Titel: Merry-go-round Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Seifenoper Ereignis: Weihnachten 2023 Erstellt: 23.12.2023 Disclaimer: "Merry-go-round of life" aus Howl's moving castle (Das wandelnde Schloss) von Joe Hisaishi Ken, Ichi, Pearl, Juulio und andere treten in "Jungfernmeister" (Kapitel 20 bis 23) zuerst auf. Ihre Geschichte wird in "Zuhause" fortgesetzt. <---oo---> <---oo---> <---oo---> <---oo---> <---oo---> <---oo---> <---oo---> <---oo---> <---oo---> Merry-go-round Es war eine besondere Nachtschicht. Sie hatten schon lange nicht mehr gemeinsam getüftelt, geräumt und ohne große Worte die Weichen für die Zukunft des Ladens gestellt. Ken genoss die Vertrautheit mit seinem Großonkel, der konzentriert, aber auch vergnügt werkelte. Ihm selbst ging es auch "gold", was nicht zuletzt der ausgedehnten Intimität mit Ichi zu verdanken war, der durchaus eine Menge Energie aufgeboten hatte, ihn ordentlich herauszufordern. "Wir sind übrigens jetzt zusammen, Ichi und ich." Ließ Ken deshalb verlauten, während sie die Übertragung testeten. "Wart ihr das nicht die ganze Zeit?" Der Großonkel grübelte kurz, ohne aus dem Konzept zu geraten. "Wir haben es uns im Tempel versprochen, quasi eine Verlobung." Erläuterte Ken zum besseren Verständnis. "Aha. Sehr vernünftig." Kommentierte sein Großonkel beiläufig. Ken schmunzelte. Für den Großonkel war die Angelegenheiten somit ausführlich behandelt und abgeschlossen. Er interessierte sich nicht sonderlich für die Vorlieben seiner Mitmenschen, solange die nicht "seine Kreise störten", wie er in philosophischer Andeutung offenbarte. Man konnte den älteren Herren nicht damit schockieren, dass der jüngste Mitarbeiter (ein ER?! Oder wie?!) lange Haare hatte und potentiell provozierende Mädchenkleidung zum Polo-Shirt trug. Kleidung und Frisuren galten ihm als Geschmackssache. Im Übrigen wäre es wohl verwunderlich, wenn ein "Haar-Model" keine Haare in bemerkenswertem Umfang oder Länge aufzubieten habe, oder nicht? Auch die vermeintlich "fürsorglichen Beobachtungen" zum Sozialleben seines Großneffen tangierten ihn nicht. Der Junge (kaum aus der Schule, schon in dieses abbruchreife Werkstattgebäude gezogen!) ziehe Jungs den Mädchen etwas mehr vor? Eine Aussage, die für ihn keinen Sinn ergab, weil es ja zumeist um Menschen ging, oder nicht? Buchstabierte man ihm dann, dass sich die Jugend offenbar unzüchtig innerhalb der vier Wände tummelte, warf das bei ihm lediglich die Frage auf, woher man diese Erkenntnis habe, Video oder Röntgenblick? Was andere Leute miteinander in welchen Konstellationen betrieben, tangierte ihn nicht, auch nicht bei naher Verwandtschaft. Die biologisch-mechanischen Vorgänge boten nichts nennenswert Bedeutendes und über chemisch-psychische Dispositionen wollte er sich nicht auslassen, weil er diese nicht in erforderlicher Tiefe nachvollziehen konnte. Ken mochte seinen Großonkel ob dieser Einstellung, der klaren Prioritäten und der Souveränität, wie er sich höflich, aber bestimmt auf dem eigenen Pfad bewegte. Er selbst wollte es genauso halten, dem eigenen Kompass folgen. Was konnte man auch sonst von einem "komischen Kauz" erwarten? <---oo---> "Zwei Schichten?" Ichis dünne Augenbrauen bildeten eine kritische Kurve über den tiefschwarzen Augen. "Genau, von 6:30 Uhr bis 13:30 Uhr, halbe Stunde Übergabe, dann bis 21:30 Uhr." Ken tippte, den obligatorischen Zahnstocher kreisend, auf das neue Plakat. Davor stand nun, ebenfalls neu, ein Briefkasten zum Einwurf von Bestellungen. Rund um die Uhr geöffnet, das war mit der letzten Nachtschicht vorbei. Zu wenige Beschäftigte, nach dem Umzug eine größere Strecke bei Notfällen, außerdem noch die Bauarbeiten, die einige Zeit andauern würden, plus, der Clou: die Pacht des Waschsalons! Das alte Ehepaar, das ihn betrieb, hatte ihn aufgeben wollen, weil sie mit der Arbeit nicht mehr schritthalten konnten. Das sorgte die Nachbarschaft durchaus, nicht jeder Haushalt verfügte über Waschmaschine und Trockner. Juulio beklagte den Verlust des verlässlichen Services für seinen Herrensalon, der häufig Handtücher und Kittel zu reinigen hatte. Dazu noch die Kleidungsstücke, die man nicht einfach in die winzige Waschtrommel stopfen sollte, die nun bis zum Bahnhof transportiert werden mussten! Mit dem technischen Verständnis und der nötigen Kreativität hatte der Großonkel in Beratung mit Ken ausgetüftelt, wie man einen Teil der Leistungen, den Salon pachtend, anbieten könnte, ohne den eigenen Laden und das eigene Personal zu überfordern. Außerdem konnte man gleichzeitig die Angebote der Nachtschicht, die nachgefragt wurden, in Teilen durch einen umgebauten Automaten ersetzen, mit dem man vorher sehr geräumig Spielzeug und Plüschtiere hatte "angeln" können. Für die Herren über die Transportseilzüge im Hochregal eine amüsante Herausforderung. Dazu gab es noch eine Wiederverwertung für alte Jetons, um zwei kleine Waschmaschinen und einen Trockner zu füttern. "Aber wir nehmen keine Kimonos an, ja?" Erkundigte Ichi sich, schoss einen grimmigen Blick auf Ken ab, der offenbar das eigene Leistungslevel bei anderen auch voraussetzte. Was er selbst als unangezeigt optimistisch einstufte! "Nein, auch keine Flick- und Ausbesserungsarbeiten." Ken verstaute den Zahnstocher nonchalant hinter einer Ohrmuschel, rückte näher an Ichi heran. "Wenn wir nicht jemanden finden, der die Arbeit erledigt." Eine Mischung aus "Jeton"-Waschsalon zur Selbstbedienung, Annahme von Wäsche mit Video-Schalte und Bügelautomaten sollten diese Arbeiten drei Häuser weiter ermöglichen, während hier, im Paradies der Seilzüge, weiter der Verkauf lief und die gewohnten Dienstleistungen angeboten wurden. Allerdings nicht mehr ohne Unterbrechung. "Für die Lieferungen wird es auch etwas leichter." Im Transportgewerbe fanden sich kaum noch Leute. Die hegten auch nicht das unwiderstehliche Bedürfnis, mitten in der Nacht ihrer Arbeit nachzugehen. "Hmmm." Studierte Ichi mit gefurchter Stirn den Schichtplan, die neuen Anweisungen, die Regeln für die Video-Schaltung zum Waschsalon. Die Ablenkung nutzend küsste Ken die freigelegte rechte Seite. "Stopp!" Knurrte Ichi, hielt ihn mit einer schlanken Hand vor dem Brustkorb auf unerfreuliche Distanz. "Du kannst heute doch nicht die Nachmittagsschicht übernehmen! Wenn dein Großonkel erst gegen 8 Uhr die Einweisung für alle vornimmt, hast du weder was gegessen, noch genug Zeit, um zu schlafen!" "Es ist der erste Tag..." Wandte Ken höflich ein. Was Ichi keineswegs aus gewittriger Stimmung lockte. "Habt ihr jetzt alles erprobt, oder nicht?!" Die Hände in die mageren Hüften gestützt wirkte er ausgesprochen grimmig. "Allenfalls Telefon-Notdienst ist drin. Du kannst nicht ständig hier herumspuken! Einige ruhen sich nämlich höchst bequem darauf aus, dass DU ja anrücken wirst, wenn sie was nicht auf die Reihe kriegen!" Ken registrierte amüsiert, wie Ichi nach diesem aufgebrachten Tadel dezente Röte in die blassen Wangen stieg. Einen ranghöheren, älteren, die Geschäftsleitung quasi vertretenden Kollegen derart zu kritisieren widersprach jeder beruflichen Etikette und ruinierte die Karriere ebenso gründlich wie unwiderruflich. Allerdings kannte Ken Ichis Temperament, das sich immer mal wieder Bahn brach, allen fürchterlichen Spuren auf Leib und Seele sowie den Konsequenzen zum Trotz. Ichis Teint wurde erschreckend fahl, was Ken veranlasste, sich halb umzuwenden und seinen Großonkel in Hörweite zu erblicken. "Da ist was Wahres dran." Antwortete er gelassen, pickte bedauernd den Zahnstocher von seinem Ohr, bestückte einen Mundwinkel. "Mit dem Delegieren von Verantwortung hab ich's nicht so." Ken adressierte seinen Großonkel. "Ein richtiger Stresstest wäre heute gar nicht mal schlecht, weil wir alle Lieferungen abgewickelt haben und das Angebot sich erst herumsprechen muss. Wenn Ichi heute zu Beginn der zweiten Schicht die Leute einweist, gehen wir kein großes Risiko ein." Sein Großonkel nickte nachdenklich. "Sicherheit geht vor. Eine ordentliche Mütze Schlaf haben wir uns verdient. Wird sich noch einruckeln müssen." Was für ihn die Diskussion beendete. Ichi atmete hörbar aus. Ken zwinkerte, ließ den Zahnstocher rotieren. Seit Ichi und Pearl in sein Leben getreten waren, konnte er sich über Langeweile definitiv nicht beklagen! <---oo---> Natürlich gab es immer noch die halbe Stunde vor Ladenöffnung und die überschneidende halbe Stunde zur Übergabe, weshalb sich für die meisten anderen Beschäftigten nichts änderte. Ken, der sich in den Imbiss der "Hausfrauen und Seniorinnen" der Umgebung begab, einige Zeit später als gewohnt nach seiner Nachtschicht, wurde interessiert empfangen und ausgequetscht. Natürlich hatte man die Hinweise auf dem Plakat genau gelesen, begrüßte den weiteren Betrieb des Waschsalons (wenn auch mit einer Reduktion des Leistungsangebots) und diskutierte die Auswirkungen. Sicherlich würde Ken nun eine Art Jetlag erleiden, immerhin hatte er ja lange Zeit nachts gearbeitet und tagsüber geruht (wenn er nicht zu Hilfe gerufen wurde oder einfach so wieder die wenigen Schritte bis zum Laden absolviert hatte). 20 Minuten Fahrradstrecke entfernt, im neuen Heim, ließ sich das nicht mehr so einfach gestalten. Ken löffelte die dicken Nudeln aus seiner Suppe, lauschte dem Diskurs. Richtig, sein Tagesablauf würde nun anders aussehen, und ja, der kürzlich erfolgte Umzug sollte ihn auch beschäftigen. "Wie geht es euch denn so, in dem neuen Haus? Habt ihr euch schon abgesprochen?" Die leere Suppenschale in den winzigen Imbiss reichend überdachte Ken seine Antwort. "Funktioniert gut." Beschied er schließlich, ohne seine eigene Verwunderung allzu deutlich zu offenbaren. Tatsächlich sollte man sich doch wundern, oder? Jetzt verfügten sie über fließend Strom und Wasser, es gab einen Kühlschrank, eine richtige Dusche, eine Toilette... Über Hausarbeiten hatte er sich mit Ichi, wenn man es genau nahm, gar nicht abstimmen müssen. Ichi war ordentlich und gewissenhaft, hatte sofort die Abholung von Müll an den unterschiedlichen Wochentagen notiert, Lappen verteilt, um gleich zu wischen, ließ ihre wenigen Habseligkeiten nicht herumliegen und offenbarte eine penible Fürsorge für Pearl. Den ehemaligen Katzentransporter, eine traurige Angelegenheit aus abgeschabtem Kunststoff, hatte Ken beim Umzug ungefragt in ein Katzenklo außerhalb der kuriosen Disposition ihres "Häuschens" umgewandelt. Was Pearl betraf, Futter, Katzenklo, Kissen, Pflege, Gesundheit: Ichi ließ nicht die geringste Nachlässigkeit zu. Für Ken, der seit dem Auszug aus dem elterlichen Heim stets allein in eher rustikal zu nennenden Umständen gehaust hatte, war es selbstverständlich, dass er sich immer um alles selbst kümmerte, schließlich betraf es ja nur ihn. Dass Ichi sich so unkompliziert verhielt, dieselbe Einstellung an den Tag legte, sofort erledigte, was anstand, verhinderte Debatten über häusliche Angelegenheiten. »Bis auf die Wäsche.« Erinnerte Ken sich, während er langsam an seinem Tee nippte, spürte, wie ihn eine gewisse Müdigkeit erfasste. Zuvor verfügten sie schlichtweg nicht über eine Waschmaschine, sondern nutzten Regen und Zisterne. Aufgehangen wurde auf der Veranda des nicht mehr existierenden Werkstattgebäudes. Durch den Waschsalon in ihrer Obhut sollte sich eigentlich die Frage erledigt haben. Für eine Waschmaschine gab es keinen Platz in dem winzigen Container für Küche, Dusche und WC. Wenn man sowieso woanders Wäsche wusch, schien es umständlich, diese nass bis zum eigenen Heim zu transportieren, um sie unter den aufgebockten zweiten Wohncontainer zu hängen. Das hätte man möglicherweise thematisieren sollen. Andererseits, Ken schmunzelte in sich hinein, während er den obligatorischen Zahnstocher in einen Mundwinkel platzierte, wäre es kein passender Moment gewesen, während der Einweisung seines Großonkels diesen Vorschlag zu erwähnen. Ichi war in die Pläne nicht eingeweiht gewesen, lauschte mit dem rechten Ohr höchst konzentriert allen Erläuterungen. Wenn er in diesem Arbeitsmodus war, agierte er ernst, umsichtig und äußerst entschieden bis energisch. Was zu der strengen Ansage führte, er solle sich gefälligst nicht ständig blicken lassen! Ken grinste in sich hinein. Möglicherweise hatte Ichi da einen wunden Punkt getroffen: der Laden WAR sein zweites Wohnzimmer gewesen. Deshalb blieb er auch ständig ansprechbar, erledigte Dinge lieber selbst. "Hm." Brummte Ken, keineswegs verärgert, strich über das Schmuckband um sein Handgelenk. Es symbolisierte ihr Versprechen zusammenzubleiben, im Tempel geleistet, somit von einigem Gewicht. Ihr Tagesablauf würde sich jetzt anders synchronisieren, also sollte er besser die grauen Zellen auf Trab bringen und der veränderten Situation gerecht werden, nicht wahr? Deshalb steckte er die wollige Tolle unter dem Vorhang hindurch in den Imbiss. "Was sollte man eigentlich im Haus haben, so als Vorrat?" <---oo---> Pearl verließ Ken, der in dem kleinen Käfig vor dem Container werkelte, um Ichi entgegen zu flitzen. Ob wohl eine kleine Runde mit dem außergewöhnlich grell gestalteten Stahlross drin war? Ichi bremste sofort, stieg ab, lehnte das schwere Fahrrad an die schlanke Hüfte und bückte sich, um Pearl wenigstens auf den Arm zu nehmen. Der Fahrradkorb und auch der Gepäckträger waren besetzt. "Hast du wirklich geschlafen?" Lautete die strenge Frage, während Ken den Zahnstocher hinter ein Ohr deponierte. "Habe ich! Prinzessin Samtpfote und ich wollten gerade die Umgebung erkunden, mal schauen, was es hier so an Geschäften gibt." Tat Ken kund, zwinkerte der kleinen dreibeinigen Katze zu. Das Fahrrad aufbockend, was einiger Kraft bedurfte, zogen sich Ichis dünne Augenbrauen zusammen, während er einhändig den geschmückten Fahrradhelm abzog. "Das werdet ihr beiden ganz sicher nicht tun! Bevor ich losgefahren bin, gab es eine Unwetterwarnung. Kannst du bitte den Korb von der Treppe nehmen? Ich werde uns Tee machen und den Kühlschrank leeren." Pearl maunzte enttäuscht. Wenn das Fahrrad vertäut wurde, hieß das, aus der Runde würde nichts werden. "Es gibt ein Unwetter, das magst du bestimmt nicht." Vertraute Ichi Pearl an, angelte mit der freien Hand den Ballast vom Drahtesel. Ken, der nicht aufgefordert wurde, sich nützlich zu machen, tat dies doch, hauchte ungeniert einen Kuss auf Ichis Wange. "Um den Korb kümmere ich mich gleich. Vorher werde ich besser im Park die Pumpe abstellen und alles in Sicherheit bringen." Mit gefurchter Stirn nickte Ichi, ging bereits eine Liste in Gedanken durch. Ken entführte Pearl auf dem Arm, um den Durchgang unter dem aufgebockten Container zum winzigen Park des Schreins zu nutzen. Saotome, der sich um die grüne Oase kümmerte, hatte dort ein kleines Wasserspiel installiert, das mit einem Akku operierte. In die Hocke gehend entfernte Ken umsichtig die einzelnen Teile, blickte sich um, ob noch etwas anderes zu sichern war. Pearl strich ihm um die Beine, störte sich nicht an den ersten bauchigen Regentropfen. Die bekamen jedoch rasch sehr viel Gesellschaft, weshalb sie beide flott den Rückweg antraten. Ken pflückte Pearl vom Boden, löste auf der halben Wendeltreppe den dort befestigten Korb. Pearl, die schmal und zierlich genug war, sich durch den Stahlkäfig zu schieben, konnte sich so unbehelligt ein gemütliches Plätzchen sichern, wenn sie nicht die Nachbarschaft erkundete. Über Katzentüren verfügte nämlich keiner der beiden Container. Im Wohncontainer reihte Ichi bereits die Notfallversorgung auf, Thermosflasche mit Tee, Wasser für Pearl, Reste aus dem winzigen Kühlschrank, Kerzen, Streichhölzer, Taschenlampe und natürlich das dienstliche Mobiltelefon. "Ich habe mit deinem Großonkel abgesprochen, dass der Laden geschlossen wird. Wir haben alle verderblichen Artikel in den Kühlschrank mit dem Akku geräumt. Eigentlich sollte die Sicherung funktionieren und Kurzschlüsse verhindern." Er steckte sich die langen, schweren Strähnen hoch, legte Batterien zur Taschenlampe. Von außen war ein ungemütliches Heulen und Pfeifen zu vernehmen. Regentropfen prasselten mit der Vehemenz von Hagelkörnern auf das Containerdach. "Hätte nicht gedacht, dass es uns hier erwischt." Kommentierte Ken, kraulte Pearl, die sich nicht für die bunten Bildchen auf dem "Viereck" interessierte. Unterdessen sortierte Ichi Kleidungsstücke in seine alte Reisetasche, kramte einen sehr ausgedünnten Abreißblock hervor, notierte. "Für die erste Zeit sollten wir unsere Ausgaben aufschreiben." Ließ er Ken wissen. "Strom und Wasser kommen ja dazu, außerdem hin und wieder ein Leihrad. Und vielleicht mehr Lebensmittel." Die tiefschwarzen Augen funkelten Ken an, der zwinkerte. Offenbar war sein Hilfeersuchen an Ichi bei dessen Besuch im Imbiss nach der ersten Schicht weitergetragen worden. "Ich denke, wir sollten den Waschsalon selbst nutzen." Ichi zog die Stirn kraus, setzte Zeichen und Ziffern. "Es würde merkwürdig wirken, wenn wir hier eine Waschgelegenheit konsultieren." "Wie ist es denn gelaufen?" Erkundigte Ken sich, um von der Buchhaltung abzulenken. Ichi schnaubte, verstaute sorgsam den Block und den Stift, was seinen Schoß freimachte, um sofort von Pearl beansprucht zu werden. Prompt, vermutlich unbewusst, lächelte Ichi, streichelte vertraut durch das buntscheckige Fell. "Es gab keine größeren Schwierigkeiten, auch wenn ich mehrfach in den Salon flitzen musste, um mit dem Waschmittelspender zu helfen. Wir sollten besser über eine Wäschewaage nachdenken und das Ergebnis mit dem Spender koppeln. Das könnte auch den Wartungsaufwand bei den Industriewaschmaschinen reduzieren..." Mit einem Knall erlosch die Lampe, auch draußen wurde es prompt noch dunkler. "Stromabschaltung." Bestätigte Ken gelassen, hielt das Mobiltelefon hoch. Knurrend zündete Ichi eine Kerze an, glättete Pearl das aufgestellte Fell, die plötzlichen Lärm gar nicht goutierte. "Es wäre auch gut, mal über eine Reservierungsfunktion nachzudenken." Ichi angelte nach einem Flugblatt, auf dessen freie Stelle er seine Ideen notierte. "Wenn wir Wäsche annehmen, damit wir nicht damit hin und her rennen müssen. Es sind zwar nur drei Gebäude, aber Stoff kann ganz schön schwer sein, und bei dem Wetter..." Ken griff herüber, kassierte Papier wie Stift ein. Draußen heulte und jaulte es wie beim Weltuntergang in alten SciFi-Filmen. "Genug gearbeitet." Ichi war ja erstaunlich spät zurückgekommen und die Wetterlage lud nicht zu allzu viel Aktivitäten ein. Im Kerzenschein konnte er Ichis Miene nicht detailliert erkennen, schmunzelte jedoch über dessen Replik. "Wenn du jetzt vorschlägst, dass wir uns Grusel- und Horrorgeschichten erzählen, rede ich morgen kein Wort mit dir." Lächelnd schlug Ken die Decken von ihrem Badevorleger-Lager zurück, zog auch Pearls bevorzugtes Kissen an sie heran. Er lud Ichi mit einer Geste ein, es sich unter der Decke mit ihm gemütlich zu machen. "Weißt du, ich dachte eher an Anekdoten aus dem Hauswirtschaftsunterricht. Die Vorschläge für Vorräte sind zwar prima, aber..." Während er Ichi und Pearl damit unterhielt, weshalb nicht alles aus dem Notvorrat geeignet war, IHNEN zu helfen, wenn ER die Verarbeitung übernehmen musste, brannte der Kerzenstummel herunter und begleitete sie in den Schlaf. <---oo---> Glücklicherweise hatte sich das veritable Unwetter verzogen. Der Strom war am frühen Morgen wieder verfügbar. Ichi leistete Ken beim Frühstück Gesellschaft, obwohl der ihm eine längere Nachtruhe gegönnt hätte. "Wir teilen." Ichi versorgte Pearl, die vor dem Container speiste, um der Enge zu entgehen. "Wahrscheinlich wird der Imbiss auch Mühe haben, Nachschub zu bekommen. Du willst keine Schicht nur mit dem Futter aus den Automaten bestreiten." Ken raufte sich die wollige Tolle, schmunzelte. Er hatte sich selten um Mahlzeiten bemühen müssen, weil ja alles in der Nähe war, der Imbiss und die Automaten. Leider, das musste man konstatieren, lagen seine Talente auch eher im Bereich "Verzehr" als "Zubereitung". "Wenn du die Wäsche mitnimmst, kümmere ich mich in meiner Schicht darum, da haben wir weniger Druck. Ich hoffe, es ist nichts kaputt gegangen. Ach ja, die Sachen aus dem Automaten mit dem Akku..." Die günstige Gelegenheit nutzend, dass Ichi sich die langen Haare zu einem Zopf zusammenfasste, bremste Ken dessen besorgten Vortrag zu diversen Aufträgen mit einem ausführlichen Kuss aus. "Ich krieg das hin." Versicherte er mit einem Zwinkern. In Ichis Wangen stieg kleidsam etwas Farbe, weil ihm offenbar bewusst wurde, dass er sich verantwortungsvoll und überfürsorglich verhielt, während Ken gewohnt lässig mit langjähriger Erfahrung und Seniorität punktete. "Vielleicht kannst du später, wenn es heller ist, mal nach dem Wasserspiel sehen, ja?" Ken streichelte sanft über eine blasse Wange. "Ich nehme deine Vorschläge mit und schaue, was ich machen kann. Mein Großonkel kommt bestimmt vorbei. Wir drehen noch ein paar Stellschrauben." "Es war nicht als Einmischung gedacht." Setzte Ichi steif an, doch Ken schlang ihm einfach die Arme um die magere Figur, zog ihn an sich. "Du kannst jederzeit alles anbringen." Versicherte er mit einem schiefen Grinsen. "In unserer Voliere ist das erwünscht." Sein freches Zwinkern ließ Ichi seufzen, der sich allzu gut erinnerte, wie oft er Ken als "komischen Kauz" betitelt hatte. "Fahr wenigstens vorsichtig." Ermahnte er, zog Ken an einem Ohr. "Keine Heldentaten!" Pearl maunzte, weil sie ihr Frühstück beendet hatte und daran erinnerte, dass die Zeit zum Aufbruch gekommen war. Sie pflegte Hof zu halten und höflich den Abschied abzuwarten, bevor sie geschmeidig in der morgendlichen Dunkelheit ihr Revier durchstreifte. Ken lächelte, drückte Ichi einen weiteren Kuss auf die zur Kritik ansetzenden Lippen, bestückte sich mit Zahnstocher und Fahrradhelm. Gerade waren ihm noch ein paar Ideen gekommen und er brannte darauf, sie mit seinem Großonkel zu diskutieren! <---oo---> Ken pedalierte wie versprochen umsichtig, registrierte dabei, dass offenbar auf seiner Fahrtstrecke keine größeren Schäden eingetreten waren. Eine gewisse Übung hinsichtlich heftiger Regenstürme konnte vorausgesetzt werden. Er schulterte die Reisetasche mit der Wäsche, sicherte das Fahrrad, bevor er rasch einen Blick in den Imbiss warf. Dort war man emsig beschäftigt, die übliche Versorgungslage herzustellen, auch wenn es an einigen Komponenten mangelte. "Guten Morgen die Damen." Machte Ken auf sich aufmerksam, steckte den Kopf mit der wolligen Tolle unter der Eingangsfahne hindurch. "Alles in Ordnung?" Ihm wurde bescheinigt, dass der Augenschein nicht trog, man jedoch Verspätungen bei der Lieferung beklagte. Ken, der Ähnliches vermutete, nickte gravitätisch, bot Hilfe an, falls sie benötigt werde. Es fühlte sich ungewohnt an, nicht im Imbiss zu frühstücken (oder eher eine Nachtmahlzeit einzunehmen), wie er das in den letzten Jahren immer nach der Schicht getan hatte. Andererseits war es auch nett, mit Pearl und Ichi gemeinsam zu essen. Zuversichtlich erwartete Ken von sich selbst, rasch mit der neuen Situation zurechtzukommen. Für den Laden gab es selbstredend ein Notfallkonzept, eine erprobte Reihenfolge, um die Seilzüge zu sichern, die verderblichen Waren zu bergen und gegen Stromausfälle Maßnahmen zu ergreifen. Was allerdings nicht für den Waschsalon galt. Nachdem Ken Anrufe und Mitteilungen zu Verspätungen bei der Lieferung beantwortet hatte, alle Seilzüge geschmeidig liefen und die Automaten wieder arbeiteten, begab er sich zum Waschsalon. »Sieh an.