Titel: Morgengabe Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Original Morrison-Serie (siehe Informationen), Teil 2 FSK: ab 16 Kategorie: Phantastik Erstellt: 16.04.2001 Disclaimer: "Voodoo" gehört Chris Isaak; "Hot Stuff" gehört Donna Summers ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ Morgengabe Ich hatte gerade die Beine auf der Spiegelkommode hochgelegt und fuhr vorsichtig mit der Klinge über die Haut. Ich hasste die Torturen der Nassrasur (trocken war noch schlimmer), aber mein ästhetisches Empfinden verlangte diese masochistische Folter. In diesem Moment öffnete sich die Schlafzimmertür, und Morrison trat herein, wie immer eine Symphonie der Nacht. Ein Blauschwarz schimmerndes Chasuble umwehte lässig seine athletische Gestalt, darunter blaue Lederhosen und eine schwarze Samtweste. Jeder andere hätte in dieser Aufmachung lächerlich pompös gewirkt, aber bei Morrison konnte man nur von einer Augenweide sprechen. Er machte es sich unaufgefordert auf meiner Chaiselongue bequem, eine Anschaffung, die ich in einem Anfall von träumerischen Größenwahn bei einem Trödler erstanden hatte. "Hallo Morrison!" Zwitscherte ich mit einem leicht säuerlichem Unterton. Es machte mich von jeher nervös, dass er ohne Hindernis Türen durchschritt und sich nicht mit so kleinbürgerlichen Konventionen wie dem Anklopfen aufhielt. Um ihm nicht die Befriedigung zu verschaffen, sich wie der Nabel des Universums zu fühlen, setzte ich meine Tortur mit grimmiger Miene fort. Morrison und mich verband eine seltsame Beziehung, deren Bedingungen er zweifellos bestimmte. Während ich meine aufgeraute Haut mit Körpermilch versöhnte, erinnerte ich mich an unsere erste Begegnung zurück. ~+~ Freitagabend. Ich zog behutsam den Reißverschluss des kirschroten Cocktail-Kleides zu und kontrollierte den Sitz. »Perfekt!« Ich zwinkerte mir in dem altmodisch mit Goldfarbe bemalten, holzgerahmten Spiegel zu, ein verführerischer Schwung in den langen Wimpern. Das Kleid war neu, ein Volltreffer, wie er sich nur selten ergab. Und über der körperangepassten Corsage saß es geschmeidig eng und doch nicht einengend. Ich steckte eine Perlmuttspange in die Perücke mit den roten Locken und suchte meine Handtasche. Summte freudig vor mich hin, natürlich "Hot Stuff" von Donna Summers. ~+~ Mein Ziel war die Tropic Lounge, eine exklusive Nachtbar in einem der größten Hotels in unserer Stadt. Um für ihre Gäste ein kostenloses Highlight zu bieten und natürlich auch die Tanzbar mit zahlender Kundschaft zu füllen, veranstalteten sie Themenabenden. Und einmal im Monat wurde eben auch unsere kleine, aber sehr intime Gesellschaft eingeladen. Mit leicht wiegendem Gang auf den neuen Wildleder-Pumps stieg ich die drei Stufen in das Allerheiligste hinunter. Mein Gang führte mich wie immer direkt an die weitläufige, diskret ausgeleuchtete Bar, auf der Suche nach bekannten Gesichtern. Aus den intimen Schatten löste sich eine vertraute Gestalt, Berenice. Ich lächelte sie warm an, registrierte ihre sorgfältige Aufmachung und hauchte sanfte Küsse in die Luft. Berenice und ich kannten uns schon eine Weile, sie war oft die einzige Person, mit der man sich auch ernsthaft unterhalten konnte. Wir nahmen nebeneinander Platz und orderten einen Blue Flamingo, der gemütliche Auftakt zu einem hoffentlich vergnüglichen Abend. Berenice strich sich mit einer ruhigen Geste durch die graumelierten Haare im Garcon-Schnitt. Ihre Hände sprachen Bände von ihrem Leben "davor". Als Berenice noch Benedikt war, Kranführer auf den größten Baustellen Europas. Ein breitschultriger Mann mit angenehm starken Gesichtszügen und einem ruhigen, tiefgründigen Blick aus den blaugrünen Augen. Ein besonnener, reservierter Mensch, voller