Titel: Ohne Dich Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Spannung Ereignis: Halloween 2009 Erstellt: 08.09.2009 Disclaimer: alles Meins! Happy Halloween 2009! (^ , , , ^) (^ , , , ^) (^ , , , ^) (^ , , , ^) (^ , , , ^) (^ , , , ^) (^ , , , ^) (^ , , , ^) (^ , , , ^) Ohne Dich Kapitel 1 - Die Blei-Ente "Dir wachsen noch Schwimmhäute." Wulfstan, von allen nur Wulf gerufen, grinste breit, hängte sich bequem in den Überlauf. Er wusste, dass Oli, der äußerlich eine frappierende Ähnlichkeit mit einem Wiener Würstchen aufwies, was die Hautfarbe anging, ihm wohlgesinnt war. Der Senior-Bademeister ließ ihm seine kleinen Eskapaden durchgehen, weil er ihn mochte. "Noch'n bisschen!" Handelte Wulf ungeniert, übte einen triefäugigen Hundeblick, der jedem deprimierten Bassett den Neid in die Tränensäcke getrieben hätte. "Na ja..." Brummte Oli mit einer rauen, kollernden Stimme, die von zu viel Tabak und hochprozentigen Getränken kündete. Er tätschelte Wulf die obligatorische Badekappe, ließ ihn ziehen. Immer noch grinsend paddelte Wulf von der Einfassung weg, tauchte ab. Darin war er sehr gut. Für Olis Begriffe sogar geradezu unheimlich gut. Nicht etwa, weil der Zehnjährige ein herausragender Schwimmer war, nein, es lag an seinen Abtauchzeiten. Hätte er nicht heimlich eine Stoppuhr bemüht, wäre es ihm unglaubhaft erschienen, wie lange sich Wulf unter der Wasseroberfläche tummeln konnte. Aus ihm selbst nicht ganz schlüssigen Gefühlen heraus thematisierte er die besondere Begabung des Jungen nicht. In diesem Moment hatte er ohnehin andere Sorgen. Eine ganze Truppe Kinder trabte mit einem Betreuer herein, der offenkundig kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Zumindest ordnete Oli die schrill hochgeschraubte Stimme in die Kategorie der ernstzunehmenden Vorwarnzeichen ein. Er entfernte sich, um das Chaos aufzulösen. Wulf dagegen tauchte. Das fiel ihm leicht. Er hatte ebenfalls keine Mühe, sich seine Atemluft einzuteilen. Schließlich war es erforderlich, gehörte überdies zu seiner höchst eigenen Schwimmtechnik. Durch das reflektierende, sich brechende, leicht kräuselnde Wasser konnte er oben am Beckenrand Bewegungen erkennen. Einige Gestalten hielten sich dort auf, was leider das Ende seiner geliebten Schwimmpraxis bedeutete. Er konnte es nicht ausstehen, wenn sich so viele Leute im Becken breitmachten und herumtobten. Eine Dynamik schien in den kleinen Trupp zu kommen. Wulf blinzelte, schraubte sich mit schlängelnden Bewegungen zur Oberfläche, neugierig, wenn auch mit einer unerfreulichen Vorahnung ausgestattet. Kaum hatte er den Kopf über die Wasserkante geschoben, bot sich ihm ein leidlich vertrautes Schauspiel: einige Jungen in seinem Alter hatten einen anderen gepackt, waren emsig damit befasst, den Widerstrebenden ins chlorige Nass zu befördern. Ihr Opfer presste verbissen die Lippen aufeinander, zappelte und trat um sich. Wulf registrierte beiläufig, wie sehr sich der Junge von den anderen unterschied: die Badehose ähnelte eher Knickerbockern. Darüber schlabberte ein T-Shirt. Die Haare trug der Junge so lang, dass sie ihm auf die Schultern fielen. Seine ganze Erscheinung wirkte so, als habe er nicht die geringste Absicht, ins Wasser zu steigen, wolle lediglich hier eine erzwungene Zeitspanne absitzen. Dazu kam es jedoch nicht. Ein heftiger Tritt ins Gesäß beförderte den Jungen über den Beckenrand und tiefer. Er versank wie ein Stein. (^ , , , ^) Wulf schüttelte abschätzig den Kopf, fragte sich, warum es anderen solches Vergnügen bereitete, jemanden zu drangsalieren. Fühlten sie sich stark? Er suchte nach dem Absturzopfer, bemerkte erstaunt, dass wider Erwarten kein Auftauchen erfolgte, keine Schwimmbewegungen das Wasser in Unruhe versetzten. Tief Luft einsaugend wühlte sich Wulf tiefer. Unten, wo das Licht düsterer wurde, blubberten ihm Atembläschen entgegen. Ihre Quelle wehrte sich nicht gegen das Versinken. Stocksteif, die Arme an die Seiten gepresst, glitt der Junge dem Beckenboden entgegen. »Da stimmt doch was nicht!« Alarmiert folgte Wulf der Blasenspur. Hatte der Junge vielleicht einen Muskelkrampf? War er bewusstlos vor Schreck? Normalerweise gerieten die anderen Abwurfopfer in Panik, ruderten wild herum, spuckten Wasser, grapschten nach allem, was irgendwie Halt oder Auftrieb versprach. Wenn er glaubte, dass der andere Junge keine Angst hatte, so sah er sich getäuscht, als er ihn erreichte: die schwarzen Augen weit aufgerissen starrte ihn ein fahlbleiches, spitzes Gesicht an. Wulf blinzelte verblüfft, schnappte geistesgegenwärtig nicht nach Luft. »Ach du Schande...« Einen langen Augenblick später entschied Wulf, dass sie hier beide jämmerlich absaufen würden, wenn er jetzt nicht etwas unternahm. Er drehte folglich leicht ab, glitt geschmeidig hinter den anderen Jungen, der wie Blei auf dem Beckenboden klebte, schob ihm einen Arm unter die Achseln. Bevor er jedoch energisch Richtung Oberfläche abheben konnte, kam Bewegung in seinen Schicksalsgefährten: der biss ihn kräftig in den Arm! »Kruzifix!« Fluchte Wulf, leuchtete dem verhinderten Hai mit einer Kopfnuss heim. Inklusive dem derart betäubten Handgepäck im Schwitzkasten gelang es ihm auch, rasch nach oben zu tauchen. Es knackte schon warnend in seinen Ohren. Wulf steuerte den Beckenrand an, nachdem er sich auf die Seite gedreht hatte, seine widerspenstige, nun röchelnde Beute hinter sich her zog. Das war nicht einfach. Er unternahm eine solche Anstrengung zum ersten Mal. Zumindest erwies sich der bissige Junge als kooperativ, stellte die Kampfhandlungen zurück. Am Beckenrand nahm Oli ihm seine Last ab, fischte sie aus dem Wasser, wollte den Jungen in eine stabile Seitenlage bringen. Dazu kam es aber nicht. Unerwartet rollte sich der Junge zusammen, kam auf Knie und Ellen, holte tief Luft, erbrach Wasser sowie die letzte Mahlzeit. »Sauber!« Dachte Wulf. »Einsame Spitze.« So machte man sich bestimmt keine Freunde, auch wenn er ein gewisses Verständnis für diese Reaktion aufbrachte. Nachdenklich studierte er seinen lädierten Arm. »Der hat mich wirklich GEBISSEN!« Stellte er erbost fest. Musste er mit Jod desinfizieren? Jedenfalls war Wulf die Lust am Schwimmen vergangen. Er paddelte zu einer entfernteren Leiter, zog sich an den Holmen hoch, drehte sich auf der breiten Plattform vom Bauch auf den Hintern. Als er sicher saß, beugte er sich vor, um den engen Kunststoffschlauch zu lösen, der mittels Klettverschluss seine Beine fest aneinander band. Wulf legte die Hände unter die Kniekehlen, hob sie an, damit seine dünnen Beine zusammenklappten, absolvierte geübt eine Rolle rückwärts, um sich von der Leiter zu entfernen. Oli näherte sich schon mit dem Spezialrollstuhl für behinderte Badegäste. Seine säuerliche Miene verriet, dass er die Vorführung eben nur sehr bedingt goutiert hatte. "Verdammte Bengel!" Knurrte er dementsprechend gallig. "Wer hat diesen Trottel bloß dazu gebracht, sich als Lehrer zu blamieren?!" Wulf schmunzelte heimlich, rutschte per Podex zu einem altmodischen Starterblock, justierte seine gefühllosen Beine entsprechend, dass er sich bäuchlings auf den Block ziehen, darauf platzieren, bequem über eine abgeklappte Seite im Rollstuhl residieren konnte. "Konnte der Junge nicht schwimmen?" Erkundigte er sich neugierig, während Oli ihm den Schwimmschlauch reichte. "Tja." Grummelte der brummig. "Sah für mich zumindest nicht danach aus. Schätze, im Tauchen war er besser." Wulf lachte, genoss es, vornehm zu den Duschen kutschiert zu werden. (^ , , , ^) Wulf seifte sich gründlich ein, spülte sorgfältig nach, wrang seine Badehose ordentlich aus. Das war Routine für ihn. Anschließend frottierte er sich, verstaute die nassen Badesachen im Handtuch, knäulte es zusammen, packte es in eine Plastiktüte, deren Aufdruck aufgrund der Beanspruchung schon verwittert war. Er dekorierte artig ein kleines Handtuch über dem Schritt, lagerte seine Habseligkeiten auf dem Schoß, rollte zu den Umkleidekabinen hinüber. Als er seine Sachen aus dem Schließfach holen wollte, registrierte er im Augenwinkel eine Gestalt. Blitzschnell schlug er die Spindtür zu. Die Blei-Ente, wie er den Jungen heimlich getauft hatte, stand am Ende der Schließfachreihe, tropfnass und splitternackt. Sie streckte ihm die Zunge raus, gab Fersengeld. "Ja, danke auch für die Hilfe!" Schnaubte Wulf ihm nach, schüttelte den Kopf, angelte sein Eigentum aus dem Blechsarg. Er benötigte einen Moment, um seinen eigenen Rollstuhl, eine zusammenklappbare Spezialanfertigung, zu entfalten. Er schob ihn vor sich her in die extra großen Kabinen für behinderte Badegäste. Obwohl er keinen Dank erwartet hatte, ärgerte ihn die Reaktion der Blei-Ente doch. Methodisch zog Wulf sich an. Bei seinem muskulösen Oberkörper ging das fix, bei seinen Beinen musste er etwas Geduld beweisen, bis er in die lockere Jogginghose eingefädelt war, sie hochkrempeln konnte. Socken waren dagegen einfach, bloß Knie einknicken und Knöchel in die richtige Position drehen. Nach einem letzten, kontrollierenden Blick in die Runde rollte Wulf aus der Kabine, den Spezialrollstuhl im Schlepptau. Die ältliche Kassiererin winkte, watschelte hinter dem Empfang hervor, um ihn von seinem Anhänger zu befreien. Wulf senkte den Blick auf die Uhr. In zehn Minuten würde der nächste Behindertenbus auf dem Parkplatz erscheinen, all die Leute einsammeln, die sich hier im Kur- und Sportzentrum tummelten. Er war mit Abstand der jüngste Fahrgast. Plötzlich alarmierten ihn seine Instinkte. Er hob ruckartig den Kopf. Wieselflink flitzte eine Gestalt heran, bremste kurz ab, um nicht mit seinem Rollstuhl zu kollidieren, schlang ihm dünne Arme um den Hals, küsste ihn auf eine Wange. Wulf drehte verblüfft den Kopf, hob im Reflex eine schwielige Hand an die Backe. "Danke!" Flüsterte eine Jungenstimme rau. Schwarze Augen studierten ihn so eindringlich, dass Wulf rot anlief, aber er konnte den Blick nicht abwenden. Stattdessen grinste er zögerlich. "...schon recht." Murmelte er, bemerkte nun erst, dass die Blei-Ente wirklich bildschön war. Wie ein Friedhofsengel. (^ , , , ^) Kapitel 2 - Fischzug Wulf stemmte die Arme gegen die Schreibtischkante, bis es vernehmlich in seinem Nacken knackte. Er reckte und streckte sich ausgiebig. Eigentlich sollte er sehr zufrieden sein. Seine kleinen Bots funktionierten wie erwartet, marschierten munter durch das weltweite Netz. Außerdem hatte er schon gemütlich lange vor dem Abgabetermin seine Hausarbeiten abgeliefert. Aber... Er drehte den sonderangefertigten Rollstuhl leicht, warf einen kritischen, zugleich ratlosen Blick auf sein großes Bett. Dort lag der blei-entige Friedhofsengel um eine Wärmflasche gerollt. Das gefiel Wulf gar nicht. Er wusste einfach nicht, was er unternehmen sollte, obwohl sie seit sechs Jahren beste Freunde waren, sich quasi täglich sahen. »Wenn ich ihn direkt frage, weicht er mir aus. Oder bockt!« Fasste Wulf zum wiederholten Mal die Situation zusammen. So freundlich und friedfertig Gregoire sich üblicherweise benahm, konnte er jedoch halsstarrig und stur werden, wenn jemand ihn zu etwas bewegen wollte, das ihm partout nicht in den Kram passte. Erklärungen gab es NUR und AUSSCHLIESSLICH, wenn Gregoire das für angemessen hielt! Was sollte, ja, was konnte man da tun? Wulf machte sich Sorgen, schon seit einer geraumen Weile. Wenn Gregoire befand, dass es ihn nichts anginge, dass es eine Privatangelegenheit sei, konnte er wohl nichts Anderes tun, als sich damit abzufinden. »Bloß sagt er das ja nicht!« Zürnte Wulf stumm, studierte die bleichen Gesichtszüge, die hinter dichten Strähnen nussbraunen Haars zu erkennen waren. Nein, alles, was Gregoire zu entlocken war, reduzierte sich auf "es geht mir nicht gut." Er klingelte, murmelte diese Ankündigung, verkroch sich in Wulfs Bett, ließ sich eine Wärmflasche reichen, die Wulf nun gewohnheitsmäßig auf der Mikrowelle ablegte, um sie jederzeit griffbereit zu haben. Dabei war es nicht immer so gewesen. Früher hatten sie herumgetobt, Ball gespielt oder Tischtennis, hatten gemeinsam Hausaufgaben gemacht. »Vielleicht liegt's an der Pubertät?« Hatte sein Vater geantwortet, als er ihn gefragt hatte, beunruhigt von Gregoires unerwarteter Veränderung. »Wer kann das schon wissen? Sie sind eben anders.« »Für mich nicht.« Wulf lockerte systematisch seine Muskeln, ließ seinen Kiefer kreisen. Gut, Gregoire hatte nie Schwimmen gelernt und schon dreimal die Schule gewechselt. »Trotzdem!« Dachte Wulf grimmig, betrachtete seinen schlafenden Freund. Er war hin und her gerissen zwischen seiner Sorge um Gregoire und der Angst, der möge ihm die Freundschaft aufkündigen, wenn er eine Erklärung erzwänge. So gut er sich auf Autonomie verstand, so klug und souverän er auf andere wirkte: auf Gregoires Gesellschaft wollte er nicht verzichten. Der war die einzige Person, ausgenommen seine Eltern, die unverbrüchlich zu ihm stand, die Geduld bewies, wenn er mal wieder stundenlang Fraktale studierte, Logarithmen berechnete oder neue Fachartikel über die Schwarm-Forschung las, ihm beim Training Gesellschaft leistete (das Schwimmen ausgenommen), sich mit ihm freute oder ärgerte. Ihm ganz normal begegnete, nicht mit Missgunst, Neid oder Mitleid. Leise rollte er näher, legte eine schwielige Hand auf Gregoires Schulter. "He." Flüsterte er sanft. "Ich mache was zu essen. Was magst du haben?" "...hab keinen Hunger." Gregoire verkroch sich tiefer in die Bettdünen. Wulf seufzte vernehmlich, brummte aufgeräumt. "Na gut, wie du meinst. ICH werde mir jedenfalls Waffeln machen. Mit Pflaumenmus!" »Er wird schon rauskommen!« Dachte er, während er kehrtmachte, zur Küchenzeile rollte. Der Geruch frischer Waffeln konnte Tote hervorlocken. Damit gehörte Gregoire quasi zur Zielgruppe. (^ , , , ^) Wulf ließ das Radio auf dem Nachrichtensender laufen, während er ohne Mühe seinen Haushaltstätigkeiten frönte. Vor knapp einem Jahr war er ausgezogen, hatte hier, in einem ebenerdigen Bungalow, seine neue Heimat gefunden. Zunächst waren seine Eltern skeptisch gewesen, ob er sich nicht vielleicht übernehmen könnte. Er "tanzte" ja auf zahlreichen Hochzeiten gleichzeitig. Außerdem lag es in den Genen, stets in Gesellschaft zu bleiben. Wulf wollte es dennoch versuchen, er fühlte sich dazu bereit. Auch wenn er das nicht zugab, er wollte etwas verändern, ein Zeichen setzen, sich nicht mehr länger zurückhalten, einschränken, immerhin war er schon 15 Jahre alt! Aber so, wie die Dinge standen, wäre es aussichtslos gewesen, weil man ihn für einen Krüppel hielt, für behindert. Diese Auffassung konnte Wulf überhaupt nicht teilen. Er war mit gelähmten Beinen geboren worden, kannte es nicht anders. Gut, er würde nie stehen oder gehen können, aber deshalb waren seine Beine doch kein Hindernis! Sie funktionierten eben anders. Für einen intelligenten Menschen mit Ehrgeiz und Energie war es nichts weiter als eine Herausforderung, einen anderen Weg im Alltag zu finden! Damit stachelte Wulf sich selbst an. Eingestandenermaßen fand er sich von der Natur in geradezu verschwenderischer Weise begünstigt: er galt als hochbegabt. Deshalb bereitete es ihm auch keine Mühe, mit 16 Jahren die Hochschulreife zu erlangen, bereits erste Scheine für sein Fernstudium zu ergattern. Weiterhin waren seine Eltern mutig und vermögend genug, ihrem einzigen Sprössling jede mögliche Förderung und Unterstützung zukommen zu lassen. Außerdem zeichnete er sich durch ein ausgeglichenes Gemüt und einen sehr belastbaren Körperbau aus. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass er ein Werwolf war. (^ , , , ^) Wulf saß, einen Teller bequem auf dem Schoß abgestellt, wieder vor seinen Monitoren, studierte die Ausbeute seiner Bots, als Gregoire der Bettstatt entstieg. Malerisch verstrubbelt kletterte er auf einen Stapelhocker neben Wulf, begutachtete die dezent flimmernden Bilder. Ohne ein Wort angelte er eine Waffelrolle, aus der Pflaumenmus quoll, biss herzhaft hinein. Wulf schmunzelte, begann Gregoire zu erläutern, was sie gerade betrachteten. (^ , , , ^) "... Kruzifix noch mal!" Murmelte Wulf fassungslos. Er wusste ja, dass er gut war, aber dieses Ergebnis hatte er nicht erwartet! Nervös und aufgeputscht begann er automatisch, sämtliche Muskelstränge zu lockern, die seinen Torso umspannten. »Was jetzt?!« Fragte er sich stumm, blickte gebannt auf die Anzeige. (^ , , , ^) Wulf hatte sich nie etwas darauf eingebildet, dass er recht ordentlich in Sachen Mathematik war. Das erschien ihm so selbstverständlich wie das Werwolfsein. Andere sahen das anders. Wulf liebte es, Fraktale zu studieren. Er konnte nicht aufhören, nach Regelmäßigkeiten und Strukturen im Chaos zu suchen, sei es bei Netzwerken oder im Schwarmverhalten. Er beherrschte mühelos verschiedene Programmiersprachen, konnte selbst komplexe Programme lesen wie andere das Telefonbuch. Es offenbarte sich ihm einfach. Außerdem war er neugierig, er wollte den Dingen auf den Grund gehen, Ursache und Wirkung verstehen. Deshalb fiel ihm Lernen nicht schwer. Er konnte ohne Mühe Klassen überspringen. "Ist ja auch einfach, wenn man nur auf dem Arsch sitzt!" Hatte ihm ein Mitschüler mal wütend ins Gesicht geschrien. Mit Gleichaltrigen kam Wulf nicht besonders gut zurecht. Wenn er mit ihnen in die Schule ging, stand die Konkurrenzsituation im Vordergrund. »Dabei hätte bloß mal einer sagen können 'okay, du bist so ein genialer Eierkopf, aber ich kann im Stehen pinkeln'!« Dachte Wulf. Das hätte ihm imponiert. Man wäre auf gleicher Ebene gewesen. Niemand außer Gregoire hatte ihn als Ebenbürtigen anerkannt. Wulf hätte sich auch gern einem Rudel angeschlossen, wie das Werwölfe mit Beginn der Pubertät zu tun pflegen, doch niemand zeigte Bereitschaft, es mit ihm zu versuchen. Ein Werwolf im Rollstuhl?! Früher hätte man... Ja, Wulf wusste genau, was man früher getan hätte. Ein Werwolf, der sich nur eingeschränkt selbst verteidigen konnte, bedeutete eine Gefahr für alle im Rudel. Entweder erledigte man ihn selbst, oder man stieß ihn aus, damit andere das tun konnten. Heutzutage wurde man einfach ignoriert. »Was total bescheuert ist! Zumindest in meinem Fall!« Er konnte ohne große Anstrengung in fremden Netzwerken wie der Hausherr selbst herumspazieren, verstand sich auf Codierung und Hacken, hatte eine hohe Moral (abgesehen von ungenierter Neugierde) und war fleißig. Wulf WUSSTE, dass er einem Rudel nützlich sein konnte! Da niemand gewillt war, ihn in ein Rudel aufzunehmen, würde er eben sein eigenes Rudel sein! Da müsste er sich auch nicht blöde Bemerkungen über Gregoire anhören. Im Gegensatz zu seinen aufgeschlossenen, gelegentlich sogar recht unbekümmerten Eltern beäugten die anderen Werwölfe seine enge Freundschaft mit Gregoire abschätzig. Deshalb zog Wulf sich auch aus den Gemeinschaftsveranstaltungen zurück, was gänzlich gegen die Clan-Instinkte eines Werwolfs verstieß. »Ich weiß zumindest, wer auf mich hält!