Titel: Nixerich Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Parallelwelt Ereignis: Adventskalender 2019 Erstellt: 17.12.2019 Disclaimer: - Little Nemo in Slumberland, gezeichnet und getextet von Winsor McCay - Hugh John Lofting, Autor der Reihe "Dr. Dolittle" - Zehn kleine Jägermeister, 1996, Die Toten Hosen (Wölli/Campino und Müller) - Alien, Filmserie - Snoopy und Woodstock, gehören zu den Peanuts, erfunden vom genialen Charles M. Schulz - Minions, Figuren aus dem "Ich, einfach unverbesserlich"-Universum, Illumination Entertainment/Universal Studios - Asterix ist eine Comicfigur, von René Goscinny und Albert Uderzo erschaffen Hinweise: - Isidor von Spangenburg aka "Easy" tritt in "Eine vernünftige Liebe" auf. - Das Markenzeichen der Firma Steiff ist ein Knopf im Ohr der Plüschtiere. @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ @~-~@ Nixerich Kapitel 1 Es musste etwas geschehen, zumindest daran hegte er keinen Zweifel mehr. Irgendwie sollte er schließlich sein Leben meistern! Deshalb konnte er nicht mehr auf den glücklichen Zufall hoffen. Trotzdem fühlte er sich flau in der Magengrube. Er hatte sein Vorhaben mit niemandem abgesprochen. Vielleicht funktionierte es ja auch gar nicht? Er hätte sich die Enttäuschung der anderen erspart, sie müssten ihn nicht trösten. Er rollte Hemd und Hose zu einem Bündel, schnürte es mit den Sandalen fest zusammen, griff nach den Tauchgläsern. Mut beweisen! @~-~@ Hemd und Hose waren längst getrocknet, die langen Haare zu einem artigen Dutt hochgesteckt. Etwas unsicher blickte Umea sich um. Geschäftiges Treiben, viele Flanierende, Transportfahrzeuge, Stimmengewirr. Niemand schenkte ihm besondere Beachtung. Theoretisch wusste er, wo er hin wollte, nur hatte er noch nie zuvor die Stadt betreten. Sie war so riesig, gleichzeitig auch recht beklemmend durch die vielen Gebäude. "Hallo, hallo! Zum ersten Mal hier?" Sprach ihn gänzlich unvermutet eine freundliche Stimme an. Umea taumelte verschreckt nach hinten, stieß prompt mit einem grimmig wirkenden, gehörnten Daimon zusammen. "Entschuldigung!" Stammelte er krächzend. "Augen auf im Verkehr." Brummte der Daimon, präsentierte ein imponierendes Gebiss, definitiv kein Grünzeug-Vertilger. Der gewaltige Vogeldaimon vor ihm grinste. "Ganz recht, mein Freund! Ist viel los, hm? Kennst du den Weg?" Umea zog die Schultern noch höher. "Ich bin nicht sicher." Murmelte er beklommen. "Na, dann begleite ich dich einfach, okay? Hwenyuu, KOK-Offize, habe die Ehre!" Die ausgestreckte Klaue trug Krallen, wirbelte pinkfarbene Daunen herum, als Umea sie vorsichtig schüttelte. "Freut mich sehr. Ich heiße Umea. Ich suche jemanden namens Asklepios." "Ah! Kein Problem, den kenne ich!" Flötete Hwenyuu trillernd, legte den gefederten Arm um Umeas schmale Schultern. "Komische Sache übrigens, gerade letzte Woche habe ich ihn auch aufgesucht! Dachte, ich wäre in der Mauser, aber..." @~-~@ Umea klingelten noch die Ohren, als Hwenyuu ihn längst vor dem flachen Gebäude abgeliefert hatte. Vorsichtig machte er sich am Eingang bemerkbar. Der ehemalige Gott streckte den Kopf heraus, die Brille wie gewohnt auf dem kahl rasierten Schädel residierend, stutzte, streckte den Zeigefinger in die Höhe und machte kehrt. Umea wurzelte brav an, leicht verunsichert. Einige Augenblicke später winkte ihn der Namenspatron der ärztlichen Heilkunst herein, schwenkte eine kleine Schiefertafel mit sorgfältig gekratzten Kreidespuren: [Sicherheit geht vor. Hallo. Wie kann ich helfen?] Umea seufzte stumm, registrierte die eilig verplombten Gehörgänge. Vermutlich sollte er zunächst eine Erklärung abgeben. @~-~@ "Verstehe." Konstatierte Asklepios, rieb sich grübelnd das Kinn. Umea streifte sich eilig wieder die Hose über, kauerte sich auf den Besuch-Schemel. "Tja!" Lautete Asklepios' ausschweifende Diagnose, nicht gerade Hoffnung stiftend. "Die gute Nachricht ist: möglicherweise kann man was unternehmen." Umea setzte sich verblüfft aufrecht. Eine mahnende Hand hochgestreckt wurde sein Optimismus gleich ausgebremst. "Die schlechte Nachricht: ich kann zwar ein Rezept ausstellen, doch die Zutaten habe ich hier nicht vollständig zur Verfügung." "Oh." Murmelte Umea geknickt. Außerdem würde er wohl auch noch die Konsultation entlohnen müssen! Das belastete ihn schon immens, weil er ja nichts anzubieten hatte! "Auf der anderen Seite, also, bei den Menschen, da könntest du es versuchen." Asklepios blieb bei der Sache. "Dort gibt es Orte, Apotheken nennen sie die. Da kann man sich die Salbe mischen lassen. Ich schreib dir das Rezept auf. Kannst dir ja überlegen, was du machen willst." Umea nickte höflich, während innerlich seine Zuversicht in die Zehenspitzen rutschte. Prompt, wie ihm das oft zu ergehen pflegte, rauschte auch sein Dutt das Kreuz runter, blamierte ihn. @~-~@ Asklepios hatte als Entlohnung zwei Liegenauflagen aus dem sehr fein gewebten Material der Binsen akzeptiert. Umea konnte sie nicht herstellen, leider. Sein Vater und sein jüngerer Bruder reüssierten darin meisterhaft, deshalb hoffte er, wenn er artig darum bat, würden sie ihm aushelfen, seine Schulden zu begleichen. Vielleicht, wenn er eine Lösung fand, konnte er sie auch von der Sorge befreien, was wohl aus ihm werden sollte. Gesenkten Hauptes trottete Umea langsam zurück, die beiden Sonnen im Blick, die sich schon am Horizont senkten. Einer Lösung seines Dilemmas war er noch nicht sehr viel näher gekommen. @~-~@ Umea stopfte das sorgsam gerollte Rezept wieder in das Rohr, verplombte es sorgfältig. Neben sich hatte er die beiden Liegenauflagen, zum Paket verschnürt, gutmütig überlassen von seinem Vater und dem jüngeren Bruder. "Und? Was jetzt?" Erkundigte sich seine Mutter, geschickt Muscheln aufknackend. Umea seufzte stumm. "Du hast doch einen Plan, oder nicht?" Nein, selbstredend konnte er keine Idee vorweisen, was er zu unternehmen gedachte. "Das Gute ist, dass du gleich auch noch das Gemüsenetz abliefern kannst. Liegt ja auf dem Weg UND wir können für deinen Vater Seidenbast eintauschen." Seine Mutter säbelte beiläufig Fasern für einen Fanghaken entzwei, an dem seine jüngere Schwester arbeitete. Der wuchs hier nicht, war deshalb eine gesuchte Rarität, für die feineren Webstücke. Umea nickte artig. So konnte er wenigstens familienintern seine Schuldenlast ein wenig reduzieren. @~-~@ Das Gemüsenetz, zum Schutz für die Aussaat gedacht, war groß, deshalb nicht sonderlich leicht. Auch die Liegenauflagen mussten transportiert werden. Deshalb kam keine feuchte Abkürzung in Frage, was Umea zu "Umwegen" nötigte. Andererseits hatte er sonst auch nichts zu tun. Oder zumindest keine Aufgabe, die ohne Aufsicht erledigt werden konnte, die nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Kalamität endete. Gänzlich ohne seine Absicht, selbstverständlich! Bloß tat sich auch nach langen Jahren, immerhin war er schon 16, einfach keine Beschäftigung auf, die seiner Begabung entsprach. Wobei man die spezielle Begabung noch aufspüren musste! Nachdem er folgsam seine Auslieferungen erledigt hatte, apportierte er vorsichtig den Seidenbast. Längst war es dunkel, seine Beine schmerzten. Völlig erschöpft schlüpfte er in die kleine Hütte. Neben seiner Schlafmatte wartete, mit abgedeckter Schüssel, eine kleine Mahlzeit. Dankbar wischte sich Umea über die Augen. Auch wenn er seiner Familie eine Last war, sahen sie großzügig darüber hinweg, fütterten ihn durch! @~-~@ Es war auszuhalten, der Anblick nicht schön, aber es brachte einen nicht um. Lediglich eine unangenehme Beeinträchtigung. Trotzdem, ermahnte sich Umea zum Mut, er wollte nicht einfach aufstecken! Deshalb machte er sich erneut in die Stadt auf. Dort konnte man viele Dinge erforschen. Wie kam man in die Menschenwelt? Wenn man selbst es nicht durfte, wer durfte es? Konnte man vielleicht ein Geschäft verabreden? Da Umea gewohnt hilflos und verirrt in die Gegend staunte, winkte eine Portalwache ihn heran. Schon eine geraume Weile war ihnen der Jugendliche aufgefallen. Außerhalb der "Pendelzeiten" konnte man ruhig ein Schwätzchen halten. So kam Umea zu einer Einführung in Sachen "Portale", die dazu führte, dass ER vermutlich keinen Fuß in die andere Welt setzen konnte. Obwohl, so ganz sicher war man sich da nicht. Engel, Ex-Göttlichkeiten, Naturgeister, andere Gestrandete: theoretisch durften sie nicht hinüber. Dort gab es keinen Platz mehr für sie. Aber man hörte so dies und das! Zu Regeln gab es ja Ausnahmen, nicht wahr, weil es ja sonst keine Regeln sein konnten, logisch, oder?! Umea lauschte aufmerksam. Er war lediglich mit dem vertraut, was die Realität der Leute am großen See berührte. Für Dinge jenseits der eigenen Dimension und Welt hatte man schlichtweg keine Instruktionen zur Hand. Jedenfalls, das stellte den Tenor dar: wer über keinen Portalpass, also eine Erlaubnis verfügte, durfte nicht rübermachen, viel zu gefährlich! Menschen waren nämlich merkwürdige Lebewesen! Da konnte man schnell mal unter die Räder kommen, nicht nur buchstäblich. Deshalb gab es ja auch die Portalwache und drüben Sicherheitspersonal, Verhaltensregeln. Umea sah das alles ein. Außerdem schien es auch keine Portale in seiner gewohnten Umgebung zu geben. Vielleicht gab es ja eine Kartierung für die unterschiedlichen Vegetationen?! Genau! Die freundliche Portalwache wies ihm den Weg zur öffentlichen Collectio. Kein Ort, den Umea jemals betreten hatte. In ihrer Siedlung kannte man derlei nicht. Auf Tafeln, in Büchern, seltsamen Abspielgeräten in Ton und Bild konnte man Erkenntnisse erlangen. Deshalb begab Umea sich tapfer in die Abteilung mit "Flora". Möglicherweise kannte Asklepios gar nicht alle Gegenden! Vielleicht gab es ja irgendwo doch alle Zutaten? Umea musste sich sputen, der Rückweg war ja lang, Hunger hatte er auch, leider. Mutig bat er einen Falterdaimon mit Namensschild um Unterstützung. "Oh. Oh! Medizinische Pflanzen? Hm. Oh!" Eilfertig schwirrte der Falterdaimon über den Bestand. Bei der Hälfte der Rezeptur blieben sie jedoch ohne Fortune. Umea seufzte. Besser Gewissheit als trügerische Hoffnung! Oft genug hatte man ihn sanft tadeln müssen, weil er zu uferloser Verträumtheit neigte. Zum Trost bekam er einen klebrigen Lutscher, so viel Mitleid erzeugte er beim Falterdaimon. Schon ein wenig beschämend! Lutschend, da er noch nie so etwas Klebriges, Süßes gekostet hatte, stapfte Umea matt Richtung Ausgang. Hm, eine Kartenabteilung gab es noch, gleich am Eingang, da häufig frequentiert. Neugierig riskierte er einen Abstecher. Enttäuschender konnte es ja nicht mehr werden, oder? Warum also sollte er nicht mal einen Blick darauf werfen, wie gewaltig die Welt war, in der er lebte? @~-~@ Nur ein hoffnungsloser Träumer würde so einer Spinnerei nachhängen. Zugegeben, bei "Spinnerei" versagte Umea auch kläglich. Irgendwie wollten die Fäden sich einfach nicht seinen Vorstellungen unterordnen! Trotzdem! Eine Hand um das verplombte Rohr geschlossen, das ihm um den Hals hing, wagte er sich tollkühn ins Buschwerk, dicht, wuchernd. Flache Steine, schlüpfrig und schmierig, aber definitiv kein normaler Boden, kein Moosteppich, nein, Trittsteine. Umea holte tief Luft. Was konnte schon passieren? @~-~@ Bäume und Efeu und Aufsitzerpflanzen mit langen, herabhängenden Trieben und... Umea blieb abrupt stehen. Ein ungewöhnlicher Duft! Zaghaft wagte er sich einen Schritt vor. Rasen, frisierte Halme, rechts, links und über ihm Rosen, Kletter- und Rankrosen. Mit ihnen war er nicht sonderlich vertraut. Fußnässe mochten sie nämlich nicht, Pfahlwurzeln hatten es bei ihnen schwer. Umea schnupperte. Sie rochen süßlich, aber angenehm, nicht zu schwer. Der Himmel über ihm war zu erkennen, kein Dickicht mehr, blau, weiße Tupfenwölkchen. Eine Sonne... EINE Sonne?! Umea drehte sich hastig herum, umklammerte das Rohr mit seinem teuren Rezeptinhalt, wisperte fassungslos in seiner eigenen Sprache ein kurzes Gebet. @~-~@ Das hysterische Gebell hielt einige Minuten an, lange genug, dass er enerviert den Hinterausgang zum Garten wählte, dem Sand-Kies-Gemisch folgte, das Holztor des Gartenzauns öffnete. Er konnte die Promenadenmischung einfach nicht leiden, verhätschelt von seinen Besitzenden ein Terror der Nachbarschaft, kläffend und japsend, definitiv eine "Qualzucht"! Als er auf den frisierten Rasen über den Zaun blickte, konnte er den Köter ausmachen, der zufrieden auf etwas herumkaute, was nach Sandale aussah. Hm. Den niedrigen Zaun zu übersteigen war kein Problem. Die Töle sprang auf, bereit, ihn zu attackieren, nervig, aber nicht schlau. Die gerollte Zeitung fing das Maul ein. Der depperte Köter verbiss sich förmlich an der improvisierten Keule, ließ nicht los, wie eine Schnappschildkröte. Konnte so, offenkundig nicht lernfähig, einfach in die dämliche Bademuschel abgeladen werden. Er schloss geschwind den Deckel, richtete sich aus der Hocke auf, blickte hoch in den recht verwitterten Nussbaum. "Das Viech ist eingesperrt. Kannst runterkommen." @~-~@ Es rührte sich nichts. Hm. Er sammelte Sandalen auf, erst die bekaute, dann das zweite Exemplar. Sehr kurios, irgendwie nach Espandrilla aussehend, nur ohne Stoff und mit Querriemen. Strohsandalen? Hm. Da blinkte etwas, die merkwürdigste Brille der Welt. Oder eher eine Taucherbrille? WOAH! Ein Blick durch die Gläser: ihm wurde ganz schwummrig! Er steckte sie in die Gesäßtasche seiner Jeans. Noch mehr Fallobst, ah! Ein abgeschnittener Rohrkolben mit Schnur, zwei Plomben. Hm. Einige Augenblicke konzentrierten Fummelns später hatte er den abgesägten Rohrkolben seinen gerollten Inhalt entlockt, ein Rezept. Demnach musste jemand auf dem Baum hocken, der eigentlich zu ihnen gewollt hatte! Deshalb machte er kehrt, überhörte souverän das gedämpfte Gekläffe aus der Kinderspielmuschel. "Hallo!" Adressierte er die Baumkrone. "Also, du solltest jetzt vielleicht doch da runterkommen, der meiste Kram von dir ist nämlich schon hier unten. Wenn du zur Apotheke willst, hast du den falschen Hintereingang gewählt." Es raschelte verräterisch. "Hilfe?" Wisperte es rau, halb erstickt zu ihm herunter. "Wobei?" Erkundigte er sich höflich. Der unsichtbare Baumhocker schniefte unterdrückt. Er entschied, eine Argumentationshilfe zu offerieren. "Kannst du vielleicht nicht runterklettern? Springen würde ich jetzt nicht empfehlen." Einige Blätter trudelten an ihm vorbei. Er seufzte. "Pass auch, ich hol ne Leiter, ja? Versuch einfach, nich auf die Schnauze zu fallen." @~-~@ "Ach du Schande." Stellte er fest, beäugte das Wesen vor ihm: verschmutzte Hosenbeine aus komischem Stoff, Hände und nackte Füße aufgeschürft, das bleiche Gesicht von Tränen verschmiert. Und diese Haare! Der blöde Köter bellte wieder hinter dem Zaun, mit kräftigem Schwung freigeprügelt von der gerollten Zeitung, perforiert und eingesabbert, aber sie stammte ohnehin vom Vortag. "So geht's nicht." Stellte er fest. Den Dreckspatz vom Garten ins Haus mitnehmen?! Da müsste er feucht aufwischen, worauf er so gar keine Lust verspürte. "Erst mal sauber machen." Bestimmte er, packte das Dosierstück des Gartenschlauchs. @~-~@ Es schluchzte, auf dem Boden zusammengerollt, in einer fremden Sprache. Völlig perplex ließ er den Schlauch samt Griffstück sinken, fühlte sich von einem auf den anderen Moment wie der mieseste Schurke auf ganz Erden! "Ich wollte bloß den Schmutz abspülen?!" Stammelte er verdattert. Das aufgelöste Wesen weinte völlig verschreckt. Die wirren, seltsamen, über die Hüfte reichenden Strähnen klebten wie Seetang. Komische Assoziation! Die mutmaßlichen Haare waren doch eher weißblond-farblos mit einem definitiv grünen Stich?! "Verdammt!" Formulierte er treffend, ging in die Hocke, klaubte das kompakte, verblüffend leichte Päckchen Elend auf, schleppte sich ächzend die Kurve der Stiege ins Obergeschoss hoch. Wobei er, aus ihm unverständlichen Gründen, fortwährend eine Litanei wiederholte. "Ist ja alles gut, ich helf dir, keine Angst, alles ist gut..." @~-~@ Umea schluchzte aus voller Kehle, konnte sich nicht rühren! Er hatte sein Rezept und die wertvollen Augengläser verloren. Alles tat so weh, vor allem der Schreck! Wieder und wieder intonierte er heiser seine Bitte um Beistand. "Großer M, hilf mir, bitte, ich werde auch brav sein, bitte, hilf mir..." @~-~@ Merkwürdige Haare, komische Klamotten, eine Sprache, die er noch nie zuvor gehört hatte, die ihm das Gefühl eingab, ein richtiger Scheißkerl zu sein! Dabei hatte er doch nur helfen wollen! Unfair! Solcherart empört, durchaus erfahren mit Ungerechtigkeiten der Umstände traf er eine Entscheidung, zerrte mit unnachgiebigem Ruck die schmutzige Hose herunter. @~-~@ Hinter dem Haarvorhang heulte man weiter, während er aufgeschürfte Knie zu den lädierten Füßen und Händen addierte. "Sakrament!" Platzte er schließlich heraus, mit den Nerven per pedes, den schärfsten Fluch, den seine Mutter in ihrer Gegenwart zuließ. Er streckte sich, angelte den Duschkopf heran, prüfte nicht mal die Temperatur, sondern legte los. Das Schluchzen mündete in einen hektischen Schluckauf. Also, so was! Die Beine schmiegten sich aneinander, die Gelenke und Knie wie zusammengewachsen. Auf der nassen Haut zeichneten sich winzige rote Punkte ab. "Deshalb bist du hier, hm? Brennt das? Bekommst du Pusteln?" Erkundigte er sich betont professionell. Ohne Antwort bestrich er einfach die dünnen Beine. Sie zuckten, die Temperatur schien leicht erhöht. Er seufzte. "Okay, das ist suboptimal gelaufen. Fangen wir noch mal von vorne an, ja? Hallo, ich bin Hadrian. Brauchst du wegen deiner Haut die Salbe?" @~-~@ Umea wusste sich keinen Ausweg. Er konnte nicht weglaufen, nicht, wenn seine Haut noch so nass war! Der konditionierte Reflex fesselte ihn in diesen seltsamen Raum mit den kalten Steinen an Boden und Wänden. Außerdem hatte er furchtbare Angst. Vielleicht war es doch eine dumme Idee gewesen, ohne Kenntnisse einfach in die Menschenwelt zu wechseln! Dabei war er ja gewarnt worden! Eigentlich hätte es gar nicht funktionieren dürfen! Warme Hände packten lange Strähnen seiner vollkommen ruinierten Hochsteckfrisur. Bange blickte Umea in ein fremdes Gesicht. Schwarze Augen, schwarze Augenbrauen, schwarze Locken, eine Nase mit leichtem Höcker, hohe Wangenknochen, weiche Lippen, kantiges Kinn. So grässlich-furchteinflößend sah dieser mutmaßliche Mensch gar nicht aus. "Hallo. Ist ja doch jemand hinter diesen Haaren zu Hause. Also, ich bin Hadrian. Und du bist...?" Ängstlich und müde und unglücklich und hungrig und panisch und ratlos und... "....Umea..." @~-~@ Kapitel 2 Hadrian versuchte es mit einem Lächeln. Er war sich fast, na ja, beinahe, sicher, dass das langhaarige Wesen ein Junge war. Bleich, die Augenbrauen so komisch gefärbt wie die Haare, ein ovales Gesicht, das von grünen Augen dominiert wurde, ohne Wimpernkranz, leider gerade von Schmutzstrichen umgeben. Offenbar hatte Umea sich auch ins Gesicht gelangt! "Umea also. Freut mich. So, Umea, ich will dir helfen, klar? Aber dafür muss der Dreck runter. Du hast den halben Nussbaum abgeschubbert, so wie's aussieht." In den grünen Augen zeichnete sich Panik ab, als er den Duschkopf schwenkte. "Das ist bloß Wasser, okay? Hier, wenn's dir zu kalt ist, kann ich es auch wärmer einstellen." Obwohl eine kleine Abkühlung eigentlich erfrischend sein sollte. Prompt wandte sich Umea weg von ihm, ohne nennenswerten Erfolg. Die Beine schienen wie zusammengeleimt zu sein! Zum Wegkriechen ließ Hadrian es nun doch nicht kommen. Außerdem schaffte Umea es nicht mal, sich in der Badewanne hochzuziehen. Sehr seltsam! Hadrian entschied sich für die Rosskur. Der mutmaßliche Bursche war schmutzig, die Klamotten mussten ohnehin gereinigt werden. Er erhob sich, prüfte gerade noch die Temperatur, ungerührt von der hektischen Zappelei in der Wanne. Irgendwas war hier sehr faul. Er würde der Sache auf den Grund gehen, vor allem, weil sich hier ja sonst NIE was Bemerkenswertes tat! @~-~@ Umea weinte, was nicht weiter ins Gewicht fiel, denn er war klitschnass. Durchaus ein vertrauter Umstand, bloß nicht SO! Hadrian hatte ihm einfach in die langen Haare gefasst, was von "Seetang" gemurmelt (aber Umea war sich nicht sicher, Hadrians Aussprache klang so anders als seine eigene!), mit den Strähnen als Unterpfand, mühelos einen Zopf geflochten. Während Umea noch in der seltsamen, glatten Halbröhre kauerte, zerrte er ihm einfach das vorne gebundene Hemd herunter. Umea schluchzte, wagte gar nicht mehr aufzublicken. "Sakrament." Hörte er erneut, verstand nicht. Ihn überkam die gewohnte Scham: entstellte Hautpartien, überall bis auf Gesicht und Handrücken, dazu noch Angst und Hilflosigkeit. Es wurde jedoch noch schlimmer: dieser Mensch Hadrian packte ihn unter die Achseln, hievte ihn hoch, umklammerte ihn! @~-~@ Hadrian dachte nach, zumindest ein Teil tat das. Andere Abschnitte seines Bewusstseins fragten sich, ob er möglicherweise doch halluzinogene Pilze vertilgt hatte, unabsichtlich. Bei dem grässlichen Fraß in der Schulkantine nicht auszuschließen! Das waren nämlich die merkwürdigsten Unterhosen der Welt. So eine Art geschnürter Lendenschurz, aus Fasern! Kein Leder, das hätte er ja noch verstanden, diskutierte man schließlich seit dem aufsehenerregenden Ötzi-Fund. Außerdem hatte Umea keinen Bauchnabel, keine Brustwarzen. Also, DAS war jetzt definitiv bekloppt, surreal! Versteckte Kamera?! Hadrian ahnte vage, dass man sich hin und wieder außerhalb der "Session" zu verkleiden pflegte, also nicht Fasching, sondern neumodisch Halloween, oder, neuer Trend, zu Spielemessen. WOW, davon hatte er gehört, World of Warcraft. Nicht, dass SO WAS hier jemals erfolgreich sein konnte, wenn man schon Mühe hatte, eine stabile Mobilfunkverbindung aufzubauen. Internet auf dem Land?! Hahaha! Und dann noch Spiele?! Lächerlich! Dafür kaufte man schließlich CDs und die Großkopferten hatten Spielekonsolen, für den eigenen Fernseher! Hadrian umschlang knochige Schultern, steif wie ein Brett, schon wieder heulend. "Jessas!" Brummte er schließlich verärgert. "Hör mal, ich tu dir nix! Ich will bloß die Schrammen versorgen. Es wäre also ECHT NETT, wenn du die Flennerei einstellen könntest." @~-~@ Umea wischte sich mit den freigegebenen Handrücken über die Augen, versuchte, auf die Beine zu kommen. Wackliges Stehen, gut, bloß laufen konnte er noch nicht. Hadrian stand, balancierte ihn an den Schultern aus, studierte ihn dabei ausgiebig, was Umea unglücklich winseln ließ. Er sah nun wirklich entstellt aus. Überall diese Punkte, die juckten, wenn er im Wasser war! "Okay, Umea, kannst du laufen?" Gesenkten Hauptes schüttelte er leicht den Kopf. "Passiert das immer, wenn du mit Wasser in Kontakt kommst?" Die Hände einander umklammernd nickte Umea minimal. Der Mensch atmete vernehmlich durch, so tief, dass die Brise einen Schauder über Umeas Haut jagte. "Was genau bist du eigentlich?" @~-~@ Hadrian betrachtete seinen fremdartigen Besucher prüfend. "Also, du wohnst in der Nähe, in einer kleinen Siedlung am großen See. Ihr verbringt viel Zeit im Wasser, aber deine Haut juckt. Du brauchst diese Taucherbrille." Fasste er die spärlichen Informationen zusammen. Wenigstens war es gelungen, Umea die Treppe herunter in den Arbeitsraum hinter der Verkaufsfläche der Apotheke zu lotsen. Das alles klang absolut absurd! "Dann bist du so ne Art Nixe? Nixerich? Oder wie?" Hadrian grübelte verwirrt und laut. Literarische Motive aus dieser Ecke pflegten grundsätzlich weiblich zu sein, im Wasser Flossen am schuppigen Unterleib zu bekommen. Gut, Umeas Stimme HATTE verführerisch geklungen, als der in fremder Sprache etwas gesagt hatte! Gerade klang der ziemlich normal. Normal für komischen Dialekt und Verständnisprobleme. Andererseits, wenn der so altertümlich lebte, konnte man das schon mal nachvollziehen. "Wir sind einfach die, die am großen See leben." Wiederholte Umea. Was Hadrian vermuten ließ, sein Gast sei nicht gerade die hellste Birne im Kronleuchter. "Gut, das habe ich ja verstanden." Pinselte er behutsam Schrammen ein, die nicht von rotem Blut kündeten, sondern eher einer farblosen Variante, was der Gerinnung glücklicherweise keinen Abbruch tat. "Wie nennen euch denn andere?" Versuchte er es. "Leute vom großen See." Wiederholte Umea. DAS ließ Hadrian ahnen, dass man ihn umgekehrt auch nicht gerade als überragenden Denker einstufte. "Schön, versuchen wir es mal anders. Ich bin ein Mensch, klar? Was bist du?" @~-~@ Umea, auf einem Drehhocker kauernd, versuchte angestrengt, der Konversation zu folgen, aber er verstand nicht. Was meinte Hadrian denn? Hilflos blickte er in die schwarzen Augen. "Okay, sind alle da so wie du? Ich meine, zwei Beine, zwei Arme, zwei Augen, Nase, kein Bauchnabel, keine Brustwarzen?" Umea grübelte. "Eigentlich sind alle unterschiedlich. Ist das wichtig?" Bisher schien ihm dieser rein äußerliche Aspekt nicht sonderlich bedeutsam. Ausgenommen die eigene Nachbarschaft, für die juckende Punkte am ganzen Leib nicht auf besondere Attraktivität hindeuteten. Umea ließ den Kopf hängen, wünschte sich unglücklich, nicht ständig so verträumt und ungeschickt zu sein. @~-~@ Hadrian starrte das merkwürdige Wesen an, eine geraume Weile- Eine schlauere Taktik wollte sich ihm einfach nicht eröffnen. Deshalb hielt er geradewegs auf dem steinigen Weg der Fakten den Kurs. "Also, ich will jetzt echt nich pedantisch sein, aber hier gibt es keinen großen See. Alle Leute, Menschen zumindest, die hier herumziehen, haben Brustwarzen und Bauchnabel. Wenn wir nass werden, kleben uns nicht die Gräten zusammen, Beine, ich meine Beine. Du bist doch kein Fisch, oder?" Umea wirkte für einen Augenblick verletzt. "Ich bin KEIN Fisch! Keine Kiemen, keine Schuppen!" Stellte er erstaunlich energisch richtig. "Aber du bist auch kein Mensch." Hadrian versuchte hartnäckig, die Situation einzuordnen. Selbst wenn er halluzinogene Pilze gegessen haben sollte! "Ich weiß nicht. Bei uns gibt es keine Menschen." "Aha." Atmete Hadrian tief durch. Zugegeben, Umea war sehr viel attraktiver als E.T. oder Alien-Viecher oder das Ding aus dem Sumpf, aber kein Mensch, mutmaßlich. Was nun die Frage aufwarf: wo war das Raumschiff? Oder eine Zeitmaschine wie bei H. G. Wells? "Also, wie bist du hierher gekommen?" Umea umklammerte die schlanken Hände, die unkleidsame Spuren von Desinfektionsmittel trugen. "Da war ein Rosenbogen. Heißt das so? So ein Gerüst mit rankenden Blumen?" Hasardierte Umea ratlos. Hadrian grübelte. "Du meinst im Garten nebenan? An der alten Scheune, Rückwand?" Die alte Scheune stellte die Grenze zum Nachbargrundstück der Haindls dar. Nach langem Kampf hatten sie sich drein geschickt, ihre Nachbarn nicht länger auf Abriss zu verklagen. ÜBER die Grundstücksgrenze ragte die Scheune nicht und sie war VORHER dagewesen. Über den lächerlich-verkitschten Rosenbogen hatte er nur den Kopf geschüttelt. Golfrasen, und dann so was! Aber wer sich Terror-Köter hält und eine geschmacklose, blaue Plastikmuschel im Garten deponiert, da fehlte nur noch der Plastik-Flamingo im Vorgarten! Dort präsidierte ein Buchsbaum-Karree mit Strohblumen, schlicht, aber ebenso abschreckend. "Okay, Rosenbogen. Dann bist du auf den Nussbaum rauf?" Wartete Hadrian geduldig auf Erleuchtung. "Dieses bösartige Tier ist auf mich losgegangen!" Schluchzte Umea erstickt, sich selbst umklammernd, zitternd. "Ja, der Höllenhund, grässliche Töle. Wie bist du denn in die Scheune gekommen?" Vor allem durch die beinahe versteinerte Holzlattenwand? Die grünen Augen visierten ihm verständnislos an. "Ich war in keinem Gebäude. Nur hier drin." Sich die Schläfen massierend rang Hadrian mit seinem Geduldsfaden. "Nur mal so, rein akademisch: du hast nicht zufällig ne Zeitmaschine? Oder eine umgebaute Telefonzelle?" Nutzte er populäre Varianten des eher ungewöhnlichen Transports. Umea ließ die Schultern hängen. "Ich verstehe nicht. Was sind das für Dinge?" @~-~@ Alles war so verwirrend! Langsam drückte ihm auch das gemauerte Haus aufs Gemüt. Vielleicht ließe ihn dieser Mensch Hadrian einfach laufen, wenn er höflich darum bat? Offenkundig fand er vor dessen schwarzen Augen ohnehin keine Gnade. Hunger hatte er jetzt auch noch! "Wenn du zu deinen Leuten am großen See zurück willst, wie stellst du das an?" Lautete die nächste Frage, während Hadrian begann, systematisch Utensilien zusammen zu stellen, aus Schränken, Regalen und... Verschreckt zuckte Umea zurück, als ein metallisch glänzendes Objekt neben ihm abgelegt wurde. "Du weißt doch, wie du zurück kommst, oder?" Umea zog die Beine auf den Hocker, umklammerte sie, rollte sich ein. @~-~@ "Das ist total gaga." Stellte Hadrian laut fest. Was an der Lage nichts änderte. Wenn das tatsächlich kein ziemlich blöder Scherz mit versteckter Kamera war, mochte man gar nicht herausfinden, wo Shakespeare noch recht hatte! So viel zu "mehr" zwischen Himmel und Erde! Wobei nicht mal "Himmel" und "Erde" eindeutig waren. Hadrian bremste sich entschieden aus: nicht die Situation aus dem Blick verlieren! Darin, leidgeprüft, hatte er durchaus Erfahrung. Die Situation stellte sich so dar, dass nach 22 Uhr seine Mutter zurückkehren würde, von ihrem Tratsch- und Bridge-Abend. Deshalb sollte bis dahin die Konfusion aufgelöst sein. Aus Umea schien jedoch im Moment gar nichts halbwegs Verständliches herauszukriegen zu sein, weshalb Hadrian entlang des Rezeptes operierte. Bisschen arg altertümlich, Großbuchstaben, aber sehr sauber aufgezeichnet, mit einem Füller? "Wahrscheinlich mit ner Feder und Tusche!" Seufzte er im Selbstgespräch. Wenn niemand es sah, durfte er Salben und Tinkturen herstellen, Tee-Mischungen orchestrieren. Nicht, dass ihn seine Mutter zum Mithelfen animierte, aber Hadrian fand es beruhigend und befriedigend, wenn Ergebnis zu Rezeptur passte, man nicht bloß eine Sauklaue dechiffrieren musste, um dann eine passende Schachtel aus den tiefen Schubladen zu fischen. Sprüchlein aufsagen durfte er ohnehin nicht. Es erboste ihn, wirkungslose Pülverchen mit hohem Preis verkaufen zu müssen, weil Leute an Reklame und Wunderdiäten glaubten, deren Heilsversprechen in DIESER physikalischen Welt definitiv nicht eingelöst wurden! Er rührte die Mischung vorsichtig und langsam um. Bei Pflegeölen musste man GENAU Konsistenz und Temperaturen beachten, sonst gab es Klumpatsch und Schweinerei. Sollte man vielleicht um einen Fußknöchel herum mal testen? Nach einem Augenblick konsequenter Grübelei legte Hadrian den Spatel beiseite. Aus unerfindlichen Gründen schien Umea Metall nicht zu mögen, hatte sich aber beim glänzenden Duschkopf aus Kunststoff nicht geirrt. Hm. Wenn man die seltsame Nicht-Farbe seines Blutes einkalkulierte, Hämoglobin = roter Farbstoff = Eisen = "Rost" an der Luft... "Ach, sei's drum!" Brummte Hadrian, stippte Zeige- und Mittelfinger mit den Kuppen in den Tiegel, fasste rasch einen nackten Fuß (keine Schwimmhäute), salbte die Haut mit den Punkten ein. Umea schwankte selbstredend auf dem Hocker, stürzte erstaunlicherweise nicht ab. "Zappel nich, ja?! Deshalb bist du doch hier, oder? Weil es Wo-auch-immer-du-herkommst keine Salbe für deine Haut gibt." @~-~@ Umea stand stocksteif und aufrecht. Es tat nicht weh. Die Hände waren warm, ihr Kreisen feinfühlig. Kein Jucken, kein Brennen. Er seufzte erleichtert. Zu früh gefreut: lautstark knurrte seine leere Magengrube! @~-~@ Das ovale Gesicht wies blitzartig dunkle Flecken auf. Na gut, Er-röten konnte man wohl ohne Hämoglobin und Eisen nicht! Hadrian verteilte die letzten Reste der öligen Salbe. "Schön, stellen wir uns einfach der nächsten Herausforderung. Was kannst du essen? Wenn die Antwort 'Katzen' lautet, schmeiß ich dich raus." Solche Art von "Alien Life-Form" fand man nur in amerikanischen Sitcoms lustig. Die grünen Augen präsentierten profunde Verwirrung. Vermutlich gab es wo auch immer weder Katzen noch Hunde. Aber Fische! Hadrian grummelte. "Also, ich habe keinen Fisch, klar? Fischstäbchen vielleicht, aber die sind seit Jahrzehnten Opfer von Gefrierbrand und stützen die lädierte Schublade im Eisfach ab." Er trocknete sich die Hände mit einem Papierhandtuch. "Gut, lass mich hier kurz aufräumen. Wir gehen in die Küche. Vielleicht witterst du ja was Essbares." @~-~@ Umea schämte sich, mal wieder und nur im Schurz nicht ungewöhnlich. Außerdem fragte er sich, wie er wohl die Behandlung begleichen sollte. Alles hier war so fremdartig! Es gab UNZÄHLIGE Dinge! Er musste eher darauf achten, nicht versehentlich etwas zu zerbrechen oder zu beschädigen. @~-~@ Hadrian füllte Wasser aus dem Hahn in ein Glas. Oh, Metall! Er nippte, reichte das Glas rüber. "Das ist Wasser. Trinkwasserqualität, geprüft, ein Lebensmittel." Ja, es kam aus einem Metallrohr. Umea schnupperte verstohlen, nahm tapfer einen Schluck, wirkte verblüfft. "Schmeckt's dir zu fad?" Hadrian wusste nicht, ob er beleidigend wurde, weil er seinen merkwürdigen Gast wie einen Sonderling behandelte, der mit der modernen Zivilisation noch keinen Kontakt gehabt hatte. Wobei man lieber "Wilde" aus dem Wortschatz strich, sonst kam man in das Zoo-Dilemma: wer sitzt eigentlich hinter der Scheibe und beobachtet wen? "Es ist schlicht." Lautete das Urteil. Ob nun Verständigungsbarrieren die Ursache waren, oder seine Geschmackssinne einfach nicht mithalten konnten: Hadrian ließ es dabei bewenden. "Tja, ich weiß nicht, was du so essen kannst." Damit öffnete er einladend den Kühlschrank. Umea wischte verschreckt zurück, rammte einen Barhocker an der Anrichte, ließ prompt das Glas fallen. "Halt!" Donnerte Hadrian, der sich selbst tadelte. Offenkundig waren spontane Eiszeiten kein bekanntes Phänomen bei den "Leuten am großen See". "Entschuldigung! Entschuldigung!" Stammelte Umea, schon wieder den Tränen nahe. "Nicht rühren!" Rasch sammelte Hadrian Kehrblech und Besen vom Kehrichteimer ein, fegte die Scherben zusammen. Ein umfunktioniertes Senfglas, kein Weltuntergang, zumindest nicht für ihn. Er kippte die Ladung in einen Karton aus. Mit dem Fahrrad zur Sammelstelle, das stand ohnehin an. Er feudelte mit dem praktischen Fransenmopp kurz über die Pfütze, verstaute diesen dann am Haken neben dem Kühlschrank. "Okay." Atmete er tief durch. "Umea, ich pass auf, dass dir hier nix passiert, ja? Also, versuch, dich ein wenig zu entspannen." Sonst, fürchtete Hadrian, würde er eine ZIEMLICHE Mühe haben, seiner Mutter die Lage zu erklären. @~-~@ Nein, nicht die feine Englische Art, eher chemische Kriegsführung, aber die Tee-Mischung aus Baldrian und Lavendel, großzügig mit Kandis versehen, tat ihre Wirkung: kein Heulen mehr, kein Zusammenschrecken. Keramikbecher funktionierten auch. Umea nippte brav, knusperte Erdnusslocken. Ja, keine gesunde Kost, aber bisher ohne Nebenwirkungen! Hadrian fand, dass er sich selbst ein Mindestmaß an Entspannung durchaus verdient hatte, indem er sachdienliche Hinweise erfragte. Ja, die schmerzenden, juckenden Punkte waren schon immer da, angeboren. Niemand sonst hatte die, aber man fand sie unkleidsam. 'Hässlich', das war eher Umeas eigene Interpretation der Umstände. Ein Arzt hatte das Rezept aufgeschrieben, der wie ein griechischer Gott der Heilkunst klang, wobei sich Hadrian in Sachen "Göttlichkeitsabstufungen" nicht auskannte. Jedenfalls gab es ein Dickicht und Trittsteine und dann eben den Rosenbogen. Den fürchterlichen Hund! Ja, das waren Augengläser. Nein, leider, leider sah Umea im Wasser schlecht. Die anderen nicht. Die Gläser waren sehr teuer, eine Sonderanfertigung. Außerdem zählte Umea 16 Jahre (wie lang auch immer das im Vergleich sein mochte), lebte bei seinen Eltern und den zwei jüngeren Geschwistern, in einer Siedlung, in kleinen Hütten. In die große Stadt, zu dem Arzt, war er heimlich ausgebüchst, weil es ja irgendwie weitergehen musste, weil, wenn man essen wollte, musste man dafür arbeiten! Hadrian seufzte mit Umea im Chor. Der staunte ihn überrascht, wenn auch ein wenig schläfrig an. "DAS kenne ich auch. Bin im letzten Schuljahr, Abschlussprüfungen! Danach studieren oder eine Lehre..." Jede Menge Möglichkeiten und KEIN Fitzelchen Hinweis darauf, was man möglicherweise ganz passabel absolvieren konnte! Potential für alles und nix! Frustrierend. Da fühlte man sich gleich solidarisch und verpflichtet, auf das "Kleingedruckte" hinzuweisen. "Ich will dir nicht die Laune verderben. Also, die Salbe hilft, schon, aber nicht dauerhaft. Sie lindert bloß die Symptome. Könnte sein, dass du eine Allergie hast. Ähem, das ist eine Reaktion deines Körpers, der sich gegen einen Stoff, eine Wirkung von außen wehrt." Hadrian kämpfte mit verständlichen Erklärungen. "Sieh mal, das ist quasi wie Fieber, also, dein Körper verteidigt sich sozusagen, wie bei einem Angriff. Solange man aber die Ursache nicht behebt, geht's immer weiter damit." Umea ließ den Kopf hängen. "Ich habe das schon vermutet." Murmelte er kläglich. "Gegen manche Allergien kann man durchaus was unternehmen, zum Beispiel die Reize reduzieren oder eine Immunisierung. Allerdings muss man das testen." Hadrian seufzte. "Ehrlich gesagt würde ich das aber nicht riskieren wollen. Du bist gewissermaßen nicht gerade menschlich. Was nicht schlecht ist!" Er funkelte den verwirrten Umea an. "Manche würden dich sicher auch beglückwünschen. Aber sehen wir den Tatsachen in die triefenden Augen: Varianten sind in der Gattung 'homo' nicht wohlgelitten." Umea beäugte ihn hilflos. Hadrian grummelte, nicht gegen seinen ungewöhnlichen Gast gerichtet. "Ich weiß jetzt nicht, wie es bei dir zugeht, aber Menschen gibt's rein optisch in vielen 'Geschmacksmustern'. Größe, Haar-, Haut- und Augenfarbe, dick, dünn, sportlich oder Walze, alles im Angebot. Was es jedoch nicht eingebaut gibt, ist Akzeptanz der Varianz! Ha, wäre ja auch noch schöner! Immer schön dem fraglichen Ideal entsprechen, bloß nicht aus der Reihe tanzen! Deshalb streunst du besser hier nicht rum und hältst dich von Menschen fern." Was er hin und wieder bei gewissen Exemplaren der Spezies auch gern getan hätte. Sein Gegenüber strahlte profunde Ratlosigkeit aus. Hadrian entschied, sich auf fremdes Terrain zu wagen, um die Bedrohlichkeit seiner Warnung zu unterstreichen. "Darf man bei dir Leute wegen ihres Äußeren drangsalieren, ausgrenzen, verprügeln, sogar ermorden?" Die grünen Augen wurden tellergroß, der Mund öffnete sich vor Entsetzen. "Nie~niemand dürfte das!" Stammelte Umea schließlich verschreckt. Da würden schon die P.U.D.E.L. auftreten! Überhaupt, eine absurde Vorstellung, weil ja niemand für sein äußeres Erscheinungsbild belangt werden konnte. Zumindest ihm war das bisher noch nie zu Gehör gekommen! "Na, das ist hier anders, das kann ich dir sagen! Obwohl, wieso sind die Punkte hässlich? Gibt es bei euch keine Sommersprossen oder so?" Grübelte Hadrian, dessen Gedankengänge zum Mäandern neigten. Umea drückte den Keramikbecher ein wenig fester. "Niemand verachtet mich, im Gegenteil, alle sind sehr mitfühlend. Bloß, so in der Summe, bin ich damit nicht sonderlich tauglich. Es sieht eben hässlich aus, und wenn, na ja, wenn man jemanden finden möchte, so als Partner..." Hadrian lupfte eine Augenbraue. "Oha. Du bist auf Brautschau?" Himmel, wie altmodisch das klang! Eilig schüttelte Umea den Kopf, der Zopf flog förmlich durch die Luft. "Nein, nein! Bei uns wählen die Weibchen ihre Partner!" "Frauen. Nicht Weibchen." Korrigierte Hadrian. "Interessant. Verstehe. Tja, wenn man den Damen, das sind Frauen, bloß höflich formuliert, nicht gefällt..." Umea seufzte resigniert. "Wenn ich was Besonderes leisten könnte, hätte ich vielleicht noch eine Chance. Aber der Nutzen für meine Talente ist noch nicht entdeckt. Sagt meine Mutter." Was Hadrian ein Grinsen entlockte. "Ja, MEINE Mutter hat hin und wieder die gleiche Meinung von mir." Das rief ihm wieder mahnend die Situation ins Gedächtnis. "Jedenfalls, das muss ich erwähnen: es wäre nicht gut, wenn meine Mutter dich hier anträfe. Nicht persönlich gemeint, aber zu erklären, woher du kommst, was du bist...!" Hadrian lupfte bekräftigend eine Augenbraue in die schwarzen Locken. Nein, wenn ER selbst es schon nicht verstand, würde seine Mutter, abhängig vom Verlauf des Abends, keine große Bereitschaft zeigen, "Nonsens" zu fördern. In dieser Hinsicht erwies sie sich als unbeugsam. "Ich möchte wirklich keinen Ärger bereiten." Murmelte Umea in seinen Tee, offenkundig seine Sünden aufzählend, prompt noch stärker schrumpfend. "Schon klar." Kürzte Hadrian die Introspektive ab. "Was mich jetzt wundert: wenn es in deiner Welt keine Menschen gibt, woher wusste dieser Arzt, dass du hier, bei 'Menschens' eine Salbe bekommen kannst?" So ganz erschloss sich ihm das rudimentär skizzierte Bild einfach nicht. Umea grübelte angestrengt, seufzte. "Ich bin nicht sicher." "Hm." Quittierte Hadrian diese Einlassung. "Wie auch immer, lass uns mal schauen, ob deine Sachen inzwischen trocken sind und ob die blöde Töle deine Sandale durchgekaut hat." Umea folgte ihm, lief wieder flüssig. Merkwürdige Sache, so eine Art "Nixenreflex" bei Wasserkontakt, aber an Land doch aufrecht marschierend?! Tatsächlich waren Umeas schlichte Kleidungsstücke längst getrocknet, nicht mehr verdreckt. Hadrian, der sie rasch abgeduscht hatte, berührte sie prüfend. "Echt ungewöhnliche Textur." Konstatierte er. Zumeist bestand seine Bekleidung aus Baumwollgemischen oder Kunstfasern, erinnerte ein wenig an alte Kartoffelsäcke, bloß viel feinmaschiger und weniger kratzig. "Mein Vater hat den Stoff gewebt." Erläuterte Umea, unverkennbar stolz. Für ihn war es keineswegs verwunderlich, dass Hemd und Hose rasch trockneten. Deshalb fertigte man sie ja! Im Wasser reichte der Schurz, nur außerhalb, oder wenn man eben, leider hässlich...! Er seufzte, beäugte seine Sandalen. Die hatten die Beißattacke gut überstanden, robust und durch Gebrauch abgehärtet. Als er sich aufrichtete, mahnte ihn sein Gewissen. "Oh, für die Salbe...?" Hadrian, der ihm schweigend zugesehen hatte, lupfte eine Augenbraue. "Hast du Geld?" Solches hatte er zwischen Rohrkolben-Tresor und Augengläsern nicht bemerkt. Umea warf ihm einen hilflosen Blick zu. "Geld, das ist ein Tauschmittel." Bemühte Hadrian sich um eine Erklärung. Umea hüstelte knapp. Die höflichste Unterbrechung überhaupt, damit man sich nicht lächerlich machte als arroganter Popanz. "Ich verfüge nicht über Zahlungsmittel. Das brauchen wir eher selten, weißt du? Wir tauschen. Fische gegen Netze, Rohstoffe gegen Muscheln oder...!" Eilig löste Umea einen gedrehten Grashalm von seinem Handgelenk, reichte ihn samt des Anhängers weiter. "Ist das genug?" @~-~@ Hadrian schluckte noch ein wenig an seiner Entlarvung als eingebildeter Laffe. Er nahm den Anhänger entgegen, studierte ihn. "Bist du dir sicher? Das ist doch kein Familienerbstück, oder so?" Eine Muschel war es jedenfalls nicht. Eher eine Art maritimes Fossil? "Kein Erbstück." Bestätigte Umea, beäugte ihn nervös. "Du brauchst das nicht? Ich meine, wenn du gerade klamm bist..." Bemühte sich Hadrian, seine vorlaute Belehrung auszugleichen. Umea streckte das Rückgrat durch. "Gilt unser Tausch?" Sehr förmlich, aber die grünen Augen plädierten flehentlich für eine Zustimmung. "Gut, gilt." Schickte Hadrian sich drein, packte Umeas Rechte, drückte sie bekräftigend. Zumindest diese Geste schien vertraut. Das ovale Gesicht leuchtete mit einem erleichterten Lächeln auf. Der Anblick war derart verblüffend, dass Hadrian die Kinnlade herabsackte. Zu seinem Glück schien Umea dies nicht zu registrieren, weil just eine andere Kalamität in den Vordergrund rückte. Er entzog Hadrian rasch die Hand, hantierte an seiner Haarpracht herum. Offenbar trug man sie hochgesteckt. Hadrian verfolgte die unfreiwillige Slapstick-Nummer einige Momente schweigend, hütete sich tapfer davor, einen Säbel anzudienen. Weil man ja "kurzen" Prozess mit der Wurschtelei machen konnte! Andere Länder, Welten, andere Sitten, ermahnte er sich streng. Nachdem das zweite Mal die wirre Pracht über den schmalen Rückgrat heruntergesaust war, franste sein Geduldsfaden aus. "Hast du keinen Haargummi? Ich meine, Haarband? Elastisch?" Umea schüttelte die dünnen Arme aus, längst nicht mehr lächelnd, sondern angestrengt blickend. "Lass mich mal versuchen!" Drängte Hadrian sich auf, wirbelte Umea um die eigene Achse, bevor Protest erhoben werden konnte. Die weißblonden, definitiv grünstichigen Haare, oder eher an Bandnudeln erinnernden Auswüchse, waren nicht einfach zu bändigen, die schlichte Schnur unterlegen, wenn man nicht zu drastischen Methoden griff. Hadrian, der immer mal im Gemeindegarten beim Hochbinden von Bohnen, Erbsenschoten und Zierwein half, hatte den Bogen raus. Vertüdeln, fest eindrehen, schnecken, dann, ratzfatz!, außen einkordeln! Das Ergebnis ähnelte einer altmodischen "Bienenkorb"-Frisur. Nervös tastete Umea an seinen Kopf Richtung Zimmerdecke. "Willst du in den Spiegel gucken?" Nach vorne raus, zwischen Verkaufsraum und Hinterzimmer/Lager/Labor gab es an der Wand einen kleinen Spiegel. Umea schüttelte vorsichtig den Kopf. "Vielen Dank!" Bekundete er zaghaft. "Kein Problem." Hadrian trat mit ihm in den Garten, atmete durch, wandte sich herum. "Hör mal, das vorhin, über Menschen und so, das habe ich wirklich ernst gemeint. WIR sind im Kollektiv, das heißt, mehr als einer, nicht grundsätzlich nett. Nicht-Menschen genießen kein Pardon, verstehst du? Also, lauf hier nicht so rum, dass du gesehen wirst, ja? Wenn du zu mir willst, schau erst oben in das Zimmer da. Ist die Luft rein, ich meine, besteht keine Gefahr, hänge ich einen Schal dort hin, mit rot-weißem Muster, sonst versteck dich hier, ja?" Prüfend blickte er Umea an, ob der sich auch alles artig gemerkt hatte. "Noch etwas." Setzte er die Erläuterungen fort, während sie dem Sand-Kies-Weg zum Gartenzaun folgten. "Die blöde Töle kommt nicht über den Zaun. Wenn du also durch das Portal kommst, läufst du wie der Teufel, ich meine SEHR SCHNELL bis zum Zaun. Drüber springen und fertig!" Umea nickte brav, ganz aufmerksamer Schüler. "Nicht auf irgendwelche Bäume klettern. Ganz schlechte Idee!" Ermahnte Hadrian. Er blieb stehen, lauschte. Es war ruhig, selbstverständlich. Der Krawall-Köter residierte jetzt im Haus, war ja kein Wachhund. Damit er nicht fror oder irgendwer ihn in den Karpaten aussetzte! Er stieg mit Umea über den Gartenzaun. Keine große Sache, anders als bei ihrem alten Jägerzaun ragte nichts Spitzes hoch. Beide erreichten den Rosenbogen. "Also..." "Vielen Dank. Vielen Dank für alles, Hadrian." Wiederholte Umea, zögerte kurz, schlang ihm die dünnen Arme um den Nacken, drückte sich an ihn. Derlei Aufmerksamkeiten war Hadrian ganz und gar nicht gewöhnt. Deshalb starrte er Umea entgeistert an, als der sich verlegen lächelnd von ihm löste. "Äh, pass auf dich auf, ja?" Umea nickte. Der gezwirbelte Bienenkorb neigte sich majestätisch, aber sturmfest. Er umklammerte kurz den Rohrkolben an der Schnur, marschierte durch den Rosenbogen. Hadrian glotzte, sehr unkleidsam, streckte die Hände aus. Aber?! Fest, sehr alte Latten, definitiv Scheunenwand. Kein Durchkommen. "Verdammte Hacke!" Resümierte er, wirrte sich mit beiden Händen durch die zerrauften Locken. "Das glaubt mir kein Mensch." Bevor er in diese gefährliche Situation geriet, sich nämlich diesbezüglich erklären zu müssen, lärmte sein Verstand wie ein Aufziehwecker. In Kürze müsste seine Mutter den heimatlichen Hafen anlaufen. Er sollte besser alle Spuren seines ungewöhnlichen Gastes beseitigt haben! @~-~@ Kapitel 3 Umea brauchte einige Sekunden, danach hatte er sich an das dumpfe Zwielicht im dichten Gebüsch gewöhnt. Eher durch das Ansteuern der schlüpfrigen Steinplatten als auf Sicht verließ er das geheimnisvolle Areal, atmete tief durch. Längst waren die beiden Sonnen untergegangen. Lieber, Großer M, was für ein Abenteuer! Ein Adrenalinschub verdrängte die ermüdende Wirkung des Tees kurzzeitig. Wenn man bedachte, was er gerade...! Erstaunlicherweise, zumindest für seine häufigen Träumereien, bremste Umea sich selbst abrupt aus. Es schien ihm besser, zunächst dieses Erlebnis nicht zu berichten. Wie sich ja gezeigt hatte: er wusste viel zu wenig über diese fremdartige Welt. Diese Unkenntnis hätte ihn teuer zu stehen kommen können. Es hatte sich gelohnt, oder? Umea schritt schneller aus, begann zu laufen. Bald konnte er das vertraute Glitzern einer gewaltigen Wasserfläche erkennen, über der einzelne Lichtquellen schwebten. Richtig, bei klarer Witterung ging man mit Leuchtkörpern auf Beutezug bei den Raubfischen! Am Ufer, sicher hinter hohen Halmen, streifte Umea sich Hemd und Hose ab, bündelte sie mit den Sandalen, band sich die Tauchgläser um, tastete verblüfft nordwärts. Der Turmbau zu Umea hielt sich wacker! Erstaunlich! Zögerlich stapfte er in das seichte Wasser. Hier sah ihn noch niemand, man war schließlich im und auf dem Wasser aktiv. Zwar wussten alle hier um seine traurige Konstitution, doch Umea zog es vor, sich nicht in aller gloriosen Hässlichkeit zu präsentieren. Getarnt hinter den hohen, hohlen Halmen der Rohrkolben ging er in die Hocke, schöpfte sich sogar Wasser über. Nichts! Kein Jucken, keine Punkte! Umea presste eilig beide Handflächen auf den Mund, um nicht vor Begeisterung zu jauchzen. Beglückt, darum glockenschlagwach hielt er eilig mit geschmeidigen Bewegungen auf seine Familie im Getümmel zu. Mama, die beiden jüngeren Geschwister, endlich konnte er ihnen helfen! @~-~@ "Verdammte Hacke." Stellte Hadrian kaum hörbar fest. Ein sehr lebhafter Traum oder verdorbenes Kantinen-Futter schieden aus, weil es im Karton das zerbrochene Senfglas und auf seinem altmodischen Sekretär das Grasband mit dem möglicherweise Fossil-Anhänger gab. Selbstredend nicht der Modemarke! Außerdem hatte Hadrian noch zu knabbern, nicht dem servierten, eher labbrigen Mittagessen zuzuschreiben. Weil es das eigene Selbstbild doch ramponierte, wenn man wie ein depperter Bourgeois auftrat! Im Nachhinein schämte er sich nämlich sehr beim Revue-Passieren der erstaunlichen Ereignisse des Vorabends. Wenn ER unwahrscheinlicher Weise der einzige Mensch war, mit dem Umea JEMALS Kontakt haben würde, Mann, DA hatte er aber für seine Sorte Reklame gemacht! Hochmütig, eingebildet, ignorant, vorlaut! Hadrian grummelte. Es wurde bei keinem Durchlauf besser. Lediglich das Argument, er habe Umea vermutlich grundlegend abgeschreckt, vor Schlimmerem bewahrt, konnte als Feigenblatt fungieren. Trotz des höchstpersönlichen Einlaufs abstoßender Charaktermängel konnte Hadrian diese Episode auch nicht einfach abhaken. Er erledigte in der Schulbibliothek seine Aufgaben, wiederholte Lernstoff für die Prüfungen. Mit dem Fahrrad querfeldein über Wirtschaftswege benötigte er eine halbe Stunde zum Schulzentrum. Das wiederum hatte man nach dem Vorbild Angloamerikanischer Bildungsinstitute errichtet. Klar, Grundschulen dezentral, das ging noch an, aber winzige Häuschen für jeden Weiler im Landkreis?! Geldverschwendung! So wurde ab der Grundschule alles an einem Ort konzentriert, drei Abschlüsse möglich, dazu noch neben dem Gymnasialzweig ein Fachabitur mit Schwerpunkt Handel. Der Umstand, dass sich hier die gesamte Jugend des Landkreises konzentrierte, ließ vorsichtig werden, zumindest Hadrian. Wenn man's hier verkackte, musste man das Bundesland wechseln, mindestens. Frei konnte man sich jedenfalls nicht fühlen, aber wenigstens nicht gänzlich abgehängt. Das Prestige-Projekt wurde großzügig ausgestattet. In der Schulbibliothek gab es sogar Computerarbeitsplätze mit Netzverbindung nach draußen, allerdings nur über einen Filter mit erlaubten Adressen. Diese Plätze waren häufig belegt. Hadrian genoss dank der Arbeit mit seiner Mutter einen kulturtechnischen Vorteil: er konnte Papier-Lexika bedienen. Die waren weniger gefragt, deshalb verfügbar. So kam er eben auch an Antworten, was Schularbeiten betraf. Deshalb notierte er sich Begriffe, die er nachzuschlagen wünschte. Loseblattsammlungen mit Ergänzungslieferungen waren hier noch nicht ausgestorben. - Asklepios....doch so eine Art Gottheit? - das Fossil....hmm.... ähnelte einer Nautilus, bloß die Farben... - Mythen rund um Nixen...oha, keine Sirene! - Frühe Siedlungen an Seen... - Unverträglichkeit von Eisen... - Einsteins Einschätzung zu Zeitreisen... Hadrian raufte sich die schwarzen Locken. NICHTS ergab in der Summe einen Sinn! Eine Zeitreise in frühe Siedlungsformen schied aus, selbst wenn sich im Laufe der Jahrmillionen die Gegend erheblich verändert hatte. Wie sollte es ihnen beiden möglich sein, sich halbwegs verständlich zu unterhalten?! Klar, Umea kannte bestimmte Dinge und deshalb ihre Namen nicht, aber sie konnten sich flüssig unterhalten. Gut, der Reflex in den Knien, der WAR merkwürdig. Andererseits kannte Hadrian auch den Funktionstest mit dem Hämmerchen. Was für Nicht-Menschen vermutlich auch kurios anmuten musste! Überhaupt, wenn man sich Umea mal als See-Siedler vorstellte... Hadrian zog metaphorisch den Hut, zollte Respekt. Umgekehrt wollte er sich lieber gar nicht erst ausmalen, was für ein erbärmliches Bild er selbst geboten hätte. Außerhalb der so genannten Zivilisation seiner Heimat, ohne all den Komfort, die selbstverständlichen Einrichtungen der öffentlichen Versorgung, Strom, Wasser, Entwässerung, Wärme! Ihn schauderte. Himmel, er hatte nicht mal die Aufnahme in die gemischte Truppe Freiwillige Feuerwehr/Pfadfinder mit acht Jahren geschafft! Ein bisschen zimperlich war er schon: in Dreck herumwühlen, rauchende Lagerfeuer, verschwitzte Klamotten und so ein schwerer Helm... Ja, er war eben ein Weichei, ein verzärteltes Zivilisations-Bürschchen, das gegen Alien-Invasoren, Zombies und anderes mutiertes Kroppzeuch keine Chance hatte! Aber mal ehrlich, wer wollte als Gammelfleisch durch die Gegend staksen?! Unhygienisch und auch noch unlogisch. Er seufzte leise, klappte sein Notizbuch zu. Scherz beiseite. Umea würde sich vermutlich nicht mehr blicken lassen. Er hatte ihn ja gründlich abgeschreckt, von oben herab behandelt, auch noch eine wahrscheinlich unangemessen hohe Bezahlung eingefordert. Das wog keine Salbe auf. Andererseits, wie hätte es auch funktionieren sollen? Wo er ja der absolute Freunde-Magnet war! @~-~@ Vier Tage hielt die Wirkung tatsächlich an. Niemand hinterfragte, wo GENAU die Salbe hergekommen war. In die Stadt verirrte man sich nur selten, aber dort musste alles möglich sein. Das konnte man auch ganz pragmatisch-gleichmütig als Tatsache anerkennen. Umea nutzte einen Lieferauftrag aus, erneut in die Stadt vorzudringen, weil ihm bewusst war, dass er erschreckend ahnungslos operiert hatte. Am See interessierte man sich nicht für Menschen. Wieso auch, die blieben bei sich, man konnte nicht rüber, also friedliche Koexistenz und alles Gute! Umea hätte es dabei bewenden lassen können. Vermutlich erstaunte es auch niemanden, wenn die Wirkung der Salbe nicht anhielt, selbst wenn man sie erneut auftrug. Man müsste nicht allzu sehr schwindeln. Das Umea tat ohnehin nicht gern. Da kam man schnell zu Fall, musste sich so viele Dinge merken, um nicht aufzufliegen! Da wurde ihm selbst am Boden ganz höhenkrank! Andererseits stellte es schon, gewissermaßen, ein Talent dar. Umea konnte in gar nichts glänzen, was er jemals versucht hatte, trotz Anleitung, Geduld und Nachsicht. Bloß diese eine Sache, durch ein vergessenes Portal mit dem teuren Rezept in die Menschenwelt gelangen: möglicherweise war DAS eine Begabung, die man nicht einfach verwerfen sollte?! Umea entschied, die Verantwortung zu übernehmen, sich nicht mit der gewohnten Verträumtheit treiben zu lassen. Schlimmer als wie üblich scheitern konnte er ja schließlich nicht! Deshalb begab er sich erneut in die große Collectio. Menschen, zu denen gab es unzählige Studien, Forschungszweige, ganze Wände voll mit Erkenntnissen! Überwältigt plumpste Umea auf seine vier Buchstaben. Wo sollte er bloß anfangen?! Da zeigte sich, dass dem Tüchtigen (in spe) hin und wieder Madame Fortuna zulächelte, auch wenn es ein Raubtiergebiss mit Pesthauch war. Just an diesem Tag instruierte der legendäre Isidor von Spangenburg eine hoffnungsfrohe Schar Jung-Daimonen. @~-~@ Umea hockte, merklich blass um die Nase, im Schatten neben einem Mee-Poo. Der Metropolitan Polis-Offize namens Huxley teilte mit ihm einen geräucherten Fisch. "Mach dir nix draus, Kamerad! Mir is auch immer ganz flötsch, wenn ich aus der Bude rauskomme. Bin mehr der praktisch Bildbare." Ergänzte er aufmunternd. "Es ist ganz schön beängstigend." Murmelte Umea, knabberte an seinem Fischanteil. Ihn wunderte, dass er überhaupt etwas herunterbrachte. Erst drei Stunden heimlich mitlauschen von "Easys" Lektionen zur Natur des Menschen, danach eine Zeitraffer der Historie in der näheren Umgebung. Gewissermaßen riskant, doch Umea hatte seine eigene Heimat als Ankerpunkt ausgewählt, die Projektionen verfolgt. Jetzt war es umgekehrt, SIE verfolgten ihn! Hadrian hatte nicht gelogen: Menschen waren furchterregend, grausam, irrational und ihrer Umgebung entfremdet. Gleichzeitig einfallsreich, neugierig, unerschrocken. Man konnte gar nicht glauben, dass ihre Existenz stets zwischen vollkommenen Extremen oszillierte! Isidor von Spangenburg hatte seine "debile Daimonen-Deliquierenden-Bande" nachdrücklich instruiert: unsichtbar bleiben, Tieren ausweichen, die ihre Sinne noch nicht mit einem fehlerhaften Korrektiv der Ignoranz, dem Gehirn, blockierten! Sich nicht von menschlicher Dummheit anstecken lassen! Erst denken, dann noch mal denken, dann drüber schlafen und DANN die Finger/Krallen/Klauen/Greifwerkzeuge davon lassen! Umea fragte sich, ob er dieses "Talent" besser schleunigst vergessen sollte. Im Gegensatz zu den Energie vertilgenden Daimonen blieb er SEHR und DEFINITIV sichtbar. Dass Tiere ihn witterten, na, das hatte er ja schmerzhaft gelernt. Wie lautete die erste Lektion: du sollst NICHT eingreifen! Nichts verändern, nichts beeinflussen, dich nicht einmischen! Oberstes Prinzip. Wenn man dagegen verstieß, waren die P.U.D.E.L. erst der traurige Anfang! Im Fazit befand er sich gerade auf der Überholspur Richtung massiven ÄRGER, hatte ahnungslos gegen alle Regeln verstoßen, die es gab: heimlich ein Portal nutzen, vor Menschen sichtbar sein, Menschen von dieser Welt erzählen, aus der Menschenwelt etwas einführen. Bei der Salbe war er sich nicht ganz sicher. Außerdem aus seiner eigenen Welt dort eine Spur hinterlassen! Umea seufzte, wurde tröstend auf die schmale Schulter geklopft. "Das geht vorbei, Kumpel. Geh heim, hab Spaß mit deinen Leuten. Dann isses gleich wieder gut." Lautete Huxleys wohlmeinender Ratschlag. Umea erhob sich, lächelte blass, bedankte sich ausführlich. Ja, er sollte sich lieber auf den Heimweg machen. Keine Entscheidung musste sofort getroffen werden! @~-~@ Vielleicht war das doch keine so schlaue Idee, bei eingehender Betrachtung. Hadrian zog die Stirn kraus, kreiselte um die eigene Achse. Rot-weiß, rot-weiß, rot-weiß! Eine Alternative zum Kleinkinderschal bot sich nicht an, den er hin und wieder als Ofenhandschuhersatz am Stück nutzte, wenn er aus der Küche nach oben in sein Reich heiße Speisen mitnehmen wollte. So war das Ding nützlich, aber eben auch nicht bloß ein kleines Stück gewebter Stoff, das man gedankenlos flaggen konnte, um einem Fremdweltler zu signalisieren, dass die Luft rein war. Weil es eine Geschichte gab, eine Vergangenheit, die Hadrian möglichst zu vergessen suchte. Dieses Überbleibsel erinnerte daran. Aber etwas, das noch nicht kaputt war, wegwerfen? Da würde die Lücke auffallen, davon war er überzeugt. Weil es die Lücke ohnehin gab, nichts abgedeckt werden konnte. Ja, biologisch gesehen verfügte er über einen Satz "Vater". Rechtlich betrachtet wohl auch, der Status löste sich ja nicht auf. Tatsächlich wuchs er als Einzel-Eltern-Kind auf, das Resultat einer lächerlich-traurigen Fehleinschätzung, die damit ihren Anfang nahm, dass der junge Streifenpolizist eine "Studierte" abgeschleppt hatte. Da war man wer! Nur das Gefälle blieb, während der Triumph welkte. Seine Mutter hingegen hatte ein festes Ziel: eine eigene Apotheke bewirtschaften. Beharrlich, ausdauernd, konzentriert hatte sie darauf hingearbeitet. Ein Kind stellte kein Hindernis dar. Wozu gab es schließlich entsprechende Einrichtungen? Jedes Gehalt wurde streng geprüft, was zurückgelegt werden konnte. Das ging mit ihrem Just-Gatten nicht konform, der allzu häufig auf Sticheleien hörte. Hadrian kannte seine Mutter als gerecht, aber konsequent. Sie WOLLTE ihre Apotheke, keine teuren Autos, keine Reisen, keinen Luxus. Wenn ER andere Prioritäten setzte, musste man sich eben Lebewohl sagen. Und, nein, der Bub würde das schon verkraften! Andere taten das auch. Ständiger Krach tat ihm ja auch nicht gut. Hadrian war klein, an Fremdbetreuung gewöhnt und bei geregeltem Tagesablauf sehr umgänglich, weshalb er mit seinem Vater als Dreikäsehoch nicht sonderlich auf einer Wellenlänge funkte. Der hielt Besuchstermine nicht ein, schleppte ihn zu einem Fußballspiel mit, stellte Fragen über Freunde der Mama. Hadrian interessierte sich nicht für Fußball, fand es neurotisch, nur aus Ortsansässigkeit für irgendwelche Clubs "SEIN" zu müssen, ihre Farben zu tragen. Vielleicht rührte es von diesem Erlebnis her: brüllende, beinahe stiernackige Männer, Enge, Herumhopsen, Trommeln, Tröten und Feuerwerk. Hadrian, fünf Jahre alt, Scheidungskind, schwieg verängstigt über diese Ausflüge. Sie gefielen ihm nicht, aber er hatte längst gelernt, dass man manchmal Dinge ertragen musste und sei es bis zur Abholzeit der Mama. Außerdem durfte man ja nicht einfach seinen eigenen Vater nicht mögen. Zumindest kam das nirgends vor in den Geschichten, die er im Kindergarten hörte. Eine Weile wären die unerfreulichen "Vater-Tage" vermutlich noch weitergegangen, hätte es da nicht diese Sache auf dem Parkplatz gegeben. Sonntag, Ausflug mit dem Auto. Kein Kindersitz, also Wegducken! Der Supermarkt-Parkplatz war leer, die Geschäfte auf der "grünen" Wiese geschlossen. Industriegebiete boten jedoch auch andere Unterhaltungen. Hadrian hatte gewartet, im abgeschlossenen Auto. Es sollte nicht lange dauern, was auch immer. Die Frau mit dem Hund sah ihn trotz Wegduckens, wie er da wartete. Und wartete. Dann kam eine Streife vorbei. Die Frau mit dem Hund gestikulierte in seine Richtung. @~-~@ Vielleicht hatte er geglaubt, bei "Kollegen" würde man ein Auge zudrücken. Was gedrückt, und zwar ein-gedrückt, wurde, war eine hintere Scheibe, dann öffnete man das Auto. Hadrian verkroch sich im Fußraum, weil er sich vor dem Ärger seines Vaters fürchtete. Die Frau ließ den Hund los, der Hadrian über das Gesicht leckte. Ein komischer, hechelnder Hund mit einem rosa Schleifchen im Fell. Da musste man doch rauskommen, weil es kitzelte, der Hund schnaufte und gern Pfötchen geben wollte. Schuldbewusst fädelte Hadrian auch den kleinen Brustbeutel unter seinem verschwitzten T-Shirt heraus. Adresse, Kontaktpersonen. Hadrian fuhr mit einem Taxi heim, im Kindersitz. Das Umgangsrecht wurde gestrichen. Niemand zeigte Verständnis, ein Kind allein auf einem Parkplatz zurückzulassen, wenn es in der Gegend nur eine Sorte von Geschäftsangeboten zu diesem Zeitpunkt gab: in der "Sperrzone". Hadrian wollte seinem Vater ohnehin nicht gern unter die Augen treten. Das Auto war beschädigt worden, weil er sich doch nicht unsichtbar machen konnte. Da hatte seine Mutter verkündet, zur Grundschule würde er ganz woanders sein, nämlich an dem Ort, wo sie die Apotheke übernehmen konnte! Mit einem Häuschen, in dem die Apotheke war, mit Garten dahinter, ruhig und WEIT weg. Auch wenn er sich feige vorkam, freute sich Hadrian über diesen Ausweg sehr, sodass er nicht mal großen Kummer empfand, sich von den anderen Kindergartenkindern zu verabschieden. @~-~@ Hadrian seufzte, hisste den Kinderschal des Fußballclubs mangels Alternativen. Er hoffte bloß, dass seine Mutter nicht dachte, er hege irgendwelche depperten Illusionen über seinen Vater. Nein, den vermisste er nicht. Rein statistisch wäre es manchmal ganz nett gewesen, einen Vater vorweisen zu können. Wenn man sich das real existierende Modell ansah, verflog diese Verzagtheit rasch. Hadrian konnte seiner Mutter auch nicht böse sein. Menschen veränderten sich nun mal. Besonders gut kannten sie sich selbst auch nicht immer. Sie liebte ihre Apotheke und ihre Arbeit als Apothekerin. Wenn man diesen Fakt anerkannte, kam man gut zurecht. Er hätte es jedenfalls viel schlechter treffen können! Deshalb machte er sich doch Gedanken, sie nicht unbeabsichtigt zu verletzen. Absichtlich hatten das andere schon zur Genüge getan, auch wenn ihm das erst später bewusst wurde. HIER war es nicht üblich, rein schon aus arithmetischen Gründen, alleinstehend zu sein. Eine Geschiedene? Die brachte die ewigen Ladenhüter auf den Plan, aber auch andere, die gewisse Zweifel an der monolithischen Qualität ihrer Bindung hegten. Zugegeben, der Bub war ein Hindernis, allerdings kein Bemerkenswertes, immerhin wurde der tagsüber ja wegsubtrahiert. So ungewöhnlich hatte Hadrian sich gar nicht empfunden. Seine Außenseiterrolle, nicht die des Sohns der Apothekerin, wurde ihm erst später bewusst, weil er nicht getauft war und die Kommunion mit Unterricht anstand. Seine Mutter, die sich um wenig scherte und sehr schneidend formulieren konnte, diskutierte gelassen die Thematik. Ja, hier war es üblich, katholisch zu sein, zumindest nach außen, sich an die Rituale des Rudels zu halten. Er könne sich da einfügen, durchaus. Nur wie immer gelte es, die Packungsbeilage zu studieren, das Kleingedruckte. Hadrian tat es, wenn auch mit einigen Schwierigkeiten. Was ihn zur Auffassung führte, derartige Gefolgschaft nicht ohne Lügen leisten zu können. Das hätte aber gar keinen Sinn, richtig? Also blieb er außen vor, lernte die andere Art Unannehmlichkeiten und Ungerechtigkeiten kennen, entwickelte einen Blick dafür, wie man seine Mutter behandelte oder über sie tratschte. »Leute sind Leute.« Ein Satz, der sich ihm eingeprägt hatte. Man musste einen unbeugsamen Willen haben, sich nicht unterkriegen zu lassen. Doch wem wollte man im Spiegel ins Gesicht sehen? Deshalb überprüfte Hadrian häufig, was er sich herausnehmen konnte. Ob es den Preis wert war. Auf seine streitbare, entschlossene, sachkundige und engagierte Mutter ließ er nichts kommen. @~-~@ Kapitel 4 Das Gespräch war nicht für seine Ohren bestimmt gewesen. Andererseits stellte der Inhalt lediglich klar, was ihm selbst nicht mehr entgehen konnte, trotz einer gewissen Verträumtheit: ja, er war das älteste Kind einer sehr versierten Jägerin und Fischerin, hatte nahezu alles ausprobiert, was sich an Tätigkeiten fand, ohne einen zuversichtlich stimmenden Erfolg. Somit stand für seine Zukunft nicht allzu viel zu erwarten. Umea wischte sich über die Augen, schniefte kurz. Er wollte wirklich nützlich sein, sich anstrengen! Das schien auch niemand in Abrede zu stellen. Ein netter Bursche, jaja, nur, genau, nur ungeschickt, unbegabt, untalentiert, unfähig. Konnte er sich daher den Luxus leisten, die einzige Trumpfkarte nicht auszuspielen, nur aus Angst und Unkenntnis? Weil er noch nicht wusste, was er mit ihr anfangen wollte? Bisher war ja noch nichts passiert. Wenn er, nun zumindest einigermaßen, auf die Regeln achtete, gab es vielleicht doch etwas, was von der Menschenwelt nützlich sein konnte, ohne gegen die Regeln zu verstoßen. @~-~@ Hadrian merkte auf, als er ein ungewohntes Geräusch hörte, Krachen und Knacken, Brechen von Geäst. Danach kläffte der irre Köter wieder. In Hochgeschwindigkeit raste er die Stiege herunter, über den Sand-Kies-Weg durch den Garten. "Umea?!" Im ziemlich zerpflückt und zerzaust wirkenden Hortensienbusch hörte er ein Winseln, wenn man das Gekeife der Terror-Töle ausblendete. Umea musste wie befohlen gespurtet sein. Bloß hatte der Hechtsprung über den Zaun nicht ganz die korrekte Zielrichtung genommen. "Jessas!" Kommentierte Hadrian, fischte. Aufgelöste Bandnudelhaare, die bekannten Webkleider, aha! Mit Schwung die Hüften umfassend pflückte er Umea aus anhänglichem Grün. Blätter, kleine Zweige und verholzte Strauchstängel purzelten herunter. Umea rollte sich um seinen linken Arm, schluchzte unterdrückt. "Lass mich mal schauen." Die Haare weg sortiertet, um freie Sicht zu bekommen, arbeitete sich Hadrian behutsam in das Knäuel. "Kannst du die Finger bewegen?" Schniefen, minimales Nicken. "Wahrscheinlich verstaucht. Komm erst mal rein, da hab ich Eis." @~-~@ Umea schnüffelte mutlos, auf dem Drehhocker residierend. Die Kälte des Kühlpacks hatte ihn verschreckt, doch in einem farbenprächtigen Tuch eingewickelt nahm es nicht ganz so fürchterlich aus. "Entschuldigung." Wiederholte er erneut kläglich. "Mach dir keine Gedanken. Ich schnippel das nachher zurecht. Wäre schlimmer gewesen, wenn du das Hochbeet mit den Küchenkräutern erwischt hättest. Da ist meine Mutter eigen." Hadrian arbeitete zur Sicherheit mit einem feuchten Lappen, um Schmutzspuren zu beseitigen. Auf einer alten Zeitung sammelte er Streugut aus Kleidung und Haaren, die er geflochten und hochgebunden hatte. Damit er sich mit Umea, nicht einem Vorhang unterhalten konnte. "Es tut mir übrigens auch leid, dass ich letzte Woche so ein aufgeblasener Wichtigtuer war. Ich meine, ich weiß ja gar nichts über dich und deine Welt. Hab einfach angenommen, es wäre bei dir genau wie bei mir und mich deppert aufgeführt. Das war total daneben. Ich hab mich ziemlich geschämt, danach. Also, tut mir leid, okay? Es ist nämlich wirklich mutig, einfach hierher zu kommen." Woraufhin Umea erneut in Tränen ausbrach. @~-~@ "Starker Tobak." Stellte Hadrian fest, korrigierte sich rasch. "Ich meine, das ist ziemlich hart, wenn du alles ausprobiert hast, was man bei euch lernen kann. Warum gehst du nicht in die Stadt, von der du gesprochen hast? Da gibst bestimmt noch mehr Möglichkeiten." Umeas grüne Augen weiteten sich fassungslos. Hadrian hielt eine Erklärung für angezeigt. "Weißt du, ich gehe auch weg. Wenn ich studiere oder eine Lehre mache, muss ich auch ausziehen. Man kann nicht immer alles an einem Ort anbieten. In diesem Dorf hier sowieso nicht!" Schnaubte er leise. Trotzdem wirkte Umea schockiert, ließ sogar den Eiskühlwickel sinken. "Weggehen?" "Na ja, vielleicht tagsüber? Oder ist die Stadt so weit weg?" Hangelte sich Hadrian vor. "Aber...aber..." Stammelte Umea, zog sich Schultern noch höher, starrte auf die Bodenfliesen. "Das ist bei euch am See nicht üblich? Bleiben alle immer zusammen?" Versuchte Hadrian, diese Reaktion einzuordnen. Stumm nickte Umea, rollte sich zusammen um den gestauchten Unterarm. "Hmmm, wir müssen uns wohl was anderes ausdenken. Was ist eigentlich in diesem zerrupften Päckchen?" Hadrian angelte ein flaches Paket heran, das in große Blätter eingeschlagen war. "Für dich." Wisperte Umea. "Für die Salbe." "Oh, ein Fisch, richtig?" Hadrian unterdrückte ein Aufseufzen. Nicht gut genug. "Du magst keinen Fisch?" Umea hätte in eine Streichholzschachtel gepasst. "Das meine ich nicht!" Ging Hadrian entschlossen vor Umea in die Hocke, sonst konnte er keinen Sichtkontakt herstellen mit dem kompakten Bündel Elend. "He, schau mich an, bitte. Ich hab keine Ahnung von Fischen, verstehst du? Wenn's bei uns mal Fisch gibt, dann zerlegt und paniert auf Eis oder mariniert in der Dose." "Dose?" Hadrian federte hoch, marschierte zum Vorratsschrank in der Diele, kehrte zurück. "Da. Das ist eine Fischdose." Umea beäugte kritisch die flache, quaderförmige Konservendose. Anschließend, unschlüssig, ihn. "Sind es sehr kleine Fische?" Hangelte Umea sich vorsichtig an die Einschätzung heran. Unwillkürlich musste Hadrian grinsen. "Ursprünglich nicht, aber sie werden hier verarbeitet rein gestopft. Das heißt, vorher nehmen andere Leute sie auseinander. Ich hab das noch nie gemacht, also kann ich das gar nicht." Er brachte die Dose zurück an ihren Platz, schloss den Schrank. "Außerdem müssen wir die Gräten und das andere Zeug wegschaffen. Wenn meine Mutter hier Fischreste sieht, stellen sich erst ihr und danach MIR unangenehme Fragen." Umeas Gesicht verriet den angestrengten Versuch, diese merkwürdige Welt zu begreifen. "Vorschlag: ich mische die Salbe zusammen, reibe dich ein. Wir verarbeiten den Fisch gemeinsam, verspeisen die Beweise. Währenddessen denken wir darüber nach, was du tun kannst. Einverstanden?" Umea lächelte sehr vorsichtig, nickte minimal. @~-~@ Hadrian staunte, schauderte, winkte schließlich nervös ab. "Uh, okay. In Ordnung! Ähem, hol wieder Luft, ja? Ist ja beeindruckend." Umea hatte keine erkennbare Mühe, über fünf Minuten lang die Luft anzuhalten. Die Nasenflügel klappten selbsttätig an: kein roter Kopf, keine Ausfallerscheinungen. "Kannst du das nicht?" Erkundigte sich Umea verblüfft. Hadrian schnaubte. "Nein, ich würde sofort tot umfallen. Es gibt zwar ein paar Menschen, die können das gut trainieren, Apnoe-Tauchen, aber zu denen gehöre ich nicht. Wenn Menschen tauchen, benutzen sie meist Sauerstoffflaschen. Da ist ein Gasgemisch drin, das sie versorgt. Allerdings geht das auch nur bis zu einer bestimmten Tiefe, sonst wird der Druck zu groß." Erläuterte er, balsamierte die dünnen Arme ein. Wieder zeigten sich an den Händen Schrammen. Der linke Arm tat noch weh. Umea musste wirklich ein wenig ungeschickt sein! "Wir sind eben Landtiere." Erklärte Hadrian, rieb sich die Finger am Papiertuch trocken. "Klar, wir können tauchen, mit Schiffen fahren, fliegen, sogar ins Weltall. Aber eigentlich müssen wir mit den Füßen auf dem Boden bleiben." "Fliegen?" Umea streifte sich seine Kleider über. "Ich zeig's dir." Bot Hadrian an, holte aus seinem Regal ein Sachbuch für Kinder, das er sehr geliebt hatte. "Das sind Schiffe. U-Boote, mit denen man unter Wasser tauchen kann. Hier, das sind alles Luftfahrzeuge, siehst du? Und mit denen hier fahren wir an Land herum." Umea starrte, erinnerte sich an die Bilder in der Collectio, schauderte. "Diese Dinge sind aus Eisen?" "Hauptsächlich Legierungen und Mischungen, stimmt. Das ist dir unangenehm, oder?" Hadrian registrierte Umeas Reaktion. "Ich weiß nicht." "Bei uns hat man sogar ganze Zeitabschnitte nach Legierungen genannt. Vielleicht gibt es bei euch diese Erze nicht? Welche Form von Energie benutzt ihr denn so?" Er blätterte die Seiten auf, die Infrastrukturen zeigten: Tanks, Heizkraftwerke, Leitungen, Pumpen, Gasometer, unterschiedliche Energieträger. Umea zögerte. "Eigentlich darf ich gar nichts sagen." Fiel ihm viel zu spät ein. "Wieso nicht? Wenn Menschen bei euch nicht hinkommen können, schadet es doch nicht?" Hakte Hadrian neugierig nach. "Vielleicht, damit es keinen Ärger gibt? Du wirst doch niemandem etwas erzählen, oder?" Umeas banges Gesicht entlockte Hadrian ein Lachen. "Bestimmt nicht! Die Leute würden mich ja für bekloppt halten. Wenn man hier Sachen ausplaudert, die man nicht beweisen kann und die die Rangfolge in der Nahrungskette in Frage stellen! Nee, keine Angst! Wenn du es nicht sagen möchtest, ist es auch in Ordnung. Ich bin bloß neugierig." Hadrian schmunzelte über das besorgte Gesicht. "Ich möchte nicht, dass du Ärger bekommst." Stellte Umea unsicher richtig. "Ich will auch keinen Ärger bekommen. Also, wollen wir in die Küche gehen und deinen Fisch in Angriff nehmen? Ich meine verarbeiten?" Herrje, bei seiner Wortwahl musste er sich wirklich mehr Mühe geben! @~-~@ Der Fisch lag noch tot, deshalb wenig angriffslustig in seinem Blätterbett. Umea zückte seine Schneide aus Muschelschale. Rasch hatte er den Fisch sorgsam zerteilt, die Gräten herausgehoben. "Wir dünsten ihn mit Kräutern." Hadrian hielt respektvollen Abstand. "Uh, in Ordnung. Ich nehme das hier, stopfe es am Besten in den Kompost." Auch wenn es ihn verblüffte, übte Umea keine Kritik. Üblicherweise blieb von ihrem Fischfang wenig übrig, aber das Konzept des Kompostes, das ihm nun erklärt wurde, versprach zumindest, dass die Reste auch hier wertgeschätzt wurden. Wenn auch nicht direkt von den Menschen, eher über Umwege. Anschließend wurde er dem Kräuterbeet vorgestellt. Umea schnupperte, betastete den Besatz vorsichtig: fremdartig. Dennoch entschied er tapfer, gewisse Ähnlichkeiten anzuerkennen. "Mit den Kräutern wird der Fisch in den Tonschalen gedünstet." @~-~@ Hadrian übernahm, weil es hier kein offenes Feuer gab oder Geothermie. "Heiße Löcher im Boden". "Wir nutzen Energie und wandeln sie um. Da, also der Herd funktioniert mit Strom. Brauchen wir etwas Fett? Öl? Hmmm, ob wir es mit der Mikrowelle versuchen?" Er fand eine Schale, dekorierte Fisch, Kräuter und eine Lackschicht aus Fetttröpfchen hinein. Deckel drauf, sehr kurze Umdrehungen bei mäßiger Temperatur. Umea staunte neben ihm fasziniert, aber auch nervös. "Vielleicht sollten wir auch salzen." Hadrian rüstete sich zur "Stichprobe" mit einer Gabel und dem Streuer. "Salz?" "Ja, Salz? Du weißt schon, wie im Meerwasser. Oder in Tränen." Umea beäugte ihn verwirrt. "Okay, hier, probier mal ganz wenig mit der feuchten Fingerspitze." Prompt verzog Umea entsetzt das Gesicht. Hadrian eilte mit einem Keramikbecher Wasser aus dem Hahn zur Hilfe. "Das ist ja ein Ding! Menschen haben Mineralien, auch Salz, im Körper. Natürlich nicht zu viel, sonst bringt das einen um. Dann hast du kein Salz in dir?" Verblüffend! Umea seufzte entmutigt. "Ganz schon kompliziert, hm?" Sprach Hadrian den vermuteten Gedanken aus, barg den Fisch. Der dampfte vielversprechend. "Versuch mal, ob es schmeckt, ja? Aber vorsichtig, ist heiß!" Bevor Umea die Fingerspitzen einsetzen konnte, reichte Hadrian einen Kunststofflöffel weiter. Ihr Besteck bestand nämlich zu Großteilen aus Metall. Umea pustete gehorsam, kostete. "Gut?" Erkundigte sich Hadrian angespannt. Wirklich, Kochen ohne Anleitung, das war ihm ein Abenteuer ohne Garantie für glücklichen Ausgang! Umea nickte, lächelte zögerlich. "Prima, halbe-halbe auf Teller?" @~-~@ Hadrian spülte rasch das benutzte Geschirr ab. Keine Spuren hinterlassen! Umea assistierte ihm sehr vorsichtig. Die linke Hand zuckte noch, deshalb erteilte Hadrian ihm lieber Demission. "Ganz schön unterschiedlich, hm? Ich meine, in den Details. Ist vielleicht ganz gut, dass Menschen bei euch keinen Zutritt haben. Wir sind, so in größerer Anzahl, fürchterlich und rücksichtslos." Stellte er fest. Umea warf ihm einen hastigen Blick zu, sah weg. "Aha? Täusche ich mich, oder hast du dich in der Stadt über uns schlau gemacht, hm?" Neckte ihn Hadrian amüsiert. Wirklich, Umeas Gesicht glich einem offenen Buch! Kein Wunder, wenn die alle so sittsam zusammen lebten und "nett" zueinander sein nicht bloß eine Floskel war! "Ein wenig. Mehr eine Zusammenfassung." Gestand Umea ein, druckste herum. "Allerdings hab ich wahrscheinlich nicht viel verstanden, so richtig. Man muss das lernen, gründlich, mit Prüfungen." "Echt? Es gibt Studiengänge zu Menschen? Is ja n Ding!" Lachte Hadrian. "Mach dir keine großen Gedanken! Bei uns gibt es auch jede Menge Studiengänge zu 'Mensch'. Wir haben uns auch nicht ausgeknobelt, ich meine, verstehen uns selbst. Ich find's aber mutig, dass du trotzdem gekommen bist. So viel hat die Salbe ja nicht geholfen, oder?" Umea studierte ihn ratlos. "Sie hat schon geholfen, etwa vier Tage lang kein Jucken. Das war sehr angenehm. Ich konnte mithelfen." Hadrian "hörte" das Kleingedruckte. "Bloß hält es nicht an, klar, weil es nur die Symptome lindert. Mithelfen reicht ja auch nicht, stimmt's? Du willst ja was tun, voll und ganz. Hmm, das ist echt schwierig. Wir haben bei uns Berufs- und Studienberatungen." Er seufzte. "Aber ehrlich, ich weiß nicht, was ich dir raten soll. Bei uns hieß es, man muss sich seine eigene Nische suchen. Wenn man nicht glücklich ist mit dem, was alle so tun, muss man was Neues tun und eine Nachfrage ankurbeln. Das führt wahrscheinlich zu weit, aber wir haben ein Gesell- und Wirtschaftsmodell, das darauf aufbaut. Wenn das in deiner Welt nicht so ist, passt nichts zusammen, was ich dir erzähle." Damit ordnete er sich als "nicht hilfreicher" Mensch-Alien-Fremdweltler ein. @~-~@ Umea war nachhaltig verblüfft. Hadrian, der Mensch, passte nicht zu dem, was er gesehen und gelernt hatte. Entgegen der eindringlichen Warnungen hatte der sich bis jetzt auch als großzügig und nachsichtig erwiesen. "Was ist?" Leider aber auch als erschreckend aufmerksam! Aus seiner Versunkenheit gerissen und im Notlügen nicht versiert zuckte Umea hilflos zusammen, stotterte nicht mal zur Tarnung irgendwas heraus. "Keine Angst, ich erzähle niemandem was. Tja, und leider ist mir auch nichts Schlaues eingefallen." Bekannte Hadrian gerade, raufte sich die schwarzen Locken. Prompt verspürte Umea Gewissensbisse. "Du hast mir sehr geholfen!" Beteuerte er rasch. "Ich dachte nur, also..." Eilig blickte er unter sich. "Also?" Umea seufzte geschlagen. "Ich verstehe nur nicht: du bist so nett und großzügig. Trotzdem habe ich von deiner Welt Dinge erfahren..." Nervös umklammerte er sein gestauchtes Handgelenk. Hadrian richtete sich auf, was Umea zusammenzucken ließ. "He, ich tu dir nix. Stimmt, Menschen, wir, haben furchtbare Dinge getan. Tun sie immer noch." Umea studierte bange die schwarzen Augen, die finster blickten. "Irgendwie schwanken wir immer, weißt du? Wir können wirklich prima sein, selbstlos, nobel, und das komplette Gegenteil. Ich kann das nicht beschönigen. Keine Ahnung, woran das liegt, ob es nötig ist, dass es in Extreme gehen muss." Er seufzte grimmig, streckte eine Hand aus. Zögerlich nahm Umea sie. "Also, denk immer dran, dass meine Sorte nicht harmlos ist, okay? Wir schwanken, wir ändern unsere Meinung, wir sind alles und davon das Gegenteil. Bleib vorsichtig, versprochen?" Umea nickte artig. Er verspürte Mitgefühl mit so einer unausgeglichenen Disposition, wollte jedoch nicht beleidigend wirken. Leider verriet ihn mal wieder sein Gesichtsausdruck, wie ihm Hadrians schiefes Lächeln verriet. "Ja~ha, ein trauriger Haufen! Aber bloß kein Mitleid, wir kümmern uns immer um den eigenen Vorteil." Umea zögerte mit einer Antwort, räusperte sich unbehaglich. "Ich will nicht despektierlich sein. Leider verstehe ich nicht viel. Ich bin nicht klug oder belesen. Ich gehe hin und wieder als Auftrag in die Stadt. Dort habe ich gesehen, wie groß meine Welt eigentlich ist. Nur kenne ich sie nicht. Wahrscheinlich bin ich nicht geeignet, deine Welt zu besuchen." @~-~@ Hadrian runzelte die Stirn, registrierte beiläufig, dass er immer noch Umeas Hand hielt. Der nun ziemlich sicher ein Junge war. Trotzdem: so bescheiden, so hilflos, so zurückgenommen wirkte, dass er gar nicht loslassen konnte. "Wenn du nicht geeignet wärst, hättest du das Portal ja nicht durchqueren können, oder?" Argumentierte er in gewohnter Logik. "Hast du nicht erwähnt, dass man Ärger kriegt, wenn man was anstellt? Na, bis jetzt ist ja keiner aufgekreuzt, ich meine, erschienen, richtig? Konsequenz: du BIST geeignet. An den Details feilen wir beide noch." Grinste er gewinnend. Umeas zweifelndes Lächeln amüsierte ihn. "Bist du sicher? Oh, entschuldige, ich zweifele dein Urteil nicht an!" Versuchte Umea erneut, sich kleinzumachen. Hadrian lachte, drückte behutsam die schlanke Hand. "He, Umea, hab keine Angst vor mir, ja? Nein, ich bin mir nicht sicher, aber ich nutze Indizien zu meinen argumentativen Vorteil. Das ist typisch menschlich. Aber Scherz beiseite. Du bist hier, also hat was funktioniert. Das stellt die Gelegenheit dar, mehr rauszufinden, richtig? Was hältst du davon: wir erzählen uns gegenseitig etwas aus unserer Welt! Wir transportieren nichts übers Portal, müssen keine Beweise wegfuttern, ich meine, aufessen, und wir lernen was. Ist das ein Angebot?" @~-~@ Umea zögerte. Eigentlich verstieß es gegen die Regeln, andererseits, das konnte er auch nicht leugnen, hatte er schon jede Regel gebrochen, mehrfach und wiederholt. "Wir erzählen auch niemandem was." Bot Hadrian an. Ein Geheimnis! Darin war Umea ganz und gar nicht geübt, glaubte er zumindest. Bloß hatte er niemandem erzählt, was er getan hatte, nichts über das Portal, die Menschenwelt, die Salbe! Erschrocken blickte er Hadrian an. "Oje." "Oje?! Wieso?" Die schwarzen Augen funkelten auffordernd, bezwingend, konzentriert und zielstrebig wie die Jägerinnen. Da hatte Umea nach eigener Erfahrung nichts zu bestellen. "Ich habe gerade begriffen, dass ich schon gegen alle Regeln verstoßen habe. Eigentlich dürfte ich das gar nicht für mich behalten können." "Aber du hast." Stellte Hadrian ohne Zögern fest. Umea verspürte plötzlich Furcht. Furcht vor sich selbst. Mit seinem Verhalten hatte er sich ja von den anderen separiert! Dabei wollte er weiter zu ihnen gehören, sie wollten alle zusammen sein! Was, wenn es unumkehrbar war?! Wenn ihn all dies hier abtrennte, eine Grenze festsetzte? In seinem Elend begann er zu zittern. Hadrians Arm lag warm, fest um seine Schultern. "Was ist los, Umea? Rede mit mir, ja?" Wie sollte er das erklären? Dass er einen Pfad eingeschlagen hatte, der nicht parallel zu denen der anderen verlief? "Nicht mehr weinen, ja? Komm schon, bis jetzt ist es doch ganz gut gelaufen, richtig? Vielleicht ist das ja dein Talent, nicht genau wie alle zu sein." Keine Aussicht, die Umea trösten konnte. @~-~@ Hadrian registrierte eine wachsende Frustration, weil Umea ihm leid tat, er nicht helfen konnte! Ohne Erklärung ahnte er bloß Schwierigkeiten, KANNTE sie aber nicht mit Sicherheit! Außerdem kam er sich etwas exponiert vor, Umea im Arm zu halten, ihn dabei leicht zu wiegen und Trostversuche zu unternehmen. Unter "Kumpels" gab man sich solche Blößen nicht. Schroff anbellen, sich mal am Riemen zu reißen, schied selbstredend auch aus. "Wenn du nichts sagen willst, macht das nichts. Du verrätst nichts, niemand kann sich beschweren." Unternahm er erneut Anstalten, Umea aufzumuntern. "Wenn es so schlimm ist, vergessen wir das mit dem Portal. Ich meine, die Salbe hilft ja nur ein wenig. Wenn dafür alles andere leidet und du so unglücklich bist." Er seufzte. "Du bist ja kein Mensch, das ist nicht deine Welt. Es besteht kein zwingender Grund, dich so einzulassen." Umea rollte sich ein wenig auf. "Ich habe es schon getan. Nicht nachgedacht, sondern geträumt." Er schauderte. "Ich fürchte, dass es zu spät ist. Niemand hat so etwas getan. Das trennt mich ab. Selbst wenn ich alles beende, ich kann es weder ungeschehen machen, noch vergessen." Seine Stimme klang so hohl und kummervoll, dass Hadrian unwillkürlich die schmalen Schultern drückte. "Wenn man nicht träumt, kann man auch nichts Neues entdecken. Das ist möglicherweise dein Talent! Den Horizont zu verändern, einen neuen Blickwinkel beizutragen." Hadrian wandte sich halb herum, lupfte mit der freien Hand Umeas Kinn, damit er in dessen grüne Augen blicken konnte. "Ihr seid doch Individuen, oder? Kein Kollektiv oder Schwarm, richtig? Dann gibt es ein gewisses Level an Abtrennung. Die Welt draußen und die in unserem Kopf, die ist für jeden unterschiedlich." @~-~@ Umea überdachte diese Argumentation. In gewisser Weise GAB ES ein Kollektiv, wenn sie im Wasser waren, gemeinsam arbeiteten oder jagten, weil man wusste, wie die anderen agierten, ohne Worte, ohne Zeichen, einfach aus Erfahrung, Übung, Instinkt. Umea wusste das auch, agierte genauso, bloß ungeschickter, aber nicht etwa, weil er nicht wusste, was er wann wie zu tun hatte! Oder? Alle waren schließlich in unterschiedlichen Disziplinen unterschiedlich gut. Er konnte ja nicht anders sein, richtig? Nicht getrennt, bloß ungeschickt, genau. Allerdings... Umea rutschte näher an Hadrian heran. Möglicherweise war er doch stärker getrennt: die juckenden Flecken auf der Haut, die schlechte Sicht im Wasser ohne Spezialbrille. Er war einer von "uns" und doch ein bisschen arg unterschiedlich? Umea zog die Knie an, umklammerte sie unglücklich. @~-~@ Hadrian streichelte über den knochigen Rücken, fühlte sich ratlos. Was tun? Offenkundig schleppte Umea einen ganzen Rucksack an Problemen mit sich. Hier nannte man das Pubertät! Er wusste nicht, wie er Umea aufmuntern sollte, wie dessen Leute am See so tickten. Wenn die jetzt doch so eine Art Telepathie betrieben?! Umea verwehrte sich ja gegen jede "Fisch"-Assoziation. Andererseits war der nun mal kein Mensch, was Hadrians Problemlösungskompetenz erheblich in Nachteil versetzte. Man konnte aber die Umstände nicht erforschen, wenn einem NIX erzählt wurde! Sodass er sich frustriert fühlte! Zusätzlich zur allgemeinen Hilflosigkeit. Einfach prächtig! "Wenn wir schon so weit gekommen sind, wäre es Quatsch umzukehren, meiner Meinung nach. Warum schauen wir nicht einfach, wie es sich entwickelt?" Offerierte er laut, ein ganz klein wenig ungeduldig. Nicht subtil genug. Umea entrollte sich brav, setzte ein tapferes, fadenscheiniges Lächeln auf. "Du hast sicher recht. Ich kann diese Frage hier nicht beantworten. Ich sollte besser gründlich nachdenken. Entschuldige, dass ich dich so in Beschlag genommen habe." Jessas! Hadrian erhob sich, Umeas Beispiel folgend. "He, das ist in Ordnung für mich, klar? Also kein Grund, sich zu entschuldigen. Nehmen wir uns einfach die Zeit zum Grübeln." Er warf einen Blick zum Fenster. "Ist übrigens schon spät. Der Terror-Köter müsste im Haus sein. Soll ich dich bis zum Portal begleiten?" Umea lächelte brav. "Vielen Dank. Wenn es keine Umstände macht." Hadrian schluckte entschieden ein ungeduldiges Knurren herunter. Umea war NUN MAL sehr höflich, rücksichtsvoll und enervierend bescheiden! @~-~@ Der Weg führte selbstredend am äußerst lädierten Busch vorbei, was Umea in Erinnerung rief, welchen Schaden er erneut ausgelöst hatte. "Oh, das tut mir so leid! Ich wollte nichts zerstören. Wird die Pflanze absterben?" Erkundigte er sich erstickt. Pflanzen waren Lebewesen wie alle anderen auch, durften nicht grundlos gequält werden. Hadrian schnaubte, kontrollierte dann unaufgefordert den Sitz von Umeas Hochsteckfrisur. "Hör mal, das ist eine Staude, von der Sorte, die immer mal runtergeschnitten werden muss. Ich säbel also, ich schneide sie hübsch zurecht, dann fällt es nicht auf. Ist halb so wild." Umea zog die Schultern noch höher. Wieso konnte er nicht anders geschickt sein?! Statt ständig solche Katastrophen anzuziehen? "He!" Unvermittelt umarmte ihn Hadrian vor dem Portal, der Scheunenwand. "Das ist kein Weltuntergang, Umea, klar? Falls ich es nicht erwähnt habe: danke, dass du gekommen bist. Lass dich nicht unterkriegen, okay? Niemand muss die Kopie eines anderen sein. Wir kriegen schon noch raus, worin deine Stärke besteht." Umea grub die Fingerkuppen stärker in die kräftigen Schultern des Menschen. Könnte er doch bloß diese Zuversicht teilen! @~-~@ Klar. Scheunenwand. Was auch sonst. Hadrian brummte, trollte sich aber lieber. Noch konnte er im Zwielicht genug erkennen, ausreichend sehen, um rasch mit der Gartenschere das Malheur zu beheben. Ja, mei, sah der Busch eben ein wenig gerupft aus! Wenn er runtergeschnitten wurde, im Frühjahr, fiel das nicht mehr auf. Ohnehin interessierten ihn Schmuck-Stauden weniger. Kräuter, das war eine andere Nummer. Außerdem durfte er ohnehin nur verwenden, was von offiziell zertifizierten Quellen beschafft wurde. Heimische Pfefferminze nur auf eigene Gefahr in den eigenen Tee! Als er den Kompost mit dem Schnittgut bestückte, erinnerte er sich an den Fisch, Umeas Anstrengung, ihn zu "bezahlen". Wie viel Mühe mochte es ihn wohl gekostet haben, wenn er nicht so gut im Fischen und Jagen wie die anderen war? Hadrian betrat das Haus, marschierte durch Küche und Labor/Lager/Hinterzimmer. Er fand keine Spuren eines unerwarteten Gastes, deshalb stieg er hoch in sein eigenes Zimmer. Schon merkwürdig. Ihm war bewusst, anders zu sein, zumindest in gewissen Aspekten. Allerdings tat es nicht so weh, wie Umea offenkundig empfand. "Weil du ein sturer Sauhund bist." Bescheinigte er sich selbst. Weil sein Trotz, seine Überzeugung, trotzdem ein unveräußerliches Existenzrecht zu besitzen, Oberhand hatte. War er eben anders, na und?! Alle waren schließlich irgendwie anders! Wenn in dieser unbekannten Welt doch alle unterschiedlich waren, warum litt Umea dann so? @~-~@ Kapitel 5 »Es ist zu spät.