verstecktem Mitgefühl. Um dann vor drei Jahren den letzten Auftrag zu beenden und sich völlig von seinem alten Leben zurückzuziehen. Zwei Jahre lang verwandelte sich Benedikt langsam und mit viel Geduld in Berenice, überstand unzählige Operationen und Durststrecken emotionaler Erschöpfung. Berenice würde niemals ganz den Anschein eines Mannes verlieren, was sie in der Gesellschaft in ein Niemandsland stellte. Nun arbeitete sie in einem Reederei-Kontor als Buchhalterin, eine Ausbildung auf dem dritten Bildungsweg. Ihre Energie und Ausdauer war bewundernswert, ihre Geduld mit der Ignoranz ihrer Mitmenschen schon übermenschlich. Sie nippte vorsichtig an dem starken Getränk und lächelte mir mild zu. "Du siehst wundervoll aus, meine Liebe!" Ich liebte ihre warme Stimme, dunkel und volltönend. "Und du wie immer würdevoll und elegant." Gab ich das Kompliment zurück. Wir achteten sehr auf die ungeschriebenen Regeln der Etikette, Höflichkeit pufferte die Stöße des Alltags zur Erträglichkeit ab. Ich drehte die glitzernde Kugel an meinem Ohrring und begann, über meine vergangene Woche zu plaudern, während in unserem Rücken langsam der Abend begann. ~+~ Beschwingt und auch leicht betrunken, auf eine angenehm erregende Weise, verabschiedete ich mich von Berenice und trat in die Abendkühle hinaus. Gegenüber befand sich ein Taxistand, im Augenblick verlassen, aber das störte mich nicht. Ich überquerte verträumt die Straße und machte es mir auf einer Parkbank neben der Rufsäule bequem. Ich sog tief die Geräusche und Gerüche der lauen Sommernacht auf und schloss die Augen, ließ mich wohlig erfüllen von diesem anregenden Aroma. Meine selige Einkehr wurde von einer feuchten Hand jäh unterbrochen, die sich auf die Spaghetti-Träger meines Kleides legte. Ich fuhr erschrocken zusammen und sprang auf die Beine, ein Umknicken im letzten Augenblick durch reine Willenskraft verhindernd. Vor mir standen drei junge Männer, auf eine abstoßende Weise zurechtgemacht mit ihren zurückgegelten Haaren und den Trainingsanzügen, eine moderne Form der Unterschicht verkörpernd. Sie waren ohne Zweifel auf der Suche nach Unterhaltung. Der Sorte, die man sich lieber nicht auszumalen wagte. "Hey Süße, so allein?" Ich umklammerte meine Handtasche fester, unauffällig den Verschluss ertastend. Natürlich trug ich ein Pfefferspray bei mir, allerdings nutzte es mir in der Tasche nichts. "Mein Taxi müsste jeden Augenblick kommen!" Gab ich mit möglichst viel Selbstbewusstsein zurück, den Ekel vor den gelblich verfärbten Zähnen des Rädelsführers unterdrückend. Sie wirkten seltsam uniform und nicht zu unterscheiden in ihrer Schmuddeligkeit. Listige, um nicht zu sagen boshafte Augen musterten mich ungeniert. Wäre der Ausspruch zutreffend, was das Ausziehen mit den Augen anbetraf, so hätten sie wohl eine Überraschung erlebt. Was mir in erschreckender Klarheit bewusst machte, dass ich lieber nicht die Reaktion dieses Proleten-Trios erleben wollte, wenn sie die Entdeckung machten, dass sich hinter dieser Frau ein Mann verbarg. Ich maß mit den Augen den Abstand zur Hotel-Lobby, möglicherweise meine einzige Zuflucht. Mein nervöser Blick entging den listigen Fischaugen unglücklicherweise nicht. Ein hässliches Grinsen leuchtete unisono auf allen drei Visagen. Und ich bekam Angst, plötzliche Panikwallungen. Versuchte kopflos, über die Straße zu hetzen. Eine dumme Idee. Noch bevor ich die Grünfläche verlassen konnte, wurde ich an den Armen gepackt, in die Schatten gezogen, meine heiseren Rufe konsequent mit einem stinkenden Lappen erstickt. Ich fühlte die Tränen in meine Augen steigen, Wut, ja Hass über meine eigene Unfähigkeit, mich zu schützen, meine Hilflosigkeit stumm verfluchend. Warum musste mir das