« Ermahnte er sich stets, wenn seine Eltern ihn baten, sie doch zu begleiten. Jetzt, im eigenen Zuhause, auch wenn es nicht besonders schmuck war, als frischgebackener Student und erwartungsvolle 16 Jahre alt, rollte er über die Schwelle einer vielversprechenden Zukunft. »Wenn jemand hergebrachte Gleise verlassen kann, dann ja wohl ich!« (^ , , , ^) "Sieh dir das an!" Wulf wandte den Kopf, um Gregoires Reaktion zu studieren. Seine Begeisterung konnte Gregoires Schläfrigkeit nicht recht vertreiben, ganz zu schweigen von den dunklen Augenringen und der kalkigen Blässe des Teints. Gregoire schwieg, blinzelte. Seine schwarzen Augen, leicht mandelförmig gebogen, erfassten Zeilen und einzelne Fenster, die Entwicklungen auf dem Monitor abbildeten. "Wie hast du das angestellt?" Erkundigte er sich heiser. Unaufgefordert reichte Wulf ihm die Thermoskanne mit der heißen Schokolade weiter, seine Geheimwaffe gegen lange Nächte vor dem Computer. "Ein neues Programm. Ich habe die Bots erst vor ein paar Tagen losgeschickt." Wulf grinste, präsentierte sein beeindruckendes Gebiss. "Hätte nicht gedacht, dass es SO gut funktioniert." Gregoire wischte sich eine dicke Strähne hinter das Ohr, zog ein Knie vor den Leib, nagte an einem Daumen. "Was jetzt?" Fragte er sich nach. "Tja~aaa." Grübelte Wulf gedehnt. Eigentlich genügte ihm schon die Gewissheit, dass er sich in eine der größten Banken einer Steuer- und Schwarzgeldoase eingeschlichen hatte. (^ , , , ^) Wulf "spazierte" gern durch fremde Netze. Es war, als sehe man durch einen Spiegel die Gedanken und Absichten der "Erbauenden" dahinter. Der städtische Stromversorger zum Beispiel war ein wahrer Dschungel, über Jahre gewuchert, hier und dort bebastelt, ein organisches Netz, voller merkwürdiger "Blüten". Ein Handelsriese für Nahrungsmittel dagegen erwies sich als stringent, sehr aufgeräumt, ja, beinahe bieder. Jede Route glich der anderen, die Verästelungen waren ausnahmslos durchdacht und klinisch sauber. Hier konnte er sich damit amüsieren, die winzigen Fehler im Gewebe aufzuspüren, die aus der Perfektion wieder eine menschliche Umgebung machten. Wulf sah sich immer nur um. Er hinterließ keine "Geruchsmarke". Er verkaufte oder verbreitete die gewonnenen Erkenntnisse nicht. Er widerstand tapfer der Versuchung, auf gelegentlich hanebüchene Sicherheitslücken aufmerksam zu machen. Er blieb unsichtbar, ein Geist. Soziale Netzwerke fand er belanglos und fade, trieb sich selten auf entsprechenden Plattformen herum. Was nicht gleichbedeutend mit der Unfähigkeit war, sie ebenfalls penetrieren zu können. Seine fleißigen Bots, winzige, selbst verfasste Programme, die für ihn das Klinkenputzen, Aufstöbern und "Erbeuten" übernahmen, lieferten ihm unermüdlich und systematisch eine Menge Informationen. Aber Programme waren nicht intelligent. Sie konnten kaum klüger als ihr Schöpfer sein, verfügten über keinen Funken Intuition. Deshalb war der Mensch noch erforderlich, um die Ausbeute der Raubzüge im virtuellen Raum zu begutachten und zu bewerten. Programme verstanden sich auf Wahrscheinlichkeiten, aber es mangelte ihnen an der notwendigen Ignoranz, auf das Glück zu setzen. Wulf hatte "Glück". Auch mangelte es ihm nicht an Intuition, er war schließlich ein geborener Jäger. Außerdem war ihm gerade speiübel. Erfolg und Glück sollten sich nicht so anfühlen! (^ , , , ^) Der Schritt vom "Geist" zum "Kämpfer" bestand in einigen wenigen Aktionen: Tastendruck, die Maus schubsen, ein wenig Kreativität. Dass es viel zu einfach, zu mühelos vonstatten ging, machte Wulf Sorgen. Andererseits: er WAR gut. Das konnte man sich ja nur selbst beweisen, indem man sich den Risiken stellte. »Es ist ja für eine gute Sache!« Bemühte er sich um Selbstsicherheit. Das nagende Gefühl düsterer Vorahnung ließ sich nicht so einfach abschütteln. (^ , , , ^) Kapitel 3 - Unter Attacke! "Mir geht's nicht gut." Murmelte Gregoire mit gesenktem Haupt, galoppierte an Wulf vorbei, streifte hastig die Slipper ab, kroch unter die Decken in dessen Bett. "...ja...hallo auch." Brummte Wulf, schloss die Tür wieder, aktivierte die Alarmanlage. Er folgte seinem Freund, um wie gewohnt die Wärmflasche in der Mikrowelle aufzuheizen. "Mir geht's übrigens auch beschissen." Knurrte er kaum hörbar, doch es schien nicht opportun, das Thema gerade jetzt aufs Tapet zu bringen. Es plingte vernehmlich, also fingerte Wulf die Wärmflasche in ihrem Schafskostüm aus dem Magen der Mikrowelle, rollte zu seinem Bett. Ungeniert klappte er die Decke hoch, um das mobile Heizgerät zu deponieren, damit Gregoire sich wie üblich darumwinden konnte. Von dem er im Übrigen nur einige Strähnen sah. Wulf seufzte, kehrte an seinen "Arbeitsplatz" zurück. Er wollte wirklich gern mit jemandem über das sprechen, was er gesehen und was er anschließend getan hatte. Vorzugsweise Gregoire. Auf unbestimmte Weise unruhig räumte er auf, kontrollierte die Dateisicherung, schmierte sich ein Butterbrot, absolvierte seine Kraftübungen, bevor er sich erneut an die Lese der geernteten Daten begab. Gregoire rührte sich noch immer nicht. Wulf warf einen grimmigen Blick auf sein okkupiertes Bett. »Los... wach auf... Hintern hoch!« Bemühte er sich um Suggestivkraft via Gedankenübertragung ohne irgendeinen nennenswerten Erfolg. "Grmpf!" Schnaufte er laut. In diesem Moment blinkte es auf seinem Monitor, ein Signalton folgte. Abgelenkt konzentrierte sich Wulf mit gefurchter Stirn auf die Anzeigen, die er auf fünf der insgesamt sechs Bildschirme an seinem Arbeitsplatz holte. "Verdammte HACKE!" Zischte er besorgt. Ein Rudel maskierter Figuren war auf das Grundstück eingedrungen und hatte seine Sicherheitsschranken passiert! "Gregoire!" Flüsterte er rau. "Gregoire, wach auf! Wir stecken in Schwierigkeiten!" (^ , , , ^) Fünf der acht versteckten Kameras waren zerstört. Außerdem hatten sie die Stromversorgung und das Festnetz abgeklemmt. »Drecksäcke!« Wulfs Finger tanzten über die Tastaturen. Seine grimmige Miene verriet, dass er nicht gewillt war, die Waffen zu strecken. Außerdem, dem äußeren Anschein nach, würde diese Guerilla-Truppe auch keine Gefangenen machen wollen. Gregoire kauerte neben ihm, die Beine vor den Körper gezogen. Er sah elend aus, leichenblass, mit spitzen Gesichtszügen. "Was wollen die?" Fragte er erneut, die Stimme ungewohnt zittrig und hell. "Was wollen die?!" Wulf sparte sich eine Antwort. Zunächst galt es unbedingt zu verhindern, dass man sie kriegte! Er drang mühelos und geübt in das Netzwerk der privaten Sicherheitsfirma ein. Anschließend aktivierte er bei der kompletten Nachbarschaft die Alarmanlagen, setzte Feuermeldungen ab, schaltete elektrische Rasensprenger, Rollladen und Beleuchtungssysteme an. Die gesamte Umgebung schien in einen gewaltigen, ohrenbetäubenden Tumult auszubrechen: die einsetzende Dämmerung des Frühabends wich gleißender Beleuchtung, Sirenen heulten, Warnlichter rotierten. Währenddessen lief seine Datensicherung, unermüdlich versorgt von einer USV und einem alten Dieselmotor. Wulf hatte den hässlichen Bungalow nicht ausgewählt, weil er bei "Schöner Wohnen" einen Preis gewinnen wollte. Ihm war es wichtig, eine Festung zu haben, ein sicheres Lager. Darin war er sehr "werwolf". Der gesamte Bungalow war in einen "Panic Room" verwandelt worden, eine Überlebenszelle. Seine Eltern hatten es gebilligt, immerhin war ihr einziges Kind ja "anders", deshalb besonders "schutzbedürftig". Gregoire presste die Hände auf die Ohren, stöhnte gequält. Wulf zapfte die Kamerasignale der Nachbarschaft an, um sich ein Bild zu verschaffen. Die Angreifer waren durch den Tumult aufgeschreckt, aber noch nicht bereit, die Segel zu streichen. "Die haben Kanister!" Gregoire vernachlässigte seine malträtierten Ohren, packte Wulfs muskulösen Oberarm. "Wulf, die wollen uns abfackeln!" "Was für ne Sauerei!" Brummte Wulf, überlegte fieberhaft. Die Sprinkleranlage führte lediglich Regen- und Brauchwasser, aber keine spezielle Löschchemikalie, mit der man Benzin- oder Ölbrände ersticken konnte. Ein gewaltiger Vorschlaghammer donnerte gegen die Eingangstür. »Ja, mach ruhig weiter!« Dachte Wulf wütend. »Das ist eine Brandschutztür mit extra verstärkter Aufhängung!« Im Einsatzleitzentrum der Feuerwehr häuften sich die Meldungen. Auch der Polizeieinsatzcomputer spuckte Lageberichte aus. "Wie lange brauchen die?" Wulf zögerte. Fünf Minuten, das wusste er, das war die gesetzlich verordnete, zulässige Dauer bis zum Einsatzort. Aber fünf Minuten waren eine lange Zeit im Vergleich mit der Entschlossenheit der maskierten Gestalten, die ins Haus einzudringen versuchten. "Gregoire!" Drängte er seinen Freund eilig. "Geh ins Bad, da steht ein großer Kanister. Den Inhalt gießt du bitte in Abfluss drei. Die Pumpe müsste schon laufen." Gregoire kletterte ungelenk vom Hocker, flitzte in den benachbarten Raum, um seiner Aufgabe nachzukommen. Um das Haus herum loderten Flammenwerfer auf, sengten den Außenputz an. "Saubande!" Fluchte Wulf. Er bezweifelte, dass eine Versicherung für solche Schäden aufkam. Augenblicke später produzierte seine Sprinkleranlage pinkfarbenen, Blasen schlagenden Seifenschaum, der auf die Angreifer und rund um das Haus herabregnete. "Was... ist das denn?!" Gregoire wischte sich fettige Strähnen aus dem Gesicht, stützte sich auf Wulfs Schulter. "Ein alter Posten flüssiger Schmierseife und Farbe." Kommentierte Wulf mit bösartigem Zähnefletschen. "Wollte ich eigentlich im städtischen Betriebshof entsorgen lassen." In das allgemeine Chaos mischten sich nun auch Einsatzsirenen. Zum ersten Mal zögerten die Vandalen. Nicht mal die farbige, stinkende Seifenlauge hatte sie aufgehalten. Gregoire zog zischend den Atem ein. "Die sind bewaffnet." Wulf nickte finster. Hier spielte sich gerade ein schlechter Horrorstreifen ab. Eine Frage wollte sich trotz aller Sorge nicht aus dem Kopf weisen lassen: wie hatten sie ihn gefunden?! (^ , , , ^) Im gesamten Viertel wimmelte es von Menschen: Einsatzkräfte suchten vermeintliche Feuer, Polizisten suchten seltsam gekleidete, mit Farbe beschmierte Personen, die sich in Luft aufgelöst zu haben schienen und die Nachbarschaft suchte Antworten auf die Frage, was zur Hölle in ihre Sicherheitstechnik gefahren war. Wulf hätte behilflich sein können. Im Augenblick jedoch dachte er angestrengt und mit wachsender Angst nach. Gregoire kauerte neben ihm, kaute nervös an seinem Daumen. »Wie haben sie mich aufgespürt?! Das KANN doch gar nicht sein?!« Tobten sich Selbstzweifel und Ratlosigkeit in Wulfs innerer Stimme aus. Er benutzte komplizierte Verschlüsselungen bei elektronischen Nachrichten, zerhackte jede Verbindung ins Internet in Informationsbrocken, die über verschiedene Server gelenkt wurden. Der Bungalow war abgeschirmt, es gab keine offenen Funknetze. Wulf hielt sich für paranoid-vorsichtig, was seine virtuellen Spaziergänge betraf. Wie also war es ihnen gelungen, seine Adresse zu ermitteln?! Wie hatten sie ihn als Verursacher des Bankrotts identifizieren können?! "Was wollen die, Wulf?" Gregoire wisperte bloß, als könne tatsächlich die Gefahr bestehen, dass man sie hörte. Im Augenblick, inmitten des Tohuwabohus draußen, stellten sie sich tot. Einen tiefen Luftzug später hielt Wulf es für angebracht, seinen besten Freund über gewisse Dinge in Kenntnis zu setzen. "Erinnerst du dich daran, wie ich in diese Bank reingekommen bin?" Wulf rollte von seinem Kommandostand weg, um einen Geheimvorrat an Schokoriegeln aufzutun. Systematisch begann er, die Taschen an seinem Rollstuhl zu füllen. "Na ja, einige Konten waren merkwürdiger als andere." Er grimassierte eingedenk dieser euphemistischen Umschreibung, da kaum eine Anlage als unbelastet von dubiosen Vorgängen betrachtet werden konnte. "Ich habe ein bisschen herumgeforscht, einige Bots losgelassen." Wulf gestikulierte, schob Gregoire einen zweiten Schokoriegel zum Wegnagen zwischen die Kiefer. Mit finsterer Miene studierte er die Bilder auf den Monitoren, scheinbar abgelenkt. "Das Geld kam vom Handel mit einer ziemlich üblen Droge, noch stärker als Crystal." Gregoire blinzelte verständnislos, wischte sich achtlos mit dem Handrücken über den Mund, verschmierte so Schokoladenreste gründlich. "Sozusagen die perfekte Droge, wenn das stimmt, was ich herausgefunden habe." Wulf hielt Gregoire ein Papiertaschentuch hin, damit der hineinspuckte, wienerte ihm über die Mundpartie. Er dachte sich gar nichts dabei, da Gregoire des Öfteren zu "Schmutzbärtchen" neigte. "Macht sofort süchtig, zerstört Gehirnzellen schnell und effektiv. Ist billig in der Herstellung und bisher noch nicht aufzuspüren." Wulf knirschte mit den Zähnen. Er hatte geheime Unterlagen mit höchst brisantem Inhalt aufgetan, als er durch eine Nachlässigkeit eine feindliche Festplatte übernehmen und spiegeln konnte. Beim Konsum der Nachrichten und Memos konnte einem übel werden! "Na ja." Er fokussierte Gregoire konzentriert, der wirklich das Gegenteil von blendend aussah. "Ich habe kurzerhand die Konten geleert und sämtliche Mittel umgeleitet. Sie sind praktisch pleite." Er hatte gehofft: unfähig, ihr widerwärtiges Geschäft weiterzuführen. Das war wohl ein wenig zu blauäugig gewesen. "Fragt sich bloß, wie sie herausbekommen haben, dass ICH es war." Wulf stellte sämtliche Alarmanlagen ab, um den Sicherheitstechnikern zuvorzukommen, "modifizierte" die internen Protokolle leicht, damit seine Spuren verwischt wurden. Was ihn auf einen anderen Gedanken brachte. "Sag mal, wo sind deine Eltern gerade?!" Gregoires Gesicht verschloss sich prompt. Die fettigen Strähnen fielen in sein Gesicht. Wulf kannte diese Reaktion zur Genüge, aber jetzt durfte er sie nicht durchgehen lassen. "Gregoire, verflixt, diese Typen machen keinen Spaß! Meine Leute sind glücklicherweise verreist, aber sie könnten deine Familie erwischen, um an mich heranzukommen!" Die Dringlichkeit in seiner Stimme hätte Gregoire eigentlich zur Kooperation bringen sollen, doch der schnalzte abschätzig, drehte den Kopf weg. Energisch legte Wulf ihm die Hände um den Kopf, drehte ihm das Haupt mühelos herum. Gregoires schwarze Augen funkelten zornig. Er zischte tonlos zwischen blutleeren Lippen seine Empörung über diese Willkür heraus. "Das ist kein Spiel mehr!" Plädierte Wulf eindringlich. "Ja, ICH hab's verbockt, klarer Fall, aber du steckst jetzt leider auch mit drin. Deshalb, BITTE, wo sind deine Eltern jetzt gerade?" Gregoire stemmte ihm die Hände gegen die Brust. Gegen Wulfs natürliche und veranlagungsbedingt übernatürliche Kraft hatte er nicht den Hauch einer Chance. Wütend bleckte er die Zähne, ein Paar fuhr nadelspitz aus seinem Oberkiefer. Kaum hatte er die instinktive Reaktion bemerkt, erschrak Gregoire, schrumpfte mit herabgesunkenen Schultern in sich zusammen, umklammerte Halt suchend seine angezogenen Beine. "He!" Wulf löste die Rechte, um über die fettigen Strähnen zu streichen. "Komm schon, alte Blei-Ente! Hilf mir ein bisschen!" Dabei kopierte er geübt den Trauer tragenden Bassett inklusive imaginärer Tränensäcke, die den legendären Derrick beeindruckt hätten. "Na schön!" Gregoire ruderte mit den Armen. "Lass endlich los! Musst ja nicht noch Brei aus dem Schädel machen, wenn schon das Gehirn matschig ist!" Wulf lächelte, atmete erleichtert auf. Er deponierte seine großen, schwieligen Hände artig im Schoß, setzte eine kreuzbrave Miene auf. "Das ist nicht komisch!" Fuhr Gregoire ihn giftig an, kämmte mit abgewandtem Gesicht unruhig durch seine vernachlässigte Mähne. Er atmete mehrmals durch, bevor er seine zusammengesunkene und eingeklappte Gestalt straffte. "Meinen Vater habe ich vor einem Dreivierteljahr das letzte Mal gesehen. Keine Ahnung, wo der gerade ist. Meine Mutter ist zwei Monate später mit ihrem neuen Stecher abgehauen." Wulf war wieder einmal dankbar dafür, dass er bequem saß. So konnte seine Kinnlade nicht allzu tief abstürzen. "Aber wieso hast du mir nichts gesagt?!" Entfuhr ihm baff. Es war entschlüpft, bevor er sich bremsen, den Vorwurf herunterschlucken konnte. "Ist doch nicht DEIN Problem!" Fauchte Gregoire, ließ die Beine heruntersausen, sprang auf die Füße, blitzte ihm unheilverkündend in die meergrauen Augen. "Was kümmern dich die beiden Scheiß-Vampire?! Kann dir doch egal sein, ob die verrecken!!" Man hätte einen Airbus in Wulfs Mund parken können, so weit stand der offen. Er traute seinen eigenen Ohren nicht, obwohl das idiotisch war, denn wessen Ohren wollte er sonst vertrauen? Gregoire presste beide Hände an die Schläfen, angespannt wie ein Flitzebogen. "Das~das habe ich nicht so gemeint." Murmelte er schließlich. "Bist du die ganze Zeit allein gewesen?" Wulf bemühte sich, seine Betroffenheit zu unterdrücken. Gut, Gregoire war schon 17 Jahre alt, aber... eben Gregoire! Der zischte, schnalzte bitter mit der Zunge. "Natürlich nicht. Meine Mutter hat ihren verfluchten Cousin Mathieu bei uns einziehen lassen. Der passt GUT auf mich auf." Er spuckte die Silbe verächtlich aus. Für einen langen, eigentlich kostbaren Augenblick, blieb es sehr still, nur der Dieselmotor leistete im Hintergrund seine treuen Dienste. "Dann sollten wir vielleicht ihm Bescheid sagen?" Schlug Wulf vorsichtig vor. So übellaunig hatte er Gregoire noch nie erlebt! Der erstarrte, hob sehr langsam und bedächtig den Kopf, leckte sich über die blutleeren Lippen. "...Wulf..." Selbst das Formulieren schien ihn herauszufordern. "Sag mal, wie konnten sie herausfinden, dass du...?!" "Wenn ich das wüsste!" Frustriert hob Wulf die muskelbepackten Arme an, ließ sie heruntersausen. "Ich habe ehrlich keine Ahnung! Ich meine, sie müssen die Bots entdeckt haben UND dazu eine IP-Adresse UND den Eigentümer, aber das ist NICHT möglich!" Er seufzte. "Ich verschlüssele jede Nachricht, zerwürfle jede Anfrage ins Internet über verschiedene Server, ich mische meine normale Kommunikation nicht mit meinen Experimenten." Nein, er konnte sich einfach nicht erklären, an welcher Stelle er so nachlässig gewesen war. "Ich glaube, dass wir Mathieu nicht warnen müssen." Murmelte Gregoire, sackte neben ihm schwer auf den Stapelhocker "Ah nein?" Kommentierte Wulf überrascht, aber auch argwöhnisch. Da war doch was im Busch! "Dieser beschissene Drecksack!" Wisperte Gregoire, legte das Gesicht in beide Hände. Wulf kraulte ihm besorgt den Nacken. "Hör mal, du machst mich ganz wuschig, wenn du nicht bald mit der Sprache herausrückst!" Gregoire wandte den Kopf, spitzte zwischen seinen langen, eleganten Fingern hervor. Seine schwarzen Augen wirkten trübe. Endlich äußerte er sich. "Er hat mir Skylla weggenommen." (^ , , , ^) Kapitel 4 - Auf der Flucht Wulf interessierte sich nicht für modische Bekleidung, die Hitparaden oder TV-Serien. Seine Version von Computerspielen bestand darin, sich ungesehen in fremde Domänen und Netzwerke einzuschleichen. Explodierende Autos oder Fantasy-Rollenspiele langweilten ihn. Abgesehen von seiner Selbständigkeit konnten ihn nur zwei Aspekte wirklich begeistern: Tuningmaterial für seinen "Schleudersitz" und Computer-Hardware. Da sie ihren ganz besonderen Sohn kannten, hatten Wulfs Eltern es sich nicht nehmen lassen, ihm zum Geburtstag und zu seiner Hochschulreife Nachschub für die "Kommandozentrale" zu schenken: zwei so genannte Nettops, kleine Computer für unterwegs, handlich, mobil, günstig. Da sie sich äußerlich nicht unterschieden, sondern nur an ihrer Baureihennummer auf dem Gehäuse kenntlich waren, hatte Wulf sie einfach Skylla und Charybdis getauft. Aus einer Laune heraus, nicht etwa, weil er sich selbst oder anderen Ungemach bereiten wollte. Mit Charybdis frönte er unterwegs dem normalen Kommunikationsbedürfnis, also im Internet nachschlagen und Trivialkorrespondenz, seine offizielle elektronische Visitenkarte für Schnüffler. Charybdis sollte ihn vor Verdächtigungen hinsichtlich seiner weniger offiziellen Aktivitäten abschirmen, wurde niemals an andere Computer seines Netzwerks angedockt. Skylla dagegen, ihre Schicksalsschwester, musste blind, taub und stumm bleiben, kein Kontakt nach außen aufnehmen. Hier konnte er mobil an seinen Bots oder anderen Programmteilen stricken, wenn er sich nicht im heimischen Bungalow befand. Aufgrund der Risiken war es unerlässlich, Skylla im "aseptischen" Raum zu belassen, lediglich an einen Standalone-Computer anzudocken, wenn er Versionen oder Fortschritte synchronisieren wollte. Erst wenn alle Tests positiv verliefen, gestattete Wulf den Programmen, mittels USB-Stick auf einen anderen Computer portiert, dort ins weltweite Netz gespeist zu werden. Nun studierte er seinen besten Freund ratlos und konsterniert. Warum hatte Gregoire Skylla an sich genommen? Was wollte er mit dem Nettop anfangen? Gregoire wandte den Kopf ab, stützte sich schwer auf den eigenen Knien ab, nagte an seiner Unterlippe. Ohne es zu bemerken glitten die spitzen Fangzähne aus seinem Oberkiefer, nadeldünn und sehr lang, gruben Furchen in die ohnehin trockene Haut. Wulf konnte nur hoffen, dass sich Gregoire bei solchen Gedankenlosigkeiten nicht von Fremden ertappen ließ. Es hätte einiges an Erklärungen erfordert. "Ich wollte dir eine Überraschung aufspielen." Aurmelte der dunkelhaarige Vampir schließlich tonlos, zog eine Grimasse. "Von einer Kauf-CD. Keine Viren und nix." Ein bitteres Lächeln zuckte in seinem Gesicht. "Das Passwort für Skylla wusste ich, hab dir ja oft genug auf die Finger geguckt." Er presste die Lippen aufeinander, die Fangzähne zogen sich blitzartig zurück. "Eine Überraschung sollte es werden." Wulf musste sich anstrengen, um Gregoires leiser Stimme folgen zu können. "Als der Scheißkerl reinplatzte, hab ich den Deckel runtergehauen, aber das verdammte Booklet war eingeklemmt. Der Arsch hat mir eine Abreibung verpasst, ist mit Skylla abgehauen." Gregoire ballte die Fäuste, legte den Kopf in den Nacken, fixierte die kahle Decke. Er zog die Nase hoch, ergänzte gallig. "Natürlich habe ich ihm gesagt, dass mir der Computer nicht gehört, aber das war ihm scheißegal." Wulf starrte Gregoire an, aus einer schier unglaublichen Distanz, wie er spürte. »Wann wolltest du mir das sagen?