Titel: Mammut Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Ereignis: Halloween 2020 Erstellt: 28.10.2020 Disclaimer: - Ruru, Cornelius, Junias, Luzie und Henk treten in "Hasenpower!" zuerst auf. - Adam und Eve rollen durch "Hasenpower!" - Silvain, Linus, Charlie/Charlotte und Yann sowie Hulk/Gabriel und Paul Pao-Ye erscheinen in "Schutzengel", "Trick!" und "Powermann". - Tibo und Rai treffen in "Trick!" das erste Mal aufeinander. - Angel, Matti und BlueMax wandern durch "Angels Geschichte", "Affenzirkus", "Hasenpower!" und noch andere Erzählungen. - Shaun das Schaf (TV-Serie) gehört Aardman Animation Ltd., hier Folge 156 Pumpkin Peril/Attacke am Kürbisbeet. - Ice Age, mehrteilige Filmserie, BlueSky Studios/20th Century Fox/Walt Disney Studios - 'Hello Kitty' ist eine eingetragene Marke von Sanrio, die für unzählige Produkte lizenziert werden kann Erklärungen - Chaperon, altmodischer Ausdruck für eine Anstandsdame - "nach Diktat verreist", altmodischer Zusatz bei Briefen, wenn durch das Sekretariat handschriftlich unterschrieben wurde. jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- jßM- Mammut Kapitel 1 Eine Frage der Gewohnheit, am Fahrradständer, artig maskiert, das Mobiltelefon zu zücken, eingehende Nachrichten zu überprüfen. Eine kleine Besorgung oder sogar eine Verabredung... Junias' Mienenspiel zeigte, wie gewohnt, keine Regung, blieb maskenhaft. "Na, so was!" Kommentierte er leise, was zufälligem Publikum ein gewisses Amüsement durch Grübchen angedeutet hätte. Eine optische Täuschung selbstredend. Er bestätigte knapp, die Bitte zu erfüllen, bereits neugierig, was ihn erwarten würde. jßM- Ruru studierte beklommen seine Zehenspitzen in den Socken. Er trug die geliebten, selbst gefertigten Sandalen von Henk, knitterte Falten in sein Sweatshirt. Ihm war gar nicht wohl. Er hätte sehr gerne sein Hasentuch als moralische Stütze bei sich gehabt, nur schloss sich das im Kindergarten aus. Sich als armer Sünder klein und beschämt zu fühlen, entsprach der Intention, auf der niedrigen Bank im Vorraum warten zu müssen. Aus leidiger Erfahrung wusste Ruru, dass Unschuld oder Nichtbeteiligung keinen Freispruch bedingte. Es gab auch ein "Andererseits", weshalb er tapfer standhielt. Freunde ließen Freunde nicht im Stich! jßM- Junias stellte sein Fahrrad ab, schloss es am Zaun an, spazierte ohne Eile zur Eingangstür. Man musste klingeln, in ein halbes Bullauge spähen. Es bequemte sich hoffentlich irgendwer hinter dem Hochsicherheitstrakt des Kindergartens, das Begehr in Erfahrung zu bringen. Nach einer misstrauischen Frage per Gegensprechanlage lupfte Junias die obligatorische Maske, schnurrte artig seinen Namen und seine Absichten in das Mikrofon. Wenn er es wollte, konnte er durchaus seinen Zutritt befehlen. Er hielt sich nachsichtig an das Protokoll. Die Frau, die ihn einließ, musterte ihn kritisch. Junias maskierte sich demonstrativ, hielt zielsicher auf die "Sünden"-Bank zu. Das Pärchen, das dort wartete, war ihm sehr vertraut. Er zwinkerte in die blaugrau verwaschenen Augen seines schmächtigen Pflegebruders, lauschte dem Vortrag zum Vergehen eher beiläufig. Ihm konnte wohl kaum entgehen, was diese lächerliche Aufregung ausgelöst hatte. Zudem wurde er auch nicht enttäuscht, den Unterhaltungswert dieser Episode betreffend. Lilo stemmte sich hoch, brachte sich energisch ein. jßM- "Quatsch!" Grätschte Lilo entschieden in die empörte Schilderung hinein, stützte die Hände in die Seiten, warf den Kopf in den Nacken, die steingrauen Augen streng auf die Gruppenleiterin gerichtet. "Ich hab's schon mal gesagt! Ruru hat gar nichts damit zu tun. Es war überhaupt nicht gefährlich!" Die Litanei auf gemeingefährliche Gebrauchsgegenstände unterbrach sie ebenso ungeniert. "Alles Mumpitz! Das war eine Papierschere, mit der ich sehr wohl umgehen kann! Außerdem ist das ganz allein meine Sache!" Darin war sie durch gar nichts umzustimmen. "Kokolores! Prinzessinnen sind doof. Das sage ich! Das muss mir Ruru nicht sagen." Man brauste ernstlich auf. Lilo kannte ganz andere Dramen zur Genüge. Sie ignorierte derartige Sentimentalitäten geübt, immerhin war sie schon Fünf. "Das ist mir schnurz! Wer herumlügt, ist selbst schuld." Nein, da kannte sie kein Mitleid, sondern wurde eher noch zornig in Erinnerung! Drohen konnte man ihr auch nicht. "Der ganze Krawall kommt doch nur, weil Ruru mein Freund ist." Stellte sie grimmig fest. "Heikos Mutter ist eine dämliche Trulla, eingebildet und unfair! Wenn die der Klabautermann holt, halte ich ihm die Tür auf!" Verkündete sie feurig, ließ sich mit verschränkten Armen majestätisch nieder, keinesfalls beeindruckt von der Drohung, man werde jetzt sofort noch mal ihre Mutter anrufen. jßM- Junias rang einen unkleidsamen Lachanfall tapfer herunter. Wenn man noch nicht die Bekanntschaft mit Lilo gemacht hatte, konnte man nicht wissen, dass sie PERSÖNLICHKEIT hatte. Ruru äugte beeindruckt neben sich. Lilo konzentrierte sich auf das Echo der Schritte, sprang auf die Beine, zog Ruru an einer Hand ebenfalls hoch. "Leinen los, bevor die alte Fregatte ihren Bugspriet noch mal zeigt!" Kommandierte sie, grinste zu Junias hoch. "Ich habe einen Auftrag UND ich kann bezahlen!" Damit fischte sie aus ihrem kleinen Rucksack eine Tüte Gummibärchen. jßM- Mit der Aufnahme als Pflegekinder bei Luzie und Henk war für Ruru der Wechsel des Kindergartens angezeigt. Haben wollte ihn allerdings niemand. Corona, geschlossene Kleingruppen, dazu noch die ehemalige Adresse, ein Pflegekind...! Pfuibah, eine Zumutung! Doch es gab einen Rechtsanspruch, eine Zuschreibung und damit eine Verpflichtung. Was nicht hieß, dass man nicht doch versuchte... Henk und Luzie hatten sich beide die Zeit genommen, Ruru am ersten Tag zu begleiten. Bereits an der Tür haderte man damit, wo man diesen unerwarteten Zugang denn nun... Außerdem konnte man ja keinen Paten anbieten... Ruru, zwischen Henk und Luzie, fühlte sich elend. Ihm hatte es schon nicht zugesagt, nicht mehr täglich bei Henk sein zu können, im geliebten Garten Stunde um Stunde zu verbringen. Allerdings musste man vor der Schule nun mal in den Kindergarten gehen. Weil er in die Schule wollte, um Botanisch zu erlernen, schien dieses Übel unvermeidbar. Es tat weh, so direkt abgelehnt zu werden. Da hatte sie sich eingemischt, fast einen Kopf größer, stämmig, die schwarzen Augenbrauen zusammengezogen, die steingrauen Augen funkelnd. "Quatsch!" Hörte Ruru zum ersten Mal in dieser entschiedenen Diktion. Er hätte sich nicht getraut, mitten in die höflich-verbissene Diskussion der Erwachsenen einzudringen, aber Lilo...! "Ich bin sein Freund, da brauchen wir keinen Paten. Nur wegen Heikos Mutter soll er nicht hierher. Das ist unfair!" Trompetete sie heraus, was Luzie und Henk einen hervorragenden Trumpf in die Hand spielte, während sie sich direkt vor Ruru aufbaute. "Ich bin Lilo und werde dein Freund sein. Du siehst schlau aus. Das ist gut, ich mag schlaue Menschen." Außerdem, wies ihr rundes Kinn auf seinen Rücken, verriet er sich durch den Umhängebeutel der örtlichen Universität. Ruru lächelte zögerlich. "Ich heiße Ruru und ich mag Pflanzen. Den Beutel habe ich von Angel, der bei der Universität arbeitet." Lilo lupfte ausdrucksstark eine schwarze Augenbraue. "Ist dieser Angel auch schlau?" Das entlockte Ruru ein verschmitztes Grinsen. "Ziemlich schlau und sehr schön. Er hat einen Computerfreund, der BlueMax heißt und einfach alles kann." Lilo nickte zufrieden. "Ich sehe schon, wir werden beste Freunde." jßM- Üblicherweise hätte Junias sich standhaft weigern müssen, Lilo mitzunehmen. Sie sollte zweifelsohne mit einer weiteren (ebenso wirkungslosen) Standpauke in die liebenden Hände ihrer Mutter übergeben werden. Was in diesem Universum nicht eintreten konnte, weil Lilo ihren eigenen Kopf hatte. Und PERSÖNLICHKEIT. Im überbordenden Maße. Dass sie auch einen Weg fand, die Sicherheitseinrichtungen zu überwinden, bezweifelte Junias keinen Augenblick. Deshalb verzichtete er auf unnütze Vorträge. Außerdem, eine Tüte Gummibärchen war eine Tüte Gummibärchen! jßM- Ruru marschierte an Lilos Hand neben Junias, der sein Fahrrad schob, ganz und gar nicht verärgert wirkte. Dabei musste er wissen, dass Ruru schon einmal, im anderen Kindergarten, Ärger gehabt hatte. Da wurde Nelli herbeizitiert, sein allerallerallerbester Bruder. Die Erinnerung ließ ihn die dünnen Lippen unter dem schmalen Nasenrücken noch bedrückter zusammenpressen. "Das war alles wieder mal ein Quatsch!" Erörterte Lilo unterdessen Junias die Situation. "Gestern sollte ich nämlich zum Frisör, aber der hat bloß ein bisschen herumgeschnippelt! Rosstäuscherei!" Empörte sie sich. "Außerdem hat Ruru gar nichts angestellt! Ich will bloß so eine schicke Frisur wie er haben. Lange Haare sind blöd und lästig. Und es ist MEIN Kopf!" Den sie jetzt entschieden in den Nacken warf. Ruru, der von Junias eine feine Igelfrisur erhalten hatte, was den aschblonden, zur Zauseligkeit neigenden Strähnen gut bekam, lächelte unwillkürlich. Ihn machte seine Frisur nämlich durchaus stolz. Wenn er hin und wieder sein Piratentuch als Bandana um den Kopf wickelte, fühlte er sich besonders verwegen und schneidig! Unterdessen erinnerte Lilo Junias auch an ihre persönlichen Fertigkeiten. "Der Krawall wegen der Schere war auch Quatsch. Die ist nicht mal spitz! Als ob ich nicht mit einer Schere umgehen könnte! Pah!" Das 'PAH!' war, wie Junias wusste, berechtigt. Lilo mochte Luzie und Henk, die sehr gastfreundlich waren, Rurus Freund eingeladen hatten, sie doch zu besuchen. Zwar kannte Lilo sich keineswegs so gut mit Pflanzen aus wie Ruru, aber sie zeigte handwerkliche Fähigkeiten. Rankgerüste aufbauen, Hammer, Fuchsschwanz, Feilen, sogar Beton anmischen, Lilo liebte es, erwies sich als äußerst begabt. Das ergänzte sich gut mit Rurus Neigung. Luzies Bereitschaft, ihre offene Werkstatt zu teilen, wurde für Lilo das zweite Paradies. Niemand nörgelte wegen Schmutz herum, sprach ihr Talent ab, ließ sie nicht alles erproben, was sie reizte. Ihr erstes Paradies war das Hausboot des Großvaters gewesen, bei dem sie den Sommer verbracht hatte. Den kümmerte nicht, dass sie ein Mädchen, ein Kind oder jung war. Das Boot musste überholt werden, also half sie mit, lernte nicht nur 20 verschiedene Knoten, sondern auch eine Menge Ausdrücke, die ihre Mutter entsetzten. Ganz zu schweigen von ihrer barschen Ermahnung bei Anflügen von Zimperlichkeit. "Pah! Wozu gibt's denn Seife?!" jßM- Cornelius schenkte Kakao aus, schmunzelte. Die Gummibärchen, Salär für Junias' Frisierkünste, die Papierscheren-Attacke in eine Kurzhaarfrisur zu verwandeln, hockten auf kleinen Tassenkuchen, warteten darauf, genüsslich verputzt zu werden an der großen Küchentafel im umgebauten Bauernhaus. Immer wieder fuhr sich Lilo stolz über die schwarzen Stachel ihrer dichten, glatten Haare. "Jetzt brauche ich nur noch ordentliche Latzhosen." Stellte sie befriedigt fest. Ruru neben ihr nickte grinsend, die Bäckchen voll Kuchen. Eigentlich ein merkwürdiges Paar "Freunde". Wobei Lilo entschieden darauf bestand, dass sie Rurus "Freund" war, nicht "Freundin". Das war nämlich auch so ein Quatsch! Für Freunde spielte es nämlich gar keine Rolle, ob man Mädchen oder Junge oder sonst was war! Cornelius konnte die Argumentation, mit der er beim ersten Besuch vertraut gemacht worden war, nachvollziehen. Wie sein kleiner, geliebter Halbbruder nutzte Lilo ihren "bürgerlichen" Vornamen nicht. Lily Rose, ach du Schande! Sie wollte ganz und gar nicht sein, was sich ihre Mutter vorstellte! Was in Ordnung war! Der Großvater hatte ihr versichert, sie sei "richtig", der erste Mensch, der ihr das sagte, der bestätigte, was sie selbst empfand. Ruru hatte sich mit Cornelius abends, vor dem obligatorischen Vorlesen von botanischen Sachbüchern, dazu ausgetauscht. Weil Lilo nämlich schlau war, schon ihren Namen schreiben konnte, auch eintippen. Sie hatte auf dem Tablet die Bilder gesehen, Bescheid gewusst. Was ziemlich gemein war. Die Tochter eines Schauspiel-Ehepaars war ihre ungefragte Namenspatin, ätherisch, zart, ein Prinzesschen, während sie selbst recht kräftig, handfest und gar nicht wie ein Prinzesschen aussah! Auch gar nicht so sein wollte! Trotzdem, ständig blöde Kleidchen tragen, die fürchterlichen Haare lang, an denen dann herumgezupft wurde...! Ermahnungen, nicht zu viel zu essen, nicht schmutzig zu werden, nicht geradeheraus zu sagen, was sie für richtig hielt... "Sie mag mich nicht besonders, meine Mutter. Aber sie muss ja. Es ist trotzdem nicht fair, dass ich nicht ich sein soll. Das ist nicht richtig." Hatte sie Ruru anvertraut. Ruru verstand das nur allzu gut. Obwohl er seine eigene Mutter durchaus mochte, konnte er nicht ignorieren, dass es besser war, wenn sie sich bloß trafen, nicht mehr zusammen wohnten. Vielleicht war es ein bisschen ungezogen, wenn man die eigene Mutter auch nicht besonders mochte, aber er konnte Lilo deswegen nicht verurteilen. Er fand durchaus, dass sie "richtig" war. Mit ihr konnte man so viele Dinge unternehmen, sie war stark und mutig. Überhaupt, Prinzessinnen interessierten ihn gar nicht, aber ein Freund, der eine prima Schlinge für die Tomatenranken knoten konnte, DARAUF legte er größten Wert! Er lächelte zu Nelli hoch, der das alles sehr gut verstanden hatte. In diesem Moment schellte es energisch an der Tür. Cornelius warf Junias einen verschmitzten Blick zu. "Ich glaube, dein charmantes Einwirkungsvermögen ist gefragt." Junias schnaubte kurz, ließ die silbrig-grauen Locken aus seiner Stirn mit einer graziösen Kopfbewegung fliegen. "Ich muss mir meine Gummibärchen schwer verdienen!" Jammerte er leise mit divenhafter Theatralik, bevor er beschwingt Lilos Mutter entgegen spazierte. jßM- "Danke schön." Raunte Cornelius sanft, küsste Junias auf die kalte Schläfe. Der residierte recht bequem in seinen Armen auf dem Bett, schmiegte sich gemütlich an. "Oh, keine Mühe für mich!" Winkte Junias betont selbstherrlich ab, die Miene unbewegt, in seiner Stimme jedoch ein herausfordernd-neckender Ton. Sie teilten die abendliche Mußezeit, weil Luzie mit Vorlesen an der Reihe war und es Ruru guttat, sich auch mit ihr auszutauschen. "Was meinst du, wie lange hält der häusliche Frieden?" Erkundigte sich Cornelius leise, schmiegte die Wange an Junias' kalte, porzellanglatte Haut. Der wandte sich in der Umarmung herum, küsste ihn leidenschaftlich und recht feucht, mit dem Ergebnis, dass seine besonderen Fähigkeiten auch für eine kurze Zeitspanne Cornelius' Sinne schärften. "Erinnerst du dich?" Junias blickte ihn mit seinen burgunderroten Augäpfeln an, ohne jedes Mienenspiel. Das jedoch musste Cornelius nicht bemühen, er spürte Junias' Sorge. "'Man macht doch keinen Elefanten zur Maus'." Zitierte er Lilos entschiedene Bemerkung, seufzte leise. "Es ist, als sprächen sie nicht dieselbe Sprache. Irgendwann wird sich die Mutter fragen, ob Lilo aus Trotz reagiert, um sie zu ärgern, nicht, weil sie nicht anders sein kann, als sie ist." Cornelius erwog diese Einschätzung, die er nicht in Zweifel zog. Junias' besondere Fähigkeiten, ein mütterliches Erbe, verhalfen ihm zu Einsichten, die für "Nur-Menschen" nicht ohne weiteres zugänglich waren. "Kann man da etwas tun?" Er mochte Lilo, nicht nur, weil sie Rurus erster "Freund" war. In seinen kräftigen Armen grummelte Junias. "Ich hatte gelegentlich erwähnt, dass Beeinflussung Grenzen hat, nicht wahr?" Eine dezidiert rhetorische Frage, mit aufgestellten Stacheln versehen, wie so häufig, wenn Junias mit Emotionen rang, die er hälftig gar nicht empfinden können sollte. "Schade." Konstatierte Cornelius versöhnlich. Seine Erwartung wurde nicht enttäuscht. "Es ist nicht so, dass ich nichts unternehmen würde!" Korrigierte Junias, sich aufrichtend, einen möglicherweise trügerischen Eindruck. "Nur, wenn man sich weigert zu sehen, was da ist..." Da konnte keine Methode auf längere Sicht Erfolg zeitigen. "Ein Elefant, keine Maus." Stellte Cornelius ohne Spott fest. "Das Gute ist: sie glaubt felsenfest an sich selbst. Da ist ein Kern, der nicht erschüttert werden kann." Arrangierte Junias sich wieder in Cornelius' Armen. Cornelius kontemplierte diese Feststellung, wurde mit einer kalten Hand energisch in die Nase gekniffen. "Übrigens solltest du dir endlich angewöhnen, Ruru zu teilen, klar?! Er ist jetzt auch mein kleiner Bruder. Ich würde mich schon mucksen, wenn sich Kroppzeuch unter seine Freunde mischt!" Dieser grobe Tadel brachte Cornelius zum Lachen. "Danke." Raunte er zärtlich, bevor er sich zur Seite sacken ließ, Junias mit sich zog. Man konnte gut argumentieren, dass die Kuchen- und Gummibärchen-Kalorien abtrainiert werden mussten! jßM- Lilo empfand längst keine Verwunderung mehr, wenn Dramen NICHT auf großer Bühne gegeben wurden. Sie rechnete es Junias' feinem Gespür zu, den albernen Klamauk auszubremsen, ohne zu ahnen, wie nahe sie damit seinem Geheimnis kam. Was sie allerdings auch nicht sonderlich tangiert hätte. Als Einzelkind konnte sie keine Geschwister vorweisen, während Ruru gleich mit zwei Brüdern aufwartete. Ungeachtet der etwas seltsamen Konstellation fand sie, es gäbe genug, was man abgeben könne. Mit nur einem Ruru würden die beiden Brüder ja wohl kaum ausgelastet sein, nicht wahr?! Weshalb sie die "Dienste" von Junias und Cornelius ebenfalls in Anspruch nahm. Zudem war Ruru nie knauserig! Ja, hin und wieder kuschelten die beiden älteren "Brüder", aber das störte sie auch nicht. Mit in diesem Paket der Freundschaft inbegriffen waren auch Luzie und Henk. Lilo konnte nicht im Geringsten nachvollziehen, was man gegen "Pflegeeltern" haben sollte, wenn sie wie diese beiden waren! Freundlich, lustig, ungezwungen, direkt, nicht etepetete! Hier war sie Mensch, wie der Großvater zu sagen pflegte. Außerdem kannten Junias und Cornelius auch andere interessante Leute: Adam mit seinem Feuerstuhl Eve, der sie sogar mal mitgenommen hatte! Besagter Adam half auch, einen wichtigen Plan auszuhecken, nämlich, die besonders verhassten Kleider zusammenzusuchen, heimlich aus dem Haus zu schmuggeln und in eine Tauschbörse zu geben! Das hatte Lilo bis auf die Latzhose ENDLICH Kleider verschafft, die sie selbst tragen wollte! Wenn auch nur bei Henk, Luzie, Ruru, Junias und Cornelius daheim, die gar nicht kleinlich waren, ihr dort eine kleine Kleiderkiste zur Verfügung stellten. Deshalb konnte nichts und niemand Lilo davon abhalten, recht häufig mit Ruru nach Hause zu marschieren, ganz gleich, was ihre Mutter dachte oder welche Taktik zum Erfolg führte! Ruru musste sie das nicht erklären, denn er kannte sein Zuhause ja! Weshalb es auch nicht Wunder nahm, dass Lilo einige Tage später mit noch immer geschorenem Schopf in der offenen Werkstatt saß. Es regnete, weshalb man ein Buch studierte. "Muss man wirklich zuerst den Kopf abschneiden und alles raus kratzen?" Erkundigte sie sich skeptisch bei Henk, der steif und aufrecht im Korsett seine Gartenwerkzeuge reinigte. "Die Wände könnten nämlich instabil sein. Wenn man rein sticht." Argumentierte sie schlüssig. "Wie bei Eiern, wenn man die anstippt." Obwohl sie keine große Begeisterung für das Anmalen von Ostereiern verspürte. Henk rollte eine Schnurrbartspitze nachdenklich ein. "Kommt wohl darauf an. Wie dick die Schale ist. Von der Rübe oder dem Kürbis." Ruru, der gerade sehr vorsichtig Samen von Streu trennte, warf einen besorgten Blick hoch. "Haben wir denn so viel übrig?" Immerhin musste man es als Luxus einschätzen, Früchte nicht zum Verzehr, sondern nur für eine kurzweilige Dekoration zu züchten, besonders bei Pflanzen, die als Starkzehrer galten oder viel Wasser verlangten. "Ach, das wird schon reichen, Ruru." Luzie zwinkerte, wischte dabei Stroh in ihre wilden Locken, deren rote Färbung sich langsam ins Grau verabschiedete. "Wir könnten auch Pappmaschee nehmen." Lilo blätterte um. "Aber dazu brauchen wir Luftballons. Oder alte, aufblasbare Wasserbälle." Obwohl sie doch auf Rüben oder Kürbisse hoffte. Luzie hatte ihr zugesichert, Stichel, Stecher und scharfe Messer zur Verfügung zu stellen. Und einen Kettenhandschuh! "Herumlaufen und Süßigkeiten bekommen darf ich ohnehin nicht." Ließ Lilo ohne Bedauern verlauten. "Nur so eine Laterne fände ich schon toll." Ruru, der auf die Abbildung äugte, nickte beipflichtend. "Die sieht schon prima aus." Luzie schmunzelte über die Ernsthaftigkeit der Fünfjährigen. "Ich bin sicher, dass wir tolle Grusel-Laternen zu Halloween hinbekommen." Versprach sie, lächelte hoch zu Henk, dessen Schmunzeln man im Vollbart nur erahnen konnte. Sich den Spaß entgegen lassen, die beiden emsigen Bastler zu erleben?! Niemals! jßM- Cornelius stellte den zweiten Becher dampfenden Pfefferminztees neben Junias' Hand ab, betrachtete mit einem nachsichtigen Schmunzeln den zwei Jahre älteren Freund. Das Mienenspiel verriet ihm nichts, doch in der Körperhaltung konnte er Konzentration konstatieren. Wenn es ums Backen ging, tauchte Junias völlig ein in fremde Dimensionen. Sich herunter beugend platzierte Cornelius einen Schmatzer auf die silbrig-grauen, langen Ringellocken am Oberkopf. DAS gereichte erstaunlicherweise doch, Junias aus seiner Versunkenheit zu wecken. "Also, bitte!" Tadelte seine Stimme streng. Die burgunderroten Augen mit den schwarzen Pupillen ohne Wimpernkranz funkelten empört. Lächelnd ließ sich Cornelius neben ihm auf der Sitzbank nieder. "Verrätst du mir, was dich so in Beschlag nimmt?" Erkundigte er sich mit einem Zwinkern. Junias knurrte knapp, nippte demonstrativ an seinem Teebecher. "Schön. Danke, übrigens." Ließ er sich nachsichtig herab, dirigierte seine handgeschriebene Liste über die Demarkationslinie. Von dieser vorgeblichen Divenhaftigkeit war Cornelius nicht abgeschreckt oder verärgert. Obwohl sie vereinbart hatten, ein Paar zu sein, mussten sie die richtige Distanz und Dosis noch austarieren. Hin und wieder kollidierten unterschiedliche, aber übereinstimmende Instinkte, da nagte man am Egoismus... Gar nicht so einfach, den goldenen Mittelweg auszumachen! "Ich notiere mir bloß die Zutaten, als Gedankenstütze." Erleuchtete Junias ihn gerade bezüglich der Anstrengungen. "Henk hat schon Rüben und Kürbisse ausgewählt. Das Fruchtfleisch muss ja nicht verkommen! Weil es keinen Empfang gibt, mache ich Päckchen." Junias unterbrach sich, Cornelius' verwirrten Blick korrekt deutend. "Oh, natürlich, das weißt du ja nicht!" Er strich sich eine silbrig-graue Locke aus der Stirn. "Wir haben immer den Garten schön dekoriert und einen kleinen Pfad ausgeleuchtet. Statt gekauftem Süßkram gab es am Ende des Wegs draußen ein Büfett. Die Nachbarschaft kam, Freunde, Bekannte, viele auch mit Kindern oder Enkeln. Die, die jetzt nicht so auf Horror und Grusel ausgerichtet sind." Er nippte seufzend an seinem Teebecher. "Das fällt ja dieses Jahr ins Wasser, frische Luft hin oder her. Deshalb dachte ich mir, ich mache kleine Päckchen fertig. Deftig, pikant oder süß, was man gut transportieren kann." Cornelius lauschte aufmerksam. "Kann ich mich dabei nützlich machen? Ich meine, außer den großen Daumen für die Paketschleife anbieten?" Neckte er Junias sanft. Vielleicht irrte er sich, aber es schien ihm, als hafte Junias eine gewisse Melancholie an. "Hilfe wäre nicht verkehrt." Gab der großmütig nach, heftete die Augen auf seine Notizen. Mit einer Hand strich Cornelius behutsam über eine glatte, kalte Wange. "Stimmt was nicht?" Erkundigte er sich leise. Prompt schnaubte Junias, halb ärgerlich, halb eingeschüchtert, wandte den Kopf, das Kinn gereckt, um ihn mit den burgunderroten Augäpfeln anzublitzen. "Wie kommt es eigentlich, dass du mich ausforschst, als wäre ich nicht ein rationaler Jäger?!" Es sollte herrisch bis selbstherrlich klingen, vermutete Cornelius, doch er hörte Besorgnis heraus. Immerhin hatten sie sich nicht ausdauernd und leidenschaftlich geküsst, sodass er nicht fähig sein sollte...! Cornelius liebkoste die kalte Wange, ein spitzbübisches Grinsen in den Mundwinkeln. "Juni..." Die Augenbrauen wanderten kritisch höher. Diesen Kosenamen hatte Ruru aufgebracht, ohne nachdrücklich und vernichtend daran gehindert worden zu sein. Lächelnd tippte Cornelius kurz auf Junias' Nasenspitze. "Du erinnerst dich an deine Lektionen zur Körpersprache? Ich fürchte, ein bisschen was ist bei mir hängen geblieben. Dieser Beziehungsratgeber, den ich gerade gelesen habe, der empfiehlt ausdrücklich..." Eine kalte Hand klemmte blitzartig seine Nasenspitze ein, begleitet von einem empörten Fauchen. "Ich fühle mich veralbert, verstehst du das?! Es macht mich nervös, und ich ahne eine Migräne im Anflug!" Warnte Junias merklich aufgebracht, ohne jedoch eine Miene verziehen zu können. Cornelius seufzte leise, dezent dumpf durch die malträtierte Nase. "Wir leben schon eine Weile zusammen. Ich habe das Privileg, dich aus nächster Nähe zu sehen, abgesehen vom intimen Austausch. Ich glaube nicht, dass außerhalb der Familie jemand herausfindet, wie es gerade um deine Gefühle bestellt ist." Zumindest so lange nicht, wie Junias seine besonderen Fähigkeiten tarnend einsetzte. Allerdings konnte Cornelius auch dessen Ängste nachvollziehen. Ein Außenseiter zu sein, zur Hälfte ein Nicht-Mensch, da achtete man auf Risiken. Junias gab seine Nase frei, kehrte ihm das Profil zu, nippte an seinem Teebecher. Geduldig ließ Cornelius eine Weile verstreichen, um diese Nachricht sacken zu lassen, dass Junias ihm nicht ein unlösliches Rätsel blieb, sondern genug Hinweise gab, ihn einzuschätzen. "Vermisst du es, wie früher zu feiern?" Erkundigte er sich aufs Geratewohl. Vielleicht nicht aus eigener Begeisterung, trotz Menschenaffinität, aber aus Zuneigung zu Henk und Luzie? "Es war ein schöner Abschluss. Eintopf im großen Kessel, Stockbrot und Kartoffeln im Lehmkleid. Die Laternen, die in der Dunkelheit heimelig brennen. Keine Monster oder Geister oder sonstige Horrorgestalten. Girlanden aus bunten Blättern, Kastanien, Eicheln, Nüsse als Futtervorräte, die Igelburg." Junias richtete sich auf. "Eine Sentimentalität, zweifellos. Andererseits sehr vernünftig, das zu verzehren, was man nicht einlagern oder konservieren kann." Hier klang eindeutig das mütterliche Erbe durch. Cornelius betrachtete ihn einen Moment versonnen, wartete ab, bis die Pause Junias ausreichend irritierte, sich ihm zuzukehren, küsste die kalten Lippen zärtlich. "Warum sollten wir das dieses Jahr nicht auch machen? Die Feuerschale ist da, genug Gemüse für einen Eintopf haben wir auch. Wir könnten ein kleines Zelt im Gästezimmer improvisieren. Ruru und Lilo hätten bestimmt ihre Freude daran, meinst du nicht? Wenn wir gemeinsam die Vorbereitungen treffen, würde es sich vielleicht auch wie ein guter Abschluss anfühlen." Junias lupfte eine Augenbraue. "Hoffentlich stammt das nicht aus einem dieser alternativen Ratgeber für Eltern?!" Knurrte er betont grimmig. Cornelius kommentierte das nicht. Er konnte nicht abstreiten, dass er noch immer nicht ganz "Teenager" war, sondern "alleinerziehender Elternteil" seines geliebten, jüngeren Halbbruders. Obwohl er sich schon, wie er selbst fand, erheblich gebessert hatte! Er zwinkerte Junias zu. "Nun, wenn sie im Gästezimmer im Zelt schlafen, kann ich mich bei dir einquartieren." Argumentierte er hintersinnig. Quasi eine Pyjama-Party ohne Pyjama. "Adamskostüm mit Schlange kombiniert?" Feuerte Junias frostig zurück. Cornelius lachte. "Ja, das hatte ich durchaus im Sinn." Auf die letzte Kostümfeier war er in der Grundschule gegangen. Danach ereilten ihn andere Prioritäten und knappe Mittel. Verkleidungen, Schminke, Eintritt: das gab kein Budget her. Allerdings hoffte er sehr darauf, Ruru die Teilhabe ermöglichen zu können, die der sich wünschte. Wie auch immer der Karneval in dieser Session stattfinden würde, Ruru sollte mitfeiern können, wenn er das wollte! Junias seufzte. "Du denkst schon wieder daran, was Ruru gefallen könnte! Wag es nicht zu leugnen." Auflachend gestand Cornelius diesen Treffer ein. "Stimmt. Was ICH mir vorstelle, hast du ja gerade gehört." Sich abwendend beugte Junias sich über seine Notizen, zog einen langen Strich. Cornelius lächelte, als er die neuen Begriffe ablas. Das Votum war zu seinen Gunsten ausgefallen! jßM- Kapitel 2 Ruru glaubte nicht an Gespenster oder Geister oder andere freischwebenden Bettlakenträger. Zudem hatte Lilo ihm knapp skizziert, was für ein "Humbug" Vampire seien: erst Fledermäuse, dann aber nicht über fließendes Wasser können, nur nachts herumsumpfen und mit Überbiss anderen Leuten am Hals hängen? Quatsch! Wer sich so was ausdachte, musste voll wie eine Haubitze sein! Wobei sie beide, nach kurzer Beratschlagung, nicht wussten, was eine Haubitze genau war. Der Großvater hatte es aufgebracht. Es galt als unhöflich, jemandem diesen Zustand zu unterstellen. "Vollgetrunken." Dolmetschte Lilo schließlich. Werwölfe stellten für sie auch Kokolores dar. Entweder war man immer haarig oder nie! Wie sollte das auch funktionieren, bei Vollmond Flokati, am Morgen überall Haarbälle?! Wobei ja eigentlich nur Katzen diese Dinger hochwürgten, weil sie sich mit der Zunge übers Fell putzten. Komplett unlogisch! Herumlaufende Mumien waren auch ein ausgemachter Blödsinn, schnippte Lilo dabei mit den Fingern: Streichholz dran, Fackel an! Mit so was konnte man ihr doch keine Angst einjagen. Sie betrachtete auch Untote und Zombies abschätzig. Es mochten ja eine Menge Leute ohne besondere Hirntätigkeit herumlaufen, Deppen, halt, aber ohne Strom auf dem Brägen kein Marsch! Bewegung erforderte Krafteinsatz, das wussten ja wohl alle! Dass irgendwer im Zustand fortschreitender Vergammelung herumzog, war außerdem unhygienisch. Ruru hielt ihre Argumentation für stichhaltig und sehr durchdacht. Deshalb interessierte er sich nicht für die Gruselgestalten, die aufgeboten wurden. Das war doch alles nicht echt! jßM- Junias winkte Ruru heran, der sich, ein wenig argwöhnisch, artig sein Hasentuch geholt hatte. Er verlor den Boden unter den Füßen, als Cornelius ihn schwungvoll hochhob, seinen Schoß als Sitzplatz anbot. "Na, ich werde dich doch noch das Fürchten lehren!" Drohte Junias mit grimmiger Stimme, an ein Märchen erinnernd. Allerdings pflegte Ruru diese auch nicht sonderlich zu goutieren, das musste man zugeben. Häufig ging es nicht um Pflanzen oder Gemüse, weshalb er nur aus gutmütiger Höflichkeit lauschte. Hin und wieder wurde es ihm aber allzu unsinnig, was ihn zu empörter Richtigstellung veranlasste. Wenn man da nur an die Bohnenranke dachte! Junias hütete sich deshalb, Ruru Märchen anzudienen. Dessen vorwurfsvoller Blick konnte selbst ihn nachhaltig irritieren! Er startete die kurze Animationsfolge einer Serie, zog sich zurück, um die ungleichen Brüder zu beobachten. Ruru sah selten fern, was ihn erstaunlich resilient gegen Werbung und entsprechende Verlockungen machte. Auf seinem schmalen Gesicht erschien ein Leuchten beim Anblick der drei gewaltigen Kürbisse. Die bunt gewürfelte Truppe aus Schafen und dem Hofhund bewachte nun diese Schätze. Ein wenig boshaft studierte Junias, wie sich Rurus schmales Gesicht verzog, entsetzt ob des Angriffs der schleimigen Nacktschnecken! Danach jedoch tauchte zwischen den feinen Augenbrauen eine Falte auf. Am Ende blieb ein Kürbis mit Halloween-Grinsen übrig, während man sich als Gruselgestalten verkleidete. Ende gut, alles gut. "Schnecken können doch keinen Kürbis anfressen, oder?!" Wand sich Ruru auf Cornelius' Schoß herum, das Hasentuch umklammernd. "Ich hätte auch eher Mäuse angenommen." Antwortete Cornelius, warf einen sehr bezeichnenden Blick auf seinen zwei Jahre älteren Freund, dem gerade, da er sich gesetzt hatte, Luzie die silbrig-grauen Locken raufte. "Ich ahne hier jemanden, der von gewaltigen Ur-Dino-Schnecken träumen wird!" Kündigte sie ihm neckend an, weil es doch ungezogen war, Ruru so in Sorge zu versetzen. Der rutschte eilig von Cornelius' Schoß. "Ich komme gleich ins Bad, Zähneputzen, ja, Nelli? Nur vorher möchte ich Henk lieber doch fragen!" Damit eilte er rasch aus der großen Wohnküche, um in die Werkstatt zu flitzen. Junias erhob sich. "He, Schabernack ist bei Halloween erlaubt, ja?" Er klang keineswegs so selbstsicher und spöttisch wie üblich. Unterdessen lauschte Henk Rurus Erklärung für dessen Eindringen und der Schilderung der kurzen Episode der animierten Serie. Er registrierte auch das Hasentuch und die Aufregung ihres jüngsten Pflegekinds. "Weißt du, Henk, ich möchte doch so gern richtige Laternen schnitzen." In Rurus Stimme schwang auch die Verpflichtung mit, Lilo eingeladen zu haben, im Wort zu stehen. Henk drehte das Ende einer Schnurrbartspitze ein. Obwohl Ruru die Spanische Nacktschnecke als Gegner erkoren hatte, fing er sie bloß ab, setzte sie aus, in der Wiese, schattig genug, nicht etwa auf dem Asphalt oder in die Sonne. Kein Aufspießen, kein mutwilliges oder gedankenloses Töten. Henk streckte die Hand aus, empfing die kleine des schmächtigen Jungen vertraut darin. "Schadet nicht, sich zu vergewissern." Versicherte er Ruru, der sensibel genug fürchtete, eine Kontrolle könne als Misstrauen aufgefasst werden, ob auch wirklich die Kürbisse und Rüben sicher verwahrt wurden. Ruru lächelte erleichtert zu ihm hoch. "Hab noch keine Schnecke gesehen, die sich durch einen dicken Kürbis gefressen hätte. Aber wenn eine Faulstelle dran ist?" Henk nickte bedächtig, um zu signalisieren, dass man Eventualitäten nicht außer Acht lassen sollte. "Lass uns genau hinschauen, Ruru. Wäre ja schade drum." "Danke schön, Henk." Ruru strahlte erleichtert. Die besorgte Falte zwischen den Augenbrauen verschwand. Mit Henk als höchster Instanz hätten verfressene Kürbis-Marodeure und Rüben-Rabauken keine Chance! jßM- Junias saß auf seinem Bett, das Tablet auf dem Schoß und Kopfhörer über den silbrig-grauen Lockenschopf gezogen. Als Cornelius eintrat, entfernte er diese jedoch sofort, legte seine Lektüre beiseite. "Bin ich in Ungnade gefallen?" Erkundigte sich Junias, klang jedoch keineswegs so leichtmütig und ironisch wie intendiert. Cornelius schloss die Zimmertür hinter sich, nahm neben Junias auf dessen Bett Platz. Er schmunzelte, obwohl es aus erzieherischen Gründen wohl vorteilhafter gewesen wäre, streng dreinzublicken. "Da muss ich dich enttäuschen, JUNI." Versetzte er spitzbübisch, den Kosenamen besonders betonend. "Tatsächlich fühlt sich Ruru darin bestärkt, dass er alles unternommen hat, um ein glückliches Gelingen zu garantieren. Sich davon zu überzeugen ist für ihn eine gute Anregung deinerseits gewesen." Junias schnaubte schnippisch, was Cornelius ein Auflachen entlockte. "Und, betrachtest DU mich mit Missfallen?" Hakte Junias unterdessen nach, seine Fingernägel prüfend, den Kopf gesenkt. Cornelius legte ihm in gewohnter Manier einen kräftigen Arm um die Schultern. "Nein, tue ich nicht. Ich kann deine Absicht, Ruru ein wenig zu necken, natürlich nur mit größter Zurückhaltung bewerten, als Immer-noch-Elternteil, andererseits ist Ruru eben auch immer für eine Überraschung gut." Sich anlehnend brummelte Junias leicht vor sich hin. "Schön, ich gebe mich geschlagen. Dass er ein verflixt mutiger, kleiner Bursche ist, steht ja außer Zweifel, bloß so ein klein wenig Halloween-Gruseln hätte ihm auch nicht geschadet!" Den Kopf wendend drückte Cornelius tröstend einen Kuss auf Junias' kalte Schläfe. "Das ist nicht echt." Wiederholte er dabei neckend Rurus finales Urteil. Etwas abrückend wandte Junias sich ihm zu, studierte ihn ohne Mienenspiel. "Und du? Gruselst du dich überhaupt nicht?" Cornelius nahm Junias' kalte Hände in seine warmen. "Also, ein Blutsauger an meiner Kehle könnte mich jetzt nicht erschrecken." Zwinkerte er Junias zu, der prompt grimmig die Zähne fletschte. "Ich schätze, ich bin ein wenig zu nüchtern, um Spaß daran zu finden." Ergänzte Cornelius nachdenklich. Ihm waren reale, tatsächliche Schrecken bewusster. Häufig tarnten die sich nicht einfach in einem leicht auszumachenden Kostüm. "Aha. Da hast du wohl auch kein Interesse, eine Halloween-Gruseltour zu besuchen." Konkludierte Junias eingeschnappt, das Kinn gereckt. "Hattest du vor, mich zu einem solchen Date auszuführen?" Erkundigte sich Cornelius überrascht, drückte behutsam die kalten Finger, die ihm nicht entzogen worden waren. Den Blick abgewandt lupfte Junias bloß knapp die Schultern. Geduldig wartete Cornelius darauf, dass die Spannung so verdichtet wurde, bis der Druck Junias veranlasste, sich ihm wieder zuzukehren. "Bei deiner stoischen Nüchternheit wäre es vermutlich vergebene Liebesmüh!" Junias atmete tief durch, verabschiedete seinen sarkastischen Tonfall. "Tatsächlich gibt es Gruseltouren auf der Burg. Nichts für Kinder, dieses Mal sogar erst ab 12 Jahren plus Erwachsenem. Aber ich nahm an, dass..." Cornelius half ihm leise aus. "Dass ich bisher an solchen Vergnügungen keinen Anteil hatte." Was zutraf. Er lächelte. "Hättest DU dich denn erschreckt?" Den Blick auf ihre verbundenen Hände gesenkt klang ein spitzbübisches Vergnügen in Junias' Stimme mit. "Oh, hin und wieder kann man sogar mich überraschen. In der Gruppe entsteht ja eine gewisse Dynamik. Ich war mal in der Mittelschule mit einigen Freunden dabei. Meine angeborene 'Menschenaffinität' hat mich nicht im Stich gelassen." Obwohl zu bezweifeln anstand, dass Junias' übermenschliche Sinne ihn ernsthaft in Angstzustände verfallen gelassen hätten. "Wenn du möchtest, begleite ich dich gern." Bot Cornelius an. Ihm war durchaus bewusst, dass sie an der "Paar-Beziehung" noch zu arbeiten hatten, zumindest, was den romantischen Anteil betraf. Junias schnaubte. "Wir treiben uns im Dunkeln herum, amüsieren uns ohne Ruru?! Nicht zu vergessen Lilo, die uns quasi adoptiert hat?! Nicht auszudenken!" Nachsichtig lächelte Cornelius, dem nicht entging, dass Junias ihm unterstellte, sich NIE ohne Ruru etwas gönnen zu können, oder nur mit schlechtem Gewissen und halbherziger Begeisterung. "Wenn es dir gefällt..." Setzte er an, doch Junias fiel ihm ins Wort. "Nein, bei genauerer Betrachtung passt es nicht." Die burgunderroten Augen mit den schwarzen Pupillen fingen Cornelius' Blick unverbrämt ein. "Tatsächlich werde ich viel mehr Spaß haben, wenn wir hier alle zusammen sind, mit Herbstschmuck, Laternen, Eintopf, Stockbrot und den beiden Frechdachsen in einem improvisierten Zelt." "Und unserer Pyjama-ohne-Pyjama-Party danach." Ergänzte Cornelius keineswegs subtil. "Das muss ich mir noch überlegen!" Konterte Junias selbstherrlich, entzog Cornelius seine Hände, entstieg seinem Bett. Er sortierte Tablet und Kopfhörer auf seinen gewohnt schwer belasteten Schreibtisch, fischte einen Prospekt aus der Gebirgskette. Vor seinem Bett blieb er stehen, fixierte Cornelius. Auch wenn man es seinem Gesicht nicht ablesen konnte, verriet die Körperhaltung eine strenge Musterung. "Übrigens bin ICH dir gram, das sollst du wissen!" Junias stemmte trotz Prospekt in der Linken die Hände in die schlanken Hüften. "Glaub nur nicht, mir wäre entgangen, dass du schon wieder gewachsen bist! Unerhört! Wo soll das noch enden, frag ich dich!?" Cornelius lauschte dieser empörten Rede mit bemerkenswerter Gelassenheit, auch wenn er mannhaft ein Prusten zu unterdrücken hatte. Junias behagte es nämlich nicht sonderlich, dass ihr Größenunterschied zunahm, obwohl Cornelius ihm eindeutig die attraktivere Figur zuschrieb. Er hatte sehr lange Beine zu einem kurzen, kräftigen Oberkörper. Vor allem die noch breiter werdenden Schultern ließen ihn beinahe gedrungen und plump erscheinen. Eine Auffassung, die Junias nicht teilte, aber entschieden davon absah, Cornelius häufiger als gerade notwendig darauf hinzuweisen, dass er ihn schön fand, mit der gefleckten Haut, der ungewöhnlichen Augenfarbe, seinem krausen Schopf und diesem überirdisch verlockenden Duft! "Ich könnte gebückt laufen?" Bot Cornelius an, zwinkerte. "Oder wir könnten die Möbel auf Stelzen stellen und jeden Türsturz erhöhen, wie?!" Polterte Junias ärgerlich zurück. Lachend kam Cornelius auf die Beine, entzog Junias den Prospekt. "Ist es schon so schlimm, dass du mich nicht mehr auffordern kannst?" Erkundigte er sich sanft. Der fauchte, streckte ihm jedoch einladend die Hand hin. Ohne Mühe, ohne Musik, mit vollendeter Eleganz führte Junias ihn daraufhin in einem schwungvollen, engen Walzer durch das Zimmer. Anschließend, angeregt durch die kreiselnde Bewegung, blickten sie einander beschleunigt atmend an. Cornelius nahm die kalten Finger in seine Hände, legte sich die Arme um den Nacken, beugte sich leicht, die eigenen, kräftigen Arme um Junias schließend, küsste die kalten Lippen. Ihm würde sehr schnell sehr warm werden, daran bestand kein Zweifel, weil sie es beide ungeniert genossen, Sinneseindrücke, Fähigkeiten und auch Speichel zu tauschen. Zudem schien sein Körpergeruch auch nie die Wirkung auf Junias zu verfehlen, der wie unter einem Zauberbann agierte. Als ihm die Knie weich wurden, ein dezentes Taumeln nicht mehr zu übersehen war, dirigierte Junias ihn auf das Bett, entsann sich, das Knistern von geknicktem Papier registrierend, des Prospekts. Bevor er wieder dem gemeingefährlichen Aroma zum Opfer fiel, das Cornelius ungehemmt verströmte, tippte er dem ermahnend auf die Nasenspitze. "Augenblick mal, ja? Jetzt wäre ich fast vom Thema abgekommen!" Cornelius, sich die feuchten Lippen leckend, nickte artig, ermahnte andere Körperregionen, sich zivil zu verhalten. "Mir stehen natürlich nicht derart viele Ratgeber zur Verfügung." Begann Junias spöttisch, blätterte den Prospekt auf. "Nichtsdestotrotz pflege ich mich auf dem Laufenden zu halten. Was mir gerade gar nicht so zusagt!" Damit präsentierte er Cornelius den aktuellen Trend bei der Laternenparade zum 11.11., dem Martinstag, auch wenn man nicht religiös gesinnt war oder das Datum ausschließlich mit der Fünften Jahreszeit, der Session, in Verbindung brachte. "...oha." Kommentierte Cornelius, warf einen Blick hoch zu Junias. "Wenn es so ein Ding sein muss..." De rigeur oder übersetzt "angesagt" waren LED-Angelruten mit vorgefertigten Laternen diverser TV-Serien-Helden als Motiven, gleich montiert oder als Bastelset angeboten. Allerdings hatte selbst die Zeit im Kindergarten nicht dazu geführt, Ruru für das Kinderprogramm im Fernsehen oder Internet zu erwärmen. "Es ist nicht so teuer." Setzte Cornelius behutsam an, wurde jedoch vehement ausgebremst. "Ach ja?! Ich weiß genau, dass ICH mit dem Einkaufen dran bin! Er wird MIR diese Blicke zuwerfen! Ob wir uns das leisten können, ob es uns nicht das Laugenbrötchen für danach kostet! Oh, wenn ich mich an die Bananen-Sache erinnere!" Bauschte er theatralisch auf. Cornelius lachte, fing Junias' Hände ein, drückte sie tröstend. "Daran trage ich allein die Schuld, wirklich! Es wächst sich bestimmt noch aus. Wenn du ihn bittest, dir gefällig zu sein und doch so eine Laterne...?" Schlug er grinsend vor, doch Junias schüttelte nachdrücklich den Kopf und die silbrig-grauen Locken. "Ha! Die Inquisition könnte nicht schlimmer sein! Jede Wette, dass er mich besonders mitfühlend in die Zange nimmt, um herauszubringen, warum ich so eine blöde Laterne für ihn kaufen will! Dabei in Gefahr gerate, die anderen zu kurz zu halten." Mit einem Ruck zog Cornelius Junias in seine Arme aufs Bett. "Hat er dir gesagt, dass er so etwas haben möchte?" Erkundigte er sich leise. Junias grollte. "Gute Güte, Ruru und einen Wunsch äußern, schlimmer noch, einen Willen?! Er würde nicht mal in die vage Richtung linsen!" Das konnte Cornelius nicht bestreiten. Weil das Geld so knapp war, hatte es immer nur zum Nötigsten gereicht. Bunte Malbücher, Spielzeug, Plastik-Kleinkram, das konnte man nicht essen und auch nicht teilen! Man brauchte es ja auch nicht wirklich, richtig? Ihm schnürte es noch immer die Kehle zu, wenn Ruru sich so überaus genügsam und vernünftig zeigte. Junias hingegen geriet in Rage, die er nicht ausleben konnte, weil ein Teil seiner Natur über derartige Gefühle schockiert war, diese gar nicht kompensieren konnte, als wesensfremd erachtete. Sie wollten Ruru gar nicht ausschließen aus dem, was seine Altersgenossen kannten und liebten. Der allzu kluge, mutige, kleine Kerl ahnte ihre Intentionen, betrachtete sie erschüttert, umklammerte das Hasentuch, überlegte fieberhaft, wie er das Unglück abwenden konnte. Dass sie um seinetwillen Ausflüchte erfanden, um ihm etwas zu gönnen, was ihnen selbst abging! "So grässliche Laternen kann ich jedenfalls nicht basteln." Murmelte Junias final in Cornelius' Armen. "Ich glaube, das ist auch gar nicht nötig. Wir können Windlichter improvisieren, mit Aufhänger. Lilo wird begeistert sein, wenn sie mit Feuer, Messer und scharfer Schere operieren kann. Das wird Ruru bestimmt am Meisten bedeuten. Genug Laternen für uns alle beruhigen sicher auch sein Gewissen." Entwarf Cornelius einen Schlachtplan. Ja, wahrscheinlich würden es keine mondänen Laternen werden und auch noch 'gefährlich', mit offenem Teelicht. Vielleicht gäbe es auch keinen Umzug, sondern nur ein Aufstellen bei frischer Luft in großem Abstand. Wenn er seinen geliebten, kleinen Bruder richtig kannte, bedeutete es ihm viel, sie alle fröhlich zu wissen, sich nicht bevorzugt zu sehen, sondern als gleichberechtigter Teil der Familie! "Außerdem sind diese komischen Viecher nicht echt." Ergänzte er in Rurus gewohntem Duktus. Junias seufzte an seiner Halsbeuge, kuschelte sich an. "Ich merke gerade, was mich gruselt, ganz ohne Kostüm." Bekundete er selbstironisch, blinzelte zu Cornelius. Der schmunzelte. "Ich glaube, ich erwähnte, wie sehr es erdet, wenn so ein kleiner Bursche...?" Tadelnd verschloss Junias ihm den Mund, labte sich selbstherrlich an den so verschwenderisch offerierten Genüssen. jßM- "Es entzieht sich meinem Verständnis!" Betonte Silvain, schob erneut seine Brille auf dem Nasenrücken nach oben. Dabei geriet sein gewaltiger Rucksack ins Trudeln, was ihn durchaus hätte zu Fall bringen können, doch Linus fischte geübt ab, tarierte die Balance aus. "Vielen Dank. Oh, es ist wirklich zu ärgerlich!" Versicherte Silvain, der üblicherweise sehr zurückhaltend war. Allerdings konnte es selbst den Friedliebendsten auf den nächsten Baum befördern, wenn JEDEN FREITAG...! Durchaus, ein wenig hatte er sich diese Routine der Ermahnungen auch selbst zuzuschreiben. Immerhin war er nach den Osterferien mit Sack und Pack (reduziert) einfach bei Linus in dessen Einzimmerappartement eingezogen. Wenn schon Lockdown, auf keinen Fall im Kreise der liebenden, jedoch ungeheuer anstrengenden Familie! Nachdem die Kontaktbeschränkungen gelockert worden waren, hieß es zurück in die heimischen vier Wände, über die Woche, auch den Meldeverpflichtungen zu genügen. Zudem hatte Silvain Linus nachdrücklich ersucht, ihm unmissverständlich mitzuteilen, wenn der Abstand wünschte. Linus, der Wikinger, Vizekapitän der Hockeymannschaft, wies derartige Anwandlungen als äußerst unwahrscheinlich zurück. Allein war er mit sich genug und einen Schutzengel hatte er bitter nötig. Deshalb kommodierte es ihm durchaus sehr, dass Silvain freitags