Titel: On Blood Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 18 Kategorie: Phantastik Ereignis: Weihnachten 2001 Erstellt: 31.12.2001 Disclaimer: Die zitierten Songs/Filme/Bücher gehören ihren Autoren/Textern/Bands. Anmerkung: Wow, ein ganzes Jahr... und endlich ist auch die letzte Figur aus "Story Weaving" in ihre Freiheit entlassen. Ich bitte darum, die Warnungen hinsichtlich des Inhaltes ernst zu nehmen! Carpe diem! ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ ^w^ On Blood Kapitel 1 - Nebenverdienst Hideo dehnte die schlaksigen Glieder und starrte missmutig auf seine Füße, die in alten Sneakern steckten. Verdammt, diese Marke war seit Ewigkeiten aus der Mode, er sah ja aus wie ein Penner! Mirko neben ihm stieß ihn grinsend an und blickte gespielt entrüstet auf Hideos Turnschuhe. "Mann, dass du dich mit diesen Dingern überhaupt aus dem Haus traust!" Hideo schnalzte frustriert mit der Zunge. "Ich habe kein Geld für neue, ich bin völlig pleite." Mirko erhob und räkelte sich, trat dann provozierend mit seinen topmodischen Turnschuhen nach Hideos Füßen. "Du musst was unternehmen, Hideo. Korrekte Klamotten sind wichtig für das Image." Hideo verzog die Miene, strich genervt eine lange schwarze Strähne hinter sein Ohr. Er hasste den Ausdruck 'korrekt' und er hasste es, nicht mit den anderen Jungs mithalten zu können. Aber sein Vater ließ sich bei Taschengeld nicht erweichen, besonders nicht für Markenklamotten! "Ich kann sie ja schlecht klauen!" "Das hat auch niemand gesagt. Du musst dir die Kohle eben verdienen." Hideo zappelte unruhig auf der kalten Steinbank hin und her. "Ich kann das nicht so wie du." Mirko knurrte ungehalten und schob die Hände in die Hosentaschen seiner Designerjeans. "Mann, was ist daran so schwierig? Du kannst doch auch einen Lolli lutschen, oder?" Hideo scharrte mit den Schuhen und konzentrierte sich auf die Pflastersteine. "Das ist ja wohl kaum dasselbe!" "Auf jeden Fall ist der Unterschied nicht besonders groß. Mann, fünf Minuten Arbeit, einmal Mund ausspülen und schon einen Hunderter reicher! Denk doch mal an die Kohle!" "Es ist einfach eklig!" "Ach Unsinn! Ich lutsche einfach ein paar Pfefferminz-Bonbons, die beißen jeden Geschmack weg. Und dann ist es bloß Eiweiß, nichts weiter. Mann, Proteine sind gesund und haben keine Kalorien!" Hideo musste gegen seinen Willen grinsen. "Aber was machst du, wenn sein Schniedel irgendwie eklig ist?" Mirko zuckte mit den Schultern. "So genau schau ich den gar nicht an, ich atme einfach flach, hechle ein bisschen, da werden die Typen ganz geil, und dann ex und hopp!" Hideo schüttelte sich. "Vergiss es, das ist nicht mein Ding!" Mirko zog anzüglich eine Augenbraue hoch. "Das wäre auch eine artistische Meisterleistung. Das schaffen nur Hunde!" Hideo starrte ihn verwirrt an, dann begriff er die Doppeldeutigkeit. "Idiot!" Hideo rappelte sich auf und wischte sich einige Male über die Kehrseite, um wieder Gefühl in seine hinteren Extremitäten zu bekommen. Auf dem kalten Steinbänkchen zu hocken war vielleicht doch keine so gute Idee gewesen! Mirko griff nach seinem Ärmel. "Mann, Hideo, es ist wirklich nichts dabei! Außerdem machen es jede Menge Frauen doch auch! Wenn es so eklig wäre, warum tun es dann so viele?" Hideo schüttelte Mirkos Hand sanft ab. "Nein, wirklich, ich kann das nicht." Mirko warf Hideo einen verärgerten Blick zu. "Du hast es doch gar nicht probiert!" Hideo wandte sich zum Gehen. In ein paar Minuten fing der Nachmittagsunterricht an. "Richtig. Aber was machst du, wenn einer mehr will, mh? Da kommen doch jede Menge gestörter Typen hin." Mirko holte auf und ging gestikulierend neben ihm her. "Das stimmt gar nicht! Die meisten sind einfach Schwule, die es nicht zugeben wollen oder alte Typen, die allein sind. Und Verheiratete, die es heimlich tun wollen. Außerdem sehe ich mir die Typen genau an. Wenn mir da einer komisch vorkommt, verziehe ich mich einfach, bis er Leine zieht." Hideo schlang die Arme um sich, er fror in der herbstlichen Luft. Mirko gab sich noch nicht geschlagen. "Mann, viele stehen auf Junge wie uns, die mögen unschuldige Gesichter! Man muss noch ein bisschen linkisch und schüchtern tun und schon fressen sie dir aus der Hand. Echt, Hideo, du hättest wirklich Chancen, viel Geld zu machen! So, wie du aussiehst!" Hideo schwieg und stapfte zur Eingangstür des Schulgebäudes. In der Fensterscheibe spiegelte sich seine Gestalt. Flüchtig warf er seinem Zwilling einen Blick zu. Wie auch Mirko war er feingliedrig und schlank gebaut, aber dies stellte die einzige Gemeinsamkeit ihrer äußeren Erscheinung dar. Mirkos rotblonde Locken, mühsam in einem losen Zopf gebändigt, thronten verwegen über eisblauen Augen in einem kantigen Gesicht, das eine warme Sonnenfarbe ausstrahlte. »Eigentlich wirkt er nicht besonders kindlich«, dachte Hideo. Er selbst trug seine kinnlangen, schwarzen Strähnen glatt in einem einfachen Mittelscheitel hinter die Ohren gekämmt, im starken Kontrast zu seiner blassen, leicht bläulich schimmernden Haut. Seine fleckenlos grauen Augen waren in ein weich gerundetes Gesicht gebettet, von einem vollen, sanften Mund mädchenhaft zart ergänzt. »Du siehst so süß aus, wenn du schmollst«, hatte seine Mutter immer gesagt. Hideo fragte sich, ob er dazu verdammt war, mit einem blanken und völlig konturenlosen Gesicht sein Leben zu fristen, eine banale Putte mit Hang zur Malaise. Mirko stieß ihn mit der Schulter an. "Was ist? Denk noch mal darüber nach, hm?!" Hideo nickte widerwillig. »Vielleicht...« ^w^ Kurz vor Mitternacht. Hideo schaukelte auf dem Kinderspielplatz auf einer verlassenen Brettschaukel. Er war mit Mirko verabredet, aber wie gewöhnlich hatte dieser Verspätung. Hideo legte den Kopf in den Nacken und sah in den Sternen übersäten Himmel. Es würde kalt werden, so viel verstand er von diesem Anblick. Er kuschelte sich tiefer in seine schwarze Lederjacke. Mirko hatte gesagt, dass man die Kälte nach einer Weile gar nicht mehr spürte, aber die Zeit davor wurde zur Hölle. Wieso dauerte es so lange, bis der Körper gefühllos und völlig abgestumpft war? "Hey Hideo! Tut mir leid wegen der Verspätung!" Hideo löste sich von der Schaukel und ging Mirko entgegen. Gemeinsam schlenderten sie dann Richtung Bahnhof durch die eisige Nacht. Eine trockene Kälte legte sich wie Raureif auf ihre Haut, riss die Lippen auf und ließ sie nach heißer Schokolade dürsten. Mirko nutzte den Weg, um Hideo in seine 'Arbeit' einzuweisen. Schließlich wollte er nicht, dass sein bester Freund unangenehme Erfahrungen machte, darum erläuterte er die wesentlichen Grundbegriffe in Sachen Revier- und Arbeitsteilung. Es gab, von den sich durch das Bahnhofsviertel windenden Stichstraßen getrennt, zwei Gruppen von 'Dienstleistern', wie Mirko sich mit gekünstelter Strenge auszudrücken pflegte. Die Stricher und die Blow-Jungs blieben jeweils auf ihrer Seite der Straße. Wer dem zuwiderhandelte oder gar in fremdem Metier wilderte, musste mit einer Abreibung rechnen. "Blow-Jungs?" "Hideo, jemandem einen blasen heißt auf Englisch 'blow-job', alles klar?" Hideo zuckte mit den Achseln. "Ich verstehe noch nicht mal, warum es 'blasen' heißt..." Mirko verdrehte die Augen, Hideo konnte manchmal echt pedantisch sein! Er zog Hideo kommentarlos weiter in sein 'Revier'. "Okay, die Meisten fahren mit dem Auto vor. Halten kann man da hinten beim Busbahnhof. Guck dir die Typen genau an: wenn einer komisch ist, geh einfach ein paar Schritte zurück, dann stehst du hier im Schatten, da sehen sie dich nicht. Auf gar keinen Fall darfst du mehr machen, klar?!" Hideo nickte unbehaglich, sein Magen revoltierte bereits. "Okay, hast du die Sachen mit?" Gehorsam kramte Hideo in den Taschen seiner Lederjacke und holte eine Packung scharfer Pfefferminz-Bonbons, ein Paket Taschentücher, ein paar Kondome und ein Klappmesser hervor. "Das Klappmesser in die hintere Hosentasche, aber so, dass es dich beim Bücken nicht behindert." "Wozu sollte ich die Kondome mitbringen?" "Manche denken, sie könnten von einem Blow-Job Aids kriegen oder Geschlechtskrankheiten. Die wollen es mit Gummi machen." Hideo starrte verständnislos. "Aber du hast doch gesagt, dass es ungefährlich ist?!" Mirko stapfte ungeduldig von einem Bein auf das andere. "Ist es ja auch! Aids gibt es nur bei Sex und Blutaustausch. Und du hast ja hoffentlich was zu Abend gegessen!" Hideo grinste schwach, hakte aber nach. "Aber andere Krankheiten?" "Mann, Hideo, denk an Bio! Der Mundspeichel hat ungefähr den selben Säuregrad wie die Magensäfte. Erinnerst du dich an das Stück rohes Fleisch in der Cola?" Hideo nickte unbehaglich, grub die Fingernägel in das Futter seiner Jackentaschen. "Na also. Ist doch gut zu wissen, dass McDonalds gegen ihre rohen Hamburger gleich das Gegenmittel mitliefern, oder?!", frotzelte Mirko und grinste Hideo aufmunternd an. Ein Wagen bog langsam in die Chaussee ein. Vage Schemen traten aus den Schatten hervor, um sofort, wenn der Wagen nicht den Anschein erweckte zu halten, wieder aus der Sicht zu verschwinden. Auch Mirko materialisierte sich aus seiner Nische, routiniert in Pose werfend, vorgeblich linkisch und scheu. Hideo beobachtete staunend die Verwandlung seines Freundes. Wie viel doch Nuancen in der Körpersprache bedeuteten! Die heruntergezogenen und damit rund wirkenden Schulterpartien, der leicht geneigte Kopf, das scheinbar schüchterne Blinzeln hinter Haarsträhnen hervor, das unsichere Wechseln des Standbeins. Gleichzeitig zischte er Hideo aus den Mundwinkeln zu, dieser solle darauf achten, wie man ein Geschäft abwickle. Tatsächlich hielt der Wagen. Die Seitenscheibe fuhr herunter, und vorgeblich zögernd schlenderte Mirko zur Tür, beugte sich ein wenig hinunter. Hideo konnte in der dunklen Nische nicht den leisen Wortwechsel verstehen. Er beobachtete nur mit flauen Gefühl, wie Mirko die Beifahrertür öffnete, sich auf den Sitz fallen ließ und zum Parkplatz des nahegelegenen Bahnhofs wies. Kein Blick aus dem Seitenfenster verschaffte Hideo eine milde Beruhigung seiner angespannten Nerven. Dann fuhr der Wagen im Schritttempo auf den Parkplatz, löschte die Scheinwerfer. Mit wachsender Unruhe beobachtete Hideo den Wagen. Er konnte wegen der Dunkelheit auf dem Parkplatz nicht sehen, was im Inneren vorging. Nach einer Ewigkeit, so erschien es Hideo, öffnete sich der Schlag auf der Beifahrerseite, und Mirko spazierte gemächlich zu ihm zurück. "Bist du okay?" Hideo zwang sich, Mirko nicht entgegenzulaufen, sondern die 'coole' Souveränität an den Tag zu legen, die sie alle voneinander erwarteten. "Sicher doch. Sieh her!" Mirko lehnte sich vor, um Hideo eine verwehte Strähne aus der Stirn zu streichen. Dabei streifte diesen der starke Geruch eines Pfefferminzbonbons. In der freien Hand schwenkte er triumphierend eine Banknote. "Das ist ein linkes Hosenbein!", verkündete er betont lässig. Hideo zog die feinen Augenbrauen zusammen, sein Magen war immer noch unruhig. "Hey, da kommt der Nächste! Das ist deiner!" Hideo schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Er spürte Mirkos aufmunternden Klaps auf seinem Hintern. Fast automatisch trat er aus den Schatten hervor. Er brachte nicht die Nerven auf, Mirkos Bewegungen zu kopieren, aber das schien auch nicht notwendig zu sein. Langsam beugte er sich zu der offenen Beifahrertür herunter. Im Zwielicht der Straßenbeleuchtung konnte er einen älteren Mann mit Bauchansatz und Vollbart erkennen. "Du bist neu, mh? Okay, ein Scheinchen. Steig ein, Junge!" Hideo kletterte in Zeitlupe auf den Beifahrersitz, mit künstlichem Lammfell belegt. Dabei fühlte er sich wie ein Schwimmer in einer gallertartigen Puddingmasse: fremde Kräfte hinderten jede Bewegung, erstickten jedes Geräusch, jede Emotion. Seine Wahrnehmung spaltete sich auf, ein Teil glitt gemächlich auf den unbeleuchteten Vorplatz, eine warme, große Männerhand auf dem Oberschenkel. Während eine andere Hälfte über diesem Treiben schwebte, gestaltlos, verweht und ohne innere Beteiligung. »Vielleicht wie ein Rabe«, zuckte es durch seinen Kopf, und dieses Bild hielt er sich fest. Der Wagen kam endgültig zum Stehen, der Unbekannte stellte den Motor ab. Er wandte sich herum, den Fahrersitz manuell nach hinten ruckeln lassend, fasste Hideo unter das Kinn und betrachtete dessen Gesicht im Schein der Instrumentenbeleuchtung. "Du bist wirklich zum Anbeißen, mein Schöner! Wohl das erste Mal, hm? Aber keine Angst, Papa zeigt dir schon, wie du es machen sollst!" ^w^ Hideo setzte einen Fuß vor den anderen, mechanisch, gelinde überrascht, welche Automatiken sein Körper beherrschte. Dieser steuerte sich selbst, wich Hindernissen aus, fand den Weg zur Nische zurück, während Hideos Geist in einem Gefängnis aus Eis konserviert der Realität dieser Nacht den Rücken kehrte. Hideo bedauerte diesen Zustand keineswegs. Wenn er nichts mehr fühlte, erleichterte dies sein Leben doch ungemein. War es nicht so, dass man tun musste, was man tun musste, wenn man es zu etwas bringen wollte? Nun, er wollte Anerkennung und ein paar ordentliche Turnschuhe, denn nur die richtige Kleidung verhieß einen Platz im Himmel der souveränen Helden, der Verkörperung wahrer 'Coolness'. Was sollte schon dieses Reißen in seiner Brust, die Panikattacke, die sein Herz stolpern ließ?! Dieser aberwitzige Gedanke, dass er nie wieder unschuldig, kindlich sein würde, dass er sterblich war?! Alles nur nutzloser, emotionsgetränkter Ballast, hinderlich und unpassend. Schließlich starb jeder mal, Unschuld existierte schon seit der Vertreibung aus dem Paradies nicht mehr und ein Kind wollte er auch nicht mehr sein. Ungesehen ballte er die Fäuste in seiner Jackentasche, zerbiss geräuschvoll sein Pfefferminzdragee. Verbrannte sich die Zunge und betäubte sämtliche Geschmacksnerven. Aber wer brauchte die auch noch? Er nicht mehr. ^w^ Mirko kam ihm auf halben Weg entgegen. "Na, alles okay? Hast du das Geld?" Hideo hielt schweigend den Schein in die Höhe, was ihm ein kameradschaftliches Schulterklopfen einbrachte. "Klasse! Das ist schon beinahe ein linker Schuh! Den Rest kriegen wir heute auch noch zusammen und dann gehen wir morgen shoppen!" "Kannst du mir ein Pfefferminz geben?", krächzte Hideo heiser. "Sicher. Du bist doch okay, oder? 'Papa' ist echt harmlos." Hideo nickte mechanisch. "Ich bin okay." Er lehnte sich in die Nische, zerbiss das Bonbon und stellte sich seine neuen Turnschuhe vor, ignorierte die aufheulenden Stimmen in seinem Hinterkopf. ^w^ Hideo lehnte sich auf dem Stuhl zurück, so weit, bis die vorderen Beine den Kontakt zum Linoleum verloren und die Rückwand den Stuhl abstützte. Er ließ die Beine baumeln und starrte auf seine Sneaker. Gedankenverloren strich er über das glatte Leder der engen, schwarzen Hose. Mirko hatte sie ihm empfohlen, eine Anschaffung für das Leben, wie er sich ausgedrückt hatte. Hideo gähnte unterdrückt, kaute dann ein paar Kaffeebonbons. Die Inhaltsstoffe wirkten wegen des Koffeins leicht aufputschend, das half, die schlaflosen Nächte zu überwinden. Er konnte seit einiger Zeit nicht mehr schlafen, litt aber gelegentlich unter Phasen, in denen er plötzlich wegsackte und dann hochschreckte, den Kontakt zur Zeit verlor. Mirko schlenderte zum Klassenraum hinein und nickte Hideo grüßend zu. "Na, wie sieht es aus? Kommst du heute Nacht mit? Ich brauche eine Winterjacke!" Hideo gab seine wortlose Zustimmung. Freitagnacht stellte die Gelegenheit zum größten Umsatz dar. Auch wenn er eigentlich keinen akuten Bedarf an Accessoires hatte, würde er Mirko Gesellschaft leisten. Schließlich konnte man immer Bargeld gebrauchen. ^w^ Als sie sich wie stets auf dem verlassenen Kinderspielplatz trafen, lag der eisige Hauch von Schnee in der Luft. Die kahlen Bäume ächzten unter dem frostigen Wind. Mirko trudelte ein, ließ eine gut gelaunte Wolke warmer Atemluft kondensieren. Vor seinen strahlenden Augen die Traumjacke, die er beim Schaufensterbummel mit Hideo am Nachmittag auserkoren hatte, ihn zum umschwärmtesten Jungen in der Schule zu machen. Hideo verstand die Begeisterung seines Freundes nicht ganz. Zwar hielt er ebenso große Stücke auf modische Bekleidung und Imagepflege, aber dies war ihm kein Anlass, sich damit auf die weibliche Schülerschaft zu kaprizieren. Um eine noch umfassendere Auswahl unter potentiellen 'Freundinnen' zu finden. Seine eigene Antriebslosigkeit akzeptierend erschien es ihm eine unnötige Anstrengung, sich mit einem kichernden Mädchen zu belasten, das ständig mit Aufmerksamkeiten überhäuft werden wollte. Und dann noch eine ganze Clique an Freundinnen im Schlepptau ertragen zu müssen? Nein, da war es passender, sich zum Single zu erklären, der durchaus Chancen hatte, aber eben seinem eigenen Leben im Augenblick den Vorrang gab. Sie stellten sich wieder in den Schutz ihres Mauervorsprungs, winkten einem der Stricher auf der anderen Seite zu, der mit einer obszönen Geste ihren Gruß erwiderte. "Der Angeber! Den würde ich nicht mal mit der Kneifzange anfassen! Der sieht doch aus wie ein Zombie. Bestimmt hat der schon irgendeine Krankheit, Aids oder so!" Hideo stimmte Mirko zu. Tatsächlich sah der junge Mann auf der anderen Seite aus der Nähe betrachtet zum Fürchten aus: hohlwangig, teigige Gesichtsfarbe und eine hagere Gestalt, die ihn älter als seine zwanzig Jahre wirken ließ. Ohne eine Absprache hielt sich Hideo im Hintergrund, damit Mirko seine Haushaltskasse aufbessern konnte. Aber einige der Kunden verlangten explizit nach ihm, sodass er ebenfalls in Bewegung bleiben musste. Hideo wunderte sich im Stillen über das Interesse der Männer. In den eigenen Augen fand er nichts Außergewöhnliches oder Attraktives an sich. Aber Mirko hatte ihm unter Einsatz eines Nasenstübers erklärt, dass er auf andere seltsam androgyn wirke, geschlechtslos und damit geheimnisvoll und unnahbar. Inzwischen hatte sich bei Hideo auch eine gewisse Routine eingestellt. Er kannte die Handgriffe, variierte die immer gleichen Sprüche, agierte schon automatisch, ohne innere Beteiligung. Hätte man ihn gefragt, wer seine Gegenüber gewesen seien, er hätte keine Antwort gewusst. Sie waren bedeutungs- und namenlos, auch wenn einige versuchten, diese Anonymität und Distanz zu überwinden. Aber für Hideo waren sie nur 'Ansprüche', die er befriedigte. Sie existierten als Personen ebenso wenig wie er selbst als Person hier war. Diese Nacht versprach eine der ruhigeren zu werden. Vermutlich hielt das ungemütliche Wetter viele Klienten davon ab, sich in den Parcours der einsamen Herzen einzureihen. Eine Gestalt huschte durch die Schatten herüber und drängte sich zu ihnen in den Schutz des Mauervorsprungs. Mirko begrüßte den Ankömmling mit einem leichten Schlag auf den Oberarm, was ihm wiederum einen leichten Schubser einbrachte. "Hey, Mirko, Hideo! Was für eine lausige Nacht!" "He, Bowie, wie geht es?" Der mit 'Bowie' angesprochene junge Mann schlang die dürren Arme um den sehnigen Leib, kuschelte sich tiefer in den riesigen Schal und zog die Schultern hoch. "Zu kalt zum Arbeiten! Habt ihr schon das neueste Gerücht gehört?" Mirko beugte sich neugierig vor. "Was meinst du?" Bowie sah sich nach beiden Seiten verschwörerisch um, beugte sich dann mit vor Eifer glühenden Wangen zu Mirko herüber. "Na, das über den Vampir-Killer!" "Vampir-Killer?!" Mirko wich zurück und zog spöttisch eine Augenbraue hoch. "Was soll das denn für ein Quark sein?" "Das ist kein Quark, Mann, das ist die Realität!" Beleidigt und gekränkt kehrte Bowie ihnen den Rücken zu, wandte sich nach einem Moment aber wieder um. "Also, die Sache ist die: vor zwei Tagen ist am Hafen einer von uns kaltgemacht worden! Man konnte keine Wunde sehen, aber er hatte total viel Blut verloren!! Und jemand hatte vorher mit ihm Sex!! Und zwar wohl ziemlich heftigen!" Mirko verschränkte skeptisch die Arme vor der Brust. "Woher hast du denn die Geschichte? In den Zeitungen stand nichts davon." "Mann, natürlich nicht!! Aus ermittlungstaktischen Gründen!! Ich habe das von einem, der dabei war, als sie den Typen gefunden haben. Er hat die Bullen reden hören." "Ach was, ich glaube das nicht. Der Typ ist wahrscheinlich abgestochen worden oder hat sich den Goldenen Schuss gesetzt, oder so was. Vampir-Killer, was für ein Scheiß!!" "Na gut, du Genie! Aber beschwer dich nicht, wenn der Killer dich bumst und dir dann alles Blut aussaugt! Ich habe dich gewarnt!!" Hocherhobenen Hauptes stolzierte Bowie die Straße zurück zu seinem Stammplatz. "Glaubst du das?" Hideo, der sich im Hintergrund an die kalte Fassade gelehnt hatte, hauchte dampfend in die eisige Luft. "Keine Ahnung. Ich habe auch nichts davon gehört. Vielleicht ist die Geschichte bloß aufgebauscht worden." Mirko rieb sich über die kalte Nasenspitze, spähte dann um die Ecke. "Hey, den Wagen kenne ich! Was ist, willst du?" Hideo winkte ab. Mirko stieg lässig in den Wagen und Hideo verfolgte, wie der Wagen auf dem Parkplatz zum Stehen kam. Ein weiterer Wagen auf der anderen Straßenseite hielt an und ihr streitbarer 'Nachbar' stieg ein. Auch er reihte sich auf dem unbeleuchteten Parkplatz ein, allerdings in gehörigem Abstand. Hideo verspürte wieder einen dieser Anfälle von Sekundenschlaf, taumelte in die Nische zurück, lehnte sich schwer an die Steinquader der Ziersäule und wartete missmutig auf Mirkos Rückkehr. Nach einer Weile, ein wenig länger als gewöhnlich, stapfte dieser auch heran, die Schultern hochgezogen, den Kopf gesenkt, wirkte müde und mitgenommen. "Lass uns für heute Schluss machen, okay? Ich habe das Geld zusammen." Hideo richtete sich auf und musterte Mirko prüfend. Ihm missfiel dessen seltsame Schweigsamkeit, die verhaltenen Gesten, der unstete Blick. "Wie das? Ich dachte, es fehlen noch Zweihundert?!" Mirko blieb die Antwort schuldig und machte sich einfach auf den Heimweg, wich Hideos fragendem Blick aus. "Mirko, was hast du gemacht?!" Mirko beschleunigte seinen Schritt leicht. "Sag schon! Wieso hast du Zweihundert bekommen?" Mirko seufzte und knurrte schließlich, "ich bin müde, Hideo. Lass uns einfach heimgehen." Hideo schwante etwas Unangenehmes, aber ein Freund ließ einen Freund nicht hängen. Also ergriff er Mirkos Arm und bremste dessen eiligen Schritt. Sein inquisitorischer Blick zwang Mirko, den Kopf vom Pflaster zu nehmen und in die grauen Augen zu sehen. "Wenn du es unbedingt wissen musst, ich habe mir von dem Typen auch einen blasen lassen." Hideo ließ Mirko los. "Er bezahlt das Doppelte, damit er dir auch einen blasen kann?" "Ja. Jetzt zufrieden? Ich weiß, dass ich dich vor so was gewarnt habe, aber ich wollte das Geld und Schluss machen. Sei nicht sauer." Hideo folgte Mirko schweigend, von einer profunden, nahezu erschlagenden Müdigkeit befallen, die sich aber wie gewöhnlich nicht in erholsamen Schlaf umsetzen lassen würde. Sein Körper schien in Eiswasser gegossen, aber das kümmerte ihn nicht, hielt es doch die Übelkeit, die vage in seinem Unterbewussten lauerte, auf Distanz. ^w^ Gelangweilt den banalen Kapriolen in der Handlung einer Samstagnachmittagsseifenoper folgend zog Hideo die Augenbrauen hoch, als das Telefon Alarm schlug. Er erhob sich mit mäßiger Begeisterung, um den Anruf entgegenzunehmen. "Mirko?" "Was ist? Ich verstehe kein Wort!" "Der komische Typ? Ermordet? Was?!" "Mirko, hör mal, können wir das nicht direkt besprechen?" "Gut, kein Problem, hier vermisst mich sowieso niemand." ^w^ Als Hideo kurz vor Mitternacht in eisigem Nieselregen auf dem Kinderspielplatz eintraf, wie eine Mumie in mehrere Lagen Bekleidung gewickelt, erwartete ihn Mirko zu seiner Verwunderung bereits. "Grauenvolles Wetter!" Mirko trat hinter einem der Bäume hervor. "Du bist schon da? Was ist los?" "Ich wollte unbedingt mit dir reden." "Gut, setzen wir uns auf die Bank dort, okay?" Durch die mit eisigen Wassertropfen benetzten Grashalme stampfend ließen sie sich auf der Bank nieder. Mirko blies sich warme Luft in die Hände, steckte sie dann wieder in die Jackentaschen. "Also, ich habe es heute in der Zeitung gelesen. 'Stricher im Bahnhofsviertel ermordet, Umstände ungeklärt.' Es wäre mir gar nicht besonders aufgefallen, wenn da nicht ein Bild dabei gewesen wäre. Es war dieser Typ, der Stricher, der uns so blöd angemacht hat, der Kranke!" Hideo musterte Mirko mit zusammengezogenen Augenbrauen. "Bist du sicher? Ich meine, Zeitungsphotos, und so..." "Ich bin sicher, das Bild war ziemlich gut." Mirko zog die Schultern ein und schauderte sichtbar. "Sie haben geschrieben, dass wohl ein Kunde den Typ nach dem Sex kaltgemacht und ihn grauenhaft zugerichtet hat, regelrecht zerrissen. Seltsamerweise haben sie aber kaum Blut gefunden." Hideo schwieg. "Ich meine, das hört sich genauso an wie das, was Bowie erzählt hat. Vielleicht treibt sich da echt ein Killer rum!", ereiferte sich Mirko. "Dich bedrückt doch aber noch etwas Anderes, oder?" Hideo beteiligte sich nun an dem Gespräch, nachdenklich und irritiert. Mirko drehte den Kopf weg und scharrte unruhig mit den Stiefeln im Dreck. "Mirko, was ist es? Rede mit mir!" Hideo kämpfte gegen wachsenden Unmut an. Schließlich seufzte Mirko laut. "Okay. Erinnerst du dich an den letzten Wagen gestern? Ja sicher, ich habe da ja meine Prinzipien schleifen lassen. Also, also... Der Typ ist mit einem Kunden nach uns auf den Parkplatz gefahren. Na ja, und während mein Kunde mir einen bläst, gucke ich aus dem Fenster und sehe den anderen Wagen. In dem ist es natürlich stockfinster und so, aber ich kann sie hören. Das war echt abschreckend!" "Wolltest du deswegen nach Hause?" "Na ja...ja! Es hörte sich echt heftig an, wie bei Tieren! Ich... ich..." "Was? Sprich weiter!" "Ich glaube, ich bin der Letzte, der den Stricher lebend gesehen hat." ^w^ Hideo sog heftig die kalte Nachtluft ein und atmete ebenso intensiv wieder aus. "Wie kommst du darauf?" "In dem Bericht stand, dass die Todeszeit kurz nach Zwei liegen müsste." "Als wir gegangen sind." "Ja." Ein ungemütliches Schweigen legte sich bleischwer auf ihre Gemüter, ließ sie verschlossen vor sich hin brüten. "Hideo?" "Hm?" "Ich habe Angst, dass der Typ mich vielleicht gesehen hat." Mirko warf einen bleichen Seitenblick auf Hideo. "Du meinst, er könnte es auf dich absehen?" Hideo lehnte sich zurück und rieb die kalten Hände aneinander. Mirko zappelte unbehaglich, stand schließlich auf, sprang auf und nieder, ob zur Erwärmung oder zwecks Stressabbaus war ihm vermutlich selbst nicht ganz schlüssig. "Warte mal, war es denn nicht dunkel? Wie hätte er dich erkennen sollen?" Hideos Augen zogen sich feststellend zusammen. "Keine Ahnung, es ist nur so ein Gefühl!" Unwirsch kehrte Mirko Hideo den Rücken zu. Hideo schloss zu ihm auf, ergriff beschwichtigend seinen Arm. "Schon gut, tut mir leid, okay? Also, was tun wir?" Mirko starrte in eine unsichtbare Ferne, verhielt aber in seinem Schritt. "Vielleicht... vielleicht sollten wir eine Weile pausieren. Nur, bis ein wenig Gras über die Sache gewachsen ist." Hideo musterte den ungewohnt angstvollen Gesichtsausdruck seines Freundes distanziert wie ein unbegreifliches Phänomen, dem man sich nur mit Vorsicht annäherte. "Ich bin auch dafür. Ein bisschen mehr Schlaf würde mir wahrscheinlich gut tun." Mirko wandte sich Hideo endlich wieder offen zu. Ein verkrampftes Lächeln irrlichterte über seine angespannte Miene. "Danke, Mann!" Hideo nickte nur knapp, verdrängte das vage Unbehagen nachdrücklich aus seinen polaren Empfindungen. ^w^ Die nächsten Tage verfolgte Hideo mit gesteigertem Interesse die Medien. Suchte nach einem Indiz oder weiteren Verbrechen, die einen Rückschluss zuließen, wie der Täter wohl vorgehen mochte und ob sie tatsächlich gefährdet waren. Die Mordserie schien jedoch abgerissen, auch konnte die Polizei keinen Tatverdächtigen ermitteln. Man vermutete einen geisteskranken Triebtäter aus dem Milieu. Und bald nahmen auch neue Schlagzeilen den Platz ein. Die Morde an den Strichern waren offenkundig nur ein Aufmacher wegen der damit verbundenen uneingestandenen sexuellen Phantasien der Leser und Zuschauer, jedoch mit kurzer Haltbarkeit. Es ging auf Weihnachten zu. Überall fanden sich die üblichen Dekorationen in den Straßen und Schaufenstern, lugten geschmückte Nadelbäume und Lichterketten hinter Vorhängen und Fenstern hervor. Der einzige, wenn auch künstliche Wärmeschimmer in einer fast völlig der Dunkelheit anheim gefallenen Welt aus Eis, Schnee, Nebelschwaden und Sturmböen. Hideos Gedanken kreisten in Sachen Weihnachten lediglich mit Abscheu um die Komödie, die sie ohne Zuschauer alljährlich abhielten. Wie stets vornehm herausgeputzt in einem teuren Restaurant aßen, symbolische Geschenke austauschten. Eine Farce aufführten, die in ihrer Bedeutungslosigkeit Übelkeit erregende Leere in Hideos Magen hinterließ. »Annuale Festtagsdepression...« Hideo verzog die weichen Lippen zu einem bitteren Grinsen bar jeden Humors. Manchmal erschien es ihm, als bestehe sein ganzes Leben aus einer Post-Familienzusammenkunftsdepression. Ohne sich anzustrengen kannte er schon die Geschenke, die er erhalten würde: einige teure Lehrbücher, die in einem Regal verstauben würden. Exklusive Wäschestücke und einen Bankauszug, auf dem er die neueste Einzahlung zu Gunsten seiner Universitätsausbildung angemessen zu bewundern hatte. Passend dazu erhielt seine Mutter jedes Jahr ein kostbares Accessoire plus eine Geschenkpackung teuersten Parfüms in hochkonzentrierter Form. Sein Vater Kinkerlitzchen der hochwertigen Art sowie eine Kiste übelriechender Zigarren, mit denen er sein Arbeitszimmer zu verpesten pflegte. Seine Mutter orderte die Geschenke, sein Vater bezahlte sie. Hideo konnte sich nicht erinnern, jemals an den Weihnachtsmann geglaubt zu haben. Aber vielleicht hatte er dies auch einfach verdrängt entsprechend seinem Anspruch, nur im Augenblick zu leben, ohne Zukunft oder Vergangenheit. Von Mirko hatte er in dessen blumigen Erzählungen erfahren, dass man durchaus auf andere Weise einen Feiertag begehen konnte, was ihn mit einem seltsamen Gefühl der Wehmut erfüllt hatte. »Ein Phantomschmerz«, wies er sich zurecht, »oder vielleicht doch eine Erinnerung an eine verlorene Hoffnung?« Wie dem auch sei, Mirko hatte sich heute Nacht wieder mit ihm an ihrem gewohnten Treffpunkt verabredet. Wie es schien, hatte das Bedürfnis nach Geld für die Weihnachtsbesorgungen Mirkos Befürchtungen besiegt. Sie begegneten einander wie Desperados kurz vor dem Eingang in eine Stadt, wo sie ein potentiell gefährliches Duell erwartete: wortkarg und angespannt wie Raubtiere auf der Pirsch. "Mirko." "Hideo. Lass uns gehen." "Bist du sicher?" Für Sekundenbruchteile zerfiel Mirkos Maske der stoischen Tapferkeit, huschte Unbehagen über seine üblicherweise gelösten Züge. "Vielleicht habe ich bloß überreagiert. Ich brauche die Kohle, also mache ich weiter." Hideo quittierte dies mit einem knappen Nicken. Man musste immer Prioritäten setzen und mit den Konsequenzen leben. Schweigsam stapften sie durch von Regenschwaden aufgeweichten, schmutzig-braunen Schnee. Unter ihren Sohlen knackten die ausgestreuten Salz- und Steinkristalle. Sofort bemerkten sie, dass ihre angestammte Nische von einem anderen besetzt worden war. Daher mussten sie auf einen weniger umsatzträchtigen Platz ausweichen, der im Schatten eines schmalen, röhrenförmigen Durchgangs zu den umzäunten Bahnanlagen lag. Es herrschte reger Verkehr trotz des ungemütlichen Wetters. Vermutlich wollten sich die Stammkunden auch vor Weihnachten selbst mit einem Geschenk bedenken. »Möglicherweise leiden sie aber auch an Lichtmangel und innerer Kälte«, zischte eine zynische Stimme in Hideos Kopf. Was sich aber nicht auf Mirko auswirkte, denn dieser hatte mit steigenden Einnahmen seine Beklemmung verloren, summierte vergnügt mit glühenden Wangen seinen Lohn. "Mann, Hideo, das reicht locker für eine neue HIFI-Anlage! Und ich kann noch was extra kaufen, wenn das heute so weiter geht! Es müsste jeden Tag so laufen!" "Die besten Geschenke sind immer noch die, die man sich selbst besorgt", bemerkte Hideo düster und zog die Schultern hoch. Ihn fröstelte. "Was wirst du mit deiner Familie machen?" Mirko schüttelte sich, um vereisende Schneeflocken von seiner Thermojacke zu entfernen. "Dasselbe wie immer", gab Hideo emotionslos zurück, was Mirko schaudern ließ. "Verstehe. Ich gehe mit meinen Leuten in die Kirche und dann feiern wir, die ganze Familie. Das wird ganz schön laut." Vor Mirkos Augen stiegen vermutlich Erinnerungen auf, denn er kicherte kindlich, plauderte freudig erregt. "Beim letzten Mal hab ich mich an den Spekulatius überfressen. Ich habe einen ganzen Tag das Klo blockiert, weil ich kotzen musste. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Chaos war, zwölf Leute in unserer kleinen Bude und das einzige Klo ständig belegt?!" Auf Hideos steifen Gesichtszügen geisterte ein verirrtes Grinsen ziellos umher. "Ja, Mann, da kommt dann wirklich christliche Stimmung auf, Nächstenliebe und so! Das stärkt den Zusammenhalt!" Mirko schlug Hideo auf die Schulter und lachte ein wenig zu laut, zu jovial. Über Mirkos Schulter hinweg erblickte er einen dunklen PKW, der neben ihnen abbremste. Mirko zwinkerte Hideo zu, drehte sich schwungvoll herum, steuerte das heruntergelassene Fenster der Beifahrerseite an und spulte das übliche Programm ab. Hideo schien es, als zögere Mirko einen Augenblick lang, dann straffte sich seine Gestalt, und er stieg ein. In den Schatten der Röhre verborgen verfolgte Hideo dem Wagen, der seltsam düster schien. Ein Stich der Unruhe durchzuckte ihn, als der Wagen nicht den Bahnhofsparkplatz anstrebte, sondern in eine der verwinkelten Seitenstraßen außerhalb seines Gesichtskreises einbog. Sein Magen rebellierte krampfartig, aber Hideo zwang sich zur Ruhe. »Nur überreizte Nerven!«, rief er sich zur Ordnung. Aber kaum fiel das Stichwort, spulten sich albtraumhafte Szenen vor seinem inneren Auge ab. Verwirrt und ziellos zornig stampfte er von einem Bein auf das andere. Verflucht noch mal, was sollte er tun?! Hinterherlaufen? Wieso machte Mirko diesen Scheiß?! Hideo hieb die Schneidezähne so tief in seine Lippen, bis sie die Kälte bezwangen und er den Schmerz trotz frostigem Reif spüren konnte. »Verdammt, verdammt, verdammt!!« In seinem Augenwinkel näherte sich ein bekannter PKW, ein Stammkunde. "Na, Junge, hast dich ja rar gemacht in letzter Zeit. Komm, ich will mir ein Geschenk für Weihnachten machen." Hideo ballte ungesehen die Fäuste, erwog in Sekundenschnelle Alternativen. Ablehnen? Oder rasch abwickeln und dann nach Mirko sehen? Er spannte seine Sehnen an, bis er das Gefühl hatte, sein Körper bestehe aus einem einzigen Strang stählerner Muskeln. "Aber nur das Übliche, keine Extras, klar?!" Hideo ließ sich auf das durchgesessene Polster fallen, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und fand Blut. "Sicher, Jungchen. Ein alter Mann wie ich verträgt so was auch gar nicht mehr!" Ein meckerndes Lachen zerrte an Hideos Nerven und seinem Geduldsfaden. Mit einem unterdrückten Knurren widmete er sich eilig den üblichen Handgriffen, spuckte aus dem offenen Fenster aus und zerbiss das obligatorische Pfefferminzbonbon krachend. So demonstrativ, dass der ältliche Mann neben ihm schamhaft unter sich blickte. Hideo würdigte ihn keines zweiten Blickes, sondern entstieg dem Wagen. »Was dachtest du, Alter?! Dass es hier um Gefühle geht?!« Hideo fiel in Trab. Immer schneller jagte er über den tückischen Asphalt, schmierig durch eine unverträgliche Schicht aus Eis, Regen und Schmutz. Innerlich verfluchte er Mirko unflätig für dessen unbesonnene Handlung. »Blödmann! Erst predigst du mir den ganzen Mist mit den Prinzipien und Verhaltensregeln und dann machst du so einen Scheiß!!« Seine schweren Sohlen nagelten Stakkato in den Boden, als er mit wehender Kondenswasserfahne in eine weitere Seitenstraße einbog. Sie war leer. Während das Adrenalin in seinem Körper hochkochte, sein Herz zu Kapriolen anhielt, wirbelten nicht fassbare Gedanken durch seinen Kopf. Eckten schmerzhaft an und entzogen sich ihm, wenn er versuchte, sich beherrscht ihrer zu bemächtigen. Wohin konnte der Typ gefahren sein? Wo war Mirko? »Ein Showdown«, geisterte es beziehungslos durch Hideos hämmernden Kopf, als er auf der Straßenmitte langsam ausschritt, den Blick von rechts nach links und umgekehrt wandern ließ. Dunkel und abweisend blieben die Häuserfronten, einige vernagelt, alle mit Graffiti verunziert, wie ein Palisadenzaun auf dem Weg zur Hölle. Im lehmigen Dreck zwischen zwei bröckelnden Fassaden erkannten seine Augen trotz der schlechten Witterung und der zerstörten Laternen die Spuren von Reifen. Sie führten auf eine Brachlandschaft, die eine Bauruine beherbergte. Der umgebende Zaun war niedergerissen oder gestohlen worden. »Stockfinster«, stellte Hideo fest, aber sein trommelndes Herz jagte eisige Nadeln in seine Brust. Er vertraute seinem Instinkt. Mirko musste schließlich irgendwo sein. »Und wenn ich ihn erwische, dann zahle ich ihm diese Panik heim!!«, schwor Hideo zornig. Zwischen dem Dreck des aufgewühlten Bodens fanden sich verharschte Schneereste, darüber einzelne Flocken frischen Nassschnees, der sich mit Streugut vermengt hatte. Also war vor nicht allzu langer Zeit jemand hier eingebogen. Hideo hielt sich genau in der Mitte, kniff die Augen zusammen, um in die Dunkelheit zu spähen, ein metallisches Glitzern zu finden. Unwillkürlich beugte er sich vor, bog die Schultern vor, ein kampfbereites Schleichen. Am Wagen angekommen irritierte ihn nicht nur die Verlassenheit, nein, auch das Zündschloss wirkte unförmig, unpassend. Als befände sich dort etwas Größeres als ein Zündschlüssel... Hideo erstarrte, als er trotz miserabler Lichtverhältnisse begriff: das war ein Schraubenzieher, der Wagen kurzgeschlossen. Einen Fluch unterdrückend hielt er sich an der Beifahrerseite, legte dann eine Hand auf die Motorhaube, die leise knackend verkündete, dass die Maschine noch nicht lange ausgegangen war. Für einen Augenblick wirkte die Hitze, die durch Hideos nackte Handfläche zuckte, tröstlich und einlullend, aber er riss sich gewaltsam von dieser Empfindung los. Mirko und der Fremde waren nicht im Wagen, und das bedeutete nichts Gutes. Hideo verwünschte die Dunkelheit, die aufkeimende haltlose Panik, die jedes einzelne Haar an seinem Körper aufstellte, eisige Schauer durch seine Glieder jagte. "Mirko? Mirko, wo bist du?" Seine Stimme klang belegt und piepsig, die Angst schnürte ihm förmlich die Kehle zu. Langsam arbeitete er sich in Richtung der Hausruine weiter. Hideo hatte einen erstickenden Widerwillen, die Ruine in Augenschein zu nehmen. Er wollte nicht wissen, nicht sehen, keine Gewissheit haben. Aber ein innerer Drang, der jeder Vernunft unzugänglich war, vielleicht die Faszination eines Rätsels, gleich, wie grauenvoll es sein mochte, trieb ihn wie ferngesteuert auf die fensterlose Fassade zu. Der Wind verwehte nun stärker Neuschnee, die festfrierende Masse bezuckerte das Trümmerfeld einer ambitionierten Investition, tauchte die unförmigen Gerippe des Hauses in eine mystische Atmosphäre. Hideo konzentrierte sich auf das Haus, suchte nach dem geringsten Anzeichen von Bewegung, als sein rechter Stiefel etwas Nachgiebiges und dennoch Formhaftes streifte. Hideo senkte langsam, fast in Zeitlupe den Kopf. Vor seinem Füßen lag etwas Großes, Dunkles. Langsam ließ er sich in die Knie herunter, hob die Hand an, um mit ausgestreckten Fingern die Masse zu berühren. Er fühlte Stoff, eine Knopfleiste. Und einen Hauch von Wärme. "Mirko?" Das schrille Wimmern, kaum zu vernehmen, konnte unmöglich aus seinem Mund entschlüpft sein. Ungeachtet der unzähligen Alarmglocken in seinem Kopf klaubte er ein Streichholzbriefchen aus der Jackentasche. Licht konnte hier Freund und auch Feind sein. Das erste Streichholz zerbrach unter den ungeschickten Anstrengungen seiner klammen Finger. Dann brannte Nummer 2, ein dünnes Flämmchen, verloren in der allgegenwärtigen Dunkelheit. Es brannte so lange, bis alles Holz verbraucht war und die Fingerspitzen nicht länger taub gegenüber dem Schmerz waren. ^w^ Kapitel 2 - Gejagt Hideo rannte. Er lief so schnell, wie er konnte, sich überschlagende, weit ausholende Schritte, angewinkelte Ellenbogen. Ignorierte die schwarzen Flecken vor seinen Augen, die schmerzenden Lungen, den wunden Hals, die protestierenden Beine. Nur weg. In seinem Kopf vibrierte in eisigem Neon die wahnwitzige Zuflucht in die Illusion, wenn er nur lang genug liefe, würde er wieder atmen können. Sich der eiserne Ring, der sich erstickend um seine Brust gewunden hatte, lösen. ^w^ Leise Kammermusik untermalte das melodisch-distinguierte Händeln mit kostspieligem Designerbesteck. An den Wänden illuminierten imitierte Kandelaber venezianisches Spiegelglas in goldblättrigen Rahmen und den in bordeauxfarbenem Brokat ausgeschlagenen Speisesaal. Zierliche Stühle, die dem Stil des Ancien Regime nachempfunden waren, gruppierten sich um Tische, reich geschmückt mit schwerem, makellosen Leinen. Stoffservietten und einer wahren Parade an Kristallgläsern unterschiedlicher Größe und Funktion, während stilvoll zurückhaltend dekoriertes Geschirr den optischen Platzhalter für die aufzudeckenden Speisen bot. Hideo kauerte stocksteif auf seinem Stuhl, die Fingernägel in die Polsterung bohrend, den Kopf halb gesenkt. Seine Haare verdunkelten seinen Gesichtskreis, verbargen ihn aber auch vor den Blicken anderer. Wie ein ständiges, nervenzehrendes Rauschen summten Gespräche und Musik zu einem unverdaulichen Brei in seinem Kopf. Er wünschte, er könnte seine Finger wie Klauen in die weiche, graue Masse seines Gehirns bohren, die Schädeldecke perforieren, schreien, bis er an sich selbst erstickte. Der Wahnsinn seiner Gedanken ängstigte ihn kaum noch, dennoch hielt er sich davon ab, diese Vorstellung zu realisieren, zwang sich auch, nicht wie ein Geistesgestörter hin und her zu schaukeln. Suchte Zen in der blütenweißen Porzellanmitte seines Dessertschälchens. ^w^ Er konnte sich nicht besinnen, wann und insbesondere wie er nach Hause gekommen war. Seine Erinnerung war vollkommen gelöscht, was diesen Aspekt betraf. Als er an jenem Morgen zum Frühstück erschien, konnte er nicht einmal etwas trinken. Der Gedanke, schlucken zu müssen, ganz gleich, was es sei, erstickte ihn förmlich. Aufgefordert sich zu unterhalten, brachte er keinen Ton mehr heraus, seine Stimme war verloren. Natürlich glaubten seine Eltern an eine Erkältung, erklärten ebenso seine Appetitlosigkeit und gingen ihren hektischen Vorbereitungen für das 'Show-Programm' an Weihnachten nach. Hideo hatte sich in seinem Zimmer verkrochen, in die Nische, die rechtwinklig von Bett und zwei Wänden gebildet wurde, das Licht gelöscht, wie ein vergessenes Spielzeug. Diese Starre hatte er unter äußerster Willensanstrengung roboterhaft überwinden können, als es hieß, sich am ersten Weihnachtstag zum Abendessen in einem exklusiven Restaurant aufzumachen. Die Stille, die in seinem Kopf herrschte, hatte sich durch eine Stimme, die in ihm die Initiative ergriffen hatte, zurückschlagen lassen. Ein Kasernenhofton mit klaren Arbeitsanweisungen, der den unterschwellig lauernden Wahnsinn in Schach hielt. Hideo fragte sich ketzerisch, wann der Wahnsinn den Schleifer unbemerkt überwinden würde. Und seine Albträume beendete. ^w^ Am zweiten Weihnachtstag klingelten zwei Polizeibeamte. Unter der Aufsicht seiner nicht gelinde indignierten und sehr reservierten Eltern nahmen sie im Wohnzimmer Platz. Sichtlich unbehaglich in der noblen Ausstattung, die mehr einem Ausstellungsraum ähnelte als einem Ort, wo Menschen lebten. Sie erzählten von Mirkos Tod. Baten Hideo um Informationen, was Mirkos Freizeit, seine Gewohnheiten, seine Freunde betraf. Hideo starrte lediglich vor sich hin, was man dem vorgeblichen Schock zuschrieb, erfahren zu haben, dass ein Klassenkamerad ermordet worden war. Schließlich verabschiedeten sich die beiden Uniformierten leidgeprüft und resignierend. Es gab keinerlei Hinweis darauf, wer den Jungen derart zugerichtet haben könnte. ^w^ Hideo hörte die Worte des Pfarrers kaum, er folgte automatisch, ohne bewusstem Willen, der Liturgie. Wie aufgezogen glitt er in der Menge der Verwandten, Mitschüler und Freunde mit, die Mirko das letzte Geleit an einem eisigen Dezembermorgen gab. Der polare Wind peitschte Schneeregen über den Trauerzug, vertrieb mit mutwilligen Eskapaden die tröstenden Worte ungehört. Über Hideos Wangen glitt schmelzendes Eis, benetzte die rot gefrorene Haut. Salz mischte sich nicht darunter. ^w^ Das neue Jahr war weniger als eine Stunde alt, als Hideo von unsichtbaren, aber quälenden Dämonen getrieben auf dem verlassenen Spielplatz vor sich hin schaukelte. Die Stiefel mit aller Gewalt zum Schwungfassen in den frostigen Boden bohrte. Der Eishagel, der die Feiernden vertrieben hatte, vermischte sich langsam mit den verharschten Resten Altschnees. Hideos Wimpern flatterten, als er unwillkürlich verirrte Schneeflocken abschüttelte. Sein Blick glitt zum Eingang hinüber, immer wieder, aber nicht suchend, nicht erwartend. Eine dumpf brütende, schwarze Masse, heimtückisch wie ein Krebsgeschwür, breitete sich langsam in seinem zitternden Körper aus. Hideo spürte keine Kälte. Distanziert registrierte er die konvulsivischen Zuckungen, das Aufeinanderschlagen seiner Zähne, die dunkelblaue Färbung seiner Fingernägel. »Steh auf«, brüllte der versprengte Schleifer in seinem pochenden Schädel. »Weißt du, wie der Kurs für ein Leben heute steht?«, irrlichterte ein wahnsinniges Kichern zuckrig hell dazwischen. Gelächter überschlug sich prickelnd, als sich die Antwort anschloss, »heute handeln wir ein Leben gegen eine HiFi-Stereoanlage mit Kassettendoppeldeck, CD-Player, Radio, Tuner...« Hideo knirschte mit den Zähnen, presste sinnentleert seine steif gefrorenen Hände auf die Ohren, als könne dies das überdrehte Quietschen und Kichern in seinem Kopf abstellen. Mit ruckartigen Bewegungen kam er hölzern auf die Beine. Die Schaukel federte zurück, traf ihn seitlich, aber der Stoß verpuffte gegen das Eis seiner Gestalt. Taumelnd mit kollabierendem Kreislauf zwang sich Hideo, einen Fuß vor den anderen zu setzen, immer wieder das Knacken der überfrorenen, verharschten Schneefläche splitternd in den Ohren. Für den Friedhof war es zu spät. Über die Mauer würde er es in seinem Zustand nicht schaffen. Nach Hause... nein, die Dämonen, die kichernd ihre Klauen rieben, warteten darauf... der Schleifer votierte dafür. Hideo stöhnte. Zum ersten Mal leistete er den gegnerischen Parteien in seinem Kopf Widerstand. Und schlug den Weg zum Bahnhof ein. ^w^ Die Ruhelosigkeit, der mangelnde Schlaf, die bohrenden Kopfschmerzen, der Abgrund des Wahnsinns, der lockte und provozierte... Hideo ging immer weiter. Vielleicht löste eine Flucht keine Probleme, aber das erschien noch die beste Alternative zu sein. Verrückt werden konnte er noch früh genug. Das Bahnhofsviertel war nicht so verlassen, wie man vermuten konnte. Die Einsamen und Ausgestoßenen hatten wie alle anderen auch das Bedürfnis gehabt, das neue Jahr in einer Gemeinschaft mit anderen menschlichen Wesen zu begrüßen. All die ruhelosen, heimatlosen, seelenlosen Gestalten umkreisten den Bahnhof wie einen Hort der Spiritualität, das einzige Paradies, das sich ihnen bot. Hideo schritt langsam die Straße hinunter, spürte die fragenden Blicke, aber niemand richtete das Wort an ihn. Selbst Bowie zuckte nur kurz aus seiner Nische, drückte Hideo die Hand und entmaterialisierte sich wieder. Unglück war ansteckend und Aberglaube erwies sich zu oft als letzte Warnung eines rettenden Instinktes. Hideo erreichte ihren Stammplatz, die Röhre, die zu den umzäunten Bahnanlagen führte. Nichts hatte sich verändert, die Wagen kamen und gingen wie zuvor. Ob jemand hier lebte oder tot war, spielte keine Rolle. Hideo brach in Zeitlupe in die Knie, umfing mit beiden Armen seinen Kopf. Er musste aus diesem Albtraum erwachen, bevor das Monster in ihm ihn verschlang. ^w^ Sein Instinkt, trainiert in den wenigen Monaten, die er hier verbracht hatte, schlug automatisch Alarm, als er eine andere Aura wahrnahm. Hideos Kopf fauchte hoch. Jemand stand vor ihm. Zunächst nur ein übergroßer Schatten im fahlen, von Schneeregen verwischten Licht der Straßenlaterne. Hideos Muskeln spannten sich schmerzend, zu durchgefroren, um den Befehlen Folge zu leisten, während er sein Springmesser in der Jackentasche ertastete. Der Fremde hob beschwichtigend die Arme hoch, warf einen noch gewaltigeren Schatten, wie eine gigantische Fledermaus. Hideo blinzelte, erkannte Details: einen schwarzen Trenchcoat, darüber einen Borsalino im gleichen Farbton, das Gesicht verdeckend. »Sam Marlowes Albtraumschatten«, blitzte es in Hideos nur schleppend erwachendem Geist auf. "Keine Angst, ich will dir nichts tun." Eine ruhige Stimme, dunkel, die Aussprache sehr gepflegt. Hideo kam schwankend, zurückweichend in die Höhe, schätzte die Größe des Mannes ab, die vermutlich breiten Schultern, das unkenntliche Gesicht. "Hau ab!" Seine steifen Finger zuckten über die eisig glatte Oberfläche des Messergriffs in seiner Tasche. "Ich möchte nur mit dir reden. Über deinen Freund." Der Unbekannte drehte die behandschuhten Hände hoch, wie um zu beweisen, dass er unbewaffnet war. Während Hideo die Schultern hochzog, die Augen zusammenkniff, als könnte er seinen Gegenüber auf diese Art leichter fokussieren. "Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht und ich will nicht mit Ihnen reden, klar?!!" Der Fremde legte den Kopf leicht schräg, ein spitzes Kinn blitzte auf. "Keine Sorge, ich bin nicht von der Polizei. Ich suche den Mörder deines Freundes." "Ich weiß von nichts!! Lassen Sie mich in Ruhe!!" Hideo stemmte die Fersen in den Boden, erwog einen Blitzstart mit Ausfall, aber der Unbekannte vereitelte seine Absicht, verstellte ihm kurzerhand den Weg. "Bitte. Ich möchte nur mit dir reden..." "Nein!!!" Mit einem metallischen Geräusch löste sich die Feder, das aus der Jacke gerissene Messer zuckte durch die Luft und fand ein Ziel. ^w^ Hideo rannte den Zaun entlang: dicht gewobene Drahtgitter, eng stehende Metallstangen, kein Durchkommen soweit. Eine weiße Atemwolke trieb vor ihm her, sein Hals brannte vor Schmerz. »Endlich!« An einem alten Bauzaun endete der Maschendraht. Hideo zwängte sich achtlos durch die Lücke, hetzte dann über Gleisanlagen, zwischen abgestellten Güterloren und Zugmaschinen hindurch, ein orientierungsloser Zickzacklauf. Blut rann aus seiner Nase und zwang ihn, kombiniert mit anhaltendem, krampfhaften Seitenstechen, eine Pause einzulegen. Ausspuckend schmolzen die roten Tropfen den schmutzigen Schnee, bildeten ein surreales Puzzle. Hideo hob den Arm, um mit dem Ärmel über sein Gesicht zu wischen, als er festgeklammert wie in Stahlzwingen das Messer in seiner Hand erblickte. Die Klinge war dunkelrot mit Blut verkrustet, das sich auch auf seine Hand verteilt hatte. Von Grauen erfüllt und in haltloser Panik schmetterte er seine Hand gegen eine abtrennende Steinmauer, rieb die gefühllosen Finger so lange an Putz und Schneeresten ab, bis schwarze Punkte seine Sicht trübten. »Ich habe...habe...« Ein gequälter animalischer Laut floh aus seiner gepeinigten Kehle in die sternenlose Nacht des ersten Tags. ^w^ Als seine Beine endgültig den Dienst versagen wollten, taute Hideos versprengter Rest an Verstand auf. Zu seiner Erleichterung fand er sich auf bekanntem Terrain. Er sackte auf einer Schaukel zusammen, wünschte sich das haltlose Schluchzen eines Kindes herbei. Aber er war zu zerschlagen und seelisch angegriffen, um noch körperlichen Widerstand zu leisten oder seinen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Hideo wollte die Arme tröstend um seine schmale Gestalt schlingen, aber zu schwer geworden hingen sie wie tote Äste an einem absterbenden Baum herab. »Wenn ich in den Schnee sinke, werde ich schlafen... Endlich schlafen...« ^w^ "Du hättest mich umbringen können! Und meine Kleidung hast du auch ruiniert!" Durch Hideos benebelten Verstand zuckte ein Beben, zwang ihn, sich nicht sofort der Umarmung des Kältetodes hinzugeben. Seine mit Reif verklebten Augen blinzelten hoch. Der Fremde stand vor ihm, eine Hand auf die Seite gepresst. Nun war auch sein Gesicht zu erkennen, selbst mit trübem Blick und narkotisiertem Wahrnehmungsvermögen. Ein schmales Gesicht, lang über dem spitzen Kinn, dominiert von einer Hakennase über einem Mund mit ironisch eingekerbten Winkeln. Von unheimlicher Faszination waren jedoch die Augen des Fremden. Tiefschwarz, ohne Glanz, wie kohlengeschwärzte Linsen auf der Iris, der Augapfel selbst in merkwürdigem Grau. Hideo konnte sich nicht rühren, erstarrt, gelähmt. Ausgeliefert. Der Fremde tippte an den Hut, eine seltsam altmodische Geste des Grußes, plauderte so unbefangen weiter, als sei man bereits miteinander vertraut. "Ich bin nicht nachtragend, mach dir deshalb keine Sorgen. Aber ich muss mit dir reden und ich werde nicht lockerlassen, bis wir miteinander gesprochen haben." Hideo katapultierte sich in letzter, konzentrierter Anstrengung aller verbliebenen Ressourcen in die Höhe, schmetterte die Schaukel nach dem Fremden und versuchte, trotz hölzerner Schritte und panisch rasendem Herz zu entkommen. In seinem Kopf hämmerte eine Kakophonie von Schmerzmeldungen, dennoch hörte er den Fremden hinter sich, weniger seine Atemzüge oder Schritte, sondern das synthetische Knistern des Trenchcoats. »Schneller!«, winselte sein Verstand angstvoll. Da wurde er bereits von hinten herumgerissen, zwei kräftige Arme wanden sich zupackend um seinen Oberkörper. "Loslassen oder ich schreie!", krächzte Hideo würgend. "Tut mir leid, wirklich", bedauerte die Stimme an seinem Ohr. Hideo warf den Kopf in den Nacken, wie ein Tier, das wenigstens im Tod noch einen letzten Protestschrei hinausschleudern will, als der Fremde ihm die Knie eindrückte und sich nadelspitze Zähne in Hideos entblößte Kehle bohrten. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, dann erschlaffte er. ^w^ "Oh, du bist wieder bei Bewusstsein! Ich entschuldige mich noch einmal in aller Form für die Umstände. Normalerweise bin ich nicht so grob." Hideo stöhnte, als eine muntere Stimme in die Intimität seiner Sinne drang. Vor seinen widerstrebenden Augen breitete sich eine schmucklose Zimmerdecke aus. Mit einer nicht aktivierten Deckenlampe. Ein warmer Schein zu seiner Linken hieß ihn den Kopf behutsam drehen, um nicht die Dämonen zu wecken. Neben ihm saß der Fremde auf einem Stuhl, ein ruhiges Lächeln auf den Gesichtszügen. "Es ist alles okay. Das ist ein Motelzimmer." Hideo zuckte, sandte Botschaften an die Nervenenden seiner Glieder, eine Statusmeldung über den körperlichen Zustand zu geben. Dabei bemerkte er, dass er bis auf die Unterwäsche entkleidet worden war. Sein Kopf fiel auf die Seite, wieder dem Fremden zu, während Hideo innerlich erstarrte. "Meine Kleider...", wagte er Protest gegen das offenbar Unvermeidliche, seine Stimme vor Trockenheit splitternd. Der Fremde drehte sich leicht nach dem Nachttisch um, befüllte ein schmuckloses Glas mit Wasser aus einer Flasche, reichte es dann Hideo an. Sich mühsamst auf die Ellenbogen stützend hob Hideo seinen tonnenschweren Körper von der Matratze, kämpfte sich hoch, umfing das Glas mit beiden Händen. Die Anstrengung jagte unkontrollierte Muskelzuckungen durch seinen Leib, hinderte ihn, mehr als winzige Schlucke zu nehmen. Der Fremde beobachtete seine Bewegungen schweigend und gelassen. "Ich habe mir die Freiheit genommen, dich zu entkleiden, Du warst völlig durchgefroren. Deine Sachen sind auf dem Stuhl dort." Hideo starrte zu dem Stuhl hinüber, dessen Umrisse er im gedämpften Licht der Nachtleuchte erahnen konnte. In seinem Kopf pochte eine Information, die sich nun gebieterisch in den Vordergrund drängte. Ruckartig riss Hideo eine Hand in die Höhe und betastete seine Kehle. "Du wirst keine Wunde finden. Die Haut verheilt sofort wieder." Hideo, der zunächst stumpf vor sich hin starrte, wandte sich langsam dem Unbekannten zu, ungläubig, nicht begreifen könnend. In einer kläglich anmutenden Schutzgeste zog er das Federbett, das seinen Körper erwärmt hatte, bis unter sein zitterndes Kinn, beäugte schwankend zwischen Resignation und Grauen den Fremden. Dieser bot sich ihm nun offen dar, bekleidet mit einem dreiteiligen Anzug in Dunkelgrau, darunter einem hellen Hemd. Eine silbrige Krawatte verstärkte den Eindruck, es könne sich bei dem Träger um einen Banker oder Anwalt handeln. Ein ordentlicher Haarschnitt teilte die braunen Haare in einen Seitenscheitel, mündete beidseitig in kontrollierte Wellen. Ungeachtet der dunklen, warmen Stimme schien der Fremde trotz des konservativen Äußeren noch sehr jung. Hideo blinzelte, um seinen Blick zu fokussieren, studierte die Erscheinung vor sich, wurde magisch angezogen von dem dunklen Fleck, der sich auf Weste und Sakko in Taillenhöhe verewigt hatte. Dort war sein Messer tief in den Leib des Fremden eingedrungen. »Er hätte verbluten müssen...« Der Fremde folgte Hideos Blick und streckte die Seite ein wenig ins Licht. "Du hast wirklich ziemlich schnell reagiert. Solche Reflexe hätte ich nicht erwartet. Nun ja, der Anzug ist wohl Abschreibemasse, aber das ist nicht tragisch, er war schon altmodisch, als ich ihn gekauft habe." Hideo würgte leicht, seine Kehle trocknete wieder aus, ein leichter Schwindel legte sich mit Druck auf seinen Kopf. »Das... das ist alles nicht real.« Der Fremde schlug sich plötzlich mit der flachen Hand auf die Stirn. "Du liebe Güte, wo habe ich nur meine Manieren?! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt! Meine Name ist Georg van Stetten." Und fügte mit einem aufmunternden Grinsen hinzu, "ich bin nicht der Vampir-Killer." Er zwinkerte Hideo zu und streckte gleichzeitig eine schmale Hand aus. Blitzartig schraubte sich Hideo an die entfernte Bettkante zurück, zog die Decke hoch, krümmte sich instinktiv zusammen, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Georg runzelte irritiert die Stirn, nickte dann aber. "Natürlich, du hast Angst! Du kennst mich ja auch nicht, warum solltest du mir da trauen! Ich denke, ich erzähle dir einfach, warum ich dich unbedingt sprechen will und dann sehen wir weiter, einverstanden?" Georg warf Hideo einen freundlichen Blick zu, wartete aber keine Antwort ab. "Ich suche diesen so genannten Vampir-Killer. Allerdings bin ich kein Polizist, sondern ein privater Ermittler, der es sich zur Aufgabe gemacht hat zu verhindern, dass dieser Kerl erneut mordet. Und um dies zu bewerkstelligen, benötige ich deine Hilfe." Er nickte besänftigend, die schlanken Hände auf den übergeschlagenen Beinen gefaltet. "Wieso hast du mich gebissen?" Hideos Stimme, reibeisenartig, fauchte knapp in die entstehende Vertraulichkeit der Unterhaltung. Georg sah Hideo intensiv in die Augen und antwortete dann langsam und bedächtig. "Du hast mich mit dem Messer verletzt. Ich habe einiges Blut verloren. Als ich dich dann festgehalten habe, wolltest du schreien und das musste ich verhindern." Hideo starrte wie hypnotisiert in Georgs nachtschwarze Augen, musste sich mit einem Ruck aus den wirbelnden Untiefen in den Abgründen losreißen. "Aber warum beißt du mich?" Hideos vehemente Nachfrage schien Georg in Verlegenheit zu bringen. Zum ersten Mal wirkte er unbehaglich, rutschte auf seinem Stuhl herum und zupfte zeitraubend an den Schößen seiner Weste, den Blickkontakt vermeidend. Zögerlich, bedächtig eröffnete er seine Erklärung. "Nun, das ist nicht ganz einfach zu erklären... Aber ich bin auf deine Hilfe angewiesen, sodass ich dir wohl antworten muss, wenn ich Kooperation erreichen will, nicht wahr?" Hideo nickte knapp, auch wenn Georgs Tonfall bereits die rhetorische Qualität seiner Frage indiziert hatte. "Nun... ich stamme aus einer sehr alten Dynastie. Vielleicht sind dir zum Beispiel die Fugger ein Begriff? Natürlich... Wenn man sich nun die Porträts der Familienmitglieder ansieht, erkennt man bestimmte erblich bedingte Ähnlichkeiten, nicht wahr?" Georg tippte sich schmunzelnd an das Kinn, aber Hideo verzog keine Miene. "Wir sind auch eine Familie, die über Jahrhunderte sehr eng ineinander verbunden ist, sodass sich bestimmte genetische Ausprägungen ausgebildet haben. Für uns sind das die ungewöhnlichen Augen und die Tatsache, dass wir gelegentlich kleinerer Mengen menschlichen Bluts bedürfen." Hideo starrte stumm vor sich hin, während sein Gehirn das soeben Vernommene sortierte und bewertete. Dann hob er den Kopf an und sah Georg direkt in die unheimlichen Augen. "Soll das heißen, dass ihr anderen Menschen Blut aussaugt?! Dass ihr Vampire seid?!" Georg strich sich eine winzige Falte aus der Hose den Oberschenkel hinunter, die Augenbrauen konzentriert gekräuselt, ein leichtes Lächeln in den Mundwinkeln. "Nicht wirklich. Wir haben keine Probleme mit Knoblauch, Weihwasser oder Kruzifixen, wir verwandeln uns nicht in Fledermäuse oder sind gar untot. Wir brauchen einfach frisches Blut in kleinen Mengen, dann und wann." Hideos Finger gruben sich tief in die gesteppten Partien der Decke, seine Augen verdüsterten sich. "Ich glaube dir kein Wort. Dracula ist eine Erfindung und es gibt keine Vampire." Sein Ton verhieß unerschütterliche Überzeugung und auch Verachtung, dass man ihm mit phantastischen Gruselgeschichten gönnerhaft kommen wollte. Georg lächelte, und dieses Mal blitzte auch ein wenig Mitleid in seiner Miene auf. "Oh, ich weiß, was dir im Kopf herumschwirrt. Bram Stoker mit seiner Erzählung des finsteren Pfählers Vlad Dracul, dem unheiligen Mörder! Der, von Gott verflucht, sich die Ewigkeit seines untoten Daseins nur verschaffen kann, indem er vorzugsweise Jungfrauen das Blut aussaugt." Georg stützte das spitze Kinn in eine Handfläche und lächelte süffisant. "Eine sehr erregende Vorstellung in der viktorianischen Zeit, die jede Lebensäußerung in gesellschaftliche Korsetts einschnürte. Besondere Bestürzung riefen die Aussagen verschiedener Augenzeugen aus der slawischen Welt hervor, die überlebt hatten, wo angeblich Vampire ganze Dörfer ausgelöscht haben sollten. Sie schworen heilige Eide, die Vampire hätten mit geschwollenen Genitalien und so frisch wie Lebende in ihren Gräbern gelegen. Man musste sie mit einem Pflock durch das Herz festnageln und zur Abwehr des Teufels ihre Oberschenkelknochen kreuzförmig übereinander legen." Hideo lief ein eisiger Schauer über den Rücken, obwohl er nicht gerade eine Neuigkeit vernahm, Hollywood-gebildet, wie er war. "Oh, man hielt die Vampire für einen Fluch, eine Ausgeburt des Teufels, denn sie verspotteten in perfidester Weise die christliche Tradition und das Wort Jesu, dass sein Blut das ewige Leben verhieße, wie es in der Eucharistie verkündet wird. Hier diente das Blut der Lebenden dazu, eine Armee von untoten, seelenlosen Monstern zu ernähren." Georg beugte sich vor und studierte Hideo eindringlich. "Aber sicher ist dir auch nicht entgangen, dass man mittlerweile weiß, dass alle diese angeblichen Opfer von Vampirismus an verschiedenen Epidemien starben, etwa der Schweinepest oder der Tuberkulose. Keine übernatürlichen Einwirkungen, sondern nur ansteckende, damals nicht heilbare Krankheiten." Wieder hatte sich Georgs Stimme gewandelt. Der mokierende Unterton war verschwunden, sie war nun einfach nur gewinnend und warmherzig. Hideo fiel es schwer, sich nicht einlullen zu lassen von der Freundlichkeit des Älteren, sich seinem Schutz anzuvertrauen. Unsichtbar für Georg krallte er unter der Decke die Fingernägel hart in die eigenen Handteller, um sich zu ermahnen, dass der erste Fehler auf der Straße darin bestand, zu leichtfertig Freundschaft zu schließen. Georg hatte sich bequem zurückgelehnt, den Kopf leicht auf die Seite gelegt, dozierte in zurückhaltendem, kaum merklich werbenden Ton über die Qualität seiner Familie. "Nun, ich kann nicht abstreiten, dass wir Blut benötigen. Aber nur in sehr kleinen Mengen, üblicherweise genügen zwanzig Milliliter. Gespendet von Freunden oder Angehörigen, die in unsere Familie einheiraten. Und unser Speichel verschließt jede Wunde sofort spurlos, niemandem wird ein Leid zugefügt." "Ich wurde ohnmächtig!", bemerkte Hideo spitz. Georg wischte sich verlegen eine Locke aus der Stirn, die sofort wieder ihren Platz eroberte. "Das ist richtig, ich habe da ein bisschen nachgeholfen. Ich fühlte mich durch die Umstände ermächtigt, mir diese Freiheit herauszunehmen." Hideo ballte die Fäuste, fühlte sich überschwemmt von bitterer Galle, eine erstickende Woge an Zorn und Adrenalin, die sich wie ein Lauffeuer von seinem Magen in seinen Kopf fraß. "Also, damit ich das richtig verstehe: ihr saugt eure eigene Familie aus?! Dann ist der Killer auch so ein abartiger Typ wie du? Und du willst meine Hilfe?! Du beißt mich, saugst mir Blut aus, entführst mich und glaubst, ich helfe dir?!" Mit den letzten Worten hatte sich Hideo in wütendes Gebrüll gesteigert. Georg hob beschwichtigend die Hände, bewahrte seine Gelassenheit. "Es stimmt, ich habe dich gebissen, um dich zum Schweigen zu bringen. Aber ich habe dir trotz der Wunde, die du mir zugefügt hast, kein Blut entnommen. Ich bitte dich um deine Hilfe, damit das Morden ein Ende hat." Hideo bemerkte, dass sich einige Ungereimtheiten in ihrem Disput ergaben, doch sein Kopf verweigerte die Analyse, ließ sich von Rage dahintreiben. "Ach, red doch keinen Scheiß, verdammt! Du hast bloß Angst, dass eure perverse Veranlagung rauskommt! Die Stricher sind dir doch völlig egal!!" Je höher sich Hideos schwankende Stimme steigerte, desto ruhiger, fast marmorn verhielt sich Georg. "Natürlich sind mir die Opfer nicht gleichgültig, ganz gleich, welcher Beschäftigung sie nachgegangen sind", entgegnete er kühl. "Es waren Stricher, Blow-Jungs!! Abfall!! Ich bin auch so einer!!" Hideo schleuderte demonstrativ die Decke von sich, trotzig die Augen in Georgs rußschwarzem Blick verharkt. "Na, was ist, willst du eine Kostprobe? Den üblichen Tarif kennst du sicher!", ätzte er. Georgs Mundwinkel zuckten, ob vor Verlegenheit oder Amüsement, konnte Hideo nicht erkennen. "Zieh besser die Decke wieder hoch, es ist kalt hier. Vielen Dank für die Offerte, aber die Arbeit geht vor." Hideo benötigte einige Augenblicke, bis er die elegante Abfuhr als solche verstanden hatte. Dann riss er betont gleichgültig die Decke wieder an sich und wickelte sich eng ein. Georg stellte nun beide Beine nebeneinander, visierte Hideo konzentriert an. "Ich weiß, ich verlange sehr viel. Mir ist durchaus bewusst, dass du um deinen Freund trauerst, aber ich habe keine Zeit zu verlieren." Seine schlanken Hände mit den manikürten Fingernägeln unterstrichen gekonnt seine Worte. "Wenn ich herausfinden kann, dass der Junge nicht allein gearbeitet hat, dann kann ER das auch. Wenn ich dich finden kann, dann ist das auch für IHN kein Problem. Und ER wird keine Zeit verlieren, sich mögliche Zeugen vom Hals zu schaffen." Hideo kauerte sich zusammen, die Augenbrauen misstrauisch zu Tuschstrichen gerade gezogen. "Wieso sollte er mich töten wollen? Ich weiß nichts, ich habe niemanden gesehen!!" Georg massierte sich scheinbar ungeduldig die Nasenwurzel, blickte Hideo dann unverhohlen kalt an. "Wie habe ich dich wohl heute Nacht aufspüren können? Ganz einfach: wir haben sehr scharfe Augen, schärfer als die anderer Menschen. Ich kann mit einer winzigen Menge an Restlicht noch Konturen erkennen, wenn es kein anderer kann." Georg beugte sich vor, funkelte Hideo unheilvoll an, was sich umso verstörender ausnahm, weil die rußschwarzen Tiefen glanzlos alles Licht absorbierten. "Glaub mir, er HAT dich gesehen." Nach einer wirkungsvollen Pause setzte sich Georg wieder auf. "Außerdem ist ER eine sehr gut trainierte Person, ER lernt schnell. Du hast es vielleicht nicht gewusst, aber die Wagen, die ER benutzt, sind kurzgeschlossen und geknackt, ohne dass man dies auf den ersten Blick bemerkt. Und ER hinterlässt keine verwertbaren Spuren, nicht einmal die Polizei findet etwas." Hideo kreuzte die Arme vor der Brust und starrte von plötzlicher Müdigkeit überwältigt stumpf vor sich hin. "Also wird er mich auch töten", flüsterte er emotionslos. "Nein!! Das werde ich verhindern! Ich werde kein weiteres Opfer zulassen!" Georgs unerwartet leidenschaftlicher Ausbruch ließ Hideo zusammenfahren. Mit verfärbten Wangen und finsterem Blick stützte sich dieser fast bedrohlich auf die Bettkante, zwang Hideo zum Blickkontakt. Nach einigen atemlosen Wimpernschlägen setzte er sich dann wieder mit einem besänftigenden Gesichtsausdruck betont gelassen auf seinen Stuhl zurück, wischte die ungehorsame Locke erneut aus der Stirn. "Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Aber bitte glaube mir, ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit es keine weiteren Opfer gibt." Hideo zog die Knie vor die Brust und kaute an seinem Daumen, versuchte den nervenzehrenden Kopfschmerzen zum Trotz Klarheit in die Situation zu bringen. Georg seufzte leise. "Du hast Angst vor mir. Was kann ich tun, um mich als deines Vertrauens würdig zu erweisen?" Hideo blinzelte vornübergebeugt zwischen dem glatten Vorhang seiner schwarzen Haare hervor, noch immer misstrauisch. Georg ließ diese verstohlene Musterung geduldig und ohne Regung über sich ergehen. "Was... was würdest du tun, wenn du ihn findest?", begehrte Hideo schließlich halb verborgen zu wissen. "Ich werde ihn töten." Die Worte hingen schwer im Raum, betäubend. Georg beendete endlich das ungemütliche Schweigen sachlich. "Ich sollte es dir vielleicht erklären. Selbstjustiz ist ein zweischneidiges Schwert, ganz klar. Ich kann zu meiner Verteidigung nur zwei Dinge anführen: erstens wird die Polizei ihn nicht so einfach stellen können. Es werden ergo noch mehr Menschen sterben müssen. Zweitens könnte seine Entdeckung meine ganze Familie in Gefahr bringen. Und das kann ich nicht zulassen." Hideo massierte sich mit beiden Händen die Schläfen. Er konnte spüren, dass das Bild nicht vollständig war, dass etwas Wesentliches fehlte, aber er war nicht länger fähig, einen klaren Kopf zu bewahren. Und so konzentrierte er sich auf den vordringlichsten Aspekt. "Wirst du mich auch töten?" Georg wich Hideos Blick nicht aus, beharrte aber nicht auf einem stummen Duell. Die Beine übereinander schlagend verlagerte er leichthin seinen Sitz, strich sich automatisch über die Stirn. "Das würde ich nur ungern tun. Es gibt eine Menge Menschen, die um die besondere Beschaffenheit meiner Familie wissen. Du könntest einer von ihnen sein. Aber oberste Priorität hat die Bewahrung des Geheimnisses, bis es der Wissenschaft gelungen ist, diese genetische Abweichung zu korrigieren. Und dafür muss manchmal ein Opfer gebracht werden." Hideo kicherte humorlos, verbittert. "So so... und wann wandele ich mich von Nutzen zu Bedrohung?" Doch bevor Georg ihm antworten konnte, feuerte er einen zornigen Blick auf ihn ab, schnitt mit einer heftigen Geste jede Antwort ab. "Damit ich das auch richtig begreife: du verlangst meine Hilfe bei der Suche nach einem wahnsinnigen Mörder, erklärst mir ohne Umschweife, dass du ihn umbringen willst und alles tun würdest, um dieses abartige Geheimnis zu bewahren?! Aber ich soll dir vertrauen und keine Angst haben." Der letzte Satz tropfte förmlich vor Sarkasmus. Hideo kämmte sich die glatten, schwarzen Haare hinter ein Ohr. "Ich könnte mich auch gleich dem Killer vorstellen", bemerkte er ironisch. Georg blieb unbewegt, atmete dann tief durch, mit der Geduld eines Lehrers, der einem störrischen Kind eine wichtige Lektion zu erteilen hatte. "Es gibt einen Unterschied. ICH würde dich in einem Augenblick, ohne Schmerzen, töten." Hideo starrte einfach nur, weniger fassungslos als zutiefst ermattet. Georg erwiderte seinen Blick offen und ohne ein Zögern. Endlich schüttelte Hideo den Kopf, langsam, nachdrücklich. "Nein, ich weiß keinen Grund, warum ich dir vertrauen sollte. Du kündigst hier vor mir eiskalt einen Mord an und bedrohst mich ebenfalls mit dem Tod. Wenn du den Mörder willst, such ihn selbst!" Damit schlug er die Decke zurück, kletterte auf der abgewandten Seite aus dem Bett, näherte sich vorsichtig dem Stuhl und sammelte seine Kleider ein. Um sich, von Georg durch die Breite des Bettes getrennt, rasch anzukleiden. Georg starrte währenddessen versonnen auf die Stelle, wo Hideo gelegen hatte. Dann fragte er leise, "aber dir ist doch klar, dass du das nächste Opfer wirst, oder? Wie willst du dich schützen?" Hideo zuckte gleichgültig mit den Schultern. Er erkannte, dass er trotz des Schlafes seine letzten Energiereserven nutzte. "Das ist nicht dein Problem." Georg wandte den Kopf, stellte die Beine nebeneinander. "Ich fürchte doch! Ich habe mir versprochen, dass ich keinen weiteren Mord zulassen werde. Also kann ich auch nicht zulassen, dass er dich erwischt." Hideo zog die Lederhose über seine schlanken Hüften. "Deine Versprechungen gehen mich nichts an. Lass mich damit in Ruhe!!" Georg erhob sich langsam, fast in Zeitlupe, offenkundig, um auf Hideo nicht bedrohlich zu wirken. "Bist du so sicher, dass du dich selbst retten kannst? Oder bist du lebensmüde?" Hideo schlüpfte in sein Sweatshirt. "Lass mich in Ruhe! Ich schulde dir nichts, also hau aus meinem Leben ab, klar?!" Er band die Schnürstiefel zu und ergriff seine Jacke, kontrollierte den Inhalt. Der seltsame Vampir-Spinner hat nichts entnommen, registrierte er ein wenig überrascht. In die Jacke gleitend wie eine zweite Haut hielt Hideo auf die Tür zu, mit federndem Schritt, auf eine Attacke gefasst. Er hatte das unwirkliche Gefühl, sich in einem schlechten Hollywood-Film zu befinden, gleich musste etwas geschehen... Blitzartig materialisierte sich Georg neben ihm, packte ihn hart am Ärmel. "Bitte, überlege es dir noch mal!", forderte er eindringlich. Hideo schüttelte Georgs Hand ab, ohne ihn anzusehen. "Er wird mich nicht kriegen, weil ich nicht mehr zurückgehe." Damit floh er zur Tür hinaus auf den offenen Gang und hetzte die Feuertreppen hinab auf die Straße, wo er sich rasch in den spärlichen Strom der Passanten mischte. ^w^ Nach Hideos Einschätzung konnten nicht mehr als zwei Stunden vergangen sein. Aber dies bezog sich allein auf die Wahrnehmung des violett gefärbten Himmels und des von einer frischen Pulverschicht bedeckten Schneeharsches. Die Schultern hochgezogen eilte er wie all die anderen schattenhaften Passanten von einer Aura der Unsichtbarkeit umweht nach Hause. Während seine Glieder trotz der erholsamen Ruhe in dem warmen Motelbett langsam taub wurden, jagten sich in seinem Kopf Vermutungen und Schlussfolgerungen ohne Unterlass im Kreis. »Gesetzt, er ist, was er vorgibt, wieso ist niemandem das bekannt?« »Blödsinn, das gibt es doch gar nicht! Keiner kann so etwas geheim halten!« »Aber wenn nun doch..?!« »Mach dich nicht lächerlich, Hideo, das war ein perverser Spinner! Vielleicht glaubt er sogar den Unsinn, den er da verzapft hat, aber so bescheuert kannst DU nicht wirklich nicht sein!« »Aber...« "Aber wie konnte er mich finden?!", grübelte Hideo laut, erschrak über seine raureifbedeckte Stimme. Wie ein Mensch, der sich dabei ertappt, Selbstgespräche zu führen und sofort mit galoppierender Demenz rechnet. Eine Tatsache war zumindest nicht zu bestreiten: dieser merkwürdige Mann, Georg, hatte ihn trotz einer wilden Flucht in der Dunkelheit über das labyrinthartige Bahngelände bis zum Spielplatz verfolgt und aufgestöbert. Nicht einmal ein Nachtsichtgerät hätte die Hindernisse auf dem Weg durchdringen können und Hideo hatte starke Zweifel, dass ein Sender, wie in Kinofilmen in Gebrauch, Georg direkt zu ihm geführt hätte. Dennoch hatte der es geschafft, nach einem tiefen Messerstich in die Seite. »Er hätte verbluten müssen«, stellte Hideo leidenschaftslos fest, ballte in den Jackentaschen die Fäuste, biss den Schauer über seinem Rücken erbarmungslos weg. Sicherlich war es kein Ding der Unmöglichkeit, mit einer solchen Wunde einige Entfernung zurückzulegen, aber in diesem Tempo und dann noch ohne das geringste Anzeichen von Rachsucht?! Hideo musste konstatieren, dass er für dieses Gebaren keine schlüssige Erklärung hatte. Möglicherweise war Georg tatsächlich ein Mann mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Nun, wenn man diesen Part akzeptiert hatte, war es nicht sonderlich schwer zuzugeben, dass er Hideo in realitas gebissen hatte. Die üblicherweise elastische Haut förmlich durchstochen, jedoch ohne eine sichtbare Wunde zu hinterlassen. Und Hideo war ohnmächtig geworden, was eine zynische Stimme in seinen Gedanken keineswegs auf den Spock'schen Betäubungsgriff zurückführte. Hideo konzentrierte sich auf die letzten Wahrnehmungen. Nein, Georg hatte mit der Linken den Jackenkragen hinuntergezogen, um Hideos Hals freizulegen. Die Rechte hatte derweil Hideos Taille umklammert, aber ein Schlag oder massive Gewalt hatte Georg nicht ausgeübt. Wenn nun sein Biss oder sein Speichel derart beschaffen war, dass er Menschen heilte oder betäubte?! Hideo kollidierte abgelenkt mit der Pforte, schwang sie lautlos auf und suchte nach seinen Schlüsseln. Das ergab in der Summe überhaupt keinen Sinn. Er öffnete die Tür und schlüpfte herein, in der Gewissheit, dass zu dieser Stunde am Neujahrstag sicherlich niemand wach war. Welches Interesse hatte Georg daran, dass er, Hideo, dem Mörder entging? Hideo huschte gewohnt geschmeidig die Treppe hinauf zu seinem Zimmer, wo er sich die Kleider vom Leib zerrend in Unterwäsche in sein klammes Bett einwickelte. Seine Stirn glühte gegen die kühlen Laken. Dennoch waren seine Gedanken in diesen Augenblicken kristallklar. Nein, Georg hatte kein Interesse an ihm, aber er brauchte Hideo. Die Frage war nur, warum? Und warum war Georg so sicher, dass der Mörder nach ihm suchen und ihn auch finden würde? ^w^ Der Vormittag des ersten Tages im neuen Jahr verlief in betäubender Zeitlosigkeit, dehnte sich schier ins Unendliche. Hideo verbrachte, nach nur drei Stunden unruhigen Schlafs, den Tag auf seinem Bett. An die Wand gelehnt aus dem Fenster starrend, wo sich in dieser Höhe nur die mit Frost und Schneeresten beklebten dürren Äste einer Erle fanden, vor einem schiefergrauen, sonnenlosen Horizont. Seine Gedanken, in der Nacht überschlagend und brillantenklar, waren nun bleischwer und bar jeden tieferen Sinns. Eigentlich ähnelte sein Zustand eher einer Zen-Übung bemühter geistiger Leere. Diese wurde jäh unterbrochen, als nach energischem Klopfen seine Mutter, wie gewohnt herausgeputzt, sein Zimmer betrat. Verkündete, dass man der spontanen Einladung von Freunden Folge leisten und einige Tage in einem Schweizer Chalet verbringen würde. Selbstredend schloss diese Reise Hideo nicht mit ein, was dieser ohne Gemütsregung zur Kenntnis nahm, hatte er Ähnliches schon erwartet. "Du wirst sicherlich problemlos die Zeit sinnvoll ausfüllen, nicht wahr?" Hideo verkniff sich eine Antwort, die ohnehin nur Protokollcharakter gehabt hätte, da seine Mutter das Zimmer schon verlassen hatte. Er hatte sich damit eingerichtet, sein Leben allein zu gestalten und nur für sich selbst einzustehen, auf keine Hilfe von Dritten zu bauen, Mirko einmal ausgeschlossen. Hideo legte den Kopf in den Nacken und starrte stumm an die Decke. Ja, Mirko war in der Tat nun nicht mehr auf der Rechnung. ^w^ Es musste wohl gegen Mitternacht sein, schoss Hideo durch den dröhnenden Kopf, als er die verklebten Augen aufzwang. »Eingeschlafen, aber nicht erholt«, lautete die Bestandsaufnahme der körperlichen Situation. Die Kehle aufgeraut wie Schmirgelpapier hustete Hideo krampfhaft trocken, quälte sich mit pfeifenden Lungen aus seinem Bett und schleppte sich eine Etage tiefer in die Küche. Das Haus lag verlassen und still. Durch das vergitterte Fenster drang der sanfte Schein einer frischen Schneeschicht, pulvriges Weiß. Hideo rührte sich mit viel Zucker einen Instantkaffee an, schob das Gemisch in die Mikrowelle und wartete, sich die Schläfen massierend, dass ein kurzes, akustisches Signal ihm den Abschluss des Aufheizens ankündigte. Nun noch hochprozentige Kaffeemilch unterrühren, und fertig war sein persönlicher Muntermacher und Schmerzkiller. Mirko hatte immer darüber gespottet, die Geschmacklosigkeit der Mixtur betont, aber Hideo ließ sich nie davon abbringen. Tatsächlich weckte die koffeinhaltige Melange seine Lebensgeister wieder, trieb der Zucker seinen Kreislauf an. Eine weitere Folge bestand darin, dass sich eine unangenehme Wachsamkeit einstellte. Nicht unbedingt das Beste kurz vor Mitternacht und in regenerationsbedürftigem Zustand. Andererseits war Schlaf eine solche Seltenheit geworden, dass Hideo nicht daran glaubte, diesen zu erlangen, wenn er sich einfach im Bett treiben ließ und seinen aufrührerischen Körper ignorierte. Er wischte sich Strähnen hinter die Ohren und stromerte ziellos durch das Haus, die Fingerspitzen glitten über Möbel und an Tapeten vorbei. Die Schattenspiele, das Rauschen seines Blutes in seinen Ohren, die pochenden Schläge der Kopfschmerzen: all dies bedrückte ihn plötzlich, erstickte ihn förmlich. Als würden die Räume vor seinen Augen zusammenschnurren. Hastig kehrte er in sein Zimmer zurück, riss das Fenster auf, atmete die schneefeuchte Luft tief ein. Langsam fasste er sich wieder, betrachtete die friedvolle Idylle inmitten des leisen Schneefalls. Trödelnde Flocken tanzten müßig vom Himmel herunter. Man konnte glauben, dass alles sicher war, in diesem Augenblick, perfekt und voller Harmonie. In diese Versenkung brach brutal ein metallisches Knirschen ein, nicht unbedingt geräuschvoll, aber doch wahrnehmbar. Hideo erstarrte, ein eisiger Schauer prickelte über seinen Rücken. Er konnte einen Schatten wahrnehmen, der sich an der Hausecke, vor der Eingangstür bewegte. »Ein... Einbrecher?! Die Alarmanlage!!« Hideo wich eilig vom Fenster zurück, huschte auf Zehenspitzen aus seinem Zimmer in den Flur. Tatsächlich, da war etwas... jemand im Haus!!! "Diese verfluchte Alarm..." Hideo klatschte sich auf den Mund, seine grauen Augen weiteten sich entsetzt. Seine Eltern vergaßen niemals die Anlage zu aktivieren. Der Eindringling hatte sie also ausgeschaltet. Was nicht so einfach war. Und nun befand er sich im Haus!! Hideo wich in sein Zimmer zurück, seine Gedanken rasten. »Polizei... Telefon!!« Aber er wagte nicht, die Klinke herunterzudrücken und in das Schlafzimmer seiner Eltern zu flüchten, wo sich ein Zweitapparat befand. Der Einbrecher konnte schon auf der Treppe sein... Hideos Instinkt war überzeugt, dass dies kein Räuber oder normaler Einbrecher war. Schließlich bevorzugten diese Tagarbeit und leere Häuser. Nur eine Person konnte ein Interesse daran haben, in der Nacht hier einzudringen. Bevor sein Verstand sein Herz einholte, hatte er sich seine Jacke übergeworfen, war in die Turnschuhe, die neben der Sporttasche lagen, geschlüpft und kletterte auf die Fensterbank. Der Ahorn wirkte in seiner Nacktheit mit der glasigen Frostschicht und dem flaumigen Neuschnee nicht gerade sicher, aber es war Hideos einzige Option. Ein energischer Sprung... und seine bereits klammen Hände fassten einen starken Ast, die vereiste Borke riss ihm die Innenflächen blutig. Ein Schwall von Adrenalin, ausgelöst durch seine panische Furcht, jagte ihn geradewegs durch das spärliche Geäst. Ein halbwegs elastischer Fall... und Hideo rollte sich instinktiv in den Schnee ab. Sich aufrappelnd bemerkte er, wie die Gardine an seinem Fenster eingefangen wurde. Ohne Zögern kehrte er seinem Elternhaus den Rücken zu und rannte davon. ^w^ Die Turnschuhe glitten immer wieder auf dem harten Boden unter dem nachgiebigen Neuschnee aus, bereits arktisch kalt und Wasser durchlassend. Hideo grub die sicherlich bläulich verfärbten Fingernägel in das Futter seiner Jackenärmel, bemühte sich, in den Kragen zu atmen, um nicht gefrierendes Kondenswasser auf sein Gesicht zu bekommen. Seine Hoffnung war das magentafarbene Leuchten am Ende der Straße, das Zuflucht und Rettung versprach. Die Telefonzelle, noch nicht durch die einfachen Säulen ersetzt, verhieß einen Unterschlupf und die Gelegenheit, Hilfe zu rufen. Hideo riss die Tür heftig auf und versteinerte vor Entsetzen. Ein erstickter Wehlaut entfloh seiner Kehle. Vandalen hatten in ihrem primitiven Zerstörungstrieb seine vermutlich einzige Chance auf Beistand mit abscheulicher Gründlichkeit vereitelt: Hörer und Telefon waren vollkommen zertrümmert worden. Nicht einmal der Notrufhebel hatte dem Ausbruch der anarchischen Gewalt widerstehen können. Hideo drängte sich aus der Zelle, gewahrte im Augenwinkel eine schattenhafte Gestalt, die sich rasch näherte, die Deckung von Bäumen und geparkten Fahrzeugen überaus geschickt nutzte. Auf dem Absatz kehrtmachend hetzte Hideo weiter, schlitternd, mit den Armen um Balance rudernd, stieß Atemwolken in die frostige Atmosphäre. Er rannte ferngesteuert, ohne bewussten Entschluss, folgte einfach seinen Füßen, die dem Fluchttrieb Folge leisteten. ^w^ »Menschen! Ich muss unter Menschen!!« Der Gedanke blitzte leuchtend in der flackernden Schwärze vor seinen Augen auf, von hellen Stellen durchnetzt, die ihm das Ausweichen vor Hindernissen ermöglichte. Seitenstechen und pfeifender Atem, er war wirklich nicht in der Form, irgend jemandem zu entkommen, sein Kreislauf drohte bereits mit Boykott. Zwar war ihm vage bewusst, dass auch eine Menschenmenge dank ihrer Anonymität nur zweifelhafte Rettung bot. Aber es war zumindest eine bessere Alternative, als planlos durch verlassene Straßen zu fliehen, um dann in einer Schneewehe getötet zu werden. Energie flammte erneut in Hideo auf. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich lebendig, letterte die Erkenntnis, dass er keineswegs sterben wollte, in seinen Gedanken übergroß. Was auch immer erforderlich war, er wollte überleben, davonkommen, nicht verlöschen in der Gleichgültigkeit dieser Nacht!!! Mit zusammengebissenen Zähnen bog er in ein Viertel ein, das ihm wohlvertraut war. Das Bahnhofsviertel, das er geschworen hatte zu meiden. Zwei Straßen noch, dann hätte er den Bahnhof selbst erreicht, den Sicherheitsdienst dort, die bewachte Lobby, die Polizeistation. »Ich schaffe das!!«, feuerte er sich an, ignorierte das sich verlierende Gefühl in seinen Beinen in der dünnen Jogginghose. Die Abkürzung durch einen Hinterhof, dann durch ein unverschlossenes Tor... Vollkommen unerwartet wurde Hideo gegen einen massigen Müllcontainer geschleudert und brach in die Knie. "Hey, Hannes, was haben wir denn hier? Babydoll hat sich wohl verlaufen." Hideo wimmerte unwillkürlich, als seine tauben Finger ungeschickt die Platzwunde an der Stirn streiften, ungläubig die blutigen Spuren betrachteten. Aber zur Besinnung blieb ihm keine Zeit. Kräftige Hände warfen ihn erneut gegen eine roh verputzte Hauswand, dann hielten sie ihn aufgespießt wie ein Insekt in einem Glaskasten. "Komm schon, Manni, mach hin!", drängte eine zweite, leicht schleppend intonierende Stimme an Hideos Ohr, der mühsam nach Atem rang. Wollten sie Geld?! Er würde es ihnen geben, nur mussten sie ihn gehen lassen, bevor das Monster kam!! Hideo setzte zu einer entsprechenden Äußerung an, als ihm etwas Stinkendes, Wollenes gewaltsam zwischen die Kiefer gedrückt wurde. Röchelnd und würgend krampfte sich sein ganzer Leib zusammen, um dann zu Eis zu erstarren. Eine fremde Hand hatte verlangend vorne in seine Hose gegriffen und seinen Penis umklammert. Hideo stöhnte vor Schmerz, während sein Verstand Amok lief. Er wollte flehen, betteln, sich erniedrigen, nur das nicht! "Hier, nimm den verdammten Gummi und bring's hinter dich! Ich frier mir noch die Eier ab!" Hideo wand sich gegen die starken Hände, stemmte sich gegen die Hüften, die sich gegen seine eigenen drückten. Durch den dünnen Stoff spürte er einen harten Körper, im Augenwinkel die zweite Gestalt, möglicherweise damit beschäftigt, sich ein Kondom an entsprechender Stelle überzustreifen. Hideo kämpfte gegen die lähmende Resignation an, gegen den einlullenden Gedanken, nachzugeben und anzunehmen, es einfach hinter sich zu bringen. Ballte seine Kräfte zusammen, auf die Möglichkeit lauernd, die der Wechsel der Männer offerieren könnte. Doch bevor er noch diesen verzweifelten Versuch umsetzen konnte, drang ein ersticktes Keuchen an sein Ohr, ein verwirrter Ausruf und dann war er unerwarteterweise frei. Sich hastig herum werfend fand er sich einer vertrauten Gestalt gegenüber, die einen Wagenheber schwenkte und drohend über den zwei verhinderten Vergewaltigern stand. Georg van Stetten. ^w^ Kapitel 3 - Die Wahrheit über Vampire "Schnell!" Georg zerrte Hideo am Jackenärmel mit sich, ohne Abschiedsblick für die Niedergestreckten, im Laufschritt durch den schlauchartigen Gang, der als Zufahrt diente. Wie immer lehnte das Tor nur an, sie schlüpften eilig hindurch und fanden sich auf einer Stichstraße wieder, in Neonlicht getaucht. "Mein Wagen steht dort!" Georg schob Hideo rasch über die Schneewellen zwischen den geparkten Autos über die glatte, unbestreute Straße, wies auf einen unauffälligen PKW. Hideo stolperte mehr, als er lief, aber es gelang ihm, ohne Sturz die Beifahrerseite zu erreichen. Er musste jedoch warten, bis Georg ihm die Tür aufstieß, da seine eigenen, klammen Finger nicht mehr fähig waren, den Mechanismus auszulösen. Ohne Rücksicht preschte Georg unangeschnallt aus der Parklücke, rutschte in hohem Tempo die Schneefläche hinab bis zur nächsten Kreuzung. Hideo kauerte sich vorgebeugt zusammen und konzentrierte alle Anstrengung darauf, nicht das Bewusstsein zu verlieren. "Guter Gedanke, bleib ruhig unten, dann sieht man dich nicht. Ich werde zu meinem Motel fahren, damit wir uns in Ruhe beraten können. Ach, und nimm dir bitte ein Taschentuch aus der Ablage. Das ist ein Mietwagen und Blutflecken machen sich nicht so gut." Hideo kramte blind nach den Zellstofftüchern, zerrte eines hinaus und drückte es mit zusammengepressten Lippen an seine Stirn. Hatte Georg tatsächlich herablassend geklungen, oder musste er dies seiner überreizten Wahrnehmung zuschreiben? ^w^ »Schon wieder eine Zimmerdecke«, stolperte der Gedanke müßig in Hideos Kopf herum und trieb ihm ein wahnsinniges Grinsen in die vereisten Züge. "Alles okay?" Georg beugte sich nach vorne, um Hideos streunende Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Hideo entkrampfte gewaltsam seine Miene und gab einen nichtssagenden Laut von sich, der den anderen beruhigte. »Ich muss nachdenken«, hämmerte es nun in Hideos Schädel. Eine sich hysterisch steigernde Forderung, der er sich nicht verschließen wollte, ihr aber in seinem derzeitigen Zustand nicht nachgeben konnte. Er musste Zeit gewinnen, eine Atempause, um alles zu bewerten, was geschehen war. Diese bohrenden Kopfschmerzen ausschalten, den Bodennebel in seinem Bewusstsein auflösen. Sein Instinkt tobte noch immer alarmiert, alles war unwirklich, konnte nicht stimmen, wie ein Lied im falschen Rhythmus. Gleichzeitig jedoch versprühte Georg förmlich eine Aura von Aktionismus, von unwillig unterdrückter Eile, die neben Hideo wie ein Leuchtfeuer brannte. »Konzentrier dich«, ermahnte er sich, »das ist kein Film, das ist real. Verschaff dir Zeit!« Mit einem leichten Keuchen richtete sich Hideo auf, ignorierte das Schwindelgefühl, das die pochende Wunde auslöste. "Wie hat er mich gefunden?", begehrter er, zu seiner eigenen Überraschung trotz rasendem Puls äußerlich kalt zu wissen. Georg rieb sich über die Nasenwurzel, offenkundig enerviert, antwortete aber geduldig. "Ich sagte doch, er ist gerissen. Er liest sicher auch Zeitung." "Mein Name erscheint nirgends, niemand kennt mich dort. Wie also hat er mich aufstöbern können?" Hideos raue Stimme verbarg sein Misstrauen nicht. Georg zog eine Grimasse. "Liebe Güte, Junge, was glaubst du wohl, was er getan hat?! Vielleicht bei den Eltern dieses anderen Jungen angerufen und nach seinem besten Freund gefragt? Vielleicht im Schulsekretariat?" Er lehnte sich zurück, die Beine übergeschlagen, die Ellenbogen auf der Sessellehne aufgestützt, ein arrogantes Dreieck mit den Fingern vor seiner Nase bildend. "Aber wenn du glaubst, ich hätte dich an ihn verraten, dann erkläre mir doch bitte, warum ich dir geholfen habe?" Hideo war versucht, sich dumm zu stellen, mit den Schultern zu zucken, aber eine innere Stimme warnte ihn, zu leichtfertig die Gelegenheit verstreichen zu lassen, Georg unter Druck zu setzen. Dass dieser ihm nicht aus Sympathie half, hatte er nun nur zu gut begriffen. "Ich denke, du hast mir geholfen, weil du weißt, dass ich der beste 'Köder für die Bestie' bin", formulierte Hideo spitz. Nur seine grauen Augen ein Spiegel seines Argwohns, das engelhafte Gesicht noch immer reglos. Georg lächelte einschmeichelnd. "Das hört sich so an, als ob du mir unlautere Ziele unterstellst", kommentierte er betont jovial, aber Hideo war auf der Hut. "Was will dieser Kerl von mir? Ihm muss doch klar sein, dass ich ihn nicht gesehen habe, nicht identifizieren kann. Warum verfolgt er mich so hartnäckig? Und warum erst jetzt?? Wo hat er sich verkrochen?" Hideo schleuderte die Bettdecke von sich, stemmte sich von der durchgelegenen Matratze hoch. Er fühlte trotz seiner schwächelnden Konstitution wieder den Impuls des Überlebenswillens, der ihn zur Flucht vor dem Killer getrieben hatte und nun nicht zuließ, dass er sich mit oberflächlichen Antworten zufrieden gab. Georg, der in sitzender Position optisch Hideo unterlegen war, zog die Augenbrauen zusammen, wischte sich unwillig die unbändige Locke aus der Stirn. "Darüber kann ich nur spekulieren, aber wie es aussieht, benötigt er nicht nur Blut, sondern auch sexuelle Befriedigung. Vielleicht erregt ihn die Vorstellung, den Jungen zu finden, dessen Freund er schon getötet hat?! Wer weiß, er ist wahnsinnig, da gibt es viele Motive!" Hideo trat an das Fenster, rieb sich über die nackten Unterarme, schob dann die billige Gardine beiseite und spähte auf die Straße. Es klang plausibel, was Georg da entwarf. Er ließ die Gardine zurückschnappen und durchquerte gedankenverloren das spärlich möblierte Zimmer, um seine Jacke überzustreifen. Dann nahm er auf der Bettkante Platz und sah Georg auffordernd an. "Du sagtest, du hättest einen Plan?" Georg lächelte fein, seine nachtschwarzen Augen glanzlos, jedoch die pointierten Augenbrauen verrieten seinen Triumph. ^w^ Hideo rollte sich in einen abgenutzten Sessel zusammen, die Arme fest vor seiner Brust verschränkt, noch immer in die schützende Daunenschicht seiner Jacke gehüllt. Georg trat an die Haken, die an der Tür angebracht waren, nahm seinen Trenchcoat herunter und schlüpfte mit mühelosem Geschick hinein. "Wohin willst du?!" Hideos Stimme vibrierte vor Misstrauen. Georg musterte ihn knapp. "Ich habe Besorgungen zu machen. Außerdem muss ich mein Büro kontaktieren. Es wird nicht lange dauern." Bevor Hideo weitere Proteste einlegen konnte, schlug Georg die Tür hinter sich zu. Und verschloss sie. Hideo ballte die Fäuste, unterdrückte aber jede laute Äußerung. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, mit sich allein gelassen zu werden, bot sich doch nun die Gelegenheit, alles zu überdenken. Nach Georgs Vorstellung würde ihr Gegner nicht allzu lange brauchen, bis er erkannte, dass Hideo Hilfe bei seiner Flucht hatte. Hideos Einwand, jener möge sich in diesem Fall klugerweise zurückziehen und ein anderes Opfer suchen, wurde von Georg abgeschmettert mit der Behauptung, dass Hideo zu einem Wunschziel geworden sei, einer fixen Idee. Wenn man Georg unterstellte, in diesem Punkt aufrichtig gewesen zu sein, so ergab sich nun das Problem "wie den Killer unschädlich machen?" Und das möglichst ohne großes Aufheben und vor der Rückkehr seiner Eltern... »Himmel!!« Hideo schlug sich an die Stirn, was der pochenden Wunde nicht guttat. Wenn die Alarmanlage abgeschaltet war, die Haustür offen stand: ein Einbruch war kaum zu vertuschen. Er würde sich unangenehmen Fragen stellen müssen und das würde letztendlich seinen Nebenerwerb aufdecken. Entsprechend Murphy's Law. "Verdammt!" Hideo kaute auf dem Knöchel seines Zeigefingers und beriet sich mit den Stimmen in seinem Kopf. Der Schleifer brüllte, er solle sich davonmachen und zumindest das heimische Schlachtfeld in Ordnung bringen. Was von der irrlichternden, kichernden Stimme in Hideos Hinterkopf euphorische Unterstützung erhielt, bot das doch die beste Aussicht, erneut dem lauernden Mörder in die Hände zu spielen. Hideo knurrte unwillig und begann, im Zimmer auf und nieder zu gehen. Zu Recht war es besser, nicht nach Hause zurückzukehren, auch wenn möglicherweise das Schlamassel sich dadurch noch potenzierte. Tagsüber mochten die Chancen besser stehen, jedoch würde er sich sicherer fühlen in dem Bewusstsein, dass das Monster erledigt war, nur seine eigenen Dämonen ihn erwarteten. Georgs Plan war nur grob skizziert, was den Ablauf betraf, aber die Grundzüge waren simpel genug. Hideo als Köder, Georg im Hintergrund, der seine nicht unerheblichen Kräfte mit einem Vorschlaghammer in Aktion bringen wollte. Die Frage war nur, zumindest was Hideo betraf, ob Georg lieber den Mörder über einer Leiche, nämlich Hideos, tötete, oder ob er ihn danach als unliebsamen Mitwisser entsorgte. "Ich brauche eine Sicherheit, eine Garantie, dass er mich am Leben lässt", summierte Hideo. Zwang sich, dies als theoretische Herausforderung zu betrachten, nicht die realen Konsequenzen einzubeziehen. Wenn er dem Monster Paroli bieten konnte, dann musste er Entsprechendes auch bei Georg erreichen. ^w^ Hideo schreckte aus einem bleischweren, traumlosen Schlaf hoch, als Georg die Zimmertür hinter sich zuschlug. Er wirkte selbstzufrieden und gelassen, rieb sich die rot gefrorenen Hände energisch und lächelte Hideo zu. "Hier!", reichte er eine stark riechende Papptüte herüber. "Ich hoffe, du magst es. Leider konnte ich auf die Schnelle nichts Besseres finden." Hideo sog das fast Übelkeit erregende Aroma von Bratfett und vorgefertigten Dressings mit Essig in sich ein. Spürte den vagen Stich von Sehnsucht nach geistloser Entspannung und Geborgenheit. Fast Food als Ersatz für Soul Food. "Danke", bemerkte er höflich, angelte aus der durchweichenden Tüte einige noch dampfende Pommes Frites heraus, kaute sorgfältig und genoss die Mischung aus Salz und Frittierfett. Georg schlüpfte aus seinem Trenchcoat, warf diesen über eine Stuhlkante und setzte sich zu Hideo auf die Bettkante, strahlte wieder diese Mischung aus Aktionismus und Ungeduld aus, die Hideo beunruhigte. "Ich würde gern den Plan erläutern, während du dich stärkst." Georg wippte unwillkürlich auf der nachgiebigen, altersschwachen Matratze. Hideo zog die Augenbrauen zusammen, der Schleifer in seinem Hinterkopf nahm Habachtstellung ein. ^w^ Hideo zwang sich, nicht dem Impuls nachzugeben, die Haare hinter die Ohren zu stecken, um sein Gesichtsfeld zu erweitern. Das Pflaster, das seine Stirnwunde bedeckte, juckte zu allem Überfluss enervierend, wollte nicht wie der gesamte Rest seines Körpers in den Kälteschlaf fallen. Er schlug die Arme aufeinander, um sich aufzuwärmen und den Kreislauf in Schwung zu halten. Wenn er jemals eine starke Konstitution benötigt hatte, dann in den folgenden Minuten seines Lebens. Sollten es nicht die letzten werden. ^w^ Die Bahnhofsuhr verkündete vier Uhr in der Nacht, denn ein Morgen stand nicht zu erwarten. Es nieselte eisige Flocken, von Regenschwaden durchsetzt. Die spärliche Dekoration in weihnachtlichem Gepränge wirkte schlapp und trübe, im Schneetreiben kaum kenntlich. Dennoch vibrierte der Bahnhof vor Leben, die Feiertage vergangen kehrten Reisende aus Urlaubstagen zurück, kamen die ersten Pendler in die Stadt. Hideo empfand den Wirbel um diese Uhrzeit als ungewohnt. So spät oder auch früh hatten sie sich hier nie aufgehalten. Er verkrampfte die Fäuste in den Jackentaschen, als er Mirkos Bild ungerufen vor seinen Augen sah. Und dann die Silhouette im Schnee, streichholzflammenbeschienen. Tief durchatmend verbannte er das Bild in die Schublade, wo seine Dämonen reichhaltige Vesper hielten, erneut dankbar, dass sein spärlicher Schlaf immer traumlos blieb. Oder seine Erinnerung daran schnell verging. Von der großen Halle aus führte ein Seitenausgang hinaus in die Nebenstraße, wo er üblicherweise zu arbeiten pflegte. Hideo stapfte durch die Betonröhre in die undurchdringliche Nacht hinaus. ^w^ "Verdammt!", fluchte er eine halbe Stunde später, gefrierendes Eis in den Haaren, vollkommen steif durch die arktische Kälte, von aufpeitschendem Wind noch angetrieben. Die Unentwegten, Drogensüchtigen, Alkoholiker, Verzweifelten, Seelenlosen: sie alle leisteten ihm hier Gesellschaft. Was jedoch fehlte, war der unheimliche Schatten. »Wieso lässt sich dieser Arsch so viel Zeit?!« Hideo war versucht, in die verwirbelte Atmosphäre hinaus zu brüllen. Er sah seine Chancen auf effektive Gegenwehr sinken, wenn er noch länger in der unwirtlichen Kälte ausharren musste. Er spürte, wie seine Nerven, bereits bei jedem sich nähernden Schatten alarmiert, rapide ausfransten, eine hysterische Überreaktion sich anbahnte, wenn er nicht rasch auf Abhilfe sann. Kurzentschlossen wagte er sich aus seiner Nische und stampfte durch den verharschten Matsch am abgesperrten Bahngelände entlang. Stemmte sich gegen den arktischen Wind, kämpfte um jeden zurück rutschenden Schritt. Vielleicht war es dem Killer zu belebt? Wie auch immer, er musste in Bewegung bleiben! In seiner rechten Hand umklammerte er seinen potentiellen Lebensretter. Unwirklich verwischt vor ihm mussten sich die Abbruchhäuser befinden, eine schwarze Masse vor einer nächtlichen. Folgte ihm jemand? Hideo sah sich um. Er hatte nicht vor, den Killer in Sicherheit zu wiegen, immerhin würde dieser kaum annehmen, dass Hideo dumm genug war zu glauben, er sei außer Gefahr. »Ich könnte jetzt einfach in die nächste Straße einbiegen, diese hinunter laufen und dann den Polizeiposten dort ansprechen...