passieren?! Was hatte ich diesen gewissenlosen Bestien getan?! Sie stanken, ihre Hände waren wie tote Fische auf meiner Haut. Ich sah eine Messerklinge blitzen und erstarrte in meiner verzweifelten Gegenwehr. Gleich... gleich würde die scharfe Klinge den Stoff zerfetzen. Meine Haut aufschlitzen. Sie lachten. Lachten über meine entsetzliche Angst, meine Qual. Dann verstummte das Lachen, und ich schloss die Augen. Hoffte, dass mir dann wenigstens die Pein der Bilder in meinem Kopf erspart würde. Und kam plötzlich frei. Ein Gefühl, als sei ich schwerelos. Ungläubig riss ich die Augen auf. Fand mich einer dunklen Gestalt gegenüber, ganz in Schwarz wie der Tod persönlich. Meine Peiniger lagen ein Stück weiter im Gras. "Hi." Eine samtige Stimme, leicht schleppend, einen Schauer durch meinen Körper jagend. Eine gepflegte Hand mit schwarzlackierten Fingernägeln streckte sich mir entgegen, um mir aufzuhelfen. Zögerlich nahm ich die Offerte an, unsicher, ob ich mich nun Freund oder Feind gegenüber fand. Und als ob er Gedanken lesen konnte, lächelte dieser Sendbote der Finsternis amüsiert. Küsste meine Hand mit einer formvollendeten Verbeugung, die man nicht einmal mehr in Hollywood zu sehen bekam. "Danke." Würgte ich schluchzend hervor, die nachlassende Anspannung ließ meinen Körper beben. "Ein wunderschönes Kleid, meine schöne Dame." Flüsterte mir seine verführerische Stimme zu. In diesem Augenblick konnte ich die körperliche Anziehung zu einem Mann verstehen. Süße Schauer streiften durch meinen Leib. Dieser Mann war Erotik, Verführung, Laszivität pur. Gift für den Verstand. Mit einer anmutigen Geste verstaute der Fremde seine nachtschwarze Sonnenbrille in den Taschen eines schwarzen Trenchcoat. Mitternachtsschwarze Augen, die alles Licht absorbierten, zwinkerten mir zu. "Ich heiße Morrison." Unpassenderweise stieg Neid in mir auf, konnte doch nur ein Mann mit einer solchen Körpergröße und Figur einen Trenchcoat tragen, ohne lächerlich zu wirken. "Möchten Sie nicht Platz nehmen? Ich biete eine Sondervorstellung." Seine Stimme lockte mokierend, während er mit ausschweifender Geste auf die Parkbank wies. Unsicher und gegen meinen Willen neugierig stützte ich mich an die Rückenlehne. Der schwarze Mantel wehte wie Schwingen um die befremdende Erscheinung, als eine verirrte Brise ihn blähte. Mit einem sardonischen Lächeln präsentierte Morrison mir das Messer, das die Delinquenten bei sich getragen hatten, in der Manier eines Magiers, der im Begriff steht, die Jungfrau in zwei Hälften zu teilen. Fasziniert und für einen Moment ernsthaft zweifelnd verfolgte ich seine Darbietung, nicht sicher, ob er nicht der Typ war, die Jungfrau tatsächlich zu zerstückeln. Mit einer Geschwindigkeit, die ich nur bei einem japanischen Spitzenkoch gesehen hatte, schlitzte er die Kleidung der drei Stinker auf. Fetzen wirbelten wie Federn müßig durch die Luft, zerstoben wie ein aufgeplatztes Kissen. Als sich der seltsame Wirbel wieder legte, waren alle drei vollkommen nackt und ein erbärmlicher Anblick. Bleiche Haut, schutzlos den Blicken ausgesetzt. Morrison lächelte süßlich, schnippte mit einem Finger, und die Bewusstlosen schwebten in der Luft, ein abstoßendes Ballett der Unzulänglichkeiten. Um dann mit atemraubender Präzision um einen Baum gruppiert zu werden. Morrison blies mir einen Handkuss zu, verschnürte dann wie bei einem nicht mehr zu überbietenden Trick die Handgelenke aneinander, sodass die Drei mit der Front auf der rauen Rinde des Baumes förmlich verwuchsen. Er verbeugte sich bei diesem letzten Akt, und zu meiner eigenen Überraschung fand ich mich begeisternd applaudierend wieder. Galant reichte er mir seinen Arm zum Geleit, die mysteriösen Augen wieder hinter der Sonnenbrille verborgen. Als ich mich noch einmal umwandte, hätte ich schwören können, dass direkt über den Köpfen ein Schild an dem Baum befestigt war. »Öffentliche Bedürfnisanstalt.