bei ihm aufschlug, um das Wochenende mit ihm zu verbringen. "Es ist keine Belästigung, sondern eine Bereicherung und Begünstigung." Pflegte er mit seiner tiefen, heiseren Stimme grimmig dem treusorgenden Elternpaar zu versichern, das ihn weniger misstrauisch als hilflos beäugte. Allerdings waren sie beide seit kurzem volljährig und auch verantwortungsbewusst. Linus hatte sogar die Lektionen (Handzettel) zu den unerwünschten Nebenwirkungen von analen und oralen Sexualpraktiken studiert. Nein, er verhehlte auch seiner prekäre Situation nicht: das Einzimmerappartement unter dem Dach verfügte nur über ein Minimum an Möglichkeiten. Seinen Finanzen geschuldet gab es weder Fernseher noch Kühlschrank, keinen Internet-, Telefon- oder Kabelanschluss. Nicht mal über ein Mobiltelefon konnte er verfügen. Silvain focht das nicht an, weshalb es ihn fuchste, regelmäßig daran erinnert zu werden, welche Belastung ER darstellen könnte, wie ungünstig die Gegebenheiten waren. Für ihn, die notorisch schreckhafte, extrem kurzsichtige, schlaksige Leseratte eine zu meisternde Herausforderung. Es GAB Lösungen, denn Linus hatte sie ja gefunden! Ihnen beiden war es sehr ernst miteinander, auch wenn sie beide nicht blind für die Schwierigkeiten waren. Mochten sie auch im Erscheinungsbild sehr unterschiedlich auftreten, so stimmten ihre Interessen und ihr Humor überein. Zudem, das rührte Silvain immer wieder, war Linus einfach ein feiner Mensch! Geistreich, hilfsbereit, entschlossen, unprätentiös, liebevoll und sich selbst ein gnadenloser Richter. Deshalb erschien es ihm notwendig, die vernichtenden Urteile abzuwenden, Einspruch zu erheben, für Linus selbst in die Bresche zu springen, der sich selbst verurteilte, dazu neigte, überkritisch den eigenen Wert abzuerkennen, die Stacheln auszufahren. Linus hingegen liebte Silvain, mehr als eine Weile heimlich, nun geradeheraus und grenzenlos. Der ihm seine Schwächen, Fehler und Charaktermängel nachsah, ihm gleichzeitig Freund und Gefährte war, dazu noch Intimität zuließ, ihm versichert hatte, Geduld zu haben, bis sie einander Anträge machen konnten. Seinen lästigen Stolz, seine unbegründete Selbstherrlichkeit nicht mit Verachtung strafte. "Zudem erwarten sie, dass ich mich meinen Schwestern zuwende!" Ergänzte Silvain empört, warf durch die verschmierten Brillengläser einen Blick hoch in die Friesen-blauen Augen. "Womit, einem Kruzifix?" Erkundigte sich Linus spöttisch, zwinkerte. Silvain nickte bekräftigend. "In der Tat, das frage ich mich auch! Ich hätte es mir ja nicht träumen lassen, aber beinahe bin ich geneigt zu glauben, sie seien neidisch." Formulierte er geradezu Atemberaubendes. Immerhin galten seine kaum jüngeren Zwillingsschwestern Mireille und Marielle als Schönheiten, beliebt und darob gefürchtet. Mochten sie zwar unterstützt haben, dass ihr entsetzlich unzulänglicher Bruder "Silly" mit dem angesagten Linus zusammenkam, hinderte es sie jedoch nicht am Piesacken. "Ich wüsste nicht, dass ihr gemeinsame Vorlieben pflegt." Bemerkte Linus trügerisch sanft. "Ich auch nicht!" Bestätigte ihm Silvain entschieden, stolperte prompt, wurde erneut vom freien Fall gerettet. "Vielen Dank, Linus. Eben diesen Umstand empirisch zu unterlegen, das hat mich heute Morgen zehn Minuten gekostet. Danach war das Badezimmer blockiert. So musste ich mir in der Schule die Zähne putzen! Ich wünschte wirklich, sie hätten die letzten beiden Wochen bei unseren Großeltern verbracht!" Damit referierte er auf die Herbstferien, die ein Verreisen nur in sehr reduziertem Umfang zugelassen hatten. Er selbst hatte sich jeden Tag aufgemacht, um mit Linus für die Abschlussprüfungen zu lernen und in der Nachbarschaftshilfe tätig zu sein. Das entfernte ihn aus der Einflusssphäre seiner Schwestern, die ihr Privileg, ihn zu malträtieren, entschwinden sahen. Sich deshalb darauf verlegten, ihren Eltern eine beklagenswerte Entfremdung vorzuhalten! "Hätte ich nicht gestern Abend schon alles gepackt!" Silvain unterbrach sich, blickte zu Linus hoch, die mageren Wangen dezent gerötet. "Oh, entschuldige bitte, die ganze Zeit langweile ich dich mit diesen Trivialitäten! Dabei können wir endlich für uns allein sein!" Geknickt senkte er das wirre Haupt, das in Kürze Linus' kundigen Händen zwecks Haarschnitt anvertraut werden sollte. Linus lachte leise. "Es mag unfein sein, aber ich sehe es gern, wenn du kleine Dampfwölkchen gerechter Empörung herauslässt. Das entwaffnet mich nämlich und mindert meinen Drang, deinen Horror-Schwestern den Hals umzudrehen." Ein Verlangen, das ihn mindestens einmal täglich überkam. Silvain, den Rucksack aussteuernd, schenkte ihm einen verblüfften Blick. "Oh, wirklich? Ja, eigentlich sollte ich mich nicht darüber aufregen, nur erschien es mir heute ganz besonders lästig." Versonnen rümpfte er die Nase, um die Brille wieder nach oben zu expedieren, ohne die Hände von den Trageriemen nehmen zu müssen. Linus lächelte zärtlich. "Habe ich dir heute schon gesagt, wie sehr ich deinen Großmut liebe?" Prompt färbten sich Silvains magere Wangen ein. Er wagte ein verschmitztes Schmunzeln. "Vielen Dank. Ich gebe dieses Kompliment an dich zurück. Jetzt will ich mich nicht länger beklagen und deine Geduld strapazieren. Glaubst du, wir könnten das fermentierte Gemüse probieren? Ich habe Nudeln dabei und ein Glas Mandelmus." Eifrig erwartete er Linus' Urteil. Sie experimentierten gemeinsam mit stark eingeschränkten Möglichkeiten. "Klingt vielversprechend." Entschied der, hielt vor dem Eingang des Mehrparteienhauses inne. Dabei nutzte er im Treppenhaus geschickt die Enge, um Silvain den Rucksack zu entziehen, vor seinen nachsichtigen Protesten hoch unters Dach zu marschieren. jßM- Linus genoss es, dass in der winzigen Nasszelle dauerhaft eine zweite Zahnbürste und ein zusätzlicher Kamm residierten, dass auf seinem Bett ein weiteres Kissen präsidierte. Kleine, ihm sehr wichtige Anzeichen dafür, dass Silvain sich hier eingerichtet hatte, nicht nur zu Besuch blieb. Ihre gemeinsame Zeit während des Lockdowns hatte er nicht als Belastungsprobe empfunden, sondern als Bestätigung seiner heimlichen Hoffnungen. Ja, man mochte behaupten, dass eine Beziehung so lange nicht als gefestigt betrachtet werden konnte, bis sie einen großen Streit bewältigt hatte. Allerdings fehlte in dieser verallgemeinernden Gleichung Silvain, der ganz und gar nicht dazu neigte, sich heftig zu streiten, zu wüten, zu toben. Linus, der solche Auseinandersetzungen bis zum Erbrechen erlebt hatte, konnte darauf ohne Bedauern verzichten. Selbst wenn sie einmal nicht derselben Meinung waren, führte das nicht zu Auseinandersetzungen. Silvains großmütiger, ausgleichender, zurückgenommener Charakter ließ derlei emotional getriebene Explosionen nicht zu. Ein Glücksfall für Linus, wie der sich selbst gestand. Jahre unterdrückter Wut und Verzweiflung hatten ihm nämlich bedeutet, dass er selbst ein unausgeglichener, auffahrender Typ war, der der ständigen Aufsicht bedurfte, sich kontrollieren und zurücknehmen musste. Silvain hätte dieser Analyse nicht ohne Einrede beigepflichtet, vielmehr die Strenge bedauert, mit der Linus sich selbst in Bande schlug, in Selbstverachtung und Sarkasmus flüchtete. Dabei genügte doch eine ausgestreckte Hand, die Spannung zu entladen! Atmosphärische Tiefausläufer standen jedoch gerade nicht an, vielmehr hatte Silvain seinen Rucksack geleert. Man beratschlagte die Abfolge und Möglichkeiten der Menüs. Linus setzte Wasser für Kakao mit Zucker und Salz auf, während Regentropfen auf das Dachfenster trommelten. "Bist du schon mit deinen Aufgaben fertig?" Erkundigte sich Silvain, die Becher bestückend. "Beinahe. Allerdings lief der Nettop schon auf Notreserve, da habe ich lieber aufgehört." Antwortete Linus, übernahm das Einschenken des Wassers, um Silvain nicht mit einer Wasserdampfwolke temporär "erblinden" zu lassen. "Wollen wir es morgen versuchen? Ein Spaziergang durchs Viertel täte mir bestimmt gut." Argumentierte Silvain rührend selbstlos. Linus, der ihre Becher zum Bett transportierte, schmunzelte. "Danke für deine großherzige Offerte. Ich glaube, wir können uns zunächst anderen Dingen widmen." Damit ließ er sich bequem nieder, reichte Silvain einen Becher an. Behutsam stießen sie die Keramik aneinander, nickten sich zu und nippten vorsichtig. "Es macht mir wirklich nichts aus." Versicherte Silvain, hinter den beschlagenen Brillengläsern blinzelnd. "Ich weiß, mein Lieber. Ohnehin bist du zu rücksichtsvoll und nett zu mir." Neckte Linus, hauchte einen Kuss auf eine magere Wange. Silvain grimassierte geschlagen, seufzte. "Ich bin einfach noch nicht daran gewöhnt, um meiner Selbst willen ohne Einschränkungen gemocht zu werden. Obwohl ich mich durchaus bemühe, nonchalant und selbstsüchtig zu sein." Linus setzte seinen Becher auf den Boden, schlang einen muskulösen Arm um Silvains schmale Schultern. "Ich hege ernstliche Zweifel, dass dir dieses Vorhaben mal gelingt. Scherz beiseite, ich freue mich über dein Angebot. Es handelt sich jedoch nur um einen winzigen Rest, der nicht bedeutend ist." Ohnehin schätzte sich Linus glücklich, im Besitz einer abenteuerlichen Konstruktion zu sein, die ihm zumindest eine Minimal-Teilhabe am "Homeschooling" ermöglichte. In der Schule konnte er die dortigen Gerätschaften benutzen, doch zu Hause hatte ein altes Walkie Talkie die Verbindung zur Außenwelt bedeutet. Wenn man nicht schlicht vor das Haus auf die Straße trat. Die Bekanntschaft mit Herrn Matthias Fermont, Lehrer des altsprachlichen Gymnasiums, hatte dem Zustand der digitalen Isolierung ein Ende bereitet. Dessen geliebter Lebenspartner Xavier St. Yves, nur Angel genannt, arbeitete nämlich an der örtlichen Universität, sorgte dort für den ungestörten Betrieb der Anlagen und überwachte die Erledigung komplizierter Rechenmodelle. Seine Tätigkeit wiederum brachte ihn in Kontakt mit BlueMax, vorgeblich ein Gesprächspartner während langer Stunden allein im Rechenzentrum, tatsächlich jedoch eine künstliche, sich ihrer selbst bewusste Intelligenz mit Persönlichkeit und Liebhaberei für Menschen. Dieses Triumvirat erklärte es sich zur Aufgabe, kein Kind, keine lernende Person ohne Unterstützung zu lassen. Deshalb wurde gestöbert, gebastelt, programmiert und vor allem improvisiert, sodass Linus sich einen sehr alten, ausrangierten Nettop für ein Handgeld leisten konnte, dessen Akku ausgelutscht war, was in recht kreativer Weise mit einer Powerbank ausgeglichen wurde, die eigentlich Mobiltelefone versorgen sollte. Ein Minimalsystem auf Linux-Basis sorgte für Kommunikationsmöglichkeiten, ein USB-Stick für ein mobiles "Gedächtnis". Per W-LAN mit offenem Zugang konnte Linus so im Rahmen eines Spaziergangs mit der virtuellen Welt in Kontakt treten. Ähnliche Lösungen offerierte man auch für andere in Reich- und Leseweite oder Nähe, lieferte mehr als Hard- und Software, nämlich Zuversicht. Linus bedeutete es auch die Möglichkeit, sich nicht als abgehängt zu betrachten, doch über ein Studium nachzudenken. Auf elterliche Unterstützung durfte er dabei nicht hoffen. Diese unerfreulichen Gedanken auf ihren Platz verweisend wandte sich Linus Silvain zu, der sein unverzichtbares Lesegerät aktiviert hatte, um die Lektüre dieses Wochenendes vorzustellen, nun jedoch ein überraschtes "Oh!" entwischen ließ. "Diese Nachricht muss im letzten Augenblick gekommen sein. Kann ich sie rasch überfliegen? Es könnte uns beide betreffen." So höflich wie stets, dass Linus nicht widerstehen konnte, sich hinüber zu lehnen, Silvain zu küssen. "Bitte, gern." Antwortete er, leckte sich provozierend die Lippen, denen noch eine Ahnung von Kakao anhaftete. "Danke...oh...es betrifft die Gruseltouren auf der Burg." Einladend richtete Silvain sein Lesegerät so aus, dass Linus ebenfalls die Nachricht lesen konnte. Sie waren ehrenamtlich engagiert in einem Verein, der mit Veranstaltungen und Aktionen für den Erhalt der alten Burg eintrat. Zwar oblag es der Kommune, die Burgruine zu er- und unterhalten, doch öffentliche Mittel waren knapp und die Kosten hoch. Die Burgruine diente schon seit Jahrzehnten als Kulisse für Mittelalterfeste und Halloween-Schrecken. Im vorangegangenen Jahr war sie auch der auslösende Moment gewesen, ihre Beziehung zu begründen. Aufgrund der Hygienemaßnahmen wegen der Pandemie musste das Konzept jedoch erheblich verändert, die sozialen Interaktionen zwischen den ehrenamtlichen Unterstützenden auch beschränkt werden: kein gemeinsames Eintopffassen, kein wortwörtliches Köpfe-Zusammenstecken über Plänen und Kostümen. Trotzdem wollte man die "Gruseltouren" ermöglichen, die Teile des Geländes bespielen, die an der frischen, zum Teil eisigen Luft positioniert waren. Der schreckhafte, höhenkranke Silvain hoffte, sich auch dieses Mal als Schutzengel engagieren zu dürfen, falls es diese Aufgabe gab. Zögerlich äugte Silvain nun zu Linus, der diese auf ihn putzig-niedlich wirkende Geste der Ratlosigkeit richtig deutete, in den sauren Apfel des Eingeständnisses von Ignoranz biss. "Schön und gut, von meiner Warte aus, aber was sind Cosplayer?!" jßM- Wenn man wie Silvain und Linus aus unterschiedlichen Gründen nicht mit diversen Aspekten der Populärkultur vertraut war, keine unsinnige Frage. Die Wortschöpfung aus Costume und Player bildete ein größeres Spektrum ab, deren gemeinsamer Nenner das möglichst originalgetreue Kostüm bildete. Ob man nun eine Figur aus gezeichneten oder animierten Geschichten darstellte, sich sogar am Fundus von Legenden oder Märchen bediente: einerlei. Nicht zu verwechseln war dieses Vergnügen mit Karneval oder Fasching. Hier parodierte man in "Garden" die Militäruniformen, da löckte man wider den Stachel der Obrigkeit durch Narrenkostüme oder erinnerte an die Weiterentwicklung von Maskenbällen mit simplifizierter Berufsbekleidung oder Personifizierung von Künsten oder Jahreszeiten, durchaus streng reglementiert und termingebunden. Die Narretei musste pünktlich ein Ende nehmen! Eine zeitliche Bindung existierte für die Cosplayer nicht. Auch ging es nicht darum, die Obrigkeit aufs Korn zu nehmen. Zum eigenen Vergnügen, dem persönlichen Erleben eines Charakters, in Kostüm, Gestik und Haltung wurde diese Liebhaberei betrieben. Man traf sich mit Gleichgesinnten zum Austausch, Gesprächsstoff en masse vorhanden. Wenn die dargestellten Figuren verkaufsträchtigen Publikationen dienten, wurde man sogar auf Messen eingeladen oder bereicherte "Conventions", Zusammentreffen, mit Auftritten und Wettbewerben als Magnet für zahlungskräftiges Publikum. Linus und Silvain hatten bisher noch keine Berührungspunkte mit Cosplay vorzuweisen, obwohl es eine kleine, aber rührige Gruppe vor Ort gab, die sich sogar in der großen Gesamtschule mit ihren bis zu achtzügigen Jahrgängen vernetzte. Allerdings brachten die gewaltigen Dimensionen und die Vielschichtigkeit von Freizeitgestaltungsmöglichkeiten auch viel Ablenkung und Auswahl mit sich. Sodass es nicht Wunder nahm, darüber zu grübeln, die Becher gemächlich zu leeren. "Also müssen wir uns um die Kostüme selbst kümmern." Konkludierte Linus knapp. Sein Auftritt als Lumpen-Zombie-Untoter Kämpfer benötigte wenig Accessoires, zugegeben, jedoch eine ungeheuer versierte Maskenbildnerin mit dem Hang zum Makabren. Dieses Jahr herrschte ausnahmslos "Maskenpflicht", mindestens Stoff, aber auch Helme oder Visiere, selbstredend gruselig gestaltet, Nase und Mund bedeckend. "Ich muss gestehen, dass ich nicht sonderlich gut mit Nadel und Faden bin." Bemerkte Silvain kleinlaut. Eine Nähmaschine zu bedienen, um "Community"-Masken anzufertigen, das gelang ihm durchaus. Nur befand sich besagte Nähmaschine eben außer Reichweite, temporär an das Nachbarschaftszentrum ausgeliehen, um die Erstversorgung zu sichern, inzwischen längst der Besitzerin zurückerstattet. "Deshalb vermutlich die Kollaboration." Antwortete Linus konzentriert, beiläufig tröstend Silvains schmale Schultern drückend. Die Cosplayer hatten auf Auftritte und Zusammenkünfte verzichten müssen, ausgenommen großflächig verteilt im Freien, in kleinen Grüppchen selbstredend. Wenn sie sich nun zum Team der Darstellenden der Gruseltouren gesellten, konnten sie die lange Durststrecke vor Publikum aufzutreten, beenden und ihre Expertise teilen. Die meisten Kostüme und Accessoires waren handgemachte Unikate. "Wir werden uns schlau machen müssen." Entschied Linus, warf einen prüfenden Blick aus den Friesen-blauen Augen auf seinen Freund. "Oder möchtest du lieber dieses Jahr aussetzen?" "Aber nein, auf keinen Fall! Es hat mir so viel Freude gemacht und außerdem...!" Errötend unterbrach sich Silvain, umklammerte nervös sein Lesegerät. "Außerdem ist es unser Einjähriges." Lächelte Linus, der den Gedanken aufgefangen hatte. "Ich~ich bin sicher, dass es sich machen lässt. Vielleicht kann man ja auch Kleber benutzen oder einen Hefter!" Streckte Silvain betont energisch sein knochiges Rückgrat durch. Wenn man keine einschlägigen Erfahrungen hatte, musste man sie eben sammeln, jawohl! "Sehr richtig. Lass uns die Wahl der Kostüme auf morgen vertagen, ja?" Nickte Linus, zwinkerte, entführte das Lesegerät geübt. "Gerade überkommt mich nämlich das unwiderstehliche Bedürfnis, alle Hüllen fallen zu lassen." Silvain prustete unterdrückt, erwiderte die Umarmung jedoch engagiert. Immerhin hatten seine notorischen Schwestern tatsächlich etwas zu beneiden: das Vorrecht, pudelnackt auf diesem harten, warmen, sehr athletischen Körper geborgen zu dösen! jßM- Kapitel 3 Adam konferierte online mit Tiberius Sabinus, kurz Tibo. Abstimmung war dringend angezeigt. In der integrativen Privatschule, die sie beide besuchten, gab es in jedem Jahr ein Herbstfest, kombiniert aus Erntedank und ein bisschen Grusel. Die Pandemie hatte sie schwer getroffen. Der Gesundheitszustand einiger ihrer Freunde verbat Risiken jeder Art. Eine so kleine Gemeinschaft spürte den Verlust des persönlichen, direkten Austausches stark. Der rührige Tiberius, sehr viel älter wirkend durch seine überbordende Persönlichkeit, ließ jedoch keinen Kleinmut gelten. Wenn man auf der Burgruine Gruseltouren anbieten konnte, musste auch eine Feier auf dem Schulhof möglich sein. Schlicht eine Frage von Organisation, Gestaltungswillen und Improvisation! Deshalb hatte er sich auch das Konzept besorgt. Adam hätte auch gern mal eine Gruseltour mitgemacht, doch für Rollis gab es keine Möglichkeiten, dem Gelände geschuldet. Mit Tiberius stimmte er darin überein, dass man selbst etwas auf die Beine stellen musste. Sie waren ja nicht auf den Kopf gefallen, richtig?! Dazu verfügte er ja noch über seine speziellen Freunde, Ruru und Lilo, die ihm begeistert geschildert hatten, was sie am Halloween-Samstag erwartete. Die Woche vorher musste genutzt werden, damit die Laternen geschnitzt werden konnten und trocken genug waren. Außerdem galt es, Blätter, Eicheln, Kastanien und Bucheckern zu sammeln, zu backen und Päckchen zu packen. Sich vor Vorfreude hin und wieder ein wildes Tänzchen auf der Stelle zu gönnen! Adam tauschte auch diese Pläne mit Tiberius aus. Laken und Zeltplanen als Wetterschutz? Stühle für den Abstand statt Bierbänke, Stockbrot, wenn man eine Grillschale organisieren konnte, Girlanden aus bunten Blättern, selbst gemachte Laternen und Teelicht-Garnituren, Gruselkostüme und Horror-Masken, Vesperpakete statt Büfett, schlimmstenfalls eine Schichtregelung, damit nicht zu viele Menschen zur selben Zeit am selben Ort waren. "Bei den Horror-Aspekten hege ich Zweifel." Ließ Tiberius ihn wissen. Ihre Feste waren vorher immer fröhlich gewesen, heiter und launig. "Nichts gegen Verkleidungen, wohlgemerkt, aber Horror?" War in diesem Jahr viel zu nahe dran an den persönlichen Erlebnissen, an der Isolation und Abgeschnittenheit, an der Sorge um die Zukunft ihrer Schule. Adam gestand ihm zu, dass diese Argumente nicht von der Hand zu weisen waren. "In Ordnung, vielleicht keine Kostüme, ist ja auch kalt draußen. Aber wenn wir lustige Masken hätten?" Für einen Augenblick dachten sie beide konzentriert nach. Ihre Masken-Manufaktur hatte im Frühjahr im Hochbetrieb gearbeitet und viele versorgt. Allerdings handelte es sich dabei um die eher praktischen Modelle. "Mir kommt gerade ein bestechender Gedanke." Verkündete Tiberius unheilvoll. "Ich glaube, Rai kann mir da wesentlich weiterhelfen. Lass uns morgen noch mal sprechen, wenn ich mehr herausgefunden habe." Adam stimmte zu, ein Feixen unterdrückend. Tiberius fester Freund Raimund, Rai gerufen, besuchte die große Gesamtschule und näherte sich dem Abschluss. Die einzige Person, neben Tiberius' älterem Bruder, die diesen hin und wieder zu bremsen vermochte. Mitleidig fragte Adam sich, was der arme Rai wohl gerade beizusteuern verpflichtet wurde. jßM- Raimund arbeitete sich konzentriert durch den Fachartikel, der nicht in "Botanisch" (Latein), sondern gängig in Englisch gehalten war. Das zwang ihn dazu, hin und wieder Fachbegriffe und spezielle Wortwendungen nachzuschlagen. Deshalb begrüßte er es nicht, dass nach kurzem Klopfen seine Mutter den Kopf ins Zimmer steckte. "Rai, Tibo am Telefon. Handelt sich nach seiner Aussage um ein Vorhaben von herausragender Bedeutung." Sie zwinkerte, zog sich zurück. Raimund knurrte leise, rappelte sich hoch. Hatten sie nicht den Nachmittag miteinander verbracht?! Erwartete ihn nicht am nächsten Tag ("eine Stunde mehr, Rai, das müssen wir nutzen!") erneut Zweisamkeit?! Warum deaktivierte er sein Mobiltelefon, wenn Tiberius ihn prompt übers Festnetz wieder einspannte?! "Fragt sich, für wen von 'herausragender Bedeutung'!" Grummelte er, pickte den Hörer auf. "Rhetorische Frage, mein Lieber!" Dröhnte an sein Ohr, weil Tiberius leider über ein feines Gehör und ein noch perfideres Gespür verfügte. Die Augen verdrehend seufzte Raimund. "Dir ist aber schon bewusst, dass ich so etwas wie ein eigenes Leben führe?" Konterte er grimmig. Natürlich war ihm klar, dass sich Tiberius' Gedanken gerade um das geplante Fest drehten. "Durchaus, Rai, aber ich bin überzeugt, dass du teilnehmen willst. Ein wenig Engagement genügt vollkommen." Raimund schnaubte, ganz gegen seine zurückhaltende, reservierte Natur. "Definiere 'wenig', bitte, sei so zuvorkommend!" Ätzte er, sich leider sehr bewusst, dass er Tiberius unterstützen würde, weil der ihm in allen Details darlegen würde, wie vernünftig und quasi ohne Alternative sein Einsatz wäre. Gegen die Ratio zu handeln, nun, das müsse ja wohl als besonders stupide gelten, nicht wahr?! Sich eigentlich für jeden Frondienst gewappnet fühlend überraschte Raimund jedoch mit einem ungewohnt lauten Ausruf seine amüsierte Mutter. "Bitte, wie?! Ich soll dir ein Date mit einem Mädchen vermitteln?!" jßM- Während ein anderes Pärchen, artig separiert, vor einer Bäckereifiliale frühstückte und über Kostüme nachsann, verfolgte Tiberius bereits seine Mission. Nicht ohne den gewaltigen Marschrucksack auf dem Rücken, der ein wenig seine klassisch-elegant gekleidete Erscheinung trübte. Wenn er sich schon durch die Peripherie bewegte, konnte er auch die Gelegenheit nutzen, noch einige Einkäufe zu tätigen! Raimund, längst der lächerlichen Vorstellung entwachsen, diese pragmatische Herangehensweise durch eigene Blickwinkel zu kontern, folgte in seinem Kielwasser. Er selbst hegte nicht so häufig den Wunsch, noch weniger das Verlangen, sich samstäglich in große Supermärkte zu stürzen. Das lag auch daran, dass er nicht wie Tiberius "den Kraul" anwerfen, sich eine freie Bahn verschaffen konnte. In Tiberius' Windschatten, mit der Drohung begrüßt, man könne sich die Zeit selbstredend auch in Rais Zimmer vertreiben, gab es kein Kneifen. Deshalb hakte er ebenfalls, seiner Mutter zu gefallen, einige Besorgungen ab. Trotz Mummenschanz, Maskierung, verliefen gemeinsame Touren nicht komplikationsfrei, dem Umstand geschuldet, dass Tiberius äußerst attraktiv war, ihn regelmäßig in Konspiration mit seiner Mutter nötigte, die neue Garderobe zu tragen. "Neu" traf es nicht immer, da Raimund, ein Anhänger von Nachhaltigkeit und "Understatement", in der "Zweiten Chance" Gebrauchtkleider erwarb. Wenn er ihrer wirklich bedurfte. Unauffällig, gedeckte Farben... "Elefantengröße und unkleidsam fade." Lautete Tiberius' Urteil, der ihn für ein Symposium gezwungen hatte, sich anders auszustaffieren. Ärgerlicherweise hielt die "Zweite Chance" eine große Auswahl an Kleidungsstücken der Richtung "slim-fit" vor, von enthusiastischen, zumeist jugendlichen Männern erworben, die den Stretch-Anteil häufig über- und die eigene Figur unterschätzten. Obwohl eine gewisse "Wurstpellen-Optik" zum Konzept gehörte, schreckte das tatsächliche Ergebnis im Spiegel ab. Deshalb boten die Bügel und offenen Regale eine große Auswahl an kaum getragenen, farbenfreudigen Exemplaren. Raimund war bis zu diesem schicksalsträchtigen Moment der festen Überzeugung, derlei könne ihn definitiv nicht ausreichend bekleiden. Unseliger Weise forcierte Tiberius die wissenschaftlich fundierte Methode der Überprüfung von Thesen: durch Erprobung der Fakten. Deshalb war Raimund in der Folge ohne Einredemöglichkeit angehalten, seinen Stil zu ändern, Kleidungsstücke zu tragen, die seiner Kleidergröße entsprachen. Addierte man dazu noch eine auffällige Frisur mit Zipfelpony und ein durchaus anziehendes, ebenmäßiges Gesicht, bekam man eine zutreffende Vorstellung davon, welches Bild sie gemeinsam abgaben. Man erweckte Aufsehen, was Tiberius nur zum eigenen Vorteil nutzte und Raimund noch immer als beunruhigend bis verstörend empfand. Das verbesserte sich auch nicht, wenn der "Pfad" breiter und er ungeniert an der Hand genommen wurde. Tiberius fochten Anflüge von Kleinmut nicht an. Wenn er auf einer Mission war, einen anderen Aggregatzustand schien es gar nicht zu geben, hatten sich derlei Petitessen hinten anzustellen. "Ah, wir sind pünktlich!" Deklamierte Tiberius gerade aufgeräumt, blickte sich auf dem kleinen Platz um. Es nieselte wenig einladend, diesige Nebelschwaden waberten hartnäckig zwischen kahlen Platanen hindurch, die im Sommer für Schatten sorgten. Laute wurden in dieser dumpfen Atmosphäre verschluckt. Raimund zupfte an seiner Mütze herum, rollte die schmächtigen Schultern, der Rucksack mit Beladung drückte doch. Da hörte er das gedämpfte Geräusch von Rollen auf Steinplatten. Eine kleine Gestalt näherte sich derart befördert, bremste geübt, beförderte ein Longboard in einen Handschuh. Vollverpuppt konnte man ein Gesicht nur erahnen. Die Skibrille wurde auf eine Mütze mit abstehenden Wollantennen gelupft. "Du bist Rai, oder? Der Sandkastenkumpel von meinem doofen Bruder." Bevor Raimund etwas antworten konnte, mischte sich Tiberius ein. "In der Tat, doch das muss man ihm nachsehen! Er war jung und die Bezirke für die Kindergärten strikt abgesteckt." Ein Mienenspiel konnte hinter der sehr diabolisch wirkenden Maske kaum erahnt werden. "Gestatten, Tiberius Sabinus, kurz Tibo. Ich hoffe, unselige Verbindungen der Vergangenheit hindern uns nicht an einer Vereinbarung? Ich repräsentiere nämlich ein junges, dynamisches und begeisterungsfähiges Team, das für nächsten Samstag ein herrliches Fest organisieren wird." Raimund wischte sich beiläufig durch seine Stirnfransen. ER ahnte eine Katastrophe. "Warum sollte ich euch helfen?" So einfach schien die kleine Person nicht zu überzeugen zu sein. "Oh, ein gutes Werk, Anerkennung, Karma-Punkte, eine Einladung fürs Fest?" Tiberius überging die kritisch-spöttische Intonation der Frage. "Ah, klar, warum frag ich bloß?!" Unvermutet sah sich Raimund adressiert. "Mal Klartext, was springt für mich raus?" "Was wäre für dich denn von Interesse?" Verschwendete Raimund keine Zeit darauf, an hehre Ideale zu appellieren. "Absolute künstlerische Freiheit." Lautete wie aus der Pistole geschossen die prompte Replik. "Deshalb sind wir ja auf der Suche nach technischer Beratung. Betrachte es als zugesichert. Selbstverständlich gilt die Einladung weiterhin." Das Longboard rummste vernehmlich auf die Steinplatten. "Eine Bedingung, oder nichts geht, klar?!" Raimund nickte. "Sorge dafür, dass Meister Silberzunge von was auch immer runterkommt, okay?! Mann, da faulen einem ja die Ohren ab!" Damit entfernte sich die kleine Gestalt auf dem Longboard, sicher, dass man ihr folgen würde. Nicht sofort, denn nach einem Augenblick der Verblüffung brach Raimund in schallendes Gelächter aus. jßM- Zu Raimunds Überraschung überließ ihm Tiberius die Verhandlungsführung vollständig. Weniger erstaunlich ging es danach zu ihm nach Hause. An seine Adresse sollten die Vorschläge gesandt werden. Zudem konnten sie endlich die schweren Rucksäcke abnehmen, das Mittagessen rasch zubereiten, noch etwas aufräumen. Raimund saß vor seinem Rechner, atmete durch. Tiberius' Tatendrang schlauchte seine durchaus optimierte Kondition. "Superb! Ich leite die Daten gleich an Adam weiter. Wir können die Programme der Maschine entsprechend auswählen." Ihre Maskenmanufaktur um Unikate erweitern, die bestickt und mit "Anbauten" ergänzt wurden! "Ich hätte nicht erwartet, dass du mich machen lässt." Bemerkte Raimund beiläufig, während er eine Rückantwort mit aufrichtigem Dank versandte. "Ah, nein? Weshalb sollte es mir nicht möglich sein?" Erkundigte sich Tiberius mild. "Ich hege Hochachtung vor deinen diplomatischen Fähigkeiten. Du hast die Aversion gegen eine tief verwurzelte Freundschaft aus frühesten Kindheitstagen vergessen machen." Raimund schnaubte. Nun übertrieb Tiberius aber wirklich! "Das war doch bloß Geplänkel! Üblicherweise hältst du dich kein bisschen zurück, wenn etwas zu erledigen ist!" Tiberius lachte leise, umschlang Raimund von hinten, lehnte sich auf dessen schmale Schultern. "Ich anerkenne, wenn mein Einsatz nicht gefragt ist, Rai. Ich neige auch nicht dazu, eine so zurückgenommene Person zu bedrängen." Das konnte man nicht leugnen. "Touchée. Allerdings hast du mir noch immer nicht verraten, wie du eigentlich auf diese Idee gekommen bist." Ein recht unzüchtiges Angebot in Raimunds Ohr flüsternd konnte der nur konstatieren, dass Tiberius kein bisschen Zurückhaltung kannte, was ihn selbst betraf! Andererseits wollte er bestimmt nicht zu noch einem Querfeldeinlauf aufbrechen, wenn er Tiberius anderweitig beschäftigen konnte. Später würde der doch mit der Sprache herausrücken! Allerdings erst nach Runde drei im regelfreien Infight. jßM- Gut ausgerüstet mit je einer Thermosflasche Pfefferminztee und Kaffee zuckelten Linus und Silvain auf der Suche nach Empfang los. Immerhin blieb ihnen, sollte sich der Terminplan nicht ändern, bloß bis Mittwochabend Zeit, sich angemessen auszustaffieren! Was im Vorfeld auch bedeutete, sich darüber zu versichern, welche Aufgabe und Rolle ihnen zugewiesen worden war. Linus lenkte wie gewohnt umsichtig ihre Schritte, während Silvain konzentriert auf sein Lesegerät spähte. Dass er dazu neigte, Hindernisse auf dem Bürgersteig zu übersehen, nahm nicht Wunder. Auf Linus konnte er sich verlassen, der ihn mit einem muskulösen Arm um die schmächtigen Schultern sicher dirigierte, oder, im Fall des Falles, reaktionsschnell unerwünschte Reverenzen an die Mutterbodenverehrung ordinierter Kuttenträger verhinderte. "Ah, hier!" Meldete Silvain schließlich, lächelte erleichtert zu Linus hoch. Der nickte knapp, steuerte eine niedrige Mauer an. Im Sitzen bestand geringe Kollisionsgefahr. "Oh! Oh!" Kommentierte Silvain bereits, wurde umsichtig ausgerichtet, damit er auf dem verlängerten Ende seines Stadionparkas Platz nahm. "Verzeihung, danke dir! Weißt du, das Postfach hat sich so plötzlich gefüllt." Erläuterte er verlegen seine Ausrufe. Die Friesen-blauen Augen zwinkerten zärtlich. "Wir könnten der Aufregung abhelfen, indem wir sie nacheinander erledigen." Schlug Linus lächelnd vor, schlang wieder den Arm um Silvain. "Richtig! Ich hätte nur nicht erwartet...weil wir gestern doch alles erledigt hatten..." Bemerkte der, rief jedoch über den minimalistischen Browser bereits die erste Nachricht auf. Nicht alle stammten vom Organisationskomitee, nein, auch seine Eltern neigten zu Ermahnungen und seine enervierenden Schwestern zur Weitergabe gehässiger Ratschläge, zu ungebetenem Klatsch und scheinheiligen Vorschlägen der Freizeitgestaltung. Silvain ignorierte den Mitteilungsdrang seiner Familie konsequent. Redundant, was seine überforderten Eltern betraf, selten gutwillig, auf seine Schwestern bezogen. "Die Termine stehen." Konstatierte Linus die Meilensteine: am kommenden Mittwoch, Freitag- und Samstagabend sowie am folgenden Mittwoch fanden nach Voranmeldung geführte Gruseltouren statt. Jede Kleingruppe, zwingend selbst maskiert, wurde durch den Parcours geleitet. Es gab keine geschlossenen Räume, keine Verzehr- oder Erfrischungsangebote, nur drei Freiluft-Komposttoiletten. Neben dem "Kassenhäuschen" würde ein Stand aufgebaut, wo man sich ausweisen, auf den Aufruf warten musste. Dank eines großzügigen Zahlungsaufschubs konnte man die Dienstleistungen eines Buchungsservices nutzen. Der zeigte Interessierten die "Slots", also Zeitfenster der geführten Gruppen und die freien Plätze an. Für die Darstellenden gab es Einiges zu beachten. Selbstverständlich kein Körperkontakt, stete Maskenpflicht und Selbstversorgung. Der Transport würde wie in den Vorjahren mit Shuttlebussen erfolgen. Die Rollen wichen ein wenig ab, dem veränderten Konzept geschuldet. "Schutzengel" wären nicht wie in den Vorjahren auf dem Gelände postiert, um Auszeiten vom "Vergnügen" sicherzustellen. Nun fanden sie sich am Anfang und Ende des Parcours, zur Einteilung der Gruppen, freundlichen Unterhaltung der Wartenden und als Kommunikationszentrale. "Scouts" übernahmen als Gruseltour-Führende die neue Aufgabe, hatten die einzelnen Themenstationen einzuleiten, auf den Zeitplan zu achten und die Gruppe zusammenzuhalten. Darstellende blieben fest an ihrem "Unterhaltungspunkt", um die einzelnen Gruselthemen "lebendig zu illustrieren". "Oder eher untot." Kommentierte Linus ironisch den werbenden Text, der offenbar aus der Presseveröffentlichung entnommen war. Silvain rückte näher an ihn heran, bereits besorgt blickend. "Du hast eine andere Aufgabe, oder nicht? Hier steht, man könne auch tauschen!" Wies er scheu auf eine Passage hin, sich dankbar anschmiegend. Ihn fror doch ein wenig. "Aber nein, ich lauere gern in hygienischem Abstand Leuten auf." Kommentierte Linus etwas bärbeißig, wandte den Kopf, um Silvain auf eine magere Wange zu küssen. "Ich fürchte nur, unsere 'Gebrauchsanleitung' für die Kostüme könnte die Darstellungsfähigkeit deines elektronischen Freundes übersteigen." In der Tat stand dies anzunehmen, wenn es sich um Bilder und Zeichnungen handelte, die angehängt worden waren, von den erstmalig präsenten Cosplayern, die sich nicht lumpen lassen wollten, hilfreiche Anregungen für die Kostümierung offerierten, angepasst an die einzelnen Stationen. Linus entzog seinem Rucksack nicht nur die beiden Thermosflaschen und zwei Becher, sondern auch seine abenteuerliche Kommunikationstation. Es gelang, die Nachrichten herunterzuladen, die wenig textlastigen Anhänge zu öffnen. "...oh..." Murmelte Silvain, erblindete temporär hinter einer Kondenswolke Tee. "Makaber, aber machbar." Brummte Linus, fahndete nach einem Block aufgeschlitzter Briefumschläge, die er als Notizblätter nutzte. "Den Hefter werden wir bestimmt benötigen. Vielleicht genügen auch Textilfarben?" Silvain riskierte einen Blick nach oben, ob Linus über die Vorschläge verärgert war. "Aber ich montiere mir keinen Schrubbervorsatz auf den Schädel." Ließ der ihn streng wissen, ein Zwinkern in den Friesen-blauen Augen. Prustend kuschelte Silvain sich an, hob die Stimmung noch um einige Grade. "Ich werde mittwochs bei dir übernachten, ja, Linus? Es wird bestimmt schön, auch wenn ich mich erschrecke." Linus, der Wikinger, dem man aufgegeben hatte, einen untoten, keltischen Legionär zu geben, schmunzelte, kostete die Süße des Pfefferminztees von Silvains Lippen. jßM- Tiberius verstaute den Generalschlüssel, aktivierte die unumgängliche Alarmanlage wieder. Beschwingt kaperte er auch Raimunds Rechte, der ein wenig fröstelnd vor dem Gebäude wartete. Selbstverständlich verfügte Tiberius über einen Zugang zur Privatschule auch außerhalb offizieller Zeiten! Raimund fragte sich selbst ärgerlich, warum er sich überhaupt noch über irgendetwas wunderte, was Tiberius betraf! Der im Frühjahr auch eine Industrienähmaschine mit Programmierung aufgetan hatte. Dass er an einem professionellen Cuttersystem zum Vorschneiden der Stoffbahnen gescheitert war, stellte eine seltene Ausnahme dar. "Jetzt heißt es, die Vorräte organisieren und einen Zeitplan schmieden. Ich bin sicher, Adam kann schon Rückmeldungen verarbeiten, wer gern welche Variante hätte." Man hatte die Auswahl der Modelle auf knapp 30 beschränkt, alle auf den flinken Entwürfen gründend. "Du hast natürlich auch die restlichen Vorbereitungen schon generalstabsmäßig durchgeplant." Brummte Raimund. Das Fest bestand ja aus mehr als einer Gesichtsverhüllung. "In der Tat. Allerdings kann ich mich auch auf Erfahrungen berufen." Wiegelte Tiberius nicht intendiertes Lob generös ab. Raimund schnaubte, ließ die Schultern sacken. "Du benötigst im Übrigen eine adäquate Jacke." Erinnerte Tiberius ihn an Offenkundiges. Der schmal geschnittene Trenchcoat genügte der nasskalten, windigen Witterung keineswegs. Trotz aller Bemühungen, gemeinsamer Aikido-Stunden und gezwungen sehr viel mehr Bewegung vertikal und horizontal schien er einfach nicht zuzulegen! Eine schmale, schlanke, hin und wieder sogar gehässig als "feminin" (was lächerlich war, die sekundären Geschlechtsorgane fehlten ihm unzweifelhaft!) bezeichnete Silhouette blieb hartnäckig erhalten, kein Gramm mehr an Muskelmasse als gerade notwendig vorhanden. "Was du nicht sagst!" Grummelte Raimund deshalb, der sich nicht aufraffen konnte, schon wieder den Büßergang nach Canossa anzutreten. Oder vielmehr in der "Zweiten Chance" von Tiberius unwiderlegbar überzeugt zu werden, sich eine weitere, wenn auch warme Auffälligkeit zuzulegen. Als könne seine zurückhaltende Persönlichkeit so einfach mit der einhergehenden Beachtung Schritt halten! "Wir könnten es versuchen, noch eine halbe Stunde bis Ladenschluss." Raimund schüttelte hastig den Kopf. "Oh nein, ich habe gar nicht genug Geld, ich meine, das kostet bestimmt mehr, so eine fast neuwertige Jacke...!" Tiberius lachte. "Unsinn." Beschied er amüsiert. "Du willst bloß nicht mit mir einkaufen, sprich es nur aus. Aber wir können es auch als Sondierung betrachten. Es MUSS ja nicht etwas verfügbar sein, das dich ausgezeichnet kleidet." Raimund knurrte verärgert, weil Tiberius den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. "Große Chance! Bis jetzt hast du JEDES Mal etwas aufgestöbert, was mir 'aber ganz UNSTRITTIG formidabel' steht!" Zitierte er giftig, seufzte, weil ihn fror und er nicht drei Schichten Pullover und Hemden übereinander unter dem Trenchcoat tragen wollte. Das wurde nämlich doch ein wenig unkomfortabel. Verdächtiger Weise verzichtete Tiberius auf weitere Einlassungen. Das erwies sich jedoch auch als überflüssig, da er bereits selbstbewusst den Weg zum Second-Hand-Kaufhaus einschlug. Raimund seufzte erneut. "Danach will ich aber eine heiße Schokolade." Murmelte er matt. jßM- "Wieso hast du einen Schlafanzug und eine Kulturtasche in deinem Rucksack?" Erkundigte sich Raimund, die frisch erworbene, halblange Jacke mit Kapuze auf einen Bügel an der Garderobe hängend. Rhetorisch. Tiberius, der sich längst zu Hause fühlte, schenkte ihm einen prüfenden Blick. "Rai, was denkst du, wo ich die zusätzliche Stunde heute Nacht wohl zu verbringen gedenke, hm?" Errötend wandte Raimund sich ab, seinen Trenchcoat für wärmere Zeiten in den Wandschrank verstauend. "Wir haben bereits nach dem Mittagessen..." Wisperte er streng. "Oh, ich bin zweifelsohne ein SEHR begeisterungsfähiger, junger Mann. Wie könnte ich dieses hingebungsvolle Verlangen, übrigens ein großes Kompliment, mein Lieber!, so schnöde um der Konventionen Willen unterdrücken?" Raimund fegte herum, errötet, aber auch verärgert. "Silberzunge, aber so was von!" Schimpfte er gedämpft, aber aufgebracht. Tiberius feixte ebenso ungeniert wie spitzbübisch. "Ah, Rai, Tibo, seid ihr zurück? Oh, hast du endlich eine passende Jacke gefunden?" Erschien Raimunds Mutter, in einen flauschigen Hausoverall gehüllt, wuschelte ihrem Sohn ungeniert durch die Zipfelpony-Frisur. "Danke, Tibo, das war auch höchste Zeit. Nicht, dass ich an der verdammten Klimaerwärmung zweifle, aber froschig ist es trotzdem noch!" "Sehr richtig. Eine Grippe wäre gerade jetzt besonders unsolidarisch." Pflichtete Tiberius ihr souverän bei. Immerhin befürchtete man schon genug Erkrankte bei der Pandemie. Raimund fühlte sich gewohnt auf verlorenem Posten. Von seiner Mutter war zu Tiberius oder ihrer Beziehung keine Kritik zu erwarten, nein, sie MOCHTE den verwünschten Kerl sogar sehr! "Ah, es wird dich bestimmt überraschen." Setzte er dennoch zu einer kleinen Retourkutsche an. "Aber Tibo beehrt uns bis Morgen Früh mit seiner Gegenwart." Damit feuerte er einen blitzenden Blick auf seinen festen Freund ab. "Dachte ich mir schon. Oh, das hätte ich glatt vergessen: wollt ihr euch vor den Fernseher setzen? Ich hab mich nämlich mit ein paar Freunden zum Streamen verabredet." Was in diesem Fall bedeutete, gleichzeitig eine Serie en bloc zu konsumieren, sich dabei auf Distanz zu unterhalten. Ausgehen, Spieleabende oder Clubbesuche entfielen ja seit dem Frühjahr kontinuierlich. Raimund, der außer Reportagen und Dokumentationen selten das Programm verfolgte, schüttelte den Kopf. Ihm schwante ja schon, was sich Tiberius vorstellte, aber kampflos würde er sich nicht drein schicken. "Ich habe noch einige Fachartikel zur Erforschung von Kräuterbestandteilen zu lesen. Tibo findet zweifellos irgendwas, um sich nützlich zu machen." Entlud er die nächste Breitseite. "Na, wenn das so ist. Tibo, fühl dich ganz wie Zuhause, ja? Habt Spaß, ihr beiden." So viel zur mütterlichen Intervention! Die Konterattacke erwartend marschierte Raimund zuerst in die kleine Küche. Nur eine heiße Schokolade reichte ihm nicht. Selbstverständlich folgte ihm Tiberius, der entschied, man könne noch rasch ein paar Muffins backen, mit salziger Karamellsoße, als Gruß aus der Küche an die stundenlange Fernseh-Session. "Nun zanke mich schon aus!" Grummelte Raimund endlich, nippte erwärmten und verdünnten Apfelsaft, während Tiberius sich heimisch fühlte, die Küche beherrschte. Der zwinkerte ihm über eine Schulter zu. "Ich hege keine Einwände, meinen Horizont ebenfalls in Sachen Kräuterkunde zu erweitern." Neckte er Raimund, lud sich gleichzeitig zur Teilhabe ein. Ärgerlicherweise zeigte er TATSÄCHLICH Interesse an Raimunds Steckenpferd! Was dem häufig den Wind aus den Segeln nahm. "Am Ende willst du sogar eine Runde 'Spitz, pass auf!' mit mir spielen!" Unterstellte Raimund kriegerisch. "Sicher, warum nicht? Hier, nimm etwas von dem Zwiebelschmalz, das wärmt dich auf." Verteilte Tiberius vorgeschnittene Brothäppchen, die mit einer selbstgemachten Zwiebel- und Sonnenölmischung nach Mixer-Massaker bestrichen waren. Angeschwitzt, danach abgekühlt auf den getoasteten Schnitten ein delikater Genuss, der Raimund den Mund wässerte. Um die Verlegenheit einer weiteren Attacke gebracht kaute er lieber, verfolgte, wie Tiberius herumwirtschaftete, Vorräte inspizierte, aufräumte, abspülte, das Frühstück soweit vorbereitete. Er fühlte sich graduell wachsend undankbar, erhob sich, um endlich den kindischen, einseitigen Zank aufzukündigen. Immerhin war er trotz ihrer Beziehung ja auch noch Gastgeber, hatte das so ganz und gar nicht verkörpert. Tiberius federte geschmeidig zu ihm herum, noch ein Trockenhandtuch über der Schulter, zog ihn in die Arme, küsste ihn leidenschaftlich, obwohl er durchaus auch einige Schnitten Zwiebelschmalzbrot abbekommen hatte! Recht außer Atem gelang es Raimund endlich, ein wenig Distanz zwischen sie zu bringen, ausreichend, nicht schielen zu müssen. "Wenn du führen willst, Rai, tu es. Wie du weißt, habe ich ja meine Schwierigkeiten im Pas de deux." Ein Lachen schwang in Tiberius' Stimme mit. Raimund schnaubte, löste sich jedoch nicht aus ihrer engen Umarmung. "Na toll! Du erinnerst dich aber daran, dass ich erst ganz kurz Aikido praktiziere, ja, und du ständig absolut regelwidrig einen Hüftschwung einsetzt, um mich auf die Matratze zu befördern?!" Ein Kuss schmuggelte sich durch die Ponyzipfel auf seine Stirn. "Sieh es mir nach, ja? Ich bin eben sehr enthusiastisch, wenn ich Zeit mit dir verbringe." Grummelnd rieb Raimund seine Nasenspitze an Tiberius'. "Du meinst wohl eher, dass du weder Bremsen noch Halten kennst." Er studierte die vertrauten Augen, in denen Vergnügen tanzte. "Schön, Fachartikel, danach eine Runde 'Spitz, pass auf!'