« Kommentierte er das handgeschriebene Plakat neben der automatischen Schiebetür. Es wies darauf hin, dass keine chemische Reinigung, keine Re-Imprägnierung und keine Ausbesserungsarbeiten angeboten wurden. Zudem könne ausschließlich nicht parfümiertes Waschmittel genutzt werden, um Allergien vorzubeugen. Das Nutzen der Waschmaschinen für Tönungs- oder Färbezwecke sei strikt untersagt. Keine Gewähr würde für Fleckenentfernung übernommen, wenn diese nicht zunächst vorbehandelt würden. Wäsche mit potentiell infektiösen Verunreinigungen werde nicht angenommen. Zudem sei den Anweisungen der Beschäftigten ohne Ausnahme Folge zu leisten, um Schäden zu vermeiden. Ein Handzettel empfing ihn auf dem Tresen, der die beiden Jeton-betriebenen Waschmaschinen und den Trockner von dem Bereich trennte, der Reinigung und Trocknung im Service anbot. Dort hatte Ichi ebenso akkurat und leserlich wie auf dem Plakat notiert, welche Vorkehrungen er getroffen hatte, bevor er den Waschsalon aufgrund der Unwetterwarnung verriegelt hatte. Gedankenvoll gab Ken wieder Strom- und Wasserzufuhr frei, prüfte das altertümliche Kassensystem, sammelte den zweiten Notizzettel auf, der neben den zwei aufeinander gesetzten Industriewaschmaschinen befestigt war. - Wäschesäcke ausgeben, getrennt nach Weiß- und Buntwäsche => sparsame Reinigung, nicht nach Kundschaft getrennt - Schutzhüllen und massive Kleiderbügel für gebügelte Wäsche => Verzicht auf Papier, Drahtbügel und Plastikfolie - Wäschewaage und Dosierspender => Reinigungshäufigkeit Maschinen reduzieren - Montage von Wäschestangen für Handtücher und Bettlaken => bessere Trocknungsqualität - Sandsäcke zur Reduzierung der Luftfeuchtigkeit - Abonnement- und Terminservice zur besseren Auslastung - Handbuch mit Stoffproben und Anweisungen zur Vorbehandlung von Flecken - Anleitung zum korrekten Bügeln und Zusammenlegen! - Austausch der Waschmittel => keine stark ätzenden Produkte mehr Ken ging das Auftragsbuch durch. Er bemerkte, dass Ichi wohl auch deshalb recht spät gekommen war, weil der verhindern wollte, dass feuchte Wäsche Stockflecken bekam, wenn man die Maschinen ausschalten musste, um Schäden zu verhindern. Er musste wie ein Teufel gebügelt haben! Was vermutlich auch die Ausrufezeichen auf dem Notizzettel erklärte. Ken schmunzelte, bewegte den obligatorischen Zahnstocher in den anderen Mundwinkel. Er fragte sich, ob Ichis Temperament nicht einige das Fürchten lehren würde. <---oo---> Im kleinen Park hinter dem Schrein inspizierte Ichi das bescheidene Wasserspiel. Er hatte die Pumpe wieder eingesetzt. Nach seinem Eindruck schien hier keine Arbeit mehr auf ihn zu warten. Was bedeutete, dass er sich dem nächsten Projekt widmete, nämlich der Krisenfestigkeit ihres kleinen Haushalts. Pearl spazierte munter neben ihm her, ganz und gar nicht abgeschreckt von der Ankündigung, sie würden durchs Viertel gehen. Da sie die übliche Pendelzeit abgewartet hatten, begegneten ihnen recht wenig andere Leute. Dafür hörten sie über sich das heisere Schreien der allgegenwärtigen Krähen, die aus der Unordnung nach dem Unwetter Vorteile zogen. Die "Sonnenschein-Siedlung für Familien" wirkte noch abschreckender als bei seinem letzten Besuch, selbst über die Distanz der Kreuzung hinweg. Bis auf einen Gebäuderiegel schien nun alles eingerüstet und umzäunt zu sein. Entschieden gegen ein kaltes Gruseln angehend, das ihn die mageren Schultern zusammenziehen ließ, betrat Ichi den kleinen Supermarkt an der Ecke. Herr Uyami lächelte erfreut, als Ichi ihn höflich grüßte, sich verneigte. Seiner Vermittlung verdankten sie schließlich ihre neue Bleibe! "Guten Morgen, Ichi. Na, seid ihr gut durch das Unwetter gekommen?" Ichi nickte dem alten Mann zu, erkundigte sich, ob er selbst vielleicht der Hilfe bedurfte. Bevor er jedoch eine Antwort erhielt, stürzte sich ein schwarzer Schatten direkt vor der automatischen Eingangstür auf Pearl, die dort geduldig gewartet hatte. Nicht allzu lange. Mit einem verdächtig souveränen Gespür entwischte sie der hühnergroßen Krähe durch die Eingangstür, während der gewaltige Vogel sich nicht mehr ganz abfangen konnte, eine halbhohe Werbetafel beinahe umriss. "Pearl!" Rief Ichi erschrocken, doch Pearl paradierte förmlich völlig gelassen zu ihnen. "Ich bringe das gleich in Ordnung!" Versprach Ichi, nachdem er sich versichert hatte, dass Pearl kein Schnurrhaar gekrümmt worden war. Herr Uyami lachte, ging vor Pearl in die Hocke. "Wenn das nicht die schlaue, kleine Katze ist, die ich nur vom Bild kenne!" Er streichelte ihr anerkennend über den kleinen Kopf, kraulte sie sanft zwischen den Ohren. "Das war wohl die Revanche für den Schreck, den dir die Viecher eingejagt haben." Mutmaßte Herr Uyami amüsiert, während Ichi nach draußen eilte, die Werbetafel auf Schäden untersuchte. Pearl maunzte majestätisch. Sie fürchtete sich ganz sicher nicht vor gehässigen Krähen! Tief durchatmend machte Ichi kehrt, zückte die überarbeitete Liste. "Ich möchte ein paar Vorräte einkaufen." Verkündete er, konnte sich nicht dazu durchringen, Pearl zu tadeln. "Und diesen Topf." Herr Uyami lächelte hintergründig. Diese altmodischen, gusseisernen Töpfe verkaufte er nur noch sehr selten. "Er muss erst eingebrannt werden. Kennst du dich damit aus?" Erkundigte er sich bei Ichi. Ichi nickte, wählte auch ein entsprechendes Fett aus, prüfte den Topfdeckel, ob sich darin flache Fladen backen ließen. Der alte Mann produzierte ein Kordelknäuel, damit Ichi die Einkäufe im Topf verstauen, diesen leichter tragen konnte. Er betrachtete dabei versonnen den Jugendlichen im schicken Damenmantel mit dem eleganten Dutt. Pearl enterte den Tresen, spähte interessiert in den Topf, der sich mit Allerlei füllte. Seufzend gestand sich Ichi schließlich ein, dass er einen Posten wohl nicht übergehen konnte, eingedenk von Nagellack, einem bescheidenen "Hausaltar" und Kens notorischem Hang dazu, ihn mit Aufmerksamkeiten zu überraschen. "Gibt es auch Süßigkeiten, die sich länger halten?" <---oo---> Der kleine Container mit Küchenzeile, WC und Dusche für Personen ohne Klaustrophobie war gut ausgestattet, wie Ken konstatierte. Ichi hatte offenkundig Vorräte besorgt, sie ordentlich und übersichtlich verstaut, ihre bis dato eher improvisierte Haushaltsführung bezüglich sanitärer Gegebenheiten professionalisiert. Alles bescheiden, zum Teil gebraucht, aber eine Annehmlichkeit im direkten Vergleich, das konnte man nicht bestreiten. Pearl schnupperte demonstrativ am dem schweren Topf, den Ichi eingebrannt hatte. Ken ging neben der kleinen Katze in die Hocke, studierte den Neuzugang ebenso. Gasflasche, Gaskocher im Campingformat, Wasserkessel, das hatte ihm genügt. Andererseits konnte man hier zwei Flammen nutzen, das bot durchaus Optionen. Ken erhob sich, lächelte über die Süßigkeiten, die Ichi beim Vorrat für Katzenfutter deponiert hatte. Pearl maunzte auffordernd, was ihn ermahnte, sich loszureißen, die neue "Freiheit" der ersten Schicht zu nutzen, um konspirativ zu agieren. "Hast du Lust auf eine kleine Spritztour, Pearl?" <---oo---> Ken fand Ichi nicht im Laden, der bereits bis auf den Briefkasten und den umgebauten "Angelautomaten" verdunkelt war, sondern im Waschsalon. "Was tust du hier?" Ichi strich sich eine schwere Strähne aus dem Gesicht, funkelte ihn aus tiefschwarzen Augen an. "Dich abholen." Ken zwinkerte, verstaute den Zahnstocher sicherheitshalber hinter einem Ohr. Ichi schnaubte, deutete auf seine alte Reisetasche. "Unsere Wäsche ist fertig, aber ich muss noch drei Hosen durch den Bügelautomaten jagen." Knurrte er zornig. "Man sollte ja meinen, es sei nicht SO SCHWER zu erkennen, dass Kunststoff nicht so heiß wie ein Baumwollgemisch behandelt werden darf!" Ken trat hinter den Tresen, bemerkte, dass sogar ein Plakat demonstrierte, wie man Pullover und T-Shirts richtig faltete. "Ich habe deine Vorschläge mit meinem Großonkel besprochen." Riskierte er sein Glück. "Ein paar Dinge können wir ziemlich schnell umsetzen." Zum Beispiel das Stangen-Trocknungs-Gestell mit einer Rotation, die sich an ihren Hochregalen und Seilzügen orientierte. "Die Kalkulation muss angepasst werden." Ichi faltete routiniert eine gebügelte Hose. "Wenn WIR den Service übernehmen, muss das eingepreist werden. Die Video-Schalte ist ja ganz nett, aber die Mehrzahl der Aufträge von heute betraf Reinigungen, die nicht mit den zwei Waschmaschinen selbst abgewickelt wurden. Zudem brauchen wir mehr Trocknungsfläche und Einweisungen!" Er warf Ken einen verärgerten Blick zu. "Dabei geht es gar nicht mal um die Bedienung der Maschinen!" Ken ahnte, dass Ichi einmal mehr den Eindruck gewonnen hatte, einige der Aushilfen wären nur bedingt einsatzfähig und -willig. "Da ist was dran." Beschied er besänftigend, hoffte, dass sich sein Amüsement nicht verriet. Es war schon seltsam, dass sie zueinander gefunden hatten, bei einem derart unterschiedlichen Temperament! "Das ist hier nicht mehr dein Wohnzimmer, ja?" Knurrte Ichi instinktsicher. "Ich kann Rosinenpickerei nicht ausstehen! Alle müssen sich ordentlich einbringen, sonst schaffen wir es nicht, beide Geschäfte zu führen!" Einige Sekunden später färbten sich seine blassen Wangen merklich ein, weil seine Zunge seiner Rage gefolgt war, sich ganz und gar nicht stromlinienförmig-servil-unterordnend jede Kritik verboten hätte. Lächelnd nutzte Ken das verbotene Stichwort "wir", um eine kleine Broschüre auf den Tresen zu legen. "Mein Großonkel ist der Auffassung, dass WIR deine Talente nutzen sollten, und zwar mit einem zertifizierten Abschluss." Ichi starrte ihn an, achtete aber darauf, nicht Falten in die letzte Hose zu drücken, die er gerade dem Bügelautomaten entnommen hatte. Nach der Erholung vom Schreckmoment, einmal mehr zu offenbaren, was er nicht auszusprechen hatte, zogen sich seine dünnen Augenbrauen grimmig zusammen. "Ich hatte dir gesagt, dass ich keinen Abschluss habe." Rang Ichi merklich um Beherrschung. "Der wird auch nicht verlangt." Gelassen studierte Ken die feingeschnittenen Gesichtszüge. "Abgeprüft wird der Lernstoff..." "Das geht nicht! Ich werde nicht zugelassen! Außerdem kann ich das nicht bezahlen!" Unterbrach ihn Ichi hitzig. Ken grübelte. "Oh, hast du vielleicht Prüfungsangst?" "Nein!" Fauchte ihn Ichi an, wickelte die drei Hosen in Papier. "Soweit komme ich gar nicht!" Er hängte eine Marke an das Wäschepaket, fasste die entflohene Strähne in den Zopf. "Ich sagte doch, ich habe gar nicht das Geld, um mich dann noch ablehnen zu lassen, weil denen aufgeht...!" "Ichi, dort wird deine Leistung geprüft, nichts weiter. Die Kursgebühr und die Prüfungsgebühren übernimmt mein Großonkel." Die schmalen Hände in die mageren Hüften stützend konterte Ichi aufgewühlt. "Das hast DU ihm eingeredet! Dabei bist du parteiisch und voreingenommen!" "Stimmt genau." Pflichtete Ken grinsend bei. "Ich bin sicher, dass du die Prüfung schaffst. Ich teile die Meinung meines Großonkels, dass du sehr gut die Zuständigkeit für den Waschsalon ausfüllen wirst." Die tiefschwarzen Augen starrten ihn fassungslos an. "Ohne DICH bekommen WIR das wirklich nicht gut hin." Ergänzte Ken lächelnd. "Wenn ich als komischer Kauz das Zertifikat erhalten habe, ist das für dich auch kein Problem." Ichi schnaubte hörbar, blickte zur Seite. "Aber wenn ich versage..." Wisperte er bitter. Uneingeladen hob Ken die Rechte, streichelte sanft über Ichis linke Wange, die Narben um das taube Ohr. "Ich weiß, dass du das schaffst, Ichi." Ihn traf ein prüfender, langer Blick, den Ken gewohnt gelassen erwiderte. Wie sein Großonkel auch hegte er keine Zweifel an Ichis Fähigkeiten, auch wenn der sich nicht über seine Vergangenheit ausließ, keine Zeugnisse vorweisen konnte, keine Referenzen vorlegte. Von allen, die jemals im Laden gearbeitet hatten, war Ichi der Einzige, der so rasch die Abläufe verinnerlicht hatte, ordentlich, gewissenhaft und konzentriert arbeitete, die Initiative ergriff und Verantwortung übernahm. Zugegeben, das "die Kundschaft hat immer recht"-Prinzip kollidierte heftig mit seinem Sinn für Gerechtigkeit und seinem lebhaften Gemüt, aber servile Unterwürfigkeit erwarteten sie auch gar nicht. Ichi hob die Rechte, spreizte den kleinen Finger, die Einladung zu einer Vereinbarung. Dabei funkelten seine tiefschwarzen Augen herausfordernd. "Wenn ich die Prüfung absolviere, wird der Künstler kulinarischer Küchen-Katastrophen im Gegenzug lernen, wie man unfallfrei genießbare Speisen kreiert. Ich werde mir nämlich meine Zeit aufteilen müssen." Ken seufzte. Nun zeitigten seine "Horrorgeschichten" des Vorabends eine Verpflichtung! Dennoch zögerte er nicht, seinen kleinen Finger mit Ichis zu verschränken. Ganz unerwartet kam dieses Ansinnen ja nicht! <---oo---> Ken prüfte in einer ruhigen Minute den Umschlag von Waren und Dienstleistungen. Wie Ichi prognostiziert hatte, fand sich im Waschsalon keineswegs zahlreich "Jeton-Kundschaft" wie sie selbst, die ihre gesamte Wäsche mangels Möglichkeiten reinigen und trocknen ließ. Nein, dieser Part machte am zweiten Tag nur einen geringen Umfang aus. Zugegeben, vielleicht hatte der Wechsel einige verunsichert, und richtig, nach zwei Tagen war es gewagt, sich schon ein Urteil zu erlauben, jedoch... Mehrheitlich wollten Leute Dienstleistungen, die sich um Wäschestücke drehte, die man nicht mal eben der heimischen Trommel anvertrauen konnte. Große Wäschestücke wie Bettzeug, Vorhänge, Überwürfe, Decken, Badehandtücher, aber auch jede Menge Artikel, die besonderer Aufmerksamkeit bedurften. Ichis Hinweis auf starke Wäschestangen, hohe Abstände vom Boden, einen großformatigen Arbeitstisch, Staffelhängung, dazu faltbare Ablagenetze... Man konnte nur staunen. Möglicherweise vermuten, dass Ichi einschlägige Erfahrungen mitbrachte. Ken verzichtete jedoch wie gewohnt darauf, entsprechende Fragen zu stellen. Er vertraute darauf, dass Ichi ihm Details seiner Biographie anvertrauen würde, wenn er dafür bereit war. Angesichts der zahlreichen Narben auf dem mageren Leib stand zu erwarten, dass es keine allzu angenehmen, fröhlichen Enthüllungen sein würden. Für das rotierende System an Trockenstangen mit ausreichender Distanz zum Boden in bewährter Manier mit Seilzug hatte er Vorbereitungen getroffen, dazu die Übergabe ordnungsgemäß gemeistert und im Imbiss eine Stärkung nach seiner Schicht zu sich genommen sowie den Anteil für Pearl eingesackt. Es verwunderte ihn nicht, dass die Seniorinnen-Riege Ichi zum Gesprächsthema hatte, dessen Expertise sich schon herumsprach. Das versprach ein interessanter neuer Geschäftszweig zu werden! <---oo---> "Du musst mich wirklich nicht jeden Tag abholen, vor allem nicht, wenn ich schon wieder spät dran bin!" Gelassen nahm Ken die Kritik auf, als er den Waschsalon, der längst geschlossen hatte, betrat. Der Laden war bereits verdunkelt, aber wie am Vortag leistete Ichi "Überstunden" (falls diese jemals gezählt hätten). "Ich dachte mir, es wäre besser, mal den Gerüchten auf den Grund zu gehen." Verstaute er den obligatorischen Zahnstocher hinter einem Ohr, studierte, wie Ichi grimmig ein Jackett besprühte, behutsam mit einer Zahnbürste ein Revers bestrich. Der schnaubte aufgebracht. "Keine große Sache, wirklich! Aber man muss gleich Kontra geben, damit die wissen, was Sache ist!" Ken blickte sich um, erkannte eine weitere Ermahnung ans Personal und auf dem handgeschriebenen Plakat am Eingang einen weiteren Eintrag. Was er gehört hatte, als er mit Pearl vorsichtig und sehr täppisch Gemüse fürs Frühstück zerlegte, war, dass Ichi einen Ganoven mit dem Signalhorn vertrieben hatte. Der wurde anschließend von der Fußstreife des örtlichen Reviers wegen illegaler Müllentsorgung festgenommen. Natürlich eine Heldentat, aber auch besorgniserregend, was sich für Gelichter in ihr kleines Geschäftsviertel wagte! Ichi prüfte unterdessen das Bügeleisen, bearbeitete das Jackett mit sicheren, konzentrierten Schwüngen. "Du hast nicht heroisch einen üblen Verbrecher in die Flucht geschlagen?" Erkundigte Ken sich, inspizierte den neuen Aufbau eines alten Duschvorhangs über einer kleinen Wanne, montiert mit einem Regenschirm ohne Bespannung, der eigentlich entsorgt werden sollte. "Ein alter Trick!" Schnaubte Ichi, deponierte das Jackett auf einen ordentlichen Bügel, befestigte eine Wäschemarke. "Angeblich die Waschmaschine nutzen, aber mit vollen Windeln, was selbstredend zur Ablehnung führt, woraufhin mit großem Gezeter 'Kompensation' verlangt wird, sonst folgt der Rufmord fürs Geschäft." Die tiefschwarzen Augen unter den dünnen Augenbrauen funkelten finster. "Aber da muss dieser Lahmarsch schon VERDAMMT VIEL FRÜHER aufstehen, um bei mir so eine Nummer abzuziehen!" Was erklärte, dass auch das Waschen von benutzten Windeln ausnahmslos untersagt war, wie das Plakat mitteilte. "Ein Glück, dass du gerade im Waschsalon warst." Legte Ken die figurative Angel aus. Ichi entsprach durchaus nicht dem Durchschnitt der Beschäftigten. Vermutlich konnte der glücklose Windelverbrecher dankbar sein, dass Ichi nur das Signalhorn benutzt hatte und nicht militanter vorgegangen war. Der fauchte hitzig, während er gleichzeitig das Auftragsbuch ergänzte, im altmodischen Kassensystem die Leistung berechnete, eine Rechnung erzeugte. "Glück?! HA! Eigentlich müsste die Video-Schalte andersrum funktionieren!" Detonierte er aufgebracht, wischte dabei über die Arbeitsfläche, öffnete zwecks Belüftung die Trommeltüren und Waschmittelschubladen. Ken studierte die angespannte Gestalt, die sorgsam aufgesteckten langen, schweren Strähnen, die geballten Fäuste. Ichi redete sich in Rage. "Ich konnte drüben nicht mal fünf Minuten lang ordentlich arbeiten! Sieh dir das an!" Damit wies er auf eine sehr farbenprächtige Parade hübscher Tücher. "Seide! Steht sogar auf dem Etikett! Handwäsche, da drüben sind alle Symbole ordentlich aufgelistet!" Deutete er ein weiteres Plakat an. "Natürlich musste ich erst mal eine Schüssel organisieren und verhindern, dass WASCHPULVER reingerieselt wird!" Jetzt kam Ichi richtig in Fahrt. "Kaum ist die Katastrophe abgewendet, wollen sie Hemdsärmel im Bügelautomat trocknen! Dabei habe ich ausführlich erklärt, dass der wie ein Waffeleisen funktioniert, eher zwei Plätteisen darstellt. Was man also NIE tun sollte, ist einen Ärmel mit Knopf reinquetschen!" Er öffnete die geballten Fäuste, noch immer im Furor, zählte an den Fingern ab. "Natürlich werden Wollpullover in die Waschtrommel gestopft, OBWOHL ich ausdrücklich verboten hatte, IRGENDWAS mit tierischen Fasern einfach waschen zu wollen! Aber das ist ja nicht dasselbe wie ein gefüttertes Jackett, das kann man sicher waschen UND selbstredend noch die Bettlaken, die bloß fast zwei Stunden benötigen, also wenigstens eine halbe Stunde später als Ladenschluss!" Ken ahnte, was diese Aufeinanderfolge von vermeidbaren Fehlern gezeitigt hatte: eine SEHR BISSIGE Ansprache von Ichi. Es erklärte auch, warum er immer noch hier arbeitete. "Wäschestücke muss man sorgsam behandeln! Man kann nasse Wäsche nicht einfach herumliegen lassen, sich davonmachen, weil die eigene Schicht zu Ende ist! Das ersetzt keine Versicherung!" Aufgebracht löste Ichi seine Hochsteckfrisur, fasste seine überschulterlangen Haare einfach im Nacken zusammen. "Arbeiten ohne Nachdenken, das GEHT nicht!" Stellte er erbost fest. "Das werden die beiden Koryphäen auch noch merken, wenn sie glauben, in einem Maid-Café hätten sie bessere Chancen!" "Sie werden kündigen?" Ken hielt den Abstand bei, obwohl er stark versucht war, Ichi über die dezent geröteten Wangen zu streichen. Das entflammte Temperament stand ihm wirklich gut zu Gesicht! Abrupt wandte Ichi sich von ihm ab, schloss die Kasse sorgsam, verstaute die Bücher und vorgefertigten Rechnungen. "Vermutlich." Grummelte er, hob den Kopf, reckte das Kinn herausfordernd. "Aber es hat keinen Sinn, wenn sie mehr Schaden anrichten als ordentlich arbeiten! Ja, ich weiß, dass wir zu wenig Leute haben, wirklich, aber HIER muss man seinen Verstand gebrauchen! Es reicht nicht, das richtige Regal zu finden, den Artikel zu scannen und das Geld zu kassieren." Ihm gegenüber hielt Ken gelassen den funkelnden Blick aus den tiefschwarzen Augen aus. Ichi seufzte schließlich, seine knochigen Schultern sackten runter. "Wir können es uns nicht leisten, Knöpfe im Bügelautomat mit dem Stoff zu verschmelzen, Seidentücher zu ruinieren und Wollsachen in Flusenbälle zu verwandeln. Die Betriebskosten werden von den Selbstwaschangeboten nicht gedeckt. Wir MÜSSEN besondere Dienstleistungen anbieten und BESSER sein als die Konkurrenz im Bahnhof." Er deutete auf die Trockenstangen in Rotation, die Regenschirm-Duschvorhang-Kombination und die Videokamera. "Die Investitionen müssen gedeckt werden. Dazu wären weitere Anpassungen auch hilfreich. Das geht jedoch nur, wenn wir Kundschaft haben, wenn wir mit unseren Leistungen punkten." "Das ist wahr." Pflichtete Ken gewohnt nonchalant ein, um die Neu-Installation zu inspizieren. "Wozu dient das hier?" Ichi trat an seine Seite, wies auf die ergänzten Anweisungen hin. "Gefütterte Wäschestücke und alles mit tierischen Fasern wird nicht in die Waschmaschine gestopft, sondern mit Sprühnebel oder vorsichtig mit Hand bearbeitet. Natürlich muss man vorher nach Verunreinigungen suchen, aber in der Regel reicht ein feuchtes Luftbad." Weshalb der Handsprüher gegen das Wäschestück und den alten Duschvorhang gerichtet wurde. "Wir könnten den Platz hier hinten auch brauchen. Weißt du, was das alles ist?" Ichi zog ihn an einer Hand verblüffend vertraulich in eine abgewandte Ecke, wo in einem schlichten Regal diverse Kisten standen. Probeweise