Ah, gab es nicht so was wie "Hand-Models"? Seine eigenen Hände, da gab es keine Ausflüchte, trugen die Spuren seiner Vorfahren, die in der Landwirtschaft tätig gewesen waren. Er selbst konnte nur noch hin und wieder die Schwielen der Ungeübten vorweisen, wenn er mal mit den Kollegen den Baseballschläger schwang. "Gib mir die andere auch!" Kommandierte er, nachdem er die Rechte aufgewärmt genug befand. Zögerlich reichte Minoru ihm seine Linke. "Sehr gepflegte Hände." Kommentierte Kurumi. "Ich war zu meiner Schulzeit da viel nachlässiger." Aber wenigstens konnte er darauf verweisen, nicht an den Nägeln gekaut zu haben. "Ich musste in einen Salon gehen." Kaum hörbar wisperte Minoru die Worte, immer noch gesenkten Hauptes. Langsam, sehr leise, stockend, enthüllte er Kurumi die Hintergründe für seine Reise. Sein Vater nämlich war ein hoch angesehener Teezeremonie-Meister, alter Adel, dessen Ehefrau eine anerkannte Künstlerin des Blumenarrangements. Mit seiner eigenen Mutter war er auf die Unterstützung des Vaters angewiesen. Der verlangte nun, dass sein nicht ehelicher Sohn die Tradition fortsetzte. Deshalb wurde er nun eingewiesen. Man konnte nicht ablehnen. Der neue Freund der Mutter würde sie nicht unterhalten können. Der Job, den seine Mutter gerade hatte, reichte einfach nicht. Minoru fürchtete sich nach Kurumis Eindruck bis in die Knochen vor seinem Vater, aber er fühlte sich auch dem Glück seiner Mutter verpflichtet, sodass er kaum dieser Auflage entwischen konnte. Geld gegen Ausbildung! Kurumi massierte nicht nur abwechselnd die eleganten Hände, sondern orderte selbstherrlich Milchkaffee in der Dose für sie. Das sich erhitzende Getränk, sehr süß und sämig, schien Minorus aufgewühlte Verfassung etwas zu beruhigen. Auch der Grad der unterwürfigen Gesten reduzierte sich deutlich. Kurumi unterstützte diese Entspannung. Er bat Minoru, ihm von der Teezeremonie zu erzählen. Er wollte subtil signalisieren, dass Minoru gar kein hoffnungsloser Fall war. Mit jedem weiteren Satz, den er Minoru entlockte, wuchs auch dessen Zutrauen. Das genoss Kurumi. Unerwartete Begegnungen, die glücklich ausgingen: die gaben doch dem Alltag erst die richtige Würze! Nach eineinhalb Stunden endete die Zugfahrt. Wie es die Vorsehung so wollte, harrte ihrer auch noch die gemeinsame Busfahrt, auf die sie aber zwanzig Minuten in der winzigen Provinzstation zu warten hatten. Die anderen Reisenden hatten sich schon zerstreut. Da Minoru die gesamte Zeit gesprochen hatte, übernahm Kurumi nun das Wort, erzählte munter von dem winzigen Appartement, das er gemietet hatte, aber bloß an Sonntagen benutzte. Ausschlafen, Wäsche, vielleicht mal einen kurzen Spaziergang. Weit war er noch nicht gekommen, weil er so viel zu tun hatte, die Möglichkeit bestand, versetzt zu werden. Ein andauernder Schwebezustand, der längerfristige Planungen verhinderte. So habe er nicht mal gewusst, welche noblen Kulturträger es in unmittelbarer Nähe gebe! Um Minoru aufzumuntern, verabredete er einfach mit ihm, sich für die Rückfahrt wieder zu treffen. Schließlich mussten sie beide Sonntagnacht wieder losfahren, um Montagmorgen ihre Alltagsroutine in Angriff zu nehmen. Als der Bus kam, mit ihnen als einzige Fahrgäste, fand Kurumi, dass er seiner Mission gerecht geworden war. Minoru wirkte nicht mehr so blass und angespannt. An der Endstation stiegen sie beide aus, trennten sich in höflichen bzw. munteren Worten voneinander. Kurumi strebte seinem Einzimmer-Appartement zu, duschte rasch, fiel auf sein Bett. Endlich schlafen! ~+~+~* Minoru erschien ihm deutlich erleichtert, als er an der Busstation in der Nacht eintraf. Die Begrüßung war förmlich, als traue er ihrer jüngst gewonnenen Vertrautheit nicht, die Spanne eines Tages zu überdauern. Kurumi überwand die Distanz rücksichtslos, erkundigte sich munter nach dem Verlauf der Einweisungen. Schon sackten die Schultern kläglich herab, senkte sich der Blick. Eine Einladung, unerbittlich nachzuhaken, stets zu bekunden, was er selbst alles nicht beachtet, falsch gemacht oder nicht gewusst hätte! Auch noch die ständige Sitz- und Knie-Haltung! In formalen Kleidern selbstredend, mehrere, sehr teure Stoffschichten übereinander, nicht nur Herren-Kimonos mit Jacke, nein, höfische Kostüme, die man chinesischen Vorbildern im Mittelalter entlehnt hatte! Samt Kopfbedeckung. Du liebe Zeit! Da Minorus Hauptaufgabe als blutiger Anfänger darin bestand, sich ständig zu verneigen, mussten auch die Hände besonders gepflegt sein. Mehr sah man von ihm ja auch gar nicht! Kurumi bekundete Mitgefühl und Bewunderung. Er selbst wäre ja kläglich gescheitert! Mit Anekdoten und Lob gelang es ihm bald, Minoru aufzumuntern, der hin und wieder sogar schüchtern lächelte. »Ein reizender Bursche!« Dachte Kurumi bei sich. »Sehr liebenswert.« Deshalb nahm er ihn auch im Waschraum unter seine Fittiche, wo sie sich beide eilig für den Montag umzogen, in Form brachten. ~+~+~* Kurumi sah keine moralischen Bedenken darin, Minoru seine Kontaktdaten aufzunötigen. Neben einer digitalen Variante pflegte er ständig, analoge Visitenkarten zu apportieren. Kein Wunder, bestand doch seine Tätigkeit in der Regel im Außendienst, aufsuchender Betreuung quasi. Er arbeitete als Sicherheitsexperte für Unternehmen aber auch Privatleute. In einer Metropole am Meer, erdbebengefährdet, sich ständig im Umbruch und Umbau befindend, kein ungewöhnlicher Job. Flucht- und Rettungswege, Sicherheitseinrichtungen, entsprechende Pläne und Unterlagen, regelmäßig überarbeitete Vorschriften: sein täglich Brot. Deshalb lebte er die Woche über auch quasi aus einem Rollkoffer, hatte sich an spartanische Übernachtungsmöglichkeiten durchaus gewöhnt. Einen Schreibtisch oder gar Arbeitsplatz in der Zentrale? Platzverschwendung! Fand die Geschäftsleitung. Wichtiger war ihr die technische, mobile Ausrüstung ihrer Beschäftigten, dazu regelmäßig Fortbildungen, die online zu absolvieren waren. Kurumi kannte es nicht anders, deshalb empfand er seinen werktäglichen Lebensrhythmus nicht als übermäßig belastend. Durch die digitalen Informationen fand er immer einen Schlafplatz, einen Ort, sich zu waschen, selbstverständlich das leibliche Wohl aufrechtzuerhalten. Man durfte bloß nicht krank werden oder die technischen Helferlein verlieren! Bisher schlug er sich jedoch wacker, genoss die Verbindung von Kundenkontakt zu technischen Herausforderungen. Außerdem, das kam seinem Naturell entgegen, war er für sich selbst verantwortlich, wurde nur einmal im Monat zum Rapport bei der Bezirksleitung einbestellt. Früher hatte man keinen so aufmerksamen Umgang mit den Beschäftigten gepflegt. Die ehemals vorausgesetzte unterwürfige Dankbarkeit, für ein Unternehmen arbeiten zu dürfen, hatte sich längst verabschiedet. Sinkende Bevölkerungszahlen, gewachsene Ansprüche, hohes Bildungsniveau: Loyalität gab es ganz sicher nicht mehr für lau. Zudem wurde wie überall das Augenmerk auf zwischenmenschliche Interaktion gerichtet. Mobbing, Belästigung, erniedrigende Verhaltensweisen von Vorgesetzten, Karoshi-Tod durch Überarbeitung, das waren nicht mehr bloß Schlagworte. Da ging es den Unternehmen wie den Menschen: hatte man einmal Image schädigend das Gesicht verloren, konnte man dichtmachen. Die regelmäßig wechselnden Einsatzorte bei der Kundschaft brachten Kurumi viel Abwechslung, aber gleichzeitig keine Kontinuität, was persönliche Beziehungen betraf. Deshalb verspürte er durchaus immer mal wieder das Bedürfnis nach engerem, quasi hautengem Kontakt. Freundschaften zu pflegen in dieser Großstadt, das stellte sich für ihn als nahezu unmöglich heraus. Klar, man kontaktierte hin und wieder die Kollegen, mit denen man im Unternehmen begonnen hatte, mit denen man angelernt worden war, aber die schwärmten eben auch wochentags über das gesamte Metropolgebiet aus! Wenn es nun aber unerwarteter Weise einen möglicherweise regelmäßigen Kontakt gab, wollte Kurumi diesen auch pflegen! Behutsam, selbstredend, denn der Oberschüler schien ihm in einer fragilen Situation. Allerdings durfte man nicht zu aufdringlich nachfragen, was einen brennend interessierte. So beließ es Kurumi zunächst dabei, den samstäglichen Abfahrtstermin anzumelden, auf Bestätigung der Begleitung zu warten. Eine Antwort blieb jedoch aus. ~+~+~* Kurumi blickte sich um, ohne positives Ergebnis. Tja, das half nichts, er musste los! Er sammelte im Waschraum sein übliches Reisegepäck ein, begab sich durch die verschlungenen, unterirdischen Gänge zum Bahnsteig. Nachdem die Putztruppe mit einer knappen Verneigung den Zutritt zugelassen hatte, suchte sich Kurumi geübt ein Plätzchen. Da hörte er hinter sich die vertraute, unerwartet tiefe Stimme des Oberschülers, außer Atem, wie der gesamte, schlanke Jugendliche mit dem adlig-blassen Air. "Oh, guten Abend, Minoru! Bitte, setz dich zu mir." Lud Kurumi ein, griff selbstherrlich nach dem Gepäck, verstaute es überkopf sicher in den Kabinetten. Hektische, rote Flecken zeichneten sich auf den fahlen Wangen des klassisch-schönen Gesichts. Selbst der altmodische Seitenscheitel verabsentierte sich frech. "Herr Mifune...Verzeihung...ich bitte....um Ihre Nachsicht...!" "Schon gut, schnauf erst mal richtig durch, Kamerad!" Munterte Kurumi auf, drückte mit einer Hand selbstherrlich Minoru nach vorne, rieb grob mit den Fingerknöcheln über dessen Rücken. "Ich hatte schon Sorge, du würdest den Zug verpassen! Aber es gibt so hektische Tage." Tröstete er, ohne eine Erklärung abzuwarten. Scheu tauchte Minoru schließlich neben ihm auf. "Bitte verzeihen Sie mir, dass ich Ihre Nachricht nicht beantwortet habe. Es tut mir sehr leid." "Liebe Güte, kein Problem! Du bist hier, alles in Butter!" Beschwichtige Kurumi ungetrübt, grinste auffordernd. Der jüngere Mann wirkte weiterhin ausgesprochen geknickt und beschämt, mit der verzweifelten Unternote, die Kurumi bereits in der Vorwoche registriert hatte. "Was ist geschehen, mein Freund? Möchtest du es mir erzählen? Dann ist es aus dem Kreuz!" Was Kurumi nicht nur im übertragenen Sinne für zutreffend hielt. Zu viele seelische Lasten beugten einen, ließen buckeln, wie geknechtet das Rückgrat in sich krümmen! Kein Zustand, den er für zuträglich ansah! Minoru an seiner Seite schrumpfte in sich zusammen, umklammerte die eigenen, manikürten, sehr gepflegten, blütenweißen Hände, von einer eleganten Schönheit und Anmut, dass man ihn wirklich für ein "Hand-Model" halten konnte. "Nun?" Uneingeladen, aber ungeniert platzierte Kurumi seine Hand auf die sich umklammernden. "Es ist sehr beschämend." Gestand Minoru neben ihm kaum hörbar ein, mit einer unerwartet tiefen Stimme angesichts seiner eher biegsam-sehnigen, fast zart wirkenden Erscheinung. Man hätte einen Mann mit sehr viel mehr Körpervolumen vermutet. "Oh, darüber mach dir keine Gedanken, Kamerad! Ich habe mich so oft schon in Verlegenheit gebracht, mir ist kaum etwas Menschliches fremd." Lachte Kurumi auffordernd, unbekümmert. Selbst wenn er damit ein wenig übertrieb, konnte man ihm Empathie nicht absprechen. Spott und Häme zu äußern, wenn man den Mut gefasst hatte, sich einem anderen anzuvertrauen, das käme ihm nie in den Sinn. "Es ist mein Mobiltelefon." "Oh, ist es defekt? Ganz schön hinderlich, das glaube ich dir gern!" Half Kurumi tröstend aus. "Nicht ganz. Vielmehr habe ich es nicht mehr aktiviert, weil....da sind so viele Nachrichten." Druckste Minoru neben ihm mit gesenktem Haupt herum. "Ach herrje, hast du dir so was wie Spam eingefangen? Unerwünschte Anrufe und Nachrichten?" Nun schrumpfte Minoru noch tiefer in den Sitz. "Das passiert allen mal! Kein Grund, sich zu schämen. Welches Modell hast du? Wollen wir zusammen mal knobeln, was wir unternehmen können?" Bot Kurumi tatendurstig an. Unbehaglich fischte Minoru schließlich das Smartphone aus seiner Manteltasche, balancierte es wie einen Backstein auf dem Schoß. Deaktiviert schien die dunkle Fläche fast bedrohlich auf eine weitere Gemeinheit zu lauern. "Ah, das Modell kenne ich!" Kurumi pickte den Backstein der seelischen Pein unaufgefordert auf, weckte das Folterwerkzeug. "Oha! Fiese Sache." Konzentriert kämpfte er sich in die Grundeinstellungen, nachdem er das Mikrophon ausgestellt hatte. Ohne es zu merken summte er leise vor sich hin, während er den Dschungel lichtete. Die meisten Leute benutzten ihr Smartphone, ohne im Detail mit all den Applikationen vertraut zu sein, die sich sammelten, diese und jede Freigabe verlangten. Sich selbstständig machten, wenn man sie nicht konsequent einhegte, regelmäßig gnadenlos ausputzte, damit man nicht irgendwann in völliger Verzweiflung die Werkeinstellung aufrufen musste, weil gar nichts mehr ging. Neben ihm hatte Minoru sich eingerollt, die Augen fest zugekniffen. Die Ursache erschloss sich Kurumi nach einer Weile konzentrierter Arbeit. Die unzähligen Nachrichten und Links, allesamt Werbung, hatten einen gemeinsamen Nenner: pornografische Angebote. Was wohl mit dem winzigen Videoschnipsel begründet werden konnte, den Kurumi entdeckt hatte. "Ah, ein Klassiker. Hast du nach dem Gewand gesucht?" Minoru passte von seinem Gebaren gerade in eine Streichholzschachtel. "Ich~ich hatte...nicht mehr alle Informationen...mein Vater...." Kurumi puzzelte sich die fehlenden Details selbst zusammen. Die traditionellen Gewänder, die getragen werden mussten, hatten eine lange Geschichte, komplizierte Regeln. Auch hier "machten Kleider Leute". Zweifellos hatte man Minoru einen entsprechenden Vortrag gehalten. Der hatte nicht mehr alle Einzelheiten auf der Pfanne. Der moderne Mensch nutzte natürlich das Smartphone-Orakel als Mediator zu Wissensplattformen. Nun gab es allerdings nicht nur Fachartikel, sondern eben auch andere Beiträge. Beispielsweise den Videoschnipsel des Klassikers, den Kurumi auch kannte. Der Darsteller, ein wirklich schöner Mann, trug das Titel gebende Gewand, während er sexuell befriedigt wurde, als Objekt der Begierde anderer Männer. Gut, in dem Ausschnitt musste man sich das denken, allerdings.... "Ich glaube, ich habe das Problem eingedämmt." Kurumi reichte das Mobiltelefon seinem jugendlichen Besitzer zurück, der sich verneigte, mit sich rang, sich bedanken wollte, untertänig, förmlich. Bloß keinen Zweifel hatte, dass Kurumi nun wusste...! "So eine Verwechslung kommt vor. Mach dir deshalb keine Vorwürfe, Minoru. Vielleicht hat es dich erschreckt, was du gesehen hast? Da habe ich keine schlaue Antwort für dich, leider, außer, dass die Welt bunt ist, vielfältig und voller Kuriositäten." Lächelte Kurumi versöhnlich, klopfte Minoru kurz auf die völlig verspannte Schulter. "Entschuldigung, dass Sie so etwas sehen mussten..." Nun konnte Kurumi ein Auflachen nicht unterdrücken. "Oh, da muss ich dich jetzt noch ein wenig mehr schockieren, Kamerad. Ich kenne die Szene tatsächlich. Ich gestehe, dass ich in meinem Leben schon andere Adult Videos gesehen habe. Es ist für mich keine Zumutung, in Ordnung? Deshalb atme tief durch, entspann dich. Jetzt ist doch alles wieder im Lot, nicht wahr?" Minoru warf ihm einen scheuen Seitenblick zu. "Vielen Dank. Ich wusste nicht, wenn ich um Hilfe bitten könnte." "Gern geschehen. Machen wir es uns ein wenig gemütlich, hm? Ah, höre ich da den Servicewagen? Was hältst du von einer Suppe, hm? Was Scharfes?" Lenkte Kurumi aufgeräumt ab, zwinkerte. Aber er fragte sich, warum sie beide nicht eruierten, aus welchen Gründen er den Videoschnipsel nicht aus dem Speicher gelöscht hatte. ~+~+~* Kurumi hakte lästig nach, so, wie es die Erwachsenen bei ihm als Schüler auch immer gemacht hatten. Nicht jedoch, um seiner Neugierde die Zügel schießen zu lassen, nein, er wollte Minoru dazu bringen, aus dem Alltag zu erzählen, sich zu entspannen. Setzte Stille ein, registrierte Kurumi nämlich in kürzester Zeit, dass sich unsichtbare Wolken um Minorus attraktives Haupt sammelten, der in verzweifelt-dumpfes Brüten verfiel. Also hieß es eben, den Gesprächsfaden nicht ausfransen zu lassen! So erfuhr Kurumi, dass sein jugendlicher Begleiter in eine öffentliche Schule ging, von eher mittelklassigem Niveau. Da fand man auch die Kinder aus der Nachbarschaft, aus dem Handwerk, der mittleren Anstellungsebene, von kleinen Läden. Das Schulgebäude selbst fungierte als eine Art Insel im Gebäude-Gebirge ringsherum, in der Aufnahmekapazität beschränkt. Eigentlich kein Ort, wo man den mutmaßlich einzigen Erben zweier quasi Kunst-adliger Familien vermutete! Las man zwischen den Zeilen, hatte das Interesse des Vaters erst eingesetzt, als sämtliche natürlichen Möglichkeiten ausgeschöpft waren, mit der eigenen Gattin ordnungs- und standesgemäßen Nachwuchs zu zeugen. Andererseits konnte man Minoru kaum anders als wohlerzogen und artig bezeichnen. Fast schon ein wenig zu zurückgenommen für Kurumis Geschmack, der jugendlichen Enthusiasmus genoss. Miniatur-Erwachsene, die wie aufgezogene Laufpüppchen wirkten, schreckten ihn eher ab. Allerdings galt er mit seiner Meinung nun auch nicht gerade als mehrheitsfähig, das musste man in Rechnung stellen! Kurumi entlockte Minoru Details des Schulalltags, beispielsweise, dass der Oberschüler keinen Sportclub aufsuchte, ausweislich der hellen Haut, die keine direkte Sonne vertrug, aber auch keinen Chlor, was das Kurzzeit-Training in der Grundschule rasch zu einem Ende brachte und schmerzhaften Erkenntnisgewinn förderte. Minoru verfügte darüber hinaus über einen erblich bedingt niedrigen Blutdruck, konnte hohe Luftfeuchtigkeit schlecht tolerieren, weshalb die Sommermonate mit großer Hitze und fast Monsun-artigen Regenfällen ihm häufig zusetzten. Deshalb hatte er sich, ein wenig verschämt eingestanden, in den Hauswirtschafts-AG versucht. Mit Erfolg. Er konnte nach Schnittmustern nähen (mit Maschine), einfache Speisen zubereiten, wusste über häusliche Hygiene Bescheid. Nur Baby- und Kinderbetreuung hatte er ausgelassen, was Kurumi nachvollziehen konnte. In der Oberschule besuchte er einmal die Woche die Kalligraphie-AG. Mehr Aktivitäten jenseits der Schulstunden konnte er sich nicht leisten, da er ohne Anleitung mit anderen in Lerngemeinschaften paukte. Die Nachhilfe-Paukstudios als Vorbereitung für die Aufnahmeprüfungen beanspruchten mehr Mittel, als sie aufbringen konnten. So versuchte man sein Möglichstes eben autodidaktisch. Kostspielige Freizeitaktivitäten blieben ihm auch versagt. Unter der Woche scheiterte es bereits an der fehlenden Zeit. Die Wochenenden: erst Unterricht, danach Reise zur unbekannten Familie des Vaters! Spielcenter, Kino, Karaoke oder schlicht Familienrestaurants: nur ein ganz seltenes Vergnügen. Glücklicherweise finanzierte der Vater die Fahrkarten, die lästigen Besuche bei der Maniküre und die Kontaktlinsen. Eigentlich war Minoru Brillenträger, sogar unablässig. Auf beiden Augen hatte er längst die fünf Dioptrien Kurzsichtigkeit überschritten. De facto stand eine Operation mit Lasertechnik zur Debatte. Wenn er sich bewährte, in den "Schoß der Familie" aufgenommen werden würde. Kurumi lauschte aufmerksam, befeuerte mit Interesse das Gespräch, ließ sich die Brille zeigen (etwas zu groß geratenes Kunststoffmodell mit schlichtem, schwarzem Rahmen), diskutierte engagiert über Für und Wider einer Operation. Er selbst hatte noch nicht mit einer Fehlsichtigkeit zu kämpfen, was vermutlich daran lag, dass er als Kind viel Zeit unter freiem Himmel bei Tageslicht verbracht hatte. Glaubte man zumindest den jüngsten wissenschaftlichen Untersuchungen. So war es an Kurumi, ein wenig aus dem Nähkästchen zu plaudern: eine ganz gewöhnliche Familie, die ältere Schwester ganz unspektakulär verheiratet mit zwei Kindern. Aufwachsen und Leben auf dem nördlichsten Zipfel von Okinawa, wo man noch in eher ländlich geprägter Umgebung kleine Gärten und Felder versorgte, jedes Gebäude von Heerscharen Pflanztöpfen umzingelt war. Man flitzte zu Fuß herum oder mit dem Fahrrad, pflegte weniger die "Buchgelehrtheit", abends vielleicht, wenn die Tageszeitung vorgetragen wurde. Nicht mal das Familienmotto erwies sich als besonders: es gut machen und stets gut beieinander sein. Kurumi grinste, als er Minoru damit ein scheues Lächeln entlockte. Klar, dass so ein durchschnittlicher Typ wie er die Leistung des Jüngeren bewunderte, sich in so ein komplexes, traditionelles Erbe einfinden zu müssen! Kurumi gratulierte sich selbst, als sie als letzte Reisende den Bus verließen: Minoru wirkte gelassener, gefasster. "Komm gut an. Lass dich nicht einschüchtern, Kamerad! Gemeinsam fahren wir morgen Nacht wieder zurück, in Ordnung?!" Er klopfte aufmunternd eine sehnige Schulter, präsentierte das komplette Gebiss. Ein normaler, kecker Oberschüler hätte vielleicht parodierend salutiert, Minoru jedoch nickte folgsam, die Mundwinkel gekräuselt. "Vielen Dank für Ihre Gesellschaft, Herr Mifune! Ich freue mich schon auf die Rückfahrt." »Ja.« Dachte Kurumi versonnen, während er seine Schritte zu seinem einsamen Appartement lenkte. »Ja, sieht so aus, als wäre das der Fluchtpunkt deiner Hoffnungen, mein Reisegefährte!« ~+~+~* Nachdem Kurumi am Morgen die Augen aufgeschlagen hatte, leidlich erholt, gab er der Nostalgie nach. Über einen der zahlreichen Kanäle betrachtete er sich den Klassiker mit dem äußerst attraktiven, legendären AV-Schauspieler, wandlungsfähig wie ein Chamäleon, in seiner Karriere selbstbestimmt, auch Regisseur und Produzent. Ja, man konnte kaum die Augen von ihm wenden, nicht nur der Schönheit (unbestritten) geschuldet, sondern auch seines Ausdrucks wegen, die Handreichungen und final die Penetration zu genießen. Kein Feigenblatt-Protest, kein Gezeter, kein Klischee. Mit einem Augenaufschlag konnte dieser prächtig kostümierte Mann verführen, ohne sich zu unterwerfen, seiner Würde verlustig zu gehen. Nein, kein Wunder, dass seine Werke noch immer sehr gefragt waren, geschätzt wurden! In bester Stimmung ob dieser morgendlichen Anregung mit Verwöhnprogramm lud Kurumi sich zu einem späten Frühstück ein. In seinem Appartement hielt er nichts vor, hatte nicht mal den winzigen Kühlschrank angeschlossen. Eigentlich eine seltsame Anwandlung ein Einzimmerappartement anzumieten, um dort kaum das Bett zu nutzen, unausgepackte Habseligkeiten aufzubewahren! Aber vielleicht benötigte er doch so etwas wie einen Ankerplatz, einen Hafen? Kurumi verschob die philosophische Betrachtung, suchte sich ein winziges Restaurant im Kneipenstil, gerade mal fünf Sitzplätze am Arbeitstresen, dazu entlang der Wand vier Tischchen für je zwei Personen. Keine große Karte, nein, zwei schlichte Schreibtafeln genügten, wenige Kolumnen mit Schriftzeichen und Preisen. Kurumi nahm vor der Theke Platz, weil gerade frei wurde, orderte und genoss Hausmannskost. Zufrieden und gesättigt entschied er, sich endlich mal näher mit der Umgebung zu befassen. Es dräuten keine Wetterkapriolen. Er war nun mal neugierig. Wo also residierten diese hochvornehmen Familien gemeinsam? Tatsächlich umschloss eine hohe Mauer das Gelände. Lediglich am Tor wies sehr diskret ein schlichtes Schild auf die zwei beherbergten Institutionen hin: den Meister der Tee-Zeremonie und die hohe Schule des Blumenarrangements. Mit einem QR-Code konnten sich Interessierte jedoch im digitalen Zeitalter weiterbilden. Über diesen Weg "sah" man auch die traditionellen Gebäude, die Vertreter der Generationen der Meister, das Teehaus, die zu vermietenden Konferenz- und Tagungsräume, das Institut zur Lehre der hohen Kunst des traditionellen Blumenarrangements. Zwei streng blickende Personen in traditioneller Bekleidung: Minorus Vater, der auf Kurumi merkwürdig steril in der aufwändigen, höfischen Kostümierung posierte und dessen Ehefrau, gleichsam kontrollierte Gesichtszüge, in einem prachtvollen Kimono. Als Otto-Normalbürger hielt man da doch gleich instinktiv Abstand! Kurumi schlenderte noch ein wenig durch unvertraute Gassen und Straßen. Ja, eine gewisse Ähnlichkeit konnte man zwischen Vater und Sohn erkennen. Minoru, seine mageren Gesichtszüge häufig der stillen Verzweiflung geschuldet, wirkte schöner, attraktiver, fast schon dem Idealbild des Prinzen entsprechend: die helle, makellose Haut, die tiefschwarzen Augen, Haare und Wimpern, die feinen Augenbrauen, die zierliche, gerade Nase. Vornehm, genau! Trotzdem nahbar, sympathisch, wenn man den besorgten Ausdruck vertrieb, ihm ein Lächeln entlockte. Es wäre faszinierend zu studieren, dieser elegante Oberschüler mit seinem aristokratischen Air in diesem traditionellen Gewand. »STOPP!!« Bremste Kurumi sich energisch, wenn auch mit aufgaloppierendem Puls. DAS Bild wollte er ganz sicher nicht vor Augen haben! Sonst wäre es nahezu unmöglich, dem Jugendlichen unbefangen gegenüberzutreten! Obwohl die Vorstellung ausgesprochen reizvoll anmutete. ~+~+~* Auf der Rückfahrt brachte Minoru kaum ein paar Worte über die Lippen. Was auch immer auf dem Lernprogramm gestanden hatte, es konnte nicht geeignet gewesen zu sein, sein Selbstwertgefühl zu bestärken. Kurumi versuchte es behutsam durch die Erzählung seiner Odyssee durch ein unvertrautes Straßenlabyrinth. Minoru selbst schien es nicht anders als ihm zu ergehen: sie kannten gerade mal die Strecke von der Busstation zu ihrem Ziel. Eigentlich eine Verschwendung, so farblos nahm sich die Örtlichkeit nicht aus! Um seinen Begleiter aufzuheitern orderte Kurumi unerschrocken süßen Pudding in Näpfen. Nichts, womit sich ein gestandener Mann erwischen lassen wollte, es sei denn, die Kehle war lädiert. Essen diente jedoch nicht nur der Aufnahme von Nährstoffen, man konnte damit ein gemeinsames Interesse verfolgen. Auch die Stimmung durch nostalgische Erinnerungen heben! Minoru löffelte artig, sich höflich für die Einladung bedankend. "Sei nicht so niedergeschlagen, ja? Gut Ding will Weile haben! Niemand kann von heute auf morgen beherrschen, was andere in Jahrhunderten perfektionierten!" Minoru schenkte ihm einen matten Seitenblick. "Ich bin nicht sicher, dass sich all meine Bemühungen auszahlen, Herr Mifune. Im Haus meines Vaters bin ich nicht wohlgelitten. Man duldet lediglich gezwungenermaßen meine Präsenz." Was sollte man darauf antworten? Kurumi legte seine Hand auf die sich bereits umklammernden des Jugendlichen. "Du hast es wirklich gerade nicht einfach, mein Freund. Ich kann dir leider nicht raten, denn mir will keine einfache Antwort in den Sinn kommen." Überraschenderweise entlockte dieses Eingeständnis Minoru ein Lächeln. "Auch wenn ich ungezogen vorlaut erscheinen sollte, Herr Mifune, Sie sind der erste Erwachsene, der so offen und ehrlich mit mir spricht." Woraufhin Kurumi bedeutungsvoll nickte. "Ja, da siehst du mal wieder, wie gewöhnlich ich bin! Mir fehlt schlichtweg die Fantasie, mir clevere Geschichten auszudenken! So bleibt es bei dem traurigen Bisschen, das mir spontan in den Kopf kommt." Zwinkerte er frech. Minoru lächelte noch immer. "Mir persönlich sagt das sehr zu, Herr Mifune. Es ist sehr angenehm, nicht ständig in Scheuklappen agieren zu müssen." Sofort pflichtete Kurumi ihm bei, auch aus Überzeugung. "Recht hast du! Außerdem sollten Reisegefährten wie wir einander nichts vormachen! So kann man sich ja auch gar nicht entspannen!" Weshalb er sich demonstrativ im Sitz räkelte und streckte. Nur kurze Zeit später lehnte sich der Jugendliche etwas schwerer an Kurumis Seite, döste, ein zartes Amüsement noch in Spuren auf den attraktiven Zügen, vertrauensvoll. Mission für dieses Wochenende erfüllt! ~+~+~* Kapitel 16 Die Woche über hielt Kurumi sich damit zurück, seinen Reisegefährten zu kontaktieren. Immerhin hatten sie beide ja zu tun! Es genügte schließlich, die Daten der Fahrt zu bestätigen! Genug Zeit, sich während der Reise auf den neuen Stand zu bringen, hatten sie ja. Kurumi verließ wie gewohnt den alten Waschraum, sich aufmerksam umblickend. Als Rendezvous-Punkt schien es ihm besser zu sein, lieber am Bahnsteig zu warten, auch wenn er noch davor zurückscheute, Minoru en detail zu erklären, WARUM der besser nicht in den alten Waschraum ging. Während Kurumi zügig durch labyrinthische Gänge schritt, um sein Ziel zu erreichen, wunderte er sich über sich selbst. Wozu hatte er bloß dieses Appartement gemietet? Nicht mal die schmutzige Wäsche nahm er noch mit, seit die Hostels und Badehäuser auch Schnellreinigungen als Dienstleistung anboten! Die Woche über "lebte" er aus seinem Reisekoffer, der jetzt auf seine Rückkehr im Schließfach wartete, während er mit einer Umhängetasche als "Handgepäck" zu seinem Appartement zockelte. Das bot ihm noch genauso wenig "Heimat" wie die Kapsel-Hotels oder anderen Schlafgelegenheiten, die er abwechselnd nutzte. Eine richtige Nomaden-Existenz! Über Minimalismus musste man ihm nicht mehr viel beibringen, bescheinigte sich Kurumi lächelnd. Er verspürte sonst selten das Gefühl, in einem aktuellen Trend verhaftet zu sein. Der Zug fuhr in die Station, man stieg aus. Es wurde rasch durchgeputzt, danach durfte man wieder hinein. Wo war Minoru? Kurumi verstaute geübt sein Handgepäck, schlüpfte aus dem doppelreihigen Halbmantel. Beunruhigt blickte er den Gang auf und nieder, wo sich die Reisenden rasch Plätze suchten. Da! Eine große Ballonmütze mit Schirm! Warum sie ihm ins Auge sprang, konnte Kurumi gar nicht bestimmen, denn ihre marineblaue Farbe zog keine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Allerdings trog ihn seine Eingebung nicht. Minoru stolperte, sich an den Sitzkanten abstützend, in seine Richtung. Er trug Brille, einen handgestrickten, grobmaschigen Schal, Dufflecoat. Kurumi fasste zu, bevor Minoru auf den Gang schlagen konnte, weil seine Hände eine Sitzkante verfehlten. Die Augen erwiesen sich als trübe und rotstichig hinter den Brillengläsern, die erkennbare Gesichtsfarbe wächsern. Dazu schlotterte der Jugendliche geradezu erbärmlich. Kurumi requirierte den Rucksack, drängte Minoru, sich auf den Platz zu falten, legte ihm den eigenen Halbmantel über Schoß und Hosenbeine. "Du liebe Güte, Kamerad, bist du sicher, dass du reisefähig bist?" Selbst durch die Stoffhandschuhe konnte Kurumi die eisige Kälte der steifen Finger spüren! "....wichtiger Gast...muss kommen..." Drang mühsam zu ihm hervor. Dabei schüttelte es Minoru merklich, unkontrolliert. "Du wärst besser im Bett aufgehoben. Wann hast du zuletzt etwas gegessen?" Kurumi registrierte klammen Schweiß auf dem fahlen Gesicht. Minoru schüttelte, sehr bedächtig, offenbar Schwindel fürchtend, den Kopf. "Ich...kann nichts... bei mir behalten..." "Weiß deine Mutter, in welchem Zustand du bist?" Erkundigte sich Kurumi sorgenvoll. Durchscheinende Lider senkten sich über die tiefschwarzen Augen. Das ersparte Minoru die Last einer Lüge, ganz zweifellos. "Versuch zu schlafen, Minoru. Wenn du merkst, dass es dir schlechter geht, sag es mir bitte. Versprochen?" Auffordernd streckte Kurumi den kleinen Finger der Schwurhand aus. Zittrig kam Minoru ihm entgegen, hakte sich kurz ein. Für einen Moment bemerkte Kurumi in dem erschöpften Gesicht Erleichterung. Der Jugendliche folgte seiner Aufforderung, bemühte sich um Schlaf. ~+~+~* Ohne jeden Zweifel stellte es einen Akt geradezu empörender Selbstherrlichkeit dar, dass Kurumi skrupellos das Mobiltelefon seines Begleiters an sich brachte, Einträge studierte, die Stirn in Falten legte. Er orderte eine weitere sich selbst erhitzende Dose Milchkaffee. Nicht, damit Minoru sie trank (das erledigte er selbst, wenn sie abgekühlt war), sondern um die Hände einigermaßen aufzutauen. Mitte der Woche, urteilte man nach einer Textnachricht, musste Minoru in einen heftigen Regenguss geraten sein. Anschließend konnte man im Verlauf der Suchanfragen erkennen, wie er nach Medikamenten gegen Erkältungen fahndete. Zusagte, ein Notizheft zurückzugeben, weil er nicht alles mitbekommen hatte. Für Kurumi stellte sich ein schlüssiges Bild zusammen: Minoru war krank, verfügte jedoch nicht über die notwendige Zeit, sich zu erholen. Weil der Jugendliche trotz seiner Unpässlichkeit versuchte, wie gewohnt all seine Aufgaben und Pflichten zu erfüllen. Was nun? Es würde schon schwierig genug, das Häufchen Elend neben ihm sicher ans Reiseziel zu bugsieren! Minoru atmete nämlich schwer, in sich zusammengerollt, trotz der wärmenden Schichten schlotternd, während er gleichzeitig unter hohem Fieber litt. Tja, zurück ging es nicht mehr, so viel stand fest. Entschlossen überprüfte Kurumi die Möglichkeiten. Er tippte grimmig seine Nachrichten. ~+~+~* Quasi als letzte Passagiere entschlüpften sie dem Zugabteil. Kurumi hatte sich nicht nur die eigene Tasche umgehängt, sondern schulterte auch Minorus Rucksack. Dabei umfasste er die schlanke Taille des Jugendlichen, um dessen stolpernden Gang zu stabilisieren. "Halte noch ein wenig durch, Minoru. Gleich ist es geschafft!" Munterte er ihn auf, nicht sicher, ob er damit den Bodennebel in Minorus trübem Bewusstsein überhaupt durchdrang. Wenn es eine Unterbringungsmöglichkeit gegeben hätte, wäre er in der Nähe der Station geblieben. Seine Recherchen ergaben keinen Treffer, deshalb blieb nichts anderes übrig, als tapfer auf den Bus zu warten, damit sie als die letzten Passagiere des letzten Busses ihr Ziel erreichten. ~+~+~* Kurumi half Minoru hinein, ließ ihn an der Wand entlang in die Hocke sinken. Er streifte sich rasch die Schuhe ab, bevor er auch Minoru von den Stiefeln befreite. Kurumi legte sich einen dünnen Arm um die Schultern, umfasste die Taille. Taumelnd, torkelnd, immer wieder in die Knie brechend musste Minoru ihn begleiten, den kurzen Gang bis zum Wohnraum, wo ein Sofabett wartete. Dort ließ Kurumi Minoru langsam herabgleiten. Er atmete tief durch, machte kehrt, durchstöberte den Rucksack, bis er einen Pyjama ausgebuddelt hatte. Der protestierenden Wasserleitung genug Feuchtigkeit für einen Lappen entlockt begab sich Kurumi ans Werk: Kleidungsschichten abpellen, die makellos weiße, teil fiebrige, teils eiskalte Haut feucht abreiben, den spannungslosen Körper in den Pyjama winden, dabei das leise Stöhnen mit beruhigendem Murmeln kontern. Endlich geschafft! Kurumi atmete tief durch. Viel Ersatzkleidung barg der Rucksack nicht, also die Waschmaschine anwerfen, danach den Trockner beschäftigen! Außerdem Vorräte prüfen (nicht vorhanden), denn er hatte ja einen kranken Gast. Wie es aussah, würde einer von ihnen gleich nach dem Aufstehen einkaufen gehen müssen. Kurumi lächelte über sich selbst. Er hatte das Gefühl, es würde schon alles gut gehen! Deshalb schlüpfte er auch ungeniert unter die Decke auf dem Sofabett, leistete Minoru im Traumland Gesellschaft. ~+~+~* Kurumi genoss einen ungewohnten, aber lässigen Sonntag, weil Minoru so tief und fest schlief, dass ihn nicht mal Kanonendonner direkt neben dem Sofabett aufgeweckt hätte. Der Schüttelfrost schien erledigt, die Haut nicht mehr klamm und besser temperiert, da konnte man schon mal austreten! Zum ersten, um in der Nähe einen der Rund-um-die-Uhr-Supermärkte aufzusuchen. Kurumi kaufte Frühstück ein, Erkältungsmittel und Proviant für den Rest des Tages. In seinem vernachlässigten Appartement verzehrte er die erste Mahlzeit jedoch allein. Er brachte es einfach nicht über sich, Minoru aus hoffentlich heilsamen Träumen zu reißen. Danach plauderte er mit dessen Mutter am Telefon, schickte sogar ein Beweisfoto des Sprösslings zur Beruhigung. Eine sehr angenehme Stimme, ein munteres Gespräch, nicht zu förmlich, nicht gespickt mit Floskeln. Kurumi befand, dass es mit Frau Chiwa durchaus ein gutes Einverständnis geben könnte. Als sich Minoru am frühen Nachmittag endlich regte, sortierte Kurumi gerade seine Habseligkeiten. Himmel, nicht mal das Auspacken lohnte sich! Eigentlich handelte es sich quasi um Totholz! Vermisst hatte er den Inhalt der Kartons bisher noch gar nicht. Leicht desorientiert überkam Minoru ein Anflug von Panik. Kurumi ließ ihn gar nicht erst bis ins Mark erschrecken. Erstens, die Lektion im väterlichen Haushalt hatte er abgesagt, so höflich und zivilisiert es ihm möglich war. Zweitens, die Frau Mama war ebenfalls im Bilde (sogar wortwörtlich), man hatte bereits geplaudert. Minorus Aufgabe bestünde jetzt darin, sich so weit zu erholen, dass ungefährdet die Rückreise angetreten werden konnte. Deshalb lautete sein augenblickliches Ziel, sich den ausgeräumten Magen zu füllen! Woraufhin Kurumi präsentierte, was er zuvor käuflich erworben hatte. Irgendwas würde bestimmt den Appetit hervorlocken, hoffte er zuversichtlich. Minoru mümmelte angestrengt, ihm immer wieder hilflose Blicke zuwerfend. Dankes-Hymnen waren nicht gefragt, ausdrücklich verboten worden! Außerdem, als Reisekameraden sei man einander ja nicht fremd, nicht wahr?! Sehr zufrieden mit den Fortschritten gestattete Kurumi auch assistiertes Aufstehen. Die Knie, wackelig, trugen tapfer die sehnige Gestalt. "Was meinst du, wäre eine Dusche jetzt nicht fein? Deine Sachen sind auch schon trocken, nach der Wäsche." Offerierte Kurumi aufmunternd. Minoru nickte vorsichtig, murmelte hastig einen Dank, bevor er erneut einen strengen Blick ernten konnte. Während der Jugendliche die spartanische Nasszelle bevölkerte, lüftete Kurumi gründlich durch. Allerdings hob das nicht gerade den trübsinnigen Eindruck seines Appartements. "Was habe ich mir nur gedacht?" Dessen konnte er sich wirklich nicht mehr entsinnen. Möglicherweise wollte er damals einfach nicht völlig in die Neo-Nomaden-Kultur der Großstädte eintauchen? Er entführte den Pyjama zum raschen Durchschwenken, wartete auf Minorus Rückkehr. Der, brav bekleidet und leidlich angenehmer anzuschauen, nahm wieder Platz, wurde mit Medizin behelligt, in eine leichte Decke gewickelt, um Rückzugsgefechte gegen die Bazillen zu unterstützen. "Sprich ruhig mit deiner Mutter, ja? Ich vertrete mir solange die Füße." Bot Kurumi an, schlüpfte rasch in die Schuhe, verließ sein Appartement, keinen Widerspruch abwartend. Er marschierte flott ums Geviert, dachte darüber nach, das "Totholz" auch noch loszuwerden. Allerdings würde er sich dafür an einem anderen Sonntag Zeit nehmen. Man musste ja nichts überstürzen! Als er sein Appartement wieder betrat, empfing ihn Stille. Minoru saß artig eingewickelt, doch sein fahles Gesicht wirkte wie erstarrt. "Herrje! Was ist denn geschehen?" Erkundigte sich Kurumi impulsiv, plumpste verdattert neben Minoru auf die Polster. Als so einen Drachen hätte er die werte Mama nicht eingeschätzt! Der Jugendliche senkte den Kopf. Unter der Decke ahnte Kurumi verkrampfte, makellose, elegante Hände. "Man war sehr verärgert. Körperliche Unzulänglichkeiten stellen einen Charaktermangel dar." Wisperte Minoru schließlich mit seiner tiefen Stimme rau. "Oh. Tatsächlich." Grummelte Kurumi, der begriff, dass Minoru nicht nur mit seiner Mutter gesprochen haben musste. "Nicht meine Auffassung. Wir alle werden mal krank. Wir brauchen alle mal Hilfe. Aber man hat natürlich das Recht auf eine eigene Meinung." Ganz gleich, wie bescheuert sie sich ausnahm. "Lass dich davon nicht unterkriegen, Minoru! Wichtig ist, dass du wieder gesund wirst. Alles andere kann man danach klären. Was sagt deine Mutter denn?" Eine winzige Entkrampfung folgte dieser Frage. "Sie ist sehr dankbar für Ihre Hilfe. Ich hätte es ihr auch nicht verschweigen dürfen." Minoru seufzte leise, hielt noch immer den Blick gesenkt. "Es ist nicht so, dass ich ihr etwas vormachen wollte. Nur muss ich eben durchhalten. Ich kann nicht einfach aufgeben." Womit er zweifellos auf die "Abmachung" referierte. "Ein ziemlich großes Anwesen, oder? Darfst du alles ansehen?" Lenkte Kurumi gezielt ab. Neben ihm seufzte Minoru erneut. "Nein. Ich darf nur ganz bestimmte Räume betreten, und nur in Begleitung. Sprechen ist nur erlaubt, wenn man mich direkt adressiert. Auf keinen Fall darf ich das Wort an die Hausherrin richten. Oder auf andere Art Aufmerksamkeit auf mich ziehen." Er zog unter der Decke die Beine vor den Leib. "Kennen Sie diese Metapher, 'man könne die Luft in Würfel schneiden'? Genauso ist die Atmosphäre dort, bleischwer, hochverdichtet und giftig." Impulsiv legte Kurumi einen Arm um die hochgezogenen Schultern des Jugendlichen. "Hört sich fürchterlich an. Du bist dort nicht wohlgelitten, hm?" Minoru lachte leise auf, bitter, keineswegs wie ein braver, ein wenig naiver Oberschüler in Prinzen-Erscheinung. "Mir schlagen Verachtung und Ablehnung entgegen. Ich muss erst ein Existenzrecht beweisen." Was sollte man darauf antworten? Welchen Trost anbieten? "Ich bin sehr froh, dass Sie gemeinsam mit mir reisen, Herr Mifune. So verliere ich nicht ganz den Mut, fühle mich allein dieser Situation ausgeliefert." "Also, zu viel der Ehre! Ich bin bloß ich selbst, damit ganz fürchterlich banal." Stellte Kurumi fest, drückte Minoru behutsam eine Schulter. "Apropos banal: in einem Anfall kindlicher Fresslust habe ich vorhin einige altmodische Süßigkeiten gekauft! Weißt du, die Dinger, die man früher beim Kramladen bekam. Wollen wir die vernichten?" Dabei beugte er sich vor, äugte um Zustimmung heischend in Minorus noch immer sehr blasses Gesicht. Der lächelte schüchtern. "Ich würde Ihnen sehr gern assistieren." "Prima! Perfekt! Oh, das wird garantiert lustig! Kennst du die Dinger hier? Man muss sie gerade auseinander brechen." Eifrig schüttete Kurumi seine Beute aus, forcierte damit, dass Minoru sein kompaktes Paket auflöste, sich ihm zuwandte, auf die bunte Menge zwischen ihnen ausgerichtet. Ja, vielleicht pflegte er allzu oft kindliche Anwandlungen in ungenierter Albernheit, doch Kurumi testierte sich selbst, dass er damit regelmäßig Sympathien gewann, Situationen entkrampfte! ~+~+~* Kurumi gelang es, Minoru auch zu überzeugen, auf der Rückreise ein Nickerchen einzulegen. Als sie gemeinsam den Waschraum verließen, um eine neue Woche anzutreten, dirigierte er keinen Zombie mehr. Fest stand, dass er Minoru mochte. Den, der nicht völlig erstarrt, verzweifelt und eingeschüchtert die erste Zeit neben ihm kauerte, sondern den Jugendlichen, der von Erschöpfung aufgetaut sein Vertrauen suchte, ihm so aufmerksam lauschte. Eigentlich war es deshalb auch nicht nötig, wie Mutter Habicht nachzuhaken, dennoch wollte Kurumi sich versichern, dass Minoru es nicht erneut übertrieb. Sich zu schnell wieder forderte, um die Erkrankung der Vorwoche zu kompensieren, um es damit, in der Regel, schlimmer zu machen, sogar einen Rückfall auszulösen. Minoru antwortete brav auf Nachfragen, die, humoristisch getarnt, darauf abstellten, sich Zeit zu lassen. Er versicherte, dass er auf sich achten, sich pflegen würde, vermutlich schon deshalb, um einen zweiten Tadel zu vermeiden. Was Kurumi auch abends, wenn er wieder in eine Kapsel oder eine Koje kroch, beschäftigte. Warum behandelte man den avisierten Nachfolger so grässlich kalt? Wollte man Minoru vergraulen? Da könnte man sich doch aber die Mühe sparen, ihn jede Woche herbeizuzitieren. Sehr seltsame Verhältnisse! Wenigstens für einen durchschnittlichen, banalen Typen wie ihn! Ach ja, was dann wieder zum Appartement führte... Doch solange er Minoru begleitete, hielt es Kurumi für angezeigt, keine ernsthaften Konsequenzen aus seiner Stimmung zu ziehen. Wenn er wirklich diesen "Hafen" aufgeben wollte, könnte er das zackig angehen, wenn er sich dazu entschlossen hatte. Jawollja, immer ein Mann der Tat! ~+~+~* Wie vereinbart trafen sie sich auf dem Bahnsteig, nicht mehr im Waschraum. Allerdings zog Minoru auch dieses Mal Aufmerksamkeit auf sich. Nicht wegen einer Ballonmütze, nein, obwohl er erneut die Brille trug. Aber er wirkte dezent desorientiert, ein wenig wacklig. "Du liebe Zeit!" Brummte Kurumi besorgt, gab seine Position in der Warteschlange auf, rückte nach hinten. Unaufgefordert wischte er mit der Hand unter den wirren Pony, dem Seitenscheitel entflohen. Rosig angehauchte Wangen verrieten Minoru, dessen schwarze Augen wie poliert glänzten. "Du glühst ja förmlich! Willst du nicht nach Hause?" "Ich habe Medikamente genommen. Die ganze Woche." Antwortete der Jugendliche ihm, wenn auch nicht exakt im Thema. "Herrjemine!" Konstatierte Kurumi besorgt, fasste nach dem Rucksack, kramte ungeniert wie ein naher Verwandter herum, beförderte die einzelnen Verpackungseinheiten ans Licht. "Ach du Schande. Kein Wunder, dass du so taumelig bist." Andererseits wirkte Minoru durchaus noch ansprechbar. "Hör mal, willst du nicht doch lieber nach Hause?" Er legte beide Hände auf die sehnig-schmalen Schultern des Jugendlichen. "Nein! Ausgeschlossen! Ich MUSS mit Ihnen sprechen! Bitte!" Inzwischen rückte man in den Zug ein, weshalb eine Entscheidung forciert wurde. Minoru umklammerte mit eiskalten Händen Kurumis. "Bitte, ich MUSS einfach mit Ihnen sprechen!" Appellierte er hitzig, eindringlich, mit einem Hauch Verzweiflung. Kurumi gab nach, auch, weil man bereits grummelte. Er entzog Minoru eine Hand, walzte durch den Gang, um Plätze für sie zu suchen. Er kaperte Reisetasche und Rucksack, verstaute sie beide überkopf, zwang Minoru, den Dufflecoat anzubehalten, sich einzukuscheln. "Die ganze Woche... wirklich, ich kann nicht mehr länger warten!" Stieß Minoru neben ihm hervor, die dunkle Stimme beschlagen. "Gut, wir werden reden." Entschied Kurumi, der ahnte, dass es sich um ein Sujet drehen würde, das man nicht per Telefon oder Text abhandeln konnte. "Aber du fieberst. Wenn du all diese Medikamente genommen hast..." "Bitte! Bitte helfen Sie mir!" Nun glitzerten Tränen in den schwarzen Augen. Auch die Anzeichen der Erschöpfung, körperlich wie seelisch, konnte Kurumi nicht ignorieren. "Also gut. Schick deinem Vater die Nachricht, dass du den Frühzug nimmst. So haben wir Zeit, uns bei mir zu unterhalten." Ohne Druck, ohne Auditorium, vielleicht halbwegs bei nüchternem Verstand. Minoru lächelte so herzerweichend erleichtert, dass Kurumi sich regelrecht schurkisch vorkam. Himmel, welche Position hatte er sich unbedachter Weise im Leben dieses Jugendlichen erschlichen?! Das beschäftigte ihn lange, während Minoru nach zittrig abgesetzter Textnachricht neben ihm in einen fast komatösen Schlaf fiel. ~+~+~* Die kalte Luft am Busbahnhof wirkte wie eine eisige Dusche. Zumindest auf Kurumi, der sich durchaus sorgte, was er wohl angestellt hatte. Mal wieder ohne große Gedanken ausgelöst! Minoru kauerte zusammengerollt auf einem Sitz im bescheidenen Wartehäuschen. Er hatte noch immer Fieber, zitterte aber auch gleichzeitig vor Erschöpfung. "Darf ich etwas fragen?" Erkundigte er sich, mit leicht schleppender Diktion, als sei selbst seine Zunge vollkommen ermattet. "Natürlich. Nur keine Scheu!" Kurumi ging vor seinem jugendlichen Mitreisenden in die Knie, kämmte selbstherrlich dessen Gesicht frei. "Dieser Mann aus dem Video..." "Ah, du meinst den AV-Schauspieler? Eine wahre Legende, aber er dreht nicht mehr." "Hat er...alles nur...vorgetäuscht?" Kurumi runzelte die Stirn. "Vorgetäuscht? Du meinst, dass es nicht echt ist? Ich bin kein Schauspieler, aber ich glaube, dass zumindest die Emotionen ihm nicht ganz unbekannt waren. Sonst hätte Felice nicht so lange Zeit so viele Leute fasziniert." "...Felice?" "Ah, das ist der Künstlername. Er war ein Topseller, soweit ich weiß." Minoru blinzelte fahrig. "Was ist aus ihm geworden?" Obwohl Kurumi schwante, dass das eigentliche Sujet noch nicht auf dem Tapet lag, schreckte er nicht zurück. "Er hat sich aus dem Betrieb zurückgezogen. Es hieß, aus gesundheitlichen Gründen. Allerdings hält sich hartnäckig das Gerücht, er habe sich in einen Kollegen verliebt und lebe jetzt glücklich mit ihm bis ans Ende ihrer Tage." Schmunzelte Kurumi, der das zwar für Wunschdenken hielt, aber selbst daran glauben wollte. Minoru kontemplierte diese Antworten stumm, brütend. Vielleicht aber auch nur so erledigt, dass jeder einzelne Gedanke viel mehr Umdrehungszeit benötigte, bis er Anschluss an den nächsten hatte. "Ah, der Bus!" Mit etwas Aufschub versehen federte Kurumi erleichtert hoch, half Minoru beim Aufstehen. Theoretisch konnte er die kurze Zeit nutzen, sich zu überlegen, wie er Minoru antworten wollte. Praktisch betrachtete Kurumi den fiebrigen Jugendlichen an seiner Seite entwaffnet. FALLS seine Ahnung sich bewahrheitete, würde er vom Honigtopf nicht lassen können. ~+~+~* Als sie aus dem Bus ausstiegen, nahm Minoru einfach seine freie Hand. Durchaus verwunderlich für einen sonst so zurückhaltend- reservierten Jugendlichen. Andererseits belog derselbe Oberschüler gerade seinen gefürchteten, überaus strengen Vater, um mit einem quasi Fremden ein mutmaßlich sehr heikles Sujet zu besprechen! Kurumi beschwerte sich nicht, sondern ging voran, in der zutreffenden Annahme, dass sich Minoru wohl kaum des Weges entsinnen würde. In der Nacht eine Woche zuvor konnte man ihn nur als schwer angeschlagen einordnen. Sie stellten ihr jeweiliges Gepäck ab, schlüpften aus den Schuhen. Kurumi gestikulierte zu seinem Sofabett hin, dort Platz zu nehmen, während er rasch querlüftete, um die abgestandene Atmosphäre zu beleben. Minoru wartete artig, nicht so angespannt-alert wie Kurumi es angenommen hatte. Andererseits wütete auch noch das Fieber, was dem rosigen Teint des Gesichts wohltat. "Oh!" Stellte Minoru plötzlich fest, rappelte sich auf, apportierte seinen Rucksack. Er barg daraus, ganz unten, gepolstert verpackt, ein Geschenk-Paket, überreichte es Kurumi mit einer formellen Verbeugung, beinahe überkippend. Eilig stabilisierte der den trudelnden Jugendlichen, beäugte das Präsent wohlwollend. "Danke schön, aber es wäre wirklich nicht notwendig gewesen." "Verzeihung, ich hätte es schon gleich überreichen sollen. Meine Mutter ist sehr dankbar für Ihre Fürsorge." Kurumi drückte Minoru behutsam auf das Sofabett. "Bleib lieber hocken, Kamerad, sonst fällst du mir noch um! Lass mal fühlen." Tastete er unter dem wirren Pony nach der Temperatur durch Handauflage. "Es geht mir gut, wirklich! Aber meine Gedanken...!" Das Präsent-Paket auf die Seite gestellt nahm Kurumi selbst Platz, betrachtete das attraktive Gesicht. "Was beschäftigt dich denn so hartnäckig?" Lieferte er die Steilvorlage, in gewisser Vorahnung. Minoru straffte seine sehnige Gestalt, funkelte trotz merklich erhöhter Temperatur entschlossen. "Ich kann einfach diese Aufnahme nicht vergessen! Gerade mal, wenn ich in der Schule bin, rückt sie in den Hintergrund, aber dann...!" Kurumi entschied, sich nicht zu scheuen. "Kannst du dir erklären, was genau dich so fesselt?" Vor ihm wich Minoru seinem Blick aus, verkrampfte die makellosen Hände im Schoß, rang mit sich, bevor er wieder tapfer aufsah, Fäuste ballte. "Ist es wirklich so? Fühlt man sich wirklich so beim Sex?!" »Oha.« Kurumi konnte nachvollziehen, dass es kein Thema darstellte, dass man der eigenen Mutter zumuten wollte. Dass vielleicht auch zu heikel für den Lebensgefährten war. "Hast du schon mal einen Porno gesehen?" Umkreiste er die Fallgrube. Minoru nahm ihm offenbar den Umweg nicht übel. "Ein Klassenkamerad hat mal ein AV ausgeborgt. Aber das hat mich eher befremdet." Was man dem attraktiven Gesicht mit den klassisch-schönen Zügen unmissverständlich ansehen konnte. "Die Frau~Darstellerin war sehr stark geschminkt. Ihre Brüste wirkten überdimensioniert. Sie hat mit heller Stimme gesprochen, irgendwie kindlich Es sollte moe sein, aber..." Der Jugendliche schauderte mit einer Grimasse, blickte Kurumi inquisitorisch an. "Ganz und gar nicht zu vergleichen! Dieser Felice wirkt so entrückt! So beseelt!" Ein Zustand, der zweifelsohne alle Betrachter von der ersten Ausstrahlung an fasziniert, angezogen hatte. Von AN-Regung ganz zu schweigen! "Hattest du schon mal Sex?" Auf halbem Weg umkehren hielt Kurumi für Feigheit vor dem Reisegefährten. Minoru winkte entschieden ab. "Nein, gar nicht. Ich meine, ich bin über die technischen Details der Biologie im Bilde. Wenn auch nicht gerade bei einem Mann auf DIESE Weise." Was selbstredend kein Curriculum vorsah und eher grob über die Populär-Medien in Erfahrung gebracht werden konnte. Kurumi seufzte hörbar. Solche Gespräche wollten Eltern nie mit ihren Kindern führen (und umgekehrt). Andererseits war er KEIN Elternteil, die Mutter Habicht-Rolle mal ausgenommen. Bloß, ganz uneigennützig konnte er sich auch nicht geben! Er betrachtete Minoru aufmerksam, registrierte dessen fiebrig-entschlossenen Blick. Es verlangte den Jugendlichen nach einer Auflösung, einer Antwort. "Sex kann so sein wie in dem Video. Wundervoll, phantastisch, ekstatisch. Allerdings setzt es gewisse Übung voraus und Selbsterkenntnis, was den eigenen Körper betrifft." Minoru sackte tiefer in die Polster des Sofabetts. "Es ist tatsächlich möglich? Sich so zu fühlen wie dieser Felice?" Kurumi ersparte sich eine Wiederholung. Der Honigtopf wartete, verlockte ihn unwiderstehlich. "Willst du es herausfinden, Minoru?" ~+~+~* Die schwarzen Augen, obwohl fiebrig poliert, richteten sich direkt auf Kurumi. "Ja, bitte. Ich weiß, ich bereite Ihnen Umstände." Kurumi beugte sich vor, pflückte die Fäuste von den Oberschenkeln, zog Minoru auf die Beine, blickte ihn ernst und konzentriert an. Ja, der Jugendliche (zehn Jahre jünger! Minderjährig! Absolut unerfahren!) vor ihm war zu allem entschlossen. Glaubte der zumindest. Ein moralisch integrer, tadellos anständiger, ethisch unerschütterlich gefestigter Erwachsener hätte abgelehnt. Kurumi schubste all diese Bedenken beiseite. "Ich möchte, dass du dich frisch machst, Minoru. Ich habe eine Yukata, die lege ich dir raus. Eine Regel gilt ohne Widerrede: es wird nichts erzwungen. Einverstanden?" Damit löste er seine Rechte, bot demonstrativ den kleinen Finger zum Schwur. Minoru hakte sich ohne Zögern ein, nickte mit einem erleichterten Seufzer. "Dann mal los!" Kommandierte Kurumi streng. Während Minoru brav unter die Dusche verschwand, atmete Kurumi tief durch. Selbstredend hatte er, für die glücklichen Zufälle des Lebens, Kondome und auch ein Stick mit Gleitgel am Mann. Hygieneartikel, Check! Rasch jetzt, Badelaken auf dem Sofabett ausbreiten! Beleuchtung, uh, zu grell! Nun, das Mobiltelefon musste sowieso in Bereitschaft bleiben, dem Weckdienst geschuldet. Da konnte man einen angenehmen Bildschirmhintergrund wählen, der als atmosphärische Funzel fungierte. Da, die Yukata! Ausschlagen! Leidlich durch die Luft geprügelt würde sie keinesfalls das kunstvolle Gewand ersetzen. Ein Lendentuch traditioneller Art konnte er auch nicht aufbieten. Aber es würde genügen müssen, um Minoru in Felices Rolle schlüpfen zu lassen, hoffte Kurumi. Liebe Güte, mit einem Novizen hatte er es noch nie zu tun gehabt! Andererseits galt ja die Regel. Möglicherweise würde er gar nicht allzu weit kommen. Kurumi streifte sich Hemd und Hose ab, testete die Polsterung des Sofabetts, überprüfte die Erreichbarkeit aller notwendigen Hilfsmittel. Schön, er würde sich einfach überraschen lassen, nicht wahr? Abwechslung bot schließlich die Würze in der Suppe des Lebens! ~+~+~* Kurumi streckte Minoru einladend die Rechte entgegen, damit der auf dem Sofabett Platz nahm. Er hob sanft, aber bestimmt die Brille vom Nasenrücken des Jugendlichen, legte sie beiseite, fischte eine leichte Decke heran, die er sich selbst um die Schultern legte. Im Zwielicht der Mobiltelefon-Beleuchtung adressierte er Minoru leise. "Ich bin auf deine Unterstützung angewiesen, Minoru. Gib mir Hinweise, was du magst und was nicht. In Ordnung?" Minoru nickte, ein wenig entrückt, was Kurumi dem Fieber zuschrieb, lächelte leicht. "Vielen Dank. Ich habe Vertrauen." Mit seiner unerwartet tiefen Stimme (für so eine eher sehnig-schlanke Gestalt) verblüffte er Kurumi immer wieder. Tatsächlich schienen Ruhe und vorfreudige Erwartung nicht vorgetäuscht. Am Mut seines jüngeren Spielgefährten würden sie nicht scheitern! Sanft fasste Kurumi ihn an den Schultern, drehte ihn herum, schlug die Decke um sie beide, zog dabei Minoru so nahe an sich heran, wie ihre Physis es zuließ. In dem Video hatte man frontal auf das kostbare Kostüm gehalten, Felice im Fokus. Der Partner, dessen Kurumi sich nicht entsinnen konnte, blieb in dessen Schatten, verborgen, nur existent durch Hände und Arme. Zumindest in diesem Part des Films. Kurumi eiferte dem "Unsichtbaren" nach, streichelte erst über den glatten Stoff der Yukata, nutzte die Einschübe in Brusthöhe, wo der Gürtel vollständiges Entblößen behinderte. Minoru schmiegte sich an ihn, seufzte leise, genoss die Liebkosung seiner straffen Brustpartie, der bereits alert aufgerichteten Brustwarzen. Er legte den Hinterkopf auf Kurumis Schulter, spreizte wie sein Vorbild die aufgestellten Beine breit, mit dem Unterschied, dass ER auf Unterwäsche, ob traditionell oder modern, verzichtet hatte. Kurumi bediente sich, angefeuert durch die erhöhte Temperatur, die Minoru wie ein Heizöfchen verströmte, aber auch durch die wohligen Seufzer, die ihm verrieten, dass der Jugendliche seine Aufmerksamkeiten goutierte, sich im Schritt streicheln und erkunden ließ, massieren, leicht wiegen. Dazu platzierte Kurumi impulsiv einen Kuss auf ein zugeneigtes Schlüsselbein, einfach, weil es verlockend in Reichweite durch den verschobenen Stoff der Yukata entblößt war! Minorus Hände wanderten über die Polsterung. Er hob die Arme überkopf, durchaus ziellos, haschte nach einem Halt, wenn er den Rücken durchbog, weil Kurumis Aufwartung zügig unverkennbare Erregungszustände potenzierte. Kurumi dirigierte einhändig zur Decke hin, damit sich die eleganten Hände dort anklammern konnten, fasste unter das Kinn. Er verstieß fundamental gegen die "Regeln" der AV-Filme (zumindest in gewissen Genres). Denn er legte schlicht die Lippen auf den vor Lust keuchenden Mund. ~+~+~* Man hätte es schon ein wenig mit der Angst zu tun bekommen können, weil sich Minoru wirklich ohne Netz und doppelten Boden anvertraute! Sich ganz fallen ließ, keinen Widerstand, keine unwillkürliche Reserve präsentierte. Kurumi konnte sich nicht entsinnen, wann er das letzte Mal jemanden geküsst hatte. Vor allem nicht auf diese Weise, so verlangend und hingebungsvoll! Er hatte nicht gerade geringe Mühe, sich auf seine Aufgabe zu besinnen. Unfallfrei zumindest war ein Kondom auf dem Geigerzähler der Lust montiert, jetzt galt es! Fingern, um profan zu werden. Gummi, Stick mit Gleitgel, Minoru quasi auf dem Schoß, der sich ähnliche Emotionen erhoffte wie im Film! Dazu spreizte der Jugendliche nicht nur hilfreich die Beine, sondern hielt sie auch noch! In Kurumis Schläfe pochte ein rasender Pulsschlag wie Trommelwirbel. Herrje, wie lange war es her, dass er Sex nicht rasch, verstohlen, schnell, meist im Stehen erlebt hatte?! Er fragte sich, mühsam die letzten Reste seiner Konzentration gruppiert, wann Minoru zurückwich. Immerhin, fremde Finger in einer sehr sensiblen Körperöffnung...! Doch die heiseren Laute, die sich aus dem schlanken Körper wanden, klangen nicht nach Rückzug. Sie feuerten ihn im Gegenteil an, immer noch ein wenig weiter zu gehen. Selbst mit Schnappatmung den Jugendlichen gierig zu küssen, ihn umschlungen zu halten, mit der Linken die Erektion zu umgarnen, während die Finger der rechten Hand ihre Exkursion auf den Höhepunkt trieben. Im Duett orchestriert, zweifellos auch stark unterstützt von Fieber und Medikamenten, reüssierte Kurumi in ihrer Filmkopie. ~+~+~* Kurumi ließ Minoru sanft auf den Rücken gleiten, studierte, sich mühsam beherrschend, die Vitalfunktionen des Jüngeren. Ja, der Atem ging noch sehr rasch, aber ansonsten schien sich Minoru ausgezeichneter Verfassung zu erfreuen. Jetzt stellte sich nur ein Problem dar: ER musste seinen Pumpschwengel flott versorgen! Bevor es unangenehm wurde. Was besagte die Etikette in diesem Fall? Bevor Kurumi mit höchster Selbstbeherrschung das Eiern in die Nasszelle in Angriff nehmen konnte, legte sich eine warme, elegante Hand auf seinen Oberschenkel. Minoru blinzelte äußerst kurzsichtig zu ihm hoch. Ein beseeltes Lächeln auf den attraktiven Zügen. "Wir können weitermachen, wenn du magst." Das erste Mal, dass der Jugendliche ihn so direkt, intim ansprach. Kurumi beugte sich herunter, strich über die rosig angehauchten Wangen. "Ich bin nicht sicher, dass ich mich zurücknehmen kann." Bekannte er offen. Minoru lachte leise auf, unglaublich verwandelt. "Das ist nicht nötig." Selbstredend wäre es nun höchst angezeigt gewesen, diese allzu optimistische Einstellung mit Fakten zu kontern. Immerhin, Finger waren ja nun doch nicht...und grundsätzlich wurde die halbe Rolle rückwärts ja auch...!! Kurumi sparte sich Atem und Speichel. Nein, Minoru und Felice ähnelten einander äußerlich nicht wie Zwillinge. Aber die erotische Sinnlichkeit ihres Verlangens schien ihm von identischer Anziehungskraft. Er würde aufhören, wenn...genau! Aber bis zu diesem Zeitpunkt...! In Erkenntnis wenig kohärenter Gedanken verließ Kurumi sich auf seine pragmatischen Eigenschaften und Impulse: Kissen rollen, unter die schlanken Hüften legen, das Zepter einpacken und einölen. Sich hinunterbeugen, Minoru ausgiebig, gründlich, leidenschaftlich küssen. Danach die Bremsen lösen. Herausfinden, ob sie auch den Rest des Films erfolgreich absolvieren konnten! ~+~+~* Minoru hielt reflexartig den Atem an, spannte Muskeln zu einem SEHR engen Ring. Bevor Kurumi sich äußern konnte, atmete der Jugendliche tief durch, löste damit die einkerkernde Spannung, die Lider mit den dichten Wimpern gesenkt, die Arme um Kurumis Schultern geschlungen, die Beine hoch angezogen, gespreizt. Sicherlich keine Übung für die Unsportlichen! Mit einem sonoren Brummen der Lust Luft holend. Kurumi hatte das Gefühl, ihm zerspringe gleich der Schädel, weil er bis in die letzte Faser seines höchst erregten Körpers spürte, dass Minoru es wollte. Ihn wollte. Herausfinden, ob er denselben Hochgenuss, die Ekstase erleben konnte wie ein AV-Filmstar, wenn er sich hingab, total überantwortete, auslieferte. Die Knie in die Polsterung gestemmt konnte Kurumi nicht mehr anders, musste Schwung holen, vibrieren, sich elektrisiert aufreiben in dieser heißen, fast glitschig präparierten Engstelle. Vage registrierte er die gekreuzten Beine an seinem unteren Rücken, den Druck der Fersen auf seiner Kehrseite. Er hätte sich schuldig fühlen müssen, bei einem Novizen derart ranzugehen, sich auszutoben, seiner Lust die Zügel schießen zu lassen! Aber Kurumi gab sich schlicht der Situation geschlagen. Minoru wollte leidenschaftlich, mit sowohl Finesse als auch Engagement, geliebt werden. Wer hätte dieser Einladung, diesem sonoren Sirenengesang widerstehen können?! ~+~+~* Kurumi übernahm die Hygienearbeiten, also Kondome bergen, Spuren tilgen, abtupfen. Er wickelte Minoru aus der zerknitterten Yukata, behutsam, zärtlich. Ja, das Fieber tobte sich noch immer aus. Die Gesichtszüge des Jugendlichen blieben entspannt, mit einem Lächeln auf den Lippen. Es wirkte auf keinen Fall, als habe er Minoru zu viel zugemutet, ihm Schmerzen bereitet. "Mein lieber Schwan!" Murmelte Kurumi, schlüpfte unter die fürsorglich wieder ausgebreitete Decke. Er war sich wirklich nicht sicher, ob er jemals so Sex erlebt hatte, so rückhaltlos gefordert, aber auch gewollt worden war. Wo keine Show, keine Macht-Spielchen, keine "Rollen" auftraten oder Rechtfertigungen bemüht wurden. Nichts dergleichen. Im Schimmer der Mobiltelefonbeleuchtung betrachtete er das attraktive Gesicht des Oberschülers. Nicht der Hauch von Enttäuschung oder Reue, von Zweifeln, Bedauern. Unwillkürlich überkam Kurumi eine gewaltige Woge von zärtlicher Zuneigung, riss ihn mit sich. Er wollte, soweit es ihm möglich war, Minorus unbedingtes Vertrauen, dessen Liebesfähigkeit bewahren und beschützen! ~+~+~* Kapitel 17 Der Ruf der Natur kam dem Alarm zuvor. Kurumi gönnte dem Mobiltelefon eine Pause zwecks Aufladung, erleichterte sich eilig, machte sich frisch. Er konnte Minoru noch schlafen lassen. Oder ihn wecken, damit sie gemeinsam frühstücken gingen. Für die Entscheidung maßgeblich würde die Temperaturmessung per Handauflage sein. Damit entlockte er Minoru einen leisen Seufzer, ein Flattern der Lider. "Entschuldige, ich wollte nur sehen, ob das Fieber gesunken ist." Wisperte Kurumi gedämpft, über den Jugendlichen gebeugt, der sehr kurzsichtig zu ihm hoch blinzelte, lächelte. "Wie fühlst du dich, hm? Schwindlig?" Minorus Lächeln vertiefte sich zu einem Ausdruck lebendiger Beseelung. "Ich fühle mich wie entfesselt. Gelöst, nein, sogar erlöst! Vielen Dank!" Er streckte die dünnen Arme mit den eleganten Händen hoch, legte sie um Kurumis Nacken. Der fasste umgekehrt zu, half Minoru, sich aufzusetzen. "Tut dir auch wirklich nichts weh? Glaubst du, dass du aufstehen kannst?" Betätigte der sich als besorgte Glucke, verzog darob die Miene in Selbstkritik. Minoru legte ihm die Stirn an die eigene, leise lachend, ihre Nasenspitzen reibend. "Mir tut nichts weh, aber ich glaube, ich könnte Hilfe brauchen. Es bizzelt noch in meinem gesamten Körper. Wie eine elektrische Ladung." Schmunzelte er über sich selbst. Kurumi half ihm fürsorglich, sich auf die wackligen Beine zu stellen, schlang eilig die Decke um den vollkommen entblößten Jugendlichen. "Ich helfe dir in die Dusche, ja? Vielleicht müssen wir, na ja, schauen, ob alle Gleitmittelreste entfernt sind." Eigentlich keine Beschäftigung, der Kurumi oft nachging, weil seine bisherigen Partner sich selbst versorgten. Die Profis ohnehin. "Danke schön." Antwortete Minoru guter Dinge, ließ sich gestützt führen, durchaus verhätscheln mit sanftem Einschäumen und Abreiben, zartem Duschstrahl, anschließend trocken tupfen. Kurumi assistierte sogar beim Anziehen, nicht zwingend aus Notwendigkeit, sondern aus dem höchst bedenklichen Drang heraus, Minoru berühren zu können, ihm mit einfachen Gesten Verbundenheit zu signalisieren. Was schon gefährliche Ausmaße annahm, wenn man die Warnungen des Verstands nicht vollends ignorierte! Um diese Klippe zu umschiffen, drängte Kurumi auf ein aushäusiges Frühstück. ~+~+~* Sie zogen Aufmerksamkeit auf sich, nicht nur, weil hier zwei junge Männer gemeinsam in einem eher auf Familien ausgerichteten Franchise-Unternehmen speisten. Oder weil sie eigentlich Unbekannte waren im gewöhnlichen Besuchskontingent an einem Sonntagmorgen. Nein. Weil Minoru von innen heraus strahlte, als sei ein Licht entzündet worden. Die durchaus attraktive, klassisch-elegante Schönheit des Prinzen hatte nichts mehr von ihrer banalen Wohlgefälligkeit. Minoru verströmte eine sinnliche Erotik mit seinem leichten Lächeln, dem schelmischen Funkeln in den tiefschwarzen Augen, seinen geschmeidigen Gesten, die einem beinahe den Atem rauben konnten. Eine Erotik, die faszinierte, alle Blicke auf sich konzentrierte. Da half keine etwas zu große Brille, kein Clark Kent-Superman-Effekt tarnte hier. Die ein wenig steife Höflichkeit in der angespannten Haltung war restlos verpufft. Kurumi konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob Minoru sich dieses Effekts auf seine Umwelt bewusst war. Die Aufmerksamkeit des Jugendlichen wiederum widmete sich ganz ihm, das gelöste Lächeln, die scherzhaften Bemerkungen, die zärtlichen Blicke. Meine Güte, das konnte einem ja richtig zu Kopf steigen! Bevor Kurumi in die gefährlichen Gefilde geriet, sich etwas einzubilden, drängte sich der fingierte Ankunftstermin dazwischen. Immerhin hatte Minoru ja vorgegeben, den ersten Morgenzug zu nehmen. Deshalb mussten sie sich auch zeitnah trennen. "Ich freue mich schon auf die Rückfahrt heute Nacht. Noch mal vielen Dank. Ich bin gerade so glücklich, dass ich über dem Boden in den Wolken schweben könnte!" Vertraute Minoru Kurumi verschmitzt an, der erneut per Handauflage den Fieberstand kontrollierte. "Es war mir ein phantastisches Vergnügen, Minoru. Achte bitte darauf, dass du dich nicht übernimmst, ja?" "Werde ich, versprochen!" Zwinkerte der Jugendliche mit ungeheuer lebendigem Mienenspiel, riskierte verstohlene Seitenblicke, dippte einen frechen Kuss auf Kurumis Lippen. »Donnerkeil!