Titel: Kosmische Positive Energie Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Ereignis: Valentinstag 2016 Erstellt: 12.02.2016 Disclaimer: alles Meins! +*~ +*~ +*~ +*~ +*~ +*~ +*~ +*~ +*~ +*~ +*~ +*~ +*~ +*~ +*~ +*~ Kosmische Positive Energie Kapitel 1 - Schlagkräftiger Auftakt! Frau Conradi begann wie üblich, die Häupter ihrer Lieben zu zählen. Ein routiniertes Ritual, das sie ganz analog mit einem Steckkartensystem absolvierte: Namensschildchen, farbige Sequenzen, Stufen und Klassen. Die Personaldecke war stets dünn, jeder Ausfall ein erheblicher organisatorischer Aufwand unter den Argusaugen überbesorgter, anspruchsvoller Eltern, strapazierter und im Durchschnitt nicht mehr jugendlicher Lehrkräfte sowie des Ministeriums zwecks Stundentafel-Garantie und politischen Sendungsbewusstseins. Frau Conradi sah sich selbst jedoch als Frontschwein in einem Grabenkampf für sinnvolle (aka lebensertüchtigende) Bildung unter erschwerten Umständen allgemeiner wie besonderer Natur. Sie neigte nicht dazu, sich unterkriegen zu lassen. Charakterbildung erforderte nach ihrem Selbstverständnis das Vorleben eigener Überzeugungen. Man konnte sie nach Jahrzehnten im Bildungskrieg kaum noch beeindrucken. Sie nippte lediglich entschlossen an einem frischen Kräutertee, wenn sie ihre Rumpfbesetzung durchzählte und Lücken füllte. Das gehörte zu den allgemeinen Umständen. Zudem hatte sie einen kreativen Umgang mit Anweisungen und Vorgaben entwickelt, der sich bei jeder der regelmäßigen, oft zweckfreien Reorganisationen des Schulsystems samt Lehrinhalten bewährte. Zu den besonderen Herausforderungen hingegen zählte die bauliche Situation des Kopernikus-Gymnasiums. Gegründet wurde es als konfessionsfreie Knaben-Schule "Am Rosenweg" um die Jahrhundertwende in einem ehemaligen, großzügigen Bürgerhaus. Die frühen Fünfziger brachten einen Leichtbauquerriegel für die neue Mittelstufe (unerfreulich schlechter Bauqualität) ein. Es folgte der Zukauf des Geländes einer ehemaligen Glaserei, auf dem dank einer großzügigen Spende ein solider, modularer Schulbau mit Fachunterrichtsräumen und einer Kantine entstand. In den Achtzigern schloss sich der Abriss des alten Querriegels an (manche sprachen auch von einem mühelosen Einsturz), um für die Mittelstufen-Klassen eine großzügige, erweiterungsfähige "Raumlandschaft" zu errichten. Erstaunlicherweise, Frau Conradi hatte als Direktorin erhebliche Erfahrungswerte betreffs öffentlicher Bauten vorzuweisen, stellte sich das neue Gebäude TATSÄCHLICH als praxisorientiert konzipiert, recht pflegeleicht und modernisierbar (Verkabelungen, neue Brandschutzvorschriften, barrierefreies Bewegen) heraus. Ein wahres Wunder! Doch kein Jahrzehnt ohne Bautätigkeit. Nun ging es dem alten Bürgerhaus an Klinker, Backsteine und uralte Versorgungssysteme. Die drei Oberstufenjahrgänge befanden sich deshalb seit den Sommerferien nicht IM Altbau. Sie behausten dreistöckige Schulcontainer (außerhalb des Fachunterrichts), je einen für die fünfzügigen Stufen. Im Altbau wurde unterdessen gewerkelt, quasi bis aufs Skelett entkernt. Das Lehrpersonal, geteilt in zwei Gruppen, logierte entweder recht amön im Neubau der Mittelstufe oder quasi aus dem Karton im Altbau, geisterte zwischen Bauvorhängen, abgeklebten Sperrbereichen und Arbeitsgruben umher. Man lebte aus dem Trolley, beschränkte sich aufs Wesentliche. Frau Conradi hielt das durchaus für eine nützliche Erfahrung. Sie nahm sich aus dem permanenten "Wanderzirkus" nicht aus, bezog mit ihrem impromptu-Büro diverse Räume, sogar mal das Treppenhaus. "So weit, so gut." Stellte sie fest, erhob sich, warf durch die vorgehängten Schutznetze einen Blick hinüber zu den gestapelten Containern. Auf der Lauffläche davor hatte man das Abstellen von Baufahrzeugen für die Woche untersagt. Die Kantine der Oberstufe sollte in dieser Woche hinsichtlich der Versorgungsstränge erneuert werden. Da das Leihunternehmen der Schulcontainer den Verzehr von Speisen und Getränken in ihnen ausschloss, hatte man sich über den Schulträgerverein ein Festzelt organisiert. So verschaffte sich die Oberstufe für die Woche auf Selbstversorgungsbasis in Schichten auf Bierzeltgarnituren eine erlebnisreiche "Camp-Erfahrung". Passenderweise klebte unautorisiert "Volkxküche" über dem Eingang. Frau Conradi rechnete nicht mit "revolutionären", kulinarischen Umtrieben. Man musste guter Hoffnung sein, dass der Baufortschritt zum Ende der Woche mit den Planungen konform ging. Nur in dieser Woche reduzierte sich die Schar um eine gesamte Stufe. Am Freitagnachmittag war bereits ein Teil der ersten Oberstufe zur Abschlussfahrt aufgebrochen, die bis zum kommenden Sonntag währen sollte. Der Terminus "Abschlussfahrt" nahm sich in diesem Zusammenhang eher irreführend aus, da man noch zwei Jahre zum Abschluss benötigte. Die Prüfungsdichte und die zahlreichen Termine in der dritten Oberstufe hatten jedoch schon vor einigen Jahren zum Beschluss geführt, zu Anfang des zweiten Halbjahres der ersten Oberstufe die Fahrten vorzunehmen. Man kannte sich schon ein wenig, konnte sich noch miteinander arrangieren. Es blieb weiterhin etwas Zeit, um eventuelle Lerndefizite energisch anzugehen. "Nun denn!" Frau Conradi warf einen Blick in ihre Aktenmappe. Bei einer Schar von aktuell 1.236 Häuptern konnte sie nicht alle gut kennen. Sie suchte sich in besonderen Fällen die entsprechenden Akten heraus (fortschrittlich digital), durchkämmte anschließend ihre privaten Notizen. Die vier speziellen Kandidaten füllten eine ganze Seite in altmodischen Steno-Kürzeln. SIE waren ein weiterer, besonderer Umstand in dieser neuen Woche. +*~ +*~ Alban packte seinen praktischen, aus ausrangierten LKW-Planen hergestellten Sack etwas fester, orientierte sich mühsam an eingestäubten Hinweisschildern aus bunter Pappe. Er hatte den Altbau bisher nur betreten, um im Souterrain die Kantine aufzusuchen. Vor der Oberstufe hier hatte sich seine Schulkarriere in einer freien, pädagogischen Einrichtung abgespielt, die ein gänzlich anderes Konzept verfolgte. Dort lebte man nicht, um zu lernen ("auf Kurzzeit angelegtes Bulimie-Pauken"), sondern lernte, um zu leben. Theoretisch zumindest. Vom Kulturschock des Wechsels hatte er sich noch nicht erholt. Die letzten Monate trugen nicht gerade zu einer zuversichtlichen Perspektive bei. "Ah, noch ein Delinquent! Nur zu, tritt näher, der Arrest wird in Kürze beginnen!" Rief ihn eine betont joviale Stimme an. Alban lächelte zögerlich, stieg über abgeklebte Pappbahnen mit Tetrapackmuster, wischte vorsichtig eine durchscheinende Staubschutzfolie beiseite. Auf einem sehr altmodisch wirkenden, geschwungenen Bänkchen mit Verzierung und altersdunklem, von zahlreichen Hosenböden poliertem Holz saßen zwei Jugendliche. "Guten Morgen." Versuchte Alban es höflich, während er sich bemühte, die beiden Schüler einzuordnen. "Sogar ein wunderschöner Morgen!" Pflichtete ihm der sehr schmale Vorredner beschwingt bei. "Was selbstredend keinen Unterschied machen wird in Anbetracht der Tatsache, dass wir alle zum Teufel gehen werden! Alle Herrlichkeit findet ihr Ende, so ist das nun mal!" Alban blinzelte nervös, tappte in seinen Kunststoff-Clogs beunruhigt auf der Stelle. "Oh, Manieren, Manieren!" Ermahnte sich sein Gegenüber mit theatralischem Gebaren. "Verzeihung, die Honneurs stehen ja noch aus! Zu meiner Linken, Frieder, Mathe-Geschichte, berühmt durch seine Hand-Augen-Koordination!" Frieder, ein eher kompakt gebauter Jugendlicher mit wirrem Lockenschopf, einer Harry Potter-Gedächtnisbrille und einem verwaschenen Parka über ebensolchen Jeans, errötete heftig, blickte auf seinen Schoß, wo sich seine Hände ineinander verkrampften. "Zu meiner Rechten, Alban, besser bekannt als Öko-Terrorist, Umwelt-Faschist, Ernährungs-Anarcho und Moralischer Imperativ!" Nach einem Moment Fassungslosigkeit erbleichte Alban, drückte seinen praktischen Transportsack noch enger an den Leib. Ihm schnürte sich die Kehle zu, obwohl er gegen diese Vorstellung lautstark Protest erheben sollte. "Ah, nur keine falsche Bescheidenheit! Ehre, wem Ehre gebührt!" Mit der raumgreifenden Gestik eines Conferenciers wurde er förmlich herbeizitiert. "Es soll keineswegs verschwiegen werden, welche Expertise du zur Klassenfahrt von Englisch-Bio bewiesen hast!" Alban presste die Lippen aufeinander. Er war kein offensiver Mensch, neigte ganz sicher nicht zu Gewaltausbrüchen, musste es sich gar nicht erst verbieten, anderen seine Auffassung aufzuzwingen. "Las sich übrigens sehr flüssig!" Graue Augen ohne Einschlüsse fixierten ihn. "CO2-Bilanz des Flugs nach London, sehr akribisch kalkuliert! Besonders gefallen haben mir ja persönlich die Abschnitte, wo du die Fremdkontakte anhand des Veranstaltungsprogramms auswertest und ihren geringen Einfluss auf die Möglichkeiten zu Sprachvertiefung ausführst!" Man neigte sich vertraulich-demonstrativ vor. "Nicht zu vergessen der Alternativvorschlag zu einem Sprachcamp in einer Jugendherberge gleich um die Ecke. Hat mir sehr imponiert, chapeau!" Alban registrierte die verloren-verlegenen Blicke von Frieder, starrte auf seine Clogs. Es verhielt sich ja nicht so, dass er grundsätzlich gegen Flüge war oder anderen Ausflüge missgönnte! Wenn man aufgefordert wurde, Vorschläge für die Abschlussfahrt abzuliefern und man überzeugt war, dass es dem Klima zuträglicher wäre, auf unnötige Flugbewegungen (und den Verbrauch fossiler Energieträger) zu verzichten, warum damit hinter dem Berg halten? "Mit Frieder hier wirst du dich jedenfalls blendend verstehen!" Eine abgesackte Schulter des Bankdrückers wurde geklopft. "Er fliegt nicht nach Madrid, um dort die Feinheiten von Statik und Raumvolumen sehenswerter Baudenkmäler zu goutieren." "Tatsächlich?" Alban suchte aufgrund unerfreulicher Erfahrungen zögerlich den Blick hinter der Brille. Frieder seufzte. Die runden Schultern sackten noch tiefer, bevor er am Steg das Nasenfahrrad nördlicher justierte. "Es ist wegen der Versicherung." Erläuterte er leise. Das Unverständnis musste Alban vom Gesicht abzulesen sein. Der muntere Dritte mischte aufgekratzt mit. "'Epilepy, aber happy!' gilt nicht für die Reiseunfallversicherung unseres geschätzten Schulträgers. Da heißt es gnadenlos 'draußen bleiben'." Es bedeutete gar keinen Unterschied, dass Frieder seit Jahren erfolgreich medikamentös eingestellt war, Anfälle vermeiden konnte. "DU bist hier, weil?" Alban straffte sich. Der aufgedrehte Tonfall ob ihrer unglücklichen Situation ärgerte ihn doch ein wenig. Soweit sein friedfertiges Naturell dies gestattete. "Oh, ich boykottiere weder die Bahn, noch hänge ich den hehren, sehr lobenswerten Zielen nach, die dich zum erklärten Tugend-Tyrannen machen! Flora und Fauna, Weltklima und persönliches Karma sind nicht ausschlaggebend, ohnehin alles sinn- und zweckloses Streben im Angesicht der vollständigen Zerstörung! Nein, ich bin hier als Teil einer Sanktion zwecks zukünftiger Prävention ungebührlichen Verhaltens!" Schnurrte hochgeschwind und amüsiert um Albans Ohren, der Mühe hatte, die transportierten Unterstellungen, Gehässigkeiten und Andeutungen zu sortieren. "Nicolai beehrt uns alle in dieser Woche, da er es für eine weise Eingebung hielt, anstelle des Films über die Kernfusion einen pornographischen Kurzfilm im Physikunterricht vorzuführen." Frau Conradi trat entschlossen hinzu. Der sehr schmale Nicolai verneigte sich tatsächlich knapp. "Sehr geehrte Frau Rektorin, in gewissem Sinne HABE ich das Fachthema, nämlich die Verschmelzung unter Erzeugung gewisser Hitzegrade durchaus getroffen. Wenngleich viel kurzweiliger und, das möchte ich doch betonen, unter großem Interesse und Begeisterung der Anwesenden." Frau Conradi schenkte Nicolai einen sehr langen Blick. Er lächelte zurück, ein wenig entrückt wirkend, in seiner Körpersprache jedoch kontrolliert. "Sie werden in dieser Woche ausreichend Gelegenheit haben, sich über die Konsequenzen Ihres Tuns Gedanken zu machen." Versetzte sie schließlich, wandte sich halb herum. "Da wir vollzählig sind, werde ich Sie zur ehemaligen Lehrbibliothek bringen. Folgen Sie mir bitte. Achten Sie auf die Hindernisse." Während Nicolai eine schmale Umhängetasche aufsammelte, sie quer über seinen schweren Kapuzenmantel hängte, schloss Alban sich Frieder eilig an, der einen gewaltigen Rucksack apportierte. Auf keinen Fall wollte er in Höhe des vierten Ankömmlings laufen, der sich lautlos, stumm und grimmig wie Gevatter Tod zu ihnen gesellt hatte. +*~ +*~ Für Frau Conradi stellte es keine neue Erfahrung dar, dass hin und wieder Jugendliche nicht an den Schulfahrten teilnahmen. Bei finanziellen Engpässen sprang üblicherweise der Schulverein in die Bresche. Gewöhnlich waren entweder ein Ausschluss aus disziplinarischen Gründen, eine akute Erkrankung oder Überzeugungen diverser Couleur ursächlich für den Verzicht. Ein Fernbleiben vom Unterricht schloss sich, sah man von akuten Gesundheitsbeeinträchtigungen ab, selbstredend aus, auch wenn das schulpflichtige Alter überschritten wurde. Es hieß also, einen Rahmen zu gestalten und organisatorische Vorkehrungen zu treffen. Da es keinesfalls möglich war, die vier Kandidaten für das "Heimat-Schulcamp" in einem Schulcontainer ohne Aufsicht sich selbst zu überlassen, hatte sie entschieden, die noch nicht vom stetigen Umzugstreiben und der wandernden Baustelle betroffenen ehemaligen Räumlichkeiten der alten Lehrbibliothek als Aufenthaltsort vorzusehen. Es gab Tische und Sitzgelegenheiten, dazu Lesestoff und Tageslichteinfall durch Fenster. Die sanitären (wenn auch sehr altertümlichen) Anlagen konnten in direkter Nachbarschaft genutzt werden. Im kleinen Vorraum bot sich die Möglichkeit, die Mittagspause zu verbringen. Was die Regeln betraf, schritt sie zur Verkündung, nachdem sie mit einem altmodischen Bartschlüssel die Tür zur Lehrbibliothek geöffnet hatte. "Meine Herren, hier werden Sie sich bitte in der Woche während der üblichen Unterrichtszeiten aufhalten. Sie können die vorhandene Lektüre nutzen, um ein Projekt Ihrer Wahl abzuwickeln. Betrachten Sie dies als Möglichkeit, eine besondere Erwähnung im Abschlusszeugnis zu erhalten. Die Toilette befindet sich gleich gegenüber. Die Wasserversorgung ist auch während der Bauarbeiten sichergestellt. In der Lehrbibliothek gilt aus hygienischen Gründen und weil wir keine Reinigungskräfte auf der Baustelle binden können, ein absolutes Verzehrverbot. Ich werde daher für die Mittagspause den Raum abschließen. Sie können sich hier im Vorraum aufhalten. Ich empfehle Ihnen, nicht durch das Haus zu wandern, da die Bauarbeiten fortgeführt werden." Frau Conradi blickte in die Runde der Jugendlichen, um Nachfragen, Widerspruch oder vermeintlich amüsante Bemerkungen aufzufangen. Nicht einmal Nicolai ließ sich zu einem Kommentar hinreißen. "Ach ja, selbstverständlich können Sie mich im Notfall kontaktieren." Frau Conradi zückte das Dienst-Handy. "Wenn Sie sich die Nummer eintragen wollen...?" Niemand kramte nach einem Mobiltelefon, was Nicolai veranlasste, in seinem ausschweifend-theatralischen Gebaren die steife Situation zu klären. "Das ist überaus aufmerksam von Ihnen, verehrte Frau Rektorin! Allerdings mangelt es uns allen an diesem prachtvollen Wunderwerk der Totalüberwachung! Diese Geißel der Menschheit geht uns ab, da Alban zweifellos auf Elektrosmog, Ausplünderung Seltener Erden unter menschenverachtenden Umständen in Afrika und klimaschädigende Herstellungsverfahren verzichten möchte, während Frieder dank seiner legendären Hand-Augen-Koordination auf dieses Folterinstrument keinen Wert legt. Unseren Gevatter Grimm hier, Sasha, will niemand kontaktieren, und meine Wenigkeit möchte keinesfalls überall und ständig erreicht werden können. So denn, ohne Bedauern, vielen Dank und unsere Empfehlung!" Damit verneigte er sich tief, einen imaginären Hut schwenkend, erstaunlich unbeeinträchtigt durch die Umhängetasche und den schweren Kapuzenmantel. Frau Conradi zuckte nicht, zwinkerte nicht einmal. "Dann begeben Sie sich an die Arbeit. Und, Nicolai, mäßigen Sie sich. Im eigenen Interesse." Sie schenkte ihm einen ernsten Blick. Nicolai schmunzelte. "Was auch all unser Sehnen, Streben, größter Eifer, hehres Begehren, am Ende nichts weiter als Schall und Rauch! Vergebens stets, ganz ohne Wert." "Davor liegen jedoch Ihre Versetzung und der Schulabschluss." Erdete Frau Conradi ebenso knapp wie unerbittlich. "Meine Herren, ich werde Sie dann gegen Mittag wieder treffen." +*~ +*~ Frieder zog sich einen alten Holzstuhl heran, knöpfte seinen Parka auf. Mochte auch die Wasserversorgung in den sanitären Anlagen funktionieren, eine Heizung arbeitete hier jedenfalls nicht spürbar. Etwas scheu nahm Alban ihm gegenüber auf einem alten Drehhocker Platz. Er konnte sich nicht entsinnen, gemeinsamen Unterricht mit Frieder zu haben, fragte sich beklommen, ob der ihn nach dieser Einführung ebenso wie seine Klassenkameradschaft behandeln würde. "Du bist erst in der Oberstufe dazugekommen, oder?" Kam ihm Frieder zuvor, grimassierte linkisch. "Deshalb kennen wir uns noch nicht." Er seufzte leise, die runden Schultern sackten tiefer. "Ich sag es lieber gleich: ich bin ziemlich ungeschickt. Daher auch mein Ruf. Ich komme mit schnellen Bewegungen einfach nicht gut klar." Alban nickte spontan mitfühlend. "Ich bin gar nicht so fanatisch. Wirklich, ich schreibe niemandem vor..." "Brauchst du auch gar nicht!" Nicolai hatte seine Umhängetasche auf die breite, hohe Fensterbank abgelegt, seinen Schlendergang durch die hohen Regalreihen abgeschlossen. "Pure Existenz genügt schon!" Die grauen Augen funkelten beseelt. "Sieh dich an! Ein Mensch, der seine Überzeugungen lebt! Schlimmer noch, der anderen seine Sichtweise nicht mal aufzwingt! Ich wette, gerade jetzt hassen sie dich in London so richtig!" Erbleichend zuckte Alban zurück, da Nicolai sich über den Tisch beugte, richtig in Fahrt kam. "Ja, da sind sie nun, in der Weltmetropole, frei, weg vom drögen Schulalltag! Was kommt ihnen in den Sinn?! In ihrem Hinterkopf, im dunklen Stübchen, in den Augenwinkeln, da WISSEN sie, dass sie mit Vorsatz, wissentlich und willentlich, das Klima geschädigt haben! Ressourcen rücksichtslos vernichtet zum eigenen Wohlergehen, zukünftige Generationen bestohlen! Das Existenzrecht anderer Lebewesen beeinträchtigt! Weil sie das wissen, weil du hier bist, ohne ihnen Vorwürfe zu machen, ohne Vorhaltungen, allein durch deine Entscheidung, dein schlichtes Dasein hier wirst du zur moralischen Instanz, zum stummen Vorwurf, zum schlechten Gewissen, zum kritischen Über-Ich in ihrem Kopf!" Selbst Frieder wich zurück, nahm eine Schildkrötenhaltung ein. Alban war kreidebleich angesichts dieser Vorstellung. Nicolai strahlte ihn an, Watt-stark, beängstigend. "Oh, du wirst ein Held sein, ein Märtyrer! Wie sie dich hassen werden, weil du mit Fakten, Vernunft und Verantwortungsgefühl sowie Empathie ihre selbstsüchtigen, gedankenlosen, behäbigen Schweinehunde malträtierst!" "Also, Nico, das ist jetzt aber ein wenig..." Frieder krächzte dazwischen. "Keineswegs!" Nicolai richtete sich auf, wischte den abgeschnittenen Einwand weg. "Man hat Menschen mit Überzeugungen ja schließlich ans Kreuz genagelt, oder nicht? Ich meine, hätten wir eine lupenreine, griechische Demokratie der Antike, würde der Schulgarten gerade um Schierling erleichtert, bewährte Praxis des Mittelalters! Oder des Wilden Westens: aufknüpfen! Was aktuell an der maroden Bausubstanz hier scheitert!" Er zwinkerte dem totenfahlen Alban zu. "Aber es hat ja auch sein Gutes, nicht wahr? Du wirst zwar bis zum Ende deiner Schultage gemobbt, ausgegrenzt, verachtet und verfolgt werden, aber damit hast du viel gemeinsamen Gesprächsstoff mit Frieder hier!" Nicolai wandte sich ab, verschränkte die Arme hinter dem Rücken, ganz die Pose des beschwingten Flaneurs. "Das ist eben die Tragik bei höher entwickelten Lebensformen: kaum haben sie ein Rückgrat, will ihnen einer das Kreuz brechen. Fatal! Und auch höchst vergeblich." "Vergeblich?" Wisperte Alban fassungslos. "Ja, in der Tat." Nun schraubte Nicolai seine dramatische Darbietung zurück, wirkte eher versonnen als manisch erheitert. "All diese Qualen, die du auf dich nimmst, sind umsonst. Es spielt keine Rolle, wie viele Ressourcen wir sinnlos verbrauchen, ob wir Kohlendioxid in