« Schoss ihm durch den Kopf, während er diesen fremden Jungen betrachtete, sehnig, beinahe ungepflegt, sauertöpfisch dreinblickend. War das wirklich Gregoire, sein bester Freund?! Der jedoch konzentrierte sich auf die Gegenwart, schlussfolgerte frostig, was sich ereignet haben musste. "Der Deckel war nicht zu, also brauchte er kein Passwort für Skylla. Irgendwie hat er den Browser gefunden, sich über einen Hotspot eingeloggt." Seine schwarzen Augen wirkten beschlagen, als er Wulf endlich wieder direkt ansah. "Der Idiot hat im Netz gesurft. Deine Bots sind rausmarschiert, weil das ihr Job ist, richtig? Da haben sie die Bots, eine aktive IP-Adresse und einen Blödmann, der mit einem Computer herumfummelt." Er hob eine Hand, schnippte trocken mit den Fingern. "Sie erwischen ihn. Er verrät ihnen, wer wirklich was von Computern versteht. Und wo du wohnst, als besonderen Service!" Zischte er giftig. Bedächtig fingerte Wulf die einsame Charybdis aus ihrer Tasche an seinem Rollstuhl. "So kann's gelaufen sein." Murmelte er leise, wandte sich energisch seinen Bildschirmen zu, studierte die einlaufenden Meldungen, würgte die bitteren Vorwürfe herunter, die ihm auf der Zunge lagen. Das änderte jetzt nichts mehr. Außerdem hatte Gregoire ja nicht ahnen können, was genau er da abgezogen hatte. Gregoire verstand nicht allzu viel von Computern. »Trotzdem.« Die Enttäuschung über den Verrat durch Entwendung saß wie ein Stachel in seinem Fleisch. »Konzentrier dich!« Rief er sich selbst zur Ordnung. Sie hatten momentan größere Probleme am Hals als seine verletzten Gefühle. "Zu meinen Eltern können wir jedenfalls nicht." Stellte er mit trockenem Mund fest: die Alarmanlage hatte einen versuchten Einbruch gemeldet, der Sicherheitsdienst und eine Streife waren ausgerückt. Außerdem hatte die sehr aufgeweckte Nachbarschaft, die schon mal Einbrecher mit Besen verdrosch, genug Lärm gemacht, um zwei potentielle "Diebe" zu vertreiben. Er erstarrte, als sich eine kalte Hand auf seine Rechte legte. "Es tut mir leid." Gregoire klang müde, resigniert. "Ich wollte dir bloß eine Überraschung bereiten." Wulf wandte den Kopf. »Wann hast du dich bloß so verändert? Wo ist deine Frechheit geblieben?« Dachte er erschrocken. Auf fatale Weise wirkte Gregoire wie eine Leiche, leblos und gelinde abstoßend. "Das ist nicht schlimm." Hörte Wulf sich selbst sagen. "Passiert ist passiert." Er WUSSTE, dass er Gregoire mit seiner gleichgültigen Replik verletzte, aber er konnte sich nicht überwinden, ihm die fettigen Haare zu raufen, ihm dieses missglückte Präsent nachzusehen. Um die bleischwer lastende Stille auszufüllen, starrte er konzentriert auf die zahlreichen Fenster, die Meldungen und Bilder ihrer näheren Umgebung aus gekaperten Kameras anzeigten. Er schluckte heftig, bevor er sich erneut äußerte. "Also... zu dir können wir auch nicht." Nicht dass er jemals in die Penthouse-Wohnung seines Freundes eingeladen worden wäre. "Nein, Mathieu, der Arsch...!" Gregoire hielt inne, seine schwarzen Augen wanderten eilends von Wulfs angespanntem Gesicht zur Bildschirmfarm. "Oh." Kommentierte er, was Wulf zuerst entdeckt hatte. "Tja!" Seine Achseln zuckten, seine Stimme täuschte Sarkasmus vor. "Schätze, meine Mutter wird ausrasten." Seine Linke, die wie weggeworfen neben Wulfs gewaltiger Rechter auf dem Tisch gelegen hatte, abgestreift, um die Maus zu schubsen, landete schwer auf dessen rechtem Knie. Auch wenn Wulf sie nicht spüren konnte, registrierte er ihre Anwesenheit doch. Er presste die Zunge gegen den Gaumen, suchte fieberhaft nach den richtigen Worten. Gregoires Stimme klang distanziert, hypnotisch ruhig. "Wulf, warum haben sie die Wohnung abgefackelt?" So beiläufig die Bemerkung schien, so beängstigend und entsetzlich ihre Konsequenzen. "An gleich drei Stellen Feuer, Brandbeschleuniger." Las Gregoire derweil die kurzen Einsatznotizen laut vor. "Zwei Bewohner noch vermisst." Wulf zog seine Rechte von der Maus ab, nahm Gregoires Linke von seinem Knie behutsam auf, hielt sie warm und fest. "Das tut mir leid." Flüsterte er mit eingeschnürter Kehle. "Es tut mir leid." Ein scheuer Seitenblick präsentierte ihm ein aus Stein gemeißeltes, schrecklich-schönes Profil. "Mir nicht!" Zischte Gregoire. Sein bitteres Lächeln signalisierte befriedigte Vergeltungssucht und ungetröstete Pein. "Vermutlich wollten sie wirklich alle Spuren beseitigen." Fuhr Gregoire höhnisch fort. "Der Bastard hat sich ein bisschen Feuer unterm Arsch redlich verdient. Ein kleiner Vorgeschmack auf die Hölle." Wulfs Kinnlade sackte herab. Meinte Gregoire das etwa ernst?! Dieser Mathieu war vermutlich ermordet und seine Leiche verbrannt worden! Wie konnte Gregoire nur so reagieren?! »Und was ist los mit dir, dass du nicht gemerkt hast, wie verkorkst Gregoire ist?!« Übertönte eine Stimme seine innere Erschütterung. Bevor er seinem Befremden, seinem Unbehagen Ausdruck verleihen konnte, drehte Gregoire ihm den Kopf zu. "Wenn sie schon einmal getötet haben, werden sie jetzt vor nichts mehr zurückschrecken." Erklärte er sachlich, die dünnen Augenbrauen konzentriert zusammengezogen. Seine spitzen, fast ausgemergelten Züge betonten die hervortretenden Knochen, ließen ihn sehr viel älter als 17 Jahre wirken. "Was tun wir jetzt?" Wulf schloss den Mund, öffnete ihn wieder, schloss ihn erneut. Er hatte VIEL MEHR abgebissen, als er jemals schlucken wollte oder konnte. Stumm fokussierte er seine Aufmerksamkeit auf die Monitore. Automatisch begann er, seine Muskeln zu dehnen und lockern, atmete mehrfach tief durch. Das half, wenn er unter starkem Stress stand. Danach atmete er langsam aus. Gregoire neben ihm zog die Beine wieder vor den Körper, legte das Kinn auf die knochigen Knie, wartete geduldig. Er hatte in dieser Pose etwas Katzenhaftes an sich, alert und doch entspannt. "Es ist noch zu viel Betrieb da draußen." Ergriff Wulf leise das Wort, hielt den Blick stur geradeaus fixiert. "Wir müssen warten, bis es sich etwas beruhigt hat. Dann verschwinden wir hier." Er seufzte. "Bevor sie mit wirklich schwerem Gerät anrücken." Beispielsweise einem Bulldozer oder einem Bagger. Oder einem Raketenwerfer. "Die werden das Haus beobachten." Warf Gregoire unbeeindruckt ein. Wenn er nervös oder besorgt war, so konnte Wulf davon nicht das Mindeste spüren. Geradezu beängstigend ruhig wirkte sein Freund. Er schenkte ihm einen irritierten Blick aus dem Augenwinkel. Warum machte Gregoire sich keine Sorgen?! Sie steckten bis zur Oberkante Unterlippe in der Scheiße?! Gregoire bannte seinen Blick mit den schwarzen, nun funkelnden Augen. Gequält entsann sich Wulf der offenen Frage, antwortete. "Wir gehen nicht durch die Haustür." Er seufzte laut, streckte die Arme aus, verschränkte die Finger ineinander, dehnte sich, bis die Gelenke knackend applaudierten. "Was nun?" Erkundigte sich Gregoire. "Jetzt werde ich zu Kreuze kriechen." Wulf seufzte erneut. Seine muskulösen Schultern sackten merklich herab. (^ , , , ^) Nacheinander verabschiedeten sich die Bilder, Programm um Programm reihte sich ein, um beendet zu werden. Langsam schaltete Wulf über die Sicherheitssteckleisten die Stromzufuhr zu seiner Kommandozentrale ab. Für einen irrationalen Moment hatte er das Bedürfnis, über jedes Gehäuse zu streicheln, sich zu verabschieden. Auch wenn es sich nur um Maschinen handelte, für ihn bedeuteten sie mehr, waren Möglichkeiten, über die eigenen Beschränkungen hinauszureichen. Sie hatten ihm treu gedient, verdienten es ganz sicher nicht, von mörderischen Verbrechern zerstört und verbrannt zu werden. Gregoire stand neben ihm, betrachtete ihn abwartend. "Ich kann sie ins Badezimmer tragen." Bot er an. Der vollständig gekachelte Raum konnte möglicherweise der Hitze eines Brandes etwas länger standhalten als Wulfs Wohn-, Arbeits-, Koch- und Schlafzimmer. Mit gepressten Lippen schüttelte Wulf den Kopf. Erstens würde es zu lange dauern und zweitens ihre Verfolger auf den Trichter bringen, dass ihr Gegner kein ganz unbedarfter Laie war. »Man muss ja nicht gleich die Hosen runterlassen.« Dachte er bitter. »Hoffentlich finden sie nicht raus, dass sie es mit einem BLUTIGEN Anfänger zu tun haben.« Noch einmal ging er die "Überlebensliste" durch. Inzwischen war sein Rollstuhl entsprechend ausgerüstet, jede Tasche, jeder Winkel mit dem Notwendigsten gefüllt. "Willst du nicht doch eine andere Jacke?" Fragte er Gregoire fürsorglich, doch der schüttelte den Kopf. Sie waren beide, im ausgestreckten Zustand, 1,85m groß, ihre Statur unterschied sich dennoch stark voneinander. Wulf zeichnete sich durch einen muskelbepackten, austrainierten Oberkörper aus, den seine schlanken Beine vermutlich nur mit Mühe hätten tragen können. Gregoires eher knabenhafter Körperbau hatte sich scheinbar bloß in die Länge gezogen, die Hüften und Schultern waren schlank bis schmal, die Gelenke knochig, Muskeln und Sehnen unauffällig. Einzig die nussbraune Mähne, die selbst im gestuften Schnitt noch voluminös seinen Kopf dominierte, bildete eine bemerkenswerte Ausnahme. Deshalb versank Gregoire nun auch förmlich in der Collegejacke, die Wulf ihm aufgedrängt hatte. Es regnete nämlich Bindfäden in der hereinbrechenden Nacht. "Ich habe bestimmt noch eine Regenjacke!" Versuchte Wulf es erneut. Er konnte nicht begreifen, warum Gregoire sich für die alte, abgewetzte Jacke entschied, die keine Kapuze aufwies, dafür aber Schmierstreifen von Öl und Abrieb. Wulf trug sie gelegentlich, wenn er mit dem Rollstuhl durch die Gegend "heizte", einen Belastungstest durchführte. Sie war kurz in den Hüften, was ihm wichtig war, da lange Schöße beim Sitzen störten. Seine Beine hielt er, wenn es wirklich notwendig wurde, mit langen Unterhosen warm. "Brauche ich nicht!" Trotzte Gregoire grimmig. Von seinen Schultern hingen die Ärmel so hinab, dass seine Hände in den ausgeleierten Bändchen verschwanden. Die aufgeklebte Phantasie-Aufschrift knickte und knitterte, weil der Träger nicht über die Statur verfügte, sie stolz zu bewerben. "Also gut." Gab sich Wulf endlich geschlagen. Er selbst hatte sich eine Regenjacke übergestreift, die passenden Hosen über seine Jeans gewickelt. Mit einfachen Schnürsenkeln band er die Stoffbahnen um seine Beine fest, damit nichts flattern oder ihn anderweitig behindern konnte. Einfach würde ihre Flucht nicht werden, das wusste er. Zwei Jugendliche, der eine im Rollstuhl, die spät am Abend bei diesem ungemütlichen Wetter unterwegs waren, zogen garantiert Aufmerksamkeit auf sich. Außerdem mussten sie sich einen Ort suchen, der sicher genug war. Die Polizeistation schied aus. Das Risiko, Unbeteiligte zu töten, kümmerte ihre Verfolger wohl nicht mehr. Wulf spielte auf Zeit. Er hoffte auf die Kavallerie. (^ , , , ^) Unter dem Bungalow befand sich ein Kellerraum, der vermutlich einst eine Hebeanlage beherbergt hatte. Die Zeit hatte eine ordentliche Kanalisation gebracht, den hohen Grundwasserspiegel abgesenkt. Die ursprüngliche Bebauung samt der genauen Zeichnungen waren im Krieg verschwunden. Das Fundament war allerdings noch gut genug, um darauf aufzubauen, so zuletzt den Bungalow, in dem Wulf hauste. Er hatte auch entdeckt, dass der Kellerraum nicht etwa eine Sackgasse war, sondern eine Verbindung zu einem alten Entlüftungsschacht hatte. Der wiederum verzweigte sich mit den alten Schächten der ehemaligen Saline. Wenn man also den Unrat wegräumte, hinderliche Mauerreste beseitigte, konnte man mit Orientierungsvermögen und einer Indifferenz zu feuchtem Schmutz im Kurpark nahe der Salinenanlagen auftauchen. Genau das war Wulfs Plan. Unerschrocken und neugierig, wie er war, hatte er das Netzwerk untertage erforscht, hinderliche alte Backsteine weggeschoben, erkundet, wie weit er bei seinem Abenteuer kam. Immerhin war es ja wichtig zu wissen, ob seinem neuen Obdach Gefahr durch Wassereinbruch drohte! Das war natürlich nicht der Fall, sonst hätte man wohl die Hebeanlage nicht entfernt. Die Rechtfertigung klang so gut wie jede andere, wenn man ihn denn ertappte. Nur ein Teil der alten Schächte war erschlossen, hauptsächlich die Tunnel, die schon die Römer genutzt hatten, um Salz zu gewinnen. Ein kleines Museum stellte für Interessierte nach, wie man über die Jahrhunderte die Technik verfeinert hatte, dem Erdreich das kostbare Salz zu entlocken. Das hatte zum Reichtum der Stadt und ihrem ausbleichenden Ruhm als Kurort geführt. Wulf aktivierte die Lampe, die er an seinem Rollstuhl montiert hatte, bat Gregoire, ihm dabei zu helfen, ihre Flucht zu kaschieren. Zu diesem Zweck musste erst ein Regal wieder vor die Öffnung gezogen werden. Sie klemmten eine gestrichene Spanplatte passgenau ein, blockierten sie mit einem alten Besenstiel. Es war nicht perfekt, aber Wulf hatte nicht vorausgesehen, dass sein "Hobby" ihm jemals so gefährlich werden konnte, dass er aus seinem eigenen Heim fliehen musste. Wer genau hinsah, würde Kratzspuren des Regals entdecken. Wenn man die Beleuchtung austauschte, konnte die Spanplatte nicht länger täuschen. Es bedurfte nur eines starken Hammers und... Energisch verbannte Wulf diese Sorgen. Wenn jemand ihren Fluchtweg entdeckte, sollten sie eigentlich schon kilometerweit entfernt sein! Gregoire musste sich tief über ihn lehnen, als er voran rollte. Die Schächte und Tunnel waren niedrig und eng, doch Wulf kam gut voran, auch wenn er öfter mit den Schultern die Wände streifte. Sein Rollstuhl war darauf geeicht, unter der üblichen Norm zu bleiben, außerdem sehr stabil. Er leuchtete ihren Weg vorsichtig aus, dämpfte die Strahlkraft der Lampe, um ihre ausgeprägte Nachtsicht nicht zu verderben. Außerdem wäre es nicht besonders zuträglich, wenn ihre Gegner klüger gewesen waren, ihnen irgendwo auflauerten. Sie gäben die perfekten Zielscheiben ab. Ohne Mühe fand Wulf seinen Weg, jagte vereinzelt huschende Schatten in Deckung. Vor Mäusen oder gar Ratten musste ER sich nicht fürchten. Es war immer andersherum. Nach ewig währenden, zehn Minuten konnten sie am Ende eines Schachts nächtliche Beleuchtung erkennen. Wulf löschte die Lampe. Ein Vorhängeschloss sicherte den alten Zugang des vergitterten Tors. Efeuranken hatten sich angesiedelt, verliehen diesem Ausgang eine nostalgisch-verklärte Note. Gemeinsam lauschten sie in den bedächtig säuselnden Regen hinaus. Als sie beide sicher waren, niemand halte sich in ihrer Nähe auf, streckte Wulf die Hände aus, umfasste tastend das Vorhängeschloss, die einzelnen Kettenglieder. Er atmete leise durch die Zähne, spannte seine Muskeln an, übte Druck auf das lädierteste Kettenglied aus. Der nagende Zahn der Zeit und seine übermenschlichen Kräfte genügten, um die Verbindung beinahe lautlos zu sprengen. Vorsichtig deponierte er die zerstörte Kette auf seinem Schoß, rollte ein wenig zurück, beugte sich vor, um an der Gittertür zu ziehen. Sie rührte sich zunächst gar nicht, beharrte widerspenstig auf ihrem angestammten Platz. "Mist!" Knurrte Wulf guttural, rollte wieder vor, grub die Hände unter eine Gitterstrebe. Hinter ihm streckte und reckte Gregoire sich, bis er ebenfalls die Gitter erreichen konnte. Während Wulf das gesamte Tor anhob, hielt er auf Zehenspitzen, leise keuchend, das Tor fest, damit es nicht auf sie stürzte, wenn Wulf es aus den Angeln gehoben hatte. Ein wenig ruckeln, zahlreiche stumme Flüche später hatten sie Erfolg: eine Angel zerbrach, die zweite war klüger, ließ sich um das Gewicht des Tors erleichtern. Endlich konnte Wulf aus dem Schacht rollen. Er streckte die Hände aus, legte den Kopf in den Nacken, ließ sich vom Regen säubern und abkühlen. Die Anspannung setzte ihm stärker zu als der Muskeleinsatz, das erkannte er nun. Gregoire lehnte vorsichtig das Tor an, nahm Wulf die Kette mit dem Vorhängeschloss vom Schoß, befestigte sie so, dass ungeübtes Publikum meinte, es wäre alles in vorbildlich vernachlässigtem Zustand. Er wandte sich mit aufforderndem Blick Wulf zu. Wohin jetzt? (^ , , , ^) Der Kurpark war nachts geschlossen, die großen Eingangstüren verriegelt. Deshalb war auch nicht mit unliebsamen Begegnungen zu rechnen. Ein Sicherheitsdienst patrouillierte hier nicht. Wulf rollte zügig über die Kieswege, lauschte angestrengt, konzentrierte all seine Werwolf-Sinne aufs Äußerste. Dass er nichts