« Dachte der, während er Minoru nachsah, grüßend die Hand hob. Er kannte zwar die Mär, dass das Erste Mal einen durchaus verändern konnte, doch eine derartige Verwandlung, nein, sogar Entfesselung, hatte er noch nie gesehen! Da konnte einem schon mal ein wenig schwummrig werden! ~+~+~* Kurumi kehrte zu seinem Appartement zurück, räumte ein wenig auf, ließ sich danach auf das Sofabett plumpsen. Die Aussonderungsaktion konnte er jetzt erst mal verschieben. Es gab ja einen gewaltigen Grund, in dieses Appartement einzukehren! Wenn er denn erneut in den Genuss....! Kurumi seufzte vernehmlich, massierte sich die Schläfen. Übereilte er da nicht etwas?! Immerhin hatte er Minoru ja lediglich dabei assistiert herauszufinden, was ihn körperlich beglückte und erfüllte. Das hieß ja nicht gleichzeitig, dass es eine Wiederholung geben würde, richtig? So, wie der Oberschüler jetzt auftrat, von innen heraus Sinnlichkeit ausstrahlte, würde man interessierte Parteien wahrscheinlich mit dem Knüppel auf Distanz halten müssen. Zudem konnte Kurumi noch keine Beziehungen in seiner Biographie vorweisen. Wenigstens nichts, was man landläufig darunter subsumierte, also seriell-konsequentes Miteinander(aus)gehen inklusive körperliche Begegnungen sexueller Natur. Sein schulischer und beruflicher Werdegang hatte keine entsprechenden Optionen geboten. Da sollte er seiner Libido wohl besser die Order geben, den Ball flach zu halten, richtig? Noch während Kurumi mit sich haderte, ob er nicht doch, zur Ablenkung, seine Habseligkeiten durchsehen sollte, klopfte es an der Tür. Überrascht sprang er auf die Beine, durchquerte das kleine Appartement. Vor der Tür stand Minoru, die Rechte auf seine Wange gelegt, einen erschreckend distanzierten Ausdruck auf dem Gesicht. "Was um alles in der Welt...?!" Kurumi legte ihm einen Arm um die Schulter, zog ihn herein, pflückte, während Minoru aus den Schuhen schlüpfte, die Rechte herunter, wo sich direkt unter dem Auge ein hässlicher Bluterguss zu verfärben begann. "Setz dich erst mal, ja?" Dirigierte Kurumi besorgt, ging vor Minoru in die Hocke. "Was ist passiert?" Die tiefschwarzen Augen mühten sich, ihn konzentriert zu fokussieren. Keine Kontaktlinsen?! Aber wo war denn die Brille?! "Ich bin herausgeworfen worden, weil ich mit meinem liederlichen Erscheinungsbild die Tradition verhöhne, in den Schmutz ziehe." Zitierte Minoru leise, mit tiefer Stimme, beinahe unbewegt. "Hat man dich geschlagen? Hat dein Vater das zu verantworten?" In Minorus Mundwinkeln zuckte es kurz. Kurumi ballte unwillkürlich die Fäuste. "Was ist mit deiner Brille geschehen?" Ein angestrengter Ausdruck invahierte Minorus Miene. "Sie fiel zu Boden. Ich vermute, dass die Hausherrin auf sie getreten ist. Sie war sehr empört ob meiner abstoßenden Ausstrahlung." Hochfedernd fischte Kurumi die zusammengefaltete Decke heran, drapierte sie frontal um Minoru. "Bitte hab einen Moment Geduld, ja? Ich bin gleich zurück!" Zum einen, um sich abzukühlen, denn in diesem Augenblick hätte er selbst gern eine Ohrfeige verabreicht, zum anderen, um am Automaten nahezu tiefgefühlte Getränkedosen zu erwerben. Zurückgekehrt wickelte er eine in ein Handtuch, drückte den improvisierten Kühlpack Minoru in die Rechte. "Leg sie auf die Wange, ja? Hast du Schmerzen? Blutest du? Wie ist es innen mit der Wange?" Erkundigte er sich beherrscht. "Es geht schon, danke. Ich habe nur eine Weile gebraucht, um mich zu orientieren." So kurzsichtig wohl kaum verwunderlich! Den Kopf brav kühlend in den Nacken gelegt seufzte Minoru. "Ich ahnte schon, dass ich es nicht schaffen würde, so viel zu lernen. Aber ich wollte auch nicht einfach aufstecken, meine Mutter nicht enttäuschen." Langsam beschlugen die tiefschwarzen Augen. "Als sie mich rauswarfen, dachte ich allerdings bloß daran, dass ich dich nicht mehr treffen kann. Dass wir keine Gelegenheit mehr haben..." Er schluckte merklich an Tränen. Kurumi betrachtete ihn mit ungewohnter Grimmigkeit. Wie konnte irgendwer diesen anziehenden, keineswegs aber vulgär-frivolen Jugendlichen so misshandeln?! Ihm all das vor die Füße kotzen, was die ganze Zeit schon die Atmosphäre vergiftet hatte?! "Das enttäuscht mich jetzt ein wenig, Minoru." Prompt hängten sich Tränenperlen in die langen Wimpern. Kurumi beugte sich hinüber, küsste Tränenspuren ab, fing sie mit der Zungenspitze ein. "Dass du so wenig Vertrauen in unsere Findigkeit hast, Kamerad!" Löste er das Rätsel, zog Minoru in seine Arme, hielt ihn behutsam umschlungen. "Zuerst werden wir dich verarzten, in Ordnung? Während du dich ausruhst, sortiere ich meinen Kram hier, packe zusammen. Es wird zwar wohl ein wenig dauern, aber ich halte ein Appartement in deiner Nähe für eine adäquate Lösung des Problems." In seinen Armen stieß Minoru ein erleichtertes Schluchzen aus. "Ich hatte mich ohnehin schon gefragt, warum ich hierher fahre, wenn mich doch nichts hier hält. Du warst der einzige Grund. Also orientieren wir uns eben um, richtig?" "Danke. Vielen Dank. Oh, ich bin so erleichtert!" Bekannte Minoru, zwischen Schluchzen und Lachen schwankend. Kurumi lächelte grimmig, ein wenig überrascht von sich selbst. "Ein bisschen Geduld werden wir haben müssen, aber ich bin zuversichtlich! Apropos Zuversicht, glaubst du, wir können den Pudding, den deine Mutter als Geschenk mitgegeben hat, gleich hier verzehren? Da hätten wir schon mal einen Fall erledigt." Den improvisierten Kühlpack sinken lassend bestätigte ihm Minoru diesen Vorschlag mit einem zärtlichen Kuss auf den Mund. ~+~+~* Kurumi absolvierte seine selbstgewählte Aufgabe effizient wie stets, wenn er eine Entscheidung getroffen hatte. Die Kündigungsfrist belief sich sehr kurz. So lange hatte er den Mietvertrag noch nicht geschlossen. Zusammen sortiert in die gar nicht erst ausgepackten Umzugskisten konnte man eigentlich schon starten, wenn auch möglicherweise mit einer Zwischenlagerung. Thematisch geschickt beschriftet wäre es auch möglich, die ein oder andere Altlast an neue Nutzende zu überantworten. Kurumi schoss Fotos, machte sich Notizen, während Minoru brav auf dem Sofabett residierte, noch immer zum seelische Trost in die Decke gewickelt, zunächst mit Pudding (aus dem Geschenkpaket) versorgt, danach mit Getränken aus dem Automaten und Gelee aus dem Konbini. "Wie viele von diesen Kontaktlinsen hast du noch? Du wirst eine andere Brille brauchen." Weitete Kurumi unaufgefordert sein Planungsgebiet aus. "Willst du vielleicht auch deine Mutter anrufen? Nur für den Fall." Dass die andere Elternhälfte sich entschloss, ihren gewalttätigen Missmut auch gleich weiterzutragen. Kurumi verspürte einen Stich von Schuldgefühl. Er hatte sich noch in der letzten Woche so munter mit Minorus Mutter unterhalten, während er in der vergangenen Nacht mitursächlich für das finale Zerwürfnis war. "Ich glaube, es ist besser, wenn ich direkt mit ihr spreche. Die schlechte Nachricht wird ja nicht besser, wenn ich mich beeile." Ergänzte Minoru fast ein wenig naseweis, was Kurumi animierte, den Stand der Verfärbung zu kontrollieren. "Hoffentlich gibt das kein Veilchen. Das wird morgen in der Schule bestimmt nicht einfach." Prognostizierte er düster, liebkoste sehr sanft die malträtierte Wange mit den Fingerspitzen. Minoru lächelte, wenn auch nicht mit der faszinierenden Strahlkraft des frühen Morgens. "Das werde ich schon überstehen. Ich sage, ich bin gegen einen offenen Schrank gelaufen." Auf Kurumis kritischen Blick hin addierte er gelassen. "Eine Sportverletzung kann ich kaum glaubhaft anführen. Über meinen Vater samt des Arrangements weiß niemand Bescheid." Minoru schlängelte einen Arm unter der Decke hervor, griff mit der makellosen, eleganten Hand nach Kurumis Pendant. "Bitte entschuldige, dass ich dich so überfalle, dir so viel zumute. Es ist nur so: du bist der einzige Mann, dem ich rückhaltlos vertraue, ganz instinktiv. Ich kann einfach nicht anders. Es fühlt sich schlichtweg richtig und perfekt an." Kurumi hob die Hand, hauchte einen Kuss auf den zarten Handrücken. "Eine Entschuldigung ist nicht nötig, Minoru. Du bist mir keine Zumutung, auf keinen Fall. Ich habe mich ja selbst entschieden, vom ersten Augenblick an, als ich dich ansprach, dass ich neugierig bin. Allerdings bin ich hin und wieder etwas geplättet, wie viel erwachsener du als ich bist!" Fügte er mit einem spitzbübischen Grinsen an. ER hätte sich jedenfalls in Minorus Alter nicht getraut, so klar und direkt auszusprechen, was Sache war! Kurumi konnte an dem erstaunten Blinzeln erkennen, dass Minoru diese Einschätzung bisher noch nicht getroffen hatte. Dabei lautete keine einzige ihrer Reden von Liebe. Doch wenn man alles summierte, das Vertrauen, die Zuneigung, die Gespräche, die Nähe, schlussendlich den Sex... Mit einem Seufzer streckte Kurumi die Waffen, drückte behutsam die elegante Hand. "Jetzt begeben wir uns wohl beide auf Neuland. Ich bin noch nie mit jemandem ausgegangen. Möchtest du mein fester Freund sein, Minoru?" Nach einigen Augenblicken der Überraschung kicherte Minoru. "Eigentlich hätten wir das wohl vorher klären müssen, oder? Ich möchte, sehr gern sogar! Bitte lass uns miteinander gehen." Kurumi nickte heftig, verkürzte rasch die Distanz, um Minoru zu küssen, vorsichtig, sanft, damit die Verletzung durch den Schlag den Genuss nicht trübte. Wirklich wahr, das Leben steckte doch voller Überraschung und unerwarteter Wendungen! ~+~+~* Minoru hatte sich einfach bei ihm eingehakt, den überlassenen Schal geschickt drapiert. So sah man die Verfärbung nicht. Er musste auch keine der wenigen Einweglinsen ohne Not verbrauchen! Kurumi übernahm ohnehin die Führung, weil er sich in der Verantwortung sah. Außerdem wollte er nicht albern eingebildet sein ob des alten Tuchschals in den Farben des Schul-Baseballteams. Wie ein Mädchen, das seinem Schwarm einen solchen Talisman überreichte! Bloß nicht leichtsinnig werden! Die hehere Absicht konterkarierte er aber postwendend, weil er am Bahnhof zwei Lutscher kaufte. Von Minoru kam ein herzlich lächelnder Dank. Kein Hinweis auf das für Männer in ihrem Alter würdelose Erscheinungsbild mit herausragendem Stiel oder dezent ausgebeulter Backe! Minoru lehnte sich im Zug an seine Seite, hielt unter der abgelegten Jacke seine Hand, schlief nach einer Weile friedlich ein, während Kurumi mit Links operierte, durchaus herausgefordert mangels Übung. Aber seine Rechte stellte nun mal ein Unterpfand dar, dass seinem festen Freund temporär überantwortet war. Würde er eben mit Links alles wuppen! Lolli drehen, Mobiltelefon auf dem Schoß balancieren, wischen und tippen! Als Außendienstmitarbeiter und damit Frontschwein par excellence verfügte er über Selbstvertrauen in eigene Entscheidungen. Appartement aufkündigen, erledigt! Übergabetermin erbitten, in Arbeit! Abholung der Habseligkeiten und Einlagerung, in Klärung. Er blätterte konzentriert durch Offerten im Umkreis von Minorus Wohnung oder Schule. Es musste zu bezahlen sein. Obwohl Kurumi keine teuren Hobbys pflegte, legte er Geld für sich und gesondert für seine Eltern zurück. Große Ansprüche hatte er nicht, was die Ausstattung betraf. Man würde ja nur am Wochenende... Kurumi lehnte sich zurück, drehte den Kopf, studierte im Spiegelbild des Zugfensters seinen jüngeren Begleiter. Gingen mit ihm da nicht die Gäule durch? Stieg ihm seine Rolle bei der Defloration nicht zu Kopf? Ja, realistisch betrachtet wäre er wahrscheinlich bloß der Erste, aber sicher nicht der einzige Mann in Minorus Biographie. Studium, Beruf, Arbeitsstellen, so viele Gelegenheiten, neue Männer kennenzulernen, sich selbst zu entwickeln, neue Richtungen einzuschlagen. Die Optionen wurden immer vielfältiger, die Weggabelungen im Curriculum vitae zahlreicher. Einerseits. Andererseits galt es, den Moment zu nutzen. Man konnte nicht für alle Eventualitäten planen, das lähmte bloß! Wer wüsste das nicht besser als er, Sicherheitsexperte und damit Profi?! Was war zu verlieren, wenn er sich auf Minoru einließ? Was konnte er gewinnen? Die Bilanz fiel zweifellos positiv aus: einen menschlichen Anker, einen Grund, sich doch einen Heimathafen zuzulegen, einen direkten Spiegel des eigenen Verhaltens. Jemanden, den man umsorgen konnte, der Anlass war, nicht nur um sich selbst zu kreisen. Mal ganz zu schweigen von hoffentlich regelmäßigem Sex! »Das wird dir bestimmt nicht noch mal passieren.« Erinnerte Kurumi sich selbst. Dass ein anderer Mann ihn ohne jede Schutzwehr so nahe an sich heranließ, ihm vertraute, förmlich dahinschmolz, sich verwöhnen ließ, ohne schlechtes Gewissen oder gespielten Protest. In der Fensterscheibe spiegelte sich Minorus halbmaskierte Erscheinung. Prompt kämpfte Kurumi mit dem Impuls, ihn einfach wie Dornröschen zu küssen. Weil der es verdiente, weil er sich geliebt fühlen sollte! "Mein lieber Schwan." Stellte Kurumi erneut fest, zwang sich, auf sein Mobiltelefon zu blicken. Nein, da halfen keine Illusionen: er war wirklich total verknallt in Minoru! ~+~+~* Kurumi erteilte im Bahnhof Anweisungen, nachdem sie sich für ihren jeweiligen Wochenstart umgezogen hatten: so rasch wie möglich ein Optik-Geschäft aufsuchen. Der Linsenvorrat reichte kaum aus. Sich auf keinen Fall übernehmen, sondern genug schlafen und Pausen einlegen! Mit der Mama sprechen, die Situation erklären, sich nicht grämen. Das war keine verpasste Chance, sondern vielmehr eine wertvolle Erkenntnis, um frei den eigenen Weg wählen zu können. Abends eine halbe Stunde Kommunikationskontakt einplanen. Sehr wichtig, auf gar keinen Fall in die öffentlichen Männer-Waschräume nach hinten durchgehen! Ob Minorus nun nicht mehr kurzsichtiger Miene sah Kurumi sich zu sachdienlichen Einlassungen genötigt. Dass es sich um Möglichkeiten der sehr schnellen, monothematischen Kontaktanbahnung handelte. Was selbstredend ein Schlaglicht darauf warf, warum er die hinteren Sektionen der Waschräume aufsuchte. "Ich beichte dir meine Verfehlungen ein anderes Mal, ja? Nur, bitte, pass auf dich auf, in Ordnung?" Drängte er Minoru, der ihm verschmitzt zuzwinkerte. "Ich sehe dich das erste Mal verlegen. Keine Sorge, ich werde deinen Rat beherzigen." Versicherte der Jugendliche in der gewohnt direkten Selbstsicherheit. Kurumi atmete tief durch, da sie im Gewühl und Gewimmel vor den Schließfächern standen. "Verwünscht, wir müssen wohl los!" Aber in kindlichem Trotz behagte es ihm gerade gar nicht. "Mir geht es genauso." Fing Minoru lächelnd seinen Gedanken auf. "Am Wochenende treffen wir uns ja, nicht wahr? Heute Abend können wir telefonieren." Sehr vernünftig und erwachsen. Kurumi grummelte über sich selbst, schnellte vor, küsste Minoru blitzartig kurz auf die Lippen. "Anzahlung. Und Glücksbringer!" Murmelte er hastig, trat demonstrativ einen Schritt zurück, um nicht erneut der Versuchung zu erliegen. Weil Minoru so sinnlich lächeln konnte, geradezu einlud, Zeit, Raum und sonstige Dimensionen zu vergessen! Der Jüngere lachte leise auf, mit seiner unerwartet tiefen Stimme, straffte seine sehnig-schlanke Gestalt. "Ich freue mich schon auf heute Abend. Bis dahin, Kurumi." Der konnte bloß nicken, widerstrebend ihre Schritte voneinander lenken. Nein, nach zehn Jahren Altersunterschied fühlte es sich wirklich gerade gar nicht an! Sondern so, als wäre er ein Teenager, hole das nach, was in seiner Oberschulzeit nicht möglich gewesen war! ~+~+~* Im Verlauf der Woche lernten sie beide neue Erfahrungen kennen: Kurumi das Bedürfnis, in den winzigen Kojen oder Kapseln Minorus Stimme im Ohr zu haben, ihn zum Lachen zu bringen, zu versichern, dass so rasch wie möglich eine Lösung gefunden werden würde, was Kurumi schon zum eigenen Wohl für dringend angezeigt hielt. Ehrlich, er war ja nun nicht der Typ, der auf Telefon-Sex stand oder phantasierend die einäugige Schlange beschwor, aber Minoru zu hören, sich sein Lächeln vorzustellen, seine Nähe, da jagten sich die Hormone selbst in olympische Rekorde! Minoru hingegen konnte seltsame Entwicklungen berichten. Zunächst mal hatte seine Mutter gefasst auf die schlechte Nachricht reagiert, nicht zwingend verwundert. Hatte sie etwa damals auch ähnliche Erfahrungen gemacht? Verstoßen zu werden, negiert, gar, körperlich gezüchtigt worden zu sein? Minoru wagte nicht, unverblümt solche Fragen aufzuwerfen, wie er Kurumi anvertraute. Er wollte den Kummer nicht vergrößern, seiner Mutter nicht das Gefühl vermitteln, er hadere mit ihrer Fürsorge oder beklage sich ob seines Status als uneheliches Kind ohne Vater, ohne Qualitäten, ohne Perspektive. Außerdem konkurrierten mit diesen Gedanken und der gewissen Erleichterung auch andere Neuigkeiten. Dass er plötzlich von den unterschiedlichsten Leuten angesprochen wurde, Klassenkameraden, die ihn nie beachtet hatten, sogar Sportskanonen, angebliche Makler und Agenten, wenn er auf dem Heimweg war oder Besorgungen übernahm. Als hätte man ganz unvermutet einen gewaltigen Scheinwerfer auf ihn ausgerichtet! Gemeinsamer Nenner schien eine gewisse Anziehungskraft zu sein, die Minoru absonderte, sogar ganz gegen den erklärten Willen gewisser Personen! Die sich gezwungen sahen, ihre Standpunkte zu revidieren. Kurumi konnte sich nur mühsam enthalten, Minoru sofort einen Personenalarm zukommen zu lassen. Zu seiner Verwunderung erwies sich sein jugendlicher Freund als nicht so leicht einzuschüchtern, begegnete diesen Entwicklungen mit schelmischem Humor und geschickten Ausweichmanövern. Für ihn kam die Intimität, die andere möglicherweise initiieren wollten, nur bei absolutem Vertrauen in Frage. Was Kurumi noch immer überraschte und bauchpinselte, denn SO unglaublich vertrauenswürdig war er sich bisher noch nicht vorgekommen. Andererseits würde er nach diesen Einlassungen auch jeden Beweis antreten, dass Minoru sich nicht in ihm irrte. Ja, ganz gleich, welche Argumente man bemühen wollte, bei ihnen stimmte wohl die Chemie, noch bevor das Bewusstsein sich einmischen konnte. ~+~+~* »Ja, keine Frage, Pubertät, die Zweite!« Dachte Kurumi, zwischen Erheiterung und leichter Verärgerung über sich selbst schwankend. Natürlich hatten sie sich für den Samstagabend verabredet, vor dem Bahnhofsgebäude. Minoru präsentierte seine neue, sehr unauffällige Brille, die noch mehr von seinem klassisch-schönen Gesicht offenbarte. Er lächelte Kurumi so an, dass der befürchtete, gleich die Öffentlichkeit zu 'verärgern'. Deshalb hakte er Minoru unter (im Gedränge erforderlich), steuerte eine eher heruntergekommene Karaoke-Bude an. Nicht zum Singen. Sofort nach der Ablieferung der georderten (überteuerten) Snacks und Getränke zog er Minoru an sich, küsste ihn begehrlich, ausgehungert. Anschließend, man konnte es nicht anders beschreiben, vögelte er doch tatsächlich auf den speckigen Lederbänken seinen Gefährten von hinten. Mit gerade mal herabgelassenen Hosen und offenem Hemd! Wie ein brünftiger Hirsch! Oder im pubertären Notstand, wo man keinen anderen Ort fand, sich auf diese Weise zu begegnen. Runde zwei erfolgte wenigstens etwas zivilisierter, von Minoru umschlungen, ihn umklammernd, fiebrig küssend. Halbwegs schicklich, wenn auch zerrupft glühten sie langsam aus, bei lauwarmen Getränken. Kurumi hatte einen Arm um Minoru gelegt, die andere Hand hielt die des Jugendlichen, der glücklich lächelte, keine Kritik äußerte, nicht spottete ob des offenkundigen Notstands bei seinem älteren Partner. "Wir brauchen unbedingt ein Liebesnest." Stellte Kurumi grimmig fest. "Entschuldige, das ist hier wirklich kein anregendes Ambiente. Ich muss mal nachsehen, ob es hier vollautomatisierte Love Hotels gibt." Mit einem Minderjährigen boten sie die einzige Möglichkeit, sich zu vergnügen. Minoru lachte leise, schmiegte sich behaglich an. "Ich weiß, dass es ganz und gar nicht so einfach ist, deshalb ist es vollkommen in Ordnung. Wir sind zusammen. Ich fühle mich großartig. Vielen Dank, Kurumi." Der dehnte den Kuss selbstherrlich bis zur Atemnot aus. "Schon, nur möchte ich eben unser eigenes Timing pflegen. Es ist MEINE Geduld, die sich nicht beherrschen lassen will." Bekannte Kurumi selbstironisch, seufzte. "Außerdem sollten wir vorsichtig sein. Ich möchte lieber nicht hören, was deine Mutter sagt, wenn man uns erwischt." Minoru an seiner Seite schmunzelte, drückte aufmunternd ihre verbundenen Hände. "Ich kann dir verraten, was meine Mutter vorhin gesagt hat. Sie würde gern mal mit uns essen, sich direkt unterhalten." "Oje." Zog Kurumi eine Grimasse, warf Minoru einen kläglichen Blick zu. "Wenn sie mich runterputzt, werde ich ein ganz schön erbärmliches Bild abgeben." Der Oberschüler lachte auf, küsste ihn zum Trost. "Die Gefahr besteht wirklich nicht, Kurumi. Ich möchte dich wirklich gern mit meiner Mutter bekannt machen. Kannst du mir diesen Gefallen erweisen?" Wer hätte da ausbiegen können?! Kurumi erwiderte Minorus friedlich-gelösten, liebevollen Blick. "Selbstverständlich. Ich hoffe einfach auf ihr Wohlwollen." Wenn er sie überzeugen konnte, dass er mit aller Kraft dafür einstand, Minoru zu unterstützen, ihn zu respektieren und zu lieben. Minoru lächelte selbstgewiss, veranlasste Kurumi, ihn fest in die Arme zu schließen, auf den eigenen Schoß zu ziehen. "Ich will mit dir zusammen sein, Minoru. Entschuldige, dass es jetzt nur an Wochenenden ist und so improvisiert, aber es wird nicht so bleiben, versprochen!" "Danke schön. Ich kann mich auch nützlich machen, weißt du? Warum teilen wir nicht morgen die Anzeigen zwischen uns auf?" Diese Offerte beantwortete Kurumi mit einem Aufstöhnen. Leider, leider, leider, nährte sich unerbittlich der Zeitpunkt, dass er Minoru an die mütterliche Front zurückerstatten musste, sich selbst für den Rest der Nacht einen Unterschlupf suchen. Donnerkeil, er BRAUCHTE eine eigene Unterkunft! ~+~+~* Große Zeit zu Vorbereitungen hatte Kurumi nicht. Er war mit Minoru in einem Familienrestaurant verabredet, etwas zu essen, dabei in Gesellschaft möglichst rasch das Appartement-Problem zu lösen. Kurz vor seinem Eintreffen, erreichte ihn die knappe Meldung, dass sich Minorus Mutter spontan anschloss. Nur für einen kleinen Happen, ganz ungezwungen! Da konnte man kaum ausreichend in Panik verfallen ob bevorstehender Inquisition. Allerdings wäre die Panik auch torpediert worden durch die profunde Überraschung! Minorus Mutter wirkte sehr viel jünger, als sie sein musste, lächelte ihn freundlich an, bedankte sich ohne formale Zwangsdistanz für seine Unterstützung. Da blieb Kurumi nichts anderes übrig, als entwaffnet Platz anzubieten, schlichtweg zu gestehen, dass Mutter und Sohn ein veritables Bild abgaben! Keine Frage, wem Minoru seine attraktive, klassisch-schöne Prinzen-Erscheinung zu verdanken hatte. Solcherart das Eis gebrochen konnte man bestellen, sich wechselseitig studieren, zumindest Sympathie verbuchen. Allerdings war Kurumi sich im Klaren, dass er in Vorlage gehen musste, weil er den minderjährigen Sohn dieser äußerst aparten Frau begehrte. Nachdem ihre Order serviert worden war, nutzte Kurumi den kurzen Moment der Stille. "Frau Chiwa, bitte erlauben Sie mir, mit Minoru auszugehen." Direkt, nicht übertrieben förmlich-distanziert, ohne Höflichkeitsfloskeln. Sie lächelte verschmitzt, ähnelte darin ihrem Sohn, der neben ihr saß, Kurumi glücklich anstrahlte. "Ich glaube, ich habe da nicht viel zu sagen, nicht wahr? Herr Mifune, werden Sie gut auf Minoru achtgeben?" "Ja." Antwortete Kurumi wie aus der Pistole geschossen, ohne Zögern oder Zweifel. Er war sich in den vergangenen Tagen der Kostbarkeit ihrer gemeinsamen Zeit mehr als bewusst geworden. Er würde dieses innere Strahlen niemals vergessen können, wollte sich selbst als vertrauenswürdig und liebenswert beweisen. "Das freut mich. Ich fände es aber schade, wenn er schon jetzt auszieht, in Ihr Appartement." Sowohl Kurumi als auch Minoru blickten sie verblüfft an. "Mama, wir haben doch noch gar nichts gefunden!" "Das beabsichtige ich gar nicht, denn unter der Woche wäre Minoru ja ganz allein!" Sprudelten sie fast gleichzeitig heraus. "Über das Wochenende können wir verhandeln." Zwinkerte sie höchst gelassen in zwei dezent gerötete Gesichter. "Suchen wir zu dritt, nach dem Essen, ja? Sechs Augen schaffen mehr als vier." Kurumi lachte anerkennend über den spitzbübisch vorgebrachten Vorschlag. "Vielen Dank. Ich freue mich über Ihre Unterstützung. Mein Nomadenleben unter der Woche genügt mir. Ich möchte gerne heimisch werden, Wurzeln schlagen." "Minoru hat mir viel über Ihre Arbeit erzählt und Ihre Familie. Ich bin sehr neugierig und hoffe auf weitere Gelegenheiten zum Plauschen und Schmausen." Lächelte sie herausfordernd. Das klang doch sehr vielversprechend für eine Schwiegermutter in spe! Fand Kurumi. ~+~+~* Kurumis Budget ließ keine Extravaganzen zu. Das Appartementgebäude, eine umgebaute Pension mit Gemeinschaftsbad und Toiletten, bot auch keine. Es gab Platz für ein Bettgestell, man konnte die Umzugskisten verstauen. Um die Ecke lockte ein inhabergeführter Supermarkt. Der Nachbar zur Linken, ein alleinstehender Rentner mit schlechtem Gehör, ließ häufig den Fernseher laut Spielshows diskutabler Natur in die Gegend plärren. Der Nachbar zur Rechten, im Unterhaltungsgewerbe tätig, war am Wochenende vom frühen Nachmittag bis zum späten Morgen aushäusig. Perfekte Bedingungen, beispielsweise, um das Bett (alt) und die Matratze (neu) einzuweihen. Kurumi hatte große Mühe, sich einigermaßen zu beherrschen, so sehr verlangte es ihn danach, Minoru zu verwöhnen, ihm Ekstase zu bereiten, dieses innere Strahlen zu befeuern. "Endlich!" Wisperte er rau, nach zwei zehrenden Runden gegenseitiger Aufmerksamkeiten, umschlang Minoru vehement. "Endlich sind wir zusammen! Du übernachtest bei mir, ja? Ich achte auch darauf, dass du genug Schlaf zur Erholung bekommst!" Verhandelte er mit einem beseelt schnaufenden Minoru, der ihn, extrem kurzsichtig, die Brille aus dem Bett verbannt, anlächelte. "Ich bleibe so lange bei dir wie möglich. Ob wir wohl noch ein wenig schmusen können? Mir gefällt es sehr, wenn du meine Brustwarzen kraulst." Was indirekt die Aufforderung beinhaltete, sich auf eine dritte Runde einzustimmen, weil Kurumi Schwierigkeiten hatte, sein Verwöhnprogramm in Maßen zu halten. Wenn er nämlich mal anfing, konnte er wie im Rausch nicht aufhören, zu Händen auch Mund, Zunge und Zähne einzusetzen. Minoru ließ ihn nie im Unklaren darüber, was er besonders goutierte, sich wünschte. Kurumi richtete sich auf, betrachtete den rücklings ausgestreckten Minoru, hob dessen Hände nacheinander an die Lippen, ihre Rückseiten mit einem Kuss zu siegeln. "Ich beabsichtige, eine lange Zeit an deiner Seite zu sein, wollte ich dir nur fairerweise sagen. Weil ich dich liebe." Erklärte er sich, mit klopfendem Herzen. So eine Ansage erforderte selbst von ihm Mut. Minoru lächelte unfokussiert zu ihm auf. "Das ist schön. Es deckt sich auch mit meinen Intentionen. Weil ich dich ebenso liebe." Prompt entfuhr Kurumi ein profunder Seufzer der Erleichterung. "Da sollten wir es wohl wie Felice halten, hm? Glücklich bis ans Ende unserer Tage leben und lieben." DAS stellte einen Zukunftsfahrplan dar, den sie beide mit aller Kraft umsetzen wollten. Minoru nickte, zog ihn dann überraschend kraftvoll für einen Nicht-Sportler zu sich herunter. "Bitte konzentriere dich jetzt auf mich, ja? Ich spüre schon wieder Entzugserscheinungen." Kurumi erging es ebenso, weshalb er sich voller Elan daran begab, seinen Prinzen glücklich zu machen! ~+~+~* Kapitel 18 Chiharu schlenderte, sich beinahe unverwundbar fühlend, in vorfreudiger Gelassenheit zum Waschraum. Er registrierte einige Seitenblicke, hielt jedoch unbeirrt auf die hinteren Waschbecken zu. Bevor er jedoch seine Tasche abstellen, die Hände waschen konnte, wie es sein übliches Prozedere zu sein pflegte, sprach ihn jemand an. "Ähem, Chiharu?" Überrascht, weil er diese Stimme nicht einordnen konnte, wandte Chiharu sich herum. Vor ihm stand ein schmal gebauter, junger Mann mit ovalem Gesicht und sehr feinen Zügen. Lange, glatte schwarze Haare umrahmten bis unter die Ohrläppchen ein hoffnungsfrohes Lächeln, während der Nacken offenbar ausrasiert war, was man aufgrund des Dreieckstuchs um den Hals nur erahnen konnte. "Ich glaube, du kennst meinen Cousin Takafumi. Ich bin Aoki, hallo." Stellte sich der junge Mann vor. Chiharu nickte automatisch, lächelte freundlich, wenn auch leicht überrascht. "Hallo, freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Verzeihung, aber gehst du auch auf unsere Schule?" Aoki schmunzelte. "Nein, das nicht. Ich studiere derzeit. Sag, hast du ein wenig Zeit, mir Gesellschaft zu leisten?" Etwas verblüfft konnte Chiharu nicht einfach ablehnen. Bloß verwirrte ihn der Umstand, dass ein älterer Cousin von Takafumi ihn hier aufstöbern konnte! "Nun, gern. Vielleicht gehst du--, oder sollte ich dich lieber Siezen?" Unaufgefordert hakte sich Aoki unter, dessen schmale Silhouette das Fortkommen nicht behinderte, trotz des engen Gangs. "Nein, nein, bitte sei nicht so förmlich, ja? Hast du etwas gegen einen Abstecher zum Waffelstand?" Keineswegs, dort gab es auch herzhafte Varianten. Während sie die eingewickelten Teigfladen mit Aufstrich kauten, betrachtete Chiharu noch immer ratlos seinen neuen Bekannten. "Ich werde dir alles erklären." Versprach Aoki, lächelte besänftigend, strich sich Strähnen hinter die Ohren. Hübsche Ohrmuscheln mit winzigen Steckern darin, wie Regenbogensplitter! Sich die Mundwinkel sauber getupft nahm Chiharu neben Aoki dessen gemächlichen Gang durch den Bahnhof auf oder vielmehr die Einkaufsmeile dieses Geschosses. Der Student sprach leise, vertraulich. "Sieh mal, ich weiß, was du so am Samstagabend tust. Nicht von Takafumi! Es ist bloß so, in bestimmten Foren wurde erwähnt, dass ein attraktiver Oberschüler im Waschraum Sex mit Männern hat, verlangt kein Geld, weißes Hemd, dunkelblaue Hose. Es gibt einige Oberschulen hier in der Nähe, aber..." Nun blieb Chiharu doch stehen. "Ich habe doch aber nichts Schlimmes getan." Formulierte er betroffen. So perfekt nahm sich seine Tarnung wohl doch nicht aus! Aoki wandte sich herum, fasste ihn an der Hand. "Nicht doch, so meine ich das nicht! Es ist nur so, dass du quasi sehr rasch bekannt geworden bist. Du könntest also auffliegen. Ich wollte dich kennen lernen. Falls du Interesse hast, deine Zeit mit mir zu verbringen?" Chiharu verarbeitete diese neuen Erkenntnisse versonnen. "Ich habe sicherlich nichts dagegen, keine Frage! Aber sollten wir nicht in den Waschraum zurückkehren?" Aoki drückte seine Hand behutsam. "Ich wohne in der Nähe. Es wäre bestimmt bequemer als im Waschraum. Du kannst aber gern Takafumi fragen, wenn du nicht sicher bist." Angesichts dessen konsequenter Weigerung, ihre gemeinsame Episode anzuerkennen, zuckte Chiharu mit den Schultern. "Bist du sicher, dass es dir keine Umstände macht?" "Nein, gar nicht! Oh, prima, ich freue mich! Du bist wirklich so nett, wie behauptet wird!" Strahlte der Student, hakte Chiharu unter. Der pflegte wie gewohnt ein unterentwickeltes Misstrauen. Ihm kam weder in den Sinn, er möge in eine Falle gelockt werden, noch die Quelle besagter Behauptung zu entdecken. Er konnte sich auch nicht vorstellen, warum ihm jemand etwas Arges wollte. Das waren immer nur aufzuklärende Missverständnisse, zweifellos. Deshalb spazierte er ohne Hast (niemand erwartete ihn) mit Aoki zu einem Mehrparteienhaus einfacher Bauweise, die typische Unterbringung für Studenten oder alleinstehende Personen, wenig Platz, aber besser als eine Schlafwabe. Das Einzimmerappartement war aufgeräumt, wenn auch vollgestopft mit Büchern. "Darf ich fragen, was du studierst?" Erkundigte sich Chiharu höflich, nachdem er artig die Schuhe abgestreift, seine Tasche abgestellt hatte. "Vergleichende Literaturwissenschaften. Brotlose Kunst also." Zog Aoki eine Grimasse, wies einladend auf sein Bett als die einzige Sitzgelegenheit, abgesehen vom Boden. "Gefällt es dir denn nicht?" Chiharu, mit einer konkreten Zukunftsvorstellung noch nicht belastet, hielt sich an seine in Kindergartentagen eingeprägte Mission: Interesse zeigen, Sympathie bekunden, Aufmerksamkeit widmen! Aoki, der sich neben ihm niederließ, seufzte. "Ich lese sehr gern, vor allem Gesellschaftsromane aus Europa. Mit den Erkenntnissen lässt sich nun mal kein Lebensunterhalt verdienen. Das ist kein definiertes Berufsbild, verstehst du?" Er tippte Chiharu auf die Nasenspitze. "Genug von mir! Was kann ich DIR bieten, hm?" Nun fühlte sich Chiharu wieder auf dem richtigen Pfad. Entgegen allen Vorsätzen verlangte es ihn nach seinem samstäglichen Vergnügen! "Ich möchte gern genommen werden. Wenn sich das einrichten lässt." Hielt er mit der Botschaft nicht hinter dem Berg. Aoki lachte auf, drückte Chiharu einen Schmatz auf die Wange. "Ich bin absolut sicher, dass wir uns dieses Abenteuer gönnen können!" ~+~+~* In einem Bett, also Gestell mit Matratze und Bettzeug, hatte Chiharu noch nie mit einem Geschlechtsgenossen Sex gehabt, was für ihn schon die Vorfreude potenzierte. Bequemer als die Futon-Variante bei Takafumi in jedem Fall! Außerdem animierte Aoki dazu, sich vollkommen zu entkleiden, bedeckte ihn mit Küssen, strich ihm über jedes erreichbare Fleckchen Haut. Er schmiegte sich wie eine zweite Haut an, als sie Runde eins auf allen Vieren traditionell einläuteten, gab sich alle Mühe, das konnte man nicht leugnen. Chiharu hielt begeistert mit. Vor allem, weil er spürte, dass hier noch Fortsetzungen zu erwarten waren! Aoki umwarb ihn, konzentrierte sich auf ihn, wollte IHM gefällig sein! Das konnte nur schmeicheln, ganz fraglos! Chiharu genoss auch Runde zwei, rücklings, wurde von dem schlanken, sehnigen Mann penetriert. Danach, im Glühen der abklingenden Ekstase, kuschelte sich Aoki an ihn an. "Weißt du, du musst vorsichtig sein. Die Foren werden von den unterschiedlichsten Leuten besucht, auch von Tugendwächtern zum Beispiel. Wenn dir jemand auflauert, um dich anzuzeigen...!" Das konnte man nicht euphorisiert einfach abtun. "Da muss ich dir wohl beipflichten. Es wäre ärgerlich, obwohl ich ja niemandem zu nahe trete. Daran habe ich nicht gedacht, weil ich keinen Zutritt zu diesen Internetauftritten habe." "Hmm, die überprüfen die Volljährigkeit. Außerdem ist es doch nett, jemanden zu finden..." Was zutraf. "Stimmt absolut. Bis jetzt hatte ich immer Glück." Antwortete Chiharu versonnen, setzte sich auf. "Entschuldige, ich möchte nicht unhöflich sein, aber so langsam sollte ich mich auf den Heimweg machen." Prompt klappte auch Aoki eilends hoch. "Tauschen wir unsere Kontakte aus, ja? Es hat doch gut funktioniert mit uns, richtig?" Chiharu lächelte munter. "Sehr gern! Es ist wirklich sehr nett von dir, mich mitgenommen zu haben." Aoki zwinkerte. "Das Vergnügen ist ganz meinerseits! Also, klappt es mit der Übertragung?" Damit sie eine Verbindung über den Moment hinaus unterhalten konnten. ~+~+~* Chiharu entschied, sich nicht über seine ihm unbekannte "Berühmtheit" zu ärgern. Ja, es war hinderlich, doch im Internet hatte wenig lange Halbwertszeiten, richtig? Außerdem lud Aoki ihn die folgenden beiden Samstage ein, nach der Schule zu ihm zu kommen. Chiharu genoss den Sex mit dem 21-jährigen Studenten, der sich so viel Mühe gab, ihn auch auf den Mund küsste, ihm, etwas widerstrebend, von seinen Lieblingsromanen erzählte, mit ihm duschte, sich erkundigte, ob man vielleicht am Sonntag mal gemeinsam bummeln gehen wollte. Dass Chiharu in dieser Hinsicht etwas merkwürdig (da konsumfern) reagierte, schreckte ihn nicht ab. Vielleicht Kino? Oder einfach die Boulevards entlang, beäugen, welche Freiluft-Hobbys andere pflegten, Cosplay, Tanzen, Jonglage, Musik? Dem "Straßentheater" stimmte Chiharu zu, wenn das Wetter mitspielte. Immerhin wollte er weder seine schulischen noch häuslichen Verpflichtungen vernachlässigen. Aoki offerierte ihm schließlich auch noch eine andere Option. Wie wäre es, wenn sie einen Freund in der Nähe des Bahnhofs besuchten? Der, ein alter Bekannter, zeichnete sich durch große Aufgeschlossenheit aus. Sofort war Chiharu Feuer und Flamme, dem Samstag auch noch einen Sonntag mit Aoki zu widmen! Einen Dreier hatte er bisher noch nicht gehabt, also konnte das nur eine wertvolle Erfahrung werden! ~+~+~* Weil sich das Wetter unkooperativ verhielt, verlegte Aoki das Erweitern des Horizonts in sein Appartement. Er übernahm auch die Honneurs, Chiharu - Ken, Ken - Chiharu. Chiharu verbeugte sich knapp, lächelte in ein tiefenentspanntes, nicht besonders bemerkenswertes Gesicht, das freundlich blickte und im Mundwinkel stets ein Streichholz balancierte. "Ich habe das bisher noch nicht gemacht, deshalb bitte ich um Anleitung!" Stürmte er sofort zum Thema seines persönlichen Engagements. Ken schmunzelte gelassen, entfernte den wandernden Zahnstocher. "Wir versuchen's mit dem Sandwich-Prinzip. Hast du Lust?" "Unbedingt! Was muss ich tun?" Begeisterte sich Chiharu voller Elan, schenkte auch Aoki einen flammenden Blick. Oh, das würde so was von prima werden! ~+~+~* Die Mythen verhießen mehr, als die Praxis halten konnte. Vor möglicherweise elysische Höhen hatten sie ein erhebliches Maß an Koordination gesetzt. Chiharu, der auf dem Rücken artig die unterste Position einnahm, fand zunächst keine großen Unterschiede mit Aoki über sich. Ken musste bei Aoki andocken, was noch ein Paar Arme und Beine zusätzlich in das Knäuel involvierte. Der eine kniete, die Zehen in die Matratze gestemmt, der andere kauerte nach vorne, eingeklemmt und rücklings beschwert. Es dauerte durchaus eine Weile, bis eine dynamische Welle durch alle drei verbundenen Körper wogte. Trotzdem nicht übel! Konstatierte Chiharu schließlich, der sich mit einigem Minimal-Manövrieren auf den Pobacken die angenehmste Situation geschaffen hatte. Der Winkel stimmte, die Penetration kam genau im richtigen Rhythmus, sein Körper erkannte die Signale, feuerte die Raketen ab! Aoki lastete schwer und spannungslos auf ihm. Ken, der wohl nicht zum ersten Mal Sex mit Aoki hatte, fasste ihn sanft unter, nachdem er sich selbst höchst gelassen entzogen hatte. Er barg ihn, drapierte den sehnig-schlanken Student in die stabile Seitenlage. "Ach du Schande! War das zu viel? Geht es ihm nicht gut?" Erkundigte sich Chiharu besorgt, setzte sich mühelos auf. Er fühlte sich nach wie vor durchaus prächtig! "Das geht schon wieder. Niedriger Blutdruck, erblich bedingt." Erläuterte Ken, fischte eine leichte, flauschig-weiche Decke heran, um Aoki damit einzuhüllen. "Und, wie lautet dein Urteil?" Zwinkerte er unaufgeregt zu Chiharu hinüber. "Oh, schon prima! Wäre es sehr unverschämt, wenn ich dich um eine zweite Runde bitte?" So GANZ ausgelastet kam Chiharu sich nicht vor. Außerdem, fragen kostete nichts, vor allem nicht bei jemand so lässigen wie diesem Ken! Der schmunzelte, wischte sich durch die Haare. "Na, ich werde mich sicher nicht lange bitten lassen. Worauf hast du jetzt Lust? Willst du mich vielleicht reiten?" Chiharu erstrahlte wie ein Christbaum beim Kerzenentzünden. "Darf ich? Wahnsinn, das wollte ich schon lange mal ausprobieren!" ~+~+~* Da Aoki und Ken sich offenbar schon länger kannten, hatte Chiharu keine Gewissensbisse, ihn in dessen Obhut zu lassen. Beschwingt begab er sich auf den Heimweg, seine gewonnenen Erfahrungen bewertend. Also, mit ein wenig Geschick und viel Begeisterung konnte man sehr viel gemeinsam unternehmen! Zugegeben, der richtige Winkel spielte eine große Rolle, aber das Drumherum machte auch Spaß. Aoki schien interessante, aufgeschlossene Menschen in seinem Bekanntenkreis zu haben. Das versprach für die nächsten Samstagabende spannende Unterhaltung! ~+~+~* Natürlich meldete sich Aoki digital, entschuldigte sich für die etwas unter Touren laufende Performance, was Chiharu vergnügt abtat, Hauptsache sei ja, sie hätten sich alle ganz prächtig amüsiert! So wurde auch für den nächsten Samstagabend eine Verabredung getroffen. Treffpunkt sollte der Park beim Schrein bzw. Tempel sein, direkt bei einem der Zugangstore. Chiharu sagte frohgemut zu. Der Samstag verlief jedoch nicht so geschmeidig-reibungslos wie üblich. Ausgerechnet in der letzten Unterrichtsstunde führte ein unbedacht geöffnetes Fenster bei gleichzeitigem Aufschieben der Flurtür zu Papiergestöber. Das musste, da es Testbögen enthielt, vollständig beseitigt und vollzählig aufgeklaubt werden. So war Chiharu recht spät dran, auch noch, wie er selbst empfand, unangenehm verschwitzt ob des Sprints. Also rasch in den vertrauten Waschraum, sich manierlich herrichten, wie das unter zivilisierten Menschen üblich war! Er wedelte gerade sein Schulhemd durch die Luft, den Oberkörper bereits erfrischt und abgetupft, als an seinen Flanken zwei Männer förmlich aus dem Boden wuchsen, maskiert mit Gesichtsschutz und verspiegelten Sonnenbrillen. Einer drückte ihm ganz unvermutet ein Kunststoffgerät in die Seite. "Mach keine Szene und komm mit." Raunte die Männerstimme verschwörerisch. Chiharu blickte verwundert an seiner Seite herab. "Was ist das, bitte? Wohin soll ich Sie begleiten? Ist etwas nicht in Ordnung?" Zumindest nach Tugendwächtern sahen diese beiden Herren nicht aus. Man wechselte an ihm vorbei kurze Blicke, oder zumindest schienen die Bewegungen dies nahezulegen. "Das ist ein Elektroschocker. Wenn du nicht tust, was wir dir sagen...!" Die Stirn runzelnd beäugte Chiharu das ihm unbekannte Gerät. "Wenn Sie mir damit einen Schock versetzen, falle ich ja hier um. Ich glaube nicht, dass das niemandem auffällt." Er hielt zumindest "eine Szene" für sehr wahrscheinlich. Man stutzte. "Komm lieber freiwillig mit!" "Wohin? Ich kann Ihnen wirklich nicht ganz folgen. Verzeihung, aber so ganz verstehe ich nicht, was Sie von mir möchten." Bekannte Chiharu, riskierte einen Blick auf die altmodische Uhr in einiger Entfernung. Herrje, er sollte diese Angelegenheit lieber rasch abhandeln! "Wir wollen dich ficken, verdammt!" Zischte der zweite Mann ihm nun zu, packte ihn an Arm. "Oh! Ach so. Aber beide zusammen?" Chiharu entspannte sich. Hier befand er sich wieder auf vertrautem Terrain. Gut, dass er in der letzten Woche so einige neue Erfahrungen gemacht hatte, die jetzt sicher nützlich werden würden! "Komm einfach mit, ja?" Zog ihn der Ungeduldige zu den Kabinen, während der Mann mit dem Elektroschocker rasch Chiharus Tasche und Hemd apportierte. Sie wählten die letzte Kabine, wo keine Toilettenschüssel störte, man nur auf seine Füße achten musste. Sie blockierten die Tür, hängten Chiharus Hemd an einen Haken. "Ich brauche das Gleitgel aus meiner Tasche. Haben Sie Kondome? Bekommen Sie die drüber mit den Handschuhen?" Erkundigte sich Chiharu ganz pragmatisch. Er konnte nicht übersehen, dass sich zwei merkliche Beulen in Schritthöhe abzeichneten. "Wir kommen schon klar!" Ein kurzes Nicken, einer fing Chiharus Handgelenke in einer Schlinge, während der andere ihn mit einem dünnen Tuch knebelte. Nichts davon war schmerzhaft, sodass Chiharu auf Gegenwehr verzichtete, die ihm ohnehin futil erschien bei gleich zwei offenbar kräftigen und geübten Gegnern. Während der eine Chiharus Oberarme festhielt, zog der andere ihm Hose und Unterwäsche herunter, begann, über die Handschuhe ein Kondom gestreift, Chiharus After zu präparieren. Sein Frontmann hängte sich Chiharus gefesselte Arme um den Nacken, ließ die eigene Hose herunter, verpackte seine Erektion. Chiharu vermutete, dass in seinem Rücken dasselbe geschah. Der Frontmann hob Chiharus linkes Bein an, damit sein Partner in ihn eindringen konnte, erst vorsichtig, danach tiefer, mit ordentlichem Schwung. Chiharu stöhnte in den Knebel, spürte die zweite Erektion, die sich an seiner Front rieb. Seine eigene pochte vor Verlangen, wurde umklammert. Als er, halb schwindlig, endlich kommen durfte, spritzte er deshalb direkt auf sich selbst ab. "...geil..." Ächzte der Mann hinter ihm, machte sich los, hängte sich Chiharus Arme selbst um den Nacken, übernahm die Aufgabe seines Partners. Ein Bein lupfen, ein gewisses Einrollen unterstützen, damit der Frontmann sich nun an und in Chiharu gütlich tun konnte. Der registrierte benommen nicht nur die zweite Runde, sondern auch den reibenden Geigerzähler an seinem verlängerten Rückgrat. Diese Position war sehr viel anstrengender und schwieriger zu meistern. Allerdings zeigte sich auch hier die Erfahrung der beiden Männer. Chiharu wurde nach dem Erstkontakt gegen den Hintermann gepresst, der Frontmann parkte nacheinander Chiharus Knie auf seinen Schultern! Eine akrobatische Meisterleistung, die dafür sorgte, dass Chiharu erneut mit Begeisterung auf jeden Rammstoß reagierte. Auch dieses Mal spritzte er auf den eigenen Oberkörper ab, bevor ihm für Augenblicke die Sinne vollständig schwanden. ~+~+~* Sich sortierend ließen die beiden Männer Chiharu herunter, streiften eilends die gefüllten Kondome ab (selbst mitgebracht), sammelten Knebel und Fessel ein, gaben ohne Abschiedsworte Fersengeld. Chiharu, nackt, mit seinem eigenen Samen beschmiert, noch immer euphorisch ob der vorangegangenen Empfindungen, blieb allein zurück, ein wenig wacklig auf den Beinen, aber ganz und gar nicht eingeschüchtert oder angezählt. Mein lieber Herr Gesangsverein! DAS sollte er auch mal in angenehmerer Umgebung wiederholen. Obwohl, dafür mussten die Partner wirklich recht sportlich sein, ihn stemmen können. Chiharu richtete sich, zum zweiten Mal, manierlich her, verließ eilends den Waschraum Richtung Park. Er konnte nur hoffen, dass Aoki ob seiner Verspätung Milde walten lassen würde. Wenn er ihm erst mal die Gründe erzählte...! ~+~+~* Aoki orientierte sich mehr an erinnerte Gewohnheit als nach Sicht, weil ihm die Augen tränten, obwohl er mit Links immer wieder wischte. Seine rechte Hand prickelte noch in Rückkehr aus der Gefühllosigkeit. Er war es einfach nicht gewöhnt, jemanden zu ohrfeigen. In der Nähe des Schreins gab es ein Eckchen mit steinerner Bank, schon verwittert, zwischen zwei großen Azaleenbüschen. Dorthin verirrte sich selten jemand, weil eine mannshohe Hecke wie eine Trennwand wirkte. Aoki plumpste auf die unbequeme Unterlage, rang nach Luft, die Nase verstopft, die Augen überquellend, auf dem besten Weg, sich unkleidsam zu röten. Dieser~dieser unmögliche Idiot! Erst zu spät kommen, noch erzählen, dass...! Dabei hatte er ihn vor dem Waschraum gewarnt! Er hatte ihn sogar mit zu Ken genommen, um etwas zu bieten! Wollte ihn für Sonntag einladen, gemeinsam in einen Vergnügungspark zu gehen, weil sie ja quasi schon zusammen waren. Doch dieser Blödmann ließ sich von zwei kriminellen Kerlen vögeln! Glotzte ihn entgeistert an! Als sei es das Seltsamste der Welt, ein Paar werden zu wollen! Aoki schniefte zornig, kramte das dritte Stofftaschentuch hervor. Was hatte der Depp sich gedacht, warum sie ihre freie Zeit miteinander verbrachten?! Entschlossen schnäuzte sich Aoki. Kein Gedanke mehr an diesen Voll-Horst! Aufstehen und nach Hause.... Hätte die Bank eine Lehne gehabt, so hätte er sich abfangen können. So landete er erneut schmerzhaft auf seiner Kehrseite. Prompt brach ihm kalter Schweiß aus. »GANZ RUHIG!« Ermahnte er sich selbst. Erblich bedingt litt er an niedrigem Blutdruck. Schwindelattacken durch einen absackenden Kreislauf stellten für ihn kein Novum dar, vielmehr eine ärgerliche Alltagserscheinung. Ruhe bewahren, langsam atmen, Kopf vorbeugen, aber nicht tiefer als Herzhöhe, auf die Nervenenden achten. Finger, Zehen: taub? Oder bloß kalt? Atemzüge zählen. Keine Panik. Aoki würgte aufquellenden Speichel herunter. Möglicherweise hatte er einen Fehler begangen. Solange er hier saß, konnte ihm nicht viel passieren. Wenn sich sein Kreislauf stabilisierte, müsste er auf direktem Weg nach Hause. Vielleicht gab es vor dem Tor noch den Taxistand? In der Not half es nichts, sparsam sein zu wollen! Oder ob er Takafumi erreichen konnte? Wenn der in der Nähe wäre... "All der Murks für so einen Prinzling." Stellte eine dunkle, raue Stimme mit Oosaka-Akzent fest. Aokis Schultern verkrampften sich, seine Fingerspitzen, nahezu gefühllos, gruben sich tiefer in den verwitterten Stein. "Geh weg." Brachte er mühsam, würgend über die Lippen. Ausgerechnet der Typ, dem er seit zwei Jahren mit allergrößter Konsequenz weiträumig aus dem Weg ging! "Mach ich. Mit dir. Kannst du aufstehen?" Aoki schnaubte, doch es kam weniger verächtlich als dumpf an. Er wollte sich nicht aufrichten, um feststellen zu müssen, dass ihn schon diese minimale Anstrengung schwindeln ließ. Die Jeansbeine knickten vor ihm über den Arbeitsstiefeln ein. Sein Stalker/Gorilla hockte vor ihm. "Du siehst beschissen aus. Wie viele von den Kreislauf-Pillen hast du vorher geschluckt?" »Geht dich gar nichts an!« Lag Aoki zumindest auf der Zunge, doch er musste sich auf ruhige Atemzüge konzentrieren. Verflixt noch mal, seine Haut fühlte sich überall klamm an! Er spürte, wie ein unkontrolliertes Zittern sich Bahnbrechen wollte. "Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: du läufst auf eigenen Füßen, oder ich werfe dich wie einen Sack alte Wäsche über meine Schulter." Aoki schüttelte, nur angedeutet, den Kopf. Eine erste Welle unkontrollierter Zuckungen durchlief ihn. Prompt keuchte er aufgeschreckt. Jetzt steckte er wirklich in Schwierigkeiten! "Kletter auf meinen Rücken, Aoki. Los jetzt." Keine Option, die Aoki auch nur im Geringsten verlockte. Andererseits hatte er keine Wahl. Er MUSSTE so schnell wie möglich irgendwo sicher ausruhen können! Vage spürte er, wie seine Arme über muskelbepackte Schulterpartien gezogen wurden, er selbst auf einem breiten Rückgrat landete. "Festhalten!" Lautete das Kommando. Halb seekrank, kurz vor dem Kollaps schloss Aoki die verklebten Lider, klammerte sich mit dem letzten Quäntchen Kraft fest. ~+~+~* Vor zwei Jahren waren sie einander erstmalig über den Weg gelaufen. Aoki hatte nach einem Blick den Rückwärtsgang eingelegt. Spontan-Aversion, weil dieser Kato einfach ein aufgepumpter, debiler, aggressiver Gorilla war! Sah man doch gleich! Umgekehrt schien nicht dieselbe Reaktion einzutreten, sehr zu Aokis Leidwesen. Kato ließ nicht locker, ihm zu begegnen, ihn anzusprechen. Da man im gleichen Viertel rund um den Bahnhof wohnte, konnte man sich auch nicht ewig ausweichen. Vor allem nicht, wenn nur eine Partei dieses Ziel hegte und pflegte! Aoki jedenfalls wollte von Kato nichts wissen! Außer Mittel und Wege, Begegnungen mit ihm großräumig zu vermeiden. Dabei verhielt es sich beinahe wie bei einer Forschungsexpedition in freier Wildbahn. Immer wieder ahnte er Kato in der Nähe, sah ihn auch. Der beobachtete ihn, nutzte jedoch nicht jede Gelegenheit, ihm auch aufzulauern, ihn zu konfrontieren. Zumindest nicht, nachdem Aoki bei der ersten Gelegenheit unmissverständlich signalisiert hatte, dass er Kato ans andere Ende der Welt wünschte, nicht bereit war, diese Einschätzung zu revidieren. Seine älteren Freunde und Bekannten konnten noch so oft einwenden, dass der Bursche eigentlich ganz patent war: Aoki stellte sich taub. Dass nun physische Distanz so unerfreulich durchbrochen wurde, schmeckte ihm folglich gar nicht. Wie auch Speichel mit einer Beimischung von Galle. Was daran lag, dass Aoki die Bewegungen registrierte, aber sich nicht zuverlässig im Raum orientieren konnte. Mit verklebten Augen und mühsam bewahrtem Bewusstsein nicht verwunderlich. "Kopf." Mahnte die dunkle, raue Stimme mit ihrem einprägsamen Akzent. Aoki rollte sich ein, gurgelte hilflos. Kato knurrte etwas. Es ging tiefer. Aoki fand sich auf dem Boden wieder, Laminat. Er keuchte, kämpfte mit der Orientierung, doch außer hellen Flecken erkannte er nichts. Deckenleuchte und verschmierte Sicht! Muskulöse Arme schlängelten sich unter seine Schultern und die Kniekehlen. "Ganz ruhig. Nicht zappeln." Vor einen breiten Brustkorb gebettet bugsierte Kato ihn...wohin? "Hrrgll?" "Ja, ich lass dich runter." Polsterung und Verlust der Mokassins, die Aoki gern trug. Er rollte sich auf die Seite, zog mühsam die Knie vor den Leib. Erneut setzte das gefürchtete Zittern ein, verwandt mit Schüttelfrost. Er ging seines linken Handgelenks verlustig. Was, zählte Kato etwa seine Pulsschläge? Aoki winselte kläglich, weil ihm zusehends die Kräfte schwanden. Über ihm seufzte die dunkle Stimme tief bis in die Zehen. "Genau SO habe ich mir das vorgestellt." Bei Aoki erloschen sämtliche Lichter. ~+~+~* Aoki erwachte von einem geradezu bösartigen Geräusch geweckt. Er stellte prompt fest, dass er auch noch erblindet war! Neben ihm raunte sehr nahe eine heisere Stimme. "Ah, du willst doch nicht bis zum nächsten Frühjahr durchratzen." Aoki ächzte, versuchte verzweifelt, Sinn in die Situation zu bringen. Was....?! Aber seine Arme schienen unter einer Bettdecke eingeklemmt. Wieso war er nackt?! "He! Schön ruhig atmen, ja? Alles in Ordnung." DAS konnte Aoki ganz sicher nicht unterschreiben! Allerdings spürte er auch, dass sein rasender Pulsschlag nicht hilfreich sein würde, sich aufsetzen zu können. Morgens musste er sich behutsam in den Tag tasten. Sein Kreislauf verabscheute hektisches Aufspringen und Kaltstarts in die grausame Realität! Hände strichen über seine Haare, zupften zarte Bänder von seinen Ohrmuscheln. Aoki blinzelte. Keine klare Sicht, aber zumindest schon mal mehr Licht! "Etwas besser." Konstatierte die raue Stimme mit dem Oosaka-Akzent. "...was...hast du...mit mir angestellt?" Begehrte Aoki aufgewühlt zu erfahren. Kato grummelte grimmig, "Na, was denkst du denn? Die ersten zwei Stunden habe ich alle zehn Minuten deinen Puls kontrolliert. Ich musste dir die Klamotten runterpellen, weil du gezittert und geschwitzt hast wie verrückt. Also eine Runde abledern, bitte, danke schön! Ich hab dir eine Kühlmaske auf die Augen gelegt, damit du nicht aussiehst wie ein Karnickel im Tierversuch. Es hätte nicht viel gefehlt, da hätte ich dich an den Tropf legen müssen, weil du total unterzuckert warst." Aoki blinzelte benommen. Widerspruch musste angemeldet werden, aus Prinzip und wegen absoluter Unmöglichkeit, dass er...! Ohne es verhindern zu können füllten sich seine leidgeprüften Augen mit Tränen. Dummerweise konnte es wirklich...weil er doch... Über ihm seufzte Kato vernehmlich. "Ehrlich, du schaffst mich! Für diesen Prinzling! Dabei solltest du es doch besser wissen." "Lass mich in Ruhe!" Trotzte Aoki kindlich, versuchte, sich auf die Seite zu rollen. Er könnte sich auch hoch stemmen und aufsetzen... "Das kannst du vergessen. Solange dein Urteilsvermögen so daneben ist, liegt das Veto bei mir." Verkündete Kato entschieden. "Du spinnst ja wohl!" Empörte sich Aoki, keuchte jedoch vor Anstrengung, sich überhaupt von der Matratze zu lösen. "ICH dope mich nicht an den Rand des Kollapses, um einem Typen zu imponieren, der bloß gebumst werden will." Feuerte Kato giftig zurück. Aoki zuckte zusammen, als hätte ihn ein Schlag getroffen. "Ich will gehen." Wisperte er, verweigerte jeden Blickkontakt. Mittlerweile hatte er, trotz verflixtem Tränenschleier, die Umgebung analysiert. Er befand sich NICHT in seinem Appartement, sondern in einer unbekannten Mini-Wohnung ohne Fenster oder Tageslicht, dafür einer Treppe zur Tür. "Du kannst nicht mal stehen. Also erst mal Dusche, dann Essen." Ordnete Kato selbstherrlich an, schälte die anhängliche Bettdecke von Aoki, der auszuweichen versuchte. "Ich will nicht! Lass mich nach Hause!" Eine große Hand legte sich auf Aokis Nacken, der vor Schreck aufkeuchte und erstarrte. Schwarze, sehr zwingende Augen funkelten ihn finster an. "Du wirst tun, was ich sage." Japsend ballte Aoki die Fäuste. Wie stets, ihn blamierend, schlug das Leck in seinen Augen zu: sie tränten schon wieder! Auch wenn er gar nicht heulen wollte! Aber er begriff die Drohung sehr wohl. Sein Nacken war ungeheuer sensibel. Der dreimal verwünschte Gorilla musste das irgendwie erraten haben! "Ich kann allein duschen." Wagte er dennoch Protest. "Wie du meinst. Komm hoch." Federte Kato mühelos aus der Hocke, mit der Gestalt eines Kurzstrecken-Schwimmers, breiter Brustkorb, muskulöse Schultern und Arme, schlanke Hüften und lange Beine. Man hätte ihn ja für manierlich halten können. Wären da nicht der stechende, durchdringende Blick, der Handbreit hohe Irokesenkamm auf dem Schädel! Ein typischer Schläger/Gorilla/Delinquent/Unruhestifter! Der Aoki nun die Hände entgegenstreckte. "Also?" Selbstredend wollte Aoki diese Hilfestellung nicht in Anspruch nehmen. Er schob mühsam die Beine über den Bettrand, hasste den Umstand, dass er unbekleidet war, stemmte trotzig die Fäuste in die Matratze.... Seine Arme zitterten so stark, dass er sie als Starthilfe nicht gebrauchen konnte. Vor ihm schnalzte Kato mit der Zunge, kreuzte die Arme vor der Brust, sich das Sweatshirt über den Kopf abzustreifen, stieg aus der Jeans. Nun blickte Aoki doch panisch zu ihm auf. Der wollte jetzt doch nicht etwa über ihn herfallen, oder?! "Festhalten." Kato ging leicht in die Knie, schlang die Arme um Aokis Schultern und unter die klapprigen Beine, lupfte ihn mit einer beschämenden Mühelosigkeit, schüttelte dabei die Decke ab. Aoki presste die Lippen fest aufeinander. Bloß nicht betteln oder schluchzen, die Demütigung nicht auch noch potenzieren! Die Nasszelle war winzig, die Dusche Rücken an Rücken mit einem WC plus Waschbecken als Spülkasten. Ein einziger Klapphocker aus Kunststoff wartete auf die Vorreinigung. Zu zweit bekäme man klaustrophobische Anfälle! "Halt dich an mir fest." Lautete das Kommando, während Kato die eigene Unterhose entfernte, dabei Aoki ausbalancierte, immer einen Arm um dessen magere Taille geschlungen, damit die Arme um den kräftigen Nacken nicht die Hauptlast allein trugen. Aoki hätte heulen mögen. An den Muskelprotz gepresst, der ihn um einen Kopf überragte, ohne ein Löschblatt dazwischen, grauenvoll! Zugegeben, fest, sehr warm, elastisch, aber das konnte er sich auch über eine Heizdecke besorgen, jawohl! In der gemeingefährlichen Enge der Dusche operierte Kato unterdessen einhändig, abwechselnd: Duschgel, einschäumen, rechts, links, Wasserstrahl von oben justieren, Schritt vor, Schritt zurück. Aoki kniff die Augen so fest zu, dass er Sterne sah, verabscheute sich für seine Schwäche, diese grässliche Situation und den Umstand, dass Kato ihn nicht verspottete oder eine Gardinenpredigt hielt, sondern sie auch noch beide in ein Handtuch einschlug! "Der Plan geht wie folgt: du hältst dich fest. Ich setze dich auf dem Bett ab. Du trocknest dort vor dich hin. Ich suche unterdessen Klamotten für uns raus. Danach frühstücken wir." Mangels Alternativen nickte Aoki minimal. Auf dem Bett versuchte er, die Beine vor den Leib zu ziehen, doch nicht mal das wollte ihm gelingen, ohne dass er Schwindel verspürte. Erneut ertönte dieses bösartige Geräusch, das, auch wenn er es liebend gern negiert hätte, seiner eingefallenen Magengrube entstammte. Kato hatte sich unterdessen angezogen, Slip, Jeans, T-Shirt (in Monstergröße, kein Zweifel!). Aoki beäugte elend die Offerte für sich selbst. "Ich schaff das allein." Kam er Assistenz zuvor. Schlimm genug, mit dem Gorilla unter einer Dusche im Engtanz agieren zu müssen! Er quälte sich in die Unterhose, versuchte, die Jeans mit aufgekrempelten Hosenbeinen hoch zu ziehen, sackte keuchend rücklings auf die Matratze. Die Augen beschlugen ihm vor Scham, aber auch Ernüchterung. Sein Kreislauf taumelte so schwächlich vor sich hin, dass er nicht mal ein paar Kleider überstreifen konnte! Kato beugte sich über ihn, legte ihm zwei Finger an die Kehle, zählte die Pulsschläge dort. Aoki fror schon wieder, nur halb in Stoff gehüllt, von der kleinsten Anstrengung erschöpft. Außerdem waren seine Haare noch feucht. Nicht so wie der martialische Kamm auf dem Gorilla-Schädel! Besagter "Gorilla" justierte die Jeans mit einem Gürtel (der auch die Unterhose hielt), wickelte Aoki wie eine Puppe in ein Sweatshirt, ergänzte es mit einem Pullover. Natürlich viel zu groß! Er pflückte das Handtuch ab, um Aokis Strähnen zu trocknen, nahm ihn dabei auf den Schoß, ohne Kommentar. Aoki hob den Handrücken, um die verwünschten Tränen wegzuwischen. Er fühlte sich schlichtweg elend, vollkommen hilflos und ausgeliefert. "He." Raunte die tiefe Stimme an seinem Nacken. Bevor Aoki die latente Gefahr realisieren konnte, spürte er, wie Kato an den Sehnen knabberte. Keine Bisse, nein, doch dieses sensible Areal reagierte schon beim kleinsten Kontakt. Aoki ächzte, versuchte vergeblich, sich den Schraubzwingen-Armen zu entwinden, die Augenblicke zuvor so trügerisch harmlos gestützt hatten. "Nicht!" "Küss mich." Forderte Kato ungeniert. Was Aoki ganz sicher nicht wollte, aber wenn er Kato nicht in Schach hielt...! Er wandte den Kopf, wurde dabei unterstützt, sich auf dessen Schoß herumzuwinden, presste die Lippen eilig auf Katos Mund. In der Absicht, sich blitzartig wieder dort zu entfernen. Nur lag eine Hand perfider Weise in seinem Nacken, verhinderte jede erfolgreiche Flucht. Kato hegte entschieden ausgedehntere Vorstellungen von einem Kuss. Aoki stöhnte erschrocken auf, als nicht nur eine fremde Zunge vorstellig wurde, sondern eine Kugel über seinen Gaumen streifte. Kato tat sich an ihm gütlich, ließ ihn erst nach einer Weile sanft auf die Matratze sinken, drapierte die Decke über ihn. Er erhob sich, sammelte das Handtuch auf, leckte sich provozierend über die Lippen, sein Piercing offenbarend. "Ruh dich aus, bis ich mit dem Frühstück fertig bin." Aoki wandte den Kopf ab, taufte das Kissen ein wenig. ~+~+~* Mit dem Frühstück verhielt es sich nicht anders als mit dem Duschen: die Hauptarbeit behielt Kato sich vor, fütterte Aoki! Der schluckte, kaute, schickte sich drein, um keine Kraft an sinnloses Aufbegehren zu verschwenden. Wenn er wieder Energie hätte, könnte er es nach Hause schaffen! Wohin Aoki unbedingt wollte. Sich im eigenen Bau die Wunden lecken, ohne Zeugen für eine erneute Demütigung und Enttäuschung. "Ich bringe dich nach Hause." Bestimmte Kato uneingeladen, verstaute Aokis Wäsche in einem Rucksack, stopfte selbstherrlich dessen Habseligkeiten hinein. Die Schlüssel zur Wohnung sogar in die eigene Hosentasche! "Ich kann dich nicht leiden!" Bekundete Aoki frustriert, aber ausgeliefert. Kato funkelte ihn an. "Du kennst mich doch gar nicht." Was der Wahrheit entsprach. Er ging vor Aoki in die Hocke, der sich vor dem Aufstehen fürchtete, weil er seinem Körper nicht trauen konnte. "Ich weiß nicht, welcher Typ mit meiner Erscheinung dir übel mitgespielt hat, aber ICH bin nicht so. All die Prinzlinge, die du aufgegabelt hast, sind nicht die Lösung für deine Suche." "Was weißt du denn schon?!" Fauchte Aoki angegriffen und getroffen. Kato grimassierte grimmig. "Eine ganze Menge. Du hast seit zwei Jahren meine Aufmerksamkeit. DAS sollte dir sagen, wie viel ich über dich weiß." ~+~+~* Selbstverständlich hätte Aoki eine Alternative vorgezogen, doch er befand sich vollkommen in Katos Gewalt! Wegen der Schlüssel, seines Mobiltelefons, weil er ohne dessen stützenden Arm um die Schultern mehr als einmal ins Straucheln geraten wäre. Vollkommen erschöpft taumelte Aoki in sein eigenes Appartement, brach auf seinem Bett förmlich in sich zusammen. "Ich kann nicht mehr." Wisperte er erschlagen. Er brauchte jetzt dringend eine Auszeit! ~+~+~* "Ah, du wachst ja doch noch auf." Stellte eine raue, tiefe Stimme aufgeräumt fest. Aoki winselte automatisch, rieb sich