die Atmosphäre blasen oder uns gleich mit Methan den Rest geben! Übrigens eine interessante Frage für den Umweltschutz: ist das Verbrennen der eigenen sterblichen Überreste verträglicher als die Verrottung unter Gasbildung, darunter auch Methan, beim Verbuddeln?" Er stützte beide Hände, feingliedrig mit langen Fingern, auf dem Tisch ab, nahm Alban in den Fokus seiner klaren, grauen Augen. "In wenigen Milliarden Jahren wird dieser Planet hier zerstört sein, von der Sonne verbrannt zur Unkenntlichkeit, bevor auch unsere Galaxie ein gewaltiges Ende aus Gasen, Staubpartikeln und unglaublicher Fusionsenergie nimmt. Alles, was wir tun, was wir beschützen, wird nicht mehr existieren, einfach ausradiert werden. Energie und Sternenstaub, mehr nicht. Keine Erinnerungen, keine Denkmäler, kein nichts. Deshalb ist ihr Hass ebenso sinnlos wie dein Engagement." +*~ +*~ Alban starrte ratlos auf die schmale Gestalt vor ihm. Jede Theatralik, Aufmerksamkeit heischende Gesten, exaltiertes Gebaren fehlte. Vielmehr wirkte Nicolai ruhig, beinahe still. Nicht, als hätte er ihm gerade eine pechschwarze Zukunft prophezeit und diese damit abgehandelt, dass sie ohnehin bedeutungslos sei. Die Selbstgewissheit, die Nicolai ausstrahlte, wirkte deshalb wie ein Faustschlag in die Magengrube. "Aber, nun ja!" Brach der schmale Jugendliche die erdrückende Stille, warf sich in Pose, mit einer Hand wedelnd. "Das sind ja nur die lächerlich-pompösen Gedanken eines altklugen, pubertierenden Alltagsdilettanten, der sich im Luxus des Überflusses der Weisheit nahe fühlt, obwohl es nichts Neues unter der Sonne gibt und alle Gedanken längst gedacht worden sind!" Ein höfischer Kratzfuß schloss sich an, ein blendendes, betont künstliches Lächeln. Nicolai wandte sich ab, spazierte in den nächsten Gang. Alban entglitt sein Transportsack, schlug mit einem dumpfen Geräusch auf das abgeschabte Linoleum. Frieder räusperte sich verlegen, schenkte ihm einen hilflosen Blick. "Manchmal ist er ein bisschen erratisch." Flüsterte er verhalten. Seine Miene verriet, dass Nicolai selbst diese Beschreibung für sich formuliert hatte. "Verwirrt wirkt er aber nicht." Murmelte Alban, den die gesetzten, verbalen Volltreffer schmerzten. Um sich davon abzulenken, widmete er sich einer anderen Nachfrage. "Ist das denn wahr mit dem Pornostreifen?" "Ist es." Nicolai mischte sich wieder ein, offenbar ohne Lektüre recht ruhelos. "Obwohl diese Beschreibung ein wenig hinter den Umständen zurückbleibt." Er lächelte wieder, becircend, mit betont großspurigem Gebaren, erneut der Conferencier. "Siehe! Es begab sich, dass ich in einem alten Holzkasten einen Projektor mit einem Super 8-Schmalfilm darin fand. Welche Überraschung, die Darbietung entpuppte sich als frühes, munteres Stelldichein diverser Nackedeis mit emsigen Kopulationsanliegen in wechselnder Konstellation! Was lag also näher, dieses filmische Zeugnis biologisch-dynamischer Evolutionsbeschleunigung in digitale Bilder umzuwandeln und ein wenig auszuschmücken?!" "Ausschmücken?" Hakte Alban nach. Er hatte eine vage Vorstellung davon, dass in sehr frühen Zeiten Filme 'gekurbelt' wurden, mit mechanischen Spulen und spiegelverkehrten Einzelbildern auf langen, perforierten Streifen. Nicolai lupfte knochige Schultern unter dem schweren Kapuzenmantel. "Es gab keine Tonspur, deshalb habe ich wie bei Stummfilmen üblich Texttafeln ergänzt, eine gesonderte musikalische Untermalung in Ermangelung eines Orchesters arrangiert. Im Endeffekt mischten sich Alfred Brehms Tierleben, Reißbrettzeichnungen zur Anatomie a la Leonardo da Vinci und etwas Wilhelm Busch." "Was ist daraus geworden?" Obwohl es sicher kein feiner Zug war, bedauerte Alban doch, nicht in den Genuss dieses Werkes gekommen zu sein. "Oh, ein voller Erfolg! Furore, Begeisterung, Ruhm für die Nachwelt!" Trompetete Nicolai in triumphaler Pose, einen Arm hochgereckt, die knochige Faust ballend. Er ließ sie achtlos heruntersausen, ein verächtliches Lächeln um die schmalen Lippen spielend. "Wenn es so was wie eine Nachwelt gäbe. Oder im steten Tun eine Bedeutung, man tatsächlich einen Sinn stiften könnte!" Er lachte kurz auf, ohne einen Anflug von Amüsement. "Selbstverständlich habe ich die Datei eigenhändig gelöscht, alles umweltverträglich dem Sondermüll zugeführt. Unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte der mir unbekannten Darstellenden, deren Würde und künstlerisches Sendungsbewusstsein ich so eklatant und selbstherrlich verletzt habe." Nicolai zwinkerte zynisch. "Dieser kurze Zeitaufwand steht natürlich in keinem Verhältnis zum Vergehen. Deshalb befinde ich mich hier, eine angemessene Strafe für mich selbst zu ersinnen. Immerhin soll mir unmissverständlich vor Augen stehen, dass ich Zeit, Mittel und Energie verschwendet habe, um für eine wertlose Tändelei um Aufmerksamkeit zu heischen! Außerdem noch ohne ökonomischen Gegenwert! Eine einprägsame Lektion ist gefordert." Während Alban verschreckt in den angespannten Zügen nach einer Erklärung suchte, wirrte sich Frieder durch seinen Lockenschopf. "Aber Frau Conradi würde doch nicht..!" Warf er schließlich zweifelnd ein. "Oh nein, hat sie auch nicht!" Nicolai gestikulierte geziert. "Sie würde ihre Zeit nicht für derlei Firlefanz und persönliche Eitelkeiten zur Selbstdarstellung verschwenden! Es ist MEIN EIGENER Beitrag, um auch den werten Erziehungsberechtigten Genüge zu tun, die sich durch mein Fehlverhalten eventueller Kritik an ihrem Vorbild ausgesetzt sehen könnten." "Du bist hier, um dir deine eigene Bestrafung auszudenken?" Fasste Alban ungläubig zusammen. "In der Tat!" Nicolai nickte aufgekratzt. "Formidable Auffassungsgabe! Wie soll mein Vergehen gerichtet werden? Es muss einprägsam sein, der Schandtat angemessen! Nicht zu vergessen von derartiger Einschlagkraft, dass selbst ein notorischer Nihilist wie meine unbedeutende Existenz davon gezeichnet, ja, vernarbt wird! Nichts weniger als ein Weltuntergang vor dem Weltuntergang wäre akzeptabel!" Seine Stimme hatte sich in höchste Erregung hochgeschraubt. Ein fanatisches Fieber glänzte in den grauen Augen. Das ließ sowohl Alban als auch Frieder reflexartig nach Distanz suchen. Schneller jedoch als ihre instinktive Reaktion nahm sich das blitzartige Erscheinen des vierten Mannes im gleichen Boot aus. Ehe sie es sich versahen, hatte Sasha Nicolai mit dem Handrücken in kontrollierter Bewegung ins Gesicht geschlagen. +*~ +*~ Einen lähmenden Sekundenbruchteil schien die Szene wie erstarrt, der Lauf der Zeit angehalten. Mit einem erstickten Keuchen taumelte Nicolai rücklings gegen ein Regal, die Linke unbewusst auf seine magere Wange gepresst, die grauen Augen beschlagen. Auch Frieder und Alban entwich ein unartikuliertes Ächzen vor Verblüffung und Schreck. Allein Sasha stand in elastisch-gespannter Körperhaltung, die Arme locker schwingend, die Miene steinern, alle Aufmerksamkeit auf Nicolai fokussiert. Der wandte sich abrupt ab, stolperte steif zu einem Fensterbogen, zu dem er sich mühsam hochzog, fest in seinen schweren Mantel eingewickelt in der Fensternische zusammengefaltet, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, vom Publikum abgewandt. Einige Atemzüge später verabschiedete sich Sasha wieder so lautlos und elastisch wie ein Raubtier auf der Pirsch in einen anderen Gang. Frieder und Alban, halb aufgesprungen, sackten jeweils auf ihre Sitzgelegenheit, schnauften vernehmlich durch. "Wer ist das denn?" Alban beugte sich nervös über die Tischplatte. Ihm gegenüber blickte Frieder sich verstohlen um, die Nickelbrille justiert, bevor er flüsterte. "Sasha. Ist auch neu hier wie du. Hält sich von allen fern, lebt allein, hab ich gehört. Gefährlicher Typ." Das konnte sich Alban bereits vom äußeren Erscheinungsbild ableiten: dichtes, schwarzes Haar kurz geschoren, ein ebenso dichter, gepflegter, kurz getrimmter Vollbart, der das kantige Gesicht betonte, schwarze Augen, leicht mandelförmig über hohen Wangenknochen angelegt, eine gerade Nase dazwischen, mit schmalem Rücken. Seine Körpersprache und der entschlossene, fast grimmig zu nennende Blick: eine einzige, abweisende Botschaft. Außerdem wirkte er neben seiner bedrohlichen Erscheinung in Sweartshirt und Jeans wie ein Schläger, wie ein Männlichkeitskult besessener Prügelaktivist, der mit Muskelmasse und Proletenpose der erbärmlichen Umwelt seine Überlegenheit demonstrieren wollte. Jemand, um den man freiwillig einen großen Bogen machte. Wohl zu recht, wenn er vorwarnungs- und ansatzlos seine Mitmenschen ins Gesicht schlug! Beklommen und unwohl hingen Frieder und Alban in der aufgeheizten Atmosphäre ihren privaten, unbehaglichen Gedanken nach. Sollte man Nicolai ansprechen? Oder würde sich dessen verletzter Stolz gegen sie richten? Was war bloß los mit diesem Sasha, der zwei Regale weiter Liegestütz und Dehnungsübungen absolvierte? "Hast du schon eine Idee für ein Projekt?" Wagte sich Alban schließlich aus der Deckung. Seine Erfahrung hatte dafür votiert, Nicolai erst mal die gewünschte Isolation zuzugestehen. Solange sich der unheimliche Schlagdrauf woanders verlustierte, konnte man von Vorsichtsmaßnahmen Abstand halten. Frieder nickte, offenkundig erleichtert, ein anderes Thema anschneiden zu können. "Ich wollte mich mit Pilzmyzelien beschäftigen, weißt du? Neulich habe ich gelesen, dass diese weitreichenden Fasern eine wunderbare Chance wären, um Nährstoffe im Boden zu verteilen. Pflanzen könnten sich besser versorgen, man müsste nicht überdüngen. Allerdings müsste man Myzelien finden, die mit allen möglichen Bodenvarianten zurecht kommen. Da ist ja auch noch die Frage nach der mechanischen Bodenbearbeitung, zum Beispiel beim Umgraben und mit Erntemaschinen, die den Boden verdichten!" Verlegen bremste er sich ob seiner Begeisterung, massierte nervös seine Hände. "Oh, das hört sich aber spannend an!" Alban kannte keine Zurückhaltung. "Was für ein tolles Projekt! Glaubst du, dass du hier passende Bücher findest?" "Ich habe noch nicht geschaut." Frieder zupfte an einem Ohrläppchen. "Sag mal, möchtest du vielleicht mit mir das Projekt machen?" Alban erstrahlte. "Wirklich? Wäre dir das recht?" "Das geht bestimmt." Legte sich Frieder nachdrücklich fest. "Es gibt ja so viele verschiedene Aspekte zu beleuchten. Wir haben nur eine Woche Zeit!" "Klasse!" Alban sprang auf seine Clogs. "Wollen wir gleich mal Referenzmaterial suchen?" Es fehlte nicht viel, und er hätte spontan die Hand ausgestreckt. Gerade noch konnte er sich bremsen. Einen anderen Jungen einfach bei der Hand zu nehmen, das ging ja in ihrem Alter nun wirklich nicht mehr! Frieder grinste schüchtern, stemmte sich ebenfalls hoch. "In Ordnung. Lass uns loslegen!" +*~ +*~ Nur gedämpft drang die Pausenklingel zu ihnen durch. Frieder und Alban, Bücherstapel auf dem Tisch, daneben und auf dem Schoß, blickten auf. Sie befanden sich in der Orientierungs- und Sichtungsphase, aus der sie nur ungern gerissen werden wollten. Frau Conradi hatte sich jedoch unzweifelhaft deutlich ausgedrückt: in der Mittagspause war die Lehrbibliothek tabu. Sie tauschten einen nachsichtigen Blick, schoben die Sitzgelegenheiten zurück, um sich zu erheben. Auf leisen Sohlen näherte sich auch Sasha, elastisch und trainiert, der sich ganz allein beschäftigt hatte. Sein strenger Blick visierte Nicolai an, der sich seit der Ohrfeige in seinem Refugium nicht mehr gerührt hatte. Als er auf die Nische zuhielt, fasste sich Frieder mit rasendem Puls ein stolperndes Herz, trat ihm in den Weg, schluckte tapfer, bevor er nervös wisperte. "Bitte, schlag ihn nicht mehr." Sasha schenkte ihm einen knappen Blick, passierte ihn mit tänzerischer Leichtigkeit, erreichte die Fensternische, fasste Nicolai am Mantelärmel. Unerwartet für alle rollte der schmale Jugendliche mit einem erstickten Ächzen förmlich von der breiten Fensterbank herunter, spannungslos, einem harten Aufprall auf dem Linoleum entgegen. Nur Sashas aufgeweckten Reflexen verdankte sich das Abbremsen. Der bekam Nicolais Oberkörper noch zu fassen, reduzierte den Aufschlag. "Nico?!" Frieder stolperte heran, Alban dicht hinter ihm. Fast fürchteten beide, es handle sich um eine selbstmörderische Rache-Attacke auf den Schläger, doch Sasha ließ Nicolai bereits vorsichtig zu Boden sinken, kam selbst auf die Knie, um sich rasch das eigene Sweatshirt über den Kopf zu streifen, einzurollen und unter Nicolais Kopf zu bugsieren. Er angelte mit einem Arm einen Stuhl heran, kippte ihn um, legte Nicolais Unterschenkel über die beiden Stuhlbeine. "Was ist los?! Was fehlt ihm?!" Nicolai blinzelte schon wieder, produzierte unverständliche Laute, bewegte sich unruhig. "Kreislaufkollaps." Selbst Sashas dunkle Stimme klang grimmig. Tief über Nicolai gebeugt inspizierte er dessen verschleierten Blick, tastete mit zwei Fingerspitzen an dessen Kehle. "Nicolai!" Herrschte er ihn streng an. "Hörst du mich? Was hast du heute Morgen gegessen?" Frieder entführte aus dem eigenen Rucksack eine Flasche Wasser und Traubenzuckerpäckchen, die er zögerlich Sasha anreichte. "Das könnte helfen." "Danke." Sasha nickte knapp, ließ Nicolai nicht aus den Augen, der zu keuchen begann, sich unwillkürlich regte, offenkundig begriff, dass etwas nicht in Ordnung war. "Schön ruhig, langsam atmen!" Kommandierte Sasha, eine Hand flach auf Nicolais Brustkorb gepresst. Über die Schulter adressierte er Frieder und Alban, die bestürzt Spalier standen. "Frau Conradi kommt bestimmt gleich. Nehmt unsere Taschen mit. Wenn sie fragt, sind wir gerade auf der Toilette." Beide zögerten noch einen Augenblick, doch Sasha schien zu wissen, was er tat. Nicolais Ächzen reduzierte sich bereits wieder. Ohne darüber nachzudenken fasste Alban Frieders Hand, zog ihn mit sich, apportierte Nicolais Umhängetasche und Sashas Rucksack. Kaum hatten sie die Tür zur Lehrbibliothek hinter sich geschlossen, näherte sich auch schon Frau Conradi. "Ah, wunderbar. Alle draußen?" Sie drehte bereits den Schlüssel im Schloss. "Haben Sie sich schon für Projekte entschieden?" Während Frieder noch bekümmert auf die gesperrte Tür starrte, schob sich Alban hastig vor ihn. "Wir wollten ein gemeinsames Projekt angehen, über Pilzmyzelien und die Chancen für den Anbau. Das ist doch erlaubt, nicht wahr?" Frau Conradi nickte erfreut. "Selbstverständlich. Zweifellos ein interessantes Sujet. Ich sehe Ihrer Arbeit mit Spannung entgegen!" Alban lächelte betont treuherzig, positionierte die Taschen im Vorraum. "Es geht nach der Mittagspause weiter." "Richtig. Ich werde wieder nach Ihnen sehen und aufschließen." Damit marschierte Frau Conradi schon wieder davon. Frieder wartete nach angespanntem Lauschen. Vorsichtig rüttelte er an der Klinke, doch es gab kein Vertun: Sasha und Nicolai waren eingeschlossen. +*~ +*~ "Was nun?" Alban zupfte ratlos an seinem Schal, suchte Antworten bei Frieder. Der gab sich einen Ruck, öffnete Nicolais Umhängetasche. Sie enthielt kaum etwas: Block, Stiftmäppchen, Papiertaschentücher, Halsbonbons, Schlüsselbund. "Ob er vergessen hat, dass die Kantine diese Woche geschlossen ist?" Hasardierte Alban zögerlich. "Ich teile gern, wenn jemand etwas mag?" "Medizin hat er jedenfalls nicht mit." Konkludierte Frieder. "Vielleicht hat er bloß zu lange in der Nische gesessen." Sie tauschten einen hilflosen Blick. Alle Vermutungen und guten Absichten halfen nichts, wenn zwischen ihnen eine verschlossene Tür stand. Da klopfte es vernehmlich, so unerwartet, dass beide zusammenzuckten. Auf dem Sims des Doppelfensters hockte Sasha. +*~ +*~ Nachdem sie eilig die Flügel geöffnet hatten, kletterte Sasha unbeeindruckt und leichtfüßig hinein. Man mochte sich kaum vorstellen, wie er über die Brüstung spaziert war! "Wie geht's Nico?" Frieder fasste sich ein Herz. Die grimmige Miene des Fassadenkletterers ermutigte nicht zu Vertraulichkeiten. "Ist ansprechbar, hat Magenprobleme, fühlt sich wie ausgespuckt." Sasha kramte ungeniert durch Nicolais Habseligkeiten, räumte sie wieder in die Umhängetasche. Er entnahm seinem Rucksack ein Stoffbündel, schob es sich unter das T-Shirt, das er wieder in seine Jeans stopfte. "Sollen wir nicht doch Bescheid sagen, damit man aufschließt?" Alban suchte in den schwarzen Augen nach dem Motiv, Nicolai beizustehen. Nicht gerade zu erwarten nach der Ohrfeige. Sasha wandte sich zu ihm um, bereits im Begriff, erneut das Gebäude durch das Fenster zu verlassen. "Wir haben doch alles unter Kontrolle." Damit schien für ihn die Frage entschieden zu sein. Er kletterte unbeeindruckt außer Sichtweite. Alban tauschte einen verwirrten Seitenblick mit Frieder, der verlegen die Schultern lupfte. Wer kannte sich bei diesem Burschen schon aus? Und wer hätte ihn hindern können? +*~ +*~ Frau Conradi erschien pünktlich, hielt sich nicht lange auf, denn sie hatte genug zu tun. Dass nur zwei ihrer Schützlinge im Vorraum warteten, besorgte sie nicht sonderlich. Sie zählte vier Taschen/Beutel durch, erwartete von den Jugendlichen, sich verantwortungsvoll zu verhalten. Kaum wussten sie ihre resolute Rektorin außer Hörweite, stürzten Frieder und Alban, die das schlechte Gewissen plagte, einen de facto hinfälligen Kameraden dem gefürchteten Schläger ausgeliefert zu haben, in die Bibliothek, wo ihr Arbeitsplatz unberührt wartete. Sasha hatte Nicolai außer Sichtweite zwischen die hintersten Regale transportiert. Den Kopf auf dem eingerollten Sweatshirt, die Beine hochgelegt, wirkte er sehr mitgenommen. "Nur keine Aufregung, lediglich eine kleine Unpässlichkeit...bin nicht ganz auf der Höhe..." Murmelte er mit flackerndem Blick, erkennbar beschämt ob seiner körperlichen Schwäche. "Kannst du wirklich nichts essen?" Frieder ging neben ihm in die Hocke. "Sollen wir nicht doch Hilfe holen?" Angestrengt forcierte Nicolai ein nonchalantes Winken. "Iwo, iwo! Ich werde mich gleich berappeln. Darf ja nicht kneifen, hab's mir ja so ausgesucht!" Selbst sein Lächeln wirkte papierdünn und ausgefranst, als müsse er letzte Reserven mobilisieren, um seine Vorstellung abzuliefern. Alban schob sich in Blickweite. "Wenn du nach Hause möchtest, ich bin mit dem Fahrrad da. Es hat für Transporte einen extra großen Gepäckträger." Bot er an. "Dafür muss er erst mal wieder in die Senkrechte." Stellte Sasha barsch fest. "Ums Gelände ist noch zu viel Betrieb." Mit anderen Worten: unbeobachtet würde ein Krankentransport nicht vonstatten gehen können. "Bitte, nur keine Mühe." Wisperte Nicolai, einen Unterarm über die Augen gelegt. "Viel Lärm um nichts..." "Tsk!" Knurrte Sasha kehlig, der Shakespearesche Dramatik offenbar ablehnte, entfernte sich lautlos. Verstohlen flüsterte Frieder. "Brauchst du wirklich nichts?" Man musste sich nicht dem Diktat des grimmigen Grollers unterwerfen, wenn man es vermeiden konnte, ohne eine Abreibung zu kassieren! "Danke, aber die kleine Pause genügt schon." Murmelte Nicolai. Frieder stemmte sich hoch, tauschte einen Blick mit Alban, der ebenso unentschieden die Schultern lupfte. "Ruf, wenn was ist, ja?" Verlangte Frieder schließlich. "HmHm." Ein hochgereckter Daumen sollte sie demissieren. Auch wenn die Laune merklich getrübt war: ihrer harrte eine Menge Lesestoff, der verarbeitet werden wollte! +*~ +*~ Während der nächsten Stunde konzentrierten sich Frieder und Alban so auf ihre gemeinsame Arbeit, dass sie sich beinahe allein in der Bibliothek wähnten. Von Sasha hörte und sah man nichts. Allerdings schien er sich ohnehin wie ein Geist zu bewegen. Frieder raunte Alban zu, dass der gefährliche Schläger im Unterricht darauf beharrte aufzustehen, wenn er zu Wort kam, weil der die ungesunde und viel zu lange währende Sitzhaltung für unzuträglich hielt. Außerdem habe man ihn bei allerlei Sportübungen gesehen, diese seltsame Trainingsform, bei der das eigene Gewicht genutzt wurde. Überhaupt, ein sehr undurchsichtiger Charakter, das raune man sich immer zu. So einer, mit diesem Auftreten und Aussehen, der ziehe Ärger geradezu an! Wie gut, dass er augenscheinlich keine Gesellschaft suche. Alban diskutierte gerade lebhaft die Notwendigkeit der Diversifikation beim Anbau von Getreide, um überhaupt eine Biosphäre zu schaffen, in der Myzelien gedeihen konnten, als Sasha sich neben ihm materialisierte, beide Projektpartner erschreckte. "Dein Fahrrad steht wo?" +*~ +*~ "Wenn das mal gut geht!" Murmelte Frieder. Vom Fenster