Titel: Kernfusion Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Romantik Ereignis: Valentinstag 2009 Erstellt: 08.02.2009 Disclaimer: ~ »Touch me«, geschrieben und gesungen von The Doors ~ »I just want to make love to you«, geschrieben 1954 von Willie Dixon, in der beschriebenen Version gesungen von Etta James ~ »In 80 Tagen um die Welt« wurde von Jules Verne verfasst Paul Mäurer und Toivo Jorgensen hatten ihr Debüt in "Verweile doch". Angeregt und gewünscht von Vegeta ^-^ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ ~+@+~ Kernfusion Kapitel 1 - Die Geburtstagsfeier "Ist fast so, als würde man sich mit einem Vampir treffen." Toivo Jorgensen seufzte und küsste die Öffnung der Bierflasche vertraulich, ließ den Gerstensaft in seinem Mund kreisen. Für einen langen Augenblick lauschten sie beide dem dumpfen Lärm des großen Fernsehers, der mit unwirklichen Farben irgendein Fußballspiel präsentierte. "...nu ja", brummte sein Kollege Ekki vorsichtig, "is aber ziemlich... populär. Im Augenblick", ergänzte er diplomatisch, "hab ich gehört." Neben ihm bleckte Toivo das perfekte Gebiss, aber das Grübchen in seinem Kinn prägte sich nicht ein, denn SOOOO amüsant fand er sein zeitgeistiges Leben nicht gerade. Vampire hin oder her: er stand nicht auf Blutsaugen, angefangen bei Moskitos, und wenn er schon seine nicht mehr vorhandene Unschuld verlieren wollte, dann bitte nicht an einen Gruftbewohner mit Leichenatem und Bestatter-Smoking! Außerdem existierte das Dilemma bereits seit einem Jahr, obwohl er bei ihrer ersten Begegnung nicht gerade die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft richten konnte. Verwicklungen mit Russen-Mafia, Einbrüchen, Schlüsselfunden und einem hitzigen Meinungs- und Speichelaustausch im Supermarkt gehörten normalerweise nicht zum romantischen Repertoire einer Liebesbeziehung. {siehe "Verweile doch"} »Wobei«, sinnierte er trübsinnig, »wir noch immer im Stadium 'gute Freunde' hängen.« Toivo wünschte sich eine neue 'Geschmacksnuance', doch dazu musste er erst mal die Gelegenheit finden, sich mit dem 'Vampir' regelmäßig zu treffen! Er musste Ekki allerdings zugute halten, dass der nicht wusste, über WEN er sich beklagte. "Keine Ahnung, wie die das schaffen!" Toivo schnippte eine schwere, lackschwarze Strähne aus den ebenso schwarzen Augen, "muss mich wohl mal schlau machen." "Teenager", erweiterte Ekki großzügig seinen Horizont, "die sin auch nachtaktiv. Die Meisten", schränkte er ein. "Ah", Toivo nickte verständnissinnig, "das erklärt es. Ich bin zu alt für diese Vampirsache." Ekki gab wohlerzogen ein undefinierbares Geräusch von sich, dass Toivo versicherte, er sei keineswegs zu betagt, andererseits aber nicht der geeignete Typ für Vampir-Geschichten. Die Erkenntnis allein half dem Problem jedoch nicht ab. "Irgendwie muss das doch zu lösen sein!" Energisch winkte er um Nachschub, denn ein Bier allein fühlte sich zweifellos einsam und außerdem hatte er am nächsten Tag frei. Ekki nickte aufmunternd, "sicher doch!" Er hütete sich weise davor zu ergründen, welcher Beschäftigung der ihm unbekannte Schwarm nachts wohl nachging. Dabei handelte es sich keineswegs um eine anrüchige oder zweifelhafte Beschäftigung. Toivo hatte es aber vermieden, die wahre Identität seines Liebsten zu enthüllen. Nicht, dass er seinem Kollegen Ekki zugetraut hätte, ihn zu verachten oder zu schneiden, wenn sich verbreitete, dass er ernsthaft in einen Mann verliebt war. Aber man kam nicht in der Welt herum, ohne ein wenig über die Natur des Menschen in Gesellschaft zu lernen. »Außerdem«, er zog die Stirn kraus, »so glasklar ist es noch nicht.« Bedauerlicherweise. "Schwierig", brachte sich Ekki in Erinnerung, der verheiratet war, aber glücklich davon zehrte, dass sich seine Kreise und die seiner Angetrauten nicht allzu oft überschnitten. "Besonders übel sind die Familientreffen." Selbst die Erinnerung an die erste Begegnung ließ ihn schaudern. Toivo, der gerade sein zweites Bier seiner Kehle vorstellen wollte, saß abrupt aufrecht. "DAS ist es!" ~+@+~ "Wie bitte?!" Paul Mäurer starrte voller Verärgerung den schweren Telefonhörer an, obwohl er beruflich durchaus mit Geräten der Telekommunikation vertraut war. Bloß privat konnte er jede Störung seiner geliebten Zurückgezogenheit überhaupt nicht verknusen! Und jetzt erlaubte sich diese unermüdliche Plage seiner ehemals friedvoll-behaglichen Existenz als Eremit, ihm auch noch nonchalant mitzuteilen, dass er Geburtstag zu haben pflegte?! Zugegeben, das konnte jedem passieren, war durchaus zu entschuldigen, aber dennoch! "Schön und gut", erklärte er indigniert, "aber warum muss ich mit dir feiern?! Ist das nicht etwas für Freunde und Familie?" Paul registrierte das kurze Zögern, das am anderen Ende der Leitung für Stille sorgte. "Mag schon sein, dass ich auch dein Freund bin", gab er widerwillig zu, "aber du weißt, dass ich nachts arbeiten muss. Und überhaupt nicht gern feiere." Seine Einwände verhallten wohl gehört, aber nicht beachtet, denn unversehens sah er sich verpflichtet, der Einladung Folge zu leisten. Gegen logische Zwänge konnte er schlecht argumentieren. Erstens hatte Toivo herausgefunden, dass er am besagten Datum keine Nachtschicht hatte. Zweitens ging es nicht an, dass eine ungerade Anzahl von Personen an einem Tisch mit gerader Gästezahl Platz nahm; das störte das optische Empfinden. Drittens war es bloß ein kleines, zwangloses Treffen, nicht mehr als ein gemütliches Abendessen. Viertens hatte Toivo sich so entgegenkommend gezeigt, SEINEN Geburtstag nicht zu feiern, wie sich Paul das gewünscht hatte, also musste er, um seine 'Schuld' zu begleichen, nun dessen Wunsch nachkommen. Plötzlich fühlte sich Paul ausgelaugt, nach einem langen Arbeitstag nicht weiter verwunderlich. Eigentlich wollte er ja bloß nach einer Dusche in sein kuscheliges Bett kriechen und süß träumen, doch DEN Plan hatte Toivos Anruf sabotiert. Seufzend schnappte sich Paul einen Notizblock, zerwühlte sich gewohnt unbewusst die braunen Locken und dachte darüber nach, was man verschenken konnte. "Wie ich Geburtstage verabscheue!", vertraute er seinen stummen Freunden im Aquarium an. Die sympathisierten sicherlich mit ihm, denn sie schwiegen konkludent. ~+@+~ "Hallo, da bist du ja!" Toivo strahlte bis zu jedem seiner drei Grübchen, die schwarzen Augen blitzten euphorisch, als er ungeniert zugriff, Paul an einem unvorsichtig ungeschützten Handgelenk in seine kleine Wohnung zog. "Ja", brummte Paul, räusperte sich dann artig, "herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag." Hastig schwenkte er wie ein Kran mit dem freien Arm aus, streckte Toivo eine Tüte entgegen. Funkelte aus dunkelblauen Augen mit leicht geröteten Wangen, -denn es war eisig kalt draußen-, nach oben. "Oh, das wäre gar nicht nötig gewesen!" Toivo lächelte warm aus 1,90m Höhe hinunter, legte den Arm um Pauls Schultern, dirigierte ihn hinein in sein Wohnzimmer. Flugs pellte er ihn dort aus dem Parka, nötigte ihn, auf dem Sofa Platz zu nehmen und versprach, ihm rasch noch einen wärmenden Tee zu bringen. Die Tüte residierte triumphierend auf den alten Teekisten, die anstelle eines gewöhnlichen Couchtisches ihren Dienst versahen. Paul besuchte Toivo gelegentlich, selbstredend nur nach Absprache und weigerte sich strikt, irgendetwas, das ihm nicht ausdrücklich vorgestellt worden war, zu registrieren. Auch wenn er ein Misanthrop aus Überzeugung war, so kannte er sich doch mit Manieren aus! Inzwischen beschäftigte Toivo in der kleinen Küche die Teeuhr und grinste ungeniert sein Spiegelbild im kleinen Küchenfenster an. Was auch immer in der Tüte war: Paul hatte sich der Mühe unterzogen, eine rote Geschenkrosette daran zu kleben! Und das verlockte zu einem kindlich-näselnden Kichern, das unbedingt gedämpft werden musste! Nicht zum ersten Mal und zweifellos auch nicht zum letzten erfüllten Pauls unerwartete Anstrengungen, sich 'zivil' zu geben, Toivo mit einem wohlig-warmen Gefühl. In seinem Kopf letterte es dann stets 'süüüüüüß. Wobei er genau wusste, dass ihm dieser Begriff niemals über die Lippen kommen durfte, wollte er sich nicht einen giftigen Blick aus den dunkelblauen Augen einfangen! Eigentlich, das hatte er inzwischen gelernt, war Paul niemand, der anderen die eigene Meinung aufzwang, ja, sie häufig nicht einmal äußerte. Der schwieg, sich eher zurückzog, als zu streiten oder einen Austausch zu suchen. Dass sie sich öfter wegen unbedeutender Kleinigkeiten kabbelten, bedeutete ihm viel, denn es bewies, dass er es Paul wert war, sich mit ihm auseinanderzusetzen, ihm seine Ansichten anzuvertrauen. »Vertrauen«, dachte Toivo, »das ist das Sprungbrett.« Er hoffte darauf, Paul von sich überzeugen zu können, denn wenn er diese Hürde nahm, dann konnte er auf MEHR rechnen. Paul mochte reserviert, misstrauisch und grundsätzlich misanthropisch gesinnt sein, aber bestimmt kein Feigling. »Man muss ihn bloß gewöhnen...