« ~+~ Ich bin nicht der Typ, der fremde Männer nach dem ersten Abend mit nach Hause nimmt. Überhaupt sollte ich vielleicht sagen, dass ich mich von Männern nicht angezogen fühle. Bei Morrison war das anders. Wie selbstverständlich begleitete er mich in jener Nacht, um ohne Weiteres meine Chaiselongue als Nachtquartier zu wählen. Wenn Sie sich fragen, wieso ich nichts unternahm, sondern mich lammfromm fügte, so kann ich Ihnen keine Erklärung bieten, außer dieser: weil Morrison es so wollte. Und seitdem erschien er stets unangemeldet, machte es sich bei mir bequem und unterhielt mich mit seinen Geschichten. Ich hörte zu und hinterfragte seine Intention nicht. Denn Morrison hatte etwas an sich, das Fragen verbat. Er enthüllte nur das, was er mich zu wissen beabsichtigte, und ob diese Dinge der Wahrheit entsprachen, war auch nicht sicher. Aber wie Morrison mir bei einer unserer Begegnungen zwinkernd zu bedenken gab, während ich in der Tiefe seiner Augen versank »ist nicht alle Wahrheit relativ?« ~+~ Morrison lächelte mir bei meiner Toilette zu und entblößte blendend weiße Zähne, die mich an ein Raubtiergebiss erinnerten. Ich zuckte zusammen und kleckerte Nagellack auf meinen Fuß. Morrison lachte leise und krümmte den Zeigefinger, mich zu sich lockend. "Komm, meine schöne Blume der Nacht, ich werde die Verzierungen übernehmen und dir dabei von meinem letzten Abenteuer erzählen." Wie konnte ich da widerstehen? ~+~ Eine Bar. Die Sorte von Bar, die nur zur Anbahnung von Kontakten diente, das heißt, kein besonderes Ambiente oder Geschmack. An der Theke lehnte ein Junge, zumindest sah er nicht älter als 18 aus. Der typische Bursche vom Land, der sich in die Großstadt wagte, um ein Abenteuer zu erleben, sorgfältig, aber ungeschickt zurechtgemacht. Nun, diese Art von Abenteuer erforderte auch eine entsprechende Menge an verzweifeltem Mut. Er hielt sich nun bestimmt schon eine Viertelstunde an einem überteuerten Drink fest, die Augen unruhig und hilflos auf das fleckige Holz des Tresens gebannt. Man konnte förmlich sehen, wie sich ein Kampf in seinem Kopf abspielte, eine couragierte Stimme energisch forderte, die Initiative zu ergreifen, während eine zweite zaghaft widersprach und Bedenken anmeldete. Es war die Nacht der Hyänen. Ich fragte mich, ob dies sein Glückstag war. ~+~ "Hi." Martin fuhr zusammen und verkroch sich vor Schreck noch tiefer in seiner ohnehin hageren, verkrümmten Gestalt. Ein Mann lehnte sich neben ihn auf den Tresen, den berauschenden Geruch von Bourbon und Vanille verströmend. Unwillkürlich wurde Martin an die wundervolle Soße erinnert, die seine Mutter immer als Nachspeise an hohen Feiertagen zum Dessert servierte. Ein Geruch wie Geborgenheit und Sonnenstrahlen. Mitternachtsschwarze Haare streiften fedrig seine Wange, nur einen Wimpernschlag lang, aber sie jagten köstliche Schauer durch seinen Körper, lockerten die Anspannung ein wenig. »Oh mein Gott!! Er... ...er ist umwerfend!!« Martin starrte mit kindlich aufgerissenem Mund in ein attraktives, schneeweißes Gesicht, dessen Fixpunkt eine Sonnenbrille mit burgunderfarbenen Gläsern bildete. Errötend stotterte er etwas Unsortiertes. "Wie heißt du?" Der betörende Geruch wurde von einer warmen, vibrierenden Stimme in sotto voce noch intensiviert. Martin glaubte, auf der Stelle sterben zu müssen. Dieser bildschöne Engel sprach ihn an! Ihn!!! Von allen anwesenden Männern, die er aus den Augenwinkeln und verstohlen hatte beobachten können, war er doch nun wirklich mit Abstand der unattraktivste! Ein Finger legte sich