mit den Handrücken über die Augen, wirrte dabei auch gleich Strähnen hinter seine Ohren, die bunten Stecker enthüllend. "Ehrlich, diese Emma ist eine taube Nuss! Am Liebsten würde ich die im Nacken packen und mal durchschütteln!" Kommentierte Kato, legte ein Buch ab. Er setzte sich auf, da er bequem ausgestreckt auf der Seite neben Aoki gelagert hatte. Aoki versuchte gar nicht, diesem Urteil auf den Grund zu gehen, weil ihn nach traumlosen Schlaf die hässliche Fratze der Realität anblaffte. "Wieso bist du noch da?" Erkundigte er sich krächzend, schaffte es sogar, sich auf die Ellen zu stemmen. "Ich wollte sichergehen, dass du hier nicht abkratzt. Oder zur Trockenpflaume mutierst, weil du dem Prinzling nachtrauerst." Grollte Kato sonor mit seinem schweren Akzent. Er federte elastisch auf der Matratze. "Außerdem habe ich meinen Ausbilder angerufen. Hier!" Damit pflückte er Aoki mühelos aus der halb aufgerichteten Stellung, setzte ihn aufrecht, fischte Beutel heran. "Was ist das?" Misstrauisch beäugte Aoki die milde Gabe. "Theoretisch Sportkost. Mein Ausbilder hat die Sorte vorgeschlagen, damit dein Kreislauf wieder ins Lot kommt. Nachdem ich ihm die Beipackzettel vorgelesen und deine Symptome beschrieben hatte." Ergänzte Kato nicht ohne eine gewisse Strenge. "...ich verstehe immer noch nicht..." Aoki wurde der Beutel samt Saugstutzen fast ins Gesicht gerammt. Die stechenden Augen des muskulösen Mannes fixierten ihn zornig. "Der Himmel ist mein Zeuge, DU bist wirklich der einzige Mensch auf Erden, der mich zuverlässig auf die Palme bringt!" Kato holte tief Luft, ein durchaus imponierender Anblick bei seinem Brustkorb. "Ich bin Ersthelfer, ja? Mein Ausbilder arbeitet als Sanitäter. Glücklicherweise konnte ich ihn erreichen, aus deinem Papierfriedhof dein Pillenarsenal ausgraben und ihm vortragen, damit ich nicht doch einen Notarzt holen muss, weil du dich ins Koma gedopt hast. Und jetzt, verdammt noch mal, lutsch dieses bescheuerte Gel!" Kato wurde nicht laut, aber mit jeder Silbe verstärkte sich sein Akzent zu einem polternden Donnergrollen. Aoki erstarrte, die Schultern schützend hochziehend. "Du verstehst das nicht." Bewies er fast tollkühn Courage, sich nicht einschüchtern zu lassen. "Ah nein?!" Knurrte Kato grimmig, funkelte auffordernd auf den ersten Beutel, der noch immer nicht geleert worden war. "Was verstehe ich denn nicht? Dass du in den zwei Jahren, in denen du mich ignorierst und wie die Pest meidest, eine Serie hundertprozentiger Pleiten hingelegt hast? Dass du, den deine Freunde als aufgeschlossen, attraktiv, begeisterungsfähig beschreiben, STÄNDIG Prinzlingen nachläufst? Die genauso aufgeschlossen, attraktiv, begeisterungs- und begattungswillig sind, aber SONST NICHTS?! Dass du, mit tödlichem Geschick, genau die Pfauen rauspickst, die bloß vögeln wollen?! Obwohl du einen festen Freund, einen Partner suchst?! Was EXAKT habe ich nicht verstanden, hm?" Aoki spürte, wie sich seine verwünschten Augen mal wieder mit Tränen füllten. Nicht, weil er heulen wollte oder gar musste, einfach, weil Emotionen jeder Art, auch auch Speisen, lautes Lachen oder Schnäuzen diese verflixte Leckage auslösten! Katos durchdringender Blick verschärfte sich prompt. "Ich kann nichts dafür!" Schniefte Aoki sich verteidigend. Bevor er noch aufzählen konnte, welche Ärzte er zu dieser höchst peinlichen Disposition aufgesucht hatte, klemmte Kato seine Nasenspitze zwischen zwei Finger. "Ja, auch darüber weiß ich Bescheid. Jetzt mümmel diesen Glibber endlich!" Wütend, beklommen, auch erheblich verunsichert saugte Aoki das Gel ein. Geschmacklich eher so lala, aber nicht so schlimm wie erwartet. Sorgen bereitete ihm, dass Kato so viel über ihn zu wissen schien. Mit seiner Wutrede auch noch ins Schwarze getroffen hatte! Unter dem strikten Funkeln der tiefschwarzen Augen leerte Aoki zwei weitere Beutel. Damit sollte er doch nun wenigstens seinen Foltermeister gnädig gestimmt haben! Trost suchend wandte er sich halb herum, angelte seinen besten Freund heran, stumm, häufig salzig getränkt, leidgeprüft, immer formell korrekt gekleidet, ein wenig mitgenommen. Kato musterte sie prüfend. "Du legst den besser beiseite, wenn wir jetzt was Anständiges essen." Aoki umschlang seinen Gefährten demonstrativ noch enger, drehte sich halb weg. "Will ich nicht!" Entschied Aoki trotzig. Zuspruch erschien ihm wichtiger, als dem komischen Gel gleich noch was in den Schlund folgen zu lassen! Kato ließ sich nicht auf eine Auseinandersetzung ein. Er sammelte die Beutel auf, erhob sich von Aokis Bett, um ihm einen Pyjama hinzulegen, aus Aokis eigenem Fundus. "Was...bist du etwa durch sämtliche Schubladen und Schränke gegangen?!" Schreckte der empört auf. Kato grinste, was durchaus bedrohlich wirkte. "Was denkst du, dass ich mir die Gelegenheit entgehen lasse? Schade, dass keine Babyphotos dabei waren." "Du~du EKEL! Was fällt dir ein?!" Begehrte Aoki empört auf, der nicht zu unrecht seine Privatsphäre erheblich verletzt sah. Außerdem rief es ihm in Erinnerung, dass er noch immer die überdimensionierten Leih-Kleider dieses unverschämten Stalkers trug! Aufgebracht zerrte er sich Pullover und T-Shirt über den Kopf. Für Kato, der das Freistilringen ohne Gegenpart beobachtete, die Lücke. Aoki erkannte zu spät, sich aus fremder Leibwäsche und Hosen windend, dass er sich eine gefährliche Blöße gegeben hatte, womit nicht sein temporäres Adamskostüm gemeint war. "Das-das ist mein Pinguin! Gib ihn zurück!" Verlangte er aufgewühlt, streckte gebieterisch die Arme aus. Kato setzte den selbst angefertigten Stoff-Pinguin außer Reichweite auf das vorspringende Sims eines eingebauten Regals. "Die Konkurrenz nimmt eine Auszeit." Bestimmte er unbeeindruckt. "Außerdem wollen wir essen. Stofffische habe ich nicht in petto." Aoki, im Reflex auf die Knie gerutscht, blickte verzweifelt-hilflos zu seinem engsten Freund seit der Grundschulzeit hoch, Trostspender, Vertrauter, Gesellschafter, Kuschelgefährte. "Du bist unausstehlich." Ließ er, in sich zusammensinkend, Kato wissen. Der beugte sich zu ihm herunter, was Aoki erschrocken zurückweichen ließ. Kato verdrehte die strengen Augen. "Was denkst du bloß?! Dass ich jetzt über dich herfalle? Klar, ist mein erster Gedanke, dich durchzurammeln, nachdem ich mühevoll versucht habe, deinen Kreislauf zu stabilisieren!" Ätzte er, drückte Aoki den eigenen Pyjama in die abwehrend erhobenen Hände. Er zog sich zurück, um ungefragt Aokis kleine Mikrowelle in Beschlag zu nehmen. "Wirklich, du weißt ÜBERHAUPT nichts über mich, hast aber ne Meinung von mir, als wär ich'n notorischer Totschläger!" Grollte er empört. Aoki streifte sich eilig, ohne größere Kalamitäten, den eigenen Pyjama über, kam auf die Beine. Doch sein Pinguin blieb selbst auf Zehenspitzen außer Reichweite! Kato seufzte, transportierte zwei Bento-Boxen, die er aus der Mikrowelle geborgen hatte. "Können wir nicht wenigstens bloß zu zweit essen?!" Erkundigte er sich in tragisch intonierter Ironie. Aokis Magengrube antwortete ungefragt, was ihn empörte ob des peinlichen Auftritts! Mit einem demonstrativen Schnauben ließ sich Aoki wieder auf sein Bett plumpsen. Sofort musste er auf den dünnen Oberschenkeln eine Bento-Box platzieren. Ebenso ausgerüstet nahm Kato neben ihm Platz, reichte Essstäbchen weiter. "Handgemacht, nach Hausfrauen- oder Oma-Art. Muss das Geschirr zurückbringen, also hau alles wech!" Kommandierte Kato, der auch mit gutem Beispiel und viel Appetit voranging. Aoki pickte erst zögerlich, dann zuversichtlicher. Keine übertriebene Deko, sondern schlichte Kost, ohne Schnickschnack und Show. Kato verzehrte seine Portion in geübtem Tempo, stellte sie neben die winzige Spüle. Er angelte den begehrten Pinguin herunter von seinem Exil, hielt ihn selbst auf dem Schoß in den muskulösen Armen. "Ich habe drei Wochen nach dir Geburtstag, bin ebenfalls 21 Jahre alt, geboren in Oosaka. Meine Familie betreibt ein Umzugsunternehmen, aber schlüsselfertig, das heißt, wir packen nicht nur und transportieren, sondern richten die neue Unterkunft auch her. Quasi mühelos einziehen, alles verstaut, bis zum aufgeheizten Bad und gefüllten Kühlschrank. Gleich nach dem Schulabschluss bin ich hierher gekommen, um meinen Onkel zu unterstützen, Software umrüsten, neue Programme für Innenausbau. Ich lebe allein in einer kleinen Souterrain-Wohnung, da, wo wir gestern waren. Ich mag meinen Job, die Verantwortung, schwarze Jeans, Punkrock und Pfefferminz-Eiscreme." Ließ er Aoki wissen, der erst nervös seinen Pinguin betrachtet hatte, jedoch artig die Bento-Box leerte. "Ich seh nicht aus wie ein Prinz. Meine Gestalt ist meinem Job geschuldet. Es hat mich vor zwei Jahren EXTREM angepisst, dass du mich auf den ersten Blick total abgelehnt hast." Aoki zog die Schultern hoch, suchte nach einem seiner zahlreichen Tücher und Schals. Wenn er sich streckte, dann... Noch bevor er seinen Nacken gewohnt einhüllen konnte, lag Katos Linke auf den Wirbeln, was Aoki ein Ächzen entlockte. "Keiner deiner Prinzlinge hat das rausbekommen, hm? Wie heftig du reagierst, wenn man deinen Nacken berührt." Der Griff ließ kein Entweichen zu, obwohl kein Schmerz eintrat. Aoki atmete flach, fast hechelnd, wollte nicht betteln, freigegeben zu werden, schwankte aber vor der gemeingefährlichen Alternative! "Ich werd nicht gehen, verschwinden, mich in Luft auflösen." Stellte Kato ruhig, aber mit eiszeitlicher Endgültigkeit fest. "Ich bin kein Prinzling, sondern der Typ, der bleibt. Ich besorg mir sogar einen verdammten Frack wie dein Kumpel hier, wenn es Not tut. Also geh mit mir aus, ganz bürgerlich-konventionell. Dates zum Essen, zum Bummeln, in einen Park. Danach zerwühlen wir die Laken. Wenn du einen Ring willst, kriegst du einen. Selbst über mein Zungen-Piercing können wir verhandeln." Offerierte er seinen Part eines erwünschten Arrangements. Aoki starrte ihn an, trotz der bedrohlichen Hand in seinem empfindlichen Nacken. "...aber....warum...?" Stammelte er schließlich belagert und überrannt. Kato schnalzte mit der Zunge, zog ein schiefes Lächeln über seine so gestrenge Mimik. "Auch wenn du mich regelmäßig fast in den Wahnsinn getrieben hast: du bist einfach mein Typ." Was vermutlich die vorangegangenen Aktionen und den Antrag rechtfertigen sollten, hasardierte Aoki hilflos. Er wollte Bento-Box gegen Pinguin tauschen, nur sah es einfach nicht danach aus, dass Kato ihm diese Gunst gewähren würde! Aufgewühlt blickte er zwischen Kato und seinem Pinguin auf dessen Schoß, im rechten Arm geborgen, hin und her, spürte, wie mal wieder die defekte Leitung seine Augen überspülte. "Du hast all diesen Schönlingen eine Chance gegeben, warum nicht mir?" Die Linke löste sich von Aokis Nacken. Ohne Weiteres bekam er seinen Pinguin, ging des leeren Geschirrs verlustig. Kato erhob sich geschmeidig, stapelte es ebenfalls neben der Spüle. Er wandte sich herum, betrachtete Aoki, der die Beine vor den Leib gezogen seinen Pinguin umarmte, nicht wusste, welche Antwort er geben, welche Entscheidung er treffen konnte. "Wenn ich nicht gegen dich ankomme?" Flüsterte er kaum hörbar, rollte sich noch stärker ein. Gegen so einen Herkules hatte er körperlich nicht die mindeste Chance! Das waren ohnehin alles Herumschubser, Krawallbrüder! Kato ließ sich neben ihm nieder. "Du glaubst, ich bin so ein Typ, der seinen Partner unterbuttert, einschüchtert oder misshandelt?" Sprach er unverbrämt aus, was Aoki nicht über die Lippen brachte. Er seufzte grimmig. "Tja, ich kann dir SAGEN, dass ich so was nicht tue. Nicht mal mit Figuren, die ich nicht ausstehen kann. Aber beweisen kann ich das nur, wenn wir Zeit miteinander verbringen! Wenn wir ausgehen, wenn du mir die Chance gibst, dein Vertrauen zu gewinnen." Ja, genau das war die Crux, wie Aoki konstatierte. Er musste sich trauen, das Risiko eingehen. Und dann? Er hätte einen festen Freund, der ihm half in Notlagen. Der sich nicht über die ständigen Überschwemmungen beklagte. Der günstigenfalls nicht darauf bestand, eine sexuell offene Beziehung zu führen. Jemand, der da war, ihn in den Arm zu nehmen, ihn zu beschützen, schlicht durch Zuneigung und Aufmerksamkeit. "Was haben die anderen gehabt, was ich nicht aufbieten kann?" Kato klang sachlich, jedoch auch mit einem Hauch Verzweiflung. Aoki hatte immer gehofft, mit Gunstbezeugungen für sich zu werben, etwas zu bieten, sie für sich zu gewinnen. Selbst wenn das bedeutete, zu viele Kreislaufmittel zu schlucken, um nicht nach Runde eins schlappzumachen. Gedanken, die ihm bei Kato völlig abwegig erschienen, weil der.... Nicht zugelassen hätte, sich in solche Gefahr für die Gesundheit zu begeben. Nicht erwartete, umschmeichelt, hofiert zu werden. Vielleicht konzentrierte sich seine strikte Ablehnung gar nicht auf Katos äußere Erscheinung. Sondern auf die Ahnung, dass der ihn besser einschätzte, nicht dem oberflächlichen Urteil vertraute, sondern tiefer grub, nicht aufsteckte. Ihm gerade deshalb gefährlich werden konnte, weil jede Attacke, jede Enttäuschung, jede Zurückweisung direkt ins Herz traf, nicht an der Oberfläche verdunstete. "Langsam." Wisperte Aoki endlich. "Wir könnten es langsam angehen." Sofort randalierte sein Puls, überlief ihn ein Schauer. Kato, ihm zugewandt, lächelte leicht. "Danke. Ich werde dir beweisen, dass deine Courage sich gelohnt hat." "An Selbstzweifeln leidest du wohl nicht gerade." Murmelte Aoki tollkühn, bekuschelte seinen Pinguin, atmete durch. "Nicht, was meine Gefühle für dich betrifft. Die sind eindeutig. Ich bin ein sehr hartnäckiger, gründlicher Kerl." Stellte Kato sichtlich entspannt fest, schmunzelte. "Ich steh zwar nicht auf Double Dates, aber wie wäre es, wenn ich diese Emma weiter vorlese? Dein befrackter Kumpel und du legen sich brav lang, überlassen das Kalorienschürfen der Verdauung." Aoki lächelte verhalten, folgte dieser Empfehlung jedoch. Zugedeckt, seinen Pinguin als Kuschelpartner, registrierte er, wie Kato sich mit dem Leseband neben ihm ausstreckte, mit der rauen Stimme flüssig den Text intonierte. Nach einer Weile rutschte Aoki näher heran, denn Kato verströmte eine einladende Wärme. "Kalt?" Unterbrach Kato sich, klopfte an seine Hüfte. "Rutsch heran." Aoki riskierte es, sich an den muskulösen Leib zu schmiegen, einen Arm die Schultern geschlungen, den Kopf bequem auf der Brust abgelegt, unter sich die ruhigen Atemzüge, die Herzschläge, das sanfte Auf- und Niederbeben. Die Lektüre bot ihm nichts Neues, aber die Geborgenheit in Katos Obhut lullte ihn bald ein. ~+~+~* Kato deponierte den Stoffpinguin als Wächter neben dem Kopfkissen. Aokis Wangen zeigten unter den langen Strähnen tatsächlich ein wenig Farbe. Dessen Atem ging ruhig, seine Kondition wirkte stabil. Die abgeworfenen, ausgeliehenen Kleider aufgelesen und in seinem Rucksack deponiert blickte Kato sich prüfend um. Das Geschirr hatte er eingesammelt, für ein Frühstück ausreichend eingekauft. Passende Kleider lagen auch schon bereit, sodass sein widerspenstiger, bedauerlich geschmacksverirrter Lebenspartner in spe ohne Stress in die neue Arbeitswoche starten konnte. Kato verließ das kleine Appartement nahezu lautlos. Geschirr abgeben, danach in die eigene Bude, so lautete der Plan. Er schlenderte jedoch, schritt nicht forsch wie gewohnt aus. Weil sich langsam die Erkenntnis setzte, dass er ENDLICH akzeptiert worden war. Die Prinzlinge konnte er abschmettern, die alten Freunde, wie z. B. Ken, stellten keine Bedrohung dar. Zugegeben, der flauschige Pinguin stand nicht auf seiner Liste, war unerwartet als Konkurrent in Erscheinung getreten. Andererseits bot er selbst durchaus mehr Kuschelfläche! Vor allem aber konnte ER Aoki umarmen, festhalten, was dem Plüsch-Rivalen unmöglich war. Somit sehr gute Voraussetzungen, dieses liebesbedürftige Herz zu erobern, die ausgesprochen appetitliche Verpackung auch mit Augenmaß und dem richtigen Krafteinsatz zu verwöhnen! ~+~+~* [Mehr zu Kato und Aoki in "Unsu-Wolkenschieber"] Kapitel 19 Das kam in der Tat unerwartet. Geohrfeigt worden war Chiharu noch nie. Besonders schmerzhaft hatte Aoki ihn auch nicht getroffen. Was Chiharu wirklich verwirrte, ja, beinahe verstörte, war der Anlass dieser Aggression. Chiharu konnte sich nicht entsinnen, dass Aoki jemals eine Beziehung angedeutet hatte. Wenn man den Recherchen glauben durfte, galt es doch als eher unwahrscheinlich, dass MANN sich zusammentat, gesetzt, man ermittelte zutreffend im richtigen Ressort. In Chiharu keimten diesbezüglich Zweifel. Er HATTE seine sexuellen Interaktionen ernst genommen, jedoch nie das Gefühl verspürt, man müsse dazu eine intime, andauernde Beziehung eingehen. Von Aoki nahm er schlichtweg an, der sei ebenso unternehmungslustig seinem Vergnügen verpflichtet. Das stellte sich nun als schmerzlicher Irrtum heraus. Wie bedauerlich! Da Aoki ihn stehen ließ, offenkundig nicht in der Sache ansprechbar, verlegte sich Chiharu zunächst auf eine schriftliche Entschuldigung, digital übermittelt. Ganz gewiss wollte er ihn nicht verletzen oder enttäuschen! Durchaus ein Dämpfer für seine Selbsteinschätzung. Andererseits erschien es Chiharu auch nicht zweckdienlich, Aoki ungebührlich zu belagern. Allzu starke Emotionen mussten sich erst mal setzen, in die richtige Distanz manövriert werden, damit man sie richtig bewertete, auf ihre Konsequenzen hin abwog. Zumindest befolgte Chiharu diese eingeprägten Lektionen wohlerzogen. Für eine persönliche Entschuldigung hieß es, Geduld zu wahren, darauf zu hoffen, dass sein Angebot akzeptiert werden würde, sich zumindest wieder mit Respekt zu begegnen. Die Ereignisse dieses Samstags warfen naturgemäß einen Schatten auf die sich anschließende Woche. Sollte man doch wieder zum Waschraum zurückkehren, um sich sexuelle Befriedigung zu verschaffen? Oder Vorsicht walten lassen, weil die persönliche Glückssträhne gerissen war? Chiharu entschied, es zu riskieren. Er wollte seine Begeisterung für physische, zwischenmenschliche Dynamik nicht mit einem so bitteren Wermutstropfen vergällen! Als er sich jedoch in manierlicher Erscheinung dem Waschraum näherte, sprach ihn ein Mann in einem dezent schimmernden Anzug an, die Haare sorgfältig zurückgekämmt, in glänzenden Wellen. Ein weniger unbedarfter Jugendlicher als Chiharu hätte angesichts der Aufmachung geahnt, dass dieser Mann zu einer gewissen Organisation gehörte, die sich gezwungenermaßen, aber auch aus eigenem Antrieb, legalen Unternehmungen zugewandt hatte. "Habe ich das Vergnügen mit einem regelmäßigen Besucher dieser Anlage? Auf ein Wort, wenn du so zuvorkommend sein möchtest." Die höfliche Rede reduzierte den rhetorischen Charakter der Fragen keineswegs. Chiharu begriff die Aufforderung, fühlte sich jedoch nicht inkommodiert. "Natürlich. Ist etwas geschehen? Kann ich behilflich sein?" Der Mann, vermutlich Mitte Dreißig, lächelte amüsiert. "Sowohl das Eine wie auch das Andere, hoffe ich. Ah, da sind wir schon. Mein Büro." Das, wie Chiharu überrascht erkannte, diskret mit "Sicherheitsdienst" ausgezeichnet wurde. Durch einen kleinen Vorraum mit Spinden und Bänken ging es zu einem bescheidenen Kämmerlein, Schreibtisch, Stahlschränke, zwei Besuchsstühle, alles recht eingepfercht. "Darf ich dir einen Tee anbieten? Nur Aufgussbeutel, fürchte ich." "Vielen Dank. Einen Oolong würde ich gern trinken, wenn das keine Mühe bereitet?" "Nein, nein, keineswegs. Bitte nimm doch Platz." Chiharu stellte seine Schultasche ab, ließ sich brav nieder. Das Wasser in einem Kessel wallte auf, die Brühgeräusche verhinderten eine Unterhaltung. Kaum sichtbare Kondenswolken über den Teebechern saßen sie einander gegenüber. "Zunächst mal vielen Dank, dass du mich begleitet hast. Ich leite hier den privaten Sicherheitsdienst, den die Bahnhofsbetriebsgesellschaft unter Vertrag hat." Eine Visitenkarte wechselte den Besitzer. "Die Gesellschaft freut sich über zahlreiche Kundschaft und viel Besuch, keine Frage. Allerdings hat sich in letzter Zeit herauskristallisiert, dass der Waschraum auch eine gewisse Attraktion zu bieten hat." Chiharu merkte auf, nippte an seinem Tee. "Die Waschräume sind ganz bestimmten Zwecken gewidmet. Eine Erweiterung der Nutzungsmöglichkeiten ist nicht gewünscht." Verkündete sein Gegenüber die Geschäftspolitik des Betriebskonsortiums. "Es mag ein wenig unorthodox erscheinen, aber wir befassen uns auch mit der virtuellen Darstellung des Bahnhofs. Rückmeldungen zum Sicherheitsempfinden, zur Sauberkeit, zum Transfer, zum Angebot der Geschäfte. Nicht nur bei offiziellen Plattformen." Ein prüfender Blick sezierte Chiharu, der inzwischen begriffen hatte, worum es sich drehte. "Natürlich könnte man Krawall schlagen, Eltern, Lehrkörper, Schulleitung, das ganze Programm starten. Ich bin eher traditionell gestimmt, altmodisch könnte man auch sagen. Mit einem Gespräch kann man meiner Erfahrung nach Vieles ohne großes Aufheben klären." Deshalb hatte er Chiharu in sein Büro gebeten. "Ich verstehe durchaus, dass man Kontakte pflegen möchte, sich ausprobieren, gerade wenn man jung ist, wenig Möglichkeiten dazu hat." Er strich sich kurz über die zurückgekämmten Wellen, fokussierte Chiharu mit einem konzentrierten Bannstrahl. "Allerdings geht es schlichtweg nicht an, dass sich erwartungsfrohe Interessenten im Waschraum tummeln, die darauf hoffen, einem attraktiven Oberschüler physisch Gesellschaft zu leisten." Die Worte wogen in der sich anschließenden Stille noch schwerer, wie Bleigewichte an den Füßen. "Ich bitte um Entschuldigung. Mir war nicht bewusst, dass ich solche Schwierigkeiten hervorrufe." Bekannte Chiharu schließlich, der ein Leugnen für zwecklos hielt. Offenbar hatte er Aokis Warnungen, er sei auf für ihn selbst nicht erreichbaren Foren berühmt, nicht ernst genug genommen. Er neigte sich tief über die Tischplatte, sein Bedauern wie üblich zu demonstrieren. "In Ordnung. Ich nehme deine Entschuldigung an. Für die Zukunft möchte ich mit dir Folgendes vereinbaren: du betrittst diesen Waschraum nicht mehr. Wenn du die sanitären Anlagen des Bahnhofs nutzen möchtest, gehst du bitte in die modernen, umgebauten Anlagen. Es wird wohl eine Weile dauern, bis sich verbreitet, dass die Attraktion nicht mehr vorhanden ist." Chiharu richtete sich auf, nickte entschieden. Ja, das klang nur vernünftig! Ihm selbst war ja nicht möglich, seine fragwürdige Prominenz mit eigenen Mitteln zu beenden. "Ich gebe Ihnen mein Wort!" Versicherte er entschlossen. "Dachte ich mir." Nickte der Sicherheitsleiter, durchaus amüsiert, erhob sich, signalisierte den Aufbruch. "Ein Gespräch zur rechten Zeit ist noch immer die beste Lösung." Chiharu verabschiedete sich höflich. Er verließ nachdenklich das Bahnhofsgebäude, teilte die Auffassung durchaus. Gespräche waren ausgesprochen wichtig! Nur im Moment beklagte seine Libido grämlich, dass sie sich wohl auf eine sehr lange Auszeit einrichten müsste. Wie sollte er jetzt, noch immer minderjährig, Gespielen UND einen passenden Ort finden, sich zünftig zu vergnügen?! ~+~+~* Ohne große Eile schlenderte Chiharu den Heimweg entlang. Er wurde nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt erwartet, konnte nicht mal ausschließen, dass seine Eltern gar nicht anwesend waren. "Auf ein Wort!" Adressierte ihn eine aufgeregte Stimme mit dem Impetus der Wichtigkeit, wobei schon die Phrase bedenklich unzutreffend klang. Chiharu wandte sich herum, fand sich einem gleichgroß gewachsenen, jungen Mann gegenüber, der am rechten Arm über einem grässlichen Regencape mit Ärmeln (!) eine Stoffbinde präsentierte. Oder eher am unkontrollierten Absturz hinderte. Ein "Tugendwächter" mutmaßlich, wenigstens ein "besorgter Nachbar des Wohnbezirks." "Guten Abend." Offerierte Chiharu bereits ZWEI Worte. "Ah, guten Abend. Oberschüler sollten so spät nicht unterwegs sein!" Sagte, in einer merkwürdig misslungenen Adaption eines Feldwebels, sein Gegenüber auf, schubste eine Brille auf dem Nasenrücken höher, die die Augen vergrößerte und Weitsichtigkeit vermuten ließ. "Das ist richtig." Pflichtete Chiharu brav bei, konzentrierte sich auf die Stupsnase des Moral-Wegelagerers. Niedlich! Der nickte gerade, was seine zurück gegelten, lockigen Haarsträhnen in Seegang versetzte. "Ausgenommen natürlich, sie hatten noch Besorgungen zu erledigen." Ergänzte Chiharu aufmerksam. "Äh, ja. Aber du hast nichts eingekauft, oder?" Hangelte sich der Amateur-Inquisitor dilettantisch durch ein spannungsarmes Script. "Nein, habe ich nicht. Allerdings hätte ich im Bahnhof auch etwas essen können, bevor ich mit meinen Kameraden zur Nachhilfe aufbreche." Wies er auf eine weitere, ethisch recht einwandfreie Ausnahme von der Regel hin. "Äh, ja, das stimmt wohl. Hast du das getan?" Die Stimme schwankte merklich, wurde angestrengt bemüht, streng und herrisch zu klingen. Außer man konfrontierte sie mit Argumenten! "Oh, ich besuche keine Paukschule, aber ich habe mich im Bahnhof aufgehalten, das stimmt." So langsam begann Chiharu, diese Situation zu genießen. Sein zappeliger Verhörspezialist kämpfte gleichzeitig mit der herabsackenden Autoritätsbinde, einer mächtigen Stirnlocke und seinem Text! "Bahnhof, genau! Es ist für Jugendliche nicht angezeigt, dort Zeit totzuschlagen. Nach Unterrichtsschluss muss man zügig das nächste Ziel ansteuern." "Wohl wahr. Ich habe allerdings keine Zeit totgeschlagen, sondern mich mit dem Sicherheitsleiter unterhalten." Hob Chiharu die nächste Fallgrube aus, unterdrückte mühsam ein Grinsen. Jeden Augenblick würden die Klebekräfte des Gels versagen, die dicke, wollige Strähne in die Stirn fallen! "Tatsächlich? Ähem, aha! Du bist wohl bei einer Missetat ertappt worden!" Intonierte der junge Mann in schrecklichem Chargenspiel, den Faden aufnehmend, den er ständig verstolperte. "Oh nein, keineswegs. Leider." Bedauerte Chiharu ehrlich. Zur Tat wäre er durchaus gern geschritten! "Aber was hast du denn im Bahnhof gemacht?!" Verzweifelte der Tugendwächter mit fast flehentlichem Ton an seiner Aufgabe. "Ich wollte den Waschraum aufsuchen." Bekannte Chiharu, diebisch vergnügt. "Das ist...! Äh... oh, ich weiß nicht weiter!" Deklamierte in ganz normalem Tonfall sein Gegenüber. Daraufhin kam prompt die Armbinde der Schwerkraft nach, zwang ihn in die Hocke, um sie aufzuklauben. "Bekleiden Sie dieses Ehrenamt schon länger?" Erkundigte sich Chiharu, ohne boshaft zu werden. So langsam tat ihm der überfordert wirkende junge Mann leid. "Seit drei Stunden etwa. Meine Mutter sagte, ich solle neue Bekanntschaften schließen, weil ich gerade erst hergezogen bin." Mühsam zerrte man an der Armbinde, die nicht am Ärmel des hässlichen Regencapes halten wollte. "Inzwischen überkommen ich doch Zweifel, dass das hier mir hilft." Verbissene Versuche, mit Stecknadeln zu operieren, beförderten nun auch die wollige Stirnlocke in selbige. Ihr Besitzer stöhnte gequält, an allen Fronten geschlagen auf. "Oh, es will mir einfach gar nichts gelingen! Vorhin habe ich schon einen Tadel bekommen, wegen des Hundes!" "Was ist denn passiert?" Chiharu griff ein, pflückte die Armbinde ab, während sie gemeinsam die Löcher in der Kunststoffhülle des Capes begutachteten. "Eine Frau führte ihren Hund aus, so einen haarigen, kleinen, aber nicht an der Leine. Ich glaube, der Hund war auch schon ziemlich betagt. Jedenfalls verlangte Frau Oogata, dass ich sie streng verweise. Aber ich habe nun mal Angst vor Hunden!" Er rollte einen Ärmel hoch, präsentierte einen dünnen Arm, der eine auffällige Narbe nahe des Handgelenks trug. "Ich bin als Kind mal gebissen worden. Die Wunde hat sich entzündet, wollte nicht heilen. Es war furchtbar!" "Ach herrje! Das kann ich gut nachvollziehen. Sie haben bestimmt Ihr Möglichstes versucht!" Tröstete Chiharu mitfühlend. "Und-und sie hat mich lektioniert, Frau Oogata! Meine Haare müssten geschnitten werden, ich hätte nicht die angemessen dunkle Kleidung, deshalb musste ich das Cape ihres verstorbenen Mannes überziehen!" Der vermutlich die Ausmaße eines ausgewachsenen Walrosses gehabt hatte. Mitleidig entschied Chiharu, sich konstruktiv einzubringen. "Warum legen Sie das Cape nicht ab? Man kann die Armbinde nicht richtig daran befestigen. Es wirkt ziemlich abschreckend." Er tippte sich selbst auf den Brillensteg. "Ich halte solange Ihre Brille, ja? So können wir uns auch besser unterhalten." "Oh, das ist aber nett, vielen Dank! Puh, ich fühle mich wirklich in diesem Zelt nicht wohl!" Einige Atemzüge später erkannte Chiharu auch, was die ihm unbekannte, aber wenig sympathische Frau Oogata zu der Anweisung getrieben hatte. Der imposante Inquisitor (seit drei Stunden, auf Probe) war schmal gebaut. Er hatte sich in eine Strickjacke gehüllt. An sich nicht tadelnswert, doch sie leuchtete in warmem Grün mit zahlreichen aufgestickten Blüten! "Bei der Arbeit trage ich immer Stirnband und ein Häubchen." Gestikulierte der junge Mann, nahm dankend seine Brille wieder in Empfang. "Da verlangt man nicht, dass ich mir den Kopf scheren soll." Was Chiharu auch für eine entsetzliche Forderung hielt. Ohne die Klebekräfte des Gels wirkten die wolligen Strähnen wie eine Korona, eine Art Löwenzahn-Pusteblume in schlichtem Schwarz um das herzförmige Gesicht mit der Stupsnase. "Darf ich fragen, welcher Arbeit Sie nachgehen?" Erkundigte Chiharu sich interessiert. Sein Gegenüber erstrahlte freudig. "Natürlich! Gern! Ich züchte und vermehre Orchideen! Das sind ganz faszinierende Gewächse, nicht nur wegen ihrer Schönheit, nein, sie haben erstaunliche Eigenschaften! Die werden erforscht. Dazu benötigt man entsprechende Exemplare." Erläuterte er munter, ganz ohne die grässliche Parodie eines furchteinflößenden Feldwebels. "Deshalb sind Sie hergezogen?" Ermunterte Chiharu zu weiteren Vertraulichkeiten. "Beinahe. Eigentlich ist ein Kollege versetzt worden, ich bin dann nachgerückt. Er hat mich als Nachmieter empfohlen. Ich habe bisher bei meinen Eltern gelebt, deshalb hatte ich mit Umzügen so gar keine Erfahrung. So richtig kenne ich mich auch in der Nachbarschaft nicht aus." Chiharu lächelte ermutigend. "Ich bin sicher, dass das ganz schnell gehen wird. Man trifft ja viele Menschen, wenn man sich so postiert." Gestikulierte er geschmeidig in die Landschaft. Allerdings erschien die Funktion doch eher zweifelhaft. Das konnte man dem herzförmigen Gesicht nun auch ablesen. "Ich bin nicht überzeugt, dass ich den Anforderungen gerecht werde." Murmelte der Orchideenzüchter gedämpft. "Was sagt denn das Skript? Wir waren beim Waschraum im Bahnhof stehen geblieben." Soufflierte Chiharu vergnügt. Unter der wolligen Stirnlocke legte sich selbige in angestrengte Falten. "Äh, Augenblick bitte!" Aus einer Jackentasche der auffälligen Strickware wurde ein eingerolltes Dokument produziert. "Aha! Sich im Waschraum ohne Anlass aufzuhalten...! Aufzuhalten.... ich kann das nicht lesen...." Hilfsbereit wechselte Chiharu die Position, spähte ebenfalls auf die winzigen Anweisungen. Zum Waschraum hatte man handschriftliche Ergänzungen vorgenommen, die kaum zu dechiffrieren waren. "Ich glaube, es soll 'sündiges Verhalten' heißen." Tat Chiharu schließlich seine Einschätzung kund, was ihm einen verwirrten Blick einbrachte. "Im Waschraum? Wieso?" NUN wurde es richtig unterhaltsam! Chiharu beugte sich verschwörerisch hinüber, flüsterte wie ein Geheimniskrämer. "Ich vermute, es geht um Sex!" Die ohnehin durch die Brillengläser vergrößerten Augen weiteten sich. "Oh. Gibt es im Bahnhof ein Love Hotel?" Hangelte sich der Tugendwächter durch unbekanntes Terrain. "Nicht, dass ich wüsste. Es geht um den Waschraum und Sex." Schnurrte Chiharu vergnügt. "Aber im Waschraum, da sind doch ständig Leute?" Bemühte sich sein ratloser Gegenüber um Begreifen. "Ich glaube, es ist der alte Waschraum gemeint, der mit den Toilettenkabinen." Half Chiharu amüsiert aus. Das brachte noch keinen Zündfunken zur Detonation. "Ich verstehe nicht. Die alten Waschräume sind doch getrennt?" Schmunzelnd setzte Chiharu zum Todesstoß an. "Sind sie. Es geht um Sex zwischen Männern in den Kabinen im alten Waschraum." JETZT konnte man es wirklich nur noch buchstabieren oder grafisch darstellen. Kurzes Blinzeln. Mit dem Erkenntnisfunken merkliches Erglühen von Wangen und Stupsnasenspitze! Einfach hinreißend, lautete Chiharus Urteil. "Aber~aber...! Das ist erlaubt?!" Stammelte der junge Mann perplex, beinahe erbarmungswürdig. "Nicht direkt. Deshalb hatte ich ja auch das Gespräch mit dem Leiter des Sicherheitsdienstes." Gurrte Chiharu, gespannt wie ein Flitzebogen, welche Reaktion diese Enthüllung auslösen würde. "Äh, ah, wie? Oh, tatsächlich? Aber...?" Ließ der Orchideenzüchter halblaut verfolgen, welche Gedanken ihn sequentiell durchmaßen. "Also, ich würde mich ja des 'sündigen Verhaltens' schuldig bekennen." Bot Chiharu selbstlos an. "Bloß entspräche das für heute nicht der Wahrheit. Deshalb fällt diese Anklage aus, oder?" Sein Gegenüber stieß ein überfordertes Winseln aus, raufte sich sogar den Löwenzahn-Schopf. "Ich kann das nicht! Ich bin gerade völlig konfus! Das ist so verwirrend!" Chiharu nickte beipflichtend. "Wenn man nichts davon weiß, ja, absolut! Ich hatte das auch lange nicht bemerkt." Tröstend fuhr er fort. "Wenn man sich mal darauf einlässt, ist es eigentlich ganz logisch. In der Kabine lässt man ja gewöhnlich die Hose runter. Bei mehr als einer Person lässt sich gut kombinieren. Im Übrigen ist der Unterschied auch nicht so groß zwischen Männlein und Weiblein, rein funktionell betrachtet." Man stierte ihn an, überfordert, ratlos, nicht angewidert oder empört, sondern auf hoher See, ohne Karte, Kompass und Orientierungssinn, verzweifelt nach einem Horizont Ausschau haltend. Chiharu lächelte. "Haben Sie Lust, mit mir Sex zu haben?" Eine Kinnlade näherte sich nach einer Transkriptionspause den Knien. "Also....ich habe noch nie..." Zumindest polterte der Orchideenzüchter nicht aufgebracht los, sondern wahrte wohlerzogen die Form. "Es sehr erfüllend. Beinahe so wie mit einer Frau." Half Chiharu mit Argumenten aus, goutierte die merkliche Röte auf dem herzförmigen Gesicht. "Ah...also...." »Volltreffer!« Konstatierte Chiharus Instinkt jubilierend. "Ich möchte mich nicht aufdrängen. Es wäre die Gelegenheit, jemanden kennen zu lernen, sich neuen Erfahrungen zu stellen." Zwinkerte er ermutigend. "Ich bin nicht sicher..." Chiharu bediente sich selbst, legte schlicht den Zeigefinger unter das spitze Kinn, küsste den jungen Mann auf die Lippen. Der hatte, urteilte man nach seiner Reaktion, auch noch nie zuvor DIESE Erfahrung gemacht. "Ich bin Chiharu." Stellte er sich lächelnd vor, leckte sich über die Lippen. "Äh...äh... angenehm! Sonoda, Akimasu Sonoda. Freut mich!" Stammelte Akimasu, jenseits aller Konzepte, die ihm seine Mutter jemals eingetrichtert hatte. "Du wohnst sicher ein Stück weg von hier, hm? In dem großen Gebäude da hinten?" Fischte Chiharu mit Schlafzimmerblick nach weiteren Erfolgen. "Oh, nein, in der Nähe, da, in dem Appartementblock." Spielte Akimasu ihm genau in die Karten. Chiharu zwinkerte, hakte sich einfach bei dem verdatterten Akimasu ein. "Das ist prima! Sag, hast du dich schon eingerichtet? Schon alles ausgepackt?" "Ja, schon, es ist auch nicht so viel..." Chiharu lenkte ihre Schritte, nicht zu eilig, aber auch nicht bummelnd. "Wie hast du gemerkt, dass du gern Pflanzen züchtest? Warst du in einer AG in der Schule?" Drauflos plaudernd, um Akimasu abzulenken, beobachtete Chiharu gleichzeitig dessen Reaktion. Sobald er auf Pflanzen zu sprechen kam, blühte der junge Mann an seinem Arm förmlich auf, bereitete seiner Strickjacke Konkurrenz. Einige Stichworte genügten. Chiharu gelangte in den Genuss eines launigen Vortrags über divenhafte Exemplare und erstaunliche Entdeckungen. Vergessen schienen die Tadel, die Verwirrung, die Überforderung. Kurz vor dem Gebäude kam ihnen ein martialisch wirkender junger Mann entgegen, der Michelangelo zu Hammer und Meißel hätte greifen lassen. Er apportierte aufeinander gestapelte Bento-Boxen wie für ein Picknick. Am linken Handgelenk zuckelte an einer dünnen Leine ein Heliumballon in Gestalt eines fröhlichen Pinguins hinter ihm in luftiger Höhe her. "Oh, guten Abend!" Grüßte Akimasu, unterbrach seinen lehrreichen Vortrag. "Mein Nachbar von ganz unten! Sehr nett, hat mir mit den Umzugskartons geholfen! Aber sehr beschäftigt, verbringt seine freie Zeit mit seinem Lieblingsmenschen." Verriet Akimasu verschwörerisch. "Das ist schön. Ohnehin sollte man viel mehr Zeit mit Lieblingsmenschen verbringen können." Konstatierte Chiharu, fragte sich, wie lange er widerstehen konnte, nicht an der niedlichen Stupsnasenspitze zu knabbern! "Oh, was das angeht..." Schrumpfte Akimasu in sich zusammen. "Sind wir vielleicht auf einem sehr guten Weg!" Vollendete Chiharu tatendurstig. "Immerhin kann man ja vorher nie wissen, wen man als Lieblingsmensch einstuft. Ist es hier?" Akimasu kramte seinen Wohnungsschlüssel heraus, offenbarte sein eingetauschtes Domizil, klein, eng, aber bevölkert. Oder präziser betopft! Zu den zahlreichen Gewächsen, die überall ein Plätzchen zu finden schienen, gesellte sich ein feiner Vanilleduft. "Oh, das ist ja phantastisch!" Für einen Moment vergaß Chiharu beinahe seine Mission, staunte im Kreisrund. "Das sind meine eigenen, ich meine, es sind nicht die der Firma, selbstverständlich! Sie sind quasi wie gute Freunde, da konnte ich sie doch nicht zurücklassen!" Erklärte Akimasu, schlüpfte aus den Schuhen. Chiharu tat es ihm nach, deponierte die Schultasche in Reichweite. "Wärst du so nett, mich mit deinen grünen Freunden bekannt zu machen?" Schnurrte er Akimasu zu, der linkisch von einem Fuß auf den anderen tappte. Mutmaßlich war er auch keinen Besuch in seinem Reich gewöhnt. "Gern, selbstverständlich!" Chiharu lauschte nicht nur konzentriert, sondern behielt seinen Gastgeber auch unverwandt im Auge. Die Leidenschaft und Begeisterungsfähigkeit des verhinderten Tugendwächters zogen ihn magisch an. Außerdem faszinierten ihn Stupsnase und Löwenzahn-Korona aus wolligen Strähnen. Er ließ sich auf dem schmalen Bett mit der grünen Tagesdecke nieder, studierte die zahlreichen Gewächse aus dieser Perspektive. Akimasu, der ihm scheu gefolgt war, warf ihm nervöse Seitenblicke zu. "Ich kenne mich leider mit der Etikette in solchen Situationen gar nicht aus." Bekannte er tapfer. Chiharu schmunzelte. Er hatte ja auch erst lernen müssen, wie man sich auf dem glatten Parkett des verbalen Vorspiels bewegte. "Das macht gar nichts. Ich zeig es dir, ja?" Für einen streng auf Manieren getrimmten, jungen Mann unmöglich abzulehnen. Die Rechte sanft auf Akimasus Wange gelegt brachte Chiharu sich in die richtige Position, begann, Akimasu in die Geheimnisse gelungener Küsse verschiedener Varianten einzuweihen. ~+~+~* Chiharu rollte sich zur Seite, kämpfte mit einer weiteren Kicherattacke. SO hatte er noch nie versucht, Sex zu haben! Akimasu erwies sich durchaus als willig, aber ihre gemeinsamen Unternehmungen gerieten zu einer ausgedehnten Slapstick-Parade: verheddern in Kleidungsstücken, verwirren im Bettzeug, bis schließlich alles außerhalb deponiert wurde, Kampf mit der Kondomverpackung, weil Akimasu ohne Brille auf kurze Distanz hilfreiche Hinweise eher ahnte als erkannte. Ein anderer hätte vermutlich enerviert aufgesteckt. Chiharu kam kaum aus dem Prusten raus, OHNE seiner Begeisterung für Akimasu verlustig zu gehen. Der bewies einen ähnlich gestrickten Humor, jaulte nun auf dem nicht sonderlich dimensionierten Bett neben ihm. "Jetzt kann doch aber nichts mehr schiefgehen, oder?" Chiharu setzte sich auf, nutzte die Gelegenheit, den Orchideenzüchter zu besteigen. Er lächelte unternehmungslustig auf ihn herunter, beide Erektionen in geübtem Griff. "Aki, was meinst du, soll ich dich beim Ersten Mal reiten?" "Muss ich dafür Trense und Maulstange anlegen?" Erkundigte der sich hilflos. Chiharu lachte laut heraus. "Nur wenn du das möchtest." Gurrte er schließlich, tippte auf die anziehende Stupsnase. "Du bist sicher, dass das ungefährlich ist?! Ich habe so gar keine Übung." Wiederholte Akimasu besorgt, was nun wirklich niemandem entgehen konnte. Sich vorbeugend küsste Chiharu ihn zärtlich, zwinkerte. Er pflückte Akimasus Hände, legte sie sich auf den Beckenknochen. "Ich brauche dich als meine Stütze, Aki, in Ordnung? Es wird dir gefallen, versprochen!" "Danke, sehr liebenswürdig, doch es wäre mir sehr unangenehm, wenn du dir was tust!" Verdeutlichte Akimasu seine Bedenken. Chiharu ließ statt Worten Taten sprechen, kraulte die nach einigen Mühen erfolgreich verpackte Erektion. "Uhohhh...." "Genau." Schnurrte er begehrlich. Er wollte unbedingt herausfinden, wie Akimasu SEIN aktuelles Lieblings-Hobby gefiel! ~+~+~* "Du liebe Güte...du liebe Güte!" Ächzte Akimasu, glitt immer wieder mit den Händen über Chiharus Rücken, Arme. "Hat's dir gefallen?" Schmunzelte Chiharu, der gar nicht daran dachte, den Hautkontakt ohne Not aufzugeben. Akimasu selbst duftete auch dezent nach Vanille. Definitiv eine außergewöhnliche Pflanze, dieser Bursche! Grinsend knabberte Chiharu erst an einem Ohrläppchen, am spitzen Kinn, leckte über das Schlüsselbein, attackierte anschließend die niedliche Stupsnase. "Was meinst du, möchtest du tauschen?" Erkundigte er sich raunend. Seine Aufmerksamkeiten blieben jenseits des Gürteläquators nicht unkommentiert. "Muss ich dafür oben sein? Das kommt mir so distanziert vor. Oh, das ist keine Kritik! Es war wirklich berauschend, wie du das gemacht hast!" Haspelte Akimasu eilig. Offenkundig ein Kuschler vor dem Herrn! Nun, DIESEM Herrn. Auch hier schien sich eine Neuentdeckung persönlicher Vorlieben zu entfalten. "Magst du mich lieber näher bei dir haben?" "Wenn sich das einrichten lässt? Das würde mir gefallen, ja! Es ist so gemütlich, gleichzeitig wie statische Aufladung, oder?" Chiharu lachte, tauschte einen Kuss mit Akimasu. Der war einfach herzerwärmend drollig! "Schön, ich werde ganz nah bei dir bleiben. Halt dich einfach an mir fest." Raunte Chiharu zärtlich, bevor er sich zwischen Akimasus Beine begab, im "Windschatten" oraler Aufmerksamkeiten sein Entree manuell erprobte. ~+~+~* Beinahe wären sie, von den letzten Kontraktionen durchpulst, auch noch aus dem Bett gerollt! Ineinander verkeilt, sich umschlingend, atemlos, eine menschliche Kugel. "...hei~heirate mich!" Begehrte Akimasu keuchend, entließ Chiharu nicht aus der Umarmung. Der hatte wenigstens das Andocken ohne Unfälle beendet, sortierte seine eigenen Gliedmaßen. Er kicherte leise, schnurrte sanft. "Ich bin noch minderjährig, Aki. Aber wir können ja gemeinsam üben, oder? Vorbereitung für den Ernstfall proben." Schlug Chiharu durchaus geschmeichelt vor. Akimasus Begeisterung und Leidenschaft stand seiner eigenen nach dem ersten Erweckungserlebnis in wenig nach. "Wirklich? Oh ja, bitte! Es ist so herrlich und phantastisch und aufregend und....!" Akimasu schnellte hoch, blinzelte auf Chiharu herunter. "Ich hatte ja keine Ahnung! Außerdem macht es Spaß. Ich fühle mich richtig gut!" "Das freut mich." Bekundete Chiharu amüsiert, streckte die Arme nach oben aus. Nicht mal einen Wimpernschlag später schmiegte sich Akimasu entschlossen an ihn. "Wenn es dir nichts ausmacht, könnte ich Frau Oogata sagen, dass wir zusammen lernen. Da hätte ich auch keine Zeit für die Nachbarschaftswache. Für die ich ohnehin gar nicht geeignet bin, glaube ich." "Klingt toll, Aki. Wir könnten uns samstags und sonntags Zeit füreinander nehmen." Stimmte Chiharu ihm bei, flirtete mit der Stupsnasenspitze. Verrückt! Er konnte einfach nicht genug davon bekommen, Aki zu knuddeln, zu küssen, zu beknabbern. Das Verlangen nahm eher noch zu! "Ich werde mir allergrößte Mühe geben, versprochen! Wenn ich mal eine eigene Orchidee züchte, die anerkannt wird, gebe ich ihr deinen Namen!" Verkündete Akimasu aufgekratzt. "Ja, du musst mir auch noch mehr erzählen über deine Pflanzen, okay? Ich möchte dich kennen lernen, alles, was dir gefällt, Aki." Chiharu kraulte die wollige Löwenzahnmähne. "Ich bin ziemlich langweilig, aber die Pflanzen sind echt interessant! Da geht uns der Gesprächsstoff nicht aus." Justierte Akimasu halb stolz, halb verlegen die Erwartungen auf ein angemessenes Niveau. Schmunzelnd quittierte Chiharu diese Ankündigung mit einem Kuss. Er testierte sich, dass trotz der Pechsträhne der letzten Woche gerade wieder alles ins Lot geriet. Sex, ein störungsfreier Ort für selbigen und einen Partner in crime, der ihn auch DANACH noch unwiderstehlich beschäftigte: BESSER konnte es gar nicht werden! Den "Jungfern-Meister" wollte er nach dieser PERFEKTEN "Jungfer" aufs Altenteil schicken. "Aki?" "Hmhm?" "Frag mich ein bisschen später noch mal. Nach dem Heiraten." "Mach ich. Bestimmt. Dafür brauche ich nicht mal einen Merkzettel." Chiharu prustete heraus, rieb sich sogar die Seiten. Akimasu grinste ihn an, jungenhaft, nicht länger orientierungslos und fremden Vorstellungen unterworfen. "Ich freue mich unheimlich, dich getroffen zu haben." Bekannte Chiharu leise, liebkoste Akimasus ungewöhnlichen Schopf. "Geht mir genauso. Danke schön. Bitte bleib noch ein wenig, ja?" "Sehr gern. Es ist einfach gerade viel zu schön, um aufzuhören." Akimasu schien Chiharus Einschätzung uneingeschränkt zu teilen. Er umschlang ihn so fest als könnten sie verschmelzen. Zum ersten Mal begriff Chiharu, dass es NOCH eine unentdeckte Zone in seiner Welt gab: die für die Lieblingsmenschen, die man vor die eigene Person stellte, über eigene Begehrlichkeiten. ~+~+~* Kapitel 20 Ken warf einen prüfenden Blick die Außentreppe hinunter. Niemand verirrte sich in den winzigen Unkraut-Dschungel des Hinterhofs. Kein Wunder, es regnete in Strömen. Auch die Razzien der letzten Zeit wirkten sich aus: kein "Tugendwächter" tummelte sich mehr unautorisiert, die Waschräume im Bahnhof wurden stärker kontrolliert. Wie es hieß, plante man im Frühjahr sogar Umbauarbeiten für den weniger frequentierten, alten Ost-Ausgang. »Das wird wohl ziemlich langweilig werden.« Dachte Ken. Andererseits fänden sich immer Mittel und Wege, einander zu begegnen. Wobei seine Freunde sich ja, zumindest temporär, festgelegt hatten, wie es schien. Zu einem flotten Dreier käme er wohl nicht mehr so schnell. Darüber sollte man sich keine grauen Haare wachsen lassen, befand er, wühlte durch den lockigen Mopp auf seiner Schädeldecke. Mit den Füßen auf der Erde, mit dem Kopf Richtung Himmel, wo der Horizont weit war, alle Möglichkeiten offen! ~+~+~* Der Regen warf Blasen aufs Pflaster. Die an den automatischen Türen postierten Schirmvasen waren leer. Die übliche Garnison an durchscheinenden Leihschirmen befand sich im Umlauf der Kundschaft (würde hoffentlich wieder zurückfinden). Wer musste, huschte mit hochgezogenen Schultern hinein, schüttelte sich auf der gewaltigen Fußmatte, steuerte direkt den Verkaufstresen an. Kens Aufgabe war es, mit geschickten Seilzügen rasch herbeizuschaffen, was benötigt wurde, mitten in der Nacht. Die Besuchsfrequenz nahm sich nicht allzu gewaltig aus. So konnte er immer wieder die Hochregale aus dem Lager auffüllen. Das erforderte einiges an Geschick und ein sehr gutes Gedächtnis . Wer kam, benötigte meist ein Hausmittel gegen Erkältungen und Fieber oder etwas Warmes zum Sofortverzehr, das die Automatenriege nicht bieten konnte. Ken merkte auf, als er das pneumatische Seufzen der automatischen Eingangstür vernahm. Die kleine, golden lackierte Katze an der Tür winkte mit der Pfote, miaute ziemlich schlecht intoniert ein herzliches Willkommen der hochverehrten Kundschaft! (Zumindest, soweit ihr Interesse sich mit dem Geschäftsbetrieb deckte.) "Willkommen." Schloss sich Ken an, balancierte den Zahnstocher in den anderen Mundwinkel, beäugte den, nun ja, Kunden. Zunächst sah man klatschnasse Schnittlauchlocken, einen verfilzten Riesenpullover, Jeansshorts über grellen Leggings, abgetretene Turnschuhe sowie eine durchnässe Reisetasche. Komplettiert wurde das Erscheinungsbild durch einen geschlossenen Katzentransporter aus abgeschabtem Kunststoff. Man stapfte heran, so nass, dass ein Vollbad keinen Unterschied gemacht hätte. Ken konnte nicht einmal sagen, ob es sich um ein männliches oder weibliches Exemplar seiner Spezies handelte oder eine andere Variante des breiten Spektrums dazwischen. Die Reisetasche plumpste feucht auf die Fliesen. Eine Hand fahndete mutmaßlich unter dem Wollungeheuer in ausgebleichtem Schwarz nach den Taschen der Jeansshorts, kramte Kleingeld auf die Münzablage neben der Registrierkasse. "Katzenfutter." Krächzte eine heisere Stimme. "Kriege ich das dafür?" Ken überflog geübt die karge Ausbeute. Tierfutter war ziemlich teuer, da es ähnlichen Qualitätsstandards unterlag wie menschliche Ernährung. Zumindest, wenn man der mutmaßlichen Katze nicht erlaubte, sich bei den Fischen oder am Vogelkäfig zu bedienen. "Bedaure." Stellte er gelassen fest. Der Zahnstocher wanderte von rechts nach links, ohne die Artikulation zu behindern. "Ich kann dir einen blasen." Bot der triefnasse Wischmopp über dem Wollungetüm heiser an. "Das ist ja mal ein reizvolles Angebot." Kommentierte Ken nach einem Augenblick der linden Überraschung. "Allerdings wäre die Geschäftsleitung nicht entzückt beim Betrachten der Videoaufnahmen." Ergänzte er höflich, ließ den Zahnstocher wandern. Nein, seinem Großonkel würde das garantiert nicht zusagen. Weil Schnaps Schnaps war, Sake Sake und Bier Bier. "Und hinten? Beim Müllcontainer?" Optionierte die heisere Stimme unerschrocken. Allerdings wären sie getauft oder mit Schirm ziemlich auffällig, falls Schlaflose aus dem Fenster spähten. Während Ken noch nach einer höflichen Replik suchte, den Zahnstocher kurz entführt, wurde der Preis aufgestockt. "Du kannst mich auch ficken." In der heiseren Stimme schwang die verzweifelte Entschlossenheit, Katzenfutter zu bekommen, ganz gleich, welche Gegenleistung dafür verlangt wurde. Ken seufzte. "Erstens muss ich noch arbeiten, zweitens seid ihr beide klitschnass, setzt mir alles unter Wasser. Dagegen müssen wir was unternehmen." Er löste die Zentralverriegelung aus, die die Kasse blockierte und auch alle Seil- und Transportbänder gleichzeitig. Er klappte die schmale Tresentür hoch, gestikulierte sparsam, ihm zu folgen. Im Lager mit den Hochregalen, die den gesamten Nachschub enthielten, störten Pfützen weniger. Ken zog den alten Campinghocker heraus, fischte den Kittel ab, den er zum Putzen trug. "Ich hole dir ein Handtuch. Damit legst du dich erst mal trocken." Mit einer der großen Stangen, die er benutzte, um Stockungen in der Seil- und Transportbänder-Maschinerie aufzulösen, angelte er ein Handtuch aus drei Metern Höhe, fabrikneu eingeschweißt, glücklicherweise aber nicht entsprechend riechend. Er entfernte routiniert die Verpackung, schüttelte es auf, machte sich gleichzeitig auf den Rückweg. Die Erscheinung kauerte unterdessen vor dem Katzentransporter. "Hier." Ken reichte das Handtuch an. "Zieh deine Klamotten aus. Ich starte die Bänder wieder, also fass bitte nichts an, ja? Lass den Stubentiger hier auch nicht laufen, das ist gefährlich." "Okay." Krächzte die heisere Stimme zu ihm hoch. Ohne besondere Hast verließ Ken das Lager, trat hinter den Tresen, löste die Zentralverriegelung. Geübt ließ er sich eine Dose Katzenfutter zukommen, unternahm einen Abstecher zu seinem Spind. Der Zahnstocher kreiste in seinem Mund, während er die Möglichkeiten eruierte: alte Zeitungen, damit konnte man die Schuhe ausstopfen, eine Trainingshose, Ersatz, falls er sich mal bekleckerte. Das Wesen hatte sich unterdessen aus den nassen Kleidern geschält, die zusätzlich auch noch eine Rüschenbluse mit Blumendruck und einen grellen String-Tanga umfassten. In das Handtuch gewickelt kauerte es neben dem Katzentransporter, wisperte unverständliche Worte. "Hose und Kittel." Ken hängte die Hose über den Campinghocker, wo der Kittel noch unangetastet lag. "Kommst du für den Moment damit klar?" Ohne eine Antwort abzuwarten ging er vor dem Katzentransporter in die Hocke, klemmte den Zahnstocher im Mundwinkel ein. Er öffnete die Dose Katzenfutter. "Nimm deinen pelzigen Freund auf den Schoß, ja? Ich schaue auch, ob ich Wasser finde." Der Geruch aus der Dose, obwohl nicht unangenehm, überlagerte den Odeur nasser Kunststoffkleider mit fragwürdiger Beschichtung. Er hörte deshalb ein vernehmliches Maunzen. Auffordernd blickte Ken neben sich. Für einen Moment schien das Wesen Optionen zu erwägen, richtete sich auf. Höflich blickte Ken auf das Gitter des Katzentransporters, wartete, bis die Geräuschkulisse ihm verriet, dass das Handtuch nicht mehr die einzige Bekleidung darstellte. Allerdings konnte er außer lackierten Zehennägeln (violett!) nicht viel mehr erkennen. Kittel und Trainingshose verhüllten jede Andeutung einer Figur. "Bitte Platz zu nehmen!" Forderte er auf. Man ließ sich merklich angespannt auf dem Campinghocker nieder. Ken reichte die Katzenfutterdose an, lupfte den Transporter, so, dass die Tür direkt geöffnet werden konnte, um den Passagier bequem auf dem Schoß zu empfangen. Schmale Hände, registrierte er, kein Schmuck, keine aufgeklebten Fingernägel, keine Lackierung. Aus dem Transporter entwischte ein kleines Tier mit undefinierbarer, gefleckter Fellfarbe, auf drei Beinen und mit einem halben Schwanz. Herrje. Ken stellte den Transporter ab, nutzte die Gelegenheit, dass Wesen und Katze beschäftigt waren. Er griff zu, lupfte die klatschnassen Wischmopp-Fransen. Der Zahnstocher kreiste automatisch. Das Gesicht unter den nassen Zotteln war partiell blass, mit einer aufgeplatzten Lippe, sich verfärbenden Partien um die linke Augenhöhle. Ken legte behutsam die nassen Haare auf einer Schulter ab, um wenigstens einen gewissen Sichtkontakt zu wahren. "Hallo. Ich bin Ken." Damit deutete er lässig auf das Namensschild an seinem Polo-Shirt. "Ichi." "..." "..." "Pearl." "Freut mich, Ichi und Pearl." Antwortete Ken gelassen. "Tut mir den Gefallen und bleibt hier, ja? Bitte nichts anfassen, wie schon gesagt, das ist gefährlich. Ich komme gleich wieder. In Ordnung?" "..." "Okay." "Fein." Nickte Ken, kam elegant auf die Beine, ließ mit der Zunge den Zahnstocher wandern. Na, diese Nachtschicht würde doch ganz interessant werden. ~+~+~* Ken nutzte einen sauberen Aschenbecher als Wassernapf. Er requirierte alte Packdecken, um seinen unerwarteten Besuch gegen die Kälte abzudichten, versorgte Ichi mit Reiseintopf aus der Mikrowelle und Ingwertee, um die Heiserkeit zu vertreiben. Die schwarzen Augen, das linke leicht zugeschwollen, beäugten ihn misstrauisch unter der Riege Wäscheklammern, die er selbstherrlich in dem Wischmopp platziert hatte. Für den es auch eine Erklärung gab, wenn man die Narben ins Kalkül zog. "Ich hab kein Geld." Wies Ichi auf die monetäre Lage hin. Ken bestückte unterdessen, weil sich keine Kundschaft in den sehr frühen Morgenstunden in den Markt verirrte, die Hochregale, faltete Kartons zusammen, ölte und überprüfte die Leichtgängigkeit der Maschinerie. "Ich werde dich eben besonders gründlich ficken." Gab er gelassen zurück. Er fragte sich, ob sich ihm wohl die Hintergründe eröffnen würden, aber so wichtig waren die Details ihm auch nicht. Er hatte seine Aufgaben vor sich, die es zu erledigen galt. Damit wäre sein Schichtwerk getan, der Lohn anständig verdient. ~+~+~* Es war für ihn immer eine klare Sache gewesen, beim Großonkel im Markt zu arbeiten. Das war auch keiner der Aushilfs-/Studierenden-/Ausbeutungsjobs in den anderen Supermärkten mit pausenloser Öffnungszeit, nicht bloß Regale im Akkord auffüllen, sich verneigen, Servilität ausdrücken und kassieren. Nein, dieser Markt hier war besonders, eine Institution! Weil er auf sehr geringer Bodenfläche die Höhe mit einer imposanten Konstruktion aus Seil- und Förderbändern perfekt ausnutzte. Weil man die Kundschaft immer nach ihren Wünschen befragte. Weil man hier nicht rausging, ohne dass Nöte gelindert, Probleme gelöst, Bedürfnisse erfüllt waren. Ein großes Sortiment, gute Nachbarschaft mit den anderen wenigen, inhabergeführten Geschäften der Straße, ein offenes Ohr für die Stammkundschaft, dazu noch Dienstleistungen und eine eingebaute Nachrichtenbörse. Man konnte nicht nur einkaufen, sondern auch Rechnungen bezahlen, Guthaben aufladen. Wurde dabei bestens unterhalten, wenn man zusah, wie die georderten Artikel in einem ausgeklügelten System über die Transportbänder heranflitzten, zusammengepackt wurden. Deshalb mussten alle, die hier arbeiteten, nicht "bloß" verkaufen, sondern die Mechanik beherrschen, basteln, Wartungen übernehmen, angewandte Psychologie beherzigen, Probleme lösen und "die Nachbarschaft von nebenan" figurieren. Ken kannte die Baupläne schon seit seiner Kindheit, verfolgte jede Veränderung neugierig. Regale füllen, unfallfrei einen Scanner bedienen und passend Wechselgeld herausgeben? Das hätte ihn nicht gereizt. Aber in der Nachtschicht, wenn weniger Betrieb war, die Anlage zu versorgen, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass alles perfekt funktionierte, JA, DAS war eine ganz andere Hausnummer! Außerdem musste man immer auf Zack sein. Die Konkurrenz schlief nicht! Wobei damit nicht die Nachbarschaft gemeint war, sondern vielmehr jeder einzelne Bahnhof. Alle, die irgendwohin unterwegs sein mussten oder wollten, besuchten die Bahnstationen. Jede Bahnstation glich einer Einkaufsmeile, mit Filialketten und Geschäften für jeden erdenklichen Bedarf. Da hatten es Geschäfte außerhalb, in den Wohnvierteln, einfach schwer. Wenn man schon am Bahnhof war, kaufte man schließlich dort ein, aß etwas, erledigte seine Angelegenheiten! Für die Notfälle gab es die Automatenbatterien an jeder freien Stelle, von einem Schwadron schlecht bezahlter Jobbender bestückt, denen man noch drohte, dass Drohnen und Roboter in Kürze ihre Aufgaben übernehmen würden. Deshalb war es unabdingbar, "Mehr"-Wert zu schaffen. Dafür zu sorgen, dass die Nachbarschaft hier einkaufte, nicht an der Bahnstation. Dass sie hierher kamen, weil ihnen etwas geboten wurde, was die Geschäfte im Bahnhof nicht leisten konnten. Da traf es sich natürlich gut, dass er sich hier auskannte, auf der Brache im Hinterhof dieses Appartement gefunden hatte. Wobei Appartement eigentlich nicht zutraf. Es handelte sich um ein einfaches ehemaliges Werkstattgebäude, abgeschnitten von der Zufahrt durch die Neubauten aufgrund irgendwelcher Streitigkeiten um die winzigen Parzellen, die jetzt dem Dschungel Platz boten. Dubiose Verstrickungen, die man besser nicht hinterfragte. Seinen Vermieter hatte Ken noch nie gesehen, zahlte bloß pünktlich jede Woche die Miete auf ein Konto ein. Strom- und Gasanschluss existierten nicht. Wasser zum Waschen nutzte er aus improvisierten Zisternen. Aus unerfindlichen Gründen hatte man dafür aber einen Abwasseranschluss gelegt. Was das Leben doch deutlich erleichterte, befand Ken. Hin und wieder wurde gemunkelt, dass das Gebäude mal als Unterschlupf für gewisse Organisationen gedient hatte, weshalb zumindest primitive Standards zum Hausen gewahrt wurden. Tatsächlich ähnelte es mehr einem Dauer-Campen. Das störte Ken kein bisschen. Sein Arbeitsplatz lag um die Ecke. Was er brauchte, bekam er vor Ort. Einen Anlass, unzufrieden mit seinem Leben zu sein, hatte er also nicht. Ohnehin, das sagten auch andere, häufig mit einer gewissen Verzweiflung, war er eher der entspannte Typ. Für ihn praktisch die Adelung seines Lebensstils. ~+~+~* Ichi stand mit Reisetasche und Katzentransporter unter der Traufe vor dem Markt. Ken balancierte den Zahnstocher auf der Unterlippe, absolvierte routiniert die Übergabe an seinen Großonkel. Sie hatten eine Liste, die bei jedem Schichtwechsel abgehakt wurde: Lager, Nachschubversorgung, Maschinerie, Kassenstand, gelöste Probleme, Neuigkeiten aus der Nachbarschaft. "Wo ist der Neue, Kinkei?" Ken verstaute den Zahnstocher in einen Mundwinkel. "Hat sich bis jetzt nicht gemeldet. Kommt bestimmt noch." Zumindest hoffte er das. In den zwei Tagesschichten war eine Ein-Personen-Besetzung selbstmörderisch. "Außerdem hat der Lieferant angerufen, kommt später, Erdrutsch auf der Strecke, Straßensperrung." Gab er die letzten Meldungen weiter. "Hmm, hmm." Brummte sein Großonkel geschäftig. »Wäre ein grandioses Spektakel, wenn sein Kopf durchsichtig wäre!