Verdächtiges sah, hörte oder roch, bedeutete keineswegs, dass sie wirklich in Sicherheit waren. Wozu gab es schließlich Nachtsichtgläser und Richtmikrophone? Seine Absicht bestand darin, die zu Sanierungszwecken geschlossene Orangerie zu erreichen. Zu ihr führte ein Asphaltband. Er erhoffte sich, dort von der Kavallerie aufgelesen werden zu können, wenn sie sich ausreichend lange verborgen hielten. Außerdem konnte man in der Orangerie einige Fallen aufbauen. Malte er sich aus. Zwischen den hohen Schwarzdornhecken der Saline, in denen es unaufhörlich knisterte und tropfte, näherten sie sich dem künstlichen Hügel, auf dem die Orangerie residierte. Unterhalb des Hügels befanden sich uralte Fördereinrichtungen, die man auf diese Weise dekorativ "verkleidet" hatte. Da die Bauarbeiten zwischen den Treibhäusern aus Glas und Stahl mit viktorianischem Dekor und dem langgestreckten Haupthaus, das eher einem klassizistischen Tempel ähnelte, ruhten, bestand keine Gefahr, rasch entdeckt zu werden. Hoffte Wulf. Er war nicht sicher, ob ein Bunker ihnen besseren Schutz bot. Dieser Gegner schien rücksichtslos vorzugehen, wenn man ihm die notwendige Zeit dafür ließ. Der Anstieg erwies sich nicht als sonderlich beschwerlich, da Wulf solche Anstrengungen durchaus gewöhnt war. Sie hielten auf der breiten Terrasse, die auf einige Stufen hinabführte, inne, orientierten sich. Wie käme man am Besten in die Orangerie? "Wulf!" Gregoire wischte herum, sein argwöhnisches Augenmerk hatte weniger dem Panorama als dem Kurpark zu ihren Füßen gegolten. Drei Gestalten näherten sich im Laufschritt. "Scheiße!" Entfuhr es Wulf erschrocken. Wieso hatten sie hier auf der Lauer gelegen?! Konnten sie ihn irgendwie orten?! "Wir müssen hier weg!" Stellte er überflüssigerweise fest, wendete auf dem Punkt. "Fix jetzt!" Erstmal Tempo machen, irgendwo untertauchen! "Achtung, da...!" Gregoire, der neben ihm lief, stolperte ihm direkt vor den Rollstuhl, bäumte sich kurz auf. Wulf bremste abrupt, aber er konnte nicht mehr verhindern, dass er mit Gregoire kollidierte. Dessen Augen glitzerten in seiner Nachtsicht merkwürdig. Blut sickerte aus seinem Mundwinkel. (^ , , , ^) "...nein..." Wulf schüttelte den Kopf panisch, umklammerte Gregoires Brustkorb. Der ächzte erstickt. "..schnell!" Wisperte er gequält in Wulfs Ohr. "Den Berg... runter... beeil dich...ich... bremse." Wulf blieb keine andere Wahl. "...Kruzifix..." Stöhnte er leise, ließ rollen. Ihr gemeinsames Gewicht und das große Gefälle genügte, um seinen Rollstuhl auf Hochgeschwindigkeit zu bringen. Austarieren und lenken war kaum möglich, dazu war er zu sehr damit beschäftigt, nicht vornüber zu kippen. Gregoire kniete auf seinem Schoß, was kaum angenehmer war, hatte ihm die Arme um den Nacken geschlungen. "..oh Gott oh Gott OH GOTT!" Entfuhr es Wulf, als sie ins Tal rasten. Er konnte nicht bremsen, sie würden direkt in das Rolltor der Zufahrt krachen! Unerwartet lösten sich Gregoires Beine, erst das eine, da klappte blitzartig auch das andere auf. Mit einem Ruck stolperte ihr Absturz in die Tiefe unkontrolliert. Mit aller Kraft stemmte Gregoire die Beine weit auseinander in den Boden, hielt mit seinen Armen den Druck auf Wulf und den Rollstuhl aufrecht. Wenn er einknickte, würden sie schleudern, sich schwer verletzen! Auch Wulf bemühte sich um eine Bremse, aber er konnte nicht einfach die Räder anhalten. Das hätte sie beide herauskatapultiert. Mehr durch Glück als Geschick erreichten sie heil das schwere Rolltor. Hilfe suchend blickte Wulf hoch in Gregoires Gesicht. Es war totenbleich, immer mehr Blut sickerte aus den Mundwinkeln. "... Gregoire!" Hörte Wulf sich bange winseln. "Übers Tor!" Krächzte Gregoire kehlig. "Los doch!" Zum Diskutieren blieb keine Zeit. Ihre Verfolger mussten inzwischen den höchsten Punkt erreicht haben, holten vielleicht schon per Funk oder Mobiltelefon Verstärkung herbei. Wulf presste die Lippen aufeinander, streckte sich, hangelte sich mühsam aus seinem Rollstuhl am Rolltor hoch. Er konnte nicht stehen, seine Beine trugen kein Gewicht, auch fehlte ihm die Balance, aber er konnte sich festklammern, auf den Schub warten, mit dem Gregoire ihn hoch genug beförderte, um auf die obere Kante des Rolltors zu greifen. Er spürte Gregoires Hände an den Hüften, einen unerwartet kräftigen Stoß, reagierte automatisch. Nachdem er sich hochgezogen hatte, schwankte er einen gefährlichen Moment auf der Querstrebe, bevor er nach vorne kippte und überrollte. Es gelang ihm, im richtigen Moment umzugreifen, sodass er nun auf der anderen Seite vom Rolltor herunterhing. Jahrelanges Training an den Ringen und Querholmen zahlte sich jetzt aus. Sich einfach fallen zu lassen war zu gefährlich, da er seine Beine nicht kontrollieren konnte. Gregoire hatte inzwischen den Rollstuhl gefaltet, mit einiger Mühe durch zwei Streben gestoßen. Er justierte ihn in Reichweite, klappte ihn durch das Rolltor auf, verpasste Wulfs Beinen einen Schubs. Der ließ sich langsam, keuchend, heruntergleiten, schickte ein "Kruzifix" aus, öffnete die Hände. Noch einmal hatte er Glück, rutschte tatsächlich passgenau in seinen Rollstuhl. Hinter ihm quälte sich Gregoire über das Rolltor. "Sie kommen schon!" Murmelte er, schwang mühsam ein Bein über. Wulf spürte nur die Ahnung eines Luftzugs, fluchte, aber es war zu spät. Ein anderes Geschoss musste getroffen haben. Gregoire entfuhr ein Winseln, bevor er ohne Grazie vom Rolltor kippte. "Nein!" Wulf drehte, beugte sich vor, entging einem weiteren Schuss. Irgendwo nahm sich jemand die Zeit, mit einem Gewehr auf sie zu feuern! Gregoire kam auf die Knie. Wulf roch noch mehr Blut. "...oh nein..." Flüsterte er, fasste Gregoire unter den Achseln, hob ihn auf seinen Schoß. "...fahr..los..." Murmelte Gregoire, hustete Blut. Die Zähne ineinander verkeilt versetzte Wulf die Räder in rasche Rotation. »DAS habe ich nie gewollt!« (^ , , , ^) Seine Angst war einer finsteren Entschlossenheit gewichen. Mutmaßlich lag das an seinem Werwolf-Erbe. Seine "menschliche" Natur war vor Entsetzen und Panik gelähmt. Obwohl er sich nicht tief beugen konnte, stemmte er sich mit aller Kraft in die Schwungräder, raste über den Asphalt. So spät und bei der nickeligen Witterung herrschte kaum Verkehr. Gregoires Kopf lehnte in seiner Schulterbeuge. Unaufhörlich tropfte etwas warm auf seine Schulter und unter seine Regenjacke, tränkte sein Sweatshirt. "Halt durch!" Wisperte er gepresst. "Ich finde ein Versteck für uns." Einen Ort, wo er seinen naturgegebenen Nachteil ausgleichen konnte. (^ , , , ^) Wulf wusste, dass sie ihm folgten. Er verließ bald die Straße, nutzte Fußgängerwege. Die Wut in seinem Bauch steigerte sein Durchhaltevermögen. Außerdem konnte er in der Dunkelheit hervorragend sehen. Er roch den Eingang eher, als er ihn sah. Die Pläne, auf die er neugierig beim örtlichen Energieversorger gestoßen war, erwiesen sich als richtig: hier mündete das verzweigte Kanalisationsnetz in einen offenen Kanal, der die natürlichen Quellen in ein kontrolliertes Flussbett zwang. Wulf hielt an, schlang einen Arm um Gregoire, untersuchte dessen Gesicht. Blut hatte sich mit nassen Strähnen verklebt, verschmierte unterhalb der Nase Gregoires Kiefer. "Wir müssen aussteigen." Behutsam kämmte er die schwarzen Augen frei, die in seiner Nachtsicht fiebrig glänzten. Gregoire blinzelte, stieß ein blutiges Blubbern aus. "Gregoire!" Wulf konnte nicht mehr länger im Ungewissen ausharren, schob die freie Hand unter die schwere Collegejacke. Glitschig und erhitzt von Blut zog er sie hervor. Sein bester Freund bleckte in einem fahlen Grinsen die Zähne, konnte kein Wort hervorbringen. Das Atmen bereitete ihm große Qual. "...ich verbinde es..." Gregoire schüttelte langsam den Kopf, wies mit dem Kinn auf den Eingang zur Unterwelt. Wulf schloss einen Augenblick die Augen. Er konnte Gregoire nicht damit retten, wenn er ihn hier verband. Wenn sie erwischt wurden. "Halt durch, bitte!" Wisperte er rau, wagte aber nicht, Gregoire an sich zu drücken. Wenigstens einmal mussten sie ihn im Oberkörper getroffen haben! Er ließ seinen Freund langsam auf die nasse Erde gleiten. (^ , , , ^) Er hatte es schon mehrfach geprobt, deshalb konnte er in Halbautomatik das schmale Rollbrett, das schwenkbar an der Rückenlehne seines Rollstuhls befestigt war, lösen und sich darauf legen. Mit wenigen Handgriffen faltete er seinen Rollstuhl zusammen, befestigte ein Geschirr, mit dem er auf dem Rollbrett liegend den Rollstuhl in Schlepptau nehmen konnte. Dieses Mal streifte er das Geschirr Gregoire über, bedeute ihm, sich auf seine unteren Lenden zu setzen. Gregoire kroch zu ihm, hockte sich mühsam, klappte die Knie an. Wulf, der seine Beine zusammengebunden hatte, drehte sich wendig trotz des Passagiers, knickte seine Beine mittels Zugband, um nicht über den Boden zu schleifen. Er streifte Handschuhe über, stieß sich in kräftigen Bewegungen ab. Für ihn bedeutete die Dunkelheit keine Schwierigkeit. Er hielt sich in der Mitte der Röhre. Nach wenigen Metern reduzierte sich die Höhe um die Hälfte. Für Wulf war es ihre einzige Chance: man musste entweder klein sein oder kriechen. Das gab ihm einen gewaltigen Vorteil. Hier konnte er ihnen auflauern. (^ , , , ^) Wulf bewegte sich sicher. Obwohl er noch nie im Abwassersystem der städtischen Kanalisation herumgestromert war, bedeutete es für sein fotografisches Gedächtnis keine Herausforderung, den gesamten Plan vor sein inneres Auge zu führen. Sein Ziel waren die alten Schächte und Rohre. Sie hatten eine durchschnittliche Höhe von maximal einem Meter, verjüngten sich in Überlauf- und Speicherbecken, die zwecks Zulaufkontrolle mit Schleusen versehen waren. Immer tiefer drang er in das Herz der alten Anlage vor. Bald, das wusste er, würde selbst der Rollstuhl nicht mehr passieren können. Als er nach einer halben Stunde angestrengten Ausgreifens den ersten Engpass erreichte, rutschte Gregoire von seinem Rücken herunter, kippte mit dem zusammengefalteten Rollstuhl um, landete in Sickerwasser. "Gregoire?!" Wulf drehte sich hastig herum. Viel Manövrierraum blieb ihm ja nicht. Er tastete nach seinem Freund. Plötzlich hielt er inne. Da! Geräusche, die von den Wänden zurückgeworfen wurden, kaum zu bestimmen waren, was ihre Richtung anging. Sie hatten ihre Spur wieder aufgenommen! "Gregoire." Flüsterte Wulf, lehnte sich über seinen Freund, schob eine Hand unter dessen Nacken, um ihn aus der Pfütze zu heben. Gregoire rührte sich nicht, reagierte nicht. Wulf spürte, wie ihm kalt wurde, eisig kalt. Gregoire atmete nicht mehr. Sein Pulsschlag stand still. "...nein..." Schluchzte Wulf erstickt. Es half nichts: Gregoire war tot. (^ , , , ^) Kapitel 5 - Kavallerie zu Fuß In der Finsternis entlud Wulf auf Autopilot, wie in Trance, die Packtaschen seines Rollstuhls, schob sich auf dem Rollbrett, seine Beine musste er sogar herunterklappen, durch die schmale Öffnung in den kleinen Raum dahinter. Dort war es trocken und mutmaßlich sicher. Nur eine gewaltige Explosion könnte ihnen gefährlich werden. Selbst die war keine Garantie dafür, sie erledigt zu haben. Die Stützen waren für großen Wasserdruck in den anliegenden Kammern konzipiert worden. Hoch über ihm gab es zwei weitere Ausgänge, Luftschächte. Sie auszuräuchern wäre dementsprechend auch nicht einfach. Wulf ließ sein Rollbrett im Versteck, robbte auf dem Bauch durch den kleinen Tunnel. Dort drehte er sich auf den Rücken, dirigierte Gregoires kalten Leib auf sich, schob sich mühsam auf dem Rücken wieder zurück in ihre Zuflucht. Er richtete sich neben dem Tunnel auf, lehnte sich an die Wand, das Rollbrett als Prügel in Reichweite. Nachdem er seine Beine entzurrt hatte, massierte er sie kurz, ordnete sie zu einem Schneidersitz an. Behutsam hob er Gregoire an, lehnte ihn an seine breite Brust, bettete dessen Haupt in seiner Schulterbeuge. Langsam kämmte er durch die nassen, filzigen Strähnen. Mit der anderen Hand tastete er vorsichtig, beinahe zärtlich über Gregoires Leib unterhalb der schmutzigen Collegejacke. Als er sie löste, starrte sie vor getrocknetem Blut. »Drei Einschusslöcher.« Registrierte sein Werwolf-Part. Sie hatten auf sie geschossen. Gregoire war als Kugelfang für ihn eingesprungen, ohne zu zögern. Wulf drückte den kalten Körper enger an sich, schluchzte leise in die feuchte Mähne. (^ , , , ^) Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihre Spur fanden. Gregoires Blut und endlich der Rollstuhl lieferten ausreichend Indizien. Wulf hatte seinen besten Freund behutsam auf ein Sims bugsiert, wartete in tödlich ruhiger Entschlossenheit. Er wollte seinen Schmerz, seine Verzweiflung und seine Schuldgefühle weitergeben, indem er so viele der Angreifer erledigte, wie er erwischen konnte. (^ , , , ^) »Igitt.« War der einzige Kommentar, zu dem er sich in der Vertraulichkeit seines Inneren herabließ. Nasse Abwasserkanäle waren nicht unbedingt ein erstrebenswerter Aufenthaltsort an einem Sonntagmorgen. Wenn man auch in einem breiten Bett schlummern konnte, nachdem man sich ausgiebig und hingebungsvoll geliebt hatte. Aber der Ruf war stärker, die Verpflichtung bindend. Nicht zu vergessen die Empörung über die unverschämte Frechheit dieses Welpen! Hatte sich die Göre doch ungehindert in ihr geheimes Kommunikationsnetzwerk hacken können! (^ , , , ^) Sie waren zu vorsichtig. Offenkundig vermuteten sie richtig, dass es lebensgefährlich wäre, einfach in den niedrigen Tunnel zu kriechen, um ihre Opfer zu verfolgen. Streckte man nämlich den Kopf vor, konnte man damit rechnen, ihn zu verlieren. Wulf knirschte lautlos mit den Zähnen. Die Wände waren zu dick für Schusswaffen. Tränengas oder Blendgranaten würden ihn nicht aus seinem Versteck treiben. Was planten sie also? Beinahe wünschte er, er hätte sich mehr für Guerillakampftechniken interessiert, nicht seine Zeit damit verbracht, Fraktale auf dem Bildschirm darzustellen, um ihre Farbenspiele und ihre unvergleichliche, komplexe Schönheit seinem besten Freund vorzuführen. »Gregoire.« Ihm schnürte sich der Hals zu, die Brust wurde eng. Unwillkürlich lehnte er sich vor, griff eine kalte, steife Hand, umklammerte sie. Nur weil er sein eigenes Ego füttern musste, sich als Held gerieren wollte, war sein bester Freund tot! Wulf ließ die Tränen laufen, die helle Spuren in sein schmutziges Gesicht gruben. (^ , , , ^) Er wusste, dass er sich auf sein Rudel verlassen konnte, ein halbes Dutzend erfahrener, umsichtiger Jäger, die sowohl allein als auch im Team agieren konnten, sich lautlos durch die Kanalisation bewegten, die Beute einkreisten. (^ , , , ^) Es war verdächtig still. Wulf lauschte angestrengt. Hatten sie aufgegeben? Warteten sie vielleicht darauf, dass er aus seinem Versteck kam? Er schnüffelte, doch der morgendliche Dunst beeinträchtigte sein Wahrnehmungsvermögen. Wasser, saure Erde, Moos, feuchtes Mauerwerk... und die Ahnung von Blut. Er schloss die Augen. In der Sinfonie, die er sich einprägte, stimmte etwas nicht. Mal war es ein Tropfen, das ausblieb oder zeitversetzt folgte. Wulf bemühte sich um Orientierung. Der Widerhall torpedierte seine Bemühungen, doch er gewann den Eindruck, dass sich draußen etwas tat, dass dort jemand unterwegs war. Angespannt wartete er. (^ , , , ^) Sie hielten keine Kontakt über Funk oder ähnliche Systeme. Erstens konnte man so abgehört und geortet werden, zweitens war fraglich, ob die Technik ihnen nicht unterhalb der Erde inmitten dicker Mauern einen Streich spielte. Außerdem lenkte es in gefährlicher Weise ab. Er wusste ungefähr, wo sich die anderen sechs Mitglieder seines Rudels befanden. Dafür hatten sie Regeln entwickelt und abgestimmt. Es galt schließlich zu verhindern, dass man sich in die Quere kam oder aber verirrte. Bisher hatte er zwei Gegner unschädlich gemacht, Fußvolk, Kanonenfutter, vermutete er. Sie stanken förmlich, zumindest für seine besonderen Sinne, nach der Droge, von der sie abhängig waren. Söldner, die man "angefüttert" hatte, um ihre Dienste zu Discountpreisen zu ergattern. Der Tod, entschied er, stellte für sie eine Erlösung dar, ihre Körper verrotteten schon. Obwohl er Einiges gewöhnt war, hatte er selten einen so üblen Eindruck gewonnen. Der Letzte jedoch, dem er folgte, war sauber, zumindest drogenfrei. Allerdings spürte er etwas, das Fachleute nur in komplizierten Verfahren diagnostizieren konnten: eine krankhafte Veränderung im Gehirn. Sie stellte sich ihm wie ein Webfehler im Bausatz dar. Dieser Mann, das wusste er, fand Vergnügen am Schmerz anderer. Es berauschte ihn, putschte ihn auf. Mitgefühl aus der Erkenntnis eigener Schmerzen kannte er nicht. »Mit anderen Worten: der Typ ist total durchgeknallt.« Dachte der Rudel-Führer kühl. (^ , , , ^) Wulf zuckte zusammen, als er den grellen Aufschrei hörte. Erst danach vernahm er Kampfhandlungen, pfeifende Atemzüge. Sie mussten in dem Tunnel widerhallen, der in die Abzweigung mündete, wo er seinen Rollstuhl zurückgelassen hatte! Doch wer kämpfte da mit wem? War die Kavallerie doch eingetroffen? (^ , , , ^) Es war wieder mucksmäuschenstill. »Was für eine Sauerei.« Konstatierte er abschätzig. Wünschenswert wäre es gewesen, dem Irren einfach und sauber das Genick zu brechen. Leider hatte der Kerl sich massiv gewehrt und mit Dornen gespickten Handschuhen nach ihm geschlagen. Dann war da noch dieser Teleskop-Spieß! Ärgerlich studierte er den aufgeschlitzten Ärmel seines Pullovers. »Mit Kevlar wäre das nicht passiert!« Schnaubte er innerlich. Doch DER Pullover befand sich noch in der Wäsche. (^ , , , ^) Wulf umklammerte das Rollbrett so fest, dass sich Splitter des Pressholzes in seine Handfläche gruben. Sein Herzschlag setzte aus, als eine dunkle, sonore Stimme seelenruhig erklärte. "Du bist dir hoffentlich darüber im Klaren, dass du dich tief in die Scheiße geritten hast, Junior." (^ , , , ^) Der Werwolf, der sich langsam und alert aus dem Tunnel schob, zur vollen Größe aufrichtete, strahlte eine überwältigende, souveräne Präsenz aus. Wulf lehnte eng an der Mauer, umklammerte Gregoires Hand, ohne sich dessen bewusst zu sein. Hellgrüne Augen mit seltsamen Flecken unter schwarzen, diabolisch gekrümmten Augenbrauen in einem markanten Gesicht gruppierten sich zu schmalen Lippen inmitten eines sorgfältig gestutzten Bartes, der an Mantel- und Degen-Filme erinnerte. Die Kombination zeigte einen Ausdruck vergeltungssüchtiger Verärgerung. Aus seinen verbotenen Ausflügen in die Kommunikationsnetze der renommiertesten Jägerrudel wusste Wulf, dass er hier einen berühmten Anführer vor sich hatte: Dragomir. "Die Kavallerie ist da." Murmelte er, lächelte erschöpft. (^ , , , ^) Kapitel 6 - Standpauke Es wurde nichts gesprochen, als die übrigen Rudelmitglieder eintrafen. Sie sammelten die Leichen der Angreifer ein, gruppierten sie ordentlich auf zwei benachbarten Parkbänken in der Nähe des Wasserwerks. Ein unauffälliger Lieferwagen wurde geholt. Sie sammelten Wulfs Habseligkeiten, dessen Rollstuhl und Gregoire ein. Wulf schwieg ebenfalls. Er war dankbar dafür, dass sie Gregoire mit Respekt behandelten, nicht wie Abfall durch die Gegend schleiften. Ausgelaugt von der ständigen Anspannung und seinen aufgewühlten Gefühlen legte er den Kopf in die wunden Handflächen, kauerte sich in seinem Sitz zusammen. Wenn es doch alles nur ein Traum wäre...! (^ , , , ^) Nach und nach reduzierte sich die Mannschaft. An roten Ampeln, ohne irgendeine Ankündigung, verließen sie den Lieferwagen, entfernten sich rasch, frühe Flanierende an einem gewöhnlichen Sonntagmorgen. Etwaige Spuren der Jagd durch die unterirdischen Kanalsysteme waren längst getilgt, die Kleidung, soweit nötig gewechselt, subtil verändert durch Accessoires, dass man sie nicht wiedererkannte. Wulf blieb mit Dragomir und dem Mann hinter dem Lenkrad allein zurück. Dragomir arbeitete mit einem Laptop, aber Wulf hütete sich, seiner angeborenen Neugierde nachzugeben. Außerdem, was konnte er nun noch tun? Die Botschaft, die er in das Netzwerk des Jagdrudels eingeschleust hatte, enthielt all seine Erkenntnisse, die knappe Schilderung der Ereignisse und die Auflistung, in welchen Ländern er welche Personen als Beteiligte identifiziert hatte. Das umgeleitete Geld diente zu einem bemerkenswerten Teil als Kopfgeld, über das Internet ausgelobt: er hatte den Spieß umdrehen wollen, sich dafür rächen, dass sie ihn bedrohten, sein Haus beschädigten. »Aber da wusste ich noch nicht...!