hob Ken einen Karton herunter, spähte hinein. Während sie den Inhalt inspizierten, spürte er, wie sich Ichis imaginäres Fell förmlich elektrisiert aufstellte. "Das-kann-ja-wohl-nicht-wahr-sein!" Knurrte der gerade durch die Zähne, zog nun energisch jeden Karton hervor, begutachtete die Ausbeute. Ken registrierte einen weiteren Tiefausläufer in der Atmosphäre, kämpfte mit einem breiten Grinsen. Eine weitere Vorlage für Ichis explosives Temperament! "Kennst du IRGENDWEN hier auf diesen Zetteln?!" Ichi fächerte erbost die Ausbeute auf. "Hmmm..." "Das ist ja schon vergilbt! Einfach prächtig!" Fauchte Ichi, fischte nach dem dienstlichen Mobiltelefon, suchte eine Auskunft, bevor er sich dem schon recht bevölkerten Plakat am Eingang zuwandte. "Das ist der Preis pro Tag für die Schließfächer im Bahnhof." Verkündete er grimmig, während Ken die Aktion schweigend verfolgte. "Wir sind doch kein Kleiderlager!" Er funkelte Ken an. "Folgender Plan: wir lichten das Zeug ab, ich rechne die Aufbewahrungszeit und die erbrachte Leistung hoch. Danach wird der Kram zum Verkauf angeboten!" Eine Bluse lupfend wagte Ken tollkühn einen Einwand. "Das scheint mir aber Designerware zu sein?" "Nur, wenn es ein Original wäre!" Ichi schnaubte. "Was es nicht ist. Allerdings sollten wir keine Fälschungen verkaufen. Daher werde ich alle kritischen Sachen anpassen. Wir brauchen den Platz, und ich WETTE, dass niemand sein Eigentum hier versehentlich vergessen hat!" "Bei den nicht so alten Sachen sollte man noch mal nachfragen." Intervenierte Ken milde, auch wenn ihm bewusst war, dass Ichi ein weiteres Einfallstor für geschäftliche Kalamitäten entlarvt hatte. "Oh, bitte, bei DEM Kram?!" Lupfte der demonstrativ ein sommerliches Hängerchen fragwürdiger Qualität. Die tiefschwarzen Augen loderten Verdammnis. "Entweder wollten die billig ihren Müll entsorgen, oder sie haben einfach ein Außenlager für ihren Kleiderschrank gesucht und gefunden! Aber dafür haben wir hier keinen Platz! Also gilt: den Verlust ein wenig ausgleichen, indem wir das Zeug verscheuern. Äußerst unwahrscheinlich, dass sich da jemand beschwert." Er schnaubte, legte die eingesammelten Zettel zu den Kassenunterlagen. "Das mache ich morgen, wenn ich etwas Zeit finde. Juulio war auch da, er möchte mich für eine göttliche Inspiration frisieren." Ken folgte Ichi, der sich versichernd umsah, ob alles für den nächsten Morgen gerüstet war, in die grässliche, giftgrüne Oversize-Strickjacke schlüpfte, nach dem Fahrradhelm griff. Jetzt wirkte Ichi erschöpft und geschrumpft. "Weißt du, wenn die zwei unfähigen Schnepfen nicht mehr aufschlagen, kannst du deinem Großonkel sagen, dass ich der Auslöser war. Wahrscheinlich wird sich auch Seto beschweren." Eine schmale Hand gefasst trat Ken neben Ichi aus der Tür, bevor sie den Zugang verriegelten, ein altmodisches Sperrgitter herabließen. "Aus welchem Grund?" Erkundigte er sich ruhig, während sie zum auffälligen Drahtesel gingen, den er beim Laden abgestellt hatte. "Tja!" Ichi schnaubte. "Offenbar verspotten ihn seine Freunde, weil er mit einer Tunte arbeiten muss. Andererseits will er auch nicht ständig die Schichten wechseln müssen." Seto war fast doppelt so alt wie Ken, arbeitete schon ewig bei seinem Großonkel. Eigeninitiative ging ihm ab, aber er war zuverlässig und wusste, wann er die Seilzuganlage in Ruhe lassen musste. Dass er kündigte, schien unwahrscheinlich. Gewisse kognitive Einschränkungen eröffneten ihm nicht viele Gelegenheiten. "Das wechselnde Schichtsystem ist sinnvoll." Ken stopfte seine Tolle unter den eigenen Fahrradhelm. "Wie du richtig bemerkt hast: keine Rosinenpickerei mehr." Ichi unternahm keine Anstalten, auf den Sozius zu klettern, sondern ballte erneut die Fäuste. "Wenn dein Großonkel abwägt, drei zu eins, dann..." "Mein Großonkel fällt sein Urteil nicht vorschnell. Außerdem ist er schon eine Weile im Geschäft, er kommt zurecht." Neckte Ken sanft, klopfte auf den gepolsterten Gepäckträger. "Lass uns jetzt nach Hause fahren. Pearl wartet bestimmt auf uns." Das spornte Ichi wie vermutet an. Ken registrierte die unveränderte Anspannung in dem mageren Körper. Er setzte darauf, dass eine Kuschelrunde mit der kleinen, buntscheckigen Katze Abhilfe schaffen würde. <---oo---> Ichi hielt Wort, auch wenn Ken sich fragte, wo der die Zeit hergenommen hatte, neben ihrem Laden und dem Waschsalon auch noch die "Alt-Kleider" abzulichten, ihren "Wert" zu ermitteln, sie auf einen fahrbaren Kleiderständer zu sortieren. Es schien seltsam, dass Ichi unterschiedliche Beschaffenheiten so treffsicher erkannte, wenn man bedachte, welche Kleidungsstücke er selbst besaß. Aber, wie sein Großonkel einmal mehr pointiert bemerkte, der den tatsächlichen Abgang der beiden Aushilfen nicht weiter kommentierte: ganz offenkundig verfügte Ichi über nützliches, fundiertes Wissen und erhebliche Erfahrung. Den "Windel-Trick" hatten sie vorher nicht gekannt. Das "Einlagern" von Kleidung durch Verschleppen der Abholung zu initiieren kündete von einem perfiden Ausnutzen der Leidensfähigkeit im Dienstleistungssektor. "Das Herzchen hat was drauf, Kennie." Wurde ihm versichert, als er sich vor seiner Schicht ein Mittagessen im Imbiss gönnte. Glücklicherweise war Ichi die nächsten beiden Tage für das Frühstück zuständig. Da ähnelte das Gemüse nicht Detonationsresten einer explodierten Küchenmaschine, obwohl Ken sich wirklich bemüht hatte, das Messer einigermaßen gleichmäßig zu führen. "Ich habe gehört, die Leute kommen extra zu seiner Schicht." Drang an sein Gehör. Ken merkte auf. So lange hatten sie den Waschsalon nicht in ihrer Obhut, aber wenn sich bestätigte, dass Ichi ausschlaggebend wurde, wäre ein Nachjustieren der Schichten wohl nötig. Selbstverständlich "lernten" sie noch, galt es, eine Experimentierphase zu überstehen, aber danach sollte besser nicht alles an einer Person hängen! "Du achtest bestimmt darauf, dass dein Schatz sich nicht übernimmt?! Bei dem Wetter in den dünnen Sachen, dauernd hin und her flitzen ohne was auf den Rippen, das geht schnell schief! Da nützt auch der eiserne Wille nichts!" Den Zahnstocher justierend reichte Ken sein Geschirr hinein. "Danke für den Ratschlag. Ichi ist allerdings nicht einfach zu bremsen." Ergänzte er zwinkernd. Nein, dessen Sinn für Pflichterfüllung und ordentliche Arbeit würde es sogar recht schwierig machen, ein wenig Druck aus dem Kessel zu nehmen. <---oo---> Als Ken vom Fahrrad stieg, es aufbockte, kam Ichi ihm über die halbe Wendeltreppe mit Pearl auf dem Arm schon entgegen. "Hat alles geklappt?" Erkundigte er sich, reichte Pearl an, die gern mit Kens üppig-wolliger Tolle die knisternde Bekanntschaft erneuern wollte. Ken lächelte vertraulich in die munteren Katzenaugen, ließ Pearl für ihr Supper herunter, folgte Ichi in den kleinen Container. "Keine besonderen Vorkommnisse." Meldete er gehorsam, bekam Tee ausgeschenkt, schnupperte. "Topfbrot." Löste Ichi unaufgefordert das Rätsel, lupfte den schweren Deckel der gusseisernen Neuerwerbung. Im Topf knuddelten sich runde "Brötchen" aneinander. "Keine Sorge, zum Frühstück gibt es noch mehr." Ichi nahm letzte Handgriffe vor, wechselte auf die andere Seite, wo sich die kleine Sanitäreinheit anschloss. An seinem Tee nippend studierte Ken seinen schmalen Gefährten, fragte sich, warum es keine extravagante Kreation von Juulio zu besichtigen gab. Als Ichi sich einen schlichten Zopf flechten wollte, kaperte er eine Hand. "Ich kümmere mich später um deine prachtvolle Mähne." Zwinkerte er eine unmissverständliche Einladung. Ichis dünne Augenbraue wanderte hoch, aber er erhob keinen Einspruch, verlangte nicht mal seine Hand zurück, als sie den kleinen Container verließen. Pearl maunzte majestätisch, um sich auf ihre nächtlichen Abenteuer zu begeben. Im Wohncontainer stutzte Ken einen Augenblick. Neben markierten Unterlagen für die Fortbildung in Sachen Kleinunternehmensführung befanden sich Kleidungsstücke aus dem "Fundus". "Ich räume gleich auf." Beschied Ichi. "Ich habe nur dafür gesorgt, dass es keine Verwechslungen gibt." Es mochte sich um Plagiate handeln, dennoch... Ken fing einen spöttischen Blick aus den tiefschwarzen Augen auf. "Keine Sorge, da wird sich niemand mehr zeigen. Die dünnen Fähnchen hier sind garantiert entsorgt worden, um nicht auf den Lebensunterhalt aufmerksam zu machen." Damit lupfte er ein exklusiv wirkendes, ausgesprochen sommerliches Hängerchen. Das Stirnrunzeln korrekt interpretierend lachte Ichi knapp auf. "Entgegen deinem Ruf als experimentierfreudiger Casanova bist du richtig niedlich unschuldig!" Rasch deponierte er die Kleidungsstücke beiseite. "Die Klamotten dienen der Anbahnung von Geschäften im horizontalen Gewerbe. Ich werde sie daher nicht im Laden aufhängen, sondern online anbieten, in Ordnung?" Ken ging neben ihm in die Hocke, inspizierte die ordentlich gefalteten Wäschebündel. "Ich wusste nicht, dass Luxusmarken so etwas produzieren." Bekannte er offen. "Es kommt auf die Gelegenheit und die Kombination an." Dozierte Ichi, platzierte die Wäschestücke in eine Stofftasche, räumte abgetrennte Etiketten, Aufnäher und andere "Imitationen" beiseite. "Von der Größe ganz zu schweigen." Ja, man konnte gewissermaßen eine recht auffällige Füllmenge im oberen Bereich vermuten. Der Balkon musste sehr üppig ausfallen! Ihm entging Ichis spöttisches Lächeln nicht. Ken nahm es nicht krumm. Er WAR nicht sonderlich festgelegt, interessierte sich für das "Gesamtpaket", wenn er in intimen Situationen mit Menschen zu tun hatte. Sein "Ruf" schien Ichi jedoch nicht abzuschrecken. "Tja, wenn du auf Wassermelonen Wert legst, muss ich dich enttäuschen!" Grummelte Ichi unterdessen spitz, schlug ihr Lager auf den Badevorlegern auf. Ken lächelte, ließ die Finger sanft durch die schweren, glatten Strähnen gleiten. Weder über ihre unabsichtliche Tönung noch das ungefragte Entfernen der Extensions hatte Ichi Klage geführt. "Lass uns tun, was dir gefällt." Gab er die Losung aus, reduzierte die Lichtquellen, streifte sich die Kleider ab. Nun HATTE er Ichi überrascht. "Also, wir können ruhig vögeln." Bot der ihm gerade dezent verwirrt an. Ken kreuzte die Beine, legte sich die Decke um den Rücken, lupfte Ichi auf seine Oberschenkel. "Ich möchte gern tun, was du magst." Wiederholte er aufmunternd, studierte die feingeschnittenen Gesichtszüge. Die immer noch eine gewisse Verwirrung transportierten. "Damit meine ich, dass es nicht um 'es macht mir nichts aus' geht, sondern um 'das gefällt mir, das mag ich'." Erläuterte er schmunzelnd. Ichis kritische Augenbraue wanderte nach oben. "Du musst jetzt nicht zurückstecken, weil ich das Gerede vom Casanova aufgebracht habe..." Begann er. Ken intervenierte mit einem sanften Kuss. "Wir können auch einfach herausfinden, was du magst." Offerierte er leise, einmal mehr in einer Vermutung bestätigt. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Ichi erst Oral-, dann Analsex angeboten, als Gegenleistung für Katzenfutter. Dass er Erfahrungen vorweisen konnte, wusste Ken, leugnete auch keineswegs, die körperliche Auseinandersetzung sehr zu genießen. Ichi gab ihm Kontra, ohne sich zurückzuhalten, wie er sonst sein Temperament einbremsen musste, um nicht brutale Misshandlungen zu erleiden. Andererseits fragte er sich schon eine ganze Weile, was Ichi tatsächlich gefiel. Ob der jemals die Gelegenheit bekommen hatte, dies herauszufinden. Wollte er auch mal die "Rollen" tauschen? Ichi starrte ihn überrumpelt an, bar jeder spöttischen oder ironischen Bemerkung. "Also...also..." Setzte er an, brach hilflos ab. "Wir können uns langsam nach unten arbeiten." Schlug Ken schelmisch vor, tupfte leichte Küsse auf Ichis Wangen, die Schläfen, schlang die Decke um sie beide. Er streichelte langsam über Ichis Rückgrat, die merklichen Rippen, die mageren Pobacken. Unter seinen Fingerspitzen konnte er die zahlreichen Narben fühlen. Dünne Arme legten sich um seinen Nacken, als er die knochigen Schlüsselbeine mit der Zungenspitze markierte. Nein, Wassermelonen benötigte er nicht, aber vielleicht konnte er diese aparten Nippel liebkosen, die vor der Welt versteckt wurden? "Du bist so ein komischer Kauz!" Wisperte Ichi an seinem Ohr mit aufgerauter Stimme, stemmte sich hoch, um ihm entgegenzukommen. Ken lachte leise. "Ja, das stimmt wohl." Das bekümmerte ihn gar nicht. Er konnte spüren, wie Ichis Atem sich beschleunigte, die dünnen Glieder Wärme ausstrahlten. "Ich könnte auch beweisen..." Intendierte er, sich zwischen Ichis Schenkel nützlich zu machen, um eine im Zuge ihrer Suche nach einer neuen Unterkunft aufgeworfene Behauptung zu belegen, doch Ichi bremste ihn abrupt. "Nein. Du kannst die Hände unten benutzen!" Votierte Ichi energisch, legte die eigenen schmalen Hände um seinen Kiefer. Ken grinste herausfordernd, was ihm einen leidenschaftlichen Kuss einbrachte. Es schien, dass sie diese Begeisterung teilten! <---oo---> Dass sich innerhalb der ersten Woche ihrer grundlegenden Änderung des Geschäftsbetriebs eine neue Dynamik entwickelte, konnte nicht wirklich überraschen, auch wenn es einige ärgerte. Ichi war schließlich der Neue, der Jugendliche in Mädchenkleidung, aus dem Nichts aufgetaucht, zweifellos profitierend von seiner Eigenschaft als "Betthäschen" für den Lieblings-Großneffen! Gerechterweise musste man zurückgeben, dass sie bisher noch KEIN Bett erprobt hatten, Ichi häufig einem verwilderten Streuner mit seinem Temperament glich und in all seinen Empfehlungen und seiner Eigeninitiative Kenntnis und Umsicht bewies. Allerdings, der Aspekt "Lieblings-Großneffe" traf zu, richtig. Ken lernte am folgenden Nachmittag, wieder in der zweiten Schicht, zwei "Mini-Spot"-Jobber an. Leute, die sich ein Zubrot neben ihrer Hauptbeschäftigung verdienen wollten, für eine Stunde Lieferungen auspackten, im laufenden Inventar registrierten und unter Aufsicht mit dem Seilzugsystem in die Regale beförderten. Im Waschsalon hatte er lediglich gereinigte Kleidungsstücke auszugeben und telefonische Anfragen anhand der Notizen zu beantworten. Ein Ordner mit Anweisungen zur Fleckenbehandlung fand sich bereits am Arbeitsbereich als Nachschlagewerk. Die Sammlung an Stoff- und Materialproben wuchs ebenfalls. Der Leistungskatalog war in ein professionell erzeugtes, großformatiges Schild im Fenster umgewandelt worden. Die Kundschaft merkte sich, wann wer welche Schicht besetzte. Außerdem stellten sich sogar Personen ein, die nicht in der Nachbarschaft wohnten oder arbeiteten, sondern hofften, die Reinigung ihrer Hemden und Anzüge hier würde so schonend erfolgen, dass sie ihre Allergien nicht anstachelte. Im Waschsalon hatten sie auch einige Anpassungen vorgenommen. Die Waschmaschinen und Trockner unterschiedlichen Fassungsvermögens ohne Zählwerk waren "gestapelt" worden, um die Bewegungsfläche zu vergrößern. Anders als beim alten Ehepaar konnten sie auch die Maschinen in der zweiten Ebene erreichen und bedienen. Sandsäcke und ein Hygrometer sowie ein manuell betriebenes Pendelgewicht für Ventilatorflügel erzeugten ein besonderes Klima, das zugleich die Wäschestücke erfrischte, aber auch trocknete, Schimmelbildung wie auch Stockflecken verhinderte. Im freigeräumten Regal würden bald Stofftaschen auf die Abholung warten. Die Arbeitsfläche mit Bügelunterlage war durch ein Bügel- und Ärmelbrett ergänzt worden. Bürsten unterschiedlicher Qualität, ein Vergrößerungsglas mit Gestell und diverse Schraubgläser mit Reinigungshilfen wie Natron, Essigessenz oder Salz gruppierten sich in Reichweite. Alles trug Ichis "Stempel", pragmatisch, ordentlich, fast spartanisch ohne dekorativen Schnickschnack. Ken empfand kein Unbehagen, sich hinter dem "Selbstwaschbereich" zu bewegen. Einige andere zögerten, als agierten sie in einem fremden Schlafzimmer. Seto zum Beispiel, der gerade eine Kassette auffüllte, sich NICHT beschwert hatte, sondern stillschweigend den Wechsel der Schichten über sich ergehen ließ. Etwas misstönend signalisierte die künstliche Katze mit wackelnder Pfote Kundschaft, die durch die pneumatische Tür schritt. Vage registrierte Ken Setos Schnaufen, bugsierte den obligatorischen Zahnstocher in den anderen Mundwinkel. "Herzlich Willkommen." Begrüßte er die Erscheinung in einem falschen Pelz mit Gepardenfell-Druck, die einen Trolley hinter sich herzog, auf beeindruckend hohen Hacken majestätisch auf ihn zusteuerte. "Guten Tag. Ich suche Ichi, respektive das Angebot von besonderen Kleidungsstücken." Intonierte die Dame in basslastigem Alt, schwenkte dabei ein Mobiltelefon in der freien Hand. Ken nickte. "Hier sind Sie richtig. Ichi ist leider nicht da, aber ich bin informiert. Möchten Sie sich die Sachen ansehen?" Die Dame wollte, folgte Ken auch bereitwillig in den Waschsalon. "Damit Ihr Kollege wieder Luft holt." Schmunzelnd zog Ken eine Wäschetasche hervor, hob sie auf die Arbeitsfläche. Er verzichtete darauf, Setos ungezogenes Starren zu entschuldigen. "Bitte sehr." "Tatsächlich." Die Kleidungsstücke wurden inspiziert, ein apartes Kleidchen entfaltet und betrachtet. "Ich war mir nicht sicher, aber die Passform sollte stimmen. Ihr Ichi kennt sich aus." Ken beließ es bei einem freundlichen Nicken. Er konnte sich nicht dazu einlassen, wie GENAU Ichi sich auskannte. Dass die Kleidungsstücke mutmaßlich bezahlten Sex-Kontakten gedient hatten, hätte er selbst nicht so treffend herausgefunden. Wo man derartige Offerten anpries und entsprechend erklärte, auch nicht. "Bleibt es bei den zehn Prozent Rabatt, wenn ich alles abnehme?" Die Dame studierte Ken aufmerksam. Diesbezüglich von Ichi bereits instruiert antwortete er. "Selbstverständlich. Möchten Sie alles gleich einpacken? Ich helfe Ihnen gern." Er durfte, übergab auch die Rechnung mit der Quittung, fürs Geschäft selbstredend. "Hier, meine Visitenkarte. Unser Club ist bekannt für besondere Unterhaltung, ein gehobenes Niveau und abwechslungsreiche Vorstellungen. Haben Sie uns schon mal beehrt?" Ein Travestie-Club mit Burlesque und Varieté im Amüsierviertel, wie Ken ablas. "Nein, bedaure. Ich habe bis vor einer Woche immer Nachtschicht gearbeitet." Antwortete er gelassen. Abgesehen von diesem Umstand bezweifelte er auch stark, dass er sich den Besuch leisten konnte. "Sie sollten die Gelegenheit nutzen, junger Mann. Das Leben zieht viel zu schnell vorbei, um es nur mit Arbeit zu bestreiten." Zwinkerte die Dame mit der tiefen Stimme. "Bringen Sie auch Ichi mit. Ich würde mich gern auch in Person mit ihm unterhalten." Ken begleitete die Dame bis zur Tür, bedankte sich höflich, wünschte artig einen guten Abend. Nachdenklich wandte er sich der Arbeitsfläche zu, steckte die Visitenkarte zu den Abrechnungsunterlagen. War Ichi im Unterhaltungssektor tätig gewesen? Stammte daher vielleicht das seltsame Kettenhemd, das er bei ihrer ersten Begegnung hatte aufknacken müssen? Ken ließ den Zahnstocher gedankenverloren wandern. <---oo---> "Wir haben Kleiderbügel und Kleiderhüllen für Jacken und Hosen gefunden. Für die gefalteten Sachen habe ich doch die Stofftaschen empfohlen, das ist ausreichend. Die Hotelware wäre zu teuer, auch wenn wir Pfand verlangen." Ichi reichte Ken Tee, während er von dem "Geschäftstermin" mit dessen Großonkel berichtete. Gleichzeitig zerteilte er geschickt abverkauftes Gemüse. "Erst wollte er gegrilltes Hühnchenfleisch am Spieß (Yakitori) für uns bestellen, aber die Marinade roch seltsam, sodass wir lieber Nudelsuppe genommen haben. Ich wollte für mich selbst bezahlen, aber er hat darauf bestanden, dass ich eingeladen sei, weil ich ja außerhalb meiner Arbeitszeit mitgekommen bin." Ichi rührte gewürzte Brühe zum Einlegen an. "Das war wirklich großzügig. Ich konnte in der Nähe noch rasch einkaufen, eine günstige Gelegenheit, auch wenn es vielleicht nicht perfekt aussieht." Ken unterließ jeden Kommentar, da die Ergebnisse seiner Bemühungen regelmäßig aussahen wie massakriert, ganz gleich, wie adrett Gemüse und Obst vorher in der Auslage für sich geworben hatten. "Die Kleider sind abgeholt worden." Wechselte er das Thema, ließ die Visitenkarte wie bei einem Kartentrick in seiner freien Hand erscheinen. Ichi warf ihm einen prüfenden Blick zu, beendete seine Küchenarbeiten, wischte und säuberte die Utensilien, bevor er die Visitenkarte studierte. "Hast du eine Einladung erhalten?" Erkundigte er sich spöttisch. "Vielleicht, um dich zu überzeugen, dass die guten Stücke auch wertgeschätzt werden?" An der Tür im kleinen Container gelehnt leerte Ken seinen Teebecher, stellte ihn ab. "Die Einladung galt uns beiden. Du hast wohl Eindruck gemacht." Ichi schnaubte, wechselte zur Sanitäreinheit, um dort die Zähne zu putzen. Unaufgefordert nutzte Ken die Chance, den schlichten Zopf zu lösen, sanft durch Ichis schwere Strähnen zu streichen, sie für die Nacht locker einzuflechten. "So ein Laden ist für uns zu teuer." Beschied Ichi knapp. "Auch wenn sie kopierte Klamotten nutzen. Außerdem besteht die Gefahr, dass du für ein 'Angebot' gehalten wirst. Du müsstest dich auch entsprechend ausstaffieren." Ken lächelte in den kleinen Spiegel, um Ichi zu signalisieren, dass er die Spitze sehr wohl verstanden hatte, aber sich deshalb nicht empörte. SEIN Bestand an Kleidung qualifizierte ihn nicht mal für den Lieferanteneingang, wie er zutreffend annahm. Er schlang die Arme um Ichis magere Taille, schmiegte sich an, zwinkerte seinem Spiegelzwilling zu. "Ich sorge gern selbst für meine Unterhaltung, am Besten im Geburtstagsanzug oben." Wisperte er in Ichis rechtes Ohr, küsste dessen weiche Haut darunter. Ja, das Leben zog schnell vorüber! Deshalb pflegte er jeden Moment zu nutzen und zu genießen! <---oo---> Ken entschied, dass ein Abstecher zu Juulio vor seiner ersten Schicht einen Versuch wert war. Mochte Pearl auch allzu vergnügt statisches Knistern mit seiner wuchernden Putzwolle auf dem Schädel goutieren, er selbst fand, dass jetzt doch mal wieder das Stutzen erforderlich wurde, bevor der Fahrradhelm gar nicht mehr passte. Juulios Herrensalon öffnete nicht so früh wie der Laden, aber hin und wieder verschob Juulio Vor- und Nacharbeiten vom Ladenschluss zur Ladenöffnung. Wie an diesem Tag. Ken pedalierte aufmerksam. Er vergaß das Treten, stieg schließlich ab, schob das schwere, auffällige Fahrrad, hielt vor dem Herrensalon inne. Juulio kam heraus, stellte sich neben ihn, studierte das eigene Schaufenster. "Faszinierend, hm?" Neckte er Ken leise. Nicht zum ersten Mal hatte Juulio Ichi als "Haarmodel" extravagant frisiert und abgelichtet, sogar preisgekrönt. Die Fahne, die im Schaufenster