spielerisch unter Martins Kinn, während die Stimme belustigt spöttelte. "Na, willst du mir deinen Namen wirklich nicht verraten?" Martin schnappte nach Luft und erschrak erneut über die Reaktion, die der Fremde bei ihm auslöste. Seine Kehle wurde eng, sein Körper kribbelte wie ein Ameisenhaufen und in den unteren Körperregionen taten sich Dinge, über die er sich lieber nicht Gewissheit verschaffen wollte. "Martin." Brachte er stockend und unsicher hervor. Der sanfte Mund lächelte belohnend. "Hi Martin." Martin blinzelte heftig, um seine Augen von diesem faszinierenden Gesicht abwenden zu können. Um auch den Rest dieses engelgleichen Geschöpfs in sich aufnehmen zu können. Eine schwarze Hemdbluse mit Rüschen an Handgelenken und dem V-förmigen Halsausschnitt, darunter eine gutgeschnittene Hose mit hohem Bund, was ihn entfernt an einen Flamenco-Tänzer erinnerte. "Was denkst du, sollen wir uns nicht eine Nische suchen? Um uns ein wenig... kennenzulernen?" Martin folgte der Erscheinung aus den geheimsten feuchten Träumen wie ein Schlafwandler, vage registrierend, dass sein Mund noch immer ungläubig offen stand. Mit ruhiger Bestimmtheit wurde er auf die Sitzbank geschoben, dann räkelte sich der Fremde neben ihm. Und legte vertraulich eine Hand auf Martins Oberschenkel, die andere stützte ein eckiges und dennoch anmutiges Kinn. "Nun, mein Freund, verrate mir, was dich in dieser Nacht in so eine gottverlassene Spelunke verschlägt? Du siehst nämlich nicht so aus, als würde es dir hier sonderlich gefallen." Martin errötete bis zu den Haarwurzeln, was seiner Erscheinung nicht gerade zum Vorteil gereichte, wie er sehr wohl wusste. Verlegen und ein wenig kopflos suchte er nach den passenden Worten, sollte seine Antwort doch lässig und cool zugleich wirken. Nicht wie die eines verlassenen und hypnotisierten Kaninchens. "Ich bin schwul." Der Fremde unterdrückte ein amüsiertes Kichern, streichelte sanft über Martins Oberschenkel. "Das ist zumindest mal ein forscher Anfang für ein Gespräch." Martin senkte den Kopf und wünschte sich wie so oft in seinem Leben, dass der Boden ihn verschlucken möge. »Gott, wie peinlich!! Wie erbärmlich!!« Seine Aufmerksamkeit wurde von der inneren Selbstzerfleischung abgelenkt, als weiche Lippen sich um sein Ohrläppchen schlossen und daran saugten. Martin musste einen piepsigen Laut des Wohlbehagens unterdrücken. Der Fremde zog sich wieder zurück und leckte sich mit der Zunge über seinen verführerischen Mund. "Du hast dich also entschlossen, heute Nacht jemanden abzuschleppen, richtig?" Martin verschluckte sich beinah an seiner eigenen Spucke. Sein schwarzhaariger Gegenüber winkte einen der gelangweilt herumstreunenden Kellner heran und bestellte mit befehlender Stimme zwei Gläser Cola, und zwar die richtige Sorte, mit Koffein und Zucker. Martin nutzte die Zeit, um eine kurze Bestandsaufnahme in seinem leergefegten Gehirn zu machen. Das Resultat war zum Heulen. Nicht nur, dass er stumm wie ein Stein bleiben würde, weil es ihm wohl dauerhaft die Sprache verschlagen hatte, er würde auch die Gelegenheit zu einem wundervollen Abend komplett und ultimativ verderben. Vielleicht dem einzigen Abend dieser Art in seinem ganzen Leben. Ihm war danach zumute, den Kopf auf die Arme zu legen, sich zusammenzurollen und kläglich zu schluchzen. "Entschuldigung, wo waren wir stehen geblieben?" Diese warme, leicht schleppende Stimme holte ihn sekundenschnell wieder in die Realität zurück, wo der zauberhafte Fremde noch immer neben ihm saß und seine Hand Kreise auf Martins Oberschenkel zeichnete. "Sag mir, woher weißt du, dass du schwul bist?" Normalerweise hätte Martin eine solche Frage von einem ihm Unbekannten nicht mal mit einem genervten Blick