. Anschließend müssen wir verflixt leise sein, verstanden?!" Er wollte seiner allzu nachsichtigen Mutter doch nicht zumuten, dass in direkter Nachbarschaft äußerst nächstenliebender Hingabe mit Vollkörperkontakt gefrönt wurde. jßM- Kapitel 4 Linus ging nie durch sein Viertel, ohne sich im Nachbarschaftszentrum zu melden. Wenn es nicht besetzt war, genügte es, seine hünenhafte Gestalt mit den nur am Oberkopf nicht geschorenen, kupferroten Locken zu erblicken. Man winkte ihm, sprach ihn an. Silvain, zum treuen Begleiter geworden seit dem Frühjahr, lächelte sehr erfreut. Mit der eigenen Familie hatte Linus nicht sonderlich viel Glück gehabt, das konnte man nicht verhehlen. Die vielen "Omas" hier, die adoptierten ihn quasi! Mochte er auch grimmig wirken, einschüchternd, Ragnarök im Blick: sie ließen sich nicht täuschen! Deshalb verwunderte es auch nicht, dass sie noch einige Wegmarken und Erledigungen abzuklappern hatten. Hauptsächlich Uhren, die entweder recht hoch hingen oder ziemlich fummelig zu bedienen waren, ohne Funksignalempfang, deshalb nötigerweise um eine Stunde zurückzustellen. Das Ende der "Sommerzeit" dräute ja. Da gab es immer noch mal dies oder das... Während Linus zu Werke ging, lauschte Silvain aufmerksam den Neuigkeiten und Sorgen im Viertel, erbat sich Ratschläge, schilderte eigene Missgeschicke, war längst so akzeptiert wie Linus selbst. Um ein Abendbrot mussten sie sich deshalb nicht sorgen, weil jede Handreichung vergolten wurde. Auch wenn man nicht viel hatte, gerade so zurechtkam: einen erwiesenen Dienst vergalt man. Da Silvain munter von der Gruseltour berichtete und den geplanten Kostümen, hatten sie nicht nur Empfehlungen sondern auch Material als Dreingabe erhalten, Stoffreste, Pappstücke, Pfeifenreiniger und viele Einträge in Silvains Notizbuch. Während Linus die Thermosflaschen ausschwenkte, legte er vor dem Bett die Ausbeute hin, kauerte sich zusammen, zwischen Notizbucheinträgen und den Materialspenden hin und her spähend. Vorsichtig separierte er zwei Stapel, für jedes Kostüm. Linus, der das emsige Treiben schmunzelnd beobachtete, ließ sich auf der Bettkante nieder. "Weihst du mich auch ein?" Erkundigte er sich mit seiner rauen, tiefen Stimme, zwinkerte mit Friesen-blauen Augen. Silvain, die Brille auf dem Nasenrücken hoch expedierend, nickte entschlossen, erinnerte Linus daran, dass er sich auch noch als Figaro betätigen wollte. "Ich glaube, ich bekomme meinen Part ganz gut hin. Die Pfeifenreiniger werden bestimmt prima einen Heiligenschein tragen können, meinst du nicht? Ich muss sie lediglich strategisch günstig in meiner weißen Strickmütze befestigen." Als Schutzengel hatte er es ja auch leicht, weißes Nachthemd, vielleicht noch Flügelanmutungen im Kreuz und Leuchtring über dem Kopf! "Sehr gut vorstellbar." Pflichtete Linus ihm bei, goutierte die dezent geröteten Wangen. Es freute ihn, wie viel Vergnügen Silvain daraus schöpfte, anderen behilflich sein zu können. Vorher hatte der sich nämlich in seiner geliebten Lektüre verkrochen, niemandem allzu aufdringlich seine Existenz zugemutet. Auf Knien rutschte Silvain nun zum zweiten Häufchen. "Ich bin mir nicht völlig sicher, aber ich glaube, so eine Art Kittel wurde unter einem Waffenrock getragen. Die Schienbeinschützer vom Hockey könntest du vielleicht als Beinschützer verkleiden, oder? Aber wir haben keinen Umhang. Ich fürchte..." Silvain warf ihm einen verlegenen Blick zu. "Du fürchtest?" Hakte Linus sanft nach, der ahnte, was Silvain gerade in Verlegenheit brachte. "Möglicherweise...nun, es täuscht vielleicht..." Unruhig fächerte er Pappe und Stoffreste auf. "Sehr feinfühlig, mein Lieber, aber es ist nicht nötig, mich zu schonen." Zwinkerte Linus amüsiert, erhob sich von seiner Bettkante, trat vor Silvain, streckte ihm die Hände hin. Der ließ sich aufhelfen und in eine wärmende Umarmung ziehen. "Vielleicht habe ich das versetzte Muster auch zu kleinteilig ausgelegt." Murmelte er, wurde an die muskulöse Brust gezogen, liebevoll bekuschelt. "Ich habe zu viel Dreidimensionalität für unser Reservoir." Stellte Linus fest, unterdrückte tapfer ein verliebtes Schnurren. Nie würde Silvain ihm sagen, dass bei Betrachtung von Brustkorb und Hüften zu wenig Material vorhanden war, ihn bedeckend einzukleiden! "Möglicherweise wird es dir auch zu kalt." Ließ Silvain ihn wissen, äugte über den Brillenrand des erneut abtrünnigen Spekuliereisens hoch. Er meinte sich zu erinnern, dass diese Toga-ähnlichen Gewänder recht kurze Ärmel zu haben pflegten! Ihn schauderte schon bei der Vorstellung. "Morgen ist auch noch ein Tag, Silvain. Was meinst du, machen wir es uns gemütlich und schmökern noch ein wenig?" Offerierte Linus eine Auszeit von Planungsvorhaben. "Gern, wirklich! Ich muss zugeben, dass mir auch ein bisschen kalt ist, nicht viel, nur ein klein wenig." Linus lupfte sanft Silvains spitzes Kinn, küsste ihn ausdauernd. "Ich werde umgehend für wohlige Wärme sorgen." Raunte er rau, goutierte das spitzbübische Zwinkern der sehr kurzsichtigen Augen hingerissen. jßM- Alle Vorbereitungen ließen sich gut an. Weder gefräßige Nacktschnecken-Invasionen noch andere Unerfreulichkeiten torpedierten die jeweiligen Planungen. Junias vermisste es nicht, die Gruseltour auszulassen, auch wenn auf seiner Fachoberschule das Thema aufkam. Der Teil, der die meisten Gruselfiguren als rein imaginäre Gestalten identifizierte, sprang vernünftig auf solche Vergnügen gar nicht an. Der andere Teil, der "menschenaffin" gewesen war, sich möglicherweise als tatsächlich "menschlich" entpuppte, riet ihm, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Die ihm bedeutete, dass er tatsächlich selbst keine Lust verspürte, sich nur mit Cornelius zu "amüsieren". Wobei man ja bedenken musste, dass Kleingruppen zusammengestellt wurden, man nicht tatsächlich zu zweit wäre. Zudem musste er sich einmal mehr einer Gewissensprobe unterziehen, nämlich des Einkaufs mit Ruru. Nicht, dass der sich ungebührlich aufgespielt hätte! Nein, Ruru blieb IMMER beim Einkaufswagen, hielt diesen auf Kurs, benahm sich stets vorbildlich. Sah man von den prüfenden Augen und dem beklammerten Hasentuch ab, die jedes Landemanöver im rollenden Gitterkäfig sorgenvoll begleiteten. Um das eigene Nervenkostüm zu schonen, tat Junias "Wasserstandsmeldungen" nach jedem Regal kund, damit der kleine Bursche nicht fürchten musste, sie verfügten nicht über ausreichend Mittel, ihre Einkäufe begleichen zu können. Nicht eingeschlossen war dabei die Inspektion, ob man etwas wirklich brauchte! Bei den Bananen zum Beispiel, die ja per Schiff oder Flugzeug vom anderen Ende der Welt kamen und von Vernichtung bedroht waren, weil es nur Ableger einer mutierten Art gab... Niemand konnte Ruru vorhalten, ideologische Grundsatzdebatten anzustrengen. Meist genügte eine schlichte Nachfrage, weil er zufällig gehört hatte, wie exotisches Obst hierher kam, man sich beim Fliegen schämen sollte und Schiffe mit Erdöl-Abfall betrieben wurden, der aus toten Dinosauriern entstand? Ganz und gar nicht einfach zu entwirren! Es musste berücksichtigt werden, dass Ruru nicht gesonnen war, ohne Not anderer Leute Unwillen auf sich zu ziehen. Wenn man etwas nämlich nicht ganz dringend brauchte... Junias folgte dem Einkaufszettel, steuerte die "Non-Food"-Abteilungen an. An ihnen vorbei schoss ein Kind, schnappte sich einen Karton, fegte zurück, die Mutter bepflasternd, in einem Idiom, das Junias nicht verstand. Die Botschaft konnte er mühelos dechiffrieren: der Karton samt Inhalt sollte gekauft werden! Was der Mutter offenkundig missfiel. Ruru beäugte dieses Spektakel beiläufig, ohne besonderes Interesse. "Was sind das für Figuren?" Forderte Junias sein Schicksal heraus, hielt vor den Kartons inne, die LED-Angelruten mit Laternen aufboten, sehr aufwändig gestalteten Bastelbögen für noch prächtigere Laternen. Ruru blinzelte über sein Tuch, das er selbstverständlich umgebunden hatte, obwohl er noch keine Maske tragen musste, zu ihm hoch. "Sie kommen im Fernsehen vor. Ich kenne sie aber nicht." Was für ihn das Kapitel abschloss. "Möchtest du auch gern so eine Laterne haben? Mit LED? Hier, da ist ein prächtiger Drache drauf. Glaube ich zumindest." Hasardierte Junias, pickte einen Karton auf, um die Beschriftung zu überfliegen. "Ich habe schon eine Laterne. Henk hat Ruten geschnitten und Luzie gibt mir eine kleine Kerze aus Bienenwachs. Die setze ich in ein Glas. Das befestige ich auf einem dünnen Brett. Wir basteln eine feine Hülle aus dünnem Papier mit bunten Blättern. Aus dem Draht von Champagnerflaschenverschlüssen drehen wir Aufhänger. Das wird sehr schön werden. Ausnahmsweise lässt mich Henk mit echten Streichhölzern die Kerze anzünden." Dozierte Ruru, die kleinen Hände um das Hasentuch sehr ruhig. "Möchtest DU vielleicht so eine Laterne haben, Juni?" Energisch stellte Junias den Karton zurück. "Absolut nicht!" Feuerte er stürmisch heraus, vernahm ein schelmisches Kichern von seinem kleinen Pflegebruder. "Ich weiß. Luzie hat mir deine Laterne gezeigt, die in der Werkstatt hängt. Ich teile meine Kerze mit dir. Wir gehen alle zusammen." Junias seufzte vernehmlich, raufte Ruru sanft über die feinen Igelstacheln. "Du bist der prächtigste Bursche, den ich kenne! Oh, riechst du das auch? Ofenfrische Zwiebelbrötchen! Lass uns rasch zur Kasse rollen, ja?" jßM- Selbstredend gestand Junias seine Niederlage ein, von Werbung getriebenen Konsum nicht diabolisch subtil an den kleinen Mann gebracht zu haben. Cornelius, der eine leichte Griesgrämigkeit in den Worten hörte, lachte. "Geschickt ausmanövriert, würde ich sagen." Kommentierte er grinsend Rurus trügerisch harmlose Gegenfrage. "Spotte nur, gieße ruhig noch mehr Schande über mein Haupt!" Zeterte Junias theatralisch. "Dir ist ja auch ein Vortrag über die mangelnde Nachhaltigkeit von LED-Angelruten und Batterien entgangen!" Davon konnte nicht mal ein sehr leckeres, ofenfrisches Zwiebelbrötchen ablenken. Ruru hielt an der Überzeugung fest, eine Bienenwachskerze in einem Glas mit einer Weidenrute sei der elektrischen Plastikvariante zweifellos vorzuziehen. Schmunzelnd schlang Cornelius einen kräftigen Arm um Junias' Schultern. "Er meint es nicht böse." Verteidigte er seinen geliebten Bruder sanft. "Nein, tut er nie! Im Gegenteil, er ist zum Haareraufen höflich! 'Ich möchte bitte lieber keine solche Laterne haben.'!" Schnaubte Junias, das Mienenspiel starr, die burgunderroten Augen mit ihren schwarzen Pupillen jedoch blitzend. "Ich gehe jede Wette ein, dieser aufgebrezelten Super-Mutti in der Schlange hinter uns hing das Kinn in den Knien, was nur durch die Maske getarnt wurde!" Dafür sah sie IHN vorwurfsvoll an, als zwänge er Ruru, sich so vernünftig und zurückhaltend zu geben! Amüsiert dirigierte Cornelius ihren Spaziergang zur offenen Werkstatt im Garten. "Weißt du, möglicherweise wächst sich das aus, in der Pubertät vielleicht." "Ha! Luzie hat mich auch schon aufgezogen, dass Ruru mit Henk auf die Samen-Kataloge fliegen wird, aber die gibt es nur noch digital und meist ohne Bilder! Solange er 'Botanisch' nicht lesen kann, sehr unwahrscheinlich als Quelle der Versuchung!" Schimpfte Junias unversöhnlich, blieb unerwartet stehen, atmete tief durch. "Mein Kopf dröhnt." Murmelte er gequält, rieb sich die kalten Schläfen. Cornelius legte ihm die Arme locker um die Schultern, nutzte den Größenvorteil, Junias nachdrücklich zu küssen. Häufig, wenn die beiden Hälften seines Erbes keine Schnittmenge fanden, wehrte sich Junias' Körper gegen allzu gegenläufige Impulse, überfielen ihn heftige Spannungsschmerzen. "Du hast dein Bestes gegeben, Junias. Wir können Ruru nicht zwingen, ein ganz normales, verwöhntes Kindergartenkind zu sein." Tröstete Cornelius zärtlich, wiegte Junias in seinen Armen, der sehr gepresst atmete. "Nur weil er häufig vernünftig ist, benachteiligen wir ihn nicht." Appellierte er an Junias' so ungleiches Erbe. "Man sollte meinen, ich könnte BEGREIFEN, dass er sich nicht so TARNEN muss wie ich!" Grollte Junias schließlich, atmete schon etwas leichter. "An der nicht vollständigen Kontrolle arbeiten wir noch." Neckte Cornelius sanft. Er konnte durch ihren leidenschaftlichen Austausch spüren, wie verstört Junias' Lamia-Seite war, die von den "menschlichen" Emotionen überrannt wurde, zur Verteidigung ansetzte. "Ist das deine Laterne? Sie ist sehr schön." Lenkte Cornelius behutsam ab, betrachtete ein ungewöhnlich geformtes Glasgehäuse unter dem Dach des offenen Pavillons. "Zeugnis meiner Unkenntnis." Murmelte Junias, der sich noch immer angeschlagen an ihn lehnte. "Ich hatte es mir leichter vorgestellt, lauter bunte Glasscherben, ein wenig Spezialkleber. Leider ließ ich außer Acht, dass die Scherben selten eben ausfielen, man sehr vorsichtig mit dem Kleber sein muss. Oder dass es sich so anließ, als wolle man ein Frühstücksei mit einer Pinzette wieder zusammenfügen." In seiner Stimme konnte man die Grimasse hören, die seine Gesichtszüge nicht präsentierten. "Wie alt warst du denn?" Cornelius fand das Ergebnis, ein Unikat, durchaus beeindruckend, wenn auch definitiv zu schwer, um an einer schlichten Rute spazieren geführt zu werden. Möglicherweise ging ein stabiler, unterarmdicker Ast? "Noch nicht ganz Elf, gerade hier eingezogen, ohne zu offenbaren, dass es sich um eine längere Pflege handeln würde." In Junias' Stimme klang eine gewisse Beschämung mit. Ohne Täuschung hätte er zweifellos nie ein menschliches Pflegeelternpaar gefunden, war die Vorgehensweise sehr vernünftig. Sein anderes Erbe empfand jedoch durchaus Unbehagen, hielt sich für schofel, trotz der rechtfertigenden Umstände. "Luzie hat dir ihre Sammlung zur Verfügung gestellt?" Erkundigte sich Cornelius, löste einen Arm, um Junias' Nacken zu kraulen, ein wenig die silbrig-grauen Locken zu zausen. "Oh ja, du weißt ja, sie teilt gern und freigiebig. Sie haben mich einfach machen lassen, obwohl ich ja nicht gründlich nachgedacht hatte." "Mir gefällt das Ergebnis." Bekundete Cornelius, der überzeugt war, dass weder Henk noch Luzie die Aufnahme von Junias bedauerten. Junias stahl sich einen längeren, speichelfeuchten Kuss, blinzelte ihn dann mit wimpernlosen Augen an. "Wir werden trotzdem in die Laternen-Manufaktur einsteigen müssen, Kamerad, sonst sind wir vollends in den Schatten gestellt von den Kurzen!" Was Cornelius gar nicht gekümmert hätte, aber er dechiffrierte die Botschaft korrekt: Junias genoss diese Gemeinschaft. Er fürchtete sich nicht, ließ Nähe zu, ging das Risiko ein. "Mir macht es auch Spaß." Versicherte Cornelius Unausgesprochenes, lächelte in das maskenhaft starre Gesicht. "Vielleicht finde ich dabei ja etwas abgesehen von Haushaltsarbeiten, das mir liegt." Eine Einladung, ihn ein wenig zu foppen. Bisher hatte sich Cornelius noch keine hervorstechende Gabe präsentiert. Junias legte den Kopf leicht schief, studierte ihn prüfend. Er schwieg, entschlüpfte Cornelius' Armen, zog ihn an einer Hand wieder zum Haus. Es gab noch Einiges zu tun! Außerdem würde er warten, bis Cornelius selbst erkannte, worin seine Gabe bestand. jßM- Linus und Silvain war es tatsächlich gelungen, ihre jeweilige Kostümierung zu improvisieren, wobei sich Silvain vom gnädigen Schicksal als begünstigt betrachtete. Einen langen, weißen Kittel zu finden, dazu den Leuchtkranz auf die Strickmütze zu montieren, das verlangte ihm recht wenig ab. Allerdings gebot Linus ihm diktatorisch-liebevoll, sich um ausreichende Schichten "Dämmmaterial" unter seinem Kostüm zu bemühen, sonst würde er frieren wie ein Schneider! Auch Linus verfügte für seine Rolle über ein ehrfurchtgebietendes Kostüm, zumindest, wenn man den guten Geschmack zugrunde legte. Danach konnte man sich jedoch nur mit Schaudern abwenden, was der Intention nicht ganz widersprach. Über die Schienbeinschützer bedeckten ihn eingebundene Bermudas unter einem halbärmeligen Kittel, mit einem Sweatshirt kombiniert. An einen Gürtel hatten sie lange Stoffstreifen befestigt, die wie ein Waffenrock wirken sollten, wenn man im Dunkeln aus der Ferne darauf blickte. Die Streifen grob-filziger Putzwolle wurden sonst zur Abdeckung von Böden verwandt, um Kleckser oder Spritzer zu vermeiden! Über den Kittel wurde ein Unterhemd gezogen, das mit Pappkarton-Kreisen betackert worden war, Brustpanzer, ohne Wirkung, aber zumindest ökologisch abbaubar. Mangels Umhang musste ein alter Teppich herhalten, der vermutlich Lammfell imitieren sollte. Dieses Potpourri des schlechten Geschmacks wurde gekontert durch die mühsam aufgepauste Horrorvisage der Maske. Die Vorlage erschreckte das Publikum. Mit Filzstiften hatte Silvain sie akribisch genau übertragen. Da Waffenimitate strengstens verboten waren, trug Linus nur noch einen Beutel an seinem Gürtel, gefüllt mit Halsbonbons. Dazu eine Thermosflasche mit leicht gesüßtem Kräutertee, nicht ganz stilecht, aber notwendig, wenn man auf der Lauer lag, um aus der Finsternis hervor zu preschen, sich als untoter, keltischer Legionär vorzustellen. Zeitig mit Anbruch der Dunkelheit erreichten alle Mitwirkenden die Sammelpunkte, mit Fähnchen abgesteckt. Um kein Risiko einzugehen, mussten sie Abstände einhalten und zeitversetzt in Kleinstgrüppchen zu ihrem Einsatzort aufsteigen. Silvain, der sich im Bus noch gemütlich in Linus' Arme gekuschelt hatte, winkte ihm aufmunternd nach. Seltsam, ihn nicht in direkter Reichweite zu wissen, doch Silvain war entschlossen, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Erschrecken, ja, aber Panik, nein! jßM- Trotz Bonbon-Schmirgeleinlage und Tee war Linus heiser, als er Silvain nach Abschluss der letzten Tour am Fuß des Burghügels aufsammelte. Im Bus nahm er ihn in die Arme, besorgt, dass sein schlaksiger Freund vielleicht doch zu wenige Schichten übereinander trug. "Es war schön und gar nicht anstrengend." Vertraute Silvain ihm leise an, blinzelte müde hinter den Brillengläsern. "Schön zu hören." Raunte Linus unmelodisch, balancierte ihren Stand aus. "Oben zog es ein wenig, aber ich denke doch, dass vielen heute noch, beim Teutates!, das Fell absteht." Pseudo-Kelten-Ehre! Umsichtig lenkte er ihre Schritte zu seinem Einzimmerappartement. Erst dort konnte er sich überzeugen, dass es Silvain auch wirklich gut ging, ohne Maske und Mütze und Kittel. "Lass uns vor dem Schlafengehen noch gerade den Staub abspülen." Entschied er, nachdem die Kostüme aufgehangen worden waren. An seiner Hand tappte Silvain mit ihm in die winzige Nasszelle, für die er allein schon überdimensioniert war. Wenn man flink die Pellen abstreifte, bis man im Geburtstagsanzug stand, sich aneinander schmiegte und mit einem feuchten Lappen operierte, ließ es sich aushalten. Linus streifte Silvain auch den Schlafanzug über. Der hatte ja die Brille herausgeben müssen. Er bugsierte ihn unter die Decke, bevor er sich selbst etwas überzog, einige letzte Handgriffe absolvierte, unter die Decke schlüpfte. "Darf ich noch ein bisschen kuscheln? Gerade fühle ich mich nämlich sehr wohl und möchte dies mit dir teilen." Vertraute Silvain ihm an, rückte ein wenig näher, aber nicht etwa in forcierendem Maße. Linus fädelte unter den schlanken Leib, hob sich Silvain auf seinen muskulösen Körper, wickelte die Arme um ihn. "Mein persönlicher Schutzengel-Energielevel ist auch im kritischen Bereich. Ich benötige also dringend eine ausgiebige Aufladungsphase mit Anflauschen durch statische Energie." Soufflierte er sein Begehren. Silvain kicherte an seiner Halsbeuge, seufzte glücklich. "Danke für diesen schönen Abend, Linus." Der ersparte sich eine Antwort, weil ihm die Kehle eng wurde, hielt Silvain nur ein Quäntchen fester, küsste die Stirn unter den von ihm mühelos adrett gestutzten Strähnen. jßM- Luzie pflegte Vertrauen in ihre Pflegekinder zu investieren. Wie sollten die auch Fertigkeiten und Fähigkeiten erproben, wenn ihnen suggeriert wurde, stets mit dem schlechtesten Ausgang zu rechnen? Selbstverständlich konnte man auch Fehlschläge erleiden, scheitern, aber selbst aus Misserfolgen gab es etwas mitzunehmen. Deshalb sah sie keine potentielle Katastrophe aufziehen, wenn sie Ruru und Lilo mit Werkzeug auf Kürbisse und Rüben losließ. Die beiden emsigen Bastler hatten sich selbst die Reihenfolge überlegt, gingen mit großem Ernst zu Werke, nutzten Stichel, Cutter, Messer und Handsäge überlegt und mit Geschick. Nach einer kurzen Erörterung, Klopfprobe und Lauschangriff war man übereingekommen, zunächst die Gesichter aufzuzeichnen, dann vorsichtig auszuschneiden, erst anschließend den "Deckel" abzusägen und vorsichtig Kerne und Fruchtfleisch mit Löffeln auszuschaben. Weil Kürbisse und Rüben nicht ganz so fest und hartschalig waren wie erhofft und vielleicht nach dem Trocknen noch mit Leinöl lackiert werden sollten. Henk, der schweigend neben der Bank stand, zwirbelte mehr als einmal zufrieden die Enden seines Schnurrbarts. Luzie zwinkerte entspannt zu ihm hoch. Schlagskaputt würden die beiden später sein, aber stolz und glücklich. Die besten Voraussetzungen für ein gelungenes Fest. jßM- Tatsächlich hatte es nach Vollendung ein kleines Tänzchen gegeben, von einem Bein auf das andere springend, die Arme angewinkelt und leise "Huihuihuihui" intonierend, weil sich sonst die Begeisterung einfach nicht kanalisieren ließ. Henk assistierte, die ausgehöhlten Kürbisse und Rüben vorsichtig mit Streu und Stroh auszupolstern. Das sollte dabei helfen, über Nacht die Feuchtigkeit aufzunehmen und die Laternen zu trocknen. Junias befestigte rasch ein gefaltetes Duschtuch auf seinem Gepäckträger. Ihm oblag es, Lilo zu Hause abzuliefern und seine Talente zu nutzen, ihre Mutter davon abzubringen, gegen die gemeinsamen Aktivitäten zu opponieren. Lilos Vater war er bisher noch nicht begegnet, was, ihren eigenen Ausführungen nach, gar nicht sonderbar sein konnte. Wie ihr Großvater so treffend bemerkte, schien ihr Vater gar keine Lust darauf zu haben, zu Hause zu sein. Verständlich, denn da war es langweilig! Also hieß es immer, dass er noch arbeite, viel zu tun sei und Präsenz gezeigt werden musste, als kaufmännischer Leiter eines Bauunternehmens. Lilo schien die lediglich sporadischen Anwesenheiten ihres Vaters mühelos zu verschmerzen. "Ich bin auch nicht gern zu Hause, wenn ich nicht schlafen oder was essen will, weil man gar nichts richtig unternehmen kann. Wenn ich eine Werkstatt hätte oder wie bei Großvater auf dem Hausboot immer was zu erledigen, DAS wäre eine ganz andere HAUSNUMMER!" Wiederholte sie eine Aussage ihres Großvaters mit erheblichem Nachdruck. Ruru traf es da viel besser, eine Werkstatt und ein Garten und immer was zu erledigen! Aber sie war nicht neidisch, weil Ruru ja teilte und sie Freunde waren! Junias beförderte seine kleine Passagierin amüsiert in die ungeliebten, heimatlichen Gefilde und versprach, unbedingt am nächsten Tag auch mit von der Partie zu sein, wenn sie alles fertig machten für die Feier! jßM- Rurus erster Gang am Freitagmorgen führte nicht nur in den Garten, sondern selbstredend auch zu ihren "Laternen". Henk begleitete ihn und überprüfte sorgsam, ob sich nicht Schadstellen gebildet hatten oder etwas angenagt worden war. Höchst zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Inspektion nahmen sie am großen Tisch in der Wohnküche Platz, um zu frühstücken. Dort ging Junias auch noch mal seine Liste durch. Für ihn stand nach wenigen Schulstunden und viel mehr "Homeschooling" eine Back-Orgie an. Schließlich musste man alles verwenden, was verzehrt werden konnte! Henk, Luzie und Cornelius tauschten über den Tisch hinweg amüsierte Blicke: zwei Mitglieder ihrer Familie agierten definitiv in der jeweiligen Parallelwelt, emsig und beseelt! jßM- Cornelius übernahm es, Ruru und Lilo abzuholen und aus der Wohnküche zu expedieren. Behutsam mit einem Leinölgemisch die Kürbisse und Rüben zu behandeln, das ging auch im offenen Pavillon an der frischen Luft. So geriet man nicht in den wirbelnden Sog von Junias' generalstabsmäßiger Back- und Einweck-Aktion! Während die Laternen sorgsam präpariert wurden, fädelte Cornelius bunte Blätter für Girlanden auf, steckte Kastanien zusammen. Dabei wurde er von Lilo unterhalten, die mal wieder einen "großen Quatsch" zu beklagen hatte. "Meine Mutter sagt, ich muss einen Sport machen, sonst werde ich fett. Sie wollte als Kind immer Ballett tanzen, aber ihre Eltern hatten dafür kein Geld." Leitete Lilo ihren Bericht ein, die schwarzen Augenbrauen über den steingrauen Augen kritisch zusammengezogen. "Ich kenne gar niemanden, der Ballett tanzt. Dann musste ich mir das angucken! Da hopst man auf den Zehen in einem Tüttüt herum und verrenkt sich!" Cornelius unterdrückte ein Grinsen und verbesserte sanft. "Der Rock heißt Tutu, Lilo, kommt aus dem Französischen." Ihn traf ein grimmiger Blick. "Aha! Hab mich schon gewundert, woher das Tüten kommen soll, außer, die blöden Schuhe machen so komische Geräusche!" Lilo wandte sich Ruru zu, der gerade eine Rübe fertig lackiert hatte und sie auf die Seite hob. "Wusstest du, dass die ihre Füße kaputt schnüren müssen?! Was ja ein Quatsch ist, auf den Zehenspitzen zu laufen, wenn man einen ganzen Fuß hat!" Ruru blickte sie verblüfft an. "Man muss sich die Füße kaputt machen?!" "Genau! Und dann watschelt man wie eine Ente, ganz komisch! Meine Mutter sagt, Ballett sorgt für eine gute Haltung, aber das ist Humbug! Sah für mich aus, als hätten die ihre Gräten nicht richtig eingehängt und eierten unrund herum. Warum man sich für eine aufrechte Haltung die Füße hinruiniert, verstehe ich überhaupt nicht." Stirnrunzelnd warf Ruru einen Blick auf Cornelius. "Man wird davon krank und kaputt?" Erkundigte er sich unbehaglich, dachte an Henk, der stets ein Korsett tragen musste, weil sein Rücken schon verschlissen war. Cornelius sah sich genötigt, die Wahrheit zu bekennen. "Ich glaube auch, dass es nicht gesund ist. Es ist sehr anstrengend. Nur wenige Menschen sind dafür geeignet." "Genau!" Trompetete Lilo finster, stemmte ihre Hände in die Hüften. "Ich hab nämlich gefragt, was das für Leute sind, weil ich ja keine kenne. Irgendwelche Berühmten, aber die waren schon alle tot!" Was ihre erheblichen Zweifel ob dieser seltsamen Verstümmelungsbetätigung anfeuerte. Ruru blickte sie ungläubig an. "Warum musst du denn so was machen, wo die Leute alle tot sind?" Lilo nickte heftig, um seine Frage aufzugreifen. "DAS hab ich auch gefragt! Meine Mutter sagt, dass man et-erisch wird." Cornelius ahnte schon, wie die nächste Erkundigung formuliert werden würde, weil er seinen geliebten Halbbruder kannte. "Ich denke, sie meinte 'ätherisch'." Korrigierte er gelassen. "'Äther' ist eine poetische Umschreibung für einen Teil des Himmels, eine Zone in der Luft über uns." "Sind ätherische Leute dann Luftikusse?" Verfolgte Lilo interessiert eine Spur, brachte Cornelius damit zum Lachen. "Nein, das Ätherische bezieht sich da mehr auf die Gestalt, weißt du? Ein bisschen so, als könne sie ein Lufthauch wegwehen." Der skeptische Blickwechseln zwischen Lilo und Ruru kostete ihn nahezu seine Selbstbeherrschung. Lilo haftete so ganz und gar nichts Ätherisches an, sie war sehr bodenständig und kräftig. "Was für ein Sport macht einen denn so ätherisch?" Erkundigte sie sich argwöhnisch. Herausgefordert, sie ein wenig zu necken, antwortete Cornelius prompt. "Außer Totsein kann ich mir nichts vorstellen, was einen so reduziert, dass man weggeweht werden könnte." Durchaus etwas boshaft, das konnte man nicht abstreiten. Ruru und Lilo kontemplierten schweigend diese Einlassung, bis Ruru plötzlich aufblickte, des Pudels Kern aufgestöbert. "Jetzt verstehe ich es! Wie bei den Dinosauriern, Lilo, erst ist man tot, dann rottet alles bis auf die Knochen weg. Die zerbröseln zu Staub, der vom Wind weggepustet werden kann!" Eine logische Schlussfolgerung, dezent makaber. Lilo rümpfte die Nase. "Ich wusste ja, dass es ein Quatsch ist! Totsein und herumrotten, das passiert ja ohnehin, also muss ich das nicht machen. Kaputte Füße will ich nicht." Ruru nickte solidarisch. "Ich will auch keine kaputten Füße haben." Cornelius streichelte ihm kurz über den aschblonden Igelputz. "Ich glaube, Ballett würde dir auch nicht gefallen. Und, Lilo, hat deine Mutter noch einen anderen Vorschlag gemacht?" Lilo schnaubte. "Leider! Sie fand, Mädchen sollen reiten, das macht sich angeblich gut. Wobei, das hab ich nicht herausbekommen, aber ich war dagegen." Stellte sie mit kategorischer Vehemenz fest. "Weil so ein Pferd ja nicht dafür da ist, dass man da auf dem Rücken herumhopst, was total albern aussieht. Vielleicht will das Pferd ja gar nicht da hin, wo ich hin will." Ruru nickte beiläufig. Das waren wichtige Einwände. "Dann muss man immer im Kreis reiten, an einer Leine! Abreiben und füttern und irgendwelchen anderen Kram machen, den man nicht tun müsste, wenn man Pferde nicht für so was einsperren würde." Schüttelte Lilo grimmig den Kopf. "Ich möchte jedenfalls nicht an einem Strick im Kreis rennen müssen oder irgendwen auf meinem Rücken schleppen. Also kommt das nicht in Frage!" Ruru ergänzte ernsthaft. "Wenn wir irgendwo hin wollen, können wir laufen oder ein Fahrrad benutzen. Henk fährt mit mir im Taxi zu den Gärtnereien." Pferde waren da nicht nachgefragt. Lilo erreichte unterdessen den Ausgangspunkt der unerfreulichen Episode. "Ruru, was musst du für einen Sport machen?" Holte sie Alternativen an Bord. Ruru runzelte die Stirn. "Ich muss keinen Sport machen. Henk sagt, dass Gartenarbeit wie Sport ist, nur viel interessanter." Was für ihn jegliche Verpflichtung, sich anderweitig zu orientieren, erledigte. "Zählt es, wenn man in einer Werkstatt arbeitet?" Erkundigte sich Lilo interessiert. Großmütig legte Ruru daraufhin das Verdikt aus. "Bestimmt. Man muss da auch viele Dinge erledigen und kann ja Fenster und Türen offen lassen, wegen der frischen Luft." Erwog er sehr ernst. Lilo nickte entschieden. "Dann werde ich das als Sport machen. Ich brauche bloß eine Werkstatt oder wie Großvater ein Hausboot. Man kann immer was tun." Cornelius schmunzelte, erhob sich. "Ich schaue mal gerade, wie Junias sich schlägt, ja?" Er hob beide kräftige Arme an, wuschelte jeweils durch eine stachlige Frisur. "Ihr seid genau richtig, ihr beiden!" Versicherte er liebevoll, bevor er sich in die Operationsbasis wagte. jßM- Silvain transportierte wie stets sein Übernachtungsgepäck zum Schulrucksack, erweitert um Beiträge zum Menü. Sein sonst so aufgeschlossenes Lächeln fiel ein wenig grimmig aus, als Linus in Laufschritt zu ihrem Treffpunkt außerhalb des Schulgeländes eilte. "Ist etwas geschehen? Hast du Ärger wegen unseres Wochenendübereinkommens?" Erkundigte sich Linus, die nordisch-markanten Züge bereits angespannt. "Nein, das ist es nicht... Oh, vielen Dank, ich fürchte, ich habe ein wenig zu viel eingeräumt." Silvain, seines Gepäcks bereits verlustig, drückte das knochige Rückgrat durch, empfing einen zärtlichen Kuss auf die Lippen. So getröstet lächelte er in die Friesen-blauen Augen. "Weißt du, es ist wahrscheinlich bloß unangenehm. Und ich hätte es ja ahnen müssen! Nur wünschte ich wirklich...!" Er seufzte, stapfte neben Linus her, der mühelos Gepäck und eigenen Schulrucksack ausbalancierte. "Ich beteilige mich gern an der Erörterung, wenn du mich bezüglich der Ursache erleuchtest." Soufflierte der rau, zwinkerte. Erschrocken blickte Silvain auf, abgelenkt vom Straßenpflaster, was ihn prompt stolpern ließ. "Hoppla." Brummte Linus, der blitzartig einen abfangenden Arm um die schmalen Hüften seines Freundes schlang. "Danke und Entschuldigung, ich bin so tapsig! Du hast völlig recht, ich habe sämtliche Details ausgelassen!" Tadelte Silvain sich zerknirscht, eilig auf die Gehwegplatten konzentriert. Nichts lag ihm ferner, als so linkisch und ungeschickt mit allem Möglichen in seiner Umgebung zu kollidieren! Allerdings gelang es ihm leider noch nicht, sich und die Umwelt nahtlos zu koordinieren, um derlei Ungemach auf seltene Ausnahmen zu reduzieren. Linus störte sich nicht daran. Solange Silvain sich nicht verletzte oder ernstlich mit sich selbst haderte, verbuchte er diese lässliche Schwäche als liebenswerten Charakterzug, weil Silvain eben tiefe Gedanken verfolgte und sein "Autopilot" noch der Optimierung bedurfte. "Meine Schwestern ließen es sich vorhin angelegen sein mir mitzuteilen, dass sie heute auch an einer Gruseltour teilnehmen. Das erfüllt mich mit äußerst unangenehmen Vorahnungen. Sie neigen dazu, mich zu piesacken und sich marktschreierisch in Szene zu setzen." Keine Neuigkeiten für Linus, der den Attacken der beiden notorischen Nervensägen gerne mal physische Grenzen gesetzt hätte. Mit einem Paar Kopfnüsse. Für den Anfang. "Du meinst, sie werden sich als vollendete Tussis gebärden." Wählte er das vernichtende Urteil einer seiner persönlichen Freundinnen, die nicht zur "Oma"-Brigade zählte. Silvain nickte unglücklich. Er selbst stand ganz und gar nicht gern im Vordergrund, hielt sich nicht für maßgeblich oder bedeutend. Was seine Schwestern nicht hinderte, ihn genau in ihr Rampenlicht zu zerren, um ihn dort vorzuführen und zu verschrecken. "Manchmal denke ich..." Er verstummte, hinderte verräterische Worte, ihm zu entschlüpfen. Linus nutzte eine rote Ampelphase, um Silvain die versiegelten Lippen höchstpersönlich zu polieren. "Wir müssten sie anderweitig beschäftigen." Stellte er grimmig eine Vermutung über Silvains Intention an. "Aber welche Idioten hängen sich diese beiden Mühlsteine um den Hals?" Linus hätte sich zu Verkuppelungsversuchen herabgelassen, wenn nur die Chance bestand, erfolgreich hervorzugehen. Leider jedoch konnte er sich niemanden vorstellen, der bekloppt genug war, diesen Horror zu goutieren UND den beiden Hornissen auch noch zusagte! Silvain seufzte leise neben ihm. "Ich weiß, es ist ungezogen. Wenn sie bloß anderweitig dauerhaft engagiert wären..." Linus steuerte den Eingang des Mehrfamilienhauses an, in dem er wohnte. "Diese Herkulesaufgabe werden wir auf die Schnelle wohl nicht lösen, aber wir werden uns auch nicht stören lassen. Wenn sie die Regeln nicht beachten, wird sie der Sicherheitsdienst abpflücken." Erinnerte er knapp. Ohnehin stand heute eine Prüfung hervor, weil an den beiden Wochenendterminen möglicherweise "erlebnisorientierte" Jugendliche und junge Männer auftreten konnten. Was die Veranstaltenden im Interesse aller anderen nicht dulden würden. Da seit dem Frühjahr viele Clubs, Diskotheken und andere Örtlichkeiten geschlossen hatten, die ein gewisses Ausleben überbordender Energie ermöglichten, musste man mit Störungen rechnen. Sie erreichten das oberste Treppenpodest. Linus schloss seine Wohnungseingangstür auf. "Lass uns die Zeit nutzen bis zum Aufbruch." Schlug er vor, um Silvain aufzuheitern. "Was befindet sich denn in diesem Sack? Hoffentlich kein Knüppel, sondern Anleihen an 'Tischlein, deck dich'!" Silvain prustete leise, kniete sich eifrig und aufgeheitert neben sein Gepäck. "Oh, ich war einkaufen, mit diesem Ratgeber fürs Camping, und da ließ ich mich hinreißen..." Linus lächelte, ging in die Hocke, schlang die muskulösen Arme um Silvain. "Lass mich alles sehen, ja? Obwohl ich schon jetzt hingerissen bin." Neckte er zärtlich, küsste Silvain sehr viel ungehemmter als zuvor an der Ampel. Immerhin galt es jedoch, ein kalorisches Ungleichgewicht vorzulegen, wenn man so vieles später schmausen konnte! jßM- Kapitel 5 Raimund verfolgte eher beiläufig den Ausmarsch von Linus und Silvain. Nach dem ersten Furor erzeugten ihre Beziehung und die Wochenendübernachtung keine überzogene Aufmerksamkeit mehr. Auch wenn man sich hin und wieder noch wunderte. Ein augenscheinlich so ungleiches Pärchen! Selbst Yann, sein Sandkastenfreund und Torhüter der Hockeymannschaft, gestand offen ein, dass es nichts mehr zu kritisieren gab. Zugegeben, den furchteinflößenden Wikinger hätte er jetzt nicht als schwul eingeschätzt, aber das lag auch an seinem eigenen mangelnden Interesse an intim-privaten Vorlieben. Dass es aber ausgerechnet der Bursche sein musste, der mittelbar den Fahrradunfall ausgelöst hatte... Doch Linus hatte ihnen allen streng und unerbittlich ins Gewissen geredet, sie hatten es bloß nicht ohne Grollen akzeptieren wollen! Andererseits, die Leseratte mochte schreckhaft, höhenkrank und häufig tollpatschig sein, aber sie bewies Mut, Durchhaltevermögen und Humor. Das konnte man nicht wegdiskutieren. Wenn es beiden zusammen so viel besser ging, hatte da niemand reinzureden. Raimund bewunderte Yanns kategorische Einstellung. Die hatte ihm auch bei der eher versehentlich revolutionären Frisur den Rücken gestärkt. Leider schien Yann jedoch ebenfalls der Auffassung zu sein, dass Tiberius einen bemerkenswerten Vorteil für sich verbuchen konnte, nämlich seinen stets einsichtigen, zurückhaltenden, verständigen Sandkastenkumpel regelmäßig auf die Palme und anschließend die Barrikaden zu bringen! Das war, wie Raimund selbst unwillig gestehen musste, zuvor noch niemandem gelungen. Dazu addierte sich Tiberius' heimtückischer Einfluss auf seine äußere Erscheinung, hauptsächlich bei der Einkleidung! Allerdings befand sich Yann in guter Gesellschaft, diese merkwürdige Beziehung zu goutieren: Raimunds Mutter gehörte zu diesem elitären Club! Was Raimund, der sich rasch umsah, ob ihn nicht doch gänzlich unvermutet ein Empfangskomitee erwartete, hin und wieder enragierte. Seine eigene Mutter fand NICHTS dabei, dass er sich mit einem zwei Jahre jüngeren Burschen zusammentat! So was sollte UNTERSAGT werden! Grollte Raimund hin und wieder heimlich, doch für seine Mutter gehörte Tiberius samt Familie schon zur eigenen! Tiberius war weniger Gast als Bestandteil ihres kleinen Hausstands, wurde in den Alltag ganz selbstverständlich einbezogen. »Was Wunder!« Grummelte Raimund stumm, dessen Übernachtungsgepäck lediglich aus Wollsocken, Pyjama und frischer Leibwäsche plus Hygieneartikel bestand. »Der Kerl kennt Regale, Schränke und Vorräte besser als ich!« Außerdem die Programme der Waschmaschine, die eigenwillige Mikrowelle, das hüftlahme-fingerquetschende Bügelbrett... Schon seltsam, dass einen bewunderungswürdige Fähigkeiten und Fertigkeiten gleichzeitig EXTREM gegen das Fell bürsten konnten! Diese statische Elektrizität schien einen nicht unerheblichen Teil ihrer gegenseitigen Anziehungskraft auszumachen. Physikalisch Interessierte mochte das begeistern, aber Raimund zog die Botanik vor und fühlte sich darob häufig verschnupft. Er musste jedoch eingestehen, dass er einfach nicht verstand, warum dieses beängstigende, merkwürdige, aufreizende Phänomen von "Liebe" auftrat. Es schien unlogisch, unvernünftig, willkürlich, inkonsequent und keine Garantie für nichts zu sein, doch ganz gleich, wie er es auch drehte und wendete: mit Tiberius würde er noch sehr, sehr, SEHR lange nicht fertig sein! Was ihn nicht davon abhielt, sein Gepäck und die Schultasche abzustellen und sehr privilegiert mit Tiberius' hochverehrtem Bruder und Hund Bella eine Runde zu drehen! jßM- Adam rollte zufrieden vom Hof, winkte Tiberius und den anderen Freiwilligen munter zu, bevor er die Stirnlampe aktivierte und energisch Eve beschleunigte. Alle Masken waren ausgegeben, der Schulhof bereits geschmückt, die Stuhlstapel aufgereiht, der "Parcours" abgesteckt. Statt Gesang würde es instrumentale Einlagen geben, kleine Scharaden der AG Darstellende Kunst, "Montagsmalen", ein Hindernislauf mit Kürbis-Turban und Vesperpakete, aufgeteilt in zwei Schichten mehr als ausreichend Platz an der kalten Luft, um sich zu amüsieren. Die jüngeren Jahrgänge würden mit ihren Familien den Anfang machen, später die älteren Semester. Dass er sich selbst zum "Aufräum-Team" am Sonntagnachmittag gemeldet hatte, war Ehrensache, ebenso wie die Ausstellung des nie fertigen "Spielautomaten-Turms", den er mit seinem Vater ausbaute. Ein absoluter Publikumsmagnet! Als er in die verkehrsberuhigte Straße rollte, winkte ihm aus dem Nachbarhaus von oben die Nachbarin, Frau Kappel, schwenkte zwei Stoffbündel mit Geschenken. Adam jubelte. Das sah verflixt danach aus, als hätte Junias wieder eine Backorgie abgehalten! jßM- Nachdem Cornelius erst Lilo, selbstsicher auf dem Sozius von Henks Rad präsidierend, samt Mitbringsel abgesetzt hatte, meldete er sich auch bei Frau Kappel. Für eine kurze Weile hatte sie ihnen Obdach geboten, noch viel großzügiger jedoch eine unerschütterliche Unterstützung, weshalb er für sie und Adam selbstredend kleine Geschenke deponierte. Wenn Junias sich ins Zeug legte, dann nie in Minimal-Produktion! Nach dem Abendessen in vertrauter Runde mit dem Austausch aller Ereignisse des Tages brach auch Rurus Vorlesezeit an. Cornelius entschied sich für eine Kurzabhandlung, da Ruru schon Mühe hatte, die Stiege ins Obergeschoss zu erklimmen. Definitiv musste Hasenpower nachgetankt werden! Auch Junias ließ sich neben ihn auf die Bettkante sinken, lauschte faszinierenden Details zu Maniok, lehnte merklich an Cornelius' breiter Schulter. Ein Grinsen unterdrückend klappte er das Sachbuch zu, zupfte die Bettdecke über seinem kleinen Halbbruder zurecht, zog Junias auf die Beine, der recht matt hinter ihm her tappte. Die Anstrengungen zeitigten auch hier Folgen, wie es schien. Nur konnte man sie Junias nicht so einfach vom Ponem ablesen! "Wie gut, dass wir uns schon die Beißerchen poliert haben." Neckte er Junias sanft, wurde übergriffig, lupfte ihm den Pullover über den Schopf. "Uh, langsam, ja?!" Grummelte dessen Stimme, während er selbst leicht taumelte. "Zeit zum Schlafen, Juni." Ermahnte Cornelius in bester Kopie von Rurus Aufforderung, half beim Umkleiden, um auch hier die Decke zu positionieren. "Du bist schon wieder im Eltern-Modus!" Quengelte Junias ohne Elan, erschöpft seufzend. "Nicht ganz." Wisperte Cornelius amüsiert, exekutierte einen sehr ausführlichen, definitiv unkeuschen Kuss. Er erhob sich, löschte auch das Licht der letzten Lampe. "Schlaf gut und träum was Wildes." "Unruhestifter." Hörte er Junias noch sehr gedämpft murmeln, bevor er leise die Tür ins Schloss zog. Er wechselte ins Gästezimmer, um zu überprüfen, ob das "Zelt-im-Haus"-Lager abenteuerlich genug wirkte. Kissen, Decken und Matten waren ausgelegt, die Kurbellampen in Reichweite. Auch hier hatte er noch ein wenig mit buntem Herbstlaub, Kastanien, Eicheln und Bucheckern dekoriert. Zufrieden und gleichzeitig voller Vorfreude verließ er das Zimmer, trat in ihr eigenes ein. Ruru schlummerte schon tief und fest, das Hasentuch beim Kopfkissen positioniert. Geschmeidig zog er sich um, machte es sich auf seinem eigenen Bett im Dunkeln gemütlich. Noch fielen ihm die Augen nicht zu. Er war es gewöhnt, so den Tag zu repetieren, wenn Ruru schlief und er selbst aller Pflichten ledig war. Müßig fragte er sich, ob es ihm auch mal gelingen würde, etwas zu entdecken, für das er begabt war, sich darin fast verlor, begeistert und angetrieben wurde, gefesselt und glücklich trotz Anstrengung blieb. Möglicherweise zündete bei ihm die Kerze der Selbsterkenntnis später? Mit dem aufmunternden Gedanken, dass er so viel Vergnügen dabei empfand, an den Gaben anderer teilhaben zu können, schlief auch Cornelius schließlich ein. jßM- "Das war schon merkwürdig." Ließ Silvain Linus wissen, an ihn gelehnt, als der letzte Shuttlebus sie zurückbrachte. Linus, noch immer kostümiert und maskiert als untoter, keltischer Legionär, lächelte diabolisch im Schutz der bemalten Stofflagen. "Wie erstaunlich die Wirkung doch ist, wenn sich der Horizont erweitert." Raunte er rau, streichelte über Silvains Rücken, ohne die improvisierten Flügel-Anhängsel zu beschädigen. Wenn zwei überkandidelte, aufgedrehte Schreckschrauben nämlich bemerkten, dass eine Nachtelfe ihren lächerlichen Engel-Bruder heftig anflirtete! Die Empörung hielt so lange an, dass sie nicht mal zögerten, den metaphorisch gehörnten festen Freund nach dessen Kelten-Monolog entsprechend aufzuklären! Kein Versuch, Silvain zu piesacken, bloßzustellen oder zu tyrannisieren! Linus half Silvain beim Aussteigen, nahm dessen Hand. "Ich sollte mich wohl verstärkt bemühen, sie zu verstehen." Seufzte Silvain neben ihm, mit der freien Hand seine Maske abzupfend. "Doch ich kann mir nicht helfen, es gelingt einfach nicht. Ich begreife nicht, was in ihren Köpfen vorgeht." Linus hielt inne, nutzte die Maskenfreiheit, um Silvain mit dem freien Arm zu umschlingen, ihn recht unzüchtig zu küssen. "Ich ahne die Auflösung, aber ich versichere dir, sie ist keines Kopfzerbrechens würdig." Lächelte er zärtlich, zwinkerte mit Friesen-blauen Augen. Unvorstellbar für die notorischen Nervensägen, dass ihr Bruder umschwärmt war, Verehrerinnen haben konnte, gewitzt genug war, amüsante Unterhaltungen zu führen! Noch unerklärlicher, dass sie ihm unterstellten, "mehrgleisig zu fahren", sich "Optionen offenzuhalten". Oder dass sie annahmen, Linus wäre derartig blind und blöd, an Silvain zu zweifeln! "Ich bin richtig erleichtert, dass es trotzdem noch so ein schöner Abend geworden ist. Sehr kleinmütig von mir, dir heute Nachmittag etwas vorgejammert zu haben." Tadelte Silvain sich mit einem schiefen Grinsen. Behutsam drückte er Linus' Hand, der sie mit seiner eigenen warm in der Tasche seiner abgenutzten Collegejacke verstaut hatte. "Darf ich dich zum Dank mit einer Tassen-Süßigkeit entlohnen? Ich bin eigentlich recht zuversichtlich, dass es mir gelingt." Zwinkerte er verschmitzt hinter den leicht beschlagenen Brillengläsern. Linus beugte den Kopf ein wenig und wisperte. "Sehr reizvoll, allerdings befürchte ich, dass mein Appetit auf dich noch sehr viel größer ist, UNBEDINGT temporär gestillt werden muss." Selbst bei den ungünstigen Lichtverhältnissen erblühten Rosen sichtlich auf Silvains magere Wangen. jßM- Henk nahm wie an jedem Morgen vor dem Frühstück Rurus kleine Hand, um mit ihm Garten und Werkstatt abzuschreiten. Eine eingespielte Routine, ihr gemeinsames Ritual als Gärtner, nach Pflanzen, ihren Blüten, Blättern, Früchten und Wurzeln zu schauen, Schädlinge, gefährliche Pilze oder andere Infektionen frühzeitig zu entdecken. Wobei Rurus erklärte Gegner die Spanischen Nacktschnecken waren, weil es so wenig räuberische Tigerschnecken gab! Eine von ihm angedachte Zucht scheiterte jedoch an den Details und der Natur der Tigerschnecken, die durchaus keine Verwandten "kannten". An diesem Morgen inspizierten sie auch die geschnitzten Laternen und den vorbereiteten Schmuck. Keine Mäuse, keine Schäden, keine Faulstellen! Ruru absolvierte ein kleines Tänzchen auf der Stelle, blickte entschuldigend zu Henk hoch. "Ich freue mich so." Seine Vorfreude und Begeisterung benötigte ein kleines Ventil. Henk zwirbelte mit der freien Hand sein Schnurrbartspitzenende, zwinkerte. "Ich freue mich auch, aber ich bin kein guter Tänzer." Ruru gluckste, drückte die große Hand tröstend. "Ich kann das für dich übernehmen, Henk. Es wäre nämlich ganz grässlich, wenn dein Rücken noch schlimmer kaputt ginge." Das sorgte ihn merklich, wie die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen verriet. Henk nickte gelassen. "Das wäre nicht gut. Hast du auch ein bisschen Hunger?" Leitete er schmunzelnd auf ein angenehmeres Thema über, das Entree zur Rückkehr ins Haus. "Ein bisschen schon. Ob wir vielleicht von Junis Brötchen aus Kürbis schon welche kosten dürfen?" Die benötigten ein wenig Zeit, um an der Luft nachzutrocknen, wie Junias streng erklärt hatte. Den Kopf vage neigend glättete Henk seinen Vollbart. "Fragen können wir." Stellte er gemütlich fest, dirigierte ihren gewohnten Inspektionsgang zurück ins Gebäude. Ruru nickte eifrig, reckte das spitze Kinn ein wenig höher. Wenn man höflich fragte, durfte man vielleicht doch etwas knabbern! jßM- Cornelius beobachtete amüsiert, wie Junias zwischen Pflichterfüllungen schwankte und mit sich haderte. Er pirschte sich heran, beugte sich ein wenig tiefer. "Wir können tauschen. Aber hau nicht zu schnell in die Tasten, ja?" Junias knurrte, warf den Kopf in den Nacken, dass die silbrig-grauen Locken flogen. Eigentlich oblag es ihm nämlich, das Frühstücksgeschirr abzuspülen und eine Ladung Buntwäsche anzuwerfen. Durch den kurzen Waschgang wäre in einer halben Stunde auch das Flaggen fällig. Gleichzeitig hatte er auch noch einige der Schulhausaufgaben zu absolvieren. Allerdings nicht in dem ihm schnellstmöglichen, übermenschlichen Tempo. Das konnte zufälligem Publikum merkwürdig erscheinen und möglicherweise auch die Mechanik überlasten. Junias' nichtmenschliches Erbe protestierte gegen jede irrationale Vernachlässigung von Pflichten: da zog man Aufmerksamkeit auf sich, verhielt sich von Emotionen gesteuert! Seine Leidenschaft fürs Backen gewann häufig über Ratio und angepasstes Verhalten. Deshalb hatte er mit widerstreitenden Impulsen zu kämpfen, die sich in leichten Kopfschmerzen äußerten. Ein Tausch wäre akzeptabel, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ärgerte sich sein Stolz. Junias atmete tief durch, rieb sich eine Schläfe. Cornelius, der diese verräterische Geste registrierte, sich bewusst war, dass die übrige Familie sich temporär andernorts aufhielt, nutzte die Chance. Sanft legte er eine warme Hand auf die kalte Wange, küsste Junias zärtlich. Unvermutet gruben sich kalte Finger in sein