« Dieser Gedanke hatte etwas bestechend Verführerisches. Die Polizei würde seinen Verfolger festnehmen, man würde ihn verurteilen und anklagen, und dieser Georg hätte keine Möglichkeit, ihn als Mitwisser bei dem ach so wichtigen Geheimnis zu töten. Hideo seufzte. Das Problem bei einfachen Lösungen bestand immer darin, dass man felsenfest auf sie vertrauen können musste. Wie sollte er einem Polizisten erklären, dass ihm ein Mörder auf den Fersen war, wenn sie niemals am Tatort Spuren gefunden hatten, die ein Täterprofil mit Chancen auf Identifizierung ergeben hatten? Abgesehen davon würde die Offenlegung der Umstände nicht nur seine Eltern kompromittieren und ihm erhebliche Schwierigkeiten einbringen, sondern auch ... Hideo zuckte zusammen. Er hatte sich in Selbstmitleid verloren und nicht mehr auf seine Umgebung geachtet. Alarmiert drehte er sich wachsam im Kreis, spähte in den dichten Vorhang aus Schneeflocken und Regentropfen, suchte diesen auf Bewegung zu durchdringen. Niemand da. Einen Schritt zulegend hetzte er die verlassene Straße hinunter, an Trümmern und Autowracks vorbei, zwischen Baufahrzeugen und Schuttcontainern. Ein Schatten über ihm?! Hideos Kopf ruckte nach oben, schlitternd glitten die armseligen Turnschuhe aus, ruderten seine Arme wild. Der dünne Umhang trudelte in einer Böe, doch als Hideo dies realisierte, schlossen sich kräftige Arme um ihn. Stinkender Atem hüllte ihn in kondensierenden Dampf, als stechender Schmerz durch seine Wange jagte. ^w^ Hideo wehrte sich verzweifelt, aber wirkungslos. Etwas lähmte seine Glieder merklich, benebelte seinen Verstand. Mirkos Gesicht, seine gebrochenen Augen wirbelten vor ihm auf, trieben Adrenalin durch seinen Körper. Doch seine nächste Attacke lief ins Leere. Er wurde wie ein Stück Abfall mit beängstigender Mühelosigkeit durch die Luft geschleudert und schmetterte mit dumpfem Laut gegen einen mit Abraum beladenen Container. Hideo krümmte sich zusammen, rang um Atem. Sein Rückgrat brüllte vor Schmerz wie ein wildes Tier, presste Tränen in seine gefrorenen Augen. Wieder war der andere über ihm. Bloße Hände, Dreck starrend, zerfetzten blindlings Hideos Jacke, zerkratzten die schutzlose Haut darunter. "Geh weg!!" Hideo schrie schrill, panisch, schlug mit den Händen nach dem verhüllten Gesicht, krallte die Fingernägel in die wollene Strickmaske. Ein Schlag in den Magen raubte ihm für Sekundenbruchteile das Bewusstsein, aber sein Instinkt arbeitete unbeirrt weiter. Hieb ein Knie in den Schritt des Angreifers. Ein wehleidiges Heulen belohnte die Attacke. Hideo schob eine Hand in die zerrissene Jackentasche, auf der Suche nach Rettung. Seine mit Schneeflocken und Tränen verklebten Augen erfassten das unter verfilzten, langen Haaren verborgene Gesicht im Abglanz des schmutzigen Schnees, und Hideo ächzte. Die dämonische Fratze verzerrte sich in rasendem Zorn, eine gebogene Klaue zerriss mühelos Hideos Hose und Unterhose. Hideo erwachte aus der entsetzten Starre, stieß mit den Fingern nach den glanzlosen, nachtschwarzen Augen, die eigentlich in Wahnsinn leuchten sollten zur Warnung. Das Ungeheuer jaulte, ohrfeigte Hideo heftig, rammte die Fingernägel in dessen nackte Seite, tief in das Fleisch. Hideo hatte das Gefühl, er werde bei lebendigem Leib zerstückelt. Aber die Kälte, immer sein Fluch gewesen, rettete ihn nun, fror gefühllos, was eigentlich bis zur Ohnmacht schmerzen sollte. Die von harschem Schnee und Kieseln blutig gerissenen Ellenbogen in den Boden stemmend schraubte sich Hideo hastig hoch, das Kinn des Monsters mit seinem Hinterkopf rammend. Das Knacken des brechenden Kiefers entlockte Hideo ein triumphierendes Kichern, sinnentleert und geisterhaft. So übersah er die Klaue, die ihn wie eine Dampframme niederstreckte. ^w^ Schmerz unter einer Kristallglocke. Das zumindest nahm Hideo an, als er das Bewusstsein wiedererlangte, von einer glasartigen Frostschicht bedeckt, unter der fiebrig heiß Wellen der Agonie seinen wehrlosen Leib erschütterten. Sein unsicherer, verschwommener Blick fing den Tanz der Schneeflocken vor Schwärze ein, unendlich still und unaufhörlich wie ein Perpetuum mobile. In seinen Augenwinkeln registrierte er Bewegung, die das idyllische Treiben störte. Den lädierten Kopf drehend erkannte er seinen nackten Arm, flach ausgestreckt wie zur Kreuzigung. Dahinter kauerte eine Gestalt mit Trenchcoat und Borsalino über einer schwarzen, unförmigen Masse. In Reichweite ein gewaltiger Vorschlaghammer, mit Stoff-und Hautfetzen sowie trockenem Blut verunziert. Georg. Hideo zwang sich, mehr aus perfider Neugier als aus Überlebensdrang, die Arme an den gefühllosen Leib zu ziehen und sich herumzurollen. In seiner rechten Seite musste ein Loch sein... oder fühlte es sich nur so an, war er schon paranoid vor Schmerz? Langsam schoben sich seine Knie hoch, ungeschickt, roh, als müsste er unter Wasser mit Bleigewichten improvisieren. Georg schien ein Geräusch, eine Bewegung mitbekommen zu haben, denn er fuhr hastig herum, das Gesicht zu einer wütenden Maske verzerrt. Einen Fluch in einer Hideo nicht vertrauten Sprache ausstoßend stemmte er sich ab, umklammerte den Vorschlaghammer. Seine Absicht war offenkundig. Hideo rammte die Zähne aufeinander, suchte mit klammen Fingern nach seiner Lebensversicherung. "Bist du verdammter Scheißer immer noch nicht tot?!" Enervierte Frustration klang in der üblicherweise so kultivierten, jovialen Stimme mit. Den Hammer wie ein Fanal drohend über den Kopf geschwungen, eine selbstzufriedene Grimasse ziehend, bäumte er sich vor Hideo gigantisch auf. Dieser betätigte mit einem Fauchen den Auslöser des umgebauten Blitzgerätes. Einen überraschten Wehlaut ausstoßend taumelte Georg vom Gewicht des Hammers mitgerissen einige Schritte zurück, ließ diesen fahren, um beide Handteller wimmernd auf die Augen zu pressen. Hideo torkelte hoch, mit beiden Händen die Fetzen seiner Bekleidung raffend, stolperte dann blindlings zur Straße davon. Eine stetig stürzende Bewegung, die nur von ihrem Vorwärtsdrang aufrecht erhalten wurde. Er konnte Georg vor Zorn brüllen hören, ebenso das Knirschen hastiger Schritte. Nur ein Wunder würde Hideo retten, das stand ihm mit aller Deutlichkeit vor Augen. Seine ungehorsamen Glieder reagierten nur schleppend auf die Befehle seines gefrorenen Kleinhirns, zu einer Flucht reichte dies bei Weitem nicht. Hideo rammte ungeschickt einen Container und fiel auf die Knie, just in dem Augenblick, als Georg die Straße erreichte und sich suchend umblickte. Nichts leichter, als Hideos Spuren zu folgen, mit Blut markiert, aber Georg zögerte, warf einen Blick zurück auf die Baugrube, wo sich die zertrümmerten Überreste des Monsters befinden mochten. Hideo kroch weiter, nutzte mehr instinktiv als bewusst die Deckung durch Fahrzeuge und Behälter. Wenn er nur Hilfe finden könnte! Seine verzweifelte Suche einen Zielpunkt hätte! Ein Wagen näherte sich. Man vernahm neben dem Laufgeräusch des Motors auch das Eindringen der Reifen in den erstarrten Schneematsch. Scheinwerfer blendeten auf. Hideo rutschte durch eine Schneewehe, verlor das Gleichgewicht und kugelte ungebremst auf die Fahrbahn, direkt in den Pegel der Fahrzeugleuchten. ^w^ Stimmen. Aufgebracht, dissonant. Ein Streitgespräch? "Er ist über das Schneefeld abgehauen." "Verflucht, wieso hast du mich aufgehalten?! Ich hätte den Abschaum erwischt!" "Idiot! Hast du eine Ahnung, ob er bewaffnet ist?! Außerdem wimmelt es hier bald vor Bullen!" "Bernard, wenn du nicht gleich dein dummes Maul hältst..!" "Seid still, alle beide. Noch ist nichts verloren, außer wir hängen hier weiter untätig herum. Schafft den Jungen auf den Rücksitz. Viktor, du suchst mit mir den Kadaver ab." Diese Stimme, dominant und ruhig, beendete die Kakophonie, die Hideos Schädel zum Dröhnen brachte. Er spürte Hände, empfand ein seltsames Schweben, aber die Kälte hatte sich seines Leibes schon zu stark bemächtigt, als dass er dies emotional einordnen konnte. Jemand stützte seinen Rücken, Wärme durchbrach den schützenden Kokon aus Eis, weckte die Schmerzen aus ihrem Winterschlaf. Hideo wimmerte schrill, ein monotones Geräusch, das ihm selbst Schauer über den sich aufheizenden Rücken jagte. "Roz, tu mir den Gefallen und bring ihn zum Schweigen, ja?! Der klingt ja wie ein Köter, dem der Schniedel eingeklemmt wurde!" Ein amüsiertes Kichern vibrierte unter Hideos Rückgrat. Dann legte sich eine Hand unter sein Kinn, umfing seinen Kiefer. "Du hast Lukas gehört, kleiner Prinz, schlaf ein wenig." Hideo kämpfte gegen das verheißungsvolle Versprechen in der melodischen Stimme an, wollte aufbegehren, sich nicht aufgeben nach all den Qualen. Schwere Türen schlugen zu, Atemwolken kondensierten. "Fahr bitte los, Lukas." Etwas Dichtes, Beschwerendes legte sich über Hideo. Eine Decke, so nahm er an, bevor er der Erschöpfung Tribut zollen musste. ^w^ "Ist das nicht riskant? Ich meine, in seinem Zustand..?!" Hideo spürte die Stimmen mehr, als dass er sie wirklich hörte. Sie schienen durch Wasser an sein Ohr zu dringen. "Es geht nicht anders. Außerdem wird es uns die Behandlung erleichtern." Bewegungen. Hideo blinzelte, zwang mit aller Willensgewalt die verklebten Wimpern auseinander, drohte ihm Gefahr?! "Lukas, halte bitte die Handgelenke." Diese entschlossene, trockene Stimme... Hideos Angst nährte sich rasch mit aufblitzenden Assoziationen. Zu spät reagierten seine Nerven auf die hektischen Hormonschübe. Warme Hände umklammerten seine Handgelenke, drückten diese auf die harte Unterlage. "Ich hoffe, der bepisst sich nicht", kommentierte eine Stimme naserümpfend an Hideos linker Seite. "Bernard, zur Sache, die Kleidung herunter." Hideo öffnete den Mund zum Protestschrei, wollte sich herumwerfen, aber eine hölzerne Kandare knebelte ihn, während weitere Hände jeden Widerstand bannten. "Ganz ruhig, kleiner Prinz, gleich ist es vorbei!" Eine Stimme hauchte sanft an seinem Ohr, hüllte ihn in durchscheinende Wärme, mitfühlend und aufmunternd. Feuchtigkeit auf seiner Haut, auftauend, Hitze, von fremden Lippen, dann ein Aufflackern von Schmerz. An seinem Hals, über seinem Bauchnabel, in einem Oberschenkel. Hideo schnappte nach Luft. Obwohl er nicht unter diesem Kontakt litt, es war viel mehr das erwachende Bewusstsein für die Situation, das ihn entsetzte. War er tatsächlich nackt?! Waren dies Lippen auf seinem Körper?! Doch bevor Scham und Hysterie angesichts dieser mehrdeutigen Lage ihn übermannen konnten, registrierte er fiebrige Hitzewallungen. Sie verliefen in konzentrischen Bahnen von den Regionen aus, die soeben fremdgesteuert gereizt worden waren. Die Wogen aus glühender Lohe bäumten sich auf und potenzierten sich in seinen Adern. Wüteten durch seinen ermatteten Körper. Hideos Herz galoppierte förmlich, trommelte orgiastisch, seine Glieder zuckten unkontrolliert. "Fixieren", befahl die souveräne Stimme leidenschaftslos. "Wer bleibt und verbindet die Wunden?" "Ich, Phil." "Gut, Roz. Lukas, du begleitest mich und Viktor. Wir werden mal ein wenig Büsche klopfen." Hideo riss die Augen weit auf, als die Ausläufer der letzten Wogen sein Gehirn infizierten. Etwas ächzte unter Belastung. Vor seinen Augen schwebte ein unbekanntes Gesicht, brannte sich als die erste deutliche Wahrnehmung in sein Gedächtnis ein. "Schlaf, kleiner Prinz", summte das Gesicht zärtlich, dann verlor sich Hideo in Schwärze. ^w^ Wärme. Hideo verzeichnete diese Empfindung verwundert, aber dankbar. Seine Sinne begannen, sich langsam zu entwirren, die unterschiedlichen Meldungen der Nervenenden zu sortieren. Auf seiner Haut folgte eine schützende Schicht seinen Atemzügen, streichelte sie hauchzart. »Bettdecke«, vermutete sein Verstand. Ein Fremdkörper stach in seinem linken Arm, Hideo konnte dem Gefühl keine Erklärung zuordnen. Seine Aufmerksamkeit wurde aber weiter nördlich sehr viel stärker angezogen. Warme Fingerspitzen liebkosten behutsam sein Gesicht. Die Gesten waren nicht misszuverstehen, wiederholten sich sanft, zeichneten seine Gesichtszüge nach. Hideo schlug die Augen auf. Eine ferne Zimmerdecke im Dämmerlicht einer entfernten Nachttischleuchte. Er drehte den Kopf langsam, die Augen geschlossen, in Erwartung eines Schwindels, der seinen Kopf okkupieren musste. Jedoch, der Taumel blieb aus. Hideos Augen bot sich ein sympathisches Gesicht, das Kinn auf eine Faust gestützt. "Hi. Ich bin Roz", lächelte der junge Mann an Hideos Seite, kämmte ihm schwarze Strähnen hinter die Ohren. Hideo krächzte trocken. Sein Gegenüber spielte mit einer Strähne und begegnete aus glanzlosen, nachtschwarzen Augen Hideos fragendem Blick offen. "Du fühlst dich sicher bescheiden, aber das geht vorüber. Ich habe dir ein Schmerzmittel gespritzt und deine Wunden versorgt." Ein Finger stupste Hideos Nasenspitze an. "Und ich habe mich auch darum gekümmert, dass du keine Narben behältst", zwinkerten die Vampiraugen verschwörerisch. Hideo starrte fassungslos, als ihm klar wurde, was sich seinen Augen darbot. Ein weiterer Vampir?! ^w^ "Wo... wo bin ich?" Hideo ignorierte den schmerzhaften Kiekser in seinem Hinterkopf, der seine filmreife Frage gnadenlos kommentierte. Der junge Mann, »er ist ein Vampir!!«, wirkte auf ihn nicht gefährlich: das sonnige Lächeln, die offenen Züge... nein, definitiv würde er nichts Unangenehmes mit diesem Gesicht verbinden. »Wie man sich doch täuschen kann«, knurrte der Schleifer in seinem Gehirn boshaft, nicht bereit, die vage Entspannung in Hideos Gemüt zuzulassen. Roz musterte ihn unterdessen ungeniert, das Kinn auf eine Faust aufgestützt. Ein Finger drehte noch immer Locken in Hideos glatte Haare. "Hast du Schmerzen?", erkundigte er sich mitfühlend, auch wenn die Augen ausdruckslos in ihrer Glanzlosigkeit blieben. "Nur, wenn ich wach bin", seufzte Hideo erschöpft, wollte dem Schleifer nicht zu Willen sein, der eine unnachgiebige Front gegen seine Entführer und Peiniger einforderte. "Das wird nach einer Weile besser, hab nur noch ein bisschen Geduld, ja?" Roz legte den Kopf schief und schenkte Hideo ein aufmunterndes Lächeln. Hideo erwiderte die freundliche Geste unwillkürlich, was seine verfrorenen Sehnen nicht eben guthießen. Roz bemerkte seine Qual, ließ von der gezwirbelten Strähne ab und erhob sich gewandt. "Warte einen Augenblick, ich bin gleich wieder da." Hideo hörte eine Tür schlagen, schwer, dumpf, dann umfing ihn absolute Stille. Kein Uhrwerk, nicht das winzigste statische Knistern, das auf Maschinen oder Elektronik hinwies. Abgesehen von einer niedrigen Lampe, die Ähnlichkeiten mit Operationsleuchten hatte, war der Raum in Dämmerung getaucht, nicht zu erkennen. »Wie praktisch«, fauchte der Schleifer, »diese verdammten Monster haben sich zu ihrem Vorteil eingerichtet!« Hideo brummte gepeinigt, seine Glieder beschwert durch die Schmerzmittel, von denen der Junge, »Roz!«, gesprochen hatte. Seine Fingerspitzen strichen über die Fabrik des Lakens unter sich, ertasteten unnachgiebige Härte. Lag er wirklich auf einem Operationstisch, oder spielte seine Phantasie ihm einen Streich?! Hideo schloss die Augen und versuchte, trotz des Nebels in seinem Kopf und des unablässigen, irrwitzigen Kicherns seiner Dämonen die Situation zu analysieren. Wie viele Personen waren es wohl? Er konnte sich an unterschiedliche Stimmen erinnern, eine besonders ruhige, dominante, dann andere, wirr durcheinander. Hatten sie ihn mit diesem Roz als Bewacher zurückgelassen? Um was zu tun? Und dann... ein Schauder bebte durch seinen Leib. Waren es Halluzinationen, oder hatten sie ihn tatsächlich entkleidet und...gebissen?! "Jetzt wäre wirklich der angemessene Punkt erreicht, um durchzudrehen", tröstete er sich selbst. Es gab keine Vampire. Das war völlig unmöglich. Aber zwei hatten versucht, ihn umzubringen, und nun hielt ihn eine Bande derselben gefangen. »Ich sollte versuchen zu fliehen...« Aber sein tonnenschwerer Körper legte überzeugendes Veto ein: er würde in seinem Zustand keine zwei Meter weit kommen, ohne zu kollabieren, geschweige denn auf unbekanntem Gelände. Die Tür öffnete sich wieder, ein Lufthauch streifte Hideo, aber kein Schimmer eines Flurlichts drang herein. »Natürlich nicht.« "So, nun helfe ich dir!" Roz' Stimme schwang vor Tatendrang, einem melodiösen Sprachrhythmus folgend, der Hideo daran zweifeln ließ, dass Deutsch dessen Muttersprache war. "Okay", ein Schatten nahm die Wärme der gewaltigen, niedrigen Leuchte von Hideos Oberkörper. Dann spürte er Roz direkt neben sich, den Oberschenkel an Hideos Arm gelehnt. Der Tisch vibrierte trotz des schwungvollen Aufstiegs nicht einmal. "Du bist ganz schön durchgefroren", stellte Roz leutselig fest. Hideo konnte das Reiben von Handflächen hören. Glühende Fingerspitzen ließen sich auf seinen Schläfen nieder, massierten vorsichtig eine Lotion in seine gespannte und lädierte Haut. "Bei diesem Wind trocknet man so schnell aus." Roz klagte mitfühlend. "Da sieht jeder aus wie eine verschrumpelte Mumie!" Er kicherte leise. Seine Fingerspitzen umkreisten behutsam Wunden, strichen die heilende Milch von der Nasenspitze aus hoch zur Stirn entlang der Nasenwurzel, arbeiteten sich über das Kinn zum Hals hinunter. Hideos Gesicht brannte von der Körperwärme, die Roz entströmte. Mit jeder vitalisierten Sehne jagten erschöpfende Impulse in sein Gehirn, verlangten angemessene Beachtung. "Kann ich... kann ich bitte... etwas trinken?", krächzte er heiser, schluckte hastig Tränen hinunter, die sich ungebeten in seinen Augen sammelten, seiner körperlichen Schwäche zuzuschreiben waren. "Sicher doch, Augenblick." Roz sprang von dem Tisch herunter, bewegte sich geschmeidig durch den Raum, auch wenn Hideo ihn rasch in der Dämmerung aus den Augen verlor, geblendet durch das grelle Licht der Lampe. Dann materialisierte sich Roz wieder neben ihm, stellte ein Glas mit einer sirupartigen Flüssigkeit auf dem Laken ab. "Kannst du dich aufsetzen?" Hideo benötigte zwei beschämende Anläufe, bis er sich hochgestemmt hatte, keuchte atemlos, vornübergebeugt, die Finger umklammerten das verrutschende Betttuch. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass sich Roz mühelos auf die harte Oberfläche hievte, um direkt an Hideos nackten Rücken zu gleiten. "Lehn dich an mich, ja?" Die melodiöse Stimme summte sanft in Hideos Nacken, werbend, ohne Arg. Es widerstrebte allem in Hideo, unbekleidet und wehrlos einem übermächtigen Fremden den Rücken zuzuweisen. Aber sein Körper beendete die hastige Debatte mit den verwirrenden Stimmen in Hideos Schädel kurzerhand, indem er schwer gegen die nachgiebige, sich seinem Leib anpassende Stütze sackte. "Perfekt", gurrte Roz an seinem Ohr, sammelte das Glas auf und hielt es zielsicher an Hideos Lippen. Nötigte ihm kleine, bittere Schlucke auf, die ihrem medizinisch widerlichen Geschmack Rechnung trugen und die wunde Kehle besänftigten. Roz stellte das Glas beiseite, nahm das flächendeckende Einbalsamieren wieder auf, indem er Hideos nackte Arme einfing und die straffen Muskeln bis zu den Fingern mit der Lotion tränkte und diese geschickt einklopfte. Mit ebensolcher Geduld und Sanftmut massierte er die Milch in die Haut über Hideos Brustkorb, hielt sich länger und länger auf an bestimmten Regionen, die Hideos fiebrigem Hirn verspätet Reizimpulse zusandten. Die sich in seinem ganzen Körper ausbreitende Hitze ermüdete Hideo, betäubte seinen Verstand. Er bettete seinen Kopf in Halsbeuge und Wange des fremden Mannes, der sich um ihn wickelte wie eine menschliche Heizdecke. »Das ist nicht richtig! DAS IST NICHT RICHTIG!!« Hideo stöhnte leise, als die alarmierten Stimmen in seinem Kopf tosten, hob im Halbschlaf die Hand an, eine ungeduldige Abwehrgeste. Streifte unwillkürlich Roz' Hand, die beharrlich um Hideos Bauchnabel kreiste, immer wieder in südlichere Regionen ausbrach. Warmer Atem benetzte hauchzart Hideos Lippen. Die zweite Hand streichelte durch seine Haare, seinen Nacken entlang, umfing seinen Kiefer. Hideo gab den Kampf gegen heilsamen Schlaf auf. ^w^ "Lukas, Arme. Viktor, Bernard, fixieren. Roz, Knebel." Hideo schreckte hoch, als die sachliche Stimme sich wie ein Skalpell in seine verschwommene Wahrnehmung schnitt. Die Augen aufreißend wollte er sich aufsetzen, doch prallte er an verschiedenen Regionen seines Körpers auf unnachgiebige Hindernisse. Das grauenhaft vertraute Stück Holz dämpfte seinen Schrei, als es zwischen seine Kiefer geschoben wurde. Über seinem Kopf schwebte Roz' Gesicht scharf umrissen, eine mitfühlende Miene, während Hideo warme Fingerspitzen um seine Wangen gewölbt spürte, die ihn tröstend liebkosten. Seine Gelenke, seine Hüften, der Brustkorb: alle waren festgebunden in vermutlich ledernen Fesseln. Die derart sicher in dem Operationstisch verankert waren, dass selbst seine heftigen Befreiungsversuche ihnen nicht einmal ein Ächzen entlockte. Hideos panisch geweiteten Augen suchten die nachtschwarzen Augen in der Dämmerung über sich, nun gerahmt von halblangen, blondierten Strähnen. Flehten um Hilfe, um Nachsicht, eine Erklärung, Zuversicht?! "Alle bereit?" Die sachliche Stimme schnitt wie ein Messer durch den intimen Blickkontakt mit Roz. Dieser sah hoch, brach den Bann. "Gut, dann los." Schattenwurf, fremde Körperwärme. Atemhauch prickelte auf Hideos Haut, Fingerspitzen drückten sich ein, dann pointierter Schmerz, in der rechten Brust, der linken Taillenseite, im rechten Oberschenkel. Und Roz' Lippen auf seinem Hals, trennten sich, fremde Muskelregung, dann ein doppeltes Pieksen. War dieser Kontakt trotz seiner Intensität nicht erschreckend genug, jagten Sekundenbruchteile später gleißende Ausläufer entlang Hideos Blutbahnen, kochten in kürzester Zeit seine Nervenstränge. Synapsen funkten Lähmung, während sein Gehirn Adrenalin gesteuert das Herz zu immer rasenderem Lauf anfeuerte. Die widersprüchlichen Impulse durchquerten wie elektrische Aufladungen seinen Leib in Blitzgeschwindigkeit. Vor seinen Augen brannten Funken wie Feuerwerk, dann wurde es Licht, die glühende Hitze verdrängte die Empfindung von fremder Berührung. Roz' Gesicht verschwamm vor Hideos Sicht. Er würgte an der Kandare, sein Leib zuckte ferngesteuert im Hagelschauer der Synapsenexplosion. Während Hideos Körper einer flächendeckenden Lähmung anheimfiel, siedete er innerlich, bis er das Bewusstsein verlor. ^w^ Stimmengemurmel. Unterdrückt, aber aufdringlich genug, ihn aus seiner Ruhe zu reißen. »Ich bin nicht tot«, stellte Hideo in einem Anflug von Zynismus beinahe bedauernd fest. Prickelnde Nadelspitzen in seinen Fingern und Zehen verhießen zumindest eine partielle Wiederkehr seiner Körperbeherrschung. Erstaunlicherweise war sein Kopf vollkommen klar, unbeeindruckt von den enervierenden Nervenimpulsen. Sein Herz schlug regelmäßig, zumindest nahm Hideo dies instinktiv an, denn sein Atem ging ruhig. »Was besprechen diese Wahnsinnigen da?!« Wenn man mal von der Unwahrscheinlichkeit der gesamten Situation mit Vampiren absah, allen Einwänden, die ein gesunder Menschenverstand im 21. Jahrhundert bieten konnte, dann ergab sich folgendes Bild: er war in die Hände von geisteskranken Entführern geraten. Die ihn auf einen Tisch geschnallt und mehrfach gebissen hatten. Woraufhin eine Art merkwürdige Allergiereaktion Hideo außer Gefecht gesetzt hatte. Sinn ergab das selbstredend nicht, aber wer konnte schon Geisteskranke verstehen?! Wichtig war nur, ihnen zu entkommen. Oder zumindest lang genug von Nutzen zu sein, um sich einen Ausweg einfallen zu lassen. Hideo fokussierte seine Aufmerksamkeit auf die geflüsterte Debatte, verbarg aber jedes Anzeichen, dass er bei Bewusstsein war, konnten die Gegner doch viel besser sehen als normale Menschen. "... es ist zu viel..." "... keine Wahl, Roz..." "... wen kümmert der da schon?!..." "... denk mal in den richtigen Verhältnissen!" "... Lukas, Roz! Bitte... kein Streit..." "... wenn er stirbt, haben wir schlechte Karten..." "...ich nehme dich ernst, aber wir haben entschieden." Hideo zitterte unwillkürlich unter dem dünnen Laken, das sich an seine Haut schmiegte. Hastige Schauer rissen arktische Wunden in den Panzer aus Wärme. "Hideo?" Eine warme Stimme schmeichelte an seiner Wange, so sanftmütig wie ein Traum aus rosa Zuckerwatte. Die Zahnschmerzen hatte man erst danach. Hideo schlug langsam die Augen auf. Versteckspiel würde nicht Aufschub bedeuten, vermutlich nur ein ungleich groberes Wecken. Roz lehnte über ihm, die halblangen Strähnen rahmten sein Gesicht, das mitleidig auf ihn herabblickte. "Ich weiß, du fühlst dich bescheiden, aber du musst noch ein wenig aushalten, ja? Ich werde auch bei dir bleiben." Hideo schluckte ein Fauchen hinunter, was sollte ihm das schon nützen?! Sie würden es also wieder tun... wenn er wenigstens sofort das Bewusstsein verlöre!! Aber sein Körper widerstand dem innerlichen Flehen. Im Gegenteil, sein Kopf schien hellwach, alert, noch bevor diese seltsame, allergische Reaktion einsetzte. Roz' Fingerspitzen strichen unter Hideos vorwurfsvoll flammendem Blick über dessen Lippen, dann saß die hölzerne Kandare wieder fest. Finger glitten liebkosend durch seine Haare, während zupackende Hände die schweren Lederbänder um Hideos Glieder schnallten und festzurrten. Das Laken flog in die Höhe. Der Luftzug löste eine eisige Gänsehaut bei Hideo aus, der sich erneut seiner Verletzlichkeit und Nacktheit mehr als bewusst wurde. Röte schoss in seine fahlen Wangen, was Roz ein fürsorgliches Lächeln entlockte. "Viktor, Bernard, Roz... an die Arbeit." Wieder die kühle, vollkommen emotionslose Stimme. Hideo schloss die Augen, als sich Zähne und Fingernägel in seinen Körper bohrten. ^w^ »Mein Herz zerspringt! Zu schnell!« Vor Hideos Augen tanzten bunte Lichter, blitzten Schimären auf, obwohl er die Lider gesenkt hielt. Trotz krampfhaften Verkrallens in die Handflächen zuckten seine Glieder unkontrolliert, wölbte sich sein Körper nach oben, verbrannten seine Innereien. Hideo öffnete den Mund zum Schrei, wollte seiner Agonie Ausdruck verleihen, wenigstens den Himmel zum Einsturz bringen, die Götter verfluchen, die ihm diese Qual zumaßen: allein, die Kandare erstickte jeden Laut. Nur heftiges Keuchen, ein heiseres, Lungen berstendes Atemholen entwich seinem gepeinigten Leib. »Bitte... bitte... macht ein Ende...« Eine kühle Hand jagte Eis in die Fieberschauer, die Hideo durchrieselten, dann drang ein Fremdkörper in seinen Arm ein. Augenblicke später verlor er das Bewusstsein. ^w^ Kapitel 4 - Zwischen die Fronten "Wir nehmen ihn jetzt mit, die Zeit läuft uns davon!" "Er wird sich kaum auf den Beinen halten können." "Wen kümmert's?! Hauptsache, es wirkt. Und das tut es doch, oder?!" "Lukas, Roz, bitte. Wir dürfen uns nicht streiten. Der Zeitplan ist noch einzuhalten. Lukas, sag Viktor Bescheid, er wird dich begleiten. Roz, du hilfst dem Lockvogel beim Einkleiden und bereitest alles für unsere Rückkehr vor. Ich werde mit Bernard die letzten Vorbereitungen treffen." Hideo blinzelte erschöpft. Bleigewichte schienen an seinen Gliedern befestigt worden zu sein. Eine profunde Betäubung beraubte ihn jeglicher Beweglichkeit. Dennoch konnte er nicht in Schlaf finden. Die körperliche Mattigkeit hatte keinerlei Verbindung zu seinem bedauerlicherweise hellwachen Geist. "Hideo?" Roz beugte sich in der schon vertrauten Intimität über ihn. Die Fingerspitzen streichelten wirre, schwarze Strähnen aus dem schweißfeuchten, totenblassen Gesicht. Hideo krächzte als Antwort, seine Kehle ausgedörrt. "Ich werde dir nun beim Aufsetzen helfen, okay? Dann ziehen wir dir was über, und du kommst an die frische Luft." Roz' Lächeln franste in den Mundwinkeln aus. Winzige Falten in den Augenpartien verrieten Anspannung trotz der betont munteren Stimme. Hideo keuchte mühsalgeplagt. Er wollte sich nicht bewegen, hielt es nicht einmal für möglich, dass er dies überhaupt bewerkstelligen konnte. Roz arbeitete sich jedoch unbeeindruckt an den Lederfesseln um den Operationstisch herum, wickelte sich dann Hideos taube Arme um den Nacken und zog ihn hoch. Dieser sackte nach vorne, nur aufrecht gehalten von Roz' angenehm kühler Brustpartie in einem seidigen Shirt. Roz begegnete Hideos Schwäche mit einer Routine, die diesen vermuten ließ, dass er tatsächlich medizinische und krankenpflegerische Kenntnisse hatte. Eine Hand behutsam in Hideos feuchten Nacken gelegt zog er ihn über das rutschende Laken an den Rand des massiven Tisches. "Leg bitte die Hände um die Kante", wies er Hideo an, der zittrig der Aufforderung nachkam, das kühle Metall hart in seine Handflächen eindrückte. "Gut", hauchte Roz lobend, blies spielerisch in Hideos Nacken, was einen weiteren Schauer über die nackte Haut trieb. Dann wich er zurück und umfasste Hideos linken Ellenbogen, um von diesem erst mit Verspätung registriert einen Katheter abzuklemmen, dessen durchsichtiger Schlauch zu einer kopfüber hängenden Flasche mit klarer Flüssigkeit führte. Auf Hideos überraschtes Keuchen hin erklärte Roz unaufgefordert den Inhalt, die Stimme aber so gesenkt, dass ihrer Unterhaltung etwas Konspiratives anmutete. "Das ist eine Nährlösung, damit dein Körper sich von den Strapazen ein wenig erholen kann. Keine Angst, ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht." Ein aufmunterndes Zwinkern und mit einem leichten Ruck war Hideos Arm von dem Fremdkörper befreit. Roz führte Hideos Arm an die Lippen. Seine glühende Zungenspitze streichelte die Wunde, benetzte sie mit Speichel. Hideo winselte leise vor Überraschung, schalt sich aber gleichzeitig einen Idioten für dieses Eingeständnis. War es nicht so, dass sie das zuvor auch gemacht hatten?! Immerhin hatte dieser Mistkerl Georg auch davon gesprochen, oder?! »Aber... aber ich traue ihm nicht. Keinem von ihnen.« »Richtig«, stimmte der Schleifer befriedigt in Hideos Hinterkopf zu, während das irre Kichern der anderen Geister zu einem Chor der spöttischen Wehklage wurde. Roz hatte in der Zwischenzeit einen Waschlappen in ein Becken getaucht und machte nun Anstalten, Hideo abzureiben, was diesem nicht behagte. "Bitte. Ich möchte das lieber selbst machen." Seine Stimme knisterte vor Trockenheit. Roz legte den Kopf schief, das patentierte Strahlen trübte sich für Wimpernschläge ein. "Roz, beeil dich!", blökte eine Stimme entfernt, aber warnend. Dieser presste die Lippen zu einem Strich zusammen, ließ Hideo nicht aus den Augen. "Hör zu, mein kleiner Prinz, ich lasse es zu, wenn du keinen Ärger machst." Noch bevor Hideo gehorsam nicken konnte, hatte Roz eine Hand hart um dessen Kehle geschlossen, die Miene vollkommen blank. "Vergiss bitte nicht, dass ich dich in einem Augenblick töten kann." Hideos Sicht flackerte, als Roz blitzartig den Druck auf seinen Kehlkopf derart erhöhte, dass ihm die Luft abgeschnürt wurde. Dann sank die Hand herunter und das zärtliche Lächeln, das Roz ihm schenkte, leuchtete warm in der dämmernden Atmosphäre. "Ich suche dir etwas zum Anziehen, 'kay?" Ein versöhnliches Zwinkern begleitete die melodiösen Worte. Hideo blinzelte hastig, rieb sich dann eilig mit dem Waschlappen ab, dankbar für jede Körperpartie, die widerwillig ihre Einsatzbereitschaft signalisierte. Die Lähmung ließ offenbar nach. Während der grobe Stoff über seine trockene und spannende Haut glitt, kontrollierte Hideo diese unauffällig nach Spuren der Misshandlungen, konnte aber nicht die geringste Unregelmäßigkeit finden. Nicht einmal die schweren Wunden, die er nach dem Kampf mit dem Monster davongetragen hatte, waren noch zu erkennen. Hideo schüttelte es. Das war definitiv nicht normal. "Hier!" In seinen gebeugten Gesichtskreis schob sich ein Stapel ordentlich gefalteter Kleidungsstücke. Hideo nickte knapp, ermahnte sich, das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren, nur weil er glaubte, an den Umständen wahnsinnig werden zu müssen. Dafür war später noch genug Zeit. Unterwäsche, Socken, Schnürstiefel, ein dicker Wollpullover und Jeans: nichts Außergewöhnliches, aber exakt auf seine Größe ausgerichtet. Roz strich Hideo unaufgefordert die schwarzen, glatten Haare hinter die Ohren, hielt ihm eine Flasche Cola hin. "Trink das." Hideo zog die Augenbrauen hoch. Er mochte keine Cola, vor allem nicht die alte Variante, pur, koffeiniert und berstend vor Zucker. "Trink!" Roz' Stimme drängte nun. "Es ist für deinen Kreislauf. Ich habe auch noch ein trockenes Brötchen hier." In Todesverachtung und entsprechender Mimik nahm Hideo einen Schluck, biss demonstrativ mit Abscheu in das Brötchen. »Die richtige Ernährung für einen Magenkranken.« Roz grinste schief. Er setzte zu einer Aussage an, als die sachliche Stimme, die Hideo zu fürchten gelernt hatte, hinter ihnen in die gespannte Ruhe drang. "Roz, danke. Viktor, Lukas, zwei Stunden. Dann müsst ihr zurück sein." Hideo spitzte von einer unsäglichen, über jede Warnung hinwegsetzenden Neugierde getrieben, über Roz' Schulter. "Ist gut, Phil." Phil. Der Anführer. Ein Vampir, braune Haare, unspektakulär frisiert, großgewachsen, sehnig. Das Gesicht hell, durchschnittlich, von einem energischen Kinn geprägt. Hideos Herz krampfte sich zusammen, als sich die glanzlosen, schwarzen Augen auf ihn richteten. In dieser Miene fand sich kein Mitgefühl für ihn. »Wäre ich diesem Mann auf der Straße begegnet, hätte ich kehrtgemacht«, jaulte eine jämmerliche Stimme in seinem Kopf, und instinktiv erfolgte kakophonische Zustimmung. »Es ist das Gesicht eines Fanatikers«, wisperte der Schleifer nervös, während ein schrilles Kichern in Hideos Ohren irrlichterte. "Komm schon!" Ein grober Stoß an die Schulter riss Hideo aus seiner sich potenzierenden Panik. Vor ihm baute sich ein zweiter Vampir auf, mittelgroß, aber stämmig, die Statur eines Footballers, die braunen Locken gestutzt, an den Seiten ausrasiert. "Mach hin, Viktor!" Eine raue Stimme drängelte im Türrahmen. Viktor hob einen Gegenstand an. Die fleischigen Hände näherten sich Hideos Kehle, der reflexartig zurückwich, die grauen Augen Angst geweitet. "Keine Angst", schmeichelte Roz' Stimme an seinem Ohr, während dieser unnachgiebig und scheinbar mühelos Hideos Ausweichmanöver konterte, diesen fest an seinen Armen hielt. Ein geübter Handgriff, und um Hideos Kehle schloss sich ein extravagant aussehendes Halsband erstickend eng, schwarzes Leder mit einer verchromten, klobigen Kugel. "Das ist ein Elektroschocker. In dem niedlichen Anhänger sind der Akku und der Signalempfänger." Die raue Stimme spöttelte verächtlich. Dann trat auch ihr Besitzer hinter Viktor in das Licht der Operationsleuchte. Hideo keuchte. Der Mann hatte schwarze, halblange Haare, in einem zerzausten Stufenschnitt, eine leichenhaft helle Haut und den ausgemergelten Leib eines Junkies. Die braunen Augen funkelten hasserfüllt, die aufgebissenen Lippen zuckten in einem sardonischen Lächeln. "Und, Schätzchen", so viel Verachtung lag in diesem Kosewort, dass es Hideo eiskalt überlief, "den Sender habe ich." Ein behutsames Tätscheln auf die Nieten besetzte Motorradfahrerkluft in Höhe einer Brusttasche. "Mach nur eine falsche Bewegung, und ich lasse dich tanzen, Muttersöhnchen!" Hideo verkrampfte sich, aber auch Roz' Hände, die um seine Oberarme gebogen waren, zuckten kaum merklich. "Gehen wir, Lukas." Viktor wandte sich der Tür zu, stampfte hinaus. Lukas deutete eine boshafte Verbeugung an. "Nach dir, verwöhnter Fliegenschiss!" Hideo setzte die Cola-Flasche an die Lippen, nahm einen tiefen Zug und marschierte wie aufgezogen hinter dem vermeintlichen Footballer her. ^w^ Zu Hideos Überraschung oder vielmehr vagen Enttäuschung seiner düsteren Phantasien befand sich das Hauptquartier seiner Entführer keineswegs in einer alten Villa oder einem Abbruchhaus. Nein, es war eine Doppelhaushälfte in einer alten Eisenbahnersiedlung, zweistöckig, üblicherweise vier Parteien. Grauer, einfacher Verputz, kein Zierrat oder Balkons vor den einförmig winzigen Fenstern. Die Siedlung selbst war heruntergekommen, die Vorgärten entweder im Zustand der Verwilderung oder von Müll und Unrat übersät, was selbst unter dem dicken Schneemantel zu erkennen war. Der Raum, in dem man ihn gefangen gehalten hatte, befand sich in dem niedrigen Kellergewölbe unter dem Haus. Eine schmale Stiege führte auf die Straße hinaus. Dem fahlen Licht nach zu schließen, musste es wohl Tag sein. Der Schneefall hatte aufgehört, dafür blies ein arktischer Wind, fegte die verharschten Straßen menschenleer. Seine Begleiter trugen einfarbige dicke Mäntel, schmucklos, unauffällig. Auf Viktors mächtigem Schädel thronte eine Baseballkappe, kein ausreichender Schutz gegen die arktische Kälte, was sich in der rasch rötenden Haut widerspiegelte. Lukas, der es sich nicht nehmen ließ, Hideo immer wieder Stöße zu verpassen, hatte eine Mütze mit Zipfeln an beiden Ohren übergestreift, wie man sie bei den Andenvölkern fand. Hideo zog die Schultern hoch und verkroch sich tiefer in den fremden Parka, den Kopf unter der gesteppten Kapuze kaum erkennbar. Ihr Ziel war bereits freigelegt worden, ein amerikanischer Transporter in tarnendem Grau. Viktor stieg vorne zu, während Lukas die Schiebetür mit Schwung aufriss und Hideo mit eisigem Blick und einem abgehackten Nicken bedeutete, dass er sich dort einzufinden habe. Hideo kletterte schweigend ins Innere, nahm Platz und schnallte sich an. "Wohin fahren wir?", erkundigte er sich, noch immer die Flasche Cola fest in seinen klammen Fingern. "Warum interessiert dich das, du Drecksack?!" Lukas sprang ihm verbal förmlich ins Gesicht. "Wir sagen, wo's hingeht und du gehorchst, klar?! Allerdings", er beugte sich zu Hideo hinüber, "du kannst auch ruhig Widerstand leisten..." Sein dreckiges Grinsen glomm vor Erwartung. Hideo wandte den Kopf ab, versuchte durch die verklebten Scheiben etwas von seiner Umgebung zu erkennen. Vergeblich. Nach seiner Einschätzung fuhren sie etwa eine Viertelstunde, dann kam der schwere Bolide rutschend zu einem finalen Halt. Als Hideo ins Freie kletterte, staunte er nicht schlecht, denn nun befanden sie sich an einem Ort, der sehr viel eher seiner Vorstellung von einem Domizil von Vampiren und Verrückten dieser Art entsprach. Ein Herrenhaus im Stil der letzten Jahrhundertwende ragte in den sich bereits verschleiernden Himmel, akkompagniert von den gewaltigen Gerippen entkleideter Bäume, die den arktischen Böen trotzten, die das Haus umfegten. Die hochgewölbten, schlanken Fensterflügel waren jedoch nicht willkommen heißend beleuchtet. Stattdessen herrschten Dunkelheit oder zusammengezogene, dichte Stoffbahnen vor. "Rein da!" Wieder ein Stoß in den Rücken, abgefedert durch den gesteppten Parka. Hideo folgte unbehaglich Viktors breiter Gestalt durch den kaum berührten harschen Schnee, der etwa knöchelhoch auf den steilen Treppen zum Haupteingang lag. Dieser zog einen Schlüssel aus der Manteltasche und öffnete die breite Eingangstür aus dunklem, massiven Holz. Auch im Eingang fehlte jegliche Beleuchtung, sodass Hideo, von der gleißenden Helligkeit des Schnees geblendet, nur tastend in die Finsternis tappen konnte. Über den gefliesten Boden in der Eingangshalle ging es an einer großen Treppe vorbei in deren Schattenwurf zu einer unscheinbaren Tür, die in die Kellerräume hinabführte. Viktor betätigte einen Lichtschalter, der einer matten, bloßen Glühbirne ein trübes Licht entlockte, dann stiegen sie die steile Steintreppe hinab. Hideo konzentrierte sich auf seine Schritte. Unter seinen Stiefeln hatte sich in den Profilsohlen Eis und Streugut festgesetzt, was jeden Fußtritt zu einem Vabanque-Spiel machte. Sie fanden sich in einem gewölbten Gang wieder, dessen Ausläufer jeweils in Holzverschläge ragten, die den gewaltigen Raum unterteilten, abgesehen von den stützenden Steinsäulen. Zwischen Latten und gespannten ausgefransten Stoffvorhängen stapelten sich Vorräte in Kanistern, Konservendosen und Fässern, in Stiegen und Kartons. Es wirkte auf Hideo wie ein geheimer Bunker von Überlebenden nach einem Angriff. Doch bevor er seine Umgebung genauer in Augenschein nehmen konnte, zerrte Lukas ihm rücksichtslos die Kapuze von Kopf, ignorierte Hideos Protestschrei ob ausgerissener Haare. "Komm schon, reicher Bengel!" Eine erstaunlich kräftige Hand legte sich wie eine Stahlfessel um Hideos Ellenbogen, steuerte diesen auf einen Holzverschlag zu. Mit der freien Hand wischte Lukas den brüchigen Stoff beiseite, der den Zugang verwehrte. Dahinter, im Halbdunkel einer stinkenden, rußenden Petroleumleuchte, kauerten drei Menschen. Zumindest nahm Hideo an, dass es sich um Menschen handelte, die dort totenbleich und ausgemergelt in Lumpen auf gestapelten, geplatzten Matratzen lagen. Stumpfe Augen fanden trotz ihrer Anwesenheit keinen Fokus, nur langsam kam vage Bewegung in die Gruppe. "Hey", Hideo traute seinen Ohren kaum. War diese sanfte, tröstende Stimme tatsächlich aus Lukas' angespanntem Leib entsprungen?! Dieser kniete bereits, unempfänglich für den Unrat, auf einer Matratze, wischte einem der Wesen strähniges Haar aus dem knochigen Gesicht. Für Hideo, der sich im Hintergrund hielt, sahen sie alle gleich aus: greisenhaft skelettiert und leblos, strähnige Haare, zahnlose Münder, Knochenbündel ohne Vitalfunktionen. "Habt ihr gegessen?" Lukas half einer winzigen Gestalt, die kaum die Größe eines Fünfjährigen erreichte, sich aufzusetzen. Viktor schob sich an Hideo vorbei, streifte den ausgewaschenen Stoff hoch, der das magere Ärmchen bedeckte, nickte und presste diesen an den Mund. Hideo unterdrückte einen Aufschrei des Ekels. Die hervorstehenden, farblosen Augen verdrehten sich, die eingefallene Brust bebte stärker, winselnde Laute keuchten aus dem zahnlosen Mund. Lukas wandte sich um, hielt die freie Hand des Bündels, hauchte ohne Scheu einen Kuss auf den zerknitterten Handrücken. Hideo musste sich an einer Holzlatte festhalten, um nicht dem Drang nach Flucht nachzugeben. Endlich ließ Viktor den Arm fahren, wischte sich mit den Ärmel über den Mund, wechselte sachlich hinüber, um dem zweiten Wesen die gleiche Behandlung angedeihen zu lassen. Lukas hatte inzwischen das Kind auf den Schoß genommen, redete drängend auf die Person ein, die seine ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm. "Du musst dafür sorgen, dass ihr euch regelmäßig Essen bereitet, sonst können wir euch nicht helfen. Ich verspreche euch, wenn ich mit Phil komme, dann könnt ihr ohne Angst oben im Haus leben." Die Angesprochene kroch tiefer in den Schatten, kauerte sich zusammen, während ihre beiden Leidensgefährten ein piepsendes Heulen anstimmten, das Hideo sämtliche Körperhaare aufstellte. Lukas übertönte jedoch den Wehgesang mit harter Stimme. "Wovor fürchtet ihr euch?! Ich habe euch versprochen, dass alles gut wird. Ihr müsst keine Angst haben, er kehrt nie wieder zurück. Ihr seid frei!" Aber seine Worte schienen keinen Eindruck zu hinterlassen, was diesen frustrierte, sodass er sich Hideo zuwandte, der im Hintergrund noch immer den Schutz der Lattenwand genoss. "Na, verwöhnter Bengel, siehst du mal, wie es Menschen geht, die wirklich arm dran sind, hm?! Was sagst du nun?!" Hideo zögerte, erkannte aber, dass er den kochenden Zorn, der aus Enttäuschung und mühsam gebändigtem Hass vergoren war, nur durch Ruhe und Interesse begegnen konnte. Zumindest hoffte er darauf. "Was fehlt ihnen denn?" Vorsichtig wagte er einen Schritt in den Verschlag hinein. "Das sieht man doch, du Idiot", blaffte Lukas ungnädig, schnellte vor, um Hideo an der Kapuze hineinzuzerren. "Sieh sie dir an!! Das sind die Menschen, von denen sich dein Kumpan ernährt! Schau dir an, was man ihnen antut!! Der Kleine dort ist zwölf Jahre alt, die beiden Frauen nicht mal Dreißig!!" Hideo keuchte ungläubig, befreite sich dann aggressiv aus Lukas' Griff. "Nenn diesen Drecksack nicht meinen Kumpan!! Ich kenne ihn nicht und ich wollte auch nichts mit ihm zu tun haben!! Der andere Mistkerl hat meinen Freund getötet!" Lukas grinste ohne jegliches Gefühl, visierte mit seinen brennenden Augen Hideo an. "Ach", seine Stimme tropfte vor Sarkasmus, "du armer Kerl." Dann wandelte sich der Tonfall in arktischen Stahl. Seine Hand packte Hideos Parka, zerrte diesen so hart zusammen, dass ihm die Luft wegblieb. "Ich habe schon mehr Freunde verloren als ich Knochen im Leib habe! Versuch nicht, mir auf die Mitleidstour zu kommen, du verwöhnter Bubi!" Hideos Misshandlung rief weder bei Viktor noch bei den drei anderen irgendeine Reaktion hervor, auch nicht das Hinausschleifen auf den Kellergang, wo Lukas Hideo gegen eine Säule schmetterte. "Ich will dir mal ein bisschen was erzählen über die Mistkerle, die das anrichten." Lukas klebte förmlich vor Hideo, sein heißer Atem sprühte kondensierend in dessen Gesicht. "Ich war auch eines dieser Wesen, kam in einem Keller auf die Welt, dazu bestimmt, als Nutzvieh in der Dunkelheit zu vegetieren und mein Blut zu liefern. Meine ganze Familie starb nach und nach, nur ich blieb zähe genug, allem zu widerstehen. Ich habe Dinge gesehen und erlebt..." Lukas' Stimme irrte hohl umher, die brennenden Augen dunkelten nach, als Erinnerungen aufzogen wie Gewitterstürme, von beängstigender Intensität und Unvermeidlichkeit. "...Dinge... die würdest du nicht glauben", leise, rau hauchte er verloren, "wie man Kinder erwürgte, weil sie nicht das richtige Blut hatten. Wie man wahllos vergewaltigte, weil der Rausch dann erst richtig gut war..." Hideo würgte erstickt, was den geisterhaften Bann brach. "Das da sind Menschen. Die seit Jahrhunderten wie Vieh betrachtet werden, ohne Rechte, nur nach ihrem Nutzen bewertet. Sie dienen der Ernährung solcher Drecksäcke wie diesem Georg. Aber damit wird es ein Ende haben!!" Lukas glühte wieder förmlich vor Entschlossenheit und Kampfeslust. Seine beiden Handflächen legten sich wie Schraubzwingen um Hideos Kopf, fixierten dessen Blick unnachgiebig. "Phil hat mich gerettet und nun werden wir die alten Monster ausmerzen! Keinen einzigen übrig lassen!" Er lachte schrill. Hideo zuckte, dann, bevor sein Verstand einschreiten konnte, entschlüpfte ihm die provokante Frage. "Aber sind nicht Phil und die anderen auch Vampire?" Lukas' Miene vereiste blitzartig. "Vampire.... nein, sie sehen vielleicht so aus, aber das sind sie nicht. Sie trinken kein Blut, sie befreien die Unterdrückten und geben ihnen ihre Würde und ihre Rechte zurück. Klar?!" Hideo nickte hastig, denn mehrere Adern in Lukas' Schläfen pulsierten unkontrolliert. Also waren die vier Vampire auf der Jagd nach anderen, die Blut benötigten, um diese zu eliminieren. So unglaublich das alles war, eines jedoch blieb Hideo ein Rätsel: was wollten sie dann von ihm? ^w^ Die Rückfahrt verlief schweigend. Hideo wickelte sich tiefer in die gesteppten Schichten seines Parka. In seinem Kopf rotierte das bisher Erfahrene wild umeinander, versuchte aus den Brocken ein passendes Mosaik zusammenzusetzen. Zweifellos hatte Georg versucht, ihn zu beseitigen, war aber vor den anderen Vampiren geflohen. Hatte er diese erkannt? Konnten sie ihm etwa gefährlich werden? Was zur nächsten Frage führte: wenn sie beabsichtigten, Georg zu vernichten, was hielt sie dann davon ab, ihm selbst das Gleiche angedeihen zu lassen? Warum hatten sie ihn gerettet? Was hatte er, das Georg in eine Falle locken würde? Der Wagen hielt, Lukas stieß Hideo an und schubste ihn grob in eine schmutzige Schneewehe. "Beweg dich, verdammt, wir sind spät dran!" Er wirkte gereizt, seine Bewegungen fahrig, unbestimmt. Die Augen irrten unstet über die Umgebung, wo Kinder im dreckigen Schnee herumtollten und sich in fremden Sprachen unterhielten. Hideo rappelte sich hoch, klopfte sich ab und folgte Viktor ins Haus, wurde dieses Mal aber nicht in den Keller geleitet, sondern in den ersten Stock, wo sich die anderen Nicht-Vampire bereits versammelt hatten. Dem Geruch nach zu urteilen rührte der junge Mann mit der Strickmütze, der nach Hideos Rechnung wohl Bernard sein musste, in einem großen Topf mit Gemüsesuppe. Phil saß auf einem Klapphocker am Esstisch und mischte undefinierbare Zutaten zu einer Paste. Seine konzentrierte, aber nicht minder verstimmte Miene verriet, dass er mit dem Ergebnis seiner Bemühungen nicht zufrieden war. Als Hideo zögerlich hinter Viktor den Wohnraum betrat, sprang Roz in die Höhe, überwand eilig den Abstand zwischen ihnen und musterte Hideo streng, packte seine Ellenbogen. Hideo bemühte sich um ein fahles Grinsen, spürte aber erste Schweißperlen auf seiner Stirn und einen dumpf pochenden Schmerz in seinen Adern. Sein Herz jagte bereits wieder, stolperte aber ungeschickt, die Schläge trommelten gegen seinen Brustkorb. Roz' Hand wischte klebrige Strähnen aus Hideos Gesicht, zog diesen am Handgelenk an den Tisch, nötigte ihn, auf einem Klappstuhl Platz zu nehmen. "Sie wollen immer noch nicht aus dem Keller!" Lukas wanderte unruhig in der nun überfüllten Küchenpartie des Raums hin und her. "Lukas", Phil schob seine Utensilien zusammen, winkte den Angesprochenen heran, zog jenen ohne Umschweife auf seine Knie. Lukas schlang die Arme um Phils Nacken, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Hideo war sich bewusst, dass er hinüber starrte, im Gegensatz zu allen anderen Anwesenden, für die diese Szene offenkundig keine interessante Besonderheit darstellte. Phil legte vertraulich die Arme um Lukas, senkte dann den Kopf auf dessen entblößte Kehle. Ein Zucken durchlief den schwarzgekleideten Mann, dann entspannten sich seine Glieder sichtbar. Ein leichtes Ächzen schwebte durch den Raum, dann bewegten sich beide in einem wiegenden Rhythmus, nur wenige Augenblicke, doch ausreichend lang genug, dass Hideo eine lebhafte Vorstellung davon hatte, was Phil Lukas zugedachte. Hideo wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Er hatte das Gefühl, Schüttelfrost zu bekommen. Was also geschah hier? Warum biss Phil Lukas? Es konnte nur eine Erklärung geben: wenn die Nicht-Vampire keinen Bedarf nach Blut hatten, dann musste Lukas als Vampir-Futter von dem Biss abhängig sein... und dem, was durch den Biss geschah. »Das bedeutet...« Hideo bemerkte, dass seine Fingerspitzen zitterten. »Sie haben mich alle gleichzeitig gebissen...mehrfach...und dann hatte ich diese allergische Reaktion... die vielleicht... keine ist.« Er sah zu Lukas hinüber, der nun auf einem Stuhl neben Phil Platz nahm, ungewohnt ruhig und entspannt wirkte, sogar ein winziges Lächeln auf den Lippen hatte. Ein Junkie, der gerade seine Dosis bekommen hatte. »Wie sie einen aus mir machen wollen. Gemacht haben?« Hideo schlang die Arme überkreuz eng um seinen Leib und krümmte sich zusammen. »Ich habe nicht geraucht, nicht getrunken, keine Tabletten, Trips oder Hasch konsumiert, und jetzt so was!!« Dass ihn eine unheimliche Wut packte angesichts dieser Ungerechtigkeit des Schicksals zeigte ihm nur umso stärker auf, wie ausgefranst sein Nervenkostüm beschaffen war. Er schoss hoch, stieß den Tisch an, der ins Trudeln kam, was aller Aufmerksamkeit auf sich zog. "Ich will endlich wissen, was ihr von mir wollt!!" Hideo ballte die Hände zu Fäusten, spürte das Adrenalin gesteuerte Beben in seinen Gliedern. "Du Scheißkerl!" Lukas rammte die flache Hand auf die eigenen Brusttasche und Hideos Halsband vibrierte summend. Der Schmerz war unbeschreiblich. Hideo brachen die Knie weg, ungebremst schnellte er hilflos dem Boden zu, seine Augäpfel willenlos verdreht. Speichel besprühte seine Lippen, als er krampfhaft nach Luft rang. "Nicht, Lukas!" Roz' bleiches Gesicht füllte Hideos Horizont aus. Hastig zerrten Finger an dem Folterinstrument, versuchten ihm Linderung in der anhaltenden Qual zu verschaffen. "Das Ding muss eine Macke haben." Lukas' Stimme schwebte ein wenig verunsichert zu Hideo herunter, dessen Sicht sich trübte, während er konvulsivisch zuckend um sich schlug und trat. "Idiot! Er erstickt!" Hideos Augenlider fielen herab, als sich Roz' Fingerspitzen um seinen Hals legten, behutsam die Muskelkrämpfe zu steuern suchten. Gleichzeitig glühender Atem in seine Kehle hinab gedrückt wurde, Speichel sich mit seinem eigenen mischte. Vage war er sich bewusst, dass andere seinen Körper auf dem Boden hielten, Stühle und Tisch beiseite schoben. »Ich sterbe. Schon wieder.« ^w^ Hideo kam langsam, wie durch eine Wasseroberfläche, zu sich, ein traumähnliches Loslösen aus einer bleischweren Dunkelheit, zurück zu wabernden Lichtreflexen. Als er blinzelnd die Augenlider hochfuhr, änderte sich der bunte Leuchtreigen zu einer sich drehenden Nachttischlampe, wie sie bei Kindern beliebt war. Das Kaleidoskop der Farben und Motive entsprang wohl einer Märchenphantasie, regenbogenkoloriert und funkelnd. "Hey, mein kleiner Prinz!" Kaum hörbar schmiegte sich die warme Stimme wie ein schützendes Laken über Hideos Sinne. Roz kauerte halb über ihm, ein Arm lagerte vertraulich über Hideos Brust, streichelte unaufhörlich über Hideos nackten Oberarm. »Nackt?!« Hideo ächzte, suchte in den glanzlosen, schwarzen Augen nach einer Erklärung. Formulierte eine Frage, die jedoch seine Lippen nicht erreichte, weil das Luftholen und Schlucken ihm Tränen der Agonie in die Augen trieb. "Schsch, nicht sprechen!" Nachdrücklich legte sich Roz' Finger wie ein Siegel auf Hideos aufgesprungene Lippen. Sein Lächeln flackerte kurzzeitig wie eine defekte Lampe. Dann aber hatte er sich wieder im Griff, kämmte wie gewohnt Strähnen aus Hideos Stirn, bewegte sich mit schlangenartiger Grazie über Hideo. "Du wärst fast erstickt, darum musste ich dir einen Luftröhrenschnitt verpassen", murmelte Roz beiläufig. Vermutlich in der Absicht, den Schock über das Vernommene dadurch abzufedern. Allein, Hideos Geist hatte bereits zu normaler Aufnahmebereitschaft zurückgefunden und funkte sofort Entsetzen und nachträgliche Panik in seine Nervenbahnen. Hideos Augen weiteten sich, sein Mund formte einen stummen Schrei, was Roz veranlasste, sofort die Hand aufzulegen, um jeden Laut zu unterdrücken. "Bitte, reg dich nicht auf! Du bist außer Gefahr, mein Prinz! Es ist alles wieder okay, hörst du?!" Hideo konnte sich dem Drang nicht entziehen, um sich zu schlagen, diesen Albtraum zu attackieren, um ihn in die Flucht zu schlagen. Durch eine schwere Bettdecke und Roz' Körpergewicht behindert kam er jedoch über ein hilflos-jämmerliches Zappeln nicht hinaus. "Nicht, bitte, Hideo, bleib ruhig!" Roz flehte förmlich, obwohl er mühelos Hideos unbändigem Protest gewachsen war, es ihn nicht einmal Kraft kostete. Hideo gab schließlich ermattet den Widerstand auf, drehte lediglich trotzig den Kopf auf die Seite, verweigerte den Blickkontakt. »Ein Luftröhrenschnitt. Dafür, dass ich ihnen als Lockvogel dienen soll für Georg, geben sie sich verdammt viel Mühe, mich umzubringen«, stellte er sarkastisch fest. Und wartete auf entsprechende Kommentare in seinem Hinterkopf, den üblichen Chor aus Wahnsinn und Spott. Dieser blieb jedoch aus. "Lukas hat das nicht gewollt. Und ich würde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht, mein kleiner Prinz." Roz legte die Wange schwer auf Hideos Brust. Seine Hand schob sich unter die Decke, tastete sich nach unten, was Hideo die Schamröte in die Wangen trieb. Alarmiert wandte er den Kopf, doch Roz hatte sein Ziel bereits gefunden, hielt im Schutz der gesteppten Stoffschichten Hideos Hand. Verwirrt betrachtete dieser das blond gesträhnte, wirre Haupt auf seinem Brustkorb, die Wärme, die dem fremden Körper entströmte, den eigentümlichen Geruch von desinfizierender Seife. Behutsam zog er die freie Hand unter Roz und der Decke hervor, erkundete mit zitternden Fingerspitzen die eigene Kehle. Fand dichten, strukturierten Verbandsstoff. Hideo seufzte leise und schloss die Augen. Seine Hand sank schwer herunter, auf Roz' Rückenpartie. Ob beabsichtigt oder nicht, die Frage ergab sich nicht mehr, da er sich seiner Erschöpfung hingab. ^w^ Hideo erwachte, als sein Oberkörper angehoben wurde. "Hmmm?", erkundigte er sich noch schlaftrunken, rollte sich unwillkürlich zu einem Ball zusammen, eine Attacke fürchtend. "Alles okay, ich muss dich nur runterbringen." Roz stopfte eine dünne Decke um Hideo mit der geübten Effizienz, die jede seiner Bewegungen kennzeichnete. Hideo lehnte sich widerwillig schwer an den anderen Mann, versuchte die letzten Ereignisse zu rekonstruieren, um herauszufinden, warum sein Instinkt aufheulte und Adrenalin in seine Blutbahnen jagte. »Runterbringen...Keller? Nein!!« Roz hatte bereits die Arme unter Hideos Kniekehlen und um seine Schultern geschlungen, als dieser sich wie ein Fisch zu winden begann, in stummen, aber hartnäckigem Protest. Vergeblich mühte sich Roz ab, Hideo auf seinen Armen so auszubalancieren, dass dessen Raserei ins Leere lief. Endlich gab er nach, ließ seinen Patienten wieder auf die Matratze sinken. "Hideo, komm schon, lass das. Wenn du dich wehrst, muss ich die anderen holen. Und du weißt, wir sind stärker. Das stiftet nur Unfrieden." Die sachlichen Worte trafen Hideo nicht unvorbereitet, die Gedanken waren ihm ebenso geläufig. Aber er konnte die Aussicht nicht kampflos ertragen, dass sie wieder über ihn herfallen würden, ihn zu einem Junkie machten wie diesen Lukas. Dass erneut die Feuerwalze sein Herz zum Zerspringen brachte, während er vollkommen gelähmt darauf warten musste, dass eine Ohnmacht ihn erlöste. "Hey", Roz umfing seine Wangen mit beiden Händen zärtlich, "ich bin bei dir und passe auf dich auf. Ich sorge dafür, dass es nicht zu arg wird." Hideo schnaubte, brachte mühsam krächzend seine Einwände hervor. "Warum... macht... ihr ... mich.. zu ... einem ... Junkie?!" Roz wischte sich durch die halblangen Strähnen, legte den Kopf schief. "Du wirst kein Junkie, mein Prinz. Die Wirkung gibt sich innerhalb von zwei Tagen, denn du bist nicht von Lukas' Blut. Wenn alles vorüber ist... wenn wir dieses Subjekt erledigt haben, dann bist du frei und ohne irgendwelche Nachwirkungen." Hideo musterte Roz' erleichterte Miene. Offenkundig hatte er andere Fragen befürchtet. Ohne sich etwas anmerken zu lassen über die knappen Schlussfolgerungen, die sein Verstand zog, ließ sich Hideo nun auf die Arme heben und in den Keller tragen. Widerstand erschien zwecklos, dafür aber wollte er die Gelegenheit nutzen, sich über Einiges klar zu werden. Diese Vampire verfügten über etwas, eine Körperflüssigkeit vermutlich, die ihre Opfer oder zumindest einige davon, von ihnen abhängig machten. Roz behauptete, dass dies nur bei Menschen geschah, die wie Lukas das spezielle Blut aufwiesen, das die Vampire benötigten. Und Hideo war ein 'normaler' Mensch, dem dieses Gift nichts ausmachen sollte, langfristig betrachtet. Hideo verkrampfte sich, als er das unnachgiebige Metall des Operationstisches unter sich spürte. »Warum aber spüre ich den Entzug?! Und wieso sollte Georg nach mir suchen?« "Hey, Roz!" Hideo zuckte zusammen. Der Schatten, den Roz unter der Operationsleuchte warf, massierte sich wie ein unsichtbares Schutzschild um ihn. "Was gibt's, Lukas?" Roz knurrte frostig, eine Hand drückte unauffällig Hideos Schulter. "Phil will dich unten sehen, wenn du unseren 'Gast' versorgt hast. Ich werde so lange auf ihn aufpassen." Die Luft knisterte hörbar, Lukas' beißender Spott duellierte sich mit Roz' kalter Abneigung. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren begann Roz in der gewohnten Präzision, die Lederschnallen um Hideos Gelenke festzuzurren, schob das Laken tief auf die Hüften, um auch diese zu fixieren. Hideo, der verzweifelt einen Blick aus den glanzlosen Augen erhoffte, eine Versicherung, ihm zur Seite zu stehen, wenn den geisteskranken Junkie wieder ein Wutanfall überkam, konnte lediglich spärlichen Trost aus den sanften Berührungen schöpfen. Denn Roz vermied jede Art von möglicherweise verräterischem Kontakt. "Ich bin gleich wieder da", verkündete er warnend, was Lukas mit einem boshaften Kichern quittierte. "Da sei dir mal nicht so sicher, Loverboy." Hideo biss die Zähne zusammen, schluckte schmerzhaft und versuchte sich vor Augen zu halten, dass sie ihn noch brauchten, deshalb auch keine unmittelbare Lebensgefahr drohte. »Oh, etwa so wie vorhin?«, kommentierte der wieder erwachte Schleifer trocken, »richtig, da wollten sie bloß nen Belastungstest machen, nicht wahr?« »Es war ein Unfall«, fauchte Hideo zornig, ballte unbewusst die Fäuste. »Klasse, wie gut, dass der 'Unfallverursacher' hier auf uns aufpasst, nicht?! Da können wir uns gleich sicherer fühlen.