« Er schüttete ein paar Kekse auf einen flachen Teller, beäugte die Teeuhr ungeduldig und beeilte sich dann, mit dem kleinen Imbiss in sein bescheidenes Wohnzimmer zurückzuflitzen. Paul saß noch immer wie Pik Sieben aufrecht und steif auf der Couch, die Hände sittsam auf den Oberschenkeln, ein Bild der Respektabilität aus den Fünfzigern. Glücklicherweise musste er sich unbewusst mehr als einmal den lockigen Schopf gerauft haben, was zu einer Sturm und Drang-Frisur mit Anflügen von verwüstetem Elsternnest führte. Toivo grinste entsprechend amüsiert und servierte Tee mit Keksen. Die hatte er mal bei Paul erspäht und messerscharf geschlossen, dass sie ihm munden mussten. Der warf ihm einen beunruhigten Blick aus dunkelblauen Augen zu und formulierte unerwartet forsch, "ich muss doch jetzt aber nicht spontan in ein Ständchen ausbrechen, oder?!" Der Gedanke schien ihn zu entsetzen. Lachend schüttelte Toivo den Kopf. "Danke, nicht nötig, aber ich weiß dein Angebot zu schätzen", schnurrte er sanft. Ihm gegenüber, nur durch die Teekiste separiert, funkelte Paul und zerbiss knirschend als Ersatzbefriedigung einen trockenen Keks. Während er mümmelte, inspizierte Toivo interessiert die Wundertüte. "Wow!", schmunzelte er und fischte den Inhalt, auf einem Pappkarton zwecks Stabilität aufgestellt, nacheinander heraus. Tja, von Paul würde man nur in Ausnahmesituationen Socken, Krawatten, Rasierwasser, Prominentenbiographien oder Hitparaden-Sampler geschenkt bekommen! Er lächelte, präsentierte sein strahlendes Gebiss, nutzte eine Sekunde der Unachtsamkeit, als Paul sich vorbeugte, um seinen Teebecher wieder abzustellen, schnellte blitzartig vor und küsste ihn auf die Stirn. "Danke schön!" Prompt färbten sich Pauls Wangen ein, die dunkelblauen Augen sprühten Funken, doch die Höflichkeit gebot, sich zu äußern und nicht lautstark den Überfall zu verurteilen. "...bitte schön. Dachte, es könnte nützlich sein." "Ist es, keine Frage!", versicherte Toivo jovial, drehte Sprühdosen und Flaschen auf der zweiten Teekiste zu einer Parade. Es war rührend, dass sich sein Freund an sein Gejammer erinnerte. Und herrlich, wie typisch 'männlich' er reagierte: nicht endlos reden wollte, sondern das vermeintliche Problem lösen. Ein Mann, eine Tat. Nix mit Wortgeklingel und Absichtserklärungen! Hintergrund für diese tatsächlich nützlichen Gaben war ein Tausch der Firmenwagen zu Anfang des Jahres gewesen und damit knapp einen Monat her. Toivo arbeitete schon geraume Zeit als Heizungsmonteur in einem mittelständischen Unternehmen, betreute verschiedene Anlagen, beriet und reparierte. Deshalb durfte er, wie alle Kollegen, auch den Firmenwagen mit nach Hause nehmen. Das Vorgängermodell hatte schon Jahre und Kilometer auf dem buckligen Motor, sah aus wie eine kriechende Rostepidemie und hörte sich an wie Tuberkulose im Endstadium. Also war es ausgesondert worden, weil man gleichzeitig einen hübschen Neuwagen gekauft hatte. Den fuhr selbstredend der älteste Monteur, sodass es zu einem Ringtausch kam und 'Neuling' Toivo schließlich die zweitälteste 'Schüssel' übereignet wurde. Die nur geringfügig besser war als ihr Vorgänger. Und sie durfte dazu noch als einziger Firmenwagen aufgrund der Abgasnormen nicht mehr in die Umweltzonen fahren! Weshalb sich Toivo nun auch gleich noch ein anderes Einsatzgebiet einhandelte. Er, der privat, dem mediterranen Lebensgefühl geschuldet, einen schmucken Motorroller sein Eigen nannte und damit flott durch die Stadt brummte, stand kopfschüttelnd vor dem traurigen Monster. Taufte es wie James Dean "Little Bastard" und nutzte einen Sonntagmorgen dazu, den kleinen Bastard auf Vordermann zu bringen. Das bedeutete, quasi lebende Müllberge zu entsorgen, Sümpfe auszutrocknen, die widerwärtigen Fußraumteppiche herauszureißen und das gesamte Auto von innen und außen abzuspritzen. Darüber hatte er sich bei Paul beklagt, der weder einen Führerschein, noch einen Wagen besaß. Deshalb paradierten nun vor ihm als Präsent Sprühdosen mit Kältemittel, Scheibenreiniger, Poliercreme, Imprägnierungsspray, Polster- und Fleckmittel, garniert mit frischen Lappen und Fensterledern. Vage glaubte Toivo sich an ein Discounter-Angebot zu erinnern, und seine drei Grübchen tanzten. Er mochte Pauls pragmatischen Verstand wirklich! Vor allem, wenn der sich mit hilflosen Bestrebungen paarte, sich an die emotionalen Konventionen der Gesellschaft anzunähern! Spielerisch schnickte er gegen die rote Rosette. "Sehr hübsch", neckte er Paul, der angestrengt in die Untiefen seines Teebechers starrte. Dessen Finger zogen winzige Rillen in den steifen Stoff der Hose auf dem Oberschenkel. »Wahrscheinlich«, mutmaßte Toivo mitfühlend, »wünscht er sich, es wäre alles schon vorbei!« Aber er hatte nicht vor, Paul wieder in das isolierte Nest seiner Eremitage eintauchen zu lassen. Nach und nach würde der sich schon an ihn gewöhnen! ~+@+~ Toivo fing Pauls Hand ein, stopfte sie mit seiner eigenen in seine Manteltasche und beäugte seinen stillen Begleiter sorgenvoll. Paul lächelte, ungewohnt selig, vor sich hin, die dunkelblauen Augen glänzten, und er marschierte aufgezogen neben Toivo her. »Herrje!« Stellte der treffend fest, rückte noch ein wenig näher an ihn heran. Aufgrund seiner imponierenden Körpergröße reichte ihm Paul gerade bis zu den Schultern. Wenn das wirre Nest auf dessen Schädel aufgeladen abstand. »Sternhagelvoll. Hackedicht. Total blau«, diagnostizierte Toivo, halb amüsiert, halb besorgt. Und er selbst hatte das nicht mal richtig bemerkt! Wie auch? Paul schwieg ja oft, lauschte aufmerksam, blendete sich manchmal regelrecht aus, so, als könne er mit dem Hintergrund verschmelzen. Wie hätte ihm da auffallen sollen, dass der spezielle Dessertwein ein wenig zu viel für den Abstinenzler aus Gewohnheit war?! »Wenigstens ist er ein braver Betrunkener«, stellte Toivo fest. Widerstand mannhaft der Versuchung, sich zu bücken und den verstrubbelten Schopf zu küssen. Was zu seinen Sorgen führte. Auch wenn Paul wie das Duracell-Häschen marschierte, konnte der doch im nächsten Moment umfallen. Weil sein sehniger Begleiter nämlich im Laufen zu schlafen schien. Deshalb musste er ihn mit zu sich nehmen. Was eigentlich keine Premiere darstellte, nur bisher hatte Paul nie bei ihm die Nacht verbracht. Und Toivo war sich nicht sicher, ob er wirklich die edle Tugend aufbrachte, ihn nicht doch ein wenig zu beschmusen. Allerdings, wenn Paul das bemerkte, dann wäre es aus. »Herrje«, seufzte Toivo innerlich, drückte die schmalen Finger in seiner Manteltasche ein wenig fester. Ausgerechnet heute musste er zum Helden mutieren?! Unbehelligt erreichten sie seine Wohnung, kletterten das Treppenhaus hoch und taumelten vom hellen Gang in den winzigen, dunklen Flur. Toivo lehnte Paul gegen die Wand, der artig wurzelte, leise kicherte und ohne Blinzeln hoch zur Dielenlampe starrte. Nachdem er eilig Mantel und Schuhe abgestreift hatte, wandte sich Toivo Paul zu. "Alles in Ordnung? Paul?", erkundigte er sich leise, brachte seine Stirn in dessen Kopfhöhe. Paul kicherte wonnig, lächelte ihn breit an. Verstandesledig. "Feiner Dessertwein, wie?", schmunzelte Toivo, angesteckt von diesem Strahlen. Es ließ Paul sehr viel jünger wirken. Befreiter. Unversehens streichelten Toivos Daumen sanft über Pauls glühende Wangen, hielt er dessen Kopf in seinen Händen. Blinzelnd murmelte Paul Unverständliches, leckte sich über die Lippen. Ob sie noch süß nach dem Dessert schmeckten? Bezaubert und hingerissen vergaß Toivo seine Ambitionen als standhafter Held der restlichen Nacht, küsste Paul sanft auf die Lippen. Wieder und wieder. Wich aus auf Schläfen, Stirn, Nasenspitze, Lider, Augenbrauen, wanderte von Amorbogen bis zum Kinn, knabberte an der Kieferlinie, nicht gehindert durch die Hände, die sich um seine Handgelenke legten. Paul war so unglaublich warm. Nein, heiß! Als ob er in seinem Körper einen gewaltigen Heizstrahler verborgen hatte, der ungefiltert alle Energie nach außen abgab! »Wie ein Kind«, schoss es Toivo durch den Kopf, aber diese Anwandlung ernüchterte ihn keineswegs. Er schloss Paul in die Arme, wiegte ihn leicht, hielt ihn fest an sich gedrückt. Worte konnten nicht ausdrücken, wie widersprüchlich und eindeutig er für ihn empfand. Erst als er spürte, wie Paul in seinen Armen immer schwerer wurde, fasste er ihn behutsam unter und brachte ihn in sein Schlafzimmer. ~+@+~ "Umpfh!" Toivo richtete sich auf, rieb sich die Augen und warf dann einen kritischen Blick neben sich. Paul schlief so tief und fest, dass man vermutlich Kanonen neben ihm abfeuern konnte. Unwillkürlich schlich sich ein zärtliches Lächeln in Toivos Gesicht. Mit der Fingerspitze versuchte er sanft, die schlimmsten Verwirrungen der Locken zu sortieren. Obwohl er artig im Schlafanzug ins Bett gestiegen war, nachdem er Paul bis zur Unterwäsche entkleidet hatte, wachte er in Boxershorts auf. Weil Paul neben ihm eine unglaubliche Hitze entwickelte, wie eine zweite Sonne fungierte. Die kindlich geröteten Wangen verrieten auch jetzt, dass ihr Besitzer freigiebig seine Energie verteilte. Toivo kletterte vorsichtig aus seinem Bett, sortierte rasch die Kleidungsstücke, beugte sich dann wieder über den Tiefschläfer und küsste ihn sanft. "Paulchen", schnurrte er hauchzart, "deinetwegen mag ich sogar rosa." ~+@+~ "GNBH?!" Desorientiert schlug Paul um sich, klappte wie ein Taschenmesser im rechten Winkel hoch und drehte den Kopf, auch wenn seine verklebten Lider noch gar kein Bild ans leidende Gehirn spendeten. "Uuoooohhhhhh!", stöhnte er heiser, presste beide Handflächen gegen den Kopf, doch erstaunlicherweise schien die Distanz zwischen den Schläfen nicht um das Dreifache angestiegen zu sein! Dafür wuchs irgendein ekliger Pelz auf seiner Zunge, und die Terror-Combo in seinem Schädel lärmte voller Elan weiter! Langsam, behäbig, setzte sich in seinem Gehirn die Erkenntnis durch, dass es vergiftet worden war. Durch ein Übermaß an Alkohol. Dabei war er längst nicht in der Verfassung, es in Alkohol einlegen und für die Nachwelt konservieren zu lassen!! Dieser Protest gegen die vermeintlich überpünktliche Verarbeitung eines nicht unwichtigen Organs verstummte, als nachlässig Erinnerungen an die Ereignisse vor dem großen Blackout eintrödelten. "...ooooohhh!" Paul räusperte sich, was dem abscheulichen Geschmack in seinem Mund nicht abhalf. Dann siegte allerdings seine Empörung über die fuchsteuflische, heimtückisch-schelmische Frechheit seines Freundes. Der ihn absichtlich getäuscht hatte! Der hatte ihm nicht gesagt, dass er der einzige Gast war, der NICHT zur Familie gehörte! Und ihn nicht daran gehindert, diesen wirklich leckeren Likör zu trinken! »Obwohl«, mit schwerem Kopf raufte sich Paul automatisch die Locken, »ist ja meine Schuld.