Sweatshirt, hielten ihn fest. Der recht zivile Kuss wandelte sich prompt in eine sehr viel intensivere, leidenschaftliche und ausgedehnte Variante. Cornelius leckte sich die Lippen, lächelte zärtlich. "Abgemacht?" Raunte er, schlang die kräftigen Arme um Junias. Ein weiteres Knurren, ein Seufzen, die burgunderroten Augen wichen seinem Blick aus. "Du belastest mein Gewissen, das ist dir hoffentlich bewusst, ja?! Wie soll ich dich von deiner Neigung zur Übernahme von Haushaltstätigkeiten abbringen, wenn ich dir derart entgegenkomme?! Oh, und übrigens riechst du schon wieder verboten gut!" Cornelius lachte, zog Junias ein wenig fester an sich, was die Distanz minimierte. Nicht einen Wimpernschlag später spürte er einen kleinen Druck in der Halsbeuge. Es störte ihn nicht, ein wenig Blut abzugeben. Junias leckte sich die Lippen, sah ihn wieder an. "Ein Tausch bedeutet, dass ich an einem anderen Tag tätig werde." Präzisierte er zu seiner Ehrenrettung. "Exakt." Pflichtete Cornelius schmunzelnd bei, küsste Junias erneut. So konnte er durch seine verschärften Sinne Junias' Empfindungen auffangen, obwohl er durchaus schon ein besseres Verständnis und eine tiefere Einsicht in dessen komplexe Gemütslage gewonnen hatte. "Die waren übrigens auch sehr lecker, deine Kürbisbrötchen." Wisperte er neckend, zwinkerte. "Auch?!" Fing Junias auf, löste eine kalte Hand, kniff Cornelius in die Nasenspitze. Erstaunlicherweise folgte keine spitze Bemerkung, nein, Junias lehnte sich eng an ihn an. Sanft kraulte ihm Cornelius den Nacken. "Ich freue mich schon auf später." "Ich auch." Murmelte Junias, schmiegte sich noch einen Moment länger an, bevor er sich löste, merklich seine schlanke, anmutige Gestalt straffte. "Gut, widmen wir uns unseren Pflichten, damit das Vergnügen sich anschließen kann. Ich werde mich in mein Zimmer begeben, um mich meinen Hausaufgaben zu stellen." Cornelius nickte artig, wandte sich dem Frühstücksgeschirr zu. Er grinste in sich hinein, als er registrierte, wie widerstrebend Junias die Wohnküche Richtung Tür zur Stiege verließ. Einfach süß! jßM- Linus nahm Silvain an der Hand, um zur Bäckereifiliale zu marschieren. Sarkastisch ging ihm durch den Kopf, dass es viele Vorteile hatte, minimalistisch zu leben, wenn auch nicht ganz freiwillig. Haushaltsarbeiten reduzierten sich doch erheblich, wenn wenig zu "unterhalten" war. Trotz des kalten Wetters mit Resten von Wasserfahnen in der Luft lächelte Silvain zu ihm hoch. "Willst du hier warten? Du könntest unsere 'Stammplätze' freihalten." Schlug Linus vor, der sich mit der freien Hand maskierte und beschlagene Brillengläser schon ahnte. "Das tue ich gern, doch wird es dir nicht zu viel?" Erkundigte sich Silvain höflich, zupfte und rupfte an den Bändern seiner Maske herum. Die wickelten sich widerspenstig um die Bügel. Der Stoff geriet unter die Flügelträger auf dem Nasenrücken. "Sehr aufmerksam, mein Lieber. Ich werde dich beanspruchen, wenn der Fall eintritt." Versicherte Linus gravitätisch, die Friesen-blauen Augen jedoch herausfordernd funkelnd. Silvain kicherte, nahm den zuvor einarmigen Ringkampf mit beiden Händen auf. Er wusste durchaus selbst, dass seine Ungeschicklichkeit hin und wieder die Lage nicht gerade verbesserte. Gleichzeitig jedoch spürte er, dass Linus darob keine Abneigung oder Verärgerung entwickelte, selbst wenn es sich nicht um eine lästige Begleiterscheinung der Pubertät handelt sollte, die sich irgendwann "auswuchs". Artig nahm er deshalb in dem schlichten Plastikstuhl vor dem Gebäude Platz. Das Wetter lud nicht zu Außenaufenthalten ein. "Heizpilze" waren verpönt. Dafür hatte eine virale Kampagne gesorgt, die die Befürwortung als "klimaschädigende Waschlappen-Einstellung" titulierte. Schließlich konnte man sich ja wohl schlicht wärmer anziehen! Linus besorgte unterdessen die Füllung für ihre beiden Thermosflaschen und zwei Porzellanteller mit belegten Brötchen sowie je ein Schoko-Croissant. Dazu kam auf das Tablett noch je ein großer Becher mit Kaffee. Hier beteiligte man sich am kommunalen Programm zur Abfallvermeidung und einem Pfandsystem für Nachfüllbecher. Die Thermosflaschen bereits im Rucksack verstaut balancierte er das Tablett nach draußen. Silvain sprang hoch, versetzte dabei den Tisch ins Trudeln. "Oh, warte.. ach herrje!" Linus lächelte liebevoll unter seiner Maske. Altmodisch höflich erhob sich Silvain häufig, wenn jemand hinzutrat, nicht nur bei mutmaßlichen Damen. Seine Aufmerksamkeit, mochte sie auch hin und wieder kleinere Turbulenzen auslösen, rührte ihn an. "Nur die Ruhe, auch wenn du bestimmt furchtbar ausgehungert bist." Neckte er Silvain, um dessen merkliche Bestürzung über das missglückte Manöver zu parieren. "Entschuldigung, ich bin doch wirklich mit der Schnürsenkelschleife...! Sieht man mir etwa an, dass ich Appetit habe?!" Erkundigte der sich erschrocken, die Brillengläser dezent beschlagen, die Stoffmaske endlich bezwungen. Linus, der das Tablett unfallfrei abgestellt hatte und eine Hand sichernd an der Tischkante ließ, lachte. "Diese metaphysischen Schwingungen haben dich verraten." Silvain, mit der Stoffmaske hadernd, die beim Verzehr nun doch hinderlich war, prustete leise. "Oh, da bin ich beruhigt! Es war mir nämlich doch ein wenig unangenehm, dass mein Magen knurrt." Gestand er mit einem schiefen Grinsen. "Da ist es wohl höchste Zeit für Nachschub!" Erklärte Linus diktatorisch, fasste über den Tisch, half bei der vollständigen Demontage der Maske. "Danke schön! Meinst du, ich sollte besser so eine Art Schlauch nutzen? Mir gelingt es leider kaum, mich nicht absurd zu verheddern." Seufzte Silvain, hob seinen Becher brav für einen Toast an. "Guten Appetit." Wünschte Linus, mit seinem Kaffeebecher dessen Pendant vorsichtig touchierend. Sie schnupperten unisono das Aroma, bliesen über die Oberfläche, nippten und ächzten genüsslich. Linus, der eine Einschätzung schuldig geblieben war, strich sanft mit den Fingerkuppen über Silvains magere Wange. "Lass uns das später erproben, hm? Mir scheint, diese Maske hier könnte optimiert werden. Die von gestern Abend hat doch gut gesessen, nicht wahr?" Silvain, der nur einen kleinen Bissen genommen hatte, um antworten zu können, nickte. "Stimmt! Reichlich bequem von mir, nicht zuerst über Modifikationen nachzudenken." Tadelte er sich selbst, fest entschlossen, Linus' sparsamer Lebensführung zumindest im Rahmen der eigenen Möglichkeiten nachzueifern. Der grimmige, furchteinflößende Wikinger lächelte ihm zärtlich zu. "Daran ist nur der Hunger schuld, zweifellos. Wenn deine grauen Zellen ausreichend Energie erhalten haben, werden sie das Problem unerschrocken lösen." Schmunzelnd mümmelte Silvain an seinem Brötchen. Linus verteidigte ihn auf so liebenswürdig-unerbittliche Weise trotz erwiesener Unzulänglichkeiten, dass ihm ganz warm wurde. "Ich bin sehr froh und dankbar, dass wir zusammen sind." Flüsterte er mit geröteten Wangen, die Augen unverwandt auf Linus gerichtet. Der lächelte und antwortete mit seiner tiefen, rauen Stimme. "Das bin ich auch, Silvain." Er hob seinen Becher an. "Mögen auf das erste Jahr noch viele weitere folgen." Unfallfrei erwiderte Silvain den Toast, nippte. Dass ihm die Augen beschlugen, konnte man auch auf den kondensierenden Dampf zurückführen. jßM- Mit wachsendem Argwohn verfolgte Raimund das Treiben an der Frühstückstafel. Gewohnt selbstbewusst bis selbstherrlich orchestrierte Tiberius die Versorgung, mit allen persönlichen Vorlieben ärgerlicherweise vertraut. Während Oktavian Martellus, kurz Oki genannt, mit amüsiertem Lächeln die Aufmerksamkeiten quittierte, schenkten die Eltern dieser Lenkung gar keinen Gedanken mehr. Man war es einfach gewöhnt. Raimund hätte sich auch nicht über Gebühr irritiert gefühlt. Immerhin kannte er diesen notorischen Ordnungs-Fanatiker ja! Aber sein Misstrauen drängelte sich nach vorn. Wieso saß man hier beim Frühstück, kaute gemütlich, plauderte (oder gestikulierte) und der große Diktator posaunte keinen Feldzug aus?! Umtriebig, wie man Tiberius kannte, immer "Ungleichgewichte" in seinem Alltag im Blick, konnte so eine trügerische IDYLLE bloß das Schlimmste ahnen lassen! Deshalb überwand Raimund seine gewöhnlich sehr vorzeigbaren Manieren, brach mit der Höflichkeit als Gast. "Was geht hier vor?! Wieso treibst du uns nicht schon zur Tür raus, zu eurer Schule?! Hast du irgendwas ausgeheckt?! Verzeihung, ich meine abgesehen von den üblichen Welt-Rettungsattacken auf eine hoffnungslos unterorganisierte Gesellschaftslage?" Ätzte er geradezu kriegerisch in der Küche, wo Tiberius das angelieferte Geschirr spülte. Bella, die den Tonfall identifizierte, drückte besorgt ihren Kopf in Raimunds Rechte, verlangte, gestreichelt zu werden. Tiberius lupfte spöttisch eine Augenbraue. "Oh, hätte ich geahnt, dass du häuslichen Frieden und etwas Muße für derart unerträglich dekadent hältst..." "Unsinn!" Bellte Raimund mühsam gedämpft, schon an Empörung durch Bella gehindert. Leider war er sehr empfänglich für ihren beruhigenden Einfluss. "Halte mich nicht zum Narren, Tibo! Du hast mich gestern herbestellt, um wieder Fronarbeiten zu leisten, gleich nach dem Aufstehen quasi, sonst hätte ich wohl kaum hier übernachten müssen." Ohne das Geschirr zu vernachlässigen studierte Tiberius ihn aufreizend gründlich. Was Raimund die Zornesröte in die Wangen trieb. Wenn er noch morgendliche Energie zur Verfügung hatte, gelang es Tiberius nicht so einfach, ihn zu überrennen und zu Konzessionen anzuhalten! Hielt er sich selbst zumindest streng vor, um der eigenen Selbsterhaltung und Würde Willen. "Ach du Güte, JETZT begreife ich! Du wirst mir verzeihen, dass ich nicht ahnte...! Natürlich, eine schlichte Übernachtung ohne vorher intim..." Raimund, friedliebend, zurückhaltend, verständig, explodierte und ballerte seine linke Faust in Tiberius' Oberarm! Was jedoch, bedachte man seine sehr schlanke, schmale Gestalt, keine besondere Wirkung entfalten konnte. "Du bist so unerträglich!" Fauchte er, verabscheute das Zittern in seiner Stimme. Tiberius, inzwischen das gereinigte Geschirr abtrocknend, während der Wasserkocher aufbrodelte, um gleich zwei Thermosflaschen bedienen zu können, schmunzelte. "Du machst es mir ein wenig zu leicht, Rai." Neckte er. Diese Provokationen nahmen ja schon Anlauf! Üblicherweise hätte Raimund zweifellos bei jedem anderen davon Abstand genommen, sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Unseliger Weise gelang ihm das bei Tiberius aber nicht! "Ah, Augenblick bitte." Eine aufgebrachte Widerrede ausbremsend verteilte Tiberius das kochende Wasser, versenkte Teebeutel, bevor er die Deckel schräg auflegte. Unterdessen erwog Raimund ergrimmt, nach Hause zu gehen. Was ihn wetterwendisch und unzuverlässig wirken lassen würde, launenhaft und ungezogen. Definitiv indiskutabel. Dennoch...! Tiberius wandte sich zu ihm herum, nun ganz Aufmerksamkeit. »Wenn er es WAGT, mich süffisant anzugrinsen, dann...!« Schäumte Raimund innerlich, während sein Stolz vor Scham aufheulte. "Wir gehen heute Nachmittag in der zweiten Schicht zum Fest." Erklärte Tiberius sachlich, ein dezentes Kringeln in den Mundwinkeln. "Auch wenn es kaum vorstellbar ist, habe ich mich dennoch überwunden, die Organisation der ersten Schicht einer anderen Person zu überlassen. Für ganz so perfekt und unverzichtbar, wie du mich einschätzt, halte ich mich nämlich nicht." "Aber nein, das TUE ich keineswegs! Allerdings walzt du wie ein Bulldozer heran, übernimmst grundsätzlich IMMER die Regie! Man stelle sich nur vor, es könne etwas misslingen, wenn DU nicht die Kontrolle und Aufsicht führst!" Schimpfte Raimund sehr ungezogen. Tiberius nickte gravitätisch. "Ja, ganz recht, ein unerträglicher Gedanke. Mich tröstet jedoch, dass sich auf diese Weise auch Optimierungspotential entdecken lässt." Raimund entwich ein unkontrolliertes Fauchen. In diesem Augenblick streckte Oktavian den Kopf zur Tür hinein. Er erkannte mühelos eine recht einseitige Auseinandersetzung und Bellas Verwirrung. Raimund, der die Gebärdensprache kaum rudimentär beherrschte, verstand die raschen Gesten nicht. Tiberius jedoch lachte auf und antwortete ebenso flink. "Wie bitte?" Erkundigte sich Raimund giftig, in der zutreffenden Annahme, dass er auch Gesprächsgegenstand gewesen war, während Bella ihre Friedensmission aussetzte und Oktavian folgte. "Ich soll es mit dem Necken nicht übertreiben, auch wenn ich dich sehr liebe." Dolmetschte Tiberius ungeniert, auf eine Volksweisheit referierend. Seine hellen Augen fokussierten sich ganz auf Raimund, der ihn aufgebracht anfunkelte. "Ich KANN anderen das Feld überlassen, Rai, selbst bei Angelegenheiten, die mir sehr am Herzen liegen. So viel Vertrauen habe ich in andere und meine Fähigkeiten. Mir liegt viel daran, dass du auch Zeit mit meiner Familie verbringst, selbst wenn ich mich dabei beherrschen muss." Er zwinkerte, blieb jedoch sachlich und ruhig. "Es ist nicht so, als wollte ich dich fortwährend zu irgendeiner Tätigkeit anhalten. Leider drängt sich mein hormoneller Überschwang jedoch unverschämt vor, wenn wir einfach nur zu zweit Zeit haben." Raimund presste die Lippen zusammen, verwünschte die verlegene Röte in seinem Gesicht. "Also sieht meine Vorstellung für heute vor, dass wir nach einem friedlichen Frühstück mit Bella und Oki losziehen. Es gibt da einen kleinen Grünabschnitt, ziemlich verwildert, den wir mit einigen anderen säubern und herrichten wollen, an der frischen Luft, mit Abstand, Müllsäcken der Stadt und einigen geliehenen Gerätschaften. Kein Herumhetzen, kein dir verhasstes Einkaufen, kein Marathon durch die Landschaft." Völlig ohne Wind in den Segeln, ausgekontert und beschämt, schnaubte Raimund hilflos im Rückzugsgefecht. Tiberius lächelte, ohne die häufig ironisch-satirische Note, seinen gemeingefährlichen Scharfsinn und die überfallartige Beherrschung jeder Situation. "Du hättest das gestern schon erwähnen können!" Grummelte Raimund, rang mit sich, eine Entschuldigung anschließen zu lassen. Nun grinste Tiberius wieder herausfordernd wie stets. "Selbstverständlich, aber das hätte ja die Überraschung verdorben." Bevor Raimund aufbrausend auf die unerträgliche Neigung hinweisen konnte, ihn zu provozieren, zog Tiberius ihn an sich, küsste ihn, nicht zurückhaltend, sondern stürmisch und besitzergreifend. Merklich widerwillig gab er Raimund frei. "Ich weiß nicht, wie wir die Pubertät überstehen sollen!" Murmelte Raimund mit belegter Stimme und Pudding in den Knien. Tiberius seufzte theatralisch. "Ja, das ist wahrscheinlich dann die Ursache für Schädelkahlheit und Falten!" "Man könnte den 'Teppich' verlegen lassen." Nutzte Raimund diese rare Gelegenheit, Tiberius zu foppen, der natürlichen "Pelz" vorzuweisen hatte. "Oh nein, das lehne ich für mich ab!" Schüttelte Tiberius kategorisch den Kopf, der nicht sonderlich viel von Nadeln in seiner Figur ohne medizinische Notwendigkeit hielt. Raimund gluckste. "Das sagst du jetzt, doch ich frage mich, ob deine persönliche Eitelkeit..." "Oh, nun wirst du grausam!" Beklagte sich Tiberius, grinste jedoch. Er achtete durchaus auf einen klassisch-eleganten Auftritt. "Mich wird ein Lorbeerkranz ums kahle Haupt durchaus schmücken." Präsentierte sein sehr attraktives Profil, das antike Büsten in den Schatten stellen konnte. Nun lachte Raimund frei heraus. Sich Tiberius mit einem Streifen Küchenkräuter um die "Billardkugel" vorzustellen, das konnte man nicht mit vornehmer Zurückhaltung vereinbaren! Tiberius schmunzelte, kaperte Raimunds Rechte. "Übrigens vergaß ich ganz, dich zu fragen: wie hältst du es mit dem Nachschnitt bei Rosen, mein botanisch interessierter Gefährte?" Raimund warf Tiberius einen entgeisterten, ins Entsetzen mündenden Blick zu, bevor er ihm empört auseinandersetzte, welche Glaubenskriege diesbezüglich ausgetragen wurden und dass er NOCH NIE eine Rosenschere angesetzt hatte! Erwartungsgemäß würde sich dieser Zustand in Kürze ändern. jßM- Es fühlte sich schon seltsam an, vor die Tür zu treten und nicht aufs Longboard zu steigen. Charlie richtete den alten Bowler, der mit ihrer Skibrille in ein Steampunk-Accessoire verwandelt worden war. Das Longboard schied aus, weil es im Kostüm nicht gut genutzt werden konnte, leider. Aber echte Kumpels nahmen solche Kleinigkeiten mit Würde hin und ätzten nicht herum! Als offizielle Begleitung mit exklusiver Einladung hatte sie sich auch aufgebrezelt: über den schwarzen Turnschuhen trug sie eine weinrote Cordhose mit aufgesetzten Galonstreifen aus Textilband, Totenköpfe selbstredend. Der moosgrüne Troyer hatte einen Waschgang offenbar in der falschen Temperatur zurückgelegt, denn die aus Naturfasern und Wolle bestehenden Materialien gehörten ehemals einer ganz anderen Konfektionsgröße an. Das Ergebnis des fatalen Fehlers ähnelte einem puscheligen Moosball, was wirklich nicht allen gut zur Figur stand. Ihren traditionell gelben Ostfriesennerz trug sie offen, darüber eine Umhängetasche statt des gewohnten Rucksacks. Aber nicht so ein lächerliches, tussiges Ding, das Influenza-Grinsefressen-Verhökerer jedweder Couleur in den Asozialen Medien in die Kameras hielten! Nein, eine alte Promo-Umhängetasche, die von kundiger Hand kreativ neu bezogen worden war, um ihr ein weiteres Leben zu verleihen, indem das Konterfei eines feist grinsenden Totenkopfs mit Bowler, Monokel und Zigarette an einem langen Mundstück zu sehen war. Zugegeben, nicht gerade das, was Grundschulkinder zu tragen pflegten, aber Charlie hegte ANSICHTEN. Erstens war es ihr scheißegal, was irgendwelche Gehirneunuchen meinten, wie sie zu sein habe. Zweitens sollten sich alle erst mal an den eigenen Zinken fassen. Drittens diskutierte sie nicht mit Idioten, so viel Zeit hatte ja niemand zu verschwenden. Außerdem nahm sie selbst in die Hand, was sie für wichtig und richtig hielt. Frustration konnte einen nämlich ankotzen, und Lebensmittelverschwendung in diesen Zeiten grenzte an Hochverrat! Sie strich sich die zwei langen, streng eingeflochtenen Strähnen aus dem Weg, justierte ihre diabolische Ninja-Maske, mittelbar die Eintrittkarte fürs Fest, marschierte entschlossen los zum Treffpunkt. Ihr bereitete es nicht die geringsten Sorgen, dass ihre Kumpels alle älter waren, wieso auch? Mit den Kroppzeuch in ihrer Stufe konnte sie nichts anfangen, die waren total vernagelt und verblödet. Technisch gesehen zählte sie zu den Mädchen, aber das bezog sich auf die Biologie in der äußeren Erscheinung. Absolut KEIN Mädchen wollte sie sein, wenn es um lächerliche Verhaltensregeln und Klamotten ging. Alles Mumpitz! Über die Sticheleien hörte sie hinweg, aber die dämlichen Jungs, die dann meinten, sie lektionieren zu müssen... Hin und wieder konnte ein älterer, blöder Bruder mit Tussi-Fan-Fimmel auch nützlich sein, wenn er unangefochten die Nummer eins im Tor des Hockeyteams stellte. Charlie setzte auf Selbstverteidigung. Wer sie anging, musste damit rechnen, dass im alttestamentarischen Ausmaß gekontert wurde! Von anderen "Botschaften" hielt sie wenig, denn wo kein Hirn, da auch keine Einsicht! Also vollkommen verständlich, dass sie ihre Freizeit nur mit Kumpels verbrachte, deren graue Masse nicht nur im Schädel feststeckte, um Untervermietung an Spatzen zu verhindern. Wikinger-Linus zum Beispiel war ein Premium-Kumpel, und an die Leseratte hatte sie sich auch widerwillig gewöhnt. SO nervig war der gar nicht und bei den Ober-tussigen Kotz-Würg-Spuck-Brech-Schwestern hatte der arme Kerl Karma-Pluspunkte in Potenz verdient! Zudem, das gab Charlie vor sich selbst zu, ging es Linus besser, wenn Silvain bei ihm war. Als Kumpel musste man das anerkennen. Ärgerlicherweise hatte Hulk auch einen Freund, den fast-falschen, nur halben Chinesen, der kein Jackie-Chan-Powerman war. Einerseits. Andererseits bewies Paul Pao-Ye ein gerüttelt Maß an Zynismus und schwarzem Humor, zögerte auch keine Sekunde, Hulk beizuspringen, wenn der mal wieder allzu friedfertig, langmütig, geduldig war. Und Paul unterstützte ihren Stil! Was kaum vorkam. Zugegeben, von Hulk, Linus und Silvain würde nie Kritik kommen, weil die sie einfach nahmen, wie sie war. Deshalb zählte es, wenn einer, der keinen Grund hatte, sie zu mögen, ihre Selbsteinschätzung bekräftigte, dass man die Schnauze gestrichen voll haben konnte, wenn Umstände einfach nicht passten. Zum Beispiel ihre Haare mit einer blöden Pagenfrisur, die nie ohne Spange funktionierte, damit sie nach vorne was sah, weil ihr Haaransatz für einen Pony zu tief saß, sonst hätte man... Charlie konnte es schon nicht ausstehen, wenn man ihr in die Haare langte, Friseuse hin oder her! Wegen der ollen Pandemie hingen ihre schwarzen, sehr dichten, wie Draht widerspenstigen Zotteln schon viel zu lang um ihr Gesicht! So hatte sie in einem Anfall von Frustration Fakten geschaffen, weil es schließlich ihr eigenes Leben war! Sie hatte sich frühmorgens im Bad eingeschlossen, den "Pudeltrimmer" in Betrieb genommen. Den nutzte ihr Vater ständig, der die gleichen Haare vorweisen konnte, nur noch sehr viele Wirbel, was ihn wie den Träger eines zerwühlten Krähennests aussehen ließ. Deshalb wurde kurzer Prozess gemacht, auch, weil er den öligen Fatzke nicht verknusen konnte, der den Figaro in der Nähe seines Büros vorstellte. Gleichmäßiger Hochflor, kein Gezeter, kein lästiger Klatsch und kein affiges Gehabe! Eben! Entschied Charlie, trennte zwei kräftige Strähnen ab, flocht sie ein. Der komplette Rest wurde vom Schädel gesäbelt und geschoren. Viel besser! Die beiden Zöpfe konnte sie hängen lassen oder wie Antennen auf dem Kopf zusammenbinden. Sah auch nicht wie diese komischen Pseudo-Sumo-Frisuren aus, für die man besser scharfe, kantige Gesichtszüge haben sollte, sonst wirkte man wie Humpty Dumpty! Paul, der als Vermittler zu Hulk diente, was in Lockdown-Zeiten bei Bildnachrichten erforderlich wurde, lobte sie ausdrücklich. Er selbst, der den Edel-Punk-Stil verfolgte, sich extravagant-individuell kleidete, konnte als Koryphäe gelten. Natürlich reagierte ihre Mutter schockiert. Ihr Deppenbruder Yann krakeelte auch herum, aber das juckte sie gar nicht. Das Leben war einfach zu kurz, um nicht sie selbst zu sein und niemand sonst! jßM- "Oh!" Stellte Silvain fest, gerade im Begriff verschiedene Schichten im Zwiebellook anzulegen, um unter seinem Schutzengelkostüm nicht zu frieren. Er angelte sein Mobiltelefon heran, schob die vagabundierende Brille auf dem Nasenrücken hoch. "Oje." Linus, der mit seiner Aufmachung als untoter, keltischer Legionär weniger Mühe hatte, blickte ihn prüfend aus Friesen-blauen Augen an. "Wir sollen versuchen, eine Viertelstunde früher zu kommen. Die Polizei will mit einer Hundestaffel den Berg absichern, weil es Ankündigungen gibt, die Burg zu stürmen und für richtigen Horror zu sorgen." Wisperte Silvain erschrocken. Linus schnaubte grimmig. "Tja, die Welt ist bevölkert mit Idioten, die sich selbst nicht ertragen und deshalb andere belästigen. Nimm deinen Personalausweis mit, in Ordnung? Ich packe lieber etwas mehr Proviant ein, falls wir aufgehalten werden sollten." Er streckte den Arm aus, streichelte sanft über Silvains magere Wange. "Es wird schon gutgehen." Trotzdem präparierte er noch einen kleinen Flakon mit einer konzentrierten Mischung aus zerstoßenen Pfefferkörnern und Essig, damit Silvain angriffslustige Strolche in Schach halten konnte, bis er ihn erreichte und sie lehrte, welche Fertigkeiten Feldhockey und Katerkämpfe ums Revier einem abverlangten! jßM- Luzie zwinkerte Cornelius und Junias zu, bevor sie sich ebenfalls in das improvisierte Zelt begab, um eine Gute-Nacht-Geschichte vorzutragen, begleitet von einer Sturmlaterne, deren zerbrochene Glaseinsätze sie kunstfertig ersetzt hatte, sodass ein farbenprächtiges Kaleidoskop das Gästezimmer erhellte. Derart demissiert stiegen sie die Treppe hinab, überprüften, ob es noch etwas zu erledigen galt. In der Feuerschale glimmten Kohlestücke aus, die Laternen brannten noch so lange, wie die Kerzen vorhielten. Geschirr und Kissen waren hereingeräumt. Nur Henk machte es sich noch im Rahmen seines Korsetts bequem, lauschte in die Nacht. "Kein Regen, aber Nebelschwaden." Prognostizierte er. Das Familien-Halloween-Fest war ein voller Erfolg gewesen, gleich vier Tänze-auf-der-Stelle mit sehr viel Huihuihuihui. Alle Pakete hatten sie abgeliefert, Nachbarschaft und Freundeskreis aufgemuntert, artig mit Maske und Distanz. Zudem beschloss der erweiterte Familienrat, die Kürbisse und Rüben als Futterstationen zu nutzen, bis sie gänzlich zerfallen waren. Vögel und Eichhörnchen würden sich nicht an der äußeren Erscheinung stören! Cornelius nahm einen Kürbis mit, stieg ins Baumhaus. Junias folgte ihm, rutschte neben ihn auf ein Sisalkissen. "Das hat wunderbar funktioniert." Stellte Cornelius leise fest, zufrieden und auch glücklich. Ein Fest in der Familie ohne Geschrei, ohne Streit, ohne Angst. Ruru strahlte aus jedem Knopfloch, in den letzten Monaten so sehr aufgeblüht, dass Cornelius nicht mehr zweifelte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. "Allerdings fand ich die Kürbiscreme nicht schlotzig genug." Kritisierte Junias sich selbst, an Cornelius' Schulter lehnend. Der lachte unterdrückt, was eine gewisse Empörung ob dieses Mangels an Empathie auslöste. "Ich weiß nicht, was dich daran amüsiert! Sie sollte NICHT vom Löffel tropfen! Ich kann nur vermuten, dass ich mehr Maisstärke hätte zusetzen müssen!" Junias' Leidenschaft nahm Anzeichen von Fehlschlägen sehr ernst! Cornelius, dem die Konsistenz nicht ganz so dramatisch misslungen erschien, vor allem, weil der Geschmack äußerst delikat gewesen war, verkürzte Elegien geübt, lupfte mit einer Hand Junias' Kinn leicht, küsste ihn ausführlich. "Es war ein schöner Tag." Stellte er abschließend fest, zwinkerte im Schein der feixenden Kürbis-Laterne. Junias verzog keine Miene, nur die Arme, die sich auf Cornelius' breite Schultern legten, verrieten den sich abzeichnenden Dämpfer. "Soll ich das etwa so verstehen, dass du auf einen Nachschlag zur Nacht verzichten willst?" Erkundigte er sich mit spöttischer Stimme. "Nein, Junias. Tatsächlich erwäge ich einen Appetizer genau hier." "Es ist kalt und wir sind quasi draußen." Gab Junias zu Protokoll. Nicht nur, um dem Anstand zu genügen, auch, weil ein Teil seiner Selbst dies höchst unvernünftig und irrational empfand. Der andere Teil jedoch, bereits benommen von Cornelius' allzu verführerischem Körpergeruch, rutschte schon auf dessen Schoß, leckte ihm auffordernd die Lippen. Cornelius grinste unverhohlen, auf diesen ungezügelten, wilden, menschlichen, hinreißenden Part hoffend. Weil er sich entschlossen hatte, ab diesem Augenblick für den Rest der Nacht nur noch Liebhaber und Genießer sein zu wollen! jßM- "Verdammt." Stellte Charlie grimmig fest, tippte auf einen anderen Eintrag, kürzte jeden Einwurf sofort ab. "Klappe, Yann, ich brauche sofort Hilfe. Wir sind am alten Busbahnhof und zwei Typen hinter uns her. Beim Notruf komm ich nicht durch." Ärgerlich lauschte sie aus zivilen Gründen etwa 15 Sekunden, fuhr zischend auf. "Das ist kein Scherz, klar?! Ich brauche hier Hilfe, verdammt!" Zornig funkelte sie das Display an, lupfte kurz den Kopf. "In Deckung bleiben, toll!" Knurrte sie grimmig, packte die Umhängetasche am Träger, wandte sich herum. Nein, die Situation hatte sich keineswegs verbessert, aber sie würde den Teufel tun und allein abhauen! Deshalb stellte sie sich auch in den Weg, zum Kampf bereit, nur für eine Sekunde ihr Longboard als Schlagwaffe herbeiwünschend. "Verpiss dich, Missgeburt." "Guck in den Spiegel, Arschgesicht!" Antwortete Charlie auf das floskelhafte Geplänkel. Allerdings war sie einem kräftigen Mann nicht gewachsen, der sie trotz Tasche als Morgenstern und schneller Reaktion zu fassen bekam, brutal wegschleuderte, sodass ihr Bowler flog und nur Hulks Abrollübungen verhinderten, dass sie sich ernsthaft verletzte, als sie über das Pflaster flog und mit einer Mauer kollidierte. "Na, kleine Asia-Schlampe, jetzt haben wir Spaß..." Allerdings nicht, wenn die Kapuze hielt, was der Schnitt versprach. Ruckartig bewegte sich der Kapuzenpulli-Träger in die entgegengesetzte Richtung, fremdbeschleunigt, so rasch, dass die Füße den sicheren Tritt verloren, der Erdmittelpunkt unvermittelt näher kam und die Landung rücklings gegen die alte Litfaßsäule erfolgte. "Ich möchte wirklich nicht..." "Scheißer..." Charlie rappelte sich auf, die Tasche im Griff, den geliebten Bowlerhut für den Augenblick im Stich lassend. Verdeckt durch den Handwerks-Van konnte sie nicht erkennen, was vor sich ging, aber Kneifen galt nicht! Sie schoss, die Zähne zusammenbeißend, um die Schmerzen zu kompensieren, um die Chassis herum, bemerkte, wie der Kerl, der sie angegriffen hatte, zusammenklappte. Sauberer Schwinger in den Solarplexus, dann einen Hammer wie auf einen Amboss direkt zwischen die Schulterblätter! Charlie atmete erleichtert auf. "Das Mammut!" jßM- Kapitel 6 Der alte Busbahnhof war erstaunlich frequentiert, bedachte man, dass diese Funktion längst verlagert worden war, man das Gelände nur noch als Parkplatz nutzte, Park-and-ride. Wenn nicht gerade eine Pandemie es angelegentlich zeigte, zu Hause zu arbeiten. Oder das Wochenende anstand, mit stark eingeschränkten Möglichkeiten persönlichen Amüsements. Außerdem hielten keine Züge mehr an der Station, nicht nach 21 Uhr. Sonst wurde hier nichts geboten, sah man von einem großen, Schlagloch übersäten Platz inmitten sternförmig zulaufender Straßen ab, der eine Abkürzung darstellen konnte. Nun erteilte sichtlich enerviert in aufsteigenden Dunstschwaden ein jüngerer Streifenpolizist Platzverweise, scheuchte Gaffende unter Hinweis auf seine Bodycam, die nicht nur Akkuleistung vorwies, sondern alle aufzeichnete, die hier nichts zu suchen hatten und die Arbeit behinderten. Wer blöd genug war, hier filmen zu wollen, konnte das Gerät gleich abliefern! Sein älterer Kollege stand neben dem ersten Krankenwagen, sondierte gleichmütig die Diagnosen, hielt Kontakt mit der Zentrale. Ebenso der Polizist, der von Charlie Aufklärung erhoffte. Die sie lieferte, knapp und keineswegs geduldig. "Ja, das ist mein Name und die Adresse. Ach, da kommen auch meine Eltern, die sollten Sie vielleicht durchlassen." Sie winkte knapp mit ihrem geborgenen Bowler. Eltern bedeuteten dem Streifenpolizist in der Regel weitere Komplikationen, doch mit zwei Wagen und vier Personen musste man sich zufrieden geben. "Ich erzähl es ein Mal für alle, dann muss ich's nicht noch mal sagen." Charlie bremste energisch elterliche Sorgen, Vorhaltungen und Empörung aus. "Ja, ja, mir geht's gut, dank dem Mammut, aber Lalako ist schlimm dran. Jetzt aufgemerkt, ja?! Also, wir waren eingeladen auf dem Fest bei der integrativen Privatschule. Von da sind wir kurz vor Neun los, hatten noch ein bisschen beim Aufräumen geholfen. Etwa fünf Minuten später, an der Kreuzung vor dem Supermarkt, haben uns die beiden Typen da angequatscht. 'Kein Interesse' und 'nein' juckte die gar nicht, also habe ich dem Drecksack, der dort auf der Fresse liegt, meine Tasche in die Kronjuwelen gezimmert und wir sind stiften gegangen. Wegen des Kostüms ging es aber nicht so schnell. Lalako konnte nicht weiter, als wir hier waren. Ich hab den Notruf gewählt, aber ich kam nicht durch, also hab ich Yann angerufen. Oh, richtig, das ist mein älterer Bruder. Ich hab ihm gesagt, dass wir hier in der Klemme stecken und Hilfe brauchen. Da hatten uns die beiden Mistkerle schon entdeckt, obwohl wir hinter dem Van in Deckung gegangen sind. Der da hat mich übers Pflaster gegen die Mauer geschmissen. Der Sack mit der Kapuze wollte direkt auf Lalako los, aber dann ist das Mammut gekommen und hat ihn gebremst. Nur fiel der Idiot über die eigenen Füße, da konnte das Mammut gar nichts für. Als er mit dem anderen reden wollte, ist der gleich auf ihn los, und ehrlich, das war pure Selbstverteidigung und TOTAL verdient!" Das merkliche Entsetzen ihrer Eltern registrierend schnaubte Charlie. "Der da hat gesagt: 'na, kleine Asia-Schlampe, jetzt haben wir Spaß'. Da brauch ich keine Phantasie, was die vorhatten." Weil das Mammut gebückt auf einem Mäuerchen hockte, um mit der jungen Streifenpolizistin auf Augenhöhe zu sein, rief sie energisch herüber. "Das war klare Notwehr!" Selbst im unkleidsamen Licht der Straßenbeleuchtung, durch Dunstschwaden gebrochen, wirkte das Mammut über der Maske hinter der Brille recht käsig und knetete unablässig die großen Hände. Unterdessen mühte sich die Besatzung des zweiten Rettungswagens um die kauernde Gestalt. Das Zittern nahm nicht ab, der Blick ging ins Leere. Nur die vorgeschnallte Sauerstoffmaske half ein wenig, das Hyperventilieren in Schach zu halten. "Weiß jemand, ob sie was genommen hat?" Alarmiert wandte sich Charlie ab. Das Protokoll schien ihr ausreichend erledigt. "He, Moment mal, ja?! Wir haben nichts getrunken und uns auch nichts reingepfiffen!" Stellte sie empört fest, ging eilig neben Lalako in die Hocke. "Ich leih mir kurz deine Tasche, okay?" Teilte Charlie mit ungewohnt sanfter Stimme mit, legte eine Hand auf die eleganten, völlig verkrampften Hände auf dem Schoß. Sie justierte den Riemen so, dass sie den Reißverschluss aufziehen, eine kleine, verschraubte Kapsel herausfischen konnte. "Kriegst sie gleich wieder." Versprach Charlie, erhob sich, reichte sie an die Rettungsärztin weiter. "Wir sind Board-Kumpels." Erklärte sie, warum eine "Notfall-Kapsel" vorhanden war. "Was ist mit den Eltern?" Erkundigte sich der Streifenpolizist, nahm den Windschatten von Charlies Eltern als unvermeidlich hin. Wenigstens waren alle vorbildlich maskiert. "Ich kann Ihnen die Adresse geben, aber da ist keiner daheim. Der Vater ist Innenarchitekt und für einen wichtigen Auftrag in einem.. wie heißt ein anderes Wort für Brutkasten?!" Man starrte sie verwirrt an. Charlie schnaubte. "Meinst du Inkubator?" Meldete sich das Mammut mit tiefem Bass sehr schüchtern. "Genau! Inkubator! So'n neumodischer Begriff für'n Arbeits-Camp." Die Rettungsärztin, vom Cockpit zurückkehrend, übereignete die verschlossene Notfall-Kapsel wieder. "Ist das schon mal vorgekommen?" Charlie schüttelte energisch den Kopf, ging neben Lalako in die Hocke, füllte die Umhängetasche wieder. "Aber wir kennen uns erst seit dem Frühjahr." Schränkte sie widerwillig ein. "Können Sie ihr nicht was geben? Damit sie ansprechbar ist?" Erkundigte sich der Streifenpolizist nervös. Hinter ihm erhob sich das Mammut, was allgemein Unruhe auslöste. Das Mammut streifte sich den Parka ab, näherte sich vorsichtig, warf einen gewaltigen Schatten, legte das riesige Stoffzelt um die zitternde Gestalt. "Es könnte auch die Kälte sein." Entschuldigte er sich mit leisem Bass. "Also, wenn wir dann fertig sind...?!" Charlies Mutter drängte zum Aufbruch. "Ich geh nicht ohne Lalako!" Ließ Charlie kategorisch verlauten. "Charlotte, du musst einsehen, dass deine Freundin...!" "Ich lass meine Kumpel nicht im Stich." Grübelnd ging Charlie wieder in die Hocke, studierte Lalakos leeren Blick. Wahrscheinlich ein verzögerter Schock, davon hatte sie schon mal gehört. Bei hysterischen Anfällen halfen Ohrfeigen, aber das hielt sie gerade für nicht angemessen. Irgendwie müsste man aber diesen Bann durchbrechen! "Ich hab's!" Verkündete sie, ignorierte den Abtransport der zwei Angreifer in einem Mannschaftswagen, da man sie offenbar für transportfähig hielt und die Erwachsenen, die tuschelten, weil der Polizist mit der Rettungsärztin beriet, warum die nicht das pharmazeutische Schatzkästchen bemühte. Glücklicherweise hatte ihr Mobiltelefon noch Akkurestladung. Prompt drang eine Melodie leicht gedämpft aus der Umhängetasche. Gespannt beobachtete Charlie Lalakos Reaktion. Langsam hob sich der Kopf, die verkrampften Hände mühten sich am Reißverschluss. Charlie brach den Anruf ab, als "alle meine Entlein" das fünfte Mal im See schwammen, zog ihre Ninja-Maske herunter, bewegte sich ins Blickfeld. "He, Lalako, ich bin's, Charlie. Du hast einen kleinen Schreck bekommen, aber jetzt ist alles okay. Das Mammut hat uns geholfen." Die vertrauten, tiefschwarzen Augen richteten sich auf sie, auf die Personen hinter ihr. Charlie erkannte Panik, wenn sie sie sah, deshalb schnellte sie vor, schlang die Arme um den Nacken. "Alles ist gut, alles in Ordnung! Du kommst mit zu mir. Niemand wird dir was tun, da sorg ich für. Wir haben Glück, und deshalb ist alles okay." jßM- Die Botschaft löste keine Begeisterung aus, zumindest nicht, wenn man gerade stand. "Also, Charlotte..!" "Moment mal, wir sind hier noch nicht fertig..." "Ohne Untersuchung..." "Wir müssen die Personalien aufnehmen..." Charlie verspürte einen kaum zu unterdrückenden Drang, mal lautstark herumzubrüllen. Die Unsortiertheit mancher Leute konnte einem so was von auf den Keks gehen! "Mammut, kannst du mal eben helfen? Ich glaub, das Aufstehen wird ein bisschen wacklig." Orderte sie unbeeindruckt. "Oh, stimmt, Lalako, das ist das Mammut! Zieh mal eben den Schnauzenlatz runter, ja?" Ein Gesicht wollte man ja doch sehen, auch wenn das Mammut kaum verkannt werden konnte. Tatsächlich ging das Mammut brav in die Hocke, um nicht wie ein Gebirgsmassiv in die Gegend zu ragen, zupfte die Maske unters Kinn. "Hallo, freut mich... trotz der Umstände.." Stammelte er im Bass, richtete eilig die Maske wieder korrekt unter die durchscheinende Kunststoffbrille. "Ich mach dir mal eben das Ding hier runter." Betätigte sich Charlie, pflückte vorsichtig die Sauerstoffmaske herunter. "Nimm lieber deine Jacke wieder, die ist zu schwer." Folgte die nächste Anordnung, der das Mammut gehorchte. Er streckte, wieder in der Hocke, die Arme aus, bot seine großen Hände an. "Ich helfe dir auf. Wenn du magst." Bot er scheu an. Die eleganten Hände fühlten sich eiskalt an und verkrümmt, aber er konnte sie behutsam umschließen. Charlie hielt sich nicht mit solchen Artigkeiten auf, sondern federte vertikal, beugte sich leicht vor. "Okay, versuch hochzukommen, ja? Ich stütze dich an den Hüften." Zuerst mussten jedoch die Beine sortiert werden, die steifen Glieder zur Kooperation überredet, einen Fuß zuerst aufs Pflaster setzen... "Prima, das haben wir." Konstatierte Charlie aufgeräumt, hielt Lalako wie versprochen um die schlanke Hüfte. "Schöne Scheiße, unten ist deine Yukata total eingesaut!" Bemerkte sie verärgert. "...mir ist nicht gut..." "Alles klar, wir setzen die Segel." "Moment mal!" Echote es von mehr als einer Seite. Charlie rollte mit den Augen. "Also, ich hab doch schon gesagt, dass niemand daheim ist, klar?! Da brauchen wir hier nicht warten, wenn niemand kommt zum Abholen. Auf dem Zettel in der Kapsel stand doch alles, Name und Anschrift." Woraufhin Blicke wechselten. "Ich gebe das mal über Funk an die Zentrale..." Die Rettungsärztin trat auf sie zu, was Charlie unerwartet einen Schritt zurückbeförderte. Außerdem schwankte ihr gemeinsamer Stand plötzlich erheblich. "Stopp! Abstand halten, klar?" Sprang sie sofort in die Bresche. Zu ihrer Verblüffung wurzelte die Rettungsärztin tatsächlich an. "Ist das bei dir schon mal vorgekommen, dieser Zustand?" Es klang für Charlie ziemlich argwöhnisch. "...es...geht mir besser. Ich bin nur sehr erschöpft. Bitte...bitte nehmen Sie mich nicht mit." Verblüfft warf Charlie einen Blick hoch. Damit hatte sie nicht gerechnet. "In Ordnung. Wir rücken ab." Diese Entscheidung irritierte die verbliebene Besatzung des Streifenwagens. "Ja, aber was ist denn nun?!" "Tja, Sie haben's gehört, ein akuter Notfall liegt nicht vor. Wir sind kein Beherbergungsbetrieb." "Toll, da müssen wir jetzt das Kriseninterventionsteam..." "Lalako kommt mit zu mir, ist doch alles geklärt. Falls was sein sollte, können wir ja immer noch in die Ambulanz." Kürzte Charlie ärgerlich ab. Sie hatte doch nun wirklich jede Hürde genommen! "Moment mal, Charlotte, du hast uns nicht gesagt...!" "Herrgott nochmal, warum denn nicht?! Zur Not schlafen sie bei offenem Fenster!" Schaltete sich Charlies Vater ein, der fror wie ein Schneider und sein diplomatisches Vorgehen an seine Kinder vererbt hatte. "Charlotte kann unmöglich...!" "Ich nehme die Nummer von diesem Dienst. Dann hätten wir's. Wo liegt das Problem?!" Allerdings war Charlies Mutter durchaus erfahren im Umgang mit Brachialdiplomatie. "Wir können wohl kaum zulassen, dass sie in einem Zimmer schlafen!" "Wieso nicht?!" "Weil sie ein er ist, beispielsweise?!" Feuerte sie aufgebracht eine Breitseite ab. Charlies Vater warf einen Blick auf Lalako. "Ist mir schnurz. Mir ist kalt, er/sie/es soll nicht allein bleiben und sie sind nun mal Freunde." Damit zückte er sein Mobiltelefon. "Also, darf ich um die Nummer von diesem Krisenteam bitten, damit wir hier verschwinden können?!" jßM- "Und jetzt?" Der alte Busbahnhof verfiel wieder in das gewohnte Stillleben einer Industriebrache. Es gab ja nichts mehr zu sehen. Die Streifenpolizistin warf einen gequälten Blick auf den wahren Hünen, der sich artig wieder hingekauert hatte. Ja, die Meldedaten, die man bekommen hatte, stimmten. Und nein, die Mutter ging nicht ans Telefon. Sollten sie ihn also wirklich aufs Revier mitnehmen? Wo man schon ungeduldig fragte, wann sie mit den Zeugenaussagen durch seien, weil die Nacht leider noch recht jung war, somit noch eine Menge anderer Konfliktherde auf persönliche Aufsicht warteten. "Die Sache mit dem Obst- und Gemüseladen stimmt. Wenn da tatsächlich an der Kassensoftware herumgebastelt wird..." Natürlich hätte es auch eine Ausrede sein können. Der Bursche wirkte nicht so, als käme es ihm in den Sinn, sich kreativ herauszureden. Wer nach jedem dritten Satz nervös betonte, es sei nie seine Absicht gewesen, jemanden zu verletzen, neigte nicht zur Kraftmeierei. Auch wenn der optische Eindruck ganz gegenteilig war. Zudem hatte das mobile Riesengebirge auch noch zugegeben, dass um 21 Uhr auf Mutters Edikt hin Zapfenstreich sein musste. Weshalb es ihn recht unruhig stimmte, sich trotzdem zu Heldentaten vor die Tür begeben zu haben. Wobei Heldentaten gar nicht geplant waren. Ziemlich kleinlaut hatte man eingestanden, eigentlich die kleine Schwester und ihre Freundin eilig zur Wohnung führen zu wollen, sich dort zu verstecken, bis die Krise ausgestanden war. "Schön, machen wir Schluss hier. Nimm deine Jacke und geh direkt nach Hause, klar? Morgen schaust du mit deiner Mutter auf dem Revier vorbei, in Ordnung? Zeugenaussage, KEINE Vernehmung!" Man faltete sich vorsichtig auseinander, warf einen gewaltigen Schatten, den Parka aufklaubend. "Danke schön, das mache ich bestimmt. Es tut mir wirklich leid, dass es zu Verletzungen kam." Die Streifenpolizistin, beinahe im Dunkeln stehend, legte den Kopf in den Nacken. "Sag mal, was für einen Kampfsport betreibst du eigentlich?" Man stutzte, rollte die Schultern nach vorne, zog den Kopf ein. "Also....gar keinen. Das ist ein Missverständnis. Ich gehe bloß regelmäßig zur Krankengymnastik." jßM- Es gab eine Menge Kleinigkeiten, die man sich nicht zuschulden kommen lassen durfte: achtlos die Haustür ins Schloss fallen lassen, lautstark mittig die Stufen die Treppe hinauf nehmen, Flurfenster mit Schmackes aufreißen, gegen die Fußmatte hammeln und sie versehentlich gegen die Wohnungseingangstür rummsen, niedrig hängende Flurlampen mit dem Schädel unachtsam ins Pendeln versetzen. Hatte man unfallfrei und lautlos die eigene Wohnung erreicht, galten andere, nicht weniger wichtige Spielregeln: den Flurspiegel direkt gegenüber der Tür ignorieren beispielsweise, eilig, aber ohne Hopserei die Flusskähne abstreifen und das Zelt an der Garderobe über den Bügel hängen, in das kleine Zimmer schleichen, nicht stapfen, trampeln, staksen!, und...halt! Fallobst aufklauben und sich die zum Filz neigenden Zotteln am Oberkopf raufen! Unter den Türsturz bücken, sehr zartfühlend die Tür ins Schloss drücken, sich vorsichtig auf der Klappcouch niederlassen. Und inständig hoffen, dass die Umstellung der elektronischen Registrierkasse BLOSS FUNKTIONIERT hatte! jßM- Charlie ließ das Longboard ausrollen, bevor sie neben dem Mammut anhielt. "Du ziehst ein Gesicht, als würde wer tot überm Zaun hängen. Hast du Ärger bekommen? He, ich kann deiner Mutter erklären, dass du Freund und Helfer warst!" Bot sie großzügig an, keineswegs eingeschüchtert durch die gewaltige Gestalt. "Danke, das ist nett von dir. Es war einfach nicht der Start in den November, den sich meine Mutter vorgestellt hat." Antwortete das Mammut im Bass äußerst diplomatisch. Charlie grinste hinter ihrer Piratenmaske, nun wie üblich in Chinos, T-Shirt, Sweatshirt und Anorak gekleidet, eine Mütze unter die Skibrille gezogen. "Dabei warst du echt großartig, Mammut! Du hast uns rausgehauen, Respekt!" Obwohl die Maske, eine langweilig-graue Angelegenheit, viel vom Gesicht verbarg, detektierte Charlie eine unglückliche Grimasse. "Ich wollte niemanden verletzen, absolut nicht..." "Aber zugedröhnten Zombies auf Krawall kannst du keine Bergpredigten halten. Kettensäge, Flammenwerfer oder Vorschlaghammer, das ist das richtige Vokabular." Augenscheinlich jedoch nichts, was das Mammut in Erwägung zog. "Ich hoffe, es macht dir keine zu große Mühe, mich zu treffen, immerhin ist es ja ein Feiertag." Charlie winkte ab, ließ geübt das Longboard in ihren rechten Handschuh sausen. "Iwo, da wird höchstens länger gepennt. Meine Leute waren ohnehin griesgrämig drauf. Meine Mutter hat mir doch glatt empfohlen, mal in mich zu gehen, aber da war ich schon ein paar Mal und so viel Neues tut sich da nicht." Versicherte sie, schlenderte neben dem Mammut her. "Wie geht es denn...?" Wagte sich das Mammut nach einem Augenblick der Verblüffung tapfer aus der Deckung. "Lalako? Tja, gestern konnte ich sie doch noch unter die Dusche stecken, weil sie total steifgefroren war. Mein depperter Bruder hat sich dann zu ner Kleiderspende herabgelassen und ich hab n Matratzenlager aufgebaut. Den ganzen Rest der Nacht bis zum Frühstück kein Pieps mehr, weggeratzt, aber hallo! Dann ging's schon etwas besser, aber die Yukata war total versaut und mein Stiesel-Bruder kann SO WAS von verkniffen sein!! Ist echt ein Drama, wenn man mal ne Trainingshose ausleiht!" Da die Skibrille auf der Mütze saß, rollten ihre Augen eindrucksvoll. "Ein patentierter Depp eben. Echt peinlich!" Unerwartet für das Mammut blieb Charlie abrupt stehen, baute sich vor ihm auf, das Longboard im festen Griff. "Nur fürs Protokoll, klar?! Cosplay ist ne ernste Sache, kein Klamauk! Da stellt man eine andere Figur dar, völlig wurscht, wer und was man sonst ist. Wenn ich IRGENDWELCHE Scheiß-Kommentare höre, dass Laurent als Lalako auftritt, werd ich FÜNSCH!" Funkelte sie hoch, mit jeder Faser kriegerische Energie verströmend. Das Mammut nickte eingeschüchtert. Großmütig gab Charlie den Weg frei, justierte ihr Longboard am Rucksack. "Wir verstehen uns. Dachte mir schon, dass du nicht so ein Gehirneunuch wie mein Idioten-Bruder bist. Der hat keine Ahnung, glaubt aber, er könnte sich ne Meinung leisten, obwohl der Wind ungehindert durch sein Oberstübchen pfeifen kann." Das Mammut wartete höflich einige Augenblicke, sondierte offenbar die Großwetterlage, bevor es sich ein Herz fasste. "Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber ist es wirklich in Ordnung, La--Lalako allein zu Hause zu lassen?" Charlie knurrte hinter ihrer Piratenmaske. "Tja, sie wollte heim, kein Wunder, Kostüm ruiniert, der ganze Abend versaut!" Sie ballte die Fäuste in den Handschuhen. "Ist sonst nicht so meine Art, mich einzumischen und rumzuglucken. Als Kumpel sollte man sich da nicht aufdrängen. Na ja, ich hab deshalb entschieden, dass ne Schonzeit bis morgen gut wäre. Sich so ein bisschen berappeln, ohne Publikum." Einen Blick hoch zum Mammut werfend registrierte sie hinter den Brillengläsern Verständnis. "Also hab ich Hulk ne Nachricht übermittelt. Der geht auch ins altsprachliche Gymnasium. Ist zwar ne andere Stufe, aber schadet ja nix, wenn er als Kumpel die Augen aufhält. Hulk ist vor allem kein Depp, der kann mit delikaten Situationen umgehen." Für lange Augenblicke brütete sie schweigend vor sich hin. "Echt, wenn die Scheißer nicht gewesen wären!" Sie schnaubte aufgebracht. "Das war nämlich bis dahin ein genialer Tag gewesen, weißt du? Die hatten so eine klasse Feier aufgezogen, draußen, auf dem Schulhof! Eigentlich war das ja nur für die Schulgemeinschaft, nicht für Externe, aber der feste Freund vom Sandkastenkumpel meines Bruders, Mann, der quatscht einem die Ohren blutig, so'n Feldwebel-Typ!, hatte die Maske gesehen, die mir Lalako gemacht hat, wollte verhandeln, aber Lalako ist diskret, nich so'n Asoziale-Medien-Junkie! Es gab nen Deal und für sie die Einladung mit MIR als Begleitung! MEGA-GENIAL!" Charlie geriet richtig in Fahrt. "Ich meine, sonst kommt man in so ne Privatschule ja nicht einfach rein, die passen schließlich auf! Es war witzig, weißt du, Kürbis-Turban-Balancieren über ne kurze Strecke, es gab Futterpakete und so einen irren Apparat, fast wie ein Spielautomat! Dazu noch ein Feuerchen, tolle Dekorationen, Kastanien-Knacken für Waschmittel, Scharaden und Ratespiele beim Malen mit nem Riesenpinsel. Alle hatten eine Maske auf, die Lalako entworfen hat, eine VERDAMMT PRÄCHTIGE Show! Ich hab echt selten so viel gelacht, die haben sich alle so reingehängt und ne irre Mühe gegeben." Seufzend verabschiedete sie die Erinnerung an ihre superbe Laune. "Wenn ich ne Laserkanone hätte, wären die beiden Arschgeigen schon am Supermarkt bloß Dreckflocken gewesen!" Ließ sie das Universum finster wissen. "Das tut mir wirklich leid, dass euch so etwas zugestoßen ist." Bekundete das Mammut im Basslage bekümmert. "He!" Rammte Charlie ihm einen Ellenbogen in die Hüfte. "Nicht deine Schuld, Kumpel, ganz im Gegenteil! Echt, danke, Mammut. Du bist ein wahrer Kumpel, kein Zweifel." Was einer Adelung gleichkam, nicht mal durch majestätische Ritterschläge übertroffen werden konnte. "Ich hoffe nur, dass sich Lalako wieder erholt. Du hast bestimmt blaue Flecken und Schrammen." Charlie wedelte diese feine Beobachtung der Resultate ihres unfreiwilligen Flugs weg. "Pah, Kleinkram, bin ja nich aus Zucker! Ich kann schon was wegstecken, wenn ich MINDESTENS mit selber Münze austeilen kann." Anerkennend wies ihr maskiertes Kinn auf die großen Hände des Mammuts. "Aber ohne mein Longboard hab ich nich genug Wumms. Da steckt bei dir schon n ordentliches Pfund dahinter. Wirkte bestimmt wie bei ner Dampframme, deshalb war's schon goldrichtig verteilt." Tapfer wagte das Mammut Widerrede. "Ich hatte gar nicht beabsichtigt..." "Nee, manchmal muss man eben spontan sein. Ah, schätze, Lalako wird sich auch bedanken wollen, Ehrensache. Nur, so unter uns, gib ihr n bisschen Zeit, okay?" "Selbstverständlich!" Gelobte das Mammut im sonoren Bass. "Fein, guter Mann! Oh, Mist, das ist mein Handy!" Grollte Charlie, nach ihrem Rucksack fischend. "MannMannMann, Truppenappell wie beim Rollkommando. Entschuldige, Mammut, ich muss abzischen. Ah, ich schick dir meine Nummer. Nächstes Mal hau ich DICH raus!" jßM- Silvain hatte keine ungestörte, erholsame Nachtruhe verbracht. Obwohl es nicht zu den angekündigten Zwischenfällen gekommen war, fühlte es sich seltsam an, quasi eskortiert zu werden, zum Bus-Shuttle und wieder zurück, wie unter Belagerung. Sein ohnehin schreckhaftes Gemüt verarbeitete derartigen Horror in Albträumen. Was zu seiner Beschämung natürlich auch Linus in Mitleidenschaft zog! Linus hingegen hatte mit diesen Konsequenzen gerechnet. Es enervierte ihn keineswegs, Silvain immer wieder in den Arm zu nehmen, zu wiegen und ihn zu beruhigen, noch eingesponnen in finstere Abgründe. Immerhin erwartete sie ein Sonntag, da mussten sie nicht früh aus den nicht vorhandenen Federn. Noch aufmerksamer als gewöhnlich beobachtete er Silvain, griff unauffällig ein, wenn sich ein Malheur anzukündigen drohte. Sicher, zu wenig Schlaf, das Gemüt noch aufgewühlt, ohnehin von sehr schlaksiger Statur, da gab es nicht viel zu kompensieren! Deshalb nötigte er ihn auch, dekadent zum Frühstück zusätzlich einen gewaltigen Knusperkeks mit palmölfreier Haselnussglasur zu verputzen, nahm Silvain schlicht bei der Hand, um einen wichtigen Gang anzutreten. Viele Leute begegneten ihn nicht, lediglich notorische Hundeausführende und vereinzelt frühe Kirchhof-Beschickende. An einer recht verwildert wirkenden Ecke eines "Grünstreifens" hielten sie inne. Mit der freien Hand entzog Linus seiner Collegejacke ein eingeschlagenes Tuch. Darin befand sich eine altmodische Wunderkerze. Er löste sanft seine Hand aus Silvains, trat einige Schritte zum wuchernden Dschungel aus Gebüsch und Sträuchern, ging in die Hocke, steckte die Wunderkerze in die Erde. Mit einem Streichholz zündete er sie an, ließ sie Funken tanzend abbrennen. "Captain, mein Captain, ich bin noch hier. Und mache mich ordentlich." Eine schmale Hand legte sich auf seine muskulöse Schulter. Die Stimme noch aufgerauter als sonst ergänzte Linus leise. "Ich danke dir, mein Captain, dass du mich gelehrt hast, wie man schnurrt und schmust." Als die Wunderkerze erloschen war, barg er sie, erhob sich, atmete tief durch. Silvain lächelte zu ihm hoch, die Augen hinter den Brillengläsern beschlagen, vor Mitgefühl und Dankbarkeit. Linus zog eine schiefe Grimasse und Silvain rasch in seine Arme, hielt ihn fest umschlungen. Wahrscheinlich würde Captain Spectacular nachsichtig einen kleinen Nasenstüber verteilen, weil er sich an Vergangenes klammerte, ihn nicht da suchte, wo er nie verschwinden würde. Linus schluckte schwer, atmete tief durch. »Tja, mein Captain, das ist so ein dummes Menschending. Ich weiß, dass ich dich nicht verliere, aber ich bin auch hier, um ein bisschen zu prahlen, weil Silvain auf mich Acht gibt und ich nicht mehr allein bin.