« Dachte Umea, während er die Bildunterschriften studierte. Für eine Umkehr, für ein Zurück. Warum hatte er bloß einen ehemaligen Gott aufgesucht, warum sich nicht mit dem Fehlschlag zum Rezept zufrieden gegeben? Warum war er durch das verbotene, vergessene Portal geschritten? Warum war er erneut in der Stadt, der Collectio, studierte Erkenntnisse über Menschen über exakt die Welt und Zeit, in die er durch das Portal gelangen konnte? Verräterischer konnte man sich gar nicht mehr verhalten! Woher kamen diese Impulse? Ihn entsetzte der Gedanke, nicht am großen See leben zu können. Trotzdem riskierte er alles...?! Umea betrachtete die Bilder: Maschinen, Metall, Häuser mit mehreren Etagen, aus Stein, Wege aus erstarrtem Stein. Überall Dinge! Laternen, Masten, Leitungen, Kabel, Röhren... Er erinnerte sich an die Bilder in dem Buch, das Hadrian ihm präsentiert hatte. So anders, und doch glich sich ihre Sprache! Aber sie waren gefährlich, unberechenbar. Er hatte doch gar keinen WICHTIGEN Grund, um in ihre Welt zu gehen, brauchte keine Energie, war definitiv sichtbar, nicht sonderlich klug, nicht examiniert! Umea fragte sich, was mit ihm nicht stimmte. Ob da nicht mehr war als bloß schlechte Augen und eine entzündete Haut. @~-~@ Hadrian hingegen fragte sich, ob Umea erneut kommen würde, welche Möglichkeiten es gab, den Haindlschen Garten zu durchqueren, ohne von der Terror-Töle verschreckt zu werden. Ob er das blöde Vieh mit präparierten Leckerli in Tiefschlaf versetzen konnte? Unseliger Weise stand zu vermuten, dass das a) schiefgehen konnte, wenn er bei der Dosierung patzte b) er überhaupt keine Leckerli hatte c) der Verdacht sofort auf den Giftmischer nebenan fallen würde. Murks! Dann wohl doch mit gerollter Zeitung auf der Lauer liegen! Wenn Umea noch mal kam... @~-~@ Niemand schien etwas zu merken, hielt ihn an oder auf. Nicht in der Collectio, nicht die Portalwache, der er zusah, niemand in der Stadt. Und am großen See... Wieso registrierte niemand, dass er nicht ganz ehrlich war, etwas verheimlichte? Sollte man das nicht merken? Umea schämte sich, fühlte sich unbehaglich. Geheimnisse sollte man nicht haben, wenn sie andere potentiell verletzen konnten, vor allem nicht vor der eigenen Familie, die so großzügig aushalf. Längst fand er sich in ein klebriges Netz aus Feigheit, Egoismus und Trotz verstrickt. Wenn er erst jetzt mit der Sprache herausrückte, dann..! Ausflüchte, um das Selbstbild zu wahren, obwohl es schon längst zerbrochen war. Einen unangemessenen, lächerlichen Stolz schützen! Umea wähnte sich ganz allein, durch eigenes Verschulden. Auf Mitgefühl durfte er da ganz sicher nicht hoffen! @~-~@ Hadrian schätzte die Zeit ab, näherte sich dem Zaun. Sofort verbiss sich das geifernde Vieh in die gerollte Zeitung, ausreichend lange, das Kindermuschel-Gefängnis zum Einsatz zu bringen. Als Hadrian sich zufrieden aufrichtete, hörte er hinter sich ein Keuchen. Umea preschte heran, den Zaun im Visier, rechnete nicht mit feuchtem Gras. Prompt glitt er aus, legte sich spektakulär auf die Nase! "Daran müssen wir noch arbeiten." Kommentierte Hadrian knapp, pflückte Umea auf. Grasflecken, Dreckstreifen, selbstredend die explodierten Bandnudeln-Haare. Umea schluchzte im Wettstreit mit einem Schluckauf. Aus seiner Nase rann farbloses Blut. @~-~@ "SchSch, alles gut!" Tröstete Hadrian besorgt. Umea schlotterte in der Wanne, trotz der warmen Brause. Der Klebereflex von Knien und Knöcheln half auch nicht gerade. Laufen konnte er so nicht. "Kannst du wieder durch die Nase Luft holen?" Hadrian konnte nur hoffen, dass Umea sich nichts gebrochen hatte. Das ging über seine Fähigkeiten nämlich hinaus, ließe sich auch wohl kaum vertuschen! Umea schluchzte, nickte gleichzeitig. "Gut, ein Problem gelöst. Okay, ich werde dich jetzt in das große Handtuch wickeln, ja? Deine Unterhose muss auch runter, sonst verkühlst du dich noch. Im Bademantel wird dir gleich warm." Gar nicht so einfach, Umea zu dirigieren, der schwankte und schniefte! Endlich war es vollbracht, hockte sein Gast auf der Wannenkante, in den Bademantel gehüllt. Das stellte Hadrian vor die nächste Herausforderung. Umea runtertragen, wie gewohnt in die offene Küche? Oder... "Festhalten." Kommandierte er, nahm Umea hoch, steuerte sein eigenes Zimmer an, ließ Umea auf das Bett mit der Tagesdecke sinken. "So, nun muss ich ungastlich sein, dich kurz allein lassen, okay? Magst du dir vielleicht was angucken? Ich habe hier jede Menge Sachbücher." Umea nickte artig, wirkte schon erschöpft. "Prima! Also, bin gleich zurück!" Damit stürmte Hadrian wieder ins Badezimmer, rasch die verschmutzten Kleider abzubrausen, was die letzten Male recht gut funktioniert hatte. Danach zum Trocknen flaggen, anschließend runter in die Küche, Proviant und die Salbe fassen, genau! In Hochgeschwindigkeit machte er sich ans Werk. @~-~@ Umea kämpfte mit seinen Haaren, bis er sie zumindest auf den Rücken verbannt hatte. Die Schrammen prickelten noch an Handflächen und Knien, aber nicht mehr so schlimm. Er fühlte sich erschöpft und unglücklich. In letzter Zeit gelang ihm so gar nichts mehr ohne Kalamitäten! Brav zog er ein Buch in Reichweite aus dem offenen Regal. Bilder von seltsamen Geschöpfen mit vielen Zähnen! Schauerlich! Dann waren da noch andere Tiere? Riesig, die Pflanzen aßen. Umea blickte auf, als Hadrian zurückkehrte, mit Tablett ausgerüstet. "Alles in Ordnung? Hier, ich habe dir was zu essen mitgebracht, aber du testest lieber vorher, hm? Ich weiß ja nicht, ob du das verträgst." Umea tippte unbehaglich auf das aufgeschlagene Buch. "Diese Tiere, sind die auch hier?" @~-~@ Hadrian legte einzelne Partien von Umea frei, salbte und versorgte neue Schrammen, während Umea andächtig die erste Banane seines Lebens verzehrte. "Die Erde, ich meine, die Welt hier, ist schon ziemlich alt. Mehrmals ist fast alles ausgestorben, weißt du? Von den Dinosauriern findet man eigentlich nur Knochen, muss sich den Rest denken. Also keine Angst, die laufen hier nicht mehr herum. Das könnten sie auch gar nicht, weil die Umwelt sich total verändert hat." Beruhigte er aufmunternd. Irgendwie drollig, dass Umea sich ausgerechnet das Buch herausgepickt hatte! Dinosaurier begeisterten alle Kinder in einer gewissen Altersklasse. "Danke schön." Wisperte Umea gerade, ließ sich den Schlafanzug der Banane abnehmen. "Gern geschehen. Geht's dir jetzt schon ein bisschen besser?" Artiges, wenn auch nicht gerade überzeugendes Nicken. Hadrian trocknete sich die Hände, wechselte direkt neben Umea auf sein Bett, legte einen Arm um die schmalen, knochigen Schultern. "Was ist in der letzten Woche so passiert? Erzählst du mir das?" Prompt schrumpfte Umea in sich hinein. "Also keine so gute Zeit gewesen, hm? Hör mal, ich hatte tatsächlich ne Idee. Du musst nichts über deine Welt verraten, aber wir kommen vielleicht doch noch auf einen grünen Zweig! Oh, damit meine ich, wir finden etwas, das du machen kannst, als Arbeit." Hadrian löste sich, angelte vom Tablett ein Kompendium. Auf diesen Einfall war er durchaus stolz, hoffte, Anklang zu finden. "Das hier ist ein Branchenbuch, aus der gesamten Gegend. Da, schau, da stehen alle drin, die hier ihre Arbeit anbieten. Warum gucken wir nicht mal, was es so bei uns gibt und was das bei dir wäre?" @~-~@ Das Ergebnis kam nicht allzu überraschend. Die meisten Professionen wurden nicht spezialisiert-kleinteilig ausgeübt, sondern eher alles könnend, in bestimmten Sparten. Allerdings pflegte man keinerlei geschlechtsspezifischen Vorurteile: Begabung zählte, dann durfte man mittun. Nicht schulisch organisiert, erfuhr Hadrian durch Nachfragen, beiläufige Bemerkungen. So ganz konnte Umea nicht das Gebot des Mysteriums erfüllen. Sie mussten sich ja erst mal darüber verständigen, wie welcher Part hieß und wie die Entsprechung aussah! "Oha!" Schreckte Hadrian auf, der noch nicht die letzten Seiten des Branchenbuchs erreicht hatte. Umea, an ihn gelehnt, ziemlich schläfrig, zuckte zusammen. "Mist!" Murmelte Hadrian angespannt, federte hoch, eilte ins Badezimmer. Bloß rasch Umeas Kleider auf den Trockenbügeln bergen! Er eilte zurück in sein Zimmer, wo ihn grüne Augen ängstlich studierten. "Meine Mutter ist schon wieder da, ich hab ganz die Zeit vergessen!" Zischelte er gedämpft, löschte rasch das Deckenlicht. Nicht wenige Augenblicke später klopfte es höflich ans Türblatt. "Bin zurück. Mach nicht mehr zu lange, ja?" "Ist gut. Gute Nacht, Mama." Antwortete Hadrian artig, rührte sich nicht. Er atmete auf, tastete sich geübt zu seinem Bett. "Hör mal, wir müssen warten, bis meine Mutter eingeschlafen ist, sonst kriegt sie spitz, dass du hier bist." Hadrian fischte seinen Wecker heran, dessen eingebaute Lampe aufleuchtete. "Ich stell den Wecker ein. Schlafen wir ein bisschen. Ich lotse dich raus. Ist das in Ordnung? Oder wirst du erwartet?" Umea seufzte leise. "Ich glaube, ich werde nicht sonderlich vermisst." @~-~@ Eigentlich hätte es merkwürdig sein müssen, mit einem fremden Jungen, Nicht-Mensch, das Bett zu teilen, ohnehin nicht gerade groß dimensioniert, aber, wie Hadrian feststellte, schien Umea diesbezüglich keine Berührungsängste zu hegen. War möglicherweise gewöhnt, mit der ganzen Familie in einem engen Raum zu nächtigen, zudem unverkennbar erschöpft. Da konnte man sich selbst nicht zieren! Trotzdem fühlte sich Hadrian ein wenig unzulänglich, nicht nur die Zeit vergessen zu haben in lebhaftem Bemühen, Hilfe zu leisten, sondern, final betrachtet, NOCH IMMER nicht die leiseste Ahnung zu haben! Als Ratgeber jedenfalls war er eine Niete! @~-~@ Schlaftrunken taumelte Umea an seiner Hand durch den Garten. Hadrian war nur wenig besser auf dem Posten, verspürte jedoch Verantwortung, so als Gastgeber und Niete. "Nächste Woche machen wir weiter, ja? Uns fällt bestimmt was ein. Lass also den Kopf nicht hängen, okay?" Schwor er Umea ein, justierte uneingeladen dessen wirre Frisur zum Turmbau. "Danke." Murmelte Umea, lächelte ziellos im Zwielicht, sicher nicht hellwach. "He." Klemmte ihm Hadrian kurz die Nasenspitze zwischen den Fingern ein. "Ein bisschen wacher musst du schon werden, Umea, sonst hast du noch einen Unfall, oder so." Ein trostloses Auflachen entwischte Umea, bevor er eilig unter sich blicken konnte. Hadrian ergriff die Initiative, umarmte seinen exotischen Gast. Bei Umea sprang der "Kumpel-Reflex" eben einfach nicht an! "Gib nicht schon alles verloren. Die kleine Pechsträhne geht vorbei! Wir wuppen es! Also, Brust raus, Bauch rein, Zähne zeigen!" Die Verwirrung war greifbar, Hadrian konnte sie förmlich HÖREN! Allerdings, wie sollte er sonst Umea aufmuntern und zur Zuversicht anhalten?! Er war ja kein lizenzierter Motivationstrainer! "Ich werde nicht aufgeben." Versprach Umea, mit dem Unterton, der verriet, dass er auf unbekanntem Gelände operierte, hoffte, richtig verstanden zu haben, was gemeint wurde, bloß vollkommen verwirrend formuliert worden war! "Gut! Ich verlass mich drauf!" Tönte Hadrian gedämpft, wünschte, er wäre nicht gerade so ENTSETZLICH peinlich, absolut unbeholfen und steifbeinig! Langsam ließ er Umea los. "Bis nächste Woche, ja?" Umea nickte artig, lächelte müde. "Bis dahin, Hadrian." Er klemmte kurz dessen Nasenspitze ein, bevor er im Portal verschwand. @~-~@ Die Salbe wirkte ihre vier Tage. Umea nutzte diese Zeitspanne höchst angestrengt, so viel wie möglich im Wasser zu erreichen, hilfreich zu sein, ein Leistungsträger. Auf einem beschämenden Niveau. Selbstredend machte man ihm keine Vorwürfe, niemand tadelte ihn, beschwerte sich, lehnte ihn ab. Er bemühte sich ja, also akzeptierte man seine eingeschränkten Fähigkeiten. Es wurde nicht erwartet, dass er sich hervortat oder wenigstens den Durchschnitt erreichte. Das half nicht, musste Umea heimlich anerkennen. Es erleichterte ihn kaum, dass man ihn einfach annahm, wie er sich gerade präsentierte, ungeschickt, ohne Talente, fleißig, aber substanzlos. Er sollte froh und dankbar sein, durchaus, gar keine Frage, bloß mischte sich ein bitterer Geschmack unter dieses Alltagseinerlei. War es vermessen, sogar unanständig, sich irgendeine besondere Stärke zu wünschen? Wieso konnte er sich nicht einfach bescheiden und zufrieden sein? Immerhin war er nicht wie alle anderen, wegen der juckenden Flecken, der Tauchgläser unter Wasser. Konnte er sich da erlauben, ja, erdreisten, Ansprüche zu stellen?! Das Schicksal anzuklagen, ihn am Katzentisch platziert zu haben?! Also, vielleicht gehörte er nicht ganz, vollständig, hierher? Der schiere Gedanke raubte ihm den Atem, feuchtete seine Augen an. Müsste er sich von seiner Familie trennen? Nicht hier arbeiten, sondern entfernt, in der großen Stadt? Ganz allein?! Umea grübelte, sich selbst überlassen. Niemand kontrollierte ihn. Alle gingen davon aus, dass sich alle nach eigenen Möglichkeiten einbrachten, Nützliches taten, für sich und andere. Einen Beitrag leisteten, sich damit bei der Gemeinschaft für die Aufnahme und Akzeptanz bedankten. Wieso konnte er in die Menschenwelt gelangen? Welchen Vorteil für die Gemeinschaft bedeutete das? Ja, Hadrians Umgebung, all die vielen Dinge, versetzten ihn in Erstaunen! Doch sie hatten nichts mit seinem Alltag hier zu tun. Zugegeben, diese Banane schmeckte dem Großen M würdig, sehr delikat, ohne ein ihm bekanntes Vergleichspendant! Rechtfertigte dieser Luxus diese Anomalie von ihm auf der anderen Seite, der Menschenseite, gegen alle Regeln? Umea fühlte sich nicht nur unglücklich, unverschämt egoistisch und rücksichtslos, sondern auch unruhig und frustriert, weil sich für sein Leben so gar keine positive Entwicklung abzeichnete! @~-~@ Hadrian registrierte erleichtert, dass seine Mutter an ihrer Diskretion festhielt. Keine Fragen zu den gemischten Salben, keine Andeutung zu einem nicht erwähnten Besuch. Hadrian fragte sich, ob sie glaubte, er selbst benötige die Salbe, sei zu genant, sich ihr zu offenbaren, mit Hautproblemen an neuralgischen Stellen. Andererseits galt es diese großzügige "Blindheit" auch zu nutzen. Obwohl er sich durchaus auf Prüfungen und Tests vorzubereiten hatte, widmete er Umea viele Gedanken. Was sollte man tun, wenn man einfach nichts so richtig gut konnte? Zudem schien Umea Missgeschicke anzuziehen. Sehr ärgerlich, dass er so wenig über diese andere, fremde Welt in Erfahrung bringen konnte! Es war leider auch nicht zu ignorieren, dass SEINE Zukunft Fahrt aufnahm, von ihm einen Kurs erwartete. Wenn er eine duale Ausbildung machen wollte, musste er sich mit Zeugnissen mal umtun! Wollte er studieren, galt es, schon mal die Möglichkeiten und Voraussetzungen zu ergründen: wo, wie, für wie viel, vor allem aber was?! Zu seinem Leidwesen erwies sich seine Mutter in dieser Hinsicht als sehr neutral, gab lediglich zu bedenken, dass er sich fragen müsse, was ihm wichtig sei, ob er lieber auf Herzblut als auf Pragmatik setzte, Flexibilität oder Fixierung, graue Theorie oder lieber mehr Praxis. Hadrian pflegte durchaus eine gewisse Vorstellung, fühlte sich auch im Rahmen seiner Möglichkeiten geeignet, fand sich jedoch durch die unerbittliche Neutralität seiner Mutter nachhaltig ausgebremst. Sein Leben = seine Entscheidung. Freiheit brachte Verantwortung, vor allem für sich selbst. Himmel! Hadrian wollte sich kein Scheitern vorstellen, keinen Schuldenberg. Konnte er sich das alles wirklich leisten? Wenn er es nicht konnte, würde er nicht unter dem Druck von Hypotheken auf die Zukunft zusammenbrechen? »Übertriebenes Selbstvertrauen in mich habe ich jetzt nicht gerade.« Konstatierte er mal wieder säuerlich. Außerdem musste man ja auch vorsichtig sein, trug Verantwortung auch für andere. Er wollte vermeiden, dass er als verkrachte Existenz die Reputation seiner Mutter ruinierte. Klang pompös, aber er hatte diese Art von bösartigem Klatsch und Häme schon vernommen. Lieber gar nicht zurückkehren als gescheitert. Hadrian war bewusst, dass diese "einmalige Chance" für das Leben längst nicht mehr als solche Bestand hatte, dass das Leben Haken und Schnippchen schlug, man stets weiter-, dazu- und umlernen musste. Bloß wollte er den ersten Anlauf nicht gleich vermurksen. Verdammte Eitelkeit! So gesehen fand er sich allzu genau in Umeas Zwickmühle wieder. Allerdings, man würde springen müssen, unabweisbar. Es fehlte wohl nur noch ein Auslöser. @~-~@ Umea atmete tief durch und hechtete, die Sandalen in einer Hand, durch das Portal. Glitschige Steine hier, nasser, kalter Rasen dort. Das unfreundliche Tier! Ohne die Sandalen gruben sich seine Fußsohlen und Zehen besser in den Boden, als er Anlauf nahm, das Tor fest im Blick, eine Flugrolle über dieses niedrige Hindernis. Umea fing sich ab, ächzend, weil er auf dem Land nur sehr selten solche Akrobatik zum Einsatz brachte, richtete sich auf, warf wie geboten einen Blick auf das Fenster. Da eilte ihm Hadrian schon entgegen. "Du bist schon hier? Komm rasch rein, du frierst doch sicher!" Umea lächelte zögerlich, blickte an sich herab. Wie immer nasse Schmutzstreifen und die blanken Füße ebenso gezeichnet! "Entschuldigung." Kam er Vorwürfen zuvor. Er bereitete Hadrian zweifelsfrei Umstände! Der nahm ihn jedoch an der Hand, dirigierte sie bereits über das Sand-Kies-Gemisch des Wegs zum Haus. "Ganz schön froschig, ich meine, klamm! Ich hab einen feuchten Lappen deponiert, da reiben wir dich eilig ab. Ich weiß ja, dass du eigentlich nichts erzählen darfst, aber mir ist da noch eine Idee gekommen!" Sprudelte Hadrian heraus, die schwarzen Augen funkelnd. Was Umea verblüffte, nämlich diese unbändige Energie, einfach nicht die Lage akzeptieren zu wollen! "Vielleicht sollten wir mal darüber nachdenken, ob es nicht neue Berufe bei euch geben kann. Im Branchenbuch sind ja nicht alle drin, weil es manche nur in der großen Stadt gibt oder sie nicht selbständig sind!" Umea, frisch abgeledert, lauschte aufmerksam. Nicht unbedingt, weil er Hadrians Optimismus teilte, sondern weil dessen Euphorie und Aufbegehren so ganz anders wirkte als die gleichmütige Freundlichkeit der anderen. @~-~@ Hadrian hatte sich etwas gedacht, weil es ihn ja selbst auch betraf. Alles, was sie bisher in Erwägung gezogen hatten, waren handwerkliche Beschäftigungen, im weiteren Sinne. Wenn Umea nun ein klein bisschen ungeschickt war, sollte man Dienstleistungen ins Auge fassen, oder nicht?! Das Wasser setzte ihm zu, daran änderte auch die Salbe nichts, aber an Land schien es keine Beeinträchtigungen zu geben. Warum nicht vermittelnd fungieren, so wie Kaufleute? Die Leute in der großen Stadt konnten sicher auch was mit dem anfangen, was am großen See produziert wurde. Selbst Tauschgeschäfte mussten organisiert werden. Selbstverständlich wollte er nicht gleich eine konsumorientierte Wachstumsideologie anbringen. Nicht jede Arbeit musste gegenständlich sein, richtig? Was ihn dazu bewog, mit Notizblock als Gedächtnisstütze, herauszusprudeln, welche Varianten es geben konnte: makeln, vermitteln, Handel treiben. Oder auch unterrichtende, unterhaltende Tätigkeiten! Umea, gewohnt geduldig eingesalbt, andächtig eine überreife Banane mümmelnd, hörte zu, konzentriert. Hadrian schloss schließlich seinen Monolog in der Küche, schielte nach einem Gerstenkaffee. "Das sind bloß Ideen, weißt du? Vielleicht denkst du ja mal darüber nach und findest eine Entsprechung? Ich weiß ja nicht viel über deine Welt." Er rutschte vom Hocker, strebte dem Wasserkocher zu. So langsam fühlte sich seine Kehle nämlich wie Schmirgelpapier an. Vielleicht würde Umea einen Getreidekaffee auch nicht verschmähen. Der hatte unterdessen ordentlich die Bananenschale zusammengerollt, die dünnen Beine vor den Körper geklappt. "Ich glaube, mit mir stimmt was nicht." Ließ er Hadrian leise, aber verständlich wissen. "Wieso glaubst du das?!" Erkundigte der sich überrascht, forsch zwei Keramikbecher mit Pulver bestückend. Umeas dünne, bleich-blond-grünstichige Augenbrauen zogen sich ein wenig zusammen, als müsse er seine Sicht schärfen. "Ich verstehe nicht, warum. Wir sind immer zusammen. Niemand geht weg, höchstens ganz kurz, aber nie für lange. Wieso bin ich dann in die Stadt gegangen?" Hadrian lupfte eine Augenbraue, beäugte den dampfend-polternden Wasserkocher, taufte mit einem entschuldigenden Blick den Inhalt der Keramikbecher, reichte Umea einen, nahm wieder Platz. "Du denkst, dass deine Entscheidungen nicht die der anderen wären?" Hakte Hadrian vorsichtig nach. Umea nickte langsam. "Wieso spüre ich diese Eingebungen? Sonst verhält sich niemand so, mit Heimlichkeiten, in die Stadt gehen oder..." "Oder hierher kommen." Ergänzte Hadrian, pustete seinen Gerstenkaffee zur dezenten Blasenbildung. "Hmm, bist du dir sicher? Ich meine, es könnte ja auch sein, dass dir einfach niemand erzählt hat, wie sich früher andere verhalten haben. Erwachsene reden nicht gern von, na ja, eher unangepassten Leuten. Das stört das idyllische Bild." Grummelte er durchaus etwas ungerecht. Umea seufzte leise, nippte sehr vorsichtig nach langem Schnuppern. "Ich denke nicht. Wir kennen uns. So vertraut... ich weiß nicht, wie ich das erklären soll." Hadrian raufte sich die schwarzen Locken. "Meinst du wie eine gemeinsame Erinnerung? Oder eine Art Schwarm-Bewusstsein? Eine Kollektiv-Verbindung?" Die grünen Augen verrieten Verwirrung. "Also, bitte sei nicht beleidigt, ja? Also, Fische zum Beispiel, wenn die im Schwarm unterwegs sind, reagieren die manchmal wie ein Kollektiv, nach bestimmten Regeln, so als Taktik. Oder ein Wespen-Schwarm, die Individuen bilden eine Einheit, ohne dass einer jetzt Kommandos gibt, ohne großes Palaver." Hadrian stockte. "Okay, so genau verstehe ich das jetzt auch nicht, aber irgendwo scheint es so eine Art gemeinsames Bewusstsein zu geben, keine Schranke zwischen innen und außen." Umea studierte ihn hilflos. "Ähm, also, ich nehme mal Menschen, ja? Mich. Ich habe jede Menge Gedanken im Kopf drin, quasi meine Welt. Dann gibt es das draußen, die Welt um mich herum. Wenn ich jetzt etwas teilen möchte, von meinem Inneren weitergeben, muss ich das aktiv tun. Reden, gestikulieren, schreiben, malen, Zeichen geben, jedenfalls agieren. Ohne meine Aktivität gibt es keinen Austausch zwischen meinem Innen und meinem Außen. Da verarbeite ich bloß das Außen, aber mein Innen dringt nicht raus. Verstehst du?" Hadrian kam sich selbst schon Mitleid erregend bei dieser Slapstick-Erläuterung vor. Trotzdem konnten sie da etwas auf der Spur sein. "So schlimm ist das gar nicht, ich meine, falls du ein bisschen anders wärst. Das ist ja auch eine Chance, für einen anderen Blickwinkel, neue Ideen. Alles ändert sich ja, da könnte es durchaus ein Vorteil sein." Umea stellte den Keramikbecher sanft ab. "Wir ändern uns nicht. Wir leben schon lange so wie jetzt." Hadrian fühlte sich herausgefordert. "Ja, aber irgendwer hat doch mal damit angefangen, oder? Es war doch bestimmt nicht alles so perfekt wie jetzt, richtig?" Ihn traf erneut ein verwirrter Blick, dieses Mal jedoch nicht einer unvertrauten Wortwahl oder Phrase geschuldet, nein, Umea verarbeitete seinen Einwurf. Bestürzung zeichnete sich auf seinem ovalen Gesicht ab. Hadrian rutschte von seinem Barhocker, ging an die eiserne Reserve, total ungesunde Corn Flakes mit Schokofüllung. Er schüttelte aus der Kartonage in eine kleine Schüssel, stellte sie auf den Tresen zwischen die Keramikbecher, knabberte an einem "Kissen". Umea tat es ihm zögerlich nach, die grünen Augen ins Leere gerichtet. "Stellt bei euch jemand eigentlich mal die Regeln oder irgendwas in Frage?" @~-~@ Umea lutschte an dem merkwürdigen Ding herum, süß und fettig und klebrig. Ihm war ein wenig flau geworden, aber nun ging es wieder. Hadrian stellte Fragen, die Umea fremd und gleichzeitig begründet vorkamen. Allerdings konnte er sich nicht entsinnen, jemals solche Debatten gehört zu haben. Immer war man beschäftigt, alles so gegenwartsbezogen. Umea nippte an seinem Kaffee, kaute ein weiteres "Kissen" klein. Entweder gab es diese Überlegungen nicht, oder er bekam sie nicht mit, weil er ja als Träumer schon bekannt war, oder? Umea seufzte, spürte den Blick der schwarzen Augen, mitfühlend und auch ratlos. "Ich frage mich gerade selbst. Habe ich vielleicht doch viel nicht mitbekommen? Gelte ich deshalb als Tagträumer? Oder gibt es nichts mitzubekommen?" Etwas verschämt pickte er trotzdem noch ein weiteres "Kissen" aus der Schale. "So oder so bin ich anders, auch wenn ich das gar nicht möchte. Was soll ich da nur tun?" Hilfesuchend blickte er Hadrian an. @~-~@ Hadrian wirrte sich kurz durch die Locken, straffte seine Gestalt. Rückgrat beweisen, auch wenn es unangenehm wird, deshalb saß man auch aufrecht! "Also, du kannst das tun, was du für richtig hältst. Anders sein ist ja nicht gleich etwas Schlechtes. Wenn du kein Vorbild hast, bestimmst DU die Regeln. Vielleicht gibt es ja etwas, was das Leben erleichtern könnte? Oder ein Problem, mit dem man sich abgefunden hat? Wenn DU einen anderen Blickwinkel hast, könntest du Dinge ändern, deiner Familie, deinen Nachbarn helfen, auf deine Weise." Hadrian nahm Fahrt auf, angestachelt durch das blasse, unglückliche Gesicht seines Gastes. "Betrachte es doch mal so: du hast dich in der Stadt schlau gemacht über Menschen. Stimmt doch, oder? Wenn es auf deiner Seite, in deiner Welt so viele unterschiedliche Wesen gibt, gibt es jede Menge zu lernen. Nützliche Dinge, die vielleicht auch deinen Leuten am großen See helfen könnten oder einfach den Horizont erweitern, von der großen Welt etwas erfahren. Die Welt würde vielleicht auch gerne etwas von euch kennenlernen! Du könntest ein kultureller Botschafter und Vermittler sein. Allein bist du auch nicht! Die Leute in der Stadt da, all diese unterschiedlichen Wesen, ich meine, die kommen doch miteinander klar, oder? Obwohl sie alle anders sind. Es ist okay, Umea, bestimmt. Du bist mutig und geduldig, sonst wärst du gar nicht hier. Du wirst das finden, was du kannst!" Beendete er fast atemlos, erneut heiser seine Rede. Umea bestaunte ihn mit halb geöffnetem Mund, garniert von einem dezenten Schokobärtchen der "Kissen"-Füllung. Hadrian grinste schief. "Möglicherweise habe ich doch einen Motivationstrainer gefrühstückt. Oh, das ist eine Metapher, ja?! Ich bin kein Kannibale!" @~-~@ Umea war froh, dass Hadrian ihn zum Portal begleitete. Er hatte so viel zu überdenken, zu akzeptieren, dass er sich erschöpft fühlte. "Darf ich bitte wiederkommen?" Erkundigte er sich gedämpft. Die schwarzen Augen blinzelten überrascht. "Na klar doch! Ich bin nämlich extrem neugierig, wie es dir geht." Ein Lächeln prägte die Mundwinkel. "Vielleicht verrätst du mir im Vertrauen ja doch ein bisschen mehr über deine Welt." Umea nickte entschlossen. "Das mache ich auch! Es schadet ja niemandem." Wenn es funktionierte, konnte es wohl kaum verboten sein, oder?! Zumindest nicht unter diesen Umständen! Hadrian lachte leise, justierte noch mal den Dutt. "Das nächste Mal besorge ich dir doch einen Haargummi." "Danke schön." Umea zögerte einen Augenblick, schlang Hadrian die Arme um den Nacken, drückte ihn sanft. "Vielen Dank. Du bist ein sehr netter Mensch." Hadrian lächelte schief. "Danke für die Lorbeeren. Pass auf dich auf, ja, Umea?" "Du auch. Bis bald." "Ja, bis nächste Woche." @~-~@ Im Nachhinein betrachtet ganz schön vorlaut. Da große Volksreden schwingen und selbst den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen! Hadrian sortierte seine Notizen. Man konnte alles mit dem Verstand abwägen, Pro und Contra, nach Wirtschaftlichkeit und nach Wahrscheinlichkeit. Am Ende würde er wohl auf sein Bauchgefühl hören müssen, wenn sein Hirn schon konsequent den eindeutigen Ausschlag des Geigerzählers verweigerte! @~-~@ Kapitel 6 Der Herbst näherte sich gewohnt diplomatisch mit Tiefausläufern einer Sturmfront samt lokalen Starkregenereignissen und Temperatursturz. Das machte das Fahrradfahren zur Schule nicht gerade angenehm. Aber es gab kein schlechtes Wetter, nur eine ungeeignete Wahl der Bekleidung! Hadrian deponierte nicht nur den Kinderschal, sondern auch ein kleines Teelicht in die alte Sturmlaterne, falls Umea bei der Neuauflage der Sintflut Orientierungsschwierigkeiten hatte. Während er widerwillig Stoff der 10. Klasse wiederholte, um sich auf den großen Anlauf zum Abitur vorzubereiten, spähte er immer mal wieder nach draußen. Die Terror-Töle verkroch sich glücklicherweise bei Regen, sodass diese Gefahr gebannt schien. Dennoch, wo blieb Umea? @~-~@ Hadrian streifte sich seinen Fahrrad-Overall über, nicht kleidsam, sondern klebrig-anhänglich, aber besser noch als als getaufte Ratte in der Schule aufzuschlagen. Er stapfte mit Taschenlampe über den schlammigen Weg. "Umea?" Stieg über den niedrigen Zaun, wo der Rasen längst einer Seenplatte gewichen war. "Umea?" Auf halbem Weg hörte er ein klägliches Winseln, warf einen prüfenden Blick zum Haus der Haindls. Alles verrammelt, da konnte man schon mal den Pegel der Taschenlampe kreisen lassen. Da! "Sakrament!" Fluchte Hadrian unterdrückt. Bandnudel-Haarsträhnen in den Zweigen, ein verfärbtes Gesicht, ein kompaktes Paket. "Sch...Eibe!" Entfuhr es Hadrian entsetzt. Er zögerte nicht lange, sondern machte kehrt, um die Astschere zu holen. @~-~@ Die Eibe sah nach der Rosskur oder eher Hadrian-Schnapp-Orgie ziemlich lädiert aus. Deshalb kippte er zu Tarnzwecken einfach ein klappriges Deko-Element aus rostendem Stahl drauf. Die Astschere in den Overallgürtel geklemmt kämpfte er darum, Umea zu transportieren, eisgekühlt, tropfnass, ein winselndes Bündel. Hilfestellung ausgeschlossen. Schweißgebadet erreichte Hadrian endlich das Haus, setzte Umea rasch ab, pellte sich aus dem Overall und den Gummigaloschen, in denen schon das Wasser stand. Die Astschere musste sich auch gedulden. Ein tiefer Atemzug, die Schultern aufgeschüttelt, da bugsierte Hadrian Umea nach oben ins Badezimmer. Beinahe begrüßte er es, dass Umea zweifelsohne unter Schock stand. "Alles wird gut!" Versprach er, auch wenn ihm vor Anstrengung schwindlig war und er gar nicht wusste, wie er nun fortfahren sollte! Auftauen sollte helfen. Deshalb ließ er erst Wasser in die Wanne laufen, plumpste ächzend und keuchend seinen Gast hinein. Dabei taufte er sich selbst unbeabsichtigt natürlich auch, aber nassgeschwitzt kam es darauf schon nicht mehr an. Ein rasselndes Geräusch, Umea schluchzte gequält auf. "Okay, ja, ich weiß, es brennt, nein, lass mich das machen, ja?" Mit einem nassen Lappen tupfte er Umeas entzündetes Gesicht ab, die Hände und Handgelenke. "Das wird wieder, hörst du? Nicht weinen, Umea, sonst kommt noch was in die Augen!!" Weil die Ermahnung nicht half, presste Hadrian schließlich Umeas Gesicht gegen seine Brustpartie. Das T-Shirt konnte noch ein wenig Feuchtigkeit aufsaugen. Im Luftanhalten war Umea schließlich sehr gut, oder? Für einige Augenblicke konnte er durchschnaufen und angestrengt nachdenken. Die Eibe war in allen Teilen giftig. Umea hatte offenbar Einiges abbekommen. Abwaschen! Es musste unten noch eine Salbe da sein, die die Entzündung linderte! Außerdem galt es herauszufinden, wieso er bloß dort hineingekrochen war! Schließlich gab Hadrian Umea frei, streifte sich das schmutzige, feuchte T-Shirt vom Körper, ging neben der gut gefüllten Wanne in die Hocke. "Nein, nicht ins Gesicht fassen! Lass die Hände hier auf dem Rand, bitte. Umea? Umea, das wird schon wieder, ja? Ich gehe jetzt rasch runter, hole eine Salbe gegen die Entzündungen. Bitte wärm dich auf und halte durch, okay?" Das Winseln musste als Zustimmung genügen. Hadrian galoppierte die Stiege herunter, kramte hastig durch die Schubladen. Er konnte nur hoffen, dass Umeas fremder Organismus keine Komplikation darstellte! @~-~@ Umea ließ sich das Gesicht bepinseln, auch wenn unaufhörlich farblose Tränen über die geschwollenen, entzündeten Partien rannen. Danach waren die Hände dran. "Okay, so weit, so gut. Jetzt müssen wir dich aus den Sachen rausbekommen." Das würde sich schwierig gestalten, denn Umeas merkwürdiger Knie- und Knöchel-Leim-Reflex hielt an, weil der sich ja in der Badewanne im sehr warmen Wasser befand. Zunächst versuchte Hadrian sich am gekordelten Hemd. Das klappte etwas ungelenk, aber erfolgreich durch Aufrollen, Fädeln und sequentiell Abschälen. Ein ziemlicher Kampf! Unseliger Weise trudelte auf dem Wasser auch noch ein Bandnudel-Haar in Umeas Sichtweite. Das gequälte Aufheulen hätte Steine zerbröseln lassen! "Entschuldige! Aber sie waren total verheddert und verklebt!" Hadrian gab es auf. Ja, er hatte nicht nur die Eibe gestutzt, sondern die rettungslos verkletteten Strähnen auch zersäbelt. Nicht alle, aber durchaus einige. Umea weinte herzzerbrechend und unglücklich wie ein kleines Kind. Tränen quollen aus den grünen Augen, kullerten über die langsam abschwellenden Wangen. "Ich... Es tut mir leid, wirklich!" Würgte Hadrian an einer Beruhigung, doch Umeas Jammer ging ihm allzu nahe. Er platzierte sich auf den Badewannenrand, beugte sich herab, zog Umea an sich. "Nicht mehr weinen, bitte! Es wird doch besser, du frierst nicht mehr und die Salbe hilft auch!" Plädierte er verzweifelt auf Zuversicht. Umea schluchzte an seinem Ohr, nur langsam auftauend, völlig aufgelöst, entmutigt. In die Enge getrieben folgte Hadrian einem fatalen Impuls, ließ ein wenig locker, riskierte einen kurzen Blick. Er küsste Umea auf die bebenden Lippen. @~-~@ "Autsch." Hadrian zog sich zurück, aber nicht zu ruckartig. Die grünen Augen weiteten sich. "Nicht weinen, bitte! Das war jetzt unverschämt." Hadrian registrierte den Kupfergeschmack von Blut. "Oh, he, nicht doch! Ist nicht schlimm, war ja meine eigene Schuld! Umea, bitte!" So viel Unglück, Entsetzen und Scham auf einem Gesicht! "Ich spül mir nur den Mund, ja? Entschuldige, das hätte ich nicht tun dürfen." Hadrian entschlüpfte der losen Umarmung, gurgelte eilig über dem Waschbecken. Warum hatte er das bloß getan?! Vor allem nicht damit aufgehört, sondern...! Kein Wunder, dass Umea...! Tapfer drehte er sich herum, kehrte zum Ort der Schmach zurück. "Wirklich, es tut mir leid! Oh, komm, du vertrocknest noch, Umea! Ich bin in Ordnung, siehst du? Man küsst ja auch nicht ungefragt." Diese Auffassung schien Umea nicht zu teilen. Die schlanken Hände fingen seinen Schädel ein, damit ihn ein ungeschickter Kuss treffen konnte. "Ha~Hadrian! Hadrian!" "He, ist ja gut. Alles ist gut, ich bin hier! Wir kriegen das schon wieder auf die Reihe!" @~-~@ Umea hatte offenbar auch wenig Ahnung und keine Übung im Küssen. Das erleichterte Hadrian, der nun, auf vorsichtiger Exkursion, auch begriff, dass sein Freund ziemlich spitze Zähne hatte, sich jedoch sehr bemühte, seine Geste zu erwidern. Das blieb nicht ohne Folgen, weshalb Hadrian sich hastig löste, einen grünen, zutiefst unglücklichen Blick auffing, und, in der Wanne, trotz zusammengeleimten Knien und Knöcheln in Hockstarre einen Ausschlag unter dem Gürteläquator. "Wir müssen aus den Klamotten raus." Stellte Hadrian keineswegs ernüchtert fest. Er ging mit gutem Beispiel voran, zog blank, stieg in die nunmehr sehr okkupierte Wanne, fasste um Umea herum. Irgendwie musste man ja auch die Hose und den seltsamen Lendenschurz tief genug pellen können, um zu tun, was ein Mann zu tun hatte! @~-~@ Hadrian war mangels spezifischem Reflex im Vorteil, musste deshalb die Verantwortung übernehmen, schließlich der Wanne mit dem abkühlenden Wasser entsteigen, sich eilig abtrocknen. "Bitte halte die Stellung, ja? Ich hole uns frische Anziehsachen. Wir schauen uns unten an, was alles verarztet werden muss." @~-~@ Umea kannte keine Unterhosen aus diesem weichen Stoffgemisch oder Pyjamas aus Flanell sowie Wollsocken. Sie waren angenehm! Die Salben halfen. Auch der Verband um seinen linken Knöchel tat gut. Hadrian hatte ihre schmutzige, nasse Kleidung waschen lassen und aufgehängt, Tee aufgesetzt. Sogar in kleinen Tassen in diesem würfelförmigen Gerät süßes Gebäck bereitet! Im Moment saßen sie auf dem Bett, krümelten auf alte Untertassen, nippten am Tee. "He, es tut mir echt leid, mit deinen Haaren, wirklich! Ich wusste bloß nicht..." Hadrian seufzte, streichelte sehr vorsichtig über Umeas Schopf. Ungebunden reichte ein Teil des "Seetangs" fast bis auf die Oberschenkel herunter. "Dich trifft keine Schuld. Erst bin ich über dieses Werkzeug mit den Krallen gestürzt und dann, weil der Regen so stark war, unter diesen grässlichen Nadelbusch gekrochen." Umea seufzte. "Es war so kalt! Und der Regen!" Unerwartet legte ihm Hadrian den Arm um die Schultern, zog ihn eng heran. "Das nächste Mal ruf nach mir. Oder nach Hilfe, ja? Ich weiß, ich hab gesagt, du sollst dich möglichst unsichtbar verhalten, aber im Notfall gilt das nicht, okay? Wir denken uns einfach etwas aus." Den Kopf wendend küsste Umea vorsichtig die warmen, ein wenig süß schmeckenden Lippen. "Ich wollte schon, aber es ging nicht. Im Wasser kann man schlecht rufen, weißt du?" Die schwarzen Augen blickten irritiert. Man konnte einen Erkenntnisprozess verfolgen. "Ist das auch so ein Reflex? Wie mit deinen Knien?" Umea nickte erschöpft. "Bitte entschuldige den ganzen Ärger. Ich wusste nicht, dass das Wetter hier so anders sein kann." Sofort wurde er gestützt, durch pure Nähe gewärmt. "Ach du Schande, gibt es bei euch keine Jahreszeiten? Ich meine, das ist hier gerade der Anfang! Wir haben auch Schnee, Eis und Hagel." @~-~@ Hadrian fühlte sich gut, schämte sich zugleich heimlich dafür, weil er Umea in den Arm nehmen konnte, verschiedene Körperpartien bestreichen. Immerhin kannte der solche niedrigen Temperaturen ja nicht! Gleichzeitig konnte man sehr eigennützig Kontakt pflegen. Schlimmer noch, er hatte Umea geküsst, extrem geknutscht! In der Wanne auch noch abgespritzt! Das machte man ohne ausdrückliche Einladung gewiss nicht! Ungezogen, übergriffig, unmanierlich, gegen Anstand und Moral! Außerdem war Umea verletzt, konnte ihm wegen der kuriosen Reflexe nicht entwischen. Er hatte allen Grund, sich für sich selbst und seinen Egoismus zu schämen! Das musste verschoben werden, denn Umea fielen immer wieder die Augen zu. "Ich stell den Wecker und schaue mal nach unseren Sachen." Kündigte Hadrian an, bugsierte Umea behutsam komplett in die Horizontale in seinem Bett. Außerdem waren noch das Geschirr zu betreuen und die Astschere eilig mit Zeitungspapier abzureiben! Als Hadrian rasch wieder die Stiege erklomm, halbwegs überzeugt, alle verräterischen Spuren vor seiner Mutter verborgen zu haben, schlief Umea tief und fest. @~-~@ Umea versteckte die Tüte aus Plastik sorgfältig. Sie enthielt eine alte Windjacke, eine Sporthose, Wollsocken, einen Schal und einen Regenschirm, damit er in der nächsten Woche nicht ein neues Debakel erlitt, wenn er Hadrian besuchte. Der Knöchel pochte nur ein wenig, als Umea sich in der späten Nacht auf den Heimweg machte. Selbst für seine Haare hatte er sich schon eine Erklärung zurechtgelegt. Eine Lüge. Ob irgendwer darauf aufmerksam werden würde? @~-~@ Hadrian schämte sich pflichtbewusst für seinen Egoismus und für den Umstand, dass Umea kein Mensch war, sondern ein wöchentlicher Besuch aus einer anderen Welt. Denn so konnte ein Aspekt seines Andersseins nicht im gesamten Landkreis auffliegen. Sehr rückgratlos und feige! Einerseits. Andererseits konnte man den Selbsterhaltungstrieb ja auch nicht negieren, wenn man für Heldentode nichts übrig hatte. Hadrian war sich bewusst, dass er nicht auf Mädchen stand, noch nie den Reiz verspürt hatte, eins zu küssen. Gut, die Jungs, die er hier kannte, wollte er auch nicht küssen, aber das lag eher daran, dass man nicht scheißt, wo man isst. Selbsterhaltung! Sich gar nicht erst die Blöße geben, keine Anziehung zulassen! Distanz, Neutrum sein und bleiben! Bei Umea hingegen... Schon versetzte ihm sein Anstandsgefühl eine metaphorische Maulschelle. Umea war warm, zutraulich, liebevoll, herzzerreißend traurig und niedlich in seiner Grübelei. Hatte ihn nicht abgewiesen. Wer würde so verrückt sein, sich diese Chance entgehen zu lassen?! Ja, er schämte sich durchaus für seinen Egoismus! Allerdings nicht so nachhaltig, dass er nicht Umeas nächsten Besuch ungeduldig erwartete, auf eine Wiederholung ihres Schäferstündchens hoffte. @~-~@ Niemand zeigte übertriebene Neugierde, stellte seine kurzen Erklärungen in Frage, wunderte sich über einen angeschlagenen Knöchel. Umea schämte sich, weil er fortgesetzt Heimlichkeiten pflegte, sich nicht mal seiner engsten Familie anvertraute. Er verwünschte auch den Gedanken, der nicht mehr wich, dass es da eine wichtige, große Frage zu beantworten gab! Deshalb stapfte er, sich gar nicht mutig, viel mehr aufgerieben fühlend, in die Stadt, wo alle anders waren, wo ein munteres Treiben herrschte. In der Collectio orientierte er sich mit wachsender Übung. Die Historie der Stadt präsentierte sich umfangreich. Sogar ein aktuelles Modell im verkleinerten Maßstab wurde ausgestellt. Umea suchte nach anderen Abhandlungen, über seine Heimat, seine Leute. Ein längerer Aufsatz, über zweihundert Jahre alt, eine aufmerksame, gründliche Bestandsaufnahme. Umgebung, Struktur, Organisation, Kultur, Ernährung, Moralvorstellungen, Entwicklung. Es gab keine Abweichung, keine Veränderung. Alles stimmte mit den ihm bekannten Verhältnissen noch immer minutiös überein. Was keineswegs schlecht sein musste! Lediglich.... Umea suchte ein anderes Fachgebiet im Gebäude auf, nicht sonderlich umfangreich, dafür häufig konsultiert, wie die sorgsam aufbereiteten Einbände verrieten: Strategien zum Lehren und Lernen, Lehrpläne, Schwerpunkte, Ausrüstung, Einrichtung, Abstimmung. Hadrian hatte ihm "Schule" erklärt, ein großer Gebäudekomplex, wo die Kinder ihre Tage verbrachten, viele Dinge lernten. Umea kannte keine "Schule". Er konnte sich nicht entsinnen, "unterrichtet" worden zu sein. Nein, man wusste einfach... Abrupt erhob er sich von der umlaufenden Bank, die zur Lektüre einlud, marschierte wie aufgezogen zu einem Fenster. Ein transparentes Gewebe sorgte für Durchblick und Belüftung. Hadrians Theorie konnte zutreffen, dass sie alle verbunden waren, Wissen und Erkenntnis teilten. Auf diesem Stand verharrten seit mindestens zweihundert Jahren! Sich nicht wunderten, nicht zweifelten, nicht hinterfragten. Aber er tat es, heimlich. Nun unglücklich, in seinem Anderssein allein. Warum?! Was stimmte nicht mit ihm? Wo befand sich diese gemeinsame Verbindung?! Wieso wich seine Disposition von der der anderen ab?! @~-~@ Hadrian wartete, gab vor zu lernen, warm eingepackt, auf die Terror-Töle lauschend. Sollte das Vieh nicht rein geholt werden? Es wehte frisch, mit einer Ahnung von Nässe. Seine Vorfreude, Umea wiederzusehen, war von einer gewissen Nervosität eingetrübt. Er hatte die sehr fragile Lage ausgenutzt. Umea konnte sich längst eines anderen besonnen haben, wenn die Erleichterung und das Abklingen der Schmerzen sich Gehör verschafften. Man musste gewappnet sein. Eine Absage mit Würde und Anstand annehmen. Vielleicht das Thema gar nicht mehr anschneiden, um die Balance ihrer Beziehung nicht zu gefährden? Sie waren ja quasi Freunde, oder nicht? @~-~@ Umea kam erst gar nicht dazu, den Schirm aufzuspannen. Das unleidliche Tier musste ihm aufgelauert haben, attackierte sofort. Im Bewusstsein, dass der Regenschirm eine Leihgabe darstellte, schüttelte Umea am Griff. Verbissen zeigte auch der Hund keine Anzeichen lockerzulassen. "Umea!" Hörte er Hadrian rufen. Der überstieg schon den niedrigen Gartenzaun, nahm ihm einfach den Schirm ab, sperrte den verkeilten Aggressor in die Kindermuschel. "Das Vieh wird auch immer bekloppter." Umea atmete erleichtert auf. "Ach du Schande, du bist bei dem Wetter barfuß? Komm flott, tauen wir dich auf!" Hadrian nahm ihn an der Hand, besorgt blickend. "Vielleicht...? Ob wir wohl warmes Wasser teilen könnten?" @~-~@ Vorausschauender als beim letzten Mal verlegte Hadrian das Entkleiden vor den Einstieg in die Badewanne, küsste und streichelte Umea, verfing sich im wirren "Seetang" des abgestürzten, ausgedünnten Dutts. "Sekunde!" Gebot er, wischte herum, produzierte stolz eine jüngste Erwerbung: in einem durchsichtigen Kunststoffzylinder stapelten sich unterschiedlich breite Haargummis. Die Farbschattierungen hatte er mangels großer Auswahl auf schwarz-weiß-grau eingeschränkt. Das Alternativangebot in kreischendem Pink erschien ihm für einen Jungen unzumutbar. "Steig rein, ja? Ich binde dir die Haare ein." Umea lächelte zögerlich, kletterte über den Wannenrand in das klare, warme Wasser. Mit Badezusätzen agierte Hadrian lieber erst, wenn er sicher war, dass sie sich mit Umeas Haut vertrugen. Der Klebe-Klapp-Reflex zeigte sich rasch. Hadrian platzierte sich hinter Umea, spreizte die Beine auf, damit er diesen an sich ziehen konnte, die "verleimten" Knie vor den Körper gezogen. Ohne größere Mühe löste er geschickt die traurigen Trümmer der Hochsteckfrisur, exilierte verirrte Blätter und kleine Zweige. Talentiert geflochten, (er hatte sich eigens mit einer französischen Variante befasst), dank Gummi leicht zu bändigen, die Zöpfe zu Schnecken aufgerollt und adrett auf dem Hinterkopf justiert. Sehr schmuck! "Nachher darfst du dich im Spiegel bewundern." Neckte er Umea, schlang ihm die Arme unter den Achseln hindurch, reduzierte die Distanz auf Hautkontakt, küsste erneut Nacken und Schultern, Wangen und zarte Ohrmuscheln. Dass sein Agieren Umea gefiel, konnte er nur vermuten. Dessen Nasenflügel klappten sich ein, was Hadrian daran erinnerte, dass Umea auch nicht sprechen konnte, wenn DIESER Reflex auftrat. Na ja, unter Wasser auch eher ein zu vernachlässigendes Talent! Er arrangierte Umea leicht versetzt vor sich, damit er die bebenden Lippen küssen konnte, Umea dazu bringen, nach ihm zu schnappen, um seine Zunge tollkühn zwischen die scharfen Zähne zu schmuggeln. Eine "französische" Variante, die man zweifelsohne nicht pflegte, unter Wasser! Allerdings kam kein Protest auf, weshalb Hadrian gleich dazu überging, sein handwerkliches Geschick erneut zu erproben. Unter dem Gürteläquator. @~-~@ Umea kaute langsam einen Haferflocken-Apfelmus-Keks, während Hadrian nacheinander Körperpartien aus Pyjama und Bademantel pellte, um die Salbe aufzutragen. Dabei wirkte er nicht nur gewohnt konzentriert und aufmerksam, sondern vergnügt, lächelte ihn immer wieder an, kleine Kringel um die Mundwinkel prägend. "Na schön, ich glaube, wir sind fertig. Was meinst du, gehen wir in mein Zimmer? Da kannst du mich auch endlich löchern." Umea stutzte verwirrt. Löchern?! War Hadrian doch noch böse, weil er ihn letztes Mal...?! Aber er würde ihn niemals absichtlich beißen oder verletzen! Er hörte das amüsierte Lachen seines Gastgebers. "Ich meine, du kannst mich mit Fragen löchern. Irgendwas beschäftigt dich doch, nicht wahr?" Die dargebotene Hand ergriffen nickte Umea, warf sich selbst beim Defilee im Spiegel einen kurzen Blick zu. Diese Haargummis, toll! So praktisch! Allerdings, das gestand er neidlos ein, auch ohne sie wäre es ihm nicht gelungen, sich so eine kunstvolle Frisur zuzulegen. Umea registrierte, dass Hadrians Daumen zärtlich über seinen Handrücken strich, während sie die Stiege hochkletterten. Ein aufbauendes Gefühl, Hadrian all seine Freundlichkeit und Nachsicht wenigstens ein bisschen vergelten zu können. Unter die aufgeschlagene Decke kletternd machte Umea es sich bequem. Warm, weich, gemütlich und bunt, diese Welt war so anders! Was ihn an sein Dilemma erinnerte. "Hadrian, kannst du mir bitte sagen: wie lernst du?" @~-~@ "Das ist, glaube ich, alles. Menschen haben keinen Instinkt, weißt du? Also operieren wir mehrgleisig, ich meine, mit mehreren Methoden." Verbesserte Hadrian sich rasch. Umeas grüner, sehr konzentrierter Blick ließ ihn ahnen, dass er dieses Mal nicht mit vagen Andeutungen abgespeist wurde, trotz der Verbote und der Sorge. Umea wirkte auf ihn verändert, fokussierter, entschiedener. "Ich bin in die Stadt gegangen, um zu verstehen. Dort gibt es eine große Collectio. Manchmal sind dort auch Kinder." Hadrian nickte aufmunternd, lauschte mit wachsendem Mitgefühl Umeas steinigem Pfad zur Selbsterkenntnis. @~-~@ "Ich vermute, dass irgendwas mit mir nicht stimmt. Ich habe nie gelernt. Ich verstehe das, was alle von uns, meine ich, verstehen. Dennoch verwirrt es mich. Je mehr ich erfahre, umso mehr Fragen entstehen. Ich möchte sie gar nicht haben, aber...!" Brach es aus Umea heraus. Erschrocken zog er die Schultern hoch, hielt sich den Mund zu. Beim Großen M, was war denn da in ihn gefahren?! Hadrian legte ihm einen kräftigen Arm um die Schultern. "Ich verstehe das. Ich verstehe dich gut, glaub mir. Manchmal wünschte ich mir auch, ich wäre nicht anders, sondern genau wie die anderen. Anders sein ist aufreibend und anstrengend." Umea erhielt einen sanften Kuss auf die Wange, wandte den Kopf, um die schwarzen Augen zu studieren: keine Kringel mehr in den Mundwinkeln, kein Lächeln mehr, kein Vibrato in der Stimme. "Bloß funktioniert das nicht. Wenn man mal begriffen hat, dass man anders ist, gibt es kein Zurück mehr. Deshalb bin ich froh, dass du wieder gekommen bist, weil ich mit dir ganz ICH sein kann. Das tut wirklich gut." @~-~@ Hadrian entging der fragende Blick der grünen Augen keineswegs. Er atmete tief durch, spürte eine unangenehme Verspannung, die sich blitzartig seines Körpers bemächtigte. "Ich bin schwul. Das heißt, ich bin nicht körperlich an Mädchen interessiert." Ihm wurde nun beinahe schwindelig, sich selbst zuzuhören, auszusprechen, was er niemandem anvertraut hatte. Bisher. "Das, also schwul sein, ist jetzt kein Verbrechen, oder so. Nicht mehr zumindest, bloß... Na ja, statistisch gesehen hegt wohl jeder zehnte Mensch mehr Interesse für die eigenen Geschlechtsgenossen. Es soll auch angeboren sein. Ich kann quasi nichts machen, ha! Soll heißen, ich bin eben so, aber man muss ja nicht danach leben. Wenn man nämlich nichts tut, muss niemand zur Kenntnis nehmen, dass man eben nicht so wie die anderen neun gestrickt ist." Hadrian drückte Umeas Schultern unwillkürlich ein wenig fester, konzentrierte seinen Blick stur auf die Tagesdecke, die sie wärmend umhüllte. "Du bist die erste Person, der ich das erzähle. Nicht mal meiner Mutter kann ich es sagen, weil ich Schiss habe. Wenn es sich herumspricht, bin ich bloß noch 'der Schwule'. Die Leute gehen auf Distanz, damit niemand meint, sie wären vielleicht auch so. Als ob es überspringen könnte wie ne Erkältung!" Schnaubte Hadrian verächtlich mit eingeschnürter Kehle. "Wenn es nur um mich ginge, wäre es ja egal, aber... Meine Mutter hat so hart dafür gearbeitet, hier die Apotheke zu führen. Die Leute haben sich das Maul zerrissen, schlecht über sie gesprochen, weil sie geschieden ist, alleinerziehend mit Kind. Kein Mann dabei. Ohne Vater muss man ja verkorkst sein! Ich will nicht, dass so eine miese Stimmung aufkommt, nur meinetwegen. Also hab ich das schön für mich behalten. Bringt einen ja nicht um, wenigstens nicht direkt." Er riskierte einen nervösen Seitenblick. War Umea vielleicht beleidigt, weil er bei ihm die günstige, einmalige Gelegenheit erkannt und skrupellos genutzt...? Die elegante, häufig verletzte Hand streichelte ihm über die Wange, schüchtern seine Locken, traurig, mitfühlend, tröstend. "Was können wir tun?" Wisperte Umea schließlich, schmiegte sich enger in seinen Arm. Hadrian richtete sich auf, ermahnte sich innerlich. Er hatte zum zweiten Mal in Folge ja wohl keinen Grund, sich jämmerlich zu fühlen, im Gegenteil! Deshalb wandte er den Kopf, küsste Umea auf die Schläfe. "Ich kann erst mal danke sagen. Danke, dass du bei mir bist, dass ich dich küssen und dir nahe treten darf. Ich bin zwar anders, aber ich fühle mich jetzt nicht allein oder abartig oder widerwärtig! Weil du hier bist, kann ich mutig sein." Hadrian räusperte sich verlegen. "Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie ich DIR helfen kann. Ich möchte das wirklich gern, aber mir fällt nichts ein!" Ein sehr blamabler Offenbarungseid. @~-~@ Umea wandte den Kopf, studierte Hadrians Profil, dessen Wangen eine leichte Röte bekleidete. "Es hilft mir, hier zu sein, mit dir sprechen zu können. Zu wissen, dass du mich siehst, wie ich bin." Er seufzte leise. "Es ist für mich neu, mich zu fragen, ob die anderen mich sehen, wie ich bin. Ob sie aus Mitleid nicht ansprechen, dass ich anders bin. Oder ob sie es gar nicht bemerken." Ein verwirrter Blick traf ihn aus den schwarzen Augen unter den zusammengezogenen Augenbrauen. Umea lehnte sich bequem in den gastfreundlichen Arm. "Eigentlich wissen wir von einander alles. Nicht die Gedanken, aber Gefühle, Fähigkeiten, Talente. Nur nur tue ich Dinge, von denen ich bisher nicht gehört habe, dass andere sie getan hätten. Lernen, sich für die Menschenwelt interessieren." Er atmete tief durch. "Geheimnisse haben. Nicht erzählen, was ich getan habe, was ich nicht verstehe oder hinterfrage. Ich bin mir nicht sicher, ob sie es wirklich nicht bemerken. Oder ob sie nur aus Mitleid so tun, als wäre ich wie alle." Umea ballte die Hände zu Fäusten. "Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll! Es gab immer nur ein Wir, verstehst du? Aber jetzt denke ich 'sie und ich', oder 'die anderen', als wären wir getrennt, als gehörte ich nicht dazu." Ihn würgte es. "Bloß, dieser Gedanke ist fürchterlich! Ein Teil von mir leidet unter der Vorstellung, getrennt zu sein, nicht in der Gruppe. Ich betrüge sie, meine Familie, meine Leute, verschweige ihnen, was mich beschäftigt. Das ist eine große Lüge, und wir lügen nicht, weil das gar nicht funktionieren würde!" Umea brach ab, durcheinander und unglücklich. Hadrian lauschte ihm so aufmerksam, dass es ihn einschüchterte. "Wenn ich das richtig verstehe, habt ihr alle einen unsichtbaren Draht zueinander, ich meine, ihr seid miteinander verbunden, richtig? Weshalb es seltsam ist, dass niemand merkt, was dich umtreibt. Oder alle merken es, aber niemand will dich absondern, indem man etwas sagt. Sag mal, was würde denn passieren, wenn du es ihnen sagst?" Umea zögerte. "Ich weiß es nicht. Wenn sie es schon wissen, ändert sich wohl nichts. Wenn es ihnen neu ist, hat es vielleicht gar keine Bedeutung, weil wir uns ja so lange einfach nicht verändert haben. Bis auf mich." @~-~@ Hadrian sortierte diese unglückliche, hilflose Ausführung. "Bist du sicher, dass du der Erste mit dieser Begabung bist? Ich meine, man könnte es auch einfach unter den Tisch fallen gelassen haben. Ähem, nicht weiter beachtet, meine ich." Herrje, mit Metaphern konnte er sich wirklich in die Bredouille bringen! Seine Hoffnung, Umea ein wenig aufzuheitern, hielt nicht lange vor. "Das ist möglich, allerdings ergäbe sich keine Veränderung. Als Ergebnis, insgesamt." Hörte er Umea leise murmeln. "Sehen wir es doch mal positiv! Auch wenn du anders als die anderen bist, niemand jagt dich weg oder schließt dich aus, richtig? Vielleicht verstehen sie dich nicht so ganz, aber sie akzeptieren dich, oder? Das ist, jetzt mal zum Vergleich mit meiner Sorte, sehr viel wert! Niemand wird dich zwingen, wegzugehen oder allein zu leben!" Stellte Hadrian betont energisch eine These auf. Himmel, das müsste man mal bei Menschens einführen! Ha! Utopische Idee, zweifelsohne. Umea wirkte dennoch nicht überzeugt, nickte jedoch, offenbar ihm zu gefallen. "Das stimmt. Ich sollte mich schämen, so egoistisch zu sein." "Nein, solltest du nicht!" Widersprach Hadrian entschieden. "Es tut weh, wenn man sich ausgeschlossen und anders fühlt. Wer könnte das beurteilen außer du selbst? Wenn es stimmt, dass deine Leute diese Empfindung gar nicht kennen, kannst nur DU für dich selbst eintreten. Ich kann jetzt bloß als Mensch sprechen." Hadrian grimassierte gequält. "Aber selbst bei Menschen dauert es ein wenig, bis man begreift, dass man innen drin allein ist, eine innere Welt und eine äußere Welt jonglieren muss. Dass die eigene Sicht auf die Welt nicht unfehlbar ist, sondern nur eine von unzähligen Perspektiven. Dass aus dem eigenen Schädel nur einer raus guckt, der nicht in andere Schädel rein gucken kann." Er klopfte sich mit der freien Hand an die Schläfe. "Dass dieser Schädel immer nur Interpretationen nutzt, um sich seiner Umgebung anzunähern, lernt, aus Erfahrung, aus Beispielen, aus Vermutungen, was wohl die anderen so denken und erleben in ihrer inneren Welt." Hadrian lächelte schief angesichts des verzagten Blicks aus grünen Augen. "Das ist nun mal eine Tatsache. Wir können uns annähern, Empathie lernen. Ganz übel geht es einem damit ja auch nicht. Was ich sagen möchte: du HAST ja die Verbindung zu deinen Leuten noch. Das andere, die Fragen und Zweifel, das ist quasi ein Extra. So kannst du eure gemeinsame Welt nicht nur von innen sehen, sondern auch von außen." Umea nickte langsam, brav, nicht begeistert. Hadrian seufzte. "Okay, ich ergebe mich! Du hast es schwer, das ist nicht zu leugnen. Mir fällt nichts Schlaues mehr ein. Angeblich soll es helfen, wenn man sich ausmalt, wie eine tolle Zukunft beschaffen sein sollte, Bloß, wenn man der Erste ist, wird es natürlich schwierig!" Schnaubte Hadrian über die eigene Unzulänglichkeit. ER hatte ja Optionen und Vorbilder genug, aber wie sollte Umea da als möglicher Pionier den imaginären Pinsel schwingen?! Umea, in seinen Arm geschmiegt, grübelte offenkundig. Der grüne Blick fixierte das Ungefähre. "Wenn ich das richtig verstehe, sollte ich in der Lage sein, einen neuen Pfad zu schaffen." Formulierte er sehr bedächtig. Hadrian enthielt sich eines Kommentars. Obwohl ihn Umeas Kummer anrührte, war er auch fasziniert von dessen Entwicklung. Zuerst verschreckt und verängstigt, nun entschlossener, konzentrierter und mutig! Als sähe man einem Erkenntnisprozess in Zeitraffer zu. "Ist nicht viel, aber du kannst jederzeit zu mir kommen, weißt du? Vielleicht kann ich ja doch helfen. Oder wenigstens zuhören." Bot Hadrian an, drückte behutsam die schmalen Schultern. Umea lächelte. "Vielen Dank. Du hilfst mir bereits jetzt sehr. Ohne dich hätte ich mich selbst niemals in Frage gestellt, gar nicht verstanden, wie man lernt." Er entschlüpfte Hadrians Arm, zog gelenkig die Beine an, kniete sich hin, um die Arme um Hadrians Nacken zu legen. "Außerdem hätte ich nie gelernt, wie man küsst!" Was er zu Beweiszwecken gleich ausgiebig demonstrierte. @~-~@ Kapitel 7 Umea beteiligte sich, dank Salbe, wie gewohnt bei den Arbeiten seiner Familie, half artig und engagiert, wenn auch ohne besonderes Geschick oder Fortune. Woher sollte es auch kommen? Danach verabsentierte er sich in die Stadt. Dass alle anders aussahen, war ihm nie bemerkenswert vorgekommen, simpel eine Tatsache, der man keine große Beachtung schenkte oder die man bewertete. Nun tat er es, weil der Vergleich zum besseren Verständnis notwendig war. Hörner, Schuppen, Federn, Schnäbel, Krallen, Klauen, Flügel: die Lebewesen waren vielgestaltig und phantastisch. Nicht lediglich eine Tatsache, sondern auch Aufhänger für unendlich viele Fragen! Das war vorher nicht wichtig gewesen. Für Umea eine weitere Erkenntnis. Er wollte verstehen, ohne abzugrenzen oder zu bewerten. Wie verständigte man sich, wie harmonierte man, wie löste man Konflikte? Für den "alten" Umea seltsame Fragen. Solche Probleme kannte man am großen See gar nicht. Umea konnte sie sich vorstellen. Dass man nicht einer Meinung war, dass man erst herausfinden musste, wie man die eigene innere Welt nach draußen transportierte. Allein schon die Missverständnisse mit Hadrian halfen in dieser Hinsicht enorm. Sich herantasten müssen, immer wieder überprüfen, nachfragen: anstrengend, aber auch lohnenswert! Noch löste das seine existentielle Not, sich selbst zu versorgen, ohne die anderen zu belasten, nicht. Wenn er sich allerdings umsah, die Collectio durchwanderte, konnte er so viele Varianten in gesellschaftlicher Zusammenarbeit erkennen. Ja, in der Stadt lebten viel mehr und sehr unterschiedliche Wesen. Schon richtig, es gab Hilfen und Anregungen, wie man die eigene Nische fand, zum Beispiel durch die KOK-Offize. Nicht in seiner Siedlung, bei seinen Leuten. Bisher nicht benötigt, nicht mal registriert. "Aber irgendwer hat mal angefangen!" Sprach Umea sich Mut zu. Vielleicht verharrten sie schon seit mehr als 200 Jahren auf derselben Entwicklungsstufe, aber sie mussten schließlich auch mal dahin gekommen sein! Er selbst war anders, kaum zu leugnen, konnte jedoch nützlich sein, falls die Umgebungsvariablen sich änderten. Oder man sie selbst änderte! Selbst wenn es keinen Grund gab, keine kosmische Direktion oder einen schicksalhaften Plan. "Dann mache ich mir den eben selbst!" @~-~@ "Findet heute dein Bridge-Abend nicht statt?" Nervös beäugte Hadrian die Regenfälle vor dem beschlagenen, von Tropfen behangenen Fenster. "Bei dem Wetter? Wenn ich da zu tief atme, steht mir das Wasser in den Knien." Entgegnete seine Mutter staubtrocken, ihre Bestelllisten durchgehend. Was Hadrian frustriert in den oberen Stock steigen ließ. Verflixt aber auch! Er zupfte den Kinderschal ab, ermahnte sich streng, nicht so verd-, ungezogen hormongetrieben zu sein! Weil er sich auf Umeas wöchentlichen Besuch freute, noch mehr auf das, was man gemeinsam tun konnte. Das funktionierte jedoch nicht, wenn seine Mutter im Haus war, abgesehen vom eigenen Schamgefühl. Wie sollte er auch Umea erklären?! Der fiel nun mal auf, konnte ja auch kaum aus dem Nichts heraus hier aufschlagen! Was er ja tat, Sakrament! Sich die schwarzen Locken raufend paradierte Hadrian auf und ab. Bei Umea herrschten, urteilte man nach dessen Bekleidung, andere Temperaturen vor, weder so kalt, noch so regnerisch. Sicher, er hatte ihm zum Schutz die Regenjacke und den Schirm mitgegeben, aber... Ärgerlich schlug er sich selbst mit den Fäusten gegen die Oberschenkel. Warum wurde man nach so kurzer Zeit schon so verflixt ANSPRUCHSVOLL?! Schon schlimm genug, dass er Mühe hatte, sich auf seinen Alltag zu konzentrieren. Er konnte kaum wünschen, dass sich seine Mutter bei diesem ungemütlichen Wetter nach draußen wagte. Bloß, Hormone! Die Hölle der Pubertät! @~-~@ Für Panik hatte Umea keine Gelegenheit. Der Sog hielt ihn fest, die Luft wurde knapp, in seinen Rippen knackte es bedrohlich, die Sicht vor seinen Augen trübte sich. Nicht aufgeben! Wenn er jetzt aufsteckte, würde er elend ertrinken! @~-~@ Hadrian nutzte die Gelegenheit. Kein Bridge-Abend, Buchhaltung, Bestelllisten, danach ein feines Schaumbad zum Ausgleich! Rasch sockte er so lautlos wie möglich hinunter, warf sich seinen Fahrrad-Overall über, schlüpfte in Gummistiefel, stapfte hinaus, den Sand-Kies-Weg, nun eine Schlammspur, hinunter. "Umea? Umea, bist du da?!" Bei dem Regen konnte er wohl nicht auf Antwort hoffen. Eilig blickte er sich um. Da! Ein aufgespannter, recht lädierter Regenschirm! "Umea?!" Hastig, Morast aufspritzend, überwand Hadrian die Distanz, ging in die Hocke. Unter dem Regenschirm kauerte Umea, die Lippen zerbissen, bleich, keuchend. Hadrian spürte, wie ihm förmlich vor Schreck das Herz in die Zehen rutschte. "Festhalten!" Kommandierte er, bevor Spekulationen ihm die Übersicht nahmen, schob den Regenschirm beiseite, legte sich Umeas Arme um den Nacken, stemmte ihn hoch, fädelte den rechten Arm unter die festgeleimten Knie. "Nicht loslassen!" Zischte Hadrian, balancierte mit finsterem Blick seine Last aus, um schwankend zur Veranda zu stampfen. @~-~@ Umea brachte keine verständliche Silbe über die Lippen. Die Wärme im Haus taute die dumpfen Schmerzen zu einem stechenden Konzert der Pein auf. Er wollte Hadrian ja erklären! Dessen Gesicht wirkte angespannt, blass, die schwarzen Augenbrauen gewittrig zusammengezogen. "Nicht sprechen." Tippte eine Fingerspitze auf Umeas Lippen. Umeas Sicht verschwamm, als ihm Tränen die grünen Augen beschlugen. @~-~@ Nein, es waren nicht nur die Kälte oder der Regen! Ohne viel Federlesen entkleidete Hadrian hastig seinen fremden Freund, rubbelte die Haut trocken, die schon bekannten Flecken. Die gewaltige Schürfwunde über den Schulterblättern bis hinunter zum Steiß war neu. Weil Umeas Blut nicht die typische Rotfärbung bei Sauerstoffkontakt aufwies, hatte er sie zunächst nicht bemerkt. Der ganze Junge war schließlich klitschnass! Das Hemd musste wohl nicht nur vom Regen durchtränkt gewesen sein! Hadrian balancierte Umeas zusammengekrümmte Gestalt auf dem Hocker aus. Wenigstens hatte er im "Labor" hinter dem Verkaufsraum der Apotheke alles zur Hand! Bemerkte sein Verstand zynisch, um nicht in Schockstarre zu verfallen. Die Wunden musste sich entzündet haben, deshalb das Zittern, die unerwartet hohe Temperatur! Verflixt! Aber es half nichts, er musste sich der Utensilien bedienen, die bei Menschen wirksam waren! Eilig wischte er den abgestürzten Dutt der Bandnudelhaare nach vorne, über den Tisch, drapierte Umeas dünne Arme mit dezentem Zwang ebenso. "Halt dich fest. Das wird weh tun." Kündigte er mit gepresster Stimme an. Beinahe günstig, dass Umea noch nicht viel sagen konnte. @~-~@ Es fühlte sich an, als habe jemand ihm Öl über den Rücken gegossen und dann Feuer angezündet. Umea schluchzte erstickt, presste das Gesicht in seine nassen Haare, drückte zur Ablenkung mit aller Kraft die Handflächen auf die kalte Oberfläche. Ihm war so elend zumute! @~-~@ Hadrian fasste rasch zu, als Umea vom Hocker kippte, vor Erschöpfung, Schmerzen und Fieber kollabierte, zog die erschlaffte Gestalt an sich, unterdrückte ein wütendes Aufheulen. Er fühlte sich überfordert und haderte mit seinem Kleinmut darob! »Reiß dich zusammen, du Depp!« Bellte er sich selbst an. Hier unten konnte er nicht bleiben und Umea brauchte Hilfe. Wenn seine Mutter das Bad verließ... Mühsam stemmte er Umea hoch. Der konnte ihn nicht unterstützen, also musste es eben so gehen! Das war anstrengend. Am Ende der Stiege japste Hadrian erbärmlich, schwitzte heftig. Nun bloß noch sein Zimmer, das Bett...! Dort ließ er Umea bäuchlings sinken, rutschte ausgepumpt auf den Fußboden, wartete darauf, dass sich die dunklen Flecken in seiner Sicht verabschiedeten, rieb sich kräftig das Gesicht, raufte die Locken. Na schön! Er zog sich auf sein Bett hoch, residierte auf der Kante. Umeas Rückenpartie war mit leichter Gaze abgedeckt, damit das nässende Wundwasser aufgefangen werden, aber keine Fremdstoffe eindringen konnten. So weit, so gut. "Hoch mit der Kiste!" Kommandierte er sich selbst leise. Genau, runter, schmutzige, nasse Klamotten bergen und die Spuren tilgen! Fiebermittel für Tee mischen, sich selbst feucht abledern und frische Sachen anziehen. Und bloß nicht unvermutet über seine Mutter stolpern! @~-~@ Hadrian fädelte gerade die letzten Bandnudeln in den Zopf, bereit, das Gesamtkunstwerk in ein Handtuch zu wickeln, da regte Umea sich leise stöhnend. "Alles okay. Du bist bei mir." Versicherte Hadrian flüsternd, beugte sich herunter, küsste eine bleiche, aber hitzig temperierte Wange. Die Anspannung wich aus Umeas schlaksigem Leib. "Wenn ich deine Haare verpackt habe, musst du dich kurz aufsetzen. Ich habe Tee gegen das Fieber." Diese Aktion bedurfte allerdings Hadrians tatkräftiger Unterstützung. Er hatte auch Umeas Hände versorgt, die Innenflächen mit Gaze umwickelt. Ächzend lehnte Umea in seinem stützenden Arm, nippte von der angereichten Teetasse. "Wegen des Wetters ist meine Mutter nicht ausgegangen. Wir müssen deshalb sehr leise sein." Wisperte Hadrian, küsste Umeas Stirn unter der Handtuchverpackung. "...danke....danke..." Umea rang mit der eigenen Konstitution. "SchSch, schon gut. Ruh dich aus." Gebot Hadrian, beendete die Teeversorgung, legte Umea behutsam ab, streckte sich schließlich neben ihm aus, ergriff die bandagierte Hand, die nach ihm tastete. "Ich hab dich vermisst, aber ich hätte echt warten können, wenn das der Preis ist." Murmelte Hadrian, grimassierte. Umeas Lippen formten zwar Silben, doch er verstand sie nicht. Die Lider senkten sich unerbittlich über den grünen Augen. Hadrian rutschte näher heran und fragte sich, was Umea bloß zugestoßen war. @~-~@ Der Wecker dengelte, von einem Tuch gedämpft. Hadrian schnaufte, rubbelte sich über das Gesicht, setzte sich auf. Klar, er musste Umea wieder nach Hause schicken, aber ging das überhaupt? Neben ihm ließ sich ein Ächzen vernehmen. "Umea?" Eilig beugte Hadrian sich herunter. Umea, der sich auf den Rücken rollte, winselte auf, kippte rasch wieder nach vorne. "Ich schätze, für eine Weile wird das noch zwacken." Bemerkte Hadrian heiser, räusperte sich unterdrückt. "Ich helfe dir hoch." Er fasste Umea unter die Achseln, richtete ihn auf. "Ist dir schwindlig? Übel?" Umea atmete tief durch, mehrfach. "Nein, es geht schon besser, entschuldige." Hadrian bediente sich ungeniert, umarmte Umea vorsichtig, aber nachdrücklich. "Sakrament, hast du mir einen Schreck eingejagt! Mach das bitte nicht wieder, ja?" In seinem Arm seufzte Umea. "Da kannst du sicher sein. Ich hatte noch nie so viel Angst." Unwillkürlich umschlang er Hadrian fester. "Was ist denn passiert?" Hadrian kraulte über die verflochtenen Bandnudelhaare, um nicht versehentlich den Rücken zu streicheln. Umea holte tief Luft. "Ich habe nachgedacht, über neue Wege, dass ich mich umsehen soll nach ungelösten Problemen." Er löste sich ein wenig von Hadrian, um ihn im Zwielicht ansehen zu können. "Da gibt es einen entfernten Teil im See, wo nie jemand fischt oder taucht. Ich dachte mir, ich schaue mich da um. Es kam mir merkwürdig vor, dass niemand sich dort aufhielt." Umea seufzte. "Ich habe gemerkt, warum. Zunächst gab es dort riesige Muscheln, einfach unglaublich! Aber da bin ich in einen Sog geraten. Ich habe es nur raus geschafft, weil ich mich in einen Spalt quetschen konnte und mühsam nach oben hangeln." Die Erinnerung ließ ihn schaudern. "Ich bin nur noch bis zu dir gekommen." Hadrian unterdrückte merklich eine heftige Bemerkung. Vorwürfe. Zögerlich hob Umea die bandagierte Rechte, strich über Hadrians Wange. "Es tut mir wirklich sehr leid, Hadrian. Das war alles nicht meine Absicht." Bevor er weitere Entschuldigungen anführen konnte, erstickte ihn Hadrians Kuss, transportierte all die Gefühle der letzten Stunden. Sorge, Wut, Verunsicherung, Erleichterung, Zuneigung. @~-~@ Umea trug zum ersten Mal Unterhosen außerhalb des Hauses. Die moderne Variante, mit Gummizug, elastischem Garn, fein gekämmter Baumwolle, Luxus pur! Darüber einen Jogginganzug von Hadrian. Seine eigenen Kleider waren nicht in der Waschmaschine gelandet. Das hätte Erklärungsbedarf herausgefordert. Hadrian hatte ihm, während eilig noch eine Banane vertilgt wurde, mitgeteilt, dass Takt angezeigt war, um nicht ohne Not seine Mutter auf den Plan zu rufen. Was jede ungewöhnliche Abweichung von der Routine verursachen konnte. "Nächste Woche bekommst du alles." Versicherte Hadrian flüsternd, hielt Umeas Hand, während sie durch den kalten Matsch stapften. "Das Fiebermittel muss in Wasser aufgelöst werden, ein Löffel pro Tasse. Lass die Gaze auf den Wunden, bis sie sich von allein löst, in Ordnung? Wenn sich etwas entzündet oder eitert, komm sofort, ja? Ganz egal, welcher Tag ist!" Umea nickte matt, drückte vorsichtig, weil es doch ziemlich schmerzte, Hadrians Hand. "Versprochen." Wisperte er rau. Schlaf, das Fiebermittel und die Banane halfen ein wenig, auch, den Schock über seinen Beinahe-Tod durch Ertrinken zu überwinden. Sie hielten vor der Scheunenwand, dem Portal, inne. Hadrian seufzte hörbar. "Ich wünschte, ich müsste dich nicht verstecken oder jetzt heim schicken, aber..." Umea hob die freie Hand, strich mit den Fingerkuppen über Hadrians Wange. "Das lässt sich nicht ändern, fürchte ich. Wirklich, es tut mir sehr leid, dich so zu belasten! Ich wollte das nicht." Hadrian küsste ihn erneut, engagiert und mit vollem Einsatz. "Pass bitte auf dich auf, ja? Wenn du nicht zu mir kommst, das wäre furchtbar!" Raunte ihm Hadrian mit gepresster Stimme ins Ohr. "Ich passe auf. Und ich komme wieder, ganz bestimmt!" Versprach Umea, initiierte einen weiteren, leidenschaftlichen Kuss. Widerstrebend zog sich Hadrian schließlich zurück. Auch wenn es noch lange nicht hell wurde, wäre es nicht gut, in Nachbars Garten ertappt zu werden, ohne schlüssige Erklärung. Umea lächelte versuchsweise, umklammerte die verschraubte Dose mit dem Pulver. Hadrian presste die Lippen fest aufeinander, nickte knapp. Wortlos tappte Umea einen Schritt zurück und verschwand. Tief durchatmend, das rasselnde Geräusch verwünschend, blickte Hadrian in den wolkenverhangenen Nachthimmel über sich. Warum hatte er Umea bloß auf die Idee gebracht, sich umzutun?! Vielleicht rührte dessen "Tagträumerei" ja nicht nur davon, dass sein "Draht" zu den anderen lose saß, sondern dass er Einschränkungen in der Wahrnehmung hatte, die ihn gefährdeten?! "Scheiße!" Fauchte Hadrian frustriert. Wirklich, er war ja ein toller Ratgeber, wenn SO WAS dabei rauskam! @~-~@ Eigentlich hätte es ihn stärker treffen müssen, dass sich niemand über Gebühr wunderte, sondern alle die Erklärung, nein, die LÜGE akzeptierten! Dass er in der Stadt gewesen sei, dort gestürzt war, verbunden wurde und saubere Bekleidung leihweise bekam. NIEMAND zog das in Zweifel! Ja, in der Stadt, da konnte schon Einiges passieren. Umea würgte, tadelte sich selbst. Er war wütend und frustriert, weil er log, weil niemand in Frage stellte, was er tat, weil man ihn unverändert freundlich behandelte, weil er selbst mit etwas durchkam, das UNRECHT war. Lügen, Heimlichkeiten, Extravaganzen! Seinem Stolz geschuldet und seiner Verzweiflung, auf der unwiderlegbaren Tatsache gründend, dass er anders war. @~-~@ Kapitel 8 Knackig kalt, aber trocken, gute Voraussetzungen. Hadrian verabschiedete seine Mutter, erledigte in Blitzgeschwindigkeit alle anstehenden Arbeiten, warf sich Schal, Mütze und seine warme Jacke über, um im Garten zu paradieren. Umea würde sicher wie ein Schneider frieren, deshalb gleich einsammeln und ins Haus bugsieren, auftauen in der Wanne und...! Verflixte Hormone! Aber, das sah Hadrian sich nach, wer würde da nicht reagieren?! Wenn man jemanden traf, so außergewöhnlich, gleichzeitig auf einer benachbarten Wellenlänge, dazu noch ebenso nächstenliebend! Unversehens, weil ihn die Dunkelheit schon recht gut tarnte, kletterte Hadrian über den Zaun. Die Terror-Töle verlustierte sich im Haus, stellte keine Gefahr dar. Er richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Scheunenwand mit den vermickerten Rosen-Resten. @~-~@ Der Temperaturabfall war gewaltig. Umea schnappte unwillkürlich nach Luft, wollte die Arme um sich selbst schlingen, da fand er sich schon eingefangen. "Schnell, tauen wir dich auf!" Raunte Hadrian, der ihn umarmte, die gefütterte Jacke eigens geöffnet. Umea klapperten die Zähne. Trotzdem lächelte er in die schwarzen Augen, die ihn so freudig und erleichtert studierten. @~-~@ Zugegeben, der Plan war recht phantasielos: Entpuppen im Badezimmer, direkt in die warme Wanne, dort Wasserspiele betreiben, erleichtert, aufgewärmt und durchaus befriedigt in Schlafanzüge schlüpfen, Tee in Hadrians Bett nippen, dazu Mandarinen pellen und trockene Kekse knuspern. "Ich hab deine Sachen verstecken müssen." Erklärte Hadrian, holte Umeas gereinigte Kleider aus einer Pappschachtel. Er war froh, dass die Wunden auf Umeas Rücken gut verheilten. "Hattest du große Schmerzen im Wasser?" Umea kämmte sich Bandnudelhaare seufzend auf den Rücken. Wie gewohnt hatte sich seine Frisur längst verabschiedet. "Ich bin gar nicht ins Wasser gegangen. Habe meinem Vater geholfen, aber, na ja." Er grimassierte unglücklich. "Ich bin nicht gerade sehr nützlich." Hadrian rückte an seine Seite, legte ihm einen Arm um die Schultern. "Du warst ja verletzt, da konnte man nicht viel erwarten." Wandte er tröstend ein, was Umea ein leises Knurren entlockte. DAS hatte Hadrian noch nie gehört! "Niemand erwartet irgendwas von mir, Hadrian! Niemand hat das, was ich erzählt habe, bezweifelt. Das ist so FRUSTRIEREND!" Brach es aus Umea heraus, bevor er erschrocken eine Hand auf den eigenen Mund legte. Hadrian fasste sanft unter Umeas Kinn, drehte dessen Kopf leicht. "Das kann ich nachfühlen." Versicherte er sanft. Manchmal konnte es einem aber auch wirklich auf den Zeiger gehen, so ANDERS zu sein! Zärtlich küsste er Umea auf die Lippen, zwinkerte. "Lass ruhig alles raus, ja? Der Dampf muss aus dem Kessel, sonst explodiert das eigene Mütchen!" Umeas grüne Augen sendeten ein definitives Testbild, was Hadrian nur noch aus Erzählungen kannte. Die komplette Verwirrung bot einen gelungenen Aufhänger, um die gemischten Metaphern zu erklären. Und natürlich zu kuscheln, wenn auch vorsichtig. @~-~@ Hadrian erlegte seinen erheblich schallgedämpften Wecker geübt. Er dachte gar nicht mehr daran, Umea zeitig zu verabschieden, der sich neben ihm aufrichtete, dabei mit den sich auflösenden Strähnen kämpfte. Die Säbel-Aktion, die eine merklich unterschiedliche "Bandnudel"-Länge gezeitigt hatte, stellte offenbar gesteigerte Anforderungen. Umea rang mit erschlaffenden Armen. "Ich mach das, ja, bitte?" Mischte Hadrian sich ein, fädelte geübt, sortierte einzelne Stränge. Wenn er die kunstvoll eingedrehten Zöpfe hochsteckte, konnte er Umeas zarten Nacken küssen. Kein Vergleich mit seinem Stiergenick über dem Doppeltürschrank-Kreuz! Umea seufzte. "Wenn es doch nur etwas gäbe, das ich beherrschen könnte!" Murmelte er melancholisch. Hadrian reichte ihm die Hand, sich von der Matratze zu lösen. "Das gibt es bestimmt. So schnell geben wir nicht auf, richtig?" Flüsterte er energisch. "Du fängst doch gerade erst an, die Welt kennenzulernen. Setz dich bitte nicht unter Druck, okay? Das wird schon, ganz sicher!" Versprach Hadrian, ohne dafür Beweise anführen zu können. Vielleicht Mathematik. Statistisch gesehen war es schließlich ausgesprochen unwahrscheinlich, dass man ÜBERHAUPT nichts konnte! Möglicherweise musste man auch mal den Blickwinkel wechseln, sich weniger auf Defizite konzentrieren, sondern mal auflisten, was man ohne Mühe absolvierte. Atmen, essen, trinken, schlafen, gehen, lesen, sprechen! Manch andere scheiterten da schon! Obwohl Hadrian sich nicht berufen fühlte, Demut zu predigen. Dazu brauste er über sich selbst viel zu oft auf. Umea warf unterdessen einen Blick aus dem Fenster. Ja, das sah sehr eisig aus, mit dem Raureif! "Hier." Ungeniert offerierte Hadrian einen Bademantel. Würde man ihn auf dem Rückweg erwischen, gäbe es wohl erheblichen Erklärungsbedarf. Dazu sollte es besser nicht kommen. Für den Hinweg schützte es Umea ein wenig, richtig? Bemüht leise, einander an der Hand haltend, kletterten sie die Stiege herunter, verließen das Haus, hielten schweigend auf die alte Scheune zu, ungehindert von wachsamen Terror-Tölen. Hadrian nutzte die Gelegenheit, Umea noch mal innig zu umarmen, zärtlich zu küssen. "Pass gut auf dich auf, ja? Wenn es Schwierigkeiten gibt, komm zu mir, egal, wann. Ich helfe dir, versprochen." Umea wuschelte durch die schwarzen Locken. "Ich komme wieder, Hadrian. Ich bemühe mich, nichts anzustellen. Danke dir, für deine Zeit, all diese Dinge, dass es dich gibt." Wisperte Umea entschlossen. Das durfte er nicht vergessen: HIER gab es keinen "Draht", keine unsichtbare, direkte Verbindung. Hadrian war nicht präpariert, ihn zu mögen, zu unterstützen, tat es jedoch aus eigener Entscheidung, ganz ohne Vorteile! "Ich bin auch froh, dass es dich gibt. Vor allem hier und jetzt." Antwortete Hadrian keck, dezent errötend. Lächelnd streifte sich Umea den Bademantel ab. Eisig! Bevor seine Zähne hörbar klappern konnten, reckte er das Kinn, trat den einen Schritt zurück, in eine warme, eher feuchte, dunkle Ecke der Vegetation, atmete tief ein, seufzte. Er würde sich der Verantwortung für sein "Anderssein" stellen. In der Stadt, den Angehörigen des KOK, des Komitees organisierter Kreativität! @~-~@ Es war gefährlich, ziemlich dumm dazu. Hadrian schnitt sich eine Grimasse. Klar, man konnte es nicht vollkommen verstecken, wenn es da jemanden gab, den man ziemlich mochte, auf den man sich freute. Selbstverständlich kontrollierte er sich selbst streng, nichts zu verraten, nicht dümmlich-verknallt in die Gegend zu träumen, zu dösig zu agieren. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen! Außerdem musste man den Fakten Beachtung schenken. »Nicht 'man!'« Protestierte sein Verstand angesäuert. »DU!« Genau, ER musste sich Gedanken machen, wie es weitergehen sollte. Sie trennten Welten, nun, Dimensionen. Er konnte er niemandem von Umea erzählen, mit ihm etwas im Beisein Dritter unternehmen. »Ganz schön gierig!« Konstatierte ihm seine Vernunft tadelnd. Ja, leider. War er noch über die ersten richtigen Küsse euphorisch erfüllt, nun ihre "Handreichungen"! Da hatte er doch schon mehr erlebt, als er jemals in dieser Umgebung zu hoffen wagen durfte! Trotzdem wollte er sich nicht damit abfinden, für eine kurze Zeitspanne Glück gehabt zu haben, sondern sich beständig dieses Privileg verschaffen! »Du Depp wirst dir ne Watschen abholen, die sich gewaschen hat!« Prophezeite ihm miesepetrig seine Vernunft. Unseliger Weise konnte Hadrian sie nicht einfach unterbuttern. Nein, auf Dauer durfte er sich nicht einrichten, musste das Ende im Hinterkopf behalten. So liefen die Dinge nun mal. Happyends gab es nur nach eineinhalb Stunden auf der Leinwand. Im echten Leben dauerte die Veranstaltung länger. Das Happyend verwandelte sich in kalten Kaffee. Keine Garantien, keine Ewigkeiten. Schon klar! Aber Hadrian spürte, dass ihm sein Verstand diese nüchterne Haltung nicht zutraute. Er knirschte mit den Zähnen. Vermutlich lag sein Hirn richtig. Andererseits, bis jetzt war es jeden Preis wert gewesen! @~-~@ Umea hatte gehofft, auf Hwenyuu zu treffen, doch der KOK-Offize schien anderweitig im Einsatz zu sein. Deshalb zog es Umea in die große Collectio, wo er Mäuschen spielte bei einer Klasse Daimonen-Kinder, die sich darin übten, Auseinandersetzungen zu schlichten, Perspektiven zu wechseln. Weil alle gut miteinander leben wollten, ganz gleich, ob Ex-Göttlichkeit, Engel, Fabelgestalt, Daimon. Umea seufzte still über die eigene Blindheit. Streit, Auseinandersetzungen kannte er nicht, das kam einfach nicht vor. Zudem registrierte er erst langsam, wie sich die Gesellschaft zusammensetzte. Alle waren "anders", jedenfalls unterschiedlich, und doch vereint in dem Wunsch, gut zu leben, miteinander auszukommen. Was ein stetes Bemühen einforderte, gelernt werden musste. Nicht in der Gemeinschaft, in der ER lebte! Weil sie verbunden waren. Bis auf ihn, der auch andere Reize wahrnahm. Vielleicht musste er sich doch dem Gedanken stellen, seine Aufgabe außerhalb der Gemeinschaft zu finden. Augenscheinlich gab es ja nichts, das er beizutragen hatte! Umea streifte durch die Räume, die Geschichte und Entwicklung präsentierten. Die Bereitschaft zeigten, offen zu bleiben, auch für andere. Ein wenig zusammenzurücken und sich zu verständigen. Empathie, Interesse, Optimismus, Gemeinschaftsgeist: HIER fühlte es sich anders an. Es war mit Bemühen verbunden, nicht "eingepflanzt". Nicht ganz selbstverständlich, keinen Gedanken wert! Umea studierte die Karten. So groß, so viele unterschiedliche Gegenden und Möglichkeiten! Er konnte nicht mehr vergessen, aber seine "Chancen" machten ihm Angst. Würde er es aushalten können, ohne den ständigen Kontakt mit den anderen? Auf längere Dauer? Ungeübt in den Aspekten, die man beherrschen musste, um hier angenommen zu werden? "Warum nur kann ich es nicht endlich wagen?!" Flüsterte Umea bitter. Zu springen, sich darauf einzulassen, dass seine Zukunft nicht den bekannten Modellen entsprach, dass er Pionier sein musste. Weil es keine Wahl gab. @~-~@ Hadrian brütete mit wachsender Verzweiflung über dem abgegriffenen Schinken, einer Sammlung zur Hilfestellung bei der beruflichen Fortentwicklung. Hehre Formulierung. ER jedenfalls bemühte sich frustriert, irgendein System zu erkennen. Warum welcher Fragen- und Testkatalog zu dieser Empfehlung führte?! Zugegeben, manches zielte recht eindeutig auf bestimmte Charaktereigenschaften. Genauigkeit, Konzentration, Frustrationstoleranz, Abstraktionsvermögen. Wie um alles in der Welt brachte man DAMIT hervor, welche berufliche Richtung sich anbot?! "Sakrament!" Schnaubte er wütend. "So weit ist es noch nicht, würde ich meinen." Korrigierte seine Mutter trocken, beäugte ihn kritisch. Hadrian durchmaß in Überschallgeschwindigkeit das Angebot der Nebelkerzen. Es bot sich keine zufriedenstellende Ausrede an. "Überlegst du es dir doch anders?" Seine Mutter schenkte siedendes Wasser in die Teekanne aus. Hadrian seufzte, entschied, einen gewissen Anteil Wahrheit entschlüpfen zu lassen. "Nein, ich bin mir ziemlich sicher. Aber da ist ein Freund, der sich große Gedanken macht." Er klappte die abgegriffene Schwarte zu. "Ich dachte, ich könnte das System hinter diesen Empfehlungen hier begreifen, aber...!" Seine Mutter zwinkerte. "Ah, hast du angenommen, das ist wie bei den Tests in den Magazinen, wo man das Ergebnis schon vorwegnehmen kann? Schön geschickt neben die passende Reklame platziert?" Schwarze Locken aus der Stirn schnaubend funkelte Hadrian seine Mutter an. "Ganz so simpel müsste es jetzt nicht sein." Sie grinste, stellte zwei Teetassen auf Unterteller, ließ Kluntjes plumpsen. "Sohn, das ganze Leben ist ein Test! Bisher hat niemand die passende Antwort vorher rausgefunden. Man ist bloß hinterher ein bisschen schlauer." Hadrian grummelte, erhob sich, um die Glasflasche mit Sahne aus dem Kühlschrank zu entführen. "Das tröstet mich ungemein." Der Tee glitt in die Tassen, gefolgt von einem Schuss Sahne. Keinesfalls umrühren, sondern schnuppern, nippen, AAAAHHHHH! Exotische Sitten in diesem Landstrich. Seine Mutter kannte bei persönlichen Vorlieben keine Kompromisse! Andere konnten gern weiter beschränkt bleiben, das ließ IHR mehr Spielraum! Aufmerksam studierte sie ihn, was Hadrian dazu veranlasste, sich aus der Deckung zu wagen. "Also, er ist immer Mittelmaß, sticht bei nichts hervor, hat schon viel ausprobiert. Wie soll man da eine Richtung finden?" Seine Mutter nippte erneut am Tee, auf der Suche nach dem Kandis. "Was ist mit Sport?" Uh, schwieriges Gelände. "Nichts Besonderes. Er schwimmt, aber seine Haut mag das nicht sonderlich." Balancierte Hadrian auf einem dünnen Grat, sein Versprechen betreffend, denn er durfte Umea ja nicht verraten. "Hobbys?" Die Hürden wuchsen höher. "Eher nichts Spezielles. Er hilft die meiste Zeit im Familienbetrieb, hat schon alles durch, was die verzweigte Familie so treibt." Schmückte Hadrian dezent die Umstände aus, registrierte die Konzentrationsfalten auf der Stirn seiner Mutter. "Was ist mit Träumen oder Leidenschaften? Was treibt ihn aus dem Bett?" Hinsichtlich des Vorhandenseins von Betten war Hadrian unsicher, aber das tat nichts zur Sache. Spott half nicht weiter. "Ich weiß es nicht. So ganz frei kann er sich nicht von seiner Umgebung machen." Antwortete er schließlich zögerlich, leckte sich die zuckersüßen Lippen. "Das ist tatsächlich nicht so einfach." Bekannte seine Mutter grübelnd. "Vielleicht hilft es ja, die Peripherie abzustecken? Mag er Publikum, hat er gern Kontakt mit Menschen? Oder ist er eher zurückgenommen, braucht Ruhe, eine gewisse Routine? Arbeitet er sehr selbständig oder lieber in einem festen Rahmen? Ist er körperlich belastbar, will sich auch bewegen? Oder mag er Schreibtischtätigkeiten, Papier, Texte, Zahlen?" Hadrian fischte rasch seinen Block heran, notierte mit. "Das Wichtigste ist, dass man sich selbst die Chance gibt, sich zu irren, im Leben auch mal was komplett anders zu machen." Tippte ihn der Zeigefinger auf die Nasenspitze. "Eine Bastelanleitung für alle passt am Ende niemandem." @~-~@ Hwenyuu begrüßte Umea euphorisch, lauschte mitfühlend dessen Dilemma, nämlich nicht zu wissen, was er mit sich anfangen sollte. "Oh, das ist kein Problem, wirklich nicht! Dafür sind wir ja da! Weißt du was? Du begleitest mich einfach ein paar Tage, in Ordnung? Dann siehst du mal einen Querschnitt der Möglichkeiten, lernst die Stadt kennen und lauter nette Leute! Das wird bestimmt lustig!" Umea bedankte sich wiederholt und erleichtert. Ja, mit kundiger Anleitung und all den anderen KOK-Offize, die Hwenyuu so traf, sollte er endlich einen Schritt nach vorne wagen können! So machte er sich im Morgengrauen auf in die Stadt, begleitete Hwenyuu, packte mit an, wurde unzähligen Lebewesen vorgestellt. Hwenyuu teilte ungeniert mit ihm seine Ration, plauderte und erläuterte. Die Stadt war groß. Es gab so viel zu sehen und zu begreifen! Jeden Abend schleppte sich Umea erschöpft zurück, kroch auf sein Lager, nicht befragt, nicht sonderlich vermisst. Vertrauenswürdig, fester Bestandteil der Gesellschaft. Umea ging es trotzdem nicht gut, was recht schwierig zu verbergen war. Dank Hwenyuu "sah" er plötzlich eine neue Welt, wunderte sich, staunte, spürte unzählige Fragen aufkommen, weil es keine eingebaute "Anleitung" gab, keinen "Draht", der ihm das konservierte Wissen direkt in den Kopf leitete. Anstrengend. Elend wurde ihm jedoch erst im Laufe des Tages, nicht nur wegen der Strecken, die sie zurücklegten, sondern weil das "Band" ihn festhielt, ihn erinnerte, dass er zu Hause sein sollte, am großen See, verbunden mit seinen Leuten. Je länger er sich entfernte, umso unerbittlicher plagte ihn ein dumpfer Schmerz im Blinden Fleck seiner Wahrnehmung. Als könne und wolle ein Teil seiner Selbst nicht auf Distanz sein, drücke das unsichtbare "Band" ihm langsam, aber unerbittlich die Luft ab. Er konnte nicht "frei" sein. Andererseits graute ihm vor dem Gedanken, plötzlich vollkommen abgetrennt zu werden. Als hacke man ihm die Gliedmaßen ab! Schon die simple Vorstellung stellte ihm alle Haare am Körper auf und drehte den Magen um! Umea bemühte sich, nichts nach außen dringen zu lassen, unaufgefordert und aufmerksam seinen Teil zu leisten, zuzuhören, mitzutun. Das Spannungsfeld wurde dadurch ja nicht geringer. Zu Hause konnte er sich nicht auszeichnen, in der Stadt quälte ihn der Trennungsschmerz. Wie sollte er bloß einen Ausweg auf dieser Zwickmühle finden?! @~-~@ Natürlich musste es JETZT schauern! Dicke, eisige Tropen, dicht an dicht. Hadrian grollte, verpuppte sich aber entschlossen. Bei dem Wetter würde man wohl nicht zwingend in die Gärten schauen, sich deshalb nicht wundern, wenn er dort mit Schirm paradierte. Aber Umea würde kommen, mitten rein in dieses unfreundliche Wetter! Deshalb hieß es für ihn, zur Stelle zu sein, angefeuert von der hitzigen Erwartung, die Umeas Erscheinen für den weiteren Abend versprach! @~-~@ Umea hatte sich von Hwenyuu verabschiedet, zum Dank ein Fossil am Anhänger überreicht. Er brauchte Bedenkzeit, aber nicht nur. Vor allem weniger Distanz zum See, Erholung für seinen erschöpften Körper und seine rastlose Seele. Eine Auszeit. @~-~@ Hadrian schoss förmlich über das rutschige Gelände, um Umea an sich zu ziehen, den Schirm ausbalancierend, während er mit geöffneter Jacke Körperwärme teilte. Umea hing an seinem Hals wie ein Schluck Wasser in der Kurve. "Jessas, was ist los? Umea, bist du verletzt? Krank?!" Die abgestürzte Hochsteckfrisur, die Umklammerung! "...müde...kalt..." "Sakrament!" Stellte Hadrian fest, packte Umea entschlossen um die schlanke Hüfte, lupfte ihn von den Sandalen, hechtete zum Haus. Schloss nicht mal die Gartenpforten! @~-~@ Umea hatte selbst beim Entkleiden Mühe, sackte auf den Rand der Badewanne, die er zu schätzen gelernt hatte. Hadrian ging besorgt vor ihm in die Hocke, kämmte Bandnudelhaare aus dem Gesicht. "Was fehlt dir denn, Umea? Ist dir schlecht? Schwindlig?" Umea blinzelte in die schwarzen Augen vor sich. Aufrichtige Sorge, die nicht selbstverständlich "programmiert" war, große, warme Hände, die über seine Beine, sein Gesicht, seine Schultern streichelten. "Bin nur erschöpft. Bitte...?" Deutete er mit dem Kinn auf die Badewanne hinter sich. Er wollte die feuchte Hitze spüren, den festen Körper, die widerspenstigen Locken auf seiner Wange. Geküsst werden, bis in seinem Schädel kein Gedanke mehr Fuß fassen konnte! @~-~@ Hadrian war durchaus beunruhigt, aber ihm schien, es würde noch keine Aufklärung geben. Wenn Umea ihn so ansah, die grünen Augen beschlugen, darum baten...! Da kletterte er selbstredend pronto in das warme, nur leicht geimpfte Badewasser, wickelte sich um Umeas Gestalt, spielte dessen Knie-Leim-Reflex aus, genoss ihre leidenschaftlichen, intensiven Küsse, störte sich nicht an den abgestürzten Bandnudelhaaren. Außerdem konnte er sich ja auch handgreiflich tummeln, seine eigene, ganz ungenierte Erektion an Umeas Genitalien reiben. Planschend, auf Knien, Moment mal! Aber...?! Hadrian biss sich vor Überraschung in die Zunge. "...U..Umea...?!" Der ihm natürlich nicht antworten würde, nicht konnte, wegen dieser Reflexe, aber...! Die zupackende Hand entbehrte jedem Vergleich mit der Körperöffnung, in die er eingeführt wurde. Das war keine schlichte Massage, kein gewohntes Von-der-Palme-wedeln! Selbst wenn Hadrian gewollt hätte, gab es kein Zurück, kein Bremsen, kein Weichen. Wie in einem sehr engen, von Sehnen durchzogenen Schlauch pumpte mit Unterdruck ein dato unbekannter Teil von Umea seinen Penis Richtung Erguss. Ganz gleich, wie Hadrian sich zu dieser Entwicklung verhielt! @~-~@ Katastrophe, mindestens! Halb auf Umea lehnend rang Hadrian mit einem kurzen Kreislaufabsacker, bevor ihn sein Gehirn kreischend auf die prekäre Lage hinwies, nämlich die bestehende, intime Verbindung mit dem Jugendlichen, den er umklammerte. »In den du abgespritzt hast! Schweinehund!« Trotzdem führte die eigene Verurteilung nicht zur erwarteten kalten Dusche, weil Hadrian noch immer mehrheitlich konfus war. Ja, theoretisch wusste er, was Analverkehr war. NIEMALS hätte er gewagt...vor allem nicht ohne Kondom oder Gleitmittel..!! Eigentlich hätte das auch gar nicht...! Aber es hatte, und wie! Was ihn beschämte. Umea musste ja Schmerzen haben, konnte ihn nicht anpfeifen, weil ja...! Eilig, aber so behutsam wie möglich trennte er ihre verschlungenen Leiber, drehte Umea vorsichtig zu sich herum. Dessen Nasenflügel lagen noch immer an, der Brustkorb hob sich rasch. Keine Atemzüge, nein, aber da arbeitete wohl noch der Unterwasserreflex. Die grünen Augen waren geschlossen. Insgesamt wirkte Umea jedoch durchaus entspannt. "Umea? Umea, alles in Ordnung?" Hadrian fragte sich, wie er bloß...?! Er konnte ja nicht einfach...! Dünne Arme hoben sich mühsam, Umea verdrehte sich förmlich, schlang ihm die Arme um den Nacken, küsste ihn auf den zur Entschuldigung geschürzten Mund. "So angenehm. Danke..." @~-~@ Die Kälte und stressbedingte Verspannung waren vollends verschwunden. Eine erfreuliche, leichte Mattigkeit bemächtigte sich Umeas Glieder. Sein Kopf aber war frei! Kein "Gängelband", kein "Draht", keine nagende Sorge! Vielmehr fühlte er sich leicht und beschwingt und glücklich. Er schlug die Augen auf, blinzelte in Hadrians Schwarze, die ihn sorgenvoll studierten. "Tut dir nichts weh? Entschuldige, ich hab das noch nie gemacht, und ich weiß gar nicht..." Umea bedauerte dezent, dass Hadrian offenbar seine federleichte Stimmung nicht teilte. Dem konnte aber abgeholfen werden, nicht wahr? Indem man den Geschmack vom Glück des Augenblicks teilte. @~-~@ »Du solltest dich schämen.« Beschied ihm sein Über-Ich mit vernichtender Endgültigkeit. Ja, richtig, ein kleiner Part von Hadrian folgte auch dieser Anweisung. Der Rest jedoch ignorierte den moralischen Imperativ ungerührt. Umea konnte wieder stehen und gehen. Das sanfte Abtupfen und Einreiben brachte bei sehr vorsichtiger Sondierung zum Vorschein, dass es keinen Grund zur Beschwerde gab. Keine Blutspuren, keine Schmerzen, recht wenig zu tilgende Indizien. Außerdem lächelte Umea ihn gelöst an, schmuste unablässig, suchte seine Nähe, sodass Hadrian auf ein Ankleiden verzichtete, nachdem sie das Badezimmer geordnet hinterlassen hatten. Umea schlüpfte unter die offerierte Bettdecke, hielt sie einladend für Hadrian hoch. Der fand, dass er sich einlassen müsse. Zur Sache. Weil, also...Premiere, schon erwähnt, ja...man sollte... "Wir können jetzt tun, was du möchtest." Stellte Umea fest, wuschelte ihm mit halb gesenkten Lidern durch die schwarzen Locken. Hadrian, der noch hockte, schluckte merklich. "Bist du sicher? Ich will dir nicht weh tun, ich habe das auch vorher noch nie gemacht. Außerdem bin ich ja eben sehr auf meine Kosten gekommen." Wahrscheinlich glühte sein Schädel mittlerweile wie der Mars! Umea setzte sich neben ihm auf. "Ich weiß nicht, wie man es außerhalb des Wassers tut. Kannst du es mir zeigen?" Hadrian blinzelte heftig, atmete tief durch. Er beugte sich aus seinem Bett und fischte unter der Matratze, leckte sich nervös die Lippen. "Also, dann...aber sag mir unbedingt, wenn es unangenehm ist, ja?!" Umea nickte feierlich, spritzte vor, um ihn ausgiebig zu küssen. @~-~@ Umea schlug immer wieder die Augen auf, um Hadrians Gesichtsausdruck einzufangen. Der kniete/lag halb über ihm, küsste ihn immer wieder, hielt ihn umschlungen. Umea mochte es, gehalten und berührt zu werden. Ihn störten auch die Finger nicht, das Gleitmittel, das Hadrian applizierte. Er lächelte über dessen Versuche, eine Art durchscheinendes Häubchen über seinen Penis zu ziehen. Ungewöhnliche Sitten, ja? Entrückt wartete er darauf, wieder umarmt zu werden, Hadrians heiseres Stöhnen seines Namens zu hören, ihren gemeinsamen Rhythmus aufzunehmen. @~-~@ Umea schlief, selig, entspannt. Hadrian konnte nicht schlafen, auch wenn er konditionsbedingt kurz gedöst hatte. Du liebe Güte... Da hatte er tatsächlich zweimal hintereinander...!! Im Zwielicht wirkte Umea jünger, verletzlicher, was Hadrian eingab, sich als grobschlächtiger Schurke zu fühlen. So viel Hingabe und Nachsicht hatte er sich jedenfalls nicht verdient! Nicht mal gefragt oder einen Rollentausch angeboten...! Er wusste noch immer nicht, was Umea so mitgenommen hatte. »Du bist so ein erbärmlicher, schwanzgesteuerter Mistsack!« Hadrian erteilte sich selbst ein Ungenügend, trotz der Euphorie und seiner wie ein V8-Motor schnurrenden Libido. @~-~@ Natürlich war es eisig, aber der Regen hatte sich kurzzeitig verabschiedet. Hadrian schlang den Arm um Umeas Schultern, teilte die Wärme seiner geöffneten Jacke. "Dir geht es wirklich gut? Tut auch nichts weh?" Er kam sich schon wie ein Leierkasten vor. Umea lächelte, die Bandnudelhaare vollkommen aufgelöst. "Es geht mir wirklich gut, Hadrian. Das war toll und ich hoffe, wir können das wieder tun. Tut DIR denn nichts weh?" Verblüfft stolperte Hadrian. "Mir?! Nein, mir geht's prächtig! Aber das ist ja rücksichtslos, und..." Umea erstickte seine beschämte Selbstanklage versiert, leckte sich schmunzelnd über die eigenen Lippen. "Ein bisschen Banane war noch übrig." Schief grimassierend gab Hadrian seine Selbstanklage drein. "Das nächste Mal besorge ich mehr. Und danke. Danke, Umea." Ärgerlich das Hochziehen der schmalen Schultern registrierend wusste Hadrian, dass er sich verabschieden musste. "Bitte komm wieder, ja? Mir ist noch eine Idee gekommen, was wir unternehmen können, wegen einer Ausbildung." Umea lehnte die Stirn an seine an. "Danke, Hadrian. Entschuldige, dass ich dir heute nichts erzählen kann, aber das nächste Mal! Nur bei dir bin ich richtig frei. Das ist so wunderbar und ich will es nicht aufgeben." Unwillkürlich nickte Hadrian, auch wenn er nicht ganz folgen konnte. "Dann nächste Woche, okay? Ich warte auf dich, Umea." Umea nickte, küsste Hadrian noch einmal auf die Lippen, trat mit einem Lächeln zurück...und verschwand. @~-~@ Hadrian paradierte im Garten auf und nieder. Seine Vorfreude war längst tiefer Besorgnis gewichen. Umea verspätete sich nicht so sehr! Bald schon würde seine Mutter zurückkehren. Es musste etwas vorgefallen sein! Doch so sehr er auch auf die alte Scheunenwand blickte: keine vertraute Gestalt trat hervor. @~-~@ Es verstrichen Tage und Wochen. Hadrian kämpfte mit einer Achterbahn der Gefühle, durfte sich, durch sein Ehrenwort gebunden, nicht offenbaren. Sorge, Wut, Verzweiflung, Hader... Schließlich Resignation. Das Portal öffnete sich nicht für ihn. Umea kam nicht wieder. @~-~@ Kapitel 9 Ludwig hob den Kopf, witterte. Eine Hand tätschelte seinen gewaltigen Schädel, kraulte ihn geübt zwischen den Ohren. Das mochte er wirklich gern! Er erhielt auch das Mitbringsel. Sehr zufrieden leckte er über die Hand, um sich dem Schmaus zuzuwenden. @~-~@ "Keine Angst, er tut nichts. Komm, Papa, lass uns mal schauen, ja?" Der gewaltige Bernhardiner ließ die beiden Besucher unbehelligt ziehen. Sie durchschritten die alte Gartenpforte, wandten sich dem benachbarten Grundstück zu. Dort saß ein junger Mann auf der Veranda, die gesamte Aufmerksamkeit seinem Smartphone zugewandt, jedoch nicht von Begeisterung geprägt, was die grimmige Miene verkündete. "Herrschaftszeiten, ich will bloß EINE Order durchbringen!" Die beiden Besucher bemerkte er zunächst nicht. Damit hatte es keineswegs sein Bewenden, denn der Junge in kurzen Hosen und Hemd räusperte sich unerschrocken. "Hallo, guten Tag! Dürfen wir reinkommen?" Reichlich spät, sie standen ja bereits im Garten, hatten die Hälfte des Sand-Kies-Wegs abgeschritten. Überrascht blickte der junge Mann auf, das Gesicht noch verkniffen. Der Junge winkte mit der freien Hand, die andere hielt seinen Begleiter vertraut im Griff. "Du erinnerst dich bestimmt an meinen Papa, oder? Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Nemo. Und du bist mein Vater." @~-~@ Hadrian kam, ohne sich dessen bewusst zu sein, auf die Beine. Weißblonde Bandnudelhaare mit grünem Stich, grüne Augen in einem ovalen Gesicht, eine schlanke, sehnige Gestalt. "Umea?" Entfuhr ihm heiser. @~-~@ Nemo unterdrückte ein Grinsen. Wahrscheinlich hätte ein Gespenst nicht mehr Effekt haben können, aber das wusste er nur vom Hörensagen. Getroffen hatte er schließlich noch keins. Sanft, aber beharrlich zog er seinen Papa hinter sich her, blickte zu dem athletischen Mann mit den breiten Schultern hoch, der mit offenem Mund starrte. "Es tut mir leid." Wisperte sein Papa bange, kummervoll. "War auch nicht deine Schuld!" Stellte Nemo entschieden fest, ergriff eine Hand des Menschen, lenkte so die Aufmerksamkeit auf sich. "Hallo. Hast du ein wenig Zeit, damit wir uns unterhalten können? Das ist übrigens eine ganz tolle Wasserschildkröte!" @~-~@ Wie benommen warf Hadrian einen Blick auf Phil im alten Planschbecken, dann auf den Jungen. Schwarz-grüne Locken, ein Strang zu einem Zopf gebunden und hochgesteckt, schwarze Augen ohne Wimpernkranz, ein aufmunterndes Lächeln mit recht spitzen Zähnen, kluge, wache Augen. "Vater?!" @~-~@ Nemo zog die beiden Erwachsenen rechts und links neben sich auf die Veranda, Platz nehmen und die Honneurs auffrischen. "Ich kann auch Hadrian sagen, wenn dir das lieber ist. Du bist bestimmt überrascht, hm? Aber bevor du wütend wirst: Papa konnte nicht hierher kommen." Er hielt die große Hand entschieden fest. "Ich kann das Portal durchqueren, weil ich zur Hälfte ein Mensch bin, verstehst du? Deshalb sei bitte nicht böse auf meinen Papa, ja?" Aufmerksam studierte er die Gesichtszüge des Mannes neben sich, registrierte, wie die Verblüffung einer heftigen Anspannung wich. Da musste man gleich intervenieren, denn sein Papa fürchtete sich sehr vor einer Ablehnung! "Bitte hör mir zu, Vati. Danach kannst du immer noch schimpfen." @~-~@ Hadrian rang mit sich. Dass der Junge, Nemo, ihn dauernd als Vater adressierte, nagte an seinem Nervenkostüm. Das ihn im Übrigen schonungslos auf gewisse Ähnlichkeiten hinwies. "Ich höre dir zu, Nemo." Er wandte den Kopf, betrachtete Umea, der ängstlich wirkte, unglücklich, beschämt und älter, sehniger, zerbrechlicher, obwohl auch seine Schultern an Breite gewonnen hatten. "Dann fang ich mal vorne an, ja?" Zwang Nemo ihn, sich auf den Jungen zu konzentrieren. "Ist schon eine ziemliche Überraschung, mit mir, das stimmt!" @~-~@ Nemo drückte verstohlen die schmale Hand seines Papas, konnte dessen Verzweiflung spüren. Er selbst war überzeugt, dass es dafür keinen Anlass gab. Ja, seine menschliche Hälfte rügte ihn für diesen ungerechtfertigten Optimismus, aber die gleiche Hälfte ermutigte ihn auch, weil der Vater, den er aus Erzählungen kannte, nicht einfach den Stab über andere brach, Argumenten, Fakten, Erläuterungen gegenüber aufgeschlossen war. Deshalb legte er flugs los. "Weißt du, Vati, damals wussten wir beide noch nicht so viel über Menschen. Ich wette, du staunst auch, wenn ich dir jetzt erzähle, wie ich als Überraschung aufgetaucht bin!" @~-~@ Ihre Hände haltend schilderte der Junge, Nemo, lebhaft und mit hintergründigem Charme, dass sich nicht bloß die Väter um den Nachwuchs kümmerten, sondern ihn auch austrugen. Quasi wie bei den Seepferdchen hier auf dieser Seite! Wenn auch ohne Beutel, also in den Details doch ganz anders. Ganz recht, die Weibchen, pardon, Frauen, übergaben den Männchen, Männern die befruchteten Eizellen auf einem direkten Weg. Zwanzig Tage später schlüpfte aus einer stecknadelgroßen Öffnung in der Bauchfalte der Nachwuchs, ziemlich klein, aber schon gut gerüstet für das Leben im Wasser. So war er selbst ja auch auf die Welt gekommen! Als Überraschung, weil ja kein Weibchen, keine Frau, seinem Papa ihre Eizellen anvertraut hatte, sondern eben sein Menschen-Vater, weshalb sein Papa eine ganz außergewöhnliche Person war! Jedenfalls soweit man sich erinnern konnte! Bestimmt wären sie auch zu ihm gekommen, nur gab es da eben ein Hindernis. @~-~@ "Sie haben das Rezept verbrannt." Wisperte Umea, einen Seitenblick riskierend, bevor er eilig wieder auf seinen Schoß starrte. "Alle hatten Sorge, weil ich gegen die Regeln verstoßen habe. Weil sonst niemand trotz des Rezeptes das Portal sehen konnte. Und um Nemo zu schützen. Zur Hälfte gehört er ja zu meinen Leuten." Umea schluckte schwer, ballte die Faust, trieb sich die Nägel in den Handballen. Er wagte nicht, den Kopf zu heben. "Es tut mir sehr leid, dass ich dich nicht mehr treffen konnte. Ich hatte gehofft... Vielleicht könnte jemand anders dir eine Nachricht..." Würgend schnappte er nach Luft. "Es wurde mir nicht erlaubt, noch mal in die Stadt zu gehen, andere in meine verbotenen Heimlichkeiten einzubeziehen." Heftig blinzelnd verwünschte er seine beschlagende Sicht. "Das ist ja glücklicherweise vorbei!" Nahm Nemo betont munter und entschieden den Faden auf. "Weißt du, Vati, ich KANN nämlich durch das Portal, ohne Hilfsmittel. Heute wollten wir mal versuchen, ob ich meinen Papa mitnehmen kann. Ich hab ja keine Anleitung! Außerdem darf bei uns jedes Kind mit seiner Familie aufwachsen. Deshalb habe ich auch ein Recht darauf, meinen Vater zu treffen!" @~-~@ Hadrian starrte auf den Lockenschopf mit dem hochgesteckten Zopf hinunter, der zu ihm hoch lächelte, kämpferisch und werbend. "Seepferdchen." Murmelte er hilflos. "Aber ich verstehe einfach nicht...?! Ich meine, wir sind beide Männchen, Männer! Wie hat..?! Nein, ich erinnere mich, schon klar, aber das sollte gar nicht...?!" Nemo betrachtete ihn prüfend. "Glaubst du, ich beschwindle dich?" Im Augenwinkel bemerkte Hadrian, wie Umea sich noch stärker zusammenrollte. Wie hatte der erklären können...? Er schüttelte sehr langsam den Kopf. "Ich bin bloß ziemlich geplättet, ich meine, überwältigt. Das ist nicht nur auf eurer Seite eine ziemliche Überraschung, HIER auch." Setzte er etwas ironisch hinzu. Nemo grinste unerschrocken. "So, wie ich das sehe, ist mein Papa schon immer ganz besonders gewesen. So schlimm finde ich mich auch nicht." Dieser Satz versetzte Hadrian einen Stich. Wenn Umea sich schon anders gefühlt hatte (und definitiv war), wie musste das erst für den Burschen hier sein? Zur Hälfte ein Mensch in einer Welt, in die Menschen sonst gar nicht reinkamen! "Ich finde dich ganz bestimmt nicht schlimm, Nemo!" Stellte Hadrian nachdrücklich fest. "Bloß brauch ich wohl ein bisschen Zeit, um das zu verdauen." Hadrian richtete sich auf. "Ich bin schwul. Weißt du, was das bedeutet?" Nemo nickte eifrig. "Du magst nur Männchen, hat mir mein Papa schon erzählt!" Hadrian verzichtete auf eine erneute Berichtigung, denn es schien ihm, als amüsiere sich Nemo prächtig damit. "Das ist richtig. Bei uns können Männer mit Männern keine Kinder zeugen, deshalb bin ich auf einen Sohn nicht vorbereitet." Neben ihm grinste Nemo freimütig. "Ich glaub, du wirst dich bestimmt an mich gewöhnen. Ich bin ziemlich nützlich, weißt du? Ich kann ja durchs Portal gehen, wenn wir mal eine Pause voneinander brauchen." @~-~@ Nemo erwiderte den aufgescheuchten Blick aus den schwarzen Augen entschlossen. Aha. Die Erwähnung des Portals löste den gleichen Reflex wie bei seinem Papa aus. Nicht bloß ein praktisches Tor, sondern auch ein unüberwindbares Hindernis. Eine schmerzvolle Erfahrung, die Narben hinterlassen hatte. "Also, ich bin ja jetzt fast zehn Jahre alt, Vati. Ich könnte in die Stadt gehen, in einer Schule noch mehr lernen, deshalb gibt es keine Einwände mehr, dass ich auch ein Portal benutze. Die ganze Aufregung hat sich ziemlich gelegt. Die anderen haben sich an mich gewöhnt." Er zwinkerte, drückte verstohlen die Hand seines Papas. "Tja, jetzt sind wir hier, um dich zu besuchen. Bis jetzt hat es noch keinen Ärger gegeben, also tun wir nichts Verbotenes, wir stören ja niemanden. Du bist ja auch allein, nicht wahr?" @~-~@ "Ich wohne mit meiner Mutter zusammen." Die automatische Korrektur rutschte Hadrian heraus, bevor er sich selbst ohrfeigen konnte. Ein beinahe konditionierter Reflex auf die spöttischen Anmerkungen, weil ein Mann seines Alters noch/wieder zu Hause im Hotel Mama lebte! Er schnaubte, sammelte sich, registrierte dabei ein verdächtiges Mundwinkelzucken bei Nemo. "Ich meine, ja, ich bin Single, das heißt alleinstehend, ledig. Meine Mutter ist bloß gerade verreist." Erklärte er grimmig. "Wir wohnen bei meinen Großeltern. Das ist schon in Ordnung." Tröstend tätschelte ihm der Lauser tatsächlich die Hand! Bevor Hadrian eine sarkastische Bemerkung entlassen konnte, plärrte ein Warnton seines Smartphones. "Entschuldigung!" Ahnungsvoll nahm er es hoch, knurrte. "Na, klasse! Also doch Fax. Was freue ich mich auf unsere glorreiche Zukunft im Internet der Dinge! Schraubt ruhig das Festnetz raus, wir können ja Rauchzeichen geben!" Haderte er zornig mit der Situation. Nun blickten ihn zwei Augenpaare verwirrt an. Schnaubend verstaute Hadrian das eher nutzlose Hilfsmittel der Gegenwart deaktiviert in seiner Hosentasche. "Ach ja, damals gab es die Dinger noch nicht mit den Funktionen. Allerdings ist es hier auch eher ein Briefbeschwerer. Vermutlich sollte ich dankbar sein, dass man hier keine Konkurrenz durch Internet-Apotheken hat." Er seufzte, richtete sich auf. "Nicht so wichtig. Also, Nemo, raus mit der Sprache: was hast du ausgeheckt?" @~-~@ Nemo grinste, während sich das Klammern seiner Hand verstärkte. Alle Achtung, sein Menschen-Vater war nicht auf den Kopf gefallen, während sein Papa noch nervöser und verschreckter wurde! "Also, Vati, ich dachte mir, dass es doch eine große Verschwendung ist, dass du und mein Papa allein sind. Weil ihr euch ja ziemlich gemocht habt, sonst gäbe es ja mich nicht. Ich finde, man sollte da was unternehmen! Und, falls es sich einrichten lässt, würde ich auch Geschwister nett finden." @~-~@ Umea schnappte hörbar nach Luft. Hadrian registrierte diese Reaktion beiläufig, während er sich auf die schwarzen Augen konzentrierte. Ein wirklich hellwaches Bürschchen! Man hätte ja beleidigt sein sollen ob der Impertinenz, aber Hadrian bemerkte auch, dass Nemo nicht bloß naseweis und frech agierte, sondern das Rückgrat durchdrückte. Weil es wichtig war, nicht nur dahingesagt, sondern einem Plan folgend. "So, so." Brummte Hadrian deshalb betont nonchalant. Was dem Jungen keineswegs den Wind aus den Segeln nahm. "Genau! Ich finde, ihr solltet euch ein bisschen unterhalten. Was so los war in den letzten Jahren. In der Zwischenzeit werde ich mir deine Wasserschildkröte anschauen." @~-~@ Nemo federte schwungvoll hoch, wirbelte herum, als ihn beide Hände freigaben, schob diese ineinander, zwinkerte aufmunternd. Es war schon seltsam, jemanden nicht zu spüren, sondern sich auf die Optik und seine Instinkte verlassen zu müssen. Wie Menschen das nun mal so taten. Er testierte sich, durchaus einen guten Anfang gestiftet zu haben. Jetzt musste man nur dafür sorgen, dass seine Eltern sich endlich aussprachen! @~-~@ Hadrian blickte seinem mutmaßlichen Sohn nach: kurze Hosen, ärmelloses Hemd, Sandalen, schwarz-grüner Lockenschopf mit hochgestecktem Zopf. Der einfach IN das alte Planschbecken stieg, sich hinhockte, auf die Wasserschildkröte konzentrierte. "Ich brauch dringend was zu trinken!" Was ihn an seine Gastgeberpflichten erinnerte. Er erhob sich schwungvoll, zog Umea gleich mit, dessen Hand ungeachtet der Witterung eiskalt und verkrampft in seiner lag. "Komm mit rein, ja? Da bekommt der Lauser, Lausbub, ich meine das nett!, auch ein Glas." Jessas, er musste auf seine Ausdrucksweise achten! Das hatte er schon eine ganze Weile nicht mehr. Hadrian straffte seine kräftige Gestalt. Zusammenreißen, aber fix! "Sieht ein bisschen anders aus, hm? Tja, wir mussten Küche und das Bad drüber vor drei Jahren komplett neu machen, Wasserrohrbruch. Glücklicherweise hat es die Apotheke nicht erwischt." Vor dem Kühlschrank erinnerte er sich wieder. "Achtung, temporärer Kälteeinbruch!" Warnte er Umea vor, blockierte auch die Kaltluftschneise mit seiner breiten Gestalt. Einhändig balancierte er einen Glaskrug mit Schwarztee plus trudelnden Zitronenscheiben und Minzblättern in einem Teeei heraus. Er stellte den Krug auf den Tresen der kleinen Kücheninsel. "Setz dich doch, bitte." Hastig entzog ihm Umea die schlanke Hand, kauerte sich auf dem Hocker zusammen. Aus einem offenen Regal hob Hadrian drei schlanke Gläser, verteilte den Inhalt des Krugs. "Ich bringe Nemo sein Glas, okay? Bin gleich wieder bei dir." Auf der Veranda atmete Hadrian tief durch. Nemo hatte das Planschbecken verlassen, stand am Zaum. "Nemo, ich stelle dir hier ein Glas mit Eistee hin, ja?" Der Junge wandte sich zu ihm um, winkte. "Danke schön! Darf ich Ludwig etwas Wasser aus dem Schlauch geben?" Hadrian stutzte. "Sicher. Komm rein, wenn du Durst hast, ist noch mehr Tee da." Er wartete das Nicken ab, verfolgte, wie geschickt Nemo den Wasserschlauch aufdrehte, erst stehendes Wasser auf Büsche verteilte, bevor er dem Bernhardiner die apportierte Wasserschale sorgsam auffüllte, den gewaltigen Hund vertraut kraulte. Der sich beim Schlabbern nicht stören ließ. Als Hadrian ihre Wohnküche betrat, kauerte Umea auf dem Boden, die Hände am Tresen, keuchte und zitterte. "Ist dir schwindlig? Musst du dich übergeben?" Sofort ging er neben Umea auf die Knie, umfasste die verkrampften Schultern. "Nur..ein bisschen...schwindlig..." Würgte Umea kaum verständlich hervor. "Verstehe. Festhalten!" Damit legte sich Hadrian einfach die Arme um den Nacken, umschlang Umeas Hüften, richtete sich langsam mit ihm auf, dirigierte ihn die wenigen Schritte zum Spülbecken. Er angelte mit dem Fuß einen Hocker heran, auf den er Umea parkte. Unaufgefordert krempelte er die Ärmel hoch, Umeas Unterarme mit Wasser abzuspülen, um den Kreislauf anzuregen, stutzte abrupt, bevor er mit zusammengepressten Lippen sein Vorhaben zum Abschluss brachte, Finger und dünne Arme behutsam, aber geübt massierte. "Woher kommen diese Flecken?" Umea ächzte leise, räusperte sich. "Erst in der Schwangerschaft...aber es tut nicht weh!" Das erschien ihm offenkundig besonders bedeutsam. Hadrian ging in die Hocke, wickelte selbstherrlich auch kurz die Hosenbeine hoch: dasselbe Muster. Die dunklen, großen Flecken erinnerten ihn an Holsteiner Kühe. "Was ist mit Wasserkontakt? Juckt es?" Kam er wieder in die Höhe. Umea schüttelte, sehr bedächtig, den Kopf, atmete mehrfach tief durch, während Hadrian den Schluss zog, dass DIES der Grund für Umeas ungewohnte "Verpuppung" war. Weil man solche Hautanomalien als abstoßend empfand. "Ist es dir jetzt besser? Oder noch schwindlig?" Hadrian reichte ein Glas an, ließ Umea nippen. "Danke. Es geht schon." Recht wackelig erhob sich Umea, rollte die Ärmel eilig herunter. Die Gläser zum Tresen bugsierend lud Hadrian zum Platznehmen ein. "Folgen wir mal der Empfehlung unseres umtriebigen Filius, hm? Das ist ein anderes Wort für Sohn." Hadrian blickte Umea auffordernd an, der sich setzte, aber wieder zusammenfiel wie ein Soufflee, die Schultern hochgezogen und nach vorne gerollt, den kunstvollen Zopf zwischen den Händen ringend. "Übrigens kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Frechdachs, Jessas, ich meine vorwitzige Bursche!, also, dass der nicht zum ersten Mal hier ist. Auf der Menschenseite UND vor Ort." Umeas grüne Augen richteten sich abrupt auf ihn, erschrocken und besorgt. Hadrian seufzte mitfühlend. "Na ja, ich schätze, MEIN Erbe hat ihn mit der Fähigkeit ausgestattet, Heimlichkeiten gut verbergen zu können. Wie seid ihr denn am Wachhund vorbeigekommen?" Umea zupfte an seinem Zopf herum. IHM mussten Hunde ein Gräuel sein nach den Begegnungen mit der Terror-Töle, richtig? "Nemo sagte, der Hund tue nichts, wenn man sich richtig verhalte. Und ihm einen Fisch gebe." "FISCH?!" Platzte Hadrian heraus. Er war überzeugt davon, dass seine Nachbarn bisher nicht auf die Idee gekommen waren, so eine Mahlzeit zu servieren, ganz gleich, was sich in den Dosen und Tüten der Hundenahrung so tatsächlich befand. "Aha. Den Namen des Hundes wusste er auch." "Ein Ludwig?" Hasardierte Umea überfordert und kleinmütig. "Eher von der Sorte, die wir landläufig auf Bernhardiner abkürzen. Ludwig ist der Rufname, wobei ich Zweifel habe, ob Ludwig hört, wenn er nicht will." Brummte Hadrian, nahm anschließend einen großen Zug von seinem Eistee. "Ganz schön gerissen, das Bürschchen." Stellte er fest, allerdings nicht ohne Bewunderung, immerhin zeugte es von Mut und Voraussicht, erst mal das unbekannte Gelände zu sondieren, bevor man sich in Gesellschaft auf Exkursion begab. "Na schön!" Stellte er sein Glas ab, betrachtete Umeas eingesunkene Gestalt, das gebeugte Haupt. "Ich fange einfach mal an, ja? Tja, zehn Jahre zurück. Zuerst hab ich die Schule abgeschlossen, bin zum Studium nach Freiburg, Pharmazeutik. Das ist ein Studium mit mehreren Fächern, um als Apotheker eine Zulassung zu bekommen. Na, nicht so wichtig. Jedenfalls habe ich das tatsächlich hinbekommen, fünf Jahre, trotz gewisser Austob- Momente. Da war ich Springer, hab Arbeitsverträge bei zwei Apotheken gleichzeitig gehabt. Vor einem Jahr hat der Inhaber der anderen Apotheke hier im Landkreis aufgegeben. Da die Apotheke aber in seinem Haus untergebracht war, gab es keinen Nachfolger. Wegen unserer ach so glorreichen Anbindung an die digitale Zukunft sind alle bei meiner Mutter aufgeschlagen. Wir haben uns unterhalten, so bin ich vor einem halben Jahr zurückgekommen und bei ihr eingestiegen." Hadrian seufzte. "Im Nachhinein betrachtet war meine Aufregung damals nicht sonderlich begründet. Sie hatte gar nichts dagegen, mit mir zusammenzuarbeiten, wollte mich aber nicht beeinflussen, keine Über-Mutter sein. Ach ja!" Er schnaubte. "Du erinnerst dich vielleicht noch, dass ich so viel Bammel hatte, es könne herauskommen, dass ich schwul bin? Na, hier kommt die Ironie. Ich bin in Freiburg auch zu Studienfeiern und Arbeitskreisen gegangen, hin und wieder. Hab einen Liebhaber gefunden, was REIN zufällig einer der ältesten Deppen hier mitbekam, der daraufhin nichts Besseres zu tun hatte, als hier aufzuschlagen und meine Mutter zu fragen, ob sie wüsste, dass ich es mit Kerlen treibe. Woraufhin sie ihm sagte, er müsse sich keine Sorgen machen, ihn würde man nicht mal mit der Kneifzange anfassen." In Erinnerung an die telefonische Schilderung dieser Episode musste Hadrian unwillkürlich grinsen. Über-Mutter, nein, aber wenn man sie gegen das Fell bürstete, konnte seine Mutter der ALIEN-Queen die Säure reichen! "Tja, so war ich in der Ferne geoutet. Ich war nicht immer Single, aber wenn ich ehrlich bin, waren meine drei Affärchen auch nichts Ernsthaftes. Hier, in der Provinz, ist es ohnehin nicht einfach, jemanden zu finden. Also hat der kleine Frechdachs recht: ich bin alleinstehend." Umea hatte zwischenzeitlich tapfer den Kopf gehoben, ihn angesehen. Hadrian nahm einen großen Schluck Eistee. "So, und jetzt würde ich gern deine Geschichte hören." Der Zopf wurde noch schlimmer beklammert und zerpflückt. Bereits zuvor hatte Hadrian beiläufig registriert, dass EIN Gummi den Jungen schmückte, Umea den zweiten für sich nutzte, erstaunlicherweise mit verblüffendem Geschick. Der öffnete den Mund, brachte jedoch keine Silben heraus, zögerte, schob eilig die Hände unter seine Oberschenkel, versuchte einen neuen Anlauf. "Wieso Nemo?" Half Hadrian mitleidig aus. Ihn verstörte es, wie verschreckt, kleinmütig und verdruckst Umea wirkte. "Das war meine Idee." Umea holte Luft, verkrampfte sich noch mehr, blickte stur auf seine Knie. "Ich war in der Woche jeden Tag in der Stadt, um herauszufinden, was ich tun könnte. Dort gibt es Personen, die anderen dabei helfen. Da gab es eine kleine Gruppe, die hatte Bücher. Geborgte Bücher, aus der Menschenwelt geborgt. Nicht gestohlen! Sie freuten sich sehr. Ich war neugierig." Die grünen Augen wurden zugekniffen. Hadrian begriff diese Reaktion ganz und gar nicht. Als ob Umea sich auf einen chirurgischen Eingriff vorbereitete, ohne Betäubung! "Ein Buch, groß, mit Bildern. In Zeilen. Von einem Jungen. Der kleine Nemo im Schlummerland. Er träumte und die Bilder... So etwas hatte ich noch nie gesehen!" Sehnen zeichneten sich in seinem Gesicht ab. "Deshalb dachte ich, Nemo sei ein schöner Name, für Abenteuer, Mut und neue Welten." Er keuchte, was Hadrian gewohnt irritierte. Man erwartete einfach keine Kurzatmigkeit bei Personen, die mühelos fünf Minuten die Luft anhalten konnten! "Nemo im Schlummerland? Das kenne ich gar nicht." Warf Hadrian ein. ER hatte schon befürchtet, dass Umea einen anderen Namenspatron im Sinne hatte, einen Clownfisch beispielsweise. Was ihm nicht gerade gefallen hätte. Oder einen Helden aus einem Jules Verne-Roman. Andererseits, woher sollte Umea...?! Der schlug vorsichtig, zögerlich die Augen auf. Fast fürchtete Hadrian, IHM gelte diese verkrampfte Haltung, ließe ihn wie einen grässlichen Kritiker wirken, noch BEVOR er irgendetwas geäußert hatte! Doch Umea blickte nicht ihn an, sondern ins Leere, richtete sich mit einem verblüfften Japsen auf. "OH!" Stellte er fest, holte mehrfach Luft, schüttelte die angespannten Glieder aus, konzentrierte sich mit einem Ausdruck von mühsam gebändigter Euphorie auf Hadrian. "Es geht noch, es geht noch! Großer M, vielen Dank!" Hadrian, der den letzten Satz nicht verstand, da ihm die Sprache unbekannt war, lupfte eine Augenbraue. Zum ersten Mal sah er ein blasses, aber echtes Lächeln auf Umeas Zügen. "Ich kann darüber sprechen ohne Kopfschmerzen! Das ist wunderbar!" Stirnrunzelnd offenbarte Hadrian sich als Leitungssteher. "Entschuldige, Umea, aber ich kapier, verstehe nicht ganz?" Nun wirkte Umea tatsächlich entspannter. "Das ist, oh, wie soll ich das am Besten erklären?! Ich habe Nemo immer, weil er es gern hören wollte, davon erzählt, aber ich bekam jedes Mal grässliche Kopfschmerzen, mir wurde übel. Doch es ist wahr, ich bin frei! Hier, auf deiner Seite, bin ich frei!" Impulsiv sprang er hoch vom Hocker, drehte sich mit ausgebreiteten Armen im Kreis, jauchzend. Bevor er trudelnd stürzen konnte, fing Hadrian ihn einfach ein, zog ihn auf den Schoß, ganz gleich, wie indiskutabel, chauvinistisch und zweifelsfrei übergriffig das war. "Schön, ich bin froh, dass es dir etwas besser geht, aber ich würde das trotzdem gern begreifen. Was ich noch nicht tue." Umea, überrascht durch sein Eingreifen, wandte rasch den Kopf ab. Prompt ließ Hadrian brav die Arme sinken, damit Umea sich erheben, auf den eigenen Hocker wechseln konnte. Was der jedoch unterließ. "Bitte, erklär es mir." Hakte Hadrian unerbittlich nach. Umea zögerte, reckte fast trotzig das Kinn. "Ich versuche es. Ohnehin muss ich alles erzählen und mich entschuldigen." Er zitterte unwillkürlich. "Nacheinander, in Ruhe." Mischte sich Hadrian ein. So langsam machte er sich einen Begriff davon, unter welchem immensen Druck Umea stand. Für IHN war es lediglich eine Überraschung, aber für Umea musste es ein Tribunal sein! Den Zopf umklammernd atmete Umea eilig durch. "Also, ich war damals in der Stadt, jeden Tag, um so viel zu sehen und zu lernen...die Welt ist so viel größer...! Aber es tat weh. Je länger ich weg war, umso stärker schmerzte es, wie ein dumpfes Pochen, nicht nur im Kopf, im ganzen Körper." Umea zog unbewusst die Schultern höher. "Deshalb war ich so erschöpft, als ich zu dir kam. All die Dinge in meinem Kopf! Bei dir war es ruhig. Kein Schmerz, kein Druck. Ich hab mich fallen gelassen." Er biss sich auf die Lippen. Die spitzen Zähne hinterließen deutliche Einkerbungen. "Ich wusste nichts über Fortpflanzung bei Menschen. Ich dachte nicht, dass... ich hatte nur die Anleitung im Kopf, wie es bei uns üblich ist." Hadrian fand, dass er seinen Anteil einbringen musste. "Ist ganz sicher nicht deine Schuld, Umea! Ich hab ja mitgetan und beim ersten Mal nicht den Gummi benutzt. Und es ist ganz schön beschämend, dass ich nicht gemerkt habe...na ja, so einen Brutbeutel sollte man ja bemerken, oder?!" Nur hatte er in seiner pubertären Brunst sich auf Knutschen und sein Tastvermögen verlassen! Nicht jedes Fitzelchen seines ungewöhnlichen Freundes erkundet oder die verdammten Hormone in Schach gehalten! Umea wandte ihm den Kopf zu, ernst, entschieden. "Ich bedaure es nicht. Nie, niemals, zu keinem Zeitpunkt. Denn es würde ja bedeuten, dass es Nemo nicht gäbe." Ihm versagte die Stimme. Tränen beschlugen die grünen Augen. Hadrian registrierte einen Kloß im Hals. "He, ich würde den Kleinen auch gegen nichts eintauschen!" Versicherte er ziemlich ungelenk. Umea sickerten Tränen wie Perlen aus den Augenwinkeln, glitten über die Wangen. "Er ist ein Wunder. Klug, mutig und freundlich. Ohne ihn könnte ich nicht leben." »Ah!« Dachte Hadrian, der seinen taktlosen Verstand verwünschte. DAS musste einer der Gründe sein, die den kleinen Burschen dazu bewogen hatten, es zu riskieren, hierher zu kommen, um sie zusammenzuführen. Er hob die Hand, wischte sanft über die Wangen. Noch immer fehlte Umeas Tränen das Salz. "Wann hast du gemerkt, dass ich dich geschwängert habe?" Wollte er die Erforschung der Ereignisse vorantreiben. Umea schnüffelte kurz, umklammerte den eigenen Zopf. "Gar nicht. Erst wunderte ich mich, dass die Salbe nicht so lange vorhielt, dann bekam ich Fieber. Nicht gefährlich, aber... die anderen Männer kamen zu meinem Vater. Sie hatten sich ausgetauscht. Keine Frau hätte mir ihre Eier anvertraut, deshalb glaubten sie, ich hätte in der Stadt vielleicht andere von unserer Art getroffen." Starr ins Leere blickend grub Umea die Fingerkuppen in seinen lädierten Zopf. "Nachwuchs zu haben ist eine wichtige Entscheidung. Die Eltern kümmern sich so lange gemeinsam und versorgen ihr Kind, bis es allein leben kann. Dabei ist es wichtig, dass die Nahrungsquellen für alle reichen. Alle spüren die Verbindung der Eltern." Tränen sickerten erneut über seine blassen Wangen. "Ich konnte es nicht lange verschweigen. Was ich getan hatte. Dass ich unerlaubt in die Menschenwelt gegangen war und mich von einem Menschen begatten ließ." Er senkte den Kopf. "Sie konnten es nicht glauben. Das war alles viel zu fremd für sie. Zweifelsfrei war nur, dass ich ein Kind in mir trug. Es musste ein Weibchen geben, das sich mit mir um das Kind kümmert." Umea keuchte, warf den Kopf in den Nacken. "Meine Mutter wollte mir helfen. Ich sollte beweisen, dass ich die Wahrheit preisgegeben hatte. Also habe ich sie zum Portal geführt." Er kniff die Augen fest zu, ballte die Fäuste. "Niemand konnte es sehen. Ich gab das Rezept aus der Hand, und sie sahen immer noch nichts. Wenn ich es nur nicht..!!" Umea schluchzte auf. "Alle bekamen es mit der Angst zu tun. Die Stadt, das unsichtbare Portal, all das erschreckte sie. Wenn jemand herausfände, dass ich die Wahrheit gesprochen habe und die Menschenwelt beeinflusst...! Viel zu gefährlich! Weil sie Angst hatten, haben sie erst das Rezept verbrannt. Ich konnte nichts tun." Hadrian beobachtete beklommen die Veränderung, die Umea durchlief. Die grünen, tränenden Augen aufgerissen, die Fäuste geballt, angespannt bis in die letzte Sehne, offenkundig zehn Jahre in der Zeit zurückversetzt. "...und dann...dann...war Nebel im Kopf..." Flüsterte Umea, von Grauen erfüllt. "Wenn ich nur an die Stadt dachte..." Er drehte sehr langsam, wie aus einem Albtraum erwachend, den Kopf zu Hadrian. "Ich habe es versucht. Ich wollte in die Stadt. Trotz Nemo. Aber..." Er schüttelte den Kopf, trieb die spitzen Zähne in die Lippen. "Der Kopfschmerz und der Nebel?" Half Hadrian leise aus. Der "unsichtbare Draht" musste wie ein Eiserner Vorhang gewirkt haben. "Es tut mir so leid, so leid, Hadrian!" Umea weinte, wie bei ihrer ersten Begegnung, verzweifelt, verschreckt und ungehemmt. Das erinnerte Hadrian an die eigene Hilflosigkeit, das Mitgefühl, den Drang, ebenfalls loszuheulen. Das tat er nicht, auch wenn er am Kloß in seinem Hals fast erstickte. Stattdessen schloss er Umea in die Arme, hielt ihn fest, wiegte ihn. "So hab ich geflennt, als ich mich entschieden habe, das Warten aufzugeben." @~-~@ Kapitel 10 Hadrians T-Shirt war nass, als sich Umea erschöpft beruhigte. Zehn lange Jahre, doch fühlte Hadrian sich wieder wie Siebzehn, dezent mit der Situation überfordert und versucht, mit barschem Aktionismus die Lage zu retten. Entgegen der Einflüsterung seines Verstands, dass DIESE Taktik selten Gemüter beruhigte. Er atmete tief durch, verwünschte das Rasseln in seiner Kehle. "Festhalten." Bellte er brüsk, trug Umea auf seinen Armen die Stiege hoch in das renovierte Badezimmer, ließ ihn auf den Rand der Sitzwanne sinken, feuchtete einen Waschlappen an, um Umeas Gesicht zu betupfen. "Entschuldige." Krächzte der schließlich beschämt. Hadrian schnaubte, streifte sich sein T-Shirt über den Kopf. "Halb so wild. Ich kann nachfühlen, dass sich die letzten zehn Jahre angestaut haben. Du durftest bei deinen Leuten wohl kaum das alles rauslassen, oder?" Umea blickte konzentriert auf den Waschlappen. "Ich bin dankbar für die Unterstützung. Meine Eltern, meine Geschwister und ihre Familien, sie alle helfen mir, obwohl mit mir etwas nicht stimmt." Hadrian knurrte. "Ehrlich, ich sollte die Klappe halten, aber...Jessas! Diese permanente Standleitung mit allen im Rudel find ich GRUSELIG!" Seine Einlassung verwirrte Umea offenkundig. Der blickte ihn an, hastig weg. Was Hadrian verblüffte, zu einem Versuchsballon veranlasste. "Sag mal, hast du in der Zwischenzeit niemanden gefunden? So als Partner, Partnerin?" Jeden Blickkontakt vermeidend schüttelte Umea den Kopf. "Das ist nicht der Fall. Ich bin keine gute Partie." "Also zehn Jahre allein?" Pirschte Hadrian sich an, ging vor Umea in die Hocke, der eilig den Kopf abwandte. Hadrian seufzte leise. "Ich bin immer noch dein Typ, hm? Obwohl ich dir so viel Ärger eingebrockt habe." Umea zerrte an seinem Zopf herum, der deutlich lädiert wirkte, ganz gleich, wie kunstvoll er ausgesehen hatte. "Das... ich kann nicht... es ist, weil mit mir etwas nicht stimmt..." »Lass das sein! Elftes Gebot: du sollst kein Arschloch sein! Hörst du nicht?!« Hadrian ignorierte sein geiferndes Über-Ich. Er legte die Handflächen um Umeas Wangen, ließ keine Flucht zu, küsste ihn auf die Lippen, tauchte zwischen die spitzen Zähne. @~-~@ Ja, man durfte sich nichts vormachen. Selbst wenn man stramm auf die Dreißig zuging, schneller rostete: bestimmte Reflexe arbeiteten noch! Sie waren nun mal zwei junge Männer, auf Entzug und verblüffend kompatibel, bezog man den flinken Burschen ein, der im Garten mit der Wasserschildkröte konferierte. Hadrian störte sich nicht an den ungewöhnlichen Flecken, fehlenden Brustwarzen und Bauchnabel, Bandnudelhaaren. Ihn bekümmerten die sich abzeichnenden Sehnen und Knochen, Umeas klare Tränen, die unaufhörlich aus den Augenwinkeln perlten. Das war nicht richtig! Umea sollte lächeln, ihn in die Nasenspitze kneifen, sich an ihn kuscheln, ihn schwindlig knutschen und leise kichern, wenn er sich darüber beschwerte, Sakrament! Hadrian fühlte sich wieder wie Siebzehn, verliebt und deshalb zuversichtlich, dass es nicht so furchtbar war, schwul zu sein, wenn man so geschätzt wurde! Er hob Umea auf die Arme. "Ich zeig dir mein Zimmer." Vor allem sein Bett. @~-~@ Kondome und Gleitgel in einer Stofftasche, unter dem Bett deponiert. Lächerlich eigentlich, er hatte nicht damit gerechnet, jemals hier mit einem Mann zu landen. Bei Muttern im Haus, auf dem Land, haha! Da starb die Hoffnung zuletzt, und zwar einsam und "unbegattet". Außerdem sollte er auch ins Kalkül ziehen, dass Umea quasi zehn Jahre ohne...! Er hatte glücklicherweise etwas mehr Erfahrung akkumuliert, konnte Umea auch überzeugen, dass die kleinen Stecker in seinen Brustwarzen ungefährlich waren, zwar aus Metalllegierungen, aber.... Umeas Hände wiesen ihm auch behutsam den Weg, wo sich eine winzige, kaum zu ahnende Körperöffnung in der Bauchfalte verbarg. Details. Wichtig, durchaus, bloß übernahmen die lange vernachlässigten Hormone das Regiment, fluteten ihren Verstand, ließen sie herumrollen, die Bettwäsche strapazieren. Bandnudelhaare entkamen dem hoffnungslos verwilderten Zopf. Hadrian spielte seine körperliche Überlegenheit aus, verwöhnte seinen verloren geglaubten Freund, zog alle Register seiner Fertigkeiten. Umea lieferte ihm ein entfesseltes Duell, ließ den alten Wagemut aufblitzen. Bevor sie zum zweiten Mal miteinander schliefen. @~-~@ Hadrian zupfte die leichte Sommerdecke über eine nackte, blasse Schulter. Umea schlummerte tief, wirkte so jung, verletzlich und anziehend. »HALT!« Rief Hadrian sich zur Ordnung. Umea musste sich zweifelsohne erholen, das hatte er gespürt. Immerhin kostete es ihn nervöse Wimpernschläge nach dem Orgasmus, auf dessen Atemzüge zu lauschen, weil Umea ohnmächtig geworden war. »Lass ihn erst mal schlafen und mach Klarschiff! Übrigens, DEIN SOHN ist noch unten!« Das beschleunigte Hadrian ausreichend, sich ein frisches T-Shirt überzustreifen, ihre abgeworfenen Kleider zu sortieren, eilig die Stiege herunterzuklettern. Nemo saß auf der Veranda, das alte Planschbecken nahe herangezogen, Ludwig halb neben, halb auf ihm. Zumindest ruhte der schwere Schädel auf den dünnen Beinen des Jungen. Er ließ sich beiläufig kraulen, zwischen den Ohren massieren. "Ihr habt euch vertragen, ja?" Hadrian, mit Eistee bewaffnet, errötete merklich. "Tja, also..." Nemo lächelte. "Mein Papa hat mir alles von dir erzählt, auch wenn es weh tat, und ich meine, so richtig, so im Körper." Hadrian teilte Tee aus, ließ sich neben Nemo auf den Fliesen nieder. "Du meinst diesen komischen Draht zueinander? Ähem, Verbindung, unsichtbares Band." Übersetzte er rasch. Nemo nickte leicht. "Mein Papa ist der beste Papa der Welt. Wir sind ein tolles Gespann, wir zwei." Diese Äußerung ließ eine Strategie vermuten. Zumindest Hadrian. "Was ist mit dir? Hast du auch diese Verbindung?" Warf er ein. Der Junge grinste zu ihm hoch. "Ja, hab ich auch. Aber auch eine Menschenseite. Die, die Fragen stellt und alle verwirrt, die Einfälle hat. Die mich in Schwierigkeiten bringen würde, wenn ich nicht schlau bin." Bevor Hadrian etwas kommentieren konnte, richtete sich der gewaltige Bernhardiner auf. "Du musst heim, hm? Mach's gut, Ludwig." Verabschiedete Nemo unbefangen den Hund, der gemächlich durch den Garten trottete, trotz seiner massig wirkenden Gestalt lässig über den niedrigen Zaun setzte. "Sakrament." Stellte Hadrian fassungslos fest. Er hatte keine Ahnung, dass Ludwig diesen Trick in petto hatte. "Er ist in Ordnung." Versicherte Nemo ihm gelassen. Hadrian grummelte. "Woher wusstest du, dass du ihn mit Fisch ködern kannst?!" Stellte er eine Falle auf. Nemo schmunzelte. "Eine Menge Lebewesen mögen Fisch. Ich hatte auch getrocknete Beeren dabei, nur für den Fall." Mit beiden Händen raufte sich Hadrian die schwarzen Locken, die mal wieder einen Friseur sehen sollten. "Sag mal, wie oft bist du schon hier rumgestreunt?! Das ist doch gefährlich. Wenn dich jemand sieht!" Nemo lupfte eine Augenbraue. "Ich hab immer ein Hemd an und ich bin sehr höflich." Korrigierte er die Meinung seines Vaters von seiner Voraussicht, legte den Kopf prüfend schief. "Außerdem bin ich ein halber Mensch. Mein Papa, der kein Mensch ist, war auch mehrfach hier, bei dir. Angst ist wichtig, aber man darf sich nicht von ihr beherrschen lassen." Hadrian grollte. "Wer hat dir das geflüstert?!" Nemo grinste. "Meine Großmutter. Sie ist eine sehr erfolgreiche, angesehene Jägerin und Fischerin. Immerhin hat sie drei Kinder großgezogen, das ist viel, weißt du? Ich würd ihr nicht widersprechen." Lautete seine Empfehlung. Sich Umeas Erläuterungen ins Gedächtnis rufend seufzte Hadrian, wuschelte durch Nemos Schopf. "ICH würde dich gern vor den unerfreulichen Seiten der Menschen warnen, aber..." Nemo lachte neben ihm hell auf. "Aber ich weiß genau, wenn meine andere Seite schockiert ist, dass ich eine menschliche Unfreundlichkeit erkenne. Meine beiden Hälften ergänzen sich ziemlich gut, Vati." Hadrian steckte den Treffer weg. Der kleine Kerl WAR verflixt clever! "Sag mal, wie ist das so, mit den anderen? Wie gehen sie damit um, dass du, na ja, zur Hälfte ein verbotener, anrüchiger Mensch bist?" Nemo grinste. "So wie mein Papa dir das damals erklärt hat. Meine eine Hälfte gehört dazu, also werde ich akzeptiert, von selbst gemocht. Bis jetzt hat jedenfalls niemand versucht, mich durchzusägen." Gegen seinen Willen, zartfühlend Takt zu beweisen, musste Hadrian unwillkürlich brummen. "Schon, aber ich meine, gibt es keinen Ärger? Oder so einen Sicherheitsabstand? Distanz?" Er spürte den prüfenden Blick auf sich ruhen, wandte sich tapfer seinem Sohn zu. Der legte den Kopf schief, hob die Rechte, tippte ihm auf die Nasenspitze. "Ich verstehe, was dir Sorgen macht, Vati. Meine menschliche Hälfte versteht es. Die andere Hälfte kann es gar nicht begreifen, weißt du? ALLE vom großen See werden angenommen, wie sie sind. Und auch gemocht. Gut, hin und wieder eher mit etwas Abstand. Ich bin kein Außenseiter." Nemo nippte an seinem Glas, kaute auf der Zitronenscheibe herum, konnte sich dennoch mühelos verständlich machen. "Manche Dinge beherrsche ich nicht so gut. Wie mein Papa brauche ich Augengläser fürs Tauchen. Ich kann auch nicht ganz lange die Luft anhalten. Und ich bin steril, also, ich hab keinen Brutbeutel." Er klang ungeheuer sachlich, wie Hadrian konstatierte, sehr aufgeräumt für einen noch nicht ganz Zehnjährigen. "Dafür kann ich auf Bäume klettern, bin schwindelfrei. Du findest das vielleicht nicht bemerkenswert, weil Menschen so was können, Vati. Bei uns bin ich der Einzige. So komme ich an tolle Früchte, Samen und Nüsse. Die kann man eintauschen." Für Hadrian zeichnete sich plötzlich ein Bild ab. Sein Verstand trat ihm in den Hintern. Nemo lehnte sich näher an ihn heran. "Und, aber das darfst du bitte nicht herumerzählen, es gibt ein Mädchen. Die sagt, sie will mich auswählen." Abgelenkt starrte Hadrian in das amüsierte Jungengesicht. "Aha. Und?" Neben ihm seufzte Nemo. "Ich bin ziemlich sicher, die Mütter werden es ihr ausreden. Aber sie ist schon Vierzehn! Ne tolle Jägerin!" Er legte Hadrian eine Hand auf den Oberschenkel. "Da halte ich mich erst mal raus, Vati. Ich hab gesehen, wie sie Fische ausnimmt. Da ist Diplomatie angezeigt." Versetzte er gravitätisch. Hadrian gluckste unterdrückt, legte spontan einen muskulösen Arm um die schmalen Schultern. "Scheint mir eine gute Taktik zu sein, Nemo. Vierzehn ist recht alt, oder nicht?" "Genau!!" Eifrig nickend wandte sich Nemo ihm zu. "So viele Fische und Muscheln wiegt es nicht auf, wenn man auf Bäume stiften gehen muss! Ich möchte ja auch mal ein bisschen für mich sein." Hadrian grinste. "Du bist schon richtig, Nemo! Kein Zweifel!" Der lächelte ihn an, schlitzohrig. "Nicht wahr? Hab ja gesagt, du gewöhnst dich an mich." "Ja, ich erinnere mich, und 'nützlich' bist du auch. Apropos, hat Umea zwischenzeitlich herausgefunden, was er besonders gut kann?" »Gemein. Perfid!« Tadelte ihn beschämt und abgestoßen sein Anstandsgefühl. Nemo konnte er damit nicht ins Bockshorn jagen. "Ehrlich gesagt suchen wir noch. Ist gar nicht so leicht, kann ich dir sagen, Vati! Ideen haben es manchmal recht schwer." "Bei der einen Hälfte, hm?" Hadrian drückte sanft die schmalen Schultern. Umea war zwar etwas anders, aber nicht mal ein anteiliger Mensch! Er konnte der unsichtbaren Kollektivverbindung nicht entwischen. "So, Sohn, wo wir unter uns sind, wie sieht dein Plan aus? Nur zur Erinnerung, ich bin ein ganzer Mensch, damit befähigt, recht fies und rücksichtslos zu sein." Appellierte Hadrian an den flinken Verstand seines Sohnes. Der drehte das leere Glas in den Händen, bevor er es sorgsam neben sich abstellte, sich erhob und vor Hadrian aufbaute. "Ich weiß, WAS ich bin, Vater. Meine menschliche Hälfte will lernen, Erfahrungen sammeln, neue Dinge sehen und unternehmen. Mich hält kein Band und kein Portal auf." Für einen Wimpernschlag zeichneten sich angespannte Sehnen in dem Jungengesicht ab. "Ich könnte in der Stadt eine richtige Schule besuchen, in die Collectio gehen, von der Papa mir erzählt hat, sehen, wie groß die Welt ist, wie bunt, wie unterschiedlich." Die schwarzen Augen blickten ernst. "Aber ich kann meinen Papa nicht allein zurücklassen, Vater. Wo er anders ist und niemand versteht, wie sich das anfühlt. Zusammen haben wir durchgehalten. Allein wird es ihn unglücklich und krank machen. Ich will nicht, dass mein Papa einsam und allein bleibt. Du bist auch allein. Hier, bei dir, ging es ihm auch gut, vielleicht sogar besser. Das kann ich nicht unversucht lassen." @~-~@ Hadrian starrte mit halb geöffnetem Mund in das Kindergesicht. Nemos Stimme klang hell und kindlich, seine Ansage gehörte jedoch einem Erwachsenem, der allzu viel begriffen hatte, weil es so viel auszubalancieren gab. Er setzte zu einer Erwiderung an, brach jedoch den Anlauf ab, schluckte jede leichtfertige Belehrung über die Umstände und die Probleme von Älteren herunter. "Ich hab den Eindruck, dass ihr euch immer noch mögt, Vati. Hörte sich zumindest danach an." Stellte Nemo unumwunden fest. "Ich weiß auch, dass wir an den Details noch feilen müssen. Trotzdem. Bitte denk in Ruhe darüber nach, ja?" Hadrian spürte die Anspannung des Jungen vor sich. JETZT wunderte ihn keineswegs, warum Nemo schon mindestens eine Verehrerin hatte. Sein Äußeres täuschte über die Charakterstärke hinweg. Die Rechte ausstreckend räusperte Hadrian sich. "Mein Wort drauf, dass ich nachdenken werde." Versicherte er feierlich und entschieden. Nemos kleine Hand verschwand in seiner, doch der Druck war keineswegs zaghaft. "Vielen Dank, Vater." Die Gelegenheit nutzend stemmte Hadrian sich in die Höhe. "Lass uns mal rein gehen, ja? Hast du Hunger?" Nemo schmunzelte. "Jetzt, wo du es ansprichst..." @~-~@ Nemo fürchtete sich ganz offenkundig nicht vor Metalllegierungen. Interessiert forschte er nach, was die elektrischen Geräte so konnten, konzentriert und aufmerksam wie ein gelehriger Schüler, ohne lästigen Übereifer. "Du musst mir ein bisschen helfen, Nemo." Bekannte Hadrian. "Ich hab Umea damals nicht viel entlocken können, was er isst, ich meine, außer Fischen und Muscheln. Damit kann ich nämlich nicht dienen." Nemo, der geschickt Möhren bürstete, kicherte. "Ja, von dem Fisch hat Papa mir erzählt. Meine Großmutter wäre schockiert, wenn sie das wüsste." Hadrian seufzte demonstrativ. "Schwärz mich bitte nicht bei meiner unbekannten Schwiegermutter an, ja?" Neben ihm stutzte Nemo. "Schwärzen? Was bedeutet das?" Über sich selbst schnaubend musste Hadrian die Metapher erklärten. "Das ist so eine Redewendung. Jemanden anschwärzen bedeutet, die Person bei anderen in ein schlechtes Licht rücken. Verflixt! Ich meine, unvorteilhafte Dinge über sie erzählen." Konzentriert und verblüffend schnell zerteilte Nemo mit einer Muschelklinge die Möhren. "Papa sagte mir schon, dass man hier in Bildern spricht, weil man ja nicht in Bildern Gedanken austauschen kann, so wie bei uns." "In Bildern?! Ihr könnt Bilder übermitteln? Von Kopf zu Kopf?!" Staunte Hadrian, ließ das Brotmesser sinken. "HmHm." Nemo schnupperte an einem Stück Hartkäse, eindeutig ratlos. "Verrückt!" Murmelte Hadrian. Man stelle sich mal vor, alle hätten Bastelanleitungen für ihr Leben wie bei einem schwedischen Möbelhersteller...! "Das ist Käse. Gereifte, mit Pilzkulturen versetzte Kuhmilch." Erklärte er Nemo. "Ich bin mir nicht sicher, ob wir das vertragen." Bekannte Nemo, die Nase kraus gezogen. Hadrian verspürte plötzlich Freude darüber, dass Nemo nicht den Höcker geerbt hatte. "Dann belassen wir es bei Gemüse und Obst, ah, Brot! Ich hab noch Erdnüsse, aber geröstet, und Haferflocken. Roh isst man die allerdings nicht." Ergänzte er, während Nemo den Brotlaib bestaunte. "Wie ist der denn so groß geworden?" "Der Teig ist vorher lange gegangen, hat zum Gären Zeit gehabt. Hefepilze, die pupsen Kohlendioxid aus, das macht die kleinen Löcher." Hadrian fischte ein bunt bebildertes Anleitungsheft heran. "Schau her, da kann man es sehen. Aber den Brotautomaten überlass ich meiner Mutter. Ich weiche auf Knäckebrot aus." Nemo studierte die Bilder, den Brotlaib, den Automaten, das Knäckebrot... "Woher kommen die Pilze?" "Das sind Zellkulturen, die man züchten kann, die aber auch in der Luft sind. Hier, da steht ein kleiner Absatz. Du kannst nicht lesen, oder?" Auf einem Stück Möhre kauend schüttelte Nemo rasch den Kopf. "Diese Zeichen nicht. Unsere Schrift sieht anders aus. Wie funktioniert sie?" Etwas beschämt gab Hadrian Knäckebrot aus, dessen Knacken und Knistern beim Kauen Nemo amüsierte, der ihn mit prall gefüllten Backen auffordernd ansah. "Jessas, Nemo, na ja, wir haben hier Buchstaben. Die baut man zu Silben zusammen und daraus werden Worte und Sätze. Aber Menschen haben ganz unterschiedliche Schriftsysteme, mal in Bildern, Ideogrammen oder Schnörkel, mal von rechts nach links, mal umgekehrt oder von oben nach unten." Mümmelnd ließ ihn Nemo nicht aus dem Fokus seiner Aufmerksamkeit. "Der Vorteil von den Buchstaben hier ist, dass es sie auch in Sprachen gibt, die viele Menschen gerade sprechen. Zugegeben, wenn man alles lernen wollte, was sich Menschen so ausgedacht haben, da bräuchte man viel mehr Leben als eins." Vor allem genügte die Abendbrotzeit für derartige Ausführungen nicht! Deshalb verlegte er sich darauf, einen milden Pfefferminztee aufzusetzen. "Ich wusste nicht, dass eure Schrift anders ist. Umea hat sich ziemlich strikt an die Regeln gehalten, kaum etwas erzählt." Ein Stück Radi nagend nickte Nemo beifällig. "Papa hatte Angst, dass du Ärger bekommst. Du warst ja immer so nett und hilfsbereit. Zudem hatte Papa ja keine Anleitung, verstehst du? Wie man sich verhält, wie die Regeln sind." Hadrian studierte das Gesicht seines Sohnes. Keine Phrase, die sich seltsam anfühlte. "Ich hab auch eine Menge NICHT gewusst. Dafür haben wir es aber erstaunlich gut hinbekommen." Zwinkerte er Nemo zu, der grinste. "Ob ich wohl der Wasserschildkröte etwas zu essen geben darf?" "Na klar. Ich werde mal eben nachschauen, ob Umea Hunger oder Durst hat." @~-~@ Als Hadrian die Wohnküche wieder betrat, hatte Nemo schon aufgeräumt, sorgsam alles verstaut, sogar die Keramikteller abgespült. "Danke schön." Leitete Hadrian seine Rückkehr auf der Veranda ein, wo Nemo der Wasserschildkröte Gesellschaft leistete. "Umea schläft noch, ist wohl ziemlich erledigt." Nemo nickte. "Ja, Papa hat schon lange nicht mehr richtig geschlafen. Zu viel Angst, zu viele Sorgen." Hadrian runzelte die Stirn. Wie kam es, dass in dieser Alle-haben-sich-lieb-Welt Umea so fürchterlich litt?! Verd-, verflixt inkonsequent! Nemo schien seine Verärgerung aufzufangen. "Ist ja so, ich bin fast Zehn, richtig? Beinahe schon in der Lage, mich selbst zu versorgen. Also hat Papa Angst, dass, wenn ich zu viel Unruhe in die Köpfe bringe, sie mich doch einladen, wegzugehen. Könnte das geringere Übel sein. Oder sie werden so ängstlich wie damals, was bei mir ja nicht richtig wirkt. Kein Wunder, dass Papa da nicht schlafen kann." Konkludierte Nemo ohne erkennbaren Groll. "Das findest du nicht irgendwie frustrierend?" Hakte Hadrian zweifelnd nach. Nemo schmunzelte. "Vati, eine Hälfte ist ziemlich sauer darüber. Die andere Hälfte versteht, was los ist und warum sie keine Lösung finden. Dann einigen wir uns darauf, dass ich mir was ausdenke. Bis jetzt hat die Strategie gut funktioniert." Nun war Hadrian die Luft aus den Segeln genommen. Wie viel reifer dieser Junge doch war! Wenn er sich da an seine eigene jüngere Version erinnerte, oh weia! "Du bist verflixt mutig, Nemo. Ich hätte das in deinem Alter nicht gekonnt, nicht mal jetzt." Stellte Hadrian fest, streichelte durch die wirren, schwarzen Locken. Ein verschmitztes Lächeln tanzte auf Nemos Zügen. "Danke, Vati. Ich glaube, du wärst genauso mutig. Weißt du, meine Cousins und Cousinen helfen mit mir meiner Großmutter und meiner Tante. Da muss man auf Zack sein, deshalb hat sie uns etwas beigebracht. Eine Rangliste, die man ganz schnell aufstellen muss, was am Gefährlichsten ist, am meisten Furcht auslöst." Er lehnte sich an Hadrian an. "Ich weiß, was mir die größte Angst macht. Mit der Rangliste kann ich auf Zack sein. Nicht nur unter Wasser." Impulsiv schlang Hadrian die muskulösen Arme um die fast zierliche Gestalt seines Sohnes. Eine beeindruckende Persönlichkeit, gar kein Zweifel! Außerdem mochte er den Lauser! "Vati?" "Ja, Junior?" "Was hat es mit der Wasserschildkröte auf sich?" Hadrian konnte das Grübeln spüren, die Konzentration des Jungen. "Tja, das wüsste ich auch gern. Vor einer Woche hat meine Mutter sie im Garten gefunden. Ich hab rumgefragt, aber niemand vermisst sie. Na ja, da habe ich ein altes Planschbecken aufgestöbert, damit er nicht austrocknet. Unser Veterinär, Tierarzt ist nämlich auch in Urlaub. So muss Phil eben ein bisschen hier aushalten." "Phil?" "Hm, hab ich mir ausgedacht. Sieht eben wie ein Phil aus." Nemo holte tief Luft. "Vati, du weißt schon, dass das ein Weibchen ist, ja?" "Philomena. Abgekürzt. Damit einem nicht die Zunge einstaubt." Hangelte sich Hadrian mit verzweifelt ernster Miene durch eine sehr löchrige Argumentationskette. "Aha." Jessas, konnte der Frechdachs Skepsis in zwei Silben verpacken! "Schön, ich hab keine Ahnung von Wasserschildkröten!" Gab Hadrian die Scharade auf. "Sie ist nicht sehr glücklich, Vati. Die Salatblätter schmecken ihr nicht so gut." Hadrian äugte auf den schwarzlockigen Schopf. "Nein, lass mich raten. Du verstehst, was Phil erzählt. Einfach unglaublich!" Nemo lehnte sich an ihn, beinahe tröstend. "Wir leben beide im Wasser, zumindest zeitweise. Da kann ich einfach durch den Draht spüren, was los ist." Seufzend knuddelte Hadrian Nemo. "Mein Sohn macht Dr. Dolittle Konkurrenz und versteht die Sprache der Tiere! Ich würde ja mit stolzgeschwellter Brust herumlaufen, aber mir wäre es lieber, du und die Tiere erzählen nichts davon." Nemo gluckste, kuschelte sich an. "Keine Angst, Vati. Ich kann bloß ein bisschen ahnen, wo ein Problem liegt. Ich werde nichts verraten." Hadrian lächelte. "Weise Entscheidung. Damit ernenne ich dich auch zum Phil-Beauftragten! Wenn dir eine Lösung in den Sinn kommt oder sie dir verrät, woher sie gekommen ist, dann nur raus damit." "Mach ich, Vati! Darf ich hier bei Phil schlafen?" Nun runzelte Hadrian die Stirn. "Schön, warm genug ist es ja, aber auf den Fliesen?! Willst du nicht lieber in einem Bett schlafen? Oder auf dem kleinen Sofa in der Wohnküche?" "Oh, nein, danke, Vati. Hier draußen gibt es so viel zu sehen und zu hören, das würde ich ja verpassen." Die Nasenspitze einklemmend gab sich Hadrian kritisch. "Ich erlaube es nur, wenn du auch wirklich schläfst, in Ordnung? Morgen ist ja auch noch ein Tag." Nemo prustete, rieb sich die Nasenspitze, nickte artig. "Ich schlafe sofort ein, wenn ich müde bin, versprochen." Hadrian ahnte wohl das Kleingedruckte, schickte sich aber drein. Dieser zähe, kluge, mutige Bursche war ihm definitiv über! Da stand er lieber mal auf, um eine Strandmatte, ein Kissen und eine leichte Decke zu organisieren. @~-~@ Kapitel 11 Hadrian benötigte keinen Wecker. Die Sonne kitzelte ihn im Hochsommer verlässlich aus dem Bett. Er richtete sich auf, warf einen prüfenden Blick auf Umea. Der hatte weder sein Eintreten am Abend kommentiert, noch regte er sich jetzt, schlief wie ein Stein, wirkte jedoch, wenn man unter dem Bandnudelwust genau suchte, nicht mehr so bleich. Hadrian huschte hinaus, absolvierte die morgendliche Katzenwäsche. Ja~ha, die Locken waren definitiv...! Aber wichtiger noch, die Bartstoppeln zu stutzen! Er hätte ja einen Dreitagebart getragen, weil es doch recht lästig war, den Auswüchsen nachzuspüren, nur fand die Kundschaft, dass Apotheker rasiert, wie ein Babypopo glänzend im weißen Kittel aufzutreten hatten! In den Apotheken, in denen er zeitweise gearbeitet hatte, trug man modern Polo-Shirts mit Stickerei. Lediglich im tatsächlichen Labor- und Hygienebereich wurde Schutzkleidung getragen, da auch sehr viel zeitgemäßer als ein steifer Kittel mit Peter-Pan-Kragen im Siebziger-Format! Nachdem er sich solcherart aufgeputzt hatte, stieg Hadrian zur Wohnküche herunter. "Guten Morgen, Vati." Empfing ihn sein Sohn, kraulte Ludwig, der zufrieden im Bass kollerte. "Morgen, Nemo. Hat Ludwig schon gefrühstückt, oder hofft er auf mehr Fisch?" Nemo lachte. "Fisch würde er sicher nicht ablehnen, bloß hab ich keinen mehr, also kraule ich ihn eben ein wenig." Für einen Moment war Hadrian versucht, den Bernhardiner wegzuschicken, weil der Hund nicht gerade unauffällig war, vermisst werden könnte. Was die Nachbarn hierher führte, wo er eigentlich allein sein sollte. "Ich mache Frühstück, Nemo. Bevor wir essen, wäschst du dich aber bitte, in Ordnung? So ein Hund kann unerfreuliche Begleiter mit sich herumtragen, die krank machen können." Nemo lupfte eine Augenbraue, nickte aber gehorsam. Was Hadrian vor die Aufgabe stellte, etwas Nahrhaftes zu organisieren. Er entschied sich für ertränkte Haferflocken mit Marmeladen-Klecks, dazu zwei Löffel eingelegte Apfelspalten, im alten Waffeleisen geröstetes Brot plus sehr dünnem Honigaufstrich, Linsenmatsch und Tee für Nemo, während er sich einen Instant-Kaffee verordnete. Ludwig wuffte unterdessen dumpf, erhob sich. Offenbar hörte er seine Halter in der Distanz spektakeln. "Bis dann, Ludwig!" Verabschiedete Nemo den Bernhardiner, der ohne Hast würdevoll den Gartenweg abschritt, erneut mühelos den niedrigen Zaun überwand. "Ich hab dir im Bad oben ein buntes Handtuch rausgelegt." Ließ Hadrian seinen Sohn wissen. Der wieselte ohne Poltern die Stiege hoch. Das Radio aktiviert, um sich auf den neuesten Stand zu bringen (soweit empfangbar) studierte Hadrian die Lage: Matte ordentlich eingerollt, Kissen und Bettdecke gestapelt. Kein Pfadfinder hätte es besser machen können. Fast schon ZU pflegeleicht. Andererseits war Nemo klug und erschreckend feinfühlig. Bei den eigenen Großeltern in der Hütte zu hausen, mit nur einem Teil Eltern, das machte einen zum Kostgänger, dem Wohlverhalten und Rücksichtnahme anstanden! "Vati, was ist das da?" Lautlos materialisierte sich der Junge neben ihm, dezent nach Seife duftend. Der seiner Mutter. "Linsenmatsch. Hülsenfrüchte enthalten viel Eiweiß, das ist Futter fürs Hirn." Hadrian öffnete für Nemo den Vorratsschrank. "Da, das sind die Linsen getrocknet. Wenn man sie in Wasser lange einweicht, dann kocht, hat man einen prima Aufstrich." Nemo stieg auf die Zehenspitzen, um alle Gläser, Verpackungen und Dosen betrachten zu können. "So viele Vorräte! Du bist ziemlich reich, Vati!" Hadrian stutzte verblüfft. "Also, kommt wohl auf den Vergleich an, Nemo. Wir haben einen Vorrat, damit wir nicht so oft einkaufen fahren müssen." Die schwarzen Augen blickten verwirrt zu ihm hoch. Vertröstend strich Hadrian über die schwarzen Locken und den hochgesteckten Zopf. "Das würde zu lange dauern, es zu erklären, aber wir holen das nach, ja? Lass uns jetzt frühstücken, bevor mein Kaffee kalt wird." Nemo nahm artig auf dem Hocker Platz, lauschte auf die Radiostimme. "Wo sind diese Menschen, Vati? Sie klingen richtig nah!" Hadrian schenkte Nemo Tee nach. "Ziemlich weit weg von hier in einem Studio in einem Funkhaus. Stimmen können als Schall durch die Luft und über andere Trägermedien transportiert werden. Hm. Gibt es am See große Tiere? Delfine zum Beispiel, ach nein, ich glaube die brauchen offenes Wasser." Ratlos schnaubte Hadrian durch. "Ich habe oben noch eine Kiste mit meinen Kinder-Sachbüchern. Da gucken wir mal rein, einverstanden?" Nemo nickte verständig, zögerte. "Vati, hast du vielleicht auch das Buch vom Kleinen Nemo?" Seufzend gestand Hadrian diese Lücke ein. "Leider nicht. Ich kannte die Geschichte nicht mal. Wir werden einfach bei Gelegenheit mal auf die Jagd nach dem Buch gehen, vielleicht stöbern wir es ja auf!" Er streckte die Hand aus, streichelte eine Wange. "Hab ein bisschen Geduld mit mir, Nemo. Ich bin als Vater noch blutiger Anfänger." Nemo gluckste, tippte ihn auf die Nasenspitze. "So weit lasse ich es nicht kommen, Vati! Ich bin sehr gespannt, was ich alles lernen kann!" Schmunzelnd nippte Hadrian an seinem Kaffee. "Nur nichts überstürzen, Nemo. Apropos, ich muss bald die Apotheke öffnen. Das wird eher langweilig für dich werden, wenn ich arbeite." "Oh, ich werde dich nicht stören, Vati! Ich muss sowieso meiner Großmutter helfen, da darf ich nicht zu spät kommen." Antwortete Nemo ihm, leerte rasch seinen Teebecher. "Du gehst? Durch das Portal? Jetzt?" Entfuhr es Hadrian entgeistert. "Ja, ich stehe im Wort, weißt du? Aber ich komme wieder, keine Angst. Vati, darf ich Phil mitnehmen? Bei uns könnte es ihr gefallen." Nemo schlang ihm kurz die dünnen Arme um den Nacken, drückte ihn. "Ich verspreche, dass ich komme. Pass gut auf meinen Papa auf, bitte. Er ist sehr hilfsbereit und fleißig." Das klang so fürchterlich, wie Hadrian sich prompt fühlte. Als verlöre er einen engen Freund! Eilig hielt er Nemo umschlungen. "Du musst unbedingt wiederkommen, ja? Ohne Sohn kann ich schließlich kein Vater sein!" Selten dämlicher Einwurf! Nemo lachte leise, schmiegte sich in seine Arme. "Hab keine Angst, Vati. Ich weiß mir schon zu helfen. Jetzt muss ich aber los!" Unwillkürlich grummelnd gab Hadrian den Jungen nur widerstrebend frei. Der zwinkerte, huschte über die Veranda, wo im Planschbecken Phil träge in den Tag blinzelte. "Alles einpacken, Phil, ich zeig dir den großen See! Bis später, Vati!" Die Schildkröte transportierend flitzte Nemo durch den Garten, überstieg den Zaun. Natürlich bellte Ludwig nicht. Hadrian vermisste aus einem irrwitzigen Impuls heraus einen Überschallknall oder sonst eine Reaktion, die verriet, dass sein Sohn zwischen Welten wanderte! Er seufzte laut, fühlte sich plötzlich verlassen. Nemo hatte ja recht! Für ihn war es keine große Distanz, und er musste zwei Familien bei Laune halten. »Komisch.« Dachte Hadrian selbstironisch. Er hatte nie verstanden, warum Eltern am Schultor so bedröppelt wirkten, dabei sollten sie doch froh sein, die ungebärdige Brut für eine Weile los zu sein! Zugegeben, bei den meisten hielt er diese Reaktion immer noch für lächerlich, aber bei so einem faszinierenden, umtriebigen, klugen Persönchen wie seinem Sohn sah die Sache GANZ anders aus. Vage fing er im Radio den Beginn der nächsten Runde Nachrichten auf. Für Katzenjammer blieb keine Zeit, er musste hoch, die Beißer schrubben und sein Dornröschen wecken, bevor er den schweren Rollladen vor der Eingangstür hoch kurbelte. @~-~@ »Gut, zwei von Dreien erledigt!