« Schließlich konnte Toivo ja nicht damit rechnen, dass er zu dusselig war, um darauf zu achten, was er wovon in welchem Maß konsumierte! »Trotzdem!«, dachte Paul grantig. Dann fiel sein trüb-klebriger Blick auf den kleinen Nachttisch. Dort warteten ein umgestülptes Wasserglas, eine entsprechende Plastikflasche daneben und ein Röllchen mit Kopfschmerztabletten. Der Notizzettel vor diesem aufmerksamen Arrangement lautete: [Guten Morgen, mein Lieber! Ich musste leider zur Arbeit, entschuldige. Frühstück steht in der Küche. Rufe dich später an. HDL, Toivo.] "HDL?" Paul verstand nur Bahnhof und Zug abgefahren, wischte die fehlende Übersetzung aber als unerheblich beiseite. Zuerst MUSSTE er den Vorschlaghammer in seinem Kopf erledigen. Und dann würde er aufstehen. Wenn das verwünschte Zimmer aufhörte, sich um ihn zu drehen! ~+@+~ Toivo hörte das Summen, fischte nach einem Blick sein privates Mobiltelefon aus der Jackentasche und rammte es in die Freisprecheinrichtung seines Firmenwagens. Da er im Stau des allabendlichen Berufsverkehrs stand, konnte ihn ein Gespräch nicht gefährlich ablenken. "Moi! Hei!", trällerte es ihm munter über die Lautsprecher entgegen. Toivo versuchte gar nicht erst herauszufinden, welcher seiner jüngeren Halbbrüder welchen finnischen Gruß trompetete. Eine ihrer unangenehmen Angewohnheiten bestand darin, stets gemeinsam zu telefonieren, sodass man nie genau wusste, ob man nun mit Mika oder Jarno sprach. Was eigentlich keinen Unterschied machte, denn beide waren lediglich durch den Körper getrennt. Selbst für Zwillinge hatten sie eine sehr innige, vertraute Beziehung, suchten gewöhnlich die Nähe zum Anderen, umschlangen ganz beiläufig Schulter oder Taille des Bruders. Und nur Toivo wusste, wie vertraut die beiden tatsächlich waren, denn er hatte durch Zufall bemerkt, dass sie die erste Liebe mit derselben Studentin erlebten. Und scheinbar hatte diese Menage a trois die Beteiligten überhaupt nicht inkommodiert. Weshalb er sich auch heraushielt. "Moi, ihr Halunken", antwortete er munter trotz des langen Arbeitstags. Neugierig war er schon, warum ihn seine jüngeren Brüder anriefen, aber eigentlich konnte es sich nur um den gestrigen Abend handeln. "Mama ist sauer auf dich." Mika, -oder war es Jarno?-, kam gleich zur Sache. "Mich? Was habe ich denn getan?", erkundigte sich Toivo einigermaßen verblüfft, rückte etwas näher an den Vordermann heran und erinnerte sich selbst daran, mit Pauls Geschenken mal den Peek von der Scheibe innen abzukratzen. Im Wagen echote das Lachen seiner Brüder, glucksend und fröhlich. "Du hast Paul mitgebracht", erlöste ihn schließlich ein Zwilling großmütig. "Ich darf zu meinem Geburtstag keinen Freund mitbringen?" Toivo sträubte die metaphorischen Federn, "ich habe doch aber gesagt, dass ich jemanden mitbringe!" Schon wieder lachten die Zwillinge, amüsierten sich köstlich. "Tja", gab Mika (oder Jarno) schließlich süffisant zu bedenken, "aber Paul ist nicht Cornelia." Toivo grunzte perplex. "Ach herrje!" "Ja, ach herrjeeeee!", trällerten seine Brüder ungeniert. Seufzend rollte er einige Meter bis zur nächsten Rotlichtphase. "Und Papa?", erkundigte er sich zögerlich, "ist der auch sauer?" "Nö", nun schienen die Zwillinge doch Mitgefühl mit ihm zu haben, "du kennst doch Papa. Er fand den Bericht über diese Tiefsee-Ausstellung richtig spannend." Das erleichterte ihn gewissermaßen, doch sie wussten genau, wer die Hosen anhatte. "Sollte ich mich eine Weile nicht blicken lassen?", erbat er sich Rat. Zu seiner Überraschung blieb es einen Moment still, den er damit füllte, über die Kreuzung zu gleiten. "Sag mal..." Nun hörte er deutlich den Chor, vermutete, dass die beiden sich eine etwas privatere Umgebung gesucht hatten, "stehst du ernsthaft auf den Burschen?" "Gibt's daran was auszusetzen?!", antwortete Toivo ungewohnt giftig, ja, beinahe aggressiv. Es quälte ihn, dass seine Mutter auf ihn sauer war. "Na, typisch für dich ist das nicht!" Jarno und Mika ließen sich nicht so leicht einschüchtern, "zugegeben, er IST niedlich, aber auch ein bisschen arg... ahnungslos." "...da wäre ich mir nicht so sicher", brummte Toivo kaum hörbar. Pauls Argwohn entsprach bestimmt nicht der Naivität. "Ich hab ihn sehr gern", entschloss er sich zu einer Offenbarung, "und ich möchte nicht, dass meine Familie ihn ablehnt." "Na, wir finden ihn knuffig", stellte ein Zwilling fest, bevor der andere pinselig ergänzte, "außerdem waren wir nett zu ihm! Also kein Grund, uns anzublaffen!" Toivo nahm das zur Kenntnis und erkundigte sich, "hat euch Cornelia besser gefallen?" "DIE?!" Der schockiert-ablehnende Protest beantwortete seine Frage ausreichend. "Eben", schloss er triumphierend die Beweisführung ab, "dann werde ich Mama ein bisschen ausweichen. Für eine Weile." "Besser is das", pflichteten ihm seine jüngeren Brüder munter bei, "bis dann! Hei hei! Moi moi!" "Moi moi, ihr Rabauken", verabschiedete Toivo die Zwillinge. Eigentlich hatte er Paul anrufen wollen, doch nun beschäftigten ihn einige Gedanken, die er zuerst abhandeln musste. Deshalb tippte er eine kurze Mitteilung in sein Mobiltelefon, die verkündete, er werde sich später bei ihm melden. Toivo lehnte sich zurück, streckte die langen, kräftigen Arme zum Lenkrad aus, bis die Gelenke hörbar knackten und überdachte seine Situation. In seinem Magen braute sich zeitgleich eine Woge Unbehagen zusammen, eine physische Reaktion auf diese ernüchternde Nachricht. Gut, das würde er nicht bestreiten: er war ein Mama-Kind. Das lag auch an der familiären Konstellation, aber vor allem darin begründet, dass seine Mutter der Dynamo in ihrem Leben war. Wenn er sie verärgerte, fühlte sich Toivo IMMER beschissen. »Ein guter Gradmesser dafür, was ich besser unterlassen sollte.« Nur dieses eine Mal WOLLTE er sich nicht auf den 'Pfad der Tugend' zurückleiten lassen. »Und warum?« Er seufzte und entließ ein Zischen durch die perfekten Zähne. »Weil Paul mein Herz berührt.« ~+@+~ Die Sache mit Cornelia war durchaus typisch. Zumindest für seine Begegnungen mit dem interessierten, anderen Geschlecht. Damals, -war das wirklich erst drei Jahre her?-, hatte er sich gerade wieder in einer Weiterbildungsphase befunden. Nach dem Schulabschluss wollte er etwas Praktisches mit seinem Leben anfangen und legte verkürzt nach drei Jahren seine Gesellenprüfung als Heizungsbauer ab. Anfang Zwanzig tobte er sich anschließend wie viele seiner studierenden Freunde am Wochenende in den Clubs aus, ließ die Kuh fliegen und den Bären steppen. Doch irgendwann konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, dass man eigentlich immer dieselbe Gruppe Leute traf, die Gespräche banal wurden und der Freundeskreis ausfaserte. Das Leben schlug eben zu und drückte plötzlich als Schuh an anderen Stellen. Da ging es nicht mehr um das Wer mit wem, sondern wessen Freundin schwanger war, ob man den Sprung ins Ausland wagen sollte, wie man eine Eigentumswohnung finanzierte oder von welchen Fonds man besser die Finger lassen sollte. Außerdem spülte jedes Schuljahr unvermindert Frischlinge in die Szene, sodass er sich irgendwann zu alt fühlte. Zu gelangweilt. In einem Deja vu gefangen, das verdächtig an den Murmeltiertag erinnerte. Deshalb, als freier, aufgeschlossener, junger Mann, familiär nicht gebunden, hatte er sich entschlossen, wieder mit Elan seine berufliche Karriere ins Auge zu fassen. Damals dräute bereits am Horizont, dass EU-Richtlinien sein Berufsbild verändern würden. Heute hieß sein Beruf zum Beispiel 'Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik'. Toivo besuchte nach der Arbeit verschiedene Weiterbildungskurse, um sich als Kundendiensttechniker besonders zu qualifizieren. An eine Meisterprüfung wollte er noch nicht denken, denn eigentlich mochte er es viel lieber, 'auf Montage' vor Ort zu sein, zu beraten und mit unterschiedlichen Menschen in Kontakt zu kommen. Aus diesem Grund war er auch seit der Sturm und Drang-Zeit solo und keineswegs betrübt über diesen Zustand. Wenn man ihn fragte, hätte er wohl unumwunden eingestanden, dass er für einmalige Abenteuer und komplizierte Affären einfach kein Faible hatte. Nicht etwa, weil er moralische Grundsätze hoch hielt, nein, er fühlte sich viel zu phlegmatisch, um den ganzen Stress als lohnenswert einzustufen. Warum sich unwägbare emotionale Belastungen aufbürden, wenn das Vergnügen gerade mal eine Viertelstunde anhielt? Außerdem hatte er sich gerade wirklich gut in seinem Leben eingerichtet, genoss es, Spleens zu entwickeln und sich selbst als notorischen Junggesellen zu betrachten, der mit seinen Schrullen kokettierte. Fehlte nur noch Dr. Watson! Doch bevor er in Erwägung ziehen konnte, Katzendärme zu quälen und sich mit einer miefigen Pfeife zu belasten, rollte ihm im Supermarkt eine etwas mollige Blondine mit einem Einkaufswagen absichtlich über den Fuß. Damals hatte er diese schmerzhafte Charme-Attacke mit Humor genommen, immer bereit, sich mit skurrilen Personen zu befassen. Cornelia, die sich wortreich