« Dachte Ken. Wahrscheinlich noch viel komplexer als das Zusammenspiel all der Seil- und Laufbänder hier. Besser als jeder Computer, gar keine Frage! Dem Genie seines Großonkels zollte er höchsten Respekt. Der sah sich im Übrigen als Handwerker und Kaufmann, ganz solide, bodenständig. Mit einem Faible für Ordnungssysteme, zugegeben. Aber einen kleinen Spleen musste man wohl allen zugestehen, nicht wahr? Ken streifte sich sein Regencape über, das eher einem Zelt zum Biwak ähnelte, apportierte den offenen Trolley. "Ich mach noch die Runde." Erläutert er sparsam, den Zahnstocher in einem Mundwinkel ausbalanciert. Das bedeutete, dass er bei zwei Stammkunden, die er ohnehin aufsuchte, gleich deren Bestellung ablieferte, das Geld in Kommission kassierte. Sie mussten nicht nass werden, er war es ohnehin schon. "Gute Arbeit, Kenny. Mach Feierabend." Ken nickte, ließ den Zahnstocher wandern, marschierte aus dem Markt. ~+~+~* Da gab es den Imbiss zwei Straßenecken weiter, winziger Laden, bewirtschaftet von einer Hausfrauen-Initiative. Wobei "Hausfrauen" rüstige Seniorinnen in der Nachbarschaft meinte, die sich nützlich machen wollten. Nicht nur in den eigenen, winzigen Wänden herumwirtschaften, sich mit dem möglicherweise noch vorhandenen Gatten kabbeln oder auf das Enkelhüten reduziert werden! Falls die Kinder und Enkel überhaupt in der Nähe lebten. Dort gab es "Hausfrauenkost", saisonal, ohne Karte, ohne Werbegerichte aus Plastilin in der Auslage oder Werbung. Hing die Fahne draußen quer, steckte man den Kopf rein, konnte eine Mahlzeit in Empfang nehmen. Wem das nicht passte, wer auch noch Wünsche äußerte oder ähnlich lästig auftrat, konnte gern das Weite suchen. Ken war nicht wählerisch nach einer langen Nachtschicht. Warmes Essen, frisch zubereitet, dazu einfachen Grüntee, das sagte ihm sehr zu. Außerdem erfuhr man nebenher, während auf engstem Raum operiert wurde, die Neuigkeiten des Quartiers. Er streckte wie gewohnt den Kopf unter der Fahne hindurch, schob den offenen Trolley hinein, die Lieferung wasserdicht eingeschlagen. "Guten Morgen, die Damen." "Ah, Kenny! Frühstück?" "Für zwei, zum Mitnehmen." Überraschte er die werkelnde Riege, reichte die Lieferung weiter. "Was denn, was denn, Besuch?" Neugierig stellte man sich auf Zehenspitzen, beäugte an Ken vorbei die Straße, wo es ununterbrochen regnete. "Kannst doch ruhig reinkommen!" Damit man gleich inspizieren konnte, wer da mit Kenny frühstückte! "Geht nicht, wegen der Katze." Erläuterte Ken ungerührt, der sich keine Illusionen über seinen Bekanntheitsgrad machte. In Nullkommanichts würde seine Frühstücksgesellschaft Gesprächsthema sein, bis eine neue Entwicklung ihn ablöste, noch spektakulärer war. Murmeln. Nein, da war nichts zu machen, keine Tiere hier drinnen! Ganz gleich, wie reinlich sie waren. Nicht mal der alte Lehrer durfte seine geliebten Zikaden mitnehmen. Ken kannte die Regel selbstredend. Außerdem hatte er ja noch die zweite Lieferung abzuwickeln. Er nahm zwei Bento-Boxen in Empfang, die er selbstverständlich sauber zurückzugeben hatte, kassierte für die Lieferung, reichte Rechnung und Quittung mit Stempeldruck weiter, kehrte dem Imbiss den Rücken. Ichi wartete geduldig. Oder einfach nur erschöpft? Ken steuerte die zweite Destination an, eine Apotheke, die noch nicht die Sprechstunde eingeläutet hatte. Die persönliche Order abgegeben tätigte er auch einige eigene Besorgungen, führte Ichi zum schmalen Durchgang der Hinterhöfe. Misstrauisch zögerte der, doch Ken marschierte unbeeindruckt vorneweg, schaukelte den Trolley aus. Die Natur hatte sich längst ihren Platz zurückerobert, Asphalt- und Kiesschichten aufgebrochen. Er manövrierte das geduckte, zweistöckige Gebäude an, erklomm die Außentreppe, streifte sich das Regencape ab. Ken schlüpfte aus den Regenstiefeln, sah sich nach Ichi um, den Zahnstocher ausbalancierend. "Was machen wir wegen dem Katzenklo?" "...ich geh mit Pearl raus..." Ken nickte wortlos, ließ den Zahnstocher auf die andere Seite wandern. Mit der Lösung konnte er leben. "Kommt erst mal hoch. Legen wir uns trocken." Immerhin ähnelte der grässliche Wollpullover wieder einem verfilzten Schwamm. Aber für Ken machte es keinen Unterschied, da ausnahmslos alles, was Ichi bei sich trug, durchweicht war, kaum in der Nacht getrocknet sein konnte. Dass dazu nun auch seine Ersatzhose und der Kittel gehörten, kümmerte ihn nicht. Er zog zwei fadenscheinige Handtücher hervor, beglückwünschte sich, dass das fabrikneue Exemplar zumindest in absehbarer Zeit kein Luxus, sondern notwendiges Gut sein würde. Durch den vorhandenen Bestand konnte man ja beinahe schon die Zeitung lesen! Ungefragt nahm er sich die Reisetasche, fädelte die dort rein gestopften Kleidungsstücke auf Leinen auf, die er unterhalb des Vordachs spannte. Meine Güte, was für ein Sammelsurium! Es schien, als hätte jemand Klamotten zusammengeklaut, die am Wenigsten vermisst würden, wenn man die Wäsche einholte. Er verbannte auch den Katzentransporter auf die Veranda, da der einfach zu viel Platz einnahm. Zudem schien Pearl sich auf einem zerrupften Sitzkissen gemütlich eingerichtet zu haben. Ichi kauerte neben ihm, noch in das Handtuch gewickelt, streichelte mit den Fingerspitzen über das buntscheckige Fell, erneut unter den nassen Zotteln verborgen. Ken bestückte seinen entrollten Futon, verteilte seine Neuerwerbungen in strategischer Reichweite. "Willst du jetzt ficken?" Die Bento-Boxen auf gestapelte Kunststoffkisten deponiert zog Ken sich sein Poloshirt über den Kopf. "Klar, dann habe ich richtig Appetit. Außerdem sind wir ohnehin feucht genug." Er schlüpfte aus der einfachen Stoffhose, streifte seine Unterhose ab. Beinahe widerstrebend löste sich Ichi von der eingerollten Katze, richtete sich auf, ließ das fadenscheinige Handtuch sinken. Darunter nackt, sah man von einer merkwürdigen Kettenkonstruktion ab, die an einigen Stellen die Haut wund gescheuert hatte. Ken bugsierte den Zahnstocher im anderen Mundwinkel, aktivierte die Campingleuchte. Das Morgenlicht reichte ihm nicht, diese "Rüstung" zu inspizieren. "Was ist das denn?" Erkundigte er sich schließlich. Sollte das ein Schmuckstück sein? Als Keuschheitsgürtel fungierte es jedenfalls nicht. Auch nicht als Schutzwehr, wie Hämatome und blutige Schrammen bewiesen. "Wie macht man das Zeug ab?" Ichi zuckte mit knochigen Schultern, unternahm keine Anstalten, seine Blöße zu verdecken, zitterte leicht. Warm war es nicht gerade. "Setz dich mal." Kommandierte Ken, klemmte den Zahnstocher mittig zwischen seine Lippen. Er hockte sich hinter Ichi, wischte nasse Zotteln nach vorn, beäugte die Kettenglieder. Gab es da nirgendwo einen Verschluss? Was sollte das Ding bewerkstelligen, außer die Haut aufscheuern und unbequem sein? "Sekunde mal." Er erhob sich, fahndete in einer Kiste nach einer größeren Zange. Sich hinter Ichi kniend fädelte er ein Taschentuch unter einen Kettenstrang, setzte die Zange an. Er schob den Zahnstocher in einen Mundwinkel, knackte mit einiger Mühe die seltsame Konstruktion. Nach drei weiteren Manövern dieser Variante konnte er die Kettenglieder zu einem Haufen beiseite legen. "Sag mal, wieso sind deine Haare hier so verfilzt?" Da blieb man glatt mit den Fingern stecken! Die Strähnen fühlten sich definitiv unangenehm an! "Extensions." "Was ist das?" Ken beäugte kritisch eine Filzsträhne. "Haarteile. Sind eingeklebt." Krächzte Ichi heiser, hatte die Knie vor den Körper gezogen, ein kompaktes Paket. "Was es nicht alles gibt." Murmelte Ken, leuchtete den Wischmopp aus. Dabei bekam er auch mehrere Narben zu sehen. Er stellte fest, dass Ichi ihm immer die rechte Seite zukehrte, offenbar nicht nur wegen der prominenten Narbe auf der linken Seite. "Kann es sein, dass du links taub bist?" Forschte Ken nach, setzte die Lampe wieder ab. "Ist das wichtig fürs Ficken?!" Ichi fauchte förmlich, fegte herum. Sogleich huschte Pearl zu ihm, offenkundig durch die Behinderung nicht beeinträchtigt. Ken ließ sich auf die Hacken sinken, rotierte den Zahnstocher. "Na ja, hilft mir, wenn ich dir was zu sagen habe, zur Orientierung." Antwortete er gelassen. Ichis Augen funkelten zwischen den Zotteln hervor. "Keine Angst, ich bin schon gefickt worden, ich bekomm das hin!" Zischte er bissig, was Ken ein Grinsen entlockte. Er zupfte den Zahnstocher heraus. "Legen wir mal los, bevor das Essen kalt wird, hm?" ~+~+~* Ken setzte den praktischen Stick ein, während er im trüben Morgenlicht Spuren kartographierte. Die bleiche Haut, unter der die Knochen hervorstanden, war von diversen Narben gekennzeichnet. Ichi schien des Öfteren Prügel bezogen zu haben, mit Gegenständen, die dünne, lange Spuren hinterließen. Aber nicht ausschließlich, was die jüngsten Blutergüsse bewiesen. Er griff in den Wischmopp, spürte das heftige Zusammenzucken natürlich, aber ihm ging es nur darum, die Zotteln über Ichis linke Schulter nach vorne zu kämmen, aus dem Weg. Die kratzende, verfilzte Masse zwischen ihnen störte schlichtweg. Er wollte zur Sache kommen, weil nicht nur sein Piephahn wie wild morste. Sein Magen funkte nämlich auch, dass jetzt aber bald dringend mal Fütterung angezeigt war! Er nahm Ichi von hinten, auf allen Vieren. Der hatte ihm die Wahrheit gesagt, was seine Erfahrungen betraf. Nach einer automatischen Verspannung hechelte er ein paar hastige Atemzüge, entließ den schmerzhaften Druck um Kens Erektion. Ken bediente sich, ohne übergroße Eile, das Tempo variierend, liebkoste mit einer Hand die Front, die aufgerichteten Brustwarzen, Ichis verpackte Erektion, den straffen Unterleib, die gespannten Sehnen. Jeder Stoß wurde mit einem Ächzen kommentiert, auch wenn Ichi sich bemühte, die Lippen aufeinander zu pressen. "Kannst-ruhig-Laut-geben!" Ermunterte Ken ihn über das rechte Ohr, saugte am Läppchen. Ihn spornte es jedenfalls an. Besuch erwartete er keinen. Außerdem schluckte der anhaltende Regen ohnehin die Geräuschkulisse. Langsam richtete er sich auf, einen Arm um Ichi geschlungen, der folgen musste. Stieß schneller zu, härter, drang tiefer in den fiebrig-heißen Körper ein. Ichi wand sich in seiner Umklammerung, kommentierte jeden Treffer mit einem heiseren Stöhnen, versuchte fahrig, Kens kundige Linke abzustreifen, die ihn daran hinderte, sich selbst zu erlösen. Der, durchtrainiert, durchaus entwöhnt, damit voll im Saft, fasste mit der Rechten unter das spitze Kinn, bog Ichi zu sich herum, um ihn zu küssen. Feucht, mit einer neugierigen Zunge, die über den Gaumen expedierte, das Aufstöhnen abdämpfte, bemerkte, dass es eine Zahnlücke gab. Sexy und traurig zugleich, weil Ken nicht zweifelte, dass sie keinen natürlichen Ursprung hatte. Er spürte die Spannung in dem mageren Körper, die verzweifelten Versuche, zum Erguss zu kommen. "Gleich!" Raunte er aufgepeitscht ins rechte Ohr, verstärkte seine Umklammerung, genoss die unkontrollierten Spasmen, die seinen Penis massierten, während er noch einige heftige Stöße nachschob, bevor er selbst seinen Höhepunkt feierte. ~+~+~* »Ist ja nicht erstaunlich.« Konstatierte Ken, strich sich beiläufig durch den lockigen Wust auf der Schädeldecke. Er war eben ein knackiger Bursche Anfang Zwanzig, da konnte man nicht erwarten, dass nach Runde 1 die Schlussglocke geläutet wurde. Ichi lag auf der Seite, keuchte noch immer, die Beine vor den Leib gezogen. Ken sah sich nach Pearl um. Die Katze beäugte ihn, hielt aber ansonsten unbeeindruckt die Stellung auf dem zerrupften Sitzkissen. Das bedeutete, dass ihr solche Intermezzi nicht unbekannt waren. Er zog ein altes Kissen heran, rollte es zusammen. "Mein Schwanz ist hart. Machen wir's jetzt klassisch." Damit drehte er Ichi auf den Rücken, positionierte das gerollte Polster unter dessen verlängertem Rückgrat. Ichi legte einen knochigen Arm über seine Gesichtspartie, ließ sich jedoch keinen Protest anmerken. Ken nutzte die Gelegenheit, die Front im Detail zu erkunden, leckte über die aufgerichteten Brustwarzen, strich über die Rippenbögen, eine aufgeraute Haut, stumpf wirkend, deutliches Zeichen einer schlechten Ernährung. Aber ihm gefiel es, die Zunge entlang der wellenförmigen Atemzüge gleiten zu lassen, bis hinunter zum Bauchnabel. Die feuchte Spur prickelte offenkundig, denn ein unkontrollierte Schauder huschte mit Gänsefüßen über Ichis Leib. Ken angelte den Stick heran, um Gleitmittel nachzulegen. Ja, da gab es kein Leugnen, er hatte gerade so richtig Lust! Er wollte das heisere Stöhnen wieder hören, das seine Anstrengungen krönte, jeden einzelnen Vorstoß. Er genoss die einkerkernde Hitze, die enge Verbindung, die ihn jeden Atemzug, jede unwillkürliche Regung teilen ließ, die dünnen Beine, die sich wie Begleitflügel um seine Hüften wickelten, die mageren Arme, die ziellos überkopf nach einem festen Halt fahndeten, sich gegen den Ansturm festklammern wollten. Die Augen geschlossen, eine dezente Röte in den bleichen Zügen wand sich Ichi unter ihm, bäumte sich auf, bohrte die spitzen Schulterblätter in die Matratze. Ken drängelte einen Arm entschlossen unter die magere Gestalt, zog sie fest an sich, während sein Unterleib nicht nur stanzte, sondern auch Ichis Erektion schmirgelte. Ja, kein Zweifel, DAS gefiel ihm gerade MÄCHTIG gut! ~+~+~* Nach einigen Augenblicken post-koitaler Seligkeit stemmte Ken sich hoch, rubbelte sich energisch über das glühende Gesicht. SO konnte ein langer Arbeitstag gern öfter enden! Was seine Magengrube auf den Plan rief, die vernehmlich daran erinnerte, dass da Bento-Boxen warteten! Ungezwungen und geübt entfernte er erst mal die hygienischen Hilfsmittel, wandte sich gastfreundlich auch Ichi zu, der keinerlei Gegenwehr leistete, sondern mutmaßlich benommen neben ihm lag, so, wie ihn die zweite Runde hingestreckt hatte. Für einen Moment war Ken versucht, das Essen vorzuziehen. Gleichzeitig erinnerte ihn sein gut geeichtes Anstandsgefühl, dass er ordentlich mit dem Stick gefudert hatte. Was rein ging, musste ja auch wieder raus, möglichst aber nicht gerade auf die Matratze! Er legte die Fingerspitzen an Ichis Halsschlagader. Man konnte aber auch so das heftige Pulsieren erkennen, weil allzu deutlich Sehnen und Blutadern hervorstachen. Fettschichten in der Haut besaß Ichi vermutlich nur noch theoretisch. Ein Knie aufgestützt fädelte Ken die Arme unter den dürren Kniekehlen und den spitzen Schulterblättern ein, stemmte erst den ausgeknockten Ichi, dann sich selbst hoch. Auch wenn der eine sehr übersichtliche Figur präsentierte, war er in diesem Zustand nicht gerade leicht. Kontrolliert atmend durchquerte Ken in wenigen Schritten das Zimmer, bewegte sich durch den Plastikstreifenvorhang. Er setzte Ichi mit einem Schnaufen auf dem Plastikhocker ab, lehnte ihn an seine Hüfte, damit der ihm nicht wegsackte. Wasser aus den Zisternen sollte kein Problem darstellen, bei so viel Regenfällen, aber diese Zotteln! Sich verrenkend hebelte Ken zunächst mal das alte Plastiktablett aus, das das fehlende Fensterglas ersetzte. Die kleine, quaderförmige Öffnung war Zuluft und einzige Lichtquelle in einem. Sie vermochte nicht sonderlich viel in beiderlei Hinsicht. Allerdings gab es auch nicht viel zu erkennen, selbst bei guten Sichtverhältnissen. Die Fliesen waren gesprungen, die Kacheln auch. Der Bodenabfluss führte in ein freiliegendes Rohr der verlassenen Werkstatt darunter, gurgelte ständig empört. Ein ehemaliger Ballastkanister für mittelgroße Boote, den man kupiert hatte, ersetzte die enge, hohe Wanne, ohne Heizung jedoch nur im Hochsommer verlockend. Ken fischte einen einsamen Schnürsenkel ab, der hier auf seinen Einsatz wartete. Regelmäßig musste der Wasserschlauch, der als Wasserzufuhr diente, hochgebunden werden. Der kluge Mann baute hier vor, sammelte Ersatzmaterial. In die Hocke, ohne zuvor den inzwischen blinzelnden Ichi aus dem fragilen Gleichgewicht zu bringen, strich Ken die Zotteln aus dem Gesicht, sammelte sie in einer Hand, während die andere zuschob. Er verdrehte das Bündel, arrangierte qua Schnürsenkel eine hochgebundene "Schnecke". "Hmmm." Stöhnte Ichi heiser. "Kurze Reinigung. Danach gibt's Frühstück." Versicherte Ken entschlossen. Mit einem Lappen abreiben war die eine Sache, Rektum-Spülung die andere. Als gelegentlicher Gastgeber war er vorbereitet, was das Klistier betraf, aber etwas unschlüssig über die Vorgehensweise. Er konnte Ichi ja nicht einfach übers Knie legen und dann, Wasser, Marsch! Dem schien nun zu dämmern, was sie noch immer in dieser winzigen Zelle festhielt. "Mach das schon." Krächzte er. "Gut." Gab Ken sein Placet, kam auf die Beine. "Ich suche trockene Klamotten raus und stell das Frühstück hin." ~+~+~* Ken rollte den Futon zusammen, damit der Klapptisch Raum hatte, zupfte zwei verschlissene Kissen heraus. Aus dem eigenen Fundus bot er ein langärmliges T-Shirt auf, das Godzilla porträtierte, dazu eine Bermudas mit Kordelverschluss. Er hätte auch eine Unterhose angeboten, bloß stand zu befürchten, dass die eines Gürtels bedurfte. Ichi kehrte zurück, ohne die Zotteln sehr nackt und dezent klapprig wirkend. Kommentarlos streifte er die beiden Kleidungsstücke über, nahm Platz. Pearl verließ ihren Lagerplatz, um sich auf seinem Schoß zusammenzurollen. Während er mit einer Hand sanft das buntscheckige Fell streichelte, operierte die andere mit den Essstäbchen. Ken erhitzte unterdessen mit dem gasbetriebenen Campingkocher Wasser, setzte Tee auf. Ihm entging nicht, dass Ichi nicht eilig herunterschlang, sondern langsam aß, kaute. Ein mäkeliger Esser schien er auch nicht zu sein, denn er leerte die Box artig, schluckte brav den Tee. Ken sammelte das benutzte Geschirr in einer Plastikwanne von der Veranda ein, deponierte es jenseits der Traufe bei der ehemaligen Werkstatt. Der Regen würde das Spülen übernehmen. Als er zurückkehrte, studierte Ichi ihn abwartend, noch immer Pearl auf dem Schoß. "Abtritt ist der Verschlag hinterm Haus unten." Erläuterte Ken ruhig. "Für die Katze klemme ich was in die Tür. Oder kommt sie die Stiege nicht runter?" Ichi musterte ihn abwägend. "Das geht schon." Antwortete er schließlich heiser. "Fein." Ken zog sein Kissen beiseite, klappte den Tisch zusammen. Der blockierte ja den spärlichen Platz seines Futons. "Zeit, die Matratze abzuhorchen." Ichi rückte mit Pearl auf dem Arm zur Seite, beobachtete seine geübten Handgriffe. "Hast du keine Angst?" Erkundigte er sich endlich lauernd. Ken schmunzelte. "Was denn, vor dir? Falls du hier was Wertvolles finden solltest, kannst du es behalten, aber ich kann die Suche nicht empfehlen." Die schwarzen Augen funkelten ungemütlich. "Außerdem sind deine Sachen klatschnass, es regnet immer noch und das Geld liegt in dem kleinen Tresor da. Falscher Code, puff, Farbexplosion." Ken kniete sich auf den Futon, verteilte die Kissen. "Weiterhin klaust du nicht, sonst hättest du das Katzenfutter beim Bahnhof in einem Geschäft einfach mitgehen lassen." Er blickte hoch. "Wobei du vorher natürlich Pearl irgendwo hättest abstellen müssen und hoffen, dass sie noch da ist, wenn du zurückkommst." Ichi musterte ihn grimmig. Pearl hingegen maunzte dezent, verlangte abgesetzt zu werden, damit sie sich auf dem Kissen einrichten konnte. Ken streckte die Linke aus. "Zeit, die Augen auszuruhen." Seine Hand wurde verschmäht, aber Ichi folgte der Aufforderung, kroch unter die Deckenschichten. Ein Grinsen mannhaft unterdrückend streckte Ken sich bequem aus, wünschte allen süße Träume. ~+~+~* Das nachdrückliche Reiben einer Pelzwange plus langer Schnurrhaare zeitigte Erfolg: Ken rollte die Augenlider hoch. Aufgrund des leisen Rauschens wusste er, dass es noch regnete. Die dämmrigen Lichtverhältnisse boten kein zuverlässiges Urteil zur Tageszeit. Pearl maunzte auffordernd. "Ich bin wach." Verkündete Ken artig, setzte sich auf. Vermutlich musste die Katze raus. Die Stiegen waren doch zu hoch. Andererseits akzeptierte er Ichis Versuch, ihn diesbezüglich in die Irre zu führen. Ohne Geld, tropfnass und hungrig hatten sie einen Unterschlupf gebraucht. Komplikationen hätten vielleicht das Angebot negiert. Aber er war nicht kleinlich. Leise öffnete er die nur angelehnte Tür, von einem nassen Turnschuh blockiert. Man durfte bezweifeln, dass sie Ichi noch mal von Nutzen sein würden, ganz gleich, wie viel Altpapier man zum Trocknen rein stopfte. Ken stieg in seine bewährten Gummistiefel, zog das Regencape über. Er bückte sich, um als Katzenbeförderer die Außentreppe herabzusteigen. Zu seiner Überraschung zeigte Pearl keine Berührungsängste mit dem Dschungel des Hinterhofs oder dem Regen. Sie verschwand zielstrebig und sicher zwischen grünem Bewuchs. Ken ließ den obligatorischen Zahnstocher von Mundwinkel zu Mundwinkel wandern. Die geflaggten Klamotten seines Hausgastes waren garantiert noch klamm. Ein zweites Paar Schuhe schien Ichi auch nicht zu besitzen. Kein Geld, keine Papiere. Zumindest hatte er keine Ausweiskarten oder Ähnliches gefunden, nicht mal ein Mobiltelefon. Zugegeben, er verfügte auch nicht über ein eigenes Gerät, bediente sich bloß hin und wieder mal des Geschäftsapparates. Wenn man so mal die Hinweise zusammenzählte... Es hatte vermutlich eine Auseinandersetzung gegeben oder Prügel gesetzt, wenn man davon ausging, dass Ichi nicht gerade wehrhaft wirkte. Er war untergetaucht oder rausgeworfen worden, stand mit Pearl ohne Obdach da. Was war mit Freunden? Familie? Job? Oder Schule? Es fiel Ken schwer, Ichis Alter zu schätzen. Woher kam dieses merkwürdige Kettenkostüm? Wie passten die Mädchenblusen dazu? Dazu diese seltsamen Kunsthaare! Zählte Ichi vielleicht zur Rotlichtmeile? Varieté? Oder einem Club? Hmm... »Obacht!« Warnte Ken sich selbst vor. Leben und leben lassen, das gefiel ihm als Basis eigentlich recht gut. Wenn man wenig Ahnung hatte, fällte man leicht Urteile über andere Leute und ihr Leben. Im Detail verhielt es sich selten so schlicht, einfach und klar. Ichi hatte um Katzenfutter gebeten, sich auf einen Handel eingelassen, aber nicht, dass man sich einmischte. »Also Ball flach halten!« Mahnte Ken sich selbst. Der Zahnstocher drehte eine Pirouette. Besser, den Stubentiger aufzusammeln und nach seinem Hausgast zu sehen, bevor die Nachtschicht rief! ~+~+~* Kapitel 21 »Die Katzenaufsicht hat schon was.« Fand Ken. Er musste erst Ichis Gesicht unter der filzenden Zottelmasse freilegen, weil sich die gedrehte Schnecke aufgelöst hatte. Ichis Atemzüge kamen flach, hastig, auch die Temperatur sprach Bände. Offenbar hatte Ichi sich doch verkühlt, rang jetzt mit einem heftigen Fieber, ohne nennenswert zu schwitzen. Ken ließ den Zahnstocher rotieren, richtete sich auf. "Ich bin mal kurz weg." Ließ er Pearl wissen. "Du hast inzwischen das Kommando!" ~+~+~* Ken sah sich gründlich um: frisches Wasser für die Katze, Ingwertee in der Kanne, Ersatzkühlklebepflaster in Reichweite. Brust und Gelenke mit merklich duftendem Minzöl eingerieben, das abkühlen sollte. Konnyaku-Geleewürfel im Napf, Löffel daneben, zwei Flaschen mit isotonischem Wasser. Pearl beäugte ihn von ihrem Kissen aus. Kens Magen knurrte. Rechtzeitig vor Schichtbeginn pflegte er etwas zu essen. Er nickte der Katze zu. "Du bist der Chef, bis ich wiederkomme. Alles klar?" Pearl maunzte vernehmlich. Ken grinste, der Zahnstocher tanzte in seinem Mundwinkel. "Prächtiges Mädchen!" ~+~+~* Nachdem er im Imbiss die vom Regen gespülten Bento-Boxen abgeliefert, rasch etwas gegessen hatte, betrat Ken den Markt samt leerem Trolley und dem kommissionierten Geld. Sein Großonkel, der eigentlich zu jedem Schichtwechsel erschien, zeigte sich ein wenig ärgerlich. Der Neue, Kinkei, hatte unter fadenscheinigen Ausreden gekündigt, nach nicht mal zwei Wochen. Von einem gemütlichen Personalpolster konnte man da wirklich nicht sprechen. Der Rest der Mannschaft nahm sich zwar zuverlässiger aus, aber Leidenschaft und Überzeugung konnte er nur von seinem Großneffen erwarten. Ein ärgerliches Dilemma, das nicht so einfach und elegant wie die Maschinerie der Seil- und Förderbänder modifiziert werden konnte! "Ich halte die Augen offen." Bot Ken gelassen an. Es würde sich bestimmt jemand finden, der gern hier arbeitete. Man musste nur geduldig suchen, die Chance ergreifen! ~+~+~* In den Morgenstunden setzte erneut heftiger Regen ein. Ken absolvierte die Übergabe, stapfte in Gummistiefeln mit Regencape und Trolley die übliche Runde. Auf der Außentreppe oben erwartete ihn schon die dreibeinige Katze. Den Zahnstocher mittig eingeklemmt marschierte Ken ohne Ladung nach oben, sammelte Pearl auf, um kehrt zu machen. Am Fuß der Stiege sprang sie gewandt aus seinem Arm, verschwand eilig im Dschungel. Ken kam aus der Hocke, wischte die Kapuze auf den Rücken. Sofort tauschten sich Schweiß- mit Regentropfen im wolligen Wust auf seiner Schädeldecke aus. Wasserdicht, ja, aber auch luftdicht! Für einen Schirm hätte er eine Hand frei haben müssen. Das klappte mit Trolley und Beladung nicht. Zum zweiten Mal erklomm er die Außentreppe, stieg aus den Regenstiefeln, entledigte sich des Capes. Ichis seltsame Klamotten-Parade flaggte noch immer, dazu sein Kittel und die Ersatzhose. Er betrat das Zimmer im Zwielicht, ging neben dem Futon in die Hocke. Ein Kühlklebepflaster war getauscht worden, eine Flasche Wasser leer. Auch der Ingwertee wies nur noch eine kleine Neige auf. Die lästigen Zotteln abgepflückt strich Ken mit dem Handrücken über eine Wange. Fieber, noch immer, die Haut trocken, aber die Atemzüge kamen nicht mehr ganz so hektisch. Auch hörte er kein gefährliches Rasseln. Er zupfte das sich aufwellende Pflaster von Ichis Stirn. Der stöhnte leise auf, wollte sich von ihm wegdrehen. Er wachte nicht tatsächlich auf, zog nur die Augenbrauen zusammen. "Hmm." Konstatierte Ken, rieb sich kurz übers Kinn. Es knirschte leicht. Demnach sollte er wohl besser mal eine Rasur erwägen. Er verstaute die Mitbringsel, sammelte einen Becher, Trockenseife, Pinsel und den Rasierhobel ein, spazierte gemächlich die Außentreppe herunter. Sicher unter der Traufe, in Reichweite eines Regenfasses wartete eine Spiegelscherbe. Geübt mischte er Schaum an, tuschte sich das Kinn, operierte mit Sorgfalt über die Haut. Übermäßiger Bartwuchs war nicht zu befürchten, aber ohne Strom erforderte das Stutzen ein gewisses Geschick. Mit einem alten Handtuch tupfte er sich nach Sichtkontrolle ab. Pearl saß in der Nähe, ihn aufmerksam beäugend. "Tja, bei uns großen Jungs sind Schnurrhaare nicht in Mode." Erläuterte Ken jovial, balancierte den unvermeidlichen Zahnstocher aus. Er ging neben der Katze in die Hocke. "Ich sollte die günstige Situation nutzen, meinst du nicht auch?" Pearl maunzte zurückhaltend. "Frühstück steht auch an." Nickte Ken verständig. Wenn er sein Manöver richtig koordinierte, sollte es ohne größere Komplikationen zu bewältigen sein. Mit seinem Rasierbesteck und Pearl stieg er wieder die Treppe hinauf, fischte eine Tüte ab, die er beiseite legte, um zumindest Pearls Wassernapf zu füllen. Die Katze nieste. Noch einmal. Ein Geräusch wie ein abschätziges Schnauben schloss sich an. Ken ging neben ihr in die Hocke, schnüffelte auch an der Tüte. "Wichtiger Einwand!" Lobte er Pearl, die den Odeur gar nicht goutierte. Das hieß, die Operation auf die Veranda zu verlagern. Also Hocker, Eimer, Handtuch und Tüte umziehen. Er wickelte Ichi aus den Decken. Nur ein leises Stöhnen kommentierte seine Aktionen. Nennenswerte Gegenwehr stand nicht zu befürchten. Das Fieber und die Medikamente lieferten sich eine Schlacht, beanspruchten offenbar alles an Energie, das Ichi aufzubieten hatte. Mit wachsender Übung lud Ken sich seinen benommenen Hausgast auf die Arme, stakste nach draußen. Bloß nicht die Balance verlieren! In diesem spannungslosen Zustand war von Ichi keine Unterstützung zu erwarten. Er senkte ihn auf den Plastikhocker herab, an die Außenwand des Gebäudes gelehnt. So weit, so gut. Es ging an den Inhalt der Tüte. Ken hatte die Anweisungen ebenso artig memoriert wie all die Ratschläge der Damen zu Fieberattacken. Allerdings konnte er Pearl nur beipflichten, als er mit den Handschuhen ausgerüstet das "Zaubermittel" aufschraubte: Pfuibah! Es roch durchdringend chemisch! Beinahe aggressiv, nach Lösungsmittel, alter Farbe und Dingen, die er ohne Gasmaske gar nicht kontaktieren wollte. Andererseits ging es hier um seine persönliche, höchst egoistische Befindlichkeit. Da durfte man auch nicht zimperlich sein. Ichi, der nichts von seinem Geschick ahnte, wurde mit der klebrigen Paste eingekleistert, rund um den Haaransatz auf jedem Fleckchen. Ken befestigte schon hechelnd, den Halsausschnitt des T-Shirts über die Nasenspitze geschoben, die Plastikhaube. Zehn Minuten sollte die Pampe auf Ichis Schädel verbleiben. Er streifte sich die Handschuhe ab, richtete sich auf, keuchend. Pearl, in merklicher Distanz, maunzte beunruhigt. "Keine Sorge, wenn die Spachtelmasse gewirkt hat, schaffe ich alles weg." Versprach Ken. Hinsichtlich der Müllsortierung hatte er zwar gezweifelt, aber DAS Zeug hier konnte nur verbrannt werden. Bei dem infernalischen Gestank auch naheliegend! Wie ausgeknockt Ichi sein musste, konnte man daran ermessen, dass nicht mal das Riesennest auf seinem Kopf ihn aufrüttelte. Ken behielt die alte Eieruhr (auf Sandprinzip) im Auge, verhinderte, dass Ichi vom Plastikhocker rutschte. Pearl bewachte ihn aufmerksam. Als das letzte Korn seinen Bestimmungsort erreicht hatte, ging Ken wieder, die Nase gerümpft, neben Ichi in die Hocke, angelte die Tüte heran. Nun musste nach Anweisung erst das Häubchen herunter. Die übelriechende Pampe sollte ihre Wirkung getan haben, sämtlichen Kleber aufgelöst. Das gestaltete in der Folge das mühelose Herauslösen der filzigen Kunsthaarmatten. Theoretisch. Ken hielt die Luft an, rang mit dem Knoten des Häubchens. Der aufsteigende Odeur hatte sich verändert, aber nicht zwingend zum Besseren. Es roch auf alternative Art streng. Am Häubchen klebte getrocknete Pampe und filzige Strähnen, von denen Ken nur hoffen konnte, dass es die künstlichen Haarteile waren. Als hätte Beton die einzelnen Komponenten zusammengefügt. Ken zerbiss fast den Zahnstocher vor Konzentration, erkannte aber, dass hier nur eine entschlossene Vorgehensweise abhelfen konnte. Er drückte den leise stöhnenden Ichi tief nach vorne, damit der ganze Klumpen das Übergewicht bekam. Den Kopf zwischen den dünnen Beinen entrang sich ächzender Protest. Ken machte sich ebenfalls keiner Untätigkeit schuldig. Die Handschuhe übergestreift pflügte er mit gefächerten Fingern durch das bröckelnde Betonnest. Was er herauslösen konnte, landete in der Tüte. Er hatte den Eimer nicht umsonst mit Wasser gefüllt, der half mit Feuchtigkeit nach. Erst die Handschuhe feucht benetzt, anschließend mit einem grob-zinkigen Kamm. Ichi schnaufte zum Erbarmen. Die dünnen Beinen drohten immer wieder, nach außen abzuknicken, ihren Besitzer auf die Nase purzeln zu lassen. Ken balancierte wachsam aus, legte den Kamm beiseite, ignorierte den seltsamen Geruch des Wassereimers. Man konnte die einzelnen Strähnen wieder ordnen, das entsprach dem Drehbuch. Nun zum zweiten Streich! Großzügig verteilte er das Pflanzenöl auf seiner Linken, massierte die Ausbeute in die Kopfhaut ein, ölte die Strähnen. Er verpackte die glitschige Masse schließlich unter einem alten Handtuch, das er mit einem verschlissenen Stoffgürtel justierte. Eilig die Tüte verknotet richtete er Ichi auf, der das Winseln prompt einstellte. Ken hob ihn geübt auf die Arme, schwankte wieder hinein, legte Ichi auf dem Futon ab. Der rollte sich fötal zusammen, stöhnte erleichtert. Pearl maunzte mahnend. "Augenblick noch." Entschuldigte sich Ken, marschierte auf die Veranda. Die Plastiktüte samt ihrem Inhalt musste SOFORT zum Müllplatz, keine Frage! Das Wasser vertraute er der Kanalisation an. Nachdem diese Aufgaben erledigt, der Kamm gereinigt und samt dem Hocker wieder in der Nasszelle verstaut worden waren, atmete Ken durch. "Frühstück." Verkündete er, öffnete die Bento-Box. Ja, das Zwinkern hatte ihn nicht enttäuscht: für Pearl enthielt auch ein abgeteiltes Eckchen etwas Feines. "Sieh an, du hast schon eine Verehrerin!" Bekundete Ken Ehrfurcht, während er Pearl ihren Anteil servierte. Auch Ichi war nicht leer ausgegangen, allerdings nur mit Flüssignahrung in einer Thermosflasche. Eine scharf gewürzte Suppe, hatte man nach ausführlicher Debatte entschieden, weil Ichi trocken schwitzte, nicht feucht. Ken hob sich Ichi samt Handtuchturban auf den Schoß, flößte mit großer Geduld die sämige Suppe in Schlucken ein. Ichi ließ es sich gefallen, heizte ihn auch noch auf. Godzilla-T-Shirt und Bermudas schirmten seine erhöhte Körpertemperatur nicht ab. Seinen eigenen Bento-Anteil vertilgend dachte Ken konzentriert nach. Es gab schon noch so Einiges zu tun, doch das hatte Zeit. Jetzt fühlte er sich rechtschaffen müde. ~+~+~* Pearl war eine zuverlässige Weckerin, fand Ken, der sich übers Gesicht rubbelte, aufsetzte. Ja, ohne Bartstoppel schon besser! Er streifte die Decken ab, erhob sich. Der Regen schien über den Tag nachgelassen zu haben, aber der bedeckte Himmel stimmte nicht unbedingt heiter. Ken ließ Pearl am Fuß der Außentreppe von seinem Arm herunter. Er beobachtete, wie sie schnurstracks im Dschungel verschwand. Um die Zeit nicht müßig zu vertrödeln, kontrollierte er die Zisternen und Regentonnen, nutzte den Abtritt, studierte die Treppe. Sie war steil, naturgemäß, weil es ein schmales Gebäude war. Der Abstand zwischen den einzelnen Stufen stellte für einen Menschen keine Herausforderung dar. Für die dreibeinige Katze musste es sehr unbequem sein. Allerdings konnte sie gut balancieren, das hatte er schon beobachtet. Wenn man nun vielleicht ein kräftigeres Seil oder Tau entlang der Stufen spannte? Mit den Krallen hatte sie genug Halt, es gab keinen allzu großen Abstand. Ein Brett, ein alter Handlauf...? Ken überdachte seine Möglichkeiten. Pearl, die sich lautlos herangeschlichen hatte, maunzte auffordernd vor seinen Füßen. "Ja, Eure Hoheit, Ihr Transporteur steht bereit." Scherzte Ken, las die kleine Katze auf. Jetzt hatte er keine Zeit, das Problem zu lösen. Außerdem musste er sich vor seinem Aufbruch auch noch um Ichi kümmern. Er ging neben dem Futon in die Hocke, erprobte Pulsschlag und Temperatur. Als er die Hand zurückzog, zuckte Ichi plötzlich heftig zusammen, blinzelte ihn aus verklebten Augen an, nach Luft schnappend. "Ich blas dir einen!" Ken konnte die heiser hervorgestoßenen Silben kaum verstehen, aber er registrierte, wie Pearl, die eben noch dem Katzenfutter zugesprochen hatte, blitzartig hinter den Stapelkisten verschwand. Unterdessen versuchte Ichi, Abstand zwischen sie zu bringen. Er stemmte die Fersen in die Matratze, aber die dünnen Beine zitterten selbst unter der Decke merklich. Er hatte schlichtweg nicht die Kraft, sich zu entfernen. "Ichi." Ken ließ die Arme ruhig hängen. "Ich muss den Futon auslüften, sonst schimmelt er. Setz dich bitte für einen Moment da rüber, ja?" Er sprach ruhig, gelassen, etwas lauter, weil ja auch das rechte Ohr im Handtuchturban eingewickelt war. Ichi blinzelte heftiger, damit sich der Blick der schwarzen Augen klärte. "Soll ich dir helfen?" Bot Ken an, ohne sich zu bewegen. "...ich...schaff das schon." Krächzte Ichi schließlich, zog und schleppte sich eher von der Matratze zu den Sitzkissen. Ken federte in ausreichendem Abstand hoch, faltete die Decken, schnappte die Futon-Matratze, um sie über einen quer eingeklemmten Besenstiel auf der Veranda zu platzieren. Normalerweise ließ er sie während seiner Nachtschicht lüften, aber da Ichi ja krank auf ihr geschlafen hatte, fiel das aus. Die feuchte Witterung war Gift für die Matratze, die regelmäßige Durchlüftung und das Abtrocknen der vom Körper abgegebenen Feuchtigkeit benötigte. Als er zurückkehrte, einige der Kleidungsstücke apportiert, die endlich nicht mehr klamm flaggten, hatte sich Pearl auf Ichis Schoß zusammengerollt, ließ sich kraulen, obwohl sie das Katzen-Frühstück noch nicht beendet hatte. Für Ken sprach dieses Stillleben Bände. Er zog hinter dem Kistenstapel ein gerolltes Bündel hervor, befestigte die Enden an zwei Kanthaken. "Ich weiß, es ist ein altes Tennisnetz." Erklärte er beiläufig. "Mit Deckenauflage fungiert es auch als Hängematte." Zwei Augenpaare beäugten ihn wachsam. Ken ging vor Ichi und Pearl in die Hocke, auf Armeslänge Entfernung. "Es sind noch Pudding, isotonisches Wasser und etwas Tee da. Ich habe auch noch lösliches Kopfschmerzpulver." Er bemerkte das leichte Zittern der mageren Gestalt, nicht deutlich, beinahe unmerklich, aber nicht zu verfehlen, wenn man danach Ausschau hielt. "Die Omas haben mir aufgetragen, darauf zu achten, dass du ausreichend schläfst und deinen Kreislauf zu beobachten." Ken richtete sich auf. "Also ruh dich bitte aus, auch wenn die Hängematte etwas ungewohnt ist. Nach dem Bulletin bei den Omas bringe ich dir Frühstück mit." Er schob den Zahnstocher in einen Mundwinkel, tippte sich mit zwei Fingern grüßend an die Schläfe. "Schön die Stellung halten!" Damit verließ er das Zimmer, schlüpfte auf der Veranda in Gummistiefel und Regencape. Dichte Bindfäden nadelten schon wieder herab. ~+~+~* Pearl wartete schon, als Ken am Morgen zurückkehrte. Eigentlich hatte er sich wieder Bento-Boxen packen lassen wollen, doch eine Konsultation verlangte Zeit! Deshalb speiste er im Imbiss, auf Order der anwesenden Hausfrauen, die unterdessen die weitere Behandlung diskutierten. Kein medizinisches Gremium hätte engagierter Für und Wider diverser Methoden disputieren können! Ken, dem Menü zusprechend, hielt sich heraus. Er erfreute sich seit Geburt quasi einer ungezogen robusten Gesundheit, war deshalb in Krankenpflege nicht sonderlich bewandert. Außerdem ließ es sich leichter leben, wenn man den Seniorinnen brav Folge leistete. Darum war er nun auch später als sonst unterwegs. Allerdings hatte ihn früher auch niemand erwartet. Pearl ließ sich tatsächlich von ihm auf den Arm nehmen, am Fuß der Außentreppe absetzen. Das bedeutete, dass er noch immer gut bei ihr angeschrieben war, hoffte Ken. Und dass es Ichi besser ging. Tatsächlich lag der in der improvisierten Hängematte, schreckte jedoch hoch, als Ken das Care-Paket absetzte, sackte stöhnend wieder auf der nachfedernden Unterlage zusammen. "Kopfschmerzen?" Erkundigte sich Ken, studierte die Reste des Depots. Den Pudding hatte Ichi nicht angerührt, nur Pulver und Wasser waren verschwunden. Ein Keuchen antwortete ihm. In Ichis ohnehin bleichem Gesicht zeichneten sich rekordverdächtige Schatten um die Augen ab, die tränten, die Wimpern verklebt. Nicht kleidsam. Außerdem ging Ichis Atem wieder zu flach, zu hektisch. »Hmm.« Die Symptome erkannte er aus den Anweisungen der Seniorinnen wieder, wählte eine gelierte Masse in einem Beutel aus, während der Zahnstocher den Mundwinkel wechselte. Er kniete sich neben die Hängematte, bugsierte sich Ichi vor die Brust, überstreckte den ohnehin mit Turban beschwerten Kopf auf seine Schulter. Ichi stöhnte Protest, versuchte vergeblich Kens rechten Arm um seinen Brustkorb abzustreifen. Der quetschte den Beutel mit Links zwischen Ichis aufgebissenen Lippen aus, hielt ihm den Mund zu, damit auch wirklich geschluckt wurde. Ein gequältes Schluchzen später stützte er ihn einfach ab, atmete selbst tief durch. Er spülte mit geduldigen Schlucken Wasser nach. Ken war sich nicht sicher, wie viel Ichi überhaupt von seiner Umgebung noch registrierte. "Ich weiß, dass du dich bescheiden fühlst, aber ein bisschen musst du noch durchhalten. Ich hebe dich jetzt raus. Danach hole ich den Futon." Leichter angekündigt als getan, aber schließlich gelang es ihm, Ichi gegen den Kistenstapel zu lehnen, ohne dass der spannungslos in sich zusammensackte. Eilig kippte Ken einfach die Hängemattenauflagen herunter, hob das umfunktionierte Netz von den Kanthaken. Er sammelte auf der Veranda die Matratze ein, legte den Futon wieder rasch aus. Pearl verfolgte ihn schweigend, immer im Sicherheitsabstand. "Ja, ich weiß, meine pelzige Freundin, aber das Schlimmste sollte bald überstanden sein." Adressierte er die Katze in ruhigen Tönen. Er hoffte es zumindest, nach den Prognosen der Damen vom Imbiss. Ichi winselte wieder gequält, als er ihm die nunmehr klammen Kleider vom Leib schälte, auf dem Futon ausgestreckt. Mutig näherte sich Pearl, rieb ihre Wange an Ichis. Das schien ihn zu beruhigen. So konnte Ken rasch den mageren Leib abledern, ihm ein altes Sweatshirt überstreifen. Er deckte Ichi wieder zu, atmete erneut tief durch. Schnell noch ein paar Klamotten zusammenfalten, ein wenig Ordnung schaffen, Pearl frisches Wasser nachfüllen... Ziemlich erschlagen kroch Ken schließlich zu Ichi auf den Futon. ~+~+~* Dieses Mal saß Pearl auf seinem Brustkorb, stemmte die beiden Vorderpfoten rhythmisch in seine Haut. Gar nicht mal unangenehm, diese Massage, aber Ken begriff, noch etwas schläfrig, durchaus die Botschaft. "Guten Morgen." Wünschte er, obwohl es selbstredend spät am Nachmittag war, setzte sich auf. Ichi schlief neben ihm, merklich ruhiger als zuvor. "Tja!" Sich gewohnt das Gesicht rubbelnd entschied Ken, dass er wohl in die Gänge kommen müsse, um es sich nicht mit Pearl zu verderben. Mit Zahnstocher und ungebügeltem Gesicht plus Handtuch stapfte er die Außentreppe herunter. Während die Katze in den Dschungel aufbrach, polierte er seine Erscheinung an einer Wassertonne auf. Da Pearl ihren Streifzug noch nicht beendet hatte, entschied Ken, nach Ichi zu sehen. Er kniete sich auf den Futon, tastete nach dessen Kehle, maß Temperatur und Pulsschlag. Das Gelee schien geholfen zu haben, konstatierte er mit Zahnstocherkreisen, aber Ichis Nackenmuskulatur fühlte sich völlig verhärtet an, vermutlich wegen des Handtuch-Turbans. Konzentriert löste Ken die selbst fabrizierte Verschnürung. "Was ist mit meinem Kopf?" Ichis Stimme klang so, wie dessen Lippen aussahen: ausgefranst, viel zu trocken, brüchig. Die schwarzen Augen blickten trübe. Er wirkte verkrampft. "Eine Kur. Von Juulio." Ken bugsierte den Zahnstocher in den anderen Mundwinkel. "Wenn du dich drehst, massiere ich dir den Nacken." Ein Einspruch wurde formuliert, doch das bloße Abrücken, nicht mal Millimeter, entrang Ichi ein schmerzvolles Aufstöhnen. "Deshalb die Massage." Erinnerte Ken, der sich nicht gerührt hatte. Wahrscheinlich hätte Ichi ihm sehr gern einen bitterbösen Blick geschenkt, doch seine Konstitution ließ solche Extravaganzen nicht zu. "Ich helfe dir." Ken griff einfach zu, schlug die Decken beiseite, arrangierte die dünnen Glieder für die stabile Seitenlage. Er rollte Ichi herum, immer dessen Nacken stützend, bis der auf dem Bauch lag, ein Bein angewinkelt, die Stirn auf den gekreuzten Handrücken abgelegt. Hechelnd. "Schwindlig? Musst du brechen?" Ken beugte sich über das rechte Ohr, studierte konzentriert die Reaktionen. Die Omas hatten ihm ja nachdrücklich aufgegeben, auf Details zu achten! Ichi zwang sich merklich, nicht zu winseln, seinen Atem zu beherrschen. "Pearl? Wo ist Pearl?" Die Stimme heiser, kurzatmig, besorgt. "Noch auf Katzen-Abenteuern unterwegs." Beruhigte Ken, kramte in seinem Fundus. Love-Gel, nun ja. Aber zur Massage auch geeignet, selbst wenn man im Moment damit nicht die Ouvertüre für weitere Intermezzi anstimmte. Er ging vorsichtig vor, streifte erst mit den Fingerspitzen über die verspannten Sehnen und Muskeln. Takafumi hatte ihn ja in seiner knappen Diktion ausdrücklich gewarnt, was Amateur-Deppen alles vermurksen konnten. Was ihm jedoch gleich positiv gefiel: Ichis Filzmatte hatte sich dank Juulios Zaubermittel (extrem anrüchig, aber wirksam) in schwere, seidige Strähnen verwandelt. Er konnte auch keinen öligen Film entdecken, obwohl er ziemlich gekleistert hatte, wie er sich ins Gedächtnis rief. Langsam setzte er mehr Nachdruck ein, spürte die Reibungshitze. "Nicht die Luft anhalten." Mahnte er Ichi. Der versuchte, unter ihm wegzutauchen, auf die Knie und Ellen zu kommen, ein Würgen unterdrückend. Ken fasste zu, kippte Ichi nach hinten, gegen seine Brust. "Schwindlig?" Ichi hechelte erbärmlich, kämpfte aber erfolgreich den nächsten Würgereiz nieder. "In Ordnung." Murmelte Ken, ließ automatisch den Zahnstocher rotieren. Definitiv alle Symptome für einen niedrigen Blutdruck und einen instabilen Kreislauf, traute er dem Diagnose-Fazit der Omas! Mit der Linken fischte er den Notfallbeutel heran, die eiserne Reserve fürs erste Aufwachen. Naturgemäß war Ichi nicht begeistert, erneut mit der sehr süßlich riechenden Geliermasse behelligt zu werden. Im Bändigen hilfloser Abwehrhandlungen hatte Ken inzwischen einen versierten Grad der Routine erreicht. Er hielt Ichi noch ein wenig länger, wartete darauf, dass der das Gelee bei sich behielt, nicht mehr so asthmatisch keuchte. Da hörte er Pearls aufforderndes Maunzen, spürte beinahe sofort, wie Ichi sich anspannte. "Ich hol ihre pelzige Hoheit." Vertraute er dem rechten Ohr an. "Konsultiere du inzwischen deinen Magen, ob er noch Pudding verträgt." Rücksichtsvoll löste er sich von Ichi, wickelte ihm eine Decke um die Schultern, lehnte ihn gegen den Kistenstapel. Die schwarzen Augen zwischen den seidigen Strähnen blickten besorgt. Ken zwinkerte, verließ das Zimmer und stapfte die Außentreppe herunter. Pearl ließ sich aufsammeln, maunzte ihm noch etwas, vermutlich spannende Erlebnisse aus dem Dschungel. Leider verstand er nichts, aber das schien ihr Einvernehmen nicht allzu schwer zu belasten. Ichis Schultern sackten vor Erleichterung so tief herab, dass die Decke herunterglitt, als Pearl munter zu ihm sprang. Ken überließ die beiden ihrer vertrauten Kommunikation, verfrachtete die Matratze zum Lüften nach draußen. Er ging neben den beiden in die Hocke. "Braucht ihr außer einem ordentlichen Frühstück noch was?" Ichi schüttelte stumm den Kopf, aber langsam, so, als könne er dem Frieden seines Nackens noch nicht trauen. Oder als befürchte er, sein Kreislauf könne ihn erneut im Stich lassen. "Dann bis später!" Ken erhob sich, zwinkerte Pearl zu, die sich unversehens an seinem Bein rieb, ihn fixierte. "Gut, du hast das Kommando, Prinzessin Samtpfote!" ~+~+~* Ken transportierte die Bento-Boxen im Trolley. Es schüttete mal wieder wie aus Eimern. Das tat seiner Putzwolle nicht gerade gut, aber deren vordere Zentimeter waren ohnehin gezählt. Zumindest am späten Nachmittag, nach einer guten Mütze voll Schlaf! Pearl erwartete ihn schon ungeduldig auf der Veranda. Er stapfte hoch, sammelte sie auf, ließ sich von einem pelzigen Katzenköpfchen das Kinn massieren. "Alles roger, ja? Gute Arbeit!" Kaum auf allen drei Pfoten schlug sich Pearl schon in die Büsche. Ken lächelte, ließ den obligatorischen Zahnstocher wandern. Diese Katze war definitiv nicht wasserscheu! Mit den Bento-Boxen beladen stiefelte er die Stiege hoch, schlüpfte aus den Regenstiefeln, betrat das Zimmer. Ichi hatte das ehemalige Tennisnetz nicht aufgehangen, sondern sich auf den alten Sitzkissen zusammengerollt. Die Plastiknäpfe der Puddingförmchen waren ordentlich ineinander gestapelt, Löffel und Glas in der Spülwanne deponiert. Ken ging neben Ichi auf die Knie, strich durch die seidigen, schweren Strähnen. Sie waren, soweit er das im Dämmerlicht des frühen Morgens erkennen konnte, gar nicht schwarz, sondern eher nussbraun. Ohne die grässliche Plastikmatte reichten sie auf die Schulterblätter. "Ichi?" Wieder ein reflexartiges Zurückschrecken. Ken glitt in eine lässige Hocke, ließ die Arme über die Knie baumeln. "Guten Morgen." Wünschte er. "Morgen." Die schwarzen Augen, dezent umschattet, suchten im Raum. "Pearl tobt sich noch draußen aus." Bemerkte Ken nonchalant, kam mühelos hoch, richtete sich auf. "Essen wir erst mal was." Während er den Klapptisch hervorholte, beobachtete er aus den Augenwinkeln, wie sich Ichi in die Höhe arbeitete. "Ich muss pinkeln." Krächzte der heiser. "Zieh meine Gummistiefel an, ja?" Sich an der Wand abstützend stapfte Ichi wacklig nach draußen. Ken zweifelte keinen Augenblick daran, dass der Ruf der Natur nicht die einzige Motivation war, Ichi nach draußen zu treiben. Ein bisschen verstörend war es schon, dass Ichi glaubte, er sei ein Typ, der seinen Frust an der Katze auslassen würde! Andererseits, da wollte Ken nicht kleinlich sein, gab es solche Figuren. Erfahrungen ließen sich nicht so einfach abschütteln, keine Frage! Er verteilte die großzügigen Portionen der Seniorinnen aus dem Imbiss, plus das "Eckchen" für die Katze. Ken trat auf die Veranda, um nach der Matratze und nach Ichi zu schauen. Der trug zwar noch die Gummistiefel, hatte das Sweatshirt aber abgestreift. Nur mit einem Mädchenhöschen bekleidet, das alberne Rüschen auf der mageren Kehrseite präsentierte, stapfte Ichi durch den strömenden Regen, ging unvermittelt in die Hocke. Klar, da war Pearl, die nun hochgehoben wurde, ausgiebig mit ihm schmuste. Ken studierte das ungewöhnliche Bild, fragte sich, was wohl die Nachbarschaft denken mochte, die in den Hinterhof blickte. Er suchte ein paar Clogs und das große, neue Handtuch, kletterte die Außentreppe herunter, nahm die beiden tropfnassen Gestalten in Empfang. "Mein lieber Schwan!" Kommentierte er. "Da habt ihr der Nachbarschaft mal was geboten." Er sammelte das Sweatshirt ein, verneigte sich neckend. "Das Mahl ist gerichtet, Madame et Monsieur!" Ichi schnaubte leise, schleppte sich langsam die steilen Stufen hoch, eng in das Handtuch eingewickelt, Pearl auf dem Arm. Um aus den Gummistiefeln zu schlüpfen, musste er jedoch erst das Handtuch abstreifen, auch die Katze herunterlassen. Trotzdem schwankte er bedenklich. Ken fasste einfach zu, legte sich Ichis Arme um die Schultern. Er pflückte auch das Handtuch ab, wickelte es um Ichi. "Zieh das nasse Höschen aus, damit du dich nicht erkältest." Damit wandte er Ichi den Rücken zu, um Pearl ihr Frühstück zu servieren, die zwar artig wartete, aber mit dem kupierten Schwanz eine gewisse Ungeduld signalisierte. Ungelenk ließ Ichi sich nieder, konnte ein erleichtertes Ächzen nicht unterdrücken, studierte schweigend die aufgebauten Köstlichkeiten. Ken erläuterte launig, den Zahnstocher temporär exiliert, das Angebot, mit allen Zusätzen, die ihm aufgetragen waren. Natürlich auch den Inhalt der Thermosflasche, eine besondere Mischung, die bei "morgendlicher Übelkeit und Kreislaufproblemen" tadellos auf die Höhe brachte! Ein zorniger Blick traf Ken. "Ich bin nicht schwanger!" Ken zwinkerte, während er geübt mit den Stäbchen seinem Anteil den Garaus machte. "Das scheint wohl für die Wirkung keine zwingende Voraussetzung zu sein, hat man mir versichert." Die schwarzen Augen funkelten ärgerlich zwischen den schweren Strähnen hindurch. Bevor ein bissiger Kommentar geäußert werden konnte, hatte sich Pearl angepirscht, kuschelte sich auf Ichis Schoß ein. Sofort kraulte Ichis Linke das buntscheckige Fell, während er mit der Rechten die Stäbchen bediente. Ken schmunzelte in sich hinein. Nachdem sie ihr Frühstück beendet hatten, räumte er das Geschirr in die Plastikwanne, vertraute auf die spülende Kraft des Regens. Er legte den Futon aus, schlüpfte aus seinen Kleidern. Ichi, der neben Pearl auf einem Sitzkissen gekauert hatte, streifte das Handtuch ab. Ken streckte ihm die Linke entgegen, zog Ichi auf seine gekreuzten Oberschenkel, legte ihm fürsorglich die Decke um die knochigen Schultern. "Wenn dir übel wird, sag's mir." Erteilte er leise Anweisungen. Ein minimales Nicken, widerwillige Konzession an die Notwendigkeiten. Nicht, dass Ken etwas anderes erwartet hatte. Sanft kämmte er die schweren Strähnen hinter die Ohren, begann, Ichi zu küssen. Keine Frage, er würde sich jetzt nicht austoben, so richtig die Sau rauslassen. Nein, da wollte er sich als richtig mieser Molch erweisen. Indem er Ichi verwöhnte. Der wurde von dem gemütlichen Tempo, von den Handreichungen, die ihm jede Einmischung untersagten, sichtlich verwirrt. Er war aber ebenfalls erkennbar froh, sich ausstrecken zu können, die Augen zu schließen. Ken zweifelte nicht, dass Ichi noch immer an den Folgen der Fieberattacke litt. Die Sehnen zitterten in den aufgestellten, dünnen Beinen. Immer wieder konnte er Speichel aus den Mundwinkeln ablecken. Er bot seine breiten Schultern als Ankerpunkte für die dünnen Arme an, bemerkte die kalten Hände. Ken wartete nach Runde 1 darauf, dass Ichi wieder normal atmete, während er dessen zuckenden Unterleib kreisend massierte. "...gleich..." Er konnte in den schwimmenden, schwarzen Augen sehen, dass Ichi mit sich kämpfte, die letzten Reserven opfern wollte. "Den Rest heben wir uns für später auf." Erlöste Ken ihn, kraulte durch die schweren Strähnen. "Du musst mich auch noch begleiten." Ichi blinzelte, misstrauisch, erschöpft, widerstrebend nachgiebig. Als Ken nach einigen Minuten kontrollierend die Augen aufschlug, war Ichi bereits in einen matten Schlaf gefallen. ~+~+~* Pearl rieb ihren Kopf an seinem wolligen Haarwust auf dem Schädel. Das löste ein hörbares Knistern aus, bereitete ihr offenbar großes Vergnügen. Ken grinste die Zimmerdecke an, setzte sich auf, strich Pearl kurz über den Kopf. Er fahndete nach seinem Zahnstocher und einer Hose, erhob sich, brachte Pearl artig zum Dschungel. Ausnahmsweise nieselte es nur leicht. Ein Dunstschleier lag am späten Nachmittag in der Luft. Er erfrischte sich an einer Regentonne, stapfte die Stiege hinauf, betrat das Zimmer. Ichi kämpfte sich unter den Decken hoch, hielt sich leise zischend den Kopf. Ken nahm die Thermosflasche, ging neben ihm in die Hocke. "Versuch's hiermit." Wenig begeistert nippte Ichi an einem Becher, schluckte aber brav die verordnete Menge. "Besser?" Ken kämmte die schweren Strähnen aus dem blassen Gesicht, blickte prüfend in die schwarzen Augen. Auf die Pupille achten! Schweißperlen, unregelmäßige Atmung, häufiges Blinzeln, unruhige Bewegungen? Ichi knurrte verstimmt. "Keine Sorge, ich bin fickbar!" Ätzte er giftig. Ken kommentierte diese bissige Replik nicht, sondern entledigte sich seiner Hose. Er hatte Lust, definitiv. Die grässliche Kunsthaarmatte konnte ihn jetzt auch nicht mehr irritieren! Sich hinter Ichi eingerichtet, der scheinbar gelangweilt die Aufwartung über sich ergehen ließ, präparierte Ken ihn sorgsam mit dem Stick, sehr gründlich sogar. Er fing auf allen Vieren an, richtete sich auf, variierte den Rhythmus der Penetration, lauschte auf Ichis heiseres Stöhnen, die katzenhaften Bewegungen des Rückgrats. Ichi umschlungen ließ er sich langsam auf die Hacken sinken, sodass er nun nach oben, nicht mehr nach vorn stieß. Er fasste mit einer Hand das spitze Kinn, um ihn aufreizend zu küssen, den Gaumen zu bestreichen, in die Zahnlücke zu tauchen. Mit der anderen Hand strich er über die Brustwarzen, hinderte Ichi daran, sich selbst zu erlösen. Mit einem vibrierenden Stakkato setzte er schließlich den Schlusspunkt, genoss die unkontrollierten Spasmen um seine Erektion. Zwei, drei schwungvolle Stöße noch, dann sah er selbst Sterne. Es brauchte einige Augenblicke, bis er wieder bei Atem war, Ichi von sich löste, auf der Matratze ablegte. Dessen gesamter Leib zuckte noch in der Anstrengung, Luft zu schöpfen. Pearl maunzte vernehmlich. Reflexartig umklammerte Ichis Hand seine Linke. Ken beugte sich herunter, küsste Ichi auf die Lippen. "Ich hole sie bloß hoch." Während er ungeniert nackt die Treppe herunterstieg, kontemplierte er die Indizien. Er hob Pearl auf die Arme, die sich ziemlich feucht an ihn schmiegte, schnurrte. "Du bist wohl eher eine Meerkatze, wie?" Neckte er sie. Als er das Zimmer wieder betrat, hatte Ichi sich aufgesetzt. Die dünnen Arme zitterten merklich dabei, den Oberkörper zu stützen. Er entspannte sich erst, als Pearl munter auf ihn zusprang, sich liebkosen ließ. "Du kannst weitermachen." Ja, das hatte er schon vermutet. Ken ging neben Ichi in die Hocke, der sich halb abwandte, um Pearl abzuschirmen. "Würde ich auch liebend gern, aber dann kommen wir zu spät. Kannst du aufstehen? Zieh dir was über, ja?" ~+~+~* Clogs, Jeansshorts und eine struppige Strickjacke in Giftgrün. Ken, in Gummistiefeln, Stoffhose und T-Shirt, störte sich nicht an den irritierten Seitenblicken anderer. Er hatte Ichi einfach bei der Hand genommen, nicht mehr losgelassen. Der war wackliger auf den dünnen Beinen, als er sein wollte. "Das sind die Clogs." Gab Ken ihm eine Steilvorlage. "Aber deine Turnschuhe sind nun mal hin." Da konnte man höchstens noch Wildblumen drin anpflanzen. Ursprünglich wollte er gleich zu Juulio gehen, aber in Ichis Zustand musste erst mal der Akku aufgeladen werden. Deshalb paradierte er gleich zum Imbiss, lieferte das vom Regen gespülte Geschirr ab. Er gab Ichi zur Besichtigung frei, der sofort in Beschlag genommen wurde. Das also war Kennys Gast? Herrje, wie dünn! Und dann auch noch Fieber! Ichi wurde ob seiner aktuellen Befindlichkeit streng befragt, danach mit Essen versorgt. Ken unterdrückte ein Grinsen. Selbst Ichis Bissigkeit verzog sich eingeschüchtert angesichts der Oma-Inquisition! Schulter an Schulter, weil es so eng war, aßen sie eine dringend benötigte Stärkung. Ken eiste sie los. Juulio wartete schließlich! Abgesehen von dem seltsamen Namen betrieb der einen Herren-Salon. Altmodisch ausgestattet legte er dort den Herren Wellen in die Krause, rasierte, massierte die Kopfhaut und verlieh Büro-Drohnen den gewünscht drögen Look. Damen fanden sich hier keine ein, da trennte man sorgfältig. Außerdem gefiel nicht allen Juulios Umstieg von der Zigarette zum Verdampfer. Er neigte zu sehr blumigen Arrangements. "Ah, der Extensions-Fall? Lass mal sehen!" Noch bevor Ichi irgendwelche Einwände erheben konnte, wieselte der dünne Mann mit der Elvis-Tolle um ihn herum, kämmte durch die Strähnen. "Ja, da soll mich doch...! Hätte nicht gedacht, dass das so gut funktioniert!" Dampfstoß, mutmaßlich Patchouli. "Dachte, ich müsste da jede Menge verklebtes Tot-Haar ausputzen, aber keine Spur! Ist das deine natürliche Haarfarbe?" Er bepflasterte Ichi mit Fragen, der sich sichtlich verkrampfte, auch, weil natürlich die verschiedenen Narben ans Licht kamen. Zudem adressierte Juulio unwissentlich das linke Ohr. "Mal halblang." Mischte Ken sich ein, verlagerte den Zahnstocher in den anderen Mundwinkel. "Werden deine Kunden jetzt im Stehen bedient?" Das brachte Ichi zumindest einen Hocker ein. "Wo hast du die Extensions gelassen? Waren die auch braun? Ungewöhnlich!" Ken lehnte sich an die Konsole vor der Spiegelfront. "Weggeworfen. Das Zeug hat entsetzlich gestunken. Bist du sicher, dass es noch in Ordnung war?" Juulio zuckte abschätzig mit den Schultern. "Was bedeutet schon so ein Datum, hm? Nicht wichtig, wenn's klappt, oder? Außerdem, wer schön sein will, muss leiden." "MIR wäre schon mit einmal Kürzen gedient." Gestikulierte Ken auf seinen wolligen Schopf. Juulio verdrehte die Augen. "Meine Güte, die Jugend hat einfach keine Geduld!" Beklagte er sich, winkte Ken, im Frisierstuhl Platz zu nehmen, bevor er mit Kamm und Schere loslegte, die Schädelseiten rasierte. "Hast mich schon erschreckt!" Plauderte er dabei. "Dachte schon, du hättest das Ufer gewechselt." Ken zwinkerte, ließ den Zahnstocher wandern. "Ich bin vielseitig interessiert." Man konnte Ichi ja wirklich für ein Mädchen halten, wenn auch ein sehr mageres. Juulio bürstete ihm die abgesäbelte Krause ab, schnalzte mit der Zunge. "Ich kann dich nicht so gehen lassen!" Verkündete er imperativ. Das galt aber nicht Ken, sondern Ichi, der alarmiert aufschreckte. "Stillhalten, Schätzchen, gerade überkommt mich eine göttliche Inspiration!" ~+~+~* Ken führte Ichi an der Hand, der sich um jeden Schritt bemühte. Die Aufregung musste ihn ja angestrengt haben! Die freie Hand wanderte immer wieder hoch, betastete die kunstvolle Flechtfrisur. "Kannst bei Juulio bestimmt einen Rabatt aushandeln." Neckte Ken ihn. Ichi funkelte ihn halb ärgerlich, aber auch verunsichert an. Seine Mähne, die offenbar NICHT nussbraun war (das Datum auf der Verpackung HATTE eine Bedeutung), diente nicht nur dazu, den Kopf zu wärmen. Sie verdeckte auch die Narben, die Juulio nicht kommentiert hatte. Dafür Glanzpuder im Nacken verteilt und Altmänner-Spott von einem anderen Stammkunden gekontert. Ja, BEINAHE hätte er auch einen Abschluss als Makeup-Artist vorweisen können! Bloß hatte er eben die Visagistin, die ausbildete, persönlich betreut. DAS kam beim Prüfungskomitee nicht gut an. Aber ein echter Kerl bereute es nicht, sich einer Frau anzuvertrauen, die genau wusste, was sie wollte! Meine Herren, da hatte er aber die Sutren gehört, aber hallo! Ken grinste verstohlen in Erinnerung an das Geplänkel. Juulio mochte etwas exzentrisch erscheinen, aber er hatte ein großes Herz, passte genau in die Nachbarschaft. Wer es stromlinienförmig-servil mochte, musste eben zum Bahnhof gehen! Vor dem Markt trennten sich ihre Wege. "Wenn du willst, hol mich später ab. Wir frühstücken gemeinsam." Schlug Ken vor. "Sonst bringe ich dir was mit." Ichi nickte, wirkte wieder blasser um die Nase. Spontan hob Ken die Linke, strich ihm über die Wange. "Schaffst du es nach Hause?" Betont energisch straffte Ichi seine magere Gestalt. "Mühelos!" Krächzte er heiser. Ken ließ den Zahnstocher wandern. "Bis später." Gab er schließlich nach. Immerhin war es nicht zu weit. Und Ichi ziemlich stur. ~+~+~* Kapitel 22 Natürlich hatte es schon die Runde gemacht: Kennys "Freundin", die irgendwie doch ein Junge sein konnte, aber wie ein Mädchen aussah. Oder so ähnlich. Ken ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern erledigte seine Aufgaben. Gerade das Nachladen aus dem Lager brachte viel Arbeit mit sich, weil die Personaldecke so klein war. Da blieb bei den beiden Tag-Schichten viel übrig. Die Fächer und Kassetten mussten bestückt werden. Außerdem gab es die übliche Wartung, das Zusammenstellen der leeren Kartonagen, die Überwachung der Nach-Order. Über Leerlauf konnte er sich nicht beklagen! Nachdem er die morgendliche Übergabe absolviert hatte, trat Ken vor den Markt, streckte sich. Schüchtern blinzelte die Sonne in den Tag. Eine frische Brise trieb durch die Straßen. Ichi löste sich von einer Hauswand, schüttelte die dünnen Beine aus. "Die Dinger sind so schwer!" Beklagte er sich grimmig. Ken inspizierte seine Clogs an Ichis Füßen, Kunststoff, ein Guss, dicke Sohlen. Er kaperte Ichis Rechte mit seiner Linken, machte kehrt, um erneut den Markt zu betreten. Natürlich führten sie keine Schuhe, aber Schlappen für Besuch und die Toiletten, in einfachen Ausführungen. Er trat hinter den Tresen, machte seinen Großonkel mit Ichi bekannt, wählte rasch aus dem bescheidenen Angebot etwas aus. Die Transportbänder flitzten. Während sein Großonkel Ichi eingehend studierte, dirigierte Ken ihn auf einen kleinen Besuchsschemel, erprobte die Passform der nachempfundene Getas. Sie wiesen allerdings Stoffbänder und recycelte Reifen als Sohlen auf. "Probier mal." Forderte er Ichi auf, der zögerlich Schritte wagte. Zufriedengestellt registrierte Ken den Preis auf seinem Personalkonto, was automatisch seinen Salär reduzierte. Ichi warf ihm einen unbehaglichen Blick zu. Eine wundersame Geldvermehrung hatte sich schließlich nicht ereignet. Ken ignorierte dessen Unbehagen, verstaute die Clogs in seinem Schließfach. Er kaperte erneut Ichis Rechte. "Jetzt aber los, sonst lassen uns die Omas noch suchen!" Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Ichi mit sich haderte. Zweifellos würde ihm in Kürze ein Angebot vergleichbar mit der ersten Dose Katzenfutter unterbreitet werden. Um davon abzulenken, steuerte er den Zahnstocher in den anderen Mundwinkel, wurde persönlich. "Warum nur die Zehennägel lackiert?" Ichi runzelte die Stirn, knurrte zurück. "Warum der Zahnstocher?!" Ken ließ diesen geschmeidig rotieren. "Hab mir damit das Rauchen abgewöhnt." Ichi grummelte, aber er durfte seine Antwort jetzt nicht schuldig bleiben. "Farbe lenkt ab." Woraufhin Ken sich natürlich auf die nackten Füße konzentrierte. "Wovon?" Ichi fauchte wie ein verwilderter Streuner. Ken zwinkerte. Er fand nicht, dass an Ichis Füßen etwas auszusetzen war, aber vermutlich sah Ichi das anders. Glücklicherweise hatten sie den Imbiss erreicht, sodass eine Auseinandersetzung vertagt werden musste. Ichi wurde erneut eingehend studiert, damit man die richtige Diagnose stellen konnte. Von der Flechtfrisur hatte man natürlich gehört, die musste auch inspiziert werden! Merklich eingeschüchtert von so viel Aufmerksamkeit, die AUCH NOCH seine gerade erworbenen Sandalen umfasste, wagte Ichi gar keinen Protest mehr. Schmunzelnd sprach Ken seinem Frühstück zu, genoss das Schauspiel. Als sie sich gerade erhoben hatten, um den nächsten Hungrigen Platz zu machen, zog eine der Seniorinnen Ichi beiseite. "Das ist ja schon ein hübsches Blüschen, Herzchen, aber man kann deine Nippel sehen." Sie klang ein wenig vorwurfsvoll, aber hauptsächlich nachsichtig. Ken goutierte hingerissen, wie Ichi die Röte in die sonst so blassen Wangen stieg. Hastig schlang Ichi die dünnen Arme um seinen mageren Brustkorb. Kaum waren sie auf der Straße, zischte er Ken an. "Du hast das gewusst, oder?! Warum hast du nichts gesagt?!" Ken schmunzelte, ließ den Zahnstocher rotieren. "Du hast schöne Nippel. Ich mag deine Nippel!" Gab er ungeniert und nonchalant zurück. Ichi fauchte, legte einen Zahn zu, um bloß nicht auf einer Höhe mit ihm zu laufen! Ken registrierte ermutigt, dass Ichis Brass sogar bis zum Haus anhielt, wo Ichi Trost bei Pearl suchte. Die kam ihm aus dem Dschungel heraus entgegen, weil offenbar ein kreativer Geist den scheußlichen Wollpullover zerteilt, die einzelnen Stränge über die Stufen gebunden hatte, um eine Katzen-Leiter zu improvisieren. "Da schau an." Kommentierte Ken leise, zu sich selbst. Er folgte Ichi die Stiege hoch, der gerade höchst verärgert die Bluse abstreifte, ein mädchenhaftes Modell, mit aufgetuschten, winzigen Blüten, dezent durchscheinend. Sehr kleidsam, mutmaßlich auch sittlich, wenn man darunter ein Hemdchen trug. Pearl maunzte fragend. Ken ging neben der Katze in die Hocke. "Also, ich finde die Bluse hübsch." Kommentierte er unaufgefordert, kraulte Pearl eine Wange. "Es geht aber nicht nach dir!" Fauchte Ichi spontan, erstarrte merklich. Ken erhob sich langsam, trat hinter ihn. Er konnte die hochgezogenen Schultern, die hastigen Atemzüge nicht verkennen. Wahrscheinlich hatte sich Pearl auch schon wieder eilig verkrochen. Behutsam schlang er die Arme um Ichis magere Taille, hauchte einen Kuss auf die nackte Schulter. "Denk doch mal daran, wie vielen versauten Kerlen wie mir du heute eine Freude gemacht hast." Raunte er in das rechte Ohr. "So einen leckeren Anblick gibt's hier nicht alle Tage." Die befürchteten Prügel blieben aus. Er konnte sehen, wie langsam die alarmierte Verspannung aus Ichis Körper wich. "Du bist ein komischer Kauz." Murmelte der, wich seinem Blick aus. Ken rieb die Wange sanft, schmunzelte. "Sagt der hübsche Kerl mit einer Vorliebe für Mädchenklamotten und einer dreibeinigen Katze." "Das..!!" Ichi bremste sich, atmete tief durch. "Das hat sich so ergeben." Versuchte er, Ken abzubürsten. Der hegte schon gewisse Vermutungen, verspürte momentan nicht die geringste Lust, sich auf Vergangenheitsforschung zu begeben. Deshalb verlegte er sich darauf, Ichi zu küssen, zumindest die erreichbaren Flecken. Bis der ein Einsehen hatte, sich ihm zuwandte. Außerdem war da ja noch das Thema der neuen Sandalen... Wie Ken schon bemerkt hatte, musste Ichi bereits den Futon vor seinem Aufbruch ausgelegt haben. Weil er ihm ja die Fortsetzung angekündigt hatte. Das spielte keine Rolle. Er wollte Ichi jetzt verwöhnen, nach Strich und Faden, wenn auch ganz sicher textilfrei. Sich so richtig austauschen, damit der Schlaf erst recht erquicklich sein würde! ~+~+~* Die Katzenleiter schien tadellos zu funktionieren, denn Ken wurde nicht durch Pearls Einsatz aufgeweckt. Er nutzte das Nachmittagslicht, um Ichi zu betrachten. Ob der ihn wohl auszanken würde, weil er die Flechtfrisur lädiert hatte? Zur neuen Haarfarbe hatte er keine Kritik vernommen oder dem Umstand, dass er die grässlichen Extensions ungefragt entfernt hatte. Ichi ließ sich ohnehin nicht viel entlocken, zumindest nicht auf direktem Weg. Aber, entschied Ken, so viel musste er auch gar nicht wissen. Als er gerade sanft über eine entflohene Strähne streichen wollte, schritt Pearl zur Attacke. Vielmehr schüttelte sie sich wild aus, was die Tropfen aus ihrem Fell großzügig im Umkreis verteilte. Ken quietschte auf, lachte, fing Pearl ein, die kokett nieste. Erst da bemerkte er, dass Ichi neben ihm hochgeschreckt war, angespannt auf sie heruntersah, die sich da so vergnügt balgten. Ken seufzte, ließ Pearl zu Ichi entwischen. Dort rieb die kleine Katze behaglich schnurrend ihr trocknendes Fell. "Du weißt schon, dass ich Pearl kein Schnurrhaar krümme?" Langsam bürstete ihn Ichis Reaktion gegen SEIN Fell. Er setzte sich auf. Pearl entschlüpfte Ichis Zugriff, kuschelte sich behaglich auf das bevorzugte, zerrupfte Sitzkissen. Ichi bot Ken eine trotzige Miene, grummelte beiläufig. "Wir können ficken. Wenn du willst." Ken legte den Kopf schief. "Ich denke, ich werde mir ein Privileg gönnen." Schnurrte er. "Um das mich viele beneiden." Er konnte in Ichis Mienenspiel Besorgnis ablesen. "Diese hübschen Nippel, die fortan der Welt verborgen bleiben!" Er zwinkerte, als Ichi empört aufschnaubte. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, Ichi rücklings auf die Matratze zu dirigieren, sich ungeniert schadlos zu halten. ~+~+~* Möglicherweise hatten sie es ein klein wenig übertrieben, weil es so richtig gut lief und keiner mit der weißen Fahne wedeln wollte. Drei Runden Vollkontaktsport bei hoher Luftfeuchtigkeit forderten ihren Tribut. Während Ken Wasser holte, um drohender Austrocknung zu begegnen, versuchte Ichi vergeblich, auf die Beine zu kommen. Sie zitterten so stark, dass er einfach nicht aufstehen konnte! "Immer mit der Ruhe." Gab Ken gelassen vor, zog sich Ichi auf den Schoß, setzte bei ihm die Wasserflasche an. Er strich beruhigend über die bebenden Sehnen. Kein Wunder, dass es da noch zuckte! Immerhin hatte er alles gegeben, um Ichi eine richtige Orgasmuswelle zu verordnen! Der lehnte schwer an ihm, keuchte merklich. Da musste wohl der restliche Inhalt der Thermosflasche zum Einsatz kommen! Verblüffender Weise schluckte Ichi brav die Neige. "Bevor wir aufbrechen, müssen wir uns noch frisch machen." Gab Ken die Marschrichtung vor. Ungeniert hob er Ichi auf die Arme. Der bemühte sich um Unterstützung, zürnte sich selbst, weil seine Kondition ihn so schmählich im Stich ließ. In der Nasszelle bestand Ichi darauf, sich selbst abzureiben. Ken fand das durchaus vernünftig. Wer weiß, ob er nicht erneut der Versuchung zum Opfer gefallen wäre? Jetzt blieb nur noch das Problem der Haare, denn das Kunstwerk war völlig zerrupft! Wacklig, sich abstützend, entschied Ichi zunächst, was man überziehen konnte. Er prüfte mit grimmigem Blick die Qualität seiner Kleidung, wählte ein enges T-Shirt mit verblassendem Einhorn-Aufdruck, das einen großen Streifen Haut freiließ. Ken konnte mühsam die Frage unterdrücken, ob sich Ichi hinsichtlich der Größe sicher war. Dazu dieser komische Mandarinen-Farbton! Das Ensemble wirkte wie Ausschussware einer Billigproduktion. Wenigstens die Jeansshorts blieben gleich, auch wenn er das neckische Höschen mit den Kussmündern recht albern fand. Jetzt schien ihm eine Entschuldigung bezüglich der Flechtfrisur angezeigt, doch Ichi fädelte einfach einen schrill gefärbten Schnürsenkel um seinen Kopf. Wie ein mondänes Haarband, das gerade verhinderte, hinter der Mähne vollständig zu verschwinden. Wer Ichi von hinten sah, würde ihn zweifellos für ein sehr hübsches, schlankes Mädchen halten! Ken, der auf seine Bekleidung nicht sonderlich viel Engagement verschwendete, lüftete die Matratze aus. Er übertrug Pearl das Kommando. Als sie zu dritt am Fuße der Außentreppe standen, griff er selbstverständlich nach Ichis Rechter. Immerhin war der noch ein wenig Storch-beinig unterwegs, also reine Höflichkeit! Obwohl es Nachmittag war, ging es im Imbiss gewohnt hoch her. So viel Betrieb, dass Ken sich mit Ichi vor den winzigen Laden verfügte, im Stehen speiste. Ichi schien das zu erleichtern, weil es eine weitere Inquisition verhinderte. "Willst du mitkommen?" Erkundigte Ken sich, nachdem sie das benutzte Geschirr rein gereicht hatten. Sein Appartement hatte schließlich überhaupt keine Unterhaltungsmöglichkeiten zu bieten. "Bekommst du denn keinen Ärger?" "Nö." Versicherte Ken im Brustton der Überzeugung. Außerdem konnte er Ichi ja vielleicht zur ein oder anderen Handreichung überreden. Der Betrieb war äußerst faszinierend. Manche, die zufällig vorbeikamen, vergaßen glatt, was sie zu erwerben wünschten, weil sie das mechanische Treiben hoch über den Köpfen so in den Bann schlug! Ken zumindest hatte es mehr als jedes Fernsehprogramm gefesselt. Seine Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Ichi stellte zwar keine Fragen, verfolgte aber interessiert die Vorgänge, half unaufgefordert mit, Fächer und Laden zu bestücken, die Kassetten aufzufüllen. Ein sehr angenehmer Charakterzug, wie Ken konstatierte. So kam er selbst gut voran. Bis er in gewohnter Übung nach Mitternacht den kleinen Kalender umstellte. Der fiel kaum auf, weil so viel anderes bunt die Wände pflasterte. Er spitzte gerade unter Angeboten und Mitteilungen hervor. Es wäre ihm auch kaum bemerkenswert vorgekommen, hätte Ichi nicht für die kleinen Schütten am Tresen Nachschub abgestellt, einen Blick auf die Anzeige geworfen, daraufhin sämtliche Farbe im Gesicht verloren. "Entschuldige, die Toilette?" Ken wies den Weg, irritiert, blickte über die eigene Schulter nach dem, was Ichi so verändert haben konnte, bis ihm der Kalender endlich in die prüfenden Augen sprang. Er verriegelte die Anlage, suchte ebenfalls die Toilette auf. Dort kauerte Ichi im schwachen Licht einer Funzel, zitterte, presste beide Hände auf den Mund. Es sollte nichts entschlüpfen, was den gesamten, mageren Körper zum Erbeben brachte. Er wollte Ken beschwichtigen, verscheuchen, doch dazu hätte er einen verständlichen Satz herausbringen müssen. Bereits das Luftholen ähnelte einem krampfhaften Würgen. Ken hielt sich nicht mit Feinheiten auf. Er ging in die Hocke, zerrte recht grob die Knebel von Ichis Lippen, zwang ihn in seine Arme. Das gequälte Schluchzen war herzzerreißend. Ichi wehrte sich, ohne Aussicht auf Erfolg, weil im Rücken die Wand massiven Widerstand bot, an der Front Ken weder wich noch wankte, sondern ihn festhielt. Er summte tröstende Laute in das rechte Ohr, scherte sich um sonst nichts. Es dauerte, wie ihm schien, eine Ewigkeit, bis Ichi sich einigermaßen beruhigt hatte, nicht mehr so klang, als würde er gleich ersticken. Vorsichtig dirigierte er ihn aus dem winzigen Kämmerchen, ließ ihn im Lager auf dem Campinghocker Platz nehmen. So aufgelöst hatte er Ichi noch nicht gesehen. "Bleib hier, ja? Ich hole dir was zu trinken." Federte er aus der Hocke hoch. Danach müsste er wohl auch das Poloshirt wechseln, weil es ziemlich feucht an ihm klebte. ~+~+~* Ichi saß nicht auf dem Campinghocker, sondern wartete, als er vom Automaten zurückkehrte, Tee in Dosen apportiert, am Tresen. Er hätte vielleicht auch wieder die Arbeit aufgenommen, wäre ihm die Entriegelung bekannt gewesen. Oder das Zittern schon wieder unter Kontrolle. So kauerte er davor, umklammerte die eigenen Oberarme. Ken ging in die Hocke, überreichte eine Dose, dankbar dafür, dass gerade keine Kundschaft ihre Aufmerksamkeit beanspruchte. "Heute ist ein besonderer Tag, hm?" Stellte er seine Schlussfolgerungen vor. Ichi nippte an seinem Tee, die Mähne vors Gesicht geschüttelt. "Schätze, du hast wegen der Fieberattacke die Übersicht verloren." Setzte er fort. Unter der Mähne ertönte ein Schniefen. Ken schraubte sich hoch. "Ich mach mal wieder den Laden auf. Du hockst dich hinter den Tresen, ja? Sonst glauben die Leute, ich hätte dir was getan." Folgsam kam Ichi seiner Order nach, umklammerte die Dose, in sich zusammengekauert. Wie Ken aus den Augenwinkeln heraus befriedigt registrierte, ließ das unkontrollierte Zittern nach. Er wertete es auch als gutes Omen, dass Ichi seinen Kummer nicht allein im Lager austragen wollte. Er arbeitete ruhig weiter, entführte die leeren Dosen, um sie dem Rückgabeautomaten anzuvertrauen. Er drückte Ichi ein feuchtes Tuch in die Hände, um die Augen abzukühlen. Keine Frage, irgendwann musste der Druck ja mal entweichen. Allein mit Katze ohne Dach und Geld, immer auf der Hut, körperlich angeschlagen, das musste ein Ventil finden. Nur eine Frage der Zeit und eines Anlasses. Schließlich kam Ichi wieder auf die Beine, half stumm beim Auffüllen mit, bis ihm die zitternden Arme kraftlos herabsanken. Ken zog ihn in eine Umarmung. "Es ist gut, du hast genug getan." Raunte er leise. "Du hast mir sehr geholfen." Ichis Finger krallten sich in sein Ersatz-Hemd. Er räusperte sich gequält. "Heute~heute hat meine Mama Geburtstag." Presste er hervor, mit belegter, heiserer Stimme, aber den Worten eines Kindes. "Magst du sie anrufen?" Bot Ken tollkühn an. Ein Wehlaut entwischte Ichi, bevor er hörbar die Kiefer aufeinander malmte. "...ist gestorben...als ich Acht war... Leukämie..." Ichi schluchzte wieder, trocken, ohne Energie. Ken wiegte ihn behutsam, kraulte die Mähne, den verkrampften Rücken. "Das tut mir leid." Wisperte er. "Sie fehlt dir bestimmt sehr." Zumindest, wenn jemand in Ichis vermutetem Alter noch von "Mama" sprach. Er hielt Ichi so lange, bis jemand durch die pneumatischen Schiebetüren trat. Reflexartig wandte Ichi sich ab, ging hinter dem Tresen auf Tauchstation. Ken ließ sich nichts anmerken, wartete, bis der Kunde bedient war, gezahlt hatte. Er kauerte sich zu Ichi. "Weißt du was? Wir gehen nachher zum Schrein. Da bringst du deine Mama auf den neuesten Stand." Vielleicht nicht die brillanteste Idee, aber aus seiner Sicht vernünftig. Irgendwas blieb ja hängen. Dort hatte man quasi das Vermittlungsamt par excellence, wenn man über die Sphärengrenzen Austausch pflegen wollte! Außerdem fühlte er sich selbst ganz egoistisch besser, wenn er etwas unternehmen konnte. Durch die wirren Strähnen konnte er Ichis schwarze Augen blinzeln sehen. "So wird's gemacht!" Verkündete Ken selbstherrlich, tauchte wieder auf. Ichi würde es bestimmt auch helfen, hoffte er. ~+~+~* "Geht's so? Halt dich gut fest!" Ken trat in die Pedalen, schob entschieden den Lutscher in die andere Backe. Er hatte lieber ein Fahrrad geliehen, als den Weg zum Schrein zu Fuß anzutreten. Immerhin stand ja noch das Frühstück aus. Ichi schien zu angeschlagen, um gleich so gewaltige Strecken nach einem so langen Tag zurückzulegen. Ebenfalls einen Lutscher abschmirgelnd schmiegte sich Ichi auf dem Gepäckträger an ihn an. Sie wirkten wie ein recht eiliges Pärchen auf dem Weg zum Bahnhof. Ken strampelte jedoch in die andere Richtung, wählte weniger belebte Gassen und Straßen. Wenn dort Autos, Menschen, Fahrräder und Motorroller die Rushhour starteten, wäre das Gedränge gegen den Strom lästig. Vor dem Schrein-Gelände stellte er das Fahrrad ab, schloss es an. Glücklicherweise waren die kostenfreien Plätze noch nicht vollständig belegt. Er nahm Ichi an der Hand, der etwas wacklig folgte. Ein Gepäckträger fungierte nicht gerade als bequemer Herrenbeschleuniger! Sie reinigten sich brav Hände und Mund, hielten auf den Schrein zu. Glockenstrang ziehen, zweimal in die Hände klatschen. Ken beschränkte sich immer auf simple Botschaften an Götter, Geisteswesen oder wer auch immer da am anderen Ende des "Rohrs" lauschte. "Danke, dass es mir gut geht und ich gern lebe. Wenn möglich, wünsche ich mir, dass es allen anderen genauso geht." Ein bisschen wollte er im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten auch dazu beitragen, keine Frage! Bloß global, bei ganzen Milliarden, fand er, wäre eine gewisse Super-Power durchaus vonnöten. Ichi neben ihm bewegte lautlos die Lippen. Unter der Mähne tropften wieder Tränen auf die blank polierten Steinfliesen. Seine Schultern zuckten. Anderer früher Besuch näherte sich schon. Ken zog Ichi in seine Arme, an die Seite, damit sie den Schrein nicht blockierten. Er summte tröstend in Ichis rechtes Ohr, ignorierte die neugierigen Blicke. Üblicherweise ließ man hier nicht gerade seinen Gefühlen freien Lauf. Wenn Ichi tatsächlich seiner Mama geschildert hatte, was ihm in der letzten Zeit so passiert war, konnte er sich vorstellen, dass Kummer aufkam. Behutsam lenkte er ihre Schritte zum Wasserbecken, spülte Ichis Hände und Handgelenke kalt ab, tränkte sein Taschentuch, tupfte Ichi über das verheerte Gesicht. "Besser." Stellte er fest. Natürlich gab es auch einen Opferstock, Zettel für eine Wand, dazu allerlei aus Schrein-Beständen zu kaufen. Er ließ ein paar Münzen fallen, reichte Ichi einen Papierstreifen, damit der eine Botschaft aufzeichnen konnte. Unterdessen kaufte er süße Kekse, die man eigentlich zur Teezeremonie reichte. Nachdem Ichi den Papierstreifen an einem Querholm befestigt hatte, wo viele andere Bitten, Nachrichten und Dankesworte hingen, nahm er ihn bei der Hand, teilte Kekse aus, während er durch den kleinen, sehr gepflegten Park Richtung Ausgangstor marschierte. "Die Familie eines Freundes von mir betreut den Schrein hier." Erklärte er. "Alles selbst gemacht, was man kaufen kann." Sie befanden sich also im Schrein seines Vertrauens! Ken löste das Fahrrad aus, inspizierte Ichis Erscheinungsbild. "Schaffst du es bis zum Imbiss? Oder sollen wir laufen?" "Geht schon." Murmelte Ichi, tupfte sich mit dem abtrocknenden Taschentuch über die Wangen. "Gut, dann wollen wir mal." Gab Ken die Order aus. Immerhin musste er jetzt dringend mehr als Lolli und Kekse nachlegen, um seinen grummelnden Magen zu bezähmen! ~+~+~* Natürlich erkannten die Seniorinnen sofort, dass Ichi Kummer hatte. Prompt bekam er ein Sitzplätzchen aufgenötigt, wurde ihm die Hand gestreichelt, gleich ein Zaubermittel zum Trinken serviert. Kens Idee, dem Schrein eine Stippvisite abzustatten, bekam Beifall. Kenny hatte sich ja immer schon als gar nicht so dumm herausgestellt! Auch wenn viele junge Leute heutzutage das ja alles als alten Spinnerkram abtaten! Ken hatte seine eigenen Vorstellungen. Auf viele Dinge konnte man so oder so sehen. Was half, was gut tat, dem zollte er Respekt. Jetzt gerade war er auch dankbar für die Omas, die Lebenserfahrung hatten, wussten, wie man Ichi trösten konnte. Die ihn dazu brachten, etwas zu essen, nicht mehr so elend drein zu blicken. Mit Pearls Anteil ausgestattet verließen sie Hand in Hand den Imbiss. Ken steuerte auf der anderen Seite das Fahrrad an. Vor dem Markt gab er es zurück, spazierte mit Ichi zu seiner Unterkunft. Sie waren später dran als gewöhnlich, aber Pearl führte keine Klage, sondern schmuste ausgiebig mit Ichi, als ahnte sie, welchen Kummer der zu kompensieren hatte. Unterdessen sammelte Ken die Matratze ein, streifte sich die Kleider ab. Ichi tat es ihm nach, zögernd, kaum unter seiner Mähne hervor blinzelnd. Klar, das Geld im Opferstock, die Mahlzeiten, Tee, Kekse... Ken rollte sich auf den Rücken, zog Ichi auf sich, streichelte mit der Linken durch Ichis schwere Strähnen, während die Rechte den verkrümmten Rücken massierte. Er hoffte, dass seine Herztöne Ichi in den Schlaf lullten. Sie waren beide erschöpft, hatten eine Auszeit nur zu nötig! ~+~+~* Pearl stupste ihm die Nase mit einer Pfote. Ken drehte den Kopf, inspizierte das Katzengesicht. Ein aufforderndes Maunzen. "Hmm." Konstatierte er, rieb sich das Gesicht, rappelte sich auf. Hatte die Katzenleiter versagt? Nein, keineswegs, vielmehr verhinderte Pearl gerade, dass er zu spät zur Arbeit kam! "Ichi!" Er beugte sich herunter, küsste eine freigelegte Wange. "Ich muss los!" Verflixt, verflixt, verflixt! Rasch fischte er sich Kleider heran, wühlte durch den Schopf, angelte automatisch einen Zahnstocher. "Ich lasse dir Geld da, ja? Bis später!" Schon hastete er eilig die Außentreppe herunter. ~+~+~* Ken ignorierte seinen Magen, der gern ein Frühstück verkostet hätte, sich gar nicht darauf vertrösten ließ, dass er bis dahin mit Lutschbonbons ruhiggestellt werden sollte. Erst NACH der Schicht richtige Nahrung?! Doch so weit kam es gar nicht, weil Ichi mit Bento-Box eintraf, das blasse Gesicht noch immer hinter der Mähne verborgen, nicht mal mit Schnürsenkel gebändigt. "Iss etwas, ich vertrete dich so lange." Eigentlich ein Unding, aber Ken vertraute Ichi, tauschte sogar mit ihm das Polo-Shirt. Er verschwand im Lager, polsterte mit dem Inhalt der Bento-Box den Gürteläquator aus. Anschließend beobachtete er Ichi einige Augenblicke heimlich, bevor er wieder in Erscheinung trat. "Du machst das gut." Lobte er aufrichtig. Ichi schlüpfte aus dem Polo-Shirt. "Ich hab zugesehen." Gab er knapp zurück. "Willst du nicht hier arbeiten? Mein Großonkel sucht Leute." Gefährlich, so direkt auf das Ziel zuzusteuern, aber wer nicht wagte, hatte schon verloren! Überrascht blickte Ichi ihn an. "Aber ich habe keine Zeugnisse." Wandte er ein. "Keinen Lebenslauf." Was Ken nicht weiter kümmerte. "Du bist zuverlässig, kannst gut mit der Anlage umgehen, hast allein vom Zusehen viel verstanden. Der Papierkram ist nicht wichtig." Was nützten auch die besten Noten, wenn jemand einfach kein Engagement mitbrachte? "Überleg's dir." Schlug er vor. Ichi rieb sich über die Stirn. "Du weißt schon, dass ich links nichts höre?!" Erinnerte er beherrscht. Auch keine unüberwindbare Schwierigkeit für Ken. "Wir können ein Hörgerät besorgen. Der Cousin von meinem Kumpel hat einen quasi angeheirateten Onkel, der auf beiden Ohren taub ist..." Weiter kam er nicht, weil Ichi explodierte. "Sag mal, kapierst du es nicht?! Einer wie ich bekommt keine normalen Jobs!" Ken rotierte den Zahnstocher nachdenklich. "Warum nicht?" Erkundigte er sich höflich. "Was denkst du wohl?!" Fauchte Ichi, die Hände in die schmalen Hüften gestemmt. "Weil ich Abfall bin, deshalb!" "Abfall von was?" Hier war Präzision gefragt. Ichi zischte zornig. "Gesellschaft?! Menschheit?! Sitte und Anstand?!" Ken studierte Ichi, ignorierte das aufgebrachte Brodeln. "Das begreife ich nicht." Konkludierte er endlich gelassen. "Du verhältst dich doch wie alle anderen hier?" "Aber das zählt nicht!" Protestierte Ichi zornig. "Bist du blöd, oder was?!" "Sieht so aus." Pflichtete Ken ihm bei, während der Zahnstocher rotierte. "Ich meine, du schläfst, isst, arbeitest, kümmerst dich um Pearl. Absolut normal, oder nicht?" "Aber ich trage Mädchen-Klamotten! Habe lange Haare!" Ken schmunzelte leicht. "Versteckst jetzt leider deine schönen Nippel. Juulio war von deinem Schopf begeistert. Den Omas hat sogar das komische Einhorn-T-Shirt gefallen." Ichi starrte ihn an, die Fäuste geballt. "Ich lass mich von Typen in den Arsch ficken!" Ja, das musste ja kommen, quasi der argumentative Todesstoß. Ken zupfte sicherheitshalber den Zahnstocher ab. "Wird dich überraschen, aber das kommt häufiger vor. Ich schätze eine solche Neigung sehr, ganz persönlich." Ichi fegte heran, der Worte ledig, musste detonieren, kam sich nicht ernst genommen vor. Dabei nahm Ken ihn durchaus für voll. Er hielt es jedoch für angezeigt, gewisse "Pfeiler" der Gesellschaft geradezurücken, die da hießen, dass ein hübscher Junge in Mädchenkleidern keinen Job bei seinem Großonkel bekommen sollte. Er fing Ichis Fäuste mühelos ab, verwandelte die Attacke in einen pas de deux, bis Ichi schließlich schnaubend aufgab. "Denk drüber nach, ja?" "Pah!" Grollte Ichi, machte sich los. "Ich füll die Kassetten nach, im Lager!" Zischte er, machte auf den flachen Absätzen der Sandalen kehrt. Ken schob sich den Zahnstocher wieder in den Mundwinkel, lächelte. Wenn Ichis Kampfgeist zurückkam, hatte der Kummer den Rückzug angetreten! ~+~+~* Ken spülte rasch die Bento-Box aus, während Ichi brav den Personalbogen mit Zeichen füllte. Natürlich konnte er die Möglichkeit auf einen bezahlten Job nicht sausen lassen! Triumph war jedoch nicht angezeigt, das beherzigte Ken selbstverständlich, aber er beugte sich ungeniert über das Papier. "Du bist erst 19?!" Stellte er dabei verblüfft fest. "Was soll das denn heißen?!" Zischte Ichi zurück. "Für wie alt hast du mich denn gehalten?!" Ken zuckte mit den Schultern. "Na, etwa so wie ich und nicht fünf Jahre jünger." Gab er sich gelassen. "Du bist schon 24?! Das kann ja wohl nicht sein!" Protestierte Ichi nun ungläubig, was Ken ein Grinsen entlockte. "Jung im Herzen!" Neckte er Ichi. "Gerade mal Kindergarten!" Konterte der bissig. Weil Kens Großonkel dazu trat, wich er aber hastig zurück. Schmunzelnd kaperte Ken Ichis Rechte, las den Trolley mit der Linken auf. Wenn schon zum Imbiss unterwegs konnte er auch ein paar Auslieferungen auf dem Weg in Angriff nehmen, Ichi dort vorstellen, wo der noch nicht bekannt war, sondern nur ein lebhaftes Gerücht. Er erwartete beinahe, dass Ichi ihm die Hand entzog, doch der hielt still. "Du bist echt ein komischer Kauz." Lautete das Urteil nach einer Weile. Ken lächelte. Mit dem finalen Urteil konnte er sehr gut leben. ~+~+~* Auf dem Heimweg setzte der morgendliche Regen ein, nicht durchdringend, aber ohne Unterbrechung. "Sparen wir uns die Dusche." Kommentierte Ken, der sich guter Laune erfreute. Gut gefrühstückt nach einem langen Arbeitstag (vielmehr Nacht), dazu einen Kollegen gewonnen: das Leben war doch herrlich! Ichi warf ihm einen kryptischen Blick zu, rief nach Pearl. Die kleine Katze spritzte heran, ließ sich herzen, verteilte Wasser von ihrem Pelz auf die ohnehin feuchten Kleider. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hoch. Ichi reichte sofort das Katzenfrühstück an, füllte frisches Wasser nach. "Zieh dich besser aus." Bemerkte Ken, die Matratze bergend. "Die Omas sagen, es kühlt etwas ab." Er wartete auf den Moment, wo Ichi ihm entgegnete, dass er nicht mehr mit seinem Körper zu "bezahlen" wünschte, weil er ein Einkommen hatte, das Katzenfutter finanzierte. Ichi streifte sich tatsächlich die Kleider ab, streckte Ken auffordernd die Hand entgegen. "Los, gib mir deine Sachen auch, damit ich sie aufhängen kann." Also hieß es, selbst blankziehen, schon mal Präparationen für das Aufwachen zu treffen. Ken kraulte Pearl, die ihre Mahlzeit säuberlich beendet hatte, nun auf ihrem Kissen die Honneurs abhielt. Er sah auf, als Ichi wieder eintrat. "Wird wirklich frisch!" Bekundete Ichi, rieb sich die blanken Oberarme. Die Linke ausgestreckt richtete Ken sich auf. "Komm, mir ist noch ausreichend warm." Er war sicher, dass er die eine oder andere Methode kannte, auch Ichi so richtig einzuheizen. ~+~+~* Dieses Mal verschlief Ken nicht, sondern wachte gemütlich von selbst auf. Die kleine Glocke auf der Veranda klingelte leise, was Luftbewegung bedeutete. Pearl marschierte dreibeinig auf seinen Brustkorb, ließ sich auf eine Kuschelrunde ein. Ihre Neckerei weckte Ichi, der sich aufsetzte, wenigstens das rechte Ohr freilegte, die schweren Strähnen verbannte. "Guten Morgen." Grüßte Ken, ließ Pearl entschlüpfen, damit Ichi auch einen Schmuseanteil abbekam. "Wie fühlst du dich?" Immerhin, das sollte nicht verschwiegen werden, hatten sie zwei ausgiebige Runden absolviert, wobei er es einfach liebte, Ichi auf seinem Schoß zu balancieren, ihn zu küssen, während er ihn penetrierte. Ichi seufzte leise, funkelte ihn an, offenbarte auch die linke Gesichtshälfte. "Du bist ein durchtriebener Halunke." Ließ er Ken wissen. "Aha?" Ichi hob das spitze Kinn an. "Jetzt tu nicht so ahnungslos! Du hattest nie die Absicht, mich zu ficken!" Pearl maunzte beunruhigt. Ken streckte die Linke aus, streichelte das buntscheckige Fell besänftigend. Dabei blickte er Ichi unverwandt an. "Ich hab nicht den Eindruck, dass du gefickt werden willst." Er setzte sich auf. "Das ist nicht fair!" Beklagte Ichi sich heiser, den Blick gesenkt. Ken raufte sich kurz die wollige Schädelbedeckung. "Stimmt schon." Gestand er freimütig ein. "Wie hätte ich Pearl sonst erobern können?" Ein aufgebrachter Blick spießte ihn auf, doch Ken zwinkerte bloß. Daraufhin wurde ein Sitzkissen geschwungen, ihm eine Lektion zu erteilen. Ken ließ sich lachend auf den Rücken fallen, fing den verhinderten Attentäter ab, absolvierte eine geschmeidige Rolle. Ichi schnaubte und zischte wie ein alter Dampfkessel. "Warum?!" Ken lächelte. "Also, das schwarze Wollungeheuer hat mich einen Moment abgeschreckt." Neckte er. "Aber ich war schon sehr interessiert." Ichi starrte ihn ungläubig an. "Aber~aber ich hab furchtbar ausgesehen!" "Nur äußerlich." Konterte Ken schmunzelnd. Er konnte die inneren Kämpfe sehen. Ichi wollte sich nicht einlassen, mutmaßte jedoch, dass es schon zu spät war. Pearl mischte sich ein, rieb ihren Kopf an Kens Wange. "Ich glaube, wir bekommen hier den Marschbefehl." Übersetzte er großzügig. Dass Pearl nicht floh oder verschreckt reagierte, bestätigte ihm seine Wahrnehmung: sie hielt ihn nicht für eine Bedrohung. Er setzte sich auf, gab Ichi frei, der ihn noch immer betrachtete, frustriert grummelte. "Ehrlich, ich habe keine Ahnung, wie du tickst!" Ken, den obligatorischen Zahnstocher eingesetzt, zwinkerte. DAS hatte er schon des Öfteren gehört! ~+~+~* Hand in Hand schlenderten sie zum Imbiss. Ichi hatte sich ein Kopftuch umgebunden, das seine schweren Strähnen auf den Rücken verbannte. Er trug wegen des auffrischenden Wetters Leggins und ein schmales Hängerchen mit Puffärmeln. Ken entschied für sich, dass sie für Ichi wärmere Kleider benötigen würden. Er kam ja mit seinen Sachen gut aus, aber das Sammelsurium in Ichis Portfolio genügte keinesfalls! Kaum hatten sie die Omas begrüßt, stürmte tatsächlich Juulio herein! "Endlich! Seht euch das an, Kinder!" Dabei wedelte er ein Magazin durch die Luft, in welchem ein Foto prangte. "Pretty Bad-Ass Beauty!" Letterte die Überschrift, darunter Juulios Salon als Quelle der Aufnahme. "Dein Hinterkopf ist berühmt." Dolmetschte Ken grinsend, während Ichi verblüfft die Aufnahme studierte. Ja, er hatte Juulio einen Schnappschuss zugestanden, warum auch nicht? Der hatte eben die berühmte Sanrio-Katze im Los Muertos-Look als Schmuckkamm in der Flechtfrisur befestigt. Dass man das Gesamtkunstwerk aber in einem Szenemagazin publizierte, wer hätte das ahnen können?! "Oh, ich habe noch eine Menge Ideen, mein Süßer! Dein Schopf ist einfach perfekt!" Juulio schwebte förmlich trotz Plateausohlen über der Erde. "Lass dich die Tage bei mir blicken, ja, da probieren wir was Neues aus!" Solcherart in die Enge getrieben blieb Ichi gar nichts anderes übrig als zuzustimmen. Ken grinste unterdessen amüsiert über die "Hinterkopf-Berühmtheit. "Ich muss gleich schauen, ob wir das Magazin auch führen. Mein Großonkel wird die Aufnahme bestimmt aushängen." "Wieso?!" Erkundigte sich Ichi verunsichert. "Na, weil du hintenrum berühmt bist! Und im Markt arbeitest." Neckte Ken ihn mit großem Ernst. "Nicht 'hintenrum'! Bloß die Frisur!" Protestierte Ichi errötend. Ken feixte, schwenkte ihre verbundenen Hände ausgelassen. "Ist doch prima, oder? Pearl wird staunen, wenn du ihr das erzählst!" Auch wenn es die kleine Katze vermutlich nicht sonderlich kümmerte, was Menschen gerade für herausragend hielten. "Du~du Spinner!" Hielt Ichi ihm vor, verlegene Röte auf den Wangen. Ken rotierte den Zahnstocher agitiert. Ichi war einfach süß! "Ich will deinen Ausweis sehen!" Grummelte er neben ihm finster. "Du bist NIEMALS fünf Jahre älter als ich!" Ken lachte laut auf. "Los!" Zog er an Ichis Hand. "Lass uns zum Markt laufen!" Er fühlte sich mehr als hochgestimmt, weil sein Leben gerade spitzenmäßig-perfekt war! ~+~+~* Pearl spazierte lautlos über die Deckenausläufer, beäugte prüfend die beiden süßen Schläfer. Aneinander geschmiegt, was sinnvoll war, so ohne Fell! Kens wollige Tolle verlockte sie zwar, wieder dieses herrliche, statische Knistern zu erzeugen, aber rücksichtsvoll nahm sie davon Abstand. Ihr gefiel, dass Ichi entspannt war, fröhlich wirkte. Kein Streit, keine Prügel, keine heimtückischen Attacken aus dem Nichts. Ken, fand sie, war einer, den man behalten konnte. Der die richtigen Prioritäten setzte: essen, schlafen, kuscheln, eigene Abenteuer, jenseits des Dschungels. Ichi mochte ihn auch. Bloß, wenn man sich mal geirrt hatte, ließ man sich nicht mehr so einfach ein. Manche tarnten sich auch, täuschten, lockten in eine Falle! Aber Ken war keiner von denen. Der sich gerade aufrichtete, den Kopf auf einen Arm aufstützte, einen Finger auf die Lippen legte, ihr verschwörerisch zuzwinkerte, Ichi betrachtete, ganz still und gelassen. Pearl richtete sich gemütlich auf ihrem Kissen ein. Jetzt konnte sie ein wenig Augenpflege betreiben, denn für Ichi war ja gesorgt! ~+~+~* [Mehr zu Ken, Ichi und Pearl in "Zuhause" und "Merry-go-round"] Kapitel 23 Natsumu reckte das Kinn extra hoch, als er den Waschraum am alten Ost-Ausgang des Bahnhofs betrat, blickte weder rechts noch links, bis er den hinteren Bereich der Kabinen absolviert hatte. [Letzte Kabine] Lautete die Anweisung. Die Tür war angelehnt, somit die Kabine nicht in Benutzung. Selbstbewusst betrat er sie, verriegelte rasch hinter sich, verwünschte das hastige Aufatmen oder die klammen Handflächen. Wie blöd war das denn?! Als ob er ein verschrecktes Häschen war, das eine Mutprobe zu absolvieren hatte! Total dämlich! Eigentlich sollte er vor Erwartung und Vorfreude beinahe platzen! Endlich würde ES passieren! "Delicate Man" würde ihn treffen, höchstpersönlich, von Mann zu Mann. Genau das, was er wollte, was er sich so lange ausgemalt hatte! Nun ja, fast, beinahe zumindest, mit den Details, die er kannte. Es galt keine Zeit zu verlieren. Er stellte seine Umhängetasche ab, schlüpfte aus dem Schul-Blazer, hängte ihn an den Haken, registrierte das nervöse Kribbeln, das seine Brustwarzen sichtbar durch den dünnen Stoff des Hemdes drückte. Schon mal kein schlechtes Omen. Hosentaschen leeren, um Fallobst zu verhindern, zum Blazer an den Haken! Unterhose runter (er hatte extra zwei neue Garnituren gekauft). Der Stick, an den er sich schon gewöhnt hatte, ja, es sogar mochte, wenn das Gel sich in seinem Anus verteilte. Außer dem praktischen Stick und den Kondomen hatte er nichts eingesteckt, zur Sicherheit. Beides wirkte unauffällig, war von ihm zusätzlich noch in ein gewöhnlich wirkendes Kosmetiktäschchen verstaut worden. Ein nervöser Schauer stellte seine Körperhärchen auf, als die Tür neben seiner Kabine geschlossen wurde. Das hatte nichts zu bedeuten. Sein Mobiltelefon zeigte noch keine neue Meldung an. "Delicate Mans" Anweisungen waren unmissverständlich gewesen: er sollte nur die Tür entriegeln, wenn er direkt die Mitteilung erhielt. Somit hieß es für Natsumu warten. ~+~+~* Richtig angefangen hatte es im vergangenen Herbst. Stürme, Regen, deprimierende Stimmung, dauernd pauken, jeder Tag eine öde Routine, ein Alltag, der nur kleine Fluchten erlaubte. Irgendwie funktionierte es nicht richtig. Die anderen trafen sich manchmal in Karaoke-Läden oder in einem Game-Center, drehten richtig auf, wenn die Chance bestand, Mädchen zu beeindrucken. Natürlich nicht die von der eigenen Schule, bewahre! Die kannten einen ja schließlich im Alltag. Da konnte man nur auf die Nase fallen. Natsumu interessierte sich nicht für Mädchen oder Frauen. Das half ihm nicht gerade in dieser deprimierenden Eintönigkeit seines Alltags. Klar, eigentlich sollte er überhaupt keine Muße haben, über so etwas nachzudenken! Es gab viel Wichtigeres im Leben! Gute Noten, hoher Durchschnitt, damit man auch ja auf eine Top-Universität kam. »Klar!« Dachte Natsumu heimlich. »Später versauert man in befristeten Jobs in einem Großraumbüro!« Wurde "Humankapital" oder "unbedingt zu reduzierender Kostenfaktor". Mit damals noch 14 Jahren KONNTE man sich nicht auf eine gar nicht verlockende Zukunft als gesichtsloser Angestellter konzentrieren! Andererseits riet ihm sein Selbsterhaltungstrieb, nicht mit seiner Disposition hausieren zu gehen. Zumindest nicht da, wo sich sein Alltag abspielte. Wenn seine Klassenkameraden schon nicht die Mädchen der eigenen Schule anmachen wollten, galt das erst recht für ihn selbst. Außerdem, das stand für ihn fest, waren die Typen, die er seit Ewigkeiten kannte, geschlechtslos, Kumpels eben, mit denen man sich arrangierte, weil man den ganzen Tag, sechs Mal die Woche, mit ihnen eingepfercht büffeln musste. Frustriert und gelangweilt hatte er sich in einem Forum herumgetrieben, wo man anonym darüber sprechen konnte, wie es war, schwul zu sein. Oder wenigstens nicht auf Mädchen abzufahren. Zunächst hatte er bloß mitgelesen, sich informiert, wenn man so wollte. Die Moderation achtete streng darauf, dass nicht gemobbt wurde, von anderen Auswüchsen ganz zu schweigen. Es ging um Praktisches, Alltägliches, aber auch um Bedürfnisse, geheime Sehnsüchte. Man konnte sich unterhalten. So hatte er "Delicate Man" kennen gelernt, der "zuhörte", ihn aufmunterte, seine Fragen beantwortete, ihm diese neue, andere Welt erklärte. Immer öfter hatten sie sich "privat" ausgetauscht, nicht mehr über das allgemeine Board. Natsumu bewunderte "Delicate Man", weil der sich auskannte, ihn anleitete, ihm sogar die Utensilien anonym zusandte, die ein Jugendlicher nicht so einfach bekommen konnte. Alles schön verschwörerisch, über Schließfächer und Nachrichten wie bei einer Schnitzeljagd. Natsumu schickte dafür Bilder. "Delicate Man" musste ja wissen, ob er das auch richtig machte! Mit dem Nippelvibrator, dem Dildo, dem Cockring oder dem Stick für das Gleitgel. Er selbst besaß Aufnahmen von "Delicate Mans" Händen, dessen erigiertem Penis und der Brustpartie. Alles ohne Gesicht, klare Sache, das hielten sie beide so, nur zur Sicherheit. Sie telefonierten auch miteinander. Natsumu mochte die dunkle Männerstimme, die ihm Anweisungen gab, damit er das, was "Delicate Man" ihm zugesandt hatte, auch ausprobieren konnte, Codes für einschlägige Seiten mit Aufnahmen oder Porno-Filmen. Das gefiel Natsumu durchaus, weil er ja nun wirklich keine Ahnung hatte, aber sich in seiner Selbstwahrnehmung bestätigt fand! Zudem gab "Delicate Man" ihm auch Tipps, was sein Erscheinungsbild betraf, welche Frisur ihm gut stand. Wie er seine Fingernägel pflegen sollte, was wichtig war, und die Fußnägel, weil es ihn geil machte, an den Zehen zu lutschen! Dass man nicht nur Lippen mit Pflegestift behandeln sollte, sondern auch die zarte Haut der Brustwarzen. Auch die Sache mit dem Klistier hatten sie geübt, quasi gemeinsam. Mobiltelefone waren diesbezüglich ein unverzichtbares Werkzeug! Natsumu war es, der gedrängelt hatte, der ES endlich wollte. Seine Erwartungen waren eben so angestiegen über die Zeit ihres Austauschs, dass er ENDLICH einen richtigen Schwanz spüren wollte! Wozu abwarten, wozu sonst die ganzen (feuchten) Trockenübungen?! Er hatte gebettelt, immer wieder, sich nicht abschrecken lassen von den Schwierigkeiten. Klar, sie konnten nicht einfach in ein Love Hotel gehen oder in ein Ausgehviertel für Schwule! Dazu, das sah Natsumu ja auch ein, konnte man ihm einfach ANSEHEN, dass er minderjährig war. Mittelschüler hatten in solchen Gebieten oder Etablissements nichts zu suchen, den Ärger halste man sich nicht auf! In der Privatwohnung ging es auch nicht, da gab es Nachbarschaft und Pfortenpersonal. Deshalb hatte Natsumu, nachdem er schon verzweifelt das Board durchsucht hatte, diesen Treffpunkt vorgeschlagen. Wegen der Phantasien, die manche veröffentlichten. Außerdem, das verblüffte ihn noch immer, gab es diesen Ort ja tatsächlich! Gar nicht mal weitab von seinem normalen Schulweg, sodass er seine Anwesenheit hier auch mühelos erklären konnte. Deshalb prinzipiell die perfekte Örtlichkeit. Zugegeben, mit Romantik hatte das "Plumpsklo" nichts gemein, auch wenn es sauber war, aber eben alt, abgeschabt und nicht sonderlich bequem. Andererseits würde es ja auch um Sex gehen, und nichts anderes. Also genau das, was Natsumu wollte! ~+~+~* Da! Auf dem Display kam endlich die ersehnte Nachricht: [öffne bitte] Natsumu fegte förmlich herum, entriegelte eilig. Der Mann, der zu ihm schlüpfte, wirkte kleiner, als Natsumu erwartet hatte, auch nicht ganz so muskulös-stattlich, eher sehnig. Regenjacke, Jeans, Rollkragenpullover, gedeckte Farben, Schiebermütze. Unauffällig. "Freut mich, dich endlich zu sehen." Die Stimme hörte sich jedoch vertraut an. Natsumu lächelte, vergaß den Umstand, dass er nur in Hemd, Socken und College-Slippern vor "Delicate Man" stand. Er zögerte kurz, verneigte sich höflich, zwinkerte unter den langen Strähnen hervor. "Ich bin in Ihrer Obhut." Formulierte er die Standardphrase. "Delicate Mans" Hand glitt langsam über seine Wange, die Kehle, öffnete das Hemd, um dort nach unten zu gleiten bis zu Natsumus merklicher Erektion. "Perfekt." Wisperte "Delicate Man". Das stufte Natsumu als sehr vielversprechenden Anfang ein. Erwartungsvoll folgte er auch der Anweisung, sich umzudrehen, an den Kacheln abzustützen, den Mund auf den Unterarm zu pressen, damit sie nicht zu laut wurden. »Endlich!« Frohlockte er. »Endlich passiert's!« Hinter sich hörte er trotz der grässlichen Uralt-Musik aus den Lautsprechern (Enka! Urgh!), wie Reißverschlusszähne getrennt wurden, Stoff hinunterglitt. Leises Stöhnen, vermutlich Handarbeit, damit sie gleich zur Sachen kommen konnten. "Hast du den Stick benutzt?" Natsumu nickte eifrig, leckte sich über die Lippen, bevor er wieder artig den Mund auf den Unterarm legte. Die Hand, die seine Erektion umschloss, fühlte sich schon mal sehr gut an, stellte er fest. Auch die Hitze, die die fremde Haut ausstrahlte, mochte er, denn irgendwie kam es ihm doch frisch vor, so untenrum. Er begab sich in einen leichten Katzenbuckel, folgsam jede Aufforderung umsetzend. Dann war er da, "Delicate Mans" Schwanz! Natsumu schloss die Augen, atmete pfeifend durch die Nasenflügel und hoffte auf ein richtig geiles Hochgefühl! ~+~+~* Hatte man's mal gemacht, fühlte man sich schon anders, grenzte sich klar von denen ab, die es nicht getan hatten. Außerdem bewies sich die These von der Übung, die den Meister macht. WENN man denn dazu kam! Ein halbes Dutzend Mal hatten sie sich bisher getroffen, immer im Waschraum, in der hintersten Kabine. "Delicate Man" hatte ihn von hinten gevögelt, längstens eine halbe Stunde Aufenthalt. Er war zuerst raus gestiefelt, während Natsumu die Order hatte, sich sauberzumachen, frühestens fünf Minuten danach raus zu schlüpfen. So weit, so lala. "Gut" wäre es vermutlich gewesen, wenn er nicht aus Langeweile auf dem Board unterwegs gewesen wäre, weil es so stickig und schwül war, er nicht schlafen konnte, den lästigen Schulstress abstreifen wollte. Dann hätte er diesen Link nicht entdeckt, wäre nicht auf IHN gestoßen, seinen "Vorgänger", sein "Lookalike". Ein Porno-Häschen aus den frühen Achtzigern, sehr helle Haut, schlank, DIE Frisur mit den langen Strähnen und Pony, die "Delicate Man" ihm ans Herz gelegt hatte. Jetzt sah er aus wie dieser verdammte Porno-Darsteller! Was ja passte, wenn man sich die Phantasien und das vermutliche Alter von "Delicate Man" vor Augen rief. Mal ehrlich! Dessen altmodische Vorlieben, die vermutlich noch auf vererbten VHS-Kassetten beruhten! Natsumu grollte, weil er sich nach wütender Suche über mehr Details, mehr Aufnahmen, mehr Informationen über diesen ANDEREN wie eine Marionette fühlte, einen Ableger, den man sich wortwörtlich er-zogen hatte! "Delicate Man" vögelte seinen Phantasie-Bubi, der jetzt schon im erheblich fortgeschrittenen Alter sein musste! Gut, es war nur Sex, schon verstanden, aber...! Natsumu hielt die ganze Situation dennoch für eine vorsätzliche Täuschung. Seine Bedürfnisse wurden hier gar nicht gewürdigt! Wobei er die noch nicht bis ins letzte Detail kannte, aber trotzdem! Gegen einen älteren Partner hatte er ja gar nichts einzuwenden, aber "Delicate Man" ließ in seinen Augen mittlerweile erheblich zu wünschen übrig. Das, fand Natsumu, musste geklärt werden. Aber "Delicate Man" hatte ihm abgesagt. Natsumu schnaubte. Andererseits hörte er durchaus die Durchsagen mit der Unterbrechung wegen des Starkregens, aus Sicherheitsgründen. Ärgerlich und enttäuscht wischte Natsumu sich grob über die Kehrseite, bekleidete sich vollständig. Zu Hause wäre ohnehin ein ausgiebiges Bad fällig, da bei dem Wetter kein Schirm half. Grummelnd zog er den Kopf zwischen die Schultern, schwitzte sofort unter der durchsichtigen Regenjacke. Hemd und Pullunder klebten ihm am Leib, die Hosenbeine sogen sich bereits mit Regen voll, von seinen College-Slippern ganz zu schweigen. Der hohe Kunststoffanteil sorgte dafür, dass sie auch rasch trockneten, wenn da nicht die tropfnassen Socken wären. Die Kapuze verklebte sich mit seinen langen Strähnen, als er vom Bahnhof weg den Heimweg antrat. Na klar, den Bus hatte er auch verpasst! Warten konnte er sich sparen, da drängten sich schon andere in ganzen Trauben. Lief er eben, kam ja nicht darauf an! Zudem konnte er einige Abkürzungen nehmen, weil es genug Stichstraßen, Gassen und Hinterhöfe gab, die der Bus umfahren musste. Den Blick auf seine klatschnassen Schuhe gesenkt, die Schultern hochgezogen marschierte er voran, achtete gerade mal darauf, nicht mit anderen Personen zu kollidieren, die ebenfalls wie er auf ihre Füße konzentriert waren. Wer es mit Schirm versuchte, kämpfte auch mit dem Sichthindernis. Die quatschenden Geräusche seiner College-Slipper ignorierend bog Natsumu in eine enge Gasse ein. Dahinter befand sich ein winziger Kleinkinderspielplatz, nicht länger in Gebrauch, die Geräte teilweise abgebaut, mit kräftigem Unkrautwuchs und Katzenklo in der ehemaligen Sandkiste. Plötzlich wurde er an der Schulter gepackt und herumgerissen. Ein großer, etwas untersetzter Mann in schwarzem Trenchcoat mit breitkrempigem Hut und Mundschutz baute sich bedrohlich vor ihm auf. Am rechten Arm prangte eine Binde mit Schriftzeichen und einem Symbol. Ach du Schande, ein Tugendwächter! "Du da! Bist du etwa gerade aus dem Waschraum am Ost-Eingang gekommen?!" Natsumu, unvermittelt gegen eine alte Betonröhre gepresst, zögerte. "Aha! Ich erkenne deine Schule! Na warte, das werde ich melden!" "Ich habe nichts getan!" Protestierte Natsumu, wischte sich Regenwasser aus dem Gesicht. "Leugnen ist zwecklos!" Entgegnete ihm der Mann kriegerisch, zerrte an Natsumus Tasche. "He!" "Aha! Nichts getan, wie?!" Natsumu verwünschte nervös seine Bequemlichkeit. Hätte er doch den Stick und die Kondome wieder in das Kosmetiktäschchen rein gestopft, nicht nur einfach oben in seine Schultasche, noch frustriert über die unvermittelte Absage ihres Treffens! "Du prostituierst dich also! Gib es zu!" Bevor Natsumu aber überhaupt etwas sagen konnte, hatte ihn der Mann schon herumgerissen, gegen die Betonröhre gepresst. Ruckartig wurde ihm ohne Federlesen die Hose runtergezogen. Sein empörter Protest endete in einem Winseln, denn der Tugendwächter stieß ihm einen Finger in den After! "Aha! Noch feucht! Gleitmittel! Du bist fällig, kleine Schwuchtel!" Panisch erinnerte sich Natsumu in diesem sehr ungeeigneten Moment an die Warnungen, dass man aufpassen sollte, wo so genannte "Nachbarschaftsvertreter" patrouillierten. Die der Schule meldeten, wenn man schwänzte, nach einer bestimmten Uhrzeit unterwegs war oder unpassend gekleidet. Oder eben in Begleitung von Personen zweifelhafter Moral sowie an Orten derselben. Außerdem gab es noch strenge Regeln zum Freizeitverhalten, der Vergangenheit geschuldet, wo sich hauptsächlich junge Frauen "Sugar-Daddies" angeboten hatten: Sex gegen ein ordentliches Taschengeld. Hin und wieder fanden sich unter den Tugendwächtern natürlich auch solche, die ihre eigenen Unsicherheiten zu kompensieren suchten. Natsumu zappelte. Noch hatte der Kerl seinen Namen nicht, noch konnte er vielleicht ausbüchsen! Andererseits waren Hose und Unterhose, beides nun nass, um die Knöchel sehr hinderlich für eine Flucht. Dieser Gedanke verwehte aber abrupt, weil der Kerl ihn rammte! Eine Hand in seinem Genick hielt Natsumu fest, der kaum schnaufen konnte, schmerzhaft den grobkörnigen Beton an seinem Unterleib spürte, Ausweichen aussichtslos. Ihm wurde übel, weil er das grunzende Luftholen hinter sich hörte, selbst im Dauerregen das Klatschen der Schenkel gegen seinen Hintern. Verdammt, war der Mistkerl bald fertig?! Natsumu ballte hilflos die Fäuste, presste die Lippen zusammen. Es tat weh, ein bisschen zumindest, aber die Entscheidung, sich nur oberflächlich zu reinigen, kam ihm jetzt sehr zupass. Endlich erlöste ihn der Tugendwächter, indem er sich zurückzog, Natsumu einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf verpasste. "Das nächste Mal zeig ich dich an, du kleiner Scheißer!" Es dauerte einige Sekunden, bis Natsumu sich aufrichten konnte. "Scheißkerl!" Zischte er, wischte sich über die Lippe, die er vor Schreck über den unerwarteten Schlag aufgebissen hatte. "Ah, Tag der offenen Tür?" Natsumu wandte sich um, kam ins Straucheln wegen der knebelnden Hosen um seine Fußgelenke. Jemand fing ihn auf. "Der alte Sack hat dich aber nicht beeindruckt, wie?" Schon umfasste vollkommen unaufgefordert eine Hand seinen Penis. Natsumu unterdrückte ein Wimmern. Die halbe Erektion war nicht das Problem, sondern der verdammte Beton, dem er nicht bei jedem Schwung hatte ausweichen können. "Blutest du?" Vor ihm ging der Besitzer der unverschämten Hand in die Hocke, um aus nächster Nähe Natsumus Unterleib zu inspizieren. Er trug einen olivgrünen, ziemlich abgetragenen Parka mit Kapuze, dazu Flipflops mit Totenkopf-Riemen. Das war, berücksichtigte man die Witterung, recht vorausschauend. "Gib mal das Gleitgel." Kommandierte der Unbekannte, von dem Natsumu nicht mal das Gesicht gesehen hatte. "Nein!" Fauchte er heftig, zog die Nase hoch. "Na, wenn ich's mit Spucke mache, wird's ordentlich zwacken." Antwortete ihm der Fremde, merklich amüsiert. "Deine Wahl." "Ich will überhaupt nicht...!" Natsumu stöhnte auf, weil der Kerl einfach an seinem Unterbauch, direkt unter dem Nabel, saugte! Dabei drückte er einen Daumen in seine Leiste, was wirklich eine ungekannte Hitzewelle erzeugte. Er leckte ihm über die Druckstelle, gab aber seinen Schwanz einfach nicht frei! Der im Übrigen heftig pochte. "Also, Gleitgel?" Natsumu spürte Schwäche in seinen Kniekehlen. Langsam setzte der Schock ein, vermutete er, aber auch das schmerzhafte Prickeln aufgeschrammter Haut. "Ich bin kein Stricher!" Stieß er hervor, zog die Nase hoch. "Damit der hier steht, ist das auch nicht nötig." Noch immer klang der Parka-Typ amüsiert! "Gibst du mir jetzt das Gleitgel?" Dabei wanderte er mit der freien Hand zwischen Natsumus Schenkeln nach hinten. "In meiner Schultasche." Gab Natsumu nach. Jetzt bloß nicht heulen, das würde den Kerl wahrscheinlich noch anspornen! Der langte unbeeindruckt in die Schultasche, erwischte den Stick, balsamierte ganz selbstverständlich Natsumus Penis ein. Es prickelte an den Stellen, wo die Haut den Beton berührt hatte, doch das half nicht, die Erektion zu reduzieren. Selbstherrlich, als sei es ganz normal, holte der Parka-Typ ihm einen runter! Und wie. Natsumu hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. Sein lustvolles Stöhnen, das Zittern und Beben, der Umstand, dass er sich auf den Schultern des Fremden abstützte, lief wie im Film ab. Natürlich spürte er alles, aber auf einer anderen Ebene kam es ihm surreal vor. Das konnte ja auch nicht sein! Tatsächlich war er versetzt worden, auf dem Heimweg, würde ein ausgiebiges Bad nehmen, Finger- und Fußnägel polieren und ein Schoko-Bonbon lutschen! Er kippte fast in die Arme des Fremden, der ihn abfing. Der überragte ihn aufgerichtet bloß um ein halbes Haupt, wirkte sehnig. ER war ein ausgewiesener Freak! Ringe, Sternchen-Stecker, Piercings überall, in einem Nasenflügel, den Augenbrauen, den Ohren! Außerdem noch verschiedenfarbige Augen, eines schwarz, das andere fehlfarben! Der Typ grinste ihn frech an, hängte die Zunge raus, natürlich auch durchstochen. "Jetzt, wo du deinen Spaß hattest, lass mich ran, ja?" Ungeniert leckte er Natsumu über die Nase! »Nein!« Hätte Natsumu am Liebsten gebrüllt, aber ihm war etwas schwindlig. Innerlich kochte es noch immer heiß, er hielt sich bloß aufrecht, weil er die Parka-Ärmel wie Rettungsbojen beklammerte. "Lehn dich an, ich übernehm den Rest!" ~+~+~* Natsumu scrollte missvergnügt über das Board, deaktivierte mit einem Knurren sein Mobiltelefon, rollte sich auf den Rücken. Er verspürte nur noch Frustration. All die Sehnsüchte und Wünsche kamen ihm plötzlich albern und kindisch vor. Ja, den Figuren hätte er was zu erzählen gehabt, von wegen Romantik und Thrill und so! Erstmal natürlich wegen dem widerwärtigen, heuchlerischen Tugendwächter, der ihm aufgelauert und ihn vergewaltigt hatte. Wenigstens hatte er eine Warnung eingetragen, das schon. Nachdem er drei Tage lang Blut und Wasser geschwitzt hatte, ob der Mistkerl ihn nicht doch anzeigte. Natürlich vermied er den direkten Weg, fuhr nur noch mit dem Bus. Das bot, wenn der Drecksack im Viertel patrouillierte, auch nicht für alle Ewigkeit Sicherheit. Dazu natürlich noch die Nummer danach! "Stitch", so hieß der Freak angeblich, der ihm mir nichts dir nichts die Hosen abgestreift, ihn auf seine Knie gezogen hatte. So nahe an der Betonröhre, dass Natsumus Schultern sich dort abstützen konnten. Der Typ hatte immer wieder über seine Kniekehlen, die Innenseite der Schenkel gestreichelt, sich Natsumus Beine auf die Schultern gelegt, war in ihn eingedrungen. Schlimmer noch, er hatte Natsumus Hände gegen die blöde Röhre gepresst, ihre Handteller übereinander gelegt, die Finger verschränkt, während er ihn küsste. Mit dem Ding in der Zunge, während sie fickten! Natsumu war noch nie mit Zunge geküsst worden. Natürlich nicht, denn "Delicate Man" blieb ja stets hinter ihm. Aber der Sex war noch längst nicht das Schlimmste! Der Freak hatte einfach sein Mobiltelefon genommen, ihre Nummern ausgetauscht! Ihn angezogen, obwohl Natsumu ja klatschnass war, untergefasst wie eine alte Oma und mitgezogen zu sich, in ein winziges Kellerapartment, nur zwei Gassen weiter. Dort musste Natsumu duschen, trockene Kleider ausleihen. Das brachte einen weiteren Horror mit sich! Außer wadenlangen Hosen, schwarz oder kariert, besaß "Stitch" nur Band-T-Shirts oder Kapuzenpullover, wobei die Motive sämtlich morbid bis grauenvoll waren. Wer lief in so einem Zeug herum?! Und die Haare! Von der Stirn bis zum Nacken ein langer Zopf, ringsherum alles wegrasiert. Ein Irokese, der sich der Schwerkraft geschlagen gab! Oder so. Dabei hatte der Kerl nicht mal eine athletische Figur, war tatsächlich nur sehnig, wenn auch, zugegeben, von sportlicher Qualität. Krönung dieses Horrortages: dieser Freak lieferte ihn auch noch zu Hause ab! Glücklicherweise konnte er in die Wohnung schlüpfen, bevor seine Mutter ihn in diesem Aufzug erblickte. Die Konsequenzen aus dieser ausgedehnten Pechsträhne hielten an, weil er ja die geliehenen Klamotten zurückgeben musste. Deshalb wanderten die heimlich in der Nacht von Waschmaschine zu Trockner, was Natsumu Schlaf kostete. Der hätte vermutlich ohnehin nur aus Albträumen bestanden. Das Kleiderpaket passte in keinen Briefkastenschlitz. Das bedeutete, dass er Stitch noch mal treffen musste. Sich in das gefährliche Viertel wagen! Womit ja eigentlich diese grässliche Episode hätte abgeschlossen sein können. Aber nichts da! Stitch schickte ihm Nachrichten, erst mal natürlich wegen der Rückgabe der Kleider, die sollte am Sonntag stattfinden, vor seiner Schicht in einem Alten- und Pflegeheim, gleich in der Nähe. Natsumu wollte es nicht glauben: wer ließ so einen Kerl auf Alte und Pflegebedürftige los?! Aber das Treffen dort erschien ihm immer noch besser, als sich in das gemeingefährliche Terrain des vermaledeiten Tugendwächters zu wagen. Stitch arbeitete dort tatsächlich, wobei er andere Kleider trug, selbstredend. Niemand kommentierte das gespickte Haupt oder diese seltsame Frisur! Umgekehrt entblödete der Freak sich nicht, ihm ein Bild seines Lookalikes zu schicken, einen anderen Haarschnitt zu empfehlen! Natsumu kochte. Er sollte die Nummer blockieren! Eigentlich. Andererseits konnte er sich mit Stitch austauschen. Was so ganz sicher nicht geplant war! Aber dessen Fragen und spöttische Bemerkungen provozierten Natsumu, zu reagieren, sich nicht als blödes Porno-Hascherl einordnen zu lassen! Schließlich hatte er von seinem "Vorbild" ja nichts gewusst! So ein Amateur war er auch nicht, da gab es ja die Trockenübungen und die Accessoires! Sollte sich nicht so aufblasen, der Kerl mit seinem Stachelschwein-Gesicht! Außerdem, das kam noch hinzu, verstand er sich nicht mehr so gut mit "Delicate Man". Dem hatte er von den Ereignissen nichts erzählt, obwohl er sonst eigentlich nie etwas verschwiegen hatte. Aber wegen dem "Vorbild" war er schon beleidigt, gab seine Enttäuschung nur mäßig gemildert weiter. Dass "Delicate Man" für ihn keine Zeit hatte, schien ihm eine lächerliche Methode, ihn kleinzukriegen. Was dachte der alte Sack sich, dass er bettelnd angekrochen kam?! Oh nein! Das konnte der sich abschminken! Sie würden ja sehen, wer es länger aushalten könnte! ~+~+~* Kapitel 24 Natsumu marschierte in den Waschraum, zügig. Dieses Mal hatte er sich den Busfahrplan extra noch mal rausgesucht, je nachdem, wie lange es dauerte. "Delicate Man" war eingeknickt, was ihn mit Befriedigung erfüllte. »Hat wahrscheinlich noch keinen anderen Bubi aufgetan!« Dachte Natsumu grimmig. Er vermutete, dass "Deilcate Man" sich mit anderen Aliases auf anderen Boards herumtrieb, einen "Nachfolger" suchte, den er einwickeln konnte. Was ihm ja mal so was von gleichgültig war! Heute würde er mal Klartext reden! Das hatte Natsumu sich fest vorgenommen. Er hatte überhaupt nichts gemein mit diesem Porno-Hascherl, das treu-doof durch die Filme stolperte! Außerdem musste er auch ein anderes Thema mal zur Sprache bringen. Wenn "Delicate Man" damit Schwierigkeiten hatte, trennten sich ihre Wege nämlich hier. Natsumu schloss die Tür hinter sich, bereits geladen. Andere Mütter hatten auch geile Söhne! Er konnte sich jemanden suchen, der mehr zu bieten hatte, garantiert! Sich die Hosen abstreifend, den Pullunder bereits aufgehängt, blies er die langen Ponysträhnen hoch. Er fischte das Kosmetiktäschchen aus seiner Schultasche, präparierte sich grummelnd. Sollte sich bloß nichts einbilden, der alte Sack! Wehe, wenn der ihn versetzte, nachdem der doch das Treffen vorgeschlagen hatte! Ein Klicken ließ ihn aufhorchen. Er wandte sich überrascht der Tür zu. Blitzartig wischte die nach innen, mit ihr zwei Männer. Bevor Natsumu reagieren konnte, hatte der eine schon seine Arme gepackt und verdreht. Der andere presste ihm den Handteller auf den Mund, in dem sich eine seltsame Paste befand. Natsumu keuchte, konnte den Kontakt nicht vermeiden. Es stieg ein seltsamer Geruch in seine Nase, ließ seine Augen tränen. Was sollte das?! Die Antwort erhielt er sofort. Der Typ, der ihn mit einer Hand knebelte, befingerte seinen Penis, in unzweideutiger Absicht. Der andere Typ hinter ihm, der ihm die Arme verdrehte, rückte auch näher heran. »Schweinepriester!« Dachte Natsumu verzweifelt, aber auch zornig. Gummihandschuhe, Mundschutz, Sonnenbrillen, Strickmützen, unauffällige Jacken: die hatten sich gut getarnt! Der Typ hinter ihm zerrte ihn mit sich gegen die Wand, ging leicht in die Hocke. Wahrscheinlich hatte er schon Druckstellen an den Oberarmen! Der andere, der ihm diese komische Paste vor den Mund klebte, ließ endlich seinen Schwanz los, leider aber nur, um den eigenen rauszuholen und einhändig mit Kondom zu versehen. Natsumu versuchte, sich zu befreien, aber der Stahlklammergriff an seinen Oberarmen verhinderte den kleinsten Erfolg. Außerdem spürte er, wie Bodennebel in seinem Kopf aufstieg. War die komische Paste mit einer Droge versetzt? Seine Augen tränten schon, er hatte das Gefühl, seine Muskeln verflüssigten sich langsam. Was dem Perversen gelegen kam! Mit der freien Hand packte der sein linkes Bein, lupfte es nach außen. Natsumu zappelte, aber das half ihm gar nicht. Ohne Rücksicht auf seine schmerzenden Sehnen riss der Mistkerl sein Bein so hoch, dass Natsumu das rechte Bein einknickte, weil seine Hüfte dem linken Bein folgte, sich einrollte. Fummelte dann seinen verfluchten Ständer rein! Natsumu stöhnte erstickt bei jedem Stoß, konnte nicht mal rächend den Schädel nach hinten schnellen lassen, um den anderen Drecksack zu erwischen! Kaum war der erste Typ fertig, drückte der andere seine Arme so hoch, dass Natsumu nach vorne kippen musste. Der erste Scheißer packte sogar seinen Hemdkragen, damit er nicht umfiel, was Natsumu auch noch die Luft abschnürte. Der zweite Kerl rammte ihm seinen Schwanz rein. Genauso beschissen wie der erste, die Fick-and-Run-Variante aus den Pornos, die Natsumu gesehen hatte. Er musste die tränenden Augen zukneifen, weil sich schon alles um ihn herum drehte. So merkte er kaum, dass er auf den Knien aufschlug und allein zurückblieb. ~+~+~* Irgendwie hatte er sich so weit hochziehen können, um den Riegel zu verankern, falls da noch andere Typen auf ihre Chance lauerten. Natsumu kämpfte um jeden Atemzug. Er konnte seine Zehen und Fingerspitzen nicht spüren. Alles fühlte sich betäubt und seltsam an. Garantiert eine Droge! Was tun? In seiner Schultasche befand sich noch sein Telefon. Verflixt, nicht mal die Zeichen konnte er richtig erkennen, alles verschwamm vor seinen Augen! Aber das idiotische Bild... "...Stitch...hilf mir..." ~+~+~* Stitch nervte, stellte dauernd Fragen. Reden sollte er. Ja, was denn?! Natsumu hatte Mühe, nicht komplett auf den Boden zu sacken. Seine Zunge wollte auch nicht so, wie er es gewohnt war. Kopf oben behalten! Knie an den Körper ziehen! Das Stachelschwein-Gesicht hatte leicht reden! Wie bitte schön sollte er das anstellen, wenn sich irgendwie alles taub anfühlte?! Oder vielmehr gar nicht?! Scheißkerle! Alle miteinander. Wo war überhaupt der alte Sack?! Sagte wahrscheinlich ab! Aber Stitch gängelte ihn geradezu, bloß nicht die Leitung zu wechseln. Toll, wäre ohnehin schwierig, so tatterig wie er war, kaum ein klares Bild vor Augen bekam! Dass es leise knackte, nahm Natsumu gelassen hin, sein Kreislauf verabschiedete sich sowieso gerade. Wenn da noch mehr Wichser kamen, würden sie ihn vom Boden kratzen müssen! Aber es war Stitch, der die Verriegelung löste, was Natsumu durch verklebte Wimpern hindurch ein mattes Schnaufen entlockte. Neuer Volkssport, oder was?! Lokus-Türen-Knacken! Was war das für ein Aufzug, mal wieder?! Trotzdem verspürte Natsumu eine gewisse Erleichterung, obwohl er ja wohl weiterhin so was von in der Klemme steckte! ~+~+~* Stitch blockierte die Tür geübt, steckte das Werkzeug wieder in seine Gürteltasche, legte Helm, Inliner sowie Ellbogen- und Knieschützer ab. Natsumus Blinzeln und das verächtliche Schnauben bewiesen ihm, dass er noch nicht mit dem Schlimmsten rechnen musste. Er nahm den Rucksack herunter, zog Einweghandschuhe und einen Mundschutz hervor. Die Sonnenbrille im Schweißer-Look musste genügen! Mit der kleinen Lampe überprüfte er Natsumus Pupillen. Pulsschlag, Blutdruck. Glücklicherweise halfen die kleinen Gadgets der modernen Medizintechnik dabei. Während sie arbeiteten, suchte er nach Spuren der Gewalttat. Kein Blut, soweit er sehen konnte, aber nachdem er mühsam das Hemd von den Schultern gewickelt hatte, zwei hässliche Abdrücke auf den Oberarmen. Stitch zog die gespickten Augenbrauen zusammen. Solche Muster hatte er schon mal gesehen, bei orthopädischen Hilfsmitteln, wenn die Kraft von Fingern und Händen sehr eingeschränkt war. Man konnte sie verstärken, zum Beispiel, um die Arbeitskraft zu erhalten. Stirnrunzelnd registrierte er die Messwerte und seine eigenen Beobachtungen. Er fasste ein desinfizierendes Tuch, um Natsumu ankündigungslos über das Gesicht zu ledern. Der wehrte sich selbstredend, aber so ungelenk und zeitverzögert, dass Stitch keine besondere Mühe hatte, seine Mission zu vollenden. Er packte Natsumu im Nacken, drängte ihm Wasser auf. Es spielte keine Rolle, ob alles brav den Schlund hinunter ging oder über Kinn und Brust sickerte. "Okay." Zwang er Natsumus Aufmerksamkeit auf sich. "Ball die Fäuste! Zieh die Zehen an! Spürst du das? Und hier?" Stitch erwog die Möglichkeiten. Man könnte einen Arzt rufen. Wenn Natsumu zu sehr abbaute, käme er nicht umhin, dies zu tun. Andererseits schien der schon wieder Gefühl in den äußeren Extremitäten zu haben. "Weiter trinken, runter damit!" Er drückte Natsumu die Flasche in die Hände. Die Reaktionen kamen noch verzögert, aber recht verlässlich. "Gut." Er rückte näher an Natsumu heran. "Kannst du dich erinnern, ob sie Gummis übergezogen hatten?" Na, so was hatte er sich schon gedacht: gut vorbereitet und offensichtlich geübt. "Das ist der Plan." Stitch sammelte seine Utensilien in den Rucksack, adressierte Natsumu konzentriert. "In dem Zeug befand sich eine Droge, die über Hautkontakt aufgenommen werden kann, so was wie in K.O.-Tropfen." Natsumu blinzelte. An dem grimmigen Zug um die Lippen konnte er erkennen, dass seine Worte in ihrer Bedeutung verstanden wurden. "Hier können wir nicht bleiben. Wir müssen dich anziehen. Denkst du, dass du laufen kannst?" Noch eine Grimasse, die er mittlerweile gut genug kannte. Na dann! Stitch fischte Unterhose und Schulhose vom Haken. Tatsächlich kämpfte sich Natsumu an der Wand hoch, bis er wacklig stand. Auf seinen Schultern aufgestützt gelang es auch, in einem Zug nacheinander in die Beinöffnungen zu steigen. Grummeln und Schnauben über ihm. Stitch wertete das als gutes Zeichen. Wenn Natsumu genug Energie hatte, um wütend oder frustriert zu sein, sollten sie die Strecke schaffen. Er knöpfte das Hemd zu, sammelte Natsumus Habseligkeiten in der Schultasche, die er mit einem freien Karabiner an seinem Rucksack befestigte, fasste Natsumu geübt unter. ~+~+~* Nein, von "gut" fühlen konnte wirklich nicht die Rede sein! Natsumu hasste es, dass er in seinen College-Slippern immer wieder stolperte, weil er einfach seine Gliedmaßen nicht unter Kontrolle hatte. Es passte ihm gar nicht, dass er sich auf Stitch aufstützten musste. Einige glotzten natürlich auch noch, klar, bei dem Stecker-Freak an seiner Seite! Der ihm auch ständig Wasser aufnötigte. Trinken, um die Droge zu verdünnen! Toll, jetzt schwitzte er auch noch wie ein Schwein! Alles klebte, fühlte sich einfach eklig an! Natsumu versuchte, sich von dieser beschämenden Lage abzulenken, indem er sich fragte, wie er sich revanchieren konnte, bei den beiden Arschgeigen. Bloß, das frustrierte ihn ungemein, er konnte sie nicht mal identifizieren! Offenbar hatten die Drecksäcke das schon öfter gemacht, waren gut vorbereitet. Scheißkerle! Hatte "Delicate Man" etwas mit ihnen zu tun? Natsumu konnte das nicht ausschließen, hielt es aber für unwahrscheinlich. "Delicate Man" kam ihm wie ein Zimperlieschen vor. Da musste schon die Optik total stimmen, bevor der den Schwanz hoch kriegte, das sagte doch alles! In dem Maß, in dem sein gewohnter Brass aufloderte, spürte Natsumu auch wieder Zutrauen in sich selbst. Die konnten ihn alle mal! Unfähige Vollidioten! Er war bisher kaum richtig auf seine Kosten gekommen, aber das würde sich jetzt ändern! Wenn er diese verfluchte Droge ausgeschwitzt und -gepinkelt hatte, wäre aber Schicht im Schacht! ~+~+~* Stitch stellte die beiden leeren Wasserflaschen ab, dirigierte Natsumu in seine fensterlose Nasszelle. Der quengelte, wollte pinkeln und überhaupt, langsam reichte es ihm, aber so was von! Mit Mühe konnte Stitch ein Grinsen unterdrücken. Das dürre Hascherl bestand wohl hauptsächlich aus komprimiertem Zorn auf alles und jeden! Man konnte die elektrischen Ladungen beinahe knistern und knacken hören. Er lud rasch seinen Rucksack und die Bauchtasche ab, drehte die Dusche auf. Die Kleider mussten ohnehin mit der höchst möglichen Temperatur gewaschen werden. Wie erwartet schimpfte Natsumu los, zerrte an sich herum, taumelte leicht. "Wenn du pinkeln musst, lass laufen." Empfahl Stitch gelassen. Ging sowieso alles in denselben Abfluss. Wenn Natsumu unter dem Wasserstrahl stand, würde das frustrierte Zetern vielleicht auch für eine Weile verstummen. Das eröffnete ihm die Möglichkeit, mal ordentlich dessen Habseligkeiten zu durchstöbern. ~+~+~* Totale Sauerei! Schön, auf einer theoretischen Ebene konnte er ja nachvollziehen, dass mit Drogen vollgeschwitzte Klamotten ohnehin behandelt werden mussten. Trotzdem! Dass der gespickte Spinner dauernd recht hatte, DAS ging ihm absolut gegen den Strich. Jetzt auch noch das, wollte seinen Hintern inspizieren, ob er nicht verletzt sei! "Das kann ich selbst!" Natsumu grollte, hatte endlich die widerlich pappenden Kleidungsstücke abgestreift und zu Bällen gerollt beiseite gekickt. "Außerdem ist da nix, klar?! Würd ich ja wohl merken!" Was auch so ein Thema war, aber JETZT nicht aufs Tapet kommen würde! "Ich brauch bloß meine Tasche, okay?! Ich komm schon klar!" Auch wenn das, wie ihm nicht sonderlich zusagte, nicht unbedingt auf die Gesamtsituation zutraf. Er fühlte sich schon besser, wenn auch nicht "gut". Verdammte Pleite! "Kannst du vielleicht mal rausgehen, ja?! Ich brauch keine Zuschauer, wenn ich das Klistier einsetze!" Ehrlich, der Typ hatte ja Nerven! So gar keine Manieren! Was man bei dem Klamotten- und Frisurgeschmack wohl auch nicht anders erwarten konnte! ~+~+~* Stitch wartete geduldig, bis er kein Wasserrauschen mehr hörte. Ein rücksichtsvoller, umsichtiger Gastgeber hätte nicht nur ein Handtuch rausgelegt, sondern auch ganz diskret Ersatz-Bekleidung. Nicht, dass er das nicht bedacht hatte, aber es juckte ihn einfach herauszufinden, wie Natsumu reagieren würde. Der als zweiten Vornamen "Rumpelstilzchen" tragen sollte! Er grinste und bestückte seinen Rucksack neu, füllte die Reserven auf. Ob der in der Schule auch so reagierte? Aufgebracht, patzig, schnell angegriffen, grantig, betont selbstbewusst? Typ "Mir kann keiner, hab immer alles im Griff!"? Die Schriftzeichen in den Heften zumindest wirkten korrekt, nicht wie gestochen, aber ordentlich. Spielereien schien Natsumu nicht zu pflegen, keine Anhänger an der Tasche oder dem Telefon, keine bunten Stifte oder Radiergummis. Alles unifarben, klassisch, ohne Extravaganzen. Selbst das Kosmetiktäschchen wirkte von außen solide bis langweilig, schlichte, blaue Chrysanthemen-Drucke. Drinnen jedoch fand sich die Basisausstattung, von der er schon wusste. Ohne die Gimmicks, die der, urteilte man nach dessen bissigen Retourkutschen, zu Hause zum Einsatz brachte. Die ihm sein "Schöpfer" zukommen ließ, der offenbar an alles dachte, zur eigenen Bequemlichkeit. Hatte sich Natsumu ja recht erfolgreich trainiert! Er blickte von seinem Bett hoch, als Natsumu zornig fauchend und nackt im Türrahmen stand. "Was machst du da mit meinen Sachen?!" Stitch grinste, wedelte mit einem aufgeschlagenen Heft. "Dachte, ich schau mal, wie gut ich bei dem alten Zeug abschneide." "Du tickst ja wohl nicht richtig!" Natsumu stürmte auf ihn los, etwas wacklig auf den Beinen, von dieser komprimierten Wut angetrieben, die Stitch schon kannte. Er tauchte unter der wüsten Attacke hinweg, absolvierte eine Rolle, fing Natsumu unter sich ein, grinste noch breiter. "Na, mein Hascherl, was fang ich jetzt mit dir an, hm?" ~+~+~* Natsumu kochte vor Zorn. Was bildete der Depp sich ein?! Feixte ihm auch noch frech ins Gesicht, mit seinen doofen Stickern und Ringen! "Gar nichts, du Blödmann! Schon vergessen, ich bin Drogen-verseucht!" Ha, der hatte gesessen! Außerdem waren ihm ja nicht mal Ersatzklamotten angeboten worden! Was eigentlich, betrachtete man den gewöhnlichen Aufzug dieses Spinners, ein Segen war. Wenigstens eine Yukata würde sich ja wohl auftreiben lassen! Oder ein trockenes Handtuch! Wieso glotzte der jetzt schon wieder so triumphierend aus seinen hässlichen Augen?! Der Typ gehörte definitiv in die Geisterbahn! "Die Stellen, die mir gerade so vorschweben, sind von der Wirkung nicht betroffen, offenkundig." Schon hatte der Mistsack seine Greifer um seinen Schwanz gelegt! ~+~+~* Stitch hatte schon mal munkeln hören, über die Verwendung von K.O.