« Konstatierte Hadrian, während er das Faxgerät fütterte. Wenn man ihnen hier das Festnetz abstellte, war er aufgeschmissen, genauso wie die Tankstelle und die Hausnotrufe. Von wegen Streamen und schnelles Internet! Kriechgeschwindigkeit über das Mobiltelefon, das bei der Anbindung alles andere als "smart" war. Die frühen Vögel (oder senilen Bettflüchtenden, wie sie sich selbst nannten) waren meist die ersten. Selbst die Urlaubszeit dünnte den Zustrom nicht wesentlich aus, es kamen auch noch Urlaubende dazu. Konkurrenz musste man ziemlich weit suchen. Hadrian hoffte, dass Umea beim Aufwachen den Aufbau auf dem alten Tablett auch ohne Zettel begriff: [Iss mich, trink mich!] Das nutzte allerdings auch nicht viel, wenn man die Schriftzeichen nicht kannte. Er hatte sich schlicht nicht überwinden können, Umea aus dem Tiefschlaf zu reißen. Offenkundig hatte der ganze Ladungen Schlafsand nötig und auch in Beschlag genommen! Während er der täglichen Routine nachging, notierte sich Hadrian auf seinem Block Erinnerungsstützen. - Kleiner Nemo im Schlummerland. - Bücherkiste runterholen. - Planschbecken leeren und zurückgeben (Phil würde es IM See sicher besser gefallen als hier). - Vorräte aufstocken. Er legte den Bleistift beiseite. Ja, für wie lange? Dazu hatten sie sich alle noch nicht eingelassen. War das nur ein Besuch? Oder...? "Ach du Schande." Stellte Hadrian fest, plumpste auf den Stehhocker, glücklicherweise ohne Publikum. Irgendwie würde er seiner Mutter alles erklären müssen! @~-~@ Umea erwachte langsam, als müssten sich in einem abgestuften Prozess erst Sinne und Glieder an ihre Aufgabe erinnern. Verwirrt blickte er an eine Zimmerdecke in einem abgedunkelten Raum, der die Sonne jenseits der Mauern ahnen ließ. Hadrian! Ruckartig schnellte Umea nach oben, verhedderte sich in seinen Haaren, die aus dem Zopf entkommen waren. Richtig, er war mit Nemo in die Menschenwelt! "Nemo? Hadrian?" Wisperte er heiser, bemerkte das offerierte Frühstück neben dem Bett. Oje! War es schon spät?! Aufstehen, aber rasch...! Viel schneller plumpste Umea wieder auf seine vier Buchstaben. Nein, sein Kreislauf goutierte die unziemliche Hektik ganz und gar nicht! Zudem, darüber setzten ihn andere Körperpartien in Kenntnis, waren sie gestern recht ungewohnt beansprucht worden! Umea atmete tief ein und hielt die Luft an. Nach einer Weile fühlte er sich wieder gefasst und in der Lage, seine Situation zu überdenken. Hektik war Unsinn, denn HIER konnte er überhaupt nichts leisten! Außerdem war er nackt, völlig derangiert und hungrig. Ohne den steten Druck in seinem Schädel fand es Umea sehr viel angenehmer, seine Gedanken zu verfolgen. Am Besten wäre es, zunächst mal die Haare einzufangen, provisorisch. Er könnte die Energiereserven auffüllen, sich in der Folge tollkühn in das Badezimmer wagen. Dort könnte Hadrian seine Sachen aufgehängt haben, nicht wahr? Nemo würde sicher bei seinem Vater sein, sich nützlich machen, für ihn einstehen! Umea seufzte leise, ließ die Schultern kläglich hängen. Wirklich, er war ein Totalausfall! @~-~@ Hadrian brauchte kein Fitnesstraining, so viel stand für ihn fest. Wenn gerade kein neuer Schub an altbekannter oder gastierender Kundschaft seine Aufmerksamkeit einforderte, wirbelte er durch den Verkaufsraum: nachlegen, dabei rasch das altersdunkle Holz wienern, Kartons auffalten oder die Kunststoffboxen stapeln, immer wieder das Kassenprogramm überprüfen, PZN-Code ergänzen, das frei-verkäufliche Sortiment geschickt präsentieren, mal wieder den Vertriebsleiter abwimmeln, der ihn überzeugen wollte, doch auch einen Paketshop aufzumachen, rasch ins Lager/Labor, Faxgerät überprüfen, Rezepte abarbeiten, die eingingen und Präparate verlangten. Zu zweit konnte man sich ganz gut arrangieren, aber allein wirbelten seine Kittelschöße wild hinter ihm her! Andererseits konnte er seiner Mutter weder die Teilnahme an einem Fachkongress noch den anschließenden Urlaub verübeln. Sie hatte so lange allein durchgehalten, bis er dazustoßen konnte! Hadrian diskutierte telefonisch mit der Gebietsvertreterin für die Pharmazeutika eines Großhändlers. Offenbar konnte sie sich einfach nicht vorstellen, dass er keine Chance hatte, ihr die Order mal eben übers Internet zu senden! Dass sie ein FAX über einen OPTISCHEN SCANNER laufen lassen müsse, um die Artikelnummern im Bestellsystem zu erfassen! Eine Zumutung sondergleichen. Glücklicherweise hatte Hadrian Langmut mühsam antrainiert, erinnerte sich daran, dass es nicht hilfreich war, hier scharf zu reagieren. In der Großstadt hatte man eben andere Möglichkeiten, vergaß ziemlich schnell, dass der Status quo gestern noch Science Fiction war. Dennoch strengte ihn dieses Telefonat an, weshalb er seinem Nervenkostüm einen Abstecher in die Wohnküche verordnete. Dort wartete die Kanne Tee, die er wie jeden Morgen aufgesetzt hatte. Und Umea, der ihn bange und verstört ansah, auf dem Sofa eingeklappt wie ein Schweizer Taschenmesser! "Guten Morgen, Dornröschen! Hast du gefrühstückt? Stimmt was nicht?" Hadrian ließ den Tee links liegen, ging vor dem Sofa in die Hocke. "Ich kann Nemo nicht finden!" Vertraute Umea ihm entsetzt an, sichtlich mitgenommen. "Kein Wunder, mein Prinz, nach dem Frühstück ist er nämlich mit Phil rüber, um mit deiner Mutter zu jagen oder zu fischen." Etwas verwundert fächerte Hadrian die Bandnudelhaare auf, die wüst und nur zum Teil im Zopfgummi eingefangen waren. "Er ist weg?!" Umeas Stimme klang so erschüttert und zerbrechlich wie Kristallglas. Eigentlich entsprach es nicht seinem Naturell, aber Hadrian erkannte, dass man immer neue Fertigkeiten lernen konnte. Sich zum Beispiel ansatzlos erheben, auf dem Sofa platzieren, seinen verstörten Liebhaber umarmen. "He, Umea, nicht aufregen, ja? Nemo ist bloß für ein Weilchen rüber, um zu helfen. Nachher kommt er ja wieder. Bestimmt hat er Einiges zu erzählen, denkst du nicht? Hoffentlich behalten sie auch die Wasserschildkröte, sonst muss ich das Planschbecken mal wieder aufpusten." Setzte er grimmig hinzu, ein Ohr auf den Verkaufsraum der Apotheke ausgerichtet. Eine ganze Traube recht lauter Glöckchen würde neue Kundschaft ankündigen. Gerade jetzt wollte er nicht unterbrochen werden. Umea verharrte steif in seinen Armen. "Du musst dir keine Sorgen machen. Nemo kann das Portal jederzeit ohne Hilfsmittel in jede Richtung nutzen. Ich habe den Verdacht, dass unser gewitzter Filius schon öfter die Seiten gewechselt hat. Immerhin hast du selbst gesehen, dass er mit Ludwig ganz dicke ist, ihm Fisch mitbringt!" Dieser Hinweis zeitigte immerhin eine leichte Entspannung in Umeas verkrampfter Haltung. Mitleidig streichelte Hadrian das knochige Rückgrat. Umea war noch dünner und zarter als vor zehn Jahren! "Hör mal, Nemo hat mir erzählt, dass du schon lange nicht mehr richtig schläfst. Sein bester Papa der Welt braucht Erholung. Hier, wo dein Kopf richtig frei ist, da kannst du dich stärken. Wäre nicht sehr nett, den kleinen Burschen zu enttäuschen, oder?" Grässliche Taktik! Leicht zu durchschauen, manipulativ, plump! Umea löste sich leicht, betrachtete ihn kleinmütig. "Meinst du wirklich? Nur, ich schäme mich, weil ich ihm so viel Mühe mache und nun dir auch." Hadrian registrierte, dass Umeas Natur keinen Argwohn kannte. Seine unfeine Strategie nicht in Frage stellte, nicht mal identifizierte! Zumindest SEIN Gewissen schnaubte verächtlich über seine skrupellose Art! "Du machst uns keine Mühe, Umea, weder mir noch Nemo, verstanden? Unser Auftrag lautet ja, dass wir uns näher kennenlernen, die letzten Jahre aufholen. Da ich arbeiten muss, ist das nicht so einfach und DU musst MICH nachsichtig behandeln." Noch eine Steilvorlage! Aber die grünen Augen blickten ihn nur kummervoll an. "Entschuldigung. Du hast ganz recht. Ich benehme mich lächerlich. Bloß bin ich noch nie so von ihm getrennt gewesen." Eilig drehte Umea den Kopf weg, doch Hadrian hatte die aufwellenden Tränen schon bemerkt. Es ging nicht bloß um diesen einen Moment, sondern um all die, die noch kommen würden. Weil Nemo zur Hälfte ein Mensch war, nach weiten Horizonten verlangte. Abgesehen von der Unmöglichkeit, das Portal durchqueren zu können. Hadrian wiegte Umea leicht, tröstend. "Ich kann nachfühlen, dass du traurig bist. Jessas, ich hab vorhin nicht besser aus der Wäsche geguckt, als er abgeflitzt ist. Er ist so ein prima Bursche, klug, humorvoll, gewitzt und findig! Wir werden ihn leider mit der Welt, mit beiden Welten teilen müssen." Umea schniefte leicht, fasste sich, entzog sich Hadrians Umarmung. "Weißt du, selbst bei meiner Familie gelte ich als seltsam. Niemand fürchtet sich, dass die eigenen Kinder erwachsen werden. Wir sind ja alle verbunden, nicht wahr?" Er lächelte tapfer. Hadrian nicht. Mit beiden großen Händen strich er über die nassen, eingefallenen Wangen. "Menschen haben diesen Draht gar nicht. Wir können nur hoffen und unser Bestes geben, damit wir geliebt werden und man gern zu uns kommt." In den grünen Augen konnte er Mitleid erkennen. Für die schlecht ausgerüsteten Menschen. "Na ja, ist eben ein Ansporn. Zuneigung und Verbundenheit, das sind Geschenke, nichts, dass man einfordern oder erzwingen kann. Aber da musst du dir keine Sorgen machen: Nemo liebt dich sehr. Deshalb wird er immer wieder zu dir kommen, Umea. Nicht, weil er muss, weil ihn ein Band bindet, sondern aus eigenem Antrieb und Entschluss." Unerwünscht setzte ein hysterisches Kläffen seiner Ansprache ein Ende. "Verd-, verflixt! Umea, ich muss rasch nach vorne. Bin gleich wieder bei dir, ja?" Behutsam schob er Umea von sich, kam in die Höhe, als die Glocken bereits den Salto mortale schlugen. "Nicht mehr traurig sein!" Bat er, beugte sich herunter, küsste Umea sanft auf den Mund, bevor er nach vorne spurtete. @~-~@ Umea erhob sich langsam. Sein Spiegelbild im Glas der Verandatür erschreckte ihn, dennoch trat er hinaus, in die hochsommerliche Mittagshitze. Seine Haare, die im Nacken zusammengefasst in Teilen bis zu den Knien reichten, trudelten träge durch die flirrende Hitze. Zehn Jahre hatten jedoch genügt, ihn an hochgeschlossene Hemden und Hosen zu gewöhnen. Langsam spazierte er durch den Garten, der sich auch verändert hatte, natürlich, nicht nur das Innere des Hauses. Am Gartenzaun blieb er stehen, wandte sich um. All die Dinge, die er hier erlebt hatte... Langsam, als lösten sich verkeilte Teile, nahm sein Verstand wieder Schwung auf. Unvorstellbar, dass er jemals so mutig... Und jetzt, ohne eine Verbindung zu Nemo...!! Umea holte tief Luft, hielt sie entschieden an. Ja, die Verbindung war weg. Zu Nemo. Zu allen. Hatte er deshalb eben so emotional instabil und untypisch reagiert? Großer M, hatte ihn Nemo die ganzen Jahre auch seelisch ausbalanciert?! Vor Scham hätte Umea beinahe Luft geholt, verbat sich dies jedoch. Ja, gut möglich. Wegen des Nebels in seinem Kopf, der ständigen Schmerzen. Dass Nemo ihn abgesichert hatte. Der Einzige, der nachfühlen konnte, wie ANDERS er war! Allerdings nicht gefangen und eingesperrt durch die Verbindung. Wunderbarer, mutiger, kluger Nemo! Umea lächelte, wischte sich die Tränen energisch aus den Augen. Da bemerkte er erst den gewaltigen Hund jenseits des Zauns, der ihn aufmerksam studierte, sich lautlos angenähert hatte. Sehr vorsichtig wandte Umea sich um, streckte dann langsam den Arm über den Zaun aus, ließ seine Hand beschnuppern. Das imposante Tier gestattete, ihn zwischen den Ohren zu kraulen, wie Nemo es ihm vorgeführt hatte. Nach einigen Augenblicken wich der Hund zurück, verzog sich gemächlich in den Schatten. Umea ging langsam Richtung Veranda. Dort stürmte Hadrian heran, besorgt, der Kittel offen wehend, erleichtert, ihn zu finden. Wie hatte er bloß vor zehn Jahren so viel Mut gefasst? Und gebärdete sich jetzt so...beschämend! Umea straffte seine sehnige Gestalt. Genug davon! Nemo hatte ihm hier die Freiheit verschafft, seine Gedanken konnten wieder frei fließen. Dieses Privileg musste er nutzen. @~-~@ Hadrian staunte, wie Umea ohne Schweißausbruch in dieser Hitze laufen konnte. Dazu noch die völlig verwirrte Bandnudelmähne! "Du wirst noch zur Trockenpflaume bei der Glut! Komm wieder rein, ja? Trinken wir ein bisschen Tee!" Lud er rasch ein, kaperte einfach eine elegante Hand. Umea ließ sich von ihm zum Tresen dirigieren, übernahm sogar die Kanne. Zwei Teegläser apportierend marschierte Hadrian in das "Hinterzimmer" der Apotheke, zog die Stapelhocker heran, servierte den Tee. "Tut mir leid, dass ich so wenig gastfreundlich bin, aber jetzt sollte weniger los sein. Hast du eigentlich Hunger? Ich trinke bei der Hitze ja viel mehr und esse erst abends wieder was." Umea schüttelte leicht den Kopf. "Danke schön, aber ich habe ja erst gegessen. Ich will deine Arbeit auch nicht behindern! Leider habe ich mich noch nicht daran gewöhnt, hier so frei zu sein, ohne Verbindung." Hadrian wischte sanft Bandnudelhaare beiseite. "Ist es so arg? Kann ich was tun?" Nun lächelte Umea verschmitzt, etwas aus der Übung. "Ich wäre dir dankbar, wenn du mir helfen könntest. Sie sind recht ungebärdig." Lupfte er eine Handvoll Bandnudelhaare. "Klar! Mach ich doch gern!" Eilfertig sprang Hadrian auf. "Allerdings habe ich nicht mehr Tricks als früher drauf. So schick wie gestern wirst du nicht aussehen." Warnte er fürsorglich, sortierte bereits am Ansatz. Umea lachte leise. "Es wird dich sicher nicht überraschen: Nemo frisiert mich. Er ist viel geschickter und geduldiger, als ich jemals war." Hadrian operierte bereits mit einzelnen Strängen. "Wundert mich, dass er nur einen schmalen Zopf hat. Ist mit den Locken wohl schwierig, hm?" Vor ihm schob Umea die Hände ineinander. "Ich finde seine Haare einfach wunderschön." Eine Feststellung, die Grenzen zog. Vor allem, wenn der eigene Sohn nicht wie die anderen Kinder aussah. "Erklär mir das bitte mal, müssen alle Kinder ihre Haare hochstecken?" Wich Hadrian aus, wirbelte Stränge zu Zöpfen umeinander. "Genau. Alle lassen ihre Haare wachsen. Die Erwachsenen tragen sie zusammengefasst." "Demnach kein Hochstecken bei dir, hm? Schade, es gibt mittlerweile prima Hilfsmittel..." Hadrian schnaubte. Er hörte eine recht schrille Frauenstimme im Dauerbeschallungsmodus. "Oh, wie reizend. Die örtliche Belladonna beehrt uns. Ich wünschte, sie würde das Zeug schlucken!" Diesen sehr unchristlichen Gedanken knurrend schob er Umea zwei unfertige Zöpfe in die Hände. "Bin gleich bei dir, mein Schatz." Er stapfte, sich an den Servicegedanken erinnernd, grimmig nach vorne. Die grauenvolle Sumpfralle war eine Prüfung für jeden friedfertigen Menschen mit intaktem Gehör! @~-~@ Umea verstand von dem ungleichen Diskurs recht wenig, doch die Frau klang ihm unsympathisch, sodass er Hadrians Ablehnung nachvollziehen konnte. Artig mit den Zöpfen in den Händen wartend blickte er sich um. Regale, Glasfronten, bauchige Flaschen, Schubladen, Schütten: diese Welt war so übervoll mit Dingen! Wenn man sie alle brauchte, wie komplex das Leben hier sein musste! Kein Wunder, dass Nemo so klug war! Menschen mussten schlau sein, um sich hier nicht vollends zu verwirren. Was Umea wieder an seine Situation erinnerte, in der eigentlich ihm verbotenen Menschenwelt zu sein, ohne dass bisher die P.U.D.E.L. in Erscheinung getreten waren. Er sollte sehr vorsichtig sein, nichts verraten, vor allem nichts verändern. Umea gluckste. DAS konnte man alles getrost streichen! Er hätte besser Hwenyuu damals genauer befragen sollen, ohne dessen Misstrauen zu wecken. Das erinnerte ihn an seine "Lehrwoche". Entschieden hatte er sich damals nicht, jedoch... "Ich war jeden Tag in der Stadt, habe es für möglich gehalten, dort meinen Lebensunterhalt zu bestreiten." Flüsterte Umea fast ungläubig. Woher kam damals nur seine Unerschrockenheit? JETZT könnte er sich gar nicht... "Falsch." Korrigierte Umea sich halblaut. Er KONNTE. Diese Gedanken hegen, ihre Konsequenzen abwägen, sich ein ganz anderes Leben ausmalen als alle anderen Leute am großen See. Schnaubend kehrte Hadrian zu ihm zurück, nippte an seinem Tee. "Tschuldige, die Schreckschraube sägt an meinem Nervenkostüm! So, lass mich gerade noch die Zöpfe abschließen, dann bündeln wir sie." Geschickt agierte Hadrian hinter ihm. "Vielen Dank, Hadrian." Quittierte Umea artig die Anstrengungen, wandte sich Hadrian zu, der kurz den Hocker touchierte, einen Blick in den aufgeblähten Spiegel an der Decke warf. "Oh, verflixt, Kundschaft! Sekunde, Schatz!" Die Glocken lärmten, Umea fand sich wieder allein, nahm einen Schluck Tee, studierte die gefüllten Regale. Diese Welt hier war ungeheuer komplex. Aber in der Stadt hatte er es für möglich gehalten... Wenn Nemo gern eine Schule besuchen wollte, wäre es an ihm, gemeinsam in der Stadt ein Leben zu führen. Welche der damaligen Möglichkeiten mochten heute noch bestehen? Wie sollte er zu Hadrian kommen, wenn Nemo nicht zur Stelle sein konnte? @~-~@ Hadrian erledigte gewissenhaft, aber mit wachsender Ungeduld die Anliegen der Kundschaft, die sich nacheinander einfand. Als er endlich zu Umea schlüpfen konnte, blickte der konzentriert ins Ungefähre. "Oha. Soll ich dich lieber nicht stören?" Erkundigte sich Hadrian vorsichtig. Dieser Umea wirkte nicht mehr wie das Nervenbündel vom Vortag, erinnerte ihn an den Umea, der ihm gestattet hatte, das volle Programm auszuschöpfen. Dem man Nemo verdankte. Umea seufzte, von dezenter Verärgerung geprägt. "Du störst mich keineswegs. Ich bin mit mir selbst unzufrieden. Eine ganze Woche habe ich damals so viel gesehen und gelernt in der Stadt, aber ich bin noch immer ratlos, womit ich meinen Lebensunterhalt verdienen könnte!" Hadrian setzte sich. "Das willst du, in der Stadt leben? Geht das denn?" Ihm gegenüber nickte Umea zögerlich. "Ich glaube, es müsste auszuhalten sein. Allerdings müsste das Verbot aufgehoben werden. Wenn ich Nemo begleite, könnte ich wohl darum bitten." "Sicher bist du aber nicht, oder?" Grätschte Hadrian ungeniert in den Gedankenfluss. Umea zögerte. "Es wäre eine Veränderung. Das bringt Unruhe und Verwirrung. Niemand geht fort. Die Stadt ist seit zehn Jahren ein verbotener Gedanke. Es fällt mir schwer, eine Entscheidung vorherzusagen." Hadrian brummte. "Du müsstest zwischen Nemo und deiner Familie wählen." Die Hände wringend hielt Umea kurz die Luft an. "Eine echte Zwickmühle. Ich hab auch nicht vor, mich klaglos zu verabschieden!" Deklamierte Hadrian grimmig. "Ich will nicht so wie mein Vater enden, sich nicht um den eigenen Sohn kümmern. Außerdem will ich nicht schon wieder allein auf meiner Seite hocken." Nicht sonderlich subtil, eher kindisch und egoistisch. Aber, verd-, verflixt noch mal, Umea gefiel ihm eben! Kampfloser Verzicht stand nicht zur Debatte. Ihm gegenüber nickte Umea entschieden. "Ganz recht. Es muss eine Lösung geben! Vielleicht kann Nemo uns helfen, er ist sehr schlau. Wenn ich jetzt zurückgehe, versinkt mein Verstand wieder im Brei. Nein. Ohne klaren Kopf kann ich keine Lösung finden." Hadrian überwand die Distanz, fasste Umeas Hände. "Es eilt doch auch nicht, richtig? Wir müssen nichts überstürzen. Gründlich nachdenken, recherchieren, Möglichkeiten eruieren. Bleib mindestens so lange, ja? Bitte?" Umea betrachtete ihn versonnen, mit dem Anflug eines Lächelns. "Wirklich, du hast dich gar nicht verändert, Hadrian. Du bist noch immer so hilfsbereit und großherzig. Ich danke dir sehr." Verlegen zuckte Hadrian mit den Schultern. "Ach was, reiner Eigennutz! Mit Nemo und dir hier ist es einfach toll. Das will ich nicht missen." Lächelnd akzeptierte Umea diese einseitige Interpretation. Unerwartet stöhnte Hadrian auf. "Och nee! Der nächste auf der Matte, dabei wollte ich gerade richtig schmalzig werden!" Umeas verwirrten Blick bemerkend beugte er sich vor, küsste die fragend geöffneten Lippen. "Das heißt, ich wollte dir sagen, dass ich verliebt in dich bin, besser spät als nie. Bloß muss ich schon wieder gerade mal...! Nicht weglaufen!" Damit ihn sein verblüfftes Auflachen nicht verraten konnte, hielt Umea sich den Mund zu. Hadrian war so schelmisch wie Nemo, wenn sie allein waren! Er lächelte befreit, wartete auf die nächste Pause, damit er Hadrians Gunstbezeugung erwidern konnte. @~-~@ Kapitel 12 Die Tauchgläser justiert mischte sich Nemo unter Cousins und Cousinen, tat eifrig mit, auch wenn er nicht herausragend glänzen konnte. Was er von sich selbst auch gar nicht erwartete. Er beobachtete seine Umgebung akribisch. Nein. Tatsächlich. Niemand erkundigte sich nach ihrem Verbleib seit dem gestrigen Nachmittag. Keine Frage, wo sich sein Papa aufhielt. Hm. Offenbar traf seine Vermutung zu. Der Schmerz, der sie als Gruppe zusammenhielt, stand in einem festen Verhältnis zu Distanz und Zeitdauer. Hier, in der Gruppe, spürte niemand eine Veränderung, obwohl sich sein Papa in der Menschenwelt befand! Für ihn legte diese Beobachtung nahe, dass das Entfernen des Individuums von der Gruppe unangenehme Reize auslöste. Die bei ihm nicht so wirkten. Er nahm eine Art Warnung zur Kenntnis, sich nicht zu lange zu weit zu entfernen. Anders als bei seinem Papa ging diese Warnung nicht mit körperlichen Beeinträchtigungen einher, liefen keine Tränen über sein Gesicht. »Sehr nützlich.« Konstatierte Nemo. Argwohn konnte er auch nicht detektieren, alle mussten schließlich für das Auskommen sorgen. In der Konsequenz MUSSTE sich sein Vater in der Nähe tummeln, weil alle das taten. Niemand schien sich vorstellen zu können, dass sie abgängig gewesen waren. Nicht in der verbotenen Stadt, sondern noch um Potenzen schlimmer in der Menschenwelt! Schon merkwürdig, doch mit Kuriositäten kannte Nemo sich trotz seiner Jugend aus, weil ER selbst eine Kuriosität darstellte. Die, die damals kein Portal erkennen konnten, vermuteten, dass Nemo der Begegnung mit einer Frau in der Stadt entstammte, von ihrer Art, jedoch in Bezug auf die Generationenfortsetzung eher ungeeignet, was an sich nicht sonderlich logisch war. Die anderen, die annahmen, dass sein Papa die Wahrheit gesprochen hatte, fanden diese unannehmbar. Mit einem männlichen Menschen Nachwuchs zeugen?! Völlig ausgeschlossen! Demnach musste seinem Papa etwas zugestoßen sein, dass dessen Sinne vollkommen verwirrt hatte, ihn dazu brachte, solche kruden Begebenheiten zu kolportieren! Außerdem, wären da Menschen im Spiel, hätten die P.U.D.E.L. seinen Papa längst aus dem Verkehr ziehen müssen, DAS wussten ja wohl alle! Nemo nicht. Er war schließlich noch nie einem der P.U.D.E.L. begegnet! Im Angesicht des eigenen Innenlebens und der Schilderungen seines Papas zog er seine teilweise menschliche Natur nicht in Zweifel. Weil SIE ihm überhaupt Zweifel ermöglichte! Er hatte sich natürlich Gewissheit verschafft über das Portal, über den Garten mit der uralten Scheune und dem verrosteten Rosenbogen. Über einen Hund, Ludwig. Und, in Sicherheitsabstand, unentdeckt und sehr vorsichtig, seinen Vater. Nemo konnte die äußerlichen Ähnlichkeiten kaum verkennen. Geprägt von den Erzählungen seines Papas hatte er sich oft gefragt, wie die Zeit und die Trennung seinen Vater verändert hatten, ob der zurückkommen würde, ob da noch Gefühle existierten. Ein sehr zufriedenes Grinsen prägte seine spitzbübisch erheiterten Züge. JA, zweifelsohne GAB es noch Gefühle! Jetzt musste ihm nur noch gelingen, seine Eltern fest zu verbinden! @~-~@ Hadrian hatte sich entschlossen, nicht erst in dem Moment, als er die bebilderte Anleitung für die Mikrowelle vom Boden aufklaubte, aus Umeas Händen gesunken, der zusammengerollt auf dem Sofa in der Wohnküche schlief. Sein Herz schlug immer noch wie wild für seine erste Liebe! Nein, nicht erste, sondern bis jetzt einzige, ganz gleich, wie kitschig, unvernünftig und unwahrscheinlich sich das ausnahm. Einfach unmöglich, seiner Mutter Umea und Nemo vorzuenthalten. Überhaupt! Auch wenn er noch nicht wusste, WIE er es anstellen sollte, aber er wollte, dass Umea und Nemo hier bei ihnen lebten. Tagsüber würden sich ihre Wege trennen, durchaus, man würde auch kreativ sein müssen, was die Nachbarschaft betraf, doch ihn verlangte es nach seiner Familie. Seltsam, diesen starken Drang hatte er gar nicht bei sich selbst vermutet. Andererseits betraf es Umea und Nemo, was jeden Zweifel und kleinmütige Skrupel entschieden aus der Planung strich! @~-~@ Hadrian hatte gerade Gläser und Teller verteilt, als Nemo sich ankündigte. "Papa, Vati! Bin wieder da!" Umea kam sofort auf die Beine, schloss Nemo fest in die Arme. "Hattet ihr einen schönen Tag? Ah, ich hab auch was mitgebracht!" "Hoffentlich nicht Phil in verzehrfertigen Päckchen!" Grummelte Hadrian argwöhnisch, raufte durch die schwarzen, noch dezent feuchten Locken. Nemo lachte. "Nein, nein, Vati, die Wasserschildkröte hat sich gleich ein lauschiges Eckchen gesucht! Ich war heute mit Großmutter, der Tante und den Kindern fischen. Alle waren richtig gut gelaunt." Er konnte in den schwarzen Augen ein Blitzen erkennen. "Obwohl Umea nicht da ist?! Kommt mir aber..." "Das hat nichts...!" "Genau, Papa hat recht, Vati. Die Wirkung beschränkt sich wohl auf die, die sich von der Gruppe entfernen. Niemand glaubt, dass wir hier oder vielleicht in der Stadt sind. Ah, hier, bitte!" Damit überreichte Nemo in einer Kalebasse seine Ausbeute. "Danke schön, aber... da sind Fische drin?" Zweifelte sein Vater irritiert. Nemo grinste, während sein Papa ihm immer noch umarmt hielt. "Tatsächlich habe ich nur zwei kleine Fische erwischt. Den einen habe ich Ludwig gegeben, weil er so gut auf uns achtet. Den anderen habe ich eingetauscht. Für drei war es zu wenig und du hast ja noch viele Vorräte." Beifällig nickend schüttelte sein Vater ratlos den ausgehöhlten Flaschenkürbis. "Verstehe, aber was genau ist denn hier drin?" "Material für Linsenmatsch!" Verkündete Nemo aufgekratzt, schüttete eine Art "Wasserlinsen" in einer Schüssel aus. @~-~@ Hadrian pickte zögerlich ein erbsengroßes Ding auf, kaute prüfend. Sehr chlorophyll-ig! Oder eher geschmacksfrei, aber mit Konsistenz und definitivem "Gras-Aroma". Wenn ein Brei aus diesem Kram ihr Abendessen darstellen sollte...! "Wird es erhitzt? Geröstet? Wie bereitet man diese Dinger zu?" Erkundigte er sich ratlos. "Man isst sie roh oder erhitzt als Brei." Wisperte Umea, räusperte sich. "Wenn man beim Fischen oder Sammeln keinen Erfolg hat und kein Mehl für Fladen, isst man sie." Nemo ließ keine Verlegenheit aufkommen. "Ja, hin und wieder gab es die bei uns auch. Da ist ein alter Mann, etwas außerhalb, mit dem habe ich getauscht. Ich dachte, vielleicht könnte man aus ihnen auch Linsenmatsch machen. Deinen finde ich nämlich sehr lecker!" Hadrian lächelte schief, stippte auf Nemos Nasenspitze. "So, so! Vorschlag: wir halten uns an die Vorräte, legen diese Linsen hier ein. Ein bisschen Geschmack wäre nämlich nicht übel." Davon jede Menge, wenn es nach ihm ginge! Möglicherweise konnte man aus den Dingern ja was wie mit Kichererbsen machen, die seit einiger Zeit so in Mode waren? @~-~@ Nach dem Abendessen schenkte Hadrian Tee aus, lud auf die Veranda ein. "Also, morgen ist Samstag, da haben wir nur bis Eins auf und fahren dann schnurstracks zum Großmarkt. Das nennt man Großeinkauf am Wochenende. Traut ihr euch, mich zu begleiten?" Immerhin müssten sie mit dem alten Kangoo fahren, mutmaßlich das erste Mal in einem Auto! Dazu auch noch ein Einkaufszentrum, unzählige Menschen auf einem Haufen. "Oh, prima! Das möchte ich gern sehen, ja, bitte?" Nemo blickte seinen geliebten Papa an, begeistert, jedoch ohne Zögern bereit, zu verzichten, sollte das zur Debatte stehen. Hadrian blickte ebenfalls Umea an, der recht in sich gekehrt gespeist hatte, in Gedanken verloren schien. "Wird man uns nicht erkennen?" "Oh, darum kümmere ich mich schon!" Versicherte Hadrian aufmunternd. SO anders waren seine beiden Lieblings--...Leute vom großen See ja gar nicht! "Also abgemacht! Willst du am Vormittag hier bleiben, Nemo? Ich hole morgens die Bücherkiste runter. Ihr könnt euch zusammen was angucken. Für Sonntag habe ich eine Überraschung geplant." Grinste er breit in die Runde. Nemo strahlte neugierig, Umea wirkte konzentriert. Ganz anders als das Nervenbündel, sondern wie ein recht schlanker, da nicht ausreichend ernährter, sich selbst prüfender Erwachsener. "Na fein! Macht es euch ruhig gemütlich, ihr beiden, ich schaue nur mal eben die Nachrichten." @~-~@ Nemo hatte noch nie ferngesehen, doch davon gehört, weil in der Collectio in der Stadt Geräte vorgehalten wurden, mit denen man Aufzeichnungen wiedergeben konnte, in Bild und Ton. Er warf einen Blick auf seinen Vater, der zerknirscht und hilflos wirkte, spürte die dünnen, sehnigen Arme seines Papas eng um ihn geschlungen. Takt schien Nemo angezeigt, auch wenn er einige Augenblicke die Luft anhielt. "Wie kommt diese Wettervorhersage zustande?" @~-~@ Hadrian fühlte sich elend und grimmig zugleich, während er seinem Sohn etwas von Satellitenfilmen, Statistiken, Wettermodellen, Trends und Prognosen mit Algorithmen erzählte. Der zähe, kleine Bursche nahm Rücksicht! Hadrian erkannte genau seine Bringschuld. Außerdem erinnerte er sich vage an diverse Kampagnen zur Mediennutzung. Niemals die Kinder damit allein lassen! Er schnaubte durch, richtete sich auf. "Ich wünschte, ich könnte euch beiden ein positiveres Bild zeigen, aber Menschen sind so. Quasi bipolar. Jagen sich, bringen sich um, vertreiben sich. Andere forschen unermüdlich nach Lösungen für unzählige Probleme. Hier, in dieser kleinen Ecke der Kugel, gibt es im Moment keine kriegerischen Auseinandersetzungen. Wir leben in Frieden und Wohlstand." Er erhob sich, ging in die Hocke, fasste die kleinen Hände seines Sohnes. "Trotzdem möchte ich, dass du mir etwas versprichst, Nemo. Wenn es sich ändert, wenn es gefährlich wird, nimm Umea mit und verschwinde SOFORT durch das Portal. Nicht umschauen, nicht zögern. Gib mir dein Ehrenwort, mein Sohn." @~-~@ Hadrian hatte Umea und Nemo im Bad den Vortritt gelassen. Nun kuschelten sich die beiden in seinem Bett schon aneinander. Er war nicht sicher, wer hier wen tröstete und aufmunterte. Trotz des alten Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Spiels, das er angeleiert hatte, lag eine gedämpfte Stimmung auf ihrer Gemeinschaft, was nicht verwunderlich war. Hadrian erinnerte sich zu gut an seine Verblüffung über Umeas bescheidene Einlassungen über die andere Seite. Wo es keine gefährlichen Streitigkeiten oder Kämpfe, geschweige denn Kriege gab! Wo die, die sich nicht an das Friedensgebot hielten, von komischen Pudeln eingesammelt wurden, noch bevor Schlimmeres geschah. Was wohl schon sehr lange nicht mehr geschehen war, wie kolportiert wurde. Hadrian vermutete bei der ihm unbekannten Population jenseits des großen Sees eine fest verankerte Überzeugung, sich und den anderen ein gutes Leben zu ermöglichen. Ein Primat von Gemeinsinn und akzeptierender Rücksicht. Klar, fauchte sein Verstand, das KÖNNEN demnach UNMÖGLICH Menschen sein! Verständlich, dass die Portale für Menschen geschlossen blieben! Hadrian kroch zu Umea und Nemo in sein Bett. Trotz Überbelegung und Sommerhitze fühlte es sich nicht unangenehm an, Nähe zu teilen. "Tut mir leid." Entschuldigte Hadrian sich leise. Nemos Hand schob sich in seine. "Schon in Ordnung, Vati. Nur wenn man Bescheid weiß, kann man sich nützliche Gedanken machen." Hadrian seufzte. "Ich fürchte, Nemo, das Problem liegt in unserem Strickmuster. Ist eingebaut, ein Teil von uns. Nach allen Seiten agieren zu können, das ist möglicherweise unser Garant für Evolution. Oder wenigstens für die Ausbreitung und Dominanz unserer Spezies. Überleben, das erfordert die Anpassung an veränderte Situationen. Und keine streunenden Meteoriten auf Kollisionskurs, selbstredend." Mit dieser spöttischen Ergänzung hatte er Nemo schon gelockt. "Was meinst du damit, Vati? Geht es um die riesengroßen Tiere, die verschwunden sind?" Unwillkürlich musste Hadrian lächeln. Alle Kinder liebten Dinosaurier! Er rutschte näher heran und erzählte von Zeitaltern, Umweltbedingungen, fatalen Zusammenstößen, Vulkanausbrüchen und Eiszeiten, bis sehr ruhige Atemzüge ihm verrieten, dass zwei faszinierte Lauscher eingeschlafen waren. @~-~@ Umea betrachtete mit Nemo im Arm aufmerksam die Bücher. Sie konnten die Buchstaben nicht dechiffrieren, aber die zahlreichen Bilder illustrierten verständliche Aussagen. Eine sehr, sehr komplexe Welt! In ihm wuchs der Entschluss, wie er vorgehen wollte. Hier konnten sie nur im Geheimen leben. Diese Menschenwelt bot zu viele Gelegenheiten, sich als Fremder zu verraten, selbst wenn sie sich beizeiten mit dem Gebrauch all der Dinge und der Schrift vertraut machten. Deshalb wurde es unerlässlich, sich in der Stadt ein Auskommen zu verschaffen, damit Nemo die Collectio, die Schule besuchen konnte. Sein findiger, mutiger, kluger Sohn! Er warf einen Blick in den Raum hinter der Apotheke, wo Hadrian gerade eilig etwas Tee schlürfte, zwinkerte, ihm eine Kusshand zuwarf. Unwillkürlich verkrampfte Umea sich. Seine Wahl würde Hadrian verletzen, sehr sogar, denn ohne Nemo gab es zwischen ihnen ein unüberwindbares Portal. Ob es wohl funktionierte, Asklepios ein zweites Rezept abzuschmeicheln? Umea konnte nicht begründen warum, aber er zweifelte stark, dass diese Taktik von Erfolg gekrönt war. Trost suchend schmiegte er sich enger an seinen geliebten Sohn, der so begeistert mit blitzenden Augen die bildhaften Vorgänge für ihn erläuterte. @~-~@ Hadrian staffierte Umea mit eigenen Kleidern aus: T-Shirt und dünne, lange Sporthose, dazu eine Baseballkappe. Außergewöhnlich wirkte Umea noch immer, aber eher wie ein Tourist. Bei Nemo wurde es etwas schwieriger. Seine Kinderbekleidung hatte längst andere Abnehmer gefunden, also knotete er geschickt ein Top, das über den kurzen Hosen und dem ärmellosen Hemdchen die Erscheinung veränderte. Ein Dreiecktuch mit Totenköpfen um den Schopf gebunden: schon wirkte Nemo wie ein kleiner Pirat! Zugegeben, die Faschingsausgabe. Kichernd ließ sein Sohn diese Verwandlung über sich ergehen, kletterte begeistert in den Kangoo. Hadrian übernahm das Justieren der Anschnallgurte. Sie durften bloß keine Aufmerksamkeit erregen! Er war sich nicht sicher, ob Nemo noch in eine Art Kindersitz gehört hätte. Außerdem verfügten seine beiden Lieben über keinerlei Ausweispapiere. Sich hinter das Steuer klemmend erklärte Hadrian kurz. "Okay, ihr beiden! Es wird gleich ein bisschen lauter, wenn ich den Motor starte. Wie im Buch treibt der die Räder an und wir fahren los. Auf der Straße gibt es jede Menge Zeichen und Leuchtsignale, Ampeln und so. Ich fahre vorsichtig, ihr müsst keine Angst haben. Wenn trotzdem was nicht stimmt, sagt mir das bitte. Ich versuche dann, irgendwo an den Straßenrand zu fahren." Nemo grinste ihn breit im inneren Rückspiegel an. "Das wird bestimmt prima, Vati! Ich möchte so gern noch mehr sehen von deiner Welt." Hadrian schmunzelte, drehte den Schlüssel. "Junior, heute Abend wird dir der Kopf schwirren!" @~-~@ Umea bändigte mit einiger Mühe den Einkaufswagen. Es war laut, bunt, übervoll mit Lebewesen, vor allem aber mit Dingen! Sein munterer Sohn hinderte mit einer Hand den Wagen am Ausbrechen, während Hadrian mit handgeschriebener Liste auf Papier die Regale systematisch abschritt. Dies hier hielt keinem Vergleich mit der Stadt stand. Obwohl es auch hier viele Menschen gab, herrschte eine Atmosphäre von bedrückender Wichtigkeit. Hadrian hatte es ihnen erklärt, als sie das Auto zwischen vielen anderen abstellten. Kleine Geschäfte in den Ortschaften gab es kaum noch, zumindest in diesem Landstrich. Man hatte alles an einem Ort konzentriert. Weil der Treibstoff, den man zum Antrieb der Wagen benötigte, teuer war, fuhr man nicht so oft, aber eben mit der Intention, so viel wie möglich zu besorgen. Kaufen, Tausch nur gegen Geld, Vorräte, getrocknet oder gefroren, präpariert, verzehrfertig. Umea fühlte sich jetzt schon schwindelig. Er war dankbar für Nemos Nähe, der den Wagen nicht nur abfing, sondern ihm immer wieder die kleine Hand auf seine legte. Wahrscheinlich fiel es den Menschen gar nicht auf. Wenn man in dieser Welt aufwuchs, kannte man sie eben so. Er fand sich überfordert und bedrängt. Die Hektik, die Drängeleien, die Lautstärke, alles machte ihm zu schaffen. Es fiel schwer, dies zu kompensieren, auch wenn er immer wieder lange die Luft anhielt. Nein, kein Zweifel: HIER konnten sie nicht unbegrenzt bleiben! @~-~@ Nemo öffnete behutsam den kleinen Tiegel. Kalt und der Deckel wölbte sich, wenn man am Zipfel zog, nach oben! Fruchtsorbet, ausgewählt, weil sein Vati nicht sicher war, ob sie die anderen Eis-Varianten vertrugen, wegen der Kuhmilch. Muttermilch von großen Tieren mit mehreren Mägen. Nemo konnte sie sich nicht recht vorstellen, auch wenn er ein gezeichnetes Bild gesehen hatte. Zum Säugen von Nachwuchs. Für Nemo ergab sich daraus, dass er sich näher mit Menschen-Beschaffenheit im Detail befassen musste. Nicht gleich, aber irgendwann. Ein wenig seltsam kam ihm das doch vor. Er leckte mit einem kleinen Holzspatel die farbige Kaltspeise aus dem Töpfchen. Erfrischend und fruchtig! Er grinste fröhlich zu seinem Vater herüber, dessen Aufmerksamkeit seinem Papa galt, der beglückt eine Banane verdrückte. @~-~@ Sie hatten sich wacker geschlagen, befand Hadrian, als er die Einkäufe für verstaut erklärte. Vielleicht hatte er Umea aber auch ein wenig überfordert. Ohne den "Draht" zu seiner Gemeinschaft musste der sich in solchen Massen einsam und verloren vorkommen. Er wandte sich um, adressierte seine beiden Lieblings-Leute vom großen See. "Was meint ihr, wollen wir ein bisschen in der Nähe spazieren gehen? Kaum Menschen, keine Sorge, nur ein bisschen Natur." Da konnte er Umea auch an die Hand nehmen. @~-~@ Kapitel 13 "So, das dürfte alles sein! Jetzt wollen wir mal probieren, ob es klappt." Verkündete Hadrian entschlossen. Picknickkorb gefüllt und vorne montiert, auf dem Gepäckträger die Decke. "Also, ich drehe eine Runde, damit ihr seht, wie es läuft. Danach versucht ihr es mal mit dem Klapprad." Hadrian balancierte sein Rad aus, stellte die Füße auf die Pedalen, zog kurz die Bremse an, trat in die Pedalen, kurvte mal rechts, mal links, schnörkelte demonstrativ, bis er wieder vor der Apotheke anhielt. Tapfer richtete Umea das Klapprad aus, atmete tief ein, stieß sich mit einer Sandale ab und rollte los! Nemo lief ihm aufmerksam hinterher. "Schneller, Papa, sonst kippst du um! Prima, jetzt die Kurve am Lenker vorgeben. Oh, toll, du machst das ganz toll!" Hadrian applaudierte, feuerte ebenfalls an. "Erstklassig, Umea, du hast den Dreh raus!" Ein wenig sorgte ihn schon, ob es gelang, die beiden mit einem (ziemlich alten) Klapprad zu versöhnen, doch ein Kinderfahrrad konnte er nicht organisieren und sein eigenes Rad trug das Gepäck. "Darf ich es auch mal versuchen, ja, bitte?" Umea glitt zögernd vom Sattel. Nemo musste sich zwar in die Pedalen stemmen, doch auch er hatte rasch das Gefühl für den Drahtesel, juchzte vor Begeisterung. Hadrian grinste. "Na schön, ihr beiden. Umea, bleib hinter mir, in Ordnung? Wir fahren über Feldwege, da sollte es kaum Verkehr geben. Wenn es eng wird, zu steil oder Leute mit Hunden unterwegs sind, steigen wir ab und schieben. So, Nemo, darf ich bitten?" Wies er auf dem gepolsterten Gepäckträger den Sozius an. Gelenkig kletterte Nemo hinter ihm auf das Rad. "Dann starten wir! Auf zum Waldseebad." @~-~@ Eigentlich kein tatsächliches "Bad", vielmehr die Teil-Rückeroberung der umgebenden Natur. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts hatte man sehr lange auf mühsame Weise Bergbau betrieben. Danach verwaisten Senken, Kuhlen und Löcher, füllten sich mit Regenwasser, aufsteigendem Grundwasser und einer bescheidenen Quelle. Wind und Vögel verteilten Pflanzen, sodass es zu einem nicht allzu tiefen, aber existenzfähigen See kam. Nicht mit dem Auto erreichbar, in einem Funkloch, deshalb kaum attraktiv. Keine Konkurrenz für Familien- oder Spaßbäder. Ein Verein hatte sich Mitte der Achtziger gegründet. Man organisierte eine Komposttoilette, stellte in Trimm-Dich-Pfad-Manier Schilder auf, Piktogramme inklusive: [Schwimmen auf eigene Gefahr, keine Kinder unter 12 Jahren ohne volljährige Begleitung.] Keine Müllkörbe, stattdessen Ehrenamtliche, die dazu anhielten, alles wieder mitzunehmen, was man mitgebracht hatte. Keine Wasserreinigung, nur regelmäßige Beprobung. Quasi ein Naturbad, das mit allen anderen natürlichen Bewohnenden geteilt werden musste. Es gab keine Duschen oder Umkleiden, keinen Sandstrand, keine Spielgeräte für Kinder. Die Ehrenamtlichen hatten Signalbojen ausgebracht, um vor Untiefen zu warnen. Hadrian war jüngst ebenfalls beigetreten, nicht, weil er so schwimmbegeistert war, sondern weil man hier eben auch einfach im seichten Wasser sitzen konnte, dem Rauschen der Blätter lauschen, die Gedanken fliegen lassen. Man durfte sich kein Schwimmbad erwarten, nein. Auch blieb die Wassertemperatur moderat, verblüffend weich für die Haut. Es gab Pflanzen, glücklicherweise selten Algenteppiche, Wasser- und Landtiere, Insekten, Reptilien. Deshalb nahm sich die Anziehungskraft auch bescheiden aus, plus Fußmarsch bzw. Rad schieben durch einen Wald mit Gebüsch und Trampelpfad ohne Beleuchtung oder Schotter. Auch an diesem Sonntag hatten Einheimische aus der Gegend den Weg gefunden. Gedämpfte Unterhaltung, reduzierte Picknicks. Kein Grillen, natürlich nicht. Das Verbot, offenes Feuer zu entfachen, galt auch hier. Zudem, was man da zu transportieren hätte...! Hier funktionierte die Sozialkontrolle. Hadrian ging voraus, schob das Rad mit dem Ballast, grüßte höflich andere Ehrenamtliche, Nachbar- und Kundschaft, Bekannte. Nicht laut oder überschwänglich, da eine fast andächtige Atmosphäre herrschte. Den Ehrenamtlichen stand es frei, Gäste mitzubringen. Hadrian fürchtete keine Schwierigkeiten. Trotzdem konnten sie keinem Blick entgehen, verständlicherweise. Nemos Ähnlichkeit mit seinem eigenen Äußern musste zu Spekulationen anregen. Umea, der wie am Vortag zum Sonnenschutz die Baseballkappe trug, wirkte noch exotischer wegen des sehr langen Zopfs, der weiten Kleidung (Hose und Hemd). War das eine schlanke, junge Frau? Oder doch ein junger Mann? Hadrian suchte ein Plätzchen, wo die beiden Räder abgestellt und die Picknickdecke ausgelegt werden konnte. "Nun, wie wär's? Wollt ihr beiden nicht mal das Wasser testen?" Forderte er Umea und Nemo lächelnd auf. Nemo strahlte ihn an, zupfte das Kopftuch herunter, streifte das Knoten-Top des Vortags ab. Kurze Hosen, das Hemdchen: man konnte ihn für einen Menschenjungen halten. "Pscht!" Winkte Hadrian ihn vertraulich heran. "Denk dran, Junior, Menschen können nicht lange die Luft anhalten. Falls du im See was Essbares findest, lass es da bleiben, in Ordnung? Das käme den anderen hier nämlich seltsam vor." Sein Sohn zwinkerte, nickte brav, blickte hoch zu seinem Papa, der unschlüssig die anderen Menschen betrachtete. "He." Hadrian entführte die Baseballkappe. "Lass die langen Hosen hier. Ich hab ein Top für dich dabei, da kannst du auch dein Hemd ausziehen." Eine Kleiderordnung gab es nicht. Die Wassertemperaturen verlangten auch kein völliges Entblättern. Er fing Umeas nervösen Blick aus den grünen Augen auf. "Trau dich." Ja, die großen Flecken auf Umeas Leib würden auch hier Aufmerksamkeit anziehen, doch niemand wollte sich direkt übergroßer Neugierde zeihen lassen. Zudem, wenn es eine erbliche Krankheit war, strafte das schließlich schon genug. Hadrian baute auf diesen unausgesprochenen Konsens. Scheu den anderen den Rücken zuwendend wechselte Umea tatsächlich seine Oberbekleidung, ergriff Nemos ausgestreckte Hand. Gemeinsam eroberten sie langsam, sich akklimatisierend, das feuchte Nass. Es erstaunte Hadrian nicht, dass Nemo zuerst abtauchte, geschmeidig die Wasseroberfläche teilte, auf Erkundungstour, Umea hinter sich, der niemals seinen geliebten Sohn allein lassen würde. Hadrian hoffte, dass dieser Ausflug in freies Wasser Umea entspannte, ihm dabei half, den Ballast der letzten zehn Jahre abzuwerfen. @~-~@ Besorgt verfolgte Umea, wie sich der andere Junge Nemo näherte, kein herausragender Schwimmer, ein bisschen gewichtig. Das einzige andere Kind in Nemos Altersspanne, vermutlich deshalb einsam, gelangweilt von den Erwachsenen und interessiert. Sein unerschrockener Sohn wandte sich kurz zu ihm herum, zwinkerte, fürchtete keine Gefahr, keine Entdeckung. Umea zögerte. Sollte er nicht doch intervenieren? Was, wenn dieser Menschenjunge Nemo nicht freundlich gesinnt war? Nemo stand bereits auf sandigem Grund, grüßte aufgeschlossen. Der Menschenjunge antwortete, präsentierte eine seltsame Hülle. Nicht wenige Augenblicke später füllte er diese mit aufgeblähten Backen zu einem bunten Ball. Eilig wandte sich Umea nach Hadrian um, der ihr kleines Lager bewachte. Drohte Gefahr? Hadrian hob die Hand, winkte lässig. Widerstrebend verließ Umea langsam das Wasser, wrang beiläufig seinen Zopf aus. Hier war wirklich alles anders! Selbst im Wasser hatte er Stille gespürt, abgesehen natürlich von Nemo. Was ihm bewies, dass seine Sinne nicht betäubt waren, nur dass offenbar die Population dieses Sees nicht nicht mit ihm kommunizierten. "Schon genug?" Hadrian lächelte zu ihm hoch, freundlich, gutmütig, aufmerksam. Umea ließ sich langsam nieder, schlang sich rasch ein dünnes Tuch um die Schultern. Auch hier, das hatte er registriert, gab es niemanden mit so großen, unförmigen Flecken auf der Haut. Ihm waren die Blicke unangenehm. "Nemo scheint Spaß zu haben, hm? Keine Angst, der andere Junge ist wohl ein Enkel auf Besuch, wenn ich das richtig sehe. Ein bisschen Wasserball, da toben sie sich aus und sind nachher glücklich, aber schlagskaputt." Die Beine vor den Leib ziehend zwang Umea sich zu einem Nicken. "Ich verstehe. Aus welchem Gewebe ist dieser Ball, wenn sogar Luft eingefangen wird?" @~-~@ Hadrian hasardierte sich durch eine vage Beschreibung von Kunststoff-Gummi-Gemischen. Er konnte durchaus chemische Kenntnisse vorweisen, doch die Geschäftsgeheimnisse der Petrochemischen Industrie blieben auch ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Spontan schlang er einen Arm um Umeas Schultern, der sich versteckte, selbst hier. Wegen der Flecken. Natürlich war es ein wenig unvorsichtig, die Leute würden reden. Wer das wohl sein konnte, dieses Mädchen oder doch eher ein Junge?! Immerhin galt der Sohn der Apothekerin ja als "warmer Bruder". "Hab keine Angst, Umea. Ich weiß, die gucken. Das würden sie sowieso, weil ich hier noch nie mit Begleitung war. Weil sie nicht sicher sind, wer du bist. Weil es hier keine Jungs mit so prächtigen Haaren in einem so langen Zopf gibt." Er drückte einen Kuss auf eine schon wieder trockene Wange. "Weißt du was? Wenn sie ohnehin gucken, was nicht zu ändern ist, lassen wir uns nicht einschränken." Weshalb er das Tuch geschwind abzupfte, sich erhob, Umea die Hand hinstreckte. "Komm mit mir, ja?" @~-~@ Nemo schmunzelte, als er verfolgte, wie seine Eltern ins Wasser stiegen, Hand in Hand, sein Vati voran, das Kinn gereckt. Ob es das erste Mal war, dass er hier so freimütig auftrat? Leon Yannick, der endlich den abdriftenden Wasserball erpaddelt hatte, warf ihn ihm zu. Nemo hatte rasch erkannt, dass der Menschenjunge nur leidlich schwimmen konnte, deshalb achtete er darauf, ihn nicht zu überfordern. Das Planschen mit dem Ball machte aber auch Spaß! So einen hatte Nemo bisher noch nicht zum Spielen gehabt. Allerdings ließ er sich diese Neugierde nicht allzu sehr anmerken. Vermutlich wussten hier alle Kinder über diese Dinge Bescheid, was ihn Argwohn ausgesetzt hätte. Geschickt katapultierte er den Wasserball hoch, zu Leon Yannick hin. Der schnaufte schon, wirkte jedoch erfreut, Gesellschaft zu haben. Nemo lächelte, als sein Vati ins Wasser hieb, seinen Papa ungeniert nass spritzte! @~-~@ Hadrian wusste, dass er sich wie ein ungezogener Bengel aufführte. Nass spritzen, unter Wasser antauchen und umwerfen, ganz unfein! Die Taktik diente dazu, Umea aus der Reserve zu locken, dessen Konter zu provozieren. Selbst wenn er dazu erneut antauchen, sich aufrichten und Umea hoch stemmen musste! @~-~@ Umea landete mit Spritzwasserfontäne wieder im Wasser, glitt geschmeidig außer Reichweite. Was dachte Hadrian sich dabei?! Als Kind übte man Haschmich für die koordinierte Jagd, aber... Umea wich einer neuen Attacke mühelos aus, vergaß sogar, dass er zur Tarnung auftauchen sollte, nicht zu lange keine Luft schöpfen. War Hadrian etwa auf Streit aus? So, wie Menschen...! Es verwirrte ihn, denn Hadrian hatte doch noch nie...! Frustration wallte in Umea auf, ein sehr, sehr lange vergessenes Gefühl. Diese Welt bestand aus zu vielen unverständlichen Regeln und Gebräuchen und...!! @~-~@ Hadrian kehrte um. Seine Ausdauer würde nicht reichen, Umea zu folgen, das gestand er ein. Er ärgerte sich über sich selbst. Sein Versuch, ihn spielerisch herauszufordern, war gründlich schiefgegangen! War das vielleicht nicht üblich bei den Leuten am großen See? Glaubte Umea möglicherweise, dass er ihm etwas Arges wollte?! "Depp!" Titulierte Hadrian sich seufzend. Gut gemeint und sehr schlecht gemacht! Jetzt musste er abwarten, dass Umea ihm seine Eselei nachsah und zurückschwamm. @~-~@ Während Leon Yannick einen Abstecher zum Kompost-Klo unternahm, leistete Nemo seinem Vati Gesellschaft, der eindeutig zerknirscht wirkte. "Deshalb dachte ich, es würde ihn ein bisschen reizen. Mir Saures zu geben, ich meine, mir zu zeigen, was er so drauf hat." Nemo tätschelte tröstend die schwarzen, wilden Locken seines Vatis. "Ich verstehe, was du dir gedacht hast, Vati. Nur die andere Hälfte, die ist verwirrt und abgeschreckt. Wir stellen uns nicht gegeneinander. Wenn man Differenzen hat, hält man Abstand." Erklärte er nachsichtig. "Papa ist wahrscheinlich ein bisschen durcheinander. Aber er wird sich denken, dass es eine menschliche Sitte ist." Neben ihm seufzte sein Vati bedrückt. "Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, verletzen. Nemo, was machen die Leute am großen See, wenn sie jemanden sehr mögen? Ich meine, im Wasser, für schlechte Menschen-Schwimmer wie mich geeignet?" Ein Glucksen entwischen lassend betrachtete Nemo seinen Vati amüsiert. "So schlecht machst du es gar nicht, Vati. Ich glaube, es ist einfach nicht dein erstes Element. Also, wenn man sich bei uns mag: wir tauchen viel, weißt du? Da begleitet man sich, berührt sich, besucht schöne oder interessante Stellen. Wegen der Verbindung spürt man sich." Nemo erkannte einen Ausdruck erbärmlicher Hilflosigkeit, wenn er ihn sah. "Wir reden nicht so viel. Na, ich kann's schon, stimmt, aber sonst ist es eher ruhig. Papa kann dich nicht einfach so spüren, deshalb wäre es gut, wenn du ihm nahe kommst. Mit den Augen zu ihm sprichst, verstehst du? Keine Fragen, keine Forderungen, nur Sein. Zusammen sein." Er zog die Nase kraus. "Das ist ein bisschen schwer in Worte zu fassen, Vati. Du merkst es, wenn dieser Zustand erreicht ist. Auch ohne Draht." Unversehens fand er sich in einer Umarmung. "Du bist der beste Sohn der Welt, Nemo, und ich hab dich unendlich lieb!" @~-~@ Umea zögerte, sich Hadrian zu nähern, der im seichten Wasser saß, zu ihm sah, unverwandt, keine Frage stellte, kein Wort verlauten ließ. Langsam streifte er sich das Wasser ab, ging vor Hadrian in die Hocke. Unkenntnis und Missverständnisse hatten ihm das größte Geschenk seines Lebens, nämlich Nemo, eingebracht. Trotzdem schien es ihm angezeigt, zu verstehen, warum Hadrian ihn attackiert hatte. Der hob die Hand, kämmte entwischte Strähnen aus dem Zopf hinter sein Ohr. "Entschuldige bitte. Ich hab dich gekränkt und vertrieben. Menschen-Verhalten, ziemlich schlechtes sogar. Eigentlich wollte ich etwas ganz anderes erreichen." Umea lächelte zögerlich. Klar, Hadrian war nicht von der Sorte, die...! "Glaubst du, dass du mit mir schwimmen kannst, ohne dass ich absaufe? Dass wir ein bisschen länger zusammen sind?" @~-~@ Mühelose Eleganz, geschmeidige Bewegungen, so stellte Hadrian sich eine Nixe...Nixerich...vor. Ohne schuppigen Fischschwanz. Umea umkreiste ihn, tauchte unter ihm weg, streifte ihn, ganz leicht, ganz sanft, der Hauch einer Berührung, gab die Richtung vor. Nicht mal der gewaltige Zopf schien ihm hinderlich, sondern sogar Steuerungswerkzeug! Wie eine zusätzliche Flosse. Hadrian schnaufte ausgepumpt, als Umea ihm auf eine kleine, felsige Insel half. Er hielt neben ihm still Wache. Einen Unterarm über die Augen gelegt, die Sonne abzuschirmen, erklärte Hadrian sich schließlich. Er MUSSTE sprechen, um sich verständlich zu machen. "Es gibt da so eine Art Ritual, wenn man jemanden mag. Da triezt man ihn ein wenig, eine spielerische Herausforderung, damit die andere Person reagiert, darauf eingeht, je engagierter, umso stärker die Gefühle. Zumindest ist das der Plan. Ich wollte so mit dir flirten, dich umwerben, habe damit aber genau das Gegenteil erreicht. Musste vor unserem Sohn meine Dummheit offenbaren. Ich bin froh, dass du mir trotzdem eine Chance gibst." Hadrian spürte eine beunruhigte Bewegung neben sich, wartete aber ab. Bis jetzt war es ihm ja nicht gelungen, den intimen Dialog zu erreichen, den Austausch ohne Worte, ganz friedlich, verbunden miteinander ohne "Draht". "Nach Plan hättest du mich ordentlich eingeseift, mir gezeigt, was für eine lahme Ente ich bin. Ich hätte zerknirscht meine Niederlage eingestanden, mich von dir großmütig trösten lassen. Ich hätte dir gesagt, wie stolz ich auf dich bin, dass du mit mir hierher gekommen bist, dich nicht unter Stoff versteckst. Wie dankbar ich dir bin, dass es Nemo gibt. Und dass ich dich liebe. Umea, ich liebe dich." Jetzt versteckte Hadrian sich nicht bloß vor der Sonne unter seinem Arm, sondern auch den zweifelsohne hochroten Kopf. Er hatte nun wirklich keine Übung mit Offenbarungen! @~-~@ Umea konnte, so nass, wie er noch war, nicht antworten, zumindest nicht mit Worten. Deshalb streckte er sich einfach neben Hadrian aus, suchte Hautkontakt. Es erleichterte ihn sehr, dass er sich nicht in Hadrian getäuscht hatte, auch wenn die Natur der Menschen ihn gelegentlich befremdete. Gleichzeitig verspürte er auch Kummer, weil sie nicht bleiben konnten. Weil diese unbeschwerten Augenblicke Ausnahmen waren. Weil er noch keine Lösung hatte. Und weil Hadrian die Person war, mit der er zu gerne sein Leben geteilt hätte. @~-~@ Leon Yannick hatte sich verabschiedet, erschöpft, aber freundlich. Die Großeltern wollten los, Kaffee und Kuchen gab es daheim. Nemo ließ sich auf der Picknickdecke nieder, angelte ein grünes Gewächs aus einer der durchsichtigen Schachteln. Sauer, aber lecker, Essiggürkchen, sagte Vati dazu. Er beobachtete, wie sich seine Eltern gemächlich näherten, sein Papa plötzlich von den Beinen geholt wurde, um auf den Armen getragen zu werden! Nemo freute sich, wie stolz und munter sein Vati blickte, seinen Papa so zu halten. Sie schienen vertraut, versöhnt. Prima! @~-~@ Hadrian ließ Nemo vom Gepäckträger klettern, damit der dem wachsamen Ludwig im Schattenwurf des Nachbarhauses vom Abenteuer des Tages berichten konnte. Umea schob neben ihm das Klapprad an der Apotheke vorbei in die Garage. "Hilfst du mir beim Wegräumen?" Es schien Hadrian positiv, dass Umea nicht viel sprach, aber entspannter wirkte. Er hatte ihm sogar ein Lachen entlocken können, der schelmischen Ausführung ihres Sohnes zu verdanken, der gern auch mal auf den Schultern seines Vatis sitzen wollte. Um einer Ablehnung zuvorzukommen, hatte er argumentiert, dass er auch an Land nicht mehr als sein Papa wiegen könne, weshalb aus technischen Gründen nichts einer solchen Gunst entgegenstand. Hadrian war zwar nicht geübt, aber er hatte Nemo gelenkig auf seinen Buckel klettern lassen, den Stolz des Jungen gespürt. Offenkundig hatte der am Vortag im Einkaufszentrum bei anderen Familien diese Geste entdeckt, über den anderen bewegt zu werden, etwas Besonderes zu sein. Mit einer Hand das Rad schiebend hatte Hadrian mit der anderen Umeas Hand gehalten. Wie eine Familie. Wie etwas, das er nicht zu erreichen angenommen hatte, nicht mal vermutet hätte, es zu vermissen. Er setzte Tee auf, Zitronenmelisse, beobachtete von der Wohnküche aus Umea, den Zopf kunstvoll von Nemo gerichtet, eine schlanke Silhouette im Gegenlicht. Hadrian barg Teebecher, apportierte sie auf die Veranda. Sollte er lieber abwarten? Während in der Kanne die frischen Blätter träge trieben, ließ er sich nieder. "Umea, was beschäftigt dich so? Ist es die Rückkehr meiner Mutter morgen?" @~-~@ Umea wandte sich um. Die schwarzen Augen blickten aufmerksam, konzentriert, breite Schultern, eine kraftvolle, verlässliche Verpackung für einen nachsichtigen, liebevollen Geist. Langsam reduzierte Umea die Distanz, ließ sich im freien Klappstuhl auf dem aufgeklopften Polster nieder. "Ich denke auch daran, deine Mutter kennenzulernen." Gab er zu. "Bitte mach dir keine zu großen Sorgen, ja? Sie wird wahrscheinlich erst mal skeptisch sein, wegen der eher ungewöhnlichen Umstände. Aber sie ist nicht engstirnig oder abweisend!" Umea betrachtete das besorgte Gesicht. "Ich fürchte, dass ich ihr Wohlwollen nicht verdiene." Nicht nur, weil er aus vielerlei Gründen keine gute Partie war, sondern weil er ihren Sohn unglücklich machen würde. Erneut. @~-~@ Hadrian schüttelte energisch den Kopf. "Ganz sicher verdienst du es! Sie wird deine Qualitäten sofort erkennen, sie ist nämlich schlauer als ich. Außerdem haben wir ja auch Nemo! Ich bin sicher, die beiden verstehen sich auf den ersten Blick!" Daran hegte er nicht den mindesten Zweifel. Nemos schelmischer Charme, seine blitzgescheiten Reaktionen, seine Charakterstärke: die beiden würden sich prima verstehen! Umea lächelte ihm leicht zu. "Alle mögen Nemo." Hadrian nickte entschieden, schenkte Tee aus. Er wollte nicht, dass Umea nervös und beklommen in sein Schneckenhaus zurückkroch, sich selbst als ungenügend abqualifizierte. Bevor er jedoch erwägen konnte, wie er Umea überzeugte, kehrte Nemo fröhlich zu ihnen zurück. "Sag, Vati, kannst du mir ein bisschen was vorlesen aus dem Buch mit den Dinosauriern?" @~-~@ Hadrian winkte noch mal aus dem heruntergekurbelten Fenster, bevor er den Wagen anrollen ließ, wirkte durchaus angespannt. Nemo verließ den Posten, hüpfte elastisch zu seinem Papa auf die Veranda. "Sag, Papa, möchtest du vielleicht ein kurzes Weilchen hinüber? Wir wären mühelos pünktlich zurück." Aufmerksam blickte er in das geliebte, vertraute Gesicht, spürte Nervosität, Anspannung, Unruhe. "Ich glaube nicht, dass ich schon so weit bin." Gestand sein Papa endlich leise ein, lächelte beschämt. "Ich fürchte, mein Kopf würde wieder benebelt sein." Nemo zog die Stirn kraus. "Das verstehe ich, Papa. Das müsste sich irgendwie aushebeln lassen. Zu schade, dass wir kein zweites Rezept haben." Behutsam streichelte sein Papa ihm die Locken. "Ja, wirklich sehr schade. Ich bin allerdings auch nicht sicher... Vielleicht funktioniert es kein zweites Mal." Tröstend schlang Nemo die dünnen Arme um seinen Papa. "Uns wird schon was einfallen! Wir müssen nur den richtigen Ansatz finden." Davon war Nemo überzeugt. Unterschiedliche Blickwinkel verhalfen immer wieder zu neuen Einsichten. "Was meinst du, Papa? Wollen wir uns noch ein paar Bücher anschauen? Wir setzen Tee auf, damit Hadrian und seine Mutter sich erfrischen können." @~-~@ Umea nickte langsam, als Nemo verkündete, diese Buchstaben lernen zu wollen. Sein Vati hatte ihm mit der Schreib- und Rechenmaschine auf einer Bildfläche Schriftzeichen gezeigt, die der kleine, leise summende Blechkasten alle vorrätig hielt! Es stimme wohl wirklich, dass man nicht in einem Leben alle lernen könne! Er wolle sich auf die Variante konzentrieren, die hier genutzt wurde, um zu verstehen, was die Bilder ihm zeigten! Umea erinnerte sich daran, Hadrian nichts verraten zu haben, über ihre Sprachen, ihre Schrift. Dass er nicht lesen konnte, was Hadrian damals so eifrig durchstöbert hatte, für seine Zukunft, um ihn damals aufzumuntern, zuversichtlich zu stimmen. Umea spürte, wie sich ihm der Hals zuschnürte. Hadrian hatte an ihn geglaubt, ihm Mut gemacht. Wie vergalt er ihm seine Unterstützung? Ja, durchaus, Umea fühlte sich nervös ob der Begegnung mit Hadrians Mutter. Mütter waren in seiner eher matriarchalisch geprägten Gesellschaft sehr einflussreich. Ihn quälte sein geplanter Verrat, sich abzukehren, irgendwie in der Stadt eine Existenz aufzubauen, Hadrians Zuneigung und Gastfreundschaft auszunutzen, sich zu erholen, um ihn hier zurückzulassen. Zutiefst verwerflich, doch es galt eine Wahl zu treffen. Nemo gehörte in eine Schule, in eine große, aber sichere Welt, wo alle anders waren, wo seine Wissbegierde noch mehr Nahrung fand. Deshalb musste es ihm selbst gelingen, ein Auskommen zu finden, den nagenden, dumpfen Schmerz auszuhalten. Man konnte schließlich nicht alles haben. Mit Nemo erfüllte sich das positive Geschick seines Lebens bereits so sehr, dass er keine weiteren Ansprüche mehr stellen konnte. @~-~@ Hadrian stellte den Kangoo ab, stakste recht steifbeinig zum Bahnsteig. Der Regionalzug hatte, selbstverständlich, Verspätung. Liegengebliebener Güterzug, Vorfahrt ICE, lädierte Gleise ob der sommerlichen Hitze, irgendwas war immer. Man wollte ja schließlich bei einer Reise was zu erzählen haben, und sei es der Verbraucherschutzbehörde. Angespannt wartete er auf die Einfahrt. Wie gewohnt näherte sich seine Mutter zügigen Schritts, mit den Jahren ein klein wenig fülliger, rundlicher, aber stets energisch und aufrecht. "Hallo, Sohn. Ist das Haus abgebrannt, oder warum siehst du so sauertöpfisch drein?" Hadrian räusperte sich, kaperte den Rollkoffer. "Tja, zumindest als ich losfuhr, waren noch keine rauchenden Ruinen zu befürchten." Knurrte er grollend. "Das könnte sich geändert haben, weil...?" Hadrian schnaubte. Wirklich, mit seiner Mutter konnte man UNMÖGLICH nervenschonendes Geplauder initiieren! "Es HAT sich nicht geändert! Sie stecken uns nicht die Bude an!" Er blieb stehen, registrierte ein verräterisches Mundwinkelzucken. Alle Achtung, kein Triumphgeheul des mütterlichen Bluthundinstinkts! "So, und wer sind 'sie', hm?" Raffinierter Zucker, mindestens! Hadrian seufzte. "Mama, es ist besser, wenn du dazu im Auto sitzt." @~-~@ Eva Maria schätzte sich als pragmatisch-rational ein. In ihrem Leben hatte es durchaus hin und wieder Shakespearsche "Dinge" zwischen Himmel und Erde gegeben. Häufig Unfug, Ignoranz, esoterischer Mumpitz und Quatsch, wenn man hartnäckig nach den Details fragte und die physikalischen Grundgesetze respektierte. Zugegeben, mit einem fast zehnjährigen Enkel hatte sie nicht gerechnet, obwohl sie sich an das seltsame Verhalten ihres Sohnes während der letzten Oberstufenphase erinnerte. Ja, wenn man schwul war, schien "Freundin" eher nicht einschlägig zu werden. Auch zutreffend: die Medizin machte Fortschritte, Geschlechter waren nicht mehr zementiert, es GAB Fälle, wo Männer Kinder zur Welt brachten, sehr selten und vorher mit einer anderen biologischen Ausstattung. Möglicherweise missverstand sie auch die Erklärungen ihres Sohnes. Vielleicht ging es auch gar nicht um die veritable Garnitur, sondern innere, seelische Zustände? Eva Maria fand diese "neue" Diversität hin und wieder etwas verwirrend. Andererseits kümmerte sie es nicht, wenn sie nicht persönlich intim involviert war. Das waren für sie hauptsächlich technische Gegebenheiten und eine Frage der verbalen Adressierung. Herr, Frau, das war sie gewöhnt, bei noch mehr Alternativen hätte sie direkte Fingerzeige bevorzugt. Man wollte schließlich höflich und respektvoll agieren, um selbst entsprechend behandelt zu werden! Eine erneute Ampelphase in Rot brachte ihr wieder einen nervösen Seitenblick ein. Liebe Güte, ob Hadrian meinte, sie würde aus dem Hemd springen?! Höchstens, wenn wirklich die Hütte abgebrannt war! @~-~@ Kapitel 14 Nemo hatte das Auto gehört, das Schlagen der schweren Vordertüren. Geschmeidig löste er sich vom Sofa in der Wohnküche, blickte erwartungsvoll auf den Durchgang. Der Tee stand bereit, die Gläser glänzten. Nicht zum ersten Mal würde er seine Großmutter sehen, umgekehrt jedoch schon. Er wandte sich halb herum, kaperte die kalte, leicht zitternde Hand seines Papas, zwinkerte aufmunternd. @~-~@ "Sohn, hast du abgeschlossen?" "Aber ja, Mama. Ich sperr gleich auf und dreh das Schild..." "Oh nein! Der Zug hatte Verspätung." Bestimmte Eva Maria. Sie wollte dieser seltsamen Angelegenheit auf den Grund gehen, in allen Details, mit Kleingedrucktem, nötigenfalls Lupe und Massenspektrometer. Die vor sommerlicher Hitze abgeschirmte, deshalb verdunkelte Wohnküche ließ sie kurz blinzeln. "Guten Tag, Großmutter! Hattest du eine angenehme Rückreise? Darf ich dir meinen Papa Umea vorstellen? Ich bin Nemo und ich freue mich sehr, dich endlich kennenzulernen." Eva Maria spürte, wie ihr das Kinn herabsackte. "Jessas!" @~-~@ "Ich kann auch Eva Maria sagen, wenn du das vorziehst." Bot Nemo an, der eine Charmeoffensive für sehr geeignet hielt, skeptische Erwachsene für sich einzunehmen. Nicht übertreiben, nicht servil oder ölig agieren, aber zuvorkommend, höflich und um Sympathie werbend! Bisher schien sich diese Taktik stets für ihn auszuzahlen. "Vielleicht möchtest du eine Tasse Tee zur Erfrischung?" "Danke. Nemo, richtig?" Lächelnd nickte Nemo, schenkte Tee ein, strahlte offenherzig in die grauen Augen. "Und Umea." Wiederholte seine Großmutter, studierte sie ungeniert. Nemo entschied, Unfreundlichkeiten aus der Vergangenheit zuvorzukommen. "Wir konnten uns leider nicht früher bekannt machen, weißt du? Das Portal kann man eigentlich nur mit Erlaubnis durchqueren, und umgekehrt ist es für Menschen nicht zugänglich." Seine Großmutter nippte an ihrem Tee. "Diese unsichtbare Tür in der Scheunenwand?" Nemo grinste. Sie zweifelte, natürlich. "Möchtest du es sehen? Ludwig wird uns bestimmt nicht verraten. Ich war heute Morgen nämlich ganz schnell mit meiner Cousine fischen und hab ihm etwas mitgebracht." @~-~@ Eva Maria starrte auf die alte Scheunenwand. Der gewaltige Bernhardiner wachte auf den Hinterläufen sitzend neben ihr. So plötzlich, wie er verschwunden war, materialisierte sich der Junge, ihr Enkel wieder, spitzbübisch lächelnd, in der Hand ein frisch gepflücktes, sehr kurios geformtes Blatt. "Sakrament." Stellte Eva Maria fest. Ludwig kollerte neben ihr kurz. Sie streckte die freie Hand aus, fasste Nemos. "Fein. Ich verstehe es zwar nicht, aber JETZT will ich der Sache auf den Grund gehen. Komm wieder rein, Nemo, ich denke besser, wenn ich nicht geröstet werde." "Ich auch, Großmutter. Da haben wir schon was gemeinsam." Frechdachs! Aber pfiffig. "Oma ist in Ordnung, Nemo. Was wir brauchen, ist anständiger Tee mit Wumms!" @~-~@ Nemo kannte keine Ostfriesen, war jedoch willens und gern bereit, ihre Bekanntschaft zu machen. Ihre Art der Teezeremonie schmeckte ihm gut! Unterdessen mussten seine Eltern, hauptsächlich sein Vati, rapportieren. Angefangen beim Absturz aus dem alten Nussbaum. Dabei hielten sie sich an der Hand, verlegen, sich ohne jede Anklage verteidigend, die Lage erklärend, oder vielmehr die unzähligen Wissenslücken, die dazu geführt hatten, dass Nemo neben seiner Großmutter präsidierte, verschmitzt an seiner Teetasse nippte, sich die gesüßten Lippen leckte. Schließlich beugte sich seine Oma vor, kaperte Papas Zopf, dessen freie Hand am Arm zwecks Inspektion. "Sieh es mir nach, Umea, Berufskrankheit." "....ich glaube nicht, dass man da..." "Höchstens Abdeckcreme." Stellte seine Oma knapp fest, schüttelte den Kopf. "Wahrscheinlich solltest du Sonnenbäder vermeiden, aber das sollten wir alle. Ansonsten kann ich nichts Auffälliges, Besorgniserregendes entdecken. Es schmerzt doch nicht, oder?" Sein Papa antwortete sehr höflich. "Ich habe keine Schmerzen. Das Jucken ist nicht zurückgekehrt." "Dann ist es gut. Du bist außergewöhnlich, will mir scheinen. Es wäre lächerlich, GEWÖHNLICH auszusehen." @~-~@ Hadrian keuchte unwillkürlich, während Umea neben ihm stutzte. Nemo gluckste. "Oma, das finde ich auch! Je unterschiedlicher, desto interessanter. Vati hat mir aus einem Buch über Dinosaurier vorgelesen. Die waren auch alle anders! Eine Weile musste man sich ausdenken, wie ihre Haut so aussah, weil es nur Knochen gab. Ganz schön erstaunlich, nicht wahr?" Abgelenkt wandte sich seine Mutter ihrem Enkel zu. "So, du interessierst dich auch für Dinosaurier, hm? Aber sag mal, kannst du nicht lesen?" Nemo grinste. "Die Buchstaben hier nicht, aber ich würde es gern lernen. Wir haben eine andere Schrift, Oma. Das hat dir meine menschliche Hälfte verraten, die andere darf das nicht." Flüsterte er vertraulich. Hadrian konnte das Amüsement im Mienenspiel seiner Mutter erkennen. "Ist das so? Trotzdem sprechen wir dieselbe Sprache." Hakte sie nach. Nichts, was den gewitzten Nemo in Verlegenheit bringen konnte. "Zumindest recht ähnlich. Manche Worte gibt es bei uns nicht. Aber wir sprechen mehr als eine Sprache, Oma." "So, so. Die darfst du wohl nicht verraten, hm?" Nemo zwinkerte. "Das stimmt. Wie kann man Buchstaben am Schnellsten lernen? Ich bin SEHR neugierig, Oma, das sollte ich vielleicht erwähnen." Ein schelmisches Grinsen. Hadrian verfolgte verblüfft, wie seine Mutter in schallendes Gelächter ausbrach. @~-~@ Für Umea war es keine Frage, dass alle Nemo liebten. Deshalb verwunderte ihn nicht, dass Hadrians Mutter von seinem klugen Sohn eingenommen war. Für sich selbst meinte er, eine gewisse Vorsicht zu spüren, keine Ablehnung, nein, jedoch eine Reserve, Distanz. Ahnte sie, was er beabsichtigte? Oder erinnerte sie sich an Hadrians Unglück damals? Der zu seinem Wort gestanden, ihn nicht verraten hatte, trotz der Sorgen, der Ungewissheit, des Kummers. Ihm schien es nun umso dringlicher, rasch eine Lösung zu finden. @~-~@ Hadrian tischte fürs leichte Abendbrot auf, verfolgte mit einem halben Ohr den lebhaften Austausch. Die zerdrückte und getragene Kleidung musste in die Waschmaschine. Das verlangte, dass man die Funktionsweise des Apparats erklärte, woraufhin auf Gewebe und Reinigung umgeschwenkt wurde. Großmutter und Enkel hatten offenkundig viel Spaß miteinander! Er widmete sich dem zurückhaltenden Umea. "Ist ein bisschen anstrengend, der ganze Wirbel heute, hm? Wollen wir nach dem Essen noch ein bisschen spazieren gehen? Ich texte dich auch nicht zu, ich meine, ich werde nicht pausenlos plappern." Umea nickte brav. Höflich, wie es Hadrian erschien, nicht euphorisch. Gut, er selbst fühlte sich auch ein wenig beklommen. Eben wieder wie ein Kind, das nicht sicher ist, ob die Eltern das eigene Urteilsvermögen für ausreichend ansahen. @~-~@ "Oh, was ist das denn?" Eva Maria lupfte das Einmachglas "Das sind Linsen. Von uns. Vati meinte, wir sollten es mit Marinieren versuchen. Ob sie jetzt besser schmecken? Den Linsenmatsch finde ich nämlich sehr lecker!" Klärte Nemo sie auf. Wissbegierig, aufgeweckt, gewitzt, charmant: sie hätte ihn knuddeln mögen! Außerdem konnte sie gar nicht mehr zweifeln. Nicht bei den Locken, der Augenpartie und dem schelmischen Ausdruck! Glücklicherweise fehlte der Höcker auf dem Nasenrücken, der sie noch immer an ihren Ex-Ehemann erinnerte. "Lass es uns versuchen. Eigentlich bräuchten wir dazu geröstetes Brot." "Vati erzählt, dass du mit dem Automat Brot backen kannst. Darf ich dir vielleicht mal helfen? Bei uns gibt es keine Luft-Pilze, die den Teig aufpupsen." Eva Maria gluckste vor Vergnügen. "Ich freue mich, wenn du mir assistierst, Nemo! Wollen wir mal knabbern?" @~-~@ Umea leckte sich verstohlen die Lippen. Unglaublich! So hatten die Linsen noch nie geschmeckt, ganz und gar verblüffend! Da kam ihm ein Gedanke. @~-~@ Außer Sichtweite von Häusern fasste Hadrian Umeas Hand. Die Anwesenheit seiner Mutter wirkte wie eine Anstandsbremse. Was lächerlich anmutete, immerhin zählte er 27 Jahre! Sie HATTEN darüber gesprochen, falls mal Besuch über Nacht bleiben sollte. Das musste ja vor seiner Rückkehr geklärt werden, wie man zusammenleben wollte, welche Regeln gelten sollten. Trotzdem. Blöde Verlegenheit! Umea spazierte gemächlich an seiner Seite, sodass Hadrian auch kein Gespräch forcieren konnte. Wo war nun dieser Zustand stiller Nähe und Verbundenheit?! Eher fühlte Hadrian sich kribblig und peinlich berührt ob des eigenen Kleinmuts. Dabei sollte er die Gelegenheit besser nutzen! Sex in Hörweite von Sohn und Mutter: definitiv ausgeschlossen! @~-~@ Nemo war mit den Gepflogenheiten einer Pyjama-Party nicht vertraut, aber sehr aufgeschlossen. Zudem hielt er es für ratsam, weitere Kerben für seinen geliebten Papa ins Holz zu schlagen. Außerdem konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich seine Oma sehr amüsiert hatte, wie zwei erwachsene Männer höchst verlegen, bedröppelt und ungelenk ihre Heimlichtuereien gestanden. Deshalb führte er zunächst die Verwandtschaftsverhältnisse aus, kam danach auf den "Draht" zu sprechen. "Das ist wie ein eigener Sinn, Oma. Der kennt Situationen und Vorgehensweisen, warnt und hilft. Damit spürt man die anderen, auch wenn man sie nicht sieht oder hört. Man erkennt auch Gefühle. Wenn man sich von den anderen lange entfernt oder etwas Gefährliches tut, schmerzt es." Erläuterte er sehr ernst. "Weil ich ein halber Mensch bin, habe ich diesen Draht auch, wie Vati das nennt. Nur erleide ich keine Schmerzen. Mein Papa schon. Deshalb ging es ihm nicht sehr gut, weißt du?" Seine Oma legte ihm einen Arm um die Schultern. "So was Ähnliches gibt es auch bei Menschen. Empathie nennt man das. Da identifiziert man sich so sehr mit einem anderen Menschen, dass man auch Schmerzen hat, obwohl man selbst nicht verletzt ist." Nemo zog die Nase kraus. "Das ist aber unangenehm! Wäre es nicht besser, man würde gesund bleiben, damit man helfen kann?" Lotete er Alternativen aus. "Richtig, aber die Psyche, also, der Geist, das ICH in uns Menschen, ist nicht immer konsequent logisch." Erklärte ihm seine Oma mit einem Schmunzeln. "Jetzt verrate mir mal, wie du dir deine Zukunft vorstellst." Ein kritischer Wendepunkt, das leuchtete Nemo ein. Er konnte ausweichend und allgemein formulieren oder sich offenbaren und hoffen, eine Verbündete zu finden. Prüfend blickte er in die grauen Augen. "Tatsächlich würde ich gern viel lernen, in einer Schule. Dazu hätte ich in der Stadt bestimmt Gelegenheit. Ich kann meinen Papa aber nicht allein zurücklassen. Weil Vati hier ja auch allein ist, wäre es doch schlau, wenn sie zusammen lebten, nicht wahr? Sie mögen sich nämlich schon sehr." Ergänzte er grinsend. "Ich verstehe. Hmmm." Leicht trommelten ihre Fingerkuppen auf seinen Arm. Konzentriertes Grübeln, das erkannte Nemo sofort. Keine Ablehnung, keine Kritik. "Es ist ein bisschen knifflig." Wurde ihm offenbart. "Immerhin gibt es hier nur Menschen. Menschen müssen registriert sein, Ausweispapiere haben. Das sind Belege über ihren Namen, ihren Wohnort, ihre Nationalität." Nemo prägte sich die Worte ein. "Wie kann man diese Ausweispapiere bekommen? Kauft man sie? Kann man tauschen?" Er fand es recht seltsam, beweisen zu müssen, dass er er selbst war. Andererseits war die Menschenwelt sehr kompliziert. Bestimmt hatte er Vieles noch nicht gesehen! "Ich bin nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, zu verraten, dass ihr keine Menschen seid." Sie kraulte durch seine Locken, wie sein Vati das tat. "Zu gefährlich? Das sagt Vati zumindest." Er seufzte leise. "Wenn Papa sich ein bisschen versteckt? Wir sind einkaufen gefahren, auf einem Rad zum See, das hat funktioniert!" Er konnte ein bedauerndes Lächeln erkennen. "Dein Papa, Nemo, sieht recht auffällig aus. Da wollen die Leute IMMER mehr wissen. Glaubst du, er kann rasch ohne dich durch das Portal entwischen?" Nemo schüttelte stumm den Kopf. Also war es doch zu riskant? @~-~@ Umea wusste seinen geliebten Sohn bei Hadrians Mutter im Zimmer, seinen gewitzten Charme ausspielend. Immerhin belagerten sie ja das Haus, leisteten keine Beiträge zum täglichen Dasein. Hadrian rutschte unter der leichten Decke näher an ihn heran. "Ich bin sicher, dass meine Mutter euch beide mag. Mach dir keine Sorgen, ja, Umea? Alles andere regele ich schon." Umea lächelte artig, konzentrierte sich auf die Gegenwart. "Vielen Dank. Ich werde mich sehr anstrengen, mich nützlich zu machen." Versprach Umea entschieden, zog innerlich Zäune hoch. Hier gab es keine Zukunft. Doch für ein Überleben in der Stadt konnte er eine Lösung entdeckt haben. @~-~@ Hadrian überließ es seiner Mutter, die Kundschaft aufzuklären. Sie war ja verreist gewesen, da musste man nachfragen. Um rasch umzuschwenken, die Nachrichtenbörse zu aktualisieren! So konnte Hadrian Rückstände reduzieren, immer wieder Umea zulächeln. Der folgte seinem Wort, lüftete die Betten, kehrte, kontrollierte den kleinen Garten, studierte intensiv die Bilder der Betriebsanleitungen, erforschte die Sammlung an Kochbüchern in einer Nische, stand seinem umtriebigen Sohn in nichts nach, wie Hadrian fand. Er bedauerte, dass Nemo durchs Portal geschlüpft war, um keinen Verdacht zu erregen. Man würde sich arrangieren, gar keine Frage! Für Nemo fände sich auch einen Platz, mit eigenem Bett und weitere Bekleidung, damit man hier nicht zu sehr auffiel. Dazu Hygieneartikel... Hadrian fahndete nach einem kleinen Block, notierte in alter Gewohnheit Stichworte. @~-~@ Die offizielle Sprachregelung lautete auf "Besuch". Schließlich waren Ferien. Im Sommer verreisten viele Leute. Da musste man sich keine Gedanken machen um Melde- oder Schulpflichten. Eva Maria warf einen prüfenden Blick auf die beiden "Besucher", die Buchstaben anhand von Begriffen lernten, bildlich dargestellt, mit Bleistiften in Notizhefte Übungen absolvierten, emsig, konzentriert, im wortlosen Austausch. Nein, man konnte wirklich keine Einwände erheben! So anspruchslose, komplikationsfreie Gäste gab es sicher nirgends! Deshalb wunderte sie sich durchaus über die Unentschlossenheit ihres Sohnes, das Dilemma zu erkennen. @~-~@ Umea nutzte jede Gelegenheit. Rasch machte er sich mit den technischen Einrichtungen des Hauses vertraut. Ihm kam dabei zupass, dass Betriebsanleitungen als relevant eingeschätzt wurden. Vor allem, wenn man nicht mal eben in das unsichtbare Netz der Informationen ausweichen konnte. Packungsbeilagen sollte man ja auch aufmerksam lesen! Dieses Gebot nahm Umea kommentarlos hin. Er kannte keine Medikamente, die auf solche Art vertrieben wurden. Möglicherweise hatte sich inzwischen in der Stadt etwas Ähnliches durchgesetzt, doch das spielte keine Rolle! Es ging auch nicht darum, Kühlschrank, Mikrowelle und all die anderen Apparate besitzen zu wollen, sondern um die Prinzipien, die Basis. Wenn er in der Stadt leben wollte, musste er etwas anbieten, Waren oder Dienstleistungen. Hier schien es ihm, als habe er eine sehr gute Möglichkeit gefunden. Sie zu erproben, ob sie auch jenseits des Portals funktionierte, das musste rasch, unauffällig und beiläufig geschehen. Mit jedem weiteren Augenblick, so mutmaßte Umea, würde es offenbar werden, dass sie nicht in dieser Welt heimisch werden konnten. @~-~@ Nemo lernte mit Silben. Das fiel ihm sehr viel leichter als einzelne Buchstaben anzusteuern. Dabei half ihm seine Oma, die sich gar nicht daran störte, dass er sich für Dinosaurier und Maschinen interessierte. Er vermutete, dass seine andere Großmutter Tiere als Thema vorgezogen hätte. Andererseits, das musste man festhalten, gab es auch wenig Gelegenheit, etwas vorzulesen. Vieles war schließlich einfach da! Schon eingebaut, über den "Draht" verfügbar. Fast so wie dieses Internet, von dem Vati immer ärgerlich behauptete, es sei hier nicht nur unsichtbar, sondern auch rar bis nicht vorhanden, was an der Übertragung lag! Wo man sich dann doch freuen sollte, dass der eigene "Draht" anders beschaffen war. Nemo fand, dass es gut war, üben zu müssen, um etwas zu lernen. So kamen Fragen auf, Antworten und neue Fragen. Er mochte das euphorische Gefühl, etwas durchschaut zu haben. Ein "Heureka"-Moment! Allerdings hatte Nemo die Hintergrundgeschichte eher als verwirrend empfunden. So richtig konnte er sich auf Völker, Staaten, Nationen und derlei keinen Reim machen. Das musste er wohl noch lernen! @~-~@ Hadrian war sehr zufrieden. Nemo glänzte mit Wissbegierde, unterhielt sie mit kurzen Berichten über die Stippvisiten auf die andere Seite, war mehr als anstellig. Umea arbeitete sehr fleißig und ohne große Schwierigkeiten im Haushalt. Allzu kritische Stimmen kamen nicht auf ob der etwas exotischen Besucher. Also funktionierte es doch! Weshalb er sehr störrisch die warnende Stimme in seinem Hinterkopf ignorierte. @~-~@ Ein Tag mit brütender Hitze, eine auffrischende Brise gegen Abend. Hadrian lud Umea zu einem Spaziergang ein, mal raus aus Haus und Garten, sich richtig die Füße vertreten! Dabei konnte man auch beiläufig besprechen, wo Nemo zukünftig schlafen sollte, welche Kleidung gekauft werden könnte, wie sie sich gemeinsam einrichten wollten, damit alle sich zu Hause fühlten. Hadrian begann taktisch versiert mit Lob für Umeas Einsatz im Haushalt. Welch großartige Unterstützung das sei, weil die Apotheke doch viel Präsenz verlangte! So habe man ungewohnte Freizeit, könne sich auf Tee und leckere Mahlzeiten freuen. Fast schon dekadent, dieser herrliche Service! In der Annahme, Umea positiv gestimmt zu haben, wollte Hadrian subtil den Schwenk einleiten. Bevor er jedoch beginnen konnte, rummste es durchdringend. Ein heftiges Donnergrollen! "Och nee!" Schnaubte er enerviert. Durch das Wäldchen am Rand von Streuobstwiesen, zu steil für den Ackerbau, war ihm die Verfärbung des Himmels entgangen. Das Laubdach schirmte ja ab, ein wenig. Allerdings wäre es nicht von Vorteil, hier draußen bei Gewitter herumzustromern. Eilig, Umea vertraut an der Hand haltend, strebte er einem alten Unterstand zu. Schon öffneten sich sphärische Schleusen. Umea an seiner Hand stolperte vermehrt, was Hadrian mahnte, sich zu sputen. Der baufällige Unterstand, mit verwittertem Absperrband dekoriert und blockiert, bot nur wenig Schutz. So schob Hadrian sich Umeas Arme unter die Achseln, hielt ihn eng an sich gezogen, hoffte, dass er ausreichend das reichliche Nass von oben abschirmte. Was ihm nicht gelang, wie er rasch feststellte. Umea leimte es schon wieder Knie und Knöchel zusammen. Kein Sprechen mehr, die Nasenflügel angeklappt, nur dank seiner Stütze noch aufrecht stehend. Beschämender Weise kannte seine Libido keine Auszeit. Umea so nahe an sich zu spüren, ihn zu umschlingen, das zeitigte stehende Ovationen. "Entschuldige, ich denke sofort an was Ekliges!" "..Kein Kompliment!" Schnarrte mit mühsam bezwungenem Kiefer Umea kritisch an seinem Ohr. "Ja, da hast du recht. Es ist mir auch peinlich, aber das KOMPLIMENT sub Gürtelzone muss leider weg! Sonst bekommen wir noch eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses." Zudem konnte er in DIESEM Zustand ebenso wenig wie Umea nach Hause marschieren! Wirklich zu dumm! Ja, es war schon eine Weile her, durchaus, aber dennoch...! Triebe konnten ja so unmanierlich und zeitlich miserabel abgestimmt sein! Sein Leid innerlich beklagen, half dem Erregungszustand nicht ab. Dafür entschied Umea, ihn sehr ungezogen zu küssen. @~-~@ Die Nässe des Regens durchdrang seine Kleider völlig. Die Knie brachen ihm ein, wie gewohnt. Mutmaßlich der einzige Partner, den er in seinem Leben haben würde, fürsorglich, zögernd, selbst unter großem Triebstau! Umea musste nicht mal darüber nachdenken. Diesen einen Rausch hatten sie sich verdient. @~-~@ Es hätte ja genügt, ein Freiluft-Solo...! Aber Hadrian konnte und wollte sich nicht Umeas Verlangen entziehen. Vielleicht spielte auch die Distanz eine Rolle, dass sie nicht allein miteinander sein konnten. Möglicherweise hatte sich zu viel angesammelt, an Sehnsucht, an Enttäuschung, an wilder Hoffnung und entmutigender Erfahrung. Also ließ er nicht locker, umschlang Umea, gab ihn nicht frei. Außerdem, ein Mal war ja kein Mal, richtig? @~-~@ Nemo winkte erleichtert, als er seine Eltern heranspazieren sah. Längst war es dunkel, die Regenwolken abgezogen. Sie konnten erst wieder aufbrechen, wenn sie halbwegs trocken waren, wirkten entspannt und gut gelaunt, was Nemo sehr freute. Nicht mal die Armbanduhr seines Vatis, die offenbar die Nässe nicht vertragen hatte und stillstand, bekümmerte sie. @~-~@ Kapitel 15 Nach dem Frühstück, in orchestrierter Reihenfolge das kleine Bad nutzend, ging es ans Tagewerk. Umea verließ als letzter den kleinen Nassraum. Dann lohnte sich das rasche Durchputzen erst, nicht wahr? Er räumte in der Wohnküche auf, kontrollierte, dass Tee zur Verfügung stand, Treibstoff der beiden Menschen! Sauber, ordentlich. Rasch eilte er hoch in Hadrians Zimmer, wechselte aus der ihm leihweise überlassenen, zu großen Kleidung in seine eigene. In ein fadenscheiniges Tuch lud er ihre Notizhefte, die Bleistifte. Im Erdgeschoss fügte er etwas Obst und Brot hinzu, wickelte sich den Ärmel hoch, malte sorgfältig die ihm bekannten Buchstaben auf. Mit dem Folienstift, der besonders lange Wasser widerstehen sollte. Nemo erschien, wie gebeten, plauderte kurz mit Ludwig. Rasch das Bündel verknotet eilte Umea hinaus. "Da bin ich, Papa. Weißt du, ich glaube, Großmutter ist doch irritiert, weil wir ja irgendwo schlafen müssen. Sie denkt, wir sollten besser eine richtige Hütte bauen." Teilte ihm sein geliebter Sohn mit, blickte besorgt. Umea fasste eine kleine Hand, fühlte sich erleichtert. "Darum wollen wir uns später kümmern. Ich möchte es heute gern versuchen. Nimmst du mich mit?" Nemo strahlte zu ihm hoch, sofort erfreut. "Oh, prima! Ich werde auch gut aufpassen, dass es nicht zu schnell geht." Obwohl der Wechsel immer die gleiche, Wimpernschlag-kurze Zeitspanne benötigte. Umea erkannte den guten Willen. Der gewaltige Bernhardiner ließ sie ungehindert passieren. Umea hielt den Atem an, als sie den Schritt in die Scheunenwand oder vielmehr das Portal taten. Sofort spürte er einen dumpfen Schmerz, richtete sich auf, drückte das Rückgrat durch. Ja, er WUSSTE, dass dieser Schmerz existierte, aber das würde ihn nicht mehr aufhalten, oh nein! Ein klares Ziel vor Augen und entschlossen, nicht länger Gefangener seines "Drahts" zu sein! "Papa? Ist es sehr arg?" Nemo klang bekümmert, streichelte mit der anderen Hand über seine. Umea atmete aus. Ja, er konnte den Schmerz aushalten, ihn verbannen, wie ein lästiges Hintergrundgeräusch, wie eine chronische Beeinträchtigung. Das würde ihn nicht mehr kleinkriegen! "Nicht schlimm, Nemo. Lass uns gehen, ja?" Umea lächelte zu seinem Sohn hinunter. "Wir haben heute viel vor." @~-~@ Sie hatten schon einige Meter zurückgelegt, als Nemo schließlich doch fragte. "Papa, hier geht es aber nicht zum See?" Hoffentlich verwirrten sich die Sinne seines Papas nicht noch schlimmer! Etwas blass, aber sehr entschieden lächelte der ihn an. "Richtig, Nemo, wir gehen in die Stadt. Dort war ich schon sehr lange nicht mehr." Nemo drückte die vertraute Hand etwas fester. Er freute sich durchaus, aber gleichzeitig sorgte er sich. Ob das gut ging? @~-~@ Umea folgte dem Weg, der sich nicht verändert hatte. In der Stadt präsentierte sich ihm ein vertrautes Bild: sehr viele unterschiedliche Wesen wuselten durcheinander, geschäftig, aber nicht hektisch, freundlich, emsig. Alle waren anders. Er lächelte, als er Nemos begeistertes Staunen registrierte. So viele Wesen an einem Ort, das musste seine Neugierde ja aufstacheln! Umea erreichte ohne Umweg die Collectio. Sie HATTE sich verändert, war in die Höhe gewachsen! Offene Aufzugsanlagen mit Gegengewichten, Serpentinen und Rundläufe erschlossen die neuen Geschosse. Nemo plapperte nicht etwa begeistert los, sondern wirkte von einer seligen Verzückung in Beschlag genommen. "Siehst du? So viele Bücher und Tafeln und andere Dinge. Schau mal, sie haben sogar Modelle ausgestellt. Hier kann man unendlich viel lernen und entdecken." Sein Sohn nickte langsam. Umea lachte leise. "Oje, weißt du nicht, wo du anfangen möchtest, hm?" Erkannte er treffsicher das Dilemma. In diesem Augenblick betrat eine Schulklasse das große Foyer. Zu ihnen gesellte sich eine imposante Eulendame, die eine Führung offerierte. "Na los!" Wisperte Umea Nemo zu. "Geh mit ihnen mit, ja? Später treffen wir uns wieder hier." Sein Sohn zögerte, studierte ihn besorgt. Umea spürte, dass Nemo darauf brannte, sich der Schulklasse anzuschließen, dieses Wunderreich zu erforschen. Was ihn hielt, war die gegenseitige Verbindung. Seit dem ersten Moment hatten sie einander immer die Treue gehalten, ihr Team über alles gestellt. "Verzeihung, bitte?" Umea adressierte entschlossen die Eulendame. "Ob mein Sohn sich wohl Ihrer Führung anschließen darf? Er ist auch zum ersten Mal hier." "Aber natürlich! Sehr gern sogar. Nun, mein Junge, halte dich einfach an mich, ja? Bin kaum zu übersehen, nicht, hm?" Sie lachte kollernd, streckte Nemo eine Klaue hin. Der musste seinen Papa loslassen. "Bis nachher, und viel Vergnügen!" Wünschte Umea mit eiserner Entschlossenheit. Es würgte ihn im Hals, dass Nemo sich noch zweimal nach ihm umsah, er lediglich winkte. Aber es war wichtig! Für Nemo würde er den Ansatzpunkt der Welt finden und sie aushebeln! @~-~@ Nemo fand Madame Miloux sehr nett. Sie verriet ihm, dass wahrscheinlich niemand alles wusste, was man hier erfahren konnte, lesen, hören, sehen, fühlen. Das Geheimnis bestehe für sie darin, zu wissen, wo die jeweiligen Collecte sich befänden, damit sie einem dabei halfen, Fragen zu beantworten! Nemo kicherte wohlerzogen, reihte sich artig bei den anderen Kindern ein. Die nahmen an seiner Anwesenheit keinen Anstoß. Dass er nicht in die Schule ging, schien sie zu verwundern, aber er war ja auch nicht aus der Stadt. Die Freude über diesen wahrhaft paradiesischen Ort (wenn auch eher am gegenteiligen Ende angesiedelt) trübte seine Ahnung. Welche seiner Hälften sie absetzte, konnte Nemo nicht abschätzen. Wollte sein Papa alte Bekannte aufsuchen? Was, wenn ihn seine Kräfte verließen, die Schmerzen schlimmer wurden? Übernahm er sich nicht, um ihm einen Wunsch zu erfüllen? Warum hatte ihm sein Papa nicht anvertraut, was er vorhatte? @~-~@ Umea war uneingestanden froh, nicht auf Hwenyuu zu stoßen, als er den nächsten KOK-Offize ansprach. Wie immer hilfsbereit und kenntnisreich erhielt er nicht nur Auskunft, sondern auch Begleitung. Das konnte ja nicht schaden. Wenn man Erfolg hatte, kämen auch Quäste gleich vorbei. @~-~@ Hadrian suchte nach Umea. Nicht im Haus, nicht im Garten! Die eigenen Kleider fehlten! Hatte Umea sich doch entschlossen, einen Versuch zurück in seine Welt zu wagen? Aber Nemo war gleich nach dem Frühstück zur Großmutter aufgebrochen! "Sie kommen, wenn sie Hunger haben." Versuchte er, die aufkommende Beunruhigung zu kontrollieren. Zur Mittagszeit war keine Spur zu entdecken. "Wenn die beiden nach drüben sind, dauert es bestimmt länger, selbst wenn sie nichts erzählen dürfen." Bemerkte seine Mutter aufgeräumt. Hadrian nickte widerwillig. Ja, wahrscheinlich eine unbedeutende Verspätung, genau. @~-~@ Umea erreichte sehr abgehetzt trotz seines sehr langen Atems die Collectio. Nemo saß dort neben der Eulendame, tauschte sich offenbar lebhaft aus. Dazu hatte sich ein großer, sehr dünner Baum-Daimon gesellt, der launige Bemerkungen einstreute. "Oh, Papa! Da bist du ja!" Erleichtert sprang Nemo auf. Entschieden unterdrückte Umea einen spitzen Schmerz ob dieser Reaktion. Er hatte Nemo nicht so lange allein lassen wollen. "Ja, Verzeihung, Madame, mein Herr, vielen Dank, dass Sie sich meines Sohnes angenommen haben!" Ein wenig steif absolvierte Umea sein Sprüchlein, fand sich von Nemo umschlungen, strich behutsam durch die schwarzen Locken. "Entschuldige, ich habe mich verspätet. Es dauerte alles länger, als ich dachte." Der Baum-Daimon lachte basslastig auf. "Freund, so ist es immer. Ein prachtvoller Sohn, der Nemo! Hat Spaß gemacht, Kerlchen! Bis wir uns wieder über den Weg laufen, salve!" Nemo erwiderte den Gruß, gab ihn jedoch nicht frei, sodass Umea auch der Eulendame seinen Respekt erwies, erst danach die Umklammerung sprengen konnte. Er ging langsam vor seinem Sohn in die Hocke. "Ich habe noch eine Überraschung für dich. Hältst du noch ein wenig durch? Wir können auch später etwas essen." Die schwarzen Augen studierten ihn prüfend, eindeutig in Sorge. "Sicher, Papa. Geht es dir auch gut? Vielleicht sollten wir umkehren, damit es nicht zu viel wird." Umea federte betont elastisch aus der Hocke hoch. "Mit mir ist alles im Lot, Nemo. Komm, sieh dir die Überraschung an, ja?" @~-~@ Nemo folgte seinem Papa an der Hand durch das Gewimmel. So viele unterschiedliche Wesen auf einem Fleck! Manche unterhielten sich in anderen Sprachen, aber die Verkehrssprache beherrschten alle. Unterschiedliche Gebäudestile, freie Plätze, Läden und davor Stände, mobil oder stationär. In der Luft über ihnen wurden Botschaften durch die Aeroflott transportiert, glitten treffsicher in Rohre. Wie viele Dinge hier feilgeboten wurden! Aber was hatte sein Papa vor? Der wirkte angestrengt, auch wenn er vorgab, dass es nicht so sei. Nemo spürte und SAH es. "Da sind wir!" Ein weiterer Platz, sternförmig zulaufende Gassen und Straßen, Arkaden mit kleinen Läden, steile Stiegen zu den Obergeschossen, auf den Dächern viel Grün und Sonnensegel. Verblüfft ließ er sich von seinem Papa in einen winzigen, leerstehenden Laden ziehen. Man klappte die Fensterflügel aus, stand schon drin. Tageslicht kam nur durch einen das gesamte Gebäude durchdringenden Schacht hinein, musste von einem Facettenspiegel verteilt werden. Nemo blickte sich um. "Was tun wir hier?" Es gab ein Ausgussbecken. Ein Porzellanschildchen informierte, in welche Richtung die Komposttoiletten des Viertels lagen. Der Eimer daneben wartete darauf, am Brunnen mit der Pumpe gefüllt zu werden. Gegenüber stapelten sich Muschelschalen in unterschiedlichen Größen und zwei abgeschabte Kalebassen, dazu ein Kräutertuch, wie es am See gebräuchlich war. Nemo wandte sich seinem Papa zu, der sich erleichtert auf den Lehmboden sinken ließ, das Bündel entknotete, Obst und Brot entnahm. Nemo erstarrte, als er die Notizbücher und Stifte erkannte. "Papa?" @~-~@ Umea verdrängte jeden Anflug von Schwäche rigoros. In Hochgeschwindigkeit hatte er auf halben Weg zurück an den äußersten Ausläufern des Sees gesammelt. - Leere Muschelschalen, nicht schön genug für Geschirr oder Schmuck, aber sauber und funktionstüchtig für seine Zwecke. - Zwei alte Kalebassen, die nicht gebraucht wurden, herrenlos auf neue Besitzende warteten, in die er die Wasserlinsen geschaufelt hatte, dazu noch die Kräuter, die denen in der Menschenwelt entsprechen würden. Jetzt, hungrig und recht ausgepumpt, galt es, Nemo zu überzeugen. "Setz dich zu mir, ja? Du hast doch bestimmt Hunger. Dabei erzähle ich dir, was ich vorhabe, denn ich brauche deine Unterstützung, Nemo." Er konnte in dem vertrauten Jungengesicht die Zerrissenheit erkennen, ihm hier zu helfen, beizustehen, damit gegen seine Loyalität zu seiner Menschenhälfte zu handeln. "Erinnerst du dich an die marinierten Linsen? Ich glaube, damit könnte ich unseren Lebensunterhalt hier sichern. Der KOK-Offize, den ich gefragt habe, bestätigte mir, dass er von so einem Angebot noch nicht gehört hat. Deshalb hat er mir hier auch diesen kleinen Laden vermittelt. Die Quäste war auch sehr kulant. Das sind die Beauftragten, die einen kleinen Anteil des Umsatzes einfordern, damit die Stadt die Läden, die Häuser, die Wasserversorgung und alles andere finanzieren kann." Nemo kaute noch langsamer. "Wenn wir die ersten Tage überstehen, wenn wir genug Linsen sammeln und die ersten Blöcke verkaufen können, kannst du bestimmt auch in die Schule gehen! Ich brauche nur einen guten Start, dann schaffe ich es. Bitte, Nemo, hilf mir dabei." Ganz und gar gemein! Die Leute vom großen See hätten nicht fragen müssen, sie kannten keinen Loyalitätskonflikt. Umea ahnte, dass sein liebenswerter, unbekümmerter, allzu kluger Sohn mit sich kämpfte, selbst wenn die Entscheidung stand, er gar nicht aushalten konnte, seinem Papa die Unterstützung zu verweigern. "Was ist mit Vati? Er wird sich Sorgen machen." Unwillkürlich rieb sich Umea über den Unterarm, dort, wo er sich wie eine Ermahnung gegen den "Nebel" im Kopf ein Wort notiert hatte. "Wenn wir den Anfang gemeistert haben, ist Zeit, ihm eine Nachricht zu überbringen. Ich weiß, dass die Menschenwelt voller Wunder steckt, Nemo, doch für uns kann sie sehr gefährlich werden. Du bist nicht genug Mensch, um dort sicher zu sein. Früher oder später holen sie die ab, die anders sind oder erscheinen." Umea strich behutsam über die schönen Locken seines Sohnes. "Dein Vater hat es dir ja gesagt, erinnerst du dich? Menschen neigen zu Extremen. Das kann ich nicht außer Acht lassen, Nemo. Auch wenn es schmerzt, wir müssen unsere Zukunft hier wagen." @~-~@ Hadrian stand neben Ludwig. Die Sonne ging langsam unter, aber die Hitze hielt sich hartnäckig. Die Scheunenwand zeigte sich unbeeindruckt von ihrem Starren. Niemand kam durch das unsichtbare Portal. "Verdammt." Stellte Hadrian grimmig fest, zensierte sich nicht in Gewohnheit selbst. Hatten die Verwandten am großen See die Rückkehr vereitelt? Oder waren sie doch erwischt worden von diesen ominösen Pudeln?! Ludwig winselte sehr leise. "Ja." Bestätigte Hadrian gedämpft, unglücklich. Er vermisste Umea und Nemo, nach nicht mal einem Tag. Umso mehr, als nun die Alarmglocken in seinem Hinterkopf das "Dies Irae" anstimmten. Er HATTE seinen Argwohn ignoriert. Nun sah es so aus, als wäre der berechtigt gewesen. Wenn die Notizhefte fehlten, konnte das auch bedeuten, dass die Abwesenheit für länger und geplant war. @~-~@ Nemo akzeptierte die Entscheidung seines Papas. Er spürte, dass der es sich nicht leicht gemacht, alles in eine Waagschale geworfen hatte. Zudem war ihre Nachbarschaft sehr nett und aufgeschlossen, freute sich über einen Neuzugang. Leere Geschäftsräume wirkten trostlos, wohl wahr! Die eingelegten, zuvor ausgepressten Linsen funktionierten in den Muschelschalen gut. Die Quäste, die regelmäßig vorbeikam, um ihnen mit Rat zu helfen, sich zu etablieren, testete sogar selbst. Sehr lecker! Weil sie keine Vorstellung und kein Geld hatten, half sie auch beim Festsetzen eines Gegenwertes. Man konnte natürlich auch tauschen, gar keine Frage, aber Geld erweiterte die Möglichkeiten sehr. Damit müsste ja auch der Obolus entrichtet werden. Morgens in der Frühe zogen sie gemeinsam los, um Linsen zu sammeln, Kräuter zu pflücken und nach leeren Muscheln zu suchen. Binsen wurden geschnitten, damit man besser auf dem ungewohnten, gestampften Lehmboden schlief. Danach präparierten sie im Laden die Linsen, überprüften die bereits marinierenden, legten die zum Kauf aus, die schon fertig waren. Die eigenwillige Lake, durch die besonderen Kräuter erzeugt, sorgte für eine gewisse Haltbarkeit. Das Angebot sprach sich rasch herum. Die Nachbarschaft, Neugierige aus dem Viertel, KOK-Offize kamen herein. Als Ein-Daimon-Unternehmen würde sein Papa ein bescheidenes, aber ausreichendes Einkommen erzielen, sodass nach einer Woche schon die Aussicht bestand, nach einer Schule Ausschau zu halten. Nemo entschied für sich, diese Exkursion in die Umgebung zu erweitern. Nicht in die Collectio zu gehen, wie sein Papa ihm als Belohnung offerierte, sondern zum Portal zu flitzen, um seinem Vati und der Oma Nachricht zu geben, was aus ihnen geworden war. Und nicht allzu sehr zu fürchten, dass die verblassende Aufschrift "Freiheit" auf dem Arm seines Papas auch die von seinem Vati bedeutete. @~-~@ Nemo hatte, wie vereinbart, einen sehr kurzen Ausflug zum großen See unternommen, erst im Laufschritt, danach im Wasser, um der Familie zu berichten, dass es ein Zuhause gab (wenn auch nicht die Hütte, die seine Großeltern, Tante und Onkel und Cousinen und Cousins annahmen), dass sie Lebensmittel herstellten und tauschten, mit Reisenden, an der Straße. "Stadt" erwähnte Nemo nicht, ließ auch sorgfältig alles aus, was hätte Besorgnis erregen können. Nein, Argwohn bemerkte er nicht, mehr eine großzügige Erleichterung, dass Umea endlich als Erwachsener und Vater seiner Rolle nachkommen konnte. Der arme, junge Mann mit den Einschränkungen und diesem seltsamen Erlebnis! Sofort stieg wieder "Nebel" auf, verhinderte effektiv, dass man die Vergangenheit erforschte. Nemo konnte dank zweier sehr gut ausbalancierter Hälften diese Impulse einordnen. Mit dem Hinweis, dass man recht geschäftig sei, konnte er auch die letzten vagen Befürchtungen zerstreuen. Ja, da wohnten sie eher am äußeren Rand des großen Sees (was nicht zutraf), aber sie waren hier und alle zusammen. Auch falsch, allerdings ein Beweis für seine Theorie: es schien schlichtweg nicht vorstellbar, sich vom großen See zu verabschieden, von der Familie, von ihrer Population. Deshalb löste ihre Absenz keine veritable Sorge aus, weil man mit Sicherheit überzeugt war, dass alles wie immer verlaufen würde. Nemo beeilte sich, seinen geliebten Papa auf dem Heimweg einzuholen, heute ohne Binsen (aus denen man irgendwann doch Matten flechten würde), nur mit Linsen und Kräutern. Wäre es geschafft, dürfte er sich in die Collectio verabschieden. @~-~@ Umea registrierte den Stand der zwei Sonnen: spät. Aber Nemo hatte ihn noch nicht eingeholt, also konnte er ein wenig langsamer gehen. Er fasste unbewusst in seine Hosentasche, brach ein kleines Stück des Fruchtkörpers eines Pilzgeflechts ab. Er "erinnerte" sich vage, aber dieser Pilz wuchs schon lange nicht mehr am großen See. Früher, da hatte man, wenn große Anstrengungen erforderlich wurden... Keine Zeit, die ihm präsent war. Lediglich ein Erkennen aus einer verschwommenen Gemeinschaftserinnerung, sodass er das Gewächs abgeschnitten hatte. Es färbte die Zunge blau, deshalb durfte er nicht zu viel davon nehmen. Es half jedoch, weil er sich so anstrengen konnte, dass Nemo bald eine Schule in der Nähe besuchte, die Herstellung der marinierten Linsenblöcke in den richtigen Kreislauf kam. Genug zum Leben, für den Obolus, für den Tausch. Dann...dann... @~-~@ Younous blickte erst geradeaus, dann hoch. Ein Melder war ausgelöst, katapultierte sich in den Himmel. Die winzige Kugel an der Spitze, mit Kristallen ausgerüstet, funkelte gleißend in alle Richtungen. Er ging auf alle Viere, sprengte los. Schon von weitem hörte er die schrillen Rufe. Die Reisenden bildeten eine kleine Gruppe. Er bremste, richtete sich auf, löste aus der Umklammerung seines Skorpionstachelschwanzes die Schocklanze. "Mee-Poo hier, Freunde, lasst mich mal durch!" In der Mitte kauerte ein kleines Wesen neben einem zusammengefallenen größeren Wesen. "Papa! Papa, wach auf!" Schluchzte der Kleinere, mutmaßlich ein Kind. "Ah, Younous! Wir haben schon die Medis alarmiert." Eine Wechselflügler-Daimonin reichte ihm Streugut, was wohl zu den beiden gehörte. "Kennt jemand die beiden? Ich bin Younous, Mee-Poo. Wie heißt du, kleiner Freund?" Das Kind schluchzte, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. "Nemo. Das ist mein Papa, Umea. Ihm geht es sehr schlecht! Bitte, ich brauche Hilfe, bitte!" Younous ließ sich auf alle Viere herunter, nickte, rammte die Schocklanze mühelos in den Boden. "Tretet mal zurück, ja? Ich ruf Verstärkung." @~-~@ Zwei Stöße später hörten sie alle bereits das sanfte Sausen großer Schwingen im Wind. Eine gewaltige Harpyie landete mühelos, entließ aus ihren Klauen eine Transporttrage. Von ihrem Rücken an einem Sicherungsgurt glitt ein Mäuse-Daimon herunter, den Medi-Kittel präsentierend, witterte prüfend. "Bewusstlosigkeit. Erhöhte Temperatur. Entzündungsherde. Lufttransport erforderlich." Die Harpyie rollte geübt die Trage aus. Younous nickte einigen Umstehenden zu. Vorsichtig hob man die schlanke, reglose Gestalt hinüber. Der Mäuse-Daimon wirbelte herum, die Gurte zu schließen, hangelte sich an der Harpyie hoch. "Kamerad, wohin bringt ihr den Vater des Kleinen hier?" Erkundigte sich Younous, eine Klaue auf die schmale Schulter gelegt. "Medi V, gleich am südlichen Rand. Beeilung, Notfall." Fiepte der Mäuse-Daimon. Die Harpyie federte mühelos vom Boden. @~-~@ Nemo schluchzte auf. "Mein Papa ist gar nicht schwindelfrei!" Bemerkte er verstört, umklammerte die Klaue, die seine Hand hielt. Mee-Poo, Metropolitan Polis, das waren Leute, die aufpassten und halfen, für Sicherheit und Ordnung sorgten, nicht wahr? "Die Medis achten schon drauf, keine Angst, Nemo." Der Mee-Poo namens Younous blickte in die Menge. Da näherte sich auch die Kollegin, eine Tiger-Daimonin, im Laufschritt. "Tschuldige, Younous, Unfall mit gebrochener Radachse!" Sie bleckte gewaltige Reißzähne, studierte rasch die Peripherie. "Hab den Medi gesehen. Hallo, mein Junge. Soll ich eure Sachen bei dir zu Hause abliefern und Bescheid sagen, dass du mit Younous im Medi V bist?" Nemo begann zu zittern. @~-~@ Kapitel 16 Younous transportierte den Jungen auf seinem Rücken. "Da vorne ist es schon!" Munterte er Nemo auf, der ihn umklammerte. »Armes, kleines Kerlchen!