entschuldigte, wollte ihn unbedingt zu einem Tee einladen. Toivo sagte gern zu, neugierig, warum er das Interesse dieser jungen Frau erregt hatte. Auch diese Erklärung gefiel seinem Sinn für schräges Amüsement. Cornelias Arkadien nämlich war Indien. Konsequenterweise nicht das real existierende Land, sondern eine bollywoodesque Vorstellung davon. Deshalb paukte die Kindergärtnerin an der Volkshochschule auch Hindi, wollte sich mit der Schrift Devanagari befassen und belegte auch noch einen Kochkurs. Sie investierte einen großen Teil ihres Geldes in Saris, die sie sündhaft teuer in einem Spezialgeschäft im Bahnhofsviertel erwarb. Im Auto hörte sie nur die Soundtracks der Bollywood-Filme, die sie lautstark mitsang. Und sie hatte jeden Film mit Shah Rukh Khan unzählige Male gesehen, konnte die Dialoge mitsprechen und tanzte mindestens so gut wie dessen Filmpartnerinnen. Fand sie selbst. Dummerweise war ihr Idol schon vergeben, weshalb 'the next best thing' per Einkaufswagen attackiert und die Beute geschlagen werden musste. Toivo fand das definitiv saukomisch. Die Ironie erschloss sich Cornelia aber erst, als er nach einigen Treffen mit seiner eigentlichen Biografie herauskam. Es war nicht bloß sein Name, der nicht zum 'Bucheinband' passte. Toivo verfügte über die deutsche Staatsbürgerschaft. Er sprach kein Wort Hindi und wenn er unwahrscheinlicherweise mal Gelüste auf indische Nationalkost verspüren sollte, würde er sich zu diesem Zweck in ein Restaurant schleichen müssen und hoffen, es käme seiner Mutter nicht zu Ohren. Die nicht nur über einen außerirdischen Sinn für Heimlichkeiten verfügte, sondern wie ein Bluthund jede Spur verfolgte und als Quasi-Terrier nicht eher abließ, bis man alles gebeichtet hatte. Toivo legte zwar eine flotte Sohle aufs Parkett, wenn es um Tango ging, hatte aber von Bollywood-Reigentänzen keine Ahnung und konnte die schrille Musik nicht sonderlich gut leiden. Er stand auf Hardrock, melancholische Tango-Musik und hätte pausenlos Currywurst mit Pommes frites, mittelscharf, verputzen können. Man hätte durchaus annehmen können, dass nach dieser Enthüllung, die ihn vom Märchenprinz Nr. 2 zum Krauts-Frosch degradierte, von Cornelia nicht mehr als der Hauch ihres schweren Parfüms zurückblieb, doch weit gefehlt. Es weckte ihre Neugierde, und außerdem konnte sie ihm ja behilflich sein, zu seinen Wurzeln zurückzufinden! Diesen Ehrgeiz hatte Toivo noch nie verspürt und konnte sich auch kaum vorstellen, dass er in einem Land, das er noch nie betreten hatte, irgendwelche erstrebenswerten Wurzeln ausgraben wollte. Dennoch ließ er sich, vielleicht ein wenig boshaft, dazu überreden, Cornelia mal seiner Familie vorzustellen. Ohne ihr vorher gewisse Details mitzuteilen. Es war ja nicht so, dass er sie nicht schätzte, sie nicht in erotischer Hinsicht harmonierten, bloß...war es all den Ärger wert, den er am Horizont erspähte? Der Abend, an dem er Cornelia mitbrachte, ging in die familiären Annalen ein. Man konnte nicht behaupten, dass seine Eltern sich nicht darüber gefreut hätten, endlich ihren Ältesten in einem emotional stabilen Hafen einer festen Beziehung zu sehen. Allerdings konnte davon keine Rede sein, nachdem sie ausgelotet hatten, wie unpassend diese Einstufung war. Toivo hegte grundsätzlich keine Absichten, sich an Cornelia zu binden und von ihr nahm er an, dass sie eigentlich gar nicht genau wusste, ob er mehr als eine schmückende Trophäe in ihrem Fan-Club sein sollte. An diesem Abend zumindest stellten alle Beteiligten fest, dass es hier einer noch unbekannten Menge 'Kleber' bedurfte, um daraus Familienbanden zu machen. Der Einstieg in den aufschlussreichen Austausch gegenseitiger Gefühle begann bereits spektakulär, als Cornelia sich bemühte, mit ihren Hindi-Kenntnissen zu punkten. Aber außer Toivos Mutter verstand niemand diese Sprache, und die verzog das Gesicht, als habe man ihr sauren Käse angeboten. In IHREM Haus wurde Hindi nicht gesprochen, nicht indisch gekocht und wer sie nach irgendwelchen kulturellen Eigenheiten befragte, wurde eingehend über finnische Nationalvorlieben aufgeklärt. Toivos Vater Yrjö, der die Sturmwarnung im den schwarzen Augen seiner Frau erkannte, bemühte sich freundlich, das Thema zu wechseln. Da half es gar nicht, dass Mika und Jarno, pubertierende Zwillinge, sich nicht gern von einer fremden Frau über Tischsitten belehren ließen. Sie rächten sich damit, als eine Person aufzutreten, die wechselseitig einen der beiden Körper benutzten, und Cornelia mit Detailfragen auf den Zahn zu fühlen. Und allen auf den Geist zu gehen. Nach dem Essen, als Toivo artig mithalf, den Tisch abzuräumen, zerrte ihn seine Mutter am Handgelenk in das kleine Schlafzimmer. Funkelte zu ihm hoch und setzte ihm auf Finnisch auseinander, was ihm drohte, wenn er diese dumme Pute zu ehelichen gedachte. Toivo hatte hoch und heilig versprochen, von jedem Gedanken in diese Richtung kilometerweiten Abstand zu nehmen. Deshalb frappierte es ihn eingedenk dieser Episode, dass seine Mutter so ärgerlich auf Paul reagiert haben sollte. »Dabei war sie wirklich nett zu ihm... oder?« Die Beziehung mit Cornelia war an mangelnder Gelegenheit, sich öfter zu treffen, schließlich ausgefasert. Das passierte Toivo nicht zum ersten Mal, und er nahm es sportlich. Verglich er aber diese Perspektive mit seinen Gefühlen für Paul, so schnürte sich ihm die Kehle zu. Cornelia hatte er ohne schmerzliche Gefühle verabschieden können, die Welt war schließlich groß, jeder hatte seinen eigenen Weg und vorüberfahrende Schiffe sollte man nicht aufhalten. »Bloß Paul...« Da würgte es ihn im Hals. Aber was sollte Paul angestellt haben, das Cornelias denkwürdigen Auftritt ausstach? Zugegeben, Paul hatte nicht versucht, Hindi zu sprechen oder über indische Küche doziert. Er hatte auch die Vorstellung, "hier der Marzipan-König, da die Nougat-Königin und natürlich die Milchkaffee-Prinzen", nur mit der Rückfrage gekontert, ob Toivo demnach der Mokka-Junker sei. Gut, Paul fragte selten nach, wenn die Hintergründe eigentlich keine Rolle spielten und man konnte wohl kaum behaupten, dass er ein Connaisseur des Smalltalk war. »Trotzdem, haben sich nicht alle gut mit ihm unterhalten?!«, sinnierte Toivo stur. Er zumindest war ziemlich stolz darauf gewesen, wie pflegeleicht und munter sich Paul an den Unterhaltungen beteiligt hatte. Wen störte es da schon, dass er den Dessertwein ein bisschen zu sehr gewürdigt hatte? Da ihm diese Angelegenheit keine Ruhe lassen würde, beschloss er, seinen Vater anzurufen. ~+@+~ "Na, denk bloß nicht, ich rufe dich an", quittierte Paul die Textmeldung auf dem Mobiltelefon, das er widerwillig mit sich herumschleppte. Dank der chemischen Keule schmerzte sein Schädel nicht mehr so arg, die Bongo-Truppe hatte offenkundig die nächste Karawane in den Dschungel genommen. Aber immer noch verspürte er den Drang, sich den Pelz von der Zunge zu mähen und hatte den Eindruck, durch Bodennebel in seinem Kopf mühsam arbeitswillige Gehirnzellen auftreiben zu müssen. Wie tröstlich, dass er mit Routinearbeiten betraut war und nichts Unvorhergesehenes drohte! »Trotzdem!«, grollte sein misanthropisches Ich mürrisch. Toivo musste der Marsch geblasen werden! »Das tut man nicht!«, putschte ihn der eingebaute Menschenfeind auf, »einfach so Geburtstag feiern und nicht erwähnen, dass man da auf dem familiären Präsentierteller landet!« »Nun ja«, Paul erwog diese Beschwerden, »zumindest die zweite Geschichte war unfein. Ganz schlechter Ton!« Denn er war ja nicht blöd, auch wenn er sich öfter mal bei Glatteis auf den Podex setzte! Wenn man jemanden zur Familie mitschleppte, dann hämmerte in titanisch großen Buchstaben doch die Botschaft heim: wir sind ein Paar! Und auch wenn mathematisch gesehen zwei Personen ein Paar bildeten, führte diese Vermutung doch absolut in die Irre!! »Das hast du dir selbst zuzuschreiben!«, verteilte sein unleidliches Ich großzügig Schuldzuweisungen. »Du hättest das schon längst ersticken müssen. Im Keim!« »Das ist aber gar nicht so einfach!«, konterte Paul mit wachsendem Ärger auf sich selbst. Gut, Toivo lud sich oft selbst ein und ließ einfach nicht locker, ihn immer wieder treffen zu wollen, aber SO schlimm war das ja auch nicht. »Aha! Wir wollen also im Supermarkt abgeknutscht werden, wie?!« »Blas dich nicht so auf!«, knurrte Paul bissig zurück. Nein, ehrlich gesprochen war ihm damals diese Aktion sehr peinlich gewesen, doch das hatte weniger gewogen als seine Empörung über Toivos Diebstahl. Und weil ihm gelegentlich sein Temperament durchging, musste er wohl oder übel akzeptieren, dass sein Flankenschutz versagte. Abgesehen von gelegentlichen Anflauschattacken war Toivo schließlich ganz manierlich! Störte ihn nicht wirklich empfindlich, denn sonst hätte er...!! Aber schon längst!! Gar keine Frage! »Quatsch mit Soße!«, wies ihn sein Verstand knapp zur Ordnung. »Du kannst nicht ewig diesen Eiertanz aufführen.« Paul drehte eine Pirouette in seinem Bürodrehstuhl und beäugte müde die Anzeigen. Nein, so doof war er ja nicht. Er hatte schon begriffen, dass Toivo ihn nicht bloß als Busenfreund adoptieren wollte. Doch er wusste einfach nicht, wie er reagieren sollte. Was ihn erwartete. Toivo in die Wüste zu schicken, das erschien ihm auf merkwürdige Weise übertrieben. »Weil du IMMER Entschuldigungen für ihn findest!«, giftete der Menschenfeind gehässig. »Gar nicht wahr! Er tut doch nichts Schlimmes!«, protestierte Paul. »Zumindest NOCH nicht!