beantwortet, aber hier wurde ihm wirkliches Interesse, fast wissenschaftliche Neugier entgegengebracht. Verwirrt runzelte Martin die Stirn. Er hatte angenommen, dass in dieser Bar nur Homosexuelle verkehrten. Waren solche Fragen üblich?! "Ähm..." Versuchte er Zeit zu gewinnen, um abzuschätzen, in welche Richtung diese Unterhaltung abglitt. "Ich weiß es einfach." Der Fremde wickelte eine Strähne um seinen Finger, ein brennender Kontrast von schwarz und weiß. "Hast du niemals versucht, eine Frau zu lieben?" Martin schnappte ein wenig nach Luft. Diese Art der Konversation war genau das, was er seit seiner Selbsterkenntnis fürchtete. Ein Outing gegenüber einem anderen Mann. Verlegen verknotete er seine Finger ineinander. Sein Blick klebte auf der zerkratzten Oberfläche der Tischplatte. "Also... na ja... schon...irgendwie..." Hilflos stotternd brach er ab, um einen Mitleid heischenden Blick in das Gesicht des Fremden zu entsenden. "Warum hat es nicht geklappt? Und warum hast du es versucht?" Ungerührt fixierten ihn die burgunderfarbenen Gläser, obwohl dies eigentlich nicht möglich sein konnte. Er lief erneut rot an, während er unruhig auf der abgeschabten Sitzbank herumrutschte. "Ich... ich wollte wie die anderen sein... eine Freundin gehört doch dazu... also..." Keine Unterstützung von der anderen Seite. Stattdessen schien die Hand auf seinem Oberschenkel den Rückzug antreten zu wollen! "Aber es hat nicht funktioniert! Wirklich!" Martin schlug sich beschämt die Hand auf den Mund. Sein Ausruf hatte bestimmt auch die Nachbartische erreicht. Er drückte die Schultern noch mehr zusammen und verkroch sich fast in der geschmacklosen Polsterung. "So ein Pech." Flüsterte die Samtstimme an seinem Ohr. "Oder auch nicht?" Ehe Martin seine Gedanken hinter seinem Mund verschließen konnte, waren sie schon entschlüpft. "Überhaupt nicht." Ein versprengtes Restchen Trotz ließ ihn den Blick anheben. Der Fremde lehnte sich bequem zurück und musterte ihn undurchschaubar. "Du weißt schon, dass dich das eine Menge kosten wird?" Martin schauderte zusammen. So viel Eis lag in dieser rhetorischen Frage, eine Ahnung von Schmerzen und Gefahr. Er krallte die Finger nervös ineinander und senkte den Kopf wieder. "Es... es wird sicher nicht einfach. Aber... warum sollte es nicht möglich sein?" "Vielleicht, weil es unnatürlich ist? Unsittlich? Unmoralisch?" Martin ballte in der Sicherheit der Tischplatte die Fäuste. "Wenn es funktioniert, kann es wohl kaum gegen die Natur sein, oder nicht?! Sitte ist doch, was wir dazu machen! Und was die Moral betrifft, ist es da besser, ungeliebte Kinder in die Welt zu setzen und seine Frau zu schlagen, oder was?!" Der Fremde lachte leise über die Verve, mit der sich Martin verteidigte. "Du bist süß, wenn du so engagiert loslegst." Brachte er Martins gerechten Zorn zu einem jähen, atemlos seufzenden Ende. Dann beugte er sich vor, nur einen Wimpernschlag von Martins Nase entfernt. "Das heißt doch, dass du ein besserer Mensch als viele Heteros sein willst, nicht wahr? Sogar sein musst, damit du geduldet wirst." Martin erbleichte. Einerseits, weil ihm plötzlich die tiefere Bedeutung seiner Überzeugung klar wurde, andererseits, weil die betörenden Lippen nur einen Atemzug von ihm entfernt waren. Er ächzte statt einer formulierten Antwort, und der Fremde zog sich wieder zurück. Musterte seine Fingernägel scheinbar konzentriert. "Ich frage mich, ob es nicht einfacher ist, im Strom mitzuschwimmen, mit den Kumpels um die Häuser zu ziehen, sich ein nettes Mädchen anzulachen und ein paar Kinder in die Welt zu setzen?! Das geht doch mit ein wenig Anstrengung und gutem Willen. Statt allein in die Großstadt in eine schmierige Spelunke zu fahren in der