« Dachte Younous. Die Nachbarschaft kannte er gut, die würden sich um die Habseligkeiten und den Laden kümmern! Quäste Ndadadime war eine sehr Nette, die mischte bestimmt auch mit! Ganz ohne Familie, ganz neu hier, das konnte einem schon mal den Boden unter den Füßen wegziehen. Younous bremste geübt auf dem freien Platz, richtete sich vorsichtig auf. Schon glitt Nemo von seinem Rücken herunter. Younous griff nach der kleinen Hand mit seiner Klaue. "Nur Mut, mein Freund. Alles halb so schlimm, wirst sehen!" Das Kind neben ihm nickte tapfer, reckte das Kinn. "Ich werde mutig sein, sonst ist mein Papa ja ganz allein." @~-~@ Prof Drusilla konzentrierte sich, ließ die Schallwellen durchlaufen, umkreiste ihren Patienten geduldig, rief Kopernikus. Der knackte mit den Beißwerkzeugen, nahm ihr Diktat auf, huschte mit der dünnen Platte hinüber, wo der Feuerdrache die aufgebrachten Zeichen glühend erhitzte. @~-~@ "Oh!" Stellte Prof Drusilla fest, als sie ihr Büro ertastete. Zwar hatte Lustibus, ihr Sekreze, schon emsig noch mehr Hocker organisiert, doch so viel Publikum hatte sie nicht erwartet. "Ah, Professor Drusilla!" Eine kugelige Gestalt, nicht gerade als intellektuell verschrien, bewies Lustibus die Qualitäten, die Drusilla an ihm schätzte. Er heiterte auf, spürte Emotionen, versorgte die Angehörigen mit Zuversicht oder Gefasstheit. Drusilla hielt geübt auf ihren Schreibtisch zu, fand oben die letzte Platte mit ihrem Bulletin. Sie tastete über ihr Diktat, das Kopernikus hochgeschwind eingestanzt hatte, spiegelverkehrt. "Guten Tag. Sind Angehörige des Patienten hier?" Eine helle Stimme, kleine Person, Kind. "Ich bin da, Nemo. Mein Papa Umea ist bei Ihnen, Frau Prof." Lustibus kugelte umher, das kannte sie schon. "Wir haben den hochgeschätzten Mee-Poo Younous hier, Frau Prof! Und die Nachbarschaft aus dem Südviertel, wo der Patient jüngst eingezogen ist." Drusilla richtete die Ohren aus, was sie nicht musste, aber es half ihr, sich zu sortieren. Demnach war das Kind nicht allein, was für sie durchaus wichtig war. "Dem Patienten geht es den Umständen entsprechend gut. Das bedeutet, wir haben ihn in einen Tiefschlaf mit geminderter Körperfunktion versetzt, wegen der Entzündungen und des Fiebers. Allerdings ist die Lage ein wenig knifflig. Deshalb habe ich meinen Kollegen als Spezi hierher gebeten." Sie richtete sich auf den Jungen aus. "Sag mal, mein Kind, wo ist deine Familie? Können sie hierher kommen, für ein paar Tage?" @~-~@ Nemo würgte erstickt an einem Kloß in seinem Hals. Vage registrierte er das Tätscheln des haarigen Pfötchens der Nachbarin, die kunstvoll frisierte und Mähnen stutzte. Auf seinen Schultern lagen die Klauen von Younous, dem Skorpion-Daimon. Nemo atmete tief durch, schämte sich für das rasselnde Geräusch. "Meine Großeltern können nicht in die Stadt kommen." Wisperte er kläglich. Er zweifelte nicht, dass der "Nebel" sie hindern würde. "Mein Vati und meine Oma können nicht zu uns rüber, weil mein Vati ein Mensch ist." @~-~@ Drusilla klappte für einen Moment schützend ihre Ohren zu, um das Stimmengewirr abzudämpfen. Lustibus beschwichtigte rasch die Versammelten. "Bitte, Freunde, nicht so laut, ja?" »Ein halber Mensch also. Kurios« Sie sondierte mit Schall die Menge, die sich brav beruhigte. "Das ist eine Überraschung." Stellte sie stellvertretend für alle gefasst fest. Der Junge zitterte merklich. "Jede Information ist wichtig, vielen Dank, Nemo. Ich werde für die nächsten Tage Hilfe brauchen. Wenn deine Familie nicht hierher kommen kann, wer steht uns bei, hm?" @~-~@ Younous bleckte zufrieden die Zähne. Freiwillige en masse! Damit hatte er fest gerechnet. Nemo wirkte auch getröstet, zitterte nicht mehr. Einen Menschen zum Vater, es gab schon erstaunliche Dinge! Aber solange die P.U.D.E.L. nicht aufkreuzten, schien das seine Ordnung zu haben. Wer war er schon, sich über anderer Leute Familienverhältnisse zu wundern?! Großtante Ofrania hielt sich trotz gegenteiliger Beweise für einen Prima-Ballerina-Schmetterling! @~-~@ Nemo löste sich vorsichtig vom Rücken des Skorpion-Daimons. "Ist das auch wirklich in Ordnung, Younous? Ich weiß nicht, wie lange es dauert." Er studierte kläglich den Mee-Poo, der sich aufrichtete, ihn angrinste. "Oh, keine Eile, Nemo. Sieh mal, ich habe mir was zu lesen mitgebracht!" Damit zückte Younous aus seiner Gürteltasche ein sehr dünnes Magazin. Die Schrift nahm sich winzig aus. Es war längst die Nacht angebrochen. Younous schnalzte. Aus den Wipfeln der Bäume lösten sich Leuchtkäfer. Es wurde verblüffend hell um seine Klaue mit dem Magazin. "Geh hinüber, kleiner Kamerad, hm? Sag deinen Menschen-Leuten Bescheid. Ich halte hier die Stellung. Lustibus hast du ja gesehen. Dein Papa ist in guten Händen, während er schläft." Nemo nickte, die kleinen Fäuste geballt. Auf keinen Fall durfte er den Mut verlieren! Sein Papa hatte nur ihn, aber viele andere unterstützten ihn. Ohne "Draht", einfach, weil sie Mitgefühl empfanden. "Danke, Younous, vielen Dank. Ich werde auch nichts anstellen, versprochen." Der Skorpion-Daimon grinste, wuschelte ihm mit der freien Klaue durch die Locken. "Weiß ich, Nemo. Los, ab mit dir!" Nemo erwiderte das Lächeln entschlossen, trat über die schlüpfrigen Steine durch das Portal. @~-~@ Ludwig merkte auf, kam auf die Pfoten: ein vertrauter Geruch, eine bekannte Gestalt. Dann tat er etwas, was er schon lange nicht mehr unternommen hatte: er sprang Nemo an, warf diesen um, leckte ihm gründlich über das Gesicht. @~-~@ "Uh!" Stellte Nemo sparsam fest. Ludwigs Zunge war zwar warm, aber recht feucht und so ein Hundeatem auch gewöhnungsbedürftig. Er umklammerte einfach den Hals, ließ sich aufrichten, vergrub für einen Moment das Gesicht im Fell. Das tröstete. Auch ohne Fisch mochte Ludwig ihn. Mühsam kam er auf die Beine. Der Klapptisch auf der Veranda am anderen Ende des Gartens trug ein Teelicht in einer Laterne. Nemo kannte diesen Brauch zwar nicht, aber er spürte die Bedeutung: in der Dunkelheit ein Licht der Hoffnung, die Vermissten nach Hause zu leiten. Eine Gestalt erhob sich mühsam, steif. "Vati!" Rief Nemo, nahm Tempo auf. @~-~@ Eva Maria schickte sich drein: man konnte dem eigenen Sohn nicht dessen Sohn aus den Armen ziehen, aussichtslos. Wenigstens hatte Ludwig ein Einsehen, sodass Hadrian Nemo zwar auf dem Schoß und im Arm hielt, der Hund aber die Schnauze auf die dünnen, nackten Kinderbeine abgelegt hatte. Sie zog sich einen Klappstuhl heran. Auf dem Boden hocken, nein, das war ihr zu unbequem. Außerdem musste jemand ja nicht klapprig in die Wohnküche marschieren können, Tee holen, für den Hund Wasser in eine Schüssel! Ihrem Sohn war kein Wort zu entlocken, das Gesicht schneeweiß, selbst im Schein der Außenbeleuchtung eingefallen und versteinert. "Hier, Nemo, nimm erst mal die Banane. Wann hast du das letzte Mal was gegessen?" Das Magengrummeln konnte man nicht überhören. "Heute Morgen." Nemo kaute mit prallen Backen, eilig, besorgt, erschöpft. "Augen mal zu!" Kommandierte Eva Maria, lederte Schmutz und Hundesabber ab. Es war wichtig, gewisse Standards zu wahren, nicht nur aus hygienischen Gründen, sondern auch fürs Nervenkostüm. "Hier, versuch das auch mal." Reichte sie eine Scheibe Brot mit Haselnuss-Schokoladencreme-Aufstrich weiter. Nicht zwingend in Massen gesundheitsförderlich, aber der Junge brauchte Energie. Sonst konnte man nicht guten Gewissens herausfinden, was geschehen war. @~-~@ Nemo kaute artig und gründlich, um sich nicht zu verschlucken, spürte die muskulösen Arme um sich, die ihn nicht freigaben. Es machte ihm Angst, dass sein Vati kein einziges Wort gesprochen, keine Frage gestellt hatte. So fremd wirkte, das Gesicht wie aus Stein! Er ballte die Fäuste. Mut beweisen, nicht aufgeben! Alles würde gut werden, das stand als Ziel in Aussicht! Er räusperte sich nervös. "Vati, Oma, es ist so viel passiert! Bitte seid nicht böse auf Papa, ja? Eigentlich wollten wir nur probieren, ob es ihm gut geht, in unserer Welt." @~-~@ Hadrian hasste die Wahrheit in diesen Worten: nicht diese Welt, die andere. Keine Heimat hier, kein Zuhause auf dieser Seite. Trotzdem. Er konnte nicht aufgeben. Das ging schlicht nicht, ausgeschlossen. Vielleicht, so furchtbar der Gedanke war, ähnelte er darin seinem Vater. Einen verlorenen, aussichtslosen Kampf nicht abschließen zu können. @~-~@ Nemo kraulte Ludwigs Fell, während er die letzten Tage schilderte. Es beruhigte ihn, den Hund zu spüren, der keinen Druck ausübte, sich nicht mühsam beherrschte. Für den der Augenblick in Ordnung war. "Also, Papa ist mit mir in die Stadt gegangen. Er sagte, es schmerze nicht zu sehr. Er hatte es mir ja versprochen. Während ich in der gewaltigen, schönen Collectio gewesen bin, hat Papa eine Idee gehabt, was er tun kann. Erinnerst du dich an den Linsenmatsch und die Marinade, Oma? Das ist Papas Idee. Deshalb hat er ein Geschäft gesucht, wo man sie herstellen könnte. Das haben wir dann gemacht." Nemo nippte an seinem Tee, weil ihn der Hals schmerzte. "Die Nachbarschaft ist sehr nett und freundlich. Wir sind jeden Morgen früh raus, haben Wasserlinsen, Kräuter und Muschelschalen gesammelt. Papa sagte, es wäre fast geschafft, genug durchgezogene Blöcke seien fertig. Er könnte es allein bewältigen, ich könnte in die Schule gehen. Heute Morgen, da durfte ich zu den Großeltern, ganz kurz, Bescheid sagen, damit sie wissen, dass es uns gut geht. Dann wollte ich nach dem Ansetzen..., da dachte ich.." Er würgte, kämpfte mit den Tränen. "Also, ich wollte Papa einholen auf dem Heimweg. Da ist er umgefallen, hat sich nicht mehr gerührt. Sofort kamen Leute und Younous und ein Medi." Nemo schluchzte, trotz seinem festen Vorsatz, nicht mehr zu weinen, aber der Schreck saß zu tief, konnte längst nicht verdaut sein. "Trink einen Schluck, Nemo!" Kommando-Ton, sodass er reflexartig Folge leistete. Erstaunlicherweise half es. "Umea ist also krank? Wo ist er jetzt?" Ruhig, beherrscht, konkret auf die Fakten konzentriert. Nemo blickte hoch in das Gesicht seiner Oma. Sie war keine Jägerin und Fischerin, aber in diesem Momenten seiner Großmutter sehr ähnlich. Man durfte sich von seiner Angst nicht überwältigen lassen! "Er ist in einem Gebäude für Verletzte und Kranke, das heißt Medi bei uns. Frau Prof Drusilla hat Papa untersucht, während Younous, der ist ein Mee-Poo, mich getragen hat. Er wartet auch auf der anderen Seite des Portals auf mich." Nemo hielt sich an den grauen Augen fest, die aufmunternd den Fokus nicht von ihm ließen. "Ich hatte große Angst, aber alle haben geholfen. Unsere Nachbarschaft ist gekommen. Papa schläft ganz tief. Es ist nämlich so..." @~-~@ Eva Maria packte den Rucksack, dazu Pulverlösungen gegen Entzündungen oder Fieber mit Gebrauchsanleitung. Es würde sich bestimmt jemand finden, der ihre Schriftzeichen lesen konnte! Dazu kamen neue Kleider, Obst, Kekse, Trockenbrot, das Glas Haselnuss-Schokoladencreme, die Mappe mit den Buntstiften und einen neuen Block, das Kaleidoskop, ihre eingerollte Gymnastikmatte, damit der Junge nicht auf den Binsen schlafen musste, außerdem das Buch über die Dinosaurier. Sie kehrte auf die Veranda zurück. "Ich weiß nicht, was der Herr Younous isst, aber ich habe dir auch Trauben eingepackt. Vielleicht mag er die ja. Ist bestimmt auch längst seine Dienstzeit herum." Sie reichte den Rucksack zu Nemo herunter, der noch immer von ihrem Sohn umschlungen wurde, sich kaum rühren konnte. "Oh, ist der für mich?" Staunte sie ihr Enkel fassungslos an. "Ja, natürlich. Alle Schulkinder müssen doch eine richtige Schultasche haben. Wir haben ihn gestern ausgesucht. Ist zwar nicht ganz modisch, ohne tolle Figuren drauf, aber robust. Schau, an der Seite ist auch noch eine Flasche. Da habe ich dir Wasser eingefüllt." Sie ging langsam in die Hocke. "Es sind auch Medikamente drin. So genau wissen wir ja nicht, was zu tun ist, aber für den Fall, nicht wahr? Wenn was gebraucht wird, kommst du zu uns, Nemo. Dann schauen wir, was wir haben." Verunsichert blickten sie die schwarzen, von Müdigkeit umschatteten Augen an. "Danke schön, Oma! Ich freue mich sehr, nur bin ich gerade ein bisschen bange. Papa wollte alles richtig machen, wisst ihr? Er hat sich so große Mühe gegeben." Sie streichelte mit beiden Händen über die Wangen ihres Enkels. "Das verstehe ich doch, Nemo! Jetzt müssen wir nur ein Weilchen alle tapfer sein, dann geht es aufwärts. So, nun wirst du besser rüber gehen, nicht wahr? Wenn man nicht geschlafen hat, kann man nicht viel anfangen." Eva Maria stemmte sich hoch. Verflixter Verschleiß in den Knien! Sie spannte unwillkürlich die Sehnen im Kiefer an. "Hadrian, bring Nemo zum Portal. Wir können nicht helfen, wenn Nemo nicht weiß, welche Medikamente gebraucht werden. Sei vernünftig." @~-~@ Nemo fürchtete sich, vor dem Vati, der ihn wortlos, wie ein Roboter aus dem Buch, zum Portal trug, nicht losließ, kein Wort sagte. "Vati, sei Papa nicht böse, bitte, ja? Ich verspreche, ich komme wieder, Ehrenwort! Wenn Papa gesund ist, kommen wir zusammen! Nur ein Bisschen müssen wir durchhalten! Dann wird alles gut, Vati?!" @~-~@ Hadrian weinte, weil er keine Worte fand. Weil es so weh tat. Weil er nicht vernünftig sein wollte, es aber musste. Weil es wie ein Déja-vu war. Weil er allein zurückblieb und nichts ändern konnte. Weil er seinen Sohn liebte und gehen lassen musste. Weil seine Liebe keine gemeinsame Welt für sie alle erschaffen konnte. @~-~@ Nemo fühlte sich elend, als er schließlich aus den so starken Armen herabgelassen wurde, im Zwielicht das schmerzverzerrte Gesicht seines Vatis erblickte, voller Gram und Verzweiflung. "Ich komm wieder, Vati! Versprochen!" Stieß Nemo hervor, wandte sich ab, stürzte durch das Portal. @~-~@ Younous blickte auf, als er das Stolpern bemerkte, fing den kleinen Kerl ab, bevor der auf den schlüpfrigen Steinen zu Fall kommen konnte. »Ach du Großer M!« Younous klopfte tröstend auf einen schmalen Rücken, während der Junge weinte. Nun, besser raus als drinnen verstopft! Er griff mit der freien Klaue in eine Tasche seines Gürtels, entlohnte die Leuchtkäfer für ihre Mühe, verstaute sein Magazin, marschierte in gemäßigtem Tempo zurück zur Stadt. "Ist nicht so leicht, Nemo, das kann ich nachfühlen. Das Gute ist: wir sind auf dem richtigen Weg. Wenn du ausgeschlafen hast, sieht es besser aus." Das Schluchzen wich einem Schniefen. "Vielen Dank, Younous. Ich wollte mich wirklich zusammennehmen, aber mein Vati ist so ganz schlimm unglücklich!" Younous klopfte sanft einen beruhigenden Rhythmus auf den kleinen Rücken. "War bestimmt auch ein Schreck, trotz der guten Nachricht, hm? Ist übrigens ein schöner Rucksack, den du da hast." Lenkte er geschmeidig ab. Nemo richtete sich auf seinem Arm auf. "Ja, den haben mir Vati und Oma geschenkt! Oh, und es sind für dich Trauben drin, wenn du magst. Ich hab gar nicht dran gedacht, dass du längst frei hast, nicht wahr?" Younous gluckste. "Mee-Poos sind, wenn die Gewerkschaft nicht hinschaut, immer im Dienst, kleiner Freund! Allerdings hab ich echt ne Schwäche für Trauben! Wir könnten sie uns später teilen, was meinst du?" "Das wäre prima." Der Skorpion-Daimon bugsierte Nemo vorsichtig auf seinen Rücken. "So, kleiner Kamerad, halt dich fest, ja? Ich bring dich zu deinem Papa, zum Schlafen. Mal sehen, vielleicht finden wir ein paar flotte Freunde von mir. Da kannst du jeden Tag einen Abstecher zu deiner Menschen-Familie machen." Mit einer sportlichen Herausforderung würde er zweifelsfrei Interessierte ködern können. Außerdem halfen Mee-Poos einfach gern! @~-~@ Hadrian starrte auf den Kümmelschnaps, medizinisch zweifelhaft, aber seine Mutter hatte ihre Methoden. Er sollte bloß die Hand um das Glas schließen, den Arm heben, den Mund öffnen, schlucken. Doch ihm schien jede Willensanstrengung zu viel. Er fühlte sich wie ausgesaugt, nur noch eine leere Hülle. "Hadrian." Beim zweiten Anlauf blinzelten seine Lider. "Ich hoffe doch sehr, du denkst nicht, dass es wie vor zehn Jahren abläuft." Streng. Unerbittlich. Warum konnte sie nicht ein wenig gnädiger...?! Ein Impuls ließ ihn unvermittelt das Glas in einem Zug leeren. Brrr! "Hätte Umea geahnt, dass er schon wieder schwanger ist, hätte er bestimmt nicht das Geschäft aufgemacht, das weißt du doch. Dass er jetzt so krank ist, war auch nicht zu ahnen. Es hört sich ernst an, meine ich. Wir müssen Nemo bitten, Umea danach hierher zu bringen. Mit dem "Draht" da könnte er Probleme haben, wenn die Wirkung dieser Pilzdroge nachlässt und das Kind geboren ist." Hadrian wandte sich um. Aus irgendeinem Grund verstand er plötzlich wieder. War seine Mutter nicht unerbittlich rational, übertrieben energisch, gefühlskalt, sondern nachsichtig, erschöpft, liebevoll, aufmunternd, kämpferisch. So wie immer, so wie in allen Jahren. Hadrians Augen beschlugen erneut. "Es tut so weh!" Stieß er anklagend hervor, flüchtete seine viel zu große, kräftige Gestalt in die kleinere, füllige seiner Mutter. "Ja, ich weiß. Ich weiß, Schatz, aber das ändert sich, glaub mir. Wir finden eine Lösung, versprochen. Wir fangen ja gerade erst an!" @~-~@ Lustibus justierte flink die Hängematte für Besuch und Angehörige. Er verfügte über ein entsprechendes Arsenal, kümmerte sich hingebungsvoll. Alle Behandlungsbedürftigen und ihr Besuch waren SEINE Familie auf Zeit! Nemo schlief erschöpft, merkte nicht mal, wie Younous und Lustibus ihm den Rucksack abschnallten. Lustibus arrangierte eine dünne Decke über dem Kind in der Hängematte, lächelte zu Younous hoch. Weil er fest daran glaubte, legte er Nemo noch einen Freund in die Matte, einen flauschigen Kronk. Oder zumindest die Variante, die Lustibus sich vorstellte, der noch nie einem echten Kronk begegnet war. Er glaubte nicht daran, dass Kronks kleine Daimonen-Kinder fraßen! Diese hier, die er selbst nähte, waren gute Kumpels, die böse Träume vertrieben und beschützten! Er wisperte den Leuchtkäfern eine Bitte zu. Der kleine Raum tauchte sich in ein bläulich-grün schimmerndes Dämmerlicht. @~-~@ Quäste Ndadadime klapperte wie gewohnt die Nachbarschaft ab. Sie hatte genau im Kopf, wer den wöchentlichen Obolus wann in welcher Höhe zu entrichten hatte. Zwei Stempelabdrücke, danach zahlte sie abschnittsweise die öffentlichen Beschäftigten aus. So musste sie nie allzu viel Zahlungsmittel (Geld oder auch Naturalien) lange transportieren. Von dem Zusammenbruch des neuen Mietenden vom großen See hatte sie natürlich gehört, dass der arme, kleine Junge im Medi bei seinem Vater wachte, man die fertigen, sehr leckeren Blöcke schon abverkaufte, aber nicht so recht wusste... Ja, wie sollte es weitergehen? Würde etwas verderben? Und die Ernte vom Vortag? Ndadadime nickte konzentriert. Ohne Umsätze kein Obolus. Andererseits war es eine Tatsache, dass die Unternehmungen des Großen M überall die Defizite ausglichen. Somit bestand kein existentieller Druck. Trotzdem sah sie ihre Aufgabe darin, die Wirtschaft in ihrem Zuständigkeitsbereich am Laufen zu halten. Austausch und Versorgung waren wichtig. Hmmm.... Klar, mit Geschäftsgeheimnissen ging man nicht hausieren. Vielleicht war der Junge vom großen See bereit, eine Ausnahme zu gestatten? Ndadadime richtete sich auf, beruhigte die Nachbarschaft. Sie hatte da eine Idee, musste bloß die nächste KOK-Offize in ihrem Lieblingscafé aufstöbern! @~-~@ Drusilla beriet sich mit ihrem Kollegen. Wirklich knifflig! Der kleine Käfer, der die Lebensfunktionen des ungeborenen Kindes "belauschte", summte gleichmütig: alles in Ordnung. Nur das sich ebenfalls vom Organismus ernährende Gewächs im Brutbeutel machte Ärger, war ein expandierender Entzündungsherd. Ohne den Pilz, den ihr Patient konsumiert hatte, hätten ihn Fieber und Schmerzen viel früher außer Gefecht gesetzt. Wie sollte man aber vorgehen? Stabile Lage mit herabgesetzter Körpertemperatur, das half für den Moment, doch das Kind galt es auch zu schützen. Das Gewächs herausschneiden? Verflixt knifflig! Das Geflecht spannte auch die kleine Blase des Kindes ein. »Ein schlauer Parasit.« Dachte Drusilla grimmig. Natürlich verfügte das Gewächs über keinen Willen, keine Absicht, nicht mehr als eine natürliche Intention, Wachsen und Gedeihen, auf Kosten des Wirtskörpers. Sehr unerfreulich. Ein Rennen gegen die Zeit. @~-~@ Nemo hatte, ein wenig erschrocken darüber, wie lange er geschlafen hatte, den Rucksack geleert, Lustibus die Medikamente der Oma anvertraut, damit jemand gefunden wurde, der die Buchstaben nicht nur lesen, sondern auch ihren Sinn verstehen konnte. Mit Younous hatte er die Trauben geteilt. Lustibus hatte einen Keks mit der leckeren Creme gern angenommen. Alle hatten die Buntstifte in ihrem Mäppchen und den Block bestaunt. Schon feine Sachen, die man so als Schulkind bei den Menschen bekam! Nemo betrachtete sie stolz, aber auch traurig, weil sie gekauft worden waren, obwohl Oma und Vati gar nicht wussten, was aus ihnen geworden war. Sie bedeuteten Vertrauen in eine Lösung, die Nemo noch nicht gefunden hatte. Er blickte überrascht auf, als die Quäste Ndadadime Lustibus' Reich betrat. "Guten Morgen, Nemo, Lustibus, Younous. Wie geht es deinem Papa?" "Guten Morgen, Quäste Ndadadime. Mein Papa schläft, ganz gekühlt. Sie beraten sich immer noch." Antwortete Nemo, lächelte bemüht. "Das klingt für mich, als wollten sie eine besonders gute Strategie entwickeln." Ließ sie ihn wissen, ging vor ihm in die Hocke. Ihr weinroter Pelz schimmerte im Kontrast zu den silbrigen, kurz getrimmten Haaren. Die blau getönten Gläser ihrer Brille ließen die Facettenaugen eher golden als schwefelgelb erscheinen. "Ich habe mir was überlegt, Nemo. Dafür benötige ich allerdings deine Hilfe. Hast du ein wenig Zeit für mich?" @~-~@ Drusilla registrierte überrascht, dass ihr Büro bis auf Lustibus leer war, der wie gewohnt herbei kugelte, sie samt dem Spezi zum Sitzen nötigte, damit er einen erfrischenden Kräutersud zur Stärkung servieren konnte. Er präsentierte die Medikamente aus der Menschenwelt, gedacht, zu helfen, wenn es sich anbot, aber auch, den lieben, tapferen Jungen zu beruhigen. Der übrigens mit der Quäste und dem Mee-Poo unterwegs sei, um das Geschäft am Laufen zu halten, jawohl! Ein ganz prächtiger Morgen, ohne Zweifel! Drusilla schmunzelte, spürte, wie der Spezi verwirrt seinen Sud schlürfte. An Lustibus musste man sich ein wenig gewöhnen, durchaus, aber sie hätte ihn niemals austauschen mögen! @~-~@ Ingban blickte trübsinnig auf die belebte Einkaufsmeile. Er steckte, mal wieder, in Schwierigkeiten. Wenn er nicht bald eine neue Beschäftigung fand, würde er auch das Rollbrett verkaufen müssen, weil er sonst die Miete schuldig blieb, seine kümmerlichen Ersparnisse rasch zur Neige gingen. Dabei hatte er durchaus einen Aushilfsjob ergattert. Bloß konnte man, leider, nicht die Aufträge nach der Geschosshöhe verteilen, bei Kurierdiensten war das nicht üblich, nein, wirklich nicht! Ingban verstand das durchaus. Ganz offensichtlich handelte es sich bei ihm ja um einen Greifvogel-Daimon. Nur litt er unter Höhenangst. Jeder Versuch, auf dem Land mit geschlossenen Augen eine Anhöhe zu erklimmen und zu fliegen, endete in einem unkontrollierten Gleitflug mit Fast-Abstürzen. Irgendwann hatten selbst seine Eltern ein Einsehen. Was nicht bedeutete, dass Ingban Geschwindigkeit nicht mochte! Mit dem Rollbrett am Boden beispielsweise. Nach zwei Beinahe-Kollisionen hatten die Mee-Poos es in Verwahrung genommen. Ingban trug seitdem eine Brille. Als Greifvogel-Daimon! Er hatte in einer Kaninchenzuchtstation gearbeitet. Warum auch nicht, essen wollten sie ja alle! Allerdings endete dieser Einsatz nach dem zweiten Tag, weil Ingban auch schreckhaft war. Ein barsches Kommando, wegen des verspäteten Karrens mit Frischfutter, ein vergessener Riegel. Bloß ein Detail. Nur sollten sich Kaninchen eben IN den Gehegen aufhalten und nicht außerhalb. Weshalb man ihn höflich, aber unerbittlich verabschiedet hatte. Ein netter Kerl, ja, keine Frage, lediglich für diese Aufgabe ungeeignet. Punkt. Unerfreulicherweise hatte sich in seinem aktuellen Wohnviertel auch herumgesprochen, dass er nicht überall einsatzfähig war. Bodennahe, nicht überraschungsfreudige Tätigkeiten, bei denen die Brillengläser nicht beschlugen... "Ingban!" Der unerwartete Ruf ließ ihn verschreckt von der Sitzbank hintenüber fallen. @~-~@ Kapitel 17 Nemo beäugte den großen Greifvogel-Daimon aufmerksam. Der studierte angestrengt die einzelnen Kräuter. "Wir können sie pressen und in ein Buch legen. Da hast du einen Vergleich zur Hand." Bot er an. Ingban lächelte erleichtert. "P~p~prima! F~f~fein! K~k~krieg ich h~hin!" Ingban wandte sich hilfesuchend der Quäste zu. "M~mein R~r~rollbrett, w~w~was...?" Quäste Ndadadime, die Nemo schon sehr mochte, weil sie ihn an seine Oma erinnerte, brummelte. "Ohne Bremsen? Nichts da. Die Idee mit dem Seil um den Knöchel war auch keine Glanzleistung." Ingban ließ den Kopf hängen, die Schmuckfedern, blau getönt, klappten ein. "V~v~verstehe." Nemo empfand Mitgefühl. Zumindest beim Behandeln der Wasserlinsen und der fertigen Blöcke zeigte Ingban sich anstellig. "Vielleicht können wir es tauschen? Ich habe da in der Werkstatt zwei Straßen weiter etwas Tolles gesehen." @~-~@ Younous lieferte sich ein knappes Rennen mit Ingban auf dem Laufrad. Nemo auf dem Rücken behinderte ihn kaum, der wog ja nicht viel mehr als die Schocklanze im Griff seines Skorpionstachelschwanzes! Der höhenkranke, weitsichtige, schreckhafte Greifvogel-Daimon ließ kleine Triller hören, was wohl Juchzern entsprach. Nemo lachte auch. Trotz aller Sorgen, so ein Wettrennen, das machte Spaß! @~-~@ Es war spät. Er sollte sich schämen, von der eigenen Mutter hoch geschickt zu werden, frühzeitig in den Feierabend entlassen! Hadrian registrierte seine Erschöpfung, die bis ins Mark ging. Wenig Schlaf, Enttäuschung, Sorgen, Schmerz, das zehrte an seinen Kräften, doch er konnte sich nicht einfach hinlegen. Nein, weil es etwas zu tun gab! Wahrscheinlich funktionierten Baumärkte auch so: man konnte sich ablenken, etwas Übersichtliches, Beherrschbares beginnen und abschließen. Hadrian krempelte die Ärmel hoch: Nemo brauchte ein eigenes kleines Reich. Frisch gestrichene Wände, ein Bett, Platz für Habseligkeiten, eine Leselampe für die Bücher. Einen Vater, der diese Aufgabe ernst nahm, sich nicht drein schickte, nicht aufgab. Wer bestimmte denn, dass man nur EIN Zuhause haben konnte?! @~-~@ Ludwig ließ sich erfreut kraulen. Leider währte das nicht lange, man musste Nemo mit den anderen Zweibeinern teilen. Er war sehr im Hier und Jetzt verhaftet. Das, fand er, stand anderen auch ganz gut an! @~-~@ Nemo wusste, dass er nicht allzu viel Zeit hatte. Younous hatte Ingban zu einem Wettrennen mit dem eingetauschten, teil-abgezahlten Laufrad herausgefordert. Nicht nur, um am äußersten Rand des Sees Nachschub einzusammeln, sondern damit Nemo kurz seine Menschen-Familie treffen konnte. Ein regelrechter Luxus. Mee-Poos waren keine persönlichen Schutzengel, die man für sich allein hatte! Nemo gab Ludwig ein abschließendes Kraulen, wieselte flink durch den Garten zum Haus. Bestimmt arbeiteten Vati und Oma noch in der Apotheke! Deshalb glitt er leise in die Wohnküche, lauschte auf Stimmen, spähte vom Vorratsraum/Labor/Hinterzimmer hinaus, hörte seinen Vati recht steif und kurzangebunden antworten. Die Türglocken lärmten abschließend. "Vati?" Machte Nemo höflich auf sich aufmerksam. Wie vom Donner gerührt wischte sein Vati herum. Zwei Schritte, da fand er sich in den muskulösen Armen, fest umschlungen. "Geht es dir besser, Vati?" Wagte Nemo sich auf tückischen Grund, hörte die tiefen Schnaufer der erzwungenen Beherrschung. "Grad so. Und dir?" Nemo lachte erleichtert auf. "Ich bin nicht mehr so verschreckt wie gestern, Vati. Ndadadime, die Quäste, hat einen Helfer gefunden, Ingban. Mit ihm zusammen kann ich das Geschäft fortführen. Der ist ein bisschen seltsam, aber sehr nett. Er wartet mit Younous, das ist der Mee-Poo, vor dem Portal. Lustibus sagt auch, dass es jetzt wieder besser wird, jeden Tag." Ein Gedanke, an den Nemo sich entschieden klammerte. Er hörte das leichte Rasseln im Atemzug seines Vatis, spürte den Kummer des Vortags. "Wie geht es Umea?" Nemo seufzte leise. "Der Spezi redet die ganze Zeit mit Frau Prof Drusilla. Dieses Gewächs kann man nicht wegschneiden, sagen sie. Es ist schwierig, weil dem Baby nichts geschehen soll." Er richtete sich mit einiger Anstrengung auf. "Papa schläft immer noch in diesem gekühlten Zustand, bis die Wirkung vom Pilz abgeklungen ist. So lange muss ich Geduld haben." Wiederholte er Lustibus' Empfehlung leise, streckte dann das Rückgrat durch. "Mir ist auch nicht mehr so bange, Vati. Alle helfen mit, da kann ich nicht kleinmütig sein. Ich bin froh, dass ich dich heute auch treffen kann." Selbst wenn er sich rasch wieder verabschieden müsste. @~-~@ Obwohl noch längst nicht Sperrstunde war, legte Hadrian mit einer Hand den Riegel um. Wer jetzt kam, musste eben warten! Nemo im Arm marschierte er langsam durch die Wohnküche über die Veranda in den Garten, wollte nicht tun, was er musste. Rau wisperte er in die schwarzen Locken. "Ich hab dich lieb, Nemo, und ich bin stolz auf dich. Du bist so tapfer. Du fehlst mir hier. Und Umea. Hier ist auch dein Zuhause, jederzeit. Ich warte hier, ich gehe nicht weg, darum, bitte komm wieder." Verflixte Tränen! Dabei war er sonst sicher nicht nahe am Wasser gebaut, aber das hier war anders. Arbeit konnte seine Gefühle nicht kompensieren, den Schmerz, die Sehnsucht, die Hilflosigkeit, den Groll. Entschieden zwang er sich, Nemo auf die Füße zu stellen, vor seinem Sohn in die Hocke zu gehen. "Sag deinen Freunden drüben vielen Dank von uns. Wenn etwas gebraucht wird, bemühen wir uns darum." Er brach ab, weil es lächerlich war, so um Würde und Distanz zu ringen. Nemo tätschelte ihm sanft die Locken. "Ich bin auch traurig, Vati. Wir müssen nur noch ein bisschen durchhalten. Ich komme wieder, fest versprochen. Sag das bitte auch Oma, ja?" Hadrian nickte verkrampft. Der kleine Kerl hatte mehr Traute und Zuversicht als er! Beschämend nahm sich da als Urteil noch euphemistisch aus, deshalb stemmte er sich in die Höhe, öffnete das Gartentor. Nemo straffte sichtlich die schmalen Schultern. Ludwig paradierte schon heran. "Bis bald, Vati, Ludwig!" Nemo nahm regelrecht Anlauf, sauste los, verschwand spurlos vor dem erwarteten Zusammenprall mit der Scheunenwand. Ludwig winselte kurz. Hadrian empfand es genauso, ballte die Fäuste. Gerade lief es wirklich NICHT GESCHEIT! @~-~@ Younous angelte Nemo geübt aus der Sturzbahn. "Ganz schön stürmisch, Kamerad! Aber richtig, wir sollten zurück in die Stadt. Ihr müsst ja ein bisschen an der Ausbeute von heute arbeiten." "Danke schön." Krächzte Nemo an seinem Hals. Ingban rollte heran, frisch verliebt in sein neues Gefährt, das bremste, wenn er die Flügel aufspannte. Kollisionsgefahr mit Geschossqualitäten gebannt! "Oh, i~ist d~d~dir ni~nicht g~gut?" Erkundigte er sich verwirrt. Younous schälte sich mit Nemo auf dem Rücken aus dem Dickicht. "Das wird schon." Er ließ sich auf alle Viere herunter. "Also, Ingban, bereit für einen Spurt?!" Rhetorische Frage! @~-~@ Drusilla wurde von Lustibus unterrichtet, dass offenkundig eine Art Wettrennen lief, wer mit Nemo flott raus aus der Stadt, an den Rand des Sees, zum Portal dort und wieder zurück rannte. Nicht alles auf einmal, nein, so in Etappen! Drusilla lauschte aufmerksam. Nemo wurde auch hier abgeliefert, von wechselnden Mee-Poos, KOK-Offize oder anderen, damit er bei seinem Papa schlafen konnte, dessen Zustand sie besorgte. Die letzten Überreste des Pilzes waren im Kreislauf nicht mehr nachzuweisen. Dafür stiegen die Infektionsmerkmale rapide an. Das schmarotzende Gewächs wucherte rascher, als die winzige Blase mit dem Baby sich ausdehnen konnte, drückte auf die Haut, die Organe. Einige Nervenbahnen hatten sie zwar punktiert, um die Impulse abzufangen, jedoch... Sie würde mit dem Jungen sprechen müssen. @~-~@ Nemo spürte, dass etwas nicht stimmte: Schmerzen, Schwäche, Bitte um Beistand oder Erlösung. Er fühlte sich elend, war dankbar, dass Lustibus neben ihm residierte. "Ich habe überlegt, Nemo, dich nicht mehr zu deinem Papa zu lassen, weil es ihm sehr schlecht geht, er sehr schwach ist." Drusilla konzentrierte sich auf die winzigste Regung im Raum. "Aber ich habe entschieden, dass ich dir etwas zutrauen kann, was selbst für Erwachsene sehr schwierig ist, nämlich bei ihm zu bleiben, auch wenn seine Sinne vielleicht verwirrt sind, wenn er dich nicht erkennt. Ich möchte, dass du mir hilfst. Wirst du das tun?" Nicht einen Wimpernschlag später hörte sie Nemos Antwort. "Ja, Frau Prof Drusilla, das werde ich, ganz bestimmt." @~-~@ Nemo verbannte die Sorge um den Laden, Ingban und die Nachbarschaft aus seinem Kopf, verabschiedete die Menschenwelt, die er noch zwei Mal kurz besucht hatte, tupfte behutsam Flüssigkeit auf die nackte Haut. Papa konnte nicht mehr essen, kaum noch trinken, nicht gehen, nicht sitzen, nur noch liegen, grotesk aufgebläht, wo der Geschwulst wucherte. Weinte nicht mehr trotz der Schmerzen, war in einen Dämmerzustand verfallen. Kaum auszuhalten, doch Nemo konzentrierte sich auf die winzige Kugel, wo sein Geschwisterchen noch wohnte. Eine Präsenz, die nicht von Qual und Leid kündete, eher wach und neugierig wirkte, die beengten Verhältnisse ob des bedrohlichen Gewächses nicht goutierte. Der Käfer summte noch immer beruhigend. Die Hungerkur seines Papas wirkte sich noch nicht auf das Baby aus. Unermüdlich tupfte Nemo Nährflüssigkeit auf. Nicht aufgeben, nicht der größten Angst weichen! @~-~@ Drusilla kontrollierte die Herztöne. Es war spät, der Junge vollkommen erschöpft eingeschlafen. Sie musste abwägen. Lustibus kugelte lautlos heran. "Sag Bescheid, bitte. Eine Wanne brauchen wir, ist ja teilweise ein Wasserwesen." Lustibus schwirrte emsig umher. Drusilla beugte sich über Nemo, schüttelte sanft eine knochige Schulter. "Nemo? Ob du wohl auf das Baby achten kannst, wenn wir es geholt haben?" @~-~@ Nemo bekam ebenfalls eine Verpuppung, so viele Körperpartien wie möglich abdecken, in den Sprühnebel treten. Er fürchtete sich ein wenig, weil sie doch seinem Papa den Leib aufschneiden würden. Seine Aufgabe bestand jedoch darin, die Blase gleich in die Wanne zu setzen, das Baby zu beruhigen, das sich vielleicht plötzlich allein fühlen würde. Nemo schüttelte eine erschöpfte Benommenheit ab. Gleich ging es los! @~-~@ Drusilla ließ sich zufrieden aus der Verpuppung helfen. Es strengte durchaus an, fortwährend die Schallortung einzusetzen, aber ihr Patient war stabil, der Parasit entfernt. »Keinen Augenblick zu früh!« Dachte sie grimmig. Ein derart aggressives Wachstum begegnete ihr selten. Sie stutzte, als Lustibus sich höflich räusperte. "Es scheint, man schläft auch im Wasser, Prof, deshalb ließ ich die Wanne in Ihr Büro schieben, gewissermaßen aus dem Weg." Drusilla verzichtete auf eine spontane Replik. Tatsächlich meldeten ihre Sinne präzise, dass statt Hocker eine Sitzwanne vor ihrem Schreibtisch residierte. Darin befanden sich zwei Wesen, schlafend: ein kleiner Junge und in seiner rechten Hand sein winziges Geschwisterchen. @~-~@ Nemo war sich der Bedeutung seiner Aufgabe bewusst, nicht nur durch die Kollektiverinnerung seiner einen Hälfte. Üblicherweise kümmerten sich alle um den Nachwuchs. Hier war er allein, sein geliebter Papa entschuldigt, Vati und Oma durch das Portal getrennt. Deshalb oblag es seiner Verantwortung, dass seiner winzigen Schwester kein Unheil geschah. Er knüpfte aus einem Stück Tuch eine winzige Tasche, befestigte sie mit Bändern um seinen Nacken, spürte ihre Reaktion: Aufmerksamkeit, Neugierde, Erwartungsfreude. Nemo grinste schief. So konnte er sich recht sicher sein, dass sie auch eine Menschen-Hälfte hatte! @~-~@ "Die ist ja winzig!" Staunte Younous unzensiert und verblüfft. Klar, Nemos Vater Umea wirkte schlank-sehnig, da konnte man jetzt nicht ein volles Pfund erwarten, aber..! "Wir wachsen sehr schnell." Korrigierte ihn Nemo müde, aber lächelnd. "Ob du mich noch mal an den großen See bringen kannst? Es ist wichtig, dass Nadia die anderen kennenlernt." Younous nickte, ließ sein prächtiges Gebiss sehen. "Lange bleiben kann ich zwar nicht, aber ich kenne ein paar Leute, die sich ein Rennen nicht entgehen lassen. Da gabelst du vielleicht eine Rückfahrgelegenheit auf." Nemo umarmte ihn spontan. "Vielen Dank, Younous! Du bist der beste Mee-Poo aller Zeiten!" Geschmeichelt winkte Younous ab, balancierte dabei vorsichtig Nadia in seiner Klaue aus. "Ach was, Kamerad, ist doch keine große Sache! Mir gefällt der Name der Kleinen, richtig hübsch." Nemo nahm seine Schwester wieder in Verwahrung. "Eigentlich dürfen nur die Anführerinnen die Namen auswählen. Da ich aber die Blase aufgestochen habe, bin ich wohl zuständig. Papa hat mir auch meinen Namen ausgesucht, weil ich ja ein halber Mensch bin." Zudem musste nicht jede Regel buchstabengetreu unter allen Umständen eingehalten werden! Younous balancierte die Schocklanze im Griff seines Skorpionstachelschwanzes aus. "Na gut, wollen wir gleich los, oder brauchst du noch Proviant? Oder Windeln oder so?" Nemo hielt sich gewohnt fest, tastete im Kopf nach seiner Schwester. Sie machte einen quietschvergnügten Eindruck. "Ich habe alles, danke schön. Auf die Plätze...!" @~-~@ Nachdem Younous ihn abgesetzt hatte, marschierte Nemo mit Nadia im Beutel ans Ufer. Er trug seine gewohnte Kleidung, nichts dabei, was auf die Menschenwelt referieren konnte. Da Ndadadime Ingban streng kontrollierte, musste er auch keinen Gedanken an Nachschub verschwenden. Der Greifvogel-Daimon machte sich laut Quästorin ganz gut. Sie überprüfte höchstpersönlich die Qualität der reifenden Blöcke! Nemo schmunzelte in Gedanken an ihre Betonung der dienstlichen Distanz: alles nur aus Verantwortlichkeit für Ingban und das Viertel! Genau! Entschieden verdrängte er Gedanken an mehr als die nächsten Stunden. Er wusste, dass er sich ihnen widmen musste. Eigentlich belastete ihn die Verantwortung schwer, doch die Liste seiner Großmutter half auch in dieser Lage. Prioritäten! Nadia zappelte an seinem Schlüsselbein. Sie vermisste ein Fortschreiten der Ereignisse! "Na schön, kleine Schwester, ich zeig dir mal den See!" Nemo stieg langsam in das vertraute Gewässer. Er tauchte, wartete mit klopfendem Herz ab. Das erste Mal in nicht geschlossenem Gewässer, mit Tiefen, voll mit Pflanzen, Tieren, unzähligen Lebensformen: Nadia schlüpfte aus der Beutelschlinge, bewegte sich mit geschmeidiger Eleganz, hatte keine Mühe mit dem Luftvorrat. Nemo hielt sich trotzdem an der Oberfläche, blieb eng bei ihr. Sie war ja noch kleiner als mancher Fisch, insbesondere die Raubfische! Er spürte ihr Vergnügen und Staunen. Diese Welt war für sie voller Wunder, überwältigend mit Signalen und Informationen! Auch wenn er sich selbst nicht mehr erinnern konnte, wusste Nemo, dass diese Momente entscheidend waren: alles aufzusaugen, was die Gemeinschaft hier teilte, das Rüstzeug für ein Überleben. Er steuerte gemächlich das Areal an, wo seine Großmutter, die Tante und andere sich zu tummeln pflegten. JETZT galt es, seine beiden Hälften für seine kleine Schwester einzusetzen! @~-~@ Drusilla studierte konzentriert ihren kritischsten Patienten. Die Wunden verheilten gut, wurden akribisch gereinigt, immer wieder von den kleinen Spinnen benetzt. Aber Umea war entsetzlich schwach. Trotz der ungeheuer nützlichen Nährlösung über seine Haut kaum mehr als ein ausgezehrtes Skelett! Außerdem sorgte sie sich um die Psyche des jungen Mannes. Auch auf ihrer Seite diskutierte man schon lange über das "Schmerzgedächtnis". Erwartungsgemäß stachen chronische Erkrankungen heraus, aber auch Traumata spielten eine Rolle. Wie konnte es gelingen, die prägenden, einschneidenden Schmerzen zu relativieren, die Nerven und die Verarbeitung ihrer Signale zu beeinflussen? Die Nähe der beiden Kinder hatte den ausfasernden Faden der Selbsterhaltung stabilisiert. Eine große Belastung für den tapferen, kleinen Kerl! Ungeduldig klappte sie die Ohren auf und zu. Man wusste immer noch zu wenig, über eine Art Kollektivbewusstsein, über die Psyche! Wirklich deprimierend, dass sie keine erwachsenen Familienmitglieder befragen konnte! So blieb alles an dem Jungen hängen. Zur Hälfte ein Mensch, erstaunlich! Drusilla wirbelte kurz ihre ledrigen Schwingen auf, absolvierte einige Entspannungsübungen. Lustibus materialisierte sich neben ihr, mit einem Kräutersud. "Sehr gute Erfolge! Eine wohlverdiente Pause, Prof!" Drusilla lächelte, bedankte sich, nippte am Sud. Bevor Lustibus sich emsig wegkugeln konnte, immer im Einsatz für die Schützlinge, sprach sie ihn an. "Lustibus, ich mache mir Gedanken über den jungen Mann. Glaubst du, eine Aromatherapie könnte helfen? Immerhin bewegt er sich ja auch über Wasser." Durch ihre Echoortung registrierte sie, dass Lustibus sich vor Stolz noch runder aufblähte. Seine Einschätzung wurde gefragt! "Nun, Prof, das wäre eine feine Sache! Immerhin stellt der junge Papa ja seit kurzem sehr leckere Speisen her, die mit Kräutern versetzt sind. Wenn ich Nemo frage, erfahren wir vielleicht, ob der Papa eine Leibspeise hat. Der Geruch dieser Speise könnte anregend und aufmunternd wirken." Drusilla lächelte, lupfte anerkennend ihren Becher. "Auf dein Wohl, Lustibus! Ein sehr guter Vorschlag, das versuchen wir." Lustibus kam kaum durch die Tür, so stolz machte ihn dieses Lob! @~-~@ "Du hast doch gerade erst gegessen." Stellte Nemo fest, als er durch die hohlen Halme am Ufer zur Straße stapfte. Nadia gab ein Gurgeln der Kritik von sich. Nemo schmunzelte, strich sehr vorsichtig mit der Fingerkuppe über ihren Kopf. "Schön, ein bisschen Geduld, ja? Bei Vati und Oma bekommst du bestimmt was." Um sie abzulenken, justierte er den Beutel so, dass sie auf den Weg spähen konnte. Er schritt forsch aus, die Kleidung gewohnt rasch trocknend, aufrecht und ermutigt. Den ersten Erfolg hatte er schon verbucht. So konnte er auch die Anstrengungen der letzten Tage verkraften. Nach kurzer Irritation war Nadia anerkannt worden. Man spürte sie, und sie spürte ihre Verwandten. Sie tauchte und schwamm mühelos, unerschrocken und zielsicher. Nemo konnte noch nicht abschätzen, ob sie auch Augengläser wie er selbst benötigen würde. Sie vertilgte den angebotenen Fisch und bei seinem Großvater noch frischen Fladen! Schön, optisch glich sie nicht gerade den anderen. Und diese Menschen-Sache! Bezüglich gewisser Aspekte hatte Nemo seine andere Hälfte zum Einsatz gebracht, die, die Ideen hatte, die gewisse Umstände geschickt übersetzte. So hatte er die schwere Erkrankung ihres geliebten Papas gänzlich unerwähnt gelassen. Da hätte man sich doch gewundert, wie der Hilfe...und von wem... Lieber mit dem Geschäft argumentieren, das zog als Erklärung mühelos! Je nun, die "Mutter"war dieselbe, ob man nun an Menschen glaubte oder nicht. Den "Nebel" registrierend vermied er weitere Erläuterungen. Eine Hälfte gehörte hierher, zu ihnen, ganz unzweifelhaft. Was die andere betraf, da konnte man möglicherweise keine neue Generation erwarten, aber zumindest schien Umea es gemeistert zu haben, sich ein Auskommen zu sichern, die Familie zu ernähren. Durchaus, untypisch, das Mädchen nicht durch die Matriarchin mit einem Namen zu versehen, allerdings, wenn sie nun mal so schnell geschlüpft war, dass nur der Bruder... Und eben zur Hälfte anders... Das konnte niemand leugnen: schwarze Knopfaugen und winzige, kupferrote Löckchen mit definitiv Grünspat-Schimmer! Nemo lächelte versonnen vor sich hin, während er marschierte, dem Portal zu. Er hatte sie alle überzeugt, Zweifel vertrieben. Manchmal zählte eine gewisse Betriebsblindheit im Kollektiv doch zu den Vorteilen seines hälftigen Erbes! @~-~@ Ludwig ignorierte geübt die Aufforderung, ins Haus zu kommen, auch wenn es leicht nieselte. Immer noch besser, als dem Lärm aus dem flachen Gerät an der Wand lauschen zu müssen! Außerdem war ihm das zu fad und zu laut, um gemütlich zu dösen! Plötzlich witterte er erfreut, schlich sich geduckt zur alten Scheune, seinem jungen Freund ein warnendes Beispiel zu geben. Der ging auch eilig in die Hocke, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. "Ludwig! LUDWIG!" Ludwig bellte knapp und kategorisch. "Dann werd halt nass!" Lautstark schlug die Schiebetür in den Schließhaken. Der Bernhardiner schüttelte sich kurz, richtete sich zu seiner imposanten Größe auf, näherte sich beschwingt seinem Freund, den er vermisst hatte, ließ sich umarmen, zwischen den Ohren kraulen, schnüffelte höflich an dem winzigen Wesen, das kurz auf der Handfläche des Jungen saß, dann im Beutel verstaut wurde. Er begleitete seinen Freund zum Gartentor, wedelte erwartungsfroh mit dem Schwanz und bekam, wie früher, einen Fisch zum Vespern vorgelegt! @~-~@ Gewarnt durch Ludwigs Verhalten studierte Nemo die Umgebung. Im Nachbarhaus schien sich niemand für ihn zu interessieren. Er wusste, dass man nicht einfach durch umzäunte Gärten marschieren sollte. Das rief Argwohn und Ärger hervor. Im Nieselregen erkannte er schon die Laterne mit dem Kerzenschein. Nemo straffte seine sehnige Gestalt. Ohne Zweifel hatten sich Vati und Oma Sorgen gemacht, weil er nicht mehr gekommen war. Er würde mit Takt operieren müssen. Nadia gurgelte ungeduldig. "Ja, in Ordnung, bin schon unterwegs." Besänftigte Nemo sie, wieselte über den Sand-Kies-Weg durch den Garten zum Haus. In der Wohnküche befand sich niemand, aber er hörte vertraute Stimmen. Sein Vati schien im Obergeschoss zu sein, seine Oma im Lager/Hinterzimmer/Labor. Er räusperte sich höflich, lächelte entschlossen. "Guten Tag, Oma. Ich bin wieder da und hab Nadia mitgebracht." @~-~@ Kapitel 18 Eva Maria sperrte ab, ließ das Schild mit dem Hinweis auf die Klingel baumeln. Sie umarmte ihre Enkel mit einem erleichterten Seufzer. "Was bin ich froh, dass du wieder da bist, Nemo! Wir haben uns schon so unsere Gedanken gemacht." Nemo schmiegte sich an. "Entschuldige bitte, Oma, es ging nicht anders. Magst du Nadia vielleicht mal halten? Aber Vorsicht, sie beißt, wenn sie Hunger hat!" @~-~@ Hadrian kümmerte sich nicht um Farbreste in Haaren oder auf der Haut. Er hielt Nemo auf seinem Schoß umschlungen, atmete immer wieder tief durch, so schwindlig war ihm vor Erleichterung! "Jetzt lass Nemo mal erzählen, Sohn! Nimm Nadia für einen Moment, damit ich was zu essen mache. Ihr habt doch sicher Hunger, nicht wahr?" Widerwillig gehorchte Hadrian seiner Mutter, balancierte in seiner großen Hand ein viel zu kleines Wesen. Wie ein Püppchen, nicht wie ein Baby! Neugierig blickten ihn die schwarzen Knopfaugen an. "Jessas." Stellte er hilflos fest. So winzig! "Ah, Vorsicht, Vati! Sie hat schon ihre Zähne, weißt du?" Hadrian blinzelte verwirrt, rettete seinen Daumen vor einer Punktierung. "Schön, sparen wir uns Schnuller und fangen mit einem Beißholz an." @~-~@ Nemo stutzte verwirrt, lachte aber mit, als seine Oma zu prusten begann, weniger dem lahmen Scherz geschuldet, sondern mehrheitlich der nachlassenden Anspannung. "Sie lernt noch, Vati, weißt du? Aber sie ist schon richtig schlau! Ich war gerade bei den Großeltern am See. Die haben sie angenommen. Das ist ziemlich wichtig. In der Gruppe, mit so vielen anderen, da, na ja, speichert man richtig viel im Kopf. Selbst wenn man Dinge noch nicht kann, weiß man sie schon." Nemo runzelte die Stirn. So richtig ließ sich dieser Effekt nicht in Worte fassen. Er nahm eine Banane entgegen, zog sie aus, zeigte seinem Vati, wie man gefahrlos mit der eigenen Schwester teilte. "Unglaublich. Mama, sieh mal!" Hörte er seinen Vati rau wispern. Dabei wunderte Nemo sich gar nicht darüber, dass Nadia die Bananenbröckchen in die Hände nahm, geschmeidig in den Mund beförderte. "Menschen-Babys verhalten sich anders, oder?" Erkundigte er sich interessiert, nahm ein Stück Brot mit Schokoladencreme entgegen, reichte eine größere Krume an Nadia weiter. "Sie werden gefüttert. Und bekommen Milch." Selbst seine Oma schien fasziniert, bestaunte das emsige Vertilgen. Nemo schmunzelte über seine Menschen-Familie. "Also, wir wachsen sehr rasch in der ersten Zeit. Eigentlich könnten wir auch schon Fische fangen, aber das ist noch ein bisschen gefährlich." Zwei Augenpaare, das eine grau, das andere schwarz, starrten ihn entsetzt an. "Aber..!" "In dem Zustand...!" Nadia mischte sich glucksend ein. Gelassen reichte Nemo noch eine Krume mit Belag weiter. "Wir sind beim Schlüpfen aus der Blase schon gut gerüstet. Zudem haben wir beide noch unsere Menschen-Hälfte! Da kann fast nichts schiefgehen!" Munterte er auf, zwinkerte spitzbübisch. "Sakrament!" Stellte seine Oma fest, wuschelte ihm durch die Locken. "Willst du uns erzählen, was seit deinem letzten Besuch so passiert ist?" @~-~@ Hadrian konnte sich nicht ermannen, Nemo aus seiner Umarmung zu entlassen. Wie tapfer, wie unermüdlich und zuversichtlich hatte der kleine Bursche durchgehalten, seinen Papa gepflegt, bei der Geburt geholfen! Kümmerte sich nun um seine kleine Schwester! Viel zu viel für ein Kind, ein Armutszeugnis für den Vater. "Ich bin so stolz auf dich, Nemo. Danke. Danke, dass du so viel durchgestanden hast!" Wisperte er rau, drückte seinen Sohn an sich, der schmaler wirkte, sehniger, von einer inneren Stärke geprägt, die ihn selbst mit Ehrfurcht und Demut erfüllte. "Ach, Vati, ich hab einfach fest geglaubt, dass es besser wird. Beinahe haben wir es ja geschafft, richtig?" Hadrian zwang sich, die Tränen wegzublinzeln, Nemo in das Gesicht zu blicken. "Ja, recht hast du. Lass uns mal überlegen, wie die nächsten Schritte aussehen, hm?" @~-~@ Eva Maria bestand darauf, dass ihre Enkel sich für ein Weilchen ausruhten und schliefen, Nemo in ihrem Bett, Nadia in einer Schlinge aus einem Seidentuch, während sie in der Wohnküche einen Kräuterlikör auf zwei Gläschen verteilte. Der irritierte Blick ihres Sohnes nötigte zu einer Erklärung. "Medizinisch notwendig. Für mein Nervenkostüm." Hadrian hob brav sein Glas, berührte ihres zum Salut. "Wusstest du, dass sie ewig die Luft anhalten kann? Unter Wasser, in der Badewanne?" Bemerkte sie im Konversationstonfall, der nicht indizierte, dass sie fast vor Schreck umgefallen wäre. Planschen, im seichten, warmen Wasser, das war die Idee gewesen. Nicht, dass dieses winzige Wesen in Torpedo-Geschwindigkeit vor und zurück durch die Wanne pflügte, ohne Aufzutauchen, ohne Luftblasen. "Oh, hatte ich das nicht mal erwähnt?" Eva Maria funkelte ihren Sohn kritisch an. Der seufzte. "Damals, als ich Umea kennenlernte, na, da habe ich das als Test angesehen. Wie lange er die Luft anhalten kann." "Hrmpf!" Kommentierte sie die Nachlässigkeit, aber nicht mit Verve. Immerhin hatte sich Nemo sogar entschuldigt, als er sie japsend im Bad antraf, seine grummelige Schwester auf der Hand, die die Aufregung gar nicht verstand, weiterpaddeln wollte! "Mama, ich bin ein grauenvoller Vater." Stellte ihr Sohn leise, selbstverächtlich fest. "Verglichen womit? Mit deinem Vater? Mit anderen Vätern in einer Fernbeziehung?" Schoss sie scharf und unerbittlich zurück. Hadrian presste die Lippen aufeinander, was deutliche Linien in sein Gesicht prägte. Die letzte Zeit hatte ihn sichtlich gezeichnet, älter wirken lassend. "Ich verrate dir mal was: ich habe auch Zweifel gehabt. Welche Mutter stellt schon ihre Karriere über das eigene Kind? Lässt sich scheiden, verschleppt den Sohn weit weg in ein Dorf, setzt ihn all den Gerüchten aus? Sagt ihm nicht auf den Kopf zu, dass es in Ordnung ist, schwul zu sein?" Sanft tippte sie ihn auf die Nasenspitze. "Manche halten mich für eine entsetzliche Rabenmutter. Ja, ich war und bin egoistisch in einigen Belangen, bestimmt kein Vorbild. Wenn ich dich aber sehe und jetzt die Kleinen, denke ich: so mies kann ich mich nicht angestellt haben." Wie erhofft zog ihr Sohn eine schiefe Grimasse. "Also, ich fand immer, dass du die beste Mama bist. Ich fühl mich bloß so~so machtlos!" Eva Maria nickte verständnisvoll. "Ich kann nicht zulassen, dass du das ganze Haus neu streichst, ganz richtig." Nun grummelte Hadrian. "Das war nur, weil noch Farbe übrig war und ich Schwung hatte." Ein Rückzugsgefecht. Sie erhob sich, blickte ihn auffordernd an. "Schwung ist unser Stichwort, Sohn! Lass uns mal schauen, was wir Nemo mitgeben können, für Umea und auch als Bezahlung für die Behandlung. Etwas Wegzehrung wäre bestimmt auch nicht verkehrt, wenn ich an den Appetit deiner Tochter denke!" @~-~@ Nemo umarmte seinen Vati und seine Oma im Garten. "Ich werde, wenn ich vom großen See komme, vorbeischauen, bestimmt!" Versprach er aufgemuntert, balancierte den Beutel mit wichtigen Gütern aus. "Papa bringe ich mit, wenn es ihm besser geht. Das bekommen wir schon hin!" "Hin! Hin!" Echote Nadia, ließ alle verblüfft aufmerken. "Sakrament." Stellte seine Oma stellvertretend fest. Wirklich, die Kleine lernte fix! Wenn sie nicht gerade etwas vertilgte. Mit Ludwig als Ehrengeleit hielt Nemo winkend auf das Portal zu. Es stimmte ihn froh, dass seine Menschen-Familie munter und entschlossen wirkte. Ja, es half, etwas zu erledigen zu haben, nicht zu viel Muße zum Grübeln! Als er über die schlüpfrigen Steine durch das Dickicht stapfte, bemerkte er, dass es schon dunkel wurde. Der Weg in die Stadt war jedoch nicht allzu weit, sie hatten etwas gegessen und geschlafen. Eine Weile spazierte er in gemäßigtem Tempo, wiederholte für Nadia Namen und Begriffe. Tatsächlich kannte er aus eigener Anschauung, wie schnell die ersten Monate Fortschritte festzustellen waren. Exponentiell, das hatte der geladene Spezi zu Prof Drusilla gesagt. Mit einem Jahr reduzierte sich das Tempo merklich, gab es keine Unterschiede zu anderen Kindern. Über sich bemerkte Nemo unerwartet einen großen Schatten, leises Rauschen eines Flügelpaars. Mitten auf dem Weg landete eine große Gestalt. "Guten Abend, Nemo. Younous, der alte Schwerenöter, hat behauptet, er würde die Strecke am Schnellsten schaffen. Das will ich selbst mal testen." Stellte die Harpyie fest. Nemo zögerte, obwohl er sie erkannte. Sie hatte seinen geliebten Papa zum Medi V getragen. "Guten Abend, Madame. Ich würde ja gern helfen, aber es wäre wohl unfair, fürchte ich." Die Harpyie blickte aufmerksam trotz einsetzender Dunkelheit, lachte kehlig. "Oha! Eine neue Gewichtsklasse, hm? Ist das dein Geschwisterchen?" Den Beutel leicht lupfend nickte Nemo. "Meine Schwester Nadia. Außerdem habe ich auch noch anderen Ballast mit. Das ist wahrscheinlich unsportlich, oder?" Erkundigte er sich. So genau hatte Younous ihm die "Regeln" nicht anvertraut. Die Harpyie lachte amüsiert. "Das ist kein Hindernis für mich. Nun, was meinst du, kleiner Kamerad, willst du mitfliegen?" Bevor Nemo antworten konnte, krähte Nadia schon energisch. "Mit! Mit!" @~-~@ Lustibus strahlte im Kreis, als er die Pulverlösungen verstaute. Drusilla lauschte dem Schall in ihrem Büro. "Ich weiß das sehr zu schätzen, Nemo. Wir haben zwar nicht oft Patienten, die über ihre Haut versorgt werden können, aber das hilft uns. Allerdings musst du dir keine Gedanken machen, wir werden bezahlt. Die ärztliche Behandlung ist dank des Großen M für alle kostenfrei." Nemo zögerte, bevor er antwortete. "Das verstehe ich. Meine Oma meinte, es sei aber sicher nicht schlecht, wenn man seinen Anteil leistet. Wem geholfen wird, der möchte sich ja revanchieren. Papa ist ja noch sehr schwach." Lustibus rollte neben ihn, tätschelte ihm einen Arm. "Das wird, das wird, mein Freund! So leckere Speisen aus der Menschenwelt, sehr nahrhaft! Was speist dein Papa am Liebsten?" Ihm gegenüber unterdrückte Drusilla ein Schmunzeln. Wirklich, Lustibus war einfach nicht zu ersetzen! @~-~@ Nemo schlüpfte neben seinen Papa auf die Pritsche. Vorsichtig ließ er Nadia auf die Brust gleiten, wo sie sich ausstreckte, sofort einschlief. Sein Papa blinzelte, erschöpft, ausgezehrt, nur ein Schatten seiner Selbst. Behutsam schmiegte Nemo sich an, fasste eine knochige Hand. "Hallo, Papa. Das ist Nadia, und ihr geht es gut. Ich war mit ihr bei den Großeltern. Sie ist eine von uns. Vati, Oma und Ludwig mögen sie auch sehr gern. Wir haben gut gegessen und alles ist in Ordnung. Deshalb brauchst du dich nicht sorgen, ja, Papa? Alles ist prima." Die Lider senkten sich wieder über die glasigen, grünen Augen, aber Nemo spürte, dass sein Papa die Botschaft empfangen hatte. @~-~@ Quäste Ndadadime hatte sich schon an die Routine gewöhnt, nämlich im Medi V vorbeizuschauen, um zu versichern, dass das Geschäft sich selbst trug. Zugegeben, es reichte knapp für eine Person, was perspektivisch zu Veränderungen führen musste. Allerdings nutzte Ingban sein Laufrad auch für Kurierdienstleistungen (soweit sie nicht über Erdgeschossniveau hinausgingen). Somit konnte er sich ein Auskommen sichern, wenn man den Verdienst durch zwei teilen würde. Andererseits, mit zwei Kindern? Sie zögerte, das Thema aufzuwerfen. Umea erschien ihr erbarmungswürdig schwach, konnte nicht stehen oder sitzen. Nemo zu konsultieren schied für sie aus. Auf diesen kleinen Schultern lastete schon allzu viel Verantwortung. Da konnte man wohl nur Geduld beweisen. @~-~@ Eva Maria füllte Nemos Schulrucksack mit Spezialnahrung, die helfen sollte, Umeas schlechte Konstitution zu verbessern. Sie setzte Nadia in die alte Apothekerwaage, was ihr sichtliches Vergnügen bereitete, vor allem, wenn Nemo die Gegengewichte auflegte. "Was ist mit Duftölen? Die Kräuter verlieren ihren Geruch zu schnell." Bemerkte ihr Sohn, der stirnrunzelnd das Lager inspizierte. Welcher Geruch würde Umeas Selbstheilung unterstützen? Nemo schlang ihm die Arme um die Hüften, kuschelte ein wenig. "Ich bin auch ratlos, Vati. Frau Prof Drusilla meint, Papa habe sich die Schmerzen eingeprägt, wie einen Schreibfehler. Den müssen wir jetzt überschreiben. Ich habe ihm gestern ein bisschen Banane gegeben, das half schon." "Aber Bananen riechen nicht besonders stark." Stellte Eva Maria grimmig fest, bevor ihr Sohn es konnte. "Was ist mit Rosenöl? Früher stand doch der hässliche Rosenbogen an der Scheunenwand?" Ihr Sohn zögerte. "Das wäre eine Option. Aber wenn er sich dann an die Terror-Töle erinnert..." Nemo zupfte an seinem Polo-Shirt. "Vati, hat die Salbe von damals nicht geduftet? Die, die du gegen den Juckreiz aufgetragen hast?" Nicht mal einen Augenblick später flog Nemo hoch durch die Luft Richtung Zimmerdecke. "Du bist ein Genie, Nemo! DAS versuchen wir!" @~-~@ Er spürte das Gewicht, Kichern, Wärme. Nadia. Nemo. An seinen Lippen Brei. »Schlucken. Aufstehen.« Dachte er. »Ich muss aufstehen.« Überfallartig kamen sie wieder, Blitze und Funken und Lichter in seinem Kopf! Umea hielt die Luft an. @~-~@ Eva Maria beobachtete fasziniert ihre Enkelin. Fünf Tage alt, in zwei geknotete Tücher mit Bindfaden als Gürtel gekleidet, wie sie über den Tisch spazierte. Sie konnte springen, Purzelbäume schlagen, knien, im Schneidersitz essen, trinken aus einem Fingerhut, der mit einer Pipette gefüllt wurde. Stets gut gelaunt, neugierig, unerschrocken. Heute hatte sie ihr Buntstifte offeriert, eine billige Sorte, kurz, mit schmalem Durchmesser, die Art Gimmick, die Kinderzeitschriften beilag. Nadia umklammerte einen Buntstift, zog ihn über Papier, lachte über ihre Anstrengung, kreiste Spiralen um sich herum. "Schau, schau, Oma!" Unglaublich, Lernen in Zeitraffer! Kein Wunder, dass sie ständig etwas essen wollte! "Sehr schön. Was hast du denn heute gesehen, hm?" Erkundigte sie sich, reichte eine Weintraube vorsichtig an. Nadia plumpste glucksend auf ihren Hintern, kreuzte die Beine, hielt die Traube mit beiden Händen, nagte die dicke Fruchthaut an. "Frosch. Schnecke. Muscheln. Krebs. Hecht." "Einen Hecht?!" Erschrak Eva Maria entsetzt. Zählte der nicht zu den Raubfischen?! Und waren die Viecher nicht gewaltig?! "Hecht." Bekräftigte Nadia, kaute mit winzigen, prallen Bäckchen. "Hattest du denn keine Angst? So ein Hecht ist doch sehr groß und hat viele Zähne?" "Sehr groß." Bestätigte Nadia, nickte, was sie wohl von Nemo abgeschaut haben musste. "Großmutter. Harpune!" "Deine Großmutter hat den Hecht mit der Harpune erlegt?" Puzzelte Eva Maria Bestandteile zusammen. "Hecht tot. Lecker!" Nun konnte Eva Maria nur seufzen. Nein, kurz nach Mittag kam ein Likörchen nicht in Frage! @~-~@ Nachdem er sein frisch gestrichenes, nicht mehr nach Farbe riechendes Zimmer direkt unter dem Dach besichtigt hatte, zog Nemo in den Garten, seinen Vati im Schlepptau. Ludwig gesellte sich auch dazu, elegant über den Zaun setzend. "Das ist ein tolles Zimmer, Vati, vielen Dank!" "Es fehlen noch die Möbel, ich weiß, Nemo, das wollte ich lieber mit dir besprechen. Für Nadia habe ich noch keine Lösung. Menschen-Babys schlafen meist in einem Gitterbett im Zimmer ihrer Eltern." Die Miene seines Vatis präsentierte Zweifel, ob das auch auf die Kinder vom großen See zutraf. Nemo kraulte Ludwig zwischen den Ohren. "Vati, ich muss etwas mit DIR besprechen. Es ist eine große Bitte. Und ich hab etwas Gemeines getan." @~-~@ Hadrian legte den Arm um die kleinen Schultern. Er hatte schon vermutet, dass Nemo etwas beschäftigte. "Ich höre dir zu." Versicherte er, spürte, wie sich sein Sohn anspannte, bereit, die Hürde zu nehmen. Selbst Ludwig hob den Kopf von den Kinderbeinen. Dann gestand Nemo ihm ein, dass er seit drei Tagen seinen geliebten Papa nicht mehr besucht hatte. @~-~@ Nemo schluckte entschlossen die Tränen runter. "Frau Prof Drusilla sagt, die Wunden verheilen gut, sie sind geschlossen, also müsste Papa sich bewegen können, hinsetzen, ein paar Schritte gehen." Er ballte die Fäuste, reckte das Kinn noch höher, räusperte sich. "Aber in seinem Kopf stimmt etwas nicht. Es tut mir weh, wenn ich ihn spüre. Darum habe ich mit Nadia in einem Zimmer weit weg geschlafen. Frau Prof Drusilla glaubt, es sind die Erinnerungen an die Schmerzen." Energisch, weil er diese Entscheidung getroffen hatte, wandte er sich um, blickte seinem Vati in die schwarzen Augen. "Ich glaube, es ist der Draht, der es schlimmer macht. Papa reagiert nicht richtig, hört mich nicht mal. So kann ich ihm nicht helfen." Nemo schluckte erstickt. "Alleine schaffe ich das nicht, Vati. Ich habe eine Idee, weißt du? Es fühlt sich so an, dass nicht mehr viel Zeit bleibt." Erst als Ludwig ihm das Gesicht leckte, bemerkte er, dass seine Hände unkontrolliert zitterten. @~-~@ Hadrian wiegte Nemo, summte guttural, hielt ihn fest im Arm. Ein Kind, das kein Kind sein konnte, nicht nur zwischen zwei Welten wanderte, sondern in sich selbst auch balancierte. Eine Verantwortung annahm, die seinen Eltern oblag: für die Schwester, den Papa, das Geschäft, die Beziehung zu den Großeltern! Hadrian striegelte die schwarzen Locken mit dem hochgesteckten Zopf sanft. "Du hast nicht gemein gehandelt." Raunte er zärtlich. "Umea liebt dich über alles. Daran wird sich nie, niemals etwas ändern." Er küsste sanft eine Wange. "Wenn du nicht so klug wärst, steckten wir ordentlich in der Patsche! Ich bin stolz auf dich, mein Sohn und ich danke dir für all das, was du ganz allein auf der anderen Seite bewältigst." @~-~@ Nemo setzte Nadia in die Trageschlaufe. Ihre Beine baumelten ungeduldig, weil sie eigentlich selbst laufen wollte. Nur käme man dann wirklich nicht weit! Wie jeden Tag war sein Schulrucksack gefüllt, ein letztes Mal, wie er hoffte, mit Spezialbeuteln und Tauschware. Es tat gut, Oma und Vati noch mal zu umarmen, zu wissen, dass er bald eine kleine Pause einlegen konnte. Es fühlte sich nämlich auch ohne Rucksack an, als könnte er die Gewichte auf den Schultern nicht mehr lange tragen! Ludwig begleitete ihn wie gewohnt zum Portal. Auf der anderen Seite brach der Spätnachmittag an. "Nemo?" Aufmerksam blickte er vor sich auf seine Schwester. Sie schnitt ihm eine wilde Grimasse, wie Lustibus es ihr vorgeführt hatte. "Jetzt lachen!" Kommandierte sie, ging mit gutem Beispiel voran. Nemo fiel in ihr Gelächter ein. Ja, natürlich spürte sie, dass etwas nicht in Ordnung war. "Morgen werden wir hoffentlich was Besonderes unternehmen." Ließ er sie wissen, während er dem Weg in die Stadt folgte. "Besonderes?" "Ja." Nemo fragte sich, ob sie wohl verstand, was dieser Begriff andeutete. Einige Schritte weiter meldete sich Nadia erneut. "Nemo?" "Hm?" "Hunger." Nun, DAS stellte definitiv nichts Besonderes dar! @~-~@ Lustibus hielt es für eine gute Lösung. Drusilla entschied, nicht allzu akribisch nachzufragen, auch wenn es dem Ethos widersprach, einen Patienten in diesem Zustand zu entlassen. Körperlich befand sich Umea zweifelsohne auf bestem Wege. Für seinen seelischen und geistigen Befund verfügten sie über keine Kur. Ansätze gab es durchaus, doch dazu musste man erst mal zum Patienten vordringen. Was sich bis dato immer schwieriger gestaltete. Nemo bedankte sich, Nadia schloss sich an. Younous wartete bereits. "Alles klar und startbereit. Also, kleiner Freund und winzige Freundin, haltet euch mal gut fest!" @~-~@ Sie erreichten gleichzeitig das letzte Stück vor dem Portal. Younous richtete sich auf, ließ Nemo mit Nadia absteigen. In einigen Schritten Entfernung ließ die Harpyie ihren Passagier auf der Trage behutsam herunter. Nemo schob den Rucksack von seinen Schultern. "Bin gleich zurück!" Versprach er, eilte ins Dickicht zum Portal. Es erleichterte ihn, dass Nadia nicht protestierte, sondern den ihr von Lustibus geschenkten Stoff-Kronk knuddelte. Noch überragte er sie um wenige Millimeter. "Papa ist krank." Stellte sie mit ihrer hellen Stimme fest. "Ja." Wisperte Nemo, ging sofort im Garten in die Hocke. Ludwig erblickte ihn, wandte sich herum, preschte zum Haus. Stimmengewirr indizierte, dass er ein Ablenkungsmanöver initiierte. Eilig huschte Nemo zum Zaun, übergab seiner Oma seine Schwester, nahm weiteres Tauschgut entgegen. Geduckt huschte er zum Portal, rannte durch das Dickicht. "Hier, die zweite Rate! Vielen lieben Dank!" Überreichte er zwei Kilogramm getrocknete Popcorn-Maiskörner. Die Harpyie nahm sie in ihre Klauen, drückte ihn kurz an sich. "Danke, mein Kleiner. Lass dir vom alten Schwerenöter ein bisschen helfen und pass gut auf dich auf, ja?" Nemo lächelte, verneigte sich kurz, wie er es bei seinem Papa gesehen hatte. Younous wickelte unterdessen Umea aus den Sicherungsgurten der Trage. Mehr als ein resigniertes Wimmern war ihm nicht zu entlocken. Der Skorpion-Daimon hob Umea an, ohne große Mühe, lagerte ihn halb über eine Schulter. "Geh voran, Nemo, bin direkt hinter dir. Uh, verflixt anhängliches Grünzeug!" Aber die Schocklanze zu benutzen, um sich den Weg freizusäbeln, schloss sich aus. Direkt vor dem Portal setzte Younous Umea ab. Nemo umschlang seinen Papa, um ihn zu stützen, schwankte dabei durchaus. Mit dem Kinn wies er auf ein großes Glas. "Das ist von Vati und Oma für dich, Younous. Vielen Dank für alles. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft." Younous tätschelte mit einer Klaue den lockigen Schopf. "Gern geschehen, mein Freund! Oh, oh..beim Großen M, ist das Bienenhonig?! Ein ganzes Glas voll?!" Nemo lächelte amüsiert. Dass Younous eine Schwäche für Süßigkeiten hatte, verdankte er einer Tippgeberin. "Bis bald, Younous, und danke schön!" "Nur Mut, Nemo! Wir sehen uns." Dann schwankte Nemo durchs Portal, mühsam seinen Papa stützend. @~-~@ Kapitel 19 Hadrian kümmerte sich nicht um Petitessen wie fremde Gärten. Vage bemerkte er, dass Ludwig im Haus Gezeter ausgelöst hatte. Er streckte nur die Arme zur Scheunenwand aus, fing Umea auf, der ihm entgegen kippte, einen heiseren Laut ausstieß. "Willkommen daheim, Umea." @~-~@ Das Sofa in der Wohnküche war schon mit Kissen gepolstert, damit Umea dort einstweilen Platz nehmen konnte, vor allem jedoch von seinen Kindern in unterschiedlichen Graden geherzt wurde. Kein schmerzhaftes, Übelkeit erregendes Störfeuer im Kopf! Nadia lachte glucksend, kletterte in seinen Zopf, Nemo hielt ihn eng umschlungen. Endlich! Endlich wieder der wahre Papa! @~-~@ Hadrian fand Nemos Schilderung des Zustands seines Papas noch untertrieben: ein ausgemergeltes Gespenst, tiefe Schatten um die grünen Augen, in den Wangen, spitze Knochen, kaum definierte Muskeln. Weniger als ein Monat seit ihrer letzten Begegnung, und Umea hatte rapide abgebaut! Doch Hadrian zwang sich zur Geduld, überließ es seiner Mutter, Umea zu begrüßen, ihm mitzuteilen, dass sie alle sehr froh seien, ihn wieder hier zu haben. Es war zu früh, sich aussprechen zu wollen. Umeas Erschöpfung verbat solche Ansinnen. @~-~@ Umea hielt immer wieder die Luft an, verstand selbst nicht, warum. Der Lärm war weg, er konnte seine Gedanken fassen. Trotzdem. Irgendwas... "Nemo." "Ja, Papa? Oh, soll ich vielleicht ein Kissen verschieben?" "Kneif mich." Befahl Umea, presste die Zunge gegen den Gaumen. NICHT DIE LUFT ANHALTEN Nemo zögerte. "Ich mach das." Hadrian suchte an einem dürren Arm etwas Haut, quetschte sie. Schmerz. Hm. Das war anders. "Und?" Hadrian. Verrat, Enttäuschung. Umea sortierte mühsam Gedanken. "Etwas stimmt nicht." Krächzte er schließlich. @~-~@ Nemo betrachtete seinen geliebten Papa bekümmert. Der glasige Blick in den grünen Augen, das fortgesetzte Luftanhalten bei jeder Bewegung. Nicht, dass es an sich Auswirkungen hatte, Luftnot kannten sie eigentlich nicht, aber einen Unterdruck, der entstand, als Gegenpol. "Frau Prof Drusilla sagt, es ist wie ein Fehler im Kopf. Es braucht Zeit, Papa, damit man den Fehler überschreiben kann." Wiederholte er leise die Diagnose. Obwohl er glücklich war, nicht mehr das Störgeräusch zu spüren, fühlte er sich erschöpft, weil er den Ansatz noch nicht gefunden hatte. Oder den richtigen Blickwinkel. Dafür würde er sich jetzt Zeit nehmen, jawohl! Mit dem Erbe zweier Welten sollte sich das Problem lösen lassen! Nadia half auch, mit ihrer Munterkeit und ihrem Temperament. Nur ein wenig Geduld... @~-~@ Behutsam pflückte Hadrian Nemo von Umeas Seite ab, hob ihn auf die Arme. Völlig erledigt: die Anspannung, die Sorge, die Organisation, viel zu viel für so einen kleinen, wackeren Kerl! Er transportierte ihn ins Obergeschoss, wo sie ein Bett im Zimmer seiner Mutter aufgeschlagen hatten. Nicht mal beim Ablegen und Zudecken muckste sich der Kleine! Hadrian richtete sich auf, betrachtete noch einen Augenblick länger die sehnige Gestalt. Konnte er seinen Sohn ruhigen Gewissens ziehen lassen? Nein, ausgeschlossen. Nicht, weil er ihm es nicht zutraute, sein Leben selbst zu gestalten, sondern aus Egoismus, ganz unverbrämt. Weil er viel mehr Zeit, mehr Erinnerungen, mehr Erlebnisse mit ihm gewinnen wollte. Weil es so furchtbar schmerzte sich vorzustellen, man träfe sich nicht mehr. "Ich werde ein guter Vater, Nemo, versprochen!" Damit es immer einen Grund gab, zu ihm zurückzukommen. @~-~@ Eva Maria hob Nadia von ihrem Papa, der auf die Seite gesackt war, schlief. "Papa auch müde." Stellte das winzige Mädchen fest, blickte zu ihr auf. "Das heute war ziemlich anstrengend, vermute ich." Antwortete Eva Maria, zerteilte einen Apfel in Stücke. Keine Frage, Nadia konnte schon wieder was essen. "Nicht mehr laut im Kopf." Ließ Nadia sie wissen, seufzte trotz Apfelmalmens. "Nicht im See, so...so...!" "Mühsam?" Half Eva Maria aus. Sie fragte sich, wie das wohl vonstatten ging. Wie lernte man über eine Art gemeinsames Gedächtnis? War der Kopf schon voll, aber außerhalb des Wassers wurde es beschwerlich? Wurden Bilder, Momentaufnahmen oder Erzählungen geteilt? Sehr exotisch. Was war das wohl für eine Welt, in der Babys innerhalb eines Jahres so viel lernen mussten, um überlebensfähig zu sein? "Worte. Sprechen. Aus dem Kopf. In die Welt. Mit~mitteilen." Wiederholte Nadia, spazierte kurz im Kreis, nahm ein weiteres Stückchen Apfel ins Visier. "Papa, Nemo, Großeltern, in meinem Kopf. Oma nicht, Vati nicht. Warum?" Ein Schreckenswort für Eltern, wie Eva Maria sich erinnerte. Weil eine Antwort eine ganze Kaskade neuer Fragen auslöste, bis man versucht war, enerviert das Handtuch zu schmeißen oder den Nachwuchs vor ein technisches Gerät zu parken. "Bei Menschen, in dieser Welt, geht das nicht, Nadia. Wir sind allein in unserem Kopf." Mal abgesehen von den unzähligen Außeneinflüssen. "Allein?" Ein schwieriges Konzept für ein Kind mit so wenig Lebensspanne. "Allein bedeutet, es ist niemand sonst da." "Alle weg?" Nadia stellte das Kauen ein. "Ja, so ungefähr." Beobachtete Eva Maria ihre Enkelin, registrierte, dass ihr Sohn zurückgekehrt war, ebenfalls auf die Reaktion des winzigen Kindes wartete. "Nicht gut." Stellte Nadia schließlich mit dünnem Stimmchen fest, ließ den Apfel im Stich, strecke die Arme hoch, um auf eine Hand genommen zu werden, schlang einen Arm um Eva Marias Daumen. "Ja, mit dir zusammen habe ich mehr Spaß." Lächelte Eva Maria auf das konzentrierte Gesichtchen im kupferroten Lockenkranz hinunter. "Wenn du noch so munter bist, wollen wir uns Bilder anschauen? Ich habe ein Buch mit Pflanzen drin." "Prima! Pflanzen lecker!" Stellte Nadia entschieden fest, strahlte hoch. Ihre Oma prustete unterdrückt. Es würde wohl noch ein Weilchen dauern, bis Nadias Werturteil nicht mehr ausschließlich in Verzehrqualitäten bestand! @~-~@ Hadrian las Umea auf. In erschöpften Schlaf gefallen wirkte er nicht mehr so steif und angespannt, als müsse man ein Brett transportieren. In seinem Zimmer ließ er Umea sanft auf das Bett gleiten. Tatsächlich hatte er erwogen, eine getrennte Unterbringung vorzusehen, obwohl er aufgrund des begrenzten Wohnraums gar nicht wusste, wie das zu bewerkstelligen wäre, mit Bordmitteln zumindest. Doch dann hatte sein Trotz gesiegt. Sie WAREN Eltern, weil sie Sex gehabt hatten, verdammt noch mal! Warum sollte er aus Höflichkeit und Enttäuschung zulassen, dass Umea sich distanzieren konnte?! Keine schmeichelhafte Erkenntnis, dass er verletzt, wütend, hilflos genug war, sich so zu verhalten. Nicht akzeptieren zu wollen, weil er nicht überzeugt war, dass Umea ihn abserviert hatte. Weil er einfach glauben wollte, dass Umea zu große Angst hatte, Nemo könnte hier etwas geschehen. Mit einer ausgeklügelten Strategie müsste er sich aber überzeugen lassen! Hadrian seufzte, ließ sich neben Umea auf sein Bett sinken. Er konnte dessen Beweggründe ja alle nachvollziehen! Trotzdem gab es bestimmt eine Lösung! Überhaupt, in Anbetracht all der finsteren Drohungen, war bisher noch niemand hier aufgetaucht. Wenn man die Nachbarschaft nicht gerade mit der Nase drauf stieß. Hadrian angelte den etwas zerrupften Zopf Bandnudelhaare heran. "Ausbiegen is nich, Umea. Sieh endlich ein, dass wir perfekt zusammen passen." @~-~@ Eva Maria ließ Nadia und den Kronk herunter. "Wir müssen leise sein, damit Nemo nicht aufwacht." Wisperte sie, verdrängte die Frage, ob sie Nadia Zahncreme andienen sollte. Wuchsen die Zähne eigentlich mit? Oder fielen sie wie Milchzähne aus? "OOooooohhhhhh!" Staunte ihre Enkelin unterdessen. Hadrian hatte einen Schuhkarton zurecht geschnitten. Die Kartonage war bunt beklebt worden. Darin lag als Bett ein Handtuch. Ein Waschhandschuh diente als Kopfkissen, einmal gefaltet. "Schön!" Nadia zerrte den Stoff-Kronk durch die Luke in den Karton, streifte sich ihr improvisiertes Hemdchen ab, schlüpfte unters Frottee. "Danke, Oma!" Piepste sie grinsend. Eva Maria lächelte zurück, deponierte noch einen großen Keks auf einen Untersetzer neben den Karton. Das Schnapsglas enthielt Wasser. "Dann schlaf mal gut, Nadia." "Du auch, Oma!" Zirpte es ihr zufrieden entgegen. Eva Maria dämpfte das Licht auf ein Glimmen herab, zog sich um, kletterte in ihr eigenes Bett. Jetzt oblag es Hadrian, sein Gewicht in die Waagschale zu werfen! @~-~@ "So, ich hab euch ordentlich was eingepackt. Wenn du den Rucksack versteckst, merkt ja niemand, dass er von unserer Seite kommt." Nemo nickte eifrig, strich rasch noch etwas Linsenmatsch auf seine Brotscheibe. "Vielen Dank, Oma! Am großen See ist das nicht so schwierig. Wir sind eher nicht neugierig, vor allem nicht, wenn die Gegenstände fremd sind." Umschrieb er vorsichtig die noch immer vorherrschende Prägung. Ihn hielt das ja nicht auf, aber es schien ratsam, nicht allzu unempfindlich aufzutreten. "Was habt ihr denn so vor?" Sein Vati säbelte für Nadia etwas Brot mit Marmelade von seiner Schnitte. "Es ist wichtig, dass wir Zeit im Wasser verbringen, Vati. Vorher schaue ich mal, ob wir zufällig Ingban treffen. Der müsste ja Nachschub holen. Ndadadime passt zwar auf ihn auf, aber ich weiß, dass er sich freut, wenn man seine Arbeit anerkennt. Er hält ja den Laden am Laufen. Das macht viel Arbeit. Vielleicht ist auch noch jemand aus der Stadt in der Nähe unterwegs. Aber ich verspreche, dass wir zeitig zurückkommen!" Versicherte er rasch. Es galt, nach Nemos Einschätzung, eine Kerbe auszuwetzen, weil er ja einige Male den täglichen Besuch schuldig geblieben war. Aus gutem Grund, durchaus, aber jenseits des Verstands gab es auch noch das Gemüt! Da wollte er sich als zuverlässig auszeichnen. "Soll ich nicht doch Papa aufhelfen? So eilig haben wir es nicht." Unvermittelt fand Nemo sich auf den Arm gehoben, wurde aus der Wohnküche von der Frühstückstafel nach draußen transportiert. Besorgt betrachtete er seinen Vati. "Ich kann auch gleich wiederkommen. Großmutter und die Tante passen schon auf, dass Nadia nichts passiert." Bot er rasch an. Sein Vati lupfte eine kritische Augenbraue. "Nemo, ich bin sehr stolz auf dich. Ich wünschte, du könntest gleich in die Schule gehen. Ich verstehe, dass Nadia jetzt viel Zeit im Wasser verbringen muss. Trotzdem möchte ich, dass du auch Kind sein kannst. Spaß haben, Freizeit, tun, was du magst oder auch mal nichts tun." Nemo zog die Nase kraus. Er fand durchaus, dass er viel Spaß hatte und tun konnte, was ihm gefiel. "Im Moment, Filius, übernimmst du den Eltern-Job, den Erwachsenen-Job. Das lässt mich nicht gut dastehen, weißt du?", Hadrian tippte ihm auf die Nasenspitze. "Was Umea betrifft, ich hab da auch was zu klären. Keine Eltern-Angelegenheit, sondern so eine Liebespaar-Sache, was nur Umea und ich auf die Reihe kriegen können." Nemo nickte nach einem Moment langsam. "Ich glaube, ich verstehe das, Vati. Bitte hilf Papa, ja? Es ist lange her, dass er fröhlich war." @~-~@ Hadrian hielt Nemo eine Weile auf dem Arm an sich gedrückt, wippte ihn neckend auf einer Hüfte, ließ ihn herunter, fasste die kleinen Hände, drehte sich wild im Kreis. Bald verlor Nemo Bodenhaftung, jauchzte vor Vergnügen. Kichernd und lachend stellten sie schließlich den Drehwurm ein. Ausgerüstet mit Rucksack und der Transportschlinge für Nadia war Nemo bereit. Wie üblich bildete Ludwig das Ehrengeleit zum Portal. Ein Winken, dann waren sie verschwunden. Hadrian schüttelte die breiten Schultern durch. Der Anblick löste immer noch einen Schauder aus. Er kehrte zum Haus zurück. In Kürze würde die Apotheke geöffnet werden. Er hatte sich auch mit seiner Mutter geeinigt: wenn sich die Kundschaft nicht gerade stapelten, subtrahierte er sich, um Umea wieder auf die Beine zu helfen. Nicht nur wortwörtlich, weil der nicht mal gefrühstückt hatte, sondern noch im Bett lag. Hadrian stieg ins Obergeschoss, betrat sein Zimmer. "Guten Morgen. Na, willst du nicht was gegen dein Magenknurren unternehmen?" Umea krächzte heiser. "Guten Morgen. Ich weiß nicht, wie ich..." Hadrian schlug die Bettdecke zurück, begann, Umea zu entkleiden. "Aber was...?" "Frische Wäsche, vorher eine Dusche. Außerdem will ich mir mal die Wunde anschauen. Ist ja ohnehin nur noch ein leichter Stützverband." Erläuterte Hadrian ungerührt und sachlich, verwünschte sein rasendes Herz. Selbstredend machte er sich der Ungezogenheit mindestens schuldig! Doch Umea konnte ja protestieren, oder?! Obwohl Liegen nicht das Problem darstellte! Tatsächlich konnte man nur noch eine winzige, vernarbende Stelle sehen. "Sieht für mich prima aus." Konstatierte Hadrian, fasste rasch in seine Hosentasche. Bevor Umea reagieren konnte, hatte er ihm einen Beißring in den Mund geschoben. Die grünen Augen weiteten sich prompt. "So, mein Märchenprinz, jetzt möchte ich, dass du dich aufsetzt. Roll dich herum, stütz die Arme in die Matratze. Ich helfe dir." Er hörte ein Schnauben, aber Umea konnte nicht wie beobachtet die Luft anhalten. Der Reflex scheiterte an dem Hindernis zwischen den Kiefern. Auf diese perfide Idee hatte ihn mittelbar Nemos Anmerkung gebracht. Wo ein Schnuller nicht den Zweck erfüllte, mussten gröbere Methoden angewandt werden! Ein Mensch würde jetzt wohl zu recht renitent reagieren, doch Hadrian setzte auf die exotische Natur seines Gefährten. Tatsächlich strengte sich Umea an, die dürren Arme durchzudrücken, sich aufzurichten. Hadrian half, fädelte die abgemagerten Beine aus der Decke, dirigierte sie über den Bettrand. Umea schnaubte heiser. "So, leg die Arme um meinen Nacken. Ich stemm dich auf die Beine. Du kannst das." Kommandierte Hadrian unbarmherzig. Umea entschlüpften gurgelnde Geräusche aus der Kehle, der Beißring knackte gedämpft. Er richtete sich schwankend auf, durch Hadrian ausbalanciert. "Hervorragend. Jetzt marschieren wir ins Bad. Nein, Hände weg vom Beißring!" Hadrian schnappte ein dünnes Handgelenk, legte sich den Arm um die breiten Schultern. Die andere Hand kam nicht weit, weil er auch da zugriff, den Arm um die mageren Hüften legte. Das kehlige Geräusch deutete Protest an. "Einen Fuß vor den anderen, Umea. Wir sind auf meiner Seite, denk dran. Die Käseglocke über deinem Hirn ist weg." @~-~@ Umea kämpfte, sich verspannend, mit jedem Schritt, mit der Tatsache, dass er völlig entblößt war, mit dem Rumoren in seinem Kopf, und, noch lauter, mit dem hohlen Grollen in seiner eingefallenen Magengrube, die ihn wissen ließ, dass ihr flau war und ihm bald auch würde! Es summte in seinem Genick, innen, oder fühlte sich so an. Genau, seine Organe sollten, also... Während er seine Gedanken zusammensuchte, hatten sie schon das Bad erreicht, wurde er auf den Rand der Sitzbadewanne niedergelassen. "Ich steck dir den Zopf hoch." Kündigte Hadrian ihm an. Eine Gelegenheit, dieses unmögliche Ding aus seinem Mund...! Bevor Umea seinem Impuls folgen konnte, saß bereits eine große Klammer auf seinem Schopf. Mit derartigen Objekten war er nicht vertraut, hatte auf mehr zeitlichen Dispens gehofft. Hadrian fasste ihn sogar einfach mit einem Arm unter den Achseln! Der klappte im Duschwürfel den Wandsitz herunter, ließ ihn Platz nehmen, drehte den Hahn auf, spritzte mit der Handbrause. Umea spürte, wie ein anderer Reflex einsetzen wollte. Warmes Wasser, jede Menge, das bedeutete...! Aber er konnte einfach den Kiefer nicht schließen! Die Knie und Knöchel ruckten förmlich zusammen, hätten ihn im großen See zu einer eleganten Silhouette verholfen, einem pfeilschnellen Pflügen durch das Wasser. Hier zuckten seine Nasenflügel unschlüssig. "Gnnngghhh!" Er hob die dürren Arme an. Das Ding musste weg! Aber seine Zähne schienen sich verkeilt zu haben, in den Kunststoff gebohrt! Oder seine Kiefer adaptierten schlichtweg die Einschränkung. Umea registrierte gar nicht, dass Hadrian bereits das Brausen eingestellt hatte, ein Stück Seife rieb, aus Pflanzenöl gewonnen und nicht merklich schäumend. Er begann, ihn systematisch damit einzubalsamieren. Weil Umea auf dem Klappsitz kauerte, oblag ihm trotz innerem Tumult, das Gleichgewicht zu wahren. Deshalb musste er den Kampf mit dem Beißring temporär einstellen. Außerdem musste er ja die Schmerzen...zumindest...also...?! Umea fühlte sich völlig erschöpft und einer Ohnmacht nahe, als Hadrian das Abbrausen beendete. @~-~@ Die Lider flatterten, ohne Wimpernkranz. Umea musste erledigt sein, im Widerstreit verschiedener Reflexe und Impulse! Hadrian tupfte behutsam die von großflächigen Verfärbungen geprägte Haut ab. Geübter als er selbst erwartete, kleidete er Umea ein, Unterhosen mit Gummizug, eine leichte Sporthose über Socken, ein Sweatshirt, schmal geschnitten. Keine Leihgaben mehr, sondern eigens für seinen Gefährten erworben. Umeas grüne Augen, vorher noch glasig, klärten sich langsam. "So, mein Märchenprinz, darf ich dich auf Händen tragen? Das Frühstück wird nämlich unten serviert. Falls unsere Trabanten noch was übrig gelassen haben." @~-~@ Der Beißring saß fest, was Umea daran hinderte, die Luft anzuhalten, als es die Stiege herunterging, auf Hadrians Armen. Unten wurde er jedoch auf seine eigenen Füße gestellt. Es sollte alles schmerzen. Ein seltsames Summen in seinem Hinterkopf... Hadrian zog ihn in die Wohnküche zur Anrichte. Von einem Schlachtfeld konnte keine Rede sein: zwei Porzellanteller, in der Mikrowelle das Schüsselchen für Umea, Besteck, für ihn aus Holz oder Keramik, Wasserglas, Teebecher. Brot, Honigaufstrich, eingemachte Früchte im Glas, grünes Pesto. Umea wurde auf einen Hocker abgesetzt. Endlich hatte er die Hände frei! Trotzdem musste er sich die Kiefersehnen massieren, bevor sich der Beißring entfernen ließ, deutliche Spuren aufwies. "Was IST das für ein Ding?!" Krächzte er, moderat ungehalten. Hadrian, der die Mikrowelle bediente, um ihm angereicherten Haferbrei zu servieren, grinste über die Schulter. "Schritt 1 auf dem Weg zurück. Meine Mutter schlägt Minztee vor, willst du?" Umea nickte matt. "Ja, bitte." Ihm schwante, auch ohne Draht zu Hadrian, dass noch viel mehr zu erwarten stand. @~-~@ Hadrian studierte Umeas Reaktionen penibel. Genug heruntergebracht, mehr getrunken, also sollte Energie vorhanden sein. Was Schritt 2 einläutete. Glücklicherweise zeigte sich der Himmel nur bedeckt, ohne Regen. Hadrian füllte eine Tasche mit Proviant, Handtüchern und Zweitkleidung, zog Umea vom Sofa hoch, der dort von Kissen abgestützt residierte. "Komm, Märchenprinz, lass uns an die Luft gehen! Wir machen einen Ausflug." Umeas grüne Augen, die durch die Schatten eher an einen Waschbären mit Kontaktlinsen erinnerten, weiteten sich. Bevor er erneut die Luft anhalten konnte, hatte Hadrian ihn hochgezogen, beinahe katapultiert. "So, du stehst schon, prima! Ach ja, es gibt was zu beachten." @~-~@ Umea hielt sich auf dem Sozius des Fahrrads an Hadrian fest. Die Tasche fuhr vorne im Korb mit. Er war gezwungen, genau die Zeilen zu memorieren, um sie nachzusprechen, angeblich ein Training zur Ausdauer. Die Bewegungen des Fahrrads auszugleichen, sich auf den Text besinnen, nachsprechen: Luft anhalten konnte da nicht funktionieren! "Ein kleiner Jägermeister war nicht gern allein..." @~-~@ Hadrian musste sich anhalten, nicht wild in die Gegend zu grinsen, obwohl er ordentlich in die Pedalen zu treten hatte. Der Ballast und die Hügel forderten ihn. Aber lautstark einen nicht unbedingt jugendfreien Abzählreim durch die Landschaft zu schallen, das hob die Laune immens! Vor allem, weil Umea auf Anpassung konditioniert war, sich nicht schmollend und trotzig widersetzen konnte ungeachtet des Traumas seiner schweren Erkrankung. "Einer für alle, alle für einen, wenn einer fort ist, wer wird denn gleich weinen? Einmal trifft's jeden, ärger dich nicht. So geht's im Leben, du oder ich. Einmal muss jeder gehn, und wenn dein Herz zerbricht. Davon wird die Welt nicht untergehn. Mensch ärger dich nicht!" @~-~@ Umea taumelte vom Fahrrad, sicherte sich an Hadrians Schulter ab. Was waren das denn für Texte?! Es musste wohl amüsieren, Hadrians Feixen nach zu urteilen, aber so ganz konnte er nicht folgen. Und nun an diesem seltsamen See! Der nicht bevölkert war, zumindest nicht von anderen Menschen. Kein Wunder, die Wassertemperatur konnte kaum zweistellig sein! Hadrian schob das Rad zu einem Baum, lehnte es an, stieg aus den Turnschuhen, zupfte die Socken ab, rollte die Hosenbeine hoch. "Na los, Umea, schwing die Haxen!" @~-~@ Hadrian grinste nach vorne, stapfte durch feuchtes Gras zum Ufer. Er WUSSTE, dass Umea noch am Liedtext knabberte, seine Aufforderung dechiffrierte, abgelenkt war. Damit hatte er schon mal Schritt 2 erledigt. Jetzt kam Schritt 3, eine zünftige Sauerei! @~-~@ Es verhielt sich ja nicht so, als wäre er nicht an Nässe, Gräser oder Gewässer gewöhnt, nur schwante Umea trotz seiner Konfusion, dass ihn eine weitere Prüfung erwartete. Einem Storch im Salat ähnelnd folgte er verunsichert Hadrians Beispiel, stakste steifbeinig an den Gestaden in die frische Brühe. Brrr!! Er wurde unvermittelt an den Händen gefasst. Hadrian sprang spritzend auf und nieder, keilte mit den Beinen aus und wiederholte diesen seltsamen Abzählreim mit Refrain! @~-~@ Hadrian hatte Mühe, sich nicht auf die Zunge zu beißen. Er hopste, intonierte lautstark die Zeilen, planschte dabei wild herum. Das Wasser trübte sich selbstredend. Bald waren sie klitschnass und auch angeschmuddelt. "Und-ich-bin-auch-sauer!" Dröhnte er mit jedem Sprung. "Ich-bin-sauer! Dass-du-mich-nicht-eingeweiht-hast!" Umea konnte unmöglich wie gewohnt die Luft anhalten. Das Zerren und Schütteln, die Bewegung, die Worte, das Spritzwasser, der übliche Leim-Reflex! Zu allem entschlossen wich Hadrian nicht einen Iota von seinem Vorhaben ab, nutzte zum zweiten Mal die klugen Worte seines Sohnes. "Ich-bin-enttäuscht! Weil-du-nicht-einsiehst-dass-du-anders-bist!" @~-~@ Wieder schlugen Umeas Zähne aufeinander. Nicht mal an einen festen Rhythmus hielt sich Hadrian! Er konnte sich nicht einstellen, zu viel prasselte auf ihn ein, um das Summen in Kopf noch wahrzunehmen. Dabei sollte ihm jetzt ganz bestimmt mindestens alles wehtun! Umea registrierte die Vorwürfe. Völlig unverständlich, dabei hatte er doch konsequent und umsichtig und Notwendigkeiten geschuldet gehandelt! "Ich-bin-frustriert!" Dröhnte Hadrian gerade, erhöhte noch das Spring-, Spritz-, Keil- und Zappeltempo! In Umeas Ohren knackte es, danach in seinem Kiefer und schließlich auch da, wo das Summen sich eingenistet hatte. @~-~@ Kapitel 20 Hadrian hielt Umeas elegante Hände fest, gestattete kein Entwischen. Er setzte auf Nemos Erläuterungen. Zugegeben, Umea hatte mutmaßlich keinen menschlichen Erbteil in der Vorgängergeneration, aber eine Affinität, unterschied sich von den anderen am großen See. Deshalb bestand eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Aspekte des Andersseins auf seine Taktik ansprangen, die Konditionierung und Prägung aushebelten und keinen Raum mehr für die Phantomschmerzen ließen. @~-~@ "Ich-hab-es-versucht!" Brach es heiser und abgehackt aus Umea heraus, der Mühe hatte, die eigene Zunge nicht versehentlich zu perforieren. "Ich-wollte-alles-richtig-machen!" Nun schrie er, stampfte selbst ins Wasser, erzeugte Fontänen. "Und-ich-WEISS-dass-ich-anders-bin!" Platzte es aus ihm heraus. "Das-habe-ich-mir-nicht-ausgesucht! Ich-bin-auch-wütend!" Weil sich die Worte in seinem Kopf verhedderten, sein sich auflösender Zopf durch die Luft ins Wasser klatschte, sparte Umea sich Silben. Er trat, kickte, sprang, tobte Schlamm und Grünzeug aufspritzend, lebte zum ersten Mal in seinem gesamten Dasein einen veritablen Koller aus. @~-~@ Hadrian feuerte an, innerlich jubilierend, weil er den Umea vor sich hatte, den er vor zehn Jahren geliebt hatte: zweifelnd, aber mutig, entschlossen, fokussiert, wenn auch gerade auf eine ungewohnte Weise. "Wir-sind-wütend!" Trompetete er. "Das-ist-frustrierend!" Umea stimmte ein, fauchte und krächzte heiser. Als ihn endgültig die Kräfte verließen, fing Hadrian ihn ab, legte sich die dünnen Arme um den Nacken. "Festhalten, Umea. Kurze Pause." @~-~@ Umea saß auf einer Picknickdecke, trocken gerubbelt, mit frischer Kleidung, nippte an würzigem Tee, nagte an einem großen, grob-krumigen Keks. Hadrian, der den größten Anteil an seinem gegenwärtigen Zustand trug, stand im flachen Wasser, reinigte sich, unbekleidet, rubbelte sich selbst trocken. "Wozu dienen die Stecker?" Erkundigte Umea sich, um einen Einstieg zu finden nach diesem schockierenden Verhalten, dass er selbst gar nicht nachvollziehen...! Oder...? Hadrian wandte sich zu ihm herum, stapfte aus dem seichten Wasser zu seiner frischen Bekleidung, das Handtuch über die Schulter geworfen. "Ach, mein erster Ex schlug das vor, könnte mich auf Touren bringen. Ich hab's also probiert, wurde ja nichts Edles beschädigt. Als er aber meinte, ich sollte mich obenrum kahl schlagen, rasieren: NEIN!" Hadrian raufte sich kurz die schwarzen Locken, die nur kurz frottiert worden waren, stieg in seine Kleider. "Ich trag sie einfach aus Gewohnheit. Wenn sie dich stören, nehm ich sie raus." Umea blickte zu ihm auf. Welche Ansprüche hätte er denn zu erheben?! Hadrian ließ sich neben ihm auf der Picknickdecke nieder. "Ich war kein Asket, das stimmt, wollte herausfinden, was mir gefällt. Nicht alles kann man ohne Partner erkennen. Ist so eine Menschen-Eigenheit, dass wir keine Betriebsanleitung an Bord haben." Umea fühlte sich verwirrt und gleichzeitig auch herausgefordert. Aber wieso?! @~-~@ Hadrian studierte die grünen Augen und die weißblond-grünstichigen Augenbrauen, die sich dezent kritisch zusammenzogen. Er lächelte, konnte nicht anders, registrierte, wie Erleichterung seine Schultern sacken ließ. "Sag mal, bist du ein wenig konsterniert?" Erkundigte er sich. Umea zögerte. "Ich liege richtig, oder? Weil du nicht auf die Betriebsanleitung festgelegt bist, was ganz schön fies und gleichzeitig meine Chance ist." Er löste den Zopf auf, der vollkommen verwildert war. "Deinem Anderssein verdanken wir Nemo und Nadia." Perfid. Würde Umea jetzt wieder die Luft anhalten? Bevor Hadrian die Jägermeister bemühen konnte, platzte Umea heraus, ungehalten! @~-~@ "Ich hab mir das nicht ausgesucht! Beim Großen M, das ist so~so kompliziert!" Umea ballte die Fäuste, stutzte über diesen Impuls. "All das, ich verstehe nicht, wieso?! Wir werden nicht wütend oder frustriert! Oder wissen nicht, was eigentlich vorgeht!" Umea funkelte agitiert in die schwarzen Augen. "Das gibt es nicht! Aber aus irgendeinem Grund...! Ich weiß nicht, wieso ich so~so anders bin!" Er entzog seine wirren Strähnen den geschickten Händen. "Außerdem hast du unrecht! Ich bin mir bewusst, dass ich anders bin!" Umea wollte sich selbst aufhalten, weil das gar nicht er war, der hier...oder...?! Doch der Impuls erwies sich als viel zu stark, konnte nicht länger unterdrückt werden. "Vorher war ich nur hässlich und ungeschickt! Danach galt ich als verwirrt, als beeinträchtigt, als bemitleidenswert abweichend! Weil es keinen Menschen gab! Weil es gar nicht möglich ist, mit einem Männchen Nachwuchs zu haben! Weil man sich nicht einen Penis in den After stecken lässt! Ich musste also verwirrt sein. Damit stellte ich eine Gefahr dar! Also schmerzten schon die Erinnerungen, sollte alles gelöscht werden, du, diese Welt, die Menschen, die Stadt!" Umea keuchte, obwohl er genug Luft hatte. "Wenn Nemo nicht gewesen wäre, wenn er nicht immer wieder gefragt hätte...! Ich hätte den Verstand verloren! Gar nicht mehr gewusst, was passiert ist, was wahr ist!" Er schlug die flachen Hände auf die Picknickdecke. "Ich wollte es richtig machen! Aber was ich auch anstelle...! Ich hab versucht, den Schmerz auszuhalten, in der Stadt zu leben, zu arbeiten, trotz meiner Betriebsanleitung!" Fauchte er Hadrian an, über sich selbst erschrocken und befremdet, konnte sich dennoch nicht einfangen, nicht bremsen. "Ich hab begriffen, dass Menschen sich trennen, ihre eigenen Wege gehen! Aber ich KANN das nicht! Der Gedanke, Nemo gehen zu lassen...!" Umea würgte, ihm schien sich die Kehle zuzuschnüren. "Ich bin nicht SO anders, dass ich das aushalten kann!" @~-~@ Hadrian hörte gefasst zu, betrachtete seinen exotischen und gleichzeitig so vertrauten Freund, die Bandnudelhaare wild, die gespannte Energie in dem abgemagerten Körper, fiebriges Funkeln in den grünen Augen, die spitzen Zähne enthüllend. "Ich will den kleinen Kerl auch nicht ziehen lassen." Antwortete er ruhig. "Und ich wusste nicht, dass deine Leute dich als pervers angesehen haben. Irgendwie hatte ich den Eindruck..." Er lächelte schief, als er Umeas Verwirrung bemerkte. "Du kennst den Begriff gar nicht, hm? Wenn man etwas tut, dass allgemein als nicht akzeptabel und wider die 'Ordnung' eingestuft wird." Versuchte er sich an einer Definition. Umea blickte ihm ins Gesicht, fast trotzig. "Ich hielt es für ungewohnt, aber nicht für falsch. Immerhin funktioniert es." Stellte er spitz fest. Hadrian stutzte, brach in Gelächter aus. "Und wie! Zwei mal ohne, zwei Volltreffer!" Kommentierte er zotig, streckte die Hand aus, um Bandnudelhaare hinter die Ohren zu schieben, lächelte zärtlich. "Ich bin dir sehr dankbar, Umea. Unsere Kinder sind wunderbar, definitiv Unikate und schon jetzt Persönlichkeiten." @~-~@ Umea spürte Verwirrung. Eigentlich eine gewohnte Empfindung, üblicherweise in seinem Kopf, bevor der sich in Brei verwandelte, keine Zusammenhänge mehr zuließ, wie unter einer bleischweren Decke versank. Doch gerade jetzt war sein Verstand klar und ungetrübt, konnte er Gedanken aneinanderreihen. Die Verwirrung kam nicht von außen, über den "Draht", sie resultierte aus seinen eigenen Emotionen und ihrem Gespräch. Erst diese Frustration und nun Ruhe? Er sackte leicht in sich zusammen. "Wieso bin ich gerade so seltsam?" @~-~@ Hadrian rückte heran, legte einen Arm um die gekrümmten Schultern. "Ich würde sagen, dass du dich eben freigeschwommen hast. Hier gibt es keinen Draht, keinen Matsch im Kopf." Mit der freien Hand fasste er Umeas sanft. "Nemos eine Hälfte hat uns viel erzählt über eure Welt auf der anderen Seite. Über die Stadt, was da so läuft, wie neugierig und aufgeschlossen alle sind. Dass es dort Veränderungen, Ideen, Erfindungen gibt. Ich glaube, dass du wie die anderen Leute bist. Das bedeutet auch, dass dein emotionaler Horizont weiter ist. Deshalb empfindest du Frustration, Enttäuschung, Wut, Hoffnung, Ehrgeiz und Liebe." Er hauchte einen Kuss auf eine eingefallene Wange. "Sonst wäre es dir gar nicht gegeben, Nemo in die Stadt zu bringen. Du könntest nicht nachfühlen, was ihn bewegt." Hadrian zwinkerte aufmunternd. "Jetzt, wo du den ganzen Dampf abgelassen hast, ist der Druck weg. Es gibt keinen Grund, sich zu verstellen, für die Gemeinschaft zu verbiegen. Hier kannst du du selbst sein." Er hob Umeas Hand an die Lippen, küsste den Handrücken. "Ehrlich, ich brenne drauf, den wahren Umea kennenzulernen!" @~-~@ Umea starrte in Hadrians Gesicht. Vage ahnte ein jahrelang unterdrückter, verschüchterter Teil seiner Selbst den Flirtversuch, auch wenn er nichts damit anfangen konnte, weil man am großen See...!. Hadrian zwinkerte frech. Umea seufzte, zog ungeübt eine Grimasse. "Ich weiß bloß, dass es sehr erschöpfend ist, ich zu sein!" @~-~@ Hadrian forcierte keine weitere Aussprache. Er hielt Umea einfach im Arm, blickte auf die Landschaft, bloß sitzen, aneinander gelehnt, die frische Brise um die Nase. Und lästige Bandnudelhaare! Eine fast meditative Ruhe senkte sich über sie. Natürlich gab es noch viel zu klären, wie es weitergehen sollte, wie man trotz der Hindernisse eine Familie bildete. All die kleinen Details und Fallstricke von Beziehungen. Erwartungen, Hoffnungen, Sorgen. Später. @~-~@ "Ob du wohl davon absehen könntest, Nemo dieses Lied beizubringen?" Umea lief neben Hadrian her, der einhändig das Fahrrad schob, gemächlichen Tempos, auch wenn es auffrischte, nach Regen roch. Hadrian wandte den Kopf, grinste. "Sag bloß, in der Stadt gibt es keine dezent ungezogenen Lieder?" Neckte er, was Umea zögern ließ, der SO VIEL Erfahrung als Städter nicht vorweisen konnte. In Tagen gemessen kam nicht mal ein Monat zusammen, sah man mal von der Zeit im Medi ab. "Ich bin nicht sicher." Gestand er schließlich ein, die Nase kraus gezogen. Das erinnerte Hadrian sehr an Nemo. "Na schön, von mir lernt er es nicht." Versprach er schmunzelnd. "Apropos, ich hab Nemos Zimmer schon gestrichen, aber über die Möbel müssen wir noch sprechen." Umea verlangsamte seinen Schritt. "Hadrian, wir können hier nicht bleiben." "Wieso nicht?" Die schwarzen Augen funkelten ihn kämpferisch an. "Warum nicht, Umea? Wieso ist es nicht möglich, dass ihr hier schlaft, das Wochenende verbringt? Und falls Gefahr droht, durchs Portal verschwindet?" Umea reckte das Kinn entschieden. "Hast du uns nicht selbst gewarnt? Menschen sind unberechenbar und gefährlich. Wer weiß, wie sie auf Nicht-Menschen reagieren? Sind das nicht deine Warnungen gewesen? Musste ich mich nicht ständig verstecken?" Hadrian nickte, zu seiner Verblüffung. "Ja, hab ich, und stimmt alles. Aber Menschen sind auch ziemlich betriebsblind. Bis jetzt hat niemand gemerkt, dass ihr nicht von dieser Seite stammt, weil niemand etwas vermutet. Ja, es könnte ein wenig knifflig werden, FALLS jemand was vermutet. Aber soll ich euch deshalb aufgeben?! Mich hasenfüßig drein schicken, weil VIELLEICHT jemand was ahnt?!" Seine Stimme indizierte bereits, dass er nicht Willens war, diesen Weg zu beschreiten. "Umea, lass uns alle gemeinsam darüber nachdenken. Überlegen wir uns eine Lösung, in Ordnung?" Eine Bitte, die man nicht abschlagen konnte, die vernünftig war, konstatierte seine innere Stimme. Außerdem, wenn er wieder auf die andere Seite wechselte, würde sein Verstand sich erneut verabschieden! Umea fauchte. "Ich benötigte auch eine Lösung, was meinen Kopf betrifft!" Ließ er den leicht irritierten Hadrian grimmig wissen. "Eine Notiz mit Folienstift und blinder Aktionismus reichen offenkundig nicht aus." @~-~@ Hadrian lachte, streichelte mit dem Daumen über Umeas Handrücken. Diese bissige Form von Humor und Selbstironie hatte er nicht erwartet. Möglicherweise glaubte er zu sehr an ein "sektenähnliches" Bild von Umeas Angehörigen. Im gegebenen Rahmen waren sie vielleicht ganz "normale" Leute, wenn ihr Kollektiv-Bewusstsein nicht Alarm schlug. "Ich weiß übrigens Bescheid." Ließ er Umea wissen, der aufwehende Bandnudelhaare auf den Rücken kämmte. Einzelne Strähnen tanzten auf Höhe der Kniekehlen. Die grünen Augen blickten ihn auffordernd an, nicht mit Andeutungen zu ködern. Hadrian schmunzelte. Nach diesem Koller, nicht mehr eingeschüchtert, von ständigen Schmerzen bedroht bewies Umea seine Stärke, was ihm sehr gefiel. "Ich meine, ich bin mir bewusst, dass unser Junior die Fakten anschmiegsam modifiziert hat. Technisch gesehen eine Lüge. Es ist kein Gras über die Menschen-Stadt-Geschichte gewachsen. Es gibt keine Akzeptanz eines Schulbesuchs." Umea blickte konzentriert auf die Turnschuhspitzen. "Deshalb habe ich mich sicher gefühlt, blöderweise, angenommen, dass ihr bleibt." Hadrian seufzte leise, spannte die breiten Schultern an, ließ sie herabsinken. Eine kontrollierte, erprobte Übung. "Dass du nicht lügen kannst, weiß ich ja bereits. Der Kleine ist faszinierend versiert darin, geschickt abzulenken, den Fokus zu dirigieren! Nur kommt er nach mir." Er spürte die Verspannung in der eleganten Hand. "Wenn er die Fakten dezent umfrisiert, zieht er die Schultern hoch und den Kopf ein, wie eine Schildkröte, ganz unbewusst. Das habe ich früher auch getan, wenn mein Vater mich nach meiner Mutter ausgehorcht hat. Da hat er mich mal angebrüllt und mir zu verstehen gegeben, wie ich mich verrate, wenn ich ihm nicht Rede und Antwort stehe." Hadrian schnaubte leise. "Da habe ich heimlich immer schwere Bücher in meinen Kindergarten-Rucksack geladen, schwindeln vor dem Spiegel geübt, genau kontrolliert, ob das Gewicht meine Schultern unten hält." Er rollte die Schultern. "Na ja, trainiert ein bisschen. Wahrscheinlich hätte es irgendwann auch geklappt. Aber zu dem Zeitpunkt war es nicht mehr nötig. Alte Geschichten. Ich hab mich bloß in Nemo wiedererkannt." Hadrian fing Umeas Blick auf. "Ich hab nichts gesagt, weil es mir nicht wichtig erschien. Konnte mir ja denken, warum Nemo diese Variante ausgeschmückt hat. Man hofft ja auch manchmal, dass alternative Versionen zu Tatsachen werden." Lächelte er wehmütig. Umea blieb stehen, brachte ihn somit auch zu einem kurzen Halt. "Nemo hat alles meinetwegen getan. Um mich zu retten." @~-~@ Umea blickte in die schwarzen Augen, registrierte die zusammengezogenen Augenbrauen. Ein kantigeres Gesicht als vor zehn Jahren, besorgt und mitfühlend, voller Ideen und Engagement, ihm beizustehen. Er straffte seine magere Gestalt. "Ich hatte es vergessen. Meine Erinnerungen an dich und deine Welt lösten sich auf mit jedem Mal, dass Nemo mich darum bat, von dir zu erzählen. Die Bilder wurden unkenntlich. Ich kam durcheinander, war verwirrt von den Gedanken der anderen." Umea spürte den Reflex, die Luft anzuhalten und gleichzeitig Zorn auf sich selbst. Nein! Ein kleiner Jägermeister...! "Es war mir lange gar nicht bewusst, weil wir ja immer zusammen waren, seit dem Tag, an den ich ihn empfangen hatte. Bis zu dem ersten Tag hier allein mit dir. Dass ich gespürt habe, wie er mich beschützt hat, begriffen habe, warum er häufig mit mir allein sein wollte." Umea bohrte wütend die scharfen Zähne in seine Lippen. Richtiger Schmerz. Gut! Kein Grundrauschen im Hinterkopf! "Als er nicht mehr zu mir kam, diese letzte Zeit im Medi, da habe ich es auch genau gemerkt, wie ich mich auflöse, keine Person mehr bin, keinen Begriff mehr von mir habe." Umea wandte sich abrupt ab, blickte hoch zum Himmel mit den dräuenden Wolken. "Ich war ein fürchterlicher Vater, weißt du? Üblicherweise entstehen unsere Kinder wirklich nur, wenn die Versorgungslage gut ist, sonst passiert einfach nichts." Er senkte die Lider. "Aber ich habe trotz meiner Unfähigkeit einen Sohn bekommen, obwohl ich mich selbst kaum versorgen konnte. Ohne meine Eltern und Geschwister hätten wir sehr oft Hunger gelitten. Wäre Nemo nicht so schlau...nur deshalb haben wir es geschafft." Umea öffnete die Augen wieder, wandte sich Hadrian zu, dessen Züge noch prägnanter wirkten. "An dem Tag, als wir hierher kamen, habe ich nicht mal mehr begriffen, wohin es gehen sollte. Er musste auf mich einreden, mich an der Hand führen. Mein Verstand, meine Erinnerungen, das kehrte erst hinter dem Portal wieder." @~-~@ Hadrian zwang sich, Umeas Hand nicht zu quetschen. Sakrament, das hörte sich noch schlimmer an, als er vermutet hatte! Linien prägten Umeas ovales Gesicht, verliehen ihm eine asketische Anmutung. "Ich weiß, dass du ihm nichts nachträgst, Hadrian, deshalb bitte ich dich, das alles zu bedenken. Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich das Verbot auflösen wird. Wenn ich ich bleiben will, etwas länger leben, kann ich nicht zurück an den See. Aber wir können auch nicht hier leben. Die Stadt ist die einzige Möglichkeit." Hadrian atmete tief durch. "Das war mir schon bewusst, als Nemo aufgelöst von deinem Zusammenbruch berichtet hat. Er wäre nicht hierher gekommen, wenn er auf deiner Seite hätte um Hilfe bitten können. Aber ich bin nicht damit einverstanden, dass du entweder einen Drogenpilz einwirfst oder zugrunde gehst!" Donnerte er aufgebracht. "Es MUSS eine bessere Lösung geben, Umea! Wir haben ZWEI Kinder, die ihre Eltern behalten wollen. Ich werd dich bestimmt nicht noch mal abhauen lassen. Ja, Menschen haben keinen "Draht"! Aber ich knabbere immer noch am Verhalten meines Vaters. Und, verdammt noch mal, MEINEM Verstand geht es kein bisschen anders als DEINEM! Nämlich bei der bloßen Idee, Nemo, Nadia oder dich zu verlieren!" @~-~@ Umea klingelten dezent die Ohren. Dass Hadrian ihm mal ohne jeden Anflug von Amüsement ins Gesicht brüllen würde, hatte er nicht erwartet. Der atmete jetzt heftig, angespannt, die Knöchel auf dem Fahrradlenker weiß hervortretend, zerdrückte ihm beinahe die okkupierte Hand. Zum Fürchten! So also tobten sich Menschen aus! Er sollte es befremdlich finden, unverständlich, mit Ablehnung quittieren, Distanz herstellen. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich verstanden, beheimatet in diesen unangemessenen Emotionen. Obwohl er nun wirklich keine menschliche Hälfte aufweisen konnte! Die schwarzen Augen blitzten, der Gesichtsausdruck wirkte kriegerisch. Umea seufzte erschöpft. "Findest du es auch unfair, sich um das Richtige zu bemühen und dann zu scheitern?" @~-~@ Hadrian holte tief Luft, entspannte seine Muskeln konzentriert, gab Umeas Hand frei, um den Arm um dessen Hüften zu schlingen, ihn an sich zu ziehen. "Und ob ich das finde!" Umea schlang ihm die dünnen Arme um den Rücken, ließ sich einfach halten, den Kopf auf seiner Schulter abgelegt. Hadrian begriff in diesem Moment, dass sie beide keine Übung darin hatten, sich einem anderen anzuvertrauen. Es ging nicht nur um körperliche Nähe, sondern um die Offenbarung von Schwächen, Zweifeln, Verwirrung, Kleinmut, Hilflosigkeit. "Weißt du, was bemerkenswert ist?" Raunte er in das wirre Durcheinander zerzauster Bandnudelhaare. " Bei all den Regeln, von denen du mir nichts sagen darfst, bei den Einschränkungen zu verfügbarer Lebensgrundlage: wir haben zwei Mal ohne Gummi Sex gehabt und zwei Kinder. Ehrlich, Umea, kann es sein, dass wir uns auf die falschen Regeln konzentrieren?" @~-~@ Umea hörte den dezent selbstironischen Unterton in Hadrians dunkler Stimme. Eigentlich befanden sie sich ja nun wirklich nicht in einer amüsanten Lage, dennoch konnte er ein Glucksen nicht unterdrücken. "Ich bin nicht sicher, ob es zählt, dass wir eher ungeplant so erfolgreich waren." Warf er leise ein, strich über den breiten Rücken. "Fragt sich ernsthaft, WER hier zählt, aber ich weiß, großes Geheimnis! Ich finde bloß, wir sollten selbst Regeln aufstellen!" Bevor Umea darauf antworten konnte, spürte er einen Tropfen auf der Nasenspitze. "Klasse. Wir waren gerade wieder trocken!" Grollte Hadrian aufgebracht, drückte ihn noch ein wenig enger an sich. Trotz seiner Erschöpfung brach Umea in heiseres Gelächter aus. @~-~@ Natürlich erwischte sie der Guss vollständig. Hadrian musste sogar anhalten, damit Umea sich auf dem Sozius im "Damensitz" arrangieren konnte wegen des "Leim"-Reflexes von Knöcheln und Knien. Tja, da lohnte sich das Füllen der Waschmaschine! Glücklicherweise befand sich gerade niemand in der Apotheke, sodass er Umea sogar rein tragen konnte, die Stiege rauf, die nassen Kleider runter, gemeinsam in den Duschwürfel zum Auftauen. Er hielt Umea umschlungen, sparte sich große Reden, weil Umea ja nicht antworten konnte und sehr erschöpft wirkte, was bei ihrem Pensum keine Überraschung darstellte. Behutsam tupfte er die Haut mit den großflächigen Flecken ab, streifte Umea einen Pyjama über, bugsierte ihn ins Bett, justierte den Turban mit den nassen Bandnudelhaaren so, dass Umea bequem schlummern konnte. In Jeans und T-Shirt eingekleidet marschierte Hadrian ins Erdgeschoss, nahm eine Tasse Tee entgegen, unter den prüfenden Blicken seiner Mutter. "Was habt ihr angestellt? Schlamm-Catchen?" Hadrian grinste schief. "Exakt, zumindest die erste Hälfte des Ausflugs. Danach wollten wir eigentlich ganz gemütlich und frisch durchgepustet nach Hause spazieren." Er schnitt eine Grimasse. "Hat das Durchpusten geholfen?" Hadrian spürte die Sorge seiner Mutter. Kein Einmischen aus Zweifel an seinen Beziehungsqualitäten, sondern begründete Bedenken in der geteilten Verantwortung für ihre Lebensgemeinschaft hier. "Wir haben zumindest beide mal einen Koller ausgetobt. Aber die Lage ist komplizierter, als ich vermutet habe. Und, lach jetzt bloß nich, Mama!, wir sind ein klein wenig tollpatschig als Paar. Ohne Anleitung ist das wirklich kompliziert!" Beklagte er sich empört. Immerhin sollte man doch meinen, im fortgeschrittenen Alter von 27 Jahren nicht SO oft als Depp aufzufallen, aber..! Hadrian konnte das breite Grinsen seiner Mutter nicht übersehen, der erhoffte Effekt, sie aufzuheitern. Er lächelte, nippte an seinem Tee. "Danke, Mama, dass du mir die Zeit mit Umea gibst." @~-~@ Eva Maria nickte bloß, studierte ihren Sohn. Sie vertraute seinem Urteil und sorgte sich, weil er sie aufzumuntern versuchte. Was bedeutete, ganz zweifellos, dass die Lage weiterhin heikel war. "Wir sollten uns gemeinsam aussprechen, alle fünf. Die Karten auf den Tisch, Klartext." Hadrian grummelte. "Pardon?" Hakte Eva Maria akribisch nach. Ihr Sohn grimassierte sauertöpfisch. "Ich bin ja auch dafür, nur wird das wahrscheinlich ziemlich ungemütlich." Eva Maria tippte ihm tadelnd auf die Nasenspitze. "Sei kein Hasenfuß, Sohn! Wir werden vorher einfach alle Pizzateig belegen und Plätzchen backen. Ich räume die scharfen Utensilien vom Tisch, die Mägen sind gefüllt. Kann gar nicht schiefgehen!" Behauptete sie entschieden. Hadrian seufzte. "Nimm ihnen aber auch die Muschelschneiden weg." Er baute sich auf, wirrte sich durch die Locken. "Ist wohl besser, ich prüfe mal, ob wir noch genug Bananen haben. Wird viel Seelennahrung fordern." In seinem Rücken lächelte Eva Maria leicht. Sie war froh, dass ihr Sohn in der Lage war, seine Erwartungen zu reflektieren, sie zu verändern. Dass er seinem eigenen Pfad folgte, dabei jedoch Besonnenheit wahrte. Nur in einigen äußerlichen Aspekten seinem Vater ähnelte. Trotz all der Umstände ein feiner Kerl geworden war! @~-~@ Kapitel 21 Nemo warf einen Blick in den Tragebeutel. Nadia schlief, für den Moment, was bedeutete, dass er nicht schon wieder nach Proviant in seinem Rucksack fahnden musste, obwohl es ihn ganz und gar nicht störte. Als kleine Schwester war sie sehr pflegeleicht und anstellig! Winzig, durchaus, gerade mal die Elle groß, aber flink, beweglich und munter. Schlau. Nemo hegte keinerlei Zweifel, dass sie wie er war, ein halber Mensch. Ob sie schon merkte, dass sie mit zwei Hälften jonglieren musste? So ganz sicher fühlte er sich diesbezüglich nicht. Andererseits konnte man das auch nicht erwarten, wenn die erste Priorität "Essen" regierte. Er blickte sich um, doch außer ihm nutzte niemand den Weg entlang des Sees zur Stadt. Wenn er jemanden anträfe, könnte er in die Stadt gelangen, rasch und ohne Anstrengung, nach Ndadadime sehen, Younous und Ingban, mitteilen, dass es ihnen gut ging und dass vorerst das Geschäft noch in den fähigen Klauen des Greifvogel-Daimons lag. Allerdings konnte es sein, dass die Wetten gar nicht mehr aktuell waren. Younous' Bekannte, Freunde und Kollegium mussten ihren eigentlichen Aufgaben nachgehen. Diesbezüglich konnte er sich nun wirklich als verwöhnt bezeichnen. Also doch lieber zurück zum Portal? Ob Papa und Vati sich schon ausgesprochen hatten? Nemo schämte sich ein wenig, weil es ihn erleichterte, diese Aufgabe nicht meistern zu müssen. Außerdem plagten ihn Schuldgefühle, den Papa drei Tage lang allein von Fremden versorgen zu lassen, durch Distanz und Willensanstrengung ihre Verbindung abzuschwächen, bis der dumpfe Schmerz nicht mehr die Oberhand hatte. Ganz schön verzwickt, die Lage! "Nemo?" Nadia hangelte sich putzmunter aus dem Beutel, kletterte an seinem Hemd hoch, stand auf seiner Schulter, eine Hand in seinen Locken. "Ich glaube, heute ist keiner da, der uns mit in die Stadt nimmt. Vielleicht gehen wir direkt zu Oma und Vati, hm?" Nadia spähte vor und zurück, nach oben, aber auch ihren schwarzen Knopfaugen bot sich kein anderen Reisenden. "Wollen wir was spielen? Ich sehe was, was du nicht siehst?" Schlug Nemo vor. Ganze Sätze zu formulieren fiel seiner kleinen Schwester noch schwer, aber Substantive prägte sie sich sehr gut ein. "Also, ich sehe was, und das ist braun." "Baum." Offerierte Nadia, deutete das nächste Exemplar der Gattung aus. "Richtig. Jetzt bist du dran." Nadia blickte sich prüfend um. "Ich sehe was, was du nicht siehst?" Half Nemo aus. "Sehe was, du nicht, rot!" Begnügte sie sich mit Fragmenten. "Hmmm!" Grübelte Nemo tiefsinnig. "Also, du bist es nicht, denn dich sehe ich ja." Spielte er auf den kupferroten Lockenschopf mit dem Grünspat-Schimmer an. "Es könnte eine Beere sein, aber ich sehe keine." Kreiselte er um die eigene Achse, ließ Nadia amüsiert kichern. "Oje, das ist ganz schön schwer!" Sie gluckste, ganz und gar nicht verärgert über sein Laienschauspiel. "Was meinst du: wenn ich es nicht sehe, könnte es mein Rucksack sein!" Löste Nemo schließlich artig das Rätsel. "Willst du weitermachen?" Sie nickte eifrig, studierte die Umgebung. Nemo wartete, blieb abrupt stehen, wandte sich einer gleichförmigen, grünen Wand aus urwüchsiger Vegetation zu. "Hallo da drin. Wenn wir den gleichen Weg haben, können wir uns auch unterhalten. Dazu könntest du sogar herauskommen." Kein Rascheln, kein Zwitschern. "Ich fress dich!" Drohte schließlich eine Stimme, recht heiser. Nemo zog die Nase kraus. "Oh, hast du Hunger? Ich könnte dir etwas abgeben." Konzentriert beäugte er das Dickicht. "Ich FRESSE dich...und...das da!" "Was da?" Konterte Nemo unbeeindruckt. "Das kleine Etwas auf deiner Schulter!" Krächzte die Stimme. "Das ist kein Etwas, sondern meine Schwester Nadia. Ich bin Nemo. Und du bist?" Minimales Blätterrascheln. "Hungrig! Mit einem Happs verschling ich dich!" Nemo schüttelte den Rucksack herunter, öffnete ihn, um Nadia einen Keks zu geben. Sie kaute mit prallen Backen. "Kann ich mir nicht vorstellen. Ich würde dir bestimmt im Hals steckenbleiben." Die Stimme fauchte. "Pah! Ich bin groß, riesengroß! Gigantisch! Mit einem Happs! Weg bist du! Und das kleine Etwas." Nemo versorgte Nadia mit dem Fingerhut, damit sie schluckweise Wasser zu ihrem Keks trinken konnte. "Also, meine Schwester ist kein kleines Etwas und sie wächst. Wir werden beide noch größer." Ließ er den verwilderten Busch wissen. "Wie groß?" Begehrte der nun zu erfahren. Zu Demonstrationszwecken stellte Nemo sich auf die Zehen, reckte den Arm. "So etwa. Wie mein Papa." Wenige Augenblicke später schnaubte es despektierlich. "Das ist doch nicht groß!" "Groß genug." Returnierte Nemo selbstbewusst. "Also, zum Beispiel, wenn ICH gigantisch groß wäre, würde ich das Buschhocken sehr unbequem finden. Bleibst du nicht ständig irgendwo stecken?" Wieder zögerte die Stimme einige Momente. "Nein! Ich bin gigantisch UND geschmeidig!" "Wirklich? Ah, dann bist du wahrscheinlich eine Bohnenstange, ja? Oder ein Rohrkolben. Bambushalm?" Schlug Nemo vor, sammelte den Fingerhut wieder ein. "Bestimmt nicht!" Fauchte die Stimme aufgebracht. "Ich bin RIESIG und schluck dich im Ganzen runter! MÜHE-LOS!" Betonte sie heiser und drohend. "Da müsste ich meine Muschelklinge nehmen und ein Loch in dich schneiden, damit ich rausklettern kann, weil Nadia und ich von unseren Eltern erwartet werden." Erläuterte Nemo gelassen. "Ein Loch reinschneiden?! In mich?! Wie ungezogen!" Protestierte das Dickicht empört. Nemo lächelte. "Ich kann verstehen, dass das aus deiner Perspektive so wirkt. Aus meiner Perspektive ist es ungezogen, einfach Leute zu verspeisen. Deshalb schlage ich vor, wir sind beide nicht ungezogen. Hier, ich lasse dir meine Vesper da, Brot mit Linsenmatsch, sehr lecker." Er deponierte die zugeklappten Scheiben auf einem frisch gepflückten, großformatigen Blatt. "Wir müssen jetzt los. Auf Wiedersehen." Verabschiedete sich Nemo, den Rucksack justierend. "Tschüss, Busch!" Krähte Nadia aus voller Kehle. Immerhin konnte es ein GIGANTISCHER Busch sein, der schlecht hörte! "Ich bin kein Busch!" Protestierte das Dickicht grimmig. Nemo kicherte leise, ließ Nadia in den Beutel vor seiner Brust rutschen. Noch immer hörte man nichts weiter, blieb es still. Einige Schritte entfernt drehte er den Kopf, blickte über die Schulter. Sein Brot samt Blatt waren verschwunden. @~-~@ Hadrian schlüpfte kurz in sein Zimmer. Umea schlief noch immer, tief und fest. Tja, da musste man wohl die Generalaussprache vertagen, was ihm gar nicht so ungelegen kam. In der Wohnküche warteten Nemo und Nadia, malten Silben auf den Block, kopierten die Buchstaben aus einer alten Schulfibel. Nadias Versuche wirkten eher expressionistisch, da sie den Buntstift mit beiden Armen umklammern musste. Obwohl die Ähnlichkeiten mit dem Vorbild zu wünschen ließen, kicherte sie unverdrossen. Nemo grinste, überprüfte die eigenen Ergebnisse akribisch. Mit Bildern zu den Silben ließ es sich viel leichter an, die gesprochene Sprache auch in Zeichen zu denken. "Umea schläft noch wie ein Murmeltier. Lasst mir ein bisschen Platz, ihr zwei, dann erledige ich auch meine Hausaufgaben." Die Buchhaltung konnte er ja nicht ewig seiner Mutter überlassen, wenn sie ihre Aufgaben aufteilten. Zu seiner Erleichterung funktionierte es ganz gut. Selbst Nadia, von der man keine lange Aufmerksamkeitsspanne erwarten konnte, blieb pflegeleicht. Wenn sie nicht malte, Purzelbäume schlug oder Nemos Fortschritte inspizierte, kaute sie irgendwas. Hadrian ertappte sich dabei, sie fasziniert zu beobachten: nicht mal einen Monat alt, aber Nadia schien mit einem Säugling nichts gemein zu haben. Definitiv gewöhnungsbedürftig war jedenfalls ihr Wissen. Diese "Kollektiv"-Ausrüstung irritierte ihn immens. Dabei sollten ihn Aspekte, die an Phantasiegeschichten erinnerten, nun wirklich nicht mehr umtreiben! "Nemo, wie ist das so? Nach einem Jahr, meine ich, wächst man nur noch langsam und hat schon alles drauf, was man am See wissen muss?" Erkundigte er sich schließlich. Sein Sohn legte den Bleistift beiseite. "Wenn ich mich richtig erinnere, ist zumindest im Kopf schon viel drin." Ein spitzbübisches Lächeln garnierte diese Einlassung. "Die Umsetzung muss man aber noch üben, das geht nicht von allein. Alles, was sich nicht regelmäßig ereignet, lernt man erst später, wenn es gebraucht wird." Nemo zog die Nase kraus. "Also zum Beispiel Schreiben. Ich kannte die Zeichen schon, nur als ich sie in den Sand zeichnete, konnte man kaum was erkennen. Das muss geübt werden, wie jagen, wie flechten, wie Fladenteig kneten." Sein Kinn deutete zu Nadia hinüber, die bunte Spiralen um sich selbst zog. Nadia mischte sich nun ein, stemmte einen Buntstift über ihr Lockenhaupt. "Hecht jagen! Lecker!" Hadrian runzelte die Stirn. "Was denn für einen Hecht?" Argwöhnte er ahnungsvoll, worauf Nemo ihm zu seinem Schreck übersetzte, was die Großmutter und Nadia zu trainieren pflegten. @~-~@ "Guten Morgen, Dornröschen." Hadrian schmunzelte: Umea wirkte aufgeschreckt, die Bandnudelhaare wirr, unter das Hemd bugsiert, um sich bewegen zu können. "Ich habe verschlafen! Seit gestern geschlafen!" Stellte Umea heiser, schockiert fest. Die grünen Augen blickten jedoch klar. Er wirkte auf Hadrian erholter. "Schon recht, mein Märchenprinz. Wie wäre es mit Frühstücken? Du hast nichts Wesentliches verpasst." Ließ Hadrian ihn wissen, schenkte Tee aus. Umea kletterte auf einen Hocker, seufzte vernehmlich. "Entschuldige bitte! Meinetwegen kannst du nicht arbeiten." "Falsch." Widersprach Hadrian, beugte sich herunter, küsste eine warme Wange. "Meine Mutter ist entschieden der Meinung, dass du aufgepäppelt werden musst." Etwas verlegen nahm Hadrian Platz. "Ich habe festgestellt, also, ich habe den Eindruck, dass wir so als Paar ein klein wenig mehr Übung brauchen. Wenn wir ein Paar sein wollen." Umea nippte vorsichtig an seinem Teebecher, blickte Hadrian direkt in die schwarzen Augen. "Wie sollen wir das machen?" Die Kardinalfrage, noch immer. @~-~@ Nadia gähnte, kletterte in den Tragebeutel. Nemo justierte diesen und richtete den Rucksack. Wenige Meter auf der Straße weg vom See hörte er ein gleichförmiges Knirschen. Rasch trat er auf die Seite, doch das Rollbrett bremste bereits. "He, he! Ist das Nemo, das ist Nemo!" Es klang ein klein wenig seltsam, weil die Worte durch eine mobile Blase drangen. In dieser befand sich ein Kopffüßer-Daimon mit acht Greifarmen, die arbeitsteilig das Rollbrett antrieben, eine warnende Tröte drückten, gleichzeitig Quittungen abhakten. Quitsch arbeitete als Auslieferer von vergorenem Pflanzensaft, der in kleinen Ampullen täglich transportiert wurde. "Hallo, guten Tat, Quitsch! Geht es dir gut?" Absolvierte Nemo lächelnd die Honneurs, drückte eine Handfläche gegen einen Greifarm mit Saugnäpfen. Aus der mobilen Blase drang ein Glucksen. "Prima, alles prima, ja, prima, mein Freund! Geht's in die Stadt, ja, die Stadt? Steig auf, oho, bitte sehr, steig auf!" Das ließ Nemo sich nicht zweimal sagen, auch wenn es Übung bedurfte, sich an der mobilen Blase festzuhalten, Außerdem durfte er die eifrigen Tentakel auch nicht behindern. "Vielen Dank, Quitsch! Du bist noch schneller geworden, oder?" Der Kopffüßer-Daimon blähte sich stolz auf, angefeuert. "Ja, in der Tat, tatsächlich! Halt dich fest, richtig fest, wir sind schnell, schnell wie der Wind!" Damit katapultierte er das Rollbrett samt geleerter Ampullen förmlich über den Weg. @~-~@ Hadrian gesellte sich zu Umea auf die Veranda, wo der mit seinen Bandnudelhaaren haderte. "Können wir uns beraten, oder soll ich dir erst mal bei diesem Ringkampf helfen?" Umea schnaubte dezent. "Ich bin eigentlich sicher, dass der Haargummi drin steckt! Sie wollen einfach nicht, wie ich will!" Platzte er empört heraus. Hadrian grinste. Umea verfügte wirklich über Temperament! Andererseits fungierte der "Draht" vielleicht auch als "Stimmungsdämpfer". Tückisches Terrain. Er dirigierte Umea sanft, ihm den Rücken zuzukehren, fing die ungebärdigen Bandnudeln ein. "Es gibt da so Konzepte, wie man schwierige Probleme lösen kann. Dass man verschiedene Szenarien durchspielt. Gedanklich prüft." Er hauchte einen Kuss auf Umeas zarten Nacken, bevor er den schweren Zopf, adrett geflochten, ablegte, schlang die Arme um ihn. "Also, zum Beispiel, wenn du wie Nemo und Nadia jederzeit durch das Portal gehen könntest, würdest du mit mir hier leben?" Umea lehnte sich schwerer an seine Brustpartie. "Ja, das würde ich. Wenn wir beide sicher wären, dass dir und deiner Mutter keine Gefahr droht, weil ich kein Mensch bin, keine Papiere habe." Hadrian unterdrückte ein Knurren. Zwei Schwierigkeiten in einem Szenario, unfair! "Also gut, zwei offene Probleme. Wenn wir beide lösen könnten, wie stellst du dir unseren Alltag vor? Was würdest du dir wünschen?" Umea legte die eleganten Hände auf Hadrians große. "Ich wünschte, dass Nemo viel lernen könnte und trotzdem jeden Tag bei uns ist. Und dass ich eine Tätigkeit ausüben könnte, damit wir unser Auskommen haben." Hadrian nickte. "Na, das mit der Schule und dem Portal jeden Schultag lässt sich bestimmt machen, hoffe ich. Die Herstellung der marinierten Linsen ginge wohl auch, wenn du einen Vertriebspartner hättest. Damit meine ich jemanden, der den Verkauf erledigt. Und vielleicht jemand, der die Linsen direkt vors Portal liefert." Umea seufzte. "Ich bin nicht mal sicher, ob alle das Portal sehen können, Hadrian. Außerdem darf ich gar nicht hier sein, einfach aus der Menschenwelt Dinge einführen..." "Stopp!" Gebot Hadrian. "Die Regel bei dieser Strategie lautet, sich vorzustellen, wie es gehen könnte." Erinnerte er, küsste Umea entschuldigend auf die Schläfe. "Im Übrigen, all die Dinge, die nicht funktionieren sollen, HABEN es schon. Also können wir die erst mal ausklammern." Vor ihm grummelte Umea, sehr leise. "Wie bitte?" Schnurrte Hadrian basslastig, kuschelte unverfroren, wurde nicht in seine Schranken verwiesen, aber aufgeklärt. "Ich finde es nur unsportlich, wenn die Regeln keine Regeln sind. Das ist so unordentlich!" Beklagte sich Umea verschnupft. Hadrian grinste unwillkürlich, küsste ihn auf die Wange. "Darf ich festhalten, dass du mit mir hier leben würdest? Wenn wir die klitzekleinen Probleme mit dem Portal und deiner Manufaktur und so lösen?" Umea seufzte vernehmlich. "Du bist dir bewusst, dass das eine rhetorische Frage ist? Mein Verstand funktioniert nämlich wieder." Lachend ließ sich Hadrian hintenüber fallen, zog Umea mit sich, der nicht mal protestierte, sondern eine geschmeidige Rolle absolvierte, das freche Lachen entschieden unter höchstpersönlichem Einsatz dämpfte. @~-~@ Quitsch verabschiedete sich mit einer Trötenfanfare. Nemo schob sich ins Gewühl. Nadia, selbstredend wach und gewohnt hungrig, nagte an einer sehr frischen Erbsenschote, auf seiner Schulter sitzend. Obwohl so viele Personen unterwegs waren, lief man nicht Gefahr, angerempelt oder gestoßen zu werden, weil das Tempo sich nicht durch Hektik und Hast auszeichnete. Bevor er den Laden erreichte, sah er Quäste Ndadadime quittieren, Obolus einsacken, zwei Mee-Poos auszahlen, stets die Übersicht wahrend. Nemo schlüpfte geschmeidig wie ein Klippfisch durch Lücken, adressierte sie. "Quäste Ndadadime, guten Tag! Vielen Dank für die Hilfe, auch von meinem Papa." Deklamierte er, freizügig mit mutmaßlich intendierten Absichten ausschmückend. Die Quäste bleckte überrascht die Zähne. "Nanu, Nemo? Und Nadia? Das ist ja ein Zufall! Geht es eurem Papa jetzt besser?" Nadia, die ihre augenblickliche Mahlzeit beendet hatte, stand, eine Hand sichernd in Nemos Locken. "Papa wieder besser! Ingban besuchen?" Nemo sparte sich eine Übersetzung. Ndadadime nickte bereits, strubbelte behutsam durch Nadias Lockenschopf. "Das ist schön zu hören, ich wünsche gute Genesung. In der Tat wollte ich gerade zu Ingban. Regelmäßig die Rückmeldungen zu besprechen ist wichtig." Artig nickend fiel Nemo neben ihr in den Schritt, während er prüfend ihr Profil betrachtete. Gab es Beschwerden? Kam Ingban allein den Nachfragen nicht nach? Oder reichte es kaum zum Überleben? Wollte er lieber mehr Aufträge als Kurier annehmen? Nadia tätschelte ihm ein Ohr, aufmunternd. Richtig, noch wusste er ja nicht, was los war! Also nicht ins Bockshorn jagen lassen von Ungewissheiten! @~-~@ Hadrian blickte hoch, Umea auf sich gezogen. Es widersprach dem Lösungskonzept zwar, aber Pedanterie konnte ihm jetzt gestohlen bleiben. "Umea, würdest du bei MIR bleiben? Wenn du jederzeit durch das Portal gehen könntest? Wenn es drüben keine Schmerzen mehr gäbe?" Eine blöde Frage, natürlich, die so wirkte, wie er sich manchmal fühlte: zweifelnd. Ob er Umea nicht nötigte, aus Notwendigkeit bei ihm zu bleiben. Nicht, weil es auch dessen eigenen Gefühlen entsprach. Umea löste sich aus seinen Armen, setzte sich auf. Hadrian folgte seinem Beispiel. Auf den Fliesen lagerte es sich auch nicht sonderlich bequem. "Fragst du mich, ob ich DICH wählen würde?" Erkundigte sich Umea höflich, was Hadrian rote Flecken ins Gesicht zauberte. PEINLICH! Leider genau ins Schwarze getroffen, was Umea durchaus erkannt hatte. Ein leichtes Lächeln spielte nämlich um seine Mundwinkel. "Hadrian, ich mag dich sehr. Ich mochte dich schon vor zehn Jahren sehr. Sonst, ganz gleich, welche Reflexe mich beherrschen, hätte ich es nicht zugelassen, dass du mich über die Hautbehandlung hinaus siehst, mit meinen Flecken." Hadrian wollte sofort intervenieren, doch Umea tippte ihm auffordernd auf die Nasenspitze. "Diese Komplexe trage ich mit mir und verliere sie auch nicht. Ich hätte dich nicht geküsst, nicht angerührt, nicht in mir empfangen. Auch wenn man meinem verwirrten Verstand nicht allzu viel zutrauen kann, ich erinnere mich, dass ich es war, der diesen letzten Schritt initiiert hat." Eine elegante Hand zupfte sanft an Hadrians schwarzen Locken. "Ich möchte bei DIR bleiben, von dir geliebt werden." Umea seufzte leise, wich Hadrians Blick jedoch nicht einen Augenaufschlag aus. "Aber Menschen machen mir Angst, Hadrian. Anders als Nemo verfüge ich nicht über das Verständnis. Ich kann deshalb nicht schnell reagieren. Meine Auffassungsgabe ist eingeschränkt." Er streichelte mit den Fingerkuppen über Hadrians Schläfe. "Nemo muss mir erklären, wie Menschen agieren. Auch wenn ich anders bin, bin ich doch nicht ausreichend anders." Umea drehte eine schwarze Locke um seinen Zeigefinger. "Ich weiß sehr wohl, dass ich dich verletzt habe. Kaum bei Verstand, nun, zumindest einigermaßen, bin ich mit Nemo in die Stadt verschwunden, nicht zufällig, sondern geplant." Hadrian atmete unwillkürlich vernehmlicher aus. Er selbst hatte nicht gewagt, dieses Thema anzusprechen. Umea gab seine Locke frei. "Nemo ist klug, reaktionsschnell, wissbegierig und ein halber Mensch. Aber niemals menschlich genug. Auch wenn er dir sein Ehrenwort gegeben hat, durch das Portal zu verschwinden." Er legte die elegante Hand auf Hadrians Wange. "Er wird es nicht tun, Hadrian, weil er nur zur Hälfte ein Mensch ist. Wenn wir jagen, lassen wir keinen zurück. Nie. Nicht mal, wenn es unser aller Leben kostet. Deshalb weiß ich, dass er nicht gehen würde, wenn ich hier bin. Weil ich das weiß, kann ich ihn unmöglich in eine solche Situation bringen." Er tippte mit der Fingerspitze auf Hadrians Lippen, die schon zum Kommentar ansetzten. "Ich bin so anders, dass ich Alternativen erkenne. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich auch anders handeln kann. Wir sind Individuen, doch in manchen Situationen überwiegt das Kollektiv. Deshalb wollte ich das tun, was die geringste Gefahr für alle bedeutet." Hadrian fing Umeas Hand ein, küsste den Handrücken. "Du glaubst nicht, dass ich euch verteidigen würde?" Er lächelte bitter. "Wahrscheinlich erscheint es dir unvorstellbar, aber menschlich gesehen: ich würde immer deine Seite wählen, Umea, ganz gleich, ob mein Gegenüber auch ein Mensch ist." Hadrian schnaubte. "Vielmehr zeichnet uns das unter den Säugetieren sogar aus. Uns hat das nie geschert oder von irgendetwas abgehalten. Tatsächlich bewegen uns persönliche Beziehungen viel stärker als abstrakte Vorstellungen. Klar bin ich Pazifist, doch auch überzeugt, dass ich keine Skrupel hätte, Leute abzumurksen, die dir ans Leben wollen." In Umeas grünen Augen blitzte es. Hadrian küsste erneut Umeas Handrücken, bleckte die Zähne. "Ja, das ist menschlich, mein Märchenprinz. Ich verstehe, dass du zu recht Angst vor Menschen hast. Trotzdem werde ich hartnäckig nach Lösungen suchen, damit du bei mir bleibst, dein Leben mit mir verbringst." @~-~@ Umea studierte die schwarzen Augen, die zusammengezogenen, schwarzen Augenbrauen darüber, die etwas zu langen, herrlich elastischen, schwarzen Locken um das kantige Gesicht. Zweifelte er Hadrians Entschlossenheit an? Nein, keineswegs. Wollte er ihn jemals in die Lage manövrieren, wählen zu müssen? Nein, genauso wenig wie Nemo oder Nadia. Fürchtete er sich vor Hadrians anderer menschlicher Seite? Das sollte er wohl, doch fühlte er sich nicht verschreckt, nicht mal mehr befremdet, was gegen seine Natur sprach! Umea beugte sich vor, küsste Hadrian leicht auf die Lippen. "Und du?" Wisperte er leise. "Willst du wirklich dein Leben mit mir teilen?" Immerhin existierte kein Zwang, bei der Gruppe sein Dasein zu fristen, gab es jede Menge Auswahl. So viele Menschen, die weniger kompliziert oder eingeschränkt waren. Die für sich selbst einstehen konnten, ihren Lebensunterhalt bestreiten. Er hörte Hadrian leise lachen. "Umea, ich bin verrückt nach dir. Du bist schön, exotisch, klug und ungeheuer mutig. Mir ist vollkommen egal, wie euer Schönheitsideal aussieht, denn ich finde dich absolut sexy! Du hast zwei Schwangerschaften durchgestanden und Nemo allein aufgezogen. Je mehr Zeit ich mit dir verbringe, umso mehr möchte ich von dir kennenlernen. Eigentlich stehen wir noch ziemlich am Anfang, meinst du nicht?" Umea zog die Nase kraus, verwirrt. "Ich verstehe nicht ganz. Was meinst du damit?" Die schwarzen Augen funkelten vergnügt. "Ohne den 'Draht' lerne ich DICH kennen. Wir können einen Alltag erproben, wo du nicht verschwinden musst. Etwas gemeinsam unternehmen oder faulenzen, diskutieren, Erlebnisse teilen." Hadrian küsste ihn, nicht sonderlich zurückhaltend, zog ihn auf seinen Schoß, lehnte die Stirn an seine, hielt ihm umschlungen. "Wir können Pärchen-Dinge tun, herumturteln, albern sein, schlimmstenfalls sogar im Partnerlook herumlaufen." Was Umea gar nichts sagte. Er inspizierte Hadrians spitzbübisches Grinsen. "Ich bin nicht sicher. Kann es sein, dass du mich gerade wieder herausforderst?" Erkundigte er sich dezent argwöhnisch, in Erinnerung an ihr Missverständnis im See. "Ein kleines Bisschen." Gestand Hadrian ihm ein, tupfte ihm einen neckenden Kuss auf die Stirn. Umea grummelte sehr moderat. "Ob ich das jemals durchschaue? Sind Pärchen hier nicht einfach nett zueinander?" Hadrian gluckste, mühsam einen Heiterkeitsausbruch einfangend. "Das ist eher ein Hippie-Slogan, mein Schatz. Ich finde, du erkennst meine unlauteren Motive schon ziemlich zuverlässig! Sehr gute Voraussetzungen für eine Pärchen-Zukunft." Offenbar auch eine Einladung, emsig beschmust zu werden! Umea kraulte durch die schwarzen Locken, deren Beschaffenheit ihn noch immer faszinierte, ließ sich mit Küssen betupfen, raunte in eine geneigte Ohrmuschel. "Übrigens bist du das attraktivste Männchen, das ich je gesehen habe." Er lächelte hintergründig, als sich Hadrians Wangen dunkel färbten. Auch "nett sein" konnte eine Herausforderung mit gleicher Münze beantworten! @~-~@ Nadia nagte still an einem Stück Brotrinde. Nemo marschierte auf dem Weg aus der Stadt Richtung großer See zum Portal. Eine Mitfahrgelegenheit hatte sich nicht ergeben. Vielleicht hätte er sie auch höflich abgelehnt. Bewegung half, wenn sich im Kopf die Gedanken überschlugen. "Busch." Bemerkte Nadia leise. Nemo blieb stehen, wandte den Kopf. "Hallo. Wie geht's?" Adressierte er das undurchdringliche Dickicht höflich. "Ich fress dich!" Erfolgte die Replik. "Du bist wohl immer hungrig, hm? Das muss sehr unangenehm sein." Stellte Nemo fest. "Leider kann ich dir heute nichts geben. Wir sind auf dem Heimweg und haben schon alles aufgegessen." Im Gebüsch ertönte ein Schnauben. "Ich fress das kleine Etwas! Gib es mir!" Nemo musterte die verwilderte Vegetation prüfend. "Nadia ist meine Schwester. Hast du Geschwister?" Es blieb eine Weile ruhig. "Möglicherweise." Gab der Busch herausfordernd zurück. "Also, würdest du deine Geschwister zum Auffressen herausgeben?" Kam Nemo direkt auf den Punkt. Erneut trat eine kleine Pause ein. "Hin und wieder vielleicht." Diese Antwort entlockte Nemo ein Prusten. "Klingt so, als seid ihr nicht immer einer Meinung, hm? Tja, ich kann nicht für Nadia entscheiden. Was meinst du, Nadia? Willst du beim Busch bleiben?" Natürlich fauchte es im Grünzeug aufgebracht. "Ich BIN kein Busch!" Nadia stellte sich auf Nemos Schulter aufrecht hin. "Name?" Bevor Nemo die notwendigen Ergänzungen vornehmen konnte, antwortete die Stimme grimmig. "Arkandi! Ich heiße Arkandi, verstanden?! Außerdem bin ich riesig groß und fresse euch gleich!" "Pah!" Donnerte Nadia zu Nemos Verblüffung lautstark. "Arkandi immer Hunger, kein guter Fischer. Jagd lernen! Wie Nadia mit Großmutter!" Nemo unterdrückte ein anerkennendes Grinsen. Der Satzbau ließ zu wünschen übrig, aber Nadias Vorstellungen, gespeist aus dem "Draht", funktionierten bereits, obwohl sie noch so jung war. Arkandi fauchte so laut, dass die Druckwelle selbst Äste zum Schwirren brachte. "Seh ich aus wie ein Fischer?! Ich hab Hunger, weil ich so RIESIG bin!" Was für Nemo eine Einladung darstellte, ihn aufheiterte. "So ein Zufall, Nadia hat auch ständig Hunger. Ihr würdet euch bestimmt prima verstehen. Ich wette sogar, dass sie im Verhältnis zu ihrer Körpergröße mehr vertilgt als du, Arkandi." Er konnte spüren, wie der verborgene Arkandi grübelte. Auf die Herausforderung eingehen? Oder sie zurückweisen? "Ihr schmeckt bestimmt scheußlich, füllt nicht mal einen hohlen Zahn! Viel zu viel Mühe, euch zu schlucken!" Stellte Arkandi schließlich betont hochmütig fest. Nadia zupfte Nemo an einer Locke. "Arkandi Dinosaurier? Arkandi fliegen?" Wisperte sie aufgeregt, sprang sogar auf Nemos Schulter von einem Fuß auf den anderen. Nemo zog die Nase kraus. Sein Vati hatte versichert, dass es keine lebenden Dinosaurier mehr gab. In der Menschenwelt, zumindest von den gewaltigen, großen Dinosauriern, auch keine Flugsaurier. Andererseits schadete es nicht, sich höflich zu erkundigen, das bezeugte Interesse an der Person des Gegenüber, vor allem, wenn man keine Vorstellung davon hatte, wie diese aussah. "Arkandi, Nadia möchte wissen, ob du vielleicht ein Flugsaurier bist." Adressierte er das Dickicht entschlossen. Prompt dröhnte es gewohnt bärbeißig zurück. "Ich bin kein Flugsaurier!" "Bist du sicher?" Hakte Nemo nach, der Nadias Enttäuschung spürte. "Na, das wüsste ich doch!" Stellte Arkandi aufgeplustert fest. "Woher kennst du Flugsaurier? Gibt es hier welche?" Nemo fühlte sich berechtigt, geradezu impertinent nachzufragen. Arkandi grollte erneut lautstark, dass das Laub wild flatterte. "ICH bin jedenfalls kein Flugsaurier!" »Aha!« Seinen unverzichtbaren Rucksack absetzend fahndete Nemo nach einem Bildband, klappte diesen nach einigem Blättern auf, richtete die Seiten zum Dickicht hin aus. "So sehen Flugsaurier aus, nun, man glaubt zumindest, dass sie so aussahen, weil es die dort, wo unser Vati lebt, schon lange nicht mehr gibt." Im Gebüsch blieb es verblüffend still nach den Temperamentsausbrüchen. Nemo schob sich den Rucksack auf die Schultern. "Willst du dir das Buch mal anschauen? Ich kann es dir ausleihen, Arkandi. Das bedeutet, dass du es mir wieder zurückgibst, wenn du es durchgesehen hast." Ergänzte er, um die Sachlage präzise auszuleuchten. "Ich weiß, was Ausleihen bedeutet!" Schnaubte Arkandi, jedoch ein wenig abgelenkt. "Gut. Ich wickle es in das Tuch hier. Bitte achte darauf, dass es nicht nass wird, sonst gehen die Seiten kaputt." Nadia klammerte sich an seine Locken. Sie mochte den Bildband, traute Arkandi nicht so recht. "Ja, ja, ja, Buch, Seiten, nicht nass werden!" Grummelte Arkandi. "Fein. Dann bis bald, Arkandi." Entschlossen nahm Nemo seinen Schritt wieder auf. Nadia rutschte missmutig in den Tragebeutel. "Keine Angst, Nadia. Wir bekommen es bestimmt heil wieder." Tröstete Nemo, zwinkerte herunter. Seine winzige Schwester grimassierte halbherzig. Dann wandte sich Nemo kurz herum. Das in ein Tuch eingeschlagene Buch war verschwunden. @~-~@ Kapitel 22 Nadia rollte sich auf dem Kissen zusammen, legte eine kurze Siesta ein. Sie hatte mit Begeisterung die Plätzchenformen eingedrückt, unter Ganzkörpereinsatz. Auch der Pizzateig war belegt, grillte mit den Plätzchen im Ofen. Zeit für eine Tee-Pause und das notwendige Gespräch. Eva Maria machte den Anfang. "So, ihr Lieben, ich denke, wir sollten uns gemeinsam Gedanken machen, wie es mit uns allen weitergeht. Ich wünsche mir nämlich, dass wir als Familie Zeit miteinander verbringen." Hadrian und Umea tauschten einen kurzen Blick aus. Bevor sie zur Sache kommen konnten, räusperte sich Nemo, der schon seit seiner Rückkehr ungewohnt still agiert hatte. "Ich muss etwas erzählen. Von heute, aus der Stadt." Ernst blickte er seinen geliebten Papa an. "Quäste Ndadadime hat ein Auge auf Ingban und das Geschäft. In den letzten Tagen zeigte sich, dass Ingban immer weniger Wasserlinsen abfischen kann, vom Ufer aus, also können weniger Blöcke mariniert werden. Deshalb macht Quäste Ndadadime sich auch Sorgen." Nemo straffte seine schmalen Schultern. "Natürlich könnte ich für Ingban leicht ins Wasser und mehr Linsen herausholen. Nur, da gibt es ein neues Geschäft am anderen Ende der Stadt, die beziehen auch Wasserlinsen, über einen Fischzüchter. Große Mengen, mehrere Beschäftigte, acht Geschmackssorten." Die Augen auf seinen Papa gerichtet nahm Nemo auch die letzte, schmerzvolle Hürde. "Für Ingban allein reicht es schon nicht mehr, was er herstellen kann. Allerdings bekommt er jetzt mehr Aufträge für größere Landtransportstrecken, wo die Aeroflott wegen des Gewichts nicht agiert. Quäste Ndadadime sagt, es darf jeder marinierte Linsenblöcke herstellen. Wir sollten uns deshalb überlegen, wie es weitergeht. Unbehaglich rutschte er auf seinem Hocker herum. "Wenn ich Nadia bei Großmutter lasse und direkt in die Stadt gehe..." "Nein!" Wisperte Umea unerwartet strikt. "Mein Ziel ist es, dass du zur Schule gehen kannst oder in die Collectio. Alles wäre vergebene Mühe, wenn es dich bloß in der Stadt an einen kleinen Ort fesselt." Nemo nippte an seinem Tee. "Papa, das verstehe ich ja, doch dann verlieren wir den Laden. Deinen Laden, für den du dich so angestrengt hast." Ihm gegenüber schnaubte Umea erstaunlich temperamentvoll. "Nach meiner verschwommenen Erinnerung gerade mal fünf Tage! Seitdem springen alle anderen ein. Zudem ist der Laden nicht wichtig, nur ein Mittel, uns das Auskommen zu sichern." Für einen Augenblick herrschte beklommenes Schweigen. Immerhin schien es ja so, als hätte Umea endlich etwas gefunden, das ihn auszeichnete! Hadrian ergriff das Wort. "Wie schnell müssen wir eine Antwort haben? Ich meine, wie lange reicht das Geld, der Mietvertrag, also, die Verpflichtungen, die zu beachten sind?" Sakrament, so genau machte er sich keine Vorstellung von der anderen Seite und der Geschäftswelt dort! Nemo grübelte. "Den Obolus müssen wir nur bei Umsatz zahlen. Da der Laden ziemlich lange leer stand, drängt diesbezüglich die Zeit auch nicht. Ich glaube, Quäste Ndadadime geht es eher um eine grundsätzliche Perspektive, auch für Ingban, der immer ein bisschen Übersicht benötigt." Oder auch mal einen Schubs in die richtige Richtung. Eva Maria goss noch mehr Öl ins Feuer. "Sagt mal, wie lange muss Nadia drüben ins Wasser? Wenn es uns nämlich nicht gelingt, diesen betäubenden Effekt auszutricksen..." "Ja, ganz richtig." Fing Umea den Ball unerwartet auf. "Im Augenblick kann nur Nemo hinüber und zum großen See, was ihn auch nicht zur Schule bringt, sondern ins Hintertreffen." Energisch warf er seinen langen Zopf nach hinten. "Nein, es gibt wohl keine Wahl. Ich muss mit Nadia zum großen See. Wenn wir jeden Tag wieder zum Portal gehen, wenn Nadia auch durchschlüpfen kann, sollte ich es schaffen, nicht wieder den Verstand zu verlieren." Was bedeutete, dass er seinen Anspruch als Versorger aufgab und akzeptierte, nahezu den gesamten Tag von Nemo getrennt zu sein, dies auszuhalten, obwohl es gegen seine Natur lief. "Bist du dir da sicher?" Wollte Hadrian gerade Bedenken aufwerfen. Ihm missfiel es erheblich, sich Umea erneut "benebelt" vorzustellen, gar zu vergessen, warum er zum Portal gehen sollte, zurück in eine Welt, die man nicht erwähnen konnte. Zu einem Männchen wurde, das weder dies, noch ein Mensch sein durfte. "Nadia geht mit Papa." Mischte diese sich unverdrossen ein, stand selbstbewusst auf dem Tisch. "Jetzt. Ludwig still. Papa nicht vergessen. Stark. Mutig. Schlau!" Grinste sie unternehmungslustig in die Runde, zwinkerte aus den Knopfaugen ihrem Bruder zu. Hadrian stemmte sich hoch. "Recht hast du, meine Süße! Finden wir raus, ob es klappt und wie du dich fühlst, Umea. So haben wir zumindest Gewissheit." @~-~@ Nadia saß bequem auf Umeas Schulter, hielt sich an den Bandnudelhaaren zum Zopf fest. Umea zwang sich, nicht die Luft anzuhalten. Seine Lippen formten grimmig "ein kleiner Jägermeister...". Ludwig wartete mit Eva Maria, Nemo und Hadrian interessiert auf das Ergebnis der Übung. Entweder würde Umea unkleidsam gegen die Scheunenwand rummsen oder mit Nadia verschwinden, um auf der anderen Seite sofort zu schwitzen. Hier draußen zeigte sich die Dämmerung herbstlich ungemütlich bei einstelligen Temperaturen. "Papa, los!" Kommandierte Nadia wie ein Flottenadmiral, wies mit einem Arm die Richtung. Umea ließ sieben Jägermeister verstreichen, trat nach vorne... "Da schau an." Stellte Eva Maria gesetzt fest, obwohl es gerade nichts mehr zu sehen gab. Nervös trat Hadrian vor die alte Scheunenwand. Wenn es Umea nun wieder schlagartig schlecht ging, konnte Nadia wohl kaum...! Plötzlich spürte er schon wieder vertraute Oberarme in seinem Griff. Nadia lachte triumphierend, stand auf Umeas Schulter, der erleichtert ein Ächzen entließ. "Geht es dir gut? Hast du Schmerzen?!" Feuerte Hadrian hastig los, schloss die Arme um Umeas schlanke Hüften. Der zog eine schiefe Grimasse. "So lala. Ich habe sofort das Band gespürt, das an mir zerrt. Aber es lässt sich aushalten. Jetzt darf ich bloß nicht vergessen, wohin ich zurückkehren will." Eva Maria nahm Nemo an die Hand. "Schön. Die Pizza müsste jetzt auch fertig sein. Lasst uns essen. Danach setzen wir das Kündigungsschreiben für den Laden auf. Ich suche einen Folienstift heraus, nur für den Fall." @~-~@ Hadrian ließ sich auf der Bettkante nieder, halb umgewandt. Umea hatte sich schon eingekuschelt, blickte aber zur Zimmerdecke hoch. "He, tut mir leid wegen deiner Geschäftsidee." Bemerkte er etwas linkisch. Ein kleines Lächeln prägte Umeas Mundwinkel. "Es ist nicht so bedeutsam, Hadrian, wirklich. Zwar beschämt es mich, dass ich mich und meine Kinder nicht selbst versorgen kann, aber erstens kann ich mir etwas anderes einfallen lassen, zweitens habe ich begriffen, dass ich dir auch eine Hälfte der Verantwortung zugestehen muss. Das ist bei Pärchen doch richtig, oder?" Ein leiser Zweifel schwang mit. Menschen waren so individuell regelgebunden! Hadrian lächelte, beugte sich herunter, küsste Umea auf die geschürzten Lippen. "Dafür danke ich dir auch, mein Märchenprinz! Ich jedenfalls bin sehr gewillt, meinen Anteil auszufüllen. Mir macht bloß Sorgen, dass du drüben wieder so eingefangen wirst, von den Regeln und eurem 'Draht' zueinander. Nadia ist so klein und jung, da bin ich nicht sicher..." Er seufzte. Sie redeten hier doch tatsächlich über ein Baby mit nicht mal zwei Monaten Lebensspanne! Umea lupfte für ihn die Decke an, lud ein, auf Körperkontakt zu gehen. "Ich bin mir nicht sicher." Wisperte er bedächtig an Hadrians Ohr, der ihn auf sich bugsiert hatte. "Möglicherweise hat Nadia schon von Nemo viel gelernt über den 'Draht'. Auf einer anderen Wellenlänge, heißt das so?" Hadrian stellte für einen Moment seine Liebkosungen ein. "Meinst du?! Das wäre natürlich vorteilhaft, bloß auch ein wenig unheimlich." Wenn man sich mal vorstellte, von anderen Erfahrungen und Gedanken und Erinnerungen EINFACH SO zu erhalten! Andererseits, wie lernte man sonst? Nicht etwa auch durch die Umgebung, die von anderen mitgeprägt wurde? Hmmm... Umea tippte ihm auf die Nasenspitze. "Das war recht angenehm. Ob du wohl fortfahren könntest?" Verlangte er sehr höflich nach Gunstbezeugungen. Hadrian lachte leise, kam dieser Aufforderung nach. "Umea?" "Hhmm, ja?" "Ich liebe dich, so ohne diesen Nebel. Du bist so viel energischer und temperamentvoller. Das macht mich echt an." Er unterdrückte ein breites Grinsen, als er spürte, wie Umea nachdachte. "Ist das ein kulinarisches Sprachbild bei Menschen? Wie beim Würzen von Salatblättern?" Hadrian lachte bei diesem Vergleich so sehr, dass selbst der stabile Bettrahmen mitschwang. @~-~@ Eva Maria rüstete Rucksäcke aus: für Nemo, damit der in der Stadt Ingban und die Quäste aufsuchen konnte, sich nach einer Schule umsehen, für Nadia, die kleinste Größe in Form eines Marienkäfers und für Umea, einen Seesack aus alten Lkw-Planen, für den Rest dessen, was Nadia zu vertilgen pflegte. An diesem trüben, noch dunklen Spätherbstmorgen wirkten sie tatsächlich wie eine "normale" Familie. Hadrian drückte Nemo kurz, wuschelte Nadia durch den kupferroten Schopf, küsste Umea beinahe züchtig, wünschte allen eine schöne Zeit. Die drei traten gemeinsam vor die Scheunenwand, waren verschwunden. Ludwig schnaubte kurz. Hadrian kraulte ihm den Schädel. "Ja, Ludwig, daran müssen wir uns gewöhnen, dass alle sich tagsüber woanders tummeln." Andererseits gab es den Feierabend und das Wochenende! Zuversichtlich gestimmt hielt Hadrian auf das Haus zu, um bald den Rollladen für die Apotheke hochzukurbeln. Außerdem hatte er Umea auf beide Handrücken seinen Namen aufgemalt. Da KONNTE gar nichts schiefgehen! @~-~@ Nemo hatte zuerst Ingban und Quäste Ndadadime aufgesucht, die sich weniger überrascht, aber doch bedauernd gezeigt hatten. Allerdings konnte man ja vielleicht irgendwann, wenn es dem Papa besser ging, noch einen Anlauf wagen. Nemo pflichtete dieser Vorstellung bei und versprach, sich immer mal wieder blicken zu lassen. Danach suchte er Lustibus auf, um von Nadia ein eher expressionistisches Gemälde zu überreichen. Im Medi V war man erleichtert, dass alle wohlauf schienen. Bei der Gelegenheit überreichte er noch Mitbringsel von Oma, für die Klinik. Selbst wenn die Behandlungen kostenfrei waren, sollte man sich erkenntlich zeigen! Verblüffender Weise erwies es sich erneut als komplikationsfrei, den Austausch zwischen den Welten zu pflegen. Kein Zoll, keine andere Prüfbehörde! Auf keiner Seite. Nemo marschierte zur Collectio. Anders als beim ersten Besuch schloss er sich nicht einer Führung an, sondern orientierte sich, um Rat zu erbitten. Welche Schule war geeignet? Gar nicht so einfach, er hatte ja sein Leben bisher ohne gefristet. Ob es Nachteile mit sich brachte, über einen "Draht" zu verfügen? Außerdem erinnerte er sich an eine Erzählung seines geliebten Papas. Außerdem musste er auch Nadia ins Kalkül ziehen! @~-~@ Es war das erste Mal, dass sie mit ihrem Papa ins Wasser tauchte. Anders als die anderen trug der sein langärmliges Hemd und die Hosen weiterhin, dazu Tauchgläser, die den Blick unter Wasser schärften. Nadia spürte die Nervosität. Sie entschied, ihrem Papa zu präsentieren, was sie schon gelernt hatte! @~-~@ Hadrian stapfte mit der Wärmflasche nach oben, schob sie ein wenig ergrimmt unter die Bettdecke und die verkrampften Hände, ließ sich auf der Bettkante nieder, um wirre Bandnudelhaare wegzusortieren. "So kann aus dir nichts werden!" Grummelte er betont streng, vor allem aber in Sorge. Nadias kurzen Ausführungen zufolge musste Umea das gesamte Frühstück von sich gegeben haben, weshalb sich nun ein kompaktes Paket um die Wärmflasche wickelte. Hadrian seufzte, beugte sich tiefer, raunte in ein vermutetes Ohr. "Versuch, ein bisschen zu schlafen, ja? Wenn die Krämpfe weg sind, kannst du auch wieder was essen. Ruf nach mir, wenn du mich brauchst, okay?" Ein leises Ächzen deutete er als Zustimmung, verließ ihr Schlafzimmer, die Tür angelehnt. Im Labor/Hinterzimmer/Lager kämpfte Nadia mit einem Bildband, der, ein wenig abgewetzt und verblasst, Unterwasserlebewesen präsentierte. "Papa sehr erschreckt." Stellte sie fest. "Na, das wäre ich auch." Grummelte Hadrian, betrachtete seine Tochter. Gerade eine Elle groß, aber ganz und gar nicht wie ein Säugling wirkend, eher wie eine Miniaturausgabe ihres älteren Bruders, schlank, schmal, beweglich, alert. Nadia zog wie Nemo die Nase kraus. "Warum?" Hadrian plumpste auf einen Hocker. "Weil man normalerweise Kinder nicht als Hecht-Köder einsetzt." Stellte er entschieden fest. Was Nadia erwartungsgemäß nicht beeindruckte. "Hecht nicht schlau. Nadia schnell und schlau. Direkt vor Harpune!" Seufzend streichelte Hadrian über das kupferlockige Haupt. "Ja, aber wo ist der Hecht, hm? Hatte Umea die Harpune parat?" Nadia zögerte, offenkundig eine Lektion ihres Bruders in sozialverträglichem Verhalten. "Hecht bei Großmutter, auf Harpune. Papa nicht froh. Nicht einverstanden. Kopfschmerz." Mutmaßlich durcheinander, benebelt von Gedanken, die verbotene Begriffe betrafen, am Ufer zusammengesackt, schon mal einen Teil des Frühstücks recyclt! Zumindest legten das die schmutzigen Knie der Hose nahe. "Nadia gute Jägerin!" Hadrian hätte eine versiertere Grammatikerin vorgezogen, nur konnte er das kaum zum Vorwurf machen. Die Fischer-Hippie-Idylle, die er sich vorgestellt hatte, verpuffte nämlich auch gerade. "Ich glaube, Umea hat schlicht Angst, dass etwas schiefgeht bei der Jagd, Kleines, dass du verletzt wirst. Mir geht es genauso. Kann man die Fische nicht ohne dich als Köder fangen?" Nadia ließ sich in einen Schneidersitz sinken. "Netz. Köcher." Gab sie zu, stützte ihr Kinn in eine Hand. "Jagd trainiert, Vati. Schnell bewegen, ausweichen, reagieren. Keine Angst. Orientierung." Woher kannte sie bloß solche Begriffe?! Wenn sich die Leute vom großen See IM See nicht verbal verständigten?! Er seufzte. "Geht das nicht auch ohne solche gefährlichen Aktionen? Nemo hat mir nie erzählt, dass er Hechte harpuniert." Nadia gluckste. "Vati mag keinen Fisch. Besser nicht zu viele Einzelheiten!" Gegen seinen Willen konnte Hadrian ein frustriertes Schnauben nicht unterdrücken. Sakrament, der Junge betrieb erfolgreich Eltern- und Erwachsenen-Management! Unterdessen hatte Nadia sich flink erhoben, tippte mit den nackten Füßen auf die Darstellungen im Bildband. "Sieh, Vati, hier stechen! Keine Angst, Übung." Hadrian seufzte. "Wenn das Umea so mitnimmt, Kleines, werden wir über andere Varianten nachdenken müssen." Wobei er Fisch nun noch viel weniger mochte. @~-~@ Nemo stapfte langsam und gedankenverloren zurück. Gut, dass er Younous noch vor der Beratung getroffen hatte! Der hätte bestimmt darauf bestanden, ihn zum Portal zu befördern. Gerade benötigte Nemo Zeit für sich selbst, um einige unerfreuliche Fakten zu verdauen. Für einen halben Menschen zum Beispiel beschämend wenig über die Menschenwelt zu wissen. Die Schriftzeichen konnte er keineswegs flüssig lesen oder schreiben. In anderen Unterrichtsfächern sah es ähnlich düster aus. Grundrechenarten, ja, angewandte Chemie, Physik, ansonsten reihte sich eine Lücke an die nächste. Der Teststreifen in seinem Rucksack wog schier Tonnen. Natürlich, das rief sich Nemo ins Gedächtnis, wollte er ja DESHALB in einer Schule lernen! Bloß nahm es sich ernüchternd schwierig aus, eine entsprechende Institution zu finden. Zumindest bei seinen Voraussetzungen. Das verhagelte ihm schon die Petersilie, wie Oma zu sagen pflegte. Ein Sprachbild, das sich ihm gerade sehr eingängig erläuterte. Ob er vielleicht mit der Collectio auf eigene Faust versuchen sollte, sich zu unterrichten? Immerhin konnte er ja angeben, nicht in der Stadt zu leben, somit auch der Schulpflicht entgehen! Diese Option mutete eher als Notlösung an. Nemo seufzte ungewohnt missmutig. "Ist das kleine Etwas weggefressen worden?" Aufblickend visierte Nemo ein Dickicht an. "Oh, hallo, Arkandi. Nein, meine kleine Schwester Nadia ist mit unserem Papa am großen See." Wie lange begleitete ihn der unbekannte Buschhocker wohl schon? Ganz schön selbstvergessen von ihm, tadelte sich Nemo selbst. Bei Großmutter ließ man sich solche Nachlässigkeiten besser nicht zuschulden kommen lassen. "Ich bin KEIN Flugsaurier." Stellte Arkani dröhnend fest. Nemo nickte bedauernd. "Schade, Nadia hätte das bestimmt gefallen. Bist du mit dem Buch schon durch?" Prompt flog es im hohen Bogen in seine eilig ausgebreiteten Arme. "Danke!" Es in seinem Rucksack verstauend wartete Nemo auf die übliche Drohung. "Was hast du in der Stadt gemacht?" Überraschte Arkandi ihn mit Interesse. Nemo präsentierte den Teststreifen der Niederlage. "Ich wollte herausfinden, auf welche Schule ich gehen kann. Weil es bei uns keine Schule gibt, musste ich mich testen lassen. Das war ernüchternd." Gestand er mit bedauerndem Lächeln ein. Im Gebüsch blieb es eine Weile still. "Warum willst du in die Schule?" Sich langsam in Bewegung setzend erklärte Nemo seine Beweggründe. "Ich möchte einfach viel mehr lernen, über die Welten! Es gibt so viel zu entdecken, auf jeder Seite. Aber wenn man nicht lernt, versteht man Vieles nicht. Warst du mal in der Schule?" Erneut herrschte eine angespannte, konzentrierte Stille. "Pah, Schule! Brauch ich nicht!" Fauchte Arkandi schließlich stürmisch. Nemo reagierte auf diesen Einschüchterungsversuch nicht. "Da gibt es auch Bücher, jede Menge. Nicht nur mit Dinosauriern." Das vermutete Aufbrausen blieb aus. "Vati hat gestern erzählt, dass seine Schule auch eine Collectio hat, mit Lehrbüchern, Nachschlagewerken, aber auch unterhaltsamen Büchern. Außerdem Filme und Audio-Aufnahmen." Nemo wandte sich dem Gebüsch zu. Zugegeben, außer einem Namen konnte er nichts zu Arkandi anführen, jedoch... Er fädelte den Teststreifen auf. "Sag mal, Arkandi, kennst du die Regeln der Katarakt-Spiele?" @~-~@ Nicht gesehen werden lassen. Nadia kannte die Regel selbstverständlich. Grundsätzlich nicht schwierig zu beachten. Sie