«, ergänzte sein Verstand kühl. »Ja, aber hastenichtgesehen, da quartiert er sich bei dir ein! Usurpiert dein ganzes Leben! Dann musst du Sex haben und zusammen Sportschau gucken! Ausgehen und ständig irgendwelche Freunde besuchen!« Malte ihm der Misanthrop die Zukunft in finstersten Farben. Paul ließ die Schultern hängen. Würde Toivo das wirklich tun? ~+@+~ Kapitel 2 - Gemeinsamkeit? "Papa?" Toivo klingelte an der Werkstatttür, im Hinterhof hinter einem orthopädischen Fachgeschäft gelegen. Sein Vater hatte in Finnland vom eigenen Vater das Schuhmacherhandwerk gelernt und fertigte nun nach Maß an, hauptsächlich aus medizinischen Gründen. Dazwischen lagen zahlreiche, andere Beschäftigungen, die ihn von Finnland nach Schweden und schließlich hierher geführt hatten. Der schlaksige Mann öffnete ihm, grinste gewohnt sanftmütig und ließ ihn hinein in sein Reich. Melancholisch umschwebte ihn Tango-Musik, die große Leidenschaft der Finnen. So auch die seines Vaters. "Setz dich doch." Immer noch klang ein leichter Akzent in seinen Worten, obwohl sie bereits seit 15 Jahren hier heimisch waren. "Danke." Toivo faltete seine lange Gestalt auf einem Hocker zusammen, nahm auch schmunzelnd die Teetasse entgegen, die ihm sein Vater reichte. Sie lauschten einträchtig der Musik, dann nahm sein Vater sein Arbeitsstück wieder auf, und Toivo erzählte ihm von seinen Sorgen. "Ja", stellte Yrjö final fest. "Was rätst du mir, Papa?" Toivo fühlte sich schon erleichtert dadurch, dass er sich die Unsicherheit von der Seele geredet hatte. "Gibt es etwas, dass ihr gemeinsam am Liebsten tut?", erkundigte sich sein Vater leise, zog eine scharfe Nadel durch das Leder. Toivo runzelte fragend die Stirn. "Wie meinst du das?" "Nun", gelassen arbeitete sein Vater weiter, die große, sehnige Gestalt über das Werkstück gebeugt, "Meera und ich tanzen." Tango, natürlich. Toivo war dies keineswegs unbekannt. Doch was sollte das bedeuten? Verwirrt fischte er eine lästige Strähne aus den Augen. "Meera spricht nicht gern über früher." Die Erinnerungen ließen den Akzent noch stärker hervortreten. Makellos graue Augen unter dichten Brauen richteten sich auf Toivo. "Damals war es der Tango." ~+@+~ Yrjö lebte noch nicht lange in Turku, fand aber, dass sich der Umzug vom Land definitiv gelohnt hatte. Er war jung, kräftig und arbeitswillig. Sicher, die Ausbildung zum Schuhmacher versprach nicht gerade eine goldene Zukunft, aber wenigstens hatte er schon EIN Handwerk gelernt! Das sollte es ihm erleichtern, sich auch andere Fertigkeiten zuzulegen. Im Augenblick arbeitete er in einer Fabrik, setzte am Fließband elektrische Kleingeräte zusammen. Und wohnte in einem winzigen Zimmer in einer einfachen Gegend. Vom Wohnblock auf der anderen Seite schwebte immer ein exotischer Geruch nach fremden Speisen herüber und bunte, farbenprächtige Stoffe trockneten im eisigen Wind. Yrjö, der am Liebsten Tango-Musik hörte und ein gutes Mahl zu schätzen wusste, empfand diese fremden Farbtupfer als melancholisch-wehmütige Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat sehr ansprechend. Er war eben ein typischer Finne vom Land. Und dann traf er eines Abends, als er sich gerade in eine der weniger populären Kneipen begeben wollte, um Tango zu tanzen, eine kleine, rundliche Frau. Mit dunkler Haut, einem langen, schwarzen Zopf, der über ihre Hüfte reichte und einem sehr zwingenden Blick. Sie sprach ihn an, mit einem zwitschernden Englisch, das ihm Mühe bereitete, denn sonderlich gut beherrschte er die Sprache nicht. Er begriff aber, dass diese schöne Dame um seine Hilfe bat, nach einer Arbeitsgelegenheit suchte und ihn von gegenüber oft am Fenster hatte stehen sehen. Yrjö, mit einer Knute zur Höflichkeit erzogen und grundsätzlich ein sanftmütiger Mensch, stellte sich vor und erfuhr, dass die fremde Prinzessin in den schönen Stoffbahnen Meera hieß. Sie wolle arbeiten und irgendwie versuchen, hier im Land zu bleiben, weil ihr ein schreckliches Schicksal drohe. Da er nicht alles verstand, bat er sie um ein wenig Geduld und versprach, sich wieder zu melden. Vom Fenster aus, damit man sich treffen konnte. Irgendwelche Hintergedanken pflegte er nicht, dafür hatten schon väterliche Prügel und sittenstrenge Geistliche gesorgt. Außerdem, das gab er freimütig zu, genügte es ihm vollauf, wenn er gut gegessen und Tango getanzt hatte. Große Ansprüche stellte er nicht ans Leben. Meera war ganz anders, das registrierte er schnell. Rasch lernte sie, sich auf Finnisch zu verständigen, schlüpfte flink aus der Wohnung und trat ebenso mutig die kleine Putzstelle an, die Yrjö ihr bei einem alten Mann vermittelt hatte. Viel Geld konnte der nicht zahlen, aber Meera bedankte sich höflich und wirkte weniger grimmig als entschlossen. So kam Yrjö ab und an in den Genuss fremdartiger Speisen, während er sich darum bemühte herauszufinden, wie Meera in Finnland bleiben konnte. Dabei bemerkte er durchaus, dass die schöne, dunkle Prinzessin immer rundlicher wurde und der hässliche Wollmantel kaum noch schloss. Ja, erklärte sie ihm knapp, sie sei zwei Monate verheiratet gewesen und kurz vor dem Abflug zu den Verwandten ihres Mannes habe der sich final mit einem Herzanfall verabschiedet. Nun sei sie schwanger und bis zur Geburt noch nicht in Gefahr, rasch an einen anderen Mann erneut verheiratet oder irgendwohin abgeschoben zu werden. Mehr wollte sie nicht sagen, aber Yrjö spürte den tiefen Groll, den diese Vergangenheit in ihr auslöste. Sie war jedenfalls entschlossen, nie wieder zurückzugehen und beide Familien konnten ihr gestohlen bleiben! Um sie ein wenig aufzubauen, lud Yrjö sie schüchtern zum Tangotanzen ein. Er war ja nicht vom Mond gefallen und wusste durchaus, dass schöne, fremde Frauen sich nicht in den Kneipen sehen ließen. Ob aus religiösen oder anderen Gründen, das wusste er nicht genau, aber tapfer genug zu fragen, das war er sehr wohl. Meera hatte gar nichts dagegen, ihn zu begleiten! Im Gegenteil, wenn sie Finnin werden wollte, wäre es ja nur angezeigt, sich diesem nationalen Interesse zu widmen! Also führte er die hochschwangere Meera zum Tanzen aus. In eine kleine Kneipe, schlecht ausgeleuchtet, mit Gästen, die müde von harter, körperlicher Arbeit waren und sich nach einem anderen Leben in Wärme und Licht sehnten. Drei Tage später sprach Yrjö mit einem teuren Blumenstrauß bei Meera vor, als ihre hauptsächlich männlichen Verwandten zur Arbeit gegangen waren und bat sie höflich, ihn zu heiraten. Die Vorteile lagen ja auf der Hand, und er könne versprechen, ein pflegeleichter und treuer Ehemann zu sein. Und ein guter Vater für das ungeborene Kind, da er aus eigener Erfahrung wisse, das Schläge niemandem wohltaten. Meera packte in fünf Minuten ihre Habseligkeiten zusammen und marschierte mit schwangerschaftbedingtem Watschelgang neben einem glückstrahlenden Yrjö davon. Yrjö konnte, wenn er auf seine Söhne blickte, kaum glauben, wie schnell die Zeit verflog. Wie gestern erschien es ihm doch, als diese schöne, majestätische, energische Frau seine Hand entschlossen ergriffen und ihn sicher durch ihr gemeinsames Leben gelenkt hatte! Ihn störte es keineswegs, dass Meera voranging, die Richtung vorgab. Sie war nämlich, auch wenn das sonst kaum jemand zu bemerken schien, immer um seine Meinung bemüht und übte Rücksicht auf subtile, indirekte Weise. Außerdem, und das hatte er sofort bemerkt, bei ihrem ersten Tanz: sie passten so zueinander, als hätte man sie aus einem Guss geschaffen. Keine Meinungsverschiedenheit war wichtiger als ihr Zusammenhalt, ihr gegenseitiger Respekt und die pragmatische Zuneigung, die sie einander bewiesen. Er war sich durchaus bewusst, dass er kein Märchenprinz war, kein Mann, der große Ansprüche befriedigen konnte. Da konnte er von glücklicher Fügung sagen, dass ihm Meera begegnet war. Und obwohl er kein Märchenprinz war, kam er sich manchmal wie Phileas Fogg vor, der seine Aouda gefunden hatte, ganz ohne eine Weltreise! ~+@+~ Toivo lag in seinem Bett und blickte im Halbdunkel Richtung Zimmerdecke, während leise Musik aus dem Radio erklang. Er konnte noch nicht einschlafen, da zu viele Gedanken in seinem Kopf kreisrund marschierten. Und so richtig bequem war es aus unerfindlichen Gründen auch nicht... "...Tango...", brummte er konzentriert. Nein, man konnte definitiv ausschließen, dass dies eine gemeinsame Beschäftigung sein würde. Paul hatte zwar die richtige Größe, aber sich führen lassen?! Zweifelsfrei ausgeschlossen. Nun, ehrlich gesprochen konnte sich Toivo auch nicht vorstellen, mit Paul Tango zu tanzen. Es passte nicht zu ihnen beiden. "Was aber dann?", sprach er gedämpft mit sich selbst. Wenn sie es tatsächlich vollbracht hatten, gemeinsam etwas zu unternehmen, waren sie entweder in spärlich besuchten Frühvorstellungen gewesen oder hatten technisch-naturwissenschaftliche Museen im ganzen Land abgeklappert. Paul, der nur unwillig seine private Höhle tagsüber verließ, lernte gern dazu. Er mochte auch Aquarien, solange es keine hopsenden Delfine oder andere Banalitäten zu bewundern gab. Und man nicht unentwegt mit schrill quietschenden Besuchern rechnen musste, die erst die "lieben Fische so süüüüß" fanden, um dann genüsslich die Hauer in Flipper zu hauen, wenn sie anschließend bei McDoof irgendeinen Fisch-Mäc orderten. Sport gefiel Paul nur, wenn andere ihn betrieben und er nicht dabei sein musste, um sich die Tierquälerei anzusehen. Shopping war für Paul eine unbekannte Stadt in China, die einem Zeug aufnötigte, das man nicht brauchte, um Leuten zu imponieren, die man gar nicht kannte. "Tjaaaaaa....", stellte Toivo fest, gewöhnliche Freizeitbeschäftigungen, sah man von Fernsehen