« jßM- Luzie sah keine Schwierigkeit darin, zwei putzmuntere, höchst vergnügte Zeltbewohnende mit weiteren Beschäftigungen zu versorgen. Es galt ja, die Laternen als Futterspender umzufunktionieren, richtig? Vorher musste Substanz vorhanden sein, sprich, ein zünftiges Frühstück. Henk, der seiner gewohnten Routine folgte, führte diskret die Aufsicht, während sie zu viert tafelten. Da fiel auch kein Wort darüber, dass Cornelius und Junias noch nicht in Erscheinung getreten waren. Allerdings, mit fortschreitendem Alter, in der Puh-Bär-Tät, ging ja die innere Uhr falsch und morgens kam immer zu früh! Ließ Lilo Ruru vertraulich wissen, was sie mal aufgeschnappt hatte. Kein Wunder also, wenn die beiden Schlafmützen noch die Matratze abhorchten. "Aber das wächst sich aus." Beruhigte sie Ruru sehr vernünftig, der besorgt die kleine Falte zwischen den feinen Augenbrauen schlug. "Es gibt weniger Krach, wer wann ins Bad darf." jßM- Pflichten, die in eine Routine eingebunden waren, fielen nicht allzu unangenehm ins Gewicht. Es half auch, sich auf die korrekte Ausführung im Detail zu konzentrieren, sodass am offenen Fenster die täglichen Gymnastikübungen im eigenen Atemrhythmus Alltagspraxis waren. Man konnte sich wieder all der kleinen Sünden erinnern, die es eigentlich angezeigt ließen, sich lieber nicht sehen zu lassen. Allerdings, man konnte einen Tee aufbrühen, mit dem heißen Wasser gleich noch vorsichtig, aber gründlich die Maske taufen, die eigentlich....! Doch so ganz unangenehm fühlte sich der Aufschub nicht an. Tapfer und bemüht lautlos wieselte das Mammut in die winzige Küche, Tee als Friedensangebot. Man durfte gar nicht daran denken, wie es aussähe, wenn die Einrichtung der elektrischen Registrierkasse misslungen wäre! Dabei hatten sich an diesem Wochenende wirklich geballte Ungeheuerlichkeiten ereignet. Während der Wasserkocher arbeitete, schauderte das Mammut kläglich bei der Erinnerung. - Gegen den Zapfenstreich verstoßen. Zugegeben, aus lauteren Gründen, dennoch! - Sich auf einen Krawall mit unter Drogen stehenden Vergewaltigern eingelassen! Auch wenn zugute zu halten war, dass diese Absicht nicht bestand und eine Konfrontation nicht geplant gewesen war. - Von der Polizei quasi nach Hause geleitet worden. Schönen Gruß von der Nachbarschaft! - Mit Erziehungsberechtigten im Revier erscheinen müssen, am Sonntagmorgen! - Anruf von einem Mädchen zu einem Stelldichein. Fairerweise Grundschulkind, bei der Pandemie wohl besser nicht in den eigenen Wänden zu empfangen. Trotzdem, in der Summe...! Nein, das Mammut, das all diese Vorhaltungen für gerechtfertigt hielt, nickte beipflichtend, sich der Lage bewusst, die ihm ohne Umschweife erneut ins Gedächtnis gerufen wurde. "Denk dran, wie es aussieht! Recht haben und Recht bekommen, das sind zwei ganz unterschiedliche Paar Schuhe." Den Kopf eingezogen bekundete das Mammut demütige Betroffenheit. Vielleicht hätte man, mit mehr Voraussicht, diese Konstellation von Unannehmlichkeiten vermeiden können. Traurigerweise zeigte sich selbst nach intensivem Brüten keine Alternative. Das Mammut klopfte scheu sehr vorsichtig am Türrahmen, setzte behutsam das Tablett mit dem Teegeschirr ab. Telefonierend, gleichzeitig Tablet und altmodisches Orderbuch konsultierend, erntete er ein knappes Nicken. Erleichtert machte das Mammut kehrt, entführte rasch den Rest des heißen Wassers ins winzige Badezimmer, wo mit größter Achtsamkeit eine schöne Maske mit aufgestickten, floralen Motiven gereinigt wurde. jßM- "Es tut mir leid." Wisperte Silvain beschämt, mühsam blinzelnd. "Das fehlt auch noch." Brummte Linus streng, deponierte eine Wasserflasche mit Handtuchmantel als Heizkissen unter der Decke. "Schließe die Augen, bitte." Für Silvain ein Leichtes. Umgekehrt schien ihm schon viel herausfordernder. Sein Schädel dröhnte quälend. Beim Aufsetzen hatte er heftigen Schwindel verspürt und mit dem Impuls gerungen, sich übergeben zu müssen. Linus tupfte vorsichtig Pfefferminzöl auf die bleichen Schläfen. "Es riecht recht stark, aber der Geruch verfliegt nach einer Weile." Die Omas schworen darauf, bei Stichen, bei Migräne, bei geschwollenen Füßen im Sommer, zum Inhalieren und zum Gurgeln. Eine gut ausgestattete Hausapotheke konnte Linus nicht vorweisen, auch mangels monetärer Mittel. Deshalb nahm er konzentriert jeden Hinweis mit, der ihm dienlich sein konnte. Und abgelaufene Erste Hilfe-Sets aus Autos, deren Inhalt man durchaus noch verbrauchen konnte, weil nur wenige Anteile tatsächlich verderblich waren. "Ich muss nach Hause." Murmelte Silvain kläglich. In den dichten Wimpern hingen Tränen, ob vom ätherischen Öl oder den Kopfschmerzen, ließ sich nicht sagen. "Das ist unvernünftig, Silvain. Lass mich eine kurze Nachricht an deine Eltern absetzen. Morgen bringe ich dich nach dem Unterricht höchstpersönlich nach Hause." Nicht, dass er Silvain nicht jeden Sonntagabend dort ablieferte, obwohl Silvain ebenso regelmäßig höflich protestierte. Ihm Geleit anzutragen kostete gewiss KEINE MÜHE! Vielmehr linderte der Marsch zurück an der frischen Luft die Frustration darüber, sich trennen zu müssen. Silvain blinzelte, schniefte leicht, obgleich er ohne Brille gar nichts erkennen konnte, nur Schemen erahnen. Zudem hatte Linus rücksichtsvoll alle Lichtquellen deaktiviert. Lediglich das schräge Dachfenster bot den Abendhimmel, am ersten November jedoch schon sehr dunkel und nicht einladend. "Du könntest mir diktieren." Soufflierte Linus mit rauer Stimme sanft, streichelte mitfühlend über den von ihm jüngst frisierten Schopf. "...danke...aber dass ich dich damit plagen muss." Wisperte Silvain bekümmert. Linus, der das Mobiltelefon bereits in Reichweite deponiert hatte, beugte sich über Silvain, platzierte trotz Pfefferminzöl-Wolke einen Kuss. "Ja, aber wir müssen uns der grausamen Unausweichlichkeit der Moderne stellen, mein werter Freund. Sei es, dass meine groben Daumen auf diesem völlig unzureichend dimensionierten Buchstabenfeld eine Botschaft verfassen. Wollen wir hoffen, dass ich mit den Herausforderungen über meine Unzulänglichkeiten hinauswachse." Diese gedrechselt-sarkastischen Worte entlockten Silvain ein Kichern. Linus, der aus Mangel an Möglichkeiten nicht blitzartig mit den allgegenwärtigen "Messengern" kommunizierte, fehlte die Übung, wie ihm selbst auch, da sein Mitteilungsdrang sich in Grenzen hielt. Angestrengt zwang er die Linke von der Bettdecke, streichelte vage in Richtung Wikinger-Haupt. Linus fing die Hand ab, hauchte einen Kuss hinein, verstaute sie anschließend demonstrativ unter der Decke. "Schreiten wir zum Diktat, auch wenn sich das anschließende Verreisen ausschließt." Grummelte er, in der Gewissheit, dass Silvain mit altmodischen Formulierungen noch vertraut genug war, erneut amüsiert zu glucksen. jßM- Kapitel 7 Charlie sah keinen Grund, nicht die Handynummer des Mammuts aus dem Telefonbuch abzukupfern. Wenn der sie ihrem Deppenbruder anvertraut hatte, konnte es sich ja wohl kaum um Geheimgut handeln! Außerdem war es lästig, übers Festnetz anzurufen, wenn das "Aufsichtspersonal" abnahm. Obwohl Charlie nicht viel über das Mammut selbst wusste, hatten die argwöhnischen Fragen seiner Mutter sie gewarnt. Man konnte nur hoffen, dass das Mammut nicht auch unter einem Tussi-Komplex litt, deshalb die Wachsamkeit der Altvorderen gerechtfertigt war! Sie schickte eine kurze Nachricht an das Mammut, weil sie ja zurück expediert worden war, noch bevor sie klären konnte, warum das Mammut sie hatte sprechen wollen. Klar, sie wollte sich artig bedanken, aber damit hätte es auch genug sein können. Wenn man ne Charakterwanze war. Das Mammut hatte was auf dem Kasten, war vermutlich kein Depp, deshalb interessant für den Kumpel-Kreis. Viele, unterschiedliche Kumpels bereicherten das eigene Erleben! Hulks Auffassung schien Charlie nicht verkehrt, auch wenn Hulk sehr viel mehr Langmut bewies. Trotzdem, eine gute Sache, Leute zu kennen, die was drauf hatten und ihren Schädel nicht als Luftballon nutzten. Kumpels konnte man auch schließlich nie genug haben! jßM- Das Mammut bügelte sehr vorsichtig durch ein dichtes Leinentuch die Findel-Maske. Kein Zweifel, sie gehörte bestimmt Lalako. Als ehrlicher Mensch beabsichtigte das Mammut auch, sie zurückzuerstatten, wenn es die Gesundheit der Eigentümerin...des Eigentümers zuließ. Seine haushalterischen Tätigkeiten abschließend setzte sich das Mammut auf seine Klappcouch, sinnierte. Nein, partout wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, dass... Was nichts daran änderte, dass das Elend ihm nahegegangen war, so verschreckt und verängstigt! Was konnte man da bestellen? Und zwar, ohne unangenehm aufzufallen. Oder das Mammut im Porzellanladen zu geben. jßM- Niemand wurde als Mammut geboren, schon sehr lange nicht mehr. Ohne Eiszeit aus biologischen Gründen durchaus nachvollziehbar. Man konnte zum Mammut werden. Nicht gleich, selbstverständlich, es erforderte einen Prozess, begünstigende Umstände, zog jede Menge Regeln nach sich, die wie ein Freiluftgehege wirkten, weil so ein Mammut nicht nur aus der Zeit, sondern vielen Rahmen fiel. Oder sie versehentlich verbog, demolierte oder sprengte. 15 Jahre zuvor war er unspektakulär geboren worden. Sein amtlicher Vorname lautete Mahmoud-Justin, der erste Part war traditionell geprägt, der zweite Teil auf Beharren seiner Mutter beigestellt. Deren Eltern waren aus Marokko zugewandert, die Tochter hier geboren, mit den Denkweisen zweier Kulturkreise vertraut. Ein überlieferter, schöner Vorname half nicht, wenn man mit generalisierten Urteilen operierte, die sich nachteilig auswirken konnten, bei Bewerbungen, bei der Wohnungssuche, bei Krediten. Zugegeben, Justin nahm sich ein wenig riskant aus, wenn man an die Kevin-Falle dachte, aber es klang zumindest welterfahren-neutral und ihr gefiel der Klang! Dass es von ihrem Ehemann Widerspruch geben könnte, war nicht zu erwarten. Eine vermittelte Ehe, keine große Liebe, die rasch in Enttäuschung umschlug, sondern eine nützliche Alltagsgemeinschaft, mit einem Gatten, der Auseinandersetzungen scheute, am Liebsten seine Ruhe hatte, Anstrengungen vermied. Deshalb führte sie auch ohne Androhung von Konsequenzen den ehrgeizig angestrebten Obst- und Gemüseladen. Es kümmerte sie auch nicht sonderlich, dass nach einem ausgedehnten Aufenthalt bei der Familie, die nach Tunesien ausgewandert war, kein Rückkehrdatum genannt wurde. Ihr Ehemann verfügte über kein nennenswertes Rückgrat oder eine eigene Meinung. Sein Arbeitseifer war mäßig, seine Bildung allzu übersichtlich, seine Fähigkeiten kaum erwähnenswert. Als verheiratete Frau genoss sie die Freiheiten, die sie angestrebt hatte, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Einen Sohn konnte sie auch vorweisen, also störte sie die Abwesenheit ihres Ehemannes nicht. Allerdings hoffte sie, dass Mahmoud-Justin einen größeren Anteil ihres Charakters geerbt hatte. Noch einen untertalentierten Faulpelz brauchte es nämlich nicht! Die ersten Anzeichen, dass sich etwas gänzlich anderes pfuschend in ihre Planung eingemischt hatte, gab es bei der Einschulungsuntersuchung. Ja, der Junge war recht groß und kräftig, das stimmte schon, tatsächlich einen ganzen Kopf größer als alle anderen Kinder. Es zeitigte sich nach mehreren Teststrecken, dass die Genetik nicht ursächlich war, sondern die komplexe Welt der Hormone. Sie sorgten dafür, dass ihr Sohn übermäßig schnell wuchs, begleitet von Schmerzen und motorischen Ausfällen. Im "Versuch- und Irrtum-Verfahren" wurde seitdem die fragile Balance austariert, die Hormone einzubremsen, ohne erhebliche Schäden zu verursachen. Trotzdem ragte Mahmoud-Justin bereits 2,05m in die Höhe, hätte in alten Sandalenfilmen mühelos den heldenhaften Recken geben können, allerdings nur Krankengymnastik-gestählt. Doch das Seelenleben sah ganz anders aus, bot keine Schnittmenge mit athletischen Helden, die selbstbewusst vortraten. Mahmoud-Justin verlor seinen amtlichen Vornamen bereits in der ersten Klasse, wurde "das Mammut" dank der Lieblingsthemen "Dinosaurier", "Ice Age" und "Monster-Filme." Für einen Yeti waren seine zum Verfilzen neigenden, rötlich schimmernden, dunkelbraunen Strähnen einfach zu unpassend. Bigfoot existierte nur in Amerika und war langweilig, die Filme "totaler Schrott!" und somit indiskutabel. Der einzige Ganzkörperfellträger, King Kong, wäre eine Alternative gewesen, doch das Mammut agierte immer so vorsichtig und zurückhaltend, no way! Deshalb MUSSTE es das Mammut sein, die waren ja schließlich ausgestorben! So, wie sich das Mammut verhielt, nämlich sich klein machend, ausweichend, brav, fast schon ängstlich, na klar, da war es das letzte Exemplar! Die anderen gammelten schließlich schon in Sibirien im Matsch! Das Mammut wuchs weiter, erreichte die gefürchtete Pubertät auch früher als alle Altersgenossen. Daran konnten auch die regelmäßigen Spritzen und ständig angepassten Hormon-Cocktails nichts ändern. Seine Stimme, die früher scheu und rau gewesen war, stieg in den Keller hinab, um sich dort als Bass einzurichten. Die Augen wurden kurzsichtiger, was eine Brille zur Folge hatte, aktuell mit durchscheinendem Kunststoffgestell. Er bekam wie ein echtes Mammut "Fell". Die hatten wohl eher "Wolle" getragen, zottige Matten als wärmender Schutz vor der Kälte. In Zeiten der Klimakrise, wo Schönheitsideale eher "klassisch" wurden, sich DER Held komplett rasiert zeigte, der Todesstoß für jeden Anflug von Selbstbewusstsein. Zwar ahnte das Mammut anhand alter Filme, dass in den 60ern des vergangenen Jahrtausends lizenzierte Super-Agenten Brustfell sehr sexy in Szene zu setzen wussten, aber... Das Mammut trug lange Hemden und lange Hosen, auch im Sommer. Selbstbeherrschung, das zumindest hatte das Mammut so verinnerlicht, dass diese Regel über allen anderen stand. Bloß nicht der Elefant...das Mammut im Porzellanladen sein! Nichts umwerfen, nichts zerstören, nicht auffallen, sich nicht vordrängen, nicht eines der Vorurteile über große, kräftige Menschen bestätigen! Keinen Streit suchen, Auseinandersetzungen meiden, sich nicht mit Delinquenten herumdrücken! Immerhin fiel sein Verhalten auf seine Mutter zurück, die glasklare Erwartungen hegte, wie er sich zu geben hatte: vernünftig, zurückhaltend, anständig und über jeden Tadel erhaben. Im Mammut, so empfand es das Mammut selbst, lebte eine kleine, eingeschüchterte, verzagte Maus. jßM- Die Zeitungen und andere Medien behandelten das Wochenende und die Eskapaden einiger Personen trotz bekannter Gefahrenlage. Zwar war der angekündigte "Sturm" auf die "Bastille respektive Burgruine" unterblieben, aber unternehmungslustige, berauschte Zeitgenossen gab es zuhauf, die Einlassbeschränkungen oder Sperrstunden nicht akzeptieren, sich dicht gedrängt tummelten, ihre überschüssige Energie an Gegenständen oder ihren Mitmenschen ausließen. Charlie, die sich mit den Neuigkeiten vertraut machte, um auf der Höhe der Zeit zu sein und nicht ins Deppentum abzusinken, schnaubte. Angesichts dieser ganzen Meldungen stand zu vermuten, dass IHR Fall wegen mangelnder Bedeutung eingestellt werden würde. Zugegeben, dem Mammut würde es wohl zusagen, da es ja zu Schädigungen gekommen war... Wobei Charlie entschieden die Auffassung vertrat, dass da im Oberstübchen und bei der Charakterbildung schon genug im Argen lag. So gesehen fand sie die handfesten Lektionen als Gegenwehr SEHR angemessen bis zartfühlend nachsichtig. Aber gegen Dummheit kämpften selbst Götter vergebens. Was sollte man da erhoffen? Beispielsweise, dass Lalako oder Laurent ihren Anruf entgegennahm. Hulk hatte sie nämlich wissen lassen, dass er umsonst Ausschau gehalten hatte. "He, danke, dass du rangehst. Wie sieht's bei dir aus, alles im Lot?" Erkundigte sich Charlie gewohnt forsch. "Ah...klar, kann ich mich vorstellen. Den Magen verdorben, nach Halloween, das ist ziemlich glaubhaft." Grinste sie, ließ sich auf ihr Bett plumpsen. "Ist es jetzt besser?" "Hmm...na, darüber brauchst du dir wahrscheinlich keine Gedanken machen. Die stellen das Verfahren garantiert ein, wegen Geringfügigkeit. Wenigstens hat das Mammut bei ihnen Eindruck hinterlassen." Charlie fing Sorge und Scham auf, die sie geübt weg wedelte. "Ach, Quatsch, das Mammut ist nicht so schofel, gar nicht! Hab ihn gestern getroffen, mich bedankt. Da hab ich gleich angemerkt, dass du erst mal auf die Puschen kommen musst. Hat er sofort unterstützt, war ziemlich gebügelt, dass es dir so mies ging." Eine erneute Entschuldigung schloss sich an. "Halt mal, Kumpel, die einzigen, die sich zu verantworten haben, sind die zwei Arschgeigen, klar?! Du trägst an gar nichts die Schuld! Also hör ich mir keine Entschuldigungen von dir an, sonst muss ich mich bald fragen, für was für ne Art von Abschaum du mich hältst, nen Kumpel im Stich zu lassen!" Ihre grimmige Vorwärtsverteidigung zeitigte Erfolg, was ihr ein breites Grinsen aufs Gesicht zauberte. "Siehste, ist Quark, oder? Oh, das hätte ich glatt verschwitzt: das Mammut hat ne Maske gefunden, und ich bin sicher, es ist deine. Hat sie gereinigt und würde sie gern brav zurückgeben. Ehrlich, ich glaub, das Mammut steht schwer unter der Fuchtel des lieben Mütterleins! Na, ich hab ihm gesagt, das könnte gehen, aber zuerst muss ich mit dir sprechen. Geb ja nich einfach Nummern und Adressen und sonst was raus! Wenn du ihn treffen magst, kann ich auch als Chap...Mist, wie hieß das gleich?!....ah, Chaperon mitgehen!" Bot Charlie an, stolz darauf, mal wieder einen bissigen Kommentar von Linus verwenden zu können. Das imponierte ihr nämlich sehr. Auch wenn der Wikinger noch immer versuchte, seine "erlesene" Bildung zu verstecken oder zu kaschieren. Aber nicht nur die Leseratte selbst hatte gemerkt, dass da ein verdammt schlauer Schädel auf den muskulösen Schultern saß! Es gefiel ihr sehr, dass Linus sich in ihrer Gegenwart hin und wieder die Freiheit gönnte, ganz er selbst zu sein. "Na ja, muss ja nicht gleich sein, denk drüber nach. Eilt ja auch nicht so sehr, das Mammut macht mir nen geduldigen Eindruck." Die nächste Frage erwischte Charlie jedoch auf dem falschen Fuß. "Woher...hm, verdammt gute Frage! Also, im Hockeyteam isser nich. Gut, unauffällig ist anders, aber... Könnte sein, dass mein notorischer Deppenbruder ihn anwerben wollte. Der is dann wie'n Eichhörnchen, was der hat, das bleibt da!" Etwas gehässiger ergänzte sie. "Wahrscheinlich wieder so eine Dumpfbacken-Idee seiner Tussi-Vernageltheit. Möglichst fettes Telefonbuch, da glaubt man, man sei beliebt und gefragt! Na, in dem Fall praktisch, da musste ich beim Mammut nicht mehr übers Festnetz anrufen. Wirklich, seine Mutter könnte bei der Inquisition anheuern! Erst dachte ich, die verscheucht routinemäßig Tussis, aber beim Mammut kann ich mir nicht vorstellen, dass der nen Harem hat." Sie lauschte der Zusicherung, sich wieder zu berappeln und den gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. "Okay, klingt für mich gut. Kannst dich immer bei mir melden. Wir können auch mal wieder ne kleine Tour machen. Halt die Ohren steif, klar, Kumpel?!" Sehr zufrieden beendete Charlie das Telefonat, schob ihr Mobiltelefon beiseite. Leidiger Weise waren noch ein paar Hausaufgaben zu erledigen. Positiv gestimmt ließ es sich bestimmt leichter an! jßM- So genau wusste das Mammut nicht, was es erwarten sollte. Über Charlie war ein Treffen arrangiert worden, weil Lalako es nicht so mit den Asozialen Medien hatte. Ein absolut verständliches Prinzip! Zudem hatte sie ihm auch entlockt, wie er mit ihrem Deppen-Bruder bekannt geworden war, keineswegs in verbrüdernder Gehirnerweichung was "Tussis" betraf. Eine Lektion für sich, der das Mammut nicht entkam, weil er mit Ansichten und Welten konfrontiert wurde, die er zu vermeiden hatte. Er wirkte ja nun mal viel älter und so riesig, dass es zu "Missverständnissen" kommen konnte, deren bloßen Ruch er sich nicht leisten durfte, wie seine Mutter ihm stets warnend vorhielt. Nein, in der Tat hatte Yann ihn angesprochen, auf Verstärkung fürs Hockeyteam gehofft. Zu schüchtern, um die Einladung auszuschlagen, so als Fünftklässler, hatte das Mammut auch ein Spiel besucht, selbstverständlich ganz hinten stehend, um niemandem die Sicht zu nehmen. Beim Anblick des Vizekapitäns, der da Richtung gegnerisches Tor pflügte, war das Mammut vor Schreck selbst einen Schritt zurückgewichen. NIEMALS könnte er so konfrontativ nach vorne preschen! Allerdings wollte er seine Zaghaftigkeit nicht allein im Regen gesellschaftlicher Verachtung stehen lassen, vertraute sehr kleinlaut dem frisch gekürten Torhüter Yann an, dass es da ein gewisses "Doping"-Problem gebe, sozusagen. Unlautere Praktiken bei der Mannschaftsaufstellung wollte sich sicher auch ein aufstrebendes Schulhockeyteam nicht nachsagen lassen. Was er hoch anrechnete: feinfühlig genug verbreitete Yann diese Offenbarung nicht. Da konnte man denken, was einem beliebte, vielleicht die Sehschwäche, die Körpergröße, die zu bewegenden Massen verantwortlich machen... Charlie drang auch nicht weiter in ihn, nachdem das Hockeyteam als Initiator entlarvt worden war. Sie persönlich pflegte auch nicht, mit einem krummen Stock auf Kugeln einzuprügeln. Daher schien es ihr nicht verwunderlich, ihn nicht im Team zu wissen. Apropos Wissen: das Mammut fühlte sich dezent unterversorgt und registrierte Nervosität. Außer dem Namen, einem Hobby (durfte man das so klassifizieren?) und dem Hinweis, dass Laurent/Lalako erst seit dem Frühjahr hier lebte, fand sich nichts in seinem Reservoir. Erschreckend viel Gelegenheit, sich unhöflich zu verhalten, die falschen Gesprächsthemen zu wählen, sich gerechtfertigtem Tadel auszusetzen! Allerdings wollte das Mammut auch nicht feige beiseite stehen. Lalako hatte derart verschreckt gewirkt! Das ließ ihm keine Ruhe. Wie fürchterlich wäre es, wenn man gerade erst recht kurz hierher gezogen war und sich auf der Straße nicht mehr sicher fühlen würde! Wenn man möglicherweise glaubte, ganz allein zu sein, ohnehin noch verstärkt durch die strikten Kontaktbeschränkungen und die notwendige Distanz! Wobei das Mammut sich durchaus bewusst war, nicht zwangsläufig durch sein äußeres Erscheinungsbild hilfreich zu sein. Ja, seine massige Gestalt mochte imponieren, doch, wie ihn seine Mutter stets erinnerte, provozierte es auch andere Unruhestifter, sich mit ihm messen zu wollen. Wehe der Begleitung, die sich in seiner Gegenwart sicher gewähnt hatte! Das Mammut atmete tief durch, ging ein paar Mal geschmeidig in die Knie. Leichte Gymnastik, Spannungen abbauen, sich nicht verkrampfen, gar in der Folge die innere Maus auf panische Flucht einstellen! Charlie vertraute ihm, auch ohne "Chappie"/Anstandswauwau ein Treffen unter freiem Himmel mit aller gebotenen Aufmerksamkeit und Höflichkeit zu absolvieren. Da konnte man nicht kneifen! Höchstens blinzeln, erneut die Brille lupfen, da sie beschlug. Hohe Körpertemperatur, sehr kalte Außenluft und eine "ableitende" Maske: temporär stand man "im Dampf", blind für die Umwelt. Sodass das Mammut zu spät für einen Schreck registrierte, dass in seinem mächtigen Rücken eine schlanke Gestalt sich angenähert hatte. jßM- "Verzeihung, ich bin wohl zu spät." Das Mammut sortierte eilig Brille und Maske. "Oh nein, ich war zu zeitig! Entschuldigung, die Gläser!" Erläuterte er verlegen den mangelnden Durchblick, der sich unsäglich langsam wiederherstellte. "Wenn es dir nicht unangenehm ist, können wir auch die Masken herunternehmen. Bei gebotener Distanz werden wir nicht schreien müssen." Eine angenehm weiche, wie Samt klingende Stimme, der man nicht müde wurde zuzuhören. "Selbstverständlich, gern. Danke schön! Leider ist es mir nicht gelungen, das Beschlagen einzudämmen. Die Hausmittel wirken nicht." Erschrocken klappte das Mammut den Mund zu. Lächerliches Herumplappern langweilte wohl alle! Nervös blickte er ohne visuellen Filter auf die schlanke Erscheinung in artigem Abstand: ein halblanger Mantel im A-Schnitt, darunter eine Yukata, sehr saubere Sneaker mit durchgehender Sohle. Die Haare waren zu zwei Schnecken eingerollt und reichlich verziert mit Spangen und Schmuckkämmen. Über den Lidern klebten kleine Glitzersteinchen, betonten den Schwung der zarten Augenbrauen darüber. Die Maske, die ein feingeschnittenes Gesicht freilegte, zeichnete sich wie das Pendant in seinem Rucksack durch ein eingesticktes, florales Motiv aus. Komplettiert wurde diese Aufmachung durch einen verzierten, kleinen Rucksack. Wirklich alles bis auf die weißen Sneaker changierte in Rosa- und Rottönen! "Oh, Verzeihung, ich glaube, ich habe mich gar nicht richtig vorgestellt." Brachte das Mammut im krächzenden Bass hervor, fragte sich besorgt, ob ein Kompliment für das Ensemble als sexistische Belästigung gewertet werden würde. "Mein Name ist Mahmoud-Justin. Allerdings hat sich Mammut durchgesetzt." Höflich neigte er den Oberkörper, die Arme eng an den Leib gepresst, recht steif. "Ich bin Lalako, freut mich sehr. Darf ich denn Mammut sagen?" Wwieder diese samtig-weiche, wohl modulierte Stimme! Da wurde einem ganz warm! "Gern! Ich freue mich auch, dich kennenzulernen. Oh, selbstverständlich wären andere Umstände mir sehr viel lieber gewesen!" Ergänzte er hastig, Röte der Scham auf den Wangen spürend. Lalako lachte leise, perlend, ohne dass man Koketterie unterstellen konnte. "Dem kann ich wirklich nur beipflichten." Sie legte die Hände auf die Oberschenkel, verneigte sich tief vor ihm. "Ich danke dir sehr für deine selbstlose Hilfe. Ich habe dir Umstände und Ungemach bereitet, was ich sehr bedaure." Unwillkürlich hatte das Mammut sich auch leicht geneigt, hob streng kontrolliert die Arme. "Oh, bitte, nicht der Rede wert, ganz und gar nicht! Ich bin froh, ein wenig von Nutzen gewesen zu sein!" Eine altmodische Floskel, die das Mammut häufig bemühte, weil es seiner Mutter eine Freude bereitete. Gute Manieren bewiesen einen aufgeräumten Charakter! Um abzulenken, ließ er eilig den Rucksack von seinen mächtigen Schultern gleiten, hob die gereinigte Maske heraus, eigens in Küchenkrepp eingeschlagen. "Verzeihung, die habe ich gefunden und eingesteckt. Sie ist gewaschen und gebügelt. Ein Unikat, oder? Wirklich wunderschön." Ein wenig linkisch reichte er das flache Päckchen den eleganten Händen entgegen. "Vielen Dank! Tatsächlich habe ich ein kleines Hobby daraus gemacht." Eine weitere Verneigung, die Maske wanderte in den kleinen Rucksack, tauschte den Platz mit einem ebenso flachen Päckchen. "Bitte nimm dies als Ausdruck meiner Dankbarkeit entgegen." In Seidenpapier gehüllt erhielt das Mammut eine eigene Maske. So prächtig und stilvoll, dass es ihm den Atem verschlug. jßM- "Ich hoffe, dass ich einigermaßen deinen Geschmack getroffen habe." Das Mammut blinzelte fassungslos, suchte Worte, studierte die feinen, in verschiedene Orange- und Brauntöne wechselnden Spiralen. "Oh, vielen Dank! Das wäre wirklich nicht nötig gewesen! Darf ich tatsächlich? Leider habe ich keinen präsentablen Geschmack!" Stammelte das Mammut hilflos, sich selbst in Verlegenheit setzend, darob noch aufgescheuchter! Lalako lächelte ihn aufmunternd an. "Es wäre mir eine Ehre, wenn du sie trägst, Mammut. Ich muss zugeben, dass ich mich nicht mehr genau entsinne, was unsere Begegnung am Samstag betrifft." In dem feingeschnittenen Gesicht zeichneten sich Sehnen ab. "Völlig verständlich! Ich werde sie gern tragen, herzlichen Dank! Darf ich fragen, wenn es nicht zu aufdringlich ist, wie es gelingt, so prächtige Muster aufzubringen?" Lenkte das Mammut rasch ab, die Anspannung deutlich registrierend. "Ich könnte es dir erzählen, doch neige ich ein wenig zu Weitschweifigkeit." Warnte Lalako ihn neckend, zog leicht die Schultern hoch. Galant erkannte das Mammut eine Möglichkeit, Scharten seines Ungeschicks auszuwetzen. "Hast du vielleicht ein wenig Zeit? Dann könnten wir, nun, spazieren gehen. Ich möchte wirklich gern mehr über die Masken erfahren." Setzte er mit so viel Nachdruck, wie er sich traute, hinzu. "Ein Spaziergang? Gern, doch ich muss dich warnen, große Schritte gehen nicht mit meinem Kostüm einher." Die weiche, ruhige Stimme animierte mit sanfter Ironie, nicht allzu steif zu agieren. "Ich kann mich anpassen!" Haspelte das Mammut eilends heraus, sich durchaus bewusst, dass große Menschen unachtsam ihre RIESIGE Schrittlänge anderen zum Maßstab aufnötigten. "Danke schön. Wollen wir?" Mit einer anmutigen Kopfbewegung deutete Lalako die Richtung an. Hastig die großen Hände auf dem Rücken verschränkend folgte das Mammut im gesellschaftlich-pandemisch korrekten Abstand. jßM- Verblüffender Weise, zumindest für das Mammut, entspann sich ein leichtflüssiges, vertrautes Gespräch. Angefangen hatte es mit einigen Skizzen auf dem Tablet, die als Versuch auf eine Maske übertragen worden waren, einer eingestandenen Vorliebe für die floralen Motive des Jugendstils entsprangen, gefolgt von der Idee, mit der einfachen Nähmaschine und dem durchgepausten, aufgesteckten "Butterbrotpapier" eine Umsetzung zu erproben, bevor ein gewaltiger Kasten mit unterschiedlichsten Nähgarnspulen ins Spiel kam. Die Art, die hin und wieder bei Discountern offeriert wurden, jedoch kaum in voller Bandbreite tatsächlich Verwendung fanden. Veritabel sticken konnte die einfache Nähmaschine nicht. Wenn man verschiedene Arten, die Stiche zu setzen, geschickt kombinierte... Fasziniert lauschte das Mammut einer fremden Welt, in der man ohne Mühe auf einem Tablet mit einem schlichten Stift Muster entwarf oder ganz klassisch auf Papier mit weichen Buntstiften Effekte ersann. Kein Wunder, dass die für Charlie fabrizierte Maske Aufsehen erregte! Gern hatte sie neue Motive für die Privatschule skizziert, hilfreiche Hinweise eingestreut, wie man rasch in Produktion gehen konnte, welche Art von Papierbögen sich eigneten, um die "Stickvorgaben" im Drucker zu applizieren und sie anschließend nach seriellem Nähen spurlos vom Stoff abzutrennen. "Im Prinzip ist es wie mit den Schnittmusterbögen von früher, in den Modezeitschriften." Tapfer wagte sich das Mammut nach ehrfürchtigem Lauschen an eine weitere Erkundigung. "Es ist fürchterlich unhöflich, leider, doch...darf ich fragen...ich kenne mich gar nicht aus...welche Figur deine Cosplay-Aufmachung darstellt?" Recherche im Vorfeld hatte ihm nicht zur Erkenntnis, sondern vielmehr zu heilloser Verwirrung geführt. Lalako lachte leise, samtig und sanft. "Da muss ich dir ein Geständnis machen, fürchte ich. Tatsächlich ist es üblich, eine Figur oder Gestalt möglichst präzise darzustellen, in Erscheinung und Auftreten. Lalako ist allerdings aus verschiedenen Anregungen und Vorbildern zusammengesetzt, quasi ein Frankenstein-Monster." Die tiefschwarzen Augen funkelten animiert. Über den dichten Wimpern glitzerten die aufgeklebten Steinchen. "Man nehme eine Prise Manga, etwas Geisha-Look, Kitsch und Kawaii..." Das Mammut rang mit Verwirrung ob fremdem Vokabular, blickte prompt nervös, noch mehr Ignoranz zu offenbaren. Schmunzelnd ließ Lalako Erklärungen folgen, kam einer verlegenen Frage zuvor. "Man kann sich aus bekannten Filmen oder Comics Figuren aussuchen, weißt du? Die Pendants heißen, je nach Nation, Manga, Manhwa oder Manhua sowie Anime, wenn man sich die größten Fankreise vorstellt. Hier sind japanische Comics, Manga, sehr populär, mit bestimmten Rollen, beinahe Stereotypen. Es gibt Vorstellungen und Phantasien. Ein bisschen wie bei personifizierten Eigenschaften früher. Die Tugenden, die als Frauengestalten porträtiert worden sind, die Jahreszeiten auf den Plakaten im Jugendstil." Lalako klapste sich selbst leicht auf die Stirn. "Schon schwadroniere ich ungebremst! Um zum Punkt zu kommen: mit bestimmten Erscheinungsformen werden Charaktereigenschaften verknüpft. Aus diesem Repertoire habe ich mich bedient und noch hinzugefügt, was Lamas und Erdmännchen an Entzücken auslösen sollen." Sehr vage war sich das Mammut gewisser Trends bewusst, auf die Lalako Bezug nahm. Allerdings kamen sie für ihn nicht in Frage. Nicht, wenn man schon Mühe hatte, mit der gigantischen Konfektionsgröße etwas von der "Stange" zu finden! "Dann hast du alles, dein Kostüm und das Zubehör, selbst gemacht?" Erkundigte sich das Mammut ehrfurchtsvoll im Bass, hoffte, sich durch die Untiefen an Unwissen nicht völlig für ein Gespräch disqualifiziert zu haben. Lalako schmunzelte. "Sagen wir, ich habe vorhandene Gegebenheiten genutzt und modifiziert. Natürlich kann man mittlerweile auch bestimmte Kostüme oder Bestandteile vorkonfektioniert kaufen, aber das begegnet gewissen, nun, Animositäten. Allerdings stellen Figuren in Manga zum Beispiel auch die Realität dar. Eine Schuluniform zu kaufen, wenn man über das nötige Geld verfügt, ist nicht verwerflich." Das Mammut krallte die großen Hände ineinander, um sich nicht die zum Filz neigenden Strähnen auf dem Oberkopf zu raufen. Schuluniformen?! Entweder handelte es sich um eine verbreitete Wissenslücke oder Lalako verfügte über beängstigend genaue Antennen für seine verworrenen Gedankengänge. "In vielen Schulen in Manga oder Varianten asiatischer Comics werden Schuluniformen dargestellt, weil man das häufig dort antrifft. Wirkt auf uns ein wenig exotisch, deshalb weckt es auch die Neugierde." Tapfer wagte sich das Mammut an intime Details. "Trägt deine Figur auch eine Schuluniform? Oder passt das nicht ins Konzept?" Nervös beäugte er die schlanke Gestalt vor sich, dezent versetzt spazierend. Den Kopf leicht auf eine Seite neigend, was die Anhängsel der beiden Schmuckkämme in den Schnecken in Schwingung versetzte, zwinkerte Lalako. "Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht. Der Einstieg wäre recht leicht: Bluse, Rock, Kniestrümpfe, Strickjacke. Aber Schule ist so stark mit Alltag, mit Regeln und Zwängen, mit Verpflichtungen verbunden, nicht wahr? Das entspricht nicht unbedingt dem Eindruck, den ich gern auslösen möchte." Verlegen nickte das Mammut hastig. "Oh, das hatte ich nicht bedacht, richtig. Ich hoffe, dein Kostüm ist nicht beschädigt worden." Wagte er sich tollkühn in die äußerst unangenehme Situation ihrer ersten Begegnung. Lalako strich kurz über den Mantel, als könne sich eine unpassende Knitterfalte eingefunden haben, lächelte das Mammut wieder an. "Ein wenig Schmutz, ja, aber der Stoff ist nicht zu empfindlich. Das konnte ich beheben, danke der Nachfrage." Als wäre ihr ein Gedanke gekommen wandte sie sich ihm lachend zu. "Oh, ich verstehe jetzt, du hast angenommen, es wäre ein Kimono gewesen? Ja, dann steckte ich wirklich in der Bredouille, denn bei denen muss zur Reinigung jede Naht aufgetrennt werden..." Das Mammut hüstelte, weil es fürchtete, sein Verwirrung würde sich optisch noch unangenehmer als Froschaugen auswirken. Nun gluckste Lalako, klapste sich leicht die Stirn. "Herrjemine, nun habe ich alles durcheinander gebracht, nicht wahr? Entschuldige, manchmal geht es so mit mir durch, dass ich gar nicht merke, wenn ich in Fach-Japanisch abgleite." Hastig schüttelte das Mammut sein Haupt, hob sogar beschwichtigend die entwischten Arme. "Nein, nein, ich habe schlicht keine Ahnung und bin schlecht präpariert!" Gestand er wie bei einer Examensprüfung, verwünschte die Hitze, die ihm in die Wangen stieg. Unter halb gesenkten Lidern studierte ihn Lalako mit einem neckenden Schmunzeln. "So, so, schlecht präpariert. Es ehrt mich, dass du dir so viele Gedanken um mich gemacht hast. Oder drohte dir Charlie mit schwerwiegenden Repressalien?" In ihrer samtig-weichen Stimme tanzte Vergnügen. Verlegen schwankte das Mammut von einem Bein aufs andere, hielt kaum den Blickkontakt aufrecht. "Nicht ganz derart...ich wollte nur unpassende Sujets vermeiden... allzu leicht kann man ja..." Brach er ab, packte die Arme wieder auf den Rücken, rollte die Schultern vor, als könne er die 2,05m spontan merklich reduzieren. "Das ist sehr aufmerksam von dir. Ich bemühe mich auch zumeist, ein leichtes, gut aufgelegtes Gespräch zu führen, nur fürchte ich, trotz aller Voraussicht, kann man nicht immer reüssieren, ganz gleich, wie sehr man darauf achtet, nichts Unangemessenes zu touchieren." Getröstet hob das Mammut den Kopf, lächelte scheu, fühlte sich erstaunlich verstanden in seinem ständigen Ringen um Teilhabe und Anerkennung. Lalako erlöste ihn nach einem langen Moment gegenseitigen Studiums. "Ich dachte, als ich 'Geisha-Look' sagte, hätte ich dich auf die falsche Fährte gesetzt. Bei deren Optik habe ich nur ganz wenige Anleihen genommen, wie etwa den Haarschmuck. Es ist mehr ihre Aufgabe, die geistvolle Unterhaltung als renommierte Künstlerinnen, von der ich mich inspirieren lasse." Langsam nahm sie ihren Spaziergang wieder auf, kleine Schritte, ein stilvolles Flanieren. "Ich kann weder singen noch ein Instrument spielen, doch wenn ich das richtig recherchiert habe, sollen Geishas auch gewandt Gespräche führen können, damit ihre Gäste sich entspannen." Sie zwinkerte dem Mammut zu. "Allerdings könnte ich wohl nie wie eine Geisha auftreten. So ein Kimono und der Obi, das ist der prächtige Schmuckgürtel, sind sehr kostspielig und teuer im Unterhalt. Dazu benötigt man eigentlich immer Hilfe beim Ankleiden. Das Schönheitsideal bringt auch Komplikationen mit sich." Der prüfende Blick der tiefschwarzen Augen erprobte, ob Interesse bestand, Details zu erfahren. Das Mammut, das hingerissen dieser schönen, samtigen Stimme gelauscht hatte, signalisierte prompt Aufklärungsinteresse. "Ich glaube, ich entsinne mich nur dieser weißen Farbe." Bekannte das Mammut grübelnd. Lalako ermutigte ihn mit einem Nicken. "Oh ja, eine helle Haut, die noch mit weißer Schminke betont wird, zählt auch dazu. Das ließe sich vielleicht noch aushalten, aber das Ideal besteht in einer geraden, schlanken Figur wie ein Bambus! Deshalb muss man diverse Polster und Schnürungen vornehmen, noch bevor an den Kimono überhaupt zu denken ist." Das Mammut stutzte. "Ist das möglicherweise wie bei einem Korsett?" Vage entsann er sich alter Zeichnungen mit Fischbein-geschnürten Damen, seltsamen Unterkonstruktionen für Reifröcke. Lalako zwinkerte. "Du bist auf der richtigen Spur, oh ja. Die technischen Finessen europäischer Korsagen gab es nicht unbedingt, aber wenn du dir ein Pinup-Girl vorstellst, das wie eine Bohnenstange erscheinen soll?" Deutete Lalako schmunzelnd die ungeheuren Herausforderungen an. Das Mammut zog die Augenbrauen zusammen. "Ich würde annehmen, dass das doch sehr unbequem sein muss." Hasardierte er wagemutig. Lalako lachte sanft. "Ganz recht, sogar entsetzlich unbequem. Das Resultat würden wir vielleicht auch als wenig reizvoll einschätzen. Allerdings ist die Körperhaltung und -sprache auch ganz anders, nur winzige Schritte, alles sehr kontrolliert und sehr aufrecht. Wollte ich besonders attraktiv erscheinen, müsste ich auch meinen Nacken anmutig freilegen." Das Mammut beäugte spontan den Nacken, den es über dem Mantelkragen zu besichtigen gab, errötete prompt, da eine sehr bewegliche Augenbraue höher wanderte. "Verzeihung, ich~ich glaube, ich kann nicht ganz folgen?" Stammelte das Mammut ertappt. "Nicht doch, ich verstehe deine Irritation, Mammut! Es ist nämlich so, dass eine bestimmte Linie vom Haaransatz im Nacken hinunter bis auf halbe Höhe zwischen den Schulterblättern als erotisch gilt. Deshalb werden die Kimonos hin und wieder, wenn man geneigt ist, diesen Effekt erzielen zu wollen, so arrangiert, dass man diese Partie sehen kann." Lalako zwinkerte ihm zu. "Alles in allem wäre ein Kimono nicht mein Fall. Es gibt da übrigens nur eine Standardgröße, die auf die jeweilige Körpergröße mit Schnürung und Faltung angepasst wird." Sie kicherte leise über den Ausdruck heilloser Verwirrung auf Mammuts Gesicht. "Mit moderner Kleidung ist das nicht zu vergleichen. Wir würden vermutlich einen Abendanzug oder ein besonders gearbeitetes Kleid auch nicht für sehr praktisch halten. Im Alltag wählt man zumeist Yukata, wenn man sich nicht ganz normal nach gängigem internationalen Standard kleidet. Deshalb habe ich auch eine Yukata im Schnitt zum Vorbild genommen. Die sind sehr viel leichter zu tragen, werden in Hotels oder heißen Bädern wie bei uns als Bademäntel oder Schlafanzug gestellt. Man bevorzugt sie in den feuchten, heißen Sommernächten, zu den Volksfesten oder Feuerwerken." Ein sanftes Strahlen