« Unwillkürlich fiel sein Blick auf Gregoire, den man in eine Decke gehüllt hinter die Sitze auf den Boden gelegt hatte. Wulf senkte den Kopf, löste die Verrenkung. Was blieb jetzt noch zu tun? War es vorbei? Erschöpfung lähmte seine Gedanken. Er fühlte sich, als wolle er durch dicke Wattebäusche Einfall an Einfall reihen. »So mühsam...« Nach einigen Kilometern Landstraße raus aus der Kurstadt bog der Lieferwagen ab, suchte sich seinen Weg durch ein Neubauviertel. Genormte Reihenhäuser schmiegten sich aneinander, die Erde noch aufgewühlt und nicht bepflanzt. Das asphaltierte, noch nicht endgültig befestigte Band schlängelte sich durch die junge Siedlung, bis ein alter Ortskern offenbar wurde. Hier ahnte man die Ursprünge, sah Gehöftgrundrisse und Einfassungen ehemaliger Scheunentore, auch wenn sich die Landwirtschaft vermutlich schon längst auf dem Rückzug befand. Bis zum Siedlungsrand pilotierte der Fahrer, hielt vor einem großen Haus an. Das große Tor schwang lautlos auf, von einem unsichtbaren, unhörbaren Signal aktiviert. Eine kurze Auffahrt führte zum Haus. Die Räume im Erdgeschoss schienen zu einem früheren Datum einmal Kutschen oder ähnliches Gerät beherbergt zu haben. Samt und sonders waren hier Garagentore angebracht. Das Wohngebäude zeichnete sich durch eine offene Wendeltreppe aus, die wohl dem Feuerschutz diente, während zwischen zwei Garagen eine schmale Stiege nach oben führte. »Sehr ungewöhnlich.« Stellte Wulf fest, richtete sich auf, streckte die schmerzenden Glieder. Drei Stockwerke, teils mit Söllern, teils mit Erkern und winzigen Balkonen verziert, ragten in die Höhe. Der Gesamteindruck war, gelinde gesagt, desaströs. Als ob sich mehrere Generationen mit diametralen Vorlieben ausgetobt hätten. Zusätzlich hatte man dem Gebilde auch noch einen rosaroten Anstrich mit weißem Zuckerguss verpasst. Eine grässlich-kitschige Torte eines mehr als verwirrten Architekten! Ein Garagentor schwenkte elegant nach oben, gestattete dem Lieferwagen den Zutritt in eine komplett abgeschlossene Box. Erst auf ein weiteres Signal hin öffnete sich eine in die Mauer eingelassene Schiebetür, gab einen zweiten Ausgang frei. Ohne ein Wort zu wechseln arbeiteten Dragomir und der Fahrer zusammen: sie stellten Wulfs Rollstuhl auf, damit der sich selbst hinein hieven konnte, brachten zwei Packtaschen und den eingewickelten Gregoire durch die Schiebetür in einen Lastenaufzug, der die Größe einer Garagenbox einnahm. Ohne ein sichtbares Bedienfeld wurde der Lastenaufzug gesteuert. Wulf begriff nach einem Moment der Verblüffung, dass es sich um eine Anwendung moderner Computerspieltechnik handeln musste. Dragomir zeichnete unauffällig in einem bestimmten Quadranten Ziffern in die Luft. »Raffiniert!« Spendete Wulf stumm Beifall. »Erst ein Code und dann die Etage!« Tatsächlich verließen sie den Lastenaufzug im zweiten Stock. Anders als die nüchterne Aufzugkabine oder die Garagenbox fanden sich hier Läufer auf Steinplatten, zierliche Tische mit ausladenden Vasen, Heraldik an den Wänden und einige Landschaftsbilder. Dragomir, der Gregoire trug, ging voran, den Flur entlang, hielt vor einem Raum inne, dessen Tür sich leise zischend in die Wand zurückzog. Der Raum dahinter war großzügig bemessen, mit einem erstaunlich weiten Blick durch große Glasfronten. Eine Ecke mit großen Polstermöbeln lud zum Verweilen vor einem Kamin ein. An der Längswand war eine Küchenzeile mit zugehörigen Küchenblock montiert. Außerdem befand sich noch eine Tafel mit einem Dutzend Stühlen im Raum. Wulf hatte mit seinem Rollstuhl keine Mühe, auf dem polierten Parkett an den Möbelstücken vorbeizumanövrieren. Der gesamte Raum war so doppelt so groß wie sein Bungalow! Außerhalb seiner Hörweite wechselte Dragomir mit dem Fahrer einige Worte. Der verschwand. Wenige Minuten später hörte Wulf, wie ein Fahrzeugmotor startete, sich entfernte. War er mit Dragomir hier allein? Der wandte sich ihm zu. "Folge mir. Du musst dich erst waschen. Danach gehen wir an die Arbeit." Obwohl Wulf sich nicht vorstellen konnte, was jetzt noch zu tun war, leistete er widerspruchslos Gehorsam. Dragomirs sonores Knurren hatte selbst ihm Unbehagen eingeflößt, und ER war ein Werwolf! (^ , , , ^) "Danke, ich komme schon zurecht." Krächzte Wulf heiser, wartete, bis Dragomir das geräumige, fensterlose Badezimmer verlassen hatte, von der Decke bis zum Boden gekachelt, aber dezent beleuchtet, sodass man sich nicht wie in einem Schlachthof fühlte. Neben Wulf stand ein Plastikhocker, den Dragomir aufgetan hatte. Darauf warteten frische Handtücher aus einem hohen Wandschrank und eine Garnitur Wäsche. Wulf seufzte, hob die Textilien auf seinen Schoß, legte darauf den Hocker quer, bevor er eine Mischbatterie ansteuerte. Es gab drei Duscheinheiten, die jedoch räumlich nicht voneinander separiert worden waren. Auf unbestimmte Weise erinnerte es Wulf an ein Mannschaftsquartier. »Was wurschtegal ist, Kruzifix noch einmal!« Ermahnte er sich streng. Er dirigierte den Hocker unter einen Brausekopf in Reichweite der Armaturen, deponierte die gestiftete Ersatzbekleidung auf einer gemauerten Sitzbank. Wulf balancierte die Handtücher auf seinem Schoß, während er sich geordnet entkleidete. Die Schmutzwäsche landete in einem Plastikkorb, der sogar entsprechend gekennzeichnet war. »Definitiv Mannschaftsquartier.« Wulf hängte die Handtücher gefaltet an seinen Rollstuhl, manövrierte geübt, bis er neben dem Hocker innehielt, sich aus dem Rollstuhl vorsichtig hinüber hievte. Er saß sicher, ordnete seine dünnen Beine sorgfältig. Anschließend verlagerte er sein Gewicht, beugte sich weit nach vorne, um den Rollstuhl möglichst weit vom Spritzwasser wegzuschieben, aber gerade noch in Reichweite zu haben. In seinem Bungalow hatte er einen Klappsitz an der Wand, daneben einen einfachen Kunststoffbesen, mit dem er mühelos seinen "Feuerstuhl" heranangeln konnte, wenn er mit dem Duschen fertig war. An den klappbaren Kunststoffwänden, die die Dusche umliefen, waren in seiner Griffhöhe Haken befestigt, um ihm den Kampf mit den Handtüchern zu erleichtern. Hier war Improvisation angesagt: Wulf reckte sich. Die Armaturen waren in Bauchnabelhöhe angebracht, für ihn allerdings eher zwischen den Ohren. Sorgsam achtete er darauf, dass seine Füße plan auf den Fliesen ruhten, auch wenn sie nur eine schwache Stütze waren. Er drehte und reckte sich, testete erst an der Handbrause die Temperatur, bevor er sich von weit oben begießen ließ. »Seife wäre jetzt nicht schlecht!« Aber er konnte nichts Entsprechendes ausfindig machen, also rubbelte und schrubbte er mit seinen ohnehin geschundenen Händen, bis er das Gefühl hatte, einigermaßen sauber zu sein. Wulf fischte und haschte nach seinem Rollstuhl, der sich artig heranziehen ließ, während das Wasser im Bodenabfluss versickerte. Er frottierte sich gründlich, stellte fest, dass er wirklich ohne nennenswerte Blessuren aus diesem Horror entkommen war. »...bloß Gregoire...« Er kniff die Augen zusammen, schüttelte sich. Obwohl er hier allein war, so privat wie vermutlich auf längere Zeit hin nicht mehr, wollte er nicht weinen. Vielleicht deshalb, weil noch ein Quäntchen Stolz darauf beharrte, sich nicht in Gegenwart von Dragomir derart zu entblößen. Wie ein kleiner Junge, ein Welpe aufzutreten. »Idiot! Blödmann! Affenarsch! Lahmer Eierkopf!« Beschimpfte er sich selbst angesichts dieser Eitelkeit, verpasste sich rechts und links selbst eine schallende Ohrfeige. Es klingelte in seinen Ohren, "schlag"-artig war auch sein Kopf wieder frei. Während seine Wangen sich dunkel färbten, kochte wieder trotziger Zorn in ihm hoch. Er war nicht bereit aufzugeben! Solcherart angefeuert streifte er sich routiniert die gestellte Unterwäsche, Socken und einen unauffälligen Jogginganzug über, verließ das geräumige Badezimmer. (^ , , , ^) Dragomir paradierte auf dem gewaltigen Balkon auf und ab, telefonierte offenkundig. Wulf konnte nichts verstehen, dazu schirmten die Glasfronten zu gut ab. Zu seiner Verblüffung wirkte Dragomir nicht grimmig oder furchteinflößend kalt, sondern lächelte sanft, gestikulierte lebhaft, strich immer wieder geistesabwesend über seinen sorgfältig gepflegten Bart. Als er Wulf bemerkte, drehte er ihm elegant, aber unmissverständlich den Rücken zu. »Ein Privatgespräch also.« Resümierte Wulf, hielt Ausschau nach Gregoire. Vage erinnerte er sich daran, merkwürdige Gerüchte über Dragomir gehört zu haben. Außerdem hieß es, dass dessen Mutter ein absoluter Drachen war, selbst den Teufel in den Senkel stellen würde. »Ich sollte ihn besser nicht ärgern.« Er schnaubte leise. »Nicht noch mehr, als schon geschehen.« Wulf wurde nervös, als er Gregoire nicht finden konnte. Wo hatten sie ihn hingebracht? Wollten sie ihn etwa einfach verscharren?! Er biss sich auf die Lippe. Gregoire war tot. Wahrscheinlich blieb bloß zu überdenken, wie seine Leiche "auftauchen" sollte. »Sei still!« Brüllte er seine innere Stimme an, schlug mit beiden Fäusten heftig auf seine Oberschenkel. Er spürte Dragomirs sezierenden Blick auf sich gerichtet, drehte hastig den Kopf. Der Rudel-Führer verstaute ein winziges Mobiltelefon in seiner Gesäßtasche, näherte sich Wulf vollkommen geräuschlos, geschmeidig wie ein Raubtier. Wulf schlug das Herz bis zum Hals. Obwohl er sich immer wieder einredete, dass sie BEIDE Werwölfe waren, dass er nicht so verflixt noch mal beeindruckt sein sollte! Das half gar nicht. Dragomir ging in einer einzigen, fließenden Bewegung vor ihm in die Hocke, packte sein Kinn, drang in Wulfs meergraue Augen ein. Der schauderte unter dem Blick der hellgrünen Pendants mit ihren Einsprengseln. "Du wirst mir helfen müssen." Verkündete Dragomir sehr leise, aber bestimmt. "Wer mit dem Pack jagen will, muss sich den Konsequenzen stellen." Wulf nickte stumm. "Nein!" Donnerte Dragomir heftig und ohrenbetäubend, drückte Wulfs Kinn so massiv in seinem Griff, dass dessen Kieferknochen vernehmlich knirschten. "Damit ist es NICHT getan!" Dragomir federte in die Höhe, verpasste Wulf eine Ohrfeige, bevor er sich auf den Rollstuhl stützte, wie ein drohendes Fanal über ihn beugte. "Es heißt, du wärst clever, aber das bezweifle ich! Sonst wärst du nicht auf die hirnverbrannte Idee gekommen, Rächer der Enterbten zu spielen!" Brüllte er Wulf ins Gesicht, der gar nicht wusste, was ihn traf. "Denkst du, das ist ein Spiel hier?! Bloß Werwolf sein genügt schon?!" Dragomir packte Wulfs Jogginganzug, zerrte ihn fast aus dem Sitz. "Hast du JETZT begriffen, was es bedeutet?! Anderen den Tod zu bringen?!" Wulf fühlte, wie sich Tränen in seine Augen stahlen, auch wenn er heftig blinzelte, sich dagegen wehrte. Mit einem heftigen Stoß beförderte Dragomir ihn wieder in seinen Rollstuhl, ragte wie ein Riese vor ihm auf. "WIR jagen, Welpe!" Zischte er verächtlich. "Weil wir müssen. Weil der Drang stärker als alles andere ist." Er lehnte sich zu Wulf herunter. "Die Männer und Frauen meines Rudels würden ALLE, jeder Einzelne liebend gern anders sein." Er hob die Stimme. "Keinen Schmerz über ihre Familie und ihre Freunde bringen, wenn sie versagen, verletzt oder getötet werden." Über Wulfs Gesicht perlten Tränen. Er ballte die Fäuste, würgte schluckend. "Heute Nacht haben überall auf der Welt Männer und Frauen ihr Leben aufs Spiel gesetzt und getötet." Dragomir stieß einen Finger in Wulfs Brust. "Auf DEINE Veranlassung hin! Sie haben entsetzliche Dinge gesehen und getan, weil DU um Hilfe gebeten hast." Wulf entschlüpfte ein Schluchzen, bevor er die Hand auf den Mund pressen konnte. Dragomirs funkelnder, giftgrüner Blick hielt ihn gefangen, gestattete keinen Rückzug, keine Scham. "Willst du wirklich mit dem Pack jagen?" Fauchte der eiskalt und verächtlich. "Nicht ANDERS können? Ein Genick mit bloßen Händen brechen, Messer in Nieren stoßen? Widerliche, perverse, menschenverachtende Dinge sehen?! Nie, NIEMALS vergessen können?!" Mit einem Ruck entfloh Wulf dem Blickkontakt, schlug die Hände vors Gesicht, schluchzte laut. Niemand hatte je zuvor so mit ihm gesprochen! Nein, nicht gesprochen, ihn zusammengebrüllt und mit ein paar Sätzen in ein Häufchen Dreck verwandelt! Kraftvolle Hände legten sich auf seine Schultern. "Willst du das wirklich?" Nun klang Dragomirs Donnerruf beherrscht, leise und sanft. "N~ne~nein!" Schniefte Wulf, verschluckte sich fast. "Nein." Dragomirs Hände mit ihrem bleischweren Druck auf seinen gesamten Oberkörper verließen ihn, ein seltsam erleichterndes Gefühl. "Nein, ich dachte mir, dass du nicht so leben möchtest." Vor Wulfs geröteten, Tränen verschmierten Augen materialisierte sich ein sauberes Taschentuch. Während er sich hastig die Augen trocknete, dezent trötend schnäuzte, wandte Dragomir ihm den Rücken zu, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick auf die Glasfront gerichtet. "Wir hätten alle gern die Wahl gehabt." Bemerkte er leise, mit einem Anflug von Melancholie. "Niemand von uns fühlt sich heldenhaft!" Spie er das Wort aus. "Nein, am Ende bist du bloß schmutzig und müde, voll von Erinnerungen, die du vergessen willst, von denen du nicht sprechen kannst, weil dir die Worte fehlen, das Grauen zu beschreiben." Er seufzte. Wulf hörte ihm mit halb geöffneten Mund zu. Wieso erwähnte niemand diese Umstände, wenn es um die Rudel ging?! Dragomir kehrte sich zu ihm um, lächelte nachsichtig. "Sie verraten dir auch nicht, dass die meisten Rudel-Führer mit Ende Dreißig aufgeben, weil sie ausgebrannt sind und eine Gefahr für ihr Rudel darstellen." Ergänzte er, als hätte er Wulfs Gedanken gelesen. Wulf klappte eilig den Unterkiefer wieder hoch. Ein schnappendes Geräusch ertönte. Dragomir legte ihm eine Hand auf den Schopf. "Sie suchen für den Rest ihres Lebens einen Ersatz für den Jagddrang, weil er immer noch juckt, tief in der Seele, und sie ihn nicht erreichen können." Wulf schauderte es sichtlich. SO hatte er sich das nicht vorgestellt! Überhaupt hatte er ja bloß helfen wollen, das Richtige tun! "Es tut mir leid." Entschuldigte er sich kleinlaut. "Yepp." Versetzte Dragomir gänzlich salopp. "War mir schon klar." Er schnippte dem verblüfften Wulf gegen die Nasenspitze. "Ddas heißt aber nicht, dass du schon als geheilt von Helden-Träumen entlassen bist." Er klatschte laut in die Hände, rieb sie demonstrativ. "JETZT kommen wir zum pinseligen Teil!" (^ , , , ^) Kapitel 7 - Der pinselige Teil Wulf wollte gar nicht erfahren, warum es im ersten Stock eine Art Operationssaal gab. Mittlerweile konnte er sich denken, dass die Einsätze des Rudels nicht immer komplikationsfrei abliefen, dass es Verwundungen gab. Auf einem Tisch lag Gregoire unter verschiedenen, beweglichen Leuchten. Dragomir musste ihn zuvor bereits entkleidet und abgewaschen haben. Die Haut glänzte wächsern und sauber im Kunstlicht. "Allein schaffe ich das nicht." Dragomir hatte sich einen Operationsoverall über die Unterwäsche gestreift, Haare und Mund hinter Schutzhaube und -maske verborgen. Wulf blinzelte ungläubig. Was genau erwartete Dragomir von ihm? Der studierte erst ihn, den breiten Operationstisch, danach den eigenen Overall. "In Ordnung, wir machen's so!" Verkündete er, ungerührt von Wulfs dunkelroter Gesichtsfarbe. (^ , , , ^) Es war ja gar nicht so, dass sich Wulf den Notwendigkeiten verschlossen hätte, nein! Bloß... »Bloß ist es totpeinlich, mit nackten Pö hier auf dem blanken Tisch herumzurutschen!« Ergänzte seine innere Stimme säuerlich. Dem war wenig hinzuzufügen. Dragomirs Erläuterungen klangen naturgemäß sachlicher: er brauchte einen Assistenten, der die Wundränder offen hielt, während er nach den Kugeln stöberte, die in Gregoires Körper eingeschlagen waren. Da der Tisch zu hoch, der Rollstuhl zu niedrig und Wulfs Arme nicht lang genug waren, musste der sich eben auf den Tisch hocken, weil Nachblutungen nicht auszuschließen waren. In einem Stringtanga, der sonst bei Einsätzen mit Taucheranzügen verwendet wurde. Wulf fühlte sich entsprechend mies. Ganz zu schweigen davon, dass er nicht im Traum daran gedacht hatte, die Leiche seines besten Freunds zu entweihen, indem er in den künstlichen Löchern herumpolkte. Dragomir, der seinen entsetzten Blick durchaus richtig einordnete, seufzte vernehmlich, verdrehte die unheimlichen Augen. "Was lernt ihr eigentlich in der Schule?!" Klagte er vernichtend. "Keine Ahnung!" Schnappte Wulf bissig zurück. "Da war ich zu selten." Dragomir lupfte eine diabolische Augenbraue, grummelte. "Riskier hier keine kesse Lippe, Junior, sonst fängst du dir ein paar richtige Watschen!" "Typisch Erwachsener!" Feuerte Wulf zurück. "Kaum fällt ihnen kein Argument mehr ein, werden sie handgreiflich!" "Wie erfreulich, dass ich deine Erwartungen nicht enttäusche!" Bemerkte Dragomir generös, verpasste Wulf eine Kopfnuss. "Genug gealbert. Finden wir raus, ob man den kleinen Blutsauger noch mal zum Schlürfen bringen kann." Wulf keuchte. "Aber er ist TOT!" "Tscha!" Schnalzte Dragomir mit Zunge und den Einweghandschuhen, die er überstreifte. "DAS behaupten sie alle. Anschließend, wenn du nichts Böses ahnst, hängt dir so ne Klette an der Gurgel." Damit waren weitere Erläuterungen ausgeschlossen. (^ , , , ^) Wulf spürte Schweißperlen auf seiner Stirn. In seinem Magen rumorte es übellaunig. Er fühlte sich flau. Die höchsten Anforderungen an seine chirurgischen Fähigkeiten hatten bisher darin bestanden, halbe Hähnchen oder mal eine Haxe zu zerlegen. »Da hing allerdings nicht der ganze Ochse oder das Huhn dran!