aus allerdings konnten sie keinen Blick auf die beiden Heimlichtuer erhaschen. Wobei Nicolai in seinem Zustand nur noch wenig Aktionismus aufzubieten hatte, fiebernd, von Kälteschauern durchgeschüttelt bis zur Schlottergrenze, der Blick verhangen, kaum fähig, sich aufrecht zu halten. Wenigstens festhalten musste er sich aber auf dem Sozius. Die Unerbittlichkeit der Aufforderung klingelte in seinen Knochen. Alban tippelte in seinen Kunststoff-Clogs. Reichlich seltsam, dass der notorische Aggressor ganz selbstherrlich verfügt hatte, Nicolai nach Hause zu chauffieren! Kannten sich die beiden vielleicht doch besser als vermutet? "Lange wird er nicht wegbleiben." Missdeutete Frieder Albans kritische Miene. "Nicolai wohnt in der Nähe." Für einen Moment erwog er zu ergänzen, dass das Lastenfahrrad auch bestimmt unversehrt wieder angekettet werden würde. Man munkelte von Sasha nicht, der gäbe sich für dämliche Scherze a la Sachbeschädigung oder Racheakte gegen den 'Tugend-Terroristen' und 'Moral-Diktator' her. Er schwieg lieber, um Albans Sorgen nicht unnötig zu vermehren. Man konnte nur hoffen, dass niemand von dieser Aktion Wind bekam. Immerhin steckte Nicolai schon tief genug in der Tinte! +*~ +*~ Eine halbe Stunde später überreichte Sasha so distanziert wie gewohnt die Schlüssel für die Fahrradschlösser. "Hat alles geklappt? Geht's Nico etwas besser?" Alban vergaß, dass er sich vorgenommen hatte, Zurückhaltung zu üben, um nicht noch stärker ausgegrenzt zu werden oder unsichtbare Grenzlinien zu übertreten. Sasha schenkte ihm einen knappen Blick, antwortete kühl. "Muss sich zu Hause auskurieren. Wir werden sehen." Damit löste er sich schon wieder auf, seinem eigenen Pfad zu folgen, ihnen keine weitere Beachtung mehr zu schenken. "Tja." Stellte Frieder fest, touchierte Alban tröstend am Ellenbogen. "Gehen wir wieder an die Arbeit." Sie hatten ihr Möglichstes getan. +*~ +*~ Frau Conradi bemerkte auch beim nachmittäglichen Abschließen der Lehrbibliothek zum Schulschluss nicht, dass von Nicolais potentieller Anwesenheit nur seine Umhängetasche kündete. Sie verabschiedete die drei anwesenden Jugendlichen in den Feierabend, mahnte erneut zur Vorsicht auf der wandernden Baustelle, in die sich der Altbau verwandelte. Sasha deponierte die verräterische Tasche im Schattenwurf des Türsturzes. Seine elastischen Schritte entfernten sich lautlos. Frieder und Alban hingegen schlenderten, ein wenig gedämpft in der Begeisterung für ihr Thema, langsam nach draußen. Irgendwie würde die Woche doch seltsam werden! +*~ +*~ Kapitel 2 - Offenbarungen Am nächsten Morgen zählte Frau Conradi ganze drei Häupter, als sie die Lehrbibliothek aufschloss. "Nicolai wird uns heute nicht mit seiner Gegenwart bereichern. Er hat sich mit einer Magenverstimmung krank gemeldet." Teilte sie mit. "Er wirkte gestern schon etwas elend." Warf Alban tollkühn ein. Es schien ihm, als hegte Frau Conradi hinsichtlich der Krankheit des Delinquenten Zweifel. "Tatsächlich?" Die Rektorin widmete ihm einen kritischen Blick. "Wir wollen hoffen, dass es sich nicht um eine Viruserkrankung handelt. Bei diesem wechselnden Wetter grassiert ja so allerlei Unerfreuliches." Unwillkürlich schüttelte sie sich dezent. Obwohl sie selbst sich für ausgesprochen robust hielt, wurde ihr Langmut doch durch Hiobsbotschaften bei der Besetzung des Lehrkörpers strapaziert. Frieder und Alban enthielten sich jedes Kommentars, als Sasha die versteckte Umhängetasche barg, in der Bibliothek außer Sichtweite verstaute. Sie konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf ihr gemeinsames Projekt, tauschten sich bald lebhaft und munter aus. Der unsichtbare Sasha und der absente Nicolai gerieten in den Hintergrund. +*~ +*~ Frau Conradi entriegelte die Tür. "Auch heute werden Sie nur zu dritt sein. Nicolai ist durch seine Mutter weiterhin entschuldigt." Dabei glitt ihr strenger Blick sezierend über die drei Jugendlichen, ob sich hier ein weiterer Aspirant für eine Malaise hervortat. Weder Frieder noch Alban und ganz sicher nicht Sasha wirkten gesundheitlich angeschlagen. Sobald sie sich jedoch ohne Aufsicht fanden, murmelte Alban besorgt. "Es scheint ihn aber doch schwerer erwischt zu haben." Wenn man lediglich von einer kleinen Unpässlichkeit mit Kreislaufschwäche ausging. "Nico ist eigentlich keiner, der immer mal wieder fehlt." Ergänzte Frieder wagemutig. Sasha fischte Nicolais Umhängetasche aus dem Versteck. "Bin bald wieder da." Teilte er ungemein ausschweifend mit, entschwand auf lautlosen Sohlen. Frieder und Alban tauschten einen verblüfften Blick. Wieso kümmerte sich Sasha um Nicolai? War der ihm nicht einfach nur lästig gefallen? +*~ +*~ Er kannte den Weg, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, so viel von seiner temporären Heimat zu erkunden wie möglich. Außerdem gehörte es zu seinem Ertüchtigungsprogramm dazu. Das Penthouse lag in tiefer Stille, als er Nicolais Schlüssel zum zweiten Mal benutzte, um sich geräuschlos Zutritt zu verschaffen. Die weitläufige Wohnung mit ihrem klaren, beinahe puristischen Stil hatte er bereits inspiziert, als er zwei Tage zuvor seine taumelnde, keuchende, klapperdürre Last abgeliefert hatte. Ein stechender, unangenehmer Geruch stand in der Luft. Er folgte ihm, fand den Ursprung rasch. Auch sonst bot sich ein trauriges, aber auch ergrimmendes Bild. Sasha rollte die Ärmel seines Sweatshirts auf, machte sich an die Arbeit. +*~ +*~ Auf Sashas ausschweifende Auskunft zu Nicolais Befinden ("so lala") hin verzichteten Frieder und Alban im stillen Einverständnis auf weitere Erkundigungen. Der distanzierte, stets unzugänglich wirkende Sasha war niemand, den man ungebührlich belagern sollte. Vor allem, wenn man das Muskelspiel unter dem T-Shirt registrierte. "Weißt du was?" Frieder sortierte Notizen. "Ich tippe schon mal Einiges ein, ja? Wir können morgen am Feinschliff arbeiten und freitags abgeben!" Alban zögerte, bevor er verschämt intervenierte. "Das wäre prima, aber geht das denn? Ich meine..." Frieder dechiffrierte die in der Luft vagabundierende Anfrage geübt. Er kannte diese Situation bereits, reagierte betont gelassen. "Ich kann nur mit schnellen Bewegungen nicht mithalten, aber normales Arbeiten am PC ist für mich kein Problem." Gab er zurück. Ihm gegenüber senkte Alban betreten den Kopf, die Kunststoffclogs scharrten. Für Frieder eine unbewusste Fluchtbewegung, als wolle sich Alban aus der Situation retten. "Mach dir keine Gedanken." Er langte über den Tisch, tippte mit den Fingerspitzen auf einen verkrampften Handrücken, zur Faust geballt. "Es ist eben wie es ist." Hätte es eine wirksame Methode gegeben, sein 'legendäres Talent' zu verabschieden, wäre er unzweifelhaft der Erste gewesen, sie anzuwenden! Zögerlich hob Alban nun den Kopf an, ein schiefes Grinsen auf dem Gesicht. "Ich sollte mich wohl allmählich daran gewöhnen, jedes Fettnäpfchen zu treffen, das auf meinen Weg liegt." Schmunzelnd zog Frieder seine Hand zurück. "Das liegt nur daran, dass wir uns noch nicht so lange kennen. Du musst dich nicht um Meinetwillen zurücknehmen. Wenn ich an meine Grenzen komme, sage ich das auch." "In Ordnung." Strahlte Alban erleichtert, stellte das unwillkürliche Scharren ein. Vielleicht konnte er doch noch einen Freund an dieser Schule finden! +*~ +*~ Zur allgemeinen Erleichterung erschien Nicolai am nächsten Tag wieder, sehr spitz im Gesicht, fahl, die Züge fast asketisch, doch ohne fanatisches Glühen in den grauen Augen, die tief umschattet waren. "Guten Morgen." Grüßte er heiser. "Verehrte Frau Rektorin, ich melde mich wieder einsatzfähig an die Front der Gelehrsamkeit!" Frau Conradi, die bereits die Tür entriegelt hatte, musterte ihn aufmerksam. "Sie sollten sich nicht übernehmen, Nicolai. Der Lernstoff läuft Ihnen nicht davon." Nicolai lächelte schief, deklamierte mit angestrengtem Pathos. "Wohl wahr, doch bin ich bestrebt, ihn einzuholen!" Im Umgang mit jugendlichem Übermut und Darstellungsdrang geübt verzichtete Frau Conradi auf eine Entgegnung. Das hätte bloß ein weiteres verbales Scharmützel in Gang gesetzt. Leidlich zufriedengestellt mit dem Gesundheitszustand des Delinquenten verabschiedete sie das Quartett in den Vormittag bis zur Mittagspause. Alban und Frieder bekundeten sofort ihr Mitgefühl für Nicolai, den es so arg gebeutelt hatte. Sie wollten ihm auch sogleich an ihrem Tisch Platz machen, räumten aufgeschlagene Bücher beiseite. Nicolai zwinkerte bleich. "Vielen Dank, die Herren!" Er stellte seine Umhängetasche ab, platzierte die Papiertüte einer Bäckereikette auf einem freien Stuhl. "Zuerst muss ich aber die Stimmbänder ölen." In der Tat klang sein Timbre doch stark nach Reibeisen und Rosskur. Im kleinen Waschraum schluckte Nicolai Wasser aus dem Hahn, suchte in der Hosentasche nach einem Halsbonbon. Unerwartet packte eine kraftvolle Hand sein mageres Handgelenk, was ihn erschrocken herumfahren ließ. Sasha! +*~ +*~ Für einen atemlosen Augenblick starrte Nicolai in die schwarzen Augen. Das Kaninchen vor der Schlange. "Ich HABE etwas gegessen! Wirklich!" Krächzte er eilig. Der Griff blieb unerbittlich, die grimmige Miene ebenso. Nicolai presste sich unbequem gegen das altmodisch-bauchige Waschbecken, das eher an einen herrschaftlichen Spülstein erinnerte. "Ich würde es begrüßen, wenn du von körperlichen Attacken absehen würdest." Wisperte er heiser. Unter dem gepflegten Bart spannten sich Sehnen an, der Kieferknochen knackte. "Ich soll also auf Züchtigungen verzichten, obwohl es in Anbetracht des Weltuntergangs und der Zerstörung dieser Galaxie gänzlich unbedeutend ist, ob ich dich verschone oder nicht?" Hastig drehte Nicolai den Kopf weg, ballte die freie Hand zur Faust, nagte an seiner Unterlippe. Tatsächlich argumentierte Sasha ja schlüssig, griff seine eigenen Worte auf, verlangte ihm eine Entscheidung ab! "...bitte...schlag mich nicht." Presste Nicolai schließlich gequält hervor. Eine belastende Stille setzte ein. Nicolai wagte nicht sich zu rühren. Sasha hätte ohnehin jeder Statue Ehre machen können. "Ich habe nicht die geringste Absicht, dich zu misshandeln." Stellte der durchtrainierte Jugendliche endlich fest. Vor Erleichterung japsend sackte Nicolai einige Millimeter in sich zusammen. "Freut mich zu hören!" Damit war er jedoch keineswegs aus Sashas Bannstrahl entlassen. Nicolais Handgelenk freigebend stützte er sich rechts und links von dessen Hüften auf den Waschbeckenrand, reduzierte die Distanz zwischen ihnen fast auf Nasenkontaktnähe. "Ich hatte die letzten Tage Gelegenheit, eine Menge, und ich MEINE eine Menge!, über dich zu erfahren." Knurrte er finster. Unwillkürlich drehte Nicolai den Kopf zur Seite, besorgt und unbehaglich. Das brachte jedoch sein Ohr direkt in Reichweite. "Ich habe deine Bettlaken gewechselt, dich umgezogen, Kekse für dich gekauft und dein Erbrochenes aufgewischt." Zischte Sasha ihm zu. Prompt wanderten Nicolais knochige Schultern hoch. Die Schildkrötentaktik verhalf ihm nicht zum Erfolg. "Ich weiß von der Küche, in der niemand kocht, von den Pillendosen, aus denen du offenbar frühstückst." Nun umklammerte Nicolai sich schützend selbst. "Und ich weiß von dem speziellen Innenleben deiner Giraffen-Wärmflasche." Einige Wimpernschläge später begann Nicolai panisch zu keuchen, die Augen zugekniffen, wollte sich zusammenkauern. Allerdings gestattete Sasha ihm keine Flucht, drängte sich rücksichtslos zwischen den dünnen Armen unter den Achseln hindurch, zwang den mageren Jugendlichen in eine eiserne Umarmung. Eine Hand in den zerbrechlichen Nacken legend drückte er Nicolais Gesicht einfach in seine Halsbeuge. "Außerdem hatte ich meine Zunge schon in deinem Mund." +*~ +*~ Nicolai gab leise pfeifende Laute von sich sich, die Finger in Sashas Sweatshirt gekrallt. Der nahm keinen Anstoß daran, sondern wippte elastisch auf den Zehenballen, kraulte Nacken und überlange Strähnen mit der einen Hand, während die andere in kräftigen Schwüngen die magere Rückenpartie großzügig bestrich. Ja, er hatte in der Tat einen sehr gründlichen Eindruck von Nicolais Lebensumständen gewonnen: die moderne Küche, in der lediglich der Geschirrspülautomat und der große Kühlschrank für Getränke aller Art in Betrieb waren. Lebensmittel suchte man vergebens. Dafür reihten sich ganze Bataillone an Dosen mit Nahrungsmittelergänzungen in Pillenformat im Schrank aneinander. Das Bettzeug konnte man nicht etwa einer Waschmaschine anvertrauen, denn es gab keine, stattdessen in einem Abstellraum drei Transportwagen mit Säcken einer Wäscherei. Alles blieb Kulisse, selbst Nicolais eigenes Zimmer, schmucklos, spartanisch. Genauso gut hätte man eine Hotelsuite beziehen können. Deshalb hatte er am vorangegangenen Tag vor seinem uneingeladenen Besuch 'Sportler'-Kekse gekauft, Gemüsebrühe in einer Flasche erhitzt, in Anleihen zu Lewis Carolls Alice im Wunderland Zettel befestigt. [Iss mich!] [Trink mich!] Der Wärmflaschenüberzug in Form einer flauschigen Giraffe war in seinen Blick geraten, ungewöhnlich, weil sonst nichts in Nicolais Zimmer auf etwas Verspieltes, Weiches, Fröhliches hindeutete. "Sag mal, verfügt die spezielle Innerei deiner Giraffe über Exklusivrechte, oder steht weiteren interessierten Parteien der Zugang offen?" Raunte er zwischen den Strähnen in eine Ohrmuschel. Nicolai entrang sich ein klägliches Winseln. +*~ +*~ Sasha fluchte nicht, weil es Zeit kostete, an der Situation nichts änderte und ihn nicht befriedigte. Offenbar wollte ein Handwerker, den schweren Tritten nach zu urteilen, den Waschraum nutzen, in just dem kritischen Moment der Wahrheit! Flugs dirigierte er also den völlig aufgelösten Nicolai in die Toilettenkabine, verriegelte sie, presste den Gleichaltrigen wieder in seine kraftvolle Umarmung. Draußen polterte man herein, drehte Wasser auf und schwadronierte in fremder Zunge lauthals, offenbar ein 'Ferngespräch'. Dass Lautstärke Verständlichkeit und Mängel in der Übertragung nicht kompensierte, hatte sich wohl noch nicht bis zu diesem Herrn herumgesprochen! (Oder war schlichtweg überhört worden.) Unterdessen beruhigte sich Nicolai ein wenig. Vielmehr wich sein bodenloses Entsetzen einer verzweifelt-hilflosen Resignation. Was hatte er Sasha schon entgegenzusetzen?! Nichts von dem, was er als Fiebertraum abgehakt hatte, war Einbildung gewesen: Sasha hatte sich um ihn gekümmert. Warum? Des Weiteren: man war zu Dank verpflichtet, eine entsprechende Äußerung bis dato jedoch unterblieben. Schlechte Manieren! »Wenn er nun erzählt...?!« In seinem Elend hätte Nicolai sich gern verkrochen. Der äußerst solide und verschwenderisch warme Körper gab ihm keinen Millimeter Bewegungsspielraum. +*~ +*~ Endlich trampelte der Telefonierer von hinnen, was Sasha grimmig begrüßte. Nicolai lehnte verdächtig schwer und reglos in seinen Armen, von seinem Mut wohl verlassen. "Wir setzen diese Unterhaltung lieber an geeigneterer Stelle fort." Entschied Sasha betont selbstherrlich, schob Nicolai vor sich her, der den Kopf gesenkt hielt und stolperte. Vorbei an Alban und Frieder, die überrascht registrierten, dass Sasha Nicolai stützte, steuerten sie, der eine entschieden, der andere willenlos und schicksalsergeben, die hinterste Regalreihe an, wo Sasha sich bevorzugt aufzuhalten pflegte. Er gab Nicolai frei, faltete seine Jacke zusammen, um sie auf den Boden zu deponieren, Nicolai mit einknickenden Knien darauf zu platzieren. Einige Sprünge, Kniebeugen, Liegestütz und Hampelmänner später streifte er sich auch sein Sweatshirt über den Kopf. "Gib mir deinen Mantel." Forderte er Nicolai auf, der ihn begriffsstutzig anstarrte. "Tsk!" Kommentierte Sasha knapp, ging vor Nicolai in die Hocke, pellte ihn aus seinem Mantel, wickelte ihm das eigene Sweatshirt über die schmale Gestalt, bevor er den Mantel wieder um die knochigen Schultern legte. "Wir sollten uns unterhalten." Gab er das Motto aus, leger im Schneidersitz vor Nicolai präsidierend. "Angefangen damit, warum du nicht mehr richtig isst." Nicolai biss sich auf die Unterlippe, den Kopf gesenkt, schweigend. Wie sollte er sich bloß verständlich machen? Welche Konsequenzen würde eine Offenbarung zeitigen? Andererseits, niemand außer Sasha schien die Geduld aufzubringen, sich mit ihm beschäftigen zu wollen. Niemand mischte sich unerschrocken und demonstrativ in sein Leben ein. Linkisch grub er in seiner Hosentasche nach dem Halsbonbon, wickelte es aus der Papierumhüllung, schob es sich in den Mund. Er feuchtete das klebrig süße, aber kompakte Oval an, rollte es in seinem Mund, um den aromatisierten Speichel zu schlucken, den Halsschmerz zu lindern. Er atmete tief durch, fiel noch stärker unter dem Gewicht des Kapuzenmantels in sich zusammen. "Seit dem Kindergarten bin ich in einen Hort gegangen. Da gab es Frühstück und nachmittags noch eine Kleinigkeit. Bis zur achten Klasse. Danach ging das nicht mehr, Altersgrenze erreicht." Er richtete seine leisen Worte auf die gekreuzten Knöchel. "Ich sollte mir etwas auf dem Weg kaufen. Mittagessen gibt es ja in der Kantine." Er seufzte, mit einem schiefen Grinsen. "Selbstverständlich bin ich befähigt, Nahrungsmittel zum Sofortverzehr käuflich zu erwerben." Der Conferencier schob sich für einen Moment in den Vordergrund. Nicolai verabschiedete die Pose, seufzte erneut, beschämt, sich selbst verspottend. "Bloß bin ich offenbar nicht sonderlich lebenstüchtig. Der Lärm, das Gedränge, die Hektik, das wurde mir einfach zu viel. Dann habe ich es einfach gelassen." "Stattdessen bunte Pillen geschluckt." Knurrte Sasha grimmig. Es standen ja ganze Batterien in den Küchenschränken! Nicolai zog eine Grimasse, blickte kurz zu Sasha hoch, bevor er erneut den Kopf senkte, sich hinter den überlangen Strähnen verbarg. "Ich bin mir durchaus bewusst, dass es nicht nachvollziehbar ist..." "Oh, in gewisser Weise schon!" Bremste Sasha ihn grollend aus. "Zum Beispiel in Anbetracht der Tatsache, dass wir ja alle in hundert Jahren tot sind, wie es so schön heißt. Dass uns unbestritten in einigen Milliarden Jahren der Aufenthalt hier gekündigt wird, Zwangsräumung dank Supernova der Sonne, bisschen später noch Untergang der Milchstraße bei Galaxienkollision und -kannibalismus! Warum sich also noch über Gebühr bemühen, wenn man auch so vegetieren kann?!" Mit einem weiteren Seufzer ersparte sich Nicolai eine Replik. Sasha konnte nicht widersprochen werden, der zählte unbestrittene Fakten auf. Es SPIELTE keine Rolle, wie er sich mit seiner unbedeutenden Existenz verhielt, zumindest nicht nach kosmischen Maßstäben. Zudem sollte man sich schämen für ein derartiges Luxusproblem, das mit ein wenig Selbstdisziplin zu lösen war. Einerseits. Andererseits konnte Nicolai sich oft nicht überwinden, die Schwelle zu übertreten, sich reinzuwühlen in hastige Reisende, energische Verkaufsteams, Gedrängel, lautstarkes Wortgeklingel, aufgedrehte bis gehetzte Dringlichkeit, die im Kontrast mit seinem eigenen Empfinden stand. Also den einfachen Ausweg genommen und Pillen geschluckt, deren man eigentlich nicht bedurfte, wenn man sich ordentlich ernährte! Gerettet aus diesem Dilemma mit dem Rheinischen Motto: et hät noch emmer jot jejange! Allerdings war ihm bis dato die unrühmliche Frontallandung auf dem Riechkolben mangels Treibstoff erspart geblieben. Resignation, Bequemlichkeit, Fatalismus? Nein, das traf es ganz und gar nicht. Wie sollte er sich selbst erklären? Diese starken Gefühle, die sich nicht einfach unterordnen wollten, Ratio und Fakten ignorierten?! "Ich bin mir bewusst, dass es albern ist." Wisperte er, den Blick auf die sich umklammernden Hände in seinem Schoß gerichtet. "Geradezu lächerlich und pompös, meine Haltung, mein Gebaren, alles an mir. Irrational und erbärmlich." "Erbärmlich, das würde ich mal durch jämmerlich ersetzen!" Polterte Sasha dazwischen. "Jedenfalls warst du nicht so ein klappriger Knochensack mit Schleifpapierummantelung, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Jetzt kann man ja den Radetzkymarsch durch deine Rippen pfeifen!" Ein gequältes Auflachen entrang sich Nicolai. Sasha war Bodenhaftung wohl nicht abzusprechen! Dass der ihm nicht zu folgen vermochte, aus seinen wirren Worten nicht aufnehmen konnte, was ihn bewegte, das wunderte nicht. "Was den Rest betrifft, solltest du es mit der Wahrheit versuchen. Bist du nicht eher