überformatig den Winter- und Weihnachtsschmuck darstellte, war jedoch besonders. In Ichis nur reduziert geflochtener Mähne waren zahlreiche Dekorationen befestigt, Schmuckstecker, Ketten und Spangen, geschmackvoll verteilt über die gesamte Länge von Scheitel bis zu den Spitzen, eine Art "Landschaft" mit kleinen Bäumchen, Kugeln, Sternen, Zuckerstangen und geflügelten Putten, miniaturisiert. Dem Publikum den Rücken zugewandt hatte Ichi den Kopf leicht nach links gedreht, saß vor einem Spiegel, sodass man zum ersten Mal auch sein Gesicht sehen konnte. Ein selbstsicheres, souveränes Lächeln, eine Augenbraue dezent gelupft, der ganze Ausdruck herausfordernd-selbstironisch, dass dieses ganze Zierrat natürlich übertrieben, ja, kitschig anmutete, dennoch alle Freiheit und jedes Recht bestand, sich so herauszuputzen und die Gelegenheit zu feiern. Wo die Mähne nicht hinreichte, konnte man alle Narben erkennen, die helle Haut, die feingeschnittenen Gesichtszüge, den starken Kontrast zwischen der Schönheit seiner Erscheinung und den erschütternden Spuren von Gewalt und erlittener Pein. Diese Aufnahme beendete die Anonymität. "Ich habe ihn nicht gedrängt, weißt du?" Juulio adressierte Ken, der gebannt Ichis herausfordernden Blick bewunderte. Ken nickte langsam, bedächtig. Ichi entsprach nicht den üblichen "Models", die posierten, einen besonders leeren Ausdruck boten, häufig wie Puppen wirkten, oder sich für die jeweiligen Produkte werbend andienten, jede Emotion überzogen. Überhaupt schien es schon seltsam, in einem Herrensalon so ein Porträt auf einem übergroßen Banner zu finden, da Juulios Kundschaft keineswegs komplizierte Frisuren mit sehr langen Haaren zuließ. Nein, er frönte seinen "göttlichen Inspirationen", gönnte sich die Darstellung in seinem Salon, ganz gleich, was andere davon hielten. Das enge Korsett von Erwartungen und vermeintlich unveränderlichen Konventionen sprengten hier gleich zwei Personen auf ihre eigene Weise. "Es ist wunderschön." Fand Ken endlich seine Sprache wieder. Juulio war es gelungen einzufangen, was Ichis Persönlichkeit ausmachte. Er musste lächeln, als ihm bewusst wurde, dass sein Puls schneller schlug, sein Mund trocken war, weil er die Luft angehalten hatte. Ja, das konnte man vermutlich auch unter Liebe subsumieren! <---oo---> Ichi nahm Pearl schließlich auf den Arm, als der Strom an Menschen auf dem Gehweg zu dicht wurde. Pearl kümmerte sich nicht um den Nieselregen, spähte interessiert von diesem höheren Posten auf das Gewimmel. Mit einem tiefen Atemzug betrat Ichi die Kleintierpraxis. Natürlich fielen sie sofort auf, denn Pearl wurde nicht kaserniert in einem Plastikgefängnis transportiert. Er selbst konnte keine Haustierversicherung vorweisen. Aber er hatte den Termin vereinbart und aus Erfahrung aus der Katzenspardose Bargeld mitgenommen, um die Rechnung begleichen zu können. Pearl als "Freigängerin" sollte geimpft und optimal versorgt sein, da kannte er selbst keine Kompromisse. Mit einem der unvermeidlichen Aufnahmebögen und Erklärungen auf dem Klemmbrett platzierte er sich im Wartezimmer, setzte Pearl demonstrativ in einen Stoffeinkaufsbeutel auf seinem Schoß ab. Sie machte es sich bequem, beäugte das Panoptikum, hauptsächlich starrender Menschen und eingesperrter Tiere, von denen einige offenkundig nervös waren, was sie ihre Umwelt wissen ließen. Das hysterische Kläffen eines Fellbündels mit hervorstehenden Knopfaugen ignorierte sie würdevoll, da das Tier vergeblich in seiner Box randalierte. Behutsam kraulte Ichi Pearl zwischen den Ohren, während er mit der anderen Hand flink Zeichen auf das Papier setzte. Als er das Klemmbrett samt Dokumenten am Empfang abgab, hielt Pearl seinen Platz "warm", unbeeindruckt von ihrer Umgebung. Ichi wusste, dass er in Vorleistung gehen musste, weil man Leuten wie ihm nicht zutraute, beanspruchte Leistungen begleichen zu können. Sich darüber zu echauffieren ersparte er sich, sondern wahrte seine Würde, kehrte mit gerecktem Kinn zu Pearl zurück. Sie maunzte. Es klang für ihn wie ein verschwörerisches Amüsement über die angespannte Atmosphäre um sie herum. Unwillkürlich lächelte Ichi, nahm wieder Platz, ließ Pearl auf seinem Schoß präsidieren. Gemeinsam würden sie allen Unbillen des Schicksals trotzen, gar kein Zweifel! <---oo---> Ken blickte auf, als Ichi gewohnt zügig in den Laden marschierte, pünktlich zur Übergabe, bereits umgezogen und die langen, schweren Strähnen aufgesteckt. "Ich habe für dich im Imbiss eine Portion frittierte Zuckerschoten reserviert. Kannst du die Reisbällchen für morgen mitnehmen?" Sonntags mussten sie sich selbst versorgen, weil der Imbiss geschlossen blieb. "Danke schön. Wie geht's Pearl?" Erkundigte Ken sich, blockierte Kassensystem und Seilzüge, damit Ichi hinter den Tresen schlüpfen konnte. "Oh, alles in Ordnung. Man wird uns sogar wieder empfangen, da ich mich als solvent erwiesen habe." Schnaubte Ichi, fischte bereits nach den Lieferscheinen, warf einen Blick auf das Kamerabild der Übertragung aus dem Waschsalon. "Juulio hat dein Bild im Schaufenster aufgehangen." Bemerkte Ken nonchalant, schlang einen Arm um Ichi, stahl sich einen langen Kuss. "Ja, das habe ich schon erfahren." Energisch sorgte Ichi für geschäftliche Distanz, funkelte in die vergnügt blitzenden Augen, die diesen Tadel selbstredend ignorierten. "Wie hat das funktioniert, all diese Sachen im Haar?" Ken streckte die Hand aus, fuhr mit den Fingerspitzen über eine entwischte Strähne an Ichis Schläfe. Der grummelte, weil es ihm missfiel, derangiert zu erscheinen. Er drehte erneut seine Haare ein, bevor er die martialisch wirkende Klammer in den Dutt rammte. "Ich habe flach gelegen, bis Juulio fertig war, dann musste es schnell gehen, bevor die Gravitation zuschlägt." Ken schmunzelte. Ichis Intention, die Wirkung des Arrangements zu entzaubern, gelang bei ihm selbstredend nicht. "Es gefällt mir. Ein gelungenes Porträt." Bekannte er, reduzierte den Abstand zwischen ihnen. "Ich begrüße, dass die struppige Korona um deinen Schädel eingehegt wurde!" Gab Ichi bärbeißig zurück, hielt Ken mit einer Hand auf Distanz. "Keine Flirtereien bei der Arbeit! Sag mir lieber, ob heute noch Aushilfen kommen. Wir werden heute und morgen Hochbetrieb im Waschsalon haben." Schmunzelnd gab Ken sich geschlagen. Im Arbeitsmodus, bereits angespannt in Erwartung zahlreicher Aufträge, ließ Ichi sich nicht beflauschen. "Ich habe die Bücher gleich mitgebracht." Referierte er auf die Abwicklung im Waschsalon, blätterte das Tagesdatum auf. <---oo---> "Ganz schön spät, hm?" Ken wartete mit Pearl vor dem kleinen Container, amüsierte sie beide mit einem eiernden Tischtennisball, den Pearl im kleinen Park hinter dem Gebäude entdeckt hatte. Sie blickten beide auf, als sich das grell ausstaffierte Fahrrad näherte. "Es tut mir leid." Bekundete Ichi müde, schwankte, als er versuchte, das Rad aufzubocken und löste den Fahrradhelm. Natürlich musste Pearl zunächst beschmust werden, um Nachsicht für die Verspätung zu erlangen. Ken kettete das Fahrrad an, wartete geduldig, bis Pearl sich höflich für die nächtliche Tour verabschiedete. Andere hätten wohl telefoniert, doch Ichi schien dieser Gedanke fremd zu sein. Vermutlich auch, weil er selbst kein Mobiltelefon besaß. Ken, dem es ähnlich ging und der das Geschäftstelefon entsprechend einstufte, hatte dafür Verständnis. "Komm." Reichte er Ichi eine Hand, der sich ohne Widerstand zum Container ziehen ließ. Dort erhielt er einen Becher Tee, während Ken ihn aus der von Dunst durchfeuchteten Strickjacke blätterte. "Eigentlich waren es ZWÖLF Hemden statt nur zwei, aber..." Ichi seufzte, nippte erneut. Für ihn als Verantwortlichen für den Waschsalon also die Pflicht, sechsmal so viel Arbeit und Zeit zu investieren, nicht die Aushilfen länger dazubehalten, um den Fehler im wahrhaftigen Sinne "auszubügeln". "Wir haben mehr Erfolg als gedacht." Bemerkte Ken nachdenklich. GEPLANT hatten sie ja einen Jeton-Waschsalon, jetzt kehrte sich das "Selbstwaschen" rapide in einen Reinigungsservice um. Er studierte Ichis verspannte Haltung, die an der Haut klebenden T-Shirts. Möglicherweise reduzierte sich das hohe anfängliche Interesse auch wieder auf ein normales Maß? "Lass uns nach oben gehen, ja?" Kaperte er Ichis schmale Hand, die eisig wirkte. Im Wohncontainer pellte er Ichi die klamme Kleidung ab, gestikulierte einladend auf die Badevorleger mit ihren Decken. Ichi zögerte. Nur in einem knappen Höschen wurde es doch sehr kühl. "Ich wärme dich auf." Versprach Ken zwinkernd, entfernte den Zahnstocher entschieden, bevor er Ichi sanft in Bauchlage nötigte, den Zopf im Nacken löste, die schweren Strähnen zur Seite kämmte, dessen dünne Arme angewinkelt nach oben dirigierte. Mit einem gehörigen Klecks Sonnencreme begann er, über Ichi kauernd, die helle, von Narben gezeichnete Rückenpartie zu massieren. Die verspannten Muskeln und Sehnen boten zunächst Widerstand, aber Ken gab nicht so rasch auf, bis er Wärme in sie gestreichelt hatte. Ichi keuchte leise, drehte jedoch artig das Haupt, erhob nicht mal Beschwerde, als Ken sich umkehrte, seine Füße einer entschiedenen Aufmerksamkeit widmete. Schließlich, die gröbsten Verspannungen erfolgreich vertrieben, ließ sich Ken an Ichis Seite nieder, um die kümmerlichen Reste Sonnencreme zu verstauen. Ichi setzte sich auf, legte eine jetzt warme Hand auf Kens Wange, wisperte. "Warum wärmst du mich nicht auch innen auf?" Ken grinste. Ein spöttischer Seitenblick der tiefschwarzen Augen signalisierte ihm, dass Ichi nicht nur die Sonnencreme, sondern auch die Packung Kondome und den Gleitcreme-Stick registriert hatte. "Ist mir ein Vergnügen!" Antwortete er schelmisch, schlüpfte rasch aus den eigenen Kleidern zu Ichi unter die Decke. SO konnte ein Sonntag auch ausklingen! <---oo---> "Du machst Fortschritte." Ichi rührte geschickt im umgekehrten Deckel des gusseisernen Topfs ein Rührei zusammen, während sich darunter die Brühe aufwärmte, bereits mit Gemüse ausgestattet. Ken beobachtete verzückt Ichis geschmeidige Aktion. Er hegte erhebliche Zweifel, jemals ohne göttliche Intervention ein appetitliches Rührei zu produzieren, vor allem unter den gegebenen Umständen. "Das ist nur Übung." Neckte Ichi ihn, wies mit dem Kinn auf die Nudeln, die gern in die Schüsseln wollten, bevor die Brühe sie taufte. Das geteilte Rührei krönte das Ensemble. "Hmmmmmm!" Schnupperte Ken genießerisch, zwinkerte Pearl zu, die ihr Frühstück eine Etage tiefer verzehrte, ihm zustimmend zumaunzte. Ichi lächelte der kleinen Katze zu, fädelte Nudeln auf. Er wirkte trotz der recht kurzen Nacht entspannt und guter Dinge, wie Ken befand. Jetzt war es an ihm, den ein oder anderen Stein ins Rollen zu bringen. <---oo---> "Ich werde heute Nacht noch einem Bekannten helfen. Da gehe ich nach der zweiten Schicht direkt hin." Ließ Ken Ichi am folgenden Tag zur Übergabe wissen. Der warf ihm einen kritischen Blick zu. "Aber du hast auch die erste Schicht. Wie willst du heimkommen?" Ken zwinkerte. "Oh, ich übernachte da. Frühstück besorge ich mir auch. Du kannst das Rad also ruhig nehmen." Ichi schnaubte, funkelte ihn an. "Hoffentlich legst du wirklich eine Pause ein!" Grinsend verbat sich Ken jede Replik. Ichi manövrierte gerade im sprichwörtlichen Glashaus, weil ER ja durch den Waschsalon immer noch mehr arbeitete als eigentlich vorgesehen. Der erkannte die nonverbale Botschaft, fauchte bissig wie ein aufgebrachter Streuner mit aufgestelltem Fell. Das kleidete ihn jedoch in Kens Augen prächtig, es zauberte Farbe in die blassen Wangen. Tollkühn schnellte er deshalb vor, zog Ichi an sich, küsste dessen Nasenspitze. "Gib Pearl einen Gute Nacht-Kuss von mir, ja?" Neckte er Ichi, der ihn energisch an einem Ohrläppchen zog, um Intimitäten während der Arbeitszeit zu unterbinden. "Vielleicht gebe ich IHR lieber den Anteil an deinem Abendessen!" Versetzte Ichi spitz. "Und jetzt an die Arbeit!" Ken salutierte lässig, deponierte den obligatorischen Zahnstocher in einem Mundwinkel. Ichi seufzte bloß, löste die Sperren, um hinter dem Tresen hervorzuschlüpfen, sich im Lager rasch umzuziehen und ein spätes Mittagessen im Imbiss anzusteuern. <---oo---> "Was tust du?" Ichi lehnte an einem Regal, beäugte Kens Strip irritiert. Der schlüpfte aus dem Polo-Shirt, ihrer Arbeitskleidung, zog sich auch das Sweatshirt über den Kopf, reichte es Ichi, bevor er das Polo-Shirt wieder überstreifte. "Zieh es an." Nickte er Ichi zu. "Das ist nicht nötig..." Murmelte Ichi. Ken ließ sich nicht abwimmeln, knöpfte die Leiste an Ichis Polo-Shirt auf, lupfte es über den etwas derangierten Dutt, wickelte Ichi in sein Sweatshirt ein, das diesem wie auch das Polo-Shirt natürlich zu groß war angesichts der mageren Figur. "Ich werde dich abholen." Bestimmte Ken, studierte prüfend Ichis bleiches Gesicht. "Ruf mich an, wenn etwas ist, ja?" "Ich komme schon zurecht, wirklich." Ichi straffte die schmale Gestalt. "Geh du lieber essen! Bestimmt hast du nichts Gescheites gefrühstückt." Ken widersprach dieser Vermutung nicht, auch wenn sie nicht zutraf, sondern kämmte behutsam gelöste Strähnen hinter Ichis Ohren. "Übernimm dich nicht, bitte." Ichi schnaubte bloß, reckte das Kinn. "Ich schaff das schon!" Das zog Ken nicht in Zweifel. Er hätte es nur bevorzugt, den Preis erheblich herunterzuhandeln. <---oo---> "Dieser scheußliche Regen gestern!" Im Imbiss schüttelte man den Kopf. "Ich bin trotz Schirm durchnässt worden, weil der Wind so ging! Und das am Nachmittag, als ich gerade einkaufen wollte!" Ken nagte an seiner japanischen Pizza, lauschte der Unterhaltung, residierte vor dem Imbiss unter dem einfachen Schirm. "Du solltest Ichi im Auge behalten!" Ein Kopf streckte sich zu ihm nach draußen unter der Fahne hindurch. "Das Herzchen sah eben ziemlich elend aus. Und diese dünnen Sachen...!" Ihm wurde eine Thermosflasche gereicht. "Stell sie ihm hin, ja? Geht aufs Haus." "Vielen Dank, das werde ich machen." Ken nickte ernst, zog die Stirn in Falten, erbat sich einen kleinen Zettel. Wenn [Trink mich!] als Botschaft aufgeklebt war UND es ihm gelang, sich in den Waschsalon zu schleichen, sollte sich diese gute Gabe deponieren lassen. Anschließend würde er rasch die Besorgungen erledigen und ein kleines Komplott schmieden, bevor er den späten Nachmittag mit Pearl verbrachte. <---oo---> "Ich mach das schon." Bescheinigte Ken, entließ die Aushilfe im Laden, um rasch die Bestände zu prüfen, die Kasse abzurechnen, die Bücher zu schließen und sämtliche Seilzüge zu blockieren. Im Lager warf er einen geübten Blick auf die Bestände. Bis auf zwei verspätete Lieferungen war nichts mehr einzusortieren. Die konnten auch warten. Im Waschsalon rang Ichi mit ihren rotierenden Trockenstangen. "Kannst du die Buchhaltung abschließen?" Ken schob Ichi behutsam beiseite, löste die Arretierung, faltete die Bettlaken konzentriert, bevor er sie einer der Wäschetaschen zwecks morgiger Abholung anvertraute. Unterdessen rang Ichi mit einem Stift, weil seine Hände zitterten, steif vor Kälte. "Setz dich." Gebot Ken entschieden, konsterniert über die tiefen Schatten um Ichis Augen, die hochgezogenen Schultern. Er erntete keinen Protest, was ihn noch stärker besorgte. "Du bist wohl gestern in den Regen gekommen, hm?" Die Frage war rhetorischer Natur. Er verzichtete auch darauf, Ichi aus dem Polo-Shirt zu pellen. Dessen verkrampfte Gestalt strahlte eine beängstigende Kälte aus. Nachdem er den Waschsalon für die Nacht abgeschlossen und verriegelt hatte, dirigierte er Ichi ins Lager, wickelte ihn in seinen Parka und schnappte sich eine geräumige, vollgestopfte Tasche. "Schaffst du ein paar Schritte?" Erkundigte er sich, zwang die tiefschwarzen Augen, sich auf ihn zu fokussieren. "Wohin?" Ichi schwankte leicht. "Ein Hotel in der Nähe. Sie bewirtschaften ein ehemaliges öffentliches Bad." <---oo---> Öffentliche Bäder gab es nur noch sehr selten, da die meisten Privatwohnungen mit Waschgelegenheiten ausgerüstet waren. Allerdings ging es in einem der Sentos keineswegs um schlichte Hygiene der eigenen Person! Man kam ins Gespräch, es gab große, tiefe Becken, häufig auch den Blick auf einen Miniatur-Garten. Das Geräusch stetig nachrinnenden Wassers übte eine fast meditative Wirkung aus. Ken hatte frische Kleidung und Waschcreme apportiert, im Vorfeld eine Reservierung ausgelöst, auch gleich Handtücher bestellt. Am Empfang in der Hotel-Lobby wurde er nachsichtig begrüßt. Selbstredend war er bekannt, wenn auch selten durch Besuche. "Jetzt, wo du nicht die Nachtschicht hast, kannst du dich ruhig öfter blicken lassen!" Die ältere Frau zwinkerte ihm zu, rechnete ab. Ken lächelte gelassen. "Das sollte ich wirklich tun." Allerdings war ihm auch bewusst, dass Pearl warten würde. Deshalb konnte man sich diesen Luxus nicht allzu häufig gönnen. Zudem war das öffentliche Bad nicht regelmäßig zugänglich, sondern in der Hauptsache, wenn Hotelgäste es nutzen wollten und gleichzeitig ausreichend Platz für andere Interessierte bestand. Schließlich durfte man den Aufwand des Unterhalts nicht unterschätzen, da es in dieser Gegend keine heißen Quellen gab. Ichi stand starr und steif neben ihm, die Hand eisig-kalt. Die Handtücher unter den Arm klemmend folgte Ken den dezenten Schildern. Das frühere "öffentliche" Bad befand sich in einem Nachbargebäude. Man musste einen kleinen, abgeschlossenen "Laubengang" durchschreiten, bis man den Umkleideraum erreichte. Nach zwei Geschlechtern getrennt gab es Spinde für die Bekleidung. Danach hieß es, mit der Waschcreme und dem Handtuch zunächst gründlich die eigene Person zu reinigen. Niedrige Hocker warteten vor einer Spiegelwand mit Becken und Handbrausen. »Wie ein Eiszapfen.« Dachte Ken, der Ichi beim Entkleiden geholfen hatte. Nicht mal das Zittern als letzte Warnung hatte den Temperatursturz aufhalten können. Ein leicht entrückter Glanz in den tiefschwarzen Augen sorgte ihn. Als setzten schon Endorphine ein, die den Schmerz dämpfen sollten, dazu verlockten, mit seligem Lächeln an Unterkühlung im Schlaf zu sterben. Ichis mangelnde Substanz hatte zu wenig entgegenzusetzen. Er führte ihn an der Hand zu freien Plätzen, half beim Einklappen der Knie, drapierte das Handtuch. Ohne sich um das Publikum zu kümmern brauste er Ichi zunächst lauwarm ab, schäumte die Waschcreme auf, balsamierte den mageren Körper. Anschließend kämmte er die schweren Strähnen aus, drehte sie locker ein, klemmte sie auf dem Kopf in einen Dutt. Routiniert und rasch wusch er sich selbst, immer noch auf Ichi ausgerichtet, dem die Temperatur zweifellos Unbehagen verursachte, weil er nun wieder "auftaute". "Vorsicht!" Warnte Ken, half Ichi beim Aufstehen, sammelte ihre Handtücher auf, spähte nach freien Plätzen. Ein kleineres Becken war gerade frei, sodass er es ansteuerte, Ichi beim Herunterklettern half und selbst durch die Hitze des Wassers wohlig aufschnaufte. "Ah, das Bild ist wohl neu." Wies er Ichi, der neben ihm ächzte, auf die Wände hin, die traditionell kunstvoll bemalt wurden. Immer wieder änderte oder erneuerte man die Darstellungen, häufig vom Heiligen Berg Fuji geprägt. "Wir sollten mal reisen, zum Fuji vielleicht." Kommentierte er das Panorama. "Urlaub? Wann hast DU das letzte Mal Urlaub gehabt?" Ichi kämpfte noch mit der Artikulation. Zumindest seine Lebensgeister hatten sich schon wieder aus dem Tiefkühlfach befreit. Ken grübelte. "Also, das ist schon eine Weile her. Ah, wir waren zwei Tage in Nara, mit der Schule." Er wandte sich Ichi zu, der die Augen verdrehte. Zugegeben, die Schulzeit lag schon eine GERAUME Weile zurück, das konnte Ken nicht bestreiten. Es verhielt sich nicht so, als wäre er nicht an Reisen oder Urlaub interessiert! "Wir könnten bestimmt mal zwei Tage verreisen." Setzte er an. Eine aktuell fast utopische Vorstellung, da es ihrer beiden tägliche Anwesenheit bedurfte, die Betriebstätigkeit aufrechtzuerhalten. Ichis Schnauben verriet profunde Zweifel. "Du bist das Haarmodel, nicht wahr?" Ein bulliger, sonnenverbrannter Mann stand vor ihrem Becken. Ichi umklammerte Kens Hand. "Hatte gehofft, so was nie mehr zu sehen." Dabei tippte sich der Mann mit einer Hand auf die linke Seite des Schädels. Bevor sie reagieren konnten, beugte er sich vor, kollerte. "Lass dich nicht unterkriegen, Junge. Lebe glücklich." Damit wandte er sich ab, stapfte zur Umkleide. <---oo---> "Es tut mir leid." Bekannte Ken leise, als er Ichi nicht nur in dessen eigene spärliche Garderobe, sondern auch in zwei seiner Pullover und eine Arbeitshose kleidete. Er hatte einfach nicht bedacht, dass das heiße Wasser auf Ichis heller Haut die Narben deutlich hervorheben würde. So, wie sie sich auf dem Rücken des bulligen Mannes vom Nacken bis zu den Waden präsentiert hatten. "Das muss es nicht." Ichi stopfte mühsam seine noch feuchten Haare in eine Wollmütze (die ebenfalls NICHT seinem Reservoir entstammte. "Ich war nur müde und wollte nicht kämpfen." Um die schlichte Existenz. Ichi hob die Rechte, legte sie auf Kens Wange. "Ich war noch nie in einem öffentlichen Bad. Es hat mir sehr gut getan." Es kostete Ken Mühe, Worte nicht über die Lippen schlüpfen zu lassen. Er beschränkte sich darauf, Ichi an der Hand zur Lobby zu geleiten, wo sie die genutzten Handtücher abgeben konnten. Dabei nahm er auch zwei eingeschlagene Päckchen entgegen, bügelte seine Gesichtszüge auf, um einen schönen (schon späten) Abend zu wünschen. "Hier." Reichte er Ichi ein Paket, balancierte dazu die Tasche mit Kleidern und Waschcreme aus. "Ist wahrscheinlich heiß." In einen luftigen Teig waren deftige Klöße aus mariniertem Gemüse oder Fleisch oder Fisch eingebacken. Die äußere Form ähnelte häufig der Füllung, mal ein stilisierte Fisch, mal eine Art Brötchen mit gestempeltem Hähnchen oder den Signets der Manufaktur. Bis zum Lager, wo das Fahrrad wartete, waren es nicht allzu viele Schritte. Das Speisen im Gehen verlangsamte das Tempo erheblich. "Weißt du, ich habe nichts gegen Urlaub oder Verreisen." Erklärte Ichi vorsichtig. "Ich möchte Pearl ungern länger allein lassen. Wenn wir sie mitnehmen, müssten wir sie einsperren. Zudem sind Katzen auch häufig nicht vorgesehen." Ken wischte sich die Finger sauber, tupfte sich den Mund ab. "Außerdem habe ich ja den Katzentransporter zerlegt..." "Damit haben WIR überhaupt kein Problem!" Fiel ihm Ichi hitzig ins Wort. »Oha!« Dachte Ken, der das gereckte Kinn registrierte. »Noch eine Geschichte.