« Hideo schrak zusammen, als er Lukas' Körperwärme neben sich spürte. Gegen seinen Willen wandte er den Kopf, sah hoch, fand Lukas mit dem Rücken zum Tisch stehend, leicht angelehnt. "Weißt du, kleiner Scheißer, ich sollte dir mal ein bisschen Realität vermitteln, oder?!" Lukas' rhetorische Frage tropfte vor Bosheit. Der spöttische Singsang ließ eisige Schauer über Hideos unbekleideten Leib rieseln. "Du widerst mich an, dein erbärmliches Gewinsel, deine stinkende Angst. Der Prototyp des verwöhnten Bengels aus reichem Haus, die Eltern schwimmen förmlich im Geld. Der Knabe hat alle Vergünstigungen und Chancen, die man sich nur wünschen kann und was tut er?! Er denkt sich, 'oh, mein Leben ist eine einzige Tragödie, weil ich nicht die neuesten Designer-Klamotten bekomme!' Und so begibt er sich in die Unterwelt der gewöhnlichen Sterblichen, um sich mit ein bisschen Thrill zu versorgen und seinen exklusiven Mund um die Schwänze der Proleten zu legen. Wirklich, das nenne ich mal Volksnähe!" Lukas fuhr herum, stützte beide Arme hart neben Hideos Kopf ab, funkelte mit seinen fiebrig glänzenden Augen hinunter. "Du bist nichts als ein Schmarotzer, ein Stück Dreck unter dem Fingernagel! Da draußen, vor euren Augen, krepieren Menschen in Kellergeschossen, werden irgendwo verscharrt und niemanden schert es! Und du kommst dir sicher noch verdammt mutig und cool vor, wenn du dich am Bahnhof in dein Eckchen stellst und mit dem Hintern wackelst!" Hideo wünschte, in den Stahl des Tisches sinken zu können, dem Speichel sprühenden Monolog, der sich hitzig steigerte, zu entkommen. Er hatte sich kaum Gedanken gemacht, was die Welt um ihn betraf, schließlich hatte jeder seine Probleme und Sorgen. Nicht einmal Superman hatte mehr als Metropolis im Griff, nicht wahr?! "Aber Betroffenheit und Bedauern sind ja billig, richtig, 'Prinzchen'?!" Als hätte er Hideos Gedanken gelesen, wütete Lukas weiter, das fanatische Glühen in den brennenden Augen glomm unheilvoll vor Hideo auf. "Ich bin verprügelt, missbraucht und gequält worden, seit ich den ersten Atemzug in einem feuchten Keller gemacht habe. Ich habe zwischen den Leichen meiner Geschwister ausgeharrt. Musste die 'Zuchtversuche' meines Herren über mich ergehen lassen, eigenhändig mein erstes Kind erwürgen, weil es so stark behindert war, dass es nicht einmal als Blutbank akzeptabel war. Und dann sehe ich so reiche Muttersöhnchen wie dich, verzärtelt und verhätschelt, die sich schmollend geben, wenn einmal ein Wunsch nicht sofort erfüllt wird. Das kotzt mich dermaßen an...!" Hideo presste die Lippen zusammen, zwang sich, dem wahnsinnigen Blick nicht auszuweichen, standzuhalten. Er mochte sich nicht vorstellen, was Lukas heraufbeschwor, wollte nicht beurteilen müssen, wie viel davon der Wahrheit entsprach. Doch Lukas kämpfte bereits mit den eigenen Dämonen. Die Arme eng um den ausgemergelten Leib geschlungen wiegte er sich mit leerem Blick hin und her. Seine Stimme, zuvor sarkastisch heiser, war nun zu einem geisterhaften Flüstern gesunken, gefroren unter Entsetzen und Resignation. "Wir sind abhängig, Marionetten, nein, noch weniger. Aus einer Laune heraus wird der Kuss versagt und du stirbst innerhalb von drei Tagen unter Qualen, die sich keiner vorstellen kann... Ich habe erst vor zwei Jahren Schreiben gelernt, zum ersten Mal einen Fernseher gesehen. Bin in einem Auto gefahren..." Lukas' Blick füllte sich wieder mit Leben, allerdings der Sorte, die Hideo üblicherweise die Straßenseite wechseln ließ. Doch Lukas überraschte ihn. Ein ungewohnt zärtlicher Ton stahl sich in seine Stimme, ungeachtet des wüsten, irren Ausdrucks in seinem Gesicht. "Phil hat mir aus einem Buch vorgelesen, 'Kaspar Hauser'. Genauso habe ich mich auch gefühlt." Ein seltsames Zucken bebte in Lukas' Miene und Hideo erkannte verspätet, dass dieser zu lächeln versuchte, ohne Aggression oder Hinterlist. "Phil wird sie alle auslöschen, die alten Vampire. Wir werden meine Leute befreien. Und das Erbe der Vampire aufteilen, damit alle gut leben können." Wieder vibrierte die raue Stimme vor Entschlossenheit und Kampfeslust, begleitet von einem harten, boshaften Auflachen. "Und wir kriegen sie, die Bastarde, alle!" In diesem Augenblick öffnete sich die schwere Tür lautlos, allein ein schwächlicher Luftzug markierte diesen Umstand. "Phil braucht dich oben." Roz hatte noch einige weitere Grade an arktischer Kälte hinzugewonnen. Lukas kicherte leblos, klatschte Hideo dann unvermittelt auf die Wangen. "Wir sind bald wieder bei dir, verwöhnter Bengel!" Und verließ den Raum. Hideo schloss die Augen und seufzte tief. Erleichterung schwemmte in seine Glieder wie eine warme Woge. "Er ist ein kleiner Mistkerl." Ein feuchter Lappen wischte über Hideos Gesicht, beseitigte die Spuren von Lukas' Monolog. "Alles okay?" Roz lehnte wie gewohnt in direkter Nähe über Hideo, lächelte liebevoll, die halblangen Strähnen wirr um das Gesicht fallend. Hideo blinzelte, nickte dann knapp. Der Schleifer nutzte den Moment der Entspannung, um neue Anweisungen zu hinterlassen, dabei den Chor aus ängstlichen Stimmen niederbrüllend. »Frag ihn jetzt! Frag ihn, warum sie dich brauchen! Los, er ist der Einzige, der sich von dir um den Finger wickeln lässt!« Roz stemmte sich in der Zwischenzeit mühelos auf den Tisch, stützte einen Arm über Hideos Taille auf, lehnte schräg unter der Lampe. Seine Fingerspitzen wanderten spielerisch über den festen Verband an Hideos Hals. "Hast du noch Schmerzen? Beim Atmen? Beim Schlucken?" Hideo zuckte mit den Schultern, deutete mit seinem Mienenspiel beredet an, dass es sich aushalten ließ. Roz belohnte sein Durchhaltevermögen mit einem intensiven Lächeln, kämmte erneut schwarze Strähnen aus Hideos Gesicht, der sich langsam fragte, ob er nicht eine andere Frisur wählen sollte. »Frag endlich, du Gockel!«, kommandierte der Schleifer mit Schaum vor dem Mund angesichts solch müßiger Gedanken. "Warum... braucht... ihr .. mich?" Hideo erschrak vor seiner eigenen Stimme, so unbehauen wie Felsgestein, ebenso staubig und rau. Roz' Augenbrauen zogen sich zusammen, in den Augenwinkeln zuckte es kurz. Dann wandte er den Kopf zur Tür, kaute auf seiner Unterlippe. Um sich tief hinunterzubeugen und kaum hörbar auf Hideo einzuflüstern. "Phil hat einen Plan. Dieser Georg sucht nach dir. Er wird alle Risiken eingehen, um dich zu bekommen. Und wir werden ihn dann erledigen." Hastig richtete er sich auf, zupfte an dem dünnen Laken, das Hideo bedeckte, wich dessen fragendem Blick aus. »Was ist an mir, dass Georg mich dringend finden will?! Geht es nur um den Mord an diesem Monster?! Unwahrscheinlich... oder?!« "Roz, wir beginnen gleich!" Eilig sprang Roz vom Tisch, Sekunden, bevor die angelehnte Tür aufgestoßen wurde ungeachtet ihrer massiven Beschaffenheit. Phil erteilte wie üblich die Anweisungen. "Kandare. Viktor, Bernard, Beine. Roz, Kopf fixieren." Hideos panischer Blick suchte Roz über sich, der ihm ungerührt den hölzernen Knebel zwischen die Kiefer rammte. Allein ein zuckender Muskel in dessen Wange verriet, dass er sich nicht wohlfühlte. Aber was half das Hideo?! Das Laken verlor sich, Kälte beschauerte Hideos nackte Glieder, fremde Hände packten zu, dann brannten erneut Einstichstellen in seinem Leib. Roz fuhr sich über ihm mit der Zunge über die Lippen, fast zögerlich, beugte sich dann aber auch herunter und biss tief in Hideos linke Brust. Elektrische Wellen breiteten sich kreisförmig aus, erhitzten sich mit jedem Kontakt zu Nerven auf ihrem Weg. Hideo bäumte sich unwillkürlich auf, als sein Herz wie rasend gegen den Brustkorb rannte, er das Gefühl in seinen Gliedern verlor. Blut rauschte wild in seinen Ohren, bildete den einzigen Horizont seiner Wahrnehmung. Jeder hastige Schlag übertönte mühelos alle anderen Laute. »Es ist gleich vorbei, gleich vorbei, gleich vorbei...« Angstvolles Credo in seinem Amok laufenden Verstand, der der Flut der Rückmeldungen von Glut und prickelndem Schmerz nicht mehr Herr werden konnte. Hideos Sicht trübte sich ein, durchsiebt von schwarzen Flecken, verschlungen von der Dunkelheit. ^w^ "Hideo?" "Hideo!" »Glühe noch immer. Wie ein Hummer. Bei lebendigem Leib gekocht. Möchte weglaufen. Es abschütteln. Energie bis zum Bersten. Habe aber kein Gefühl. Keine Arme. Keine Beine. Tot. Abgeschnitten.« "Hideo?" »Lass mich. Verräter.« "Hideo, komm schon." »Geh weg. Du hast versprochen. Mir zu helfen.« "Hideo, mach die Augen auf, bitte?" »Seine Stimme ist zu süß, zu leise. Er traut sich nur, wenn die anderen nicht da sind. Ich kann nicht auf ihn bauen.« Aber Hideo konnte den beharrlich liebkosenden Fingerspitzen nicht lange Widerstand leisten. Auch sein noch immer in Flammen stehender Körper verlangte nach Entlastung, gleich welcher Art. Endlich schlug er die Augen auf und erkannte Roz über sich. »Wie kann ich ihn so klar sehen, mein Kopf so frei sein, wenn sich alles andere im Widerstreit zwischen Fiebertaumel und Totenstarre bewegt?!« "Hey", Roz wischte über Hideos Stirn, lächelte sonnig, aber auch erleichtert, "ich bin froh, dass du aufgewacht bist." Hideo konnte diese Begeisterung nicht teilen, denn mit Macht drängten sich die pulsierenden Herzschläge, das Strömen seines Blutes in sein Bewusstsein. "Ich war nicht sicher, ob sich das mit den Schmerzmitteln verträgt, die ich dir wegen des Schnitts verabreichen musste." Roz flüsterte unbehaglich, seine Finger spielten selbstvergessen mit Hideos Haaren. Dieser bäumte sich unter einer heimtückischen Glutwelle auf, die überraschend wie Lava eruptierte, inmitten seines Magens ein feuriges Inferno entzündete. Ein erstickter Wehlaut entfuhr ihm, dann zwangen die ledernen Fesseln ihm einen abrupten Halt auf. Seine Lungen brannten ebenso wie seine wunde Kehle, als er versuchte, den Schmerz hinweg zu atmen, heftig keuchend und zitternd, obwohl jegliches Gefühl fehlte. "Schsch", Roz strich über seine Brust, seine Oberarme, drückte ihn wieder auf die stählerne Unterlage hinunter. Hideo wünschte sich, schreien zu können, um wenigstens ein Ventil für die Qual zu haben. Dem Druck nachgeben zu können. Allein, seine Stimmbänder versagten den Gehorsam. Dafür aber legten sich Roz' Hände besänftigend um seine Wangen, hielten seinen Blick gefangen. "Willst du, dass ich dir helfe?" Hideo blinzelte, Roz' Miene war rätselhaft, jedoch nicht vollkommen ohne Hinweis auf die Natur der angebotenen Hilfeleistung. Die geröteten Wangen, der hastig fliegende Atem, die drängenden Worte: Hideo erkannte Lust und Verlangen, wenn es ihm begegnete. »Absolut dekadent! Widerlich! Abstoßend!« Der Schleifer wütete in Hideos kristallklarem Kopf, untersagte Kooperation kategorisch. »Du wirst auf gar keinen Fall mit diesem Vampir-Monster schlafen!!« Hideo kicherte heiser, was ihm einen erstaunten Blick von Roz eintrug, dann wandte er rasch den Kopf ab, ungehindert trotz der ihn umfangenden Handflächen. Als er die Augenlider senkte, brannten Tränen des Fiebers in seinen Wimpern. »Ich kann mich nicht bewegen und er...! Aber ich muss diese Energie loswerden, gleichgültig, was es kostet! Ich verglühe, mein Herz rast, ich halte das nicht viel länger durch! Dieses Mal ist es viel schlimmer.« »Nein!! Ich verbiete es!! Das erste Mal mit diesem Monster?! Niemals!!« Der Schleifer spuckte Schaum, pochte offenkundig mit seinem Prügel gegen Hideos Schläfen, was sich in einer heftigen Migräne entlud. Die anderen Stimmen jedoch frohlockten, trällerten orgiastisch, geisterten blitzend durch Hideos eingefrorenen Verstand. "Sag ja", flehte Roz sanft an Hideos Mund, leckte unaufgefordert über die aufgebissenen Lippen. Hideo keuchte leise, drehte den Kopf, um mangels der Möglichkeit, sich eindeutig artikulieren zu können, seine Lippen als Zusage zu bieten. "Hmmm", seufzte Roz wohlig, küsste Hideo hungrig, drang in dessen Mund ein, reizte die betäubte Zunge. Spielte mit den winzig geriffelten Hautfältchen in Hideos Gaumen, bis dieser sich unter ihm wand, weil sich nun neben die Lava in seinen Adern ein weiteres Verlangen gesellte. Widerstrebend wich Roz zurück, entließ Hideo, um aus dem Pegel der Operationsleuchte zu treten. Hideo schloss die Augen, dennoch flimmerten bunte Funken vor dem dämmrigen Hintergrund, in gleichem Rhythmus wie der bohrende, erbarmungslose Schmerz in seinen Schläfen. Als er fremde Hitze an seiner Seite spürte, zwang Hideo seine Lider zur Kooperation. Roz stand neben ihm, entkleidet, sonnengebräunt und muskulös auf eine unangestrengte, natürliche Weise. Zwischen seinen Zähnen hingen Plastikpäckchen in bunten Farben, umschmeichelt von einem liebevollen Grinsen. Eilig zog Roz nun das Laken zurück, befreite Hideos Körper von den Lederschnallen, drückte ihm allerdings die Halterungen für die Handgelenke in die verkrümmten Fäuste. Schwang sich dann geübt auf den Tisch, nahm rittlings auf Hideos Hüften Platz, der angesichts des Hautkontakts und der vagen, aber unmissverständlichen Körperpartien, die sich an seinen Unterleib schmiegten, nach Luft rang. Ob Farbe seine Wangen verdunkelte, mochte er nicht zu beurteilen, da er bereits in Flammen stand, bis zur Unerträglichkeit. Roz wickelte sich das Laken über die Schultern, wie ein Schutzzelt, legte dann die Päckchen mit einem Augenzwinkern neben Hideos Kopf. "Hab keine Angst", wisperte er intim an Hideos Ohr, bevor er begann, dessen Hals rund um den Verband zu erkunden, dann weiter südlich verschwand. Hideo schloss die Augen, suchte nach den neuen Reizen, die sein leichenstarr gelähmter Körper nur sehr abgemildert weitergab. »Wie will er das anstellen?«, diskutierte eine Stimme in seinem Hinterkopf mäßig interessiert das Geschehen. »Du kannst nicht mal den Finger heben. Das wird wohl keine fesselnde Vorstellung.« »Wenigstens ist er entspannt«, witzelte eine weitere Stimme erbarmungslos, was Hideo die Zähne knirschend übereinander reiben ließ. Roz schien jedoch von diesem inneren Kampf nichts zu bemerken. Seine Finger kontrollierten bereits den Griff von Hideos Fäusten um die Lederriemen. Während er Hideo hungrig küsste, fordernd und ungeduldig, vernahm Hideo mit geschlossenen Augen das reißende Geräusch von Plastikfolie. Ein Anflug von Furcht und Unbehagen mischte sich mit der fiebrigen Lava, die seine Adern in Windeseile durchmaß, hinterließ dennoch keinen körperlichen Eindruck, keine Verspannung oder einen Krampf. »Besser könnte es gar nicht kommen. Wenn er eine Niete ist, wirst du es nicht spüren«, scherzte boshaft der Chor in Hideos Kopf, bis wie immer der Kontrapunkt folgte. »Zumindest jetzt noch nicht.« Roz' Hände fanden sich auf Hideos Hüften, hoben diese behände an, wickelten sie, durch die Hitzewallungen geschmeidig, um den eigenen Leib. Hideo schlug die Augen auf, suchte Roz' Gesicht, glühend, erregt, strahlend und konzentriert. Eisige Schauer strichen unter Hideos Rücken hinweg, der den Kontakt zu dem bloßen Laken auf der stählernen Oberfläche verloren hatte. »Ich werde kaum etwas spüren«, beruhigte er sich, sein Pulsschlag legte jedoch noch einen Takt zu. Ein Druck in seinem Unterleib, Hände, die begierig und hart seine Oberschenkel streichelten. Dann plötzlich eine seltsame Abkühlung, verschwommen und doch Impuls gebend. Hideo öffnete die Augen, sah Roz, der sich gerade auf den Knien von den Fersen hoch stemmte. Geschickt der niedrigen Lampe auswich und sich mit beiden Armen, die Hände um die Kanten gelegt, beidseitig von Hideos Oberarmen aufstützte. Sein Leib zuckte in heftigen Rhythmen, gab kurzwellige Stöße ab, die Hideo erschütterten. Erschüttert hätten, wenn er sich nicht im Zustand der körperlichen Lähmung befunden hätte. Doch ungeachtet der Unempfänglichkeit seiner Glieder für Befehle reagierte sein Leib auf Roz' Anstrengungen, hielten die Fäuste sich an den Riemen fest, leistete den entsprechenden Widerstand. Roz atmete heftig, angestrengt. Perlen benetzten seinen nun entblößten Oberkörper. Das Laken hatte längst einen vorläufigen Halt auf Hideos Knien gefunden, die sich noch immer um Roz schlangen. Roz kniff die Augen zusammen, stöhnte unterdrückt, biss sich die Lippe wund, um Laute zu verhindern. Dann raste eine konvulsivische Welle durch seinen angespannten Leib und entlud sich heftig. Hideo wurde von den Ausläufern hochgerissen. Gleichzeitig schossen erwachende Nerven eine Kanonade an unterschiedlichsten Emotionen ab, beendeten für Sekundenbruchteile ihren gelähmten Schlaf. Die nachfolgenden Wellen verbündeten sich mit der kochenden Lava in Hideos aufrührerischem Blut. Bevor das ganze Ausmaß der Gewalt sein Nervenzentrum zum Kollabieren nötigte, schaltete sein Bewusstsein ab. ^w^ deeper and deeper (Asylum) there's a long dark reaper of souls with his hands under contrance and there's a good chance you're preacher's lying do you follow the voice join hands out to rejoice can you reach the hand that you can't be denying deeper and deeper and am I eye to eye with you now deeper and deeper and am I eye to eye with you now I'm eye to eye with you now drink to the coming queen and the earthly scene with blood from a wound that can never heal and I can reach your fossile eyes there's a love underneath your lies when you walk alone you'll never regain deeper and deeper and am I eye to eye with you now deeper and deeper and am I eye to eye with you now I'm eye to eye with you now walls you build around your mind walls you build around your mind walls you build around your mind going deeper can you get me out? through the walls you build around your mind through the walls you build around your mind jump to the reaper of souls and the fourheaded queen I roar and glory will out of my time and the earthling I've seen going walls you build around your mind walls you build around your mind walls you build around your mind going deeper deeper and deeper deeper and deeper deeper and deeper deeper and deeper and I'm eye to eye with you now ^w^ Kapitel 5 - Der Plan "Uhhh." Ein weinerliches, leises Winseln. "Hideo? Kleiner Prinz?" Warme, feuchte Lippen an Hideos Halsbeuge. Dieser keuchte und wiederholte das klägliche Geräusch. "Okay, okay, ich eile, mein Süßer!" Die Lippen kollidierten knapp mit Hideos, allein die wund gescheuerte und aufgerissene Haut verbrannte sich gegenseitig. Eisige Schauer an Hideos Seite, dann wieder das federleichte Streicheln von sich herabsenkendem Stoff. Hideo nutzte die Gelegenheit, vorsichtig forschende Ausläufer in seine Glieder zu entsenden. Tatsächlich erhielt er verzögerte Antworten, wenn auch einige von Schmerz kündeten. Seine Kehle und sein Unterleib. Nicht überraschend. Erfreulicherweise hatte sich das Brennen in seinen Adern zu einem leidenschaftlichen Pochen reduziert, vergleichbar mit dem Adrenalinpegel nach einem Kurzstreckenlauf. Hormonschübe steuernd, aber nicht über das Maß des Erträglichen hinausgehend. "Mund auf!" Roz materialisierte sich wieder in Hideos Aufmerksamkeit. Ohne Widerstand öffnete der den Mund, hielt die Augen geschlossen, vertraute sich dem anderen an. Tropfendes Eis begegnete der Hitze in Hideos Mundhöhle mit dem raschen Abschmelzen fruchtiger Brocken, die in seine Kehle hinabglitten, eine Spur der Linderung hinterließen. "Gut, nicht wahr?" Roz lachte leise, vergnügt, lutschte schmatzend ein weiteres Stück selbst gemachten Fruchteises ab, um dieses dann zwischen Hideos verlangend geteilte Lippen zu schieben. Und den Zugang zu versiegeln, mit glühendem Kuss Eis in Flüssigkeit zu wandeln. Derart in diesen spielerischen Nahkampf vertieft, entglitt seiner Hand der Rest, tropfte schwer auf Hideos Brust, der einen erschrockenen Aufschrei nicht unterdrücken konnte, sich verschluckte und zu husten begann. "Tschuldige!" Roz kicherte ausgelassen, rückte ein wenig von Hideo ab, der mühsam nach Atem rang, ignorierte das Beben, um die Reste des Eises mit der Zunge aufzunehmen. Und gleichzeitig Hideos Brustwarze zu reizen, zwischen Körperwärme und arktischem Schmelzwasser gefangen. Hideo drehte sich unwillig auf die Seite, um den letzten Ausläufern der Hustenattacke besser begegnen zu können, studierte dabei unauffällig seine Umgebung. Noch immer in dem Kellergelass, dämmrig mit Ausnahme der Operationsleuchte über ihren Köpfen. "Sorry, das war wirklich keine Absicht!" Verzeihung heischend schmiegte sich Roz mit seiner ganzen Körperlänge intim an Hideo an. Seine Hand streichelte versöhnlich über Hideos Brust. Hideo knurrte leise, gab aber nach, ließ sich wieder auf den Rücken sinken, was Roz zum Anlass nahm, sich quer über ihn zu lehnen und ihn nachdenklich zu mustern. "Wie fühlst du dich?", erkundigte er sich ruhig. Hideo zuckte mit den Schultern, mühte sich um Antwort. "Geht... schon..", krächzte er rau, schluckte bereits wieder trocken. "Kannst du dich schon wieder bewegen? Hast du Gefühl in deinen Händen? In den Füßen?" Hideo zögerte kurz, gab dann zu, was Roz ohnehin erkennen konnte. "Ein.. wenig..." Roz studierte Hideo noch immer, biss sich gedankenverloren auf die Unterlippe, dann wandelte sich seine Miene zu Entschlossenheit. Er stemmte sich schwungvoll von Hideo hoch, glitt rasch vom Tisch herunter. Hideo drehte neugierig den Kopf, um die nächste Entwicklung nicht zu verpassen, die darin bestand, dass Roz eilig in seine Sachen stieg. Dann wandte er sich wieder Hideo zu, trat an den Tisch heran und begann, das verstoßene Laken eng um Hideo zu wickeln. "Gut", beschied er, hob Hideo, der sich nicht geregt hatte, auf die Arme. "Ich bringe dich nach oben, in mein Zimmer. Sei bitte leise, damit nicht gleich einer auf uns aufmerksam wird." Hideo nickte knapp. Es war ihm keineswegs entgangen, dass Roz sich zwar geduldete Freiheiten herausnahm, aber dieses Ausmaß konnte wohl auch Phil nicht ohne Weiteres tolerieren. Nicht, dass Hideo die Hoffnung hegte, Roz würde sich von dem Plan, der wie ein Damoklesschwert über Hideos Kopf drohte, abbringen lassen. Nein, er war Roz sympathisch, vielleicht war es auch samariterliches Mitgefühl, aber nichts darüber hinaus. »Er ähnelt Mirko ein wenig«, bemerkte Hideo überrascht, während er scheinbar schwerelos die dunklen Stiegen hinauf transportiert wurde, angeschmiegt an Roz' warme Brustpartie. »Genauso überschwänglich und offen, ohne Berührungsängste. Aber auch entsprechend wankelmütig und beeinflussbar.« Hideo vernahm Murmeln, dazu Geräusche eines Fernsehers., Roz jedoch trug ihn schattenhaft gewandt den niedrigen Flur hoch, in den zweiten Stock hinauf, dann in einen winzigen Raum. "Da sind wir auch schon!" Roz' Erleichterung war deutlich aus seiner Stimme herauszufiltern. Hideo fand sich sogleich auf einem breiten Bett wieder, altmodisch schmiedeeisern mit hohem Kopfende, sank in die weiche Matratze ein. Roz drückte die Tür ins Schloss und lehnte sich gegen das Türblatt, lächelte Hideo zu. Dieser bemühte sich, aus der wurstpellenartigen Verpackung zu gelangen, um unter die Decke zu kriechen, denn in Roz' Zimmer herrschten nahezu arktische Temperaturen. Lediglich der Atem kondensierte noch nicht in der Luft. "Was hältst du von noch einer Runde?" Roz kämmte sich strähnige blondierte Haare aus den Augen. "Sozusagen noch einmal mit Gefühl?", scherzte er in Anspielung auf einen Filmtitel. Hideo, der sich freigekämpft hatte und rasch unter der Daunendecke verschwunden war, zögerte. Roz begriff ohne Erläuterung. "Du hast Schmerzen." Eine Feststellung, betrübt, aber sachlich. Schwang Enttäuschung in den wenigen Worten? Hideo war sich dessen nicht sicher, aber es berührte ihn. "Und wenn wir tauschen? Würdest du dann...?" Hideo starrte Roz ungläubig an, der sich nun fröstelnd die Oberarme rieb, dann kurzentschlossen aus den Kleidern stieg, ohne falsche Scham, um zu Hideo unter die Decke zu schlüpfen. "Was denkst du?" Roz schmiegte sich an Hideo, bewegte sich leicht, rieb ihre Haut aneinander, um die Wärme zu teilen. "Ich.. ich... habe... noch ... nie..." Hideo verstummte nervös, blinzelte unwillkürlich. Roz kämmte ihm schwarze Strähnen hinter die Ohren, lächelte träge. "Lass mich nur machen, mein Prinz!" Er kroch noch näher an Hideo heran, hauchte in sanftem Spott, "nichts einfacher als das." Und küsste Hideo hungrig, in entflammter Leidenschaft. ^w^ Hideo lauschte beiläufig auf die regelmäßigen, tiefen Atemzüge, die wie eine warme Brise über seine Wange hinwegstrichen. Roz hatte sich in Löffelstellung seitlich eng an ihn geschmiegt, besitzergreifend lag ein Arm über Hideos Taille. Er selbst war hellwach. Zu viel war passiert, ließ ihm keine Ruhe, nun, da er die Gelegenheit hatte, nicht gerade dem Tod entrann oder unter unsäglichen Schmerzen litt. »Was für ein Tag... oder Nacht?« Hideo kaute kindlich auf einem Zipfel der Daunendecke herum. Das erste Mal... es hatte etwas Befremdendes gehabt. Zuvor angenehm erregt, dann mit Reizen lodernd entfacht, hatte ihn Roz' Leidenschaft erschreckt. Der völlige Verlust der Selbstkontrolle. Jener hatte sich ein Tuch in den Mund gestopft, bevor er sich in heftigen Kontraktionen auf Hideos Hüften gewunden hatte. Das Gesicht glühend in seliger Entrücktheit, die schwarzen, glanzlosen Augen fest geschlossen. Hideo hatte sich nicht wie der Herr der Lage gefühlt, obwohl er eigentlich die Kontrolle... aber zweifellos hielt diese derjenige Partner inne, der ausreichende Erfahrungen ins Feld führen konnte. Und Hideo verfügte erst seit einer knappen Stunde über einschlägige Kenntnisse. Er fragte sich verwirrt, wie wohl die Stricher in der Lage waren, solche Intimitäten innerhalb kürzester Zeit mit vollkommen Fremden 'abzuwickeln'. Konnte man wirklich so unberührt, emotionslos aus einer solchen Konfrontation gehen?! Hideo rieb sich vorsichtig die Stirn und zog die Beine an. »Sie werden sicher bald zuschlagen... deswegen auch vorhin die harte Dosis.« Und dann...?! »Was meine Eltern wohl machen? Ob sie schon zurückgekehrt sind? Mich vermissen?« Heimweh, Sehnsucht nach seinem verlorenen Leben, brandete in Hideo auf, mit solcher Macht, dass ihm die Kehle eng wurde, Tränen in seinen Augen brannten. Eilig erstickte er seinen Kummer mit dem Deckenzipfel, bemühte sich, seinem Körper verräterisches Zittern auszureden. »Gut.« Der Schleifer blitzte kurz in Hideos Gedanken auf, ungewohnt sanftpfotig. »Und nun schlaf.« Bleierne Müdigkeit erwartete ungeduldig Hideos Tribut. ^w^ Er erwachte, als ihm der köstliche Duft frisch aufgebrühten Kaffees in die Nase stieg. Die Augen reibend setzte sich Hideo unsicher im Halbdunkel auf. Offenbar hatte Roz die Vorhänge zugezogen. Als sich die Zimmertür öffnete, sah Hideo hoffnungsvoll hoch. Vielleicht gab es nun Frühstück? Doch herein stolzierte nicht etwa Roz, sondern Lukas. Hideo riss die Decke hastig in die Höhe, zog die Knie vor die Brust, als Lukas behutsam die Tür hinter sich schloss. "Na, du kleine Hure, wie hast du dich bei Roz gemacht? Hast du die Unschuld vom Land gegeben? Er steht darauf, den Verführer markieren zu können." Lukas' Stimme hielt sich gesenkt, doch jede Silbe tropfte vor absichtsvoller Bosheit. "Du solltest dir nichts einbilden. Er gehört zu uns und er gehorcht Phil. Außerdem legt er alles flach, was nicht schnell genug Deckung sucht." Mit einem spottenden Lachen verließ Lukas das Zimmer. Hideo ballte die Fäuste, knirschte mit den Zähnen. »Blöder Kotzbrocken! Du glaubst, du wärst so clever, aber ich bin auch nicht von gestern!« Etwas klapperte an die Tür, dann hörte Hideo ein Wispern. "Süßer, öffne bitte mal die Tür, ich habe keine Hand frei." Hideo schwang sich aus dem Bett, schnappte eilig das Laken, wickelte es sich pro forma um die Hüften und drückte die Klinke hinunter. Roz balancierte ein Tablett herein. Hideo konnte in der Dämmerung nicht erkennen, was es trug. "Kann ich vielleicht einen Vorhang aufziehen?", erkundigte er sich höflich. "Klar!" Roz klang aufgeräumt, fröhlich. Als Hideo den schäbigen Vorhang mühsam auf die Seite gezerrt hatte, saß Roz bereits auf dem Bett, das Tablett auf dem Schoß. "Kaffee, Brot, Marmelade, Butter", zählte er gut gelaunt auf. Hideo raffte seine Pseudo-Toga und nahm neben Roz Platz, während jener eifrig dicke Scheiben mit Butter und Marmelade bestrich. "Bitte, greif zu, du musst doch einen Bärenhunger haben!" Roz nickte Hideo zu, senkte die Zähne selbst in eine Schnitte. Hideo kaute langsam, gründlich, schluckte auch den Kaffee so sorgfältig, als habe er einen Galgenschmaus vor sich. Vielleicht traf dies auch zu. ^w^ Hideo war nicht übermäßig überrascht, als Phil unaufgefordert in Roz' Zimmer trat und ihn wieder in den Keller hinab beorderte. Er leistete keinen Widerstand, hatte er sich doch entschlossen, zu kooperieren, um endlich aus diesem Haus und der Reichweite der Vampire zu entkommen. Sie wollten Georg eine Falle stellen und ihn erledigen?! Gut, sollten sie. Er würde sein Heil in der Flucht suchen, wenn sich das Getümmel entlud. Zumindest sah sein eigener, unausgereifter Plan dies vor. Hideo wurde festgeschnallt, ballte die Fäuste und schloss die Augen. Er wusste, es würde ihm die gleiche Qual drohen, die auch seine Tage und Nächte zuvor bestimmt hatte. Das Vampirgift, was auch immer es war, würde seine Adern bis zum Kochen erhitzen, während sein Körper gelähmt hilflos die Attacke hinnahm. »Lass mich schnell ohnmächtig werden«, flehte er zu unbekannten Göttern, ohne großes Zutrauen. ^w^ Hideo erwachte unter dem schmerzhaften Pulsieren seines rasenden Herzens, begleitet von einer erregten Debatte. "Bist du sicher, dass das ihm nicht schadet?" "Was willst du eigentlich?! Angst um dein Betthäschen?" "Hör auf! Du weißt, dass er nur ein Kind ist, nicht mal Siebzehn! Wir wollten ihn laufen lassen, wenn das Subjekt erledigt wurde." "Wir hatten zum Testen keine Zeit, lassen wir es darauf ankommen." "Phil, bitte, er ist noch angeschlagen, wenn das nicht funktioniert..." "Dann nennt man es 'Kollateralschaden'". Hideo zuckte unter dem Laken vorsichtig, das heißt, er versuchte es, aber die betäubten Glieder widerstanden seinen Bemühungen. Sein Kopf klingelte alarmiert, suchte fieberhaft nach einem Einfall, einem Ausweg, denn das Belauschte erfüllte Hideo nicht gerade mit Zuversicht, was seine unmittelbare Zukunft betraf. "Dann lass es mich wenigstens machen!" Roz' Stimme schrillte an Hideos Ohr, der vorsichtig den Kopf wandte, um sich zu bestätigen, was sein Instinkt bereits festgestellt hatte: die Vampire stritten sich auf dem Kellerflur. Und Roz ergriff für ihn Partei, allerdings verhinderte dies nicht die Ausführung des wie auch immer gearteten Plans. Die Tür öffnete sich vor Hideos Augen und Roz betrat den Raum, gesenkten Hauptes, angespannt und missmutig. "Es ist soweit", krächzte Hideo unaufgefordert, hoffte, durch den Überraschungsmoment Roz eine unbedachte Äußerung zu entlocken. Dieser jedoch hob lediglich den Kopf an und nickte Hideo schweigend zu. Dann schnallte er ohne weitere Einleitung Hideos Glieder frei, stemmte diesen in eine sitzende Position. Umfing Hideos Kopf mit beiden Händen, das Gesicht ernst, bedeutungsschwer. "Hör gut zu, mein kleiner Prinz. Ich werde dich nun mit einer Salbe einreiben. Du darfst auf gar keinen Fall etwas davon in Augen oder gar Mund bekommen, verstanden?! Verstanden?!" Hideo nickte hastig, suchte in den glanzlosen Augen nach einer Erklärung, vermutete insgeheim eine Giftattacke. Roz seufzte tief, hielt sich an Hideos Schultern fest. "Wenn alles vorbei ist, musst du dich sofort waschen. Am Besten bürstest du die Haut ab. Auch die Kleider müssen gereinigt werden." Hideo unterdrückte die zynische Frage, ob es sich lohnte, ihm diese Anweisungen zu erteilen, wenn er doch als Lockvogel sein Leben verlieren sollte. "Und dann? Wie läuft es?", bemühte er sich um arglose Neugier. Roz aber schüttelte den Kopf. "Das weiß ich nicht. Phil hat mich nicht eingeweiht. Aber er hat versprochen, dass du danach frei bist." Ohne Hideo in die Augen zu sehen begann Roz, durchsichtige Handschuhe übergestreift, die schmierige Salbe mit einem leichten Stich ins Violette in Hideos nackte Haut einzumassieren. Hideo ließ sich regungslos bearbeiten, dankbar für die Betäubung, als Roz auch nicht vor intimsten Körperstellen innehielt. "Halte bitte mal die Haare hoch!" Selbst der Nacken erfuhr die süßlich duftende Cremeschicht. Roz setzte den Tiegel ab, lehnte sich behutsam an Hideo, ohne diesen jedoch tatsächlich zu berühren. "Wir werden uns nicht mehr wiedersehen", hauchte er melancholisch. »Ist er wirklich betroffen?!« Hideo wollte sich dieser Illusion nicht hingeben, aber Roz schien sie wohl etwas zu bedeuten. »Und dir sollte er auch etwas bedeuten«, echote eine vereinzelte Stimme in Hideos Kopf, «immerhin ist er der Erste.« Die plötzliche Leere, ein arktisches Ausgekühltsein, das Hideo überfiel, vereiste jede Gefühlsregung. Sein Handeln entsprach einem höflichen Reflex, einer ungeschriebenen Konvention: er küsste Roz auf den Mund, verabschiedend. Dann rutschte er unbeholfen auf den kalten Fliesenboden, erkämpfte sein Gleichgewicht, um ohne Inanspruchnahme von Roz in die bereit gelegten Kleider zu schlüpfen. Roz klopfte vorsichtig eine dünne Schicht der Salbe in Hideos Wangen- und Halspartie, schleuderte dann die Handschuhe mit Verve in einen Abfalleimer. "Wir müssen nach oben, stütz dich auf mich." Hideo ließ sich geleiten, versteckte die Erkenntnis, dass er sich besser als erwartet auf den Beinen halten konnte. Sie hatten ihn betäubt, damit er eine leichte Beute für Georg darstellte, darauf wettete er. Aber so einfach würde er es ihnen nicht machen, oh nein!! ^w^ Lukas trommelte bereits auf das Lenkrad des Transporters, als Phil und Viktor Hideo durch den knirschenden und knackenden Schnee eskortierten. Hideo kehrte sich nicht um, aber er wusste, dass Roz im Türrahmen lehnte und ihm nachsah. »Nun, wie sangen doch die Stones so treffend: you can't always get what you want?!« Der Transporter setzte sich rührend und ächzend in Bewegung. Die Reifen mühten sich ab, in dem verharschten Schnee Grip zu finden. "Der Plan ist folgender", Phil, der direkt neben Hideo saß, meldete sich mit seiner dominierenden, dennoch trockenen Stimme zu Wort. "Wir werden dich am Bahnhof herauslassen. In einer halben Stunde wird es dunkel sein und das Subjekt dort nach dir suchen aufgrund eines von uns gegebenen Hinweises. Wir befinden uns immer in deiner Nähe, damit sofort nach Kontakt der Zugriff erfolgen kann." Hideo schwieg. "Du solltest zu deinem eigenen Schutz Zuflucht in einem Hotelzimmer suchen. Nach unseren Informationen wird das Subjekt auf ein Gespräch und weiteren Körperkontakt drängen. Diesem Ersuchen ist stattzugeben." "Also gib nicht die zimperliche Jungfer!" Lukas fauchte vom Fahrersitz aus. Hideo drehte sich um, nahm Phil ins Visier. Seine Furcht hatte sich in den letzten Augenblicken verabschiedet, den Platz freigemacht für die gleichgültige Nonchalance, die Hideo gewöhnlich zur Schau zu tragen pflegte. "Ich soll mich befummeln lassen, damit er sich an dem Zeug vergiftet, dass Roz mir aufgepinselt hat? Und wenn er daran gar nicht interessiert ist?" Phil lächelte minimal. "Oh, er wird interessiert sein. Sogar sehr." Hideo, dem sich die Bilder von Mirko und dem Monster vor die Augen schoben, würgte unterdrückt. "Wir werden da sein. Wir werden seiner schmarotzenden Existenz ein Ende bereiten." Phils Stimme psalmodierte salbungsvoll, geradezu verklärt. Ein Fanatiker auf dem Weg zum Schlachtfeld, darauf brennend, für seine Mission zu sterben. ^w^ Der Transporter hielt, entließ einen unsicher schwankenden Hideo in die Freiheit. Ohne sich umzudrehen steuerte Hideo einen Kiosk an, studierte mit tränenden Augen wegen des eisigen Windes die Blätter. »Drei Tage.« Drei Tage vergangen, seitdem Georg das Monster erschlagen hatte. Hideo wickelte sich tiefer in den Parka, biss die Zähne aufeinander, um wenigstens durch den Schmerz seine Kiefer noch spüren zu können. Wie Nadeln fauchten ihm die arktischen Griesel ins Gesicht. Niemand sollte bei diesem Wetter auf der Straße sein. »Ich könnte einfach nach Hause gehen.« »Klar, guter Gedanke, damit dich der Mistkerl Georg dort erledigt!« »Wir sollten die Blutsauger sich gegenseitig fertigmachen lassen. Er ist nicht so bescheuert, auf diese dämliche Aktion hereinzufallen.« »Was könnte er wollen?« »Deinen Kopf, du Idiot.« »Dann würde er mich wohl kaum anmachen.« »Oh, sicher, nur, weil die Anti-Sanguinisten behaupten, er würde dir an die Wäsche gehen, glaubst du das?! Er hat dich vorher auch nicht rangenommen.« Hideo stampfte wütend in den festgetretenen Schnee, schmutzig verbacken mit Streugut und Unrat. »Nicht, dass mir das was ausgemacht hätte.« »Muss mich warmhalten!« Er hob den Kopf, blinzelte in das Schneetreiben, suchte seine Umgebung ab. Selbst ein Vampir würde Schwierigkeiten haben, dieses scheußliche Wetter zu durchdringen, und in seinem Parka war er kaum zu erkennen. Aber hatte Phil nicht angedeutet, dass Georg Informationen erhalten würde, dass er Hideo hier aufgreifen konnte?! Diese Mistkerle würden ihm also den Dreckskerl auf die Fersen hetzen! »Wohin soll ich gehen?! Ich brauche eine Waffe... irgendwas, dass sie mir vom Leib hält!!« »Nein, auf den Blitztrick würde wohl keiner mehr hereinfallen... was dann?!« Hideo lutschte mit hochgezogenen Schultern an seiner Unterlippe, die bereits den metallischen Geschmack von säuerlichem Blut angenommen hatte, zerschürft von Wind und Eis. Auf jeden einzelnen, rutschenden Schritt konzentriert galt sein Streben der wie leuchtende Zuflucht in die unwirtliche Dunkelheit glühenden Bahnhofshalle. »Zum Teufel mit ihren Plänen! Nur noch wenige Meter...« Hideo ging in einen gleitenden Spurt über, suchte seine betäubten Glieder anzutreiben. Da schnellte etwas dunkles Langes vor seine Füße, direkt in seinen Lauf. Noch bevor er zu einem Schrei ansetzen konnte, raste der schmutzige Panzer aus Schnee und Eis auf ihn zu. Dann wurde es dunkel. ^w^ "Wach auf!" Hideos Kopf flog herum, als ihn eine harte Handfläche ohrfeigte. Reflexartig riss er die Arme hoch, wollte den nächsten Schlag abwehren. Schrammte sich dabei aber selbst das Kinn auf, als die Kette zwischen den Handschellen, die um seine Handgelenke geschnallt waren, ihn streifte. Vor ihm kniete Georg. Zumindest musste das Georg sein. Hideos Augen weiteten sich ungläubig. Das zuvor sympathisch-jungenhafte Gesicht hatte sich verändert. Nicht nur die scharfe Nase, auch markante Linien ließen ihren Besitzer älter wirken. Eingefallene Wangen, Bartstoppeln, fahle, verkrustete Lippen. "Georg?" "Was hast du denn erwartet, du Stricher?!" Ein harter Stoß in die ungeschützte Seite raubte Hideo den Atem. Er krümmte sich zusammen und sackte auf den Boden. "Pfff... so zimperlich? Das wirst du schnell ablegen müssen.. obwohl... du wirst nicht lange genug leben, was soll's!" Ein heiseres, boshaftes Kichern. "Was... was willst du von mir?!" Hideo brachte mühsam die Worte über die Lippen, wischte sich Blut mit dem Handrücken vom Kinn. Seine Stirn brannte heftig, obwohl sein Kopf sich im Zustand arktischer Gefühllosigkeit befand. "Was ich will?! Was ich WILL?!" Hideo wurde herumgerissen und flach auf den Boden gedrückt. Georg ließ sich schwer auf seine Hüften fallen, wickelte sich die Kette der Handschellen um die Hand. Er lachte irre auf, beugte sich tief über Hideo. Speichel sickerte aus den eingerissenen Mundwinkeln. "Ich will zusehen, wie du krepierst, du Insekt! Aber vorher... da werde ich meinen Spaß haben!" Hideo zuckte, wand sich, zerrte an den Handschellen, versuchte Georg abzuschütteln. Dieser jedoch bewegte sich nicht einmal einen Zentimeter, grub stattdessen die freie Hand in Hideos Haare und riss hart daran. Hideo brüllte gepeinigt auf, ein heller, jämmerlicher Laut, hilflos und kläglich. Georg grinste viehisch, gab dann Hideos Schopf frei, nicht aber, ohne dessen Kopf hart auf den Boden zu schlagen. Bunte Blitze explodierten in der heterogenen Schwärze vor Hideos Augen, der sich darauf beschränkte, die Schmerzen hinweg zu atmen. Genug Erfahrung darin hatte er in den letzten paar Tagen gewonnen. "Sag mal, erinnerst du dich daran, wie dein Kumpel aussah? Ich wette, du hast ihn damals gesucht. Hast du ihn auch gefunden?" Georgs Stimme schwamm vor Heimtücke und grausamen Vergnügen, weidete sich an Hideos Entsetzen, der Mühe hatte, die unwillkommenen Bilder seiner Erinnerung zu verbannen. "Ich sehe, du hast eine Vorstellung", Georg gurrte an Hideos Ohr. Eine Hand wand sich unter den Strickpullover auf Hideos nackter Brust, "was dich erwartet..." Hideos Augen weiteten sich angstvoll. Unwillkürlich zappelte er panisch, Angst übermannte jeden Vorsatz, nicht in Hysterie zu verfallen. "Nein! Das darfst du nicht!! Lass mich gehen! Hilfe!!" Georg grinste bösartig, wischte sich gelassen die widerspenstige Locke aus der Schweiß beperlten Stirn, sein Gesicht glühte in kalkweißem Schimmer. "Niemand wird dich hier hören. Ich habe für eine Spezialbehandlung bezahlt und hier wird Diskretion noch hochgeschätzt." Er kicherte selbstzufrieden. "Ich werde richtig nett zu dir sein." Lüstern gruben sich seine Finger in Hideos rechte Brust, zogen sich dann zusammen, bohrte die Nägel tief in die ungeschützte Haut. Hideo wimmerte zwischen zusammengepressten Lippen. "Erst werde ich dich anketten." Hideos Arme wurden über den Kopf gerissen, die Handschellen hörbar eingehakt. "Und dann", Georg leckte mit schleimiger Zunge über Hideos Wange, "dann werde ich dir einen Höllenritt verschaffen." Er lachte kehlig, unkontrolliert. "Mordechai hat deinem Freund die Brust mit bloßen Händen aufgerissen...das sollte ich wohl auch tun, meinst du nicht? Und dann dein Blut trinken, während ich dein Herz in meiner Hand zerquetsche!" Er schauerte vor Lust und Gier. "Was glaubst du, wie lange kann ich es dir dann noch besorgen, bevor du steif wirst?" Hideo brachte keinen Laut über die Lippen. Vor seinen Augen schwebte der grauenvoll entstellte Leib von Mirko, das unentrinnbare Entsetzen über jeden menschlichen Verstand hinaus, das in den gebrochenen Augen brannte. Hideo begann zu weinen, resignierend, angstvoll. Wie sollte er hier entkommen?! Wenn nicht einmal Mirko...! »Kämpfe!«, brüllte der Schleifer mit überschlagender Stimme. »Verführ ihn, bring ihn dazu, dich abzulecken! Bettle, flehe!! Verdammt, tu etwas!!« Hideo schluckte schwer, was Georg ablenkte, der ein langes Messer aus seinem Mantel fingerte, den er unweit auf einem abgeschabten Sessel abgelegt hatte. Eine Absteige, ein Bett, ein Sessel, Nachttisch mit Lampe, nur eine Tür: Hideo nahm blitzartig die Szenerie in sich auf. »Hier will ich nicht sterben!! Nein, nicht so, nicht hier!!« Er hielt sich an diesem Gedanken fest, verwandelte seine Todesangst in Trotz, spannte sich an, um dem Adrenalin freie Bahn zu geben. In diesem Augenblick zerrte Georg ihm den Pullover hoch über den Kopf, sodass Hideo nichts mehr sehen konnte. Kälteschauer berieselten seine nackte Haut, dann spürte er Georgs feucht-klamme Hände auf seinem Bauch, fummelten ungeduldig an der Knopfleiste der Jeans. Widersprüchliche Empfindungen durchliefen Hideo: das Eis der groben Hände, der stetige, arktische Windzug, das Fieber seiner eigenen Furcht und Anspannung. Sämtliche Haare stellten sich auf, seine Glieder verhärteten sich. Georg, dem es endlich gelungen war, Hideo die Jeans über die Knöchel zu ziehen, wo er rücksichtslos auch die nassen Schuhe herunterzerrte, bemerkte diese Erregung. "Ich wusste es... kleine Hure", krächzte er heiser, schob sich zwischen Hideos Beine, begann hungrig, dessen Brust abzulecken, die Zähne in die aufgestellte Haut zu treiben. Hideo unterdrückte jeden Laut, flehte stumm, Georg würde nicht auf die Idee kommen, ihm einen Vampirkuss zu verpassen, um ihn zu lähmen. Doch zunächst schien er wohl Glück zu haben. »Verführ ihn!«, wisperten die ängstlich-klingelnden Stimmen in Hideos Hinterkopf, »halt ihn hin, bis die anderen kommen.« Vorsichtig räkelte Hideo sich an Georgs Brust, hob die Hüften an, lockte mit unsicheren, offenkundig unwillkürlichen Bewegungen des Lusttriebs. Georgs Reaktion bestand in einem unartikulierten Ächzen, dann schob er Hideos Pullover noch höher, um in dessen Achselhöhle zu beißen, gierig mit der Zunge über die weiche Haut an der Innenseite des gedehnten Arms zu lecken. "Ich bring dich um..." Georg kicherte irre, selbstzufrieden. Eine Hand massierte grob Hideos linke Brust, als suche sie bereits nach seinem Herz. Hideo zwang sich, langsam den Unterleib an Georgs spürbarer Erektion zu reiben, ein zögerlicher, verschämter Rhythmus. "Nicht so hastig! Ich will, dass du bettelst!" Georgs Zunge wanderte in boshafter Langsamkeit Hideos Brustbein hinunter, biss sich in einem Muster bis zum Bauchnabel, den er zuerst mit der Zunge traktierte, dann bis auf das Blut zerbiss und ansaugte. Hideo winselte, ballte die Fäuste, zuckte unwillkürlich, verfluchte seine Tapferkeit. "Ich habe sein Blut", Georg faselte wahnsinnig, triumphierend. Gleichzeitig ließ er Hideo fahren, schob die kalte Klinge des Messers in den Bund des Slips. "Ich bin allmächtig, unbesiegbar...diese lästigen Spinner werde ich zertreten!" Georg kicherte sich überschlagend, riss Hideo den zerschnittenen Slip vom Leib. "Hörst du, Kleiner, ich werde sie kaltmachen! Sie denken, sie können mich erledigen, mir ne Falle stellen, aber ich werde trotzdem gewinnen!" Das Messer flog unbeachtet unter den Nachttisch, wo es um sich selbst kreiselte, bis es zur Ruhe kam. "Und jetzt zu dir!" Hideos Hüften wurden angehoben, dann bohrte sich unvermittelt etwas hart in seinen After, trieb einen lauten Schmerzensschrei aus seiner gepeinigten Kehle. Seine Fersen pressten sich Halt suchend in den Boden. "Hehe, und das war nur ein Finger..." Georg ließ Hideo brutal auf das kalte Linoleum fallen, riss wieder an dessen schwarzen Haaren. "Ich sollte dich mit ner Eisenstange ficken!" Überschlagendes Gelächter. Hideo weinte nun ungehemmt, fassungslos, verloren. Wo waren sie?! Wieso halfen sie ihm nicht?! Roz hatte es versprochen! Er zuckte, wand sich, tobte, schrie ungehalten, trommelte mit den Fersen auf den Boden, zerrte an den Handschellen, bis er das Gefühl in seinen Handgelenken verlor. Und Georg benutzte die Gelegenheit, um auf Hideo einzuprügeln, gezielte Schläge auf Kopf und Brust. Als Hideo glaubte, endlich das Bewusstsein verlieren zu können, schmetterte die Tür an die Wand. ^w^ "Angriff." Nur ein geisterhaftes Flüstern, dann wirbelten Luftströme um Hideo auf, der bereits einer Ohnmacht entgegen dämmerte. Die Geräusche jedoch, die sein Verstand aufzeichnete, ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Angewiesen von Phils knapper, sachlicher Stimme stürmten Viktor und Lukas in das Zimmer, versetzten Georg Hiebe mit schweren Gegenständen. Hideo fühlte warme Spritzer. In seinen Ohren gellte Wehgeschrei, gemischt mit grauenhaftem Brechen von Knochen, Klatschen von Fleischfetzen, die aus einem Leib gerissen wurden. Plötzlich war Georgs Gewicht von seinem Körper genommen, dafür regnete es warme Tropfen, ein Sprühregen, der Hideos ganzen Leib benetzte. Augenblicke noch tobte das zornige Gebrüll, dann verstummte es abrupt, ein dumpfer Aufprall auf dem Linoleum. Gespannte Ruhe legte sich über die Szene. Nur hastige Atemzüge flogen umher. "Mach ihn los." Hideo spürte Hände auf sich, winselte, wurde geohrfeigt, dann riss jemand grob den Wollpullover von seinem Kopf. Das Zimmer bot einen entsetzlichen Anblick. Blutspritzer gemischt mit verdickenden Fetzen Haut rannen klebrig die verblichene Tapete hinunter, das Bettzeug trug ebenfalls rote Sprenkel, während das abgetretene Linoleum in einer wachsenden Lache dunklen Blutes schwamm. Inmitten des Schlachtfeldes standen wie die Boten der Apokalypse Phil, Viktor und Lukas. In schwarze Lackmäntel mit Anglerstiefeln gewandet, Sonnenbrillen versiegelten die glanzlosen Vampiraugen. Georg selbst bildete ein blutiges Bündel, auf dessen abgerissenem Arm die Werkzeuge der drei lagen: Brechstangen und ein Kurzschwert, dazu ein Hammer, wie ihn Georg selbst geschwungen hatte. "Keinen Laut", zischte Lukas, der wieder neben Hideo in die Knie ging, sich dabei ohne Wimpernzucken geronnenes Blut mit dem Ärmel aus dem Gesicht wischte. Er löste Hideos gefühllose Hände aus den eisernen Fesseln. Hideo zog die Beine an, nackt bis auf den Pullover, versuchte auf dem glitschigen Boden auf die Füße zu kommen. "Hier", Lukas warf mitleidlos die ebenfalls befleckte Jeans zu Hideo hinüber, dem diese durch die tauben Hände rutschte. "Ist er tot?" Viktor trat gegen das Bündel. Hideo, von einer Schockwelle überrannt, riss sich die Jeans ohne Rücksicht auf Schmerzen hoch und schlüpfte in die Turnschuhe. Er wollte nur noch fliehen. "Ich werde das Benzin holen. Viktor, filz ihn." Lautlos verließ Phil wie ein Albtraumschatten den Raum. Hideo angelte sich zitternd den Parka heran, wickelte sich in den Stoff und presste den Ärmel in seinen Mund, um sich nicht aufgrund des Gestanks nach Blut und Gewalt übergeben zu müssen. »Denk nicht nach! Halt durch!« Der Schleifer peitschte Hideo ein, beschwor die Ausläufer des Schocks, Hideo vorerst ungeschoren zu passieren. Aufgeschoben, nicht aufgehoben. Viktor stieg über Georg hinweg, befingerte behandschuht ohne Regung das blutige Bündel. "Halt's Maul!" Lukas fuhr herum, die Hand drohend erhoben, bereit, Hideo zu schlagen. Dieser zuckte zusammen, klapperten doch seine Zähne unkontrollierbar aufeinander. "Lass ihn, Luk..." Viktors Stimme erstickte in einem Röcheln. Hideo schnappte panisch nach Luft, während Lukas auf dem Absatz herumfuhr. Viktors Hände in den schwarzen Handschuhen umklammerten ungläubig das eigene Schwert, dessen rapierschmale Klinge durch seine Gedärme gefahren war. Mit einem Husten würgte er Blut, fiel dann in Zeitlupe vornüber. "Viktor!" Lukas kreischte zornentbrannt, zog aus seinem Mantel ein Springmesser. "Ich mach dich kalt, du Monster!" Ohne Zögern stürmte er zu Georg hinüber, der sich, von welchen unheimlichen Geistern auch immer gelenkt, auf die Fersen gehockt hatte, das zerschlagene Gesicht wackelnd, ganze Hautfetzen herabhängend. Hideo brach in die Knie, vor Entsetzen gelähmt. Lukas jedoch stach wie ein Wahnsinniger auf Georgs blutiges Torso ein, trat zu, ergriff mit der freien Hand die Eisenstange und prügelte ungehemmt. Wieder spritzte Blut, Knochensplitter und Fetzen menschlichen Fleisches und, jeder Treffer schien den Irrsinn, der sich berserkerhaft in Lukas eingenistet hatte, nur noch anzufachen. »Das Messer...Das Messer!« Der Schleifer hämmerte gegen Hideos Schläfe, um dessen in einem Bann aus Grauen und Gräuel gefangene Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Unter dem Nachttisch! Hol es!« Hideo sackte auf die Seite, kroch auf Knien schwerfällig, unter Schock, Millimeter um Millimeter, bis er den umgestürzten Nachttisch erreichte. Und direkt in die Klinge fasste, sich die Finger aufschnitt. Glitschig vor Blut hatte er Mühe, das Messer fest mit beiden Händen zu umfassen. Es vor sich ausgestreckt kam er unbeholfen und klapprig auf die Füße. Lukas versetzte Georg gerade einen ermatteten Tritt. "Verreck endlich." Georg rührte sich nicht mehr. "Scheiße, verdammt, Viktor!" Lukas zerrte den Gefallenen an den Armen mit sich, kniete und untersuchte den leblosen Körper. "Phil, wo bleibst du?!" Sein Ruf glich eher der Wehklage eines verängstigten Kindes, das sich unerwartetem Entsetzen gegenübersah und auf Rettung und Rat hoffte. Abgelenkt bemerkte er zu spät, dass sich eine mehrfach gebrochene Hand hob, zuckte, woraufhin ein versteckter, winziger, einschüssiger Revolver sich entlud. Lukas' hintere Kopfhälfte flog losgelöst in einem Regen aus Gehirnmasse, Blut und Knochensplittern weg. Augenblicklich tot brach er über Viktor zusammen. Und langsam richtete sich Georg auf, kaum noch als menschliches Wesen kenntlich. "Mordechais... Blut... unsterblich..." Ein von Blutklumpen und Auswurf durchsetztes Lachen. Hideo brach in die Knie, zitterte wie Espenlaub, ungeachtet aller Warnungen und Bitten des Schleifers. In seinem Kopf stimmte der winselnde Chor eine Totenklage an. "Hab... dich..." Das Ungeheuer aus schlimmsten Albträumen und Kriegsschauplätzen hielt auf Hideo zu. "Neiiiinn", wimmerte Hideo panisch, umklammerte bebend das Messer wie einen Talisman. Er konnte förmlich sehen, wie sich Blutungen stillten, auch wenn die verheerenden Wunden geschlagen waren. »Er müsste längst verblutet sein, sein Arm ist abgeschlagen!« Hideos Vernunft lief Amok, schrillte ungläubig, sich in Wiederholungen des Unmöglichen verlierend. "Ich... hab... Durst...", kicherte Georg, völlig unbeeindruckt von Hideos Messer. Ein doppelter Knall ließ das zugehangene Fenster bersten, die Wände erzittern. Hideo schrie. Eine Explosion?! Eine Woge von glühend heißer Luft blähte die Vorhänge, versengte Hideo die Augenbrauen, als er sich zu spät auf den Boden warf. Etwas brannte lichterloh, im zuckenden, vom Schneetreiben aufgepeitschten Wind direkt vor dem Haus. Georg lachte spöttisch. "So ein Pech...." Seine Hand mit dem rauchenden Revolver zerrte an Hideos Hosenbein. Dieser verlor die Nerven, schnellte vor, so rasch es Lähmung und körperliche Schmerzen zuließen, stach mit der Klinge tief zu, zog diese zurück und die Beine eng an den Leib. Schwaden giftigen, Benzin schwangeren Rauchs trieben in das Zimmer, verätzten die Luft. Georg lachte. "Vorbei, du Idiot! Ich fühle mich schon besser!" Plötzlich erstarrte er, die glanzlosen Augen weiteten sich ungläubig, er keuchte hörbar. "Du? Du... steckst dahinter?!" Hideo kauerte sich zusammen, hustete, rang um Sauerstoff, während er mit tränendem Blick zu erkunden suchte, wen Georg ansprach. Dieser fasste sich an den Hals, zuckte, wedelte dann fassungslos nach Hideo. "..Gift...?!" Hideo presste sich den Ärmel vor Mund und Nase, hielt mit der freien Hand das Messer drohend ausgestreckt, hoffte, Georg auf Distanz zu halten. "...Michele..." Die schwarzen Augen verdrehten sich, die gräulich-fahlen Augäpfel glommen zwischen dunkel geronnenem Blut und aufgerissenem Fleisch. »Das Gift!« Hideo kroch hastig zur Tür, schleuderte das Messer von sich, als er unter Schock keine andere Möglichkeit sah, um eine Hand frei zum Drehen des Knaufs zu erlangen. »Wenn das Gift Wirkung zeigt...