Hoffnung, einen halbwegs anständigen Partner zu finden und nicht bloß einen Stricher auf Kundensuche." Martin wurde nun fahl. Das letzte bisschen Farbe verließ abschiedslos sein Gesicht. Möglicherweise war ihm ja das Landei anzusehen? Dass er sehr jung war, konnte er zu seinem Ärger kaum verbergen, aber bestand wirklich die Gefahr, dass er einen... einen Professionellen aufgelesen hatte?! Oder vielmehr aufgelesen worden war?! Der Fremde nahm dem Kellner die Gläser vom Tablett, schnippte mit einer nachlässigen Geste einen Schein auf die nasse Fläche. Dann glitt ein Finger in das Glas und wurde in den Mund geführt und sanft abgesaugt. Martin schluckte unwillkürlich. Sein Blick hing gebannt an den sich spöttisch kräuselnden Lippen. "Ich... ich wollte jemand finden, der so ist wie ich." Martin nahm hastig einen Schluck der eisigen Cola, wollte nicht darüber nachdenken, wie nichtssagend und banal sich seine Antwort anhörte. Der Zucker und das Koffein tourten seinen Kreislauf sofort auf, er hatte lange nichts mehr gegessen. Und das spornte ihn auch dazu an, klare Verhältnisse herzustellen. "Es tut mir leid, wenn ein falscher Eindruck entstanden ist, aber ich kann nicht für... solche Dienstleistungen bezahlen. Und ich möchte das auch nicht." Der Fremde lachte wieder leise, berührte mit dem kondensierenden Glas leicht das zweite und prostete amüsiert. "Keine Angst, Martin, ich bin nicht hinter deinem Geld her." Martin zögerte, dann fiel er erleichtert in das auflockernde Gelächter ein. "Hinter was bist du dann her?" Wagte er sich auf das glatte Parkett der Koketterie. Genießerisch fuhr sich der Fremde über die lockenden Lippen, lächelte provozierend. "Wer weiß? Deiner Seele vielleicht?" Martin zwinkerte verunsichert. Meinte dieser Mann das etwa ernst? War er vielleicht einer der Spinner, vor denen man immer gewarnt wurde? Die in Thrillern immer Serienmorde begingen? Als hätte der Fremde seine Gedanken gelesen, legte er seine Hand auf Martins Schoß, wo der seine Finger ineinander gegraben hatte. "Heute bin ich nicht in tödlicher Mission unterwegs." Raunte er verschwörerisch. Martin grinste halbherzig, ängstlich. Der Fremde lächelte noch immer leicht süffisant, während seine Hand zärtlich über Martins Finger strich, als wolle er sie auf diese Weise entwinden. "Du weißt, dass diese Art der Liebe gefährlich ist? Ein Risiko?" Martin nickte hypnotisiert, automatisch. Eine Zunge streifte neckend seine Lippen, dann hielt der Fremde wieder Abstand. "Und wenn du einmal angefangen hast, dass du nie wieder aufhören kannst?" Martin blinzelte verwirrt. Wieder raunte die samtige Stimme vertraulich in sein Ohr. "Dass du dich vielleicht in Parks und auf Bahnhöfen in den Pissoirs herumtreiben wirst auf der Suche nach irgendeinem Typen, der es dir besorgt?! Dass es dir dann schon egal ist, was für ein Gesicht er hat, oder wo er sich sonst rumtreibt?" Martin zog sich hektisch zurück und schüttelte den Kopf. "Das... das ist blanker Unsinn!!" Er funkelte den Fremden an und beschloss in diesem Augenblick, lieber allein und enttäuscht nach Hause zu fahren, als sich weiterhin von diesem gut aussehenden, aber offensichtlich geisteskranken Typen anbaggern zu lassen. "Du gibst schon auf?" Es klang leichte, kalkulierte Überraschung in der spöttelnden Frage. Martin leerte sein Glas mit einem gewaltigen Zug. "Vielen Dank für das Getränk, aber ich bin nicht so verzweifelt, dass ich mich blindwütig auf jeden stürze. Und wenn es auch der einzige Mensch ist, der sich hier für mich interessiert." Unerwarteterweise nahm der Fremde seine Sonnenbrille ab, schob sie in den Ausschnitt der Hemdbluse. Abgrundtiefe Augen fixierten Martin, lähmten seine Bewegungen. "Was suchst du?" Womit sie sich wieder