oder Lesen ab, konnten Paul nicht locken. Etwas allerdings funktionierte tadellos... Unwillkürlich tanzten drei Grübchen in Toivos Gesicht, verschränkte er gemütlich die Hände unter dem dichten Haarschopf im Nacken. Mehr als ein Dutzend Mal hatte er zwar noch nicht das Vergnügen gehabt, doch wenn es sich ergab, dass sie gemeinsam nächtigten, dann schlief er so tief und selig, dass es schon beschämend war. Angekuschelt an einen persönlichen Heizstrahler, sanft nach Shampoo duftend, gar nicht streitsüchtig oder widerborstig, da in morpheuscher Umarmung. Und wenn er dann aufwachte, ganz sanft und gemütlich, dann konnte er sich an diesen niedlich geröteten Wangen erfreuen, an einer sympathisch zerzausten Lockenmähne. Ja, wenn Paul dann auch elysischen Gefilden entsagte, befleißigte er sich nicht bärbeißiger Unfreundlichkeit, sondern summte friedlich gestimmt vor sich hin, arrangierte ein rurales Frühstück und unternahm keine Anstalten, den lästigen Bettgenossen abzuschieben. Ja, gemeinsam in einem großen, kuscheligen, üppig ausgestatteten Bett passten sie ganz ohne Horizontalgymnastik herrlich zueinander. Das konnte man aber nicht unbedingt dem eigenen Vater anvertrauen... "...und wenn man jetzt...", sponn er den Gedanken weiter. Wenn es ihm gelänge, Paul zu überreden, sich zusammen zu tun? Ein wenig mehr gemeinsame Zeit hätten sie miteinander, ohne dass einer von ihnen seinem Lebensrhythmus entsagen musste. "Aber er wird mir nicht glauben", seufzte Toivo ratlos. Niemand würde ihm glauben, dass es ihm genügte, mit Paul zu kuscheln. Ihn zu küssen. Zu streicheln. In den Arm zu nehmen. Ganz einfach zärtlich zu sein. Sex hatte gar nichts damit zu tun, obwohl es ihm selbstredend gefiel, wie erotisch die leicht geröteten Wangen und das verwüstete Lockenhaupt wirkten, wenn Paul sich mit blitzenden, dunkelblauen Augen in eine Tirade stürzte. "Darum geht's mir aber gar nicht." Toivo rieb sich mit beiden Händen kräftig über das Gesicht. Nein, wenn er bei Paul war, dessen Stimme hörte, an ihn dachte, dann wollte er liebevoll sein, sanft, friedlich. Ohne einen Wettstreit um Dominanz, um Meinungsvorherrschaft, um Stärke. Bloß, wie sollte er Paul begreiflich machen, was er fühlte? Wenn ihm in diesen Situationen die Worte fehlten, -vom gemeingefährlichen "süß" mal abgesehen-, er nur durch Körpersprache ausdrücken konnte, wie viel ihm jede einzelne Sekunde bedeutete? Sein übermüdetes Gehirn gab schließlich nach, und er wurde mit passender Melodie in unruhigen Schlaf versetzt. ~+@+~ Willie Dixon »I just want to make love to you« (1954) Version von Etta James I don't want you to be no slave I don't want you to work all day I don't want you to be true I just want to make love to you I don't want you to wash my clothes I don't want you to keep my home I don't want your money too I just want to make love to you Well I can see by the way that you switch and walk And I can tell by the way that you baby talk And I know by the way that you treat your man I wanna love you baby, it's a cryin' shame I don't want you to bake my bread I don't want you to make my bed I don't want you cause I'm sad and blue I just want to make love to you ~+@+~ "Was soll das heißen, ob ich auch ehrenwerte Absichten habe?!" Pauls Stimme, rau vom ständigen, leider erfolglosen Cola-Konsum, überschlug sich vor Empörung. Woher hatten diese beiden grässlichen Gören überhaupt seine Telefonnummer?! "Wieso habt ihr meine Nummer?!", hakte er auch prompt nach, bohrte die Fingerkuppen grimmig in den Kunststoff der Hülle. "Toivo hat sein Handy unbewacht rumliegen lassen", echote es stereo in sein Ohr. Ganz munter und ungeniert, höchst kriminell für ein Paar 17-Jährige! "Unverschämt!" trompetete er enragiert und hustete krächzend, verwünschte die nutzlose Reinigungswirkung von Cola. Dass sie kein Fleisch zersetzen konnte, wusste er ja, aber wenigstens an dem Ondit über die Gebrauchsfähigkeit im Haushalt hätte etwas dran sein können! "Du hast die Frage noch nicht beantwortet, Paulchen", ermahnten ihn die Zwillinge vorwurfsvoll. "PAULCHEN?!" Paul schmetterte mit Verve die Eingangstür hinter sich zu, stand in eisiger Kälte unter den verblassenden Sternen eines frühen Februarmorgens und war im Begriff, fernmündlich zwei Sätze Ohren lang zu ziehen! Er holte tief Luft, doch da platzten unhöflich die doppelten Nervensägen in seine Sammlungspause hinein! "Weißt du", vertraute ihm das Duo an, "Mama ist ein bisschen sauer auf Toivo. Deinetwegen, weil er ihr nichts erzählt hat. Deshalb solltest du nett zu ihm sein, wirklich!" Paul schnaubte. Wer nahm eigentlich Rücksicht auf ihn?! Registrierte, dass da ein fleckiger Pelz auf seiner Zunge wuchs, für den er nun wohl auch noch einen Nassrasierer käuflich erwerben musste?! Er streckte sich, straffte sein Rückgrat und stellte die Schultern aus, jeder Zoll indignierte Würde. "Nun, wie dem auch sei, gehabt euch wohl, ihr Plagegeister", versetzte er kühl und unterbrach die Verbindung. Stellte das Mobiltelefon flink aus und entfernte mit grimmiger Befriedigung auch noch den Akku. Für alle Fälle. »Wenn ich nicht selbst Geschwister hätte, würde ich die beiden Ungeheuer für Wiedergänger aus der Hölle halten!«, knurrte er empört. Außerdem, wieso war es nun seine Schuld?! Dass ihm Toivos Mutter ständig den Bösen Blick zugedacht hatte, war ihm nicht entgangen, focht ihn aber auch nicht an. Konnte jeder schließlich aus der Wäsche gucken, wie er/sie wollte! Giftig funkeln konnte er ja auch! »Hat nur selten eine andere Wirkung, als sich Falten einzuhandeln.« Und so ein Käse, 'ehrenwerte Absichten'! »Die spinnen alle!« Wütend kramte er in den tiefen Taschen seines Parka nach den Handschuhen, rüttelte sich den Rucksack auf dem 'Buckel' zurecht. »Aus GENAU DIESEM GRUND halte ich mich von den Leuten fern!«, grollte er stumm, »faseln dämlich herum von irgendwelchen guten Absichten, obwohl JEDER weiß, dass die prompt in die Hölle führen!« Und grundsätzlich, das musste ja mal thematisiert werden: wer zum Geier glaubte noch ernsthaft an den Quatsch von ewiger Liebe/Treue/glücklich machen?! Als ob man mit metaphorischem oder tatsächlichem Fangeisen am Greifer der Verantwortung für das eigene Leben ledig wurde! »Bestenfalls kann man darauf hoffen, dass für die Zeitspanne die eigenen Charakterdefizite nicht noch stärker gefördert werden«, brodelte es kriegerisch in seinem Hinterkopf. Da entblödeten sich diese clownesken Klone mit telepathischer Gehirnverödung doch nicht, IHN aufzufordern, den zehn Jahre älteren, seit EWIGKEITEN erwachsenen Bruder zu betütteln?! "Mit MIR nicht!", verkündete Paul laut und felsenfest entschlossen. Drum prüfe, wer sich binde, was sich in der Verwandtschaft für Getier so finde! "Deshalb mag ich meine Wasserkumpel", brummte er und klappte die Kapuze über den wirren Schopf. "Sie quatschen mir nicht rein, wissen nicht alles besser, belästigen mich nicht mit ihrer bekloppten Sippschaft und gehen mir nicht auf den Keks. DAS nenne ich eine erfolgreiche Beziehung!" Abgesehen davon, dass sie rein biologisch gesehen früher die Extremitäten kieloben streckten als er. Für heute jedenfalls reichte es ihm, genug des mitmenschlichen Beziehungswahnsinns, dem er freiwillig und ohne Reue entsagt hatte! Jetzt würde er spornstreichs zum Bus marschieren, nach Hause fahren, einen Beutel Reißzwecken gegen die Zungenpest gurgeln, duschen und in sein gemütliches Bett kriechen! Dazu kam es jedoch nicht, denn als Paul sich gerade die frostbezuckerte und heimtückisch glatte Treppe heruntergehangelt hatte, drang Musik an sein Ohr. Nicht laut, jedoch zu dieser Uhrzeit eher ungewöhnlich. Auch der betriebseigene Parkplatz, den er stets überquerte als Abkürzung zur Bushaltestation, war nur spärlich belegt. Eine erbärmlich vertraut wirkende Klapperkiste zog seinen finsteren Blick auf sich. »Das schlägt ja wohl dem Fass den Boden aus! NACH dem Überlaufen!« Im Sturmschritt hielt Paul auf das traurige Gefährt zu, riss die Beifahrertür auf und fauchte heiser, "ich ARBEITE hier, verflixt!" Toivo, der den anfegenden Orkan durchaus registriert hatte und gerade "Gu-" produzierte, verschluckte sich an den übrigen Silben des freundlichen Morgengrußes. Er begriff nicht ganz, und das spiegelte seine Miene unmissverständlich wider. "Ausgerechnet solchen Kram?!" Anklagend deutete ein behandschuhter Finger auf das abgeschabte Radio, "hättest du wohl die Güte?!" Toivo starrte artig vom vorwurfsvollen Finger auf das Radio und grübelte fieberhaft. »Touch me«, The Doors Yeah!, come on, come on, come on, come on Now touch me, baby Can't you see that I am not afraid? What was that promise that you made? Why won't you tell me what she said? What was that promise that you made? Now, I'm gonna love you, till the heavens stop the rain I'm gonna love you Till the stars fall from the sky for you and I Come on, come on, come on, come on Now touch me, baby< "Oh", der verlorene Groschen fand sich, ganz ohne Wut, und fiel. Rasch drehte Toivo dem Radio den Saft ab und wandte sich Paul zu, suchte nach einer Entschuldigung, die nicht weitere Rauchwolken über dem aparten Lockenhaupt aufsteigen lassen würde. "Ich habe gar nicht darauf geachtet, weißt du", erklärte er und bemühte sich um ein entwaffnendes Lächeln. Irgendwie schon verrückt, dass Paul sich darüber empörte, was ein Lied implizierte, obwohl sie noch gar nicht in diesem Stadium waren! Die Tür schlug zu und Paul richtete sich mit missbilligendem Blick neben ihm ein, den Rucksack auf dem Schoß. "Du siehst fürchterlich aus", komplimentierte er unverbrämt Toivos