erfüllte die feingeschnittenen Züge. Lalako drehte sich zu ihm herum, knöpfte den Mantel in der schwingenden A-Linie auf, präsentierte die Yukata mit breitem Schmuckband, zwinkerte und verbarg sie wieder, auch, weil es doch sehr unwirtlich war. "Die ist beeindruckend!" Komplimentierte das Mammut schüchtern, aber hingerissen. "Danke schön! Ich habe allerdings ein klein wenig gemogelt." Ließ Lalako ihn vertraulich wissen, lächelte. "Mit meinen 1,80m bin ich recht groß für die Originale, deshalb habe ich kreativ geschummelt. Glücklicherweise habe ich für meine zwei Kostüme mit Yukata Röcke und Blusen gefunden, die ich umarbeiten konnte." Das Mammut staunte unzensiert als Kompliment. Lalako neigte anmutig das Haupt, die nonverbale Kommunikation fehlerfrei entschlüsselnd. "Der Grundschnitt ist nicht so kompliziert, weißt du? Aber Stoff neu zu kaufen, das wollte ich nicht, also habe ich mich bei den Second-Hand-Angeboten umgesehen. Gut gearbeitete Nähte kann man ja auftrennen. Meine einfache Nähmaschine hat es mir leicht gemacht. Dazu alte Krawatten für Bänder und Verzierungen, schon steht die Kopie!" Graziös posierte sie, lächelte gleichzeitig entschuldigend für so viel Eigenlob. "Ich~ich finde es ganz außerordentlich...sehr beeindruckend!" Betonte das Mammut mit Verve, sich einmal nicht kontrollierend. "Ich glaube, dass ich so etwas ganz sicher nicht kreieren könnte!" Lalako lachte sanft, zwinkerte. "Du hast es ja auch noch nicht probiert, oder?" Das konnte man kaum bestreiten. Um die eigene Talentlosigkeit zu beweisen, setzte das Mammut gnadenlos die eigenen Schwächen dem Rampenlicht der Öffentlichkeit aus. "Mir gelingt es gerade mal, einen Knopf anzunähen, aber schon bei einem ausgerissenen Reißverschluss bin ich überfordert. Ohne Lineal kann ich keinen geraden Strich ziehen. Beim Kunstunterricht rette ich mich in Aufsätze zur Theorie. Obwohl ich gern die Arbeitsgruppen für Heimwerken und Ähnliches besuche, kann ich mich auf keinem Gebiet auszeichnen." Tapfer zwang das Mammut sich, in die tiefschwarzen Augen zu blicken und in aller Kläglichkeit aufzutreten. Interessiert studierte Lalako ihn. "Du besuchst Arbeitsgruppen? Oh, in der Gesamtschule, nicht wahr? Ist es dir sehr wichtig, dich mit Heimwerken zu befassen?" Zielsicher einen heiklen Punkt erkannt, was das Mammut für ein gutes Zeichen hielt. "Nur" leichte Konversation hätte er, wie er sich verlegen eingestand, sehr bedauert, weil es eine unüberwindliche Distanz bedeutete. "Meine Mutter ist der Auffassung, dass ich ein Handwerk ergreifen sollte, etwas Reelles als Beruf, da man damit ein Auskommen haben kann und es auch im Privaten praktisch ist." Das Mammut seufzte im Bass. "Ich teile ihre Vorstellung ja, nur bis jetzt bin ich ratlos, für was ich mich eignen könnte. Einige Berufstätigkeiten scheiden schon aus wegen meiner Statur." Mitfühlend betrachtete Lalako ihn. "Musst du dich jetzt schon entscheiden? Verzeihung, ich weiß ja gar nicht, wie alt du bist." Geschmeichelt, dass sich mal jemand fand, der ihn nicht für viel älter oder schon volljährig hielt, lächelte das Mammut schüchtern. "Ich bin 15 Jahre alt und darf schon bis zum Abitur weitermachen. So gesehen habe ich durchaus noch eine Galgenfrist, nur wäre es eine Erleichterung, einen Fingerzeig zu bekommen, in welche Richtung ich marschieren sollte." Lalako schmunzelte. "Wir gehen vermutlich in dieselbe Jahrgangsstufe. Ich gebe auch zu, dass ich noch gar nicht recht weiß, was ich mit mir anfangen soll. Wenn du also eine Empfehlung hast?" Neckte sie ihn sanft. Das Mammut grinste scheu zurück. Sie spazierten einige Schritte, in einem freundschaftlichen Einvernehmen, da räusperte sich das Mammut tapfer. "Darf ich noch etwas fragen? Vorhin, da fiel ein Wort, das ich nicht verstanden habe: kawaii?" Selbst ein Mammut erkannte, dass Gespräche über Steckenpferde und Liebhabereien eine gute Basis für den Aufbau engerer Beziehungen boten! "Ah!" Lalako lachte, nickte. "Das ist wieder meiner Schwadroniererei zuzuschreiben! Kawaii ist eine Art Eigenschaft, die man aus dem Japanischen vielleicht mit 'niedlich' oder 'süß' übersetzen könnte. Obwohl ich selbst gar nicht kawaii sein kann, weil ich zu groß bin, kann ich niedlich wirkende Accessoires einsetzen, kleine Stofftiere, Blumen, Glitzersteinchen. Ein bisschen so wie bei 'Hello Kitty'. Ist dir das ein Begriff?" Das Mammut rollte die Schultern ein. Entschuldigend lächelte Lalako, nahm den Rucksack herunter, barg ein Album. Zumindest ein gebundenes Werk, das mit Verzierungen aller Art geschmückt war. "Vielleicht erkennst du es?" Lalako tippte erst auf einen kleinen Aufkleber, reichte ihm das Album. Das Mammut studierte brav die Darstellung einer Art Katze mit Schleifchen. "Ich glaube, ich habe das Mal bei Kleidung im Discounter gesehen." Wagte er verlegen eine Einlassung, was Lalako ein Kichern entlockte. "Das kann gut sein! Du musst dich nicht grämen, zumeist zielt die Marke auf Mädchen ab. Nicht unbedingt etwas, was man ab der Mittelstufe noch anziehend finden würde." Artig überreichte das Mammut das Album wieder. "Charlie hat mir zwar erklärt, dass Cosplay eine sehr ernsthafte Beschäftigung ist, aber so komplex hatte ich mir das nicht ausgemalt." Bekannte er beeindruckt im Bass. Lalako schmunzelte. "Man kann es kompliziert machen, durchaus. Gleichzeitig ist es einfach eine Rolle mit einem Kostüm und Accessoires." Es sollte ihn trösten, das erkannte das Mammut. "Jetzt habe ich die ganze Zeit nur über mich gesprochen, sehr unhöflich von mir! Dabei wollte ich mich von meiner angenehmeren Seite zeigen und habe doch nicht mal gefragt, wie es dir ergangen ist!" Die feingeschnittenen Züge wirkten ernst. Eilig winkte das Mammut ab. "Oh, nein, ich bin wirklich sehr neugierig und habe Einiges gelernt! Zudem hatte ich ja nicht viel beizutragen." Lalako blieb stehen, betrachtete ihn ruhig. "Charlie sagte mir, dass die Polizei dich befragte und du am nächsten Morgen mit deiner Mutter aufs Revier gehen musstest." Verlegen räusperte sich das Mammut. "Das hing nur mit dem Protokoll für die Zeugenaussage zusammen. Da ich noch keinen Personalausweis habe, kam da ein Prozedere in Gang... Aber es war wirklich nicht der Rede wert, ganz und gar nicht!" Beteuerte er hastig. "Vielleicht sollte ich mich förmlich bei deinen Eltern entschuldigen. Die ganzen Umstände...." "Nicht notwendig, wirklich, keine Notwendigkeit vorhanden! Ich habe meiner Mutter alles erklärt. Wahrscheinlich wird man alles auf sich beruhen lassen, wegen Geringfügigkeit." Für einen Augenblick glaubte das Mammut, eine ganzkörperliche Verspannung wahrzunehmen, doch dann lächelte Lalako. "Charlie glaubt auch, dass wir nicht mit einem Verfahren rechnen müssen." Das Mammut verspürte Unbehagen, wusste das jedoch nicht konkret einzuordnen. Andererseits half es nichts, dem Thema demonstrativ auszuweichen, wie dem Weißen Elefanten im Raum. Mit derlei Konstellationen kannte er sich als Mammut schließlich aus. "Ist inzwischen dein Vater zurückgekehrt?" Lalako schüttelte betont leichthin den Kopf. "Nein, das geht nicht so rasch, denn dieser Auftrag ist wirklich wichtig. Als Innenarchitekt hat sich mein Vater eigentlich auf den Ausbau von Restaurants und Clubs spezialisiert, nur ist es seit dem Frühjahr angezeigt, sich unbedingt auch anderen Gebieten zu widmen." Unglücklich rang das Mammut die großen Hände. "Aber dann...bist du allein?" Erschrocken über sich selbst, weil ihm so etwas entschlüpfte, das WIRKLICH als sehr privat einzuschätzen war, hob er den Kopf, um eilig Schadensbegrenzung zu betreiben. Lalako legte einen schlanken Finger auf ihre Lippen. "Nein, du wirst nicht zu persönlich, Mammut. In der Tat bin ich momentan allein. Meine Eltern leben getrennt, meine Mutter ist in Hamburg geblieben und ich bin zu meinem Vater gezogen. Ich kann jederzeit mit ihnen sprechen, deshalb stellt sich für mich kein Problem dar. Meine Mutter hat zum Beispiel, als sie von dieser Angelegenheit erfuhr, gleich einen Kollegen kontaktiert, damit ich bei Bedarf einen rechtlichen Beistand habe. Sie ist als Juristin auf Handels- und Wirtschaftsrecht spezialisiert, verfügt jedoch über einen großes Netzwerk an Kontakten." Das Mammut haderte mit sich selbst. Ihm wäre es schlimm angekommen, in so einer Situation allein zu Hause zu sein. Möglicherweise war Lalako viel selbständiger und erwachsener! Sie schien seine Gedanken aufzufangen, lächelte sanft. "Danke für deine Besorgnis. Ich glaube, es hat mir gut getan, mich zurückziehen und fassen zu können. Außerdem habe ich den Eindruck, dass Charlie mich auch streng im Auge behält." Sie zwinkerte. Das Mammut errötete leicht und wusste, dass es sich verraten hatte, was Charlies Einlassungen zu ihrem Kumpel Hulk betraf. "Darf ich dich etwas unverschämt Persönliches fragen?" Lalako bleib stehen, betrachtete ihn aufmerksam. "Bitte sehr, frag nur!" Stammelte das Mammut, das sich an ausgleichende Gerechtigkeit erinnerte, schließlich damit angefangen hatte, unverschämt direkt zu werden! "Du hast nur von deiner Mutter gesprochen. Sind deine Eltern auch getrennt?" Das Mammut zögerte, straffte dann die Schultern. "Getrennt schon, also, nicht geschieden, nein. Lediglich...mein Vater ist quasi von einem Verwandtenbesuch nicht mehr zurückgekommen, vor einigen Jahren. Ich denke, ihm gefällt es, wo er ist. Meiner Mutter gefällt es hier, weil sie hier auch ihr Geschäft führt, einen Obst- und Gemüseladen, mit einigen Spezialitäten." Lalako lächelte sanft. "Danke, dass du mir geantwortet hast. Ich möchte mir gern ein genaueres Bild von dir machen. Mir helfen Details doch sehr." Prompt schoss dem Mammut das Blut in den Kopf. "Ich würde...sehr gern...dich auch besser kennenlernen. Wenn du einverstanden bist, natürlich." Bekannte er im heiseren Bass. Er erntete ein aufrichtiges Lächeln. "Dann sind wir uns einig. Allerdings benutze ich keine Sozialen Medien. Ich telefoniere oder schreibe E-Mails. Schreckt dich das ab?" Rasch schüttelte das Mammut sein Haupt. "Gar nicht! Ich mache mir auch nicht viel daraus." Die großen Hände wurden präsentiert. "Leider gelingt es mir auch nicht gut, mit einem Smartphone viel anzufangen. Wenn ich da etwas tippen soll, lässt die Treffergenauigkeit stark zu wünschen übrig." Zudem hatte er "kein Händchen" für Spiele und schauderte stets bei den Kosten, die das Abspielen von Filmen oder Ähnlichem auf Postkartenformat verursachte. Lalako lachte leise. "Wir scheinen ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein, oder? Allerdings tröstet es mich zu wissen, dass manche Dinge sich länger halten, als man ihnen prophezeit hat. Meine Großmutter schwört zum Beispiel auf ihren Plattenspieler, der immer noch tadellos seinen Dienst verrichtet, nach über 60 Jahren." Das fand das Mammut durchaus sehr beeindruckend. Inzwischen reichte ihm Lalako das Album und eine kleine Mappe mit Buntstiften. "Sei so nett, mir deine E-Mail-Adresse aufzuschreiben, ja, bitte?" Das Mammut balancierte Album und Mappe aus, wählte aus dem Angebot einen kobaltblauen Buntstift mit weicher Mine. "Soll ich die nächste freie Seite wählen?" Erkundigte er sich schüchtern. "Ja, bitte, das Lesezeichen ist eingeklemmt." Lalako entführte ihm die Stift-Mappe, beobachtete ihn. Sorgsam auf der Rechten aufgelegt notierte das Mammut mit Links die Kombination aus Buchstaben, Zahlen und Sonderzeichen. "...darf ich fragen...ist das ein Notizbuch, oder...?" Beim Aufblättern hatte das Mammut flüchtig Zeichnungen, Aufkleber, Schrift und Verzierungen in vielen Farben bemerkt. Lalako nahm erst den Stift, dann das Album entgegen, verstaute beides in ihrem Rucksack. "Es ist ein Glück-Album, Mammut. Ich notiere dort, was mich glücklich macht oder machen wird, wenn ich es tue." jßM- Kapitel 8 Mit einsetzendem Regen und fortschreitender Dunkelheit, immerhin befand man sich in der ersten Novemberwoche, beendeten sie ihr Treffen. Selbstverständlich bot das Mammut an, Lalako bis zur Haustür zu begleiten. Einlaufen würde ER bei Regen ganz sicher nicht! Lalako, die einen winzigen Schirm in ihrem Rucksack deponiert hatte, bat ihn eindringlich, rasch ins Trockene zu eilen. Es sei nicht nötig, sich selbst durchnässen zu lassen, wo sein Heimweg eindeutig kurz war. Das Mammut schickte sich drein. Es ließ in seinem Hinterkopf auch den Gedanken gelten, dass Lalako möglicherweise nicht wünschte, ihre Anschrift schon aufzudecken. Charlie hatte ihm schließlich angedeutet, dass sie unerwartet zurückgezogen lebte. In seinem kleinen Zimmer kontemplierte das Mammut nach der täglichen Einheit gymnastischer Übungen die gewonnenen Erkenntnisse. Man war sich, hoffentlich!, sympathisch und aufgeschlossen. Eine Konversation per E-Mail konnte arrangiert werden. Die persönliche Situation erschien, unter Vorbehalt, ein wenig schwierig: getrennt lebende Eltern, ein Umzug, eine ungewöhnliche Zurückhaltung bei den Sozialen Medien, ein erstaunliches Hobby. Das Mammut entschied, weil es keinen E-Mail-Eingang verzeichnen konnte, sich auf die Erweiterung seines Horizonts zu verlegen, notierte die Begriffe, die gefallen waren, schlug sie in einer alternativen Suchmaschine nach. Anschließend erinnerte sich das Mammut an einen Ausruf von Charlie, raufte sich die zum Filz neigenden Strähnen. Wie war das gleich mit dem Glück gewesen? jßM- Eine weitere Prüfung galt es an diesem Tag noch zu überstehen, von der das Mammut nichts geahnt hatte: Charlie erwies sich nämlich als hartnäckig, sprach tatsächlich im Obst- und Gemüseladen seiner Mutter vor, um zu demonstrieren, dass das Mammut a) sehr ritterlich gehandelt hatte und b) jegliche Vorhaltungen oder Sanktionen nicht gerechtfertigt sein konnten, falls der Frau Mama oder vielmehr Regierung einige Details über die Vorgänge nicht zu Gehör gebracht worden waren! Das Mammut bewegte sich, wenn es günstig war, im Lager oder, vor den Öffnungszeiten, auch vorne im Laden. Körpergröße und Kraft konnten nutzenstiftend eingesetzt werden, wenn es schwere Kartons zu transportieren galt oder hohe Regale zu reinigen. Gleichzeitig sorgte seine Statur jedoch auch für erhebliche Einschränkungen, wie er selbst erkannt hatte anlässlich einer Demonstration seiner Mutter. Wo er stand, war der Gang blockiert. Wer in seinem Schatten stand, bekam nur noch recht wenig Licht ab. Das konnte man, betreten auf die eigenen großen Füße starrend, kaum bestreiten. Zudem hatte das Mammut schon Erfahrungen gesammelt, wie einschüchternd seine Physis wirkte. Dass er selbst schüchtern und beinahe verzagt auf ANDERE reagierte, fiel da nicht ins Gewicht. Nun wurde er unvermutet am Abend zum Rapport in das Wohn-/Schlafzimmer einbestellt, durchaus nervös. "Charlie" war nicht gerade das, was seine Mutter als Grundschülerin erwarten würde, vermutete das Mammut. Zumindest schien jede Befürchtung zerstreut, er würde sich zu Eskapaden hinreißen lassen. Er solle auch nicht annehmen, sie hätte es vorgezogen, wenn er nicht auf den Hilferuf reagiert hätte. Nur müsse man eben bedacht agieren, in seiner Situation. Das Mammut nickte artig, versicherte, sich auch weiterhin zu besinnen, mit Zurückhaltung zu agieren. Keine leeren Worte, zu keiner Zeit hatte das Mammut die Autorität seiner Mutter in Zweifel gezogen! Kein pubertäres Aufbegehren, kein trotziger Protest, keine empörte Rebellion. Nicht, weil sein Verstand und sein Bauchgefühl etwa hinter seinem nur mühsam bei der Expansion gebremsten Körper hinterherhinkten. Nein, das Mammut konnte jeder Argumentation, die ihm Regeln verordnete, folgen. Er wurde aufgeklärt, welche Gründe einer Entscheidung zuzurechnen waren. Ein Prinzip, das seine Mutter verfolgte, seit sie erfahren hatte, wie man Gesetzestexte vorbereitete, mit verschiedenen Dimensionen, zu finanziellen und persönlichen Auswirkungen. Sie, die in ihrer Jugend nicht ermuntert wurde, Verdikte zu erforschen und Beweggründe zu erfahren, hielt dieses Prinzip für eine gelungene Kommunikationsbasis. Die Autorität lag bei ihr, ohne Zweifel, aber sie konnte sich rechtfertigen, um auch das Mammut aus innerer Überzeugung einzubinden. Wenn sie das Mammut streng dazu anhielt, sich nicht auf die Rudelbildung von Altersgenossen einzulassen, um Unsinn zu treiben, erfolgte diese Ermahnung aus rein rationalen Gründen. Tatsächlich mied das Mammut trotz seiner imposanten Statur Gruppen von Altersgenossen, die scheinbar ziellos herumspazierten. Es schloss sich auch nicht den Jugendlichen in der "Groß"-Familie an, die verstreut in der Gegend lebten, wo der Verwandtschaftsgrad Verästelungen annahm, die man kaum durchschauen konnte. Seine Mutter war der festen Überzeugung, dass all der Unsinn, der Ärger und die Kleinkriminalität daher rührten, dass die Jugendlichen zu viel Zeit hatten, zu privilegiert waren. Wer mitarbeiten musste, im Geschäft, im Betrieb oder im Haushalt, der kam nicht in die Verlegenheit, herumzulungern! Wer für den Lebensunterhalt sorgen musste, sich nicht allzu bequem auf Kinderstatus und Unterhaltspflicht der Eltern berufen konnte, neigte nicht zu lächerlich-albernen Aktionen! Deshalb sollte sich das Mammut als bevorzugt behandelt betrachten. Es durfte sich den ganzen Tag der Bildung widmen, musste nur selten arbeiten. Sicherlich, Haushaltsarbeiten waren zu übernehmen, aber sie befähigten ihn hervorragend, auf eigenen Füßen zu stehen. Zudem wollte er wohl kaum als lebensuntüchtig in Erscheinung treten, oder nicht? Das Mammut nickte folgsam und überzeugt. Es sah durchaus ein, dass es Chancen hatte, die andere gern genutzt hätten. Man musste berücksichtigen, dass seine medizinische Versorgung seiner Mutter auch Lasten auferlegte, die er kaum kompensieren konnte. Darum hielt das Mammut sich von allen fern, die derlei Betrachtungen für unangemessen konservativ, spießig, diktatorisch oder vorgestrig hielten. Es gab für ihn keinen Anlass zum Aufbegehren, keinen Grund, die Anordnungen seiner Mutter in Zweifel zu ziehen. Nicht nur, weil im Mammut ein scheues, kleines Mäuschen hauste. jßM- Aufgrund der Festlegungen, die mit Wochenbeginn "scharf geschaltet" wurden, entfiel die letzte "Gruseltour" auf der Burgruine. Man hoffte sehr darauf, sie im nächsten Jahr wieder aus ihrem Dornröschenschlaf wecken zu können, ohne die Pandemie-bedingten Klimmzüge. Silvain schmiegte sich an Linus an, tauschte mit ihm Eindrücke aus, froh über seine Schutzengel-Aufgabe und die Aussicht auf Feiertage am Jahresende. Horror, Grusel und Schrecken gehörten einfach nicht zu seinen Favoriten. Linus streichelte ihm sanft über die knochige Rückenpartie, brummte mit seiner rauen Stimme beipflichtend. Nein, alltägliches Grauen genügte ihm ebenfalls. Er zog die entspannte Zweisamkeit mit Silvain vor. Zudem bedauerte er grummelnd, dass sich leider doch niemand gefunden hatte, die höllischen Schwestern an sich zu fesseln! Glucksend kuschelte Silvain, seufzte friedlich. "Im Grunde sind sie ja zu bemitleiden. Ich sollte keine kostbare Zeit auf sie verschwenden. Wir haben einander doch viel Besseres zu bieten, nicht wahr?" Linus lachte leise, dechiffrierte diese subtile Aufforderung zur Unzucht jedoch mühelos. "Exakt! Wenn ich mich entsinne, dass wir ja bis Ende des Jahres ohne Sportunterricht sein werden..." Boten sich private Gymnastiklektionen gerade besonders an! jßM- Das Mammut vermisste den Schulsport nicht sonderlich, bedauerte aber die Absagen der zahlreichen Arbeitsgruppen, zumeist von ehrenamtlichen Freiwilligen betreut. In den weniger frequentierten Räumen konnte man das Angebot einfach nicht aufrechterhalten. Schon das Querlüften in den Räumen, in denen man nicht aus versicherungstechnischen Gründen jede Öffnung versiegelt hatte, bedeutete eine organisatorische Herausforderung. Kohlenstoffdioxid-Messgeräte gab es nur in begrenzter Anzahl. Luftfilter konnte man an einer Hand abzählen. Bei bis zu achtzügigen Klassen, verteilt auf Altbau und Containeranlage, eine unmögliche Situation! Im Schulhof wurden Partyzelte und Biertisch-Garnituren aufgestellt, alle zwanzig Minuten zeitversetzt gelüftet. Man durfte auch die Masken kurz abnehmen, durchschnaufen, auf dem eigenen Platz, im Stehen. Schon der Gang zur Toilette ging nur maskiert, Stoßlüftungsphase hin oder her. So herrschte eine gewisse Unruhe vor. Die Unterbrechungen minderten auch die Konzentration. Das Verfassen von Klassenarbeiten konnte nur in kleinteiligen Blöcken angegangen werden, mit der Abschätzung, ob man durchschnittlich lösungssicher auch diesen Korridor erreichte. Von Lalako erfuhr das Mammut über ihre E-Mail-Korrespondenz, dass man auch am altsprachlichen Gymnasium, sehr viel kleiner dimensioniert, mit den Herausforderungen rang. Kurzerhand wurde der komplette Lehrstoff für das jeweilige Jahr pro Fach zusammengestellt, die Jugendlichen recht häufig zum selbstständigen Lernen zu Hause angehalten. Wer das nicht konnte, aus welchen Gründen auch immer, wurde weiterhin in der Schule betreut, die so einem Hort ähnelte, pro Fach pro Woche zwei Stunden Präsenzunterricht. Alles unter Verweis auf die Unmöglichkeit, die Räume ausreichend belüften zu können. Ohnehin musste man sich auch von erträglichen Temperaturen verabschieden. Eine Heizung anzufeuern, die von Kaltluftzufuhr ständig torpediert wurde, führte nur zu unnötigen Ausgaben. Natürlich war es unbequem, maskiert in Hut und Mantel den Lernstoff zu bearbeiten, doch Umbauten im benötigten Ausmaß auf der Stelle...?! Schlichtweg unmöglich. Die Situation rief auch Eltern auf den Plan. Wer nicht im "Homeoffice" tätig sein konnte, dem missfiel die Idee, dass der Nachwuchs unbeaufsichtigt durch die Gegend stromern konnte. Zwar lud das Wetter nicht gerade dazu ein, doch Smartphone-bewehrt konnte man überall herumdaddeln oder Räume okkupieren, die eigentlich für andere gedacht waren, Spielplätze zum Beispiel. So wurden die Streifendienste verlagert, unterstützt von Meldeportalen, bei denen die Nachbarschaft Beobachtungen hinterließ. Unbeobachtet feiern oder ähnliche Geselligkeiten in Gruppen ausleben, das funktionierte so nicht mehr. Nichts, was das scheue Mammut vermisst hätte, da seine persönliche Lage sich nicht grundlegend geändert hatte: Schule, Krankengymnastik, Aushelfen, monatliche Untersuchung und Spritze. Nein, kein abenteuerlicher Alltag, ganz und gar nicht. Die Überschaubarkeit empfand das Mammut als beruhigend. Jedoch, nun wurde es knifflig: Altersgenossen hielten es wahrscheinlich anders, weshalb das Mammut überlegte, wie es sich mit Lalako austauschen sollte. Seine "Unsportlichkeit" war kurz thematisiert worden, was ihm ein verblüffend vehementes Verständnis für seine hormonelle Tortur einbrachte. In die Welt des Cosplay war er sehr vorsichtig auf theoretischer Ebene eingetaucht. Alltag, sprich Schule, oh du liebe Güte, DAS genügte gerade mal als kurze Verortung! »Worüber unterhalten sich die anderen?!« Dachte das Mammut mit wachsender Verzweiflung. Serien, vermutlich, die gestreamt wurden, also gegen Bezahlung von kommerziellen Dienstleistern über das Internet. Nichts, was bei ihm zu Hause üblich war. Allzu viel Zeit zum Fernsehen hatte seine Mutter nicht. Da sie ihr Bett abends im Wohn-/Schlafzimmer aufschlug, konnte sich das Mammut auch gar nicht des Geräts bedienen. Zudem verfügte er ja über einen Computer, das musste genügen! Der Internetanschluss reichte für den Hausgebrauch. Die schnelle Verbindung für Filme bot sich nicht an. Ohnehin nutzte das Mammut den Rechner hauptsächlich für Hausaufgaben und Recherchen. Computerspiele goutierte seine Mutter nicht. Musik hören, selbst fabrizieren, Bilder, Fotos, Filme: das konnte man durchaus erledigen. Wenn auch nicht mit seinem recht betagten Rechner, nein! In der Schule hatte er in den Arbeitsgruppen die Grundzüge kennengelernt. Wieder schlug seine Talentfreiheit zu: nichts konnte ihn so fesseln, ihn auszeichnen, dass er sich darin verlor, Zeit und nicht vorhandenes Geld investieren wollte. Was also tat man so, als Mammut? Da wurde es knifflig. Das Mammut dachte häufig einfach nach, über Begegnungen, Erlebnisse, Reaktionen. Es grübelte. Eine Beschäftigung, die von außen wie Faulenzen aussah, weil man ja nichts tat, zudem ausgesprochen altmodisch, vor sich hin sinnieren! Das Mammut befand sich wohl kaum auf dem Pfad, die letzten Geheimnisse der Astrophysik aufzulösen! Richtig. Das Mammut versuchte zu begreifen, wie andere auf Ideen kamen, wie sie den Kompass ausrichteten und Antworten fanden, einfach auf andere zugingen, sich unterhielten, Bekanntschaften vertieften. Wie das so funktionierte, Verbindungen zu den Mitmenschen zu unterhalten, weil man da so furchtbar viel, gänzlich ohne Absicht, verderben konnte, missverstanden wurde, Gefühle verletzte, nie intendiert! Wie weit durfte man in einen anderen Menschen dringen, wenn man verstehen wollte? Es war zum Haare raufen! Was das Mammut hin und wieder tat, ohne dass es der filzigen Qualität geschadet hätte. War es nicht feige, mit sich allein zufrieden zu sein, anzunehmen, dass das die beste Variante darstellte? Weil man keine Ahnung hatte, wie das zu bewerkstelligen war, sich anzufreunden und diesen Zustand über die Zeit zu bewahren. Man KÖNNTE so weitermachen wie bisher. Das Mammut betrachtete sein gewaltiges Spiegelbild im Fenster, vor dem es häufig stand. Aber da gab es dieses Album über das Glück, in dem seine E-Mail-Adresse notiert war! Das Gefühl, dass Lalako sich ebenso verloren abstrampelte wie er selbst, um die Verbindung zur Gesellschaft nicht zu verlieren! Oder irrte er sich da? jßM- Charlie verwünschte den Umstand, dass die Schulbildung derartig unkoordiniert vor sich ging, dass sie Hulk oder Laurent nicht treffen konnte, um mal in Gesellschaft mit ihrem Longboard Meter abzuschnüren! Wenn nun auch noch ihr depperter Bruder dauernd in der Nähe war, weil man sich zwangsweise die Wohnung teilte! Grässlich! Mit Silvain und Linus hielt sie ein wenig Kontakt, aber da warfen schon die bevorstehenden Abitur-Prüfungen ihre Schatten voraus. Lernstoff musste wiederholt werden, weil man wirklich hoffte, im nächsten Frühjahr einigermaßen fair die Examina ablegen zu können. Für sie selbst bedeutete es den Wechsel in die Gesamtschule, die ihr Trottel-Bruder hoffentlich mit Abschluss verließ. Dazu waren jedoch keine besonderen Vorbereitungen notwendig, da sie recht ordentlich situiert war. Charlie entschied, das Mammut zu interviewen. Man konnte die Heldentat schließlich als Aufhänger nehmen, nach dem werten Befinden fragen! In ihrer direkten, unverblümten Art sah sich Charlie plötzlich einer seltsamen Situation gegenüber: Ratgeber zur Kommunikation. Das Mammut ließ sie wissen, dass es keine Ahnung hatte, worüber man sich mit Lalako unterhalten könnte, wenn Cosplay und Schule abgehakt waren! Das verschlug sogar Charlie für einen Moment die Sprache. jßM- "Also, Mammut, es gibt doch immer was zu bequatschen! Ich meine, wenn man quatschen will. Hin und wieder rollen wir eben auch einfach ganz lässig." Näherte Charlie sich dem Phänomen mit verblüffendem Einfühlungsvermögen. "Wenn du was wissen willst, musst du schon fragen, Kumpel. Mehr als ne dezente Abfuhr kann dir nich passieren, nich bei Laurent, noch weniger bei Lalako. Kannst ja auch bei dir anfangen, was rauslassen und dir ne Meinung einholen." Erklärte sie geduldig ihre Operationsbasis, um das Eis zu brechen. "Ich kann mir vorstellen, dass es n bisschen öde ist mit E-Mails, schon, aber dann nutz doch die Gelegenheit und lad zu nem Spaziergang ein! Sag, dass der Hund mal wieder Gassi müsste." Die erwartete Gegenfrage konterte Charlie mit einem frechen Lachen. "Welcher Hund? Ja, Mammut, DAS musst du jetzt selbst herausfinden." jßM- Das Mammut kannte sich mit Hunden über einer grobe Orientierung hinaus nicht aus. Sicher, für das Halten und das Ausführen gab es Regeln. Man trug dem Tier im Beutelchen die Hinterlassenschaften hinterher. Dazu musste, je nach Grad der Gefährlichkeit, zur Leine noch ein Beißkorb genutzt werden. Das Mammut war fast sicher, besser als jede gerade verfügbare Software, einen Hund als solchen auch erkennen zu können. Aber sich der korrekten Ausführung eines Betreuungsauftrags eines zumeist vierbeinigen Haustiers zu widmen?! Mit Lalako wagte das Mammut, sich dies zuzutrauen! Immerhin wäre ja EINE sachkundige und erfahrene Person dabei, richtig? Den leicht flüchtigen Impuls des tollkühnen Tatendurstes ausnutzend sandte das Mammut eine entsprechende Einladung aus. Wie gefährlich konnte es schon werden, Gassi zu gehen? jßM- Das Mammut erwartete nicht, Lalako in einer Yukata, genau! auftreten zu sehen. Mit diesem vornehmen Kleidungsstück flanierte man in gemäßigtem Tempo. Das würde nur sehr schwerfüßigen oder alten Vierbeinern genügen, mutmaßte das Mammut aus Beobachtungen. Deshalb war es durchaus gespannt, wie sich Lalako in einer "Hunde-Ausgeh-Aufmachung" präsentieren würde. Geduldig harrte das Mammut aus, fest entschlossen, vor gar nichts zu flüchten. Es achtete auch nicht sonderlich darauf, was sich hinter seinem breiten Rücken tat. Bis sich eine Hand höflich auf seine Schulter legte. jßM- "...oh!" Staunte das Mammut im Bass, gedämpft durch die geschenkte, prächtige Maske. Die Körpergröße stimmte, die schlanke Gestalt und die tiefschwarzen Augen unter anmutigen Augenbrauen. "Charlie hat dich wohl nicht eingeweiht, hm?" Die samtig-weiche, vertraute Stimme. Das Mammut errötete heftig. "Ich bin Laurent." jßM- Schlichte, gefütterte Stoffhosen, darüber ein Anorak, Wollschal und eine Wollmütze, alles in unterschiedlichen Blautönen gehalten. Nur die Maske mit ihren verschlungenen, blauen, stilisierten Blumenmustern bot etwas Abwechslung. Laurent apportierte einen Rucksack, und, was seine lautlose Annäherung erklärte, ein Longboard. Das Mammut seufzte hörbar. "Wie dumm von mir! Entschuldigung. Ist DAS der besagte Hund?" In den tiefschwarzen Augen funkelte ein Lächeln. jßM- Laurent verstaute das Longboard am Rucksack, so, wie das Mammut es bereits von Charlie kannte. "Als ich hierher umziehen sollte, versprach mein Vater, dass wir uns einen Hund zulegen." Er lachte leise. "Nur wurde ihm wohl klar, dass der arme Hund sich den ganzen Tag um sich selbst kümmern müsste. Bei einem Einrichtungstermin kam ihm der bestechende Gedanke, wie er mir erzählte. Die kleinen Umzugshelfer auf vier Rollen nennt man ja auch 'Hunde'. So ein gerade sehr angesagtes Longboard sieht ein wenig danach aus. Was liegt also näher, als ein hochwertiges Longboard und eine Sicherheitsausrüstung zu kaufen?" Eine rhetorische Frage. Das Mammut folgte artig auf gleicher Höhe. "Also präsentierte er mir sehr stolz meinen 'Hund'. Man ist auch an der frischen Luft, kommt ins Gespräch, vor allem, wenn man noch nie auf so einem rollenden Brett gestanden hat." In der samtig-weichen Stimme schwang Ironie mit. "Ich war fürchterlich unsicher. Es sah vermutlich erbarmungswürdig aus. Da hat Charlie mich unter ihre Fittiche genommen." Das Mammut seufzte noch mal vernehmlich. "Das tut mir leid, dass du extra mit deinem Longboard gekommen bist und nun laufen musst. Ich war wirklich nicht auf der Höhe." Entschuldigte er sich. Laurent lachte leise, wandte ihm den Kopf zu. "Mir tut es leid, dich zu enttäuschen, wenn du einen richtigen Hund erwartet hast. Damit kann ich nicht aufwarten." Eilig winkte das Mammut ab. "Oh nein, das macht gar nichts! Ich kenne mich mit Hunden nicht so gut aus und war schon ein wenig nervös." Oje, schon wieder so eine blamable Offenbarung! Einige Augenblicke schwiegen sie beide. Laurent blickte zu ihm hoch. "Es ist gar nicht so einfach, das richtige Tempo zu finden." Das Mammut nickte. Nein, ganz und gar nicht! jßM- "Darf ich etwas fragen?" Wagte das Mammut sich entschieden an die Front. "Bitte." Lud Laurent ein, spazierte neben ihm her. Die großen Hände zu Fäusten ballend ermahnte sich das Mammut, nicht zu kneifen. "Ich würde gerne wissen: diese Geishas, die Konversation betreiben, wie machen die das?" Wirklich zielgerichtet nahm sich diese erste Sondierung nicht aus, aber man musste ja auch nicht gleich das größte Hindernis ansteuern! Laurent überlegte, keine Kränkung transportierend. Immerhin betraf das Lalako, nicht wahr?! "Ich würde annehmen, dass sie geschult werden, so, wie sie Unterricht nehmen müssen für andere Kunstfertigkeiten." Das Mammut nickte langsam, sammelte sich für den Anlauf. "Wenn man das selbst auch beherrschen wollte?" Kreiste er scheu das heikle Thema ein. Neben ihm lachte Laurent leise. "Man fängt damit an, sich Ratgeber auszuleihen, wie man leichte Konversation führt, wie man das Eis bricht. Welche Strategien hilfreich sind, wenn man sich auf dünnes Eis begeben hat." Trotz Maske spürte das Mammut erneut peinliche Röte im Gesicht, die vermutlich die halbe Straße ausleuchtete. "Glücklicherweise gibt es Szenarien, die man einüben kann, damit man sich traut, überhaupt den ersten Schritt zu wagen. Sich nicht selbst verdammt, wenn man auch mal zurückgewiesen wird." Laurent blickte kurz zu ihm auf. "Beispielsweise lautet eine Empfehlung, sich immer zu notieren, wenn man erfolgreich war. Das ist erstaunlich, denn oft behält man ja nur die Fehlschläge in Erinnerung, fühlt sich getroffen und beschämt. So kann man sich jedoch selbst belegen, dass die Empirik für die eigenen Anstrengungen spricht." Das Mammut verdaute diese nicht sonderlich verklausulierten Hinweise darauf, wie sich Laurent eingearbeitet hatte. "Danke schön." Quittierte es artig im Bass, rang die Hände hinter dem Rücken, ob man nicht lieber doch auf anderes Gelände wechseln sollte. Aber welches?! Eben! "Ich, also, ich finde es schwierig, ein passendes Gesprächsthema zu wählen, etwas, das für die anderen interessant ist." Präzisierte das Mammut verlegen. Neben ihm nickte Laurent leicht. "Genau! Man möchte ja niemanden langweilen und gerade nur aus Toleranz ertragen werden." Ein wenig spitzbübisch klang die samtig-weiche Stimme doch, um den Worten die Schärfe zu nehmen. "Schließlich ist heute jeder Augenblick besonders, herausragend, das eigene Leben ein Abenteuer, oder nicht? Niemals gewöhnlich, alltäglich, beinahe banal, kleinteilig. Zumindest bei den anderen wähnt man sich stets in einem spannenden Film mit unzähligen Höhepunkten." Das Mammut zog den Schädel ein, rollte die breiten Schultern nach vorne. Merklich schrumpfen konnte es dabei jedoch nicht. "Dabei ist das gar nicht möglich, dass allen ständig ganz staunenswerte Dinge begegnen. Nur gerade scheint es in Mode zu sein, sich selbst entsprechend zu inszenieren. Wenn man jedoch nur einen durchschnittlichen Tag bestreitet, mit Aufstehen, Schulbesuch, Essen, Schlafengehen, was hat man da zu berichten?" Laurent blieb stehen, was das Mammut rasch bremste. Die tiefschwarzen Augen funkelten zu ihm hoch. "Da könnte man eigentlich nur schweigen, oder? Weil es so unmöglich erscheint, Interesse für den eigenen Beitrag oder die Person zu erwecken." Nervös tappte das Mammut von einem Fuß auf den anderen. "Die gute Nachricht besteht darin, dass die meisten Menschen sich mitteilen möchten. Auf ein offenes Ohr hoffen, nicht bloß auf Akklamierende. Selbst ein ganz banaler Einstieg, eine allgemeine Floskel ist erlaubt, um den ersten Schritt zu wagen." Laurent legte eine elegante, schlanke Hand auf den linken Oberarm des Mammuts. "Ich finde es auch schwierig, ein Gespräch zu führen, wenn ich nicht weiß, welche Themen mein Gegenüber interessiert. Wenn ich frage, könnte ich auf Ablehnung stoßen, mich blamieren, den Kontakt verlieren. Wage ich es nicht, wie soll MEIN Interesse mein Gegenüber erreichen?" jßM- Das Mammut fühlte sich hin und her gerissen. Eigentlich hätte man sich ja als verständige Person die Antworten schon selbst denken können! Es wirkte unhöflich, die eigene Unfähigkeit auf die andere Person zu projizieren, nicht wahr? Andererseits signalisierte Laurent ihm gerade deutlich, dass er mit seinen Zweifeln und Unsicherheiten nicht allein war. Verflixt noch mal nicht das verschreckte Mäuschen alles entscheiden lassen sollte! Zumindest nicht, wenn ihm daran lag, den Kontakt zu Laurent/Lalako zu verstärken. Da Laurent ihn hier traf, obwohl er sich so ungeschickt verhielt, DAS konnte man doch auch als Indiz nehmen, dass gegenseitiges Interesse vorhanden war. Richtig? "Wie schon festgestellt, es ist nicht so einfach. Nur, wenn wir gleichgültig wären." Laurents samtig-weiche Stimme klang aufmunternd, ein wenig angespannt. Was dem Mammut eingab, wie verletzend es sein musste, IMMER wieder Einladungen auszusprechen und auf Ausweichbewegungen zu treffen. Sofort meldete sich sein schlechtes Gewissen, initiierte eine Entschuldigung. "Es tut mir leid, dass ich so unbeholfen bin. Ich will mich gut vorbereiten, stelle mir dann selbst ein Bein." Bekannte das Mammut zerknirscht. Laurents Hand lag noch immer auf seinem Oberarm. "Wir könnten etwas vereinbaren." Schlug er vor. "Wir könnten uns versprechen, dass wir uns jede Frage anhören werden. Wenn wir eine Antwort nicht oder nicht sofort geben können, sprechen wir es so aus, damit wir beide verstehen, dass wir uns nicht als Person ablehnen, sondern nur diese eine Frage gerade nicht beantworten." Ein sehr vernünftiges Arrangement, stellte das Mammut sofort fest. Quasi auf Augenhöhe, wenn auch nicht physisch, einander ebenbürtig. "Das möchte ich gern versprechen." Versicherte das Mammut deshalb im Bass, vergaß sich soweit, die Rechte auszustrecken, zuckte betroffen zurück. "Oje!" Laurent lachte leise. "Haken wir kurz die Ellenbogen ineinander, was meinst du?" Das Mammut nickte hastig, beugte den Arm. Sich einhakend blickte Laurent zu ihm hoch. "Versprochen." "Versprochen!" Stimmte das Mammut ein, seufzte erleichtert. Laurent löste seinen Arm, schlenderte voraus. "Darf ich dir eine Frage stellen?" Erkundigte er sich höflich mit der samtigen Stimme, die das Mammut so faszinierend fand. "Bitte sehr!" Retournierte es eifrig. "Möchtest du auch jemanden finden, mit dem du enger verbunden sein kannst?" jßM- Es kostete das Mammut einige, sich wie Ewigkeiten anfühlende Augenblicke, bis alle Dimensionen dieser Frage identifiziert waren. Es gab gleich mehrere Botschaften zu entdecken, nicht nur, dass Laurent auf der Suche nach Freundschaft war, sondern von ihm dasselbe annahm! "Ich möchte das schon wollen." Hasardierte das Mammut sehr vorsichtig. "Ich bin mir nur nicht sicher." Verlegen brach das Mammut ab, weil es ja auch offenkundig war: wer an sich selbst und dem eigenen Wert zweifelte, konnte kaum finden, was anderen attraktiv erscheinen sollte. Laurent erwies sich als ermutigend langmütig. "Ich vermute, ich weiß, was du meinst. Schon ärgerlich, dass es einfach keine Anleitung gibt, wo man wie in diesen lächerlichen 'Persönlichkeitstests' vier Möglichkeiten zum Ankreuzen hat und nach zwanzig Fragen GENAU das passende Gegenstück charakterisiert wird." Er seufzte sanft. "Als machten wir uns nichts vor, schielten nicht schon auf die Auflösung, überschlügen die Punkte! Leider muss ich dir gestehen, dass ich damit aufgehört habe, mir Zusammenfassungen und Klappentexte von Filmen, Serien oder Buchreihen einzuprägen. Es erschien mir wie eine Spiegelfechterei, ein Narrenspiel auf der Bühne, stets nur vorzugeben, zu scheinen und nicht etwa zu sein." Beinahe poetisch, diese zartbittere Klage. Das Mammut entschied, diesen Wermut auszuschütten, auch wenn klebrig-süßer Bubble-Tea keine Alternative sein sollte. "Also, ich bin gar nicht in diese Verlegenheit gekommen, weil ich mich meistens gar nicht traue, mich so in ein Gespräch einzuladen. Außerdem mache ich die Leute auch nervös, glaube ich." Ergänzte das Mammut, lupfte die imposanten Schultern entschuldigend. Laurent blickte zu ihm auf, lachte leise. "Ich gebe mich geschlagen! Wenn ich mich korrekt entsinne, entspricht es auch nicht den Empfehlungen, sich die eigenen Unzulänglichkeiten zu präsentieren, um daraus einen Wettstreit der Kläglichkeit zu inszenieren." Das Mammut gluckste unterdrückt im Bass. "Da haben wir ein Thema, aber auch nicht das richtige!" Bemerkte es fast naseweis. Scheu suchte er in den tiefschwarzen Augen, fand das humorvolle Funkeln. "Wir können es auch richtig kompliziert und wissenschaftlich angehen." Lockte Laurent, zwinkerte. Aufmerksam blickte das Mammut über die 25 Zentimeter Distanz herunter. "Auf einem Flohmarkt habe ich ein gebrauchtes Vokabelsystem für Japanisch erstanden. Da befinden sich kleine Pappkarten mit den Schriftzeichen an einem Ring, jeden Tag eine Vokabel, so sortiert, dass man empirisch von den wichtigsten Worten langsam in andere Gebiete des Überlebens mäandert." Selbst wenn es vielleicht scherzhaft gemeint sein konnte: das Mammut nickte sofort eifrig. "Das hört sich prima an! Es sagt mir eher zu als diese Kalender." Verlegen verstummte das Mammut. "Kalender?" Hakte Laurent nach, die samtig-weiche Stimme dezent mit Amüsement garniert. Das Mammut raufte sich verlegen die filzigen Strähnen auf dem Schädel. "Also, meine Mutter meint es sehr gut mit mir und kauft mir jedes Jahr einen dieser Abreißkalender. Meistens mit Witzen in anderen Sprachen, sozusagen als Lernhilfen." "Keine guten Witze, hm?" Mutmaßte Laurent schmunzelnd, was seinem Tonfall anzuhören war. Entwaffnend bekannte das Mammut sein Hadern. "Zuerst muss man sie ja übersetzen. Ich kann mich allzu oft in den Opfern der Scherze wiederfinden." Laurent hob die elegante Hand, signalisierte zwei Finger. "Zum Protokoll: bereits zwei Gemeinsamkeiten gefunden! Kein Wettstreit der Kläglichkeit und keine grässlichen Witze zum Erlernen von Fremdsprachen. Wir machen uns gut, finde ich! Andere streiten sich schon, wenn sie gerade zwei Worte gewechselt haben." Das Mammut lachte befreit. Laurent blieb stehen, den Kopf leicht geneigt. Verunsichert hielt das Mammut an, ließ sich studieren. Zu seiner Verblüffung jedoch hakte sich Laurent einfach bei ihm unter. "Ich glaube, die große Kunst besteht gerade darin, sich im Alltag nicht voreinander zu verschließen, den anderen teilhaben lassen, an den kleinen, den banalen, den gewöhnlichen Ereignissen, damit aus diesen vielen, winzigen Begebenheiten ein festes Netz geknüpft wird. Im Grunde ist es doch das, was uns verbindet, oder nicht? Routine und Rituale." Das Mammut, erstaunt darüber, dass es nicht trippeln musste, weil es nicht die eigene Schrittlänge vorgeben konnte, lauschte aufmerksam. "Ich verlange jetzt aber nicht, tägliche Schnappschüsse vom Essen auszutauschen." Ließ Laurent ihn sanft, aber spöttisch wissen. Für das Mammut eine Erleichterung, was offenkundig seine Körpersprache verriet, mutmaßlich auch, weil er nicht bedachte, wie nahe sie einander gerade kamen. "Oje, habe ich mich jetzt als Stoffel diskreditiert, weil du Foodporn anziehend findest?" Murmelte Laurent, nicht ganz ohne Sorge in der weichen Stimme. "Nein, nein, ich finde nur, Essen und Vorlieben sorgen häufig für Streit!" Beschwichtigte das Mammut hastig. "Ich esse ja in der Mensa, das heißt, gerade ist es ziemlich eingeschränkt, also, nicht so fotogen." Brummte er verlegen. Nein, praktisch garniert, wenn es keine "Lunchpakete" gab, in Kunststoffnäpfe, stapelbar und vom Gebrauch gezeichnet, DAS regte sicherlich nicht den Appetit an. Laurent lachte leise, drückte ihm den Arm. "Schön, dann lassen wir das. Ich werde einfach die Vokabelkarte ablichten und dir übermitteln. Was meinst du, kurze Telefonate, geht das? Wir könnten einen zeitlichen Korridor festlegen." Eifrig nickte das Mammut, empfand diese Vereinbarung als durchaus konspirativ und ermutigend. So könnte man sich Schritt für Schritt aufeinander zubewegen! jßM- Kapitel 9 Charlie begrüßte es durchaus, dass die Hürde der Kommunikation genommen worden war. Das Mammut war schließlich ein Kumpel, auch ohne Longboard! Nach Charlies Eindruck tat es Laurent gut, etwas mehr Anschluss zu finden. Zum zweiten Halbjahr eingeschult zu werden, gleich "Homeschooling" zu absolvieren, das half nicht gerade, sich im Klassenverbund einzuleben. Zudem schienen sich dort viele schon ewig zu kennen, was das Hirn verkleisterte, wie sie an ihrem Deppen-Bruder feststellen konnte. Der hing auch immer mit denselben Pfeifen herum! Zugegeben, Rai war in Ordnung, aber der hatte zwischendurch auch woanders gelebt. Da konnte man wirklich nur hoffen, dass man nicht dieselbe Beklopptheit entwickelte! jßM- »Ich tu's!