-Tropfen in Pasten, auf Lippenstiften oder ähnlichem. Die Leute passten bei ihren Gläsern ja mittlerweile auf, also wurden die Übeltäter kreativer: Hautkontakt, am besten Schleimhäute, also Nase, Mund, das war das Ziel. Eine direkte Gefährdung für sich selbst schloss er aus, nach Wasser, Seife und der verstrichenen Zeit. Ein bisschen, fand er, hatte er sich eine Belohnung verdient. Weil er seine Freunde verlassen hatte, abrupt aufgebrochen war, um diesem kleinen Frust-Bankert zu helfen, der ihn angiftete, zappelte, mit ihm schimpfte, ihn für gänzlich indiskutabel als Person hielt. Schon verwunderlich, dass der zänkische Bursche überhaupt jemanden gefunden hatte, der in seinen Augen temporär Gnade fand. Aber, urteilte Stitch ungerührt, diese ganzen Auftritte schlugen ihn bestimmt nicht in die Flucht. Außerdem sollte man Feste feiern, wie sie fallen, oder nicht? ~+~+~* Natsumu hätte gern geflucht und Beleidigungen gebrüllt. Momentan beschäftigte es ihn aber ausreichend, die Zunge gegen den Gaumen zu drücken, damit man sein wollüstiges Stöhnen nicht im ganzen Quartier hörte! Er grub die Fingerspitzen noch tiefer in das zerdrückte Laken unter sich. So ein mieser Mistsack! Erst hieß es, Vorsicht, das Drogen-Zeug gelangt über Hautkontakt nach innen, jetzt leckte ihm der Arsch die Nippel mit dem blöden Stecker in der Zunge, ließ seinen Schwanz nicht los! Klar, der wollte einlochen, sollte er doch, wäre ja nicht das erste Mal, aber wieso dauerte das so lange?! Überhaupt, warum begrapschte der ihn mit den Pfoten, kam nicht flott hintenrum zur Sache?! Natsumu konstatierte, dass ihm diese Entwicklung gar nicht gefiel. Dummerweise fand er jedoch keine Möglichkeit, Protest einzulegen. ~+~+~* Stitch bediente sich verschiedener taktischer Fouls ohne einen Hauch von Schuldgefühl. Wenn Moralapostelei hinderlich wurde, kannte er keine Skrupel, locker-flockig über die entsprechenden Hürden hinwegzusetzen. Außerdem hatte er gerade eine Mordsgaudi! Natsumu wand sich wie ein Aal auf dem Trockenen, stöhnte vor Lust, zerwühlte ihm das Laken, war zweifelsfrei in Kürze überhaupt nicht mehr ansprechbar. Erfahrung, Technik und gewisse Finessen, die NICHT zum Fairplay gehörten, sorgten dafür. Zudem, fand Stitch, konnte man feine Sachen von gar nicht so feinen Jungs lernen. Natsumu bockte wie ein Wildpferd, das Rückgrat einer Bogensehne gleich vor Anspannung. Heftige Kontraktionen später rutschten die Beine spannungslos zur Seite, wandte sich das gerötete, von Transpiration attraktiv gezierte Gesicht zur Seite. »K.O., ohne Tropfen, Runde 1!« Summierte Stitch, kam selbst geübt zum Abschuss. Er überprüfte routiniert Atmung und Puls. Na, war ja auch Zeit, dass der widerspenstige Mini-Krawallbruder eine Auszeit nahm! Natsumu mochte sich für ein "tough cookie" halten, vielleicht auch ziemlich hart im Nehmen sein, aber so ein Erlebnis wie heute hinterließ auch beim Abgebrütetsten Spuren. Deshalb bediente Stitch sich einiger Raffinesse, um die Pausentaste zu aktivieren. Zunächst fischte er aus der Schultasche das Mobiltelefon, wählte den passenden Finger, um per Abdruck die Verriegelung zu lösen. Im Adress- und Kontaktbuch wurde nicht viel geboten: Eltern gab es, mit getrennten Telefonen; Klassensprecher, aha; D.M., vermutlich "Delicate Man", ohne Bild, logisch. Und seine eigene Nummer. Wirklich karg! Andererseits, der Schulausweis hatte es ihm verraten, gab es bei manchen Privatschulen die Regel, dass die Mobiltelefone während des Unterrichts einkassiert wurden. Da brauchte man nicht unbedingt die Nummer von Klassenkameraden. Hatte Natsumu sonst keine Freunde? Keine Großeltern mit Mobiltelefon? Stitch ging verschiedene Nachrichten durch, die nicht gelöscht worden waren. Banale Elternkonversation, knapp, immer zur Sache, präzise. Er wählte eine Mitteilung aus, frisierte sie leicht. Anschließend sandte er Natsumus Mutter die Mitteilung, er lerne gerade mit dem Klassensprecher und anderen. Um die Zeit bestmöglich zu nutzen, sei er eingeladen worden, dort zu übernachten. Für Abendessen und Frühstück möge man ihn entschuldigen. Die förmliche, distanzierte Kommunikation schien so gar nicht zu dem aufbrausenden, schimpfenden Wüterich an seiner Seite zu passen. Stitch arbeitete sich durch das Mobiltelefon: nicht ein einziges Spiel, keine wechselnden Hintergründe oder Individualisierungen und kein abonnierter Musikdienst! Unwillkürlich zog er die gepiercten Augenbrauen zusammen. Ehrlich, war das hier das Telefon eines Teenagers?! Natsumu schien es lediglich als Arbeitswerkzeug zu benutzen, austauschbar, auf das Minimum reduziert. Schließlich steckte Stitch auf, deaktivierte das Telefon, schob es in die Schultasche. Er studierte den erschöpft schlafenden Jugendlichen neben sich. "Delicate Man" hatte wirklich, das musste man anerkennen, ganze Arbeit geleistet: sehr gepflegte Finger- und Zehennägel, zarte, helle Haut, rasiert dort, wo es tunlich war, in den Achseln und zwischen den Schenkeln bis zum Hintern. Die Frisur, ja, stimmte schon, nur jemand mit den feingeschnittenen Zügen von Natsumu konnte sie tragen, ohne dass man an einen fransigen Wischmopp glaubte. Aber sie war nun mal ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit! Warum hatte Natsumu sich darauf eingelassen, wo der doch sonst von allem und jedem seine eigene, unerschütterliche Meinung hatte?! Glaubte man zumindest seinen verbalen Ausführungen. Stitch rieb sich nachdenklich den Sternstecker in seinem Nasenflügel. Der dürre Bursche war wirklich eine Wundertüte! Er fragte sich, was ihm als nächstes einfallen würde. ~+~+~* Der Ruf der Natur ließ kein Pardon gelten, zwang Natsumu, sich mit der Gegenwart zu beschäftigen. Und zwar flott! Grummelnd rollte er sich auf die Seite, blinzelte verwirrt. Woher kam das Licht hinter ihm? Was war das für eine grässliche Bude?! Schubartig fanden sich Erinnerungen ein. "Na, wieder wach?" Klar, Stitch! Und dessen subterrane Horrorbude! Der gemütlich hinter ihm saß, Kopfhörer auf den Zopf getopft, in den halben Hosen und einem der morbiden T-Shirts. "Wie spät ist es?!" Natsumu arrangierte hastig die Prioritäten, während er aufstand. Toll, immer noch pudelnackig! "Kurz vor Eins. In der Nacht." Ergänzte der Spinner noch selbstgefällig! Natsumu fluchte unter seinem Atem, hoppelte eilig Richtung Ausgang, wo er hinter einem kleinen Verschlag die Toilette vermutete. Wenigstens gab es hier Schlappen! Obwohl es nicht Not tat, ließ er sich nieder, massierte sich in rotierenden Bewegungen die Schläfen. Fuhr noch ein Bus? Halt, waren seine Kleider überhaupt schon trocken? Seine Eltern, die würden ihm wahrscheinlich schon das blöde Telefon mit verärgerten Nachrichten fluten! Er stemmte sich hoch, wusch die Hände, streifte die Schlappen vor dem Verschlag ab. "Ich hab deiner Mutter übrigens geschrieben, dass du bei eurem Klassensprecher pennst, weil ihr so eifrig lernt und gar keine Pause kennt." Widerlich, wie süffisant der Kerl grinsen konnte! Da dämmerte Natsumu die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage. "Wie kommst du dazu, dich an meinem Telefon zu vergreifen?! Das ist strafbar! Mindestens!" Was diesen Delinquenten nicht mal aus der Ruhe brachte. "In Anbetracht der Umstände glaube ich nicht, dass du dich beschweren kannst, mein Hascherl." Natsumu kochte, ballte die Fäuste, was mittlerweile wieder problemlos funktionierte. "Ich bin nicht dein Hascherl, du Stachelschwein-Fresse! Wo sind meine Sachen?!" Streckte ihm dieser Drecksack doch glatt seine aufgespießte Zunge entgegen! "Tasche da, Klamotten auf der Leine." Hastig riss Natsumu wenigstens seine Schultasche in Sicherheit. "Wieso Leine?! Hast du Verbrecher nicht mal nen Trockner?!" "Nö." "Wo ist die verdammte Leine?!" Schon wieder dieses dämliche Grinsen! "Am Ständer. Draußen. Vor der Tür, Treppenabgang." Natsumu fluchte. Selbstverständlich wollte er nachsehen, sich über den Trocknungsgrad seiner Kleider informieren. Sollte er es aber wagen, nackt vor die Tür zu treten?! Spät war es schon, in der Nacht, da guckte wahrscheinlich niemand gerade runter. Andererseits, bei seiner ENORMEN Pechsträhne, patrouillierte gerade dann ein Tugendwächter durch die Nachbarschaft, leuchtete die Straße aus! Er legte auf den nackten Sohlen eine Kehrtwende hin, funkelte Stitch an. "Und jetzt?!" ~+~+~* Stitch klopfte gelassen auf die Matratze neben sich. Prompt verschränkte Natsumu die dünnen Arme demonstrativ vor dem schmächtigen Brustkorb, reckte das Kinn. "Warum machst du es dir nicht einfach gemütlich, hm?" Selbstredend wollte er den kleinen Hagestolz provozieren, der so richtig in der Klemme steckte, trotzdem noch nach allen Richtungen keilte. "Könnte dir so passen!" Giftete der auch prompt. "Willst mich noch mal befingern, was?! Aber die Scheiß-Drogen wirken nicht mehr!" DAS klang triumphierend. Stitch grinste. "Was denn, mein Hascherl, du glaubst doch nicht, dass die Drogen dich in eine selige Ohnmacht befördert haben, hm?" Sofort zogen sich kriegerisch die feinen Augenbrauen zusammen, was man durch das Aufschnauben der überlangen Ponysträhnen ohne Vertun erkennen konnte. Kein Kampfstier hätte prächtiger zum Angriff blasen können! "Na klar, was denn sonst?! Überhaupt war das ein technisches Foul! Ohne Schwanz drin zählt nicht!" Nun konnte Stitch gar nicht anders, als eine gepiercte Augenbraue sichtbar zu lupfen. So langsam keimte in ihm ein gewisser Verdacht auf, dem er ungeniert nachgehen wollte. "Ganz schön aufgeblasen!" Bürstete er das aufgestellte Fell betont gegen den Strich. "Du denkst wohl, das war eine Eintagsfliege, wie?" Natsumu bleckte die Zähne selbstsicher. "Selbstverständlich! Sonst wäre da aber mal so gar nix gelaufen!" Die Steilvorlage. "Wollen wir wetten? Oder traust du dich nicht?" "Pah! Keine Chance, dass du gewinnst!" Er streifte sich die Kopfhörer ab, deponierte sie ordentlich neben seinem Bett, setzte sich auf, um selbstbewusst T-Shirt und Hosen abzustreifen. "Wer nicht wagt, der nicht gewinnt." Ließ er Natsumu wissen, der bloß verächtlich schnaubte, aber sich dazu herabließ, zum Bett zu kommen. Stitch lächelte in sich hinein. »Hascherl, du hast ja keine Ahnung...«. ~+~+~* Natsumu biss die Zähne aufeinander, bis seine Kiefergelenke knirschten, was nicht half. »Kannst-du-vergessen!« Atmete er zischend. Er würde sich doch nicht von dieser menschlichen Pinnwand besiegen lassen! Dem würde sein doofes Grinsen noch vergehen! Energisch ballte er die Fäuste, zog die Zehen ein. Hah! Sollte der Kerl doch mal versuchen, ihm beizukommen! Würde sich schon umschauen, aber hallo! ~+~+~* Stitch leckte sich über die Lippen, touchierte den kleinen Ring in der Mitte. "Na, mein Hascherl, gefällt's?" Neckte er Natsumu amüsiert, dessen Lider heftig flatterten. Alle Anspannung, dessen derer sich befleißigt hatte, um ihn aber so was von einzunorden, perdu! In heftigen, unkontrollierten Bewegungen entladen. Der schmale Brustkorb hob sich in hastigen Atemzügen. Die alerten Brustwarzen glänzten noch dezent von seinem Speichel. Sichtbare Sehnen zuckten in den Innenseiten der Oberschenkel, unter dem flachen Bauch. Vermutlich VERSUCHTE Natsumu, aufzubrausen, die eingekräuselten Mundwinkel verrieten es, aber wer sich gerade vernehmlich die Lust aus dem schlanken Leib gestöhnt und geseufzt hatte, der brauchte mehr Spucke für eine Schimpftirade. "Du sollst aber nicht glauben, dass es pures Glück des Einfältigen war." Stitch zwinkerte herausfordernd, wischte klebrige Ponysträhnen aus der gerunzelten Stirn. "Deshalb legen wir gleich nach." Nachdem die mit leichter Verzögerung übermittelte Botschaft analysiert worden war, trachtete Natsumu tatsächlich danach, die Beine anzuziehen. "Nicht doch, mein Süßer, das zweite Mal kommt noch besser!" Schnurrte Stitch in diabolischem Amüsement. Wie erwartet reagierte Natsumu nicht in Panik, sondern aufbrausendem Trotz. Die Augen hätten Laserstrahlen versenden können! Der Rest seines sehr appetitlichen Körpers dagegen war nicht zu Widerstand aufgelegt. Stitch ging ungeniert zum Angriff über, denn auch die zweite Halbzeit wollte er so richtig auskosten! ~+~+~* Kapitel 25 Natsumu erwachte langsam, mit einem ungemütlichen Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit. Als er endlich die letzten Ausläufer des Schlafs abgeschüttelt hatte, sich hoch stemmte, erklärte sich ihm auch plakativ, warum. Erstens, er befand sich noch immer in der Räuberhöhle des depperten Gesichts-Nadelkissens. Zweitens, neben ihm, auf einem Klapptisch, warteten eingepackte Reisbällchen, eine Thermosflasche und ein Schlüssel. Drittens, auf einem Sitzkissen daneben stapelten sich seine gefalteten Kleider säuberlich. Viertens... Natsumu raufte sich wild die Haare, knurrte heiser, so laut, wie er sich traute. Er fischte ein Kopfkissen heran, brüllte in dessen Füllung sämtliche Schimpfworte, die ihm in den Kopf kamen. Danach ließ er sich rücklings wieder auf die Matratze plumpsen. Was für eine SCHANDE! Gefolgt von Verwünschungen zu dem miesen Geschick dieses Quasi-Verbrechers! Nachdem er einige Minuten kraftvoll mit Fersen und Fäusten auf die Matratze gehämmert hatte, atmete Natsumu tief durch. Schöne Scheiße! Da hatte er sich ja was geleistet. Wahrscheinlich würde der Blödmann ihn bis jetzt zum Sankt Nimmerleinstag aufziehen! Er setzte sich auf, sortierte seine Glieder. Positiv konnte festgehalten werden, dass er offenbar die Neben- und Nachwirkungen der verdammten Drogen abgeschüttelt hatte. Er angelte seine Schultasche heran, fischte sein Mobiltelefon heraus, konsultierte die dort wiedergegebene Tageszeit und die Nachrichtenlage. Eine höfliche Ermahnung seiner Mutter, sich bloß anständig zu betragen, bei nächster Gelegenheit ein Dankespräsent zu überreichen. "Hrmpf!" Kommentierte Natsumu. Er war ja kein Kleinkind mehr, also wirklich! Die nächste Nachricht von "Delicate Man". Klar, der hatte ihn versetzt, versetzen müssen, weil unerwartet Überstunden angesetzt wurden! "Leck mich!" Schnaubte Natsumu, knurrte. "Nein, leck mich nicht mehr!" Auch noch eine Mitteilung vom Bewohner dieses Horrorkabinetts! [Guten Morgen, mein Hascherl. Wenn du dich gestärkt hast, schließ bitte ab und deponier den Schlüssel im Briefkasten. Stitch] "Ja, danke auch, wäre ich von allein nie drauf gekommen, bei dem Rebus hier auf dem Tisch!" Aber das wütende Fauchen half seiner Unzufriedenheit nicht ab. Vor allem, weil der Adressat ja nicht antworten konnte, um mal so RICHTIG angemeiert zu werden! Natsumu entschied, sich ungebührlich zu verhalten, indem er rasch duschte, dabei die Nasszelle durchstöberte, was ihm lediglich verriet, dass der Depp recht minimalistisch ausgestattet war, kein Makeup benutzte und allein lebte. "Arsch." Grummelte Natsumu unzufrieden. Er frühstückte im Stehen, während er weiter stöberte. Immerhin hatte der Saftsack ja SEIN Telefon einfach ausgespäht! Was er fand, bestätigte jedoch nur seinen ersten Eindruck: die schon bekannten grässlichen Klamotten, in einer Schachtel irgendwelcher Kram für die Inliner, eine Kiste mit Erste Hilfe-Material. Kein Erwachsenen-Spielzeug, bloß Gummis und Love-Gel, ein Gleitgel-Stick. ÖDE! MEGA-ÖDE! Kopfhörer und ein Internet-Radio, dazu eine Bilderwand mit altmodischen Foto-Ausdrucken, lauter schräge Figuren in dem Horror-Outfit mit Sonnenbrillen, hochgezogene Tücher vor Mund und Nase, depperte Inliner-Ausrüstung, von irgendwelchen Touren, wie es aussah. "Pah!" Schnaubte Natsumu, studierte die aufgespannten Poster abschätzig. Komische Bandnamen, überkandidelte Aufmachung, morbide Motive! Natsumu hörte selten Musik, zumindest freiwillig. Das meiste war nach seinem Empfinden irgendwelches Pop-Gedudel mit austauschbaren Akteuren, langweilig, künstlich, abwaschbar, belanglos. Aus Diskussionen mit seinen Klassenkameraden hielt er sich heraus, weil er Leute schlichtweg verabscheute, die auf Idols oder -gruppen abfuhren! Wie bescheuert war das denn?! Da wurden irgendwelche zurechtgemachten Püppchen nach Geschmacksrichtungen zusammengestellt, trällerten Schwachsinn in die Landschaft, hupften möglichst synchron in lächerlichen Kostümen herum, Plastik von Zehen bis zu den Haarspitzen! Totale Kommerz-Kacke! Das waren schon keine echten Menschen mehr, das waren Platzhalter-Objekte für banale Vorstellungen irgendwelcher Loser! Daran war nichts Echtes, nichts Bedeutendes, nichts Wertvolles! Wenn man keinen Bock mehr hatte, wurden sie eben weggeschmissen, wie der ganze Klimbim, für den sie ihre Fresse und sonst was hingehalten hatten, die unvollkommenen Vorläufer von Robotern und Avataren. Nein, Natsumu schnaubte, da kannte er kein Pardon. Das war kein Geschmack, das war bloß Gelddruckmaschinen befeuernder Endlager-Müll! Da ging Cosplay noch eher, die gaben wenigstens ehrlich zu, dass sie verkleidet waren, bloß was nachspielten! Aber all der andere Scheiß, die Posiererei, Macker-Attitüden, vor dem Management kriechen: zum Kotzen! Die vertraute Wut auf all das half jedoch nicht, von einer profunden Wahrheit abzulenken. Stellte Natsumu grummelig fest, als er den Teller und die Thermosflasche reinigte. Stitch hatte ihm zweimal hintereinander, also sequentiell, verdammt geile Orgasmen verschafft. Mist! Mist Mist Mist! ~+~+~* Natsumu hielt sich nicht für einen Idioten. Impulsive Aktionen brachten bloß vermeidbaren Ärger ein. Nicht, dass er Ewigkeiten für eine Entscheidung benötigte, aber vorher mussten die Optionen gründlich erwogen werden. Deshalb ließ er einige Tage verstreichen, um das ereignisreiche Wochenende auf Konsequenzen hin zu bewerten. Punkt 1: auf "Delicate Man" konnte er definitiv verzichten. Erst die Sache mit dem Porno-Hascherl, dem er "nachgezogen" worden war, dann die, nun ja, Performance. Ehrlich, bei der Rückschau empfand er nicht mal mehr das Bedürfnis, dem alten Sack ein paar Feststellungen zukommen zu lassen! Punkt 2: die beiden unbekannten Scheißer. Auf dem Board hinterließ er eine entsprechende Warnung. Auch ohne Igel-Gesichts aufdringliche Kommentare war er überzeugt, dass die diese Nummer schon mehr als einmal abgezogen hatten. Punkt 3: die Gesamtsituation war NICHT befriedigend. Jedes Mal, wenn er das Board konsultierte, ödete ihn die Konversation dort an. Sollte er wirklich noch mal eine halbe Ewigkeit darauf verwenden, einen Sex-Partner aufzutreiben?! Andererseits, da schlug Punkt 4 zu: die Waschraum-Variante blieb außen vor. Was aber tun?! Er musste einen richtigen Kerl angeln, der zu ihm passte, die Möglichkeit offerierte, irgendwo zur Sache zu kommen, nicht bloß hastig im Stehen im Pissoir! Das würde bloß nicht so einfach sein, so viel erkannte Natsumu ja selbst! Die naiv-doof-süßer Knabe-Pose konnte er jetzt NICHT mehr vorgeben, keine Chance! Immerhin verfügte er jetzt über Erfahrung. Seine Geduld nahm rapide ab mit dem ganzen Bienchen-Blümchen-Schmus, den man vorgeben musste. Dabei ging es doch bloß ums Eine! Wie sollte er das jetzt angehen? Außerdem, da biss die Maus keinen Faden ab, war das Grundproblem auch nicht gelöst, plagte ihn deshalb enervierend. Man hätte es lösen können, wenn er nur ein wenig schneller gewesen wäre, verflixt! Denn es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass es einen Typ gab, der Jungfrauen "erlöste". Technisch gesehen zählte sich Natsumu nicht mehr zu der Gruppe, klar, aber warum sollte er sich nicht einen Experten-Einsatz gönnen?! Dummerweise hieß es auch, dass der "Jungfern-Meister" sich erst kürzlich "zur Ruhe" gesetzt habe. Verdammt, verdammt, verdammt! Nicht hilfreich waren Stitchs regelmäßige Nachrichten, der ihm ja damit indirekt zu verstehen gab, dass er es einfach nicht drauf hatte! Was Natsumu herausforderte, dem Blödmann zu antworten, dass der ja wohl kaum als großer Blicker durch die Landschaft zog! Nur weil der eben mal geschickt gegrapscht hatte (und geleckt und geknutscht, jaja, geschenkt!), hieß das noch lange nicht, dass der Bescheid wusste! Natsumu hasste die drei sich anschließenden Wochenenden. Eigentlich war für ihn Samstagabend nach der letzten Schulstunde und Sonntag "Auszeit"angesagt: nicht angepasst, artig den ganzen Alltagsmist aushalten, sondern "echt sein". Da wollte er NICHT nach anderer Leute Regeln tanzen, irgendwas unternehmen müssen, bloß weil das anderen angeblich gefiel! JETZT frustrierte ihn die fehlende Lösung, jedes Board-Durchblättern, die Entdeckung, dass "Delicate Man" mutmaßlich als "Monsieur Rose" schon wieder nach einem anderen Deppen die Netze auswarf! Dazu der dämliche Nadel-Kissen-Freak, der ihm uneingeladen erzählte, wie er auf den blöden Inlinern mit seinen Freunden Ausflüge unternahm oder sich das Hörvermögen wegsprengte bei Konzerten von Bands, die so bescheuerte Namen hatten, wie sie wahrscheinlich rumliefen. Der sich nicht mal entblödete, ihm anzubieten, etwaigen Notständen abzuhelfen! Natsumu lehnte natürlich ab, klare Sache! Immerhin hatte der Depp es ja auch nicht gebracht, damals, draußen, auf dem ehemaligen Kinderspielplatz! Frustriert blätterte er durch Online-Magazine. Aber er wollte auch nicht wie ein Trend-höriges Abziehbild rumlaufen! Dennoch, wegen der Haare musste etwas unternommen werden. Wahrscheinlich glaubten die Typen ja deshalb, er sei so ein dusseliges Hascherl! Andererseits, wenn er zum Friseur ging, wollte er auch keinen Topfschnitt verpasst bekommen oder sonst so eine Lahmarsch-Version von Durchschnitts-Dünnpfiff! Natsumu entschied, dass er DEFINITIV nach sich selbst aussehen wollte! Dummerweise war er sich aber noch nicht darüber im Klaren, wie EXAKT er aussah, also, seine Persönlichkeit, selbstverständlich. Selbstbewusst, souverän, lässig, selbstständig, aber nicht total daneben, spießig-einfallslos oder bemüht provozierend. Wenn man nicht surfte, sollte man die dämlichen Blond-Strähnen weglassen! Filzmatten a la Rastafari sahen schlichtweg lächerlich aus, wenn man bloß glatte Spaghetti-Locken zu bieten hatte! Bestimmt wollte er nicht wie einer der Idol-Fatzkes aus diesen "Johnny"-Sonst wie-Agenturen aussehen, Marke Muttis Liebling! Ohne konkrete Anweisungen wäre ein Friseurbesuch aber riskant. Wer weiß, was für Eingebungen die gerade spontan überkam?! Natsumu deaktivierte sein Telefon grollend, fixierte auf dem Rücken liegend die Zimmerdecke. Schöne Scheiße! Aber so was von! ~+~+~* Die Woche war nicht gerade ein Glanzpunkt seiner Existenz, stellte Natsumu fest. Der Samstag untertunnelte geringe Erwartungen an das Alltags-Einerlei noch um Kilometer. Gleich morgens, als er leider in einen kurzen Guss geraten war, pickte ihn am Schultor sein Klassenlehrer raus. Natsumu ahnte schon, worauf es hinauslief, noch nass und mühsam sich beherrschend. Die ganze Woche über hatte er sich mit geschicktem Toupieren ans rettende Ufer der Regelkonformität gerettet. Jetzt fiel das buchstäblich ins Wasser! Mit einem schriftlichen Auftrag versorgt, der Natsumus Mundwinkel Richtung Fußsohlen dirigierte, stapfte er durch den Samstag. Bis Montag hatte er seine Haare auf ein ordnungsgemäßes Niveau zurückzustutzen, sonst würde der Tadel zu einem Verweis werden. Na, prima! Erste Sahne! Als hätte er sich nicht selbst schon Gedanken gemacht! Frustriert und in übelster Stimmung stand er nun im Bahnhof, orientierte sich auf dem Bildschirm, der die aktuellen Geschäftspositionen ausgab. Immer wieder wechselten gerade kleinere Läden. Außerdem verfügte das weitläufige, verzweigte Gebäude mit den vier Ausgängen in alle Himmelsrichtungen über mehrere Ebenen. Natürlich konnte er auch zum Friseur daheim um die Ecke gehen, klar. Das war der, der die Opas versorgte, wahrscheinlich auch noch deren Hundchen. Nein, danke. Blieb ihm der Bahnhof mit seinen Möglichkeiten. Salons boten sich zur Genüge an, Herren-Damen-Unisex-To Go-Business oder Glamour. Qual der Wahl. Sollte er die jetzt ablaufen, sich angucken, was da präsentiert wurde bzw. rausstolperte? Natsumu schnaubte. Ihm war seine freie "Ich-Zeit" jetzt schon unwiederbringlich verhagelt! "He, mein Hascherl, suchst du was Bestimmtes?" Natsumu fauchte spontan. Mit Stitch hatte er nicht gerechnet. "Musst du nicht arbeiten oder irgendwo Leute erschrecken?!" Wieso warf den hier niemand raus, mit seinem grässlichen Klamotten-Geschmack, dem ganzen Inliner-Kram und dem Altmetall im Gesicht?! "Ah, Ärger wegen deiner 80-er-Gedächtnis-Matte?" Grinste ihn noch so unverschämt an! "Bist wohl kaum in der Position, mir was zu sagen mit dem Glockenstrang auf der Ömme!" Natsumu zischte, musste sich ermahnen, nicht lauter zu werden. Ehrlich, bei dem Typen brannten bei ihm alle Sicherungen durch! Was den nicht störte, nein, der hängte mal wieder sein Leckbrett mit dem Türknauf drin zum Lüften aus dem Schandmaul! "Ich kenn einen tollen Laden in der Nähe. Komm mit." "Danke, nein, bei deinem Geschmack kann das nur eine Geisterbahn sein!" So spinnert und bedürftig war er ja nun wirklich nicht! Schon wieder präsentierte der sein blödes Gebiss wie bei der Zahnpasta-Reklame! "Na schön, drehen wir hier die Runde, aber ich garantiere dir, du wirst nichts finden, was dir gefällt." Natsumu ballte die Fäuste. "Ich hör wohl nich richtig?! Subtrahier dich einfach, ich komm klar!" Was der Nadelkissen-Nachahmer offenbar nicht beabsichtigte, nur vielsagend feixte. "Depp!" Ha! Der würde sich schon schleichen, wenn der merkte, dass er tatsächlich jeden Laden überprüfte! ~+~+~* Stitch schmunzelte, heftete sich auf seinen Flipflops ungeniert an Natsumus Fersen. Dessen missmutiges Schlappen in den College-Slippern verriet mit jeder Station den mühsam gebändigten, anwachsenden Groll. Klar, Natsumu wusste, wie Stitch vermutete, ziemlich genau, was er NICHT wollte: nicht wie die anderen sein, nicht wie ein weiteres Guss-Muster des Durchschnitts, glatt, gefällig, unsichtbar. Andererseits beachtete er die Regeln. Seine abschätzige Grimasse gegenüber stilsicher herausgeputzten Jugendlichen, die Punks kopierten, sprach Bände. Im Bahnhof trafen sich auch die, die ihre Hobbys pflegten, bevor sie gemeinsam ein Plätzchen suchten, um sich sehr brav auszutoben, Choreographien einzustudieren, Musik zu hören (leise) und zu posieren. Nicht nur Cosplays, auch andere Strömungen vergangener Zeiten fanden sich. Je aufwändiger und perfekter die Kopie, umso größer das Aufsehen und die Bewunderung. Aber eben Kopien, und das Hascherl mit dem grimmigen Flunsch vor ihm wollte Original sein und bleiben, auch äußerlich! Er versorgte sich mit einem geschabten Eis, spazierte lässig hinter Natsumu her. Man konnte förmlich die komprimierte Wut in der Luft bizzeln spüren. Höflich lächelnd wartete er an der letzten Station auf die nächste Attacke. ~+~+~* Natsumu knurrte vernehmlich, ignorierte das verschreckte Aufkläffen einer Fußhupe neben einem dicklichen Büro-Hengst. Sollte der Mini-Köter eben weghören, wenn ihm gerade die nicht vorhandene Hutschnur durchsengte! Das Ende der Fahnenstange war nämlich soeben erreicht. Keiner der blöden Salons entsprach seinen Anforderungen, schreckte eher ab! Besser wurde es natürlich nicht dadurch, dass der dämliche Stachelschwein-Verehrer hinter ihm hämisch lauerte! Natsumu erwog ernsthaft, zur Busstation zu marschieren, sich zu Hause eine verdammte Schere zu schnappen. Zum Teufel mit diesem ganzen Mist! Aber seine persönliche Eitelkeit legte ein entschiedenes Veto ein. Gesetzt, er säbelte sich selbst überschüssige Zentimeter ab, löste es das Problem ja doch nicht, sähe er weiter nach einem treu-doofen-Porno-Hascherl aus. Das half bei den anderen akuten Notlagen ja wohl gar nicht! Außerdem kotzte ihn jetzt gerade alles so RICHTIG an, volle Lotte, da wollte er diese Energie nicht nutzlos verpuffen lassen! Wenn schon Brass bis unter die Krause, dann Bleifuß! Er fegte auf den flachen Absätzen herum, visierte Stitch aufgebracht an. "Wo ist dieser verdammte Laden?!" ~+~+~* Stitch schmunzelte in sich hinein, gab weiter den jovialen, dickfelligen Pfadfinder. Natsumu fauchte selbstredend, als sie zwei Stichstraßen jenseits des Ostausgangs in einem schmalen Haus in den Keller strebten. "Was für ne subterrane Spezies seid ihr eigentlich?!" Nun konnte Stitch ein Grinsen nicht unterdrücken. Natsumus Wut auf alles und jeden, sowohl generell wie auch speziell, fand er sehr erfrischend. Er zwinkerte Yumiko zu, die sich auf das vernehmliche Klingeln des Windspiels am Türvorhang hin zu ihnen umdrehte. "He, Stitch, so ne Überraschung!" "Hier auch." Gestikulierte er frech auf Natsumus Schopf in dessen Windschatten. JETZT würde es spaßig werden! ~+~+~* Natsumu bemühte sich, höflich aus der geladenen Wäsche zu gucken. Klar, die Bude stellte noch so ein Horrorkabinett dar, vollgestopft mit morbidem Klimbim! Die Wände konnte man nur vermuten, zwischen Spiegeln klebten alle möglichen Bilder, Sticker, Fotos und anderes Gelump. Ganze zwei Stühle vorhanden. Superb. Dazu diese Yumiko! Vorne eine Tolle wie ein Enten-Arsch, hinten hoher Zopf, Schmetterlingsbrille mit Glitzersteinchen drauf! Kostüm wie Minnie Mouse, oben weißes Blüschen, unten riesiger, roter Rock mit weißen Tupfen über einem Petticoat. Was sollte das darstellen?! Wenigstens waren bloß die Ohren mit Altmetall rundum versiegelt. Bevor er sich umentschließen konnte, hatte sie schon einfach eine pinkfarbene Nadel in seine Haare geklemmt, um sein Gesicht freizulegen! "Ja, tatsächlich, ist ein Mensch unter dem Vorhang." WITZIG! "Wie alt bist du, sagtest du?" "Ich-ER hat-hab GAR NICHTS GESAGT!" Natsumu fegte herum, um Stitch anzufunkeln, der synchron mit ihm in ungezogener Kopie seiner Stimmlage gesprochen hatte. Der ließ mal wieder sein hässliches Leckbrett hängen! "Igitt! Roll den alten Perser ein, will hier niemand sehen!" Was bildete der sich auch ein, ihn hier lächerlich zu machen?! "Schön, was hast du dir denn vorgestellt?" Natsumu saß, bevor er aufbrausen konnte. "Er will nach sich selbst aussehen." Plapperte der Vollpfosten aus der letzten Reihe doch glatt! "Dich hat niemand gefragt!" Schnauzte Natsumu wütend. Woraufhin Yumiko in schallendes, vollkommen undamenhaftes Gelächter ausbrach. ~+~+~* Stitch verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich bequem an. Die Notlage zähmte Natsumu ausreichend, sich halbwegs zivil zu verhalten. Vielleicht hoffte der aber auch auf einen sichtbaren Anlass, um ihm danach einen reinzuwürgen, sozusagen als Ausgleich wegen der verlorenen Wette. Stitch zweifelte nicht, dass dieser Umstand noch heftig an Natsumu nagte. Yumiko arbeitete geübt und flink: erst kurzer Sprühnebel mit Wasser, Wirbel auskundschaften, Haarstruktur und -beschaffenheit, danach legte sie los. Er war gespannt, was sie aus dem Hascherl wohl machen würde. ~+~+~* Auch wenn es deprimierend war, hoffte Natsumu auf eine mittlere Katastrophe. Da hätte er Grund, mal so richtig aus dem Hemd zu springen, dem dämlichen Stecker-Freak seine angemaßte Allwissenheit um die Ohren zu hauen! Noch wischte ihm der Pinsel über die geschlossenen Augen (wegen der Pony-Bearbeitung). Mit Verve wurde der Kittel entführt. Natsumu blinzelte, um die Wimpern zu entwirren, studierte sich in der Spiegelparade. Das war verblüffend! Hinten hatte er ordentlich Haar gelassen, durchgestuft, sehr kurz, der Nacken frei. Sein Pony war stark ausgedünnt in eine Art Zacken geschnitten worden, die sehr viel mehr von seiner Stirn sehen ließen, von Augen und Augenbrauen ganz zu schweigen. An den Schläfen blieben die Strähnen glatt und lang in Pfeilform bis zu den Ohrläppchen, um auf seine Kieferlinie dort hinzuweisen. Natsumu mochte seine etwas puttenhafte Gesichtsform nicht sonderlich (auch wenn er das NIEMALS eingestehen würde!). Die Augen wirkten zu groß, standen zu weit auseinander, das Kinn zu rundlich, alles zu niedlich, kindlich, beinahe wie eine kitschige Manga-Figur! Er wollte aber nicht niedlich-kindlich-bübchenhaft sein, weil er das schließlich nicht war! Wirkte immer so, als täusche er etwas vor. Jetzt, mit diesem sehr ungewohnten Haarschnitt, fühlte er sich exotisch, garantiert nicht irgendeiner Schublade zuzuordnen. "Na, bewegen wir uns innerhalb der Parameter der Schulordnung?" Yumiko grinste hinter ihrer überdimensionierten Schmetterlingsbrille. Natsumu brummelte unverständlich. Na toll! Jetzt würde ihn der gespickte Freak bis zum Ende aller Tage aufziehen, führte 2:0. Einfach prächtig! ~+~+~* "Gefällt mir, sehr mondän." Stitch wusste, dass seine Komplimente als Katalysator dienten, um Druck aus dem Kessel zu lassen. "Oh, das erleichtert mich aber UNGEMEIN!" Fauchte Natsumu, der für einige Minuten erschreckend ruhig geblieben war. "Überhaupt, du brauchst mich nicht zu begleiten, klar?! Bin keine Tussi!" Stitch grinste in sich hinein. Ah, Rumpelstilzchen-Modus wieder aktiv. "Aber was, wenn irgendein Kerl dir auflauert und dich gleich vernaschen will, wo du so appetitlich ausschaust?!" "Pff!" Man zuckte demonstrativ mit den Achseln. "Wenn der seine Sache anständig macht, hab ich nichts dagegen!" Ja~ha, das stand zu vermuten. Stitch drehte ungeniert eine elegante Pirouette. "In dieser Hinsicht bist du bis jetzt aber nicht gerade vom Glück gesegnet worden." Ein bisschen Anspitzen musste sein. "Und?! Die Welt wird ja wohl nicht nur aus Luschen bestehen, die es nicht bringen!" "Schon möglich, aber wie willst du den passenden Hengst einfangen?" Natsumu grollte. Stitch WUSSTE, dass er ins Schwarze getroffen hatte. "Es gibt natürlich gewisse Möglichkeiten." Lockte er. Ein prüfender, misstrauischer, ärgerlicher Seitenblick streifte ihn. Für einen Augenblick erwog Stitch, dem aufbrausenden Hascherl ans Herz zu legen, fortan seine Gesichtszüge besser zu kontrollieren. Mit dieser neuen Frisur samt kurzem Zacken-Pony konnte man ihm nämlich allzu deutlich die Gedankengänge ansehen! "Allerdings ist das nur für Erwachsene." Schränkte er lockend ein, um den nächsten Tiefschlag anzusetzen. "Man muss natürlich wissen, was man will. Damit meine ich, GENAU über sich selbst Bescheid wissen." Vor ihm verdrehte Natsumu demonstrativ die Augen. "Danke, ich weiß genau, was ich will! Einen richtigen Schwanz, der mich auf Touren bringt." Stitch registrierte, dass sie die Straße erreicht hatten, in der sich Natsumus Appartement befand. Hier sollte niemand mehr lauern. Deshalb feixte er frech, schraubte seine patentierte Sonnenbrille herunter. "Hascherl, wenn du dir selbst keinen Orgasmus verpassen kannst, hast du KEINE Ahnung!" Natsumu fauchte lautstark, schwang sogar die Schultasche wütend nach ihm. Stitch, der sich locker das Tuch über den Nasenrücken schob, entwischte ihm mühelos gleitend, ließ sein höchst amüsiertes Lachen hören. Jetzt hieß es, geduldig auf die nächste Detonation zu warten. ~+~+~* Natsumu entließ etliche Schmähungen in sein Kopfkissen. Was bildete sich dieser durchlöcherte Spinner ein?! In ihm gärte es, vor allem, weil er beim Abendessen auch noch die Regelkonformität seiner neuen Frisur betonen musste. Seinen Eltern war dieser Schnitt nicht ganz geheuer. Ob er irgendwelchen subversiven Personen nacheiferte? Die Gegenwarts- oder Jugendkultur war ihnen fremd, stellte auch kein Territorium dar, das sie zu erobern wünschten. Von ihrem Sohn erwarteten sie, dass er auf der teuren Privatschule lernte, sich auf seine Zukunft im Arbeitsleben vorbereitete. Und lernte. Und lernte. Und gute Notendurchschnitte mitbrachte. Und lernte. Irgendwelche vagabundierenden Interessen, die von diesem Schema abwichen, waren ihnen nicht willkommen. Natsumu sah sich trotz seiner Wut auf Stitch genötigt, in wohlgesetzten Worten zu begründen, warum dieser Haarschnitt seine Schulkarriere NICHT beeinträchtigte. Enerviert, was er sich nicht anmerken lassen durfte, rollte er nun auf seinem Bett in die Rückenlage. Es gab andere Boards, bei denen es um Verabredungen zum Sex ging. Da hatte der eingebildete Pinnwand-Schädel ja nichts Weltbewegendes offenbart! Eigentlich die Antwort auf sein eigenes Interesse. Nur, das bremste leider jede Nützlichkeit aus, achteten die Boards drauf, dass ihre Mitglieder nicht minderjährig waren, um keinen Ärger zu bekommen, weil sie ja nie sicher sein konnten, dass sich nicht verdeckt dort auch "Tugendwächter" herumtrieben. Außerdem galt es, bestimmte "Varianten" auszuschließen, die strafbewehrt waren. Theoretisch könnte man sich wohl mit einem gefälschten Altersnachweis doch den Zutritt verschaffen. Natsumu hatte keine Idee, wie er das erfolgreich bewerkstelligen wollte. Was jedoch noch ärgerlich an ihm nagte, OBWOHL er diese blöden Boards ja noch einige Zeit nicht beanspruchen konnte, war die hämische Bemerkung danach, die Sache, die ihm zu schaffen machte. Aber was wusste der gespickte Depp schon, spielte sich auf, nur weil er mal, nun gut, drei Mal nen Treffer gelandet hatte! Allerdings auch nicht da, wo es zählte, jawohl! Natsumu entschied, dass er vielleicht die Trockenübungen aufnehmen sollte. Er würde schon den richtigen Schwanz auftreiben! Der sollte sich bloß nicht so aufblasen, der Schwätzer! ~+~+~* Natsumu erwartete, am Montag kontrolliert zu werden. Dass man um ihn herum paradierte, ihn beäugte, den Klassenlehrer herbeirief: ein lächerlicher Zirkus! So musste er, mit streng gefrorenen Gesichtszügen, ERNEUT und MEHRFACH versichern, dass er nicht beabsichtigte, seinen einzigen Daseinszweck zu vernachlässigen. Seine Frisur hinderte ihn nicht am ständigen Pauken, danke der Nachfrage! Auf einer gewissen Ebene konnte Natsumu dieses Aufheben verstehen. Es wurde viel Geld bezahlt, damit aus all den Beschulten Pauk-Automaten wurden, die durch unablässiges Wiederholen und Methodik die anspruchsvollen Aufnahmeprüfungen bestanden, anschließend im Studium lernen konnten. Das hier war kein Ort für besondere Talente, für Sportskanonen oder musisch Begabte. Hier wurde der Durchschnitts-Jugendliche auf die Befähigung getrimmt, zu lernen, Prüfungen zu absolvieren und in diesem Zusammenhang zu funktionieren. Nicht mehr, nicht weniger. Es ging nicht um Persönlichkeitsbildung, Innovationen, Verfolgung von Neigungen oder besondere praktische Fähigkeiten. Der obligatorische Sportunterricht konzentrierte sich auf das Vermeiden von Fehlhaltungen und Spannungsschmerzen durch das stundenlange Sitzen, Notieren, Tippen. Für einen (Haushalts-)Alltag konnte man hier kein Rüstzeug erwerben. Allenfalls Umgangsformen wurden thematisiert, damit man im Prüfungs- und Vorstellungsgespräch nicht aus der Rolle fiel. Natsumu haderte nicht mit dieser Fron. Auf die eine oder andere Weise musste Schule und Lernen absolviert werden, da gab es keine Zweifel. Besondere Fähigkeiten hatte er bei sich bis dato nicht entdeckt. Er fürchtete daher nicht, als unbekanntes Genie zu versauern. Außerdem hätte er nicht mal gewusst, wie er mit seinen Eltern über eine alternative Ausbildungsform diskutieren sollte. Ihre Kommunikation verlief schon seit Jahren auf den Punkt, zur Sache, höflich, häufig auch förmlich. Sein aufbrausendes Temperament konnte dementsprechend nur eine gewagte Laune der Natur sein, nicht aber dem genetischen Vorbild geschuldet. Zudem, da arbeitete sein Argwohn eifrig mit, schien es nicht opportun, die eigenen Eltern ohne Not darauf zu stoßen, dass man eigene Vorstellungen hegte, von dem, was einem wirklich etwas bedeutete. Also lieber unter dem Radar fliegen, die Freiräume genießen, die sonst zweifellos verschwinden würden. Im Eltern-Management stellte sich Natsumu selbst ein gutes Zeugnis aus. Er agierte so, wie sie sich das vorstellten, was Aufsicht, Auflagen und Gängelungen auf ein Minimum reduzierte. Man durfte nicht vergessen, dass man noch für eine längere Zeitspanne auf Gedeih und Verderb den eigenen Erzeugern ausgeliefert war. Natsumu empfand sein Vorgehen als geschickt, keineswegs als Täuschung oder Pose. Sechs Tage die Woche präsentierte er sich so, wie man ihn sehen sollte, pflegeleicht, unauffällig, harmlos. Der Rest der Zeit gehörte ihm selbst. Da konnte er dieses Korsett aus Erwartungen abstreifen, sich selbst einen "Mehrwert" der eigenen Existenz verschaffen. Weshalb nun, eingedenk der prüfenden Blicke, besonders samtpfotiges Auftreten angeraten war: in der Durchschnittlichkeit verschwindend, sich auflösen in der Bedeutungslosigkeit. So weit, so gut. Hatten sich alle erst mal an sein neues Aussehen gewöhnt, müsste er nicht mehr so sehr auf der Hut sein, könnte sich wieder den wirklich relevanten Problemen widmen. ~+~+~* Natsumu hatte sich am folgenden Samstag schnurstracks zum Bus und nach Hause begeben. Das sollte selbst das misstrauischste Gemüt beruhigen! Während er nun in seinem Zimmer daran feilte, die unverschämten Andeutungen dieses Gesichts-Igels zu widerlegen! Sich einen von der Palme wedeln, das konnte er auch, aber einen Orgasmus, das musste ja Quatsch sein! Wie beim Kitzeln, das konnte ja nicht funktionieren, klare Sache. Natsumu operierte geübt mit dem Dildo. Warum der alte Sack etwas gegen Vibratoren hatte, ihm aber die Brustwarzen elektrisch schubbern ließ, konnte Natsumu nicht beantworten. Dahinter steckte wohl eine Logik, die sich ihm nicht erschloss. Etwas unbequem und ziemlich lästig, mit dem Kunststoff-Prügel (kein sehr naturalistisches, übertrieben dimensioniertes Modell) die geölte Gleitbahn zu stopfen. Natsumu hatte schon mehrere Varianten erprobt. Der Pömpel konnte auch festgesteckt werden, für den gepflegten Herrensitz, doch Bewegung jeglicher Art war von ihm selbst zu erbringen. Tja, irgendwie ging das Gefühlsspektrum nicht über eine "Erleichterung" hinaus. Da baute es sein Selbstbewusstsein auch nicht gerade auf, dem Board zu entnehmen, dass so ein "Liebe Dich selbst-Guru" die mentale Ebene plakativ auswalzte, die "Kopfsache" zur Chefsache erklärte. Mit den richtigen Phantasien und entsprechendem Engagement könne man sogar OHNE jeden Körperkontakt zum Höhepunkt kommen. Natsumu zweifelte frustriert an dieser These. Außerdem nervte es doch gewaltig, sich diesen ganzen imaginären Schmarrn vorzuspulen, wenn man bloß mal physisch so richtig ein Feuerwerk abfackeln wollte! Immerhin ging es ja um Körper, sonst konnte man sich den ganzen Firlefanz sparen! Nun, um Bilanz zu ziehen, Hilfsmittel im Rektum brachten auch nicht den gewünschten Erfolg, trotz engagierter Bemühungen. Hässlich jedoch wurde es, wenn man sich deprimierender Weise das Praxis-Testfeld vor Augen führte, was Natsumu ein bitteres Knurren entlockte. Keiner der sehr unterschiedlichen Typen, die ihn gerammelt hatten, löste bei ihm einen Orgasmus aus. Entweder hatte er sehr großes Pech mit seiner nicht repräsentativen Gruppe und NUR die Nieten erwischt, oder... Und dieses "Oder" nagte an Natsumus Selbstverständnis. Stimmte mit ihm etwas nicht? Machte er was falsch? Warum klappte es ohne Analverkehr mit dem Höhepunkt? So bleiben konnte es nicht, das stand für Natsumu fest. Wenn er es auf die Tour nicht schaffte, konnte er es ja gleich bleiben lassen! Immerhin musste er den Typen auch was bieten! Klar, manche kümmerte es nicht, ob der Partner auch befriedigt wurde, doch mit solchen Pennern wollte er sich ganz sicher nicht einlassen. Vielleicht fehlte ihm ja doch nur einfach die Übung am lebenden Objekt? Was zu der ungelösten Problematik der Kontaktaufnahme führte. Sollte er es noch mal im Waschraum versuchen? Aber wie? Einfach dort herumlungern, bis er angesprochen wurde? Natsumu verzog das Gesicht angewidert. Ineffizient und frustrierend. Ein anderes Board suchen? Nochmal die ganze Aufwärmphase durchlaufen, bis er endlich zum Stich kam? (Vielmehr umgekehrt!) Er seufzte geplagt. Noch immer keine Lösung in Sicht. ~+~+~* Natsumu betrat den bejahrten Waschraum, blieb jedoch im vorderen Bereich, für die "Schnell-Besucher". Er erleichterte sich am Pissoir, durchaus den Radar aktiviert, ob er irgendwem besonders ins Auge stach. Nicht, dass er gewillt war, seine unerfreulich erlernte Vorsicht zu verabschieden, aber sollte sich die Gelegenheit bieten... Der Abstecher zu dieser Örtlichkeit war erforderlich geworden, weil er sich etwas zu viel Grüntee zugemutet hatte. Von der Sorte, die kein langes Anstehen an der Automatenfront verlangte, nicht so gefragt war, aber, wie er feststellte, harntreibend wirkte. Nun, es war Samstagabend, der Bus ohne ihn abgefahren, also musste er nicht in hektische Betriebsamkeit verfallen. Noch ein aufmerksamer, aber verstohlener Blick in die Runde, als er sich artig die Hände wusch. Nein, die scheelen Blinzler in seine Richtung trugen eher seiner Frisur Rechnung. Natsumu schulterte seine Schultasche, schlenderte durch den Bahnhof. Überall wurzelten Leute, die auf ihr Mobiltelefon starrten. Ohne digitale Vermittlung schien es unmöglich, ins Gespräch zu kommen, wenn man nicht zu den alten Semestern gehörte, die ab einem gewissen Alter Narrenfreiheit für sich beanspruchten. "Na, so ein Zufall!" Natsumu fuhr erschrocken herum. Mit einer Hand auf der Schulter hatte er nicht gerechnet. Sogleich setzte er eine betont zitronige Miene auf. "Ach du Schande, das Stecknadelkissen." Stitch grinste, mal wieder im vollen Ornat, die unterschiedlichen Augen funkelten amüsiert. "Wie immer bester Laune, das Hascherl! Aber du solltest deine verkniffene Miene bügeln, sonst bleibt sie so." Natsumu fauchte giftig. "Wenn dir mein Gesicht nicht passt, schau halt weg! Bist ja selbst keine Augenweide mit dem Altmetall-Sammelsurium in der Visage!" Schon wieder dieses Lachen! Der Kerl nahm ihn einfach nicht ernst! Stitch hielt sich jedoch nicht mit dem üblichen Geplänkel auf. "Was du brauchst, ist etwas gepflegte Entspannung. Komm mit, das wird dir gefallen!" Prompt kaperte der einfach seine Hand! "Du spinnst wohl?! Ich geh mit dir nirgends hin!" Bremste Natsumu, wenn auch unvollkommen, da Stitch trotz der lächerlichen Totenkopf-Flipflops Schwung aufnahm. "Jetzt sei doch nicht so schissig, mein Hascherl! Hab dir bisher immer den vollen Genuss geboten, oder?" ~+~+~* Stitch befleißigte sich eines besonders schmierigen Grinsens, auch wenn er wirklich Mühe hatte, nicht aus der Rolle zu fallen. Natsumus inneres Rumpelstilzchen sprang erwartungsgemäß auf die Provokationen an. "Bild dir bloß nichts ein, ja?! Ohne Andocken gilt nicht!" "Wer hat denn die Regel aufgestellt?" Stitch sprach über die Schulter, schnurrte die Silben herausfordernd. Solange er das Gespräch betrieb, lenkte er seinen widerspenstigen Trabanten von ihrem Ziel ab. "Ist doch logisch!" Brauste Natsumu gerade auf. "Sonst könnte man's ja auch mit ner Frau treiben!" DAS war in gewisser Weise ein Argument. Für Bisexuelle vermutlich. "Nach dieser Logik findest du nur Männer mit primärem Geschlechtsorgan attraktiv, die dieses intern zur Anwendung bringen?" Ihn traf ein strafender Blick. "Meine Güte, ist der Groschen endlich gefallen?! Gratulation, Professor Stecknadel-Fresse." Stitch gab vor zu grübeln. "Komisch ist bloß, wie du abgehst, obwohl ich MEINE Ausrüstung nicht im Einsatz hatte." Hinter ihm ballte Natsumu die freie Hand zur Faust. Die andere konnte sich in seinem energischen Zugriff nicht ausreichend befreien, um dem Beispiel zu folgen. "Das waren bloß Unfälle. Kompensationsreaktionen, Stress-bedingt!" Behauptete Natsumu in seinem Schlepptau grimmig. Die Sorge, die es ihm bereitete, dass seine wohlfeile Erklärung der Realität nicht standhielt, konnte Stitch in der Atmosphäre spüren. Erwartungsgemäß müsste Natsumu als Nächstes mal wieder explodieren, seiner Wut ein Ventil verschaffen. »Aber nicht jetzt!« Entschied Stitch, legte einen Zahn zu. Ohne auf Natsumus Protest zu achten, der sich bemühen musste, nicht in den College-Slippern zu stolpern, flitzte er zu ihrem Ziel, einer Keller-Bar. "Bist du verrückt geworden?! Ich bin minderjährig!" Krächzte ihn Natsumu an, noch ein wenig wacklig, weil Stitch extra zwei Stufen auf einmal unter die Erde genommen hatte. "Kein Problem!" Rasch verstaute er geübt seine Ausrüstung im Schließfach, packte auch Natsums Schultasche dazu. Der zeterte selbstredend, doch Stitch stopfte die Schlüsselkarte schon in seine Hosentasche. "Rasch jetzt, gleich geht es los!" Damit lotste er sie an Everest vorbei, dessen bürgerlichen Namen niemand kannte. Frechheiten verboten sich jedoch von selbst: der bullige Türsteher entsprach den Dimensionen des Bergs, den er als Namenspatron gewählt hatte. Ein Nicken, es öffnete sich die schwere Tür. Stitch atmete unwillkürlich tief durch, spürte kribbelnde Vorfreude, von den Zehen aufsteigend. Endlich! ~+~+~* Natsumu fragte sich, ob er ernsthaft im Begriff war, seinen Verstand zu verlieren, ließ er sich doch wie ein blöder Schoßhund von diesem Freak durch die Gegend zerren, mal wieder in einen dubiosen Kellerverschlag! War ihm sein Leben jetzt schon so fad, dass er alles riskierte?! In der Absicht, die Schlüsselkarte zu fordern, wieder zu den zivilisierten Leuten ans Tageslicht zu steigen, packte er das lächerliche T-Shirt am Schoß. In diesem Moment erlosch alles Licht. Die Menge, die er nur von hinten gesehen hatte, jubelte frenetisch. Was zum Teufel ging da vorne vor?! Spärliche Beleuchtung flammte auf. Im selben Augenblick hörte er Geräusche. Laut. Durchdringend. Als wanderten die Schallwellen besonders tief durch den Boden, die Luft, die Wände, bombardierten seinen Körper, nicht nur sein Gehör. Elektrische Gitarren. Bässe. Schlagzeug. Schnell, mitreißend, aber durchaus noch melodiös. Die Menge hopste, schwenkte die Schädel, ging in dem schnellen Takt mit. Das musste wohl eine dieser grauenvollen Bands sein, die der Gesichts-Fakir verehrte! Natsumu mochte keine Musik, vor allem nicht aufgenötigt, und dieses Publikum! Aber der Sound riss ihn einfach mit, diktierte seinem Unterbewusstsein, dass es sich bewegen, springen, mitgehen wollte, lud seinen Körper mit Energie auf, brachte jeden Knochen durch die Bässe zum Singen. Die Musik korrespondierte mit seiner ständigen, unterschwelligen Wut. Die Bewegungen wurden zu einem erleichternden Ventil. Natsumu brüllte befreit im Chor der Menge mit, auch wenn die Band nur orchestral agierte! ~+~+~* Kapitel 26 Stitch schmunzelte, als er Natsumu nach einer Stunde abfischte, mit den anderen langsam zum Ausgang glitt. Das innere Rumpelstilzchen hatte sich so richtig ausgetobt, die Katharsis genossen. Da hatte sich zweifelsohne etwas angestaut! An den Schließfächern holte er ihre Habseligkeiten heraus, zog Natsumu die Treppe hoch. Vor der Kellerbar stand das Publikum noch in kleinen Gruppen, die Gesichtszüge gelöst, voller Energie, aber friedfertig. Perfektes Workout! "Stitch!" Lächelnd wandte er sich herum. Er hoffte, hier so viele Freunde wie möglich zu treffen. Natsumu an seiner Hand bremste, aber weniger dynamisch. "Gehen wir was essen! Du hast doch bestimmt auch Durst!" Das Hascherl beäugte streng die Freunde, die Stitch zu sich riefen. "Du wirst doch nicht im Hellen Angst vor den Leuten haben, mit denen du eben im Dunkeln auf Tuchfühlung warst, oder, mein Hascherl?!" ~+~+~* Lächerlich! Blöde Provokation! Aber Natsumu hatte nach dieser Stunde, die ihm viel länger und zugleich sehr kurz vorkam, tatsächlich Appetit. Er wollte nicht einfach in den Bus steigen, nach Hause gondeln, wo ihn Frustration und Langeweile erwartete. So saß er unversehens in der Filiale einer Restaurantkette, pickte ungesundes Fastfood, schlürfte flüssige Mega-Kalorien. Die Freundesgruppe, die sich zum Konzert verabredet hatte, war bunt und erstaunlich weitreichend in der Altersspanne. Zudem hatte sich der Bassist zu ihnen gesellt. In der Freizeit musizierend mit einer Gruppe, die sich bei einem Gönner einmal im Monat nach der Arbeit traf, um loszulegen. Schnell, schmutzig, hart, "Metal", Bekanntes und Improvisiertes. Anschließend ging es nach Hause oder eben mit den Fans zum Nachlegen der verlorenen Kilojoule! Natsumu fand sich als Stitchs "Kumpel" registriert, sofort miteinbezogen, immerhin galt es Neuigkeiten auszutauschen, hielt man Kontakt zu vielen anderen Leuten aus der Szene. Wobei nicht die Musik gemeint war, sondern das andere bekloppte Hobby des Stachelschwein-Gesichts! So hieß es für Natsumu, während er frittierte Kartoffelstäbchen mümmelte, Bilder und Videos begucken, inklusive Erläuterungen. "Also, da sind wir als Train, siehst du? Dabei hat jeder eine Aufgabe. Stitch ist unser Medi, zum Beispiel. Wir haben auch Scouts, Lotsende und die Rote Laterne." Ein schwarz lackierter, säuberlich gekürzter Fingernagel stippte auf Personen, die Natsumu im Ornat mit Stitch vergleichbar vorkamen. "Schau, das ist ein Ghost-Train, das machen wir in lauen Nächten. Wegen der Beleuchtung und der Warnwesten wirkt es ein bisschen gruselig." Tatsächlich konnte Natsumu sich lebhaft vorstellen, was man denken mochte, wenn da plötzlich ein ganzer Trupp lautlos angerauscht kam, spärlich illuminiert. "Das da ist ein Bullet-Train. Dafür muss man aber superfit sein, weil nicht angehalten wird. Wie beim Parcours, verstehst du?" Natsumu pflegte bezüglich sportlicher Betätigung eine sorgsam gehegte Ahnungslosigkeit. Der ging er nun verlustig, weil die junge Frau an seiner Seite, Nadia, ihn GRÜNDLICHST in die Feinheiten ihres Hobbys einführte. Was für ein Aufwand! Und warum..?! Natsumu unterdrückte ein Knurren, weil ihm just in diesem Augenblick bewusst wurde, dass er genauso über das Konzert geurteilt hätte, wäre er nicht mit energischer Konsequenz hineingezogen worden. Jetzt, das konnte er vor sich selbst nicht leugnen, dachte er anders. Es HATTE ihm gefallen. Die physische Komponente, mit der alles auf ihn eingeströmt war, konnte nach Wiederholung süchtig machen. Er fühlte sich entspannt und erholt. Aus Gründen der Selbsterhaltung sollte er wohl tunlichst Geringschätzigkeit gegenüber der Rollen-Rennerei unterlassen! Während er noch artig Aufnahmen studierte, lauschte er beiläufig der Unterhaltung um Stitch. Auch dort zeigte man Schnappschüsse, von anderen Trains und Bekannten, mit denen man Verbindung hielt, sich sogar zum "Trail-Train" verabredete, längeren, gemeinsamen Touren auf dem Land. "Sie ist schon ganz schön groß geworden, oder?" "Wer?" Nadia beugte sich rüber. "Na, Stitchs Freundin!" Da spitzte auch Natsumu die Ohren. Was er jedoch, weil man Nadia ein Telefon reichte, zu sehen bekam, war eine Schülerin von vielleicht 12 Jahren. Er fing Stitchs Blick auf, schnaubte automatisch. Konnte ihm ja egal sein, was der für verschrobene Beziehungen pflegte! "Echt niedlich, findest du nicht?" Natsumu nickte brav, um seine Nachbarin nicht zu weiteren Elogen aufzufordern. "Sehr individuelle Frisur." Kommentierte er, um nicht allzu desinteressiert zu wirken. "Weißt du, sie hat Stitch seinen Namen verpasst!" Nadia schien Quasselwasser getrunken zu haben. Natsumu konnte sich vor der nächsten Enthüllung nicht retten. Allerdings, neugierig war er schon. Ohne Fragen zu müssen lieferte ihm seine Tischdame gleich die Hintergründe der "Taufe". "Ist schon eine Weile her, da war sie noch im Kindergarten und kam gerade von einer Hochzeitsfeier auf Hawaii zurück." Man blätterte eilig, doch das Bild der Feier schien nicht auffindbar zu sein. "Egal, jedenfalls zur Vorbereitung für ihre erste Flugreise nach Hawaii hat sie sich diesen Disney-Film angeguckt, Lilo und Stitch." Die Spannung stieg. "Tja, also, als wir uns in Yokohama einander vorstellen, hört sie nicht richtig hin und hält Riyou vor, dass er höchstens Stitch, aber nicht Lilo sein könne!" Et voila, so kam man zu einem blöden Namen! Stitch, der ihnen wohl mit einem Ohr zugehört hatte, feixte Natsumu an. Der fauchte guttural, woraufhin Stitch ungeniert einen Kuss über die Distanz blies. ~+~+~* Eigentlich unbegreiflich, zumindest nach Natsumus Maßstäben, dass dessen verdrehte Freundesclique ihn als "Kumpel" einstufte, obwohl doch jeder sehen konnte, wie sehr ihm dieser Freak auf den Geist ging! Der sich nicht entblödete, ihn sogar bis zur Busstation zu begleiten! Natürlich in voller Ausrüstung, was Natsumu veranlasste, argwöhnisch die Umgebung zu sondieren. Würde sich in der Schule durch einen zufälligen Beobachter herumsprechen, mit wem er sich hier gemein machte, wäre die Frisur NICHT mehr das Hauptproblem. Sah man diesen Figuren ja auch an! Natsumu knurrte, beäugte die Wand, sich im Bett herumrollend. Die musikalische Ganzkörper- und Seelenmassage hatte ihm zu einer sehr erholsamen Nachtruhe verholfen, doch am Sonntag galt es, in der Freiheit seines kleinen Zimmers, die Situation zu bewerten. Natsumu konstatierte, dass er sich in gefährlichem Fahrwasser bewegte. Gut, die Frisur fand er durchaus passend, ja, sie gefiel ihm! Konnte ihn niemand mit diesem lächerlichen Porno-Häschen verwechseln! Zugegeben, von einer gewissen Warte aus war es auch riskant, Sex mit wechselnden Partnern zu haben. Haben zu wollen. Wenn man das kleine Problemchen einer Kontaktaufnahme IRGENDWIE gelöst hatte. Aber das stellte für Natsumu NICHT die Untiefe dar, sondern seine Bereitschaft, ganz offenkundige Vorbehalte und Warnsignale zu missachten. Diese Freaks, auf Rollen oder in dem Kellerclub, entsprachen definitiv nicht dem gesellschaftlich akzeptablen Umgang. Unseliger Weise, ausgenommen das Gesichtsnadelkissen, mochte er die ihm vorgestellten Personen. Man konnte sich doch nicht wie wild austoben, aber die Combo, die das ermöglichten, herabsetzen! "Du handelst dir Ärger ein!" Hielt er sich selbst warnend vor. Weil er die Mauern schleifte, die Zugbrücke senkte, die routinierte Verachtung mit den unangepassten, besonders individuellen Mitmenschen stecken ließ. Das konnte gefährlich werden für all die Freiheiten, die er genoss. Die nur unter der Prämisse gewährt wurden, dass er folgsam und quasi unsichtbar seinen Aufgaben nachkam. Pauken, mit dem Strom schwimmen oder eher treiben lassen, nicht aufbegehren, nichts ins Frage stellen, sich selbst immer und überall zurücknehmen, in der Rolle bleiben. Natsumu seufzte. Als Realist und Pragmatiker, so schätzte er sich selbst ein, sah er keinen Sinn in fruchtlosem Rebellentum. Das mochte ja romantisch klingen, doch vom Ende her gedacht verlor es rasch seinen Reiz. Andererseits taten diese schrägen Typen ja nichts Verbotenes, lebten ihr Leben ganz normal, mit der kleinen Freiheit, sich anders zu kleiden, auffälligere Frisuren und Schmuck zu tragen und/oder auf Inlinern unterwegs zu sein. Wirklich keine Gefährdung des gesellschaftlichen Friedens, oder? Da mischte sich Natsumus Sarkasmus ein: wenn man einmal die Frucht der Freiheit gekostet hatte, wo würde das enden? Man könnte sich ja erdreisten, dies und jenes in Frage zu stellen, Unruhe ins System zu tragen! Natsumu setzte sich auf, zog die Knie vor den Leib, wippte auf seinem Bett, grimmigen Blicks. Die Gefahr, die er erkannte, mit der gleichen, ungebremsten Entschiedenheit, bestand darin, dass er das Ende betrachtete und sich fragte, ob er nicht doch der Versuchung erliegen würde. Sein Temperament ließ sich nicht immer artig einfangen. Kombiniert mit seinem sturen Stolz konnte er sich wirklich das Genick brechen. ~+~+~* Stitch sandte ihm sporadisch Nachrichten: wie weit man inzwischen mit der Mission "Orgasmus, selbst gemacht" gekommen war; ob er schon einen neuen "Brieffreund" aufgetan habe und was er am Samstag, früher Abend, vorhabe. Natsumu konterte jedes Mal giftig. Ging die Altmetall-Lagerstätte nichts an! Außerdem käme er wunderbar zurecht, bloß kein Neid! Seine Verabredungen seien ja wohl privat! Wobei Natsumu auf Sticheleien hoffte. Zu einem weiteren Konzert wäre er sehr gern eingeladen worden. Diese Sessions wurden nur Eingeweihten per Flüsterpropaganda angekündigt. Aber er wollte eben auch nicht bitten. Nicht mal fragen! Stitch ließ ihn königlich amüsiert wissen, er bezweifle, dass so ein braver Schüler tatsächlich Verabredungen pflegte, das würde ja das Lernen unterbrechen. Das veranlasste Natsumu selbstredend, gepfeffert zu returnieren. Seine Leistungen seien ausgezeichnet, er könne also nach Unterrichtsende tun, wie ihm beliebe! Woraufhin Stitch antwortete, wenn er nicht mit Sockenrollen zu sehr ausgelastet sei, könne man sich doch treffen. Ganz sicher nicht! Grollte Natsumu, der seine Wäsche immer akkurat verstaute. Und seine Socken faltete, nicht rollte! ~+~+~* Natsumu marschierte zur Busstation, mit sich hadernd. Vor ihm lag gepflegte Langeweile und erneute, mutmaßlich frustrierende Feldversuche in Sachen Orgasmus. Hätte er nicht vielleicht doch ein wenig kulanter reagieren sollen, wenigstens mal eruieren, was dieser nervtötende Stachelschwein-Sympathisant vorhatte? "Ah, da bist du ja!" Eine Frau hielt energisch auf Natsumu zu, der sie erst überrascht ansah, gerade noch vermied, sich umzublicken. Bevor sie ihn jedoch erreichte, zupfte jemand an seinem Hosenbein. Eine prominente Zahnlücke lächelte schelmisch zu ihm hoch. Sie gehörte zu einem schmalen, zierlichen Kind mit einem gestutzten Igelputz. "Natsumu, richtig?" Zum Beweis blickte er in ein Mobiltelefon, das ihn porträtierte. Er erkannte sich wieder, unterdrückte ein frustriertes Knurren. Der verwünschte Gesichts-Stachler musste ihn unbemerkt abgelichtet haben, als er bei der Friseurin gerade seinen neuen Haarschnitt inspizierte! "Ich bin Mai, freut mich, Natsumu. Hotaru, sag auch Hallo!" "Hallo." Schmeichelte das mutmaßliche Mädchen neben ihm feixend. "Hab dich!" "Fein gemacht, Süße. Nun müssen wir aber los, flott!" Bevor Natsumu, dem schon schwante, was dieser Überfall zu zeitigen hatte, protestieren konnte, wurde er untergehakt, auf der anderen Seite ungeniert bei der Hand gezogen. "Ich hab Sachen von meinem Mann mit, der leider nicht kann." "Was für Sachen?! Einen Moment bitte, das ist ein Missverständnis!" Ihn traf ein kritischer Seitenblick unter einem sehr eleganten Bob. "Du willst doch nicht in deiner Schuluniform laufen, oder? Wir sind zwar gemütlich unterwegs, ist ja eine Family-Train, aber..." Natsumu rammte seine College-Slipper in die glatten Steine der Bahnstation. "Augenblick mal! Ich kann überhaupt nicht auf diesen Dingern laufen!" Er wurde ungerührt mitgezogen. "Hast du Kreislaufprobleme? Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht?" "Nein, selbstverständlich nicht, trotzdem...!" "Ah, ich sehe keinen Hinderungsgrund. Den aufrechten Gang beherrschst du ja auch." Natsumu riskierte einen sehr grimmigen Seitenblick. Diese Frau, Mai, schien offenbar den fragwürdigen Humor des Igel-Gesichts zu teilen! "Aber ich werde zu Hause erwartet!" Nun traf ihn ein sehr, SEHR sezierender Blick. "Yepp, Stitch hat mich schon vorgewarnt, dass du ein notorischer Einpauker bist. Kleine Lektion, Herzchen: das Leben passiert JETZT und wartet auf niemanden." Bevor Natsumu sich zu Kalenderweisheiten despektierlich auslassen konnte, hatten sie einen der neuen Waschräume erreicht. Der unterschied nicht nach der jeweiligen Erscheinungsform des Besuchs, solange der sich nicht auf vier Beinen bewegte. Gezogen und gedrängelt musste Natsumu folgen. "Rasch jetzt!" Mai sortierte aus einer großen Umhängetasche umgürtete Pakete. Eines landete bei Natsumu. "Da hinein. Wir sehen uns gleich wieder, schließen die Klamotten ein. Vergiss nicht, deine Wertsachen aus der Schultasche zu nehmen!" Man hätte den günstigen Moment nutzen können, da sich die Kabinentür hinter den zwei Damen schloss und Fersengeld geben. Andererseits, Natsumu rollte grollend in seiner Kabine die aufgenötigten Leihgaben aus, bedeutete das hier die Gelegenheit, dem aufdringlichen Kerl die Meinung zu geigen! So richtig! Außerdem hatte er ja nichts Besseres vor. So eine Abrechnung in Reinkultur würde seine Laune bestimmt verbessern, vermutete er entschlossen. Er tauschte Hemd mit Sweatshirt, Schulhose mit Trainingshose, kämpfte mit den Schutzpolstern für Knie und Ellenbogen. Ungelenk, die Wertsachen in fremden Hosentaschen verstaut, marschierte er hinaus. Hotaru hockte bereits auf der Waschbeckeneinfassung, baumelte mit streichholzdünnen Beinen, die Leggins ebenfalls mit Polstern geschmückt. Nun trug sie eine Bandana mit blauen Piranhas um den dichten Igelputz. "Ich protestierte, nur fürs Protokoll!" Grummelte Natsumu, verlud seinen Anteil in die große Tasche. Vertraulich wurde seine Hand getätschelt. "Du musst keine Angst haben, Häschen, ich pass auf dich auf!" ~+~+~* Natsumu kochte noch immer. Die Kleine konnte ja nichts dafür, ABER, verflixt und zugenäht, wie konnte dieser unerträgliche Mistkerl sich erdreisten, ihn als "Häschen" zu etikettieren?! Außerdem missfiel ihm das EINDEUTIG selbstgewisse Schmunzeln seiner kleinen Anhängerin, die ihn an der Hand führte, als könne er JETZT noch eine Flucht in Erwägung ziehen. Mai hielt sich dagegen nicht auf: die Tasche wurde einem Schließfach anvertraut, die zwei Paar Inliner geschultert, die Helme justiert. An einem kleinen Rucksack, der die Wertsachen samt der Schlüsselkarte enthielt, befanden sich diverse Karabiner, die Natsumu schon von Stitch kannte, beispielsweise, um Schlappen oder Flipflops zu befestigen. Am Treffpunkt vor dem Bahnhof gruppierte sich schon eine ungezwungen plaudernde Menge. Hotaru war jedoch bei weitem nicht die jüngste Teilnehmerin. Ein Mann mit Halstuch und Helm samt Beleuchtung apportierte einen Säugling in einer Trageschlinge. Natsumu scannte Gesichter auf bekannte. Einigen war er tatsächlich schon nach dem Kellerkonzert begegnet. Sofort fand er sich schon integriert, ihm wurde ein Leihhelm aufgetopft, jemand half ihm auch in fremde Inliner. "Ich hab das wirklich noch nie gemacht!" Seine Einrede löste keinerlei Bedenken oder Befürchtungen aus. "Kein Problem", "Oh, es wird dir gefallen", "Wir machen eine ganz gemütliche, kleine Runde", "Wir passen auf dich auf"... Niemand schien zu befürchten, dass seine potentielle Unfähigkeit die gesamte Veranstaltung nachhaltig stören konnte. Oder dass er eigentlich gar nicht hier zu sein hatte, sondern sich im Bus auf dem Heimweg in einen faden Samstagabend befinden sollte. "Hallo, mein Hascherl, fesch schaust aus!" Mit geballten Fäusten versuchte Natsumu, ansatzlos herumzufahren. Auf Inlinern für Ungeübte kein leichtes Manöver, weshalb er taumelte. Hotaru hängte sich prompt zum Ausgleich um seine Hüften. Stitch grinste. "Sieh an, schon wieder ein Mädchenherz erobert!" "Wenn ich mit dir fertig bin, passt du in eine Streichholzschachtel!" Drohte Natsumu schäumend, in der Absicht, die lange Liste aller Verfehlungen seines Gegenüber minutiös aufzuzählen. Dazu kam er gar nicht. Ein kurzer Trillerpfeifenstoß signalisierte den Aufbruch. "He...!" Fortan musste er sich primär darauf konzentrieren, nicht in Straucheln zu geraten, irgendwie abzubremsen und den Notschweiß in Grenzen zu halten, obwohl er von Stitch und Hotaru an den Händen flankiert wurde! ~+~+~* Stitch schmunzelte, zwinkerte der burschikosen Hotaru zu. Klasse Kamerad! Nachdem er Mai und Hotaru erfolgreich suggeriert hatte, dass das Häschen leicht verschreckt war bei der Aussicht, auf Rollen zu stehen, leisteten die Überzeugungsarbeit: sei es durch das Unterlaufen der Fluchtversuche des Hascherls. Er registrierte natürlich, dass Natsumu bis unter die Helmkrone geladen war, ihm gerne so richtig, ausführlich und LAUTSTARK die Leviten gelesen hätte. Dieser Erregungszustand wandelte sich in Bewegungsenergie um, wie er es beabsichtigt hatte. Die Tour stellte für ihn keine Herausforderung dar. Eine "Family Train" legte als Maßstab die kleinsten, jüngsten, unerfahrensten Teilnehmenden an. Keine Hindernisse, keine großen Steigungen oder Gefälle, keine anspruchsvollen Tempi-Wechsel. Ein wenig wie Schlendern im Park, nur eben auf Asphalt, an Kanälen entlang, durch kleinere Gassen. Ganz gemütlich, sodass man nebenher plaudern konnte. Auch die Dauer war begrenzt, ungefähr eine Stunde reine Laufzeit. Hotaru übernahm es ganz selbstverständlich, Natsumu auf den Zahn zu fühlen oder vielmehr, ihn gründlich zu befragen. Was der so tat, welchen Sport er mochte, Lieblingsessen, ob er schon die neue Staffel einer Kinderserie gesehen hatte, ob er nicht auch finde, dass Piranhas einen ganz ungerecht schlechten Leumund hätten? Dass sie später mal Fische schützen werde gegen all den Dreck im Wasser, den Müll, die Schadstoffe. Was er denn mal so machen wolle? Sich grimmiger Seitenblicke bewusst lauschte Stitch interessiert. Natsumus Versuche, sich nicht nur als Pauk-Spezialist zu erweisen, sondern IRGENDWELCHE anderen Interessen zu pflegen, nahmen sich kläglich aus. Von dem Interesse, das sie zusammengeführt hatte, konnte selbstverständlich nicht gesprochen werden. Hotaru tröstete nach einem ernsten Blick. "Mach dir nichts draus, Häschen, du findest schon noch raus, was du tun kannst!" Stitch grinste breit. ~+~+~* Natsumu hatte sich einigermaßen mit dem Ablauf angefreundet, eine gleitende Bewegung, leicht ausgestellte Schritthaltung, etwas nach vorn gebeugt. Mittlerweile irritierten ihn auch die Schutzpolster nicht mehr ganz so stark. Ein Pfeifentriller ertönte. "Train-Line, Train-Line!" Verwirrt blickte er sich um, doch da hatte sich Hotaru schon hinter ihn gehängt, an seine Sweatshirt-Zipfel. Vor ihm arrangierten sich tatsächlich die Teilnehmenden in eine Linie hintereinander, mit Gurten oder Bändern, nahmen den gleichen Gleitschritt auf. "Oh, oh!" Murmelte Natsumu, der verzweifelt versuchte, seinen Rhythmus anzupassen. Ungebeten musste der dämliche Gesichtsstachler ihm auch noch einen Gurt verpassen, den sein Vordermann einhakte! "Schlechte Idee!" Warnte Natsumu. "GANZ schlechte Idee!" Hinter ihm lachte Hotaru. "Keine Angst, Häschen!" Ungeachtet seiner Anstrengungen, sich irgendwie einzureihen in die orchestrierte "Bahnlinie", knurrte Natsumu aufgebracht. "Ich kann aber nicht bremsen!" Immerhin hielt er sich gerade mal so in der Senkrechten! Außerdem, wieso wurde der Verursacher seiner Pein nicht auch ins Glied beordert?! Tatsächlich blieben einige außerhalb der "Train-Line", die nun mit koordiniertem Gleichmaß Schwung aufnahm, wie eine geölte Maschine am Kanal entlang schnürte. "Flanke!" "Flanke!" Signalisierten die Begleitung. Das Tempo zog an. Unterschiedliche Pfiffe hielten "Flanke", "Lotsende" und "Train-Head" auf dem aktuellen Stand. »Bloß nicht stolpern! Immer schön rechts-links, rechts-links!« Ermahnte sich Natsumu unbehaglich. Klar, kaum fühlte er sich mal ein paar Augenblicke entspannt und auf der Höhe, musste ja die nächste Herausforderung kommen! Andererseits, am Kanal konnte ihn ja nicht viel passieren, richtig? Wer sie anrollen sah und hörte, ging gleich in Deckung, oder? Aber es stimmte ihn schon sehr nachdenklich, dass sie schneller wurden. Kam da nicht doch eine Steigung? Entlang des Kanals gab es mehrere Ebenen, Höhenniveaus sozusagen. An dieser Stelle sammelte man bei Starkregenereignissen die Zuflüsse anderer Kanäle. Die Train-Line folgte mit großer Dynamik dem Anstieg, ohne dass jemand abreißen lassen musste. Natsumu, der deutlich spürte, dass er derartige Anstrengungen nicht gewohnt war, schwante Übles. Jetzt auch noch die geschwungene Fußgängerbrücke hoch?! Gut, keine zu enge Kurve, aber irgendwann ging es doch wieder bergab, oder?! Schrille Pfiffe ertönten entlang des rollenden Lindwurms. "Disband! Disband!" Auf seinen Vordermann konzentriert konnte Natsumu nicht deuten, was das Kommando von ihm verlangte. Außerdem ging es zu seinem Entsetzen wirklich runter! Eine Schussfahrt drohte. Sein Vordermann hakte sich einfach aus, rauschte elegant davon, die Linie verteilte sich in einzelne Glieder. Natsumu spürte Hotaru hinter sich. Panisch registrierte er das steigende Tempo. "Ich kann nicht bremsen!" Was tun?! Irgendwie mit diesen Stopper-Dingern...?! Aber dann würde er eine Bruchlandung hinlegen! Mit der Kleinen im Schlepptau! Weil Natsumu nicht wusste, wie er das Tempo reduzieren sollte, konzentrierte er sich darauf, bloß nicht zu stolpern, weiter zu gleiten, rechts-links, rechts-links. Bergab bedeutete das allerdings eine Beschleunigung. Neben ihm schoss ein Schatten heran. Hilfe?! Aber Natsumu wagte nicht den Kopf zu drehen. Nicht aus dem Takt kommen! Gab es Hindernisse?! Der Schatten überholte. Natsumu bemerkte nicht nur langsamer Laufende rechts und links, die gebremst hatten, sondern auch das Ende seines Wegs, der sich gabelte. In zwei enge Kurven. Während er frontal auf eine Stützmauer zuhielt! ~+~+~* Stitch nutzte seinen Schwung, kam aus der Hocke, absolvierte eine enge Kurve, schoss den Abhang wieder hoch. Dabei ließ er einen Triller hören. "Spirale, Hotaru!" ~+~+~* »Die sind hier komplett irre!« Letterte es in Natsumus aufgeschrecktem Verstand, der NICHT gegen eine Betonwand geklatscht zu werden wünschte. Auch der gesamte Rest flankierte den Selbsterhaltungstrieb, der verzweifelt nach einem Ausweg suchte. Hinter ihm steuerte Hotaru seine rechte Hüfte an, brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Der Altmetall-Gesichtstransporter wischte ihm mit raumgreifenden Gleitschritten entgegen, den linken Arm ausgestreckt. Sein Unterbewusstsein reagierte schneller als der panische Verstand, fasste mit Links rechtzeitig zu, Stitchs linken Unterarm zu umklammern. Dem es gelang, die Abwärtsbewegung in eine kreisende zu lenken, unterstützt von Hotaru, die eifrig mit rechts die Kurve forcierte. In diesem Drehmoment, von zwei Seiten in Rotation versetzt, hatte Natsumu Mühe, nicht die Orientierung zu verlieren oder sich höchst spektakulär aufs Pflaster zu schmeißen. Stitch bremste schließlich nach drei vollen Runden geschmeidig ab, fing die beiden Trabanten ein. Hotaru jauchzte begeistert. "Richtig stürmisch bist du heute, mein Hascherl!" Dieser völlig verdrehte Mistkerl! Natsumu wollte nun aber richtig aufbegehren, doch ihm zitterten die Beine so sehr, dass er aus Stitchs halber Umarmung gar nicht entwischen konnte. Außerdem raste sein Herz hektisch nach dem gerade noch so überstandenen Schrecken. "So ein verrücktes Häschen, meinst du nicht? Wo alle bremsen, läuft es noch schneller." Hotaru giggelte. Natsumu schwor sich, dass er, wenn die schwarzen Punkte vor seinen Augen endlich den Rückzug angetreten hätten, Stitch vors Knie treten würde. Da, wo die verdammten Schutzpolster nicht hinreichten! ~+~+~* Es hätte einem peinlich sein müssen, rechts an der Hand ein kleines Mädchen, links diesen unerträglichen, charakterlosen Gesichts-Fakir, aber Natsumu konnte für derlei delikate Ansinnen keine Energie mehr aufbieten. Nachdem die Anspannung, einem erwarteten Desaster geschuldet, sich gelöst hatte, konnte er sich gerade so auf den Inlinern halten. Der Pudding in seinen Beinen wollte einfach nicht weichen! Es half auch gar nicht, dass Hotaru kichernd verkündete, DAS müsse man unbedingt noch mal wiederholen! Natsumu biss die Zähne aufeinander, ein Klappern zu unterdrücken. In losen Grüppchen steuerte die Family Train nach dieser kleinen Aufregung gelöst schwatzend den Bahnhof an. Der ein oder andere verabschiedete sich schon vorher, sauste nach Hause oder zu einer anderen Destination. Den aufheiternden Plan, Stitch eine Abreibung zu verpassen, musste Natsumu auch streichen. Unvermittelt drückte der kurz seine Hand, ließ los. "Dis demnächst, mein Hascherl!" "Was...?! Mit dir rede ich kein Wort mehr!" Brüllte Natsumu aufgebracht, ein Stolpern verhindernd. Blies ihm der Mistkerl auch noch einen Kuss zu, bevor er Fersengeld gab! Hotaru kicherte. "Stitch muss zur Arbeit." Erläuterte sie ihm dann, spitzbübisch grinsend. "Deshalb hab ich ihm versprochen, das Häschen auch zum Bus zu bringen." Natsumu jaulte in ohnmächtiger Empörung vernehmlich auf. ~+~+~* Natsumu begann den Sonntagmorgen mit einer Kaskade von Verwünschungen und Schimpfworten, die er seinem Kopfkissen anvertraute. Zuerst natürlich, weil jeder Knochen in seinem Körper summte, ihm allzu deutlich bewusst machte, wie untrainiert und wenig ausdauernd er war, wenn nicht die Disziplin "Stubenhocken" aufgerufen wurde. Anschließend in Reminiszenz an den Vorabend, diese aufgezwungene Tour mit den Bekloppten auf Rollen. Diese hundsgemeine, lebensgefährliche Abfahrt! Dass er sich im Bahnhof dauernd aufstützen und von einem kleinen Mädchen beim Rausschlüpfen aus den blöden Inlinern helfen lassen musste! Wenigstens die eigenen Kleider hatte er unfallfrei anziehen können. Aber danach: an der Hand geführt zum Bus! Weil er ein "Häschen" war! Natsumu knirschte mit den Zähnen, auch wenn ihm schon die Kieferknochen schmerzten. Mais Versicherung, dass Stitch ein so lieber Kerl sei, ein richtig guter Freund. HA! VON WEGEN! Aber Natsumu war zu erschlagen gewesen zum Protest. Nicht mal Gedanken über seine unangekündigte Verspätung an der elterlichen Front hatten ihn im Bus beschäftigt. Zu Hause präsentierte sich eine weitere, perfide Aktion von diesem miesen Stachelschwein-Sympathisanten! Hatte der doch einfach eine Nachricht geschickt, man lerne länger und der Akku des eigenen Mobiltelefons sei leer! Was ihm nicht mal mehr als einen milden Tadel einbrachte. Dieser unverschämte, selbstherrliche Typ sollte "lieb" sein?! Ein "richtig guter Freund"?! Keine Spur! Natsumu grollte, rollte sich auf den Rücken. Dass er nach dem Essen wie ein Stein ins Bett gefallen war und tief durchgeschlafen hatte, setzte seiner persönlichen Demütigung noch die Krone auf. Dieser bescheuerte, scheeläugige, bezopfte, Altmetall apportierende, rollende Vollidiot war eine Gefahr für die Menschheit! ~+~+~* Jeden zukünftigen Kontakt vermeiden wäre eine gute Strategie gewesen. Natsumu betrachtete grummelnd die fotografierte Zeichnung. Hotaru hatte sie erstaunlich versiert als kleine Comic-Figuren gezeichnet, auf den Rollen, Hand in Hand, alle drei: Stitch, Piranha und Häschen. Eigentlich wollte er nicht mehr auf die Nachrichten des Stachelschweins reagieren. Hätte ja dessen Nummer blockieren können! Eine weitergeleitete Nachricht von Hotaru konnte er nicht so einfach ignorieren. Immerhin wäre es ausgesprochen unsportlich, der Kleinen die miese Taktik der Igelfresse anzulasten! Auf die "Rollen" nehmen lassen würde er sich aber nicht mehr! Ganz ausgeschlossen! Die einzige körperliche Aktivität, die ihn interessierte, bestand in rhythmischer Paargymnastik. Darauf sollte er sich konzentrieren, verflixt! ~+~+~* Kapitel 27 Horror pur. Natsumu entschied, dass er sich es mit irgendwelchen rachsüchtigen Göttern verscherzt haben musste. Erst dauerte der Unterricht einige Minuten länger, weil sich das Aufnotieren einer Lösung verzögert hatte. Danach musste er auch noch in einem sehr seltsamen Markt für seine Mutter ein altmodisches Küchengerät abholen, das sonst kein anderer Laden führte. Auf dem Weg dorthin überraschte Natsumu ein heftiger Guss, kombiniert mit bösartigen Böen. Selbst wenn er einen Schirm bei sich gehabt hätte, wäre der nicht hilfreich gewesen. Er schlug tropfnass in dem kuriosen Markt auf, fragte sich, was er jetzt tun sollte. Klatschnass zurück zum Bahnhof und in den Bus?! Sein Blick fiel auf die Hochregale, die Schauobjekte im Verkauf. Faszinierend, den Seil- und Laufbändern zuzuschauen, die beim Tresen das Gewünschte ablieferten. Spontan, seinem verwünschten Temperament geschuldet, entschied er, trockene Garderobe zu erstehen. Zugegeben, das hier war kein Kaufhaus für Bekleidung, oh nein! Aber es gab einfache Sandalen mit Stoffband sowie einfache Yukatas für unerwartete Gäste, zwar mit einem diskutablen Muster, aber Ananas konnten Natsumu nicht abschrecken. Nachdem er das Wasser aus seinen College-Slippern ausgekippt hatte, stapfte er zum Bahnhof zurück. Dort musste er sich einfach trockenlegen! Er nutzte den nächst gelegenen Eingang, Ost. Es regnete schon wieder ungemütlich! Rein in den alten Waschraum, runter mit dem nassen Zeug! Klamm klebte es ihm an der Haut. Natsumu fürchtete durchaus, er könne sich eine unerfreuliche Erkältung zuziehen. Mühsam, vor sich hin schimpfend, pellte er sich aus den Stoffbahnen, die wie eine zweite Haut klebten, wrang sie aus, tupfte sich mit einem dünnen Handtuch aus dem komischen Markt über den Körper, eines dieser schlichten Tücher, die die Bauern sich um Hals oder Stirn wickelten. Jetzt aber eilig die am Automaten gezogene Unterhose übergestreift! Natsumu drapierte sich die Yukata um, atmete erleichtert auf. Nur noch bis nach Hause musste er es schaffen, die Busstation war nicht weit, also auch kein Hindernis. Gerade als er seine nassen Kleider in die Plastikverpackung der Yukata stopfte und quetschte, öffnete sich hinter ihm die Tür. ~+~+~* Natsumu wehrte sich nach Kräften, überaus erbost und ZORNIG! Die verkleideten Arschgeigen schon wieder! Er trat um sich, brüllte und schlug, keilte aus und riss den Kopf hin und her. Ein Schlag in den Solarplexus allerdings trieb ihm die Luft aus und Tränen in die Augen. Schon wieder das verdammte Tuch mit der widerlichen Paste! Ihm wurde viel zu schnell schwarz vor Augen. ~+~+~* Jemand strich über seine Wange, sanft, beruhigend. Natsumu zwang die verklebten Lider auseinander, stieß ein gequältes Keuchen aus. "Ganz ruhig, alles in Ordnung." Beschwichtigte ihn eine Stimme, die er erkannte, auch wenn vor seinen Augen alles verschwamm. "Die Maske ist nötig für den Sauerstoff. Ich nehme sie dir ab, wenn du glaubst, dass du dich aufsetzen kannst." Stitch! Natsumu rammte die Ellenbogen in die harte Unterlage. Sofort wurde ihm schwindlig, er plumpste wieder spannungslos auf den Rücken. "Alles okay, Natsumu, keine Eile. Versuch, tiefe, lange Atemzüge zu machen, ja?" Wollte er jetzt nicht unbedingt, aber was blieb ihm übrig?! Unerwartet durchlief ihn ein heftiges Zittern, ließ sich gar nicht abstellen, kam wieder wie ein Tic. Die Fingernägel in die Unterlage bohrend redete Natsumu sich selbst zu, um seinen Kreislauf zur Räson zu bringen. Es GAB kein Problem, der müsse sich wieder einkriegen! Überhaupt, wenn sie nicht hochkämen, könnte er auch nichts unternehmen! Also bloß keine Zustände bekommen oder hier hysterisch werden! Leider zeigte die Autosuggestion keinen nennenswerten Erfolg. "Das haben wir gleich." Seine Hände wurden umfasst, angehoben, um herab gebeugte Schultern gelegt. Fremde Arme schoben sich unter seine eigenen Schultern, richteten ihn geübt auf. Bevor er sich Distanz ausbitten konnte, ein störrischer Reflex seines sturen Stolzes, wurde er versichernd umarmt. "Gleich geht's dir besser, mein Hascherl. Dein Kreislauf braucht bloß ein bisschen Zeit." "Hgrmblrmgr!" Eigentlich sollte sein unartikulierter Protest auf "ich bin NICHT dein HASCHERL" lauten, aber auch seine dämliche Zunge lavierte ungelenk in seinem Mund herum! Schlimmer noch, Stitch strich ihm über Rücken und Hinterkopf, wiegte ihn leicht! Wenigstens verabschiedete sich nach einer Weile das elende Zittern, was den Gesichtsstachler veranlasste, etwas zu weichen, ihn prüfend zu inspizieren. "Ich nehme dir jetzt die Maske ab, ja?" Natsumu wollte grimmig funkeln, aber seine verklebten Wimpern verschmierten ihm bloß die Sicht. Ohne Maske registrierte er sofort nicht nur den fehlenden Luftstrom, sondern auch einen merklichen Geruch von Desinfektionsmitteln. Unseliger Weise schien ihm seine nächste Frage auf der Stirn zu stehen. Stitch beantwortete sie direkt. "Das ist ein Erste Hilfe-Raum im Erdgeschoss der Bahnstation. Ein Freund hat mich angerufen, als man dich hierher gebracht hat." Ein schiefes Grinsen. "Ein Glück, dass ich gerade in der Nähe war." Was Natsumu auf die eigene, nun wirklich nicht vom Glück verfolgte Situation lenkte. "Die zwei Kerle! Haben mich überfallen!" Stieß er hervor, prompt gefolgt von Husten und Atemnot, die ihn zusammenkrümmte. Wieder in die sehnig-muskulösen Arme des vermaledeiten Stachelschwein-Samariters! "Die sind abgehauen, als jemand die Sicherheitskräfte alarmiert hat." Hörte er Stitch berichten. "Du lagst bewusstlos und halbnackt in der Kabine. Eigentlich wollten sie dich in die Notaufnahme schaffen, aber deine Reaktionen wurden mit der Sauerstoffzufuhr wieder besser." Natsumu erstarrte. Notaufnahme? Krankenhaus? Gut, dieses EINE MAL konnte er erklären, was er im Waschraum getan hatte, aber... Ihn schauerte unwillkürlich bei der Vorstellung, seine Eltern mochten von diesem Vorfall erfahren. Stitch richtete ihn behutsam auf. "Denkst du, du kannst mit den Verantwortlichen hier sprechen? Die wollen nicht unbedingt die Polizei einschalten." Natsumu presste grimmig die Lippen aufeinander, blinzelte. Er wollte bloß hier raus, den Geruch aus der Nase bekommen und nicht mehr das Gefühl haben, sein Körper bestehe aus zähflüssigem Schleim. Wenn er dafür ein Interview absolvieren musste, dann aber sofort! ~+~+~* Natürlich zog es sich hin, weil man erklären musste, wieso man in einer Yukata im Waschraum auftauchte und was geschehen war. Bitte in allen Details, vor allem zu den beiden Angreifern. Natsumu hatte inzwischen trotz seines lädierten Allgemeinzustands einen gefährlichen Brass auf alle und jeden entwickelt. Da er sich wieder unfallfrei artikulieren konnte, diktierte er knapp, präzise und distanziert seine Aussage, präsentierte Kaufbelege mit Abdruck von Datum und Zeit, die getätigten Erwerbungen, seinen Schulausweis und die Fahrberechtigung, mühsam die Contenance wahrend. Was sollte er jetzt tun?! Es war schon mitten in der Nacht, weil er über zwei Stunden lang ausgeknockt an der Sauerstoffflasche gehangen hatte. Zudem konnte er seine Angreifer ja nicht identifizieren. Er vermutete zwar, dass es die beiden Drecksäcke vom ersten Mal waren, aber darüber musste er schweigen. So schien es sich für die Sicherheitskräfte lediglich um einen versuchten Raubüberfall zu handeln. Obwohl man doch in Zweifel ziehen musste, was die verhinderten Räuber bei einem fünfzehnjährigen Schüler zu ergattern beabsichtigten. Natürlich wartete Stitch auch noch auf ihn! "Danke für deine Hilfe. Ich werde jetzt zum Bus gehen und mir die nächste Standpauke anhören, also Tschüss!" "Gern geschehen. Wir gehen jetzt zu mir, weil ich deinen Eltern vorgemacht habe, dass du artig paukst im Kreise deiner Mitschüler samt Übernachtungsgelegenheit." Natsumu stieß ein heiseres Fauchen aus, ballte die Fäuste. "Ich kann dich nicht ausstehen!" ~+~+~* Stitch nahm Natsumu einfach an der Hand, den Plastikbeutel mit den noch immer feuchten Kleidungsstücken selbstherrlich apportiert. Er erwartete Protest, Losreißen, Schmähungen, aber Natsumu, sehr appetitlich in Ananas-Yukata und Sandalen mit schlichtem Stoffband gekleidet, stakste grimmig neben ihm her. "Wirklich verblüffend, wie du vor den Sicherheitskräften die Persönlichkeit gewechselt hast, Dr. Jekyll!" Probierte Stitch sein Glück. "Pah!" Schnaubte Natsumu neben ihm, Schultasche samt Küchengerät tragend. "Was glaubst du Dackel eigentlich, was wir in der Penne lernen?!" Nicht bloß stupides Pauken, sondern geschickte Anpassung an die Erwartungen des jeweiligen Prüfungskomitees, das sich wohl kaum von inquisitorischen Eltern oder argwöhnischen Sicherheitskräften unterschied! Ein erleichtertes Grinsen unterdrückend hielt Stitch das gemächliche Tempo aufrecht. Wenn das Rumpelstilzchen aufbegehrte, konnte man den Schock als im Rückzug begriffen einstufen! "Verdammte Sauerei!" Schimpfte Natsumu unterdessen erbost. "Ich wollte bloß die Klamotten wechseln! Nichts weiter! Ich sah aus wie eine getaufte Ratte! Ehrlich, was sind das für Arschgeigen?!" Stitch drückte beruhigend die gekaperte Hand. "Soweit ich weiß, haben sie über die Videoaufzeichnungen schon Bilder rausgesucht. Die Figuren werden irgendwann auffallen." "Dreckspack! Die hätten mich glatt mit ihrem Stinkzeug abmurksen können!" An seiner Seite echauffierte man sich mit steigendem Elan, allerdings nicht ohne Berechtigung. Die geschätzte Zeitspanne, die Natsumu dem direkten Kontakt ausgesetzt gewesen sein musste, war kurz, in Relation zum Zusammenbruch tatsächlich gefährlich. "Deshalb hast du auch nur Sauerstoff bekommen und kein Kreislaufmittel oder Ähnliches, weil nicht klar war, was genau sie dir verpasst haben." Natsumu knurrte, erst oben, dann am Obi-Äquator. Stitch lächelte. "Ist nicht mehr weit. Ich habe eine Nachbarin gebeten, uns etwas zuzubereiten und vor meine Tür zu stellen." Neben ihm schnaubte Natsumu aufgebracht, aber auch ein wenig matt. Das veranlasste Stitch, die letzten Energiereserven herauszukitzeln. "Duschen wir gemeinsam, mein Hascherl, ja?!" ~+~+~* "Du spinnst wohl?!" Natsumu grollte, sich selbst, weil er sich vor Hunger wackelig auf den Beinen fühlte, und natürlich dem heimtückischen Wohltäter an seiner Hand! Eigentlich wollte er nach dem schicksalhaften Guss nicht schon wieder getauft werden. Andererseits hatte er auf dem Lokus-Boden herumgelegen, auf der unbequemen Liege in der Rettungsstation. Es wäre also durchaus wünschenswert, sich am Besten den gesamten, vermurksten Tag einfach abspülen zu können. Bloß stand zu vermuten, dass dieser Effekt nicht eintreten würde. Frustrierend auch, dass er sich an diesem durchlöcherten Altmetall-Präsentator festhalten musste, dass er ihn nicht auszanken konnte, weil der nicht nur zur Hilfe gekommen war (wenn auch unaufgefordert dank Ohnmacht), und an der elterlichen Front Vernebelungstaktik einsetzte. "Nur zu deiner Kenntnis: ich bin sonst nicht so ein Weichei! Das ist bloß dieser K.O.-Mist!" Ein bisschen Gesichtswahrung musste sein. Deshalb starrte Natsumu auch entschieden auf das Pflaster vor sich, riskierte keinen Seitenblick. Er müsste auch nicht auf Grinsen, Kichern, überhebliches Feixen oder sonst was reagieren! Der Tag war schließlich schon gebraucht genug! ~+~+~* Stitch forcierte keine Unterhaltung. Es war schon reichlich spät. Er konnte erkennen, dass es in Natsumu arbeitete. Sie erreichten sein kleines Appartement. Tatsächlich fand er wie vereinbart einen mit Tuch umschlungenen Topf am Ende der Stufen. "Ihre Schwester lebt in dem Heim, wo ich arbeite." Erklärte er, sortierte gleich schon die nasse Wäsche in die Trommel. Sie musste nach dem Kurzwaschgang auf die Leinen, damit sie trocknete. Günstigenfalls draußen am Wäscheständer. Der typische Geruch von Wasser, Asphalt und Salz kündigte mögliche Regenfälle an, also Ständer rein direkt vor die Tür, was alles blockieren würde. "Ich lege dir ein Handtuch vor die Tür, ja? Reich mir bitte die Yukata raus, die wasche ich mit. Wenn du geduscht hast, können wir auch essen." Ohne Widerworte leistete Natsumu seinen Aufforderungen Folge, was eigentlich beängstigend genug war, aber an dem blassen Gesicht, den Schatten um die Augen und der Bemühung, nicht über die Sandalen zu stolpern, konnte er erkennen, dass hier Erschöpfung zuschlug. In den sicheren vier Wänden würde Natsumu das strenge Regiment nicht mehr aufrechterhalten, es nicht mehr können. Stitch legte seine eigenen Habseligkeiten ab, stellte den Topf auf den kleinen Tisch, sortierte Stäbchen und Schüsseln dazu. Er setzte Teewasser auf, bestätigte seinem Kollegen den Tausch der Schicht. Der Überfall hatte sich schon verbreitet. Viele aus seinem Freundeskreis wollten erfahren, ob es Natsumu gut ging. Ein Lächeln huschte über Stitchs Gesicht. »Wäre wohl ziemlich überrascht, das kleine Rumpelstilzchen, wenn es wüsste, wie wohlgelitten es ist.« In einer Gruppe, die eigentlich nicht als satisfaktionsfähig angesehen werden musste. Zumindest für einen soliden, angepassten Dauer-Pauker. Doch Ansichten konnten sich ändern. ~+~+~* Natsumu war froh, auf dem Hocker zu kauern. Er wollte sich eigentlich energisch abschrubben, rasch und gründlich, aber seine Arme gehorchten ihm nicht, seine Hände rangen mit dem Lappen... "Jetzt sei nicht so ein Schlappschwanz!" Zischte er sich empört über den Verrat seiner Physis zu. Die zeigte ihm, metaphorisch, den Mittelfinger. Wer hatte sich erst nassregnen, dann prügeln, beinahe vergiften und auf den Lokus-Boden fallen lassen?! "Konnte ich ja nicht ahnen!" Verteidigte sich Natsumu, auch vor sich selbst. Er hatte nun WIRKLICH, ABSOLUT keine Hintergedanken gehegt! Sich nicht mal umgesehen, klar, so durchweicht und erschöpft, wie er gewesen war! Mit dem hässlichen Resultat, das ihn jetzt in die kleine Dusche führte, wo er Mühe hatte, sich abzubrausen. Die Fäuste geballt aus schierem Trotz, sich nicht unterkriegen zu lassen, lugte er vor die Schiebetür. Tatsächlich, Handtuch und T-Shirt mit wadenlanger Hose, von der grässlichen Variante, die Stitch bevorzugte. Aber trockene Kleider waren trockene Kleider! Außerdem wollte er nicht nur im Handtuch beim Essen herumhocken. Ein Gedanke, der seinen Magen anspornte, sich bemerkbar zu machen. Vernehmlich. "Ruhe da unten!" Grummelte Natsumu, leicht außer Atem bei der Anstrengung, sich zu bekleiden. Essen und Schlafen, das sollte die Reihenfolge sein! Manieren schalteten sich ein, bärbeißig, als er sich zu Stitch gesellte. "Danke für die trockenen Kleider. Obwohl sie GRAUENVOLL sind." "Alles für mein Hascherl!" Schnurrte der Kerl nicht nur, sondern streichelte ihm auch noch die Wange! Beinahe hätte Natsumu mit der schon angestaubten Replik returniert, dass er NICHT...! Aber er beließ es bei einem Knurren, ergriff lieber die Essstäbchen. "Lass es dir schmecken." Wurde ihm gewünscht. Natsumu seufzte, bevor er den ersten Bissen nahm. Dem verdrehten Typen alles heimzuzahlen, das würde definitiv sehr schwierig werden! ~+~+~* Stitch entschied, seinem unfreiwilligen Gast etwas Privatsphäre zu gestatten, indem er rasch das genutzte Geschirr reinigte, verkündete, die Dusche zu bevölkern. Anschließend könnte er auch die Wäsche aufhängen, den kompletten Eingang mit dem Wäscheständer verbauen. Als er schließlich in sein Zimmer zurückkehrte, lehnte Natsumu schwer in den Kissen, deutlich Schlagseite aufweisend, auf seinem Schoß zwischen den gekreuzten Beinen ein schmales Album, aufgeschlagen. Stitch schmunzelte. Selbstredend konnte Natsumu ihn nicht ausstehen, aber neugierig war er schon! Behutsam pflückte er das Album ab, legte es beiseite. Natsumu murmelte Unverständliches, kippte nun ganz um, freundlich assistiert von einem entführten Kissen. Stitch löschte das Deckenlicht, verließ sich auf das matte Glimmen seines Weckers. Er schlüpfte unter die dünne Decke zu Natsumu, der schon wieder schlief, mutmaßlich völlig erschöpft und im Suppenkoma nach der späten, aber notwendigen Mahlzeit. Reichlich unverschämt löffelte Stitch, legte einen Arm über die schlanke Taille seines sonst so ungebärdigen Bettgastes. Wirklich, ein verrücktes, tollkühnes Häschen! ~+~+~* Natsumu schlief so fest, dass er den (sehr leisen) Aufbruch seines Gastgebers ein weiteres Mal verpasste. Endlich, als ihn ein natürliches Bedürfnis nachhaltig aus erholsamen Untiefen weckte und er sich verwirrt aufsetzte, zeigte sich ein später Morgen. Ohne den Gesichtsstachler. Natsumu zog die Beine an, rieb sich kräftig übers Gesicht, beäugte den kleinen Tisch. Klar, Tee und Frühstück, unter einem Tuch, schlimmer noch, an einem Bügel hingen Yukata und seine Schuluniform. Service wie im Hotel. Er fluchte stöhnend. Solche Aktionen untergruben ganz ungezogen seine Moral! Natürlich fehlte auch die Botschaft auf dem Mobiltelefon nicht. [Guten Morgen, mein Hascherl, ich muss los, Schichtbeginn. Wenn du dich nicht besser fühlst, sag Bescheid, ja? Ein Freund begleitet dich dann nach Hause. Kannst übrigens die Yukata bei mir lassen, fürs nächste Mal. Ich melde mich wieder, mein Häschen. Einen Schmatz auf deine Schnute! Stitch] Natsumu fauchte indigniert. "Ist ja widerlich!" Beklagte er sich beim Universum. "Was für eine Schnute?! Soll mal in den Spiegel gucken, der Nadelkissen-Verschnitt! Von wegen Schmatz! Igitt!" Zwei Runden aufgebrachtes Herumlaufen in dem kleinen Zimmer brachten nur wenig Ablenkung. Außerdem erinnerten sie Natsumu ungebeten daran, dass er sich noch ein wenig wacklig fühlte. Bloß, irgendwelche Freunde von diesem UNMANIERLICHEN Kerl anrufen?! Da bahnte sich dann glatt die nächste Katastrophe an! Ausgeschlossen. Natsumu widmete sich dem Frühstück, na, beinahe schon Mittagessen. Erstens wäre es Verschwendung, alles verkommen zu lassen, zweitens hatte er schon wieder Hunger. Nach Hause musste er ja auch kommen! Dabei fiel ihm immer wieder das Album in den Blick, nicht artig eingeordnet in einen kleinen Stapel mit Büchern und Heften, der in einem aufgesetzten Karton hauste. Schließlich schlug Natsumu es doch auf. Fotos, Kartenskizzen, Schnipsel von Souvenirs. "Ganz schön rumgekommen. Der Schrecken der Landstraßen!" Kommentierte er grummelnd. Es waren nicht nur Andenken an gemeinsame Landpartien, sondern offenkundig auch an Wohnorte, an Freunde und Bekannte, über eine doch ausgesprochen imponierende Zeitspanne. So konnte er Stitch auch als Kind sehen, mit vollem Schopf und Seitenscheitel, schüchtern in die Kamera blinzelnd, entouriert von Erwachsenen und Jugendlichen, in sportlicher oder eher von musikalischen Abgründen geprägter Aufmachung. Hatten sie ihn aufgelesen? Oder war er bei ihnen aufgetaucht? Was war mit den Eltern? Natsumu beäugte konzentriert jedes abgebildete Gesicht, suchte nach Ähnlichkeiten. Immerhin, wenn Mai mit Hotaru lief, andere sogar mit ihren Säuglingen, konnte man gar nichts ausschließen! Doch er fand niemanden, der Stitch anverwandt wirkte. "Hör auf damit!" Ermahnte er sich selbst erschrocken, klappte eilig das Album zu, stopfte es in die angestammte Lücke. Was sollte das jetzt?! Was kümmerte ihn Familienverhältnisse, Vergangenheit, Werdegang und Sonstiges von diesem Kerl?! "Denk an die Regeln!" Neben den offenkundigen Anweisungen zu Hygiene, Kontakt und Verschwiegenheit hatte er sich darauf eingeschworen, eine Grenze zu ziehen. Schließlich wollte er Sex und keine Beziehung oder anderen Trallalla! Wobei das zwischen Männern ohnehin nicht einfach zu gestalten war. Unerheblich! Jedenfalls keine Details, keine Charakterstudien, keine privaten Informationen, sonst kam man ja gleich in Teufels Küche! Natsumu federte energisch hoch, ignorierte vereinzelte, schwarze Punkte. Raus hier, aber hurtig! Eilig sammelte er seine Schultasche und das Küchengerät ein, absolvierte eine Katzenwäsche, schlüpfte in seine Schuluniform. In diesem Augenblick machte sich sein Telefon bemerkbar. An der elterlichen Front wünschte man zu erfahren, ob das sonntägliche Mittagsmahl für zwei oder drei Personen gerichtet werden sollte. Rasch antwortete Natsumu, dass er im Begriff sei aufzubrechen und vergaß dabei doch glatt die Yukata, die auf ihrem Bügel träge schaukelte. ~+~+~* Es nahm sich schon etwas besorgniserregend aus, dass seine Eltern nicht infrage stellten, wie er die Zeit verbracht hatte. Dass ihnen offenbar nicht in den Sinn kam, er hätte etwas anderes als ständiges Lernen auf dem Schirm. Natsumu hegte den Verdacht, dass sie nicht mal verstehen würden, was ihn antrieb, sich Abwechslung zu suchen. Und dann auch noch so etwas Anrüchiges wie Sex! Er konnte sich erschreckend lebhaft ihre Mienen vorstellen, wenn jemals enthüllt wurde, was er sich bisher geleistet hatte: Befremdung, Unverständnis, unüberwindbare Distanz. Fraglos würden sie ihn seltsamer, obskurer als einen Außerirdischen finden. Unmöglich, mit ihnen über Anwandlungen zu sprechen, die nicht direkt mit einer stringenten Schulkarriere in Zusammenhang standen. Obwohl er es zu vermeiden suchte, fragte sich doch eine Stimme in seinem Hinterkopf, wie die Erzeuger des Stachelschweins wohl reagiert hatten. Immerhin, der lief ja rum wie ein Freak eben! Klingelstrang auf der Schädeldecke, Rest abgefräst, dazu grässliche Klamotten und kiloweise Altmetall in die Fresse gedübelt! Indiskutabel. Aber das ging ihn nichts an! Tat gar nichts zur Sache! Aus dem Verstand, aber plötzlich! Leichter gefordert als umgesetzt. Mit der gleichen ungerührten Sturheit, die seine Eltern bezüglich der Paukerei an den Tag legten, verlangten sie, dass er ein Präsent übergab. Eigentlich keiner besonderen Aufforderung wert, denn Natsumu verfügte durchaus über einen Satz gesellschaftstauglicher Manieren. Bloß ging es hier ja um das wandelnde Nadelkissen! Dem er zweifellos Dank zollen musste, Aufmerksamkeiten schuldete. Aber andererseits verstrickte er sich damit ja noch schlimmer in das Durcheinander! Der Kerl bildete sich ohnehin schon ein, er möge ihn ansatzweise! Völliger Humbug, selbstverständlich! Widerstrebend, um die heimatliche Front zu befrieden, entschied Natsumu schließlich, saisonales Obst zu besorgen, von der hübsch verpackten, einzeln polierten, malerischen Sorte. Entsprechend teuer und so ausgewiesen, dass man den Gegenwert erahnen konnte. Artig zu überreichen am Samstag nach dem Unterricht. Da hätte der noble Studienkollege ja Freizeit... Natsumu fasste den Plan, leise, still und heimlich das Einzimmerappartement im Souterrain aufzusuchen. Rasch Treppe runter, Präsent abgestellt und nichts wie weg! Problem gelöst! Da er sich nie nach den Arbeitszeiten erkundigte, die Nachrichten meist knapp returnierte (ausgenommen akut aufflammenden Ärger), musste er es riskieren. Dann aber hätte er seine Schuldigkeit getan, könnte sich den wirklich bedeutenden Bedürfnissen des Lebens widmen! ~+~+~* Entscheidend war, zielstrebig zu marschieren, flotten Schritts. Nicht verstohlen oder heimlichtuerisch aus der Wäsche zu schauen! Natsumu setzte gerade den Fuß auf die oberste Treppe, da wurde er adressiert, von ziemlich weit oben. "Ah, du bist bestimmt ein Freund von Stitch! Der liebe Junge ist noch nicht daheim. Komm ruhig hoch, bei mir kannst du warten." Natsumu atmete tief durch, polierte sein schönstes, bescheidenes, höfliches Lächeln auf. "Guten Tag! Ich möchte Sie keineswegs stören. Ich hänge nur gerade etwas an seiner Tür..." "Ah, jetzt weiß ich es! Du bist das Häschen! Oh, du musst unbedingt rauf kommen und mit mir Tee trinken!" Hilflos starrte Natsumu hoch. Die alte Frau thronte nicht etwa in ihrem Appartement, sondern hatte sich auf der Außentreppe, Stahlbau, offene Gitter, eingerichtet, Hocker mit Kissen, Feldstecher um den Hals, am Geländer aufgehängtes Tablett. Wachposten vom Dienst. Die Augen kurz schließend sammelte Natsumu sich. Man könnte natürlich schnöde die Einladung ignorieren, sich in die Büsche schlagen, die es nicht gab. Wahrscheinlich handelte es sich jedoch um die runzlige Wächterin, der er auch das Nachtmahl vom letzten Samstag verdankte. "VerdammtVerdammtVerdammt!" Flüsterte er lautlos. "Vielen Dank für Ihre freundliche Einladung. Ich komme gerne hoch." Antwortete er laut, im Dr. Jekyll-Modus. Wenige Augenblicke später saß er auf einem zweiten Hocker, hübsch gepolstert, nippte Tee und ließ das Präsent inspizieren. Die alte, stark gebeugte Frau reichte ihm im Stehen gerade mal unter die Ellenbogen, aber die schwarzen Augen funkelten lebhaft und durchaus listig. Wenigstens adressierte sie ihn bei seinem Namen und nicht als "Häschen". DAS würde er dem Stachelschwein heimzahlen, irgendwann, aber mit Zinsen! Und Zinseszinsen! Wieder einmal hatte ihn der Schulpullunder verraten, wie es schien. Nachdem er dazu Auskunft gegeben, sich als Einzelkind mit weiterhin miteinander verheirateten Eltern identifiziert hatte, wechselte sie auf Stitch. Ein Prachtjunge! Und schon so weit herumgekommen, wegen des Vaters, der sich immer versetzen ließ, offenbar ein ehrgeiziger Mann. Zweites Mal verheiratet, während die Mama als Dorfhelferin arbeitete, der es wohl sehr guttat nach den Depressionen und dem Klinikaufenthalt. Schwierige Sache, der arme Junge war ja erst neun Jahre alt gewesen! Natsumu lauschte aufmerksam und schweigend. Auch wenn er das alles ums Verrecken nicht wissen wollte! Dieser familiäre Hintergrund kam nicht gerade einer Empfehlung gleich. Psychisch angeknackste Mutter, Scheidungskind, zusammengestoppelte Schulkarriere. Dazu noch dieses Aussehen und diese dubiosen Bekannten... Frappierender Weise bestanden jedoch alle darauf, dass dieser komische Kerl ein "lieber Junge" sei, "ein ganz toller Freund"! Dabei entsprach er ÜBERHAUPT nicht den gesellschaftlich akzeptablen Maßstäben! Ganz gewiss kein Muster oder Vorbild! Natsumu verspürte tatsächlich eine profunde Erleichterung, als Stitch in Sicht kam, elegant dahinglitt, munter winkte, zusagte, gern doch auf ein Tässchen Tee hochzukommen. »Das hier läuft mal wieder voll aus dem Ruder!« Ahnte Natsumu innerlich seufzend. ~+~+~* Das Präsent-Obst wurde säuberlich zerlegt und kameradschaftlich geteilt. Dazu briefte die alte Frau Stitch auch über die Neuigkeiten des Quartiers, was er brav mit Entsprechendem von seinem Arbeitsplatz, dem Heim belohnte. Natsumu fühlte sich durchaus de trop, denn er konnte nichts beitragen. Hätte man ihn über SEINE Nachbarschaft befragt, wäre er jede Antwort schuldig geblieben. Andererseits gehörte man ja auch nicht zu dieser Art von "Leuten", die Klatsch und Tratsch pflegten, Muße hatten, sich nicht voll der Arbeit widmeten! Die Sendezeit für eine beliebte Fernsehseifenoper kündigte sich an, was ihre Demission vom Adlerhorst mit sich brachte. Dezent auslaugt trabte Natsumu hinter Stitch her. Dabei sollte er doch JETZT einen beschleunigten Abgang hinlegen! "Siehst geschafft aus, mein Hascherl!" Zwinkerte der ihm frech zu. "Dr. Jekyll ist ganz schön anstrengend, so auf die Dauer, hm?!" Grimmig zog Natsumu die Augenbrauen zusammen. "Unverschämtheit! Du tust gerade so, als mangelte es mir erheblich an Umgangsformen!" Nun lachte der auch noch! Natsumus Stolz votierte dafür, aber PRONTO eine 180°C-Kehre einzuleiten, sich hinfort zu verfügen. Möglichst weit! Blitzartig wurde sein rechtes Handgelenk gekapert, eine schwungvolle Drehung... Die Eingangstür im Rücken konnte Natsumu nicht entweichen. Außerdem würde er den Teufel tun und die marodierende Zunge in seinem Mund so einfach davonkommen lassen! ~+~+~* Stitch ging auf Tuchfühlung, weil er vermutete, dass Reibungsenergie an neuralgischen Stellen jeglichen Widerstand aushebeln würde. Eigentlich entsprach es nicht seinem Selbstverständnis, so selbstherrlich zur Attacke zu schreiten, andererseits stöhnte Natsumu begehrlich, wenn auch gedämpft. Dessen von dubiosen Regeln eingezwängten Verstand musste man mit Hormonen so fluten, dass Gegenwehr unterging! "Aufhören, aber sofort!" Man zappelte, schnaubte. "Warum?" Rein akademisches Interesse, dabei die Kampfhandlungen auf das fragile Schlüsselbein verlegend. "He?! Bist du noch zu retten?! Wehe, du verpasst mir Knutschflecken!" "Dann beschränke ich mich brav auf die Fläche." Die man mit der Zunge liebkosen konnte, samt Stecker. Erneut wurde protestiert. "Ich will überhaupt nicht, dass du irgendwas machst, klar?!" "Mit welcher Begründung?" "Begründung?! Spinnst du?! Weil ich nicht will! Ich mag das nicht, kapiert!" Man fauchte aufgebracht. Stitch unterdrückte ein Grinsen, schmiegte sich aufreizend subäquatorial an, den geringen Größenunterschied ausreizend. Er wurde mit einem gutturalen Stöhnen belohnt, woraufhin er ein Ohr ansteuerte, schnurrte. "Ach, und so klingst du, wenn du was nicht magst?" Natsumu knurrte, wand sich wie ein Fisch, allerdings ebenso erfolglos, da weit weg vom rettenden Ufer landeinwärts gestrandet, als geübter Schreibtischtäter schlichtweg nicht in der Lage, sich mit trainierten Muskeln und Sehnen eines jungen Mannes zu messen, der ihn ohne Inliner um einen halben Kopf überragte. "Lass uns ein bisschen Spaß haben, mein Hascherl, damit die Vitamine richtig genutzt werden." Noch eine Steilvorlage, damit Rumpelstilzchen sich bei der nächsten Tirade verausgaben konnte. Allerdings blieb diese aus, sodass Stitch sich doch ein wenig verwundert aufrichtete, in das trotzige Gesicht blickte. "Dein Schwanz bringt mich nicht auf Hochtouren." Ein anderer Mann wäre wahrscheinlich aufgebracht, beleidigt, gekränkt, angewidert gewesen. Stitch, der so seine Vermutungen hegte, schmunzelte. "Ich bin sicher, ich finde Mittel und Wege, dich gründlich zu vernaschen, mein Hascherl." "Das werden wir ja sehen!" ~+~+~* Die lahmste Retourkutsche aller Zeiten, aber Natsumu kümmerte sich nicht darum. In seinem Unterleib pochte es quälend, elektrische Ströme zuckten bis hoch in seine Brustwarzen. Klar, wenn der Gesichtsfakir ihn fickte, würde nicht viel dabei rauskommen, wusste er ja schon! Doch die Alternativen hatten sich als EXTREM reizvoll erwiesen. Verlockend. Erfüllend. Natsumu wollte nicht mal überschlagen, wie lange es her war, seit er so richtig gekommen war, ohne Grenzen, vornehme Zurückhaltung, höfliche Reserve. Nach dem Horror der letzten Zeit, all den wirren Gedanken und gefährlichen Gelüsten bot sich hier ein paradiesisches Vergnügen. Zur Hölle mit seinem Stolz! Sollte ihm der Kerl doch mal zeigen, ob er was auf der Pfanne hatte! ~+~+~* Hastiges, ein wenig unkoordiniertes Entkleiden, gegenseitige Attacken, Ringen um die Führung, das Tempo, die Position, die Lage... Animalisch bis raubtierhaft. Stitch gefiel diese Variante durchaus. Wenn das Rumpelstilzchen sich mal entschieden hatte, agierte es wie das verrückte, tollkühne Häschen. »Kannst du nicht bremsen, läufst du eben bergab mit größerem Schwung weiter, volle Kraft voraus!« Waghalsig. Andererseits wurde in ihrem Gefecht auch keine Bremse benötigt. Es bedurfte keiner Vorbereitungen, weil Stitch nicht die Absicht hegte, Natsumu Analverkehr zu bieten. Der, wenn man Aussagen und Gebaren richtig interpretierte, bei dem noch nie so elysisch funktioniert hatte, wie die Legenden es besungen. Andere Methoden, die mit "Handanlegen" nur bruchstückhaft umschrieben wurden, hingegen schon. Zudem mochte das Hascherl es wohl, geküsst zu werden, gierig, feucht, verlangend, bis an den Rand der Atemnot. Während Stitch jedes Fleckchen Haut erneut persönlich begrüßte, fragte er sich amüsiert, ob Natsumu es überhaupt merkte, sein lustvolles, aufreizendes Stöhnen und Seufzen. Da konnte man glatt den Kopf verlieren! ~+~+~* Kapitel 28 Natsumu visierte die Decke an, blinzelte so lange, bis er wieder ein klares Bild hatte. Er sondierte die Statusmeldungen der Peripherie: bis auf seinen Stolz fühlten sich alle Nervenenden, Knochen, Sehnen, von den Zehennägeln bis zu den Haarspitzen, einfach himmlisch, ausgepowert und gleichzeitig vor Energie strotzend! Wohlig warm und köstlich erfrischt. Perfekt. Nun, beinahe. Über ihm materialisierte sich ein Becher mit Tee. "Kannst du dich aufsetzen? Du bist doch bestimmt heiser, oder?" Pah! Grummelnd stemmte sich Natsumu hoch, nahm den Becher, nippte. Jasmintee, nicht übel. Wieso heiser?! Argwöhnisch beäugte er Stitch, der gerade seinen Zopf neu flocht. "Was..." Ärgerlich räusperte sich Natsumu. Feinstaub, garantiert! Was denn auch sonst! "Was ist mit der Klingelstrippe passiert?" Die ungleichen Augen studierten ihn. Frechheit! "Was?!" Fauchte Natsumu rau, spülte eilig nach. Herrje, er musste die Gleitbahn ölen, klang ja wie ein altes Ofenrohr! "Wenn du an den Mann gehst, dann aber richtig. Alle Achtung, mein Hascherl!" Nach einem Augenblick der Entschlüsselung dieser subtilen Botschaft brauste Natsumu auf. "Lass den Hascherl-Murks! Willst du etwa sagen, dass der Zottelstrick meinetwegen aufgelöst ist?! Pah! War wohl der Gummi ausgeleiert!" Da sein Teebecher leer war, konnte Natsumu ihn abstellen, demonstrativ die Arme vor dem Brustkorb verschränken. Jetzt lachte der Kerl auch noch! "Bild dir bloß nichts ein, ja?! Solange du mich nicht richtig durchnimmst, brauchst du gar nicht so selbstzufrieden aus der Wäsche zu gucken!" ~+~+~* Stitch seufzte, vernehmlich. Der Starrsinn, mit dem Natsumu an dieser blödsinnigen "Regel" festhielt, war enervierend. Beinahe war er versucht anzudeuten, dass das Problem möglicherweise bei Natsumu zu verorten war, dass der simpel nicht so euphorisch auf Analsex reagierte, weil sich da nicht so viele Rezeptoren angesprochen fühlten. Aber Stitch entschied sich dagegen. Sein verrücktes Hascherl mochte zwar als "tough cookie" hart im Nehmen sein, aber so eine Einschätzung würde die "Schale" durchbrechen, ihn vielleicht in seinem Selbstwertgefühl erheblich beeinträchtigen. Da er aber schwieg, konnte er in dem trotzigen Gesicht das lesen, was er vermutete. Schließlich war das Hascherl ja nicht dumm. Irregeleitet, ja. Es ahnte wohl insgeheim, dass die vermeintlichen "Regeln" nichts weiter als Möglichkeiten waren, Korsette, die man nicht brauchte, wenn man sich selbst kannte und wertschätzte. Da, die Andeutung einer schmollenden Schnute! Stitch streckte versöhnlich die Hand aus. "Übernachte hier, ja?" ~+~+~* "Warum sollte ich?!" Natsumu brauste auf, studierte hastig den Wecker, jaulte innerlich. Schon so spät?! Er entwickelte hier eine bedenkliche Serie von Übernachtungs-Episoden! "Sag, dass du eine besonders spezielle Lerntechnik erprobst." Suggerierte ihm der Kerl doch unverschämt! Die dünnen Arme von dem nackten Brustkorb verschränkt fauchte Natsumu betont hoffärtig zurück. "Was denn für ne 'spezielle Lerntechnik'?! Ist ja nicht so, als gebe es die nicht seit Adam und Eva!" Nun grinste man auch noch selbstgefällig! Es war zum Aus-dem-Hemd-springen! Da Natsumu aber textilfrei mit untergeschlagenen Beinen residierte, verabschiedete er diese Option prompt. "Eher Adam zu Adam." Gurrte man. Echt originell! Natsumu knurrte bissig, während er fieberhaft seine Möglichkeiten explorierte. Flugs anziehen (ungeduscht!), Beine in die Hand, Bus nach Hause, viel zu spät ankommen und Ausrede erfinden. Klar, Präsent-Übergabe, Einladung, Unhöflichkeit eines frühzeitigen Aufbruchs... Wahrscheinlich würden seine Eltern dieses Szenario schlucken. Alternative: bleiben, schon wieder hier nächtigen. Wurde bald ja eine Gewohnheit! GANZ schlechte Idee! Nachher glaubte der Typ noch, er wolle mehr als... Ja, was denn eigentlich?! Den Schwanz brachte der Spinner gar nicht so zum Einsatz, wie das vorgesehen war! Beäugte ihn jetzt schon wieder so amüsiert! Zumutung! "Ich zweifle an deiner Lehrtätigkeit, großer Meister!" Ätzte er deshalb giftig zurück. "Bis jetzt sind MEINE Ansprüche jedenfalls nicht erfüllt worden." Damit ihm der Depp nicht gleich wieder besserwisserisch kam, gestikulierte er unmissverständlich: Zeigefinger durch Loch von Zeigefinger-und-Daumen-Kreis der anderen Hand. Dynamisch. "Capice?!" ~+~+~* Stitch entschied, seine spontan entwickelte Strategie zu verfolgen. Das Hascherl so richtig auf die Rolle zu nehmen, pardon, auf sein primäres Fortpflanzungsorgan. Und dann die Falle aufzustellen, die das Häschen in der Grube fangen sollte. ~+~+~* "Na, fein, reite mich doch. Kannst dich richtig austoben, mein Hascherl." Lehnte sich der eingebildete Nadelkissen-Verschnitt doch bequem zurück, kreuzte sogar die Arme unter dem Kopf! Natsumu grübelte eilig. Diese Position hatte er bisher noch nicht innegehabt. Sie bot ihm, wenn er der Lektüre und einschlägigen Foreneinträgen trauen durfte, jede Menge Einflussmöglichkeiten. Hauptsache, der Ständer ragte auf, das daran hängende Subjekt spielte keine besondere Rolle. Unwillkürlich zog er die Augenbrauen zusammen, fixierte seinen Gastgeber grimmig. "Aber beschwer dich nicht, wenn ich deine einäugige Schlange so richtig ausquetsche!" ~+~+~* Scheu oder gehemmt war das Hascherl nicht, das musste man anerkennen. Nur wenige Jungs kramten einfach den Gleitgel-Stick heraus, operierten an der eigenen Kehrseite vor Publikum. Übung zeichnete sich hier aus. Allerdings, Stitch erkannte das sehr wohl, sollte er nur die Aufgabe des humanen Erektionsanhängsels spielen. Es ging um körperliche Befriedigung, ganz technisch, ohne all die anderen Aspekte. So zumindest die demonstrative Absicht seines Besteigers. Stitch genoss die Erwartung, die ihn prickelnd durchmaß. In seinem konzentrierten Eifer, so ernsthaft und gleichzeitig irregeleitet, wirkte Natsumu sehr sexy. Kein Posieren, keine hohlen Phrasen, Dr. Jekyll musste rigoros draußen bleiben! Kritisch wurde der Zustand seines besten Stücks erprobt, verpackt, nachgeölt. Die Dildos hatten es zweifellos gut bei Natsumu getroffen! Stitch konnte nur mühsam ein anzügliches Grinsen unterdrücken. Es war aber auch niedlich, wie das Hascherl methodisch korrekt und doch gefährlich unbedacht agierte. Jetzt nämlich über ihn kletterte, in die Hocke ging, sogar die Zungenspitze in einem Mundwinkel einklemmte, weil sich das Manöver mit Verrenkungen gar nicht so einfach gestaltete! Stitch löste die Arme unter seinem Hinterkopf. Bevor er jedoch Assistenz offerieren konnte, wurde er streng angebellt. "Hände weg! Ich mach das, klar?! Du kannst die Ölsardine geben und rumliegen." Artig beobachtete Stitch also das Voranschreiten der Ereignisse. ~+~+~* Ein Arm vorne...dann wieder hintenrum... musste irgendwie ja...! Endlich hatte Natsumu mit erheblichem Herumwinden und vernehmlichen Ächzen das Andockmanöver absolviert. Nun würde als nächstes sehr unangenehm die Schwerkraft auf sich aufmerksam machen. Was man rasch merkte, wenn die Oberschenkelmuskeln und Waden zu zittern und zu kribbeln begannen. Die Augen zugekniffen, unwillkürlich grimassierend kämpfte Natsumu mit der selbst auferlegten Zwangslage. Die zuckenden Muskeln und Sehnen beeinflussten seinen Schließmuskel nachteilig, er konnte nicht aufnehmen, was er eng umschließen wollte! Nach vorne auf die Arme stützen! So entlastete er zwar ein wenig die Beine, doch nun stimmte der Winkel nicht mehr! Aber aufgeben kam nicht in Frage! Verbissen wechselte er die Balance, weitete den Schritt ein wenig, rutschte mühsam etwas tiefer. Angenehm war anders, von noch schöneren Empfindungen ganz zu schweigen! "Du musst dich nicht genieren, mein Hascherl. Kannst mich bis zum Ansatz vernaschen!" Gurrte der Kerl zu ihm hoch, lässig ausgestreckt, faul wie nur was! "Misch dich nicht ein, ja?! Sendepause!" Natsumu verabscheute die Transpiration auf seinem Gesicht, seinen flachen, hastigen Atem. Andere bekamen das doch auch hin! Rauf, rein und hopphopphopp! Wieso klappte das nicht richtig?! Was er bis jetzt spürte, lief unter "Anstrengung, Mühsal, Unbehagen, wachsender Enttäuschung und aufkommendem Unmut". Um nicht zu sagen Zorn. Gab es irgendeinen Trick?! Hatte der ungeniert herumlümmelnde Kerl am Ende recht und er brauchte diese "spezielle Lerntechnik"?! Mühsam rang er sich winzige Fortschritte Richtung Erdmittelpunkt ab, doch das Ende des Schafts war noch längst nicht erreicht. Seine eigene Erektion schwächelte schon. Natsumu biss die Zähne aufeinander, zwang sich, jetzt aber das ganze, verdammte Gemächt einzukerkern! ~+~+~* Tollkühn, verrückt und sträflich rücksichtslos gegen sich selbst. Ein vogelwildes Häschen! Stitch allerdings reichte die Vorstellung von seiner Loge aus nun: er drückte die Fersen in die Matratze, brachte seine Bauchmuskeln zum Einsatz. Er stemmte sich auf eine Seite, angelte Kissen heran, knäulte sie unter die eigenen Schulterblätter, damit er, bevor Natsumu Lunte roch, zufassen konnte: erst dessen abschlaffende Erektion, deutliches Barometer der körperlichen Begeisterung für diese Situation, dazu eine Hüfte zum Abstützen, wenn er die Beine langsam aufstellte. Natsumu protestierte erwartungsgemäß, doch Stitch verfügte ja über eine sehr wertvolle und empfindsame Geisel. Seine Hände massierten, liebkosten, reizten, zupften, rieben... Über ihm ertönte der heisere Soundtrack seiner Handreichungen. Man konnte auch nicht schimpfen und tadeln, wenn man die Zunge gegen den Gaumen pressen musste, um nicht vor Wollust aufzuschreien. Er kam mit der Hüfte seinem Möchtegern-Kerkermeister entgegen, initiierte einen aufpeitschenden Stoßrhythmus. Nicht gerade bequem für ihn selbst, aber hier ging es um die Beweisführung! Das Hascherl verlegte sich unterdessen nur noch darauf, sich mit einer Hand an der Wand abzustützen, während die andere eigentlich strafend sein Handgelenk umklammern wollte, ihn vom Abschluss per Abschuss abhalten. Allein, dazu fehlte jede Kraft. Stitch genoss seine Freiheiten ungeniert. Außerdem sah das Hascherl einfach zu appetitlich aus, wie es sich über ihm mit geschlossenen Augen in Ekstase wand! ~+~+~* "Das war geschummelt!" Klagte Natsumu, hustete, musste widerwillig erneut Tee annehmen. Sich dafür sogar beim Aufsetzen assistieren lassen, denn der miese Mistkerl hatte ihn ja erneut ausgekontert! Wieder mit den Händen, unsportlich bis dort hinaus! Ganz gegen die Regeln! Kein Wunder, dass er es einfach nicht mit der Insert-Cock-here-Nummer hinbekam! "Ist vielleicht doch Zeit für meine spezielle Lerntechnik, meinst du nicht?" Das nächste Mal würde er den verdammten Klingelzug an dem Dummschädel rausreißen! "Alles fängt im Kopf an, mein Hascherl. Wenn du dir selbst einen Orgasmus verpassen kannst, klappt es auch mit der Aufhockerei." "Pah!" Fauchte Natsumu aufgebracht. "Blödsinn! Man kann sich selbst keinen Orgasmus verschaffen! Bloß die normale Funktionskontrolle, mehr nicht." Alles andere waren dämliche Legenden ohne Wahrheitsgehalt! "Und wenn ich es dir beweise? Was würdest du wetten, hm?" ~+~+~* Der Fisch zappelte schon am Haken, oder vielmehr nagte das Häschen schon bis zum Grünzeug an der Möhre! Jetzt gleich die Falltür zur Grube aktivieren... "Quatsch mit Soße! Du willst mich wohl verarschen!" "Keineswegs. Ich zeig's dir. Also, wie lautet dein Wetteinsatz?" "Wie lautet DEIN Wetteinsatz? Du verlierst nämlich garantiert, du Aufschneider!" Stitch schmunzelte, während er innerlich breit grinste. "Du darfst einen ganzen Tag über mich verfügen, angefangen Samstagabends. Ohne Einschränkungen." Der kritische Blick sprach Bände. "Was soll ich denn mit dir anfangen?! Kann mich ja nicht mit dir irgendwo sehen lassen!" Stitch ließ sich nicht aus der Reserve locken durch die unbedeutende Provokation. "Das kannst du dir ja überlegen. Also, hältst du den Einsatz mit? Einen ganzen Tag zur Verfügung?" Er streckte die Hand hin, den kleinen Finger präsentierend. Grimmiges Funkeln unter dem gezackten Pony. "Na schön! Du verlierst sowieso!" Kleine Finger, ineinander verhakt, schüttelten sich kurz, besiegelten die Abmachung. Nun lächelte Stitch ganz offen. "Mein Hascherl, du wirst dich wundern..." ~+~+~* Natsumu verschränkte die Arme vor dem Leib und starrte provozierend. Selbst wenn der Laffel die Rollläden gesenkt hatte, SEIN Laser-Starren durchdrang alles! Zunächst kümmelte der Kerl bloß ausgestreckt herum, atmete ein bisschen schneller. Ja, gut, eine gewisse Körperspannung konnte man nicht übersehen. Schön, vermutlich würde der Dödel sich gleich von seinem subäquatorialen Pendant einen runterwedeln,geschenkt! Das war nicht mehr als eine normale Funktionskontrolle mit etwas Begleit-Amüsement, zählte nicht! ~+~+~* Stitch neigte eigentlich nicht dazu, sich vor Publikum zu produzieren, um Aufmerksamkeit zu erregen. In diesem speziellen Fall jedoch störte die "Erregung" in der Aktion gar nicht. Er musste seine Hände nicht bemühen, sich selbst tatsächlich berühren. Nein, das war Kopfsache, Imagination, Körperbeherrschung und Selbsterkenntnis, das Abrufen gespeicherter Erinnerungen, die in Zellen, Sehnen und Nervenenden lagerten. Großes Kino, dafür war der Brägen schließlich gemacht! Stitch konnte sich eine Menge vorstellen. Er spürte die eigene Erektion, das Prickeln auf seiner Haut, die Erinnerung an frühere Liebkosungen, an die Empfindungen, die der Kontakt ausgelöst hatte. An das Verlangen nach mehr, an den Rausch, die unlimitierte Lust. Bis in die Zehen hinein aufgeladen, elektrisiert zu sein, das Blut in den Ohren strömen zu hören. Der eigene Puls wie ein trommelnder Paukenschlag, schneller und schneller. Ein Sprint auf der Zielgerade. Die unwillkürlichen Laute, die von Zunge und Lippen rollten. Sich hinzugeben, diesem Drang, auf immer höheren Wellenkämmen zu reiten, sich mitreißen zu lassen! Die Lavaströme der eigenen Adern unter der Haut beschleunigen zu sehen, glutrot, heißer als die Sonne. Er wollte explodieren, wie ein Vulkankegel eruptieren! Eine Fontäne in den Himmel schießen, den aufgebauten Druck mit einem finalen Salut entweichen lassen. ~+~+~* Natsumu starrte, zwischen ungläubiger Ehrfurcht und aufgewühlter Faszination auf seinen Gastgeber. Der hatte NICHT Hand angelegt, keine Hilfsmittel benutzt. Aber die Schockwellen, die Laute und abschließend auch der beeindruckende Erguss... Natsumu wusste, dass Frauen Hochgefühle vortäuschen konnten. Aber einen Erguss vorzutäuschen, dazu noch die heftigen Kontraktionen von Muskeln und Sehnen, die aufreizenden Geräusche... Der Kerl war nicht ohnmächtig geworden, aber definitiv angezählt, merklich. Spontan schnappte er sich den Zopf, der dezent gerupft auf dem Kissen neben einem sehr gelösten Gesicht ruhte. "He, wie hast du das angestellt?!" Diese Geheimtechnik musste Natsumu unbedingt in Erfahrung bringen! Da konnte es ihm auch gleich sein, was für Luschen am jeweiligen Schwanz hingen! ~+~+~* Sich gemächlich aus tief entspannter Wohligkeit zurückziehend registrierte Stitch amüsiert das Zupfen an seinem Zopf. "Na endlich! Hörst du, was ich sage?! Zeig mir, wie man das macht, ja?!" Das Rumpelstilzchen machte sein Entree, wie man unschwer erkennen konnte, abgesehen von dem aufgekratzten Wippen auf der Matratze, das ihn selbst in leichte Wellenbewegung brachte. "Gemach, mein Hascherl..." "Ich bin nicht dein Hascherl! Das kann man doch lernen, oder?! Dafür bin ich quasi prädestiniert! Bring mir's bei!" Lässig die Arme unter dem Nacken kreuzend studierte Stitch seinen aufgekratzten Bettgenossen: ungeduldig, tatendurstig, entschlossen und besorgt, man möge ihn zu kurz halten. "Gestehst du mir also zu, die Wette gewonnen zu haben?" Ein wenig Triezen musste sein. Das Rumpelstilzchen brauchte Contra. "Meine Güte, wenn dir das so wichtig ist: ja, du hast die blöde Wette gewonnen!" Offenbar als Fußnote abgetan. "Und du wirst also einen ganzen Tag zu meiner Verfügung stehen?" "JA DOCH! Können wir jetzt zu den wirklich WICHTIGEN Dingen kommen?!" Genervt, recht unhöflich und grob ungezogen. Dr. Jekyll stand mutmaßlich nicht bereit einzuspringen und das Verscherzen von Wohlwollen zu verhindern. Stitch betrachtete Natsumu ausgiebig: wild entschlossen, unbedingt die perfekte Technik zu erlernen, um zum Orgasmus zu kommen. Welche Bedeutung maß er dieser Fertigkeit bloß bei? Was verbarg sich dahinter? "Sag lieber deinen Eltern Bescheid, dass du im Rahmen deiner Lernrunde übernachtest." Dezent boshaft. Prompt knurrte Natsumu ärgerlich, funkelte zornig, federte hoch, eilte zu seiner Tasche, setzte hurtig die Meldung ab. "So, fertig! Also..!" Betont selbstherrlich klopfte Stitch neben sich auf die Matratze. "Was?" "Langlegen." Bellte er ebenso knapp zurück. Gehorsam streckte sich Natsumu neben ihm aus. "Und jetzt?!" Stitch befleißige sich eines besonders geplagten Seufzers. "Hör mal, mein Hascherl, wenn du hier drängelst und zappelst, kannst du es gleich vergessen. So funktioniert das nicht." "Ach ja?! Lass dir doch nicht jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen!" Prima, nun gesellte sich zum Rumpelstilzchen auch noch die beleidigte Leberwurst. "Hektik bringt gar nichts, mein Hascherl. Da kannst du bei deinen kleinen, künstlichen Helferlein bleiben." "Das ist unfair! Du willst mich bloß hinhalten!" Stitch rollte sich demonstrativ auf die Seite, seinen Rücken präsentiert. "Süßer, warum denkst du nicht einfach mal über deine Motivation nach, hm? Ich begucke mich derweil von innen." Erstens war es schon spät, zweitens wollte er schlechte Manieren nicht auch noch belohnen. Hinter ihm fauchte Natsumu prompt frustriert. "Von wegen 'lieber Bursche'! Ha! Knauseriger Knickerich mit Klimbim ins Konterfei getackert!" Stitch grinste verstohlen. Ungezogen, vorlaut, frech, aber mit Alliteration schimpfend. Einfach Zucker, das Hascherl! ~+~+~* Natsumu starrte empört auf die blanken Schultern, den bezopften Hinterkopf. Der wollte hier jetzt doch nicht etwa wirklich einschlafen?! Ärgerlich trommelte er mit Fersen und Fäusten auf die Matratze. "Was denn für eine Motivation?! Ist doch wohl klar! Richtig abgehen, sich gut fühlen!" Man rührte sich nicht. "Reproduktion fällt flach, also, was willst du denn hören?! Ich betreib den ganzen Aufwand mit Trimmen und Ölen, damit ich's richtig besorgt bekomme!" Ungeduldig setzte Natsumu sich auf. "Überhaupt, warum soll ich hier ne Doktorarbeit abliefern?! DU hast ja wohl dieselbe Motivation!" Sonst befänden sie sich ja nicht hier, richtig?! "Was machst du noch, um dich gut zu fühlen?" Hach, man ließ sich also doch herab, noch mal zu kommunizieren! Natsumu sortierte den gezackten Pony. "Was soll ich denn 'machen', bitte schön?! Mein Leben besteht aus Pauken, wenig essen, wenig schlafen und das war's! Auf dem Arsch hocken ist meine Königsdisziplin!" Nun rollte man sich herum, lagerte lässig auf dem Rücken. "Gibt es nichts außer Sex, das dich euphorisch stimmt?" Prompt verdrehte Natsumu die Augen. "Dr. Freud, Euphorie kostet unnötig Zeit und verhindert die Konzentration auf die nächste Lektion und Prüfung. Hast du eine Stufe erklommen, nimm die nächste!" Die ungleichen Augen studierten ihn eingehend. "Das sagt dir zu?" JETZT hatte sich Natsumu einen geplagten Seufzer bis zu den Fußnägeln redlich verdient. Er kreuzte die Beine bequem, lehnte sich auf die Hände zurück. "Ehrlich, du kapierst es nicht, oder? So sind die Regeln, Ende und aus." Natsumu betrachtete im Zwielicht der spärlichen Beleuchtung die groben Schattenwürfe des Zimmers. "Es ist simpel: du paukst, absolvierst Prüfungen, erreichst den nächsten Level, paukst weiter. Alles andere, was nicht dem Lernfortschritt dient, ist zu unterlassen." Er lächelte zynisch. "Hast du einen guten Durchschnitt? Das ist selbstverständlich, kein Grund zur Freude, immerhin haben andere das auch. Also weiter, die Konkurrenz schläft nicht." Sich lotrecht aufgesetzt explorierte er sein Milieu. "Der Zweck dieser Schulbildung ist das bestmögliche Ergebnis bei Prüfungen für die angesehensten Universitäten. Dazu muss man immer vorn sein, nie aufhören, nie pausieren. Bist du nämlich nicht an der Spitze, nehmen dir andere vielleicht das Pünktchen ab, dessen du bedurft hättest. Wer hoch hinaus will, muss ohne Unterlass treten. Einmal den steinigen Pfad bergauf und natürlich auch nach denen, die nachdrängen. Das Leben ist nicht dafür da, sich zu amüsieren, sondern den besten Start hinzulegen nach der Universität, einen hoch dotierten Job zu finden, immer nach Höherem zu streben. Allein 'der Himmel', also die höchste Position bei Politik und Unternehmensleitung, ist die Grenze. Da darf man nicht einen Millimeter vom Pfad abweichen." Neben ihm setzte man sich nun auch auf. "Allerdings besteht doch ein Arbeitskräftemangel..." "Pah!" Schnaubte Natsumu wegwerfend. "Nicht da, wo die Reise hingehen soll! Geht hier ja nicht um simple Jobs, gar mit körperlichem Einsatz! Hilfs-Beatle kann man sich billig kaufen, weiß doch jeder." Es blieb ruhig an seiner Seite, eine ganze Weile lang. "Das ist auch das, was du willst? Ganz an die Spitze, in den 'Funktionärs-Himmel'?" Natsumu schnaubte abfällig. "Hältst du mich für blöd?! Ich habe keine Ahnung, was ich will, aber deshalb bin ich nicht zu dumm, meine Mängel zu erkennen!" Er ballte die kurz die Fäuste, starrte finster in den schmalen Raum. "Da draußen gibt es UNZÄHLIGE wie mich, ohne besondere Begabung, ohne spezielles Talent oder herausragende Fertigkeiten. Darüber hinaus kann ich mit Frauen nichts anfangen, Familiengründung kann man also vergessen, es sei denn, man operiert mit einigen Tricks. Scheiße noch mal, ich bin mit meinem Temperament auch noch aus der Art geschlagen! Also, was denkst du wohl, wie MEINE glorreiche Zukunft aussieht, wenn ich den Arschhock-Marathon nach der Uni beendet habe?!" Ärgerlich wischte er sich mit dem Handrücken über die speichelfeuchten Lippen. Diese Anwandlungen von überquellenden Emotionen, die sich einfach nicht austrocknen ließen, würden ihn irgendwann