spürte nicht das Verlagen, ihre Eltern zu verdrießen, deren Grundbesorgnis sie als ein wenig anstrengend empfand. Auch ein ganz klein bisschen enttäuschend, weil sie nicht mitkommen durfte, wenn es zum Großeinkauf ging. Sobald sie ihre Füße gefunden hatten. Eines dieser Sprachbilder, die Nadia verwirrten. Man konnte seine Füße verlieren?! Das erschien ihr sehr unerfreulich. Zum Trost hatte Nemo ihr versichert, er werde für sie auch eine ganz tolle Hängematte aussuchen. Tendenziell musste sie den Schuhkarton oder die Wäscheschublade in der Kommode aufgeben. In dieser Welt durfte sie wirklich ziemlich wenig. Andererseits vertraute sie auf Nemos Einschätzung, dass es hier auch gefährlicher war. Nadia wieselte durch den Garten, stieg zwischen Zaunlatten hindurch. Ludwig merkte auf, ließ sich von ihr vertraulich kraulen, erhob sich, zockelte mit seiner Reiterin zum alten Nussbaum, stellte die Vorderpfoten an den Stamm. Nadia hangelte sich mühelos zum niedrigsten Ast. Die Kälte störte sie nicht sonderlich. Zudem hatte Oma ihr "Puppenkleidung" besorgt, nicht passgenau. Nadia fand "Puppen" merkwürdig. Sie mochte den Kronk-Freund aus Plüsch von Lustibus, aber diese merkwürdigen, toten Gestalten mit seltsamer Figur?! Bäh! Zumindest innerlich, obwohl Oma auch nicht allzu viel auf Puppen zu geben schien. Die Hose jedenfalls, wenn auch zu kurz und oben mehrfach gesichert, nahm sich praktisch aus. Der Pullover hinderte auch nicht zu sehr, wenn man geschickt kordelte. Bloß Puppenschuhe gingen so gar nicht! Steif, unförmig und ohne richtigen Halt! Geschickt arbeitete sie sich im Geäst nach oben. Der Nussbaum hatte nahezu alles an Laub abgeworfen. Nur noch wenige Fruchtmumien schaukelten träge im Wind. Nadia erreichte den Wipfel des alten Nussbaums, spähte in die Ferne. Über ihr zogen wilde Wolkenberge, verdeckten die Sonne. Von der es hier nur eine gab. Weder Höhe noch das Schwanken des Geästs beeindruckten sie. Nemo erzählte, dass die Welt noch viel, viel, viel größer war! Das klang ungeheuer spannend. Unten gab es unterdessen Radau. Ludwig, der artig unter dem Nussbaum lagerte, wurde streng ins Haus beordert. Ungesehen von den spektakelnden Menschen winkte Nadia herunter. Sie war schlau und findig, Ludwig musste sich keine Sorgen machen! Außerdem half der Überblick, so weit weg vom Boden, die Gedanken zu sortieren. Papa verhielt sich schon komisch, nicht so, dass es weh tat, wie zuvor, als Nemo entschieden hatte, nicht mehr zu ihm zu gehen. Dass er das ganze Essen wieder ausspucken musste, kam nicht häufig vor. Nach ihrer Erinnerung? Nadia zog die Nase kraus. Es gab in ihrem Kopf Regeln und Regeln. Sie spürte die Unterschiede, wenn Nemo bei ihr war, der sich besser damit auskannte. Natürlich, weil er geübt hatte! Was sollte sie jetzt tun? Papa und Vati mochten es nicht, wenn sie die Hechte anlockte, aber selbst eine Harpune zu benutzen, das klappte noch nicht. Als Jägerin gehörte es aber dazu, Fische zu fangen. Natürlich könnte sie auch wie Großvater flechten, nur war das so mühsam, weil das Material sie um Längen überragte! Und, ganz ehrlich, Beschäftigungen, die mit Essen zu tun hatten, bedeuteten ihr sehr viel mehr. Während sie noch kontemplierte, wie sich dieses Dilemma lösen ließ, flog in scharfem Tempo eine schwarze Saatkrähe heran, fast hühnergroß, mit hartem Schnabel und Krallen. Nadia wich geschmeidig aus, huschte den Ast hinab, zog energisch an einem dünnen Wasserschoss. Der federte der Saatkrähe direkt entgegen. Kreischend und Flügel schlagend wich sie zurück, um Anlauf für die nächste Attacke zu nehmen. Nadia hielt sich eng am Geäst, zerrte eine Fruchtmumie mit aller Kraft herunter, schleuderte sie auf die Krähe. "Hau ab! Blöder Vogel!" Sie zückte die winzige Muschelscherbe, extra geschärft. Eine Jägerin hatte keine Angst, sondern Waffen und Entschlossenheit. Wenn der Vogel sich wie ein Hecht aufführte, bekäme er so richtig Ärger mit ihr! In diesem Moment prasselten vertrocknete Vogelbeeren in einem dichten Hagel direkt in die Flugbahn der Krähe. Nadia, eng am Ast, spähte herunter. Am Zaun stand ihre Oma mit einer Zwille, die die Schlinge mit dem Gummi von Weckgläsern erneut belud. "Mach dich weg, du schietiger Vogel!" @~-~@ Kapitel 23 Eva Maria steckte die Zwille weg, reckte den rechten Arm hoch, pflückte ihre Enkelin vom niedrigsten Ast des alten Nussbaums. Selbstverständlich kletterten Kinder gern. Sie konnte sich selbst noch erinnern, das auch getan zu haben. Allerdings nicht in diesem Verhältnis Kind-Baum. "Schätzchen, wie bist du in den Baum gekommen?" Hakte sie deshalb nach, verließ den Nachbargarten mit Nadia auf der Schulter ihrer Regenjacke. "Ludwig. Dann klettern." So, so. "Also hat Ludwig dir geholfen und du bist geklettert. Kannst du das sagen?" "Ja." Eva Maria seufzte. Die Falle hatte sie selbst gestellt. Nadia kicherte leise, zupfte an ihrem Ohr. "Ludwig hat Nadia..." "Ludwig hat mir..." Half Eva Maria ihrer Enkelin aus, hielt am Kräuterbeet inne. Nadia sprang elastisch herab, durchaus schmuddelig dank Nussbaum-Kontakt. "Ludwig hat mir geholfen. Dann..." "...bin ich..." "...bin ich geklettert." "Hast du keine Angst gehabt? Du hättest fallen können." Mit ihrem bewährten Kneippchen stutzte Eva Maria Salbei und Thymian. So langsam wäre es wohl an der Zeit, alles abzuschneiden, bevor der erste richtige Frost nur noch den Kompost als Alternative bot. Nadia kaute glatte Petersilienblättchen. "Keine Angst. Nadia~ich kann gut klettern." Das musste man nach dem Kunststück wohl annehmen. "Die Saatkrähe hat dich bestimmt für Futter gehalten, Nadia. Es ist gefährlich, wenn man noch nicht so groß ist." Diplomatie funktionierte anders, aber Eva Maria rang noch mit wirkungsvollen Warnungen. Dieses ungewöhnliche Kind bedurfte einer anderen Strategie, auf die sie nicht vorbereitet war. Unterdessen studierte Nadia interessiert die Zwille. Sie reichte ihr bis an die Hüften. "Krähe dumm...ist dumm. Ich kann in den Ästen verschwinden. Sie ist zu groß. Ich bin genau richtig." Konkludierte sie mit dem spitzbübischen Grinsen, dass Eva Maria sofort für ihren älteren Bruder eingenommen hatte. "Das mag sein. Wie wolltest du vom Baum runterkommen, ohne Ludwigs Hilfe?" Dass der Bernhardiner so vernarrt in die Kinder war, erstaunte sie schon. Sonst wirkte der Hund eher desinteressiert, tolerierte seine Halter. Was Eva Maria nachvollziehen konnte, die gelegentlich schon an die Grenzen IHRER Toleranz mit den Nachbarn kam. "Ludwig muss mal raus. Sonst Nemo." Antwortete Nadia, zerrte an den dicken Weckgummis, voller Anerkennung. Es bedurfte durchaus der Kraft, sie anzuspannen und zu dehnen. "Und wenn weder Nemo noch Ludwig, Umea, Hadrian oder ich da wären, Schatz? Wenn du allein wärst?" Eine tückische Frage, ja. Kaum etwas wog schlimmer, als einem Kind auszumalen, wie es ganz allein, ohne Familie, sein musste. Deshalb erwartete sie auch den kritischen Blick aus den schwarzen Knopfaugen. "Niemand da?" Hakte Nadia nach. "Ja. Wenn du auf dich selbst gestellt wärst." Das kupferrote Haupt senkte sich leicht, ein Ausdruck von Konzentration prägte das kleine Gesicht. Es wirkte beinahe so, als lese Nadia eine Anleitung. "...Seil. Aus...Hose. Von Pulli." Eva Maria stellte fasziniert die Kräuterhäckselei ein. "Verknüpfen. Genau! Zusammenbinden." Strahlte Nadia erleichtert zu ihr hoch. Sie konnte das unmöglich schon mal selbst erprobt oder mit eigenen Augen gesehen haben, urteilte Eva Maria entschieden. Aber möglicherweise nutzte sie Kollektiverinnerungen, adaptierte diese. "Gute Idee, Liebes. Ich glaube nur, das reicht nicht ganz. Aber ohnehin werden wir deine Sachen gleich waschen müssen. Ich hoffe, es ist kein Baumharz dran, sonst verklebt es alles und härtet aus." Nadia kam auf die Beine, beäugte ihre äußere Erscheinung kritisch. Im Wasser musste man nicht ständig darauf achten! "Gehen wir besser rein, damit ich einen Tee für deinen Papa machen kann. Während du dich wäschst, schneide ich dir eine Birne klein. Ist das ein Angebot?" Der Lockenschopf wippte eifrig. Nadia ließ sich auf den Boden hinunter, marschierte vor Eva Maria, kaum beeindruckt von den auffrischenden Winden und einzelnen Regentropfen. Als sie die Veranda erreichten, wandte sie sich um, blickte hoch. "Oma, was sind Jägermeister?" @~-~@ Hadrian schenkte Umea heißes Wasser für das Teeei nach. Mit Knäckebrot und Zwieback stopften sie die hohle Magengrube leidlich aus. Es herrschte eine gedrückte Stimmung. Die Hecht-Episode im See bildete lediglich den Konzentrationspunkt anderer Missstimmungen, doch Umea wollte sich diesbezüglich nicht mitteilen. Zumindest Nemo strengte sich an, die Lage positiv zu zeichnen, immerhin hatte er fast alle Aufträge erfüllt! Ja, die Kündigung war weitergereicht worden, Quäste Ndadadime bedauerte sie, erkannte die Notwendigkeiten. Zudem konnte man immer wieder neu zusammenarbeiten! Ingban wünschte gute Besserung und offerierte Schwerlast-Kurierfahrten, falls mal benötigt. Die kurze, wenn auch ereignisreiche Zeit hatte ihm eine neue Richtung für sein Leben gezeigt, dafür gesorgt, dass er keinen Ärger mehr mit den Mee-Poos bekam. Lustibus freute sich über Nadias Bild. Frau Prof Drusilla hoffte, dass die psychologische Kriegsführung gegen das Schmerz-Trauma Erfolg hatte. Younous war wie immer ein sehr guter Freund. Hadrian wartete auf die Einlassung zur Schule, doch hier wirkte Nemo recht kleinlaut. Er müsse noch mal hin, sich schlau machen, das sei gar nicht so einfach. "Schon gut, es eilt nicht so sehr." Beschwichtigte Hadrian, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie Schuljahre auf der anderen Seite gestaltet wurden. Andererseits stand ja zu erwarten, dass es nicht so leicht sein würde, mit der etwas speziellen Vorbildung und der noch spezielleren persönlichen Konstellation. Er fing Nadias auffordernden Blick auf. Meine Güte, konnten die Knopfaugen eine Mahnung transportieren! "Lasst uns rasch abräumen und spülen, in Ordnung? Ich habe nämlich für unsere Sofa-Kuschelzeit was Tolles!" Weshalb er eigens zur Agentur geradelt war. Eine antiquarische Ausgabe der Reisen des kleinen Nemo im Schlummerland! @~-~@ Nadia schob sich durch den schlichten Vorhang, der Nemos Zimmer vom Flur abtrennte. Noch fehlten Möbel, schlief ihr Bruder auf einer Matte auf dem Boden, wie er es gewöhnt war, auf der anderen Seite, in der Hütte der Großeltern. Damit kannte sie sich nicht aus, aber sie verstand das Bedürfnis der Nähe. Sie marschierte entlang der Silhouette unter der Decke, bis sie den lockigen Schopf erreichte, zupfte energisch an dem dünnen Zopf. "Hmmm?" Nemo setzte sich auf, rieb sich die Augen. Im Zwielicht erkannte er seine kleine Schwester. "Nemo, mitkommen." Seine Ratlosigkeit spürend, weil sie widersprüchliche Worte und Bilder teilte, schnaubte Nadia. "Ich komme mit dir." Das brachte ihren Bruder in Schwung. "Du meinst, auf die andere Seite? Ich wollte heute aber gar nicht zu unseren Großeltern." Nadia zupfte an seine Decke, wisperte. "Nicht da hin. In die Stadt. Viel mehr sehen!" Obwohl der Baumwipfel schon nicht schlecht gewesen war. Nemo grübelte, wickelte sich aus seiner Decke, faltete sie ordentlich. "Lass uns das mit Oma besprechen." Ihm fehlte ein Frühstück, um eine Entscheidung zu treffen, von der er wusste, dass sie ihnen Ärger einbringen würde. @~-~@ Eva Maria bestückte wie gewohnt die Rucksäcke. Zugegeben, erst seit gestern eine Art Routine, doch in Gedanken hatte sie dies schon oft getan, weil eine gute Ausrüstung manchmal das Einzige darstellte, das man Kindern mitgeben konnte. Von "Helikopter-Einsätzen" hielt sie nämlich nichts. Sie blickte herunter, als Nadia mit Nemo im Schlepptau in der Wohnküche erschien. "Guten Morgen, ihr zwei. Habt ihr Hunger, ja? Draußen ist es so dunkel, dass man gar nicht raus möchte." Zudem pfiff ein eisiger Wind um die Häuser und nadelte Eisregen herunter. Brrr!! "Guten Morgen, Oma. Können wir auch geröstetes Brot bekommen?" Eva Maria füllte für Nadia ein Schnapsglas mit stark verdünntem Apfelsaft, reichte die Flasche an Nemo weiter. Der verfügte schon über die Kraft, sie mühelos auszubalancieren. "Natürlich könnt ihr das. Zwiebelschmalz drauf, ja? Ich habe auch noch ein bisschen frische Kresse abgeschnitten." Deshalb trug der Kräuterigel schon partiell einen Kurzhaarschnitt. Eva Maria nippte an ihrem Kaffee, während sie Brotscheiben röstete, Aufstriche verteilte, jedem Kind eine halbe Birne reichte. Anders als ihr Sohn wollte sie zu ihrem Frühstück keine Nachrichten hören, nichts weiter als leise knackendes Brot, das Klopfen gegen die Fensterscheibe, das Simmern von Wasser. "Na schön." Sie beendete die friedliche Morgen-Meditation, leckte sich Reste von Marmelade aus den Mundwinkeln. "Was habt ihr ausgeheckt, hm?" Zwei Paar schwarze Augen studierten sie anerkennend. "Nadia~ich gehe mit Nemo in die Stadt." Eva Maria nippte an ihrem Kaffeebecher. "So, so. Das bedeutet, dass Umea heute hier bleibt, hm?" Die Reaktion der Kinder verriet ihr, dass diese sich auch über die Konsequenz klar waren, nämlich, ihren Papa hier zurückzulassen. "Na schön. Nadia, ich möchte, dass du in der Stadt nichts jagst, in Ordnung? Nemo, du passt bitte auf, dass ihr nichts Waghalsiges, Gefährliches macht, sonst bekommen wir drei mächtig Ärger." Den sie ohnehin am Horizont dräuen sah, wenn sich die Eltern fragten, wer den Nachwuchs ausgestattet hatte. Nemo nickte rasch. "Das verspreche ich, Oma. Wir werden vorsichtig sein und nichts anstellen. Papa muss sich wirklich keine Sorgen machen." Schmunzelnd wuschelte Eva Maria ihm den Schopf. "Das lässt sich nicht abstellen, Nemo, ist so eine Eltern-Angewohnheit, die man nicht mehr los wird." Sie tippte Nadia auf die kupferroten Locken. "Schatz, hör bitte auf Nemo, ja? Und die Zwille bleibt hier." @~-~@ Nemo nahm Nadia auf den Arm. Mit Rucksäcken ausgerüstet, einen Regenschirm über sich und Badehandtuch, nickten sie ihrer Oma zu. Nemo schüttelte das Handtuch ab, spurtete zum Portal. Sofort umfing sie feuchte Wärme, rutschte er über die glitschigen Steine, konnte mit artistischem Geschick einen Sturz verhindern. "Das hätten wir geschafft." Stellte er fest, ließ Nadia herunter, bahnte vor ihr den Pfad, passte sich ihrem Tempo an. Sie erreichten den Weg, sahen sich um. Im Gegensatz zur Menschenwelt war es hier hell, wärmten beide Sonnen die Atmosphäre auf. Nadia wandte den Kopf, kritisch. Nemo seufzte. "Ja, ich weiß. Es fühlt sich so an, als müssten wir zum See gehen. Aber das ist nur eine Option~Möglichkeit. WIR können wählen." Damit drehte er sich Richtung Stadt. Neben ihm schritt Nadia energisch aus, auch wenn es für ihn recht langsam war, da er die doppelte Schrittlänge vorweisen konnte. "Sag mal, warum willst du mit mir kommen?" Nadia reckte das Kinn. "Großmutter sagt, dass Nadia..., dass ich Jägerin bin." "Eine Jägerin." Ergänzte Nemo nachsichtig. "Eine Jägerin. Aber Papa ist nicht glücklich. In seinem Kopf sind andere Bilder." Sie warf ihm einen kritischen Blick zu. "Oma sagte gestern, als die Krähe angriff: was tust du, wenn niemand da ist. Ich muss mehr wissen, Nemo. In meinem Kopf sind mehr Bilder." Sie schnaubte grimmig. "Und zu wenig Worte, hm?" Half Nemo lächelnd aus. "Ist vielleicht ganz gut, sich noch nicht festzulegen, weißt du? Du MUSST keine Jägerin sein." "Genau. Könntest ein Snack sein, kleines Etwas!" Mischte sich das Dickicht ungefragt ein. "Oh, der Busch. Schon wieder." Kommentierte Nadia verblüffend bissig. "Arkandi, verstanden?!" Nemo fing einen sehr abschätzigen Blick auf und schwieg. "Nadia, nicht kleines Etwas, BUSCH!" Zahlte seine kleine Schwester unbeeindruckt mit gleicher Münze zurück. "Ich BIN kein Busch! Kannst du dir meinen Namen nicht merken, oder wie?!" Fauchte es lautstark, dass die Äste zitterten, was Nadia nicht aus dem Tritt brachte. "Und du, BUSCH?" Nun MUSSTE Nemo einfach kichern. Seine kleine Schwester ließ durchblicken, warum Großmutter in ihr eine Jägerin sah. Erneut fegte ein mächtiges Fauchen durch Büsche und Bäume. Nemo pickte Nadia vom Boden, setzte sie sich auf die Schultern über den Rucksack. "Wollt ihr euch einigen? Arkandi, wir gehen in die Stadt. Du magst wohl nicht mitkommen, oder?" "Stadt? Pah!" Grummelte Arkandi. "Wir schauen in der Collectio nach. Aber ich glaube, wir dürfen nichts ausleihen." Gab Nemo zu bedenken. "Du vergisst aber nicht unsere Vereinbarung, oder?! Dann fress ich dich erst, wenn ich dich in Stücke zerrupft habe!" Drohte Arkandi. Nemo lachte. "Nein, das vergesse ich nicht, ich halte mein Wort. Warte, bis wir zurückkommen, ja?" "Wehe, wenn nicht!" Schnappte Arkandi, ließ Blätter lose fliegen. Nadia schüttelte den Kopf kritisch. "Arkandi braucht Baldriantee. Immer zu aufgeregt." Während Nemo erfolglos ein Prusten verschlucken wollte, schimpfte Arkandi nach einem kurzen Augenblick der Verblüffung los. Was auf Nadia keinen Eindruck machte. Sie konterte nämlich mit perfekter Rezitation des Hilfs-Mantras ihres Papas. "Ein kleiner Jägermeister war nicht gern allein..." @~-~@ Hadrian befand sich in sehr unkomfortabler Lage. Nämlich zwischen Baum und Borke, Umea zu beichten, dass ihre beiden Sprösslinge gemeinsam auf der anderen Seite abgängig waren, mit Unterstützung SEINER Mutter, während Umea noch immer nach Buttermilch und Spucke aussah, nicht sonderlich gut geschlafen hatte. Er ließ sich auf der Bettkante nieder, grub unter entflohenen Bandnudelhaaren ein Gesicht aus. "Ist es Morgen? Warum wird es hier nicht hell?" Krächzte ihm Umea entgegen, dezent desorientiert. "Ja, mein Märchenprinz, es ist HIER Morgen. Im Spätherbst scheint die Sonne jeden Tag kürzer." Umea ächzte wenig erfreut, drehte sich mühsam auf die Seite, auf Bandnudelhaaren sitzend. Irgendwie gelang es ihm, selbst die Spiralen aus elastischem Kunststoff zu überlisten. Sie kapitulierten alle vor seiner detonierenden Haarpracht. "Uuhhh...Hadrian...ich hab vom Schlummerland geträumt... aber vermischt mit dem großen See...und Nadia...und Nemo..." Umea stützte den Kopf in die Hände. "Ich mag nicht mal dran denken!" Seufzte er grimmig. Hadrian gab sich einen Ruck, flötete aufheiternd. "Oh, prima, trifft sich gut! Heute musst du nämlich gar nicht zum großen See. Oder auf die andere Seite." Schlagartig, trotz schlafbedingter Verwirrung, richteten sich die grünen Augen auf ihn. Da blätterte es schon ab, das künstliche Grinsen! Weshalb Hadrian die Maskerade aufgab. "Nemo und Nadia sind schon früh in die Stadt aufgebrochen." @~-~@ Umea kordelte die abgeschnittenen Kräuterbündel ordentlich, während sein Gesichtsausdruck an einen Zitronenverkoster erinnerte. Er hatte sich selbstverständlich und in Ermangelung anderer Ideen nützlich gemacht. Mit jedem Raum, jedem Handgriff kehrten auch die Erinnerungen zurück: aufräumen, Geschirr abspülen, das Bad reinigen, Wäsche in die Maschine geben. Jetzt brachte er die letzten Reste der Kräuter in Sicherheit. Draußen war es eisig kalt und sehr unwirtlich. Richtig hell wurde es auch nicht, sodass er trotz emsiger Geschäftigkeit ausgiebig Gelegenheit hatte, seiner Frustration zu frönen. Eine Emotion, die er nur hier, auf dieser Seite empfinden konnte. Gerade wurde sie erheblich gespeist durch verschiedene Quellen des Verdrusses! Zum Beispiel der Modifikation ihrer Abmachung: sollte nicht ein Kind bei ihm bleiben, falls es rasch durchs Portal in Sicherheit gehen musste?! Na, das klappte ja schon am zweiten Tag nicht! Dann der gestrige Abstecher zu seiner Familie: wieso war ihm bloß vorher nicht aufgefallen, dass alle in gefährlicher Weise einfach ausblendeten, dass Nemo und Nadia nun mal hälftig Menschen waren?! Doch jedes Mal stieg im Kopf quasi "Bodennebel" auf, der die Urteilsfähigkeit massiv beeinträchtigte! IHN hatte man oder vielmehr frau NIE als Hechtköder eingesetzt! Unwillkürlich schnaubte Umea aufgebracht. Als ob der Verstand sich partiell verabschiedete! NIEMAND schien das zu bemerken! Was ihn fast genauso fuchste. Selbstverständlich half seine Entrüstung ganz und gar nicht weiter. Als verantwortungsvoller, wenn auch lebensuntüchtiger Erwachsener sollte er eine konstruktive Lösung finden. Allerdings ließ die auf sich warten, was ihn ebenfalls verdross. Eins zumindest stand fest: weder am großen See noch hier konnten die Kinder ihr Leben führen. Was nicht hieß, dass er von ihnen getrennt sein wollte! Umea schreckte aus finsteren, sich im Kreis drehenden Gedanken auf, als Hadrian ihn von hinten umarmte. "Wie geht es dir? Was macht dein Magen?" Seufzend schmiegte sich Umea an. "Ich habe schlechte Laune, mein Magen gluckert gelegentlich und ich führe mich fürchterlich auf." Lautete sein Fazit. Hadrians warmes Lachen vibrierte auch in seinem Brustkorb. "Verstehe. Kann ich dir was Gutes tun?" Umea ließ das letzte Kräuterbündel sinken, wandte sich herum, schmiegte sich in Hadrians Arme. "Alles ist so frustrierend!" Große Hände bestrichen seinen verspannten Rücken. "Ich bin ganz deiner Meinung! So als Elternteil und Vorbild fühle ich mich auch unzulänglich. Schätze, wir müssen uns andere Lösungen ausdenken." Umea grummelte an einer gastfreundlichen Halsbeuge. "Ich merke schon, dass du mich aufheitern willst, bloß läuft gerade alles durcheinander. Ich habe das Verlangen, ungezogen zu sein und zu schmollen!" Ließ er Hadrian halb verwirrt über diese unbekannten Impulse, halb grimmig ob seiner zurückeroberten Persönlichkeit wissen, wurde für einige Augenblicke enger gedrückt. "Es ist okay." Raunte Hadrian. "Du musst hier nichts unter der Decke halten, ich meine, unterdrücken. Reden hilft mir zum Beispiel, andere Blickwinkel einzunehmen. Manchmal kommt sogar eine Idee, die zum Problem passt, auf." Sein selbstironischer Tonfall veranlasste Umea, ein wenig Distanz zwischen sie zu bringen, damit er die schwarzen Augen studieren konnte. "Entschuldige, dass ich so anstrengend bin." Nicht nur gerade, sondern eigentlich seit ihrer ersten Begegnung! Hadrian dippte ihm einen Kuss auf die Lippen. "Du bist nicht anstrengend, sondern die Herausforderung, die ich brauche und nicht missen will. Ich glaube, Umea, dass wir Pionierarbeit leisten müssen, unseren eigenen Pfad trampeln. So eine Familie wie unsere gibt es eben kein zweites Mal!" Er zwinkerte neckend. Umea hinderte das Lächeln nicht, seine ausgefransten Mundwinkel nach oben zu biegen. Hadrians ausgleichendes Temperament beruhigte ihn. Seine Andersartigkeit fiel hier nicht ins Gewicht, zählte ganz simpel zu seiner Person. "Danke." Flüsterte er sanft, übersandte Hadrian durch pragmatisches Vorgehen sehr angenehme Assoziationen, ohne "Draht", aber mit Ganzkörpereinsatz. @~-~@ Nemo schloss Wetten mit sich ab, wie lange es dauern würde, bis Nadia streng von ihm zu erfahren hegte, was er mit dem BUSCH vereinbart hatte. Erstaunlicherweise konnte er unbefragt in die Stadt eintreten, nachdem er mit Nadia den Text ausgeknobelt hatte, der ihrem Papa als Beruhigungsreim diente. Obwohl ihnen manche Begriffe ein Rätsel blieben. Die Stadt versetzte Nadia nicht in Aufregung, sie waren ja mehrfach gemeinsam unterwegs gewesen. Allerdings verrenkte sie sich fast den Kopf, um die Aeroflott-Kuriere zu verfolgen. Die transportieren Rohrpostsendungen über den Dächern, glitten pfeilschnell durch Gebäudeschluchten und -schneisen, verständigten sich mit Pfiffen als Signale. Nemo strebte die Collectio an, im Rucksack seinen Block und Stifte. Er fragte sich, wie präzise er wohl arbeiten musste und ob Arkandis höchst geheimer Hinweis tatsächlich zum Erfolg führte. @~-~@ "Wie funktioniert das, Umea, diese Nutzung von gemeinsamen Bildern im Kopf? Spürt man, dass es nicht eigene Erinnerungen sind, oder stört das gar nicht?" Eva Maria hakte nach, stippte Brot in ihren Gemüseeintopf. Erstaunlicherweise verstand sich Umea auf eine angenehm deftige Variante, die wärmte, ganz ohne tierische Beigaben. Fisch gab es höchstens in Dosen, sowohl in mikroskopischer Beimengungen als auch in der gleichnamigen Verpackungsform. Umea wirkte nicht ganz so angefressen wie am Morgen, wobei sie den imaginären Hut vor seiner diplomatischen Zurückhaltung zog. Kein Poltern, kein Geschrei, keine lautstarken Vorwürfe, die vom Speziellen ins Allgemeine ausuferten. Jetzt blickten die grünen Augen ohne Wimpernkranz konzentriert ins Ungefähre. "Ich weiß nicht, ob ich diese Frage richtig beantworten kann. Es kommt mir so vor, als wäre es auf der anderen Seite nicht erheblich für die Beurteilung. Selbst eine gefühlte Verbindung besteht." Eva Maria lauschte aufmerksam, während Umea sich energisch aufrichtete. "Wenn ich mit Nemo allein war, konnte er den Unterschied deutlich erkennen, sagt er zumindest. Vielleicht kann man es mit diesem Fernsehgerät vergleichen? Wenn man sich sehr konzentriert, können einem die Bilder ja auch wie Erinnerungen vorkommen." Eva Maria wischte ihren Suppenteller mit Brot aus, grübelte. Sie sah selten fern und meistens erledigte sie dabei noch etwas anderes. Die Kameraführung unterstützte glücklicherweise häufig auch eine gewisse Distanz. Ohne emotional enge Verbindung schien die Gefahr gering, sich etwas "einzubilden." "Ich bin überzeugt, dass wir durchaus lernen können." Bemerkte Umea gerade in ihre Konzentrationsphase. Vielleicht war er doch ein klein wenig verschnupft! "Das glaube ich auch. Sonst würden die Bilder ja nichts nützen. Mich fasziniert, wie Nadia diese fremden Erfahrungen adaptiert. Es scheint fast, dass sie in mentaler Hinsicht bald mit Nemo gleichgezogen hat." Sie zwinkerte ihrem Sohn zu, der beunruhigt zu ihr spähte. "Das ist bei Menschen nicht üblich, weißt du? Säuglinge können lange nicht allein überleben. Kinder müssen über Jahre lernen und Fähigkeiten entwickeln." Umea justierte seinen schweren Zopf, fing flüchtige Bandnudelhaare ein. "Soweit ich mich entsinne, gibt es in der Stadt auch Personen mit kleinen Kindern, die so wie Menschen wachsen, über die Zeit." Er zögerte. Noch immer dräute die Warnung, nichts auszuplaudern über die andere Seite. Andererseits, welches Feigenblatt sollte hier noch schützen?! "Es liegt wohl an unserer Art der Fortpflanzung, dass man schlüpft und für sich verantwortlich ist." Ein wenig überfordert lupften sich seine knochigen Schultern. "Bei Krokodilen und Schildkröten ist es ja ähnlich, nur zum Beispiel!" Brachte sich Hadrian ein, kämmte eine Bandnudelsträhne aus Umeas Gesicht. "Frei nach dem Alten Fritz: jeder nach seiner Fasson!" Eva Maria schmunzelte in das bemühte Feixen ihres Sohnes, während Umeas grüne Augen seine Verwirrung widerspiegelten. "Ich kann nicht folgen?" Immer sehr höflich, DIESE Erbvariante fand Eva Maria äußerst nachahmenswert. Vorausgesetzt, man musste nicht auch die anderen Eigentümlichkeiten übernehmen! "Ah, das ist jetzt eine längere Geschichte mit einem alten Zopf, uh, im übertragenen Sinne, modisch gesprochen." Kämpfte Hadrian unterdessen mit den Fallgruben metaphorischer Eigentümlichkeiten. "Warum zeigst du Umea nicht die Karikatur aus dem alten Geschichtsbuch? Ich spüle unterdessen ab." Schlug Eva Maria amüsiert vor. Rührend, wie Hadrian sich bemühte, Umea die Eigenarten dieser Seite zu erklären! Weiterer Karma-Pluspunkt: niemand grummelte über den Ausflug der Kinder! @~-~@ Nemo marschierte gedankenverloren den Weg entlang. Nadia betrieb Augenpflege im Tragebeutel, weshalb Nemo auch ihren Rucksack apportierte. Allerdings war dieser ziemlich abgemagert, da der Inhalt vertilgt worden war. Möglichkeiten, Optionen und Chancen wirbelten in seinem Kopf munter durcheinander. Deshalb hieß es, Bodenhaftung zu bewahren, zu erwägen, was der nächste Schritt sein könnte. "Ich fress dich, wenn du dein Wort nicht hältst." Kündigte sich Arkandi an. Nemo merkte auf, löste sich aus dem Abwägungsprozess. "Hallo Arkandi! Warte mal, ich hab es gleich." Damit ließ er vorsichtig die gekoppelten Rucksäcke herunter, ohne den Tragebeutel durchzuschütteln. Geschickt angelte er ein in Packpapier eingeschlagenes Paket heraus, legte es auf einen Busch, wandte sich ab, die Rucksäcke wieder einzusammeln. Er wahrte die Privatsphäre des unsichtbaren Buschhockers. Selbstredend hatte sich das Paket in Luft aufgelöst. Man hörte nur leises Rascheln. "Willst du vielleicht mal mitkommen?" Erkundigte sich Nemo höflich. "Pah." Versetzte Arkandi ohne Schwung, merklich abgelenkt. "Na ja, da könntest du die hiesige Variante studieren." Arkandi schnaubte nun merklich. "Du musst noch ne Menge lernen, Kurzer! Vielleicht sollte ich dich doch mal ankauen, so als Ermahnung." Nemo lachte, was Nadia aufweckte. "Weißt du, mich beschleichen Zweifel, Arkandi. Ich glaube einfach nicht, dass du dir mit mir den Magen verderben willst." Nadia grummelte. "Ist der BUSCH wieder langweilig?" "Ich bin KEIN BUSCH!" Sie raufte sich die kupferroten Locken mit dem Grünspat-Schimmer. "Langweilig. Schon wieder." Grimassierte sie beeindruckend. "DAS DA fress ich! Egal, wie's schmeckt!" Polterte Arkandi, brachte Blätter und Äste zum Zittern. "Dann komm raus! Sonst bleibt Busch BUSCH!" Stellte Nadia energisch fest. Sie glaubte nämlich längst nicht mehr an die hohlen Drohungen. "Kannst du vergessen! Ich hab zu tun, kann meine Zeit nicht auf Albernheiten verschwenden!" Ein gewisses Knacken und Knirschen im Geäst. Nadia schnaubte. "Luftballon!" Das schien ein perfektes Bild ihrer Meinung von Arkandi. Nemo, der ihre Emotionen auffing, lächelte. "Vielleicht ist er bloß schüchtern." Gab er zu bedenken, setzte sich wieder in Marsch. "Pah." Grummelte Nadia in perfekter Kopie von Arkandis Lieblingsurteil. @~-~@ Kapitel 24 Umea eilte durch den Garten, um Ludwig leicht abzudrängen, damit er das große Badehandtuch um seine Kinder legen konnte. Auf dieser Seite erwies sich das Wetter als entschieden unfreundlich, wie er befand. Dunkel, eisig kalt, nass, brr! Ludwig blieb hartnäckig, folgte ihnen auf die Veranda. Dort wartete Eva Maria, schmunzelnd, mit einem Skianzug aus zweiter Hand, in den man einfach steigen konnte. Eine Entsprechung für Nadia hatten sie nicht gefunden, ihre Proportionen passten schlicht nicht zu den konventionellen Puppen. Da musste es eben ein Kinderpullover sein, der übergroß zurecht geschnürt wurde. Umea unterdrückte ein Seufzen. Klar, dass man Ludwig etwas Gesellschaft leisten wollte! Reingehen, Hände waschen, Tisch decken. Ihm blieb lediglich, die recht leeren Rucksäcke zu apportieren, Hadrians Grinsen zu ignorieren. Er streifte sich die gepolsterte Regenjacke ab, schlüpfte aus den halbhohen Gummistiefeln. Fein! Er würde sich selbst die Hände waschen, fürs Abendessen sorgen, um sich nicht als völlig nutzlos zu erweisen! @~-~@ Hadrian registrierte eine gewisse Verstimmung bei Umea. Oder vielleicht auch unerkannte Entzugserscheinungen. Umea hatte jeden Tag sehr viel Zeit mit Nemo verbracht, war von dessen klarem Verstand ein wenig geschützt worden, vor den Auswirkungen des Banns auf alles, was mit Menschen oder der Stadt zu tun hatte. Weil seine Mutter den Nachwuchs auf der Veranda beaufsichtigte, die Ludwig verwöhnten, stellte er sich Umea einfach in den Weg, öffnete die muskulösen Arme, unterwanderte jeden halbherzigen Versuch, ihm pflichtbewusst zu entschlüpfen. "He, mein Märchenprinz, gib unseren Kindern ihre halbe Stunde, ja? Menschen brauchen Verarbeitungszeit." Umea grummelte leise an seinem Ohr, schlang die mageren Arme um ihn. "Es sollte Anleitungen geben!" Hadrian gluckste leise. "Du meinst Gebrauchsanleitungen für Menschen-Management? Nette Idee, aber daran sind WIR schon gescheitert." Er streichelte großflächig über das knorpelige Rückgrat, ohne dabei entfleuchte Bandnudelhaare aufzufädeln. "Wenn ich früher von der Schule kam, hat mir die Radstrecke nach Hause auch geholfen. Ein bisschen Abstand, um das zu verarbeiten, was da komprimiert auf mich eingeströmt ist. Besonders in den ersten Lebensjahren lernen Kinder sehr viel." Umea seufzte. "Ich bin wohl noch nicht ganz angekommen. Ist das richtig formuliert?" Den Kopf drehend küsste Hadrian eine magere Wange. "Genau richtig, Liebling. Mach dir aber keine Sorgen, wir grooven, ich meine, wir kriegen den Dreh noch raus." Hadrian ermahnte sich, nicht mit Anglizismen Verwirrung zu stiften. Schon die Metaphern forderten Umea ja heraus, der sich dann unzulänglich vorkam! "Was bedeutet grooven? Ist das die Sprache, aus der du uns den kleinen Nemo übersetzt?" Die grünen Augen blickten ihn forschend an, was etwas Abstand bedeutete und Hadrian aufzeigte, wie gern er Umea eng an sich gezogen hielt. "Na ja, stimmt, ist aber auch eine Musikrichtung." Die Augenbrauen zusammenziehend eruierte Hadrian seine Assoziationen. "Wir haben erstaunlich viele Begrifflichkeiten aus Musik und Tanz übernommen. Das fällt mir gar nicht mehr auf, so hab ich mich schon daran gewöhnt." Er fädelte ein flüchtiges Bandnudelhaar hinter Umeas Ohrmuschel. Erstaunlich, wie die immer wieder entwischen konnten! "Bei uns gibt es nicht die eine Verkehrssprache wie bei euch, von der du natürlich nichts verraten hast." Zwinkerte er, um die Sorge in den grünen Augen zu vertreiben. "Wir haben immer mal wieder Sprachen gehabt, die stärker vertreten waren, hauptsächlich zur Verständigung beim Handel oder beim wissenschaftlichen Austausch. Das war mal Latein, wegen der Ausbreitung, hier in Europa. Ähem, das ist hier der Kontinent, erinnerst du dich an die Karte? Na ja, danach war es wegen Kriegen und royaler Heiratspolitik Französisch. Jetzt ist es wegen der Verbreitung und des Internets eben Englisch." Umeas Miene kündete von einer linden Verzweiflung ob dieser unsortierten Zustände. Hadrian grinste. "Da habe ich noch nicht vom Rest der Welt erzählt, oder dass lange Zeit Altgriechisch eine große Rolle gespielt hat, immer noch in der Wissenschaft wichtig ist. Die Sprache der Mathematik ist von arabischen Ziffern geprägt. He, nicht aufstecken, mein Märchenprinz! Alles halb so wild, ich meine, nicht so schlimm, wie es sich anhört." Die grünen Augen blitzten. "Vergiss bitte nicht, dass ich nicht auf Neues geprägt bin." Hadrian schmunzelte, dippte einen Kuss auf die kraus gezogene Nasenspitze. "Bist du sicher? Wärst du dann hier?" Umea knurrte leise, drehte den Kopf weg, was Hadrian entzückte, der genoss, dass Umea hier Temperament entwickeln konnte. "Denk nur, dass es dir hier nie langweilig werden wird." Raunte er zärtlich in ein Ohr, küsste das Läppchen. Umea legte ihm eine elegante Hand auf die Wange, funkelte aus den grünen Augen. "Beim Großen M, ich verstehe, warum man nur mit Anleitung hierher kommen darf! Das ist ja schlimmer als eine ganzes Bündel Bananen!" Hadrian, der Umeas heimliche Gelüste mittlerweile kannte, prustete ungeniert los. Für so einen großen Verführer hatte ihn noch niemand gehalten! @~-~@ Nemo langte ordentlich zu, überrascht von sich selbst. Einen guten Appetit zu haben, das traute man eher Nadia zu. Ein wenig sorgte ihn, was sie zu erzählen haben würde, doch Nadia erklärte bloß, sie habe noch viel mehr zu lernen. Im Übrigen wünsche sie, weiter vom kleinen Nemo zu hören. Die Buchstaben zu den Bildern konnte sie nicht dechiffrieren. Nemo ging es ähnlich, aber nun erschreckte ihn diese Unzulänglichkeit nicht mehr allzu sehr. Er hatte seine Wunsch-Schule gefunden. Jetzt ging es bloß noch darum, irgendwie Aufnahme zu finden... @~-~@ Nachdem die Kinder in Nemos Zimmer zur Nachtruhe angehalten worden waren, zog sich Hadrian mit Umea zurück. Für ihn war es ein sehr gutes Zeichen, wie prompt und rechtschaffen müde der Nachwuchs sich verabschiedet hatte. Umea allerdings, der auch mit dem kleinen Nemo haderte, schien ihm arg introvertiert. "Ist nicht dein Geschmack gewesen, hm? Es sind sehr alte Comic-Streifen. Da hatte man andere Ansichten über Kindererziehung." Eigentlich richteten sich die Bilder auch an das "innere Kind" in den Erwachsenen. Nicht allzu viele Kinder konnten damals auf die Lektüre zurückgreifen. Umea ließ sich nicht darauf ein, sondern versuchte, die Bandnudelhaare mit einem Spiralhaargummi einzufangen. "Erlaubst du?" Hadrian küsste den zarten Nacken, wartete gar keine Antwort ab, wie ein echter Galan es getan hätte. Hier bot sich die Möglichkeit, Umea auch die steifen Schultern behutsam zu massieren. "Verrätst du mir, was dich beschäftigt?" Die eleganten Hände umklammerten einander einen Augenblick fester. "Ich verstehe es nicht. Irgendwas ist seltsam." Hadrian erkannte nicht nur an den zögerlichen Worten, sondern an Umeas Anspannung, das ihn etwas beunruhigte. "Was meinst du damit? Euren 'Draht'?" Hakte er nach. Umea nickte langsam. "Ich spüre Erleichterung, Vergnügen, Neugier. Aber da ist etwas, das sich merkwürdig anfühlt." Behutsam strich Hadrian über Umeas zartes Schlüsselbein. Es machte ihm bewusst, dass der die letzten zehn Jahre nicht üppig gelebt haben konnte. "Und das macht dir Sorgen." Konkludierte er. Umea löste sich unerwartet energisch von ihm, legte eine Drehung um 180 Grad hin, funkelte ihn grimmig an. "Ich bin so frustriert! All diese neuen Emotionen, diese fremdartigen Dinge! Ich komme einfach nicht hinterher! Wieso sind Menschen nur so kompliziert?!" Hadrian staunte verblüfft in das ovale Gesicht mit den dezent dunkleren Flecken. Klar, einen "roten" Kopf konnte Umea wohl kaum bekommen, aber einen Temperamentsausbruch kultivierte er schon beeindruckend heftig. "Wow." Stellte er fest, registrierte, dass Umea nicht die Luft anhielt, sondern die Lippen bewegte, mutmaßlich gerade acht Jägermeister erreicht hatte, die Fäuste geballt, angespannt wie eine Bogensehne. "Ich fürchte, diesbezüglich kann ich nichts ausrichten." Antwortete er schließlich. Ein magerer Trost. Umea drehte den Kopf weg. "Bin ich schon wütend über meine Kinder?" Wisperte er kaum hörbar zu sich selbst, eindeutig schockiert. Hadrian griff zu, fing ihn ein, hielt ihn fest an sich gedrückt. "Nein, bestimmt nicht, Umea! Das klärt sich bestimmt auf, diese merkwürdige Emotion. Nemo ist doch sehr vernünftig, nicht wahr? Wir können ihm vertrauen, das denkst du doch auch! Er würde nichts Unrechtes tun, hat er ja selbst gesagt. Seine nicht-menschliche Hälfte warnt ihn schließlich." Hadrian sparte jedoch aus, dass die raffinierte menschliche Hälfte durch Argumente oder schlichtes Ignorieren kontern konnte. Umea grub die Fingerkuppen in seine Schulterblätter. "Weißt du was?" Streichelte Hadrian mit der Rechten den von ihm kunstvoll verwobenen Salat aus Bandnudelhaaren. "Morgen bitten wir Nemo einfach, sich besonders vorzusehen, reden mit ihm darüber, was uns wichtig ist. Er ist ein gewitzter Bursche, er wird es verstehen." An seinem Ohr seufzte Umea bis in die Zehen. "Ich bin so erschöpft davon, chronisch verwirrt zu sein." Grummelte er matt. Gegen seinen Willen musste Hadrian leise lachen. "Lass uns schlafen gehen, ja? Nach einer Pause sieht alles schon ganz anders aus." Er drückte einen Kuss auf Umeas Wange. "Morgen Früh mach ich dir einen ganz tollen Bananen-Shake!" Umea knurrte gedämpft. "Du hattest mich schon gewonnen, als du mich aus der Eibe gezogen hast!" Was Hadrian selbstredend nicht davon abhalten würde, seinen exotischen Liebhaber weiterhin bei Laune zu halten. @~-~@ Eva Maria erwartete ein gewisses Schmollen. Andere Kinder wären vermutlich in Geschrei und Geheul ausgebrochen. Nadia war nicht gewöhnlich. Mit zusammengezogenen Augenbrauen über den schwarzen Knopfaugen lauschte sie der Erklärung, warum sie nicht mit zum Großeinkauf kommen durfte. Für eine "Puppe" nahm sie sich einfach zu lebensecht aus, konnte niemals so lange steif verharren. Doch sie durfte eben nicht auffallen. So gut konnte man sie nicht verstecken. "Ich bleibe mit dir hier." Verkündete Eva Maria deshalb sofort tröstend. Nadia nickte, stopfte sich rasch einen gepellten Mandarinenschnitz in den Mund. Der füllte die Backen so sehr aus, dass sie nicht sprechen konnte. Sie wirkte jedoch nicht eingeschnappt. "Wollen wir mal in Hadrians alter Bücherkiste stöbern? Ich lese dir etwas vor." Der kupferrote Lockenschopf mit der Grünspat-Patina bewegte sich energisch. »Kurios.« Dachte Eva Maria erstaunt. Nadia wirkte so ungeheuer fokussiert und konzentriert wie Nemo gelegentlich, nur in einer Miniaturausgabe! Einen Stapel auf dem Tisch sortierend stellte sie Nadia die Titelbilder vor. "Oh!" Bemerkte Nadia sofort, stützte den länglichen, niedrigen Band ab. "Was ist das?!" Eva Maria schob den Stapel beiseite, blätterte das Buch auf. "Das ist eine gezeichnete Geschichte, Liebchen. So wie der kleine Nemo." Die winzige Nase wurde kraus gezogen. "Das ist aber kein Junge, oder?" Gegen ihren Willen musste Eva Maria grinsen. Der Fokus auf den kleinen Nemo hatte sich noch nicht bis zur Prinzessin verlagert, die sie beim groben Durchblättern entdeckt hatte. Allerdings bezweifelte sie, dass Nadia sich mit ihr identifizierte. Nicht diese Jägerin! "Nein, das ist ein gezeichneter Hund, ein Beagle. Das sind Jagdhunde." Nadia beugte sich über die Seiten, die Hände in die Hüften gestützt. Sie trug eine kuriose Puppengewandung mit Schnürsenkel-Sicherungen. "Was tut der Hund da? Ist das ein Dach?" Eva Maria stellte den Comicband aufrecht, nickte Nadia zu. "Setz dich mal, Schatz, wir lesen gemeinsam. Ah, hier steht, dass der Hund Snoopy heißt. Er sitzt gerade auf seiner Hundehütte." Sich auf die Knie stützend legte Nadia die Hände flach auf die Buchseiten. "Was sind das für gekräuselte Dinger hinter ihm? Und diese Brille? Sind das Tauchgläser?" »Dieses Kind steckt voller Fragen!« Dachte Eva Maria amüsiert. Sie erinnerte sich inzwischen wieder an die weltberühmte Hintergrundgeschichte. "Also, das hier sollen Wolken darstellen. Der Abdruck hier ist ja schwarzweiß, da muss man sich mit Vereinfachungen behelfen. Snoopy trägt einen altmodischen Fliegerhelm, eine Art Kappe. Darüber hat er eine Flugbrille gezogen, gegen die Sonne und die Zugluft. Die Flugzeuge damals hatten keine geschlossene Pilotenkanzel. Hier, das ist sein Schal." Nadia sprang elastisch auf die Beine, wandte sich energiegeladen zu ihr um. "Er fliegt?! Wie?!" Hier waren Erklärungen angezeigt. "Er fliegt nicht tatsächlich. Siehst du, er sitzt ja auf seiner Hundehütte, richtig? Aber er stellt sich vor, er wäre ein berühmter Pilot. So werden seine Abenteuer eingeleitet." Ihre Enkelin ließ sich mit gekreuzten Beinen nieder, starrte auffordernd nach oben. Artig blätterte Eva Maria um. Sie studierten die Bilder. "Was ist das? Sind das Löcher?" Nadia raufte sich den Lockenschopf. Eva Maria atmete tief durch. Wie sollte sie diesem Kind bloß die Hintergründe erklären? "Das sollen Einschusslöcher sein. Snoopy stellt sich vor, er wäre der Rote Baron. Das war der Spitznamen eines berühmten Piloten während des Ersten Weltkriegs. Man flog damals mit Doppeldecken, die sich jagten. Man schoss sich ab." Für eine sehr ungemütliche Weile blieb es sehr still. "Sie haben sich beschossen? Dann stürzt man doch ab!" Stellte Nadia schließlich empört und verwirrt zugleich fest. "Ja, Liebes. Sehr viele Menschen sind gestorben." An der Anspannung konnte Eva Maria erkennen, dass Nadia grübelte, sich dann zu ihr herumwandte. "Warum stellt Snoopy sich so was vor? Könnte er nicht einfach so tun, als fliege er?" Die schwarzen Knopfaugen forderten eine schlüssige Erklärung. Die Inquisition konnte kaum größeren Schrecken auslösen als berechtigte Fragen der eigenen Kinder und Enkel! Eva Maria überlegte einen Moment. "Weißt du, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es ist eine gewisse Mahnung. Man stellt sich ja manchmal vor, wie es wäre, jemand anders zu sein, berühmt oder sehr bekannt, doch das hat immer eine Kehrseite. Hier erinnert man sich daran, dass dieser Wettstreit in der Luft ein Kampf auf Leben und Tod war, kein Spaß. Der Zeichner hat, soweit mir bekannt ist, im Zweiten Weltkrieg auch Frankreich besucht." Nadia erhob sich in einer fließenden Bewegung, wirkte entrüstet, die kupferroten Locken knisterten vor Spannung. "Noch ein Weltkrieg?! Wie viele gab es denn?!" In Verlegenheit gestürzt, weil sie eigentlich nur ein bisschen vorlesen wollte, seufzte Eva Maria. Das hier forderte sie stärker heraus als das Erklären der Packungsbeilage bei stocktauber Kundschaft ohne Hörgerät! "Offiziell zwei. Bis jetzt. Tut mir Leid, Liebes, das sind schlimme Neuigkeiten, das weiß ich." Nadia wandte sich herum, betrachtete Snoopy. "Kannst du bitte umblättern, Oma? Ich möchte sehen, ob Snoopy etwas lernt." Eva Maria kam der Bitte nach. Glücklicherweise erstreckten sich die Strips nicht mehr allzu lange über die eingebildeten Abenteuer in der unrühmlichen Vergangenheit. Stattdessen kehrte die Gegenwart zurück: Schreibblockaden, ausbleibende Füllung des Futternapfs, Besuch von Verwandten, eigenes Verreisen. "Oh, wer ist das denn?!" Nadia, die artig zugehört und sich bloß die Schreibmaschine hatte erklären lassen, sprang auf. "Da steht 'Woodstock'. Sieht für mich wie ein Kanarienvogel aus. Ah ja, das ist Snoopys bester Freund." "Ein Vogel? Er kann fliegen!" Stellte Nadia aufgeregt fest, tippte auf die stilisierten Bewegungen durch die Luft. "Das stimmt. Da, die beiden unternehmen viele Dinge zusammen." Nadia kreiselte schwungvoll um die eigene Achse, strahlte zu ihr hoch. "JETZT muss Snoopy sich nicht mehr diesen grässlichen Baron einbilden! Mit einem Freund, der richtig fliegen kann, erfährt er die wirklich tollen Sachen!" Eva Maria beobachtet erleichtert, wie Nadia engagiert Seite um Seite umblätterte, immer auf die Buchstabengruppen tippte, die die Namenszüge der beiden Protagonisten darstellten. Ob sie sich wohl einsam ohne Nemo fühlte? Wenn der erst zur Schule ging... Kurzentschlossen angelte Eva Maria das recht nutzlose Smartphone heran. Lausiger Empfang, aber für Textnachrichten reichte es gerade. @~-~@ Hadrian überprüfte die Liste. Vorräte für die bald bevorstehenden Festtage, die sollte man zeitig auffüllen. Weihnachten und Neujahr kamen regelmäßig unvermutet zeitig! Als Sardine wollte er sich nicht durch die Menge schieben müssen. Neben dem Nachschub für das leibliche Wohl musste auch über die Aufstockung der Garderobe nachgedacht werden. Dass sich "Weiße Weihnachten" ausschlossen, hieß nicht, dass es nicht eisig kalt, stürmisch, nass und glatt werden konnte. Nemo hatte einen Overall und Regenstiefel anprobiert. Beide passten, wurden in den Einkaufswagen geladen. Allerdings nutzten der Betrieb des Konsumtempels natürlich die Gelegenheit, gruppierte die Kinderbekleidung bei den Spielwaren, wo sich Geschrei, Gerenne, lautstarke Jingles und anderes Ungemach abzeichneten. Hadrian warf einen Blick auf Nemo. Im Gegensatz zu jedem anderen Kind entfernte der sich nicht vom Einkaufswagen, rannte nicht aufgedreht los, forderte brüllend dies und das und jenes ein. Überhaupt schienen ihn die Spielsachen nicht sonderlich zu interessieren. Hadrian zuckte zusammen, als seine Pobacke mittels Inhalt der Gesäßtasche mit Vibrationen massiert wurde. Er seufzte, fischte das Smartphone heraus. "Bring was mit Snoopy mit?!" Wiederholte er halblaut, die schwarzen Augenbrauen verwirrt zusammengezogen. "Stimmt etwas nicht?" Umea, der sehr still den Einkaufswagen anschob, wie immer von dem Trubel belastet schien, klang alarmiert. Den Kopf schüttelnd verstaute Hadrian den flachen Sklavenhalter wieder. "Mama will, dass ich was...oh, sie hat wahrscheinlich mit Nadia Comics gelesen!" Fiel bei ihm der Groschen, den er quasi nur noch aus Erzählungen kannte. Sein erstes Taschengeld wurde jedenfalls in Euro ausgezahlt. Er grinste vergnügt. Kein Kind der Welt würde Snoopy nicht lieben! "Verflixt, Nadia passen keine Kinderkleider." Außerdem wurde gerade die gesamte Peripherie von der Fortsetzung einer ihm höchst unsympathischen Frost-Monarchin dominiert oder ihm ebenso verleidete Schwinger von elektrifizierten Stichwaffen. Es hatte ihm schon gereicht, Nemo das zu erklären. Abstechen oder abballern mit Energietechnik! Das würde in Zukunft schwierig werden, wenn man das Kontingent fürs Auto benötigte! Dazu noch lächerliche Köter in Uniformen und anderer Horror! Hadrian begann, die Kinderabteilung zu verwünschen. Allerdings hoffte er, für seine Tochter doch etwas zu finden. Peanuts, Snoopy... Brav kämpfte Umea in seiner Spur mit dem Wagen gegen das Ausbrechen an, von Nemo unterstützt. "A-HA!" Womit Hadrian nicht die Combo meinte, von der seine Mutter noch immer schwärmte. Er schoss vielmehr auf die Sektion "Bettwaren" zu, zupfte eine flauschige Decke heraus: Snoopy und Woodstock, der Beagle den Kanarienvogel knuddelnd, beste Freunde. "Umea? Nemo? Schaut mal, ist der Stoff in Ordnung?" Überließ er Experten das Feld. Man konnte nur hoffen, dass diese Variante keine elektrostatische Aufladung erzeugte und Nadia unter Strom setzte! Zwei Häupter beugten sich konzentriert über die eingerollte Variante des Ausstellungsstücks. "Sehr weich, schön." Stellte Nemo fest. "Die Decke würde prima für Nadias Hängematte passen." Eine Hängematte hatten sie für Nemo ergattert. Für Nadia musste die Variante genügen, die man als Schaukelsitz nutzte. Im Winter bestand eher geringe Nachfrage für derlei Ausstattung, verständlicherweise. Immerhin, fand Hadrian, war das besser als eine Yoga-Matte auf dem Boden und eine Kommodenschublade. Er suchte das Urteil in Umeas grünen Augen. Der nickte schließlich auch, eindeutig besorgt. Zahlen konnten beide inzwischen gut dechiffrieren. Rechneten, so mutmaßte Hadrian, den Wert in Fisch, Muscheln oder sonstiges Gut um. Zumindest Umea wirkte immer blasser. "Wunderbar. Wir nehmen die mit." Hadrian sah sich noch einmal um. Eigentlich wusste er gar nicht, mit was Nadia so spielte. Abgesehen davon, dass sie immer mal wieder die Zwille inspizierte. Von Spielzeug hatte er nichts gehört. Aber die Leute am großen See hielten sich damit vielleicht nicht auf? Er wollte gerade eine entsprechende Frage an seine beiden Begleiter richten, als er registrierte, dass sie ihm nicht folgten, sondern fasziniert vor einem Monitor geparkt hatten. Hadrian machte kehrt. Dort stopfte sich gerade ein kleines, gelbes Helferlein zur Tarnung eine Banane quer in den Mund. Der weltweit bekannte Kampfschrei "Banana!" dröhnte aus den Lautsprechern. Nemo kicherte ob der burlesken Verfolgungsjagd, Umea starrte gebannt auf den Bildschirm. Was Hadrian veranlasste, besser eine Erklärung einzuschieben. "Ah, das sind die Minions, die sind nicht echt, nur erfunden." "Was sind Minions?" Interessiert blickte Nemo ihn an. "Ähem, na ja, Schergen wäre jetzt die falsche Übersetzung. Sie sind Helfer für einen ehemaligen Bösewicht. Aber häufig lassen sie sich ablenken. Dann passieren solche Sachen. Und sie sind verrückt nach Bananen." Worin er ihre Anziehungskraft für Umea vermutete. Der kurze Film endete, brüllende Werbung für grell gefärbtes Plastikspielzeug setzte ein. Hadrian streichelte Umea kurz über den eingeflochtenen Zopf. "Na, hast du Gleichgesinnte erblickt?" Umea wandte sich zu ihm um, die grünen Augen funkelnd. "Hadrian, wo kann man diese Hosen bekommen?" @~-~@ Immer noch schmunzelnd schob Hadrian den Einkaufswagen weiter. Er hatte Umea vorausgeschickt, sich bei der Erwachsenenbekleidung oder dem kleinen Sortiment an Berufsbekleidung umzusehen. Latzhosen! DAS faszinierte seinen exotischen Märchenprinz! Darauf hätte er nun wirklich nicht getippt. "Nemo, für Nadia haben wir eine Kuscheldecke. Was möchtest du haben? Willst du dich mal umsehen?" Nemo warf ihm einen verblüfften Blick zu. "Vati, ich habe schon die Hängematte, die Stiefel und den Overall." Indizierte er in dem höflich-nachsichtigen Tonfall, der das schwache Gedächtnis seines Vaters entschuldigte. Hadrian grinste. "Sohn, die Hängematte gehört zur Ausstattung. Klamotten zählen nicht. Sieh dir die anderen Kinder hier an. Möchtest du nicht auch ein Spielzeug oder so etwas haben?" Nemo warf erst ihm, danach dem Panorama der Kleinkriege und Mini-Dramen einen prüfenden Blick zu. "Eigentlich habe ich alles, was ich brauche, Vati." Stellte er rücksichtsvoll fest. Hadrian löste eine Hand von der Griffstange des Einkaufswagens, tätschelte das Piratentuch über den schwarzen Locken. "Weißt du, Nemo, man kann auch etwas zur Unterhaltung haben. Zum Spaß." Sein wohlerzogener Sohn widersprach nicht, aber Hadrian ahnte einen gewissen Dissens. "Natürlich kann es auch etwas Nützliches sein." Versuchte er es mit einem anderen Köder. Wirklich, seine Kinder waren ganz und gar nicht verwöhnt! Sehr viel vernünftiger als die Konsum getriebene Wirtschaftsordnung, in der er selbst aufgewachsen war. Die ihm nun hin und wieder Beklemmung und Sorge bereitete! Unterdessen ignorierte sein gewitzter, kluger Sohn Computerspiele, Drohnen, Merchandise jeglicher Couleur... Hadrian beugte sich herunter, wisperte. "Na los, versuch es mal." @~-~@ Nemo betrachtete ehrfürchtig den Tretroller, ein Modell zum Testen, gerade nicht in Beschlag genommen. Er setzte einen Fuß auf das Trittbrett, schloss die Hände um die Kugel der Lenkstange, stieß sich ab. Ohhh...fast wie bei einem Fahrrad! Eine Kurve später stellte er das Gefährt artig wieder ab, wo sich sofort ein dick vermummtes Kind an ihm vorbei drängte, um plärrend den Gang zu befahren, gefolgt von einer keifenden Mutter. "Welches gefällt dir?" Nemo blickte zu seinem Vati hoch. Es WAR eine Versuchung! Sicher, er könnte mit einem Tretroller schneller den Weg zur Stadt oder zum See bewältigen. Mit einem Trapezsitz Nadia gleich mitnehmen! Wenn sie wuchs, könnte sie den Tretroller bekommen. "Ich finde die Kugel oben recht unpraktisch." Kommentierte Nemo zögerlich. "Schauen wir mal nach denen mit Griffen. Hier, das kann man zusammenklappen. Wäre das was?" Widerstrebend näherte sich Nemo den robusteren Modellen, stellte sich auf den auffordernden Blick seines Vatis hin auf ein Trittbrett, erprobte die Bremse hinten. "Nemo, welches willst du haben?" Die Frage, die er gefürchtet hatte. Auch ohne den Blick seines Papas zu spüren, wusste Nemo, dass sie hier ein Vermögen ausgaben! NÖTIG hatte er diesen Tretroller ganz sicher nicht, auch nicht die Hängematte. "Vati, das ist zu teuer, wirklich." Ermahnte er leise, zwang sich, in die schwarzen Augen zu sehen. Er erhielt einen Fingerstups auf die Nasenspitze. "Es ist bald Weihnachten, da passt das schon." "Weihnachten?" Wiederholte Nemo prompt, der mit diesem Begriff nichts anfangen konnte. Sein Vati zögerte. "Ach, okay, das erkläre ich dir später, ja? Umea will das wahrscheinlich auch wissen. Oh, wir sollten uns auch ein bisschen beeilen. Also, welches nehmen wir?" Nemo erkannte am tatendurstig-sturen Blick, dass hier keine Kompromisse erlangt werden konnten. Deshalb drehte er sich um, hob die Modelle, die ihn interessierten, leicht an, klopfte und lauschte. Nur eines sagte ihm nach dieser Probe zu. "Dieses hier? Gut, ich hänge es an den Einkaufswagen." Vertraulich beugte sich sein Vati zu ihm herunter. "Jetzt verrat mir mal, was du da eben gemacht hast." Nemo, eine Hand auf dem Stahlgeflecht des Einkaufswagens, stieg auf die Zehenspitzen. "Die andern klangen nicht richtig. Ich habe zugehört." @~-~@ Hadrian kontemplierte die Fähigkeiten seines Sohnes, den er als Scout vorgeschickt hatte, Umea aufzustöbern, während er den beladenen Einkaufswagen ohne Kollisionen pilotierte. Sein Sohn, gerade mal zehn Jahre, erkannte an der Resonanz Schäden an Tretrollern! Zugegeben, die Verständigung unter Wasser verlangte eine Sensibilität, die ihm als chronischen Landbewohner abging. Aber, verflixte Hacke, dieser Lauser steckte voller Überraschungen! Hadrian kam sich recht untüchtig im Vergleich vor. Da musste er bloß daran denken, wie nervös er wurde, wenn der Kangoo Zicken kultivierte! Gerade noch rechtzeitig für eine Intervention scherte er aus der Schlange von Einkaufwagen aus. Umea schien im Begriff, eine gefaltetes Stoffbündel in olivgrüner Farbe zurück in ein Regal legen zu wollen. "Hat sie gepasst?!" Schallte er deshalb laut heraus. ER musste keinen "Draht" bemühen, um zu erkennen, dass Umea aus Sorge um die Finanzen verzichten wollte, erkannte das Plädoyer in den schwarzen Augen seines geknickt wirkenden Sohnes. "Los, in den Wagen! So langsam müssen wir auch zurück, sonst setzt Mama uns noch auf die Vermisstenliste." Umea zögerte. Für erfolgreiches Lügen, das registrierte Hadrian schmunzelnd, fehlten seinem Liebsten schlicht die Gene! "Mein Prinz, bitte spute dich ein wenig. Nemo, schau bitte noch mal über die Posten. Siehst du was, wo ein Haken fehlt?" Dirigierte er Nemo aus der Konfrontationslinie, angelte Umea an der schlanken Taille mit einem Arm heran, attackierte ein Ohr. "Schatz, wir werden nicht hungern müssen, ich habe genug Geld. Also, bitte, leg die Latzhose dazu." Als er sich zurückzog, aufmunternd nickend, huschte ein Ausdruck von Schmerz über Umeas angespannte Züge. Nicht schnell genug verborgen. Hadrian verstand durchaus. Hier war nicht übertriebener Stolz im Spiel, sondern eine lebenslange Prägung als ungenügend, von der Hilfe und Gnade anderer abhängig, selbst wenn sie ohne Umschweife gewährt wurde. Deshalb wurde er absichtlich grob. "Meine Welt, meine Verantwortung, meine Regeln. Lass mich nicht betteln, ja? Das könnten die anderen Leute unpassend finden." Raunte er, küsste frech Umeas Nasenspitze. Ertappt dunkelten dessen noch immer eingesunkene Wangen nach. "Das war nicht meine Absicht. Bitte entschuldige. Es ist bloß so, ich brauche ja nicht wirklich..." Hadrian erstickte die erwartete Erläuterung in einem ausführlichen Kuss französischer Prägung, löste sich sanft, mit einem Zwinkern. "Es ist bald Weihnachten. Im Auto erkläre ich dir die Details, ja? Jetzt steuern wir mal Richtung Kassen!" @~-~@ Kapitel 25 Umea warf einen verstohlenen Blick in den Seitenspiegel. Auf seinem Haupt residierte statt der Baseballkappe eine Strickmütze, grün wie seine Augen, mit einer gewaltigen Bommel. Recycling-Wolle, hatte es das Papp-Etikett proklamiert, keine Kunstfasern, nur von Schafen aus Patenschaften. Vage erinnerte er sich an knappe Erläuterungen zu vierbeinigen Tieren, die Pflanzen kauten und ein langfaseriges Fell trugen. Verwirrend. Aber sie war schön, prächtig, angenehm warm. Natürlich ziemte sich Eitelkeit gar nicht. Normalerweise genügte der eigene Schopf. Es fiel ihm schwer, Hadrian zu widersprechen: hier herrschten nun mal ganz andere Temperaturen vor! Wenn er dies nicht beachtete und krank wurde, schon wieder, konnte er überhaupt keinen nützlichen Beitrag leisten. Allerdings musste er sich schon schämen, nicht nur die Latzhose, sondern auch die Mütze! Dabei hatte er doch gerade beabsichtigt, wegen der Ausrüstung für die Kinder...! "Vati, was ist dieses Weihnachten?" Brachte Nemo sich vom Rücksitz in Erinnerung, ein wachsames Auge auf den Teil der Einkäufe werfend, die nicht im Kofferraum untergebracht worden waren. "Ah, richtig!" Hadrian fuhr gelassen, trotz des einsetzenden Regens und der hereinbrechenden Dunkelheit. Umea empfand diese Entwicklung als bedrückend. Jeden Tag wurde die Sonnenscheindauer geringer! Morgens dunkel, gegen Mittag etwas heller, aber bedeckt oder regnerisch, am Nachmittag schon wieder finster, brrr! Das Gemüt, das er hier erst entdeckt hatte, fühlte sich beeinträchtigt! "Also, wie fange ich das am Besten an? Hmmm, vor langer Zeit, da gab es am Mittelmeer in einem Landstrich Leute, die an nur einen Gott glaubten. Sie hatten ihre Geschichte aufgeschrieben, so, wie sie glaubten, dass sie sich zugetragen haben sollte. Das Land war von den Römern besetzt, also, von Leuten, die an viele Götter glaubten und darauf auch ihr Staatswesen gründeten." Umea warf Nemo über den Rückspiegel einen reichlich verwirrten Blick zu. "Verflixt, ob ich noch ein altes Asterix-Album habe? Jedenfalls fühlten sich die meisten Leute dort unterdrückt. Es gab Propheten, das waren Personen, die sozusagen verkündeten, was sie von Gott erfahren hatten." Reichlich kurios. "Das Übliche eben, Weltende, Untergang und so weiter. Einer von denen sagte, er sei der Sohn Gottes. Das, und der Zulauf, den er hatte, passte verschiedenen Leuten nicht, also gab es einen Prozess und er wurde verurteilt, gekreuzigt zu werden." "Was bedeutet das, Vati?" Hadrian grummelte leicht. "Okay, das ist mal wieder diese unschöne Menschen-Seite. Die haben damals Leute an Holzkreuze genagelt, Nägel durch Hand- und Fußrücken geschlagen. Da stirbt man nicht sofort, aber wenn man nicht runterkommt, in der Hitze... Also, von diesem Mann jedenfalls wurde später behauptet, er sei auferstanden und zu Gott aufgestiegen, weil man in dem Grab keine Leiche gefunden hätte. Seine Anhänger verbreiteten Geschichten um ihn. Daraus wurde eine Religion, das Christentum. Mit heutzutage verschiedenen Strömungen. Weil ziemlich viele Leute daran glauben, feiert man seine auf das Jahresende festgelegte Geburt, so als Zeichen der Hoffnung in der Dunkelheit." Hadrian schnaubte. "Es ist viel komplizierter, da sind auch noch heidnische Aspekte eingeflossen, aber im Kern geht es eben um diese Geburt, das sind Feiertage. Man schenkt sich was, weil in der Geschichte drei Weise, kluge Männer, dem Säugling auch Geschenke mitgebracht haben." Umea riskierte erneut einen Blick auf die Rückbank. Nemo grübelte sichtlich. »Bloß nichts verraten!« Dachte Umea angestrengt, signalisierte seine Unruhe über ihre Verbindung. Der Große M würde es sicher nicht goutieren! "Vati, warum hat dieser Gott nicht selbst mit den Menschen gesprochen?" Umea sackte erleichtert zusammen. Hadrian neben ihm reduzierte die Geschwindigkeit, da sie vor einer Ampelkreuzung das Stauende erreicht hatten. Großeinkauf fegte den gesamten Landstrich leer, bis auf das Einkaufszentrum! "Gute Frage, Nemo. Man sollte ja meinen, wenn ein Gott was erledigt haben will, erklärt er es direkt und unmissverständlich. Ich hab sowieso meine Zweifel an der Geschichte. Es existieren zwar gewisse historische Belege, aber der Rest, na ja, man MUSS glauben. Aber mir ist Wissen eindeutig lieber." Obwohl Umea dieses schwierige Kapitel als abgehakt erhoffte, fand Nemo Anlass zur Nachfrage. "Vati, haben die Leute diesen Gott mal gesehen? Woher wussten sie, dass es ihn gibt?" Hadrian schwieg einige Augenblicke, konzentrierte sich auf den Anfahr- und Halt-Verkehr vor der Ampel. "Also, gesehen glaube ich nicht. Es gibt zwar Bilder, aber stellvertretend. Wenn ich vermuten müsste: es gibt so viel in der Natur, dass wir nicht verstehen, nicht erklären können, da kommt man wohl auf die Idee, dass irgendwer das eingerichtet haben muss. Weil wir es nicht verstehen, muss dieser Irgendwer uns überlegen sein, also ein Gott." "Glaubst du das auch, Vati?" Über die Kreuzung schleichend antwortete Hadrian lachend. "Ich weiß nicht Bescheid, Nemo, aber ich glaube nicht an einen Gott. Vielleicht hat sich diese Welt hier in einem gewaltigen Universum schlicht aufgrund von Wahrscheinlichkeiten entwickelt. Was denkst du denn?" Umea saß stocksteif und aufrecht. Du liebe Güte, Nemo würde doch nicht...! "Ich weiß es auch nicht, Vati. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass einer alles gemacht haben soll. An einen Gott GLAUBE ich nicht. Ich WEISS, dass es welche gibt. Kommt so ein bisschen auf die Definition an." Nemo lachte. "Papa, hab doch keine Angst! Ich verrate ja gar nichts. Vati, denkst du, die Göttlichkeiten, die sich Menschen ausgedacht haben, sind die, die alles gemacht haben sollen?" Verkrampft wünschte Umea für einen Augenblick, Nemo wäre nicht ganz so wissbegierig. Er rief sich innerlich zur Ordnung. Es war NICHT verboten, sich Gedanken zu machen, die Welt verstehen zu wollen! Die Angst hatte ihn gegängelt, unterdrückt, verzagen lassen, doch damit war jetzt Schluss! Unterdessen ließen sie die Stoßstangen-Schrittgeschwindigkeit hinter sich, Hadrian beschleunigte moderat. "Wenn du mich so fragst, logisch betrachtet können göttliche Wesen, die Menschen sich ausgedacht haben, keine richtigen göttlichen Wesen sein. Sie sind so beschränkt wie Menschen eben auch. Ein göttliches Wesen müsste ja ÜBER menschlichen Einschränkungen stehen. Aber wie sollten wir Menschen uns das vorstellen? Ich bin da skeptisch. Für mich gilt: was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu." Nemo pflichtete ihm fröhlich bei. "Das finde ich gut! Gilt bei uns auch." Eine Bresche! "Schön, ich weiß, dass du nichts erzählen darfst. Hat denn ein göttliches Wesen bei euch drüben das Sagen?" Hakte Hadrian prompt nach. Umea fing einen entschuldigenden Seitenblick ein. Er seufzte. "Nicht unbedingt ein göttliches Wesen." Nahm Umea die Last auf sich. Besser, als Nemo das Verbot übertreten zu lassen! "Eine Person steht über allem, achtet darauf, dass die Welt funktioniert, kümmert sich darum." "Verstehe." Antwortete Hadrian, bog in ihre Ortschaft ein. "Das macht immer dieselbe Person? Oder wechseln sich da mehrere ab?" Den Kopf unwillkürlich zwischen die Schultern ziehend wisperte Umea, auf Vergeltung wartend. "Nein, nur eine Person, dieselbe. Es gibt Bilder von ihr. Sie geht raus, unter die Leute." Die Sache mit den Pudeln verschwieg Umea lieber. Selbst damals hatte er dieser Information nicht getraut. Um nicht die Luft anzuhalten, bewegte er lautlos die Lippen im Abzählreim. Selbst nach "Düsseldorf" schlug kein Blitz ein, um ihn wie die Jägermeister in die Ewigen Jagdgründe zu verabschieden. Stattdessen beugte sich Hadrian hinüber, löste den Anschnallgurt, streichelte ihm mit einer warmen, großen Hand über die Wange, die schwarzen Augen besorgt. "Willst du nicht aussteigen, Umea? Geht's dir nicht gut?" Umea legte eine Hand auf Hadrians. "Ich fürchtete bloß, weil ich etwas verraten habe..." Aber wie es schien, hatte der Große M kein Interesse daran, ihm eine schmerzhafte Lektion zu erteilen. @~-~@ Eva Maria sortierte rasch schmale Buchbände durch. Sie konnte sich vage erinnern, mal einen Asterix-Band in Mundart erworben zu haben, weil sie Karten-Sammelalben und grässliche Irgendwas-Monster-Einfang-Artikel verabscheute, die selbstverständlich in jedem Laden lockten! Doch seit dem grauenvollen Einfall der perversen "Fütter-mich!"-Sklavenhalter aus Japan in elektronischem Kleinformat misstraute sie solchen Offerten. Nicht nur Geschenken von Athenern war nicht zu trauen, angefangen mit dubiosen Holzpferden in Übergröße! Anderseits konnte sie ihrem Sohn ja nicht jeden Spaß verderben. Deshalb hatten sie eben mit Asterix an der Eingewöhnung in der neuen Heimat, zumindest sprachlich, gefeilt. Allerdings zeichnete sich Hadrian auch nicht als unsägliches "auch haben!"-Kind aus. Das recht bescheidene, zeitversetzte Angebot verführte ihn jedenfalls nicht zu Exzessen. Nun allerdings bot sich ein bemerkenswertes Schauspiel: Nadia residierte stolz auf ihrer gefalteten Kuscheldecke, systematisch den Mund mit geschnittenen Brotstückchen auspolsternd, die unterschiedlichen Belag trugen, während man anhand der berühmten Karte mit der Standarte und der Lupe zu erklären versuchte, was sich um Weihnachten herum abspielte. Wobei Nemo übersetzte, was Hadrian offenkundig zuvor schon berichtet hatte. Die schwarzen Knopfaugen ihrer Enkelin funkelten konzentriert, die Krause am Nasenrücken blieb. Sie war, so winzig und so jung, willensstark genug, erst mal die Einzelreden abzuwarten, bevor sie kritische Fragen stellte. "Dieser Gott schickt seinen Sohn, weil alles unordentlich ist? Der geht zurück, und das war's?! Wieso?! Oma hat erzählt, es gab schon zwei Weltkriege! Es ist immer noch unordentlich." Nadia stellte sich vor ihre Kuscheldecke, die Hände in die Hüften gestimmt. "Ich finde das nicht gut. Die Arbeit ist nicht erledigt, aber sie kümmern sich nicht mehr drum? Bist du sicher, Vati, dass die mit dieser Welt was zu tun hatten? Vielleicht sind sie ja wie Snoopy und haben sich bloß was eingebildet!" @~-~@ Hadrian konnte sich das Grinsen selbst im Schlafzimmer nicht verkneifen. Sicher, theologische Meriten konnte er nicht verdienen, dazu war er zu früh ausgebogen, hatte sich in diesem Landstrich als Heide deklassiert. Aber, mein lieber Schwan, diese beiden Kurzen, die konnte man nicht hinters Licht führen! Außerdem gefiel es ihm sehr, wie sie seine Mutter zum Lachen brachten. Man vergaß glatt, dass sie noch Kinder waren, weil ihre Persönlichkeiten dieses Detail überstrahlten. Und er liebte sie. Nemo, so gewitzt, diplomatisch-charmant und klug, Nadia, entschieden, willensstark und aufmerksam. Dazu sein exotischer Märchenprinz, der von gelegentlichen Rückfällen abgesehen endlich auch sein wahres Ich erkannte. Gerade zum Beispiel den prächtigen Bommel der neuen Mütze vorsichtig "durchkämmte." "War ziemlich anstrengend im Einkaufszentrum heute, hm? Danke, dass du mitgekommen bist und mir geholfen hast." Sprach Hadrian aus, was ihm als Ouvertüre diente, den Gemütszustand seines Geliebten zu erkunden. Umea wandte sich herum, einmal mehr mit entfleuchenden Bandnudelhaaren ringend. "Nicht doch, selbstverständlich helfe ich dir! Vielen Dank auch für die tollen Geschenke! Eigentlich sind die Menschen nicht so eine Belastung." Hadrian half beim Sortieren in einen schlichten Zopf mit Haargummi-Stationen. "Ist es in der Stadt bei euch auch so voll?" Uh, durfte er das fragen? "Durchaus, es ist sehr geschäftig. Nur gelassener, nicht so angespannt." "Gierig, hektisch, überdreht, überzuckert." Ergänzte Hadrian seine eigenen Eindrücke, zog oben blank. "Ja, und kurz vor den Feiertagen wird das noch schlimmer. Bloß nichts vergessen, Vorräte anlegen, als gäbe es nichts mehr! Mist! Geh schon auf, blöder Verschluss!" Grummelte er Richtung rechte Brustwarze. Umea beäugte ihn unentschlossen. "Es stört mich nicht so sehr. Du musst nicht um meinetwillen deinen Schmuck..." Hadrian knurrte vernehmlich, bezwang endlich den ersten Stecker. "Ach was, sieht ja sowieso keiner außer uns beiden. Liebling, die Idee war ja, mich auf Touren zu bringen, was nicht funktioniert hat. Also weg mit dem Murks. Vielleicht macht 'Knopf in Ohr' Teddybären steif, bei mir funktioniert das nicht." Schloss er eine Zote an, die in Umeas grüne Augen Verwirrung zauberte. Hadrian grinste versöhnlich. "Nur eine unwichtige Anspielung. Ah, geschafft! Weg mit den Dingern." Sortierte er die Stecker beiseite, rollte die Schultern. Puha, Entenparka! Ganz schön frisch! Umea streifte sich den Pyjama ab, streckte ihm die Hand hin. "Wir können morgen ein bisschen länger schlafen, nicht wahr? Ich werde ganz leise sein." Was für eine Einladung! Ungezogen schnappte Hadrian zu, nahm Umea auf die Arme, kreiselte um die eigene Achse. Gut, dass der sich festhielt und die Beine anzog, sonst wäre ein Kollateralschaden zu beklagen gewesen! "Hab ich dir schon gesagt, dass ich ganz verrückt nach dir bin?" Raunte er begehrlich, ließ Umea auf ihrem Bett herunter. "Bestimmt, aber auch die Indizien lassen diesen Schluss..." Die naseweise Antwort abkürzend küsste Hadrian Umea ausschweifend, kroch zu ihm unter die Decke, exilierte die lästige Pyjamahose. Einen Arm ausstreckend löschte er noch das Licht der Nachttischlampe. Es war höchste Zeit herauszufinden, wie schallschluckend die Bettdecke sein konnte! @~-~@ Sonntag war Familientag. Die Apotheke blieb geschlossen. Man musste nicht zeitig aus dem Bett, konnte alles ein wenig langsamer angehen oder sich kleine Freiheiten herausnehmen. Wie die, mit dem neuen Overall, den Gummistiefeln und der kleinen Schwester auf der Schulter eine kleine Runde zu drehen, auf dem Tretroller, der keine Probleme mit nassem Asphalt hatte, begleitet von Ludwig, der sich unabgemeldet anschloss. Das Beste, fand Nemo, war dabei eine Oma, die ihre Heimlichkeiten deckte, mit der Gießkanne die Gummistiefel und den Roller abspülte, würzigen Tee anbot und rasch Bananenkekse in den Ofen schob. Der man erzählen konnte, wie toll das war, so schnell über die Straße gleiten zu können, trotz Regen und Wind. Außerdem, dass es sich prima anließ, über dem Boden zu nächtigen. Man ganz und gar nicht seekrank wurde! Mit Nadia beugte er sich über den Plan, was an welchem Feiertag gegessen werden konnte. Hier bestand nicht die Gefahr, dass man ein klein wenig hungrig auf die Matte kroch, darauf hoffen musste, am nächsten Tag mehr Glück zu haben. Oma wollte jedoch planen, weil eine sinnvolle Zeitstruktur Raum für andere Vergnügen ließ. Wenn man zum Beispiel das Mittagessen gut vorbereitete, konnte man auch raus in den Garten, wo sich alles langsam im Zwielicht in eine Matschlandschaft verwandelte. Was mit den neuen Sachen noch mehr Spaß machte! Rücksichtsvoll half Nemo dabei, für Nadia aus Plastiktüten mit Schnürsenkeln ebenfalls etwas zu schneidern. Ihr machte die Kälte an den bloßen Füßen nichts aus. "Plastikschuhe" taugten nichts! Ludwig lud sich erneut ein. Er roch definitiv nach nassem Hundefell, hatte jedoch Spaß, mit ihnen herumzutollen. Und danach steuerte Oma noch einen etwas luftarmen Ball bei! Nadia kugelte zwar mehrfach damit um, was sie jedoch nicht bremste. So kam es, dass zwei kleine Schlammmonster auf der Veranda freigelegt werden mussten, während aus der Nachbarschaft lautstark Protest ob des nassen Bernhardiners herüberschallte. @~-~@ Umea teilte vergnügt das Mittagessen aus. Danach wären zwei "müde Krieger", wie Eva Maria es nannte, in die Hängematten zu verfrachten. Früher hätte er sich wohl entschuldigt, doch jetzt verspürte er diesen Drang nicht mehr. Kinder durften sich auch mal ohne primäre Erwägung des Nutzens austoben. Außerdem konnte er kaum den Stab über sie brechen, wenn er selbst spät zum Frühstück herabgestiegen war, wohlig erfüllt von Zuneigung und körperlicher Erholung. Hadrian lächelte ihn fortgesetzt an, was man auf der anderen Seite als ein wenig frivol angesehen hätte. Ohne, dass es Umea bewusst geworden wäre, weil man ja grundsätzlich akzeptierte... Stopp! Bremste er sich selbst energisch. Heute war Sonntag, Familientag, Menschen-Tag! Er teilte für Nadia die Nudelblätter in kürzere Abschnitte, die sie aus ihrem Tassenunterteller fischen konnte, schmunzelte über die prall gefüllten Bäckchen. Nach dem Abdecken und Spülen, wenn Hadrian die Buchhaltung abgeschlossen hatte, stand Pärchenzeit an: auf dem kleinen Sofa kuscheln, ein bisschen plaudern, die neue Woche planen, dösen... Er zwinkerte zu Hadrian hinüber, der Nemo aus der großen Kanne Tee nachschenkte. Es war wirklich gerade so schön, wie er es sich nicht zu hoffen gewagt hatte! @~-~@ Nemo hängte sich den Tretroller am Transportband um. Sein Rucksack war gut gefüllt, die Gummistiefel übergestreift. Eva Maria, ebenfalls in Gummistiefeln und mit Schirm, stapfte hinter ihm über das Nachbargrundstück. Entdeckung fürchtete sie nicht. Es regnete die sprichwörtlichen Katzen und Hunde. Außerdem war es sehr kalt und stockfinster in der Frühe. Das Badehandtuch als Kälteschutz abstreifend schlüpfte Nemo mit einem Fuß auf die andere Seite des Portals. Ein Winken, dann stand auch Stiefel zwei verwaist vor einer alten Scheunenwand. Eva Maria sammelte die bunten Stiefel ein, nickte Ludwig zu. "Tja, die Schule ruft, Ludwig. Sieh mal zu, dass du auch zu deinem Frühstück kommst." Sie selbst würde sich eine zweite Tasse Tee gönnen, für Nadia den Marienkäferrucksack bestücken. Und Umea erneut eine ihrer großen Umhängetaschen andienen. Schließlich konnte man ja nie wissen, was einem so am Tag begegnete! @~-~@ Hadrian nahm die Lieferungen entgegen. Zu allem Feiertagen, wenn es um ältere Zeitgenossen ging, wurden "Geschenkpackungen" nachgefragt, überteuerte, vorverpackte Sortimentzusammenstellungen: Düfte, Stärkungsmittel, Kosmetika. Natürlich konnte man es auch einfacher haben, und ja, sie waren eine Apotheke, keine Drogerie. Nur eben im Umkreis, wollte man nicht ins Einkaufszentrum, auch DER Anlaufpunkt! Zum Ausgleich orderte er auch Teemischungen, ein Halsbonbon-Sortiment und Gewürz-Kalender. Bedauerlicherweise konnte er in diesem Jahr nicht mehr die Saatmischungs-Päckchen bekommen, zwölf Monate, zwölf kleine Tütchen mit Samen. DAS fand er eine nette Überraschung für die, die sowieso schon alles hatten! Ah, hier auch noch die Kerzen, im Paket für den Reformhausbedarf! "Das riecht aber kräftig, Vati." Stellte über ihm hoch in der Regalwand eine helle Stimme fest. Beinahe wären Hadrian vor Überraschung die Kerzenstumpen samt Karton aus den Händen geglitten. "Nadia? Seid ihr schon zurück?! Oh, Herzchen, das ist eine Bademischung, da ist der Kunststoffverschluss zerbrochen. Ich muss da noch aufwischen." Was den aufdringlichen Geruch von Moschus und Patchouli erklärte, der einem die Tränen in die Augen treiben konnte. Nadia dirigierte im Regal Kartons in Reih und Glied. "So ist mehr Platz." Stellte sie fest, die Hände in die Hüften gestützt. Hadrian schwante Ungemach. "Nadia, ist nicht nötig, dass du hier arbeitest. Wo ist denn Umea?" Hadrian griff nach oben, ließ Nadia an seinem Arm auf seine Schulter steigen. "Also, Vati, ich glaube, Papa braucht ein bisschen Abstand. Er ist ziemlich, sehr, wie hat Oma das gestern erklärt? Ja, richtig, in Turbulenzen!" Hadrian hatte sich zwischenzeitlich daran gewöhnt, dass die Kinder "Sprachbilder" kreativ adaptierten. Verständlich, woher sollten sie auch so viele menschliche Metaphern kennen?! Zudem hatten Snoopys Rundflüge auf der Hundehütte einen verderblichen Einfluss auf den kleinen Lockenschopf seiner Tochter! "Turbulenzen. Oha." Stellte Hadrian deshalb fest, den BEMÜHT neutralen Gesichtsausdruck studierend. Nadia setzte sich auf den Arbeitstresen. "Ich könnte für dich aufpassen, Vati." Bot sie ernsthaft an, das Lager/Labor zu bewachen, damit er die Füße in die Hand nahm, nach Umea sah! "Oh, oh, gut, danke, Liebes! Wenn Oma fragt, sag ihr, dass ich oben bin, ja, bitte?" Nadia nickte entschieden, umklammerte, bereits wieder stehend, den Bleistift, entschlossen, für ihn die Listen abzuhaken. "Lass nur, ich mach das später!" Wollte Hadrian bremsen. Der Lockenschopf flog energisch. "Ich kann das, Vati! Ich pass genau auf, dass die Buchstaben stimmen!" Ihr grimmiger Adlerblick nahm die erste Schachtel in den Fokus. Lesen war nicht schwierig! Man musste nur genau hingucken, und DAS konnte sie, jawohl! Hadrian gab den ungleichen Kampf auf, streichelte kurz mit der Fingerkuppe über den Lockenwust, spurtete durch die Wohnküche zur Stiege hoch, folgte einem gezischten Murmeln. Im Schlafzimmer fand er Umea, zitternd, die Jägermeister dezimierend, sich gleichzeitig die Bandnudelhaare heruntersäbelnd! "He, mein Prinz, was...!" Dumm, dumm, dumm! Man sollte sich nicht heranschmeißen, wenn das Objekt der Besorgnis mit einer Muschelklinge operierte! Den kleinen Schnitt am Handballen ableckend musste Hadrian die Schadensbegrenzung auch noch ausweiten. "Uh, entschuldige, he, ist nicht so schlimm, ja?" Umea heulte, knirschte mit den scharfen Zähnen, bebte mit dem gesamten Leib. Zum ersten Mal aber, wie Hadrian beeindruckt konstatierte, vor Zorn, der sich nach dem Schreck in Schuldgefühl wandelte. Zumindest zu einem gewissen Anteil. "Hadrian, es tut mir leid! Ich wollte dich nicht verletzen!" "SchSch, nicht schlimm." Beschwichtigte Hadrian, vollendete endlich die Umarmung, stellte das wortwörtliche Wundenlecken ein. "Umea, was ist denn los? Was ist passiert?" Ihn umklammernd knirschte Umea erneut mit den Zähnen, zerhackte förmlich den Abzählreim, gespannt wie eine Bogensehne. "Ich~ich bin-wütend! WÜTEND! So ein Koller! Ja, ein Koller! Oh, ich kann einfach nicht~kann mich nicht beruhigen!" Tobte und fauchte Umea aufgebracht an seiner Halsbeuge, grub ihm die Fingerkuppen ins Fleisch. "Ach herrje." Kommentierte Hadrian, verstärkte die Umarmung. "Mund zu, Zunge rein!" Warnte er vor, begann zu hopsen, auf der Stelle. In seiner Umarmung musste Umea mittun. Der Boden unter ihnen schwang leicht, aber Hadrian vertraute der Statik. Sonst gäbe es eine Abkürzung in die Wohnküche. Einige lange Augenblicke grimmigen Springens später registrierte er, dass sich Umea leicht entspannte. "So, mein Märchenprinz, verrätst du mir, was dich so aus der Fassung gebracht hat?" Dazu, sich wild und unkoordiniert die Bandnudelhaare abzuschneiden! Umea funkelte ihn aus Tränen polierten, grünen Augen an, musste sich sammeln, um die Worte zu finden, seine Emotionen im Zaum zu halten. "Wir waren im See, bei meiner Mutter. Sie fragte nach Nadias Mutter. Ich sagte ihr~SAGTE ihr, dass es KEINE Mutter gibt, sondern dich!" Hadrian registrierte die dunklen Flecken in Umeas Gesicht. "Natürlich tat mir sofort mein Kopf weh! Aber sie hörte gar nicht hin! Weil Nadias MUTTER nicht hier sei, wolle sie Nadia bei sich behalten! Eine Jägerin müsse bei einer Jägerin bleiben!" Umea fauchte, während Hadrian der Atem stockte. "Ich will das nicht! Nadia soll nicht drüben bleiben! Sie ist MEINE Tochter, meine halbe Menschen-Tochter! Keine Jägerin!" Tränen perlten über sein wütendes Gesicht. "Sie haben nicht verstanden! Menschen, Stadt, all das, mein Kopf tat so weh! Mir wurde richtig übel, ich musste auftauchen, doch sie gaben nicht auf, meine Mutter, meine Schwester, die Cousinen! Wir bekamen Streit." Umea schnaubte verächtlich. "Nun, UNSERE Variante davon. Sie verstanden nicht und reagierten befremdet. Ich wollte wütend sein, aber mir ging es fürchterlich schlecht. Je mehr ich mich anstrengte, desto schlimmer wurde es in meinem Kopf! Ganz schwindlig und beängstigend." Hadrian umklammerte Umea betroffen, der sich straffte, ihm einen funkelnden Blick zuwarf. "Nadia hat mich gerettet. Sie hat Bilder geschickt. Aus der Luft. Vom Nussbaum. Wir sind nicht schwindelfrei." Grimmig reckte Umea das Kinn. "Sie hat meinen Zopf gezogen, während alle sich ans Ufer schleppten. 'Wir gehen heim, Papa.' Das hat sie gesagt. 