« Er hatte die zur Katzentoilette umgebaute Plastikbehausung als zurechenbaren Gegenstand hingenommen, eine der wenigen Habseligkeiten der beiden, als sie in einer ereignisreichen Nacht in sein Leben getreten waren. Offenbar genoss das Objekt jedoch keine Zuneigung, hatte nur der Not geschuldet mit ihnen die Unternehmung angetreten. "Ich habe das noch nicht durchdacht." Griff er das Thema auf, öffnete das Lager, um das Fahrrad herauszuholen, die Wäsche vorne im Korb zu deponieren. "Ohne Pearl wäre es auch sicherlich nicht so lustig." Er reichte Ichi den Fahrradhelm, was nun dazu führte, dass sie mit der Wollmütze und einem rasch geflochtenen Zopf rangen. "Es war keine Absicht." Murmelte Ichi schließlich, kletterte auf den Sozius. Ken wandte sich herum, tippte ihm neckend auf die Nasenspitze. "Ich weiß." Trotzdem schob er Ichis Hände unter seine Jacke, trat kräftig in die Pedalen. Noch war es nicht ausgestanden, wenn er sich an Ichis trockenes Fieber nach ihrer ersten Begegnung entsann! <---oo---> Pearl erwartete sie bereits, schmuste nicht nur mit Ichi, sondern zog auch ihr zerrupftes Lieblingskissen direkt neben das Badevorleger-Lager, entschlossen, die Nacht bei ihnen zu verbringen. Ken bewunderte die kleine, buntscheckige Katze für ihre Eingebungen. Er selbst verstaute die Wäsche, überprüfte, dass er für das Frühstück nichts vergessen hatte, bevor er den kleinen Container verließ. Da vertauschte er entschieden die kleinen Kopfkissen. "Lass es uns mal versuchen." Bat er Ichi. Auch wenn der sich in Gewohnheit fötal zusammenrollen würde, so doch auf diese Weise ihm zugewandt. Pearl maunzte auffordernd, was er als Zustimmung auffasste. Ichi gab sich geschlagen, wehrte sich auch nicht, als Ken sich ausstreckte, ihn halb über sich zog, um sanft Nacken und Rücken zu bestreichen. Dabei erzählte er ihm leise von den Erlebnissen in Nara, den Tieren dort und von den aufgemalten Bildern in den Badehäusern, die er besucht hatte, von den mindestens tausend herrlichen Blicken auf den Vulkankegel des Fuji und der Idee, dass die Distanz für schönere Eindrücke sorgte als das Hochstapfen in Lemming-Manier mit zig anderen. Bald schon war Ichi eingeschlafen, sodass er den Wecker auf SEINE Seite schieben konnte. Ken beabsichtigte, sich schlicht der ersten Schicht zu bemächtigen, damit Ichi sich noch ein wenig erholen konnte. Mit Pearls Komplizenschaft rechnete er natürlich auch. <---oo---> Ein statisches Knistern weckte Ken, bevor der Wecker ihn ermahnen konnte. Katzenaugen funkelten ihn auffordernd an. Rasch die Decke über Ichi zurecht zupfend erhob er sich, wieselte flott herum, seine Kleidung aufzulesen, nahm Pearl auf den Arm und kletterte die halbe Wendeltreppe herunter. Der Ruf der Natur drängte Pearl in das umgebaute Katzenklo, während Ken sich im anderen Container wusch, die Tolle frisierte, sich ordentlich bekleidete. Er servierte Pearl ihr Frühstück, während er gleichzeitig selbst aß und für Ichi einen Anteil bereitstellte. "Ich habe einen Plan." Vertraute er Pearl an, die die Katzenohren spitzte. "Ich werde ein wenig tricksen müssen." Die kleine Katze signalisierte Verständnis, steuerte erneut die Treppe an, warf Ken einen auffordernden Blick zu. Der begriff, transportierte sie wieder in den Wohncontainer, damit sie auf Ichi aufpassen konnte. "Danke." Wisperte er, zwinkerte Pearl zu. Sie ließ den kupierten Schwanz malerisch einen Halbkreis zeichnen, rollte sich auf seinem Kopfkissen neben Ichi gemütlich ein. Ken lächelte, deponierte den Zahnstocher in einen Mundwinkel, zog sehr leise die Tür zu, bevor er sich mit dem Fahrrad zur ersten Schicht aufmachte, einen kleinen Schlenker einplanend. <---oo---> Selbstverständlich sprach sich in Windeseile herum, dass ein Tausch der Schichten stattgefunden hatte. Ken versicherte geduldig, dass es Ichi gut ging und er durchaus in der Lage sei, Aufträge entgegenzunehmen UND zu erledigen. Immerhin hatte Ichi diverse Hinweise und Anleitungen verfasst! Ken bescheinigte sich, recht findig und um Lösungen nicht verlegen zu sein. Auch Juulio fand sich ein, der rasch eine seiner Lieferungen abholen wollte. "Du jetzt hier? Hat sich Ichi doch erkältet?" Erkundigte er sich, wie üblich in eine Aromawolke eingehüllt. Ken balancierte den Zahnstocher aus, warf einen Blick auf die Video-Schalte in den Laden. Eine Notwendigkeit, bidirektional die Verbindung auszuweiten, gar keine Frage! Dass es Ichi überhaupt gelang, zeitweilig vom Waschsalon drei Häuser zu wechseln, um im Laden zu arbeiten, erschien ihm wie ein Wunder. "Wir haben bloß getauscht." Gab er zurück, buchte die Zahlung ein. "Ich habe gehört, es hätte gestern im Sento Ärger gegeben?" Fischte Juulio unverdrossen nach ein wenig Klatsch. Eine gute Gelegenheit, gleich der Gerüchteküche jede Nahrung zu nehmen. "Nein, gar nicht, bloß ein Missverständnis. Jemand hat Ichi als Haarmodel erkannt und ihn ermutigt." Antwortete er bestimmt. Immerhin konnte man aus der Distanz die Geste missverstehen, da die meisten vermutlich nur die aufgesteckte Mähne wahrgenommen hatten. Nicht den Hinweis auf Ichis linke Gesichtspartie mit dem tauben Ohr und einer der prominenteren Narben, die auch auf den "Haarmodel"-Aufnahmen zu erkennen gewesen war. Vielleicht hatten sich die anderen Gäste auch daran gewöhnt, dass der bullige, alte Mann ähnlich brutal gezeichnet war. Juulio lupfte eine sehr bewegliche Augenbraue, zwinkerte verschwörerisch. "Es ist gut, dass du auf Ichi achtest. Der Süße ist so ernsthaft bei der Sache, dass er die eigenen Grenzen ignoriert." Den Zahnstocher in den anderen Mundwinkel befördernd beugte Ken sich ebenso vertraulich vor. "Ich habe einen Plan. Und eine Mitverschwörerin." "Auf drei Pfoten, hm?" Mutmaßte Juulio grinsend. "Eine hervorragende Wahl." Er hatte Pearl bereits kennengelernt, schätzte ihren Einfluss auf Ichi richtig ein. Ken richtete sich auf, hob Juulios neuen Auftrag in einer großen Stofftasche über den Tresen. "Wir bekommen übrigens bald eigene Kleidersäcke und Kleiderbügel. Wärst du interessiert?" Hakte er einen weiteren Punkt auf der Aufgabenliste ab. "Richtige Bügel? Sicher! Die Plastikfolie ist ja nicht optimal." Sprang Juulio sofort an. "Merk mich ruhig vor." Sich salutierend an die Schläfe tippend notierte Ken die Rückmeldung. "Ihr habt die Wäscherei wirklich ziemlich verändert in der kurzen Zeit." Juulio nahm seine frische Lieferung, bestehend aus Handtüchern und leichten Kitteln, auf. "Das bringt neuen Schwung in unser kleines Einkaufsviertel. Gut gemacht!" Ken lächelte. "Ich werde es meinem Großonkel ausrichten." Nachdem Juulio sich verabschiedet hatte, widmete er sich seiner kleinen Heimlichtuerei, bereitete sich darauf vor, dass Ichi ihm die Leviten lesen würde, wenn die Übergabe anstand. <---oo---> Als Ichi den Waschsalon betrat, hatte er schon das Polo-Shirt übergestreift und die Haare hochgesteckt. "Dass du dich mit Pearl gegen mich verbündest, ist reichlich unfair!" Setzte er an, von Ken jedoch entschieden mit einem ausführlichen Kuss unterbrochen. "Kein Fieber." Konstatierte Ken unverdrossen, hielt Ichi weiter umschlungen. Der konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Um keine Ausrede verlegen, dieser Halunke! Ken zwinkerte spitzbübisch. "Ich wollte mich mal wieder in deiner Anerkennung durch die Kundschaft baden." Eine Behauptung, die Ichi ein Schnauben entlockte. Er löste sich aus Kens Umarmung, wurde ernst und geschäftig. "Ich habe eingekauft und noch ein bisschen gelernt. Mir geht es wieder gut." Verkündete er streng. Sich zur Übergabe im Laden aufmachend wandte sich Ken zu ihm. "Bist du sicher, dass du keine zweite Meinung einholen möchtest? Ich stelle mich gern zur Verfügung." Ichi lupfte eine Augenbraue über den tiefschwarzen Augen. "Strebst du jetzt auch noch eine medizinische Laufbahn an? Ich bin aber kein Bunny für Playboys." Ken lächelte anerkennend über den Stich, reichte Ichi die freie Hand. "Ich hätte mich dir lieber als Trainingspartner als als Versuchskaninchen angedient. Schade." Nicht unvermutet wurde er mit einigem Schwung herumgewirbelt, durfte erneut ausgiebig seine Zungenfertigkeit beweisen. "Hat was für sich, dieses Zahnstocher-Balancieren." Murmelte Ichi, die blassen Wangen dezent gerötet. Lachend nahm Ken Ichis Hand. So ein freches Kompliment bestärkte ihn noch mehr, sein kleines Komplott in die Tat umzusetzen! <---oo---> Ichi seufzte, als die leicht misstönende Katze ihr Willkommen intonierte und Ken hineinschlüpfte. "Du weißt schon, dass du mich nicht abholen musst?" Erkundigte er sich rhetorisch. Er war sich darüber im Klaren, dass Ken von seinem moderaten Tadel nicht im Mindesten beeindruckt wäre. Überhaupt neigte der ungeniert dazu, in aller Heimlichkeit konspirativ tätig zu sein! Höchst unwahrscheinlich nahm es sich aus, dass nach dem "Tausch" der Schichten auch direkt neben ihrem Container ein Mietfahrrad wartete, damit er nicht laufen musste. Oder das langärmlige Shirt auf seinem bescheidenen Stapel Leibwäsche. Und ein Erdbeerbonbon auf seinem umgekehrten Teebecher! "Ich stecke in der Klemme!" Verkündete Ken ungewohnt theatralisch, zupfte sogar den Zahnstocher ab, deponierte ihn hinter ein Ohr. "Ichi, du bist meine letzte Hoffnung!" "Star Wars, oder? Seh ich vielleicht wie Obi wan Kenobi aus?" Konterte Ichi spöttisch, eine Augenbraue lupfend. Ken stutzte, studierte Ichi anschließend nachdenklich, so, als suche er tatsächlich Übereinstimmungen mit dem fiktiven Jedi-Meister. Die Hände in die mageren Hüften stützend schnalzte Ichi mit der Zunge. "Schön, heraus mit der Sprache! Aber ich schmuggle keine Baupläne für Todessterne, verstanden?" "Oh, das ist natürlich ein Rückschlag." Ken ließ die Schultern sinken. Selbst die Tolle wirkte deprimiert. Ichi registrierte selbstverständlich, dass er Ken geradewegs in die Karten spielte. Mit einem Knurren knuffte er ihn in den linken Oberarm. "Schluss mit dem Drama! Klartext!" Forderte er grimmig, funkelte aus tiefschwarzen Augen. Ken entzog einer der Taschen seiner Cargo-Hose einen gefalteten Zettel, reichte ihn Ichi zwecks Inspektion. "Ich wollte morgen eigentlich beim Schrein aushelfen und danach zu meiner Schicht gehen. Jetzt habe ich kurzfristig morgen Vormittag den Kurs für die Einrichtung eines Kontakt- und Reservierungssystems bekommen. Der wäre wichtig, aber ich stehe auch im Wort beim Schrein." Ichi verdrehte die Augen, kreuzte die dünnen Arme vor der Brust. "Du könntest einfach fragen, ob ich für dich beim Schrein einspringe!" Schnaubte er. "Wenn du es übernimmst, hast du keine Freizeit am Nachmittag." Wies Ken auf die zutreffenden Konsequenzen hin. "Na, das wird mich zartes Elfchen aber zausen!" Gab Ichi schnippisch zurück. "Wer von uns hat denn heute allen erzählt, dass ich fit bin und man sich nicht sorgen muss?!" Ken nickte verständig. "Da ist was dran." Seine Nase fand sich unversehens zwischen Ichis Fingern eingeklemmt. "Ich übernehme deinen Einsatz." Ichi knurrte. "Versuch nicht, mich anzuführen, verstanden?" "Vrstndn." Näselte Ken brav. "Danke, Ichi." Der seufzte profund. "Wieso merkt sonst niemand, was für ein ausgekochtes Schlitzohr du bist?!" Grummelnd widmete er sich rasch den Abschlussarbeiten, an denen sich Ken selbstredend beteiligte. Man durfte das nicht als mangelndes Vertrauen auslegen! Auch wenn einem sich das metaphorische Fell aufstellte, weil der eigene Stolz angekratzt wurde! "Es gibt da noch was." Begann Ken, noch immer ohne Zahnstocher. Wortlos zupfte Ichi an der martialischen Klammer, die seine schweren, langen Strähnen auf dem Kopf in einem Dutt hielt, verkniff sich jeden ironischen Kommentar. Seine Schlagfertigkeit ließ ihn aber auch kurz im Stich, als Ken ihm im Lager ein kleines Paket beim Fahrrad präsentierte. Darin befanden sich zwei Garnituren von Ski-Unterwäsche, in Mandarine und Pfefferminz, offenkundig für schlanke Damen geeignet. "Die sollten passen." Voluntierte Ken, verkniff sich entschieden ein Schmunzeln. "Nur während einer Ski-Freizeit vor einigen Jahren getragen und frisch gewaschen." Dazu weich, mollig warm und atmungsaktiv. "...manchmal macht mich deine Ritterlichkeit echt fuchsig!" Murmelte Ichi schließlich. Ken schwieg wohlweislich. Diese Beschwerde hörte er keineswegs zum ersten Mal. Er krönte seinen verwerflichen Hang zu selbstherrlichem Verwöhnen damit, Ichi samt flauschiger Unterwäsche auf den Sozius zu verbannen, selbst kräftig in die Pedalen zu treten. <---oo---> Ichi zupfte hier, dann da, drehte sich, begutachtete insgesamt das Ensemble aus langärmligem Hemd und Leggins, die Ski-Unterwäsche, Variante Pfefferminz. Geschnitten für sehr windschnittige Damen gab es in der Passform keine Abstriche zu beklagen. "Hmmm, flauschig!" Stelle Ken fest, der interessiert über die Wollmischung streichelte, das lebendige Modell darunter goutierte. "Will ich wissen, wie du das angestellt hast?" Brummelte Ichi rhetorisch. "Auf jeden Fall muss ich mich revanchieren!" Ken nutzte die Gelegenheit, über den mageren Leib zu streichen, die Distanz zwischen ihnen erheblich zu reduzieren. "Nicht nötig." Beschied er gelassen ob des grimmigen Blicks aus den tiefschwarzen Augen. "Außerdem möchtest du doch niemanden beschämen, richtig?" Ichis dünne Augenbrauen zogen sich zu gewittriger Missstimmung zusammen. "Was hast du ausgeheckt?!" "Ich?" Ken zwinkerte. "Hast du eine so schlechte Meinung von mir?" Die schmalen Hände legten sich unerfreulich distanzierend auf seine Brust, begleitet von einem sehr finsteren Ausdruck auf Ichis feingeschnittenen Zügen. "Du bist ein heimlichtuerischer Halunke, das weiß ich ganz genau!" Ihm sollte dieser unverschämte Kerl ja nicht vormachen, er sei gänzlich harmlos, könne aus Prinzip kein Wässerchen trüben und seine Gehirntätigkeit beschränke sich auf ein Mindestmaß! Ken grinste ob Ichis merklich gesträubtem Fell. Der Vorwurf klang für ihn nicht beleidigend, sondern wie eine spezielle Liebesplänkelei, die nur sie beide pflegen konnten. "Steht dir jedenfalls prima und hält sicher auch warm." Lenkte er sanft ab. Ichi grollte noch immer, seufzte, verringerte auch den Druck gegen Kens Brustkorb. Der ergriff die Bresche in der Verteidigung als Chance, Ichi in seine Arme zu ziehen, ihn eng zu umschlingen. "Ich bin wirklich froh, dass du morgen für mich einspringst." Raunte er zärtlich an Ichis rechtes Ohr, küsste die weiche Haut. "Ich traue dir kein Bisschen!" Knurrte Ichi als Antwort, schlang ihm die dünnen Arme um den Nacken. "Du darfst mich jetzt aber trotzdem richtig aufwärmen." Ken unterdrückte tapfer ein genießerisches Aufstöhnen. Dieser Offerte konnte er selbstredend nicht widerstehen! <---oo---> Ichi bremste den schweren Drahtesel an der Kreuzung, ließ Ken absteigen, der sich eine Tasche umgehängt hatte. "Lern fleißig, ja? Wir können dringend digitale Unterstützung brauchen!" Ließ Ichi ihn wissen, nahm den Fahrradhelm entgegen, fühlte sich, mal wieder, unerträglich vernünftig und erwachsen, obwohl Ken ihm fünf Jahre voraus hatte. Nicht in Zynismus, zugegeben! "Mach ich. Danke, Ichi." Ken küsste Ichi wie gewohnt in unbekümmerter Missachtung etwaigen Publikums auf die Lippen, zwinkerte herausfordernd, bestückte sich mit dem unvermeidlichen Zahnstocher. Grollend trat Ichi in die Pedalen, um die erste Schicht anzutreten. Allerdings fühlte er sich sehr viel besser als die Tage zuvor, dank thermo-gedämmter Wäsche und sehr einschlägiger, rhythmischer Körpergymnastik für zwei am Vorabend. <---oo---> Es war später geworden als gedacht, sodass Ken sich im "Hausfrauen-Imbiss" sein Bento abholte, zum Mitnehmen. Die Damen betrachteten ihn nachsichtig. Sie ahnten, dass Ichi ihm die Leviten lesen würde. Die Strafpredigt beschränkte sich von Ichis Seite jedoch auf eine kurze Ermahnung, im Lager nebenher zu futtern, bloß nicht im Waschsalon, weil der Geruch der Speisen sich sonst an die dort aufgehängte Wäsche heften könnte. "Hast du alles mitgeschrieben? Können wir etwas davon nutzen?" Ichi übergab rasch die Bücher, tippte auf Bestellungen und Aufträge, kämmte sich beiläufig entflohene Strähnen hinter die Ohren. "Was ist passiert?" Ken registrierte die recht unordentlich wirkende Frisur, ignorierte die Arbeitsaufträge. "Ach, nichts weiter!" Schnaubte Ichi, kramte hinter der Theke die Einzelteile der martialisch wirkenden Haarklammer hervor. "Der Kunststoff ist hier am Scharnier gebrochen. Als Kamm könnte ich sie noch brauchen, aber zum Hochstecken reicht es nicht." Ja, wenn er die schweren, überschulterlangen Strähnen einrollte und am Kopf befestigen wollte, benötigte es härtere Bandagen. "Keine Sorge, ich binde sie im Nacken zusammen. Ich werde schon adrett genug aussehen." Referierte er auf seinen in Bälde anstehenden Einsatz beim Schrein/Tempel. Kens prüfenden Blick richtig deutend tippte er ihm gebieterisch auf die Nasenspitze. "Wage es bloß nicht, auf undurchsichtigen Wegen Ersatz organisieren zu wollen, ja?! Meine Haare, meine Angelegenheit!" Den Ausdruck kindlichen Unverständnisses auf Kens Miene konterte er mit einem kurzen Kuss. "Jetzt muss ich los. Ich hole dich nachher ab, also stell nichts an!" Er schnaubte, als Kens Grinsen beinahe die Ohren erreichte. Dem Burschen konnte man kaum beikommen! <---oo---> Ken hätte Ichi selbstredend nach dem Einspringen mit dem Fahrrad nach Hause fahren lassen. Der musste ja Freizeit und Kuschelstunden mit Pearl entbehren! Andererseits vermutete er, dass Ichi keineswegs diese Option vorziehen würde, weil der viel zu aufgebracht wäre, wenn sich die klitzekleine Heimlichtuerei in ihren Folgen realisierte. Er erledigte deshalb bevorzugt die Aufträge im Waschsalon, hielt per Video-Schalte Kontakt zum Laden. Damit er dort aushelfen könnte, wenn zu viel Kundschaft auf einen Schlag den Laden überschwemmte, Seto damit überforderte. Als Ichi eintraf, deponierte er vorausschauend den Zahnstocher hinter einem Ohr, lächelte betont arglos. Der schnaubte, mit der filzigen Strickjacke über dem apfelgrünen Trenchcoat zwar warm, aber auch etwas merkwürdig gekleidet. "Du hast mich angeführt!" Richtete sich ein anklagender Zeigefinger auf Ken, der Ichis dezent gerötete Wangen goutierte. "Du hast gestern Nachmittag schon beim Aufbau geholfen! Du wusstest doch genau, dass es um Tauschpunkte ging!" Selbstredend. Der Tempel mit Schrein, ein kombiniertes Gelände, seit Jahrhunderten in Betreuung durch eine Familie, bot regelmäßig Platz für kleine Nachbarschaftsfeste und -märkte an. Natürlich konnte man dem Besuch auch die Produkte des Tempels verkaufen, keine Frage, doch hauptsächlich handelte es sich um eine wichtige Geste für alle Menschen in der Umgebung. Saisonale Handwerksarbeiten konnten erworben werden, aber auch Gegenstände getauscht, nach einem Tauschpunktesystem. Diese konnte man auch spenden, damit andere, die nichts oder nicht so viel Eigenes aufweisen konnten, doch etwas bekamen, was ihnen abging. Im Angebot waren auch ganz normale, gebrauchte Alltagsgegenstände sowie recht viel Bekleidung, die nicht mehr getragen wurde, aber noch in gutem Zustand war, selbstverständlich vorher gereinigt. Die Aushilfen konnten sich ebenfalls Punkte für ihren Einsatz erwerben. Ken lächelte, nickte Richtung der Stofftasche, die Ichi apportierte. "Hast du was einlösen können?" Erkundigte er sich gelassen. Ichi fauchte, ließ sich jedoch nicht dazu hinreißen, den Inhalt des Beutels auf der Arbeitstheke auszukippen. "Da, der ist für dich!" Präsentierte er einen Strickpullover mit Norweger-Muster, offenbar einmal falsch gewaschen. Die Struktur hatte sich verfilzt. "Oho!" Ken strich über den durchaus weichen Filzpelz, lupfte den Pullover, hielt ihn sich an. Gar nicht schlecht! Unterdessen seufzte Ichi ärgerlich, präsentierte ein Strickkleid, dessen Reißverschluss defekt war, einen Midi-Rock in A-Form im rebellischen Punk-Karo und eine Sommerbluse mit Sonnenblumen. Mit sich ringend gab er schließlich noch einen weiteren Neuzugang zu. "Beim Fahrrad hängt auch noch einen gefütterter Steppmantel." In weinroter Farbe, mit Kapuze, leicht ausgestellt. Ken schmunzelte. "Hört sich prima an. Kannst du denn den Reißverschluss tauschen?" Mit dieser Ablenkung auf praktische Probleme gelang es ihm, für einen Moment Ichis aufbrausendes Temperament zu dämpfen. Auszanken würde er sich im Lager lassen, wenn Ichi sich der struppigen Strickjacke entledigen würde. <---oo---> Man hätte natürlich bei einer der Hausfrauen aus dem Imbiss nachfragen können, ob eine Nähmaschine eventuell für einen kurzen Einsatz zur Verfügung stünde. Ichi versagte sich derlei Anflüge kategorisch. Von seinem Beschäftigten-Konto ließ er einen Reißverschluss aus der Reserve abbuchen. Er suchte im Waschsalon Nadeln und allerlei unterschiedlich gefärbte Garnrollen, Überbleibsel des Angebots des Pächterehepaars, tauschte in Handarbeit im Lager den Reißverschluss aus. Natürlich hatte Ken es ERNEUT so gedeichselt, dass er ihm nicht zürnen konnte! Schlimmer noch, alle anderen schienen exakt erwartet zu haben, dass es ihm gelang, kurzfristig mit einer plausiblen Erklärung den Adressaten der Wohltaten zum Einsatz zu locken UND durch all die netten Leute zu verhindern, dass man aus Trotz die gute Absicht unterlief! Ichi widerstrebten Vergünstigungen, die sein imaginäres Karma-Konto belasteten, wenn er keine Option hatte, sich entsprechend zu revanchieren. Was nützte es ihm zu erfahren, dass Ken regelmäßig die Tauschpunkte spendete, sein ehemaliger Dauer-Camping-Haushalt wenig benötigte und man darob froh sei, wenn der Kleiderkreisel auch rege in Anspruch genommen werde?! "Ich bin immer noch sauer auf dich!" Verkündete Ichi, als Ken ins Lager kam, um nach Geschäftsschluss das Fahrrad loszumachen. "Verständlich." Nickte Ken gewohnt nonchalant, studierte interessiert das Strickkleid, in einem warmen Dunkelgrau gehalten und offenbar sehr elastisch. "Hast du es repariert?" Ichi grummelte, streifte sich eine Hemdbluse und eine Bundfaltenhose ab, bevor er in der Ski-Unterwäsche das Strickkleid überzog. Artig sprang Ken ein, den Reißverschluss am Rücken hochzuziehen. Zwar störte die lange Unterhose in Pfefferminzgrün ein wenig den Eindruck, aber dachte man sich beispielsweise die schwarze Leggings dazu... "Sehr elegant." Komplimentierte Ken, zupfte das schlichte Band aus Ichis Nacken, fächerte die beeindruckende Mähne aus schweren, glatten Strähnen auf. Sie wies noch immer einen dezenten Nuss-Farbton auf, der ungefragten Entfernung der Extensions geschuldet. An sich herabblickend drehte Ichi sich prüfend. Ja, die elastische Qualität des Materials passte sich seiner Gestalt gut an. Er musste sich um Abnäher keine Sorgen machen. "Es lässt sich wahrscheinlich auch gut kombinieren." Beschied