am Anfang befanden. Martin lächelte zittrig, eingeschüchtert, aber nicht geschlagen. "Liebe. Freundschaft. Nähe." Der Fremde lächelte verschmitzt. "Und natürlich auch Sex." Zum ersten Mal an diesem Abend wurde Martin nicht rot, sondern teilte das spielerische Lächeln. "Selbstverständlich." Der Fremde stand grazil auf und nahm Martins Hand. "Wo steht dein Auto?" ~+~ Der wackere Ford hatte sie bis auf einen Aussichtspunkt oberhalb der Stadt befördert. Obwohl das beständige Lichtermeer zu ihren Füßen die Sterne am Himmel nahezu unsichtbar machte, fand es Martin doch sehr romantisch. Der Fremde hatte mit geradezu einschüchternder Geschicklichkeit die Sitze umgelegt und Martin aus dem blassen Sakko gewickelt. Im Kassettendeck erzeugte Chris Isaak mit "Voodoo" eine schwüle, drückende Atmosphäre. Und nun glitten seine Hände wolkenweich über Martins bebenden Körper, während seine Lippen glühende Küsse spendeten. Martin hielt sich wie ein Schiffbrüchiger an dem athletischen Körper fest, berauschte sich erneut an seinem Geruch. »Gott, wenn er so weitermacht, wird das ein kurzes einseitiges Vergnügen!« War der einzige klare Gedanke, den er fassen konnte. Und der ihn ängstigte. "Sag mir..." Raunte die becircende Stimme an seinem Hals, jagte Hitzeschauer durch Martins Körper. "...was gibst du mir für diese Nacht?" Martin zögerte, dann schob er den Fremden leicht von sich, um eine Kette von seinem Hals zu lösen. An ihr befand sich ein St. Christophorus-Anhänger. "Sie ist von meiner Mutter, zum Schutz." Ein Ruck ging durch seine ungelenke Gestalt, dann legte er sie vorsichtig um den schneeweißen Hals und hakte den Verschluss ein. Der Fremde lächelte rätselhaft. Um dann Martins Universum neu zu definieren. ~+~ Martin erwachte durch das schrille Rebellieren von Vögeln, die sich in ihrer morgendlichen Idylle durch den Eindringling gestört sahen. Er setzte sich hastig auf, um dann festzustellen, dass er splitternackt war. »Was bedeutete...« Dass die letzte Nacht kein Traum gewesen war!!! Martin stieß ungeniert einen glückseligen Urschrei aus. Er war sich sicher, dass diese Nacht die absolut unglaublichste in seinem Leben sein würde. Und dass er sie nie in all ihren Facetten und Empfindungen in Worte fassen konnte. Natürlich war der namenlose Fremde fort. Trotzdem nistete sich ein breites Grinsen in Martins Gesicht ein. Er stieg aus, um leichter in seine Kleidung schlüpfen zu können. »Ich fühle mich einfach herrlich!! Nicht mal Schmerz oder Wundsein!! Kein Horrorerlebnis, wie immer gesagt wird!! Ich bin ein Glückspilz!!« Berauscht ließ er sich ans Steuer sinken. Am Spiegel baumelte seine Kette. Auch der Anhänger war noch vorhanden. Lediglich St. Christophorus hatte andere Gesichtszüge bekommen. Und ein fast unanständig wirkendes Grinsen. ~+~ Morrison hauchte einen Kuss auf meine Wange, dann strich er sich durch seine Haare, um die ich ihn bis zum Wahnsinn beneidete. "Schönen Abend noch, meine Blume der Nacht!" Und verschwand aus meiner Wohnung, ohne dass ich die Türen hörte. ~+~ Anmerkung zum Titel: Morgengabe = ein Geschenk, dass der ältere Ehemann seiner jungen Frau nach der ersten Nacht macht als Gegenleistung für ihre Jungfräulichkeit. ~+~ ENDE ~+~ Thanks for joining! kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Einen Tag nach seinem Debüt die zweite Erzählung über und von Morrison, dieses Mal gegenüber einem Bekannten, dem er die Initiation eines jungen Mannes schildert. Um das Bild Morrisons gerade zu rücken... er ist nicht grausam, nach seiner eigenen Definition, und er ernährt sich nicht wie Carnage von menschlicher Energie. Seine Art der Verführung ist schwermütiger, melancholischer als Carnages, ein Gegenpart, sollten sich die beiden begegnen...