etwas derangierte und übernächtigte Erscheinung. Der beließ es bei einem zerknitterten Grinsen. Die Wahrheit konnte man bestimmt beschönigen, nur hatten sie beide gerade keinen Sack zur Hand. Weniger als einen Moment später setzte sich ihre Konversation fort, erstaunlich flüssig für die Verhältnisse. "Wo ist dein Telefon?" Irritiert blinzelnd klopfte Toivo sich folgsam den Overall ab, produzierte dann endlich das gewünschte Gerät. Paul nahm es jedoch nicht in Empfang, sondern polterte krächzend, "deine beiden unerträglich nervtötenden Brüder haben mit krimineller Energie meine Nummer in DEINEM Telefon ausgespäht! Und mich heute Morgen mit der Botschaft beglückt, dass ich quasi daran Schuld trage, dass der Familiensegen schief hängt!" Herausfordernd funkelte er Toivo an, die Augenbrauen spitz vor Wut. "...ach herrje...", murmelte der entgeistert, denn hier spielte sich gerade ein Albtraum ab. SO hatte er sich diesen Morgen ganz sicher nicht vorgestellt! Bevor er jedoch endlich Gas geben und wortreich Beschwichtigungen und Entschuldigungen heraussprudeln konnte, donnerte Paul ungewohnt mitteilungsfreudig weiter. "Hast du die beiden Deppen nicht oft genug mit ihrem Dummschädel aneinander gekloppt, oder wie?! Ich erwarte, dass du IHRE Telefone einsackst und meine Nummer löschst, aber pronto!" Eine Fingerspitze hämmerte stakkato in Toivos Brust, der ungläubig an sich heruntersah. Dann hob er den Kopf wieder, blinzelte und antwortete trocken, "wer bist du, und was hast du mit Paul angestellt?" "Lenk hier nicht ab!", fauchte der enragiert, so ungewohnt lebendig, dass Toivos Zweifel nicht ganz unberechtigt waren. "Wer hat mich denn zu dieser Feier geschleift?! Wer ist denn dafür verantwortlich, dass mir jetzt der ganze Eierstock hinterher macht?! Die tun ja gerade so, als wollte ich dich abschleppen!" "Wolltest du nicht?" Das rutschte heraus, bevor Toivo sich beherrschen konnte, und genau in DEM Tonfall, der Paul zum Äußersten reizen musste. "Das ist NICHT komisch!", schnarrte der selbstredend giftig, "ich lasse mir nicht von meiner eigenen Familie das Leben versauen, da werde ich mir auch nicht von deiner Mischpoke auf der Nase herumtanzen lassen!" Nun funkelte auch Toivo, und er wusste es. Weil er es nicht leiden konnte, wenn man schlecht über seine Familie sprach. Er starrte in Pauls bitterböses Gesicht, gerötet durch den Zorn und ein wenig atemlos. Eigentlich hätte er jetzt mitstreiten müssen, die Eskalation beschleunigen, doch sein Sinn für skurrilen Humor meldete sich amüsiert. War es nicht einfach göttlich, dass ausgerechnet Paul sich dem Vorwurf ausgesetzt sah, IHN verführen zu wollen? Die Triebfeder zu sein für die Intensivierung ihrer Beziehung? Der Gedanke war zu köstlich, um ihm KEIN Kichern zu entlocken. Nicht mal mit vorgehaltener Hand ließ es sich unterdrücken. "Wie schön, dass DIR das Spaß macht!", knurrte Paul, durchaus abgekühlt. "Nun ja", Toivo grinste entwaffnend, "es entbehrt schon nicht einer gewissen Komik, dass du als Casanova eingeschätzt wirst." "Vollkommen lächerlich, das!", grummelte Paul und kreuzte die Arme vor der Brust oberhalb des nistenden Rucksacks. Bot Toivo ein marmornes Profil, Ausdruck seiner würdevollen Verärgerung. Der leckte sich über die Lippen, warf einen prüfenden Seitenblick auf Paul. "...hör mal", nahm er schließlich beherzt die Konversation wieder auf, "es tut mir leid, dass meine Brüder dich belästigt haben. Sie treiben gern Schabernack." Pauls Unterlippe klappte noch trotziger nach vorne, wollte wohl seine Nasenspitze besuchen. Toivo schüttelte angestrengt ein Schmunzeln ab und verlegte sich darauf, Paul aus der Reserve zu locken. Indem er ihn da kitzelte, wo der Widerspruchsgeist besonders borstig war. "Ich nehme an, du hast deine Geschwister ständig nach Strich und Faden vermöbelt? Sind bestimmt mustergültig geraten und handzahm." Eine Augenbraue zuckte. "Kann mir gar nicht vorstellen", neckte Toivo kess, "dass du so ein brutaler Macho bist." Da hatte er Paul am Haken, weil dem die Albernheiten der Jorgensens bis Oberkante Unterlippe standen. "ICH", betonte er eisig, "habe es nicht nötig, handgreiflich zu werden. Mein Charakter genügt vollauf!" "DAS hast du jetzt gesagt!", prustete Toivo übermütig, wartete gespannt auf die Retourkutsche. Paul tat ihm den Gefallen, wandte sich ihm zu, die dunkelblauen Augen furios funkelnd. "Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich über deine dusseligen Brüder ärgere, wenn du es genauso darauf anlegst, mich auf die Palme zu bringen!", fauchte er bissig. Den Kopf gegen die abgenutzte Kopfstütze gelehnt studierte Toivo Paul friedlich. Gerade jetzt war die Versuchung überstark, mit einer Fingerspitze über die dezent geröteten Wangen zu streicheln. Paul zögerte, musterte ihn argwöhnisch, vielleicht auch ein wenig ratlos. "Hat's dir die Sprache verschlagen?", erkundigte er sich nach einer langen Pause misstrauisch. "Ich will mich nicht streiten", antwortete ihm Toivo frank, "und außerdem ist es nicht wahr, dass meine Familie mit dir hadert." Er blendete sein Gebiss in Cinemascope auf und grinste, "meine Mutter ist auf MICH nicht gut zu sprechen." "Ach ja?!" Paul ließ sich nicht so leicht auf die Ersatzbank schieben, "wieso hat sie MICH dann ständig angeblitzt?! Nicht", er schnaubte arrogant, "dass es mich beeindrucken würde." »Tja«, dachte Toivo, »DAS habe ich mich auch gefragt.« Und nach zermürbenden Gedanken kurz vor dem Eindösen war ihm plötzlich die Erkenntnis gekommen: konnte es sein, dass seine Mutter so scharfsichtig war und schon begriffen hatte, wie ernst die Lage stand? "Überhaupt", Paul schien die Pause zu bedeutungsschwanger, "das ist nicht MEINE Schuld! Ich habe nichts angestellt!" "Stimmt", pflichtete ihm Toivo sanftmütig bei, "ich habe mich sehr gefreut, dass an meinem Geburtstag alle meine Lieben mit mir feiern. Hat's dir denn gar nicht gefallen?" Trügerischer Grund, das merkte Paul natürlich, deshalb knurrte er, "klar, es war nett! Hat aber nen ekelhaften Nachgeschmack." Toivo lupfte eine Augenbraue. "Wie das? Ich dachte, du mochtest den Dessertwein besonders?" Die kleine Spitze konnte er sich nicht verkneifen. "Ja!", gab Paul unumwunden zu, "un jedsch schieh diä mbeinbe Schunge an!" Artig begutachtete Toivo das unversehens ausgestreckte Leckbrett. Es wurde eingerollt, und Paul brummte, "muss ich wahrscheinlich abbeizen! Hab den ganzen Tag Cola gesüffelt, ohne Erfolg!" "Hmm", Toivo massierte sich mit Kennerblick das Kinn, "da wäre wohl ein scharfes Bonbon besser." "Hast du eins?" Paul schmatzte prüfend und verzog das Gesicht, "wirklich, es ist ein Notfall!" Eifrig kramte Toivo durch sämtliche Taschen, doch nach und nach ließ sein zuversichtliches Strahlen nach. "...also", zeigte er ein unglückliches Grinsen, "sieht so aus, als hätte ich das letzte Bonbon...", und damit tippte er auf seine Backe. Pauls Augenbraue wurde spitz. "Noch so ein Streich?" Seufzend schüttelte Toivo den Kopf. Traute ihm Paul denn gar nicht? "Bitte, ich gebe es dir!", bot er eilig an, "Paul, ich bin wirklich nicht auf Streit aus!" Impulsiv streckte er die Hand aus, legte sie auf dessen Schulter. "Schön", Paul grollte, "wo wir gerade von Absichten sprechen: wieso fragt DICH keiner, wie ehrenwert die sind, hm?!" Toivo seufzte betont tief. "Du hast mich ja noch nicht mit DEINER Familie bekannt gemacht", schnurrte er herausfordernd. "Piept's unter deinem Pony?!", entfuhr Paul ebenso entgeistert wie spontan, was Toivo verriet, dass sein unbekannter, igelstachliger, argwöhnischer Freund nicht immer so verschlossen und abweisend gewesen sein musste. "Warum sollte ich dich meinen Eltern vorstellen?! Wir gehen uns seit Jahren erfolgreich aus dem Weg!" Und das offenkundig ohne eine Spur des Bedauerns. "Darf ich DIR dann wenigstens versichern, dass meine Absichten ehrenhaft sind?" Toivo lächelte ernsthaft, klaubte ungeniert eine Hand vom Rucksack-Gipfel und nahm sie zwischen seine eigenen. "Sicher doch", knurrte Paul und zerrte an seiner Hand, "und wenn du mir gleich noch erzählst, sie seien auch höchst platonisch, dann hat Pinocchio Konkurrenz zum Holzwurmjagen!" Mit gerunzelter Stirn hielt Toivo dem Zug stand, die gekaperte Hand nicht so einfach ihrem Eigentümer zurück zu erstatten, "DAS habe ich nie behauptet." Nein, in dieser Hinsicht war sein Gewissen wirklich rein. "Ich-weiß-wirklich-nicht", angestrengt, die Zunge in einen Mundwinkel geklemmt und den störenden Rucksack vom Schoß gekollert stemmte Paul beide Füße gegen den Fahrersitz, respektive das klapprige Gestänge, "warum-du-mir-nachsteigst!" Er zog und zerrte schnaufend, aber Toivo maß nicht nur 1,90m, er war auch dank seiner Beschäftigung kräftig genug, um diesem 'Zugzwang' nicht nachzugeben. Hätte er es getan, wäre Paul wohl mit Wucht gegen die Beifahrertür geknallt. "Weil ich dich liebe", antwortete er also leise und schlicht. "DAS-geht-vorbei", beschied Paul zischend, zappelte mit wachsender Verzweiflung, auch wenn der Sitz erbärmlich quietschte. Bloß: der Beifahrersitz war in noch schlechterem Zustand und musste gleichzeitig ausbalanciert werden, um nicht aus den Schienen zu springen! "Ist-wie-ein-Virus: erst Fieber", er keuchte mit hochrotem Kopf, "dann Schüttelfrost und endlich Pleite." "Tja", Toivo grinste ungeniert über Pauls Anstrengungen, "bei meinen Eltern hält der Virus sich schon seit fast dreißig Jahren." "Ich-hab-Erkältungsmittel-zu-Hause!", drohte Paul unter zusammengebissenen Zähnen, "ich-kurier-dich-schon!" Toivo runzelte die Stirn, zog die Nase kraus, als müsse er ernsthaft diese