er, ignorierte betont Kens Lächeln, kehrte diesem den Rücken zu, lupfte die Haare. "Wärst du so nett?" Beinahe bedauernd kam Ken der Aufforderung nach, verfolgte geduldig, wie Ichi sich erneut bekleidete, die Neuzugänge ordentlich faltete, in die Stofftasche deponierte. Dort landete auch der apfelgrüne Trenchcoat, der selbst mit der struppigen, überformatigen Strickjacke nicht geeignet war, der Kälte ausreichend zu trotzen. Grimmig stopfte Ichi sich die langen Haare in die Hemdbluse, bevor er in den Steppmantel schlüpfte. Die Kapuze musste im Nacken bleiben, da der Fahrradhelm das Vorrecht bekam. "Perfekt." Stellte Ken leise fest. Zum ersten Mal schien es ihm, dass Ichi für die noch kälteren Temperaturen gewappnet war UND sich zusätzlich etwas hatte aussuchen können, das ihm gefiel, nicht aus den traurigen Resten von Kleiderabfallsäcken geplündert schien. Zudem musste es wohl seine Bewandnis damit haben, dass Ichi nur über eine spärliche, ausschließlich für den Sommer geeignete Garderobe zweifelhafter Qualität verfügte. Andererseits hielt sich Ken eisern an den eigenen Grundsatz: er würde nicht fragen, solange Ichi nicht selbst die Sprache darauf brachte. Ichi warf ihm einen herausfordernden Blick zu. Er positionierte den eigenen Fahrradhelm, schob das Fahrrad aus dem Lager, bevor er wie gewohnt alles verschloss und verriegelte. "Ich will nicht ausgehalten werden." Stellte Ichi leise klar. "Ich bin kein Spielzeug." Ken wandte sich herum, bockte das Fahrrad auf. "Ich will dich nicht verletzen, Ichi." Er studierte ruhig die angespannte Miene. "Es verhält sich bloß so, dass du exakt in die Lücke passt, die es hier gibt." Bevor Ichi grimmig nachhaken konnte, ergänzte Ken lächelnd. "Du bist Juulios Muse. Du sorgst dafür, dass wir den Waschsalon weiterführen. Du bringst mit Pearl Leute in Kontakt und du hast genau die Figur, um Kleidung zu tragen, die an den Mannequins toll aussieht, aber nicht an einem selbst. Ganz zu schweigen davon, welchen Einfluss du auf mich hast." Er zwinkerte. "Na, und DU bist hier selbstredend der größte Problemfall!" Knurrte Ichi, der Ken für den Liebling des Geschäftsviertels hielt, auch wenn die Konkurrenz in der Altersklasse quasi nicht vorhanden war. "So ambitioniert war ich nicht..." Schnurrte Ken herausfordernd, was ihm einen Knuff gegen den Oberarm einbrachte. Um zu vermeiden, dass Ichi sich nicht ernst genommen fühlte, bemerkte er ruhig. "Wir ALLE haben hier Tauschpunkte-Konten. Mal geht man in Vorleistung, mal hat man Reserven. Über die Zeit hält sich alles im Gleichgewicht. Die meisten hier haben den guten Willen, miteinander auszukommen. Du hast auch diesen Willen, setzt dich ein, leistest deinen Beitrag. Hältst du dein Konto da für unausgeglichen?" Ichis tiefschwarze Augen funkelten agitiert. Er schnaubte vernehmlich, die dünnen Augenbrauen gekräuselt. "Wenn DU so spitzfindig argumentierst!!" Nein, da konnte man kaum widersprechen! Was seiner Frustration nicht abhalf! Ken zwinkerte, gestikulierte zum gepolsterten Sozius, griff selbstherrlich zur eigenen Bento-Box und Tasche nach dem Kleiderbündel. "Pearl wartet bestimmt schon auf uns." "Perfid!" Knurrte Ichi, assistierte bei der Beladung, bevor er sich auf den Gepäckträger setzte. "Auch noch Pearl anführen! Einfach perfid!" Leise lachend trat Ken in die Pedalen, streichelte bei jedem Halt über die schmalen Hände, die seine Taille umschlangen. <---oo---> Tatsächlich erntete Ken am nächsten Tag bei seiner Schicht nur einige humorige Bemerkungen, die nahelegten, dass man Ichi zutraute, ihn wegen des Tricks ausgezankt zu haben. Andererseits befand sich Ichi ja noch nicht so lange hier, dass man ihn einfach hätte einplanen können, nicht wahr? Zudem sei es prima gewesen, dass mehr junge Leute sich beteiligten, so kämen auch andere zu Besuch, man könne sich weiterentwickeln. Die Sorge um die Tradition gewisser Gemeinschaftsaktionen kam nicht von ungefähr, da die Medien vermehrt von anderen Orten und Festivitäten berichteten, die mangels Nachwuchs nicht mehr durchgeführt werden konnten. Die Bevölkerungszahl schrumpfte, die Alterspyramide wurde sehr kopflastig, die Konkurrenz durch andere Veranstaltungen stieg an. Wenn dann ein VIP mittat! Ken vermutete, dass Ichi seine Rolle als "Haarmodel" nicht zu Markte trug und die diesbezügliche "Prominenz" unterschätzte. Allerdings stand ihm verlegene Röte auf den blassen Wangen sehr gut, wie Ken ungeniert testierte. Natürlich hatte er mit der kleinen Scharade gehofft, Ichi dazu zu bringen, sich selbst warme Kleidung auszusuchen, nicht die eigenen Interessen nach ganz hinten zu schieben, als "Luxus" abzutun. Verständlich, wenn man ohne Obdach und ohne Geld allein mit durchweichten Klamotten, einer kleinen Katze und einem abgeschabten Katzentransporter auf der Straße stand, von frischen Prügeln gezeichnet. Andererseits gab es jetzt ein nettes Häuschen, einen festen Arbeitsplatz, genug zu essen, eine sich füllende Katzenspardose und Reserven. Deshalb konnte man auch mal die Sparflamme ein wenig stärker aufdrehen! Zumindest beabsichtigte Ken, diese Entwicklung mehr oder minder dezent anzuschieben. Abgesehen davon HATTE er den Lehrgang kurzfristig nachrückend terminiert bekommen, sodass man ihm nicht eine Notwendigkeit absprechen konnte! Was sich herumgesprochen hatte, weshalb auch einige der anderen Gewerbetreibenden aus der Nachbarschaft die misstönende Katze am Eingang zu immer neuen Gesängen animierten, weil sie wissen wollten, was Ken nun genau umsetzen wollte, ob man sich da etwas abgucken könne und wie teuer das wohl werde. Gut vorbereitet balancierte Ken den obligatorischen Zahnstocher aus, vertröstete die Interessierten auf den Nachmittag, wo er erste Versuche in Angriff zu nehmen plante. <---oo---> "Mit dem Warenverkehrsmodul?" Ichi justierte ein Tuch als Haarband, studierte das Anzeigefeld der Registrierkasse im Waschsalon. "Kann man denn über eine Schnittstelle die Daten auslesen? Ist das so wie mit diesen 'Home-Automationen', wo man die Temperatur in jedem Raum abfragen und auf dem Smartphone anzeigen lassen kann?" Ken grinste, weil diese Nachfrage ihm verriet, wie weit Ichi sich schon durch die Unterlagen für SEINEN Lehrgang in Kleinunternehmensführung gefräst hatte. "Ich muss das erst mal testen. Bis jetzt haben wir ja bloß zwei Internetauftritte auf einem Web-Host geschaltet, die eher statisch sind. Aber ein Reservierungssystem für den Waschsalon wäre schon nicht zu verachten." Wobei es weniger die beiden Münzwaschautomaten betraf, sondern eher die steigende Nachfrage nach dem Reinigungsservice. Ichi nickte beifällig, klappte Ken anschließend entschieden das Notizbuch zu. "Jetzt mach dich aber auf die Socken! Heute gibt's gebackene Süßkartoffeln. Ich seh dich heute Abend!" Diesen Rauswurf akzeptierend stahl sich Ken noch einen raschen Kuss, bevor er sich abmeldete, im Lager das Polo-Shirt in sein Spind legte und sich zum Seniorinnen-Imbiss aufmachte. <---oo---> "Der neue Mantel steht Ichi richtig gut! Das war eine gute Idee mit dem Einsatz beim Schrein." Wurde Ken gelobt, als er seine reservierte Portion der gebackenen Süßkartoffeln entgegennahm. "Den Pulli musst du auch mal tragen!" Folgte die nächste Aufforderung, die Ken nur mit einem Nicken dank voller Backen beantwortete. Er genoss seine Mahlzeit und entschied, an seinem Teebecher nippend, noch nicht gleich zur (Programmier-)Tat zu schreiten, sondern zunächst seine Gedanken zu ordnen. Zu leicht konnte man sich verzetteln angesichts der vielen Möglichkeiten, die jedoch alle Arbeit nach sich zogen! Als er den Becher unter dem Vorhang hindurch reichte, zum Aufbruch bereit, meldete sich das dienstliche Handy. Überrascht nahm er Ichis Anruf entgegen, dessen Worte seltsam stockend kamen, einen Kurzschluss meldeten. Jetzt ließe sich der Überspannungsschutz nicht zurücksetzen... "Ich komme sofort." <---oo---> Ichi stand in der Tür des Waschsalons, steif und ausgesprochen bleich, als Ken seinen Sprint abbremste. Es roch unangenehm nach verschmortem Plastik, was wohl die ungewohnte Funktion als "Türstopper" erklärte. "Dieser aufblasbare Hemdtrockner...die Maschinen liefen, aber jetzt...ich weiß nicht, wie ich den Schutzschalter zurückschiebe..." Ken trat an Ichi vorbei in den Waschsalon, erkannte die stinkenden Reste eines Angebots für die Kundschaft, nämlich einen aufblasbaren Torso mit Armen, der durch einen Heizstab im Inneren angeblich mühelos die Bügelarbeit für Hemden übernehmen konnte. Ichi konnte das Gerät nicht leiden, hielt es für eine teure Energieverschwendung, strafte es mit Missachtung. Falls Kundschaft bei den Jeton-Waschautomaten den Service selbst nutzen wollte... Im Waschsalon brannten noch die Lichter, die Kasse lief. Die "Betriebseinrichtung" war an einen eigenen Stromkreislauf angeschlossen. Rasch schlängelte sich Ken durch den Vorraum, inspizierte den Schaltkasten, legte den zugehörigen Schutzschalter um, bevor er einzelne Einheiten wieder aktivierte. "Die Kontrollleuchten... jetzt laufen die Maschinen wieder." Drang Ichis belegte Stimme zu ihm vor. Den Schaltkasten verriegelt kehrte Ken mit schnellen Schritten zurück, warf im Defilee einen kontrollierenden Blick auf die aktiven Waschautomaten, die wieder ihre Tätigkeit aufnahmen, keine Fehlfunktionen meldeten. "Zum Lager, bitte." Kommandierte er beherrscht, drehte in der Tür das Schild, verschloss den Waschsalon. Etwaiger Odeur musste warten! "Ich wusste nicht, wie..." Murmelte Ichi neben ihm, steif staksend, nach Kens Meinung unter Schock stehend. Er steuerte einen Automaten vor dem Laden an, zog eine sehr saure Limonade, ging voraus ins Lager, wo er einen Faltstuhl requirierte, Ichi die Limonade geöffnet in die rechte Hand drückte. "Setz dich und lass mich deinen Arm sehen." Vorsichtig hob Ken Ichis Linke an, registrierte das Zittern. "Nimm einen Schluck." Er ging neben Ichi in die Hocke, studierte dessen linken Arm, hielt sehr behutsam die Hand. Der Stoff der leichten Bluse unter dem Polo-Shirt, aus einem synthetischen Material gefertigt, war durch große Hitze eine untrennbare Verbindung mit dem Wollgemisch der Ski-Unterwäsche eingegangen. "Ich hab nur...der Kurzschluss, die Hülle brannte, und der Stecker..." Ichi zitterte nun unkontrolliert, leichenblass. Ken erhob sich federnd. "Das haben wir gleich. Lass bitte die Hand geöffnet und locker, ja?" Rasch hauchte er einen Kuss auf Ichis Schopf, flitzte durch das Lager, warf die Seilzüge an, um sich zusätzlich zum Erste Hilfe-Kasten mit Material zu versorgen. "Dem Kunden habe ich gesagt...ich bügle die Hemden...er kommt später wieder." Murmelte Ichi, nippte wie befohlen an der Limonade. Eine grimmige Bemerkung unterdrückend kehrte Ken zurück, löste die Limonade aus Ichis Rechter, ging vor ihm in die Hocke. "Du wirst mir ein bisschen helfen müssen, Ichi, ja? Ich werde die Bluse, das Shirt und das Oberteil zerschneiden müssen." "Aber..." Ichi starrte ihn an, die tiefschwarzen Augen beschlagen. "Entschuldige." Ken zückte eine Schere, zerteilte am rechten Ärmel alle Kleidungsstücke bis hinunter zum Bund. Anschließend säbelte er eine Bresche bis zum Halsausschnitt, um die Stoffteile umklappen zu können. Er ließ Ichi erneut Schlucke von der Limonade nehmen, löste eine Yukata aus der Verpackung, streifte sie über Ichis rechten Arm, zupfte sie zurecht, damit die unbedeckte Hälfte nicht auskühlte. Durchatmend stach er in den Stoff, schnitt an der Armkugel die Einzelteile ab. "Leg die Hand auf meine Schulter, Ichi." Widmete er sich dem kniffligen Teil. "Nicht die Luft anhalten." Damit teilte er den verbliebenen Ärmelstoff auf der Seite auf, die nicht verschmolzen war. Behutsam hieß es nun, die Hälften anzuheben, bis der neuralgische Teil erreicht war. Ichi keuchte, zitterte merklich, zwang sich jedoch, die Hand nicht zur Faust zu ballen, die Fingerspitzen nicht in Kens Schulter zu bohren. "Ich bin vorsichtig." Versprach Ken, auch wenn es ihn im Hals würgte. Er lupfte behutsam die versengten Partien, rollte sie weg, erleichtert darüber, dass sie kompakt blieben, sich verfilzt hatten. Endlich lag Ichis linker Unterarm frei, stark gerötet wie bei einem heftigen Sonnenbrand. "Das wird weh tun." Kündigte er an, strich mit einem Spatel Brandsalbe über die Haut. Glücklicherweise zeigten sich keine Blasen! Ichi hielt sich tapfer, auch bei der Applikation von Kompressen und einer leichten Bandage. Ken wickelte den linken Ärmel der Yukata auf, bevor er Ichi half, sich komplett zu bekleiden. Er richtete sich auf, atmete hörbar durch. "Gut, wir machen Folgendes: du setzt dich in den Waschsalon. Hier ist es zu kalt. Ich werde das defekte Gerät hier deponieren und meinen Großonkel anrufen. Im Laden sage ich Bescheid, dass die für eine Weile alleine klarkommen müssen." "Ich kann arbeiten!" Protestierte Ichi, kam auf die dünnen Beine und taumelte, sodass Ken eilig zugriff. "Ichi, hier geht's nicht ums einarmige Reißen." Konterte er streng. "Ich sage auch nicht, dass du nicht arbeiten kannst. Im Moment kannst du jedoch kein Polo-Shirt tragen. Du weißt, was mein Großonkel über Firmenbekleidung denkt." Bevor Ichi dieses Argument zerpflücken konnte, drückte Ken ihn energisch, aber auf den verletzten Arm achtend, an sich. "Nur einen Augenblick." Wisperte er in Ichis rechtes Ohr. "Nur einen Moment." Ichis rechter Arm um seinen Nacken zitterte. <---oo---> Nach dem Schreck sortierte Ken seine Gedanken, die sich eigentlich in ganz anderen Gefilden getummelt hatten, konzentrierte sich auf die nächsten Schritte. Zunächst hieß es, Ichi hälftig über der Yukata in den Steppmantel kleiden. Der verletzte Arm goutierte aufgrund der Verbrühung keine höheren Temperaturen. Ichi musste den Faltstuhl bemühen und wurde angehalten, die Aufträge zu orchestrieren. Mit einer Hand konnte er nicht die Waschautomaten be- und entladen oder nasse Wäschestücke aufhängen. Ken lüftete, beförderte mit einer Sackkarre und dicken Handschuhen das Corpus delicti ins Lager, außer Kontakt mit anderen Gegenständen, wo es abkühlen konnte. Er informierte seinen Großonkel, marschierte zum Imbiss, um medizinischen Rat einzuholen und gleich zur nächsten Apotheke. Ichi würde zweifellos Medikamente gegen die Schmerzen benötigen, wenn der Schock nachließ. Wie erhofft fand sich bei seiner Rückkehr in den Waschsalon schon kundige Hilfe. "Du könntest natürlich zur Notaufnahme fahren, aber ob die mehr tun?" Lautete das Urteil. Zudem bekam er speziellen Tee serviert, der einem "nervösen Fieber" vorbeugen sollte. Kens Einkauf wurde positiv bewertet und Ichi angewiesen, sich auch brav regelmäßig den Verband wechseln zu lassen, im Übrigen Ruhe zu halten und sich nicht zu verausgaben. "Es tut mir leid." Wisperte Ichi schließlich leise. "Ich habe falsch reagiert..." Ken, der die Anwesenheit der Seniorinnen genutzt hatte, Aufträge zu erledigen, ging vor Ichi in die Hocke, nahm dessen schmale Hände in seine eigenen. "Du trägst keine Schuld an dem Defekt, Ichi, und du bist verletzt worden. Das ist schlimm genug, deshalb konzentrieren wir uns jetzt besser auf die Fragen, die wir angehen müssen." Ichi blickte ihn matt an. "Ah, du wolltest programmieren." "Später." Ken zwinkerte Ichi aufmunternd zu. "Zunächst mal müssen wir hochrechnen, wie lange Normalsterbliche zum Bügeln von Hemden usw. benötigen. Wir anderen sind nicht so fix wie du. Das reduziert auch unsere Kapazitäten, nicht wahr? Außerdem brauche ich deine Hilfe bei der Berechnung der Trockenfläche. Sonst haben wir ja einen Stau, wenn alle Trockenstangen belegt sind." Sich etwas aufrechter setzend straffte Ichi seine schmale Gestalt. "Ich habe die Rüstzeiten notiert. Wenn wir die Aufträge analysieren..." Schon angelte er mit dem rechten Arm nach den Büchern. Ken lächelte, überwand die kurze Distanz, küsste Ichi zärtlich auf die Lippen. "Danke, Ichi." Eine feine Röte überzog Ichis bleiche Wangen. "Wir arbeiten hier!" Ein Tadel, den Ken als Erfolg auf ganzer Linie für seine Taktik verzeichnete! <---oo---> "So was!" Recht konsterniert studierte Kens Großonkel im Lager die Ruine des ehemaligen "Hemdtrocknungsautomaten", umrundete das Objekt mit gerunzelter Stirn. "Ich glaube nicht, dass wir einen Ersatz finden." Bemerkte Ken gelassen. "Meine kurze Recherche hat lediglich ergeben, dass man diese Dinger gar nicht mehr anbietet." "Sehr ärgerlich. Wenigstens war der Automat abgeschrieben, also müssen wir keinen Ersatz leisten." Der alte Mann schüttelte den Kopf. "Ich hätte zu den Pulverlöschern auch eine Löschdecke deponieren müssen. Wenn die Dampfbügeleisen hochgehen, wäre das besser." "Vermutlich ist so was noch nicht vorgekommen." Mutmaßte Ken, der die Sicherheitseinrichtungen mit seinem Großonkel inspiziert hatte. "Eine Löschdecke ist eine gute Idee." Damit könnte man kleinere Brände ersticken. Sie bedurfte auch keines großen technischen Verständnisses. "Um die Entsorgung kümmere ich mich später. Jetzt ist wohl ein Personalgespräch angezeigt." Ken folgte seinem Großonkel, wenig besorgt ob der Ankündigung. Er sparte sich auch Einflüsterungen, wie mit Ichi zu verfahren sei. Der operierte gerade mit einem Taschenrechner und einem Notizblock, Service-Leistung mal durchschnittlicher Dauer mal Rüstzeiten. "Es tut mir sehr leid." Kämpfte er sich prompt aus dem Faltstuhl hoch, verbeugte sich hastig, verlor dabei den halbseitig übergestreiften Steppmantel. "Du trägst für den Kurzschluss keine Verantwortung. Ich habe festgestellt, dass wir hier eine Löschdecke deponieren sollten. Im Übrigen, Ichi, geht Gesundheit vor. Man kann sie nicht ersetzen." "Ich habe nicht nachgedacht. Ich bitte um Entschuldigung für mein Versäumnis." Ichi verneigte sich erneut. "Außerdem hat mein Polo-Shirt Schäden erlitten." "Das war ich." Warf Ken ein, pflückte den Steppmantel vom Boden. "Schlüpf wieder rein, Ichi, sonst verkühlst du dich." Sein Großonkel räusperte sich kurz. "Polo-Shirts haben wir ausreichend. Es hätte viel schlimmer kommen können. Ich würde dich ja nach Hause schicken, aber mir erscheint es besser, wenn du unter Menschen bist, die auf dich achten. Ich ordne deshalb an, dass du dich ausruhst und den Anweisungen meines Großneffen folgst." Damit klopfte er Ken knapp auf die Schulter, warf einen flüchtigen Blick auf die Notizen. "Sehr ordentlich. Weiter so!" Nicht einen Augenblick später schloss sich die Tür hinter ihm. Ichi keuchte vor nachlassender Anspannung, plumpste in den Faltstuhl, zittrig und bleich. Ken ging vor ihm in die Hocke, streichelte über die rechte Wange. "Ich denke, du solltest eine Schmerztablette nehmen, Ichi. Dann wieder rein in den Steppmantel und entspannen." "Ich werde aber müde von den Dingern." Warf Ichi ein, merkliche Schatten um die tiefschwarzen Augen aufweisend. Für Ken ein deutliches Zeichen, dass es Ichi gar nicht gut ging. "Das passt ja zu den Anordnungen meines Großonkels." Zwinkerte er. "Ausruhen, wenn man müde ist, scheint mir eine clevere Strategie zu sein." Mit einem matten Knurren wollte Ichi den Müßiggang ablehnen, er war schließlich hart im Nehmen, "verdankte" diese schmerzhafte Lektion der eigenen Ungeschicklichkeit, doch Kens sanfter Kuss versiegelte den Protest. "Bitte." Flüsterte der nachsichtig. "Mir zu gefallen." Ichi schrumpfte erschöpft zusammen. "Also gut." "Danke." Antwortete Ken, strich ihm sanft über den Schopf, richtete sich auf und setzte Wasser für die spezielle Tee-Mischung auf, die das "nervöse Fieber" in Schach halten sollte. <---oo---> "Wird es gehen?" Erkundigte Ken sich, als er sehr vorsichtig Ichis linken Arm in den Ärmel des Steppmantels fädelte. Sie hatten den Verband und die Kompressen gewechselt, eine weitere Schicht der Salbe verteilt. Selbstredend waren Haut und Fleisch darunter weiterhin sehr temperaturempfindlich. Ichi reckte betont das Kinn. "Ich bin nicht aus Zucker." Es klang so streng, dass er sich wohl in erster Linie selbst ermahnte, ein "harter Knochen" zu sein, vermutete Ken. Allerdings verunzierten dunkle Ringe in Stummfilm-Manier Ichis tiefschwarze Augen. Sein Teint war bleich und seine Bewegungen blieben steif-verspannt, um sich bloß keine Blöße zu geben. Auf Kritik verzichtend band Ken Ichis Haare zu einem Zopf, den er in die Kapuze rollte, bevor er den Fahrradhelm befestigte. Sich selbst ausgerüstet löste er den Fahrradständer, wandte sich halb herum. "Wenn du eine Pause brauchst, sag es mir bitte sofort." Bat er Ichi, der dank Yukata und lädiertem Arm nun seitlich auf dem Sozius Platz nehmen musste, den rechten Arm um Kens Taille schlang. "Ich schaffe das!" Legte Ichi sich grimmig fest. Tatsächlich hielt er sich tapfer, bis sie ihr Heim erreichten. Pearl kam ihnen entgegen, aus dem Stahlkäfig schlüpfend. Ohne Kens sicheren Griff wäre Ichi getaumelt. Er konnte jedoch in die Hocke gehen, Pearl auf den Arm nehmen. Die kleine Katze begriff sofort, dass etwas ganz und gar nicht im Lot war. Wie Ken mutmaßte, aus trauriger Erfahrung. Sie rieb den Kopf an Ichis Wange, schnurrte vernehmlich, bot sich als Trostspenderin an. Taktvoll entlud Ken den Fahrradkorb, verschloss den schweren Drahtesel, bevor er sich den beiden wieder zuwandte. "Kannst du mit Pearl allein nach oben gehen? Ich mache noch mal Tee und bereite fürs Frühstück alles vor." Pearl nutzte ihre Krallen, um es Ichi zu erleichtern, sie auf seinem unversehrten Arm über die halbe Wendeltreppe in den Wohncontainer zu transportieren. Ken befleißigte sich einer gewissen Routine, während er die letzten Nachrichten auf dem dienstlichen Handy beantwortete, samt und sonders besorgte Nachfragen nach Ichis Gesundheitszustand. Als er selbst den Wohncontainer betrat, war es Ichi gelungen, sich mit Pearls Hilfe aus dem Steppmantel zu winden und erschöpft auf den Kissen zu lagern. "Ich hätte das auch geschafft." Murmelte Ichi angesichts der apportierten Objekte, doch Ken zwinkerte bloß. Er ließ Ichi eine weitere Schmerztablette mit viel Tee herunterschlucken, entkleidete ihn sukzessive, um mit einem feuchten Lappen den schlanken Leib abzutupfen und anschließend in einen alten Jogginganzug zu wickeln. Das Badevorleger-Lager gerichtet vertauschte er die Kopfkissen nach der alten Ordnung. Ichi würde in dieser Nacht auf der rechten Seite liegen müssen, linkes Ohr taub oder nicht! "Lass es uns versuchen." Ken rückte Pearls Lieblingskissen nahe an ihre Kopfkissen, schlüpfte nach dem Umziehen und dem letzten Abstecher in den kleinen Container zu Ichi unter die Decken. Vorsichtig nahm er Ichis linke Hand, die wie der Arm außerhalb der wärmenden Hüllen bleiben musste, verflocht ihre Finger