GARANTIERT in Teufels Küche bringen! "Was würdest du tun, wenn du es dir aussuchen könntest, jetzt, meine ich?" Natsumu grunzte. "Im Moment gerade würde ich unheimlich gern bis zum Overkill gefickt werden, danke der Nachfrage!" Er schnaubte verächtlich. "Was die aktuelle Gesamtsituation betrifft: ich glaube nicht, dass ich es besser treffen könnte. Wenn ich nach den Regeln spiele, habe ich immerhin noch ein paar Freiräume." Nun wandte er sich doch zu Stitch herum. "Blöderweise ist es mir nämlich wichtig, zu essen, ein Dach über dem Kopf, angemessene Bekleidung und eine kleine Reserve für Regentage zu haben. Allein mein charmanter Charakter bringt mir das aber nicht ein, also muss ich mich eben fügen, um diesem Luxus noch eine Weile frönen zu können." ~+~+~* Stitch betrachtete den sehnigen Jugendlichen vor sich. Das Rumpelstilzchen bot giftigen Zynismus und eine selbstverächtliche Härte an, die er so nicht erwartet hatte. Allerdings gab sich Natsumu auch redlich Mühe, seine Gedanken und Beweggründe zu verbergen, um nach den "Regeln" zu spielen. Wem mochte der sich so offen jemals anvertraut haben, so bitter und abgeklärt, so desillusioniert und grimmig? Unwillkürlich hob Stitch die Rechte, strich über eine längere Strähne an Natsumus Schläfe. "Erwartest du abzustürzen?" Den Kopf leicht neigend schenkte Natsumu ihm ein ironisches Lächeln. "Kamerad Altmetall, im Gegensatz zu dir bin ich im Spiel des Lebens schon auf einem hohen Niveau eingestiegen, von da an immer aufwärts geklettert. Was glaubst du wohl, wie abgrundtief mein Fall sein wird? Mann, das wird ein solcher Platscher, eine derartige Sauerei!" Natsumu zwinkerte, ohne jeden Anflug von Humor. "Nur mit dem Unterschied, dass es NIEMANDEN kümmern wird. Noch während des Absturzes werde ich unsichtbar sein. Kein Geräusch wird ertönen. Es wird so sein, als habe ich nie existiert, weil die anderen, die so wie ich auf dieser Geisterbahn unterwegs sind, es sich nicht leisten können, einen Gescheiterten wahrzunehmen. Selbsterhaltungstrieb und Aberglauben. Nur nicht nach unten oder nach hinten blicken! Aufwärts ist die einzige Richtung." Stitch fragte sich, ob er dem einzigen Teenager gegenübersaß, der so abgebrüht seinen eigenen Untergang erwartete. Oder ob auch andere der Klassenkameraden ähnlich dachten. Unerwartet wurde seine Stirn von einem Zeigefinger gestupst. "Das ist nicht so wie bei dir. Niemand erwartet von dir, auf so einem Niveau unterwegs zu sein." "Ah nein?" Ein wenig verärgert hegte Stitch, diese Argumentation auch erläutert zu bekommen. Natsumu lächelte bissig. "Natürlich nicht. Selbst ohne die ganzen Angelköder in deiner Visage oder den Glockenstrang an deiner Murmel bist du ein Freak, allein schon wegen deiner Augen. Dazu noch die Sache mit deiner Mutter. Deshalb sagen ja auch alle, 'aber er ist so ein lieber Junge!' Eigentlich nicht erwähnenswert, es sei denn, man ist ein Freak, von dem ohnehin niemand etwas Gutes erwartet." DAS war boshaft, verletzend. Aufschlussreich. "Niemand erwartet von dir was Besonderes. Alles, was du erreichst, wird man erstaunt und wohlwollend bewerten, weil du trotz deiner Handicaps, deiner zerrütteten Familie und einer potentiellen Beklopptheit so weit gekommen bist. Bei Leuten wie mir ist das anders. Das Einstiegsniveau qua Geburt und Elternhaus sorgt dafür, dass alles, was ich je erreichen werde, selbstverständlich ist, nicht lobenswert, nicht besonders, sondern stets Status quo. Die Abstrampelei, bloß um das Niveau zu halten, interessiert niemanden." Stitch strich mit den Fingerspitzen über die langen Strähnen der Schläfe. "Das ist auch deine Auffassung?" Für einen kurzen Moment huschte ein verbitterter Ausdruck über Natsumus Gesicht. Er flötete gehässig zurück. "Selbstverständlich! Ich bin in keiner Position, mir eine abweichende Meinung erlauben zu können oder überhaupt ein Urteil. Das ist NICHT gefragt." Energisch schüttelte Stitch seine Verärgerung ab. Die Rumpelstilzchen-Attacken kannte er zur Genüge. Sie tarnten die wahre Person hinter dem polterig-vorlauten, unverschämten Verhalten. "Du wirst das nicht durchhalten." Prognostizierte er seinerseits provozierend. Natsumu schnaubte arrogant. "Denkst du, ich weiß das nicht?! Oder dass ich sehenden Auges den Absturz vorzeitig riskiere, weil ich mich ficken lasse, mit Freaks wie dir assoziiere?! Es ist dämlich, gefährlich, riskant, aber, verdammt noch mal, bevor es mich zerlegt, will ich richtig abheben, das Beste rausholen!" Erwartete Natsumu also, dass seine Zukunft nicht mehr für ihn bereithielt als einige Orgasmen, bevor es bergab ging? Worin bestanden seine Träume, seine Sehnsüchte? Ein nachsichtiges Lächeln prägte Natsumus Miene. "In meiner Welt lebt man auf Schienen mit Scheuklappen. Es gibt nur ein Gleis. Oder gar nichts. Nur das Einhalten der Regeln bringt Sicherheit. Da ist kein Platz für Improvisation, für lächerliche Grillen wie eigene Ideen oder versponnene Wünsche." Stitch blickte in die großen, schwarzen Augen. "Was wirst du tun, wenn du fällst?" Wieder dieses gnadenlose, selbstironische Lächeln. "Abstürzen vermutlich. Beim Bodensatz der Gesellschaft landen. Ein Niemand werden. Über eher kurz als lang den Löffel abgeben." Sie duellierten sich stumm, eine ganze Weile. "Du könntest um Hilfe bitten." Natsumu lachte spöttisch auf. "Sicher doch! Wen denn? Absonderlichkeit ist ansteckend, weißt du das nicht?! Mit Pest oder Cholera hätte ich mehr Chancen." Bevor Stitch darauf antworten konnte, stippte ihn ein Zeigefinger auf die Nasenspitze. "Palavere jetzt bloß nicht von Freunden herum, ja? So was gibt's nämlich nicht, höchstens Bekannte mit temporär identischen Zielen." "Ist das der offizielle Sprachgebrauch?" Nun schmunzelte Natsumu das erste Mal amüsiert, ohne bittere Note. "Da wir nur selten in den Diskurs gehen, musst du dich mit dieser Definition begnügen. Quatschen kostet nämlich auch Zeit." Stitch beugte sich vor, küsste Natsumu leicht auf die Lippen. Als er sich wieder aufrichtete, rutschte der ihm entgegen, kletterte selbstherrlich auf seine gekreuzten Beine, legte ihm die dünnen Arme auf die Schultern. "Zeig mir, wie man das hinbekommt, diesen Orgasmus. Bringt dir bestimmt Karma-Punkte ein, als gute Tat." "Damit du noch ein wenig länger in deiner Welt bleiben kannst? Ohne riskante Ausflüge in Waschräume?" Natsumu schnaubte, wippte leicht. "Eigentlich schätze ich es schon, wenn ich beim Abschießen Gesellschaft habe. Allerdings gestaltet sich das schwierig. Oder die Vögel bringen's einfach nicht." Gegen seine Absicht konnte Stitch ein Grinsen nicht unterdrücken. "Ach was, der Fortsatz am Wurm kümmert dich doch?" "Hat eben mehr Features als bloß die Zuckerstange, klar?!" "Ja, zum Beispiel Hände, Zunge, Lippen..." "He, kommst du jetzt zur Sache, oder was? Denk dran, kannst du's heute wem besorgen, verschieb das nicht auf morgen!" Stitch lachte trotz der zotigen Variante eines Sinnspruchs. "Ganz schön gierig!" Vor allem, da sie ja schon ausgiebig der Paargymnastik gefrönt hatten. Natsumu hielt sich nicht mit einem förmlichen Bittgesuch auf, sondern bediente sich in gewohnter Weise selbstherrlich, indem er Stitch verlangend und intensiv küsste, sich enger anschmiegte, Haut in Kontakt brachte. "Komm schon!" Drängte er heiser an Stitchs Ohr. "Du kannst tun, was du magst. Kannst ihn mir auch reinstecken!" Solange dabei das Hochgefühl entstand, das Natsumu unbedingt anstrebte. Stitch entschied, seine intimen Kenntnisse über die neuralgischen Stellen zur Anwendung zu bringen. Er brauchte nicht nur Schlaf, sondern auch Zeit, die freimütigen Enthüllungen seines Hascherls zu überdenken. ~+~+~* Natsumu seufzte leise, als ein Kuss seine Wange verzierte. "Schlaf weiter, mein Hascherl." In seinem Unterbewusstsein lärmte eine Warnung, er solle gefälligst ZACKIG in Aufnahmebereitschaft umschalten. Schlaftrunken bemühte sich Natsumu also, sich von der Matratze hoch zu stemmen. "Es ist Sonntag." Raunte die Stimme verlockend. "Du kannst so lange schlafen, wie du magst." Eine verführerische Sirene aus dem Reich der Legenden hätte nicht mehr Erfolg haben können. In sich zusammensackend ignorierte Natsumus Verstand brav den Alarmmelder, wechselte zu Morpheus über. Der versorgte ihn ausgiebig mit Schlafsand, was dazu führte, dass Natsumu erst rund drei Stunden später aufrecht saß, vernehmlich stöhnte. "Verdammt!" Kommentierte er mit aufgerauter Stimme die Situation. Ja, zweifellos zeichnete sich hier eine bedenkliche Entwicklung ab. Dass er sich ständig im Lotterbett des Gesichtsstachlers wiederfand, neben einem kleinen Frühstück, nachdem er ausgiebig gebumst worden war! Während der Kerl vermutlich rechtschaffen seiner Arbeit nachging. "Verdammt!" Wiederholte Natsumu grimmig. Seine Kondition ließ zu wünschen übrig, was er ihr nicht verdenken konnte: sie war eben nicht trainiert. Außerdem erinnerte ihn sein Gedächtnis nun bösartig an die Ereignisse des Vortags: die verlorene Wette, die Aussprache. Nun gut, mehrere Runden sehr erfüllender Sex, das konnte man positiv vermerken! Allerdings hatte er noch nicht gelernt, was der verrückte Kerl als Selbstbefriedigung offerierte. "Spezielle Lerntechnik, hm?" Wiederholte Natsumu kritisch, während er sich rasch frischmachte, das angebotene Frühstück verkostete. Keine Frage, er wollte, nein, MUSSTE unbedingt diese Kenntnisse erlangen! Solange die Mär von den außerschulischen Lernzyklen akzeptiert wurde, würde er seine Eltern entsprechend hinters Licht führen. Es hatte schließlich keinen Sinn, nur mit halbem Einsatz zu spielen, wenn man seine ganze Existenz riskierte! ~+~+~* Kapitel 29 Stitch betrat sein Einzimmerappartement, blickte sich um: Bett gemacht, Geschirr gespült und weggeräumt. Das Hascherl erwies sich als ordentlich. Das verwunderte ihn nicht, wenn er sich darauf besann, mit welcher Akribie der seine sexuellen Kontakte vorbereitet hatte. Natürlich war er nach seiner Schicht abgepasst worden, auf einen Tee, Kekse und ein Schwätzchen hoch zu kommen in den Adlerhorst. Was für ein Urteil würde seine betagte Nachbarin über Natsumu fällen? Dessen Dr. Jekyll-Modus funktionierte erstaunlich gut, wenn sie nicht allein waren. So ein hübscher Junge. Eine sehr teure Schule. Ausgezeichnete Manieren. Beinahe würde man den kleinen Teufel nicht entdecken, der in den großen, schwarzen Augen hauste! Stitch hatte eingewandt, dass Natsumu ihm nicht gerade diabolisch vorkam. "Oh, er ist stur, entschlossen, herausfordernd, wenn so einer sich was in den Kopf setzt, bekommen die anderen Angst. So einer lässt sich nicht einfangen." Stitch sortierte seine Inliner und die Schutzausrüstung ordentlich, ließ sich auf seinem Bett nieder. Er hatte nicht offenbart, was Natsumu ihm anvertraut hatte, aber das schien auch nicht nötig zu sein. Ab einem gewissen Alter nahmen die Betagten ihren Status der Narrenfreiheit in Anspruch, setzten nicht mehr gewissenhaft die gesellschaftliche Maske auf, verzichteten auf eine eigene oder gar abweichende Meinung, empfanden Harmonie um jeden Preis nicht mehr als wünschenswert. Natsumu war in seinen Augen kein schlechter Kerl, ganz sicher nicht. Zu konsequent, zu zynisch, vielleicht aber auch nur realistisch? Die Welt, von der er sprach, ließ Leute wie ihn nicht zu, gestattete ihm keinen Zutritt oder Zugang. "Hab auch nicht behauptet, dass er ein schlechter Mensch ist, aber einer, der Ärger macht. Wobei Ärger manchmal eine gute Sache sein kann." Sie hatte ihm nicht empfohlen, den Kontakt abzubrechen oder auf Natsumu einzuwirken oder ihn gewarnt, sich nicht allzu sehr einzulassen. Langsam ließ Stitch sich auf den Rücken sinken, visierte die Zimmerdecke an. Natsumu entschied für sich selbst. Er konnte keinen besonderen Einfluss nehmen. Vielleicht hatte das Hascherl schon immer diesen Charakter gehabt, für sich selbst einzustehen, Konsequenzen zu erwägen, direkt, waghalsig, ungestüm. Sich nur getarnt, aus Vernunftgründen, abgewartet, bis sich eine Chance gab auszubrechen. Sollte er selbst deshalb einen Rückzieher machen, damit Natsumu nicht auf eine "schiefe Bahn" geriet? Unwillkürlich huschte ein schmallippiges Lächeln über Stitchs Gesicht. Nein, das Hascherl wählte seine Bahn selbst, ganz gleich, was andere sagten oder taten. ~+~+~* Natsumu bereute seine Offenheit nicht im Mindesten. Selbstredend ging er ein Risiko ein, aus der Rolle zu fallen, auszusprechen, was er dachte und fühlte. Was nicht obligat war, wenn es dem gesellschaftlich erwünschten Kurs nicht entsprach. Aber wenn er deshalb untergehen würde, wäre es durch seine EIGENE Entscheidung! Nicht als lapidare Konsequenz der Handlungen anderer. Zudem, dessen war er sich auch sicher, gerierte sich der Gesichtsstachler nicht als Anschwärzer. Außerdem, testierte Natsumu sich energisch, hatte er lange genug gezagt und gezögert, was nicht zu ihm passte. Hatte er nicht entschieden, Männerbekanntschaften zu suchen, um Sex zu erleben? Hatte er nicht eine entsprechende Plattform gefunden und für EWIG lange Zeit Trockenübungen absolviert? Gut, Doppelgänger eines abgehalfterten Porno-Häschens, das wäre nicht notwendig gewesen. Andererseits hatte er ja so den Einstieg gefunden. Manchmal musste man Kröten schlucken, oder, wie in seinem Fall, Luschen-Gemächt rektal verstauen. Jetzt stand er kurz vor dem Ziel. Stitch beherrschte eine Technik, die er selbst auch erlernen wollte. Zusätzlich erwies der Freak sich auch als verdammt beeindruckender Sexpartner. All die komischen Charakterausläufer samt Ponem-Steckerei konnte man da durchaus verknusen! Aber war es das wert? Natsumu schenkte sich selbst ein zynisches Grinsen im Schutz seines eigenen Zimmers. Er hatte keine Hobbys, Steckenpferde, besonderen Fähigkeiten, Neigungen, Talente oder IRGENDWAS über Durchschnitt vorzuweisen. Das, was er anstreben sollte, entsprach dem farblosen Durchschlag einer Klischeevorstellung vom "guten Leben". "Was hat das mit mir zu tun?" Eben. Er war schwul, temperamentvoll, nur so lange angepasst und opportunistisch, bis er eine Chance fand auszubrechen, entscheidungsfreudig, direkt. Keine Eigenschaften, die zur Blaupause des Durchschnitts-"Geschäftsmanns" aka Angestellter im mittleren Segment mit Vorstadt-Parzelle und Familie samt Schwiegereltern passten. Für die Ideale, die er anzustreben hatte, stellte er selbst den FREAK dar. Keine neue Erkenntnis. Schon seit der Vorschule fühlte er sich latent fehl am Platz, kam sich dabei selbst aber keineswegs "defekt" vor, fehlerhaft, makelbelastet. Nein. Vorsichtig, nicht allzu offen seine "Andersartigkeit" erkennen zu lassen, doch nie im Zweifel, seine Persönlichkeit beschneiden, verändern, einschränken zu müssen. "Kommt auch nicht in die Tüte!" Zischte Natsumu in sein Zimmer, grimmigen Blicks. Wenn schon untergehen, dann hoch erhobenen Hauptes. ~+~+~* Stitch argwöhnte durchaus, dass sein "Wettgewinn" für Natsumu keine vollkommene Überraschung sein würde: er wollte mit Natsumu eine Tour unternehmen, zu zweit, am Spätnachmittag bis in die Nacht hinein. Die Zweitausrüstung borgte er sich zusammen, immer wieder freudig überrascht, wie freigiebig die "Familie" reagierte. Sie verabredeten sich vor dem Bahnhofsgebäude, damit er seine Inliner nicht ausziehen musste, direkt von der Arbeit dort aufschlagen konnte. Natsumu wartete, die gewohnte Schultasche über einer Schulter, in der Hand sehr altmodisch ein Furoshiki, ein eingeschlagenes Tuch mit Last. Zu Stitchs Verblüffung zeigte Natsumu nicht mal Anzeichen von Ungeduld oder Überdruss. "Entschuldige, wartest du lange?" Stitch konnte nicht anders, als sein Glück zu testen. Natsumu schnaubte. "Es wäre mir nicht so lange vorgekommen, wenn mich diese aufgetakelten Kicherlisen von der Mädchenschule nicht vollgeseicht hätten!" Schwungvoll trabte er neben Stitch her, so harmlos wirkend in der Schuluniform. "Ehrlich, ich verstehe nicht, wie die ticken. Gacker, gacker, quietsch-quietsch, irgendwelcher Blabla von Idol-Agenturen, nervtötend!" Nun konnte Stitch ein Grinsen nicht länger verkneifen. "Also, als Casanova wirst du wohl nicht reüssieren." Ihn traf ein abschätziger Blick. "Nicht mal, wenn die sich die Klappe zutackern. Ansonsten haben sie die falsche Ausstattung." DAS konnte man nicht negieren. Allerdings nahm es sich erfrischend bis tollkühn aus, so unverblümt seine Meinung zu verlautbaren. Natsumu schien das Thema jedoch schon abgehakt zu haben. "Ich habe meine Trainingsklamotten eingepackt." Er lupfte demonstrativ das in strapazierfähiges Tuch verstaute Bündel. "Pyjama brauche ich ja wohl nicht." Ein sehr abgründiger Blick traf Stitch, der lächelte. "Prima. Ich habe deine Ausrüstung auch schon ausborgen können. Gab es mit deinen Eltern keine Schwierigkeiten?" "Iwo!" Winkte Natsumu selbstbewusst bis zynisch ab. "Manchmal finde ich es jedoch ausgesprochen bedenklich, wie gutgläubig oder aber desinteressiert meine Altvorderen sind." Stitch lupfte eine gepiercte Augenbraue fragend. Über Natsumus Gesicht huschte der selbstironische Ausdruck, den dieser erst die Woche zuvor erstmalig offenbart hatte. "Es kommt ihnen offenkundig nicht der kleinste Zweifel oder Gedanke in den Sinn, ich könne etwas anderes mit mir anzufangen wissen, als rund um die Uhr zu pauken." Er schnaubte vernehmlich. "Reichlich realitätsfern bis wesensfremd, möchte man meinen! Keine Nachfrage, kein Nichts! Da bin ich wohl definitiv aus der Art geschlagen." Der letzte Satz klang bitter. Nach einigen Sekunden erlaubte Stitch sich, das Minenfeld zu betreten. "Fühlst du dich denn aus der Art geschlagen?" An seiner Seite, noch tiefer als gewohnt, den Inlinern geschuldet, lachte Natsumu leise. "Das ist die Krux, Dr. Freud! Ich fühle mich gänzlich in Ordnung, in meinem Element. Sollte mich das nicht sehr unbehaglich stimmen?" Stitch zwinkerte herausfordernd. "Tschuldige, Kamerad, aber da fragst du den Falschen! Freak, erinnerst du dich?" Jetzt wäre natürlich eine Breitseite angemessen, Auftritt des Rumpelstilzchens par excellence. Natsumu überraschte ihn erneut, indem er ruhig, nachdenklich und ernst recht bedächtig antwortete. "In der Tat, ganz richtig." ~+~+~* Natsumu betrat Stitchs Appartement mit einer gewissen Routine. Auf dem Adlerhorst hatte niemand nach ihnen Ausschau gehalten, was die Tour ohne große Verzögerungen ermöglichte. Er schlüpfte aus seiner Schuluniform, wechselte in die Sportbekleidung, die er in der Schule nutzte. Nicht, dass die wenigen Pflichtstunden körperlicher Ertüchtigung große Bedeutung erfuhren. "Woher sind die?" Er begutachtete die Inliner prüfend. Gebrauchsspuren, selbstredend, aber sie schmiegten sich angenehm um Fuß und Knöchel. "Von einem Freund. Er hat mehrere Paare, je nach Einsatzzweck." Stitch erläuterte, während er Schutzpolster und den Helm auf seinem Bett deponierte. "Der Bursche ist phantastisch, ein Phänomen. Bullet Train, Hindernisparcours, Hochgeschwindigkeit, Langstrecken, Trick, der macht alles." Natsumu beäugte die Polster, erleichtert, dass sie nicht pinkfarben oder mit irgendwelchen Figuren verziert waren, legte sie selbst an. "Welche Aufgabe hat dieses Paar?" Erkundigte er sich beiläufig, regulierte den richtigen Sitz des Helms. "Das sind Alltags-Inliner, Job-Büro, so was. Sein zweites Paar, zum Wechseln." Stitch rollte Sicherheitswesten in seinen Rucksack, verstaute geübt, was er für notwendig erachtete. "Wieso leiht er dir seine Inliner aus? Für einen totalen Anfänger?" Natsumu entschied, der Sache auf den Grund zu gehen. Zwar kosteten Inliner wohl nicht die Welt, aber sie stellten schon einen Wert dar, mussten auch gepflegt und gewartet werden. Stitch grinste, leckte sich mit der gepiercten Zunge über den Ring in seiner Unterlippe. "Weil ich ganz lieb 'bitte bitte' gesagt habe?" "Vor oder nach dem Sex?" Gut, recht unverschämt diese Attacke, aber Natsumu hielt an seinem Entschluss fest: er WOLLTE den Dingen auf den Grund gehen. Dabei konnte man sich Zimperlichkeit nicht leisten. Stitch schnallte sich den Rucksack um, schloss die Gürtelschlaufe. "Mein Hascherl, mir schmeichelt deine Eifersucht zwar, aber sie ist unbegründet. Enthusiasten sind freigiebig, weißt du? Sie nehmen sogar Fremde mit in geschlossene Konzerte." Ein Seitenhieb, der saß. "Tja!" Konterte Natsumu direkt. "Du wirst entschuldigen, aber mein Enthusiasmus hat niemanden gelockt, sich stundenlang auf dem Arsch hockend Informationen ins Hirn zu fräsen." Von Begeisterung konnte wohl kaum die Rede sein. Nein, der Notwendigkeit geschuldeter Gehorsam, bis sich ein tragfähiger Ausweg fand. Die ungleichen Augen funkelten unternehmungslustig, ein Lächeln spielte um den Mund. "Dein ANDERER Enthusiasmus ist für mich sehr reizvoll, mein Hascherl." Natsumu schnaubte betont arrogant. "Ich weiß nicht, ob ich das glauben soll. Nach deiner VORFÜHRUNG unlängst beschleichen mich doch Zweifel, ob eine zweite Partei bei deinem Engagement überhaupt notwendig ist!" Unversehens wurde seine Rechte gekapert, an die Lippen geführt, der Handrücken mit einem Kuss verziert. "Wie du, mein Hascherl, bin ich Gesellschaft ganz und gar nicht abgeneigt." Prompt lupfte Natsumu eine mahnende Augenbraue. "Das behalte dir besser im Gedächtnis, wenn ich danach noch einsatzfähig sein soll!" ~+~+~* Stitch arrangierte zunächst mal eine kleine Übungseinheit, richtiges Bremsen zum Beispiel, wie man die Polster einsetzte, falls es nicht vermeidbar war und natürlich Hütchen-Slalom, auf einem Bein, in der Hocke, rückwärts. Zugegeben, das stellte für die richtigen Trickster keine Herausforderung dar, wurde aber als Gleichgewichtsübung doch immer wieder gern gepflegt. Natsumu bemühte sich redlich, die Miene von Konzentration gezeichnet. Es ärgerte ihn unverkennbar, dass seine Kondition und Konstitution nicht an seine Erwartungen heranreichten. Auch wenn kein Meister vom Himmel fiel, doch so ein klein wenig souveräner würde man schon gern um die kleinen Kegel eiern! Stitch sammelte sie in einem Durchlauf ein, verstaute sie im Rucksack, gab stattdessen die Warnwesten aus, Leuchtstreifen um Fußgelenke und Oberarme, Grubenlampen an die Schutzhelme. "Jetzt machen wir ein wenig Strecke." Kündigte er an, hängte sich die Hundepfeife um. Natsumu nahm sie von seinem Brustbein hoch. "Wozu dient dieses Utensil?" Es erstaunte Stitch durchaus, wie anders der Umgang mit dem Hascherl nun war. Keine Zynismen, keine Häme, keine Bitterkeit. Konzentriert, ernsthaft, aufmerksam und neugierig. "Manche Hunde reagieren auf uns wie auf Autos, weißt du? Jagen uns nach oder schnappen sogar." Stitch schob sich die Hundepfeife an ihrem Band unter das Shirt. "Bei den Trains haben die Scouts immer eine dabei. Wir passen zwar auf, aber wenn bei dem Tempo jemand zu Fall kommt in so einem Pulk..." Das wollte er ganz sicher nicht persönlich erleben. Gehört hatte er aber schon mal von solchen Unfällen. Da ging man lieber auf Nummer sicher. Sie liefen schließlich zum Vergnügen, nicht zum eigenen, gesundheitlichen Nachteil! Inzwischen hatte Natsumu auch die halbfingrigen Handschuhe übergestreift. Die Handflächenpartie war gepolstert, um auch als Notfallbremse durch Asphaltkontakt zu fungieren. "Fertig? Dann wollen wir mal! Go!" Stitch hatte sich die Strecke vorher gut überlegt. Nicht zu viel Fußverkehr, nicht zu anspruchsvoll, in den Herausforderungen gemächlich ansteigend. Natsumu lief neben oder hinter ihm, schnitt ihm gelegentlich Grimassen, wenn er seine Unsicherheiten nicht ganz verbergen konnte. Mit Einbruch der Dunkelheit aktivierten sie auch die Leuchten. Kleine Gassen, Stichstraßen, Hinterhöfe: ihre Schatten huschten über Häuserwände, die Reflektionen geisterten durch die Luft. Es frischte auf. Stitch steuerte einen Kanal an, der auch von Fahrrädern, Rollern und Mopeds häufig konsultiert wurde. Er steigerte das Tempo, lief geduckt, nicht mehr aufrecht, um dem Gegenwind weniger Angriffsfläche zu bieten. Natsumu blieb in seinem Windschatten, kopierte seine Haltung nach bestem Vermögen. Trotzdem begann es, dicke Tropfen zu regnen. Die Hand nach hinten streckend bot Stitch einen Tandem-Zug an. Natsumu griff zu, sodass sie wechselseitig das Tempo übernahmen. Endlich ein Geschäftsgebäude mit überhängendem Dach! Stitch steuerte eine Nische an, wirbelte herum, damit sein abruptes Bremsmanöver Natsumu nicht zu Fall brachte, sondern in seine Arme beförderte. Nass waren sie dennoch, leider! Aber Natsumu lachte laut und unbeschwert, trotz feuchtem Gesicht, die schwarzen Augen funkelnd. Wer hätte dieser Gelegenheit widerstehen können?! Verzaubert von dem wahren, unverfälschten Natsumu nutzte Stitch seine Chance: er küsste sein Hascherl stürmisch. ~+~+~* Natsumu hielt nicht sonderlich viel von den verkrampften Hollywood-Posen, die eher an Schaukämpfe erinnerten. Die Arme um Stitchs Nacken schlingen und dessen Zunge zu duellieren, DAS sagte ihm ungeheuer zu! Mochte bestimmt nicht telegen sein und Publikum eher abschrecken, aber das konnte gefälligst woanders hinglotzen! Erst als sie beide ihr heftiges Keuchen und Taumeln nicht länger ignorieren konnten, brachen sie das orale Gefecht ab. "Hab das Gefühl, dir gefällt unsere Tour bis jetzt!" Feixte ihn der Stecker-Hoschi an. "Bewegung an der frischen Luft hat so ihre Nebenwirkungen." Kommentierte Natsumu trocken, wandte sich leicht in der Umarmung herum, spähte die Gebäudefront hinunter. "Da ist ein Automat, glaube ich. Lass uns nachsehen, ob es da was Gescheites zu trinken gibt!" Isotonisches Wasser mochte ja ganz nett sein, aber ihm stand der Sinn nach etwas mit mehr Geschmack. Er zog Stitch kurzentschlossen an der Hand hinter sich her. Nass waren sie schon, also würde das bisschen "unter Tropfen durchhuschen" auch nicht mehr viel ausmachen. Zudem argwöhnte er, dass es bis zu Stitchs trauter Heimatbasis noch ein ordentliches Stück Weg zu bewältigen galt. Er fingerte aus der Hosentasche ein paar Münzen, flipperte eine Dosensuppe, zum Trinken, selbstredend. Zog man die Lasche, erhitzte sich der Inhalt der Dose von selbst. Einladend hielt er sie Stitch hin, der ihm so gar nicht von der Pelle rückte. Allerdings musste man auch berücksichtigen, dass die Nische neben der Automatenriege nicht sonderlich viel Platz bot. "Danke!" Man nippte höflich, reichte die Dose zurück. "Du weißt aber schon, dass das als indirekter Kuss zählt, mein Hascherl?" Natsumu schnaubte spöttisch. "Wir haben einander quasi schon die Mandeln poliert, Stachelschwein, also haut mich das jetzt nicht von den Rollen." Was man von anderen Hindernissen vermutlich nicht mit gleicher Sicherheit behaupten konnte. Natsumu schob Bedenken zu seinem körperlichen Zustand in spe nach dieser Anstrengung von sich. "Jetzt gibst du mir sogar Tiernamen! Mjammm!" Die unterschiedlichen Augen rollten in einer Parodie verrückter Vernarrtheit in ihren Höhlen. Natsumu nahm einen großzügigen Schluck der würzigen Suppe, studierte das vertraute Gesicht. "Ich find's schwierig." Bekannte er schließlich nachdenklich. "Das ganze Altmetall in deinem Gesicht lädt ja zu platten Titulierungen geradezu ein. Oder die Klingelstrippe auf deinem Schädel." Er reichte Stitch die Dosensuppe. "Andererseits finde ich 'Stitch' unpassend. Du hast keine Ähnlichkeit mit diesem depperten Alien. Zusammengetackert bist du auch nicht." Die Dose blieb reglos in der Luft, wurde nicht an die Lippen geführt. "Du bist ein Freak, ganz unverkennbar, aber ich bin auch ein Freak, nur getarnt. Soll ich dich mit Riyou ansprechen? Ist ziemlich vertraulich, oder nicht?" Natsumu löste einen Handschuh, um sich besser über das nasse Gesicht wischen zu können. "Vielleicht erinnert dich dein Vornamen auch an deine Leute, magst du möglicherweise nicht. Soll ich dann 'Kumpel' sagen? Kamerad? Freund?" ~+~+~* Stitch betrachtete Natsumu im zerfasernden Licht der Außenlaternen des Gebäudes. Keine Häme, kein Spott, keine Ironie. Ein leichtes Amüsement über die eigene Unzulänglichkeit, gleichzeitig die unverblümte Bekanntgabe dessen, was Stitch schon eine Weile vermutete. Der "wahre" Natsumu war sich seiner selbst sehr bewusst, hatte ihn auf Distanz halten wollen, beim Klischee verharren, bei dem, was "alle/die Gesellschaft" dachten. "Riyou ist okay." Er zwinkerte, nahm einen eiligen Schluck Suppe. "Liebling, Schatz, mein Held, 'oh großer Sexgott' wäre ich auch nicht abgeneigt." Ein spöttisches Lächeln huschte über Natsumus Gesicht. "Neigen wir zu Größenwahn, hm?" Schnurrte er diabolisch. Stitch grinste ungeniert zurück, leckte provozierend mit der gepiercten Zunge über den Ring in seiner Unterlippe. "Ehrgeizige Zielsetzung möglicherweise, aber wer weiß, was die Zukunft noch so bringt?" Wieder studierte Natsumu ihn eingehend, als könne er mit seinem Blick alles durchdringen, sezieren, bewerten. "Wieso der Glockenzug und die Blechornamentik im Gesicht? Nebenwirkung satanischer Musik?" "Du willst wohl eine längere Pause provozieren, weil du Pudding in den Knien hast, wie?" Ein bisschen Sticheln sollte über seine Verwunderung hinwegtäuschen. Das Hascherl wollte ihn wohl tatsächlich kennen lernen, gleichzeitig analysieren wie ein Forscher eine unbekannte Art! Natsumu hob die Dose an, die Stitch noch hielt, nahm einen Schluck. "Stimmt, Knie sind wacklig. Aber ich will einfach verstehen, warum du diesen Aufzug pflegst. Was hat es damit auf sich? Was bedeutet es?" Stitch lehnte sich bequemer gegen die Wand in seinem Rücken, studierte den Jugendlichen vor sich. "Wirklich, du bist ein merkwürdiger Geselle, Hascherl." ~+~+~* Natsumu kam sich keineswegs merkwürdig vor. Er wollte schlicht und einfach verstehen, nachvollziehen können. Möglicherweise, weil ihm echte Leidenschaft, Begeisterung, Enthusiasmus bisher abgegangen waren, er für nichts "brannte". Außerdem erinnerte er sich genau an einige Fotos von Stitch, die diesen mit konventionellem Haarschnitt zeigten, ohne jede Metallzier im Gesicht. Also, was hatte dazu geführt? Gab es einen bestimmten Auslöser? Diesen einen Punkt ohne Wiederkehr, der den "Freak" nach außen projizierte? Stitch nippte an der Dose, ein träges Lächeln spielte um die Mundwinkel. "Fürchtest du dich vor der Ansteckungsgefahr, mein Hascherl?" Prompt schnaubte Natsumu verächtlich. "Quatsch! Ich bin ich, schon immer! Selbst wenn du irgendwelche verdrehten Viren hättest, wären sie gegen MEIN Ego chancenlos." Stitch lachte auf, streichelte mit den Fingerspitzen über Natsumus Wange. "Massier meine Zunge, und ich erzähle dir von meiner finsteren Vergangenheit." DAS stellte Natsumu gewiss nicht vor größere Herausforderungen! ~+~+~* Stitch zog Natsumu an der Hand weiter die Straße hinunter, immer in der Nähe einer Traufe. Er wollte eine bequemere Nische finden, nachdem sie die geleerte Dose dem Rücknahmeautomaten anvertraut hatten. Endlich fand er einen Lieferanteneingang, der nicht von Mülltüten oder Kartonagen zugestellt war, bremste elegant, wirbelte Natsumu herum, zog ihn in seine Arme. Er rieb über die nasse Kleidung, damit ihre Blutzirkulation die interne Heizung weiter befeuerte. Natsumu beäugte ihn auffordernd aus nächster Nähe, nur durch die Helme auf Abstand gehalten. "Tja, also, meine Frisur." Stitch lächelte in die kritische Miene des Jugendlichen. "Eigentlich habe ich mich um Äußerlichkeiten nicht sonderlich gekümmert, weil ich ja schon immer auf den ersten Blick aufgefallen bin." Er referierte auf seine unterschiedlichen Augenfarben, wobei es sich ja auf einer Seite um einen relativ seltenen Fehler in der Pigmentierung handelte. Die Sehstärke zumindest unterschied sich nicht. "In der Oberstufe stand die Entscheidung an, was ich mit mir für den Rest meines Lebens anfangen sollte." Wo sich Dauerpauken mit Aufnahmeprüfungsstress multiplizierte, die Psyche extrem belastete, als gäbe es keinen anderen Zeitpunkt im Dasein von größerer Bedeutung. Stitch schmunzelte über sein jüngeres Selbst. "Weißt du, ich bin durch viele Schulen gewandert. Die reglose Hockerei hat mich immer fertiggemacht. Ich muss mich einfach bewegen." Er blickte an Natsumu vorbei in den nächtlichen Regenvorhang. "Mit Zunahme der Prüfungen wurde das immer schlimmer. Krummbuckliges Hocken, kaum Aufstehen, schreiben, noch mehr schreiben." Vage spürte er ein bitteres Zucken um die Mundwinkel. "In einer Schulstunde ist ein Mädchen in einen hysterischen Schreikrampf verfallen, weil sie ihre Hand nicht mehr spüren konnte. Einfach fürchterlich." Beiläufig streichelte er über Natsumus Schulterblätter. "Eine Verengung, stellte sich heraus. Das arme Ding musste operiert werden. Ihr ging es seelisch so dreckig, als sei ihr Leben schon vorbei." Stitch befeuchtete seine Lippen, leckte unwillkürlich über den Ring in der Unterlippe. "Ich hatte auf die eine oder andere Weise immer Ärger, war der Neue, der Außenseiter, der Zappelige. Oder auch der Stundenschwänzer." Er zwinkerte Natsumu zu. "Also war für mich immer klar, dass ich mir die Aufnahmeprüfungen für die Unis gleich sparen kann. Noch mal drei Jahre oder länger auf dem Arsch hocken?! Keine Chance." Natsumu betrachtete ihn weiter unverwandt, konzentriert, ohne erkennbares Urteil zu diesen Einlassungen. "Über die Inliner hatte ich Freunde, wohin auch immer es mich verschlagen hat. Da waren jede Menge eigenständiger Charaktere versammelt." Stitch grinste breit. "Einfach unglaubliche Leute. Einer von denen hat mich damals zu seinem Arbeitsplatz mitgenommen, als ich mal wieder wegen Schwänzens 'Sozialstunden' leisten musste." Behutsam rubbelte er über Natsumus Oberarme, den Rücken. Es zog doch recht ungemütlich in ihrer temporären Unterkunft! "Ein phantastischer Typ! Als Kind hatte er bei einem Unfall einen Arm verloren, Narben im Gesicht. Er arbeitete als Kinderpfleger, obwohl die Eltern natürlich alle meinten, er sehe aus wie ein Kinderschreck." Für einen Moment presste Stitch die Lippen zusammen. "Nichts könnte unzutreffender sein. Die Kinder lieben ihn, die mutigen, die stillen, die ängstlichen, die verwöhnten, einfach alle. Er ist ein wunderbarer Mensch. Na, jedenfalls nahm er mich mit und sagte mir dann auf den Kopf zu, ich sollte mir überlegen, eine Ausbildung als Pfleger zu machen, ich hätte absolut das Zeug dazu." Stitch rieb sich mit einer Hand kurz über das Gesicht, letzte Feuchtigkeit abstreifend. "Für mich stand fest, dass ich das versuchen wollte. Meine Freunde unterstützten mich auch darin, einen entsprechenden Ausbildungsplatz zu finden. Während die anderen also büffelten oder sich drein schickten, als 'bloße Arbeiter' ins Leben zu starten, erkannte ich mich eines Tages im Spiegel nicht mehr. Das war einfach nicht ich. Also dachte ich mir, wenn ich ein neues Leben anfange, weggehe, dann ohne Ballast, ohne diese halbfertige Erscheinung im Spiegel." Er zwinkerte. "Ich habe mich mit meinen Freunden darüber unterhalten. Die wussten ja alle, dass ich weggehen würde. Na ja, da haben wir einfach mal ausprobiert, wie ich mir ähnlicher werde." Stitch grinste. "War schon ein Schreck, als um mich herum die ganze Putzwolle auf den Boden fiel. Als ich in den Spiegel sah, dachte ich mir, hey, der sieht aus wie ein Kämpfer, wie einer, der neu anfangen und es schaffen will. Außerdem ist es ja auch windschnittig und macht schlanker, so von vorne." Natsumu lupfte sparsam einen Mundwinkel. Stitch schmunzelte. "Ich sehe schon, du willst den Rest auch noch unbedingt erfahren, hm, mein Hascherl?" Natsumu funkelte ihn entschieden an. "Halbe Eier rollen nicht. Also, wieso die Altmetall-Deko im Gesicht, Riyou?" Erstaunlich, dass er immer noch nicht angeknurrt wurde, obwohl er Natsumu ständig mit dem Kosenamen bedachte! "Das hat sich erst nach und nach ergeben. Eine Freundin, die als Kostüm- und Maßschneiderin arbeitet, erzählte mir von einer Epoche europäischer Zeitgeschichte, Barock. Sehr exotisch. Die reichen Leute trugen gepuderte Perücken, puderten ihr Gesicht stark, fast wie Masken, total blass, weil nur Reiche natürlich nicht bei Wind und Wetter arbeiten mussten. Sie setzten sich auch Schönheitsflecken ins Gesicht, aufgemalte schwarze Punkte oder auch kleine Scherenschnitte, um bestimmte Botschaften zu senden oder einfach ihren Reiz zu erhöhen." Nun wanderten Natsumus Augenbrauen kritisch nach oben. Stitch ahnte die Zweifel, zwinkerte. "Nein, ich wollte nicht 'barock' werden. Mit den Schönheitsflecken haben wir einfach mal getestet, was mir optisch noch mehr meines tatsächlichen Charakters verleiht." Er feixte herausfordernd. "Manche Piercings sind auch einfach den praktischen Einsatzmöglichkeiten geschuldet." Damit bleckte er ungeniert seine bestückte Zunge. Natsumu rollte spöttisch mit den schwarzen Augen. "Aber das letzte Piercing ist fast drei Jahre her." Ergänzte Stitch. "Die nächsten werde ich wohl in Angriff nehmen, wenn ich mir Botox nicht leisten kann und die Falten auffädeln muss." Er strich über Natsumus Schulterblätter, schüttelte selbst ein wenig die aufziehende Kälte ab, registrierte die prüfende Inspektion seiner Miene, während vermutlich eifrig Rädchen in Natsumus Verstand ineinander griffen. "Also hast du angefangen, als du unabhängig wurdest, oder?" Eine teilweise rhetorische Frage, zumindest dem Tonfall nach. Stitch strich sanft über Natsumus spitze Kinnpartie. "Du hast ja schon mit einer neuen Frisur angefangen. Der Rest kann später kommen." Natsumu schenkte ihm ein schiefes, eindeutig ironisches Lächeln. "Im Gegensatz zu dir neige ich zu einem sehr explosiven Temperament, das ich nicht ständig im Griff habe. Mit Menschen kann ich so gar nicht!" Stitch kontemplierte diese Aussage einen langen Moment schweigend. "Weißt du, du musst auch nicht jetzt schon wissen, wie du dein Leben bestreiten kannst oder sollst." JETZT knurrte Natsumu tatsächlich, ungehalten. "Riyou, ich bin definitiv aus der Art geschlagen. Meine Eltern werden NULL Verständnis für mein Verhalten haben. Ich meine damit, dass es sie vollkommen und absolut befremden wird. Also, wenn ich das offenbare, was ich bin, den Freak erkennen lasse, sollte ich verdammt noch mal hurtig einen Plan haben, wie ich mich vom Rinnstein einigermaßen fernhalte." Er schnaubte provozierend. "Wie gesagt, mein charmantes Wesen wird mir da keine Pluspunkte bei irgendwem einbringen. Wenn ich mich nicht selbst am Schopf aus dem Morast ziehe, wird es niemand tun." ~+~+~* Über die Konsequenzen jedenfalls hegte Natsumu keine Zweifel. Er wusste nur zu gut, wie sein zukünftiges Leben auszusehen hatte. Wie gering sich die Chancen ausnahmen, dass es tatsächlich so kam. Stitch betrachtete ihn schweigend, was Natsumu zu einem Schnaufen veranlasste. "Jetzt guck nicht so kariert, Riyou! Ich bin bisher immer unter dem Radar geflogen, nicht wie du krisenerprobt, kein Scheidungskind, kein ständiger Wohnortwechsel, keine psychisch angeknackste Mutter." Natürlich zuckte Stitch, was Natsumu erwartet hatte, aber es war nun mal wichtig zu demonstrieren, welche Unterschiede es in ihrer Biographie gab! Damit der nicht etwa glaubte, er mache sich bloß wichtig, übertreibe maßlos bei seinen Weltuntergangsphantasien. "Wieso hast du die Nummer mit dem Sex riskiert? In einem öffentlichen Waschraum." Nun, zulässiger Kritikpunkt, das musste man anerkennen. "Na, wegen dem Höhepunkt, selbstverständlich! Angeblich das beste körperliche Erlebnis!" Natsumu schnaubte. "Ich habe mich im Rahmen meiner Möglichkeiten durchaus akribisch vorbereitet. Nur war eben eine weitere Partei dazu vonnöten. So alleine hat sich da bei mir kein Hochgefühl eingestellt." Oder zumindest nichts, was den euphorischen Beschreibungen nahekam. "Gut, ich gebe zu, dass ich manche Eventualitäten nicht ausreichend eingeplant habe." Das gestand Natsumu durchaus ein. Die Porno-Häschen-Kopie zum Beispiel oder die beiden Arschgeigen mit ihrer K.O.-Nummer, der Depp von Tugendwächter. Aber das erschien ihm weiterhin nachrangig, um das erstrebte Ziel körperlicher Erfüllung zu erreichen. "Das kam dir nicht riskant vor? Deine Tarnung gefährdend?" "Pah!" Winkte Natsumu ab, zog Stirn und Nase kraus. "Woher denn?! Du siehst ja, was meine Altvorderen alles NICHT mal im Albtraum in Erwägung ziehen! Für die ist MEIN Streben was Außerirdisches!" Außerdem profan und unbedeutend, keinerlei geistige Herausforderung. Ha! Stitch strich ihm schon wieder großflächig über die Schultern. Tja, der konnte eben mit Menschen! Betrachtete ihn ein wenig besorgt, was Natsumu gegen das gesträubte Fell bürstete. "Hör mal, ich bin mir der Konsequenzen durchaus bewusst, ja?! Aber ich habe nun mal meine eigenen Prioritäten! Da steht Ekstase beim Sex ganz oben auf der Liste. Wenn schon, denn schon!" Augenscheinlich bot ihm die Zukunft ja sonst nichts vergleichbar Verlockendes. Karriere in einer Tretmühle, Abrackern in Zeitverträgen, sich kaputt machen für sinnlosen Konsum, dazu noch verspottet und ausgrenzt werden, weil er weder Frau noch Nachwuchs vorzuzeigen hatte! Eine Hand wanderte in seinen Nacken. Er frischte mal wieder seine Bekanntschaft mit der durchlöcherten Zunge auf. Schön, da gab es wirklich nichts zu meckern: Riyou küsste ihn so, dass er es von den Zehen bis in die Haarspitzen spürte. Also, warum sollte man davon nicht regelmäßig im Alltag Gebrauch machen, solange man die Chance hatte?! EBEN! ~+~+~* Stitch zog sich ein wenig zurück, leckte Speichelspuren von seinen Lippen, betrachtete Natsumu nachdenklich. "Du bist wirklich ein verrücktes, tollkühnes Hascherl." Stur, energisch, waghalsig, entschlossen. Natsumu verdrehte mal wieder spöttisch die schwarzen Augen. "Und, guckt schon wieder der Teufel raus?" Das entlockte Stitch ein Grinsen. "Definitiv. Wahrscheinlich ein Sex-Teufel." Er löste die lockere Umarmung, fasste nach Natsumus Hand. "Dann geben wir ihm mal Zunder!" Er wollte jetzt trotz anhaltenden Regens und einer nicht zu unterschätzenden Laufstrecke so richtig den Kreislauf auf Touren bringen, damit er zuhause über sein Hascherl herfallen konnte! ~+~+~* Natsumu torkelte, stürzte fast die Treppe hinab. Morgen, nein, heute, sehr viel später, würde er wahrscheinlich nur noch auf dem Zahnfleisch kriechen können, aber das spielte keine Rolle! Weil Stitch ihn nicht fallen ließ. Überhaupt nicht freigab! Die Inliner los wurde, in der Nasszelle die durchweichten Kleidungsstücke abpellte, während sie gleichzeitig in den Infight gingen! Faszinierender Weise konnte der Bursche seine Glieder entsprechend koordinieren, küsste ihn aufreizend und sehr ausgiebig, schmiegte ihre aufgeheizten, nassen Körper aneinander. "Besorg's mir richtig, ja?!" Fühlte Natsumu sich getrieben zu verlangen, am Besten schnell und ohne Verschnaufpause, die Besinnung raubend. Da spielte es auch keine Rolle, dass Stitch nicht mal in Erwägung zog, ihm rektal die Aufwartung zu machen. Diese Option musste man wohl abhaken. ~+~+~* Stitch erwachte, weil seine Blase nach Entleerung verlangte. Er richtete sich im Zwielicht der mageren Weckerbeleuchtung auf, betrachtete seinen Bettgenossen, dezent zerzaust, die Wangen leicht gerötet. Im Tiefschlaf. Kein Wunder, so, wie er dem Hascherl zugesetzt hatte! Andererseits, Stitch eierte rasch zur Toilette, hatte DER es ja wohl auch darauf angelegt! Wenn man ehrlich war: er fühlte sich durchaus grandios, nicht vollkommen geschmeidig, nein, aber wohlig erhitzt, SEHR erfüllt. Er kehrte in glorioser Unbekleidetheit in sein Bett zurück, streckte sich neben Natsumu aus, studierte die schlummernde Gestalt. Ein schlanker, stolzer, trotziger, hungriger, aufgedrehter Sex-Teufel. Stitch lächelte. Dazu gab es nicht mal Protest, weil er keine Anstalten unternahm, Analverkehr einzuleiten. Es wunderte ihn durchaus, wie Natsumus "Erstpartner" diesen so lange hatte an sich binden können. Ein Blick in diese Augen, das willensstarke Funkeln, den kaum verhohlenen Hunger: hier konnte man sich keiner halben Sachen befleißigen! Stitch fragte sich stumm, ob die Erwachsenen, die ihm im Laufe seines Lebens geholfen, beigestanden hatten, in ihm auch etwas entdeckt hatten, das Engagement hervorlockte, dass sie veranlasste, sich für ihn einzusetzen, obwohl er ganz gewiss nicht der Norm, dem gefälligen Durchschnitt entsprach. Er jedenfalls wollte Natsumu im Auge behalten, weil der in all seiner Stacheligkeit, Direktheit, Unverblümtheit über eine imponierende Anziehungskraft verfügte. "Weil ich dieses verrückte, tollkühne Hascherl einfach mag." ~+~+~* Natsumus Unterbewusstsein arbeitete präzise und gnadenlos. Es witterte Frühstück, verglich den aktuellen Sollzustand mit dem Ist und konstatierte, dass die Energiebilanz in Joule zeitnah aufgefüllt werden musste! Weshalb mit überdeutlich vernehmlichen Magenknurren der Aufwachprozess in Gang gesetzt wurde. Was kümmerten ihn auch Würde oder Selbstbeherrschung?! Dafür war der träge Brägen zuständig, der ständig ins Handwerk pfuschte! In der Konsequenz, noch schlaftrunken, aber auf Autopilot, setzte Natsumu sich mit verklebten Wimpern auf. "Guten Morgen, mein Hascherl. Oder eher Mittag." Eine sehr aufgeräumte, unternehmungslustige Stimme, neckend, amüsiert. "Ohhhh!" Stöhnte Natsumu, dessen Nervenenden die obligatorischen Statusmeldungen abgaben. Teile von ihm waren SEHR ungehalten über die vorangegangenen Exzesse. Eine Hand schob sich in seinen Nacken. Natsumu keuchte, registrierte dann die vertraute Zunge, genoss lustvoll ächzend einen ausgiebigen Kuss. Hormone balgten sich deshalb mit unleidigen Schmerzrezeptoren. "He, mein Hascherl, ist der Muskelkater sehr schlimm?" Prompt schnaubte Natsumu. "Ich bin ja wohl kein Weichei, ja?! Nur untertrainiert!" Stitch lachte leise, umarmte ihn warm und unerfreulich bekleidet. "Das heißt, ich brauche dich nicht zu füttern, hm?" "Pah!" Essstäbchen konnte er sehr wohl alleine halten, eine Tasse entglitt ihm auch nicht gleich aus dem Greifer! Grummelig rubbelte Natsumu sich über das Gesicht, klärte den Blick auf die Gegenwart. Stitch zwinkerte ihm zu, präsentierte dann das Frühstück. "Eins sollte dir klar sein!" Bemüßigte Natsumu sich streng der Kritik. "Wenn du mir ständig entgegenkommst, werde ich dir wie ein Klotz am Bein hängen." Sex, Frühstück, Training, sollte der Kerl sich bloß nicht beschweren, wenn er das WEIDLICH ausnutzte! "Das ist okay." Wurde ihm ungeniert versichert. Natsumu, der gerade mit Genuss Reis-Omelette in den eigenen Schnabel stopfte, fauchte gedämpft. "Spinnst du?! Hast du irgendeine Vorstellung davon, WIE LÄSTIG ich sein kann?!" ~+~+~* Stitch lachte laut heraus, konnte gar nicht anders. Natsumu, nackt, mitten im Frühstück, die Backen prall gefüllt, zerzaust, funkelte ihn diabolisch an, höchst empört. "Was denn, drohst du mir etwa mit Sex an jedem Wochenende, davor Inliner-Übungen und Meditation bis zum Orgasmus?" Nicht gerade eine Aussicht, die ihn erschreckte. Das Rumpelstilzchen blitzte für einen Moment hervor, wollte poltern... Wurde energisch in die Ecke gestellt. Natsumu schluckte manierlich, bis er sich wieder äußern konnte. "Riyou, ich meine das ernst. Wenn du mir diese Offerte machst, werde ich sie ausnutzen. Ungehemmt." Da klang wieder dieser andere, wahre Natsumu durch, ernsthaft, ein wenig spöttisch, ironisch, entschlossen. Stitch richtete sich auf seinem Bett bequem ein, zwinkerte. "Ich sagte schon, mein Hascherl: damit habe ich kein Problem." "Wieso nicht?!" Das platzte heraus, erinnerte an das Temperament seines Bettgenossen. "Du bildest dir doch nicht ein, dass wir ein Paar sind oder miteinander gehen oder irgendwelchen Romantik-Kram, oder?! Davon verstehe ich NULL! Nichts! Niente! Nada!" Stitch grinste. "Danke, die Botschaft ist angekommen. Ich bin sicher, du hast auch gegen andere Sexpartner nichts einzuwenden, wirst nicht anfangen, mir meine geliebten T-Shirts auszureden." Man grimassierte. Mit einem Lächeln streckte Stitch die Hand aus, streichelte über Natsumus noch ungekämmten Schopf. "Ich bin kein konventioneller Typ, du bist kein konventioneller Typ, also sollten wir unsere eigenen Regeln aufstellen, meinst du nicht?" Natsumu lupfte die kritischen Augenbrauen. "Fühlst du dich nicht ausgenutzt?!" Es klang immer noch ein wenig ungläubig, argwöhnisch. Stitch glitt mit den Fingerspitzen an Natsumus Kinn hinunter, über Schlüsselbein und Brustpartie, langsam, aufreizend. "Mein Hascherl, es gilt quid pro quo, bei allem, was wir tun. Hast du nicht eher Angst, du könntest anfangen, mich zu mögen?" ~+~+~* Natsumu zog Stirn und Nase kraus. Er hätte sofort kontern müssen, Häme verbreiten, aber das wäre nur eine lächerliche Show gewesen, unehrlich. "Tja, ich bin nicht darin geübt, jemanden zu mögen. Ich weiß nicht, wie das funktioniert." Das entsprach der schlichten Wahrheit. Freiwillig Gesellschaft bestimmter anderer Personen zu suchen, ohne sofort Vor- und Nachteile abgewogen und geplant zu haben, das kam in seinem bisherigen Leben einfach nicht vor. Er betrachtete das amüsierte Lächeln. "Ich könnte es dir beibringen, weißt du? Wie das Inline-Fahren, den kontaktlosen Orgasmus." Natsumu grübelte. "Schön, aber einfach so? Was springt für dich dabei raus?" Er bezweifelte, dass sich irgendwer ohne Not und persönlichen Vorteil mit ihm belasten wollte. Stitch grinste breit. "Keine Sorge, mein Hascherl, ich komme bestimmt nicht zu kurz." "Hm." Knurrte Natsumu. Andererseits lag die Expertise eindeutig bei Stitch, oder nicht?! Der sollte mit den Konsequenzen ja wohl rechnen! "Schön. Abgemacht." Entschied er, streckte Stitch den kleinen Finger entgegen. Der schmunzelte, bestätigte ihre Abmachung. "Jetzt muss ich aber erst mal Kalorien nachlegen!" Gestand Natsumu grimmig. "Sonst fallen meine Beiträge zum Thema körperliche Interaktion ziemlich dürftig aus." ~+~+~* "Also!" Natsumu, in der deponierten Yukata manierlich eingekleidet, präsidierte einer Mauerkrone, auf der sie im linden Sonnenschein Platz genommen hatten, gezückt ein Notizheft aus seiner Schultasche und einen Bleistift (er verabscheute diese dämlichen Druckbleistifte, die immer dann versagten, wenn man sie brauchte!). "Inliner, Helm, Ellenbogen- und Knieschützer, Warnweste, Regenschutzkleidung, Handschuhe, Schädellaterne." Säuberlich listete er die Artikel auf, blickte Stitch stets streng an, damit der eine passende Hausnummer bekanntgab. "Mit entsprechender Argumentation und Auszügen aus der aktuellen Gesundheitsstudie sollte ich mittels Essay eigentlich das Geld bekommen." Einen scharfen Seitenblick später verdrehte er die schwarzen Augen, knurrte vernehmlich. "Wie war das mit dem Teufel, hm? Was denkst du, dass mich irgendwelche Skrupel plagen, meine Eltern subversiv zu täuschen, um sie um ihr hart verdientes Einkommen zu erleichtern?" Er schnaubte. "Ich hab dich auch gewarnt, dass ich dir extrem lästig fallen werde. Um diese Dinge zu besorgen, mache ich dich zum Komplizen, ganz selbstverständlich." Sollte Stitch bloß nicht annehmen, dass er sich zu einem pflegeleichten, herzigen Mitbürger wandelte! Nicht mal weichgeklopft nach ausgiebigem Sex und einer langen Inliner-Tour! "Also schmink dir schon mal ein paar Karma-Pluspunkte ab!" Gab er dreist eine strenge Empfehlung. Stitch, der neben ihm saß, mit den Beinen baumelte, in der gewohnten Aufmachung T-Shirt und halblangen Hosen, schmunzelte. Unverschämt! "Jedenfalls kannst du dich nicht beklagen!" Wies Natsumu grummelnd auf die Umstände hin. "Wir haben eine Abmachung!" "Hab ich keineswegs vergessen." Bestätigte Stitch gelassen, schnellte blitzartig vor, um Natsumu zu küssen, auf den bereits spöttisch geöffneten Mund, im Begriff, ihm eine gesalzene Replik zu verabreichen. "He!" Protestierte Natsumu, aber erst, als ihnen so langsam Spucke und Luft ausgingen. "Was sollen bloß die Leute denken, hm?" Formulierte Stitch feixend, seine Gedanken vorwegnehmend, wuschelte ihm ganz und gar uneingeladen durch die gezackte Ponypartie! "Hast kein Monopol bei kleinen Teufeln, mein Hascherl!" Verärgert funkelte Natsumu in die verschiedenfarbigen Augen des jungen Mannes an seiner Seite. "Außerdem plagt mich keineswegs mein Gewissen wegen der Komplizenschaft." Stitch lächelte herausfordernd. "Du WIRST laufen. Das wird jede MENGE erfreuliche Nebenwirkungen haben." Natsumu knurrte, betrachtete ihn länger schweigend. "Ich sollte mir Sorgen machen, dass du so überaus zufrieden aus dieser grässlich bebilderten Wäsche guckst." Stitchs Rechte glitt über Natsumus Wange, sanft, zärtlich. "Tust du aber nicht, richtig?" Eine kleine Falte bildete sich zwischen Natsumus Augenbrauen. "Bist du sicher, dass du ein 'ganz lieber Bursche' bist?!" Erkundigte er sich zweifelnd bis spitz, die gewöhnliche Charakterisierung zitierend. Stitch grinste bis zum letzten Backenzahn. ~+~+~* Stitch hielt Natsumu locker an der Hand, ihre Finger verschränkt. Hin und wieder registrierte er scheele Seitenblicke oder Getuschel vom Publikum, während sie gemächlich flanierten, mäßig getarnt von Sonnenbrillen. Der Aufruhr wäre wohl größer, wenn sie wie zwei manierliche junge Männer in konservativer Freizeitkleidung oder in den Ameisen-Anzügen unterwegs wären, so aber hing ihnen ohnehin das Etikett des Absonderlichen um. Ihm hingegen sagte es sehr zu, wie selbstverständlich Natsumu in Yukata und schlichten Sandalen neben ihm paradierte, schweigend, schon eine Weile, vermutlich die Entwicklung kontemplierend. In diesem Moment unterbrach er jedoch die stille Einkehr. "Wissen deine Eltern eigentlich, was du treibst?" Stitch schmunzelte über die unabsichtliche Einladung, seinen jüngeren Begleiter zu necken. "Du meinst jetzt, gerade, im Moment?" Schnurrte er amüsiert. Natsumu neben ihm fauchte guttural, schob das spitze Kinn vor. Sanft verstärkte Stitch für einen kurzen Augenblick den Druck auf ihre verschränkten Hände. "Mit meinem Vater tausche ich regelmäßig Statusmeldungen aus. Er wechselt häufiger die Adresse, bedingt durch seine Arbeit." "Statusmeldung?" Ah, man wünschte Details zu erfahren! Für einen bloßen "Vertrag" zum Austausch von körperlichen Erfahrungswerten befleißigte sich Natsumu erstaunlich großem Engagements zur Historie! Stitch schmunzelte. "Ihm ist es wichtig, dass ich für mich einstehen kann. Ich bin ja erwachsen und unabhängig. Wir können uns gegenseitig erreichen, falls es Probleme gibt. Das genügt uns. Na, er hat auch noch mal geheiratet. Seine Frau ist nett, also weiß ich ihn in guter Gesellschaft, wo auch immer es ihn gerade hin verschlägt." Unter den Ponyzacken konnte er beim Seitenblick kritische Falten erahnen. "Ja." Beantwortete er artig die nicht formulierte Frage. "Mein Vater weiß, wie ich aussehe. Er findet lediglich, dass man von ihm nicht erwarten kann, mich deshalb zu kritisieren." Immerhin hatte ihn das fehlfarbene Auge von Anfang an unter Beobachtung gestellt, war es leicht gewesen für Einfältige und Übelwollende, ihn allein aus diesem Grund auszuschließen oder zu belästigen. "Was ist mit deiner Mutter?" Sein Hascherl klang vorsichtig, für das reizbare Temperament bemerkenswert zögerlich. "Sie lebt weit draußen, auf dem Land. Manchmal fahre ich raus, sie besuchen." Stitch fingerte sein Mobiltelefon heraus, aktivierte es, präsentierte einen Schnappschuss. Eine Gruppe älterer Menschen in bäuerlich-altmodischer Bekleidung winkte und lachte in das Objektiv, gruppiert um eine rundliche Frau auf einem Elektroroller, der alle Lichter aufblendete. "Sie war da so stolz, dass sie den Führerschein bestanden hat. Damit kann sie noch flotter zu den einzelnen Siedlungen fahren. Als Dorfhelferin kümmert sie sich um die alten Leute." Natsumu studierte, ein wenig auf die Seite weichend, damit sie niemanden behinderten, eingehend die Aufnahme. "Es sind sterbende Dörfer." Erklärte Stitch ruhig. "Keine Tankstelle, kein Supermarkt, keine Bank, keine Post. Nicht mal ein einziger Automat. Einmal pro Woche kommt ein Beamter der Lokalverwaltung, der bestellte Einkäufe, Medikamente und Postsendungen abgibt." Natsumu reichte ihm sein Mobiltelefon zurück. Wie blickten wohl die schwarzen Augen hinter den blickdichten Gläsern der Sonnenbrille drein? "Ich bin jederzeit willkommen." Lächelte Stitch. "Ich darf auch immer den Lieblingsbaum umarmen, ein Rezept meiner Mutter: wenn dir nicht wohl ist, umarme einen Baum. Das hilft." Er nahm ihren Spaziergang wieder auf. "Ist sie jetzt gesund?" Erneut der vorsichtige, tastende Fragetonfall. "Sie benötigt keine Medikamente mehr und sie weiß, wann sie um Hilfe bitten muss. Aber das Leben auf dem Land dort tut ihr gut. Sie ist ungeheuer aufgeblüht." Stitch entschied, dass er gleich die Vorgeschichte preisgeben konnte. Natsumus Spürsinn und das beharrliche Nachfragen, um zu verstehen würde ohnehin danach verlangen. "Früher war sie sehr schüchtern, menschenscheu. Die ständigen Umzüge und Standortwechsel, die meinen Vater begeistern, der immer neue Chancen sieht, waren ihr ein Gräuel. Immer wieder in die Fremde, keine Wurzeln schlagen können. Sie hat sich jedes Mal sehr bemüht, daran erinnere ich mich. 'Anpassungsschwierigkeiten' nannte man das damals, aber das stimmte nicht. Als wir mal wieder umziehen mussten, ich war gerade in die Grundschule gekommen, hat sie sich am Umzugstag an die Wohnungstür geklammert. Mit einer Beruhigungsspritze kam sie ins Krankenhaus, danach in die Psychiatrie. Es dauerte fast einen Monat, bis sie wieder ihre Sprache gefunden hatte, sagen konnte, was ihr fehlt. Sie bekam Medikamente gegen die schwere Depression, die diagnostiziert wurde. Dass sie krank war, hatte ich vorher schon begriffen, ohne es jemandem sagen zu können. Mein Vater war ja kaum zu Hause. Manchmal lag sie stundenlang im Bett oder saß reglos herum." Er fasste Natsumus Hand ein wenig fester. "Andererseits wollte ich auch nicht auffallen. Schön anpassen, nicht die Nachbarschaft behelligen. Mein Vater sagte mir damals, sie hätten vereinbart, dass Mutter in der Klinik bleibt, bis sie gesund ist. Wir halten so lange die Stellung, wir zwei. Danach wird entschieden, wie es weitergeht." Stitch seufzte leise. "Eigentlich gab es nicht viel zu entscheiden. Mein Vater liebt seine Arbeit und die Abwechslung. Meine Mutter macht die Herumzieherei krank. Also haben sie beschlossen, dass sie sich scheiden lassen, damit alle glücklich sein können. Für mich bedeutete das, nicht mehr in Appartements zu wohnen, sondern in Pensionen, neue Schulen, neue Klassenkameraden, spätestens alle zwei Jahre. Wenn er Zeit hatte, ist mein Vater mit mir den Tag vor der Einschulung den Weg abgegangen, hat sich überall bekannt gemacht. In der dritten Klasse klappte das aber nicht, also bat er die Pensionswirtin, dass mich doch jemand begleiten sollte. Die hat ihre Tochter gebeten, lag auf dem Weg. Ich bin also in Begleitung einer sehr kessen Zwanzigjährigen in ihrem Maid-Kostüm für ein Motto-Café aufgetreten. Nicht unbedingt der beste erste Eindruck an der Schule, die sehr traditionsverhaftet war. Aber in dem Maid-Café trafen sich Inliner-Enthusiasten. Ich war sofort angefixt, hin und weg. DAS wollte ich unbedingt auch können und tun!" Er schmunzelte versonnen. "Erstaunlicherweise hat mich niemand weggejagt, obwohl ich ihnen quasi an den Hacken klebte. Einer brachte Lern-Rollschuhe für Kinder mit, auf die ich mich stellen sollte. Ich habe jede freie Minute dort verbracht. Die Truppe hat mich adoptiert. Als ich wusste, dass wir wieder umziehen, war ich todunglücklich, aber sie haben durch die Ausflüge und Touren für mich Kontakte geknüpft, mein Bild verschickt. Wohin auch immer es mich verschlägt, werde ich Gleichgesinnte finden. Ich werde nicht allein sein." Spontan lupfte er ihre Hände und küsste Natsumus Handrücken. "Deshalb engagiere ich mich eben auch. Wann immer jemand zu uns stößt, biete ich mich als Kontakt an. Mir ist immer wieder geholfen worden, also helfe ich auch." Natsumu ließ sich keine Äußerung entlocken. Man bewertete offenbar noch diese Einlassungen! Stitch lächelte in sich hinein. Wie würde wohl das Urteil ausfallen? "Und du umarmst auch Bäume?" Mannhaft unterdrückte er ein Kichern. "Ja, hin und wieder. Wenn sie nicht gerade harzen oder nadeln, ist es durchaus angenehm. Obwohl der Lieblingsbaum meiner Mutter mitten im Wald schwer zu toppen ist." Natsumu marschierte weiter. Kein Spott, keine Häme, beinahe schon erschreckend kontemplativ. Andererseits verstand Stitch seinen jüngeren Begleiter immer besser. Der HÄTTE auch die Schuluniform tragen können, wählte aber die Yukata. Hätte sich energisch dagegen verwahren können, an der Hand genommen zu werden, entzog sie ihm aber nicht. Stattdessen kramte Natsumu sein Mobiltelefon heraus, tippte geübt. "Ich habe mein Erscheinen beim Abendessen abgesagt." Erläuterte er bündig, wandte kurz den Kopf zu Stitch. "Jetzt will ich zurück in deinen Bau, Riyou. Immerhin haben wir eine lange Woche vor uns bis Samstagabend." Stitch grinste. "Ist das etwa eine Aufforderung zu unanständigem Verhalten?" Natsumu neben ihm beschleunigte ihr Tempo merklich. "Wenn wir in deiner Bude sind, ist dein Wettgewinn abgelaufen. Das heißt, ich kann dich verdammt noch mal verdonnern, mir es richtig zu besorgen, klar?! Außerdem hast du meine Nippel nicht ausreichend geleckt. Das stört mich! Ich will mehr! Verstanden?!" Stitch salutierte mit der freien Hand spöttisch, forcierte frech einen Sprint. ~+~+~* "Ich kann allein nach Hause gehen." Behauptete Natsumu, obwohl ihm die Knie doch recht weich waren. Andererseits beklagte er diesen Zustand nicht im Mindesten. Stitch rollte gemächlich neben ihm her, hielt seine Hand. "Liegt aber auf dem Weg zur Arbeit." Behauptete er. Wenn man einen gewissen Umweg einbezog und sich nicht darum kümmerte, zu früh aufzuschlagen. "Mich wird schon keiner anfallen." Höchstens dumm gucken, wegen der Schuluniform und dem Freak an seiner Hand! "Davon überzeuge ich mich lieber selbst." Stitch präsentierte alle Beißer. Bevor Natsumu sich losmachen konnte, die wenigen letzten Meter zum Wohnhaus zurückzulegen, nutzte er seine körperliche Überlegenheit, wirbelte ihn geübt herum, bremste ihre Drehung mit den Schultern und erstickte Natsumus Protest. Der erwiderte den leidenschaftlichen Kuss mit gleicher Vehemenz, stieß sich heftig von ihm ab. "Wir haben einen Vertrag!" Erinnerte er grimmig. "Du musst mir alles beibringen, verstanden?!" Stitch leckte sich mit der gepiercten Zunge über den Ring in der Unterlippe. "Da haben wir jede Menge Arbeit vor uns, mein Hascherl!" Neckte er Natsumu herausfordernd. Der funkelte ihn in der Dämmerung selbstbewusst an. "ICH habe Zeit und Ausdauer!" Stitch lachte leise, blies eine Kusshand. Er hörte das schon vertraute Knurren. Natsumu kehrte sich um, flitzte etwas ungelenk mit Schultasche und Tuchbündel zum Haus. Doch! Ihm gefiel die Aussicht darauf, das Hascherl gründlich und SEHR zeitintensiv zu unterweisen! Vielleicht, gar nicht mal so unwahrscheinlich, würde sich dabei herauskristallisieren, dass sie einander mochten. Ja, Stitch drehte eine elegante Pirouette, das verrückte, tollkühne Hascherl würde nicht ins Bodenlose fallen! Denn er beabsichtigte keineswegs, es freizugeben. ~+~+~* Natsumu streckte sich mit summenden Gliedern auf seinem Bett aus. Der verflixte Riyou konnte küssen, also, das war schon gemeingefährlich! Jedes Mal, wenn er glaubte, er wäre jetzt aber schon daran gewöhnt, es könne gar nicht mehr so einschlagen...! Natsumu rieb sich energisch über das Gesicht. Morgen, Essay verfassen, ausführlich, mit Quellenangabe, Vorbereitungen treffen für die Auswahl der Ausrüstung. MEHR Kondition, unbedingt erforderlich! Wenn er übte, statt nur im Bus zu hocken oder zu stehen, könnte er dem unverschämten Kerl Paroli bieten! Nun, möglicherweise. Was die Angelegenheit mit dem kontaktlosen Orgasmus betraf... Natsumu seufzte genussvoll. Das Teufelchen in seinem Hinterkopf riet ihm dringend, sich Riyou UNBEDINGT gewogen zu halten. Spielchen mit sich selbst waren ein Notbehelf, wenn DER PRACHTBURSCHE zur Verfügung stand! Unwillkürlich rollte er sich auf die Seite, zog die Knie vor den Leib. "Das verdammte Nadelkissen ist das Beste, was mir passieren konnte." Resümierte er leise. Er würde sich anstrengen müssen, Vertrag hin oder her, aber irgendwie müsste es ihm gelingen, dass, nun ja, dass Riyou ihn richtig gut leiden konnte. Mehr als andere, mehr als irgendwelche Leute, die Hilfe brauchten. Zu gewissen Konzessionen war Natsumu durchaus bereit, ein wenig Zeit abtreten, Inliner-Unterricht, Eingewöhnen in die neue Heimat. Das musste dann aber auch reichen, oder?! "Ach du Schande." Stellte er, keineswegs ernüchtert, fest. An den eigenen Egoismus war er ja gewöhnt, aber das hier, so, im Fazit, möglicherweise, also unter Umständen, war er SEHR angetan von Riyou! Dem Freak, dem Gesichtsstachler, dem Inliner-Verrückten, dem Typ, der ihn mit in ein Geheimkonzert genommen hatte, der ihn mehrfach gerettet und beherbergt hatte. Vom Sex mal ganz zu schweigen. Natsumu rollte sich auf den Rücken, starrte grimmig bis fassungslos zur Zimmerdecke. "Meine Fresse." Konstatierte er verblüfft, aber entschieden. Da hatte er sich doch glatt diesen lächerlichen Liebesvirus eingefangen! Soweit ihm bekannt war, konnte man sich dagegen weder impfen lassen, noch abhärten. Mutter Natur spielte einem solche Streiche. Da half alles nichts: man machte das Beste daraus! Bloß musste er Riyou ja nicht gleich mit der Nase darauf stoßen, dass er ziemlich verknallt war. ~+~+~* Einige Leute bedauerten durchaus, dass man den alten Waschraum zügig absperrte und die Kunden während der Umbauzeit auf die anderen Örtlichkeiten verwies. Allgemein jedoch wurde auch hier der Fortschritt begrüßt. Der legendäre "Jungfern-Meister" verschwand im Nebel der Zeit, was nicht bedeutete, dass seine Lektionen nicht mit großem Eifer und Enthusiasmus fortwährend ausgeübt wurden... ~+~+~* ENDE ~+~+~* Vielen Dank fürs Lesen! kimera