'Heim zu Vati.'" Klare Tränen glitten aus seinen wimpernlosen Augen. Er ballte die eleganten Hände auf Hadrians Rücken zu Fäusten. "Meine Tochter ist keine Jägerin, sie ist viel mehr. Sie entscheidet, wer sie sein möchte! Ich BIN ES LEID! Die Kopfschmerzen, diese Verbote, diese Regeln! Ich will nicht mehr so sein!" @~-~@ Hadrian klingelten dezent die Ohren. Umea schnaubte, schnüffelte, zitterte, beherrscht von mächtigen, allzu lange unterdrückten Gefühlen. "In Ordnung. Ich bin absolut auf deiner Seite." Brummte Hadrian schließlich, keuchte, weil er unerwartet heftig umarmt wurde, in dem mageren Körper so viel Kraft nicht vermutet hatte. Umea konnte also wirklich einen richtigen Koller austoben! Sieh mal an! Er erwiderte die Umklammerung, wiegte sich leicht. "Cleveres Mädchen, unsere Kleine. Übrigens hakt sie gerade im Lager unten meine Lieferliste ab. Ich habe den Verdacht, dass wir uns bei ihr keine Gedanken machen müssen. Wie meine Mama hat sie ihren eigenen Kopf fest auf den Schultern." Eine gewissermaßen alberne Feststellung angesichts biologischer Gegebenheiten. Historisch betrachtet nicht nur seit der Guillotine jedoch mit übertragen wesentlichem Gehalt und kombiniert mit einer Betonung der Individualität. Umea schniefte, löste sich widerstrebend von ihm. "Es tut mir wirklich leicht, dass ich dich verletzt habe. Ich war so eingesponnen in meine Wut." Ihn schauderte. Hadrian lächelte, präsentierte seine Hand. "Halb so wild, Umea, siehst du? Ich wäre bestimmt auch fuchsteufelswild gewesen, aber hallo!" Er beugte sich vor, küsste Umea, strich über die nassen Wangen. "Gut, streichen wir vorläufig diese Ausflüge an den großen See. Magst du mir vielleicht unten ein wenig helfen? Im Austausch helfe ich dir beim Mittagessen machen." Handelte er mit spitzbübischem Grinsen. Umea nickte, zog die Schultern hoch. "Oh, ich sollte zuerst auffegen." Er blickte auf seine Füße, wo sie im Kreis von Bandnudelhaaren, weißblond, mit grünem Schimmer, standen. Einen Kuss auf Umeas Stirn platzierend lächelte Hadrian. "Wie wäre es, wenn ich mich als Friseur betätige? Gibst du dich in meine großen Pranken?" Umea schlang ihm die Arme um den Nacken. "Ich mag deine Hände sehr, Hadrian. Bitte hilf mir." Hadrian seufzte unwillkürlich hingerissen. Klare Sache, wahrscheinlich hatte Umea IHN schon gewonnen, als er aus dem Nussbaum um Beistand gebeten hatte! @~-~@ Umea hielt die Augen artig geschlossen. Dank Waschlappeneinsatz verklebten sich die Lider nicht. Überhaupt fühlte er sich nach dem "Rappel", wie Hadrian es auch genannt hatte, erleichtert und befreit. Hadrians warmer Atem umwehte ihn wie eine laue Brise. Das tat unfassbar gut, geliebt zu werden trotz all der Umstände! Verstanden zu werden, Verzeihung zu erfahren, obwohl er gerade noch...! Nur ein luftdurchlässiges Pflaster verbarg seine Schandtat. "Um keine Ferkelei zu machen", wie Hadrian ihm beschwichtigend erklärt hatte. Nicht, weil es weh tat, geblutet hatte. Schon beschämend, dabei lernten selbst die Jüngsten, dass man nicht mit Klingen herumlief! Aber er war so außer sich gewesen, so enttäuscht und wild vor Schmerz und Angst. Wenn Nadia nicht gekommen wäre! Umea presste die Lippen aufeinander. Es tat weh, ja, das konnte er nicht leugnen, dass sie einfach nicht verstanden, sich einigelten in ihrer Furcht, zu Gefangenen und Geiseln wurden, OBWOHL nie eine Strafe eingetreten war! Was es ihm erschwerte, auf der anderen Seite wenigstens ein Einkommen zu erzielen, ihre Überlegungen erneut auf den Startpunkt zurückversetzte. Um einige Narben reicher, allerdings mit ZWEI außergewöhnlichen Kindern. "Fertig." Raunte Hadrian sanft, riss ihn aus unerfreulichen Gedankenuntiefen, die er drüben nicht mal erreichen konnte! An den knochigen Schultern gedreht visierte Umea den Spiegel im Badezimmer an. Seine Bandnudelhaare rahmten kurz gestuft sein ovales Gesicht ein. Ohne das Gewicht, das sie bis auf Höhe seiner Kniekehlen gezogen hatte, wippten sie, sich kräuselnd, beschwingt um seinen Kopf. Umea rollte die Schultern. Leichter, ja, er fühlte sich viel, viel leichter! Ohne Zopf, ohne die ständige Beschämung, sich nicht ordentlich frisieren zu können, ohne den Makel seiner großfleckigen Haut! Ihm wärmend schloss Hadrian die muskulösen Arme um seinen entblößten Oberkörper. "Sexy und wunderschön." Wisperte er. Die schwarzen Augen tanzten vor Begeisterung. Umea lächelte, begann zu lachen. Diesen Mann, den er im Spiegel erblickte, mit DEM konnte er sich endlich identifizieren! @~-~@ Kapitel 26 Nemo staunte nicht schlecht, als er nach einer Kuschel- und Krauleinheit mit Ludwig am späten Nachmittag die Wohnküche betrat. Sein Papa trug die Haare kurz! So etwas hatte er vorher noch nie gesehen bei einem vom großen See! Nadia, die sich von Snoopy und Woodstock temporär trennte, informierte ihn kurz über die bildlichen Eindrücke, die sofort nach dem Wechsel auf diese Seite auf ihn eingeströmt waren. "Wir hatten ein bisschen Knies, wie Oma sagt, mit Großmutter und den Tanten. Morgen geh ich mit dir in die Schule." Umea schloss ihn in die Arme. "War dein Tag schön, Nemo?" Verwirrt durch ganz unterschiedliche Bilder und Emotionen blickte Nemo hoch zu seinem geliebten Papa. "Ganz prima, Papa. Geht es dir gut? Hast du Schmerzen?" Allzu deutlich erinnerte er sich an den Zusammenbruch auf dem Weg zur Stadt. Er wurde fester gedrückt, das Bild übermittelte sich ungewollt auch an seinen Papa und Nadia. "Es geht mir gut, Nemo, wirklich. Nadia hat mir geholfen, so wie du es immer tust. Mach dir keine Sorgen." Leichter gesagt als getan, aber Nemo registrierte auch die beschwingte Stimmung. Also stimmte es wohl wirklich! Er warf einen Blick zu seiner kleinen Schwester. Ein Knopfauge zwinkerte selbstbewusst. Nadia ließ sich von gar nichts leicht beeindrucken. Außerdem hatte sie es geschafft, Omas Zwille in ihrer Größe nachzubauen. @~-~@ Eva Maria warf einen Blick ins Hinterzimmer/Lager/Labor. Umea räumte ein, sortierte, kümmerte sich um den Teenachschub, das Mittagessen. Er wirkte weniger gehetzt und in sich gekehrt als früher, trug stolz die neue Latzhose unter einem der ihm zu großen Wollpullover ihres Sohnes. Er war eine wertvolle Hilfe. In der Apotheke herrschte Hochbetrieb, selbst zu zweit kam man ordentlich ins Schwitzen. "Er ist so ein lieber Kerl. Ich hoffe, seine Leute sortieren sich mal." Ließ sie Hadrian wissen, der die Registrierkasse um weitere Artikel fütterte. Der blickte kurz auf, grinste frech. "Umea entdeckt gerade Temperament und Kampfgeist. Irgendwie werden wir diese Verneblungs-Taktik auch noch knacken!" Eva Maria nickte. Vor allem, wenn die Kinder bei Umea waren, musste man sich keine Sorgen machen. Sie würden ihrem geliebten Papa beistehen, komme, was wolle. Außerdem hatte sie beobachtet, wie scharf Nadia mit Trockenerbsen auf ihrer selbstgebauten Zwille schießen konnte. @~-~@ Das Abendessen war just beendet, man hatte das Spülen und Abtrocknen des Geschirrs abgeschlossen. Umea nahm Nemo an die eine Seite und Nadia auf den Schoß. Hadrians Aufgabe bestand darin, das große Buch auszubalancieren, Nemos Erlebnisse zu dolmetschen. In diesem Augenblick klopfte es unvermutet an die Verandatür. Auf der anderen Seite der gläsernen Front stand ein schlanker Mann in einem Kutschiermantel, mit vornehmem Hut und einem Spazierstock. Nemo platzte erschrocken und schuldbewusst heraus. "Isidor von Spangenburg!" @~-~@ Isidor von Spangenburg schüttelte elegant den Mantel ab, nachdem er sich höflich verneigt, den Hut gelüftet hatte. "Sie erlauben, dass ich nähertrete? Wie schon der junge Mann proklamierte: Isidor von Spangenburg. Ich habe das Vergnügen mit Eva Maria, Nadia, Umea und Hadrian. Ist es nicht so, Nemo?" Mit den eisigsten Blauaugen, die man sich vorstellen konnte, visierte Isidor den Jungen an. Quasi ein Halbling. Was es gar nicht geben sollte. Aber Theorie zeichnete sich damit aus, dass sie von der Praxis in den Senkel gestellt wurde. Ein begeistert-besorgtes Gesicht blickte ihn an. "Ich möchte Sie nicht lange inkommodieren, meine Damen, meine Herren. Mir schien es nur höchst angezeigt, eine Angelegenheit zu klären." Auf eine Geste der Dame des Hauses reagierend ließ sich Isidor mit einem höflichen Nicken auf einem Hocker nieder. Das gefiel seinem linken Bein recht gut, das eine Aversion gegen längere Märsche bei schlechtem Wetter hatte. Den altmodischen Gehstock anlehnend fuhr Isidor geübt fort. "Junger Mann, ich schätze deine Anwesenheit in meinem Unterricht durchaus, nachgerade ein Lichtblick, möchte ich sagen. Allerdings würde ich es entschieden vorziehen, wenn du offiziell Platz nimmst." Isidor schnaubte, funkelte über Hakennase. "Der Präsident unserer Bildungsanstalt ist recht pingelig, was Formalien anbetrifft." Drei Häupter wandten sich dem Jungen zu, der schuldbewusst die Schultern lupfte. "Entschuldigung, Herr von Spangenburg. Ich war mir nicht sicher, ob ich angenommen werde." "Ah, bah!" Demonstrierte Isidor von Spangenburg seinen Ruf als unangenehmer Plauder-Partner. "Kein Hindernis, junger Mann. Ich erwarte große Dinge von dir, lass dir das versichert sein." Er schlüpfte vom Barhocker, stützte sich auf den Gehstock. "Deshalb auch meine Aufwartung. Meine Herren Eltern, Ihr Sohn hat Potential. Das Institut, an dem ich meiner Aufgabe nachkomme, ist das, zumindest in dieser Hinsicht, renommierteste, nicht nur in der Metropole, sondern grundsätzlich. Ich setzte Hoffnungen in Nemo, sich anschließend auch als Instrukteur zu bewähren! Einzigartige Qualifikation, dazu Verstand und eine fixe Auffassungsgabe! Sehr rar gesät, vertrauen Sie meinem Urteil, ich habe Jahrhunderte Erfahrung." Isidor zog mit der freien Hand aus der Innentasche seines maßgeschneiderten Jacketts einen gefalteten Papierbogen. "Das Anmeldeformular. Besprechen Sie die Angelegenheit." Damit reichte er den Bogen an die Dame des Hauses weiter, die ihn konzentriert studiert hatte. "Und ich?" Verlangte eine helle Stimme energisch zu erfahren. @~-~@ Nemo hielt unwillkürlich die Luft an. Nadia stand auf dem niedrigen Tisch vor dem Sofa, die Hände in die Hüften gestützt. "Ich will auch in diese Schule gehen. Wo ist das Formular für mich?" Erkundigte sie sich in strengem Tonfall. Isidor von Spangenburg, berühmtester Instrukteur und sehr gefürchtet bei allen, richtete die blauen Augen auf sie, zog die Augenbrauen zusammen. "Ich wäre nicht per se abgeneigt, aber ich kann es nicht gutheißen, wenn in MEINEM Unterricht Purzelbäume geschlagen werden. Oder gegessen wird." Der frostige Tonfall hätte jeden in Schockstarre versetzt. Nemo registrierte den Impuls seines geliebten Papas, sich tapfer für Nadia in die Bresche zu werfen. "Der Unterricht ist kein Problem, sondern die Stühle. Sie sind unbequem." Stellte Nadia unbeeindruckt fest, ging zum Angriff über. "Das ist der Zweck, junges Fräulein. Sind sie unbequem, sorgen sie für eine alerte Körperhaltung." Konterte Isidor von Spangenburg mit einer diabolischen Befriedigung. "Sie sorgen dafür, dass man an seinen Popo denkt." Gab Nadia grimmig zurück. "Außerdem esse ich nur, wenn ich Hunger habe. Meine Ohren funktionieren trotzdem." Man schnappte nach Luft. Isidor von Spangenburg bleckte die Zähne. "ICH kann auch nicht während des Unterrichts essen." Wies er streng auf eine Gleichbehandlung hin, während in den Blauaugen das Vergnügen über den Schlagabtausch funkelte. "Wenn du~Sie nicht dauernd reden würden, ginge das auch. Überhaupt, ich will auch lernen! Ich bin NICHT zu klein!" Proklamierte Nadia entschlossen. "Du kannst aber nicht mitschreiben, Fräulein, wenn ich mich entsinne. Fingerfarben dulde ich nicht, das ist eine Schweinerei." Zur Unterstreichung stampfte Isidor von Spangenburg mit seinem Gehstock kurz auf. Nemo spürte, wie es in seiner Schwester arbeitete. Ja, sie konnte kaum einen Stift halten, der Größe geschuldet. "Gegen eine Schreibfeder und Tinte hätte ich keine Einwände." Half zu Nemos Überraschung der berühmte Instrukteur aus. Nadia ballte die Fäuste, reckte das Kinn. "Eine Schreibfeder? Einen Federkiel? Ich kenne ein paar Vögel." Fing sie fremde Bilder auf, konzentriert, entschieden. "Möglicherweise könnte ich zu einem Kompromiss bereit sein, obwohl ich mich durchaus wundere, warum du darauf bestehst." Bevor Isidor von Spangenburg mit einer gewissen Süffisanz seinen Satz vollenden konnte, preschte Nadia vor. "Ich will alles lernen, damit ich auch fliegen kann!" "Fliegen?" Der exotische Ex-Mensch mit der dunklen Hautfarbe äugte streng über die Hakennase. "Erstaunlicherweise registriere ich bei dir weder Flügel noch Schwingen." Was Nemos kleiner Schwester keineswegs den Schwung raubte. "Ingban HAT Flügel und kann auch nicht fliegen. Snoopy hat keine Flügel und kann sich das Fliegen in einer Maschine vorstellen. Sein bester Freund Woodstock ist ein Vogel. Ich kenne jede Menge Vögel! Und ich bin schlau, also kann ich auch Fliegen lernen. Menschen fliegen hier in Maschinen. Ich muss nur herausfinden, wie man es auf der anderen Seite anstellt." Verkündete sie entschieden und aufgeräumt, streckte eine Hand aus. "Jetzt hätte ich gern das zweite Formular. Das in der anderen Tasche der Jacke." @~-~@ Isidor von Spangenburg ab sich höchst ungern geschlagen. In diesem Fall allerdings... Der kupferrote Lockenschopf hier forderte ihn furchtlos heraus. Die kleine Person verfügte über Verstand und eine gemeingefährliche Entschlossenheit, fürchtete sich nicht vor Autoritäten. Hach, das würde ein Spaß! Wenn er sich schon den dicken Präsidenten ihrer "Bildungsanstalt" vorstellte! Anerkennend fischte er aus der ANDEREN Innentasche seines Jacketts das zweite Dokument, warf einen Blick in die Runde, wo die Erwachsenen noch immer entgeistert starrten. Nemo lächelte ihn erleichtert und dankbar an. Isidor von Spangenburg zwinkerte, setzte seinen Hut auf, warf sich den Kutschiermantel über die Schultern. "Meine Dame, meine Herren, Nadia, ich wünsche noch einen angenehmen Abend und nehme meinen Abschied. Nemo, begleite mich doch bis zum Portal." @~-~@ Hadrian federte, nach einem Seitenblick auf Umea, eilig hoch. "Ah, Herr von Spangenburg, ich komme auch rasch mit." Flugs schlüpfte er in seine Gummistiefel, fischte den Regenschirm heran. Nemo warf ihm einen verlegen-flehentlichen Blick zu. "Verzeihen Sie die Nachfrage, was kostet der Schulbesuch?" Hadrian spannte den Schirm auf, versuchte, drei Personen vor der Taufe zu bewahren. Der exotische Mann widmete ihm einen kurzen Seitenblick, darauf konzentriert, nicht im aufgeweichten Boden einzusinken. "Die Schulbesuche sind kostenfrei, junger Mann. Hin und wieder verlangen Exkursionen einen kleinen Eigenanteil." Hadrian sammelte seine Gedanken. "Die Schule ist in der Stadt? Ich meine nur, sehen Sie, Umea kann nicht durchs Portal. Wenn beide Kinder auf der anderen Seite sind, steckt Umea hier fest." Isidor von Spangenburg blieb am Gartenzaun stehen, wandte sich ihm zu, eine beeindruckende Persönlichkeit. "Die Schule befindet sich in der Metropole." Korrigierte er, warf einen tadelnden Blick auf Nemo. "Mir will scheinen, hier sind noch weitere Gespräche angezeigt." Für Hadrian überraschend wechselte der Tonfall von süffisant-distanziert zu direkt-werbend. "Ich möchte, dass Sie alle über etwas nachdenken, das über die Schulausbildung hinausgeht. Wir benötigen immer Expertise darin, die Menschenwelt und Menschen zu verstehen, dieses Verständnis weiterzuvermitteln. DAS ist meine vornehmste Aufgabe, Instrukteur zu sein. Ich sehe enormes Potential in dir, Nemo. Du könntest Instrukteur werden." Nemo zögerte, wirkte besorgt. "Sie sind der berühmteste Instrukteur, Herr von Spangenburg!" Die freie Hand wuschelte unerwartet freundschaftlich über Nemos Lockenschopf. "Nemo, mein hoffentlich in Zukunft Kollege, auch für mich bleibt die Zeit nicht stehen, glücklicherweise. Ich denke, es würde dir gefallen, Instrukteur zu sein. Es ist nicht nötig, sich jetzt festzulegen, keine Sorge. Mich würde es freuen, das sollst du wissen." Hadrian registrierte verblüfft die Verwandlung. Die strengen Züge milderten sich, verliehen dem einschüchternden Mann etwas Verschmitztes, Charmantes. Isidor von Spangenburg adressierte ihn, mit einer gewissen Distanz. "Ich kann mir vorstellen, dass Sie in Sorge sind, junger Mann. Leben in der Menschenwelt ist selbst als Mensch häufig eine heikle Angelegenheit." Ein ironisches Lächeln huschte über die prägnanten Züge. "Ich bin auch Willens, mich für Ihre Tochter zu verwenden. In dieser Welt hier ist ein Versteckspiel unabdingbar. Was die Frage des Portals betrifft..." sidor von Spangenburg schnaubte, funkelte Hadrian aus Blauaugen in dessen schwarze. "Es ist enorm schwer, die Verbindung zu DIESER Welt aufzulösen. Finden Sie diese Verbindung, verstärken Sie sie. Man sagte einst, die Wege des Herrn sind unergründlich. Das ist GAR NICHTS gegen den HERRN auf der anderen Seite." Isidor von Spangenburg grummelte. "Und DER hat auch noch Humor." Ergänzte er grimmig, verneigte sich förmlich. "Mein Herr, Nemo, ich habe nun die Ehre. Bedenken Sie meine Worte, entscheiden Sie weise." Damit tippte er sich mit dem Gehstock an die Krempe seines Huts, überquerte die Wiese und verschwand durch die Scheunenwand. @~-~@ Nemo fasste schüchtern nach der großen Hand seines Vatis. Jetzt hieß es wohl, Abbitte zu leisten, weil seine menschliche Hälfte die andere rigoros überstimmt hatte. "Es tut mir leid, Vati. Ich wollte es nur ein Weilchen noch überlegen, weil ich bei den anderen Schulen ziemlich dumm dagestanden hab." Er drückte hoffnungsvoll die Hand. Hadrian entzog sie ihm, hob ihn auf den Arm. "Na schön, Nemo, jetzt mal von vorne. Was heißt das, diese Schule ist in der Metropole?" Die schwarzen Augen ließen keine Ausflüchte zu, also entschied Nemo, die Heimlichkeiten zu gestehen. "Ich war schon in der Collectio in der Stadt. Dort konnte man herausfinden, welche Schule geeignet ist. Leider waren meine Ergebnisse fürchterlich schlecht. Erst dachte ich, ich könnte in der Collectio lernen, bis ich so weit wie die anderen Kinder bin, aber dann habe ich mich an Papas Erzählung erinnert, wie er damals bei einer Schulklasse mitgelaufen ist." Nemo straffte sein Rückgrat. "Herr von Spangenburg ist berühmt, weißt du, Vati? Der Beste, wenn man wissen muss, wie man sich auf der Menschenseite verhält. Aber die Schule, an der er unterrichtet, ist weit weg." Nervös leckte er sich die Lippen, fand seinen Hals plötzlich staubtrocken. "Ich habe einen Freund. Der hat mir ein Geheimnis verraten. Wie man das Portal auch nutzen kann." Schuldbewusst senkte er den Blick. "Ich hab das ausprobiert und Nadia mitgenommen." @~-~@ Hadrian studierte die beschämte Mimik seines Sohnes, dessen Moral-Kompass ganz offenkundig funktionierte, bloß nicht ständig reingrätschte, wenn es um die anschließende Entscheidungsfindung ging. "Du kannst also von hier durch das Portal an andere Orte drüben kommen?" Hasardierte er eine Schlussfolgerung. Nemo nickte kleinlaut. "Mit einer Karte und Konzentration. Ich wollte wirklich bloß mal gucken, Vati! Aber wir sind so in den Strudel reingeraten. Niemanden hat es gestört, dass wir uns an einen freien Platz gesetzt haben." Hadrian balancierte Nemo auf seinem Arm aus. "Du möchtest gern auf diese Schule gehen, hm?" Ein klägliches Nicken. "Na schön, ich seh kein Problem, wenn du uns erzählst, was los ist und wo du bist." Schränkte er streng ein. "Und, Nemo, ich weiß, dass du weißt, dass deine kleine Schwester kein Spielzeug ist. Wenn sie den Unterricht stört, weil sie essen muss, um zu wachsen, müssen wir eine andere Lösung finden." Der mildeste Tadel, den Hadrian formulieren konnte. Zudem war es gewöhnungsbedürftig, dieses kaum geschlüpfte Kind schon in der Schule zu sehen! Eingestanden, Menschenstandards hatten hier nichts zu melden, doch trotzdem... "Entschuldigung." Murmelte Nemo, schlang ihm die Arme um den Hals. "Ich dachte bloß... Weißt du, Vati, ich dachte mir, es würde ihr gefallen. Im See wäre sie allein. Allein anders." Hadrian streichelte bestürzt über den schmalen Rücken. Also HATTE Nemo durchaus sein Anderssein als isolierend empfunden. Es nicht zugelassen, nicht zulassen können, um seinen geliebten Papa zu beschützen! Wollte jetzt, allzu verantwortungsbewusst und reif, seine kleine Schwester davor bewahren, dieselben Gefühle zu durchlaufen. "So ist das also, Nemo, verstehe. Das lässt uns als Eltern ganz schön alt aussehen, ich meine damit, ziemlich ungeschickt. Hör mal, Junior, gib uns eine Chance, uns zu verbessern. Ich bin froh, dass du mir das erklärt hast. Jetzt können wir gemeinsam nachdenken." Sanft kraulte er durch die schwarzen Locken seines Sohnes, dirigierte Nemos Nasenspitze zu seiner eigenen. "Traust du uns das zu, hm? Dass wir gemeinsam eine Lösung ausknobeln?" Nemo nickte, blinzelte Tränen weg. "Schön, wir gehen das an. Das schaffen wir bestimmt, hm?" Hadrian appellierte an den Optimismus seines sonst so unerschrockenen Sohnes. "Prima. Jetzt kannst du mir auch noch den Rest erzählen, richtig? Ich bin nicht böse auf dich, Nemo. Hab keine Angst, ja?" Irgendwas beschäftigte seinen Filius noch immer, der ihm einen kläglichen Blick zuwarf. "Papa wird enttäuscht sein." Hörte Hadrian sehr leise und piepsig. "Wegen der Schule? Das erklären wir einfach." Warf Hadrian sein Pfund in die Waagschale. Nemo schüttelte langsam den Kopf. "Ich hab was angestellt." @~-~@ Nemo räusperte sich, dachte daran, dass das Bild mit dem Frosch nicht ganz passte. Er fühlte sich eher wie mit dem Strick. Ja, abgeschnürt! Aber es half ja alles nichts! Die Wahrheit musste heraus. So in den starken, warmen Armen, schien es gar nicht so fürchterlich, aber auch längst nicht mehr wie eine gute Idee. Er leckte sich die Lippen, hob das Kinn, spannte sich an. Man durfte nicht vor Angst die Übersicht verlieren, auch wenn Papa ärgerlich sein musste. "Weißt du, Vati, in der Stadt, da waren wir bei Ingban. Der arbeitet für einen Kurierdienst. Normalerweise transportieren die Sendungen durch die Luft." In den schwarzen Augen seines Vatis blitzte plötzlich Erkenntnis. Tapfer nickte Nemo die Vermutungen ab. "Das sind die Vögel, die wir kennen. Keine Vögel wie hier, Vati, sondern Leute, die fliegen können, die Sendungen transportieren." Nemo spürte, wie ihm das Herz wild vor Anspannung klopfte, in seinen Ohren dröhnte. "Sie haben Nadia mal mitgenommen. Bei den größeren passt sie nämlich in die Transportholster. Natürlich mit Fallschirm, wirklich, Vati!" Seufzend ließ er angehaltene Luft ab. "Ich weiß, so hinterher, wenn ich darüber nachdenke, war das vielleicht keine gute Idee. Ich hab bloß daran gedacht, dass wir Spaß haben. Sie mögen Nadia alle. Die Harpyie hat sogar einen Rundflug mit ihr gemacht." Nemo wischte sich mit einem Handrücken entschieden über die Augen. "Es war MEINE Idee, es nicht zu erzählen. Nadia ist nur meiner Entscheidung gefolgt." @~-~@ Hadrian musste Nemo absetzen, weil ihm die Arme langsam schwer wurden. Um diese Geste nicht wie eine Kritik, eine Zurückweisung wirken zu lassen, ging er sofort vor seinem Sohn in die Hocke, umfasste die kleinen Hände. "Jetzt fällt bei mir der Groschen, ich meine, ich begreife es. Daher kamen also die Gedankenbilder, um Umea rauszuhauen, nicht wahr?" Leicht verwirrt ob der sprachlichen Unschärfen nickte Nemo kläglich, aber mutig, bereit, sich jeder Sanktion zu stellen. Hadrian lächelte aufmunternd in das merkliche blasse Jungengesicht. "Also, ich glaube nicht, dass es eine schlimme Sache war, wenn ich an Nadias Begeisterung für Klettertouren im Nussbaum denke. Nur hinsichtlich der Fallschirme, sind die gut? Erprobt? Absolut sicher?" Hakte er nach. Nemo nickte nachdrücklich. "Sehr sicher! Sonst gingen die Lieferungen ja kaputt, die man transportiert. Es ist immer jemand in der Nähe gewesen. Außerdem sind es mehrere Schirme gleichzeitig, falls einer mal versagt. Bei Wind hätten sie Nadia NIE mitgenommen." Hadrian drückte sanft die kleinen Hände. "Aha, das beruhigt mich. Ich verstehe, Nemo, dass du uns Sorgen ersparen wolltest. Allerdings gehört das zum Eltern-Job, weißt du? Ich mach mir immer Sorgen, frag mich, ob ich das Richtige tue oder zu wenig, mir die falschen Gedanken mache, nicht genug davon verstehe, was dir wichtig ist." Er suchte den Blick seines Sohnes. "Deshalb bitte ich dich auch darum, mit mir zu sprechen, mir zu sagen, was dich bewegt. Ich habe keinen 'Draht', mir entgehen viele Dinge. Aber du bist mir sehr wichtig, Nemo. Und Nadia auch. Hilf mir dabei, besser zu verstehen, ein guter Vati zu werden, ja?" Appellierte er ungeniert an die Hälfte seines Sohnes, die auf Konsens und gemeinschaftliche Harmonie geeicht war. Er wollte es unbedingt besser als sein eigener Vater machen. Mein lieber Jolly, DA musste er sich noch gewaltig mausern! Hätte er nicht sehen müssen, dass Nemo quasi die Elternrolle bei Nadia übernahm?! Ganz schöne Blamage! Nemo entzog ihm die Hände, schlang die dünnen Arme um seinen Nacken, schmiegte sich an ihn. "Ich werde nichts mehr verbergen, versprochen, Vati. Es tut mir leid. Ich hab nicht auf die Warnungen gehört." Hadrian umarmte Nemo beschützend. "Danke, mein Filius. Es ist in Ordnung, die eigenen Entscheidungen zu treffen. Die können nicht alle richtig sein, mathematische Grundregel. Oder anders: Irren ist menschlich. Ich bin stolz, dass du so mutig warst, mir alles zu erzählen." Er hob Nemo an, stemmte sich hoch. "Aber jetzt zieht es mir in den Frack! Ab mit uns nach drinnen, ja? Da trinken wir was Feines, essen ein paar Bananenkekse und stellen uns Umeas Urteil gemeinsam, in Ordnung?" Der Klammergriff um seinen Nacken verstärkte sich kurz. "Pscht, Nemo, ich weiß, wo die Bananen sind. Wenn Umea schimpft, geben wir ihm eine. Vielleicht schiebt er sie sich sogar quer in den Mund, wie der Minion, was meinst du?" An seinem Ohr ertönte ein leises Glucksen. Hadrian lächelte. Er zweifelte, trotz des neu entdeckten Temperaments, nicht an Umeas Nachsicht, auch ohne die bestechende Wirkung der reifen Bananen. @~-~@ Kapitel 27 Eva Maria füllte Tee nach, reichte Nadia noch vor Hitze knackende Kekse. Überreife Banane, Apfelmus, Cornflakes: die schnellste Variante aller Zeiten. Ihr Schwiegersohn, wenn man so wollte, saß stocksteif und wie vom Blitz getroffen auf dem Sofa. "Oma, kennst du dich mit Federn aus?" Nadia ließ außer einem hastigen Seitenblick nicht erkennen, was sie von ihrem Papa auffing. "Oh, zu meiner Zeit benutzte man noch Füller. Die basieren auf demselben Prinzip, allerdings hatten wir schon Patronen zum Einsetzen. Wir brauchten kein Tintenfass mehr." Sie lächelte aufmunternd in das konzentrierte Gesicht herunter. "Man braucht eine hohle Spitze, wie bei einem Federkiel. Damit stippt man in Farbe. Das reicht für ein paar Zeichen, dann muss man wieder stippen." Sie fischte einen Kugelschreiber heran, zerlegte ihn rasch. "In modernen Stiften, da, siehst du die Farbe hier in der Mine? Die läuft runter, durch die Schwerkraft und den leichten Unterdruck beim Aufsetzen der Spitze. Mit einer Hülle schmiert man sich auch nicht so die Finger ein." Ein begrüßenswerter Fortschritt, auch wenn sie durchaus über allzu viel Plastik nachdachte. "Es gibt auch Füller, da kann man die Tinte hinten reinsaugen, nur, leider, Liebchen, sind die alle recht groß." Somit noch ungeeignet für ihre Zwecke. Nadia kaute knuspernd einen weiteren Keks, schluckte. "Ich brauche eine Feder. Ich kenne Vögel, die könnten mir vielleicht eine geben." Auch wenn Eva Maria über keinen "Drahtanschluss" verfügte, ahnte sie gewisse Überlegungen. "Oh nein, Nadia, du wirst nicht auf Vögel mit Trockenerbsen schießen! Das ist unsportlich." Die schwarzen Knopfaugen funkelten. "Nicht mal, wenn es schietige Vögel sind? Die mich angreifen?" Eva Maria blickte streng, auch wenn sie erhebliche Mühe damit hatte. "Es ist auch unsportlich, für dumme, schietige Vögel in den Nussbaum zu klettern und sie anzuködern. Wir werden uns einfach mal umschauen, in Ordnung? Man findet immer mal wieder Vogelfedern. Außerdem haben wir noch keine Tinte, Liebes. Einen Tuschestein habe ich schon seit meinem Kunstunterricht nicht mehr." Nadia wirkte dezent geknickt, nippte an ihrer Espressotasse, die sie stemmen musste, mit beiden Armen. Wenigstens konnte sie sich kaum die Zunge verbrühen, da sich die Keramik erst nach einer gewissen Zeitspanne anfassen ließ. "Sei nicht bekümmert, Nadia. Wir überlegen gemeinsam. Ich schaue mal in die Kinderspielsachen. Früher gab es mal ganz kurze Faserstifte, die könnten ja auch gehen. Vielleicht gibt es auch beim Künstlerbedarf kleine Pinsel? Oh, warte mal, ich habe eine Idee!" Damit eilte Eva Maria aus der Wohnküche in die dunkle Apotheke. Puder, Pinsel, Wimperntuschen...aha! Eyeliner! @~-~@ Nadia blickte ihrer Oma erwartungsvoll nach. Sie konnte durchaus, von einer gewissen Warte hoch oben, nachvollziehen, dass Selbstverteidigung nicht vorgetäuscht werden sollte. Selbst WENN die schietigen Vögel dumm waren und nicht schnell lernten, sie in Ruhe zu lassen. Sie warf einen prüfenden Blick auf ihren Papa, dann auf die Veranda. Herr von Spangenburg war ein ernstzunehmender Gegner. Er schien viele Leute auch nicht mögen zu wollen. Was für Nadia eine ganz neue Erfahrung war. Ihr "Draht" vermittelte ihr ja, dass gefälligst alle gemocht wurden. Wenn auch hin und wieder lieber mit gehörigem Abstand, um des lieben Friedens Willen. Trotzdem. Selbst wenn Herr von Spangenburg darauf bestand, sie zwiebeln zu wollen, sie würde nicht heulen oder aufgeben! Oh nein! Weil sie lernen musste, um zu wissen, herauszufinden, wie das Fliegen hier ohne Flügel oder Schwingen funktionierte, damit sie einen Weg fand, es auf der anderen Seite auch zu tun. "Ingenieur" hieß ein Zauberwort, dass Herr von Spangenburg lässig proklamierte. Nicht Instrukteur, sondern Ingenieur. Denen wäre nichts zu schwör, was ein erbärmlicher Reim sei. Nadia kümmerte das gar nicht. Ingenieure konstruierten: Rohrpostanlagen in der Metropole, Fallschirme, Transportgeschirre, Signalanlagen. Wenn sie Aeronaut werden wollte, musste sie Ingenieur sein, oder Ingenieurin, was die Herausforderungen nicht veränderte. Buchstaben und Zahlen, Naturgesetze. Schlau musste man sein und noch schlauer werden. Nadia klemmte sich ungebärdige Locken hinter die Ohren. "Ich kann das." Stellte sie laut und entschieden fest. Da erschien auch ihre Oma wieder, triumphierend einen kleinen Zylinder schwenkend. @~-~@ Umea registrierte Gefühle: die unbeugsame Entschlossenheit seiner Tochter, die sich nicht fürchtete, die nicht aufgab. Die die Höhe mochte. Die Sorge und Scham seines Sohnes, seine Angst davor, ihn verletzt zu haben. Den Blitz der Erinnerung beim Anblick des berüchtigten Instrukteurs. Er hörte, wie Nadia konzentriert die Schriftzeichen des Vordrucks dechiffrierte und übersetzte. In der Standardsprache verfasst, natürlich. Die ein Geheimnis zu bleiben hatte. Endlose Regale von Büchern, dazu Modelle, Bilder, Tonaufzeichnungen: die Collectio, ihm damals Paradies und Schreckensort der Erkenntnis. Wie...wie hatte Nemo...? Vor seinem Gesicht materialisierte sich ein dampfender Teebecher. "Trink einen Schluck, mein Lieber. Es macht mich nervös, wenn du so lange die Luft anhältst." Umea zuckte heftig zusammen. Er war wieder in seine alten Gewohnheiten verfallen! Eilig nahm er den Becher entgegen, blies über die schillernde Oberfläche, nippte. Sehr warm, würzig, aromatisch duftend, scharf im Hals und weiter unten eine Flamme anfachend, Hitze von innen heraus erzeugend. Er griff nach einem Keks, kaute gründlich. Was hatte ihm derart den Boden unter den Füßen weggezogen? Dass die Kinder das Portal noch kreativer nutzten, als ihm bekannt war? Nein. Umea nahm einen größeren Schluck Tee. Was ihn getroffen hatte, war die Trennung, ohne "Draht" zu sein, ohne ständige Verbindung. Nicht alles wissen und erfahren zu können. Nicht teilzuhaben an dem, was die Kinder erlebten. Dabei hatte er erst einige Stunden zuvor völlig die Fassung verloren, WEIL es diese ständige Verbindung gab! Die ihn gängelte, einschränkte, verletzte, seinen Verstand beeinträchtigte. Unwillkürlich entfuhr ihm ein grimmiges Schnauben. Hatte ihm Hadrian nicht zu erklären versucht, wie Menschen es hielten?! Vertrauen, Loyalität, Respekt, Freiraum, Anstand und Haltung! Nur so konnte man eine Verbindung aufbauen und pflegen. Ärgerlich über sich selbst warf er den Kopf, doch kein Zopf flog schwer auf den Rücken. Ja, GENAU! Der Zopf war ab, er musste ohne dieses Hilfsmittel schwimmen. Umea stopfte einen weiteren Keks nach, malmte entschlossen. Hatte er jetzt einen eigenen Verstand, oder nicht?! Es ging auch ohne Kollektiv und "Draht"! @~-~@ Hadrian öffnete die Verandatür, ließ Nemo herunter. Dessen Blick wanderte sofort zu Umea hinüber, der sichtlich aufgebracht ins Leere funkelte, einen Keks zerkaute. "...Papa..." Es tat weh, diese leise, zögerliche Stimme zu hören. Umea kehrte augenblicklich in die Gegenwart zurück, streckte schlicht die Arme aus, fing Nemo auf, der sich auf seinem Schoß einigelte, ihn umschlungen hielt wie die einzige Boje in stürmischer See. Hadrian seufzte lautlos, fand seine Mutter und Nadia. Die grinsend auf der Rückseite eines Wurfzettels mit Augenbrauenstiften krakelten?! "Was treibt ihr da?" Hakte Hadrian argwöhnisch nach. Nadia lachte fröhlich. "Ich brauche erst mal keine Vögel rupfen, Vati! Oma hat Stifte gefunden, die nicht zu lang für mich sind! Jetzt kann der Spangenspuk mich nicht ablehnen!" "Ausgenommen, du isst, während er doziert~redet." Bremste Hadrian schmunzelnd. Spangenspuk? Tsktsk. Man musste wohl mit gewissen Eltern-Lehrkörpergesprächen rechnen. "Nemo hat mir übrigens gestanden, dass du bei diesem Kurierdienst mitgeflogen bist. Ich möchte, dass du das nie ohne Fallschirme tust, in Ordnung? Überprüfe sie vorher, Nadia, selbst ist die Frau." Aus den schwarzen Knopfaugen traf ihn ein kritischer Blick. "Vati, wenn es dir nichts ausmacht, ich will lieber Ingenieur als Frau werden, damit ich fliegen kann." Seine Mutter gluckste amüsiert, bemüht, den Ernst zu wahren. Hadrian zog eine Grimasse. Klar, dass sich SEINE Tochter mit Halbherzigkeiten nicht aufhielt! "Schön." Gab er sich geschlagen, kraulte mit einer Fingerkuppe durch die wilden Locken. "Verärger aber Meister von Spangenspuk nicht zu sehr, ja? Scheint ja ein guter Lehrer zu sein." Nadia reichte ihm einen Keks an. "Er weiß viel, ist SEHR alt, Vati. Das ist nützlich. Ich werde ein Kissen mitnehmen und nur Gymnastik machen, wenn er nicht hinguckt. Ich kann nicht richtig lernen, wenn ich ganz starr herumsitzen muss." Stellte sie kategorisch fest, stopfte sich ebenfalls die Backen aus. Hadrian schmunzelte. "Na gut, wollen wir noch was vom kleinen Nemo angucken?" @~-~@ Umea trug Nemo die Stiege hoch, legte ihn in die Hängematte. Er brachte es nicht über sich, ihn aufzuwecken, um in den Pyjama zu wechseln. Die Erleichterung hatte seinen geliebten Sohn alle Reserven gekostet. Hadrian bugsierte Nadia in die Sitzschaukel. Sie schlief schon eine Weile, unerschrocken und selbstgewiss. Den Vorhang vorziehend nickten sie Eva Maria zu, die zuerst das Badezimmer in Beschlag nahm. Umea ergriff die große, warme Hand seines Lieblingsmenschen. Hadrian zwinkerte, schloss die Schlafzimmertür hinter ihnen, aktivierte nur die dezente Nachtleuchte, lud ein, auf der Bettkante Platz zu nehmen. "Was denkst du? Sollen wir sie anmelden?" Umea drückte die vertraute Hand. "Wenn der berühmte Instrukteur hierher kommt?" Er seufzte, lehnte sich an Hadrian an. "Wie könnten wir ablehnen? In dieser Schule werden sie nicht so besonders sein, wird ihre menschliche Hälfte nicht als Makel angesehen." Schulterrollen, die Anspannung abschütteln. "Ich wollte das ja für Nemo ohnehin, dass er lernen kann, die Welt erkunden, frei sein, ohne Angst vor Hunger. Oder der Verantwortung für mich." Hadrian entzog ihm die Hand, schlang die kräftigen Arme um ihn. "Du hast dein Möglichstes getan, Umea! Bist nun wirklich an deine äußersten Grenzen gegangen. Nemo weiß das!" Umea seufzte in die vertraute Halsbeuge, schmiegte sich an, kroch Hadrian förmlich auf den Schoß. "Ich bin nicht geübt darin. Loszulassen, zu akzeptieren, dass sie eigene Wege gehen, dass mir nur Vertrauen bleibt." Er schluckte, rang mit seiner belegten Stimme. "Ich versuche wirklich~WIRKLICH sehr, es zu lernen, damit sie es nicht spüren, damit ich sie nicht belaste. Es ausblenden zu können, und es zu tun, das sind zwei unterschiedliche Dinge." Vor allem Nemo würde das hart ankommen. So gesehen schien es positiv, durch ein Portal getrennt zu sein. Wer wollte schon Mühlstein am Hals der eigenen Kinder sein?! Hadrian kraulte ihm, nun ohne Bandnudelhaarhindernisse, den Nacken, vertrieb geduldig die Verspannung. "Ich empfinde das genauso, weißt du? Möchte sie bei mir behalten, vor allem Unheil beschützen, ihnen Fehler ersparen. Nur, so läuft das nicht. So ticken Menschen nicht. Leben ist für uns ja nicht reine Existenz, sondern Erfahrungen und Erlebnisse sammeln, dadurch einzigartig werden, die einmalige Welt in uns gestalten." Umea richtete sich auf, blickte in die schwarzen, so traurig und ernsthaft blickenden Augen. Sanft strich er mit den Fingerspitzen über die vertrauten, schon ein wenig stoppelig werdenden Partien. "Wir können morgen Früh beide Formulare unterschreiben. Danke, dass du mich daran erinnert hast, was zählt, Hadrian. Für mich wird es auch Zeit, endlich meinen Verstand zu benutzen." Nachsicht prägte Hadrians Lächeln. Umea fragte sich, wie er so viel Großmut bloß verdient hatte. Nicht allzu lange allerdings. Hadrian schien der Auffassung, dass sie die Zeit bis zum Badezimmergang anders nutzen sollten. Mit sehr viel mehr physischem Engagement beispielsweise. @~-~@ Eva Maria faltete sorgfältig die Pläne im Ziehharmonika-Prinzip zusammen. Das kleine Multifunktionsgerät knackte noch leise. "So, eine Kopie für jeden. Wir packen sie in die Klarsichthüllen, als Schutz vor Feuchtigkeit." Ihre Enkel überprüften sorgsam die jeweiligen Rucksäcke: Schreibmaterial, Blöcke, die wichtige Karte für das Portal, um am richtigen Ort zu landen, dazu genug Essen und Trinken. Zugegeben, die Trinkbrunnen waren kostenfrei, wie Nemo ihr berichtet hatte, man konnte auch die Kantine nutzen. Das setzte Zahlungsmittel voraus, von denen sie nun mal keine hatten, weshalb Selbstversorgung angezeigt war. "Nadia, hast du das Taschentuch als Sitzkissen? Gut, wir sollten an alles gedacht haben." Gummistiefel überstreifen, großes Badehandtuch, Regenschirm... Etwas unkonventionell, doch viele Großeltern brachten ihre Kinder ja zur Schule, oder nicht?! Bei ihr endete der Weg an der alten Scheunenwand, mit einem munteren Gruß und einem Satz leerer Gummistiefelchen. Zwei Tage waren nach dem "Hausbesuch" des ominösen Herrn von Spangenburg verstrichen. Eva Maria stellte Nemos Stiefel auf der Veranda ab, füllte für Ludwig Wasser in den apportierten Napf. Der Morgenbesuch schien sich zu einer festen Routine einzubürgern. Sie wickelte sich fester in den alten Wintermantel, nippte an ihrem Tee. Das stete Klopfen der Regentropfen auf die Fliesen beruhigte das Gemüt. Man konnte zu dieser so geheimnisvollen Welt jenseits der Scheunenwand stehen, wie man wollte: die Kinder hatten jeden Tag viel zu berichten! Selbst wenn sie die exotischen Zeichen nicht dechiffrieren konnte. Mit Feuereifer und Entschlossenheit tauchten sie in diese neue Welt ein. Da musste man die Waffen strecken. Ihr Sohn und Umea schienen dies auch akzeptiert zu haben, auch wenn es der Notwendigkeit intimer, abendlicher Intermezzi bedurfte, weshalb sie schon gelassen auf eilig herunterpolternde Schritte wartete. Nein, wirklich, man hätte es sehr viel schlechter treffen können! @~-~@ Umea warf Hadrian einen ratlosen Blick zu. Wieso schafften sie es nicht, TROTZ Wecker, mit ihren Kindern zu frühstücken?! Klingelte der Apparat am Ende gar nicht?! Hadrian schnaubte frustriert, die großen Hände in die Hüften gestützt. "Ehrlich, das Ding MUSS eine Macke haben! Tschuldige, Umea, ich war SICHER, dass ich trotzdem aufwache!" Umea raufte sich Bandnudelwellen. "Das ist doch nicht dein Verschulden! Ich habe genauso fest geschlafen. Jetzt müssen wir uns auch noch beeilen!" Immerhin öffnete die Apotheke ja bald. Unvermittelt fand er sich auf Hadrians Schoß gezogen. "Schön, teilen wir uns die Arbeit auf. Du schenkst aus, ich schmiere die Stullen, Semmeln, ach, egal!" Umea kam seiner Aufgabe nach, darüber sinnierend, dass Hadrian auch hier mit Sprachuntiefen kämpfte. Ganz schön schwierig, wenn man auf dieser Seite aus der Fremde kam! Hadrian schob ihm eine Scheibe Brot mit Honigaufstrich in den Mund. "Ich nehm den blöden Wecker nachher auseinander, Ehrenwort!" Verkündete er, landete einen Kuss mit Marmeladenspur auf Umeas Wange, leckte, aus Notwendigkeit einer adretten Erscheinung, die Überreste sorgsam ab. Umea schmunzelte, kraulte mit der freien Hand durch die schwarzen, recht langen Locken. "Uns wird eine Lösung einfallen." Versicherte er aufmunternd. Eva Maria hätte bestimmt etwas gesagt, wenn das Triumvirat in Schwierigkeiten war. @~-~@ Hadrian nutzte die temporäre Flaute kurz vor der Mittagspause (die keine war, so kurz vor den Feiertagen). Da er Umea nicht in der Wohnküche fand, nur die abgeschlossenen Vorbereitungen für das Mittagessen, wählte er die Stiege hinauf. Durch die angelehnte Tür sah er seinen Märchenprinz auf der Bettkante balancieren, die Innereien des Funkweckers um sich verteilt. "Operation gelungen, Patient tot?" Erkundigte er sich, trat ein. Umea blickte auf, eine leichte Falte zwischen den weißblonden, dezent grünstichigen Augenbrauen. "Dieser Knopf hatte sich verkeilt! Um ihn lösen zu können, musste ich alles aufschrauben." Was zweifellos das interessante Panorama erklärte. "Aha. Und nun?" Hadrian achtete darauf, kein Trümmerteil zu zertreten. Allerdings ließ das Arrangement durchaus eine Ordnung erkennen. "Er bewegt sich einfach nicht! Ich will nichts kaputt machen, aber der rührt sich kein bisschen!" Empörte sich Umea. "Bitte, willst du es mal versuchen?" Hadrian nahm die Leiste samt Kabelanhang entgegen, legte sie weg. "Nein, will ich nicht." Verkündete er aufgeräumt, räusperte sich, schimpfte seinen beschleunigenden Puls aus, kaperte hastig die eleganten Hände. Kniefall wäre klassisch angezeigt, doch angesichts der Einzelteil-Belagerung sah Hadrian davon ab. "Umea, bitte heirate mich. Ich liebe dich und ich will mein Leben mit dir verbringen. In allen Tagen, und Nächten natürlich, will ich dich ehren, respektieren und an deiner Seite stehen. Auch wenn ich ein drahtloser Mensch bin, werde ich mich anstrengen, dich nicht zu verletzen." Die grünen Augen blickten ihn überrascht an, dezent unfokussiert. "Ah, ja, also bei uns tauscht man zu diesem Zweck Ringe aus, will sagen, es gibt zwei und jeder bekommt einen. Ich dachte mir aber, weil Metall ja nicht in Frage kommt und Ringe ein bisschen unpraktisch sind..." Wie nun weiter?! Loslassen und nach der kleinen Papptüte in der Hosentasche greifen?! Meine Güte, das hatte er aber extrem STOFFELIG vermurkst! "Darf ich das denn? Weil es mich hier doch gar nicht gibt?" Stellte Umea ihm die kritische Frage, ließ seine Hände nicht los. Hadrian drehte sich halb, fegte mit der Kehrseite ungeniert Hindernisse von der Matratze, um sich zu setzen. "Das ist ein Versprechen zwischen uns. Ich kann nicht auf die andere Seite kommen. Wir müssen uns hier arrangieren, ich weiß. Trotzdem, trotz allem, willst du? Bitte?" Sein Über-Ich wollte nicht. Zumindest nicht zuhören, wie er hier ALLES vermasselte! So viel zu Romantik, zu einem überzeugenden, selbstsicheren Auftritt! Jeder Pennäler hätte das besser gemeistert! Flehend warb der gesamte Rest bei Umea um Zustimmung, über dessen ovales Gesicht ein Lächeln huschte. "Ich möchte sehr gern, bitte, mein Leben mit dir teilen. Auch ich werde mich anstrengen, versprochen." Hadrian sackte vor Erleichterung mehrere Zentimeter in sich zusammen, schnaufte hörbar. "Oh, danke! Vielen Dank!" Drückte erst die Hände, löste sie verlegen, um Umea zu umarmen, der ihm mal wieder die Locken zauste. "Bitte entschuldige wegen des Weckers." "Vergiss den blöden Wecker, oh, Moment!" Ja, ja, ja, Amateur! Um Verzeihung heischend schob er Umea ein wenig zurück, fingerte in seiner Hosentasche. "Also, Ringe, na ja, ich dachte mir, schau, die Scheiben sind aus Kunstharz, kein Metall, bunt wie ein Regenbogen. Man kann sie hier, an diesem Band, um den Hals tragen. Stört nicht, fällt nicht zu sehr auf." Die nächsten Augenblicke waren wechselseitiger Montage gewidmet. Das Band, zähe Naturfasern, verlangte nach einer sicheren Verknotung der Enden, ohne den jüngst eroberten Ehepartner versehentlich zu strangulieren. "Herrje, ganz schön fummelig, oder?!" Japste Hadrian schließlich. So mühsam hatte er sich die gesamte Aktion nicht vorgestellt! Umea lachte, tippte ihm auf die Nasenspitze. "Findest du nicht, dass das auch auf unsere Beziehung zutrifft?" Neckte er grinsend, die grünen Augen funkelten vergnügt. Hadrian feixte, fegte schwungvoll störende Bauteile vom Bett, bestand auf einer kurzen Runde Kuschelringen. @~-~@ Eva Maria schob, ein undamenhaftes Grummeln unterdrückend, ihren Teller mit dem Nudelauflauf zurück in die Backröhre. Umea, der sich gewaltig gemacht hatte, was die Mahlzeiten betraf (auch wenn nachgesalzt werden musste, aus verständlichen Grünen), blickte sie verwundert an. Immerhin hatte Hadrian klaglos seinen Anteil in der ersten Schicht verspachtelt. "Entschuldige, mein Lieber, aber ich muss direkt los. Gerade kam der Anruf vom Zwischenhändler. Der Sprinter ist ihm verreckt, Verzeihung, liegengeblieben. Leider läuft die Klimaanlage nur eine Weile, und dann ist alles verdorben." Energisch topfte sie sich einen Filzhut im Glockenstil der Zwanziger des vergangenen Jahrhunderts über. "Kann ich dich bitten, ein Auge auf meinen Sohn zu haben? Der schwebt seit zwei Stunden über dem Boden. Langsam macht mich das nervös." Erwartungsgemäß färbten sich Umeas Wangen dunkel ein. Aha. "Selbstverständlich werde ich das tun! Und ich wickle ein dickes Tuch um die Auflaufform, wenn es länger dauert." Eine altmodische Variante der Heizkisten, die sie noch von ihren Großeltern kannte. "Danke, Umea. Ich nehme das Telefon mit im Kangoo, da könnt ihr mich erreichen, falls was sein sollte." Sie lächelte ihrem außer-amtlichen Schwiegersohn aufmunternd zu, eilte mit quietschenden Gummistiefelsohlen hinaus zur Garage. @~-~@ Hadrian konnte niemand irgendwas. Nicht an diesem Tag! Erstens hatte er den ersten (und hoffentlich einzigen) Antrag seines Lebens trotz gewisser Ungeschicklichkeiten gemeistert. Zweitens wirkte das leckere Mittagsmahl noch nach, was man wirklich nicht unterschätzen sollte. Drittens hatte er VOR diesem Mahl eine SEHR intensive Viertelstunde mit Umea genutzt, um seine Libido zum Schnurren zu bringen. Was sie immer noch tat, weshalb es ihm gerade sprichwörtlich "gold" ging! Da konnte sich die Kundschaft die Klinke in die Hand geben, die Traube Glocken gar nicht verstummen. Es flutschte eben, kaum machte man es richtig (wenn auch nicht amtlich, jaja). Die Sache mit dem Sprinter nahm sich ärgerlich aus, klar, aber seine Mutter hatte es im Griff. Und wo sie zupackte... Gerade schloss sich die Tür, ließ einen Moment Durchschnaufen zu, da läutete das Telefon. Die Botschaft sorgte bei Hadrian für einen rapiden Absturz der superben Laune. "...ja...ja...ver...ja...nein...bin unterwegs...ja, sofort...bis gleich!" Sich die überlangen Locken raufend stieß er ein kurzes Wutgeheul aus. Der Zusteller hatte, um Zeit zu sparen/unsortiert/im Stress/was auch immer eine Kiste an der Tankstelle stehen lassen. Die hielt als zweite Anlaufstelle im Ort ebenfalls die Grundversorgung aufrecht, stand ebenfalls unter Druck. Wer nämlich nicht mehr bis zum Einkaufszentrum fahren konnte oder wollte, fiel dort ein. Deshalb mauserte sich das Nebengeschäft quasi zum Hauptgeschäft, obwohl man sich auch dort standhaft weigerte, noch eine Postagentur aufzumachen. "Verdammt!" Brüllte Hadrian Richtung Decke, flitzte durch das Labor/Lager/Hinterzimmer, wo er fast mit Umea zusammenprallte, der ihm zur Hilfe kommen wollte. "Umea, ich muss rasch zur Tankstelle, da steht ein Paket von uns! Ich nehme die Sackkarre mit, ja? Schild häng ich in die Tür. Hältst du die Stellung, bitte?" Er küsste eine warme, allzu einladende Wange, seufzte bis in die Zehen, gab Fersengeld, schob die Sackkarre aus der Garage an. @~-~@ Umea verteilte die eingesammelten Einzelteile des Weckers auf dem abgeräumten Tisch in der Wohnküche. Vorher HATTE er den Überblick gehabt. Nachher, nun ja. Der Knopf saß noch immer verkeilt im Gehäuse, daran hatte sich nichts geändert. Er schreckte aus seiner Konzentration hoch, als er eine Stimme hörte, akkompagniert von hysterischem Kläffen. Eilig kam er auf die Beine, heilte nach vorne. Hatte Hadrian vergessen, zuzusperren? Das Schild baumelte zwar, aber... "Verzeihung!" Stellte Umea sich tapfer auf. "Es ist kurz geschlossen. Und bitte lassen Sie das Tier vor der Tür." "TIER?! DAS TIER?!" @~-~@ Hadrian gurtete das Paket mit den elastischen Bändern an der Sackkarre fest, tippte sich grüßend an die Wollmütze, die von Regenperlen übersät war. Nicht mehr sonderlich schmuck saß, was ihn erneut dringend daran erinnerte, dass er den Schädelbewuchs reduzieren musste. Er galoppierte auf der Straße (nicht dem allzu schmalen Bürgersteig) zurück, von einer bohrenden Besorgnis geplagt. Sicher, das Schild hatte er gedreht, aber... Er konnte sich, verflixt noch mal, nicht erinnern, ob er WIRKLICH zugesperrt hatte! Verdammter Automatismus! Als er, Hupen routiniert ignorierend, denn es gab hier nun mal keinen Platz für Fußverkehr, um die Ecke bog, hätte er fast noch Sackkarren-Mitreisende aufgegabelt, aber keinen erwünschten. Die olle Sumpfralle samt ihrem degenerierten Handtaschen-Köter! Anstatt ihm nun aber die Ohren voll zu plärren, im Kreisch-Sopran, stakste sie bloß wie betäubt weiter, das Viech in der nachgemachten YSL-Handtasche mucksmäuschenstill, obwohl es zu viel erhofft schien, es ausgestopft zu wähnen. Woher kam die Schreckschraube...?! Die Apotheke! Umea!! @~-~@ Als Hadrian in Sprintermanier auf Rekordjagd das Haus erreicht hatte, rammte er die Sackkarre samt Beladung in die noch freie Garage. Der Kangoo mit seiner Mutter musste noch unterwegs sein. Zwei Stufen auf einmal...tatsächlich! Das Schild trudelte noch gemächlich in der Luft, aber er hatte NICHT abgeschlossen! "Umea?! Umea, alles okay?!" Dröhnte er außer Atem, japste. Aus dem Hinterzimmer/Labor/Lager streckte sein Märchenprinz den Kopf, blass um die Nase. "War gerade so ein grässliches Fischweib samt Köter hier?! Hat sie dir was getan?!" Hadrian fegte um den Tresen herum, konnte sich gerade noch bremsen, Umea zu umarmen. Der wäre nämlich dank Tropfenbehang ordentlich durchnässt worden! Die grünen Augen wirkten erstaunlich klar, nicht vom Schock galvanisiert. "Es tut mir leid, ich hatte vergessen...die Tür und...sie hat dir doch nichts getan, oder?" Er umfasste stellvertretend die eleganten Hände. "Diese Frau wollte einfach mit dem Hund hinein kommen. Sogar hier hinein!" Stellte Umea fest, die knochigen Schultern ausstellend. "Als ich sie höflich aufforderte, das Tier vor der Tür zu lassen, da wurde sie ungezogen! Und sehr laut. Rief etwas von Polizei. Ja, Ausländerpolizei. Und Meldepflicht." Die weißblonden, grünstichigen Augenbrauen zogen sich zusammen. "Außerdem äußerte sie Abfälligkeiten über dich. Schwulenschwein, glaube ich, sagte sie. Ich bin nicht sicher, aber ich denke nicht, dass es so ein Tier gibt. Sie benahm sich SEHR abstoßend." Hadrian schlüpfte aus der nassen Jacke, ließ diese einfach auf den Boden sinken, zog Umea an sich, hielt ihn fest. "Das tut mir so leid! Diese alte, miese Gewitterhexe!" Umea streichelte ihm über den Rücken. "Ich habe mich schon erschrocken, aber dann war ich verärgert. So benimmt man sich nicht. Das Tier in der Handtasche ist nun mal unhygienisch!" Stellte er streng fest. Hadrian schnaufte unterdessen mal durch, fasste sich, nahm die grünen Augen, die sehr ergrimmt funkelten, in den Fokus. "Du hattest jedes Recht auf Verärgerung, mein Märchenprinz. Aber verrat mir mal, wie hast du sie in die Flucht geschlagen?" Denn, so im Zusammenhang, kam ihm der Beinahezusammenprall mit der Stinkstiefelin, nun, kurios vor. Eine gewisse Verlegenheit prägte Umeas Züge. "Das... weißt du, ich war gerade mit dem Wecker beschäftigt, ein bisschen frustriert. Da habe ich, weil sie so unverschämt auftrat und drohte: Ich habe zurückgebrüllt." Hadrian staunte. "Das hat bei der ollen Schrapnell gewirkt? Tatsächlich?" Ihm erschien sie nämlich als ein diesbezüglich unempfindliches Kaliber. Umea stanzte spitze Löcher in seine Oberlippe. "Also, gewissermaßen, kann man nicht besonders gut in meiner Sprache schimpfen." Er beugte sich vor, wisperte besorgt. "Ich hab leider verbotenerweise in unserer Verkehrssprache geflucht." @~-~@ Eva Maria lauschte der Schilderung, die die Sackkarre in der Garage erklärte, weshalb sie erst aus dem Kangoo klettern, sich freie Fahrt verschaffen musste. Dabei löffelte sie ihren Auflaufanteil vom Mittagessen. "Diese grauenvolle Person." Stellte sie kühl fest, spülte mit Tee nach. Umea warf ihr, die Trümmer des Weckers auf ein Eckchen geschoben, einen unglücklichen Blick zu. "Wird es meinetwegen Ärger geben?" Sie griff über den Tisch, drückte eine elegante Hand. "Üblicherweise würde sie spornstreichs in ihre Protzschaukel~ihr Auto steigen, zur Polizeidirektion fahren. Die könnten, wenn sie nichts zu tun haben, eine Streife herschicken, um die Personalien zu überprüfen." Ihr Schwiegersohn erbleichte. "Papiere, richtig? Die beweisen, dass ich ich bin." Stellte er tonlos fest. Eva Maria dachte nach. "Na ja, wenn die Zeit reicht, könntest du mit den Kindern durchs Portal. Hier ist es mit dem Verstecken ein wenig schwierig. Außerdem ist es kalt, dunkel und nass." Hadrian streckte den Kopf rein, gerade ohne Kundschaft. "Bis jetzt keine Spur, aber ich will hier auch nicht die ganze Zeit auf heißen Kohlen sitzen." Genau, darauf warten, dass irgendwer aufschlug, um Umea abzuholen und einzusperren! Eva Maria drückte dessen Hand aufmunternd. "Bist du sicher, dass du nicht durch das Portal kannst? Habt ihr das mal probiert?" Hadrian grimassierte. "Damals ging es nicht ohne das Rezept, Mama. Und Umea ist ja kein Mensch." Sie erhob sich energisch. "Schön, aber das ist hier ja die Menschenwelt, oder? Wenigstens zurück in seine Welt, das könnte doch klappen. Versuch macht kluch." Damit begann sie, in eine ihrer Umhängetaschen Proviant zu füllen, nur für den Fall. "Los, Hadrian, Umea, zieht euch was über. Umea, nimm eine Taschenlampe und Proviant mit. Falls es funktioniert, kannst du mit den Kindern wieder zurückkommen." @~-~@ Umea umklammerte Hadrians große Hand. Auch ohne "Draht" fühlten sie sich beide beklommen. Wenn es funktionierte, wie erginge es Umea dann? Wieder Kopfschmerzen, Schwäche, geistige Verwirrung? Mussten sie sich nun doch trennen?! "Okay, in Ordnung, ein Test." Selbst Hadrians Stimme zitterte leicht. Ludwig empfing sie, ließ sich interessiert nieder. Vermutlich hoffte er, die Kinder würden gleich zurückkehren, ihm ihre Aufmerksamkeit widmen. "So, für den Fall, Tasche, Taschenlampe." Umea fand sich abrupt in eine erstickende Umarmung gezogen. "Ich liebe dich, vergiss das nicht, ja? Und ich warte auf dich, ich geh nicht weg. Was immer passiert, du bist und bleibst mein Märchenprinz!" Er schmiegte sich schmerzhaft eng in die muskulösen Arme, spürte Hadrians Erschütterung, der sich mit einem Ruck löste, im Zwielicht blinzelte, räusperte. "Okay, ich nehm mich zusammen, also..." Umea hielt eine Hand fest umschlossen, jagte die Jägermeister lautlos Richtung Osterfest, zwang sich, die Scheunenwand anzuvisieren. Nicht zurück auf Hadrian zu blicken, den Arm auszustrecken... @~-~@ Kapitel 28 Hadrian rang nach Luft, ballte die Fäuste. Tja, zurück ging es: Umea war verschwunden und die verfluchte Scheunenwand hart wie Stein! "Verdammte Scheiße!" Zischte er, wischte sich erneut mit dem Handrücken über die Augen. Nur wegen dieser dämlichen Sumpfkuh! Nein, Halt! Lieber auf Umea konzentrieren, nicht auf die eigenen Emotionen! Der verflixte "Draht" fing ihn ja drüben wieder ein, und sie hatten noch keine Lösung gefunden... Bevor er sich auf Wut verlegen konnte, rammte ihn jemand. "Uff!" Kommentierte Hadrian diesen Aufprall, stolperte zwei Schritte zurück, bevor er sich ausbalancieren konnte. "....vier kleine Jägermeister.." Zitierte eine vertraute Stimme unsicher an seinem Ohr. "Umea?!" @~-~@ "Egal, was das depperte Weibsbild behauptet, es ist gelogen!" Schnaubte Hadrian, hielt Umea fest umschlungen auf seinem Schoß. "DAS werd ich der Streife sagen. Sie kann nichts beweisen! Ohne Durchsuchungsbefehl lassen wir keinen rein! In der Zeit ist Umea längst über den Zaun und durchs Portal!" Eva Maria konnte ein Schmunzeln nicht ganz verbergen. Zwei erwachsene Männer hingen aneinander wie kleine Kinder auf dem Sofa! "Für den Fall haben wir ja schon gepackt." Sie lauschte auf die Türglocken, doch für den Moment fand niemand mehr den Weg. Allerdings kam ja noch die Pendelkundschaft bis Ladenschluss. "Wieso hat es jetzt geklappt?" Umea rotierte leicht, tippte an den Hemdausschnitt. "Ich glaube, es ist unser Ring, in dieser Welt erschaffen, das Symbol unserer Verbindung." Hadrian nickte entschieden. "Meister von Spangenburg sagte ja so was, als ich ihm am Portal unser Problem schilderte. Eine Verbindung zu dieser Welt zu schaffen: unser Eheversprechen. Quasi." Was sonst sollte es auch sein? Alle anderen Dinge, die Umea mit sich getragen hatte, waren zwar Menschenwerk oder aus der Menschenwelt, aber nicht erfüllt von höchstpersönlicher, individueller, einzigartiger Bedeutung. "Schön, das klingt logisch." Eva Maria füllte sich Tee nach. Draußen kündigte Ludwigs Gebell die Kinder an. Sie adressierte ihren Sohn. "Los, Hadrian, sammel lieber mal den Nachwuchs ein. Die werden sonst wie kleine Schlammmonster hier reinstapfen." @~-~@ Nadia studierte mit Nemo die Eingeweide des Weckers, an ihrer Seite aufgeschlagen ein Sachbuch. Unsichtbare Energie über die Drähte brachte die Flüssigkeit zum Leuchten, aha. Damit man Zahlen lesen konnte. Die unsichtbare Energie verstand auch die unsichtbaren Wellen, Funksignale, die dem Wecker verrieten, wie spät es war. Was sie gerade nicht konnten. Die Energie war in einer Batterie eingesperrt, die in einiger Entfernung wartete. "Ich glaube, es ist das, was Oma Peek nennt." Diagnostizierte Nadia aufgeräumt: klebriger Schmutz, der wie Harz am Baum Dinge festhielt. Wie den Knopf in der Außenschale, dem Gehäuse. "Und nun?" Nemo hatte sorgsam Schrauben sortiert, Einzelteile aufgereiht. Ein Blick auf ihre Eltern verriet, dass die ihre Pärchenzeit erheblich ausdehnten. Nicht mal fürs Abendessen war schon gedeckt. Andererseits hätte das ja auch verhindert, dass sie am Wecker operierten. "Ich geh Oma fragen." Entschied Nadia. Sie war klein genug, um nicht gesehen zu werden, falls diese garstige Frau zurückkam, Ärger machte. Weil hier nur Ganz-Menschen sein durften. Eine ausgesprochen kleinliche Einstellung, wie sie befand. Nemo nickte ihr zu. Falls es gefährlich wurde, war er flink genug, sie aufzulesen, mit Ludwigs Unterstützung zu entwischen. Nadia huschte geübt über die Fliesen nach vorne, hangelte sich an Schubladengriffen nach oben, bis sie hoch genug war, ihrer Oma aufzufallen, ohne von Kundschaft gesehen zu werden. "Oma, Oma, wie bekommt man den Wecker-Peek weg?" @~-~@ Eva Maria wandte sich herum, schob rasch die telefonische Bestellung zusammen. Wenn der Empfang mal klappte, orderte die halbe Welt auf der Rückfahrt Medikamentenpakete. Beinahe hätte man einen Drive-in-Schalter betreiben können! Ziemlich lästig, doch bei Stammkundschaft konnte sie das Risiko überblicken. Alle anderen mussten sich ihre Aufklärung gefallen lassen, sonst gab es nichts! Medikamente waren keine Nahrungsergänzungsmittel oder Lifestyle-Produkte. "Wecker-Peek? Ach du Güte. Tja, wir könnten es mal mit Nagellackentferner versuchen. Da ist sogar ein Pinsel dran, siehst du? Bloß stinkt es fürchterlich, finde ich, und ihr solltet es nicht einatmen." Ihre Enkelin nickte. "Das ist kein Problem, Oma. Wir gehen auf die Veranda und halten einfach die Luft an." @~-~@ Nemo schob sich die Tauchgläser über die Augen. Der Schutzhelm, Überbleibsel der Wasserrohrbruch-Renovierungsarbeiten, saß nicht gerade perfekt, aber man konnte sich arrangieren. Vor Nase und Mund hatte er sich das Piratentuch gebunden, hielt mit Eva Marias Gartenhandschuhen, ebenfalls ein wenig groß, das Gehäusebauteil fest. Nadia nickte entschlossen. Sie hatte sich Küchenkrepp wie eine lange Schürze vor den Körper gebunden. Anstelle einer Schutzbrille klemmte mit Gummiband eine ausgeschnittene Kunststoffhülle vor ihrem Gesicht im Halbrund. Sie schob sich nacheinander zwei Kinderluftballons über die Hände und Unterarme, Fäustlinge ohne Daumen, aber genug Platz, die Beweglichkeit zu erhalten. Energisch drehte sie den Nagellackentferner auf, stippte den Pinsel in den Flakon, pinselte den Knopf ein, schrubbte energischer, legte den Pinsel beiseite und drückte mit steigender Kraft. Der Knopf gab nach. Hinter der Glasscheibe der Veranda brandete Applaus auf. Das alles OHNE einen Atemzug! @~-~@ Hadrian betrat die Apotheke, um seiner Mutter zu verkünden, dass der Wecker wieder arbeitete, nach einiger Überredung und wegen Rissen im Kunststoff mit zwei Paketschnüren ergänzt. Aber er lief. Der Nagellackentferner hatte ein klein wenig gelitten. Andererseits stand der schon eine ganze Weile zum Verkauf. Nicht, dass der Inhalt verderben konnte, aber mittlerweile gab es andere Variationen. Seine Mutter grinste amüsiert über das wacklige Video. Um DIESE Kinder musste man sich keine Sorgen machen! Sie lernten fix, wussten sich zu helfen und hielten zusammen. Vor dem Haus schaukelte in diesem Augenblick eine uralte Ente aus. Heraus kletterte ein eingeschrumpeltes Männchen, zog sich jedoch geübt die Treppe am Handlauf hoch. Nach einer höflichen Begrüßung reichte Eva Maria die Bestellung über den Tresen. "Habt's gehört? Die Gruberin, die alt Ratschn, hockt beim Pastor! Bekennt ihre Sünden. Ihr grauslichs Viech VORM Tor! 'S weihnachtet heuer sehr!" @~-~@ Hadrian fegte sofort zurück in die Wohnküche, wo drei Häupter erstaunt aufblickten, da man gerade Gemüse für den Eintopf am nächsten Tag schnippelte, eben erst eine eilige Kartoffelscheiben-Pizza in die Röhre geschoben hatte. "Umea, was hast du genau zu der grässlichen Sumpfralle gesagt?!" Die grünen Augen funkelten. "Uh, Hadrian, ich möchte das nicht vor den Kindern wiederholen." Eine sehr höfliche Verweigerung. "Ich meine nicht die eher blumigen Ausdrücke! Gerade ist ein alter Nachbar von ihr raus, der behauptet, sie säße beim Pastor und beichte ihm all ihre Schandtaten! Hast du irgendwas in diese Richtung gesagt?" Ein konzentrierter Ausdruck prägte Umeas gleichmäßige Züge. "Nun. ich habe ihr sehr nachdrücklich geraten, in sich zu gehen, ihre Handlungen zu reflektieren." Hadrian plumpste aufs Sofa. "Einwandfrei. Genial. Wie auch immer du das angestellt hast: die Gewitterziege hat auf dich gehört!" Jetzt hatte er zwei interessierte Kindergesichter wie Brenngläser auf sich gerichtet. "Vati, ist eine Gewitterziege ein richtiges Tier?" "Was ist ein Pastor?" Aber Hadrian konnte sich nicht darauf konzentrieren. Er sah Umea an, dem wohl ebenfalls ein Gedanke kam. "Oh." Stellte Umea fest. Hadrian grinste, brach in Gelächter aus. "Mein Märchenprinz, du bist doch eine Sirene! Oder Sirenerich?!" @~-~@ Die Kartoffelpizza war restlos verputzt. Über die Verwendung von Tieren als Titel für Personen hatte es ein ernstes Gespräch gegeben. Jetzt löffelte man Bratapfelstückchen, kuschelte auf dem Sofa. "Was denkst du, wie lange hält die Wirkung an?" Eva Maria half Nadia, die mit einem Zahnstocher ihren Anteil erlegte. Umea zuckte verlegen-ratlos die Schultern. "Das kann ich nicht sagen. Es scheint nur zu wirken, wenn ich unsere Verkehrssprache benutze und wohl nur bei, nun, Menschen auf dieser Seite. Ich hatte das eher für eine Legende gehalten." Hadrian drückte einen süßen Kuss auf seine Wange. "Mir gefällt's! Und erklärt mir auch, warum ich mich wie der letzte Schurke gefühlt habe, als ich dir helfen wollte. Ich hab zwar kein Wort verstanden..." Erschrocken wandte sich Umea zu ihm um. "Ich habe dich nicht beeinflussen wollen! Damals war ich nur so in Panik!" Bevor er den Großen M erwähnen konnte, schlug er rasch beide Hände auf den Mund. Bloß nicht noch mehr verraten! Hadrian schmunzelte, streichelte durch die wippenden Wellen der Bandnudelhaare. "Zu spät, mein Märchenprinz, wir gehören zusammen! Ganz gleich, in welcher Sprache." Er zwinkerte. Nemo, auf dem Schoß seines geliebten Papas residierend, summierte das Fazit des Tages. "Also, wir haben es ja eigentlich fast geschafft, oder? Wir können alle drei das Portal benutzen, deshalb müssen wir uns nicht fürchten. Papa kann ungezogene Menschen ermahnen. Jetzt brauchen wir nur noch einen Zauberhut, der drüben den Drahtempfang reduziert." Dabei warf er seiner kleinen Schwester einen auffordernden Blick zu. Die schluckte ihre Bäckchen frei. "Genau. Wie beim Wecker, nur umgekehrt. Wusstet ihr, dass der Spangenspuk von seinem Menschen Frederick Kopfhörer geschenkt bekommen hat, die Geräusche unterdrücken? Wir müssen nur die unsichtbaren Wellen finden. Ich kenne jemanden bei der Aeroflott, dessen Schwippschwager im Schullabor arbeitet." @~-~@ "Hin und wieder erschreckt mich die Entwicklung unserer Tochter." Stellte Hadrian fest, raufte sich die überlangen Locken. "Wer bringt ihr so was bei?! Schwippschwager! Diese Aeroflott-Leute, kennst du die eigentlich?" Umea massierte sich die Schläfen, auf der Bettkante kauernd. "Nein, leider gar nicht. So weit bin ich nie gekommen." Sie tauschten einen ratlosen Blick. Hadrian seufzte. "Es steht zu befürchten, dass die beiden TATSÄCHLICH für dich einen Zauberhut basteln. Andererseits, wer außer ihnen könnte das sonst? Ohne 'Draht'." Außerdem konnten sie wohl kaum ihrem Nachwuchs verbieten, Erlerntes anzuwenden, dazu besuchten sie ja die Schule! Er legte einen kräftigen Arm um Umeas Schultern, ließ sich hintenüber fallen, zog ihn dabei ungeniert mit. "Liebling, wir sind hoffnungslos im Hintertreffen." Nur einer von ihnen konnte das Portal benutzen, aber nicht in die Stadt gehen, zumindest nicht ohne Schmerzen. Von der Metropole ganz zu schweigen. Offenbar gab es bei den Portalen gewisse Nutzungshierarchien. Hadrian drehte den Kopf, betrachtete Umeas Profil. Tatsächlich hatte dieser ereignisreiche Tag ja einen guten Ausgang genommen. Kindern musste man mit Vertrauen begegnen. Es stand ja nicht zu befürchten, dass Nadias Aeroflott-Bekanntschaften mit Nitroglycerin operierten. Hoffentlich. "Meinst du, eine Massage hilft?" Erkundigte er sich leise. Umeas Anspannung konnte ihm nicht entgehen. Der wandte ihm den Kopf zu, lächelte gezwungen. "Es ist albern, doch mein Körper scheint nicht zu begreifen, dass es gerade in Ordnung ist." Hadrian hob einen Arm, liebkoste eine Wange, die Schläfe. "Heute war eben richtig viel Rummel, da ist das kein Wunder. Aber bald sind die Feiertage, da haben wir Ruhe." "Wenn es kein Notfall ist." Ergänzte Umea mit einem spitzbübischen Lächeln. Inzwischen hatte er den Kalender nachvollzogen: Öffnungstage, Feiertage, Feiertage mit Notdienst. Auf dem Land waren Apotheken rar. Wenn man sichergehen wollte, dass man nicht gestört wurde, musste man wegfahren. Selbstverständlich außer der Notdienstzeiten. Hadrian stemmte sich hoch, dippte einen Kuss auf Umeas Nasenspitze. "Ich hol mal die Sonnencreme aus dem Bad. Bevor die ranzig wird, kann ich dir damit auch den Kauz massieren." Umea stutzte, doch eifrig leitete Hadrian schon seinen temporären Abgang aus ihrem Schlafzimmer ein. Kauz? War das doch kein Tier?! @~-~@ Nadia fand Feiertage durchaus eine nette Abwechslung, zumal es die ersten ihres Lebens waren. Allerdings hätte sie sie an anderen Tagen eindeutig bevorzugt! Weil leider auch die Schule schloss, Ferien eben. Wieso hatte sie jetzt schon Ferien, wo sie doch gerade erst angefangen hatte?! Sehr unpraktisch! Nemo schob den Tretroller Richtung Portal. Es machte Spaß, vorne in einem Trapez zu sitzen und ihn anzufeuern. Wobei ihr Bruder es nie übertrieb oder wie Ingban mit dem Laufrad per Schwingen und Luftwiderstand bremsen musste. "Wir haben keinen Hut. Nicht mal herausgefunden, wie der 'Draht' sendet. Schlechte Zwischenbilanz." Stellte sie fest. "Frau Prof Drusilla sagte, es könne eine neurologische Besonderheit sein. Allerdings möchte ich mir lieber nicht den Schädel aufsägen lassen." Befand Nemo, der durchaus überzeugt war, ein Gehirn zu besitzen, auch wenn er es bisher noch nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. Die Begleitumstände erschienen ihm jedenfalls für diese Beweisführung als nicht akzeptabel. "Mit den Ohren oder den Augen hat es nichts zu tun." Nadia operierte nach dem Ausschlussprinzip, was sie wechselseitig erprobt hatten. Ob es eine Art Antenne für Bilder gab wie beim Fernsehen? Biologie, schwierig! Lebewesen auseinandernehmen, das mutete ihr, ohne Notfall, als ungerechtfertigte Vorgehensweise an, weil sie keine Medi bzw. ärztliche Spezialisierte waren. Das Zusammenfügen, wie beim Wecker, zeitigte doch gewisse Abstriche. Nicht alles konnte mit Paketschnur ausgeglichen werden. Nemo bremste vor dem Portal, das aus zwei schlichten, mit buntem Strickkleid versehenen Pfosten bestand. "Vielleicht gehen wir die Sache auch falsch an, Nadia. Vati hat mir ein Bild von einer Taucherglocke gezeigt, da konnte man ohne Sauerstoffflaschen unter Wasser sein. Möglicherweise brauchen wir eine Glocke über dem großen See? Wenn sie dort alle bleiben wollen, stört sie das nicht." Nadia zog die Nase kraus. "So was wie Geräuschunterdrückung als Haube? Wie groß müsste die denn sein?" Nemo zwinkerte. "Kennst du nicht jemanden bei der Aeroflott, der uns einen Überblick verschaffen könnte?" Die winzigen, scharfen Zähne seiner Schwester blitzten in ihrem Grinsen. @~-~@ Isidor von Spangenburg hatte von jeher für Feiertage, Ferien und andere Faulenzereien kein Verständnis. In der Zeit, in der er gelebt hatte, kannte man derlei Humbug gar nicht. Eine denkwürdige Phase persönlicher Horizonterweiterung später mochte er sie aus anderen Gründen nicht. Weil die absurden Vorstellungen irgendwelcher anderen Figuren sich in seine private Ausgestaltung einmischten, mit Frederick! Deshalb achtete er mit unnachgiebiger Akkuratesse auf Feierabend und Freizeit. Ja, nicht mal für ihn währte die Ewigkeit, nun, ewig. Carpe diem. Aus diesem Grund, nagelte sein Gehstock akzentuiert auf die Platten, VERABSCHEUTE er Einbestellungen NACH Dienstende! Auch noch in das Büro des Präsidenten! Dort befand er sich durchaus häufiger, um seine Perspektive zum verweichlichten Haufen seiner Schützlinge zu erläutern. Sollte er der ungebärdigen Daimonen-Brut nun wichtige Lektionen erteilen, oder nicht?! Außerdem warnte er schon seit Jahr und Tag vor dem Überschwappen menschlicher Dummheit! Tsktsktsk! Er klopfte mit dem Knauf seines Gehstocks pointiert, trat sofort ein. Bis der Präsident seine Kampfmasse justiert hatte, dauerte es ihm stets zu lange. Zudem konnte man sich an Lawinen und Gummipudding erinnert fühlen. "Ah, von Spangenburg, endlich!" Isidor von Spangenburg funkelte erst in das feiste, von dezenten Schweißtropfen bedeckte Gesicht, nahm die Anwesenheit des Büroinhabers mit einer knappen Verbeugung zur Kenntnis. Vor dem gewaltigen, häufig vollkommen leeren Schreibtisch gruppierten sich offenbar die Streitparteien. Zwei davon kannte er. Bei den anderen Protagonisten... "Wenn Sie mir eine Einladung für den Zirkus überreichen wollen, danke, nein! Ich habe bereits eine Verabredung." Giftete Isidor von Spangenburg in gewohnt steif-gehässiger Manier. "Ha, ha, kleiner Scherz, nicht wahr, der Kollege, immer mit Humor...bitte, der Sessel..." "Danke, ich ziehe es vor zu stehen." Rammte Isidor von Spangenburg seinen Gehstock ein. Die blöden Sessel sorgten stets dafür, dass man einen Flaschenzug zur Flucht benötigte! Zudem wollte seine Kinnlade selten mit seinen Kniescheiben in näheren Kontakt treten. "Tja, nun, dann, nun, dann wollen wir rasch...nicht wahr? Kleines Missverständnis..." Isidor von Spangenburg verdrehte die eisigsten Blauaugen der Welt. "Was geht hier vor?" Herrschte er die Schreibtisch-Vor-Sitzenden an. "Krieg! Beleidigung! Amtsanmaßung! Territorialer Übergriff! Kompetenzerschleichung! Betrug!" Brüllten ihm gleich drei dubios gekleidete Gestalten entgegen, während die vierte Person, an der Schocklanze erkenntlich, der Mee-Poo, tief seufzte, sich mit der freien Hand das gefurchte Gesicht massierte. Eine Augenbraue kritisch lupfend warf Isidor einen Blick auf die Gegen-Partei, zwei Kindergesichter unter Lockenschöpfen. "Quatsch mit Soße!" Mischte sich mit heller Stimme energisch sein derzeit winzigster Schützling ein. Unterdessen kloppten sich die drei Schreihälse wechselseitig, aber im Sitzen, leisteten mutmaßlich einer energischen Warnung Folge. Für Isidor von Spangenburg gab es nur eine Lösung, um diesen Zirkus rasch zu beenden: er hob seinen Gehstock an, ließ ihn blitzartig auf jeden Schreihalsschädel sausen. Die einsetzenden Kopfschmerzen sorgten dafür, dass sich die Aufmerksamkeit auf ihn fokussierte. "Ich bitte mir Ruhe aus. Und jetzt, eine schlüssige Erklärung, Nadia." Die stand sowieso schon auf der Sessellehne, die Hände in die Hüften gestützt. "Es geht um eine Abschirmung des großen Sees wegen der Verbindung zu Papa, die ihn einschränkt, wie bei einer Taucherglocke, als erste Planungsgrundlage. Nach einem Rundflug haben wir bloß gefragt, wer geeignet wäre, eine so große Fläche zu bedienen." Nemo ergänzte. "Dass wir einen Krieg anzetteln wollen, stimmt nicht! Sehen Sie, Herr von Spangenburg, das sind unsere Notizen und Rohzeichnungen." Isidor von Spangenburg fledderte rasch durch die ihm überlassenen Unterlagen. Kindlich, durchaus, aber ambitioniert und in systematischer Vorgehensweise. "Verstehe." Er beäugte die drei ihn grimmig anfunkelnden Gestalten. Selbstverständlich Ex-Göttlichkeiten, von denen jeder einzelne der ausrangierten Trottel sich für den Größten, Besten, Mächtigsten hielt. Der Mee-Poo mit einem faltigen Dackelgesicht seufzte bloß. Vermutlich hatte er ohnehin Mühe, diese Neu-Mit-Bewohnenden in Schach zu halten. "Nun, die Herren, Ihre Dienste werden nicht benötigt. Außerdem, wenn ich daran erinnern darf: Ex-Fähigkeiten sind HIER nicht verfügbar." Mit scharfer Drehung wandte er sich ab, erteilte gleichsam Demission. Gemaule setzte ein, in unterschiedlichen Sprachen. Der Mee-Poo schnaubte, bellte kurz. "Na los, Leute, Abmarsch, hoch mit den Kisten! Bisschen frische Luft schnappen, leichte Bewegung, gut für die Verdauung!" Gab er die Losung aus. Für die etwas Begriffsstutzigen half ein Stupser mit dem geschäftlichen Ende der Schocklanze auf die Sprünge. "Oh, nun, aha, Missverständnis, von Spangenburg, jedoch, ich muss sagen...!" Setzte der Präsident an, der stets um den Ruf seiner Bildungsanstalt fürchtete. Allerdings GRAUTE ihm vor Isidor von Spangenburg. Der adressierte ihn kapp. "Feierabend, Dienstschluss, schöne Ferien, will ich hoffen. Nadia, Nemo, hopphopp!" "Ja, aber...!" "Exzellenz, Herr Präsident, Exzellenz, das ist doch das hehre Ziel, korrekt? Ich nehme diese beiden Exemplare jetzt mit, deren Expertise uns zukünftig besonders vorteilhaft wirken lässt." Schnurrte Isidor von Spangenburg eisig, wedelte zum Aufbruch. Der ewige Wettstreit mit anderen Schulen und Universitäten interessierte ihn nicht im Mindesten. Was dem Nutzen keinen Abbruch tat. "Herr von Spangenburg, wir wollten wirklich keinen Ärger machen!" Beteuerte Nemo, der sich rasch Nadia auf die Schulter gesetzt hatte. "Ah nein? Warum nicht, frag ich mich? Scheint mir ein primärer Zeitvertreib der meisten Daimonen-Gören zu sein!" Schnaubte Isidor von Spangenburg, akzentuierte jede Silbe mit dem Gehstock. "Außerdem war es gar kein Ärger." Mischte sich Nadia entschieden ein. "Die waren vollkommen begriffsstutzig und haben nicht zugehört!" Empörte sie sich. Den Instrukteur wunderte das ganz und gar nicht. "Wieder eine wichtige Lektion gelernt, nicht wahr? Große Pläne gehen nicht einher mit kleinen Geistern. Diese hier waren auch schmuddelig und geruchsintensiv." Merkte er an, die Nase rümpfend. "Entschuldigung, dass Sie da involviert wurden." Nemo, selbstredend, der diplomatische Teil des Dynamischen Duos. Isidor von Spangenburg schnaubte vernichtend. "Weitere wichtige Lektion: Konsequenzen VORHER bedenken." "Pah!" Kommentierte Nadia entschieden. "Der Präsident hat sich von selbst eingemischt! Wir hatten alles auch alleine gut im Griff." "Ach, gar? Wie konnte mir das entgehen?" Stichelte Isidor von Spangenburg unbarmherzig, machte vor dem Portal Halt. In der Nähe, angekettet, wartete Nemos Tretroller. Er funkelte in die schwarzen Knopfaugen unter dem kupferroten Lockenschopf. "Fräulein, erstens ist hier NICHT gestattet, Trockenerbsen mit einer Zwille abzufeuern, selbst wenn es debile Ex-Göttlichkeiten trifft, die es zweifelsohne nicht besser verdient haben. Aber es verstößt AUS GUTEM GRUND gegen die Regeln. Und, nein, ich bin nicht fertig! Zweitens, während der Ferien wird AUF DIESER Seite nicht experimentiert. Drittens erwartete ich von euch, dass ihr ERST, das heißt, vor allem anderen, die Natur der Übermittlung feststellt. Dann, WENN diese Hintergründe geklärt sind, folgt die Planung von technischen Maßnahmen. Viertens, es wird niemand zwangsbeglückt, auch nicht die Leute am großen See." Er wandte sich Nemo zu. "Ich erwarte von euch beiden, dass ihr die Regeln hier lernt, gründlich darüber nachdenkt. Wer nicht eingefangen werden will, der wirft selbst keine Netze aus." Erstaunlicherweise zeigte seine ernsthafte Ermahnung durchaus Wirkung. Beide Gesichter blickten durchaus verunsichert. Isidor von Spangenburg verneigte sich minimal. "Jetzt habe ICH auch Ferien. Seht zu, dass ihr nach Hause kommt, verstanden? Wir sehen uns nach dem Jahreswechsel." Damit trat er durch das Portal, ironischerweise, in den Waschraum eines Schnellrestaurants. Glücklicherweise wartete dort schon ein dick verpuppter, junger Mann auf ihn, strahlend, die Arme ausbreitend. Na, schöne Bescherung, das ließe sich wohl aushalten! @~-~@ Warm eingemummelt saßen sie mit Oma und Ludwig auf der Veranda. So eine Pleite am letzten Schultag! Nemo hatte die Pläne präsentiert. Oma war eine gute Verbündete. Außerdem waren Papa und Vati losgezogen, um einige Zweige abzuschneiden. Nadia saß auf Ludwigs Rücken, stemmte ihm wechselseitig die nackten Füße ins Fell. Ihm sagte diese Massage außerordentlich zu. "Ich finde es nicht richtig, einen Baum abzuhacken, damit er im Haus nadelt." Tat sie ihre Zustimmung zur Auffassung ihrer Oma kund. "Kann man ihn nicht im Topf halten?" Brachte Nemo sich ein, der es tröstlich fand, NICHT an ihre Niederlage denken zu müssen. Oder an Isidor von Spangenburgs Ermahnungen. In gewisser Weise wäre es nicht nett, unter einer Taucherglocke leben zu müssen, ungefragt. Vielleicht hätte er seine Idee gründlicher überprüfen sollen. Nadia konnte ja auch nicht alle Regeln kennen. Deshalb traf ihn der größere Anteil der Verantwortung! "Manche bestimmt, aber sie brauchen viel Platz für Wurzeln, Nemo. Da müsste es ein riesiger, sehr schwerer Topf oder ein ziemlich kleiner Baum sein." Oma schenkte ihm Tee nach. "Früher hat man die Bäume noch im Ofen verheizt. Aber mit Lametta und anderem Kram, nein. Es gibt nicht mehr so viele Öfen, auch brennt das Holz nicht richtig, quiemt und qualmt." Sie schien mit zwei oder drei schlichten Zweigen, auch von Vogelbeeren oder Zieräpfeln, zufrieden zu sein. Eine Weile herrschte Schweigen, nur Ludwig brummte leise und selig vor sich hin. "Ich hätte nur im Notfall die Zwille benutzt." Murmelte Nadia unerwartet. Nemo sprang ihr bei. "Ich hatte nicht bedacht, dass sie so unkonzentriert sind, Oma. Eigentlich sollten die doch viel klüger und weiser sein." Zumindest schien ihm das eine wesentliche Voraussetzung für das "Göttlich"-Etikett. "Wahrscheinlich ein Schmu." Urteilte Nadia, setzte gleich neu erlernte Vokabeln ein. "Etikettenschwindel." Ergänzte Nemo kichernd. Oma kraulte ihm durch den Lockenschopf, zupfte den Schal hoch, damit seine Ohren nicht froren. "Es kann nicht immer alles auf Anhieb klappen, Schatz. Das scheint mir hier eine ganz verzwickte Angelegenheit zu sein." Nemo blickte zu ihr, auch Nadia schaute hoch. "Ich habe so das Gefühl, dass wir uns ein bisschen Zeit lassen sollten. Euer Papa kann jetzt durchs Portal, oder nicht? So dringend muss er doch kein neues Geschäft aufmachen, richtig? Kann doch gut sein, dass er selbst eine Lösung findet, hm?" @~-~@ Hadrian apportierte drei unterschiedliche Zweige, hielt in der anderen Umeas Hand. "Na ja, Oma und Opa führen auch eine Apotheke. Da ist immer genauso viel los. Also haben wir uns angewöhnt, kurz durchzubimmeln, frohe Feiertage zu wünschen. Danach gab's hier eine Kleinigkeit. Wir haben zusammen Plätzchen gebacken. Gar nichts Wildes gemacht. Die Glotze~der Fernseher blieb aus. Ein Brettspiel, eine kurze Krimigeschichte, Agatha Christie oder von der Alfred Hitchcock-Serie. Das war für mich in Ordnung. Am Morgen hab ich die Geschenke ausgepackt, nicht viele, absolut nicht. Mir ging's hauptsächlich um die gemeinsame Zeit, nur wir zwei, keine Kundschaft, keine Notdienste, keine Hausaufgaben." Er lächelte Umea zu. "Später, während des Studiums, da habe ich Partys, Feiern besucht. Musik, Tanz, Büfett, jede Menge Trubel und Leute. Tombola, Showeinlagen, Zauberei, ich meine, Leute, die tolle Tricks beherrschen." Umea, stolz die geliebte, grüne Mütze mit der großen Bommel tragend, lauschte ihm aufmerksam. "Das war mal nett, eine andere Art kennenzulernen, aber ich habe schon die Ruhe vermisst. Einfach mal dazusitzen, nichts tun zu müssen, nicht zu planen, sich zu besinnen, von der Veranda in den Garten gucken, Wolken, Sterne und den Mond zu beobachten. Einfach mal anhalten." Er schwenkte die drei Zweige. "Ich hoffe, dass es unseren Kindern auch gefällt, ein bisschen schlichter, ohne Geschenke-Schlacht und zig Verwandte. Schnee haben wir auch keinen." Umea blieb stehen, veranlasste damit auch Hadrian, anzuhalten, sich ihm zuzuwenden. Er schmiegte die, schon wieder recht stoppelige, Wange in eine elegante Handfläche. "Ich WEISS, dass es ihnen gefällt, Hadrian. Sie haben Spaß und fühlen sich pudelwohl." Die Formulierung verlangte ihm Mut ab. Ob der Große M Vermutungen zum Ausmaß SEINES Wohlbefindens in salopper Sprache verzieh? "Mir gefällt es auch sehr. Langsam genieße ich die Freiheit, ohne 'Draht' zu sein, die Welt anders zu erfahren. Es ist endlich gut, dass ich anders bin." @~-~@ "Ich dachte schon, ihr seid in die Karpaten unterwegs." Kommentierte Eva Maria trocken das recht lange Ausbleiben "ihrer Jungs". Sie schnitt die Zweige an, stellte sie in frisches, zimmerwarmes Wasser. "Nach einer hochinteressanten Debatte zu Dickens Weihnachtsgeschichte ist es mir gelungen, die beiden kritischen Geister in die Matten zu schaffen." Ließ sie deren Eltern wissen, die sich immer noch verliebt anstrahlten und dabei behinderten, aus den Wintersachen zu steigen. Dazu war es schon angezeigt, hin und wieder mal fremde Extremitäten loszulassen. "Weihnachtsgeschichte? Die hast du ihnen vorgelesen?" Endlich reagierte ihr Sohn. Eva Maria schnaubte dezent. "Ganz und gar nicht. Zufällig hatte ich noch eine uralte, vergilbte Kopie einer Bühnenfassung. Ich erläuterte lediglich die Protagonisten, da ging die Erörterung bereits los." Wobei sie sich prächtig amüsiert hatte. Kinder, die keine Geister kannten, aber diverse andere Gestalten und gerade von mutmaßlich untauglichen, menschlichen Ex-Göttlichkeiten enttäuscht worden waren, pflegten streng forschend zu sein, logische Inkonsequenzen und Unschärfen gnadenlos aufs Tapet zu bringen. Umea schenkte ihr einen besorgten, wenn auch schläfrigen Blick. "Wir haben eher wenig Überlieferungen. Sie wollten nicht respektlos sein." Eva Maria tippte ihm auf die kalte Nasenspitze. "Mein Lieber, zu viel unangebrachter Respekt behindert das freie Denken. Ich mochte die Geschichte auch nur in einer wilden Filmversion. Jedenfalls hatten wir so viel Spaß, dass wir nun alle rechtschaffen müde sind." Sie zupfte ihren Sohn an einer überlangen Locke. "Deshalb horche ich jetzt gleich meine Matratze ab. Das solltet ihr auch tun. Morgen trittst du bei mir zwecks Schur an, Sohn, sonst nisten bald Krähen drin. Du weißt ja, was Nadia mit schietigen Vögeln zu tun beabsichtigt." Sich mühsam ein Grinsen verkneifend goutierte sie das Zusammenzucken ihres Sohns. So ganz sicher war er sich nicht, was Nadias Zwillenkünste betraf. @~-~@ Umea schmiegte sich an Hadrian an. Draußen, eine Hand meldete es, war es recht frisch und dunkel. Hier, blank und bloß, warm, unter der Decke, gefiel es ihm sehr viel besser. "Irgendwann müssen wir wohl doch raus." Brummelte Hadrian, kraulte ihm den Nacken. Umea seufzte. "Wahrscheinlich bekommen wir auch Hunger." Vermutete er leise. "Mmmhmmm, also, Appetit hätte ich jetzt schon." Hadrians Hand wanderte zielsicher tiefer, massierte abwechselnd die Pobacken. Umea lachte leise, küsste eine stoppelige Wange. Ja, diese Art von Appetit stieg auch gerade rapide in ihm auf! Weil er sich ein klitzekleines Bisschen an Nadias Vorbild orientierte, entschied er, mutig etwas Neues zu wagen. Beispielsweise blumige Liebesschwüre in Hadrians sehr geneigtes Ohr zu raunen. Allerdings in der Verkehrssprache der anderen Welt! @~-~@ Nemo fand Weihnachten, zumindest diesen Teil 1 mit Heiligabend, eine feine Sache. Sie hatten gemeinsam Spaß, gingen zusammen spazieren, backten Plätzchen, basteln aus Papier kleine Sterne für die Zweige. Oma schaute sich mit ihnen einen alten Märchenfilm an, wo es Schnee gab. Auch wenn Nadia einwandte, dass dieser Prinz IHREM Papa nicht das Wasser reichen konnte, nicht gerade fix im Kopf war! Sie interessierte sich hauptsächlich für die Armbrüste. Selbstverständlich wegen der Technik, nicht wegen der ollen Vögel! Papa und Vati waren ganz ruhig und entspannt. Dank der gestutzten Locken passte auch die Mütze wieder richtig. "Fürchterlich verliebt." Hatte Oma ihnen zugeflüstert. Da verhielt man sich ein wenig begriffsstutzig, mit Tunnelblick. Nadia adaptierte prompt Isidor von Spangenburgs Ratschlag. "Ist es mir von Nutzen, spotte ich nicht, sondern spute mich." Ein klein wenig besorgniserregend war das schon, doch Nemo wusste ihre Oma auf dem Posten, um hin und wieder Nadias Tatendrang in weniger gefährliche Bahnen zu lenken. Andererseits konnte Nemo selbst keine Kritik üben, weil er nun, tief in der Nacht, still und heimlich die Stiege hinabkletterte, in seinen Overall und die Gummistiefel stieg. Wie angekündigt hatten sich die Wolken verzogen. Auch bei abnehmendem Mond konnte man das Sternenfirmament gut erkennen. Er stapfte, eine merkliche Kondensfahne produzierend, zur Scheune hinüber. Auf der anderen Seite war es ebenfalls dunkel, aber feucht und sehr warm. Den Overall abstreifend marschierte Nemo unerschrocken los. Am Weg räusperte er sich. "Arkandi? Arkandi, bist du noch wach?" Im Dickicht grummelte eine Stimme drohend. "Was soll der Radau? Gehörst du nicht längst ins Bett?!" Nemo nickte bestätigend. "Stimmt, ein bisschen geschlafen habe ich, aber ich dachte mir, du würdest es vielleicht sehen wollen. Wir könnten es versuchen, weißt du?" Für einige, lange Augenblicke herrschte eine angespannte Stille. "Pah. Das geht nicht." Den Overall faltend konterte Nemo gutgelaunt. "Weil das alle sagen? Oder weil du es schon mal probiert hast?" Kein Dröhnen, kein Blätterrauschen. "Wahrscheinlich pass ich gar nicht durch. Bin viel zu groß! RIESIG!" Was Nemo keineswegs abschreckte. "Bis jetzt ist nichts steckengeblieben. Also, wollen wir es mal versuchen?" "Ich fress dich. Wissen doch alle." Nemo drehte sich zum Pfad um. "Wir machen es so: ich schlüpfe wieder in meinen Overall. Drüben ist es ganz schön kalt. Dann schließe ich die Augen, halte mich fest, an einem Stück von deiner Kleidung zum Beispiel. Wir gehen rüber, schauen uns die Sterne an. Man kann sogar ein bisschen vom Mond sehen." Lockte er tatendurstig, unternahm seine angekündigten Schritte, wartete vor dem Portal. In seine Linke schob sich, als ihm schon ziemlich warm war, ein rauer Zipfel, von einem recht groben Stoff. Nemo tappte mit dem Gummistiefel auf die andere Seite. @~-~@ Arkandis Augen funkelten silbrig, von innen heraus strahlend. Den Kopf in den Nacken gelegt staunte er den Sternenhimmel der Menschenwelt an. Kein bisschen größer oder breiter als Nemo. Zugegeben, die wie Stacheln abstehenden Antennenhaare in Marineblau waren etwas ungewöhnlich, aber ansonsten wirkte seine "andere" Gestalt hier wie ein Junge in kurzen Hosen mit einem lumpigen Kittel. Der vor Faszination nicht mal fror! Was Nemo äußerst beeindruckend fand. Außerdem freute er sich sehr, seinem Freund, der ihm geholfen hatte bei der Portalnutzung, auch ein Vergnügen zu bereiten. "Toll, nicht? Einige Menschen sind schon auf dem Mond gelandet." Gab Nemo leise wieder, was sein Vati ihm erzählt hatte. "Stand in dem Buch." Wisperte Arkandi beiläufig. "In der Schule gibt es Modelle, Bilder und Instrumente, um schärfer zu sehen." Köderte Nemo sanft. Arkandi grummelte, sehr viel leiser als sonst. "Pah. Keine Schule." Was Nemo nicht abschreckte. "Wenn du nicht gar zu groß bist, könnten wir es versuchen, nach Schulschluss. Es ist niemand da, den du erschreckst." Neben ihm brütete Arkandi, zum ersten Mal nicht vom himmlischen Anblick vollends gebannt. "Pah. Ich fress alle." Auf diese leere Drohung ging Nemo gar nicht mehr ein. "Du kannst es dir ja mal überlegen." Wies er diplomatisch auf einen Aufschub hin. Arkandi grummelte, riss sich bedauernd vom Sternenhimmel los. "Kalt hier. Da bekomm ich GLEICH HUNGER." Nemo grinste. "Da bringe ich dich lieber mal wieder rüber." So, wie der Hinweg absolviert worden war, erledigte er auch den Rückweg. Er meinte, ganz leise, ein "Danke" vernommen zu haben, doch das benötigte er gar nicht, auch ohne Draht. Sorgsam die Verandatür schließend entpuppte er sich, sockte die Stiege hoch, schlüpfte hinter den Vorhang in seine Hängematte. Nadia brummelte im Schlaf etwas, knuddelte den Plüsch-Kronk von Lustibus. »Gleichstand.« Lächelte Nemo glücklich und schlief entspannt in den ersten Weihnachtstag hinein. @~-~@ ENDE @~-~@ Vielen Dank fürs Lesen! kimera