« Immer wieder, auch wenn er es gar nicht wollte, schweifte sein Blick hoch zu Gregoires reglosem, bleichen Gesicht. Er kam sich prompt wie ein Leichenschänder, ein perverser Sadist vor. Auch wenn Gregoire nichts mehr spüren konnte. "He!" Brummte Dragomir ermahnend. Sofort konzentrierte sich Wulf wieder auf die Wunde. Dragomir hatte beiläufig erwähnt, dass der Treffer im linken Oberschenkel die einfachste Angelegenheit sein würde. Mitten ins Muskelfleisch, Knochen noch intakt, kaum "Soße", die heraustropfte. Trotzdem. Das Geschoss, das er mit Hilfe einer langen Pinzette aus der vergrößerten Wunde gezogen hatte, war vollkommen deformiert. "Starke Storchenbeine." Kommentierte Dragomir, klebte Isoband über die Wunde. Wulf schnaufte, enthielt sich aber einer Bemerkung. Längst hatte er festgestellt, dass Dragomir sehr geübt agierte. Ihm war auch eingefallen, dass Gerüchten zufolge ein VAMPIR der Lebenspartner des Rudel-Führers sein sollte. "Jetzt wird's allerdings ein bisschen fummelig." Murmelte Dragomir gerade. Behutsam hob er Gregoires Oberkörper an, drehte ihn vorsichtig. "Hmmm." Brummelte er, studierte die Einschlagkrater, die Wulf wiederholt trocken schlucken ließen. Ängstlich suchte er in Dragomirs Gesicht positive Nachrichten. Er wurde nicht fündig. "Heikel." Stellte der Rudel-Führer grimmig fest. "Nicht gut. Gar nicht gut." Vorsichtig ließ er Gregoires Torso wieder auf die blanke Platte sinken, streifte sich die Einweghandschuhe ab. »Er~er wird doch nicht aufgeben?!« Panik wallte in Wulf hoch, obwohl ER Gregoire aufgegeben hatte. Hoffnung war so heimtückisch, so verlockend, so trügerisch! Dragomir ging zu einem Ausguss, entsorgte erst die Haube und den Mundschutz, wusch sich Hände und Gesicht gründlich, trocknete sich ab, band sich anschließend ein saugfähiges Mullband um die Stirn. Erneut krönte er sein Haupt mit einer Haube, fädelte die Gesichtsmaske hinter den Ohren ein. Seine hellgrünen Augen loderten. "Mach dich auf was gefasst!" Warnte er Wulf vor. (^ , , , ^) Als sie zwei Stunden später den Raum verließen, war Wulf speiübel. Da die letzte Mahlzeit aber einige Zeit her war, konnte er nichts erbrechen, würgte deshalb trocken, den Handrücken vor den Mund gepresst. Definitiv wusste er, welchen Beruf er NICHT ausüben wollte. Dragomir klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, verzog sich unter die Dusche. Die Geschosse, die Gregoire in den Oberkörper trafen, hatten verheerende Schneisen der Zerstörung in den Körper gepflügt. Ein Schuss war seitlich unterhalb der Rippen eingedrungen, hatte Gedärme zerrissen und die Bauchdecke erreicht, war aber nicht mehr ausgetreten. Der zweite Einschlag höher hatte zwei Rippen zersplittern lassen und einen Lungenflügel torpediert. In geduldiger, nervenzehrender Puzzle-Arbeit hatte Dragomir Geschosssplitter herausgefummelt, während Wulf in betäubtem Grauen die Wunden offen hielt, austretende Flüssigkeiten abtupfte, verhinderte, dass Innereien nach außen quollen. Er mochte sich gar nicht vorstellen, welche Schmerzen Gregoire ausgestanden haben musste! Nun lag der regungslos, die Wunden mit Isoband verklebt, auf dem gereinigten Tisch, ein Laken über ihn ausgebreitet. "Jetzt können wir nur abwarten." Hatte Dragomir verkündet. "Entweder packt er's oder ..." Aber die Wunden waren scheußlich, die Verletzungen so zahlreich! Kein Mensch konnte so etwas überleben: von eigenen Knochensplittern wie Schrapnells gespickt zu werden, in Körnergröße zertrümmerte Rippen! Wulf rollte auf den großen Balkon, starrte in den wolkenverhangenen Himmel. Früher Nachmittag eines Sonntags, den er beinahe nicht erlebt hätte. Er war sich bewusst, dass eine weitere Dusche ihm guttun würde, ebenso eine kleine Mahlzeit. Es mangelte ihm erheblich an Energie, dies in Angriff zu nehmen. War es jetzt wirklich vorbei? Er fischte Charybdis aus der Packtasche, klappte den kleinen Computer auf. Abgesehen von einigen Kratzern im Gehäuse schien das Gerät intakt. Wulf starrte auf das leere Display, rekapitulierte. Hatte er alles offenbart, jede Quelle enthüllt? War der Sumpf nun ausgetrocknet? Gern hätte er erfahren, wie es bei den anderen Einsätzen gelaufen war. Dragomirs zorniger Ansprache, die ihm selbst in der Erinnerung eisige Schauer über den Rücken laufen ließ, hatte er entnommen, dass andere Rudel ebenfalls tätig geworden waren, der international tätigen Verbrecherbande das Handwerk zu legen, ihre "Laboratorien" zu zerstören. Er konnte nur inständig hoffen, dass niemand auf der Seite der "Guten" verletzt oder gar getötet worden war. Wulf wusste mit Sicherheit, dass er nicht aus dem Holz geschnitzt war, das Dragomir zum Rudel-Führer gemacht hatte. Er war sich nicht sicher, ob er noch mal so handeln würde, die Verbrecherbande entlarven und so viel riskieren. Seine "Feigheit" beschämte ihn. Andererseits ließ er Gerechtigkeit walten: jede Person hätte wohl gezögert, wenn alle Umstände und Konsequenzen absehbar gewesen wären. Plötzlich bemerkte er, dass sich ein Wagen dem Grundstück näherte, Dragomir neben ihm an die Brüstung stürzte. "Ich hau ihm den Arsch!" Fluchte der, verließ blitzartig Balkon und Wohnzimmer. Wulf umklammerte die Brüstung, aber es gelang ihm nicht, sich hoch genug zu ziehen, um hinunter zu spähen. (^ , , , ^) Dragomir wählte die Stufen, zwei auf einmal, preschte in rekordverdächtiger Zeit die Treppen hinunter, kam schlitternd auf dem Kies der Einfahrt zum Stehen. Sein finsterer Blick traf auf ein verschämtes Grinsen. Der Fahrer der Limousine blieb sicherheitshalber im Wagen. Aus dem Fond kletterte eine zierliche, wohlvertraute Gestalt, balancierte einen Tortentransporter, verhedderte sich prompt mit einem Fuß im Sicherheitsgurt. Bevor eine Bauchlandung den artistischen Höhepunkt des Tages bilden konnte, schnellte Dragomir vor, fasste mit der Rechten die entgleitende Kunststoffschachtel, umschlang mit dem linken Arm eine schmale Taille. "Was sag ich dir immer?!" Erkundigte er sich mit geplagtem Blick auf einen zerwuschelten Lockenkopf, der in Höhe seiner Hüfte nach Luft schnappte. "Gucken!" Schlanke, kalte Hände arbeiteten sich an seinem Rollkragenpullover nach oben, bis der verhinderte Sturzvogel wieder auf den eigenen Füßen stand. "Erst gucken, dann los!" Mit Fingerabdrücken gemusterte Brillengläser verdeckten beinahe große, dunkelbraune Augen, die verlegen um Nachsicht baten. Dragomir stellte die Tortenschachtel auf dem Dach der Limousine ab, stemmte die Hände in die Hüften, baute seine imposante Erscheinung auf. "Warum bist du hier? Hab ich nicht erst vorhin gesagt, dass die Jagd noch nicht vorbei ist?!" Er WUSSTE, dass er wie Mutter Glucke klang, konnte aber nicht dagegen an. Auch wenn es ihm peinlich war, vor Zeugen derart zu agieren: er KONNTE nicht anders! "Ich dachte nur..." Murmelte sein zierlicher Gegenüber beschämt. "Weißt du, ich dachte, du hättest vielleicht Hunger? Wir wollten ja zusammen Kaffee trinken." Traurig senkte sich das lockige Wuschelhaupt herab. Die gesamte, zierliche Person schrumpfte in sich zusammen. "Herrje!" Donnerte Dragomir. Er seufzte demonstrativ, pickte die Tortenschachtel auf, kaperte eine kalte, schlanke Hand. Sein Bannblick auf den Fahrer versprach einen SEHR HÄSSLICHEN TOD, wenn irgendetwas von dieser Episode an Dritte weitergegeben wurde. Der Mann hinter dem Lenkrad rutschte merklich tiefer, entschied, dass es gesünder sei, sich fix an einem anderen, weit entfernten Ort aufzuhalten. Er startete den Motor, rollte leise davon. "Tut mir leid." Murmelte es an Dragomirs Seite unglücklich. "Das war dumm von mir." Dragomir führte die kalte Hand an seine Lippen, küsste den Rücken sanft. "Dumm schon." Antwortete er sanft. "Aber ich habe dich auch vermisst." (^ , , , ^) Wulf beäugte den VAMPIR so unauffällig, wie es ihm möglich war. »Theoretisch ist dieses Persönchen tatsächlich ein Vampir.« Das teilte ihm sein Instinkt durchaus mit. Praktisch nahm sich die bloße Vorstellung schon lächerlich aus. Lysander, wie der Vampir hieß, maß gerade 1,72m mit Lockenhaupt, erinnerte an ein Küken mit den zerbrechlichen Gliedmaßen, strahlte ihn unbekümmert aus großen, braunen Augen an, wirkte vollkommen linkisch, wie ein zerstreuter Bibliothekar, die Brille beschmiert, nachlässig gekleidet, die Taschen ausgebeult und viel zu arglos für die gnadenlose Realität. Dass so ein Kerlchen irgendwem die Hauer in den Hals (oder andere Blut führende Körperpartien) schlagen konnte, war undenkbar. "Ich hab ihn gekauft." Vertraute Lysander Wulf an, missverstand dessen Blicke. "Ich kann nämlich gar nicht backen." Dabei lächelte er so wonnig, dass Wulf gar nicht anders konnte als zurückgrinsen, auch wenn ihm Schwarzwälder Kirschtorte zwischen den Zähnen klebte. "Strolch." Kommentierte Dragomir, zauste Lysander zärtlich die Locken. Wulf registrierte, schwankend zwischen Amüsement und Verblüffung, wie sich der finstere Dragomir verwandelte, wenn Lysander in seiner Nähe war: überfürsorglich wurde die äußere Erscheinung aufpoliert, dem Vampir Kaffee nachgeschenkt, Tortenstücke vorgelegt. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit streichelte oder streifte Dragomir Lysander, nicht aufdringlich oder besitzergreifend, sondern behutsam, sanft. Ihre Verbundenheit war so innig, dass Wulf stellvertretend errötete. (^ , , , ^) Hinter dem Haus befand sich, von Hecken und hohen Zäunen umgeben, eine Wildwiese. Es gab keinen Pfad oder Weg, alles schien sich selbst überlassen. Wulf saß auf der Terrasse, beobachtete den Sonnenuntergang. Gregoire hatte sich nicht gerührt. Er presste die Lippen zusammen, starrte in das Abendrot, blinzelte den Tränenfilm weg. So viel hatte er Gregoire noch sagen wollen, mit ihm ansehen! Er hatte es als selbstverständlich angenommen, dass Gregoire immer bei ihm sein würde. »Du bist ein Idiot!« Hielt er sich zornig vor. »Hast dich wohl für unsterblich gehalten, wie?!« Vor allem hatte er nicht glauben wollen, dass seine Familie oder seine Freunde sterblich waren. »Wie ein Welpe!« Ja. Wie ein Kind hatte er Ewigkeit vorausgesetzt. »Und jetzt hat Gregoire sie bekommen. Herzlichen Glückwunsch.« (^ , , , ^) Lysander streifte durch die Wildwiese. Ab und an musste er niesen. Das trübte sein Vergnügen keineswegs, wenn er mit ausgebreiteten Armen über die Pflanzenspitzen streifen konnte. Er gluckste fröhlich vor sich hin. Da brüllte unerwartet ein Alarm ohrenbetäubend auf. Lysander machte vor Schreck einen Satz. (^ , , , ^) Kapitel 8 - Gemeinsamer Kampf "...nein..." Wisperte Dragomir, der gerade auf der Treppe nach oben steigen wollte. Er machte kehrt, sprang und rollte sich ab, eilte geduckt zur Terrasse. "ZUM HAUS!" Brüllte er aus Leibeskräften, fasste in einen Blumenkübel, entnahm ihm, in eine luftdichte Verpackung gehüllt, eine automatische Waffe. Mühelos zerfetzte er die wasserdichte Schutzschicht, feuerte im Laufschritt. Vor ihm, so weit weg!, kämpfte sich Lysander durch die Wildwiese den Hügel hoch. In seinen braunen Augen flackerte Todesangst. Etwas traf ihn, schleuderte ihn nach vorne. Lysander hielt nicht inne, kroch auf allen Vieren weiter. Dragomir stieß einen archaischen Kampfschrei auf, feuerte auf die vermummten Angreifer, die Lysander auf den Fersen waren. (^ , , , ^) Wulf zögerte hilflos. Was konnte er tun?! Vor dem Haus hörte er Explosionen. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung war: eine schwarzgekleidete Gestalt mit Sturmhaube steuerte auf ihn zu, die Waffe im Anschlag. Er krächzte, doch nichts versprach Rettung. Er war unbewaffnet, konnte sich nicht verteidigen. Eine Garbe hackte durch die Luft. Mehrere Schüsse trafen seinen Angreifer, der leblos zusammensackte. Lediglich mit einem Maschinengewehr bekleidet überquerte Gregoire leichtfüßig die Terrasse wie ein Todesengel. (^ , , , ^) Dragomir erreichte Lysander zuerst, zog ihn hoch auf seine Hüfte wie ein Kind, klemmte sich sein Wurfmesser zwischen die Zähne. Er hatte ein Magazin abgefeuert und nur noch eins in Reserve, das er jetzt einrasten ließ. Lysander schluchzte an seiner Halsbeuge vor Angst. Der Rudel-Führer konnte es ihm nicht verdenken: die Lage WAR prekär. Im Zickzack hielt er auf das Haus zu, so schnell er konnte, hoffte, dass ihn kein Geschoss traf. Der Pullover mit Kevlar war in der Wäsche. (^ , , , ^) Gregoire drückte Wulf das Maschinengewehr in die Hände, wühlte in einem weiteren Blumenkübel. Seine schwarzen Augen glitzerten frostig, die Fangzähne gruben Furchen in seine Unterlippe. "Gib mir Deckung." Wies er Wulf an, der immer noch unter Schock stand, kniete sich auf sein linkes Bein, visierte ruhig. Das nachlassende Licht der Dämmerung bereitete ihm keine Probleme. Er feuerte, traf, lud nach. »Als ob sie Zielscheiben wären.« Wulf schauderte, drehte seinen Rollstuhl, hielt das Maschinengewehr umklammert, lauerte bange auf Angreifer, die um das Haus herum auf die Terrasse stürzen würden. (^ , , , ^) Dragomir atmete erleichtert aus, als er registrierte, wie gezielte Schüsse die Reihen seiner Verfolger lichteten. Wer auch immer da oben Schützenhilfe leistete: es war ein Könner. Scheinwerfer flammten auf, als das Restlicht zu gering wurde. Er kniff die Augen zusammen, stolperte auf die Terrasse, Lysander fest umklammert. Quasi Rücken an Rücken verteidigten sich die beiden Jugendlichen. Der nackte Körper des Vampirs glänzte wie poliertes Elfenbein im gleißenden Licht. Dragomir pellte Lysander behutsam von seiner Seite, legte ihm den Finger auf den Mund, wisperte. "Ich komme wieder." Auch wenn es ihm das Herz zerriss, die panische Bitte um Beistand in Lysanders Augen zu ignorieren: er musste sichergehen, dass niemand sich mehr an sie heranschlich. Der Werwolf musste jagen. (^ , , , ^) Ohne recht zu wissen, warum er es tat, fischte Wulf aus einer Packtasche einen der restlichen Schokoriegel, drückte ihn Lysander in die Hände, der neben ihm kauerte, am ganzen Leib zitterte. Ebenso automatisch entkleidete der verletzte Vampir den Riegel, kaute auf ihm herum. Wulf und Gregoire lauschten angestrengt in die Nacht. Sie konnten nichts mehr hören, aber das bedeutete keineswegs Entwarnung. Dragomir hörten sie ja auch nicht. (^ , , , ^) Die Attacke hatte nur eine Viertelstunde gewährt. Kurz danach näherten sich verschiedene Fahrzeuge mit abgeschalteter Beleuchtung, rollten im Leerlauf aus. Irgendwo stieß jemand ein wölfisches Heulen aus. Lysander winselte, presste sich die Hände auf die Ohren. Gregoire taumelte gegen Wulfs Rollstuhl, schwankte einen Moment, wollte sich auf das Gewehr stützen. Die Knie knickten ihm ein. Er fiel neben Wulf in Ohnmacht, während sich ein Schuss löste. (^ , , , ^) "Was für eine Sauerei." Kommentierte Dragomir trocken, rieb sich müde über die Stirn. Von den zwei Dutzend Angreifern hatte keiner überlebt. Im Augenblick arbeiteten sein Rudel und die Reserve, die den Alarmruf des Ausweichquartiers empfangen hatten, an der Identifizierung. Es würde gar nicht einfach werden, DAS zu erklären, ganz zu schweigen vom Waffeneinsatz. Er seufzte. Schüchtern rückte Lysander an ihn heran, schob sich unter einen muskulösen Arm, kuschelte. Die Streifwunde an seiner Wade war verbunden, der Schock saß allerdings tief. Dragomir beugte sich herunter, drückte einen zärtlichen Kuss auf eine kalte Schläfe. "Willst du dich nicht etwas hinlegen?" Erkundigte er sich fürsorglich. Lysander schüttelte hastig den Kopf, grub die Fingernägel in Dragomirs Pullover. "Bitte, lass mich bei dir bleiben! Ich bin auch ganz still!" Das klang so kindlich, so verzweifelt und hilflos, dass Dragomir Lysander fest in die Arme schloss, ganz gleich, was die anderen Werwölfe denken mochten. (^ , , , ^) Wulf kämpfte mit dem Bademantel, gab es schließlich auf. Ein Handtuch musste eben reichen. Er starrte ungläubig auf seine Hände. Sie zitterten. Gregoire, der mit ihm geduscht hatte, einen Bademantel erfolgreich übergeworfen hatte, blieb vor ihm stehen, beobachtete Wulf. "Das geht vorbei." Bemerkte er endlich sachlich. Wulf nickte, seltsam entfremdet von diesem Jugendlichen, der zwar die Gestalt seines besten Freunds trug, aber nichts mit ihm gemein zu haben schien. Der Vampir, und so SAH ihn Wulf wirklich zum ersten Mal, wandte sich abrupt ab, ging voran, den Gang hinab im dritten Stockwerk, wo man ihnen höflich, aber bestimmt ein Zimmer zugewiesen hatte. Was auch immer die Werwölfe unten berieten und organisierten: sie sollten außen vor bleiben. Das Zimmer erinnerte an eine Hotelunterkunft. Ein großes Bett war flankiert von Nachtschränkchen. Am Kopfende wartete eine Truhe auf abgelegte Kleider. Ein zierlicher Sekretär am Kopfende gestattete das Verfassen von Korrespondenz. Daneben führte eine diskrete Schiebetür in ein Gelass mit Waschbecken und Toilette. In Wandschränken verkleidet befanden sich Kleiderstangen und -bügel, jedoch keine Medienausstattung. Hier wurde lediglich geschlafen, nichts weiter. Gregoire trat ans Fenster, blickte in die Nacht hinaus. "Du wirkst nicht erfreut darüber, dass ich noch nicht durch die Grasnarbe atme." Warf er kühl in den Raum. Wulf, der sich gerade dazu entschlossen hatte, vom Rollstuhl ins Bett zu wechseln, weil ihn langsam ohne mehr Bekleidung als das Handtuch fror, erstarrte. "Das ist nicht wahr." Widersprach er nach kurzem Zögern. "Ah nein?" Gregoire lachte spöttisch. "Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass du dich gerade ziemlich unbehaglich fühlst." Er grinste kalt, entblößte seine Fangzähne, leckte sich demonstrativ über die dünnen Nadeln. "Hast du etwa Bammel, Werwolf?" Zischte er guttural. Wulfs Blick verfinsterte sich. Ansatzlos riss er ein Kissen vom Bett, schleuderte es mit Verve zu Gregoire, der dem Geschoss mühelos auswich. Wütend funkelte er seinen besten Freund an. "Du laberst nur Müll! Hat dich auch irgendwas am Kopf getroffen?!" "Hättest du das vorgezogen?" Höhnte Gregoire, setzte sich Zeige- und Mittelfinger an die Schläfe, krümmte theatralisch die anderen Finger wie an einem imaginären Abzug. "Bumm! Hau weg die Scheiße!" Wulf wandte sich brüskiert ab, rollte neben das Bett, brachte sich in Position, auf die zurückgeschlagenen Laken zu wechseln. "Du bist ja bekloppt." Stellte er kühl fest. "Und du bist scheinheilig!" Hielt ihm Gregoire mit erhobener Stimme vor, streckte anklagend einen Zeigefinger aus. "Ich bin doch nicht blöd! DU findest mich total abartig, weil ich dieses Pack abgeballert habe, aber ICH war es nicht, der unbedingt mit der Drogenmafia einen Krieg anfangen musste!" Mit zusammengepressten Lippen konzentrierte sich Wulf darauf, seinen Torso vom Rollstuhl auf die Matratze zu schwingen. Aufgrund des leichten Höhenunterschieds war das gar nicht so einfach. Außerdem zitterten ihm immer noch die Glieder. Er ächzte vor Erleichterung, als er endlich auf der Matratze saß, drehte sich, klappte seine Beine behutsam ein, damit er sie unter die Decke schieben konnte. Dass Gregoire mit seinen Vorwürfen absolut ins Schwarze getroffen hatte, wollte er vorzugsweise nicht kommentieren. Da hatte er die Rechnung ohne seinen besten Freund aufgestellt. "Ja, natürlich, jetzt hältst du die Schnauze!" Gregoire baute sich am Fußende des Betts vor der Truhe auf, die Hände in die Hüften gestützt. Seine schwarzen Augen funkelten vor Zorn, die Augenbrauen bildeten Gewitterlinien. "Du wolltest doch den großen Macker markieren! Und jetzt hast du Katzenjammer, den du an MIR auslässt!" "Ist gar nicht wahr!" Konterte Wulf hitzig, stopfte sich die verbliebenen Kissen in den Rücken, krempelte sich die Bettdecke hoch bis unter die Achseln. "Entschuldige, dass es mir kein Spaß macht, im Kadaver meines Freundes herumzupolken!" Ätzte er zurück. "Oder darauf zu warten, dass ein irrer Junkie mich abknallt!" Wütend holte er zur Breitseite aus. "ICH kann dann nämlich nicht wieder aufstehen!" "Ha! DA haben wir es!" Triumphierend und bitterböse ballte Gregoire die ausgestreckte Hand zur Faust. "JETZT ist es endlich raus: du verachtest mich! Den scheiß-unkaputtbaren Blutegel!" "Quatsch!" Brüllte Wulf zurück. "DU findest dich selbst scheiße! Es ist aber nicht meine Schuld, dass du bist, wie du bist!" Gregoire öffnete den Mund, offenkundig zu einer gepfefferten Erwiderung bereit, doch außer einem erstickten Krächzen brachte er nichts hervor. Der ausgestreckte Arm sackte kraftlos herab. Den Blick ins Leere gerichtet wandte sich Gregoire wortlos ab, kehrte zum Fenster zurück, wo er sich auf dem Sims zusammenkauerte. Wulf schluckte mehrfach, von Unbehagen erfüllt. »Was für ein blöder Streit!