« Hideo floh stolpernd und fallend eine enge Stiege hinunter, verlor sich im Strom fliehender Menschen, in allen Stadien des Unbekleidetseins. Vor der Tür detonierten in rascher Folge zwei weitere Brandsätze. Die Leute schrien panisch und drängten eilig zu einem hinteren Ausgang, eine Flut ohne Verstand, niedertrampelnd und rücksichtslos. Hideo fand sich in einer Schneewehe wieder, ein bluttriefender Abdruck in verharschtem Eis. Sich aufrappelnd schleppte er sich im Schutz der Schatten an Häuserwänden weiter, blindlings losstürmend, getrieben von der albtraumartigen Vorstellung, Georg könnte auch dieses Flammeninferno überstehen und ihn wie ein Racheengel verfolgen. ^w^ Hideo vermochte nicht zu sagen, wie weit er gekommen war. Häuserfronten ragten drohend und seltsam gleichförmig aus den wirbelnden feucht-flaumigen Flocken auf. Er fühlte sich wie in einem Labyrinth gefangen, ohne den Faden der Ariadne als Hilfe. Der eisige Wind biss in seine wunde Kehle, pochte in den unzähligen Verletzungen, die er davongetragen hatte. Zusätzlich jagte der Schock fiebrige Schauer durch seine frierenden Glieder, tauchte Hideo immer wieder in ein Wechselbad der Empfindungen. Erschöpft rutschte er schließlich an einer Hauswand, halbwegs von der arktischen Böe geschützt, herunter und rang nach Atem. »Nach Hause. Irgendwie.« Ein Wagen hielt in der Nähe. Hideo hob den Kopf an, zu matt, sich aufzuraffen und zu fliehen. Aus dem Reigen weißer Flocken, wild im Kreis schwebend wie eine Zauberwand, zeichnete sich eine düstere Silhouette ab. Eine Gestalt näherte sich verhalten, die Hände in die Taschen des dicken Wintermantels geschoben, das Gesicht unkenntlich unter einer Pelz besetzten Kapuze. Hörte Hideo tatsächlich ein verächtliches Schnalzen, als sich die Person direkt vor ihm aufbaute? Er lächelte schwach, dann verklebte Schnee seine Wimpern, raubte ihm die Sicht. Nur noch durch eine Watteschicht registrierte er sein eigenes, sanftes Abgleiten in eine Schneewehe. ^w^ Kapitel 6 - Leben nach dem Tod "Nichts als Ärger!" Eine schnippische, indigniert wirkende Stimme drängte sich unerwünscht in Hideos Wahrnehmung. Er hütete sich davor, die Augen aufzuschlagen. Die letzten Ereignisse hatten sich als verhängnisvoll erwiesen, das musste man nicht beschleunigen. Zumindest sah er darin keine Notwendigkeit. "Aufwachen!" Offenkundig stand der Besitzer des unfreundlichen Tenors dieser Auffassung nicht nahe. Ein kühler Handrücken klopfte mit den Knöcheln penetrant auf Hideos Wangenknochen. Mit einem warnenden Knurren drehte sich dieser weg, blinzelte ungnädig. "Na endlich!" Wieder ein Schnalzen, dann schälte sich aus dem schwammig-wabernden Bild vor Hideos noch trüben Augen langsam ein Gesicht. Oval geschnitten, von langen, tizianroten Locken umrahmt, ebensolche fein gezupften Augenbrauen mit arrogantem Schwung, ein verächtlich verzogener Mund mit erdbeerfarbenem Schimmer. Und über einer geraden klassischen Nase prangten glanzlose, schwarze Augen, dicht bewimpert. »Ein Vampir.« Hideo konnte ein resignierendes Ächzen nicht unterdrücken. NATÜRLICH musste es wieder ein Vampir sein. Welche Gottheit auch immer das Schicksal der Menschen lenkte: sie besaß einen perfiden Sinn für Humor. "Wo bin ich?" Hideo beschränkte sich auf das Wesentliche, kontrollierte gleichzeitig seine Körperfunktionen. "Hier. Und bevor du lamentierst: ich habe dich hier angebunden. Und damit endet die Fragestunde." Hideo zwinkerte überrumpelt. Er hatte bereits registriert, dass Handgelenke und Knöchel seinem Befehl nicht gehorchten, er jedoch ein wenig Spielraum hatte, um sich Bewegung zu verschaffen. "Was... was soll das?! Wer bist du?" Nicht genug Spielraum allerdings, um sich auf die Ellenbogen zu stemmen. Hideo plumpste höchst ungravitätisch wieder auf ein dicht gestopftes Kissen zurück. Der Vampir, in einen chinesischen Hausanzug aus grüner Wildseide gehüllt, der geradezu atemberaubend die schlanke, biegsame Gestalt betonte, wandte sich in dem massiven Türrahmen um. "Ich", eine schmale Hand strich die tizianroten Lockenstränge von der Schulter, "bin Rubens. Und du schweigst nun." Eine elegante Kehrtwendung auf den flachen Absätzen der Hausschuhe, dann verriegelte sich von Geisterhand die schwere Tür selbsttätig. Hideo seufzte und drehte den Kopf, um seine neue 'Heimat' in Augenschein zu nehmen. Ein hoher Raum, vermutlich Altbau, abgesehen von der Tür keine Öffnungen nach draußen. Die Wände waren mit cremefarbener Stofftapete bezogen, an der Decke schnörkelte sich Stuck ineinander, bildete stilisierte Blumenelemente. Statt eines standesgemäßen Lüsters mit unzähligen Armen fanden sich an den Wänden moderne Leuchten, Milchglas in der Form von Blütenkelchen, in denen Punktstrahler dem Raum eine Atmosphäre von Tageslicht verliehen. Zu Hideos linker Seite gegenüber der Tür türmten sich verschiedene Apparate und Maschinen, teilweise verchromt, alle jedoch mit Kabelsträngen und Schläuchen, Anzeigefeldern und Leuchtdioden versehen. Über Hideo, am Kopfende des massiven Bettes, in die schmiedeeisernen Streben integriert, ragte ein bogenförmiger Ausläufer in die Höhe, an dessen Ende sich ein Haken befand. Die Fesseln, die sich luxuriös gepolstert um Hideos Glieder rankten, waren mittels Stahlkabeln in den Querstreben mit Vorhängeschlössern gesichert. Hideo ächzte leise. »Die tun wirklich so, als sei ich ein wildes Tier!«, protestierte er stumm. Und es schien sich in eine unerfreuliche Angewohnheit zu verwandeln, ihn splitternackt zu fesseln und unter ein dünnes Laken zu stecken, obwohl es draußen mittlerweile Eisblumen frieren musste! Hideo schloss die Augen, räkelte sich vorsichtig, um anhand der Echi zu ermitteln, wie schwer seine Verletzungen sein mochten. An seinem Hals schabte ein frischer Verband, so viel stand fest. Da und dort spannte sich Haut unter Pflastern und seine Haare, die jemand in zwei winzigen Zöpfen seitlich gebändigt hatte, waren von einem leichten Mullstoff begrenzt. Alles in allem fühlte er sich lausig und zerschlagen, aber die Betäubung hatte nachgelassen. Plötzlich flackerte ein Gedanke in Hideos Bewusstsein. Panisch wandte er den Kopf zur Tür. "Hey! Hey! Rubens!!" Seine Kehle weigerte sich nach diesen wenigen Silben standhaft, erneut wie ein Reibeisen in Erscheinung zu treten. »Verdammt, sicher ist es hier schallsicher! Der Kerl ist ja offenkundig auf Gefangene vorbereitet.« Doch zu Hideos Überraschung schwang die Tür auf und ein sehr ungehaltener Rubens trat hinein, winzige Linien beträchtlichen Unmuts auf der Stirn, die Lockenpracht mit einem Band auf dem Rücken eingefangen. "Was bedeutet dieser Aufstand?! Wenn ich dir sage, du hast ruhig zu sein, dann halte dich daran!" Hideo war versucht, beleidigt einen Rückzieher zu machen. Doch wenn sich die schwere Pforte wieder hinter Rubens schloss, dann wäre er möglicherweise zu einem qualvollen Tod verdammt. ".. da...ist... Gift...", würgte er heiser hervor, zerrte an den Fesseln, um auf die Notlage hinzuweisen. Rubens zog die Augenbrauen hoch, winkte dann gelangweilt ab. "Du liebe Güte, deswegen so ein Spektakel?! Selbstverständlich habe ich dich vorher ausgiebig gereinigt und diese widerlich geschmacklosen Kleidungsstücke entsorgt!" Der Tenor schwang in spitzem, arrogantem Vorwurf. Hideo blinzelte ungläubig. Vor Überraschung fielen seine Hände hörbar auf die Matratze. Rubens legte anmutig wie eine Katze, die von der Sahne genascht hatte, den Kopf schief und drehte müßig eine Locke um einen schmalen Finger. "Tsstss, du bist wirklich ein kleiner Einfaltspinsel, wie?" Neben dem unverhohlenen Amüsement summte kühler Spott. Rubens verließ die Türschwelle, nahm graziös auf Hideos Bett Platz. "Wer, glaubst du wohl, hat diesen fanatischen Kindsköpfen hinterbracht, wo sich Georg und Mordechai aufhalten? Und wer hat ihnen die Belladonna zugesteckt?!" Selbstzufrieden lehnte sich Rubens an das harte Ende des Bettes, glättete unsichtbare Falten in seinem Oberteil. Um dann im gleichen, belustigten, mitleidlosen Tonfall fortzufahren, Hideo das Profil zugewandt. "Diese schlichten Gemüter...wer hätte gedacht, dass sie nicht einmal fähig sind, ein Haus anzuzünden?! Lassen sich erst von diesem Georg dezimieren und dann steckt sich Phil selbst in Brand. Tsstss... sie hätten besser aufpassen sollen, als man vor den entzündlichen Dämpfen gewarnt hat." Hideos Körper wurde von einer prickelnden Eisschicht umschlossen. Ihn schauderte vor dem Vampir, der dort munter und vergnügt über die Katastrophe plauderte. "...was.. ist.. mit... Roz?... Georg?" Hideo hatte Mühe, sich verständlich zu artikulieren, weil seine Zähne unkontrolliert aufeinander schlugen, gefrierende Blitze in seinen Nervenbahnen explodierten. Rubens richtete seine Aufmerksamkeit auf Hideo, das engelhaft glatte Gesicht ausdruckslos. Hideo fragte sich, wie alt der andere wohl sein mochte. Seinem Aussehen nach konnte er kaum mehr Jahre zählen als Hideo, auch körperlich waren sie einander gleich. "Nun ja, zwei sind im Hauptquartier geblieben. Die haben wohl inzwischen ihr Heil in der Flucht gesucht, bevor man sie eines terroristischen Anschlags verdächtigen kann." Rubens erhob sich, spazierte gelassen zu den Apparaten auf Hideos linker Wandseite, sammelte verschiedene Gegenstände auf ein fahrbares Beistelltischchen, wie es in Krankenhäusern in Gebrauch war. "Nur aus Interesse, wie lange hat es gedauert, bis er die ersten Anzeichen der Vergiftung gespürt hat?" Es kostete Hideo einige Wimpernschläge, bis er begriff, dass Rubens übergangslos auf Georg gewechselt war. "Nun? Oder hast du das vergessen?!" Eine gewisse Feindseligkeit glomm auf. Er trat neben Hideo, befeuchtete ein Wattepad mit einer durchscheinenden Flüssigkeit, rieb Hideos Oberarm flächendeckend ein. »Desinfektionsmittel?!« Dabei dozierte Rubens laut, unbeeindruckt von Hideos wachsendem Unbehagen. "Das Gift der Tollkirsche, atropa belladonna. Seit Jahrhunderten bekannt, sehr effektiv. Wächst praktischerweise in vielen Ziergärten." Ohne Ablenkung fädelte er ein Band um Hideos Oberarm, zurrte dieses fest. "Ist übrigens auch hübsch anzuschauen, der Busch. Schöne, violette Blüten." Hideo verfolgte mit wachsender Panik, wie Rubens ein spritzenartiges Gebilde von der Ablage nahm, sich dann umstandslos auf der Matratze niederließ. Und die Nadel in Hideos Ader stieß. Eher vor Schreck denn vor Schmerz keuchte Hideo, was Rubens aus seiner ich-bezogenen Konzentration riss. "Stell dich nicht so an, es kann gar nicht wehgetan haben! Fremden Männern oral zu Diensten sein und dann so zimperlich?! Nicht gerade ein Ruhmesblatt", tadelte er missfallend. Applizierte einen Adapter und entnahm Hideo einige Milliliter Blut. "Aber zurück zur Sache, der Belladonna. Man gewinnt das Gift aus den glänzenden, schwarzen Beeren. Man dickt den Saft ein, -er schmeckt übrigens süßlich-fad. Dabei muss man darauf achten, dass die violette Tönung mit etwas Anderem überdeckt wird. Wenn man den Saft gären lässt, steigert sich die Wirkung noch. Dann vermischt man den Sud mit einer Salbe, die das Wasser zieht, und schon erhält man das perfekte Gift. Tropanalalkaloide, im praktischen Tiegel." Rubens lächelte amüsiert, während er sich erhob, um Hideos Blut mittels Pipetten und Reagenz für die Verwendung in einer Maschine zu präparieren. "Es ist faszinierend, Zeuge zu sein, wenn sich die Symptome zeigen. Zuerst werden die Pupillen weit, die Haut rötet sich, das Opfer schwitzt, während gleichzeitig der Mund austrocknet. Dann rast das Herz, und schließlich halluziniert der Proband. Wenn man nicht eilig eine Klinik aufsucht, ist es um ihn geschehen." Begleitet von Analysegeräuschen und blinkenden Dioden studierte Rubens die Anzeigen. "Aber ich denke, du hast nicht viel davon gehabt, nicht wahr? Bei einem von unserem Schlag ist eine große Pupille wohl nicht zu bemerken, richtig?" Wieder lachte Rubens vergnügt. Hideo verspürte den Drang, diesen selbstzufriedenen Mann zu verprügeln. Immerhin hatten mehrere Menschen... nun ja, humanoide Wesen, den Tod gefunden!! Hatte der denn keinerlei Respekt?! "Wie... kannst... du... nur.. so ekelhaft.. sein?!..sie ... waren.. auch Vampire!" Hideo brach krächzend ab, zuckte unter einem heftigen Hustenanfall. "Vampire?! Ich bin kein VAMPIR!" Blitzartig materialisierte sich Rubens neben Hideo, packte diesen einhändig an der Kehle. "Merk dir meine Worte: ich bin KEIN Vampir!", zischte er eisig. Hideo hielt seinem Blick stand, trotzig und ohne Alternative, da der Griff dermaßen fest war, dass er nicht wagte, sich auch nur ein Quäntchen zu regen. "Blutsauger", formten seine Lippen feindselig. Für einen Sekundenbruchteil erwartete Hideo, dass Rubens ihn schlagen würde. Dann aber verging der Ausdruck, den er in den makellosen Zügen gespenstern gesehen hatte. Rubens gab Hideos Kehle frei, wischte sich demonstrativ die Hände an einem Stofftuch ab, bevor er mit hochmütiger Miene auf diesen herabsah. "Deine Unverschämtheiten beeindrucken mich nicht im Mindesten. Nur zu deiner Information: du gehörst nun mir. Bis zu deinem Tod. Was nicht unbedingt eine lange Zeitspanne sein muss." Mit diesem gehässigen Nachsatz schritt er zur Tür aus, als Hideo ihm krächzend nachrief. "Man wird nach mir suchen! Du kommst damit nicht durch!" Rubens drehte kokett den Kopf, wickelte eine Locke um den Finger, posierte auf unverschämt provozierende Weise. "Oh, ich fürchte, du irrst dich in diesem Punkt. Als sie gestern die vier Leichen aus dem niedergebrannten Haus geborgen haben, war auch ein Junge mit deinem Namen dabei. Eindeutig identifiziert." Hideos Augen weiteten sich ungläubig. Er rang würdelos nach Luft. Rubens lächelte samtig. "Ich bin wirklich neugierig, was deine werten Eltern wohl auf deinen Grabstein schreiben werden. Nun, man wird sehen." Die schwere Tür fiel lautlos in das Schloss. Hideo sank in sich zusammen. Zu mitgenommen, um noch einen klaren Gedanken zu fassen. ^w^ Er konnte nicht abmessen, wie viel Zeit vergangen war, seitdem sich hinter dem Vampir die Tür geschlossen hatte. Augenblicklich jedoch bestimmten heftige Krämpfe Hideos Lebensrhythmus vollkommen. Nicht, dass er ihnen nachgeben konnte. Die stählernen Bande hielten ihn so fest, dass keine Linderung möglich war. Wenn er wenigstens Hilfe herbeirufen könnte... doch er hatte bereits Mühe, nicht an seinem Speichel zu ersticken, der in Überproduktion seine Mundwinkel herabrann. Eine Würdelosigkeit, die Hideo in den vergangenen Minuten gleichgültig geworden war. Fieberschauer wechselten sich mit eisigem Frösteln ab, das Laken bereits klamm von Schweiß. »Entzug«, dämmerte es ihm in einem kurzen, Agonie freien Intervall. Er drehte den Kopf auf die Seite, spuckte aus, ekelte sich vor sich selbst, bevor die nächste Welle ihn zu zerreißen drohte. "So was... was für eine Schweinerei!" Hideo rang um Atem, hustete konvulsivisch zuckend. Der Tenor hatte seinen amüsierten, melodischen Unterton verloren, klang vielmehr verärgert und erzürnt. Was Hideo ein boshaftes Grinsen entlockte. »Wenigstens eine winzig kleine Rache...« "Sieh mal einer an, das ist faszinierend." Rubens begutachtete einige der Anzeigefelder interessiert. "Die Revolteure haben sich wirklich ins Zeug gelegt, alle Achtung!" Belustigte Anerkennung färbte das Timbre wieder geschmeidig. Dann wechselte Rubens' Aufmerksamkeit zu Hideo hinüber, der röchelnd die Ausläufer der vorhergehenden Attacke durchlitt. "Sie müssen dir ja alle gleichzeitig häufig eine Dosis verabreicht haben... gewagt, wenn man deinen körperlichen Zustand berücksichtigt." Hideo hieb die Fersen in die Matratze, presste die Lippen zusammen, während seine Glieder flächendeckend Alarm funkten. Rubens' Stimme drang nur noch verschwommen zu ihm durch, zu heftig wütete der Flächenbrand in seinem Inneren. "Igitt... so ein Schlamassel. Tsstss.. ich hätte dich in der Nasszelle lassen sollen. Sehr ärgerlich, das Ganze." Und damit verließ der Vampir den Raum. Hideo schluchzte leise. Seine körperliche Schwäche benebelte ihn, linderte jedoch nicht den allgegenwärtigen Schmerz. Er regte sich kaum, als Rubens erneut den Raum betrat, in einen körperbetont geschnittenen Overall gehüllt, die tizianroten Locken eingedreht und hochgesteckt. Ohne Umstände schlug er die dünne Bettdecke beiseite, befreite Hideos Knöchel von ihren Banden, nahm sich dann die Handfesseln vor. Hideo war derart gefangen in seiner körperlichen Hölle, dass er nicht einmal den Versuch einer Flucht in Erwägung ziehen konnte. Welches sich als weise, wenn auch nicht absichtliche Entscheidung herauskristallisierte, als ihn der knabenhafte Vampir mühelos auf die Arme hob. Ohne Schwanken aus dem Raum wenige Schritte einen Stichflur hinunter in die erwähnte Nasszelle transportierte. Auch diese war fensterlos, vollkommen gekachelt, die Leuchtkörper hinter Metallkäfigen verborgen, die wenigen Installationen massiv. Jede Ausnüchterungszelle auf einer Polizeiwache verkörperte mehr Luxus. Hideo fand sich auf den kalten Fliesen wieder, direkt neben einem Abfluss. Er registrierte die sich entfernenden Galoschen des Vampirs, dann verriegelte dieser den Zugang. Und Wimpernschläge später sprühten verborgene Düsen lauwarmes Wasser von allen Seiten auf Hideo. Der sich spuckend und hustend zu einem Ball zusammenrollte und vergeblich der Dusche zu entgehen suchte. Dampfschwaden nebelten seine Sicht ein, als sich die Temperatur merklich erhöhte, einhergehend mit einem betäubenden Geruchsaroma. Hideo spürte, wie seine Brust sich leichter hob und senkte, als lindere das schleichend einsickernde Gemisch die Qualen des Atemschöpfens. Seine Lider wurden schwer und der nächste Krampfanfall fand ihn nicht mehr bei Bewusstsein. ^w^ Geschäftiges Auf- und Niedergehen auf leisen Sohlen, ein beständiges gedämpftes Piepen, das Rascheln von Stoff... Hideo kämpfte sich aus verführerisch wohltuendem Schlaf wieder in die Realität zurück. Die Zimmerdecke warf Erinnerungen auf. »Richtig, ein neuer Tag, ein neuer Vampir«, konstatierte sein Verstand zynisch. Den Kopf drehend sah er sich um. Rubens kehrte ihm den Rücken zu, hantierte an der Maschinen- und Gerätebank, während hauchzart ein Streichkonzert durch die offene Tür hinein wehte. Hideo nutzte die Gelegenheit, eine Bestandsaufnahme seiner körperlichen Befindlichkeit durchzuführen. Er war unbekleidet, -natürlich!-, gefesselt, in seinem linken Arm stak eine Kanüle, deren durchsichtiger Schlauch sich hoch über Hideo wand, bis er in eine Infusionsflasche mündete. »Deswegen auch der Haken...« Der Vampir schien bestens vorbereitet zu sein. Der Schleifer nickte anerkennend in Hideos Hinterkopf, ja, das musste man zugestehen. Die Decke war lässig bis auf Hideos Taille herunter gewickelt, um entsprechend Raum zu schaffen für diverse aufgeklebte Membranen. Deren dünne Drähte Informationen an den Maschinenpark zu Hideos linker Seite leiteten. In diesem Augenblick drehte sich Rubens um, in einen Hausanzug in einem Altgoldton gekleidet. An jedem anderen hätte diese Aufmachung wohl lächerlich oder karnevalesk gewirkt, doch Rubens katzenhaftes Gebaren, begleitet von seiner atemberaubenden, unwirklichen Schönheit, erschien ätherisch und würdevoll zugleich. "Sieh mal einer an, wir haben Morpheus' traute Umarmung im Stich gelassen und uns zu einer Audienz bequemt." Hideo wünschte sofort brennend, seine Hände, zumindest eine, seien frei, damit er dieses arrogante Lächeln und den süffisanten Ton ihrem Besitzer mit Wucht zurückgeben konnte. Seine Empfindung mussten wohl eindeutig von seinem Gesicht abzulesen sein, denn das boshafte Mienenspiel des anderen vertiefte sich triumphierend. Um dann einer nüchternen Sachlichkeit zu weichen, als Rubens ein Glas samt Pinsel zückte, diesen in eine schimmernd dunkelbraune, sirupartige Masse tunkte und Hideos Lippen damit bestrich. Vorsichtig kostete dieser die Mischung. "Ahornsirup und Honig?!", krächzte er ungläubig. "Tssstsss", schnalzte Rubens mit der Zunge, gefolgt von einem tadelnden Blick, "du sollst es nicht herunter lutschen! Balsam für deine Lippen." Hideo brummte etwas Unverständliches, leckte erneut provozierend über seinen Mund, gerade, weil es ihm verboten worden war. Fand jedoch kein Publikum, denn Rubens' Konzentration galt einer Spritze. Ohne viel Federlesens stach er die Nadel in eine Ader in Hideos Unterarm, zog die Spritze auf und kontrollierte das eingesaugte Blut. Hideo kam nicht umhin, das Geschick des Vampirs zu bewundern. Er hatte für seinen Geschmack viel zu oft schon Spritzen gesetzt bekommen, niemals jedoch war dies mit einer vergleichbaren Leichtigkeit und derart schmerzfrei geschehen. Die Spritze ausreichend mit Hideos Lebenssaft gefüllt führte Rubens die eigenen Fingerspitzen an den Mund, befeuchtete sie und strich dann über die Einstichstelle in Hideos Arm. Wie erwartet versiegte sofort die dünne Nachblutung, schloss sich die Haut. Hideo keine Beachtung schenkend trat Rubens wieder an seine Geräte, präparierte die frische Ausbeute zu verschiedenen Analysemethoden. Hideo jedoch, der sich zwar wach, aber beschämend schwach fühlte, wollte die Gelegenheit nutzen, sich einige Gewissheiten zu verschaffen. "Der Junge, der verbrannt ist, wer war das?!" Rubens notierte, prüfte Anzeigen, ignorierte Hideo. »Blöder Blutsauger!« "Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, das war so ein armer Kerl wie die, die die anderen mir gezeigt haben. Ein 'Blutspender'", seine eigene Stimme sprengte Gift und Galle. "Vermutlich aus deinem eigenen Haus. Hast du ihn vorher betäubt, oder ist er da drinnen elend verbrannt?!" Rubens stellte ein Reagenzglas in eine Halterung, ohne Zittern oder andere Anzeichen von Betroffenheit. "Ich glaube nicht, dass die Polizei oder meine Eltern einfach hinnehmen, dass ich in so einer Kaschemme gestorben bin! Niemand, der mich kennt, wird das!" Rubens drehte sich um, vollkommen gelassen, verschränkte die Arme vor der Brust, den Kopf mit den losen Lockensträngen amüsiert auf eine Seite gekippt. "So so... sag mir doch, mein unschlagbarer Sherlock Holmes, wer kennt dich eigentlich? Deine Eltern haben nicht einmal bemerkt, dass du dich seit geraumer Zeit prostituiert hast. Dein einziger Freund atmet mittlerweile durch den Rasen." Rubens' Tonfall schwang in sanfter Melodie, trügerisch harmlos. Er weidete sich sichtlich an Hideos verkrampften Gesichtszügen. "Du solltest dich keinerlei Illusionen hingeben, denn ich war so frei, der Polizei entsprechende Hinweise auf deinen Nebenerwerb zukommen zu lassen. Außerdem habe ich nicht ganz unbeträchtliche Summen investiert, um sicherzustellen, dass selbst der Gebissabdruck übereinstimmt." Rubens drehte eine spiralförmige Locke um einen Finger, ein liebliches Lächeln auf den erdbeerfarbenen Lippen. "Hast du dich einmal gefragt, wie es möglich war, dass trotz hochmoderner Ermittlungsmethoden niemand an den Leichen aussagekräftige Spuren gefunden hat?! Ich nehme doch stark an, dass du dich noch daran erinnerst, wie dein Freund nach seiner letzten Begegnung mit Mordechai aussah." Hideo bäumte sich auf, vor Zorn blind, zerrte an seinen Fesseln. Wollte dieser selbstzufriedenen, sanft dahinplätschernden Stimme die Luft abdrehen. Seine Finger in die blütenweiße, makellose Haut treiben und Rubens erwürgen. Er keuchte vor Wut, tobte und raste, zischte Verwünschungen, was seinen Gegenüber lediglich zu einem geringschätzigen Schulterzucken bewegte. "Georg wie auch die fanatischen Kindsköpfe haben für mich gearbeitet, auch wenn sie das nicht wussten. Ich habe insbesondere unseren kleinen Emporkömmling mit ausreichenden Kenntnissen und Mitteln versorgt, um Mordechais Treiben zu vertuschen und die Obrigkeiten irrezuleiten." Rubens kehrte Hideo sorglos den Rücken zu, tippte beschwingt auf einigen Tasten. "Wie du mir zugestehen musst, ist für alles gesorgt. Wie meine Vorhaben stets auf das Detaillierteste ausgearbeitet sind." Er hob den Kopf und sah Hideo an, der keuchend zu ihm hoch funkelte, Tränen des ungefilterten Hasses auf den eingefallenen Wangen. "Du bist Geschichte, Hideo. Seit zwei Tagen liegen deine sterblichen Überreste auf dem Hauptfriedhof, eingeäschert. Deine Existenz ist beendet. Es gibt dich nicht mehr." Mit einem angedeuteten Kuss in die Luft spazierte Rubens hinaus, dann schwebte die massive Tür lautlos ins Schloss. Hideo stieß ein tierisches Klagegeheul aus und schlug immer wieder mit dem Hinterkopf in die Kissen. ^w^ "Ich werde dich nun an den Händen losbinden." Hideo hielt die Augen geschlossen, trotzig, erschöpft, obwohl er sehr lange geschlafen haben musste. Rubens' Stimme drang mit Nüchternheit an sein Ohr. Er spürte Bewegungen in seiner Nähe. "Die Infusionen und die Nährlösung haben deinen körperlichen Zustand ausreichend verbessert. Nun sollte auch feste Nahrung gut verträglich sein." Rubens dozierte monologisierend. Der Geruch von Kräuteraromen umgab ihn wie ein unsichtbarer Halo. Hideo presste die Lippen aufeinander, zeigte keine Regung, als das Laken zurückgeschlagen wurde, ein kühler Luftzug seine nackte Haut streifte und mit einem rieselnden Schauer benetzte. Geschickt wurden seine Handgelenke befreit. Das seidige Streicheln der losen Locken prickelte auf Hideos nackter Brust, als sich Rubens quer über ihn beugte, um auch die zweite Fessel zu lösen. Mit dem Gedanken spielend, eine Attacke zu forcieren, um diesen Augenblick der Schutzlosigkeit zu nutzen, schlug Hideo die Augen auf. Royalblaue Wildseide in einer einzelnen, gerüschten Kaskade umspielte den tiefen Ausschnitt der Bluse, in die er Einblick nahm. Ein Hauch von Körperwärme trat hervor wie eine unerwartete Liebkosung. Hideo wandte eilig den Kopf ab, verwirrt durch die Unbekümmertheit, mit der der Vampir sich gebärdete. Rasch jedoch verflüchtigte sich der Eindruck. Wut stieg in Hideo auf, wurde er doch unterschätzt und somit gedemütigt. Rubens hatte in der Zwischenzeit ein Tablett auf dem fahrbaren Wagen herangezogen. Eine Suppenschüssel warf aromatische Dampfschwaden in leichtem Kräuseln in die Luft der Zimmerdecke entgegen, während ein Teller eine bunte Mischung aus Brotscheiben und Käsestücken, garniert mit diversem, eingelegten Gemüse trug. "Iss nun!" Mit majestätischem Schwung beförderte Rubens den Wagen neben Hideos Bettseite. Dieser kehrte ihm demonstrativ den Rücken zu. "Ich denke gar nicht daran, Vampir!", spuckte er verächtlich aus. "Du wirst sofort essen!" Rubens' Stimme klirrte vor Eiskristallen, zerrte Hideo das Laken vollends vom Körper. Dieser schnellte herum, nutzte den Spielraum der Fußfesseln, um mit der flachen Hand unter das Tablett zu schlagen und dieses genau auf Rubens zu katapultieren. Reflexartig sprang der zurück, nicht weit genug aber, sodass sich die Suppe über Hemd und Hose ergoss, ihn verbrühte. Hideo verharrte keuchend. Die Anstrengung trieb seinen Adrenalinspiegel hoch, verdeutlichte ihm aber, wie schwach es um seine Kondition bestellt war. Rubens hob langsam den Kopf, blitzte zwischen den tizianroten Locken hervor. Seine Kleider dampften, tropften, klebten an seiner grazilen Gestalt. Hideo erwartete nun einen Wutausbruch, Beschimpfungen, Schläge... Doch Rubens sah ihn nur an, das Gesicht die engelhafte Maske, die keinerlei Rückschlüsse auf Gedanken oder Absichten gab. Mit zwei Schritten war er an Hideos Seite, drückte diesen hart in die Matratze und schnallte sein Handgelenk fest. Ohne ein weiteres Wort wiederholte er die Prozedur auf der anderen Seite, bückte sich dann, um die zerschlagenen Scherben von Teller und Schüssel aufzulesen sowie das verstreute Besteck einzusammeln. Wortlos verließ er den Raum, um dann einige Minuten später in einen Morgenmantel aus nachtschwarzer Seide gekleidet und bewaffnet mit Wischmopp und Eimer, die Reste der verschmähten Mahlzeit zu beseitigen. "Weißt du, es ist keineswegs notwendig, dass du isst. Ich war der törichten Ansicht, dass es unter zivilisierten Menschen förderlich ist, der anderen Partei ein gewisses Maß an Würde zuzugestehen. Nun, offenkundig bin ich einem Irrtum erlegen." Rubens strich einige Lockenstränge auf den Rücken, legte eine weiße Hand auf den Bettrahmen am Fußende, seine glanzlosen, schwarzen Augen direkt auf Hideo gerichtet. "Fortan werde ich dir also Nährlösungen verabreichen, und wenn das nicht ausreichen sollte, dann lege ich dir eine Magensonde. Für deine weitere körperliche Befindlichkeit werde ich auch sorgen." Nun blitzte ein frostiges, vollkommen humorloses Lächeln auf. "Wie denkst du über einen Katheter, um den lästigen Stuhldrang zu kontrollieren?" Rubens Mundwinkel kräuselten sich bösartig. Dann begann er, winzige Membranen gezielt auf Hideos hilflos ausgestreckter Gestalt zu platzieren, was dieser mit trotzig-stoischer Haltung über sich ergehen ließ. "Du musst dich nicht einmal mehr bewegen." Rubens beugte sich tief über Hideo. Seine Locken legten sich auf dessen nackte Haut. Die glanzlosen Augen fixierten Hideos Blick, obwohl er keine Unterscheidung zwischen Pupille und Iris treffen konnte. "Jetzt bist du nichts mehr als namenloses Nutzvieh", hauchte der Vampir kaum hörbar. Richtete sich auf und verließ geschmeidig und geräuschlos den Raum, Mopp und Eimer elegant transportierend. Die schwere Tür folgte ihm lautlos. Hideo presste die Lippen zusammen, um keinesfalls die Tränen, die in seiner Kehle brannten, in die Augen treten zu lassen. Er bereute bereits, sich so kindlich aufgeführt zu haben, denn er hegte keine Zweifel, dass Rubens durchaus in der Lage war, das Angekündigte auch umzusetzen. Nur noch ein Blut produzierender Kadaver in der Obhut von Maschinen: ein Albtraum! "Vampir!! Dreckiger, verlogener Vampir!!", brüllte er in einer Mischung aus Verzweiflung und Selbsthass gegen die Zimmerdecke. Eine Leuchtdiode erwachte neben ihm zum Leben. Dann trieben elektrische Stöße durch die feinen Membranen glühende Nadeln in Nervenzentren, und Hideo brach zuckend in Tränen aus. ^w^ Es hatte aufgehört. Irgendwann. Hideo war sich nicht sicher, ob er das Bewusstsein verloren hatte, oder wie oft sich dies wohl ereignet haben musste. Sein Körper summte leise vor sich hin, ferngesteuert, durch Stromstöße aufgeladen und angeregt. Eine weitere, volle Flasche Infusionslösung teilte sich nun den Haken mit einem Pendant, tropfte ihren zweifelsohne nahrhaften Inhalt in Hideos Leib. Er hatte Filme gesehen, so genannte Splatterstreifen, in denen wahnsinnige, menschenverachtende Genies in marginalem Plot ihre Opfer ausbeuteten, ausweideten, wie eine nutzstiftende 'Fabrik' benutzten. Sie fütterten und mit Medikamenten traktierten, bis sie 'erntereif' waren. Und nun drohte ihm das gleiche Schicksal. ^w^ Hideo winselte vor Qual leise unaufhörlich vor sich hin, jenseits klaren Verstandes. Vage fühlte er eine gewisse Einsamkeit, da keine der üblichen inneren Stimmen ihm Gesellschaft leistete, doch in seinem fiebrigen Gehirn versank dieser Gedanke rasch wieder in einem breiigen Strudel. Eine Gestalt materialisierte sich scheinbar aus dem Nichts neben ihm, gleißend hell, unscharf. Hideo blinzelte träge, setzte seinen weinerlichen Klagegesang fort. »Der Vampir.... richtig.« Er sagte wohl etwas... zumindest waren da Geräusche. »Hihihi.« Hideo drehte den Kopf spielerisch hin und her, berauschte sich an den Licht- und Farbreflexen, die dies hervorrief. Doch jemand verdarb das Vergnügen, hielt seinen Kopf fest. »Er.« Hideo sonderte sprudelnd Speichel ab, kicherte heiser, halluzinierend. Wieder diese Stimme. Höher, besorgt. Etwas Raues rieb über Hideos Lippen, sein Kinn, trocknete ihn ab. Er blinzelte, plötzlich schien der Horizont von einem glühenden Rot. »Sanftes Rot... streichelnd.... warm...« Hideo spürte kaum den Biss in seinen Oberarm, als Rubens gebeugt über ihm lag, nur von der Kraft seines rechten Ellenbogens gehalten. Stattdessen quietschte er wie ein Säugling über das weiche Liebkosen der wundersamen, flammenfarbenen Wolke auf seinem Kopf und seiner Brust. ^w^ Es brannte. Höllisch. »Wieso muss ich...« Eine weitere Welle trieb Hideo förmlich in die Höhe, ließ sein Rückgrat unter der Belastung knacken. Keuchend prallte er wieder auf die Matratze hinunter. »... bei Bewusstsein sein?! Verfluchter Vampir!!« Machtvoll rauschte das Gift des Vampirkusses in seinen Adern, sehr viel stärker als alles, was die anderen ihm zuvor zugemutet hatten. Wenn das Nachglühen Funken vor seinen Augen explodieren ließ, visualisierte er in seinen brennenden Adern flüssiges Gold, während er alle Kontrolle über seine losgelösten Glieder verlor. Dennoch war es anders. Seltsam weich, geschmeidig, fast wie ein lebender Organismus, der sich seinem Leib anpasste, zielstrebig seine Nervenstränge infizierte, die Herrschaft über ihn annektierte. Immer wieder Fieberschauer durch seine Muskeln jagte, die unter Kontraktionen aufzuckten, gleichzeitig aber dem Inferno in seinem Inneren Erleichterung verschafften. Eine neue Woge raste Hideos Adern entlang, unaufhaltsame Lava, ein Mahlstrom, der jeden Widerstand zerschmolz. Hideo atmete heftig mit geschlossenen Augen, hoffte, dass sich der Ansturm auf seinen gepeinigten Leib nun verlaufen haben würde. Am Rande seines Bewusstseins registrierte er, dass die schwere Tür aufschwang. »Rubens.« Wie schon gewohnt drehte Hideo den Kopf weg, demonstrativ. Schweigend hantierte auch Rubens, konzentrierte sich ungerührt auf seine Arbeit. Hideo hatte es aufgegeben, den Vampir verächtlich anzufunkeln oder seinen schmalen, weißen Händen auszuweichen, wenn dieser sich über seinen Arm neigte und zubiss. Oder zuschlug? Es war jedes Mal nur ein minimaler Piekser. Die kleinen, wie Perlen wirkenden Zähne hinter den erdbeerfarbenen Lippen hinterließen nur einen schwachen Kranz um die Einstichstellen. Und diese wurden sofort in geschäftsmäßiger Routine mit Speichel benetzt, was die letzten Spuren beseitigte. Hideo wagte einen verstohlenen Blick auf den tizianroten Lockenschopf, die golden schimmernden Kaskaden auf cremefarbener Seide, als sich Rubens über seinen Arm beugte. Wenn ihn seine Erinnerung nicht trog, hatten die anderen seine Haut leicht angesaugt, vermutlich, um die Wirkung zu beschleunigen, aber Rubens tat nichts dergleichen. Lediglich ein kurzer Kontakt, dann ersetzte die Nadel der Spritze den Einstich, und in Kürze füllte sich der Kolben mit seinem Blut. »Was er wohl mit dem Blut...?!« Sicher würde er es sich selbst injizieren, jedoch hatte sich der Vampir niemals herabgelassen, dies vor Hideo durchzuführen. Wie jeden Tag nahm Rubens die Spritze an sich, entzog dieser die Nadel, um sie auf seinem Arbeitstablett bei seinen Maschinen in ein winziges Reinigungs- und Desinfektionsbad zu geben. Dann würde er den Raum verlassen, die Tür lediglich angelehnt. Einige Augenblicke würden verstreichen, und dann stolzierte der Vampir hinein, um Hideo die tägliche Hygiene angedeihen zu lassen. In unregelmäßigen Abständen geleitete er Hideo in die Nasszelle, sonst aber musste ein Waschlappen ausreichen. Die Membranen wurden gewechselt, ein befeuchteter Kamm grob durch Hideos Haare gezogen. Hideo mutmaßte, dass der Vampir ihn mittels einer versteckten Kamera beobachtete, denn bis jetzt war er der ihm sehr unangenehmen Prozedur entronnen, zu einer Bettflasche oder gar einem Katheter gezwungen zu werden. Allerdings hatte sich sein Harndrang durch die Ernährung über die Infusionen und die fehlende Bewegung stark reduziert, sodass diese 'Ausflüge' unter Rubens strenger Aufsicht sich auf zweimal pro Tag beliefen. Was Hideo die glückliche Gelegenheit verschaffte, einen gewissen Rhythmus in den gleichförmigen Ablauf seiner wachen Stunden zu bekommen. Auch heute betrat Rubens in der gewohnten Ruhe den Raum erneut, verweigerte den Blickkontakt, reinigte Hideos Haut ohne irgendeine Regung in seinem maskenhaft schönen Gesicht. Und dieser presste die Lippen fest aufeinander, um nicht in Sehnsucht nach einem Wort, nach einer persönlichen Zuwendung sein selbst auferlegtes Schweigen zu brechen. Es fiel ihm mit jedem Tag schwerer. Bald fürchtete er in den Fieberträumen, die ihn nach jedem Vampirkuss befielen, seine Stimme verloren zu haben, verdammt dazu, in diesem Raum zu vegetieren, bis er seinen Wert für Rubens verlor. Den grob zinkigen Kamm durch Hideos schwarze, glatte Haare treibend schloss jener seine Aufgaben sorgfältig ab, erhob sich, um Hideo zurückzulassen. "Der Junge..." Hideo hustete heiser, erschrak über die Splitter in dem rauen Krächzen, das ihm entschlüpfte. "Wie lange.. musste er .. dir dienen, bis... er tot war?!" Rubens verharrte einen Augenblick in der Tür, legte dann den Kopf auf seine anmutige Art schief und musterte Hideo, der ihn feindselig anfunkelte, all seinen Trotz zusammennahm, um seine Verachtung zu demonstrieren. "Ich erinnere mich nicht... Nutzvieh ist so austauschbar." Mit einem boshaften Lächeln huschte Rubens hinaus. Hideo sackte auf die Matratze zurück, doch bevor er seine aussichtslose Situation beklagen konnte, fielen ihm die Augen zu. ^w^ Gleichförmig plätscherten die wachen Momente dahin, eine endlose Abfolge an Immergleichem. Hideo registrierte, dass sich sein Körper der täglichen Injektion anpasste, die Auswirkungen nicht mehr die Gewalt der ersten Tage annahm. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um die wenigen Möglichkeiten, die ihm noch blieben. Sein Trotz ließ nicht zu, klein beizugeben und auf Rubens' Angebote einzugehen, sich selbst zu ernähren oder Bewegung zu verschaffen. Ebenso verweigerte er jedes Gespräch, aber auch Rubens hielt sich abgesehen von den nüchternen Offerten zurück. Hideo umgab sich mit einer Mauer des Schweigens, gegen die Stimmen in seinem Kopf anbrandeten wie Flutwellen, eine wilde Kakophonie, die einen einzigen Tenor formte: Rache. Vergeltung für die fortschreitende, körperliche Schwäche, die ihm nicht einmal mehr gestattete, aufrecht zur Toilette zu gehen. Rubens musste ihn tragen, natürlich in seinen abwaschbaren Overall gekleidet, ein zusätzlicher Affront. Er würde sich nicht von diesem widerlichen Vampir mit seiner hochmütigen Miene ausbluten lassen wie ein 'Nutzvieh', nein, er würde ihm ein Schnippchen schlagen. Brauchte er nicht Hideo, sein Blut?! Nun, wie würde es wohl sein, wenn er dies nicht mehr bekäme?! Die Aussicht auf diesen letzten Triumph heizte Hideos gequältes Herz auf, gab ihm eine fiebrige Zielrichtung, eine Perspektive im Einerlei. ^w^ Rubens klebte die Membranen auf Hideos nackte Haut auf, justierte sorgfältig die stromführenden Kabel. In diesem Augenblick läutete eine dezente Glocke. Rubens' Kopf schnellte hoch. Eine winzige Unmutsfalte zeichnete sich zwischen seinen fein gezogenen Augenbrauen ab. Rasch streifte er die Einmalhandschuhe von den schlanken Händen, entsorgte sie in einem Abfalleimer. Hideo biss sich fest auf die Lippen, verfolgte den eiligen Abgang. Noch eine Gemeinheit, sich neuerdings mit Latex vor jedem Kontakt mit ihm zu schützen. Wahrscheinlich würde der Vampir auch bald seine Einstichstelle wieder desinfizieren. Als sei Hideo ein wandelnder oder vielmehr liegender Seuchenherd. Aber die Verstimmung verpuffte im Nichts, als Hideo in seiner begrenzten Reichweite etwas entdeckte, das ihm ein euphorisches Kichern entschlüpfen ließ. In der Hektik hatte Rubens nicht nur vergessen, die große Schere wegzuräumen, die ihm dazu diente, die Verpackungen der verschiedenen Membranen- und Spritzenbehältnisse zu öffnen. Nein, auch das Vorhängeschloss an Hideos linkem Handgelenk, geöffnet, um die wunde Haut einzucremen, war nicht vollkommen eingerastet. Hideo konzentrierte alle seine Sinne darauf, mit wenigen geschickten Bewegungen das Schloss abzuschütteln. Dann war sein linkes Handgelenk frei. Aussichtslos, die Vorhängeschlösser an Handgelenk und Knöcheln ohne den Schlüssel zu aufzubrechen, aber das war auch nicht sein Ziel. Es bestand nicht die geringste Aussicht auf Erfolg, sich zu befreien und etwa Rubens aufzulauern, denn dieser würde sicherlich die Videoüberwachung konsultieren, bevor er den Raum betrat. Nein, Hideo schwebte durch die glückliche Fügung etwas ganz Anderes vor. Und es blieb wenig Zeit, sollte er Erfolg haben. Mit pfeifendem Atem ob der ungewohnten Anstrengung fischte er die vergessene Schere über sein Laken heran, bis diese sicher in seiner linken Hand lag. Er drehte sich auf die rechte Seite, ein fanatisch-wahnsinniges Lächeln auf den aufgesprungenen Lippen. Mit großem Bogen holte er aus...und rammte sich die pfeilspitzen Enden der Scherenklingen direkt unter das rechte Handgelenk, Funken sprühend an der eisernen Fessel vorbei. Hellrot spritzte das Blut über die weißen Laken, sprenkelte sein Gesicht, verklebte in seinen Haaren. In die Matratze genagelt fehlte Hideo die Kraft, die Schere zu entfernen und einen weiteren Schnitt zu führen, verschwamm die Sicht seiner Augen. ^w^ In seinem halb bewusstlosen Zustand bemerkte er das Öffnen der Tür, einen rotweißen Schemen, der an seine Seite stürzte. Unartikulierte Laute zischte. Hideo lächelte sonnig in die Schwärze. Und sang spottend mit berstender Stimme. Eine Melodie, die sich in seinem Kopf verfangen hatte. "...you're the devil in disguise..." ^w^ devil in disguise (Giant - Baum - Kaye) you look like an angel walk like an angel talk like an angel but I got wise you're the devil in disguise oh yes you are the devil in disguise you fooled me with your kisses you cheated and you schemed heaven knows how you lied to me you're not the way you seemed you look like an angel walk like an angel talk like an angel but I got wise you're the devil in disguise oh yes you are the devil in disguise I thought that I was in heaven but I was sure surprised heaven help me, I didn't see the devil in your eyes you look like an angel walk like an angel talk like an angel but I got wise you're the devil in disguise oh yes you are the devil in disguise you're the devil in disguise oh yes you are the devil in disguise oh yes you are the devil in disguise ^w^ Kapitel 7 - Phasen der Adaption Ein heftiger Schlag ließ Hideos wehrlosen, verblutenden Leib zusammenzucken, trieb sein ermüdendes Herz zu neuen Anstrengungen an. Hideo stöhnte tonlos. Die Augenlider hoben sich auf Halbmast, ein Reflex, kein bewusster Entschluss. Tizianrote Locken wischten über seine Wangen, Rubens hielt ihn an sich gepresst in seinen Armen. Sein makellos weißes Gesicht war blutverschmiert, die Lippen verklebt. Tropfen perlten wie Rubine an seinem Kinn hinunter, bildeten eintrocknende Rinnsale auf dem sandfarbenen Seidenhemd. Während eine Hand unnachgiebig Hideos Handgelenk an den Mund führte, die Wunde unaufhörlich mit Speichel benetzte, rieb die andere überkreuz energisch über Hideos Brust, massierte anregend seine Herzpartie. Bleich, in Blut getränkt, die schwarzen Augen riesengroß, besudelt und fast animalisch in seinem Drang, Hideos Leben zu bewahren, wirkte Rubens nun tatsächlich wie ein Vampir. Hideo lächelte hingerissen. Auch wenn die glanzlosen Augen bar jeden Ausdrucks waren, so fühlte er doch die unterdrückte Panik in jedem angespannten Muskel, der ihn umfing. "...V-A-M-P-I-R...", buchstabierte er boshaft in das verschwimmende Gesicht über sich, dann gab er den Kampf auf. ^w^ Davongekommen. Schmerzen bedeuteten, dass er gegen alle Chancen noch nicht das Zeitliche gesegnet hatte. Hideo seufzte tonlos. Irgendwann würde er trotz der übermannenden Schwäche die Augen aufschlagen und der Realität in ihr graues Gesicht sehen müssen. Ein glorioser Abgang gelang eben nur im Kintopp. Hideo gab sich dem nachdrücklichen Pochen in seiner rechten Hand geschlagen und öffnete die Augen. Eine Zimmerdecke mit Stuckschnörkeln, jedoch fand sich in ihrer Mitte ein betont einfach gehaltener Kronleuchter, dem Jugendstil nachempfunden. Lichtquellen, wenn auch gedimmt, bildeten an der Wand befestigte Lampen mit grünem Schirm, illuminierten feierlich eine Stofftapete mit Streifen in der Kombination Orangenblüte und Pfefferminz. Hideo konnte dies so deutlich einschätzen, weil sich die entsprechenden Blüten und Blätter abwechselnd über den hellen Stoff zogen. Im Kontrast dazu fand sich an der gesamten Stirnseite ein gewaltiges, deckenhohes Regal aus Kirschbaumholz, die Folianten hinter Glastüren vor Staub geschützt. Flankiert von einer ebenso fragil erscheinenden, wie ungewöhnlich anmutigen Regalwandsteighilfe. Den Kopf neugierig wendend erkannte Hideo neben sich die Ausläufer eines gewaltigen Bettes. Gedrechselte Bettpfosten gingen in integrierte Nachttischablagen über, von zurückhaltender Intarsienarbeit geschmückt. Fahle, von zugezogenen, mintfarbenen Vorhängen gefilterte Sonnenstrahlen benetzten einen musealen Sekretär. In seinem Wert wohl nahezu unbezahlbar, schien er dem ersten Eindruck nach doch aus den Zeiten der napoleonischen Revolution zu stammen, geradezu überreich mit winzigen Schubladen und Fächern versehen. Säuberlich geordnet bot er Raum für diverse Schriftstücke unter einem gläsernen Briefbeschwerer, in dessen kugelförmigen Inneren eine konservierte, schwarzblau schimmernde Orchidee für die Ewigkeit blühte. Das übliche Accessoire-Sortiment an Büromaterial schloss sich in akkurater Aufstellung an. Hideo ließ langsam den Blick durch den Raum schweifen, erhaschte einen Eindruck des chinesischen Teppichs zu seinen Füßen. Dann zur Zimmertür, weiß lackiert mit vergoldeter Zierklinke, hinüber zu massiven Wäsche- und Kleiderschränken, mit Einlegearbeiten aus Elfenbein. Rubens' Schlafzimmer?! Der Versuch, sich aufzusetzen, scheiterte an diversen Stricken, die provisorisch durch die Ösen seiner Fesseln und um die Bettpfosten geschlungen waren. Mit einem Brummen gab Hideo den Versuch auf, musterte stattdessen seinen rechten Arm, der in einen beinah gipsartig anmutenden Verband gehüllt war. Anstelle der eisernen Handfessel aber einen ledernen Handschuh trug, der mit Drahtschlingen und Schnallen gesichert wurde, um dann zu einem Strang verwickelt am Bettpfosten zu enden. Über ihm schwebte, einfallsreich an einem einfachen Besenstiel befestigt, die übliche Kombination aus Infusionslösung und Nährstoffen, deren Inhalt tropfend durch Kanüle in Hideos schlecht konditionierten Leib wanderte. »Hat sich ziemliche Mühe gegeben«, konstatierte Hideo nachdenklich. Er schloss die Augen und rief sich die letzten Augenblicke seines Selbstmordversuches in Erinnerung: den blutüberströmten Vampir, das Halbdunkel vor flatternden Lidern. Das Gefühl von Feuchtigkeit durch die sich vollsaugende Matratze unter ihm, den schleichenden Verlust der Körperwärme. Wie viel Zeit wohl vergangen war? In seine Gedanken schob sich das leise Geräusch von Sohlen auf gekämmten Teppichboden. »Rubens.« In einen hochgeschlossenen Anzug aus dunkelgrünem, changierenden Taft gekleidet, die tizianroten Locken am Hinterkopf hochgesteckt, wirkte er auf Hideo weniger wie ein Mensch als eine meisterhafte Puppe. In einem betont schlichten Kostüm, um die besondere Schönheit noch zu konzentrieren. Hideo fühlte die schwarzen, glanzlosen Augen prüfend über sich wandern, das Gesicht des Vampirs wie immer bar jeglichen Ausdrucks. Er wich dem Blick nicht aus, wartete ebenso in der betäubenden Stille auf eine Reaktion. Rubens drehte ab, abrupt, doch ohne Hast, verließ das Zimmer in gemessenem Tempo. Hideo verfolgte seinen Abgang grübelnd. Hatte er etwas offenbart, eine Schwäche gezeigt?! Augenblicke später zeigte sich die Erklärung für Rubens' Verhalten: auf einem einfachen Tablett balancierte er eine Schüssel mit Brei, dazu das notwendige Besteck. Die Last absetzend nahm er neben Hideos rechter Seite Platz, lud die Schüssel auf seinen Schoß, den Kopf scheinbar konzentriert gesenkt. Einen Löffel voll des Breis schöpfend führte er diesen an Hideos Lippen, der keinerlei Anstalten traf, den Mund zu öffnen. "Iss!" Ungeduld schwang in der so distinguiert klingenden Stimme. "Warum?!" Hideo räkelte sich provozierend im Maße seiner Möglichkeiten. Statt einer Antwort schmierte Rubens eine dünne Schicht auf Hideos Lippen, sein Mienenspiel unbewegt. Nachdem Hideo keinerlei Anzeichen zeigte, kooperativ wenigstens dieses Zugeständnis zu machen, rammte Rubens mit dumpfen Geräusch den Löffel in den Brei. Trotz seines abgewandten Gesichts konnte Hideo den Kampf sehen, der im Inneren des Vampirs tobte. Und er begriff rasch, was dies alles zu bedeuten hatte. Eine perfekte Gelegenheit zu sticheln. "Sieht fast so aus, als funktioniere das mit den Plastikflaschen nicht, wie?! Muss das Nutzvieh doch zur Mitarbeit gewonnen werden?!" Hideo grinste breit, höhnisch, registrierte das minimale Zittern in Rubens Fingerspitzen befriedigt. Und sah dieser nicht auch angegriffen aus? "So ein Pech... geht's mir nicht gut, geht's dir wohl auch nicht gut, was?! Tsstsss... ist schon deprimierend, wenn man sich von solchen minderwertigen Geschöpfen abhängig machen muss." Sein Grinsen erreichte sicherlich die Ohrläppchen mühelos. Gierig erwartete er nun den nächsten Schachzug seines Gegenüber. "Ja, ja", summte er leichthin, "auf Gedeih und Verderb aneinander geschweißt." In Zeitlupe wandte Rubens ihm das Gesicht zu, von herausgelösten Lockenspiralen eingerahmt, arktische Kälte ausstrahlend. Hideo musste ein nervöses Zappeln unterdrücken. Wie würde der Vampir reagieren?! Es schien erstaunlich schwer, ihn aus der Reserve zu locken, doch Hideo war sich sicher, einen wunden Punkt entdeckt zu haben, einen Riss im Eispanzer. "Eigentlich solltest du dich bombig fühlen", provozierte Hideo im Plauderton erneut, "immerhin hast du so viel von meinem ach so kostbaren Blut trinken können." Die Schüssel knallte hörbar auf das Tablett, als sich Rubens ruckartig erhob, diese abstellte und steifen Schritts das Zimmer verließ. »Gewonnen!«, feixte Hideo von sich selbst eingenommen, »ja, daran hast du zu schlucken, du Monster!« Allerdings schmälerte es seinen Triumph nicht unerheblich, dass Rubens doch sehr stilvoll und in besten Manieren seinen Ausbruch kaschiert hatte, nicht eine Sekunde die Haltung verlor. »Mistkerl!« Hideo leckte probeweise die schon antrocknende Schicht von seinen Lippen, eine merkwürdige Mischung, im Geschmack zwischen überreifen Gummibärchen und zerkochten Bananen anzusetzen. »Hausmarke Vampir-Nutztier-Luxus-Mischung«, bedachte er das Undefinierbare mit einem Titel. Ein leichter Luftzug streifte seine Wange und kündigte Rubens an. Starr und stolz wie zuvor schritt er über den Teppich, nahm mit der anmutigen Grazie, die jede seiner Bewegungen kennzeichnete, auf der Bettkante Platz. Lud sich erneut die Schüssel auf die sorgfältig geglätteten Rockschöße, füllte den Löffel. "Iss." Der Löffel verharrte vor Hideos Mund in der Schwebe. "Bitte." Hideo musterte den Vampir, der so reglos seinem Blick entgegensah, der Demütigung mit Würde begegnete. "Du brauchst mich." Hideo gab seinen Sieg nicht verloren, wollte sich nicht beschämen lassen von diesem puppenhaften Blutsauger. Rubens Augen ruhten lange auf Hideos Gesicht, der sich hinter Trotz und gespielter Nonchalance verbarrikadierte. "Ich brauche dich." Sehr leise wisperten die Worte in die gespannte Ruhe. Hideo öffnete den Mund und ließ sich langsam füttern. ^w^ Hideo seufzte ungnädig und bedachte die Terrine mit einem vorwurfsvollen Blick. Nachdem er bereitwillig die Nahrungsaufnahme zugestanden hatte, sah Rubens mindestens drei Mahlzeiten am Tag vor, aus für Hideo unerfindlichen Gründen aber immer mit dem seltsamen Brei. Wenn das Mastfutter sein sollte, verfehlte es seine Wirkung. Er musste jedoch zugute halten, dass er sich langsam besser fühlte. "Kann ich nicht ordentliches Essen bekommen? Und es selbst essen, ohne diese Fütterei?", nörgelte er quengelig. Hoffte, einen ausreichend nervenaufreibenden Tonfall getroffen zu haben. Seine Kulanz sollte den Vampir nicht etwa verleiten zu glauben, zwischen ihnen sei nun alles in Ordnung! Rubens zog die Augenbrauen hoch, erhob sich dann, um Hideos linke Hand von ihrer Fessel zu befreien. Hideo grinste zufrieden, rieb das Handgelenk an seiner nackten Brust. Nun gut, er war zwar Rechtshänder, aber wie er rasch festgestellt hatte, konnte er die Rechte nicht benutzen, hatte mit der Schere einige Sehnen stark angegriffen. "Ich müsste auch sitzen können", bemerkte er vorwurfsvoll. Wortlos, aber sichtbar wachsam, befreite Rubens auch die Fußknöchel aus ihren stählernen Banden. Hideo streckte und räkelte sich, nun nur noch mit einer Hand gebunden, schob sich dann bequem an das Bettende. Packte sich wie selbstverständlich ein Kissen in den Rücken und fischte nach der Schüssel. Den Löffel in das verachtete Mus senkend balancierte er die Ladung zum Mund, schluckte eilig. Nach wenigen weiteren Akten jedoch begann sein Arm unter der ungewohnten Belastung zu zittern, tropfte er auf die eigene Haut. Mit zusammengebissenen Zähnen widerstand Hideo zorniger Enttäuschung. Wieso war er so schwach?! Nicht einmal eine Schüssel mit Brei konnte er ohne Schwierigkeiten essen?! Die schlanken, hellen Finger des Vampirs legten sich um seine verkrampfte Hand, unterstützten die Wanderung zum Mund. Ohne Kommentar wischte Rubens die Flecken mit einer Serviette von Hideos Brust und Kinn, half geduldig, bis der Brei aufgezehrt war. Hideo sackte leicht ächzend in die Daunen, rieb sich demonstrativ über den nackten Bauch, als habe er gerade orgiastisch getafelt. Rubens ignorierte dies, sammelte das Geschirr auf und stellte es auf dem Nachttisch ab. "Ins Bad", kommandierte er besonnen, streckte die Arme nach Hideo aus. Der eine Augenbraue mokierend lupfte. "Denkst du nicht, du solltest zur Sicherheit einen Overall überstreifen? Falls ich mich übergeben sollte..." Seine grauen Augen funkelten boshaft. Doch der Vampir ging auf dieses Entree zu weiterem Geplänkel nicht ein, zog Hideo gewandt auf die Arme und erhob sich, nicht das kleinste Schwanken unter der Last. Hideo schluckte weitere Bösartigkeiten hinunter angesichts der Kraft und Mühelosigkeit, mit der der andere ihm begegnete, lehnte sich unauffällig an der Schulter an. Mittlerweile empfand er keine Scham mehr, wenn er splitternackt durch die weitläufige Wohnung getragen und umsichtig auf einem Schemel abgesetzt wurde. Bevor sich die Tür hinter ihm schloss und lauwarme Wasserschauer behutsam seinen abgemagerten Leib massierten. Ja, -Hideo stützte die Linke an der gekachelten Wand ab, während die Rechte mit einer durchscheinenden Tüte geschützt wurde-, er hatte erheblich an Gewicht verloren. Zu deutlich zeichneten sich Rippen und Wirbel ab, er gefiel sich selbst nicht in dieser schwächlichen Gestalt. »Außerdem«, meldete sich die selten gehörte Stimme der Vernunft durch das Prasseln auf seinem schwarzen Schopf, »warum quälst du dich selbst? Ihr seid voneinander abhängig. Er ist zugegebenermaßen ein gefährlicher Blutsauger, aber man kann sich arrangieren!