verzweifelt?" Blitzartig schnappte Sasha zu, trennte Nicolais Hände, hielt sie in seinen eigenen fest. Unwillkürlich schnappte Nicolai nach Luft, fiel aus der Rolle. Plötzlich nahm sein Puls Fahrt auf, sein Brustkorb hingegen zog sich schmerzhaft zusammen. "Verzweifelt? Wo es doch nichts mehr zu tun gibt, die Fakten bekannt sind?" Versuchte er es mit einer spöttischen Replik, versagte jedoch kläglich. Sasha beugte sich herunter, visierte durch die überlangen Strähnen die grauen Augen an, die ihn verstört anblickten. "Verzweifelt. Du suchst doch leidenschaftlich, mit aller Kraft nach einer Antwort, oder nicht? Nach einem Grund, sich wieder ins Gedrängel zu stürzen, ganz gleich, wie vergeblich das ist." Nicolai riss den Kopf in den Nacken, starrte in das entschlossene Gesicht, spürte die Kraft der Hände, die seine eigenen versichernd drückten. "Ich denke, ich kann dir einen Fingerzeig geben." Sasha hauchte die Silben rau, entließ die beschatteten Augen nicht einen Wimpernschlag aus seinem Bann, blieb konzentriert und entschieden. "Es ist nicht zu leugnen, dass alles enden wird, genau so, wie du es beschrieben hast. Das WIRD passieren. In Anbetracht dieser Gewissheit erscheint es durchaus seltsam, sich selbst und anderes derart wichtig zu nehmen, für eine Mission zu brennen! Wie soll auch Leidenschaft entstehen, wenn sie ohnehin verpuffen wird?" Sasha drückte die schmalen, feingliedrigen Hände erneut. "Die Physik wird dir versichern, dass alles in Sternenstaub und Energiewolken endet wird, so, wie übrigens auch viel schneller die Zellen in unserem Körper. Da entstehen und vergehen in jedem Augenblick auch ganze 'Galaxien'. Das Drama ist also eingebaut." Nun seufzte Nicolai leise, gequält. "Aber das ist doch nicht alles." Wisperte Sasha mit einem verschwörerischen Lächeln, beugte sich vor, um Nicolai mit revolutionärem Vorstellungsgut vertraut zu machen. Nicolai suchte zögernd nach Antworten in dem markanten Gesicht. "Kennst du vielleicht den Klassiker 'Blade Runner'?" Sasha sprach so ernst, dass Nicolai nicht in Versuchung geriet, ihm einen schlechten Scherz auf seine Kosten zu unterstellen. "Da gibt es einen Androiden, Roy, ein so genannter Replikant. Seine Existenzfrist ist fast abgelaufen, doch er verlangt mehr Lebenszeit. Kurz vor seinem Tod verzichtet er darauf, seinen Verfolger zu töten, sondern erzählt ihm von seinen Beweggründen. Als Replikant hat er Dinge gesehen und erlebt, die kein normaler Mensch jemals bewältigen kann. All diese fantastischen Erinnerungen verschwinden mit seinem Ende. Unwiderruflich." Sasha erkannte auf Nicolais Miene das Aufblitzen von Erinnerung. "Wenn wir beide einen herrlichen Sonnenuntergang betrachten, werden wir, obwohl wir zur selben Zeit am selben Ort sind, niemals dasselbe sehen." Fuhr er fort. "Unsere Wahrnehmung ist an unser Gehirn, an die Interpretation der Sinne gefesselt. Was wir wahrnehmen, die elektrische Energie, die unsere Erinnerungen speichert, ist individuell und einzigartig. Genau wie beim Replikant Roy wird alles vergehen, wenn diese Energie erlöscht." Nicolai fahndete melancholisch nach dem positiven, ermutigenden Aspekt dieser Faktenaufzählung. "Die Energie bleibt physikalisch erhalten. Soweit wir das messen können." Sasha referierte ruhig weiter. "Da wird es spannend!" Er beugte sich erneut vor, beinahe auf Nasenspitzen-Kollisionskurs. "Wir wissen nämlich gar nicht so viel. Nicht viel über dunkle Materie, obwohl sie alles andere überwiegt. Und wir wissen nicht, wie man diese besondere Energie misst, die ich spüre, wenn ich deine Hände halte." Für einen Augenblick ließ Sasha diese These sacken. "Obwohl die gleiche Wärmeenergie erzeugt wird, wenn ich die Hände irgendeiner anderen Person festhalte, was man ja messen kann, so ist es nicht möglich festzuhalten, was positive Energie, Glücksgefühl, wie auch immer man es bezeichnen mag, ausmacht, wenn wir hier Händchen halten." Nun klappte Nicolais Kinnlade langsam herab. "Es macht doch einen Unterschied, oder?" Hakte Sasha mit bedrohlichem Timbre streng nach. Sein Gegenüber war viel zu verblüfft von diesem argumentativen Haken, um zu erröten oder zu antworten. Sasha entschied, die Beweiskette seiner Theorie zu vollenden. "Wenn wir wissen, dass es noch mehr Energien gibt, dass es einen Unterschied macht, wie wir uns fühlen, sollte es doch nicht völlig aus der Luft gegriffen sein anzunehmen, dass selbst unser Ende, das Ende aller Lebewesen, ja, das Ende unserer Milchstraße, durchaus davon beeinflusst werden kann, welche anderen Energien erzeugt worden sind. Selbst wenn man sie noch nicht messen, nicht sehen, nicht greifen, nicht schmecken kann." Erneut drückte er Nicolais Hände ermutigend. "Deshalb ist Leidenschaft, das Bewahren von Dingen oder Umständen, die uns Glücksgefühle bereiten, nicht unnütz, nicht vergebens, auch nicht im Angesicht des Untergangs. Möglicherweise bleibt mehr als Sternenstaub und die bekannte physikalische Energie übrig. Wer weiß, was mit dieser unbekannten Kraft entstehen kann, wenn tatsächlich die bekannten Gesetze der Energieerhaltung auch in diesem Aspekt zutreffen?" +*~ +*~ Nicolai brachte kein Wort heraus. Er begriff, was Sasha ihm skizziert hatte, anerkannte die logischen Schlussfolgerungen aus bekannten, physikalischen Gesetzmäßigkeiten, und doch... unglaublich. Unglaublich, dass ihm selbst diese Idee nie gekommen war! Noch seltsamer, sie so engagiert und gleichzeitig sachlich von jemandem wie Sasha vorgetragen zu bekommen. Von jemandem wie Sasha? Nicolai blinzelte, schüttelte eine mentale Benommenheit, die ihn ergriffen hatte, ab. Besagter Sasha, der immer noch ungeniert Händchen hielt, wenn auch in einer eher robusten Manier, betrachtete ihn mit einem amüsierten Lächeln, die schwarzen Augen funkelnd. Er legte den Kopf ein wenig schräg, formulierte provozierend. "Nun wäre wohl die passende Gelegenheit für etwas Romantik, nicht wahr? Beispielsweise 'wo warst du mein Leben lang?!'" "Uh!" Eine sehr ausschweifende Replik von Nicolai, der eine Ahnung von Röte in den Wangen spürte. Lediglich sein noch immer angeschlagener Gesundheitszustand verhinderte ein Aufflammen wie ein Feuermelder! "Tja." Sasha reduzierte sein Grinsen auf das gewohnt grimmige Maß seiner Mimik. "Jetzt kannst du dich darauf konzentrieren, auf welche Weise du positive Energie ansammeln willst. Könnte nicht schaden, beim Abgang einen Überhang auf der Haben-Seite vorzuweisen." Ein wenig spöttisch klang das durchaus, doch Nicolai empfing keine Feindseligkeit. Allerdings frappierte ihn noch immer der Kontrast zwischen Auftreten und Erscheinung zu Verhalten und Äußerungen. "Warum tust du das?" Wagte er schließlich eine vorsichtige Nachfrage, die Stimme trotz Halsschmeichler schon wieder rau. "Tun?" Sasha lupfte eine kritische Augenbraue. "Oh, du beziehst dich auf die bisher sehr undankbare Aufgabe, dich an deinem Schopf aus dem existenziellen Sumpf zu lupfen, in den du dich ohne Münchhausens Kanonenkugel gebracht hast?" Die Botschaft traf ihr Ziel. Nicolai biss sich nervös auf die dünnen Lippen. "Entschuldigung. Und...danke. Wirklich, vielen Dank!" Haspelte er beschämt heraus. "Gern geschehen." Sasha musterte ihn eindringlich, bevor er betont verdrießlich ergänzte. "Ja~ha, es sieht mir ÜBERHAUPT nicht ähnlich." "Warum hast du's dann gemacht?" Die Frage war herausgeplatzt, bevor Nicolai sich bremsen konnte. "Was denkst du denn?" Sasha hielt entschieden, aber keineswegs rhetorisch dagegen. Nicolai wich dem forschenden Blick eilig aus, drehte den Kopf zur Seite, um nicht auf ihre Hände blicken zu müssen, die offenbar in einem Druck-Morsecode selbsttätig kommunizierten. Seine Gedanken, die analytisch die ihm zugedachten Wohltaten in chronologischer Reihenfolge summierten, zu einem Schluss kamen, verschreckten ihn in ihrer Tollkühnheit. "Aber das ist verrückt." Wisperte er sich selbst zu. "Was exakt, bitte?" Schnurrte Sasha, beugte sich vor, drang in intime Distanzen ein. Nicolai kniff die Augen zusammen, als könne ihn das verbergen. Er fürchtete sich davor, dem ausgeleuchteten Pfad zu folgen. Alles würde ins Wanken geraten! Andererseits... Er spürte Sashas warmen Atem auf seiner Wange, das Streichen seiner eigenen, überlangen Strähnen, die Kraft in den Händen, die seine festhielten. »Vorher hat auch nichts mehr gestimmt.« Erinnerte ihn eine Stimme in seinem Hinterkopf unerbittlich. Was wollte er denn jetzt noch bewahren, als Vogel Strauß?! »Außerdem hatte er seine Zunge in deinem Mund!« Trat sein Über-Ich gehässig nach. SO VIEL Erste Hilfe beim Verabreichen von Traubenzucker musste doch als bemerkenswert und außergewöhnlich gelten! "...du stehst auf...Jungs?" Nicht mehr als ein erbärmliches Piepsen, das ihm da entfuhr. Sasha richtete sich auf. Nicolai zog bange die Schultern hoch, die Augen immer noch fest zugekniffen. "Stimmt." Hörte er die sonore Stimme klipp und klar antworten. "Ich bin schwul." "Aber...?!" Nicolai verwünschte seine spontane Reaktion, schrumpfte noch stärker in sich zusammen. "Aber?" Sasha gurrte förmlich, näherte sich Nicolais Ohr an, raunte mit sardonischem Vergnügen. "DARAUF bin ich ja jetzt sehr gespannt!" Nicolai winselte leise. Was sollte er bloß antworten?! Dass Sasha wie ein Schläger aus dissozialen Verhältnissen aussah, der nicht mal einen vollständigen Satz formulieren konnte? Nach einem chauvinistischen Macho im finalen Männlichkeitswahn, der nur für die optische Eitelkeit seinen Körper trainierte, alles verachtete, was nicht exakt einem beschränkten, hierarchischen, vorsintflutlichen Weltbild entsprach? "Nun?" Er hörte in Sashas Stimme das spitzbübische Amüsement. Hier half auch aus Gründen der Selbsterhaltung nur ein Konterangriff! "Warum magst du mich denn?" Anerkennend schnaubte es in seine überlangen Strähnen. Sasha deklamierte in vehementer Frustration, die Oscar-reif intoniert wurde. "Ja, wenn ich DAS wüsste!" Ein heiseres Prusten entwischte Nicolai. Beinahe konnte man Mitleid entwickeln mit diesem so arg vom Schicksal gebeutelten Draufgänger! "Du bist wirklich seltsam." Stellte er wagemutig fest, die Lider hochgeklappt, tapfer die schwarzen Augen anvisierend. "Im Vergleich mit dir?" Knurrte Sasha gewohnt grimmig, mit finsterem Minimal-Mienenspiel. Nicolai wusste, dass er eigentlich das Geplänkel fortsetzen sollte, doch ihm gingen zu viele Dinge durch den Kopf. Konnte er Sasha vorhalten, dass der mit seiner Optik, seinem Gebaren alle täuschte, wenn er doch selbst in eine andere Rolle schlüpfte?! Wenn er selbst gute Gründe hatte, sich zu 'verkleiden', eine 'Rüstung' anzulegen, ging es Sasha nicht ebenso? Was wusste er schon über ihn und seine Lebensumstände? Sasha blickte ihm unverwandt ins Gesicht. Keiner, der haderte, zauderte, sich nicht entschließen konnte! Ein Aspekt drängelte sich endlich in Nicolais Gedankenchaos vor, der bisher zurückstehen musste, jetzt die Gelegenheit nutzte. "Sag mal, wieso bist du diese Woche auch hier?" Formulierte er deshalb vorsichtig. Ihm gegenüber rollten sich Sashas Mundwinkel leicht nach oben ein. "Was ist das für eine Geschichte mit dem Innenleben deiner Giraffe?" Returnierte er, stellte sogleich auch die Bedingungen auf. Nicolai senkte eilig den Blick, nagte unbehaglich an seinen dünnen Lippen. Was nun? Vertrauen, Offenbarung? Oder Abwehr und Flucht? Sasha löste das Problem auf seine Weise: er erhob sich geschmeidig, zog Nicolai schwungvoll in die Höhe. "Mein Sweatshirt, bitte." Forderte er, gab die feingliedrigen Hände frei. Verwirrt schlüpfte Nicolai aus seinem Kapuzenmantel, streifte sich das verlangte Kleiderstück über den Kopf. Sasha nahm es entgegen, zog es an, kaperte Nicolais Hände wieder, bevor der sich in seinen Mantel verpuppen konnte. Ein schwarzes Funkeln, das Zucken der Mundwinkel im getrimmten Bart, dann hopste Sasha elastisch auf der Stelle. Nicolai wurde mitgezogen, auf und nieder. Sasha arrangierte auch noch ihre Hände zum Hampelmann nach außen. Kniebeugen folgten auf dem Fuß, bis Nicolai nach der zweiten Sprung-Runde japsend aufsteckte. Er lehnte sich ächzend an ein Bücherregal, beobachtete fasziniert-eingeschüchtert Klappmesser, Liegestütz und andere Streckübungen. Sasha schien sich bis in Fingerspitzen und Zehen kontrollieren zu können. Seine Bewegungen waren geschmeidig und beherrscht, kündeten von Kraft und Disziplin. Beeindruckend! Nur ein wenig kürzer atmend kam Sasha zum Stillstand, zwinkerte, streifte sich das von seiner Körperwärme aufgeheizte Sweatshirt ab, um es in blitzartiger Geschicklichkeit über Nicolais wirren Schopf zu ziehen, seine Arme wie bei einem kleinen Kind nacheinander durch die Ärmel zu stopfen. "Danke." Murmelte Nicolai verblüfft. Eine kraftvolle Hand kämmte ihm seine überlangen Strähnen hinter die Ohren, streifte dabei sanft über seine eingefallenen Wangen. »Er mag mich wirklich!« Staunte Nicolai baff. Kaum zu glauben! Unterdessen hatte Sasha sich schon wieder mit gekreuzten Beinen niedergelassen, klopfte neben sich auf seine zusammengerollte Jacke, die Nicolai als Sitzpolster gedient hatte. Artig nahm er also Platz, sogleich wieder mit seinem Kapuzenmantel um die schmalen Schultern beschwert. Sasha, der neben ihm saß, schob seine Linke in Nicolais Rechte. Nicolai spürte den leichten Händedruck wie eine Ermunterung. »Er weiß ja schon Bescheid.« Ging ihm durch den Kopf. »Also kannst du ihm ja auch die Vorgeschichte erzählen.« Was gab es da schon noch zu verlieren?! Trotzdem musste er tief durchatmen, sich räuspern, bevor er seinen Teil des Geheimnishandels erfüllte. "Als ich klein war, hatte ich oft Magen- und Darmprobleme. Ich konnte die Pillen nicht schlucken, mir war immer die Kehle wie zugeschnürt. Also gab es Zäpfchen. Als Schulkind hieß es, dass ich ja jetzt alt genug sei, um selbst Verantwortung für meine Gesundheit zu übernehmen und mich selbst zu behandeln." Nicolai zog unwillkürlich eine Grimasse. Er erinnerte sich daran, nie die Anweisungen seiner Eltern hinterfragt, es grundsätzlich akzeptiert zu haben, wie ein selbständiger Erwachsener agieren zu müssen. Er straffte seine magere Gestalt, ärgerte sich über den feuchten Film auf seiner Handfläche, die in Sashas Griff unerbittlich geborgen war. "Na ja, ich konnte diese Aufgabe meistern." Er biss sich kurz auf die dünnen Lippen. "Dabei habe ich herausgefunden, dass~dass es ganz nett sein kann, sich selbst zu verwöhnen." Endete er schließlich verschämt. Deshalb versteckte sich in der Giraffen-Wärmflaschenhülle ein Anal-Dildo in knalligem Orange. Sasha schwieg eine Weile. Sein Daumen streichelte über Nicolais Handrücken, vertrieb das leichte Zittern. Er bot Nicolai, der verstohlen durch seine überlangen Strähnen blinzelte, das markante Profil. Die Mundwinkel knitterten sanft. "Ich bin nicht hier, weil ich unnötige Flugreisen boykottiere, mein Gesundheitszustand ein Versicherungsrisiko darstellt oder ich irgendwelche Delikte begangen habe." Sasha lächelte ironisch. Nicolai seufzte automatisch. Die schwarzen Augen richteten sich konzentriert auf ihn, mit einem amüsiert-spöttischen Funkeln. "Ich kann nicht verhehlen, dass die Wünschelrute einen wesentlichen Ausschlag gegeben hat, bitte entschuldige den Kalauer." Grinste er frech. Das konnte jedoch nicht verhindern, dass Farbe in Nicolais blasse Wangen stieg, als er die Anspielung korrekt einordnete. "Trotz 'Knochensack mit Schleifpapierummantelung'?" Konterte er reaktionsschnell. Sasha schmunzelte. "Ich vertraue auf mein Bauchgefühl. Und die Bakterienkumpels!" Er klopfte sich auf die trainierte Leibmitte. "Sie kümmern sich gut um mich, also haben sie meine Zustimmung." Nicolai, der mit der Theorie über das 'Zweite Gehirn' im Magen- und Darmtrakt vertraut war, grinste schief. "Also hatten Wünschelrute und Wanst die Ayes?" Spöttelte er keck. "Definitiv." Sasha zwinkerte, bevor er wieder ernst wurde. "Tatsächlich war ich über mein eigenes Interesse sehr erstaunt." "Liebreizend!" Rutschte Nicolai leise heraus. Schließlich klang das nicht nach einem Kompliment! Die Linke löste sich aus seiner Hand, doch nur, damit Sasha die Finger zwischen seine fädeln konnte. "Ich habe dich also beobachtet." Sasha nahm den Faden seiner Erinnerungen auf, ohne Nicolais Kommentar zu thematisieren. "Was nicht ganz so einfach ist, wenn die Leute einem grundsätzlich aus dem Weg gehen." Selbstironisch verdrehten sich die schwarzen Augen kurz. Allerdings trugen hier beide Parteien zu dieser Situation bei: Sasha mit seinem Aussehen und Auftreten, seine Mitmenschen mit Vorbehalten und Gerüchten. "Tja, ich habe kein Recht mich zu beklagen." Konstatierte er sachlich. "Außerdem musste ich auch erst mal richtig hier Fuß fassen." Nicolai gestand sich insgeheim ein, dass er von Sashas Interesse nicht das Geringste bemerkt hatte. Wie merkwürdig, dass jemand so diskret agieren konnte, wenn doch alle sich darum bemühten, ihm schon aus Prinzip und Entfernung aus dem Weg zu gehen! "Da kam dieser Samstag im Herbst, die Schulpräsentation." Sasha drückte kurz seine Fingerkuppen in Nicolais knochigen Handrücken. "Es dauerte ziemlich lang. Mir ist da aufgefallen, wie deine Vorstellung als redegewandter, mit dem vorgeblichen Nihilismus kokettierender Charmebolzen hin und wieder stockte. Diese joviale Maske, die du immer trägst, bekam Risse. Als dir das selbst auffiel, deine Reserven sich erschöpft haben, da hast du umso stärker aufgedreht, damit niemand was merkt." Sasha blickte Nicolai an, der eilig auf den Fußboden starrte. "Es ging damals auch schon um die Klassenfahrten. Mir schoss durch den Kopf 'das hält er niemals so lange durch'!" Bekannte Sasha unerschrocken. "Aus dieser Beobachtung schloss ich für mich, dass du auf die eine oder andere Weise versuchen würdest, deine Teilnahme zu verhindern, um nicht aus der Rolle zu fallen." Nicolai zog den Kopf zwischen die Schultern, hätte sich am liebsten in seinem Kapuzenmantel verkrochen. "Fünf Tage zusammen, ohne Störungen, gute Gelegenheit." Sasha hielt Nicolais Hand entschieden fest. "Allerdings gab es da ja noch ein anderes Problem, das ich zu lösen hatte: wie stinkt man gegen den Weltuntergang an?!" Sasha hob die Rechte, drehte sich leicht, um Nicolais überlange Strähnen hinter ein Ohr zu streichen. "Ich habe dir zugehört, wann immer sich die Gelegenheit bot. Das, was du gesagt hast, gab mir ordentlich zu denken." Erneut drückte er seine Fingerkuppen in Nicolais Handrücken, ein eigentümlicher Morsecode. "Natürlich habe ich verstanden, dass es dir um etwas anderes ging, nämlich die Frage, welchen Sinn, welche Richtung man dem eigenen Leben geben sollte. Dass du mit aller Kraft nach einer Antwort suchst, gleichzeitig mit dir haderst, weil du nicht wie scheinbar alle anderen mit dem unzweifelhaften Kompass ausgestattet bist." Nun konnte Nicolai nicht anders, musste aus seiner krauchenden Haltung kommen, sich Sasha zuwenden, ihn ansehen. Sein 'Hilferuf' war nicht ungehört verklungen, auch wenn er mit DIESEM Helfer ganz sicher nicht gerechnet hatte. "Wurde ganz schön knapp." Die schwarzen Augen blickten ernst. "Du hast ziemlich schnell abgebaut. Ich war mehr als einmal in der Versuchung, dich direkt anzusprechen und zu zwingen, mehr auf deine Gesundheit zu achten." "Ich hab nichts davon bemerkt." Wisperte Nicolai mit belegter Stimme. Sich vorzustellen, was Sasha alles getan hatte, bloß um mit ihm hier sein zu können! Einfach verrückt! "Dazu warst du schon viel zu sehr in deinem Sumpf eingesunken." Sasha kämmte auch auf der anderen Seite hinderliche Strähnen hinter das Ohr. "Um es festzuhalten: ich bin aus freien Stücken hier, weil ich mit dir zusammen sein will." Eine Aussage, die ihn nicht mal erröten ließ! Was Nicolai zu seiner eigenen Verärgerung aber nicht unterdrücken konnte, stellvertretend 'glühte'. Was sollte er bloß antworten?! Das kam alles sehr überraschend! Überhaupt, er konnte sich selbst ja nicht trauen, wusste keine Richtung, drehte sich endlos im Kreis! "Jetzt wäre übrigens die perfekte Gelegenheit für eine sehr romantische, schwelgerische Versicherung deiner Gefühle." Schnurrte Sasha kehlig. Nicolai registrierte zwar die unterschwellige Ironie, doch das hinderte seinen unzuverlässigen Blutdruck nicht daran, neue Höchstwerte zu erklimmen, seinen Puls trommeln zu lassen, während er hilflos stotterte. Sasha grinste, schnaubte ein kurzes Prusten, fasste mit der