« Entschied das Mammut tollkühn, wählte ein leeres Notizheft aus, umweltfreundlich, aus Recyclingpapier, nicht geschmückt, nicht bemerkenswert. Aber darauf kam es nicht an, denn der Inhalt zählte! Sich für jeden Tag etwas notieren, was Mut, Überwindung, große Gedanken gekostet hatte, dann erfolgreich absolviert wurde. Vermutlich würden andere es für lächerlich ansehen, welche Kleinigkeiten ein Mammut beschäftigen konnten, doch für das Mammut waren es Stufen hoch aus dem tiefen Keller, nach draußen, auf den Bürgersteig. Vielleicht verschreckte es ja gar nicht so viele Leute, wie es annahm? Möglicherweise fanden auch nicht alle, dass es allein durch die schieren Ausmaße aufdringlich und dominant sein würde? Ja, Zeichentalent stellte sich vermutlich nicht ein. Unerschrocken malte das Mammut das Schriftzeichen (Kanji) des Tages dazu. Die stilisierte Bildschrift bot neben dem Inhalt immer einen Ansatz, sich darüber auszutauschen, nach dem lebenden Vorbild zu suchen. Hatte man diesen Faden erst mal geknüpft, rollte der sich weiter aus, als gebe es ein Konversationsknäuel mit erstaunlicher Laufweite. Außerdem amüsierte es, den grässlich faden Witz des Tages auf Spanisch vorgetragen zu bekommen. Das Mammut lernte Englisch und Französisch, weshalb seine Mutter es für einfach hielt, auch noch Spanisch zu addieren. Was sich für das Mammut allerdings nicht unbedingt als sehr simpel ausnahm. Hätte man ihn etwas auf Marokkanisch oder Tunesisch gefragt, hätte er wohl erbärmlich herumgestammelt. Sprachtalent gerade so für den Hausgebrauch, nicht darüber hinaus! Laurent/Lalako lachte mitfühlend, tröstete, dass man mit zwei Sprachen, die man regelmäßig nutzte, schon recht gut aufgestellt sei, sonst verlöre sich über die Zeit ohnehin das, was man mühsam antrainiert hatte. Übung machte schließlich den Meister, und zwar ständig! Eine gute Devise, wie das Mammut fand, an seine eigene Mission denkend: Konversation, positives Denken, jeden Tag eine aufmunternde Notiz als Bilanz! Nur eine Sache stimmte das Mammut ein wenig beklommen: wie herrlich warm und erfüllend es sich anfühlte, wenn die samtig-weiche Stimme an seine Ohren drang, plauderte, lachte, neckte. So sehr, dass man sich daran gewöhnen und es nie mehr missen mochte. jßM- Als Cornelius sich selbst hinein ließ, tatkräftig unterstützt von Lilo, die vermutlich diesen Kniff nicht beherrschen sollte, erwartete ihn eine vertraute Situation: Lilo und Ruru saßen auf dem "Arme-Sünden"-Bänkchen, harrten der Abholung. "Sollen wir warten, oder können wir uns heimlich davonmachen?" Neckte er gutmütig, ging in die Hocke. "Ach, gerade ist noch Vorlesezeit, aber es ist ohnehin ein blöde Geschichte." Ließ Lilo ihn wissen, rappelte sich auf. "Überhaupt ist das alles wieder so ein Quatsch!" Sie suchte rasch ihre Habseligkeiten zusammen, während Ruru es ihr folgsam nachtat. "Aha?" Cornelius federte hoch, studierte die Freunde. Lilo wirkte wie gewohnt unbeeindruckt von Strafmaßnahmen, während Ruru nachdenklich blickte. "Es war nur wegen dem blöden Moritz. Der hat Unsinn verbreitet und wollte Ärger anstiften." Ruru, der sich seine Mütze über die Ohren zupfte, nickte. "Fake news." Ergänzte er grimmig. Da Junias ihm diese Begrifflichkeit erklärt hatte, musste man davon ausgehen, dass er sie mit Absicht wählte. "Genau! Der hat herumgeblökt, dass man keine Laternen benutzen darf, also gab es Geheul, aber das hat der Miesling nur gesagt, um sich in den Mittelpunkt zu stellen." Lilo, ebenfalls ausgehfertig, betätigte die eigentlich ausbruchsichere Tür. "Ich hab gesagt, dass er Blödsinn redet. Man darf klar Laternen anzünden, nur nicht in einer großen Gruppe herum marschieren." Ruru, der nach Cornelius' Hand griff, nickte knapp. "Henk hat das heute Morgen vorgelesen. Laternen sind erlaubt." Lilo fasste nach Cornelius' anderer Hand. Immerhin hatte der zwei und ging in der Mitte! Außerdem teilte Ruru seine Brüder, da musste sie sich nicht zurückhalten. "Der ist ein Erz-Stinker, der Moritz! Meine Mutter findet seine Mutter interessant, deshalb soll ich nett zu ihm sein. Will ich aber nicht. Ich bin höflich und gehe ihm aus dem Weg." Cornelius entwickelte rasch eine gewisse Vorstellung, wie das Ergebnis dieser Taktik aussah. "Aber der rennt mir ständig nach! Will sich anfreunden, sagt er, ist aber stramm gelogen! Der will bloß herumjammern, damit ich Ärger bekomme. Dann grinst er widerlich, wie Gammelfisch aus nem Eimer!" Vermutlich ein weiterer Ausspruch des verehrten Großvaters. "Weil er so ein Schauspiel abgeliefert hat, durftet ihr nicht zur Vorlesezeit?" Fasste Cornelius zusammen. "Nur ich." Korrigierte Lilo so direkt wie aufrichtig. "Ich bin auch nicht gegangen." Stellte Ruru entschieden fest. "Es war nicht richtig, Lilo zu bestrafen. Dieser Moritz ist ein Heimtücker!" DEN Begriff kannte Cornelius von seinem geliebten Halbbruder noch nicht. Dass Ruru solidarisch zu Lilo hielt, überraschte ihn hingegen keineswegs. "Er könnte uns in Ruhe lassen, tut er aber nicht, weil er Ärger machen will und ihn uns dann in die Schuhe schiebt. Ich mag so was nicht. Das ist ungezogen. Ich möchte nicht mit Kindern spielen, die so etwas tun." Ruru suchte in seinen Augen nach Kritik oder Tadel. Cornelius zwinkerte, drückte sanft die kleine Hand. "Das verstehe ich. Sicher wird er mal auffallen." Lilo schnaubte auf der anderen Seite. "Dann hat es ein Ende mit der Übeltäterei? Höchstens bei Wilhelm Busch, da sind sie in eine Knochenmühle gefallen. Ich glaub nicht, dass es hier so was gibt." Alle anderen wären wohl schockiert gewesen, doch die Halbbrüder hatten sich an Lilos nüchterne Beiträge bereits gewöhnt. Mutmaßlich stammte auch dieser literarische Ausflug aus dem unerschöpflichen Fundus der Sprüche des Großvaters. "Auffallen wird er bestimmt, so wie seine Mutter. Ne aufgetakelte Schabracke, das würde Großvater sagen. Total eingepinselt und in Kriegsbemalung, dazu ne Stink-Wolke wie im Puff, aber das soll ich nicht laut sagen." Dabei grinste sie verschmitzt. Cornelius musste lachen. "Ich kann nicht erkennen, dass ihr was Schlimmes verbrochen habt. Welche Vorlesegeschichte ist euch denn entgangen?" Lilo schnaubte abschätzig. "Wieder so ein Quatsch zum Gehirnwaschen! Ein Römer namens Martin säbelt seinen Umhang auseinander, damit ein Bettler nicht friert." Sie warf einen prüfenden Blick hoch zu Cornelius, ob der ihrer Schilderung so weit folgen konnte. "Alle sollen denken: was für ein netter Bursche, während wir so knauserig sind und uns schämen sollten. Großvater sagt, das ist ein riesiger Schwindel. Erstmal ist ein kaputter Umhang gar nicht mehr hilfreich, höchstens als Schal. Zweitens ist die Sache so angelegt, dass der Martin nicht richtig hilft, weil der Bettler immer noch Bettler ist. Das hat nämlich System, sagt Großvater. Ohne Arme und Bettler könnte man nämlich nicht großherzig tun und andere sich schämen lassen. Wenn man RICHTIG helfen würde, sodass es keine Armen mehr gäbe, wäre das System total kaputt. Man kann den Leuten dann auch keine Angst mehr machen. Deshalb soll ich mir nicht so Seemannsgarn auftischen lassen, sonst werde ich angeschmiert und gucke dumm aus der Wäsche." Beendete sie das Elaborat zur gesellschaftlichen Situation. Die Halbbrüder tauschten einen kurzen Blick aus. Ruru räusperte sich. "Ich hätte lieber etwas Wichtiges vorgelesen bekommen. Wie man aus Flaschenkürbissen eine Rassel macht, zum Beispiel." Das Austrocknen verlangte nach Übung! Cornelius schmunzelte. "Mal sehen, was wir heute Abend machen, wenn wir die Laternen anzünden. Vorher müssen wir allerdings ein klein wenig fleißig sein." Sofort hatte er die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er lächelte. "Ich habe Junias vorhin sehr eifrig um den Backofen kreiseln sehen." An ihm vorbei grinsten sich die Freunde breit an. Alle ihre selbst gefertigten Laternen anzünden und vorher Leckereien mit Junias herstellen, die dann verzehrt wurden?! "Huihuihuihui!" jßM- Es sollte ein Zeichen sein, im Rahmen der Beschränkungen. Deshalb hatte ein Bündnis verschiedener Jugendorganisationen dazu aufgerufen, an verschiedenen Plätzen Lichter aufzustellen, eine Stunde lang Lichter oder Laternen brennen lassen, als Symbol von Verbundenheit und Hoffnung. Dass "die Jugend" nicht nur aus renitenten Egoisten bestand, die sich ein "Recht" auf Feiern, Regelübertretungen und Rausch nicht nehmen lassen wollten. Um den Regeln zu entsprechen, waren auf die ausgewählten Plätzen Markierungen aufgebracht. Alle konnten sich über eine Webseite anmelden, bekamen eine Markierung zugewiesen. Aufstellen und späteres Auseinandergehen geordnet und nacheinander, bitte. Masken waren obligatorisch. Kerzen, LEDs, Leuchtstäbe, Laternen, Teelichter, hier gab es die freie Wahl. Ausgenommen waren selbstredend Fackeln, Laser jeder Art, Feuerwerk und "Bengalos". Das Mammut schlug vor, sich zu beteiligen. Frische Luft, ein bisschen Bewegung und ein wenig Erbauung. Artig holte es die Erlaubnis seiner Mutter ein, die von politischen Kundgebungen nicht viel hielt, aber diese Geste als harmlos einschätzte. Nun wartete das Mammut artig neben der Markierung, ausgestattet mit einer altmodischen Stalllaterne, die umfunktioniert worden war, um ein Teelicht zu beherbergen. Ordnungskräfte mit Warnwesten und Leuchtstäben wiesen die Eintreffenden auf ihre Markierungen. Der Platz füllte sich langsam. Das Mammut sah sich angespannt um. Wer nicht zu maximal dritt stand, leuchtete sich Ponem und Maske mit dem Smartphone aus, um sekündlich die Positionen durchzugeben oder abzufragen, obwohl eine grobe Orientierung und ein Blick vermutlich genügt hätten. Das Mammut versagte sich den Blick auf die altmodische Armbanduhr. Das Telefon zu zücken hätte auch keinen Sinn, da sie sich auf den Zeitkorridor geeinigt hatten und Laurent nur SMS sandte, wenn er ausnahmsweise erst später erreichbar war. Außerdem, pflegte das Mammut sich grundsätzlich zu sagen, nützten Uhrzeit und andere Quellen nichts, wenn die Realität stur blieb. Kam der Bus später, änderte keine Zeitansage diesen Umstand. Deshalb wartete er auch geduldig, weil jeder Anfall von Unmut nicht hilfreich sein konnte. Langsam kreiselte er um die eigene Achse, achtete darauf, nicht die Stalllaterne zu touchieren. Im Augenwinkel glaubte er, einen rosafarbenen Schopf zu sehen, rotierte blitzartig zurück. Lalako! Geschmeidig näherte sie sich, erregte dabei Aufsehen, nicht nur der eleganten Hochsteckfrisur im Stil der "Bienenkörbe" geschuldet. Ein bis auf die Füße reichender, in steife Falten geschlagener Hosenrock wurde mit einem "Paperbag"-Stil in der Taille gebunden. Darüber schimmerte eine langärmlige Bluse. Um den Hals wehte ein sehr langer, hauchdünner Schal aus Chiffon, reichte bis zu den Kniekehlen. Diese Vision aus weinrotem Hosenrock, violetter Bluse und orchideenfarbenem Schal komplettierte eine Umhängetasche aus rosafarbenem Kunstfell. Lalako strebte ihm entgegen. Die steife Brise wehte den Schal auf, in die Hände eines jungen Mannes, der diesen Umstand nutzte, um noch intensiver "anzubändeln", angefeuert von seinen zwei Begleitern. Das Mammut zögerte. Die Order lautete ja, die Abstände einzuhalten. Lalako hinter der kunstfertigen Maske stilisierter Chrysanthemen signalisierte höflich Eile, doch die Absage schien nicht zu genügen. Das rief jedoch eine Ordnerin auf den Plan, die durchdringend in ihre Trillerpfeife blies. Man zuckte zusammen, Lalako entwischte, den Schal eng um sich windend. "Entschuldigung, ich bin zu spät." Das Mammut registrierte das Zittern. "Du siehst wunderschön aus, wenn ich das sagen darf." Stellte es fest, um tollkühn Kritik anzubringen. "Allerdings scheint es doch etwas zu frisch zu sein." Lalako blinzelte, die Schultern hochgezogen, immer noch rasch atmend, was dem Mammut die Entscheidung erleichterte. "Ich gebe dir meinen Parka." Bevor es dazu kommen konnte, hatten die eleganten Hände den Reißverschluss heruntergezogen, den Parka aufgeschlagen. Lalako wickelte die Arme um das Mammut, unter seinen Armen hindurch, schmiegte sich eng an ihn. "Du bist so warm!" Hörte er ein leises Keuchen. Kein Wunder, der dünne Pullover, den er übergestreift hatte, isolierte nicht. Durchaus beabsichtigt, weil das Mammut von Natur aus gegen Kälte mühelos gewappnet war, ungern schwitzen wollte. Man wusste nie, ob man nicht doch unangenehm roch! Lalako bebte noch immer, das spürte das Mammut, legte vorsichtig die Arme um die schlanke Gestalt, wagte es, ganz unverschämt, mit einer großen Hand über den zarten Nacken zu streichen. Vielleicht war es bloß die Kälte, aber das Mammut zweifelte. jßM- Manche hielten Schilder mit Danksagungen an die Alltagsheldinnen und -helden. Musik wurde abgespielt, jedoch nur gedämpft, auf die eigene Gruppe beschränkt. Es gab sehr prächtige Laternen zu bewundern. Das Mammut bemerkte, dass man zu ihnen herübersah. Zum ersten Mal verspürte es jedoch nicht den Drang, sich kleinzumachen, zurückzutreten, aus dem Fokus zu fliehen. Weil die Blicke kaum IHM gelten konnten. "Danke, dass du heute gekommen bist." Raunte das Mammut im Bass leise. "Leider habe ich keine schöne Laterne oder ein kunstvolles Windlicht. Meine Mutter findet, dass reine Dekorationsartikel zu Hause einfach zu viel Arbeit machen. Putzen, abstauben, einreiben..." Was das Mammut durchaus nachvollziehen konnte. Behutsam kreiste es mit den großen Händen über Nacken, Schulterblätter und Rückgrat. Es fühlte sich so an, als ließe das merkliche Beben graduell nach. Zudem schien Lalakos Atem nicht mehr so hastig zu gehen. "Es ist zwar politisch nicht korrekt." Das Mammut holte tapfer Luft. "Aber ich finde, du bist die schönste und eleganteste Person hier. Ich bin stolz, dass wir hier zusammen stehen. Allein hätte ich mich nicht getraut." Lalako schwieg weiter, eng an ihn geschmiegt. Das Mammut nahm das keineswegs übel. Es hatte mitteilen können, was ihn umtrieb, fand sich hier, inmitten von Leuten, ohne sich wegzuducken. Immer noch groß und breit und überdimensioniert, trotzdem jedoch nicht von Fluchtimpulsen beherrscht. "Du bist so unglaublich warm." Gedämpft klang die weiche Stimme zu ihm hoch. Unter der Maske lächelte das Mammut schief. "Na ja, ich bin quasi für Eiszeiten gut gerüstet und bringe das passende Fell mit. Manchmal ist das ein wenig lästig, aber jetzt bin ich froh, wenn ich dich aufwärmen kann." Lalako wandte den Kopf, der auf seinem Brustkorb gelegen hatte, blickte zu ihm hoch. Unter der Maske lächelte das Mammut verlegen. Der Druck der Fingerspitzen auf seinem Rücken verstärkte sich kurz, weil Lalako auf die Spitzen ihrer weißen Turnschuhe stieg, ihn durch die Masken auf den Mund küsste. jßM- Außer einem aufgaloppierenden Herzschlag verspürte das Mammut nicht, was es angenommen hätte. Wenn ihm eine derartige Entwicklung je in den Sinn gekommen wäre. Keine Panik, keine Scham, keine Verwirrung, kein völliges Tohuwabohu sich überschlagender Gedanken und Befürchtungen im Schädel. Zuverlässig und sanft wärmte er Lalako einfach weiter in seinen Armen und dem Parka, beleuchtet von der Stalllaterne zu ihren Füßen. jßM- "Da bist du ja wieder." Stellte Junias fest, zog sich die Kopfhörer von den silbrig-grauen Locken. Cornelius, der nur sehr leise, pro forma ans Türblatt geklopft hatte, lächelte, nahm wie angeboten auf Junias' Bett Platz. "War es sehr unangenehm?" Erkundigte sich Junias, die burgunderroten Augen aufmerksam auf Cornelius gerichtet. Der zwinkerte. "Unangenehm? Haushaltspflichten auf dem Fahrrad zu entschlüpfen, an der frischen Luft eine Runde drehen, vorher perfekt verköstigt?" Neckte er rhetorisch den zwei Jahre älteren Jugendlichen. Junias' Gesicht blieb gewohnt ausdruckslos. Dafür knuffte er Cornelius robust in die Seite. "Musstest du dich nicht Tyrannosaurus Regina stellen?" Immerhin stand zu erwarten, dass man Lilos Mutter über die neueste Ungezogenheit ihrer Tochter in Kenntnis gesetzt hatte. Eine kalte, elegante Hand einfangend schmunzelte Cornelius. "Oh, ich hatte gerade das Rad aufgebockt und Lilo vom Sozius gehoben, da fegte sie schon heran. Offenbar macht sie sich tatsächlich was aus der Meinung dieser 'aufgetakelten Schabracke'." Zitierte er Lilo, verflocht ihre Finger miteinander. "Doch Lilo ging sofort zur Attacke über, ich kam gar nicht dazu, irgendwas zu sagen. Achtmal fiel das Wort 'Heimtücker', was ihr wohl besonders gefällt. Der Vortrag gipfelte in ihrem Urteil, dass zumindest in einer Sache gute Nachrichten zu erwarten seien." Er wandte den Kopf, zwinkerte, erhöhte die Spannung mit dieser Pause ein wenig. "Dem Umstand zu verdanken, dass der Heimtücker Moritz genannt worden sei, was sicher in einer Knochenmühle enden würde." Junias gluckste, lehnte sich an. "Ich kann mir den Gesichtsausdruck lebhaft vorstellen." Cornelius grinste. "Ja, da entgleisten sämtliche Züge. Eine literarische Bildung wird zwar gepriesen, aber ich fürchte, dass Wilhelm Busch nun zu den verbotenen Autoren zählt." Junias schnaubte. "Vermutlich wird alles einkassiert, was nicht nach 'Wendy' oder 'Conny' schreit." Bemerkte er verächtlich, sich noch deutlich der "Sport/Reiten/Pferde"-Debatte entsinnend. Lächelnd drückte Cornelius einen warmen Kuss auf den kalten Handrücken. "Das hätte keinen Zweck. Lilo war dank deiner hochgelobten kulinarischen Künste voller Hasenpower und kämpferisch wie nur was. Sie ist nicht einzuschüchtern." Er seufzte jedoch theatralisch. Junias lupfte eine Augenbraue. "Für die Zukunft sehe ich allerdings ein Dilemma auf uns zukommen." "Aha?" Cornelius zwinkerte herausfordernd. "Sie findet, dass DU am besten für die leibliche Versorgung geeignet bist. Deshalb ist sie der Auffassung, dass wir ALLE hier zusammenleben sollten. Wenn wir noch Platz für eine etwas größere Werkstatt und/oder ein Hausboot finden." Junias reagierte keineswegs schockiert, sondern grummelte grimmig. Was Cornelius verblüffte, der erwartet hatte, die nicht-menschliche Seite deutlich gegen so eine "Unordnung" protestieren zu hören. Vorsichtig drehte er sich, damit er Junias direkt gegenübersaß, der seinem Blick auswich, jedoch nicht die zweite, kalte Hand zurückzog, als sie ergriffen wurde. "Verrätst du es mir?" Erkundigte sich Cornelius sanft und feinfühlig. Ein Schnauben, das die silbrig-grauen Locken kurz auffliegen ließ. "Es gibt so etwas. Früher, auf dem altsprachlichen Gymnasium, da war ein Junge, der in so einer Hausgemeinschaft lebte." Junias nahm Anlauf, was seltsam anmutete, kannte man doch seine Eloquenz und Selbstsicherheit. "Ich wäre nicht abgeneigt, mit Luzie, Henk, Ruru, dir und Lilo zusammenzuleben, aber mein Kopf schmerzt bei der Vorstellung, ich könnte mich verraten." Ihre Hände anhebend reduzierte Cornelius die Distanz, beugte sich tiefer, touchierte Junias' kalte Nasenspitze mit der eigenen. Der hob leicht den Kopf, sodass Cornelius ihn ebenso liebevoll wie engagiert küssen konnte. Gegen die Angst des mütterlichen Erbes anging, ihn spüren ließ, dass kein unauflöslicher Konflikt drohte. Einige Atemzüge später kletterte Junias ihm auf den Schoß, umarmte ihn, stahl sich ein wenig Blut. Cornelius revanchierte sich mit leidenschaftlichem Schnäbeln, was oberflächlich tarnte, die textilen Hindernisse zu beseitigen. "Oho, Kamerad, ganz schön forsch!" Tadelte Junias leicht, die Stimme jedoch aufgeraut und verlangend. "Ruru schläft und träumt von Tomaten, die in Säcken auf Kartoffeln wachsen. Für meine süßen Träume hole ich mir hier Anregungen." Raunte Cornelius herausfordernd und recht sicher, NICHT wie ein großer Bruder/Ersatzelternteil aufzutreten, sondern wie ein ganz normaler, übermütig verliebter Jugendlicher mit einer feuereifrigen Libido. Junias lachte, kehrte wie gewohnt ihre Positionen um, setzte seine übermenschliche Stärke ein, richtete sich auf Cornelius ein, der zu ihm hoch grinste. "Vielleicht waren die Wecken doch ein wenig zu süß, wenn du jetzt so aufgedreht bist!" Mutmaßte Junias herausfordernd, klemmte Cornelius' Nasenspitze kurz ein. "Die waren wunderbar lecker und perfekt. Mein Appetit ist jedoch schon eine ganze Weile angeregt. Ich möchte jetzt UNBEDINGT naschen!" Immerhin hatten sich die letzten zwei Wochen den Vorbereitungen auf diese beiden Ereignisse gewidmet. Intime Stunden fielen aus. Junias schauderte dramatisch. "Ganz fürchterlich, mein Lieber! Wo ist der beherrschte, vernünftige, sich selbst zurücknehmende Alleinerziehende abgeblieben? Mir derart animalische Offerten zu unterbreiten!" Cornelius nutzte einen Hüftschwung, Junias aus der Balance zu bringen, ihn in seine Arme zu schließen. "Ja, wo mag er wohl sein, hm? Einstweilen werde ich besonders lecker für dich duften und deine Verzauberung schamlos ausnutzen." Raunte er, sich seiner Wirkung durchaus bewusst und entschlossen, Junias zu verwöhnen. Pro forma knurrte Junias leise, stöhnte hingerissen, knabberte ungeniert an Cornelius' Ohrläppchen, leckte die weiche, gefleckte Haut darunter. Der lächelte, entschied, dass sie im Geburtstagsanzug bei gedämpfterer Beleuchtung noch sehr viel mehr Vergnügen teilen konnten. Was er sogleich umsetzte. Schließlich war er der Einzige, der Junias genauso sah, wie die Natur ihn geschaffen hatte! jßM- Das Mammut bückte sich, um die Stalllaterne aufzuheben. Ein Luftzug beizeiten löschte nicht nur das Teelicht, sondern trocknete auch das Wachs ausreichend. Als das Mammut sich aufrichtete, legte es wieder einen Arm um Lalako, noch immer den geöffneten Parka und sich selbst als Wärmespender andienend. Geordnet und nacheinander, um größere Ansammlungen zu verhindern, verließen die kleinen Gruppen den Platz. Ein voller Erfolg, wie man schon digital nachlesen oder nachblättern konnte, so viele Lichter auf so vielen Freiflächen. "Es tut mir leid, meine Verspätung." Wisperte Lalako unerwartet, da sie die ganze Zeit über geschwiegen hatten. "Nicht der Rede wert! Außerdem ist noch mehr Vorfreude mir sehr lieb." Versicherte das Mammut sonor sehr galant, äugte auf die bemerkenswerte Hochsteckfrisur. Lalako seufzte leise, den Blick auf den Bürgersteig gerichtet. "Heute ist einfach alles durcheinander geraten." Mitfühlend brummte das Mammut im Bass. "So ein Tag, hmhm." Einer von den gebrauchten, zumindest, wenn man sich nicht auf die glücklichen Momente besinnen konnte. "Darf ich dich nach Hause bringen?" Erkundigte sich das Mammut vorsichtig. "Wird dir das nicht zu spät?" Lalakos schlanker Arm lag noch immer um seine Taille, unter dem Parka. "Nein, ganz und gar nicht! Ich mache einfach große Schritte." Wagte das Mammut tollkühn einen Scherz. Zu seiner Erleichterung hörte er ein leises Glucksen. Lalako blieb stehen, veranlasste ihn ebenfalls, innezuhalten. "Ich möchte mich gern kurz setzen." Die tiefschwarzen Augen über der Maske blickten fiebrig. Da sie ja nun wirklich mehr als eine Stunde gestanden hatten, ein nachvollziehbarer Wunsch. Es bot sich außer einem niedrigen, feucht wirkenden Mäuerchen keine einnehmende Sitzgelegenheit. "Wenn du dich auf meinen Parka setzt...?" Hier war ein ritterlicher Minnedienst gefragt! Lalako jedoch dirigierte das Mammut, Platz zu nehmen, ließ sich auf seinen Oberschenkeln nieder, hob sich die Tasche, zweifellos ein selbst gefertigtes Unikat, über die Hochsteckfrisur, ächzte leise, rieb kurz den eigenen unteren Lendenbereich. Rasch half das Mammut aus. Eine große, warme Hand konnte hier dienlich sein. "Danke sehr. Eigentlich wollte ich einen durchsichtigen Regenmantel überziehen." Lalako seufzte hinter der Maske, öffnete die Tasche. "Als ich aus der Schule kam, fand ich im Briefkasten eine Benachrichtigung. Meine Großmutter hatte mir ein Paket geschickt. Das wurde in einer Agentur abgegeben. Es nieselte, also zog ich rasch den Regenmantel über. Ich musste anstehen, bekam endlich das Paket und draußen riss mich so ein E-Rollerfahrer fast um! Der hatte einen Regenschirm aufgespannt, musste mit einer Hand lenken." Das Mammut ächzte besorgt. "Ich wollte das Paket nicht fallen lassen, schlug auf den Knien auf und blieb mit dem Mantel an einem Werbeaufsteller hängen. Der Kerl raste einfach davon und ich merkte nicht, dass der Mantel festsaß." Lalako keuchte, woraufhin das Mammut schneller die massierende Hand kreisen ließ. "Tja, ein riesiger Riss drin! Also war ich zu spät, schmutzig, der Regenmantel ruiniert!" Aus der Tasche wurde eine Blechdose geborgen. "Bitte, möchtest du einen Keks versuchen? Der Geschmack ist vielleicht ein wenig ungewohnt." Das Mammut hätte alles probiert, möglicherweise ausgenommen einen Schluck vom Schierlingsbecher, so viel Mitgefühl erfüllte es! "Danke schön, sehr gern. Das tut mir so leid, du hast heute ja wirklich viel Pech erlebt!" Der Keks schmeckte tatsächlich ungewohnt, jedoch delikat. "Meine Großmutter sendet sie mir hin und wieder. Sanddorngelee mit Äpfeln gemischt. Ziemlich norddeutsch." Lalako knabberte ebenfalls einen Keks, lehnte sich an die breite Brust des Mammuts. "Nachdem ich mich hergerichtet hatte, rief ich meine Großmutter gleich an. Ich habe früher viel Zeit bei ihnen verbracht. Die Trennung und der Umzug, das gefällt ihr nicht so sehr." Das Mammut lauschte bekümmert. "Das war schwierig. Dann hatte ich kaum noch Zeit, und alles...!" Die sonst so samtig-weiche Stimme klang rau und erschöpft. "Umso schöner von dir, dass du gekommen bist. Vielen Dank, Lalako, wirklich, ich bin sehr dankbar!" Betonte das Mammut entschieden. Eine Absage wäre mehr als verständlich gewesen! Lalako blickte ihm ins Gesicht, bleich und angespannt. "Beinahe hätte ich dich versetzt." Gestand Lalako dem Mammut kaum hörbar. Tröstend schloss das Mammut daraufhin die Arme um die schlanke Gestalt. "Das hätte ich dir ganz sicher nicht nachgetragen. Es war sehr tapfer, trotz all dieser Schwierigkeiten zu kommen, um mir eine Freude zu bereiten." Sich an ihn schmiegend, genug Fläche bot er ja!, wisperte Lalako. "Du bist so unglaublich warm!" jßM- Nachdem der Inhalt der Blechdose verzehrt worden war, erhob sich Lalako, justierte die Tasche. Das Mammut stand auch auf, bot den Schutz von Parka und Arm, während es in der freien Hand die Stalllaterne apportierte. Gemächlich, zweifellos laborierte Lalako noch an aufgeschlagenen Knien!, ging es nach Hause, nicht allzu weit, ein schlichtes Mehrfamilienhaus, in den Neunzigern zweifellos der letzte Schrei mit den unterschiedlich gewürfelten Appartements. Nun sah man doch, dass sich die Mode von "Bauklötzchen"-Arrangements überholt hatte. Das Mammut, das die Front studierte, erinnerte sich plötzlich an ein eigenes Versäumnis. "Oh, ich habe den Witz vergessen!" Bekannte es erschrocken. Auch wenn der des heutigen Kalenderblattes sehr platt gewesen war. Lalako wandte sich zu ihm herum. Die Masken hatten sie nicht mehr aufgesetzt, schlicht über ein Handgelenk gestreift. "Entschuldigung, das war nachlässig von mir." "Mammut?" Das Mammut brach sofort ab, blickte besorgt auf das blasse Gesicht mit den feingeschnittenen Zügen. "Ja?" Beugte es sich ein wenig vor. Eine elegante Hand legte sich auf seine Wange. Ein Blinzeln später küsste Lalako ihn erneut, sanft, wie eine Frage, die eine Antwort bekam. Aus einer linden Brise einen Sturm entfachte. jßM- Das Mammut war noch nie so geküsst worden. Oder hatte selbst, ganz unbewusst, die Arme um die schlanke Gestalt geschlossen, sie abgestützt und eingefangen. Ihm schlug das Herz höher, in den Ohren wie Paukendonner. Sein gesamtes Fell bis in die filzigen Haarsträhnen lud sich elektrisiert auf. Wie konnte es eine Hitzewelle geben, die die eigene Betriebstemperatur so mühelos überstieg?! Eine Ahnung von Sanddorn-Apfel-Gelee auf seiner Zunge, doch noch viel mehr, wie eine berauschende Droge, prickelte in seinem Gaumen! Vielleicht sollte man sich bezähmen? Das Mammut hatte längst Gefallen daran gefunden zu küssen, eine verschlungene, ineinander verlaufende, sich verstärkende Wellenbewegung anzutreiben. Man konnte sich verlieren in diesem Verlangen! "Wir müssen aufhören!" Bremste ihn schließlich Lalako, die Hände gegen seinen Brustkorb stemmend. Unerfreulich wahr, denn ganzkörperlich steigerte sich die Begeisterung in ein Maß, das die Öffentlichkeit beanstanden würde. Widerwillig, aber gehorsam stapfte das Mammut einen Schritt zurück. "Bitte sei mir nicht böse." Plädierte es für Nachsicht. Lalako, rosig überhaucht, schüttelte rasch den Kopf. "Reden wir ein andermal, bitte. Gute Nacht." Eilig ließ sie sich ein, verschwand hinter der Hauseingangstür. Das Mammut raufte sich die filzigen Strähnen, tadelte sich stumm. Lieber Himmel, etwas mehr Kontenance! Es hob die Stalllaterne auf, sprintete, um sich nicht zu verspäten, dem eigenen Heim entgegen, sich wundernd, dass es keineswegs Verwirrung verspürte, nur staunendes Glück ob der Gunst des Schicksals. jßM- Kapitel 10 Selbstredend dauerte der Zustand glückseliger Verzückung nicht ewig an. Das Mammut überdachte am nächsten Tag, so es sich nicht brav den Anforderung des improvisierten Regelunterrichts widmete, die Situation. Ganz eindeutig gab es Vorgaben, wie man sich zu fühlen hatte, wie diese Geste eingeordnet zu werden hatte. Bloß konnte das Mammut sie zwar nachvollziehen, jedoch nicht auf sich selbst beziehen! Nein, es schockierte ihn nichts. Ebenfalls nein, es erwartete nicht, dass sich alles geändert hatte. Einzig und allein hoffte es darauf, Lalako/Laurent und ihre aufkeimende Freundschaft gedeihen zu lassen. Das Mammut gestattete sich, beglückt zu sein, sich beschenkt zu fühlen. Dass es geküsst wurde, auf eine erotische Art, und selbst küssen durfte, DAS hatte es nicht erwartet! Man wollte sich schließlich nicht mit Illusionen lächerlich machen. Zudem sollte man sich auch nicht vergaloppieren. Selbst wenn nicht alles ausgesprochen worden war, konnte das Mammut die außergewöhnliche Gemütslage erahnen, Stress, Druck, körperliche Beeinträchtigung. Dazu noch unerfreuliche Annäherungen, die an den letzten Schock erinnerten! Lalako hatte zudem gefroren, sich möglicherweise einsam und verlassen gefühlt. Nur zu verständlich, dass man auf Anteilnahme, Zuwendung, Fürsorge hoffte! Das durfte weder ausgenutzt noch fehlinterpretiert werden, ermahnte sich das Mammut entschieden, nickte sich selbst artig zu. Ein wenig Scham mischte sich darunter, weil man als Kavalier/Galan/Begleiter/anständiger Mensch die körperlichen Reaktionen auch in Zaum zu halten hatte. Was dem Mammut nicht ganz gelungen war, peinlicher Weise! Deshalb notierte es sich handschriftlich, unbedingt eine Entschuldigung anzubringen. Es wartete präpariert mit dem Abreißkalenderblatt, seinen Notizen und einer gewissen Nervosität auf ihren "Gesprächskorridor". Da sie sich abwechseln wollten, oblag der Anruf eigentlich Lalako/Laurent. Die Minuten verstrichen, es kam keine SMS oder E-Mail, sodass das Mammut die Initiative ergriff, merklich besorgt. "Mammut hier, guten Abend. Störe ich dich gerade?" Erkundigte es sich höflich, angespannt und leicht verzagt. Zumindest nahm Lalako/Laurent den Anruf entgegen! "Wie geht es dir denn? Hast du von dem Sturz gestern noch Schmerzen?" Am Ende der virtuellen Leitung hörte das Mammut leises Keuchen. "Kann ich dir helfen?" Fragte es sich merklich aufgeschreckt. "...gerade...ist alles...zu viel. Tut mir leid..." Vernahm es rau, gar nicht samtig-weich wie gewohnt, sondern abgehackt, als gäben sich selbst die einzelnen Worte störrisch. "Mir tut es leid, dass es dir nicht gut geht! Wenn ich dir helfen kann, bitte!" Drängte das Mammut im Bass nervös. "...ich brauch...Zeit. Eine Auszeit." Obwohl das Mammut lediglich eine Große Eiszeit erstarren lassen konnte, froren ihm die Glieder blitzartig ein. "Meintest du das mit 'aufhören' gestern? Dass wir keinen Kontakt mehr haben?" Platzte es erschüttert heraus. Am anderen Ende gab es nur hastige Atemzüge zu vernehmen. "Bitte, ich verstehe eine Auszeit, ich werde sie respektieren, versprochen! Nur, melde dich danach bei mir, ja, bitte? Bitte verschwinde nicht einfach." Stellte das Mammut für eigene Verhältnisse ungeheuer aufdringliche und egoistische Bedingungen, rutschte fast von Bass in Bariton! Beinahe unerträglich lange dauerte es, bis es eine Antwort gab. "...ich melde mich. Entschuldige, Mammut." Dann brach der Anruf ab. jßM- "Verdammte Hacke! Da ist was im Busch." Stellte Charlie gewohnt diplomatisch fest, als sie neben dem Mammut am Samstagvormittag spazierte. Die Skibrille saß auf dem Oberkopf, die zwei Zöpfe baumelten an der Seite aus der improvisierten Fliegerkappe, eine weitere Schöpfung von Laurent/Lalako. "Hulk hat mir berichtet, dass er gestern und vorgestern nicht in der Schule war. Geht auch nicht ans Telefon. Hab bloß ne E-Mail bekommen, er hätte die Scheißerei." Übersetzte sie großzügig, ließ jedoch erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Diagnose vernehmen. Das Mammut ballte die großen Hände auf dem Rücken zu Fäusten. Charlie blieb abrupt stehen, baute sich vor ihm auf. Die Ninja-Maske korrespondierte mit dem kriegerischen Funkeln in ihren Augen. "Raus mit der Sprache, Kumpel! Ihr habt euch doch nicht in die Wolle gekriegt, oder?" Die Zweifel konnte man nicht überhören. Das Mammut schüttelte hastig den Kopf. "Nein, nein, wir haben keinen Streit." Was durchaus der Wahrheit entsprach. Nur leider vom Gesamtbild gerade mal ein Eckchen ausmachte. Charlies Sezierblick steigerte sich, weil das Mammut auch beharrlich auf die eigenen Fußspitzen starrte. "Och nee! Erzähl mir nich, dass ihr euch verknallt habt und herumknutscht!" Entsetzte sich Charlie mit grober Direktheit. Ohne Zeitverlust rötete sich der sichtbare Teil von Mammuts Schädel. Schnaubend stampfte Charlie auf. "Meine Fresse, ist das so ne Art Epidemie?!" Beklagte sie sich beim heimtückischen, diabolischen Schicksal. Das Mammut rollte die Schultern nach vorne, zog den Kopf ein. Erstaunlicherweise traf ihn ein leichter Schlag auf den Arm. "He, schon gut, Kumpel, ich mein das nicht so! Hulk hat mir ja erklärt, dass einem so was passiert, dass man sich eben verknallt. Nich, dass ich das auch haben will!" Charlie grummelte, nahm ihren Spaziergang wieder auf. "Ich find es jetzt nich TOTAL fürchterlich, ich mein, Laurent is ein guter Kumpel. Könnt echt schlimmer sein." Finsteren Gemüts ergänzte sie. "Da brauch ich mir nur vorzustellen, was mein Deppenbruder anschleppen würde, wenn sich da mal IRGENDWAS erbarmt!" Das Mammut stakste schüchtern hinterdrein, wagte schließlich einen Einwurf. "Also, es ist nicht tatsächlich dergestalt... Nicht vereinbart..." Murmelte es höchst verlegen im Bass. Charlie äugte zu ihm hoch. "Sekunde mal, Kamerad! Also seid ihr jetzt nicht zusammen? Ist Laurent deshalb abgetaucht?" Hastig hob das Mammut die großen Hände, wich einen Schritt zurück. "Das ist ein Missverständnis!" Stotterte es angesichts des aufflammenden Zorns zwischen Skibrille und Ninja-Maske, sah sich auch schon als "Dreckflocken" metaphorisch zerlasert. Charlie stemmte die Hände in die mageren Hüften. "Dann fängste besser mal von vorne an!" jßM- Nach der kurzen Schilderung der Ereignisse vom Mittwoch überdachte Charlie schweigend die Situation. "Da ist was im Busch." Wiederholte sie ihre Diagnose grimmig. "Bin jetzt nich einer von den aufdringlichen Aasgeiern, die sich überall reinhängen. Gehört sich nicht, bei Kumpels, klare Sache." Das Mammut lauschte aufmerksam. "Dieses Zittern und Keuchen und so..." Charlie blickte ihn ernst an. "Das kommt nicht von ungefähr. Und dann die Sache mit den Bullen und den Sanitätern." Sie wandte den Kopf ab, blickte konzentriert ins Ungefähre. "Ich halt allerdings nix davon, Leute auszuhorchen, wenn die nicht reden wollen, sondern erst mal selbst klarkommen." Ungeduldig klopfte sie sich selbst auf die dünnen Oberschenkel. "Blöde Sache, verdammt! Schätze, wir können nur n Auge drauf haben, dass er sich nich daheim vergräbt." Das Mammut wagte eine Ergänzung. "Ich habe ja zugesagt, auf eine Antwort zu warten, doch du könntest vielleicht, ich meine, so hin und wieder, Nachrichten schicken, als, nun, als Verbindung zu uns. Wenn es dir keine Mühe macht." Charlie blickte zu ihm auf. "Guter Vorschlag, Mammut! Wir müssten uns auch was ausdenken, für das Album da. Hast du schon gesehen, oder? Das 'Glück'-Album." Eilig nickte das Mammut. Charlie ballte die kleinen Fäuste. "Wir müssen eben Arsch in der Hose beweisen, das isses! Bisschen lästig und aufdringlich sein, selbst wenn man mal daneben langt. Dreck abklopfen und wieder hoch die Kiste!" Ein Motto, das das Mammut in diesem Fall wagemutig unterstützte. jßM- Nach dieser Vereinbarung konspirativer Zusammenarbeit überdachte das Mammut auch, was es von Laurent eigentlich wusste. Man konnte nicht länger ignorieren, dass es einen "Busch" gab, doch was sich im Busch befand, konnte man es hervorlocken, ohne Laurent Schaden zuzufügen? Das Mammut registrierte, wie sehr es die samtig-weiche Stimme in seinen Ohren vermisste, die stillschweigende Verbundenheit zweier Menschen, die sich nicht in den Vordergrund drängen konnten, die zweifelten, grübelten, sich zurückzogen, sich nicht für die Helden eines Films hielten. Oder war das seine eigene, vermessene Annahme? Das Wochenende verstrich, die neue Woche brach an. Charlie übermittelte dem Mammut, dass Hulk als Kundschafter beobachtete, Laurent sei wieder zum Unterricht erschienen. Wegen der Abstands- und Maskenregeln konnte man nicht direkt einen präzisen Eindruck gewinnen, doch Laurent wirke sehr zurückgenommen. Allerdings beobachtete man dieses Phänomen als Resultat von Kontaktbeschränkungen vermehrt. Die erforderliche Distanz, die Reduktion auf virtuelle Kommunikation, das zeitigte eine Unsicherheit und Abkehr der üblichen, gesellschaftlichen Vertrautheit mit anderen Menschen. Hulk konnte nicht berichten, ob Laurent zu den Klassenkameraden engere Beziehungen unterhielt. Obgleich das altsprachliche Gymnasium im Vergleich mit der Gesamtschule sehr überschaubar war, gab es zwischen den Stufen nicht zu enge Verbindungen. Zudem hatte Laurent ja erst im Frühjahr Anschluss gefunden. Möglicherweise. Das Mammut konnte sich auch nicht entsinnen, viel über andere Schulfreunde erfahren zu haben. Charlie, die mit ihm konferierte, kommentierte knapp, sie habe nie Begleitung bei ihren "Touren" erlebt. Allerdings seien die anderen Angeber-Affen, die Tricks erprobten, ohnehin eine miese Bande von eingebildeten Fatzken, die auf andere herabsähen! Somit nicht satisfaktionsfähig, ganz gleich, welche Schule sie besuchten! Tröstlich konnte sie dem Mammut jedoch mitteilen, dass Laurent auf ihre E-Mails antwortete. Es ginge schon besser, der "Durchmarsch" sei überstanden, die Schrammen verheilten. Nur wäre da ein persönliches Anliegen, das in Eigenregie zu absolvieren sei, weshalb eben noch der eigene, interne Reifeprozess zur Entscheidung andauere. "Klingt verflixt komisch, wie die Sache mit dem Inkubator-Teil, aber wenn meine Mutter ne Juristin und mein Vater Innenarchitekt wäre, würde ich vielleicht auch so seltsam texten." Vertraute Charlie dem Mammut nachsichtig an. "Ist wohl so ne Angewohnheit, sich selbst erst mal allein auf Kurs zu bringen, Kumpel. Kann ich jetzt nich kritisieren, man soll ja zuerst die eigene Nase packen und langziehen. Jedenfalls hab ich die Adventskalender-Idee weitergeleitet für das Glück-Album, also fang schon mal das Papierfalten an, Kumpel!" jßM- Während das Mammut sehr sorgfältig eigens käuflich erworbene, farbenprächtige Papierbögen zu geometrischen Figuren faltete, galten auch anderswo die Gedanken Adventskalendern. Ruru, der sich nicht zu einem Konsum verliebten, gierigen Kindergartenkind verführen ließ, zeigte kein besonderes Interesse an den konventionellen Kalendern, gefüllt mit Süßigkeiten oder Spielzeug. Deshalb hatte die "Familie" sich verschwörerisch auf etwas Anderes besonnen. Der kleine Bursche sollte durchaus einen Adventskalender bekommen, auch wenn es Ruru irritierte, "Privilegien" genießen zu sollen. Nur ungern akzeptierte er nämlich eine Sonderrolle, als könne er mehr für sich beanspruchen als die anderen! Geschicktes Vorgehen tat deshalb Not. Henk kannte seinen kleinen "Kollegen". Gärtnern war eine Berufung und Rurus größte Sorge bestand darin, nicht rasch Botanisch lernen zu können. Botanisch zu beherrschen bildete den Schlüssel für das Universum, das ihm Paradies war. Voraussetzung für Botanisch war auch, lesen zu können, mithin Buchstaben zu kennen. Was man in der Schule lernte. Doch bis dahin konnte man wichtige Lektionen ja vergessen, nicht nachschlagen, weil man kein Botanisch lesen konnte! Ein Horror. Henk schlug vor, die Buchstaben des Alphabets zu verwenden, 24 Tage plus die beiden Weihnachtsfeiertage selbst, jeder Buchstabe ein lateinischer Begriff aus der Botanik mit Bild. Alle Bildkarten konnte man zu einem kleinen Büchlein zusammenbinden. Die Idee wurde mit Begeisterung aufgenommen. Während Henk die Worte aussuchte, übernahm Luzie geschickt die Abbildungen, handgezeichnet und koloriert. Cornelius setzte die Bildkarten zusammen. Sie sollten laminiert und in Form gebracht werden, mit einem Ösenring zum Binden. Junias war für die Zwillingsmission zuständig. Wenn Ruru einen Kalender bekam, konnte man Lilo nicht außen vor lassen, ganz ausgeschlossen! Die hatte ihnen schon in gewohnter Unverbrämtheit mitgeteilt, sie bekäme keinen Kalender. Erstens werde man davon fett, zweitens habe sie zu viel Ärger ausgelöst und drittens jedes der hübschen Angebote grob abgelehnt. Die steingrauen Augen rollten bei dieser Argumentation verdrossen. "So grässlicher Pferde-Kram oder dumme Püppchen! Was soll ich mit so einem Plunder?" Junias suchte deshalb Begriffe aus dem Bereich von Werkzeug und Werkstatt zusammen plus die passenden Abbildungen, möglichst als technische Zeichnungen. Sie waren alle vier überzeugt, dass die beiden Freunde schnell die Buchstaben lernen würden, bei diesen Anregungen! jßM- Cornelius verstaute das Zubehör in einer Schachtel in der großen Wohnküche, hoch im gewaltigen Regal. Luzie hatte vor einiger Zeit ein Laminiergerät angeschafft, gebraucht. Folien mussten erworben werden, auch kleine, metallische Ösen, die man einstanzen konnte. Das half, die Haltbarkeit der Karteikarten, die sie nutzen wollten, zu verlängern. Bevor Cornelius zur Küchenzeile treten konnte, um seinen Abendbrotdienst anzutreten, wuchs Junias hinter ihm förmlich aus dem Boden, packte sein Handgelenk, zerrte ihn hinter sich her, aus der Wohnküche heraus zur Stiege. Dort ging es eilig hoch, in Junias' Zimmer. Die burgunderroten Augen glühten förmlich. "Was ist passiert?!" Entgegen der unbeweglichen Miene loderte seine Stimme vor mühsam beherrschter Verärgerung. Cornelius grimassierte resigniert. Unmöglich, Junias täuschen zu können! "Es gibt da gewisse unerfreuliche Entwicklungen." Setzte er beschwichtigend an. "Was will sie?!" Hier half Diplomatie keinen Deut! Um ein wenig die Spannung zu reduzieren, ließ sich Cornelius auf Junias' Bett sacken. Der stemmte die kalten Hände in die schlanken Hüfte, blitzte auf ihn herunter, angespannt wie eine Sprungfeder. "Also, ihr Mann ist betriebsbedingt entlassen worden. Offenbar ist seine Spielsucht so schlimm, dass er nicht nur das gemeinsame Konto geleert hat, sondern noch mehr Schulden gemacht. Daraufhin gab es Streit. Die Nachbarn haben wegen des Lärms tatsächlich eine Streife angefordert. Zudem sieht es wohl nicht so ordentlich aus. Er erwartet, dass sie alles sauber hält." Junias schnellte vor, drückte Cornelius rücklings auf die Matratze, umklammerte schmerzhaft dessen Handgelenke. "Kümmert mich nicht! Du gehst nicht zurück und räumst diesem Idioten-Paar hinterher, hörst du?! Auf keinen Fall! Ist mir gleich, ob das eure Mutter ist! Ich lass nicht zu, dass ihr zurückgeht!" Keine leere Drohung, das spürte Cornelius genau. Natürlich wusste er, dass die Pflegschaft temporär sein sollte. Die natürlichen Eltern sollten in die Lage versetzt werden, sich wieder um ihre Kinder zu kümmern. Henk und Luzie konnten sie nicht einfach adoptieren, selbstverständlich nicht. Dass die Pflege schon einmal verlängert worden war, resultierte aus den Einschätzungen der Fachleute, der Gewalttätigkeiten gegen Cornelius und der engen Bindung der Halbbrüder, die in Verzweiflungstaten münden konnte. Cornelius würde Ruru niemals im Stich lassen, während Ruru Cornelius als wichtigste Bezugsperson brauchte, der ihm auch Elternteil war, zudem für Stabilität gesorgt hatte, sich um den Haushalt gekümmert, Behördengänge übernommen. Doch hier, das erkannte Cornelius, ging es um mehr. Dazu musste Junias nicht die Hände von seinen Handgelenken lösen und an die Schläfen pressen. Eilig setzte er sich auf, zog ihn in seine Arme, küsste ihn energisch. "Ich halte mein Wort, Junias, das weißt du doch! Wir trennen uns nicht. Wir gehören zusammen, versprochen ist versprochen!" Beschwor er eindringlich, tupfte Küsse auf jede erreichbare Stelle. Nein, diese Verantwortung würde er nie ablegen, da er Junias' Nemesis war, die Achillesferse, die gemeingefährliche Schwäche, die Person, die nicht zu beeinflussen war. Stattdessen Gefahr bedeutete, Abhängigkeit, Verführung, Unordnung! Die Junias' mütterliches Erbe auskonterte, diesen mit Gefühlen überflutete, die er nicht beherrschen konnte. Eigentlich eine große Belastung, doch Cornelius gestand sich zu, dass es ihm half, für andere sorgen zu können. Einen Teil seines Selbstwertgefühls bezog er eben immer noch daraus, sich auf diese Weise nützlich zu erweisen. Nur um sich selbst zu kreisen, das hätte ihn verstört und deprimiert. Ganz zu schweigen davon, dass er einen solchen Zustand nicht gewöhnt war! "Junias." Raunte er beharrlich, wiegte den zwei Jahre älteren Jugendlichen zärtlich. "Kein Anlass, dich auf den Kriegspfad zu begeben, okay? Ich habe meiner Mutter gesagt, dass sie selbst eine Lösung finden muss, schließlich ist das eine Angelegenheit zwischen Eheleuten." Auch wenn er sonst sämtliche Ratgeber durchforstet und sich in alle möglichen Szenarien hineingefuchst hatte: dieses Mal blieb er stur. An seinem Ohr winselte Junias gequält. Die zwei unterschiedlichen Hälften seines Naturells fochten mal wieder miteinander. "Alles ist gut, wirklich. Kein Grund, sich an meiner Stelle aufzuregen. Wir haben nichts zu befürchten." Sanft kraulte er mit einer Hand die erstaunlich drahtigen, silbergrauen Locken. Es klopfte leise, dann spitzte Ruru besorgt hinein. "Ich wollte beim Tischdecken helfen." Ließ er sie wissen, schob sich durch den Türspalt. "Tut dein Kopf wieder weh, Juni?" Das bekümmerte ihn sichtlich. Vermutlich würde sich gleich die Offerte anschließen, sein Hasentuch auszuborgen. Impulsiv streckte Cornelius die Hand nach ihm aus. Artig kam Ruru heran, wurde ebenfalls aufs Bett befördert. "Gruppenkuscheln hilft vielleicht." Ordnete Cornelius an, der die Hypothese erproben wollte, ob Rurus Gedanken Junias' aufgewühltes Gemüt beruhigen würden. Dann würde sich vielleicht IHRE allzu intensive Verbindung überlagern. Ruru streichelte Junias mitfühlend den Rücken. "Alles gut, Juni, alles gut." Junias seufzte leise, richtete sich ein wenig auf, studierte die Halbbrüder, die ihn entourierten. "Danke. Mein Oberstübchen muss wohl ausgefegt werden." Kommentierte er mit ironischer Stimme. "Ich glaube nicht, dass Durchzug gut tut." Bemerkte Ruru vorsichtig, wie gewohnt sehr ernst, wenn es um Kümmernisse ging. "Vielleicht, meinst du, dir könnte ein Bratapfel helfen?" Ihm selbst wäre das durchaus eine willkommene Ablenkung von ungemütlichen Gedanken! Cornelius gluckste unterdrückt. Junias hingegen nickte, nachdem er diesen Plan geprüft hatte. "Ich könnte Bratäpfel im Ofen machen. Wir haben noch Brösel, etwas Karamell..." Beschwingt kam Cornelius auf die Beine, zog Junias an den kalten Händen ebenfalls hoch. "Ich ahne jede Menge Hasenpower, wenn wir gemeinsam das Abendessen vorbereiten. Seid ihr dabei? Einer für alle, alle für einen?" Ruru hopste von einem Bein aufs andere, zwinkerte Junias zu, der lässig ihren Gruß in die Mitte entbot. "Die Hasenpower ist mit uns!" jßM- Eine ganze Woche war seit dem denkwürdigen Laternenfest vergangen. Das Mammut hielt sich an sein Versprechen, suchte keinen Kontakt zu Laurent. Stattdessen bevorratete es in einer Pappschachtel die sorgsam gefalteten Papierwerke. Noch so ein Fall von Fach-Japanisch, nämlich Origami, Kunst des Papierfaltens! Wenigstens jedoch waren es Geschenke, die man einem Briefkasten anvertrauen konnte. Nicht zu aufdringlich, nicht zu kostspielig, keine Kommunikation forcierend. Möglicherweise gefielen sie Laurent auch? Bei einigen handelte es sich um Blumen und symmetrische Muster. Das Mammut setzte sein Vertrauen ganz in Charlie. Sie hatte schließlich das Eis gebrochen und Laurent als Board-Kumpel unter ihre Fittiche genommen, war bei der Vorstellung von "Lalako" nicht zurückgewichen. "Bisschen baff war ich schon, Mammut, klar, aber Lalako hat eben auch Klasse, trotz hier und da Kitsch. Kein blödes Tussi-Verhalten, nein, astrein! Kein dummes Gequatsche über Jungs und Beziehungen und all diesen Quark! Kam mir echt harmlos vor, so wie diese Lama-Nummern, nur eben nicht albern, verstehst du? Einfach mal nett und zivil, ohne Sarkasmus." Was selbst ihr, hin und wieder, zusagte. Nicht, dass sich die Welt so verhielt, nein, gar nicht, aber ne kleine Auszeit, die durften sich alle mal gönnen! Das Mammut pflichtete Charlie uneingeschränkt bei. Mal nicht das Haar in der Suppe suchen, nicht die Kehrseite der Medaille aufdecken, das musste erlaubt sein. Was ja nicht bedeutete, dass man nicht um Abgründe wusste, die Realität leugnete! Unisono waren sie sich einig, dass Laurent klug war, möglicherweise sogar zu sensibel, zu weitsichtig, zu aufmerksam. Deshalb tat ein Ausgleich, ein Gegengewicht vielleicht Not. Schwierig zu beurteilen, wenn man so wenig Fakten aus der Biographie kannte! Allerdings hielt sich Charlie an ihren Grundsatz, Kumpels nicht auszuhorchen. Offenes Ohr anbieten, klare Sache, aber Offenbarungen erzwingen, nein, ganz