miteinander. "Pearl und ich passen auf." Verkündete er, bevor er das Licht löschte. Ichi neigte zwar weniger als früher dazu, sich fötal zusammenzurollen, aber die rechte Seite musste ihm nicht nur ungewohnt, sondern auch gefährlich erscheinen. Pearl maunzte bekräftigend. Das statische Knistern verriet, dass sie ihren buntscheckigen Pelz mit Ichis Mähne in Kontakt brachte. Der seufzte matt, krümmte vorsichtig die Finger der linken Hand, ihm eine Botschaft zu morsen. "Ruh dich aus, Ichi. Das wird wieder." Raunte Ken zärtlich, stemmte sich für einen Moment hoch, um in der Dunkelheit Ichis linke Schläfe zu küssen. "Wir stehen dir bei." <---oo---> Ken hätte Ichi durchaus zwecks Rekonvaleszenz länger schlafen lassen, doch die Wirkung der Schmerztabletten verging. So leistete ihm Ichi mit blassem Gesicht Gesellschaft. Pearl nistete sich auf seinem Schoß ein, sorgte auf ihre Weise für ein wenig Entspannung. "Du hast vor, für mich einzuspringen und zwei Schichten zu schieben." Stellte Ichi in den Raum, eher angestrengt als grimmig wirkend. Die Katzenohren spitzten sich, weil ein Streit in der Luft zu liegen schien. Ken kraulte Pearls Pelz sanft. "Ich glaube, es wäre gut, wenn du mich begleitest. Du musst dich ausruhen. Wir sollten regelmäßig den Verband wechseln. Unter dem Einfluss der Schmerztabletten will ich dich auch nicht hier allein lassen. Was hältst du davon?" Ichi fauchte ohne Nachdruck, seufzte. "Ein besseres Angebot bekomme ich wohl nicht." Grummelte er leise. "Zumindest ein bisschen nützlich kann ich mich machen." Lächelnd beugte Ken sich hinüber, küsste Ichis Lippen zärtlich. "Danke." "Du bist ein komischer Kauz und verflixt durchtrieben!" Brummte Ichi. Grinsend begann Ken aufzuräumen. "Glücklicherweise magst du mich." Ichi seufzte, ließ Pearl herunter. "Und ich kann nicht behaupten, dass ich dauernd unter Drogeneinfluss stehe!" So viel Selbstironie am frühen Morgen ließ Ken in munteres Gelächter ausbrechen. Ichis Lebensgeister fanden sich wie erhofft wieder ein! <---oo---> Mit Sonnencreme einbalsamiert, um eine "Fettschicht" zu improvisieren, die Ichi mit seiner mageren Gestalt nicht vorweisen konnte, ließ es sich einigermaßen aushalten in mehreren T-Shirt-Lagen und einer Hemdbluse unter dem Steppmantel. Ken baute demonstrativ den Faltstuhl im Waschsalon etwas abseits der Laufwege auf, deponierte in Reichweite Tee und Tabletten. Brummend schickte sich Ichi drein, konzentrierte sich auf die Überlegungen, wie man das Warenmodul umfunktionieren konnte, um mit Prognosen freie Kapazitäten bzw. deren Mangel an die Webseite zu übertragen. Außerdem konnte er mit dem rechten Arm immer noch Rechnungen erstellen und kassieren! Zwischen Laden und Waschsalon wechselnd übernahm Ken geübt die schweren Arbeiten, achtete auf die Aushilfen, die das Lager bestücken sollten und einfache Aufgaben erledigten. Wie erwartet fand sich auch sein Großonkel ein, um im Laden auszuhelfen, dabei die Belegschaft auf Trab zu halten, die selten ihren "Chef" an der Frontlinie erlebten. "Wechseln wir uns ab." Schlug Ken am frühen Nachmittag vor. Sie mussten ja auch im Hausfrauen-Imbiss Flagge und Zähne zeigen, merklich unterstützt vom hohlen Gefühl in der Magengrube. Ichi übernahm den ersten Marsch, kehrte etwas ermattet zurück, weniger einem "Suppenkoma" geschuldet als der geballten Aufmerksamkeit und der erneuten Behandlung seines linken Arms vor Publikum. "Sie haben dir wohl keine Bentos mitgegeben, hm?" Schmunzelte Ken, platzierte seinen Zahnstocher hinter ein Ohr. Grummelnd antwortete ihm Ichi. "Ich bin invalide und darf nichts heben. Wenigstens hat niemand versucht, mich wie ein Baby zu füttern." "Du schlägst dich sehr tapfer." Bescheinigte Ken ihm grinsend, wich einem halbherzigen Knuff geschmeidig aus. "Ich ziehe mal los. Wahrscheinlich wird es jetzt voll, ist ja deine reguläre Schicht. Ich beeile mich." Ichi knurrte halblaut etwas, das nach "bin doch nicht aus Zucker!" klang, rückte den Faltstuhl nun viel näher an den Tresen. Wenn SEINE Schicht begann, wollte er wenigstens nicht am Katzentisch präsidieren! <---oo---> Ken registrierte eine zitronige Miene bei Ichi, als er sich gestärkt wieder in den Waschsalon aufmachte, beladen mit den Bento-Boxen fürs Frühstück und einigen Besorgungen. "Da war ein junger Mann mit Krücken und zwei Kinder, die das hier abgegeben haben." Ichi platzierte demonstrativ eine Flasche mit Massageöl auf dem Arbeitstisch. "Ah, wunderbar!" Ken studierte auch artig die Rückseite eines Flugblatts, das Ichi nutzte, um sich Notizen zu machen. Dort fanden sich die letzten Aufwendungen, auch für die Yukata, die Zitronenlimonade, die Tabletten... Ichi blieb äußerst penibel, was die pekuniäre Lage betraf. "Die nächsten Aufwendungen werden von meinem Salär beglichen!" Knurrte er entsprechend grantig, da sich SEIN Anteil an der Deckung der Außenstände gerade sehr bescheiden ausnahm. Ken ersparte sich Kommentare zu Ichis verdrossener Verlegenheit. "Ich schließe alles im Lager ein, in Ordnung? Sehr niedliche Zöpfe übrigens." Bemerkte er nonchalant, platzierte die Flasche neben die Boxen. Ichi schnaubte. "Was blieb mir übrig, als 'Haarmodel'?! Die Kleine wollte nun mal hier warten, während ihre Brüder sich die Seilzüge im Laden anschauen!" Abgesehen davon schmerzte sein linker Arm verspannt durchaus noch, sodass er auf jede Aktion verzichtete, die für eine aufsehenerregende Frisur beide Hände benötigte! Seine persönliche Eitelkeit würde es eben ertragen müssen, dass ihm an den Schädelseiten wie Hasenohren dicke Strähnen in zwei Schlaufen eingebunden waren! <---oo---> Sich die Schläfen reibend beugte sich Ichi über die Aufstellungen, starrte auf den Bildschirm des Klapprechners, der die Kommunikation mit dem Kassenmodul übernehmen sollte und seufzte. Laut digitalem Handbuch sollte das alles problemlos funktionieren. In der Praxis wurde es bereits kritisch, wenn er das Kassenmodul zur Kooperation nötigen wollte, auch noch wie ein "Warenlager" zu funktionieren. "Morgen ist auch noch ein Tag." Bediente Ken sich bei Plattitüden, schlang Ichi einen Arm um die magere Taille, küsste ihn neckend. "Das stimmt mich euphorisch." Knurrte Ichi ironisch, versuchte, seinen Notizblock zu haschen. Mit einer eleganten Drehung konterte Ken dieses Unterfangen, leckte Ichi ungeniert über die zum Protest geöffneten Lippen. "Hmmm, mein Anflausch-Bedürfnis wächst wirklich rapide!" Scherzte er, verstärkte seine Bemühungen, Ichi mit leidenschaftlichen Küssen aus dem Arbeitsmodus zu entführen. Der lehnte sich in die Umarmung, murmelte außer Atem. "Sabotage." Schmunzelnd platzierte Ken Küsse auf die bleiche Schläfe, raunte in Ichis rechtes Ohr. "Gut Ding will Weile haben." Die tiefschwarzen Augen rollend brummte Ichi enerviert. "Gab's heute Kalendersprüche umsonst?!" "Knebel mich doch!" Zwinkerte Ken herausfordernd, beabsichtigte keineswegs, das kontaktfreudige Flirten auszusetzen. "Komischer Kauz!" Wiederholte Ichi tadelnd, legte dann jedoch die schmale Rechte auf Kens Wange, demonstrierte ihm, was er in petto hatte, um diesen notorischen Anflauscher mal in Luftnot zu bringen! <---oo---> Drei Tage später bestand Ichi darauf, wieder regulär im Schichtdienst zu arbeiten. Dank der ausgiebigen Massagen und der sichtbaren Verbesserung seiner verbrühten Hautpartie fühlte er sich absolut im Stande, alle körperlichen Anforderungen zu erfüllen! Ken konnte diese energische Ansage nicht kontern, obwohl er die letzten drei Tage durchaus exploriert hatte, wie intensiv und engagiert er ihren körperlichen Austausch betreiben durfte. Eigentlich hatte er sich selbst bis dato als recht lässig in Sachen Anhänglichkeit eingestuft. Bei Ichi schien sich seine nonchalante Natur einfach nicht durchsetzen zu können: er WOLLTE allzu häufig die magere Gestalt umarmen, Ichi Küsse abschmeicheln, über die bleiche Haut streicheln und die imposante Mähne durch die eigenen Finger gleiten lassen! Ein Gewöhnungseffekt hatte sich zumindest noch nicht eingestellt. Ken ahnte, dass er Ichis Geduld strapazierte. Möglicherweise gewährte der ihm noch Pardon, weil er annahm, dass ein "komischer Kauz" offenbar auch unersättlich taktophil war? Ken nistete sich mit dem Klapprechner und seinem Mittagessen im Lager ein. Es war Sonntag, der Hausfrauen-Imbiss somit geschlossen. Eigentlich hätte er nun "Freizeit" haben müssen. Die wäre jedoch ohne Wert, da er neugierig war, ob es ihm nun doch gelang, das mühselig eintrainierte "Warenumschlag"-Manöver, das sie für jede noch nicht abgerechnete Dienstleistung programmiert hatten, vom "Kassenmodul" auf den Internetauftritt des Waschsalons zu übertragen. Recht knifflig, da Anwendungen genutzt werden sollten, die für ganz andere Zwecke gedacht waren! Kurz nachdem er seine Bento-Box geleert hatte, auf "Hoppla"-Suche gehen wollte, weil sich eben NICHTS tat, folgerichtig irgendwo ein Fehler schon den Start verhinderte, stürzte einer der Studenten, die für zwei Stunden die einfachen Arbeiten im Laden übernehmen sollten, ins Lager. "Entschuldigung, aber da hat sich was im Lauf verklemmt..." Ken schloss den Klapprechner, schnürte geschmeidig in den Laden. HIER konnte er wenigstens Erfolge verbuchen, wenn sich die Fehlersuche als deprimierend langwierig und frustrierend erwies! <---oo---> Ichi rotierte im Waschsalon. Sonntags herrschte Hochbetrieb der anderen Art, gerade weil viele Berufstätige frei hatten. Da sah man sich in den eigenen vier Wänden um und stellte fest, dass dieses oder jenes ja doch mal gewaschen werden könnte, Vorhänge, Überwürfe, Zierkissenbezüge, aber auch besondere Kleidungsstücke. Virtuos mit den Waschautomaten und den Trocknungseinrichtungen orchestrierend bewältigte Ichi den Andrang, noch ohne Unterstützung durch die geplante virtuelle "Belagerungsampel". Im Laden auszuhelfen war für ihn gar nicht möglich. Selbst "biologische Pausen" mussten geschickt abgestimmt werden. Ichi blickte von seiner Bügelarbeit auf, als seltsame Geräusche den Eintritt in den Waschsalon begleiteten. Sie schienen leicht gedämpft, jedoch in höchster Aufregung aus der Handtasche einer älteren Frau zu entweichen, die unbeirrt auf ihn zuhielt. "Du bist dieses Haarmodel, oder?" Wurde er ohne Präliminarien adressiert. "Willkommen. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass Tiere hier nicht erlaubt sind." Sicherheitshalber bockte Ichi das Dampfbügeleisen an der Station auf. "Bei mir handelt es sich doch nicht um Kundschaft!" Empörte sich sein streitbarer Gegenüber. "Ach du Güte, hast du etwa noch nichts machen lassen?! Und diese kurzen, engen Hosen, da quetscht sich doch alles weg!" Bevor Ichi den aufkeimenden Verdacht bestätigen lassen konnte, was sich gar nicht einfach ausnehmen würde, weil das mutmaßliche Tier in der Handtasche lautstark randalierte und kaum zu übertönen war, schoss Ken durch die Tür. "Ja, Mutter, was für eine Überraschung, aber du hörst ja, dass Chichi sich gar nicht wohlfühlt, deshalb bringe ich dich gleich zur Tür!" Sprudelte er bestrebt heraus, seine Mutter samt tobender Handtasche um 180 Grad zu rotieren, nachdrücklich Richtung Ausgang zu schieben. "Ich muss schon sagen, du könntest mit deiner kindischen Trotzhaltung ENDLICH aufhören! Ich will gar nicht WISSEN, was das soll, völlig flach und unten alles eingeklemmt...!!" Hinter ihnen schloss sich die Tür. <---oo---> Ken atmete tief durch, erleichtert, dass er zufällig nach der gelungenen Reparatur im Laden einen Blick auf die Video-Schalte geworfen hatte. Trotzdem gab es kein Vertun: er musste sich Ichi stellen. Angesichts der abgezirkelten Bewegungen, mit denen in Rekordgeschwindigkeit gebügelt wurde, ahnte Ken, den Zahnstocher sicherheitshalber hinter ein Ohr verbannt, dass er vulkanische Eruptionen zu erwarten hatte. "Entschuldige, Ichi..." Setzte er tapfer an. Das Dampfbügeleisen parkte vernehmlich, da sehr schwungvoll, in der Station. "Zu deiner Information: ich habe NICHT die Absicht, mich operieren zu lassen oder Hormone zu nehmen!" Fauchte Ichi aufgebracht, die tiefschwarzen Augen empört funkelnd. "Und es ist auch alles funktionstüchtig, trotz Hotpants, habe ich meiner Mutter versichert." Wagte Ken einen tollkühnen Ausbruch aus der eigentlich angezeigten Verteidigungshaltung. Prompt ballte Ichi die Fäuste. "Wie BITTE?!" Er wusste, dass Ken ihn versöhnlich stimmen wollte, auf humorvolle Art diesem unerfreulichen Zusammentreffen eine lächerliche Note verleihen, sodass man diese Episode getrost aus dem Gedächtnis streichen könnte. Allerdings kochte in Ichi die Rage hoch. "Mir kannst du es doch verraten: du bist adoptiert worden, oder?!" Schmunzelnd streckte Ken die Hände aus. "Nur aus der Art geschlagen." Zornig verweigerte Ichi die Geste. "Dann setze ich dich in Kenntnis, dass ich nicht katzbuckeln werde, vor niemandem!" Er schnappte sich das Dampfbügeleisen, fauchte abschließend. "Ich habe zu arbeiten! Immerhin kommt heute noch jede Menge tatsächliche KUNDSCHAFT!" Ein taktischer Rückzug zur Beruhigung des aufgewühlten Gemüts schien da angebracht. <---oo---> "Oh, du hier?" Ken blickte auf, als sein Großonkel in das Lager trat, in einem Trolley Ersatzmaterial transportierte. Sein unvergleichliches Seilzug-Lager-und Transportsystem benötigte eine stetige Wartung, vor allem, bevor es zu Stockungen kam. "Ich habe eine Rolle ausgetauscht, dann lief es wieder rund." Berichtete Ken, erhob sich, um zu helfen, in der Annahme, sein Großonkel sei über die kurze Unterbrechung informiert worden. "Wenn du an diesem Skript bastelst, warum nicht bei Ichi?" Gemeinsam füllten sie die Ersatzteilschubladen auf. Diese Frage signalisierte Ken unzweideutig, dass er nicht sonderlich subtil mit seinem Bedürfnis nach Ichis Nähe gewesen sein musste, wenn selbst sein Großonkel annahm, er würde Ichis Gesellschaft gar nicht mehr entbehren können, deshalb auch in seiner Freizeit Anlässe finden, sich im Waschsalon zu tummeln. Er räusperte sich. "Meine Mutter hat bei ihrer überraschenden Stippvisite vorhin in dem ihr eigenen Takt Ichi ihre Ansichten kundgetan." "Oha." Kommentierte sein Großonkel knapp. Offenkundig hielt er auch eine Auszeit unter diesen Vorzeichen für angeraten. "Beherbergt sie noch immer diese lärmende Kreatur in ihrer Handtasche?" Erkundigte er sich argwöhnisch. Schmunzelnd ließ Ken den Zahnstocher in den anderen Mundwinkel wandern. "Chichi hat es im Waschsalon nicht gefallen, deshalb konnte ich beide recht flott ausquartieren." Zudem hatte ihn das misstönende Spektakel schneller als jede Sirene auf den Plan gerufen. Mit Entschiedenheit verschloss sein Großonkel die letzte Lade, wandte sich ihm ernst zu. "Deine Mutter, mein lieber Junge, ist eine SEHR seltsame Person." <---oo---> Selbstverständlich hätte Ken sich auch in ihr trautes Heim aufmachen können, doch er registrierte bei sich, dass er WIRKLICH das Bedürfnis hatte, in Ichis Gegenwart zu bleiben. Selbst wenn das aktuell hieß, im Lager das Skript mühsam auszuknobeln und die Zeit abschätzen, bis die anstrengende Arbeit Ichis aus Zorn gespeiste Energie auf ein ziviles Level reduziert hatte. Außerdem war Ken davon überzeugt, dass er ohnehin nur über die verschachtelten Bedingungen grübeln würde, um einem Programmablauf beizubringen, was Menschen mit Erfahrung und etwas Übung leicht fiel. Andererseits hatte die Herausforderung, sich virtuell ein wenig "Beinfreiheit" zu verschaffen, ihn gelockt. Mit einigen Beispielmustern sollte sich Schritt für Schritt schließlich die Qualität der Ergebnisse steigern lassen! Kurz vor Ladenschluss beendete er seine Trockenübungen mit Simulationen und half, den Tagesabschluss im Laden zu fertigen, bevor er selbst abschloss, die Aushilfe in den Feierabend verabschiedete. Selbstredend rotierte Ichi noch im Waschsalon, als er diesen betrat. Letzte Abholungen für die erste Schicht wurden zusammengestellt, die Rechnungen konfektioniert, alle Geräte kontrolliert, kurz durchgefeudelt, bevor Ichi ihm einen strengen Blick gönnte. "Ich bin auf dem richtigen Pfad." Zwinkerte Ken, lupfte den deaktivierten Klapprechner demonstrativ. "Wenn du das Fahrrad aus dem Lager holst, bin ich gleich bei dir." Wurde ihm beschieden. Man konnte diese distanzierte Ansage als Zeichen deuten, dass eine friedliche Aussprache möglich war. Ken machte kehrt, um im Lager das Fahrrad zu beladen, ihre Fahrradhelme aus den Spinden gegen den Klapprechner zu tauschen. Ichi schlüpfte zu ihm, streifte sich das Polo-Shirt ab und wickelte sich in seinen Steppmantel. Er schloss das Lager hinter ihnen ab, schlug ihren Heimweg ein. Den schweren Drahtesel schiebend folgte Ken ihm, was sich ohne größeren Gegenverkehr auf dem Trottoir gut bewerkstelligen ließ. An der nächsten Kreuzung blieb Ichi stehen, kehrte ihm den Kopf zu. "Es tut mir leid. Ich hätte so etwas nicht sagen sollen." Seiner straffen Haltung konnte Ken entnehmen, dass er mit sich rang, schwankend zwischen als gerecht empfundener Empörung über die unleidliche Situation und der Einsicht, dass niederträchtige Bemerkungen vor allem ihn selbst beschämten. "Die Hypothese habe ich schon öfter gehört." Zwinkerte Ken, der mit Humor Ichis gezwungene Korrektheit zu überwinden suchte. "Allerdings sprechen Äußerlichkeiten dagegen. Obwohl einige Familienmitglieder sich wünschen, ich wäre ein Wechselbalg." Ichi starrte ihn finster an. "Wegen dieser 'kindischen Trotzhaltung'?" Grinsend rotierte Ken den Zahnstocher. "Das ist die Auffassung meiner Mutter. Meine ältere Schwester und einige andere neigen hingegen der Überzeugung zu, dass ich aus egomanischer Verkommenheit meinen gesellschaftlichen Verpflichtungen ausweiche, fortwährend den guten Namen der Familie im unvorteilhaften Gerede halte, während wenige wie mein Vater bloß ihre Ruhe haben wollen." Die tiefschwarzen Augen funkelten finster. "Wie GENAU äußerst sich diese 'Verkommenheit' denn?" "Hmm." Ken schlenderte auf gleicher Höhe neben Ichi. "Ich hatte und habe grundsätzlich suspekte, somit falsche Freunde, pflege lose Sitten, bin unangemessen aufgeschlossen gegenüber unmoralischer Zügellosigkeit, zeige keinerlei Respekt vor den Grundsätzen eines verantwortungsvollen Lebens eines Erwachsenen und bin hoffnungslos ohne jeden Ehrgeiz." Er grübelte einen Augenblick, bevor er abschloss. "Das wären wohl die Hauptkritikpunkte. Meine Mutter glaubt, ich sei bloß in einer pubertären Trotzphase hängengeblieben." "Und wie stellst du all diese empörenden Dinge an?" Knurrte Ichi, warf sogar die Kapuze zurück, um seine finstere Miene zu offenbaren. "Gar nicht so einfach, sollte man meinen." Zwinkerte Ken. "Das Ausziehen in die Werkstatt mit der eher rustikalen Ausstattung hat schon mal geholfen. Dazu habe ich noch nicht gerade stromlininenförmige Freunde und Bekannte, mit denen ich auch experimentierfreudig auf beziehungsweise unter die Tuchfühlung gegangen bin. Ich wollte trotz bescheinigtem Talent nicht in die Baseball-Mannschaft, bin keiner AG beigetreten, weil mir meine Frisur wichtiger war und ich Glätteisen kategorisch abgelehnt habe. Es hat mich nicht gestört, dass meine Mutter deshalb keine Paukschule finanziert hat und ich habe den Test für die Uni hier bestanden, mich aber nicht zum Studium eingeschrieben, sondern bei meinem Großonkel gearbeitet und bin meinen Grillen gefolgt, um unnütze Lizenzen zu erwerben." Ken bemerkte, dass Ichi angesichts dieser Aufzählung von Missetaten kurz die Kinnlade absackte. "Ich habe meinen eigenen Kompass und meinen eigenen Kurs." Lächelte er versöhnlich. "Das ist die Konstante, die sich bei mir nie verändert hat." Einige Schritte herrschte eine gespannte Stille zwischen ihnen, bevor Ichi das Wort ergriff. "Die Leute hier mögen dich." "Einige." Korrigierte Ken gelassen. "Die meisten sind schlicht an mich gewöhnt, weil ich ja schon seit Jahren im Laden helfe. Mir kommt auch zugute, dass es hier wenig junge Menschen gibt, von den studierenden Aushilfen mal abgesehen. Die eigenen Kinder und Enkel wohnen oft weiter weg oder sind viel zu eingespannt in das eigene Leben, um häufiger zu Besuch zu kommen. Apropos, du musst jetzt nicht damit rechnen, dass überraschend noch mehr Verwandtschaft von meiner Seite auf der Matte steht. Meine Schwester lebt mit ihrer Familie weit genug weg und mein Vater hat kein Interesse. Meine Mutter ist vermutlich bloß aufgetaucht, weil sie das Gerücht über unsere Verlobung aufgeschnappt hat." Damit lupfte er sein Handgelenk, um das sich das Schmuckband aus dem Schrein wand. "Gerücht?" Echote Ichi mit aufgestelltem Fell. Lächelnd nutzte Ken eine Rotphase an der Ampel, um den Zahnstocher zu exilieren, hinter ein Ohr zu klemmen. "Für sie ein Gerücht, weil ich es a) noch nie ernst gemeint habe, b) offenbar voreilig bin und c) sie ganz gewiss nicht ihre Zustimmung geben wird, wenn man sie nicht vorab um Billigung gebeten hat." "Wenn sie hofft, dass ich mir Titten und eine Muschi zulege, ist sie auf dem Holzweg!" Grantelte Ichi giftig. "Vermutlich müsstest du auch die Hotpants aufgeben." Neckte Ken feixend, erntete das erwartete Fauchen. "Sie hat mich allerdings auch ermahnt, immerhin gehe ich ja auf das gesetztere Alter zu, da müsse endlich mal eine seriöse Frisur her und der Zahnstocher weg, eine halbwegs anständige Anstellung und Anzüge statt meines Räuberzivils." Ichi knurrte. "Ist ihr nicht klar, dass du ihre Anweisungen in den Wind schlagen wirst?!" Ken schmunzelte. "Ich wäre ein sehr ungezogener Sohn, wenn ich einmal täte, was sie verlangt und ihr damit die Chance raube, sich lautstark, zumindest, soweit sie Chichi übertönen kann, in der gesamten Nachbarschaft über mich zu beklagen." Den Kopf schüttelnd marschierte Ichi etwas schneller, um ihnen den Weg zu bahnen, bis wieder weniger Personen ihren Pfad kreuzten. "Hast du es noch nie ernst gemeint?" Erkundigte er sich schließlich, etwas ärgerlich über die eigene Neugierde. "Ich hatte keine feste Beziehung, bevor ich dir begegnet bin." Illustrierte Ken amüsiert das Tableau. "Auch wenn ich ganz sicher kein Kind von Traurigkeit war, allerdings sehr viel weniger orgiastisch als manche kolportieren." Nachdenklich kontemplierte Ichi diesen Ausflug in die Historie, bevor er mit einem Nicken des spitzen Kinns Kens Tolle ausdeutete. "Was stimmt mit deiner Frisur denn nicht?" "Schulvorschriften." Antwortete Ken bereitwillig. "Zu krause Haare, dazu noch eine Demonstration der Eitelkeit und Wichtigmacherei, gefährlich subversive Tendenzen und ein erbärmlicher Hang zur Coolness." Er zwinkerte. "Rock'n' Roll quasi. Tatsächlich mag ich meine Tolle, finde mich damit sowohl lässig als auch chic. All die Verweise und Abmahnungen haben mich nie gejuckt." "Rechts rein, links raus!" Mutmaßte Ichi bissig, der die gleiche Taktik wie bei der Mutter identifizierte. Ken grinste breit. Er ließ auch die Gesprächspause gelassen Raum einnehmen. Ichi sollte ruhig Gelegenheit haben, sich sein eigenes Bild zu machen. Dass das Etikett "komischer Kauz" ihm entzogen würde, befürchtete er nicht. "Sag mal, wie lange hast du eigentlich geraucht?" Unterbrach Ichi ihr gemeinschaftliches Schweigen argwöhnisch. Immerhin diente ja der obligatorische Zahnstocher der Entwöhnung. Wenn man die Erklärung gelten ließ. "Hmm." Ken grübelte. "Ungefähr eine halbe Zigarette lang. Dann war mir kotzübel und ich fand mich nicht sonderlich cool." Ichi schnaubte hörbar, funkelte ihn grimmig an. "Du bist SO EIN komischer Kauz!" Ken brach in Gelächter aus. <---oo---> Tatsächlich unternahm Ichi keine Anstrengungen, auf das Radfahren mit Sozius umzusatteln, was Ken sich langmütig gefallen ließ. Er vermutete nicht zu unrecht, dass Ichi auszuknobeln versuchte, wie sich sein Alltag während der Schulzeit abgespielt hatte. Ken nahm seiner Familie nicht übel, dass sie mit seiner Einstellung nichts (außer erheblicher Kritik) anzufangen wusste und empört registrierten, dass er ihre Auffassungen zur Kenntnis nahm, jedoch keinerlei Anstalten unternahm, sich den Forderungen zu beugen. Vielleicht verhielt es sich wirklich so, dass er auf ihre Anerkennung keinen gestiegenen Wert legte, das eigene Spiegelbild zum Maß machte, das sein Verhalten regulierte. Zudem, das stimmte ihn stets zuversichtlich, es Menschen gab, die ihn mochten, die seine Vorstellungen teilten. Auf den letzten Metern ihres schweigsamen Marsches nach Hause erwischte sie eine niederträchtige Gewitterwolke, sodass ein forcierter Galopp erforderlich wurde. Unter dem Container trocken wartete Pearl bereits, die energisch, jedoch weniger tadelnd als nachsichtig ihre Meinung darüber kundtat, dass sie sich verspätet hatten. Ichi ging sofort in die Hocke, liebkoste die kleine Katze, überprüfte, ob sie auch bloß keinen Mangel gelitten hatte. "Leg du dich zuerst trocken, ich kümmere mich um Pearl." Beschied er Ken, der gelassen ihren Drahtesel anleinte, den Ballast im kleinen Container verstaute. Als Ichi die Wendeltreppe hochkam, hatte er sich bereits umgezogen, ihr Badevorleger-Lager gerichtet und die Illuminierung reduziert. Ichi wechselte in den "Schlafanzug-Modus", bestehend aus mehreren T-Shirts übereinander und einer verfilzten Samthose, ließ sich neben ihm nieder. Ken ergriff die Gelegenheit, mit den Einzelteilen der ehemaligen Haarklammer durch die schweren, glatten Strähnen zu fahren. "Hör mal." Ichi wandte sich herum, blickte ihn konzentriert an. "Du bist ein komischer Kauz, ja, aber aus genau den richtigen Gründen." Das entlockte Ken ein Glucksen. "Außerdem finde ich es grässlich, mit dich mit Glätteisen und Topffrisur vorzustellen!" Demonstrativ schauderte Ichi merklich, während er Kens Tolle ein wenig zauste. "Danke sehr." Verneigte sich Ken lächelnd, beugte sich vor, um Ichi zärtlich auf die Lippen zu küssen. Der schlang ihm die dünnen Arme um den Nacken, wisperte. "Und du bist verflixt cool!" »Nicht nur das!