freien Hand Nicolais spitzes Kinn, applizierte auf den sprachlosen Mund einen nachdrücklichen Kuss. Als ihm perplex nicht mal Widerstand entgegenschlug, nutzte er die Gelegenheit, auch ohne Traubenzuckerbelag seine Zungenakrobatik zu präsentieren. Vage registrierte er, wie sich Nicolais freie Hand in den Ärmel seines T-Shirts klammerte. Bevor allerdings Luftnot und Kreislaufkollaps den oralen Affektionen ein schnödes Ende bereiten konnten, knurrte lautstark Nicolais 'Zweites Gehirn'. Das war mehr, als sein gewohnt stoischer Langmut wegstecken konnte: Sasha lachte lauthals heraus. +*~ +*~ Kapitel 3 - Vereinbarungen "Das war keine Absicht!" Wiederholte Nicolai, dessen Gesichtsfarbe allmählich die roten Flecken der Scham verlor. "Außerdem kann man figurativ keinen Hochleistungsbetrieb aufrecht erhalten, wenn nur die Notstromversorgung läuft!" Entscheidungen mit leerem Magen waren selten wohlgewählt! Sasha schmunzelte noch immer, während sie sich im Vorraum niedergelassen hatten. Trotz einer weiteren Übungseinheit, um sein Leih-Sweatshirt erneut aufzuheizen, wirkte er keineswegs außer Atem. Beneidenswert und ein wenig unangenehm, wenn man sich der eigenen Bequemlichkeit bewusst wurde! Der innere Schweinehund grummelte verstimmt. Nicolai pickte mundgerechte Stücke aus seinem Laugengebäck, mümmelte, konnte sich aber nicht zu kindlichem Schmollen durchringen. "Weißt du, ich dachte immer, ich wäre ziemlich kompliziert gestrickt, aber du hast mich so leicht ausgeknobelt." Seufzte er schließlich, wich den schwarzen, ihn prüfend studierenden Augen nicht länger aus. Das Selbstbild geriet da gehörig ins Wanken. Sasha streckte die Rechte aus, streichelte sanft Strähnen weg. "Du hast jede Menge Hinweise und Hilfestellungen gegeben, auch wenn dir das vielleicht nicht bewusst war." Antwortete er ernst. "Das hat mir das Schlussfolgern erheblich erleichtert." Abgesehen von dem Umstand, dass er sich SEHR interessierte und dem logischen Denken nicht abgeneigt war. "Trotzdem, ich bin immer noch ratlos. Nein, eher richtungslos. Ich möchte überzeugt sein, felsenfest, bloß von was, das weiß ich noch nicht!" Nicolai grimassierte unglücklich. Ihm gegenüber schwieg Sasha, zog jedoch die Hand nicht zurück, sondern liebkoste mit den Fingerkuppen weiter die ausgezehrte Wange. Nicolai ließ die Papiertüte auf seinen Schoß sinken. Er verspürte eine seltsame Mischung aus kleinmütiger Angst und aufmüpfigen Trotz, gewürzt mit Ärger über die eigene Verzagtheit, über die mangelnde Perfektion seiner Haltung. "Ich hab das noch nie gemacht." Bekannte er leise, aber tapfer. Sich einer anderen Person so sehr anvertraut, wie es Sasha möglicherweise wünschte. "Ich auch nicht." Sasha lächelte schief. "Auch wenn das wenig glaubhaft wirkt angesichts meiner Aktionen." Er beugte sich vor, fixierte Nicolai beschwörend. "Aber ich möchte es. Ich will es ausleben! Ich will mich selbst davon überzeugen, dass ich richtig liege, dass wir zusammenpassen." Keine Frage, dass er über Mut und Entschlossenheit verfügte, den Sprung zu wagen, Neugierde, Sehnsucht und Lust nachzugeben! "Hast du denn keine Angst?" Nicolai nagte an seiner dünnen Lippe. Was, wenn sie sich irrten? Wenn es nicht funktionierte? Wenn sie sich Schmerzen zufügten, psychisch, physisch? Sasha kaperte in gewohnter Blitzartigkeit Nicolais freie Hand, drückte sie entschieden, aber behutsam. "Hast du vor MIR Angst?" Heimtückische Frage! Nicolai wandte eilig den Kopf ab. Wieder streichelte Sashas Daumen über seinen knochigen Handrücken. "Wenn es dir schon jetzt solches Unbehagen bereitet, dass es möglicherweise nicht klappen könnte, dann bedeute ich dir eine Menge." In Sashas sonorer Stimme schwang ein Lächeln mit. "Ich habe nicht vor, mich als mieses Arschloch zu erweisen, sondern ich will mich so häufig wie möglich von meiner besten Seite zeigen." Er ging vor Nicolai lässig in die Hocke. "Es ist nämlich so, dass es mir ziemlich zusetzen würde, wenn ich bei dir abgeschrieben bin." Nun presste Nicolai die dünnen Lippen so fest aufeinander, dass sie jede Farbe verloren. Verflixt, wie stellte Sasha das bloß an, simpel in Silben zu gießen, was ihn bewegte?! Sich nicht hinter seiner gewohnten Pose zu verbergen und alle auflaufen zu lassen?! Zögerlich suchte Nicolai die schwarzen Augen, die so zielsicher seine Aufmerksamkeit auf sich bündelten. "Ich vertrag wirklich nicht mehr viel." Murmelte er erstickt. Sasha hob ihre Hände, siegelte einen warmen Kuss auf Nicolais Handrücken. "Gib mir eine Chance, bitte. Lass es uns versuchen." Nun war ihm die Kehle zugeschnürt, er konnte kaum noch schlucken, also nickte Nicolai endlich knapp, schnappte nach Luft, was wie ein Aufschluchzen klang. Vor ihm, dem Boden näher, lächelte Sasha still. Kein Triumph, kein Jubel, kein Scherz, nein, er blieb ernst, weil es ihm ernst war. Weil es nur ein weiterer Schritt auf einem hoffentlich sehr langen gemeinsamen Weg sein sollte. Er schraubte sich langsam in die Höhe, zog Nicolai ebenfalls auf die Beine, ignorierte die Bäckertüte souverän, als er ihn in seine Arme nahm, einfach hielt, sich kaum merklich wiegte. Nicolai, der zunächst erschrocken recht steif verharrt hatte, löste langsam die Spannung in seinem Körper, schmiegte sich an die harte, muskulöse und doch so warme Gestalt an. "Danke." Wisperte es rau an seinem Ohr. Er drehte den Kopf, um die unerwartet feuchten Augen in Sashas Halsbeuge zu verbergen. +*~ +*~ »Da ist definitiv etwas Merkwürdiges im Gange!« Dachte Frieder, sprach diesen Gedanken aber nicht aus. Ihm gegenüber teilte Alban gerade mit rührender Begeisterung sein selbst gemachtes Mittagessen mit ihrer wackeren Tafelrunde. Nicolai gehörte nicht zu denjenigen, die sich einen erbärmlichen Spaß daraus machten, ihm das Leben zu vergällen, indem sie auf seinen nicht zu leugnenden Schwächen herumritten. Andererseits hatten sie auch wenig miteinander zu tun. In der letzten Zeit schien Nicolai so eingesponnen in seiner eigenen Welt, dass der Abstand zwischen ihnen sich noch potenzierte. Es hatte ihn durchaus verblüfft, eine aufrichtige Entschuldigung zu vernehmen, für die harschen Worte, die ihr Engagement angesichts der Unvermeidlichkeit des Weltuntergangs diskreditierte. Dabei wirkte Nicolai keineswegs von dieser abgrundtiefen Resignation gezeichnet, die gelegentlich in seinen Reden mitschwang, wenn die Verzweiflung nicht mehr genug Treibstoff besaß. Es verblüffte Frieder, dass trotz der handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen diesen beiden so ungleichen Mitschülern keine unterschwellige Aggression oder Ablehnung herrschte. Ganz im Gegenteil. Sasha hielt sich zwar gewohnt zurück, doch seine nicht nachlassende Aufmerksamkeit fokussierte sich unzweideutig auf Nicolai. Der wiederum blieb geerdet, keine theatralischen Monologe, die von pathetischen Posen unterstrichen wurden. Offenbar hatte man Frieden geschlossen. Nun, er für seinen Teil war froh, dass Nicolai sie nicht erneut mit seiner fragilen Gesundheit in Schrecken versetzen würde. Außerdem war er mit Alban beinahe fertig, was die Inhalte betraf, sodass man den anstehenden Freitag nutzen konnte, an den Formulierungen zu feilen. "Habt ihr irgendwo eine Steckdose gesehen?" Erkundigte sich der gerade sehr aufgeräumt. Alle hatten von seinen kleinen Linsen-Bällchen probiert. Nicolai verputzte gerade vergnügt die zweite Mini-Zartbitterschokoladen-Reiswaffeltrümmer-Leckerei aus seiner eigenen Rezeptlinie. "Nur hier im Vorraum." Antwortete Sasha knapp. Er wirkte, zumindest nach Albans revidiertem Eindruck, zwar weiterhin grimmig und distanziert, doch in seinen Worten schwang weder Ablehnung, noch blitzten die schwarzen Augen Hölle und Verdammnis. "Warum?" Nicolai leckte sich ungeniert die feingliedrigen Finger ab. "Wir könnten morgen den Text ausformulieren." Antwortete Alban munter. "Mein Laptop hält nicht lange durch, ist leider schon ein älteres Modell, und es gibt keine Akkus mehr." Deshalb blieb der altersschwache Akku an seinem Platz, ausgenommen, man fand eine Steckdose, brachte das Verlängerungskabel zum Einsatz, das Alban schon häufig treue Dienste geleistet hatte. "Tja, da werdet ihr morgen einfach hier eure Zelte aufschlagen." Nicolai lächelte. "Ich glaube nicht, dass Frau Conradi Einwände hätte, wenn sie es wüsste." Man musste es ja gar nicht erwähnen, wenn sie zunächst artig die Lehrbibliothek bevölkerten. Er zwinkerte. Alban und Frieder tauschten einen kurzen Blick der Übereinkunft. Sie hatten sich zuvor als verschworene Gemeinschaft hinsichtlich Nicolais Zusammenbruch und Sashas Expeditionen erwiesen. Da würde auch diese kleine Freiheit unerwähnt bleiben. +*~ +*~ Nicolai kuschelte sich in das nach Sashas bewährtem Training aufgewärmte Sweatshirt, ließ sich seinen Kapuzenmantel umhängen. Er fühlte sich ein wenig schläfrig, wohl das berüchtigte 'Suppen-Koma' nach dem Mittagessen! "Hast du eigentlich auch ein Projekt?" Erkundigte er sich bei Sasha, der sich neben ihm in geschmeidiger Elastizität niederließ. "Selbstverständlich." Ein muskulöser Arm legte sich um Nicolais knochige Schultern, zog ihn näher heran. "Die Einsatzmöglichkeiten von Sonnenkollektoren und Windtürmen bei Mehrfamilienhäusern als Nachrüstung zur Energieversorgung." Den Kopf wendend studierte Nicolai die unleserlichen Züge auf einen Scherz hin. "Bist du auch ein Naturwissenschaftler?" Hakte er niedergeschmettert nach. Das war nicht gerade seine Forte. Sashas Mundwinkel kräuselten sich minimal, Zeichen seines Amüsements. "Ich weiß das üblicherweise recht gut zu verbergen." Neckte er Nicolai ein wenig. "Außerdem habe ich mein Thema schon eine Weile früher gewählt, weil ich es ja vorbereiten musste." Nun errötete Nicolai, richtete eilends den Blick auf seine einander biegenden Finger, während er verlegen auf seine dünne Lippe biss. Ein warmer Kuss drängte sich durch seine überlangen Strähnen, brannte sich wie ein Fanal auf seine Wange. "Ich bin ein zielstrebiger Typ." Raunte Sasha sonor. "Spricht das gegen mich?" Man konnte durchaus Anstoß daran nehmen, wie planstabsgemäß er sich auf die Möglichkeit vorbereite, dass Nicolai sich selbst an sein Limit brachte und in Konsequenz nicht an der Klassenfahrt teilnahm/teilnehmen durfte. Nicolai wand sich unbehaglich, gestand schließlich halb beschämt, halb kläglich. "Ich komme mir so simpel vor! Unzulänglich und egozentrisch." Immerhin hatte er nichts von Sashas offenbar genauer Observation bemerkt! Er bog seine Finger weiter in Kompensation der eigenen Verlegenheit. "Außerdem bist du dir so sicher! Das ist ein wenig einschüchternd." Sashas freie Hand beendete die unruhigen Übungen fortgeschrittener Fingergymnastik. "Ich gestehe, dass ich nicht unbedingt an Selbstzweifeln leide." Bekannte Sasha aufrichtig. "Es wäre also sehr nett von dir, wenn du mir die Grenzen setzt, die du für notwendig hältst." Prompt richtete sich Nicolai auf, starrte in die schwarzen Augen, ein schiefes Grinsen im Gesicht. "Du glaubst, ich könnte dich bremsen?! Mit welcher Armee?!" Konterte er selbstironisch. Sasha streichelte ihm über die bleiche Wange, lächelte. "Muss ich dir das wirklich sagen?" "Na ja, immerhin giltst du als brutaler Schläger und Unterdrücker..." Platzte Nicolai heraus. Er konnte nicht übersehen, wie sich unter dem kurz getrimmten Bart Sehnen anspannten, Sashas Miene zu einer frostigen Maske erstarrte. Unwillkürlich biss er sich selbst auf die dünne Lippe, hob die Rechte, legte sie wagemutig auf Sashas linke Wange. "Denkst du auch so von mir?" Gefährlich ruhig und beherrscht formulierte der seine Frage. Stumm schüttelte Nicolai den Kopf, bevor er sich räusperte, murmelte. "Allerdings weiß ich gar nichts über dich." Schwungvoll wandte der sich herum, löste den Arm von Nicolais knochiger Schulterpartie, kreuzte die Beine, hob sich ohne Federlesen den Adressaten seiner leidenschaftlichen Gefühle darauf, zog ihn eng an sich. Ohne einmal zu zwinkern, mit nachtschwarzem Laserblick in die grauen Augen. "Frag mich." Forderte er den überrumpelten Nicolai auf. "Frag alles, was du wissen willst. Ich werde dir antworten." Nicolai biss sich unwillkürlich auf die dünne Lippe, wich aber den forschenden, schwarzen Augen nicht aus. Da Sashas Hände sich hinter seiner mageren Kehrseite verschränkten, hatten seine eigenen keinen Halt mehr, klammerten sich ohne bewusste Entscheidung in die T-Shirt-Ärmel, zerknitterten den Stoff. Unter seinen knochigen Oberschenkeln spürte er die Kraft von Sashas Beinmuskeln, fest und doch elastisch, durch den Stoff Wärme verströmend. Eine verführerische Gabe für ihn, den stets Frierenden! "Bist du tatsächlich ein Schläger?" Wisperte Nicolai schließlich nervös. "Du meinst, abgesehen von der Ohrfeige?" Sashas grimmige Miene blieb unverändert, in seiner tiefen Stimme klang jedoch unüberhörbar Selbstironie mit. Erneut seine Unterlippe kurz benagend konterte Nicolai. "War das nicht eher eine Art erweiterte Erste Hilfe?" Sasha studierte ihn lange Augenblicke. Die Mundwinkel kräuselten sich im sorgsam getrimmten Bart. "Eher ein Akt von Dummheit, Panik und falschem Vorbild." Antwortete er schließlich, etwas bitter. "Leider bin ich sehr viel weniger clever, als ich mir gern einbilde." "Wieso?" "Weil ein wirklich kluger Mensch nicht auf so eine primitive Methode verfallen wäre." Sashas Arme schlangen sich eng um Nicolais knochige Schultern, beförderten ihn nachdrücklich an Sashas breite Brust. Nicolai spürte die Rechte, die sich um seinen Nacken legte, warm, fest, verlässlich. "Den gleichen Effekt hätte ich auch erzielt, wenn ich dich einfach geküsst hätte." Raunte es durchaus selbstkritisch an seinem Ohr. Auch da hätte die Verblüffung die Erregungsspirale bis zu einem hysterischen Ausbruch durchbrochen, und um so viel angenehmer als ein Hieb! "Es tut mir leid. Das war sehr dumm von mir." Ergänzte Sasha leise. Die Hände gegen den muskulösen Brustkorb stemmend konnte sich Nicolai mit einiger Anstrengung aus der Umarmung so weit lösen, dass er Sasha ins Gesicht sehen konnte. Die Ohrfeige nahm er ihm nicht krumm, hatte sie schon abgehakt. Viel stärkeren Eindruck hatte es auf ihn gemacht, dass jemand die körperliche Distanz einfach überwunden hatte. DAS war eingeschlagen wie eine Bombe! Kam er sich vorher gelegentlich wie ein Beobachter, ein Objekt, eine körperlose Existenz im eigenen Alltag vor, so hatte er in jenem Augenblick durch die Resonanzwellen des Schlags urplötzlich all seine körperlichen Grenzen wieder gespürt, wurde an die Abgrenzung, die Separation erinnert, die er selbst darstellte. Ein 'Weckgruß', sich nicht selbst vollständig zu verlieren. Nicolai hob die Hände, streichelte mit den Fingerkuppen sehr vorsichtig über Sashas ausgeprägte Gesichtszüge, den erstaunlich weichen, dichten Bartwuchs. Er zuckte nicht zurück, als sich der Griff um seinen Körper verstärkte, ihn warme, trockene Lippen zum Ziel nahmen, ließ die versierte Zunge passieren und sich verwöhnen. Hitze durchströmte ihn, willkommen und ungewohnt zugleich. Wenn Sasha ihm kurze Verschnaufpausen gewährte, lehnte er stets die Stirn an seine, löste seine feste Umarmung jedoch um keinen Millimeter. Atemzüge kondensierten zwischen ihnen, beschlugen freie Hautpartien mit einem feinen Dunstbelag. Nicolai spürte, wie ihn ein leichter Schwindel überkam. Er vergrub das Gesicht in Sashas Halsbeuge, schämte sich seiner stoßweisen Atemzüge. Wirklich, er hatte so überhaupt kein Durchhaltevermögen! Sashas Rechte streifte wieder von seinem Schopf langsam hinunter bis zu seinem Steiß, eine warme, zärtliche Spur der Zuneigung. "Ich habe gegen niemanden außer dir die Hand erhoben, seit ich hierher gekommen bin." Wisperte Sasha ihm sonor ins Ohr. "In der Zeit davor bin ich durchaus ein Schläger gewesen." "Wo warst du davor?" Wie ein kleines Kind ließ Nicolai sich wiegen, eingekuschelt in die muskulösen Arme, auf Tuchfühlung mit einem ebenso beschleunigten Herzschlag. Sasha schnaubte sehr leise, spannte sich für einen Moment an, wurde zu Stahl, eisernen Banden, unnachgiebig, hart, abweisend. Seine Rechte wanderte erneut den Pfad hinunter zu Nicolais Steiß, langsam, beruhigend, als kraule man ein geliebtes Tier. Für Nicolai entstand jedoch der spontane Eindruck, dass Sasha sich selbst trösten wollte. Weil das nicht ging, übertrug der die Zärtlichkeiten auf ihn. Was er sich selbst nicht zugestehen wollte, das wurde Nicolai zugedacht. "Vorher, da habe ich etwa hundert Kilometer von hier entfernt in einer Stadt gelebt, in einem 'sozial nur rudimentär durchmischten Geviert', wie es so schön hieß. Mehrere Häuserblocks mit Leuten, die hauptsächlich und generationenübergreifend von staatlichen 'Transferleistungen' leben." Sashas Stimme beschlug, wurde rau, scharrtig, seine Aussprache konsonantisch. Seine Liebkosungen verstärkten sich. Er wiegte Nicolai sanft durch das minimale Anspannen seiner Oberschenkelmuskeln. »Das meint ihn eigentlich selbst!« Bestätigte sich Nicolai seine verblüffende Vermutung. Prompt, weil es ihm die Kehle zuschnürte, begann er, mit beiden Händen Sashas durchtrainierte Rückenpartie zu bestreichen. "Ich bin dort geboren worden." Sasha schnarrte kehlig, verächtlich. "Den Migrationshintergrund besorgten meine Mutter und der Rest der 'lieben Familie'. Irgendwo muss noch ein deutscher Schäferhund dabei gewesen sein." Spielte er ätzend auf die üble Nachrede zu Aussiedelnden an. "Dort, wo sie 'ihn' verscharrt haben, war es so trostlos, da ist man eben ausgewandert, bloß nie richtig angekommen." Nicolai richtete sich auf, legte die Hände um Sashas Gesicht, studierte ihn besorgt. Sollte er es lieber auf sich bewenden lassen?! Warum etwas eruieren, was Sasha so verärgerte? Der hatte ihm auf alle Fragen eine Antwort versprochen, aber man musste deshalb noch lange nicht alles fragen, richtig?! "Bitte schau nicht so mitfühlend drein." Tadelte Sasha ihn mit selbstironischem Lächeln. "Sonst tue ich mir noch selbst leid, und das ist beileibe nicht nötig." Sofort biss sich Nicolai auf die Lippe. Hatte er Sashas Stolz verletzt? "Nicht." Die schwarzen Augen hinter halb gesenkten Lidern konzentrierten sich auf die Reflexe, die Nicolais Gemütszustand bei geübter Beobachtung verriet. Sasha verkürzte die Distanz auf Kussnähe, liebkoste, wo Zähne Spuren hinterlassen hatten. Nachdem er den rosigen Schimmer wieder zur eigenen Zufriedenheit hergestellt hatte, lehnte er seine Stirn an Nicolais an, der rascher atmete, ihm jedoch nicht auswich. "Ich bin kein netter Kerl." Raunte er. "Ich bin ein arroganter Egoist, der sich für ziemlich schlau hält und beinahe alles verachtet, was seine Herkunft ausmacht." DAS konnte Nicolai nicht glauben, aber es klang nicht, als fische Sasha umständlich nach Komplimenten durch Protest oder Widerrede. Ein bitteres Lächeln kräuselte die Mundwinkel. "Meinen biologischen Vater kenne ich nicht. Meine Mutter ist mit allem überfordert, stets jammernd und klagend, häufig arbeitslos und unterbeschäftigt. Der Rest meiner Sippe zeichnet sich durch vollkommen ungerechtfertigtes Anspruchsdenken, mangelnde Fähigkeiten und vorsätzliche Ignoranz aus." Seine Hände strichen über Nicolais knochige Flanken, auf und nieder. "Ich habe es vermieden, zu Hause zu sein, bin in der Schule geblieben, vom ersten Aufschließen bis zum Torverschluss. Am Wochenende bin ich im Gemeindezentrum gewesen, obwohl ich als notorischer Atheist da nichts zu suchen hatte. Ich wollte bloß weg aus diesem Morast aus Dummheit, Heimtücke, widerwärtigen Hierarchien und erbärmlicher Kleinkriminalität!" Nun hob er den Blick wieder, aus den schwarzen Augen funkelte der unbarmherzige Wille, der sich auch in den geballten Fäusten manifestierte. "Ich bin ich, habe mich selbst gemacht, mit Büchern, mit Sport, mit Engagement. Ich wollte da raus, weg, diese Wurzeln kappen, bevor ich die Fäulnis nicht mehr aufhalten kann." Nicolai schauderte unwillkürlich, was Sasha keineswegs entging. Tröstend streichelte er durch die überlangen Strähnen, kämmte sie hinter die Ohren. "Ich bin wirklich kein netter Kerl." Wiederholte er ruhig. "Mit Disziplin und Selbstbeherrschung kann ich meine zahlreichen schlechten Eigenheiten in Schach halten. Das fällt mir hier viel leichter." Bevor Sasha sich ein wenig zurückziehen konnte, schnappte Nicolai rasch die kraftvollen Hände, hielt sie fest. "Du BIST ein wirklich netter