sicher nicht! Ein bisschen besorgt war sie allerdings schon. Zwar war Laurent in der Schule erschienen, wirkte jedoch, wie Hulk sie wissen ließ, ein wenig klapprig, nutzte nicht wie sonst das Longboard. "Zwiebeltaktik wegen Lüften und Zelt auf dem Hof ist ja nachvollziehbar, aber..." Offenkundig hatte Laurent sich nach der Wahrnehmung ihres Kundschafters derart verpuppt, dass man jegliche Beweglichkeit anzweifelte. "Ihm scheint häufig kalt zu sein." Brachte das Mammut bedächtig im Bass in die Debatte ein. Charlie knurrte. Sehr verdrießlich, dass man Prinzipien einhalten musste! jßM- Das Mammut schnürte am Freitagnachmittag dem Heim zu, wie immer auf direktem Kurs. Zugegeben, draußen sollte man sich nicht herumtreiben und unwirtlich bot die Witterung auch keine Annehmlichkeiten. Da machte sich unerwartet sein Mobiltelefon bemerkbar, auf Empfang, für mütterliche Aufträge. "Ja, bitte?" Meldete er sich eilig, zwang sich, bloß höflich-zurückgenommen-passiv zu sein. "Ich komme sofort!" Mit einer hastigen Kehrtwende ließ das Mammut jede Besonnenheit zurück, preschte los. jßM- Es musste Laurent sein. Eine derart unförmig verschalte Person, auf einem Mäuerchen kauernd, kaum zu identifizieren! Wollmütze, Maske, Schal, Wollmantel, Ahnung von Wollpullover mit Zopfmuster, gesteppte Hosen, Halbstiefel... Das Aufstehen endete beinahe in einem Sturz. Das Mammut griff beherzt zu, umschlang die eigentlich schlanke Gestalt mit ihren zahlreichen Dämm- und Pufferschichten. "Ist es sehr arg? Ich bringe dich heim, ja?" Ganz gegen seine üblicherweise scheue, zurückhaltende Natur übernahm das Mammut die Regie. Laurent musste bis in Mark frieren, wenn solche Methoden erforderlich wurden! jßM- Wie nicht anders zu erwarten zeigte sich das Appartement im sechsten Obergeschoss sehr aufgeräumt und klar definiert. Keine Unordnung, alles sauber und hell, die Besitztümer hinter den Einbauschränken versteckt. Nur wenige Farbtupfer lenkten die Aufmerksamkeit auf sich. Das Mammut entledigte sich des Rucksacks, seines Parkas und der Turnschuhe. Laurent kämpfte schwankend mit seiner Bekleidung. Schicht um Schicht wurde abgestreift. Zum ersten Mal sah das Mammut Laurent auch in Natur. Keine Mütze mehr, keine geschmückte Perücke. Kurze, glatte, schwarze Haare, die sich anmutig um sein Gesicht legten. Hinter der Maske wirkte sein Teint bleich, fast durchscheinend, die Partien um die tiefschwarzen Augen schattig vor Erschöpfung. Trotz gefütterter Hosen und eines Wollpullovers unter dem mit dem Zopfmuster schlotterte er. "...mir ist so kalt..." Die samtig-weiche Stimme flehte rau um Beistand. Das Mammut verfügte über genug Wärme, selbst Kleinen Eiszeiten zu trotzen, deshalb schloss es Laurent erneut in die Arme. "Wie kann ich dir helfen?" "Wärme mich auf, bitte!" jßM- Der Zuschnitt des Appartement war etwas ungewöhnlich. Das Wohnzimmer mit Küchenzeile mündete in eine verglaste Loggia, eine Art Wintergarten, bloß sehr schmal. Rechter Hand ging es in einen Vorraum mit Toilette und Waschbecken, getrennt vom dahinter befindlichen Badezimmer. Durch dieses erreichte man das Schlafzimmer, welches quer zur Flurwand eingerichtet war. Verließ man das Wohnzimmer vor der Loggia links, gelangte man ebenfalls in ein Schlafzimmer oder Büro, Laurents Reich. Vor den großflächigen Fenstern befanden sich Jalousien mit Horizontal-Lamellen, am Kopfende eine gewaltige Einbauschrankwand, davor ein breites Bett mit unzähligen Kissen, vor der Fensterfront ein abgeklapptes Schreibtischbrett. Auf dem Boden entdeckte das Mammut unter einem Häubchen die Nähmaschine. Doch das war nicht wichtig in diesem kargen Raum, der nur über die bunten Kissen und die Tagesdecke im Patchworkstil Farbe bot, weil Laurent sich an ihm schmiegte, als könne er in ihn hineinkriechen. Durchaus schmeichelhaft! Das Mammut konnte sich nicht vorstellen, dass IRGENDWER in seiner Haut stecken wollte! Es strich großflächig über den dicken Pullover, überlegte angestrengt, was wohl zu unternehmen sei. Das jedoch nahm Laurent ihm ab, stemmte sich auf die Zehen in den dicken Wollsocken, küsste ihn, wie bei ihrem letzten Treffen, zuerst vorsichtig, dann, weil keine Abfuhr erfolgte, vielmehr eine Ermutigung, mit Leidenschaft. Auch wenn das Mammut sich Eitelkeit und Einbildung streng untersagte, fand es doch sein Urteil nicht zu anmaßend: Laurent beabsichtigte, mit ihm intim zu werden. Sicherheitshalber sollte man dennoch fragen... Laurents Hände schoben sich unter das schlichte Hemd, das er trug, strichen über seinen Brustkorb, lösten anschließend die Knöpfe. Draußen, jenseits der gekippten Lamellen, schlugen die ersten Regentropfen ans Fensterglas. Es wurde sehr ungemütlich finster, was den gesamten Raum in ein schummriges Zwielicht versinken ließ. Seines Hemdes verlustig erlebte das Mammut zum ersten Mal, dass sich ein Mensch innig an sein borstiges Fell kuschelte, ihn umklammerte wie eine Rettungsboje. Da MUSSTE die Not himmelschreiend sein! "Sag, wenn du nicht mehr willst." Raunte das Mammut im Bass, fühlte sich wie das Auge in einem Wirbelsturm. jßM- Das Mammut mochte scheu, zurückhaltend, überdimensioniert und schüchtern sein, doch es war weder ignorant noch naiv. Trotz der chemischen Keule, die seine Wachstumshormone in Schach halten sollten, steckte das Mammut im riesenhaften Körper eines Mannes. Selbstbeherrschung schlug die Fesseln, geringes Selbstwertgefühl und hohes Verantwortungsbewusstsein bremsten Initiativen. Das bedeutete keineswegs, dass das Mammut gegen ganz normale Triebe und Verlangen gefeit war. Deshalb assistierte es verblüffend konzentriert und ruhig beim Entkleiden, schob Laurent unter die Decken, exilierte einige der Kissen, kroch selbst dazu, nurmehr mit einem Slip bekleidet, in all seiner haarigen, gewaltigen Erscheinung. Es hätte abschreckend wirken müssen. Tat es nicht. Laurent rückte ihm wortwörtlich auf den Pelz, wollte umschlungen, geküsst, gestreichelt und liebkost werden, keuchte und stöhnte begehrlich, fast wie im Fieber. Da war viel mehr als eine körperliche Kälte zu besiegen. Nicht, dass das Mammut dies nicht längst vermutete. Obwohl es die eigene Kraft, die übergroße Statur, die fehlende Erfahrung fürchtete, zögerte das Mammut nicht. Es spürte so viel Kummer, so gewaltige Verzweiflung, so eine erbarmungswürdige Not, dass jeder Zweifel oder eigener Kleinmut ausgeblendet wurden. Außerdem war Laurent schön, schlank und ohne haariges Fell, mit eleganten Gliedern, die Ahnung von Vanille verströmend, mutmaßlich Bestandteil einer Pflegelotion. Mammut wollte fürsorglich, zärtlich und kämpferisch sein. All sein Vermögen, seinen Mut, seine Umsicht und seine Lust in die Waagschale werfen, den unsichtbaren Feind zurückschlagen. jßM- Schon recht unmanierlich, fand Mammut, ohne den gewohnten Anflug von Scham und Tadel. Andererseits musste man akzeptieren, dass es Laurent keineswegs störte, der noch immer keuchend auf ihm lag, ihn umklammerte, mit einem wollbesockten Fuß über Mammuts aufgestelltes Bein strich, was nicht unerheblich zur statischen Aufladung des Fells beitrug. Zwischen ihnen Körperwärme, Schweiß und Spuren von Sperma. Ordentliche Menschen hätten dies eilig beseitigt, ganz flott eine Reinigung unter der Dusche veranlasst. Mammut entschied sich dagegen, verblüfft von der eigenen Souveränität, obwohl er zwischenzeitlich Sterne gesehen und im Rausch kurzzeitig den Boden unter den gewaltigen Füßen verloren hatte. Nicht verwunderlich, wenn eine elegante Hand so unerschrocken wie gezielt die eigene Standarte hielt! Für Mammut ein Eintritt in eine andere Welt. Keine Katastrophe war ausgelöst worden. Sein massiver Körper wurde ganz normal behandelt, wie man das vermutete, wenn Menschen einander nahekommen wollten. Es gab unzählige Küsse, verschlungene Gliedmaßen, heisere Geräusche, gewisse Abstimmungsprobleme, die alle bewältigt wurden. Mammut erkannte sich selbst als Mammut, geschrumpft und gewachsen zugleich. Sorgsam lauschte er auf Laurents Atemzüge, wärmte die schlanke Gestalt, die sich leicht auf ihm bewegte. "Ist es schon besser?" Raunte er sonor. Laurent versuchte, sich auf ihm aufzurichten, doch die dünnen Arme knickten ein, ließen ihn zurückplumpsen. "Möchtest du aufstehen?" Erkundigte sich Mammut, bereit, sofort zu Diensten zu sein. "...unterm Bett...Karton..." Krächzte Laurent, ganz und gar nicht samtig-weich, robbte den Pelz entlang höher. Mammut unterdrückte ein lustvolles Stöhnen, assistiert von einer erneuten Kussattacke. Hilfsbereit exilierte er einen Arm, um blindlings unter dem Bett nach einem Karton zu fischen. Der stand glücklicherweise in Reichweite, ging jedoch des Deckels verlustig, weshalb Mammut zunächst einen Karton mit leichten Zellstofftüchern erhaschte. Ah, natürlich, ein klein wenig Hygiene! Laurent angelte auch, produzierte ganz andere Artikel, die Mammut veranlassten, trotz klarer Sicht durch die Brille mehrfach zu blinzeln. jßM- Einen großartigen Interpretationsspielraum benötigte man nicht. Mammut erlebte jedoch auch keine "kalte Dusche" der Ernüchterung. "Du wirst mir helfen müssen." Wisperte er lediglich sehr leise, zu allem entschlossen. So viele Hürden hatte er bereits an diesem einen Nachmittag gemeistert, dass nicht einmal diese ihn abschrecken konnte. Außerdem rückte ihm Laurent ja auch ebenso verlangend wie unerschrocken auf den Pelz. Da hieß es lediglich, mit Feingefühl operierend die technischen Hürden zu nehmen. Laurent zu küssen, wenn der zuckte und keuchte, kein Mal jedoch die gespreizten Beine ablehnend zusammenklappte. Mammut verspürte eine souveräne Entschiedenheit in sich selbst. Darauf konzentriert, Laurent zu verwöhnen, ihm seinen Wunsch, vielleicht aber auch ein Bedürfnis zu erfüllen, stellte er eigene Befindlichkeiten zurück, kümmerte sich nicht um den äußeren Anschein, seine eigene Unerfahrenheit, moralisch-ethische Bedenken. Wichtiger waren der passende Winkel, das Abstützen der Hüften, der Rhythmus der Atemzüge, die unwillkürlichen Laute, die Laurent entschlüpften. Intim verbunden, zusammengerollt, einen gewaltigen Arm um die schlanke Rückenpartie geschlungen, aktivierte sich plötzlich wie von selbst ein Taktgeber. jßM- Mammut fühlte sich erwachsen, gereift. Gut, das konnte übertrieben sein, aber zumindest so, als habe er eine wesentliche Stufe der Expertise im Dasein erreicht. Sein Rücken zwackte ob der verkrümmten Haltung ein wenig, doch kaum lästig. Er bediente sich im wärmenden Schutz der Decke der Zellstofftücher, beseitigte die gröbsten Spuren und die Hilfsmittel. Deshalb also erfreute sich Sex einer nicht zu unterschätzenden Beliebtheit! Zwar mit Aufwand verbunden und eine gewisse Fitness fordernd, jedoch nachvollziehbar. Jetzt. Laurent schlief, den tiefen Atemzügen nach zu urteilen, musste nach Mammuts Einschätzung völlig erschöpft sein. Nicht unbedingt von den körperlichen Anstrengungen, sondern von all dem Ballast, der ihn zermürbt, in eine derartige Notlage getrieben hatte. Ein Blick auf die altmodische Armbanduhr im Zwielicht verriet Mammut, dass er gehen musste. Doch einfach schnöde davonschleichen?! Das widerstrebte ihm. Rasch löste er seine Armbanduhr, streifte sie behutsam über Laurents schmales Handgelenk, wickelte die Decke um ihn, baute mit den Kissen eine wahre Trutzburg gegen Zugluft und Kälte auf. Er zog sich lautlos im Halbdunkel an, legte Laurents Kleider zusammen, verstaute die Überreste ihrer Schäferstunden in einem kleinen Mülleimer bei der Küchenzeile. Er nahm den Rucksack auf, streifte den Parka über und schlüpfte in seine Turnschuhe. Eine Nachricht auf das Telefon musste genügen. Immerhin wusste er ja nicht, wie diskret er ihre Beziehung zu behandeln hatte. Sich durchaus sehr frivol fühlend, noch immer mit Spuren ihres Liebesaktes behaftet, verließ Mammut mit großen Schritten das Haus und eilte heim. jßM- Kapitel 11 "Sieht klasse aus, Respekt!" Charlie sortierte sorgsam die gefalteten Papierwerke zurück in die Dose, die Mammut zum Transport nutzte. "Das sollte die Funkstille aufheben." Urteilte sie entschieden, rückte die Skibrille auf ihrer Strickmütze zurecht. Mammut räusperte sich, verstaute die Dose in seinem Rucksack. "Wir haben uns gestern getroffen." Prompt sprang Charlie ihm fast auf die großen Füße. "Echt?! Und da rückst du erst jetzt mit raus?! Habt ihr euch ausgesprochen?" Zögernd raufte das Mammut sich die filzigen Strähnen. "Tatsächlich haben wir uns nicht sonderlich ausführlich unterhalten." Charlie funkelte über ihrer geschmückten Totenmaske zu ihm hoch. "Was zum Geier?!" Feuerte sie los, hielt abrupt inne, lupfte einen Handschuh, weil der andere das Longboard hielt. "Oh nee, kapiert! DIE Details will ich nich wissen." Mammut hüstelte dankbar, wartete geduldig auf die nächste Explosion. Allein seiner Zögerlichkeit war schließlich zu verdanken, dass Charlie die Neuigkeit recht spät erfuhr. "Also seid ihr jetzt zusammen, oder wie?" Sortierte Charlie grimmig Schlussfolgerungen. Mammut lief nicht, wie er selbst noch vor zwei Tagen erwartet hätte, vor Scham dunkelrot an. "Das weiß ich nicht." Bekannte er im Bass, ohne Groll, registrierte selbstredend den inquisitorischen Blick seiner kleinen Begleiterin. "Ich habe den Eindruck, nur meine Auffassung, dass es Laurent nicht gut geht. In einer Notlage kann man Hilfe auch unterschiedlich verstehen. Deshalb ist es wohl besser, auf eine Gelegenheit zum Gespräch zu warten." Erklärte Mammut sich bedacht. Charlie grummelte neben ihm. "Verdammte Hacke, dieses Liebes-Nummer ist teuflisch kompliziert! Mit dem Zeug kenn ich mich echt nicht aus!" Ihre Stimme deutete unmissverständlich an, dass sie diesen Zustand unbedingt aufrechtzuerhalten wünschte. Mammut, der auch eine Premiere verzeichnete, deshalb wenig Vorsprung für sich reklamieren konnte, brummte sonor. "Möglicherweise geht es nicht mal darum." Er blickte ruhig zu Charlie herunter, die trotz Totenmaske äußerst kritisch wirkte, rollte die mächtigen Schultern. "Es steckt mehr dahinter. Nur ist es Laurents Entscheidung, ob wir eingeweiht werden." jßM- Mammut trug nach dem Gespräch mit Charlie, kombiniert mit einem Abstecher zum Einkauf, nicht zu schwer an seinen Gedanken. Laurent war am Vorabend völlig erledigt gewesen und benötigte sicher auch Zeit, sich zu sammeln. Seine Botschaft war übermittelt worden. Ebenso recht altmodisch die Armbanduhr als Liebespfand, dass er ihn hatte schlafen lassen wollen, sich deshalb ohne Abschied empfahl. Dass er sehr hoffte, die Kälte vertrieben zu haben, begleitet vom Wunsch, ihm zu helfen, wenn es in seiner Macht stehe. Mammut verstand schließlich, das hatte er sich sehr streng gesagt, nichts von Liebe. Aufgewachsen bei einer Mutter, die diese Emotion für ein trügerisches, leicht flüchtiges Phänomen hielt, konnte man das auch nicht erwarten. Das wäre so dumm, wie ein Haus auf Treibsand zu errichten. Deshalb schloss man ja auch lieber Freundschaften, oder nicht? Die hielten länger vor, weil der andere Schmu des schönen Scheins recht bald verblasste! Gemeinsame Interessen, ausgewogenes Verhältnis von Nutzen und Vorteilen, DAS zählte. Eine andere Lektion, die Mammut nicht von mütterlicher Seite, sondern schlicht als Bestandteil der Aufklärung bewusst war: Sex war nicht Liebe. Hunger setzte man ja auch nicht mit Appetit gleich! Manchmal versteckte sich hinter einem Bedürfnis eigentlich ein ganz anderes. Groß und kräftig und schwer wie ein Mammut zu sein bedeutete nicht, dass der Verstand behäbig oder eingeschränkt war. Es gehörte für ihn zur Selbstverständlichkeit, Laurent Zeit zu lassen, selbst zu erwägen, wie es eigentlich um sie stand, ohne den Leidensdruck. Der konnte nur ein schlechter Ratgeber sein. jßM- [Meine Mutter ist für einen Tag gekommen. Bitte triff mich morgen.] jßM- Keine angenehme Atmosphäre, um zu warten. Es regnete in eisigen Nadeln, nicht zu dicht, aber unangenehm und hartnäckig. Mammut wich nicht. Er fror nie, der Parka konnte die Nässe durchaus ab. Artig hatte er über die filzigen Strähnen eine Fleece-Kappe gezogen, die nur unvollkommen seine Brille von Treffern verschonte. Er trug eine der langweiligen Stoffmasken. Für den Unterricht nutzte er nacheinander zwei andere. Die Feuchtigkeit setzte sich im Stoff fest, was es unangenehm machte, sie länger zu tragen. Jeden Abend musste er sein komplettes Reservoir mit kochendem Wasser übergießen und trocknen lassen. Das wollte er der schönen Maske von Laurent einfach nicht antun, reservierte sie für besondere Gelegenheiten. Nun hielt er Ausschau nach Laurent, der sich offenbar verspätete, auf dem Weg zwischen Schulgebäude und Appartementhaus. Durch ärgerliche Schlieren hindurch erspähte Mammut tatsächlich eine schlanke Gestalt, die eilig seinem Wartepunkt zustrebte. Kein Longboard, aber auch keine Verpuppung wie am vergangenen Freitag, wo man sich wundern musste, ob überhaupt eine Bewegung möglich war. Mammut trat vor, wusste sich unverwechselbar, schüttelte sich leicht, um die anhänglichen Regentropfen zu reduzieren. Bevor er noch ein Wort der Begrüßung äußern konnte, umschlang ihn Laurent, von dem er nur kurz die tiefschwarzen Augen erkennen konnte. Zu Mammuts Erleichterung registrierte er jedoch kein besorgniserregendes Keuchen oder Zittern. Fürsorglich erwiderte er die Umarmung, beugte sich tiefer, als könne er seine mächtige Figur nutzen, Laurent abzuschirmen. "Danke, Mammut." Vernahm er durch eine schöne Stoffmaske. "Nichts zu danken." Antwortete er automatisch. Laurent löste sich, blickte zu ihm auf, schob seine Rechte in Mammuts Hand. "Bitte komm mit zu mir." Mammut nickte entschlossen, bereit, jeden Dienst zu erweisen, den er leisten konnte. jßM- Laurent wischte ihre Kleidung rasch mit einem Lappen ab, bedeutete Mammut, ihm ins Wohnzimmer zu folgen. "Ist Cappuccino in Ordnung? Allerdings nur als Pulver, der Kaffeeautomat hat einen Defekt und der Service war noch nicht da." Mammut bedankte sich höflich, studierte die schlanke Gestalt. Laurent trug eine gefütterte Stoffhose und darüber einen Rollkragenpullover mit Rautenmuster, vermutlich mit hohem Mohair-Anteil. Ein klassisches, durchaus teures Kleidungsstück, nicht unbedingt das, was man in seiner Schule so trug. Es wirkte nämlich sehr edel. "Es tut mir leid, dass ich so spät geantwortet habe." Laurent platzierte die zwei Tassen auf ein zum Service passendes Tablett, ging zur Loggia voraus. Die beiden schmalen Korbsessel dort füllten beinahe die Breite des "Wintergartens" aus, der wirklich handtuchschmal war. "Wenn deine Mutter gekommen ist, gar kein Wunder. Sie konnte bestimmt nicht über Nacht bleiben, oder?" Betrieb Mammut Konversation, nippte vorsichtig an seiner Tasse, die filigran in seinen großen Händen wirkte. Laurent lächelte, was feine Linien der Anstrengung in seinem blassen Gesicht betonte. "Tatsächlich fuhr sie gestern Abend noch zurück, aber mit dem Zug. Geschäftsreisen sind ja stark reduziert worden und dann die Übernachtungsregelungen! Zudem ist sie noch sehr beschäftigt, diese unterschiedlichen Regelungen zu Wirtschaftshilfen, Melde- und Nachweispflichten." Er nahm einen vorsichtigen Schluck, leckte sich die Lippen. "Entschuldige bitte, dass du warten musstest. Ausgerechnet heute gab es neue Zugangskennungen für die Lernplattform. Die Dokumentation erforderte mehr Zeit." Sich aufsetzend löste er auch rasch Mammuts Armbanduhr von seinem Handgelenk, reichte sie ihren Eigentümer. "Die habe ich auch beinahe vergessen!" Den Blick abwendend bot Laurent sein Profil, offenkundig mit sich ringend. Mammut, der seine Tasse zur Hälfte geleert hatte, stellte diese auf den Untersetzer. Ein zittriges Lächeln irrlichterte über Laurents feingeschnittene Züge. "Ich möchte mich dir erklären, nur..." Mammut, die Uhr befestigend, äußerte sich leise im Bass. "Wenn es dir zu schwer fällt..." Laurent lachte erstickt auf. "Das tut es, aber ich möchte es! Bloß..." Abrupt erhob er sich, streckte Mammut die Hand entgegen. "Können wir in mein Zimmer gehen, bitte?" jßM- Es war noch eine Nuance dunkler als beim ersten Mal, die Jalousien fast vollständig gekippt. Mammut ließ sich artig neben Laurent auf das Bett sinken, streckte sich aus, spürte den angespannten Druck der eleganten Hand in seiner eigenen, lauschte auf die gepressten Atemzüge, bis Laurent seine Courage konzentriert hatte. jßM- "Ich muss ein wenig ausholen, deshalb bitte ich dich um Geduld, denn ich möchte so sehr...es ist mir sehr wichtig, dass du mich verstehst und mir vielleicht verzeihen kannst, dass ich gegen dich so ungerecht und selbstsüchtig gehandelt habe. Der Anfang... ich habe vorher mit meinen Eltern in Hamburg gelebt. Dort sind sie auch beide aufgewachsen. Meine Mutter ist Juristin, das erwähnte ich ja, sehr willensstark und schön. Mein Vater arbeitet als Innenarchitekt, konzentriert sich auf das nächste Projekt. Also, meine Eltern stehen im Berufsleben, schon immer, deshalb verbrachte ich viel Zeit bei meinen Großeltern, den Eltern meiner Mutter. Mit meinen anderen Großeltern pflege ich eigentlich nur gesellschaftliche Kontakte. Wahrscheinlich muss ich doch noch früher ansetzen, damit~damit das Bild stimmig wird. Also, mein Großvater, der Vater meiner Mutter, stammte aus Thailand. Er war Seemann, hatte keine Eltern mehr und musste sich selbst versorgen. Deshalb heuerte er einfach an, Handelsschiffe, Containertransporte, diese Art von Seefahrt. Er verunglückte und man lieferte ihn in Hamburg ins Krankenhaus ein. Meine Großmutter arbeitete dort als Krankenschwester. So lernten sie sich kennen, das heißt, eigentlich war es nicht sonderlich romantisch, denn mein Großvater sprach weder Deutsch noch Englisch. Es ging ihm schlecht, aber das Schiff musste weiter, sodass ihm nur die Barmherzigkeit der Seemannsmission helfen konnte. Gegen Krankheiten und Unfälle waren die kleinen Crews kaum versichert, musst du wissen. Es stellte sich heraus, dass er ein steifes Bein behalten würde, also nicht mehr anheuern konnte. Meine Großmutter engagierte sich aus Mitleid, hörte sich um und fand eine Hilfsstelle in einem Lager. Einen Schulabschluss hatte er nicht, aber es zeigte sich, dass er ganz gut mit Maschinen umgehen konnte. Irgendwie gelang es ihr dann, ihm einen Ausbildungsplatz bei einem Elektriker zu verschaffen. Damals wollten alle jungen Leute lieber studieren, es gab also einen gewissen Bedarf. Im Verlauf ihrer Mission taten sich die beiden zusammen. Meine Mutter kam auf die Welt und sie wollte unbedingt etwas erreichen. Ich vermute, man hat sie einmal zu oft für ein hübsches Püppchen gehalten, ihr suggeriert, sie könne es nicht allzu weit bringen. Jedenfalls machte sie Abitur und studierte, knüpfte beruflich ein Netz, um sich zu etablieren. So lernte sie auch meinen Vater kennen. Der kommt aus einem ganz anderen Milieu, quasi gutbürgerlicher 'Adel', eine bestimmte gehobene Gesellschaftsschicht in Hamburg. Zwar ist er nur das jüngste von drei Kindern, aber trotzdem gibt es große Erwartungen, eine klassische Ausbildung, die besten Verbindungen. Mein Vater ist nicht grundsätzlich ehrgeizig, eher begeisterungsfähig, sehr jovial, geübt in gesellschaftlichen Auftritten, einfach, weil er das von Kind an gewöhnt ist. Seinen Eltern missfiel die Ehe mit meiner Mutter, weil ihre Eltern ja sehr kleinbürgerlich sind. So herrscht eine gewisse Distanz vor. Deshalb hatte ich nur zu meinen Großeltern mütterlicherseits eine enge Verbindung. Ich besuchte sie nach der Schule, war dort gut aufgehoben, weil meine Eltern ja arbeiteten. Dann wurde mein Großvater krank. Von dem Unfall hatte er sich nie vollständig erholt, und er rauchte seit Jahrzehnten, nie im Haus, nie vor meiner Großmutter oder vor mir. Meine Großmutter wusste natürlich, dass Nikotin schädlich ist, aber sie erklärte mir, er habe so viel auszustehen, dass sie ihm diese Erleichterung nicht nehmen wolle. Das verstand ich damals nicht gleich, aber Liebe bedeutet wohl auch, den anderen anzunehmen, selbst um einen fürchterlichen Preis. Ich hatte von Lungenkrebs nicht so viel Ahnung, ich sah nur, dass Großvater kaum noch etwas aß. Man ließ ihn auch zu Hause bleiben, du kannst dir denken, warum. Er bekam Medikamente gegen die Schmerzen, aber wenn man kaum noch isst und trinkt... Jedenfalls wachte er nicht mehr auf, Kreislaufversagen im Schlaf. Ich war damals traurig und begriff einfach zum ersten Mal, dass wir alle sterblich sind, zog mich zurück, grübelte und wurde sehr antriebslos bis apathisch. Nicht, dass ich mich dazu entschlossen hätte, es geschah einfach. Nicht mehr die Kraft haben aufzustehen, die Welt draußen zu sehen... Meinen Eltern kam das merkwürdig vor. Sie brachten mich erst zum Hausarzt, dann zu Spezialisten. Nach mehreren Wochen intensiver Tests bekam ich eine Diagnose: offenbar eine Neigung zu Depressionen aufgrund eines hormonellen Ungleichgewichts. Man verschrieb mir zum Ausgleich dieser Stimmungsschwankungen Psychopharmaka und versicherte, das komme in der Pubertät vor, wachse sich aber zumeist aus, weil der komplette Körper sich quasi noch mal umbaue, ein kompliziertes Zusammenspiel, das sich arrangieren müsse. Mit ärztlicher Begleitung und bestimmten Medikamenten, die den Mangel ausglichen, sollte es mir aber möglich sein, ganz normal aufzuwachsen. Meine Eltern waren erleichtert, forderten mich aber auf, niemandem anzuvertrauen, dass ich solche Medikamente nehmen müsse, weil viele Leute gegen Erkrankungen der Psyche Vorbehalte hätten und das selbst nach der Pubertät, wenn ich gesund wäre, an mir haften würde. Also erzählte ich niemandem davon und achtete darauf, nicht entsprechend entdeckt zu werden, etwa bei Ausflügen oder Reisen. Eigentlich war ich also nach außen ganz normal, wie jeder andere Junge auch, hatte Klassenkameraden und Freunde. Vielleicht neige ich ein wenig zum Grübeln, aber das ist ja noch nicht so ungewöhnlich. Ich habe Tennis gespielt, wollte in den Sommerferien einen IT-Kurs bei der Volkshochschule machen. Meine Eltern pflegen viele Kontakte, da wird man eingeladen, Stehempfänge, Garten-Partys, Soirees, gesellschaftliche Begegnungen eben. Häufig wurde ich mitgenommen und lernte so auch recht viele ihrer Bekannten kennen. Einer davon sammelte Jugendstil- und Art deco-Kunstgegenstände, hatte unzählige Bildbände und Grafiken. Mich faszinierte das sehr, so kamen wir ins Gespräch und hielten per Smartphone und Messenger einen losen Kontakt. Am letzten Schultag vor den Sommerferien traf ich ihn, wie mir schien, zufällig, auf dem Heimweg. Er erzählte mir, er habe einen neuen Druck erworben, lud mich ein, bei ihm einen Eistee zu trinken und mir das Bild anzusehen. Ich stieg also bei ihm ein und wir fuhren in sein Appartement, eher eine Zimmerflut, wenn du dir eine Vorstellung machen willst. Und dann erinnere ich mich an gar nichts mehr. Man sagte, die Nachbarn hätten die Feuerwehr und die Polizei gerufen, weil ich splitternackt über den Balkon geklettert sei und auf der Brüstung kauerte, auf keine Ansprache reagierte, sodass es aufwändig wurde, mich dort zu bergen. Ein gewaltiger Skandal. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht und untersucht, weil man nicht wusste, welche Drogen ich wohl genommen haben könnte. Die Details erspare ich dir, aber es gab eine strafrechtliche Auseinandersetzung, die noch immer andauert. Der Bekannte meines Vaters behauptete, wir hätten eine einvernehmliche Liebesbeziehung gepflegt. Allerdings hatte die Polizei einen Untersetzer sichergestellt, bei dem man noch belegen konnte, dass sich neben dem klebrigen Eistee Spuren von K. O.-Tropfen fanden. Die lassen sich nämlich nur eine gewisse Zeit nachweisen, bevor der Körper sie abbaut. Die angeblichen Nachrichten forderten meine Eltern im Klartext bei den Providern an. So gestand er schließlich, dass er mich unter Drogen gesetzt und vergewaltigt hatte. Allerdings wusste er nichts von den Psychopharmaka, die wiederum mit den Tropfen reagierten, sodass ich wohl, während er unter der Dusche stand und mich ausgeknockt im Bett vermutete, im Wahn nackt über den Balkon geklettert war. Daran konnte ich mich nicht erinnern, aber ich weiß, was dann kam, als die Wirkung nachließ. Schließlich musste man mir ja erklären, warum ich im Krankenhaus war, wieso meine Eltern mein Smartphone nicht mehr herausgaben. Obwohl ich laut Test frei von der gefährlichen Mischung war, reagierte mein Körper auf die gewohnte Einnahme der Medikamente plötzlich ganz anders. Es war, als wäre ich auf einem Horror-Trip, mit verzerrter Wahrnehmung, Stimmen... Jedenfalls bekam ich eine Panikattacke und kippte noch im Krankenhaus um. Danach waren alle nervös, nicht nur ich, der ich ja meinen eigenen Gefühlen schon nicht trauen konnte und jetzt nicht mal mehr meinen Sinnen. War das ein psychotischer Schub, entwickelte ich im schlimmsten Fall eine Schizophrenie? Man kam zu einem radikalen Entschluss: keine Medikamente mehr, die hormonell wirken konnten und damit auch keine chemische Hilfe mehr gegen meine Stimmungsschwankungen. Damit ich aber nicht vor die Hunde ging, schlug man meinen Eltern eine Therapie in einer Kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtung vor. Dort werden Opfer von schweren Unfällen, mit Traumata oder seelischen Erkrankungen behandelt. Uns, meinen Eltern und mir, war klar, dass ich nicht zurückkonnte. ALLE wussten schließlich, was mir passiert war. Das würde ich nicht aushalten können. Wir waren uns schnell einig, dass ich diese Behandlung bekommen sollte. Mit den Verletzungen, die ich erlitten hatte, würde ich ja leben müssen. Darum bräuchte ich entsprechende Anleitung. Also zog ich in diese Einrichtung, völlig durch den Wind, weil ich immer wieder Panikattacken bekam, ohne einen Anlass, zumindest nicht so offenkundig. Dort wurde es besser, weil ich erst mal mit sehr wenigen Personen zu tun hatte. Man lernt eine Menge, ganz unterschiedliche Strategien, bekommt Rückzugsräume, hat einfach mehr Zeit. Der Druck, sofort wieder wie vorher funktionieren zu müssen, fiel weg. Nicht mal bei den Schulaufgaben, die wir ja auch leisten mussten, um den Anschluss nicht zu verlieren, wurde es stressig. Natürlich fiel ich heftig in tiefe Löcher, ohne die Medikamente, aber mit jedem Mal, dass ich wieder ein bisschen aus den Gruben herauskriechen konnte, Beistand erhielt, wurde es besser. Autogenes Training, Entspannung, gesunde Ernährung, Rollenspiele, Situationstraining, Bewältigungsstrategien von Stress, sogar Traum-Lenkung, damit man so langsam wieder selbst das Steuer in die Hand nimmt. Lalako ist dort entstanden, fast wie eine Theaterrolle, eine Person, die nach draußen, unter Leute gehen kann, die fröhlich ist, positiv, heiter. Dafür habe ich sogar einen kleinen Nähkurs bekommen, weil es mir wie manchen Schauspielenden hilft, mit Accessoires in die Rolle einzusteigen. Das Glück-Album ist mein Begleiter geworden, meine Rückversicherung, mein Nachschlagewerk. Ich war so stabil, dass ich zum zweiten Schulhalbjahr wieder in die Welt entlassen werden konnte, allerdings nicht in Hamburg, ausgeschlossen. Meine Eltern hatten da schon die räumliche Trennung vollzogen und entschieden, dass ich hier neu anfangen könne, ohne soziale Medien, ohne eine Umgebung, in der alle von diesem Skandal wissen. Tatsächlich habe ich es begrüßt, auch wenn ich mich nicht neu erfinden kann. Ich wollte meinen Eltern auch nicht böse sein, weil sie sich ja wirklich um mich kümmern. Manchmal ist das eben so, dass man nicht mehr ständig denselben Weg hat. Früher hätte ich mich das vollkommen erledigt, aber jetzt kann ich das einordnen. Trotzdem hatte ich vor dem ersten Schultag Angst, aber niemand beachtete mich sonderlich. Die Pandemie hat mir geholfen, so fürchterlich es klingt: nicht so viele Menschen auf einmal, physische Distanz, wichtigere Fragen als die, was ich vorher so gemacht habe. Mit der Maske konnte ich ja Lalako auch ausführen, das ließ sich gut an und dann kam die Sache mit dem Hund. Mein Vater hatte sich solche Mühe gegeben, es war ihm wichtig, dass ich nicht ständig allein bleibe, deshalb sollte ich mit dem Hund doch wenigstens mal um den Block rollen. Zudem wusste er, dass es sogar eine Halfpipe und Sprunganlagen gab, für die das Longboard gar nicht geeignet ist, doch das wollte ich ihm nicht sagen, um ihn nicht zu entmutigen. Es hat ihm nämlich sehr zugesetzt, dass es einer seiner Bekannten war, und dass man ihm zu verstehen gab, er fliehe feige aus Hamburg, während meine Mutter geblieben ist, in der großen Kanzlei. Aber das stimmt nicht, ganz und gar nicht! Nun, deshalb ging ich also mit dem Hund zu dieser Anlage, aber ich traute mich nicht heran, passte ja auch gar nicht dorthin. Da kam Charlie zu mir. 'Haste dir das Ding als Krücke andrehen lassen oder willste mal ne Tour durch die Gegend rollen?' Ich war so perplex, musste dann lachen. Charlie hat mich wirklich gerettet, nicht nur dabei, mit dem armen Hund eine ganz entsetzliche Figur abzugeben: keine bohrenden Fragen, kein Spott über meine Abneigung zu den sozialen Medien, nicht mal über Cosplay und Lalako hat sie sich lustig gemacht. Ich kam mir fast normal vor. Ohne sie hätte ich diese Halloween-Einladung auch nicht angenommen. Wenn da zu viele Menschen gewesen wären, es zu lange gedauert hätte... Dann, auf dem Rückweg... Ich habe versucht, die Panikattacke so wie gelernt abperlen zu lassen. Vielleicht war ich aber doch zu erschöpft und wir mussten rennen und aufpassen... Es ging nicht. Ich dachte noch, dass ich das Charlie nicht antun darf, aber... Ich erinnere mich an deinen Parka. Deine Hände waren so unglaublich warm. Leider war ich sehr unhöflich, weil ich einfach in ein Loch kriechen wollte, um mich zu sammeln. Wenn man nämlich einen Rückschlag erlebt, soll man wieder mit kleineren Schritten beginnen. Ich hätte alles erklären müssen, doch das brachte ich nicht fertig. Charlie versicherte mir eindringlich, dass du keine Erklärungen erwartest, alle einen Schreck verstehen würden. Das hat mir genug Mut gemacht, dich doch zu treffen, obwohl ich furchtbar nervös war. Hinter Lalako kann ich mich zwar recht gut verstecken, aber unter den Kleidern bin das immer ich. Du warst so warm, warmherzig und nett und nachsichtig! Keine Fragen, einfach eine Zuflucht! Du hast dir so viel Mühe mit mir gemacht, warst zurückhaltend und nachdenklich, dass ich Freundschaft schließen wollte. Tatsächlich habe ich mich an dich geklammert wie an eine Rettungsboje. Es ist keine Entschuldigung, verzweifelt zu sein, das weiß ich. Ich war am Ende meiner Möglichkeiten, konnte mir selbst nicht helfen, und trotzdem will ich nicht in das Loch fallen! Das Verrückte ist ja, wenn man gar keine Reserven mehr hat, gibt es diesen letzten Impuls, wie aus Trotz, deshalb hab ich dich geküsst, damals, auf dem Platz, mit den Laternen. Ich wollte nicht untergehen, ich wollte gerettet werden. Ich hab die Situation ausgenutzt, eindeutig, ganz egoistisch und grausam und rücksichtslos. Es wurde ja noch schlimmer... Ist der Ruf erst ruiniert, du kennst den Spruch sicher. Ich hatte ja schon die Büchse der Pandora aufgemacht, deine Freundschaft ausgenutzt, dich schändlich behandelt, da trat mein Wahnwitz hervor, trieb mich an. Selbst in mein Glück-Album habe ich es eingetragen, dass du mich vor dem Abgrund rettest. Weißt du, das ist nicht der Abgrund, den ich früher erlebt habe, dieses finstere Loch der Apathie. Dieser Abgrund ist wie ein abgestorbenes Korallenriff, nur noch das tote Kalkgerippe ist übrig, keine bunten Pflanzen, Fische, nichts mehr als eine abgestorbene Wüstenei, die sich langsam in mir ausbreitet. Auch wenn meine Arme und Beine und der Kopf noch funktionieren, ich bin hohl im Torso, angefangen in meinem Unterleib, dann hoch bis zur Brusthöhle. Ich habe versucht, etwas zu unternehmen. Es gibt Strategien, wie man diese Schändung überwindet, ihr ihre Macht nimmt. Man kann das Gefühl mit anderen Gefühlen überschreiben. Das tat ich, aber es funktionierte nicht. Um es plastisch auszudrücken: ein Vibrator hat weder den Tod noch die Kälte vertrieben, ganz gleich, was da kurzzeitig zuckte. Und so~so habe ich auf deine Wärme und Güte gehofft, dir keine Erklärung gegeben, nicht mal danke gesagt..." jßM- Mammut wandte den Kopf, konnte trotz des Dämmerlichts das Glitzern von Tränenrinnsalen erkennen, die aus den Augenwinkeln rannen. Laurent keuchte schluchzend, die freie Hand auf den Mund gepresst. Sich aufsetzend, ohne ihre Verbindung zu lösen, beugte sich Mammut über die angespannte, schlanke Gestalt. "Hat es geholfen? Konnte ich dir helfen?" Sein Bass klang selbst in seinen Ohren gepresst und kratzig. Er fühlte sich nicht ausgenutzt, nicht beleidigt, nicht hintergangen, nein, sondern beinahe ohnmächtig vor Elend, weil Laurent so tapfer um sein Leben kämpfte! Weil er selbst nicht wusste, wie er auf so viel Unglück, solche Qualen und Narben reagieren sollte. Das Mammut hätte... Nein! Mammut entzog Laurent kurz die Hand, fädelte die Arme unter dessen eingerollten Rücken, beförderte ihn in eine sitzende Haltung und an seine gewaltige Brust, umarmte ihn beschützend. Verfügte er jetzt über eine eingebaute Heizung, oder nicht?! Laurent benötigte menschliche Wärme, Schutz, eine Auszeit. ALL DAS war ihm selbst ohne Probleme möglich zu gewähren. Schluss mit dem Kleinmut, den Zweifeln, der Zaghaftigkeit. Charlie hatte es selbst proklamiert: einen Kumpel ließ man nie im Stich! jßM- Nach einer Weile ließ das Schluchzen nach, lockerten sich auch die dünnen Arme um Mammuts Nacken ein wenig. "Nun habe ich auch noch dein Hemd durchnässt..." Mammuts Erfahrung gebot Gelassenheit. Das dampfte regelmäßig in kürzester Zeit weg. "Es besteht nicht die Gefahr, dass ich einlaufe oder schneller roste." Merkte er sanft in einem kläglichen Scherz an. Laurent ächzte, weil er nicht gleichzeitig schluchzen und lachen konnte. "Wenn ich dir helfen kann, tue ich das. Wir sind doch Freunde. Ich bin dankbar, dass du so tapfer warst, mir alles zu erzählen." Erklärte Mammut, den Bass polierend, der nicht mehr so rau klingen sollte. An seiner Schulter seufzte Laurent kläglich. "Wenn ich doch nur meinen Gefühlen trauen könnte! Wenn ich sicher sein könnte, dass es nicht purer Egoismus ist!" Mammut entschied, ungewohnt direkt zu werden. "Wenn du es wärst, können wir uns dann zusammentun, Freunde sein und auch ein Paar?" Dem Mammut hätte der Atem gestockt, es wäre in einen Riesenkringel in sich selbst verkrochen vor solcher Anmaßung. Doch das war vorher und nun vorbei. Laurent richtete sich auf, in der Dunkelheit kaum zu betrachten. "Ich bin ein schwerer Fall." Gab er zu bedenken. "Ich bin ein überdimensioniertes Überbleibsel der letzten Eiszeit, für das sich bloß Paläontologen begeistern. Trotzdem wage ich es jetzt. Ich mag dich, Laurent, ich möchte dir helfen, auch dabei, diese Kälte zu vertreiben und das Korallenriff wieder zu beleben. Lass es uns versuchen, ja? Gemeinsam halten wir durch, wenigstens, bis die Pubertät und diese lästigen Hormone kein Thema mehr sind." Plädierte Mammut entschieden. Selbst Charlie hatte ihm ja signalisiert, dass sie ihnen nicht die Köpfe abschrauben würde! Laurent löste sich von ihm, schwankte leicht beim Aufstehen, hielt auf den Einbauschrank zu. Mammut konnte nicht erkennen, was dort entnommen wurde. Laurent justierte die Jalousien, sodass etwas mehr Licht des trüben Regenabends hineingelangte, reichte Mammut ein Stofftier, ein sehr abgenutztes Wesen mit grobwolliger, verfilzter Struktur. Möglicherweise eine Art Gibbon? Aufgenähte, schwarze Knopfaugen, ein eingesticktes Grinsen und verfilzte Struppen auf dem Kopf. Orange-natur, so wechselte sich das Fell ab. Verwirrt blickte er zu Laurent auf, dessen blasses Gesicht noch von Tränen gezeichnet war. Um den Mund zitterte ein Lächeln. "Ich hab ein bisschen Angst, dass ich dich wie die große Ausgabe von Bobbi behandle." Bekannte er. Das Mammut beäugte Bobbi, ahnte, warum sein Ganzkörperfell möglicherweise gar nicht abschreckend auf Laurent wirkte, prustete. "Ich glaube, ich habe noch ein paar Kniffe, die Bobbi nicht bieten kann." Kommentierte er keck, stemmte sich hoch, setzte Bobbi hinter sich auf das Bett ab. "Darf ich vielleicht noch eine Tasse Cappuccino bekommen?" jßM- Den Vorwand nutzend schlug Mammut vor, selbst das Wasser aufzusetzen, damit Laurent Gelegenheit bekam, sich herzurichten. Statt im "Wintergarten" hielten sie im Wohnzimmer auf einem schlichten, anmutig geschwungenen Sofa Hof, nippten vorsichtig, blinzelten in die Kondenswasserwolken. Mammut setzte seine Tasse ab, gewohnt behutsam, wie das Mammut im Porzellanladen, betrachtete Laurent nachdenklich. "Weißt du, es hat mich schon verblüfft, dass du mich anziehend findest. Das tut nämlich niemand, verständlicherweise. Jetzt leuchtet es mir allerdings ein." Er zwinkerte aufmunternd. Laurent wich seinem Blick verlegen aus, lachte jedoch leise. "Wenn es hier wie in den Manga diese riesigen Maskottchen im Kostüm gegeben hätte, wären die vermutlich auch nicht vor mir sicher gewesen. Genau kann ich es nicht erklären, aber es hat mich beruhigt, von einem großen Kuscheltier umarmt zu werden." Das entlockte Mammut ein sonores Glucksen. "So hab ich mich noch nie gesehen, nicht mal, wenn Weichspüler oder teure Spülungen Erfolg hätten! Ich muss dir nämlich gestehen, dass alle Versuche, mich etwas manierlicher zu gestalten, kläglich gescheitert sind." Laurent lachte, beinahe so samtig-weich wie sonst. "Wie du siehst, ziehe ich die ungezähmte Variante vor." Für lange Augenblicke sahen sie einander einfach an. Mammut hob schließlich den Arm, streckte ihn aus, die Hand offen. "Bitte, lass es uns wagen. Ich bin überzeugt, dass wir das Zeug dazu haben, unsere Schwächen mit Wohlwollen zu bewältigen." Ein Lächeln umspielte Laurents Lippen, als er seine Hand in Mammuts legte. "Danke, Mammut. Ich bin froh, dass du mich so gut verstehst. Eigentlich möchte ich pflegeleicht sein, aber.." Er seufzte, um Nachsicht werbend. Mammut hielt die elegante Hand sanft, jedoch entschieden in seiner großen. "Ich bin selbst nicht pflegeleicht, sondern häufig ein verschrecktes, kleines Mäuschen. Der riesige Verhau außen täuscht, deshalb bin ich dir dankbar, dass ich mich ermannen muss. Das wird höchste Zeit." Verkündete er entschlossen. Laurent erhob sich geschmeidig, richtete sich auf Mammuts Schoß ein, kuschelte sich in seine Arme. Der bemühte sich, so warm, tröstlich und ermutigend wie ein übergroßes Stofftier zu sein. Und ein wenig mehr, denn Bobbi konnte bestimmt nicht so gut küssen! "Ist es dir nicht zu unbequem?" Murmelte Laurent an seiner Schulter, schmiegte sich an. "Ganz und gar nicht, es gefällt mir. Ich glaube, das ist eine Freizeitgestaltung, die ich zur Gewohnheit machen werde." Versetzte Mammut schmunzelnd, dippte einen Kuss auf Laurents Stirn. In dessen tiefschwarzen Augen funkelte Vergnügen, überstrahlte die Schatten von Anstrengung und Erschöpfung. Er seufzte wohlig, raufte Mammut leicht die filzigen Strähnen, amüsiert von der statischen Qualität und den leisen Knistern. Langmütig ließ Mammut sich dieses Spiel gefallen. Abgesehen von den monatlichen Kontrollen medizinischer Natur war er an körperliche Nähe nicht gewöhnt. Dass seine physische Erscheinung nun doch hilfreich und nützlich sein konnte: ein Wunder! Was ihn daran erinnerte, dass er auch zugesagt hatte, etwas Ähnliches zu unterstützen. Ohne jede, nun, erforderliche Praxis. "Darf ich etwas unverschämt Intimes fragen?" Tastete er sich vorsichtig in unsicheres Gelände. Laurent studierte ihn aufmerksam. "Bitte, frag nur." Ein Räuspern ließ sich nicht verkneifen, auch wenn man es als Wichtigtuerei missinterpretieren konnte. "Ich habe keine Übung und bin deshalb besorgt, dass ich dir keine besondere Hilfe bei den Korallen war." Formulierte Mammut mit einer kläglichen Grimasse. Mechanisch-technisch-theoretisches Verständnis ging nicht mit praktischer Raffinesse einher, das wussten ja alle. Ein wenig Farbe belebte Laurents Wangen, als er die blumige Botschaft dechiffrierte. "Du bist mir eine sehr große Hilfe gewesen, Mammut. Zum ersten Mal habe ich mich wieder innen lebendig gefühlt, als wäre eine innere Flamme angefacht worden, die ich schon längst verloren glaubte." Etwas verlegen zupfte er an Mammuts Strähnen, den Blick gesenkt. "Allerdings kann ich das wohl nicht ständig offerieren. Es ist doch recht anstrengend." Im Reflex drückte Mammut ihn prompt an sich. "Oh, das tut mir so leid! Ich habe einfach keine Abstimmung, und meine Idiotenkräfte!" Entschuldigte er sich erschrocken. Laurent lachte, initiierte einen Eskimokuss. "Eher liegt es an meiner schlechten Kondition. Vielleicht ist es ja auch keine Übung, die Routine werden sollte." Schlug er scheu vor, blinzelte Mammut an. Der nickte eilig, erinnerte sich auch an ein gewisses Zwacken. "Aber ich lebe wieder, dank dir, Mammut." Lächelte Laurent, küsste ihn zärtlich. Mammut antwortete metaphorisch wechselgleich. Ihm war durchaus bewusst, dass es Hürden, Rückschläge und Missverständnisse geben würde. Dennoch. In ihrem Kuss-Morsecode enthüllten sich Zuneigung und Zuversicht. Hier konnte er sich endlich beweisen, dass er über die innere Größe seiner äußeren Gestalt verfügte. jßM- "Nanu, Mammut?!" Mammut blickte nach unten, aus Gewohnheit. Charlie, das Longboard am Rucksack und rundum verpuppt, äugte auf die Zeitschrift, die er hielt, kurz vor der Kasse. "Willste auch anfangen, Brot zu backen?" Drang äußerst skeptisch zu ihm hoch. "Könnte dir den Backstein zeigen, den meine Mutter produziert hat." Mammut lachte sonor, jedoch gewohnt gedämpft. "Nein, ich bin auf der Suche nach einfachen Anleitungen für Torten. Diese Roh-Kuchen, weißt du?" Da Charlie eindeutig Unverständnis signalisierte, blätterte er in der Zeitschrift das Bild auf. "Das soll nicht so schwer sein. Ich dachte, ich könnte mit diesen Glas-Etagen-Varianten üben." Weshalb er durchaus beabsichtigte, das Heft zu erwerben, vorher jedoch sichergehen wollte, nötige Zutaten in den Wagen gepackt zu haben. "Warum ne Torte?! Dir is schon bewusst, Kumpel, dass hier alles Kekse und Spekulatius und Lebkuchen vertilgt?" Spielte Charlie mit einer Geste auf die jahreszeitliche Vorliebe an. Eine Erklärung wurde notwendig. Ohne die früher so häufig hinderliche Verlegenheit ließ Mammut sie verlauten. "Ich habe in einem dieser Manga gelesen, dass Japaner an Weihnachten Geburtstagstorte fürs Christkind essen. Das wäre eine nette Idee, schien mir, wenn ich Laurent treffe." Charlie grollte vernehmlich, was Godzilla durchaus beeindruckt hätte. "Mein lieber Schwan, ihr seid so verknallt!" Anstatt sich besorgt zu entschuldigen, lachte Mammut gutmütig. Neben ihm stemmte Charlie die Hände in die Hüften. "Hör mal, Kumpel, ich ertrage MIT ANSTAND diese Pärchen-Sache, klar? Aber mir passt es gar nicht, wenn mir dadurch all meine Board-Kumpel flöten gehen." Sie musterte ihn von den filzigen Haarspitzen bis zu den großen Füßen. "Sag mal, wie viel wiegst du eigentlich?" Es würde mit dem Teufel zugehen, wenn sie nicht ein Longboard für Mammuts auftrieb, und wenn es ein umgebautes Surfbrett wäre! jßM- Ende jßM- Danke fürs Lesen! kimera