« Warum hatte er sich überhaupt darauf eingelassen? Sie standen beide unter Stress, deshalb... »Aber mehr als ein Körnchen Wahrheit enthält er doch.« Plagte ihn seine innere Stimme. Ja, es gruselte ihn, wie scheinbar ungerührt Gregoire mit dem Gewehr Menschen erschossen hatte, während er selbst vor Angst gelähmt war, nur dank seines Werwolf-Erbes nicht in Panik verfiel. Und dass er zum ersten Mal Gregoire in erster Linie als VAMPIR angesehen hatte. Nicht als seinen besten Freund. "Bitte." Er räusperte sich verlegen. "Bitte, Gregoire, komm wieder her. Es tut mir leid." Er lupfte extra die Bettdecke der anderen Hälfte, doch Gregoire rührte sich nicht. "Bitte." Unternahm er einen weiteren Anlauf. "Ich kann auch zu dir kriechen, aber ich bin gerade nackig und das ist etwas unpraktisch." Versuchte er es mit schmerzlicher Komik. Gregoire wandte ihm den Kopf zu. "Mir geht's nicht gut." Murmelte er kaum hörbar. Wulf war dieser Satz allzu vertraut, auch der verschlossene Ausdruck auf dem bleichen Gesicht, aber es war eindeutig ein Friedensangebot. Deshalb streckte er werbend eine Hand aus. "Komm her. Hier ist es warm!" Mit dem Kinn wies er auf das aufgeschlagene Bett. Zu seiner Erleichterung entfaltete Gregoire tatsächlich seine Glieder, durchquerte den Raum. Ohne Zögern löste er den Gürtel des Bademantels, ließ den Frotteestoff an seinem Körper heruntergleiten, stieg achtlos aus dem auf den Teppich gesunkenen Kleiderbündel hinaus, um sich unter die Bettdecke zu schieben. Fürsorglich klappte Wulf die Bettdecke hoch, stopfte sie um Gregoires gekrümmten Rücken fest. Der hatte sich zu einem kompakten Paket zusammengeballt. "Ich bin immer kalt." Flüsterte er, als Wulf das Licht löschte, gleichsam den Vorhang über ihren Disput senken wollte. "Ich wünschte, ich wäre kein Vampir." Wulf glitt auf seinem Kissenberg etwas tiefer. "Dann wärst du jetzt tot." Antwortete er leise, ergänzte. "Ich wahrscheinlich auch." Gregoire schnaubte. "Wahrscheinlich wäre es gar nicht so weit gekommen. Wir hätten uns vermutlich nicht mal kennen gelernt." Neben ihm erstarrte Wulf. Erschrocken platzte er heraus. "Willst du das? Aber ich dachte, wir sind Freunde?" Unter der Decke schob sich eine kalte, elegante Hand in seine warme Rechte, drückte sie so fest, dass es schmerzte. "Bist du mich denn nicht längst leid?" "Überhaupt nicht!" Brauste Wulf auf. "Wie kommst du auf die blöde Idee?! Du bist mein bester Freund!" "Trotzdem." Murmelte Gregoire. "Ich wünschte, ich wäre kein Vampir." Wulf runzelte in der Dunkelheit ratlos die Stirn. "So schlecht ist es doch gar nicht." Bemühte er sich hilflos um Trost. "Ha!" Schnaubte Gregoire gequält. "Du hast ja keine Ahnung." Unerwartet setzte er sich neben Wulf auf, entzog ihm seine Rechte, studierte ihn mit der Nachtsicht, streckte seine Hand aus, wölbte sie um Wulfs Wange, streichelte mit dem Daumen sanft über dessen modisch rasierte Koteletten. "Ohne dich wäre mein Leben die reinste Hölle." Stellte er traurig fest. Die Bestimmtheit, mit der er diese Aussage traf, ließ Wulf erschauern. Gregoire seufzte, drehte den Kopf zur Seite, die Augenbrauen zusammengezogen, als müsse er etwas Komplexes ablesen. "Es ist nicht nur die Kälte." Wisperte er bedächtig, während sein Daumen die Liebkosung an Wulfs Backe fortsetzte. Ein klägliches Lächeln zuckte über seine Lippen. "Du bist wahrscheinlich das einzige männliche Wesen auf der Welt, das mich nicht instinktiv hasst, weißt du das?" Bemerkte er im Konversationston. Wulf brachte keinen Laut heraus. Seufzend zog Gregoire seinen Arm zurück, stützte sich mit beiden Händen auf die Matratze, kniete unter der Decke. "Ich weiß nicht warum, aber von Anfang an haben mich Männer abgelehnt. Angefangen bei meinem Vater." Er spie die Silben verächtlich aus. "Während Frauen von der Windel bis zum Rollator vernarrt in mich sind." Er hob den Blick, zwinkerte Wulf traurig zu. "Das klingt vermutlich nach einem tollen Deal, aber das ist es nicht." Wieder glitt sein Blick ins Leere, an Wulf vorbei. "Frauen können ganz schön beängstigend sein." Versicherte er ihm leise. "ICH mag dich. Und ich bin ja auch ein Mann." Klinkte sich Wulf endlich ein. "Du denkst, ich übertreibe?" Gregoire blieb überraschend ruhig, studierte die meergrauen Augen seines besten Freunds. Er lachte leise, ohne jeden Humor. "Du würdest dich wundern, wie oft ich nur knapp dem Tod entronnen bin, von anderen Dingen ganz zu schweigen." Wulf musterte ihn mit gerunzelter Stirn. Gregoire verstand es als Herausforderung. "Beispielsweise, als wir uns kennen lernten." Hielt er Wulf vor. "Denkst du, sie wussten nicht alle genau, dass ich nicht schwimmen konnte? Aber ich musste trotzdem mitkommen. Warum glaubst du, hat sich unser toller Lehrer ausführlich und außer Sichtweite mit dem Bademeister unterhalten?" Er schüttelte den Kopf, bevor Wulf bemerken konnte, dass die Verkettung unglücklicher Umstände eher für einen Unfall sprachen. "Nein." Gregoire bleckte die Zähne. "Zwei Tage vorher haben sie mir eine Schlinge am Klettergerüst um den Hals gezogen, damit ich mich selbst erdrossle, wenn ich mich nicht mehr halten kann." Wulf konnte nicht anders als fassungslos starren. "Sie hassen mich. Das ist wie ein Reflex." Erklärte Gregoire sachlich. "Verstand spielt keine Rolle. Ich bin einfach ein wandelndes, rotes Tuch." Gregoire seufzte. "Deshalb habe ich mich immer bei Frauen und Mädchen versteckt. Sie hängen zwar wie die Kletten an mir, grapschen mich an und toben Eifersuchtskämpfe aus, aber wenigstens..." "Musstest du deshalb die Schulen wechseln?" Für Wulf puzzelte sich gerade ein Mosaik Steinchen um Steinchen zusammen. Allmählich dämmerte ihm auch, warum Gregoire so ungern mit ihm ausging, sich lieber allein mit ihm in der Wohnung oder später im Bungalow verkroch. "Tja." Gleichgültig zuckte Gregoire mit den Schultern. "Liebe oder Hass. Die einen hätten mich am Liebsten gleich rausgeschmissen, weil schon mein Anblick eine Herausforderung ist. Die anderen haben mich mit Aufmerksamkeitsbekundungen überschüttet." "Oh." Murmelte Wulf betroffen. "Warum hast du mir nichts erzählt?" Gregoire hob den Kopf, sah ihm unverwandt in die meergrauen Augen. "Ich habe auch meinen Stolz." Antwortete er schlicht. "Aber das ist dumm!" Rutschte Wulf heraus, bevor er sich bremsen konnte, deshalb ließ er sich vom Schwung davontragen. "Ich bin dein Freund, da hilft man sich! Alles einfach allein aussitzen wollen, das ist bescheuert! Ich habe dir ja auch immer alles erzählt!" "Ja!" Knurrte Gregoire ebenso hitzig zurück. "Aber du bist ein Genie, ein genialer Eierkopp, während ich nur ein Doofmann bin, der ständig von Schulen verwiesen wird!" "Ach, das ist doch Quatsch!" Geiferte Wulf empört zurück. "Denkst du etwa, ich wäre besser als du?! Klar, das tust du!" Damit verpasste er Gregoire unvermutet einen Klaps vor die Stirn. "Mann, SO WAS ist doof! Dabei brauchst du dir nur vor Augen zu halten, dass DU wenigstens im Stehen pinkeln kannst!" "Und?!" Blökte Gregoire aufgebracht zurück. "Was ist daran so toll?!" "Ich kann das nicht. Egal, wie hoch mein IQ ist." Versetzte Wulf würdevoll. "Ja, aber..." Gregoire stockte, nun ohne Konzept. "Ich meine, im Stehen pinkeln, das ist doch nicht wichtig?!" "Ach ja?" Schnurrte Wulf triumphierend. "Ich erinnere dich dran, wenn du zehn Minuten vorher wissen musst, dass du pinkeln willst, damit du dir nicht in die Hose machst." Gregoire zog eine schmollende Schnute, streckte die Hand aus, klemmte Wulfs Nasenspitze zwischen Mittel- und Ringfinger ein. "Du versuchst bloß abzulenken! Sitzpisser!" "Hat doch funktioniert, Warmduscher!" Konterte Wulf feixend. Gregoires Augen wurden schmal. "Das denkst auch nur du!" Er fing Wulfs Kopf zwischen beiden Händen ein, visierte kurz ohne zu Zwinkern, küsste seinen perplexen Freund genüsslich auf den Mund. (^ , , , ^) Kapitel 9 - Eine unmögliche Kombination Wulf fühlte sich, als sei er gegen einen Vorschlaghammer gelaufen. Gregoires kalte Lippen prickelten noch immer auf seinem Mund. Seine frostigen Finger schienen sich auf ewig in seinen Wangen eingraviert zu haben. Sein Herz raste. Endlich, nach schieren Äonen, wagte er, den Kopf zu drehen. Gregoire hatte sich wieder zusammengerollt, kehrte ihm den Rücken zu. Lediglich die ungebändigte Mähne der nussbraunen Haare ragte aus der Vampir-im-Schlafrock-Roulade hervor. War das nur ein blöder Scherz?! Ergrimmt ballte Wulf die Fäuste. SO ETWAS machte man nicht, nicht mal mit dem besten Freund, mitten in einer ernsthaften Konversation herumzualbern! "Und was ist mit Mathieu?" Erkundigte er sich deshalb bissig. "Gut durch, schätze ich." Entgegnete Gregoire kaltschnäuzig, aber Wulf war nicht entgangen, wie er sich kurzzeitig verspannt hatte. "Ich will wissen, was ER getan hat!" Wulf knurrte guttural. "Nichts!" Fauchte Gregoire mit Verspätung, wenig glaubhaft. "Ach, Kinderkacke!" Schnarrte Wulf. "Versuch gar nicht erst, mich zu belügen! Das RIECHE ich sofort!" "Du kannst gleich mal an meiner Faust riechen!" Gregoire fuhr unter der Bettdecke hoch. "Friedhof, klar?!" "Ha ha!" Spottete Wulf herausfordernd. "Versuch's doch!" Zu seiner völligen Verblüffung stürzte sich Gregoire wirklich auf ihn. Der Vampir war flink. Allerdings reichte das nicht, sobald Wulf seine Handgelenke erwischte und fest zupackte. Ein zähes Ringen entstand. Gregoire war nicht bereit aufzugeben, hoffte, Wulf aus dem Gleichgewicht zu bringen, der lediglich mit der trainierten Beweglichkeit seines Torsos auftrumpfen konnte. Er zerrte, zog, zappelte, strampelte, von Wulf in eine sitzende Haltung heruntergezwungen, sollten ihm nicht die Ellen brechen, bleckte das Gebiss, fuhr unwillkürlich das Paar Fangzähne aus. "Was hat Mathieu getan?" Wulf gab nicht einen Millimeter nach. "Lass mich los!" Zischte Gregoire gepresst. "Lass los, verdammt!" "Erst will ich eine Antwort." Beharrte Wulf stur. Gregoire fauchte, spuckte Wulf ins Gesicht. Der blinzelte fassungslos. Einzig Gregoires bleiches, ebenso verstörtes Gesicht versöhnte ihn mit dieser Aktion. "Bitte." Wisperte Gregoire fahl. "Bitte, lass mich doch los, Wulf." Vorsichtig löste der seine kraftvollen Hände um die dünnen Handgelenke. Zögerlich schob Gregoire daraufhin seine kalten Hände in Wulfs, beugte sich vor. Er ignorierte Wulfs Zurückzucken, hielt nur einen Herzschlag inne, bevor er langsam seinen Speichel von Wulfs Gesicht leckte. Der hielt, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Luft an, bis ihm schwindelig wurde. Ohne Widerstand entließ er Gregoires Hände aus seinem losen Griff, der ihm die Arme um den Nacken schlang, ihn umarmte, umklammerte. Wulf, der sich SEHR bewusst war, dass ohne die trennende Schicht der Bettdecke sie beide SEHR nackt waren, schlang scheu die Arme um den knochigen Rücken seines Freunds. Gregoire war wirklich kalt. Ein Prickeln raste durch Wulfs Körper, als ihre Haut sich großflächig berührte. "Ach Scheiße!" Schniefte Gregoire unterdrückt an Wulfs Halsbeuge, begann zu schluchzen. Der konnte es gar nicht glauben. Gregoire weinte NIE! Seit sie sich kannten, kein einziges Mal! Aber die kalten Tropfen, die auf ihm notlandeten, über seine nackte Brust glitten, waren ein eindeutiger Beleg gegen diese eherne Tatsache. "Ist ja gut." Hörte er sich murmeln, während er mit einer Hand die dichte Mähne durchpflügte, Gregoires Nacken kraulte. "Alles ist gut." Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, tröstete ihn aber selbst auch ein wenig. (^ , , , ^) Nachdem es Wulf gelungen war, sich ausreichend zu verrenken, um im Nachtschränkchen ein Paket Taschentücher abzufischen, hatte sich Gregoire mit einem gedämpften Fanfarenstoß die Nase geputzt, hockte auf den Fersen vor ihm. "Ähm." Stellte Wulf treffend fest. Ihm war kalt. Er hätte gern die Decke noch weiter hochgezogen, auf der Gregoire hockte. Gregoire zerpflückte ein Papiertaschentuch in kleine Fetzchen, hielt den Kopf gesenkt. "Der Kerl war ein perverses Schwein!" Platzte aus ihm heraus. "Es ist GUT, dass er abgekratzt ist!" Stierte er Wulf herausfordernd ins Gesicht, die schwarzen Augen glühend. "Warum?" Fragte der schlicht. Gregoire schob die Unterlippe vor, ein sicheres Indiz dafür, dass das Auskunftsbüro mit sofortiger Wirkung den Betrieb eingestellt hatte. Wulf streckte die Hand aus, raufte Gregoires dichte Mähne. "Ich kann es auch aus dir herauskitzeln!" Drohte er. "Dann knutsche ich dich wieder ab!" Konterte Gregoire wild. "Und?" Betont lässig verschränkte Wulf die Arme im Nacken, sich bewusst, wie breit und mächtig sich sein Brustkorb mit Muskelsträngen präsentierte. "Denkst du etwa, das macht mir Angst?" Gregoire legte den Kopf schief, kniff die Augen prüfend zusammen. "Wirklich nicht?" Erkundigte er sich lauernd. "Nein." Wulf schob ebenfalls die Unterlippe vor. Er hatte ja den ersten Kuss überlebt, da machten ein paar mehr keinen großen Unterschied! Ein Lächeln schlich sich spitzbübisch in Gregoires angespannte Miene. "Na fein!" Schnurrte er amüsiert. "Ich WERDE dich daran erinnern." Betont abschätzig zuckte Wulf mit dem mächtigen Schultern. "Was ist nun mit diesem Knilch?" Gregoire schauderte, kletterte von der Decke herunter, schob sich eilig unter ihre warmen Schichten. "Mir ist kalt." Murmelte er, aber es war nicht die äußere Temperatur, die ihm zusetzte. "Was hat der Kerl gemacht?" Wulf ließ nicht locker, drehte sich auch auf die Seite, nachdem er seine Beine entsprechend sortiert hatte. Er lag trotzdem noch höher als Gregoire, der nicht mit Kissen ausgestattet war. Auffordernd rutschte er ein wenig, damit Gregoire neben ihn rücken konnte. Gregoire tastete unter der Decke nach Wulfs Hand, kaperte sie, presste sie auf seinen kalten Oberkörper. Dort befand sich zwar kein Herzschlag, aber das spielte keine Rolle. Er streichelte mit der Hand über Wulfs Handrücken, allerdings so nahe, dass keine Möglichkeit bestand, die entführte Hand könne ungehindert zu ihrem Besitzer zurückkehren. "Wusstest du, dass Vampire immer kälter werden, je älter sie sind?" Flüsterte er, legte seine Hand auf Wulfs. "Sie versteinern zu Eisblöcken." Wulf schauderte unwillkürlich. Neben ihm schnaubte Gregoire. "Ja, JETZT findest du es auch nicht mehr so toll, Vampir zu sein, oder?" Er seufzte. "Ich glaube, meine Mutter war schon immer ein Gletscher. Außen Eis, Schnee, dann Permafrost und innen Granitgestein." Das klang nicht unbedingt nach einer liebevollen Beziehung, aber Wulf kannte Gregoires Eltern nicht. Der hatte ihn nicht vorstellen wollen. "Die Mistsau war noch schlimmer." Gregoire zischte. "Erst hat er katzenfreundlich getan, aber dann..." Er kraulte Wulfs Handrücken abgelenkt, als handele es sich um ein kleines Pelztier. Wulf zog die Augenbrauen zusammen, studierte die blanke Miene seines besten Freunds eindringlich. Irgendwo hinter dieser Maske tat sich etwas, aber was, das konnte man Gregoires Gesicht nicht ablesen. "Wenn er mich auch ignoriert hätte, wäre es ja in Ordnung gewesen." Gregoire presste die Lippen aufeinander, die schwarzen Augen wurden schmal. Sein Blick richtete sich direkt in Wulfs Augen. "Es ist verdammt schwierig, einen Vampir wirklich abzumurksen." Stellte er mit flachem Tonfall fest. "Das hätte ich dir sagen sollen. Aber dann hättest du mich gefragt, woher ich das weiß." Wulf fuhr sich mit der Zunge über die scheinbar ausgetrockneten Lippen. Er räusperte sich, krächzte. "Und woher..?" Gregoire grinste, lachte kurz und gedämpft auf. Er nahm die Hand von Wulfs Handrücken, stippte ihm in die Rippen. "Ehrlich, irgendwo da drin muss ne neugierige Katze versteckt sein! Von wegen Wolf!" Spottete er. "Ha!" Brummte Wulf knurrig. "Pack dir an die eigene Nase! Neun Leben hast ja wohl eher du!" Sein Freund schmunzelte, streichelte ihm wieder über den gekaperten Handrücken. "Schätze, das würde nicht lange vorhalten." Schweigen breitete sich aus, veranlasste Wulf schließlich, unruhig hin und her zu rutschen, wobei er darauf achten musste, die durch seine Beine stabilisierte Seitenlage nicht auszuhebeln. Großmütig gab Gregoire nach. "Ich weiß das, weil ich praktische Erfahrungen habe, nicht nur seit gestern." Ergänzte er gallig. Wulf warf ihm einen verstörten Blick zu. Wenn sich Gregoire doch nicht immer jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen lassen würde! Der hob die Hand, streichelte Wulf über die Wange, rutschte näher an ihn heran, bis ihre Knie sich berührten, auch wenn Wulf das weniger spüren als vermuten konnte. Für einen surrealen Moment kam es Wulf so vor, als beruhige Gregoire nicht ihn, sondern tröste sich selbst, indem er ihn liebkoste, mit mitfühlenden Augen betrachtete. Bevor seine Zunge ihm durchgehen, energisch die Auflösung dieses Mysteriums fordern konnte, seufzte Gregoire leise, zog die Hand zurück, umklammerte damit Wulfs. "Der Kerl war ein perfides Arschloch." Wisperte er bitter. "Erst hat er mit Heftklammern auf mich geschossen, mir ständig ein Bein gestellt oder mich gekniffen, dass ich blaue Flecke bekam." Gregoire schnaubte. "Damit hat er ausprobiert, wie gut meine Selbstheilungskräfte sind. Als meine Mutter kaum noch zu Hause aufgetaucht ist, wurde er richtig gemein." Er drehte sich unerwartet auf den Rücken, fixierte die Decke, gab Wulfs Hand aber nicht frei. "Wenn er mich zu Hause erwischt hat, prügelte er mich erst, bis ich mich nicht mehr wehren konnte. Er hat mich in seine Ludenschleuder geschmissen, ist in irgendein versifftes Loch gefahren. Manchmal hat er mir auch irgendwas Ekliges eingetrichtert oder gespritzt." Gregoires Händedruck wurde selbst für Wulf schmerzhaft. "Da ich aber praktisch unkaputtbar bin, war ich schon wieder halbwegs manierlich, wenn er bei seinen Weibern aufgetaucht ist. Die waren..." Er schauderte heftig. "Gott, das kannst du dir nicht vorstellen! Wie.. wie..." Er suchte nach dem richtigen Vergleich, steckte schließlich auf. "Na ja, wie rollige Katzen! Notgeil. Haben mir zwischen die Beine gefasst und so was." "IGITT!" Entfuhr Wulf, bevor