Kerl!" Widersprach er leise, aber nachdrücklich. "Du bist hier, mit mir zusammen." Er ergänzte mit strengem Blick auf den erwarteten Einspruch. "Ganz gleich, was für niedrige oder unehrenhafte Motive du gleich wieder anführen willst: nur ein netter Kerl macht sich so viele Gedanken. Oder wischt meine Straßenpizza auf." Er seufzte leise. Sasha betrachtete ihn eine Weile unverwandt, hielt die kalten Hände fest. "Dabei kennst du den Rest der Geschichte noch gar nicht." Er lächelte. Die Zunge blieb erster Sieger, bevor sich Nicolai bremsen konnte: er bleckte sie trotzig Sasha entgegen. Der grinste, wirkte unerwartet lausbübisch, nicht wie der personifizierte Ingrimm. Weil sie offenbar beschäftigungslos war, kam er Nicolai entgegen, küsste ihn erneut mit steigender Leidenschaft, umschlang ihn eng, ließ nicht locker, bis sie beide, wenn auch in unterschiedlichen Graden, nach Luft rangen. "Erzähl mir bitte auch den Rest." Nicolai kuschelte sich an, aufs Angenehmste erhitzt. "Der Rest ist auch nicht besser." Sasha arrangierte Nicolais Beine auf eine Seite, bestrich dann Po und Hüften. "Die Großmäuler um mich herum waren mir zu blöd, ihre falsche Selbstwahrnehmung lächerlich, ihr Auftreten angesichts ihrer Fähigkeiten peinlich. Wenn sie mich nicht in Ruhe ließen, habe ich ihnen das auch mitgeteilt. Also gab es des Öfteren 'körperliche Kommunikation'. Sie konnten mir allein nicht beikommen, deshalb versuchten sie es zu mehreren. Ich habe ihnen gedroht, ich würde sie anzeigen. Bevor sie mir tatsächlich gefährlich werden konnten, bin ich zum Polizeirevier marschiert mit allem, was ich hatte. Gute Vorbereitung zahlt sich da aus. In der Folge wurde es ziemlich ungemütlich in der Gegend." Sasha nahm Nicolais Hand auf, die sich in sein T-Shirt gekrallt hatte, küsste den Handrücken sanft. Er spürte den besorgten Blick aus den grauen Augen. "Natürlich wurden nur einige wenige gleich einkassiert, aber die anderen waren jetzt vorgemerkt. Die Steuerfahndung stand auch auf der Matte. Eine gute Gelegenheit, mal ein wenig für Ordnung zu sorgen." Wieder spannten sich die Kiefermuskeln sichtbar an. "Für mich die ersehnte Chance, aus dem Morast rauszukommen. Ich habe beim Jugendamt vorgesprochen, auch mit meinem Amtsvormund, dass es für alle besser wäre, wenn ich woanders die Oberstufe besuchen könnte. Die Schule hat mich auch unterstützt, aber es gab Zweifel, ob ich ohne Wohngruppe allein klar kommen würde. Über die Gemeinde, bei der ich immer ausgeholfen habe, wurde dann der Vorschlag gemacht, in einem Wohnheim unterzukommen, was in Kürze aufgegeben werden sollte wegen Sanierungsarbeiten. Aufgrund der Niedrigzinsphase aktuell hat man noch nicht die notwendigen Kreditzusagen, sodass es klappen könnte bis zum Schulabschluss. Alle Beteiligten haben sich geeinigt, auch wenn da örtliche Zuständigkeiten wechselten. So bin ich hier gelandet. Eine Reisetasche, ein Rucksack, bereit, alles zu schaffen." Nicolai setzte sich auf. Was hatte er nicht für zum Teil lächerliche Gerüchte über Sasha gehört, und welche hatte der gerade durch sein Auftreten noch befeuert! Aber nichts entsprach der ernüchternden, sogar einschüchternden Realität. Trotz all dieser Umstände hatte Sasha sich zusätzlich noch der Mühe unterzogen, ihm zu helfen, ihn zu retten aus dem lächerlichen Dilemma jugendlicher Selbstverblendung, verzweifelt der eigenen Energie die RICHTIGE, sinnstiftende Richtung zu geben! Aus einem Impuls heraus begann Nicolai, Sashas Wangen zu liebkosen, über den dichten Bart zu streicheln. Die schwarzen Augen blinzelten nicht mal. Sashas Mundwinkel zuckten, nicht spöttisch. Langsam hob er die Hände, tupfte mit den Fingerspitzen die feuchten Spuren von Nicolais Gesicht, der nicht einmal registriert hatte, dass sich sein Blick verschleierte. "Es geht mir gut." Raunte er sonor, fing Nicolai ein, umarmte ihn erstickend eng. "Jetzt ist doch alles gut!" Nicolai klammerte mit gleicher Vehemenz. Wie allein musste Sasha sich vorgekommen sein! Trotzdem hatte der beherzt und entschlossen für sich selbst gekämpft. Kein Wunder, dass er sich immer noch wappnete mit der Maske des finsteren Schlägers, wenn sie ihm doch bisher so gut gedient hatte. "Entschuldige!" Würgte Nicolai am Kloß in seiner Kehle vorbei. "Ich hab dir auch noch Mühe gemacht." "Nein." Antwortete Sasha rau. "Hast du nicht. Du hast mir Stoff zum Nachdenken gegeben, endlich mal über den Morast hinaus. Außerdem..." "Außerdem?" Nicolai hauchte die Silben zögerlich. Sasha atmete tief durch, eine Bewegung, die ihre eng umschlungenen Körper gemeinsam erfasste. "Ich hätte nie gedacht, dass ich mal körperliche Nähe außerhalb von Schlägereien suche." Murmelte er halb spöttisch, halb verlegen. "Und dass ich zu diesen fürchterlichen Typen gehöre, die einfach ihre Finger nicht bei sich behalten können." Nicolai lachte leise, schmiegte sich entschieden an. "Das ist in Ordnung." Versicherte er errötend. "Das sagst DU!" Knurrte Sasha brummig. "Aber mein Stolz auf meine Selbstdisziplin leidet erheblich! Ob sich dieser Drang mal auswächst..." Ergänzte er betont finster. "Es ist in Ordnung!" Wiederholte Nicolai streng, nachdem er sich aufgerichtet, Sashas Kopf zwischen seinen Händen fixiert hatte, sodass Blickkontakt unvermeidlich war. Mochte es durchaus ungewohnt sein, dass jemand seine Nähe suchte, so fand Nicolai, dass er all die damit transportierten Gefühle, die Sasha sich selbst nicht durchgehen lassen wollte, durchaus weitergeben konnte. Selbst wenn ihm (noch!) die Spontanität und Selbstverständlichkeit der Gesten abgingen. Die schwarzen Augen durchbohrten ihn förmlich, prüfend, abwägend. "Wäre es auch in Ordnung, wenn ich dich bitte, mein ganz sicher nicht nur platonischer Freund zu sein? Wenn ich mich vor anderen mal vergesse und dir nahe trete?" Nicolais Herzschlag beschleunigte, trotzdem konnte die Aufregung sein Lächeln nicht vertreiben. "Fragst du mich gerade, ob du mit mir gehen darfst?" Konterte er neckend mit einer Gegenfrage. "Willst du?" Sasha schoss zurück. Nicolai antwortete nicht sofort. Das hier war keine Spielerei, ganz gleich, wie amüsiert er formulierte. Sasha war niemand, der aus einer wankelmütigen Laune heraus so viel von sich preisgab, ganz zu schweigen von all den Umständen, die selbst eine Tändelei nicht mit Nachsicht oder Langmut aufnehmen würden. Man musste alles wagen, die 'Ruhe' verabschieden, den unausgesprochenen Waffenstillstand. Jede Beziehung kam auf den Prüfstand. Trotzdem. "Ich will." Versicherte Nicolai entschieden. So eine Chance, die Gelegenheit auf Glück, Erfüllung, Kameradschaft, Vertrauen, Nähe und Unterstützung, die konnte er nicht vergehen lassen! Sasha lächelte. Er pflückte Nicolais Hände von seinen Wangen. "Es sei!" Verkündete er majestätisch. "Jetzt will ich dich küssen!" Ein Vorhaben, das keinerlei Einwände nach sich zog, vielmehr ausgedehnte Explorationen auf einem noch sehr ergiebigen Forschungsgebiet. +*~ +*~ Frieder nahm die Bücher auf die Arme, die noch einzustellen waren. Alban sortierte mit eifrig geröteten Wangen die eng beschriebenen Seiten. Als Frieder sich mit etwas Vorsicht den hinteren Regalen näherte, staunte er nicht schlecht. »Da schau her!« Schoss ihm durch den Kopf. Sasha lehnte sitzend an einem Regal, Nicolais Kopf auf seinen Schoß gebetet, mit seinem Kapuzenmantel zugedeckt, las ihm leise etwas aus einem schmalen Band vor. Wenn er nicht blätterte, streichelte seine freie Hand durch die überlangen Strähnen. Betont einen neutralen Gesichtsausdruck präsentierend kehrte er zu Alban zurück, nachdem er auf Zehenspitzen die Regallücken aufgefüllt hatte. Seine Bemühungen versandeten jedoch, denn Alban schenkte ihm einen besorgten Blick. "Stimmt etwas nicht?" Erkundigte er sich bange. Ablenkung tat Not. "Was machst du da mit den Blättern?" Erkundigte sich Frieder tapfer. Prompt scharrte Alban mit den Kunststoff-Clogs, lief rot an, senkte den Blick betreten. Neben ihm auf dem Tisch lagen ein Stück Knete, eine Stanz-/Stopfnadel sowie eine Garnspule mit einer Nähnadel und eine kleine Schere. Bei Frieder fiel der Groschen. "Oh, du nähst die Seiten zusammen?" Andere benutzten ein Heftgerät, einen sogenannten Tacker, mit Metallklammern. "Nicht gerade Recycling-freundlich." Sprach Frieder seine Überlegungen aus. "Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht." Alban durchaus. "Es ist ja nur für die Notizen. Wenn wir die Seiten ausdrucken..." Murmelte Alban geknickt. Frieder ließ sich neben ihm nieder, ebenfalls zerknirscht, wie leicht die letzten Erfahrungen an der neuen Schule Alban in den Rückzug zwangen. Dass ausgerechnet er sich nicht sonderlich davon abhob. "Ich finde es gut." Beruhigte er Alban. "Klar werden wir die Ausdrucke auch so binden! Ich war bloß erstaunt." Nun hellte sich Albans Miene sichtlich auf, das Scharren endete. "Ich hätte dich bestimmt vorher auch gefragt!" Versicherte Alban aufrichtig. "Mir fällt es einfach leichter, die Blätter so zusammen zu halten. Holzklammern sind da nicht so zuverlässig." Erläuterte er die technischen Varianten. Nickend überlegte Frieder, ob und wie er Alban mitteilen sollte, was ihn tatsächlich zu einer so missverständlichen Mimik veranlasst hatte. "Stimmt denn was Anderes nicht?" Alban beäugte ihn aufmerksam. Sich die wilde Lockenpracht raufend justierte Frieder seine Brille, seufzte mit sackenden Schultern. Eigentlich hatte er aus übler, persönlicher Erfahrung für Klatsch nicht viel übrig. Andererseits ärgerte er sich darüber, wie Albans freundliche Offenheit notorisch gegen Wände lief, in vermeintliche Fettnäpfchen trampelte, weil er mit den herrschenden 'Regeln' nicht vertraut war. "Also, Nico und Sasha verstehen sich sehr viel besser." Formulierte er endlich vorsichtig. "Das ist mir auch aufgefallen. Gut, oder?" Alban lächelte. "Sasha ist gar nicht so garstig, wie es den Anschein hat." "...ja~ha..." Bestätigte Frieder gedehnt. Alban betrachtete ihn einen Moment länger, die Stirn gerunzelt. Er seufzte leise. "Ich hab's schon wieder nicht verstanden, oder?" Frieder konnte nicht anders, er lächelte, klopfte Alban behutsam auf die herabgesunkenen Schultern. "Ich finde es gut, dass du so ehrlich und geradeheraus bist und positiv über andere denkst. Was die beiden betrifft, sind sie wohl, na ja, liiert?" Frieder kraulte seinen üppigen Lockenmopp verlegen. "Ehrlich?" Alban staunte. "Das ging aber schnell, oder? Sasha ist doch neu an der Schule. Wenn er so grimmig guckt, da muss man Mut haben, um ihn überhaupt anzusprechen!" Er schien vor Nicolai mental den Hut zu lupfen, was in Frieders Augen besonders liebenswert war. So viel Arglosigkeit, oder eher positiven Kredit, das imponierte ihm. "Vielleicht sollten wir diskret sein." Entgegnete er Alban. "Solange es noch nicht offiziell ist." "Unbedingt!" Nickte Alban kräftig und mehrfach. "Ich werde mich zusammenreißen." Immerhin wollte er sich ja ernsthaft darum bemühen, nicht mehr so häufig anzuecken und die wenigen Jugendlichen, die ihn nicht rundweg ablehnten, unbeabsichtigt vor den Kopf zu stoßen. Frieder klopfte noch einmal die Schulter. "Du machst das schon richtig." Alban erstrahlte förmlich bei dem bescheidenen, aber aufrichtigen Lob. »So sehr haben die vergangenen Monate ihn verunsichert!« Grollte Frieder. "Weißt du was?" Er erhob sich. "Wir machen Schluss und gönnen uns was Leckeres! Wie denkst du über Süßes im Café Ve-Grannies?" Er konnte sich begeisterter Zustimmung sicher sein. +*~ +*~ Sasha schüttelte Nicolai sanft an einer knochigen Schulter. Der ächzte leise, blinzelte aus verklebten Wimpern, bedurfte beim Aufrichten der Assistenz. Er war tatsächlich in einen tiefen Schlummer auf Sashas Schoß gefallen. "Uh!" Murmelte er, rieb sich kindlich die Augen. "Entschuldigung..." Eine Hand kontrollierte erst die Temperatur an der Stirn, in der Halsbeuge und schließlich die der Rechten: hitzig, hitzig, klamm-kalt. Auch die Flecken auf den eingefallenen Wangen sprachen Bände. "Du hast wohl ein leichtes Fieber." Sasha, trotz der zwangsweise sehr ruhigen Haltung noch immer elastisch (Minimal-Kontraktionen von Muskeln und Bändern gehörten zu seinem täglichen Programm), half Nicolai in die Senkrechte, lehnte ihn gegen ein Regal. Die grauen Augen glänzten poliert, in Augen- und Mundwinkel blätterten raue, ausgetrocknete Hautschüppchen ab. "Es ist Schluss für heute, Frau Conradi kommt bestimmt gleich." Erläuterte Sasha, während er Nicolai in den Kapuzenmantel wickelte. "Ich bringe dich heim." "Oh, mach dir keine Umstände, das schaff ich schon." Nicolai zwang ein zuversichtliches Lächeln auf seine Züge, aber er fühlte sich wirklich seltsam entrückt. "Das sind keine Umstände." Versicherte Sasha, zog ihn an der Hand hinter sich her, lediglich in T-Shirt und Jeans gekleidet, die eigene Jacke unter den Arm geklemmt. Im Vorraum wartete eine kurze Nachricht auf sie: [Hallo, wir haben früher Schluss gemacht. Bis morgen!] Darunter grinsten ihnen zwei Vollmondgesichter entgegen. Sasha sammelte die Taschen ein, streifte sich die eigene Jacke über, nahm Nicolais Hand wieder in Beschlag. "Gehen wir, Nico." Gab er das Kommando aus. Frau Conradi würde ihnen bestimmt auf dem Weg nach draußen begegnen. +*~ +*~ "Danke schön." Murmelte Nicolai artig, nur noch in T-Shirt und Unterhose, mit stark verdünntem Orangensaft ausgestattet, neben sich eine weitere Packung von Protein-Keksen. "Schlaf dich aus." Empfahl Sasha, schlug die Bettdecke auf, damit Nicolai darunter schlüpfen konnte. "Morgen ist auch noch ein Tag." Nicolai, fürsorglich die Decke festgestopft, seufzte. "Oh ja, ich muss auch noch mein Urteil verfassen..." "Morgen!" Verkündete Sasha strikt, beugte sich hinab, küsste Nicolai sanft auf die Stirn. "Erst Augenpflege. Dann sehen wir weiter." Lächelnd kuschelte sich Nicolai ein, wisperte. "Danke, Sasha." Der stand bereits, die üblich grimmige Miene aufgesetzt, der Welt die Stirn zu bieten. Nun erwiderte er mit kräuselnden Mundwinkeln das müde Lächeln. "Gern geschehen. Und natürlich ganz eigennützig." "Damit du mich morgen wieder küssen kannst?" Tippte Nicolai, dem schon die Lider vor Mattigkeit flatterten. "Unter anderem." Schnurrte Sasha guttural, stieß noch einmal blitzartig hinab, um Nicolai den Mund zu versiegeln. Er bewegte sich lautlos bis zur Tür, löschte das Licht, schloss mit einem leisen "schlaf gut" die Tür hinter sich. +*~ +*~ Kapitel 4 - Energieaustausch Frau Conradi registrierte vier eifrig-aufgeweckte Jugendliche, die versicherten, sie seien auf der Zielgerade, was ihre Projekte bzw. Aufgaben betraf. Das gefiel ihr sehr viel besser als die Hiobsbotschaften zum Fortschritt der Renovierung der geschlossenen Kantine. Die "Volkxküche" konnte kein Dauerzustand werden! Während sie mit eigenen Sorgen grimmig und entschlossen zu ihrem "Pop-Up"-Büro davon marschierte, um einigen Verantwortlichen den Marsch zu blasen und Lösungen einzufordern, warteten Frieder und Alban artig auf das Verklingen ihrer Schritte. Sie legten das Verlängerungskabel aus, um den antiken, aber arbeitstüchtigen Laptop in Gebrauch zu nehmen. Die Köpfe zusammensteckend, um aus den artig aufgefädelten Notizblättern die druckreife Version (mit ansprechendem Layout und Zeichnungen) zu kreieren, kümmerten sie sich nicht über Gebühr um Sasha und Nicolai. Sashas Bericht wartete bereits, in Werbeprospekte eingeschlagen, um Verschmutzungen zu verhindern. Die kreative "Bindetechnik" von Alban hatte er nicht adaptiert, da das Multifunktionsgerät der Schule neben dem Ausdruck per Netzwerk auch eine Heftfunktion bot. Nicolai, in Sashas Sweatshirt vom Vortag gewickelt, das er nicht gewillt war, der Wäscherei anzuvertrauen, beugte sich über seinen Spiralblock mit heraustrennbaren Seiten, brachte den Bleistift zum Einsatz. Er registrierte, dass Sasha sich selbst beschäftigte, ihm ein wenig Freiraum zugestand, um die eigenen Gedanken zu formulieren. +*~ +*~ "Sehr geehrte Frau Rektorin Conradi, verehrtes Kollegium, ich danke Ihnen für die Gelegenheit, mein Strafmaß selbst vorschlagen zu dürfen. Selbstverständlich bin ich mir darüber bewusst, dass es keinerlei Rechtfertigung dafür gibt, im Physikunterricht anstelle der etwas faden, aber untadeligen Reportage über einen Kernreaktor einen pornographischen Streifen abzuspielen, dessen Urheberrechte ich vermutlich auch verletzt habe. [Anmerkung: dem Originalfilm war keine Kennzeichnung oder etwas Ähnliches zu entnehmen, sodass es sich auch um eine Art private Produktion handeln könnte.] Ich habe es getan, um Aufmerksamkeit auf mich zu lenken und auf billige Art und Weise Zuspruch und Unterstützung zu gewinnen. Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass es konstruktive Möglichkeiten gibt, das gleiche Ziel zu erreichen, zum Beispiel sich für Projekte der Klassengemeinschaft einzusetzen oder ehrenamtlich die Schulgemeinschaft zu fördern. Meine persönliche Eitelkeit hat den Ausschlag gegeben. Ich fand das Abspielgerät in einem schönen Kasten auf einem Flohmarkt. Als eine kleine Herausforderung nahm ich mir vor, den Projektor zu reinigen und falls möglich wieder in Gebrauch zu nehmen. Was sich auf dem beiliegenden Streifen befand, wusste auch der Verkäufer nicht oder wollte es mir nicht sagen. Nachdem ich in mühevoller Arbeit während der Weihnachtsferien diese Aufgabe gemeistert hatte, kam mir die Idee, eine eigene Version zu schneiden. Dafür habe ich Bild um Bild an die Wand projiziert, fotografiert, am Computer bearbeitet und arrangiert. Eigentlich hätte ich mit meinem Erfolg zufrieden sein müssen, doch meine vorangehend erwähnte Eitelkeit trieb mich dazu, eine Vorführungsmöglichkeit für ein breiteres Publikum zu suchen. Selbstverständlich habe ich alle digitalen Dateien gelöscht und den Originalfilm zerschnitten. Die Reste befinden sich vermutlich schon bei der thermischen Entsorgung. Den Projektor allerdings wollte ich nicht zerstören, also habe ich inseriert und ihn an eine Pflegeeinrichtung abgegeben, in der Demenzkranke betreut werden. Sie erinnern das Geräusch und das Gerät wohl an früher, Kinobesuche, Filmvorführungen. Ich habe selbst vorgeschlagen, mich als Konsequenz von der Abschlussfahrt auszuschließen. Meinen Eltern habe ich die Kosten durch mein Taschengeld bereits ersetzt. Ich akzeptiere auch einen Eintrag in mein Zeugnis. Aber wie Sie schon bemerkt haben: der Ausschluss bedeutete für mich keine Strafe, im Gegenteil. Es hat mich erleichtert, hier bleiben zu dürfen. Ich bin überzeugt davon, dass Sie, Frau Conradi, das bemerkt haben. Ich habe Sie, wie wahrscheinlich diverse Generationen zuvor, oft strapaziert mit der albernen Attitüde eines Weltschmerzleidenden, eines Rebellen ohne Sinn und Verstand, der sich nicht einfügen will in die Gesetzmäßigkeiten der Vergänglichkeit. Gebildetere, klügere, wortgewandte Personen haben diesen Zustand schon vor mir beschrieben. Ihre Werke zählen zum Klassik-Kanon. Auch hier ist es meine Eitelkeit, die mich antreibt. Obwohl mir bewusst ist, dass meine Existenz nicht mehr als ein Wimpernschlag in der Zeit ist, unwesentlich und unbedeutend, hadere ich mit mir und der Welt. All die rationalen Argumente und Beweise genügen nicht, Herz und Bauch zu überstimmen. Was soll man, was soll ICH tun, wenn alles vergeblich ist? Wie soll ich leben, wofür mich einsetzen, welche Zukunft anstreben? Ich weiß auch, dass alle irgendwann das Unveränderliche akzeptieren, sich einfügen, einen Weg finden, finden müssen, aber im Augenblick, sogar schon für eine ganze Weile, drehe ich mich im Kreis und finde keinen Ausweg. Ich möchte eine Lösung finden, etwas, das ich mit Leidenschaft und Engagement verfolgen kann. Ich fühle mich selbst nicht albern mit diesem verzweifelten Verlangen, auch wenn es von außen für alle anderen so erscheinen mag und ich mich als unfähig empfinde, diese widerstreitenden Emotionen in Worte zu fassen. Ein Teil von mir setzt die gesellschaftliche Maske auf, funktioniert erwartungsgemäß und spielt artig seine Rolle, ja, verspottet sich selbst für die verborgenen Anteile. Doch diese sind weiterhin vorhanden, verlangen Aufmerksamkeit, wollen nicht pausenlos unterdrückt werden. Eine ganze Woche Theater spielen, das wäre mir wohl nicht gelungen, also bin ich noch straflos. In dieser Woche ist jedoch eine Menge passiert. Ich habe drei Mitschüler besser kennengelernt als zuvor während der wenigen