« Hideo legte den Kopf in den Nacken, ließ das Wasser über sein Gesicht perlen. »Und er hat dich in seinem eigenen Schlafzimmer einquartiert!« »Er ist ein hochnäsiger, blutrünstiger, intriganter Bastard!«, warf der Schleifer donnernd ein, »keine Gnade!« Hideo grinste unter den Wasserschauern selbstvergessen. Er hatte diese martialische Stimme vermisst, ganz gleich, wie obsolet und selbstmörderisch auch ihre Befehle sein mochten! »Zeit, sich wieder aufzuraffen«, entschied er abschließend für sich selbst. ^w^ Es mussten nach Hideos Zeitrechnung etwa zwei Tage vergangen sein, da wurde er nach einer Dusche, auf eigenen, wackligen Beinen, aber unter Hilfe in sein 'Zimmer' zurückgeleitet. Offenkundig hatte Rubens die blutgetränkte Matratze ersetzen lassen und nun galten wieder die verschärften Haftbedingungen. Hideo spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, sich zu wehren, einen Aufstand zu proben, sollte er wieder wie ein Stück Vieh angezurrt und traktiert werden. Rubens jedoch überraschte ihn. Nicht nur, dass er Hideo einfach auf dem bereits sauber bezogenen Bett absetzte, nein, er hielt diesem auch einen Frotteebademantel in exquisitem Platin entgegen. Während Hideo sich schwankend in den weichen Stoff hüllte, sich in ungewohntem Luxus gerierte, beobachtete er Rubens, der diverse Apparaturen abdeckte, Stecker aus Leisten zog, zusammenräumte. Einige der Maschinen besaßen metallene Hauben, die einfach heruntergelassen und versiegelt werden konnten. Rubens hantierte bereits mit einem ganzen Bündel an Schlüsseln unterschiedlichster Beschaffenheit. Hideo zurrte den Gürtel um seine gertenschlanke Taille und zupfte an seinem Verband, während er zwischen den feuchten, glatten Strähnen seiner Haare die Fortschritte begutachtete. Rubens wandte sich nach einem letzten kontrollierenden Blick Hideo zu, prüfend, den großen Schlüsselring zwischen den schmalen, hellen Händen drehend. Hideo starrte brütend zurück, parodierte Rubens' Haltung. Zu seiner völligen Verblüffung schnitt ihm Rubens eine Grimasse, nur einen Sekundenbruchteil lang, aber Hideo war sich sicher, dass er sie gesehen hatte. Dann, wieder undurchdringbar, wischte er die tizianroten Locken hinter ein Ohr und zog ein Halsband aus seiner Hosentasche. Hideo rutschte unwillkürlich von ihm ab, den Blick starr fixiert auf das schmale Samtband mit dem verchromten Anhänger. "Vergiss es! Keine Chance, so ein Ding trage ich nicht!", protestierte er heiser, spürte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. "Dann werde ich dich wieder anketten müssen." Rubens blieb nüchtern, gleichgültig. "Das Ding hätte mich fast getötet!", fauchte Hideo schrill, kindlich anklagend einen Finger auf das Objekt gerichtet. "Ich weiß. Ich habe die Narbe an deiner Kehle bemerkt." Rubens' Daumen streichelte das Samt spielerisch. "Ich will es nicht, hörst du?!" Hideo feuerte außer sich mit einem Kissen nach Rubens, der dem ungeschickten Wurf mühelos entging. Seine Zähne schlugen aufeinander. Er wollte sich nicht mehr anketten lassen. »Hilflos wie ein Marienkäfer auf dem Rücken, aber dieses Foltergerät...!!« Er presste wütend die Lippen zusammen, wich der offerierend ausgestreckten Hand aus. "Steh auf." Rubens' Stimme schmeichelte so sanft, dass man die Order für eine Bitte halten konnte. Schwankend kam Hideo auf die Beine, überragte nun den sitzenden Vampir, die Fäuste geballt, auch wenn diese würdelos zitterten. Ohne Ankündigung schlug Rubens mit einer schlanken Hand den Frotteemantel auseinander, während die andere bereits das Band geschickt zwischen Hideos Beine schob. Noch bevor Überraschung oder Protest Früchte trugen, war das Samtband um Hideos linken Oberschenkel geschnallt. "Du wirst nicht ersticken", konnte sich Rubens den spottenden Hinweis nicht verkneifen, tätschelte herablassend Hideos nacktes Hinterteil, bevor dieser zurücktorkelte und unwillkürlich den Mantel fest um sich wickelte. Rubens erhob sich grazil, sammelte das Geschirr ein und steuerte die Tür an. "Und wenn ich es abnehme?" Hideo hatte sich wieder gefasst und beharrte darauf, wenigstens den Gedanken von Widerstand aufrecht zu erhalten. Rubens legte den Kopf anmutig schief und lächelte sonnig. "Vorher jage ich genug Volt durch deinen Körper, dass du dich eine ganze Weile nicht mehr rühren kannst", versicherte er großmütig, dann schloss sich lautlos die Tür hinter ihm. Hideo feuerte Kissen gegen diese, bis ihm die Kraft ausging und er sich auf den neuen Matratzen erschöpft ausstreckte. ^w^ Ohne dass Worte verloren werden mussten, pendelte sich ein gewisser Rhythmus zwischen ihnen ein. Hideo vergaß bald den Sender an seinem Bein, befleißigte sich vielmehr damit, heißhungrig die von Rubens zubereiteten Menüs zu vertilgen. Und dann, zwischen Duschen und Schlafen, im Zimmer auf und ab zu gehen und Gymnastikübungen zu absolvieren. Zu seiner Verblüffung fanden sich auf dem Nachtschrank immer wieder neue Gegenstände: Bücher, ein Kamm, ein Stirnband, ein Jogginganzug, ein Handtuch mit seinem Initial. Er wurde kräftiger und stärker, die rechte Hand funktionierte wieder zufriedenstellend, auch wenn das Narbengeflecht, durch die verkrümmten Sehnen verursacht, nicht gerade schön anzusehen war. Hideo spürte seinen Magen verlangend knurren: Zeit für das Abendessen. Gespannt lauerte er auf den Augenblick, in dem sich die Tür lautlos öffnen und Rubens mit einem Tablett hindurch schreiten würde. Ein Lesezeichen zwischen die Seiten der aktuellen Lektüre, "Sternstunden der Menschheit" von Stefan Zweig, schiebend setzte er sich aufrecht. Ein Fuß klopfte ungeduldig auf das Linoleum. In diesem Augenblick schwang die Tür in den Raum, Rubens lehnte sich an den Türrahmen, unerwartet festlich gekleidet in ein exotisches Gewand, dessen lange Schöße hochgeschlitzt bis zu den Knien reichte. Das Altgold funkelte mit den offenen Locken im Lichterschein um die Wette. »Kein Abendessen?!«, registrierten Hideos Augen verwirrt, er war doch die ganze Zeit bereits umgänglich und pflegeleicht gewesen, warum also..?! "Komm." Rubens winkte knapp mit dem Kopf, löste sich aus dem Rahmen und verschwand. Hideo stutzte, kam dann eilig auf beide Füße, wischte sich automatisch die langen Strähnen hinter die Ohren und folgte dem Vampir aus dem Zimmer. Den kurzen Stichgang entlang traf dieser auf einen breiten Flur, der schon eher einem Empfangssalon gerecht wurde. Mit diversen Türen, die zu Rubens' Schlafzimmer, seinem eigenen Badezimmer, der Küche, dem Wohnzimmer und einem Arbeitszimmer führten. Nur eine der Türen hielt ihre Pforte einladend geöffnet. Kerzenschein hellte die Dunkelheit der zugezogenen, schweren Vorhänge auf. Zögerlich betrat Hideo das Wohnzimmer, versank mit den bloßen Füßen in einem dicht gewebten Teppich mit dezenter Musterung. Der große Raum war geschickt aufgeteilt worden mittels eines chinesischen Paravents. Die Seidenbespannung mit den blühenden Zweigen und Singvögeln im prächtigen Federkleid lockerte gleichzeitig die Spannung der dunklen, schweren Möbel auf. In dem gasbefeuerten Kamin brannte ein heimeliges Feuer, ihm zugewandt standen zwei schwere Ohrensessel mit Fußbänken und zierlichen Beistelltischen. Vor der gewaltigen Schrankwand gruppierten sich im englischen Clubstil ein Sofa mit niedriger Lehne sowie zwei passende Sessel um einen niedrigen Glastisch mit goldenem Fuß, einer wilden Faungestalt. Rubens jedoch wartete neben dem Paravent, sodass Hideo sich beeilte, ihm zu folgen. Dort fand sich in festlich gedeckter Tafel ein Esstisch für acht Personen, am jeweiligen Kopfende mit Gedecken garniert. Auf dem Büfett zur Rechten warteten bereits die Speisen, während linker Hand die Vorhänge jeden Blick nach draußen verwehrten. Hideo zögerte, erinnerte sich an seine Manieren, wartete, bis Rubens ihm einen Platz zugewiesen hatte. Dieser füllte nun einen Teller mit einfacher Consommee, setzte das aufwendig verzierte Porzellan vor Hideo ab, der artig wartete, bis auch Rubens seinen Teller vor sich hatte. "Guten Appetit", wünschte er leise, behielt neugierig seinen Gegenüber im Auge. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass Rubens genauso essen würde wie er. Seltsam eigentlich, hatte er doch auch mit den anderen, den Anti-Sanguinisten, gespeist, doch Rubens... Möglicherweise war es dem Einfluss zu vieler Filme zuzuschreiben, dass er sich vorgestellt hatte, dass Rubens ausschließlich von seinem Blut lebte? "Ist es nicht nach deinem Geschmack?", erkundigte sich dieser gerade mit ausgesuchter Höflichkeit. Zu seinem größten Ärger lief Hideo rosig an, senkte eilig den Blick auf seinen Teller und murmelte eine vage Versicherung, es sei alles bestens. Es folgte der Suppe eine sehr übersichtlich gehaltene Kreation mit Lachs, Röstkartoffeln und gedünstetem Zwiebelgemüse. Hideo hatte Hochkandideltes erwartet. Dieser mehr als bodenständige und eigenwillige Gang entlockte ihm ein verschmitztes Grinsen. Das Mahl wurde von einem Schälchen Vanille-Mousse abgerundet. Hideo tupfte sich mit der Stoffserviette die Lippen ab und lächelte in den Kelch Tafelwassers, den er spielerisch in den Fingern drehte. "Es hat sehr gut geschmeckt, vielen Dank", bekannte er ohne Aufforderung, zwinkerte Rubens zu. Dieser nahm das Lob gravitätisch entgegen, verzog keine Miene. "Möchtest du, dass ich dir beim Abräumen und Spülen helfe?" Hideo hatte soeben ein neues Ziel erkoren, nämlich dem Vampir ein Lächeln zu entlocken, sei es noch so winzig. "Nein, das ist nicht notwendig." Rubens erhob sich und gab somit das Signal zum Aufheben der Tafel. Hideo trat unschlüssig an ihm vorbei, verharrte einen Augenblick vor dem offenen Kamin, verlor sich im Flammenspiel. Würde es nun immer so sein? Dass er zu den Mahlzeiten das Zimmer verlassen durfte? »Er ist völlig allein hier.« Der Gedanke blitzte zusammenhanglos in Hideos Kopf auf, stimmte ihn merkwürdig traurig. "Gehen wir." Rubens wohlartikulierte Stimme holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Mit einem knappen Nicken kehrte Hideo in sein Zimmer zurück, streifte sich den fein gestrickten Pullover über den Kopf, schüttelte ein Kissen auf und lehnte sich dagegen. Wie jeden Abend nahm Rubens neben ihm auf der Matratze Platz, drehte Hideos linken Arm leicht nach außen, senkte dann die Lippen über die weichen Haut. Hideo drehte an diesem Abend nicht den Kopf weg, betrachtete versonnen den lockigen Schopf, der so nahe seiner Brust schwebte, sich zurückzog, um der gewohnten Spritze Raum zu schaffen. Mit geübtem Schwung zog Rubens kurz am Kolben, der sich sogleich selbst nach oben bewegte, als Hideos Blut in das Innere sprudelte. Jeden Tag, zwanzig Milliliter. Georg hatte in dieser Hinsicht die Wahrheit gesagt. Abgesehen von diversen Details, wie es nach der Blutentnahme weiterging. Rubens verschloss die Spritze, betupfte mit den Speichel benetzten Fingerspitzen Hideos Arm und erhob sich dann gemächlich. Langsam tat der Vampirkuss seine Wirkung: Hideos Herzschlag beschleunigte sich merklich, während seine Glieder den Kontakt zu seinem Gehirn verloren, scheinbar abstarben. Unter halb gesenkten Lidern verfolgte Hideo, wie Rubens sich in der Tür umkehrte, ihn ansah, dann, fast verstohlen, das dünne Laken über Hideo ausbreitete und den Raum verließ. Hideo schlief mit einem leichten Lächeln auf den Lippen ein, begleitet vom pulsierenden Trommeln seines Blutes in seinen Ohren. ^w^ Die nächsten zwei Wochen ließ Rubens immer weitergehende Freiheiten durchgehen, scheinbar zufällig, als sei er nur nachlässig gewesen. Bald hatte es sich Hideo angewöhnt, auf der Suche nach Lektüre durch die Wohnung zu streifen, sich im Wohnzimmer in einem Ohrensessel zu verkriechen und dort zu schmökern, dann wieder in seinem Zimmer Gymnastik zu betreiben. Rubens ließ sich in der modernen, jedoch holzverkleideten Küche bei der Zubereitung der Mahlzeiten zur Hand gehen. Er gestattete es Hideo auch, sich um die Schmutzwäsche zu kümmern oder neue Rezepte zu probieren. Hideo überraschte sich selbst mit der Neugier auf diese vollkommen alltäglichen Dinge. Früher war ihm dies die lästige und banale Pflicht der Haushälterin gewesen, nun entdeckte er ungeahnte Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Überdies regte ihn die Auswahl der Bücher an, die er in Rubens Regalen studiert hatte. Dort fanden sich weniger Romane als wissenschaftliche Abhandlungen über die Historie verschiedener Länder, handgeschriebene Kochbücher beträchtlichen Alters. Anleitungen für Chemiker und Physiker, allerlei Wissenswertes zu Krankheiten und dem menschlichen Organismus. Klassiker der Weltliteratur in ihrer Originalfassung, was Hideo gehörigen Respekt abnötigte, denn Rubens bekannte ohne Anzeichen von Stolz, dass er selbstredend die Werke gelesen habe. Lediglich einige Aspekte in ihrem gemeinsamen Leben blieben nach wie vor für Hideo tabu: er erfuhr niemals, was Rubens mit dem Blut anstellte, noch durfte er dessen Arbeitszimmer betreten. Gänzlich versagt blieb ihm auch die Welt außerhalb der Wohnung. In einer sechsstöckigen, vornehmen Villa neueren Datums gelegen war er durch weitläufige Grünflächen und hohe Hecken von der Umwelt abgeschnitten. Nachbarn, sofern existent, zeigten keinerlei Lebenszeichen. »Ein Mausoleum für die Reichen und Verdorbenen«, grollte Hideo und warf erneut einen anklagenden Blick auf das Türschloss. Es drängte ihn förmlich danach, die freie Luft zu atmen, ganz gleich, wie kalt und schneidend sie war. »Februar. Und auch bald Karneval.« Nicht, dass er sich viel daraus gemacht hätte, verkörperte dieses Datum dennoch den Aufbruch in den Frühling, das Ende des ewigen, arktischen Winterschlafs. Hideo schob behutsam im Wohnzimmer einen schweren Vorhang auf die Seite, musterte das fahle, schwächliche Licht. Hinter ihm räusperte sich Rubens durchdringend. Die Augen verdrehend ordnete Hideo gehorsam den Stoff und zog sich in einen Ohrensessel zurück, um seine Lektüre wieder aufzunehmen. Durch die angelehnte Tür hörte er die dezente Klingel der Haustür. Dann drang Rubens höfliches Gemurmel zu ihm vor. Hideos Rückgrat prickelte erwartungsvoll. Er hatte vor einiger Zeit erkannt, dass der Vampir nur selten das Haus verließ. Stattdessen wurde alles geliefert, was er benötigte. »Er muss mehr Geld als Haare auf dem Kopf haben«, kommentierte eine missgünstige Stimme in Hideos Hinterkopf diesen Umstand. Allerdings hatte Hideo selbst keinen Grund zur Klage. Mittlerweile verfügte er über einen beträchtlichen Schwung an unterschiedlichsten Bekleidungsstücken in ausnahmslos hoher Qualität und von zeitloser Eleganz. Daneben hatte der Vampir ihm auch, betont beiläufig, ein ledernes Armband geschenkt, das nun die Narben an seinem rechten Handgelenk verdeckte. In der Zwischenzeit hatte sich ein ärgerlicher Disput über die Fernsprechanlage entwickelt. Hideo schlug sein Buch zu und schlich auf Zehenspitzen an die Zimmertür. Dort ballte Rubens gerade eine Faust, warf unwillig die dichten Lockenstränge über die Schultern und stapfte, soweit es seiner grazilen Gestalt möglich war, zum Aufzug. »Die Tür!!« Hideo blinzelte ungläubig. »Er...er hat die Tür nicht verschlossen!!« Noch bevor er seine nächsten Aktionen genau erwägen konnte, hatte sein Körper selbsttätig die Führung übernommen, war atemlos in das eigene Zimmer gestürmt. Hatte sich in dunkle Hosen und einen Pullover gewunden, dann in der Halle ein paar Schnürstiefel und einen schwarzen Mantel konfisziert und stürzte in den Gang, sorgsam die Wohnungstür ins Schloss ziehend. Hideo eilte die Treppen des Notausgangs hinunter, sicher, dass Rubens nur mit dem Aufzug zurückkehren würde. Im Erdgeschoss lauschte er auf den unverständlichen Streit, huschte dann in die Tiefgarage hinab, um dort durch den Personenausgang, der sich nur nach außen öffnen ließ, endlich, nach über einem Monat, wieder im Freien zu stehen. Seine Freude währte nicht lange. Ihm wurde siedend heiß bewusst, wie schnell Rubens seine Abwesenheit bemerken würde. Und wie er sicherlich außer sich geraten würde. Hideo nagte an einem Fingerknöchel. Sollte er gleich zurückkehren und sich stellen?! Oder die Gelegenheit nutzen? Das Votum war einstimmig. Die Strafe würde ihn ohnehin ereilen. Da konnte er sich vorher auch amüsieren. ^w^ Hideos erster Gedanke hatte seinen Eltern gegolten, während er mit Schwung trotz des eisigen Windes die leergefegten Straßen entlang marschierte. Umso näher er jedoch seinem Elternhaus kam, desto größer wurde seine Unsicherheit, denn er fand keine Erklärung, die er für sein Erscheinen bieten sollte. »Hallo, ich bin nicht tot, aber das lebende Futter eines Vampirs, macht euch keine Sorgen?!« »Nicht gut«, befanden selbst die irre kichernden Stimmen in seinem Hinterkopf unisono. Hideo hielt vor der vertrauten Pforte inne, sah sich zögerlich um. Wenn man ihn nun erkannte?! Es war zwar nur ein Monat vergangen, aber dieser hatte durch die Auszehrung, die Verletzungen und die Todesgefahren die weichen Linien aus Hideos Gesicht gebrannt. Er wirkte beim morgendlichen Blick in den Spiegel noch immer jung, androgyn, jedoch nicht mehr kindlich. Die großen, grauen Augen fingen jeden Betrachter ein, lenkten ab von den hohen Wangenknochen, den deutlich erkennbaren Kiefern. Nun trat auch das Erbe seiner Mutter in den Vordergrund, gab einen exotischen Sprenkel hinzu, eine eurasische Note sozusagen. Doch jede Entscheidung wurde ihm abgenommen, als die Haustür aufgerissen wurde. "Wir müssen endlich zum Flugplatz, beeil dich!" Sein Vater, einen Trolley mit Gepäcktasche hinter sich herziehend. Hideo ging unwillkürlich hinter einer dichten Hecke in Deckung, verfolgte mit gemischten Gefühlen den hastigen Aufbruch. "Meine Tasche ist zu schwer!" Die sanft, fast enervierend weinerliche Stimme seiner Mutter. "Dann lass sie hier." Emotionslose Replik. "Hast du auch das Taxi bestellt?!" Vielsagendes Knurren. Hideo rührte sich in seinem Versteck nicht, bis das Taxi seine vornehm gekleideten, aber missmutigen Passagiere eingeladen hatte und davonfuhr. Erst dann trat er aus der Hecke. Er war sich selbst nicht sicher, was er erwartet hatte, doch scheinbar hatte sein Tod nichts geändert. Mit einem Stich im Herzen trottete er davon. ^w^ Doch Hideos Enttäuschung hielt nicht lange vor, dann wandelten sich die unterdrückten Emotionen in trotzige Wut. Es hatte ohnehin keine Bedeutung mehr, was seine Eltern für ihn empfanden oder empfunden hatten. Nun führte er ein neues Leben. Und war, wenn er Rubens' Aussagen Glauben schenken konnte, offiziell nicht einmal mehr existent. Hideo grub die Hände tiefer in die Manteltaschen und stutzte. Eine Plastikkarte?! Hideo fingerte das Objekt vorsichtig heraus, studierte es im einsetzenden Regen. Ein nachsichtiges Schnalzen entfuhr ihm. »Wirklich typisch Rubens, arroganter Vampir, der er ist!« Andere Leute steckten sich einen Schein für Notlagen ein, nicht jedoch Meister Dracula! Oh nein, da musste es gleich eine Kreditkarte sein, sogar mit einem Geldkartenchip integriert! Hideo prüfte den Namen 'Rubens van de Breukeling', erwog die Chancen, dass er ohne intimere Kenntnisse einige Einkäufe absolvieren konnte. Entschlossen steuerte er ein ihm bekanntes Einkaufszentrum an. Der Regen wurde immer dichter und eine Pause konnte er sich wohl gönnen. ^w^ Die Schaukel pendelte trudelnd im eintönig rauschenden Regen. Hideo war bis auf die Knochen durchnässt. Eine bleierne Müdigkeit hatte ihn erfasst, dennoch fror er nicht. Unter seinem offenen Mantel barg er die Einkäufe. Seine Gedanken wandelten auf anderen Pfaden. Von einer schon pervers anmutenden Neugier getrieben hatte er den Hauptfriedhof aufgesucht. Und auf sein eigenes, schlicht gehaltenes Grab hinab gesehen. Sein Name auf schwarzem Stein, dazu Geburts- und Todesdatum. Es war befremdend, die eigene Existenz ausgelöscht zu sehen und gleichzeitig zu leben, ein Widerspruch in sich. Zum wiederholten Mal fragte sich Hideo, wer wohl der Junge gewesen war, der an seiner Stelle unter dem Stein ruhte. Ob ihn wohl jemand vermisste, an ihn dachte. Oder ob er genauso zu einer verwehten Erinnerung wurde, wie ein vergilbtes Photo unscharf und trübe, bis es als wertlos erachtet und weggeworfen wurde. Er konnte niemandem einen Vorwurf machen. Sie glaubten, was ihnen präsentiert worden war. Aber dennoch... tat es weh. Eine schlanke, helle Hand legte sich kühl um Hideos sanft glühendes Kinn. Den Kopf hebend erkannte er durch den Wasserschleier Rubens, in einen Regenmantel gehüllt, den Kopf mit den zerzausten Locken bloß. Wortlos kämpfte er sich auf die Beine, musste sich unterhaken, um nicht zu stolpern. Der Weg bis zur Straße, wo ein Taxi wartete, erschien Hideo endlos. Desgleichen die Fahrt. Er dämmerte wiederholt weg, zu erschöpft, sich zu fragen, wie Rubens ihn wohl gefunden hatte, oder ob er ihn wieder einsperren würde, an allen Vieren gefesselt. Im Aufzug erlitt Hideo den ersten Schwächeanfall, brach ankündigungslos in die Knie. Allein die immensen Kräfte des Vampirs verhinderten einen Sturz. Kaum dass sie mühsam die Wohnungstür erreicht hatten, machte Rubens kurzen Prozess, lud sich Hideo auf die Arme, schaffte diesen in sein Zimmer. Zerrte mit unverhohlener Verärgerung die nassen Kleider von Hideo. Und entdeckte die Einkäufe, die Hideo gemacht hatte. "Was ist das hier?!", zischte Rubens derart unterkühlt, dass Hideo aus seinem Dämmerzustand aufschreckte. Ohne sich der Situation vollkommen bewusst zu sein, schälte er sich selbstvergessen aus allen Kleidungsstücken, wickelte das Laken um sich und sortierte, auf die Seite rollend, mit schwerer Zunge aus. "Ketchup...deiner...schmeckt lausig...Erdnussbutter... das... ist Aftershave." "Ich dulde diese chemischen Stinkbomben nicht!" Rubens fauchte grob über Hideo hinweg. Der blieb unbeeindruckt, mühte sich mit dem Verschluss auf, tupfte dann unbeholfen eine Fingerspitze voll auf sein Schlüsselbein. "Und das?!" Hideo blinzelte erschöpft, lächelte dann eher träge als maliziös. "Spielzeug", zwinkerte er müde. Klopfte auf die Pappschachtel mit den Kondomen, die sich praktischerweise auf dem Weg zur Kasse befunden hatten und ihm vor einigen Stunden durchaus geeignet schienen, dem Vampir einen Stich zu versetzen. "Widerlich!" Hideo rutschte flach auf den Rücken, kämpfte gegen die eigene Schwäche. "... Tüte...", wisperte er, tastete blind in dem ausgebreiteten Haufen. Rubens schnickte unauffällig das Gesuchte zwischen Hideos umherirrende Finger. Der zerlegte unbeholfen die Papierschicht, fummelte ein einfaches, gesäumtes Stoffband aus Satin heraus. Der Champagnerton wirkte festlich, geeignet, um wertvolle Geschenke mit entsprechender Verpackung zu zieren. Hideo hatte jedoch an eine tizianrote Wolke weicher Locken gedacht. »Als wäre ich auf einem Ausflug und würde meinen Freunden Souvenirs mitbringen«, trudelte träge der Gedanke durch seinen Fieber schwangeren Geist. "...für... dich...", krächzte er nahezu tonlos, schob das Band energisch in die kühle Hand an seiner Seite. Die andere Hand legte sich flach auf Hideos Stirn. Er seufzte, dankbar für die willkommene Abkühlung, doch die währte nicht lange. "Verblödeter Nichtsnutz!" Rubens' Stimme schrillte vor Zorn...oder war es Angst und Sorge?! "Du hast hohes Fieber, wahrscheinlich eine Erkältung!! Wirklich bravourös, ich lasse dich nur einen Moment aus den Augen und du revanchierst dich auf diese unverschämte Weise!! Warte nur, du wirst dir noch wünschen, niemals einen Schritt vor die Tür gesetzt zu haben!!" Die Matratze federte nach, als Rubens sich heftig abstieß, in einem eisigen Luftzug Hideo den Rücken kehrte. Hideo atmete unter Fieber schwer, aber auch die ersten Anzeichen von Entzug erlegten ihm Prüfungen auf. Fast flehend drehte er den Arm nach außen, wartete geduldig darauf, dass Rubens' Wut sich legte und dieser wie gewohnt ihm den Vampirkuss verabreichen würde. Doch jener ließ auf sich warten, sodass sich Hideo in Fieberphantasien verlor und endlich hochschreckte, als sich ohne Vorwarnung kühle Lippen auf seine Schulter senkte. Mochte Rubens nun doch den leicht würzigen Duft des Aftershaves?! Hideo lächelte erhitzt, strich beiläufig durch die Lockenwellen, was mit einem schnalzenden Ton des Missfallens kommentiert wurde. Grob zerrte Rubens das Laken über Hideo und verließ ihn abrupt. ^w^ Hideo krümmte sich unter einem Hustenanfall und schniefte Mitleid erregend, tastete blind nach der Schachtel mit den Papiertaschentüchern. Er schnäuzte sich und sackte ermattet auf das Kissen zurück. Stumm, wie schon etwa zwei Tage zuvor, materialisierte sich Rubens in seiner Nähe, wischte mit einem feuchten Tuch über Hideos Gesicht und seine Brust. "Danke", lächelte Hideo blinzelnd, schreckte aber vor der eisig- ausdruckslosen Maske zurück, die ihm entgegen funkelte. »Liebe Güte, er ist immer noch sauer... dabei geht es mir doch schon dreckig genug!« Hideo schmollte provozierend. Eingedenk seines Vorsatzes, Rubens wenigstens einmal ein Lächeln zu entlocken, blinzelte er übertrieben, erbebte, als hätte ihn Väterchen Frost höchstpersönlich in der Mangel und piepte winselnd. "Mir ist so kalt, wärm mich doch!" Dabei spielerisch die Augenlider auf Halbmast senkend und eine entblößte Schulter vorschiebend, Verführung für Begriffsstutzige. Ihm war auch Erfolg beschieden, allerdings gänzlich anders, als er erwartet hatte. Rubens beugte sich dicht über ihn, umgab sie mit einem dichten Vorhang tizianroter Locken, die samtweich über Hideos nackte Haut strichen, was in der Tat gewisse Erregungszustände bewirkte. Im Kontrast aber standen die gezischten Worte, getränkt mit Gift und Ekel. "Sex ist die Währung, mit der DU da draußen bezahlst. Hier drinnen zählt nur dein Blut." Mit verabscheuendem Gesichtsausdruck ließ Rubens den völlig perplexen Hideo allein. ^w^ Hideo kaute gedankenverloren an einem Fingerknöchel, spähte in wachsender Unruhe zur angelehnten Tür. Selbst in großem Zorn, beleidigt oder angeekelt: Rubens hatte ihm niemals den Vampirkuss verweigert. Dennoch blieb er weiterhin aus, was nicht nur Hideos körperlichen Zustand beeinträchtigte. Auch sein Nervenkostüm franste zusehends aus. Er hatte nur einen Scherz machen wollen, Rubens aus der Reserve locken, nur eine winzige Provokation und dann so eine Reaktion!! Hideo stellte sich auf die Beine, streifte einen Pullover über und kämmte sich die elektrisiert fliegenden Haare. Mittlerweile erreichten sie fast seine Schultern, eine ungewohnte Länge, die ihn immer wieder über einen radikalen Schnitt nachdenken ließ. Doch Scheren waren tabu seit dem Vorfall. Rubens hatte eine nicht zu unterschätzende Geschicklichkeit entwickelt, diese vor Hideo fernzuhalten. Er trat in den Gang, huschte behutsam in die Eingangshalle, jeden Augenblick bereit, auf dem Absatz kehrt zu machen und zu flüchten, um nicht erneut Rubens' Zorn auf sich zu ziehen. Doch es waren keinerlei Geräusche zu vernehmen, keine Bewegung in seinem Wahrnehmungsspektrum. Hideo zog die Augenbrauen zusammen, erwog seine Chancen. Saß der Vampir möglicherweise im Wohnzimmer vor dem Kamin und brütete über Hideos Schandtaten? Oder hatte er sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen? Hideo entschied sich für das Wohnzimmer, drückte die verzierte Klinke und schob sich möglichst lautlos in den behaglich geheizten Raum. Die Sitzgruppe war verlassen, der Bereich hinter dem Paravent komplett in Dunkelheit gehüllt. Was für einen Vampir nicht unbedingt ein Hindernis darstellen mochte, doch nach Hideos Erfahrung schätzte auch Rubens einen bestimmten Lichtpegel, wenn er las oder sich anderweitig beschäftigte. "Rubens?" Hideo pirschte sich flüsternd auf die Ohrensessel zu, doch beide waren unbesetzt. »Das ist merkwürdig...« Hideo zog eine Augenbraue hoch, betrachtete irritiert das aufgeschlagene Buch auf einem Beistellbord. Üblicherweise pflegte besonders Rubens seine Bücher pfleglich zu behandeln, niemals aber einfach den Buchrücken sich durchdrücken zu lassen. Stirnrunzelnd las Hideo das unter die Fußbank geglittene Lesezeichen auf und markierte das Buch, legte es ordentlich wieder auf den Beistelltisch. Er verließ das Wohnzimmer, klopfte behutsam an die Schlafzimmertür. Als Hideo keine Antwort vernahm, betrat er zögerlich das Zimmer, in dem er auch für kurze Zeit untergebracht worden war. Rubens lag dahingestreckt auf seinem Bett, das Gesicht unter der Lockenpracht verborgen, jedoch noch in seinem Hausanzug, die Tagesdecke nicht zurückgeschlagen. Hideo schlich auf Samtpfoten, -zumindest nach bestem Vermögen mit dröhnendem Schädel und triefender Schnupfnase-, beugte sich vorsichtig über Rubens. Keine sofortige Reaktion, was Hideo als Ermunterung auffasste, behutsam das fahle Gesicht freizulegen. Rubens glühte förmlich vor Hitze. Ungewohnt rosige Flecken zeichneten seine Wangen, die erdbeerfarbenen Lippen waren zersprungen, seine Brust hob und senkte sich rasch in keuchenden Atemzügen. Hideo erschrak, legte unwillkürlich prüfend die Hand flach auf die Stirn, die ungewöhnlich kalt war, ganz im Gegensatz zu den fiebrigen Wangen. "Rubens? Rubens?!" Hideo schüttelte beherzt die schmalen Schultern, entlockte Rubens aber nur ein Stöhnen. Hideo murmelte einen Fluch, ließ den schlaffen Körper wieder sinken. Rubens musste sich wohl bei ihm angesteckt haben, aber, so erschien es Hideo, hatte überraschenderweise sehr viel weniger entgegenzusetzen. Ratlos betrachtete er den um Luft ringenden Vampir, schlug sich dann mit der flachen Hand an die Stirn. Natürlich, es waren sicher noch fiebersenkende Mittel da, Hustensaft und andere Medikamente! Hideo stürzte in das Badezimmer, kramte eilig in dem Spiegelschrank nach entsprechenden Flaschen und Schachteln. Die Lage jedoch verbesserte sich nicht wesentlich, da sich nur noch Restbestände fanden. Überhaupt enthielt das private Badezimmer des Vampirs kaum handelsübliche Medikamente. Es wirkte fast so, als seien die wenigen Mittel erst kürzlich nur für Hideo angeschafft worden. »Verflucht!« Hideo sammelte Schachteln und Tablettenröhrchen ein, stürzte mit seiner Ausbeute zurück zu Rubens, der sich nicht gerührt hatte. »Keine Panik!«, ermahnte er sich selbst, dann sprang hilfreich der Schleifer ein, wie immer um Übersicht bemüht. »Zuerst einmal kleide ich ihn aus und lege ihn ins Bett.« Mit nervösen Fingern wickelte er Rubens aus seinem Hausanzug, bewunderte für atemberaubende Wimpernschläge die makellose Haut, die knabenhaft anmutende Figur, seidig weich und glühend zugleich. »Idiot, konzentrier dich!« Rasch holte er eine flache Schüssel mit Wasser, suchte Eisklumpen zusammen, um einen Waschlappen zu tränken und auf Rubens Stirn zu legen. Besorgt legte er eine Hand auf Rubens' Brustkorb, der arhythmisch gegen die Fläche schlug, klamm vor Schweiß. Wenn er Bargeld fand, dann würde die Zeit noch reichen, um eine Apotheke zu finden und entsprechende Medikamente zu kaufen. Was aber sollte mit Rubens geschehen, während er unterwegs war?! Hideo streichelte hauchzart klebrige Locken aus dem totenbleichen Gesicht mit den unziemlichen Flecken. »Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen!« Kurzentschlossen kehrte er in sein eigenes Zimmer zurück, sammelte eine desinfizierte Spritze ein. Als er neben Rubens wieder auf die Matratze sank, krempelte er den Ärmel hoch und stach mit zusammengepressten Lippen in den eigenen Arm, wo sich glücklicherweise eine Vene anbot. Die Nadel wieder herausziehend legte er rasch ein Wattestück auf und drückte den Unterarm fest an, um die Blutung zu stillen. Inzwischen war er nämlich angesichts der Aufgabe, Rubens zu entkleiden, auf das Geheimnis der Blutzufuhr gestoßen. Eine Venenverweilkanüle stak in Rubens' Armbeuge, lediglich von zwei durchscheinenden Pflastern gehalten. »Seltsam.« Hideo drehte behutsam den hellen Arm zwischen seinen Händen. Eigentlich musste der Vampir doch über ungeheure Selbstheilungskräfte verfügen. Wie aber konnte er dann so schwer erkranken?! »Unwichtig!« Hideo zog die Nadel ab und betrachtete prüfend einen Adapter, der passend zu einer Ersatzkanüle zwischen dem Infusionsbesteck gelegen hatte. Mehr durch glückliche Fügung als durch Geschick gelang es ihm, die Kanüle mit der Spritze zu verbinden und sein Blut in Rubens' Vene zu drücken. Wenn er schon die Erkältung nicht sofort lindern konnte, so bestand doch die Chance, dass er Rubens zumindest den Entzug ersparte. "Ich bin bald wieder da", wisperte er, erhob sich und zog lautlos die Tür ins Schloss. Sich anzukleiden und die aussagekräftigen Teile der Verpackungen abzureißen, brauchte es nicht viel Zeit. Die Suche nach Bargeld trieb Hideo aber in Rubens' Arbeitszimmer. Ganz im Gegensatz zu der restlichen Einrichtung war der Raum von nüchterner Kahlheit. In offenen Regalen fanden sich Karteitröge, Videos, Disketten, Aktenordner und andere Geschäftsunterlagen, während auf dem massiven Tisch Monitor, Computertower und Drucker um Platz wetteiferten. Hideo kramte eilig nach Bargeld, fand auch entsprechende Bestände, dann aber fiel sein Blick auf ein ausgedrucktes Dossier. [Georg van Stetten -Private Ermittlungen-] ^w^ Kapitel 8 - Vergeltung Hideo wischte sich letzte Tropfen aus den nassen Haaren, strich behutsam über Rubens' Gesicht. Er hatte die flache Brust mit ätherischen Ölen eingerieben, dem Fiebernden Hustensaft eingeflößt und wachte nun auf Anraten der Apothekerin an seiner Seite. Seine Neugierde jedoch ließ nicht locker. Er musste einfach das Dossier durchblättern! Immerhin war der Hauptakteur inzwischen verstorben, was konnte es also schaden? ^w^ Hideo rieb sich die vor Trockenheit brennenden Augen und massierte die Schläfen, erste Anzeichen des Entzugs. Sein Mund schmeckte noch immer bitter-gallig, selbst nach einer Kanne gesüßten Pfefferminztees. Er rückte sich das Kissen zurecht und rutschte ein wenig tiefer unter die Decke, die er um sich geschlungen hatte. Erschöpft trudelte sein Blick ins Leere. Es hatte nicht lange gedauert, bis Hideo erkannt hatte, dass das Dossier keineswegs von Georg handelte, sondern vielmehr einen Großteil von dessen Ermittlungsergebnissen darstellte. Ergänzt um unformatierte Seiten, die Rubens mit einer Engelsgeduld aus passwortgeschützten Datenbanken im Internet hervorgelockt hatte. Die Liedzeile wanderte wieder durch seinen Kopf, in schleppendem Moll. »you look like an angel, walk like an angel, talk like an angel« »but I got wise« »you're the devil in disguise« »Ein wunderschöner, eiskalter Teufel in Engelsgestalt.« Handschriftliche Ergänzungen in Rubens' gestochen scharfer Schrift mit ihren altmodischen Schnörkeln hatten ein Bild ergeben, das Hideo mehrfach an den Rand des Erträglichen getrieben hatte. Und einmal auf die Toilette, in krampfartiger Übelkeit und bodenlosem Entsetzen. Georg hatte tatsächlich recherchiert, aber nicht nur nach dem mörderischen Mordechai, nein, seine Aufstellungen enthielten ein fast weltweit reichendes Memorandum aller noch existierenden Vampire. Viele waren es nicht, die meisten jung und mit dem Hinweis versehen, nicht mehr zu den Bluttrinkern zu gehören, wie Hideo dem Vergleich mit den Einträgen zu Phil, Viktor, Bernard und Roz entnommen hatte. Besonderes Augenmerk hatte Georg auf die Lebensumstände und das Alter der restlichen Gruppe gelegt. Detailliert fanden sich dort das vermutete Lebensalter, Aliase, Verbindungen zur Unterwelt, Vermögensverhältnisse und die Versorgung mit Blut durch namenlose 'Angestellte'. Rasch war er auf Mordechai gestoßen, dem ein großer Teil der Ausarbeitung gewidmet war. Nach Georgs Ermittlungen war jener etwa 300 Jahre alt und stammte aus einem kleinen, polnischen Ort. Georg hatte ihn beschattet, begleitet von einem 'Diener', der unglücklicherweise verstarb. Was Georg seinem Auftraggeber mitteilte, um sich zu rechtfertigen, warum es ihm nicht möglich war, sein 'Objekt' ununterbrochen im Auge zu behalten. Just der Tod seines 'Blutspenders' nämlich fiel in die Flucht Mordechais. Als Georg zurückkehrte, wie er Rubens schrieb, war das Gut des alten Vampirs verlassen. Im Keller jedoch hatte jener ein unbeschreibliches Massaker unter seinen 'Blutspendern' angerichtet. Die ausführliche Aufzählung des Zustandes der insgesamt zwölf, zum Teil durch inzestuöse 'Züchtung' schwerbehinderten Wesen hatte Hideo Tränen des Entsetzens in die Augen getrieben. Nicht nur die Bestialität der Untat, auch die perfide Aufstellung ihrer Leiden drehten ihm den Magen um. Fortan hatte sich Georg auf die Jagd gemacht, dabei knapp die ersten Opfer verpasst. Lediglich noch auf Rubens' Anleitung hin die Spuren derart verwischt, dass die Polizei außerstande war, dem Täter auf die Schliche zu kommen. Neben Georgs Bericht an Rubens fanden sich nun auch aus dessen persönlicher, geheimer Akte Kommentare, die die verbissene Wut eines Mannes enthüllten, der sich ehrgeizig zu Höherem berufen sah. Und nun widerwillig nach Rubens' Pfeife tanzen musste, da ihm die nötigen Mittel und Kontakte fehlten. Bei den Ereignissen um Mirkos Tod wichen offizieller Klientenreport und Notizen grundlegend voneinander ab. Georg hatte Rubens zunächst lapidar mitgeteilt, dass er um Augenblicke zu spät eintraf, sodass der neueste Mord nicht mehr zu verhindern gewesen sei. Als Entlastung aber könne er anfügen, dass er einen Augenzeugen ausgemacht habe, der als Lockvogel dienen würde. »Er hat mich gesehen. Er wusste, wer ich war.« Hideo hatte die Entdeckung einer weiteren von Georgs Lügen ohne emotionale Regung akzeptiert, denn was sich ihm im Folgenden bot, traf ihn bis ins Mark. Die knappen Notizen besagten im Gegensatz zu Georgs Darstellung, dass er auf der Lauer gelegen und sehr wohl aus nächster Nähe beobachtet hatte, was Mordechai mit Mirko angestellt hatte. Sodass der Bericht über Mirkos Zustand vor grauenhaften Einzelheiten nur strotzte. In diesem Moment hatten Hideos Nerven und sein Magen versagt, war er Hals über Kopf zur Toilette gestürzt, wo er eine geschlagene Viertelstunde um Fassung gerungen hatte. Dann war er in Rubens' Schlafzimmer zurückgekehrt und hatte seine unselige Lektüre wieder aufgenommen, innerlich ausgeweidet vor Schmerz. Er war es Mirko schuldig. Schuldig, weil er dem Freund nicht geholfen hatte. Auch wenn dies ihrer beider Todesurteil bedeutet hätte. Das Monster Georg hatte also das viehische Schlachten belauert, in der Absicht, Mordechai in einem abgelenkten Moment tödliche Hiebe zu versetzen. Weil er dessen Blut trinken wollte, das Blut der Alten. Zwecks Unsterblichkeit. »Verfluchter Bastard!!« Auf Hideos Wangen perlten Tränen. Doch der wahnsinnige Vampir hatte sich gestört gefühlt und war geflohen. Sodass Georg einen neuen Anlauf benötigte. Und darum Rubens vorschlug, ihn, Hideo, als Lockvogel zu benutzen, willfähig zu machen, um den mordenden Vampir mit den nächsten Versuch zu erledigen. Was ihm auch gelungen war, bis auf die winzig kleine Abweichung seines so genialen Plans. Dass Hideo mit Hilfe anderer Vampire entkommen war. Die spärlichen Notizen, die folgten, kündeten nach Hideos Meinung von fortschreitendem Wahnsinn, Selbstüberhöhung und Geltungsdrang. Georg prahlte mit neuer Stärke und Kraft, schwärmte in ungelenker Poesie vom Rausch, den er fühlte, wenn er seine eigenen 'Sklaven' misshandelte und im Taumel umbrachte. Wie einfach die Beseitigung der Namenlosen war. Und wie gewaltig die Gier nach 'echtem' Blut, nach dem 'vollen' Blut der normalen Menschen. Ganz gleich, wie clever auch die gestellte Falle sein mochte: er würde sie überwinden. »Nun«, Hideo wischte sich grimmig über die Wangen, »du dreckiges Arschloch röstest jetzt hoffentlich in der Hölle!« Doch trotz zunehmender Versteigung in Größenwahn hatte Georg seinem Auftraggeber zugetraut, dass dieser ihn hintergehen würde. Und deshalb auch Ermittlungen angestellt über Rubens van de Breukeling. Einen 400 Jahre alten Vampir aus Brügge, ein zurückgezogen lebendes Genie mit dem Wissen mehrerer Menschengeneration und schier unbegrenzten Finanzmitteln. Meister im Vertuschen seiner Lebensgeschichte, geborener Intrigant und Ränkeschmied. Der nun, zu Georg rätselhaften Zwecken, junge Vampire instrumentalisiert hatte, um eine Art Revolution anzuzetteln. Georgs Rückversicherung gegen Übergriffe von Phil und Konsorten bestand darin, diesen zu enthüllen, wer sich tatsächlich hinter der Maske ihres geheimnisvollen Ratgebers verbarg. Hideo sah zu Rubens hinüber, der im Fiebertaumel ächzte und sich unruhig bewegte, die tizianroten Locken klebrig vor abkühlendem Schweiß. »400 Jahre. Ein Monster, ein Schmarotzer, der sich von dem Blut unzähliger Menschen ernährt hat. Und von dessen Leben ich nun abhänge.« Hideo presste die Lippen zusammen und dachte angestrengt nach. Vermutlich hatte Rubens seine Geschöpfe ausgesandt, um getrennt von einander andere Vampire auszuspionieren und zu erledigen. »Warum?!« Offenkundig war jedoch, dass er Georg nicht über den Weg getraut hatte und deshalb dessen Tod beschloss, die Ausführung aber Phil und seinen Kameraden überließ. Hideo blätterte müßig in den unsortierten Ausdrucken, die sich anfügten und handschriftlich die Versuche dokumentierten, in verschiedene der geheimen und geschützten Dateien einzubrechen. Dann rutschte ihm ein abweichendes Blatt in die Hand, mit medizinischen Analyseergebnissen. Er beabsichtigte schon, es achtlos beiseite zu legen, besaß er doch nicht das Wissen, den unverständlichen Werten und Angaben etwas Erhellendes zu entnehmen, als er bemerkte, dass die Blattrückseite mit weichem Bleistift beschrieben war. Eine fließende Handschrift, rund, platzraubend. Stichworte einer Beobachtung. Hideo schluckte schwer. "Et tu, Brute?" Er schloss die Augen und schmiegte sich Trost suchend in die dichten Daunen der Kissen. Phil und die anti-sanguinistischen Vampire waren nicht von ungefähr erschienen. Sie hatten Georg observiert. Den Menschen eingesammelt nach kurzer Rücksprache mit R., ihrem Chef. Und dieser hatte dem Arzt der Truppe auferlegt, den Zustand des letzten Opfers zu prüfen. Roz hatte dies auch gewissenhaft getan, Hideos Werte genau beschrieben, die merkwürdigen Reaktionen seines Körpers, die leichten Anzeichen von Entzug, obwohl dies bei 'normalen' Menschen ungewöhnlich war. Und abschließend nachgefragt, was mit H. geschehen solle, da die vorgeschlagene Behandlung und Dosierung eine erhebliche Schädigung seines Organismus hervorrufen würde, der man nicht mit den derzeitigen Kenntnissen begegnen könne. »Er wusste, dass ich schon verseucht war. Süchtig nach dem Gift des Vampirkusses.« Hideo schnäuzte sich geräuschvoll, trotzig. »Pah! Hör bloß auf, dich Illusionen hinzugeben!«, fauchte die boshafte Stimme in seinem Kopf, »hast du gedacht, er ist in dich verliebt?! Er hat sich an dir ausgetobt, das ist alles!!« Hideo fauchte. Ganz gleich, es war geschehen. Und Rubens hatte offenkundig in ihm etwas erkannt, das lohnte, seine 400-jährige Heilkunst einzusetzen, um ihn am Leben zu erhalten. Und sich von seinem Blut abhängig zu machen. »Dieser mordende, skrupellose Drecksack, der ohne Gewissensbisse Ränke geschmiedet und seine 'Artgenossen' beseitigt hatte. Aber so einfach lasse ich dich nicht davonkommen!« Hideo schlug die eigene Decke zurück, kletterte auf Knien in dem gewaltigen Bett zu Rubens hinüber, der im hitzigen Schlaf die Bettdecke bis auf die Taille weggeschoben hatte. »Die Monster Mordechai und Georg sind tot. Du bist noch übrig. Ich will Rache. Für Mirko. Für die namenlosen Opfer. Für den Jungen in meinem Grab. Für mich.« Hideo griff fest in die sich kringelnden Locken, ballte die Faust. »Wie sagtest du doch so treffend, oh Meister meines Grauens?! Sex ist die Währung, in der du bezahlst. Hier zählt nur das Blut?!« Hideo lachte kurz auf, heiser, ohne die geringste Spur von Humor. »Tja, mein Blut hast du bekommen. Nun kriege ich noch etwas heraus!« ^w^ Hideo schob sich unter die Decke, erschauerte unter der glühenden Hitze, die ihn empfing. Ausgestrahlt von der weißen Haut des Teufels neben ihm. Der mitleiderregend um Atem rang, mit rasselnder Lunge und geöffnetem Mund. Hideos Hand zwang den Fiebernden, ihm den Kopf zuzuwenden, Rubens aber erwachte trotz der Misshandlung nicht aus seinem komatösen Schlaf. »Ein eiskaltes, berechnendes Monster, das es nicht ertragen konnte, ihn zu berühren, wenn es nicht unabdingbar war. Stark, unmenschlich schön und ohne jedes Gefühl.« Hideo ließ seine Linke besitzergreifend über die nackte Brust wandern, den flachen Bauch hinunter bis zum Schritt. Registrierte mit zusammengekniffenen Augen jede Regung. Rubens keuchte leicht, wand sich fahrig, richtungslos, zwischen den Augenbrauen eine winzige Linie der Anstrengung. Hideo lächelte kalt, schwankend zwischen ohnmächtigem Zorn und Trauer. »Ich brauche dich. Darum wird meine Rache auch schlimmer sein als der Tod.« ^w^ Rubens' Körper schien von innen heraus zu brennen. Hideo sog keuchend den Atem ein, musste sich erst an die Glut gewöhnen. Er drängte sich zwischen die schlanken Beine, auf den Knien verharrend, führte dann langsam die feingliedrigen Finger an seine Lippen. Bestrich mit der Zunge jeden einzelnen Nagel, saugte an der weichen Haut zwischen den Fingern. Drückte die Zähne wechselweise in Handteller und -rücken, einen sich abzeichnenden Kranz wie ein Brandmal in der bleichen Haut hinterlassend. »Wenn dein Fieber nachlässt, sollst du wissen, was ich getan habe!« Langsam beugte er sich nach vorne, bog die widerstandslosen Arme seitlich um den Kopf, versank in Betrachtung des makellosen Gesichts, durch rosige Flecken mit unerwarteter Lebendigkeit gesegnet. »Es soll keine Stelle an deinem Leib geben, die ich verschonen werde.« Er zog eine glühende Spur über die zarten Innenseiten beider Arme, verbiss sich in den nahezu unbehaarten Achselhöhlen. Was Rubens ein leichtes Winseln entlockte, aber nicht aus seiner tiefen Betäubung weckte. Hideo weidete sich an der Schwäche des anderen, dem rasenden Herz unter sich, den hastigen Atemzügen, den wellenartigen Berührungen ihrer Haut, wie elektrische Blitze im Sekundentakt. »Heute, in dieser Nacht, ändert sich alles. Du gehörst MIR.« Mit einem triumphierenden Knurren verbiss er sich in den sehnigen Hals des Vampirs, wiederholte dies so lange, bis sich ein blutunterlaufenes, dunkles Mal zu seiner Zufriedenheit abzeichnete. Rubens' Verstand schien, schwerfällig in Gang gesetzt und durch den harten Griff der Erkältung, endlich die Attacken zu vermerken: vage regte er sich unter Hideo, drehte den Kopf, flatterten die Lider. Hideo, der mit den Händen beide schneeweißen Handgelenke in einem Wust tizianroter Locken über Rubens' Kopf hielt, zögerte. Noch lange war sein Werk, seine Vergeltung, nicht vollbracht, aber gegen Rubens' Kräfte würde er zweifelsohne den Kürzeren ziehen. Der Vampir jedoch war nicht in der Position, seine Gedanken zu sammeln und Hideo abzuschütteln, zu stark hielt ihn das Fieber in glühenden Klauen. So fand Hideo kein Hindernis, als er sich in tranceartigem Zustand unter Einsatz von Zähnen und Zunge langsam südlich arbeitete. Rubens' Leib zeigte kaum Merkmale eines erwachsenen Mannes, was Hideo seltsam berührte. Die helle Haut kaum Körperbehaarung, wenig ausgeprägte Muskeln. Doch er hatte sich geschworen, kein Mitleid zu zeigen und daran würde nichts etwas ändern. Der Schleifer in seinem Hinterkopf donnerte sein Credo »keine Gnade« immer wieder in den Raum, wenn Hideo zu wanken begann. Und dann erreichte er den Punkt, wo sich andere sanfte Stimmen in seine brennenden Rachegelüste mischten. Lieblich einschmeichelnd die Schönheit priesen, den Duft, jene anmutige Körperpartie, diese erdbeerfarbene Nuance... Hideo zuckte unter dem Sperrfeuer von lustvollen Verlangen und rücksichtsloser Auslebung seiner Rachsucht. Bedeckte, angesteckt in fiebrigem Taumel, den Wehrlosen mit hitzigen Küssen, strich hart über Taille und Oberschenkel, traktierte besonders sensible Bereiche. Bis Rubens ein heiseres Winseln ausstieß, was Hideos Libido noch intensiver anspornte. Durch das tobende Fieber schwer, aber geschmeidig, konnte er Rubens' Leib ganz nach Gutdünken biegen und bewegen, ihm den eigenen Willen aufzwingen. Hideo schnappte hart nach Luft, spürte das Zittern der Erregung, aber auch des Entzugs im ganzen Körper, als er auf Rubens' nackten Rücken hinabsah. Wie schützend hatte dieser sein rechtes Bein angezogen, als könne dies Hideo abhalten. Mit dem Handrücken wischte er sich Schweiß von der Stirn, zum ersten Mal in wirklichen Zweifeln gefangen. Von den Fußzehen bis zur Stirn trug der Vampir seine Zahnabdrücke wie einen Besitzstempel: sollte er wirklich weitergehen? Missbrauchen, entehren? Unschlüssig streiften seine Fingerspitzen entlang des sich deutlich abzeichnenden Rückgrats, fingen Fieberschauer ein. »Erst dann ist deine Rache vollendet!«, wütete ein gieriger Chor wie ein mittelalterlicher Lynchmob in seinen Ohren, schmerzhaft gellten ihre schrillen Schreie nach Sühne. Hideo biss sich in die Unterlippe, grub die Finger tief in die taillenlangen Locken. »Ich könnte ihm den Kopf scheren, das wäre doch sicher...?!« »NEIN!!!« Sie wollten Blut sehen, archaischen Ausgleich fordern. Selbst der Schleifer hielt keinen der Vorträge über Ehre und Gewissen. »Du warst ebenso hilflos, als der andere Vampir dich vergewaltigt hat!« »Er hat nichts Besseres verdient!!« »Wie viele Menschen hat er wohl schon ermordet?!!« Hideo sackte auf die Fersen, ließ die Locken fahren, presste stöhnend beide Fäuste gegen die eigenen Schläfen, zerrte unwillkürlich an klebrigen, glatten Strähnen. »Das... war keine Vergewaltigung... zumindest... nicht wirklich...« »Er hat gewusst, dass du alles tun würdest, damit die Schmerzen aufhören!!« »Eine ziemlich billige Rechtfertigung«, wies Hideo dies unisono mit der dünnen Stimme seines Gewissens bitter zurück. Er hatte schließlich nicht besonders viel aktiven Anteil am damaligen Geschehen nehmen können. Genauso wie Rubens nun. Schwach. Hilflos. Ausgeliefert seiner Gnade. Hideo beugte sich tief hinunter, sandte einen Schauer leichter Küsse auf die sich abzeichnenden Knorpel und Wirbel. »Weißt du, was das Schlimmste ist, mein engelhafter Teufel?« »Dass ich es möchte. Ich will es tun, hier, jetzt, mit dir, wenn du mir nichts entgegenzusetzen hast.« ^w^ Behutsam strich er die Locken auseinander, im Dämmerlicht wie eine Flut von Flammenwellen auf Elfenbein, teilte sie, um diese dann über jede Schulter zu legen. Rubens wirkte ohne die schiere Masse noch fragiler, zart und ätherisch, dahingegossen wie ein schlummernder, hellenischer Gott. Mit Entschlossenheit hob Hideo das angewinkelte Bein herunter, drängte seinen rechten Oberschenkel weit in Rubens Schritt. Um dann mit einem beherzten Griff um das knochige Becken und unter den Achselhöhlen hindurch die fiebernde Gestalt an sich zu ziehen. Dies erwies sich als nicht ganz einfach zu bewältigendes Vorhaben. Rubens war in seinem halb bewusstlosen Zustand ohne Muskelspannung und somit recht schwer, drohte aus Hideos Griff zu rutschen, sodass dieser sich auf die Fersen sinken ließ. Nach Atem ringend suchte er die Lösung und fand sie, indem er seine Finger durch Rubens' fädelte, wie eine Marionette den Vampir an seinen Körper fesselte mit den eigenen Armen. Die ungebändigte Lockenkaskade prickelte zwischen ihnen aufreizend, dann durchlief ein Zittern Rubens' glühenden Leib, wie ein Anflug von Schüttelfrost, wiederkehrend, erschütternd. Hideo wartete geduldig jede Attacke ab, um dann den Kopf des anderen weit in den Nacken über die eigene Schulter zu drücken. Die gespannten Sehnen mit der Zunge zu liebkosen, den winzigen Adamsapfel mit den Lippen zu beknabbern wie eine kostbare Confiserie. In seinen Ohren rauschte nicht nur der beschleunigte Rhythmus des eigenen Blutes. Es mischt sich auch das hastige Atemschöpfen des Vampirs darunter, begleitet von leisen Wehlauten, wenn Hideo sich vergaß, zu forsch vorging. Doch das Fieber, das in Rubens wütete, hatte auch Hideo infiziert. Er bestrich ruhelos die anmutige Ohrmuschel zwischen den feuchten Locken mit der Zungenspitze, saugte am Läppchen, massierte die Nervenpunkte mit spitzen Zähnen. Legte schließlich ihre verschränkten Finger auf Rubens' helle Kehle, bog das spitze Kinn zu sich herum, um einen fordernden Kuss auf die trockenen Lippen zu brennen. Fast mitleidig spendete er eigenen Speichel, lockte damit Rubens' sehnsüchtige Zunge hervor und spielte diesen Trumpf aus, küsste den Vampir hart, unnachgiebig, besitzergreifend. Dieser wand sich unbehaglich, doch zu unstet zu wirksamer Gegenwehr in Hideos Umklammerung, erschauerte winselnd. Hideo streichelte selbstvergessen feuchte Spuren von den bebenden Lippen, registrierte das Flattern der schwarzen Wimpern auf seiner Wange, den quälenden Kampf um jeden Atemzug. Sein Blick fiel auf die Pappschachtel, demonstrativ wie ein Mahnmal auf den äußeren Rand der Matratze platziert. »Du kannst es noch beenden«, wisperte dünn sein Gewissen, gegen den Strudel von Verlangen und aufheulendem Triumph. Für einen Moment versucht, die letzte Entweihung zu versagen, streichelte Hideo behutsam über den Schweiß beperlten Leib, schmiegte sich in die Masse der Locken. »Nein. Ich kann nicht zurück. Will es auch nicht.