Offerte erwägen, schüttelte dann höflich-bedauernd den Kopf. "Entschuldige, Paul, das ist ein reizvolles Angebot, wirklich, aber ich muss ablehnen." "GRRRRMBLLLL!" Paul verdrehte nun seinen Arm, hieb dann im letzten Aufbäumen gegen die Niederlage mit der freien Faust nach Toivo. Der ahnte die Aktion natürlich, weil Paul definitiv kein geübter Schläger war, fing auch das zweite Handgelenk ab und fokussierte sich auf die dunkelblauen Augen, die vor Wut tränten. "Ich liebe dich", hauchte er sanft, "und das geht nicht vorbei." Denn selbst jetzt, wo sie sich eigentlich stritten, furchtbar böse aufeinander sein sollten, wusste er, dass sie die jeweils andere Position verstanden. Und es recht dusselig fanden, aus einer gewissen Distanz heraus, sich deshalb aufzuregen. Paul knurrte und zischte schließlich, "dafür bin ICH nicht verantwortlich! Und wie kannst du so sicher sein, dass das nicht aufhört?! Kennst du die Scheidungsraten?!" "Oh ja", Toivo strahlte unbeeindruckt, "und WIR sind noch nicht mal verheiratet! Aber deine Bereitschaft dazu macht mich ganz...", er senkte die Stimme in Basslage, "wuschig." "Davon war nicht die Rede!" Paul brummte und stellte die nutzlosen Kampfhandlungen ein, "ich will grundsätzlich gar niemanden heiraten!" Nach einem herausfordernden Blick in Toivos schwarze Augen fauchte er, "darf ich jetzt bitte wieder meine Hände haben? Ich brauche sie noch!" Lächelnd platzierte Toivo auf jede geballte Faust einen Kuss, bevor er sie freigab. "Wenn es bloß Lust wäre", informierte er Paul nachdenklich, "dann hättest du mit dem Virus Recht. Aber", er lehnte sich wieder bequem gegen die Kopfstütze, studierte Paul mit einem versonnenen Zwinkern, "ich liebe dich, so wie du da", er tippte auf Pauls linke Brusthälfte, "drinnen bist. Gerade, wenn du dich am Wenigsten selbst ausstehen kannst. Und wenn wir uns in die Haare bekommen." Pauls Kinnlade stattete den Kniekehlen einen Kurzbesuch ab, bevor er sich abrupt in seinem Sessel zurechtsetzte, Toivo das Profil zukehrte und die Arme vor der Brust ablehnend kreuzte. "Das ist total krank. Sadomasochistisch. Wenn ich mich nicht mag, warum solltest du mich dann mögen?! Absoluter Käse!" Toivo kicherte unterdrückt, denn Paul sah mal wieder zum Anbeißen aus: verwirrt, misstrauisch, ratlos, vollkommen zerrupft und rotwangig. "Weil du liebenswert bist", ballerte er Paul die nackte Wahrheit ins Gesicht, ergänzte schonungslos, "außerdem findest du dich doch selbst gar nicht so übel. Da kannst du es mir doch nicht verdenken, dass ich deine Meinung teile, oder? DAS", schnaubte er gespielt hoffärtig, "wäre eine Beleidigung!" Paul warf ihm einen rätselhaften Seitenblick zu, sparte aber an jedem Kommentar. »Herrje«, dachte Toivo mit plötzlicher Gewissheit, »Mama hat den richtigen Riecher!« Um Paul für sich zu gewinnen, würde er wirklich alle Register ziehen. Und dachte dabei zwar ans Bett, aber nicht im Hinblick auf körperliche Extremtätigkeiten in kurzer Zeitspanne. "Warum fahren wir nicht?!", blaffte Paul wie eine Bulldogge, "ist dieses Wrack etwa hier gestrandet?!" Ohne Toivo anzusehen, schnauzte er die arg geschundene Windschutzscheibe an, "bist du nicht hier, um mich heimzufahren?! Drücken mich diese widerwärtigen Sprungfedern etwa umsonst in den Hintern?!" "Aber nein, selbstverständlich, sofort!", beeilte sich Toivo, dienstbar zu sein und startete den ächzenden Motor. In einem Film hätte es als optische Garnitur wahrscheinlich schwarze Rußwolken gequalmt. Er verzichtete darauf, das Radio anzuwerfen und konzentrierte sich auf den spärlichen Verkehr. Paul, nun angeseilt, aber immer noch in Verteidigungspose mit gekreuzten Armen, guckte stur auf das Asphaltband vor ihnen. »Eingeschnappt wie ne Falltür«, konstatierte Toivo amüsiert. Denn ihm entging nicht, dass es hinter der scheinbar abweisenden Miene arbeitete. Dazu hatte er Paul viel zu oft betrachtet. Es machte ihm Mut, dass der nicht einfach ausgestiegen, ihre Freundschaft aufgekündigt und gegangen war. Jedenfalls tollkühn genug, ein Anliegen zur Sprache zu bringen. "Paul", hob er in geschäftigem Tonfall an, "sag mal, wollen wir nicht zusammenziehen?" "Ausgeschlossen", konterte Paul wie aus der Pistole geschossen. Toivo baute reflexartig einen Schlenker ein, fing sich aber wieder. Ein Brett vor die Stirn hätte nicht mehr Effekt auslösen können! "...warum nicht?" Klang seine Stimme wirklich piepsig und gequetscht? "Ganz einfach", Paul klappte die Finger aus und zählte ab, "erstens, deine Bude ist viel zu klein. Zweitens ein Saustall, wobei ich das Gebäude meine." Aufrichtig, beleidigend, aber fair in den Schuldzuweisungen. "Drittens mache ich nie Frühjahrsputz vor Ostern. Viertens würde das jede Menge Staub aufwirbeln, und ich habe gerade erst das Aquarium gereinigt. Fünftens..." Toivo blinkte, fuhr unbehelligt rechts ran und würgte den Motor gründlich ab. Aufgekratzt drehte er sich zu Paul um, der diesem Manöver mit offenem Mund gefolgt war. "Heißt das", Toivo musste sich räuspern, "nach Ostern und wenn ich dir beim Frühjahrsputz helfe, ist es in Ordnung?!" Vor Begeisterung überstrahlte er sogar die Morgenröte an diesem eisigen Tag. Paul klappte den Mund zu... öffnete ihn wieder...schnappte zu... "Bitte", flüsterte Toivo und beugte sich zu ihm, legte behutsam eine Hand auf die sich rötende Wange, "bitte, Paul...sag ja." In den dunkelblauen Augen konnte er ganze emotionale Wetterlagen in Zeitraffer vorbeiziehen sehen. Angst. Verwirrung. Mut. Unsicherheit. Misstrauen. Hoffnung. Selbstzweifel. Toivo entledigte sich ohne Hinsehen des lästigen Gurtes und küsste Paul schmetterlingszart auf die zuckenden Lippen. Beinahe war er versucht, Paul mit den Vorteilen zu bestürmen, sie herunterzurasseln, bis der unter dem Gewicht der Argumente ermattet nachgab. Doch das wäre eine nutzlose Taktik. Auf Pauls Verstand konnte er sich verlassen, der funktionierte tadellos und regierte, -leider!-, ständig über Herz und Magengrube. Er tupfte deshalb Kuss um Kuss auf die bebenden Lippen, streichelte über die Wange. »Vertrau mir«, flehte er stumm in die dunkelblauen Augen. Es war nur eine Sekunde, doch Toivo war sich sicher, dass er den Moment der Entscheidung erkannt hatte. Wie Pauls Augen spiegelklar wurden. Dann senkten sich die Lider entschlossen, zwei kräftige Hände packten ihn an den Ohren wie einen ungezogenen Lausejungen und ein heftiger Kampf um das Bonbon entbrannte. Er wogte hin und her, produzierte Speichel und kehlige Laute, von Triumph bis zum Fauchen der Empörung über den erneuten 'Ballwechsel'. Großzügig gab Toivo endlich das Bonbon frei, um die abzuledernde Zunge seines Freundes zu behandeln. Der sank in den Beifahrersitz, die Lippen rot, feuchte Spuren im Mundwinkel und übers Kinn verteilt, beobachtete das Aufsteigen der Morgensonne, die sie mit rotem Feuer überzog. Toivo schob seine gelenkigen Finger zwischen Pauls, drückte die Hand sanft, friedfertig. »Gut«, gestand er sich selbst ein, »Lust ist definitiv auch dabei. Aber quasi 99% meiner Absichten sind ehrenhaft und jugendfrei. Wenn man es in Minuten umrechnete. Mutmaßlich.« Schweigend verfolgten sie den Sonnenaufgang, Hand in Hand, aneinander gerückt, so weit es das 'Wrack' zuließ. Dann beugte sich Toivo herunter, küsste Paul sanft auf die Wange und erklärte, er werde ihn nun wie versprochen zu Hause absetzen. Der nickte lediglich, noch im Zauber des Augenblicks eingewoben. Toivo musste ihn sogar eigenhändig angurten! Umsichtig lenkte er seinen Dienstwagen zu Pauls Wohnblock, würgte routiniert den Motor ab und wandte sich zu ihm um. Paul lächelte leicht, ein wenig verlegen, mit einen Anteil Trotz. "Wir werden Regeln aufstellen", verkündet er wichtig, tippte Toivo auf die Nasenspitze, "Ordnung muss sein!" "Versprochen", Toivo grinste begeistert. Paul war wirklich keiner, der hasenfüßig das Panier ergriff, sondern zu seiner Entscheidung stand. "Und jetzt", Paul stemmte sich gegen die klemmende Beifahrertür, stieß sie endlich knackend in die Landschaft, "werde ich mir den Pelz von der Zunge rasieren. Und dann schlafen. Also", er fischte den Rucksack heraus, "bevor du den Lümmeln nicht meine Nummer abgeluchst hast, bleibt mein Handy aus!" Der Auftrag war eindeutig, und Toivo salutierte zackig. Nicht auszudenken, wenn seine frechen Halbbrüder sich wieder einmischten! Er würde ihnen also die Leviten lesen, und zwar auf Finnisch, Schwedisch, Englisch und Deutsch! Wobei sie vermutlich nur in den beiden letztgenannten Idiomen überhaupt etwas begriffen! "Dann viel Spaß bei der Arbeit", Paul richtete sich auf, und Toivo schoss förmlich über den Beifahrersitz hinweg, "keinen Kuss für mich?" "Noch einen?!" Pauls Augenbrauen sträubten sich tadelnd, "willst du dich etwa abhärten?!" Toivo plinkerte mit den Wimpern und kopierte einen feuchten Hundeblick. "Würg", buchstabierte Paul für ihn zuvorkommend, tätschelte ihm dann nachlässig den schwarzen Schopf, "nun schleich dich schon, bevor dir einer mit der Verschrottungsprämie droht." "Du bist wirklich erbarmungslos", grinste Toivo, nahm die Absage aber nicht krumm. Schließlich hatte er vor einigen Augenblicken erst gelernt, dass Paul ganz sicher mehr mit einem Eisberg gemein hatte als die gelegentlich frostige Ausstrahlung: auf die verborgenen Parts kam es an! Er startete gerade röhrend den Motor, als Paul noch mal zurück kam, ans Fenster klopfte. Toivo kurbelte emsig (wer benötigte schon elektrische Fensterheber?!) und lächelte erwartungsfroh. "Wer", Paul blickte grimmig, "ist eigentlich dieser Shah Rukh Khan?!" ~+@+~ ENDE ~+@+~ Vielen Dank fürs Lesen! kimera