gemeinsamen Unterrichtsstunden. Sie alle haben sich wunderbare Themen ausgesucht, sich um Erkenntnisse bemüht. Sie vertreten entschieden und doch aufgeschlossen ihre Ansichten und Ziele. Ich beneide sie um diese Fähigkeit, fühle mich zurückgelassen in meinem Kreisel, der mich nicht aus dem Labyrinth meiner eigenen Ansprüche und Zwänge entlässt. Ich habe auch viele Denkanstöße bekommen, einen 'Fingerzeig', der mir endlich ENDLICH einen neuen Pfad markiert, einen eigenen Weg zu finden, der für mich Berechtigung ist, ungeachtet der Endlichkeit und Vergänglichkeit allen Seins und Strebens. Ich habe diese aufregende Woche genossen, ein Wechselbad der Gefühle durchlebt. Also bin ich sogar belohnt worden für meine Missetat. Die Strafe, die mich wirklich treffen kann, ist daher leicht zu ermessen: der zeitweilige Ausschluss vom Schulbesuch. Ich werde nicht behaupten, dass ich Klassenarbeiten oder den Unterricht erheblich vermisse, das entspräche nicht der Wahrheit, aber die Gesellschaft, die Freundschaft, den Diskurs, die Heimat, die mir der Schulbesuch bietet. Ich akzeptiere die Sanktionen für mein Vergehen. Ich bitte Sie darum, die Zeitspanne nicht zu groß zu bemessen. Mit mir allein gelassen, auf mich selbst zurückgeworfen, fürchte ich, dass ich dem Sog des Kreisels wieder erliege. Bitte gewähren Sie mir Nachsicht." +*~ +*~ Sasha schob die Blätter ordentlich zusammen. Nicolai kauerte auf dem Stuhl neben ihm, die Beine vor den Körper gezogen, sie umklammernd, versteckte sich hinter den überlangen Strähnen. "Gut formuliert." Gab Sasha sein Verdikt ab, streckte die Hand aus, streichelte behutsam durch Nicolais wirren Schopf. Nicolai seufzte leise. "Ziemlich peinlich, wenn man sich für einigermaßen klug hält und trotzdem..." Sich erhebend streckte Sasha ihm die Hände hin. Zögerlich klappte Nicolai die Beine herunter, nahm die Hände, ließ sich aufhelfen. Für einen langen Augenblick studierte Sasha ihn ungerührt, zog ihn in eine enge Umarmung, wiegte ihn sanft. "Du machst das schon richtig." Raunte es an Nicolais Ohr. "Es wird aufwärts gehen, Nico." Der kicherte erstickt. "Die Hälfte deiner Zuversicht möchte ich haben!" Spöttelte er über sich selbst, schmiegte sich an den muskulösen Körper. Kein feiner Zug, sich auf Sasha zu stützen, der ohnehin so viele Belastungen zu stemmen hatte! Hastig dirigierte er ihn also ein wenig auf Distanz. "Tut mir leid, ich mute dir so viel zu..." Weiter kam er nicht, da Sasha die bessere Alternative einer Ohrfeige zum Einsatz brachte, Nicolai so ausdauernd und versiert küsste, dass der keuchend wie ein nasser Lappen in seinen Armen hing. "..ich...ich glaub, meine...Füße...sind...weg!" Stammelte er benommen, angenehm erhitzt. Sasha lachte leise, hielt ihn sicher und aufrecht. "Deine Füße sind noch da, vertrau mir. Halt dich einfach an mir fest." Tröstete er amüsiert. "Gemein!" Beschwerte sich Nicolai, rückte jedoch keinen Millimeter ab, verstärkte die Umklammerung seiner mageren Arme um Sashas Nacken und Schultern. "Ich lass dich nicht fallen." Versprach Sasha ihm sanft, kaum mehr als ein Raunen. Obwohl sie nichts weiter TATEN, beschleunigte sich Nicolais Herzschlag. Durch den Stoff spürte er auch, dass Sasha ihm nicht viel ruhiger auf der Spur war. Weiter südlich zeichneten sich entsprechende Konsequenzen ab, die Nicolai unruhig auf den doch noch vorhandenen Füßen tippeln ließ. "...Sasha..." Winselte er hochnotpeinlich berührt. SO WAS sollte ihm nicht passieren! "Komm." Der schob ihn behutsam von sich, requirierte Nicolais Rechte, zog ihn mit eiligem Schritt Richtung Waschraum. Frieder und Alban, auf ihre Arbeit konzentriert, registrierten den Vorbeigalopp kaum. +*~ +*~ Sasha streifte sich T-Shirt und Sweatshirt über den Kopf, rollte sie zusammen, deponierte sie auf dem altmodischen Spülkasten hinter sich. Jeans und Unterhose auf seine Knöchel schiebend ließ er sich auf der Toilettenbrille nieder. Nicolai schwankte leicht, zögerte, traute sich selbst nicht über den Weg, aber er ließ sich an der Hand heranziehen. Sasha übernahm zuerst das Öffnen der Stoffhose, wickelte sie samt Unterhose von Nicolais dünnen Beinen. Nicolai musste der sich auf Sashas Schultern abstützen, um linkisch aus seiner Bekleidung zu steigen. Sicher auf den muskulösen, Wärme verschwenderisch ausstrahlenden Oberschenkeln reitend hinderte er Sasha auch nicht daran, ihm sämtliche Oberbekleidung in einem Schwung über den verstrubbelten Schopf zu streifen. Es war verrückt! Bevor Scham, Zweifel, Verlegenheit und Verstand auf die Bremse treten konnten, entkoppelte Sasha entschlossen die Lokomotive. Er zog Nicolai so eng an sich heran, wie es möglich war, küsste ihn leidenschaftlich, bestrich gleichzeitig den knochigen Rücken mit raumgreifenden Gesten. Nicolai reagierte auf diese konzertierte Attacke, konnte gar nicht anders. Mochte ihm auch die Kondition abgehen, die Hormone waren eindeutig vorhanden und begierig darauf, zu ihrem Recht zu kommen. Für Sasha war es nicht genug, sich auf Gesicht und Halsbeuge zu beschränken. Er wollte mehr, viel mehr Hautkontakt! Die zarten Schlüsselbeine, deutlich hervortretend, die knochige Brustpartie mit winzigen Sprenkeln, die von Schauern alert hervorstehenden Brustwarzen: alles sollte bedacht werden, immer wieder. Und wieder. Ein Hunger, der nicht zu stillen war. Er überzog Nicolai förmlich mit Speichelspuren, spannte unwillkürlich die Beinmuskeln an, wippte beschleunigend. Nicolai keuchte, löste einen sichernden Arm, schmuggelte die freie Hand zwischen sie. Sasha war so warm! Energisch, zielsicher und grausam! Viel zu selbstbeherrscht! Ihm schwindelten die Sinne, es pochte eindeutig und unmissverständlich, die Luft blieb ihm weg. Er folgte einer Eingebung, der Nothilfe sozusagen, fing beide Erektionen ein, bestrich sie, ungeübt, aber mit wachsender Lust. Sasha belohnte ihn mit einem kehligen Aufstöhnen, revanchierte sich damit, in Nicolais Rhythmus dessen magere Kehrseite mit beiden Händen zu drücken. Auf und nieder wippend, kaum noch zu Gedanken fähig, eingesponnen in Verlangen und Sehnsucht nach Erlösung, taumelten sie gemeinsam einen feuchtsämigen Höhepunkt entgegen. +*~ +*~ Sasha arrangierte Nicolai sanft auf seinen Beinen in eine andere Haltung, die dünnen Beine auf der einen Seite, der magere, noch immer hastig um Luft ringende Oberkörper auf die andere Seite, an seine Brust geschmiegt. Er hatte es nicht für wahrscheinlich gehalten, sich jemals so sehr von einer anderen Person in den Bann schlagen zu lassen, dass er freiwillig diese Art von Nähe suchte, gierig und gleichzeitig fürsorglich agierte. Aber das war vorher gewesen. Vor der Erkenntnis, dass 'animalische Begierden' ihn auf sein 'Normalmaß' zurechtstutzen würden, weg von steter Souveränität, unangetasteter Würde und grenzenloser Selbstbeherrschung. Nein, verschwitzt, außer Atem, klebrig, innerlich jedoch erfüllt, zwischen Euphorie und Selbstironie schwankend wollte er diese neue Selbsterkenntnis in der Praxis nicht missen. Auch nicht das unstillbare Bedürfnis, Nicolai nahe zu sein, ihn für sich zu reklamieren, ganz egoistisch und unverschämt, um diese niederen Instinkte mit Zärtlichkeit, Aufmerksamkeit und Fürsorge zu lindern. "Geht's wieder?" Erkundigte er sich leise, drehte den Kopf. Nicolai rastete in seiner Halsbeuge, eingerollt, Schutz suchend wie ein frisch geschlüpftes Küken. "...gleich... bisschen... tüdelig..." Antwortete der ihm grimassierend. "In Ordnung." Versicherte Sasha, streichelte jedes erreichbare Fleckchen Haut, Knochen und hervortretende Sehnen. "In Ordnung." Er verrenkte sich leicht, um zwischen klebrigen Strähnen eine feuchte Stirn mit einem Kuss zu siegeln, registrierte Nicolais feingliedrige Hände mit den langen Fingern, die vorsichtig über seinen Hinterkopf und seine Wange strichen. "...danke..." Für einen Moment schloss Sasha die Augen. Nicolai konnte Treffer wie ein Profi setzen! "Dito." Raunte er schließlich leise, verstärkte seine Umarmung. +*~ +*~ Das gemeinsame Mittagessen verlief ruhig. Der Laptop war bereits verstaut, verräterische Spuren beseitigt. Frieder und Alban erhofften sich, Zugang zum EDV-Raum der Mittelstufe zu bekommen, wenn Frau Conradi sie nach der Pause aufsuchte. Dort war es nämlich möglich, einen der alten Drucker mittels Adapter mit dem Laptop zu verbinden, den abgeschlossenen Bericht auszudrucken. Das ersparte das mühselige Einbinden in das Schulnetzwerk, das mit zahlreichen, notwendigerweise vorzuhaltenden Sicherheitskontrollen abgeschirmt war. Nicolai mümmelte langsam, bedächtig. Er spürte Sashas prüfenden Blick. Es waren jedoch weder Zweifel noch Reue, die ihn beschäftigten. Nein, auf angenehme Weise fühlte er sich erschöpft und gleichzeitig am Scheideweg, schwankend zwischen Angst und Neugierde, Befürchtungen und Vertrauen. Ein wenig beschämend war es auch, leider, dass er kein einfaches Etikett aufzukleben vermochte, sondern weiterhin haderte, in alle Richtungen dachte und imaginierte, sich selbst nur wenig Kredit gewährte, die Messlatten immer anhob. Andererseits, wie sollte man sich so schnell ändern?! Vielleicht blieb ihm ja nur die Option, sich selbst treu zu sein, auch wenn er sich selbst als anstrengend empfand. +*~ +*~ Sasha ließ Nicolai im Vorraum schlafen, in sein zweites Sweatshirt gehüllt, mit beiden Jacken bedeckt. Er konnte nicht ignorieren, dass etwas Nicolais Gedanken in Beschlag nahm und hoffte, es möge sich ein positives Ergebnis zeitigen. Wenn er nach energischen Selbstertüchtigungsanstrengungen neben ihm in der Hocke kauerte, das ruhige Gesicht, von den Spuren der 'Abmagerungskur' gezeichnet, betrachtete, überkam ihn der fast unwiderstehliche Drang, Nicolai zu streicheln, ganz zart, nahezu unmerklich, ihn beschützen zu wollen, um das Privileg dieses Augenblicks niemals zu verlieren. Bisher hatte er die Fixierung auf eine andere Person als zwanghafte Neurose eingestuft, als die Unfähigkeit, zu sich selbst als abgegrenztes Individuum zu stehen. Eine Projektion eigener Bedürfnisse auf einen anderen, kombiniert mit einer eingeschränkten Weltsicht und konsequentes Ignorieren der grundsätzliche Weiterentwicklung einer Persönlichkeit, die eben solche Art von 'Knebelung' als lächerliche, egoistische Wunschvorstellung anprangerte. Nun hoffte er, dass sich ein Weg fand, trotzdem eine feste Bindung zu weben, Schicksalsfäden zu verknüpfen, ohne Bevormundung, Selbstverleugnung, Fesselung. Um dieses dürren, verzweifelten, liebenswerten, leidenschaftlichen Burschens Willen hier. Ein Abenteuer, sich darauf einzulassen. Andererseits, nachdem er den Morast verlassen hatte, MUSSTE ein neuer, größerer Horizont her, oder nicht?! +*~ +*~ Frieder nahm das frisch und sehr akkurat genähte Ergebnis ihrer gemeinsamen Projektarbeit entgegen, schob es vorsichtig in einen alten Umschlag, den zahlreiche immer wieder durchgestrichene Anschriften bunt verzierten. Überall Wieder- oder Weiterverwertung. "Schade." Stellte Alban fest, seine Utensilien sorgsam verstaut. "Es hat wirklich viel Spaß gemacht, mit dir zusammenzuarbeiten. Jetzt ist die Woche schon um, ganz schön schnell." In seiner Stimme klang der bedrückte Unterton mit, den Frieder häufig registrierte, wenn Alban Bezug auf seine weitere Schulzeit nahm, auf die Erwartung, auch nach der Abschlussfahrt ausgegrenzt zu werden. "Mir hat es auch viel Spaß gemacht." Bestätigte er entschieden. "Außerdem muss ja nicht Schluss sein. Wir haben zwar nicht häufig gemeinsam Unterricht, aber das heißt ja nicht, dass wir uns nicht treffen und unterhalten können!" Auch wenn es vermutlich für Alban ein geringer Trost war. Er selbst zählte ja auch nicht zu den beliebten Schülern mit großem Freundeskreis. "Wirklich?" Alban strahlte ihn an. "Das ist prima! Ich will dich natürlich nicht in Schwierigkeiten bringen." "He!" Unterbrach Frieder entschlossen, tippte auf Albans Nasenspitze. "Das reicht jetzt. Alban, du bist vollkommen in Ordnung, genau so wie du bist. Du hast nichts falsch gemacht. Schwierigkeiten haben bloß die anderen, die mit sich selbst nicht klar kommen." Von dem Lob derartig erschüttert brachte Alban errötet keine Widerrede heraus, konnte nur "da-danke" stammeln. Frieder richtete sich auf, stellte die so oft rund herabhängenden Schultern aus. "Da nicht für. Ich möchte gern mehr Zeit mit dir verbringen, ganz eigennützig, denn ich lerne was, lache und komme endlich mal aus der Komfortzone des trotteligen Tollpatsches heraus." "Du bist gar kein Tollpatsch!" Sofort sprang Alban ihm bei. "Auch nicht trottelig!" "Eben." Grinste Frieder schelmisch. "Wer hat's hervorgelockt?" Alban blinzelte verwirrt. "Nicht die Schweizer." Kopierte Frieder nahezu perfekt die Reklamesprüche, attackierte erneut Albans Nasenspitze. "Also, was meinst du? Wollen wir uns als Team zusammentun und gemeinsam bis zum Abschluss allen Widrigkeiten trotzen?" Ihm gegenüber nickte Alban so eifrig, dass man befürchten musste, ihm würde gleich der Kopf vom Hals rollen. "Ein Mann, ein Wort!" Die Rechte ausgestreckt bot Frieder den Pakt zur Besiegelung an. Sie wurde fest ergriffen, kurz geschüttelt. "Einverstanden!" Einen langen Atemzug würdevollen Ernstes, dann prusteten sie unisono leise, grinsten sich lausbübisch an. "Geben wir unser Werk ab." Schlug Frieder vor, erhob sich. "Danach können wir vielleicht noch einen Abstecher zum Büchermarkt vor der Uni machen, oder?" Alban, der seinen getreuen Sack schnappte, nickte erneut eifrig. "Oh ja! Da gibt es wirklich die seltsamsten Bücher!" Anschließend würde er Frieder ganz einfach zu sich nach Hause einladen, zu Haferkeksen und frisch aufgebrühtem Tee! Er lächelte Watt-stark hinüber, was Frieder veranlasste, ihn in seinem Hinterkopf zum wiederholten Mal als »liebenswertes Kerlchen« zu etikettieren. Für sie beide stand fest: diese Woche war TATSÄCHLICH ein großer Gewinn gewesen. +*~ +*~ Frau Conradi nahm Sashas geheftete Projektarbeit und Nicolais handgeschriebene Empfehlung zum eigenen Urteilsspruch entgegen, studierte die beiden Jugendlichen noch ein wenig länger. Beide wirkten gefasst, von einer inneren Spannung erfüllt, gar nicht wie ausgelassene Jungs, die endlich nach einer zähen Woche ins Wochenende starten konnten. "Sie haben offenbar die letzte Zeit produktiv genutzt. Ich werde Ihre Arbeiten mit Interesse und Sorgfalt lesen." "Vielen Dank." Nicolai räusperte sich. "Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viel Ärger zugemutet habe, Frau Conradi." Sie gestattete sich ein wohlwollendes Lächeln. "Ich bin guter Hoffnung, Nicolai, dass die Konsequenzen und Ihre zukünftige Entwicklung die Aufregung mehr als aufwiegen werden. Sie werden auch nicht allzu lange auf die Entscheidung warten müssen. Jetzt gehen Sie erst mal ins Wochenende. Wir sehen uns am Montag wieder." "Danke schön." Nicolai nickte leicht. "Ein schönes Wochenende, Frau Conradi." "Das wünsche ich Ihnen auch. Ihnen beiden." Entgegnete sie höflich, registrierte aufmerksam, dass durch die Bauplane, die ihren temporären Arbeitsplatz abschirmte, die Silhouetten der beiden jungen Männer unterhalb der Hüften miteinander verschmolzen. Ganz so, als hielten sie Händchen. +*~ +*~ Sasha interessierte sich nicht für die Meinung von Leuten, die er nicht kannte. Es war ihm vollkommen gleich, ob manche dämlich glotzten, weil er Nicolais Hand hielt. Der rückte näher an ihn heran. Ein stürmischer Wind blies frostig, und mit seiner schmalen Gestalt konnte er nicht viel Widerstand leisten. Grimmigen Blicks, forschen Schritts wirkte er ungeheuer selbstbeherrscht und souverän. Äußerlich. Innerlich enervierte ihn sein Magen mit ungewohnten Turbulenzen. Nicolai hatte ihn gebeten, sein Zimmer sehen zu dürfen, obwohl ihm wohl bewusst sein musste, dass in dem Wohnheim-Einzimmer-Mini-Appartement rein gar nichts zu besichtigen anstand. Deshalb rumorte es heftig in ihm. Anderseits MUSSTE gar nichts passieren! Immerhin waren sie gerade mal einen Tag 'zusammen', kannte Nicolai ihn ja noch gar nicht so gut, während er selbst schon eine ganze Weile beide Augen auf ihn geworfen, den momentan wild herumtobenden Magen und die Wünschelrute auf ihn ausgerichtet hatte. »Was bist du nur für ein Schisshäschen!« Verspottete er sich selbst ungnädig. Was immer geschehen oder nicht geschehen würde, es wäre in Ordnung, weil er mit Nicolai gemeinsam Zeit verbrachte. +*~ +*~ Nicolai hatte noch nie ein Wohnheim betreten. In seiner Vorstellung ähnelten solche Unterkünfte eher den recht mondänen, herrschaftlichen Häusern, die man in amerikanischen Spielfilmen oder Serien sah. Das zwölfstöckige Haus, ein Quadrat mit zahlreichen Gucklöchern, schien aus den frühen Siebzigern zu stammen, Betonfertigbauteile, schlammig-grau verfärbt, mit Stahlzäunen eingekreist, die gepressten Gehwegplatten gesprungen und unerbittlich von Grünbewuchs unterwandert. Die Tristesse mochte im Sommer und Herbst von Wildem Wein bis in den zweiten Stock gemildert werden, doch die verdorrten, abgefrorenen Reste wirkten im Spätwinter nur noch deprimierender. Im Eingangsbereich saß hinter einer Glasfront mit Schalter in einer Loge eine sehr voluminöse Frau, die hochgeschwind und virtuos bunte Wollfäden in einem Nadelspiel verarbeitete. "Guten Tag." Grüßte Sasha artig, neigte den Kopf, was Nicolai anleitete, es ihm eilig gleich zu tun. Die Concierge nickte majestätisch und umfangbedingt mehrfach, widmete Nicolai über die Lesebrille hinweg einen derart sezierenden Blick, dass er sich sicher war, sie hätte ohne größere Mühe einen Steckbrief diktieren können. Sasha vermied den altersschwachen Aufzug, obwohl er im zehnten Stockwerk sein Domizil hatte. Das Treppenhaus, ähnlich düster wie das äußere Erscheinungsbild, mochte zwar grämlich-grau sein, es war jedoch frei von Unrat oder ausgesonderten Gegenständen. Nachdem Nicolai im Flur verschnauft hatte, folgte er dem geduldig wartenden Sasha durch einen dunklen Flur. Die Abzweigung direkt neben Sashas Tür war abgesperrt und mit einem hochgestellten Stahlbauzaun blockiert. "Der hintere Strang ist so marode, dass man die Zimmer nicht mehr bewohnen kann. Deshalb ist das Haus auch schon zur Hälfte geräumt." Sasha schloss die Tür auf. Ein wenig beklommen folgte Nicolai ihm. Das Zimmer war winzig. Direkt gegenüber der Tür befand sich zwar ein recht großes Fenster, doch nur einen schmalen, oberen Streifen konnte man überhaupt öffnen, gerade mal eine Handbreit kippen. "Damit man nichts runterwerfen kann." Erläuterte Sasha aufmerksam die ungewöhnliche Kombination, nahm Nicolai die Umhängetasche ab, half ihm auch aus dem schweren Kapuzenmantel. Rechter Hand fand sich ein deckenhoher Schrank, dahinter ein schlichtes Bettgestell, über dem man noch weitere Schränke an die Wand montiert hatte. Vor dem Fenster wartete ein Tisch mit Stuhl. Linker Hand schloss sich, mit einem zurückgeschobenen Vorhang abtrennbar, eine Spül-, Koch-, Kühlschranknische an, gefolgt von einem weiteren Türchen, eine Art Wandschrank, der, wenn man sich der Lüftungsschlitze entsann, in seinem Inneren eine Toilette verbarg. Nicolai streifte durch das bescheidene Zimmer, klein, fast einer Zelle gleich. Hier lebte Sasha also, angekommen mit einem Rucksack und einer Reisetasche. Kein Computer, kein Fernseher, lediglich ein altes Transistorradio auf dem Tisch, die wenigen Bücher ordentlich aufgestellt. Alles sauber und trotz der unverkennbaren Anzeichen von Abnutzung gepflegt. Auf dem Tisch lag ein Handzettel, Uhrzeiten und Daten, dazu Kontaktnummern eines Supermarkts in der Nähe. "Da arbeite ich samstags." Sasha rückte heran, umarmte Nicolai behutsam von hinten. Dessen unwillkürliche Geste, die Rechte vor den Mund zu schlagen, sich mit dem linken Arm selbst zu umschlingen, ließ ihn unnötigen Kummer und Betroffenheit erahnen. "Kleines Zubrot, weißt du? Der Kindergeldanspruch reicht leider nicht weit genug. Sonntags gehe ich in ein Altenheim eine Straße weiter, mache mich ein bisschen nützlich, lese die Zeitung vor und so weiter. Dafür gibt's dann Mittagessen und Kuchen, quasi Vollpension!" Sein leichter Ton verfing nicht. Nicolai wand sich in der Umarmung herum, schmuggelte die dünnen Arme um seinen Nacken, zog ihn eng an sich. "Du bist so tapfer. Das ist wirklich unglaublich!" Hörte er ihn erstickt an seinem Ohr wispern. "Das ist einfach beeindruckend, Sasha." "Keine große Leistung." Antwortete er betreten. Es fühlte sich so an, als kämpfe Nicolai mit den Tränen, des Mitgefühls, des Mitleidens. Was er sich selbst grundsätzlich und ausnahmslos nicht gestattete, weil er alles zu meistern imstande war! Es musste! "Es geht mir doch gut hier, Nico. Ich habe alles im Griff, und ich fühle mich wohl." Beteuerte er, streichelte über den knochigen Rücken. Seines eigenen Glückes Schmied! Frei, nur sich selbst verantwortlich! Nicolai verstärkte die Umarmung, widersprach nicht, erklärte sich nicht, relativierte nicht. Was Sasha geleistet hatte, war alles andere als selbstverständlich oder einfach. Nur weil der sich selbst kein Pardon gestattete, die eigenen Ansprüche hoch legte, bedeutete es noch nicht, dass er ohne Zuspruch, ohne Trost, ohne Ermutigung aushalten musste! »Ich werde das tun!