« Mit zusammengepressten Lippen gab er Rubens' linken Arm frei, angelte die Schachtel heran. Bemüht, den sich unter Schüttelfrostattacken windenden Leib fest an sich zu drücken. Musste endlich einsehen, dass er einhändig nicht stark genug war, gestattete ein Abgleiten und Einknicken in Hüfthöhe. Dennoch umklammerte sein rechter Arm die schlanke Taille, hielt Rubens auf seinem Oberschenkel fest, ungeachtet dessen Versuche, sich zusammenzurollen. Hideos Stirn zierten bald Perlen der Anstrengung. Vor Konzentration war sein Leib gespannt wie eine Bogensehne, als er sich anschickte, Kondom bewehrt und vom eigenen Speichel benetzt, seine Rache zu krönen. Mit geschlossenen Augen, die Zähne fest gebissen, drang er in den glühenden Leib ein, wimmerte unter der Enge und Hitze, die ihn empfing. Nicht anders winselte auch Rubens, krallte die Finger in das Laken, versuchte Fieber geschwächt und nur instinktgesteuert fort zu kriechen. Als seien sie nicht bereits miteinander intim verbunden. Hideo hinderte die Flucht, ermahnte sich mit wachsender Verzweiflung, dass lediglich der richtige Punkt zu treffen sei. Das klägliche, erstickte Schluchzen zu beenden, den zuckenden Körper zu trösten. Mit einem tiefen Atemzug zwang er sich Rubens erneut auf, tiefer, stärker, hoffte auf ein glückliches Geschick. »Ich will ihn nicht quälen, verdammt! Bitte!!«, flehte er zu den unsichtbaren Göttern, erschrak dann unter der plötzlichen Stille. Endlich stieß Rubens wieder Atem aus, stöhnte guttural, als die Entspannung ohne Fremdeinwirkung den Kontakt vertiefte. Hideo lachte kurz, erleichtert auf, knapp einem Schluchzen entgehend, umfing mit beiden Händen die hervorstehenden Beckenknochen des Vampirs und stimmte einen wiegenden Rhythmus an. Das leise Winseln, das Rubens entwich, wandelte sich, färbte sich dunkler, schmelzender, spornte Hideo förmlich an. Der sich an den gebeugten Rücken schmiegte und die Wechselwirkung der von ihm initiierten Wellen genoss, ein aufpeitschendes Spiel, das endlich mit einem heftigen Erguss seinen Höhepunkt fand. Hideo atmete ebenso flach und hastig wie der fiebernde Vampir, blinzelte wiederholt, bis sich seine Sicht klärte. Entzog dann behutsam dem Vampir die intime Verbindung. Gestattete, dass Rubens sich reflexartig zusammenrollte, während er selbst auf dem Rücken liegend die stuckverzierte Decke in den Schatten betrachtete und in sich hineinhorchte. Abgesehen von einer nicht zu verhehlenden, körperlichen Erleichterung hatte er keinen überwältigenden Genuss verspürt. Auch keinerlei Triumph oder Befreiung. »Weil Rache ein zweischneidiges Schwert ist«, beckmesserte eine naseweise Stimme selbstgerecht in Hideos Hinterkopf. Mit einem indignierten Grunzen stemmte sich Hideo aus dem mächtigen, nunmehr verwüsteten Bett. Machte sich daran, das Präservativ zu beseitigen sowie die Schachtel im Badezimmer zu verstauen. Nachdenklich warf er sich im Spiegel des Badezimmerschranks einen Blick zu. Erhitzt, die fiebrig glänzenden Augen dennoch matt, Schweiß bedeckt, von Anstrengung und Schwermut gezeichnet. Beschämt verweigerte er seinem Zwilling einen zweiten Augenkontakt, kehrte stattdessen in Rubens' Schlafzimmer zurück. Entwirrte das Knäuel aus Decken und Kissen. Breitete die Steppdecke behutsam über den zusammengeballten Vampir aus und kroch selbst darunter. Fast trotzig erzwang er sich Raum zwischen den hochgezogenen Knien, legte sich, nur an Ellenbogen und durch die Knie aufgestützt, schwer über Rubens. Verlor sich in dem schwindelerregenden Reiz ihres gegensätzlichen Atemrhythmus, der gespannte Haut an Brust und Bauchdecke Funken schlagend rieb. Hideo kämmte nasse Strähnen aus der Stirn, hob die Arme des anderen wie zuvor über den Kopf, legte aber dieses Mal die flachen Hände Wärme spendend auf die eisigen Fingerspitzen des Vampirs. Betrachtete das fleckige Gesicht, die zuckenden Lider, das erbärmliche Ächzen, jeden Luftzug begleitend. "Vampir", flüsterte Hideo rau, schluckte an aufkommender Verzweiflung und Schwäche. Blinzelte hastig Tränen weg, küsste stattdessen hart die rissigen Lippen, kaute an der bebenden Unterlippe, bis er Rubens' Blut schmeckte. Angeekelt von dem eigenen Trieb und am Ende seiner Kräfte rutschte Hideo schließlich von dem Dahingestreckten herunter. Gewährte diesem das sofortige Zusammenrollen, um in traumlosen Schlaf zu sinken. ^w^ Der Morgen oder korrekterweise der Mittag, empfing Hideo mit stärkeren Entzugserscheinungen. Nicht nur sein Schädel drohte mit einer jederzeitigen Sprengung, auch sein Magen rebellierte kollernd. Stöhnend kämpfte er sich mit leichtem Schwindel aus dem zerwühlten Bett, realisierte dann die letzten Ereignisse und fuhr hastiger, als es sein Zustand eigentlich zuließ, herum. Rubens lag neben ihm, noch immer zusammengekauert und verkrümmt, sicherlich keine gesundheitsförderliche Haltung. In seinem Mundwinkel klebte dunkel und von obszöner Hässlichkeit eingetrocknetes Blut. Hideo seufzte leise. »Ich fühl mich beschissen«, tat er stumm seiner verkaterten Stimmenkompagnie kund. Diese kommentierte seine erste Äußerung des Tages mit lustloser Zustimmung. Lediglich der Schleifer schien gegen diese Form des persönlichen Tiefes immun zu sein. Energisch trieb er Hideo an, sich zu waschen, mit dem aufbauenden Hinweis, er stinke wie ein Iltis. Nachgiebig schleppte sich Hideo in das Badezimmer, weckte die unwilligen Glieder mit prickelnden Punktstrahlen. Seifte sich so gründlich ein, als könnte er damit die letzte Nacht ungeschehen machen. So simpel verhielt es sich jedoch im Leben nicht, das war ihm nur zu bewusst. Und nachdem er auch bei der Rückkehr in Rubens' Schlafzimmer nicht die geringsten Anflüge von Stolz oder befriedigten Rachegelüsten verspürte, beschloss Hideo, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Vorsichtig schlug er die Decke zurück, prüfte mittels Handauflegen die Temperatur des Vampirs, lauschte auf den rasselnden Atem, musterte kritisch die trockene, spannende Haut. Wenn er sich richtig entsann, konnte es nicht schaden, einem fiebernden Erkälteten eine heiße Hühnerbrühe zu verabreichen, damit auch der Mangel an Mineralien und Salzen ausgeglichen wurde. Hideo zog sich rasch an und inspizierte die Küche in der Hoffnung, zumindest auf eine Instantmischung zu stoßen, die man nötigenfalls anreichern konnte. Tatsächlich fand er einen Fond, eine Tüte schockgefrorenen Gemüses und Glasnudeln. Das Gemüse auftauen lassend wechselte er in Rubens Schlafzimmer zurück, entschlossen, sich wenigstens als Krankenpfleger zu bewähren. Immerhin war es das erste Mal, dass ein anderes Wesen ihm anvertraut war und auf seine Hilfe baute. »Ich sollte ihn feucht abreiben und in einen Pyjama stecken. Das Bettzeug müsste auch ausgetauscht werden.« Hideo nahm auf der Bettkante Platz, erwog die zuträglichste Vorgehensweise. Endlich fasste er sich ein Herz, bestrich behutsam das bleiche Gesicht mit dem nassen Lappen, hob einen angewinkelten Arm an, um diesen leicht zu betupfen. Noch immer waren Fingerspitzen und auch die schmalen Füße eisig kalt, dagegen glühte der Torso, als heize Rubens innerlich mit Kohlen. Dennoch widersetzte er sich nicht Hideos Anstrengungen, Sekundenbruchteile lang hoben sich die Lider auf Halbmast, flackerte der schwarze Blick unstet. Hideo murmelte unwillkürlich beruhigende Silben, streichelte durch die verdrehten Locken. Er wählte aus Rubens' überwältigendem Kleidungsbestand einen royalblauen Pyjama aus. Der gekämmte Baumwollstoff sollte ausreichend die Feuchtigkeit filtern und Rubens' Körpertemperatur gewachsen sein. Mit einiger Anstrengung gelang es Hideo endlich, Rubens zu bekleiden. Ein Unterfangen, dass ihn selbst in Schweiß brachte, da der Vampir noch immer keine Körperspannung aufwies, die Hideo seine selbst gestellte Aufgabe erleichtert hätte. Zudem verhedderte er sich immer wieder in den filzenden Lockensträngen. Was ihn dazu bewog, den Vampir sanft an seine Brust zu betten und mit einem grob zinkigen Kamm die gröbsten Nester auszusortieren. Während Rubens' Kopf auf seiner Schulter ruhte, sein glühender Atem prickelnd in Hideos Halsausschnitt strich, wurde diesem bewusst, dass Rubens ihn auch einmal so gehalten hatte. Das einzige Mal, dass er keinerlei Scheu gezeigt hatte, Hideo zu berühren, nicht mit knappen, geschäftsmäßigen Gebärden Distanz gewahrt hatte. Beinahe widerwillig ließ er Rubens wieder auf die Matratze sinken, um rasch die Bettwäsche zu wechseln, dabei den Ruhenden nicht über Gebühr zu bewegen. Ermattet und hungrig belud er sich mit Schmutzwäsche und steuerte die Küche an, um sich dort bei der Kreation einer Suppe zu erholen. ^w^ Hideo zog Rubens vorsichtig auf seinen Schoß, stützte ihn mit einem Arm, während er gleichzeitig nach dem Teller mit der Suppe angelte, den er auf einen Teewagen platziert hatte. Rubens bewegte sich unruhig, fasste fahrig nach Hideos Pullover, murmelte Unverständliches. Hideo fühlte sich vage daran erinnert, wie er einmal ein Kleinkind anlässlich eines Besuchs bei Mirko hatte füttern müssen, dessen Aufmerksamkeitsspanne nicht einmal bis zum nächsten Löffel reichte. Ablenkend wiegte er den Vampir leicht, streichelte sanft über den flachen Bauch, was nach seiner minimalen Erfahrung zumindest bei quengligem Nachwuchs für Entspannung sorgte. Er schöpfte nun abwechselnd einen Löffel der Brühe in seinen und Rubens' Mund, wärmte sich ungeniert an Rubens heißem Atem, den glühenden Wangen. Es war lange her, dass er einem anderen Menschen derart nahe gekommen war in friedlicher Atmosphäre. Länger, als er sich entsinnen konnte. Hideo stellte den Teller beiseite, legte den Löffel ab, strich dann behutsam mit dem Daumen über Rubens' Lippen, um etwaiges Suppengrün zu entfernen. Atemlos betrachtete er das zarte Gesicht, das nun so zerbrechlich wirkte ohne die glanzlosen, schwarzen Augen mit ihrem bannenden Blick. Als Rubens in seinen Armen tiefer rutschte, erschien ihm dies wie ein Fingerzeig und Erlaubnis zugleich, Rubens hauchzart zu küssen. Erschrocken über sich selbst schob er den Vampir behutsam von seinen Beinen, wickelte diesen in die Decke und suchte hastig Abstand. ^w^ Während er der Waschmaschine unruhig bei ihren Umdrehungen zusah, reifte in Hideo der Entschluss, sich erneut in Rubens' Arbeitszimmer umzusehen. Ohne Zweifel würde der Vampir nicht nur über die körperlichen Übergriffe mehr als außer sich geraten. Es gelänge Hideo wohl auch nicht, seine Spuren derart zu verwischen, dass Rubens sein Stöbern nicht registrieren würde. Hideo blätterte noch einmal durch das Dossier, betrachtete die Anmerkungen. Warum befand sich Rubens auf Kreuzzug gegen seine eigenen Artgenossen? Warum rief er eine militante Gruppe idealistischer Männer ins Leben, um zu jagen, was er selbst war? So vieles lag noch im Dunkeln, und hier bot sich die einmalige Möglichkeit, Aufklärung zu erlangen. Hideo startete testweise den Computer und rieb sich die trockenen Augen. ^w^ »Ein Königreich für Aspirin!!« Hideo marschierte auf und ab, schnell, in abgehacktem Stakkato. Doch der pulsierende Schmerz in seinem Leib, die pochenden Echi in seinem Kopf wollten sich nicht besänftigen lassen. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr formulieren. Immer wieder wanderte sein Blick vom Teppich der Empfangshalle auf Rubens' Schlafzimmertür. Wenn der Vampir nicht bald genas, dann würde er Hilfe holen müssen. Damit er selbst nicht unter Qualen starb. ^w^ Hideo zitterte heftig, hatte Mühe, die Nadel in eine Vene zu dirigieren. Wenn er Rubens die tägliche Ration Blut injizierte, dann sollte dieser doch genug Widerstandskräfte entwickeln, um das Fieber zu besiegen! Zumindest hoffte Hideo dies, als er bereits schweißnass mit zusammengebissenen Zähnen Adapter von Spritze aus Rubens Arm löste und ermattet neben ihn sank. Bis die ersten Krämpfe ihn in ein stöhnendes Bündel Elend verwandelten. ^w^ Von unverständlichen Albträumen geplagt stemmte sich Hideo im Dämmerzustand aus dem Bett. Durch das Flimmern seiner Augen steuerte er die Tür an. Angetrieben von den erschreckenden Erinnerungen an Traumfetzen, die ihm auferlegten, die Spuren des Vampirs, die Dokumentation des Grauens zu beseitigen. Immer wieder kollidierte er auf seinem doch kurzen Weg von Arbeitszimmer zu offenem Kamin im Wohnzimmer mit Möbelstücken oder Wänden, stolperte über unsichtbare Hindernisse. Die apokalyptischen Reiter im Nacken jedoch spornten ihn an, diese Aufgabe zu erledigen, sonst würde ihm in seiner Agonie des Entzugs der gnädige Schlaf versagt. Ächzend schleuderte er hastig zusammengerafftes Papier und Disketten in die auflodernden Flammen, drang der Gestank schmelzenden Plastiks giftig in seine Nase. Sich mühsam vom gemauerten Kaminsims abstoßend taumelte Hideo herum und erstarrte schwankend. »Rubens.« Hielt sich am Türrahmen aufrecht. Den Pyjama aufklaffend, von dunklen Malen förmlich übersät, die sich nach zwei Tagen besonders deutlich von der hellen Haut absetzten. Die großen, schwarzen Augen waren direkt auf Hideo gerichtet, das Gesicht vollkommen ausdruckslos. Hideo schleppte sich fiebrig zur Tür, wand sich in größtmöglichem Abstand an Rubens vorbei, um sein eigenes Zimmer anzusteuern. Sein Kopf war leergefegt, keine Schreckensgestalten, keine Stimmen, nur noch blanker Raum. Schwerfällig brach er über seinem eigenen Bett zusammen, wartete auf das lautlose Schließen der Tür. Und das vernichtende Einrasten der Verriegelung. ^w^ Hideo taumelte zwischen Schwärze und wenigen dämmernden Augenblicken der Rückkehr zur Gegenwart hin und her. Zu geschwächt, um dem Amok laufenden Schmerz in seinem Innern etwas entgegenzusetzen, nur noch in Sehnsucht nach Vergessen und Ruhe. Er registrierte kaum, dass seine eisig kalte Linke angehoben wurde, spitze Penetration der ausgetrockneten Haut erfolgte. Dann, seit drei Tagen das erste Mal wieder, flüssiges Gold seinen ausgepumpten Kreislauf belebte. Und so entging ihm auch das abfällige Wegschleudern der gefühllosen Glieder. ^w^ hurt (original, quiet, live) /Nine Inch Nails I hurt myself today to see if I still feel I focus on the pain the only thing that's real the needle tears a hole the old familiar sting try to kill it all away but I remember everything what have I become? my sweetest friend everyone I know goes away in the end you could have it all my empire of dirt I will let you down I will make you hurt I wear this crown of shit upon my liar's chair full of broken thoughts I cannot repair beneath the stains of time the feelings disappear you are someone else I am still right here what have I become? my sweetest friend everyone I know goes away in the end and you could have it all my empire of dirt I will let you down I will make you hurt if I could start again a million miles away I would keep myself I would find a way ^w^ Rubens hatte ganze Arbeit geleistet. Hideo ließ langsam, um nicht die schlafenden Dämonen zu wecken, den Kopf wieder auf das Kissen sinken. Keine Bücher, keine Kleider mehr, das Zimmer bis auf die stationären medizinischen Gerätschaften ausgeräumt. Und er selbst, wie vor beinahe drei Monaten, splitternackt unter einem dünnen Laken. »So sieht also seine Vorstellung von Strafe aus...Spießrutenlauf ohne Kleidung zur Nasszelle, Mahlzeiten zu einem Brei verkocht, damit sie löffelfertig sind, keinerlei Ablenkung oder Zerstreuung.« Lediglich die Fesseln waren ihm erspart geblieben. Hideo seufzte leise. Und wenn Rubens dann kam, mit dem maskenhaften Gesichtsausdruck einer Porzellanfigurine, trug er den abwaschbaren Overall, Einweghandschuhe und Desinfektionsmittel. Gönnte ihm weder einen Blick zu viel, noch gar ein Wort. Nicht, dass Hideo selbst den Auftakt zu einem Gespräch in Angriff genommen hatte. Was sollte er auch sagen?! Dass es ihm leid tat? Eine Lüge. Er drehte sich auf die andere Seite und versuchte zu ignorieren, dass die Wände sich erstickend auf sein Gemüt legten. ^w^ »Vierzehn Tage. Vierzehn Tage in dieser verfluchten Stille.« Hideo schleuderte erneut ein Kissen gegen die schwere Tür. Sammelte es ächzend ein. Seine gesamten Glieder prickelten wie unter Strom, juckten unaufhörlich, drängten nach einer Betätigung. Es musste doch schon März sein, die ersten Bäume und Büsche blühen?! »Ich will hier raus!!« Wieder nahm er sein unruhiges Paradieren auf. Fünf normal große Schritte zur Wand, zackiges Umdrehen auf den bloßen Hacken und dieselbe Entfernung zur anderen Seite. Fahrig wischten seine Hände durch die schulterlangen Strähnen, eine schon neurotische Angewohnheit, die ihm selbst am Meisten zu schaffen machte. »Es muss etwas passieren!!« ^w^ Hideo trocknete sich sorgfältig ab, wickelte dann das feucht-fleckige Handtuch um seine Hüften. Und marschierte mit hocherhobenem Kopf nicht etwa zurück in sein Zimmer aka Gefängniszelle. Nein, er wollte endlich frische Luft atmen, sich die Veränderung in der Natur ansehen und sei es nur aus dem Fenster im vierten Stockwerk. Ganz gleich, was die Konsequenzen sein mochten! Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Rubens sich in der Küche beschäftigte, offenkundig nicht in Erwartung, dass Hideo ungehorsam sein und von der Routine abweichen würde. Sodass dieser ausreichend Gelegenheit fand, im Wohnzimmer die Vorhänge beiseite zu schieben. Das Fenster zu öffnen und in einem eisigen Frühlingshauch das erste Mal in diesem Jahr sich balgenden Vögeln zu lauschen. Die Bäume waren noch kahl, jedoch kleideten sich Büsche und Hecken bereits mit frischem Grün ein, schlossen die Lücken, die der arktische Winter gefressen hatte. Hideo lachte leise, von Glück überwältigt, über sich selbst erstaunt, hatte er doch niemals zuvor seiner Umgebung so viel Beachtung geschenkt. "Geh sofort zurück in dein Zimmer!!" Rubens stand in der Tür, zwischen den Augenbrauen eine steile Linie des Unmuts. Hideo registrierte, dass auch die Stimme des Vampirs heiser, fast ein wenig rostig klang, so, als habe dieser sie lange Zeit nicht gebraucht. "Nein", entgegnete er fest. Die Schritte, die Rubens von Hideo trennten, nutzte dieser, um sich vom Kaminsims eine Kristallvase zu greifen und die Wand an der Kaminseite in seinen Rücken zu bringen. "In dein Zimmer", wiederholte Rubens fauchend, die glanzlosen Augen drohten mit dem unergründlichen Bannblick hypnotisierend. Hideo lächelte auf der Hut, hielt die Vase in seinen Händen. "Nein." Rubens ging in eine Kampfpose, die schmächtigen Schultern nach vorne gedrückt, die weißen Hände zu Fäusten geballt. "Dann werde ich dich zurückschaffen", knurrte er finster, setzte einen Fuß in Hideos Richtung. Dieser beschrieb einen leichten Bogen mit der Vase, hielt knapp über dem vorstehenden Kaminsims inne. "Was denkst du... bist du schnell genug zu verhindern, dass ich sie zerschmettere und mir mit einem Splitter die Halsschlagader durchtrenne?" Rubens erstarrte, dann zuckte ein abwertendes Grinsen bar jeden Amüsements in seinen Mundwinkeln. "Das wirst du nicht tun." Hideo blies eine verirrte, schwarze Strähne aus seinem Gesicht. "Willst du es riskieren?" Einen atemlosen Moment musterten sie einander, während durch das offene Fenster die Vorhänge gebläht wurden, die kühle Luft eine Gänsehaut auf Hideos Körper zeichnete und Rubens' Locken verwehte. Hideo umklammerte den schlanken Hals der Vase fester, erwiderte kämpferisch den drohenden Blick des Vampirs. "Du brauchst mich." Er leckte sich über die trockenen Lippen, balancierte seinen breitbeinigen Stand aus. "Was du mir zufügst, fällt auf dich selbst zurück." Um dann leise zu ergänzen, "und was ich dir antue, trifft mich selbst auch." Mit einem energischen Vorrecken des Kinns beendete er seine Ausführungen. "Ich lasse mich nicht mehr einsperren. Ich will wieder Kleider haben und ordentliches Essen. Ich will mich frei bewegen und unterhalten können." Rubens taxierte Hideo ohne Regung. "Und warum sollte ich dir das erlauben?", zischte er bösartig zurück. "Weil wir es miteinander aushalten müssen, auch wenn uns das nicht gefällt." Hideo bemühte sich um einen neutralen, sachlichen Ton, unterdrückte das Zittern, das ihn befiel. Wenn er sich nun irrte...?! "Du bist allein hier, Rubens, und ich denke, ich kenne dich genug, um behaupten zu können, wenn du die Wahl hättest, wenn es jemanden anderen gäbe, dann wäre ich längst nicht mehr hier. Aber so, wie es aussieht, bin ich deine Lebensversicherung und du meine. Daraus sollten wir das Beste machen, richtig?", schloss Hideo lahm, vollkommen verunsichert angesichts der Unnachgiebigkeit im Gesicht des anderen. Hilflos drohend schwang er die Vase erneut, allerdings so halbherzig, dass er nicht einmal sich selbst täuschen konnte. Resignierend wandte er sich zur Seite, platzierte die Vase sorgfältig auf ihrem angestammten Platz. Schneller als ein Augenzwinkern war Rubens bei ihm, schmetterte ihn so hart gegen die Wand, dass Hideo Sterne sah, als der Sauerstoff wuchtig aus seinen Lungen getrieben wurde. Ungebremst rutschte er auf den Teppich, hustete Blut, das von einer aufgebissenen Wunde in seiner Zunge rührte. "Denkst du, ich vergesse und vergebe, was du mir angetan hast?!" Hideo hatte Rubens noch niemals derart hasserfüllt erlebt. Die Stimme des Vampirs dröhnte in seinen Ohren. Bevor Hideo sich reflexartig zu einer kompakten Kugel zusammenrollen konnte, hatte der Vampir ihn bereits an den Oberarmen hochgerissen. Legte nun erstickend die schmalen Hände um Hideos Hals, um diesem die Luftzufuhr abzuschneiden. "Wie kannst du es wagen, du...Nichts!!!" Hideo röchelte, tänzelte auf den Zehenspitzen, denn Rubens hielt ihn derart in die Höhe, dass er kaum mehr Bodenkontakt hatte. Seine Hände kämpften fahrig und immer panischer gegen die Umklammerung an, bohrten sich in die helle Haut und zerrten an den seidenen Ärmeln. "Ich kann dich so einfach ersetzen wie ein Fingerschnippen! Du bist gar nichts, verstehst du mich?! Wertlos, unbrauchbar, nur eine Belastung!" Hideos Anstrengungen verebbten, der Sauerstoffmangel trieb die Dämonen in seinem Kopf auf die Barrikaden, hämmerte Löcher in die Schädeldecke, die Tränen des Schmerzes über die Wangen gleiten ließ. Rubens schleuderte ihn vorwarnungslos wie ein Bündel Lumpen zwischen die Ohrensessel, verließ dann im Sturm das Zimmer. Hideo kauerte in peinigendem Hustenreiz und asthmatischen Würgekrämpfen auf dem Teppich, schob die Fingernägel tief in die Fransen, um sich von dem reißenden Schmerz in Rücken und Lungen abzulenken. Es schienen ihm Ewigkeiten zu vergehen, bis er sich unsicher auf die Beine stellen konnte, mittlerweile unter Schüttelfrost bebend, der ihm den Frühling nur als einen Traum vorgaukelte. Mit zusammengebissenen Zähnen arbeitete er sich unter Zuhilfenahme diverser Lehnen und Türrahmen in Rubens' Schlafzimmer, das er verlassen fand. »Wenn du Krieg willst, kannst du ihn haben!«, schwor er sinnentleert, hangelte sich zum Kleiderschrank, um dort einen Pyjama zu entnehmen, nicht aber ohne das vorsätzliche Auslösen einer Lawine. »Und Trümmer kennzeichneten seinen Weg«, kicherte er albern, drängte unwillkommene Tränen zurück, hatte er sich doch den Ausgang des ersten Gesprächs seit Rubens' Erkrankung anders vorgestellt. Ohne Rücksicht auf das ordentlich gemachte Bett wischte er ächzend die Tagesdecke samt diverser Zierkissen auf den Boden. Rollte sich mit gequältem Stöhnen auf die Matratze und umarmte ein großes Kopfkissen, atmete gegen die Nadeln an, die sich mit grausamer Hartnäckigkeit in seinem Rückgrat und den Lungen verewigten. Nur wenige Minuten im Dämmerzustand später platzte ungehalten Rubens hinein, sicherlich bereits in Rage gebracht durch die Blutflecken auf dem Teppich, das achtlos abgeworfene Handtuch. Hideo lächelte boshaft, aber schwächlich mit geschlossenen Augen. Was würde nun folgen, wenn er das Chaos in seinem Schlafzimmer registrierte? Zunächst einmal blieb es lange still, beunruhigend lange, sodass Hideo versucht war, die Augen aufzuschlagen und sich zu vergewissern, dass der schwungvolle Eintritt nicht seinem Wunschdenken entsprochen hatte und er bereits halluzinierte. Dann spürte er eine warme Gegenwart in seiner Nähe. Die Matratze senkte sich leicht, als Körpergewicht ihr zusätzliche Last auftrug. Angespannt verharrte er, wartete auf eine Reaktion, eine Bewegung des Vampirs. Unerwartet fuhren federleicht kühle Fingerspitzen über Hideos zwecks Erträglichkeit der Schmerzen gekrümmtes Rückgrat, zeichneten einzelne Wirbel nach. "Setz dich auf, damit ich dich abtasten kann." Klang Rubens tatsächlich versöhnlich?! Hideo konnte diese Gelegenheit entgegen aller Vernunft nicht ungenutzt lassen. Als ob ein wahnwitziges Teufelchen ihn anstachelte, mit losem Mundwerk, über das er früher nie verfügt zu haben schien, jede sich bietende Möglichkeit zu nutzen, die Situation zu verschlimmern. "Und ich dachte, du willst nur mein Blut", sprudelte es stichelnd aus ihm heraus. War da tatsächlich ein drohendes Knurren entschlüpft?! Hideo hielt es nicht länger. Er schlug die Augen wissbegierig auf und stemmte sich mit zusammengepressten Lippen hoch. Nur minimale Zeichen der Anspannung verrieten ihm, dass Rubens einen inneren Kampf ausfocht, die richtungweisende Entscheidung zwischen Härte und Großmut. Um seinerseits Kompromissbereitschaft zu offerieren, streifte sich Hideo mühsam die Pyjamajacke von den Schultern. Der seidige Stoff glitt selbsttätig auf seine Handgelenke hinunter. Rubens wandte langsam seinen Kopf. Nur das Rieseln der Lockenstränge auf den Schultern war zu vernehmen. Er musterte Hideo eindringlich, als fürchte er, erneut Zielscheibe des Spotts zu werden, sich mit einer freundlichen Geste eine Blöße zu geben. Hideo hielt den Atem an, rührte keinen Muskel, obgleich ihn wie ein Kälteschauer eine Gänsehaut überzog. In Zeitlupe hob Rubens nun die gepflegten Hände, legte sie behutsam mit den Fingerkuppen auf Hideos Rippen. Dieser zuckte zusammen, was Rubens sofort weichen ließ. "Tut... tut mir leid, deine Finger sind so kalt", wisperte Hideo nervös mit entschuldigendem Lächeln, rutschte auffordernd näher. Zaghaft klopfte der Vampir kaum merklich auf die Bögen, zischte Hideo dann unerwartet scharf an. "Verdammt, willst du nicht endlich Luft holen?!" Was diesem einen erschrockenen Ächzer entlockte. Die Spannung zerriss, und Hideo kicherte ausgelassen, mit verzogenem Gesicht eingedenk der entstehenden Hämatome auf seinem Rücken. "Leg dich auf das Kissen, ich hole Salbe", kommandierte Rubens, nun wieder ganz Herr der Lage, bewegte sich mit seiner katzenhaften Anmut geschmeidig aus dem Zimmer. Hideo kam der Aufforderung nach, zeichnete ungeduldig Figuren in das Laken, bis Rubens neben seiner Taille Platz nahm. Dieses Mal die Finger energisch aneinander rieb, um sie aufzuwärmen, bevor er Hideo mit würzig riechendem Balsam bestrich. In einträchtiger Ruhe widmeten sie sich dem Unterfangen, bis Hideo nachdenklich das Wort ergriff. "Warum hast du gesagt, dass ich austauschbar bin?" Rubens' Druck auf Hideos Rückgrat wurde Sekundenbruchteile stärker, dann gewann er wieder die unerschütterliche Fassung zurück. Hideo jedoch wollte es nicht bei dieser stummen Blockade belassen, entließ weitere müßige Gedanken in die Freiheit. "Wenn es wahr wäre, müsste es doch noch andere geben, hier bei dir." "Aber...", Hideo kaute angespannt an einem Fingerknöchel, "vielleicht behandelst du mich auch nur so, weil ich bald sterben werde", schloss er leise seinen Satz. Die massierenden Bewegungen hielten abrupt inne. Hideo umarmte das Kissen fester, als könne er aus der Konzentration der Daunen Trost schöpfen. "Lukas hat mir von den anderen erzählt. Und ich weiß, wie stark der Vampirkuss ist..." "Vampirkuss?! Was für ein elender Unsinn!!" Rubens donnerte so unerwartet neben Hideo, dass dieser unwillkürlich den Kopf einzog. "Warum nicht gleich 'dunkle Gabe'?! Oder andere romantisierende Idiotien?!" Er federte schwungvoll von der Matratze, die Hände geballt, tizianrote Locken wehten wie eine auffrischende Lohe um seine schmale Gestalt. "Es ist Gift. Schlicht und ergreifend Gift! Was soll dieser beschönigende Firlefanz?!" Hideo schob sich wachsam auf die Knie, unsicher, ob Rubens' akute Raserei sich auch gegen ihn richten würde, um dem brodelnden Ärger ein Ventil zu schaffen. Und tatsächlich schoss dieser auf Hideo zu, die Gesichter nur Wimpernschläge von einander entfernt, die glanzlosen Vampiraugen bodenlos wie ein schwarzes Loch. "Ein Giftgemisch aus einer Drüse über dem Gaumen, ein Paar spitze, dornenartige Hohlnadeln und zack!, wie bei Giftschlangen ist das Opfer gelähmt!" Das Aufeinanderklatschen der hellen Handflächen ließ Hideo zusammenzucken. "Wir sind nur eine evolutionäre Subspecies, die im Aussterben begriffen ist! Da ist kein Raum für idealisierte Hollywood-Träume kleiner Jungs!" Hideos Zunge lief erneut seinem Verstand davon. "Deswegen beißt du mich wohl auch nicht in den Hals?! Oder bist von Jungfrauen umzingelt?!" "Nein", fauchte Rubens ungehalten, "ich habe auch keine zugespitzten Reißzähne, ich trinke kein Blut, ich fliege nicht als Fledermaus und ich mache mir nichts aus Särgen oder dergleichen!" Ruckartig wandte er sich von Hideo ab, begann mit unterdrückter Rage, die verstreuten Kleidungsstücke zu falten und wieder in die Fächer seines Kleiderschrankes zu räumen. "Wissenschaftlich gesehen ist das der einfältigste Humbug, den man sich nur vorstellen kann!!" Die Locken herumschleudernd warf er Hideo einen entflammten Blick zu. "Hast du eine Vorstellung davon, wie viel Blut notwendig ist, um davon zu leben?! Zweieinhalb Liter! Und die saugt der so genannte Graf Dracula dann durch ein paar spitze Eckzähne?! Fabulöse Leistung! Selbst Elefanten hätten unter vergleichbaren Umständen Schwierigkeiten und diese Tiere sind auf die Nahrungszufuhr per Rüssel ausgelegt!" Hideo umarmte das Kissen fester und legte den Kopf schief. Es war eine überraschende Erfahrung, Rubens derart in Fahrt zu sehen, den arrogant-höhnischen Ton gegen einen Dritten gerichtet zu wissen. "Und dann hat Herr Vampir natürlich noch ein Problem, denn ohne Vitamin C fallen ihm seine extravaganten Beißwerkzeuge dank der Skorbut in kürzester Zeit aus! Was tut er also? Zitronen lutschen oder Sauerkraut vertilgen?!" Rubens ließ dieser wahrhaft wenig Schrecken erregenden Vorstellung einen abschätzigen Schnaufer folgen, verschloss die Tür des Kleiderschrankes sorgfältig. "Ich bin kein Vampir und ich will auch nicht mit diesem abergläubischen Unsinn Drogen benebelter Autoren zur Zeit Queen Victorias in Verbindung gebracht werden!" Hideo zögerte, stellte dann aber doch trotz drohendem Blick aus schwarzen Augen die entscheidende Frage. "Für was genau hältst du dich denn dann?" Rubens warf in abgehackter Bewegung Lockenstränge auf seinen Rücken. Die gekräuselten Lippen kennzeichneten eine maliziöse Replik, doch dann änderte sich sein Ausdruck. "Weißt du, Hideo, darüber habe ich lange nachgedacht." Ein winziges Lächeln glättete die Anspannung. "Ich bin wohl einfach ich. Ein Mensch mit außergewöhnlichem Erbsatz." Hideo betrachtete Rubens entgeistert, weniger aufgrund dieser letzten Äußerung. Sondern, weil Rubens ihn zum ersten Mal beim Namen angesprochen hatte. Langsam ließ er das Kissen sinken, plötzlich eine störende Barriere zwischen ihnen. Rubens wandte sich bereits der Zimmertür zu, offenkundig im Bestreben, diese ungewohnte Vertraulichkeit rasch zu beenden, als ihn Hideos Wispern erstarren ließ. "Aber... muss ich bald sterben?" ^w^ Kapitel 9 - Michele Hideo brannte Löcher in den feuerroten Blouson, hoffte inständig, dass ihn Rubens nicht einfach ohne Antwort zurücklassen würde. Er redete sich ein, dass es besser war, die Gewissheit zu haben, würde sie doch auch einen Hinweis darauf liefern, warum Rubens ihn zu bloßem Nutzvieh degradiert hatte. Weil er es möglicherweise nicht ertragen konnte, eine emotionale Beziehung zu jemandem einzugehen, der in Kürze nicht mehr leben würde. »Er rührt sich nicht!« Hideo kletterte mit zusammengebissenen Zähnen aus dem Bett, fühlte sich schutzlos in den dünnen Pyjamahosen, erneut von einer zuckrigen Kälteschicht überzogen. Bevor er vorsichtig eine flache Hand auf Rubens' steif gestreckten Rücken legen konnte, wandte sich dieser langsam herum, fixierte Hideos Augen in gleicher Höhe. Hideo schluckte, plapperte unwillkürlich weiter, trockenen Mundes. "Hatte der Junge deswegen auch keinen Namen? Ich meine, ich kann es verstehen." Rubens' schlanker Finger auf seinen Lippen erstickte jede weitere Silbe. "Leg dich wieder hin. Es ist zu kalt." Die Tenorstimme drängte leise, wie von einem Schatten der Trauer durchweht. Hideo holte aufbegehrend Luft, doch Rubens schüttelte nur leicht den Kopf, was Hideo sämtlichen Willen raubte, eine Konfrontation zu forcieren. Schleppend kehrte er sich um und kroch unter die wärmenden Daunen, ignorierte die protestierenden Wirbel und Rippen. Rubens verharrte im Türrahmen, bis er zufriedenstellend sicher war, dass Hideo sich zur Ruhe begeben hatte. Ohne Hideo anzusehen wisperte er in die belastete Stille. "Ich habe ihn Thomas genannt." Und zog behutsam die Tür ins Schloss. ^w^ Hideo ballte die Fäuste und erstickte die galligen Schluchzer mit dem Kopfkissen, zitterte unter ihrem Ansturm auf seinen ohnehin malträtierten Leib. Er wollte nicht sterben. Nicht angesichts der Todeserfahrungen, die ihm die letzten drei Monate eingebracht hatten. Insbesondere deshalb nicht, weil es ihm endlich gelungen war, seiner eigenen Existenz unter widrigsten Umständen etwas Bedeutendes, Wertvolles abzugewinnen. Irrational befiel ihn der Gedanke, dies könne die Strafe sein, weil er sich an Rubens vergangen hatte, die Vergeltung für die Übeltat. Als sich behutsam die Klinke herunterdrückte, drehte Hideo hastig den Kopf zur abgewandten Seite, wollte Rubens nicht offenbaren, dass seine Zuversicht gespielt war. Dass er vor Angst kaum mehr den sicheren Hafen dieses Bettes verlassen wollte. In der kindlichen Hoffnung, wenn er nicht das Geringste änderte, dass sich dann auch das Schicksal seiner nicht entsinnen würde, der Kelch an ihm vorüberging. "Hideo?" Eine so sanfte Stimme konnte nichts Gutes bedeuten! Er regte sich nicht, zog die Schultern noch enger zusammen, verkrampfte sich in Erwartung des nächsten Schlags. Ein Seufzer, -oder war es nur eine Illusion?-, wehte zu ihm hinüber. "Ich werde dich nicht sterben lassen, sofern es in meiner Macht steht." Ein Lufthauch bewies Hideo, dass Rubens sich näherte. Dann spürte er die Präsenz des anderen, bevor sich die Matratze leicht senkte. "Wir sind durch Blut miteinander verbunden. Ich habe trotz jahrzehntelanger Forschung nicht das Geheimnis, den Zweck dieser Existenz entdecken können. Aber eins ist sicher: mein Gift und dein Blut stärken und schwächen sich gegenseitig." Hideo drehte sich langsam auf den Rücken, scheute sich nicht, sein sicherlich rotfleckiges Gesicht zu entbieten. "Also brauchst du mich", suchte er Bestätigung wie einen Lichtstrahl in der Dunkelheit. Rubens zeigte ein winziges, seltsam verletzlich wirkendes Lächeln. Hideo fasste gedankenlos nach einer Locke, hielt sich daran fest, studierte das Profil des anderen durch den klebrigen Film eingetrockneter Tränen. Langsam legte Rubens den Kopf in den Nacken, eine Geste der Erschöpfung, untermalt vom leisen Gleiten der Locken über seidigen Stoff. "Warum hast du das getan?" Fast unhörbar flüsterten die erdbeerfarbenen Lippen ihre Anklage. Hideo musste nicht fragen, was Rubens meinte. Die Locke zwischen den Fingerspitzen drehend, die einzige Verbindung zwischen ihnen, suchte er nach einer angemessenen Antwort. Setzte mehrfach an und brach ab, bevor eine Silbe über seine Lippen kam. Um endlich, mit entschlossenem Gesicht, sich aufzusetzen, die Augen fest auf das bleiche Profil gebannt. "Ich...ich kann es nicht rechtfertigen...ich meine, ich dachte, dass es gerecht wäre..." Hideo senkte den Kopf, sortierte hilflos Formulierungen für einen neuen Beginn. Es schien leichter, den Blick schamhaft auf das Laken zu richten. Die Locke gedankenlos mit den Fingern zwirbelnd ergänzte er seine Replik. "Rache...ich wollte...Rache...für Mirko...für mich...die anderen..." Er räusperte sich geräuschvoll, wagte nicht, zu Rubens aufzusehen. "Es war nicht richtig...du konntest dich nicht wehren...das wusste ich ja auch!" Hektisch belebte sich seine flache Stimme, um dann wieder schuldbewusst abzusinken. "Du bist so stark...und ich ein Nichts...ich wollte einmal beweisen, dass ich jemand bin!" Verzweifelt mit den Händen gestikulierend hob Hideo den Kopf, um perplex zu registrieren, dass Rubens ihn unverwandt ansah. Mit einem unglücklichen Aufschluchzen gab er seine Seele preis. "Du hast mich immer nur wie einen Gegenstand behandelt! Wenn du mich angefasst hast, dann mit Handschuhen und Desinfektionsmittel, als wäre ich ein Pestkranker! Niemals durfte ich dir zu nahe kommen!!" Hideo schluckte schwer, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, zu aufgewühlt, um diese emotionale Szene zynisch zu verdammen. "Ich wollte dir zeigen, dass ich dir nahe sein kann, ohne dass es dich umbringt!" In Rubens' Gesicht flackerte etwas, eine undeutbare Regung, während sein restlicher Körper wie aus Eisen gegossen unbeweglich verharrte. Hideo rang um Fassung, zog die Nase hoch, presste die Lippen aufeinander, bis er sicher war, dass er ihnen ein Lächeln aufzwingen konnte. "Außerdem", krächzte er holpernd, "außerdem bist du ein verdammt scharfer Typ!" Rubens' Kopf wanderte langsam wieder nach vorne, ohne dass Hideo eine weitere Reaktion erkennen konnte. Nach einigen Minuten, die Hideo äonenlang erschienen, schraubte sich Rubens wie aufgezogen in die Höhe, stakste stocksteif zur Tür hinaus. Befremdet folgte ihm Hideo mit den Augen. Irritiert lauschte er dem Öffnen der Badezimmertür. »Ich könnte auch eine Erfrischung vertragen«, kommentierte er trocken seinen eigenen Zustand, »muss ja verheerend aussehen, ein verheultes Wickelkind!« Die pointierten Stiche in seinem Rücken ignorierend kletterte Hideo aus dem Bett, suchte nach dem Pyjama-Oberteil. Bediente sich dann schlotternd an Rubens' Kleiderbestand, warme Socken und ein Pullover mit elegantem V-Ausschnitt. Mit dem Beschluss, rücksichtsvoll nicht Rubens zu folgen, sondern ersatzweise in der Küche sein Gesicht zu waschen, verließ er das Schlafzimmer. In der Küche selbst bot sich ihm ein geschäftiges Bild: Rubens hatte Kartoffeln aufgesetzt, die munter in sprudelndem Wasser kochten. Hideo rieb sich eilig das Gesicht ab, kontrollierte die Bissfestigkeit des Erdapfels und brütete über Hinweisen darauf, was Rubens zu kredenzen gedachte. Dabei suchte sein Blick immer wieder durch die Empfangshalle das Badezimmer, mit wachsender Unruhe. Endlich erschien es ihm mehr als besorgniserregend, dass Rubens noch immer nicht zurückgekehrt war. Behutsam drückte er die verzierte Klinke herab, bereit, auf den geringsten Protest hin sich sofort wieder zu entfernen. Es erfolgte jedoch keinerlei Äußerung, sodass Hideo mutig die Tür in den Raum öffnete. Rubens saß auf dem Toilettendeckel, die schlanken Finger ineinander verkrallt, den glanzlosen Blick leer auf die Bodenfliesen gesenkt. "Rubens...alles okay?" Hideos Stimme flatterte unsicher. Wenn jener ihn gehört haben sollte, so schien die Frage an ihm abzuprallen. Hideo näherte sich vorsichtig, zog einen Schemel heran, um sich direkt vor Rubens zu setzen. "Also, ich habe die Kartoffeln erst mal von der Flamme genommen, sie zerfallen sonst..." Sein aufmunternder, plappernder Schwung verlor sich zusehends. Das bleiche, unwirklich schöne Gesicht blieb unverändert maskenhaft. »Verdammt!!« Hideo nagte an seiner Unterlippe, seine Augen irrten hilflos über starre Augen und verkrampfte Finger. »Warum muss ausgerechnet ich jetzt hier sein?! Ich bin eine absolute Null im Trostspenden!!« »WENN er Trost will«, warf ein nachdenklicher Chor ein, offenkundig heute nicht im Stör-Modus. »Das ist alles so verkorkst!«, lamentierte Hideo selbstmitleidig, »ich wollte nur an die frische Luft, ein bisschen reden...« »Tja, guter Anfang«, spottete der Schleifer ungnädig, »nun bist du genauso weit wie vorher. Er redet kein Wort mit dir.« »Du hast es auch nicht besser verdient!!«, boshafte Stimmen marterten Hideo, sammelten sich zu einem Chor der Unzufriedenheit. »Was denkst du dir eigentlich?! Vergewaltigst ihn im Schlaf und glaubst, er steckt das einfach weg, nur weil du ein bisschen herumheulst?!« "Das habe ich nicht erwartet!", brüllte Hideo laut, presste die Hände auf die Ohren, als könne er damit die maliziösen Kommentare ausblenden, die sein wiedergewonnenes Vertrauen in sich zertraten. Erst Augenblicke später bemerkte er, dass Rubens den Kopf angehoben und ihn blank gemustert hatte. Hideo spürte, wie ihm vor Verlegenheit die Farbe in die Wangen schoss. Ohne Nachzudenken umfasste er hauchzart die verkrümmten Finger, lächelte unsinnig und brabbelte hektisch. "Setz dich doch ins Wohnzimmer, da ist es gemütlicher. Ich mache inzwischen etwas zu essen, ja?!", ließ ebenso rasch die Hände fahren und floh aus dem Badezimmer. ^w^ Hideo wirbelte in der Küche umher, erfreute sich an den vermissten Handgriffen, belegte schwungvoll die Teller mit Petersilie, summte dabei selbstvergessen eine Pop-Melodie vor sich hin. Keine Haute Cuisine, aber Salzkartoffeln mit frischem Kräuterquark, dazu ausgesuchte Leckereien aus eingelegtem Gemüse und Schafskäse: das war leicht zu bewältigen und schmeckte gut! Hideo nahm das Teeservice und steuerte leise das Wohnzimmer an, im Zweifel, ob die so formelle Acht-Personen-Tafel der angespannten Situation zuträglich war. Rubens saß tatsächlich in einem Ohrensessel vor dem dunklen Kamin, noch immer ohne Interesse für seine Umgebung. Mit dem Stich des schlechten Gewissens kalkulierte Hideo die Aussichten, eine Reaktion zu provozieren, wenn er das Dinner vor dem Kamin servierte, den spärlichen Raum der beiden Beistelltischchen aufs Äußerste ausnutzend. Rubens jedoch rührte sich nicht, als Hideo die dampfenden Teller auf den grazilen Beistelltischen abstellte und den Tee sprudelnd in die türkischen Gläser eingoss. "Rubens?" Hideo nahm einen Schluck, verbrühte sich wie gewohnt die Zunge und musterte Rubens besorgt. »Wenn ich mich auf die Fußbank vor ihn setze und ihm ein Stück Kartoffel vor den Mund halte, muss er etwas tun!!« Den Plan in Angriff nehmend reckte sich Hideo hoch, zielte unsicher mit der Gabel, studierte dabei eingehend Rubens' Miene. »Ich muss wohl härtere Maßnahmen ergreifen!« Hideo erhob sich, legte die Gabel sorgsam auf dem Teller ab, umrundete Fußbank und artig nebeneinander gestellte Beine. Um sich dann auf einer hohen Armlehne niederzulassen, nur Millimeter vor tatsächlichem Hautkontakt. "Wenn du schon mein Essen verschmähst und mich keines Blickes würdigst, dann nimm wenigstens ein bisschen Blut!" Demonstrativ schob Hideo sein linkes Handgelenk an Rubens' Lippen. Für Wimpernschläge schien sich die Situation nicht zu verändern. Dann stieß Rubens einen kehligen Laut aus und schmetterte in dem Bemühen, möglichst viel Abstand zu Hideo zu gewinnen, diesen von der Lehne herunter. Hideo besaß die Geistesgegenwart, sich abzurollen und einen schmerzhaften Zusammenprall mit der gusseisernen Kaminumrandung zu vermeiden. Erschrocken warf Hideo einen Blick in das totenbleiche Gesicht des anderen, der sich Schutz suchend und kampfbereit zugleich hinter den Ohrensessel geflüchtet hatte. Hideo rappelte sich auf, sorgfältig darauf achtend, nicht durch eine hastige Bewegung Rubens noch stärker gegen sich aufzubringen. "Rubens...ich bin es..." Hideo streckte eine Hand aus, wie bei einem wilden Tier, das man zu zähmen beabsichtigte. Rubens fauchte, blinzelte dann, drehte den Kopf weg, um sich energisch über die Stirn zu reiben, mit einer, in Hideos Augen, ungesunden Vehemenz. "Ich werde dich nicht anfassen, okay?! Ich möchte nur, dass du etwas isst, bitte?!" Hideo zerrte ein schwächliches Lächeln auf seine Miene in dem bedrückenden Bewusstsein, dass er eine unsägliche Grimasse zur Schau stellte. Als Rubens sich umwandte, zeigte sein Gesicht keinerlei besorgniserregenden Ausdruck. Ganz nüchtern und reserviert nahm er in seinem Sessel Platz, ordnete seine Locken auf den Rücken. "Natürlich. Entschuldige bitte die Aufregung." Hideo zog die Augenbrauen zusammen, wünschte sich vielmehr eine aufschlussreiche Erklärung für diese Reaktion. Doch wie es schien, wollte Rubens den Vorfall mit eisiger Höflichkeit überspielen. Mit einem ergebenen Seufzer nahm Hideo im zweiten Sessel Platz und vertilgte grimmig seine Mahlzeit. ^w^ »Wieso kommt er denn nicht?!« Ungeduldig strich Hideo im Wohnzimmer auf und ab, kämmte verärgert und unsicher zugleich die langen, glatten Strähnen wiederholt hinter die Ohren. Seit dem Mittagessen hatte sich Rubens wortlos in seinem Arbeitszimmer verkrochen und Hideo hatte nicht gewagt, die Einsiedelei zu stören. Nun aber nagte Beunruhigung und leichter Entzug an ihm, hatte sich doch sein Kreislauf auf die regelmäßige Dosis des Giftes eingerichtet. "Na gut, wir können auch anders!" Grimmig wechselte er mit energischem Schritt in sein Zimmer, um dort nach dem Venenperfusionsbesteck und einer Spritze zu suchen. Er entschied sich mit perfider Absicht für die pochende Ader direkt über seinem Bauchnabel, deutliches Anzeichen für die zu erwartenden Krämpfe, wenn er nicht zeitig Abhilfe schaffte. Mit zusammengepressten Lippen injizierte er die Nadelspitze, um dann routiniert das rasche Füllen des Kolbens zu beobachteten. Mit blankem Oberkörper, von Kälteschauern überrieselt, die Spritze mit dem Adapter fest in der Faust, betrat er ohne Ankündigung das karge Arbeitszimmer. Zu seiner Verwunderung war der Raum stockdunkel. Allein das Licht der Empfangshalle drang in einem langen Strahl über den Boden hinein. "Rubens?" Vorsichtig tastete sich Hideo in die Zimmermitte, als eine kühle Hand seine Linke streifte. "Ich bin hier. Entschuldigung, ich hatte die Zeit vergessen. Warte doch bitte im Schlafzimmer." Hideo zögerte kurz, kam dann aber verwirrt der Bitte nach. Hatte Rubens wirklich erschöpft geklungen, geschlagen?! ^w^ Ausgestreckt auf der Matratze, ein Kissen in den Rücken geschoben verdammte Hideo bereits die Provokation, die er Rubens zumuten wollte. »Er kann im Dunkeln sehen, du Idiot! Bestimmt hat er erkannt, wo du das Blut herausgezogen hast!«, trat die unfreundliche Stimme seines Gewissens unbarmherzig nach. »Im Krieg und in der Liebe sind alle Mittel erlaubt«, konterte der Schleifer, was Hideo in weitere Turbulenzen stürzte. Sie hatten einen brüchigen Frieden gefunden, also zielte er auf die zweite Alternative...?! In Hideos chaotisches Gedankenleben schnitt das leise Klicken der Schlafzimmertür. Die Klinke rastete in das Schloss ein. Hideo, der sicher war, die Tür nur angelehnt zu haben, schreckte zusammen, doch Rubens hatte bereits die Beleuchtung gedimmt, näherte sich nun dem großen Bett. Die tizianroten Locken streng zurückgenommen und in einen dicken Zopf gezwirbelt wirkte er zerbrechlich und elfenhaft zart. Hideo schluckte merklich und präsentierte hastig das Blut wie eine Friedensgeste. Rubens nahm ihm die Spritze samt Adapter ab, legte diese mit anmutiger Ruhe auf den Nachttisch, widmete sich wortlos der detaillierten Betrachtung von Hideos nacktem Oberkörper. Der spürte, wie ihm Farbe in die Wangen stieg. Verlegen wand er sich unruhig herum, flackerte ein Verständnis heischendes Lächeln über sein Gesicht. "Du solltest das nicht tun. Ohne die nötige Übung wirst du dir Schmerzen und Wunden zufügen." Selbst Rubens' Tadel klang matt. "Entschuldige." Hideo murmelte gedämpft, versuchte angestrengt, die Dunkelheit zu durchdringen, um Rubens' Miene lesen zu können. Vergeblich jedoch. "Aber das ist jetzt ja egal, ich habe dein Blut!" Eilig setzte er sich auf, angelte das Kunststoffbehältnis heran. "Soll ich es injizieren?! Ich mache es schon ganz gut", plapperte er nervös weiter, flehte förmlich um eine energischere Reaktion. Der stille, in sich gekehrte Rubens machte ihm Angst. "Langsam", kühl, aber bestimmt legte sich Rubens' helle Hand auf Hideos Brust, dirigierte ihn wieder auf sein Kissen zurück. Hideo gab nach, ohne die Spritze fahren zu lassen, wie eine letzte, riskante Trumpfkarte. Ungläubig verfolgte er, wie Rubens ihm aus den glanzlosen, schwarzen Augen einen undeutbaren Blick schenkte, sich dann über seinen Bauchnabel lehnte und mit der Zungenspitze die Einstichstelle befeuchtete. Der warme Atem des anderen in Kombination mit seiner eigenen, von Schauern elektrisierten Haut ließ Hideo angespannt die Luft einhalten. Langsam sackte Rubens' schwerer Zopf über dessen Schulter und streichelte Hideos nackte Taille. Er glaubte, ohnmächtig werden zu müssen, bis ihn ein ungeduldiges Schnalzen in die Gegenwart holte. "Atme endlich!" Mit einem beschämenden, fast lustvollen Seufzer entließ Hideo die aufgestaute Luft, hechelte zu seiner großen Verlegenheit flach, als seine Lungen verärgert selbst das Regiment übernahmen. Behutsam legte Rubens die Fingerspitzen auf Hideos Bauchdecke, als suche er den Rhythmus der hastigen Luftzüge. Um dann in einer einzigen, fließenden Bewegung, schneller als ein Blinzeln, die Giftzähne durch die feste Haut zu treiben. Hideo stöhnte laut auf, ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. »Wieso bin ich nur so empfindlich?!«, winselte ein kläglicher Jammerton durch seinen aufgewühlten Geist. Verschwamm aber augenblicklich, als Rubens' Zunge Kreise um die Zwillingswunde zog, während sein glühender Atem prickelnd auf Hideos Haut kondensierte. Hideo presste die Lippen aufeinander, konzentrierte sich auf die Kälteschauer, um die Erregung, die ihn durchlief, nicht überhand nehmen zu lassen. »Ob er weiß, was er da tut?« Rubens jedoch richtete sich bereits wieder auf. Der Zopf flog wie ein lästiges Anhängsel über die Schulter, die schwarzen Augen suchten nach der Spritze. "Lass mich es machen." Hideo bat rau, noch in beschleunigtem Atemrhythmus. Für eine lange Minute musterten sie sich stumm, dann begann Rubens unvermittelt, die Knöpfe seines Blousons zu lösen, hypnotisierend langsam. Hideos grauen Augen entging keine Bewegung, während er das Aufglühen des flüssigen Goldes in seinen Adern genoss, die fortschreitende Betäubung seiner Glieder, das Galoppieren seines Pulses ihn anspornte, jetzt nicht zurückzuweichen. Den seidigen Stoff von der Schulter streifend wandte sich Rubens Hideo zu, streckte ihm den schlanken, hellen Arm hin, entstellt durch die Verweilkanüle in der Beuge. Sorgfältig und dennoch mit zitternden Fingerspitzen umfasste Hideo das Ellenbogengelenk, streichelte über die weiche Innenseite von Handgelenk bis zur Kunststofföffnung. Dann sammelte er allen Mut, verband Spritze und Kanüle über den Adapter, verfolgte angespannt das Eindringen seines Blutes in Rubens Körper. Bevor er nun die Verbindung unterbrechen konnte, schob sich Rubens' Hand dazwischen, entband ihn geübt von dieser abschließenden Aufgabe. Hideo lächelte zaghaft, wollte sich erheben, die Spritze in das Desinfektionsbad in seinem Zimmer legen, als die Beine ihm den Gehorsam verweigerten, er ungraziös in die Kissen fiel. "Bleib hier." Die samtige Tenorstimme ließ diese Aufforderung wie ein verlockendes Versprechen klingen, oder bildete sich Hideo dies ein? Als er die Augen matt erneut auf Halbmast zwang, wechselte Rubens gerade im trüben Schein der letzten, spärlichen Lampe die Kleider. Für Augenblicke hatte Hideo Gelegenheit, den makellosen, knabenhaft schlanken Körper zu bewundern, die Grazie, die jeder Bewegung innewohnte, zu verehren. Fiebrig brannte sein Leib, verdrängte diese Gedanken, setzte zum Sturmlauf auf seine Synapsen an, was Hideos letzte Kraftreserven aufbrauchte. War es eine Traumphantasie, dass sich Rubens Wärme suchend an ihn schmiegte? ^w^ Ein unartikulierter Schrei ließ Hideo blitzartig und mit klopfendem Herz aufschrecken, orientierungslos in vollkommener Dunkelheit. Heiseres, kaum verständliches Murmeln, begleitet von gequältem Stöhnen an seiner Seite trieb ihm Schauer des Unbehagens über den nackten Rücken. »Ich bin... in Rubens' Schlafzimmer.« Mit gewisser Anstrengung gelang es Hideo, vor seinem inneren Auge die Ausstattung zu visualisieren, dann tastete er sich blindlings zum nächsten Lichtschalter. Rubens lag auf der anderen Seite des großen Bettes, verstrickt in Laken und Bettdecke, zuckte unkontrolliert unter dem Eindruck eines Albtraums. Stieß wieder fremde Silben in anklagendem Wimmern aus, warf dabei den Kopf wild umher. Hideo zögerte nicht länger, kletterte über den wirren Knäuel aus Bettwaren und zerrte diese ausreichend auseinander, bis er genug Freiraum geschaffen hatte, um den anderen heftig an den Schultern zu packen und durchzuschütteln. "Rubens! Wach auf!! Das ist nur ein Traum!!" Obschon die schwarzen Augen sogleich aufklappten, kämpfte Rubens mit unverminderter Vehemenz, schleuderte Hideo schließlich von sich. »Er ist immer noch nicht wach!«, schoss es Hideo durch den Kopf, der nun andere Maßnahmen ergriff, sich blitzartig vom Bett rollte und zum Lichtschalter an der Zimmertür hechtete. Ohne Vorwarnung erhellte sich der Raum, was Rubens ein klägliches Geheul entlockte, animalisch und grauenerregend. Sein Kopf fuhr herum, nahm Hideo in den Fokus, der sich nun trotz der Zimmertür im Rücken nicht mehr in Sicherheit wähnte. Mit einem unverständlichen, aber nicht zu missdeutenden Fluch wirbelte Rubens aus dem Bett, fegte den gelähmten Hideo auf die Seite und verließ fluchtartig das Zimmer. Augenblicke später wurde die Badezimmertür verriegelt. Hideo folgte nach dem Sammeln seiner panisch verstreuten Sinne der Spur, lauschte ungeniert an der Tür, erkannte das Rauschen von Wasser. »Eine Dusche?! Um diese Zeit?!