« Schmunzelte Ken, der weitere Explorationen unter die Decke und die jeweilige Schlafbekleidung verlegte. »Außerdem noch verdammt glücklich!« <---oo---> Die Skripte funktionierten tatsächlich, halfen, den Andrang zu kanalisieren. Das wurde durchaus nötig, denn in großen Schritten näherte sich das Jahresende, also freie Tage, "Völkerwanderungen" zur Verwandtschaft und diverse Feierlichkeiten. Alles musste vorbereitet werden, die Vorräte aufgestockt, aber auch Geschenke besorgt, die feine Garderobe gereinigt, die eigenen vier Wände herausgeputzt. Zudem hatten sich gewisse Traditionen aus Übersee eingebürgert, die dem Absatz helfen sollten, aber auch als (recht wirkungslose) Maßnahme gegen die schrumpfende Bevölkerungsanzahl: Weihnachten, vielmehr X-mas, ein romantisches Fest für Pärchen! Festliche Dekorationen und bunte Lichter waren überall beliebt, vor allem, wo sich die Jahreszeit unwirtlich und düster zeigte. Diese letzte Woche zeichnete sich somit durch ein gerüttelt Maß an Arbeitsdruck aus. Selbst Ichi, der darauf bestand, in seiner "Freizeit" für die Prüfungen zu pauken, musste Federn lassen. Glücklicherweise erkannte Pearl treffsicher Kuschelbedürfnisse, warf ihren imposanten Schnurrmotor an, brachte die Dinge wieder ins richtige Lot. Für Ken hingegen zahlte sich die Beschaffung des Massageöls aus, da er im Gefolge zu Schmuse-Einheiten oder einem kompletten "Workout" auf dem Badevorleger-Lager kam. Für ihn gab es nicht den geringsten Zweifel, dass er Ichi liebte und brauchte. Bemerkenswerter Weise verabschiedete er seinen Zahnstocher, sobald er nicht mehr im Laden oder Lager arbeitete. Ichi spontan küssen zu können erledigte rasch alte Gewohnheiten. "Das war schon recht gut." Bemerkte Ichi beim Frühstück, auch wenn das verquirlte Ei über ihrer Nudelsuppe nicht gerade fotogen wirkte. Ken schüttelte sein Handgelenk. Ichis geschmeidige Sicherheit wollte sich bei ihm einfach nicht einstellen! "Den Dreh habe ich noch nicht raus, leider." Er wollte sich nicht lumpen lassen, wenn Ichi so tapfer für die Prüfungen lernte. Sie hatten schließlich eine Vereinbarung getroffen! Ichi küsste ihn tröstend auf die Wange. "Übung macht den Meister. Wenn du dir mittags was machst, kannst du es mit dem letzten Ei noch mal versuchen. Ich kümmere mich um den Rest, wenn ich zu Hause bin." Einige Vorkehrungen hatten sie schon getroffen, da an diesem Sonntag der Hausfrauen-Imbiss gewohnt geschlossen war, in der folgenden Woche vor Neujahr lediglich reduziert ein Angebot offeriert wurde. "Jetzt muss ich aber los." Stellte Ichi fest, bückte sich, da Pearl noch mal geherzt werden wollte, bevor sie in ihrem Revier Hof hielt. Auch Ken bekam einen Kuss. Ichi stemmte sich warm verpuppt auf dem schweren Drahtesel in der Dunkelheit gegen aufdringlichen Wind mit Sprühregen. Ken spülte das Frühstücksgeschirr, entdeckte hinter den Katzenfutterdosen eine Schmucktüte mit Süßigkeiten. Er lächelte verschmitzt. <---oo---> "Die Masse ist durch!" Ichi wischte sich eine entflohene Strähne aus dem Gesicht, wirkte angestrengt. "Ein Glück, dass die Festivitäten früher beginnen. Da muss auch zeitig alles hergerichtet, man selbst herausgeputzt sein." Er ächzte. "Ich brauche eine Dusche, Sparsamkeit in allen Ehren!" Ken umschlang die mageren Hüften rasch, küsste Ichi voller Elan, kam einem Tadel zuvor. "Nimm das Rad, ja? An Heiligabend ist so viel los, da bekomme ich schon ein Leihrad." Nicht zu unwahrscheinlich, zumindest beim Bahnhof und dem dortigen Einkaufsviertel, wo sich auch viele Restaurants befanden. Etwas widerwillig nahm Ichi die Offerte an. "Melde dich aber, sollte es Schwierigkeiten geben, ja?" "Versprochen!" Nickte Ken eifrig. Jetzt hieß es, an drei Orten zugleich wirbeln, ohne die Übersicht zu verlieren! <---oo---> Ichi hatte in ihrer winzigen Küche für die spartanische Zeit ohne Hausfrauen-Imbiss Vorsorge getroffen, mit Pearl Katzenfußball gespielt, liebkoste nun das buntscheckige Fell, während Pearl auf seinem Schoß döste, kein gesteigertes Interesse an doppelter Buchführung und Jahresabschlüssen bewies. Das Mobiltelefon, zur Sicherheit in Reichweite, denn eigentlich rechnete Ichi mit einem Notruf aufgrund Andrang und Zeitdruck, gab einen sanften Ton von sich, der an Klangschalen erinnerte. Der animierte Avatar der Reisgottheit, Inari, verneigte sich sehr herausgeputzt, trällerte munter, man sei eingeladen, ein festliches Dinner für zwei, bitte der Route zu folgen! Pearl gähnte demonstrativ, da sie das bunte Viereck als wenig faszinierend einstufte, keineswegs der Auffassung war, es bedürfe besonderer Beachtung. Ichi hingegen gluckste, kraulte Pearl zwischen den feinen Katzenöhrchen. "Er hat also doch was ausgeheckt!" Er entschuldigte sich bei Pearl, um rasch die eigene Erscheinung aufzupolieren, das Rad mit seiner Schmucktüte auszurüsten und zum Laden aufzubrechen! <---oo---> Ken wartete vor dem Laden, lächelte, als er das kaum zu übersehende Fahrrad erblickte. Der Ladenschluss war über eine halbe Stunde verstrichen. Die kleine Einkaufsmeile ruhte nicht vollends, weil es ja Sonntagabend war und nicht nur Heiligabend (oder X-mas) für Pärchen. Er nahm das Fahrrad zu Ichis gelinder Überraschung in Empfang, vertäute es, half Ichi galant aus dem Steppmantel und geleitete ihn durch die pneumatischen Türen, wo sich die misstönende Katze einmal mehr verausgabte. Er schloss ab, damit niemand auf die Idee käme, noch etwas kaufen zu wollen. Gedämpftes Licht wies den Weg zwischen den ruhenden Hochregalen. Kein Seilzug schnurrte. Auf dem Tresen hatte er ein kleines Menü aufgebaut und zwei Faltstühle disponiert. "Wirklich sehr hübsch!" Lobte Ichi, der das bemerkenswerte Wollkleid trug, sich (dem Fahrradhelm geschuldet) die schweren, seidigen Strähnen zu einem französischen Zopf gebunden hatte. "Das Kompliment gebe ich gern zurück." Zwinkerte Ken, dem dieser Anblick sehr zusagte. Er selbst hatte zur Feier des Tages den verfilzten Pullover mit Norweger-Muster übergestreift und eine recht formell wirkende Hose. "Vielen Dank für die Einladung." Ichi überreichte ihm die Schmucktüte mit den Süßigkeiten, studierte interessiert das Menü. "Danke schön." Artig inspizierte Ken den Inhalt der Tüte, um Ichi nicht die Überraschung zu verderben. "Hui, einige von denen habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen!" Da zahlte sich die Expertise von Herrn Uyami aus, der Ichi selbstredend mit größtem Vergnügen beraten hatte! "Hast du das alles selbst gemacht?" Behutsam lupfte Ichi ein Tassen-Törtchen. Ken zwinkerte. "Ich hatte ein wenig Hilfe." Auch, weil ihre spartanische Küchenausrüstung nicht alle technischen Wunderwerke vorhielt, mit denen man Leckereien zaubern konnte. "Augenblick." Er wandte sich ab, angelte das Mobiltelefon, um aus der Distanz Musik abspielen zu lassen. Allerdings keine süßliche Fiedelei oder weichgespülte Klaviermusik, die die Verdauung nicht stören sollte! Die ersten Takte einer Walzermelodie schwebten durch den Laden mit den imposanten Hochregalen. "Darf ich bitten?" Reichte Ken Ichi die Hand. Der lupfte eine dünne Augenbraue, kam der Aufforderung nach. Den Einsatz abpassend zählte Ken die Schritte, eine leichte Drehung... Doch irgendwas funktionierte einfach nicht. Wie war das noch gleich? "So geht das nicht." Stellte Ichi erst fest, um dann auch stehen zu bleiben. Sein forschender Blick suchte in Kens enttäuschter Miene nach einer Bestätigung für die eigene Vermutung. "Du hast doch nicht etwa mit diesen Fußabdrücken auf dem Boden Tanzen gelernt?" Die Musik nahm Schwung auf, während Ken ungewohnt geknickt wirkte. "Ich dachte mir, dass ich mich an die Regeln halte..." Ichi seufzte, fasste Kens Kinn, küsste ihn kurz. "Das ist kein Schaltprogramm, mein süßer Prinz." Er angelte nach dem Mobiltelefon, suchte die Applikation, um erneut der kleinen Anlage den Abspielbefehl von vorne zu erteilen. Ichi schoss aus den tiefschwarzen Augen einen funkelnden Blick auf Ken ab, streckte gebieterisch die Hand aus. "Ich tu' das nur für dich!" Warnte er grimmig. Überrascht und dankbar ergriff Ken die Hand. Sofort schien sich alles zu verändern. Ichi führte ihn so leicht, dass er sich schnell wie in einem Karussell fühlte, passend zur Musik, die ihm so gefallen hatte. Kein Zögern, kein Zählen. In magischer, ja verzaubernder Mühelosigkeit drehten sie sich im Walzertakt! Ken lachte mit wachsender Begeisterung, strahlte Ichi an, hingerissen und euphorisch. Damit jedoch nicht genug, denn auf den Walzer folgte ein anderes Instrumentalstück. Ichi lauschte kurz, um den Takt zu erkennen, den Kopf rechts der Geräuschquelle zugewandt. Er übernahm ohne Zögern und sicher die Führung. Ken konnte nur vermuten, dass es möglicherweise im "Discofox" durch den Laden ging, aber eigentlich spielte das nicht die geringste Rolle. Sobald Ichi den Takt mit dem rechten Ohr identifiziert hatte, dirigierte er ihn mühelos durch ihre körperliche Vertrautheit, mal kreisend, mal einander zugewandt, immer sicher im Kontakt mit einer Hand. Da konnte man gar nicht anders als vor Glück jauchzen und sich einfach mitreißen lassen! <---oo---> "Wir sollten eine Pause einlegen." Stellte Ichi amüsiert fest. Aus dem vermutlich intendierten Walzer war fast eine Dreiviertelstunde ausgedehntes Lachen, Tanzen und Necken geworden. Er konnte gar nicht glauben, wie jungenhaft-losgelöst Ken ihm folgte, strahlend vor Euphorie. Der schickte sich gerade, merklich geknickt, in sein Schicksal, diese frisch entdeckte Leidenschaft pausieren zu müssen. Glücklicherweise vertrugen die Speisen, die er aufgefahren hatte, eine gewisse Wartezeit, ohne an Aroma und Geschmack zu verlieren. Ichi lächelte noch, als er sich ihm gegenüber in den Faltstuhl sinken ließ, Tee eingeschenkt bekam. "Hast du da gerade ein neues Hobby entdeckt?" Neckte er Ken herausfordernd. "Ich fand das schon immer toll!" Sprudelte der heraus, nachdem er Ichi aufmerksam alle Speisen so angerichtet hatte, dass der sich mühelos bedienen konnte. "So akrobatisch muss es für mich gar nicht sein, aber ausgelassen und heiter!" Er seufzte. "Ich hatte schon gehofft, mit den Grundschritten und ein bisschen Koordination klar zu kommen." Sein neugieriger Blick fing Ichi ein, der an seinem Tee nippte. "Meine Mama liebte es zu tanzen." Offenbarte er leise, mit einem wehmütigen Lächeln, das Ken zum ersten Mal sah. "Sie sagte, dass Tanzen sie glücklich mache." Hatte Ichi es deshalb gelernt? Erklärte sich so dessen Bemerkung, er mache nur für ihn eine Ausnahme? Ken wusste von Ichis Mutter lediglich den Namen, den Geburtstag und die traurige Tatsache, dass sie in Ichis achtem Lebensjahr an Leukämie gestorben war. So, wie er von ihr als "Mama" sprach, musste er sie sehr geliebt haben. "Danke." Antwortete Ken sanft, da er mutmaßlich eine Stellung errungen hatte, die für Ichis Mutter reserviert worden war. "Mich macht das Tanzen mit dir auch sehr glücklich." Ichi nickte bloß, schien trocken schlucken zu müssen, möglicherweise den inneren Blick auf Erinnerungen gerichtet. Um ihn ein wenig abzulenken, berichtete Ken von seinen tapferen Versuchen, die Kulinarik, die sich vor ihnen bot, gegenständlich zu meistern. Ähnlich wie Tanzschritte in Büchern fungierten Rezepte auf einer Ebene von Herausforderungen, die man mit seiner mechanischen Expertise doch nicht so einfach erklimmen konnte! So hob er Ichis melancholische Stimmung, goutierte dessen wohlwollenden Spott über die Anekdoten aus der Küche. "Wir sollten langsam den Heimweg antreten." Meinte Ichi schließlich, als Ken mit ihm eine der Süßigkeiten geteilt hatte. Morgen, Montag, wäre wohl Einiges zu tun, auch wenn Inventur vom Großonkel angezeigt worden war und lediglich ein Notbetrieb aufrechterhalten wurde. Ken nickte, beäugte die Uhr, sortierte Geschirr und Reste zusammen. Ichi half, ihr Picknick in eine Tasche zu verstauen. "Ach!" Rief Ken plötzlich. "Wärst du so nett, die Faltstühle ins Lager zu bringen?" Ichi nickte, bereits in seinen Steppmantel gehüllt, verließ den Laden. Eilig zählte Ken halblaut herunter, bevor er sich an Ichis Spur heftete. <---oo---> Kaum war die Tür zum Lager aufgeschlossen, verstrich die letzte Sekunde bis Mitternacht. Prompt tat die Zeitschaltuhr ihren Dienst, illuminierte eine Lichterkette, die inmitten des Lagers ein Fahrrad ausleuchtete. Es war keineswegs so auffällig wie der Drahtesel vor dem Laden, ebenfalls aus zweiter Hand, doch sehr gepflegt, sogar noch den gehäkelten Schonbezug auf dem Sattel aufweisend. Zwei Spiegel am Lenker boten Rundumsicht, die Speichen schmückten kleine Perlen. Im Fahrradkorb vorne letterte ein Ballon "Happy Birthday!" Ichi vergaß, die Faltstühle an der Eingangstür wieder aufzuheben. <---oo---> "Willst du mal probieren, ob Sattel und Lenker auf dich eingestellt sind?" Erkundigte sich Ken sanft, der die Faltstühle wegräumte, Ichis temporäre Erstarrung zur Salzsäule belächelte. "...aber..." Stammelte Ichi, sichtlich getroffen, fast ängstlich, davor scheuend, das Fahrrad auch nur zu berühren. "Richtig, es sieht jetzt nicht so spektakulär aus, ABER daran können wir noch was ändern!" Triezte Ken herausfordernd, zog auch die Lichterkette beiseite. "...wie...?!" Wandte sich Ichi zu ihm um, sodass er eine schmale Hand ergriff, selbst auf den Sattel legte. "Ach, na ja." Zuckte Ken nonchalant mit den Schultern, fühlte sich recht schurkisch. "Ich habe doch damals die eine Nacht bei einem Freund durchgearbeitet, erinnerst du dich? Ich habe also einen Gefallen gut gehabt, er hat eigene Gefallen bei anderen eingelöst, die wiederum weitere Gefallen...und da gab es eben dieses hübsche Rädchen von einer Seniorin, die jetzt auf einen Elektroroller umgestiegen ist, weil die Knie nicht mehr so wollen." Ichi ächzte, tastete mit der anderen Hand nach einem Lenkergriff. "Du könntest eine Proberunde absolvieren." Soufflierte Ken lächelnd, reichte Ichi den Fahrradhelm. Sehr vorsichtig, als könne er dem Geschick nicht trauen, bestünde Gefahr, sein Glück könne jäh wie eine Seifenblase zerplatzen, schob Ichi das Fahrrad auf den Gehweg. Ken deponierte rasch Lichterkette und Zeitschaltuhr, verriegelte das Lager, wartete bei seinem schweren Drahtesel. Er beobachtete, wie Ichi zögerlich einen Fuß vom Boden abstieß, Fahrt aufnahm. Natürlich wirkte der Zauber wieder, die Freiheit, sich flott selbst zu befördern, die Erweiterung der eigenen Möglichkeiten, die Unabhängigkeit von Fahrplänen und kostenpflichtigen Alternativen. "Na, ist es richtig eingestellt?" Erkundigte sich Ken grinsend, als Ichi freudestrahlend zurückkehrte, neben ihm bremste. Der stieg eilig ab, um ihn fest zu umarmen, so eng an sich zu drücken, dass eine gewisse Luftnot entstand. "Danke! Vielen Dank, das ist so...so wunderbar!" Jauchzte Ichi mühsam unterdrückt an seinem Ohr. "Ein eigenes Rad!" "Gern geschehen, Ichi. Alles Gute zu deinem zwanzigsten Geburtstag." Raunte Ken zärtlich. Wie sehr sich Ichi über ein Fahrrad freuen konnte, das war ihm mehr als Belohnung für eine durchgearbeitete Nacht und kaum Schlaf! "Ein bisschen eigennützig ist es schon." Gestand er frech ein. "Wir können Pearl mitnehmen und doch mal schauen, wie nahe wir dem Fuji kommen. Das Phänomen Urlaub ergründen." Ichi lachte, signalisierte deutlich, dass er diesen Hintergedanken als eine Nebelkerze identifiziert hatte, auch wenn Ken durchaus schlüssig argumentierte. Einmal mehr erwies sich der komische Kauz als unschlagbar darin, ihn mitten ins Herz zu treffen! Es einfach unvermeidbar zu gestalten, dass man ihn lieben musste! "Wollen wir heim und Pearl überraschen?" Schlug Ken gerade vor, dippte Ichi einen Kuss auf die Nasenspitze. Ja, ein bisschen der übersprudelnden Freude und Energie abbauen schien eine sehr gute Idee, wenn man nicht vor Begeisterung schier platzen konnte! <---oo---> Ken lächelte, während er Ichi folgte, der sehr geschmeidig mit seinem "neuen" Rad pedalierte, selig wirkte. Zwar würde er es durchaus vermissen, wenn Ichi nicht auf dem Gepäckträger hinter ihm saß, die dünnen Arme um seine Taille legte, sich festhielt und anlehnte, aber diese Art von Egoismus machte sich bei der Spiegelbild-Kontrolle des eigenen Kurses nicht gut! Ihre Beziehung hatte in einer Notlage begonnen, aber er wünschte sich, dass Ichi unabhängig und frei aus eigenem Wunsch mit ihm sein Leben teilte. Zwang und Abhängigkeiten führten nur zu Unglück. Pearl erwartete sie bereits, maunzte aufgeregt, kam Ichi sogar entgegen. Der beugte sich herab, setzte Pearl in den Fahrradkorb neben den kleinen Ballon, drehte eine Runde. Ken, der seinen schweren Drahtesel bereits vertäute und die Reste ihres Picknicks verstaute, fand es äußerst schwierig festzustellen, wer von den beiden ein größeres Vergnügen offenbarte. "Hier, Schloss und Schlüssel." Überreichte er Ichi unverzichtbares Zubehör, pflückte nicht nur Pearl aus dem Fahrradkorb, sondern machte auch den Ballon los, der sie offenbar interessierte. Während Ichi stolz den Schlüssel zu seinem Schlüsselbund mit dem Katzenanhänger fügte, wirkten beide, als trennten sie sich nur sehr widerwillig vom Neuzugang in ihrem Fuhrpark. "Ich weiß nicht, wie ich jetzt schlafen soll, ich bin noch zu aufgedreht!" Murmelte Ichi, als Ken den Ballon für Pearl anband, damit sie ihn ordentlich beuteln konnte, was ihr sehr gefiel. Ken trat hinter Ichi, löste den Reißverschluss des Strickkleids, schlang die Arme um Ichis Taille, raunte in dessen rechtes Ohr. "Da trifft es sich gut, dass ich mit meinem Großonkel vereinbart habe, dass wir erst um zehn Uhr antreten. Vorher müssen wir ja auch beim Schrein vorbei, damit du deine Mama auf den neuesten Stand bringen kannst. Ist ja eine Menge los gewesen." Ichi drehte sich in der Liebkosung, legte die dünnen Arme um Kens Nacken. "Du bist ein komischer Kauz und ein schurkischer Heimlichtuer!" Eröffnete er ihm, die tiefschwarzen Augen funkelnd. "Und ich liebe dich dafür. Ich tanze mit dir, wann immer wir wollen." Ken strahlte, er konnte gar nicht anders. NIEMAND mit funktionierendem Puls hätte bei dieser Offerte cool bleiben können! "Vielen Dank. Ich liebe dich, Ichi, in allem Ernst, über den ich verfüge, und zwar genauso, wie du bist. Lass uns gemeinsam herausfinden, was uns alles glücklich machen kann." Die Stirn an seine legend wisperte Ichi. "Da ich die Badevorleger schon präpariert habe und uns beide so viele Kalorien aufputschen, wie wäre es da mit einem Horizontal-Tango? Du darfst auch führen." Eine Offerte, der Ken selbstredend nicht widerstehen konnte! <---oo---> Einige Stunden später knuffte Pearl den Ballon freundschaftlich, studierte im Zwielicht eines dämmrigen Morgens das Idyll. Ichi und Ken schliefen, einander zugewandt, friedlich und wohlversorgt. Seit sie zusammen lebten, hatte ihr Schicksal sich sehr zum Positiven gewendet, fand Pearl. Da konnte man die tägliche Suche nach Abenteuern auch mal verschieben, noch ein Nickerchen auf dem Lieblingskissen einlegen. Später würde man sie bestimmt einladen, hoch oben über der Straße flink im Korb mit diesen Gefährten befördert zu werden. Das sagte ihr sehr zu und könnte durchaus eine Tradition begründen! Alles in allem erschien ihr das Leben an diesem Morgen herrlich und konnte gern jeden Tag so fortgesetzt werden. Auch mit drei Tatzen und halbem Schwanz konnte man eben das Glück anlocken! <---oo---> Ende <---oo---> Danke fürs Lesen und frohe Feiertage! kimera ^_^