er sich besinnen konnte. Es schlüpfte einfach heraus. Neben ihm grinste Gregoire matt. "Oh, das war erst der Anfang, die Ouvertüre sozusagen!" Fügte er in galligem Humor an. "Ich durfte mir angucken, wie er's mit ihnen getrieben hat. Oder ihnen erlaubt hat, mich zu verletzen." Wulf schnappte nach Luft, ihm war übel. Er WOLLTE auf keinen Fall entsprechende Bilder in seinem Kopf zu dieser Schilderung haben! "Ein perverser, sadistischer Arsch." Fasste Gregoire zusammen. "Natürlich habe ich versucht, ihn abzumurksen." Versicherte er selbstironisch. "Ich war ja leider nicht stark genug, um ihn selbst zu verdreschen." Er rollte sich wieder auf die Seite, zu Wulf, robbte so nahe an ihn heran, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Ein zittriges Grinsen irrlichterte über sein Gesicht. "Aber ich hab's nicht gepackt!" Er schniefte erstickt. "Jedes Mal ist der Scheißkerl wieder aufgetaucht!" Wulf befreite seine Hand, zog Gregoire an sich, in eine ungelenke, wacklige Umarmung. "Warum hast du mir nichts gesagt?" Flüsterte er betroffen. "Irgendwie..." Gregoire zog die Nase hoch. "Vergiss es! Die Mistsau wusste, dass meine Mutter mich beim geringsten Ärger in ein Internat stecken wollte. Und er hat gedroht, er würde..." Gregoire biss sich auf die Zunge, bevor er noch mehr verraten konnte, aber Wulf bewies, dass sein IQ ihn nicht am logischen Denken hinderte. "Er hat gedroht, er würde mir was antun." Beendete er für Gregoire düster den Satz. "Ja." Gregoire rutschte auf den Rücken, direkt neben Wulf, der die ausgestrahlte Kühle durchaus spürte. "Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als ihn bei Laune zu halten und heimlich zu versuchen, ihn abzumurksen." "Verdammte Hacke!" Explodierte Wulf. "Was für eine Schweinerei!" Gregoire neben ihm grinste, zwinkerte hoch. "Deshalb bin ich gern bei dir. Du bist so herrlich harmlos." Versetzte er süffisant. "W~w~was?! Harmlos?!" Der geborene Werwolf ballte die freie Hand, hielt sie unter Gregoires Nase. "Riechst du den Friedhof?!" Gregoire lachte frei heraus, funkelte Wulf an. "Ich habe keine Angst vor dir." "Aber Gottesfurcht kann ich dich lehren, Kruzifix!" Fluchte der enragiert, kicherte los. Nein, wem sollte er hier etwas vormachen?! Er war einfach kein Schläger, kein mieser Tyrann oder perverser Mistsack. "Trotzdem!" Wulf rollte sich auch auf den Rücken, nachdem er seine Beine entsprechend ausgerichtet hatte. "Ich finde, du hättest mir etwas sagen sollen. Wir hätten uns gemeinsam was einfallen lassen." Neben ihm setzte Gregoire sich auf, stützte die Arme rechts und links von Wulf in die Matratze. "Das Risiko war mir zu groß." Antwortete er leise. "Er hätte etwa zwei Stunden Vorsprung gehabt, wenn er mich wie gewohnt zusammenschlagen würde." Wulf spürte, wie ihm seine Gesichtszüge entgleisten. Über ihm lächelte Gregoire traurig, nachsichtig. "Es macht mir nichts aus, für dich zu sterben." Flüsterte er. "Das kann ich wegstecken. Ich kann es überleben. Aber ohne dich..." Er beugte sich zu Wulf herunter, legte seine Stirn auf Wulfs. "Ohne dich leben kann ich nicht. Ausgeschlossen." "Sag..." Wulf schluckte, umarmte Gregoire ein wenig grob, indem er ihn auf sich zog, festhielt. "Sag doch nicht so was!" "Du wolltest doch alles hören." Raunte Gregoire an seinem Ohr, aber nicht spöttisch oder herausfordernd, sondern ein wenig bange und unsicher. "Ja, schon!" Gab Wulf zu. "Aber so etwas.." "...magst du nicht hören?" Schlug Gregoire vor. Er klang aber nicht erbost oder beleidigt. "Wie wäre mit einer Erklärung zu vorhin? Als ich diese Typen abgeknallt habe?" Wulf biss sich auf die Lippe. Natürlich wollte er schon erfahren, was in Gregoire vorging, aber ein Teil von ihm fürchtete sich davor, bis ins Mark. »Welpe!« Titulierte ihn seine innere Stimme verächtlich. Gregoire kniff ihn in ein Ohrläppchen. "Das Geheimnis ist gute Hand-Augen-Koordination. Der Rest funktioniert ganz einfach." "Gregoire, wirklich...!" Wulf erschrak, wie zänkisch und kleinmütig seine Stimme klang. "Tja." Unerwartet energisch löste sich Gregoire aus ihrer Umarmung, rollte elegant von Wulf herunter an dessen Seite, zupfte züchtig die Bettdecke zurecht. "Deshalb vereisen und versteinern wir Vampire eben mit der Zeit. Wir sind sehr konsequente, unbarmherzige Kreaturen." Erläuterte er in belehrendem Tonfall. Bevor Wulf aufbegehren konnte, vertraute ihm Gregoire aber doch seine Überlegungen an. "Auch wenn ich kein so schlauer Eierkopp wie du bin, war mir gleich klar, dass du ohne mich keine Chance hast." Wulf starrte auf Gregoires Profil, das sich in seiner Nachtsicht scharf abhob. "Du bist nicht kugelsicher." Gregoire lachte eher kläglich auf. "Und bei aller Kraft: wenn dein Rollstuhl kippt, bist du aufgeschmissen. Niemand kann so schnell kriechen." Unerwartet drehte er Wulf den Kopf zu, der diese unangenehme Wahrheit verdaute. "Die hätten dich auch nicht schnell getötet." Flüsterte Gregoire. "Sie hätten dich gefoltert, Wulf. Ich gehe keine Wette ein, dass der Mistsack schon erledigt war, als sie mit ihm ein Barbecue veranstaltet haben." Wulf schauderte, rieb sich automatisch selbst über die muskulösen Arme. "Also bist DU hier der Held." Wollte er spotten, aber seine Zähne klapperten, entließen ein beschämendes Stottern. Gregoire lächelte nicht. Er richtete sich auf, kam auf die Knie, setzte sich in geschmeidiger Eleganz auf Wulfs Hüften. Dessen meergraue Augen wurden tellergroß. Der Vampir stemmte die Hände rechts und links von Wulfs Ohren in den Kissenberg, beugte sich zu ihm herunter. "Ich kann alles..." Wisperte Gregoire rau. "ALLES tun und ertragen, wenn damit dein Leben geschützt wird, ohne Reue oder Skrupel, solange du nur lebst." In Wulfs Gesicht schoss dunkelrot Farbe, aber nicht alles Blut rauschte zwischen seinen Ohren. "...Oh..." »Ohoh!« Ergänzte seine innere Stimme peinlich berührt. Gregoires kalter Körper löste prickelnde Schauer aus. Besonders in einer Region, die ihm viel zu nahe kam! Quasi auf Tuchfühlung, doch es gab ja keins! Die schwarzen Augen bannten ihn, gaben ihn einfach nicht frei, gestatteten nicht mal ein kleines Blinzeln. Als Gregoire nach schieren Ewigkeiten langsam die Lider senkte, entfuhr Wulf ein halber, erleichterter Seufzer. Die andere Hälfte verstummte unter einem langen Kuss. (^ , , , ^) Man konnte wirklich nicht behaupten, dass irgendwelche Denkprozesse involviert waren. In gewisser Weise war Wulf dafür dankbar. Gregoire küsste ihn leidenschaftlich, unermüdlich. Dazu bewegte er sich in einen treibenden, wippenden Rhythmus auf Wulfs Schoß, hielt in einer kühlen Hand eine Geisel, die so verwöhnt wurde, dass sie kurz vor der feuchten Detonation stand, wobei sie sich in ausgewählter Gesellschaft befand. Wulf konnte nicht mehr tun, als um Luft zu ringen, in Gregoires kundigen Mund zu stöhnen, fahrig mit seinen schwieligen Handflächen über die knochige, kalte Gestalt seines besten Freundes streichen. Er war so aufgewühlt, dass er nicht wusste, ob ihm eher nach lachen oder weinen zumute war. (^ , , , ^) Während Wulf noch nach Luft schnappte, trocken schluckte, hatte Gregoire sich bereits erhoben, die zu Reinigungs- und Trocknungszwecken eingesetzten Papiertaschentücherknäuel einem Müllkorb anvertraut, schmiegte sich wieder an Wulfs Seite. "...Kruzifix!" Krächzte der ein wenig beschämt und selbstironisch. Gregoire lächelte zögerlich, erwiderte den schüchternen Blick der meergrauen Augen ebenso scheu. Er räusperte sich, murmelte mit einem verschämten Grinsen. "Ich schätze, es ist keine Überraschung, wenn ich zugebe, dass ich ziemlich in dich verknallt bin." Wulf wusste nicht, was er antworten sollte. Hier waren offenkundig Gehirnregionen gefragt, die sich gerade verabschiedet hatten! Gregoire zögerte, bemühte sich um einen kecken Ausdruck. "Wenn du jetzt nicht flott widersprichst, schnappe ich zu! Und behalte dich für mich allein!" Seine finstere Drohung erreichte Wulf nicht. Der streckte nämlich eine Hand aus, um behutsam durch Gregoires ungebärdige Mähne zu kämmen, ihn im Nacken zu kraulen. Vor Gregoires schwarzen Augen verschwamm die Sicht. "Und ich werde dich beißen!" Kündigte er gepresst an. Weil Wulf darauf auch nicht reagierte, packte er den Arm, dessen Hand ihn so zärtlich liebkoste, hieb seine Reißzähne tief hinein. Wulf zuckte zusammen, wehrte sich aber nicht. Tränen glitten über Gregoires Gesicht, tropften auf Wulfs Arm. Schließlich leckte Gregoire über die nadelspitzen Wunden, schniefte. "Du hast mich schon mal gebissen." Stellte Wulf ruhig im Konversationston fest. Unwillkürlich flackerte auf Gregoires Gesicht ein Grinsen der Erinnerung auf. "Du hast mir eine Kopfnuss verpasst." "Das tue ich heute nicht." Gab Wulf gelassen zurück. Er hatte beschlossen, die Konsequenzanalyse auf später zu verschieben, sehr viel später. Jetzt war er wirklich todmüde. Deshalb schob er seinen leicht schmerzenden Arm unter Gregoires Taille, zog ihn an seine Seite, klappte die Augendeckel zu. Feierabend. (^ , , , ^) Der nächste Morgen, eigentlich derselbe Tag, nur bedeutend später, lockte mit herbstlich blassem Sonnenschein. Wulf und Gregoire verließen, von knurrenden Mögen angetrieben, das Bett, schlichen/rollten über den Flur, um gemeinsam zu duschen. Gastfreundlich warteten dort zwei frische Garnituren Wäsche, die an Gregoire eher schlabberig herunterhingen. "Sind alle Werwölfe solche Klötze?!" Meckerte er griesgrämig, rollte und wickelte, um nicht unerwartet im Freien zu stehen. "Sind alle Vampire solche Morgenmuffel?" Konterte Wulf sonnig lächelnd. Gregoire streckte ihm die Zunge raus. Trotzdem legte er seine Hand auf Wulfs Schulter, als sie zum Aufzug zogen. Der große Raum im zweiten Stock wirkte wie ausgestorben. Lediglich der schier unermüdliche Dragomir saß auf einer ausladenden Couch, legte mahnend den Finger auf die Lippen, als sie sich näherten. Der Grund für das angeordnete Schweigen trug wuschelige Locken, eine dezent gemusterte Wolldecke, ruhte auf Dragomirs linkem Oberschenkel. Leider torpedierten die unzivilisierten Raubtiermägen die guten Absichten ihrer Besitzer, verlangten unisono lautstark nach Fütterung. Dragomirs Gesicht verzog sich zu einer komischen Grimasse bitteren Ingrimms, während Lysander verschlafen hochschreckte, sich unter der wirren Lockenmasse die Augen rieb, mit rauer Stimme wisperte. "Oh, schön, es gibt Frühstück?" Gregoire prustete zuerst los. Da konnte Wulf auch nicht mehr an sich halten. Blinzelnd lächelte Lysander vage in ihre Richtung. "Ah, guten Morgen! Gut geschlafen?" "Will ich hoffen!" Knurrte Dragomir böse. "Sie haben sich nämlich gerade freiwillig zum Küchendienst gemeldet!" Er fasste Lysander vorsichtig am Kinn, drehte dessen Kopf zu sich, montierte die Brille, die er zuvor blank gewienert hatte. "Für dich heißt es erst mal duschen." Ordnete er an. "Äh.. ja.." Lysander taumelte hoch, wurde vorausschauend senkrecht ausgerichtet, lächelte entwaffnend. "Ich glaube, ich weiß nicht mehr, wo das Badezimmer...?" Dragomir schraubte sich mit katzenartiger Eleganz in die Höhe, nahm Gregoire und Wulf ins Visier, die ihr breites Grinsen nicht schnell genug vom Gesicht wischen konnten. "Ihr! Kaffee! Für Lysander Kamillentee! Spiegeleier, gut durch! Toast und Knäckebrot! Marmelade, Erdnussbutter und Schokokrem! Dazu Obst! Aber ZACKIG!" Der letzte Befehl donnerte im Kasernenhofton, prallte von den Wänden wider, während es in Gregoires und Wulfs Ohren klingelte. Da ein Salut noch mehr Ungemach über sie gebracht hätte, unterließen sie stillschweigend jeden Spott, warteten instinktiv, bis Dragomir mit Lysander im Schlepptau den Raum verlassen hatte. Einen Seitenblick später kicherten sie laut los. "Irgendwie ist er wirklich niedlich." Wulf fasste sich zuerst, pilotierte zur Küchenzeile. "Schon!" Gab Gregoire zu, inspizierte methodisch Schränke und Regale. "Aber nicht dein Typ." "Hä?" Wulf fahndete nach den Teebeuteln. "Ach, und wie sieht bitte schön mein Typ aus, du Schlauberger?" Gregoire warf sich in Pose, wischte durch seine Mähne. "Dumme Frage: ICH bin dein Typ! Also granatenscharf, supersexy und total rassig!" "Ja." Brummte Wulf betont sachlich. "Außerdem rutscht deine Hose schon wieder." Was Gregoire nicht aus dem Konzept seiner Ein-Mann-Vorstellung brachte. "DAS gehört zum Service!" Unbeeindruckt legte Wulf eine große Pfanne auf ein Ceran-Kochfeld. "Ich ziehe den Service vor, wo du mir die Eier aus dem Kühlschrank reichst. Ich habe nämlich Kohldampf!" "Banause!" Grollte Gregoire, übergab Wulf aber die zerbrechliche Ware. Er deckte rasch den Tisch, trat hinter Wulf, legte ihm die Arme um die Schultern, lehnte sich an. Wulf störte sich nicht daran. Er war damit ausgelastet, die Eier zu wenden und Brot zu rösten. Das Ergebnis des Toasters stellte ihn nicht zufrieden. "Sag mal, wo ich jetzt obdachlos bin..." Gregoire rieb seine Wange an Wulfs Kotelette. "Obdachlos?" Wulf klemmte die Zungenspitze in einen Mundwinkel, als er die Eier von der Pfanne auf Teller verteilte. "Wieso obdachlos? Willst du nicht bei mir einziehen?" Gregoire staunte verblüfft, strahlte ungewohnt heiter. "Ehrlich? EHRLICH?" Wulf schnappte eine Hand, drückte energisch einen Teller hinein. "Was hast du denn gedacht?!" Tadelnd schnalzte er mit der Zunge. "Du hättest schon längst einziehen können, wenn du vorher was gesagt hättest." Gregoire, mittlerweile mit zwei Tellern gehandikapt, lächelte so sehr, dass sich ihm der Kopf in zwei Hälften zu spalten drohte. "Ab jetzt!" Brummte Wulf, klopfte Gregoire betont chauvinistisch auf die Kehrseite, lud sich selbst zwei Teller und den großen Brotkorb auf, bellte. "Hunger!" "Aye aye, alter Macho!" Lachte Gregoire, führte ihre kleine Parade an. Als er die Kaffeekanne holte, kehrten auch Lysander und Dragomir zurück. Sie waren beide frisch geduscht. »Service, hm?« Schmunzelten die beiden Jugendlichen, bemühten sich um betont harmlose Mienen. (^ , , , ^) Lysander war mit einem Buch unter einen fürsorglich aufgeklappten Sonnenschirm auf den Balkon in einen Liegestuhl verbannt worden. Er las aber nicht, sondern schlummerte selig. Dragomir streifte erneut über das Gelände. Gregoire und Wulf saßen auf den Stufen, die zur Terrasse führten. Sie hielten Händchen, aber weniger der Romantik wegen als den Ereignissen und Erinnerungen an den Überfall geschuldet. Jetzt, bei Tageslicht, konnte man sich kaum vorstellen, dass sie hier um ihr Leben gekämpft hatten. "Denkst du, dass das funktioniert?" Wulf ergriff unbehaglich das Wort. Dragomir hatte ihnen knapp erklärt, die Leichen der Angreifer seien entfernt, an einem anderen Ort so inszeniert worden, dass es nach einer Abrechnung im Milieu aussah. Dafür hatte er einen Spezialisten um Hilfe gebeten, der alles arrangierte, um die Spuren zu verwischen. "Das gehört nämlich auch dazu, wenn man im Rudel jagt: hinterher aufräumen!" Hatte er Wulf unter die Nase gerieben. "Ich glaube, dass sie ziemlich viel Übung haben." Gregoire drückte Wulfs Hand. "Warum sollte es dieses Mal nicht klappen?" Wulf zuckte mit den Schultern, seufzte. "Hoffentlich ist es jetzt vorbei. Ich will nach Hause, Fraktale angucken, Popcorn vertilgen und heiße Schokolade trinken." "Klingt gut!" Gregoire schmunzelte. "Ich will mit deiner Wärmflasche in dein Bett gehen." Neben ihm lupfte Wulf eine Augenbraue. "Ich sehe schon, warum du bei mir bleibst!" Bemerkte er gespielt entrüstet. Gregoire feixte, zerraufte Wulfs Haar mit der freien Hand. Eine kleine Balgerei entstand, weil jeder die Hände des anderen einfangen wollte. Wulf gewann zwar, verlor aber die Auseinandersetzung, da Gregoire sich höchst hinterlistig nach vorne fallen ließ, ihn küsste. Um keine Karambolage zu erleiden, musste Wulf die Arme um seinen Freund schlingen, ihn sogar auf seinen Schoß ziehen! Der grinste so selbstzufrieden wie die Katze am Sahneschälchen, als er Wulf endlich Luft schnappen ließ. "Unfair!" Ächzte Wulf protestierend, lehnte aber seine Stirn an Gregoires. "Ich kann auch anders!" Damit kippte er Gregoire in eine Hollywood-reife Umarmung, hielt dessen Nacken sicher in der Rechten, während er mit dem linken Arm die schlanke Taille umschlang. Gut, mit einem Ausfallschritt beim Tango hätte es noch besser ausgesehen, aber man musste nehmen, was man kriegen konnte! "Harhar!" Donnerte er grimmig, stürzte sich wie ein Falke auf Gregoires Lippen, bevor dessen amüsiertes Grinsen seine Anstrengungen konterkarierten. Rasch schlang der ihm die Arme um den Nacken, bewies die Ausdauer, die auch erfahrene Tauchende in Nöte bringen konnte. (^ , , , ^) Am Abend, im Schutz der Dämmerung, fuhr Dragomir sie nach Hause. Lysander schlief schon wieder, mit einem Nackenstützkissen und einer Decke wohlversorgt. Gregoire lehnte sich an Wulfs Schulter, ebenfalls müde. Wulf dagegen war aufgekratzt. Wie würde sein Bungalow aussehen? Hatten die Verbrecher sein Heim verwüstet? Was existierte noch? Was hatte er verloren? Da fiel ihm etwas ein, dass er durch den Verlauf der Ereignisse auf einen hinteren Warteplatz der Dringlichkeitsliste verwiesen hatte. Er hob den Arm, um Gregoire über die Mähne zu streicheln, der sich häuslich an seiner Seite eingerichtet hatte, leise brummte. "Sag mal, was wolltest du mir eigentlich auf Skylla aufspielen?" Gregoire erstarrte, lächelte versonnen, strapazierte den Sicherheitsgurt, bis er sich bequem auf Wulfs schlanke Oberschenkel legen konnte. "Ist nicht mehr wichtig." Antwortete er leise, schnurrte, als Wulf ihm über den Schopf und die Seite streichelte, seine Hand um Gregoires kalte Wange legte. "Sag's mir trotzdem. Bitte." Gregoire legte seine Hand auf Wulfs, schloss die Augen. "Es war... eine Petition." Wisperte er. "Ja, eine Petition." Wulf runzelte die Stirn, kraulte mit der freien Hand sanft Gregoires Mähne und dessen Nacken. "Eine Petition auf CD?" Sinnierte er verwirrt. Er bemerkte, wie sich Gregoires Mundwinkel spitzbübisch kräuselten. "Strolch." Kopierte er Dragomirs Tadel, lächelte. »Ich werde es schon noch aus dir herauskitzeln.« Auch wenn ihn das sicher verflixt viele Küsse kosten würde! (^ , , , ^) ENDE (^ , , , ^) Vielen Dank fürs Lesen! kimera ^w^ => Wiedersehen in "Affenzirkus" Gregoires "Petition": "Without you" gesungen von Mariah Carey, geschrieben von Peter Ham und Thomas Evans (Badfinger) No I can't forget this evening Or your face as you were leaving But I guess that's just the way the story goes You always smile but in your eyes Your sorrow shows Yes it shows No I can't forget tomorrow When I think of all my sorrow When I had you there But then I let you go And now it's only fair That I should let you know What you should know I can't live If living is without you I can't live I can't give anymore I can't live If living is without you I can't give I can't give anymore Well I can't forget this evening Or your face as you were leaving But I guess that's just the way the story goes You always smile but in your eyes Your sorrow shows Yes it shows I can't live If living is without you I can't live I can't give any more I can't live If living is without you I can't give I can't give anymore