« Entschied Nicolai. »So viel Nachsicht, Fürsorge, Aufmunterung, die du mir zugedacht hast, die werde ich dir zurückgeben! Auch wenn du glaubst, dass du es nicht brauchst, denn mindestens das hast du dir verdient!« Er hielt den muskulösen, warmen Leib einfach fest, unerbittlich und liebevoll zugleich, hoffte, dadurch auch die Seele darin zu erreichen, ihre versteckten Wunden zu lindern. Sasha kraulte behutsam den zerbrechlichen Nacken, der jeden Knochenwirbel spüren ließ, während seine andere Hand unwillkürlich Kreise auf Nicolais Rücken zog. Hatte er ihn schockiert? War diese Umgebung doch ein wenig zu ärmlich für ihn, der ganz anders residierte? Rotierte jetzt wieder der Gedankenwirbel in seinem Kopf und erzeugte neue Spannung, Selbstverachtung, wilde Ausweglosigkeit? "Es tut mir sehr leid." Wisperte Nicolai gepresst an seinem Ohr. "Dieser dämliche Spruch darüber, dass dich niemand kontaktieren will." Für einen Moment musste Sasha ernsthaft seine Erinnerungen durchpflügen, bis er begriff: die Sache mit den Mobiltelefonen! "Es muss dir nicht leid tun." Tröstete er entschieden. "Du wusstest ja nichts über mich. Tatsächlich gibt es nur sehr wenige Leute, denen ich meine Telefonnummer geben würde. Wenn ich eine hätte." Endete er auf einer ironischen Note. Nicolai löste sich von ihm so weit, dass sie einander ins Gesicht sehen konnten. Tatsächlich, die grauen Augen wirkten poliert, die Wimpern klebrig-glänzend! "Ich war ekelhaft." Stellte er bekümmert fest. "Ich schäme mich, weil du mich kein einziges Mal schlecht behandelt hast. Du hilfst mir, und ich..." Mit festem Griff im Nacken dirigierte Sasha ihre Stirnfronten aneinander. "Hör jetzt auf, ja? Ich bin deswegen nicht böse gewesen. Ich bin auch kein zartes Pflänzchen, von meinem Ego ganz zu schweigen. Ist ja nicht so, als hätte ich es nicht auch auf ein wenig Krawall angelegt, nicht wahr?" "Aber das ist ja nur, weil du dich schützen musstest!" Sofort sprang Nicolai ihm bei. "Man soll ein Buch schließlich nicht nach dem Einband beurteilen!" Sasha grinste, weil er erfolgreich Nicolais Lebensfunken angefacht hatte, den Trübsinn verscheucht. "Wenn der Einband aber so aussieht, als würde er einem gleich die Hand abbeißen..." Neckte er herausfordernd. Nein, sein äußeres Erscheinungsbild lud nicht gerade zu näherer Bekanntschaft ein! "Quatsch!" Widersprach Nicolai vehement. "Sonst kämst du ja wohl nicht ins Altenheim rein, oder?!" "Als Vertreter der Pensionskassen..." Kalauerte Sasha gefährlich am Abgrund der Geschmacklosigkeit. "Unsinn!" Nun klemmte Nicolai ihm doch tatsächlich die Nasenspitze zwischen den Fingern ein! Sie funkelten einander an, Sasha amüsiert, Nicolai noch in Fahrt dank der Herausforderung, den zweifelhaften Ruf des mutmaßlichen Schlägers zu verteidigen. Die Finger gaben die Nasenspitze frei, dafür streichelten sie nun sanft über seinen Bart, die Wangen entlang. Sich revanchierend kämmte Sasha die überlangen Strähnen hinter die Ohren, registrierte das Nagen an der dünnen Lippe. "Nicht." Mahnte er leise, initiierte einen Eskimokuss. Was mochte Nicolai schon wieder beschäftigen? "Weiß Frau Conradi Bescheid? Über dich?" Murmelte der gerade, mit der befreiten Nasenspitze flirtend. "Ja. Die Umstände sind ja doch etwas ungewöhnlich." Antworte Sasha bedächtig, zog Nicolai wieder enger an sich heran. "Sonst habe ich mich aber um Diskretion bemüht. Andernfalls finde ich ja nicht heraus, wie weit ich auf mich selbst gestellt komme." Den Blick abgewandt nickte Nicolai stumm, ließ sich umarmen, folgte der leichten Drehung, ein bescheidener Tanz, minimale Gewichtsverlagerung, kleine Auszeit, die Gedanken zu sortieren. Sasha summte sonor, wiegte Nicolai zärtlich wie einen Säugling, hoffte, dass der sich nicht wieder selbst in tristen Gedanken verirren würde. Die Umgebung, leider!, schien diesbezüglich unerfreulich anregend! Tatsächlich stemmte ihm Nicolai die Hände gegen den Brustkorb, sorgte für Distanz, atmete tief durch, bevor er den Blick vom Boden hob, den Kopf in den Nacken warf, entschlossen formulierte. "Darf ich mich kurz frischmachen? Ich möchte dir nämlich meine Briefmarkensammlung zeigen!" +*~ +*~ Die Kulturtasche mit Aufdrucken einer Designermarke verheimlichte nichts: Kondome, Gleitgel, Kosmetiktücher, dazu ein saugfähiges, großes Handtuch. Nicolai war definitiv entschlossen, sich zumindest in einem Aspekt kopfüber in das Leben zu stürzen. Dennoch fühlte Sasha sich im Zwiespalt, was der Geigerzähler unterhalb des Äquators mit Unmut kommentierte. Selbstverständlich war er neugierig, geradezu heißhungrig darauf, Sex mit Nicolai zu erleben. Andererseits konnte er sich der kritischen Frage nicht verschließen, ob er möglicherweise Druck auslöste, ihn zu diesem Schritt zu treiben. In diesem Moment, mit sich selbst hadernd, verließ Nicolai gerade die Wandschrank-Toilette, schenkte ihm einen grimmigen Blick, beinahe todesverachtend zu allem entschlossen. "Wenn du das Bett aufschlägst können wir das Handtuch ausbreiten. Vielleicht, wenn es dir nichts ausmacht, könnten wir die Jalousien am Fenster herunterlassen?" Verteilte er Aufgaben. Nicht, dass er in dieser Höhe Publikum befürchtete, aber etwas weniger Tageslicht würde die weniger eleganten Aktionen nicht so plakativ in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Sasha kam artig allen Anforderungen nach, folgte anschließend Nicolais Beispiel, der sich rasch aus seiner Oberbekleidung pellte, ohne das letzte Feigenblatt den Schutz der Bettdecke suchte. Sich anschließend wiederholte Sasha das Manöver des Morgens (tatsächlich, nur wenige Stunden alt!), nämlich, sich Nicolai auf die Oberschenkel zu heben, ihn so nah an sich zu ziehen, die Bettdecke um die knochigen Schultern drapiert, dass er die Honneurs in bequemer Distanz absolvieren konnte. Nicolai streifte etwas verlegen über die nackte Haut, die trainierten Muskeln, den 'Fellbesatz' auf dem Brustkorb mit der schmalen 'Naht' bis zum Bauchnabel. Die verlockende Wärme, die Sasha verströmte, hebelte im dämmrigen Zimmer seine Scham aus. Sasha seinerseits heizte kräftig und ausdauernd ein. Küsse überall, allzu geschickte Hände, kondensierende Atemstöße, die für einen schimmernden Überzug der bloßen Oberflächen sorgten. Mit mehr Übung gestaltete sich das Küssen zu einer wahrhaft olympischen Disziplin inklusive Marathonstrecke, wäre da nicht die südliche Region gewesen, die Ansprüche anmeldete, immer stärker ausschlug! Hier bewies Nicolai Geschick. Als Verpackungskünstler betätigte er sich oft genug, schließlich wollte er nicht mit peinlichen Hinweisen zu verräterischen Flecken durch die Wäscherei konfrontiert werden! Selbst die gelegentlich widerborstige Verpackung gab an der eingestanzten Kerbe nach, sodass ihn trotz rasendem Pulsschlag Zuversicht erfüllte. Jetzt hieß es lediglich noch, sich ein wenig verrenken! Sasha, der mit zischenden Atemzügen Nicolais 'Handreichung' an seinem Geigerzähler kommentiert hatte, verfolgte die akrobatische Verdrehung schweigend, griff eilig zu, als Nicolai, sich auf einem Arm stützend, umzukippen drohte, während er sich selbst das Gleitmittel an neuralgischer Stelle applizierte. Er legte sich Nicolais freien Arm um den Nacken, rückte sehr nahe heran, küsste das vor Konzentration angespannte Gesicht, liebkoste dessen Front. "Uh!" Protestierte Nicolai prompt, die Zunge in den Gaumen drückend, um unartikulierte Ur-Laute zu ersticken. "Lass mich helfen." Raunte Sasha kehlig. "Dreh dich um, Nico." »Auf keinen Fall, viel zu peinlich!« Das hätte Nicolai gern geschimpft, doch die Wahrscheinlichkeit, sich heftig auf die Zunge zu beißen, weil Sasha mit perfidem Geschick seinen Oberkörper gezielt liebkoste, hinderte ihn nachdrücklich. Er krümmte sich weg, schwankend, doch aussichtslos, da er gar nicht aus der Reichweite gelangen wollte. Und dann war da Sashas glühende Rechte... +*~ +*~ Beinahe hätte er Sasha einen regelwidrigen Kopfstoß verpasst, unabsichtlich selbstredend. Für sie beide vollkommen unerwartet löste die gezielte Massage der braven Erektion eine derart heftige Explosion von Hormonen und Sehnen aus, dass Nicolai mit einem erstickten Keuchen unkontrolliert zuckend gegen Sasha prallte und einen vorzeitigen Klimax durchlebte. "...gemein..." Winselte er nun kläglich, durchgeschüttelt und verlegen. Sasha antwortete ihm nicht. Er hatte ihn aufgefangen, nach dem Abebben der Muskelkontraktionen auf die Matratze sinken lassen. Während nun die Linke artig und tröstend den knochigen Rücken bestrich, intonierte er ein stummes Stoßgebet. »Lass mich das bloß nicht vermasseln!« Ein Weichen kam nicht in Frage, dazu kochte sein Blut zu sehr. Es schien ihm, als habe er bisher immer nur ein wenig von dem gekostet, was Nicolai ausmachte, ein Appetithäppchen, das geradezu herausforderte, endlich den Heißhunger zu stillen. Er wollte mehr. Nicht gerade ein friedfertiger Impuls, doch er sehnte sich danach, Nicolai zu durchdringen, die äußeren Grenzen zu überwinden, zum Kern vorzustoßen (im wahrsten Sinne des Wortes), ihn in Wollust und Ekstase schmelzen zu lassen. 'Richtig' wollte er es ja auch machen, selbst wenn noch kein Meister vom Himmel gefallen war. Flutschen musste es... Nicolai stöhnte erschrocken. Zu seinen gerade wiederkehrenden Sinnen gesellte sich eine ganz neue Erfahrung. Er wollte protestieren, gar fremd fühlte es sich an, trotz der jahrelangen Übung, bloß, es reizte auch, lockte dazu, sich zu reiben, wider den Eindringling zu löcken! Sasha musste sich nicht allzu lange mit hämmerndem Herzschlag auf die manuelle Penetration konzentrieren. Keuchend stemmte sich Nicolai wieder auf die Knie, stützte sich auf die Ellen, veränderte den Winkel, kommentierte guttural die prompt einsetzende, beinahe schon überwältigende Qualität der Verbesserung. Eine heisere Melodie später gab Sasha nach, dolmetschten sich die physischen Anweisungen, die ihre Körper austauschten, von selbst: ein weiteres Solo war nicht erwünscht. Seine eigenen Bedürfnisse weigerten sich, länger unter dem unerbittlichen Diktat der Selbstbeherrschung zu verkümmern! So kontrolliert es ihm möglich war, drang er mit der eiligst eingeölten Erektion in Nicolais Kehrseite ein. Der hechelte, japste erbärmlich, sodass Sasha innehielt, ihn von den Ellen hochzwang, den verkrampften Brustkorb massierte, bis sich die völlig verkrampfte Atmung wieder löste. Mit der vorletzten Unze Disziplin ließ Sasha Nicolai wieder auf die Ellen herunter, erinnerte sich des vielversprechenden Winkels. Seine Hüften folgten einem Vibrato, Spannen-Entspannen von Muskelsträngen, Schwung aufnehmend aus der Gegenbewegung. Glücklicherweise dämpfte die Matratze Nicolais unwillkürliche Lustlaute, während er selbst die Lippen auf den Nacken presste, sonst hätte wohl der gesamte Flur eine denkwürdige Unterhaltung geboten bekommen. +*~ +*~ Nicolai fand sich, vom einsamen Schimmer einer Kerze dämmrig begossen, auf dem Rücken wieder, die Unterschenkel auf eine Reisetasche hochgelegt. Sasha saß, unbekleidet, neben ihm auf der Bettkante, streichelte ihm unaufhörlich durch die Haare und über das Gesicht. Begreifen dämmerte. Seufzend legte sich Nicolai einen tonnenschweren Arm über die Augen, murmelte. "Oje, wie lange war ich weggetreten?" "Nicht lange." Sanft pflückte Sasha den Arm ab, legte sich beide um den Nacken, lupfte Nicolai mühelos in eine sitzende Position. Er nahm eine Tasse vom Boden auf, die mit Wasser gefüllt war. Nicolai schluckte zuerst gierig, dann gesitteter. Er registrierte, ganz ohne prüfenden Blick, dass Sasha zumindest Zeit genug gehabt haben musste, um sie beide wieder reinlich und präsentabel (wenn auch blank und bloß) herzurichten. Die geleerte Tasse verschwand wieder, die muskulösen Arme hielten ihn jedoch umschlungen. "Meine Güte!" Flüsterte Nicolai durchaus beeindruckt. "Ich habe immer noch weiche Knie!" Immer noch summten Sehnen und Muskeln. Wer hätte ahnen können, wie SEHR eine kleine Variante mit einem neuen 'Mitspieler' ihn beanspruchen würde! In ganz andere Gefilde war er katapultiert worden! "Hast du Schmerzen? Ich habe zwar kein Blut gesehen, aber..." Sasha klang grimmig, gezwungen barsch. Nicolai entzog sich der Umarmung, visierte im Kerzenschein das markante Gesicht an. "Mir geht es gut, bloß ein wenig angezählt." Lächelte er schief. "Was ist mit dir?" Hatte Sasha überhaupt die Chance gehabt, etwas zu genießen? Wie beschämend, dass seine Erinnerung da aussetzte! Statt einer Antwort wurde er beinahe erstickend eng umklammert. Man hörte trotz des eiligen Duetts der Herzschläge deutlich das Knirschen von Zähnen und Kieferknochen. Gefasst zwang Sasha sich zu einem tiefen Atemzug, bürstete seine sonore Stimme auf, den passenden Tonfall zu wählen. "Ich hege die peinliche Befürchtung, dass ich ein ernsthaftes Faible für diese Interaktion entwickle, die dir eine solche Belastung zumutet. Ernüchternder Weise vermutlich bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit." Nicolai dechiffrierte, noch leicht mitgenommen und recht eingeklemmt, die Botschaft. "Du meinst, du wärst einer Wiederholung nicht abgeneigt? Es hat dir gefallen?" Platzte er schließlich erleichtert heraus. Nun wurde er gedrückt, so gehalten, als könnten sie tatsächlich verschmelzen, zumindest aber so viel Haut und Knochen in Kontakt bringen, dass nichts anderes mehr Platz fand. Leise keuchend akzeptierte Nicolai diese rabiate Demonstration der Zuneigung. Ja, er fand sie sogar anrührend! Hier zeigte sich Sasha angreifbar, verletzlich. Er wandte mit einiger Mühe den Kopf, um das einladende Ohrläppchen zu küssen, sich dann beharrlich und geduldig wieder mehr Bewegungsfreiraum zu verschaffen, liebkoste Sasha dabei so unablässig und sanft, wie der es umgekehrt stets zu tun pflegte. Endlich konnte er ihm wieder ins Gesicht sehen, wenn auch wenig mehr als ein Schattenspiel bei Kerzenlicht und Dämmerung. "Mir fehlt offenkundig die Kondition." Nicolai lächelte schief. "Das bedeutet ja, dass mit ein bisschen Übung noch Luft nach oben ist." Sasha nahm den Gesprächsfaden nicht auf, betrachtete ihn bloß stumm. Verunsichert nagte Nicolai an seiner Lippe, bevor er wisperte. "Sprichst du nicht mehr mit mir?" SO sehr konnte er Sasha doch nicht in Erstaunen versetzt haben, oder? Was mochte ihn bedrücken?! Verflixt, mit mehr Licht ließe es sich ein wenig leichter in dem Pokerface lesen! Langsam hob Sasha die Rechte, kämmte gewohnt geschickt feuchte, überlange Strähnen hinter Nicolais Ohren, lehnte seine Stirn an, beide Hände haltend. "Ich habe an einer Extraportion Demut zu knabbern." Grummelte er sonor. "...oh..." Kommentierte Nicolai verblüfft. Wahrhaftig, da musste er doch Eindruck hinterlassen haben! "Ähem." Er räusperte sich. "Könntest du das auch in der Waagerechten? Das Knabbern, meine ich? So langsam entwickle ich nämlich einen Enten-Parka." Ein wenig Kuscheln mit dem stets komfortabel beheizten persönlichen Wärmespender wäre er definitiv nicht abgeneigt. Sasha gab seine Hände frei, woraufhin Nicolai eilig zur Wand rutschte, einladend die abtrünnige Bettdecke lupfte. Die Reisetasche wurde des Betts verwiesen, Sasha kroch unter. Wimpernschläge später schmiegte sich Nicolai an, ließ sich den Nacken kraulen und mit der anderen Hand über den mageren Körper streicheln, bis das Summen in seinen Sehnen und Knochen zur bloßen Ahnung abebbte. Wirklich gemütlich! "Nur ein bisschen noch." Erklärte er Sasha. "Lass mich aber nicht einschlafen." Den Tadel knappe zwei Stunden später steckte Sasha mit einem ungewohnt sonnigen Grinsen weg. Auch ließ er es sich nicht ausreden, Nicolai bis zur Haustür zu eskortieren, immerhin hieß es nun zwei Tage Sendepause! Deshalb fiel ihnen der Abschied auch nicht leicht. Nonchalant abwinken, man sieht sich, bis dann, das wollte einfach nicht über die Lippen, die ohnehin Besseres auszutauschen hatten. Schließlich, die Knie erneut weich, einen "ich spüre meine Füße nicht mehr"-Moment ankündigend, gab sich Nicolai einen Ruck. Man musste vernünftig sein. Sasha startete früh in seinen Arbeitstag! "Wir werden noch mehr Gelegenheiten haben." Raunte er Sasha zu, der ihn in einer lockeren Umarmung hielt. "Mehr kosmische Super-positive Energie zu erzeugen. Bestimmt!" Sasha lachte leise, ein noch ungewohntes Geräusch. "Darauf freue ich mich schon. Ich bin jedenfalls schon mehr als angefüttert." Zwinkerte er frech, Grinsekringel im gepflegten Bart. Lächelnd hauchte Nicolai ihm einen Kuss auf die Stirn. "Dachte ich mir! Jetzt verschwinde aber, bevor uns das Efeu um die Füße rankt!" "Ich dachte, deine hätten sich temporär verabschiedet?" Ulkte Sasha frech, ließ seine Arme von Nicolais Schultern gleiten, bis sich nur noch ihre Fingerspitzen berührten. "Danke, Sasha." Wisperte Nicolai ernsthaft. "Dito." Raunte der, hob die Fingerspitzen an seine Lippen, küsste sie zart. Nicolai widerstand tapfer dem Reflex, sich die dünne Lippe zu benagen, Beherrschung! Mit der Kehrseite stemmte er sich gegen die Eingangstür, winkte verstohlen. "Bis Montag." Sasha nickte bloß, bevor er mit der Dunkelheit verschmolz. +*~ +*~ Alban umklammerte seinen nützlichen Transportsack entschieden, näherte sich dem Container-Bau. Dass das Zelt der 'Volkxküche' verschwunden war, überraschte ihn nicht, wohl aber das laute Summen aufgeregter Unterhaltungen. Das verblüffte ihn, denn im Zeitalter der Instant-Kommunikation mussten doch sämtliche Vorkommnisse aller Klassenfahrten längst ausgetauscht worden sein! Eine Hand wedelte. Zu seiner Erleichterung gehörte sie Frieder, der sich entschlossen zu ihm durchschob. "Guten Morgen!" "Hallo! Was ist denn da los?" Erkundigte Alban sich wissbegierig. "Stimmt was mit der Kantine nicht? Ach ja, ich habe gestern noch in der Küche experimentiert, vielleicht möchtest du probieren?" Frieder grinste, wirrte sich durch den unsortierten Lockenschopf. "Aber immer!" Vor allem, wenn Alban dabei munter und humorvoll die Fehlversuche schilderte, Irrungen und Wirrungen gestisch darstellte und sich das finale Ergebnis als köstlich erwies. "Komm." Frieder fasste ihn am Arm unter, zog ihn zu den Containern die offenen Treppen hinauf. Auf der oberen Ebene genoss man einen ungestörten Blick in den Hof. Gegen ein Geländer gelehnt stand dort Sasha, die Arme, in der Rechten einen Thermosbecher mit Griff, locker um Nicolais Hüfte gelegt. Der gestikulierte, nahm gleichzeitig Bissen aus einer Bäckereitüte, erzählte angeregt. Die überlangen Strähnen hatte ein Figaro kunstfertig gestutzt. Nun enthüllte sich aber unverbrämt, wie spitz die Züge des Jugendlichen in der letzten Zeit geworden waren. "Oh, schön!" Kommentierte Alban fröhlich das Offenkundige. Der Explosionsradius Distanz zwecks Vermeidung ansteckender Absonderlichkeit schien ihm nicht aufzufallen. "Tja, DAS haben all die Netzwerke dann doch nicht mitbekommen." Stellte Frieder zufrieden fest. Dauerfeuer aufgeblasener Nichtigkeiten, das Lebenszeit stahl und -qualität reduzierte! "Also, mir gefällt's!" Alban strahlte. "Sie sehen glücklich aus. Positive Energie! Prima!" Frieder lachte in sich hinein. Alban war wirklich eine besondere Marke! "Du hast recht. Positive Energie ist nie verkehrt." In diesem Augenblick ertönte das Signal zur ersten Unterrichtsstunde. Alban klopfte Frieder munter auf die Schulter. "Bis später, ja?" Der nickte, trollte sich ebenfalls. Selbst unten am Geländer teilte sich die unsichtbare Wolke kosmischer Super-positiver Energie in zwei Hälften. Lange würden sie nicht getrennt sein, was auch immer kommen wird. +*~ +*~ ENDE +*~ +*~ Danke fürs Lesen! kimera