« Mit grimmiger Miene kehrte Hideo in das Schlafzimmer zurück, wickelte sich in ein Laken wie ein alter Indianer, um demonstrativ vor der Badezimmertür Platz zu nehmen. Selbst wenn Rubens dort noch Stunden verbringen würde: er würde nicht weichen. Es war Zeit, einige Dinge herauszufinden! ^w^ Als sich die Tür öffnete, fiel Hideo rücklings auf die Fliesen, vor die Füße von Rubens, der sich in einen Frotteemantel gehüllt hatte. Schlaftrunken, aber entschlossen schob sich Hideo auf die Knie, um dann die Decke wie einen Schutzschild um sich zu raffen. Rubens' Miene war undurchdringlich, die Mundwinkel zuckten jedoch vorwurfsvoll. "Sag mir, was los ist!" Hideos Stimme war vom Schlaf belegt, seine Zunge stolperte schwerfällig über die Silben. "Nichts weiter", zischte Rubens unnachgiebig, schlängelte sich hocherhobenen Hauptes in einer Wolke tizianroter Locken an Hideo vorbei. "Ach wirklich... Michele?!" ^w^ Rubens erstarrte in der unbeleuchteten Empfangshalle. Ohne den Kopf zu wenden glitt seine Stimme geisterhaft durch die Schatten. "Wie... bitte..?" Hideo stemmte sich, durch die Stoffbahnen behindert, umständlich auf die Füße, betätigte den Lichtschalter, was augenblicklich die kleine Halle in goldenes Strahlen tauchte. "Du hast mich schon verstanden." Unruhig, angespannt musterte er die regungslose Gestalt in der Raummitte, wartete auf eine Reaktion. "Wie... wie..." Rubens ballte die rechte Faust, die linke Hand hielt offenkundig den Kragenausschnitt des Frotteemantels zusammen. Hideo schob sich vorsichtig an der Wand entlang, näherte sich in einem großen Bogen. "Ich habe Georgs Dossier gefunden...eine der geheimen Dateien, die er verborgen hatte." Ein verächtliches Lachen, hart und knapp, Rubens tadelte wohl das eigene Versagen in der Sache. "Als er starb... hatte er Halluzination... und rief diesen Namen..." Hideo zögerte unsicher hinter Rubens' Rücken, bereits in Armes Reichweite. "Ich habe es einfach ausprobiert...Michele." "Michele gibt es nicht mehr!!" Rubens fauchte herum, kampfbereit die Fäuste geballt, die Augenbrauen gewittrig zusammengezogen. Hideo schluckte trocken, zwang sich aber, keinerlei Rückzug anzutreten oder Furcht zu zeigen. "Es gab einen Grund dafür, dass er mit dir zusammengearbeitet hat. Er wollte unbedingt das starke Blut eines alten... Vampirs", Hideo senkte die Stimme entschuldigend. "Rubens musste nach seinen Recherchen ja 400 Jahre alt sein... älter noch als Mordechai. Zu erfahren und zu stark, um ihn direkt anzugreifen, also fing er mit Mordechai an. Und fand in dessen niedergebrannten Gehöft einen alten Eintrag über den Besuch von einem gewissen Rubens und seinem Schüler Michele." Hideo fror unter dem emotionslosen Blick der glanzlosen Augen, dem animalischen Zucken der Mundwinkel, der sich aufladenden Spannung im dem schlanken Leib seines Gegenüber. "Er war ziemlich frustriert, dass nirgendwo Unterlagen über Michele zu finden waren, offenkundig meisterhaft vertuscht. Bis ihm dann klar wurde, dass er genau diese Kunst bei dem angeblichen Rubens gelernt hatte." Hideo lächelte nervös, raffte die Decke enger. "Er hat sich große Mühe gegeben, aber das Einzige, was er fand, war diese eine Erwähnung: Michele Ossimi als Schüler, zu Besuch im Jahr 1900, der von der Weltausstellung in Paris schwärmte." Rubens schnellte vor, packte Hideo hart an den vor der Brust gekreuzten Säumen der Decke, zitternd vor innerem Druck. Hideo leckte sich hastig über die Lippen, suchte nach einem Ausweg, zweifelte nicht daran, dass Rubens auch dieses Mal seine Wut unter Kontrolle bringen würde, wenn er nur das Schlüsselwort fand. "Du hast im Schlaf Italienisch gesprochen, da fügte sich ein Teilchen an das andere", wisperte er bleich, kniff die Augen zusammen. Ein kindlicher Reflex, als könne sich das anbahnende Unheil dann auflösen. Als sich mehrere Atemzüge später kein Donnerwetter auf sein Haupt konzentrierte, wagte Hideo einen unsicheren Blick auf Rubens/Michele. Dieser hatte noch immer die schlanken Finger in den Stoff getrieben, hielt sich aber nun mit gesenktem Kopf an ihm aufrecht, bebend und nach Luft ringend. Dann ließ er überraschend die Decke fahren, um mit herabhängenden Schultern, die Arme eng um die Taille gewunden, in sein Schlafzimmer zu gehen, mit dem Schritt eines alten Mannes. Hideo blinzelte, folgte dann mit fliegenden Decken, wollte sich nicht aussperren lassen, weder aus dem Zimmer noch aus Micheles Kummer. Der hatte sich bereits in der Finsternis in seinem Bett zusammengerollt und kehrte Hideo den Rücken zu. Hideo prägte sich den Weg zum Bett ein, löschte dann das Licht der Empfangshalle und schlüpfte ohne Kollision neben Michele in das ausgekühlte Bett. "Wenn... wenn du heranrutschst, wärmen wir uns gegenseitig", wagte er eine vorsichtige Annäherung, blieb jedoch ohne Antwort. Mit einem leisen Seufzer kuschelte sich Hideo in die Daunen und widmete sich schweren Herzens dem Schlaf. ^w^ Wie erwartet fand er sich am folgenden Morgen verlassen in dem großen Bett wieder, hing der Frotteebademantel ordentlich aufgehängt vor dem Kleiderschrank an einem Bügel. Hideo rieb sich den Schlaf aus den Augen, brummte über die unangenehme Kühle, die ihn sofort wieder in die warme Umarmung der Decke trieb, zwang sich aber ergeben in sein Schicksal und erhob sich. Leise Musik drang an sein Ohr, als er die Schlafzimmertür öffnete. Ein Streichquartett. Überrascht wechselte er die Richtung, statt Badezimmer hinüber in das Wohnzimmer. Doch dieses war verwaist, stattdessen aber für eine Person gedeckt. Ein Zettel, mit den schwungvollen, altmodischen Schnörkeln versehen, die Hideo sofort Michele zuordnete, erklärte ihm bündig, dass dieser in Geschäften das Haus verlassen habe, aber gegen Abend zurückkehren werde. Hideo knurrte eine Verwünschung. So einfach würde er Michele nicht davonkommen lassen! ^w^ Kapitel 10 - Eine lange Geschichte Das Drehen des Schlüssels in der Wohnungstür jagte Schauer der Erregung durch Hideos Körper. Sofort war er auf den Beinen, musste mühsam seine Energie bändigen, um nicht sogleich Michele zu bestürmen. Stattdessen zählte er leise bis Zehn, um dann gemessenen Schritts in der Eingangshalle zu beobachten, wie jener den Mantel in die Garderobe hängte und die Schnürstiefel, vom Regen feucht, entsprechend verstaute. "Ich habe Lasagne gemacht." Hideo verschränkte betont nonchalant die Arme vor der Brust, lehnte lässig im Türrahmen. Michele bot ein umwerfendes Bild: der ungewohnte, dreiteilige Anzug in konservativem Marineblau mit extravagant seidigem Hemd darunter kleidete ihn ausgezeichnet. "Das ist schön." Michele wich Hideos Blick aus, transportierte einen Aktenkoffer in das unbeleuchtete Arbeitszimmer. "Was möchtest du dazu trinken, Michele?" Hideo wandte sich dem Küchenschrank zu, lauschte begierig auf die Reaktion. Da in üblicher Zeitspanne keine erfolgte, wandte er den Kopf, erblickte Michele, der seinerseits nun im Türrahmen lehnte, erschöpft wirkte. "Du wirst so lange gnadenlos bohren, bis du mir auch die letzte Kleinigkeit aus dem Herz gerissen hast, nicht wahr?" In der leisen Stimme drohten stählerne Dornen. Hideo klappte den offenen Wandschrank in Augenhöhe zu, überwand die Distanz zwischen ihnen mit entschlossenem Blick. "Wir sind hier zusammen und das wird sich nicht ändern. Also will ich wissen, wer du wirklich bist. Warum du in der Nacht schreiend aufwachst. Wieso du so einsam lebst. Warum...ich dich nicht berühren darf." Hideo zögerte beim letzten Satz merklich. Michele schleuderte abrupt den Zopf über die Schulter nach vorne und löste das Band, das die gedrehten Locken in Zaum hielt. "Ich brauche eine Dusche." Schon ließ er den Überrumpelten zurück. Hideo ballte die Fäuste. »Da versucht man wirklich, sich zusammenzureißen und die versprengten Reste guter Manieren zu aktivieren...!! So einfach wirst du mich nicht los«, schwor er stumm. Und auch eine abgeschlossene Badezimmertür stellte in seinem Fall kein ernstzunehmendes Hindernis dar. ^w^ Als Michele der Dusche entstieg und sich unvermittelt Hideo gegenüber fand, der empfangsbereit ein Handtuch ausgebreitet hielt, schreckte er mit einem atemlosen Ausruf zurück. Die schweren, nassen Locken peitschten durch die Luft, kontrastierten in ihrem dunklen Ton mit der hellen Haut. Hideo enthielt sich jeden Kommentars über die Reaktion, offerierte ungerührt die aufgefaltete Stoffbahn, in die sich nun, widerwillig, Michele einhüllen ließ. "Was möchtest du anziehen?" Hideo lächelte versöhnlich, unternahm keinerlei Anstrengungen, Michele zu nahe zu kommen, während dieser mit abgewandtem Kopf seine Glieder trockenlegte. "Den Grünen mit dem Drachen?", schlug Hideo ruhig vor, um dann, nachdem keine Ablehnung erfolgte, das betreffende Ensemble samt dicker Socken und Unterwäsche herbeizuschaffen. Er kehrte rechtzeitig zurück, um dem imponierenden Schauspiel beizuwohnen, wie Michele die taillenlangen Lockenstränge mit einer knappen Verneigung nach vorne wirbelte. Ein Wasserschauer die Dusche besprühte, um dann das Handtuch wie einen Turban kopfunter um die Mähne zu wickeln. Mit einem aufreizenden Lächeln näherte sich Hideo, kniete sich vor Michele auf die Fliesen. "Lasst mich euch helfen, oh Meister", flachste er mit verehrend verdrehten Augen, bereit, den Slip über Füße und Beine hoch zu streifen, damit der beeindruckende Turban nicht ins Trudeln kam. Michele zögerte sichtbar, auch wenn nur Hideo, der inzwischen mit den minimalen Anzeichen der Unruhe im maskenhaft bleichen Gesicht des anderen vertraut war, dies erkennen konnte. Mit resignierendem Seufzer hob Michele endlich anmutig einen schlanken Fuß, ließ sich wie eine Anziehpuppe von Hideo einkleiden. Der eine kindliche Freude bei diesem Spiel empfand. Allerdings nagten unruhige Stimmen in seinem Hinterkopf bereits nachdrücklich. »Er gibt viel zu rasch auf. Er ist erschöpft. Es geht ihm nicht gut. Du vergreifst dich wieder an ihm.« Dieser Stachel saß zu tief. Zu schlecht war Hideos Gewissen, als dass er ungetrübt seinen forcierenden Aufklärungsdrang weiter verfolgen konnte. Ohne weitere Anzüglichkeiten dirigierte er Michele in die Küche, um dort eilig aus dem nachwärmenden Ofen die Lasagne zu befreien und diese auf zwei tiefen Tellern anzurichten. Ursprünglich hatte seine Absicht darin bestanden, in der winzigen Essecke der Küche, einem Rattan-Ensemble bestehend aus rundem Tisch und zwei geflochtenen Sesseln, die Intimität zu nutzen. Michele zuzusetzen, bis dieser sich offenbarte, doch nun zögerte er. Unvermutet jedoch nahm Michele Platz, löffelte schweigend das dampfende Pastagericht. Hideo verfolgte gespannt jede Regung, während er selbst heißhungrig seiner Kreation ein Ende bereitete. "Ich mache Tee", verkündete er aufgeräumt, sammelte klappernd das Geschirr und Besteck ein. Täuschte Geschäftigkeit vor, um die eigene Ratlosigkeit zu maskieren, war doch der Faden gerissen, der ihm ein forschendes Fragen ermöglichte. Michele verharrte schweigend und reglos in seinem Korbsessel, den Blick ins Leere gerichtet, merkte nicht einmal auf, als Hideo Teetassen platzierte. Sprudelnd süßen Pfefferminztee ausgoss, dann die Kanne auf ein Teelicht-betriebenes Stövchen setzte und die Deckenbeleuchtung löschte. Nunmehr nur noch Silhouetten in schattenhafter Umgebung nippte er an seiner Teetasse, schauerte wohlig unter dem Zuckergehalt und zwinkerte Michele zu. Von dem er erwartete, dass dieser mit den ungewöhnlichen Augen seine Geste begriff. Doch Michele ließ sich Zeit, befreite umständlich die Lockenmähne aus der Verwicklung mit dem Handtuch. Fächerte die verdrehten Stränge über Schultern und Brust auf, bevor er die schmalen Hände um die Tasse wölbte und den Blick in die winzige Flamme richtete. Hideo wartete mit wachsender Ungeduld auf die Eröffnung, rutschte unruhig auf seinem gesteppten Kissen, blies den aufsteigenden Dampf in verwirbelnden Zirkeln von sich. Leise, melancholisch mischte sich Micheles samtiger Tenor in die gespannte Dämmerung. "Ich kenne das Jahr nicht, in dem ich geboren wurde. Selbst mein Geburtsort ist heute nicht mehr als eine Erinnerung. Ein Dorf in den Bergen nahe Trient, ein winzige Gruppierung von Berghütten armer Bauern. Ein karges, entbehrungsreiches Leben, kaum Abwechslung, geprägt von harter körperlicher Arbeit. Eines Tages kam ein prächtig gekleideter Mann im Sommer in unser Haus. Meine Eltern empfingen ihn noch respektvoller als den Priester, tischten das Beste aus unseren Vorräten auf. Aber sie fürchteten ihn." Hideo hing gebannt an den Lippen des anderen, vergaß seine Tasse, die kalten Füße. "Obwohl es mir untersagt wurde, belauschte ich ihre Unterhaltung. Nun", Michele zog eine schmerzliche Grimasse in den Schatten, "ich versuchte es wenigstens. Aber der fremde Mann sprach so ungewohnt, dass ich nur Bruchteile begriff. Auch meine Eltern weigerten sich, ihn zu verstehen, gaben aber seinem Drängen nach einem festlichen Abendessen nach. Ich erinnere mich, dass ich so viel aß, dass mir der Bauch schmerzte, weil ich unbedingt diese Gelegenheit nutzen wollte." Michele wischte einige Locken hinter die Ohren, räusperte sich leise. "Als ich wieder zu mir kam, war mir nicht nur entsetzlich übel, man hatte mich auch verschleppt, wie ich zu meinem Erschrecken feststellen musste. Der fremde Mann hatte Mohn unter die Speisen gemischt, um mich problemlos in seine Heimat nahe Brescia transportieren zu können. Mein verzweifeltes Flehen und Widerstand amüsierte ihn lediglich." Zum ersten Mal fröstelte Michele, zog die Schultern hoch zusammen, setzte dann die Füße auf die Sitzfläche. Schlang die dünnen Arme eng um die Beine, gehüllt in einen dichten tizianroten Mantel aus Haaren. "Er zerrte mich ohne Umstände in einen gemauerten Stall, stieß mich hinein und verriegelte die Tür. Ich war allerdings nicht allein in dem stinkenden Loch", die Fingernägel drückten sich tiefer in den dunkelgrünen Stoff der Ärmel. "Zu meiner Gesellschaft befanden sich dort auch andere... nun, damals nannte man sie Zurückgebliebene. Bleiche Wesen mit leeren Augen, verzerrten Fratzen, ausgemergelt und ohne Sinn lallend. Ich fürchtete mich vor ihnen, den von Hunger aufgedunsenen Leibern, dem Gestank und Dreck. Sie fassten nach mir, rissen mir die Kleider vom Körper, bettelten und jammerten um eine Geste, die ich nicht verstand. Als sie begriffen, wandelte sich ihr Verhalten in unverhohlene Enttäuschung und Wut. Es regnete Schläge, denen ich kaum etwas entgegenzusetzen hatte. Schließlich begann ich zuzubeißen, in Todesangst, wie ein eingesperrtes Tier ohne Verstand. Unverständlicherweise jubelten sie und bestürmten mich, ihnen das Gleiche anzutun, bedrängten sich, traten einander nieder." Michele zitterte nun derart, dass selbst der Korbstuhl unter der Belastung ächzte. Hideo erhob sich steif, schenkte Tee nach und schälte sich aus seinem Pullover, legte diesen behutsam um den Zusammengekauerten. Wenn Michele diese Geste bemerkte, so zeigte er dies nicht. Sein starrer Blick klammerte sich an die tanzende Flamme. "Als die Sonne unterging, kam der Fremde endlich, um den Riegel zu lösen. Ich erinnere mich, dass ich an ihm vorbeistürzte, vollkommen haltlos, splitternackt, mit Blut und Kot beschmutzt und heulend wie ein Wolf. Natürlich hatten seine Knechte leichtes Spiel, mich einzufangen. Er ließ mich auf dem Hof so lange eimerweise mit Wasser übergießen, bis ich ihm reinlich genug war, dass er mir grob den Daumen in den Mund schieben konnte. Dann schwenkte er mich triumphierend herum und küsste mich, als seien wir die nächsten Verwandten." Michele schnaubte bitter und befeuchtete seine trockene Kehle mit Tee. "Von diesem Tag an war ich sein Hofnarr, wegen meiner Ignoranz verspottet und gedemütigt. Aber er zeigte mir auch, was ich zu lernen hatte, um zu überleben." Die schwarzen Augen suchten Hideos Blick. "Er war ein viehischer Mann, maßlos und tyrannisch und entsprechend auch seine Gewohnheiten. Die bemitleidenswerten Wesen, die er dort in dem Loch hielt, wurden Abend für Abend auseinandergetrieben, damit er einige unter ihnen auswählte. Dann mussten diese sich ebenso reinigen lassen wie ich am ersten Abend. Anschließend ließ er sie betteln, wem er wohl seine Gunst schenken sollte." Michele wandte den Kopf ab, presste die Wange auf die Kniescheiben, noch immer ein kompaktes, sich selbst schützendes Paket. "Er zückte ein Messer, stach sie an wie Schweine und trank ihr Blut." Hideo würgte leicht angeekelt, verdeckte diese Reaktion zu spät hinter einem hastigen Schluck lauwarmen Tees. "Ich weigerte mich zunächst, es ihm gleichzutun, versuchte ohne fremdes Blut zu leben, aber sehr schnell wurde mir klar, dass ich sterben würde, wenn ich mich nicht anpasste." Michele schloss die Augen, die langen Wimpern flatterten unruhig. "Kein Tierblut linderte die Schmerzen, sodass ich, pragmatisch, wie ich es gewohnt war, seine Vorgehensweise kopierte. Ein Bluttrinker wurde." Hideo durchlief es eiskalt, wurde doch nun verständlich, warum Michele sich in der Vergangenheit so bitter distanziert hatte, unter keinen Umständen Vampir genannt werden wollte. "Dottore Matteo Ossimi spottete über meine vergeblichen Versuche, länger als einen Tag ohne Blut auszukommen oder die Lebensbedingungen der... Unglücklichen zu verbessern. Selbst wenn wir sie damals Tieren gleichsetzten, so war ich doch erzogen, dass man diesen mit Würde begegnete und unnötige Grausamkeiten eine Sünde gegen Gott darstellten." Michele richtete sich langsam auf, die Beine sanken wieder unter den Tisch. Im Gegenzug wickelte er sich enger in den Pullover. "Stattdessen adoptierte er mich ohne Einverständnis, wedelte mit einer Urkunde vor mir, im sicheren Wissen, dass ich kaum meinen eigenen Namen entziffern konnte, niemals eine Schule besucht hatte. Und proklamierte vor aller Welt, dass er sich ein Vergnügen damit schaffen wollte, aus mir den gleichen, ekelerregenden Despoten zu machen, wie er selbst es war." Hideo schreckte hoch, als Michele den restlichen Tee in seine Tasse goss, sie auffordernd zu ihm schob. "Doch eine glückliche Fügung durchkreuzte seinen Plan, denn uns besuchte mit einer ganzen Entourage ein besonderer Mann. Rubens van de Breukeling." Zum ersten Mal, dass Hideo Michele kannte, wärmten sich dessen Züge in einem liebevollen Lächeln. "Der Dottore war übertrieben höflich, scheute sich, sein wahres Gesicht vor dem großgewachsenen Mann zu zeigen, der fließend in mehreren Sprachen parlieren konnte und ungeheure Ausstrahlung besaß. Rubens war den weiten Weg von Brügge gekommen, durch ein zerrissenes Europa, ungeachtet der Kriege und Revolutionen, um für sich nach neuen 'Mitgeschöpfen' zu suchen." Hideos irritiertem Blick zuvorkommend erläuterte Michele seine kryptischen Worte. "Man musste das Blut rein halten, aber durch den Inzest starben viele oder waren so schwer behindert, dass man ihnen kein langes Leben zurechnete." Mit einem Seufzen fügte er hinzu, "du kannst dir das nicht vorstellen, aber wir sahen keine Sünde darin, sie wie andere Nutztiere auch zu 'züchten'. Es kam uns nicht in den Sinn, dass es anders sein konnte. Nun, wie dem auch sei, Rubens erkannte natürlich den wahren Geist des Dottore, ermahnte ihn, seine Lebensspender besser zu behandeln. Er blieb über einen Monat und ich folgte ihm wie ein kleiner Hund überall hin, konnte nicht genug bekommen von dem Wissen, das er so sorglos versprühte, ja, ich betete ihn förmlich an." Michele schob müßig seine Teetasse umher, noch immer in ein trauriges Lächeln gehüllt. "Als der Tag der Abreise bevorstand, beide Parteien nicht sonderlich zufrieden mit dem Ausgang des Austausches, da flehte ich ihn auf Knien an, er möge mich mitnehmen. Ich schwor ihm, immer an seiner Seite zu sein, sein treuester und ergebenster Diener." Micheles Finger umklammerten die Tasse nun so stark, dass Hideo fürchtete, sie würde unter dem Druck zerbrechen. "Und er nahm mich mit auf sein Gut. Erzog mich nicht als seinen Diener, sondern seinen Sohn. Ich durfte ohne Hindernis alle seine Schriften und Bücher lesen. Wir diskutierten stundenlang, forschten und sammelten Beweise für unsere wissenschaftlichen Theorien." Michele schloss die Augen und seufzte erneut tief. "Unser Leben war friedlich und zurückgezogen. Die Zeit verging, doch dies berührte uns kaum. Manchmal begab er sich in die Stadt, dann blieb ich allein zurück, doch jedes Mal kehrte er nur enttäuscht wieder, und ich verstand seinen Kummer. Rubens hatte es sich nämlich in den Kopf gesetzt, einen Sohn zu zeugen, der von unserer 'Art' war, nachdem er durch seine lange Lebensdauer erkannt hatte, dass es nur männliche Wesen mit unserem genetischen Code gab." Michele öffnete die Augen wieder, versank in Betrachtung der Flamme, bis er endlich fortfuhr. "Ich war nicht eifersüchtig, denn obgleich ich äußerlich etwa vierzehn Jahre alt war, betrug mein geschätztes Alter etwa achtzig Jahre. Gewissermaßen hatte ich die notwendige Reife erlangt, um Distanz zu kleinlichen Emotionen zu wahren." Sein trauriges Lächeln weckte in Hideo den Wunsch, aufzuspringen und ihn zu umarmen, zu versichern, dass alles wieder gut würde. Michele jedoch senkte die Stimme um eine weitere Nuance, spannte die Glieder an, was Hideo in Unruhe versetzte. "Wir waren also glücklich. Ich brauchte nur diese kleine Welt, keine anderen Menschen, niemanden. Als Rubens sein Scheitern in Sachen Nachfolger erkannte, bemühte er sich, mich für Kontakte zum anderen Geschlecht zu erwärmen. Ich verweigerte mich aber seiner Bitte. Ich konnte es seit dem Tag in jenem Loch nicht mehr ertragen, wenn mich jemand ungefragt berührte, mir seine körperliche Präsenz aufnötigte. Du fragst dich nun sicher, wie ich das als 'Bluttrinker' mit meinen Gewohnheiten vereinbaren konnte, richtig?" Micheles Stimme schwang betont munter, konnte aber den Selbstekel nicht abstreifen. "Glücklicherweise verfügte Rubens über eigens gefertigte Glaskolben und Hohlnadeln, die den Kontakt auf ein Mindestmaß reduzierten. Wie gesagt, er war ein Mann der Wissenschaft." Hideo pflückte die leere Teekanne vom Stövchen, sammelte die Tassen ein. Musste sich bewegen, um nicht vollkommen von dieser abenteuerlichen Lebensgeschichte gefesselt zu werden und dem drohenden Unheil zu verfallen, das sich unabweislich enthüllen musste. "Ich erinnere mich nicht mehr genau an Mordechai, aber an unsere gemeinsame Reise. Damals schien endlich ein Zeitalter der Vernunft und der Wissenschaft angebrochen zu sein. Ich war voller Hoffnung. Dann kamen die beiden Kriege." Micheles Mund verhärtete sich zu einer knappen Linie. "Es war nicht einfach, sich vor der Welt zu verstecken, aber es gelang uns. Doch nicht nur der Krieg mit seinen Gräueln, Besatzer und Terror plagten uns wie die anderen Menschen. Es ereignete sich noch etwas Schlimmeres in meiner kleinen Welt." Michele holte tief Luft, ein Ächzen, stemmte sich dann abrupt hoch, wischte an dem verblüfften Hideo vorbei, bevor dieser reagieren konnte. Hastig die Kerze löschend stürzte er sich in die dunkle Wohnung auf der Suche nach Michele. ^w^ Hideo schickte seinem behutsamen und mangels Licht blinden Eintritt in jeden Raum ein fragendes "Michele?" voraus, erhielt jedoch keine Antwort. Wo würde er sich wohl verkriechen? »Das Badezimmer habe ich kontrolliert...« Ein unwahrscheinlicher, aber nichtsdestotrotz verfolgenswerter Gedanke verirrte sich in Hideos Kopf. Langsam tastete er sich den Stichflur hinab, betrat sein Zimmer. Den Atem anhaltend lauschte er auf den geringsten Luftwirbel, der ihm verriet, ob sich noch eine andere Person in seiner Nähe befand. Unsicher legte er die kurze Strecke zu seinem Bett zurück, streckte suchend die Hand aus, als diese unerwartet kräftig umklammert wurde. Mit einem Schreckenslaut erstarrte Hideo Sekundenbruchteile, fing sich aber wieder. "Wenn du nicht mehr sprechen kannst, dann... dann lass mich wenigstens noch mein Blut geben." Die kalten Finger zerdrückten seine Hand beinahe. Dann, als spürte Michele mit Verzögerung den Schmerz, lockerte sich der Griff merklich. "Komm." Leise, rau, nur ein gespenstisches Wispern. Hideo ließ sich auf die Matratze lotsen, wickelte den Ärmel auf und streckte sich abwartend aus, erforschte vergeblich die verschluckende Dunkelheit. Leise Geräusche belegten, dass Michele sich im Zimmer bewegte. Dann wärmte seine Gegenwart unverhofft schnell Hideos Seite. Unsicherer als üblich tauschten sie Körperflüssigkeiten, dann wickelte sich Hideo in den ersten Ausläufern der berauschenden Wirkung gefangen, in die Decke, tastete suchend nach Michele. Zögerlich drückte sich die Matratze ein, rutschte Michele an Hideos Seite, ohne diesen jedoch zu berühren. "Fühl mal!" Hideos Zunge torkelte bereits unbeholfen in seinem Mund umher, während seine Rechte mit erstaunlicher Zielstrebigkeit Micheles rechte Hand umklammerte und unter dem Pyjama-Ausschnitt auf sein rasendes Herz legte. "Wild, was?!" Hideo lächelte angestrengt gegen die aufschäumende Euphorie an, die das Gift in seine Gedanken spülte. Er hielt die kalten Finger umklammert, bis sein Arm den Gehorsam verweigerte, flach auf die Matratze sank. In einen Nebel gehüllt nahm Hideo wahr, wie sich die kühlen Finger lösten, dann die Knöpfe des Pyjamas öffneten. Und sich zaghaft ein Lockenschopf auf seine Brust bettete und den trommelnden Schlägen lauschte. ^w^ Hideo erwachte erholt, wenn auch durch verwirrende Traumgespinste aufgewühlt, am nächsten Morgen. Nicht überraschend war seine Bettseite verwaist. Michele hatte sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen und selbst Hideo versteifte sich nicht darauf, seine Fähigkeiten an dieser Tür zu erproben. Stattdessen platzierte er zu den Mahlzeiten jeweils ein Tablett mit Speisen vor der abweisenden Tür, klopfte behutsam und kündigte seine Gaben an. Er hatte ohnehin an diesem Tag genug Stoff für Spekulationen und Bewertungen. Trotz der frühlingshaften Aussichten entzündete Hideo am Abend das Kaminfeuer, um sich, in eine einfache Überdecke gehüllt, der Lektüre der Abenteuer des Odysseus zu widmen. Von aufregenden Erlebnissen eingelullt döste er vor dem behaglich wärmenden Feuer, als ein unerwartetes, leises Geräusch seine Sinne alarmierte. Mit einem energischen Wimpernschlag Spuren des Schlafes verjagend setzte sich Hideo auf, bemerkte, dass Michele unschlüssig im Türrahmen stand. Offenkundig hatte er das Geschirr des Abendessens in die Küche transportiert. In der stummen Zwiesprache zwischen schwarzen und grauen Augen stand die Zeit still. Dann, sich abwendend, machte Michele Anstalten, hastig das Feld zu räumen. "Was ist mit Rubens geschehen, Michele?" Hideo erhob sich, die Decke um die Schultern gelegt, nicht in der Erwartung, eine Antwort zu erlangen, doch der Schleifer in seinem Kopf setzte auf Überraschungsangriff. "Ich will nicht darüber sprechen." In Micheles Stimme fehlte der übliche dominante Ton. Sie klang zaghaft, unsicher. "Du musst nicht sprechen. Es reicht, wenn du nickst, wenn ich Recht habe. Ich habe mir nämlich auch eine Meinung gebildet." Hideo empfand keine Genugtuung, als sich Michele vollkommen verspannte, die Fingerspitzen so hart in den Türrahmen presste, dass die Knöchel sich deutlich abzeichneten. "Du hast ihn getötet, nicht wahr?" "Sei still." Michele flüsterte rau, in mühsamer Kontrolle. »Du hast ihn in der Ecke! Lass jetzt nicht locker!!«, drängte der Schleifer unbarmherzig. Und Hideo nahm seinen Mut zusammen, sprach gegen die unversöhnlich zugewandte Rückenpartie des anderen. "Ich habe darüber nachgedacht, was du mir erzählt hast. Wenn Georg Recht hatte, wäre Rubens etwa 400 Jahre alt, das heißt, er war zur Zeit des 2. Weltkriegs schon etwa 350, nicht wahr? Wie alt ist Mordechai eigentlich geworden, Michele?" "...worauf willst du hinaus...?" Michele presste die wenigen Worte mühsam zwischen den Zähnen hindurch, die Hände nun zu Fäusten geballt. "Meine Theorie besagt, dass mit Rubens das Gleiche passierte, was nun auch mit Mordechai geschehen ist. Er ist durchgedreht." Hideo spannte sich nun auch an, wartete auf eine Reaktion. Michele jedoch schien eingefroren, bewegungsunfähig. "All die Bücher, die medizinischen Geräte, das ganze Zeug in deinem Arbeitszimmer: ich glaube, du versuchst herauszufinden, was sich verändert hat. Und ob du ein Monster wie die anderen wirst." Hideo atmete tief durch. "Deswegen sollte dir Georg auch alle Einzelheiten der Morde berichten, jedes grausige Detail. Weil du es vergleichen wolltest mit dem, was Rubens getan hat, richtig?" "Sei still!!" Michele wirbelte herum, die Hand zum Schlag erhoben, ein einziger, gequälter Aufschrei. Hideo riss seinerseits die Arme hoch, um sich zu schützen, die Augen zusammengekniffen, erwartete die Attacke. Sie unterblieb jedoch, lediglich ein zittriges Luftholen durchbrach das Schweigen. Hideo wagte es, Michele anzusehen. Dieser bebte am ganzen Leib, während Tränen aus den schwarzen Augen perlten, ungehindert auf den Teppich tropften. Mit einem schmerzhaften Stolpern geriet Hideos Herz aus dem Takt, verkrampfte sich mitleidig. Ohne nachzudenken, bevor Zweifel oder Ermahnungen ihn hindern konnten, öffnete er die Arme und zog Michele fest an sich. Strich mit der Rechten tröstend über den Nacken, während die Linke sich flächendeckend des Rückens annahm. Michele blieb stocksteif in seiner Umarmung, zitterte hilflos in der Umklammerung von vergangenem und gegenwärtigem Unglück. "Es tut mir leid", wisperte Hideo beschämt in die hochgesteckten Locken, wiederholte gebetsmühlenartig dieses Bekenntnis. Bis Michele in Zeitlupe die Hände auf Hideos Rücken legte, die Umarmung erwiderte. Sie hielten einander eine schweigende Weile, bis sich Michele ausreichend gefasst hatte, dass das Schluchzen verebbt war. "Du bist müde und ich auch", brach Hideo fürsorglich die Stille, nahm behutsam Micheles Hand, "lass uns schlafen gehen, okay?" Michele nickte knapp, ohne Hideo in die Augen zu sehen, löste sich aus dem Griff und wandte sich dem Kamin zu. "Ich drehe nur das Gas runter", flüsterte er matt. Hideo verfolgte die erschöpften Gesten besorgt, machte dann aber kehrt, um das Schlafzimmer nur gedimmt zu beleuchten, die Decken aufzuschlagen und das Perfusionsbesteck bereitzulegen. Er suchte sich aus dem Kleiderschrank eine Pyjamahose, in der Absicht, Michele zum Trost heute die freie Wahl zu lassen, was die Perforation einer Vene betraf. Erwartungsvoll lehnte er sich gegen ein hochgeschobenes Kissen, den Blick unverwandt auf die Tür gerichtet. Michele betrat das Schlafzimmer verhalten, schloss die Tür sorgfältig, als könne jede Bewegung Aufschub bringen. "Willst du wirklich alles wissen?" Noch immer beide Hände gegen das Türblatt gestützt und Hideo den Rücken kehrend, irrlichterten die Worte zwischen ihnen in den Raum. Hideo schauderte bei der Vorstellung, Michele würde ihm in blutigen Einzelheiten schildern, was er selbst in der furchtbaren Nacht, in der Mirko ermordet worden war, zu vergessen suchte. »Andererseits«, sein Gewissen mischte sich ungefragt ein, »hast du es herausgefordert. Es ist nur recht und billig, jetzt auch die Konsequenzen zu ertragen.« "Erzähl es mir, bitte", quälte Hideo über seine widerstrebenden Lippen. Ohne weitere Aufforderung überwand Michele den Abstand zwischen Tür und Bett, kauerte sich, ein Kissen umklammernd, an das Fußende. "Deck dich zu", wies er Hideo ohne die Spur von Tadel an. Was dieser sogleich tat, angespannt Micheles Mienenspiel verfolgte. "Er veränderte sich. Aber schließlich veränderte sich alles. Selbst wir wurden von der Zeit nicht geschont. Ich wollte nicht sehen, was mit ihm geschah. Meinem Vater, hochgeschätzten Freund, Vertrauten. Habe die Augen zugemacht." Michele schluckte hörbar, drückte das Kinn in die Daunenmenge des Kissens. "Die Veränderung erfolgte schleichend. Zuerst reichte ihm die tägliche Dosis nicht mehr. Er klagte und ich überprüfte unsere Ernährungsgewohnheiten, untersuchte die zwölf 'Blutspender', die damals mit uns lebten. Nichts, keine Hinweise. Er zog sich zurück, wurde ungeduldig und despotisch, litt zunehmend unter Paranoia. Aber es ging uns ja allen so. Wir fürchteten jeden neuen Tag. Dann schlug er die anderen, nichts konnten sie ihm recht machen. Sie flohen verängstigt vor ihm, konnten nicht begreifen, was geschehen war. Geistig waren sie wie kleine Kinder, zutraulich, vollkommen von uns abhängig." Michele zog die Schultern zusammen, atmete tief durch, als müsse er einen Berg in Angriff nehmen. "Ich musste den Hof verlassen, um Nahrungsmittel zu besorgen, eine unumgängliche Fahrt nach Brügge. Obwohl ich mir große Sorgen machte, es gab keine Wahl, ich hatte schließlich die Verantwortung zu tragen." Michele biss sich auf die Lippen, warf den Kopf in den Nacken, kämpfte mit erneuten Tränen. "Als...als ich zurückkehrte, hatte er wie ein Wahnsinniger gewütet. Die Armen waren nicht in der Lage, vor ihm zu fliehen. Er hatte ein Massaker angerichtet, der Hof schwamm förmlich in Blut und abgetrennten Gliedern." Hideo presste sich eine Faust zwischen die Zähne, um nicht zu würgen. Unerwünschte Bilder fügten sich in Micheles Schilderungen. "Wie ein tollwütiger Landsknecht... ich rannte in das Haus, schrie seinen Namen, hoffte, dass es nur eine wahnwitzige Idee war, dass er nichts damit zu tun hatte, selbst irgendwo meiner Hilfe bedurfte." Michele weinte nun leise, eine Hand gegen die Stirn gestützt, die Beine wie am Vortag schützend angezogen. "Er hat mich von hinten erwischt, ich war zu vertrauensselig. Dann kämpfte ich gegen meinen ältesten Freund um mein Leben." Nach Luft ringend schluchzte Michele auf, um sich dann merklich zusammenzunehmen, den Schmerz zu verdrängen. "Er war stark, zu stark für mich. Und dass ich mich nicht wehren konnte, beflügelte seine wahnsinnige Phantasie." Hideo umklammerte wie ein Abbild ebenfalls seine Knie, wiegte sich leicht, hielt mühevoll den Brechreiz unten. "Ich will nicht auf die Details eingehen... aber er brachte mich fast um und... verging sich an mir. Dann ließ er mich zum Sterben zurück." Michele wischte Locken hinter die Ohren, warf zum ersten Mal seit seiner Erzählung Hideo einen Blick zu. "Ich wurde jedoch gerettet, denn zwei unserer 'Blutspender' hatten genug Geistesgegenwart bewiesen und sich tot gestellt. Sie suchten nach mir, fanden mich und hinderten mich daran, einfach in den Tod zu dämmern. Ich konnte sie schließlich nicht hilflos und verletzt ihrem Schicksal überlassen." Ein kurzes Auflachen, das eher einem Schmerzensschrei glich. "Ich überlebte also. Nicht nur das, mein Körper heilte ohne eine einzige Narbe. Einen Monat später brannte ich dann das Haus nieder und reiste mit wenigen Habseligkeiten und den beiden Tapferen nach Brügge, wo angeblich ein Serienmörder wütete." Die schwarzen Augen, nun trocken, richteten sich auf Hideo. "Ich stellte ihn in einer Gasse und erschoss ihn ohne Vorwarnung. Dann trennte ich seine Glieder ab, damit man die Leiche nicht identifizieren konnte." Hideo schauderte sichtlich, totenblass. "Ich stahl seinen Namen, um damit in den Besitz seines Vermögens zu kommen. Das ist aber nicht das Ende." Michele schob das Kissen von sich, glitt auf die Knie, um auf allen Vieren und unter undeutbarem Blick auf Hideo zu zu kriechen, der sich verängstigt gegen das Kopfende des Bettes drückte. "Die Jungen verändern sich. Bald sterben wir aus. Und die Alten... du hast dich gewundert, warum ich allein lebe... Thomas war der Letzte. Er starb, weil sein Körper die Vergiftung nicht mehr aushielt. Ich hatte nach seinem Tod noch etwa sieben Tage..." Micheles glanzlose Augen fixierten Hideos Graue unbarmherzig. "Bis mir dieser junge Arzt deine Werte sandte. Meine letzte Hoffnung, unverdient und ungerecht. Ich weiß nicht, vielleicht ist es deine exotische Herkunft, aber unser Blut ergänzt sich perfekt." Hideo konnte nicht mehr länger die Luft anhalten, schnappte mit einem schreckhaften Kieksen Atem. "Nun kennst du alles. Zufrieden?" Für Sekunden blitzte die alte Arroganz und Kälte in Micheles Stimme auf. Hideo zuckte nervös zusammen, dann sprangen ihm die irrlichternden Stimmen in seinem Hinterkopf zur Hilfe. "Nicht ganz. Wann bekomme ich meine Ration?", piepste er wenig eindrucksvoll, aber flüssig. Michele verharrte, dann blinzelte er ungläubig, musterte Hideo entgeistert. Der lächelte halbherzig, ließ das Kissen im Stich und entbot seinen entblößten Oberkörper. "Du kannst wählen", murmelte er verlegen, fuhr sich rasch durch die Haare. Zögernd sackte Michele auf die Fersen zurück, richtete dann den Blick auf eine sich bläulich abzeichnende Vene oberhalb Hideos linker Brust. Hideo nickte zustimmend, reichte das Perfusionsbesteck weiter, um dann in intime Reichweite zu kriechen. Mit aufmunterndem Lächeln, sehr viel zuversichtlicher, als er sich tatsächlich fühlte, sortierte er spielerisch einige Locken hinter Micheles Ohren und führte dessen linke Hand sanft auf seinen Rücken. Legte die eigene Rechte behutsam auf Micheles linken Arm, wie eine Aufforderung zum Tanz. Michele selbst beugte sich langsam vor, schob die rechte Hand unter Hideos Achselhöhle, dirigierte ihn auf die Knie und nutzte den Höhenunterschied aus, um unter einem erregten Seufzer von Hideo mit den Giftdornen in dessen Haut einzudringen. Hideo richtete sich auf, streichelte fahrig durch die tizianroten Locken auf Micheles Hinterkopf, schmiegte sich Wärme suchend an, zitterte unter dem Verlust des glühenden Atems, als die Spritze zum Einsatz kam. Er lächelte unwillkürlich, als Michele, um die Wunde zu schließen, mit der Zungenspitze seine Brust zeichnete, dabei unversehens mit der linken Hand von der Taille auf Hideos Hintern glitt. Hastig die Haltung korrigierend ließ er Hideo fahren, dem absichtsvoll ein arglistiges Ächzen entwich. "Verzeihung." Irritiert neigte Michele den Kopf, bedachte die Wunde erneut mit Atem und heilendem Speichel. "Hmmmm, das ist gut...", schnurrte Hideo genießerisch, grinste frech über das empörte Zurückziehen des anderen. "Du bist kindisch", lautete Micheles vernichtendes Urteil. Indigniert kehrte er Hideo den Rücken zu, um mit angewinkelten Beinen die Injektion des Blutes durchzuführen. Hideo nutzte die Konzentration auf die Herstellung der Verbindung zwischen Kanüle und Spritze, schlang die Arme rücklings um Michele, schmiegte sich eng an. "Vergiss nicht, ich bin noch ein Kind", flüsterte er kichernd in die Lockenmähne. Sofort wurde er mit einem warnenden Knurren abgeschüttelt, räkelte sich dann flach auf dem Laken, die Arme unter den Kopf gefaltet. "Du bist zu ernst, Michele. Denk daran, wir müssen jeden Tag nutzen, der uns bleibt." Michele wandte sich langsam um, betrachtete schweigend Hideos offenes Gesicht, die ausgebreiteten, schwarzen Haare, die fleckenlosen, grauen Augen. Die Linien, die sich vor einem Vierteljahr noch nicht in den ehemals weichen Zügen befunden hatten. "Zeit zum Schlafen", wich er hastig eigenen Zweifeln aus, erhob sich und löschte das Licht. Hideo seufzte leise unter der Einwirkung des Giftes, atmete flacher, schneller. Und fand sich behutsam auf ein Kissen gebettet, wärmend zugedeckt an der Seite von Michele wieder, bis der Schlaf ihn übermannte. ^w^ Wie üblich war das Bett bereits verlassen, als Hideo sich in den Morgen räkelte. Zu einer aufmunternden Dusche begab er sich in das Badezimmer, begrüßte seinen Spiegelzwilling und strahlte diesen an, als ihm ein von Frühlingsgefühlen beschwingter Gedanke kam. ^w^ Michele zog überrascht die Augenbrauen hoch, als Hideo, außergewöhnlich gut gelaunt das Wohnzimmer betrat, wo dieser sich auf dem Sofa der Lektüre der Zeitung widmete. Hideo schmiegte sich ohne Vorwarnung eng an seine Seite und blies einen vorwitzigen Kuss auf Micheles Wange, was diesen erröten ließ. "Was machst du denn da?!" Verschmitzt grinsend zwirbelte Hideo einige tizianrote Locken um einen Finger, flatterte mit den Wimpern. "Ich habe soeben beschlossen, mich in dich zu verlieben. Und dich zu verführen." Micheles Mund öffnete sich ungläubig. Was Hideo die Gelegenheit bot, dessen Kinn sanft anzuheben. "Ich habe nur ein Leben. Das ich mit dir verbringe. Ich war noch nie in jemanden verliebt, also ist das meine einzige Chance, richtig? Außerdem, du siehst sehr gut aus, hast Geld, eine tolle Wohnung...was will man mehr?!" Hideo nutzte die Verblüffung über seine Beweisführung und kletterte Hideo rittlings auf Micheles Schoß, legte die Arme behutsam auf die schmalen Schultern in den offenen Lockenwust. "Kindisch oder nicht, das ist mir gleich." Hideo lehnte sich noch enger an Michele, senkte die Stimme. "Mir ist auch egal, ob du mich wie die anderen für einen Stricher hältst..." Er hauchte ungehindert einen Kuss auf die erdbeerfarbenen Lippen, zog sich dann ein wenig zurück, um Micheles Reaktion zu erfahren. Dieser wandte den Kopf ab. "So einfach ist das nicht", wies er Hideo schroff zurück. "Vielleicht ist es nicht einfach, aber ich werde nicht aufgeben", erklärte er, keineswegs gekränkt und verließ Michele. ^w^ Ungeachtet aller Entschlüsse verliefen die nächsten Tage in vorsichtiger Annäherung an eine Routine. Hideo delektierte sich an freiem Zugang zu allen Räumen, saugte förmlich Wissen in sich auf, erste Entzugserscheinungen seines bisherigen Lebens. Seine Anhänglichkeit zermürbte die Mauern, die Michele immer wieder errichtete, um sich zu isolieren. Längst rief eine ungeahnte Berührung von Hideo nicht mehr Ekelgefühle oder angstvolle Erinnerungen in Michele hervor. Auch wenn er es sich nicht nehmen ließ, Hideo deutlich zu ermahnen, dass der sich Vertrauen erst wieder verdienen müsse. Dennoch reichte ihr Bemühen nicht aus, um Streit vollkommen zu vermeiden. ^w^ Hideo nagte gedankenverloren an einem trockenen Brötchen, bevor er Michele, der gerade sein Ei köpfte, in seine Gedanken einbezog. "Michele, wie alt werde ich?" Mit einem enervierten Seufzer erwiderte dieser, "Hideo, ich bin kein Hellseher. Wie soll ich dir darauf antworten?!" Hideo jedoch gab nicht klein bei. "Aber es spricht doch nichts dagegen, dass ich, sagen wir mal, dreißig Jahre alt werde, oder?" Den Löffel ablegend musterte Michele Hideo eingehend. "Worauf willst du hinaus?" Hideo, die Gelegenheit eifrig beim Schopfe packend, beugte sich vor und entwickelte seine Pläne. "Nun, ich liebe deine Wohnung wirklich, all diese Bücher... aber ich will nach draußen, wieder in eine Schule. Einen Abschluss machen. Vielleicht eine Ausbildung." "Oh, und wie willst du das ohne Identität bewerkstelligen?" Micheles Stimme schwankte bedrohlich zwischen zuckersüß und bitter-gallig. Hideo zerpflückte ungerührt sein Brötchen. "Du kannst mir eine neue Identität verschaffen." "Und warum sollte ich das tun?" Hideo drehte Weißbrotkügelchen, schnickte diese spielerisch-herausfordernd zu Michele. "Weil du mich nicht mit einem Haustier verwechselst." Hideo funkelte aufreizend zurück. "Ich denke nicht daran, dich nach draußen zu lassen." Michele erhob sich abrupt von der Frühstückstafel. "Warum nicht?! Du weißt, dass ich zu dir zurückkomme!" Hideo folgte ihm in die Empfangshalle. "Darum geht es hier nicht! Ich verbiete es, basta!" "Dafür gibt es keinen Grund!" Hideo umklammerte ungestüm Micheles Arme. "Rühr mich nicht an!" Michele zischte die Worte und stieß Hideo hart von sich weg, was diesen unbeholfen zurücktaumeln ließ. Wutentbrannt stürmte er sein Arbeitszimmer und verbarrikadierte sich dort. Hideo grollte in entsprechender Weise, hüllte sich in Schweigen und besänftigte seine enttäuschten Erwartungen mit ausgewählter Lektüre und leichtem Reggae, was die trübe Stimmung rasch ausmerzte. Auch Michele schien zu spüren, dass er sich zu einer unangemessenen Reaktion hatte hinreißen lassen, denn er strich ungewohnt nervös um Hideo herum, suchte das Gespräch. "Hideo, es tut mir leid, dass ich so grob war. Ich möchte, dass du mich verstehst." Michele ging vor dem kalten Kamin auf und ab, warf immer wieder suchende Blicke auf Hideo. Der sich in einem Ohrensessel räkelte und seinen Ausführungen nur widerwillig Gehör zu schenken schien. "Sieh mal, da draußen kann dir sehr schnell etwas zustoßen. Ein Unfall zum Beispiel. Oder du fängst dir ein Virus ein!" Hideo richtete sich auf, musterte Michele durchdringend. "Weißt du, was mich überrascht hat, Michele? Dass dich diese Erkältung vollkommen umgehauen hat, obwohl du doch fast unsterblich bist, jede Wunde sofort heilen kannst." Er wusste, dass er einen wunden Punkt erwischt hatte, als Michele ihm eilig den Rücken kehrte, unruhig mit dem Kaminbesteck hantierte. Hideo stieß sich von den Polstern ab und lehnte sich demonstrativ direkt neben Michele an den gemauerten Kamin, studierte ungeniert dessen Profil, provozierte förmlich eine Replik. "Es...es war ganz schön erschreckend, plötzlich so verletzbar zu sein", bedachte ihn Michele endlich kaum hörbar mit einer Antwort. "Ich war noch nie krank, und nun...nun altere ich sicher auch viel schneller, werde schwächer..." Michele verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die Hideos Mitgefühl weckte. "Auch wenn dir das kein Trost ist, ich bleibe bei dir", scherzte er halb tröstend, halb beruhigend, zog Michele in seine Arme. "Du weißt nicht, wie das ist...wenn man so lange lebt, man gewöhnt sich so sehr daran..." Michele suchte Schutz in Hideos Halsbeuge. "Ich möchte auch nicht sterben", bekannte Hideo liebevoll, "aber selbst ein Leben nur in den vier Wänden hier wird das nicht verhindern." Vorsichtig schob er Michele ein wenig von sich, gerade ausreichend entfernt, um einen aufmunternden Blick in die glanzlosen, schwarzen Augen zu entsenden. "Carpe diem", zwinkerte er, um dann bezeichnend auf Micheles Lippen zu sehen. Dieser blinzelte irritiert, setzte zu einer Frage an, was Hideo beglückt nutzte, um Michele zu küssen. Nicht etwa wie zuvor sanft und zurückhaltend, sondern forschend, neugierig, die Zungenspitze abenteuerlustig durch die kleinen Zähne zuckend. Hideo erschauerte unter dem reflexartigen Verkrallen von Micheles Fingern in seinem Rücken, den nervösen Atemzügen, besänftigte schmeichelnd die Lippen, bevor er erneut Micheles Mund eroberte. Den Gaumen behutsam entlangtastete, bis Michele ihn hektisch zurückstieß. "Autsch!" Hideo kostete Blut an einer aufgerissenen Lippe, während Michele, leicht rosig überhaucht, ihn atemlos anstarrte. "Es... es tut mir leid... aber... wenn... wenn ich deine Zunge erwische... dann erstickst du!" Unsicher gestikulierend warf er Hideo Vergebung heischende Blicke zu, enthüllte die Verwirrung eines Jugendlichen. Hideo lächelte vertraulich, legte sanft wieder die Arme um Micheles Nacken und hauchte einen Kuss auf die bebenden Lippen. "Entschuldige, das war ziemlich dumm von mir. Alles okay?" Ein hastiges Nicken entlockte ihm ein amüsiertes Kichern. Zärtlich streifte er Micheles Nasenspitze mit der eigenen. "Wann hast du zum letzten Mal jemanden geküsst, hm?" Michele versuchte beschämt, Hideos sanfter Umarmung zu entfliehen, jedoch zu halbherzig, um ernsthaft erfolgreich zu sein. "Ich kann mich nicht erinnern", bekannte er kaum hörbar, vermied jeden Blickkontakt. "Das ist definitiv zu lange her!", konstatierte Hideo und holte Versäumtes nach, raubte Michele den Atem und erprobte alle seine Kunstfertigkeit. ^w^ Hideo gab sich in den folgenden Tagen alle Mühe, die behutsame Annäherung schrittweise voranzubringen, Michele an sich zu gewöhnen. Wobei er sich gelegentlich wie ein Tierdompteur mit einer unbekannten Spezies vorkam. Michele erwies sich als furchteinflößend sensibel, jeder Kuss ein Vabanque-Spiel zwischen Verlangen und Furcht, er könne reflexartig die Giftdornen in Hideos unerschrockene Zunge treiben. Aber auch anderweitig kostete es einiges an Geduld, bis der äußerlich so knabenhaft wirkende Mann ohne abwehrendes Erschauern gestattete, dass Hideo ihn mit spielerischen Zärtlichkeiten bedachte. Bereit, sich sofort zurückzuziehen, sollte er eine unsichtbare Grenze überschreiten. Hideo fühlte sich glücklich, zum ersten Mal ganz im Fokus der Aufmerksamkeit eines anderen Menschen zu stehen, etwas Kostbares zu verkörpern, eine Aufgabe zu haben. Da konnte auch der aufblühende Frühling vor dem Fenster kein Trübsal in seine Hochstimmung weben. Wie üblich erwachte er an einem Sonntag im April allein im mächtigen Bett, schälte sich seufzend aus den Decken und trödelte in das Badezimmer, vage verwirrt durch die gedämpfte Swingmusik, die aus dem Wohnzimmer drang. Einigermaßen präsentabel betrat er, die glatten, schwarzen Haare aus den grauen Augen streichend, das Wohnzimmer. Um verwirrt vor der festlich geschmückten Frühstückstafel zu verharren, dieses Mal nicht über die gesamte Länge des Tisches getrennt, sondern über ein Eck nebeneinander angerichtet. Aus dem Schatten des Paravent löste sich Michele, in den geliebten, bordeauxfarbenen Hausanzug aus chinesischer Wildseide gehüllt, zog den Überraschten in die Arme und küsste ihn sanft auf die Lippen. "Alles Gute zum Geburtstag, Hideo!", hauchte er zärtlich in die blanke Miene. Ein verschmitztes Lächeln umspielte die schönen Züge. "Aber... aber... Geburtstag? Heute?!" Hideos noch schlaftrunkener Verstand trudelte orientierungslos hinter seiner Zunge her. "Ja", bekräftigte Michele samtig, dirigierte Hideo behutsam an das Kopfende der Tafel, zwischen Kerzenschein, duftend aufgebrühten Jasmintee und frisch aufgebackene Croissants. Sich an Hideos Rücken schmiegend griff er unter dessen Arm hindurch nach einem Umschlag aus dickem Büttenpapier, der in schwungvollen, antiken Lettern Hideos Namen trug. "Sieh mal rein", wisperte er verheißend in Hideos Halsausschnitt, legte die Wange sanft an Hideos. Hideo, von unterschiedlichsten Emotionen in Windeseile durchlaufen, gab widerwillig der unbändigen Neugier den Vorzug, entzog dem geheimnisvollen Umschlag ein kleines Buch. Einen amerikanischen Pass, ausgestellt auf den Namen Hideo Sabich. "Das Beste, was ich bekommen konnte", erläuterte Michele samtig, streichelte mit beiden schlanken Händen über Hideos Brust, lachte leise über den beschleunigten Herzschlag unter seinen empfindsamen Fingerspitzen. "Das...das...puh..." Hideo blinzelte, schnappte überwältigend nach Luft. "Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll", deklarierte er ein wenig mitgenommen, zittrig. "Hauptsache, du lernt deine neue Biografie", scherzte Michele gut gelaunt, lenkte dann Hideos Aufmerksamkeit auf eine Ausbuchtung in dem Umschlag. Hideo suchte mit unsicheren Fingern die Ursache und zog einen Schlüssel hervor. "Für die Haustür", bekannte Michele leise, schob mit dem spitzen Kinn Hideos lange Haare beiseite, um einen Kuss auf dessen warmen Nacken zu hauchen. Hideo legte behutsam, auf jede kleine Geste konzentriert, Schlüssel und Pass auf den Tisch. Drehte sich dann vorsichtig in der Umarmung. Bis er Michele in die Augen sehen konnte, ein wenig getrübt, durch einen Tränenschleier. "Das ist ein wunderschönes Geschenk." Hideo musste sich schniefend unterbrechen. "Ich bin ganz weg... entschuldige", mit einem schiefen Lachen mühte er sich, seine Ergriffenheit zu überspielen. Michele grinste, so jungenhaft, dass Hideos Herz sich glühend überschlug, noch immer die Arme eng um Hideos Rücken gewunden. Wie gewohnt fädelte sich Hideo durch die wilden Locken, ließ seine Arme auf Micheles Schultern ruhen, vertiefte sich in die vertrauten Züge. "Danke!", bekannte er aufrichtig, ernsthaft. Michele zwinkerte, ein wenig verlegen, wich Hideos Blick aus, trippelte nervös auf den Zehen, um dann, wieder fest, in die grauen Augen zu sehen. "Du hast es geschafft, Hideo", gestand er kaum hörbar, rosig überhaucht. Hideo lächelte sanft, er musste nicht fragen, zu welcher seiner 'Missionen' Michele referierte. Einen liebevollen Kuss initiierend umarmte er Michele eng, hielt diesen an sich gedrückt, als könne er den Lauf der Welt für einen Moment lahmlegen, diesen Augenblick in der Ewigkeit konservieren. "Ti amo, Michele", flüsterte er in tizianroten Locken des engelhaften Teufels. "Aishiteru, Hideo", hauchte der Letzte der Alten. ^w^ perfect drug (lost highway) /Nine Inch Nails I got my head but my head is unraveling can't keep control can't keep track of where it's traveling I got my heart but my heart's no good and you're the only one that's understood I come along but I don't know where you're taking me I shouldn't go but you're wrenching dragging shaking me turn off the sun pull the stars from the sky the more I give to you the more I die and I want you and I want you and I want you and I want you you are the perfect drug the perfect drug the perfect drug you are the perfect drug the perfect drug the perfect drug you make me hard when I'm all soft inside I see the truth when I'm all stupid-eyed the arrow goes straight through my heart without you everything just falls apart my blood wants to say hello to you my fears want to get inside of you my soul is so afraid to realize how very little good is left of me and I want you and I want you and I want you and I want you you are the perfect drug the perfect drug the perfect drug you are the perfect drug [...] you are the perfect drug the drug the perfect drug (take me) (with you) (take me) (with you) (take me) (with you) (take me) (with you) without you (take me) without you everything falls apart (with you) without you (take me) it's not as much fun to pick up the pieces (with you) without you (take me) without you everything falls apart (with you) without you (take me) it's not as much fun to pick up the pieces (with you) without you (take me) it's not as much fun to pick up the pieces (with you) without you (take me) without you without you everything falls apart without you it's not as much fun to pick up the pieces ^w^ ENDE ^w^ Vielen Dank fürs Lesen! kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Dieses Werk entlässt die letzte Figur, die ich schattenhaft vor einem ganzen Jahr entwarf, doch nicht die Zeit und Witterung fand, ihr ihre Geschichte zu widmen. Ungeachtet der umfangreichen Arbeit ging das Schreiben, auch der brutalen Episoden, leicht von der Tastatur und stellt im Großen und Ganzen meine Meinung zu Vampir-Kitsch dar. Es wird in den Fandoms gern auf die Anne-Rice-Publikationen verwiesen, von denen ich einige im Original las und nicht gerade überwältigt war (da fehlt wohl eine Prise boshaften Humors ^-^°), sodass ich gereizt genug war, dies als Antwort aufzustellen. Ergänzend dazu kommt eine Vorliebe für verstörende Musik und eine Reportage über Jugendliche, die sich prostituieren, um dem Konsum zu frönen. Ob es eine Fortsetzung geben wird, wurde ich wiederholt gefragt... nun ja, nicht direkt, aber möglicherweise in einem vergleichbaren Kontext ^_~ Und was wohl Hideo und Michele machen? Tja... sie nutzen den Tag... und die Nacht *g*